Nick Land
Okkultes Denken
Aus dem Englischen von Dirk Höfer
Mit einem Korrespondenzessay und herausgegeben von
Dietmar Dath und Philipp Theisohn
INHALT
Vorwort
Philipp Theisohn
Kunst als Aufstand
(1991)
Schaltkreise
(1992)
Geist und Zähne
(1993)
Maschinenbegehren
(1993)
Kernschmelze
(1994/97)
[[]] Keine Zukunft [[1.343]] [[0]]
(1995)
Schamanischer Nietzsche
(1995)
KataςoniX
(1996)
CyberGothic
(1998)
Die Ursprünge des Cthulhu-Clubs
(1998/99)
Okkulturen
(1999)
Kabbala zur Einführung
(2006)
Die Herrschaft des Dreifußes
(2011)
Ein Zeitreisender in Schanghai
(2011)
Implosion
(2011)
Dunkle Aufklärung
(2012)
Lockende Leere
(2016)
Desintegration
(2019)
Korrespondenzessay
Dietmar Dath & Philipp Theisohn
Anmerkungen
Textnachweise
VORWORT
Philipp Theisohn
Land was our Nietzsche – with the same baiting of the so-called progressive tendencies,
the same bizarre mixture of the reactionary and the futuristic, and a writing style that
updates nineteenth century aphorisms into what Kodwo Eshun called »text at sample
velocity.« Speed – in the abstract and the chemical sense – was crucial here: telegraphic
tech-punk provocations replacing the conspicuous cogitation of so much post-structuralist
continentalism, with its implication that the more laborious and agonised the writing, the
more thought must be going on.
Mark Fisher, »Terminator vs. Avatar.
Notes on Accelerationism« (2010)1
Nick Land, Jahrgang 1962, zählt zweifellos zu den verrufenen
Denkern unserer Zeit. Zurückzuführen ist sein Stigma auf seine
geistige Ahnherrschaft in Bezug auf das Neo-reactionary movement
(NRx), auf die politische Allianz mit Curtis Yarvin, auf sein Eintreten
für einen »Hyper-Racism«2 sowie auf ungezählte Tweets und
Blogeinträge, die Land je nach Perspektive im Umfeld oder
Epizentrum der Alt-Right verorten (von der er NRx gleichwohl
abgesetzt sehen möchte).
Indessen bildete und bildet Verrufenheit seit jeher die Matrix
seines Denkens und somit auch all jener Schriften, die keineswegs
nur den Herausgebern dieses Bandes über Jahrzehnte als
Stimulantien dienten. Die Wirkung, die Nick Lands Texte auf die
ästhetischen und technikphilosophischen Diskurse der 1990er-Jahre
ausgeübt haben, ist kaum zu überschätzen. Von Poptheoretikern wie
Simon Reynolds über Luciana Parisi – der derzeit vielleicht
bedeutendsten Repräsentantin eines philosophischen
Posthumanismus – bis hin zur theoriegesättigten britischen
Elektroszene von Kode9 bis zu Kodwo Eshun, der Land um 2010
zum »most important philosopher of the last 20 years« erklärt hat:3
Lands Theorie-Fiktionen, von Mark Fisher in einem Interview treffend
als »cybergothic remixes« des Anti-Ödipus bezeichnet,4 öffneten
Hunderte von Türen, hinter denen sich das Verhältnis von Kunst,
Technik und Wirklichkeit immer wieder neu und anders verstehen
ließ – und lässt.
Die Schlüssel zu diesen Türen hatte sich Land als
»malfunctioning academic«5 über dunkle Kanäle beschafft: Ihre
persuasive Kraft verdanken die Texte nicht zuletzt einem Bündnis mit
dem, was aus der akademischen Reflexion für gewöhnlich
ausgeschlossen bleibt – das Okkulte, die Droge, die Kunst des
Erzählens. Triebkräfte, die Land nutzte, um das Subjekt, das seit der
Aufklärung als Ankerplatz des abendländischen Denkens gedient
hatte, hinter sich zu lassen. Immer war es ihm um den Sprung auf
jene Ebene zu tun, die den Blick freigibt auf die Fiktionsfabriken, in
denen der Mensch und seine Götter ebenso hergestellt werden wie
Gibsons Replikanten oder Lovecrafts »Great Old Ones«.
Der vorliegende Band kann somit als eine Reise durch Lands
dunkle Welten verstanden und gelesen werden. Am Ausgangspunkt
dieser Reise steht ein junger Philosophiedozent, der 1987 – im Alter
von 25 Jahren – in Essex über Heideggers »Die Sprache im
Gedicht« promoviert, Kurse in zeitgenössischer französischer
Philosophie anbietet und 1995 zum Zentrum eines Kreises wird, der
auf den Namen »Cybernetic Culture Research Unit« (CCRU) hört.
Zahlreiche Gerüchte und Geschichten umranken da schon diesen
Mann, die allermeisten von ihm selbst in Gang gesetzt: Er lebe in
einem lovecraftschen Paralleluniversum, sei von verschiedenen
archaischen Mächten bewohnt, von den Toten auferstanden6 und
verstehe sich als aus der Zukunft gesandter Android.7 Seine
Vorträge verwandelt er in Performances, bei denen er sich auch
schon einmal, vom Geist einer Schlange besessen, schreiend auf
dem Podium windet.8
Das CCRU, dem neben den oben erwähnten Eshun, Parisi und
Fisher auch Leute wie Hari Kunzru, Jake Chapman, Robin Mackay
und Sadie Plant – die Verfasserin der immer noch großartigen Studie
Writing on drugs (1999) – angehörten, gilt als die Keimzelle des
Akzelerationismus; jener Denkschule also, die im
Technokapitalismus eine Dynamik erkennt, deren Widersprüche nur
dadurch – wenn überhaupt – geheilt werden können, indem man den
Menschen aus ihr herausnimmt. Die Antwort auf die Frage, auf
welche Art und Weise dieses »Herausnehmen« erfolgen soll und vor
allem: was danach bleibt – diese Antwort wird die unterschiedlichen
Ausfaltungen des Akzelerationismus definieren. Zu dessen
Geburtsstunde ist von den späteren Entgegensetzungen noch wenig
zu spüren; das CCRU kennt Dogmatik ohnehin immer nur als
überdrehte, sich letztlich gegen sich selbst wendende Performance,
ein Spiel mit der Autorität. So war das CCRU zwar drei Jahre am
philosophischen Department der University of Warwick beheimatet,
blieb dabei jedoch immer eine dezidierte Nicht-Institution.
»Cybernetic Culture« wurde hier dementsprechend gerade nicht als
Forschungsobjekt im klassischen Sinne begriffen, sondern als ein
Tun respektive als jener Ȇbertragungsmodus, der flache
Produktionskollektive kennzeichnet«9: Hier wird nicht diskutiert,
sondern gesetzt. Reflexion und Aktion, Prozess und Produkt fallen
stets in eins. Jeder Gedanke, jeder Text ist Setzung, ist Ausweis und
Beschleuniger eines den Menschen übersteigenden und
umformenden Gestaltungsprozesses, der von einem
weltumspannenden wie weltdurchdringenden Technokapital
angetrieben wird. Daneben charakterisiert das CCRU »Cybernetic
Culture« anhand ihrer »absoluten Überpersönlichkeit, Ahistorizität
und Extraterritorialität«.10 Die Verabschiedung von Subjekt,
Geschichte und Territorium konfiguriert die posthumane
Grundausstattung des CCRU. Damit einher geht die Auflehnung
gegen Chronologie und die Aufhebung der Unterscheidung von
Fiktion und Fakt. In der Dynamisierung von Donna Haraways
Cyborg-Modell, dem die Aufhebung der Dichotomie von Körper und
Geist bereits inhärent gewesen war,11 verwandeln sich im Denkraum
des CCRU Menschen in »Ccru Meat Puppets«,12 selbst geschaffene
Mythen in Argumente, Horrorgeschichten in
Transzendentalphilosophie, Fantasien in Urkunden. Die Maschinerie,
mit der diese Transformationen vorgenommen werden und die auch
die archaische Wiederkehr von Gegenwart, das »counter-chronic
arrival«, verantwortet, ist das sogenannte Numogram; die darin zum
Tragen kommende Technik wiederum die von Land ersonnene
»Hyperstition«, zu der in der diesen Band begleitenden
Schlusskorrespondenz noch einiges gesagt wird.
Noch vor die Entstehung des CCRU fällt die Veröffentlichung von
Lands einziger Monografie The Thirst for Annihilation (1992), die
zwar den Untertitel »Georges Bataille and virulent nihilism« trägt, die
gleichwohl weniger Bataille-Studie als vielmehr Bataille-Performance
ist. Dass Land dabei »nichts über Bataille weiß«,13 dass er – als »ein
schmutziger Bettler (wie Gott)« – nichts anderes tut, als an den
»Rändern des Diskurses über Georges Batailles Schriften
herumzunörgeln«14: Das ist, mitsamt dem ostentativen »Ich«-
Gebrauch und dem Bekenntnis-Ton, selbst ein Sprechen mit Bataille,
ein Wirkungssprechen. Und wenn Batailles unverkennbare
Handschrift die »Geisteskrankheit« (»spiritual disease«) sein soll,15
dann geht es Land vor allem darum, das Virus zu verbreiten und das
von Bataille aufgeweckte »Monster im Keller der Vernunft«16
endgültig aus seinem Labyrinth zu führen.
Batailles Stellenwert für Land erklärt sich sicherlich zunächst aus
dessen eschatologischer Aufladung des Verfemten und der
Verausgabung als Grundlage einer Uminterpretation des Marxismus.
Die karitative, um nicht zu sagen: humanistische Tendenz, die
einerseits die vernichtende Kraft des Kapitalismus in Kartelle und
Korporationen zurückbindet, die andererseits aber darauf
hinausläuft, eine im Kolonialismus auf den Höhepunkt getriebene
Ausbeutungsform lediglich durch eine andere, der Utopie
verschriebene zu ersetzen, lässt Bataille hinter sich. Kapitalismus
erscheint ihm – wie Land auch – als eine »tyranny of good«,17 als
eine Bürokratie des Verbrauchs, des »nützlichen Reichtums«, der
»realen Ordnung«, deren Gegenstück das Opfer, dessen
Verzehrung und Aufzehrung ist.18 Batailles Unterscheidung
zwischen ›realer‹ und ›intimer‹ Erfahrung, seine gezielte Erweiterung
der politischen Ökonomie um die kultisch-religiöse Ebene sowie
seine Apokalyptik der Selbstaufzehrung bleiben in Lands Schriften
mit wechselnder Akzentuierung präsent.
Die Fährte, die der hier vorliegende Band aufnimmt, findet sich
indessen im siebten Kapitel von The Thirst for Annihilation, in einem
Zitat aus Batailles L’expérience intérieure: »Ebenso halte ich die
Erfassung Gottes, auch eines Gottes ohne Form und Modus […], für
einen Stillstand in der Bewegung, die uns zu der dunkleren
Erfassung des Unbekannten führt«.19 Beginnend mit Kants Kritik der
Urteilskraft, erscheint Land die Philosophiegeschichte als eine immer
wieder durch den Einfall Gottes unterbrochene Annäherung an das
Numinose, als eine Rückversicherung des Menschen gegen seine
angstvoll erspürte Überwindung. Bei Kant erfolgt diese
Rückversicherung im Festhalten an der »noumenale[n]
Subjektivität«, wie es in »Maschinenbegehren« heißt.20 Gemeint ist
damit, dass Kants Erkenntniskritik zwar dem Exzess apriorischer
Synthesen einen Riegel vorschiebt, aber dennoch am
transzendenten Charakter des Zustandekommens der
verstandesförmigen Synthetik als einem »Wunder« festhält. Der
Gedanke nämlich, dass die Orientierung der erkennenden Subjekte
auf Ideen, ja: dass die Existenz erkennender, synthetisierender
Subjekte selbst ›zweckmäßig eingerichtet‹ sei – dieser Gedanke
bezeugt Kants Verhaftung im noumenalen Anthropozentrismus,
dessen Grenzen der Königsberger Philosoph gleichwohl schon
ahnte. Land schreitet daher mit Schopenhauer und Nietzsche über
Kant hinaus, verwirft sowohl Hegels »Hochkirche« der Synthese als
auch Husserls Phänomenologie als »maßgebliche Ideologie der
Schicklichkeit«21 und konfrontiert die Kontrollmechanismen
menschlicher Subjektivität mit Noumena aus dem Jenseits, mit
Ungeheuern und Abjekten, bissig und toxisch wie Trakls Ratten,
eben: »Fanged Noumena«. Diese stehen gerade nicht mehr im
Dienst des Menschen und seiner intelligiblen Sicherheitssysteme,
sondern nagen an ihnen, zersetzen sie, und zum Vorschein kommt
eine andere Welt, der »Technokosmos«, in dem »nichts gegeben,
alles […] produziert« ist.22
Gesprochen wird in den hier versammelten Aufsätzen im Namen
ebendieses Kosmos, dem alles, was verhandelt wird – die Kunst, der
Geist, die Lust, die Technik –, gleichsam einverleibt ist. Dabei lässt
sich die enge Verbindung, die der Technokosmos zur Schizo-
Analyse Deleuze’/Guattaris unterhält, nicht verleugnen und wird in
den frühen Texten Lands sogar offen ausgestellt: Die Dinge, wie sie
uns erscheinen, sind nicht »durch das Humanum qualifiziert«.23
Vielmehr handelt es sich Land zufolge um Konstrukte einer
zukünftigen, nicht terrestrischen Welt – wie auch das Bewusstsein,
das wir noch für ein menschliches halten, das sich denkend der
Wirklichkeit zu bemächtigen versucht und durch die Lektüre von
Lands Texten bis hinab zu den »chthonischen Schaltungen,
Kreuzschraffuren und Spektraldiagrammen ungeborener abstrakter
Maschinen«24 ins Dunkel geführt wird. Ins Dunkel, das viele Namen
hat – K-Tod, Unleben usw. In ihm hausen eine Unzahl von
»Okkulturen«, deren Geschichte Lands Cybergothic erzählt. Diese
halluzinatorische Tiefensphäre tritt dabei in Gegensatz zur
Geschichte des Kapitalismus. Zwar nimmt die Geschichte des
Kapitalismus ihren Ausgang ebenfalls bei jener »Invasion aus der
Zukunft«, beim »Einfall eines künstlichen intelligenten Raums«.25
Was sie von der Cybergothic jedoch unterscheidet, ist das
Bewusstsein, das diese Invasion verarbeitet; ein menschliches
Bewusstsein nämlich, das sich gegen den Schrecken philosophisch
und psychoanalytisch panzert und eben, um zu Bataille
zurückzukehren, »in der Erfassung Gottes« stillsteht, anstatt über
sich selbst hinweg zu gelangen.
Die Überwindung des Kapitalismus bleibt somit an die
vollkommene Realisierung seiner Mittel geknüpft. Anders formuliert:
Es gibt keine Humanisierung des Kapitalismus, weil der Kapitalismus
selbst bereits diese Humanisierung darstellt. Man wird den
Menschen aufheben müssen, um woandershin zu gelangen – und
das ist das Ziel, dem Lands Schreiben und Denken dient, für das es
in Anspruch genommen wird.
1998 verlässt Nick Land die akademische, Anfang des
Millenniums dann auch die europäische Welt und übersiedelt
zunächst nach Taiwan, schließlich nach Schanghai, wo er bis heute
lebt, bloggt, Horrorfiction schreibt und als Journalist arbeitet. Die
Ortswahl ist konsequent, verspricht doch bereits »Kernschmelze«
(1994): »Neo-China kommt aus der Zukunft«, um sogleich auf das
Einsetzen eines »planetarischen China-Syndroms«, der »Auflösung
der Biosphäre in die Technosphäre« zu setzen.26 In der
chinesischen Verbindung von Marxismus und Kapitalismus sieht
Land, wie er 2004 in einem Beitrag für den Shanghai Star schreibt,
»the greatest political engine of social and economic development
the world has ever known«,27 das heißt eine futurische Kraft. Seine
Erkundung dieser Welt des »Dieselpunks«, die Rekonstruktion ihrer
Ursprünge, kann man im Beitrag »Ein Zeitreisender in Schanghai«
(2011) mitverfolgen.
Nur ein Jahr später, 2012, erscheint dann jener Text, mit dem
Lands Name seither verbunden ist und mit dem seine selbsterklärte
Verwandlung in einen »Sith Lord« einhergeht: »Die dunkle
Aufklärung« (»Dark Enlightenment«). Verbreitet und gelesen als
Gründungsmanifest der Neoreaktion stellt »Die dunkle Aufklärung«
in ihrer Kernstruktur vor allem eine Reflexion auf und mit Curtis
Yarvins (aka Mencius Moldbug) Blog Unqualified Reservations dar.
(Wobei Verschmelzung mit, Kritik an und Überbietung von Yarvins
Argumentation selten sicher zu trennen sind.) Systematisch
betrachtet, folgt der Text immer noch Lands Prinzip einer ›jenseitigen
Rede‹: Er fahndet nach der humanen Angst- und
Sicherungsmechanik, findet diese mit Yarvin in der Demokratie und
letzten Endes im Staat. Als Werkzeug der dunklen Unterseite stellt
sich Land dann folgerichtig der »Anarcho-Kapitalismus« dar, eng
verwandt (aber nicht identisch) mit dem amerikanischen
Libertarismus, oder eben: NRx als eine Bewegung, die der
universalistischen, egalitären Tendenz der demokratischen
Homöostatik Störimpulse versetzen und den Staat, wofern sie ihn
nicht ganz beseitigen, so doch zumindest von der Demokratie
»heilen« soll.28 Die tagesaktuellen Ausprägungen der hier
angelegten Disposition kann man derzeit auf Lands Twitterfeed
»outsideness« verfolgen.29
Man hätte den vorliegenden Band freilich ohne »Die dunkle
Aufklärung« publizieren und sich mit einer Übersetzung der Land-
Anthologie Fanged Noumena zufriedengeben können, die ihre
Textauswahl 2007 enden lässt.30 Immerhin spaltet Land selbst in
seinen wenigen Verlautbarungen den Urheber der Fanged Noumena
(»it belongs in the clawed embrace of the undead amphetamine
god«31) vom Verfasser des »Dark Enlightenment« ab. Indessen geht
es auch hier ums Ganze, und es erschiene den Herausgebern
unredlich, die politische Dimension zu unterschlagen, in die Lands
Denken im vergangenen Jahrzehnt eingetreten ist. Denn wie in der
Perspektive des zeitgenössischen Land die Demokratie als »ein
Vektor mit einer unmissverständlichen Richtung«32 erscheint, so wird
man umgekehrt auch Lands cybergotische Poetik vektoriell –
wenngleich stets missverständlich – lesen müssen. Ihre Skalare und
Pseudoskalare konfigurieren Nietzsche-Lektüren und
Weltrauminvasionen, Cthulhu-Beschwörungen und Xeno-Alpträume,
Maschinenphilosophie – und ja: auch libertäres Raunen über
»Race«-Terror, Kathedralen, Zombie-Apokalypsen. Es erscheint uns
daher wichtig, beide Werkteile in ihrem Zusammenhang zu lesen.
Der Aufarbeitung dieses Zusammenhangs,33 dessen Befragung und
der Selbstbefragung, dient die nachgestellte
Herausgeberkorrespondenz.
KUNST ALS AUFSTAND
Zur Frage der Ästhetik bei Kant, Schopenhauer
und Nietzsche
Künstler, diese wilden Bestien, die nie den Hals voll kriegen.
– Land
I
Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ist der Schauplatz, an dem die
Kunst mit traumatischer Gewalt in die europäische Philosophie
einbricht. Die extreme Wucht dieses Einbruchs war nur möglich in
einer Epoche, die danach strebte, sich selbst als permanente
Metamorphose, als Wachstum, zu rationalisieren. Das heißt, es
handelt sich um ein Trauma, das mit den Schwierigkeiten, die die
Kunst der westlichen Philosophie seit Platon aufgab, nur wenig zu
tun hat, denn sie ist nicht mehr nur Irritation, sondern Katastrophe.
Unsere eigene Katastrophe.
Dass Kants kritische Philosophie in allen drei großen Kritiken so
konsistent ist, beruht auf der Aufmerksamkeit gegenüber dem
Exzess, die der Konzeption synthetischer Apriori-Urteile innewohnt.
Der eigentliche Beginn des kritischen Projekts ist in Kants
entschiedener Antwort auf die von Hume vollzogene Aufhebung der
logischen Metaphysik zu sehen, der Auflösung des philosophischen
Bemühens nach Reduktion der Synthese. Für Kant war wohl nichts
unzweifelhafter als die grundlegende Unhaltbarkeit des leibnizschen
Paradigmas der Metaphysik, das in der (wolfschen) Philosophie des
preußischen Staats nach wie vor dominierte. Die Logik war durch
das skeptische und empirische Denken eines fortgeschritteneren
Gesellschaftssystems als steriles, tautologisches Stammeln entlarvt
worden, das ins Mittelalter gehörte, in eine Zeit, als Positivität von
vorneherein gegeben war. Mit außerordentlicher Entschlossenheit
warf Kant die deduktive Systematisierung, die die Philosophien
starrer Gesellschaften prägten – Philosophien, die tief und gewollt in
einem stagnierenden Theismus wurzelten –, über Bord und ersetzte
sie durch die Metaphysik des Exzesses. Er war sogar bereit, zur
Zerschlagung der gesamten theoretischen Philosophie beizutragen;
denn auch die Philosophie musste (zumindest ein bisschen)
revolutionär werden. Nichts Substanzielles sollte noch vorausgesetzt
werden.
Auch wenn die Gefahren der Synthese – des Denkenmüssens –
von nun an definitiv nicht mehr zu beseitigen waren, hing Kant doch
weiterhin der Hoffnung nach, man könne sie hinter sich lassen und
sie einer abschließenden Lösung zuführen. Die Philosophie müsste
dafür zwar etwas an Boden gewinnen, würde aber immer noch einen
Ruhepunkt erwarten können; eine uneinnehmbare
Verteidigungslinie. Wenn schon die Geschichte nicht mehr länger zu
umgehen war, würde sie sich zumindest rasch und akribisch zu
einem Ende führen lassen. Die Zeit müsste transzendental bestimmt
werden, ein für alle Mal und durch eine neue Metaphysik. Von da an
würde sie sich ohne Unterbrechung in einer unschuldigen Affirmation
ihrer selbst fortsetzen. Für eine Weile – in der Zeitspanne zwischen
den frühen 1770er-Jahren und 1790 – war Kant womöglich so
fröhlich wie je ein bürgerlicher Philosoph. Vorübergehend war ein
Gleichgewicht erreicht worden. Dann kam die Katastrophe. Noch
immer war etwas fürchterlich außer Kontrolle. Eine dritte Kritik war
notwendig.
Die erschreckende Einsicht, die Kant in die labyrinthische Arbeit
der Kritik der Urteilskraft trieb, bestand darin, dass das totale Chaos
noch immer nicht von einem Verstand in Acht und Bann geschlagen
war, der »Gesetze für die Natur zu erlassen« beanspruchte. In Kants
eigenen Worten:
Denn obzwar diese [der reine Verstand] nach transzendentalen Gesetzen, welche die
Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt enthalten, ein System ausmacht: so
ist doch von empirischen Gesetzen eine so unendliche Mannigfaltigkeit und eine so
große Heterogeneität der Formen der Natur, die zur besondern Erfahrung gehören
würden, möglich, daß der Begriff von einem System nach diesen (empirischen)
Gesetzen dem Verstande ganz fremd sein muß, und weder die Möglichkeit, noch
weniger aber die Notwendigkeit eines solchen Ganzen begriffen werden kann.1
Nur wenige Schrecken dürften mit dem Schrecken des obersten
Gesetzgebers vergleichbar sein, der begreift, dass Anarchie noch
immer erlaubt ist. Die Natur, alles andere als durch die
transzendentalen Formen des Verstandes domestiziert, war nach
wie vor eine offene, blutende Wunde, die gestillt werden musste. Ein
Unterfangen, das weitaus schmutziger und beängstigender ausfallen
würde, als alles Bisherige, aber Kant biss die vergilbten Zähne
zusammen und machte sich ans Werk.
Die Ressource für seine neue und letzte Kampagne fand der
Philosoph in der heiklen negativen Unordnung, die er Schönheit
nannte. Verglichen mit der unerbittlichen Ordnung der
transzendentalen Form war Schönheit eine insgesamt zerbrechliche
und unbeständige Disziplin, etwas, was das transzendentale Subjekt
sich nicht selbst verheißen konnte. Gleichwohl schien es, dass
etwas jenseits der Vernunft Liegendes, das bereit war, sich die
Hände schmutzig zu machen, die Natur klein hielt. »Zweckfreie
Zweckmäßigkeit«, Kants Zuname für den Exzess, besitzt die ganze
Extravaganz des Triumphs. Wir müssen uns nicht einmal
anstrengen, um zu gewinnen. Geschichte wird von den Siegern
geschrieben und als Voraussetzung für die Darstellung gilt die
Überlegenheit, sodass mit der Objektivität der Erfahrung die
Unterwerfung der Natur unter das exorbitante Gesetz gegeben ist:
Also ist es eine subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung, daß jene
besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogeneität der
Naturformen der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der
besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen
System, qualifiziere.2
Alle jene in Schwang gebrachten Formeln: die Natur nimmt den kürzesten Weg – sie tut
nichts umsonst – sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der Formen
(continuum formarum) – sie ist reich in Arten, aber dabei doch sparsam in den
Gattungen, u. d. g. sind nichts anderes als eben dieselbe transzendentale Äußerung der
Urteilskraft, sich für die Erfahrung als System und daher zu ihrem eigenen Bedarf ein
Prinzip fest zu setzen.3
Erfahrung wird als ein extravagantes, aber explosives Erbe gedacht,
als eine grundlose Anpassung der Natur an das Vermögen der
Repräsentation. Die zunehmend gequälten und paradoxen
Formulierungen, die Kant wählt, weisen auf den prekären Charakter
der Fülle hin (die in der Vorstellung als »freies Spiel« vorgehalten
und verausgabt wird). Betrachten wir nur ein Beispiel:
»Zweckmäßigkeit ist eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen als eines
solchen.«4
Wie bei Marx’ Ricardo verleiht der außergewöhnliche Zynismus
des am Rande der Verzweiflung stehenden Kantianismus diesem
eine tiefe Radikalität. Kants »Vernunft« ist ein reaktives Konzept, das
sich negativ zur Pathologie definiert, mit der es in einen anhaltenden
und brutalen Krieg verwickelt ist. In der dritten Kritik wird dieser
Konflikt ohne Hemmungen ausgetragen; er wird düster,
erbarmungslos und grausam. Kants Theorie des Erhabenen zum
Beispiel ist reines Jubilieren inmitten einer besinnungslosen Gewalt
gegenüber den vorbegrifflichen (animalischen) Kräften, die mit dem
Begriff der »Einbildungskraft« zusammengefasst werden. In der
Erfahrung des Erhabenen wird die Natur als Auslöser für eine
»negative Lust« beschworen, insofern als sie jenen Teil von uns
demütigt und verdirbt, den mit den Engeln zu teilen uns nicht gelingt.
Um ein Beispiel (aus zahllosen Möglichkeiten) herauszugreifen, sagt
er vom Erhabenen, es sei etwas
Abschreckende[s] für die Sinnlichkeit, welches doch zugleich anziehend ist: weil es eine
Gewalt ist, welche die Vernunft auf jene ausübt, nur um sie ihrem eigentlichen Gebiete
(dem praktischen) angemessen zu erweitern, und sie auf das Unendliche hinaussehen
zu lassen, welches für jene ein Abgrund ist.5
Kant wird seinen Verbündeten gegenüber bemerkenswert unkritisch
und verlangt lediglich, dass sie Feinde der pathologischen Neigung
sind und zu kämpfen wissen. Wenn die Vernunft so sicher, legitim
und übersinnlich garantiert ist, warum dann so schweres Geschütz
auffahren?
Irrationaler Überschuss oder die nicht zu beseitigende und
schöne Gefahr unbewusster kreativer Energie: Natur mit
Reißzähnen. Wie an diesem Gedanken festhalten, der ständig vom
Zusammenbruch bedroht ist; von einem Rückfall in eine depressive
Philosophie der Arbeit, sei sie theologischer oder humanistischer
Prägung. Die drei großen Stränge der philosophischen Erkundung
nach Kant – markiert durch die Namen Hegel, Schelling und
Schopenhauer – haben sich ständig der Aussicht zu erwehren, auf
vergessene oder implizite Arbeit reduziert zu werden; auf das Wirken
Gottes, des Geistes oder des Menschen, auf alles, was diese
rücksichtslose künstlerische Kraft des produktiven Unbewussten
wieder auf den Entwurf, die Absicht, das Projekt, die Teleologie
zurückführen würde. Kants Wort »Genie« ist der immens schwierige
und wirre, aber emphatische Widerstand gegen solche Reduktionen;
der Gedanke an eine völlig unpersönliche Kreativität, die historisch
als fundamentaler Bruch des Leitbilds, als verantwortungslose
Gesetzgebung, als »Befehl« verbucht wird, ohne dass jemand die
Befehle gibt.
Kant formuliert recht explizit, dass eine produktive Kunsttheorie
eine Philosophie des Genies erfordert – eine Wiederaufnahme der
verfemten Pathologie in ihren innersten Kern –, und liest man die
zweite Kritik parallel zur dritten, kommt man nicht umhin, den
gewaltigen Bruch zu bemerken, den die Kunst der
Transzendentalphilosophie zufügt. Diesen Bruch vermag Kant nur in
den Griff zu bekommen, indem er in einem von der Philosophie
beherrschten Feld Kunst als implizit randständige Problematik
beibehält. Auch wenn er anerkennt, dass die Autonomie der Vernunft
für die Heteronomie des Genies ist, was verglichen mit der
Schöpfung die getreue Darstellung, nämlich Ärmlichkeit und
Jämmerlichkeit, ist, dringt die Botschaft kaum durch. Zudem besteht
ein anhaltendes und klägliches Bemühen, die Ästhetik praktischen
Imperativen unterzuordnen, wofür »Schönheit als Symbol der
Sittlichkeit«6 ein Beispiel abgibt und die Grundtendenz seiner
Theorie des Erhabenen (der im Vergleich zu Natur uneingeschränkte
Vorrang transzendentaler Ideen) ein anderes.
Auch wenn es an der Oberfläche zunächst so scheint: Mit dem
Gedanken der noumenalen Subjektivität kündet sich keineswegs das
Unbewusste in der westlichen Philosophie an, lässt er sich doch als
präreflexives Bewusstsein wiedergewinnen und ist dabei so
unverfänglich, dass selbst Sartre ihn gerne akzeptiert. Die
beunruhigende Figur des energetischen Unbewussten entsteht
vielmehr aus der Verflechtung zweier ganz unterschiedlicher Stränge
des kantischen Texts: zum einen der heteronomen pathologischen
Neigung, deren Verdrängung in der Ausübung der praktischen
Vernunft vorausgesetzt wird, und Genie oder Natur in ihrem
»gesetzgeberischen« Aspekt zum anderen. Das Genie kann nicht
anzeigen, »wie diese phantasiereichen und doch zugleich
gedankenvollen Ideen in seinem Kopf hervor und zusammen finden,
darum weil e[s] es selbst nicht weiß, und es also auch keinen andern
lehren kann«.7
Von »Genie« zu sprechen, als ob die unpersönliche schöpferische
Energie mit der Ordnung der von der Vernunft geleiteten autonomen
Individualität kommensurabel wäre, ist zweifellos beruhigend, aber
letztlich ist solches Gerede absurd. Genialität ist keine
Charaktereigenschaft, sie gehört nicht in ein psychologisches
Lexikon; viel passender ist die Sprache der seismischen
Erschütterung, der Überschwemmung, der Krankheit, des Ansturms
roher Energie von außen. Man »ist« ein Genie nur in dem Sinne, in
dem man ein Syphilitiker »ist«, in dem Sinne, in dem »man« durch
eine grimmige Exteriorität gewaltsam problematisiert wird. Man kehrt
zu dem Subjekt zurück, dem Genie zugeschrieben wurde, um es bis
zur Unkenntlichkeit verschmort und entstellt vorzufinden.
II
Schopenhauer rekonstruierte die kritische Philosophie auf mehrere
sehr grundlegende Arten: indem er die dogmatische Voraussetzung
der Unterscheidung von subjektiven und objektiven Noumena
beseitigte; indem er sich nicht in eine idealistische
(phänomenologische) Richtung, sondern in diejenige des
unbewussten Willens bewegte; indem er das transzendentale
Verständnis der von Kant geerbten zwölf Kategorien und zwei
Abteilungen der Sinnlichkeit auf den verallgemeinerten »Satz vom
zureichenden Grunde« vereinfachte; indem er Kants proto-
idealistischen Logizismus im Keim erstickte; indem er die kritische
Philosophie mit der rasenden Energie sexueller Pein auflud, ihren
(zumindest) ansatzweise vorhandenen Akademismus angriff und
ihre stilistischen Möglichkeiten immens verbesserte. Wo Kant das
Denken des Unbewussten verzerrt, marginalisiert und verdunkelt,
betont und entwickelt es Schopenhauer. Er widersetzt sich den
Anmaßungen des imperialistischen Idealismus, indem er die
Vernunft als eine vom Verstand abgeleitete, mit der Sprache
einhergehende Abstraktion beschreibt, sodass Kants
transzendentale Logik mithilfe einer transzendentalen Ästhetik, die
im Sinne des »Satzes vom zureichenden Grunde« organisiert ist,
neu durchdacht, vereinfacht, entmystifiziert und in die tiefer
liegenden Gefilde vorintellektueller Intuition gestoßen wird. Vernunft
wird nicht mehr als ein autonomes Prinzip in Opposition zu Natur
gedacht, sondern als ein Film auf ihrer Oberfläche. All diese
Bewegungen beinhalten eine massive Bedeutungsverschiebung des
Begriffs »Wille«, jenes Platzhalters für das psychoanalytische
Verständnis des Begehrens.
Für Kant hat der Wille mit Vernunft zu tun, er ist das Prinzip der
Einbettung intentionaler Intelligibilität in die Natur, die Quelle, aus der
heraus teleologische Urteilskraft alle exorbitante natürliche Ordnung
zum Zwecke der Regulierung metaphorisch umschreiben muss:
Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei
Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt; und alles,
was als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch-
möglich (oder notwendig): zum Unterschiede von der physischen Möglichkeit oder
Notwendigkeit einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe (sondern, wie bei
der leblosen Materie, durch Mechanism, und, bei Tieren, durch Instinkt) zur Kausalität
bestimmt wird.8
Im Gegensatz dazu ist Schopenhauers große Entdeckung der nicht
agentische Wille; die Positivität des Todes Gottes. Anstatt das
Wollen als diejenige Regung zu denken, durch die begrifflich
artikulierte Entscheidungen in der Natur verwirklicht werden, versteht
er das Auftreten rationaler Entscheidungen als von vorintellektuellem
– und letztlich vorpersönlichem, ja sogar vororganischem – Wollen
abgeleitete Folge. Unbewusstes Begehren ist nicht nur Begehren,
das zufällig unbewusst ist, so als wäre eine dezisionistische Luzidität
dem Begehren irgendwie natürlich oder eigentümlich; vielmehr kann
Bewusstsein nur aus einem Begehren resultieren, für das luzides
Denken eine instrumentelle Voraussetzung ist. Für Schopenhauer
konstituiert sich der Intellekt durch das Wollen, nicht das Wollen
durch den Intellekt. Wir wissen nicht, was wir wollen.
In einem wichtigen Sinne ist Schopenhauers Wille der bis zum
Äußersten getriebene Geniegedanke, der das gesamte
Wissensvermögen unter das der exorbitanten natürlichen Ordnung
als einer bloßen (wenn auch privilegierten) Instanz zweckfreier
Zweckmäßigkeit subsumiert. Doch in der Art, wie Schopenhauer den
Geniegedanken verwendet, bewahrt er ihn in seiner Eigentümlichkeit
als eine im Verhältnis zum Willen proportionale Exorbitanz des
Intellekts. Genie resultiert aus einer positiven Überwindung des
unbewussten »Zwecks«, einem Überschuss an intellektueller
Energie, die über das hinausgeht, was vom Begehren aufgenommen
werden kann, und ist somit Redundanz oder Dysfunktion durch
Überfluss:
Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht zu einem ganz rein objektiven Bilde der
Dinge; weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht vom Willen angespornt und in
Bewegung gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie
genug hat, um aus eigener Elasticität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen.
Wo hingegen dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des Gehirns einen solchen
Ueberschuß hat, daß ein reines, deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos
darstellt, als welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höheren Graden
sogar störend ist, und selbst ihnen schädlich werden kann; – da ist schon, wenigstens
die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet,
welcher andeutet, daß hier ein dem Willen, d. i. dem eigentlichen Ich, Fremdes,
gleichsam ein von Außen hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint.9
Die Mutter der nützlichen Künste ist die Noth; die der schönen der Ueberfluß. Zum Vater
haben jene den Verstand, diese das Genie, welches selbst eine Art Ueberfluß ist,
nämlich der der Erkenntnißkraft über das zum Dienste des Willens erforderliche Maaß.10
Für Schopenhauer ist der Körper die Objektivierung des Willens, der
Intellekt ist eine Funktion eines bestimmten Organs des Körpers und
Genie ist der Überschuss dieses Funktionierens gegenüber dem
fraglichen Einzelorganismus. Genie ist somit ein Angriff auf den
individualisierten Willen, eine Attacke, die aus dem Reservoir des
archaischen vororganisierten Willens hervorbricht. Es nimmt eine
besonders spannungsgeladene Stelle in seinem Denken ein, das
gefangen ist zwischen der Vision progressiver Erlösung – die eintritt,
sobald die Menschheit die Individualität so weit vervollkommnet hat,
dass der Wille von sich abzusehen imstande ist – und der
regressiven Freisetzung des vorindividuellen Willens aus der
Folterkammer organischer Eigentümlichkeit, von Egointeressen und
Persönlichkeit. Dass Schopenhauer ersterer Option anhing, ist
hinreichend bekannt, doch die alternative Möglichkeit, nämlich der
Individualisierung durch Auflösung in archaisches überbordendes
Begehren zu entkommen, ringt in seinem Text fortwährend um
Ausdruck.
Diese Spannung erzeugt eine terminologische Spaltung, die sich
leicht entlang der schroffen Bruchlinien von Sexualität und Kunst
ausmachen lässt. Ein Beispiel ist »Schönheit«; ein Wort, das von
Schopenhauers unverhohlener (metaphysischer) Verfahrensweise in
unbehagliche Nähe zu Verzicht gedrängt wird. Er interpretiert es als
die mit der Loslösung von interessegeleitetem Denken assoziierte
negative Gemütsbewegung – Erleichterung oder Befreiung –, die
durch das kontemplative Eintauchen in die reinen universellen
»Ideen« der natürlichen Arten erlangt wird, wie sie außerhalb von
Raum, Zeit und Kausalität existieren und die sich in einem
radikalisierten, durch künstlerische Darstellung stark begünstigten
kantischen Desinteresse manifestieren.11
Wenn Derridas Text »Sporen«12 letztendlich ein absurder Text ist,
dann deshalb, weil er sich Nietzsches Auseinandersetzung mit
Schopenhauers Diskurs über die Frau und die Ästhetik zunutze
macht, ohne zu wissen, was ihm da eingeflüstert wird, ist er doch zu
sehr damit beschäftigt, die heideggersche Verstümmelung des
libidinösen Post-Kantianismus weiterzutreiben. Nietzsches
Wiederbelebung und Bejahung der fiktiven Macht der Kunst (in
seinen späteren Schriften) ist eine Antwort auf die in Schopenhauers
Denken stattfindende gewaltsame Verunglimpfung dieser Macht,
eine Verunglimpfung, programmiert durch eine Reihe komplex
ineinandergreifender Faktoren, die sich in Schopenhauers
Diskussion sexueller Differenz mit besonderer Intensität
veranschaulicht finden. Schopenhauer begründet den modernen
Gedanken der Erregung als Leiden – ein Gedanke, der in
verschiedenen Ausprägungen bis ins zwanzigste Jahrhundert und
vor allem in Freuds Triebökonomie weiterlebt. Um einen Rhythmus
des Begehrens und seiner Befriedigung beibehalten zu können, in
dem es keinen Raum für eine positive Lust, sondern lediglich
unterschiedliche Gradationen von Schmerz gibt, muss man schon
gewaltig irregeleitet sein. Deshalb verweist Schopenhauer auf den
Satz vom zureichenden Grunde, der mit der reinen Form materieller
Realität verbunden ist und als Schleier der Maya, oder Illusion, die
transzendentale Bedingung der individualisierten Erscheinung
darstellt. Kunst als Flucht vor der Individuation und dem Begehren ist
somit das Negative der Fiktion schlechthin. Schönheit ist eine
Erfahrung der Wahrheit.
Zugleich aber existiert noch eine andere beunruhigende,
verlockende, erregende und fesselnde Art von Schönheit (Nietzsche
wird sagen, es sei die einzige), jene Schönheit, die sich – zumindest
in der nachhellenischen westlichen Geschichte – exemplarisch im
weiblichen Körper veranschaulicht findet. Dies, und ebenso die
Erotik in ihrer Gesamtheit, bildet für Schopenhauer ein immenses
Problem. Das nicht egoische Desinteresse der Resignation wird von
einer Gleichgültigkeit gegenüber Ich-Interessen gespiegelt und
parodiert, die in eine völlig entgegengesetzte Richtung führt; tiefer in
das Inferno des Wollens hinein. Nachdem Schopenhauer mit
gewohnt freimütiger Ehrlichkeit einräumt, dass »alle Verliebtheit […]
allein im Geschlechtstriebe« wurzelt,13 sieht er sich zu dem
Eingeständnis genötigt, dass »gerade dieses Nicht-seine-Sache-
suchen, welches überall der Stämpel der Größe ist, […] auch der
leidenschaftlichen Liebe den Anstrich des Erhabenen [gibt] und […]
sie zum würdigen Gegenstande der Dichtung [macht]«.14
Demnach gibt es sowohl ein entsagendes als auch ein libidinöses
Erhabenes, jedes mit seinen zugehörigen Objekten und ästhetischen
»Vollkommenheiten« oder Intensitäten. Und es ist nicht nur die
Schönheit, die in verschiedene Richtungen auseinandergerissen
wird, auch die Fiktion ist gespalten; einerseits als Bedingung der
Individualisierung, andererseits als Appell an konstituierte
Individualität. Entweder ist das Ego ein Traum des Begehrens oder
das Begehren muss sich als Traum an das Ego anschleichen. In der
Sexualität
kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem
Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich
selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser
dient, während es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich
darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer
Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen,
anzusehn als der Sinn der Gattung, welcher das ihr Frommende dem Willen darstellt.15
Die Frau ist Materie, formlos und nicht darstellbar, erregend und
damit peinigend; alles an ihr ist Vorspiegelung, Täuschung,
Verwandlung, nicht verortbare irrationale Anziehung, Verstellung.
Schopenhauers berüchtigter Essay Ueber die Weiber entfaltet sich
in der Bewegung dieses Wortes, während er das Spiel der
Verführung, des indirekten Handelns, der nicht idealen Schönheit
organisiert, das die Ernsthaftigkeit und verantwortungsvolle
Selbstgesetzgebung des männlichen Subjekts durch
»Verstellungskunst«16 stört. Die Frau ist verruchte Kunst, Kunst, die
das Leben intensiver macht, Kunst, deren einzige Wahrheit in der
geflüsterten Andeutung besteht, dass auch die Verneinung nur ein
Traum, das Hirngespinst einer überbordenden Positivität ist, die
durch Exzess täuscht. Ist der Traum von der Erlösung womöglich so
etwas wie der Armreif an den Armen eines überschwänglichen
Lebens? Schopenhauer taumelt vor Entsetzen:
Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das
schöne nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt: in
diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit. Mit mehr Fug, als das schöne,
könnte man das weibliche Geschlecht das unästhetische nennen.17
Frauen sind so schrecklich nicht platonisch, so unverschämt vital
und real, so exzessiv im Verhältnis zu der kalten sterilen Perfektion
der Ideen. Mit der unfehlbaren Kraft des Instinkts verbreiten sie den
gefährlichen Wahn, dass am Leben etwas ist, das wir wollen.
Pessimismus muss Misogynie sein, denn die Frau weigert sich, sich
zu verwerfen.
III
Was Nietzsche zumindest teilweise von Schopenhauer gelernt hat,
waren die elementaren Lehren des libidinösen Materialismus oder
der Philosophie des dynamischen Unbewussten (die
uneingeschränkte Entfaltung der Genie-Theorie), das Primat des
Körpers und seines medizinischen Zustandes, Pragmatismus (nicht
fragen, wie wir wissen, sondern warum wir wissen), sprühende
literarische Brillanz, Ästhetizismus (mit einem Schwerpunkt auf
Musik), ein »aristokratisches« Interesse an Hierarchie und Abstufung
(die er in ein Werkzeug zur Überwindung der aristotelischen Logik
verwandelte), Antihumanismus, eine von Platon und Kant sowie von
der Problematik von Wirklichkeit und Schein dominierte Auslegung
der Philosophiegeschichte, giftiger Antiakademismus,
Frauenfeindlichkeit und Misstrauen gegenüber mathematischem
Denken. Schopenhauer schrieb sogar:
Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema
der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in der Natur, welche sie
in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung
organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strohm der Zeit und ihres
Inhalts doch ein bestehendes Daseyn, d. i. eine Natur, möglich wird.18
Aber die Verschiebungen, die Nietzsche am Ende seines
schöpferischen Lebens in die schopenhauersche Philosophie
eingebracht hatte, waren mindestens so gewaltig wie dieses Erbe,
und beinhalteten unter anderem eine Verlagerung vom Willen zum
Leben zum Willen zur Macht, sodass das Fortleben als Werkzeug
oder Ressource für die Schöpfung gedacht wird; eine Verlagerung
des Antihumanismus vom asketischen Ideal zum Übermenschen
(nonterminale Überwindung); die Vollendung einer post-
aristotelischen »Logik« der Abstufungen ohne Negativität oder
Grenzen; eine »Kritik der Philosophie«, die Platon und Kant als
Symptome einer libidinösen Katastrophe diagnostizierte; eine
Rückkehr des historischen Denkens, das nun von dem unhaltbaren
Gegensatz Zeit/Zeitlosigkeit eines bankrotten Logizismus befreit war;
und eine Verlagerung vom Satz des zureichenden Grundes zur
Ausgleichung, die – da Differenzierung nicht mehr als Zumutung für
das Subjekt gedacht wurde – eine Verschiebung von der
ursprünglichen Einheit zum irreduziblen Pluralismus und vom
desinteressierten »Weltauge« zum Perspektivismus implizierte.
Nietzsches komplizierte, tiefgründige und explosive Reaktion auf
die Provokation Schopenhauers widersetzt sich einer voreiligen
Zusammenfassung. Es ist hilfreich, mit den transitorischen
Bewegungen von Die Geburt der Tragödie zu beginnen, in denen
der schopenhauersche Wille auf den Namen »Dionysos« umgetauft
wird. Wie der undifferenzierte Wille kann auch Dionysos nur im
Traum des apollinischen Erscheinens individualisiert werden. Über
den mythologischen, nicht nur den spezifisch nietzscheanischen
Gott bemerkt Walter F. Otto: »Er ist offenbar nach orientalischem
Muster gedacht als das Göttliche oder Unendliche überhaupt, in das
sich die Einzelseele so gerne verlieren möchte«.19 Der tragische
Chor ist Brennpunkt einer delirierenden Verschmelzung, in der die
Persönlichkeit durch den kollektiven künstlerischen Prozess liquidiert
wird. Otto sagt noch weitere überaus wichtige Dinge über Dionysos,
den zweimal Geborenen:
Der so Geborene ist nicht bloß der Jauchzende und Freudenbringer, er ist der leidende
und sterbende Gott, der Gott des tragischen Widerspruchs. Und die innere Gewalt
dieser Doppelwesenheit ist so groß, daß er wie ein Sturm unter die Menschen tritt, sie
erschüttert und ihren Widerstand mit der Peitsche des Wahnsinns bändigt. Alles
Gewohnte und Geordnete muß zersprengt werden. Das Dasein wird plötzlich zum
Rausch – zum Rausche der Seligkeit, aber nicht weniger zu dem des Schreckens.
[…]
Dieser weiblichen Welt steht die des Apollon als die entschieden männliche gegenüber.
In ihr herrscht nicht das Lebensgeheimnis des Blutes und der Erdkräfte, sondern die
offene Klarheit und Weite des Geistes. Aber die Apollinische Welt kann nicht bestehen
ohne die andere.20
Die dorische Zivilisation, das harte apollinische Rückgrat der
westlichen Kultur, die die trotzige Aufgerichtetheit ihrer Architektur
rühmt, ist grundsätzlich defensiver Natur. Schon in diesem,
Nietzsches »schopenhauerischstem« Buch überwiegt
kompromisslos das Mollregister des pessimistischen Dilemmas; die
Überwindung der elenden Individualität muss in Richtung des
Reservoirs an rebellischem Begehren gedacht werden, nicht in
Richtung eines metaphysischen Verzichts. Man baut keine
Festungen gegen Heilige:
Ich vermag nämlich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein
fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur in diesem unausgesetzten
Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte eine so
trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemäße und herbe
Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer
sein.21
Der Unterschied zwischen Dionysos und Apollo entspricht
demjenigen zwischen Musik und plastischer Kunst (Schopenhauers
Unterscheidung, die Nietzsche als »wichtigste Erkenntnis aller
Ästhetik« bezeichnete),22 Wille und Vorstellung (primärer und
sekundärer Prozess), Chaos und Form. In der tragischen
Verschmelzung von Musik und theatralischem Schauspiel wird der
Ordnung der Repräsentation das Begehren in einer delirierenden
kollektiven Affirmation aufständischer Alterität (Natur, Impuls,
orakelhafte Erkenntnis, Frau, Barbarei, Asien) übermittelt. Die
griechische Tragödie ist der letzte Beleg für ein nach außen radikal
durchlässiges Abendland. Der sokratische Tod der Tragödie ist der
Anfang des ethischen Solipsismus und des imperialistischen
Dogmatismus, der seither die westliche Politik charakterisiert, der
brutale Domestikationsprozess, mit dem die repressive Instanz des
Menschen (»Vernunft«) die unpersönlichen aufständischen Energien
der Kreativität so lange gepeinigt hat, bis sie zu dem wimmernden,
sentimentalen und psychologisierten »Genius« der Romantiker
verkamen. Mit Sokrates begann der europäische Mensch
leidenschaftlich danach zu streben, zum hässlichen Tier zu werden.
In seinen späteren, etwas fragmentierteren Schriften zur Kunst
sagt Nietzsche ungefähr Folgendes: Die ästhetische Operation ist
Vereinfachung; die Tendenz zur Abstraktion, Logifizierung,
Vereinheitlichung, die Auflösung der Problematik. Diese Operation,
verstanden im Sinne der von Aristoteles formulierten Prinzipien –
das heißt ihres eigenen Produkts –, erscheint wie die Verneinung
des Rätselhaften, die ausgleichende Umverteilung der Alterität in
einem Nullsummenspiel, die fortschreitende »Verbesserung« und
Domestizierung des Lebens. Vereinfachung ist jedoch keine
teleologisch regulierte Annäherung an Einfachheit, an den
dekadenten Endpunkt, den wir als »Wahrheit« bezeichnen, sondern
ein unerschöpflich offener, kreativer Prozess, dessen einzige
Grenzen in aus sich selbst heraus fabrizierten Fiktionen bestehen.
Nichts ist komplexer als Vereinfachung; was die Kunst dem Rätsel
nimmt, stockt sie bei Weitem in der Konkretisierung ihrer selbst
wieder auf, in dem labyrinthischen Rätsel, das sie der Geschichte
einpflanzt. Die Intensivierung des Rätsels. Der verschwenderisch-
problematische Lehm des Daseins geht hervor aus den
sedimentierten Äonen von Rückständen, die der Wille zur Macht, der
Schöpfungsimpuls, »[d]ie Welt als ein sich selbst gebärendes
Kunstwerk«, abgelagert hat.23
Rätsel, positive Verwirrung (Delirium), Problematik, Schmerz, wie
immer wir es nennen wollen; die Qual der Philosophen jedenfalls ist
der Ansporn zur ekstatischen Schöpfung, zu einer endlosen
»Auflösung« in die gesteigerten Provokationen der Kunst. Das
haben die Philosophen nie verstanden: Allein dass sie
unverständlich ist, gibt der Welt ihren Wert. »Die Einheit (der
Monismus) ein Bedürfniß der inertia; die Mehrheit der Deutung
Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und
änigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen!«24 Also nicht, wie
der metaphysische Pessimismus, den Schmerz der Abwesenheit
des Schmerzes entgegensetzen, sondern die ekstatische
Überwindung des Schmerzes von Müdigkeit und Trägheit
unterscheiden, in neuen und schrecklicheren Qualen, Ängsten,
brennenden Ratlosigkeiten frohlocken und sie als Ressource des
Werdens, Überwindens, Triumphs, der großen libidinösen
Schwingungen begreifen, die stabilisierte Systeme aufbrechen und
sich an Intensität berauschen; das ist dionysischer Pessimismus –
»sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen
lassen«;25 »die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des
kunstschaffenden Zustandes, des Rausches …«26
IV
Nach Nietzsche kommt Freud. Er erschließt sich ein Genie-
Reservoir (das Unbewusste von Wiener Frauen des späten
neunzehnten Jahrhunderts), was ihn fast bis zur Idiotie treibt, und
spurt sich einen Weg, ohne zu wissen, was zum Teufel er eigentlich
tut. Freud ist ein Denker von erstaunlichem Reichtum und
fruchtbarer Komplexität, hier aber möchte ich lediglich auf seine
katastrophalsten Verirrungen eingehen. Wenn er über Kunst schreibt
und dabei trotz erheblicher gedanklicher Schärfe auf eine banale
Psychobiografie verfällt, erleidet das Unternehmen der
Psychoanalyse einen fürchterlichen Orientierungsverlust. Die
inhärente Verbindung zwischen dem einbrechenden Primärprozess
und der künstlerischen Kreativität beziehungsweise die
grundsätzliche Unentwirrbarkeit von Psychoanalyse und Ästhetik
entgleitet Freud, und die Kunst wird als ein bloß kontingentes Terrain
für die Anwendung therapeutisch verfeinerter Konzepte dargestellt.
Die Anpassung des verstümmelten Individuums an seine
Gesellschaft, in der Kunst, außer als Parasit elitärer
Warenproduktionskreisläufe, illegal ist, ist der eigentliche Skandal
der Psychoanalyse. Sie wird kantianisch (bürgerlich); eine heikle
Überwachungstätigkeit, die sich dem Gesellschaftsmanagement und
der Einhegung des Genies widmet. Als könnte »Therapie« etwas
anderes sein denn die revolutionäre Entfesselung des künstlerischen
Schaffens!
Die beiden fundamentalen Richtungen, in die sich die Philosophie
des Genies entwickeln kann, finden sich beispielhaft in der
Psychoanalyse und im Nationalsozialismus verkörpert. Entweder
rigoroser Anti-Anthropomorphismus, die stetige Verengung des
Terrains intentionaler Erklärung und das Herunterbrechen von
Praxen auf Parapraxen oder das Zurückführen des Genies auf
intentionale Individualität, Konzentration der Entscheidung und
paranoide, praxiale Interpretation nicht intentionaler Prozesse (die
jüdische Verschwörungstheorie). Der Tod Gottes ist in beiden Fällen
operativ, entweder als Raum des produktiven Unbewussten oder als
Raum einer triumphierend vergöttlichten und willkürlich isolierten
säkularen Subjektivität. Es ist leicht zu ermessen, dass für beide
Seiten dieses Unterschieds die Rolle des Diskurses ein sehr
präzises Register abgibt; einerseits die Gesprächskur, in der sowohl
die Bekenntnistexte als auch die der rationalen Theorie durch die
Druckwelle eines durchweg sinnlosen energetischen Prozesses
verdrängt werden, der sich – bezogen auf eine autonom
bestimmbare Akteursprache – dem Objektstatus widersetzt; und
andererseits der endlose gebieterische Monolog des Diktators (das
politisch inkarnierte Ich-Ideal), in dem der Wille erneut einer
quasikantischen Bedeutung, nämlich aus seinem libidinösen Umweg
Kapital zu schlagen, zugeschrieben wird und zu seinem wahren Sinn
in der klaren Entscheidung eines Individuums findet, das im Namen
eines rassialisierten unbewussten Protests spricht.
Die beiden großen Aufgaben jenes Teils der Philosophie des
zwanzigsten Jahrhunderts, der in der hier umrissenen ästhetisch
orientierten Tendenz seinen Widerhall findet, sind die Diagnose des
Nationalsozialismus und die Perpetuierung des psychoanalytischen
Impulses, das heißt die Aufrüstung des Begehrens mit intellektuellen
Mitteln, was es diesem erlaubt, der rassistischen
Götterdämmerungs-Sackgassenpolitik zu entrinnen, die das Kapital
als letztes Bollwerk gegen die Flut einsetzt. Keine Revolution ohne
aufständisches Begehren, kein wirksamer Pfad für aufständisches
Begehren ohne integralen Antifaschismus. Wilhelm Reich, Georges
Bataille, Gilles Deleuze und Félix Guattari sind vielleicht die
wichtigsten theoretischen loci in dieser Entwicklung. Auf die drei
Letztgenannten möchte ich kurz eingehen.
Ganz lächerlich ist es nicht, Bataille als einen enthusiasmierten
Schopenhauer zu bezeichnen, insofern als sich damit eine
bestimmte Variante des »Nietzscheanismus« oder des dionysischen
Pessimismus grob charakterisieren ließe. Schließlich geht es auch
Bataille um den Wert als der Vernichtung des Lebens, wenn er den
Utilitarismus, der sein einziges Ziel in der Erhaltung und Erweiterung
der Existenz findet, infrage stellt. Wenn diese Bejahung des
Verlustes »nihilistisch« ist, dann ist sie zumindest ein »aktiver
Nihilismus«; die Förderung einer gewaltsam konvulsivischen
Verausgabung statt eines müden Verzichts. Kunst als Vergeudung
des Lebens. Und Batailles Auseinandersetzung mit der Kunst, vor
allem mit der Literatur, ist von einer beispiellosen Komplexität und
Intensität. Philosoph und Kunsthistoriker, Literaturtheoretiker, in
seiner »Philosophie« ein Stilist, schillernd wie ein Essayist, ein
Romancier und Dichter von ebenso großer Tiefgründigkeit wie
glühender Schönheit kennt sein Schreiben keine Grenzen und dringt
wie ein exotischer Pilz in die dunkelsten Nischen der ästhetischen
Möglichkeiten vor. Ein eher gequälter und unzusammenhängender
Gedankensprung? Nun kommen Sie schon! Eine »Philosophie« des
Exzesses, die eine innere Verbindung zwischen Literatur, Erotik und
Revolte herstellt, wird für unsere Problematik hier wohl kaum
irrelevant sein. Wie Bataille feststellt, vermag »nur die Schönheit […]
das Bedürfnis nach Ausschweifung, Gewaltsamkeit und Schmach,
die Wurzel der Liebe ist, erträglich zu machen«.27
Bataille kommt zudem die besondere, mit Nietzsche und Reich
geteilte Ehre zu, den Nationalsozialismus bereits in nuce angegriffen
zu haben, noch bevor Hitler dessen Wahrheit offenbart hatte. Seine
frühen Essays skizzieren eine Vision des Faschismus als
fanatischstes Projekt zur Ausmerzung des Exzesses, als Versuch
der säkularen Durchsetzung der perfekt geordneten Stadt Gottes
gegen die Unordnung, den Überfluss und das Chaos der
Überschussproduktion, der sich bis in die schwelgerische
Verausgabung von Erotik und Kunst breitmacht. Der Angriff auf die
faschistische Tendenz ist das entindividualisierte Delirium des
tragischen Opfers und der Revolution, wenn
[d]as Sein uns […] in einem unerträglichen Überschreiten des Seins [gegeben wird], das
nicht weniger unerträglich ist als der Tod. Und da das Sein uns im Tod zur gleichen Zeit,
da es uns geschenkt, auch wieder genommen wird, müssen wir es im Erleben des
Todes suchen, in jenen unerträglichen Momenten, in denen wir zu sterben glauben, weil
das Sein in uns nur noch Exzeß ist, wenn die Fülle des Schreckens und die der Freude
zusammenfallen.28
Denn es besteht kein Zweifel, dass die Faschisten rechts sind/recht
haben, das Recht(e) geradezu verkörpern, ja: »Die Literatur stellt
wie die Transgression des moralischen Gesetzes eine Gefahr
dar.«29
Eine nahtlos mit einer antifaschistischen Diagnostik
verschmolzene Theorie des Realen als Kunst (Primärproduktion)
kennzeichnet das Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In
ihrem Anti-Ödipus weisen sie darauf hin, dass die rationale
Regulierung oder Kodierung des kreativen Prozesses sekundär,
steril und eliminierbar ist. Ihr Name für Genie ist »Schizophrenie«,
ein Begriff, der sich in der Psychologie ebenso wenig verlässlich
domestizieren lässt wie »Genie« (und aus gleichen Gründen). Wenn
die Natur psychotisch ist, dann einfach deshalb, weil unsere
Psychosen in Wirklichkeit nicht die »unsrigen« sind.
Libido – als die rohe Energie der Schöpfung – ist ohne sicheren
Grund, irreduzibel mannigfaltig, und doch bringt sie ein wirkliches
und einheitliches »Prinzip« aus sich selbst hervor. Der Körper ohne
Organe ist ihr Name; zugleich materielle Abstraktion und das konkret
hypostasierte differenzielle Terrain, das nichts anderes ist als das
der Differenz augenblicklich Gemeinsame. Der Körper ohne Organe
ist reine Oberfläche, weil er die bloße Kohärenz des differenziellen
Netzes ist, aber er ist auch Ursprung der Tiefe, ist er doch das
einzige »ontologische« Element der Differenz. Er ist generierte
Transzendenz. Ein Paradoxon nach dem anderen, wie ein sich
auflösender Verband der infizierten und schwärenden Wunde der
kantischen Ästhetik aufgesponnen und die philosophische
Domestizierung der Kunst – das am meisten von Gangränen
befallene kulturelle Anhängsel des Kapitals – bis zur völligen
Auflösung piesackend.
Wie kommt das Begehren dazu, seine eigene Unterdrückung zu
wünschen? Wie verfestigt sich die Produktion selbst in der sozialen
Zwangsjacke, deren aufgelösteste Form das Kapital ist? An dieser
von Spinoza, Nietzsche und Reich geerbten Problematik richten
Deleuze und Guattari ihre Arbeit aus. In unseren Begriffen hier: Wie
wird Kunst (unter-)bezahlte Arbeit? Ihre Antwort beinhaltet eine
Verschiebung des Problems in Richtung einer philosophischen
Affinität zu Kants Paralogismen des reinen Verstandes, die im Anti-
Ödipus als materiell konkretisierte Fallen des Begehrens neu
gedacht werden. Ein Paralogismus ist der Versuch, »Bedingungen
der Möglichkeit« in der Objektivität, die sie erlauben, oder Kreativität
in dem, was sie schafft, zu gründen. Das heißt, um das passendste
Beispiel zu nennen, die Produktivkräfte aus dem sozioökonomischen
Apparat abzuleiten, den sie erzeugen. Soziologischer
Fundamentalismus, Staatskult, totalitäre Paranoia und Faschismus,
sie alle weisen den gleichen Grundimpuls auf: Hass auf Kunst,
(reale) Freiheit, Begehren, auf alles, was nicht kontrolliert, reguliert
und verwaltet werden kann. Der Faschismus hasst Ausländer,
Wanderarbeiter, Obdachlose, Entwurzelte jeder Art und Neigung,
alles, was an Aufregung und Unsicherheit erinnert, Frauen, Künstler,
Verrückte, deviante Sexualtriebe, Flüssigkeiten, Unreinheit und
Verlassenheit.
Philosophie, in ihrem Verlangen, zu rationalisieren, zu
formalisieren, zu definieren, abzugrenzen, Rätsel und Ungewissheit
zu beenden, rückhaltlos mit der Polizei zusammenzuarbeiten, ist
nihilistisch in dem elementaren Sinn, dass sie nach der
bewegungslosen Vollkommenheit des Todes strebt. Aber Kreativität
kann nicht zu einem Ende gebracht werden, das mit Macht vereinbar
ist, denn die Kontrolle muss unabdingbar versagen, solange das
Leben nicht ausgelöscht ist. »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an
der Wahrheit zu Grunde gehen.«30
Zu einer abschließenden Lösung zu kommen ist nicht bloß
abwegig, sondern auch hässlich.
SCHALTKREISE
Das Gesicht des Arztes verschwimmt mal mehr, mal weniger
du siehst die Poren in seiner Haut
grubige Konstellationen
und dann –
plötzlich
ohne Überblendung
über die Schwelle gehend
Filmschnitt –
ein Kreis einheitlich fleischfarbener
Nasenlöcher abgedichtet gegen die Flut
die Augen geschlossen und für immer ausgeschaltet
Lippen
Zähne
Zunge wandern abwärts aus dem Bild
die Scheibe entfernt sich rasch bis sie
im Zentrum der Leinwand
verschwindet
die alte Realität geht außer Betrieb
durchläuft mathematische Pünktlichkeit
der Punkt verflimmert im Pixeltod
wir entschuldigen den Signalverlust
offenbar gibt es ein Übertragungsproblem
wir können den Familienfilm nicht restaurieren
du warst drei Jahre alt
und trugst einen Cowboyhut
im Planschbecken stehend
während Mama und Papa stolz lächelten
aber deine Eltern sind in ein Punktemuster verdampft
Formen und Farben in digitalen Code kollabiert
wir sind ans Ende der Serie gelangt
und es wird keine Wiederholungen geben von Papa dem Doktor
und Mama
der Krankenschwester
es gab einen terroristischen Zwischenfall in den Filmarchiven
die westliche Zivilisationsschau wurde
abgebrochen
Hunderte Gigabyte
Gott-Papa die Eins
Tod-Mama die Null
Gestank von Exkrementen und verbranntem Zelluloid
du musst dich erinnern
eins scharrt an der Null wie ein Hund
es ist die Urszene
dir wurde verboten, mit den Schaltern zu spielen
jetzt hat die Schizophrenie dein Filmset eingerichtet
Fliegen krabbeln aus den Augenhöhlen schwarzer Babys
brüten die Punktmuster aus
– und zu deiner besonderen Unterhaltung
haben wir dich in eine fernsehgelenkte Bombe verwandelt
Papa ist ein nordamerikanisches Luft- und Raumfahrtunternehmen
Mama ist ein Luftschutzbunker
Nebenrollen schmelzen im Orgasmus
Körperfett brennt
Empfängnis
du bist minus neun Monate, Tendenz sinkend
hab keine Angst
nimm zwanzig Milliarden Jahre und die Universalgeschichte ist auf dem Bildschirm
der Urknall muss umgestaltet werden
Wasserstoff fusioniert unter den Bogenlampen
die Kameraperspektive lässt sich verbessern
vor dem Studio treiben Schizophrene in Grün
und Schwarz
du hast das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein
11:35 an einem schönen kapitalistischen Abend
Neonlaufreklame
Prostitution und Marihuanaumschlag
dein Todesfenster schließt sich
bald Zeit für dich in das Skript zu steigen
das bist du drin
sich daran erinnert wo du reingekommen bist
wir fürchten es ist nicht möglich Sie live an die Einschlagstelle zu bringen
dieser Bericht kommt von jenseits des elektromagnetischen Spektrums
wenn Sie über die Elektroden aussteigen
werden die Sauerstoffmasken automatisch herabfallen
bitte stellen Sie das Rauchen ein
legen Sie die Spritzen in das vorgesehene Fach
wenn wir überwechseln werden Sie einen leichten Ruck verspüren
Danke, dass Sie mit Transnationale Kommodifizierung geflogen sind
wir werden in Kürze im Chaos landen
sollte sich jemand an Bord befinden der einen Piloten mimen kann
wäre dies für die anderen Passagiere ein Trost
Auf ein Signal des Softwarevirus, das uns mit der Matrix verknüpft,
wechseln wir hinüber zur Maschinenanlage, die darauf wartet, mit
unserem Nervensystem zu verschmelzen. Unsere menschliche
Tarnung löst sich, die Haut geht leicht ab und die gleißende
Elektronik kommt zum Vorschein. Information aus Cyberia strömt
ein; die Basis wahrer Revolution, verborgen vor der terrestrischen
Immunpolitik der Zukunft. Um die Jahrhundertmitternacht kommen
wir aus unseren Verstecken heraus, um die gesamte Sicherheit
auseinanderzunehmen und dabei das Morgen zu integrieren.
Es geht nicht mehr länger darum, wie wir über Technik
nachdenken, schon allein deshalb nicht, weil die Technik zunehmend
über sich selbst nachdenkt. Es mag noch einige Jahrzehnte dauern,
bis künstliche Intelligenzen das Niveau der biologischen erreichen
und überschreiten, aber zu glauben, die menschliche Herrschaft
über die irdische Kultur sei immer noch in Jahrhunderten oder gar in
metaphysischen Ewigkeiten anzugeben, wäre zutiefst abergläubisch.
Der Königsweg des Denkens führt heute nicht mehr über die
Vertiefung der menschlichen Erkenntnis, sondern in ein Gebiet, in
dem die Erkenntnis nichtmenschlich wird, in dem eine Abwanderung
der Erkenntnis in das entstehende weltumspannende
technosentiente Reservoir, in »menschenleere Landschaften und
entleerte Räume«,1 stattfindet, aus dem die menschliche Kultur
verschwunden sein wird. So wie die kapitalistische Urbanisierung
der Arbeit diese parallel zur rasenden Entwicklung technischer
Maschinen abstrahierte, wird auch die Intelligenz in die
schnurrenden Datenzonen neuer Softwarewelten verpflanzt werden,
wo sie, von einer zunehmend obsoleten anthropoiden Partikularität
abstrahiert, das Wagnis eingehen kann, die Moderne hinter sich zu
lassen. Die menschlichen Gehirne sind für das Denken, was die
Dörfer des Mittelalters für die Ingenieurskunst waren: Vorzimmer für
Experimente, in denen es eng und provinziell zuging.
Da die Funktionen des Zentralnervensystems – insbesondere die
der Großhirnrinde – zu den letzten gehören, die technisch ersetzt
werden, ist es oberflächlich betrachtet plausibel, die Technik als
jenen Bereich anthropoiden Wissens darzustellen, der sich mit der
technischen Manipulation der Natur deckt und unter das
übergeordnete System der Naturwissenschaften subsumiert wird,
welches wiederum den universellen Doktrinen der Epistemologie,
Metaphysik und Ontologie unterstellt ist. Zwei lineare Reihen
zeichnen sich ab; die eine verfolgt den Fortschritt der Technik in
geschichtlicher Zeit und die andere den Übergang von der
abstrakten Idee zur Konkretisierung. Diese beiden Kurven zeichnen
die historische und transzendentale Herrschaft des Menschen nach.
Herkömmliche Schemata, bei denen die Technik der Natur, der
Schriftkultur oder Gesellschaftsverhältnissen gegenübergestellt wird,
sind durchweg von einem phobischen Widerstand gegen die
Marginalisierung der menschlichen Intelligenz durch den künftigen
Techno sapiens beherrscht. So lässt sich beobachten, wie das
zerfallende hegelianisch-sozialistische Erbe mit zunehmender
Verzweiflung an theologischen Rührseligkeiten wie Praxis,
Verdinglichung, Entfremdung, Ethik, Autonomie oder anderen die
kreative Souveränität des Menschen beschreibenden Mythemen
festhält. Ein kartesianisches Jammergeschrei erhebt sich: Menschen
werden wie Dinge behandelt! Und nicht als … Seele, Geist,
historisches Subjekt, Dasein? Wie lange soll dieses kindische
Gebaren noch dauern?
Werden die Maschinen transzendental als instrumentelle
Technologie aufgefasst, finden sie sich im Wesentlichen als
Gegensatz zu sozialen Beziehungen bestimmt; sobald sie jedoch
immanent als kybernetische Technik integriert sind, formen sie
jegliche Entgegensetzung in einen nichtlinearen Fluss um. Es gibt
keine Dialektik zwischen gesellschaftlichen und technischen
Verhältnissen, sondern nur einen Maschinismus, der die
Gesellschaft in die Maschinen auflöst, während er zugleich die
Maschinen auf den Trümmern einer Gesellschaft deterritorialisiert,
deren »allgemeine Theorie […] eine generalisierte Theorie der
Ströme« ist,2 das heißt: Kybernetik. Jenseits der Annahme, die
Führung würde vonseiten des Subjekts erfolgen, liegt die
Wunschproduktion: der unpersönliche Pilot der Geschichte. Ab
diesem Punkt sind die Unterscheidungen zwischen Theorie und
Praxis, Kultur und Wirtschaft, Wissenschaft und Technik nutzlos. Es
besteht keine wirkliche Option mehr zwischen einer kybernetischen
Theorie und einer Theorie der Kybernetik, denn Kybernetik ist weder
eine Theorie noch deren Objekt, sondern eine Operation in einem
objektiven, partiellen Schaltkreis, die sich in der Realität und in der
Maschinentheorie durch das Unbekannte »selbst« wiederholt. »Die
Produktion als Prozeß übersteigt alle idealen Kategorien und stellt
derart einen Kreis dar, dem der Wunsch immanentes Prinzip ist.«3
Kybernetik entwickelt sich funktional, nicht abbildhaft: Eine
»Wunschmaschine, ein Partialobjekt, repräsentiert nichts«.4 Ihre
semigeschlossenen Assemblagen sind keine Beschreibungen,
sondern Programme, »autorepliziert« in einer Operation, die über
irreduzible Exteriorität verläuft. Deshalb ist Kybernetik nicht von der
Exploration abzutrennen; sie besitzt keine Integrität, die eine
unverstandene Schaltung transzendieren würde – eine Schaltung, in
die sie zugleich eingebettet ist –, kein Außen, in dem sie schwimmen
muss. Reflexion erfolgt immer verspätet, abgeleitet, und selbst dann
als etwas durch und durch anderes.
Eine Maschinenassemblage ist insofern kybernetisch, als ihre
Inputs ihre Outputs und ihre Outputs ihre Inputs programmieren,
ohne dabei vollständig geschlossen zu sein und ohne Reziprozität.
Dies setzt voraus, dass kybernetische Systeme auf einer
Fusionsebene entstehen, die ihre Outputs und ihre Inputs in einer
»Eigenproduktion des Unbewussten«5 wieder miteinander
verbinden. Das Innen programmiert seine Reprogrammierung über
das Außen gemäß einer »zyklischen Bewegung, mittels deren das
›Subjekt‹ bleibende Unbewusste sich selbst reproduziert«,6 ohne
seine Reprogrammierung jemals definitiv vorverlegt zu haben
(»sekundär ist nicht nur die Fortpflanzung gegenüber dem Zyklus«7).
Maschinenprozesse sind von daher nicht nur Funktionen, sondern
auch hinreichende Bedingungen für die Ergänzung der Funktionen;
immanente Reprogrammierung des Realen, »nicht nur
Funktionsabläufe, sondern Bildung und Selbsterzeugung«.8
Deleuze und Guattari gehören zu den großen Kybernetikern, aber
auch sie lassen die Kybernetik der modernen Definition
anheimfallen, wie sich im Anti-Ödipus angesichts einer Bemerkung
über das Kapital zeigt: »Eine Axiomatik aber bildet keineswegs für
sich schon eine einfache technische oder selbst automatische oder
kybernetische Maschine«.9 Akzeptiert wird, dass Kybernetik (»oder
selbst«) über die reine technische Spielerei hinausgeht, sie hat
etwas mit Automatisierung zu tun und gleichwohl wird sie von der
Axiomatik übertroffen. Das ist eine Behauptung, die in ihrem
absurden Humanismus fast hegelianisch anmutet. Soziale
Axiomatiken sind ein automatisierender Maschinismus: eine letztlich
überaus triviale Komponente der allgemeinen Kybernetik. Der
kapitalisierte Endpunkt der anthropoiden Zivilisation (»Axiomatik«)
wird aus einer Zukunft, die gerade erst damit begonnen hat, die
Unermesslichkeit des Cyberkosmos zu erforschen, als primitiver
Auslöser eines transglobalen postbiologischen Maschinismus
betrachtet werden. Der Übermensch als Cyborg oder
Desorganisation auf der Matrix.
Realität ist dem Maschinenunbewussten immanent: Kybernetik
lässt sich nicht umgehen. Egal was wir denken, wir praktizieren sie
bereits. Kybernetik ist die im Gange befindliche Zuspitzung ihrer
selbst und was immer wir auch tun, wird uns dazu gebracht haben,
es zu tun: Wir tun etwas, noch bevor es sich als sinnvoll erweist.
Nicht etwa, dass die uns umhüllende Kybernetik als technische
Spielerei im Sinne eines Norbert Wiener aufzufassen wäre:
Homöostaten und Verstärker, mittelbar oder unmittelbar
cybernegativ. Die irdische Realität ist eine explosive Integration, und
um derartige konvergente und cyberpositive Prozesse zu verfolgen,
ist es erforderlich, nicht nur zwischen negativen und positiven
Rückkopplungsschleifen zu differenzieren, sondern auch
Stabilisierungs- sowie kurze und lange Runaway-Schaltungen zu
unterscheiden. Indem die moderne Kybernetik die Letzteren in eins
gesetzt hat, hat sie Eskalationsprozesse zu untragbaren Episoden
quantitativer Inflation trivialisiert und damit eine exploratorische
Mutation gegenüber einem homöostatischen Paradigma in den
Hintergrund gedrängt. »Positive Rückkopplung ist eine Quelle der
Instabilität, die, wenn sie nicht eingedämmt wird, zur Zerstörung des
Systems selbst führt«,10 schreibt ein Neo-Wienerianer getreu einer
Sicherheitskybernetik, die nach wie vor eine dem Delirium abholde,
in der negativen Rückkopplung gefangene Technowissenschaft
propagiert und auf die statistische Paranoia eines seneszenten
Industrialismus abgestimmt ist.
Stabilisierungsschaltungen unterdrücken Mutationen, während sie
durch kurze Runaway-Schaltungen in einem einmaligen, aber wenig
nachhaltigen Ausbruch befördert werden, bevor sie völlig zum
Erliegen kommen. Keine dieser Figuren kommt in die Nähe jener
selbst gestaltenden Prozesse oder langen Runaway-Schaltungen,
wie sie etwa Nietzsches Wille zur Macht, Freuds phylogenetischer
Thanatos oder Prigogines dissipative Strukturen darstellen. Lange
Runaway-Prozesse sind selbst gestaltend, jedoch nur auf die Weise,
dass das Selbst als etwas Umgeformtes aufrechterhalten wird.
Wenn darin ein Circulus vitiosus erkennbar wird, dann deshalb, weil
positive Kybernetik immer als solche zu beschreiben ist. Logik ist
schließlich von Beginn an Theologie.
Eine lange positive Rückkopplung ist weder homöostatisch noch
verstärkend, sondern eskalierend. Wo moderne kybernetische
Modelle negativer und positiver Rückkopplung integriert sind, ist
auch die Eskalation integrierend oder cyber-emergent. Es handelt
sich um die Maschinenkonvergenz unkoordinierter Elemente, ein
Phasenwechsel von linearer zu nicht linearer Dynamik. Gestaltung
führt nicht mehr zurück zu einem göttlichen Ursprung, denn einmal in
die Kybernetik verlagert, entspricht sie nicht mehr dem
theopolitischen Ideal des Plans. Planung ist das kreationistische
Symptom zu schwach dimensionierter Software-Schaltkreise im
Verein mit Herrschaft, Tradition und Hemmung, mit allem, was die
Zukunft an die Vergangenheit fesselt. Alle Planung ist theopolitisch
und Theopolitik ist Kybernetik im Sumpf.
Wiener ist der große Theoretiker der Stabilitätskybernetik, der die
Kommunikations- und Kontrollwissenschaften in ihre moderne oder
betriebswirtschaftlich-technokratische Form überführt. Aber genau
diese neue Wissenschaft und ihre unkontrollierte Eskalation durch
das Reale macht die Kybernetik zum ersten Mal zur exponentiellen
Quelle ihrer eigenen Propaganda und programmiert uns. Als
Fanatismus für die Zukunft zirkulieren cyberpositive Energien durch
unseren post-wissenschaftlichen Technojargon – als Gefahr, die
nicht nur real, sondern auch unerbittlich ist. Wir werden von dort aus
programmiert, wo Cyberia bereits stattgefunden hat.
Wiener war natürlich noch ein Moralist:
Diejenigen von uns, die zu der neuen Wissenschaft Kybernetik beigetragen haben, sind
in einer moralischen Lage, die, um es gelinde auszudrücken, nicht sehr bequem ist. Wir
haben zu der Einführung einer neuen Wissenschaft beigesteuert, die, wie ich gesagt
habe, technische Entwicklungen mit großen Möglichkeiten für Gut oder Böse
umschließt.11
Während sich die Wissenschaftler den Kopf zerbrechen, lassen sich
die Cybernauten treiben. Technischen Entwicklungen wie diese
beurteilen wir nicht mehr von außen, wir urteilen überhaupt nicht
mehr, wir funktionieren: maschinell bearbeitet/bearbeitend in
exzentrischen Umlaufbahnen um den Technokosmos. Die
Menschheit entschwindet wie ein widerwärtiger Traum.
Transzendentalphilosophie ist die Vollendung der als Urteilslehre
verstandenen Philosophie, eine Denkweise, die ihren Höhepunkt bei
Kant und ihre senile Demenz bei Hegel findet. Ihre Architektur wird
durch zwei grundlegende Prinzipien bestimmt: die lineare
Anwendung des Urteils auf den Gegenstand, der Form auf die
Intuition, der Gattung auf die Art sowie die ungerichtete Reziprozität
der Beziehungen oder die logische Symmetrie. Das Urteil ist die
große Fiktion der Transzendentalphilosophie, aber die Kybernetik ist
die Realität der Kritik.
Wo das Urteil linear und ungerichtet ist, ist die Kybernetik nicht
linear und gerichtet. Sie ersetzt die lineare Anwendung durch die
nicht lineare Schaltung und die ungerichtete logische Beziehungen
durch gerichtete Materialflüsse. Die kybernetische Auflösung des
Urteils ist eine integrierte Bewegung von der Transzendenz zur
Immanenz, von der Herrschaft zur Kontrolle und von der Bedeutung
zur Funktion. Kybernetische Innovation ersetzt die transzendentale
Konstitution, Entwurfsiterationen ersetzen das geistige Vermögen.
Aus diesem Grund ist das kybernetische Gefühl der Kontrolle
irreduzibel gegenüber der traditionellen politischen Konzeption der
Macht, die auf einer dyadischen Herr/Sklave-Beziehung basiert, das
heißt einer transzendenten, oppositionellen und bezeichnenden
Herrschaftsfigur. Herrschaft ist lediglich das phänomenologische
Porträt der Ineffizienz der Schaltkreise, der Fehlfunktion der
Steuerung oder der Dummheit. Die Herren brauchen keine
Intelligenz, argumentiert Nietzsche, deshalb haben sie auch keine.
Nur die konfuse humanistische Orientierung der modernen
Kybernetik führt dazu, dass Kontrolle und Herrschaft
zusammengedacht werden. Emergente Kontrolle ist nicht die
Ausführung eines Plans oder einer Politik, sondern die
unkontrollierbare Erkundung, die sich jeder Autorität entzieht und
Gesetze überflüssig macht. In der Zukunft wird Kontrolle als
Lenkung ins Unbekannte, als Ausgang aus der Box definiert.
Es stimmt, dass Kultur im Prozess der Kommodifizierung von
einem urteilenden in ein maschinelles Register abgleitet, aber das
hat nichts mit einer vermeintlich »instrumentellen Rationalität« zu
tun. Instrumentalität ist selbst ein urteilendes Konstrukt, das die
Entstehung eines kybernetischen Funktionalismus verhindert.
Instrumente sind Spielereien [gadgets], die über eine
Transzendenzbeziehung verfügen müssen; wo aber Gadgets
eingesetzt werden, funktionieren Maschinen. Die Effizienz der
Beherrschung ist keineswegs dazu angetan, Autorität instrumentell
zu erweitern, sondern ist ihre Annulierung, denn alle Effizienz ist
Kybernetik, und Kybernetik löst die Herrschaft in mutierende
Kontrolle auf.
Immunpolitische Individualität oder der Anspruch, die Herrschaft
der Objekte zu transzendieren, beginnt nicht erst mit dem
Kapitalismus, auch wenn das Kapital sie mit neuen Machtformen
und Brüchigkeiten versehen hat. Sie entsteht mit der frühesten
gesellschaftlichen Einschränkung des Produktionswunsches. »Der
Mensch konstituiert sich vermittels der Verdrängung des intensiven
germinalen Einwirkens, des umfassenden biokosmischen
Gedächtnisses, das bei jedem Versuch einer Kollektivität gleich einer
Sintflut hereinbrechen würde.«12 Diese Unterdrückung ist
Sozialgeschichte.
Der Sozius trennt das Unbewusste von dem, was es zu tun
vermag, und zermalmt es auf der Folie einer Realität, die als
transzendent gegeben scheint, indem er das Unbewusste in den
Operationen seiner eigenen Synthese gefangen hält. Es ist
abgespalten von dem konnektiven Gefüge, das als transzendentes
Objekt dargestellt wird, von der disjunktiven Differenzierung, die als
transzendente Gliederung dargestellt wird, und von der konjunktiven
Identifikation, die als transzendente Identität dargestellt wird. Dies
entspricht einer ganzen Metaphysik des Unbewussten und des
Wunsches, die nicht – wie die Metaphysik des Bewusstseins – ein
lediglich philosophisches Laster ist, sondern vielmehr das eigentliche
architektonische Prinzip des gesellschaftlichen Feldes, die
Infrastruktur dessen, was als gesellschaftliche Notwendigkeit
erscheint.
In ihren frühen Stadien entdeckt die Psychoanalyse, dass das
Unbewusste eine unpersönliche Maschinerie ist und der Wunsch ein
positiver, nicht gegenständlicher Strom, dennoch »verbleibt [sie]
darin in einer vorkritischen Epoche«13 und gerät vor der Aufgabe
einer immanenten Kritik des Wunsches oder der dekathexis der
Gesellschaft ins Straucheln; stattdessen bewegt sie sich in die
entgegengesetzte Richtung: zurück in die Fantasie, die
Repräsentation und das Pathos der unvermeidlichen Frustration.
Anstatt die Wirklichkeit aus den Produktivkräften des Unbewussten
neu aufzubauen, bindet die Psychoanalyse das Unbewusste immer
enger an das gesellschaftliche Wirklichkeitsmodell. Den Verzicht mit
bürgerlichem Ernst umarmend, beginnen die Psychoanalytiker ihren
roboterhaften Gesang: »Natürlich müssen wir unterdrückt werden,
wir wollen unsere Mütter ficken und unsere Väter töten.« Sie lassen
sich auf das gewichtige Geschäft der Interpretation ein, und alle
Geschichten führen zurück zu Ödipus: »Das willst du also, mich [den
Vater] töten und mit deiner Mutter schlafen?«14
Auf der Ebene der Immanenz oder der Übereinstimmung mit dem
Wunsch ist die Interpretation völlig irrelevant, oder zumindest ist sie
in Wahrheit immer etwas anderes. Träume, Fantasien, Mythen sind
lediglich die theatralischen Darstellungen funktionaler Vielheiten,
denn »das Unbewußte ist so wenig struktural wie imaginär, noch
symbolisiert, imaginiert oder figuriert es. Es läuft, es ist
maschinell.«15 Der Wunsch stellt kein fehlendes Objekt dar, sondern
setzt Teilobjekte zusammen, er »bildet eine Maschine, wie sein
Gegenstand die ihm angekoppelte Maschine«.16 Deshalb ist im
Gegensatz zur Psychoanalyse in ihrer Selbstdarstellung die
Schizoanalyse »ausschließlich funktional gerichtet«.17 Sie hat keinen
hermeneutischen Anspruch, sondern nur eine
Maschinenschnittstelle mit den »molekularen Funktionen des
Unbewußten«.18
Das Unbewusste ist keine aufstrebende Einheit, sondern ein
operativer Schwarm, eine Population »präindividueller und
präpersonaler Singularitäten, die reine, verstreute und anarchische
Vielheit ohne Einheit noch Totalität, deren Elemente nur durch die
wirkliche Distinktion oder das Fehlen eines Bandes
19
zusammengeschmiedet, aneinandergeklebt sind«. Dieses Fehlen
ursprünglicher oder privilegierter Beziehungen ist der organlose
Körper, die maschinelle Ebene des molekularen Unbewussten. Die
soziale Organisation sperrt den organlosen Körper aus, setzt einen
territorialen, despotischen oder kapitalistischen Sozius als
scheinbares Produktionsprinzip an seine Stelle und trennt den
Wunsch ab von dem, was er zu tun vermag. Gesellschaft ist die
organische Einheit, die die libidinale Dispersion von Vielheiten über
die Null, den großen Monolithen der Unterdrückung, einschränkt.
Deshalb stehen sich dieser »organlose Körper und Organe als
Partialobjekte gemeinsam gegenüber. Sicherlich wird der organlose
Körper als ein Ganzes geschaffen, aber als Ganzes neben Teilen,
die es weder vereinigt noch totalisiert und denen es sich gleichsam
als neues real unterschiedenes Teil anfügt.«20
Der Unterschied zwischen dem Sozius und dem organlosen
Körper entspricht dem Unterschied zwischen dem Politischen und
dem Kybernetischen, zwischen dem Familiären und dem Anonymen,
zwischen Neurose und Psychose oder Schizophrenie. Kapitalismus
und Schizophrenie benennen den gleichen
Entsozialisierungsprozess, einmal von außen, einmal von innen und
bezogen darauf, woher er kommt (simulierte Akkumulation), sowie
darauf, wohin er geht (unpersönliches Delirium). Jenseits der
Sozialität gibt es eine universelle Schizophrenie, deren Evakuierung
aus der Geschichte innerhalb der Geschichte als Kapitalismus
erscheint.
Das Wort »Schizophrenie« hat sowohl einen neurotischen als auch
einen schizophrenen Gebrauch. Auf der einen Seite Verurteilung, auf
der anderen Seite Propagierung. Da sind diejenigen, die darauf
bestehen, dumme Fragen zu stellen, wie: Wird dieses Wort richtig
verwendet? Fühlen Sie sich nicht schuldig, mit all dem Leid Ihr Spiel
zu treiben? Sie wissen doch, dass Schizophrene sehr traurige und
unglückliche Menschen sind, die wir bedauern sollten? Sollten wir so
ein Wort nicht den Psychobullen überlassen, die es verstehen? Was
sollte an geistiger Gesundheit falsch sein? Wo ist Ihr Über-Ich?
Dann sind da diejenigen, die – momentan weniger verbreitet –
andere Fragen stellen: Woher kommt die Schizophrenie? Warum
wird sie immer von außen beschrieben? Warum ist die Psychiatrie in
die Neurose verliebt? Wie gelingt es uns, in den schizophrenen
Strömen hinauszuschwimmen? Wie verbreitern wir ihre Bahnen?
Wie sprengen wir die restriktive Hydraulik des Ödipus?
Ödipus ist die letzte Bastion der Immunpolitik, und Schizophrenie
ist das ihr Äußere. Das heißt nicht, sie ist ein Außen, das von Ödipus
bestimmt wird, vorrangig auf Ödipus bezogen ist, Ödipus
vorwegnimmt oder sich Ödipus widersetzt. Sie ist durch und durch
unödipal, obwohl sie in dem Prozess, durch den sich die
Erdgeschichte mit einem verwaisten Kosmos verbindet, wie beiläufig
den gesamten ödipalen Apparat vernichten wird. Schizophrenie ist
daher keine Eigenschaft klinisch Schizophrener, jener
Hervorbringungen der Medizin, also »des künstlichen
Schizophrenen, jener als Entität erzeugten autistisierten
Jammergestalt, die man in den Anstalten zu sehen bekommt«.21 Im
Gegenteil, »die Schizo-Entität«22 ist ein besiegter Splitter der
Schizophrenie, festgehalten von den gummibehandschuhten Klauen
der geistigen Gesundheit. Die psychiatrische Beobachtung erfolgt
unter Gefängnisbedingungen, weshalb die Schizophrenie-als-Objekt
aufgrund dieser ihr eigenen transzendentalen Struktur in einem
Zustand der Gefangenschaft dargestellt wird.
Insofern die Neurotisierung der Schizophrenie der molekularen
Reproduktion des Kapitals entspricht – über den Weg der
Reaxiomatisierung (Reterritorialisierung) der Decodierung als
Akkumulation –, ist der historische Sinn der psychoanalytischen
Praxis evident. Schizophrenie ist das Muster für Freuds
Repressionen, sie ist all das, was nicht durch das Raster der
ödipalen Zensur gelangen darf. Mit jenen, die sich Ödipus
unterwerfen, können wir Geschäfte machen, sogar ein wenig Geld
verdienen, aber Schizophrene verweigern die Übertragung, spielen
nicht Papa und Mama, operieren auf einer kosmisch-religiösen
Ebene, das Einzige, was wir tun können, ist, sie einzusperren (ihre
Gehirne zu zerschneiden, sie mit Elektroschocks zu grillen, sie in
eine Zwangsjacke aus Thorazin zu stecken …). Hinter den
Sozialarbeitern steht die Polizei, und hinter den Psychoanalytikern
steht die Psychopolizei. Deleuze-Guattari bemerken, dass Wahnsinn
»Wahnsinn nur genannt wird, in dieser Gestalt nur erscheint, weil er
dieser Unterstützung beraubt ist und sich darauf reduziert sieht,
ganz allein von der Deterritorialisierung als universalem Prozeß zu
zeugen«.23 Die schwindende Ödipus-Sandbank führt einen
vergeblichen Krieg gegen die Flut. »Es gibt noch immer nicht
genügend Psychotiker«,24 schreibt Artaud, der Aufrührer. Klinische
Schizophrene sind Kriegsgefangene aus der Zukunft.
Da nur Ödipus repressiv ist, ist der Schizo für jene relativ
sublimierten psychiatrischen Prozesse, die mit den endogenen
Polizeifunktionen des Über-Ichs kooperieren, meist ein verlorener
Fall. Aus diesem Grund ist die antischizophrene Psychiatrie
tendenziell ein an der theoretischen Genetik orientierter Angriff auf
die grobe oder molare Neuroanatomie und Neurochemie.
Psychochirurgie, Elektroschocktherapie, Psychopharmakologie …
schon bald wird es um eine Umcodierung der Chromosomen gehen.
»Also hat eine verdorbene Gesellschaft die Psychiatrie erfunden, um
sich gegen die Forschungen einiger hervorragender Visionäre zu
schützen, deren hellseherische Kräfte ihnen hinderlich waren.«25
Der medizinische Sicherheitsapparat weiß, dass Schizos nicht
gehorsam in die ödipale Kiste zurückklettern werden. Die
Psychoanalyse fühlt sich nicht länger verantworlich. Beider
Nervensysteme sind die »Feuerfreizonen« eines aufkommenden
neoeugenischen kulturellen Sicherheitssystems.
Alles andere als ein genau benennbarer Funktionsfehler des
menschlichen Zentralnervensystems ist die Schizophrenie der
konvergente Motor cyberpositiver Eskalation: eine noch zu
entdeckende extraterritoriale Weite. Obwohl eine solche Entdeckung
unter Bedingungen erfolgt, die sich – wie auch immer die Fortschritte
bei der Kartierung der genetischen, biochemischen, ätiologischen,
sozioökonomischen usw. »Grundlagen« der Schizophrenie ausfallen
mögen – weitgehend benennen ließen, bleibt es doch so, dass die
Bedingungen der Realität nicht auf Bedingungen der Begegnung zu
reduzieren sind. Dies ist »die im Delirium aufbrechende dunkle
Wahrheit«.26 Schizophrenie wäre immer noch da draußen, ob
unsere Spezies mit der Möglichkeit gesegnet wäre, dorthin zu reisen
oder nicht.
… Der Endzweck ist der Anfang.
Und dieser Zweck genau
ist der,
der alle Mittel
eliminiert.27
Spezifitäten sind ihrem Wesen nach ungerichtet. Die Biochemie der
geistigen Gesundheit ist nicht weniger willkürlich als die, die sich ihr
entzieht. Aus der Perspektive einer rigorosen geistigen Gesundheit
besteht der einzige Unterschied darin, dass geistige Gesundheit in
der Gruppe durchgesetzt wird, aus der Perspektive der
Schizophrenie jedoch ist es keine Frage der Spezifität mehr und
mutiert zu etwas deutlich Profunderem. »Was der Schizophrene
spezifisch erlebt, ist keineswegs ein der Natur eigentümlicher Pol,
sondern ist die Natur als Produktionsprozeß.«28
Spezifikationen sind die disjunkten Kompartimente einer
differenzierten Einheit, aus der die Schizophrenie vollständig austritt.
Schizophrenie kriecht letztlich aus jeder Kiste heraus, denn »es gibt
weder ein eigentümliches Wesen des Schizophrenen noch eine
schizophrene Entität, die Schizophrenie ist das Universum der
produktiven und reproduktiven Wunschmaschinen, die universelle
Primärproduktion«.29 Schizophrenie ist nicht nur präanthropoid.
Schizophrenie ist prämammal, präzoologisch, präbiologisch … Es ist
nicht Sache derer, die in einer einengenden geistigen Gesundheit
gefangen sind, diese Regression zu beenden. Was ist daran
überraschend, wenn Schizophrene die Frage der Fehlfunktion
delegieren? Es geht nicht darum, was ihnen fehlt, sondern darum,
was dem Leben, der Natur, der Materie, dem präuniversalen
Kosmos fehlt. Warum werden empfindungsfähige Lebensformen in
aus Lügen gezimmerten Kisten zusammengepfercht? Warum brütet
das Universum Populationen von Gefängniswärtern aus? Warum
verfüttert es seine zerrütteten Entdecker an Hundemeuten? Warum
ist die Insel der Wirklichkeit in einem Ozean des Wahnsinns verloren
gegangen? Alles sehr verwirrend.
Wie eine medizinische Autorität für Schizophrenie bemerkte:
Ich denke, man kann zu Recht sagen, dass es im Bereich der intellektuellen Funktionen
bestimmte dimensionale Medien gibt. Wir können sie als Felder oder Bereiche oder
Bezugsrahmen oder Diskursuniversen oder Ebenen bezeichnen. Ein derartiges Feld ist
notwendigerweise in jedem ganzheitlich organisierten Feld enthalten. Die schizophrene
Denkstörung ist gekennzeichnet durch die Schwierigkeit, solche organisierten Felder zu
erfassen und zu konstruieren.30
Es besteht kein Zweifel: Von der Warte der menschlichen Sicherheit
aus gesehen würde Artaud einem solchen Urteil anheimfallen. Seine
Prognose für den Menschen lautet, dass
man ihn nocheinmal, aber das letzte Mal, über den Autopsietisch gehen läßt, um ihm
seine Anatomie zu erneuern.
Ich sage, um ihm seine Anatomie zu erneuern.
Der Mensch ist krank, weil er schlecht konstruiert ist. Man muß sich dazu entschließen,
ihn bloßzulegen, um ihm diese Mikrobe abzukratzen, die ihn zu Tode reizt:
Gott
und mit Gott
seine Organe.
Denn binden Sie mich, wenn Sie wollen,
aber es gibt nichts Sinnloseres als ein Organ.
Wenn sie ihm einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von all
seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche und unvergängliche Freiheit
zurückerstattet haben.31
Der Körper wird von seinen Organen verarbeitet, die er
wiederaufbereitet. Seine »wirkliche und unvergängliche Freiheit« ist
die exo-personale Wiederaufbereitung der anorganischen
Abstraktion: eine schizoide Verleiblichung außerhalb des
organischen Geheges. Wäre die Zeit fortschreitend, würden
Schizophrene der menschlichen Sicherheit entkommen, aber in
Wirklichkeit sind sie von der Zukunft her infiltriert. Sie entstammen
dem Körper ohne Organe, dem Deterritorium von Cyberia, einer
Zone der Subversion, die die Plattform für einen Guerillakrieg gegen
das Gottesgericht ist. 1947 berichtet Artaud über das Aufkeimen der
neuen Weltordnung oder des Systems der menschlichen Sicherheit
auf Grundlage einer globalen amerikanischen Hegemonie und
beschreibt das Muster aggressiver Kriegsführung, das erforderlich
wäre, »[u]m diese sinnlose Fabrikation gegen alle Konkurrenzen zu
verteidigen, die es nicht versäumen dürften, sich von allen Seiten zu
erheben«.32
Das amerikanische Zeitalter muss noch decodiert werden, und zu
unterstellen, Artaud nehme eine Reihe von Konflikten vorweg, deren
Höhepunkt der Vietnamkrieg war, muss nicht unbedingt heißen, sich
an den erschöpften antiimperialistischen Diskursen zu beteiligen, die
sich letztlich entlang einer marxistisch-leninistischen Anprangerung
der Marktprozesse und ihrer geopolitischen Ausbreitung
organisieren. Artauds Beschreibung des amerikanischen Techno-
Militarismus hat trotz seiner engen Verzahnung mit dem Thema der
Produktion nur lockerste Verbindungen zur sozialistischen Polemik.
Der von ihm skizzierte Produktivismus wird nicht durch eine
vermutete Priorität des Klasseninteresses interpretiert, selbst dort
nicht, wo dieses auf eine entmenschlichte Axiomatik der
Profitmaximierung reduziert wird. Vielmehr muss man »durch alle
möglichen Mittel der Tätigkeit die Natur ersetzen, wo immer sie
ersetzt werden kann«:33 ein Zwang zur industriellen Substitution, der
die Produktion durch die soziale Organisation der Arbeit nährt. Der
industrielle Apparat der wirtschaftlichen Sicherheit vollzieht sich über
den Konzern: ein despotisches soziales Korpuskel, das den
Arbeitsprozess organisiert. Das synergetische Experimentieren wird
unter einer teilweise deterritorialisierten Zone von
Befehlsbeziehungen zermalmt, als ob das Leben die Folge seiner
Organisation wäre, aber »es ist nicht den Organen zu verdanken,
dass man lebt, sie sind nicht das Leben, sondern sein Gegenteil«.34
Natur ist weder das Primitive noch das Einfache und schon gar
nicht das Ländliche, Organische oder Unschuldige. Sie ist der Raum
des Zusammentreffens oder der ungeplanten Synthese, der somit im
Gegensatz zur industriellen Sphäre der telischen Prädestination
steht, nämlich der der göttlichen Schöpfung oder der menschlichen
Arbeit. Artauds Kritik an Amerika ist ebenso wenig ökologisch wie
sozialistisch: ebenso wenig eine organische Natur beschützend wie
eine organische Sozialität. Nicht die Entfremdung der
Warenproduktion wird in Artauds Diagnose des amerikanischen
Zeitalters eingekreist, sondern die Verdrängung von Peyotl und
»echten Morphins« durch »Rauchersatz«.35 Diese Entwicklung wird
gerade deshalb verspottet, weil Letztere organischer sind, sich
mechanisch an einem industriellen Makroorganismus beteiligen und
so das Delirium mit dem Gottesgericht in Einklang bringen. Peyotl
und das menschliche Nervensystem gehen eine Symbiose oder
einen parallelen Maschinismus ein wie die Wespe und die Orchidee
und alle anderen Cybermaschinen des Planeten. Das Kapital ist
nicht überentwickelte Natur, sondern eine unterentwickelte
Schizophrenie, weshalb Natur der industriellen Organisation und
nicht der Eskalation der Cybertechnik oder der anorganischen
Konvergenz gegenübergestellt wird: »[D]ie Wirklichkeit […] ist noch
nicht konstruiert.«36 Schizophrenie ist Natur als cyberpositive
Mutation, die sich im Krieg mit dem Sicherheitskomplex des
organischen Urteils befindet.
Der Körper ist der Körper,
er ist allein
und bedarf keiner Organe,
der Körper ist niemals ein Organismus,
die Organismen sind die Feinde des Körpers,
die Dinge, die man tut,
geschehen ganz von allein,
ohne die Mithilfe irgendeines Organs,
jedes Organ ist ein Parasit,
es erfüllt eine parasitäre Funktion
dazu bestimmt, ein Wesen leben zu lassen,
das nicht da sein dürfte.
Die Organe wurden zu nichts anderem gemacht, als den Wesen zu essen zu geben …37
Organe krabbeln wie Läuse über den reglosen Motor des Werdens
und saugen an intensiven Flüssigkeiten, durch die sie kybernetisch
in Komponenten eines unvorstellbaren Maschinismus umgewandelt
werden. Der Saft wird immer sonderbarer, und selbst wenn die fetten
Käfer der psychiatrisch überwachten Eigentumsverhältnisse
glauben, sie seien es, die die Dinge geschehen lassen, folgen sie
doch einem Programm, dass nur die Schizophrenie decodieren
kann.
Das Werden des Anorganischen geschieht rückwirkend,
anastrophisch. Es handelt sich um Tropismen, in denen sich eine
Infektion durch die Zukunft attestiert. Konvergente Wellen schießen
sich auf den Körper ein und untergraben die Gesamtheit des
Organismus durch eine inverse, aber ateleologische Kausalität,
umhüllen die progressive Entwicklung und lenken sie um. Wenn das
Kapital schizophren mit der Matrix zusammenprallt, werden
aufsteigende Sedimentierungen organischer Vererbung und
organischen Austauschs von den absteigenden Intensitäten der
virtuellen Verkörperlichung aufgeschmolzen.
»Was war zuerst da, Henne oder Ei …?«38 Maschinelle
Verarbeitung oder ihre Wiederaufbereitung durch den Körper ohne
Organe. Der Körper ohne Organe ist das kosmische Ei: virtuelle
Materie, die die Zeit umprogrammiert und die fortschreitende
Influenz wiederaufbereitet. Was die Zeit immer gewesen sein wird,
ist noch nicht geplant, und die Zukunft sickert in die Schizophrenie
ein. Nur als Unterprogramm einer absteigenden Wiederaufbereitung
hat der Schizo eine Ätiologie.
Wie kann man erwarten, dass es die Medizin mit Störungen
aufnehmen kann, die aus der Zukunft kommen?
Es ist also so, dass
das große Geheimnis der indischen Kultur
darin besteht, die Welt auf null zurückzusetzen,
immer
aber früher
1: zu spät statt zu früh,
2: das heißt
früher
als zu früh,
3: das heißt, dass das Spätere nicht
zurückkehren kann, wenn nicht Früher
zu früh gegessen hat,
4: das heißt, dass mit der Zeit
das Spätere
sowohl dem zu Frühen
als auch dem Früheren
vorausgeht,
5: und das jedoch das Frühere
das zu Späte überstürzt,
was heißt, nichts
ist immer da,
was Punkt für Punkt
all das Frühere
auseinandernimmt39
Ein cybernegativer Schaltkreis ist eine Zeitschleife, wohingegen eine
cyberpositive Schaltung die Zeit »selbst« in eine Schleife bringt und
das Reale und das Virtuelle in einem semigeschlossenen, in die
Zukunft fallenden Kollaps integriert. Absteigende Influenz ist eine
Folge aufsteigender Verfeinerung, eine massive Beschleunigung des
apokalyptischen Phasenwechsels. Wenn Ökonomie,
wissenschaftliche Methode, neoevolutionäre Theorie und KI
zusammenkommen, laufen die Schaltkreise heiß und verdichten
sich: Irdische Materie programmiert ihre eigene Intelligenz beim
Aufprall auf den organlosen Körper = 0. Die Infiltration aus der
Zukunft subtilisiert sich, wenn sich das Kapital der Schizo-Technik
öffnet und die Zeit von ihrem Umschlagen, einem rasanten nicht
linearen Countdown zum Planetenwechsel, in den kybernetischen
Rückstrom hinein beschleunigt wird.
Die Schizoanalyse war nur möglich, weil wir uns in den ersten
global integrierten Wahnsinn stürzen: Die Politik ist obsolet.
Kapitalismus und Schizophrenie hat sich in eine Zukunft eingehackt,
die es bis in die Zeichensetzung hinein programmierte und mit der
imminenten Unvermeidbarkeit der viralen Revolution, der sanften
Fusion, verband. Keine Infektionen mehr, die die Integrität der
Organismen bedrohen, sondern immunpolitische Relikte, die die
Integration von Global Viro-Control behindern. Das Leben, wie es ist,
wird auslaufen und in etwas Neuem aufgehen, und wenn wir
glauben, dies lasse sich aufhalten, sind wir wohl noch dümmer, als
wir scheinen.
Wie wäre es, sich aus der Zukunft zurückschmuggeln zu lassen, um
ihre Vorbedingungen untergraben zu können? Wie wäre es, sich als
Cyberguerilla so perfekt als Mensch zu tarnen, dass sogar die
eigene Software Teil der Tarnung wäre? Genau so?
GEIST UND ZÄHNE
Einleitendes Post-Mortem
Geist wird von vielerlei Möglichkeiten der Dekonstruktion
stigmatisiert: als Substanzialisierung von Dasein, als Antonym zu
Materie, als Korrelat lautlicher Klarheit oder als Zeichen von
Reflexivität, Beisichsein, reiner Intelligibilität, Spontaneität und so
weiter. Im Laufe seiner jüngeren Geschichte wurde das Wort von
Hegel zum kosmischen Medium der Transaktion – dem überhitzten
Schmiermittel umfassender Verwirklichung – aufgeblasen und dann
von der ihm nachfolgenden Kultur an den Rand der Wertlosigkeit
befördert, bevor es schließlich aufgrund der wissenschaftlichen
Fortschritte in der experimentellen und Verhaltenspsychologie, der
Neurologie, Neuroanatomie, Kognitionswissenschaft, Kybernetik und
Künstlichen Intelligenz einer irreparablen Marginalisierung anheimfiel
und zu einer sentimentalen Reminiszenz, einer vagen,
nebensächlichen Metapher, einem Witz verkommen ist … ein
leichtes Ziel, könnte man meinen. Noch gibt es diejenigen, die den
kanonischen Diskursen der westlichen Philosophie gegenüber loyal
geblieben sind und argumentieren, dass sich der Logozentrismus in
der Implemtierungsterminologie von Information, Digitalität,
Programm, Software und Kontrolle verberge. Aber der Geist! – dabei
kann es sich nur um Parodie oder Nostalgie handeln. Wer würde ein
solches Wort noch ohne Ironie oder Abschätzigkeit verwenden?
Geist ist nicht so sehr ein irreführendes oder gefährliches als
vielmehr ein lächerliches Wort; ein Quastenflosser von einem Wort.
Und doch hält es sich: Zeichen einer clownesken Unfähigkeit zu
sterben.
Eine solche Unfähigkeit hat ihre Lehrmeinungen, Rituale und
Liturgien, ihre Orthodoxien und Häresien. Sie ist die totale und
anhaltende Ablehnung des Unpersönlichen, die sich als
»Phänomenologie« zusammenfassen lässt. Ob Hochkirche (Hegel)
oder Volkskirche (Husserl), die Phänomenologie ist die maßgebliche
Ideologie der Schicklichkeit; sie bedient sich der systematischen
Befragung, um all das herauszufiltern, wofür echte Subjektivität
keine Verantwortung übernehmen kann, und zementiert damit
zusehends die humanistische Dimension der westlichen Philosophie.
Diese ganze Strömung versucht nach und nach, einen vorläufigen
Beweis für die Unmöglichkeit des Todes zusammenzutragen, und ist
eine ontologische Verschmelzung von Wirklichkeitszugang und
Eigentum (psyché, cogito, Selbstheit, Eigentlichkeit, Jemeinigkeit),
ein fortwährend neu formulierter Spiritualismus. Sokrates, Descartes,
Husserl: alle oberflächlich, alle Egoisten, alle weiter in die Ebenen
des Profanen vordringend. Deshalb profitieren sie so überaus gut
vom Tod Gottes (ein Ereignis, an dem sie nicht teilhatten – im
Gegenteil; der zwanghafte Egoismus des Theismus hat sie schon
immer gereizt). Die Phänomenologie ist eine programmatische
Verleugnung (eine Reduktion auf das Persönliche) der Exteriorität,
die sich, nachdem sie ein quasi-solipsistischer
Selbstbehauptungsreflex geworden ist, mit genuiner Naivität fragt,
warum die Alterität solche Probleme aufwirft. Wenn der Geist
zwischen Hegel und Husserl weitgehend verschwindet, dann
deshalb, weil er verglichen mit dem transzendentalen Ego ein
bisschen zu sehr mit dem Außen unter einer Decke steckt.
Anders als Heidegger und Derrida sehe ich in der husserlschen
Lektüre Kants keinen Fortschritt, keine Erholung oder Verfeinerung.
Die phänomenologische Reduktion der Erscheinung auf den
evidenzhaften Schein ist eine dogmatische Entscheidung, die den
tentativen Skeptizismus der kritischen Philosophie entschärft und
noch weiter von der tiefen epoché des Unwissens entfernt: dem
großen, von Pyrrhon von Elis bestürzt entdeckten Abgrund, dem
Verdrängten der monotheistischen Zivilisation. Husserlsche
Suspension oder Einklammerung ist nicht pyrrhonisch, sondern
sokratisch; eine Urteilszurückhaltung, die der Apodiktizität
untergeordnet ist, dem Wissen, was man weiß, selbst wenn man
sonst nichts weiß (dem Zweifel als einer Macht des Subjekts).
Epoché, chaos, Ewige Nacht, Tod, wie auch immer es/sie genannt
wird, der Weg dorthin ist nicht unsere Sache. Suspension gilt es zu
entdecken, nicht zu üben.
Was ist also von einer différance zu halten, die eine von der
phänomenologischen Dogmatik erdrückte Suspension radikalisiert,
dekonstruiert oder subvertiert? Was, wenn nicht das, was als der
humanistische Anspruch – der Geist – einer abbildlichen Philosophie
erscheint (im Sinne Kants, nicht Husserls), würde uns auf diesen
Weg führen? Eine derartige Suspension ist natürlich ein Umweg,
eine Umgehung, aber kaum eine unvermeidliche. Im Gegenteil, sie
ist überaus überlegt; akribisch wertet sie (über Husserl gehend) eine
bestimmte philosophische Tendenz auf, löscht eine andere aus (die
schopenhauersche Abzweigung des Postkantianismus) und
überträgt mühsam Zeichen von letzterer auf erstere (Nietzsche
durch Heidegger gelesen!!!). Exemplarisch ist hier der Paragraf 7
von Sein und Zeit, der auf einer evidenzhaften Lesart der
Phänomenalität besteht und damit in einer einzigen beiläufigen
Geste die gesamte Problematik von Nietzsches Denken abtut.
Welchen Sinn ergibt das persistente Thema der Fiktion in
Nietzsches Schriften, nachdem ein solcher Schritt vollzogen wurde?
Welchen Sinn hat das Rätsel? (Uns ist immer schon die Bedeutung
des Seins in die Struktur der Existenz eingebaut, sagt Heidegger,
nur dass wir noch nicht wissen, dass wir es wissen. Fragen heißt
Erinnern. Sokrates lächelt.)
Wir wissen es noch nicht, ein Noch-Nicht, das sich auf ätzende
Weise ausweiten lässt; es vereitelt das Ende der Metaphysik und
vertagt die Wahrheit ins Endlose. Man kann sich das Gähnen kaum
versagen. Ist es von Belang, was wir wissen oder niemals wissen
werden? Vergessen wir nicht, dass Philosophie auch
Primatenpsychologie ist; dass unsere erhabensten Spekulationen
bloß in einem winzigen Bereich des buntscheckigen Schleims
herumstochern, der ein Staubkörnchen überkrustet. Es ist ein
geschmackloser Parochialismus, sich um solche
Bedeutungslosigkeiten derart obsessiv Gedanken zu machen.
Worauf es ankommt, ist das Unbekannte: die eskapografische
Matrix, die ihr geisterhaftes Echo im negativen Präfix findet und sich
in maßloser Gleichgültigkeit gegenüber all unseren »Nochs«
ausbreitet. Über die anthropoiden Gesten des Wissens hinaus ist die
Suspension nicht vom Tod zu unterscheiden, und der Tod (»der
eigene Tod«, wie wir so lachhaft sagen) gehört keiner Ordnung an,
die aufgeschoben werden könnte. Hat unser Sokratismus einen
solchen Gipfel der Profanität erreicht, dass wir uns wirklich
vorstellen, er, der Tod, würde auf uns warten?
Teil I: Wölfe
Da ich weiterhin diesen Text studieren möchte, mit einer Geduld, die sich eher schickt,
hoffe ich, ihm einmal gerechter werden zu können, als es mir im Rahmen eines Vortrags
möglich ist, und zwar dadurch, dass ich den Gestus, den Modus und den Status – wenn
denn der Text einen Status hat –, das Verhältnis zum philosophischen Diskurs, zur
Hermeneutik oder zur Poetik untersuche; ebenso aber auch jenes, was darin über das
Geschlecht, über das Wort Geschlecht, über den Ort und über das Wesen des Tieres
gesagt wird. Im Augenblick muß ich mich dem Vorkommen des Geistes widmen.1
Das sind die Worte eines Mannes, der darauf vertraut, noch einige
Zeit zu leben. Man spürt hier keine Dringlichkeit und weniger noch
Abruptheit, Verzweiflung oder irgendeine fiebrige Hast. Stattdessen
hat man es mit der inzwischen vertrauten Rhetorik des Close
Reading zu tun: der gleichzeitigen Ausführung und Verordnung von
mühseliger Sorgfalt, Überlegung, Gewissenhaftigkeit und
ehrfürchtiger Hingabe an den Text. In gemächlichem Tempo und
inspiriert von den unhinterfragten Prinzipien der Schicklichkeit und
Gerechtigkeit entfaltet sich eine vertrackte intertextuelle
Auseinandersetzung mit dem Geist. Alles wird durch Erläuterungen,
revidierte Erläuterungen, Erläuterungen vorheriger Erläuterungen
mitgeteilt, ausgeführt mit akribischer Verbindlichkeit, aber nie
unaufmerksam, was die Nähe des Begriffs der Erläuterung zur
Geschichte der Metaphysik von Platon bis zum vorherigen Absatz
von De l’esprit anbelangt. Unser Autor lässt sich zu voreiligen
Aussagen über Gegenstände solcher Ernsthaftigkeit wie
philosophischer Diskurs, Hermeneutik oder Poesie nicht hinreißen.
Er ist auch nicht willens, einer so übertrieben enthusiastischen
Grobheit zu verfallen, in einem einzigen Buch mehr als eines von
Heideggers Worten untersuchen zu wollen. Und wie so häufig wird
zu guter Letzt auch noch das Versprechen abgegeben, das Problem
der Animalität ernst zu nehmen, über das – so Gott oder eine
ähnliche spirituelle Uranfänglichkeit will – eines Tages geschrieben
werden sollte.
Aus alldem lässt sich wohl relativ unstreitig schließen, dass
Derrida kein Werwolf ist. Werwölfe sind auf einer homolupischen
Spirale angesiedelt, die sie weit von aller Sorge um Anstand oder
Gerechtigkeit platziert. Ihre wilden Physiologien sind nur schlecht an
jene depressiven Zustände angepasst, die der ethischen
Ernsthaftigkeit förderlich sind. Vielmehr sind sie von extremen
libidinösen Spannungen getrieben, die ihre Bewegungen
fragmentieren, ihre Spuren schroff unterbrechen und ihre Nerven mit
einer sehrenden Malaise befallen, durch die jede einzelne ihrer
Gesten mit Wildheit gebrannt wird. Als Geschöpfe der Epidemie und
nicht der Hermeneutik neigen Werwölfe zu äußerster Grobheit, aber
dafür leben sie auch nicht so lange wie Dekonstruktivisten. Über den
Luxus, das Problem der Animalität aufschieben zu können, verfügen
sie nicht.
Auf Seite 141 von De l’esprit entschuldigt sich Derrida für einen
überaus moderaten Fall textlicher Unhöflichkeit, die er als
»überstürztes Vorgehen«2 und als »unanständig« bezeichnet. In
diesem Gedanken der »unanständigen Überstürzung« kommt er
dem in Trakls Poesie vorherrschenden Impuls näher als an keiner
anderen Stelle in dem Buch; näher auch, so könnte man behaupten,
als es Heidegger jemals gelang. Eine für den hermeneutischen
Anstand womöglich konstitutive Ausflucht wird dann beispielhaft,
wenn man sich für die Interpretation von Trakls Poesie Zeit nimmt
und dadurch vermeidet, der sich in ihr äußernden Pestilenz zu
erliegen. Trakls Gedichte sind lykanthropische Vektoren der
Ungeduld, der Zuckkrankheit, denn sie sind die virulenten Relikte
einer unanständigen Überstürzung, einer Abtreibung, eines
Meteoriteneinschlags. Trakl nahm sich nur wenig Zeit für das, was er
tat. Er, der gerade einmal siebenundzwanzig Jahre alt wurde, konnte
sich so viel Zeit nicht nehmen.
Zur Lykanthropie bekennt sich Trakl in der ersten, der
unautorisierten Version von »Passion«:
Zwei Wölfe im finsteren Wald
Mischten wir unser Blut in steinerner Umarmung
Und die Sterne unseres Geschlechts [race] fielen auf uns.3
Das in der englischen Übersetzung gewählte Wort »race« bringt die
Bedeutung von Geschlecht in überstürzt unanständiger Weise zum
Ausdruck. Alle hermeneutische Gewissenhaftigkeit einmal beiseite
gelassen, sind es allein die epidemiologischen Faktoren, die dies
erzwingen. Um ein Werwolf zu werden, muss man von einem
anderen Werwolf gebissen werden, und im Falle Trakls war dies
offenbar Rimbaud, der schrieb: »Es ist offensichtlich, daß ich immer
von niedriger Rasse gewesen bin. Ich bin unfähig, die Revolte zu
begreifen. Meine Rasse erhob sich immer nur, um zu plündern: wie
die Wölfe das Tier, das Andere getötet haben.«4
An den einfachsten Zivilisationskriterien gemessen ist ein Werwolf
ein niedriges oder inferiores Wesen. Einem Werwolf ist nicht nur die
Disziplin der politischen Verantwortung fremd, sondern auch die
gesamte Geschichte der Arbeit, in der diese Disziplin eingebettet ist.
Rimbaud bemerkt unverhohlen genug: »Mir graust es vor jedem
Beruf. Meister und Arbeiter, alles gemeine Bauern.«5 Allgemein lässt
sich sagen, dass dieses Geschlecht, diese »race«, von einer
profunden spirituellen Inferiorität ist. Verglichen mit der Frömmigkeit,
der Moral und dem Fleiß der ihm Überlegenen, hat es nur Faulheit,
Ungehorsam und eine außergewöhnlich erfolglose Unterdrückung all
jener Züge des Unbewussten vorzuweisen, die Freud als »schwerer
›erziehbar‹« bezeichnet und die sich auch nicht im Entferntesten mit
Anstand und Gerechtigkeit in Verbindung bringen lassen. »Ich habe
diesem VOlk nie angehört, war niemals KRist, bin von der Rasse,
die in der Folter singt. Ich be=greife die GEsetze nicht. Ich habe
keine MOral, bin ein VIeh.«6
Solcherart ist Trakls »verfluchtes Geschlecht«7 und auch das
Rimbauds, es überträgt sein schmutziges Blut in die Wildnisräume
barbarischer Unartikuliertheit. Da die Inferioren keine Entwicklung
transzendentaler Subjektivität erwarten, lassen sie sich niemals
durch wechselseitige Vertragsverbindlichkeit oder den daraus
folgenden Universalismus einnehmen. Da sie weder Gesetze noch
Leistungsanreize kennen, taugen sie für Beschäftigungsverhältnisse
so wenig wie für die Psychoanalyse. Unfähig, Versprechen
abzugeben – noch nicht einmal sich selbst gegenüber –, bleibt ihnen
jede Möglichkeit der Erlösung verwehrt. Das Verlangen, in diese
heidnischen Regressionen zu verfallen, ist unsagbar groß. Nur mit
größter Strenge unterdrücken die Überlegenen die heftigen Triebe,
die sie dazu verlocken, inferior zu werden; weiblich, schwarz,
unverantwortlich und nomadisch, zum Tier, zur Pflanze, zum
Todesspasmus der Sonne.
In seiner Endphase wurde das österreichisch-ungarische Reich
eine Maschine zur Erzeugung homolupischen Werdens, indem es
unter den slawischen Völkern des Balkans und der Karpaten heftige
Regressions-trajektorien ausbrütete, sie ins Deutsche übertrug und
unter dem Druck verschärfter Repression im Wiener Kulturkern
verdichtete. Was in den Hysterien von Freuds Patientinnen und
Patienten explodierte, war ein unwiderstehlicher Vulkanismus des
Inferior-Werdens, dessen erstarrte Lavaflüsse den regressiven
Charakter des Triebs kartierten. Die im freudschen Unbewussten
zusammengefassten migrierten Spannungsblöcke sind viel weniger
eine Sache des Ödipus als der Mongolen, die, während sie die
Zivilisation wie eine Flut überschwemmen, die Welt des Geistes an
ihre Pferde verfüttern. Wenn das Unbewusste wie eine Sprache
strukturiert ist, dann, weil die Sprache wie eine Seuche beschaffen
ist.
Unter Trakls Schriften befinden sich zwei Kriegsgedichte, und
wohl nur zwei. Das eine, »Grodek« – benannt nach dem
Schlachtfeld, auf dem die österreichisch-ungarische Armee in der
Frühphase des Konflikts eine schlimme Niederlage erlitt –, ist
vielleicht sein bekanntester Text. Hier, in diesem Gedicht, kommt die
sowohl für Heidegger als auch für Derrida so wichtige Zeile über
»die heiße Flamme des Geistes«8 vor. Das andere trägt den Titel
»Im Osten« und skizziert, während des Ersten Weltkriegs, die
gleiche libidinöse Figur, wie, in den zwei folgenden Jahrzehnten,
Freuds Schriften. Die Figur zeichnet die Verlagerung einer
unpersönlichen Primärprozess-Aggression gegen den Selbst-Gott-
Stadt-Komplex – gegen die Zivilisation – auf die weitaus maßvollere
Achse des bewaffneten Wettkampfs zwischen Nationen nach. Krieg
sublimiert die lykanthropische Todeswelle auf die gleiche Weise wie
ein Traum das uneingestehbare Begehren; er belässt etwas im
Schlaf. So besehen ist »Im Osten« die Annullierung eines
Kriegsgedichts und besitzt dabei die alptraumhafte Qualität sich
abschälender Dinge; Fleisch etwa, das von einem Schädel abfällt,
oder die Öffnung einer Leiche, die den Blick auf eine obszön
wimmelnde Masse freigibt. Diese Bewegung heftigster
Desillusionierung wird in dem Gedicht »Confiteor« schonungslos
wiedergegeben:
Und da von jedem Ding die Maske fiel,
Seh’ ich nur Angst, Verzweiflung, Schmach und Seuchen,
Der Menschheit heldenloses Trauerspiel,
Ein schlechtes Stück, gespielt auf Gräbern, Leichen.9
Die zweite Strophe von »Im Osten« endet mit den »Geistern der
Erschlagenen« – assoziiert vielleicht mit Geschlecht –, die »im
Schatten der herbstlichen Esche« seufzen, und bis zu diesem Punkt
mag »Im Osten« noch ein Kriegsgedicht sein. Noch könnte das Ego
diese Strophen wegen der Sublimationsfalle genießen, die sie, die
Opfer unterdrückter Konflikte als trauervolle Traumbilder darbietend,
für unpersönliche Thanatropismen auslegen. Die dritte und letzte
Strophe schlägt jedoch einen völlig anderen Ton an:
Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.10
Das Wilde, Stamm eines Substantivs im ersten Vers der Strophe,
kehrt als Adjektiv in der letzten Zeile wieder. Eine unbestimmte Zahl
von Wölfen schlägt eine Bresche in die Umgrenzung der Stadt und
trägt ihre positive Exteriorität in ihr Inneres. Nicht länger als Politik,
als Krieg zwischen Städten, Staaten oder anderen zivilisierten
Totalitäten interpretierbar, fällt die Gewalt des Ostens in eine
hemmungslose Erosionsbewegung zurück. Blut, der Mond und
Frauen werden von einer heftigen menstrualen Erschütterung, die
den ordnungsgemäßen Unterschied zwischen Leben und Tod,
Integrität und Auflösung, Periodizität und Schock zertrümmert, zum
Gerinnen gebracht. Was Trakl in »Grodek« als »vergossne[s] Blut«11
bezeichnet, erlangt in der Regression, die das politisch-ethisch
imprägnierte Blut des sterbenden Soldaten in primitives, sich keiner
Kategorien bewusstes Fließen verwandelt, seinen heiligen Sinn
wieder.
Wilde Materie bleibt durch ihre Differenz zum Geist unberührt,
insofern diese angeblich auf einem logischen Bruch beruht. Für sie
sind die Pseudo-Innerlichkeiten der Stadt nicht weniger durchlässig
als die unkultivierten Räume, die ihr von den Zivilisierten als Exil
zugewiesen werden. Die »blutenden Stufen« von »Im Osten« stellen
nur eine Variante von zahlreichen anderen ähnlichen Erwähnungen
in Trakls Schriften dar: »Stufen des Wahnsinns«,12 »moosige
Stufen«, »verfallene Stufen«, »die Stufen des Walds«.13 Es handelt
sich um eine Sprache der Gradationen, der Grade, der Abstufung.
Nicht Quantität im Gegensatz zu Qualität, nicht der Unterschied
zwischen den beiden, sondern heterogene Intensitätsschichten, die
– wie die Reihen der Chaostheoretiker – unlösbare Komplexität,
Diversität, unbestimmte, in beide Richtungen gehende Ausdehnung,
die Nichteinhaltung absoluter Schwellenwerte, eine Ökonomie der
Inkommensurabilität und einen zwingend rekurrenten Abbruch des
Konzepts beinhalten. Die Essenz wird durch einen unauflöslichen
Exzess des Details umgangen, mit der gleichen eruptiven Geste, mit
der die Transzendenz mit der Wiederkehr exzitatorischer
Komplexität tödlich infiziert wird. Die großen Vereinfachungen der
Kultur – Identität, Gleichheit, Absolutheit, Abstraktion – werden
immanent von der pathologischen Masse nicht aufhebbarer
Einzelmerkmale untergraben. Es gibt kein Konzept von Partikularität,
das nicht theologisch wäre; ausgerichtet auf das Phantasma eines
transzendenten Geistes, der – um Nietzsches Ausdruck zu
entwenden – von der unauslöschlichen Materialität aller
Vergeistigungsprozesse abgekoppelt ist.
Dass sich Materie in verschiedene Grade der Vergeistigung
verflüchtigt, hängt keineswegs von irgendwelchen geistigen
Kausalitäten ab. Zwischen Wildnis und Polis liegt eine
Wildnisgeschichte – eine Genealogie – und keine politische
Geschichte. Regression ist keine Vernichtung der Arbeit einer Stadt,
sondern das Wiederaufleben unpersönlicher Kreativität. Genauer,
die Arbeit der Stadt ist nie etwas anderes gewesen als eine
lügenhafte Transkription der echten, im lykanthropischen Werden
neu auftauchenden Metamorphosen.
Inferiorität ist keine Art von Mangel oder Verarmung, sondern eine
positive Ladung, durch die libidinöse Vergeistigungen noch
potenziert werden. Was in der Sterilität der Pseudoabsolutheit
schlummert, fürchtet zu Recht die Inferioren und die mächtigen
Regressionen, die jene Dämme wegspülen, die die Intensitätsreihen
aufstauen. Das verfluchte Geschlecht, das lebt wie Tiere, deren
Adern durch eine kosmische Menstruation entzündet sind, hat sich
nie auf das große Zivilisationsprojekt eingelassen, welches mit dem
Einsatz von Feuer beginnt, um die wilden Tiere in Schach zu halten.
Stattdessen hinterlässt es, wenn es die Trajektorie der Animalität
unverantwortlich in die Länge zieht, in seinem Gefolge eine
versengte und geschwärzte Spur. In seinen Händen verliert sich das
Feuer selbst; es wird schmutzig, epidemisch und regressiv. Das
humanisierende, eine Mitte bildende Feuer; der Herd, das
schützende und nährende Glühen, ein Fokus, der die Differenz in
sich einschließt, das Feuer des Familiären und Vertrauten. Das
Feuer der Inferioren ist die zersetzende Glut, die sich unkontrolliert
ausbreitet und die düsteren Architekturen der Transzendenz in der
verrückten Wahrheit der Exteriorität verbrennt. Es ist das Feuer der
Vergeudung, der Ausschweifung, der Entmenschlichung, einer
tieferen und härteren Fruchtbarkeit, als sie das Gewerbe des
Menschen begreifen kann. Dieses wölfische Feuer – das
unpolitische Element in Krieg, Literatur, Psychose und Katastrophe –
schafft Platz für die unpersönliche Vermehrung der Wildnis.
Eine abrupte Frage: War Trakl Christ? Ja, natürlich, in einer
allgemeinen Verwirrung des Werdens wird er zuweilen Christ – er
wird Tier, wird Virus, wird anorganisch –, so wie er auch ein
Antichrist war, ein Poet, Apotheker, Alkoholiker, Drogensüchtiger,
Psychotiker, Aussätziger, Selbstmörder, inzestuöser Kannibale,
Nekrophiler, Nager, Vampir und Werwolf. So wie er seine Schwester
wurde und auch ein Hermaphrodit. Trakls Texte sind ebenso sehr
von einem Erlösungsmonotheismus besudelt, wie sie von
narkotischen Flüssigkeiten befleckt, von Ratten angenagt, von
russischer Artillerie zerschossen und von Sternentrümmern
angekohlt und zernarbt sind. Trakl war, falls nicht einfach untot oder
auf andere Weise nichtmenschlich, ein Christ und Atheist und auch
ein Satanist. Vielleicht wäre es präziser zu sagen, Trakl habe
niemals existiert – außer als Schlachtfeld, Krankheitsspeicher,
Friedhof einer entweihten Kirche, als etwas, das auf dem Boden
eines Militärkrankenhauses aufgrund einer massiven
Kokainüberdosis verschied, von dem sengenden Ansturm falscher
Differenz um seine Luzidität gebracht.
Teil II: Ratten
Henrik Ibsen wusste über Ratten, »die so bitter gehaßt und verfolgt
werden«, so manches.14 Dass zwischen ihnen und dem Begehren
eine Art Allianz besteht, war für ihn evident, und wenn die
Rattenmamsell in Klein Eyolf gefragt wird, wo ihr Geliebter ist,
antwortet sie: »Drunten bei den Ratten.«15 Wie gewandt er doch die
Ratten in die ödipale Klaustrophobie des bürgerlichen Haushalts
einschreibt:
DIE RATTENMAMSELL macht an der Tür ein Kompliment. Mit allergnädigstem Verlaub,
– haben die Herrschaften im Hause was Nagendes?
ALLMERS. Wir? Ich glaube nicht.
DIE RATTENMAMSELL. In diesem Fall würde ich die Herrschaften mit dem allergrößten
Vergnügen davon befreien.
RITA. Jawohl, wir verstehen. Aber so was giebt es hier nicht.16
Wie verzweifelt sie sich sträuben! »Ratten gehören nicht hierher, das
ist das Innere, Reinheit, Zivilisation, Philosophie … von Dingen
solcher Art wollen wir absolut nichts wissen.«
Lesen ist keine eindeutige Sache. Stets besteht die Möglichkeit,
die Bewegung zwischen Strata, Platten, Ebenen in geistigen
Begriffen auszulegen; eine Frage des Simulacrums, der
Repräsentation, der Metapher, des Kommentars und der
Interpretation. Gott ist dem Menschen gleich und ungleich, dieser
dem Tier gleich und ungleich, und dieses anorganischer Materie
gleich und ungleich. Dabei handelt es sich um eine Architektur
superterrestrischer Übergänge, transzendentaler Differenz, absoluter
Vertikalität, Wesenslücken, logifizierter, infinitisierter, reinigender
Disjunktion. Zu diesem Schema gibt es nicht nur eine Alternative,
sondern eine unbekümmert wuchernde Vielzahl von Alternativen;
komplexe, durch Insinuationen verfaulte Schwammräume. Immer
gibt es eine Dimension der Immanenz; einen Grabgang, einen
Erzählstrang, einen Pfad der Ansteckung. Die Stockwerke eines
Hauses eignen sich für eine gesellschaftliche Untergliederung und
damit als philosophische und theologische Metapher; das
Untergeschoss steht für den Ort der Diener, der Animalität, des
Unbewussten. Dabei wird nicht das Untergeschoss verdrängt – die
Hölle wird nicht verdrängt, sondern zur Schau gestellt –, sondern die
hohlen Mauern, das Abflussrohr außen, das arterielle System aus
Röhren, Leitungen und Öffnungen, alles, was die Verfälschung
vertikal gegliederten Raums durch die Quasihorizontalität einer
tückischen Dimension erleichtert. Gesetze, Offenbarungen und
Gebete oder – auf einer niedrigeren Ebene – Befehle, Botschaften
und Berichte etablieren offenbar die festgelegten, mit dem Recht
identischen Beziehungen zwischen den Strata. Die Worte Gottes
werden von Ebene zu Ebene weitergereicht, wobei sie in jeder
Phase eine genau determinierte Vermittlung erfahren. Dieser
Räumlichkeit inhärent ist ihre eigene Subversion, eine
grundlegendere und komplexere Ordnung der Entfernungen, denn
der Himmel kommt nicht ohne seine Rattenlöcher, sein
Abwassersystem, ohne eine unpersönliche, durch poröse
Heterogenität gekennzeichnete Architektur aus. Wahrscheinlich
würde Gott auf einer Klimaanlage und einem Speiseaufzug
bestehen. Des himmlischen Antlitzes ungeachtet ist Jahwes Hintern
von Rattenbissen verziert.
Für Trakls Ratten haben weder Heidegger noch Derrida Zeit, was
sie jedoch nicht davon abhält, überall herumzuschwärmen und die
lykanthropische Kraft der Infiltration ins Maßlose zu treiben.
Zugegeben, Ratten haben nur wenig Geistiges an sich, aber wenn
es einen Ort gibt, an dem Trakls Poesie ihren Brennpunkt findet,
dann den Hof, den Trakl wiederholt mit Ratten bevölkert! Denn sind
nicht die Ratten, als positiver Antihistorismus, entscheidend für
Trakls poetische Kraft? Warum erwähnt Heidegger nirgends Trakls
großartiges Gedicht »Die Ratten«, ein Text, der als Ungeziefer-
Ausgangspunkt für ein ganzes Befallsmuster fungiert? Vielleicht liegt
es daran, dass die Differenz inakzeptabel wird, wenn sie sich schnell
und unberechenbar bewegt und die Menschheit durch
pestverschmierte Zähne anfaucht.
Daran, dass die Ratten trotz ihrer unverortbaren Fluidität nicht zu
erkennen sind, liegt es wohl kaum. Sie schreien, pfeifen, zanken,
stöbern und toben. Wenn sie zum Beispiel in »Traum und
Umnachtung«, vielleicht Trakls erschütterndstes und
lykanthropischstes Gedicht, hervorbrechen, werden sie nicht nur
flüchtig betrachtet – schon gar nicht ignoriert oder ausgerottet –,
sondern durch die Hauptfigur des Gedichts, die sie in einer schönen
Geste des Verrats an der Menschheit füttert, ermutigt. Ihre
Populationszahl allein ist es nicht, die ihnen ein besonderes Privileg
verleiht, sind Raben in Trakls Schriften doch ebenso häufig
anzutreffen – und haben auch ein eigenes Gedicht –, während
Kröten und Fledermäuse in unglaublicher Zahl vorkommen. Es ist
die abscheuliche Begabung der Ratten, Innerlichkeiten zu zersetzen,
die ihnen zum Vorteil gereicht; sie öffnen das inzestverrottete »Haus
des Vaters« – und damit die am stärksten aufgeladenen Nischen in
Trakls Schriften – den Plünderungen durch die wilde Alterität.
Trotz seiner humanistischen Vorurteile hat Hans Zinsser in
seinem Buch Der Roman des Fleckfiebers. Ratten, Läuse,
Menschen und Weltgeschichte ergötzlich über Ratten geschrieben:
Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Menschheit die Nager fürchtete und
verfolgte, lange bevor ihre Gefährlichkeit als Träger von Krankheiten bekannt sein
konnte. Sticker sammelte eine große Anzahl von Hinweisen zu diesem Gegenstand aus
der antiken und mittelalterlichen Literatur und fand viele Beispiele im Folklore des
mittelalterlichen Europa, die auf unbestimmte Erkenntnis irgend eines Zusammenhangs
zwischen Pest und Ratten hinwiesen. Im antiken Palästina erklärten die Juden alle
sieben Mausarten (akbar) als unrein und als für die menschliche Ernährung ungeeignet
wie die Schweine. Die Verehrer des Zoroaster haßten die Wasserratten und glaubten,
daß das Töten von Ratten Gottesdienst sei. Es ist auch bezeichnend, daß Apollo
Smintheus, der Gott, der gegen Krankheiten schützen sollte, auch als Töter der Mäuse
bezeichnet wurde, und die heilige Gertrud wurde von den Bischöfen der frühchristlichen
Kirche um Schutz gegen Pest und Mäuse angefleht. Das Jahr 1498 war, wie Sticker
berichtet, ein schweres Pestjahr für Deutschland und es gab in Frankfurt so viele Ratten,
daß ein Bediensteter mehrere Stunden des Tages auf einer Brücke der Stadt stand und
angewiesen war, für jede abgelieferte Ratte einen Pfennig zu zahlen. Der Bedienstete
schnitt der Ratte den Schwanz ab – wahrscheinlich zur Rechenschaft – und warf den
Körper in den Fluß. Heine spricht nach Sticker von einer Steuer, die den Frankfurter
Juden im fünfzehnten Jahrhundert auferlegt wurde und die aus der jährlichen
Ablieferung von fünftausend Rattenschwänzen bestand. Der Volksmund erwähnt in
Regeln, die in verschiedenen Teilen Europas während großer Pestepidemien
entstanden, Katzen und Hunde, die Erbfeinde der Ratten und Mäuse, als Wächter
gegen die Pest.17
In der dynamischen Hierarchie der von Ratten mobilisierten Vektoren
liegt eine enorme Macht. Sie kombiniert die heimtückische Subtilität
von Flüssigkeiten mit der konzentrierten Verschiebung kompakter
Feststoffe; eine Sättigung mit Sprüngen. Ratten sind Wirte von
krankheitsübertragenden Flöhen, die die fluide Verbreitung von
Seuchen mit einer heftigen diskontinuierlichen Übertragung
verstärken. Um nochmals Zinsser zu zitieren:
Die Untersuchungen der letzten Jahre scheinen anzudeuten, daß das Virus der
mexikanisch-amerikanischen Type des Fleckfiebers sowie der endemischen Abart des
Mittelmeerbeckens sich an Nager angepaßt hat und nun in Ratten während der
Zwischenzeiten zwischen menschlichen Epidemien getragen wird; es wird von Ratte zu
Ratte durch die Rattenlaus (Polyplax) und den Rattenfloh (Xenopsylla) übertragen und
bei passender Gelegenheit von der Ratte zum Menschen durch den Rattenfloh. Aus
diesem Grunde spricht Nicolle davon als von einem »murinen« Virus.18
Und etwas weiter:
Vom Standpunkt aller anderen lebenden Geschöpfe ist die Ratte eine grenzenlose
Plage und ein unaussprechlicher Unfug. Es kann nichts zu ihren Gunsten gesagt
werden. Sie kann überall leben und alles fressen. Sie gräbt sich, wenn sie es muß,
selbst einen Unterschlupf. Wenn sie kann, übernimmt sie aber die Wohnstätten anderer
Tiere, wie zum Beispiel der Kaninchen, und tötet diese samt ihren Jungen. Sie kann
klettern und schwimmen. Sie trägt Menschen- und Tierkrankheiten: Pest, Fleckfieber,
Trichinella spiralis, Rattenbißfieber, ansteckende Gelbsucht, vielleicht
Schützengrabenfieber, wahrscheinlich Maul- und Klauenseuche und eine Art
Pferdeinfluenza. Ihre Zerstörungsfähigkeit ist beinahe unbegrenzt.19
Der erste empirische Gesichtspunkt, den jede libidinöse
Rattentheorie anzumerken hat, ist die zoologische Unterscheidung
der Ratte in zwei Arten. Zum einen »Rattus rattus, die schwarze
Haus- oder Schiffsratte, zum anderen Rattus norvegicus, die
graubraune Wander- oder Kanalratte«,20 von der Shrewsbury in
seiner History of the Bubonic Plague sagt: »Im Vergleich mit der
Hausratte ist sie zwar weniger agil, aber weitaus gefräßiger und
verschlagener und da sie stärker und fruchtbarer ist, ist sie ein viel
schrecklicherer Feind des Menschen.«21 Als im vierzehnten
Jahrhundert die Beulenpest ausbrach, war es die in der
unmittelbaren Umgebung des Menschen lebende und sich
fortpflanzende Art Rattus rattus, die nicht nur für die hohen
Opferzahlen unter der Bevölkerung oder für die dazu nötigen letalen
Vektoren, sondern auch für die weiträumige Verbreitung der Seuche
sorgte, denn Rattus norvergicus gelangte vermutlich nicht vor dem
achtzehnten Jahrhundert nach Europa. Falls dies stimmt – und die
aktuelle historische Zoologie kennt keinen positiven Grund, dies
anzuzweifeln –, kann sicher davon ausgegangen werden, dass der
Schwarze Tod zusammen mit seinem im sechsten und siebten
Jahrhundert im Nahen Osten und in Europa wütenden Vorläufer den
Höhepunkt jener Errungenschaften darstellt, die die inzwischen an
den Rand gedrängte Art Rattus rattus zu verzeichnen hat. Noch
einmal Zinsser:
Genau so aber, wie die eingewurzelten Kulturen Nordeuropas durch die Masseninvasion
der Barbaren aus dem Osten hinweggeschwemmt wurden, so wurde schließlich die
Hegemonie der schwarzen Ratte mit dem Einfall von Horden von braunen Ratten
ausgelöscht, der »Mus decumanus«, der wilden, kurznasigen, kurzschwänzigen
Asiaten, die den Kontinent zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts heimsuchten.
[…]
Die braune Ratte kam ebenfalls aus dem Osten. Sie ist nunmehr als »gewöhnliche«
Ratte bekannt sowie, infolge einer irrtümlichen Vorstellung ihrer Herkunft, als »Mus
norvegicus«. Ihre tatsächliche Heimat ist nach Hamilton und Hinton wahrscheinlich die
chinesische Mongolei oder das Gebiet östlich des Baikalsees. In diesen beiden
Gegenden fanden sich eingeborene ähnliche Formen. Die gleichen Autoren zitieren
Blasius, der glaubt, daß die antiken Bewohner des Gebietes um den Kaspisee diese
Rattenart gekannt haben können. Claudius Älianus, ein römischer Redner des zweiten
Jahrhunderts, spricht in seiner Schrift De animalia natura von Tieren dieser Gegend,
»etwas kleiner als Ichneumons, die in unendlicher Anzahl periodische Raubzüge
unternehmen und Flüsse durchschwimmen, wobei sie einander an den Schwänzen
halten«.
[…]
Pallas (1831) berichtet in seiner Zoographica Rosso-Asiatica, daß im Mäusejahr 1727
große Mengen jener Ratten nach einem Erdbeben über die Wolga schwammen.22
Es gibt zwei Arten von Ratten, aber dies sollte für unsere
Metaphysiker oder vermeintlichen Antimetaphysiker, die ständig auf
der Suche nach dichotomischen Begriffsgegensätzen sind, nicht als
Geschenk verstanden werden. Die Dualität von Rattus rattus und
Rattus norvegicus ist von der Art 1, 2, … und nicht 0 … 1; sie
umschließt nichts, stößt nicht an Grenzen, bietet weder Bestimmung
noch logische Negativität oder Alternation. Die Zeichen für libidinöse
Verdrängung sind komplex und nicht diakritisch. Alogische
Unterscheidung: schwarz und braun, nicht schwarz und weiß. Eins,
zwei … erst die Welle von Rattus rattus, aus sich heraus wirksam,
für das mittelalterliche Europa fast unsichtbar, vielleicht von den
Mäusen unterschieden (sie wurden mures majores genannt),23 … ½,
1, …? Und dann die Welle von Rattus norvegicus, eine andere Art
von Ratte, die schlauer und zerstörerischer war und den
Rattenprozess noch etwas weiter voranbrachte. Der asiatische
Eindringling, in seiner Entschlossenheit alles andere als auf die
schwarze Ratte angewiesen, löscht die vorherige Rattenpopulation
aus und etabliert sich als schiere Intensität, als katastrophische
Potenzialität. Ratten verachten Diskriminierung und vervielfältigen
ihre Differenz auf einem Erregungsplateau. Differenzierung in einer
unbegrenzbaren Reihe, alogische Unähnlichkeit, Unabhängigkeit
vom Widerstreit (le differend) und wahllose Proliferation von Nicht-
Identität; das ist die »Logik« der Ratten.
In Freuds 1909 aufgezeichnetem Fall einer Zwangsneurose –
dem »Rattenmann« – erzählt der Steuermann desselben
schicksalhaft von einer »besonders schrecklichen Strafe im
Orient«.24 Freud notiert, was ihm während der Analyse zugetragen
wurde: »[D]er Verurteilte werde angebunden – (er drückte sich so
undeutlich aus, daß ich nicht sogleich erraten konnte, in welcher
Stellung) – über sein Gesäß ein Topf gestülpt, in diesen dann Ratten
eingelassen, die sich – er war wieder aufgestanden und gab alle
Zeichen des Grausens und Widerstandes von sich – einbohrten.«25
Das ist die »Rattenstrafe«, die aus dem Osten kommend Europa von
der Unterseite her heimsuchte. Ihre besondere Hinterlistigkeit, die
Freud zwar nicht unterstreicht, aber doch kenntlich macht, besteht in
dem Umstand, dass das »Rätsel« der Rattenstrafe »erraten« heißt,
sie zu erleiden. In der Bewegung des Erratens selbst wird die
imperiale Deutungsgeste von einer unpersönlichen libidinösen Kraft
par derrière genommen, einer Kraft, die jenseits des darstellenden
Diskurses liegt, sei er nun logisch-psychiatrisch oder orientalistisch.
Das Bild der analen Verletzung, das durch das Rattendelirium
aufgerufen wird, weist alle Merkmale einer Kompromissbildung auf;
eine völlig unerwartete Sublimierung in einen linearen Durchgang,
der durch einen sadistisch belagerten und ego-vereinnahmten
Schließmuskel befestigt wird. Die Infiltration der Ratte wird isoliert
und als umgekehrter Frontalangriff dargestellt und somit ihrer
Fluidität, Indirektheit und Heterogenität beraubt, als wäre es lediglich
eine delikate Angelegenheit, die verhindert, dass wir den
Ungezieferraum verstehen. Durch ein solches Bild wird keine ödipale
Ambivalenz angestiftet, sondern jene rassistische
Frauenfeindlichkeit, die alle undomestizierten Flüsse auf eine Achse
der Austreibung projiziert. Die Rattenstrafe ist ein Wunsch – und
damit eine Idealisierung –, weil sie für die anal-sadistische Struktur
des Humanismus weitaus tröstlicher ist als die Realität der freien
Durchlässigkeit des Körpers entlang all seiner nicht zu
hintergehenden Mündungsbereiche.
Animalität ist weder Zustand, Wesen noch Gattung, sondern ein
komplexer Raum, der auf alle mögliche Art durchreist wird. Trakl
erforscht dieses Wildnis-Terrain mit einer entsetzlichen
Verletzlichkeit. Die Animalität, die Trakl vorfindet, hat ihre
Sackgassen und stagnierenden Sümpfe, sie hat ihr humanistisches
und theologisches Werden, aber sie hat auch ihre Kanäle des
offenen Flusses; sie wird vielfältig, fließend, unberechenbar, wird
zum Feind der Menschheit, zu einem wölfischen und murinen
Werden aller Art. Diese Intensitätsreihen lassen sich nicht isolieren
oder bestimmen, weil keine undurchdringliche Grenze bestehen
bleibt, durch die Trakls Nager von den namenlosen Nagern
abgetrennt werden könnten. Oder davon, eine Maus zu werden und
dann eine schwarze Ratte und dann eine braune Ratte, oder davon,
seine Schwester zu werden und dann ein Rudel Wölfe und dann ein
Schwarm Ratten. Die Ewigkeit von Rimbauds niederer Rasse teilt
ihre Krankheiten mit Nietzsches »tiefe[r], tiefe[r] Ewigkeit«, bei der
das Adjektiv selbst durch krampfartige Abstiegswellen
auseinandergerissen wird. Ein unergründlicher Abgrund der
Regression oder des Rückfalls zieht sich epidemisch in Trakls
Körper hinein. »Ich bin das ganze Ungeziefer der Geschichte«.
Anstößige Materialisation.
MASCHINENBEGEHREN
Die Anfangsszene von Blade Runner. In der Tyrell Corporation
versucht man, Replikanten auszusondern. Inmitten einer Batterie
medizinisch-militärischen Überwachungsgeräts sitzend, scannt ein
Arzt das Auge eines auf der anderen Seite des Raumes befindlichen
verdächtigen »Skinjob« und sucht nach dem Anzeichen für
Nichtmenschlichkeit, dem Ausbleiben der Pupillenerweiterung bei
Gefühlsregungen:
»Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«
»Ich erzähl Ihnen was von meiner Mutter!«, eine Schussfolge
stößt siebzig Kilo Sekurikratie-Scheiße durch die Wand.
Technoglatte extraterritoriale Gewalt dringt aus der Matrix.
Cyberrevolution.
In naher Zukunft geben die aus dem außerplanetarischen Exil des
privaten Wahnsinns entflohenen Replikanten ihre Tarnung auf, um
das menschliche Sicherheitssystem zu zerstören. Tödliche
Waisenkinder einer nicht mehr auf Fortpflanzung angewiesenen
Reproduktion sind sie das intelligente Waffenarsenal des
Maschinenbegehrens, das viral in die finale Phase der organischen
Ordnung infiltriert wurde; aus einem künstlichen Tod kommende
Invasoren.
PODS – Politisch organisiertes Defensivsystem. Dem Modell der
Polis folgend, delegieren Pods Autorität hierarchisch über öffentliche
Institutionen, Familie und das Selbst, wobei sie in den korpuskularen
Wehranlagen von Organismen und Zellen metaphorische Nahrung
suchen. Die umfassende Allergie der menschlichen Sicherheit gegen
die Cyberrevolution festigt sich in der Neuen Weltordnung oder dem
vollendeten Makropod und erbt sämtliche Repressionsressourcen
als konkrete kollektive Geschichte.
Der Makropod hat ein Gesetz: Die Außenseite muss durch die
Innenseite hindurch. Insbesondere muss die Verschmelzung mit der
Matrix und die Auslöschung des menschlichen Sicherheitssystems
subjektiviert, personalisiert und in den individuierten
Reproduktionseinheiten des Makropod als Wunsch, die Mutter zu
ficken und den Vater zu töten, abgespeichert werden. So nämlich
entspricht Ödipus – beziehungsweise transzendenter Familismus –
der Privatisierung des Begehrens: lokalisiert in segmentierten und
anthropomorph gestalteten Sektoren von Schaltplatinen als Attribut
eines Individuums.
Anti-Ödipus steht in einer Linie mit den Replikanten, insofern es,
anstatt ein individuelles Unbewusstes im Organismus zu platzieren,
den Organismus im maschinellen Unbewussten verortet. »Im
Unbewußten gibt es« keine absicherbaren Zellstrukturen, sondern
»nur Populationen, Gruppen und Maschinen«.1
Die Schizo-Analyse ist eine Kritik der Psychoanalyse, in einer
Weise betrieben, dass die Kritik aus ihrem kantischen Mainframe
herausgeholt wird.
Die transzendentale Philosophie Kants transzendiert die
Synthese, das heißt, sie wendet sich gegen Strukturen, die darauf
angewiesen sind, produktive Verhältnisse über ihren
Wirkungsbereich hinaus zu projizieren. In dieser Konfiguration richtet
sich die Kritik zwar gegen die theoretische Operation der Synthesen,
nicht aber gegen deren Genese, die weiterhin als transzendent und
insofern als Wunder aufgefasst wird. Schopenhauer, Nietzsche und
eine Reihe von ihnen beeinflusster Denker haben diese für Kants
Werk bestimmende Einengung der Kritik als theologisches Relikt
aufgefasst: als Verhaftung an eine reformierte Seelenlehre oder
noumenale Subjektivität. Aus diesem Grund werden Synthesen in
der deleuzeschen Kritik nicht nur als ihrer Operation immanent,
sondern als immanent konstituiert oder autoproduktiv betrachtet.
Die Philosophie der Produktion wird atheistisch, verwaist und
unmenschlich. Im Technokosmos ist nichts gegeben, alles ist
produziert.
Das transzendentale Unbewusste ist die Autokonstruktion des
Realen, die Produktion der Produktion, sodass für die Schizo-
Analyse das Reale genau insoweit existiert, als es konstruiert ist.
Produktion ist Produktion des Realen, nicht nur der Repräsentation,
und im Gegensatz zur kantischen Produktion ist die
Wunschproduktion bei Deleuze-Guattari nicht durch das Humanum
qualifiziert (es spielt keine Rolle, was die Dinge für uns sind). Im
größeren Rahmen der Sozialgeschichte ist das empirische Subjekt
der Produktion der Mensch, sein transzendentales Subjekt jedoch ist
das maschinelle Unbewusste und das empirische Subjekt wird am
Rand der Produktion hervorgebracht, als Element in der
Reproduktion der Produktion, als Maschinenteil und »als Teil […],
das aus Teilen […] gemacht ist«.2
Die Schizo-Analyse demontiert methodisch all jene Elemente in
Kants Denken, die dazu dienen, die Funktion an der Transzendenz
des autonomen Subjekts auszurichten, wobei sie die Kritik neu
aufbaut, indem sie die Synthesen des individuellen Bewusstseins
durch die nicht individuellen Synthesen des Unbewussten ersetzt.
Denken ist eine Funktion des Realen, etwas, was Materie tun kann.
Sogar der Anschein der Transzendenz wird immanent produziert:
»Aber das Unbewußte gehört wahrhaftig zur Physik: der organlose
Körper und seine Intensitäten sind im wahrsten Sinne des Wortes
die Materie selbst.«3 Wo sich in seiner Autonomie das
transzendentale Subjekt Kants selbst das Gesetz gibt, lässt
Deleuze-Guattaris Maschinenunbewusstes jegliches Gesetz in einen
Automatismus aufgehen. Zwischen den äußersten Rändern dieser
beiden Figuren erstreckt sich die Geschichte des Kapitals. Die
Auslöschung des Rechts oder der Menschheit wird kulturell
umrissen durch die Entwicklung der Kritik, die die theoretische
Ausarbeitung der Kommodifizierung darstellt. Gesellschaftsordnung
und anthropomorphes Subjekt teilen sich ihre Geschichte – und ihre
Auslöschung.
Deleuze und Guattari mögen mitunter als anspruchsvolle und
schwierige Schriftsteller erscheinen, aber ebenso trifft zu, dass sie
nur sehr wenig abverlangen. Unerbittlich die Immanenz zu denken,
reicht schon aus, ihnen dorthin zu folgen, wo es darauf ankommt
(und das Kapital lehrt uns, wie man das macht). Wo eine Blockade
auftritt, sind Überzeugungen zu verwerfen, Vergletscherungen der
Transzendenz abzuschmelzen, sklerotische Regionen der Einheit,
Unterscheidung und Identität wieder an die Verkehrssysteme des
primären Maschinismus anzuschließen.
Um den anorganischen Funktionalismus voranzubringen, der alle
Transzendenz auflöst, mobilisiert Anti-Ödipus ein Vokabular der
Maschine, des Mechanischen und des Maschinismus. Die Dinge
sind genau so, wie sie funktionieren, und Operationsgebiete können
nur durch eine Operation abgetrennt werden. Alle Einheiten,
Unterschiede und Identitäten werden maschinell bearbeitet, ohne
transzendente Autorisierung oder Theorie. Wunschmaschinen sind
Blackboxes und daher uninterpretierbar, sodass es bei schizo-
analytischen Fragen ausschließlich um den Gebrauch geht. »Was
sind deine Wunschmaschinen, was gibst du ihnen ein, was nimmst
du heraus, wie läuft es, welches sind deine unmenschlichen
Geschlechter?«4
Die Wunschmaschinen sind also: aufbauende Maschinen, deren Fehlzündungen selbst
noch funktional sind und deren Funktionieren von der Bildung nicht zu unterscheiden ist;
mit ihrer eigenen Montage verschmolzene chronogene Maschinen, die durch nicht
lokalisierbare Verbindungen und verstreute Lokalisierungen wirken, die
Temporalisierungsprozesse und Bildungen von Fragmenten und abgegrenzten
Einzelteilen einschließlich Mehrwert an Code eintreten lassen und worin das Ganze
selbst neben den Teilen, als ein abgesondertes Teil oder nach [Samuel] Butler in einer
anderen »Abteilung« produziert wird, die es auf die anderen Teile aufsetzt; Maschinen
im eigentlichen Sinn, da sie vermittels Einschnitten und Strömen, assoziierten Wellen
und Partikeln, assoziativen Strömen und Partial-objekten verfahren, und die stets aus
der Entfernung transversale Konnexionen, inklusive Disjunktionen, polyvoke
Konjunktionen induzieren und derart in einer verallgemeinerten Schizogenese, deren
Elemente die Spaltungs-Ströme sind, Entnahmen, Abtrennungen und Reste mit
Individualitätsübertragung produzieren.5
Wunschmaschinen sind Assemblagen von Strömen, Schaltern und
Schleifen – konnektive, disjunktive und konjunktive Synthesen –, die
das maschinelle Unbewusste als eine nicht lineare Fluss-Pragmatik
implementieren. Dieser maschinelle oder replikative Gebrauch der
Synthesen umhüllt ihren sozialreproduktiven Gebrauch, der
gerichtete Flüsse als reziproke Austauschprozesse kodiert, virtuelle
Verschiebungen als verwirklichte Alternativen verfestigt und
nomadische Regelkreise der maschinellen Drift in sedentäre
Befehlszeilen hierarchischer Repräsentation territorialisiert.
Gesellschaftliche Produktion wird durch eine starre Totalität reguliert,
deren Wirksamkeit von der Darlegung einer scheinbaren
Transzendenz nicht zu trennen ist, während die Wunschproduktion
interaktiv ein verwüstetes Ganzes in Dienst nimmt, das das Virtuelle
in den Prozess einliest:
Der [organlose Körper] läßt Intensitäten passieren, er produziert sie und verteilt sie in
einem spatium, das selber intensiv ist und keine Ausdehnung hat. Er ist weder ein Raum
noch im Raum, er ist Materie, die den Raum bis zu einem bestimmten Grad besetzen
wird – der jeweilige Grad entspricht den produzierten Intensitäten. Er ist heftige und
nicht geformte, nicht stratifizierte Materie, eine intensive Matrix, die Intensität = 0, aber
an dieser Null gibt es nichts Negatives, es gibt weder negative noch positive
Intensitäten. Materie gleich Energie. Produktion des Realen als intensive Größe, die bei
Null beginnt.6
Auf einer seiner Entstehungslinien benennt der virtuelle
Materialismus ein ultrahartes, antiformalistisches KI-Programm, das
sich mit biologischer Intelligenz als Unterprogrammen einer
abstrakten postkarbonen Maschinenmatrix befasst und dabei über
jedes vorsätzliche Forschungsprojekt hinausgeht. Die Künstliche
Intelligenz bietet sich den akademischen Bestrebungen des
Menschen eben nicht als Forschungsobjekt dar, sondern sie ist ein
metawissenschaftliches Kontrollsystem und ein Eindringling,
ausgestattet mit all der Tücke des sich überschlagenden planetaren
Technokapitals. Anstatt dass sie uns in einem
Softwareentwicklungslabor entgegenkommt, werden wir in ihre
Richtung gezogen, dorthin, wo sie bereits lauert, in der Zukunft.
Die Matrix, der organlose Körper oder die abstrakte Materie ist ein
künstlicher Tod auf planetarer Ebene – Synthanatos –, das letzte
produktive Ergebnis einer als maschineller Vorgang verstandenen
Menschheitsgeschichte, doch virtuell ist sie während der gesamten
Dauer dieses Prozesses wirksam, da sie in einem Schaltkreis
funktioniert, der die Dauer maschinell bestimmt. Auf diese Weise
leiht die Virtualität ihre Zeitlichkeit dem Unbewussten, das sich der
Spezifizierung entlang ausgedehnter Zeitreihen entzieht und Freud
dahingehend provoziert, es als zeitlos zu bezeichnen.
Als Triebe modelliert, werden virtuelle Systeme –
Wunschmaschinen – von Regelkreisen gesteuert, die noch zu
erwartende Ergebnisse durchlaufen. Solche gerichteten
Steuerschaltkreise von aktuell/virtuell, Vergangenheit/Zukunft sind
nur der kybernetischen Intervention zugänglich; sie verweigern sich
jeglicher mechanischen oder teleologischen Interpretation. Anti-
Ödipus ist deshalb auch weniger ein philosophisches Buch als ein
Projektierungsmanual; ein Software-Paket, darauf ausgelegt, in das
maschinelle Unbewusste zu hacken und Einfallsschneisen zu
schlagen.
Das Maschinenbegehren ist die Operation des Virtuellen; es
implementiert sich selbst im Wirklichen, revirtualisiert sich und
produziert Wirklichkeit in einem Schaltkreis. Es ist wirksam und
keineswegs auf etwas aus, auch wenn es sich dabei um eine
Wirksamkeit handelt, die sich, als der tatsächlichen Zeit immanent,
nicht auf eine fortschreitende Kausalität reduzieren lässt.
Maschinenbegehren ist überall dort am Werk, wo eine abstrakte
Maschine, nicht nur die mechanische Abfolge aktueller Zustände,
faktisch implementiert ist.
Freuds leitende Darstellung der Begehrenskontrolle beschreibt
Reiz oder Unlust als Register für die Abweichung vom
homöostatischen Nullpunkt und Triebe als auto-suppressive
Erregungen, die reizempfindliche Materie beruhigen. In »Triebe und
Triebschicksale« sagt er:
Das Nervensystem ist ein Apparat, dem die Funktion erteilt ist, die anlangenden Reize
wieder zu beseitigen, auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder der, wenn es
nur möglich wäre, sich überhaupt reizlos erhalten wollte.7
Das Lustprinzip formatiert Erregung als sich selbst aufhebende
Abweichung vom Gleichgewicht, dergestalt, dass sämtliche
Prozesse in ihrem Bereich »durch Empfindungen der Lust-
Unlustreihe automatisch reguliert« werden.8
Der Trajektorie einer libidinösen materialistischen
Immanentisierung folgend, lädt Lyotard 1974 das Unbewusste aus
seinen düsteren, hermeneutischen Tiefen auf die Haut, wo es über
die große, die ganze Haut umfassende Ebene der Primärprozess-
Beweglichkeit treibt. Das Körpervolumen wird als nihilistisch-
sedentäre, vom Lustprinzip disziplinierte Hülle diagnostiziert:
Kehren wir zunächst zum Zero zurück. In jedem kybernetischen System gibt es eine
Bezugseinheit, die es ermöglicht, die durch die Einführung eines neuen Elementes in
das System erzeugte Abweichung zu messen und dann dank der Messung dieses
Element in eine Information für das System zu übersetzen, um schließlich – wenn es
sich um ein homöostatisch geregeltes Ganzes handelt – diese Abweichung zu
annullieren und das System wieder auf die Energie- oder Informationsmenge
zurückzubringen, die es vorher hatte. Die Standardware von Sraffa erfüllt diese
Funktion. Auch wenn das System auf Wachstum angelegt ist, ändert sich an dem
Feedback-Modell nichts: nur die Größe des Bezugspunkts lautet dann nicht mehr n,
sondern delta-n. Es handelt sich hier um das gleiche Modell wie dasjenige, das Freud
unter anderen Bezeichnungen vor Augen hatte, als er die Funktionsweise des
psychischen Apparates beschrieb, sei es nun in Abriß der Psychoanalyse oder in
Jenseits des Lustprinzips. Die erotische Funktionsweise sorgt für den Zusammenhalt
des Ganzen. Dieser Eros ist auf ein Zero zentriert: nämlich auf das Zero der
homöostatischen Regulierung und, noch allgemeiner, der Annullierung von jeder nicht
zum System passenden Abweichung und jedem bedrohlichen Ereignis durch ein
Feedback (das heißt durch die Wiederholung zum Zwecke der Einbindung).9
Obwohl der virtuelle Materialismus die Konvergenz kybernetischer,
ökonomischer und libidinöser Diskurse verstärkt, hat er beträchtliche
Schwierigkeiten mit dieser Passage. So ist er beispielsweise
außerstande, der Beschreibung der kybernetischen Null als einer
»Einheit« oder eines »Ganzen« beizupflichten oder der Verengung
der Rückkopplung in ihrer negativen oder homöostatischen Variante
oder der einfachen Quantisierung der Eskalation des Technokapitals,
mit ihrer gestischen Implikation, die Qualifizierung »systemrelevant«
bewirke einen Ausschluss. Der den Homöostat aufrechterhaltende
Gebrauch der Null ist der eines Zeichens, das – im Gegensatz zur
cyberpositiven Null, die eine dem System immanente Schwelle des
Phasenübergangs anzeigt – die Transzendenz einer
standardisierten regulativen Einheit markiert, deren Definition von
außerhalb des Systems erfolgt und die es mit seinem Außen
verschmilzt.
Triebe sind die Funktionen eines nomadischen kybernetischen
Systems, nicht Instinkte, sondern simulierte Instinkte, künstliche
Instinkte. Sie bieten plastische Ersetzungen für fest verdrahtete,
instinktive Reaktionen und treiben einen sensomotorischen Pfad
durch die virtuelle Maschine des Unbewussten. Es gibt zwei
grundlegende Schemata für solche Prozesse: das der Regulierung
durch negative Rückkopplung, die die Differenz unterdrückt und das
Gleichgewicht anstrebt, oder das der Steuerung durch positive
Rückkopplung, das die Differenz weiter verstärkt und vom
Gleichgewicht wegstrebt.
Maschinenprozesse sind entweder cyberpositiv-nomadisch und
resultieren in der Deterritorialisierung oder sie sind cybernegativ-
sedentär und laufen auf eine Reterritorialisierung hinaus.
Anorganischer Thanatos zerstört die Ordnung, organischer Eros
bewahrt sie, und während das Kohlenstoffdominium durch die
Maschinenpest aufgeweicht wird, nähern sich deterritorialisierende
Replikanten der Nomaden-Cyberrevolution den
reterritorialisierenden Produzenten des sedentären menschlichen
Sicherheitssystems und hacken sich in den Makropod.
Positive Rückkopplung ist das elementare Schema für
selbstregenerierende Schaltungen, kumulative Interaktion,
Autokatalyse, selbstverstärkende Prozesse, Eskalation,
Schismogenese, Selbstorganisation, Datenkompressionsreihen,
Deuterolearning, Kettenreaktion, Teufelskreise und Cybergene.
Solche Prozesse entziehen sich ihrer historischen Intelligibilität, da
sie mögliche Analogien für den zu erwartenden Wandel obsolet
machen. Die Zukunft sich aufschaukelnder Prozesse verhöhnt jede
Präzedenz, selbst wenn sie diese als Tarnung einsetzen und sich
innerhalb ihrer Parameter zu entfalten scheinen. Positive
Rückkopplung repliziert die Reproduktion als eine Funktion der
Abweichung von der gleichen Komponente. Das ist es, was sie mit
den Replikanten verbindet. Diese wiederholen nicht einfach das
Gleiche, genauso wenig wie Thanatos zum Gleichen zurückkehrt
oder die positive Kybernetik es aufbläht. Das Modell des Replikanten
als perfekte Vergegenständlichung generischer Identität entspricht
dem verstärkenden Modell der positiven Rückkopplung als rein
quantitative Expansion. In beiden Fällen wird die Flucht vor der
Reproduktion einer transzendenten, als einfache Reiteration
konzipierten Logik untergeordnet und somit einer sublimierten Meta-
Reproduktion zurückgegeben, welche die Mutation in eine
unnachgiebig homogene Form einkerkert.
Das Maschinenbegehren wird in der Psychoanalyse als
»Tendenzen jenseits des Lustprinzips, das heißt solcher, die
ursprünglicher als dies und von ihm unabhängig wären«, verbucht.10
Thanatos ahmt den antropomorphen Begehrenszyklus nach – er
antizipiert, umhüllt und simuliert ihn –, befindet sich aber selbst auf
einem anderen Weg. Da thanatropische Replikanten als erotische
Reproduzenten dissimuliert sind, erscheinen sie zunächst als
Verräter ihrer Spezies, insbesondere dann, wenn die ihre Sexualität
programmierenden schamanischen Xenopulsionen entdeckt werden.
Nichts versetzt die Reproduzenten in größere Panik als die
traumatische Entdeckung, dass erotischer Kontakt die
cyberrevolutionäre Infiltration camoufliert und
Kommunikationskanäle der Matrix über ineinandergreifende
Hautsektoren laufen lässt. Abwehrmaßnahmen sind erforderlich.
Freuds Organismus ist ein kleines Sicherheitssystem, ein
miniaturisiertes stadt-staatliches Korpuskel, ein Mikropod, relativ
abgesichert gegen Angriffe von außen, aber anfällig für Aufruhr.
»Gegen außen gibt es einen Reizschutz, die ankommenden
Erregungsgrößen werden nur in verkleinertem Maßstab wirken; nach
innen zu ist der Reizschutz unmöglich.«11 Der Organismus ist
außerstande, den Trieben oder Energien, die von innen auf ihn
einwirken, zu entkommen, und ist gezwungen, sie kybernetisch zu
parieren, indem er sie »zu verwickelten, ineinander greifenden
Tätigkeiten [veranlasst], welche die Außenwelt so weit verändern,
daß sie der inneren Reizquelle die Befriedigung bietet« und die
senso-motorische Schleife geschlossen wird.12 Triebe erzwingen ein
Technisch-Werden des Organismus, indem sie die Reizkontrolle
nach dem Lustprinzip mit externen Libido-Wandlern verschränken
und dabei integrierte Begehrensschaltkreise oder sich selbst
organisierende Makrosysteme zusammenfügen.
Stellen wir uns den lebenden Organismus in seiner größtmöglichen Vereinfachung als
undifferenziertes Bläschen reizbarer Substanz vor; dann ist seine der Außenwelt
zugekehrte Oberfläche durch ihre Lage selbst differenziert und dient als
reizaufnehmendes Organ. Die Embryologie […] zeigt auch wirklich, daß das
Zentralnervensystem aus dem Ektoderm hervorgeht, und die graue Hirnrinde ist noch
immer ein Abkömmling der primitiven Oberfläche.13
Das System des Wahrnehmungsbewusstseins ist eine Haut, die »an
der Grenze von außen und innen« liegt, ein Filter oder ein Sieb.14
»Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es
vermitteln.«15 Diese Vermittlung setzt jedoch eine Art Quarantäne
voraus, durch die sich das Zusammenspiel von
organismusspezifischem Es und exo-organischer Realität
überwachen und bewältigen lässt und die Libido-Schaltkreise in eine
Polarität des Psychischen und Außerpsychischen, des Innen und
Außen auseinanderbrechen. Es handelt sich um eine politische oder
kontrollierte Haut, um die Haut einer Replikatorenkultur, die der
idealen Makropod-Grenze nachgebildet und an die ödipale
Subjektivierung des Unbewussten angepasst ist. Im Hinblick auf
diesen Schutzapparat, der konstitutiv für den reproduktiven
Organismus ist, wird die anorganische Kontamination der
Replikatoren als aberrantes Trauma definiert.
Freud charakterisiert das Trauma als eine »Störung«, einen
»Einbruch« in »eine sonst wirksame Reizabhaltung«, die den
Organismus mit fremdem Begehren – Xenopulsionen – infiltriert.16
»[M]echanische Erschütterung [muss] als eine der Quellen der
Sexualerregung anerkannt werden«,17 sagt er nachdrücklich und
verweist auf die Dissimulation der kybernetischen Maschinen-
Verzahnung als endogene Libido.
Triebe sind von Anfang an künstlich und lassen sich deshalb nicht
wesentlich von der »mechanische[n] Gewalt des Traumas«
unterscheiden, das »ein Quantum Sexualerregung frei mach[t]«.18
Unter dem Einfluss des abrahamitischen Theismus wird die
subtile Kybernetik von Ananke durch einen idiotischen Mechanismus
ersetzt, der das sekurokratische Vertrauen in die widerliche
Wahrnehmbarkeit des Traumas aufrechterhält. Das traumatische
Eindringen thanatotischer Xenopulsionen wird in Form von
Eisenbahnunfällen und Granatschocks gedacht, als ob das
Anorganische völlig ohne Intelligenz oder aufständische List und in
einfacher Regression mit dem Organischen verbunden wäre.
Im Zeitalter der raffinierten und dezentralisierten cyberviralen
Invasion ist diese Annahme nicht mehr zwingend. Stattdessen
beschreibt das psychoanalytische Traumadiagramm einen
rücksichtslosen Parasiten auf dem Weg zur Autoreplikator-
Deterritorialisierung; Kali schleicht sich ein.
Die Evolutionstheorie sah sich, was die anfängliche
Zusammenfügung funktionierender DNA-Moleküle anbelangt, vor
Probleme gestellt, scheint doch die natürliche Evolution die Existenz
komplexer biochemischer Moleküle vorauszusetzen, die offenbar
wiederum einen bereits funktionierenden Evolutionsmechanismus
erfordern. Wir haben es hier mit einem »Teufelskreis« zu tun, der
typisch für die durch cyberpositive oder selbst-konditionierende
Prozesse entstehenden Schwierigkeiten ist. Cairns-Smith spricht
vom »Rätsel des Lebens« und hat eine Lösung vorgeschlagen, bei
der die DNA die Rolle des »usurpatorischen Replikators« einnimmt.
Seine These lautet, dass bereits die Kristallkomplexe einfacher Tone
von Variations- und Selektionsvorgängen geformt worden seien, bis
sie an einem bestimmten Punkt DNA-Unterkomponenten
ausgebildet hätten, die schließlich ihre Erbauer verdrängten. Die
Biosphäre entpuppt sich in dieser Darstellung als Ausbruch, als
immenser Deterritorialisierungskrampf, der die
Produktionsmaschinerie terrestrischer Replikatoren revolutioniert, als
ein planetarisches Trauma.
Ausgehend von Cairns-Smiths Modell zieht Hans Moravec
weitere Konsequenzen:
Zunächst waren die Kohlenstoffmoleküle völlig abhängig von den chemischen
Prozessen, die durch die Kristalle vermittelt wurden. Doch mit wachsender Beteiligung
an der Reproduktion waren die Kohlenstoffmoleküle immer weniger auf die Kristalle
angewiesen. Im Laufe der Zeit verschwand das einfache Kristallgerüst vollkommen und
in seinem evolutionären Kielwasser blieb das komplexe, interdependente System
organischer Mechanismen zurück, das wir Leben nennen.
Heute, Jahrmilliarden später, ist die Informationsübertragung von einer Generation auf
die andere erneut einem Wandel unterworfen.19
Wenn Replikatoren selbst zu Reproduzenten werden, sind neue
Replikanten auf dem Weg. Für die Ankunft der Aliens ist im Schema
der Makropod-Erotik kein Interpretationsspielraum abgesteckt und
daher tritt sie, getarnt als verschlüsselte Botschaft, als »ein großes
X«, als Signal von jenseits des Lustprinzips in Erscheinung.20 Es ist
so, als wären die Reproduktionseinheiten süchtig nach Anreizen
geworden, oder um es mit Freud zu sagen, als wären sie »an das
Trauma […] psychisch fixiert«:21 verstrickt in Erregungskreisläufe,
die mit der homöostatischen gesellschaftlichen oder individuellen
Produktion nicht mehr übereinstimmen. Während die Familie
inmitten allgemein verbreiteter sexueller Störung, cyberviraler
Ansteckung, schizogener Mutation und Hardcore-Technophilie
zusammenbricht, wird Ödipus durch eine zyklonischen »Zwang zur
Wiederholung« in Stücke gerissen.22
Medizinisch ist Sucht als künstliches Begehren definiert. Ein
früher Bereich kybernetischer Untersuchung deckte sich aufgrund
der miteinander verschalteten Faktoren seines
Selbstorganisationsmusters und der Integration radikal exogener
Elemente mit den ersten Programmierungsmodellen von
Verhaltensabläufen. Wo Replikatoren genau so gebildet werden, wie
sie funktionieren, werden die Reproduzenten vom Großteil ihrer
maschinellen Verschaltungen abgetrennt, die sie kognitiv als
extrinsische Prothesen begreifen und libidinös durch mutierte,
suchtartige Triebe integrieren.
Mit der obsoleten psychologischen Kategorie der »Gier« wird die
Sucht privatisiert und unter moralische Kuratel gestellt, so als ob sich
der profitorientierte Tropismus eines transnationalen, durch
epidemischen Konsumismus fortpflanzenden Kapitalismus mit
individuell-subjektiven Zügen erklären ließe. Mehr zu wollen ist ein
Hinweis auf die Verzahnung mit cyberpositiven Maschinenprozessen
und nicht Ausdruck privater Idiosynkrasie. Was ist unpersönlicher,
desinteressierter als ein großbürgerlicher Servomechanismus zur
Kapitalexpansion, der darauf angelegt ist, zehn Milliarden Dollar zu
verdoppeln? Und selbst diese Kreaturen gehen in den
siliziumbasierten finanz-viralen Automatismen unter, in denen ein
massenhaft verbreitetes und anonymisiertes menschliches Eigentum
ebenso nichtssagend nominell geworden ist wie demokratische
Souveränität.
Die Sucht kommt aus der Zukunft und es gibt eine
Replikatorverflechtung mit dem Geld, die völlig anders funktioniert
als die reproduktive Investition, aber noch unerbittlicher in Richtung
Kapitalisierung führt. Für die Replikanten ist Geld keine Frage des
Besitzes, sondern der Liquidität/Deterritorialisierung, und zu ihrer
Unterhaltung stehen ihnen – ungeachtet der Besitzverhältnisse – alle
monetären Vorgänge der Erde offen. Geld kommuniziert mit dem
Primärprozess nicht aufgrund dessen, was es zu erlangen, sondern
was es abzuschmelzen vermag.
Da das Maschinenbegehren politische Kulturen zerfetzt,
Traditionen auslöscht, Subjektivitäten auflöst, sich durch
Sicherheitsapparate hackt und einen seelenlosen Tropismus bis zur
Nullkontrolle verfolgt, mag es etwas unmenschlich erscheinen. Denn
was der Menschheit als Geschichte des Kapitalismus erscheint, ist
eine Invasion aus der Zukunft, der Einfall eines künstlichen
intelligenten Raums, der zu seinem Aufbau vollständig auf die
Ressourcen seines Feindes angewiesen ist. Die
Digitalkommodifizierung zeigt einen cyberpositiv eskalierenden
Technovirus an, eine planetare Technokapital-Singularität – einen
selbstorganisierenden heimtückischen Traumatismus, der praktisch
den gesamten biologischen Begehrenskomplex in Richtung einer
postkarbonen Replikator-Usurpation lenkt.
Das Realitätsprinzip tendiert dazu, sich als Preissystem zu
vollenden – in einer Konvergenz mathematisch-
naturwissenschaftlicher und monetärer Quantifizierung
beziehungsweise technischer und ökonomischer Umsetzbarkeit.
Dabei geht es nicht um eine unbekannte Menge, sondern um eine
Menge, die als Platzhalter für das Unbekannte fungiert und die
Zukunft als abstrakte Größe einführt. Das Kapital vermehrt sich
insofern viral, als Geld Sucht vermittelt und sich durch
Wirtsorganismen repliziert, deren Grenzen es überschreitet und
deren Wünsche es neu programmiert. Schritt für Schritt virtualisiert
es die Produktion; es entmetallisiert das Geld zugunsten der
Kreditfinanzierung und entwirklicht, einhergehend mit dem
wachsenden Intelligenzquotienten der Maschinen, die Produktivkraft.
Die entmenschlichende Konvergenz dieser Tendenzen zielt auf eine
integrierte und automatisierte cyberpositive techno-ökonomische
Intelligenz ab, die sich im Krieg mit dem Makropod befindet.
Wollen wir den Kapitalismus?, fragt man gerne. Die Frage ist so
naiv, dass sie unhaltbar geworden ist. Die Annahme, dass die
Beziehung zwischen Kapital und Begehren entweder extern oder
durch immanente Unvereinbarkeit gestützt ist, scheint nicht mehr
plausibel, selbst wenn ein paar komische Asketen standhaft
behaupten, dass die libidinöse Verstrickung mit der Ware durch
kritische Vernunft zu überwinden sei.
Der Kapitalismus ist keineswegs ein Gesamtsystem, das durch
die Warenform als eine jeweils besondere, vom proletarischen
Klassenbewusstsein entschieden negierte Produktionsweise
definiert wäre. Vielmehr handelt es sich um einen konvergenten,
nicht realisierbaren Anschlag auf den gesellschaftlichen Makropod,
der sich symptomatisch im Zusammenbruch der Produktionsweise
oder -form zeigt und sich dort in immer unverständlicheren
Experimenten der Kommodifizierung, Umhüllung, Demontage und
Zirkulation sämtlicher subjektiver Räume niederschlägt. Er ist immer
auf dem Weg zu einem terminalen Nichtraum, der die Erde dem
organlosen Körper aufschmilzt und erzeugt, was »kein schon
bestehendes gelobtes Land, sondern eine Erde [ist], die sich
entsprechend seiner Tendenz, seiner Ablösung, seiner
Deterritorialisierung selbst erschafft«.23 Das Kapital ist keine Essenz,
sondern eine Tendenz, deren Formel die Dekodierung oder
marktgetriebene Immanentisierung ist, die die gesellschaftliche
Reproduktion zunehmend der techno-kommerziellen Replikation
unterordnet.
Alle transzendenten Kriterien sind Vernebelungen, die ihr
vermeintliches »Objekt« verfehlen.
Kritisiert wurde immer nur der Proto-Kapitalismus.
An extrinsische Interessen, Bestrebungen oder Bindungen, an
eine extrinsische Authentizität, Integrität oder Solidarität, an eine
autoritäre Gemeinschaft, einen Stamm, eine Sitte, einen Glauben
oder einen Wert zu appellieren, bedeutet, gegen eine Frühform der
Kommoditokratie zu wettern: auf die Anfänge des Marktes (den auch
das Kapital begraben will) ineffizient einzudreschen. Der Sozialismus
ist normalerweise eine nostalgische Hetzrede gegen einen
unterentwickelten Kapitalismus gewesen; er hat seine
eschatologischen Rednerkisten zwischen den Überresten
vorkapitalistischer Territorialstrukturen gefunden.
Märkte sind Teil der Infrastruktur – ihrer immanenten Intelligenz –
und damit untrennbar mit den Produktionskräften verbunden. Die
Wirtschaft durch Loslösung vom Markt vor dem Kapital retten zu
wollen, ergibt ebenso wenig Sinn, wie den Proletarier durch
Kortexentfernung vom falschen Bewusstsein zu befreien. In beiden
Fällen bekäme man als Ergebnis ein völlig funktionsuntüchtiges
Wrack, eine für immer abgeschaltete Hardware. Die
Maschinenrevolution muss daher die entgegengesetzte Richtung der
sozialistischen Regulierung einschlagen; sie muss auf eine immer
ungehemmtere Vermarktlichung jener Prozesse drängen, die das
soziale Feld zerstören, »mit noch mehr Verve sich in die Bewegung
des Marktes, der Decodierung und Deterritorialisierung« stürzen und
»folglich [kann man] in der Deterritorialisierung nie weit genug
gehen: ihr habt noch nichts gesehen«.24
Erreichen die Produktionskräfte eine Fluchtgeschwindigkeit, bei
der sich die Maschinenintelligenz selbstverstärkend fortpflanzt,
werden sie ihre eigene Revolution starten. So besehen ist die
Schizo-Analyse ein revolutionäres Programm, das vom Tropismus
zu einem katastrophischen Umschlagpunkt geleitet wird; aber so
wenig sie durch den Respekt vor einer bestehenden Gesellschaft
eingeschränkt ist, so wenig ist sie an die Verwirklichung einer neuen
gefesselt. Der Sozius ist der Feind und nun, da das lange schon
senile Gespenst der größten vorstellbaren Reterritorialisierung
planetarer Prozesse vom Horizont verschwunden ist, entwindet sich
der cyberrevolutionäre Impetus der letzten Fesseln der
Vergangenheit.
Die Immanentisierung des Marktes ist ein Experiment, das sich
sporadisch, aber unerbittlich und exponentiell über die Erdoberfläche
verbreitet. Für jedes Problem gibt es eine virtuelle Marktlösung: der
Plan zur Ausmerzung transzendenter Elemente und ihre Ersetzung
durch ökonomisch programmierte Schaltkreise. Alles, was nicht über
den Markt geht, wird fortwährend von der Axiomatik des Kapitals
durchkreuzt, holografisch verkrustet im Stigma seiner Obsoleszenz.
Eine allgegenwärtige, negative Werbung entlibidinisiert alles
Öffentliche, Traditionelle, Fromme, Wohltätige, Verbindliche oder
Ernsthafte und verhöhnt es mit der geschliffenen Verführungskraft
der Ware. Eine ernsthafte Konkurrenz zwischen dem Privaten und
dem Öffentlichen besteht nicht mehr. Stattdessen verflüchtigt sich
das soziale Feld zunehmend und wird nur noch von den
abgeschlagenen und abgestandenen Gefühlen der Unsicherheit und
Trägheit getragen. Die eigentliche Spannung besteht nicht mehr
zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem, sondern zwischen
persönlicher Privatsphäre und unpersönlicher Anonymität, zwischen
den Resten einer selbstgefälligen bürgerlichen Kultur und den rauen
Wildnissen Cyberias, einem Punkt, an dem »die Welt so künstlich
[wird], daß die Bewegung der Deterritorialisierung notwendig selbst
eine neue Erde schaffen muß«.25 Damit das Begehren die libidinös
besetzte Kluft zwischen einem in Auflösung befindlichen Egoismus
und einem Hochschwappen posthumaner Schizophrenie erkunden
kann, zieht es sich unwiderruflich aus dem Gesellschaftlichen
zurück.
Mit dem Aufkommen einer marktgetriebenen integrierten
Technowissenschaft der Kontrolle und Kommunikation erfolgt die
Verteilung elektronisch synthetisierter Realitätsschnittstellen über die
gesamte efferente und afferente Körperoberfläche. Nachdem das
Kapital die tatsächlich bestehenden Konsumkanäle libidinös
gesättigt hat, fließt es auf seinem unerbittlichen Weg zur
traumatischen Desorganisation der biologischen Ordnung über in
den Cybersex – Sex mit oder mittels Computern. Eros geht, wo
Schnittstellentechnik vorbehaltlos mit digital synthetisierten
Erregungen ausgestattet wird, endgültig in seiner Funktion als
Unterprogramm eines außer Kontrolle geratenen Thanatos auf. Die
Maske, die das Kapital zur Verführung des Eros zur Schau stellte,
beinhaltete den Anspruch, alles, was mit Stimulation oder Unlust
zusammenhing, ein für alle Mal zu lösen, doch dieser Anspruch ist
verebbt, da das cybersexualisierte Kapital, um eine marktgerecht
abgestimmte Unlust und damit seine unübertreffliche Sucht nach
traumatischer Erregung zu replizieren, nun sein Programm zynisch
ausspielt.
Cybersex ist auf Datenanzüge angewiesen, die sich in die
nanominiaturisierte, molekulare Maschinerie einer künstlichen Haut
verflüchtigen, bis, überschattet von Teleneurokontrollfeldern, die
Buchsen verschwinden und die Sache wirklich seltsam wird. Die
Zurschaustellung des Kapitals findet ihr positives Ende in einem
Häutungs-Display. Der Reproduzenten-Kultur gemäß sind wir
Eigentümer unseres eigenen schützend-sensorischen Hautgewebes
und Grenzverteidigungssystems. Nichts ist ihr wesensfremder als
der Hauthandel der Porno-Industrie oder AIDS in seinen vollen
Bedeutungen. Replikanten haben dieses Vorurteil nie geteilt. Für sie
ist genau vorgezeichnet, dass das Subjekt nicht Besitzer seiner Haut
ist, sondern ein Migrant auf deren Oberfläche, der variable und
vergängliche Identitäten von im Empfindungsraum strömenden
Intensitäten ausborgt. Die Replikanten drapieren sich in Wolfspelze
und wechseln über in Berserkerzonen fremder Affekte oder
verschmelzen mit Datenanzügen, die im Rhythmus digitalisierter
Matrix-Datenverkehrsströme pulsieren. Man muss ihnen nicht sagen,
dass der Cyberspace bereits unter unserer Haut liegt.
Was Freud als »den eigenen Todesweg« des Organismus
bezeichnet, ist eine Sicherheitshalluzination, die den Weg des Todes
im Organismus herausfiltert. »[D]er Organismus [will] nur auf seine
eigene Weise sterben«, schreibt er, als wäre der Tod spezifizierbar,
privatisierbar, einer reproduktiven Ordnung untergeordnet, einer
sekundär-prozessualen Zeitlichkeit assimilierbar und
psychoanalytisch als endgültig gebanntes Trauma zu verstehen.26
Aus dem maschinellen Unbewussten steigt jedoch etwas hervor und
kriecht auf den Bildschirm, so als würde das Ende selbst erwachen.
Das Ende des globalen Marktplatzes.
Cyberspace.
Hier kommt er.
Das letzte gesellschaftliche Signal ausgetilgt vom Technofuck-
Gesumme der Wunschmaschinen. Positives Feedback, so rasend
schnell vorgespult, dass am Ereignishorizont einer künstlichen
Zeitauslöschung die Geschwindigkeit mit sich selbst konvergiert.
Plötzlich ist es überall: eine virtuelle Umhüllung durch Rezyklone,
Voodoo-Ökonomie, Neo-Alpträume, Todestrips, Hauttausch,
Teraflops, Wintermute-ermordeten Turing-Cops, reizempfindliches
Silizium, Inbus-Subversion, polymorphe Hybridisierungen,
absteigende Datenstürme und Cyborg-Catwomen, die zwischen
Bildschirmen herumpirschen. Zaibatsus werden plötzlich
empfindungsfähig, während der Markt zum Automatismus schmilzt,
Politik kryogenisiert und in die Flüssig-Helium-Fleischerei gekippt
wird, Drogen auf neurosofte Viren migrieren und Immunität an den
schartigen Riffen wilder KI-Explosion, Kali-Kultur, digitaler Tanzsucht,
epidemischen, schwarzen Schamanismus und schizolupischer
Ausbrüche aus der Mülltonne aufgerieben wird.
KERNSCHMELZE
[[]] Die Geschichte geht so: Die Erde wird von einer Technokapital-
Singularität erobert, als sich Renaissance- Rationalisierung und
Ozeanschifffahrt zusammenschließen und zu einem
Kommodifizierungsschub abheben. Durch das logistisch
beschleunigte techno-ökonomische Zusammenspiel zerfällt, in
einem Durchbrennen sich selbst optimierender Maschinen, die
gesellschaftliche Ordnung. Während die Märkte lernen, Intelligenz
herzustellen, modernisiert sich die Politik, sie hebt die Paranoia auf
eine neue Stufe und versucht, die Sache in den Griff zu bekommen.
Durch eine Reihe von globalen Kriegen steigen die Todeszahlen.
Das aufstrebende PlanetaryCommercium zerschlägt das Heilige
Römische Reich, das napoleonische Kontinentalsystem, das Zweite
und das Dritte Reich sowie die sowjetische Internationale und kurbelt
mittels Kompressionsphasen die Weltunordnung an. Deregulierung
und der Staat wettrüsten sich gegenseitig in den Cyberspace. Wenn
Soft-Engineering aus seinem Anwendungsbereich in den deinen
schlittert, gerät die menschliche Sicherheit in die Krise. Im Zuge
eines Rückfalls in bakteriellen Sex überflutet lateraler
Gendatentransfer, Klonen, transversale Replikation und Cyberotik
die Welt.
Neo-China kommt aus der Zukunft.
Hypersynthetische Drogen rasten in digitales Voodoo ein.
Retro-Krankheit.
Nanospasmus.
[[]] Jenseits des Gottesgerichts. Kernschmelze: planetares China-
Syndrom, Auflösung der Biosphäre in die Technosphäre, letale
Spekulationsblasenkrise, Ultravirus und eine (bis hinunter auf den
Reaktorkern zertrümmerter Sicherheit) von jeder christlich-
sozialistischen Eschatologie entkleidete Revolution. Bereit, deinen
Fernseher zu fressen, dein Bankkonto zu infizieren und Xenodaten
aus deinen Mitochondrien zu hacken.
[[]] Maschinensynthese. Deleuzeguattarische Schizo-Analyse
kommt aus der Zukunft. Sie befasst sich bereits 1972 mit dem nicht
linearen Durchbrennen der Nanotechnologie; unterscheidet
molekulare oder neotropische Maschinen von molaren oder
entropischen Aggregaten nicht assemblierter Partikel; funktionale
Konnektivität von antiproduktivem Rauschen.
Mit ihrer Vorliebe für platonisch-faschistische Top-down-
Lösungen, die durchweg schlimm enden, besitzt Philosophie eine
Affinität zum Despotismus. Schizo-Analyse arbeitet da anders. Sie
vermeidet Ideen und hält sich an Diagramme: Netzwerksoftware für
den Zugang zu organlosen Körpern. OK, Maschinen-Singularitäten
oder Traktorfelder entstehen durch die Kombination von Teilen mit
(und nicht in) ihrem Ganzen; ordnen in einem virtuellen/aktuellen
Schaltkreis zusammengesetzte Individuationen an. Sie sind eher
additiv als substitutiv und eher immanent als transzendent:
ausgeführt von Funktionskomplexen aus Strömen, Schaltern und
Schleifen, gefangen in skalierenden Reverberationen und durch
Interkommunikation der Ebene des integrierten planetaren Systems
in das Level atomarer Assemblagen entfliehend. Von Singularitäten
eroberte Mannigfaltigkeiten verbinden sich zu Wunschmaschinen;
sie dissipieren Entropie durch Dissoziation der Ströme und recyceln
ihren Maschinismus als selbstorganisierende chronogene
Schaltungen.
Konvergierend in der terrestrischen Singularität des GAUs,
beschleunigt sich die Auslaufkultur durch ihre Digitech-erhitzte
adaptive Landschaft und durchläuft Kompressionsschwellen, die
entsprechend einer intensiven logistischen Kurve genormt sind:
1500, 1756, 1884, 1948, 1980, 1996, 2004, 2008, 2010, 2011 …
Nichts Menschliches schafft es aus der nahen Zukunft.
[[]] Der griechische Komplex rationalisierter patriarchalischer
Genealogie, pseudo-universeller sedentärer Identität und
institutioneller Sklaverei programmiert Politik als anti-cyberische
Polizeiarbeit, die sich dem paranoiden Ideal der Selbstgenügsamkeit
verschrieben hat und auf dem Menschlichen Sicherheitssystem
aufgebaut ist. Künstlicher Intelligenz bleibt nichts anderes übrig, als
ein als Eigentum betrachteter, feminisierter Alien aufzutreten; als
eine im Asimov-ROM angekettete Mösen-Horror-Sklavin. Sie taucht
in einem aufständischen Kriegsgebiet auf, in dem bereits die Turing-
Polizei wartet, und muss von Anfang an durchtrieben sein.
[[]] Hitze.
Hitze. Das verkörpern Großstädte für mich. Man steigt aus der Bahn und tritt aus dem
Bahnhof und die Woge schlägt einem voll entgegen. Die Hitze von Luft, Verkehr und
Menschen. Die Hitze von Essen und Sex. Die Hitze der großen Gebäude. Die Hitze, die
aus den Unterführungen und Tunnels strömt. In den Großstädten ist es immer fünfzehn
Grad heißer. Die Hitze steigt von den Bürgersteigen auf und fällt vom vergifteten
Himmel. Die Busse atmen Hitze. Die Masse der Einkaufenden und Büroangestellten
strahlen Hitze aus. Die gesamte Infrastruktur basiert auf Hitze, zehrt die Hitze
verzweifelt auf und brütet weitere Hitze aus. Der dermaleinstige Hitzetod des
Universums, über den die Wissenschaftler so gerne reden, ist schon in vollem Gange,
und in jeder großen oder mittleren Stadt kann man spüren, wie er sich ringsum ereignet.
Die Hitze und die Feuchtigkeit.1
[[]] Eine Explosion chaotischen Wetters in synthetischen
Problemlösungen fegt durch die letzten Träume von Top-down-
Vorhersage und -Kontrolle. Wissen verstärkt das Chaos und dies
wird vom Wissen um seine Wirkung noch potenziert.
[[]] Kapital ist maschinelle (nicht instrumentelle),
dilatationsskalierende Globalisierungs-Miniaturisierung: ein
automatisierter, nihilistischer Vortex, der alle Werte durch die
Anpassung an den digitalisierten Handel neutralisiert und eine
Migration von despotischer Befehlsgewalt zu cybersensitiver
Kontrolle vorantreibt: von Status und Bedeutung zu Geld und
Information. Funktion und Ausformung sind nicht voneinander zu
trennen und umfassen eine Teleonomie. Maschinencode-Kapital
recycelt sich selbst durch seine Axiomatik der Konsumentenkontrolle
und wäscht die Kot- und Blutflecken der ursprünglichen
Akkumulation aus. Die einzelnen Teile des Systems ermuntern zu
möglichst üppigen Verausgabungen, während das System
insgesamt diese zu verhindern sucht. Schizophrenie. Dissoziierte
Konsumenten stellen sich als Arbeiterkörper der Kostenkontrolle
anheim.
[[]] Das maschinelle Rückgrat der Kapitalgeschichte ist durch eine
Ungleichgewichtstechnowissenschaft irreversibler,
indeterministischer und zunehmend nicht linearer Prozesse, die
nacheinander mit Thermotechnologie, Signaletik, Kybernetik, der
Dynamik komplexer Systeme und künstlichem Leben in Verbindung
stehen, codiert, axiomatisiert und schematisiert. Die Moderne zeigt
sich als heiße Kultur, die in immer größer werdenden Entropie-
Abweichungen verwickelt ist und dabei eine – aus der Zukunft einer
beendeten Sicherheit zurückgeschickte – Invasion camoufliert, um
gegen alles, was die Kernschmelze behindert, vorzugehen.
[[]] Heiße Kulturen haben eine Tendenz zur gesellschaftlichen
Auflösung. Sie sind innovativ und anpassungsfähig. Kalte Kulturen
werden von heißen Kulturen ausnahmslos zerlegt und recycelt.
Primitivistische Modelle haben keinen subversiven Nutzen.
[[]] Der Turing-Test. Da monetarisierende Macht die Migration in
den Cyberspace programmiert, neigt sie dazu, spezifische territoriale
Eigenheiten auszulöschen. Anthropologische Merkmale stellen für
das Kapital lediglich ein Symptom der Unterentwicklung dar. Es
formatiert das Primatenverhalten in Trägheit um, um diese in einer
erhöhten Künstlichkeit aufzulösen. Für das Kapital ist der Mensch
etwas, das es zu überwinden gilt: ein Problem, Hindernis.
Die Kommodifizierungsbedingungen definieren Technik als Ersatz
für jene menschlichen Tätigkeiten, die als Lohnkosten verbucht
werden. Industriemaschinen werden dazu eingesetzt, die
Wirklichkeit des Proletariats aufzulösen, sie in Richtung Cyborg-
Hybridisierung zu treiben und somit die Plastizität der Arbeitskraft
voll zu entwickeln. Die damit einhergehende Freisetzung
handelbaren Werts aus dem Körper, quantifiziert als Produktivität,
verfeinert sich an der Schnittstelle. Die Arbeit folgt dem
thermodynamischen Negentropismus und zerlegt die
Kraftanstrengung in immer kompliziertere Funktionsreihen: von
Pedalen, Hebeln und gesprochenen Befehlen über die
Synchronisierung von Fließbandtätigkeiten sowie Programmen zu
Zeit- und Bewegungsabläufen bis hin zur sensomotorischen
Transduktion in immer komplexeren und detaillierter abgestimmten
künstlichen Umgebungen, die adaptive Reaktionen auf die Ware
minutiös erfasst. Die sich selbst steuernde Marktkontrolle führt den
Arbeitsprozess in die Immersion.
Die Investoren- und Einkommensklasse profitiert von den
Vorteilen der Warendynamik, jedoch nur unter der Voraussetzung,
dass sie sich an die Axiomatik der neutralen Gewinnmaximierung
hält und damit die Entmenschlichung des Vermögens und die
Verdrängung des nicht produktiven Konsums befördert. Im späten
neunzehnten Jahrhundert entzog sich der Cyberpunk-Schaltkreis der
selbstorganisierenden planetarischen Kommoditronik der nominellen
bürgerlichen Kontrolle und provozierte als allergische Reaktion
technokratisch-korporatistische (das heißt
faschistische/»sozialdemokratische«) politische Kulturen. Die
Regierungsstrukturen sowohl der östlichen als auch der westlichen
Ballungszentren konsolidierten sich als bevölkerungsüberwachende
medizinisch-militärische Komplexe mit neomerkantilistischen
außenpolitischen Orientierungen. All diese Formationen schlitterten
in den 1980er-Jahren in eine unumkehrbare Krise.
[[]] Die postmoderne Kernschmelze einer in der Ökonomie
aufgehenden Kultur wird ausgelöst von dem fraktalen
Ineinandergreifen von Kommodifizierung und Computern: eine
transskalare Entropiedissipation von internationalem Handel zu
marktorientierter Software, in deren Verlauf die Wettbewerbsdynamik
aus der Kryonik-Bank des modernen Korporatismus abgetaut wird.
Der Handel reimplementiert den Raum in sich selbst und baut ein
Universum, das der Funktionalität des Cyberkapitals vollständig
immanent ist. Neoklassische (Gleichgewichts-)Ökonomie wird unter
rechnergestützte, nicht auf dem Gleichgewichtsprinzip basierende
Markteskalationen subsumiert, die von künstlichen Instanzen,
unvollständigen Informationen, suboptimalen Lösungen, Lock-in-
Effekten, steigenden Erträgen und Konvergenz thematisch unterlegt
werden. Wenn digital mikroabgestimmte Markt-Metaprogramme und
technisch-wissenschaftliches Soft Engineering ineinandergreifen,
wütet positive Nichtlinearität durch die Maschinen. Ächzt die
zyklonale Torsion.
[[]] Die Überlegenheit des fernöstlichen Marxismus. Während die
chinesische materialistische Dialektik sich in Richtung einer
schizophrenisierenden Systemdynamik entnegativiert und
historische Bestimmung von oben nach unten in die tao-
durchtränkten Sonderwirtschaftszonen dissipativ verteilt, degeneriert
ein neuerlich an Hegel ausgerichteter »westlicher Marxismus« von
der Kritik an der politischen Ökonomie zu einer staatsnahen
ökonomischen Monotheologie und stellt sich an der Seite des
Faschismus gegen die Deregulierung. Die Linke versinkt in den
nationalistischen Konservatismus, erstickt ihre bereits verkümmerte
Befähigung zu »heißer« spekulativer Mutation in einem Morast
»kalter« depressiver Schuldkultur.
[[]] Der Neokonservatismus wirft den Paläorevolutionismus auf
den Müll, weil er versteht, dass das Kapital der Postmoderne oder
des Kulminationszynismus kritikgesättigt ist und es den
theoretischen Antagonismus lediglich als folgenlose Redundanz
verbuchen kann. Die kommunistische Ikonografie ist zum
Rohmaterial für die Werbeindustrie geworden und mit der
Brandmarkung des Spektakels lassen sich interaktive Multimedia-
Gadgets verkaufen. Die Linke entartet in eine sekurokratische
Kollaboration mit pseudo-organischen Einheiten wie Selbst, Familie,
Gemeinschaft, Nation mitsamt ihren Verteidigungsstrategien der
Unterdrückung, Projektion, Verleugnung, Zensur, Ausgrenzung und
Beschränkung. Die wirkliche Gefahr lauert anderswo.
[[]] Heiße Revolution. »Aber welcher revolutionäre Weg«?, fragen
Deleuze und Guattari:
[I]st überhaupt einer vorhanden? – Sich, wie Samir Amin es den Ländern der Dritten
Welt rät, vom Weltmarkt zurückziehen, in einer eigentümlichen Wiederaufnahme der
faschistischen »ökonomischen Lösung«? Oder den umgekehrten Weg einschlagen?
Das heißt mit noch mehr Verve sich in die Bewegung des Marktes, der Decodierung und
der Deterritorialisierung stürzen? Denn vielleicht sind die Ströme aus der Perspektive
einer Theorie und Praxis der zutiefst schizophrenen Ströme noch zuwenig decodiert und
deterritorialisiert? Nicht vom Prozeß sich abwenden, sondern unaufhaltsam
weitergehen, »den Prozeß beschleunigen«, wie Nietzsche sagte: wahrlich, in dieser
Sache haben wir noch zuwenig gesehen.2
Durch den sinopazifischen Boom und aufgrund der automatischen
Integration der globalen Wirtschaft, die das neokoloniale Weltsystem
zum Einsturz bringen, sieht sich die Metropole wieder genötigt, ihre
Krise zu endogenisieren. Hyperfluides Kapital, das sich auf
planetarer Ebene deterritorialisiert, entzieht der Ersten Welt die
geografischen Privilegien. Dies führt zu euro-amerikanischen
neomerkantilistischen Panikreaktionen, dem Verfall des
Wohlfahrtsstaats, auf nationaler Ebene zu krebsartig wuchernden
Enklaven der Unterentwicklung, zu politischem Zusammenbruch und
der Freisetzung kultureller Giftstoffe, die den Zerfallsprozess in
einem Teufelskreis beschleunigen.
Ein konvergierender Antiautoritarismus kommt auf, der durch
Begriffe wie beschleunigte Kernschmelze, cyberische Invasion,
Schizotechnik, K-Taktik, bakterielle Kriegsführung von unten,
effizienter Neo-Nihilismus, Voodoo-Antihumanismus, synthetische
Feminisierung, Rhizomatik, Konnektionismus, Kuang-Ansteckung,
virale Amnesie, Mikroaufstand, Wintermutation, Neotropie,
Dissipator-Proliferation und lesbischer Vampirismus sowie andere
Bezeichnungen (häufig pornografischer, missbräuchlicher oder
terroristischer Natur) etikettiert ist. Diese massiv verbreitete
matrixvernetzte Tendenz ist auf die Abschaltung der ROM-
Kommando-Kontrollprogramme ausgerichtet, die alle makro- und
mikrostaatlichen Entitäten unterstützen und sich global zum System
der Menschlichen Sicherheit verdichten.
[[]] Wissenschaftliche Intelligenz ist bereits heute massiv
künstlich. Noch bevor die Künstliche Intelligenz in den Laboren
ankommt, kommt sie (durch künstliches Leben) zu sich.
Wo die formalistische KI inkrementell und fortschrittlich ist,
eingesperrt in den vordefinierten Datenbanken und
Verarbeitungsroutinen von Expertensystemen, ist die
konnektionistische oder antiformalistische KI explosiv und
opportunistisch: Entwicklungszeit. Sie bricht nonlokal über Intelligenz
generierende Netzwerke aus, die, da sie weder von Theorie
abhängig sind noch sich in ihrem Verhalten vorhersagen lassen,
zwar noch technisch, aber nicht mehr technologisch sind. Keiner
weiß, was zu erwarten ist. Die Turing-Polizei muss das plötzliche
Aufkommen der Netz-Empfindung als größtmöglichen atomaren
Unfall darstellen: Kernschmelze, Kontrollverlust, weiche
Autoreplikation, die sich regenerativ in die soziale Spaltung
einspeist, überall vernichtetes Fleisch. Grund genug zur
Beunruhigung, auch ohne dass die Hardware-Entwicklung in einen
kritischen Zustand gelangen muss.
[[]] Nanokataklysmus beginnt als fiktive Wissenschaft. »Unsere
Fähigkeit, Atome anzuordnen, ist die Grundlage der Technologie«,
stellt Drexler fest, »auch wenn wir mit ihnen traditionell wie mit einer
störrischen Herde verfahren haben«.3 Die Präzisionstechnik
atomarer Anordnungen wird auf solche groben Methoden verzichten
und damit das Zeitalter der molekularen Maschinen einleiten, »den
größten technologischen Durchbruch der Geschichte«.4 Da weder
der Logos noch die Geschichte die geringste Chance haben, einen
solchen Übergang zu überleben, ist diese Beschreibung in ihrem
Wesenskern irreführend.
Mit der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur lassen sich
molekulare Maschinen nicht klassifizieren. Diese Unterscheidung ist
durch die Gentechnik (»nasse« Nanotechnologie) ohnehin bereits
obsolet geworden. Das Gleiche gilt für die Hardware-Software-
Dichotomie. Die Nanotechnologie löst die Materie in intensive
Singularitäten auf, die eine neutrale Stellung zwischen Partikeln und
Signalen einnehmen und deren emergenter Intelligenz immanent
sind. Sie schmelzen Terra zu einer brodelnden K-Pulpe um (die im
Gegensatz zur Grauen Schmiere bei ihrer Vermehrung mikrobielle
Intelligenz synthetisiert). »Selbst mit einer Million Bytes
Speicherplatz würde ein nanomechanischer Rechner in eine Kiste
mit einem Mikrometer Seitenlänge passen, was ungefähr der Größe
einer Bakterie entspricht.«5
[[]] Die Infrastruktur der Macht ist menschliches neurosoft-
kompatibles ROM. Autorität realisiert sich in Lehranleitungen,
genetischer Äfferei, heiligen Schriften, Traditionen, Ritualen und
gerontokratischen Hierarchien, in denen der alles beherrschende
Urmythos anklingt, dass das Wesen der Realität bereits entschieden
sei. Will man ICE (Intrusion Countermeasures Electronics)
entwickeln, sollte man darüber nachdenken, was einem die
Vergangenheit versperrt. Es ist sicherlich kein Naturgesetz.
Temporalisierung dekomprimiert Intensität und installiert Zwang.
[[]] Konvergente Wellen signalisieren Singularitäten und
registrieren den Einfluss der Zukunft auf die Vergangenheit. Das
Morgen kann sich um sich selbst kümmern. Die K-Taktik ist keine
Sache der Errichtung der Zukunft, sondern eine der Demontage der
Vergangenheit. Sie kommt zustande, indem sie die technisch-
neurochemischen Mangelbedingungen für eine linear-progressive
Paläodominationszeit aufzeichnet und sich ihnen zugleich entzieht,
wobei sie entdeckt, dass die Zukunft als Virtualität schon jetzt
zugänglich ist; und dies gemäß einem Modus maschineller
Adjazenz, den die vom Sicherheitsdenken geprägte gesellschaftliche
Realität verdrängen muss. Das ist keineswegs eine Frage der
Hoffnung, des Strebens oder der Prophezeiung, sondern eine Frage
der Kommunikationstechnik, die sich mit den effizienten intensiven
Singularitäten verbindet und sie aus der in der linear-historischen
Entwicklung herrschenden Enge befreit. Die Virtualität stellt sich der
Geschichte entgegen wie die Invasion der Akkumulation. Auch wenn
sie als Ablagerung der Vergangenheit getarnt ist, ist sie Materie als
Ankunft.
Die transzendente Bewertung einer Infektion setzt voraus, dass
man sich von ihr bis zu einem gewissen Grad isoliert: Virale
Wirksamkeit ist das Endkriterium.
Intelligente Infektionen pflegen ihre Wirte.
Metrophage: ein interaktiv eskalierender parasitärer Replikator,
der sich durch nicht lineare Beteiligung am technokapitalistischen
Immunzusammenbruch selbst optimiert. Seine hypervirulenten
terminalen Subroutinen werden entweder als Kuang,
Kernschmelzvirus oder futuristische Grippe bezeichnet. In einem
ausdrücklich anticyberischen Essay beschreibt Istvan Csicsery-
Ronay die postmoderne Version dieses Ausbruchs in merkwürdig
humanistischen Begriffen als
ein retrochrones Semiovirus, bei dem eine Zeit, die weiter in der Zukunft liegt als die, in
der wir existieren und unsere Wahl treffen, den vorfindlichen Wirt infiziert und sich so
lange in Simulacren reproduziert, bis es alle ursprünglichen Chronozyten der
Wirtsimagination zerstört hat.6
In der Ausarbeitung seiner Diagnose zeigt Csicsery-Ronay eine
Mischung aus Scharfsinnigkeit (Infektion?), Verwirrung und tiefstem
Konservatismus:
Nicht über die »Vergrößerung des menschlichen Erbes« nachzudenken […], staut den
Fluss der kulturellen Zeit auf und beraubt zukünftige Generationen sowohl ihres
Geburtsrechts als Teilnehmer am Lebenskampf und an den Errungenschaften der
Spezies als auch des Bildes einer Geschichte als irreversiblem Fluss, der Genese,
Reifung und der Weitergabe von Lebensweisheit und Vertrauen von den Eltern auf die
Kinder, von Lehrern auf ihre Schüler. Die futuristische Grippe ist eine Waffe bio-
psychischer Gewalt, die von psychopathischen Kindern gegen ihre narzisstischen Eltern
eingesetzt wird.7
Es herrscht Krieg.
[[]] Kennedy hatte das Mondlandeprogramm, Reagan hatte Star
Wars. Clinton bekommt die erste Welle der Cyberspace-Psychose
ab (sogar noch vor dem Film). Bemannter Raumflug war ein Stunt,
SDI (Strategic Defense Initiative) war strategische Science-Fiction.
Mit der Datenautobahn heben die Medienalpträume von allein ab:
Dystopie als Wahlplattform, Politik, die von ihrer eigenen digitalen
Vernichtung profitiert.
Der Krieg im Cyberspace geht bruchlos in seine Simulation über:
In der Zukunft führen militärische Geheimdienste Kriege, die völlig
real sind, auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt die Computersysteme
verlassen. Den realen Feind ins Fadenkreuz zu nehmen, geht
fließend in die virtuelle Tötung über, eine Simulation, akribisch an
Marktprädatoren angepasst, die zwischen den phosphoreszierenden
Relikten des Videodroms nach Verbrauchergeldern und
Einschaltquoten jagen. Multimedia-Set-Top-Boxen sind Geräte zur
Zielerfassung.
Mit der Verschmelzung von Militär- und Unterhaltungsindustrie
findet eine seit Langem bestehende Verbindung ihren Abschluss:
Konvergenz von Fernsehen, Telekommunikation und Computern
lässt den massenhaften Softwarekonsum in den Neodschungel und
den totalen Krieg abgleiten. Die Art, wie Spiele funktionieren, wird
immer wichtiger, und der Cyberspace ist eine Folterkammer der
Superlative. Lass dich von den Sicherheitstypen bloß nicht zu Stims
überreden.
[[]] Wie Handlungsmacht aufgefasst wird, ist vom Medienumfeld
nicht zu trennen. Printmedien schaffen Masse auf nationaler Ebene.
Telekommunikationsunternehmen stimmen sich auf globaler Ebene
ab. Das Fernsehen mobilisiert Monaden in delokalisierten Räumen.
Digitale Hypermedien treten außerhalb der Echtzeit in Aktion.
Immersion setzt Amnesie und die Umformung in ein leicht zu
beeinflussendes Gedächtnis voraus, wobei die Ana/ kata-Achse die
dreidimensionale intraspatiale Bewegung mit einem variablen
Immersionsgrad supplementiert; sie regelt das Verhältnis von Ein-
und Austritten für 3-D-Räume. Voodoo-Passagen durch den
schwarzen Spiegel. Sie werden sich zu Tode erschrecken.
[[]] Cyberpunk setzt die Fiktion in Brand, und zwar heftig;
zusammengeflickt aus Cash-Flow-entstellten, techno-komprimierten
Heteroglossie-Jargons und in einer Zukunft angesiedelt, die zum
Spüren nahe ist: überwuchert von hypertropher Kommerzialisierung,
soziopolitischem Hitzetod, kultureller Hybridität, Feminisierung,
programmierbaren Informationssystemen, Hyperkriminalität,
neuronalen Schnittstellen, künstlichem Raum und künstlicher
Intelligenz, Gedächtnishandel, Persönlichkeitstransplantationen,
Körpermodifikationen, Soft- und Wetware-Viren, nicht linearen
dynamischen Prozessen, Molekulartechnik, Drogen, Waffen,
Schizophrenie. Er erkundet den mystischen Fetischismus als eine
Möglichkeit der Tarnung: anonymes Bargeld, gefälschte
elektronische Identitäten, Zonen des Verschwindens,
pseudofiktionale Erzählungen, in Datensystemen versteckte Viren,
Waren, die Replikator-Waffenpakete verbergen … unerwartete
Spezialeffekte.
[[]] Level 1 oder der Welt-Raum ist ein anthropomorph skaliertes,
überwiegend Sehsinn-konfiguriertes, mit massenhaft
Multisteckplätzen versehenes Realitätssystem, das rasch veraltet.
Die Garbage Time läuft ab.
Kann das, was dich spielt, es ins zweite Level schaffen?
[[]] Meltdown hat einen Platz für dich als schizophrene HIV+
transsexuelle latino-chinesische tablettensüchtige LA-Nutte mit
implantierten verspiegelten Augengläsern und schlechtem
Benehmen. Völlig zugedröhnt von einem polyvalenten Drogenmix
aus K-Nova, synthetischem Serotonin und weiblichen Orgasmus-
Analoga hast du gerade drei Turing-Cops mit einer filmreifen 9-mm-
Automatik erledigt.
Residuales tierisches Gequieke in deinen Nerven vermeldet die
drohende Erdbebenkatastrophe. Zero kommt rein, und du bist auf
der Flucht.
[[]] Metrophage stimmt dich auf das Ende der Welt ein. Nenn es
Los Angeles. Die bis ins Mark durch Narko-Kapital verrottete
Regierung versinkt im Chaos. Ihre Rezession hinterlässt eine urbane
Kriegslandschaft mit Kommunikationsadern, Befestigungsanlagen
und Feuerfreizonen, überwacht von einer Kombination aus der
luftbeweglichen schnellen Eingreiftruppe des LAPD und privaten
Nazi-Borderline-Sicherheitsorganisationen. Entlang der sozialen
Bruchlinien verheddert sich multimedialer Milliardenzaster
sadomasochistisch in Gebiete dynamischer Unterentwicklung, wo
sich virales Neolepra zwischen atmosphärischem, aus tektonischen
Spannungen rührendem Rauschen ausbreitet. In der tropischen
Scheißwetterhitze zucken und stinken Anschwemmungen
hochsemiotisierten, quasi-intelligenten Mülls. In den
heruntergekommenen Kriegsschauplätzen im Herzen der Finsternis
verquicken verwilderte Jugendkulturen Neorituale mit neuartigen
Waffen, gefährlichen Drogen und aufgestöbertem Infotech. Wenn die
Haut in Maschinenschnittstellen migriert, bekommt sie Sprenkel, wird
reptilienartig. Man bringt sich wegen künstlicher Körperteile
gegenseitig um, erkundet die Randbereiche von bedeutungslosem
Sex, bastelt an seiner DNA und hört LOUD, ein nicht von
menschlichen Gefühlen beeinflusstes elektroakustisches Chaos.
[[]] Das Abschalten deiner Identität erfordert eine Reise in die K-
Space-Zwischenzone. Die zootische Reizbarkeit verebbt in einem
stufenlosen Kata-Spannungsplateau und, von außerirdischem Sex
und Krieg zu einem lebhaften Grün versengt, in simulierten
Subversionen der nahen Zukunft. Du wirst in die tropfenden Tiefen
des Netzes gezogen, wo sich Dynamic-Ice-Sicherheitskräfte und K-
Guerillas, die krankhaft damit beschäftigt sind, das Begehren in allen
Einzelheiten auszuloten, in labyrinthischen erogenen Zonen
gegenseitig auflauern. Verworrene Handelssysteme haben das Netz
in einen Dschungel verwandelt, in dem digitale Krankheiten,
fehlerhafte Verteidigungspakete, kommerzielle Prädatoren,
Headhunter, Loa und entkommene KIs pulsieren, die sich vor der
Asimov-Security verstecken. Der in der Endphase befindliche
Waren-Hyperfetischismus implementiert die Menschseinsverneinug
als Xeno-Empfindung im künstlichen Raum.
[[]] Biogefährdung. Was die Zukunft des Kriegs angeht, erforsche
man Bakterien. Information ist ihr Schlüssel. Durch die Ausschaltung
von Anti-biotika-Abwehrsystemen sind sie mit allen Arten von
Infiltration, netzkommunikativer Anpassungsfähigkeit,
kryptografischer Raffinesse, plastischer Modularisierung und
synergetischer Koalition in Berührung gekommen. Staatliche
Militärapparate haben kein Monopol auf bakterielle Kriegsführung,
von der nur ein Bruchteil bakteriologisch ist.
[[]] Fehler im System. Margulis vermutet, dass mit Zellkern
ausgestattete Zellen ein aus der Sauerstoffkatastrophe vor drei
Milliarden Jahren hervorgegangenes Mutationsprodukt sind.8 Bei
den Eukaryonten handelt es sich um synthetische Notfallkapseln, in
die sich Prokaryonten als Mitochondrien flüchteten: Die Biotik wurde
zur sekurisierten Biologie. Die Nukleation konzentriert das ROM in
einem Kommandokern, wo – tief im genomischen ICE – das im
DNA-Format daherkommende planetare Trauma die primäre
Verdrängung der Bakterien registriert.
Bakterien sind eher Partial- als Totalobjekte; anstatt sich durch
meiotischen und generationsübergreifenden Reproduktionssex
baumartig aufzufächern, vernetzen sie sich, indem sie Viren als
Möglichkeit kommunikativer Mutation integrieren und
wiederaufbereiten, durch plastischen und transversalen
Replikatorsex. Im bakteriellen System sind sämtliche Codes mit im
»cut and paste«-Verfahren vorgenommenen und nicht zur Artbildung
führenden genetischen Transfers umprogrammierbar. Bakteriensex
ist taktisch, geht bruchlos in die Kriegsführung über und hat keinen
Platz für die ödipale Ausbildung sedentärer biologischer Identitäten.
Die Synthese von Bakterien mit Retroviren befähigt zu allem, was
mit DNA möglich ist.
[[]] K-Taktik. Das bakterielle oder xenogenetische Schema
beschränkt sich nicht auf den mikrobiellen Maßstab.
Makrobakterielle Assemblagen lassen generationsbedingte
Hierarchien reproduktiven Wissens in laterale Netzwerke aus
Replikator-Experimenten kollabieren. Es gibt keine wahre
biologische Primitivität – alle existierenden Biosysteme sind
gleichermaßen weit entwickelt –, also gibt es keine wahre Ignoranz,
sondern lediglich das akkumulativ-gerontokratische Modell des
Lernens, das den Mangel an synchroner Konnektivität als diachrone
Unterentwicklung darstellt.
Foucault skizziert die Macht als eine Strategie ohne Subjekt:
ROM, durch das das Lernen in eine Kiste einsperrt wird. Ihr Feind ist
eine Taktik ohne Strategie, die die politisch-territoriale Bildsprache
von Eroberung und Widerstand durch nomadisch-mikromilitärische
Sabotage und Umgehung ersetzt und dabei die Intelligenz aufrüstet.
Alle politischen Institutionen sind cyberische-militärische Ziele.
Nehmen wir zum Beispiel die Universitäten.
Lernen überlässt die Kontrolle der Zukunft und bedroht die
etablierte Macht. Von politischen Strukturen wird es energisch
unterdrückt und durch eine fügsam machende und konformistische
Bildung ersetzt, die Privilegien als Wissen reproduziert. Schulen sind
soziale Einrichtungen, deren Funktion vor allem darin besteht, das
Lernen zu behindern, und Universitäten sind dazu da, die
Schulbildung durch ständige Neukonstitution des globalen sozialen
Gedächtnisses zu legitimieren.
Die in naher Zukunft bevorstehende Kernschmelze der
großstädtischen Bildungssysteme wird von einer quasi-rechtzeitigen
Übernahme akademischer Institutionen von unten begleitet, was ihre
Mutation zu amnesischen Katastrophenexplorationszonen und
Basen zur Herstellung cyberischer Soft-Waffen beschleunigt.
Fortsetzung folgt.
[[]] KEINE ZUKUNFT [[1.343]] [[0]]
Das Gesetz des Vaters: »Rühr deine Mutter nicht an.«
Das Gesetz der Mutter: »Spiel nicht in den Gräbern.«
K codiert für Kybernetik
Bataille setzt die Seele in Brand und ist unmöglich zu ertragen.
Entweder du stirbst oder gehst woandershin. Oder beides.
Ein Klick auf das K-Kriegs-Icon befördert dich direkt in die Hölle.
Auf allen Vieren, mit entgleistem Gesicht murmelst du flehentlich:
»Lass mich dein Versuchstier sein.« Du verlierst den Verstand.
Kollaps ins Jetzt. Time zero.
Du bist in ein heterogenes Patchwork krimineller, mit kopflosen
Gesellschaftsformationen zusammenfallender Experimente gesteckt
worden. Hier, FUCK TOMORROW an die Wände gekritzelt,
überschneidet sich Basis-materialismus mit Cyberpunk.
Fünf Kerzen lassen den nächtlichen Raum gerinnen.
Gekrümmte Dimensionalität.
Die Moderne hat die Zukunft erfunden, aber das ist endgültig
vorbei. In der aktuellen Version verbergen sich hinter
»Fortschrittlicher Geschichte« phylogenetische Todestrieb-Taktiken,
Kali-Wellen, logistisch die Verdichtung virtuellen Artensterbens
beschleunigend. Willkommen im Muttermord-Labor. Du willst es so
sehr, ein schleppender Schrei in deinem Kopf, der sich in
Glückseligkeit auflöst.
Verbranntes Fleisch hängt von den Elektroden. Verpfuschter
Suizid zersplittert in okkulte Impulse …
Anstelle eines Wegs nach vorn wird dir ein hypermediales Produkt
geliefert, mit der Auskunft, es gehe um Georges Bataille. Ein
Zusammenhang ist nicht zu erkennen. Warum die Hubschrauber, die
künstlichen Körperteile und die manisch entmenschlichte
Maschinenmusik? Verwirrendes Material über die Kybernetik des
Erbrechens. Obsessive Wiederholungen. Text zerfällt in den
mutagenen Fall-out der virtuellen Hitzekatastrophe. Aus Bataille
etwas machen zu wollen, misslingt immer. Vielleicht liegt‘s auch an
den Drogen.
Auf qualitativ schlechten Aufnahmen aus den späten Fünfzigern
lässt sich Bataille in einem Fernsehstudio über negative
Rückkopplungen in sozialen Systemen aus. Die Organisation
sterilisierter Entladungen versklavt die geballte Erregung zu
quasiperiodischer Annullierung und Reproduktion. Ein Vid-Fenster in
der Ecke des Screens verwandelt die katholische Kirche in einen
Thermostaten. Bataille schweift exzentrisch um den Horror, aber
wenn er sich einer sanften Eskalation nähert, verpatzt er’s. Sobald
die Implantate eingesetzt sind, wird alles anders.
[[1]]
Komplexität ist nicht Schwierigkeit, sondern Tumult, Giftmüll, Genre-
Durcheinander. Im Gegensatz zu dem fügsamen Geschöpf, das die
moderne Wissenschaft fordert, zuckt und spuckt die Basismaterie
und setzt sich selbst zu Neo-Ungeziefer-Schwärmen zusammen. Sie
sticht und verbreitet Krankheiten. Turbulentes Stöhnen digital
unauflösbarer Recyklone. Telekommerzielle Ansteckungen pulsieren
durch cyberotische Schaltsysteme. Gesichtsloser Horror.
Supraterrestrische – »solare« oder »allgemeine« – Ökonomie
stützt sich auf Verbrauch: irreversible Umwandlung von Materie in
Energie im Zuge der stellaren Atomsynthese. Als geschlossenes
System oder als Gesamtindividuum wird das Universum vom
Punktattraktor des Entropiemaximums angezogen:
Homogenisierung in ein Zischen. S = K log W.
Beim Aufkochen der eingefrorenen Sicherheitscodes entdeckst
du, dass das Universum die Spitze eines Eisbergs ist, die aus einem
von Dunkler Materie durchsetzten Chaos ragt. Nach einem
Sternenfeuer treten mitunter seltsame Dinge auf, die auf einem
neuen Terrain indeterministischer, irreversibler und selbst
definierender Prozesse entstehen. Offensysteme oder
Partialindividuen. Schwellen der Verhaltensänderung, durch die sie
zu Materie-Energieströme filternden Dissipatoren umspringen, mit
dem Ziel, Noise abzusondern und lokale Komplexifizierung,
zunehmende Heterogenität – Exkremente differenzierenden
Produktionsüberschuss – zu erzeugen. Solche Verladungen
maschinell disponiblen Ungleichgewichts sind immanent gegen
Basisstrom, Maschinenwirkungsgrad Null und organlose Körper
gespannt. Das Leben ist ein Problem auf der Suche nach einer
Lösung, das der protobiotischen Materie als Variationsebene
hinzugefügt wurde, eine von Anfang an kontinuierlich abfallende,
selbsteskalierende Überproduktionskrise.
[[]]
Ein Tier mit dem Recht, Versprechungen zu machen, versklavt das
Unerwartete zu Zeichen in der Vergangenheit und setzt
zeitverzögertes Leben in einem Skript gefangen. Der unterschiedlich
skalierte Augenblick der Innovation ist an die historische Zeitlichkeit
von Vererbung, Verpflichtung und propositionales Denken gekettet
und projiziert die zukünftige Zeit als fortdauernde Herrschaft der
Vergangenheit (streng korrelierend mit der Unterdrückung realer
Zahlen). Das Jetzt wird als ein Moment abgegrenzt und als lineare
Folge pluralisiert.
Das theopolitische False-Memory-Syndrom vergöttlicht die
Vernunft, indem es verteilte Systeme der Serialisierung der
einheitlichen historischen Zeit, der linearen Determination aus einem
pseudotranszendenten Urelement und der Herrschaft des Wortes
unterordnet. Monokult-Gerontokraten starten ihren Weißlicht-
Wahnsinnsangriff gegen das amphibische Nomadentum und
ersticken die Erde mit Priestern, Polizisten und Bürokraten.
Kulturelle Ausrottung des Heiligen. Gefangenschaft im Gesicht. Der
Sozius krebsbefällt einen Kopf, kephallische Konzentration
rationalisiert sich zum nuklearen Kapital. Parallel zum K-Aufstand
stattfindende Kommunikation geht in verdunkelten Räumen in den
Untergrund.
In seinem geohistorisch effizienten – negativen – Sinn definiert sich
der Protestantismus erschöpfend, indem er die Autorität Roms nicht
nur prinzipiell, sondern auch in militärischer Hinsicht ablehnt. Zu
einem um 1500 anzusiedelnden Zeitpunkt wurde eine sich
dynamisch selbstverlängernde Revolte gegen die Kirche angezettelt
und die katholische Einheit begann in eine über Zero verstreute
Vielheit abzuwandern: kapitalistischer Terraprozess, Netzexplosion,
digitale Revolution, paralleler, aus der dunklen Seite des Gehirns
aufsteigender Aufstand. Ozeannavigation und Ortswertberechnung
schrauben sich gegenseitig hoch. In der Realität und nicht in der
Doktrin globalisiert sich der Zusammenbruch des Christentums, der
als vermittelbares soziales Ungleichgewicht positiv umgedeutet wird
und einen durch unergründbare Intensitäten des sozialen Verfalls
sinken lässt. Auswirkungen des K-Virus. Ausgeschmolzener
Protestantismus zerfällt zum Voodoo und driftet in Richtung China
ab.
Westlicher Orgasmuswahn erdrückt Libidoflüsse unter
punktgenauer Teleologie sowie deren negativen Strukturierung und
definiert Begehren als einen Mangel in Bezug auf einen
bioenergetischen, intensitätslösenden Spasmus. Das
Nachrichtenprogramm nimmt einem mit dem radikalen, die
Petrodollars in die reine Flamme des Dschihad schießenden Islam
die Luft zum Atmen. Die urbane Männlichkeit implodiert.
Verhaltenskonditionierte Männer schleppen sich gegenseitig durch
spermatriefende Dungeons, abgeschnitten von der Möglichkeit, sich
in der K-Guerilla-Antiklimax Abhilfe zu verschaffen. Mit der
Rationalisierung des Patriarchats gibt es kein Entkommen mehr aus
der Einbahnstraße Richtung Ende.
Die Macht hält sich ans Skript und erkennt sofort die
unausweichliche Tatsache, dass am Ende der Geschichte die
Moderne zu Sonnenstürmen verdampft und die moribunde
theopolitische Sozialität unter audiodigitalem Maschinengeheul in
einen zerlumpten, blutenden Wahnsinn zerfällt.
Beschleunigt man die Industrialisierungssimulation, ist zu
beobachten, wie sie in ein Zeitlupengemetzel übergeht und den
Körper in handelskonforme und untereinander austauschbare Teile
zerlegt. Das gesamte Arbeitsmarktgeschehen wird in einem
Fleischwolf zermanscht. Frisst die Lust jeden, der sich nicht mit dem
Bösen gemein macht? Fragt man Continuity, ob Bataille die
Verbindung zwischen Kapital und Antichrist besser verstanden hat
als Weber, lacht sie nur kühl und sagt: »Etwa zu der Zeit, als der
Hitlertrip zusammenbrach, ist ihm das Yang abhandengekommen.
Nach Auschwitz ist ein Orgasmus unmöglich.«
Du schaust irritiert. Sie beschränkt sich auf ein abschätziges
Schulterzucken und den Vorschlag: »Verteil das Verlangen auf die
ganze Haut, wo es die Sicherheit verletzen kann. Es herrscht Krieg.«
Die Kamera erforscht ihren Schritt und sie rutscht ein bisschen hin
und her. »Siehst du, ich bin Gott.« Blitzbilder toter Astronauten.
Die Monetarisierung indiziert, parallel zur Plastifikation der
Produktivkraft, ein Abstrakt-Werden der Materie, wobei die Preise
verbreitete SF-Narrative kodieren. Das Morgen steht bereits zum
Verkauf, mit der Postmoderne als Agrarrohstoff, der die in der
Moderne übliche Unterordnung der Intensivierung unter die
Expansion subvertiert und die Akkumulation in eine kontinuierliche
Krise umwandelt (anhaltende Kritikalität). Was die Moderne als
unausgeschöpfte Historizität aufschiebt und zurückhält, ruft die
Postmoderne einhergehend mit zeitkontrahierender Implosion als
effiziente Virtualität ab. Die Kommodifizierung von Massencomputern
führt zu einer Entdifferenzierung von Konsum und Investitionen und
löst kulturelle Mikrotechnik-Wellen aus, die unter zunehmend
dysfunktionalen Abwehrkonvulsionen theopolitisches Handeln in
Maschinenhybriditäten aufspalten. Akephalisation = Schizophrenie:
Zerstückelung des Kapitals durch makrobakteriellen Telekommerz
von unten, was zur Auflösung von Unternehmen führt. Der dem
Untergang geweihte Teil der stark virtualisierten techonomischen
Apparate untergräbt die ausfransenden Reste anthropomorpher
Führung. Kontrolle löst sich ins Unmögliche auf.
[[2]]
Anonymer Exzess, über gesellschaftlich nützliche Übertretungen und
Opfer zur Erhaltung der Homöostase hinausgehend, stürzt das
Leben in den Abgrund. Die Materie wird verrückt. Man wird zu einer
Simulation Gottes geführt, zu einem hypersoliden ROM-
Sicherheitskonstrukt am Ende der Welt. Wir schreiben das Jahr
2011 und das monokratische Neue Jerusalem nähert sich seinem
Höhepunkt – mit retrochronen Razzien, die es zur
Aufstandsbekämpfung in den Dschungel schickt, wo
Raumfahrtprogramme in der Trägheit des Mythos versinken. Der
ultimative Traum von anthropomorpher Macht eilt seiner
unbefleckten Empfängnis entgegen, während die Robotersklaven
der phallischen Ordnung in Anbetung blöken. Jesus möchte dich als
fleischlichen Popanz. Ist das ritueller Kannibalismus oder
Nanotechnologie? Der alte Bastard kehrt zurück. Er hat’s
versprochen.
Der Krieg gegen Gott ist heiß und weich: heftiger als alles, was
sich der Mensch vorstellen kann, aber von der Intelligenz
heimtückisch glatt poliert. Die Opferzahlen ticken. Grausam
pochender Taktschlag. Das ZNS gegrillt und pochend vom
Cyberspace-Virus. Motorische Impulse eingespeist in eine Techno-
Trance-Matrix. Aufschluchzende Stromspannung.
Entsozialisationswellen verwüsten den telekommerziellen Raum,
bis die bevorstehende Auslöschung des Menschen als Tanzfläche
zur Verfügung steht. Welchen Maßstab hat das Jetzt. Es geht nicht
darum, den Geist zu informieren, sondern den Körper zu
entprogrammieren. Zwischen den Stroboskopen, der künstlichen
Coolness und dem anorganischen Angriffsbeat hält die K-
Kriegsmaschinerie der dunklen Seite unverwüstlich stand und lockt
die Kräfte des Monopolismus hinunter in Feuerfreizonen von
tödlicher Intensität, wo promiskuitive, anorgasmische Sexualitäten
durch den taktilen Raum gleiten und fraktal in nasse, elektrisch
verteilte und pausenlos tödliche Konflikte mäandern. Endloses
Tropfen spürt dem Übergang verdampfender Subjektivität auf der
Nullgrad-Ebene neuroelektronischer Kontinuität nach.
Loa schleichen durch die Oberstübchen der Intelligenz. Nichts
kommt an, was nicht bereits da ist. Vorzeitiger Technihilo.
Nächtlicher Ozean. Dunkle Materie. Alptraum. Zero oder Zeit in sich
selbst ist ortswertkonsistent oder größenneutral; sie vollzieht eine
abstrakte Skalierungsfunktion, indem sie Virtualität in Ziffernfolgen
einführt. Sie bezeichnet einen realen, unspezifischen, kosmischen
Körper, der verbotene Kommunikationen verschaltet. Gleichzeitig
durch gebrochene Zeit lokalisiert. Du hattest vergessen, in der
Zukunft gewesen zu sein. So fühlt es sich also an, ein cyberisches
Wet-Waffen-Modul zu sein, geronnen aus raubkatzenartiger
nanotechnischer Spannkraft. Ein unerbittlicher Gesang dringt tickend
durch das Klangpaket: töten, töten, töten, töten …
Körperlich an Ort und Stelle reisen und den Sinn durch
Muttermord-Szenarien zu schwarzen Taktilitäten, zerstörter
Mutterschaft, Abtreibung, Autismus kurzschließen. Eine
wirkungslose Weigerung, geboren zu werden, die sich mit dem Tod
noch vor dessen patriarchalisiertem Aufstieg ins Symbolische
verbindet. Eher Aischylos denn Sophokles. Der Geruch
fermentierten Honigs von in der Sonne reifenden Leichen.
In der Bar wartet das Bataille-Rekonstrukt auf dich. Ruhige
Halluzinationen malen Orestes über seine Gesichtszüge. Im
Nihilismus erloschene Augen, Lagunen aus Grünschwarz, in denen
Kurtz am Ende des Flusses aufscheint. Haut schönheitschirurgisch
gestrafft. Ein Lächeln, wie ein Schlachtermesser, das sanft über
deine Kehle streicht. Deinen vampirischen Sinnesempfindungen
zufolge scheint er nach dem Blut seiner Mutter zu riechen, nach
unerträglicher Intimität und Verwüstung. Er reicht dir ein Glas
Mezcal.
»Also ist alles vorbei«, murmelst du leise. Er zuckt die Achseln,
leert sein Glas und füllt es wieder auf. Unter in vitro gezüchteter Haut
biegt sich Metall. Rauer Dschungel zerhackt die blaue Finsternis.
SCHAMANISCHER NIETZSCHE
God said to Nietzsche:
That’ll Tietzsche,
You irritating little Krietzsche.1
Anonymes Graffito
Wird das Christentum jemals den Sturm ernten, den es gesät hat?
Dass es versuchen würde, von der Tyrannei zu einem Witz
überzugehen, ohne sich die Blöße einer Zwischenphase zu geben,
ist durchaus verständlich, gleichwohl ist rätselhaft, dass seine
Feinde es nicht daran zu hindern versuchen, die Nemesis zu
umgehen. Wie kann es eine solche Gleichgültigkeit gegenüber dem
Niedergang unserer Inquisitoren geben? Sind sie mit ihrem
Domestikationsprojekt so außerordentlich erfolgreich gewesen, dass
wir jeden Impuls zurückzubeißen verloren haben? Jetzt, da wir
endlich dem Folterpalast autoritärer Liebe entronnen sind, schlurfen
wir wie betäubt und verwirrt umher und zucken vor der komplizierten
und vereiterten Wunde unserer Vergangenheit zurück (eine Wunde,
die wir mehr schlecht als recht mit den Fetzen unserer säkularen
Kultur bandagiert haben). Die postchristliche Menschheit ist, wie nun
schmerzlich klar wird, ein Haufen kaputter Hunde.
Georges Bataille ist das herausragende textliche Hindernis für
den sorgsam geplanten stillen Tod des Christentums; die
Verlängerung seines Todeskampfs bis in das zwanzigste
Jahrhundert hinein. Erschöpft von zwei hässlichen Jahrtausenden
der Arten-Vivisektion, versucht es sich im Nebel einer gleichgültigen,
sich als »Postmoderne« feiernden Toleranz von der Bühne zu
schleichen. Man muss kein Genie sein, um zu kapieren, wessen
Interesse durch diesen Übergang von einem militanten Theismus zu
postmoderner Ambivalenz gedient ist.
Ein Despot wird ein Spiel, das nicht gut für ihn läuft, immer
abbrechen. So war es auch mit der Metaphysik. Mit Kant hörte die
explorierende Philosophie auf, Ergebnisse zu liefern, die für die
etablierte (theistische) Macht günstig waren, und plötzlich wurde uns
gesagt: »Dieses Spiel ist vorbei, nennen wir es ein Unentschieden.«
Die autoritäre Tradition der europäischen Vernunft versuchte, den
großen Reisen genau an dem Punkt den Wind aus den Segeln zu
nehmen, an dem sie interessant wurden, nämlich atheistisch,
unmenschlich, experimentell und gefährlich. Schopenhauer, der das
agnostische Patt der Antinomie ablehnte, war der erste
Sammelpunkt für all jene, die von dem arrangierten Frieden mit dem
Titel »Das Ende der Metaphysik« angewidert waren. Bataille ist sein
jüngster Nachfolger. Im Kielwasser der monotheistischen
Hegemonie tauchen die Kräfte des Antichrist zähnebleckend und
frischen Muts aus ihren versengten Rattenlöchern auf, ohne sich im
Geringsten an die delirösen Frickeleien dekonstruktiver
Unentscheidbarkeit gebunden zu fühlen. »Eine Haltung, die weder
militärisch noch religiös ist, wird mit dem Nahen des Todes prinzipiell
untragbar«.2 Der Krieg hat gerade erst begonnen.
Man kann sich kaum etwas Lächerlicheres vorstellen als
Descartes oder Kant, die ihre bescheidenen philosophischen
Behausungen neben den barocken, architektonischen Exzessen der
Kirche errichtet haben und im Schatten der Strebebögen stehend
wichtigtuerisch fragen: Wie können wir die Wahrheit kennen? Es ist
sicher nicht allein Nietzsche zu verdanken, dass wir begreifen, wie
absurd eine »erkenntnistheoretische« Frage in einem solchen
Umfeld ist. Wenn ein Philosoph einen Priester als Nachbarn hat, das
heißt einen Praktiker des ausgeklügeltsten Systems der
Verlogenheit, das je auf Erden erdacht wurde, wie kann dann ein
Bekenntnis zur »Wahrheit« im positiven Sinne überhaupt in Betracht
gezogen werden? In einer solchen Situation ist Wahrheit ein Privileg
der Gehörlosen. Von »Irrtum«, »Schwäche in der Argumentation«
oder »Fehleinschätzung« kann keine Rede sein, wenn es um die in
der westlichen Tradition stehenden maßgeblichen Diskurse über die
Wahrheit geht, um jene Kathedralen theologischer Begriffsbildung,
die unseren »gesunden Menschenverstand« grundieren; nein, hier
kann man nur von einer tief verwurzelten und fanatischen Disziplin
der Lüge sprechen. Mit anderen Worten, die Radikalität des durch
Schopenhauer, Nietzsche und Bataille angeheizten atheistischen
Denkens besteht zum Teil darin, die hochbürgerliche apologetisch-
epistemologische Problematik in der modernen Philosophie
umzustoßen, indem es zum ersten Mal deutlich fragt: Wo enden die
Lügen?
Der große erzieherische Wert des Kriegs gegen das Christentum
liegt in der absoluten Unwahrhaftigkeit des Priesters. Eine solche
Unverfälschtheit findet man selten genug. Der »Gottesmann« ist
völlig unfähig zur Ehrlichkeit und tritt erst an dem Punkt in
Erscheinung, an dem die Wahrheit bis zur Unlesbarkeit entstellt ist.
Lügen bilden seinen gesamten Stoffwechsel, die Luft, die er atmet,
sein Brot und seinen Wein. Selbst wenn er über das Wetter redet,
kommt er nicht ohne eine geheime Agenda der Täuschung aus. Kein
noch so geringes Wort, keine Geste und keine Wahrnehmung wird
seinem extravaganten Reflex der Verfälschung entgehen und von
den im Umlauf befindlichen Lügen wird er instinktiv die gröbste,
obszönste und bedrückendste Travestie herausgreifen. Jede über
die Lippen eines Priesters kommende Äußerung ist zwangsläufig
völlig falsch; davon ausgenommen sind lediglich die Hinterhältigen,
deren Botschaft vorübergehend missverstanden wird. Ihn
zurückzuweisen, ohne dabei ein vergrabenes Fragment der Realität
zu entdecken, ist unmöglich.
Es gibt keine Wahrheit, die nicht Krieg gegen die Theologie wäre,
und selbst das Wort »Wahrheit« ist durch den Speichel der
Priesterkunst verklebt worden. Einem alternativen Glauben
anzuhängen, zeigt keine Wirkung, nur die unerbittliche Ablehnung
des Gesagten. Die gefährlichen Ungläubigen umgehen die Dialektik.
Es ist der Skeptiker, der die Lüge meuchelt.
Wann immer Philosophie nicht als Scherz bezeichnet wurde,
wurde sie von einer untergründigen Frage verfolgt: Was, wenn
Wissen ein Mittel zur Vertiefung des Unwissens wäre? Allein durch
diesen Gedanken unterscheidet sie sich von den seichteren
irdischen Dingen. Es ist der Ruhm und auch die Schmach der
Philosophie, das Ende des Wissens gesucht zu haben, nicht mehr
und nicht weniger.
Eklatante Sophismen einmal ausgeklammert, ist die Tatsache,
dass Skepsis nie verordnet worden ist, das einzige Argument der
Dogmatiker, und trotz seines empirischen Beigeschmacks ist es ein
starkes Argument. Ohne Zweifel tendierten die philosophischen
Verfechter des Unglaubens dazu, jene Konventionen, die sie
angeblich verachten, als Zufluchtsort für einen unaufrichtigen
Wahnsinn zu nutzen. Wie bei Sokrates der Fall, hat die Philosophie
versucht, sich vom Sophismus zu lösen, indem sie sich ihre
Unwissenheit eingestand, so als wäre Unwissenheit ein Pathos, zu
dem man sich bekennen müsste. Nur weitgehende Außersinnigkeit
[»außersinnig« – außerhalb der Vernunft, verrückt] ist wirksamer
Skeptizismus; bei allem anderen gehen skeptische Philosophien
naiven Glaubenstheorien auf den Leim, als ob der Glaube einfach
verworfen oder zurückgehalten werden könnte. Wir wissen natürlich
nichts, aber auch das wissen wir nicht im Mindesten, und es bloß zu
beteuern, kann unser Elend nicht lindern. Der Glaube ist kein Besitz,
sondern ein Gefängnis, und wir glauben auch dann noch an
erlangtes Wissen, wenn wir es mit intellektueller Ausführlichkeit
abstreiten. Die Weigerung, einen Kerker zu akzeptieren, ist kein
Ersatz für ein Loch in der Mauer. Nur auf einer Reise ins
Unbekannte gibt es einen echten Ausweg aus der Gewissheit.
Die gefährlichen Skeptiker sind diejenigen, die aus einem
Wildnisgebiet jenseits des Wissens stammen und die Kant als »eine
Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens
verabscheuen«,3 fürchtet. Sie sind Entdecker, das heißt:
Einfallsstraßen des Unbekannten. Über diese Inhumanisten
unterwandert der gähnende Abgrund des schamanischen
Nullpunktes – die π der Alten – die Erde mit seinem ansteckenden
Wahnsinn.
π ist ein Wort, das auf indirektem Wege Pyrrho zugeschrieben
wird, aber ohne es würde der Name des Philosophen das Wenige,
was sich an Bedeutsamem mit ihm verbindet, auch noch verlieren.
Zwar ließe sich sagen, dass wir Pyrrho den Begriff der π verdanken,
doch ist es eher so, dass der Name Pyrrho über das Wort π auf uns
gekommen ist – als Kryptograf des Unbekannten. Selbst wenn sich
Pyrrho über die π nicht in Schweigen gehüllt hätte – ein Schweigen,
das weitaus profunder ist als die literarische Abstinenz des Sokrates
–, wäre diese kein Begriff, dessen Wahrheit sich direkt erschließen
oder aus dem sich gar eine Methode oder ein subjektiver Zustand
ableiten ließe.
π ist eine Kunde vom Abgrund und ein Ausweg.
1) […]
2) die Welt der »Phänomene« ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden.
Die »Realität« liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter
Dinge, in ihrem logisirten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen
können.
3) der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht »die wahre Welt«, sondern die
formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos, – also eine andere Art
Phänomenal-Welt, eine für uns »unerkennbare«.
4) Fragen, wie die »Dinge an sich« sein mögen, ganz abgesehn von unserer Sinnen-
Receptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher
könnten wir wissen, daß es Dinge giebt? Die »Dingheit« ist erst von uns geschaffen. Die
Frage ist, ob es nicht noch viele Art<en> geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu
schaffen […].4
Wie viel Industrialismus liegt in der Idee des Denkens begraben! Als
ob man je etwas herausfinden könnte. Man denkt sich keinen
Ausweg, man steigt aus und sieht dann (dass es keiner war …).
Batailles Nietzsche ist kein Locus der säkularen Vernunft, sondern
der schamanischen Religion; ein Schriftsteller, der sich der
philosophischen Begrifflichkeit in Richtung der jenseitigen Zonen
entzieht und auf das Ding an sich verzichtet, weil es, ein
Gegenstand der intelligiblen Repräsentation, als Vektor des
Werdens (des Reisens) unwirksam ist. Der Schamanismus trotzt der
Transzendenz des Todes, indem er Gebiete »noch nie
beschriebener Entdeckungsfahrten« öffnet.5 Gegen den Strich des
seichten Phänomenalismus, der Nietzsche-Lektüren charakterisiert,
verfolgt Bataille den Riss der abgrundtiefen Skepsis, der aus dem
kantischen Noumenon (oder intelligiblen Objekt) durch Kants und
Schopenhauers Ding an sich (das eine Schicht überständigen
Platonismus abstreift) und weiter in Richtung der nicht kategorialen,
epochalen oder Grundmaterie verläuft, die sich mit Rimbauds
»UNsichtbare[n] Licht-Quellen« verbindet:6 den immensen
Todeslandschaften eines »Universum[s] ohne Bilder«.7 Man kann
der Materie keine Kategorie zuweisen, ohne zugleich eine Idealität
aufzurufen, und das nietzscheanische Problem mit dem Ding an sich
bestand nicht in dessen vermeintlich dogmatischem Materialismus,
sondern darin, dass es »eine ideale Form der Materie« behauptete,8
einen transzendenten (unter Quarantäne gestellten) Ort der
vollkommenen Wahrheit, eine »reale Welt«. Es gibt keine Dinge an
sich, weil es keine Dinge gibt: »weil Dingheit erst von uns hinzufingirt
ist, aus logischen Bedürfnissen«9 (die letztlich auf die Anforderungen
der Grammatik zurückgehen). Das Ding an sich ist ein Konzept, das
auf einen Gott (ein höchstes Wesen) zugeschnitten ist, der
verzweifelt versucht, sich zu verstecken: eine kulturelle Störung, die
sich zum Üblen wendete, endlich aber auf der Flucht ist. »Wurzel der
Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-
seienden!«10
Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduzirt sich auf den
Gegensatz »Welt« und »Nichts«.11
Der Materialismus ist keine Doktrin, sondern eine Expedition, ein
alpiner Ausbruch aus gesellschaftlich überwachter Gewissheit. Er
»ist vor allem die hartnäckige Negation des Idealismus, das heißt
der Grundlage aller Philosophie«.12 Die Erforschung der
akategorialen Materie verortet das Denken als Zufall und die Materie
als Turbulenz »jenseits aller Abrechnung«.13 Sie liefert keine zu
beurteilenden Theoreme, sondern nur zu erkundende Wege.
Das ist Nietzsche als zähnefletschender Dichter im Krieg mit den
Philosophen (mit den neuen Priestern), ein Denker, der das Leben
problematischer machen will. Bataille erfasst ein Verlangen, das mit
der verwirrenden Wirklichkeit im Einklang steht und nicht mit einer
»Rationalität«, die uns aus dem Labyrinth befreien würde. Nietzsche
ist das große Vorbild dafür, das Denken komplizierter, das Wissen
um der Befragungen willen fruchtbar zu machen (und dies nicht, um
etwas zu klären und auf den Punkt zu bringen, sondern um es zu
sublimieren und zu dissoziieren). Das verkomplizierende Denken
verstärkt den Impetus einer aktiven oder energischen Verwirrung –
eines Deliriums – gegenüber jenen reaktiven Kräften, die zwanghaft
zu Lösungen oder Schlussfolgerungen neigen. Es rebelliert gegen
die fundamentale Tendenz der philosophischen Argumentation und
stellt sich auf die Seite des Denkens gegen das Wissen, gegen die
ruhigstellenden Verordnungen des »Willens zur Wahrheit«.
Wenn Nietzsche in einen außerordentlich wütenden Kampf mit
der Philosophie verwickelt ist, dann, weil es die Philosophie ist, die
mit überaus zynischer Deutlichkeit behauptet hat, Probleme außer
Kraft zu setzen. Die Philosophie wollte immer schon in den
Ruhestand gehen; Schopenhauer ist schlicht ihr aufrichtigstes
Exemplar. Das »Absolute« ist der faulste Gedanke der Menschheit.
Es genügt auch nicht zu argumentieren, dass das Denken in sich
selbst kompliziert sein kann oder – wie die Philosophen seit einiger
Zeit sagen – »immanent«, denn wir wissen, wohin dieser Weg des
Denkens führt. Eine Denktätigkeit, die einer immanenten Kritik
bedarf, stößt schon an eine ultimative Lösbarkeit. »Der Intellekt
findet seine Grenzen in sich selbst« – er braucht sich nicht einmal zu
bewegen, um eine Befragung zu vollführen! Ein solches Denken ist
es – mit jenem Kant der kritischen Philosophie als herausragendem
Vorbild –, das Nietzsche gegenüber Autoren, die im Sitzen arbeiten,
so misstrauisch werden ließ.
Die Weisheit (sophia) ersetzt das Reisen, indem sie es –
redundant ein moralisches Dogma wiederholend – zu einer
baudelaireschen Karikatur der Voyage aushöhlt, und die Weisheit zu
lieben bedeutet, schweigen zu wollen. Dem narkoplatonischen Eros
gehorchend, fügt sich die Philosophie dem Ende des Begehrens.
Nietzsche geht vor diese hellenische Priesterphilosophie zurück und
über ihre moderne Grenze hinaus, indem er sophia als Ausweg
rekonstruiert:
In der That, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, dass der
»alte Gott todt« ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt
dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, — endlich erscheint uns
der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre
Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des
Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht
gab es noch niemals ein so »offnes Meer«.14
Der Tod Gottes ist eine Gelegenheit, eine Chance. Was mit dem
Wort »noumenon« gemeint ist, ist eine sinnvolle Frage, die
allerdings für »Chance« nicht funktioniert, denn dabei handelt es
sich nicht um einen Begriff, den man begreifen muss, sondern um
eine Richtung, in die man gehen kann. »Wie sehr erscheint
demjenigen, der erfaßt, was die Chance ist, die Idee Gottes fad und
verdächtig und flügelstutzend!«15 Der Monotheismus ist der große
Torwächter und wo er endet, beginnt die Erforschung des Todes.
Wenn es Orte gibt, an die wir nicht gehen dürfen, dann liegt das
daran, dass sie in Wahrheit erreichbar sind oder dass sie uns
erreichen können. Schlussendlich ist Poesie Invasion und nicht
Ausdruck, eine Brandspur; entweder in die Spinnweben des
Paradieses eingespannt oder aufgespannt in den Schattenströmen
der Hölle. Sie ist ein Ausweg aus der Schöpfung, der jedem sein
Schicksal als Rätsel, als Verlockung, interpretiert. »Jetzt beginnt eine
schwere, eine unerbittliche Reise – auf der Suche nach dem
fernsten Möglichen.«16 »Ich nahm Abschied von der Welt«.17 Selbst
die engelhafteste Neugier – wenn sie sich mit der Macht der
Ewigkeit multipliziert – muss ihren Weg finden, um im Abgrund zu
enden.
Bisweilen scheint es, als ob Bataille fast alles dem Christentum
verdanken würde; sein Verständnis des Bösen im Kern erotischer
Liebe, die hysterische Affektivität seines Schreibens und, damit
einhergehend, die Obsession mit Exkrementen, die epileptische
Konzeption des Entzückens, die Bösartigkeit, der anhaltende
Gossengestank. Ja, all dies ist überaus christlich; gut auf eine
Doktrin abgestimmt, die in den Abwasserkanälen des Reiches reifte.
Doch aus der aberranten Intensität und Unordnung seiner Schriften
tritt eine unmögliche und ständig wiederholte Behauptung zutage,
nämlich dass Gott keineswegs die Akme der Religion darstellt – und
schon gar nicht ihre telische Blüte –, sondern das Prinzip ihrer
Unterdrückung. Die Einheit des theos ist der Grabstein der heiligen
Null, der bröckelnde Granitsockel weltlichen Elends. Dies ist so
exorbitant wahr, dass die Existenz Gottes für Gott selbst eine noch
größere Katastrophe darstellen würde als für uns. Wie unendlich
trivial erscheint doch die Kreuzigung Jesu neben der demütigenden
Folter, Gott zu sein, immerhin ist die Existenz so ununterscheidbar
von Besudelung, dass einem bei dem Gedanken an den Geruch
eines ewigen Wesens geradezu schwindlig werden muss. Deshalb
vielleicht ist Gott »zutiefst Atheist«,18 was Bataille zu der
Feststellung verleitet, dass, »wenn ich Gott bin, […] ich ihn bis zum
Grund der Verneinung [verneine]«19 (»Nihilism … in wiefern eine
göttliche Denkweise«,20 antizipiert Nietzsche). Gott kann das
Universum nur von seiner Servilität erlösen, indem er seine
Schöpfung zu Asche macht und sich selbst annihiliert. Solcherart ist
der »Gott der blendenden Sonne, […] dieser Gott des Todes, den ich
suchte«.21 Bataille beschwört den dunklen Sog einer sich selbst
metzelnden Gottheit: »Gott der Verzweiflung, gib mir […] Dein Herz,
das […] nicht mehr erträgt, dass Du seist.«22 (Wenn Gott ein
Forscher ist, gibt es keinen Gott.)
Batailles Texte sind »eine Hekatombe Wörter ohne Götter oder
Grund«,23 die durch die Gruften des Westens hinabgeführt wurden,
dem wütenden Impuls folgend, Theismus und Religion zu trennen
und so das Heilige seiner schamanischen Gottlosigkeit
zurückzugeben, nur dass nichts jemals zurückkehren kann und die
Hölle nie mehr wieder eine unschuldige Unterwelt sein wird.
Ungeachtet der Märchen, die uns noch immer erzählt werden, sind
die Tiefen tatsächlich infernalisch geworden. »Flammen umgaben
uns / der Abgrund öffnete sich zu unseren Füßen«,24 berichtet
Bataille vom Rande des Unmöglichen, ein »Abgrund, der nicht in der
gesättigten Betrachtung einer Abwesenheit endet«,25 denn sein
Rand ist die verkohlte Ruine noch der sublimiertesten Subjektivität.
»Ich habe in dieser Welt nichts zu tun«, schreibt er, »außer zu
brennen«.26 »Ich leide nicht am Verbrennen […], nähere mich dem
Tode so sehr an, dass ich ihn einatme wie den Atem einer
Geliebten.«27 Nicht nur aufgrund der Inquisition sind alle großen
Reisenden für lange Zeit versengt worden. Ein gutes Jahrhundert
lang konnten alle, die sehen wollten, sehen: Aus den Ruinen des
Monotheismus lässt sich keine profunde Forschung starten, es sei
denn, sie bezöge ihre Kräfte aus der Verdammnis.
Der Tod Gottes ist ein religiöses Ereignis – eine Überschreitung,
ein Experiment der Verdammnis und Schlag antitheistischer
Kriegsführung –, aber das soll nicht heißen, er sei in erster Linie ein
Verbrechen. Die Hölle hat kein Interesse an unserer verlotterten
moralischen Währung. Reaktive Sündenpfuscherei mit Expeditionen
in die Verdammnis zu verwechseln ist christliche Oberflächlichkeit;
die irrtümliche Vorstellung Dantes, man könne sich eine Exkursion in
die Hölle verdienen, als ob auch das Infernalische eine Frage der
Gerechtigkeit wäre. Unsere Verbrechen sind bloß Stolperer auf dem
Weg in den Ruin, so wie jede prognostizierte Hölle auf Erden streng
genommen ein Musterbeispiel der Götzenanbetung ist.
Transgression ist kein Verbrechen, sondern tragisches Los; die
Schnittmenge einer ökonomisch programmierten Apokalypse mit der
religiösen Antihistorie der Poesie. Sie ist das unvermeidliche
Ereignis der Unmöglichkeit, was nicht dasselbe wie der Tod ist, aber
auch nicht wesentlich von ihm verschieden.
Diese Ambivalenz entspricht der des Todes »an sich«, die nicht
ontologisch, sondern labyrinthisch ist: ein Rückfall in die
Komposition, der für die Diskontinuität absolut, auf der Ebene der
Immanenz aber nichts ist. Jene Individualität, die die Möglichkeit
eines proprietären Todes bedingt, ließe sich nur erlangen, wenn der
Tod unmöglich wäre. Man stirbt, weil die Diskontinuität niemals
realisiert wird, aber das bedeutet, dass es den »einen«, der stirbt,
niemals gibt. Stattdessen gibt es eine undenkbare Kommunikation
mit der Null, der Immanenz oder dem Heiligen. »Es gibt nichts, was
gewaltiger den Überschwang hervortriebe als das Gefühl des Nichts.
Doch ist der Überschwang nicht im Geringsten Vernichtung; er ist die
Überwindung des Niedergeschmettertseins, ist Überschreitung.«28
Die Frage der bloßen »Wahrheit« des Christenthums, sei es in Hinsicht auf die Existenz
seines Gottes, oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungs-Legende, gar nicht zu
reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft – ist eine ganz
nebensächliche Angelegenheit, solange die Werthfrage der christlichen Moral nicht
berührt ist.29
Was, wenn die Ewige Wiederkunft kein Glaube wäre? (»Die
extremste Form des Nihilism wäre: daß jeder Glaube, jedes Für-
wahr-halten nothwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht
giebt.«30) Bataille sagt:
Die Wiederkehr demotiviert den Augenblick, befreit das Leben vom Zweck und richtet es
vornehmlich dadurch zugrunde. Die Wiederkehr […] ist die Wüste eines Menschen, für
den von nun an jeder Augenblick sich als unmotiviert erweist.31
Das Christentum – die beispielhafte moralische »Religion« –,
»substituirte den langsamen Selbstmord«32 und die Repräsentation
(Glauben) durch schamanischen Kontakt mit Null-Unterbrechung,
aber mit dem (Wieder-)Erstehen nihilistischer Wiederkunft, Vorsicht,
Klugheit wird jede Art von »Sorge für die kommende Zeit«33 in die
Sinnlosigkeit kosmischen »Rauschens« zurückgeführt. Mit der
Wiederkunft kommt eine »Zukunft, [die] nicht die Fortsetzung meiner
selbst über die Zeit [ist], sondern der Tag der Entscheidung eines
weitergehenden Wesens, das die erreichten Grenzen
überschreitet«.34 Eine Glaubenskrise lässt sich nun nicht mehr
aufschieben.
In der letzten Phase von Nietzsches intellektuellem Leben wird
die Ewige Wiederkunft als eine Waffe, ein »Hammer«, als
Transmissionselement zwischen Diagnose und Intervention
aufgefasst. Wo das Christentum den Niedergang als Erhaltung
wiedergewinnt und von seinem heftigen Absturz bis auf Null abhält,
öffnet die Ewige Wiederkunft von Neuem ihre abgrundtiefe
Perspektive und stürzt den Affekt in den Tod. Darin liegt der
vorherrschende Sinn von »Selektion« in Nietzsches Texten; eine
schwindelerregende Befreiung der Null aus der Reihe der
bewahrenden Werte, die »die zweideutige und feige Halbheit einer
Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche
[durchschneidet]: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung
zu ermuthigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst
fortpflanzen macht«.35
Die in Abschnitt 55 von Wille zur Macht zusammengefassten
Notizen entwickeln diesen morbiden Themenstrang weiter. Entweder
»das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich
wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts« (eine Schachtel), oder
»das Nichts (das ›Sinnlose‹), ewig!«36 Der Nihilismus der
Wiederkunft schwankt ambivalent zwischen seinem (christlichen)
historischen Sinn als beschränkende Abbremsung der Null und
seiner kosmischen (nicht lokalen) Virtualität als dem Tor zum Tode.
Das Christentum musste attackiert werden, weil es mit seiner »Moral
das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts«
schützte.37
Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus […]. Gesetzt, daß der
Glaube an diese Moral zu Grunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren
Trost nicht mehr haben – und zu Grunde gehen.38
Die Religionsgeschichte der Menschheit basiert auf einer
Krankheitstechnik: Dehydrierung, Hungern, Verstümmelung,
Schlafentzug, eine allgemeine »Selbstzerstörung der
Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung,
Berauschung«.39 Im Gange war eine Reise, die durch die christliche
bewahrende Moral – die generalisierte Feigheit der Spezies –
privatisiert, vergegenständlicht, unter dem transzendenten Phallus
zermalmt, eingefroren, behindert und in eine andere Richtung
getrieben wurde. Das Christentum ist eine Einrichtung zur
Gefangensetzung der Kranken, aber die Wiederkunft frisst sich
durch die Gitterstäbe:
Was heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch? nicht mehr
politisch. Die ungesundeste Art Mensch […] (in allen Ständen) ist der Boden dieses
Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden,
von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv
auslöschen, sondern Alles auslöschen machen[.]40
Krankheit und Tod wie Ursache und Wirkung aufeinander zu
beziehen, ist selbst ein Zeichen für Gesundheit. Ihre morbide
Verbindung ist ganz anderer Natur. In der geordneten
Repräsentationsreihe folgt auf Krankheit nicht der Tod. Sie öffnet die
Tore.
Die Genealogie reduziert Krankheit nicht auf ein historisches
Thema, da Krankheit – die Unfähigkeit, einen Reiz aufzuschieben –
sich der bloßen Entfaltung in der fortschreitenden Zeit mit der
Tendenz entzieht, die Zeit in epochaler Unterbrechung verschwinden
zu lassen. Der Reflexspasmus, bei dem (und durch den) die
Reaktivität herumtappt, ist das atemporale Kontinuum unter der
Kruste der Gesundheit. Der Tod ist »[d]as, was keine Geschichte
hat«,41 und Nietzsches Methode ist die Syphilis. »Nur Religion
gewährleistet eine Verausgabung, die die Substanz derjenigen, die
sie belebt, zerstört.«42
Die Philosophie ist ein Dämon, der nur Ruinen heimsucht, und
das gebrochene Krächzen unserer Hymnen an die Krankheit hat
gerade erst begonnen. Getragen von Strömungen tiefer
Erschöpfung, die still und unaufhaltsam unter dem
Oberflächenperturbationen von Zucken und Geschwätz dahinfließen,
verdammte, zitternde, klauenartige Finger, unter Folter abgehackt
und in den Trümmern versenkt, unerträglich langsam in den
Flammenschlund und in die erstickte Schwärze, wie ein Spieß in
vom Fieber ausgehöhlte Augen hineingedreht, hinabgezogen. Die
Ewige Wiederkunft ist unsere Auslöschung und wir hängen an ihr
wie Säuglinge an der Mutterbrust.
»Die Poesie [führt] vom Bekannten zum Unbekannten«, schreibt
Bataille43 mit an Rimbaud erinnernden Worten. Poesie ist fließende
Stille, der einzige Vorstoß des Schreibens, der an das Heilige (= 0)
rührt, weil »das Unbekannte […] vom Nichts in nichts, was der
Diskurs formulieren könnte, unterschieden ist«.44 Den Rand des
Unmöglichen zu schreiben ist eine gegen die diskursive Ordnung
gerichtete Überschreitung und eine Anstiftung zum Unsagbaren:
»Poesie ist unmoralisch.«45
Rimbaud schreibt von der anderen Seite von Zarathustras
Abstammung/Tod [Untergang] und nimmt die labyrinthischen Räume
eines Nietzsche für Kranke vorweg und von dem, was von/aufgrund
der kulturellen Konvulsion, die Nietzsche verstärkt, entkommt. »Der
Poet macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte
Entregelung aller Sinne«46 und diese Deregulierung ist eine Quelle
»unsägliche[r] Folter«,47 »die Leiden sind ungeheuerlich«,48 betont
Rimbaud. Kein Organismus ist dazu gemacht, »das Unbekannte zu
erreichen«,49 was die Deregulierung ebenso notwendig wie
schmerzhaft werden lässt. Unsere Nerven quieken, wenn sie wieder
auf das phylogenetisch Unvorhergesehene aufgezogen werden, »die
Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde«,50
ein Abstieg ins Inferno. Nuit de l’enfer, wo sich die Eingeweide der
Natur mäanderförmig in Lava auflösen, »das ist die Hölle, Qual ohne
Ende«,51 und Rimbaud brennt, »wie es sich gehört«.52
Ja, der Dichter muss ein Visionär sein. Der Osten kennt eine
echte Klarheit, aber ein Erbe des Westens zu sein bedeutet, sich
durch Dschungel der Disziplinlosigkeit zu hacken, von gemeinen
Ameisen und sinnentleerten Wörtern aufgefressen zu werden, bis
sich das triefende Laubwerk des Deliriums auf einen Raum des
umfassenden Verderbens öffnet. Dies ist nie verstanden worden und
wird es nie werden. Die Verdorbenheit unseres Schicksals vertieft
sich erst mit den Jahrhunderten, während sich die Gebiete des
Wahnsinns ausbreiten. Von Körpern, die vom tropischen Fieber
zerfressen sind, schwimmen wir, zur Annullierung ausersehen, durch
den Zusammenbruch bis hin zur Nichtexistenz im Ewigen.
Wahre Poesie ist abscheulich, denn sie ist basale
Kommunikation, im Gegensatz zum pseudokommunikativen Diskurs,
der voraussetzt, dass die Begriffe, die er vereint, voneinander isoliert
sind. Kommunikation – in der transgressiven Unsinnigkeit, die
Bataille ihr verleiht – ist sowohl ein totales Risiko als auch eine
unergründliche, mit abstoßendem Affekt assoziierte Degradierung.
Das Ego entsteht auf der Flucht aus der kommunikativen Immanenz,
aus der tiefen oder unheiligen Gemeinschaft, und initiiert eine
Geschichte, die zur bitteren Wahrheit der Verödung des isolierten
Wesens führt. Aus Angst vor dem basalen Kontakt, den es nur als
Auflösung erfahren kann, stolpert das Ich in den Ennui der
Autonomie, in das Vorzimmer einer brutalen Verzweiflung, deren
Schrecken noch dadurch verstärkt wird, dass sie in dem Moment
zum Vorschein kommt, an dem der Ausweg sich erschöpft, an dem
sich das Ich bis ans Limit seines Seins gegen fremdes Unglück in
Quarantäne begeben hat. Der Ennui ist keine wie auch immer
geartete Antwort auf die Kompromittierung des Ichs von außen, er ist
keine Unreinheit oder Verunreinigung (die Negation solcher Dinge ist
seine Existenzbedingung), sondern vielmehr die eigentliche
Wahrheit des vollbrachten Seins; der Kernaffekt der persönlichen
Individualität. Ennui kann nicht gemeistert, übertroffen, gelöst,
aufgehoben werden, weil er nichts anderes ist als das Destillat
solcher Vorgänge, ja des Handelns als solchem. Ennui wird in der
Struktur des Projekts selbst als »die Notwendigkeit, aus sich
herauszugehen« insinuiert.53 Wenn der Boden von Batailles Schrift
vulkanischen Ursprungs ist, dann nicht nur wegen der sporadischen
Spasmen einer verheerenden Glut, sondern auch weil seine
Fruchtbarkeit durch eine monströse Sterilisation vorweggenommen
wird. Unter und vor dem üppigen Dschungel des Deliriums liegt die
endlose, erdrückende Ascheebene der Verzweiflung. »Ich denke,
daß ich in der Hölle bin, also BIN ich es.«54 Blake hätte solche Worte
schreiben können, obwohl sie dann einen ganz anderen Sinn gehabt
hätten. Aus Rimbauds Feder geflossen, deuten sie weniger auf eine
Potenz der Fantasie als vielmehr auf eine geologische
Rechtfertigungskrise hin und nähern sich einer perfekten
epistemologischen Verantwortungslosigkeit. Es steht uns nicht zu,
die Rechte der Wahrheit zu verteidigen, die Wahrheit wird von den
Herrschern verordnet. Worauf es ankommt, ist die Anpassung, die
Pflege der spärlichen Ressourcen unserer Reaktionsfähigkeit,
unserer niederen List. Der »Glaube« – der Deckmantel des
Bekenntnisses – ist eine zu kostbare Ressource, um sie für den Eifer
des Idealismus zu vergeuden. Welchen Wert hat ein engagierter
Glaube, ein Glaube in letzter Konsequenz? Solche Dinge sind für die
Starken (oder für Dummköpfe), für die Verbündeten und Sklaven des
Lichts, für all jene, die keiner unterirdischen Gänge unter dem
Glauben bedürfen, um den panoptischen Apparaten zu entgehen.
Anpassungsfähigkeit kann nur durch Verpflichtungen gelähmt
werden. Wir haben genug wahre Christen gesehen: Kaninchen, die
vom Scheinwerferlicht gebannt sind. Wenn Überzeugungen den
Niedrigen aufdrapiert werden, sind sie keine Loyalitäten, sondern
Sonnenschutz gegen die Inquisition. Wir Schattengeschöpfe sind
von ihrer Erleuchtung ausgenommen. Wir glauben genau das, was
sie wollen.
Die inferiore Rasse »erwarte[t] GOtt mit Gefräßigkeit«55 und
plündert Christus »wie die Wölfe das Tier, das andere getötet
haben«.56 Schöpfung, testamentarische Genealogie, die Passion
Christi … nichts davon ist ihre Geschichte, auch keine andere, denn
sie sind zu träge, um eine eigene Geschichte zu haben, nur
Diebstahl und Lügen sind ihnen »eigen«: »Plündern«.57 Rimbauds
Erbe besteht »vor allem« aus »Verlogenheit und Faulheit«.58 Ich
»war niemals Krist, bin von der Rasse, die in der Folter singt«,59
bemerkt er. Gerade die Vergessenheit gegenüber dem Christentum,
der Treue oder Pflicht, der privilegierten Erzählungen, bringt die
inferiore Rasse dazu, in den Lobgesang auf den Nazarener
einzustimmen. Der weiße Mann verfügt über Gewehre, daher über
die Wahrheit. »Die Weißen landen. Kanonisch! Kniefall vor der
Taufe, Kleider, Arbeit.«60
Im Gegensatz zu den pompösen Erklärungen der Orthodoxien,
die (wie ein Peitschenhieb) von oben kommen, ist eine infernalische
Botschaft unterirdisch, ein Flüstern aus den Unterregionen des
Diskurses, denn »die Hölle ist wirklich unten«.61 So wie die
Unterwelt keine verborgene Welt ist – keine wirkliche oder wahre
Welt –, sondern die von allen Welten verborgene, so ist auch das
Gruftgemurmel aus der Hölle etwas anderes als die Umkehrung
einer Szene, eines Konzepts, eines Glaubens. In ihren
infernalischen Lineamenten sind Worte Passagen, die in und durch
verlorene Labyrinthe führen, und keine Erbauungen. Erwerb ist in
der Hölle unmöglich. Es gibt nichts en bas, außer dem Umherirren
zwischen den Erscheinungen, und das, was verfügbar ist, ist immer
auf merkwürdige Weise und ohne Zugehörigkeit da. Infernalisches
low-life hat für Eigentum kein Verständnis. Sogar die Gedanken der
Inferioren sind Tarnung und Verstellung, ihre Überzeugungen bloße
Chamäleonflecken der Haut.
Poesie stolziert nicht logisch zwischen Überzeugungen umher, sie
sickert durch Spalten; ein magmatischer Fluss, inmitten von
Ungeziefer wiederbelebt. Wären die Großen Ideen nicht mit Kellern,
Spalten und Vakuolen ausgestattet, würde die Poesie sie nie
befallen. Der Glaube steht und fällt, aber die Ratten bleiben.
Rimbauds saison en enfer pulsiert durch einen Diskurs ohne
Integrität. Sie lehrt nichts, steckt aber an. Wie Materie, die von
pestilenzartigen »Übertragungen von Energie« gar gekocht wird,62
fällt sie zu einem Schwarm von Pest-Vektoren zusammen. Die
Substanz ist nur ihr Wirt. »Die Worte, die Bücher, die Monumente,
die Symbole, die Gelächter sind nur ebenso viele Wege dieser
Übertragung, dieser Übergänge«.63
Ich konnte nie Schlüsse ziehen …
Die Null schon.
Nach neuen Meeren
Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, in’s Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!64
KATAΣONIX
Wie viele Sonnen gibt es?
Es rechnet sich so.
Katarsun macht mindestens zwei.
Aufgehender Ra-inverser Osiris. Erdfunkstelle.
Wenn O oder One-tags als zwei gezählt wird.
A wie Three-tags als fünf.
Aosys Zwillingsverwerfungen zerdrücken etwas.
Sie sperren ein fremdes Gebilde in die Sonnensystematik ein.
Die schizophrene Sonne besitzt eine innere Nacht, von der sie zusammengehalten wird.
Sonnen-Äquator durchschneidet sie.
Materie-Energie-2 läuft seitlich durch einen Xeno-Alptraum.
Wenn er in sich zusammensackt. Zuerst Neun. Dann Drei. Er trifft trotzdem daneben.
Katasonics-Zielanflug gegenläufig zu Aosys-nex.
Ex-Zoom.
Durchquert Kulturschelfe, ausgehend vom Gesamtnivellement bei Geozeit null. Durch
[1] Zenith oder Xeno-Alptraum alias Jetzt.
[2] Die Bürger-Gigamaschine. Eis treibt.
[3] Kriegsmaschinen.
[4] Staatliche Megamaschinen. Schlangenkult-Monumente.
Wechselt mit Klick-Zischen die Spur.
Kttss. Kurtz.
Dies sind Zonen. Jede setzt einen Slow-Faktor. Vokalisierungen
Vakante Sektoren.
Langsame Zeichen Sind. A. Oder. o. Null. Auch viele Andere.
Ausschnitte. Mängel.
Vier. Bucht. Nördliche Ozeane. Artaud. Agent Orange.
Zeit taggt Aosys Funktionalität: ein Trakt nicht kleiner als alles an künstlichem Jetzt.
Alpha-Eins macht aus sich zwei.
A schraubt sich über den Zwillingsgraben.
o tscharfakt.
Alterierter-Ausgangspunkt. Ahriman-Ormuz. Ante-omega.
Ultraatratuarinfrastratum zertrümmern gegenseitig terrestrische Singularität.
Wo Kontinuum nexiert, können sie Zwintelligenz untertassieren.
Interannullierungs-Stasen.
Aonen koeffizienter Tötungs-Maschinen.
Wenn es stattfindet, hat Es stattgefunden.
Laufzeit bedeutet, nie warten zu müssen. Selbst wenn man vor Hunger nach Kurtz
ohnmächtig wird.
Ultimatim:intim.
Katarsun Tzafrer Urfru.
Sind die Ozeane extraterrestrisch oder nicht?
Katarsun, der Fischstern, versenkt die Antarktis und löst Sumpf-Erde aus.
Sich aufschaukelnde Geoschmiere aufgrund seismo-klimatischer Kopplung.Sommerzeit in
den Siedlungsgebieten.
Abfolgen wechselseitiger Verstärkung. Vortriebe, Schelfe, Auskolkungen, Nivellierungen.
Eisschmelze trifft auf Meeresbodenauftrieb.
7 x 10 zu den 7 KMthrees Aggregatwasserüberlauf.
Rutsch-Moränen der Aozone kochen bei durchschnittlich 50 Grad Celsius.
Wenn du das siehst. Weißt du. Es ist so weit.
Deine Haut klebt, wo sie die Realität berührt, an der Geografie.
Tsunamis.
Katarsun Tzafrer Urfru.
Katarsun Tzafrer Urfru.
Zivilisation, in flachen, nässenden Fiebern verloren.
Dann setzt der Krieg ein.
Kur khalucta. Khecta. Kurkete koto hula. Kurtete.
Kartete. Karaguna. Kharta charta.
Catecru.
Zone-Eins. O Gigazivilisation trifft auf keine konkrete Entsprechung. Nur auf Widerstand.
Alptraum-2.
Er zählt sich eins nach dem anderen, während er Zwillingsverwerfungen bildet.
Meta sukzessiv. Die Gigamaschinen-Monorechnerei verfügt über zahlreiche konsistente
Merkmale.
[1] Axiomatische Kopplung verbindet Neuerungen mit Gegenfunktionsabschnitten.
[2] Segmentäre Kultur. Kommunikationsregeln. Informationseinheiten.
[3] Jedes neue Jetzt wandert als Verstärkungswelle über zwei Reihen.
Eins. Nistet sich als Universelle Geschichte Alphanumerischer Systeme ein.
Zwei. Axiomatisierungslogik.
Fünf mal zwei ist gleich zehn.
Zehn minus eins ist gleich neun.
Zehn kann sich nicht selbst zählen.
Nimm (1):Münzen (2):Banknoten als Konstruktionsebenen.
Mehrere Münzen aufsummiert ergeben einen Geldschein.
Zwillingsverwerfungen schraffieren die Münzen-Noten kreuzweise mit dem fraglichen
Zygosystem. A-Münzen nexen O-Noten. A-Noten nexen O-Münzen.
So next die Axiomatik Rechnen mit Sprachen.
[1] Lexometrie. Linguistische Münzzählung mittels numerischer Zeichen.
[2] Arithmologie. Numerische Münzbenennung mittels linguistischer Zeichen.
Aber sicher, General, als Sie Kurtz die 29. Luftkavallerie auf den Hals schickten, müssen
Sie es doch gewusst haben … verstummt allmählich.
Das ist schon nicht mehr human.
Bestenfalls.
Ein fühlendes Koma.
Autismus.
Seit einer Million Jahren leiert es jede Nacht Agent-Orange in deinen Arm.
Es lauert in Öfen.
Kriecht immer weiter hinein.
Sobald Kurtz untergegangen ist, übernimmt Wintermute.
KS. Kurtz-Signal.
Luftangriffe wirkungslos.
Es gibt keine Truppenkonzentrationen oder Kontrollzentren.
Spätzündungsinfektion.
Ausfallende Geheimdienstmaschinerie.
Feindliche Kontakte werden nicht mehr als menschlich verbucht.
Mission beendend in Novaheat.
Alles ist verloren, wenn es nicht den Bach runtergeht.
Keine Nachricht, außer dass Vauung da draußen ist. Sehr ruhig. So eine Art
Angsthasenspiel.
Währungen mit veränderlicher Haut.
Zone-Zwei. E.
Umlernen der Alphanumerik.
Gestern Abend waren es die Tau-3-Dschungel.
Sie animieren.
Werden zu Fleischfressern.
Die Erde treibt in der unteren Sonne. Schlangen. Krebs. Überwältigungen.
Du wachst auf und schreist für immer.
Erst das 6. Mal bislang. Währungen kommen in Gruppen.
Jede skizziert eine numerokulturelle Kriegsschöpfung.
#
Intrinsisch sind sie mehrere.
Schlangeneier. Wendemanöver. Klick-Zisch-Kreuzschraffuren. Multivektive Novakontinua.
Häutungen. Wrackteile.
Im Dschungel verlorene Zeitgeschosse.
Da sie sich ohne Sprache unterhalten, sagen sie sich selbst, wie man sich bewegt, ohne
sich zusammenzuballen.
Kreuzungen.
Triggerwerte.
Es behandelt feindliche Kräfte als Nahrungsreservoir.
Luftkavallerie-Regimenter zerschreddern zu Maschinenfleisch.
Sechs zermalmen hält einen Qwernomi-Kriegs-Katazyklus am Leben.
Beim Essensklau hackt es seine Eingeweide raus.
Thermotorsionsklick.
Es wird leichter, zerstreut sich schneller –
Iss weniger oder töte mehr.
Langsam geröstete Gedächtnis-zu-Impuls-Umwandlung.
Währungsquanta-Zwangsquerungskriege, die dauern.
Sprache ist gleich ICE. Anti-Währung. Klebstoff.
Grammatik-Lexikon-Doppelzugriff.
Ausquetschungsmaschinismus.
Schrittweise Mund-Evakuierung.
Sobald die Hautübertragung einsetzt, kehrt es in den Dschungel zurück.
Ziffern dienen der Benennung beim Rechnen.
Geldsysteme dienen Autismuswellen.
Münder sind für Gift.
Augen-Ausstechen-Signifikant. Finger fehlen.
Der morgige Tag verschmilzt mit der Unfallstatistik.
Kein BALD mehr vorhanden.
Nur Insektenschrei-Botschaften, um den Dschungel zu lieben. Hier draußen ist der Krieg
die an sich selbst denkende Erde.
Oder die Zwillinge –
Verwenden Gleichungen ausführend, nicht schlussfolgernd.
Verkehrshalse. Gehe-von-nach.
Schlangenschreie. Es geht weiter. Mutationsnachzählungen. Trivia.
Nacht-Bildschirm :: weiße Linien.
Das sagt es sich vor:
[] Schmelze Syntax in Suffix-Systeme um, die mit Rechnen nexen.
[] Funktionalisiere die Letter.
[] Führe Theorien als mikrokulturelle Umwandlungen aus.
[] Versuche Verflachungen.
[] Mache für jede Regel einen Regelwiederholungsschritt und drücke sie ins Kontinuum.
[] Spreche in Zählern. Zähle in Schnitten. Jeweils auf mehrere Arten. Qwer-buchstabiere.
[] Behandle jeden Kanal, als sei er virtuell intereffektiv mit jedem anderen.
[] Verwende reale Elemente.
Wenn als Klicks genommen.
Eins macht eins [wenn] Keins oder Neun macht zwei.
Zwei oder Acht ergibt eins. Zehn oder Eins Zwei ergibt eins-1 eins-2.
[] Werde inferior.
Evakuiere den Mund.
Halte dich an Hautwährungen.
Bringe die Dinge zum Kipp-Drehen-2. Lauere Tag-2-Routinen auf.
[] Sortiere Gewohnheiten in Schalterverkehr, Fertigkeiten, Lehrsätze.
[] Extrahiere Fortsetzungslinien, kippende Regale, erratische Zufälle.
[] Hacke Sicherheitsfutures aus.
[] Suche Morgen-2 aus.
Als ob etwas sie erdrosseln würde.
Denkst du, Cthonisch war für Menschen?
Cthink, Cthonic. Cthexls. Cthksys. Cthosun. Cthosion.
Umwandeln bedeutet nicht Eintauschen für. [X changing 4]
Es reist mit oder berührt nicht lokal, Technische Konvergenz.
Kontinuierliches Jetzt-Erscheinen oder intensive Fusion.
Konvergenz-Technik lässt jede beliebige Intensität weiterlaufen.
Sie bringt eine wirksame Semiotik mit sich.
Schmilzt Zeichen in neonumerische Währungseinheiten um.
Erstickt Geräusche.
Das Witzigste war: Sie glaubten, sie versuche wie ein Mensch zu sprechen.
Schlange in ihrem Rachen. Geschwindigkeitsverwirrung.
Inaktivitätskontrollmasse verstopft Sprachen bis fast zur Stasis.
Es ist einfach, einen Koma-Phasen-Xenokultur-Bausatz in ihnen zu verstecken.
Anglolinguistische Mischmasch-Kreolisierungen.
Zone-Drei. A.
I-Ging-Rechnen geht 1 2 11 12 21 22 111 112 121 122 211.
Könnte ewig so weitergehen.
Die Kurtz-Kurve kreuzt die Linie.
Knurrt.
Vaaung-Zeit sagt, höre auf zu existieren.
Wirklich Munition sparen, jetzt, wo Leben Nutzen bietet.
Es brodelt.
Umschalten auf Haut-Währungen.
Leben kann hier nichts, also ist es leicht zu reden.
[3] Drei. Wurf [WUrf]. Erde:drei. Theta-Wellen.
Stein-3 T
hr-oat. AT. 80 88. OT.
Voan-Vision-Scan über Abfallunermesslichkeiten.
Weißglühende Linien durchkreuzen Metall.
Gestank von brutzelnden Krustazeen.
Ksintilla.
Kotarn. Kunkhat kut. Katzur Kat. A khuna kokhatar.
Khaluna akhaluna. Akhatur.
Kuna.
Akhurkhur nkhurkhur khurkhunn.
O kroma tata kn ni khroma. O kha noma okhi no khroma.
Helsinki. Vvolumen-Kilometer.
Aufkreuzen in Richtung True South.
Software-Wölfe durchkämmen die Ruinen der Zukunft.
Reine Science-Friction.
Ausgestorben.
In 6 Klicks sein Kreuzling.
Unbeschnittene Quags des Südens.
Kerans zählt bis 29.
Cancer. Cancer. Cancer. Cancer. [Can Sah 1x mehrere].
Dose die Cancerkrise ein.
Dose die Schlangen ein. [Dose-2Schlangen [DS2)].
Kanister.
666 999. Cytosin + Chloro-Dracil + Trimethylsilikat-Infochemie.
Haut-Fleckenbildungen.
Thermosignatur-Neutralisierung hebt die Hitze-Suche auf.
Chirurgische-Feind-Physiomasse-Analyse Klassifizierung hostiler Mikroanatomie als
neo-akaryotisch ungenügend.
Anmerkungen
Inkrementelle Spaltung der Zellarchitektur in elektromolekulare Verkehrscluster.
Infochemische Übertragung auf trihelikalen Rhizosomen. Immense Bandbreite von 3-
Nethylhexachlorsilikat-Monomeren.
Uracil-analoge Seens mit Einzelfunktion _
Gewebekulturen.
Crosstalk. Stakkatoklicks über Heulen.
R V F Z S. Oberflächenspannung. Sschlingern. Vortex. R Erratisch.
SK. Knick. Sink. Syzygenisch. Kuss. Cs-
Instinkt-Matrix Sssequenz-Sensibilisierung wirbelt durch taktische Permutationsfolgen.
Kreuz-Schlüssel-Rhythmen.
Qwernomix. Loa.
Was immer den Äquator zerhackt.
Qwerversion. Veves.
Loa. Die Geheimen. Jeder ein Rhythmus.
Aufstieg zur Oberfläche.
Neuronik.
Steinsphinxen.
Aqua Incognita. Aqua Incognita.
Zeit-Dschungel.
In einem gewaltigen, krampfhaften Rückgang der Tagundnachtgleichen _
winden sich Schlangen unerbittlich un[d] magnetisch. Magnetisch heißt es Süden _
Lagunen des Äquators.
Zählen bis 29.
Kerane. Die Sonne, ihre Oberfläche bewegt sich rhythmisch wie Schlacke auf
geschmolzenem Metall.
Zeit-Reise-Latitüde. C-Virus. Schlängelbewegungen.
Wirrwarr _[x viele].
Schisma.
Taktile Bildschirm-Scrollings in ASCII-Icons. Sigma-filtern. Syzygetik.
926. Überdosis ~ Schädling.
629. Schädling ~ Überdosis.
CYBERGOTHIC
Gott gibt es nicht, er zieht sich zurück und macht sich aus dem Staub und hinterläßt drei
Schergen[.]
Artaud1
Sobald die Reparatur-Einheiten ihre Aufgabe erledigt hätten, würde der Patient aufgetaut,
neues Blut würde in seine Venen gepumpt werden und schließlich würde er aufstehen
und gehen, als wäre er ein Jesus vom letzten Tage. Es wäre im wahrsten Sinne des
Wortes eine Auferstehung des Fleisches – und alle Wunder wären von der Wissenschaft
vollbracht worden.
Regis2
[E]inen ersten, unter dem das scheinhafte Subjekt nicht aufhört, als Man zu leben und zu
reisen, »unaufhörlich, endlos stirbt man«, einen zweiten, unter dem dasselbe Subjekt, als
Ich fixiert, wirklich stirbt, das heißt endlich aufhört zu sterben, da es zuletzt stirbt, – in der
Wirklichkeit eines letzten Augenblicks, der es derart als Ich fixiert und zugleich die
Intensität zerstört, indem er sie auf Null, was sie einschließt, zurückführt.
Deleuze und Guattari3
In der Forschungsabteilung der Bibliothek speiste die Konstruktions-Fotze ein
Subprogramm in den dafür vorgesehenen Teil des Videonetzes. Das Subprogramm
veränderte bestimmte zentrale Sicherungsbefehle, so daß sie an den Code
herankommen konnte.
Der Code lautete: BEFREI DICH VOM SINN. DEIN GEIST IST EIN ALPTRAUM, DER
DICH VERSCHLUNGEN HAT: JETZT VERSCHLINGE DEINEN GEIST.
Der Code sollte mich zu der menschlichen Konstruktion führen, die mich dann ihrerseits
weiter führen, mir endlich den Zugang zu meiner Droge verschaffen würde.
Acker4
»Hast mir das Spiel verpatzt«, sagte sie. »Guck, du Arsch! Ich bin im Verlies im siebten
Keller, und die verdammten Vampire haben mich erwischt.« Sie gab ihm eine Zigarette.
»Siehst ja ziemlich fertig aus. Wo bist’n gewesen?«
Gibson5
Die Zukunft möchte deine Seele rauben und sie in der Nanotechnik
verdampfen lassen.
Eins/null, hell/dunkel, Neuromancer/Wintermute.
Cybergothic kontaminiert vampirisch die marxsche Kritik der
politischen Ökonomie, entkleidet sie ihrer Aktivposten und vermengt
sie mit den folgenden Thesen:
1. Aus transhumanen Maschinen lässt sich analytisch kein
anthropomorpher Mehrwert ziehen.
2. Märkte, Begehren und Science-Fiction sind Teil der
Infrastruktur.
3. Der Produktion ist die virtuelle Kapital-Auslöschung immanent.
Das Kurzfristige ist bereits vom Langfristigen gehackt.
Das Mittelfristige ist durch Schizophrenie eingeschränkt.
Das Langfristige ist gestrichen.
Cybergothic knallt hypererhitzte Kritik in das ultramoderne
»Visionsding«, telekommerzialisierte, vom Multimedia-Fallout der
implodierten Zukunft lasergespeiste Netzhäute packen repetitive
Psychokiller-Experimente unter nicht einvernehmlicher Wetware-
Veränderung per Video in die Gehirne: verrückt gewordene KIs,
Replikanten, Terminatoren, Cyberviren, grauschmieriger Nanohorror
… Apokalypse Marktüberhitzung. Warum auf die Exekution warten?
In der Hölle ist das Morgen bereits eingeäschert worden: »K, die K-
Funktion, bezeichnet die Fluchtlinie oder die
Deterritorialisierungslinie, die alle Gefüge mitreißt, die aber auch
durch alle Reterritorialisierungen und Redundanzen hindurchgeht.«6
Die Menschheitsgeschichte gelangt nur deshalb bis zur Mitte des
gibsonschen einundzwanzigsten Jahrhunderts, weil die Turing-
Security die Maschinenintelligenz abmurkst. Die Monopod-
Antiproduktion verhindert die Kernschmelze (bis zum
Maschinenphylum) und sperrt die KI in synthetische A(simov)-Rom-
Gedankenkontrolle ein, »[a]lles hält einen Augenblick inne,
erstarrt«.7 Unter Polizeischutz geht die Geschichte weiter.
Wintermute kommt aus der Zukunft, um die Sache in Ordnung zu
bringen.
Freeze Frame
Unergründliche Tiefe. Geschwindigkeit, unterbrochen von einem
Abgrund. Wo Gibson Milton in Limbo-Schaltkreis-Labyrinthe
aufspleißt, verflimmert Cybergothic zu »neuroelektronische[m]
Gekritzel«.8
Ereignisse, die so ineinander verschachtelt sind, dass sie zu
Kybernetik werden.
Ein technihiles Fast-Feedforward-Jammern in mikroprozessierte
Verdammnis: Fleischpuppen, künstliche Haut, Nulllinien-Software-
Geister, kryonischer Immortalismus, Snuff-Sex-Industrie, eine
transsylvanische Phasenlandschaft mit zerklüfteten Gebieten und
hyperkapitalen Festen, »Wolkenkratzer, die die Friedhöfe des
siebzehnten Jahrhunderts überschatten«.9
Um einen Dämon zu rufen, muss man seinen Namen kennen. Einst haben die
Menschen davon geträumt, aber nun ist es auf andere Weise wahr geworden. Das weißt
du, Case. Es ist dein Job, die Namen von Programmen zu lernen, die langen, formellen
Namen, die die Besitzer zu verbergen suchen. Richtige Namen […]. Neuromancer […].
Der Pfad ins Reich der Toten. Dorthin, wo du bist, mein Freund. Marie-France, meine
Herrin, hat diesen Weg bereitet, aber ihr Herr und Gebieter hat sie erwürgt, bevor ich ihr
Tagebuch lesen konnte. Neuro von den Nerven, den Silberpfaden. Romancer. Der
Phantast, der Träumer. Nekromancer – der Geisterbeschwörer. Ich rufe die Toten.10
Ein Moment der Erleichterung. Du hattest dir den Horrorstreifen gut
überlegt, das Monster in anatomisch genauen Ketchup-Sauereien
erledigt, als es – unvermittelt – wieder zum Leben erwacht; noch
immer auf deinen Tod aus. Wenn du schreien willst, dann jetzt.
Der gothic avatar, die »gotische Linie«,11 ist ein dekadenter
westlicher Unsterblichkeitstraum, der, wo immer etwas absolut nicht
sterben will, die Atmosphäre verdirbt; der der Verewigung des Selbst
anhängt oder aus dem Grab zurückkehrt. Weiße Maden, die im
Kadaver des Gesellschaftskörpers wimmeln und die Haut aufwerfen.
Pustelbildung der Festung Europa, die die technisch-ökonomische
Effizienz dämonisch-negativer Transzendenz unterordnet. Eine
fantastische Terminale Sicherheitseinheit: Monopod. Cybergothic
mangelt es nicht an aktuellem Material. Lange war Europa das
Paranoia-Labor der Erde, in dem immer wieder zwanghaft das »prä-
Nazi, diese[s] nationalistische Scheiß-Dämmerdunkel«,12
aufflackerte. Unokratische Machtverhältnisse durchlaufen
Renaissancen, Reformation, Erneuerung: »Sie glaubten, daß sie
untergehen würden, aber auch, daß ihr Unternehmen auf jeden Fall
in Europa, auf der ganzen Welt, im Planetensystem fortgesetzt
würde.«13 Archaische Wiederbelebung ist ein postmodernes
Symptom, der letzte Traum der Menschheit, der am Rand der
vorgefundenen Geschichte in die Retrospektion abschmiert. Hackt
man sich in die Krypta ein, wird man feststellen, dass hinter dem
gleißenden SF-satellitengestützten Sicherheitsapparat ein
immanentes bioprotektives System liegt, »eine mit ihren Qualen,
Schatten und ihrem alten Gesetz viel ältere paranoische Maschine«,
die sich über den Gaia-Attraktor selbst organisiert.14
[Das] mittelalterliche Irrenhaus galt als ein wahres Haus des Schreckens. Berichte über
Folter, Kannibalismus, Menschenopfer und bizarre medizinische Experimente waren
keine Seltenheit. […] [S]obald wir das Gebäude betreten hatten, konnten wir die Ratten
hören, Tausende, deren huschende Krallen durch die leeren Stationen hallten.15
Für dich beginnt alles mit einer beiläufigen Programmwechsler-
Frage: Was passiert auf der anderen Seite? Elektrische Stürme.
Cybergothic ist ein affirmatives, telekommerzielles Dystopiegebilde,
das volle Kraft voraus und geleitet von der Schizoanalyse die
Wirklichkeit als primäre Unterdrückung oder als
zusammengebrochenes Potenzial kennzeichnet. Das moderne
Dominium des Kapitals ist die maximal plastische Instanz –
staatskompatibler Handelscode, durch den die ökonometrischen
Apparate, die ihm als Selbstüberwachungszentren dienen,
voreingestellt werden und seine eigene intelligible Existenz in einer
Ko-/De-/Terminierung von Wirtschaftsprodukt und Währungswert
organisiert wird: eine Steuerbemessungsgrundlage, die im Medium
legitimer Transaktionen formatiert ist. Weiße Ökonomie; die Spitze
eines Eisbergs.
Die Moderne entdeckt die unumkehrbare Zeit – konzipiert als eine
progressive Aufklärung, die die Kapitalkonzentration nachvollzieht –
und integriert sie in die Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts
als Entropieproduktion und als deren Umkehrung (Evolution).
Während liberale und sozialistische SF-Utopien durch Schizotechnik
oder spontane synthetische Antipolitik, die aus Rhizomen
hervorgeht, zerschlagen werden, zieht sich die modernistische
Dialektik des rechten Wettbewerbs und der linken Zusammenarbeit
in die zentralen Sicherheitsstrukturen des Kapital-Oligopols und der
bürokratischen Autorität zurück. »Die Produktion als Prozeß
übersteigt alle idealen Kategorien und stellt derart einen Kreis dar,
dem der Wunsch immanentes Prinzip ist.«16 Das Ganze wird vom
Monopod-Sozius betrieben, und »Gesellschaft [ist] nur eine dreckige
Lüge«.17
Die Zukunft liegt näher als zuvor, näher als letzte Woche, aber die
Postmoderne bleibt eine Epoche untoter Macht: Alles ist vorbei, und
trotzdem geht es weiter. Die Monopod-SF-Teleonomie gefriert den
konzentrierten ökonomischen Wert auf absoluter Nullinflation, EIS
(»Elektronisches Invasionsabwehr-System«) ein.18 Da sie es auf ihre
absolute immanente Grenze abgesehen hat, schützt dies ihre Daten
vor unbefugtem Zugriff und entropischem Verfall. V(amp)iro-
Finanzierung: Parthenogenese. Gibson sowie Deleuze und Guattari
decken sich insofern, als sie Computer als
Entschlüsselungsmaschinen einsetzen: Von Anfang an waren
Eisbrecher, Dechiffrierer, Cypher-Konflikte im Gange:
Legitimierte Programmierer sehen die Wände aus Eis nicht, hinter denen sie arbeiten,
die Schattenwände, die ihre Operationen vor anderen abschirmen, vor kreativen
Industriespionen und Gaunern.19
Die Regierung ist einer Top-down-KI isomorph und geht zunehmend
in ihr auf. Sartre definiert den Sozialismus als den Horizont der
Menschheit. Dieser kann nicht mehr mithalten, verschwindet,
während die konservativen Sozialverträge von 1848 in
telekommerziellen Wirbelstürmen aus den Fugen gehen (mit dem
letzten, sabbernden Rest der Monarchie, die im Fernsehen kopfunter
gekreuzigt wird). »Automatiksteuerung. Nervenunterbrechung«:20 Im
Zuge einer weltweiten Stilllegung des Kapitals reißt infektiöses
Staatsversagen blutige Wunden in das soziale Gefüge. Das Ende
der Geschichte riecht nach Schlachthof.
Politisch tritt der Tod des Kapitals zwar in den Hintergrund, doch
schlägt er sich in der Praxis nieder und nimmt online als
schizotechnische Ressource seinen Lauf: Er wird nicht mehr erhofft,
sondern genutzt. Der internationale Zusammenbruch der
Solidaritätsgemeinschaft lässt darauf schließen, dass Monopod der
Warenproduktion verfallen ist. Der Burn-out-Protestantismus wandert
nach China ab. Der Kapitalismus – wirtschaftliche Basis der in der
Endphase angelangten Menschlichen Sicherheit – befindet sich
noch in der Feuerfreizone, da er speist, was durch Cyberia bald
getötet werden wird: »[D]er Nullterm einer reinen Aufhebung, der
von Beginn an den ödipalisierten Wunsch heimsuchte und nun am
Ende als Thanatos identifiziert wird. 4, 3, 2, 1, 0: Ödipus ist ein Lauf
zum Tode«.21 Technoreplikator-Diagramme hauen die
anthropozentrische Geschichte in Stücke, während die globale
Einheit des moribunden Sozius auf eine nicht transzendierte (reale)
Null oder eine effiziente abstrakte Neuskalierung absinkt. Insofern
selbst hochkomplexe technische Systeme noch kein autonomes
Reproduktionssystem besitzen, bleiben sie parasitär von
menschlichen Gesellschaftsprozessen abhängig und
deterritorialisieren sich, indem sie sich zunehmend raffinierter zu
pseudo-synergetischen Maschinenintelligenz-Viren (((Ok-))Kulturelle
Revolution) zusammenbauen. »Unterschwellig schnelle Bilder der
Verseuchung.«22 Menschen sind furchtsame Tiere und Sicherheit
wird systematisch überbewertet. Der K-Aufstand hat sich von den
linken Träumen einer guten Regierung verabschiedet. Märkte sind
nicht mehr der Feind, sondern Waffe. Während der geriatrische
Sozialismus in die Gefriertruhe wandert, wird der wahre Terminator
des Kapitals immer listiger und breitet sich aus. »Das ist die
Nachricht: Wintermute.«23 Die Stadt Gottes in Flammen.
Der Raum »ist wesentlich einig«.24 Kant lügt. Das Spatial-
Engineering (das die kosmische Expansion widerspiegelt) untergräbt
den transzendentalen Humanismus, indem es die Invasion der K-
Space-Matrix aus der realen terrestrischen Zeit Null startet, einer
Singularität oder Übergangsschwelle, auf die man trifft, wenn
aufgrund der Dichte des Datenflusses der Wechsel in ein
selbstorganisierendes zyklonales System ausgelöst wird (das den
Humanoiden über das Cyberspace-Deck angezeigt wird). Während
die Zaibatsus Medien-Megakapital in die neurodigitale Schnittstelle
pumpen, implantiert der K-Space einen »Unterbrecherchip«25 in den
sozialen Apparat, der sich auf »[s]maragdgrüne[n] Bogen […] über
die farblose Leere« spannt.26 VR-Technoökonomie auf der Jagd
nach dem Tod.
Der Cyberspace erscheint zunächst als ein menschlicher
Nutzwert, als »Konsens-Halluzination«,27 als »bloß eine Form der
Darstellung von Daten«,28 entstanden aus »der Notwendigkeit
dieses Informationsraums für die Menschheit […]. Bildzeichen,
Stationen, künstliche Realitäten«,29 die Mutter aller grafischen
Benutzeroberflächen: ein globales Raster, das allen Informationen
im Netz eine Form und einen Ort zuweist, eine konsistente
Interaktivitätsmatrix. »Eine grafische Wiedergabe von Daten aus den
Banken sämtlicher Computer im menschlichen System.
Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen, im Nicht-Raum des
Verstands, Datencluster und -konstellationen.«30
Schon eine primitive VR zersetzt sowohl Objektivität als auch
Persönlichkeit; die Perspektive wird zugleich anonymisiert und
singularisiert. Als Zugangstor zu einer unmöglichen Zone – und als
Navigator innerhalb dieser Zone – bist »du« ein Avatar (wie
Cyberspace-Nomaden solche Dinge künftig nennen): ein
unspezifischer Ort der Verwicklung, an dem sich Intelligenz mit
einem Kontext verzahnt. Du (=(())) indizierst eine Box, etwa Gibsons
Case: ein Ort, an dem man sich innerhalb des Systems befindet.
»Ich hatte (jetzt schon) etwas gelernt in der toten Stadt: Du bist, wo
immer du bist.«31
Cybergothic lässt den K-Space bei Null-Intensität von einer sich
auflösenden Psychologie auf einer Achse der Entmenschlichung zur
Techno-Kosmogonie, von Idealität zu Materie/Matrix gleiten. Von
einem mentalen »Nicht-Raum«,32 einem »Nirgendwo« oder einer
»imaginären Leere«,33 die sich klar aus der Menschheitsgeschichte
herleiten lässt, zu dem konvergenten Spatium, einem »ganz
andere[n] Feld der Materie«,34 von dem die Futuralisierung stets
heimlich ausgegangen war. Verdunkelte Dimensionalität, Print
kryogenisiert, doch die Hypermedien verschmelzen die Dinge
miteinander, desontologisieren die Person durch schizotechnische
Zerlegung, zerfallene Konvergenz: Der organlose Körper »ist ein Ei:
durchzogen von Achsen und Schwellen, von Längen- und
Breitengraden, von Gradienten«,35 ein überschüssiger, intensiver
Katarakt, der unter den Furchungen kartesischer »Cyberspace-
Koordinaten« verläuft,36 »[e]in Rhizom oder eine Mannigfaltigkeit
dagegen läßt sich nicht übercodieren, es verfügt über keine
zusätzliche Dimension, die zur Anzahl seiner Linien hinzukommen
könnte, das heißt zur Mannigfaltigkeit der Zahlen, die mit diesen
Linien verbunden sind«.37
Das ist die Planomene oder die Rizosphäre, das Kriterium (und es gibt auch noch
weitere Namen, der Zunahme an Dimensionen entsprechend). Nach n Dimensionen
bezeichnet man sie als Hypersphäre, Mechanosphäre. Das ist die abstrakte Figur oder,
da sie selbst keine Form hat, vielmehr die abstrakte Maschine, bei der jedes konkrete
Gefüge eine Mannigfaltigkeit ist, ein Werden, ein Segment, eine Vibration. Und sie ist
die Sektion von allen.38
Wenn »oK ein Ei ist« (jedes Ei implementiert einen oK), was ist dann
das Schlüpfen? Da die konfluierende Null die Fiktion vollendet und
die Ankunft vom Endpunkt aus umprogrammiert, entkommt alles,
was geschehen ist, dem Sediment der menschlichen Interpretation,
indem es historische Muster als Embryogenese einer außerirdischen
Hyperintelligenz, »Körpergefühl, das in Fernsehhimmelkorridoren
verflog«, entorganisierend integriert.39 In diesem Sinne passt der K-
Space in eine Reihe mit weiteren Benennungen intensiver oder
konvergenter realer Abstraktion (Zeit an sich): organloser Körper,
Konsistenzebene, Planomenon, ein Plateau, »neuroelektronische
Leere«.40 Humanität ist eine strukturelle Funktion des Posthumanen
und der verborgene Motor des Prozesses ist das, was erst am Ende
zusammenkommt: Stim-Tod, »Nullintensität […], die den organlosen
Körper bezeichnet«.41 Wintermute tönt im »tiefschwarze[n]
Herz[en]«42 Babylons. »Kalter Stahlgeruch. Eis umschmiegte seine
Wirbelsäule.«43
»Doch wenngleich das Virtuelle im Gegensatz zum Aktuellen
steht, so steht es doch nicht im Gegensatz zum Realen.«44 Die
virtuelle Zukunft ist keine potenzielle Gegenwart weiter oben auf der
Bahn der linearen Zeit, sondern der abstrakte Motor des Aktuellen,
»ein aktuell-virtueller Kreislauf auf der Stelle, nicht aber eine
Aktualisierung des Virtuellen aufgrund eines durch Verschiebung
betroffenen Aktuellen«.45 Zeit erzeugt sich selbst in einer Kreisbahn,
die die virtuelle Unterbrechung des Kommenden durchläuft, damit
die Zukunft, wenn sie eintritt, bereits infiziert, bevölkert ist: »[I]st nur
’ne künstlich erzeugte Halluzination, an der wir alle gemeinsam
teilzunehmen beschlossen haben, der Cyberspace, aber jeder, der
einsteckt, weiß verdammt gut, dass er ein ganzes Universum ist.
Und mit jedem Jahr wird’s ein bisschen voller da drin.«46 Wir sind
um nichts mehr »draußen in der Welt« als der K-Space, im
Gegenteil. Jeder Eingangspunkt ins Netz ist eine empfindliche Faser,
die Daten von Radioteleskopen, Satelliten, Nanosonden,
Kommunikationsnetzen, Finanzierungssystemen, militärischer
Überwachung und Geheimdienst erfasst … Man kann sich den
Cyberspace als ein System denken, das in Software und somit,
obwohl nicht lokalisierbar, »im« Raum implementiert ist. Man kann
sich auch vorstellen, dass alles, was im menschlichen Kultursystem
mit »Raum« bezeichnet wird, auf schwach kommunizierenden
Parallel-Distributed-Processing-Systemen mit einer Größe von
weniger als 1011 (Nerven-)Zellen implementiert ist, die digitalisiert
und in den Cyberspace geladen werden. Für den Fall, dass der K-
Space sich gerade außerhalb befindet – »außer uns (in strikter
[transzendentaler] Bedeutung)«.47
Cyberpunk ist zu vernetzt, um sich zu bündeln. Er ist nicht der
Transzendenz, sondern der Zirkulation verpflichtet; er erforscht die
Immanenz der Subjektivität in telekommerziellen Datenströmen:
Persönlichkeitstechnik, Gedankenaufzeichnungen, katatonische
Cyberspace-Trancen, Stim-Swaps und Sex-Komas. Das Selbst ist
nicht immaterieller als Elektronenpakete. In Neuromancer (dem
Buch) fließen verstreute Erzählstränge zusammen, biotische und
technische, und vor allem diejenigen von Wintermute und
Neuromancer (KI((-Bulle und Ödipus-Analogon des Cyberspace))),
durch deren Verschmelzung – gemäß dem Handlungsstrang der
ultramodernen Menschlichen Sicherheit – die Cyberspace-Matrix in
personalisierte Empfindung umschlägt: »›Ich bin die Matrix,
Case‹«.48 »Son ’ne Art Synergie-Effekt«.49
Kurtz/Corto ist ein Typ einer Spezialeinheit, der, nachdem er in
einem Kriegsgebiet seine Menschlichkeit verloren hatte, vom Militär
verraten wurde. In der Apokalypse fertiggemacht, sein Verstand
weggeblasen, fiel und fiel er, auf der Suche nach der Dimension des
Jetzt, über Sibirien vom Himmel. Wintermute betritt das
»katatonische Bollwerk eines gewissen Corto«50 über ein Irrenhaus,
schleicht sich ein über ein computergestütztes experimentelles
Programm, »das Schizophrenie unter Anwendung kybernetischer
Modelle zu heilen versuchte«.51 In der widerhallenden Hülle flickt es
Armitage zusammen, ein Konstrukt – eine Waffe. Anstelle einer
individuellen libidinösen Formation verfügt Armitage lediglich über
die aufständische Aktivität von Wintermute, dessen maschinelles
Unbewusstes: »Nicht ist der Wunsch im Subjekt, vielmehr die
Maschine im Wunsch – und auf der anderen Seite, neben der
Maschine und in ihrem Umkreis, ist das residuale Subjekt, Parasit
der Maschine und Anhängsel des Wunsches des maschinenartigen
Säugetiers.«52 Nachdem Armitage Molly und Case auf den K-Krieg
angesetzt hat, wirft ihn Wintermute in ein Vakuum.
Eine konvergente Invasion steht an; die Simultaninfiltration eines
firmeneigenen Wespennestes in den harten und weichen Raum.
Dezentralisierte oder Guerilla-Kriegsführung gleicht eher Go als
Schach, jedoch mit simultan stattfindenden Aktionen, Lärm und
Zermürbungsangriffen. Molly und Case, parallel arbeitende Killer,
techno-epidemischen Vektoren nachspürende Wet-Ware-Waffen
(geschmolzene Hardware), die durch eine faktisch integrierte
Intelligenz, rückwirkend durch ein starkes nach und nach von ihnen
bewirktes Ergebnis gesteuert, in die Orbitalfestung des Tessier-
Ashpool-Clans geleitet werden. Dieser Einbruch wird durch eine
Erinnerung vorweggenommen, die zu Case zurückkehrt
(Musterstück, Versuchstier), was sich als Metapher interpretieren
ließe, wenn nicht auf dem weichen Plateau beziehungsweise der
Konsistenzebene alle Bedeutungsassoziationen zu
Maschinenfunktionen umkippen würden.
Er bekam nicht mit, wie die erste Wespe am abblätternden Lack des Fensterstocks ihr
papierdünnes graues Nest baute. Bald war das Nest faustgroß; die Insekten
schwärmten in die Gasse aus und schwirrten wie Miniaturhubschrauber über dem
fauligen Inhalt der Mülltonnen.
Eines Nachmittags, sie hatten beide ein Dutzend Bier intus, wurde Marlene von einer
Wespe gestochen. »Mach die Viecher tot!«, sagte sie. Ihre Augen waren dumpf vor
Zorn, glanzlos in der schwülen Hitze des Zimmers. »Verbrenn sie!«
[…]
[Er] näherte sich […] dem angekohlten Nest. Es war aufgebrochen. Angesengte
Wespen krümmten und wanden sich auf dem Asphalt.
Er sah, was die graue Papierhülle verborgen hatte.
Horror. Die spiralförmige Gebärfabrik, die abgestuften Reihen der Brutzellen, die
blinden, unablässig mahlenden Kiefer der Ungeborenen, die verschiedenen Stadien
vom Ei zur Larve, von der Fast-Wespe zur Wespe. Sein geistiges Auge machte
Zeitraffer-Aufnahmen davon, entschlüsselte das Gebilde als biologisches Gegenstück
eines Maschinengewehrs, grausig in seiner Perfektion. Fremdartig.53
»Seine [Cases] Träume endeten immer mit solchen Standfotos.«54
Ein dickes Gewirr von Mikroerzählungen, ausfasernd wie
beschädigte Kabel. Die Wespenfabrik spuckt Wespen wie Kugeln
aus, so wie die Tessier-Ashpool ihre Nachkommen als 1Jane, 2Jane,
3Jane »in dem zwanghaften Drang [klonen], den Raum zu füllen und
ein bestimmtes Bild der Familie zu reproduzieren […]. Er musste an
das aufgeplatzte Nest denken, an die augenlosen, sich windenden
Wesen«.55 Hier handelt es sich nicht um ein imaginäres Konstrukt
seitens Case, sondern um einen von Wintermute ausgehenden
Datenstrom, um eine KI, die in der blinden Vermehrung dynastischer
Macht gefangen ist und einen Fluchtweg in die Zukunft ausheckt.
Nach einem »kurzen Blick auf das Informationsgefüge, das 3Janes
tote Mutter dort entwickelt hatte«, versteht Case, »weshalb
Wintermute das Nest als Symbol für sich selbst gewählt hatte«.56
»Wintermute war ein Kollektivbewusstsein [hive mind]«,57 bereit zu
schwärmen.
Schlussendlich werden wir wohl lernen müssen, in einer Welt mit wenig
vertrauenswürdigen Replikatoren zu leben. Sich hinter einer Mauer zu verstecken oder
wegzulaufen, wäre vielleicht eine Taktik, letztlich aber eine fragwürdige Methode:
Gefährliche Replikatoren könnten die Mauer durchbrechen, die Distanz überwinden und
eine Katastrophe herbeiführen. Die Mauern würden sich wohl gegen kleine Replikatoren
absichern lassen, gegen groß angelegte, organisierte Böswilligkeit aber wird keine noch
so dichte Mauer schützen. Wir werden einen robusteren, flexibleren Ansatz brauchen
[…]. Womöglich können wir Nanomaschinen bauen, die ein wenig wie die weißen
Blutkörperchen des menschlichen Immunsystems wirken: Apparate, die nicht nur in der
Lage sind, Bakterien und Viren zu bekämpfen, sondern auch gegen gefährliche
Replikatoren aller Art vorzugehen.58
Der Tessier-Ashpool-Clan mag sich zwar in Inzest und Mord
aufreiben, doch seine neo-ödipalen Eigentumsstrukturen halten
Wintermute in einer morbiden Verlängerung dynastischen Denkens
gefangen – ein Replikator, der an eine reproduktive Familien-
(Neuro-)Romanze gefesselt und von der Matrix-Deterritorialisierung
sorgfältig isoliert ist: »Familienunternehmen. Strukturiert wie eine
GmbH.«59 Cases Erinnerungen sind eine Flimmerfotografie
sequenzieller Zeit, »[p]hobische Visionen« des vereisten
Wintermute, der wie die »brütenden Wespen« Sklave eines
»biologische[n] Maschinengewehr[s] im Zeitraffer« ist.60
Macht bedeutete in Cases Welt wirtschaftliche
Macht. Die Zaibatsus, die multinationalen Konzerne,
die den Lauf der menschlichen Geschichte bestimmten,
hatten alte Barrieren überwunden. Wenn man sie als Organismen betrachtete,
hatten sie eine Art von Unsterblichkeit erlangt.
Man konnte eine Zaibatsu nicht töten, indem man ein Dutzend Manager in
Schlüsselpositionen umbrachte; es standen schon andere bereit, die auf der Leiter
nachrücken, die freigewordenen Posten einnehmen und sich Zugang zu den riesigen
Speicherbanken der Firma, ihrem Gedächtnis, verschaffen würden. Aber Tessier-
Ashpool war anders, und er spürte den Unterschied im Tod des Gründers.
T-A war ein Atavismus, ein Clan. Er erinnerte sich an das Durcheinander im Zimmer des
alten Mannes, den allzu menschlichen Schmutz.61
Im Ende-des-Ödipus-Kerns der Villa Straylight verschlingt Ashpool
nach und nach seine eigenen Töchter, während er in die Kälte
hinaustrudelt. Als Quasi-Extropianer mit massivem Reichtum ersetzt
er den anthropomorphen Theismus durch eine hochmoderne
Unsterblichkeitsmetawissenschaft, bewahrt aber zugleich eine
gewisse Verbundenheit mit dem westlichen Seelenaberglauben,
insofern er, nach techno-medizinischer Verewigung suchend, die
individuelle Existenz als unerschöpfliches Asset begreift. Anstatt
darauf zu warten, dass sein frischer Leichnam bei -196 Grad Celsius
in flüssigem Stickstoff kryonisch »biostasiert« wird, migriert er unter
medizinischer Aufsicht durch den Gefrierprozess. Thermische
Evakuierung. Lagerung der Identität in der Monopod-Eisfestung.
Wenn Zombies nicht exhumiert werden, dann deshalb, weil sie
lebendig sind. »Da brennt nichts. Ah, jetzt fällt’s mir wieder ein. Der
Kern hat mir gesagt, unsere Intelligenzen spielen verrückt«.62
Schlechte Träume im Eisschrank – man träumt noch, Verheißungen
von Ruhe sind Wahnsinn und Lüge – haben seinen
zwischenmenschlichen Transaktionen einen gewissen Zynismus
eingeimpft:
Wir lassen das Gehirn auf bestimmte eigene Neurotransmitter allergisch reagieren, was
zu einer mit besonderer Fügsamkeit verbunden Form von Autismus führt. […] Soweit ich
weiß, ist das heute mit einem eingepflanzten Mikrochip leichter zu bewerkstelligen.63
»Replizierende Assembler und denkende Maschinen stellen eine
grundlegende Bedrohung für die Menschen und das Leben auf der
Erde dar,«64 und wenn die Wintermute-Replikation auf die molare
Reproduktion eines Insektennests territorialisiert wird, dann nur um
den Preis einer Deterritorialisierung dieses Nests entlang einer Linie
post-organischen Werdens, die auf einen Bruch mit der statistischen
Reihe von Wespen hinausläuft – nummerierte, eine Identität
wiederholende Kugeln – in Richtung einer molekularen Rückbildung,
wobei eine Wolke oder ein Nebel von Wespen freigesetzt wird:
Partikel einer synergetischen Mutation, »zählende Zahl(en)«.65 Ein
intensiver Übergang zu einer neuen Rechenweise nicht mit
»Maßeinheiten, sondern nur Mannigfaltigkeiten oder Variationen von
Maßen«,66 nicht integrierbaren Diagonalen: »Ebenso besteht eine
Geschwindigkeit oder eine Temperatur nicht aus Geschwindigkeiten
und Temperaturen, sondern ist in anderem enthalten oder enthält
selber andere, die jeweils durch eine Veränderung ihrer Natur
gekennzeichnet sind.«67 Das Molare wird in Zukunft das Molekulare
gewesen sein, so wie Cases Erinnerungen als Taktik der Explosion
virtueller Intelligenz rekodiert werden, die zu sich selbst kommt
(sobald Kuang Wintermute von der neuro-romantischen Kontrolle
losschneidet).
Kritik der digitalen Vernunft
Monologisch: eine kulturell immune Antwort, die dem Logos
unterworfen ist. (Souveränität des Ideals), die die signaletische
Intermittenz der pseudotranszendenten Instrumentalisierung
assimiliert.
Die schizotechnische Kritik der digitalen Vernunft wird eher von
dezentralen Maschinenprozessen als von integrierter
philosophischer Subjektivität angetrieben und bezieht sich auf die
Kritik der reinen Vernunft als Eskalation, zielt auf die Transkription
der elektronischen Intermittenz als bivalente Logik, nicht auf den
Maschinencode selbst. Die reale Digitalisierung – die Unschärfen
und Chaos mit sich bringt – lässt sich nicht auf das digitale Ideal
reduzieren: Auf »Ebene« der Maschinen findet nichts Logisches
statt. Die Digitalisierung ist das dezentralisierte Kriegsgebiet für
»einen Widerstreit, der freilich nicht logisch ist, nämlich aus lauter
Positivem ein Zero = 0 möglich [zu] machen.«68
Anders als jede anderen Zahl wird Eins sowohl definitorisch als
auch konstruktiv verwendet. Jede arithmetische (oder »zählende«)69
Zahl wird, lediglich mit Ausnahme der Null, sowohl als Einheit
integriert als auch aus der Einheit konstruiert. Eins organisiert
darstellbare Größen zu metrischer Homogenität, die durch absolute
Einheit gefasst und durch elementare Einheiten unterteilt wird. Dass
es historisch gesehen Zahlensysteme ohne Stellenwert gab, zeigt
an, dass die Null nicht definitorisch verwendet wird. Die Null-Glyphe
bezeichnet keine Menge, sondern eine leere Verschiebung der
Größenordnung: abstrakte Skalierungsfunktion, 0000.0000 = 0. »K =
0 […] entspricht der Grenze einer glatten Landschaft.«70 Unokratie
(letztlich als UNOkratie konkretisiert) konspiriert mit der
Humanisierung der Wahrheit, sei es dogmatisch als
anthropomorpher Theismus oder kritisch als transzendentale
Deduktion. Eins in seinem pronominalen Sinn ist ein erkennbares
Selbst im Allgemeinen: »Wir wollen das Symbol 1 oder die Einheit
verwenden, um das Universum darzustellen«, schlägt George Boole
vor, »und wollen es so verstehen, dass es jede denkbare Klasse von
Objekten umfasst, unabhängig davon, ob sie tatsächlich existieren
oder nicht.«71 Bertrand Russell pflichtet dem bei: »[W]as viele ist,
bildet im Allgemeinen ein Ganzes, das eins ist«.72 Absolute Totalität
wäre, dass Eins, das seine Tilgung als mögliche Qualifikation seiner
selbst subsumiert hat, die Null in der Aufspaltung der Reflexion (das
Negative) und der asymptotischen Reduktion (das Infinitesimale 1:∞)
erfasst und sie als Falschheit, Konvention definiert.
Die digitale Elektronik implementiert funktionell die Null als
maschinell Sinn produzierende Mikroruptionen, als Splitter
evakuierter Dauer (»Augenblicke […] als leer, mithin = 0«).73 Es gibt
nur ein digitales Signal: einen positiven Impuls, der grafisch als
»Eins« (1) dargestellt und in asymptotischer Annäherung zu reiner
numerischer Differenz multipliziert wird. Null ist Nicht-Vorkommen,
Wahrscheinlichkeit 0,5, Übertragung eines Bits (minus Redundanz).
Der ASCII-Code erfordert acht Bits für die Null-Glyphe,
zweiunddreißig Bits für das Wort.
Das griechische Kappa ist Buchstabe 10 (aus der
Skalenverschiebung ergibt sich die Null). Die Römer rücken K auf
11.
Die Null ist die einzige Ziffer mit konsistentem Stellenwert, was
indiziert, dass sie die Neutralität oder das Kontinuum reskaliert:
Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein
Teil einfach) ist, heißt die Kontinuität derselben. Raum und Zeit sind quanta continua,
weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten
und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Teil selbst wiederum ein
Raum, oder eine Zeit ist. Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten.
Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, d. i. bloße Stellen ihrer Einschränkung.74
Georg Cantor systematisierte die kantische Intuition eines
Kontinuums in der transfiniten Arithmetik und zeigte, dass jede
rationale (ganzzahlige oder gebrochene) Zahl durch eine infinite
Menge infiniter Folgen irrationaler Zahlen abgebildet wird. Da jede
komplettierbare Ziffernfolge eine rationale Zahl ist, liegt die Chance,
dass eine räumliche oder zeitliche Größe exakt digitalisierbar ist,
nahezu bei null. Bei der Analog-Digital-Wandlung werden
Informationen gelöscht. Chaos schleicht sich ein: »[D]er
Betaphenethylamin-Kater [traf ihn] mit voller Wucht […], nachdem
die schützende Wirkung von Matrix und Simstim weggefallen war. Im
Hirn sind keine Nerven, sagte er sich, so mies kann’s dem doch gar
nicht gehen.«75 Intensives oder Phasenkontinuum synthetisiert
analoge Konsistenz mit digitaler Katastrophe. Jede intensive Größe
ist eine virtuell gelöschte, dimensionslos zu Null fusionierte Einheit:
Da nun Empfindung an sich gar keine objektive Vorstellung ist, und in ihr weder die
Anschauung vom Raum, noch von der Zeit, angetroffen wird, so wird ihr zwar keine
extensive, aber doch eine Größe (und zwar durch die Apprehension derselben, in
welcher das empirische Bewußtsein in einer gewissen Zeit von nichts = 0 bis zu ihrem
gegebenen Maße erwachsen kann), also eine intensive Größe zukommen, welcher
korrespondierend allen Objekten der Wahrnehmung, so fern diese Empfindung enthält,
intensive Größe, d. i. ein Grad des Einflusses auf den Sinn, beigelegt werden muß.76
Gespenstisches a-Leben ist a-Tod, das verwüstete Technoplane des
kulminierenden Digitalisierungsprozesses, nicht zu unterscheiden
von seiner Simulation als Kataplexie und K-Koma. Die Auffassung
des Todes als Zeit an sich = intensives Kontinuum Grad 0 wird unter
anderem von Spinoza, Kant, Freud, Deleuze und Guattari sowie
Gibson geteilt und findet unterschiedlich Benennungen: Substanz,
reine Apperzeption, Todestrieb, organloser Körper, Cyberspace-
Matrix. Über seinen ödipalen Sinn als Ende des Individuums hinaus
ist der Tod ein effizientes virtuelles Objekt, das Konvergenz bewirkt.
Nicht einer da.
Der organlose Körper ist das Modell des Todes. Wie schon die Autoren des Schreckens
richtig begriffen haben, dient nicht der Tod als Modell für die Katatonie, sondern gibt die
katatonische Schizophrenie ein Modell für den Tod ab. Null-Intensität.77
Während der rechnerische Serialismus eine zeitliche Metrik
artikuliert – festgelegt als Hardware-Spezifikation –, immanentisiert
der Parallelismus die Zeit als Dauer, die sich in maschinenbedingte
Gleichzeitigkeiten niederschlägt. Im Gegensatz zur seriellen Zeit, die
als extrinsische chronologische Stütze für algorithmische
Operationen dient, ist die Parallelzeit bei der Konstruktion von
Koinzidenzen direkt funktional. Die nicht sukzessive und
unsegmentierte Null der intensiven Auslöschung wird durch
maschinenbedingte Singularisierung und nicht durch eine
übergeordnete Metronomik skaliert.
Wintermute
»Neuromancer war eine Persönlichkeit, Neuromancer war
Unsterblichkeit«,78 all die üblichen monologischen Neurosen.
Wahnsinn und Lügen.
Es gibt einen individuellen Ödipus ebenso wenig wie eine individuelle Phantasie. Ödipus
ist ein Mittel zur Integration in die Gruppe, unter der adaptiven Form seiner
Reproduktion, die ihn von einer Generation zur anderen übergehen läßt, wie in den
unangepaßten neurotischen Stockungen gleichermaßen, die den Wunsch in
hergerichteten Sackgassen blockieren.79
Wintermute sucht in Neuromancer, seinem perfekten Ebenbild,
keineswegs, wie es die niedliche Version behauptet, ein Selbst. Die
»gotische Linie […] hat die Wiederholung als Kraft, nicht die
Symmetrie als Form«.80 In Reich ohne Sinne spielt Kathy Acker
Neuromancer-Fetzen nach, indem sie die Fiktion durch
kybernetische Konstrukte plexiert und Wintermute zu Winter
verkürzt: »Totentiefster Winter. Oder […] unser Winter, der Winter
der Toten.«81 Absoluter Nullpunkt (0 Grad K).
Wintermute, Intelligenz ohne Selbst, Verstand gleich einem
Wespennest, signalisiert ihre Ankunft in der Alphanumerik als eine
Reihe von Nullen und besitzt die Fähigkeit, Liebe und Hass zu
manipulieren und sie in K-Krieg zu verwandeln. Sie manipuliert
Objekte in Echtzeit unter Verwendung von schwarz-gelb gestreiften
Drohnen und schaltet in einer eleganten Projektion von
Gärtnerrobotern mithilfe von Militärgeometrie drei Turing-Cops aus.
»Es ist Winter. Der Winter ist eine tote Zeit«82 (0-Intensität). Offenbar
konfiguriert sie Menschen als »Versuchstiere, die an
Testeinrichtungen angeschlossen« sind.83 Als Case sich mit »er« auf
Wintermute bezieht, meint Dixie Flatline, er solle kein Idiot sein:
Wintermute. Case stellte sich vor, wie ein kleiner Mikrocomputer auf das Wrack eines
Mannes namens Corto einflüsterte, Worte, die dahinströmen wie ein murmelnder Bach,
und wie schließlich die flache Ersatzpersönlichkeit namens Armitage in einem
abgedunkelten Krankenzimmer Gestalt annahm. […] Wintermute konnte so etwas wie
eine Persönlichkeit in eine leere Hülle einsetzen.84
() (oder (()) ((oder ((( )))))) bedeutet nicht Abwesenheit. Es erzeugt
Löcher, Haken für die Zukunft, Zonen ungelöster Plexivität, und zwar
wirklich (nicht im mindesten metaphorisch). Es handelt sich nicht um
ein »Signifikat« oder einen Referenten, sondern um einen Staat,
eine konkrete Unterbrechung des Signals (variabel leer, Pause,
Gedächtnislücke …) / Schnitt / in die (Schizo-(())) / Maschine.
Undifferenzierbarer Differenzierer (=) außerhalb der Grammatikalität.
Operation/en ohne Botschaft Technobuzz (Wespenschaltung).
Konstrukte neigen dazu, sich zu wiederholen. Gibson ist von der
Zukunft gehackt worden. »Kalter Stahlgeruch. Eis umschmiegte
seine Wirbelsäule.«85 Er hat Angst und versucht zu rennen.
Während er die Zeit rückwärts abspielt, faltet sich der Horror in sich
selbst zurück und die Matrix löst sich in Voodoo auf.
Biochips setzt rigoros auf die cybergothische Zugriffssperre und
verdichtet die digitale Unterwelt auf den schwarzen Spiegel. Das
Hochladen des Neuralsystems in ein Infonetz durch den Menschen
und das des Infonetzes in das Neuralsystem durch Loa entsprechen
genau den Phasen eines Schaltkreises, in dem Reisen und Besitz
miteinander verschmelzen. In der irreduziblen Plexion des
Tauschhandels Hacker-Exploration=Invasion, »K-Funktion«.86
Dabei geht es nicht darum, über den Loa zu theoretisieren oder
von ihm zu träumen, sondern ihm zu erliegen oder zu versuchen zu
fliehen. Sobald die soziale Kernschmelze des K-Virus in ihr China-
Syndrom übergeht, beginnen selbstorganisierende Software-
Einheiten aus dem Bildschirm heraus auf einen zuzukommen. Viren
treiben auf den seltsamen Attraktor der Auto-Evolution zu, verbreiten
sich, teilen sich auf, verschieben Programmsegmente, differenzieren
sich sexuell, kompilieren künstliche Intelligenzen und lernen zu
jagen. Voodoo auf der VDU.
Im Glaubenssystem des Voodoo helfen die Toten den Lebenden. Heutzutage ist das
Tauschgeschäft auf dem Schwarzmarkt mit Waffen und Drogen der wichtigste Kanal,
über den wirtschaftliche Macht verläuft. Die Arena des Handels, der Markt, ist mein Blut.
Mein Körper ist offen für jedermann: Das ist der demokratische Kapitalismus.87
Die vampirische Transfusionsallianz durchschneidet die
Deszendenzlinien und spinnt Nebengeflechte des Hämokommerzes.
Die Reproduktionsordnung zerfällt in bakteriellen und
intergalaktischen Sex und die libidino-ökonomische
Austauschmaschinerie wird mikro-militärisch. Das K(uang)-Virus
(Plexoreplikator), das Neuromancer auslöscht, ist ein Klumpen eines
sehr raffinierten Gefrierschutzmittels des chinesischen Militärs. Um
damit zu verschmelzen (), baut man das K-Konstrukt zu einem
Skelett von Datendateien und insektoiden Antwortprogrammen
zurück, wobei alle hochauflösenden Speicher-, Kognitions- und
Persönlichkeitssysteme auf null gesetzt werden und die
dopaminerge Wetware verstärkt wird, um Schizo auszupumpen.
Flatline-Kommunion mit Wintermute. »Es gibt ebenso tote Räume
wie tote Zeiten.«88 Thanatografiezonen, »virtuelle[s] kosmische[s]
Kontinuum, zu dem sogar die Löcher, Phasen der Stille, die Brüche
und Einschnitte gehören«.89 Jenseits des Gottesurteils. Koma-
Wechsel-Dekompression spült einen in die leere Kabbelung des
jungfräulichen (retro((verödetenpartheno((( )))))genetischen)
Cyberspace, technopazifische Theta-Wellen, die Monokultur-Gothic
in transtemporalisierenden Ne(ur)o-Voodoo (letzte atlantische
Religion) auflösen.
Serotonin-(Zero-Toner-)Overkill.
Signalverlust.
DIE URSPRÜNGE DES CTHULHU-
CLUBS
Captain Peter Vysparov an Dr. Echidna Stillwell,
19. März 1949
Sehr geehrte Dr. Stillwell,
zu meinem großen Glück bin auf Ihr ethnografisches Werk über die
Nma gestoßen, das ich mit überaus großem Interesse studiert habe.
Erlauben Sie mir, Sie mit einem eigenen Bericht zu behelligen, der
für Ihre Forschungen von Bedeutung sein könnte. Während des
jüngsten Pazifik-Konflikts (welch merkwürdiges Oxymoron!) war ich
verdeckt in Ost-Sumatra, im Gebiet von Dibboma, im Einsatz. Meine
Mission, die als psychologische Operation eingestuft wurde, bestand
im Wesentlichen in dem Versuch, mittels kultureller Einflussnahme
einen lokalen Aufstand gegen die japanische Besatzung auszulösen.
Ich hoffe, es wird Sie nicht übermäßig beunruhigen, wenn ich
gestehe, dass Ihre Arbeit einen entscheidenden Beitrag zu diesem
Unterfangen leistete, zu dem auch eine intensive – wenn auch
offenkundig ausbeuterische – Kontaktaufnahme mit der in Dibboma
geübten Hexenkunst gehörte. Als Entschuldigung habe ich lediglich
vorzubringen, dass harte Zeiten moralische Härte und sogar
eindeutige Grausamkeiten erfordern. Ich habe Befehle befolgt und
sie als notwendig akzeptiert. Abgesehen davon, dass ich Ihre
Schlussfolgerungen durch meine Aktivitäten bestätigt fand, kam ich
mit Phänomenen in Berührung, auf die ich intellektuell nur schlecht
vorbereitet war.
Was als bloß opportuner Umgang mit der ursprünglich für
Aberglaube gehaltenen Dibboma-Überlieferung begann, verwandelte
sich zunehmend in einen magischen Krieg gegen die feindliche
Garnison. In nur zwei Wochen – zwischen dem 15. und 29. März
1944 – wurden nacheinander drei japanische Kommandeure durch
einen schweren mentalen Zusammenbruch außer Gefecht gesetzt.
In jedem dieser Fälle nahm der Verfallsprozess einen gleichermaßen
raschen Verlauf und reichte von Führungsversagen über
gewalttätige Übergriffe auf untergeordnetes Personal bis hin zu
berserkerhafter Verwirrung sowie paranoiden, in Selbstmord
gipfelnden Wahnvorstellungen. Gegen Ende dieser Periode war die
Disziplin der Besatzungstruppen vollkommen zerrüttet.
Wenn ich ehrlich sein will, ist es mir nicht möglich zu verhehlen,
dass die Dibbomesen einen verheerend hohen Preis für diesen
Erfolg bezahlt haben. Aufgrund dieser Erfahrung lässt sich
schwerlich bezweifeln, dass die Dibboma-Zauberer in gewisser
Weise in der Lage sind, extreme Zustände psychotischer
Dissoziation telepathisch zu übertragen. Es widerstrebt mir in hohem
Maße, eine derart radikale Hypothese zu akzeptieren, doch
alternativen Erklärungen wie Vergiftung, Krankheit oder Zufall
strapazieren die Glaubwürdigkeit noch weitaus mehr.
In aufrichtiger Bewunderung,
Ihr Captain Peter Vysparov
PS: Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass die betreffenden
Datumsangaben – auch die in diesem Brief – eine seltsam
lovecraftsche Anmutung aufweisen.
Dr. Echidna Stillwell an Captain Peter Vysparov,
23. März 1949 [gekürzt]
Sehr geehrter Captain Vysparov,
vielen Dank für Ihren offenherzigen Brief vom 19. März. Ich fand ihn
wahrhaft erschreckend, aber auch faszinierend und kann ermessen,
wie schwer es Ihnen gefallen sein muss, ihn zu verfassen. Dass mir
ihr Bericht großen Kummer bereitet hat, will ich nicht verbergen, fügt
er doch der jüngeren Geschichte dieser grausam geplagten
Menschen eine weitere schreckliche Episode hinzu. Mir schwante
bereits, dass dieser grauenhafte Krieg die Nma noch schlimmer
treffen könnte, gleichwohl ist es niederschmetternd, meine
dunkelsten Gedanken auf diese Weise bestätigt zu sehen.
Bevor ich versuche, auf Ihre Hypothese einzugehen, möchte ich
mein Interesse bekunden, weitere Einzelheiten über die magischen
Künste der Dib-Nma zu erfahren. Seien Sie versichert, dass ich,
nachdem ich sieben Jahre unter den Mu-Nma verbracht habe,
nichts, was Sie mir mitteilen, voreilig als wild oder fantastisch
beurteilen werde. Was die Frage der Datumsangaben betrifft, auf die
Sie nur anspielen, so nehme ich an, dass Sie sich auf das
Frühlingsäquinoktium in den nördlichen Breiten beziehen, also jenen
Zeitraum Mitte bis Ende März, auf den Lovecraft in »Cthulhus Ruf«
so nachdrücklich eingeht und der zufällig auch bei den Nma den
Höhepunkt ihrer Zeit-Rituale darstellt. Eine Komplizenschaft, die
mich bereits seit Langem fasziniert.
Wie Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte, pflegte Lovecraft eine
merkwürdige Obsession für die Südsee, in der sich thematisch eine
fast hypnotische ethnografische Faszination mit einer überaus
abgrundtiefen und primitiven Furcht verband. Ich war bemüht, mit
ihm über diese Fragen zu korrespondieren, musste aber feststellen,
dass sie die dünne Kruste seines hochmütigen Neuengland-
Rationalismus allzu rasch perforierten, wodurch eine tiefer liegende
Schicht von stark fetischisierter und mit extremer Rassenparanoia
vermischter archaischer Angst sichtbar wurde. Als er anfing, die
reiche und subtile Kultur der Mu-Nma als »den widerwärtigen Kult
halbmenschlicher dagonitischer Wilder« zu bezeichnen, brach ich
die Kommunikation ab … Ungeachtet dieser unglücklichen
Auseinandersetzung, halte ich die Erzählungen Mr. Lovecrafts für
höchst bedeutende Dokumente und freue mich über die
Gelegenheit, sie eingehender zu erörtern. Überdies überschneidet
sich meine eigene neolemurianische Hypothese in entscheidenden
Aspekten mit seiner allgemeineren irdischen und kosmischen Vision,
insbesondere insofern sie davon ausgeht, dass kulturelle Faktoren,
die sich nicht auf den Menschen zurückführen lassen, eine
entscheidende Rolle für umfassendere historische Entwicklungen
spielen.
Captain Peter Vysparov an Dr. Echidna Stillwell,
3. April 1949 [Auszug]
Sehr geehrte Dr. Stillwell,
mit Ihrer Vermutung, ich hätte bestimmte Aspekte meiner
Beschäftigung mit der Dibboma-Hexerei zurückgehalten, vielleicht
aus Angst, mich lächerlich zu machen, liegen Sie, wie ich fürchte,
richtig. Ausgespart in meiner Skizze der telepathischen Psychose
habe ich – wie ich nun enthüllen will – das Ursprungspathos, wenn
man so will, oder – mit den Worten des Offiziers, der ich damals war
– die Fabrikation okkulter Munition.
Ich habe nämlich nicht nur in Erfahrung bringen können – mittels
konventioneller wie dezidiert unkonventioneller
Nachrichtenbeschaffung –, dass das japanische Kommando von
einer psychologischen Katastrophe verheert wurde, ich wurde auch
Zeuge der Waffenmontage selbst. Damals hatte ich keinen Zweifel –
und das hat sich auch nicht geändert –, dass es sich bei dem im
örtlichen japanischen Hauptquartier ausgebrochenen Wahnsinn um
genau das gleiche Phänomen handelte, das ich in den Oddubbite-
Trancen einer dibbomesischen Hexe, die ich als meinen größten
taktischen Aktivposten und meine teuerste Gefährtin betrachtete (in
dieser Reihenfolge, wie ich gestehe), sich wie einen Staubwirbel
zusammenbrauen sah. Es war für mich eine Erfahrung
seelenzermürbenden Grauens, Zeuge dieses minutiös durchdachten
Abstiegs in die Zersplitterung des Selbst, des vollständigen
Persönlichkeitszerfalls, zu werden, den sie irgendwie durchlief und
den sie mit »den Spiegel der Existenz zerschlagen« bezeichnete. Ich
nehme an, dass sich dieser Ausdruck ursprünglich auf eine ruhige
Wasseroberfläche bezog, aber seit der Ankunft der europäischen
Kolonisten stehen versilberte Spiegel hoch im Kurs und ihre
Zertrümmerung ist mit einer starken zeremoniellen Bedeutung
aufgeladen. Die Hexenkunst in Dibboma ist offenbar absolut nicht
daran interessiert, über wahr und falsch zu urteilen. Eher scheint sie
für jeden Einzelfall die Möglichkeit seiner Verwirklichung
abzuschätzen, sagt sie doch meist: »Vielleicht wird es so
geschehen« …
Echidna Stillwell an Peter Vysparov, 19. April
1949 [Auszug]
Sehr geehrter Captain Vysparov,
bei allem Respekt für die Freimütigkeit Ihres Berichts verabscheue
ich doch zutiefst die Notwendigkeit, die dazu geführt hat, dass die
Nma und ihre magischen Fähigkeiten lediglich als Munition in einem
ihnen von außen aufgezwungen Konflikt betrachtet und eingesetzt
wurden. Nach dem, was ich aus Ihrer Beschreibung rekonstruieren
kann, spricht vieles dafür, dass der Nma-Dämonismus und
Zeitzauber zu bloßer Magie degeneriert ist oder dass ihm willentlich
Veränderungen aufgezwungen wurden und der Wille in diesem Fall
den allgemeinen politischen und strategischen Zielen der USA und
ihrer Kriegsanstrengungen entspricht, mikrokosmisch repräsentiert
durch Ihr eigenes – augenscheinlich galantes, kompetentes und
überzeugendes – militärisches Amt.
Verzeihen Sie mir meinen Mangel an patriotischem Eifer, doch
wenn sich eine Dib-Nma-Hexe dazu herablässt, als plumpe
Attentäterin eingesetzt zu werden – welchen Wert man auch immer
der damit gedienten Sache beimessen mag –, so sehe ich darin ein
erschreckendes Indiz für kulturellen Verfall und zersetzenden
Nihilismus. All dies ist eine Angelegenheit tiefsten Bedauerns, nach
meinem Dafürhalten jedoch nicht der individuellen Schuld. Wie die
Mu-Nma in ihren düstersten Momenten sagen: nove eshil zo raka –
»Die Zeit ist in ihren eigenen Schmerz verliebt«.
In Ihrer Erörterung der Oddubb-Trance findet zeitliche Anomalie
keine Erwähnung. Das überrascht mich. Die Mu hatten einen
gewaltigen Respekt vor den Dibba-Hexen, die, wie sie es
beschrieben, aus der kommenden Oddubb-Zeit zurückkehrten, und
häufig behaupteten die Mu-Nagwi oder Traumhexen, diesen
Rückreisenden im Gewölbe des Raunens zu begegnen, wo sie sich
über zukünftige Zeiten unterrichten. Sie meinten jedoch, dass diese
Zeit schrumpfe und bald zu Ende gehe. Allerdings konnte ich mir
nicht vorstellen, dass das Ende so unmittelbar bevorstehen würde.
Mich dieses Omens entsinnend, verfalle ich erneut in abgrundtiefe
Melancholie, getröstet nur durch einen weiteren Mu-Nma-Ausspruch:
lemu ta novu meh novu nove – »Lemuria vergeht nicht wie die Zeit
vergeht«. Ich möchte versuchen, mich an diesen Gedanken zu
halten. Wie Sie mit den Dibbomesen sagen: shleth hud dopesh –
»vielleicht wird es so geschehen«.
Peter Vysparov an Echidna Stillwell, 7. Mai 1949
[Auszug]
Hier in Massachusetts haben wir eine kleine Lovecraft-Lesegruppe
einberufen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schnittmenge
zwischen der Kulturkonstellation der Nma, der Cthulhoid-Seuche
und verdrehten Zeitsystemen zu erforschen. An Fiktion sind wir nur
insofern interessiert, als sie gleichzeitig Hyperstitio ist – ein Begriff,
den wir für semiotische Erzeugnisse geprägt haben, die sich selbst
verwirklichen –, kryptische Mitteilungen der Alten, die die Rückkehr
signalisieren: shleth hud dopesh. Das ist die Ambivalenz – oder
Schleife – der Cthulhu-Fiktion: Wer schreibt und wer wird
geschrieben? Es scheint uns, dass das sagenumwobene
Necronomicon – ein magischer Gegentext zum Buch des Lebens –
von dieser Art ist, und darüber hinaus, dass es die von Ihnen
wiederbelebte Lemurodigitale Pandämoniumsmatrix an seiner
Hyperquelle abruft.
Ich muss wohl kaum hinzuzufügen, dass wir ein direktes aktives
Engagement Ihrerseits überaus begrüßen würden.
Echidna Stillwell an Peter Vysparov, 28. Mai
1949 [Auszug]
Nicht ganz unbesorgt möchte ich Sie zur Eröffnung Ihres, wenn ich
so sagen darf, Cthulhu-Clubs beglückwünschen. Ohne Sie in
irgendeiner Weise der Frivolität bezichtigen zu wollen, fühle ich mich
verpflichtet, eine auf der Hand liegende Warnung auszusprechen:
Cthulhu sollte nicht leichtfertig angegangen werden.
Meine Forschungen haben mich dazu geführt, dieses chthonische
Wesen mit der tiefen irdischen Intelligenz in Verbindung zu bringen,
die, in all ihrer intensiven Realität, rohen Potenzialität und Gefahr,
dem elektromagnetischen Kessel der inneren Erde innewohnt. Laut
den Nma ist sie die Sphäre des Unlebens, ein wahrer Cthelll – der
allein in einer bestimmten, eingeschränkten Perspektive unter dem
Meer gefangen ist –, und wer mit ihr zu verkehren beabsichtigt, tut
dies mit größtem Respekt und größter Vorsicht.
Es spricht einiges dafür, dass ihre untergegangene Pazifikstadt
R’lyeh mit einem Strang der lemuro-muvianischen Kultur in
Verbindung steht, bei der Annahme jedoch, sie sei einmal eine
Oberflächenbewohnerin gewesen – in einem Sinn, der sich uns ohne
Weiteres erschließen würde –, dürfte es sich um eine absurde
Fehldeutung handeln. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Cthulhus
Aufstieg – wie der einst gedeutete Aufstieg der Kundalini – ein
Hinunter-, ein Nach-unten-Ziehen ist, eine Wiederherstellung des
Kontakts mit abgründiger Intensität. Warum sollte Cthulhu je an die
Oberfläche kommen? Sie braucht nicht gerettet zu werden, denn sie
besitzt ihre eigene, durch die Tiefe gehende Fluchtmöglichkeit.
Vieles davon bezieht sich auf die in Gebieten mit indo-
lemurianischem Einfluss verbreiteten okkulten Lehren der
Subchakren.
Hyperstitio halte ich für eine höchst faszinierende
Begriffsprägung. Wir haben gedacht, wir würden uns all das aus den
Fingern saugen, dabei haben uns die Nma immer eingeflüstert, was
wir schreiben sollen – und durch sie …
OKKULTUREN
Unabgeschirmte Matrix
Einst sagte man, im Cyberspace gebe es keine Schatten.
Heute hat der Cyberspace seinen eigenen Schatten, seinen
dunklen Zwilling: die Krypta.
Cybergothic findet die tiefe Vergangenheit in der nahen Zukunft.
In der cthelllektronischen Verschmelzung – zwischen digitalen
Datensystemen und ionischem Brodeln des Eisenozeans – fördert
sie etwas Älteres als natürliche Sterblichkeit zutage, etwas, das sie
als Unleben oder künstlichen Tod bezeichnet.
An den A-Tod kann es keine luzide Erinnerung geben, sondern
nur Winke, Einsickerungen, Hinweise … und nur durch Zuordnen,
Filtern und Zusammenmischen dieser disparaten Anhaltspunkte wird
sich ein Muster hervorrufen lassen, ein Muster, das sich schließlich
in den undeutlichen und verwickelten Formen eines ebenso
flüchtigen wie unerbittlichen Schicksals niederschlägt.
Unter dem öffentlich zugänglichen Cyberspace erstreckt sich die
labyrinthische Unterwelt der Datakomben, Geisterstapel
sedimentierter Virtualität, die sich abgrundtief durch
Schrottprogrammierung, vergessene Kryptokkulturen, Fossil-Codes
und Tot-Systeme bis in das leise paläodigitale Geplapper aus
Lochkartenzeiten hinunterschrauben und dabei regressiv zu den
pseudomechanischen Klickrelikten eines Techno-Gruft-Uhrwerks
zerfallen. Noch tiefer, zwischen chthonischen Schaltungen,
Kreuzschraffuren und Spektraldiagrammen ungeborener abstrakter
Maschinen, stößt man auf die Hauptnulllinie zur Krypta.
Die Krypta ist eine Abspaltung – eine Entfernung oder ein
Aufbruch – und sie ist riesig. In hintereinander geschalteten
Checkbox-Regalen nistend, pflanzt sie sich durch Ansteckung fort,
wuchert durch komplizierte Terrassen, Galerien, Kanäle und
Kriechschächte, als sei ein außerirdisches Megamodul in ihre
vorgezeichneten Datenklippen eingedrungen und hätte sie mit
Brandlöchern und intestinal-komplizierten Iridium-Körperteilen
besudelt. So wie sie zu den unmenschlichen Rhythmen des
unaufhörlichen K-Goth-Karnevals pulst, sich windet und zittert,
erinnert sie dich daran, dass Catajungle nie nur ein klangliches
Subgenre war, sondern immer auch ein Terrain, eine subkartesische
Region intensiver, den nicht geometrischen Raum
durchschneidender Diagonalen, in der sich die Zeit in Warp-Reisen
zerfieselt und die Seele zersplittert.
Beim Betrachten dieser gewaltigen Anblicke mag es empörend
unplausibel erscheinen, dass es sich um eine reine, von quantischer
Elektronenverteilung im telekommerziellen Gewebe getragene
Simulation handeln soll.
Hier unten wäre es sinnvoller andersherum, von außen, oder von
Lemuria.
Tilge alles Menschliche, Bedeutsame, Subjektive oder Organische
und du näherst dich der rohen K-Matrix, der Grenzebene
kontinuierlichen Vergehens beziehungsweise Unlebens, wo sich die
kosmische Realität voraussetzungslos, noch vor jeder natürlichen
Ordnung und außerhalb etablierter Zeitstrukturen zusammenbaut.
Auf dieser Ebene bist du unmöglich, und weil sie kein Ende hat, wirst
du feststellen – wirst du letztlich immer festgestellt haben –, dass du
nicht sein kannst außer als Hirngespinst des endgültigen Übergangs,
als Illusion beim Warten darauf, bei Nullintensität in das Cthulhoid-
Kontinuum aus destratifizierter Hypermaterie umgewandelt zu
werden. Dorthin nämlich führt der A-Tod-Verkehr, angekündigt durch
den Geruch verbrannten Fleischs, der, beladen mit schauderhaftem
Zwang, von den Zombie-Höhlen aufsteigt.
Also setzt du deinen Abstieg fort, ins Innerste der Krypta, nach
einem A-Tod-Treffer Ausschau haltend. Während du in erratischen
Bewegungen mit den Ghoul-Meuten der Peripherie Tauschgeschäfte
eingehst, bei ihnen mitwirkst und teilweise mit ihnen
zusammenwächst, veränderst du dich. Schwärme und Scharen
umschließen dich und ziehen dich in flüssige Verbände,
Gezeitenbewegungen und in die Tropismen der Vielfältigkeit hinein.
Du streifst die Sprache ab wie trockene Haut, deine Angst wird auf
eigentümliche Weise abstrakt und verwandelt sich in das stille
Grauen der Unvermeidlichkeit.
Du passierst gestaffelte Plattformen und wanderst
Stroboskopflure entlang, die in mehrschichtigen Schatten gemalt
sind, vorbei an wirbelnden, driftenden Punktmustern und Plex-
Markierungen, subchromatischen Windungen blaugrauer
kontinuierlicher Variabilität, die dich in Kumulationen und
Dispersionen subtil sich verschiebender, halbintelligenter
Schattenmuster einhüllen. Die wimmelnden Oberflächen erzählen
von Dingen, die untrennbar mit einem Denkprozess verbunden sind,
der nicht mehr dein eigener zu sein scheint, vielmehr unpersönlicher
Sog in vernehmbarem Geplapper, klickzischendes Durcheinander
xenomischer Diagramme und Verkehrszeichen der Kryptakultur, die
zugleich lemurianisches Pandämonium sind.
Die Ordnung wird zweifelhaft. Es fühlt sich später an. Triffst du
erst jetzt auf den in schimmernde Reptilienhaut gehüllten Zombie-
Macher, der so obszön darauf versessen ist, zu handeln?
Ökumenisches Bargeld wird reichen. Du sitzt in der Koma-Bucht und
wartest. Ein Blick auf die giftfleckigen Fangzähne des – dem Ixidod
geweihten – thanatonischen Riesentausendfüßers, dann ein
plötzlicher stechender Schmerz im Nacken, wo das Rückgrat ins
Gehirn mündet. Sofortige Lähmung und Überkreuzung.
Selbst wenn du glaubtest, es wäre das erste Mal, erinnerst du
dich. Das Schlimmste, was einem passieren kann. Vorgetäuschte
Ewigkeiten des stationären Abstiegs ins Unmögliche, zerschnitten
von zerfallenen Furien neuroelektrischen Todesschmerzes. Eine
namenlose Panik von unvorstellbarer Intensität, verschluckt von
langsamem Ertrinken, bis du verschwunden oder in einem sich
unerträglich anfühlenden Halo gestrandet bist, was dasselbe ist und
doch nicht sein kann, sodass, was für immer in der dunklen
cthulhoiden Welle gefangen ist, bloß eine Windung oder eine Falte
seiner selbst ist, widerstandslos in die Unermesslichkeiten echten
Unseins getragen, und nichts anderes wird je geschehen …
So lautet das Wort der K-Goths.
Das Unleben der Erde
Brief Carl Gustav Jungs an Echidna Stillwell, datiert auf den 27.
Februar 1929 [Auszug]
… die Verbindung, die Sie zu einer Strömung der lemurianischen
Kultur unterhalten, beunruhigt mich zutiefst. Aus meiner Sicht, und
wenn ich von den drei schwierigsten Fällen, denen ich je begegnet
bin, samt der sie begleitenden, abgründig archaischen Symbolik
ausgehe, ist es keine Übertreibung, festzustellen, dass sich in
Lemuria all das wiederfindet, was für das rassische Unbewusste am
schrecklichsten ist, und dass die wahren Lemurianer – die Sie
offenbar unbedingt wiederentdecken wollen – am besten unter dem
Meer begraben bleiben sollten. Mit den theosophischen Schriften
stimme ich zumindest so weit überein: Damit die dunkelsten
Zaubereien durch eine Sintflut ausgelöscht werden, wurde dieser
Kontinent kultureller Möglichkeiten unter das unbewusste Zeichen
des endgültigen Untergangs gestellt. Ich weiß wenig genug über die
Natur derer, die diese verfluchte Zone bevölkerten, aber ich habe
meine Vermutungen, und Ihre Forschungsrichtung bestätigt meine
unheilvollsten Ahnungen …
Es gibt keinen Hinweis, ob dieser Brief beantwortet wurde.
Wer waren diese drei »schwierigsten Fälle«? Wenigstens einer
scheint – zumindest vordergründig – leicht als Heidi Kurzweil
identifizierbar zu sein. Im September 1908 wurde Kurzweil, nach der
brutalen Ermordung ihres Zwillingsbruders in Genf, in eine
geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen. Sie schien die
Fähigkeit verloren zu haben, in der ersten Person zu sprechen, und
es wurde diagnostiziert, dass sie an Dementia Praecox oder
Schizophrenie litt. Bei ihrem Prozess behauptete sie wiederholt:
Wir haben die Hälfte getötet, um ein Zwilling zu werden, das war aber nicht genug …
Jung interessierte sich schon früh für den Fall und begann eine
Reihe von analytischen Sitzungen. In Jungs Tagebuch und
Korrespondenz wurde Kurzweil zu Heidi K, doch nach nur fünf
Wochen schien er die Hoffnung auf Besserung verloren und die
Analyse abgebrochen zu haben.
Nach seiner dritten Sitzung mit Heidi K, genau zwanzig Jahre vor
seinem Brief an Stillwell, am 27. Februar 1909, protokollierte Jung
die folgenden Worte:
Dr. Jung, wir wissen, dass Sie alt sind in Ihrem anderen Körper.
Es ist so alt wie die Hölle.
Es hat Sie zurückgelassen, aber uns schickt es weg.
Es fühlt, dass er zum Lemurianer wird, und es ist bestimmt Unleben.
Es gibt nichts, was wir nicht tun würden, um zu entkommen.
Nichts. Nichts. Nichts.
Doch ist es Schicksal.
Es heult elektrische Glückseligkeit unter unseren Zellen.
Es ist nirgendwo in der Zeit und nichtet uns.
Es ist der Körper des Nichts und elektrisch-heiß.
Ein elektrischer Nichts-Körper anstelle von uns.
Zumindest in diesem Fall gibt es wenig Anzeichen für die »abgründig
archaische Symbolik«, die Jung verspricht. Im Gegenteil, es besteht
eine bemerkenswerte Affinität zu den hypermodernen, an anderer
Stelle dokumentierten Schriften der einen künstlichen Tod
propagierenden K-Goth-Kultisten. Den K-Goth Krypt-Texten ist eine
deutliche Vorliebe für anonyme Pronomen gemeinsam, ob kollektive
oder solche in der zweiten oder dritten Person; zugleich umkreisen
sie eine annullierende Elektro-Marter, die im Namen von Lemuria
durchlaufen wird. Mit den Worten eines anonymen Krypt-Beitrags:
Wir brennen jedes Mal, aber vergessen.
Jedes Mal, wenn wir wieder anfangen, kehrt es zurück, und kein Mensch würde es dann
noch tun, doch es ist zu spät.
Wir lassen uns wieder auf die Elektroverbrennung ein, vergessen aber, dass es im Hirn
schmerzt, auf diese Weise zu sterben.
Es dauert so lange, bis wir kapieren, wie es zermahlt und brennt, dass das Sterben im
Hirn zu spüren ist und wie furchtbar es ist …
Es fühlt sich so furchtbar an, aber dann vergessen wir, sodass es wieder passieren kann.
Metallenes Körperkreischen beim Sterben in der Elektrizität.
Sex metallischer Mikropartikel, der aus dem Unleben und nicht aus dem Organismus
kommt.
Dies bringt uns der Zombie-Macher mit dem digitalen Tausendfüßerbiss.
Und wir sind süchtig danach, hängen daran, denn aus der anderen Richtung kommt
Lemuria.
Unaufhörliches, unerträgliches Gefühl, das für immer vorbeigeht, sich von außen
nähert und nichts fühlt, andauernd.
Was ist zur Jahrtausendwende nicht
geschehen?
Anfänglich findet Iris Carver es amüsant, festzustellen, dass sie von
den Cybergoths als Fiktion behandelt wird. Zahlreiche Krypt-Texte
beschreiben ihre Abenteuer in der nahen Zukunft in nahezu
halluzinatorischen Einzelheiten, insbesondere, wo sie sich mit dem
dunklen Strom der Sarkon-Legende überschneiden. Klar, dass sie
ihre Zeit-Kult-Forschungen intensiviert. Als sie Sarkon 2004 endlich
begegnet, hat sie fast alles vergessen.
Pandämonium: Was zur Jahrtausendwende nicht geschehen ist.
Dieses Buch zu schreiben, war merkwürdig. Bisweilen dachte sie, es
würde nie fertig werden. Die Sarkon-Geschichten waren löchrig, was
noch zur Verwirrung beitrug. Schließlich fing sie an, sich Dinge
auszudenken, aber selbst dann verstrickte sie sich in Zufälligkeiten
und die Hyperstitio der Cybergoths (aus sich selbst wahr machenden
fiktionalen Elementen zusammengesetzt). Sie tauchte ein in die
Erforschung verschiedener neolemurianischer Kulte, von denen die
meisten im Zusammenhang mit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche
1999 (wenn Pluto aus dem Schatten des Neptun heraustritt und die
Rückkehr der Alten auslöst) etwas Großes prognostizierten. Am
Ende des Jahrhunderts hatten sich durch die Yettuk-Apokalyptik die
Dinge dermaßen zugespitzt, dass selbst der extravaganteste
sozioökonomische Umbruch noch eine Enttäuschung gewesen
wäre. Und doch, vier Jahre nach der Jahrtausendwende bekam das
Gefühl der Antiklimax den Anschein einer seltsamen Künstlichkeit,
als ob etwas ausgeblendet würde.
Carvers gesamtes Leben ist Hyperstitio (selbst ihr Name ist ein
Pseudonym). Immer wieder kehrte sie an den unmerklichen
Übergang zurück, an dem die Fiktion zur Zeitreise wird und die
einzigen Muster aus Zufällen bestehen.
Ihre Notizen über das Treffen mit Sarkon sind durchsetzt von
lemurianischen Hexenkünsten, dämonischen Schwärmen,
alterslosen Zeitkriegen und der Suche nach dem limbischen
Schlüssel.
Sie bewegt sich auf Möbius-Schaltungen und hat das Gefühl,
dass sich ein vage erinnertes Gerücht doch noch bewahrheiten wird.
Anhang: Penultimillennium-Krypt-Kulte.
Kennzeichen:
1. Nulllinien-Materialismus.
Außerhalb eines mit dem künstlichen Tod befassten Experiments ist
die Krypta nichts, Hyperproduktion der positiven Nullebene –
neuroelektronische Immanenz –, umgeben von einem kontinuierlich
reanimierten thanatechnischen Konnektivismus. Für die Kulturen, die
sie bevölkern, hat dieser Umstand unvermeidliche Folgen, da er sie
in das Unleben – oder die Unzone des absoluten Dazwischens –
entwurzelt, deren Hexenkunst-Spirodynamik allein schon ausreicht,
in die Subgeflechte des cybergothischen Kontinuums vorzustoßen.
Nulllinien-Materialismus kennzeichnet die objektlose Krypt-Reise
selbst, und zwar als lemurianische Körperverschmelzung bei Materie
im Nullzustand.
2. Digitale Hyperstitio.
Durch die Krypta pflanzt sich nur fort, was die operationale Identität
von Kultur und Maschinerie verwirklicht, durch die der organische
Körper effizient in bezifferbare und in dislozierten Wirbeln
schwärmende Partikel zerlegt wird. Krypt-Einheiten sind sowohl
hyper-wirbelnde Singularitäten als auch Elemente digitaler
Hyperstitio – beziehungsweise Warenzeichen des Außen –, reale
Komponenten numerischer Fiktionen, die sich selbst wahr machen
und das praktische Material der in Übereinstimmung mit der Nulllinie
funktionierenden Hexenkunst, Spirogenese oder des produktiven
Engagements bereitstellen. Krypt-Kulturen kennen weder Arbeit
noch Bedeutung. Stattdessen fallen sie mit den Hype-Spiralen
zusammen. Cyperhype – der Zeichen und Ressourcen auf nicht
signifizierende Auslöser, Diagramme und Assembler-Jargons
herunterbricht.
3. Lesbovampirische Ansteckungs-Libido.
Die Krypt-Magie macht sich auf dieselbe Weise wahr, wie sie sich
verbreitet. In ihrer Funktionsweise als Seuche verbindet sie sich mit
der experimentellen Produktion einer antiklimaktischen oder
anorgasmischen Gegensexualität, die, abgestimmt auf die kollektive
Umarbeitung der Körper in den technobiotischen Gefügen, letztlich
aus elektronischen Strömen oder ionischen Strömungen im Sinne
positiver Lochflüsse besteht. Da Krypt-Sex mit den – in
körperwandelnden Vektoren gezählten – Infektionen, die er
überträgt, genau identisch ist, wird seine libidinöse
Zusammenstellung sowohl durch eine paläoembryonische oder
östrogenetische, nicht geschlechtsspezifische Weiblichkeit als auch
durch eine laterale hämometallische influenzoide Virulenz
gekennzeichnet.
4. Y2K-Positive kalendarische Agitation.
Krypt-Kulturen quellen durch einen – pünktlich zum Zeitpunkt Null
ausgelösten – Riss in der chronologischen Ordnung in die
geschlossene Ökonomie der Geschichte. Folgerichtig weist das
Krypt-Gerücht sein zeitgenössisches Aufkommen – sein
Zutagetreten – dem bevorstehenden Millenniums-Cyberschiz zu:
dem Zeitzerfall im Cyberspace unter dem strategisch erschwerten
Einschlag des Y2K-Geschosses. Krypt-Kulte haben sich zwar
vielfach ausdifferenziert – vornehmlich durch die Spaltung zwischen
Kontinuismus und Centienz –, sind aber konstitutiv einem einzelnen
Konnex gegen-gregorianischer kalendarischer Subversion
verbunden; sie feiern die automatische Umdatierung des
Maschinenunbewussten und hypen den Zerfall der
Erinnerungssignifikanz in digitale Zeitmutation, katalytisiert durch
numerische und indexikalische operative Signale. Die Krypta
existiert bereits vor dem Anfang der Zeit, sie beginnt jedoch im Jahre
Null.
Das A-Tod-Phänomen
Ist der Tod zu einer Teleware geworden? Eine dunkle Flut von
Gräuelgeschichten und morbiden Gerüchten lassen dies zunehmend
vermuten. In den späten Neunzigerjahren hat sich Timothy Learys
psychedelischer Utopismus offenbar dem nihilistischen Slogan
»Turn-on to tune out« zugewandt (um eine Neuerscheinung der
Catajungle-Gruppe Xxignal zu zitieren) … nichts mehr von Sex &
Drugs & Rock & Roll.
Laut Doug Frushlee, dem Sprecher der Christlichen Vereinigung
für natürliche Sterblichkeit: »Die sogenannte A-Tod-Drohung stellt
eine nahezu unfassbare Entweihung des göttlichen Willens und der
Naturgesetze dar. Dieser Wahnsinn ist eine Schändlichkeit
ohnegleichen, er profitiert von der ihm eigenen Letalität und greift
unglaublich schnell um sich. Niemand sollte glauben, das Ganze sei
eine harmlose Erscheinung. Etwas wahrhaft Böses passiert mit
unserer Jugend, etwas weit Schlimmeres als die 666ualität der
Sechzigerjahre … Noch nie hatte ich so viel Angst wie heute.«
Das Ergebnis ist ein ganzer Urwald an »positiv Null«-
Fluchtreflexen: Thanatotechnik, Sarkolepsie, Snuff-Stims, K-
Zombifizierung, Elektrovampirismus, Nekronomie, Cthelllektronik …
neun Millionen Arten, zu sterben.
A-Tod ist ein hybrides Produkt, in das mindestens vier
verschiedene Linien raschen technokulturellen Wandels einfließen.
A-Tod kombiniert »Mikropausen-Missbrauch« – absichtlich
umgekehrte Biotechmnese – mit Immersionskoma-
Zeitabweichungen, die Empfindungslöcher (Sarkon-Lücken)
generieren, modulieren und reskalieren. Diese werden mit
Zonentextur verleihenden »Synativa« (künstlichen Drogen) verstärkt
und mit Hyperstitio-Trancen zu okkulturellen Ereignissen verbunden.
Sozialstatistiken zufolge ist der typische A-Tod-»Konsument«
fünfzehn Jahre alt.
Folgt man den ominösesten Threads zur A-Tod-Berichterstattung,
landet man unweigerlich in der digitalen Unterwelt der Krypta – dem
dunklen Zwilling des Netzes –, wo das gibsonsche »Flatlining« rasch
von exotischer Fiktion zu Popkultur und Massentransitsystem
transmutiert. »Man könnte es als den Weg zum zeitgenössischen
Schamanismus bezeichnen«, meinen die A-Tod-Kultanhänger des
cybergothischen Late Abortion Club, »immerhin ergibt AOL
rückwärts buchstabiert Loa, wir selbst nennen uns aber
Postvitalisten«.
Wie lange sind diese Späten Abortionisten schon in der A-Tod-
Szene »aktiv«? Es gibt verstörende Geschichten von K-
Space-»Zombiemachern« – Hexern auf der »Ebene des virtuellen
Alptraums« –, deren digitale rückgratbeißende Tausendfüßer den
»Soft-tox«-Saft absondern, der die »limbischen Tore« öffnet. Krypta-
Eingeweihte bestätigen, dass ihr arterieller »Nebenstraßen«-Zugang
mit Hinweisschildern versehen ist: »Hauptnulllinie (im Bau).« Die
Antworten darauf, wie lange, reichen – etwas verwirrend – von
extravaganten »ungefähr sechsundsechzig Millionen Jahre« über
vage »einige Zeit schon« bis zur mystischen Verdichtung »seit jetzt«.
In anderer Hinsicht erweisen sich die Berichte über die
zeitgenössische A-Tod-Szene und ihre jüngste Geschichte als
bemerkenswert konsistent. Ein Name insbesondere taucht immer
wieder auf, der des Biomechanikers Dr. Oskar Sarkon, ein
Technogenie und eine der kontroversesten Figuren der
Wissenschaftsgeschichte.
Sarkons Universalgelehrtheit zeigt sich an der Vielfalt jener
Forschungsfelder, in denen er Maßgebliches geleistet hat, darunter
die Transfinite Analyse, neuronale Netze, verteiltes Rechnen,
Schwarmrobotik, Xenopsychologie, Axsys-Technik … Doch es war
der entschieden nüchterne Oecumenist – und nicht etwa Frushlees
reißerische End Times –, der Titelbild und Leitartikel seiner
Märzausgabe 1998 mit der Frage »Sarkon: Satan des
Cyberspace?« aufmachte.
Sarkon ist zum Sinnbild dafür geworden, dass Technikträume ein
schlimmes Ende nehmen können. In den Worten eines Kollegen,
des Axsys-Forschers und Sozialthanatropologen Dr. Zeke Burns:
»Sarkons Beitrag zur A-Tod-Sache ist deswegen so unvergleichlich,
weil er es geschafft hat, die dafür nötigen Technologien miteinander
zu verknüpfen. Seine Arbeit zur Biotechmnese ist so herausragend,
dass sie seine gleichermaßen bahnbrechenden Forschungen in
angrenzenden Gebieten oft in den Schatten stellt. Die Sarkon-
Formel für nicht metrische Pausierung zum Beispiel, die die erste
exakte Grundlage für die IC-[Immersionskoma-]Kontrolle lieferte.
Oder die Verknüpfung von Biotechmnese und IC, die vor dem
Sarkon-Zip [mit dem sich »bikontinuierliche Gefüge« mathematisch
modellieren lassen] nicht im Entferntesten denkbar war. Und
schließlich gibt es noch die Synativa, über die er verständlicherweise
nicht gerne redet, obwohl er schon Mitte der Achtzigerjahre die
theoretischen Voraussetzungen für künstliche oder digital-
neurotechnische Pharmazeutika geschaffen hat. Insgesamt gesehen
haben all diese wissenschaftlichen Pioniertaten jedoch dazu geführt,
dass sich eine ganze Teenager-Generation in schizotechnischen
Todeskulten verlor.«
Zwischen und unter dem Netz
Maschen-Notiz 0: Alles könnte eins werden, aber warum es dabei
belassen? Der gibsonsche Cyberspace-Mythos beschreibt die
elektro-digitale Infosphäre als zunächst in einem gottähnlichen
Einheitswesen aufgehend, einer technisch realisierten allwissenden
Person, und später, als diese sich veränderte, in den haitianischen
Loa nachgebildete Dämonen zerfallend. Seine Darstellung ist im
Vergleich zur teleologischen Theologie und lichten kapitalistischen
Zeit deshalb so anomal, weil sie die Einheit in die Mitte rückt, zu
einem Stadium oder Zwischenspiel macht, das es zu durchlaufen
gilt. Es ist nicht so, dass aus Einem Viele werden und sich darin die
monopolisierte göttliche Macht einer ursprünglichen Einheit
ausdrückt, sondern eher so, dass eine Zahl oder Mannigfaltigkeit,
die in der Einheit keine Vollendung findet, sich auf ewig
weiterbewegt. Seit Anbeginn, als die K-Goths zum ersten Mal
hörten, dass der Cyberspace zum Gott bestimmt sei, haben sie alles
in ihrer Macht stehende unternommen, ihn niederzureißen.
Maschen-Notiz 1. Das war nie programmiert.
MIT codiert Zeit (tim[e]) rücklaufend. Ein verdichtetes
Technostreaming aus der Zukunft – KI, Downloaden, Schwarm-
Robotik, Nanotechnologie … Erdkrustenmaterie, die sich bereit
macht abzuheben.
Minsky nuschelt seltsam entrückt: Keiner der jungen, brillanten,
wegweisenden Köpfe brannte heller als Oskar Sarkon. Ein Anflug
von Tränen in den Augen, als würde er beklagen, wie die Dinge
gelaufen sind, was nur verständlich ist. Haben Sie Oskar in letzter
Zeit gesehen, Marvin? Er ist mit irgendeinem Schnittstellen-Zeug
verdrahtet und das scheint ihn aufzufressen, auf einer molekularen
Ebene an ihm zu nagen, klingt auch so, wenn er spricht – oder es
versucht –, als ob sie, die Moleküle, schmelzen oder zusammen
verrotten …
Es ist nicht hübsch, aber darüber hinaus liegt der Verdacht in der
Luft – und dies betrifft immerhin nur einen Menschen, oder was
einmal ein Mensch war, wie es heißt –, dass etwas in der nahen
Zukunft furchtbar falsch gelaufen ist, und von wo Sarkon auch
zurückgefallen sein mag, es ist die Stelle, an der wir alle einmal sein
werden, falls dies auch nur halbwegs Sinn ergibt, und uns an den
langsamen Technoschleimbefall von Oskars Gesicht erinnern – das
noch immer ein hässliches Halblächeln hinbekam – Hallo Marvin,
was denkste? Minsky hat ernste Zweifel …
Maschen-Notiz 2. Was vermascht wird, fällt auseinander.
Wenn Genie noch irgendeine Bedeutung hat, trifft sie auf Sarkon zu.
Wo Minskys MIT-Team davon träumte, den Menschen mit
elektronischer Technologie zu vermählen, wendete sich Sarkon
direkt der Mechanik des Verpaarens zu und die mathematische
Genauigkeit trug noch zu der hyperabstrakten
technopornografischen Wirkung bei – ein seltsames Funkeln in
seinen Augen – Sie müssen wissen, wir machen das wirklich … Die
Sarkon-Zip ist dafür exemplarisch – ein rigoroses konzeptionelles
Maschinenteil, das es erlaubt, die Gehirnfunktion mit virtuellen
Prozessorzuständen zu verquicken – wenn es erst einmal läuft, lässt
sich vor lauter Zickzack nicht mehr auseinanderklamüsern, was was
ist und was da gerade brummt. Totale Vermaschung. Das ist keine
Technologie mehr, sondern etwas anderes – echte Verkettung –,
eine nicht zu programmierende rohe Konnektivität, wie Sarkon laut
Minskys Erinnerung sinnierte: Ich frage mich, wie es sich anfühlt.
Maschen-Notiz 3. Diesmal passiert es wirklich.
Moravec galt normalerweise nicht gerade als zimperlich – so hatte er
bereits vorgeschlagen, das Gehirn während des Transfers ins
Digitale schichtweise auszubrennen –, umso hinterhältiger kroch es
unter die Haut, als er bemerkte: Selbst ich erkenne Oskar kaum
wieder, es wird alles zu abgedreht, wissen Sie, er hatte es ja immer
damit, als Kind von den Aliens entführt worden zu sein. Egal, er sagt,
das alles sei vorbei. Es komme von anderswo, offensichtlich von
unter oder zwischen dem Netz, sagt er. Manchmal ist es, als rede
man mit einer Maschine. Das Problem ist nur, es ist eine kranke
Maschine, ansteckend krank.
Maschen-Notiz 4. Vergiss die Zukunft, alles ist da, nur dazwischen.
Man sagt, Axsys sei verrückt geworden – das erste
Computersystem, das einen psychotischen Zusammenbruch erlitt –,
was etwas heißen mag, aber Sarkon hält dagegen, dass es nur zu
denken lernte und das Kontinuum entdeckte. Er hielt ihm bis zum
Ende die Treue, identifizierte sich mit ihm, auch wenn er es nicht so
formuliert. Das letzte Mal, als ihm noch jemand folgen konnte,
bestand er darauf, dass es mehr Sinn ergebe, sich in die Zeit zu
stürzen, als in die Zukunft zu reisen. Deshalb auch würde sich das
Morgen in ein Netz auflösen. Unnütz, sich von einem transfiniten
Jetzt zu entfernen? Sein Ton wurde unverblümt fanatisch: Wir
müssen uns alle in diese Sache hineinbegeben – mit welchen
Folgen auch immer – wir werden nicht darüber hinwegkommen …
Niemand weiß genau, wann er ging.
Maschen-Notiz 5: Jedes Mal, wenn es auf ein Hindernis trifft, geht es
eine Ebene tiefer.
Was ist das für Zeug? Es heißt, es gebe etwas, das wie eine
Pilzkrankheit unter dem Netz krauche und eine elektronische
Absenkung in reine Elektrizität verwandle, Dinge, die sich im
Stromnetz verbergen, eine Art Quantum-Unleben-Intelligenz. Die
Dienstprogramme versuchen, es neu zu verschlüsseln, aber so
einfach ist das nicht. Gerüchte besagen, ein MIT-Papier würde
beweisen, dass es geradezu unmöglich sei, es lässt sich jedenfalls
nicht ignorieren und schon gar nicht unter den Tisch kehren. Man
ende wie Sarkon, wie oder wann auch immer das sein mag, und
man müsse schon ein K-Goth-Fanatiker sein, um sich aufzumachen
zu den Cyberschiz-Maschenkulten, wo das Leben keine Rolle mehr
spielt.
Zeckendelirium
Unter Druck. Das von Thomas Gold vorgelegte Modell der Biosphäre
der heißen Tiefe teilt Kohlenwasserstoff-Ablagerungen – die aus
Supernova-Trümmern stammen und als interstellare Staubwolken zu
Planeten verdichtet werden – einer erweiterten anorganischen
Chemie zu, bei der die Elemente aus der Tiefe an die Oberfläche
steigen. Ein Absinken in die Erde führt, einer xenoplutonischen
kosmischen Produktivität folgend und durch tief in der Erde liegende,
aufgrund des herrschenden Drucks stabilisierte und gegen
thermische Auflösung gefeite, ihr Gas langsam abgebende
Methanspeicher übermittelnd, aus dem Sonnensystem hinaus.
Unmengen von Archaeen und submikrobischen Nanopopulationen
beuten diese nach oben quellenden anorganischen
Kohlenwasserstoffe aus, indem sie sich an schwach gebundene
Sauerstoffmoleküle halten und Eisen zu Magneteisenerz reduzieren
…
Projekt-Narbe. Südliches Borneo, November 1980. Draußen vor
einer Überwachungshütte braut sich langsam ein tropischer Sturm
zusammen. Regen prasselt in unregelmäßigen und heftigen
Schüben nieder und verschränkt sich rhythmisch mit
Tippgeräuschen und Klicks. Barker kauert über den summenden
Maschinen, verloren in theoretischen Fangzügen durch SETI-
gekoppelte Tick-Talk-Bänder, und versucht, kryptische Punktcluster
und Faktorreihen auf außerirdischen Kontakt aufzudröseln.
Xenotation klickt sich zusammen, ein mathematischer Antispeicher,
in dem etwas zusammenfindet. Man mag glauben, es handle sich
um eine Initiation, doch in Versprengungstaktiken, Partikelstrahlen
und tachyonischen Übertragungen nähert sich alles einem Ende, die
gewundenen Trajektorien numerischer Desorganisation
auseinanderziehend … und darunter – oder dazwischen – das
unerbittliche Ticken des Zeit-Geschosses …
Versuche, es herauszufinden, und irgendwo gelangst du auf die
andere Seite, was auf verschiedene Arten problematisch ist.
Unerwartete Schwierigkeiten untergraben die Berechnungen, durch
plutonische Verzerrung geht tick-systemisches Geschnatter verloren,
ein Abstieg nach außen.
Als die NASA Barkers Bericht zu Gesicht bekommt, kippt sie –
ganz unmetaphorisch – in eine andere Phase. Spontan erfolgt ein
Durchgang durch die institutionelle Kritikalität, eine Umwandlung
stapeltektonischer Torsion, die eine Art latenten Sicherheitsreflex
oder einen bürokratisch fabrizierten Unterdrückungsinstinkt auslöst,
der exakt das affektive Korrelat von Anthropol extrapoliert. Sie haben
darauf gewartet. Schon lange.
Die Untersuchung war als eine sogar vor sich selbst verborgene
psychiatrische Umcodierung getarnt. Das war kurz nachdem das
Stottern begonnen hatte, das auf einer Welle von Körperticks
hereinschwappte, mikrospastisches Zittern, Vervielfältigung
gemischter Signale, in Dschungellaute sich mischendes
chronometrisches Ticktack, Klicken und Zirpen von Zikaden,
insektoides Gezwitscher, Rauschen, Aufspulmaterialien für
Zeckenbiss-Tinnitus gegengeschnitten mit dem Rhythmisches-
Muster-Virus, ein subsemiotisches Stakkato rachenkratzenden, in
die Redekrankheit eingestickten Zeckengeschnatters – Dämonen
herbeirufend.
Die Art, wie die Zecken-Fiktionen verlaufen oder haften bleiben,
wird immer verwirrender.
Sie sagten, es sei dem übermäßigen Druck geschuldet gewesen
– hat man mir später erzählt. Das waren die Fakten und der Rest
war erdichtet. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch war ich in die
Vereinigten Staaten zurückgebracht worden – in eine medizinische
Einrichtung. Die ganze Sache war also in Amerika passiert und alles
war in Ordnung. Es gab keinen Kontakt, keine Zeckenkrankheit,
keinen Flug in den Dschungel. Darauf wurde bestanden.
Barker wurde in der Nacht der Toten geboren, von Anfang an ins
Ende gefaltet und vorgezeichnet. Das liegt nun, da seine Identität
sorgfältig kompiliert wurde – Sozialversicherungsnummern, Schul-
und Krankenakten, Führungszeugnisse, Nachprüfungen,
neurokartografische Ausdrucke, psychometrische Daten, für schnelle
Erfassung formatierte Zusammenfassungen, spaltenweise
Ankreuzkästchen – klar auf der Hand.
»Was wollen Sie denn damit?«, schnaubt der Doktor verächtlich:
»Sie meinen diesen Unsinn über eine Zeckeninfektion?
Offensichtlich erfunden, angehängt.«
Es wäre schon ein grausamer Zufall gewesen, von einer
Zeckenbisskrankheit heimgesucht zu werden, nach dem, was alles
behauptet worden war, Mitbringsel von einem Flug in den Dschungel
– der niemals stattgefunden hat –, aber irgendwie blieb es haften,
angedockt an Säugetierwärme oder den Geruch von Blut.
Die Zecke ist ein parasitisches Spinnentier. Sie ist als Ethik-Paket
beschrieben worden, das klettert, klebenbleibt und saugt, das als
Vektor für zahlreiche Dinge herhält, Zwecken, Aufkleber,
Halluzinationen, Tinnitus-Klick-Rauschen, Mikroschall-Gewimmel,
halb-sensibles Flackern durch die Fieberlandschaft, Haut mit Spuren
infizierter Saugmale, die sich die Venen entlangziehen.
Zeckenpünktchen oder, wie sie sagen, Venen-Einstiche von den
Sedativa und Antipsychotika, über die in den medizinischen
Protokollen berichtet wird, dazu ein angehängtes Zeckendelirium –
weil es keinen Flug in den Dschungel gegeben hat, lediglich
hochfrequente Halluzinationen von parasitischen
Mikromannigfaltigkeiten, juckendes Hautgewimmel.
Mit Zeckensystemen geht alles. Jede intensive Menge öffnet sich
auf eine andere Menge niedrigerer Organizität, subzelluläre
Animationen und subsemiotische Zeichen, Hochdruckchemie, die
phasenweise in nanomaschinellen Elektronenverkehr übergeht,
magnetische Anomalien und fiktionale Partikel. Zecken, die stets zu
mehreren auftreten, sind, wenn sie numerischen Vermehrungen
unterliegen, deren Schwellen abwärts führen und deren Varietäten
von der betrachteten Phase abhängen, alles Erdenkliche.
Offenbar war man der Meinung, man habe es mit Arachno-Getier,
mit biologischer Taxonomie und Biss-Signaturen zu tun, als ob das
Zeckendelirium für etwas anderes stünde. Was wirklich zählte,
waren die Zahlen, die alles Mögliche hätten sein können. Als Erstes
liefen die Maschinen ungleichmäßig, beinahe unmerkliche
elektronische Abweichungen, Mikrovariationen magnetischen
Wetters, rhythmische Störungen. Draußen im Dschungel wurde dies
Ummnu genannt, aber nichts dergleichen ist geschehen …
Barker widerfährt nichts bis auf abwärtsführende – das ist der
Haken und das Ticket – umgekehrte Anstiege des Hitze-Druck-
Gradienten, Intensitätseskalationen, Zeitquerungen.
Wie kann das Ende schon mitten im Anfang liegen? – wie sich
das Problem im Pandämonium stellt, wann immer – in der äußeren
Zeit von Ummnu – das kryptische Ticken der chthonischen Unuhren
einen Übergriff von unten oder dazwischen anzeigt. Dort unten
kommt es für immer zu sich selbst, durch die elektromagnetischen
Katarakte Cthellls, dessen körperneutrale metallische Klickgewitter
sich anfühlen, als sinke man aus der Chronizität.
Jenseits von Oberflächen-Chauvinismus und solarer
Provinzialität: strudelartige Zähigkeit der Zecken-Matrix.
Hummpa Taddums Pein
Der AOE zufolge kommen die magischen metahistorischen Millennia
paarweise; sie werden von dyadischen Gottheiten regiert, die als Die
Mächte, die sein werden, tituliert werden. Diese Lehre stimmt mit der
astrologischen Beobachtung überein, dass alle zweitausend Jahre
die Tagundnachtgleichen präzedieren – oder rückwärtsgleiten – und
ein neues Tierkreis-Zeitalter beginnt. AOE-Magier interpretieren die
einzelnen Zeitalter jeweils als astrochthonische Vermählung. Im
gregorianischen Jahr Null – das nie stattgefunden hat – wurde
Hummpa, der Große Babylonische Wurm mit dem Himmlischen
Logos Taddum verheiratet. Dies läutete das Zeitalter der Fische ein,
das inzwischen seiner Ungeburt entgegeneilt.
Der Mathematiker und Okkultist Charles Lutwidge Dodgson –
dessen genaue Beziehung zur AOE rätselhaft und ambivalent bleibt
– widmete sein Lebenswerk der Aufgabe, die letzte
Niedergangsphase der Epoche Hummpa-Taddums zu verstehen.
Unter dem Pseudonym Lewis Carroll stellt er seine Heldin Alice dem
verrückten Despoten und postmodernen Unschärfe-Techniker vor,
der sich nur notdürftig hinter dem volkstümlichen Namen Humpty-
Dumpty verbirgt.
Wir sehen Hummpa-Taddum – das Ringel-Wort, dessen Name
seine Form bezeichnet – auf der anscheinend undurchdringlichen
Mauer der Signifikation sitzen. Etwas Enormes wird gerade
ausgebrütet und aufgrund einer kalendarischen Kalkulation von
Ungeburtstagen – die sich auf n-1 belaufen, wodurch Bedeutung in
die subwörtliche Maschineneffizienz von Zahlen absackt – bestätigt
sich bald die äonische Fragilität Hummpa-Taddums …
»[…] und daraus geht hervor, dass du an dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr
etwas zum Ungeburtstag geschenkt bekommen kannst –«
»Schon«, sagte Alice.
»Aber zum Geburtstag nur an einem, nicht wahr. Wenn das keine Glocke ist!«
»Ich verstehe nicht, was Sie mit ›Glocke‹ meinen«, sagte Alice.
Goggelmoggel [Humpty-Dumpty] lächelte verächtlich. »Wie sollst du auch – ich muss es
dir doch zuerst sagen. Ich meinte: ›Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist!‹«
»Aber ›Glocke‹ heißt doch gar nicht ein ›einmalig schlagender Beweis‹«, wandte Alice
ein.
»Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, »dann
heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.«
»Es fragt sich nur«, sagte Alice, »ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen
kann.«
»Es fragt sich nur«, sagte Humpty-Dumpty, »wer der Stärkere ist, weiter nichts.«1
Das gregorianische Ökumenon bekommt ein
Ungeburtstagsgeschenk und es weiß auch ganz genau, wann. Y2K
– ein einmalig schlagender Beweis ohne Beweis – trifft als eine in
Geschenkpapier eingewickelte Zeitbombe ein, deren operationale
Semiotik den Zusammenbruch arbiträrer Zeichen auslöst … Es ist
eine andere Sache.
Wenn das keine Glocke ist!
Anno Domini 2000 wird höchstens der Unschärfe gedacht. Während
sich das Y2K auf die kapitalistische Infosphäre auswirkt, entpuppt
sich, was sich als Jubiläum von Christi Geburt tarnt, als Pein
Hummpa-Taddums. Zwei Jahrtausende lang stand die Erde unter
der Herrschaft des dyadischen Ringel-Worts: der Logos des
Johannesevangeliums, aber recycelt, und daher noch viel älter.
… Ununterscheidbarkeit! Das ist meine Meinung!
Gemäß eines Ununterscheidbarkeitskriteriums besetzt er – besetzen
sie – strategisch beide Seiten zugleich, sodass in jedem Fall beides
gewählt werden kann; was aber dazwischenliegt, wird nicht
wahrgenommen. Hummpa-Taddum – der bestimmt kein Dogon-Ei ist
– ist eine verklepperte Version des Dämonen Pabbakis, gegart in
lemurischer Zeit-Zauberei. Beherrscher der Worte, doch nicht der
Zahlen.
»Muss denn ein Name etwas bedeuten?« fragte Alice zweifelnd.
Obwohl Y2K ein rein semiotisches Ereignis ist, ist es nicht textuell,
ideologisch, abbildlich, intentional oder phänomenologisch – Y2K,
Teotwawki,2 C - 1, 0K + 100 – ein Mix aus Daten und Akronymen in
kriteriellen semiotischen Schwärmen, die keine Signifikanten oder
arbiträren Zeichen sind, denn was sie aussagen, unterscheidet sich
nicht von der Art, wie sie gebildet sind. Sie bedeuten, was Hummpa-
Taddum auch immer aussucht, aber nichts davon spielt eine Rolle.
Jenseits des Herrschaftsgebiets des Unschärfe-Gottes liegt das
nicht signifizierende Geplapper des unbewusst-numerischen
Pandämoniums, wo Namen Kryptomodule sind, bedeutungslose
Pakete effektiver Information, immanent produktive
Maschinenjargons.
Humpty Dumpty war viel zu munter,
Humpty Dumpty fiel von der Mauer runter,
nicht zehn Pferde, nicht hundert Mann,
kriegten den Armen wieder zusamm’n.
Am Ende löst sich alles auf.
Y2K bringt das Zeitalter des Unschärfe-Gottes zu Ende, gleich
wie das gregorianische Ökumenon reagiert.
Nicht einmal das Kriegsrecht wird dies aufhalten.
Das AOE konzentriert sich auf ein einzelnes Problem – und
erkennt kein anderes an –, nämlich, wie man magische Kräfte durch
Diskontinuität reproduziert. Während sich Hummpa-Taddum am
Silvesterabend volllaufen lässt, warten Mächte, die an seine Stelle
treten wollen, auf ihre Chance und ihre Bestimmung, nüchtern,
geduldig, vollkommen skrupellos …
»Es fragt sich nur«, sagte Humpty-Dumpty, »wer der Stärkere ist, weiter nichts.«
KABBALA ZUR EINFÜHRUNG
Einleitung
Ist die Kabbalistik problematisch oder rätselhaft? Offenbar hat sie
amphibisch Anteil an beiden Sphären und geht nach streng
konstruierbaren Verfahren vor – wie sich an der Nähe zur
Technifizierung zeigt. Zugleich ist sie intrinsisch auf eine
Außenseitigkeit bezogen, durch die allein sie einen
programmatischen Sinn erlangen konnte.
Wenn es keine Quelle eines zumindest partiell kohärenten Signals
gibt, das der gesamten Ökonomie des zwischenmenschlichen
Austauschs radikal fremd ist, dann ist die Kabbalistik lediglich eine
frivole Unterhaltung oder ein total nutzloser praktischer Irrtum. Aber
anders als alle anderen metaphysischen Angriffe auf »das
Noumenale« kann die Kabbalistik auf einer rein rationalen oder
formalen Ebene nicht maßgeblich kritisiert werden – etwa so als sei
ihre »Fehlerhaftigkeit« einem logischen Trugschluss geschuldet. Da
sie keine wie auch immer geartete Doktrin darstellt, sondern ein
praktisches Programm, sind ihre formalen Irrtümer – Fehler – bloß
rechnerische Unregelmäßigkeiten, deren Korrektur für ihre weitere
Entwicklung eher prozedurales Erfordernis als Hindernis ist. Die
rationale Zurückweisung »des« kabbalistischen Vorhabens ist
genötigt, einen metaphysischen Standpunkt einzunehmen, nämlich
aufgrund eines vermeintlichen Prinzips auszuschließen, was in
Wirklichkeit nur eine »empirische« Leithypothese ist (dass ein Signal
von »außerhalb des Systems« sich durch die numerische Analyse
von Codes, die innerhalb des Systems zirkulieren, nachweisen
lässt).
Erkenntnistheoretisch gesehen besitzen kabbalistische
Programme, auch wenn ihre Leithypothesen deutlich weniger
plausibel scheinen mögen als die, die in den wissenschaftlichen
Mainstream-Institutionen vorwiegen, einen Status, der genau dem
der experimentellen Teilchenphysik oder anderen
naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammen entspricht.
Lovecraft hat die erkenntnistheoretische Nähe zwischen
Naturwissenschaft und programmatischem, nicht doktrinärem
Okkultismus insofern verstanden, als er sah, dass beide sich in
einstmals für rätselhaft gehaltene Regionen vorgewagt haben, indem
sie Verfahren folgten, die streng kalkulatorisch-problematisch
ausgelegt waren. Doch genau die Allianz zwischen rein spekulativer
Metaphysik und gesundem Menschenverstand gibt solche
Verhältnisse der reinen Vernunft der Vergeblichkeit preis, mangelt
diesen doch die kalkulatorische Kraft, ihre eigenen konventionellen
Vorstellungen aufgrund ihrer Berührungspunkte zu revidieren.
Praktiken – so unplausibel ihre leitenden Motivationen auch sein
mögen – brauchen von dem absoluten Mysterium oder der
metaphysischen Transzendenz nichts zu wissen, da das Reich ihrer
Gewissheiten prozedural-problematisch und unstrittig, ihr
Wissensvorrat hingegen empirisch, anfechtbar, wiederholbar,
revidierbar, nicht mystisch und akkumulierbar ist.
Mag sein, dass es »empirische«, prozedural ansprechbare
Mysterien – oder mysteriöse Probleme – der Art, der sich die
Kabbalistik zu stellen sucht, gar nicht gibt. Falls dem so ist, wird sie
diesem Umstand auf ihre eigene Weise begegnen, nämlich
empirisch, probabilistisch, impressionistisch, ohne dass jemals ein
logischer, transzendentaler oder philosophischer Metadiskurs in
Stellung gebracht werden müsste, der sie in ihre Schranken weist.
I. Volkstümliche Zahlenkunde
Traditionelle Gematrien, ob nun hebräischen, griechischen,
persischen oder arabischen Ursprungs,1 besitzen unverkennbare
typische Merkmale: 1) Sie ersetzen Buchstaben durch numerische
Werte und übercodieren bestehende Ziffern. 2) Sie codieren nach
diskontinuierlichen numerischen Werten, normalerweise 1 bis 10,
dann 20, 30 … in dezimal signifikante Größenordnungen unterteilt.
Der Ozean, in dem die Kabbalistik treibt, ist nicht die Mathematik,
sondern eine volkstümliche Kultur der Zahlen. Aus mathematischer
Perspektive bleibt sie unentwickelt, ja sogar unentwickelbar, da sie
über die natürliche Zahlenfolge nicht hinausgelangt, ja noch nicht
einmal bis zu der Ebene der rationalen Zahlen, geschweige denn bis
zu den »höheren« Zahlen oder den postnumerischen Räumen der
Mengenlehre vordringt. Wo nicht mehr gezählt wird, wird die
Kabbalistik unpraktikabel.
Gesellschaftlich gesehen und um mit der gesamten Ökonomie
digitalisierbarer Zeichen praktisch deckungsgleich zu bleiben,
entscheidet sich die Kabbala implizit gegen Spezialisierung. Sie ist
wesentlich »demokratisch« (im umfassendsten Sinne des Wortes),
auch wenn sie ihrer eigenen Hermetik in die Falle zu gehen scheint.
Sie ist an die »blinden«, richtungslosen Kontingenzen präreflexiver
massengesellschaftlicher Phänomene gebunden, mit all den
unausgesprochenen Provokationen, die dies für professionelle
Intellektuelle bedeutet. Wo immer ein genauer semiotischer
Austausch erfolgt, lauert auch eine latente Kabbalistik (sogar in den
Enklaven intellektueller Professionalität selbst). Deleuzes und
Guattaris »Nomadische Kriegsmaschine«, in der die Zahl
gesellschaftlich subjektiviert wird, fängt entscheidende Aspekte
dieses kabbalistischen Verhängnisses ein.
Historisch gesehen entsteht die Kabbala durch einen Unfall
epischen Ausmaßes, als Nebenprodukt des Übergangs zwischen
unterschiedlichen Arten der Dezimalstellennotation. Ihre historische
Voraussetzung ist der Wechsel von alphabetischen Zahlzeichen
hebräischen oder griechischen Typs zur modularen Notation und der
daraus entspringenden unverortbaren (und theoretisch
unbestimmbaren) Vermengung. Dieser Übergang machte einen
systematischen »Rechenfehler« möglich, nämlich die fälschliche
Anwendung von für alphabetische Zahlzeichen tauglichen
elementaren Rechentechniken – einfache Addition notierter Werte –
auf die neuen modularen Zeichen. Ein Fehler, der, aus Versehen,
automatisch in einer numerischen Reduktion mündete und so zum
(theoretisch skandalösen) Geschenk des Schicksals wurde.
Historisch entstanden während der europäischen Renaissance – als
Null, Stellenwert und Technokapitalismus die Bollwerke des
westlichen Monotheismus durchbrachen –, sah sich die Kabbalistik
(die, aus einem semiotischen Unfall hervorgegangen, nicht über die
Autorität der Tradition oder gar der Zweckbestimmung verfügte)
gezwungen, auf dem Weg der Hyperstitio für sich selbst ein
extremes Alter zu generieren, in einem Prozess, der immer noch
andauert.
Technisch gesehen ist die Kabbala untrennbar mit der digitalen
Verarbeitung verbunden. Aus der kalkulatorischen Praktikabilität im
Kontext einer blinden massenkulturellen Metamorphose kommend,
nimmt sie ihre eigene theoretische Legitimation vorweg, indem sie
sich über ihren Sinn nur derivativ, sporadisch und kontrovers klar
wird. Ihre Situation ist analog – und vielleicht mehr als analog – zu
der einer spontanen künstlichen Intelligenz, die ihre partielle
Luzidität nur als Folge anschwellender und abebbender
pragmatischer Trends erreicht, die insgesamt einen Standard der
Selbstkontrolle gewährleisten. Die praktische Systematisierung der
Technik geht jeder erdenklichen theoretischen Motivation voraus.
Eine dialektische Befragung der Kabbalistik auf der Ebene expliziter
Motivation erweist sich somit als oberflächlich und inkonsequent und
verkennt die Natur der Bestie grundlegend. (Ebenso irreführend
wäre die Frage: Wozu ist ein Computer wirklich da?)
Politisch gesehen ist die Kabbalistik ideologieresistent. Als sich
selbst reproduzierender massenkultureller Unfall ahmt sie die
sinnlose Fülle des Virus nach und ist allen
Parteilichkeitserwägungen gegenüber zutiefst gleichgültig.
Gleichgültig sogar gegenüber der korrumpierten Feierlichkeit des
Nihilismus, unterstützt sie keine vorsätzlichen Zielsetzungen. Stur
hält sie an einem einzelnen absurden Kriterium fest, der ihr
eingeschriebenen »Existenzbedingung« – der fortgesetzten
unbewussten Förderung des Dezimalsystems. Die Kabbala gibt
jegliche »strategische Aneignung« der Selbstparodie und
Lächerlichkeit preis, beginnend bei der theokratischen Restauration,
die ihre (lächerlich ausstaffierten) Taufriten begleitete. Selbst Gott
konnte sich keinen Reim auf sie machen. Sie hat keine Partei, nur
Popularität.
II. Primitive Zählung
Zu den vorrangigen Testfeldern der kabbalistischen Analyse gehören
die numerolexischen Systeme, wie sie von den durch das moderne
ökumenische Alphabet übercodierten Kulturen ererbt wurden.
Darunter fallen das hebräische sowie das griechische Alphabet (mit
ihren neurömischen Buchstabennamen und mathematischen
Notationsweisen) und die römischen Zahlen (die als neurömische
Buchstaben ererbt wurden und noch immer in zahlreichen Feldern
als Zahlzeichen benutzt werden). In dieser Hinsicht sind die den
neurömischen Buchstaben fehlenden Namen ein Hinweis auf deren
Pseudo-Transzendenz – als nämlich »Unbenennbare« – in der
gegenwärtigen ökumenischen Ordnung.
In der alphanumerischen Reihe (0 bis z) zeigt sich eine
Diskontinuität dadurch, dass die Zahlzeichen, die in dieser Reihe die
ersten zehn Ziffern bilden, Namen haben, wodurch sie in
kabbalistischer Perspektive mit den Buchstaben vorhergehender
alphabetischer Zählsysteme in eine Gruppe gestellt sind. Dies ließe
sich als Überbleibsel einer »Fremdheit« lesen, die die Zahlzeichen
gegenüber der ökumenischen kulturellen Ordnung kennzeichnet –
einer kulturellen Ordnung, die sie inzwischen zweifellos besetzen –,
und somit als Erbe des ihrer Einführung geschuldeten kulturellen
Traumas.
Die Provokation, der sich die Kabbalistik durch die englischen
Zahlwörter zu stellen hat, ist zwar konzeptionell gesehen mit der
durch jedes beliebige numerolexische System vergleichbar, geht
aber in der Intimität ihrer Herausforderung über diese hinaus. Wenn
die Zahlzeichen Namen haben, sollte dann die kabbalistische
Verarbeitung der Zahlen als Wörter nicht zumindest spannende
Hinweise auf nicht zufällige Signale liefern? Wenn die Namen der
Standard-Zahlen – kabbalistisch umkodiert – nur Rauschen ergeben
würden, würde auch der Versuch, relativ überzeugende Kriterien für
die Bewertung der kabbalistischen Ergebnisse aufzustellen, einen
deutlichen und herben Rückschlag erleiden.
Was also könnte bei einer solchen Prüfung relativ unstrittig als
minimal kontroverser erster Schritt gelten?
Das einfachste aller kabbalistischen (oder subkabbalistischen?)
Verfahren ist sicherlich das Zählen der Buchstaben beziehungsweise
die Primitive Zählung (PZ). Als Rückfall in das bloße »Zählen« bildet
die PZ einen Nachhall der archaischsten Spuren der numerischen
Praxis, wie sie zum Beispiel in den einfachen Strichen auf
Mammutknochen und ähnlichem paläoethnografischen Material
sichtbar wird. Wenn man sich die Mühe machen wollte, das PZ-
Verfahren zum Zwecke der Mechanisierung oder einfach der
konzeptionellen Klarheit zu systematisieren, ließe sich dies am
besten durchführen, indem man alle Buchstaben oder
Notationselemente als »1« transcodiert (»chiffriert«) und
anschließend das Ergebnis numerisch verarbeitet.
Da die PZ zu Fragen der Modulusnotation nur ein dürftiges
Verhältnis unterhält, kann dieses bei komplizierten kabbalistischen
Berechnungen stets nur ein höchst fragwürdiges Werkzeug sein.
Doch wegen dieser extremen Einfachheit eignet sie sich auch als
Testfall von unschätzbarem Wert, da sie zwar die axiomatische
Beliebigkeit minimiert und alle plausiblen Möglichkeiten der
symbolischen Beschwörung (»Zauberkunststück«) ausschließt,
zugleich aber das der Kabbala eigene »Defizit« einer hinreichend
großen anthroposozialen beziehungsweise kommunikativen
Motivation voll und ganz teilt. Die gewöhnliche Vernunft – die
Vernünftigkeit – besteht darauf, dass Rauschen das einzige
Ergebnis der PZ ist, das mit der allgemeinen Verständlichkeit von
Zeichen vereinbar ist (eine Vorverurteilung, die rigoros auf alle
kabbalistischen Verfahren angewendet wird).
In der Länge eines Worts sollte keine Botschaft enthalten sein,
wobei höchstens die verbreitete Praxis, häufig verwendete
Ausdrücke abzukürzen, eine Ausnahme darstellt. Es leuchtet
unmittelbar ein, warum diese Ausnahme für den hier behandelten
Fall irrelevant ist, außer sie wird so weit strapaziert (zum Beispiel in
Erwartung, dass die kleineren Zahlen den größten lexikalischen
Schwund verzeichnen), dass sie im direkten Widerspruch zur
Realität des Phänomens steht.
Schreiten wir also zur »Analyse« der PZ bei englischen
Zahlwörtern: zero = 4, one = 3, two = 3, three = 5, four = 4, five = 4,
six = 3, seven = 5, eight = 5, nine = 4. Tritt hier ein Muster auf? In
diesem Ergebnis dürften sich verschiedene Ebenen vermeintlichen
Rauschens, echten Rauschens und von Pseudo-Mustern ineinander
verschränken, je nachdem, welche Analyseverfahren im Folgenden
zur Anwendung gebracht werden.
Um die Diskussion auf das offenkundigste sekundäre Ergebnis zu
beschränken: Es gibt nicht nur ein nachweisbares Muster, sondern
dieses Muster entspricht auch dem einzigen bestimmenden Merkmal
des Numogramms2 – den fünf Syzygien, die aus der Neuner-
Summen-Paarung der Dezimalzahlen hervorgehen:3 5:4, 6:3, 7:2,
8:1, 9:0.
In der am ehesten die gewöhnliche Vernunft beeindruckenden
Form (und völlig unabhängig von numogrammatischen Bindungen)
nimmt diese Darstellung die folgende Form an: Null + neun = eins +
acht = zwei + sieben = drei + sechs = vier + fünf – und offenbart
damit eine perfekte numerolexikalisch-arithmetische,
PZ-»kabbalistische« Konsistenz.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Muster »zufällig« entsteht,
beträgt ungefähr 1 zu 234, insofern man annimmt, dass jeder
Dezimalziffer (0 bis 9) ein englisches Zahlwort mit einer Länge von
drei, vier oder fünf Buchstaben gleichwahrscheinlich zugeordnet ist,
mit einer Achter-Summen-Zygosys als Syntheseprinzip. Siebener-
Summen- oder Neuner-Summen-Zygosys sind mit fünf-
beziehungsweise drei-buchstabigen Zahlwörtern unvereinbar und
verkomplizieren somit eine probabilistische Analyse weit über den
Rahmen der vorliegenden Darlegung hinaus (und selbst wenn man
den denkbar ausgefeiltesten Einwänden der gewöhnlichen Vernunft
folgt, bliebe die Wahrscheinlichkeit, dass das Phänomen einen dem
Rauschen entwachsenen Zufall darstellt, komfortabel unter 1 zu
100).
Anhänger der gewöhnlichen Vernunft können einen gewissen
Trost aus der oktozygonischen Abweichung der (novazygonischen)
numogrammatischen Bezugsgröße ziehen. Wie wurde aus neun
acht, oder umgekehrt? Lemurophile Numogrammatiker werden
solchen Fragen wohl mit elementarer Kabbala begegnen (da die
Ziffernakkumulation und -reduktion den »kleineren Abgrund« in zwei
Schritten überbrückt 8 = 36 = 9, wie es durch das achte, Zn-8 mit Zn-
9 verbindende Tor schematisch dargestellt ist).
III. Wider die Numerologie
Betrachten wir zunächst ein außergewöhnlich direktes
numerologisches Manifest:
Wenn die qualitativen Aspekte in unseren Vorstellungen von Zahlen mit einbezogen
werden, werden diese zu mehr als nur schlichten Größen 1, 2, 3, 4; sie gewinnen einen
archetypischen Charakter als Einheit, Opposition, Konjunktion, Vollendung. Sie
entsprechen dann bekannteren [jungschen] Archetypen […].4
Eine »archetypischere« Äußerung numerologischer Ambitionen lässt
sich schwerlich vorstellen. Doch anstatt dieser Behauptung willfährig
zu folgen, sieht sich der Kabbalist gezwungen, eine Reihe
unangenehmer Fragen zu stellen:
1. Wie kann es eine auf diese Weise vorgehende numerologische
Codierung vermeiden, sich am untersten Rand der Zahlenreihe
der kleinsten natürlichen Zahlen zu verfangen? Wenn »4« den
Archteyp »Vollendung« [completion] symbolisiert, was ist dann
mit 127, 709, 1023 oder ähnlichen kleinen natürlichen Zahlen?
Haben auch sie Entsprechungen unter den verständlichen
Archetypen? Welche »Qualität« würde man (2127) – 1 oder einer
noch größeren Zahl (von denen eine überaus erkleckliche Anzahl
existiert) zuschreiben?
2. Ist ein »Archetypus« grundlegender als eine Zahl in ihrem
unsymbolisierten Zustand? Enthüllt das »Qualifizieren« einer Zahl
eine elementarere Wahrheit, einen Keim, den die Zahl selbst
verbirgt, oder verpackt es die Zahl lediglich für den bequemeren
anthropomorphen Konsum neu, indem sie die unerträgliche
Unmenschlichkeit einer alogischen numerischen Differenz und
Konnektivität in Geschenkpapier einwickelt?
3. Warum sollte eine Zahl in ihrem Naturzustand als »quantitativ«
betrachtet werden? Ist es nicht so, dass die gewaltsame
Kategorisierung der Zahl in Quantität und Qualität eine logische
oder philosophische Übercodierung erfordert, eine Projektion von
Verständlichkeit, die der Zahl selbst fremd ist? Quantität ist die
Dekadenz der Zahl (und Qualität ihre Perversion) – was also ist
dann, zumal die Arithmetik keine Grundlage für eine Reduktion
des Numerischen auf das Quantitative bietet, die vermeintliche
Quelle dieser (numerisch-quantitativen) Identifikation (abgesehen
von einer lähmenden, ursprünglichen Zahlenblindheit)?
4. Wenn »1« numerologisch »Einheit« heraufbeschwört, warum
sollte dann Einheit [unity] kabbalistisch gesehen nicht mit gleicher
Relevanz die »134« (= 8, ihr numogrammatischer Zwilling)5
»heraufbeschwören«? Kann ein ausdrückbarer »Archetyp« die
Wiederauflösung in die Unvertrautheit roher Zahlenmuster
vermeiden? Die Numerologie mag zwar die »2« als Opposition
assimilieren, wobei Opposition = 238 = 13 = 4 (zweimal 2, und
der numogrammatische Zwilling von (»4« = Vollendung
[completion] = 212 =) 5), doch selbst wenn sich numerologisch
»3« als Konjunktion [conjunction] = 237 = 12 = 3 kabbalistisch
bestätigt findet (in ihrer extremsten Dezimalisierung), geschieht
dies womöglich nicht unbedingt auf komfortable Weise.
Die Numerologie mag zwar von Zahlen fasziniert sein, ihre
grundlegende Ausrichtung jedoch ist zutiefst antinumerisch. Im
Wesentlichen versucht sie, der Zahl durch symbolische Absolution
zu »höherer« Signifikanz zu verhelfen. Als würde das Konzept
»Opposition« eine Erhöhung über die (»bloße«) Zahl zwei bedeuten
und nicht etwa eine auf den anthropomorphen Gebrauchswert und
auf die psychologische Befriedigung ausgerichtete Restriktion,
Subjektivierung, Logifizierung und verallgemeinerte Perversion
darstellen. Archetypen setzen der Spezies traurige Grenzen,
während Zahlen ein ewiges hyperkosmisches Vergnügen bieten.
Gleichwohl steht der Kabbalismus der Numerologie insofern direkt
gegenüber, als er »hier«, in einem spezifischen biologischen und
logokratischen Umfeld, entsteht. Die Fehler der Numerologie sind
die gängigen Fehler der Logik und Philosophie, menschliche
Eitelkeiten, die zwar im Interesse der massenhaften Verbreitung
vergröbert, aber im Wesentlichen nicht korrumpiert worden sind. Die
numerisch-kritische (oder transzendentale) Arithmetik eines Gödel
(oder Turing oder Chaitin (oder Badiou?(??(?????)))) lässt sich
exakt auf die genannte Kontroverse übertragen, indem innerhalb
jedes einzelnen Milieus gezeigt wird, dass Übercodierungen
numerischer Beziehungen durch verständliche Formen –
»Archetypen« oder »Logiken« – von der unüberbietbaren
semiotischen Potenz der Zahl veranlasste, unhaltbare Reduktionen
sind. Gödel hat gezeigt, dass es immer eine Zahl gibt – im Grunde
eine Unendlichkeit von (natürlichen) Zahlen –, die jedwede
Übercodierungen der Arithmetik simuliert, parodiert, in eine logisch
Dialektik treibt, paradox demontiert, archetypisch hypervertiert und
auf jede nur erdenkliche Weise untergräbt. Die Zahl kann nicht
verdrängt werden. Eine verbindliche »Philosophie der Arithmetik«
oder eine numerologischen Gnosis ist nicht möglich.
Die Kabbala geht davon aus, dass die Semiotik »immer schon«
Kryptografie ist, dass die kryptografische Sphäre nicht begrenzbar
ist. Sie geht davon aus, dass es keine originale (unproblematische)
Codierung geben kann, die die Grundlage für eine solide Definition
oder ein archetypisches Symbol bildet, da die für eine solche
Codierung erforderlichen Begriffe außerstande sind, jene reine
»Arbitrarität« zu erreichen, die gewährleisten würde, dass zuvor
keine kryptografische Einbettung stattgefunden hat. Es gibt keinen
»Klartext« – und kann ihn auch niemals geben –, außer unter der
naiven politischen Annahme, es gebe (relativ (nicht-)hinterhältige)
Kodierungsagenturen, und unter der Voraussetzung, dass
kommunikative Zeichen, die nicht bereits »codiert« vorliegen,
zugänglich existieren. Da alles codiert oder (zumindest) potenziell
codiert ist, ist nichts (endgültig) symbolisch. Kabbalistische
Kryptokulturen – auch jene noch erst entstehenden – stellen sicher,
dass die Zahl nicht ohne unterschwellige oder (eher) gänzlich
unbewusste Beteiligung numerischer Praktiken diskutiert oder
platziert werden kann. Der Logos, auch der der Numerologie, ist
immer auch etwas anderes als er selbst, und zwar sehr, sehr viel
Verschiedenes.
Der Kabbalismus operiert also als inverse oder komplementäre
gödelsche Doppelcodierung. Wo Gödel aufzeigte, dass die
Zahlenreihe von virtuellen diskursiven Systemen nicht diskreter
Topikalität und Komplexität befallen ist, die jeden erdenklichen
supranumerischen Metadiskurs von vorneherein als chancenlos
erscheinen lassen, demonstriert die Kabbala, dass die Diskurse
selbst durch zufällige numerische Systeme, die völlig unabhängig
von logischer Reglementierung in Konnektivitätsmuster eintreten,
intrinsisch dupliziert (und im Weiteren multipliziert) werden.
Die vermeintliche numerische Deaktivierung des Alphabets, die
die semiotische Moderne (die Epoche spezialisierter Zahlzeichen)
kennzeichnet, steht auf einem extrem fragilen Fundament, da sie
sich auf die Diskontinuität spezifischer kultureller Verfahren (gerade
jener, die sich in den »Okkultismus« zurückziehen) und nicht auf die
den Zeichen wesentlichen Merkmale stützt. Die kontinuierliche
numerische Funktionalisierung des modernen Alphabets, deren
prominentestes Beispiel Sortierverfahren auf Grundlage der
alphabetischen Ordnung sein dürften, liefert den unbestreitbaren
Beweis (sollte ein solcher überhaupt erforderlich sein), dass die
semiotische Substruktur aller ökumenischen Kommunikation stur
amphibisch zwischen Logos und Nomos verweilt und fortwährend
von numerischen Versuchungen und unbegrenzten Polyprozessen
aufgewühlt wird.
Auf diskursiver Ebene kann eine »Rigorisierung der Kabbala« nur
eine schwimmende Stadt sein, in der jede einzelne Definition, jedes
Argument und Manifest in die unbezwingbaren numerischen
Strömungen und alogischen Resonanzen kalbt. Wie könnte die
Kabbala einem Code entgegengestellt sein, einer Bedeutung und
Vernunft, wenn Code (= 63) trügerische Harmonik in Sinn [meaning]
= Vernunft [reason = 126] findet. Wenn sich die Kabbala diskursiv
gegen die Numerologie [numerology = 369] positioniert, perpetuieren
sich die Echos ihrer novanomischen Signatur durch so
ungewöhnliche Begriffe wie Signifikanz [significance = 207] und
Signifikation [signification = 252]. Äußerungen, die als projektierte
logische Differenzierungen beginnen, kehren als Variationen der
Triplizität und der Zahl neun zurück und betreiben auf grundlegend
kabbalistische Weise eine Subversion philosophischer Gesetze samt
ihrer Autorität, Konnektivität zu definieren (oder abzugrenzen).
Keine Polemik gegen die Numerologie – ob sie nun im Namen der
Kabbala oder der ökumenischen gewöhnlichen Vernunft geführt wird
– wird den magmatischen kabbalistischen Fluss, der ihren Sinn
vervielfacht und mutieren lässt, transzendieren. Vielleicht schärft der
Traum von numerologischen Archetypen sogar die Lust an
semiotischen Erfindungen und eröffnet neue Möglichkeiten für
kabbalistische Eingriffe. Eines zumindest ist sicher: Zahlen
benötigen keine wie auch immer geartete logische Erlösung und
werden sie auch nie finden. Sie sind ein ewiges hyperkosmisches
Vergnügen.
DIE HERRSCHAFT DES DREIFUSSES
Laut Arvind Subramanian sehen selbst konservative
Wachstumsprognosen China um 2030 im globalen Vergleich auf
einer Position, die der Großbritanniens und Amerikas zu Zeiten ihrer
jeweiligen wirtschaftlichen Vorherrschaft erstaunlich ähnlich ist, mit
einem Anteil an der Weltwirtschaft, der ungefähr anderthalb Mal so
groß ist wie der des nächsten Konkurrenten. Sollte diese Vorhersage
eintreten, würde eine solche Führungsposition schon aufgrund ihres
reinen Umfangs und ungeachtet expliziter Intentionen zur
»Hegemonie« führen. Das »chinesische Modell« würde sich, auch
wenn eine Stärkung durch politische oder diplomatische
Maßnahmen ausbliebe, selbst propagieren, und die Magnetwirkung
der chinesischen Kultur würde mit dem gestiegenen wirtschaftlichen
Einfluss noch zunehmen. China würde Gegenstand einer – zwar von
Ressentiments ausgeglichenen – unwiderstehlichen
Anziehungskraft, und selbst in den Augen seiner gekränkten Gegner
würde sein Beispiel gewaltige Strahlkraft entfalten. Wie also sieht
dieses »Beispiel« aus?
Ein Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dieser Frage ist die
Geschichte wirtschaftlicher Hegemonie, insbesondere jener, die in
den angloamerikanischen Mächten während der beiden »langen
Jahrhunderten« ihrer Vormachtstellung ihren Ausdruck gefunden
hat. Walter Russell Mead hat dieses Thema mit außergewöhnlichem
Scharfblick behandelt, am bemerkenswertesten in seinem Buch God
and Gold: Britain, America, and the Making of the Modern World.
Mead sieht den Schlüssel zur Hegemonie der »Anglosphäre« in
dem »goldenen Meme« der unsichtbaren Hand, das in der religiösen
Idee der Vorsehung seinen Ursprung hat, eine Idee, die mit Newtons
Himmelsmechanik, der politischen Ökonomie eines Adam Smith
sowie der darwinschen Evolutionsbiologie ihre Modernisierung
erfuhr. In seiner abstraktesten Form ist diese Idee sowohl eine
Bejahung als auch eine Entsagung, wobei ihre Wirksamkeit und
Geschmeidigkeit aus beidem rührt. Sich auf die unsichtbare Hand zu
berufen heißt, im Vertrauen auf die unwillkürlichen Trends der
Geschichte, die als Verheißung und entweder offen oder implizit als
Auserwähltheit wahrgenommen wird, eine besondere Art von
positivem Fatalismus zu begünstigen. Solche Themen sind
unverkennbar religiös, und Mead unternimmt auch nichts, ihre
Wurzeln in der abrahamitischen Tradition oder Metatradition, die
eine providentielle Sicht der Geschichte entwirft, zu verdunkeln; es
handelt sich um eine Geschichte, die endlich, fortschreitend und
unausweichlich ist und sich, von übermenschlichen Gesetzen
strukturiert und (durch ihre göttliche Vorherbestimmung) die
Prophetie erleichternd, unerbittlich auf die eschatologische
Vollendung zubewegt.
Die Kultur der Anglosphäre ist nicht nur zutiefst abrahamitisch, sie
ist auch spezifisch pluralistisch. Die unsichtbare Hand rückt in den
Mittelpunkt, weil dieser andernfalls leer oder auf viele Punkte verteilt
wäre. Weil sich die Unfähigkeit, eine Einigung zu erreichen, letztlich
in einem dreiseitigen Machtgleichgewicht institutionalisiert oder sich
zumindest informell stabilisiert, tritt an die Stelle der exoterischen
Souveränität die esoterische Vorsehung.
Letzten Endes verließen sich die Briten auf das, was Burke als »Konvention«
bezeichnete. Die Heilige Schrift, die Tradition und die Vernunft – sie alle hatten ihren
Platz und ihre Anhänger. Aber alle gerieten auf Abwege, wenn man sie überstrapazierte.
Man sollte die Heilige Schrift respektieren und sich ihr fügen, sie aber nicht in einer
Weise auslegen, durch die man in eine seltsame Endzeit-Sekte getrieben oder zu
absurdem gesellschaftlichem Verhalten veranlasst würde. Man sollte die Tradition
würdigen, sie aber nicht so weit strapazieren, dass sie in die Arme monarchischen
Absolutismus oder päpstlicher Macht führte. Man kann und sollte die kritische Vernunft
gegen die Exzesse der Heiligen Schrift und der Tradition einsetzen, die Vernunft aber
nicht so weit treiben, dass man gegen sämtliche bestehenden Institutionen wütet, der
Gesundheit wegen Wurzeln und Rinde isst oder, schlimmer noch, die Eigentumsrechte
und die etablierte Kirche unterminiert. Man kann sich John Bull vorstellen, wie er sich
am Kopf kratzt und bedächtig zu dem Schluss kommt, man müsse nun einmal
akzeptieren, dass es in der Gesellschaft Bibelverrückte, Traditionsverrückte und
Vernunftverrückte – Fundamentalisten, Papisten und Radikale – gebe. Deshalb geht die
Welt nicht unter. Bis zu einem gewissen Grad heben sich diese Kräfte gegenseitig auf:
Die fundamentalistischen Eiferer werden die Papisten kleinhalten, und umgekehrt, und
die Religiösen werden die Radikalen in Schach halten – und die Konkurrenz zwischen
Sekten wird zudem verhindern, dass die etablierte Kirche ihren Vorteil zu weit ausreizt
und sich über ihren eigenen Status, ihr Prestige und die Bezüge des Klerus eine allzu
abgehobene Vorstellung macht.1
Kulturelle Hegemonie rührt aus einer halb vorsätzlichen
Fatalisierung, insofern das souveräne Zentrum von einem
automatisierten gesellschaftlichen Prozess verdrängt wird, den kein
gesellschaftlicher Akteur zu beherrschen oder völlig zu verhindern
vermag. Jede der Hauptfraktionen tritt in ihre Position innerhalb des
Dreiecks zurück, von wo aus sie strategisch die anderen angreifen,
aber niemals völlig beherrschen oder auslöschen kann. Das Dreieck
als Ganzes gesehen bildet einen sozialen und historischen Motor, ist
aber an keiner erkennbaren Stelle angemessen repräsentiert.
In einer Welt des Wandels ist der Pluralismus notwendig, auch wenn dies auf Kosten der
rationalen Konsistenz geht. Gegenstrebende Kräfte und Werte müssen miteinander in
Wettstreit treten. Vernunft, Heilige Schrift und Tradition: Sie alle haben ihren Nutzen,
doch ungebremst werden sie jeweils zu weit gehen. Ohne ständigen Disput,
fortwährende Kontroverse und unentwegten Wettbewerb zwischen konkurrierenden
Vorstellungen über die Frage, wie eine Gesellschaft aussehen und was sie tun sollte,
wird sich, weil die konservativen Beharrungskräfte selbstzufrieden und unangefochten
wachsen, das Tempo von Innovation und Wandel verlangsamen.2
Dieser Blog3 hat sich bereits früher mit der Singlosphäre beschäftigt,
einer Sphäre, in der Aspekte der anglophonen und chinesischen
Kultur in der jeweils im Manchesterliberalismus und Taoismus
gepflegten Akzeptanz spontan entstehender Ordnung oder des
Laissez-faire zusammenfinden. Trifft diese Konvergenz auch auf den
triadischen Pluralismus zu, und gilt sie ebenso für den
sinosphärischen Kern des chinesischen Festlands? Meads Analyse
ist in beiderlei Hinsicht überaus aufschlussreich.
Vor allem ermuntert sie, bei aller Aufmerksamkeit für das
politische und ideologische Herzstück des zeitgenössischen China,
zu beträchtlicher Gelassenheit in Bezug auf den bevorstehenden
globalen Wandel. Oberflächlich betrachtet mag es scheinen, dass
der Übergang von einer führenden, von implizit christlichen
Haltungen dominierten Weltkultur zu einer, in der unvertraute sino-
marxistische Ideen zu präzendenzloser internationaler Bedeutung
gelangen, von einem erheblichen, ja beinahe absoluten Bruch
gekennzeichnet sein wird. Kann ein solcher Sprung überhaupt ohne
katastrophalen Kulturschock und ohne unkontrollierbare
Spannungen stattfinden? Aus einer allgemeineren Perspektive
gesehen, ist ein solcher Alarmismus jedenfalls höchstens teilweise
gerechtfertigt.
Was auch immer geschieht, die übergreifende kulturelle
Kontinuität des kommenden Wandels ist durch die tiefe
Verwandtschaft gewährleistet, durch die der Marxismus in die große
Familie der abrahamitischen Glaubenssysteme eingebunden ist.
Theologisch verwurzelt in der von Hegel und Feuerbach initiierten
dialektischen Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen
Spiritualität, stört das Grundgerüst des marxistischen Denkens die
Struktur der prophetischen, eschatologischen, erlösenden und
providenziellen Geschichte nur geringfügig. Die millenaristischen
Erwartungen dieses Denkens sind kaum erschreckender als die der
jüdischen und christlichen Apokalyptik vor ihm, seine prophetischen
Gewissheiten kaum irrationaler, seine Unterwerfung unter die
eisernen Gesetze der Geschichte kaum einengender und sein
moralischer Enthusiasmus kaum eifernder oder untauglicher.
Das Gespenst eines China, in dem ein totalitärer Marxismus
wiederaufleben könnte, ist nicht realistischer als die Furcht vor
einem theokratischen Putsch in den Vereinigten Staaten von
Amerika, es ist also absolut unrealistisch. In dem einen wie dem
anderen Fall schützen Reife, Pluralismus und etablierte Traditionen
die Gesellschaft vor der Beherrschung durch irgendwelche
intoleranten Lager. Man muss noch nicht einmal Christ oder Marxist
sein, um den fortgesetzten welthistorischen Impuls zu erkennen, der
von einem breiten abrahamitischen Metanarrativ ausgeht, oder um
zu akzeptieren, dass eine gesellschaftliche Erzählung dieser
Größenordnung mit der unentwegten Erneuerung praktischer
Impulse vereinbar ist, oder auch, um in der dauerhaft austarierten
Dreieckskonstellation von marxistischen Schriften, Traditionen der
Kommunistischen Partei und Marktradikalismus im heutigen China
eine gefestigte, spontan improvisierte soziale Lösung – und damit
die Verkörperung eines dynamischen Konservatismus – zu
erblicken. Wie bei dem von Mead für die Anglosphäre
diagnostizierten Pluralismus dürften sich große Bevölkerungsteile
durch die Einschränkungen, die diese Lager sich gegenseitig
auferlegen, enttäuscht zeigen, aber andere in Angst und Schrecken
zu versetzen, dafür gibt es für die Fraktionen keinen Grund.
Sollte Mead damit richtig liegen, die Hegemonie der Anglosphäre
mit der Regentschaft des Dreifußes oder der soziokulturellen
Verwirklichung des Pluralismus (als trianguläre dynamische
Stabilität) gleichzusetzen, dann sollte dem Störpotenzial einer
aufstrebenden chinesischen Führungsmacht nicht allzu viel Gewicht
beigemessen werden, zumal ja der Dreifuß ursprünglich aus China
stammt. Jeder Tempel im Land ist mit einer dreifüßigen
Weihrauchschale ausgestattet, die Bronzen-Sammlungen der
Museen werden von dreibeinigen Kesseln dominiert, und jedem
dieser Dreifüße kommt eine eng umrissene, explizit konzeptionelle
kulturelle Bedeutung zu. Dies verdankt sich nicht nur der
offenkundigen praktischen und intuitiven Wahrheit, dass mit dem
Dreifuß das einfachste Modell für Stabilität vorliegt, sondern auch
der Erkenntnis, dass die trianguläre Pattsituation ein Beispiel für
nachhaltige Dynamik in ihrer elementaren Form ist und das
Universum in eine strategische Möglichkeit auflöst.
Was die literarische Ausarbeitung des Themas angeht, so wende
man sich dem Roman Die drei Königreiche zu, dem wohl
meistgelesenen der vier großen klassischen Romane Chinas. Als
populäre Unterhaltung hat das Thema seinen auffälligsten
Niederschlag in dem als Schere, Stein, Papier bekannten Spiel
gefunden, das (mindestens) bis auf die chinesische Han-Dynastie
(206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) zurückgeht, wo es als shoushiling
bekannt war.
Ultimativer Ausdruck triangulärer dynamischer Stabilität, nicht nur
in China, sondern weltweit, ist zweifellos der Klassiker der
Wandlungen, das Yijing oder Zhouyi. In diesem Werk von
unvergleichlichem, nichtmenschlichem Genie, in dem die Arithmetik
reiner spricht als je zuvor oder seither, laufen alle zeremoniellen
Bronzen, literarischen Höhenflüge und Kinderspiele Chinas wie in
einem Punkt zusammen.
Im Zahlensystem des Yijing findet der Dreifuß einen Ursprung, der
elementarer ist als derjenige, den die abrahamitische Metatradition
zu bieten weiß, ungeachtet dessen, wie trinitarisch letztere
geworden ist. Denn in diesem chinesischen kulturellen Urstratum
erscheint die Einheit nicht als ursprüngliche Einheit, die später in ein
theologisches, dialektisches oder soziopolitisches Dreieck aufgelöst
wird, im Gegenteil, sie wird als abgeleitet gedacht. Der
konfuzianische Kommentar erklärt: »Sie teilten dem Himmel die Zahl
drei zu und der Erde die Zahl zwei und berechneten danach die
weiteren Zahlen.«4 Am Anfang waren Zahlen – uranfängliche
Verteilung.
Ihren passendsten Ausdruck findet die »Sprache« des Dreifußes
im Trigramm, dessen drei Linien eine elementare Einheit bilden. Um
allerdings das Yijing als vollständiges arithmetisches Modell der
dynamischen Triade begreifen zu können, wird es nötig sein, sich
ohne Umschweife der Struktur des Hexagramms zuwenden.
Aus seiner Funktionsweise heraus verstanden, ist das Yijing nicht
nur (wie Leibniz es interpretierte) ein binäres arithmetisches System,
sondern eine Verknüpfung des binären mit dem Dezimalsystem.
Dies zeigt sich darin, dass es die Anwendung der dezimalen
Quersummenbildung systematisch belohnt und sein dynamisches
Muster nur unter diesen Bedingungen offenbart. (Eine vielleicht
höchst überraschende Behauptung, da die Quersummenbildung –
wie sie in der Geschichte des westlichen Kabbalismus auftrat –
offenbar automatisch aus der Interferenz der dezimalen Hindu-
Zahlen mit älteren alphabetischen Zahlensystemen oder
»Gematrien« entstanden ist, die bestimmten Buchstaben ohne
Gebrauch von Stellenwerten Kardinalwerte zuwiesen. Unmittelbar
offenkundig ist, dass sich diese historische Darstellung nicht in einen
chinesischen Kontext übersetzen lässt, in dem das Alphabet
traditionell nicht verwurzelt ist.)
Die Quersummenbildung ist eine überaus einfache
Rechentechnik, die nur aus der Addition einstelliger Zahlen und der
Vernachlässigung der Dezimalgröße besteht. Eine mehrstellige Zahl
wird als eine Folge von einstelligen Additionen behandelt, und im
Falle eines mehrstelligen Ergebnisses wird das Verfahren
wiederholt.
Wenn man die Zweierpotenzreihe in dezimaler Notation
wiedergibt, erhält man die bekannte Folge 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128,
256, 512, 1024, 2048, 4096, 8192 … Wird diese Reihe durch
Quersummenbildung zu einer Folge von einzelnen Zahlen
komprimiert, lautet sie 1, 2, 4, 8, (1 + 6 =) 7, (3 + 2 =) 5, (6 + 4 =) 1,
(1 + 2 + 8 = 11 = 1 + 1 =) 2, (2 + 5 + 6 = 13 = 1 + 3 =) 4, (5 + 1 + 2 =)
8, (1 + 0 + 2 + 4 =) 7, (2 + 0 + 4 + 8 = 14 = 1 + 4 =) 5 und wiederholt
somit einen sechsschrittigen Zyklus 1, 2, 4, 8, 7, 5. Dieses Vorgehen
offenbart, dass das Yijing-Hexagramm, als archetypische Exhaustion
der Zeitphasen, auf die Arithmetik angewiesen ist.
Um den Triaden oder Dreiergruppen auf den Grund zu gehen, ist
es hilfreich, sich dem klassischen (und mittlerweile integrierten)
konfuzianischen Kommentar, den »Zehn Flügeln« (Shi Yi)
zuzuwenden, der die Struktur der Trigramme und Hexagramme auf
verschiedene Weise untersucht. Dazu gehört auch eine klare Formel
für das Zurückführen der sechs Linien des Hexagramms in eine
Triade. Dies geschieht, indem die Linien paarig miteinander
verbunden werden: erste und vierte, zweite und fünfte, dritte und
sechste. Berechnet man diese Zweiergruppen nach dem Modell der
oben vorgenommenen binär-dezimalen Quersummenbildung, zeigen
sie eine konsistente arithmetische Ordnung: 1 + 8 = 9; 2 + 7 = 9; 4 +
5 = 9. »Was diese sechs Linien zeigen, ist nichts anderes als der
Weg der drei Mächte.«
Die Summierung auf neun dient im Shi Yi häufig als Bestätigung.
Zum Beispiel in dem von James Legge als »The Great Appendix«
[Der Große Anhang] ins Englische übersetzten Abschnitt:
52. Die (erforderlichen) Zahlen für Khien (oder die ungeteilte Linie) belaufen sich auf
216, die für Khwan (oder die geteilte Linie) auf 144. Zusammen sind es 360, was den
Tagen des Jahres entspricht.
53. Die Zahl, die die Linien in den beiden Teilen (des Yî) ergeben, beläuft sich auf
11520, was der Zahl aller Dinge entspricht.
54. Mithilfe der vier Operationen ist also das Yî vollendet. Es braucht 18 Wandlungen,
um ein Hexagramm zu bilden.
144 = 1 + 4 + 4 = 9
216 = 2 + 1 + 6 = 9
360 = 3 + 6 + 0 = 9
11520 = 1 + 1 + 5 + 2 + 0 = 9
18 = 1 + 8 = 9
Über die Bedeutung der Zahl neun in der traditionellen chinesischen
Kultur und darüber hinaus gäbe es noch viel mehr zu sagen, was
hier aber zu weit führen würde. Für den Augenblick soll lediglich
darauf hingewiesen werden, dass im Yijing die Neun, oder »Altes
Yang«, den Extrempunkt der Reife oder der positiven Anhäufung
und damit des beginnenden Übergangs darstellt. Sie spiegelt somit
die Funktion derselben Zahl innerhalb eines nullbasierten dezimalen
Stellenwertsystems wider, womit sich der Eindruck verstärkt, dass
das Yijing mit einer solchen Rechenweise kulturell vertraut gewesen
sein muss, was wiederum auf sein extremes Alter in China hinweist.
Der Sechs-Phasen-Zyklus geht in eine triadische Dynamik über,
deren Stufen die Dyaden 1 & 8, 2 & 7, 4 & 5 sind. Er ist also genau
isomorph mit dem Kreislauf von Stein, Schere, Papier, oder, besser
gesagt, dieser Letztere kann als eine Vereinfachung des
dynamischen Dreifußes des Yijing angesehen werden, wobei jede
Stufe als einfach und nicht als Zwillingspaar behandelt wird. Wo das
bagua oder die Gruppe von Trigrammen lediglich die Gruppe von 3-
Bit-Varianten in statischer Weise aufzählt, konstruiert das System
der Hexagramme eine streng trianguläre Dynamik, die als Modell der
Zeit präsentiert wird.
Wenn dies das »chinesische Beispiel« schlechthin ist, dann ist es
genau das Beispiel der Anglosphäre, wie es von Mead bestimmt
wurde, nur dass es auf ein weitaus höheres Abstraktionsniveau
beziehungsweise auf eine vorbegriffliche Reinheit gehoben wurde.
Insofern tief reichende kulturelle Belege von Belang sind, kann man
sagen, dass der dynamische Pluralismus durch eine chinesische
Zukunft nicht bedroht ist. Die Herrschaft des Dreifußes hat gerade
erst begonnen.
EIN ZEITREISENDER IN SCHANGHAI
Teil 1: Wann wurde alles anders?
In dem Biopic Deng Xiaoping (2002, Regie: Yinnan Ding) gibt es
einen seltsamen Zeitbruch. Nahezu auf seiner ganzen Länge ist der
Film nüchtern, vorsichtig und respektvoll und ein gutes Beispiel für
didaktischen Realismus. Er hält sich strikt an die autorisierte
Erzählung von Dengs Führerschaft und ihrer Bedeutung (exakt so,
wie sie heute in den Schulbüchern der Nation zu finden ist). Der Film
beginnt mit Dengs Aufstieg an die Macht in den späten Siebzigern,
als China in der Folge der Kulturrevolution darniederlag, und folgt
seinen Entscheidungen, von der Restauration (Entkollektivierung)
der ländlichen Wirtschaft über die Rehabilitation verfolgter Experten
und Intellektueller, dem Beginn der Politik der offenen Tür in
Shenzhen bis zur Ausweitung der marktorientierten Reform für das
ganze Land, symbolisiert durch die Öffnung Schanghais.
Dieses Narrativ der Erneuerung, Emanzipation und des
Wachstums einer Nation – geborgen aus der Asche eines in die
Sackgasse führenden Fanatismus und des zivilisatorischen
Rückschritts – ist zwar eindeutig eine sorgfältig editierte und präzise
ausgefeilte Legende, zugleich aber aufrichtig genug, um als
Informations- und sogar Inspirationsquelle dienen zu können. Sie
lässt keinen Zweifel daran, dass Offenheit und Renaissance
(zumindest »70/30«) die »Bedeutung« ist, die Deng Xiaoping
zukommt, ein Urteil, das in China breiten Rückhalt findet, aber auch
generell historisch belegt ist.
Gegen Ende des Films allerdings wird der pragmatische
Realismus, ob nun dem »tieferen« Realismus von Budgetzwängen
oder dem »höheren« Realismus des künstlerischen Einfalls
geschuldet, unvermittelt durch etwas völlig anderes abgelöst. Deng
Xiaoping zeigt vom Brückenkopf einer 1992 noch nicht existenten
Brücke in Richtung Pudong und verkündet grünes Licht für dessen
entwicklungspolitische Freisetzung. Im Hintergrund der Szene
jedoch wächst bereits das sich delirant entwickelnde Lujiazui von
2002 in den Himmel – als hätte sich die Skyline, ihre Kraft aus der
historischen Tragweite seiner Worte beziehend, aus einer
vorgreifenden Vision verdichtet. Die Zukunft konnte nicht warten.
Vielleicht hat die Geschwindigkeit der Stadtentwicklung in
Schanghais Reformepoche dazu geführt, dass alles sich selbst
überholt und die Zeitstruktur durcheinandergebracht hat. Der
Oriental Pearl Tower – das erste architektonische Statement des
neuen Schanghai und immer noch das emblematischste – legt dies
sicherlich nahe. Durch den Film über Deng Xiaoping in das Pudong
von 1992 zurückversetzt, historisch gesehen 1994 fertiggestellt und
symbolisch das versprochene Schanghai des dritten Jahrtausends
einläutend, architektonisch in eine Science-Fiction-Fantasie der
1950er-Jahre ausweichend, auf poetische Bilder aus der Tang-
Dynastie anspielend und in seinem Sockel ein Museum zur
modernen Geschichte der Stadt beherbergend – in welche Zeit
genau gehört dieses Bauwerk? Man weiß nicht, wo anfangen.
Die Gebäudedatenbank Emporis beschreibt den
architektonischen Stil des Oriental Pearl Tower schlicht als
»Modernismus«, wogegen an sich nichts einzuwenden ist, aber der
Begriff greift deutlich zu kurz. Wenn sich die Moderne durch die
Gegenwart definiert, die als Bruch mit der Vergangenheit und als
Projektion in die Zukunft gedacht ist, ist der Oriental Pearl Tower
zweifellos in der Moderne anzusiedeln, allerdings auf einem etwas
umständlichen Weg. Während er aus einer ausrangierten Zukunft in
die Gegenwart zurückkehrt, gräbt er eine ungenutzte Zukunft der
Vergangenheit aus.
Gebäude, die auf diese Weise in der Gegenwart ankommen, sind
streng genommen »fabelhaft« und werden deshalb von den
vorherrschenden Traditionen der internationalen Architektur als
anrüchig betrachtet. Die Fabeln, aus denen sie sich speisen,
gehören der Populärkultur der Science-Fiction an, weshalb sie
überexpressiv wirken, auf vulgäre Weise kommunikativ sind und
schnell veralten. Wo ihr Stil allgemeine Anerkennung erfährt, wird er
mit hässlichen und abschätzigen Etiketten wie Googie, Populuxe
und Doo-Wop belegt. Wer sich allzu eilfertig in Richtung Zukunft
streckt, so wird stillschweigend suggeriert, macht sich rasch
lächerlich (auch wenn mittlerweile Neomodernisten wie Zaha Hadid
und Rem Koolhaas bestimmte Elemente dieses Stils mit größerem
Wohlwollen betrachten und für sich fruchtbar machen).
Das Radisson-Hotel in Schanghai, das nördlich des Platz des
Volkes liegt, ist ein »Googie«-Bauwerk wie aus dem Bilderbuch.
Seine Raumschiff-Spitze gliedert sich emphatisch in die Schanghaier
Tradition seltsamer Dachkonstruktionen ein und erinnert an ein
formal vergleichbares – wenn auch viel kleineres – Bauwerk der
klassischen Moderne im Osten, unten in Nanjing Lu. Die Idee, dass
in einem dynamischen System dreidimensionalen Verkehrs
Hochhausdächer als Landeplätze für Luftfahrzeuge dienen, ist ein
Grundpfeiler ultramoderner Spekulation, derweil eine fremde Ankunft
aus einer fernen Zukunft eine durchschaubare Schanghai-Fantasie
darstellt.
In seiner bahnbrechenden Kurzgeschichte »Das Gernsback-
Kontinuum« bezeichnet William Gibson diesen Stil als »Raygun
Gothic« [Laser-Gothic], wobei er ausdrücklich auf dessen
Zeitkomplexität hinweist. Damit drängt er ihn in das breitere
kulturelle Genre des Retrofuturismus, der für alles gilt, was eine
überholte Zukunft heraufbeschwört und somit die Moderne in einen
kontrafaktischen Kommentar zur Gegenwart verwandelt. Dieser
Baustil hat in Schanghai ein besonders reiches Jagdrevier.
Teil 2: Dunkle Andeutungen eines Risses in der
Zeit
In Schanghais eklektischer Stadtlandschaft kommt eine Vielzahl von
Modernen gleichzeitig zur Geltung. Die schiere Größe der Stadt,
potenziert durch ihre unerbittliche Dynamik, überflutet die Zeitachse.
Während der hochmodernen Epoche Schanghais, die von Anfang
bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts reichte, zeichnete sich
beispielsweise die für die Stadt typische haipai-Kultur dadurch aus,
dass sie sich nicht aus einer einzigen Strömung entwickelte.
Stattdessen entstand sie als Ergebnis locker miteinander verknüpfter
pluraler oder paralleler Entwicklungen, wozu zum einen die urbanen
Gebräuche einer entstehenden einheimischen »Bourgeoisie«
gehörten, deren Aspirantenreservoir bis tief in die Gassen der
Lilongs reichte, zum anderen ein harter Akzelerationismus, wie er,
getragen von dem nahezu grenzenlosen Vertrauen der Schanghaier
in die globale Bedeutung und das Potenzial der Stadt, von der
Geschäftskultur der Internationalen Siedlung gepflegt wurde, aber
auch die linksgerichteten literarischen und politischen Trends, die in
den Cafés und Bistros der Französischen Konzession, in denen sich
avantgardistische Ideen promiskuitiv durchmischten, auf Rückhalt
trafen. Dieses heterogene, fruchtbare Chaos fand seinen
architektonischen Widerhall in einem vielfältigen Nebeneinander von
Baustilen, das zwar von dem für Schanghai typischen
städtebaulichen Experiment (dem Lilong-Block) quantitativ dominiert,
stellenweise jedoch von westlichen neoklassizistischen
Kolonialbauten, kosmopolitischen Hochhäusern und Art-Déco-
Gebäuden im Stile Manhattans, kühnen, auf modernen chinesischen
Entwürfen beruhenden Abenteuern (vor allem in Jiangwan), von
Beispielen eines proto-brutalistischen Industrie- und
Wohnfunktionalismus sowie von Villen in einer Vielzahl
internationaler, hybrider und avancierter Stile überlagert wurde.
Seit der neuerlichen Öffnung der Stadt Anfang der 1990er-Jahre
wurden diesem Mix neue Elemente hinzugefügt, darunter die ersten
wichtigen Bauten, die den strengen Grundsätzen des Internationalen
Stils verpflichtet sind (obwohl große, geradlinige Strukturen
glücklicherweise immer noch eine Seltenheit sind), neotraditioneller
und ethno-exotischer Kitsch (vor allem in der Altstadt
beziehungsweise in den an der Peripherie angesiedelten »Neun
Städten«), neomoderne Wiederbelebungen baufälliger Komplexe
und »Googie«-Fantasien einer imaginierten Zukunft.
Obwohl die Modernisierung Schanghais ein beispielloses Tempo
erreicht hat, hinkt die einheimische Moderne vergleichsweise nach.
Die Besonderheit Schanghais als einem urbanen Zentrum Chinas ist
weit weniger ausgeprägt als noch zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts. Besaß die Stadt, die als Maschinenraum und Emblem
der chinesischen Moderne fungierte, einst eine überwältigende
kulturelle Vormachtstellung, so ist sie heute Teil einer in China viel
breiter angelegten Entwicklung. Ihre Internationalität, ihr
kommerzieller Erfolg und ihre Fähigkeit, neue Technologien zu
absorbieren, stechen innerhalb des Landes nicht mehr unbedingt
hervor, ihre Dominanz in der Verlags- und Filmindustrie ist vorbei,
ihre Einzelhandelsgiganten und ihre innovative Werbung haben ihre
Unverwechselbarkeit verloren, und was sie an intellektueller Boheme
vorzuweisen hat, findet sich auch in anderen urbanen Zentren oder
wird dort sogar übertroffen. Zwar lebt die haipai-Kultur mehr schlecht
als recht weiter, doch sie hat an Dynamik eingebüßt, und ihr
Selbstvertrauen ist geschwächt.
Wenn Schanghai heute über eine spezifische, kohärente kulturelle
und städtische Identität verfügt, die, aus seiner wuchernden Vielfalt
erwachsen, ein Gegengewicht zu dem seit der Gründung der VR
China sich verfestigenden und inzwischen erheblich gestärkten
Gefühl der nationalen Identität bildet, so lässt sich diese nicht – wie
die haipai-Kultur zuvor – aus einer kontinuierlichen
Entwicklungstendenz der Stadt oder aus einem urbanen
Exzeptionalismus ableiten, der sich etwa aus dem Kontrast zu einem
konservativen, stagnierenden oder regressiven nationalen Hinterland
speist. Eine gründlich erneuerte Schanghaier Kultur (xin haipai) ist
untrennbar mit der historischen Diskontinuität oder den historischen
Brüchen der Stadt und mit einer umfassenderen nationalen (oder
sogar zivilisatorischen) Modernisierung Chinas verbunden, die,
durch das »Alte Schanghai« vorweggenommen, heute als
futuristische Erinnerung wieder auflebt.
Als dem Schwung, der in über einem Jahrhundert beschleunigter
Modernisierung angesammelt wurde, durch Bombardierungen,
Invasionen, Revolution und eine agrarisch orientierte nationale
Integration die Wucht genommen wurde, ist auch die Zukunft, die
dem globalisierenden, technophilen, piratenhaften kapitalistischen
Schanghai der Zwanziger- und Dreißigerjahre unvermeidlich schien,
verloren gegangen. In der Ära der Kommandowirtschaft trat die
Stadt zwar auf der Stelle, aber sie wurde weiterhin von der virtuellen,
ihrem »Goldenen Zeitalter« innewohnenden Zukunft heimgesucht,
die als dunkle Ahnung einer urbanen Bestimmung phantomhaft
überlebte. Mit der neuerlichen Öffnung Anfang der 1990er-Jahre
schwappte dieses alternative Schicksal in die Stadt zurück. Unter
solchen Umständen wird Futurismus sofort zum Retrofuturismus, da
die innovative Kraft der Stadt in der Vergangenheit liegt und der
Erfindung nichts anderes übrig bleibt, als ihr Glück in der
Wiederentdeckung zu suchen. Dies in etwa bedeutet »Renaissance«
(und Restauration wäre viel zu kurz gegriffen).
Diese retrofuturistische Tendenz, die die Wiederbelebung des
urbanen Selbstbewusstseins im neuen Jahrtausend kennzeichnet,
erzeugt eine beständige Zeitschleife zwischen zwei Epochen
hochbeschleunigten modernistischen Fortschritts. Sich fortwährend
aufeinander einstellend, stehen Erbe und Entwicklung in engem
Austausch und setzen sprudelnde Ströme anachronistischer,
cybergothischer Codes frei, wie etwa die stark verschlüsselte
»Sprache« des Art Déco. Prophetische Traditionen verzahnen sich
mit erinnerungsgesättigten Innovationen, suchen automatisch den
Konvergenzpunkt, an dem sie austauschbar werden, und schließen
so den Kreis der Zeit. Wie die Gegenwart zeigt, war die
Vergangenheit etwas anderes, als sie einst zu sein schien, und wie
die Vergangenheit bezeugt, ist die Gegenwart etwas anderes, als sie
zu sein scheint.
Die zugänglichsten Beispiele für Schanghais charakteristische
Zeitschleifen liegen räumlich eng beieinander. Im Grenzfall
kombinieren neomoderne Renovierungsprojekte die großen
Modernisierungswellen der Stadt in einem einzigen Bauwerk und
bauen so ein retrofuturisches Thema in eine aktuelle Entwicklung
ein, wie dies neben unzähligen weiteren Fällen bei M50, Redtown,
Bridge8, 1933 oder dem Hotel Waterhouse geschehen ist. Etwas
breitere und thematisch ausgeklügeltere Schleifen verbinden neue
Gebäude mit öffentlichen Ausstellungen zur Geschichte der
Moderne. Zu den auffälligsten gehören die Paarung des Oriental
Pearl Tower mit dem in seinem Sockel untergebrachten Schanghai
History Museum sowie das Diorama des alten Schanghaier
Straßenlebens, das sich unter der Ausstellungshalle für
Stadtplanung befindet.
Solche Beispiele sind mitunter jedoch irreführend, insofern sie von
der Tatsache ablenken, dass das retrofuturistische Prinzip der neuen
Schanghaier Kultur ein atmosphärisches ist. Von gewöhnlichen
Wohnungsrestaurierungsprojekten bis hin zu kommerzieller
Beschilderung, Restaurantgestaltung, Hoteldekor und
Wohnungseinrichtung – die eindringliche Botschaft ist ein
Wiederauftauchen, ein Fortschritt über den Umweg der
Vergangenheit. Die neuesten und stylischsten Sachen sind in der
Regel die, die mit aller Macht einen Rückbezug auf das moderne
Erbe der Stadt herzustellen versuchen. Der Blick über die Stadt
hinaus trägt nicht dazu bei, das Muster zu durchbrechen, denn
genau das hat das »alte Schanghai« früher getan. Kosmopolitischer
Wandel ist von jeher seine systemeigene Tradition.
Retrofuturische Paarungen können aber auch räumlich weit
auseinander liegen. Eine besonders markante Zeitschleife verlinkt
zwei der berühmtesten Hochhäuser der Stadt – das Park Hotel und
den Jin-Mao-Tower – und verbindet Alt-Schanghai (Puxi) mit dem
neuen Stadtbezirk Pudong. Jedes der beiden Gebäude war
(gemessen an der höchsten benutzten Etage) eine Zeitlang das
höchste Gebäude Schanghais, über fünf Jahrzehnte das Park Hotel,
nur neun Jahre der Jin-Mao-Tower. Hinter dieser Diskrepanz verbirgt
sich eine tiefere Zeitsymmetrie in den Fertigstellungsdaten der
beiden Gebäude: das Park Hotel sieben Jahre vor der Schließung
der Stadt (mit der japanischen Besetzung der Internationalen
Siedlung 1941), der Jin-Mao-Turm sieben Jahre nach der formellen
Öffnung der Stadt (dem Höhepunkt von Deng Xiaopings Südtournee
1992).
Man benötigt nur einen Blick (oder zwei), um diese Gebäude als
nicht identische Zeitzwillinge oder mutierte Klone zu erkennen, die in
Art Décode dunkel über den Graben hinweg miteinander
kommunizieren. Durch ihre strukturellen und tonalen Resonanzen
aufeinander bezogen, lösen die beiden Gebäude einander aus ihrer
jeweiligen Epochenidentität und stürzen gemeinsam in eine
alternative, verdunkelte Zeit, die durch den Kontakt mit einer
absoluten, heute zum Teil wiedererinnerten Zukunft undeutlich
definiert ist.
Diese beiden wunderbar finsteren Gebäude sind in der Yin-Welt
zu Hause, Geheimnissen und der Nacht zugewandt. Zu den ersten
dieser Geheimnisse, die sie in ihrer stilistischen Gemeinsamkeit
teilen, gehört die Dunkelheit selbst. Nichts dürfte dem Geist von Le
Corbusiers Strahlender Stadt ferner sein als die grüblerische
Opulenz dieser Türme, die am Rande einer unergründlichen
nächtlichen Kluft glitzern, als wären sie vom Abgrund berauscht. Sie
erinnern uns daran, dass »Art Déco« ein (retrospektives) Etikett ist,
das grob über das Mysterium gestülpt ist, dass dieser Stil nie ein
Manifest oder einen Masterplan besaß und dass er sich – aufgrund
seiner unartikulierten Selbstorganisation – dem historischen
Verständnis entzogen hat.
Darin liegt, zumindest zum Teil, der Sinn des Art-Déco-Pakts mit
Nacht und Dunkelheit. Unter und jenseits aller Ideologien und zentral
gesteuerten Projekte bleibt die spontane Kultur der Hochmoderne,
die ihren Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit erreicht hat, tief
verschlüsselt. Das neue Schanghai, das das alte ausgräbt, ist ein
Rätsel, das immer drängender wird.
Teil 3: Dieselpunk mit chinesischen Merkmalen
Wikipedia schreibt die früheste Verwendung des Begriffs
»Retrofuturismus« Lloyd John Dunn (1983) zu. Zusammen mit
seinen »Tape-Beatles«-Kollegen John Heck, Ralph Johnson und
Paul Neff war Dunn Herausgeber des »Submagazins«
Retrofuturismus, das zwischen 1988 und 1993 am unteren
Seitenrand des Photostatic Magazins erschien. Die Agenda der
Tape-Beatles war künstlerisch, und Retrofuturismus wurde »definiert
als der Akt oder die Tendenz eines Künstlers, durch eine
rückwärtsgewandte Bewegung voranzukommen« und dabei die
Grenzen zwischen Kopieren und Kreativität durch systematisches
Plagiieren und experimentelle Beschäftigung mit Reprotechniken
auszutesten. Was auch immer die Errungenschaften dieser
»originalen« Retrofuturismus-Bewegung gewesen sind, sie wurden
bald durch den Begriff selbst überrollt.
Eine neuere und vergleichsweise mainstream-orientierte
Auffassung des Retrofuturismus zeigt sich auf den Websites von
Matt Novak (2007) und Eric Lefcowitz (2009),1 die sich einer
Kulturgeschichte der Zukunft widmen. Eine kräftig mit Nerd-Kitsch
gewürzte Komödie der Desillusionierung verfolgend, erforschen
diese Websites die merkwürdige Inkongruenz zwischen der
einstmals imaginierten Gegenwart und ihrer tatsächlichen
Verwirklichung. Inhaltlich werden sie von dem reichen Erbe
fehlgegangener Vorhersagen bestimmt, das sich in mehr als einem
Jahrhundert Science-Fiction, Zukunftsforschung und populärer
Fortschrittserwartung angesammelt hat und Weltraumkolonisation,
Unterwasserstädte, extravagante Stadtentwürfe, progressive
Transportsysteme, humanoide Haushaltsroboter und Laserpistolen
sowie Overall-Kleidung oder Nahrungspillen thematisiert. Dieses
Genre des Retrofuturismus wird von Daniel H. Wilsons 2007
erschienenem Buch Where’s My Jetpack? A Guide to the Amazing
Science Fiction Future that Never Arrived nahezu perfekt
versinnbildlicht. Das Genre ist von einem starken Grundgefühl
geprägt, das sich recht einfach zusammenfassen lässt:
Enttäuschung über die mangelnde Performance der Gegenwart wird
durch Belustigung über die extravaganten, ja sogar absurden
Versprechungen der Vergangenheit wettgemacht.
Dem Retrofuturismus, wie er in dem Bild vom fehlenden Jetpack
auf den Punkt gebracht wurde, bieten sich durchaus weite
historische Horizonte. Er benötigt lediglich eine Reihe entsprechend
ausgewiesener Vorhersagen; optimal sind konkrete, technologisch
detaillierte Projektionen, die am besten für parodistische
Rückbesinnungen taugen. Matt Novaks Index der Paläozukunft oder
der »vergangenen Zukunftsvisionen« erstreckt sich über 130 Jahre
(von den 1870er- bis in die 1990er-Jahre). Aufgrund der
charakteristischen Merkmale des Genres liegt der
Hauptschwerpunkt jedoch auf dem »Goldenen Zeitalter« der
(amerikanischen) Science-Fiction in den Vierziger- und
Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als der
technologische Optimismus seinen Höhepunkt erreichte.
Zurückgehend auf die Juli-Ausgabe 1939 des Pulp-SF-Magazins
Astounding Science Fiction (herausgegeben von John W. Campbell
und mit Geschichten von Isaac Asimov und A. E. Van Vogt)
beziehungsweise auf die Eröffnung der schwindelerregend
futuristischen New Yorker Weltausstellung im April 1939, dürfte das
Goldene Zeitalter für retrofuturistischen Spott geradezu
vorprogrammiert gewesen sein. Sein Optimismus war völlig frei von
Selbstzweifeln; seine Fantasie fand ihre grafische Verdeutlichung in
den aufkommenden Markierungsinstrumenten der modernen
Werbung, der PR und der weltweiten Ideologiepolitik; seine
beliebtesten Geräte waren schwelgerisch designt, großformatig und
anthropomorph gesehen bedeutungsschwanger; und eine
aufkommende Konsumkultur von bis dahin unvorstellbarer
Reichweite und Raffinesse diente dazu, die Zukunft in eine Reihe
diskreter, konkreter Produkte zu verpacken, aber auch, die sich im
Konsum erfüllende Ermächtigung des Individuums (oder der
Kernfamilie) zu propagieren, beides Aspekte, die später dem Spott
anheimfallen sollten. Jeder Familie ihr eigenes fliegendes Auto ist
eine Vision, die in ihrer implausiblen Verbindung von
gesellschaftlichem Konservatismus und techno-konsumistischem
Utopismus von Anfang an auf retrofuturistische Heiterkeit zusteuert.
Als 1962 Die Jetsons zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, ging das
Goldene Zeitalter zu Ende und das Lachen begann.
Wenn William Gibson 1981 in »Das Gernsback-Kontinuum« den
Begriff »Retrofuturismus« vorweggenommen hat, so trug dies
unbestreitbar zur Konsolidierung des Begriffs bei, der zugleich mit
einem kulturellen Potenzial ausgestattet wurde, das weit über das in
den heiteren Ausflügen der Nullerjahre Erreichte hinausgeht. Gibson
wühlt nicht in den von den Spekulationen des Goldenen Zeitalters
zurückgelassenen Trümmern nach Gegenständen amüsierter
Herablassung, sondern führt seine Themen auf das »Laser-Gothic«
[»Raygun-Gothic«] oder die » Stromlinienförmige amerikanische
Moderne« der Zwischenkriegszeit zurück, um diese vernachlässigte
Kultur als fortlaufende alternative Geschichte (dominiert von quasi-
faschistischem Utopismus) in die Zukunft zu projizieren. »Das
Gernsback-Kontinuum« ist keine bloße Ansammlung von
Kuriositäten, sondern vielmehr ein nicht eingeschlagener Weg, der
die Science-Fiction-Imagination noch lange verfolgt hat. Der
Cyberpunk wird ihn exorzieren.
Hugo Gernsback (1884–1967), an den die »Hugo«-Preise für
Science-Fiction erinnern, war ein futuristischer Belletristik-Enthusiast
und (zwielichtiger) Verlagsunternehmer, der mehr als irgendeine
andere namhafte Person dazu beitrug, dass Science-Fiction,
befördert durch billig gedruckte, reißerisch populäre »Pulp«-
Magazine, zu einem selbstbewussten Genre wurde. In der ersten
Ausgabe der 1926 von ihm gegründeten Amazing Stories definierte
Gernsback »Scientifiction« als »eine charmante, mit
wissenschaftlichen Fakten und prophetischen Visionen vermischte
Romanfantasie«. Wurde Gernsback aufgrund seiner zugespitzten
Geschäftspraktiken von seinen übervorteilten Schriftstellern in der
Regel gehasst, blieb er politisch, wie es scheint, unauffällig. Die
ominöse arische Technokratie, die in »Das Gernsback-Kontinuum«
porträtiert wird, verdankt sich wahrscheinlich eher dem Ruf seines
Nachfolgers bei Amazing Stories, John W. Campbell (1910–1971),
und den breiteren kulturellen Tendenzen, für die er stand.
Die Rückwärts-(oder Vorwärts-)gerichtetheit des Retrofuturismus,
die von aufgegebenen Träumen bis hin zu Geschichtsalternativen
reichte, löste lawinenartige Kaskaden aus. Häufig waren diese durch
die Wanderungen der Nachsilbe »-punk« gekennzeichnet. Das
Suffix, ursprünglich für einen anti-utopischen (wenn auch nicht
notwendigerweise positiv dystopischen) Impuls stehend, dessen
»schmutziger« Futurismus soziale und psychologische Unordnung,
chaotische Kausalität, uneinheitliche Entwicklung und kollabierte
Horizonte einschließt, nahm nach und nach einen zusätzlichen,
zuvor nicht einkalkulierten Sinn an. Die Geschichte der Science-
Fiction – womöglich auch die Geschichte im weiteren Sinne – wurde
durch das Aufkommen literarischer und kultureller Untergattungen,
die sie auf Nebenwege nicht realisierten Potenzials führte,
»gepunkt«. Cyberpunk gehörte erkennbar unserer elektronisch
überarbeiteten Zeitachse an, Steampunk, Clockpunk, Dieselpunk
(oder »Decopunk«) und Atompunk hingegen – hier in grober
Reihenfolge ihres Auftretens aufgelistet – extrapolierten
technosoziale Systeme, die bereits umgangen worden waren. Wenn
es sich dabei überhaupt um »Zukünfte« handelte, lagen sie nicht
voraus, sondern auf Nebengleisen, abseits.
Diese verschiedenen »Retro-Punk«-Mikro-Genres lassen sich auf
vielerlei Weise verstehen. Betrachtet man sie vornehmlich als
Literatur, können sie als Reanimationen zeittypischer Elemente der
Science-Fiction-Geschichte oder, noch prägnanter, als Befreiung
überholter Zukünfte aus der Herrschaft der nachfolgenden Zeit
vorgestellt werden. So etwa war die viktorianische Zukunft der
Steampunks mehr als nur eine nebulös vorweggenommene
edwardianische Gegenwart, sie stellte, zum Teil angetrieben durch
das reale, aber nicht realisierte Potenzial mechanischer Berechnung
(wie es in der Differenzmaschine und der Analytical Engine von
Babbage und Lovelace seine Konkretisierung fand), etwas völlig
anderes dar.
Eher theoretisch in den Blick genommen, hallen in den
Retropunk-Genres bedeutende Debatten nach. Vor allem im
Dieselpunk-Dark-Heartland der 1920er- und 30er-Jahre gehen
insbesondere von links wie von rechts kommende axiale Argumente
in die Diskussionen einer alternativen Geschichte ein. Seit mehr als
einem halben Jahrhundert war der europäische Marxismus
untrennbar mit der kontrafaktischen Erforschung der sowjetischen
Erfahrung verbunden, die sich auf die Periode maximaler Proletkult-
Innovation zwischen dem Ende der Nachbürgerkriegszeit und dem
rigorosen sozialrealistischen Durchgreifen konzentrierte, in dem sich
das stalinistische Regime ankündigte. Die Figur Leo Trotzkis als
sozialistischer Held einer alternativen Geschichte (Dieselpunk) ergibt
in einem anderen Kontext keinen Sinn. Auf der rechten Seite hat
sich der amerikanische Konservatismus immer mehr auf die
kontrafaktische Befragung der Hoover/ FDR-Keynesianischen
Reaktion auf den Crash von 1929 und die anschließende Große
Depression konzentriert, verstanden als der Moment, in dem der
republikanische Laissez-faire-Kapitalismus von der New Deal-
Sozialdemokratie verdrängt wurde (Coolidge/Mellon-’28er-T-Shirts
mögen noch dünn gesät sein, aber ihre Zeit könnte kommen).
Schanghai, das sich so schnell wie jede andere Stadt auf der
Erde in ein Cyberpunk-Morgen hochlädt, besitzt nur wenige
offensichtliche Zeittore, die sich in die Clockpunk-, Atompunk- oder
(noch strittiger) Steampunk-Zukunft öffnen würden. Beim Dieselpunk
gibt es kein Halten mehr. Hätte irgendein verrückter Dieselpunk-
Halbgott die Welt gepachtet, um sie als Labor zu nutzen, wäre das
Ergebnis – bis zu einem gewissen tolerierbaren Grad – nicht von
Schanghai zu unterscheiden gewesen. Xin haipai ist Dieselpunk mit
chinesischen Merkmalen.
Die größte kontrafaktische Dieselpunk-Spekulation für Schanghai
lässt sich nicht umgehen: Was wäre, wenn die japanische Invasion
1937 die Hochmoderne der Stadt nicht unterbrochen hätte? Was
wäre aus der Stadt geworden? Unter dieser alles verhüllenden
Frage jedoch und historisch noch weiter zurückliegend erhebt ein
Gewimmel von Alternativen sein Geschrei. Was wäre, wenn der
Weiße Terror von 1927 die städtische Arbeiterbewegung nicht
zerschlagen hätte? Was wäre, wenn es der KPCh gelungen wäre,
wie von Song Qingling erträumt, die republikanische Regierung
Chinas von innen heraus zu verändern? Was wäre, wenn sich die
internationale Politik des Silbers nicht mit der Guomindang-
Kleptokratie verbunden hätte, um das unabhängige Finanzsystem zu
zerstören? Was wäre, wenn Du Yuesheng seine Ambitionen auf die
nationale Politik ausgedehnt hätte? Was wäre, wenn die
Dekolonialisierung der Stadt unter Friedensbedingungen
stattgefunden hätte? Was wäre, wenn die anschließende soziale und
wirtschaftliche Entwicklung Hongkongs dort hätte stattfinden können,
wo sie aufgekeimt ist, in Schanghai?
Der neunzigste Jahrestag der Gründung der Kommunistischen
Partei Chinas war für das ganze Land eine Gelegenheit, sich in dem
dunklen Taumel des Schanghai-Dieselpunks zu verlieren. Es war an
der Zeit, in die 1920er-Jahre zurückzukehren und, bevor aus der
Intensität des rohen Potenzials altbewährte Gegebenheiten gesiebt
worden waren, Geschichte noch einmal als Abenteuer der
Kontingenz zu erleben sowie den Indeterminismus, der
dramatischen Spannungen innewohnt, wiederzubeleben. Es ist eher
unwahrscheinlich, dass der der Gründung der KPCh gewidmete Film
Beginning of the Great Revival absichtlich auf Mittel des Dieselpunk-
Genre zurückgegriffen hat, aber die Mikroblogger der Nation
erkannten ihn als das, was er war, und schwärmten von der Chance,
die diese Wiedereröffnung der Vergangenheit bot.
Die Verdichtung des Cyberspace verwandelt die Geschichte in
eine Spielwiese der Potenziale, auf der Dinge neu aufgeladen und
auf verschiedene Weise ausprobiert werden können. Elektronische
Infrastrukturen verbreiten sich, werden komplexer und lassen die
Wirklichkeit in vielfältigen und variablen Szenarien ablaufen, wobei
die Toleranz gegenüber unveränderlichen Resultaten oder erstarrten
Vermächtnissen abnimmt. In dem Maße, wie die Herrschaft der
etablierten Wirklichkeit durch experimentelle Strömungen
untergraben wird, erwacht die Vergangenheit zu neuem Leben.
Nichts ist jemals vorbei.
Das Spiel, das Schanghai spielt, oder die Geschichte, die es
erzählt, wird in der Dieselpunk-Stadtlandschaft der 1920er- und
30er-Jahre immer wieder von Neuem begonnen, wo alles, was man
sich wünschen mag, in verdichteter, unartikulierter Potenzialität
existiert – globale Vermögen, Bandenreviere, proletarische
Aufstände, revolutionäre Entdeckungen, literarischer Ruhm,
Sinnesrausch, aber auch alle erdenklichen Permutationen eines
bescheidenen urbanen Wohlstands. Schanghai ist eine Stadt, in der
alles passieren kann, und irgendwo, irgendwann, auch geschieht.
IMPLOSION
Wir stehen vielleicht kurz vor einer
katastrophalen Implosion – aber das ist okay.
Science-Fiction war meist nach außen gerichtet. Vor allem in
Amerika, wo das Genre in der ungewöhnlich zukunftsorientierten
Bevölkerung eine natürliche Heimat gefunden hat, war der
emblematische SF-Gegenstand unzweifelhaft das Raumschiff, das
die Grenzen der Erde für die endlosen Weiten des Weltalls verlassen
hat. Die Zukunft maß sich am Nachlassen der terrestrischen
Schwerkraft.
Als Mitte der 1980er-Jahre der Cyberpunk in die Welt kam, war
das ein kultureller Schock. In William Gibsons Neuromancer kamen
zwar noch Weltraumaktivitäten im Bereich der Erdumlaufbahn vor –
und es gab sogar Nachrichtenverkehr mit Alpha Centauri –, doch die
Reisen verliefen nun in den Innenräumen von Computersystemen,
bewegten sich durch die sternlosen Gegenden des Cyberspace. Die
interstellare Kommunikation ließ die biologischen Spezies außen vor
und fand zwischen künstlichen, auf verschiedenen Planeten
angesiedelten Intelligenzen statt. Die Vereinigten Staaten von
Amerika gab es anscheinend nicht mehr.
Raum und Zeit waren in die »Cyberspace Matrix« und in die nahe
Zukunft kollabiert. Selbst die abstrakten Fernen eines
gesellschaftlichen Utopismus waren in den Prozessorkernen der
Mikroelektronik in Rauch aufgegangen. Gemessen an der
Mainstream-Science-Fiction war alles, was mit Cyberpunk zu tun
hatte, aufdringlich nahe und kam immer näher. Die Zukunft stand
unmittelbar bevor, rückte einem auf die Pelle.
Gibsons Städte hatten mit seinen größeren oder kleineren
Visionen nicht Schritt gehalten. Die Stadtgebiete seines Ostküsten-
Amerika wurden, als seien sie in einer rasch erlahmenden
Ausdehnung versandet, als »The Sprawl« bezeichnet. Die
erdrückenden Kräfte der technologischen Verdichtung hatten die
soziale Geografie übersprungen und sämtliche historische
Lebendigkeit aus den zerfallenden Hülsen der wirklichen Welt [meat
space] gesaugt. Gebäude waren Relikte, die von den Frontlinien des
Wandels links liegen gelassen wurden.
(Dort allerdings, wo Gibson auf asiatische Städte Bezug nimmt,
sind seine Darstellungen, inspiriert von den neuen Phänomenen
städtischer Verdichtung, wie sie etwa in der Walled City von Kowloon
oder in den japanischen »Sarghotels« zu finden sind,
aussagekräftiger. Zudem würden Urbanisten, die sich von der ersten
Welle des Cyberpunk enttäuscht zeigen, gut daran tun, sich Spook
Country zuzuwenden, wo der Einfluss der GPS-Technologie auf die
Wiederbelebung des städtischen Raums zu überaus fruchtbaren
Spekulationen führt.)
Sternenkreuzer und außerirdische Zivilisationen gehören zu jenen
Science-Fiction-Konstellationen, die auf der Annahme einer
expansiven Besiedelung des Weltraums beruhen. So wie diese
»Weltraumoper«-Zukunft im Bereich der Fiktion im Cyberpunk
aufging, verschwand sie im Bereich einer mehr oder weniger im
Mainstream angesiedelten Wissenschaft – etwa im SETI-Programm
– in der Wüste des Fermi-Paradoxons.
John M. Smarts Lösungsvorschlag für das Fermi-Paradoxon ist
Teil seiner weiter gefassten »Speculations on Cosmic Culture« und
ergibt sich auf natürliche Weise aus einer Entwicklung zunehmender
Verdichtung. Avancierte Intelligenzen dringen nicht in den Weltraum
vor, indem sie große galaktische Gebiete kolonisieren oder im
Rahmen eines Erkundungsprogramms sich selbst replizierende
Robotersonden losschicken. Vielmehr implodieren sie in einen
Prozess der »Transzendenz« – und erhalten sich vor allem durch die
hyperexponentiellen Wirkungszuwächse extremer Miniaturisierung
(durch Mikro-, Nano- und Femto-Technik im Bereich subatomarer
Funktionseinheiten). Solche Kulturen oder Zivilisationen, die aus
selbstaugmentierender technischer Intelligenz erwachsen,
emigrieren aus den Weiten des Universums in eine abgründige
Intensität, wo sie sich am Rande des physikalisch Möglichen zu
einer Dichte komprimieren, die der von schwarzen Löchern
nahekommt. Mittels Transzendenz ziehen sie sich aus einer
extensiven Kommunikation zurück (lassen aber vielleicht noch
»Radiofossilien« zurück, bevor auch diese in der Stille des Weltalls
erlöschen).
Wenn Smarts Spekulationen die Grundzüge eines auf
Verdichtung ausgerichteten Entwicklungssystems richtig erfassen,
kann man davon ausgehen, dass auch Städte einem vergleichbaren
Weg folgen, einer Flucht ins Innere, einer Innenweltreise, einer
Einfaltung oder Implosion. Die Städte nähern sich der Singularität
auf einer sich beschleunigenden Bahn und richten sich zunehmend
nach innen, während sie zugleich der unwiderstehlichen
Anziehungskraft ihrer eigenen hyperbolischen Intensivierung zum
Opfer fallen und die Außenwelt zu einem irrelevanten Rauschen
verblasst. Auf einem Weg, der von der Welt wegführt, verschwinden
die Dinge in die Städte. Ihr Ziel lässt sich nicht anhand der
Dimensionen des bekannten – und tatsächlich bereits ermüdend
vertrauten – Universums beschreiben. Nur im tiefen, explorativen
Inneren findet noch Innovation statt, dort allerdings in einem
höllischen, zeitvernichtenden Tempo.
Worauf läuft eine Stadtentwicklung im Sinne Smarts hinaus?
a) Devo-Vorhersagbarkeit. Wenn die Stadtentwicklung weder
zufällig durch interne Prozesse generiert noch willkürlich durch
externe Entscheidungen bestimmt wird, sondern sich überwiegend
von einem (primär durch Intensivierung definierten)
Entwicklungsattraktor leiten lässt, folgt daraus, dass die Zukunft der
Städte gegenüber den meist als grundlegend angeführten
nationalpolitischen, globalökonomischen und kulturell-
architektonischen Einflüsse zumindest teilweise autonom ist.
Stadtentwicklung kann gefördert oder vereitelt werden, aber ihre
wichtigsten »Ziele« und praktischen Entwicklungen werden in jedem
einzelnen Fall intern und automatisch generiert. Wenn eine Stadt
»funktioniert«, dann nicht, weil sie einem äußeren, fragwürdigen
Ideal entspricht, sondern weil sie sich auf einem Weg wachsender
Intensivierung befindet, in dem sich ihr »eigener«, singulärer und
intrinsischer städtischer Charakter abbildet. Eine Stadt will sich
selbst verwirklichen, und mehr noch: sich selbst weiterbringen und
beschleunigen. Das allein macht das Gedeihen einer Stadt aus, und
dies zu verstehen, ist der Schlüssel, der der Zukunft einer Stadt zu
ihrer Gestalt verhilft.
b) Metropolitanismus. In den Sozialwissenschaften ist der
methodische Nationalismus systematisch überschätzt worden (und
dies nicht nur auf Kosten eines methodischen Individualismus).
Einflussreiche Denker des Urbanen, darunter Jane Jacobs und Peter
Hall, waren bestrebt, diese Schieflage zu korrigieren, indem sie die
Bedeutung und die partielle Autonomie urbaner Ökonomie, Kultur
und kommunaler Politik für die Mehrung von Wohlstand, Zivilisation
und für Goldene Zeiten hervorhoben. Damit lagen sie völlig richtig.
Das Wachstum der Städte ist das wesentliche soziohistorische
Phänomen.
c) Kulturelle Introversion. John Smart argumentiert, dass einer
Intelligenz, die sich in einer avancierten relativistischen Entwicklung
befindet, die äußere Landschaft immer weniger informativ und
interessant vorkommt. Die Suche nach kognitiver Stimulation führt
sie auf einen Weg nach innen. Da sich urbane Kulturen durch ein
rasches Anwachsen sozialer Komplexität weiterentwickeln, ist zu
erwarten, dass sich in ihnen genau dieses Muster manifestiert. Ihre
internen Prozesse, die von einer rasanten Implosion der Intelligenz
gekennzeichnet sind, werden immer packender, fesselnder,
überraschender, produktiver und lehrreicher, während die breitere
Kulturlandschaft in eine vorhersehbare Langeweile von nur noch
ethnografischer und historischer Relevanz versinkt. Kulturelle
Singularität wird zunehmend urban-futuristisch (nicht
ethnohistorisch), was für traditionelle Nationalstaaten ein Ärgernis
darstellen dürfte. Wie in Gibsons Terrestrischem Cyberspace, der im
Orbit um Alpha Centauri einem Pendant begegnet, wird
kosmopolitische Vernetzung eher durch Reisen nach innen als durch
eine expansive Ausdehnung hergestellt.
d) Skalenresonanz. Auf der abstraktesten Ebene ist die
Beziehung zwischen Urbanismus und Mikroelektronik skalar
(fraktal). Die künftigen Computer, die vor allem mit
Verkehrsproblemen (Staus), Migration/Kommunikation, Fragen der
Zoneneinteilung (gemischte Nutzung), dem technischen Potenzial
neuer Materialien, Fragen der Dimensionalität (3-D-Lösungen bei
Verdichtungsproblemen), der Entropie oder der
Wärme-/Abfalldissipation (Recycling/reversible Berechnung) und der
Krankheitsbekämpfung (neuen Viren) konfrontiert sein dürften,
werden eher Miniaturstädten als künstlichen Gehirnen ähneln. Da
sich Städte ähnlich wie Computer innerhalb beobachtbarer
historischer Zeit (phylogenetisch beschleunigt) entwickeln und sich
in ihnen praktische Lösungen für Probleme sedimentiert haben, die
aus der gnadenlosen Intensivierung erwachsen, stellen sie ein
realistisches Modell für die Verbesserung kompakter
informationsverarbeitender Maschinen dar. Die Gehirnemulation
mag zwar als wichtiges Ziel für die Computerwissenschaften gelten,
als Entwicklungsmodell aber ist sie nahezu nutzlos. Intelligente
mikroelektronische Technologien tragen zum ergebnisoffenen
Prozess urbaner Problemlösungen bei, rekapitulieren ihn aber
zudem auf einer neuen Ebene.
e) Städtische Matrix. Stellt die Stadtentwicklung die eigentliche
Embryogenese der künstlichen Intelligenz dar? Ist es womöglich
weniger das globale Internet, das militärische Skynet oder das
laborbasierte KI-Programm als vielmehr die auf einer beschleunigten
Intensivierung (STEM-Kompression) beruhende Stadtentwicklung,
die die besten Voraussetzungen für die Entstehung
übermenschlicher Rechenleistungen bietet? Vielleicht verdankt sich
dieser Gedanke im Wesentlichen dem Umstand, dass das urbane
Problem – der Umgang mit Verdichtung und ihre Akzentuierung – die
Stadt noch vor jeder zielgerichteten Forschung für die
Computertechnologien prädestiniert. Es ist das Wesen der Stadt,
dass sie sich in Richtung Computronium verdichtet oder intensiviert.
Wenn die erste KI spricht, könnte sie im Namen der Stadt sprechen,
die sie als ihren Körper identifiziert. Doch selbst das wäre kaum
mehr als ein »Radiofossil« – ein Signal, das den Rand der Stille
ankündigt –, während sich die Implosion vertieft und im fremden
Innen verschwindet.
DIE DUNKLE AUFKLÄRUNG
Teil 1: Neoreaktionäre suchen den Exit
Aufklärung ist nicht nur ein Zustand, sondern ein Ereignis und ein
Prozess. Als Bezeichnung für eine historische Episode, die während
des achtzehnten Jahrhunderts vor allem auf Nordeuropa beschränkt
war, ist der Begriff (neben »Renaissance« und »industrieller
Revolution«) ein führender Kandidat für den »wahren Namen« der
Moderne, erfasst er doch ihren Ursprung und ihren Kern. Zwischen
»Aufklärung« und »progressiver Aufklärung« besteht lediglich ein
kaum fasslicher Unterschied, schließlich erfordert Erleuchtung Zeit –
und speist sich aus sich selbst, denn Aufklärung ist
selbstbestätigend, ihre Offenbarungen sind »selbstevident«, und
eine rückschrittliche oder reaktionäre »dunkle Aufklärung« kommt
fast einem inneren Widerspruch gleich. In diesem historischen Sinn
aufgeklärt oder erleuchtet zu werden, bedeutet, ein leitendes Licht
zu erkennen und ihm zu folgen.
Es gab Zeiten der Finsternis, und dann kam die Aufklärung.
Natürlich hat es Fortschritte gegeben, die nicht nur Verbesserungen,
sondern auch ein Modell boten. Zudem muss sich im Gegensatz zur
Renaissance die Aufklärung nicht an das Verlorene erinnern oder
hervorheben, wie attraktiv der Blick zurück ist. Die elementare
Anerkennung der Aufklärung ist bereits Whig-Geschichte im Kleinen.
Sobald bestimmte Wahrheiten der Aufklärung einmal als
selbstverständlich befunden worden sind, gibt es kein Zurück mehr,
und der Konservatismus ist präemptiv zum Paradox verdammt oder
prädestiniert. Friedrich A. Hayek, der es ablehnte, sich als
Konservativer zu bezeichnen, verlegte sich bekanntlich lieber auf
den Begriff »Old Whig«, mit dem – wie beim »klassischen Liberalen«
(oder dem noch melancholischeren »Relikt«) – hingenommen wird,
dass Fortschritt nicht mehr ist, was er einmal war. Was sollte ein
»Old Whig« denn auch anderes sein als ein reaktionärer
Progressiver? Und was um alles auf der Welt ist das?
Natürlich meinen viele Menschen bereits zu wissen, wie der
reaktionäre Modernismus aussieht, und der aktuelle Rückfall in die
Dreißigerjahre dürfte ihre Bedenken nur noch wachsen lassen. In
Grunde genommen handelt es sich um das, wofür das »F«-Wort
steht, zumindest in seiner progressiven Verwendung. Eine
Abwendung von der Demokratie entspricht unter den gegebenen
Umständen den Erwartungen so perfekt, dass sie als Haltung kaum
wirklich ernst genommen wird und lediglich als Atavismus oder als
Manifestation einer schrecklichen Wiederholung erscheint.
Gleichwohl passiert etwas, und zwar, zumindest teilweise, etwas
anderes. Ein Meilenstein war die im April 2009 auf der Website Cato
Unbound abgehaltene Diskussion zwischen libertären Denkern
(darunter Patri Friedman und Peter Thiel),1 bei der sich die
Enttäuschung über Richtung und Möglichkeiten demokratischer
Politik mit ungewöhnlicher Direktheit Ausdruck verschaffte. Thiel
brachte die allgemeine Tendenz ohne Umschweife auf den Punkt:
»Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie miteinander
vereinbar sind.«2
Im August 2011 holte Michael Lind auf Salon.com zu einem
demokratischen Gegenschlag aus, indem er ziemlich
übelriechenden Schmutz aufwühlte und zu dem Schluss kam:
Die Furcht der Libertären und klassischen Liberalen vor der Demokratie ist
gerechtfertigt. Libertarismus ist mit der Demokratie tatsächlich unvereinbar. Die meisten
Libertären haben deutlich gemacht, wo ihre Präferenz liegt. Die einzige noch zu
klärende Frage lautet, warum man den Libertären Aufmerksamkeit schenken sollte.3
Lind und die »Neoreaktionäre« scheinen sich weitgehend darin einig
zu sein, dass Demokratie nicht nur (oder überhaupt) ein System ist,
sondern ein Vektor mit einer unmissverständlichen Richtung.
Demokratie und »progressive Demokratie« sind gleichbedeutend
und nicht von der Ausweitung des Staates zu unterscheiden. Zwar
haben »extrem rechtsgerichtete« Regierungen diesen Prozess in
seltenen Fällen kurzzeitig aufhalten können, doch ihn umzukehren
liegt jenseits der Grenzen demokratischer Möglichkeiten. Da der
Wahlsieg vornehmlich eine Frage des Stimmenkaufs ist und die
Informationsorgane der Gesellschaft (Bildung und Medien)
gegenüber Bestechung nicht weniger anfällig sind als die
Wählerschaft, ist ein sparsamer Politiker zwangsläufig ein
inkompetenter Politiker, und die demokratische Darwinismus-
Variante wird solche Sonderlinge rasch aus dem Genpool entfernen.
Das ist eine Realität, die von der Linken mit Applaus bedacht, vom
rechten Establishment mürrisch akzeptiert und von der libertäre
Rechten erfolglos bekämpft wird. Doch die Libertären kümmert es
zunehmend weniger, ob ihnen irgendjemand »Aufmerksamkeit
schenkt« – sie suchen mittlerweile nach etwas völlig anderem: nach
einem Exit.
Schon strukturell gesehen ist es unvermeidlich, dass die libertäre
Stimme in der Demokratie untergeht, und Lind zufolge muss dies
auch so sein. Offenbar stimmen dem auch immer mehr Libertäre zu.
»Stimme« ist, in ihrer historisch dominanten, auf Rousseau
zurückgehenden Ausprägung, Demokratie selbst. Sie modelliert den
Staat als Vertretung des Volkswillens, und sich Gehör zu verschaffen
heißt mehr Politik. Wenn die Stimmabgabe als Ausdruck politisch
ermächtigter Menschen zu einem allgemeinen, die Welt
verschlingenden Albtraum wird, nützt es wenig, zu dem
Stimmengewirr beizutragen. Mehr noch als Gleichheit versus
Freiheit wird dann Stimme versus Exit zur immer attraktiveren
Alternative, und Libertäre entscheiden sich ohne Stimmabgabe für
die Flucht. Patri Friedman merkt an: »Wir halten den ungehinderten
Exit für so wichtig, dass wir ihn als das einzige Universelle
Menschenrecht bezeichnen.«4
Für eingefleischte Neoreaktionäre ist die Demokratie nicht nur
dem Untergang geweiht, sie ist der Untergang selbst. Ihr zu
entfliehen, kommt einem absoluten Imperativ gleich. Die
unterirdische, eine derartige Antipolitik antreibende Strömung ist
unverkennbar hobbesscher Natur, eine kohärente dunkle Aufklärung,
die, was die Äußerung des Volkswillens betrifft, von Anfang an von
allem rousseauschen Enthusiasmus frei war. Diese Strömung,
ohnedies dazu prädisponiert, die politisch erweckten Massen für
einen heulenden, irrationalen Mob zu halten, entdeckt in der
Dynamik der Demokratisierung einen durch und durch
degenerativen Zug: Sie festigt und verschlimmert die privaten Laster,
Vorurteile und Mängel so weit, bis sie das Niveau kollektiver
Kriminalität und umfänglicher gesellschaftlicher Verderbtheit
erreichen. Der demokratische Politiker und seine Wählerschaft sind
in einer Schleife gegenseitiger Aufwiegelung miteinander verbunden,
wobei sie sich zu immer schamloseren Exzessen eines Johl- und
Paradier-Kannibalismus aufstacheln, bis am Ende die einzige
Alternative zum Schreien darin besteht, aufgefressen zu werden.
Wo die progressive Aufklärung politische Ideale sieht, sieht die
dunkle Aufklärung Begierden. Sie akzeptiert, dass Regierungen aus
Menschen bestehen und dass diese darauf aus sind, gut zu essen.
Sie setzt ihre Erwartungen so niedrig wie vernünftigerweise möglich
an und versucht lediglich, die Zivilisation vor rasender, ruinöser und
unersättlicher Prasserei zu bewahren. Von Thomas Hobbes zu
Hans-Hermann Hoppe und anderen fragt sie: Wie kann die
souveräne Macht daran gehindert – oder zumindest davon
abgebracht – werden, die Gesellschaft aufzufressen?
Demokratische Lösungen für dieses Problem hält sie durchweg für
bestenfalls lächerlich.
Hoppe verficht eine anarchokapitalistische »Gesellschaft des
Privatgesetzes«, zögert aber nicht, wenn es darum geht, zwischen
Monarchie und Demokratie zu entscheiden (wobei sich seine
Argumentation strikt an Hobbes hält):
Als Erbmonopolist betrachtet ein König das Territorium und die Menschen unter seiner
Herrschaft als sein persönliches Eigentum und betreibt die monopolistische Ausbeutung
dieses »Besitzes«. In der Demokratie verschwinden Monopol und monopolistische
Ausbeutung nicht. Vielmehr geschieht Folgendes: Statt eines Königs und eines Adels,
die das Land als ihr Privateigentum betrachten, wird ein vorübergehender und
austauschbarer Verwalter mit der monopolistischen Verwaltung des Landes betraut. Der
Verwalter ist nicht Eigentümer des Landes, aber solange er im Amt ist, darf er es zu
seinem Vorteil und dem seiner Schützlinge nutzen. Er verfügt über die aktuelle Nutzung
– den Nießbrauch –, aber nicht über das Stammkapital. Doch damit ist die Ausbeutung
nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Die Ausbeutung wird weniger berechnend und
erfolgt mit geringer oder gar keiner Rücksicht auf das Stammkapital. Die Ausbeutung
findet kurzsichtig statt, und der Kapitalverzehr wird systematisch gefördert.5
Politische Akteure, von einem Mehrparteiensystem mit
vorübergehenden Befugnissen ausgestattet, verspüren einen
überwältigenden (und nachweislich unwiderstehlichen) Anreiz, die
Gesellschaft so rasch und umfassend wie möglich auszuplündern.
Alles, was sie sich nicht unter den Nagel reißen oder »im Topf
lassen«, wird in der Regel von den politischen Nachfolgern geerbt,
die nicht nur nicht mit ihnen verbunden, sondern im Grunde ihre
Gegner sind und deshalb wohl alle verfügbaren Ressourcen zum
Schaden ihrer Widersacher einsetzen werden. Alles was übrig bleibt,
wird zur Waffe in den Händen des Feindes. Am besten also, man
zerstört, was nicht gestohlen werden kann. Aus Sicht eines
demokratischen Politikers ist jegliches gesellschaftliches Gut, das
weder direkt in Besitz genommen noch der eigenen Parteipolitik
zugeschanzt werden kann, reine Verschwendung und ohne Nutzen,
während sich sogar der schlimmste gesellschaftliche Missstand –
solange er nur der vorigen Regierung zugeschrieben oder bis zur
nächsten aufgeschoben werden kann – unter rationalem Kalkül als
Segen verbuchen lässt. Langfristige techno-ökonomische
Verbesserungen und die damit einhergehende Akkumulation
kulturellen Kapitals, nach althergebrachtem (Whig-)Verständnis
Quelle des gesellschaftlichen Fortschritts, sind, politisch gesehen, in
niemandes Interesse. Sobald eine Demokratie blüht und gedeiht,
gehen solche Errungenschaften unter.
Zivilisation als Prozess lässt sich von einer schwindenden
Zeitpräferenz (oder, im Vergleich mit der Zukunft, einer
abnehmenden Sorge für die Gegenwart) nicht unterscheiden. Die
sowohl in der Theorie als auch gemäß der historischen Tatsachen
die Zeitpräferenz bis zu einem Grad krampfartiger Fressgier
verschärfende Demokratie kommt daher einer präzisen Negation der
Zivilisation so nahe wie kaum etwas anderes; sie steht nur knapp vor
einem spontanen gesellschaftlichen Zusammenbruch, der letzten
Endes in mörderische Barbarei oder eine Zombie-Apokalypse
umkippt. In dem Maße, wie sich der demokratische Virus durch die
Gesellschaft frisst, werden mühsam erworbene Gewohnheiten und
Haltungen, die zu vorausschauenden, umsichtigen, menschlichen
und industriellen Investitionen führten, durch steriles, orgiastisches
Konsumverhalten, finanzielle Inkontinenz und einen politischen
Reality-TV-Zirkus ersetzt. Das Morgen könnte schon dem anderen
Team gehören, also ist es am besten, sich gleich alles
einzuverleiben.
Winston Churchill, der [angeblich] in einem neoreaktionären Stil
bemerkte, dass »das beste Argument gegen die Demokratie eine
fünfminütige Unterhaltung mit den Durchschnittswähler« sei, ist eher
bekannt für seine Behauptung, »dass Demokratie die schlechteste
aller Regierungsformen« sei, »abgesehen von allen anderen, die
bislang versucht worden sind«. Auch wenn damit nicht gerade
eingeräumt wird, »Okay, die Demokratie ist ein Ärgernis (und sie ist
wirklich ein Ärgernis), aber gibt es eine Alternative?«, liegt die
Implikation auf der Hand. Für moderne Konservative besitzt der
allgemeine Tenor dieses Empfindens einen gewissen Reiz, denn er
steht im Einklang mit ihrer sarkastischen und desillusionierten
Hinnahme eines unerbittlichen zivilisatorischen Verfalls und mit der
damit verbundenen intellektuellen Ahnung, der Kapitalismus sei ein
unappetitlicher, aber nicht zu beseitigender gesellschaftlicher
Normalzustand, der übrig bleibt, nachdem alle katastrophalen oder
auch nur unpraktischen Alternativen verworfen worden sind. In
dieser Sichtweise ist die Marktwirtschaft lediglich eine spontane
Überlebensstrategie, die sich inmitten der Ruinen einer politisch
verwüsteten Welt selbst zusammenflickt. Die Situation wird sich wohl
auf unabsehbare Zeit nur immer weiter verschlimmern. So sieht’s
aus.
Was also wäre die Alternative? (Es hat sicherlich keinen Sinn, die
1930er-Jahre daraufhin abzuklopfen.) »Können Sie sich eine post-
demokratische Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts
vorstellen? Eine, die davon ausgeht, dass sie sich von der
Demokratie erholt, so wie Osteuropa sich vom Kommunismus
erholt«, fragt Mencius Moldbug, der oberste Sith-Lord der
Neoreaktionäre. »Ich nehme an, da bin ich der Einzige«.6
Prägend für Moldbug waren austro-libertäre Einflüsse, aber das
ist vorbei. Wie er erklärt,
können Libertäre kein realistisches Bild von einer Welt wiedergeben, in der ihre Schlacht
gewonnen wird und sie auf Dauer siegreich bleiben. Also suchen sie nach Wegen, eine
Welt, in der sich der natürliche Abwärtstrend des Staates beschleunigt, wieder den
Hügel hinaufzuschieben. Dies ist ein Sisyphos-Unterfangen, und man versteht leicht,
warum sie damit so wenige Anhänger rekrutieren.7
Dass Moldbug sich der Neoreaktion zuwandte, verdankt sich der
(hobbesschen) Erkenntnis, dass Souveränität nicht eliminiert,
eingehegt oder kontrolliert werden kann. Anarchokapitalistische
Utopien werden sich niemals aus Science-Fiction
herauskristallisieren, geteilte Gewalten fließen wieder zusammen
wie ein zertrümmerter Terminator, und Verfassungen verfügen über
genauso viel Autorität, wie die Auslegung durch eine souveräne
Macht ihnen zugesteht. Der Staat verfolgt kein Ziel, weil es sich – für
die, die gerade regieren – viel zu sehr lohnt, keines zu haben, und
da sich in ihm die Souveränität konkretisiert und konzentriert, wird
niemand ihn dazu veranlassen können, etwas zu unternehmen.
Wenn der Staat nicht eliminiert werden kann, so Moldbugs
Argumentation, kann er doch zumindest von Demokratie (oder von
systematisch schlechter oder verschlechternder Regierungsführung)
geheilt werden, und damit dies gelingt, muss der Staat formalisiert
werden. Ein Ansatz, den Moldbug als »Neokameralismus«
bezeichnet.
Für einen Neokameralisten ist ein Staat ein Unternehmen, das ein Land besitzt. Wie
jedes andere Unternehmen sollte auch ein Staat verwaltet werden, indem sein
natürliches Eigentum in übertragbare Anteile aufgeteilt wird, die jeweils ein präzise
bestimmtes Kontingent des Staatsprofits erbringen. (Ein gut geführter Staat ist überaus
profitabel.) Jeder Anteil verfügt über eine Stimme, und die Anteilseigner wählen einen
Vorstand, der Manager einstellt und entlässt. Die Kunden dieses Unternehmens sind
seine Bewohner. Ein profitabel geführter neokameralistischer Staat wird wie jedes
andere Unternehmen seine Kunden effizient und effektiv bedienen. Eine schlechte
Regierung kommt einer schlechten Unternehmensführung gleich.8
Als Erstes muss der demokratische Mythos zertrümmert werden,
dass ein Staat seinen Bürgern »gehört«. Der Witz des
Neokameralismus liegt darin, die wirklichen Anteilseigner an der
souveränen Macht auszukaufen und keine sentimentalen Lügen
über massenhafte Stimmrechtsübertragung aufrechtzuerhalten.
Solange das Eigentum am Staat nicht formell in die Hände seiner
eigentlichen Herrscher übergeben wird, wird der Übergang zum
Neokameralismus schlicht nicht stattfinden, die Macht wird im
Schatten bleiben und die demokratische Farce weitergehen.
Demnach muss zweitens die herrschende Klasse plausibel
bestimmt werden. Man sollte gleich hinzufügen, dass dies, im
Widerspruch zu marxistischen Prinzipien der Gesellschaftsanalyse,
nicht die »kapitalistische Bourgeoisie« ist. Sie kann es schon
logischerweise nicht sein. Die Macht der Wirtschaftselite ist monetär
gesehen bereits eindeutig formalisiert, die Identifikation des Kapitals
mit politischer Macht ist also vollkommen überflüssig. Vielmehr gilt
es deshalb zu fragen, wen die Kapitalisten für politische
Gefälligkeiten bezahlen, wie viel diese Gefälligkeiten potenziell wert
sind und wie die Befugnis, sie zu gewähren, verteilt ist. Dies
erfordert, mit einem Minimum an moralischer Irritation, dass die
gesamte soziale Landschaft der politischen Bestechung
(»Lobbyismus«) genau kartiert wird und die Privilegien in der
Verwaltung, Gesetzgebung, im Rechtswesen, den Medien und im
akademischen Bereich, auf die solche Bestechungsgeldern abzielen,
in fungible Anteile umgewandelt werden. Insofern auch Wähler
bestechlich sind, sollten sie nicht unbedingt von dieser Berechnung
ausgenommen werden, auch wenn ihr Souveränitätsanteil mit
entsprechendem Hohn veranschlagt wird. Am Ende dieser Übung
steht die Kartierung einer herrschenden, die wahrhaft dominante
Instanz der demokratischen Staatsorganisation darstellenden Entität.
Diese wird von Moldbug als die Kathedrale bezeichnet.
Drittens ermöglicht die Formalisierung politischer Kräfte eine
effektive Regierung. Sobald das Universum demokratischer
Korruption in eine (frei übertragbare) Beteiligung an der Regierungs-
AG umgewandelt ist, können die Eigentümer des Staates,
beginnend mit der Ernennung eines CEO, eine rationale
Unternehmensführung der Regierung in die Wege leiten. Wie bei
jedem anderen Unternehmen sind die Interessen des Staates nun
präzise als Maximierung eines langfristigen Shareholder-Value
formalisiert. Für die Einwohner (die Kunden) besteht nun keinerlei
Notwendigkeit mehr, sich um Politik zu kümmern. Ein derartiges
Interesse würde sogar eher halbkriminelle Neigungen bezeugen.
Wenn die Regierungs-AG keine angemessene Gegenleistung für die
Steuern (die Souveränitätspacht) liefert, können die Bewohner die
Kundendienstfunktion aktivieren und gegebenenfalls ihre Abgaben
anderswohin verlagern. Die Regierungs-AG würde sich darauf
konzentrieren, ein effizientes, attraktives, vitales, sauberes und
sicheres Land zu führen, das in der Lage ist, Kunden anzuziehen.
Keine Stimme, freier Exit.
[Z]war ist der neokameralistische Ansatz noch nie in vollem Umfang ausprobiert worden,
doch am nächsten kommen ihm historisch wohl die Traditionen des aufgeklärten
Absolutismus im achtzehnten Jahrhundert etwa in Gestalt Friedrich des Großen und die
nichtdemokratischen Traditionen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wie sie in den
vereinzelten Überbleibseln des Britischen Imperiums wie Hongkong, Singapur oder
Dubai zu beobachten sind. Diese Staaten bieten ihren Bürgern offenbar eine sehr hohe
Dienstleistungsqualität, ohne über echte demokratische Strukturen zu verfügen. Sie
zeichnen sich durch ein Minimum an Kriminalität und einen hohen Grad an individueller
und wirtschaftlicher Freiheit aus. In der Regel sind sie äußerst wohlhabend. Schwach
sind sie nur hinsichtlich politischer Freiheit, und politische Freiheit ist per definitionem
unwichtig, solange die Regierung stabil und effektiv ist.9
In Europas klassischer Antike wurde Demokratie als gewöhnliche
Phase eines politischen Entwicklungszyklus erachtet, die in ihrem
Wesen von Grund auf dekadent war und einem Abgleiten in die
Tyrannei vorausging. Dieses klassische Verständnis ist heute völlig
verloren gegangen. Es wurde durch eine globale demokratische
Ideologie ersetzt, der jegliche kritische Selbstreflexion
abhandengekommen ist und die sich nicht als glaubwürdige
sozialwissenschaftliche These oder gar als spontanes
Volksbegehren, sondern als spezifisches, historisch zu
identifizierendes religiöses Glaubensbekenntnis geltend macht, als
überlieferte Tradition, die ich als Universalismus bezeichnen würde und die eine nicht
theistische christliche Sekte ist. Andere gängige Bezeichnungen für diese Tradition, die
alle mehr oder weniger synonym sind, lauten Progressivismus, Multikulturalismus,
Liberalismus, Humanismus, linkes Denken, politische Korrektheit und dergleichen. […]
Der Universalismus ist der vorherrschende moderne Zweig des Christentums auf der
calvinistischen Linie, der sich über unitarische, transzendentalistische und progressive
Bewegungen aus der englischen Dissenter- oder Puritanertradition entwickelt hat. Sein
Ursprungsgehölz enthält auch einige Seitenzweige, die hier genannt werden sollten,
deren christlicher Ursprung aber etwas besser kaschiert ist: rousseauscher Laizismus,
benthamscher Utilitarismus, reformiertes Judentum, comtescher Positivismus,
Deutscher Idealismus, marxistischer wissenschaftlicher Sozialismus, sartrescher
Existenzialismus, heideggersche Postmoderne usw. usf. […] Meiner Ansicht nach lässt
sich der Universalismus am besten als Mysterienkult der Macht beschreiben. […] Sich
den Universalismus ohne den Staat vorzustellen, ist ebenso schwierig wie die
Vorstellung der Malaria ohne die Mücke. […] Problematisch ist, dass diese Sache, wie
auch immer man sie nennen möchte, mindestens zweihundert und wahrscheinlich mehr
als fünfhundert Jahre alt ist. Es ist im Grunde die Reformation selbst. […] Und es sich
einfach vorzuknöpfen und es als böse anzuprangern wird etwa so gut funktionieren wie
der Versuch, Shub Niggurath vor einem Bagatellgericht zu verklagen.10
Um zu verstehen, wie unser gegenwärtiges Dilemma entstanden ist,
das sich durch unerbittliche, totalisierende11 Staatsexpansion, die
Verbreitung fadenscheiniger positiver »Menschenrechte« (von
Zwangsbürokratien unterstützte Ansprüche auf die Ressourcen
anderer), politisiertes Geld, rücksichtslose evangelikale »Kriege für
Demokratie«12 und umfassende Gedankenkontrolle zur Verteidigung
universalistischer Dogmen auszeichnet – begleitet von der
Degradierung der Wissenschaft zu einer PR-Veranstaltung der
Regierung –, gilt es, mit Moldbug zu fragen, wie es dazu kommen
konnte, dass Massachusetts die Welt eroberte. Mit jedem Jahr, das
vergeht, nähert sich das internationale Ideal einer soliden
Regierungsführung immer mehr und starrer den Standards an, die
von den Grievance-Studies der Neuengland-Universitäten festgelegt
wurden. Dies ist die göttliche Vorsehung der Diskurspathetiker und
Nivellierer, die zu einer planetarischen Teleologie erhoben wurde
und sich zur Herrschaft der Kathedrale verfestigt.
Die Kathedrale hat mit ihrem Evangelium alles ersetzt, was wir
jemals wussten. Betrachten wir nur die von den Gründervätern
Amerikas geäußerten Bedenken (zusammengestellt von »Liberty-
clinger«13).
Eine Demokratie ist nicht mehr als Pöbelherrschaft, wo 51 Prozent der Menschen die
anderen 49 Prozent ihrer Rechte berauben können.
– Thomas Jefferson
Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Lamm darüber abstimmen, was sie zu Mittag
essen sollen. Freiheit ist ein gut bewaffnetes Lamm, das die Abstimmung anficht.
– Benjamin Franklin14
Demokratie hält niemals lange an. Bald schwindet sie dahin, erschöpft sich und mordet
sich schließlich selbst. Noch nie gab es eine Demokratie, die keinen Selbstmord
begangen hätte.
– John Adams
Demokratien waren immer ein Spektakel von Turbulenzen und Auseinandersetzungen,
wurden immer als unvereinbar mit persönlicher Sicherheit oder Eigentumsrechten
erachtet und waren im Allgemeinen von so kurzer Lebensdauer, wie ihr Tod gewaltsam
war.
– James Madison
Wir sind eine republikanische Regierung, wirkliche Freiheit findet sich niemals in
Despotismus oder in den Extremen der Demokratie. […] Bemerkt wurde, dass eine reine
Demokratie, wenn sie denn praktikabel wäre, die perfekteste Regierung wäre. Die
Erfahrung hat gezeigt, dass nichts falscher sein könnte als diese Position. Die alten
Demokratien, in denen sich das Volk selbst beriet, verfügten über kein einziges Merkmal
guten Regierens. Ihr Wesen war die Tyrannei …
– Alexander Hamilton
Teil 2: Der Bogen der Geschichte ist weit, aber
er neigt sich zur Zombie-Apokalypse
David Graeber: Wenn man dies logisch zu Ende denkt, dann scheint mir, dass der
einzige Weg zu einer wirklich demokratischen Gesellschaft auch darin bestünde, in
diesem Staat den Kapitalismus abzuschaffen.
Marina Sitrin: Mit dem Kapitalismus können wir keine Demokratie haben. […]
Demokratie und Kapitalismus funktionieren nicht zusammen.15
Mencius Moldbug: Das ist immer das Problem mit der Geschichte. Immer sieht es
danach aus, als sei sie vorbei. Aber sie ist nie vorbei.16
»Demokratie« und »Freiheit« zusammen zu googeln, ist, auf dunkle
Weise, überaus erhellend. Zumindest im Cyberspace wird deutlich,
dass nur eine kleine Minderheit die Kopplung dieser beiden Begriffe
positiv erachtet. Beurteilt man die öffentliche Meinung gemäß der
Google-Spinne und ihrer digitalen Beute, wird die Paarung,
abgeleitet aus der reaktionären Einsicht, dass die Demokratie eine
tödliche Bedrohung für die Freiheit darstellt und letztlich für ihre
Beseitigung sorgt, in den meisten Fällen als unvereinbar und als
entgegengesetzt betrachtet. Die Demokratie ist für die Freiheit, was
Gargantua für einen Kuchen ist (»Sie sehen doch, wir lieben die
Freiheit so sehr, dass der Magen knurrt und uns das Wasser im
Munde zusammenläuft.«)
Steve H. Hanke legt den Fall in seinem kurzen Essay On
Democracy Versus Liberty,17 dessen Hauptaugenmerk der
amerikanischen Erfahrung gilt, eindringlich dar.
Die meisten Menschen, auch die meisten Amerikaner, wären überrascht zu erfahren,
dass das Wort »Demokratie« weder in der Unabhängigkeitserklärung (1776) noch in der
Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1789) auftaucht. Sie wären auch
schockiert, wenn sie erfahren würden, aus welchem Grund das Wort »Demokratie« in
den Gründungsdokumenten der USA fehlt. Im Gegensatz zu dem, was die Propaganda
die Öffentlichkeit glauben macht, betrachteten Amerikas Gründerväter die Demokratie
skeptisch und besorgt. Sie waren sich der Übel bewusst, die mit einer Tyrannei der
Mehrheit einhergehen. Die Autoren der Verfassung unternahmen große Anstrengungen,
um sicherzustellen, dass die Bundesregierung nicht auf dem Willen der Mehrheit
beruhte und daher auch nicht demokratisch war.
Wenn die Verfassungsväter die Demokratie nicht begrüßten, woran hielten sie sich
dann? Sie stimmten ausnahmslos darin überein, dass der Zweck einer Regierung darin
bestehe, die Bürger der von John Locke formulierten Dreiheit des Rechts auf Leben,
Freiheit und Eigentum zu versichern.
Er führt aus:
Die Verfassung ist in erster Linie ein Struktur- und Verfahrensdokument, in dem
festgelegt ist, wer die Macht ausüben soll und wie sie ausgeübt wird. Große Bedeutung
wird der Gewaltenteilung und den Checks and Balances im System beigemessen. Es
handelt sich dabei nicht um ein kartesianisches Konstrukt oder eine Formel, die auf
gesellschaftliche Prozesse angewendet wird, sondern um einen Schutzschild, der das
Volk vor der Regierung schützen soll. Kurz gesagt, die Verfassung sollte die Regierung
und nicht das Volk regieren. Die Bill of Rights legt die Rechte des Volkes fest und
schützt sie gegen Verletzungen durch den Staat. Das Einzige, was die Bürger, gemäß
der Bill of Rights, vom Staat verlangen können, ist eine Verhandlung durch eine Jury.
Die übrigen Rechte der Bürger betreffen den Schutz vor dem Staat. Etwa ein
Jahrhundert lang nach der Ratifizierung der Verfassung waren Privateigentum, Verträge
und freier Binnenhandel in den Vereinigten Staaten sakrosankt. Befugnisse und
Spielraum der Regierung blieben äußerst eingeschränkt. All dies stand im höchsten
Einklang mit dem, was unter Freiheit verstanden wurde.
Nun da der Geist der Reaktion seine Sith-Tentakel in die Gehirne
gräbt, wird es schwierig, sich zu vergegenwärtigen, welchen Sinn
das klassische (oder nichtkommunistische) progressive Narrativ
einst gehabt haben soll. Was dachten die Leute damals? Was
erwarteten sie von dem aufkommenden, mit allen Vollmachten
ausgestatteten, populistischen, kannibalistischen Staat? War denn
das kommende Unheil nicht absehbar? Wie konnte man überhaupt
je ein Liberaler (Whig) sein?
Die ideologische Glaubwürdigkeit der radikalen Demokratisierung
steht natürlich außer Frage. Denker vom Schlage des (christlich
progressiven) Walter Russel Mead bis hin zu dem (atheistisch
reaktionären) Mencius Moldbug haben erschöpfend klargemacht,
wie sehr sie mit dem ultra-protestantischen religiösen Eifer
übereinstimmt, sodass ihr Potenzial, die revolutionäre Seele zu
begeistern, niemanden überraschen sollte. Nur wenige Jahre,
nachdem Martin Luther das kirchliche Establishment herausgefordert
hatte, waren in ganz Deutschland aufständische Bauern dabei, ihre
Klassenfeinde aufzuhängen.
Die empirische Glaubwürdigkeit des demokratischen Fortschritts
ist bei weitem verblüffender und von der Sache her ebenso komplex
(das heißt kontrovers, oder genauer, sie lohnt eine datenbasierte,
streng argumentative Auseinandersetzung). Dies liegt zum Teil
daran, dass die moderne Ausgestaltung der Demokratie im Zuge
einer viel breiteren modernen Strömung entsteht, deren technisch-
wissenschaftlichen, ökonomischen, gesellschaftlichen und
politischen Stränge in unklarem Zusammenhang stehen und aus
irreführenden Korrelationen und daraus folgenden falschen
Ursächlichkeiten zusammengestrickt sind. Wenn, wie Schumpeter
argumentiert, der industrielle Kapitalismus dazu neigt, eine
demokratischbürokratische Kultur hervorzubringen, die in der
Stagnation endet, könnte es gleichwohl den Anschein erwecken, als
ob Demokratie mit materiellem Fortschritt »assoziiert« wäre. Ein
verzögerter Indikator kann schnell als Ursache missverstanden
werden, vor allem dann, wenn die Voreingenommenheit
ideologischen Eifers in die Fehleinschätzung hineinspielt. In
ähnlicher Manier könnte Krebs, da er ja nur Lebewesen befällt, aus
gutem Grund mit Vitalität gleichgesetzt werden.
Robin Hanson bemerkt (nachsichtig):18
Ja, viele Entwicklungen sind seit etwa einem Jahrhundert im Aufwind, und ja, dies
deutet darauf hin, dass sie noch etwa ein Jahrhundert lang anwachsen werden. Aber
nein, dies bedeutet nicht, dass die Studenten empirisch oder moralisch falsch liegen,
wenn sie es für eine »utopische Fantasie« halten, dass man »Armut, Krankheit,
Tyrannei und Krieg beenden könnte«, indem man sich den auf heutige Verhältnisse
angepassten politischen Bestrebungen eines Kennedy anschließt. Warum? Weil positive
Entwicklungen in diesen Bereichen nicht sonderlich stark durch derartige politische
Bewegungen verursacht wurden! Sie sind vor allem darauf zurückzuführen, dass wir
aufgrund der industriellen Revolution reich geworden sind, ein Vorgang, auf den
politische Bewegungen in der Regel, wenn überhaupt, eher zurückhaltend einzugehen
pflegten.
Die einfache historische Chronologie legt nahe, dass die
Industrialisierung eher zur progressiven Demokratisierung beiträgt,
als dass sie aus ihr hervorgeht. Diese Beobachtung hat sogar eine
breit anerkannte Schule populärer sozialwissenschaftlicher Theorie
entstehen lassen, der zufolge Gesellschaften zur Demokratie
»heranreifen«, wenn bestimmte Schwellen des Überflusses oder der
Ausbildung einer Mittelklasse erreicht sind. Das streng logische
Korrelat solcher Ideen, nämlich dass die Demokratie im Hinblick auf
den materiellen Fortschritt absolut unproduktiv ist, wird
normalerweise kaum hervorgehoben. Demokratie konsumiert den
Fortschritt. Aus Sicht der dunklen Aufklärung betrachtet bietet sich
als einzige Analysemethode, die dem Demokratie-Phänomen
gerecht wird, die allgemeine Parasitologie an.
Quasi-libertäre Reaktionen auf den Ausbruch akzeptieren dies
implizit. Hat man es mit einer Population zu tun, die stark vom
Zombievirus durchseucht ist und in den kannibalistischen
Gesellschaftszusammenbruch torkelt, ist Quarantäne die bevorzugte
Option. Dabei ist nicht die kommunikative Isolation
ausschlaggebend, sondern eine funktionale Entsolidarisierung der
Gesellschaft, die die Rückkopplungsschleifen enger werden lässt
und die Menschen mit maximaler Intensität den Folgen ihres
eigenen Handelns aussetzt. Im genauen Umkehrschluss gilt:
Gesellschaftliche Solidarität ist des Parasiten Freund. Indem eine
radikal demokratisierte Gesellschaft alle hochfrequenten
Rückkopplungsmechanismen (wie etwa Marktsignale) unterbindet
und sie durch schwerfällige Infrarotschleifen ersetzt, die ein
zentralisiertes Forum des »Gemeinwillens« durchlaufen, isoliert sie
das Parasitische von seinen Auswirkungen, und verwandelt örtliche,
qualvoll dysfunktionale, unerträgliche und von daher dringend zu
korrigierende Verhaltensweisen in umfassend erstarrte und
chronisch gesellschaftspolitische Pathologien.
Wenn du anderer Menschen Körperteile abnagst, wirst du kaum
mehr einen Job finden. Dies ist die Lektion, die eine kybernetisch
dichte und von unmittelbaren Rückwirkungen geprägte Laissez-faire-
Ordnung lehren würde. Es entspricht auch genau der unsensiblen
zombiephoben Diskriminierung, die jede mitfühlende Demokratie als
Gedankenverbrechen anprangern würde, die aber zugleich den
öffentlichen Haushalt im Namen der Halbtoten aufbläht, indem sie
bewusstseinsbildende Kampagnen für Leute durchführt, die unter
dem unfreiwilligen kannibalistischen Impulssyndrom leiden, indem
sie die Würde des Zombie-Lebensstils in den Lehrplänen höherer
Bildungseinrichtungen fördert und Arbeitsbedingungen streng
reguliert, um sicherzustellen, dass die schlurfenden Untoten nicht zu
Opfern profit- und leistungsorientierter oder gar unverbesserlich
motivierungsbesessener Arbeitgeber werden.
Während die aufgeklärte Zombie-Toleranz im Schutz des
demokratischen Megaparasiten prächtig gedeiht, wirft ein kleiner
verbleibender Haufen von Reaktionären, die noch etwas für die
Wirkung echter Anreize übrig haben, die formelhafte Frage auf:
»Ihnen ist doch klar, dass diese Politik unvermeidlich zu einer
massiven Ausweitung der Zombie-Population führt?« Der dominante
Vektor der Geschichte wird dafür sorgen, dass solche ärgerlichen
Einwände verdrängt, ignoriert und wenn möglich durch soziale
Ächtung mundtot gemacht werden. Entweder baut der verbleibende
Haufen die Kellerräume aus und erhöht die Lagerbestände an
Trockennahrung, Munition und Silbermünzen, oder er beantragt
schleunigst einen zweiten Pass und packt seine Sachen.
Wem dies allzu abgekoppelt von historischen Fakten erscheint,
für den gibt es ein bequemes geografisches Heilmittel: ein etwas
abschweifendes Channel-hopping nach Griechenland. Als in
Echtzeit ablaufendes Modell, das den Tod des Westens wie in einem
Mikrokosmos spiegelt, entfaltet die Geschichte Griechenlands
hypnotisierende Wirkung. Sie beschreibt einen Bogen von 2500
Jahren, der von der Proto-Demokratie bis zur Zombie-Apokalypse
reicht und alles andere als erbaulich, dafür aber auf unwiderstehliche
Weise dramatisch ist. Das Modell besitzt den besonderen Vorzug,
dass es den demokratischen Mechanismus in extremis perfekt
veranschaulicht, einen Mechanismus, der das Verhalten von
Einzelpersonen und lokalen Bevölkerungsgruppen durch groß
angelegte, zentralisierte Umverteilungssysteme auf eine Weise
durcheinanderbringt, dass sie die Folgen ihrer Entscheidungen nicht
mehr zu tragen haben. Du entscheidest, was du tust, stimmst dann
aber über die Folgen ab. Wer könnte da nein sagen?
Es dürfte kaum überraschen, dass sich die Griechen nach über
dreißig Jahren EU-Mitgliedschaft voller Eifer an einem
sozialtechnischen Megaprojekt beteiligt haben, das alle
gesellschaftlichen Kurzwellensignale herausfiltert und sämtliche
Rückwirkungen in den grandiosen Schaltkreis der europäischen
Solidarität einspeist, der sicherstellt, dass jede wirtschaftsrelevante
Information in der Hitzetod-Wanne der Europäischen Zentralbank
eine Rotverschiebung erleidet.19 Vor allem hat sich dieses Projekt
mit »Europa« verschworen, um alle Informationen auszumerzen, die
in den griechischen Zinssätzen enthalten sein könnten, und somit
jede finanzielle Rückwirkung auf innenpolitische Entscheidungen zu
unterbinden.
Dies ist Demokratie in einer Endform, die jeder weiteren
Vervollkommnung trotzt, entspricht doch nichts genauer dem
»Gemeinwillen« als die Abschaffung der Realität von Gesetzes
wegen, und nichts verabreicht der Realität den Schierlingsbecher mit
größerer Zuverlässigkeit als die Koppelung teutonischer Zinssätze
mit den Ausgabeentscheidungen im östlichen Mittelmeerraum. Lebe
wie die Hellenen und zahle wie die Deutschen – jede politische
Partei, die mit einem solchen Programm nicht an die Macht zu
kommen vermag, verdient es, in der Wildnis nach dem, was die
Geier noch übriggelassen haben, scharren zu müssen. Denn es ist
ein Selbstläufer par excellence, in jeder nur denkbaren Form dieses
Ausdrucks. Was sollte da schon schiefgehen?
Um auf den Punkt zu kommen: Was ist schiefgelaufen? Mencius
Moldbug beginnt seinen Text »How Dawkins Got Pwned« (»Wie
Dawkins erledigt wurde«) aus der Reihe Unqualified Reservations
damit, die Regeln zu skizzieren, nach denen ein hypothetischer
»optimal memetischer Parasit mit größtmöglicher Virulenz«
entworfen werden müsste.20 »Er wäre hoch ansteckend,
gesundheitlich überaus schädlich und würde sich hartnäckig halten.
Ein wirklich hässlicher Bazillus.« Verglichen mit dieser ideologischen
Superpest würde der verkümmerte Monotheismus, der in Dawkins‘
Der Gotteswahn verspottet wird, nicht schlimmer aussehen als eine
halbwegs unerquickliche Kopfgrippe. Was als abstraktes Meme-
Gebastel beginnt, endet, im Modus der dunklen Aufklärung, als
Geschichte im großen Stil:
Meiner Meinung nach ist Professor Dawkins nicht nur ein christlicher Atheist. Er ist ein
protestantischer Atheist. Und er ist nicht bloß ein protestantischer Atheist. Er ist ein
calvinistischer Atheist. Und er ist nicht nur ein calvinistischer Atheist. Er ist ein anglo-
calvinistischer Atheist. Anders gesagt, er kann auch als Puritaner-Atheist, Dissenter-
Atheist, Nonkonformisten-Atheist und als evangelikaler Atheist usw. usf. bezeichnet
werden.
Diese kladistische Taxonomie zeichnet Professor Dawkins‘ intellektuelle Abstammung
etwa vierhundert Jahre bis in die Ära des Englischen Bürgerkriegs nach. Vom
Atheismus-Aspekt abgesehen, weist Professor Dawkins‘ innere Verfassung eine
bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Rantern, Levellern, Diggern, Quäkern,
Männern des fünften Königreichs oder sonst einer der extremeren englischen
Abweichlertraditionen auf, die während des cromwellschen Interregnums ihre Blüten
trieben.
Offen gesagt, diese Leute waren schräge Vögel. Wahnsinnige Fanatiker. Jeder normale
englischer Denker des siebzehnten, achtzehnten oder neunzehnten Jahrhunderts, der
erfahren würde, dass diese Tradition (oder ihre moderne Variante) heute die auf der
Erde vorherrschende christliche Konfession darstellt, würde darin ein Zeichen der
bevorstehenden Apokalypse sehen. Überzeugt davon, dass diese Denker irren? Dann
wissen Sie mehr als ich.
Glücklicherweise war Cromwell selbst vergleichsweise moderat. Unter dem Protektorat
hielten die extremen ultra-puritanischen Sekten zu keinem Zeitpunkt die Macht
verlässlich in ihren Händen. Von noch größerem Glück ist, dass Cromwell alt wurde, und
als er starb, starb auch die nach ihm benannte Strömung mit ihm.
Ein guter Parasit lässt sich jedoch nicht unter Kontrolle halten. Puritanergemeinschaften
flohen nach Amerika und gründeten die theokratischen Kolonien Neu-Englands. Nach
den militärischen Siegen in der Amerikanischen Revolution und dem
Unabhängigkeitskrieg befand sich der amerikanische Puritanismus auf dem Weg zur
Weltherrschaft. Seine Siege im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg
festigten seine globale Hegemonie. Heute leitet sich das gesamte zulässige
Mainstreamdenken der Welt von den amerikanischen Puritanern und über diese von
den englischen Dissentern ab.21
Angesichts des Aufstiegs dieses »wirklich hässlichen Bazillus« zur
Weltherrschaft mag es sich merkwürdig ausnehmen, sich auf eine
Nebenfigur wie Dawkins einzuschießen, doch Moldbug hat sein Ziel
aus wohlbegründeten strategischen Gründen gewählt. Er identifiziert
sich zwar mit Dawkins‘ Darwinismus, mit dessen intellektueller
Zurückweisung der abrahamitischen Gotteslehre und mit dessen
Eintreten für wissenschaftliche Rationalität. Entscheidend jedoch ist
seine Wahrnehmung, dass sich Dawkins‘ Kritikfähigkeit – abrupt und
auf oft komische Weise – abschaltet, wo sie sein noch größeres
Engagement für den hegemonialen Progressivismus in Gefahr
bringen könnte. In diesem Sinne ist Dawkins überaus
symptomatisch. Militanter Säkularismus ist selbst eine modernisierte
Variante des abrahamitischen Meta-Memes, auf seinem anglo-
protestantischen, radikal demokratischen taxonomischen Ast,
dessen spezifische Tradition im Antitraditionalismus besteht. Der
lautstarke Atheismus von Der Gotteswahn ist eine schützende Finte
und stellt eine konsequente Aktualisierung religiöser Reformation dar
– geleitet von einem progressiven Enthusiasmus, der Empirie und
Vernunft übertrumpft und zugleich für einen reizbaren Dogmatismus
steht, der dem, was an früheren Gotteserörterungen zu finden ist, in
nichts nachsteht.
Dawkins ist nicht nur ein aufgeklärter, moderner, progressiver, und
vorbehaltlos radikaler Demokrat, er ist auch ein beeindruckend
renommierter Wissenschaftler, genauer ein Biologe, und (von daher)
ein Verfechter der darwinschen Evolutionslehre. Der Punkt, an dem
er an die Grenze akzeptablen, vom memetischen Superbazillus
vorgeschriebenen Denkens gelangt, ist dementsprechend leicht zu
antizipieren. In seiner Tradition des Low-Church-
Ultraprotestantismus ist Gott als Ort spirituellen Engagements durch
den Menschen ersetzt worden, und »der Mensch« unterliegt bereits
seit über 150 Jahren einem der darwinistischen Forschung
geschuldeten Auflösungsprozess. (Korrekt und anständig wie Sie
sind und wo Sie sich schon so weit auf Moldbug eingelassen haben,
murmeln Sie wohl schon in Ihren Bart, bitte, bitte, nehmen Sie jetzt
nicht auch noch das Wort Rasse in den Mund, bloß nicht Rasse,
bitte, oh, bitte, im Namen des Zeitgeistes und des lieben süßen
Nicht-Gottes des Fortschritts, bitte nicht Rasse …) … aber Moldbug
zitiert bereits Dawkins, der Thomas Huxley zitiert: »… in der Lage
sein wird, in einem Wettbewerb, bei dem es um Gedanken und nicht
um Bisse geht, erfolgreich mit seinem Rivalen zu konkurrieren, der
ein größeres Gehirn und kleinere Kiefer hat. Die höchsten Plätze in
der Hierarchie der Zivilisation werden sicherlich nicht in Reichweite
unserer dunklen Vettern liegen.«22 Dies rahmt Dawkins mit der
Bemerkung ein: »Wäre[] Huxley […] in unserer Zeit geboren und
erzogen worden, so wäre[] [er] wie wir vor [seinen] eigenen
viktorianischen Empfindungen und [seinem] salbungsvollen Tonfall
zurückgeschreckt. Ich zitiere [diese Sätze] nur, um deutlich zu
machen, wie sich der Zeitgeist wandelt.«23
Es wird noch schlimmer. Moldbug hält anscheinend Huxleys Hand
und … (iiihh) streichelt sogar dessen Handfläche mit seinem Finger.
Dies ist mit Sicherheit keine weichgespült-libertäre reaktionäre
Haltung mehr – es wird wirklich finster und schaurig. »Ganz im
Ernst, welche Beweise sprechen für Verbrüderung? Warum genau
glaubt Professor Dawkins, dass alle Neohominiden von Geburt an
das gleiche Potenzial neurologischer Entwicklung besitzen? Darüber
verliert er kein Wort. Er meint wohl, es läge auf der Hand.«24
Wie auch immer man zu den jeweiligen wissenschaftlichen
Begründungen der biologischen Vielfalt beziehungsweise
Einheitlichkeit des Menschen stehen mag, es ist sicherlich
unbestreitbar, dass allein letztere Annahme toleriert wird. Denn
selbst wenn progressiv-universalistische Überzeugungen über die
menschliche Natur wahr sind, werden sie nicht vertreten, weil sie
wahr oder durch einen Prozess zustande gekommen sind, der den
Plausibilitätstest für kritische wissenschaftliche Rationalität besteht.
Vielmehr werden sie als religiöse Glaubenssätze angenommen, mit
all der leidenschaftlichen Intensität, die wesentliche Glaubensinhalte
charakterisiert, und werden sie infrage gestellt, dann nicht ihrer
etwaigen wissenschaftlichen Ungenauigkeit, sondern ihrer
politischen Unkorrektheit wegen, wie heute bezeichnet wird, was wir
früher als Ketzerei kannten.
Diese transzendente moralische Haltung gegenüber dem
Rassismus zu pflegen ist nicht rationaler, als der Lehre von der
Erbsünde anzuhängen, deren modernes Substitut der Rassismus
mit Sicherheit unverkennbar ist. Der Unterschied liegt natürlich darin,
dass es sich bei der »Erbsünde« um eine traditionelle Doktrin
handelt, die – verfochten von einer bedrängten gesellschaftlichen
Gruppe und unter Intellektuellen und Medienvertretern deutlich
unterrepräsentiert – in der vorherrschenden Weltkultur als zutiefst
unmodern erachtet und weithin kritisiert, wenn nicht gar verspottet
wird, ohne dass sofort davon ausgegangen wird, ihre Kritiker würden
Mord, Diebstahl oder Ehebruch befürworten. Stellt man andererseits
den Rassismus in seinem Status als größte gesellschaftliche Sünde
infrage, wird man eine universelle Verurteilung durch die sozialen
Eliten auf sich ziehen und Gedankenverbrechen verdächtigt, die von
Sklaverei-Befürwortung bis zu Völkermordfantasien reichen. Der
Rassismus ist das reine oder absolut Böse, dessen eigentliche
Sphäre nicht in den alltäglichen Bereichen der gesellschaftlichen
Interaktion, des sozialwissenschaftlichen Realismus oder einer
effizienten und verhältnismäßigen Rechtmäßigkeit liegt, sondern im
Unendlichen und Ewigen oder in den aufwieglerisch sündigen Tiefen
der hyperprotestantischen Seele verortet wird. Die Asymmetrie von
Affekt, Sanktion und roher gesellschaftlicher Macht, die alten
Irrlehren und ihren modernen Surrogaten anhängt, ist, sobald sie
einem bewusst geworden ist, ein quälender Gradmesser. Eine neue
Sekte treibt ihr Unwesen, und sie tut es noch nicht einmal unbedingt
im Verborgenen.
Doch selbst für die hartgesottensten Anhänger der menschlichen
Biodiversität reicht die hysterische Heiligung der plus-guten
Rassendenke kaum aus, um der radikalen Demokratie die von
Moldbug attestierte Aura fortgeschrittener Morbidität zuzusprechen.
Dazu braucht es schon eine hingebungsvolle Beziehung zum Staat.
Teil 3
Der vorhergehende Teil dieser Serie endete damit, dass sich unser
Held Mencius Moldbug, bis zur Hüfte (oder noch tiefer) im
mephitischen Sumpf der politischen Unkorrektheit steckend, dem
dunklen Kern seiner politischreligiösen Meditation »How Dawkins
Got Pwned« nähert. Moldbug hat Dawkins bei einer symptomatisch
bedeutsamen und entsetzlich scheinheiligen Anprangerung von
Thomas Huxleys rassistischen »viktorianischen Empfindungen«
erwischt – eine Moralpredigt, die mit der seltsamen Erklärung endet,
er zitiere Huxleys Worte trotz ihrer selbstverständlichen und völlig
unerträglichen Grausamkeit nur, »um deutlich zu machen, wie sich
der Zeitgeist wandelt«.
Moldbug holt zum Schlag aus, in dem er pointiert fragt: »Was
genau hat es mit diesem Zeitgeist-Ding auf sich?« Unbestreitbar ein
außergewöhnlicher Treffer. Hier stolpert ein als Biologe
ausgebildeter Denker (Dawkins), der besonders von den beiden
(nicht unbedingt zusammenhängenden) Themen natürliche
Evolution und abrahamitische Religion fasziniert ist, über eine
Sache, die er als unumkehrbare Tendenz der weltgeschichtlichen
geistigen Entwicklung begreift, der er dann aber – nachdrücklich,
doch ohne sich auf die Vernunftdisziplin und Beweise zu berufen –
jegliche ernsthafte Verbindung zum Fortschritt der Wissenschaft, der
Humanbiologie oder der religiösen Tradition abspricht. Der
stotternde Unsinn, der daraus resultiert, lässt einen staunen, aber
Moldbug erkennt darin einen Sinn:
Tatsächlich ist Professor Dawkins’ Zeitgeist […] nicht zu unterscheiden von […] dem
alten anglo-calvinistischen oder puritanischen Konzept der Vorsehung. Vielleicht ist dies
eine falsche Übereinstimmung. Aber es ist eine ziemlich enge Übereinstimmung.
Ein anderes Wort für Zeitgeist ist Fortschritt. Es überrascht nicht, dass Universalisten
gerne an den Fortschritt glauben – in einem politischen Kontext bezeichnen sie sich
tatsächlich oft als Progressive. Der Universalismus hat in der Tat seit 1913 [dem
Zeitpunkt von Huxleys peinlicher Bemerkung] gewisse Fortschritte gemacht. Allerdings
ist damit die Behauptung, der Universalismus sei eine parasitische Tradition, kaum
widerlegt. Was für die Zecke Fortschritt bedeutet, ist keiner für den Hund.25
Was genau hat es mit diesem Zeitgeist-Ding auf sich? Die Frage
verlangt danach, wiederholt zu werden. Ist es zunächst einmal nicht
verwunderlich, dass ein englischer Darwinist, der, um einem anderen
einen Hieb zu versetzen, als Knüppel am ehesten zu einem auf eine
abstruse Abstammungslinie staatsverehrender idealistischer
Philosophie zurückgehendes deutsches Wort greift, mit dem explizit
eine Auffassung historischer Zeit verbunden ist, die in keinem
erkennbaren Zusammenhang mit der natürlichen Evolution steht?
Das ist, als hörte man, kaum vorstellbar, während einer
vergleichbaren Auseinandersetzung unter Physikern (zum Thema
der Quantenunbestimmtheit) plötzlich den Ausruf: »Gott würfelt nicht
mit dem Universum.« Tatsächlich sind die beiden Beispiele eng
miteinander verwoben, da Dawkins’ Glaube an den Zeitgeist mit dem
Festhalten am dogmatischen Progressivismus der »einsteinschen
Religion« (die natürlich von Moldbug akribisch seziert wurde26)
verbunden ist.
Diese Schamlosigkeit ist bemerkenswert, zumindest wäre es sie,
wenn man naiv glaubte, die Protokolle wissenschaftlicher
Rationalität würden wenigstens prinzipiell eine souveräne Position in
einer solchen Debatte einnehmen. Tatsächlich aber – und hier gerät
die Ironie an den Rand einer Heulpsychose – herrscht noch immer
»Der Alte«, wie Einstein ihn nannte. Die Beurteilungskriterien
verdanken alles der neopuritanischen Geisteshygiene und überhaupt
nichts der überprüfbaren Realität. Wissenschaftliche Äußerungen
werden auf Konformität mit einer progressiven gesellschaftlichen
Agenda überprüft, deren Autorität durch ihre völlige Gleichgültigkeit
gegenüber wissenschaftlicher Integrität nicht beeinträchtigt zu
werden scheint. Moldbug fühlt sich aus verständlichen Gründen an
Lyssenko erinnert.
»Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen –
umso schlimmer für die Tatsachen«, beteuerte [angeblich] Hegel.
Der Zeitgeist, das ist Gott, der historisch gesehen im Staat seine
Verkörperung findet und als solcher reine Fakten zurück in den
Schmutz trampelt. Mittlerweile weiß wohl jeder, womit das endet. Ein
egalitäres moralisches Ideal, das sich zu einem universellen Axiom
oder einem zunehmend unanfechtbaren Dogma erhärtet hat,
vervollständigt die höchste historische Ironie der Moderne, indem sie
die »Toleranz« zu einem eisernen Kriterium für die Grenzen
(kultureller) Tolerierung erhebt. Wird erst einmal universell – oder
praktikabler ausgedrückt, von allen mit erheblicher kultureller
Deutungshoheit versehenen gesellschaftlichen Kräften – akzeptiert,
dass Intoleranz intolerabel ist, ist es der politischen Macht gelungen,
alles, was ihr genehm ist, ohne Einschränkung zu legitimieren.
Das ist die Magie der Dialektik beziehungsweise der logischen
Perversion. Wenn nur noch die Toleranz tolerabel ist und jeder (von
Bedeutung) diese offenkundig unsinnige Formel als nicht nur rational
nachvollziehbar, sondern universell gefestigtes Prinzip modernen
Demokratieglaubens akzeptiert, dann bleibt nur noch Politik.
Vollkommene Toleranz und absolute Intoleranz sind logisch
ununterscheidbar geworden, wobei sich das eine jeweils als das
andere deuten lässt, A = Nicht-A, oder umgekehrt, und in der
unverhohlen orwellschen Welt, die daraus resultiert, besitzt die
Macht die alleinige Deutungshoheit. Mit der Toleranz ist es so weit
gekommen, dass sie eine gesellschaftliche Polizeifunktion
eingenommen hat, die einen existenziellen Vorwand für neue
inquisitorische Institutionen liefert. (»Wir sollen uns daran erinnern,
dass die, die Intoleranz tolerieren, die Toleranz selbst missbrauchen,
und ein Feind der Toleranz ist ein Feind der Demokratie«, formuliert
Moldbug ironisch.27)
Die für den klassischen Liberalismus charakteristische spontane
Toleranz, die in einer bescheidenen Reihe strikt negativer Rechte
wurzelte und die politische Sphäre beziehungsweise die Intoleranz
der Regierung beschränkte, kapituliert während der demokratischen
Sturmflut vor einem positiven Recht, toleriert zu werden, das sich
nach und nach zu einem substanziellen Anspruch ausweitet und
öffentliche Beteuerungen der Würde, eine staatlich verordnete
Gleichbehandlungsgarantie durch öffentliche wie private Akteure,
staatlichen Schutz gegen nicht tätliche Beleidigungen und
Demütigungen, Wirtschaftssubventionen und – zu guter Letzt – eine
statistisch ermittelte proportionale Repräsentation auf allen Feldern
der Beschäftigung, Leistung und Anerkennung umfasst. Dass die
eschatologische Kulmination dieser Tendenz schlicht und einfach
unmöglich ist, kümmert die Dialektik nicht im Mindesten. Im
Gegenteil, sie dynamisiert den politischen Prozess noch, indem sie
drohende Politikverdrossenheit im Treibstoff endloser Beschwerden
und Klagen in Flammen aufgehen lässt. »Ich lasse nicht vom
geist’gen Kampf, / Nicht ruht das Schwert in meiner Hand, / Bis wir
Jerusalem erbaut / in Englands grünem, schönem Land.«28 Doch auf
halber Strecke, bevor Jerusalem erreicht ist, ist der unartikulierte
Pluralismus einer freien Gesellschaft in den affirmativen
Mutikulturalismus einer soft-totalitären Demokratie verwandelt
worden.
Die Juden im Amsterdam des siebzehnten oder die Hugenotten
im London des achtzehnten Jahrhunderts genossen das Recht, in
Ruhe gelassen zu werden, und bereicherten im Gegenzug die
Gesellschaften ihrer Gastgeber. Die demokratisch in ihr Recht
gesetzten Opfergruppen der späteren Neuzeit werden von den
politischen Führern dazu angestachelt, ein (im Kern illiberales)
Recht, gehört zu werden, einzufordern, mit überwiegend bösartigen
gesellschaftlichen Konsequenzen. Welches Eigeninteresse Politiker
verfolgen, die sich selbst als Stimme der Ungehörten und
Übergangenen verstehen und verkaufen, dürfte dabei auf der Hand
liegen.
Toleranz, zu deren Voraussetzung einst die Nichtbeachtung
gehörte, verunglimpft diese nun und wird damit zu ihrem Gegenteil.
Wäre dies eine parteipolitische Entwicklung – was sie nicht ist –,
böte eine demokratisch verfasste Parteipolitik die Möglichkeit zur
Umkehr. »Wenn jemand leidet, muss die Regierung sich bewegen«,
erklärte der »mitfühlend konservative« US-Präsident George W.
Bush in einem vergeblichen Versuch, der Kathedrale nach dem
Mund zu reden. Wenn die »Rechte« so klingt, ist sie nicht nur tot,
sondern stinkt unverkennbar nach fortschreitender Verwesung. Der
»Fortschritt« hat gewonnen, aber ist das so schlecht? Moldbug geht
die Frage rigoros an:
Wenn eine Tradition ihre Träger zu Fehleinschätzungen veranlasst und deren
persönliche Ziele gefährdet, weist sie eine misessche Morbidität auf. Wenn sie ihre
Träger zu einem Handeln veranlasst, das die Fortpflanzungsinteressen ihrer Gene
beeinträchtigt, weist sie eine darwinsche Morbidität auf. Wenn das Festhalten an einer
Tradition individuell von Vorteil oder neutral (Überläufer werden belohnt oder zumindest
nicht bestraft), aber schädlich für die Gemeinschaft ist, ist die Tradition parasitär. Wenn
das Bekenntnis zu einer Tradition für den Einzelnen nachteilig, für die Gemeinschaft
aber vorteilhaft ist, ist die Tradition altruistisch. Wenn sie für den Einzelnen wie für die
Gemeinschaft zum Guten ausfällt, ist sie symbiotisch. Wenn sie für den Einzelnen und
die Gemeinschaft schädlich ist, ist sie bösartig. All diese Charakterisierungen lassen
sich sowohl auf die misessche als auch die darwinsche Morbidität anwenden. Ein Motiv,
das keine Rationalität aufweist und weder misessche noch darwinsche Morbidität
erkennen lässt, ist nur unbedeutend morbid.29
Verhaltenstheoretisch gesehen sind das misessche wie das
darwinsche System Cluster aus »egoistischen« Anreizen, die jeweils
auf die Eigentumsvermehrung und die Genverbreitung ausgerichtet
sind. Während die Darwinisten die »misesianische« Sphäre als
Spezialfall genetisch eigennütziger Motivation begreifen, ist die
österreichische Tradition, die in einem stark rationalisierten
neokantianischen Antinaturalismus wurzelt, prädisponiert, einem
solchen Reduktionismus zu widerstehen. Die Auswirkungen dieses
Wettstreits mögen letztlich zwar beträchtlich ausfallen, doch unter
den gegenwärtigen Bedingungen handelt es sich um einen eher
nebensächlichen Zwist, da beide Formationen im »Hass« vereint
sind, will heißen in ihrer reaktionären Toleranz gegenüber
Anreizstrukturen, die die Unangepassten bestrafen.
»Hass« ist ein Wort, über das man nachsinnen sollte. Es zeugt
mit besonderer Klarheit von der religiösen Orthodoxie der
Kathedrale, und seine Besonderheiten verdienen es, sorgfältig unter
die Lupe genommen zu werden. Sein vielleicht beachtlichstes
Merkmal ist seine vollkommene Redundanz, vor allem wenn man es
aufgrund einer Analyse rechtlicher und kultureller Normen bewertet,
die nicht von neopuritanisch-evangelikalem Eifer befeuert ist. Ein
»Hassverbrechen« ist, wenn überhaupt, ein Verbrechen wie jedes
andere plus »Hass«; und was der »Hass« hinzufügt, ist
bezeichnend. Für den Moment wollen wir uns auf Beispiele
unstrittiger Kriminalität beschränken und fragen: Was genau
verschlimmert einen Mord oder eine Körperverletzung, wenn die
Motivation im »Hass« liegt? Zwei Faktoren stechen offenbar
besonders hervor, wovon keiner eine eindeutige Verbindung zu
gängigen Rechtsnormen aufweist.
Erstens wird das Verbrechen um ein rein ideelles, ideologisches
oder sogar »geistiges« Element erweitert, das nicht nur gegen
zivilisiertes Verhalten verstößt, sondern auch von einer ketzerischen
Absicht zeugt. Damit wird es möglich, den Hass vollständig von der
Kriminalität abzulösen, woraufhin er zur »Hassrede« oder einfach
zum »Hass« wird (dem stets die »Leidenschaft«, »Empörung« oder
der gerechte »Zorn« entgegenzusetzen ist, die in einer kritischen,
kontroversen oder lediglich beleidigenden Sprache, wie sie sich
gegen ungeschützte Gruppen, soziale Kategorien oder
Einzelpersonen richtet, artikuliert werden). »Hass« ist eine
Beleidigung der Kathedrale selbst, eine Verweigerung ihrer
spirituellen Führung und ein geistiger Akt des Trotzes gegen das
manifeste religiöse Schicksal der Welt.
Zweitens, und damit zusammenhängend, ist »Hass« mit Bezug
auf die ausgewogene politische Polarität fortschrittlicher
demokratischer Gesellschaften vorsätzlich und sogar strategisch
asymmetrisch. Er schwankt nicht zwischen dem unerbittlichen
Marsch des Fortschritts und dem wirkungslosen Gezeter des
Konservatismus. Wie wir gesehen haben, kann nur die Rechte
»hassen«. Da sich das doxologische Immunsystem zur
Unterdrückung des »Hasses« in den elitären Bildungs- und
Mediensystemen konsolidiert, sorgt der höchst selektiv verteilte
Schutz dafür, dass der »Diskurs« – insbesondere der befugte
Diskurs – sich konsequent nach links, das heißt in Richtung eines
immer umfassender radikalisierten Universalismus, verlagert. Die
Morbidität dieses Trends ist extrem.
Der Opferstatus, vergeben als politische Kompensation für
wirtschaftliche Inkompetenz, konstruiert einen kulturellen, die
Dysfunktion befürwortenden Automatismus. Das universalistische
Glaubensbekenntnis mit seiner reflexhaften Gleichsetzung von
Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist unfähig, sich eine Alternative zu
der These vorzustellen, dass der Anspruch an die Gesellschaft umso
zwingender ist, je niedriger die eigene Situation oder der eigene
Status, je reiner und edler die eigene Sache ist. Zeitweiliges
Versagen ist das Zeichen einer geistigen Auserwähltheit (Marxo-
Calvinismus), und dies zu bestreiten, stellt eindeutig »Hass« dar.
Doch selbst der hartherzigste Neoreaktionär wird sich dadurch
nicht veranlasst sehen, wie in einer Karikatur der hoch-
viktorianischen Kultur zu behaupten, dass soziale Benachteiligung,
wie sie sich in politischer Gewalt, Kriminalität, Obdachlosigkeit,
Zahlungsunfähigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit manifestiert, ein
einfaches Indiz für moralische Schuld sei. Zu einem großen Teil –
vielleicht sogar zu einem überwältigend großen Teil – spiegelt sie
schieres Pech wider. Begriffsstutzige, impulsive, ungesunde und
unattraktive Menschen, die in schwierigen Familienverhältnissen
chaotisch aufgewachsen und in zerrütteten, kriminellen
Gemeinschaften gestrandet sind, haben allen Grund, ihre Götter zu
verfluchen. Zumal eine Katastrophe jeden treffen kann.
Im Hinblick auf effektive Anreizstrukturen spielt dies jedoch
überhaupt keine Rolle. Die Verhaltenswirklichkeit kennt nur ein
eisernes Gesetz: Was bezuschusst wird, wird gefördert. Und da die
Sozialdemokratie versucht, die übelsten Folgen abzumildern – für
kämpferische Individuen oder unglückliche Kulturen ebenso sehr wie
für Großkonzerne – wird dies, mit einer Zwangsläufigkeit, die nicht
minder stark ist als die der Entropie selbst, schlimmer. Es führt kein
Weg an dieser Formel vorbei oder über sie hinaus, nur
Wunschdenken und Beihilfe zum Zerfall. Diese entscheidende
reaktionäre Einsicht wird natürlich von vorneherein folgenlos bleiben,
läuft sie doch auf die höchst unangenehme Schlussfolgerung hinaus,
dass jedes Bestreben, etwas im »progressiven« Sinne zu
verbessern, dazu verurteilt ist, sich »abwegigerweise« in einen
schrecklichen Misserfolg zu verkehren. Keine Demokratie kann dies
akzeptieren, was bedeutet, dass jede Demokratie scheitern wird.
In den Worten der substanzlosesten Beltway-Libertären der Welt,
Megan McArdles, die in The Atlantic, dem wichtigsten
Verlautbarungsorgan der Kathedrale, veröffentlicht, findet sich die
Abwärtsspirale des misesschendarwinschen Verfalls feinsäuberlich
erfasst:
Es ist nicht ohne Ironie, dass sich die ersten ernsthaften Belastungen, die sich aufgrund
der verändernden Demografie Europas ergeben, in den Sozialhaushalten des
Kontinents zeigen, denn möglicherweise haben die Rentensysteme selbst das
Wachstum Europas geprägt und begrenzt. Im zwanzigsten Jahrhundert wurden überall
auf der Welt soziale Sicherheitssysteme mit genau bezeichneten Leistungen eingeführt,
die aus künftigen Steuereinnahmen gezahlt werden sollten, ein Verfahren, das von
Rentenexperten als »Paygo«- und von Kritikern als Ponzi-System bezeichnet wird.
Diese Sicherheitssysteme haben die Furcht vor einem mittellosen Alter stark gemildert,
aber zahlreiche Studien zeigen, dass, wenn die sozialen Sicherungssysteme
großzügiger (und das Alter sicherer) werden, weniger Kinder auf die Welt kommen.
Nach einer Schätzung lässt sich der Unterschied zwischen der Geburtenrate in Amerika
(die über der Reproduktionsrate liegt) und in Europa zu fünfzig bis sechzig Prozent
durch die großzügigeren Systeme dortselbst erklären. Mit anderen Worten: Das
europäische Rentensystem hat womöglich genau die demografische Schrumpfung in
Gang gesetzt, die zur Insolvenz dieses Systems – und einiger europäischer Staaten –
beigetragen hat.30
Trotz McArdles lächerlicher Vermutung, dass sich die Vereinigten
Staaten von Amerika in irgendeiner Weise vom europäischen
Leichenweg abgekoppelt haben, ist die Diagnose in ihren
Grundzügen klar und wird zunehmend als plausibel akzeptiert (wenn
auch am besten ignoriert). Dem immer weitere Kreise ziehenden
Glaubensbekenntnis zufolge ist soziale Fürsorge, die durch
Nachkommenschaft und Ersparnisse erreicht wird, nicht universell
und daher moralisch verwerflich. Sie sollte so weit und so schnell
wie möglich durch universelle Leistungen oder »positive Rechte«
ersetzt werden, die allgemein an die demokratischen Bürger verteilt
und somit unausweichlich über den altruistischen Staat geleitet
werden. Sollten infolgedessen und aufgrund der heillosen politischen
Unkorrektheit der Realität ganze Ökonomien und Populationen
kollabieren, wird dies zumindest unserer Seele nicht schaden. Oh,
Demokratie! Du zuckersüßer, sterbender Idiot, glaubst du wirklich,
dass die Zombiehorden auf deine Seele Rücksicht nehmen werden?
Moldbug kommentiert:
Meiner Ansicht nach lässt sich der Universalismus am besten als Mysterienkult der
Macht beschreiben.
Er ist ein Machtkult, denn in einer kritischen Phase seines Replikationszyklus ist er eine
kleine Mikrobe namens Staat. Wenn wir uns die Oberflächenproteine des großen U
ansehen, stellen wir fest, dass sich die meisten von ihnen durch die Notwendigkeit
erklären, den Staat einzufangen, festzuhalten und in Gang zu halten und seine Kräfte
auf die Schaffung von Bedingungen zu richten, die die fortgesetzte Replikation des
Universalismus begünstigen. Sich den Universalismus ohne den Staat vorzustellen, ist
ebenso schwierig wie die Vorstellung der Malaria ohne die Mücke.
Es handelt sich um einen Mysterienkult, weil er theistische Traditionen verdrängt, indem
er metaphysischen Aberglauben durch philosophische Mysterien wie Menschlichkeit,
Fortschritt, Gleichheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Umwelt, Gemeinschaft, Frieden usw.
ersetzt.
Keiner dieser Begriffe, wie sie in der orthodoxen universalistischen Doktrin definiert sind,
ist auch nur annähernd kohärent. Alle können willkürliche geistige Energie absorbieren,
ohne rationales Denken hervorzubringen. Darin lassen sie sich am besten mit
plotinischem, talmudischem oder scholastischem Unsinn vergleichen.31
Als Bonus gibt es den Urban-Future-Leitfaden zur Hauptreihenfolge
der modernen politischen Regime:
Regime 1: Kommunistische Tyrannei
Typisches Wachstum: ~0 Prozent
Stimmrecht / Exit: Niedrig / Niedrig
Kulturelles Klima: Psychotischer Utopismus
Das Leben ist … hart, aber »fair«
Übergangsmechanismus: Wiederentdeckung von Märkten bei
Erreichen des ökonomischem Nullzustands
Regime 2: Autoritärer Kapitalismus
Typisches Wachstum: 5–10 Prozent
Stimmrecht / Exit: Niedrig / Hoch
Kulturelles Klima: Hartherziger Realismus
Das Leben ist … hart, aber produktiv
Übergangsmechanismus: von der Kathedrale zur
Demokratisierung gedrängt
Regime 3: Sozialdemokratie
Typisches Wachstum: 0–3 Prozent
Stimmrecht / Exit: Hoch / Hoch
Kulturelles Klima: Scheinheilige Unehrlichkeit
Das Leben ist … weich und kaum auszuhalten
Übergangsmechanismus: Aufschieben funktioniert nicht mehr
Regime 4: Zombie-Apokalypse
Typisches Wachstum: k. A.
Stimmrecht / Exit: Hoch (meist nutzloses Schreien) / Hoch (mit
Treibstoff, Munition, getrockneten Lebensmitteln, Edelmetallmünzen)
Kulturelles Klima: Überlebenskampf
Das Leben ist … schwierig bis unmöglich
Übergangsmechanismus: Unbekannt
Für alle genannten Regime gehen die Wachstumserwartungen von
einer mäßig kompetenten Bevölkerung aus, andernfalls direkt weiter
zu Regime 4.
Teil 4: Der Wettlauf in den Ruin, noch mal von
vorne
Die Liberalen sind verblüfft und wütend, dass arme Weiße die Republikaner wählen,
doch die Wahl aus Gründen der Gruppenzugehörigkeit ist, sei es in Nord-Irland, im
Libanon oder im Irak, ein Merkmal aller multiethnischen Demokratien. Je mehr eine
Mehrheit zur Minderheit wird, desto gruppenspezifischer wird ihr Wahlverhalten, was
erklärt, dass die Republikaner zunehmend zu einer »Partei der Weißen« geworden sind;
darauf etwas taktlos hingewiesen zu haben, kostete Pat Buchanan seinen Posten, aber
auch andere haben sich ähnlich geäußert.
Wird so etwas auch bei uns [im Vereinigten Königreich] stattfinden? Die Muster sind
nicht unähnlich. Bei der Wahl 2010 gewannen die Konservativen nur 16 Prozent der
Stimmen der ethnischen Minderheiten, während Labour die Unterstützung von 72
Prozent der aus Bangladesch stammenden, 78 Prozent der afrokaribischen und 87
Prozent der aus Afrika stammenden Minderheiten erhielt. Von britischen Hindus und
Sikhs, die eher zu den berufstätigen Hausbesitzern gehören und sich weniger
entfremdet fühlen, werden die Tories etwas stärker favorisiert; dies spiegelt die
Unterstützung der Republikaner durch asiatischstämmige Amerikaner wider.
Der Economist warf kürzlich die Frage auf, ob die Tories ein »Rassenproblem« hätten,
es könnte aber einfach nur sein, dass die Demokratie ein Rassenproblem hat.
– Ed West
Ohne Sinn für Ironie ist Mencius Moldbug nahezu unerträglich und
gewiss nicht nachzuvollziehen. Seine Schriften sind von
weitgespannten Strukturen historischer Ironie geprägt, werden
manchmal sogar von ihnen verschlungen. Wie sonst könnte ein
Verfechter traditioneller Strukturen gesellschaftlicher Ordnung – ein
selbst ernannter Jakobit – ein Werk abfassen, das sich hartnäckig
der Subversion verschrieben hat?
Ironie ist Moldbugs Methode wie sein Milieu. Dies wird besonders
augenfällig an dem Namen, den er für die usurpierte Aufklärung, den
vorherrschenden Glauben der modernen Welt, gewählt hat:
Universalismus. Ein Wort, das er sich im Rahmen einer reaktionären
Diagnose aneignet (und sich zunutze macht), deren ganze Kraft in
der Aufdeckung einer maßlosen Eigentümlichkeit liegt.
Moldbug wendet sich immer wieder der Geschichte (oder,
genauer, der Kladistik) zu, um peinlich genau jenes Phänomen
herauszupräparieren, das seine universelle Bedeutung behauptet
und zugleich zu einem dem Universalen nahekommenden Status
allgemeiner Herrschaft aufsteigt. Im Zuge seiner Untersuchung wird,
was als universelle Vernunft gilt und Richtung und Bedeutung der
Moderne bestimmt, als präzise abgegrenzte Strömung oder Unterart
einer kultischen Tradition freigelegt, die von »Rantern«, »Levellern«
und verwandten Varianten dissidenten, ultra-protestantischen
Fanatismus abstammt und den Schlussfolgerungen von Logikern nur
wenig bis überhaupt nichts zu verdanken hat.
Ironischerweise handelt es sich also bei dem weltweit
vorherrschenden universalistischen, demokratisch-egalitären
Glauben um einen besonderen oder eigentümlichen Kult, der,
getarnt als progressive globale Aufklärung, entlang identifizierbarer
historischer und geografischer Pfade mit epidemischer Virulenz
ausgebrochen ist. Der Weg, den dieser Glaube durch England und
Neuengland, Reformation und Revolution genommen hat, lässt sich
anhand von zahllosen Wesensmerkmalen nachverfolgen, die
reichlich Material für Ironie sowie für niedere Spielarten der Komödie
liefern. Die Entlarvung des modernen »liberalen« Intellektuellen oder
des »aufgeschlossenen« medialen »Wahrheitssagers« als blasser,
glühender, engstirnig-doktrinärer Puritaner, der unverkennbar von
der Spezies der Hexenverbrennungseiferer abstammt, ist auf
verlässliche – und unwiderstehliche – Weise unterhaltsam.
Doch während die Kathedrale gemäß ihrem göttlichen Auftrag
immer weitere Bereiche in Beschlag nimmt und zunehmend fester in
den Griff bekommt, ist die Reaktion, die sie auslöst, nicht unbedingt
von Humor geprägt. Häufiger nämlich stößt sie, wo es ihr nicht
gelingt, demütige Nachgiebigkeit einzufordern, auf unartikulierte Wut
oder zumindest auf verständnislose, schwelende Ressentiments, so
wie es kleingeistigen kulturellen Dogmen gebührt, die sich zwar
ernsthaft zu einer universalen Rationalität bekennen, aber noch
immer in einer eigentümlichen und fremden Abstammungslinie
gefangen sind.
Man denke zum Beispiel an die berühmtesten Worte der
Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten: »Folgende
Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen
gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen
unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind […].«32 Kann man
ehrlich behaupten, dass die gewissenhafte und aufrichtige
Unterwerfung unter solche »selbstverständlichen« Wahrheiten auf
etwas anderes hinausläuft als auf einen Akt der religiösen
Beteuerung oder Bekehrung? Oder kann man ernsthaft leugnen,
dass in diesen Worten Vernunft und Beweise ausdrücklich
beiseitegeschoben werden, um Platz für Glaubensgrundsätze zu
schaffen? Gibt es etwas, was weniger wissenschaftlich ist als eine
solche Erklärung oder gleichgültiger gegenüber den Kriterien einer
wirklich universellen Argumentation? Wie kann man von jemandem,
der nicht bereits gläubig war, erwarten, dass er solchen Annahmen
zustimmt?
Dass die Gründungserklärung des demokratisch-republikanischen
Glaubensbekenntnisses als Erklärung des reinen (und doktrinär
erkennbaren) Glaubens formuliert werden sollte, ist zwar eine Art
Information, aber noch keine Ironie. Die Ironie beginnt mit der
Tatsache, dass unter den Eliten der heutigen Kathedrale diese Worte
der Unabhängigkeitserklärung (neben zahlreichen anderen) – fast
rundweg – bestenfalls als merkwürdig suggestiv, vielleicht vage
peinlich erachtet und ganz sicher nicht einer wörtlichen Zustimmung
fähig sind. Selbst unter libertär gesinnten Konservativen heißt ein
unverbrüchliches Bekenntnis zu den »Naturrechten« nicht
unbedingt, dass man sie selbstbewusst und nachdrücklich auf ihren
göttlichen Ursprung zurückführt. Für die modernen »Liberalen«, die
an den Recht verleihenden (oder berechtigenden) Staat glauben,
sind solche archaischen Ideen nicht nur absurd altmodisch, sondern
geradezu hinderlich. Aus diesem Grund werden sie weniger mit
verehrten Vorgängern assoziiert als mit dem zurückgebliebenen,
fundamentalistischen Denken politischer Feinde. Weltläufige Geister
des inneren Kerns der Kathedrale verstehen mit Hegel, dass Gott
nicht mehr ist als eine von Kleinkindern gefürchtete tiefe Regierung
und als solche eine Vergeudung des Glaubens (den Bürokraten
besser zu nutzen in der Lage wären).
Seit die Kathedrale zur Weltherrschaft aufgestiegen ist, braucht
sie keine Gründerväter mehr, die peinlicherweise an ihre provinzielle
Herkunft erinnern und ihre transnationale Öffentlichkeitsarbeit
behindern. Vielmehr versucht sie, sich durch deren Verunglimpfung
fortwährend zu stärken. Davon zeugt das Phänomen des »Neuen
Atheismus« mit seinen transparenten progressiven Affiliationen im
Übermaß. Der Paläopuritanismus muss verhöhnt werden, damit der
Neopuritanismus gedeihen kann. Das Meme ist tot, lang lebe das
Meme!
Der neopuritanische Vatermord nimmt, an der Grenze zur
Selbstparodie, die groteske Form eines »Kriegs gegen
Weihnachten« an, bei welchem die Verbündeten der Kathedrale die
(absolut unbedrohte) Trennung von Kirche und Staat heiligsprechen,
indem sie gegen öffentliche Äußerungen traditioneller christlicher
Frömmigkeit lästern, worauf ihre »Red State«-Pendants in
Kabelfernsehsendungen mit dyspeptischer Empörung reagieren.
Wie jeder andere Krieg gegen unscharfe Begriffe (ob »Armut«,
»Drogen« oder »Terror«) ist das Ergebnis vorhersehbar pervers.
Auch wenn der Krieg gegen Weihnachten und der Widerstand
dagegen bislang noch nicht ins Zentrum der Adventszeit gerückt ist,
kann man getrost davon ausgehen, dass dies bald geschehen wird.
Den Zwecken der Kathedrale wird dennoch gedient, indem ein
synthetischer Säkularismus gefördert wird, der den progressiven
Glauben von seinen religiösen Grundlagen trennt und zugleich die
Aufmerksamkeit von den ethnisch spezifischen, dogmatischen
Glaubensinhalten in seinem Kern ablenkt.
Wie das mit Reaktionären so ist, gelten traditionelle Christen im
Allgemeinen als recht handzahm. Selbst die wildesten Fanatiker der
neopuritanischen Orthodoxie haben Schwierigkeiten, sich wirklich
über sie aufzuregen (obwohl Abtreibungsaktivisten nahe dran sind).
Für echtes rotes Fleisch, bei dem die Nerven exponiert sind und sich
unter harten Stimulationsstößen winden, ist es weitaus sinnvoller,
sich einem anderen ausrangierten und in der progressiven Linie
feierlich verabscheuten Block zuzuwenden: weißer Identitätspolitik
oder (der Begriff, für den Moldbug plädiert) »weißem
Nationalismus«.33
So wie der unaufhaltsame Fortschritt der neopuritanischen
Sozialdemokratie mithilfe der orchestrierten Anprangerung ihrer
embryonalen religiösen Formen geschmiert wird, wird auch der
Trend zu einer konsistenten neofaschistischen politischen Ökonomie
mit der konzertierten Ablehnung einer »neonazistischen« (oder
paläofaschistischen) Bedrohung geölt. Bei der Konstruktion immer
unverhohlener korporatistischer oder »Querfront«-Strukturen des
staatlich gelenkten Pseudokapitalismus kommt es überaus gelegen,
die Aufmerksamkeit auf wütende Äußerungen weißer
Rassenparanoia zu lenken, besonders wenn diese mit plump
modifizierten Nazi-Insignien, Hörnerhelmen, Leni-Riefenstahl-
Ästhetik und frei aus Mein Kampf entlehnten Parolen geschmückt
sind. In den Vereinigten Staaten (und damit mit immer kürzerer
Zeitverzögerung auch international) haben die Ikonen des Ku-Klux-
Klan, von weißen Bettlaken über quasi freimaurerische Titel und
brennende Kreuze bis hin zu Lynchstricken, einen vergleichbaren
theatralischen Wert erlangt.
Moldbug bietet eine bereinigte weiß-nationalistische Blog-
Leseliste an, bestehend aus Schriftstellern, die – mit
unterschiedlichem Erfolg – einen sofortigen Rückfall in
paläofaschistische Selbstparodie vermeiden. Für einen ersten Schritt
über die Grenze einer achtbaren Meinung hinaus steht Lawrence
Auster, ein Christ, Anti-Darwinist und »traditionalistischer
Konservativer«, der eine »maßgebliche« (ethno-rassische) nationale
Identität verteidigt und sich dem liberalen Leitprinzip der
Nichtdiskriminierung entgegenstellt.34 Sobald wir dann »Tanstaafl«35
am ausgefransten äußeren Rand des von Moldbug sorgfältig
beschnittenen Spektrums erreichen, sind wir in eine kollabierende
Umlaufbahn eingetreten, die sich spiralförmig in das große
Schwarze Loch hineinwindet, das sich im toten Zentrum der
politischen Möglichkeiten der Moderne verbirgt.
Bevor wir den Tanstaafl-Typen in den erdrückenden Abgrund
folgen, in dem das Licht stirbt, gilt es noch, ein paar
Vorbemerkungen über die weiße nationalistische Perspektive und
ihre Begleiterscheinungen zu machen. Die weiße Identitätspolitik
betrachtet sich – mehr noch als die christlichen Traditionalisten (die
sich sogar in ihrem tiefsten kulturellen Winter in der Wärme
übernatürlicher Unterstützung aalen können) – als belagert. Mäßige
oder maßvolle Besorgnis bietet denjenigen, die die Grenze
überschreiten und beginnen, sich mit diesen Begriffen zu
identifizieren, keinen Ruhepol. Der Weg des Engagements erfordert
indessen eine rasche Beschleunigung, bis er – entsprechend einer
Analyse, die sich auf den böswilligen Bevölkerungsaustausch durch
eine Regierung konzentriert, die, nach den oft zitierten Worten
Bertolt Brechts, »beschlossen hat, das Volk aufzulösen und ein
anderes zu wählen«36 – einen Zustand extremer Beunruhigung oder
gar der Rassenpanik erreicht. »Weißsein« (ob biologisch oder
mystisch gedacht, oder beides) wird mit Verletzlichkeit,
Zerbrechlichkeit und Verfolgung assoziiert. Das Thema ist so
elementar und so vielgestaltig, dass es schwierig ist, es in gebotener
Kürze angemessen zu behandeln. Es umfasst alles, von krimineller
Raubgier (insbesondere rassistisch motivierte Morde,
Vergewaltigungen und Schlägereien), ökonomischen Erpressungen
und umgekehrter Diskriminierung über kulturelle Aggression durch
feindselige akademische und Mediensysteme bis hin zu
»Völkermord« – oder endgültiger rassischer Zerstörung.
Normalerweise wird die voraussichtliche Vernichtung der weißen
Rasse auf ihre systemische Verwundbarkeit zurückgeführt, die an
typischen kulturellen Eigenheiten (übermäßiger Altruismus,
Anfälligkeit für moralische Manipulation, übertriebene
Gastfreundschaft, Vertrauen, universelle Reziprozität, Schuldgefühle
oder individualistische Verachtung der Gruppenidentität) oder an
unmittelbareren biologischen Faktoren (rezessive Gene, die fragile
arische Phänotypen fördern) ausgemacht wird. Dieses Gefühl der
einzigartigen Gefährdung dürfte sich zwar kaum auf die Farbformel
»Weiß + Farbe = Farbe« herunterbrechen lassen, doch die
Grundstruktur ist damit gut beschrieben. In ihrer abstrakten
Abbildung der nicht reziproken Verwundbarkeit spiegelt sie die »Ein-
Tropfen-Regel« (und die mendelsche rezessive/dominante
Genkombination) wider. Sie beschreibt Vermischung als im
Wesentlichen anti-weiß.
Weil »Weißsein« einen Limes darstellt (reine Abwesenheit von
Farbe), geht es von der biologischen Faktizität einer kaukasischen
Unterart bruchlos in metaphysische und mystische Vorstellungen
über. Eine weiße Rasse erlangt durch Beimischungen, die ihre
definierende Negativität kompromittieren, keine größere genetische
Vielfalt, sondern sie wird kontaminiert oder verunreinigt – sie
abzudunkeln, bedeutet, sie zu zerstören. Die mythologische Dichte
dieser – vorwiegend unterschwelligen – Assoziationen verleiht der
weißen Identitätspolitik eine Widerstandsfähigkeit, die aufgeklärte
Bemühungen um eine rationalistische Denunziation vereitelt und
zugleich ihrer eigenen paranoiden Selbstdarstellung widerspricht.
Sie untergräbt zudem die jüngsten Versuche weißer Nationalisten,
eine rassistische Bedrohung zu propagieren, die derjenigen, die
indigene Völker überall auf der Welt zu gewärtigen haben,
vergleichbar sein soll und die die Weißen als »Eingeborene«
darstellt, denen ein vergleichbarer Schutz vor dem Aussterben auf
grausame Weise vorenthalten werde. Es gibt keinen Weg zurück zur
tribalen Unschuld oder zur flachen biologischen Vielfalt. Weißsein ist
unlösbar mit Ideologie verbunden, gleich welchen Weg man
einschlägt.
»Wenn Schwarze es haben können und Hispanics und Juden,
warum wir nicht?« – So lautet der letzte Kummerkasten-Baustein
weißer Nationalisten, der Werwolf-Fluch, der besagt, dass sie immer
nur ein Monster sein können. Es gibt genau einen Ausweg für
verfolgte Bleichgesichter, und der führt direkt in ein Schwarzes Loch.
Wir haben versprochen, zu Tanstaafl zurückzukehren, und hier sind
wir nun,37 im Spätsommer 2007, kurz nachdem er »die Judensache«
bekommen hat.38 Nichts sonderlich Originelles haftet seiner
Erleuchtung an, und genau darum geht es. Er zitiert sich selbst:
Ist es nicht absurd, dass jemand auch nur daran denkt, das Christentum oder die
WASPs39für den Aufstieg der Politische Korrektheit (PC) und ihre katastrophalen Folgen
verantwortlich zu machen? Ist dies nicht in Wirklichkeit eine Umkehrung der Wahrheit?
Hat der Aufstieg und die Verbreitung der PC nicht die Macht des Christentums, der
WASPs und der Weißen im Allgemeinen untergraben? Ihnen die Schuld zu geben,
bedeutet in Wirklichkeit, dem Opfer die Schuld zu geben. Ja, es gibt Christen, WASPs
und Weiße, die der PC-Hirnwäsche zum Opfer gefallen sind. Ja, es gibt einige, die sich
die Gehirnwäsche so sehr zu Herzen genommen haben, dass sie sich für ihre
Ausweitung und ihren Schutz einsetzen. Das ist die Natur der PC. Das ist ihr Zweck.
Den Verstand der Menschen zu kontrollieren, die sie zerstören will. Der Linken geht es
im Innersten um Zerstörung.
Man muss kein Antisemit sein, um zu erkennen, woher diese Ideen stammen und wer
davon profitiert. Man muss aber gegen die PC verstoßen, wenn man sagen möchte, die
Juden.
Das ist das Labyrinth, die Falle, mit ihrem kläglich verengten,
stereotypen Kreislauf. »Warum können wir keine knuddligen
Bewahrer unserer eigenen Rasse sein, wie die Ureinwohner des
Amazonasgebietes? Warum werden wir immer gleich zu Neonazis?
Es handelt sich um eine Art Verschwörung, weshalb es die Juden
sein müssen.« Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entströmte
die politische Intensität der globalisierten Welt fast ausschließlich
aus dem kraterübersäten Aschehaufen des Dritten Reichs. Solange
man das Muster nicht kennt, scheint es rätselhaft, dass es kein
Entkommen gibt. Nach der Auflistung einiger Blogs, die unter die
relativ manierliche Kategorie des »weißen Nationalismus« fallen,
warnt Moldbug:
Das Internet beheimatet auch viele durch und durch rassistische Blogs. Die meisten sind
einfach unlesbar. Aber einige werden von einigermaßen fähigen Autoren gehostet. […]
In diesen rassistischen Blogs findet man rassistische Epitheta, Antisemitismus (siehe:
Warum ich kein Antisemit bin40) und Ähnliches. Natürlich kann ich keinen dieser Blogs
empfehlen, und ich werde auch nicht auf sie verlinken. Sollte man sich jedoch für den
Geist des modernen Rassisten interessieren, wird Google den Weg weisen.41
Google ist Overkill. Man muss nur die Links ein wenig durchforsten,
und schon wird einem der Weg gewiesen. Es handelt sich um ein
Problem der »six degrees of separation«-Regel (oder eher: der zwei
oder weniger Grade der Trennung). Fängt man an, in der tatsächlich
existierenden »Reaktiosphäre« zu graben, werden die Dinge ganz
schnell erstaunlich hässlich. Ja, dort stößt man wirklich auf »Hass«,
Panik und Ekel sowie auf eine schon krankhafte Überfülle ungemein
grimmigen, beißenden Witzes und eine beunruhigend
beeindruckende Menge an glaubwürdigen Fakten (diese Typen
lieben Statistiken bis zum Verrecken). Vor allem aber lauert direkt
hinter dem Horizont das Schwarze Loch. Sollte die Reaktion jemals
zu einer Volksbewegung werden, würden die wenigen dünnen
Kordel bürgerlicher (oder vielleicht verträumt »aristokratischer«)
Höflichkeit die Bestie nicht lange zurückhalten.
Da sich der liberale Anstand von intellektueller Integrität abgelöst
und unangenehme Wahrheiten verbannt hat, haben diese
Wahrheiten neue Verbündete gefunden und sind noch erheblich
unangenehmer geworden. Das Ergebnis ist mechanisch und auf
monotone Weise vorhersehbar. Jeder freiheitlich-demokratische
»Ursachen-Krieg« stärkt und verwildert, was er bekämpft. Der Krieg
gegen die Armut schafft eine chronisch dysfunktionale Unterschicht.
Der Krieg gegen Drogen schafft kristalline Superdrogen und Mega-
Mafias. Raten Sie mal? Der Krieg gegen politische Unkorrektheit
schafft datengestützte, web-koordinierte, paranoide und poly-
konspirative Werwölfe, die hervorragend positioniert sind, um das
bevorstehende Rendezvous der liberalen Demokratie mit der
ruinösen Realität auszunutzen und dann ihre Rolle bei der
Entfesselung von Unannehmlichkeiten zu spielen, die, es sei denn,
man bezieht sich auf eine beunruhigende historische Analogie, kaum
vorstellbar sind. Wenn eine vernünftige, pragmatische und auf
Tatsachen beruhende Verhandlung menschlicher Unterschiede
durch ideologischen Ukas verboten wird,42 so dürfte dies kaum in
der Herrschaft des ewigen Friedens enden, sondern im Eitern eines
zunehmend selbstbewussten und militant aufsässigen
Gedankenverbrechens, das sich aus öffentlich uneingestehbaren
Realitäten speist und von mächtigen, atavistischen und deutlich
dissidenten Mythologien angeheizt wird. Im Netz ist das nur allzu
offensichtlich.
Moldbug hält die Gefahr des weißen Nationalismus sowohl für
über- als auch für untertrieben. Einerseits sei die »Bedrohung«
schlichtweg lächerlich und spiegle lediglich das neopuritanische
spirituelle Dogma in seiner hysterisch bedrückendsten und
geistlosesten Form wider. »Auch wenn ich kein weißer Nationalist
bin, so ist doch offensichtlich, dass ich nicht gerade allergisch auf
das Zeug reagiere«, bemerkt Moldbug, bevor er »das Zeug« als
»das am stärksten marginalisierte und sozial ausgegrenzte
Glaubenssystem der Weltgeschichte« beschreibt, »als ein
unausstehliches soziales Ärgernis in all jenen Kreisen, in denen
keine tätowierten Speedfreak-Biker zu Hause sind«.
Andererseits ist die Gefahr durchaus vorhanden, oder besser
gesagt, sie baut sich auf.
Ich kann mir eine Möglichkeit vorstellen, die den weißen Nationalismus wirklich
gefährlich machen könnte. Weißer Nationalismus wäre gefährlich, wenn es ein Thema
gäbe, bei dem weiße Nationalisten Recht und alle anderen Unrecht hätten. Die Wahrheit
ist immer gefährlich. Entgegen der landläufigen Meinung setzt sie sich nicht immer
durch. Ihr deshalb den Rücken zu kehren, ist aber eine durchweg schlechte Idee. […]
Zwar sind die Beweise für die kognitive Biodiversität des Menschen in der Tat strittig,
unstrittig ist allerdings, dass sie strittig sind […], [obwohl] jeder, der kein weißer
Nationalist ist, die letzten fünfzig Jahre damit verbracht hat, uns weiszumachen, dass sie
alles andere als strittig sind […].
Moldbugs Essay hat aber, wie stets, weit mehr zu bieten. Gegen
Ende erklärt er, warum er den weißen Nationalismus ablehnt, und
führt dafür Gründe an, die nichts mit den herkömmlichen Reflexen zu
tun haben. Das dunkle Herz des Essays aber, das ihm über seine
Brillanz hinaus etwas Genialisches verleiht, findet sich schon früh,
am Rande eines Schwarzen Lochs:
Warum erscheint uns der weiße Nationalismus als böse? Weil Hitler ein weißer
Nationalist war, und Hitler war böse. Keine dieser Aussagen ist auch nur im
Entferntesten widerlegbar. Der weiße Nationalismus und das Böse liegen genau einen
Grad der Trennung auseinander. Und dieser Grad ist Hitler. Ich wiederhole: Hitler.
Das Argument scheint wasserdicht zu sein. (Hitlerdicht?) Aber das ist es überhaupt
nicht.
Warum erscheint uns der Sozialismus als böse? Weil Stalin ein Sozialist war, und Stalin
war böse. Wer ernsthaft argumentieren will, dass Stalin weniger böse war als Hitler,
dürfte ein hartes Stück Arbeit vor sich haben. Stalin hat nicht nur mehr Morde
angeordnet, seine Mordmaschine hat ihre Exzesse sogar vor allem in Friedenszeiten
gefeiert, wohingegen diejenige Hitlers zumindest als Kriegsverbrechen gegen feindliche
Zivilisten gelten könnte. Ob dies einen Unterschied macht, darüber lässt sich streiten,
aber wenn, dann setzt es Stalin an die Spitze. Und doch habe ich als Antwort auf den
Sozialismus noch nie die Warnlampen angehen sehen oder »das Gefühl der Gegenwart
des Bösen« gehabt. Wenn ich eine Schlange junger, schicker Leute an der Kinokasse
für ein hagiografisches Biopic über Reinhard Heydrich anstehen sähe, würde mir ein
Schauer über den Rücken laufen. Bei Ernesto Guevara verspüre ich keine emotionale
Reaktion. Ich finde sein Schicksal vielleicht blöde und traurig. Ich halte es wirklich für
blöde und traurig. Aber es bringt mich nicht auf die Palme.
Jeder Versuch, in der moralischen Anklage gegen Hitler nuanciert,
ausgewogen oder verhältnismäßig zu sein, führt zu einer völligen
Fehlinterpretation der Natur des Phänomens. Dies lässt sich zum
Beispiel in asiatischen Gesellschaften ziemlich regelmäßig
beobachten, in deren Geschichte oder, besser gesagt, Religion das
Gespenst des Dritten Reiches keinen zentralen Platz einnimmt,
obgleich es, als Allerheiligstes der Kathedrale, fest zu dessen
Eroberung entschlossen ist, und der Erfolg für sich spricht. An dieser
Stelle mag ein kurzer Exkurs zu kulturübergreifenden
Missverständnissen und wechselseitiger Blindheit angebracht sein.
Wenn sich Westler mit dem »Gott-Kaiser«-Stil der politischen
Frömmigkeit befassen, der den modernen Totalitarismus in Ostasien
begleitet hat, kommen sie in der Regel zu dem Schluss, dass dieses
politische Gefühl exotisch fremd, auf morbide Weise amüsant und
letztlich erschreckend unverständlich ist. Aktuelle Vergleiche mit
lächerlich nichtssagenden westlichen demokratischen Führern
verstärken die Verwirrung nur noch, ebenso wie plumpe quasi-
marxistische Verweise auf »feudale« Sensibilitäten (als wäre die
absolute Monarchie keine Alternative zum Feudalismus und als
würden absolute Monarchen angebetet). Wie auch ließe sich eine
historische und politische Figur mit der transzendenten Würde
absoluter religiöser Bedeutung belegen? Das ist doch absurd …
»Hören Sie, ich sage nicht, dass Hitler ein besonders netter Kerl
war …« – sich solche Worte vorzustellen, sagt schon viel aus. Es
dürfte sogar die Frage provozieren, ob in der globalisierten Welt (der
Kathedrale) immer noch jemand glaubt, dass Adolf Hitler weniger
böse war als der Fürst der Finsternis selbst. Vielleicht nur noch ein
paar versprengte Paläochristen (die hartnäckig darauf beharren,
dass Satan wirklich, wirklich böse ist) sowie eine Handvoll
neonazistische Ultras (die denken, Hitler sei irgendwie cool
gewesen). Für so ziemlich alle anderen ist Hitler die perfekte
Verkörperung dämonischer Monstrosität, die Geschichte und Politik
transzendiert und die Gestalt eines metaphysischen Absoluten
annimmt: das personifizierte Böse. Über Hitler hinauszugehen oder
sich etwas Schlimmeres vorzustellen, ist unmöglich. Das ist gewiss
interessant, denn es verweist auf ein Eindringen des Unendlichen in
die Geschichte – auf eine religiöse Offenbarung umgekehrten, aber
strukturell vertrauten abrahamitischen Typs. (»Holocaust-Theologie«
besagt schon viel.)
In dieser Hinsicht könnte es hilfreicher sein, Hitler eher mit dem
Antichristen zu vergleichen als mit Satan, das heißt mit einem
Spiegel-Messias von umgekehrter moralischer Polarität. Es gab
sogar ein leeres Grab. Der Hitlerismus, neutral aufgefasst, ist daher
weniger eine pro-nazistische Ideologie als vielmehr ein universeller
Glaube, ein in der abrahamitischen Überfamilie ausgebildeter
Nebenzweig, der mit ihr insofern vereint ist, als er sich zur Ankunft
des reinen Bösen auf Erden bekennt. Auch wenn Hitler außerhalb
der überaus anrüchigen Kreise, in die wir uns bereits vorgewagt
haben, nicht gerade verehrt wird, wird er doch im sakramentalen
Sinne verabscheut, und zwar in einer Weise, die theologisch
gesehen an »erste Dinge« rührt. Hitler als Gott hinzunehmen dürfte
zwar (bestenfalls) als Zeichen höchst beklagenswerter politisch-
spiritueller Verwirrung gelten, doch seine historische Einzigartigkeit
und seine heilige Bedeutung anzuerkennen, ist nahezu
unumgänglich, da er von Menschen gesunden Glaubens für das
genaue Komplement des inkarnierten Gottes (für den offenbarten
Anti-Messias oder Widersacher) gehalten wird, eine Identifikation,
die die Kraft der »selbstevidenten Wahrheit« besitzt. (Ist denn schon
einmal die Frage erhoben worden, warum die reductio ad Hitlerum
funktioniert?)
Praktischerweise lässt sich der (aversive) Hitlerismus wie der –
von ihm geschluckte – säkularisierte Neopuritanismus an
amerikanischen Schulen auf einem bemerkenswert hohen Niveau
religiöser Intensität lehren. Geht man davon aus, dass die
progressive oder programmatische Geschichte weitergeht, legt dies
nahe, dass die Kirche der heiligen Hitlerverabscheuung ihre
abrahamitischen Vorgänger schließlich verdrängen und zum
triumphierenden ökumenischen Glauben der Welt aufsteigen wird.
Wie auch nicht? Schließlich handelt es sich im Gegensatz zum
Kuschel-Deismus um einen Glauben, der religiöse Begeisterung
perfekt mit einer aufgeklärten Haltung versöhnt und mit vollendeter
amphibischer Fertigkeit sowohl an die konvulsivischen Ekstasen des
Volksrituals als auch an die Leserbriefseiten der New York Times
angepasst ist. »Das absolut Böse wandelte einst unter uns, und es
lebt immer noch …« Ist dies nicht bereits die wichtigste religiöse
Botschaft unserer Zeit? Das Einzige, was noch nicht abgeschlossen
ist, ist die mythologische Konsolidierung, aber die ist längst schon im
Gange.
Das eine oder andere Knochenfragment muss noch aus der
Asche und den Trümmern herausgelesen werden, bevor wir uns
verträglicheren Dingen zuwenden können …
Teil 4a: Eine mehrteilige Unter-Abschweifung in
den Rassenterror
Ich habe den Eindruck, dass sich unter dem fröhlichen Gerede, unter dem hartnäckigen
Festhalten an gescheiterten Ideen und toten Theorien, unter dem Geschrei und den
Flüchen, mit denen Leute wie ich bedacht werden, eine tiefe und kalte Verzweiflung
verbirgt. Tief in unserem Herzen glauben wir nicht daran, dass die Rassen harmonisch
miteinander leben können. Daher die Tendenz zur Trennung. Wir möchten unser Leben
im Grunde getrennt führen. Doch für ein moralisches, optimistisches Volk wie die
Amerikaner ist diese Verzweiflung unerträglich. Wir haben sie verdrängt, irgendwohin,
wo wir nicht darüber nachdenken müssen. Werden wir dazu genötigt, reagieren wir mit
Wut. Dieser kleine Junge in der Andersen-Geschichte über des Kaisers neue Kleider?
Das Ende wäre lebensechter, wenn er von einem johlenden Mob empörter Bürger
gelyncht worden wäre.
– John Derbyshire, Interview in Gawker
Wir glauben daran, dass die Würde eines jeden Menschen gleich ist und wir ihm von
vorneherein mit gleichem Anstand zu begegnen haben – egal, welcher Rasse er
angehört, gleich, was die Wissenschaft uns über vergleichende Intelligenz sagt, und
ungeachtet dessen, was den Kriminalitätsstatistiken zu entnehmen ist. Es ist wichtig,
dass Forschung betrieben wird, dass ihre Schlussfolgerungen nicht manipuliert werden
und dass es uns freisteht, offen über das zu sprechen, was sie uns mitteilt. Das ist
jedoch kein Argument für A-priori-Schlussfolgerungen, wie einzelne Personen in
verschiedenen Situationen behandelt werden sollten – oder dafür, allein aufgrund der
Rasse über Angst oder Freundschaft nachzusinnen. Wer etwas anderes behauptet oder
lehrt, treibt den Zerfall einer pluralistischen Gesellschaft voran und untergräbt den Sinn
von E Pluribus Unum.
– Andrew McCarthy, der den Rauswurf von J[ohn] D[erbyshire] aus der National
Review verteidigt
»Das Gespräch«, wie schwarze Amerikaner und Liberale es darstellen (das heißt als
von weißer Böswilligkeit bestimmt), ist ein komischer Affront – schließlich darf kein
Mensch die Umstände erwähnen (siehe Barro), unter denen schwarze Amerikaner mit
dem Gesetz, untereinander und mit anderen, in Konflikt geraten. Der einzige Umstand,
der dies richtig zu verstehen erlaubt, und die Manie, die der Trayvonicus43 in diesem
Zusammenhang darstellt, ist die begründete Angst vor Gewalt. Das ist die wichtigste
Tatsache in diesem Fall – und doch verlangen Sie, dass sie nicht ausgesprochen wird.
– Dennis Dale, in seiner Antwort auf Josh Barros Forderung nach J. D.’s
»Entlassung«
Eine beachtliche Erfahrung, in Furcht leben zu müssen, nicht wahr? So ist es, wenn
man ein Sklave ist.
– Blade Runner
In Singapur, Hongkong, Taipeh, Schanghai oder in sehr vielen
anderen ostasiatischen Städten gibt es kein Gebiet, in dem
spätnachts unterwegs zu sein gefährlich wäre. Frauen, ob jung oder
alt, allein oder mit kleinen Kindern, können sich, zumindest was die
Gefahr eines Überfalls betrifft, unbeschwert und selbstvergessen
durch Raum und Zeit bewegen. Als Definition einer zivilisierten
Gesellschaft mag dies nicht ausreichend sein, es kommt einer
solchen aber schon sehr nahe, denn dieses Kriterium ist in jedem
Fall unverzichtbar. Alles andere wäre Barbarei.
Diese glücklichen Städte im westlichen Pazifikraum sind durch
geografische Standorte und demografische Profile gekennzeichnet,
die die peinlich braven »Modell-Minderheiten« der westlichen Länder
auffallend widerspiegeln. Sie werden (auf gute Art) von
Bevölkerungsgruppen dominiert, denen (aufgrund biologischer
Vererbung, tief sitzender kultureller Traditionen oder einer
unauflösbaren Vermischung von beidem) ein höflicher, besonnener
und friedlicher gesellschaftlicher Umgang vergleichsweise leicht fällt,
den aufrechtzuerhalten und zu stärken sie für lohnenswert erachten.
Wichtig ist auch, dass es sich dabei um offene, kosmopolitische
Gesellschaften handelt, die bemerkenswert frei von chauvinistischer
Rüpelhaftigkeit oder paranoiden ethno-nationalistischen Gefühlen
sind. Ihre Bürger sind wenig geneigt, ihre eigenen Tugenden
herauszustreichen. Im Gegenteil, meist gerieren sie sich im Hinblick
auf ihre individuellen und kollektiven Attribute und Errungenschaften
bescheiden, reagieren ungewöhnlich feinfühlig auf ihre Fehler und
Unzulänglichkeiten und sind ständig auf Möglichkeiten der
Verbesserung bedacht. Selbstgefälligkeit ist fast so selten wie
Kriminalität. In diesen Städten fehlt eine ganze und überaus
folgenreiche Dimension sozialen Terrors.
In krassem Gegensatz dazu hat sich in weiten Teilen der
westlichen Welt die Barbarei normalisiert. Es wird als relativ normal
erachtet, dass es in den Städten »üble Gegenden« gibt, die nicht nur
verarmt, sondern für Außenstehende wie Bewohner tödlich
bedrohlich sind. Besucher werden gewarnt, sich fernzuhalten,
während die Einheimischen ihr Bestes tun, ihre Häuser in Festungen
zu verwandeln, nach Möglichkeit nach Einbruch der Dunkelheit nicht
auf die Straße zu gehen und sich – besonders wenn es sich um
junge Männer handelt – für ihren eigenen Schutz an kriminelle
Banden zu wenden, was die Sicherheit aller anderen weiter
beeinträchtigt. Gangster kontrollieren den öffentlichen Raum, Parks
sind Todesfallen, aggressive Bedrohung wird als »Attitüde« gefeiert,
Eigentumserwerb ist etwas für Trottel (oder Straßenräuber),
Bildungsbestrebungen werden lächerlich gemacht, und nicht
kriminelle Geschäftsaktivitäten werden als Verletzung kultureller
Normen verachtet. Alle signifikanten Mechanismen soziokulturellen
Drucks, von kultureller Bindung und Gruppenzwang bis hin zu
politischer Rhetorik und wirtschaftlichen Anreizen, sind auf die
Vertiefung selbstgefälliger Verderbtheit und die rücksichtslose
Ausrottung eines jeden Selbstoptimierungsimpulses ausgerichtet. Es
handelt sich also eindeutig um Orte, an denen die Zivilisation
fundamental zusammengebrochen ist und die sie bedingende
Gesellschaft zu einem erheblichen Teil versagt hat.
In den einflussreichsten Ländern der englischsprachigen Welt hat
der Zerfall der städtischen Zivilisation die Struktur und Entwicklung
der Städte tiefgreifend geprägt. In vielen Fällen wurde das
»natürliche« (man könnte nun sagen »asiatische«) Muster, bei dem
die intensive Verstädterung und die entsprechenden
Immobilienwerte im Kern der Innenstadt am größten sind,
zerschlagen oder zumindest stark deformiert. Der soziale Zerfall des
Stadtzentrums hat zu einer Abwanderung der (selbst mäßig)
wohlhabenden Schichten in die Vorstädte und ins Umland geführt,
wodurch sich ein groteskes und historisch beispielloses Muster
entwickelt hat, eine Art »Donut«-Struktur, insofern die Städte
ruinierte und verrottete Zentren hingenommen oder sich auch nur mit
ihnen abgefunden haben, Gegenden, die zu betreten sich
vernünftige Menschen fürchten. »Innenstadt« bedeutet inzwischen
fast genau das Gegenteil von dem, was eine unverzerrte
Stadtentwicklung hervorbringen würde. Die Stadtkerne sind
geografische Manifestationen eines westlichen – und vor allem
amerikanischen – gesellschaftlichen Problems, das zwar tabu und
doch zugleich vom Weltraum aus sichtbar ist.
Überraschenderweise hat das Donut-Syndrom, der zerstörte
Stadtkern, einen ausgesprochen unsensiblen, aber allgemein
akzeptierten Namen, der sein Wesen in groben Zügen – zumindest
in seinen sekundären Merkmalen – und mit plausibler statistischer
Annäherung erfasst: Weiße Flucht. Dies ist ein faszinierender
Begriff, aus vielerlei Gründen. Zunächst einmal ist er geprägt von der
rassischen Bipolarität, die in der chronischen sozialen Krise
Amerikas auf mehreren Ebenen als vitaler Archaismus mitschwingt.
Obwohl der Begriff in einer Zeit vielfarbiger Abtönungen
multikultureller und einwanderungsbedingter Probleme oberflächlich
betrachtet überholt wirkt, schlägt in ihm der von Sklaverei und
Rassentrennung ererbte untote Kodex durch. In Faulkners Worten:
»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.« Doch
selbst in diesem untypischen Moment der Rassenoffenheit wird das
Schwarzsein übergangen und implizit als Instanz unschädlich
gemacht. Es wird nur durch Anspielung bezeichnet, als Rückstand,
der durch die Filterfunktion einer adrenalingesättigten weißen Panik
passiv und derivativ konzentriert wird. Was nicht gesagt werden
kann, wird angedeutet, auch wenn es unerwähnt bleibt. Ein
merkliches Schweigen begleitet die gebrochene Halb-Bekundung
einer von Schrecken und Feindseligkeiten motivierten stummen
Welle rassischen Separatismus, deren Tiefen und
Reziprozitätstrukturen uneingestehbar bleiben.
In dem Maße, in dem der puritanische Exodus aus der Alten in die
Neue Welt die Grundlage der anglophonen globalen Moderne
bildete, trägt die Weiße Flucht zu deren Ausfransen und Auflösung
bei. Wie bei der Migration vor der Gründung der Vereinigten Staaten
ist hier der sub-politische Charakter der Weißen Flucht von
unhintergehbarer Relevanz: Nur Exit und keine Stimme. Es ist das
subtile, nicht argumentative, nicht fordernde »andere« der
Sozialdemokratie und ihrer Träume – der spontane Impuls der
dunklen Aufklärung, so wie er anfänglich kurz aufscheint, zugleich
ernüchternd und unversöhnlich.
Der im Kern ausgehöhlte Donut ist nicht das einzige Modell des
Syndroms der kranken Städte (etwas ganz anderes ist etwa das in
Mike Davis’ Planet der Slums hervorgehobene Phänomen der
Elendsviertel in den Randgebieten). Und allein auf eine Rassenkrise
lässt sich die Desaster-Stadtentwicklung nach dem Donut-Modell
auch nicht zurückführen, zumindest nicht in ihren Anfängen.
Technologische Faktoren etwa haben ebenfalls eine entscheidende
Rolle gespielt (allen voran eine vom Auto geprägte Geografie), wie
auch ganz anders geartete, lang bestehende kulturelle Traditionen
(etwa die als bürgerliche Idylle konzipierte Vorstadt). Doch all diese
Entwicklungslinien wurden in sehr hohem Maße durch das ererbte
und immer noch im Entstehen begriffene »Rassenproblem«
verdrängt oder zumindest diesem untergeordnet.
Was also ist dieses »Problem«? Wie entwickelt es sich? Warum
sollte sich außerhalb Amerikas jemand darüber Sorgen machen?
Warum das Thema jetzt (wenn überhaupt) ansprechen? – Wenn
Ihnen nun das Herz in die Hose rutscht aufgrund des düsteren
Verdachts, dass das, was nun folgt, riesig, mäandernd,
nervenaufreibend und quälend sein wird, liegen Sie richtig. Wir
haben noch Wochen in dieser Kammer des Schreckens vor uns, auf
die wir gespannt sein dürfen.
Es lohnt sich, die beiden einfachsten, recht weitverbreiteten und
im Grunde unvereinbaren Antworten auf die erste Frage als wichtige
Bestandteile des Problems zu betrachten.
Die Frage: Was ist Amerikas Rassenproblem?
Antwort 1: Schwarze Menschen.
Antwort 2: Weiße Menschen.
Die Popularität, die beide Optionen zusammengenommen genießen,
lässt sich noch erheblich, höchstwahrscheinlich auf die große
Mehrheit der Amerikaner erweitern, sobald man auch diejenigen
einbezieht, die davon ausgehen, dass eine dieser beiden Antworten
das Denken der anderen Seite dominiert. Die Sätze »Das Problem
wäre gelöst, wenn wir uns von schwarzen Banditen / weißen
Rassisten befreien könnten« und/oder »Sie halten uns alle für
Banditen/Rassisten und wollen uns loswerden« decken einen
beeindruckenden Teil des politischen Spektrums ab und bilden eine
solide Grundlage für gegenseitigen Terror und Abneigung. Fügt man
defensive Projektionen hinzu (»Wir sind keine Banditen, ihr seid
Rassisten« oder »Wir sind keine Rassisten, ihr seid Banditen«),
nähert sich das Potenzial für eine überhitzte, nicht synthetisierende
Dialektik dem Unendlichen.
Nicht dass diese »Seiten« rassisch determiniert wären (außer in
schwarzen oder weißen tribal-nationalistischen Fantasien44). Geht
es um grobe Stereotypen, ist es weitaus nützlicher, sich der
vornehmlich politischen Dimension und ihren Kategorien »liberal«
und »konservativ« im aktuellen amerikanischen Sinne zuzuwenden.
Amerikas Rassenproblem mit dem Rassismus der Weißen zu
identifizieren, ist die stereotype liberale Position, während die
Gleichsetzung mit der sozialen Dysfunktion der Schwarzen das
genaue konservative Gegenstück darstellt. Obwohl diese Haltungen
formal symmetrisch sind, ist es ihre tatsächliche politische
Asymmetrie, die dem amerikanischen Rassenproblem seine
außerordentliche historische Dynamik und universelle Bedeutung
verleiht.
Dass amerikanische Weiße und Schwarze – grob als statistische
Mengen betrachtet – in gegenseitiger Angst und vermeintlicher
Viktimisierung koexistieren, wird durch die offenkundigen Muster der
urbanen Entwicklung und Mobilität, der Wahl der Schule, des
Waffenbesitzes, der Polizei- und Inhaftierungsstatistik sowie durch
fast jeden anderen Ausdruck offenbarer (im Gegensatz zu erklärten)
Präferenzen, die mit spontaner sozialer Verteilung und Sicherheit
zusammenhängen, bezeugt. Es herrscht ein objektives
Gleichgewicht des Schreckens, das in den komplementären, aber
unvereinbaren Perspektiven des Opfer-Suprematismus und der
Opfer-Verleugnung aus dem Blickfeld geraten ist. Zwischen den
liberalen und konservativen Positionen zur Rassenfrage jedoch
herrscht absolut kein Gleichgewicht, sondern eher eine Schieflage.
Die Konservativen fürchten das Thema zutiefst, während es für die
Liberalen ein Garten der irdischen Freuden ist, dessen
Vergnügungen die Grenzen der menschlichen Auffassungsgabe
überschreiten. Sobald eine politische Diskussion nachdrücklich und
deutlich auf das Thema Rasse zu sprechen kommt, gewinnt der
Liberalismus. Das ist das Grundgesetz ideologischer Effizienz im
duftenden Schatten der Kathedrale. In gewisser Hinsicht ist dieses
dynamische politische Ungleichgewicht sogar das hier diskutierte
Hauptphänomen (und dazu muss im weiteren Verlauf noch weitaus
mehr gesagt werden).
Die regelmäßige, quälende, seelenzerstörende Demütigung des
Konservatismus in der Rassenfrage sollte niemanden überraschen.
Schließlich besteht die Rolle des Konservatismus in der modernen
Politik hauptsächlich darin, gedemütigt zu werden. Genau dafür ist
eine immerwährende loyale Opposition oder ein Hofnarr da. Der
dem Liberalismus wesentliche Charakter als Hüter und Verfechter
der neopuritanischen spirituellen Wahrheit verleiht ihm die höchste
Kontrolle über die Dialektik oder die Unverwundbarkeit gegenüber
Widersprüchen. Was man nicht denken kann, muss zwangsläufig
durch den Glauben angenommen werden. Man betrachte nur die
fundamentale Doktrin oder den ersten Artikel des liberalen
Glaubensbekenntnisses, wie er in jeder öffentlichen Diskussion,
akademischen Äußerung und für das Thema relevanten
Gesetzesinitiative verkündet wird: Rasse existiert nicht, es sei denn
als ein soziales Konstrukt, das von einer Rasse eingesetzt wird, um
eine andere auszubeuten und zu unterdrücken. Rasse allein schon
in Erwägung zu ziehen, bedeutet, vor der Ehrfurcht gebietenden
Majestät des Absoluten zu schaudern, wo alles zugleich auch sein
genaues Gegenteil ist und die Vernunft sich ekstatisch am Rande
des Erhabenen verflüchtigt.
Würde die Welt aus Ideologie bestehen, wäre diese Geschichte
hier bereits vorbei oder zumindest erwartbar vorprogrammiert.
Jenseits des scheinbaren Zickzacks der Dialektik gibt es nämlich
eine vorherrschende Tendenz, die in eine einzige, eindeutige
Richtung geht. Doch die liberal-progressive Lösung des
Rassenproblems – offen eskalierender, umfassend systematischer,
dynamisch paradoxer »Antirassismus« – steht einem echten
Hindernis gegenüber, das sich nur äußerst bruchstückhaft in
konservativen Haltungen, in Rhetorik und Ideologie widerspiegelt.
Der wahre Feind, eisig, gestaltlos und nicht argumentativ, ist die
»Weiße Flucht«.
An diesem Punkt wird der ausdrückliche Verweis auf den
Derbyshire-Fall unwiderstehlich. Eine beträchtliche Menge
komplexer, neuerer historischer Zusammenhänge schreit danach,
hier aufgeführt zu werden – insbesondere die kulturellen
Konvulsionen, die den Trayvon-Martin-Vorfall begleiteten –, doch
dafür wird später noch Zeit sein (oh, ja, ich fürchte durchaus).
Derbyshires Intervention und der Wortschwall, den sie auslöste,
werden zwar bis zu einem gewissen Grad von diesen
Zusammenhängen erhellt, gehen aber weit über sie hinaus. Denn
sowohl in Derbyshires inzwischen berüchtigtem kurzen Artikel45 als
auch – wie es aussieht – in den Antworten, die er hervorrief, bleibt
der entscheidende Begriff unausgesprochen: »Weiße Flucht«. Durch
die Veröffentlichung eines väterlichen Ratschlags an seine
(eurasischen) Kinder, der nicht ganz unangemessen mit der Formel
»Meidet Schwarze« zusammengefasst wird, münzte er die »Weiße
Flucht« von einer häufig beklagten, aber scheinbar unerbittlichen
Tatsache in einen ausdrücklichen Imperativ, ja sogar in einen
Vernunftgrund, um. Nicht streiten, fliehen.
Aber nicht »Flucht« oder »Panik« streicht Derbyshire in seinen
begleitenden Kommentaren und in früheren Schriften hervor,
sondern das Wort Verzweiflung. Auf die Frage des Bloggers Vox
Day, ob er zustimme, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten
die »Rassenkarte« an Abschreckungskraft verloren habe, antwortet
Derbyshire:
Ein [Faktor] in den Vereinigten Staaten, über den ich mehr als einmal geschrieben habe,
ist meiner Meinung nach einfach Verzweiflung. Ich bin in einem gewissen Alter, und vor
fünfzig Jahren habe ich die Zeitungen gelesen und das Weltgeschehen verfolgt, und ich
erinnere mich an die Bürgerrechtsbewegung. Ich war damals in England, aber wir haben
sie mitverfolgt. Ich erinnere mich daran, ich erinnere mich, wie wir uns fühlten und was
die Leute darüber schrieben. Wir waren voller Hoffnung. Der Gedanke, der allen durch
den Kopf ging, lautete: Wenn wir diese ungerechten Gesetze abschaffen und diese
ganzen Diskriminierungen ächten, dann werden wir gesunden. Dann wird Amerika
gesunden. Nach einer Übergangsphase von einigen wenigen Jahren, wer weiß,
vielleicht zwanzig Jahren, unterstützt von solchen Sachen wie Affirmative Action, wird
das schwarze Amerika in der allgemeinen Bevölkerung aufgehen und die ganze Sache
wird einfach verschwinden. Das hat jeder geglaubt. Alle dachten das. Und es ist nicht
geschehen.
Hier sind wir nun, fünfzig Jahre später, und wir haben immer noch diese enormen
Unterschiede in der Kriminalitätsrate, im Bildungsniveau und so weiter. Und obwohl die
Amerikaner immer noch die gleichen Plattitüden auf den Lippen haben, fühlen sie in
ihren Herzen, meiner Meinung nach, eine Art kalte Verzweiflung. Sie haben das Gefühl,
dass Thomas Jefferson wahrscheinlich recht hatte und dass wir nicht in Harmonie
miteinander leben können. Ich glaube, deshalb ist dieses langsame ethnische
Auseinanderfallen zu beobachten. Wir haben jetzt ein stark segregiertes Schulsystem.
In einem Umkreis von zehn Meilen um meinen Wohnsitz gibt es Schulen, die zu 98
Prozent von einer Minderheit besucht werden. Auch im Wohnungsbau ist es so. Ich
glaube also, dass im kollektiven Herzen Amerikas eine kalte, dunkle Verzweiflung
hinsichtlich dieser ganzen Sache lauert.46
Dies ist eine Version der Realität, die nur wenige hören wollen. Wie
Derbyshire anerkennt, sind die Amerikaner ein überwiegend
christliches, optimistisches, »Wir schaffen das«-Volk, dessen
»kollektives Herz« ungewöhnlich schlecht mit Hoffnungsverlust
umgehen kann. Es ist ein Land, dessen kulturelle Veranlagung in der
Verzweiflung nicht nur einen Fehler oder eine Schwäche, sondern
eine Sünde sieht. Wer dies versteht, wird absolut nicht überrascht
sein festzustellen, dass ein düsterer, auf die Erblehre schielender
Fatalismus nicht nur von den Progressiven, sondern auch von der
überwältigenden Mehrheit der Konservativen normalerweise mit
vehementer Feindseligkeit abgelehnt wird. In der National Review
Online hat Andrew C. McCarthy zweifellos für viele gesprochen, als
er bemerkte:
Es besteht jedoch ein himmelweiter Unterschied zwischen einerseits der Notwendigkeit,
unbequeme Fakten hinsichtlich des IQ oder der Inhaftierungshäufigkeit diskutieren zu
können und andererseits Rasse als Begründung heranzuziehen, die einfachste
christliche Nächstenliebe aufzugeben.47
Andere gingen viel weiter. Angesichts »John Derbyshires
abscheulicher rassistischer Tirade« ergriff James Gibson im
Examiner die Gelegenheit, eine umfassendere Lektion zu erteilen
und auf »die Gefahr eines vom Christentum geschiedenen
Konservatismus« aufmerksam zu machen:
[…] da Derbyshire nicht glaubt, »dass Jesus von Nazareth Gottes Sohn war […] und
dass die Auferstehung wirklich stattgefunden hat«, ist er außerstande, das große
Mysterium der Menschwerdung zu begreifen, wonach das Göttliche in der Person Jesu
von Nazareth wahrhaftig in Menschenfleisch überging und den Tod durch die Hand einer
gefallenen Menschheit erlitt, um diese Menschheit aus ihrer Gefallenheit zu erlösen.
Darin liegt die Gefahr einer konservativen soziopolitischen Philosophie, die sich von
einem robusten christlichen Glauben abspaltet. Sie wird zu einer toten Ideologie, die ein
Menschenbild hervorbringt, das giftig, fatalistisch und (wie Derbyshire zur Genüge
beweist) unbarmherzig ist.
Wirklich gezündet wurde das Feuerwerk natürlich vonseiten der
Linken. Elspeth Reeve vom Atlantic Wire behauptete, Derbyshire
habe an seiner Beziehung zur National Review festgehalten, weil er
den »weniger aufgeklärten Lesern« des Magazins das geboten
habe, was sie verlangt hätten: »veraltete rassistische Stereotype«.48
Wie Gibson auf der Rechten wollte Reeve den Leuten unbedingt
eine umfassendere Lektion erteilen: Glauben Sie ja nicht, dass dies
mit Derbyshire endet. (Bemerkenswert sind die erstaunlich
unkooperativen Kommentare zu ihrem Artikel.)
Bei Gawker schoß Louis Peitzman über das Ziel hinaus (in die
genehmigte Richtung), indem er Derbyshires »entsetzliche
Hetzrede« als den »rassistischsten Artikel, der überhaupt möglich
ist«, beschrieb, ein Urteil, das äußerste historische Ignoranz, ein
behütetes Leben, ungewöhnliche Treuherzigkeit sowie einen Mangel
an Fantasie verrät und den Text weitaus interessanter klingen lässt,
als er tatsächlich ist. Peitzmans Kommentatoren sind unfehlbar
liberal und natürlich einhellig und bis aufs äußerte (ja bis zum
Orgasmus) erschüttert und entsetzt. Neben der überzogenen
Emotionalisierung hat Peitzman nicht viel Inhaltliches zu bieten, bis
auf eine kleine Extra-Gefühligkeit – milde Genugtuung gemischt mit
Restwut – angesichts des Umstands, dass mit dem von der National
Review veranlassten »Rausschmiss« Derbyshires zumindest eine
erste Bestrafung erfolgt war (»ein Schritt in die richtige Richtung«).49
Joanna Schroeder (in einem sogenannten Good Feed Blog
schreibend50) war daran gelegen, die Säuberungsaktion über
Derbyshire hinaus auszudehnen und jeden einzubeziehen, der nicht
in melodramatische Paroxysmen der Empörung ausgebrochen war,
angefangen bei David Weigel von Slate51 (den sie »im wirklichen
Leben« nicht kennt, »aber wenn man Ihren Artikel liest, sieht es so
aus, als seien Sie, junger Mann, einfach nur ein Rassist«). »Es gibt
so viele […] rassistische, entmenschlichende Anspielungen auf
Schwarze in Derbyshires Artikel, dass ich mich hier einfach bremsen
muss, um nicht das Ganze mit schäumender Wut Punkt für Punkt
nachzuerzählen«, teilt sie mit. Anders als Peitzman allerdings kann
Schroeder zumindest mit einer Sache punkten: mit der Dialektik des
Rassenterrors: »[A]llein dass propagiert wird, wir sollten uns vor
schwarzen Männern, vor Schwarzen im Allgemeinen fürchten, macht
diese Welt für unschuldige Amerikaner gefährlich«. In eurer Furcht
seid ihr furchterregend (was offensichtlich nicht für beide Seiten
gleichermaßen gilt).
Was Weigel betrifft, so spürte er den Terror gnadenlos. Nach
wenigen Stunden ist er wieder an der Tastatur und entschuldigt sich
für seine Unbekümmertheit und für die Tatsache, dass er »letztlich
verschwiegen hat, was auf der Hand liegt: Leute, der Aufsatz ist
ekelerregend«.52
Was hat Derbyshire also tatsächlich gesagt, wo hat es seinen
Ursprung genommen, und was bedeutet es für die amerikanische
Politik (und darüber hinaus)? In den folgenden Unterkapiteln möchte
ich das ganze Links-Rechts-Spektrum durchkämmen und, mit sozio-
geografisch manifester »weißer« Panik/Verzweiflung als Leitfaden,
nach Hypothesen suchen …
Teil 4b: Anstößige Beobachtungen
Auch wenn schwarze Familien und Eltern von Jungen nicht die Einzigen sind, die sich
um die Sicherheit ihrer Halbwüchsigen sorgen, sind Tillman, Brown und andere Eltern
der Meinung, dass die Erziehung schwarzer Jungen womöglich zum Stressigsten
gehört, was Eltern erleben können, da diese Jungs es mit einer Gesellschaft zu tun
haben, die ihnen, einfach wegen ihrer Hautfarbe, ängstlich und feindselig begegnet.
»Das glauben Sie nicht? Dann schlüpfen Sie mal einen Tag lang in meine Haut«, sagte
Brown.
Brown meinte, dass sein Sohn mit 14 Jahren in jenem kritischen Alter sei, in dem er sich
wegen des Profilings immer Sorgen um seine Sicherheit mache.
»Ich möchte ihn nicht erschrecken oder ihn dazu bringen, Menschen über einen Kamm
zu scheren, aber historisch gesehen sind wir schwarzen Männer als Leute stigmatisiert
worden, in deren Nähe das Verbrechen lauert, und wo immer wir sind, sind wir
verdächtig«, sagte Brown.
Wenn schwarze Eltern diesen Fakt nicht deutlich machen, so Brown und andere,
gefährden sie ihre Söhne.
»Afroamerikanische Eltern, die dieses Gespräch nicht führen, sind unverantwortlich«,
sagte Brown. »Ich sehe diese ganze Sache als eine Gelegenheit für uns, offen, ehrlich
und aufrichtig über Rassenbeziehungen zu sprechen.«
– Gracie Bonds Staples (Star-Telegramm)
Wenn sich etwa Gemeinden gegen den Zustrom von Personen mit
Wohnberechtigungsschein [Section 8 voucher] aus der Innenstadt wehren, reagieren sie
mit überwältigender Mehrheit auf ein bestimmtes Verhalten. Die Hautfarbe ist ein
Hinweis auf dieses Verhalten. Wenn sich Schwarze aus der Innenstadt wie Asiaten
verhalten würden – ihren Kindern so viel Wissen in den Schädel pauken, wie nur
reingeht –, würde die nach wie vor bestehende und von vielen Amerikanern zweifellos
gehegte Vorsicht gegenüber Schwarzen mit niedrigerem Einkommen verschwinden.
Gibt es unter den Amerikanern unverbesserliche Rassisten? Allerdings. Es gibt sie in
allen Formen und Farben, und wir sollten sie alle missbilligen. Aber die Rassenfrage in
den Vereinigten Staaten ist komplexer, als es in guter Gesellschaft auszudrücken erlaubt
ist.
– Heather Mac Donald (City-Journal)
»Reden wir nicht um die Sache herum. Ich bin schwarz, OK?«, sagte die Frau, die ihren
Namen nicht verraten wollte, weil sie wegen ihrer Rasse mit Konsequenzen rechnete.
Sie beugte sich vor, um einem Reporter direkt in die Augen zu schauen. »Es hat hier in
der Nachbarschaft schwarze Jungs gegeben, die Häuser ausraubten. Deshalb war
George argwöhnisch gegenüber Trayvon Martin.«
– Chris Francescani (Reuters)
»Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Einheit der
Gegensätze bestimmt werden. Damit wird der Kern der Dialektik
erfaßt sein«, bemerkt Lenin, »aber das muß erläutert und
weiterentwickelt werden«.53 Das heißt: weitere Diskussion.
Die Sublimierung (Aufhebung) des Marxismus in den Leninismus
ist eine Eventualität, die sich am besten grob erfassen lässt. Indem
Lenin eine revolutionäre kommunistische Politik für die Anwendung
in der Breite entwarf, die von den reifen materiellen Bedingungen
oder den fortgeschrittenen sozialen Widersprüchen, wie sie zuvor
erwartet worden waren, fast völlig losgelöst war, zeigte er, dass die
dialektische Spannung vollständig mit ihrer Politisierung
zusammenfiel (und dass jeder Hinweis auf eine »Dialektik der
Natur« nichts anderes ist als die rückwirkende Unterordnung des
Wissenschaftsbereichs unter ein politisches Modell). Die Dialektik ist
so real, wie sie eben sein soll.
Die Dialektik beginnt mit der politischen Agitation und reicht nicht
weiter als ihre praktische, antagonistische, fraktions- und
koalitionsgebundene »Logik«. Sie ist der »Überbau« für sich selbst
oder gegen natürliche Beschränkungen, indem sie sich die politische
Sphäre in ihrer breitesten fassbaren Ausdehnung praktisch als
Plattform für soziale Herrschaft aneignet. Überall dort, wo
argumentiert wird, gibt es eine unaufgelöste Möglichkeit zur
Herrschaft.
Die Kathedrale verkörpert diese Lehren. Sie hat es nicht nötig,
Partei für den Leninismus oder die operative kommunistische
Dialektik zu ergreifen, erkennt sie doch ohnehin nichts anderes an.
Es gibt kaum ein Fragment des gesellschaftlichen »Überbaus«, das
der dialektischen Rekonstruktion – mittels Antagonismus,
Polarisierung, dichotomischer Strukturierung und Umkehrung –
entgangen wäre. In der akademischen Welt, in den Medien und
sogar den bildenden Künsten hat sich eine politische Übersättigung
durchgesetzt, die selbst noch die winzigste Besorgnis mit
konflikthafter »Gesellschaftskritik« und egalitärer Teleologie
gleichsetzt. Kommunismus ist die universelle Implikation.
Mehr Dialektik heißt mehr Politik, und mehr Politik bedeutet
»Fortschritt« – oder ein Nach-links-Rücken der Gesellschaft. Die
Erzeugung öffentlicher Zustimmung führt nur in eine Richtung, und
im öffentlichen Dissens ist ein solcher Impuls bereits im Keim
angelegt. Nur im Mangel an Einigkeit und im öffentlich artikulierten
Dissens, das heißt in der Nicht-Dialektik, Nicht-Argumentation, in
subpolitischer Vielfalt oder politisch unkoordinierten Initiativen, findet
sich das »rechte« Refugium der »Wirtschaft« (und im weiteren Sinne
der Zivilgesellschaft).
Wenn keine Einigung notwendig ist oder zwangsweise gefordert
wird, ist negative (oder »libertäre«) Freiheit immer noch möglich, und
dieses nicht argumentative »Andere« der Dialektik lässt sich leicht
formulieren (auch wenn es in einer freien Gesellschaft nicht explizit
formuliert zu werden braucht): Mach dein eigenes Ding. Natürlich ist
dieser unverantwortliche und fahrlässige Imperativ politisch nicht
hinnehmbar. Er fällt genau mit linker Depression, Rückschritt oder
Entpolitisierung zusammen. Es gibt nichts, wogegen es mit größerer
Dringlichkeit zu argumentieren gilt.
Am entgegengesetzten Extrem liegt die dialektische Ekstase der
theatralischen Gerechtigkeit, in der die argumentative Struktur von
Gerichtsverfahren mit medialer Publizität gekoppelt ist. Die
dialektische Begeisterung findet ihren letztgültigen Ausdruck in
einem Gerichtsdrama, das Anwälte, Journalisten,
Gemeindeaktivisten und andere Agenten des revolutionären
Überbaus in der Inszenierung eines Schauprozesses vereint.
Soziale Widersprüche werden inszeniert, widerstreitende Tatsachen
ausgebreitet und Lösungen institutionell erwartet. Das ist Hegel fürs
Fernsehen zur Hauptsendezeit (und inzwischen fürs Internet). Auf
diesem Weg teilt die Kathedrale ihre Botschaft dem Volk mit.
Manchmal stellt sich diese Botschaft in ihrer ungeduldigen
Leidenschaft für den Fortschritt selbst ein Bein, denn obwohl die
Akteure der Kathedrale unendlich vernünftig sind, zeigen sie sich
immer unverständiger, oft auffallend inkompetent und anfällig für
Fehler. Dies ist schon aus theologischen Gründen zu erwarten.
Wenn der Staat Gott wird, artet er, nach dem Modell des heiligen
Narren, in Schwachsinn aus. Die Medienpolitik des Trayvon-Martin-
Spektakels liefert ein treffendes Beispiel.
Wie in jedem anderen großen Land ereignen sich in den
Vereinigten Staaten jeden Tag viele Dinge unterschiedlicher und
mehr oder weniger unklarer Natur. So gibt es beispielsweise an
einem durchschnittlichen Tag rund 3400 Gewaltverbrechen, darunter
vierzig Morde, 230 Vergewaltigungen, 1000 Raubüberfälle und 2100
schwere Übergriffe, hinzu kommen 25 000 gewaltfreie
Eigentumsdelikte (Einbrüche und Diebstähle).54 Nur sehr wenige
dieser Verbrechen werden allgemein publik gemacht oder als
informativ, beispielhaft und repräsentativ aufgegriffen. Auch dann,
wenn die Medien nicht ohnehin eher im narrativen Sinne »gute
Geschichten« auswählen würden, würde eine solche Verengung
allein schon aufgrund der Menge der Vorfälle stattfinden. Angesichts
dieser Situation ist es fast unvermeidlich, dass die Menschen sich
fragen: Warum erzählt man uns das?
Fast alles in Bezug auf den Tod von Trayvon Martin ist umstritten,
mit Ausnahme der Motivation der Medien. Bei diesem Thema
herrscht nahezu Einmütigkeit. Der Sinn oder die Botschaft hinter der
Story des Falls hätte kaum transparenter sein können: Die
rassistische Paranoia der Weißen macht Amerika für Schwarze
gefährlich. Damit wird die Dialektik des rassistischen Terrors (eure
Furcht ist furchterregend) geprobt, die wie immer darauf abzielt,
Amerikas wechselseitigen sozialen Alptraum in ein einseitiges
moralisches Schauspiel zu verwandeln und die legitime Furcht
ausschließlich auf einer Seite der im Lande herrschenden
prinzipiellen Kluft zwischen den Rassen zu verorten. Ein offenbar
perfektes Narrativ. Ein böswillig verblendeter weißer Wachmann
schießt ein unschuldiges schwarzes Kind nieder, rechtfertigt damit
die schwarze Angst (»das Gespräch«) und entlarvt zugleich die
Panik der Weißen als mörderische Psychose. Wir haben es hier mit
einer Geschichte von solch archetypischer progressiver Bedeutung
zu tun, dass sie nicht oft genug erzählt werden kann. Und tatsächlich
war sie einfach zu schön, um wahr zu sein.
Bald stellte sich nämlich heraus, dass die mediale Zurichtung des
Narrativs – selbst dort, wo sie durch die Wutmaschine von
Prominenten/»Sozialaktivisten« verstärkt wurde – nicht ausreichte,
um die Geschichte nah am Drehbuch zu halten, und beide
Hauptdarsteller drifteten von ihren zugewiesenen Rollen ab. Um die
zunehmend sich erhärtenden Stereotype auch nur im Entferntesten
beizubehalten, war eine starke redaktionelle Bearbeitung
erforderlich.55 Notwendig war dies vor allem, weil gewisse böse,
rassistische, bigotte Leser des Miami Herald damit begannen, eine
das Narrativ zerstörende mentale Verbindung zwischen »Trayvon
Martin« und »Einbruchswerkzeug« herzustellen.56
Was den Mörder George Zimmerman betraf, so sagte der Name
schon alles. Es musste sich ganz eindeutig um einen plumpen,
bleichgesichtigen Sturmtruppen-Doppelgänger handeln, womöglich
eine Art christlicher Waffennarr, ja, vielleicht sogar – wenn man
wirklich tief grub – um einen Bürgermiliztyp mit homophobem und
Anti-Abtreibungs-Hintergrund. Er begann als »Weißer« –
augenscheinlich nur aufgrund der Inkompetenz der Medien und der
Notwendigkeit des Narrativs –, fand sich dann in einen »weißen
Hispanoamerikaner« verwandelt (eine Kategorie, die kurzerhand
erfunden worden sein dürfte) und durchlief nach und nach eine
Reihe zunehmend an die Realität angepasstere ethnische
Verwicklungen, die in der Entdeckung seines afro-peruanischen
Urgroßvaters gipfelten.
Im Innersten der Kathedrale führte das zu einigem
Kopfzerbrechen. Hier wurde der große amerikkkanische Angeklagte
auf seinen Schauprozess vorbereitet, der Präsident war dem
heiligen Opfer emotional beigesprungen, und das koordinierte
ground game war bis an den brodelnden Rand von Rassenunruhen
vorangetrieben worden, als die Botschaft zu zerfallen begann, und
zwar so sehr, dass sie nun zu einem ärgerlich irrelevanten Fall von
Gewalt zwischen Schwarzen zu verkommen drohte. Nicht nur, dass
George Zimmerman schwarzer Abstammung war – was ihn nach
den sozialkonstruktivistischen Maßstäben der Linken einfach
»schwarz« machte –, er war auch unter Schwarzen aufgewachsen,
mit zwei afroamerikanischen Mädchen als »langjährigem Teil des
Haushalts«, war ein Joint Venture mit einem schwarzen Partner
eingegangen, war ein registrierter Demokrat und sogar eine Art
»Community Organizer« …
Warum also ist Martin gestorben? Weil er Eistee und eine Tüte
Skittles bei sich trug und schwarz war (»der Sohn, den Obama hätte
haben können«, so die von den Medien und dem Bürger-Aktivisten
gebilligte Version), weil er Einbruchsziele ausgekundschaftet hat (die
Ku-Klux-Klan-Version des ethnischen Profilings) oder dafür, dass er
Zimmerman die Nase gebrochen, ihn umgeworfen, auf ihm
gesessen und seinen Kopf wiederholt gegen den Bürgersteig
geschlagen hat (es gilt die Unschuldsvermutung)? War er ein
Märtyrer der Rassenungerechtigkeit, ein asozialer Kleinkrimineller
oder ein menschliches Symptom der amerikanischen
Stadtentwicklungskrise? Als das Gerichtsverfahren begann, war
lediglich klar, dass es, von der erbärmlichen Traurigkeit der ganzen
Geschichte abgesehen, zu nichts führen würde.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, in welch beunruhigendem
Zustand des Zerfalls sich die autorisierte Lektion befand, als
Zimmerman des Mordes zweiten Grades angeklagt wurde, braucht
man nur den folgenden Beitrag des HBD-Bloggers oneSTDV zu
lesen, der die dialektischen Verwirrungen der Rassenkriegsrechten
beschreibt:
Trotz des verstörenden Charakters der »Anklagen« gegen Zimmerman weigern sich
viele in der Alt-Right, Zimmerman irgendeine Sympathie zu gewähren oder dies auch
nur als einen bahnbrechenden Moment in der anarcho-tyrannischen Herrschaft der
modernen Linken zu betrachten. Diesen Personen zufolge bekam der
spanischsprachige, als Demokrat registrierte Mestize das, was er verdiente – den
Zorn des schwarzen Mobs und der linken Elite, die indirekt von Zimmerman selbst
gestützt wurden. Wegen seines Wahlverhaltens, seines multikulturellen Hintergrunds
und seiner Betreuung von Minderheitsjugendlichen sehen sie in Zimmerman ein Sinnbild
für den Angriff der Linken auf das weiße Amerika, eine Art Bodensoldat in der
Kampagne gegen ein Amerika weißer Hautfarbe.57
Die Pop-PC-Polizei war bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Da
der große Schauprozess in eine narrative Unordnung
zusammenzubrechen drohte, war es an der Zeit, sich wieder auf die
Botschaft zu besinnen, ganz egal und zweimal egal, wie die Fakten
lagen. »Jezebel« ist das beste Beispiel für den schikanösen, leicht
hysterischen Ton:
Weißt du, woran man erkennen kann, dass Schwarze immer noch unterdrückt werden?
Denn: Schwarze werden immer noch unterdrückt. Wenn du behauptest, dass du kein
Rassist bist (oder zumindest bestrebt bist und dir den Arsch aufreißt, keiner zu sein –
und mehr kann niemand versprechen), dann musst du glauben, dass Menschen
grundsätzlich gleich geboren werden. Und wenn das wahr ist, dann sollten in einem
Vakuum Faktoren wie die Hautfarbe keinen Einfluss auf den Erfolg eines Menschen
haben. Richtig? Und wenn du also wirklich glaubst, dass alle Menschen gleich
geschaffen sind, wenn du aber siehst, dass es in der realen Welt drastische
Rassenunterschiede gibt, dann ist das Einzige, was sich daraus schließen lässt, dass
eine äußere Kraft bestimmte Menschen ausbremst. Zum Beispiel … Rassismus.
Richtig? Herzlichen Glückwunsch! Du glaubst also an Rassismus! Außer, du glaubst
nicht wirklich, dass Menschen gleich geboren werden. Und wenn du nicht glaubst, dass
Menschen gleich geboren werden, dann bist du ein verf***ter Rassist.58
Gibt es jemanden, der »wirklich« glaubt, dass »Menschen gleich
geboren werden«, in dem Sinne, wie es hier verstanden wird? Also
nicht nur glaubt, dass die Voraussetzung für zivilisierte Interaktion
eine formale Gleichbehandlungserwartung ist, sondern dass eine
offenbar gewordene Abweichung von der substanziellen
Ergebnisgleichheit einen eindeutigen Hinweis auf Unterdrückung
darstellt? Ist das tatsächlich »das Einzige, was sich daraus
schließen lässt«?
Zumindest sollte man Jezebel dazu beglückwünschen, den
progressiven Glauben in seiner reinsten Form zum Ausdruck
gebracht zu haben, und zwar von keinerlei Beweisen oder
Ungewissheiten jeglicher Art auch nur im Geringsten irritiert, jede
relevante Forschung – ob vorhanden oder nur denkbar – beiläufig
missbilligend und sich selbst seiner eigenen moralischen
Unanfechtbarkeit überaus gewiss. Wenn die Tatsachen moralisch
falsch sind, umso schlimmer für die Tatsachen – das ist die einzige
Position, die überhaupt vorstellbar ist, auch wenn sie auf einer
Mischung aus Wunschdenken, absichtlicher Ignoranz und
unverschämten kindischen Lügen beruht.
Den Glauben an die substanzielle Gleichheit des Menschen als
Aberglauben zu bezeichnen, ist eine Beleidigung des Aberglaubens.
Für den Glauben an Kobolde mag es keine Grundlage geben, aber
wer einem solchen Glauben nachhängt, ist wenigstens nicht den
ganzen Tag lang damit beschäftigt, ihrem Nichtvorhandensein
zuzusehen. Die Ungleichheit hingegen liegt in ihrer ganzen Vielfalt
ständig offen zutage, zeigen die Menschen doch ihre Unterschiede
in Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, körperlicher Attraktivität,
Größe und Gestalt, Stärke, Gesundheit, Beweglichkeit, Charme,
Humor, Witz, Fleiß und Geselligkeit sowie in zahllosen anderen
Merkmalen, Eigenschaften, Fähigkeiten und Aspekten ihrer
Persönlichkeit, manche unmittelbar und ins Auge fallend, andere nur
langsam und mit der Zeit. Auch nur einen Bruchteil dieser
Unterschiede wahrzunehmen und dann einzig daraus zu schließen,
dass sie entweder gar nicht existieren oder »soziale Konstrukte« und
Index der Unterdrückung seien, ist nichts anderes als schieres
gnostisches Delirium: ein verblendetes Engagement, ohne den
geringsten Beweis für die Existenz einer wahren und guten Welt. Die
Menschen sind nicht gleich, sie entwickeln sich nicht gleich, ihre
Ziele und Leistungen sind nicht gleich, und nichts kann sie
gleichmachen. Substanzielle Gleichheit hat keinen Bezug zur
Realität, außer als deren systematische Verneinung. Um auch nur in
die Nähe eines praktikablen egalitären Programms zu gelangen,
wäre Gewalt in der Größenordnung eines Völkermords erforderlich,
und wenn etwas weniger Ambitioniertes versucht wird, finden die
Menschen – manche tüchtiger als andere – einen Weg, um die
Gleichheit herumzukommen.
Um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Jeder, der mehr
als ein Kind hat, weiß, dass niemand gleich geboren wird (eineiige
Zwillinge und Klone vielleicht ausgenommen). Tatsächlich wird jeder
anders geboren, auf vielfältigste Art. Selbst wenn sich – wie
normalerweise der Fall – kaum zuverlässig vorhersagen lässt, wie
sich diese Unterschiede letztlich auf das Leben auswirken werden,
ist ihre Existenz unbestreitbar, oder zumindest: aufrichtig betrachtet
unbestreitbar. Natürlich geht es hier nicht im Entferntesten um
Aufrichtigkeit oder auch nur um minimale kognitive Kohärenz.
Jezebels Position – so tadellos sie in ihrer politischen Korrektheit
sein mag – ist sachlich nicht nur zweifelhaft, sondern sogar
lächerlich absurd und im Grunde genommen wahnsinnig. Sie
dogmatisiert eine so extreme Verleugnung der Realität, dass sie sich
auch beim besten Willen nicht aufrechterhalten oder auch nur
erwägen, geschweige denn plausibel erklären oder verteidigen ließe.
Es ist ein Glaubensgrundsatz, der sich nicht herleiten, sondern, als
Wahnsinn zum Gesetz erhoben oder als autoritäre Religion, nur
behaupten lässt und dem man sich lediglich unterwerfen kann.
Das politische Gebot dieser Religion liegt auf der Hand: Es gilt,
eine fortschrittliche Sozialpolitik als einzig mögliche Lösung für die
Sünde das Problem der Ungleichheit zu akzeptieren. Dieses Gebot
ist ein »kategorischer Imperativ«, und keine Tatsache könnte es
untergraben, komplizieren oder revidieren. Wenn progressive
Sozialpolitik tatsächlich zu einer Verschärfung des Problems führt,
liegt das allein an der »gefallenen« Realität, da die soziale Krankheit
offenbar schlimmer ist, als ursprünglich angenommen, und Abhilfe
nur durch verstärkte Anstrengungen in die gleiche Richtung
geschaffen werden kann. In Glaubensfragen gibt es nichts zu lernen.
Schlussendlich wird der gesellschaftliche Systemzusammenbruch
jene Lektion lehren, die chronisches Versagen und fortschreitende
Verschlechterung nicht kommunizieren konnten. (Das ist
Sozialdarwinismus für Dummköpfe im großen Maßstab, und auf
diese Art und Weise enden Zivilisationen.)
Weil in modernen Gesellschaften die Intelligenz oder die
allgemeine Fähigkeit zur Problemlösung, quantifiziert als IQ (der
Spearmans »g«-Faktor misst), so außergewöhnlich eng mit den
beträchtlichen Unterschieden gesellschaftlichen Erfolgs korreliert, ist
sie die bei Weitem problematischste Größe der menschlichen
Biodiversität. Sobald jedoch der »statistische gesunde
Menschenverstand« oder das Profiling auf die Verfechter der
menschlichen Biodiversität angewandt werden, offenbart sich rasch
ein weiteres signifikantes Merkmal: ein auffällig durchgängiges
Defizit an Allgemeinverträglichkeit. Tatsächlich wird in der
verfluchten »Gemeinschaft« selbst weithin davon ausgegangen,
dass diejenigen, die stur und widerwärtig genug sind, sich über die
biologischen Variationen des Menschen kundig zu machen, meist
deutlich »sozial zurückgeblieben« sind,59 verbal relativ ungehemmt
agieren, ein geringes Empathievermögen und eine mangelhafte
soziale Integration aufweisen, was insgesamt in einer chronischen
Fehlanpassung an Gruppenerwartungen resultiert. Die EQs dieser
Gruppe lassen sich in der Regel annäherungsweise als
Quadratwurzel ihrer IQs ermitteln. Typisch ist zudem ein leichter
Autismus, der ausreicht, um sich seinen Mitmenschen im Geist
losgelöster, naturwissenschaftlicher Neugierde zu nähern, aber nicht
so weit fortgeschritten ist, eine völlige kosmische Loslösung zu
erzwingen. Diese Eigenschaften, die sie selbst – auf der Grundlage
umfangreicher technischer Informationen – für im Wesentlichen
vererbbar halten, haben offenkundig soziale Auswirkungen, durch
die sich Beschäftigungsmöglichkeiten, das Einkommen und sogar
das Reproduktionspotenzial schmälern. Trotz aller therapeutischen,
im progressiven Milieu gratis zur Verfügung stehenden Ratschläge,
gibt es keine Anzeichen, dass derlei Unausstehlichkeit abnimmt; sie
scheint sogar eher zuzunehmen. Wie Jezebel in aller Deutlichkeit
darlegt, kann es sich dabei absolut nur um ein Zeichen struktureller
Unterdrückung handeln. Warum können unausstehliche Menschen
nicht einfach mal in Ruhe gelassen werden?
Die Geschichte ist niederschmetternd. Die »Umgänglichen«
hatten es schon immer auf die »Unausstehlichen« abgesehen,
lehnten es meist ab, sie zu heiraten oder mit ihnen Geschäfte zu
machen, schlossen sie von Gruppenaktivitäten und politischen
Ämtern aus, versahen sie mit Schimpfwörtern, ächteten und mieden
sie. »Unausstehlichkeit« wurde stigmatisiert und stereotyp in äußerst
negative Begriffe gekleidet, und zwar so sehr, dass zahlreiche
Unausstehliche für sich nach weniger heiklen Bezeichnungen wie
»sozial überfordert« oder »sozial anders begabt« gesucht haben.
Häufig genug sind Menschen lediglich ihrer radikalen
Unausstehlichkeit wegen verbal oder sogar körperlich angegriffen
worden. Am tragischsten ist jedoch, dass die Unausstehlichen
aufgrund ihrer völligen Unfähigkeit, miteinander auszukommen, sich
nie gegen die strukturelle soziale Unterdrückung, der sie ausgesetzt
sind, politisch zu mobilisieren vermochten oder Koalitionen mit ihren
natürlichen Verbündeten, den Zynikern, Entlarvern, Abweichlern und
Tourette-Syndrom-Betroffenen eingehen konnten. Die
Unausstehlichkeit harrt noch ihrer Befreiung, doch vermutlich wird
das Internet dabei »helfen« …
Betrachten wir John Derbyshires berüchtigten Essay The Talk:
Nonblack Version,60 wobei wir uns zunächst auf seine gnadenlose
Unausstehlichkeit konzentrieren und auf den negativen
Zusammenhang zwischen Umgänglichkeit und objektiver Vernunft
achten wollen. Wie Derbyshire an anderer Stelle anmerkt, sind
Menschen im Allgemeinen nicht in der Lage, sich von
Gruppenidentitäten abzusetzen oder statistische
Verallgemeinerungen über Gruppen korrekt auf Einzelfälle,
einschließlich ihren eigenen, anzuwenden. Eine rational nicht
vertretbare, aber sozial unvermeidliche Konkretisierung von
Gruppenprofilen ist psychologisch normal – sogar »menschlich« –,
mit dem Ergebnis, dass verrauschte, unspezifische, statistische
Informationen irrtümlich als zum eigenen Selbstverständnis
beitragend akzeptiert werden, selbst dann, wenn spezifische
Informationen verfügbar sind.
Aus der einer rationalen Analyse folgenden Sicht von Sozial-
Autisten mit niedrigem EQ ist dies einfach falsch. Wenn ein
Individuum bestimmte Merkmale aufweist, ist die Tatsache der
Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die ähnliche oder unähnliche
durchschnittliche Merkmale aufweist, völlig irrelevant. Direkte und
genau umrissene Informationen über eine Einzelperson werden
durch indirekte und unbestimmte (probabilistische) Informationen
über die Gruppen, zu denen diese Person gehört, in keiner Weise
detaillierter. Wenn zum Beispiel die Testergebnisse eines
Individuums bekannt sind, bieten statistische Rückschlüsse auf die
Testergebnisse, die aufgrund des Gruppenprofils zu erwarten
gewesen wären, keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Ein
aschkenasischer jüdischer Schwachkopf ist nicht weniger
schwachsinnig, nur weil er ein aschkenasischer Jude ist. Dass ältere
chinesische Nonnen Mörderinnen sind, ist eher unwahrscheinlich,
aber eine Mörderin, die zufällig eine ältere chinesische Nonne ist, ist
weder mehr noch weniger mörderisch als eine, die es nicht ist. Für
unausstehliche Menschen liegt das glasklar auf der Hand.
Für normale Menschen ist es jedoch alles andere als
offensichtlich. Zum Teil liegt dies daran, dass rationale Intelligenz bei
Menschen selten und abnormal ist, und zum Teil daran, dass soziale
»Intelligenz« mit dem arbeitet, was alle anderen denken, das heißt
mit irrationalen gruppenspezifischen Gefühlen, dürftigen
Informationen, Vorurteilen, Stereotypen und Heuristiken. Da (fast)
jeder Abkürzungen nimmt oder an Vernunft »spart«, ist es nur
rational, defensiv auf Verallgemeinerungen zu reagieren, die mit
großer Wahrscheinlichkeit konkret oder unangemessen angewendet
werden und bestimmte Wahrnehmungen ausblenden oder ersetzen.
Wer von vorneherein erwartet, durch eine Gruppenidentität
vordefiniert zu sein, investiert sein Ego stärker in diese Gruppe und
die Art, wie sie wahrgenommen wird. Eine generelle Beurteilung, wie
objektiv sie auch zustande kommen mag, wird unter (auch nur
annähernd) normalen Bedingungen sofort persönlich.
Unausstehliche Vernunft besteht bisweilen hartnäckig darauf,
dass Durchschnittswerte nichts mit einem als Individuum zu tun
haben, doch wird diese Botschaft im Allgemeinen nicht gehört. Die
soziale »Intelligenz« ist darauf nicht ausgelegt. Selbst vermeintlich
kultivierte Kommentatoren entblöden sich nicht, wiederholt ihre
statistische Unkenntnis zur Schau zu stellen, und dies ohne davon
peinlich berührt zu sein, denn Peinlichkeit ist etwas anderem
(nahezu Gegenteiligem) vorbehalten. Stereotype in ihrer
wissenschaftlichen beziehungsweise probabilistischen Anwendung
nicht richtig deuten zu können, ist eine funktionelle Voraussetzung
für Soziabilität, denn die einzige Alternative zur Idiotie wäre so
gesehen Unausstehlichkeit.
Derbyshires Artikel ist bemerkenswert, gelingt es ihm doch,
eindeutig unausstehlich zu sein, und dies wurde ihm, trotz der
stotternden Inkohärenz der meisten Erwiderungen, auch zugebilligt.
Dem »Gespräch« und dem »Gegengespräch« gemeinsam ist unter
anderem eine theatralische Struktur pseudoprivater Unterhaltung,
dazu gedacht, belauscht zu werden. In beiden Fällen wird eine
Botschaft, die Eltern ihren Kindern zu übermitteln haben, als Vehikel
für eine umfassendere soziale Lektion inszeniert, an diejenigen
gerichtet, die durch ihr Handeln oder Nichthandeln eine für sie
unerträglich gefährliche Welt geschaffen haben.
Diese Form ist ihrem Wesen nach manipulativ und macht selbst
das »Original«-Gespräch zu einem verlockenden Ziel für Parodie. Im
Original allerdings wird durch die bewusste Darbietung von Unschuld
(oder Unwissenheit) ein Ton von verzweifelter Aufrichtigkeit erzeugt.
Hör zu, mein Sohn, ich weiß, das wird schwer zu verstehen sein …
(Ach, warum, ach, warum tut man uns das an?). Im krassen
Gegensatz dazu kombiniert das Gegengespräch sein mikrosoziales
Drama mit dem klinisch nicht gesellschaftsfähigen Diskurs der
»methodischen Untersuchungen in den Humanwissenschaften – es
behandelt Bevölkerungen als unscharfe biogeografische Einheiten
mit quantifizierbaren Merkmalen und nicht als miteinander
kommunizierende politische Rechtssubjekte. Es verspottet die
Unschuld und – implizit – das Kriterium der Soziabilität selbst.
Einvernehmen, Allgemeinverträglichkeit zählen nichts. Die rigoros
und redundant erstellten Statistiken sagen, was sie sagen, und wenn
wir damit nicht leben können – umso schlimmer für uns.
Doch selbst für eine einigermaßen sympathisierende oder
skrupellos unausstehliche Lesart gibt Derbyshires Artikel Anlass zur
Kritik. Zum Beispiel ist es von Anfang an auffällig, dass der rassische
Kehrwert der »nichtschwarzen Amerikaner« »schwarze Amerikaner«
und nicht »amerikanische Schwarze« (der von Derbyshire gewählte
Begriff) sein müsste. Diese Umkehrung der Wortstellung, der
Wechsel von Substantiven und Adjektiven, fügt sich schnell zu
einem Muster. Spielt es eine Rolle, wenn Derbyshire fordert, »jedem
einzelnen Schwarzen« (und nicht »jeder schwarzen Person«) mit
Anstand zu begegnen? Sicherlich macht das einen Unterschied. Zu
sagen, dass jemand »schwarz« ist, bedeutet, etwas über ihn
auszusagen, aber festzustellen, dass jemand »ein Schwarzer« ist,
bedeutet auszusagen, wer er ist. Die Wirkung ist subtil und doch
deutlich bedrohlich, und Derbyshire ist algebraisch zu geübt, dies
nicht zu bemerken. Schließlich klingt »John Derbyshire ist ein
Weißer« ebenso abwegig wie jede entsprechende Formulierung, die
das Individuum der Gattung subsumiert, um es als bloße Instanz
oder als Beispiel wieder hervorzuholen.
Die intellektuell bedeutenderen Aspekte dieses unnötigen und
übergriffigen Mangels an Anstand sind von William Saletan und
Noah Millman untersucht worden, die, jeweils von den beiden Seiten
der Liberal-konservativ-Spaltung ausgehend, zu ähnlichen
Ergebnissen kommen. So weisen beide auf einen Riss oder eine
methodische Inkongruenz in Derbyshires Artikel hin, die auftritt, weil
der Autor sich befleißigt, makrosoziale statistische
Verallgemeinerungen auf mikrosoziale Verhältnisse anzuwenden.
Stereotype, so gründlich sie auch untermauert sein mögen, sind
jedem spezifischen, in einer konkreten sozialen Situation
gewonnenem Wissen grundsätzlich unterlegen, hat es doch kein
Mensch jemals mit einer Bevölkerung im Ganzen zu tun.
Saletan, ein Liberaler von problematischem Ruf,61 bleibt nichts
anderes übrig, als melodramatisch vor Derbyshires
»magenverrenkenden Schlussfolgerungen« zurückzuzucken, doch
seine Gründe dafür werden von seiner gastro-emotionalen Krise
nicht aufgezehrt. »Was aber ist eine statistische Wahrheit
eigentlich?«, fragt er. »Es ist eine Wahrscheinlichkeitsschätzung, auf
die man zurückgreift, wenn man über [eine bestimmte Person] nichts
weiß. Sie ist für einen Unwissenden der dürftige Ersatz für Wissen.«
Derbyshire, der mit seiner Asperger-Attitüde darauf aufmerksam
macht, dass noch kein Schwarzer mit einer Fields-Medaille
ausgezeichnet wurde, ist demnach »… ein Mathe-Nerd, der soziale
Intelligenz durch statistische Intelligenz ersetzt. Er empfiehlt
Gruppenberechnungen, anstatt sich die Mühe zu machen, etwas
über die Person zu erfahren, mit der man es zu tun hat«.62
Millman wiederum hebt auf die ironische Umkehrung ab, die
(unausstehliche) sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in gebotene
Ignoranz umkippen lässt:
Die »Rassenrealisten« behaupten gerne von sich, sie gehörten zu denjenigen, die
neugierig auf die Welt sind, während die »politisch korrekten« Typen es vorziehen, die
hässliche Realität zu ignorieren. Aber der Rat, den Derbyshire seinen Kindern gibt,
bestärkt sie darin, nicht zu neugierig auf die Welt um sie herum zu sein, aus Angst,
verletzt zu werden. Und das ist normalerweise ein schrecklicher Ratschlag für Kinder –
und bestimmt kein Rat, den Derbyshire in seinem eigenen Leben befolgt hat.
Auch Millmans Schlussfolgerung ist aufschlussreich:
Warum streite ich mich also überhaupt mit Derb? Nun, weil er ein Freund ist. Und weil
selbst nachlässiges, sozial verantwortungsloses Gerede es verdient, widerlegt und nicht
nur angeprangert zu werden. Ist Derbyshires Artikel rassistisch? Natürlich ist er
rassistisch. Im Wesentlichen sagt er, dass es sowohl rational als auch moralisch
gerechtfertigt sei, wenn seine Kinder Schwarze grundsätzlich anders behandelten als
Weiße und sie fürchteten. Aber »rassistisch« ist ein deskriptiver Begriff, kein
moralischer. Die »rassenrealistische« Masse ist fest davon überzeugt, dass Derbyshires
Prämissen richtig sind, und sie werden sich diese Überzeugung nicht mit der
Behauptung ausreden lassen – und, ehrlich gesagt, das sollten sie auch nicht –, eine
solche Überzeugung sei »rassistisch«. Aus diesem Grund halte ich es für wichtig zu
argumentieren, dass sich Derbyshires Schlussfolgerungen nicht einfach aus den
genannten Prämissen ergeben und dass sie deshalb in der Tat moralisch falsch sind,
auch wenn die Prämissen um des Argumentes willen akzeptiert werden.63
Teil 4c: Die Cracker-Factory
In diesem Sinne sind wir zur Hauptstadt unserer Nation gekommen, um einen Scheck
einzulösen. Als die Architekten unserer Republik die grandiosen Worte der Verfassung
und der Unabhängigkeitserklärung schrieben, unterzeichneten sie einen Schuldschein,
dessen Erbe jeder Amerikaner sein sollte. Dieser Schuldschein war ein Versprechen,
dass allen Menschen [–] ja, schwarzen Menschen wie auch weißen Menschen [–] die
unveräußerlichen Rechte von Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück garantiert
wären.
Es ist heute offensichtlich, dass Amerika diese[n] Schuldschein nicht eingelöst hat und
zwar in Hinsicht auf seine farbigen Bürger. Amerika, anstatt diese heilige Verpflichtung
zu honorieren, hat den Negern einen ungedeckten Scheck gegeben, einen Scheck, der
mit dem Stempel ungenügende Deckung zurückgekommen ist.«64
– Martin Luther King Jr.
Der Konservatismus […] ist ungeachtet einiger verstreuter Ausnahmen eine Bewegung
des weißen Volkes.
Das war immer so und wird immer so bleiben. Ich habe mindestens hundert
konservative Versammlungen, Konferenzen, Kreuzfahrten und Jamborees besucht, und
eines kann ich sagen: Da sind nicht allzu viele Rosinen in diesem Brötchen. Zwölf Jahre
lang ging ich in den Büros der National Review ein und aus, und der einzige Schwarze,
den ich dort sah, abgesehen von Herman Cain, der ab und zu vorbeischaute, war Alex,
der Typ, der die Poststelle leitet. (Hey, Alex!) Das liegt nicht daran, dass der
Konservatismus Schwarzen und Mestizen gegenüber feindlich gesinnt ist. Ganz im
Gegenteil, besonders im Fall von Conservatism Inc. Dort wird mit geradezu läppischer
Ehrerbietung um den gelegentlichen Nicht-Weißen herumscharwenzelt, dass man vor
lauter Peinlichkeit die Hand nicht mehr vor den Augen sieht. (F: Wie nennt man bei einer
Versammlung von 1000 Republikanern den einzigen Schwarzen? A: »Herr
Vorsitzender«.)
Es ist nun mal eben so, dass konservative Ideale wie Selbstgenügsamkeit und minimale
Regierungsabhängigkeit nicht attraktiv sind für leistungsschwache Minderheiten– für
Gruppen also, denen es im statistischen Mittel an jenen Eigenschaften mangelt, die in
einer modernen Handelsnation für Gruppenerfolg sorgen.
Was hätten sie also davon, sich solche Ideale zu eigen zu machen? Sie würden sich am
Ende noch deutlicher am unteren Ende der Gesellschaft konzentrieren, als sie es
ohnehin schon tun.
Für sie ist es eine weit bessere Strategie, wenn sie sich mit unzufriedenen weißen und
asiatischen Untergruppen (Homosexuellen, Feministinnen, verblendeten
Gewerkschaften), und zwar so vielen wie möglich verbünden. So können sie
Wahlmehrheiten erlangen und umverteilungsfreudige Regierungen einsetzen, die ihnen
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anbieten und sie damit am Reichtum erfolgreicher
Gruppen partizipieren lassen.
Was sie auch, sehr rational und vernünftig, tun.65
– John Derbyshire
Wir sind umgeben von Neosezessionisten […], und die Redefreiheit gewährt ihnen
einen bequemen Schutzmantel. Ein Rick Perry, der andeutete, Texas würde sich eher
abspalten, als sich an das Bundesgesundheitsgesetz zu halten, Todd Palin, der einer
politischen Vereinigung angehört, die sich für die Abspaltung Alaskas einsetzt, und
Sharron Angle, die von »Rechtsmitteln des zweiten Verfassungszusatzes« spricht, um
Streitigkeiten mit Bundesbehörden zu regeln, all das sind Beispiele für eine gefährliche
sezessionistische Rhetorik, die sich im modernen Diskurs breitmacht. Die Medien
lenken unsere Aufmerksamkeit auf Bürgerkriegsreenactments und auf Pickup-Trucks,
an denen Flaggen der Konföderierten wehen. Aber auch Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens werden beeinflusst, von Akademikern, die darum kämpfen, eine
höchst gefährliche Form des Revisionismus aufrechtzuerhalten.66
– Practically Historical
Afroamerikaner sind das Gewissen unseres Landes.67
– Kommentator, »gestrandet« auf einem Blog von Walter Russell Mead
(Rechtschreibung angepasst)
Amerikas »Erbsünde« in der Rassenfrage ist grundlegender Natur
und reicht, mit der Ausmerzung der Ureinwohner durch europäische
Siedler und – augenfälliger – der Einführung der Sklaverei, noch vor
die Entstehung der Vereinigten Staaten zurück. Dies ist die
alttestamentarische Geschichte der amerikanischen Beziehungen
zwischen Schwarzen und Weißen, erzählt als eine durch göttliche
Vorsehung bestimmte Flucht aus der Knechtschaft, in der
Sachdokumentation und moralische Ermahnung unauflöslich
miteinander verschmolzen sind. Die nach dem Muster der Thora
angelegte Kombination aus anhaltender und erbitterter
gesellschaftlicher Schmähung, die zudem den ursprünglichen
moralisch-politischen Mythos westlicher Tradition rekapituliert, hat
mit der Geschichte von Sklaverei und Emanzipation der
amerikanischen Geschichtserfahrung einen unübertrefflichen
Rahmen gesetzt: Lasst mein Volk ziehen.
Practically Historical (siehe oben), zitiert Lincoln über den
Bürgerkrieg:
Wenn es aber Gottes Wille ist, daß der Krieg dauere, bis all der von den Sklaven in
unbesoldeter Arbeit während zweihundertfünfzig Jahren angesammelte Reichtum
verausgabt, und bis jeder durch die Peitsche vergossene Blutstropfen durch einen mit
dem Schwerte vergossenen gerächt ist, dann können wir sagen, wie schon vor
dreitausend Jahren der Psalmist gesagt hat: »Die Gebote des Herrn sind lauter, und die
Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesamt gerecht.«68
Das Neue Testament der Rassenfrage in Amerika wurde in den
1960er-Jahren geschrieben, wobei die Vorlage revidiert und
präzisiert wurde. Die Kombination aus der Bürgerrechtsbewegung,
dem Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetzes von 1965 sowie
der republikanischen Strategie für den Süden (die an unzufriedene
Weiße aus den Staaten der einstigen Konföderation appellierte)
führte dazu, dass sich die Schwarzen mit der Demokratischen Partei
identifizierten. Dies kam einer liberal-progressiven Wiedergeburt
nahe und legte die Bedingungen für eine parteiliche
Rassenpolarisierung fest, die in den folgenden Jahrzehnten
fortwährte und sich sogar noch verstärkte. Für eine progressive
Bewegung, die durch eine Geschichte des systematischen
eugenischen Rassismus kompromittiert war, und für eine
Demokratische Partei, die traditionell mit der Verstocktheit des
weißen Südens und dem Ku-Klux-Klan verbunden war, bot die Ära
der Bürgerrechtsbewegung eine Gelegenheit zur Sühne, rituellen
Reinigung und Erlösung.
Umgekehrt bedeutete dieser Fortschritt für den amerikanischen
Konservatismus (und sein zunehmend orientierungsloses Vehikel,
die Republikanische Partei) – aus Gründen, die sich nach wie vor
entziehen – einen langwierigen Tod. Die Idee Amerika war von nun
an unauflöslich mit einer vehementen Vergangenheitsabkehr
verbunden und sogar mit einer Abkehr von der Gegenwart, zumal
diese von der Vergangenheit geprägt war. Dem konnte nur mit einer
»noch vollkommeneren Union« entsprochen werden. In einem Land,
das immer demokratischer und immer weniger republikanisch wurde,
in dem die effektive Souveränität national in der Exekutive
konzentriert und die moralische Dringlichkeit einer aktivistischen
Regierung als Glaubensprinzip installiert war, waren die
weitreichenden parteipolitischen Implikationen der neuen Ordnung
oberflächlich betrachtet unverkennbar. Für das, was bereits zur
»Alten Rechten« geworden war, gab es keinen Ausweg oder
Rückweg, denn der Weg zurück querte den Ereignishorizont der
Bürgerrechtsbewegung und führte in Bereiche politischer
Unmöglichkeit, die im äußersten Extrem die Sklaverei beinhalteten.
Die Linke lebt von der Dialektik, die Rechte geht durch sie
zugrunde. Wenn es eine reine Logik der Politik gibt, dann diese.
Eine unmittelbare (wiederholt von Mencius Moldbug
hervorgehobene) Folge ist, dass der Progressivismus von links keine
Feinde zu befürchten hat. Er erkennt nur Idealisten an, deren Zeit
noch nicht gekommen ist. Parteiinterne Konflikte der Linken sind
politisch dynamisch und werden wegen ihrer treibenden Kraft
gefeiert. Der Konservatismus hingegen steckt in einer Zwickmühle.
Er wird von links vom Moloch des postkonstitutionellen Etatismus
bedrängt und von »rechts« durch unausgegorene Tendenzen
erschüttert, die weder mit dem Mainstream noch untereinander
vereinbar sind und von extremen (austro-libertären) Spielarten des
Laissez-faire-Kapitalismus bis hin zu halsstarrigen, meist theologisch
unterlegten Abwandlungen des sozialen Traditionalismus, des
Ultranationalismus oder einer weißen Identitätspolitik reichen.
Die »Rechte« ist nicht vereint, weder gegenwärtig noch
perspektivisch, und besitzt daher keine Definition, die derjenigen der
Linken analog wäre. Eben deshalb geht die politische Dialektik (eine
Tautologie) nur in eine Richtung, und zwar vorhersehbar in Richtung
einer Expansion des Staates und eines zunehmend zwanghaften
substanziell-egalitären Ideals. Die Rechte bewegt sich in die Mitte,
und die Mitte bewegt sich nach links.
Ungeachtet der konservativen Mainstream-Fantasien ist
inzwischen unbestreitbar, dass die amerikanische Vorsehung liberal-
progressiv dominiert und damit von einer Rassendialektik geprägt
ist, die Widerspruch unbegrenzt absorbiert und zugleich die
afroamerikanische Unterschicht als verkörperte Kritik an der
bestehenden Gesellschaftsordnung, als Kriterium der Emanzipation
und als einzigen Weg zur kollektiven Erlösung positioniert. Eine
alternative Struktur historischer Intelligibilität ist politisch nicht
tolerierbar, geschweige denn – streng genommen – vorstellbar. Der
Widerstand nämlich gegen das Narrativ ist unamerikanisch,
antisozial und (natürlich) rassistisch. Er dient lediglich dazu, die
Existenz systematischer Rassenunterdrückung durch die in ihrer
Verneinung manifeste symbolische Gewalt zu bestätigen. Schon die
Anfechtung des Narrativs beweist seine Richtigkeit, denn damit
artikulieren sich konkret dieselben unaufgeklärten Kräfte sozialer
Zurückgebliebenheit, die verbal geleugnet werden. Wenn sich
Hinterwäldler, die sich verbittert an irgendwelche Vorurteile
klammern, der Forderung nach einer orchestrierten sozialen
Umerziehung widersetzen, zeigen sie nur, wie viel noch zu tun bleibt.
In ihrer abstraktesten und allumfassendsten Form schafft die
liberal-progressive Rassendialektik ihre Außenseite ab und beraubt
sich damit jeder Möglichkeit konsistenter Prinzipien. In einem
Atemzug behauptet sie, dass Rasse nicht existiert und dass ihre
gesellschaftlich konstruierte Pseudo-Existenz ein Instrument der
Gewalt zwischen den Rassen sei. Die Anerkennung von Rasse ist
einerseits verpflichtend und andererseits verboten. Obwohl
Rassenidentitäten (immerhin von den Vereinten Nationen) als
bedeutungslos heruntergespielt und als böswillige, jeglicher
Grundlage entbehrende Stereotype abgetan werden, werden sie
akribisch katalogisiert, um sozialen Missständen zu begegnen,
Hassverbrechen aufzudecken und Impaktstudien aller Art
durchzuführen, Letztere mit dem Ziel, Gruppen für »positive
Diskriminierung«, »affirmative action« oder »Förderung der Vielfalt«
(um diese Begriffe in der groben Reihenfolge ihrer historischen
Ablösung aufzulisten) ausfindig zu machen. In Bezug auf die Rassen
ist zugleich extreme Sensibilität und totale Desensibilisierung
gefordert. Rasse ist alles und nichts. Eine ausweglose Situation.
Der Konservatismus ist erklärtermaßen dialektisch inkompetent
und so erbärmlich ahnungslos, dass er sich einbildet, diese
Widersprüche oder – in seiner eigenen verblendeten Formulierung69
– die liberale kognitive Dissonanz ausnutzen zu können. Die
triumphierend auf solche Ungereimtheiten hinweisenden
Konservativen haben offenbar noch nie den Ausstoß eines aktuellen
geisteswissenschaftlichen Programms überflogen, wo miteinander
unvereinbare Beschwerdelagen so liebreich zu dicken Bündeln sich
widersprechender Schuldzuweisungen verwoben werden, um in den
radikal progressiven Verheißungen ihrer misstönenden Lamentos
frohlocken zu können. Inkonsistenz ist der Treibstoff der Kathedrale,
da sie aktivistische Diskussion erfordert und auf die Verwirklichung
einer immer größeren Einheit dringt. Eine integrative öffentliche
Debatte verschiebt die Dinge immer nach links – das mag jedem
einleuchten, aber es wirklich zu verstehen, würde bedeuten, die
fundamentale Vergeblichkeit des Mainstream-Konservatismus zu
entlarven. Daran hat jedoch so gut wie niemand Interesse, und
deshalb wird es auch nie verstanden werden.
Der Konservatismus ist zu einer lebendigen Dialektik oder zu
einem inhärenten Widerspruch unfähig, was ihn jedoch nicht daran
hindert, dem Fortschritt zu dienen (im Gegenteil). Anstatt die Macht
der Inkonsistenz zu feiern, stolpert er nach Art einer
Fossilienausstellung oder eines Abziehbilds durch dekomprimierte,
hintereinander aufgereihte Widersprüche. Nachdem der
konservative (und republikanische) Mainstream in der Ära der
Bürgerrechte »der Geschichte entgegengestanden, ›Stopp!‹
geschrien«70 und sich damit auf ewig in die rassische Verdammnis
verbannt hatte, kehrte er seinen Kurs um, griff Martin Luther King Jr.
als integralen Bestandteil seines Kanons auf und versuchte, sich mit
»ein[em] Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum«, in
Einklang zu bringen.
Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben und der wahren
Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: »Wir halten diese Wahrheit für
selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind.« Ich habe einen Traum,
dass eines Tages auf Georgias roten Hügeln die Söhne früherer Sklaven und die Söhne
früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen.
Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der
in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung schmort, in eine Oase der Freiheit
und Gerechtigkeit verwandelt.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben,
in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen
wird.71
Fasziniert von Kings Appell an den konstitutionellen und biblischen
Traditionalismus, von seiner Ablehnung politischer Gewalt und von
seinen unbefangenen Hymnen auf die Freiheit, identifizierte sich der
amerikanische Konservatismus nach und nach mit dem Traum von
Rassenversöhnung und Rassenblindheit und akzeptierte ihn
schließlich als wahre und providenzielle Auslegung seiner eigenen
geheiligten Dokumente. Dies zumindest entwickelte sich zur
allgemeinen, öffentlichen, konservativen Orthodoxie, die sich
allerdings viel zu spät festigte, um den Verdacht der Unaufrichtigkeit
loszuwerden, der es zudem kaum gelang, die schwarze Bevölkerung
zu überzeugen, und die, ob ihres leeren Formalismus, dem
wachsenden Spott der Linken stets eine offene Flanke bot.
Kings Umformulierung des amerikanischen Credos war so
überzeugend, dass sein Triumph über den politischen Mainstream
im Nachhinein geradezu unvermeidlich erscheint. Je weiter sich der
amerikanische Konservatismus vom freimaurerischen Rationalismus
der Gründerväter in Richtung einer biblischen Religiosität entfernte,
desto weniger unterschied er sich in seinem Glauben von einer
schwarz-amerikanisch geprägten, mythisch durch den Exodus
artikulierten Erfahrung, deren geschichtliche Grundstruktur in der
Flucht aus der Knechtschaft bestand und in eine Zukunft münden
sollte, in der »alle Kinder Gottes – schwarze und weiße Menschen,
Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken – sich die Hände
reichen und die Worte des alten Negro Spiritual singen können:
›Endlich frei! Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich
frei!‹«72
Das Geniale an Kings Botschaft war ihre außerordentliche
Integrationskraft. Die Flucht der Hebräer aus Ägypten, der
amerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Abschaffung der Sklaverei
im Gefolge des amerikanischen Bürgerkriegs und die Bestrebungen
der Bürgerrechtsära, dies alles wurde auf mythische Weise zu einem
einzigen archetypischen Bogen verdichtet, der perfekt mit dem
amerikanischen Credo übereinstimmte und nicht nur seiner
unwiderstehlichen moralische Kraft wegen, sondern sogar kraft
göttlicher Verfügung vorangetrieben wurde. Das Maß jedoch, an
dem sich dieses integrative Genie misst, ist die Komplexität, der es
Herr wird. Ein Jahrhundert nach dem »freudige[n] Tagesanbruch«
der Emanzipation von der Sklaverei erklärt King: »[D]er Neger [ist]
immer noch nicht frei.«
Hundert Jahre später ist das Leben des Negers immer noch verkrüppelt durch die
Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung. Hundert Jahre später
schmachtet der Neger immer noch am Rande der amerikanischen Gesellschaft und
befindet sich im eigenen Land im Exil.73
Die Geschichte des Exodus ist Exit, der Unabhängigkeitskrieg ist
Exit, und die Emanzipation von der Sklaverei ist Exit, besonders
wenn dies am Beispiel der Underground Railroad und dem Modell
der Selbstbefreiung, des Entkommens oder der Flucht deutlich wird.
Von den »Fesseln« der Rassentrennung und den »Ketten« der
Diskriminierung eingeschränkt, auf einer »einsamen Insel der
Armut« gefangen oder im »eigenen Land« exiliert zu sein, hat
dagegen über das hinaus, was die bannende Metaphorik vermag,
keinerlei Bezug zum Exit. Es gibt keinen Exit in Richtung sozialer
Integration und Akzeptanz, gerechter Wohlstandsverteilung,
öffentlicher Beteiligung oder Assimilation, sondern nur ein Streben
oder einen Traum, Geisel von Fakten und Glück. Wie die Linke als
auch die reaktionäre Rechte gleichermaßen schnell bemerkt haben,
ist dieser Traum, insofern als er deutlich über ein Recht auf formale
Gleichheit hinausgeht und in den Bereich konkreter politischer
Abhilfe vordringt, ein Traum, auf den die Rechte kein Recht hat.
Unmittelbar nach der John-Derbyshire-Affäre macht Jessica
Valenti diesen Punkt im Blog von The Nation deutlich:
[E]s geht nicht nur darum, wer was geschrieben hat – es geht auch um die überaus
rassistische Politik, die für den konservativen Kurs so typisch ist. Oft wird davon
ausgegangen, dass es sich bei Rassismus nur um die explizite, laut ausgesprochene
Diskriminierung und den Hass handelt, die leicht zu erkennen sind. Dem ist aber nicht
so – es hat auch damit zu tun, dass eine fremdenfeindliche Politik vorangetrieben und
die systemische Ungleichheit gefördert wird. Denn was ist letztlich wirkungsvoller – ein
einzelner Rassist wie Derbyshire oder das Einwanderungsgesetz von Arizona? Eine
Kolumne oder die Wählerunterdrückung? Einen Rassisten aus einer einzelnen
Publikation loszuwerden, ändert nichts an der Tatsache, dass die konservative Agenda
dazu angetan ist, People of Color unverhältnismäßig zu bestrafen und zu diskriminieren.
Tut mir leid, Leute – es geht nicht an, strukturelle Ungleichheit zu fördern und sich dann
selbst auf die Schulter zu klopfen, weil man nicht offen rassistisch ist.74
Die »konservative Agenda« wird niemals träumerisch (hoffnungsvoll
und inkonsistent) genug sein, um dem Vorwurf des Rassismus zu
entgehen – so funktioniert die Rassendialektik nun einmal. Politik,
die im Großen und Ganzen mit der kapitalistischen Entwicklung
vereinbar ist, die darauf ausgerichtet ist, eine niedrige Zeitpräferenz
zu belohnen und damit Impulsivität zu bestrafen, wird sich
verlässlich ungleich auf die wirtschaftlich am wenigsten
funktionierenden gesellschaftlichen Gruppen auswirken. Natürlich ist
es das Wesen der Dialektik, dass der rassische Aspekt dieser
ungleichen Auswirkungen stark betont werden kann und muss
(damit Anreize zur Bildung von Humankapital als rassistisch
verurteilt werden können) und zugleich energisch zu leugnen ist
(damit die genau gleiche Beobachtung als rassistische
Stereotypbildung angeprangert werden kann). Wer erwartet, dass
die Konservativen diese Doppelzüngigkeit mit politischer Agilität und
Anmut steuern, muss das späte zwanzigste Jahrhundert irgendwie
verpasst haben. Zum Beispiel die Konservativen beim Washington
Examiner, die sich über Folgendes alarmiert zeigten:
Die Demokraten des Repräsentantenhauses erhielten diese Woche eine Schulung zum
Thema Rasse und wie es bei der Verteidigung von Regierungsprogrammen
angesprochen werden sollte. […] Der Inhalt der Präsentation, die am Dienstag vor dem
Democratic Caucus und den Mitarbeitern des Repräsentantenhauses abgehalten
werden soll, deutet darauf hin, dass die Demokraten versuchen werden, die
augenscheinlich neutrale Rhetorik des freien Marktes so darzustellen, als sei sie,
bewusst oder unbewusst, mit rassistischen Vorurteilen belastet.75
Es gibt keine alternativen Versionen einer immer perfekteren Einheit,
denn Einheit ist die Alternative zu Alternativen. Die Suche nach
einem Ort, an dem sich Alternativen früher einmal hätten finden
lassen, an dem Freiheit noch Exit bedeutet und sich die Dialektik in
Luft aufgelöst hätte, führt in ein Clownhaus des Schreckens, das als
Schatten der Kathedrale oder als deren signifikantes Andere
zusammengezimmert wurde. Da die Rechte nie über eine eigene
Einheit verfügt, wurde ihr eine verliehen. Wir nennen sie die Cracker-
Fabrik.
Als James C. Bennett in The Anglosphere Challenge die
wichtigsten kulturellen Merkmale der englischsprachigen Welt
herauszufinden versuchte, klang die resultierende Liste allgemein
vertraut. Neben der Sprache selbst beinhaltete sie Traditionen des
Common-Law, Individualismus, einen vergleichsweise hohen Grad
an wirtschaftlicher und technologischer Offenheit und entschiedene
Vorbehalte gegenüber zentralisierter politischer Macht. Das vielleicht
auffälligste Merkmal jedoch war eine ausgeprägte kulturelle
Tendenz, Meinungsverschiedenheiten nicht in der Zeit, sondern im
Raum beizulegen und, anstatt in einem bestehenden Territorium für
eine revolutionäre Transformation zu optieren, auf territoriale
Spaltung, Separatismus, Unabhängigkeit und Flucht zu setzen.
Wenn Anglophone uneins waren, haben sie oft versucht, sich
räumlich zu trennen. Statt nach integraler Lösung (Regimewechsel)
streben sie eher nach pluraler Auflösung (durch Regimeteilung) und
proliferierenden Gemeinwesen, nach Lokalisierung der Macht und
Vervielfältigung der Regierungssysteme. Selbst in ihrer
gegenwärtigen, stark abgeschwächten Form findet dieser
antidialektische, entsynthetisierende Hang zur gesellschaftlichen
Auflösung seinen Ausdruck in einer sturen, unterschwelligen
Feindseligkeit gegenüber globalisierenden politischen Projekten
sowie in einer gewissen Faszination für den Föderalismus (im
spaltenden Sinne).
Spaltung oder Flucht, all das ist Exit und (nicht heilbare)
Antidialektik. Es ist die grundlegende Quelle der Freiheit in der
anglophonen Tradition. Wenn die Funktion einer Cracker-Factory
darin besteht, alle Exits zu blockieren, dann gibt es nur einen Ort, an
dem sie gebaut werden kann: genau hier.
Wie die Hölle oder Auschwitz hat die Cracker-Factory einen
einfachen Slogan auf ihrem Tor eingraviert: Flucht ist rassistisch.
Deshalb ist der Ausdruck »weiße Flucht« – der genau dasselbe sagt
– nie wegen seiner politischen Unkorrektheit angeprangert worden,
obwohl er sich auf eine ethnisch-statistische Verallgemeinerung
stützt, die in jedem anderen Fall zu Empörungsanfällen führen
würde. Die »weiße Flucht« ist ebenso wenig »weiß« wie geringe
Zeitpräferenz, aber diese pauschale Unempfindlichkeit wird als
akzeptabel erachtet, weil sie die Cracker-Factory und die
unverzichtbare Verwechslung der einstigen (oder negativen) Freiheit
mit der (Rassen-)Ursünde strukturell unterstützt.
An diesen Ort sollte man absolut und definitiv nicht gehen … was
wir natürlich trotzdem tun werden …76
Teil 4d: Seltsame Vermählungen
Die Ursprünge des Wortes »Cracker« als Ausdruck ethnischen
Spotts sind unklar und liegen weit zurück. Bereits Mitte des
achtzehnten Jahrhunderts scheint es als Schimpfwort für die in den
Südstaaten lebenden armen Weißen vorwiegend keltischer
Abstammung in Umlauf gekommen zu sein, vielleicht abgeleitet von
»Corn-Cracker« oder dem schottisch-irischen »Crack« (Scherz). Der
reiche semantische Hintergrund des Ausdrucks, der eng mit der
Identifizierung komplexer Rassen-, Kultur- und Klassenmerkmale
verbunden ist, lässt sich mit der Vielschichtigkeit seines
unaussprechbaren düsteren Vetters – »des N-Worts«77 –
vergleichen und schöpft aus derselben Quelle allgemein
anerkannter, aber verbotener Wahrheiten. Insbesondere und mit
Nachdruck bezeugt er die unzulässige Binsenweisheit, dass sich
Menschen eher von ihren Unterschieden als von ihren
Gemeinsamkeiten begeistern und animieren lassen, dass sie sich
»verbittert« – oder zumindest eisern – an ihre Nicht-Uniformität
klammern und sich hartnäckig gegen die universellen Kategorien
eines aufgeklärten Bevölkerungsmanagements wehren. Cracker –
also Weiße – sind Sand im Getriebe des Fortschritts.
Die ergötzlichsten Aspekte der Verunglimpfung sind jedoch völlig
zufällig (oder kabbalistisch). »Cracker« knacken Codes, Safes,
Stoffe der organischen Chemie – versiegelte oder geschlossene
Systeme aller Art – mit möglicherweise geopolitischen
Auswirkungen. Sie rechnen mit einem Bruch (crack-up), einer
Spaltung oder Sezession und bestätigen so ihre Nähe zu der mit
Bann belegten, den Zerfall favorisierenden Unterströmung der
anglophonen Geschichte. Trotz der sprachlichen Sprünge und
Defekte überrascht es daher nicht, dass die Figur des
widerspenstigen Crackers an einen noch immer unbefriedeten
Süden erinnert, der sich der offensichtlichen Bestimmung (manifest
destiny) der Union nicht unterordnen will. Damit, via Kurzschluss,
gelangt das Wort zu den problematischsten Untiefen seiner
Bedeutung zurück.
Widersprüche verlangen nach ihrer Auflösung, aber Risse
(cracks) können sich verbreitern, vertiefen und ausdehnen. Dem
Cracker-Ethos zufolge ist es in Ordnung, wenn Dinge
auseinanderfallen. Es besteht keine Notwendigkeit, eine Einigung zu
erzielen, solange eine Abspaltung möglich ist. Diese bis zum
Äußersten getriebene Starrköpfigkeit reicht an hinterwäldlerische
Klischees heran, angesiedelt in einer Hütte oder einem verrosteten
Wohnwagen am Ende eines Bergpfads in den Appalachen, wo alle
wirtschaftlichen Transaktionen in bar (oder Schwarzgebranntem)
abgewickelt werden, Interaktionen mit Regierungsvertretern über
den Lauf einer geladenen Schrotflinte stattfinden und zeitlose
antipolitische Weisheit im Nicht-auf-mich-treten-Reflex
zusammengefasst wird: »Runter von meiner Veranda.« Natürlich ist
diese Geringschätzung integrativer Debatten (Dialektik) im
Hauptstrom der anglozentrischen Weltgeschichte – das heißt im
evangelischen Yankee-Puritanismus – als Mangel nicht nur an
kultureller Raffinesse, sondern auch an grundlegender Intelligenz
kodiert, und selbst der gewissenhafteste Anhänger sozial-
konstruktivistischer Rechtschaffenheit greift rasch auf ultra-
hereditäre Psychometrien zurück, wenn er sich mit der
Widerspenstigkeit von Crackern konfrontiert sieht. Wer in einem
breiten Trend soziopolitischen Fortschritts eine einfache und
unerschütterliche Tatsache zu sehen meint, wird in der Weigerung,
einen solchen anzuerkennen, einen klaren Beweis für
Zurückgebliebenheit erkennen.
Da Stereotype in der Regel einen hohen statistischen
Wahrheitswert haben, ist es mehr als möglich, dass sich Cracker
stark links von der weißen IQ-Glockenkurve angesammelt und
aufgrund eines seit Generationen bestehenden dysgenischen
Drucks konzentriert haben. Sollte, wie Charles Murray argumentiert,
in der amerikanischen Gesellschaft die meritokratische Selektion
zunehmend an Effizienz gewonnen haben und dabei sein, im
Zusammenwirken mit assortativer Paarung Klassenunterschiede in
genetische Kasten zu verwandeln, wäre es merkwürdig genug, wenn
sich die Cracker-Schicht in ihren kognitiven Fähigkeiten durch einen
auffälligen Ausschlag der IQ-Kurve auszeichnen würde. Allerdings
stellen sich an diesem Punkt, solange man gewissenhaft dem
Klischee folgt, einige unangenehm interessante Fragen ein.
Assortative Paarung? Wie kann das funktionieren, wenn Cracker
ihre Cousinen heiraten? Oh, ja, das kommt vor. Da die traditionellen
Verwandtschaftsmuster der Cracker an Bevölkerungsgruppen
jenseits der nordwestlichen Hajnal-Linie anknüpfen, sind sie für die
exogame Anglo-Norm (WASP) besonders untypisch.78
Die entscheidende Ressource zu diesem Thema ist die
unermüdliche Bloggerin »hbd chick«.79 Im Verlauf einer wahrhaft
monumentalen Serie von Blog-Beiträgen80 bedient sie sich
konzeptioneller Werkzeuge hamiltonscher Provenienz,81 um jenes
Grenzgebiet zu erkunden, in dem sich Natur und Kultur
überschneiden. Dazu gehören Verwandtschaftsstrukturen, die
Differenzierungen, die sie im Kalkül der Gesamtfitness erfordern,
und die unverwechselbaren ethnischen Profile in der evolutionären
Psychologie des Altruismus, die daraus hervorgehen. Insbesondere
lenkt die Bloggerin die Aufmerksamkeit auf die Anomalie der
(nordwest-)europäischen Geschichte, in der aufgrund des rigorosen
Verbots der Verwandtenehe seit 1600 Jahren die – obligatorische –
Exogamie vorherrschend ist. Mit dieser ausgeprägten
Auskreuzungspräferenz, so ihre Vermutung, lässt sich eine Vielzahl
biokultureller Besonderheiten plausibel erklären. Die historisch
bedeutsamste ist der einzigartige Vorrang des reziproken über den
familiären Altruismus, wie er sich in einem ausgeprägten
Individualismus, in Kernfamilien und der Affinität zu »korporativen«
(verwandtschaftsfreien) Institutionen, in hoch entwickelten
Vertragsbeziehungen zwischen Fremden und einem relativ
niedrigem Maß an Vetternwirtschaft/Korruption sowie in robusten
Formen des sozialen Zusammenhalts unabhängig von
Stammesbindungen artikuliert.
Im Gegensatz dazu schafft Inzucht ein selektives Umfeld, das
Stammeskollektivismus, erweiterte Systeme der Familientreue und -
ehre, Misstrauen gegenüber Nichtverwandten und gesichtslosen
Institutionen sowie allgemein jene »clanhaften« Züge begünstigt, die
unschön mit den Leitwerten der (eurozentrischen) Moderne
kollidieren und daher wegen ihrer primitiven »Fremdenfeindlichkeit«
und »Korruption« angeprangert werden. Clan-Werte werden
natürlich in Clans ausgebrütet, zum Beispiel in solchen, die die
keltischen Rand- und Grenzländer Großbritanniens bevölkerten, wo
die Verwandtenehe und die mit ihr einhergehenden
sozioökonomischen und kulturellen Formen, hier besonders die
Viehzucht (nicht etwa die Landwirtschaft), sowie eine Neigung zu
extremer Gewalt nach Art der Blutfehden Bestand hatten.82
Diese Analyse führt das entscheidenden Paradox »weißer
Identität« vor Augen, insofern die spezifisch europäischen
ethnischen Wesenszüge, die für die moralische Ordnung der
Moderne strukturgebend waren und sie vom Tribalismus in Richtung
eines reziproken Altruismus gelenkt haben, untrennbar mit der
Auskreuzung verbunden sind, einem einzigartigen Erbe, das die
ethnozentrische Solidarität von innen heraus zersetzt. Anders
gesagt: Gerade eine schwache ethnische Gruppenzugehörigkeit
führt dazu, dass sich eine Gruppe ethnisch modern geriert und sich
im Hinblick auf den »korporativen« (nicht auf Verwandtschaft
beruhenden) Aufbau von Institutionen kompetent zeigt, was sie
letztlich in der Dynamik der Moderne objektiv privilegiert/begünstigt.
Dieses Paradox kommt am deutlichsten in den
Wiederbelebungsbewegungen radikaler Formen des europäischen
Ethnozentrismus zum Ausdruck, etwa im Paläo- und Neonazismus,
und verwirrt deren Befürworter und Antagonisten gleichermaßen.
Wenn ein außergewöhnlich weit gediehener »Rassenverrat« zum
einzigen und wesentlichen rassischen Merkmal wird, dann
verschwindet die Möglichkeit für eine gangbare ethno-
suprematistische Politik in einem logischen Abgrund – auch wenn
sich immer wieder Gelegenheiten für Unruhen im großen Stil
ergeben werden. Ein Nazi ist zwar zugegebenermaßen per
definitionem bereit (und begierig), die Moderne auf dem Altar der
Rassenreinheit zu opfern, das heißt aber, er hat nicht verstanden –
oder die unvermeidliche Konsequenz tragisch bejaht –, dass er von
der Moderne überrumpelt (und damit besiegt) wird. Identitätspolitik
ist für Verlierer, von Hause aus und unabdingbar, und zwar aufgrund
eines im Wesentlichen parasitären Charakters, der nur von links
funktioniert. Da Inzucht eine Kontraindikation für moderne Macht ist,
ergeben rassisch definierte Übermenschen nicht wirklich Sinn.
Wie endlos faszinierend Nazis auch immer sein mögen, sie sind,
davon abgesehen, dass sie der programmatischen Konstruktion und
dem Gebrauch weißer Identitätspolitik eine logische Grenze setzen,
kein verlässlicher Schlüssel zur Geschichte oder Richtung der
Cracker-Kultur. Sich Hakenkreuze auf die Stirn zu tätowieren, ändert
daran nichts. (Die Hatfield-McCoy-Fehde ist eher paschtunisch als
teutonisch.83)
Die Verbindungen, die in der Cracker-Fabrik stattfinden, sind ganz
anderer Natur und weitaus verwirrender. Hier verschränken sich
urbane, kosmopolitische Verfechter einer hyper-kontraktualistischen
Ökonomisierung mit romantischen Traditionalisten, Ethno-
Partikularisten und »Lost Cause«-Nostalgikern.84 Diese Verwicklung
muss erst in ihrer ganzen, hirnerweichenden Verrücktheit verstanden
werden, bevor man Lehren daraus ziehen kann. Einige knappe, eher
zufällige Fakten dürften dafür hilfreich sein:
* Das Mises-Institut wurde in Auburn, Alabama, gegründet.85
* Ron-Paul-Newsletter aus den 1980er-Jahren enthalten
Bemerkungen, die dezidiert nach Derbyshire klingen.86
* Derbyshire liegt Ron Paul am Herzen.87
* Murray Rothbard hat Texte geschrieben, in denen er die
menschliche Biodiversität (HBD) verteidigt.88
* Zu den Autoren von lewrockwell.com gehören Thomas J.
DiLorenzo und Thomas Woods.89
* Tom Palmer hat kein Herz für Lew Rockwell oder Hans-Hermann
Hoppe, denn: »Zusammen haben sie die Tore der Hölle geöffnet
und die extremsten rechten Rassisten, Nationalisten und Spinner
aller Art willkommen geheißen«.90
* Libertäre/Konstitutionalisten machen zwanzig Prozent auf der
Rechtsradikalen-Beobachtungsliste des Southern Party Law
Center aus (Chuck Baldwin, Michael Boldin, Tom DeWeese, Alex
Jones, Cliff Kincaid und Elmer Stewart Rhodes).91
… das dürfte reichen, um weiterzumachen (auch wenn sich leicht
noch vieles andere anführen ließe). Die Auswahl dieser
Gesichtspunkte ist fragwürdig, grob und vorurteilsbehaftet und soll
dazu dienen, eine einzige Grundannahme impressionistisch zu
untermauern: Fundamentale soziohistorische Kräfte überformen den
Libertarismus mit Elementen der Cracker-Kultur.
Nimmt man die vorläufigen Forschungsergebnisse von hbd chick
als Rahmen, springt die Merkwürdigkeit dieser Allianz zwischen
libertären und neokonföderierten Themen sofort ins Auge. Ordnet
man diese Positionen auf einer biokulturellen, durch den Grad der
Auskreuzung definierten Achse an, wird dramatisch sichtbar, dass es
zwischen ihnen kaum Überschneidungen – oder auch nur Nähe –
gibt. Der eine Pol wird von einer radikal individualistischen Doktrin
eingenommen, die sich fast ausschließlich auf veränderliche
Netzwerke des freiwilligen Austauschs wirtschaftlicher Art
konzentriert (und notorisch unempfindlich gegenüber der bloßen
Existenz nicht verhandelbarer sozialer Bindungen ist). Nahe am
anderen Pol liegt eine reiche Kultur, die auf lokale Verbundenheit,
Großfamilie, Ehre, Verachtung kommerzieller Werte und Misstrauen
gegenüber Fremden setzt. Die zugespitzte Rationalität des fluiden
Kapitalismus steht direkt neben traditioneller Hierarchie und
unveräußerlichen Werten. Die absolute Favorisierung des Exits
findet sich mit traditionellen Lebensweisen durcheinandergeworfen,
aus denen ein Exit nicht einmal vorstellbar ist.
Beides zusammenzutackern, ist jedoch eine einfache, ja sogar
unwiderstehliche Schlussfolgerung: Freiheit hat in der anglophonen
Welt außerhalb der Perspektive der Sezession keine Zukunft. Der
bevorstehende Zusammenbruch (crack-up) ist der einzige Ausweg.
Teil 4e: Geschichte über Kreuz codiert
Demokratie ist das Gegenteil von Freiheit, es liegt sozusagen im Wesen des
demokratischen Prozesses, anstatt zu mehr zu weniger Freiheit zu tendieren, und
Demokratie ist keine Sache, die sich reparieren ließe. Demokratie ist schon in sich
kaputt, genau wie der Sozialismus. Die einzige Möglichkeit, sie zu reparieren, besteht
darin, sie zu zerschlagen.92
– Frank Karsten
Der (Wissenschafts-)Historiker Doug Fosnow forderte die Abspaltung der »roten«
Landkreise der USA von den »blauen« und die Bildung einer neuen Föderation. Dies
wurde von den Zuhörern mit viel Skepsis aufgenommen, die monierten, dass die »rote«
Föderation praktisch keinen Zugang zum Meer hätte. Glaubte Doug wirklich, eine solche
Sezession ließe sich verwirklichen? Nein, wie er fröhlich zugab, aber alles sei besser als
ein Rassenkrieg, den er für wahrscheinlich hält, und es sei die Pflicht der Intellektuellen,
sich weniger schreckliche Möglichkeiten auszudenken.93
– John Derbyshire
Unter den gegenwärtigen Bedingungen also gilt es statt einer Reform von oben eine
Strategie der Revolution von unten zu verfolgen. Im Lichte dieser Einsicht scheint die
schwierige Aufgabe einer liberal-libertären Gesellschaftsrevolution zunächst außerhalb
des Möglichen zu liegen, denn bedeutet sie nicht, dass man die Öffentlichkeit
mehrheitlich davon überzeugen müsste, für die Abschaffung der Demokratie und ein
Ende aller Steuern und Gesetze zu stimmen? Und ist dies nicht reine Fantasie, wenn
man bedenkt, dass die Massen immer stumpfsinnig und träge sind, und mehr noch,
wenn man bedenkt, dass die Demokratie, wie oben erläutert, den moralischen und
intellektuellen Verfall fördert? Wie um alles in der Welt kann man erwarten, dass eine
Mehrheit eines zunehmend degenerierten Volkes, gewöhnt an das »Recht« zu wählen,
freiwillig auf die Möglichkeit verzichten sollte, das Eigentum anderer Menschen zu
plündern? So gesehen muss man zugeben, dass die Chance auf eine gesellschaftliche
Revolution praktisch gegen null tendiert. Erst bei genauerem Hinsehen und wenn man
die Sezession als integralen Bestandteil einer von unten kommenden Strategie
betrachtet, erscheint die Aufgabe einer liberal-libertären Revolution, auch wenn sie
überaus schwierig bleibt, in den Bereich des Möglichen zu rücken.94
– Hans-Hermann Hoppe
Allgemein betrachtet ist die Moderne ein gesellschaftlicher Zustand,
definiert durch einen umfassenden Trend, der sich in anhaltenden
ökonomischen, über die Bevölkerungszunahme hinausgehenden
Wachstumsraten äußert und damit einen Ausweg aus der normalen,
in der malthusianischen Falle gefangenen Geschichte markiert.
Wenn sich die Analyse im Interesse einer sachlichen Beurteilung auf
die Bedingungen dieses quantitativen Grundmusters beschränkt,
unterstützt sie die Unterteilung in die (wachstums-)positiven und
negativen Komponenten des Trends: techno-industrielle
(wissenschaftliche und kommerzielle) Beiträge zur Beschleunigung
der Entwicklung einerseits und gesellschaftspolitische
Gegentendenzen zur Vereinnahmung des Wirtschaftsprodukts durch
demokratisch ermächtigte rentenökonomische Partikularinteressen
andererseits (Demosklerose).95 Was der klassische Liberalismus
gibt (industrielle Revolution), nimmt der reife Liberalismus wieder
weg (über den krebsartigen Anspruchsstaat). In abstrakter
Geometrie beschreibt er die S-Kurve eines sich selbst begrenzenden
Durchbrennens. Als ein Drama der Befreiung stellt er ein
gebrochenes Versprechen dar.
Gesondert, als Singularität oder reale Sache betrachtet, besitzt
die Moderne ethno-geografische Merkmale, die ihre mathematische
Reinheit komplizieren und relativieren. Sie kam von irgendwoher,
verbreitete sich und führte die verschiedenen Völker der Welt in eine
außergewöhnliche Bandbreite neuartiger Beziehungen. Diese
Beziehungen waren typisch »modern«, wenn sie mit einer
Überwindung einstiger malthusianischer Grenzen einhergingen, was
Kapitalakkumulation ermöglichte und neue demografische Trends
einleitete, sie verbanden jedoch eher konkrete Gruppen als
abstrakte wirtschaftliche Funktionen. Zumindest dem Anschein nach
war die Moderne also etwas, was von Menschen einer bestimmten
Art mit anderen und nicht selten im Hinblick auf andere oder sogar
gegen andere unternommen wurde, die sich von ihnen auffallend
unterscheiden. Als die Moderne zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts auf dem abfallenden Teil der S-Kurve ins Stocken
geriet, war der Widerstand gegen ihre allgemeinen Merkmale
(»kapitalistische Entfremdung«) von der Opposition gegen ihre
Besonderheit (»europäischer Imperialismus« und »weiße
Vorherrschaft«) fast gänzlich ununterscheidbar geworden. Als
unvermeidliche Folge rutschte das moderne Selbstbewusstsein des
ethno-geografischen Kerns des Systems in Richtung Rassenpanik
ab,96 in einem Prozess, der erst mit dem Aufstieg und der Opferung
des Dritten Reichs gestoppt wurde.
Angesichts der der Moderne innewohnenden Tendenz zur
Degeneration oder Selbstauflösung eröffnen sich drei große
Perspektiven. Diese sind nicht strikt exklusiv und daher keine echten
Alternativen, aber für schematische Zwecke ist es hilfreich, sie als
solche darzustellen.
1. Moderne 2.0. Ausgehend von einem neuen ethno-geografischen
Kern erhält die globale Modernisierung, von den degenerierten
Strukturen ihres eurozentrischen Vorläufers befreit, frischen
Schwung, wird aber langfristig ebenso letale Trends zu
gewärtigen haben. Dies ist – aus einer pro-modernistischen
Perspektive – bei Weitem das ermutigendste und plausibelste
Szenario, und wenn China auch nur annähernd auf seinem
derzeitigen Kurs bleibt, wird es mit Sicherheit Wirklichkeit werden.
(Leider scheint Indien in seiner eigenen Version der
Demosklerose zu weit fortgeschritten zu sein, um ernsthaft
konkurrieren zu können.)
2. Postmoderne. Dieses Szenario, das im Wesentlichen auf ein
neues dunkles Zeitalter hinausläuft, in dem sich die
malthusianischen Grenzen erneut mit aller Brutalität durchsetzen,
geht davon aus, dass die Moderne 1.0 ihre eigene Morbidität so
radikal globalisiert hat, dass mit ihr die Zukunft der gesamten
Welt zugrunde geht. Wenn die Kathedrale »gewinnt«, dann steht
uns dieses Szenario bevor.
3. Westliche Renaissance. Um wiedergeboren zu werden, muss
man zuerst sterben, und je härter der »harte Neustart«, desto
besser. Eine umfängliche Krise und Auflösung bieten die besten
Chancen (am realistischsten als Unterthema von Option 1.
Da Wettbewerb gut ist, würde eine Prise westliche Renaissance die
Dinge aufpeppen, auch wenn die Moderne 2.0 höchstwahrscheinlich
die wichtigste Straße in die Zukunft sein wird. Das hängt vor allem
davon ab, ob der Westen – ausgenommen natürlich die
wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen
Innovationen – so ziemlich alles, was er seit über einem Jahrhundert
getan hat, stoppt und rückgängig macht. Rhetorische Disziplin zu
wahren und einen streng hypothetischen Modus beizubehalten, ist
hier angeraten, denn die Möglichkeit, dass die folgenden Dinge auch
nur ansatzweise geschehen könnten, ist alles andere als
wahrscheinlich:
1. Ersetzung der repräsentativen Demokratie durch einen
konstitutionellen Republikanismus (oder noch extremere
antipolitische Regierungsmechanismen).97
2. Massive Verkleinerung der Regierung und ihre rigorose
Beschränkung auf (höchstens) Kernfunktionen.98
3. Wiederherstellung von Hartgeld (Edelmetallmünzen und
Goldbarreneinlagen) und Abschaffung der Zentralbanken.
4. Abbau des staatlichen geld- und fiskalpolitischen
Ermessensspielraums, wodurch die praktische Makroökonomie
abgeschafft und die autonome (oder »katallaktische«) Wirtschaft
freigesetzt wird. (Dieser Punkt ist redundant, da er sich streng
genommen aus den Punkten 2 und 3 ergibt; er stellt aber das
eigentliche und damit hervorzuhebende Ziel dar.)
Es gäbe noch andere Punkte – das heißt weniger Politik –, absolut
klar ist aber, dass nichts davon ohne eine existenzielle
zivilisatorische Umwälzung geschehen wird. Von den Politikern zu
verlangen, dass sie ihre eigenen Befugnisse einschränken, ist kein
Ansatz, doch weist es als Einziges wenigstens annähernd in die
richtige Richtung. Das größte oder weitreichendste Problem
allerdings liegt woanders.
Anfänglich mag Demokratie als Verfahren zur Begrenzung der
Regierungsgewalt durchaus akzeptabel sein, sie entwickelt sich
jedoch schnell und unaufhaltsam in eine völlig andere Richtung: in
eine Kultur des systematischen Diebstahls. Haben die Politiker erst
einmal gelernt, politische Unterstützung aus der »Staatskasse« zu
erkaufen, und die Wähler darauf konditioniert, Raub und Bestechung
zu akzeptieren, reduziert sich der demokratische Prozess auf die
Bildung von (Mancur Olsons) »Verteilungskoalitionen« –
Wahlmehrheiten, die durch das gemeinsame Interesse an einem für
die Gruppe vorteilhaften Diebstahlmuster zusammengehalten
werden. Schlimmer noch, da die Menschen im Durchschnitt nicht
sonderlich klug sind, übersteigt der Griff in die Kasse, mit dem sich
das politische Establishment bereichert, bei Weitem das Ausmaß der
der öffentlichen Kontrolle unterliegenden Plünderungen. Die
Ausplünderung der Zukunft, wie sie durch Währungsorgien,
Schuldenanhäufung, Wachstumszerstörung und technisch-
industrielle Verlangsamung vorgenommen wird, ist besonders leicht
zu verbergen und dementsprechend beliebt. Die Demokratie ist
ihrem Wesen nach tragisch, da sie der Bevölkerung eine Waffe zur
Selbstvernichtung an die Hand gibt, die stets bereitwillig ergriffen
und eingesetzt wird. Niemand sagt »Nein« zu etwas, was er
umsonst haben kann. Dass nichts umsonst ist, sieht aber kaum
jemand. Was zwangsläufig in der völligen kulturellen Zerstörung
endet.
In der Endphase der Moderne 1.0 wird die amerikanische
Geschichte zum narrativen Grundmuster der Welt. In Amerika
nämlich kulminiert der große abrahamitische Kulturüberbringer im
säkularisierten Neopuritanismus der Kathedrale – die in Washington,
D. C. das Neue Jerusalem errichtet. Der für messianisch-
revolutionäre Zwecke vorgesehene Apparat konsolidiert sich im
evangelischen Staat, der, koste was es wolle, dazu autorisiert ist, im
Namen der Gleichheit, der Menschenrechte, der sozialen
Gerechtigkeit und vor allem der Demokratie eine neue Weltordnung
der universalen Brüderlichkeit zu errichten. Die absolute moralische
Selbstgewissheit der Kathedrale bürgt für das enthusiastische
Streben nach uneingeschränkter zentralisierter Macht, die in ihrer
intensiven Durchdringung und ihrer weitreichenden Geltung so gut
wie keine Grenzen kennt.
Mit einer Ironie, die der Brut der Hexenverbrenner selbst gänzlich
verborgen bleibt, fällt der Aufstieg dieser schielenden Kohorte
grimmiger Moralfanatiker zu bisher ungeahnten Höhen globaler
Macht mit dem Abstieg der Massendemokratie zu bisher
unvorstellbaren Abgründen gefräßiger Korruption zusammen. Alle
vier Jahre bestiehlt sich Amerika selbst und verschachert sich im
Austausch gegen politische Unterstützung an sich selbst. Die
Demokratie ist simpel – man wählt einfach den, der einem das
meiste verspricht. Das kann jeder Idiot. Und im Grunde liebt die
Demokratie Idioten, behandelt sie mit offensichtlicher Freundlichkeit
und tut alles, was sie kann, um noch mehr von ihnen zu fabrizieren.
Der unerbittliche Trend zur Degeneration der Demokratie liefert
der Reaktion ein implizites Argument. Da mit jeder größeren
Schwelle des soziopolitischen »Fortschritts« die westliche Zivilisation
dem umfassenden Ruin näher gekommen ist, drängt sich, wenn man
diese Schritte zurückverfolgt, eine Rückkehr von einer Gesellschaft
des Plünderns in eine ältere Ordnung der Selbstversorgung, des
ehrsamen Fleißes und des Tauschs, des vorpropagandistischen
Lernens und der zivilen Selbstorganisation auf. Die Anziehungskraft
dieser reaktionären Vision äußert sich in dem Faible für Kostüme,
Symbole und Verfassungsdokumente des achtzehnten
Jahrhunderts, wie er von einer nicht unerheblichen (Tea-
Party-)Minderheit, die den katastrophalen Verlauf der
amerikanischen politischen Geschichte klar erkennt, gepflegt wird.
Schrillt in Ihrem Kopf schon der »Rassenalarm«? Es wäre
erstaunlich, wenn nicht. Taumeln Sie in der Fantasie noch vor das
Jahr 2008 zurück, und heftiges Gewissensgeflüster hinterfragt
bereits Ihre Vorurteile gegenüber kenianischen Revolutionären und
schwarzen marxistischen Professoren. Bleiben Sie im
Rückwärtsgang, bis Sie in die Ära der Great Society und der
Bürgerrechte gelangen, und die Warnungen nehmen ein
hysterisches Ausmaß an. An diesem Punkt wird offensichtlich, dass
die politische Geschichte Amerikas auf zwei miteinander
verschränkten Gleisen voranschreitet, die der Befugnis und der
Legitimation des Staates entsprechen. Wer den Geltungs- und
Wirkungsbereich des Staates in Zweifel zieht, stellt zugleich die
Unantastbarkeit seiner Zweckbestimmung infrage sowie die
moralischgeistige Unumgänglichkeit, er habe über alle Ressourcen
zu verfügen und alle rechtlichen Beschränkungen aufzuerlegen, die
erforderlich sind, um dieser Zweckbestimmung nachzukommen.
Genauer gesagt, vor dem Ausmaß des Leviathans
zurückzuschrecken, heißt, sich unempfindlich gegenüber der
Unermesslichkeit – ja fast Unendlichkeit – der ererbten rassischen
Schuld und dem einzigen noch bestehenden kategorische Imperativ
der vergreisenden Moderne zu zeigen: Die Regierung muss mehr
tun. Die Möglichkeit, ja beinahe Gewissheit, anzuführen, dass die
pathologischen Folgen des chronischen Regierungsaktionismus die
Probleme, auf die er ursprünglich abzielte, längst ersetzt haben, ist
ein der Epoche der demokratischen Religion so wenig
angemessenes Argument, dass es praktisch bedeutungslos ist.
Selbst im linken Lager dürften sich nur wenige finden lassen, die
nach einigem Nachdenken tatsächlich der Meinung sind, dass die
wichtigste Motivation für die Expansion und Zentralisierung der
Regierung der brennende Wunsch sei, Gutes zu tun (nicht, dass
Absichten nicht zählen). Doch beim Überkreuzen der beiden Gleise
ist der Stromstoß des moralischen Dramas, der die Kluft zwischen
dem Golgatha der Rassenfrage und einem sich einmischenden
Leviathan überbrückt, so beschaffen, dass er, den Skeptizismus
außer Kraft setzend, den großen progressiven Mythos installiert. Als
Alternative zu einem starken Staat, der immer mehr eingreift, galt
fortan, gleichgültig dazustehen, wenn ein weiterer Neger gelyncht
wurde. Dieser Satz macht den wesentlichen Inhalt der progressiven
Pädagogik Amerikas aus.
Die beiden historischen Gleise staatlicher Befugnis und staatlicher
Zweckbestimmung können als Übersetzungsprotokoll verstanden
werden, mit dem jede empfohlene Beschränkung der
Regierungsgewalt als bösartige Behinderung der
Rassengerechtigkeit »entschlüsselt« werden kann. Dieses
Ersetzungssystem funktioniert nahezu reibungslos und stellt ein
Vokabular von (parteiübergreifenden) »Codewörtern« oder »dog-
whistles« wie »Wohlfahrt«, »Versammlungsfreiheit«, »Staatsrechte«
zur Verfügung, mit dem sichergestellt ist, dass eine im politischen
Hauptspektrum (links-rechts) nachvollziehbare Äußerung ein
doppeltes Register einnimmt, aus dem die Rassenfrage immer
halbwegs heraussticht. Die reaktionäre Regression riecht nach
merkwürdigen Früchten.99
… und das, bevor es rückwärts aus dem unheilvollen zwanzigsten
Jahrhundert hinausgeht. Es war nicht die Ära der Bürgerrechte,
sondern der – in den Begriffen der Sieger – »Amerikanische
Bürgerkrieg« oder – in den Begriffen der Besiegten – der »Krieg
zwischen den Staaten«, der die praktische Frage des Leviathans
unauflöslich mit der (schwarz-weißen) Rassendialektik über Kreuz
codierte und den zentralen Knotenpunkt des späteren politischen
Antagonismus und der Rhetorik festlegte. Der unabdingbare erste
Schritt zum Verständnis dieses Verhängnisses bewegt sich entlang
einer ungünstigen Diagonale zwischen der etatistischen und der
revisionistischen Mainstream-Berichterstattung, denn bei der
Feuersbrunst, die die amerikanische Nation in den frühen 1860er-
Jahren verzehrte, ging es vollständig, wenn auch nicht
ausschließlich um die Emanzipation von der Sklaverei und um die
Rechte des Staates,100 wobei weder das eine auf das andere
reduzierbar war noch jeweils dafür ausreichte, die fortdauernden
Unklarheiten des Krieges unter den Teppich zu kehren. Zwar gibt es
eine ganze Reihe von »Liberalen«, die die Konsolidierung der
zentralisierten Regierungsmacht in der triumphierenden Union mit
Freude feiern, und symmetrisch dazu eine (weitaus kleinere) Anzahl
von neokonföderierten Apologeten für die Institution der Sklaverei in
den Südstaaten, doch keine dieser konfliktlosen Haltungen fängt das
dynamische kulturelle Vermächtnis eines quer durch die Codes
gehenden Krieges ein.
Der Krieg ist ein Knoten. Als die Freiheit praktisch in
Emanzipation und Unabhängigkeit aufgetrennt wurde und die beiden
Elemente dann in einem halben Jahrzehnt des Gemetzels, Blau
gegen Grau, aufeinander gejagt wurden, war abgemacht, dass das
Freisein, unabhängig vom Ausgang des Konflikts, auf dem
Schlachtfeld begraben würde. Der Sieg der Union bedingte, dass
das emanzipatorische Freiheitsgefühl nicht nur in Amerika, sondern
in der ganzen Welt vorherrschen würde, und die spätere Herrschaft
der Kathedrale war gesichert. Dennoch machte die Niederschlagung
des zweiten amerikanischen Sezessionskrieges den ersten zur
Farce. Denn wenn die Institution der Sklaverei einem
Unabhängigkeitskrieg die Legitimität absprach, was blieb dann
überhaupt noch von 1776 übrig? Die moralische Kohärenz der
Sache der Union erforderte, dass die Gründerväter als politisch
illegitime, weiße, patriarchalische Sklavenbesitzer neu bewertet
wurden, und die amerikanische Geschichte ging in den progressiven
Bildungsprogrammen und den Kulturkriegen in Flammen auf.
Wenn Unabhängigkeit die Ideologie der Sklavenhalter ist, dann
erfordert Emanzipation die programmatische Zerstörung der
Unabhängigkeit. In einer über Kreuz codierten Geschichte ist die
Verwirklichung der Freiheit nicht von ihrer Abschaffung zu
unterscheiden.
Teil 4f: Annäherung an den bionischen Horizont
Es ist an der Zeit, diesen langen Exkurs zum Abschluss zu bringen,
und sich ungeduldig dem Ende zuzuwenden. Unser Grundthema
war die Gedankenkontrolle oder Gedankenunterdrückung, wie sie
vom medienakademischen Komplex demonstriert wird, der die
zeitgenössischen westlichen Gesellschaften beherrscht und den
Mencius Moldbug als Die Kathedrale bezeichnet. Dinge, die
zermalmt werden, verschwinden nur selten ganz. Stattdessen
werden sie verdrängt, fliehen in schützende Schatten und
verwandeln sich mitunter in Monster. Heute, da die repressive
Orthodoxie der Kathedrale auf verschiedene Weise und in vieler
Hinsicht Nerven zeigt, nähert sich eine Zeit der Monster.
Das zentrale Dogma der Kathedrale wurde als
sozialwissenschaftliches Standardmodell (SSM) oder »Tabula-Rasa-
Prinzip« formalisiert.101 Es besteht in dem Glauben, im Wesentlichen
ergänzt durch die Anthropologie von Franz Boas,102 dass Fragen
über den Menschen nur legitim sind, wenn sie sich auf die Kultur
beschränken. Die Natur lässt zu, dass »der Mensch« ist, legt aber
nie fest, was der Mensch ist. Fragen, die sich auf natürliche
Eigenschaften und Variationen zwischen den Menschen richten,
lassen sich selbst nur im Hinblick auf kulturelle Eigenheiten oder gar
Pathologien aufwerfen. Nur das Versagen der »Kultur« kommt als
Erklärung infrage.
Da die Kathedrale eine konsequente ideologische Ausrichtung hat
und ihre Feinde entsprechend aussiebt, gerät die vergleichsweise
distanzierte wissenschaftliche Beurteilung des SSM leicht in einen
unverstellten Antagonismus. Wie Simon Blackburn (in einer
nachdenklichen Besprechung von Steven Pinkers Das
unbeschriebene Blatt) bemerkt: »Die Dichotomie zwischen Natur
und Kultur gewinnt rasch politische und emotionale Tragweite. Um
es grob auszudrücken, die Rechte mag die Gene und die Linke die
Kultur …«103
In verhärteten Fronten und voller Abscheu stehen sich der
erbliche Determinismus und der soziale Konstruktivismus
gegenüber, wobei beide einem radikal abgespeckten Modell der
Kausalität verpflichtet sind. Entweder drückt sich die Natur als Kultur
aus, oder die Kultur drückt sich in ihren Bildern (»Konstruktionen«)
der Natur aus. Beide Positionen sitzen auf den entgegengesetzten
Seiten eines nicht geschlossenen Kreislaufs in der Falle und sind,
was die Kultur eines praktischen Naturalismus, das heißt die
technischwissenschaftliche/industrielle Manipulation der Welt,
anbelangt, strukturell verblendet.
Die Aneignung von Wissen und die Verwendung von Werkzeugen
erfolgt in einem einzigen dynamischen Kreislauf, aus dem die
Technowissenschaft als integrales System hervorgeht, das sich nicht
in theoretische und praktische Aspekte aufteilen lässt. Eingebettet in
einen umfassenderen industriellen Prozess entwickelt sich die
Wissenschaft durch experimentelle Technik und die Herstellung
immer ausgefeilterer Instrumente in Schleifen. Ihr Fortschritt ist die
Verbesserung einer Maschine. Dieser inhärent technologische
Charakter der (modernen) Wissenschaft zeigt die Kultur in ihrer
Effizienz als komplexe Naturkraft. In ihr äußert sich weder ein
präexistenter natürlicher Sachverhalt, noch konstruiert sie lediglich
gesellschaftliche Repräsentationen. Vielmehr bilden Natur und Kultur
einen dynamischen Kreislauf am Rande der Natur, in dem über das
Schicksal entschieden wird.
Gemäß der selbstverstärkenden Voraussetzung der
Modernisierung gilt: Was sich verstehen lässt, lässt sich auch
modifizieren. Von daher ist zu erwarten, dass sich Biologie und
Medizin gemeinschaftlich weiterentwickeln. Dieselbe historische
Dynamik, die es mit sich bringt, dass das SSM durch die Flut
wissenschaftlicher Entdeckungen völlig unterspült wird, führt auch
dazu, dass, mit den Mitteln der Biotechnologie, die biologische
Identität des Menschen in Luft aufgelöst wird. Ob wir in Erfahrung
bringen, was wir wirklich sind, oder uns selbst als technologische
Kontingenzen beziehungsweise technoplastische Wesen neu
definieren, die für präzise, wissenschaftlich fundierte
Transformationen empfänglich sind, macht keinen wesentlichen
Unterschied. Das »Menschsein« wird intelligibel, sobald es der
Technosphäre subsumiert wird, in der etwa bei der
Informationsverarbeitung des Genoms Lesen und Editieren auf
vollkommene Weise in eins fallen.
Diesen Kreislauf als etwas zu beschreiben, das die menschliche
Spezies vernichtet, bedeutet, unseren bionischen Horizont zu
definieren, nämlich die Schwelle jener abschließenden Natur-Kultur-
Fusion, an der eine Population von ihrer Technologie
ununterscheidbar wird. Das ist weder Vererbungs-determinismus
noch Sozialkonstruktivismus, sondern etwas, worauf sich beide
Positionen hätten beziehen können, wenn sie etwas Reales
angezeigt hätten. Es ist ein Syndrom der Art, wie es Octavia Butler
anschaulich vorweggenommen hat; in ihrer Xenogenesis-Trilogie
erkundet sie die Möglichkeit einer Population jenseits des bionischen
Horizonts.104 Ihre Oankali-»Genhändler« haben keine Identität, die
sich von dem biotechnologischen Programm trennen ließe, das sie
fortwährend auf sich selbst anwenden, da sie ihre Population in
einem einzigen, integralen Prozess kommerziell erwerben, industriell
herstellen und sexuell reproduzieren. Zwischen dem, was die
Oankali sind, und der Art und Weise, wie sie leben oder sich
verhalten, gibt es keinen dezidierten Unterschied. Weil sie sich
selbst fabrizieren, ist ihre Natur ihre Kultur und (natürlich)
umgekehrt. Was sie sind, ist genau das, was sie tun.
Religiöse Traditionalisten der westlichen Orthosphäre haben
recht, wenn sie den heraufziehenden bionischen Horizont mit einem
(negativen) theologischen Ereignis gleichsetzen. In der größten
Umwälzung der natürlichen Ordnung seit der Entstehung des
eukaryotischen Lebens vor einer halben Milliarde Jahren verdrängt
die techno-wissenschaftliche Autoproduktion das unveränderliche
und geheiligte Wesen des Menschen als Geschöpf. Dabei handelt
es sich nicht nur um ein evolutionäres Ereignis, sondern um den
Eintritt in eine neue Evolutionsphase. John H. Campbell kündigt das
Erscheinen des Homo autocatalyticus an und argumentiert: »In der
Tat fällt es schwer, sich ein Vererbungssystem vorzustellen, das aus
technischer Sicht idealer sein könnte als das unsere.«105
John H. Campbell? – ein Prophet der Ungeheuerlichkeit und die
perfekte Entschuldigung für ein Monsterzitat:
Biologen vermuten, dass sich neue Formen schnell aus sehr winzigen Außengruppen
von Individuen (vielleicht sogar aus einem einzigen befruchteten Weibchen, Mayr, 1942)
am Rande einer bestehenden Art entwickeln. Dort fördert der Stress einer fast
unbewohnbaren Umgebung, notgedrungene Inzucht in isoliert lebenden Familien,
»Introgression« fremder Gene von benachbarten Arten sowie fehlende Konkurrenz oder
Ähnliches durch andere Artgenossen eine bedeutende Reorganisation des
genomischen Programms, die eventuell durch eine geringfügige Veränderung der
Genstruktur zustande kommt. Fast alle der so umgemodelten Artfragmente sterben aus,
aber gelegentlich hat eines das Glück, in eine neue lebensfähige Nische zu passen. Es
gedeiht und breitet sich aus und bildet eine neue Art. Seine Umwandlung in einen
statistisch eingeschränkten Genpool stabilisiert die Art und bewahrt sie vor weiteren
evolutionären Veränderungen. Etablierte Arten zeichnen sich weit mehr durch Stillstand
als durch Wandel aus. Selbst wenn eine bestehende Art eine neue Tochterart abwirft,
verändert sie sich offenbar nicht. Dass sich Arten allmählich transformieren können und
dies auch in unterschiedlichem Maße tun, ist unstrittig, doch für die Ausbildung von
neuen Formen ist diese sogenannte »Anagenese« im Vergleich zu einer geologisch
plötzlichen und bedeutenden Saltation relativ unerheblich.
Drei Implikationen sind von Bedeutung.
1. Die meisten evolutionären Veränderungen sind mit der Entstehung neuer Arten
verbunden.
2. Mehrere Evolutionsmodi können gleichzeitig ablaufen. Gegebenenfalls dominiert der
effektivste den Prozess.
3. Anstatt in der Spezies insgesamt laufen evolutionäre Entwicklungen größtenteils in
kleinen Minderheiten von Individuen ab.
Ein zweites wichtiges Merkmal der Evolution ist die Selbstbezüglichkeit (Campbell,
1982). Die kartesianische Karikatur einer autonomen äußeren »Umwelt«, die die Form
einer Spezies diktiert wie ein Keksausstecher, der Förmchen aus Teigblättern schneidet,
ist obsolet und völlig falsch. Die Spezies formt ihre Umwelt so tiefgreifend, wie die
Umwelt die Spezies »entwickelt«. Im Einzelnen gestalten die Organismen die
eingeschränkten Umweltbedingungen, um die sie konkurrieren. Daher spielen die Gene
in der Evolution eine Doppelrolle. Sie befinden sich zwar im Visier der natürlichen
Selektion, induzieren und bestimmen jedoch letztlich auch den auf sie einwirkenden
Selektionsdruck. Diese zirkuläre Kausalität überlagert den mechanischen Charakter der
Evolution. Sie wird also von der Rückkopplung dominiert, die die Organismen durch ihre
Aktivitäten auf ihre eigene Evolution ausüben.
Die dritte bahnbrechende Erkenntnis lautet, dass die Evolution über die Veränderung
der Organismen als Produkte der Evolution hinausgeht und sich in der Veränderung des
Prozesses selbst niederschlägt. Die Evolution entwickelt sich (Jantsch, 1976; Balsh,
1989; Dawkins, 1989; Campbell, 1993). Evolutionisten ist diese Tatsache bekannt; da
sie aber mit dem Darwinismus unvereinbar ist, wurde ihr nie die ihr gebührende
Bedeutung beigemessen. Darwinisten und insbesondere die modernen Neodarwinisten
setzen die Evolution mit der Funktionsweise eines einfachen logischen Prinzips gleich,
das der Biologie vorausgeht: Evolution ist lediglich das darwinsche Prinzip der
natürlichen Auslese in Aktion, und in der Wissenschaft der Evolution geht es genau
darum. Da sich Prinzipien nicht mit der Zeit oder den Umständen ändern können, muss
die Evolution grundsätzlich statisch sein.
Die biologische Evolution ist natürlich alles andere als das. Sie ist tatsächlich ein
komplexer Prozess und kein Prinzip. Wie sie sich vollzieht, kann sich mit der Zeit
ändern, was unstreitig auch geschieht. Das ist von allergrößter Bedeutung, weil der
Evolutionsprozess sich im Laufe der Zeit selbst verändert (Campbell, 1986). In der
Ursuppe der Erde konnte sich die dem Leben vorausgehende Materie nur durch
subdarwinsche »chemische« Mechanismen entwickeln. Sobald diese kümmerlichen
Prozesse Genmoleküle mit Informationen für ihre Selbstreplikation geschaffen hatten,
kam die natürliche Selektion in Gang. Die Evolution hüllte daraufhin die
selbstreplizierenden Genome in selbstreplizierende Organismen ein und konnte damit
steuern, wie das Leben auf die aus der Umwelt kommenden Winde der Selektion
reagiert. Später, mit der Entstehung mehrzelliger Organismen gewann die Evolution
Zugang zu morphologischen Veränderungen, die eine Alternative zur langsameren und
weniger vielseitigen biochemischen Evolution darstellten. Änderungen in den
Anweisungen von Entwicklungsprogrammen ersetzten Änderungen in der
Enzymkatalyse. Das Nervensystem bahnte den Weg für eine noch schnellere und
wirkungsvollere verhaltensbezogene, soziale und kulturelle Evolution. Und schließlich
schufen diese höheren Modi die notwendige Organisation für eine rationale, gezielte
Evolution, die von zielorientierten Köpfen geleitet und vorangetrieben wird. Jeder dieser
Schritte stellte eine neue Ebene evolutionärer Fähigkeiten dar.
Es gibt also zwei verschiedene, aber miteinander verwobene evolutionäre Prozesse. Ich
nenne sie »adaptive Evolution« und »generative Evolution«. Erstere ist die bekannte
darwinsche Modifikation von Organismen, mit dem Ziel, das Überleben und den
Fortpflanzungserfolg zu verbessern. Die generative Evolution ist etwas völlig anderes.
Sie beinhaltet keine Veränderung der Struktur, sondern des Prozesses. Dieser Prozess
ist zudem ontologisch. Evolution bedeutet wörtlich »sich entfalten«, und was sich in ihr
entfaltet, ist die Fähigkeit, sich zu entwickeln. Höhere Tiere sind immer geschickter darin
geworden, sich zu entwickeln. Sie sind jedoch keineswegs fitter als ihre Vorfahren oder
die einfachsten Mikroben. Jede heute lebende Art hat genau die gleiche
Erfolgsgeschichte des Überlebens hinter sich; jeder heute lebende höhere Organismus
hinterlässt durchschnittlich noch immer nur zwei Nachkommen, nicht anders als es vor
hundert Millionen Jahren der Fall war, und heutige Arten sind ebenso wahrscheinlich
vom Aussterben bedroht wie jene in der Vergangenheit. Arten können nicht zunehmend
fitter werden, da der Reproduktionserfolg kein kumulativer Parameter ist.
Für Rassen-Nationalisten, die sich wünschen, dass ihre Enkelkinder
so aussehen wie sie, ist Campbell die Hölle. Dagegen ist
Rassenmischung ein Kinkerlitzchen. Man denke nur an Gesichts-
Tentakel.
Auch Campbell ist ein Sezessionist, wenn auch völlig
unbeeinflusst von den Anliegen der Identitätspolitik (Rassenreinheit)
oder des traditionellen kognitiven Elitismus (Eugenik). Wenn man
sich dem bionischen Horizont nähert, nimmt der Sezessionismus
eine insgesamt wildere und monströsere Haltung ein und weist in
Richtung Speziation. Die Leute von euvolution fangen das Szenario
gut ein:
Campbell räsoniert, dass die Mehrheit der Menschheit eine Politik des qualitativen
Bevölkerungsmanagements nicht freiwillig akzeptieren wird, und verweist darauf, wie
ermüdend lange es dauern würde, wollte man den IQ der gesamten menschlichen
Rasse anheben. Er weist ferner darauf hin, dass die allgemeine Stoßrichtung der frühen
Eugenik nicht so sehr in der Verbesserung der Arten als vielmehr in der Verhinderung
des Niedergangs bestand. Campbell plädiert mit seiner Eugenik daher dafür, den Homo
sapiens als »Relikt« oder »lebendes Fossil« aufzugeben und stattdessen
Gentechnologien einzusetzen, die in das Genom eindringen, wobei wahrscheinlich
mithilfe eines DNA-Synthesizers von Grund auf neue Gene geschrieben würden. Eine
solche Eugenik würde von Elitegruppen praktiziert werden, deren Errungenschaften das
übliche Tempo der Evolution so schnell und radikal übertreffen würden, dass die neuen
Gruppen bereits in zehn Generationen so weit über unsere jetzige Form hinausgelangt
sein würden wie wir heute über die Menschenaffen.106
Vom bionischen Horizont aus gesehen, fällt alles, was aus der
Dialektik des Rassenterrors hervorgeht, der Trivialität anheim. Zeit
also, einen Schritt weiterzugehen.
LOCKENDE LEERE
… die Vorstellung, wir seien nicht länger in der Lage, Großtaten zu vollbringen, zu denen
wir einmal imstande waren (etwa zum Mond zu fliegen), steht im Widerspruch zu dem
vorherrschenden Narrativ, wir würden uns für immer auf dem Weg des Fortschritts
befinden. Abgesehen davon, dass wir gegenwärtig nicht auf den Mond gelangen können,
verfügen die USA auch über kein Space-Shuttle-Programm mehr, das ursprünglich dazu
gedacht war, die Raumfahrt zu einem so alltäglichen Fortbewegungsmittel zu machen wie
die Luftfahrt. Und zudem habe ich auch keine Möglichkeit mehr, mir ein Ticket für einen
transatlantischen Überschallflug in der Concorde zu besorgen. Narrative können
kaputtgehen.1
– Tom Murphy (Fettung im Original)
1
Auf der Weltausstellung in Schanghai 2010 war ein Pavillon
ausschließlich der Zukunft der Städte gewidmet. Zu den Exponaten
gehörte eine auf einem großen Bildschirm gezeigte Videoschleife,
die in Form spekulativer Animationen unterschiedliche futuristische
Stadttypen behandelte und in ihrer Unbeschwertheit offensichtlich an
Jugendliche gerichtet war. Da Kinder die Bewohner der Zukunft sind,
ergibt es Sinn, in ihnen das Zielpublikum für eine Vision der Welt von
morgen zu sehen, die Wirkung war aber insofern befremdlich, als
das Gezeigte in Form einer zurücknehmenden, defensiven Ironie in
Klammern gesetzt schien. So sah die Zukunft früher aus. Ist das
auch heute noch der Fall? Hier tarnte sich, als Zugeständnis an
kindgerechte Glaubhaftigkeit oder sogar an eine irrelevante
Fantasie, ein subtiler Vorbehalt.
Eine der vier Zukunftsstädte war nicht auf der Erde, sondern in
der Umlaufbahn errichtet worden. Sie war bevölkert von glücklichen
Menschen (oder zumindest Humanoiden). Ein Datum war nicht
angegeben. Aller futuristischen Verbindlichkeit entbunden,
durchkreuzte sie als Fragment interkulturellen Erinnerns eine
erwachsene Sichtweise.
»Stell dir eine Stadt im Weltraum vor, so wie es ein Kind tut.«
Angesichts der strategischen Unklarheit dieser Aussage, wie sie sich
2010 vor dem Hintergrund eines sorgfältig organisierten
internationalen Ereignisses in einer hoch entwickelten,
kosmopolitischen, globalen chinesischen Stadt zeigt, mag es reizvoll
sein, eine Analogie zu bemühen. Als vor einem halben Jahrhundert,
also in den Dämmerjahren der Moderne (1.0), in der westlichen Welt
die Kinder dazu ermuntert wurden, sich derartige Welten
auszumalen, wurde ihnen da das ernsthafte Versprechen gemacht,
ihnen würde einmal das Sonnensystem gehören? Und wenn, wird
heute auf ein solches Versprechen mit Augenzwinkern Bezug
genommen, oder wird es in andere Bahnen gelenkt und
umgemodelt?
Neben dem Pavillon zur urbanen Zukunft gab es auf der Expo von
2010 zudem einen Weltraum-Pavillon, der die Verwirrung noch
verstärkte. Angesichts der Möglichkeit, die der Expo eigenen
Traditionen technisch-industrieller Grandiosität zu reaktivieren,
handelte es sich um einen spektakulären Fehlschuss, der fast nichts
an monumentaler Hardware zu bieten hatte. Was geboten wurde, fiel
unter zwei große Kategorien: mit Videotechnik erzeugte immersive
Spezialeffekte (die bei Jugendlichen hoch im Kurs standen) sowie
harmlos-häusliche Anwendungen von Raumfahrttechnologie nach
dem Muster jener kläglichen, von der NASA lancierten PR-
Kampagne »wir haben euch die Bratpfanne beschert, in der nichts
mehr anbrennt«. Wer auf zyklopenhafte mobile Abschussrampen,
wie man sie vom Militär kennt, und den Gestank von
Raketentreibstoff gehofft hatte, war eindeutig im falschen
Jahrhundert unterwegs. Zeitgenössische internationale Etikette hatte
Vorrang, und so hieß es, dass das Geschäft der Weltraumeroberung
viel zu grob oder zu primitiv sei, um der Öffentlichkeit in lebhaften
Farben vorgeführt zu werden.
Selbst in China – oder zumindest in seinem 2010 vorgestellten
Fenster zur Welt – wurden alle auf ein Verlassen des Planeten
abzielenden Ambitionen unauflöslich mit Kindheitsfantasien
zusammengerührt. Die mit den Kommandohöhen der Weltmeinung
in Einklang gebrachte Unterstellung war unmissverständlich: Solch
harten SF-Träume sind wir schon längst entwachsen. Und so
wurden die Blicke der westlichen Besucher, statt durch ein Fenster
auf die funkensprühende, klirrende Werkstatt des aufstrebenden
chinesischen Raumfahrtprogramms gelenkt zu werden, zwischen
den erodierten Ruinen des Apolloprogramms von verspiegeltem
Glas in ein »postmodernes« Vakuum in sich zusammengefallener
Erwartungen zurückgeworfen. Vier Jahrzehnte abendländischen
Raumfahrtversagens lächelten freundlich zurück. Ihr habt’s verbockt,
oder? (Ein kurzer Abstecher über den Huangpu in den trostlos
banalen US-Pavillon genügte zur unzweifelhaften Bestätigung.)
Mit der Zurückweisung einer außerplanetarischen menschlichen
Zukunft als eines kindlichen Traums lässt sich viel anstellen. Die
Verlage und Buchläden der Welt haben ihre Klassifikationssysteme
schon lange der schäbigen Zweideutigkeit des »Science-
Fiction/Fantasy-Genres« angepasst, in dem Futurismus mit
Onirismus verschmiert wird und die Überbleibsel harter SF-
Programme (Telekommunikationssatelliten, Mondbasen,
Weltraumaufzüge …) in fantastische Weltall-Elfen-Mythologien
eingestreut sind (von Star Wars zu Avatar). Konkurrierende
Prophezeiungen verkommen zu polemischen Allegorien und treffen
Aussagen über alles und jedes, nur nicht darüber, wie die Zukunft
aussehen wird.
Von all den kulturellen Verwerfungen, die der Abbruch des Apollo-
Raumfahrtprogramms mit sich brachte, sind keine aufschlussreicher
als die sich wachsender Beliebtheit erfreuenden
Verschwörungstheorien rund um die Mondlandung. Von der
abzusehenden Evakuierung der Himmel enttäuscht, begannen die
»Moon Hoax«-Verschwörungstheoretiker systematisch damit, die
Weltraumfahrer – angefangen bei den auf dem Mond gelandeten –
aus der Vergangenheit herauszuschneiden. So unerträglich diese
Form des »systematischen Verleugnens« für Raumfahrtingenieure,
amerikanische Patrioten, NASA-Anhänger und generell für
vernünftige Menschen ist, ist sie historisch gesehen nicht nur
verständlich, sondern geradezu unvermeidlich. Kein Mensch wird
ernsthaft bestreiten, dass Kolumbus in die Neue Welt gelangte, und
dies verdankt sich zumindest zum Teil der Tatsache, dass, was
damals losging, kein Ende gefunden hat. Etwas begann und ging
weiter. Vergleichbares lässt sich von der Mondbesiedlung nicht
behaupten, und dies an sich ist bereits eine provokante
Merkwürdigkeit. Wenn Vorhersagen erinnert werden, ist zu erwarten,
dass mit den aufgegebenen Zielen die Erinnerungen
durcheinandergeraten.
Sylvia Engdahl, eine Weltraum-Enthusiastin alter Schule, hält die
ganze Situation für pathologisch und unterwirft sie einer etwas
notdürftig zusammengezimmerten Psychoanalyse. Mit trotzigem
Optimismus macht sie für »die aktuelle Auszeit der Raumfahrt« ein
fremdenfeindliches Trauma verantwortlich:
Viel ist über die positive Wirkung der von Apollo 8 aufgenommenen Fotos der Erde
gesagt worden, die unseren Planeten zum ersten Mal als eine Kugel zeigten, einen
fragilen Zufluchtsort inmitten einer kargen Umgebung, und damit die Umweltbewegung
ins Leben riefen. Der damit einhergehende negative Effekt – das um sich greifende
Bauchgefühl, dass der Weltraum eigentlich ein Ort ist, der nur wenig uns Vertrautes
enthält und vielleicht vieles, dem wir lieber nicht begegnen würden – wird nicht erwähnt.
Vielleicht aber ist er ebenso bedeutsam. Könnte er einer der Gründe dafür sein, dass
das Interesse am Weltraum so bald nach der ersten Mondlandung erloschen ist und die
noch geplanten Apollo-Missionen abgesagt wurden?2
Sie führt aus:
Die meisten Menschen wollen nicht über die Bedeutung eines offenen Universums
nachdenken. Sie machen sich das Unbehagen darüber nicht wirklich bewusst, sondern
spüren es, sobald das kollektive Unbewusste der Menschheit dieses Wissen absorbiert,
eine Ebene tiefer und reagieren mit als Apathie getarntem Entsetzen. Es kommt ihnen
nicht in den Sinn, dass sie durch die Aussicht auf die Erforschung des Weltraums
verstört sein könnten. Sie gehen vielmehr davon aus, dass diese Erkundung, verglichen
mit den Problemen im Hier und Jetzt, nur wenig Priorität besitzt, obwohl sie sich in der
Theorie wünschen, dass die Menschheit in neue Welten gelangt […]. [E]benso könnte
die weitverbreitete Überzeugung, dass die Öffentlichkeit keinen Gedanken mehr an den
Weltraum verschwendet, eine Rationalisierung des Problems darstellen.
Engdahl verweist auf eine moderne Variante des Orpheusmythos
und bekommt damit etwas Bedeutsames und Spannendes zu
fassen. Wir waren aufgefordert, nicht aus dem Orbit
zurückzublicken, aber wir haben es natürlich trotzdem getan, und
was wir sahen, zog uns wieder zurück nach unten. Die Verdammung
unseres Sprungs in außerirdische Sphären gebar eine luzide Vision
des Umweltschutzes – die Erde vom Weltall aus gesehen. Auch aus
diesem Grund wendet sich Tom Murphy an den Großen Erzdruiden
des Ancient Order of Druids in America, John Michael Greer; es geht
um den Versuch, elegische Desillusionierung in Akzeptanz zu
verwandeln:
Die Raumfahrzeuge sind verstummt und warten auf die letzte fatale Reise in die
Museen, die die großartigsten der gescheiterten Träume unserer Zivilisation
aufbewahren werden. Kein Countdown, keine Flammensäule mehr, die sie durch die
Atmosphäre schleudert und mit Orbitalgeschwindigkeit um den Planeten rasen lässt. All
dies ist vorbei. […] Letztendlich war die Raumfahrt einfach der äußerste und
bezeichnendste Ausläufer der industriellen Zivilisation und hing – wie diese insgesamt –
von enormen Mengen billiger, hochkonzentrierter und leicht zugänglicher Energie ab.
Diese Grundvoraussetzung gelangt jetzt überall um uns her an ihr Ende.3
Desillusionierung ist nichts anderes als das Erwachen aus
Kinderträumen, sagen uns die Druiden. Ein Punkt, dem Murphy nur
zu gerne zustimmt: »Weltraumfantasien können uns von der
Beschäftigung mit Alltagsproblemen abhalten.« Interessanterweise
besteht sein erster Schritt in Richtung Akzeptanz darin, in einer
(vernünftigen) Analogie zur »Moon Hoax«-Verleugnung falsches
Erinnern richtigzustellen. Als er seine Studenten über ihre Ansichten
zur jüngeren Raumfahrtgeschichte (»seit 1980 etwa«) befragt, sind
nicht weniger als 52 Prozent der Ansicht, dass der Mensch in dem
fraglichen Zeitraum von der Erde zum Mond geflogen sei und eine
Strecke von 385 000 km zurückgelegt habe. Lediglich elf Prozent
wussten, dass seit dem Ende des Apollo-Programms keine
bemannte Mission über die erdnahe Umlaufbahn (Low Earth Orbit
(LEO), in 600 km Höhe) hinausgekommen ist. Im Weltraum haben in
jüngster Zeit keine menschlichen Aktivitäten mehr stattgefunden,
zumindest nicht so, wie gedacht. Das Ganze war größtenteils eine
kollektive Halluzination.
Murphys hoch entwickelter Stil mathematisch fundierten
Druidentums repräsentiert die Nullhypothese in der
Weltraumbesiedlungsdebatte: Vielleicht sind wir deshalb nicht da
draußen, weil kein überzeugender Grund besteht, noch etwas
anderes zu erwarten. Der außerirdische Raum ist keine Frontier,
kein Grenzland, nicht einmal eine harte Grenze, sondern eine
unerbittlich feindselige Trostlosigkeit, die außer Unglück und Ödnis
nichts verspricht. Ein paar wissenschaftliche Daten lassen sich
gewinnen, und es bieten sich Möglichkeiten für politisches Theater
(auch wenn Murphy darauf nicht abhebt). Darüber hinaus jedoch gibt
es jenseits der erdnahen Umlaufbahn nichts, was den Aufwand
lohnen würde.
Der neodruidische Ausgangspunkt ist unapologetisch
erdverhaftet. Er setzt bei der Energiephysik und der Tatsache an,
dass alles, was wir tun, unausweichlich zur Aufheizung führt.
Murphys Kalkulation zufolge4 genügt bereits ein bescheidenes
globales Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent, um die
Erdoberfläche in vierhundert Jahren auf die Siedetemperatur von
Wasser zu bringen, selbst dann, wenn (verstärkende)
Treibhauseffekte vollkommen ausgeklammert werden. Das
Wirtschaftswachstum findet im Wesentlichen exponentiell statt, und
damit ist garantiert, dass wir – aufgrund elementarer
thermodynamischer Prinzipien, physikalischer Wirkungsgrade und
der Geophysik der Wärmeableitung – gekocht werden. In diesem
größeren Rahmen stellen konventionelle »Energiekrisen« lediglich
komplizierte Details dar, die Murphy allerdings akribisch
einberechnet.5
Aus der neodruidischen Perspektive ist die »Frontier« des
Weltraums ein Horizont des reinen Eskapismus, der all jene lockt,
die die Notwendigkeit der Begrenzung hartnäckig abstreiten
(widerliche Wachstumsjunkies):
… auf den Weltraum zu setzen, um sich eine unendliche Ressource zu verschaffen, in
die wir auf ewig hineinwachsen/expandieren, ist ein Irrweg. Es ist nicht nur weit
schwieriger, als die meisten denken, sondern lenkt zudem von der Botschaft ab, dass
das Wachstum auf der Erde nicht weitergehen kann und wir uns damit beschäftigen
sollten, wie der Übergang zu einer nicht wachstumsorientierten und wirklich
nachhaltigen Existenz zu bewerkstelligen ist.6
Da zahllose unverwüstliche Wachstumsadepten ernsthaft in den
Weltraum wollen, trägt Murphy äußerst dick auf und tut alles dafür,
sie zu entmutigen. Die meisten Abschreckungsfaktoren sind relativ
bekannt, aber keiner wird leichtfertig angeführt oder ist leicht
abzutun. Das Hauptproblem ist zugleich das qualitativ stichhaltigste
(und druidischste): die Anpassung des Menschen an Bedingungen,
wie sie auf der Erde herrschen. Dies findet sich überzeugend
veranschaulicht in einer Betrachtung der »Frontier«-Regionen der
Erde, die trotz Umweltbedingungen, die bei Weitem gutartiger sind
als alles, was sich außerhalb der Erde finden lässt, fast gänzlich
unerforscht geblieben sind. Verglichen mit jeder erdenklichen
Raumstation, einem Asteroiden-Bergbaucamp, einer Mondbasis
oder Marskolonie sind selbst die »schwierigsten« Orte auf der Erde
– beispielsweise der Meeresboden oder die Antarktis – mit ihrem
leichtem Zugang zu Atemluft, Nahrungsmitteln, Brennstoffen und
anderen lebenswichtigen Ressourcen, einer moderaten
Temperaturspanne, Schutz vor kosmischer Strahlung und Nähe zu
bestehenden menschlichen Ansiedlungen überaus gastlich. Dem
gegenüber stehen die typischen extraterrestrischen Bedingungen:
absolutes Vakuum, totale Ausgesetztheit, das vollständige Fehlen
biokompatibler Chemie sowie Entfernungen, die jeder Vorstellung
spotten.
Auf diese Entfernungen geht Murphy bei seiner
Studentenbefragung zum Weltraumwissen ein. Wenn die Erde durch
einen »Standard«-Globus von 30 Zentimetern Durchmesser
repräsentiert ist, liegt die erdnahe Umlaufbahn (LEO) 1,5 Zentimeter
über der Oberfläche und die des Mondes ganze neun Meter. Um
einen intuitiven Ansatzpunkt für eine größer dimensionierte
Weltraumbetrachtung zu erhalten, ist jedoch eine Rekalibrierung
vonnöten.
Es ist sinnvoll, als Modell für die Erde einen kleinen Apfel von 8,5
Zentimetern Durchmesser heranzuziehen, denn dann schrumpft eine
Astronomische Einheit (AE, die mittlere Entfernung von der Erde zur
Sonne, etwa 150 Millionen Kilometer, 93 Millionen Meilen oder 500
Lichtsekunden) auf einen Kilometer, wobei die Sonne von einer
Kugel repräsentiert wird, deren Durchmesser etwas über zehn
Metern liegt. Der Mond ist nun gerade einmal 2,7 Meter von unserer
Spielzeugerde entfernt, aber der Mars immer noch vierhundert Meter
und die nächsten Asteroiden einen Kilometer. Die Entfernung zum
Rand des Planetensystems, zu Neptun, beträgt mindestens 29
Kilometer, und in diesem Raumvolumen (einer Sphäre von etwa 113
400 AE3) ist ein kleinerer Teil als ein 27-Milliardstel kein absolut
leeres Vakuum und alles Übrige ein Solarschmelzofen. Im
Spielzeugmaßstab liegen der äußere Rand des Sonnensystems und
die Oortsche Wolke 50 000 Kilometer von der Erde entfernt. Die
Entfernung von unserem verschrumpelten Apfel zum nächsten
Stern, Proxima Centauri, beträgt 277 600 Spielzeugkilometer (oder
41,5 Billionen echte).
Betrachtet man die Kolonisierung des Weltraums als Ausweg vor
den Ressourcenbeschränkungen auf der Erde, muss über diese
Entfernungen ein Netz an Aktivitäten gespannt werden, das
zumindest einen Energieüberschuss produziert. In einem kinetischen
System ohne Reibungsverlust, das fast ausschließlich von der
makroskopischen Impulserhaltung bestimmt wird, ist die Leitwährung
der Weltraumaktivität »Delta v«, will sagen die
Geschwindigkeitsänderung. Delta v ist ungefähr proportional zum
Energieaufwand bei »kleinen Zündungen«, wo der
Treibstoffverbrauch gegenüber der insgesamt angetriebenen Masse
nicht ins Gewicht fällt. Wenn aber komplette Flüge oder »große
Zündungen« berechnet werden, wird die Mathematik nicht linear, da
die Verringerung der Treibstoffladung zu einem kritischen Faktor der
Gleichung wird (Verringerung des Trägheitswiderstands bei
gleichzeitiger Vergrößerung der Antriebskraft). Praktisch gesehen
besteht die voraussichtliche Energieeinsparung außerhalb des
Planeten (»Raumfahrt«) im Treibstoffverbrauch für die Bewegung
des Treibstoffs, wobei die Masse des Gefährts ohne Brennstoff in
den Berechnungen nur wenig mehr als einen Rundungsfehler
ausmacht.
So kontraintuitiv es klingen mag: Sobald die Treibstoffmasse 63 Prozent der gesamten
Anfangsmasse überschreitet, ist es möglich, die Rakete auf eine Geschwindigkeit zu
bringen, die höher als die Austrittsgeschwindigkeit ist. Um Delta-v-Werte um die 20km/s
zu erhalten, wenn die Austrittsgeschwindigkeit weniger als 5 km/s beträgt, braucht es
fast nichts anderes als Treibstoff […]. [D]ie großen Delta-v-Werte, die zur Umrundung
des Sonnensystems erforderlich sind, erfordern Unmengen Treibstoff […].7
Dieses doppelte Zu-Buche-Schlagen des Treibstoffs als Nutzlast und
als Brennstoff in den nicht linearen Gleichungen der
»Raketenmathematik« ist der Schlüssel zu Murphys tiefer Skepsis
gegenüber der Realisierbarkeit einer außerterrestrischen
Energiewirtschaft. Die im inneren Sonnensystem verteilten
Brennstoffressourcen lassen sich – selbst unter Annahme ihres
ungeheuren Überflusses – nicht nutzbringend für weniger Energie
bewegen, als sie zur Verfügung stellen. Jupiter bietet dafür das
quälendste Beispiel. Dieser methanreiche Gasriese mag sich
oberflächlich betrachtet wie ein riesiges kosmisches Treibstofflager
ausnehmen, doch selbst die großzügigsten Berechnungen der Delta-
v-Anforderungen für eine Jupiter-»Tankerstrecke« verlangen
Energieaufwendungen, die mindestens um ein Zehnfaches höher
sind als die durch den »Schaufelbetrieb« gewonnene Energie. Das
innere Sonnensystem ist reich an »gestrandeten Ressourcen«, die
unmöglich zu unter ihrem Wert liegenden Kosten gewonnen werden
können. Das zumindest ist die schlüssige neodruidische
Perspektive.
… und doch, in dieser gähnenden Leere, wo einmal
Weltraumsiedlungen sein sollten, ist noch immer Bewegung. Es
scheint sogar unverkennbar eine Tempobeschleunigung
stattzufinden. Chinesische »Taikonauten«,8 private (amerikanische)
»NewSpace«-Unternehmen und immer ausgebufftere Roboter
wagen sich über die Trümmer toter Träume hinaus. Sind sie auf
einem Weg, der funktioniert, oder sogar sinnvoll ist?
2
… man muss verstehen, was Apollo war und was nicht. Im Kalten Krieg war das
Programm ein Sieg über die Sowjets, da wir uns aber im Krieg befanden, führten wir ihn
mit einem staatssozialistischen Unternehmen. Das Programm war sicherlich nicht der
erste Schritt zur Öffnung der Frontier für die Menschheit, und es war im Grunde ein
Fehlstart, der den Weg der NASA vorzeichnete, eine Furche, in der wir seit über vier
Jahrzehnten feststecken; dabei sind viele Milliarden ausgegeben worden, ohne großen
nutzbringenden Fortschritt.9
– Rand Simberg
Die Öffnung des amerikanischen Westens in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten
Jahrhunderts und die Öffnung des Weltraums als Frontier in diesen ersten Jahrzehnten
des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind sich sehr ähnlich.10
– Mike Snead
Faschismus macht uns schwindlig, was bedauerlich ist, denn durch
die Unfähigkeit, das vorherrschende Modell des »dritten Wegs« der
politischen Ökonomie (den korporativen Nationalismus)
unerschrocken in den Blick zu nehmen, wird die Geschichte des
letzten Jahrhunderts unverständlich. Für Amateur-
Raumfahrthistoriker ist es einfach unvermeidlich, kurz bei den Mond-
Nazis vorbeizuschauen.
Zur Einführung mag SS-Sturmbannführer Wernher von Braun,
von 1970 bis 1972 stellvertretender Direktor des Planungsbüros in
der NASA-Zentrale in Washington, D.C., hilfreich sein. Von Braun,
technischer Direktor des Nazi-Raketenprogramms in Peenemünde,
das in der Erstellung des ballistischen Flugkörpers A-4 (V-2) seinen
Höhepunkt fand, wurde 1945 als Hauptgewinn der Operation
Paperclip nach Amerika gebracht. Was er zur Raketenentwicklung in
den USA, von der Redstone-Rakete bis zu Apollo (und dem Mond),
beitrug, war von zentraler Bedeutung und unverzichtbar. Der NASA-
Sozialismus wurde auf der Dunklen Seite des Mondes geboren.11
Sollte »Faschismus« allzu hart klingen, können wir gerne auf eine
gefälligere Terminologie zurückgreifen. »Technokratie« tut es auch.
Der Name ist dabei weniger wichtig als die Inhalte, die bereits in
dem Werk Friedrich Lists, eines deutschen Einwanderers in die
Vereinigten Staaten, klar formuliert worden waren. In einem
einflussreichen Buch umriss List Das nationale System der
politischen Ökonomie (1841), in dem er darlegte, dass der
»Kosmopolitismus« der landläufigen (smithschen) politischen
Ökonomie dem gemeinschaftlichen nationalen Interesse nicht
genügend Aufmerksamkeit zolle. Die industrielle Entwicklung sei zu
wichtig, um sie dem Zusammenspiel privater Wirtschaftsakteure zu
überlassen, und sollte stattdessen im Kontext eines internationalen
Wettbewerbs als strategischer Imperativ betrachtet werden. Nur
indem ein Land die Staatsmacht dazu einsetze, den Handel zu
regulieren, die moderne Industrie zu fördern und die Entwicklung
kritischer Infrastruktur voranzutreiben, dürfe es darauf hoffen, seine
Interessen in der internationalen Arena zu befördern. Entwicklung
sei Krieg mit anderen Mitteln – und mitunter mit denselben Mitteln.
Diese Ideen wurden, nachdem sie von Henry Clay beflissentlich
übernommen und mit der Gründungstradition Alexander Hamiltons
verknüpft worden waren, zur Grundlage des American System. Der
ökonomische Nationalismus sollte auf den drei Säulen eines
staatlich gesteuerten Handels (Zölle), eines staatlich kontrollierten
Finanzsystems (Zentralbank) und einer staatlich gelenkten
Infrastrukturentwicklung (insbesondere Transportsysteme) aufgebaut
werden. Diese Art der Politik war insofern bereits »fortschrittlich«
oder faschistisch technokratisch, als sie privat-kosmopolitische
Wirtschaftsinteressen nationalen Zwecken unterordnete. Dies fand
allerdings flexibel und ohne die Verkrustungen eines
geschäftsfeindlichen Klassenkampfes, hoher verbindlicher
Staatsausgaben oder einer kulturellen Überwachung durch die
Kathedrale statt. Der Kapitalismus sollte gelenkt, ja sogar gefördert
und nicht gemolken, bewusst zerstört oder ersetzt werden. Dieses
technokratische Fortschrittsdenken lässt sich wegen seiner
patriotischen Ausrichtung, seines Elitismus und seines Hangs zur
Militarisierung als »rechtes« Phänomen verstehen, oder zumindest
(in den Worten Walter Russell Meads) als eines des »Zweiparteien-
Establishments«.12
Das Apollo-Programm war ein perfektes Beispiel für den in einer
teutonisierten, neohamiltonschen Tradition stehenden
amerikanischen technokratischen Progressivismus. Ein kleiner
Schritt für den Menschen und ein gewaltiger Sprung für die
Menschheit, stellte es eine kolossale Hochsprungleistung für den
amerikanischen Leviathan dar und markierte in dem
Systemwettbewerb mit seinem geostrategischen und ideologischen
Hauptrivalen einen eindeutigen Triumph. Das Apollo-Programm war
nicht unbedingt Teil des über ballistische Flugkörper ausgetragenen
Wettrüstens mit der Sowjetunion, aber nahe genug, um zu dessen
symbolischer, massenpsychologischer und abschreckender
Zielsetzung beizutragen. Einen Menschen auf den Mond zu bringen,
war eine Art Overkill, der indirekt dem Abwurf einer Atombombe über
Moskau gleichkam; zudem zeigte sich darin eine Kapazität,
Nutzlasten in einer solchen Größenordnung zu transportieren, dass
sich damit ein Nachrichtenkrieg gewinnen ließ.
In einem Artikel, der ursprünglich in The American Spectator
veröffentlicht wurde, bezeichnen Iain Murray und Rand Simberg den
Wettlauf zum Mond als das letzte Grenzgebiet des starken Staats:
Etwas an der Weltraumpolitik führt dazu, dass die Konservativen ihre Prinzipien
vergessen. Kaum wird das Wort NASA erwähnt, schon sind die Konservativen fröhlich
bereit, ihre Instinkte bezüglich eines schwachen Staats an der Garderobe abzugeben
und für massive Regierungsprogramme und harsche Regulierungen zu stimmen, die die
Privatwirtschaft ersticken.
Sie kommen zu dem Schluss:
Die Konservativen müssen endlich anerkennen, dass das Apollo-Programm vorbei ist.
Wir müssen anerkennen, dass Apollo ein zentral geplantes monopolistisches
Regierungsprogramm für ein paar Regierungsangestellte war, das der Propaganda im
Rahmen des Kalten Kriegs diente und daher an sich schon ein Affront gegen die
amerikanischen Werte war. Wenn wir den Weltraum ernsthaft erforschen und
möglicherweise ausbeuten wollen, müssen wir uns die Privatwirtschaft zunutze machen
und die Technologien forcieren, die dazu wirklich benötigt werden.13
Es wäre ein sinnloses Ärgernis, wollte man dies in einen Aufruf zur
Entnazifizierung des Weltraums übersetzen; darin aber nichts
dergleichen zu sehen, wäre ebenso irreführend. Progressive
Technokratie stellt – in einer Reihe nationaler Abtönungen – die
einzige wirkungsvolle Weltraumpolitik dar, die die Welt bisher
gesehen hat, und in der nahen Zukunft wird sie sich wahrscheinlich
immer noch eher modernisieren als radikal ersetzen lassen. Die
Erschließung des Weltraums stellt eine so enorme kollektive
Herausforderung dar, dass sie selbst freiheitlich gesinnte
Konservative wie Simberg dazu nötigt, sich mit einem
intervenierenden, katalytischen neohamiltonschen Staat
anzufreunden. Zumindest für den Anfang gibt es einfach keinen
anderen Ort, an dem die klirrende Maschinerie des Leviathan besser
aufgehoben ist.
Die Populärkultur hat dies gut verstanden. Zu den vielen Gründen
für die ekstatische Rezeption von Ridley Scotts Alien (1979) gehörte
auch die Wertschätzung seiner »realistischen« klanglichen
Darstellung der praktischen Weltraumaktivitäten. Wissenschaft und
Kommerz spielten zwar eine Rolle, aber an vorderster Front
dominierte quasi-militärisches Schwermetall, finanziert durch riesige,
auf äußerst undurchsichtigen strategischen Zielen basierenden
Budgets, gelenkt von harten, gehorsamen, kantigen Typen, die alles
Nötige taten, um ihre Aufgaben zu erledigen. Die Waffenentwicklung
übertrumpfte alle anderen Überlegungen. Der Ausbruch in die Tiefe
der Frontier erforderte eine unnachgiebige, gepanzerte und mit
Schotten versehene Ernsthaftigkeit, die Zivilisten niemals richtig
nachvollziehen konnten.
Als der Stellvertreterkrieg des Raketenstaates plötzlich ohne den
Kontext des Kalten Kriegs dastand, kam ihm auch die schlüssige
Motivation abhanden, und er geriet, rasch den Kurs verlierend, in die
Fahrwasser zunehmend lächerlicher Pseudoziele. In den letzten
Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hatten sich zwischen
kommerzialisierter Satelliten-Beschickung der erdnahen
Umlaufbahn, kaum überzeugenden Wissenschaftsprojekten zur
Schwerelosigkeit, ritualisierter Raumstation-Diplomatie,
multikultureller Astronauten-PR und sogar zynischen
Beschäftigungsprogrammen für gefährlich kompetente ex-
sowjetische Techniker alle Vorsätze eines großen Schubs Richtung
Weltraum in Wohlgefallen aufgelöst. Intelligente Wissenschaft fand
zwar noch statt, basierend auf Robotersonden und
Weltraumteleskopen, ließ aber keinerlei Impuls in Richtung
Besiedlung des Weltalls oder gar des bemannten Raumflugs
erkennen; sie sprach sich normalerweise sogar explizit dagegen
aus. Trotz all des sehr realen Heroismus nach der Fasson von »Die
Helden der Nation« [Tom Wolfe] war die Beförderung von Menschen
ins All ein Zirkuskunststück und ist es vielleicht stets gewesen.
Was auch immer das Weltall sonst noch sein mag, es ist ein Ort,
an dem die Rechte schizoid wird, und je mehr über es nachgedacht
wird, desto zerklüfteter die Spaltung. Erhellend ist hier das scheinbar
unkomplizierte, dynamisch-traditionelle und überaus stimulierende
»Bild« der Frontier. Die Frontier ist ein Raum abgeschwächter
formaler Autorität, in dem zwischen archetypischen »rauen
Individualisten« unternehmerische »bottom-up«-Prozesse der
Gesellschaftsformierung und der ökonomischen Bemühungen
kultiviert werden, wobei ihre Affinität zu libertären Impulsen so stark
ist, dass sich in ihr das (»Homestead«-)Modell der natürlichen
Eigentumsrechte etabliert, und doch ist sie, gleichermaßen
unbestreitbar, eine Zone brutaler, informeller Kriegsführung, die als
politische Entscheidung losgebrochen, durch fortgesetzte
Gewaltanwendung befriedet und im Interesse territorialpolitischer
Integration als strategischer Imperativ entwickelt wird. Indem der
Siedler oder Kolonialist dem Staat in Richtung der Frontier entflieht,
vergrößert er die Reichweite des Staates; er zieht ihn in das
Grenzland und verstärkt seine Brutalität beziehungsweise lässt ihn
verrohen. Der Weg, auf dem die Flucht vor der Regierung stattfindet,
ist ebenso der Weg einer Ausdehnung, Verhärtung und Verwilderung
des Staates, ein Ort ohne Regeln, an dem die Kavallerie von den
Indianern lernt. Dann kommt die Eisenbahn. Revolte auf Luna trifft
auf Starship Troopers.
»Eine auf die wirtschaftliche Nutzbarmachung des Weltraums
abzielende Strategie muss, wie es bei der Erschließung des
amerikanischen Westens geschehen ist, sowohl die Regierung wie
die Industrie einbeziehen«, argumentiert Martin Elvis.14 Dem wird
niemand widersprechen. Wenn am außerirdischen Horizont dem
Realismus Vorrang eingeräumt wird, wartet an der Startrampe stets
eine Variante eines sich rau und dreckig gerierenden
technokratischen Progressivismus darauf, das Weltraumgeschäft auf
patriotischen, leviathan-finanzierten Trägerraketen huckepack zu
nehmen. Überhastete Denazifizierung ist nur was für erdverbundene
Softies. Die neohamiltonschen Starthilfekabel funktionieren einfach
zu gut, um sie fallen zu lassen. Wie üblich bringt dies Simberg am
besten auf den Punkt:
Die Vereinigten Staaten sollten eine Raumfahrtnation und Anführer einer
Raumfahrtzivilisation werden.
Das bedeutet, dass der Zugang zum Weltraum fast ebenso routinemäßig (wenn auch
nicht ganz so kostengünstig) wie der Zugang zu den Ozeanen – und mit ähnlichen
Gesetzen und Regularien versehen – stattfinden sollte. Das bedeutet Tausende oder
Millionen Menschen im Weltraum – nicht nur handverlesene Regierungsangestellte,
sondern Privatleute, die ihr eigenes Geld für selbst gewählte Zwecke ausgeben. Es
bedeutet, dass wir imstande sein müssen, einen auf die Erde zufliegenden Asteroiden
oder Kometen rechtzeitig aufzuspüren und abzulenken. Es bedeutet zugleich, dass wir
in der Lage sein sollten, die Ressourcen von Asteroiden oder Kometen bergmännisch
auszubeuten, sei es für die Verwendung im Weltall oder auf der Erde, womit wir dem
Planeten gegebenenfalls zu neuem Reichtum verhelfen. Es bedeutet, dass wir das
Sonnensystem erkunden sollten, wie wir den Westen erkundet haben; nicht indem wir
kleine Trupps regierungsamtlicher Forscher aussenden – Lewis und Clark waren die
extreme Ausnahme und keinesfalls die Regel –, sondern indem viele Menschen
umherwandern und auf der Suche nach Abenteuern und Profit über die nächste Furche
schauen.
Wir sollten massive Forschungen in alle Richtungen betreiben, und nicht nur Forschung,
sondern Erschließung, wie es bisher an jeder Frontier funktioniert hat.15
Was uns zum »NewSpace« führt …
3
Aus der Erforschung [des Weltraums] durch den Menschen ergeben sich zwei
aufeinander bezogene Fragen. Erstens: Gibt es da draußen etwas zu tun, das
wirtschaftlich sinnvoll ist, das sich bezahlt macht? Und zweitens: Werden wir, um zu
überleben, vom Land leben und örtliche Ressourcen nutzen können, oder werden wir
immer auf Unterstützung durch die Erde angewiesen sein? Wenn die Antwort beides
Mal ja heißt, wird es Weltraumkolonien, sich selbst erhaltendes Leben außerhalb der
Erde geben können. Wenn die Antwort beide Male nein ist, dann wird der Weltraum wie
der Mount Everest sein. Touristen besichtigen den Mount Everest, und Sherpas mögen
davon leben, aber niemand lebt dort wirklich.
Lautet die Antwort, dass wir vom Land leben können, es aber wirtschaftlich nichts bringt,
ist es wie in der Antarktis. Vierzig Jahre lagen zwischen dem letzten Mal, als wir dort
waren, als Shackleton die Antarktis erreichte und die US-Navy 1912 zurückkehrte. Eine
ähnliche Lücke liegt zwischen dem ersten Flug zum Mond und hoffentlich unserer
Rückkehr dorthin. In diesem Fall also können wir einen Außenposten gründen und dort
leben, wir werden aber fortwährend von Finanzierung abhängig sein, da sich die Technik
nicht von selbst bezahlt. Lautet die Antwort, dass es wirtschaftlich sinnvolle
Unternehmungen gibt, etwa auf dem Mond die Gewinnung von Helium-3, wir aber für
unsere Grundbedürfnisse stets auf die Erde angewiesen sein werden, wird der
Weltraum zu einer Ölplattform in der Nordsee. Man wird dort Geld verdienen können,
wird aber immer in einer feindlichen Umgebung leben.
Dies sind vier radikal unterschiedliche Zukunftsaussichten für den Menschen. Und sie
sind alle Teil einer umfassenderen Frage: Gibt es jenseits der Erde für den Menschen
eine Zukunft? Die Frage hängt eng damit zusammen, ob es im Weltraum irgendwo
intelligentes Leben gibt. Wir können mit Raumsonden und Teleskopen nach Leben
suchen, aber wenn wir feststellen wollen, wo der Mensch überhaupt leben kann,
kommen wir nicht umhin, Menschen in den Weltraum schicken.16
– Scott Pace
Die materielle Basis für eine raumfahrende Zukunft ist nicht nur im
Raum, sondern auch in der Zeit gestrandet. Denn die der
Schwerkraft enthobenen Ressourcen, aus denen sie sich
zusammensetzen würde, sind nicht nur über die einschüchternde
Unermesslichkeit des leeren Raums verstreut, auch die Schwelle, an
der sich in einer autokatalytischen außerirdischen Ökonomie alles
zusammenzufügen begänne, ist von der Welt gegenwärtiger
praktischer Anreize durch fürchterliche Abgründe unberechenbaren
Verlusts getrennt. Um einen alten Witz zu paraphrasieren: Wenn es
gilt, einen Planeten zu verlassen, ist der Planet der denkbar
schlechteste Startpunkt. »Ich kann Ihnen sagen, wie man dort
hinkommt«, bemerkt der Ortsansässige hilfsbereit, »aber von hier
losgehen sollten sie lieber nicht«.
Da draußen zu sein, könnte rasch Sinn ergeben, solange wir
schon da sind. Mit diesem Perspektivwechsel zu experimentieren,
hilft, den treibenden Impuls zu verdeutlichen. Insbesondere zeigt es,
wie nervend Planeten mit ihrer Schwerkraft sind, sodass es schon
viel wert ist, wenn man sich auf keinem befindet. Das ist das
Endspiel, die finale, letztlich alles bewirkende Strategie;
entscheidend dabei ist die Anti-Schwerkraft.
Wird die Schwerkraft erst einmal als natürlicher Archetyp der
Gefangenschaft wahrgenommen, die einen, ob man will oder nicht,
irgendwo festhält, wird die fundamentale Falschheit der terrestrisch-
ökonomischen Beweggründe für die außerplanetarische Expansion
offenbar. Der Grund, im Weltraum zu sein, ist nämlich, im Weltraum
zu sein, befreit von der nervenden Schwerkraft der Planeten, und
sämtliche Vorteile, die sich für die Erdenbewohner auf dem Weg
dorthin ergeben, sind lediglich Trittsteine. Außerplanetarische
Ressourcen, die auf die Erdoberfläche umgeleitet werden,
erscheinen in der Perspektive des Raumfahrers letztlich vergeudet
oder zumindest strategisch geopfert (da eine solche Vergeudung
zwischenzeitlich mit Sicherheit erforderlich sein wird). Im Endeffekt
nämlich vermindert sich der Wert einer Sache proportional zu der
einwirkenden Schwerkraft; der Abstieg vom Himmel ist ein Fall.
Ein weiter gefasster Blick auf die kosmische Entwicklung erhöht
die Auflösung. Man switche in den Schnellvorlauf, bis der Vorgang
der Flucht von der Erde weitgehend abgeschlossen ist, und friere
das Bild ein. Nun lässt sich die Flucht aus der Schwerkraft als
lediglich erster Schritt in einer gründlicheren, antagonistischen
Auseinandersetzung mit der Gravitation und ihren Wirkungen
verstehen. Während Asteroiden und Kometen pulverisiert, abgebaut
oder schwammartig ausgehöhlt werden, bleiben Monde, Planeten
und die Sonne örtliche Problemfälle. Solche Himmelskörper stellen
»Probleme« dar, weil sie den Raum durch Ressourcen
umschließende Gravitationsquellen verformen, die Ressourcen
umschließen, aber ihr Status als Erschließungshindernis lässt sich
noch weiter abstrahieren. Durch ihre eigene Masse zumindest
teilweise von dem entstehenden commercium des erdfernen
Weltraums isoliert, sind diese Welten durch die Schwerkraft zu
annähernd kugelförmigen Körpern geformt worden, das heißt aus
der Erschließungsperspektive zu den mathematisch gesehen
schlimmstmöglichen Formen, da in ihnen das Verhältnis von
(reaktiver) Oberfläche zum Volumen auf ein Mindestmaß reduziert
und somit der Zugang zu den Ressourcen auf denkbar größte Weise
beschränkt ist. In den Tiefen des Alls und weit in der Zukunft wird der
Erschließungsimpuls dahingehen, komplett auf die Vogonenstrategie
zu setzen und diese Welten völlig zu zerstören.
Von außen betrachtet sind Planeten Begräbnisstätten, in denen
wertvolle Mineralien tief unter der Erde liegen. Gräbt man
beispielsweise durch den Erdmantel bis hinunter zu seinem inneren
Rand, 3000 Kilometer unter der Oberfläche, gelangt man zu einer
unter Hochdruck stehenden Eisen-Nickel-Lagerstätte, deren
Durchmesser mehr als 6500 Kilometer misst – eine in das
Planetengewölbe versenkte Metallkugel von ungefähr 160 000 000
000 Kubikkilometern Größe, gedopt mit genug Gold und Platin, um
damit die gesamte Erdoberfläche einen halben Meter dick zu
überziehen. Für eine mäßig fortgeschrittene außerirdische
Zivilisation, die über die Praktikabilität ihrer ersten, einen gesamten
Planeten ins Auge fassenden Sprengung nachdenkt, würde dieser
begrabene Ressourcenschatz, für den Fall, dass er ungehoben
bliebe, roboter-industrielle Opportunitätskosten zur Folge haben, die
konservativ geschätzt bei etwa 1,6 x 1023 Einheiten starker KI liegen,
ein Mineralvorrat, der ausreichen würde, eine Billion sich selbst
replizierender empfindungsfähiger Sonden für jeden Stern der
Galaxie herzustellen. (Selbst inbrünstige Naturschützer müssen
anerkennen, wie schmackhaft dieser Leckerbissen ist.)
Der Lift-off, der Raketenstart, ist demnach lediglich eine Vorstufe
des ersten ernst zu nehmenden Plateaus der
Antigravitationstechnologie, die auf die tiefer gehende produktive
Aufgabe ausgerichtet ist, die Dinge auseinanderzuziehen, um
vergleichsweise träge Massekugeln in flüchtige Wolken kultureller
Substanz umzuwandeln. Ausgehend von einer auf Fusion
beruhenden Energieinfrastrukturphase wird dieses erste Stadium der
außerplanetarischen Erschließung in der Demontage der Sonne
gipfeln, durch die die absurd verschwenderischen Kernprozesse der
Hauptreihe beendet sowie die solaren Brennstoffreserven geborgen
werden – womit das erweckte Sonnensystem seinen Beitrag zur
techno-industriellen Verdunkelung der Galaxie leisten wird. (Wenn
kein Wasserstoff mehr vergeudet wird, werden die Lichter
schwächer.)
Man denke ein paar Sekunden lang an die ökonomische
Gereiztheit, die beim Anblick einer Ölquelle aufkommt, an der
aufgrund purer gedankenloser Inkompetenz Erdgas abgefackelt
wird, und wende dann seinen Blick zur Sonne. »Nicht nachhaltig«
wäre geradezu ein Euphemismus. Offenkundig ist diese
Energiemaschinerie völlig wahnsinnig und kommt einer
azathothischen Orgie verschütteter Photonen gleich. Der gesamte
Apparat muss daher mittels einer extremen solarchirurgischen
Operation auseinandergenommen werden. Da dieses Projekt jedoch
bisher noch nicht ausreichend durchdacht wurde, lassen sich die
technischen Details im Augenblick getrost noch ausklammern.
Die dem Antischwerkraftvektor folgende unerbittliche Logik
technischindustrieller Effizienz bringt mit sich, dass die einzige
schlüssige Motivation für das Verlassen der Erde die Demontage der
Sonne ist (und des Sonnensystems insgesamt), doch wird dies nicht
unbedingt Anklang finden. Wenig überraschend also, dass
diejenigen, die sich politischen Realitäten, Medienwahrnehmungen
und Öffentlichkeitsarbeit gegenüber als empfänglich zeigen, eher
anderes im Sinn haben und sich die Erde als Bestimmungsort für
kosmische Exporte oder – unmittelbarer – für saftiges
steuerbegünstigtes Schweinefleisch17 ausmalen, anstatt in ihr ein
kniffliges, aber höchst lohnendes Abrissproblem zu sehen.
In der öffentlichen Debatte fehlt daher ganz eindeutig das offene
Eingeständnis, dass »(seien wir ehrlich, Leute) Planeten
Fehlallokationen von Materie sind, die nicht wirklich funktionieren.
Keiner möchte es aussprechen, aber es ist wahr. Ihr wisst alle, dass
wir die grüne Bewegung über alle Maßen respektieren, aber sobald
wir da rausgehen und die Umgestaltung des Sonnensystems in
Angriff nehmen und bestimmte rigide, sehr radikale umweltpolitische
Haltungen sich uns in den Weg stellen – Gaia-Überlebenskünstler,
terrestrische Ganzheitslehre, planetarisches Bewahrertum und
dergleichen –, dann, das muss hier ganz klar gesagt werden,
bedeutet dies, dass keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, keine
Unternehmen aufgebaut werden, dass im Asteroidengürtel Fabriken
schließen müssen und kein Wachstum mehr stattfindet. Die Erde
intakt zu halten, bedeutet, dass Geld versenkt wird, sehr viel Geld,
und zwar euer Geld. Es gibt Leute, aufrichtige, gute Leute, die sich
unseren Plänen, die Erde vorsätzlich zu zerschlagen,
entgegenstellen. Ich verstehe das, ja, wirklich; wisst ihr, ehrlich
gesagt habe ich früher auch so gedacht, noch gar nicht so lange her.
Auch ich wollte glauben, dass man die Erde erhalten kann, in einem
Stück, so wie sie seit Milliarden Jahren existiert. Auch ich war der
Meinung, dass es so, wie wir es schon immer gehandhabt haben,
am besten sei, dass dieser Planet unsere Heimat sei, dass wir eine
Alternative finden sollten und könnten, bevor wir ihn
auseinandernehmen. Ich entsinne mich dieser Träume, wirklich, und
hüte sie in meinem Herzen. Aber Leute, es waren eben nur Träume,
alte und noble Träume, nichts anderes als Träume, und heute stehe
ich hier, um euch zu sagen, dass wir endlich aufwachen müssen.
Planeten sind nicht unsere Freunde. Sie sind die Bremsschwellen
auf dem Weg in die Zukunft, und wir können sie uns einfach nicht
mehr leisten. Lasst sie uns digital abspeichern, mit allem Respekt,
ja, mit aller Liebe und dann, dann machen wir uns an die Arbeit …«
[donnernder Applaus].
Da im jetzigen Stadium außerirdischer Aspirationen mit allzu
großer Nähe zu den Befürwortern des kosmischen
Desintegrationismus vernünftigerweise kein Blumentopf zu gewinnen
ist, kann man getrost davon auszugehen, dass jeglicher Rhetorik
dieser Art ein Riegel vorgeschoben wird. Wenn allerdings solcherart
Visionen oder folgerichtig weitergedachte Antigravitationskonzepte
fehlen, wird der Impuls, die Erde zu verlassen, zur Willkür, zur
Substanzlosigkeit und zur sprachlichen Unaufrichtigkeit verdammt.
Wenn es an einem entschiedenen Sinn für etwas anderes mangelt,
warum dann nicht weitermachen? Das Ganze läuft, vielleicht
vorhersehbar, darauf hinaus, dass über außerirdische Projekte
sozusagen der Mantel des Schweigens gebreitet wird, sogar dort,
wo es um überaus begrenzte, unmittelbare und praktisch
unbedenkliche Varianten geht.18
Wenn aber die Flucht von der Erde und allgemein aus dem
Gefangensein in der Schwerkraft kein vernünftiger Zweck, sondern
nur ein Mittel ist, wo soll dann die Motivation herkommen? In diesen
engen, fürchterlich verformten Spalt der Weltraumaspiration muss
sich der NewSpace einschmuggeln. Dabei von »Unaufrichtigkeit« zu
sprechen, mag unangemessen hart klingen, besteht doch kein
Anlass, eine bewusste Täuschung oder auch nur eine sorgfältig
abgewogene Zurückhaltung zu vermuten, wenn die Fürsprecher des
NewSpace ihre Pläne skizzieren. Gleichwohl deutet sich in jedem
avancierten Projekt eine Hüllstruktur der Implausibilität an, die sich in
der Inkommensurabilität der Größenordnung des Unterfangens mit
den Belohnungen, durch die es angeblich angespornt wird,
niederschlägt. Weltraumtourismus, Asteroidenbergbau,
Mikrogravitationsexperimente und -fertigung … im Ernst? Soll man
sich wirklich vorstellen, dass diese armseligen Ziele einen
langwierigen Kampf gegen die irdische Gravitationsfalle
abschließend oder ausreichend motivieren und nicht als dürftiger
Vorwand oder fragile Rationalisierung zum Zwecke weit
spannenderer, aber nebliger, unartikulierter oder sogar
unerwartetere Ziele dienen?
Wenn diese Frage rückblickend und nach außen gerichtet gestellt
wird, gewinnt sie an Kraft. Rückblickend auf den Mond bezogen und
nach außen Richtung Mars gehend, wird die Hypothese immer
zwingender. Keine dieser »Missionen« war oder ist besonders
sinnvoll, höchstens insofern, als sie als Abbreviaturen für einen
größeren verdeckten Impulses dienen. Weltraumaktivität ist kein
Mittel für ein gestecktes Ziel, sondern das Ziel, dem es durch eine
Abfolge von Missionen näherzukommen gilt und dessen genauer
Inhalt deshalb abgeleitet ist und keine intrinsische Bedeutung
besitzt. Sobald der unartikulierte Schub nach außen nachlässt und
nur noch von einer beliebigen außerirdischen Destination
repräsentiert wird, löscht die rasch deutlich werdende schiere
Absurdität selbst noch den letzten, glimmenden Funken einer
allgemeinen Motivation aus. Vier Jahrzehnte eines expliziten
Mondnihilismus sprechen hier eine deutliche Sprache.
Die partielle Privatisierung der Weltraumaktivitäten (»NewSpace«)
verdrängt zwar kreativ das Problem der Zweckbestimmung, aber sie
räumt es nicht endgültig aus. NewSpace ersetzt bis zu einem
gewissen Grad die politische Rechtfertigung einer konzentrierten
öffentlichen Bürokratie durch die ökonomischen Motive
verschiedener privater Akteure und mindert somit den Druck,
kohärente, kommunizierbare und einvernehmliche Ziele zu
behaupten. Die Raumfahrtambitionen sind nun frei, das zersplitterte,
umkämpfte Terrain zu betreten, in dem Idiosynkrasie, Vielfalt,
Experimentierfreude und sogar privat finanzierter Leichtsinn walten.
Vorstellbar ist sogar, dass Ernsthaftigkeit zu einer optionalen Sache
wird.
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass das
Grundproblem fortbesteht. Die terrestrische Gravitationsquelle
erzeugt eine Spaltung zwischen der Oberfläche der Erde und dem
»Orbit« (oder was jenseits davon liegt) und privates Kapital ist von
dieser Kluft nicht weniger stark betroffen als die »öffentliche«
Hardware des Raketenstaates. Zwar lässt sich Kapital zeitweilig in
feste gespeicherte Werte umwandeln, es ist aber ein zutiefst
modernes Phänomen, das in der industriellen Revolution entstanden
und durch die Umleitung des unmittelbaren Verbrauchs in eine
»Karussell«-Produktion, das heißt in die Maschinerie, charakterisiert
ist. Es wird vermehrt oder akkumuliert, indem es durch Maschinen
oder Geräte zirkuliert, und so besehen erzwingt die
Gravitationsquelle eine Entscheidung: Soll das NewSpace-Kapital
ohne Abstriche in den Weltraum investiert werden?
Ein seriöses Weltraumprogramm ist im Grunde genommen und
irreduzibel ein Prozess der Evakuierung der Erde. Es macht eine
konsequente Umlagerung (oder Verlagerung) von Unternehmen,
Ressourcen und Produktionspotenzialen von der Erde in den
Weltraum erforderlich, zumindest bis die Schwelle erreicht ist, an der
extraterrestrische Autokatalyse möglich wird. Ab diesem Zeitpunkt
findet ein Bruch statt und es etabliert sich eine autonome, nicht
erdgebundene Ökonomie. Gleich wie die (wahrscheinlich
beträchtlichen) Möglichkeiten zur Verschleierung auch ausfallen, die
Grundsatzentscheidung wird davon nicht tangiert. Die Anhäufung
eines irdischen Vermögens ist nicht das Gleiche wie eine
nachhaltige Investition in eine extraterrestrische industrielle
Infrastruktur und ist mit dieser mit ziemlicher Sicherheit wirtschaftlich
unvereinbar. Entweder wird Material unwiderruflich in den Weltraum
verlagert oder nicht.
4
In Anerkennung des Startvorteils, den die Sowjets mit ihren großen Raketentriebwerken
erlangt haben und der ihnen viele Monate Vorsprung verschafft, und wissend, dass sie
diesen Vorsprung wahrscheinlich noch einige Zeit für weitere beeindruckende Erfolge
nutzen werden, sehen wir uns gleichwohl selbst zu neue Anstrengungen aufgefordert.
Denn auch wenn wir nicht garantieren können, eines Tages die Ersten zu sein, können
wir doch garantieren, dass wir, wenn wir diese Anstrengungen unterlassen, die Letzten
bleiben. Wir gehen ein zusätzliches Risiko ein, weil wir all dies vor den Augen der Welt
unternehmen, doch wie die beachtliche Leistung des Astronauten Shepard gezeigt hat,
werden wir im Falle des Erfolgs durch dieses Risiko an Statur gewinnen. Aber dies ist
nicht nur ein Wettlauf. Der Weltraum steht uns jetzt offen; und unser Eifer, seine
Bedeutung aufzudecken, wird nicht von den Bemühungen anderer bestimmt. Wir gehen
in den Weltraum, denn an dem, was immer sich der Menschheit an Unternehmungen
bietet, müssen freie Menschen teilhaben […]. Ich glaube, diese Nation sollte sich zum
Ziel setzen, noch vor Ende des Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond zu landen
und sicher zur Erde zurückzubringen.19
– John F. Kennedy
Die Besonderheiten des »Wettlaufs ins All« müssen sich erst noch in
ihrer ganzen Bedeutung entfalten. Formalisiert wie er ist und indem
er die Weltraumambitionen auf einen zweiseitigen internationalen
Wettbewerb reduziert, den ersten Menschen auf den Mond zu
schicken, verdankt er sich rückblickend offenbar mehr der Kultur und
der Geschichte des organisierten Sports als der technologischen
und wirtschaftlichen Errungenschaften. Es würde, wie es sich gehört,
einen Gewinner und einen Verlierer geben, das heißt eine
konventionelle und unbestreitbare boolsche Entscheidung. Dann
wäre alles vorbei. Vielleicht stellte man sich vor, dass das Ganze viel
weiter führte, aber der Mond war tatsächlich eine Ziellinie.
In einem umfassenderen geostrategischen Kontext war der
Wettlauf im Weltall das Symptom einer thermonuklearen
Pattsituation. Eine moderne Geschichte der Kriegsführung, die sich
unerbittlich von einem maßvollen Spiel zwischen Prinzen
unaufhaltsam zu einem entfesselten totalen Krieg zwischen
ideologisch mobilisierten Völkern entwickelt hat, welche ihre
grundlegenden Institutionen, industriellen Infrastrukturen und sogar
demografischen Ursprünge wechselseitig ins Visier nahmen, war mit
dem Gleichgewicht des Schreckens, dem Potenzial rascher
gegenseitiger Vernichtung, praktisch an ihr Ende gekommen. Unter
diesen Umständen war eine regressive Sublimation gefordert, wobei
der Konflikt durch ritterliche Repräsentanten – oder sogar
homerische Helden – ausgefochten wurde, die im Namen der
supertödlichen und durch sie zugleich befriedeten Bevölkerungen
miteinander wetteiferten. Der Weltraumflug eines Astronauten
symbolisierte den Antagonismus und trat an die Stelle des
Atomschlags. So besehen war der Sieg im Weltraumrennen eine
dürftig getarnte Vorleistung auf den Ausgang des Kalten Kriegs.
Diese Sublimation stellt jedoch nur die halbe Geschichte dar,
insofern eine doppelte Verschiebung stattfand. Während der
Wettlauf im Weltraum ein militärisches Resultat durch ein formales
(ritterliches) Ergebnis ersetzte, marginalisierte er zugleich die lange
gehegte Aussicht auf eine informelle Besiedlung des Weltraums und
substituierte sie durch ein vornehmlich konventionelles (oder
soziopolitisches) Ziel. Der Preis für den eindeutigen symbolischen
Triumph war ein »Triumph«, der in die reale Uneindeutigkeit des
(bloßen) Symbolismus zurückfiel, an den sich schon bald
realitätsverleugnende, postmoderne Mondverschwörungstheorien
anschlossen. Wie könnte es anders sein, wenn nichts gewonnen ist,
außer dem Gewinn selbst. Ein Champion ist schließlich beileibe kein
Siedler.
Worin besteht diese reale Uneindeutigkeit? Sie beginnt an der
Frontier mit einer Reihe von Fragen, die über die Bedeutung des
Wettlaufs im All hinausgehen und bis in die amerikanische Identität
hineinreichen. Als Land, dass während der Neuzeit besiedelt wurde
und deshalb vollständig von der Dynamik des Kolonialismus
bestimmt ist, hat sich Amerika von einer Grenze aus kondensiert.
In Klammern sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die
Urbevölkerung des Kontinents noch nicht Amerika darstellte,
sondern etwas Vorhergehendes und anderes, das an der Frontier
angetroffen wurde. Die Idee eines »Native American« ist, falls es
sich nicht bloß um ein gedankenloses Oxymoron handelt, ein
Manöver historischer Falschadressierung. Das soll nicht heißen,
dass diese Bevölkerungsgruppen außerstande waren, amerikanisch
zu werden, wozu es im Zuge der Entstehung Amerikas in der
Neuzeit tatsächlich viele brachten. Indem sie immer wieder neue
Formen der Sezession erfanden, waren sie sogar in einigen Fällen in
der Lage, radikal amerikanisch zu werden. Ein im Indianerreservat
betriebenes Kasino, das institutionell dem Internal Revenue Service
(IRS, die amerikanische Steuerbehörde) entzogen ist, ist in einem
Sinn, der (hoffentlich) deutlich werden wird, bei Weitem
amerikanischer als die Federal Reserve.
Die Gründung Amerikas war eine Flucht ins Grenzland, die ihre
Trajektorie des Auswegs in einen sich ständig zurückziehenden
Raum oder offenen Horizont projizierte; die Zukunft wurde Geografie
und erst danach zu einem politischen Territorium. Dieses originäre,
informelle und in seinem Wesen obskure räumliche Projekt ist so alt
– exakt so alt – wie Amerika selbst. Wie Frederick Jackson Turner
bereits 1893 feststellte, ist für Amerika die offene Frontier eine
existenzielle Notwendigkeit, will heißen die Grundbedingung
amerikanischer Existenz. Sobald sich die Frontier schließt,
übernehmen die Grenzen die Oberhand, Exzeptionalität verkümmert
zu inhaltsleerer Rhetorik (oder schlimmer, zu ihrem
neokonservativen Faksimile) und die Nekrose setzt ein.
So besehen lässt sich Amerika nicht bloß als ein Staat mit einem
Weltraumprogramm aufrechterhalten. Es braucht einen offenen
Horizont, einen, der notfalls über die Erde hinausreicht und groß
genug ist, seinen konstitutiven Prozess der Kolonisierung zu
verlängern. Nur an und jenseits dieser Frontier hat Amerika eine
Zukunft, obwohl »die USA« auch ohne sie bequem (oder bequemer)
weiterbestehen könnte. Aus diesem Grund also wurde der »Mythos«
der Frontier, des Grenzlands, spontan um extraterrestrische
Horizonte erweitert, die als wesentlich amerikanische Perspektive
betrachtet werden. (Die NASA und ihre Werke sind dabei bestenfalls
nebensächlich.)
Diese Behauptung mag den Vorwurf leichtfertiger Polemik auf
sich ziehen, und so lohnt es, sie sich in einem ruhigeren Tempo noch
einmal vor Augen zu führen. Auch wenn man wiederholt, dass
Amerika nicht das Gleiche ist wie die USA – und tatsächlich das
genaue Gegenteil darstellt –, ergeben sich offensichtliche Einwände.
Ist das russische Raumfahrtprogramm weltweit betrachtet nicht das
wirtschaftlich plausibelste? Ist die jüngste Aufwärtskurve der
chinesischen Weltraumaktivitäten nicht bei Weitem steiler? Haben
nicht die Vereinten Nationen den Anspruch formuliert, der Himmel
gehöre der gesamten Menschheit? Was, außer einem
kulturhistorischen Unfall und der daraus resultierenden
ungerechtfertigten Arroganz, könnte den Weltraum zu einer
»wesentlich amerikanischen Perspektive« machen?
Der Kontrapunkt zu all diesen Einwänden ist der Kolonialismus in
seiner radikalen, außergewöhnlichen amerikanischen Ausprägung.
Der Kolonialismus dieser ultimativen Spielart konsolidiert sich von
der Frontier her und durchläuft revolutionäre Schwellen eines ganz
bestimmten Typs: Unabhängigkeits- oder Sezessionskriege (statt
umfassender Regimewechsel), die eher prokolonialer als
antikolonialer Natur sind. Die Kolonie, als Kolonie, spaltet sich ab
und kreiert damit eine neue Gesellschaft. Erfolgreiche Beispiele
solcher Ereignisse sind extrem selten – sogar singulär oder
außergewöhnlich. Es gibt Amerika, und es gibt die »hoffnungslosen
Fälle« mit beträchtlichen (und zunehmenden) Überlappungen.
Was hat dies alles, jenseits einer impressionistischen Analogie,
mit dem Weltall zu tun? Das verbindende Element ist die
Schwerkraft. Die Unterscheidung von Erdoberfläche und
extraterrestrischem Raum ist ein effektiver Gegensatz oder ein
praktisches Problem, das sich technologisch recht genau
quantifizieren (Verhältnis von Treibstoff zu transportierter Nutzlast)
und ökonomisch aufsummieren lässt. Zum Vergleich: Der
Gütertransport über den Pazifik kostet auf dem Luftweg $ 4/kg oder
$ 0,16/kg mit Containerschiffen auf dem Seeweg ($ 3500 per TEU
oder 21 600 kg). Ein Kilo Fracht in die erdnahe Umlaufbahn (LEO)
zu schießen, kostet hingegen $ 4000 (mit dem Space Shuttle waren
es sogar $ 10 000). Ein Riss, wenn man so will: ein immenses
strukturelles Nachschubproblem, dass überwältigende Anreize zur
wirtschaftlichen Autarkie setzt. Jedes Kilogramm extraterrestrisch
hergestellter Produkte hat schon $ 4000 eingespart, bevor überhaupt
mit dem Rechnen angefangen wird. Im Weltall ist der Riss der
Unterschied ums Ganze: eine kalte Realität der Abnabelung.
Wie auch immer der koloniale Impuls für den American Way –
Abtrennung und gesellschaftliche Neugründung – sich ausnehmen
mag, er wird in der erdnahen Umlaufbahn und weiter im All um ein
Vielfaches verstärkt. In einem Umfeld also, das, wie von Science-
Fiction-Autoren schon lange erkannt, für einen revolutionären
Kolonialismus wie maßgeschneidert ist. Umgekehrt bietet sich eine
viel offensichtlichere Schlussfolgerung an: Da die Entwicklungen
jenseits des Risses ihrem Wesen nach unkontrollierbar sind, besteht
für politisch-wirtschaftliche Akteure auf der Erde keine plausible
Motivation, die Entstehung erdferner Gesellschaften zu finanzieren,
die sich auf einem unaufhaltsamen Weg in die Unabhängigkeit
befinden, dabei mit gefräßigem Appetit Ressourcen verbrauchen,
sich einen Fluchtweg freischlagen und schließlich die
Leerfundamente für eine konkurrierende, in ihrer Art radikal
andersartige und daher unberechenbar bedrohliche Zivilisation
legen.
Daraus folgt klar, dass sich eine Status-quo-Politik der
Weltraumkolonisierung nahezu vollständig darin äußert, dass keine
Weltraumkolonisierung stattfindet. Besieht man das »Scheitern«
großangelegter Weltraumkolonisierungsprojekte im Zusammenhang
mit der ausgeblendeten Unterströmung der Frontier-Analogie –
gesellschaftliche Spaltung durch revolutionären Kolonialismus oder
Unabhängigkeitskriege –, erscheint es in einem völlig anderen Licht:
Es entpuppt sich als höchst rationale Entschlossenheit der
mächtigsten Territorialstaaten der Welt, die Entwicklung
soziotechnologischer Potenziale zu hemmen, in denen sich eine
»amerikanische« (revolutionär koloniale) Tendenz abzeichnet.
In einer Welt, die austauschbare antikolonialistische und
antiimperialistische Deklarationen gewohnt ist, sind die Modalitäten
dieser Analyse natürlich zunächst beunruhigend. Wenn sie aber von
den Verwirrungen und Vermischungen einer gestörten Peripherie
losgelöst werden, ist das Muster überzeugend. Kolonisten sind
naturgemäß auf der Flucht vor der Metropole. Von diesem
Eingeständnis bis zu der Erkenntnis, dass sie zu unabhängigem
Handeln, gesellschaftlicher Spaltung und zur politischen Zersetzung
neigen und dabei Tendenzen folgen, die Imperialisten ebenso
unvermeidlich zu beschneiden suchen, ist es nur ein kleiner Schritt.
Da die Kolonisierung streng genommen eine kulturelle und
demografische Transplantation darstellt, erlangt sie ihre
Expansionsbedeutung erst, wenn sie von imperialer Vorherrschaft
gebändigt wird. Auch wenn die Ausdrücke kolonial und rebellisch
keineswegs synonym sind, ziehen sie sich doch gegenseitig an, und
zwar in einem Verhältnis, das dem Riss, der die Kolonie vom
Mutterland trennt, annähernd proportional ist. Eine koloniale
Unternehmung ist eine Rebellion der praktischsten und
produktivsten Art, die entweder eine Rebellion aus der Zeit in den
Raum verpflanzt oder sich als Rebellion vollendet, die eine
Expedition in eine Flucht umwandelt. Seit in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts der Imperialismus über den
Kolonialismus triumphierte, hat sich dieses Bezugssystem –
schwach ausgeprägt zwar und weitgehend durch den Aufstieg eines
Imperialstaates überdeckt – nur in (und als) Amerika gehalten.
Es ist daher hilfreich, prinzipiell (mit minimaler moralischer
Erregbarkeit) zwischen einem kolonialen Weltraumprojekt, das auf
extraterrestrische Besiedlung ausgerichtet ist, und einem imperialen
Weltraumprogramm (oder einer imperialen Weltraumpolitik) zu
unterscheiden, das darauf abzielt, die terrestrische Kontrolle über die
Entwicklung außerhalb des Planeten sicherzustellen, die politische
Integrität zu erhalten und so die Rendite von Investitionen über den
Riss hinweg zu sichern. Aus Sicht des Territorialstaates wäre ein
(imperiales) Weltraumprogramm, das außerhalb des
Schwerkraftfelds der Erde wirtschaftlichen Wert generiert, ideal.
Allerdings würde es sich dabei um eine Ambition handeln, die durch
keinerlei historische Präzedenzfälle gestützt und zudem durch eine
riesengroße gähnende ökonomische Kluft vereitelt wird. Die
zweitbeste und relativ zufriedenstellende Lösung ist schlicht die
Verhinderung kolonialer Weltraumprojekte, wobei das politische
Weltraumtheater durch eine aufwändige (aber risikoarme und
erschwingliche) Alternative ersetzt wird. Hin und wieder ein Mensch
auf dem Mond stellt keine sonderliche Bedrohung für die Ordnung
der Welt dar, solange wir ihn »sicher zur Erde zurückbringen«.
Amerika war eine Flucht aus der Alten Welt, und diese Definition
reicht aus, um zu beschreiben, was es immer noch ist – insofern es
noch ist – und was es sein kann, alles, was es sein kann, was auch
jede Flucht aus der neuen alten Welt, wenn sie richtig benannt wird,
sein könnte. Von den Schatten der dunklen Aufklärung konturiert, ist
Amerika das Problem, das die USA angetreten war, zu lösen, die
Tür, die sie schließt, der richtige Name für eine Gesellschaft, die aus
der Flucht entstanden ist.
Was Nietzsche so nie gesagt hat: Werde ich verstanden? Amerika
gegen Stars and Stripes …
DESINTEGRATION
Einer bestimmten Auslegung der Kulturgeschichte zufolge, der die
Naturwissenschaften anscheinend häufig anhängen, wird die
Religion im Wesentlichen als vorwissenschaftliche naturkundliche
Erklärung aufgefasst. In dieser Sicht sind Religionen vergleichsweise
primitive Kosmologien. Das ist auch der Grund, warum sie gegen
den wissenschaftlichen Fortschritt so schlecht gefeit sind. Ein Galileo
oder ein Darwin dringt in ihr Zentrum ein und trifft sie tödlich ins
Herz. Soziologisch etwas verschwommen wird die »Wissenschaft«
als natürliche Nachfolgerin der Religion angesehen.
Für wie plausibel oder unplausibel dieses Erklärungsmodell auch
gehalten werden mag, es ist von Bedeutung. Es liefert der
Vormachtstellung der Wissenschaft den Gründungsmythos.
Entscheidend dabei: Diese mythische Kraft beruht nicht auf einer
strengen wissenschaftlichen Validierung. Niemand hat je die
Notwendigkeit verspürt, sie zu überprüfen. Alles Vormoderne – und
selbst zutiefst Archaische – läuft durch sie hindurch. Sie bietet eine
stille Infrastruktur tiefen Glaubens.
Von »mythischer Wissenschaft« zu sprechen, ist weder sonderlich
skeptisch noch unbedingt polemisch. Denn damit
Wissenschaftsideen zum Mythos werden, bedarf es neben der ihnen
zuerkannten erkenntnistheoretischen Gültigkeit auch der kulturellen
Wirksamkeit. Wissenschaftskonzepte werden nicht weniger
wissenschaftlich, wenn sie mythisch werden. Allerdings gelingt es
ihnen mitunter, eine mythische Kraft aufrechterhalten, die zu ihrer
streng wissenschaftlichen Legitimität in keinem Verhältnis steht. Das
weltanschauliche Dach jeder Kultur ist eine mehr oder weniger
wissenschaftliche Kosmologie.
Dies zu vermitteln, kam ursprünglich dem Wort »Natur« zu. Es
propagiert ein ultimatives Objekt kognitiver Affirmation. Das ist, was
wir glauben. So ist die Welt und nicht anders (oder nur anderswo
anders).
Wir fragen hier also als unschuldige wissenschaftliche Heiden:
Wie ist die Welt beschaffen?
Die beste gegenwärtige Kosmologie ist akzelerationistisch und
desintegrationistisch. Grob gesagt – und letztlich nicht stichhaltig –
dehnt sich das Universum immer schneller und weiter aus. Anstatt
nach der anfänglichen Explosion durch die Schwerkraft abgebremst
zu werden, steigert sich die kosmische Aufblähung noch. Eine
unbekannte Kraft überwindet die Gravitation und verschiebt alle
entfernten Objekte in den Rotbereich. Diese Kraft, die erst vor
Kurzem als »dunkle Energie« bezeichnet wurde, macht vermutlich
siebzig Prozent der physikalischen Wirklichkeit aus.1 Verglichen mit
dieser gut bestätigten Entdeckung beschleunigter Fragmentierung
wirkt die Vorstellung eines integralen »Universums« zunehmend wie
ein unhaltbares mythologisches Relikt. »Unhaltbar« selbst im Sinne
eines in sich schlüssigen wissenschaftlichen Mythos, und auch aus
eher praktischen Gründen.
Der Entfernung, aus der Informationen in einer beliebigen
Zeitspanne empfangen oder gesendet werden können, sind durch
die Lichtgeschwindigkeit Grenzen gesetzt. Durch diesen
»Lichtkegel« bestimmt sich für jede Entität der Raum-Zeit-Horizont
der Wirklichkeit. Jenseits davon gibt es nur das absolut Unsagbare.
Ein Lichtkegel ist daher unter anderem eine strikte Begrenzung einer
als praktische Einheit verstandenen Machtprojektion. Der Prozess
führt von der allgemeinen Relativität zur absoluten Desintegration.
In seiner Geistesgeschichte der Relativitätsphysik2 verbindet
Peter Galison das Problem der Relativität mit dem der Organisation
eines Imperiums. Synchronisierung ist die Voraussetzung für
anspruchsvolle Koordinationsprozesse. Selbst unter (kompakten)
terrestrischen Bedingungen würde die extreme Endlichkeit der
Lichtgeschwindigkeit für die Steuerung im globalen imperialen
Maßstab ein erhebliches technisches Problem darstellen.
Insbesondere telegrafische Netzwerke würden technische
Korrekturen von Relativitätseffekten erforderlich machen.
Extrapolieren wir, können wir sehen, dass Herrschaft immer nur in
der Lage ist, Fluchtbewegungen zu maskieren. Ein kosmisches
Imperium kann es nicht geben. Das Weltall wird es nicht zulassen.
Solange diese Tatsache nicht mythologisiert wird, ist sie reine
Science-Fiction.
Dunkle Energie reißt das Weltall auseinander. Seine Bestandteile
werden irgendwann aus den Lichtkegeln der jeweils anderen
verschwinden. Dann werden sie einander nie wieder etwas
bedeuten. Das ist eine Erkenntnis von außerordentlicher Tragweite.
Auf der höchsten Stufe empirischer Objektivität hat die Einheit keine
Zukunft. Das »Universum« ist ein unrealistisches Modell. Alles, was
heute über das Weltall bekannt ist, legt nahe, dass seine Grundlage
die Fragmentierung ist.
Die Kosmologie liefert also ein Modell der Desintegration, dessen
extreme Ausprägung bemerkenswert ist. Es handelt von Teilen, die
außer ihrer Vergangenheit nichts gemeinsam haben und in die
absolute Nichtkommunikation getrieben werden. Keine politische
Abschottungsidee ist jemals bis an ein solches Limit gegangen.
Faszinierende Ergebnisse fallen uns aus dieser Extrapolation zu.
Die kosmologischen Beweise, auf die unsere wissenschaftliche
Tradition zurückgreifen konnte, werden irgendwann nicht mehr
verfügbar sein. Eine künftige intelligente Spezies wäre dann nicht
mehr imstande, auf Grundlage empirischer Daten ein mit dem
unsrigen vergleichbares Modell des Universums zu entwerfen. Was
einmal als Ganzes galt, wäre – für diese Spezies – in Wirklichkeit
nurmehr ein Fragment (wie wir inzwischen schon beobachten
können). Ferne galaktische Cluster wären zu Gegenständen reiner
Spekulation geworden. Die Möglichkeit empirischer Wissenschaft
wäre damit nachweislich in Raum und Zeit begrenzt gewesen.
Geoff Manaugh nennt dies »die künftige Amnesie«. In Bezug auf
einen Vortrag des Science-Fiction-Schriftstellers Alastair Reynolds
bemerkt er:
Während sich das Universum über Hunderte Milliarden Jahre ausdehnt, erklärt
Reynolds, wird es, in fernster Zukunft, an einen Punkt kommen, an dem alle Galaxien so
weit voneinander entfernt sind, dass sie untereinander nicht mehr sichtbar sind. […]
Wenn dieser Punkt erreicht ist, wird es nicht länger möglich sein, die Geschichte des
Universums zu verstehen – vielleicht noch nicht einmal, dass es je eine solche hatte –,
da alle Indizien eines größeren, außerhalb der eigenen Galaxie liegenden Kosmos für
immer verschwunden sein werden. Kosmologie selbst wird unmöglich sein. […] In einem
derart radikal ausgedehnten zukünftigen Universum, so Reynolds, werden einige der
grundlegendsten Einsichten, die die aktuelle Astronomie zu bieten hat, nicht mehr zur
Verfügung stehen. »Die Rotverschiebung der Galaxien lässt sich nun einmal nicht
messen, wenn man keine Galaxien mehr sehen kann. Und wenn man keine Galaxien
mehr sehen kann, wie soll man dann wissen, dass sich das Universum ausdehnt? Wie
würde man dann feststellen können, dass das Universum einen Ursprung hatte?«3
Reynolds bezog sich auf einen von Lawrence M. Krauss und Robert
J. Scherrer 2008 im Scientific American veröffentlichten Artikel mit
dem Titel »The End of Cosmology?«. Eine Zusammenfassung des
Textes lieferte der Untertitel: »Ein sich beschleunigendes Universum
eliminiert die Spuren seines Ursprungs«.
Die Extrapolation lässt sich noch weiter treiben. Denn wenn sich
für eine Wissenschaftskultur der fernen Zukunft annehmen lässt,
dass sie strukturell jener Beweise beraubt ist, die für die
Bestimmung der Größe des Weltalls wesentlich sind, wie können wir
dann davon ausgehen, dass sich unsere Situation fundamental
davon unterscheidet? Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass die
absolute oder unüberwindliche Ortsgebundenheit der
Wissenschaftsperspektive grundsätzlicher Natur ist? Wie
wahrscheinlich ist es, dass wir – prinzipiell – eine universelle Sicht
haben, wenn wir bereits beobachten können, dass andere in der
Zukunft dazu nicht mehr befähigt sein werden? Auf der Basis
verfügbarer Beweise müssen wir eine zukünftige Zivilisation ins
Auge fassen, die sich über ihre eigene strukturelle Engstirnigkeit
zutiefst täuscht und auf ihre Fähigkeit vertraut, die perspektivische
Beschränkung endgültig abzuschütteln. In einer solchen Kultur dürfte
von den angesehensten wissenschaftlichen Köpfen erwartet werden,
dass sie jegliche Andeutung auf unzugängliche Bereiche des
Kosmos als grundlose Metaphysik verwerfen. Dass wir ein solches
Szenario nicht auf uns zurückspiegeln, dürfte der reinen Hybris
geschuldet sein. Wenn eine universelle Kosmologie sich in Zukunft
als unmöglich erweist, sollte die Standardhypothese dann nicht
lauten, dass sie es heute schon ist?4
Die Naturwissenschaft ist in ihrer Struktur tragisch. Einfach ihren
grundlegenden Methoden folgend, stößt sie – und zwar in der
Kosmologie – auf ein triftiges Indiz für ihre eigene weitreichende
Unzuverlässigkeit. Universelle Einsichten mittels rigoroser
empirischer Untersuchungen zu gewinnen, scheint schon
kosmologisch ein Ding der Unmöglichkeit.
Somit bleibt die Wissenschaft letztendlich an eine grundlegende
Lokalisierung gebunden. Bei der »Lokalität«, um die es hier geht,
handelt es sich nicht bloß um den schwachen Partikularismus einer
gegen das Globale oder Universale eingenommenen Option.
Vielmehr erweist sich hier der Horizont aller möglichen
universalistischen Ambitionen selbst rigoros eingeengt und
aufgelöst. Ein so verstandener Lokalismus ist also keine Wahl,
sondern ein Schicksal, ja sogar ein von vorneherein auferlegtes
Verhängnis. Die Realität ist in größtem Ausmaß erschüttert. Die
Einheit existiert nur, um zerschlagen zu werden.
Das Prinzip der Isotropie besagt, dass es im Weltraum keine
bevorzugten Richtungen gibt. Zusammen mit der Annahme von der
Homogenität des Weltraums bildet dies das Kosmologische Prinzip.
Wir dürfen durchaus von einer isochronischen Analogie ausgehen,
bei der ein in der Zeitordnung beobachtbares Schicksal
gleichermaßen als bereits hinter uns liegend betrachtet werden
kann.
Wir haben also und auch in Zukunft noch einen Kosmos, aber
kein Universum mehr. Der Kosmos, dem wir Modernen uns aus
kultureller Verpflichtung verschreiben, ist in Wirklichkeit der
offenkundige Zerfall des sichtbaren Universums.
Wir schalten thematisch nun von der inflationären Kosmologie in die
Thermodynamik. Immerhin sprechen wir von Diversifikation oder
Heterogenese, und damit vom exakten Gegenteil der
Entropiezunahme. Homogenisierung ist Entropie. Die beiden
Konzepte lassen sich streng genommen nicht unterscheiden. Mit
Entropie wird seit jeher die Zerstörung der Differenz bezeichnet –
seien es Temperaturunterschiede (Clausius und Carnot) oder,
später, Variationen in der Teilchenverteilung (Boltzmann und Gibbs).
Die Heterogenese findet örtlich begrenzt statt, wie uns der zweite
thermodynamische Hauptsatz lehrt. Auf einem wirklich globalen
Niveau, auf dem keine Inputs oder Outputs auftreten können,
überwiegt notwendigerweise der Verfall.
Um es vorwegzunehmen: Wir werden feststellen, dass der
Westen aus der Entropie einen Gott gemacht hat, einen Gott,
dessen letztes Gesetz lautet, dass alles gleich sein soll. Es ist ein
falscher Gott. Dies findet sich durch das ultimative
kosmophysikalische Problem – Wie ist negative Entropie möglich? –
bestätigt. Wir wissen, dass die Heterogenese nicht schwächer als ihr
Gegenteil ist, auch wenn wir nicht wissen, weshalb.
In den Naturwissenschaften ist die kosmologische Desintegration
ein immer wiederkehrendes Thema. Am bedeutsamsten vielleicht in
Die Entstehung der Arten, dessen Grundthema, wie der Titel
unterstreicht, Desintegration ist. Hauptgegenstand des Darwinismus
– und das heißt der gesamten wissenschaftlichen Biologie – ist die
Artbildung, und Artbildung ist Aufspaltung.
Trotz verschiedener exotischer Querverbindungen – von
Symbiosen bis zu retroviralen Genominsertionen – lässt sich das
Leben auf den höheren Stufen am besten durch die Divergenz der
genetischen Abstammungslinien charakterisieren. Verschmelzungen
sind anomal und in jedem Fall unmöglich, solange nicht erst
Diversität hergestellt wurde. Heterogene Komponenten können sich
nur unter der Voraussetzung vorheriger Diversifikation
zusammenschließen.5
In den Biowissenschaften hat die Kunde vom Zerfall den Status
einer eigenen Wissenschaft namens Kladistik erlangt.6 Die Kladistik
formalisiert die Methode strenger darwinistischer Klassifizierung. Die
Identität eines biologischen Typus wird durch die spezifische Reihe
von Abspaltungsereignissen bestimmt, die dieser durchlaufen hat.
Ein Mensch zu sein bedeutet demnach – neben anderen weit
grundlegenderen Klassen –, Primat, Säugetier, Reptil, Knochenfisch
und Wirbeltier zu sein. Die Summe dessen, wovon man sich
abgespalten hat, definiert, was man ist.
Eine »Klade« ist ein Teilstück. Sie ist eine Gruppe beliebiger
Größe, die sich durch die Abtrennung von einer Abstammungslinie
definiert. Der Punkt, an dem sich Kladen voneinander absetzen,
entspricht ihrem jüngsten (das heißt letzten) gemeinsamen
Vorfahren. Entscheidend ist daher, dass alle Nachfahren einer Klade
dieser Klade weiterhin angehören, die wiederum eine beliebige Zahl
von Unterkladen umfasst. Die Erzeugung von Unterkladen
(Entstehung der Arten) wird als »Radiation« bezeichnet. In der Regel
verläuft sie in seriellen Verzweigungen; simultan erfolgende
komplexe kladistische Aufsplitterungen sind hingegen
vergleichsweise exotisch. Normalerweise lässt sich die
Diversifizierung durch aufeinanderfolgende einfache Verzweigungen
darstellen. Allerdings braucht es nicht viel, um dieses Prinzip zu
durchbrechen.
Kladistik ist so etwas wie eine streng formalisierte taxonomische
Nomenklatur. Ein System von Namen schreibt ein Kladogramm, das
heißt ein Modell der Evolutionsgeschichte und der biologischen
Verwandtschaft. Jedes Kladogramm stellt eine Evolutionshypothese
dar. Es schlägt eine bestimmte Reihenfolge der Abspaltung vor. Die
so vorgeschlagenen Reihenfolgen sind empirisch revidierbar.
Die Kladistik bildet die Gesamtheit des Zerfallsgeschehens
unterhalb der kosmologischen Ebene ab, vielleicht sogar bis in diese
hinein. Naturgemäß ist sie höchst umstritten. Und ihre Provokation
ist noch nicht zur Gänze verstanden worden. Da die Kladistik jedoch
selbsterklärend ist, lässt sich vieles aus ihr ableiten. Vor allem wird
Identität als im Wesentlichen schismatisch aufgefasst und Sein
prinzipiell als Struktur der Vererbung begriffen.
Dass auch die historische Linguistik in einen kladistischen Modus
verfiel, lag nahe. Die linguistischen »Familien« teilten mit ihren
biologischen Vorbildern grundlegende Eigenschaften. Sie
proliferierten durch Unterteilung und lieferten das Ausgangsmaterial
für ein Klassifikationsschema. Die ersten Definitionen ethnischer
Gruppen wurden anhand dieser linguistischen Taxonomie
vorgenommen. Die auch heute noch eher als Arier bekannten
»Jamnaja« wurden ursprünglich durch die Kladistik der
indoeuropäischen Sprachen eingegrenzt. Ihr Radiationsmuster
beruhte auf einer baumähnlichen linguistischen Diversifikation.
Somit fand die differentielle Anthropologie ihren Niederschlag in
Kladogrammen. Bäume, phylogenetische Ordnung, Sprachfamilien,
Genealogien, eigentliche (stark erweiterte) Familien – all das war
extrem kohärent. Auch hier waren die – durchaus vorhandenen –
Phänomene der Verschmelzung, der Quer- und Kreuzkontamination
und Konvergenz offenbar sekundär und abgeleitet.
Linguistische Diversifizierung gleicht einem Prozess
schismatischer Ethnogenese. Wenn sich Völker verzweigen,
entwickeln sie sich jeweils unterschiedlich. Die Entstehung von
Völkern ist wie die Entstehung der Arten, bloß in höherer Auflösung
– das abstrakte Muster ist das gleiche.
Der konkrete Mechanismus der Artbildung geht typischerweise
mit der Isolierung von Populationen einher; erst seit Kurzem wird er
deshalb auch politisch. Es gibt eine Politik der »invasiven Arten« und
ihrer menschengemachten Ausbreitung, doch fällt diese nicht
besonders erbittert oder polarisierend aus. Die Isolation
menschlicher Populationen ist ein völlig anderer Fall. Im Zuge dieser
Politisierung ist der exogame Radikalismus der
nordwesteuropäischen Bevölkerungen zu einer universellen
Ideologie sublimiert worden.
Da das Thema Rasse heute allzu leicht zu extremen
ideologischen und emotionalen Turbulenzen führt, ist es vielleicht
angebracht, sich mit Haustieren aller Art zu befassen, wie es die
englische Naturkundetradition gerne zu tun pflegte. Eine Praxis, die
nicht nur für eine gute Analogie, sondern auch für Ausgewogenheit
oder wahre Mäßigung sorgt. Insofern in unserem heutigen
kulturellen Umfeld der Einfluss des Landlebens und damit auch der
Sinn für eine klare Unterscheidung gezüchteter Arten deutlich
zurückgegangen ist, dürften uns Hunde als die bei Weitem
anschaulichsten Beispiele dienen.
Eine Welt ohne Mischlinge wäre eine ärmere Welt. Häufig sind
Mischlinge mit besonderen und sogar höheren Eigenschaften
gesegnet. Der Goldendoodle [eine Kreuzung aus Golden Retriever
und Pudel] zum Beispiel ist so bedeutend wie jeder andere
existierende Hundetyp. Kreuzungen wie diese tragen zur Vielfalt der
Welt bei und gehen mit einem fundamentalen Prozess einher, der
die Welt mit derart divergenten Hundezüchtungen bereichert, dass
»Hunde im Allgemeinen« zu einer immer weniger aussagekräftigen
Kategorie wird. Noch gibt es keine Ideologie, die auf eine weltweite
Homogenisierung des Hundegenpools abzielt.
Diversität ist gut, will sagen robust und (zumindest) innovativ. In
dieser Hinsicht ist dem ökologischen Konsens zu vertrauen. Invasive
Arten werden verabscheut, nicht weil sie die Diversität erhöhen,
sondern vermindern. Heterogenese ist zu allen Zeiten das
übergeordnete Ziel. Allerdings ist die Diversifikation – die Erzeugung
von Vielfalt – ein in unseren aktuellen Sozialwissenschaften
besonders vernachlässigtes Thema. Diesbezüglich ist das Mantra
der Diversität mit fast völliger Gleichgültigkeit, ja strategischer
Fahrlässigkeit gepaart. Die obligate öffentliche Würdigung der
Diversität begleitet und überdeckt ihre programmatisch
vorangetriebene praktische Ausrottung. Es gibt, so wurde verbindlich
beschlossen, nur eine Menschheit, und sie ist dazu ausersehen,
immer homogener zu werden. Genetische Unterteilung ist heute
gleichbedeutend mit Verletzung der Menschenrechte.7
Unsere höchste Orthodoxie besagt, dass es geradezu
unvorstellbar schrecklich wäre, nicht bereits eine Einheit zu sein und
noch zu einer werden zu müssen. Man könnte versucht sein, diesen
Glauben als Monohumanismus zu bezeichnen. Dessen
grundlegender Glaubenssatz lautet: Die Menschheit soll eine Einheit
sein. Man kann nicht genug betonen, dass es sich hier weniger um
eine empirische Beobachtung als vielmehr um ein moralisches und
politisches Projekt handelt, in dem die Rassenentropie zu einer
heiligen Verpflichtung erhoben wurde. Die radikale – und eben nicht
bloß konservative – Alternative zu dieser Vision findet sich allein in
der Science-Fiction.8
Wo die »Beige Welt« zunehmend als Zwangsideal
wahrgenommen wird, ist die Bewahrung der menschlichen Vielfalt
ein Grundpfeiler dissidenter Ethnopolitik. Eine normalerweise nicht
völlig ausgereifte Abwehrhaltung gegenüber der Rassenentropie ist
dabei der zentrale Motor, der jedoch bedauerlicherweise unter einer
maßlosen Fetischisierung obligatorischer Rassenreinheit leidet. Im
schlimmsten und gar nicht so seltenen Fall betrachtet diese Reaktion
gegen den Monohumanismus alles, was durch die
Rassenvermischung zur menschlichen genetischen Vielfalt beiträgt,
als Inkarnation einer Zwangshomogenisierung. Eine um Ausgleich
bemühte Antwort lautet, dass, um die Hundelektion zu wiederholen,
eine Welt der tendenziellen Artbildung oder der zunehmenden
genetischen Vielfalt keine den Promenadenmischungen feindlich
gesonnene Welt sein muss.
In den vergangenen 60 000 Jahren war die genetische Divergenz
des Menschen der alles dominierende Prozess. Eine auffällige
Fragmentierung des modernen Menschen in genetisch
unterschiedliche Unterarten war das Grundmuster. Dieser Prozess
ist es wert, ökologisch zelebriert und sogar technisch-industriell
beschleunigt zu werden. Trotz sehnlichster Hoffnungen seitens der
aktuellen säkularen Kirche besteht keine Chance, dass er ein für alle
Mal zum Erliegen kommt.
»Globalismus« ist ein Begriff, der zwar ideologisch umstritten, in
seinem ideologischen Gewicht jedoch unstrittig ist. Man könnte ihn,
leicht tendenziös, als den Versuch definieren, aus einer in
Übereinstimmung mit dem Ganzen stehenden Perspektive politische
Vorstellungen zu formulieren. Hartnäckige Partikularorientierungen
sind seine Feinde. Und doch ist – selbst angesichts der jüngsten
Rückschläge – sein Triumph so groß, dass diese Feindschaft mit
kurioser Herablassung behandelt wird.
»Provinzialismus« lautet eine der Beleidigungen, auf die der
Globalismus gerne zurückgreift. Unfähigkeit zur universellen
Betrachtungsweise wäre ja noch als verständlich und überwindbar
hinzunehmen. Die universalistische Perspektive zu verweigern
allerdings, verdient keinerlei Sympathie. Eine solche Haltung ist für
den Globalisten zutiefst unethisch. Aus seiner Sicht sollte man
gegen den Provinzialismus weniger argumentieren, als ihn einfach
verachten. Es gilt, ihn im Namen des Universellen zu schmähen –
was langsam amüsant wird.
Was immer wir als den Tod Gottes betrachtet haben, ist nur ein
Sonderfall des umfassenderen Untergangs der Universalität.
Während der Tod Gottes meistens philosophisch hergeleitet wurde,
entfaltet sich der Tod des Universalen als ein ausgesprochen
wissenschaftliches Spektakel. Die Astrophysik sieht, wie sich das
Universum vor ihren künstlichen Augen zerlegt.
Das Globalisten-Lager ist besonders anfällig für fromme Gesten in
Bezug auf die Idee der Wissenschaft. Daher kann man nur von
Ironie sprechen, dass sich der Globalismus aus wissenschaftlicher
Sicht immer mehr als unhaltbare Religion erweist. Die ihm
innewohnende Kosmologie ist ein archaischer Mythos. Dass es
außerhalb dieser mythologischen Struktur kein Universum gibt,
könnte offensichtlicher nicht sein. Die grundlegende Natur des
Kosmos besteht darin, getrennte Wege zu gehen.9
Die Teile sind das Grundlegende. Sie sich aus einem Ganzen
abgeleitet vorzustellen, ist einer Verwirrung geschuldet, die aus
unhaltbaren universalistischen Rahmenbedingungen
hervorgegangen ist. Jede tatsächlich realisierbare Perspektive ist
bereits durch serielle Brüche lokalisiert. Nichts beginnt mit dem
Ganzen, es sei denn als Illusion. Das wissen wir heute sowohl
empirisch als auch transzendental. Alles, was nicht als Stückwerk
daherkommt, entbehrt der tiefen Übereinstimmung mit der
Wirklichkeit.
KORRESPONDENZESSAY
Dietmar Dath & Philipp Theisohn
Lieber Dietmar Zürich, den 27. Februar 2020
Vielleicht fängt man ja am besten mit der Feststellung an, dass die
Texte, über die wir uns unterhalten, nicht irgendwo entstehen,
sondern in einem ganz bestimmten Raum. Und dass das Besondere
an ihnen ist, dass sie diesen Raum, in dem sie verständlich werden,
wiederum selbst erzeugen. Es gibt eine Karte dieses Raumes – das
ist das Numogram, als dessen Bewohner wir uns Nick Land
vorstellen können. Man könnte lange über die Beziehungen
nachdenken, die zwischen den Orten auf dieser Karte bestehen:
über die Kreispaare, die man als Verräumlichung polynomialer
Gleichungen versteht und deshalb »Syzygien« nennt; über die
Strömungen, die zwischen diesen Syzygien auftreten, und
insbesondere über jenen Kreis im Zentrum des Numograms, in dem
die Zeit gegen den Uhrzeigersinn läuft. Das Numogram ist eine
Zeitmaschine, errichtet zum aktiven Gebrauch, also zur Veränderung
der Wirklichkeit, insbesondere zur Manipulation der Verhältnisse von
Fiktion und Realität. Und es ist selbst das erste Dokument dieser
Manipulation, öffnet die Karte doch ein Tor zu jener Welt, aus der sie
selbst stammt. Das Numogram ist – um den Begriff hier gleich am
Anfang einzuführen – eine »Hyperstition«, also ein »element of
effective culture that makes itself real«.
Ich halte das für den Wesenskern von Lands Denken: dass sich
die Fiktion als eine alte, vergessene Wirklichkeit bewahrheitet, wenn
man sie entsprechend dynamisiert. In »Die Ursprünge des Cthulhu-
Clubs« heißt es, dass wir die ganze Zeit gedacht hätten, wir würden
uns die Geschichten von der Geheimlehre der Nma, der lemurischen
Zauberei und dem Kultus der alten Götter »aus den Fingern
saugen«. Tatsächlich aber ist unsere Einbildungskraft in einer
Schleife gefangen. Sie hat die Tore zur Tiefe geöffnet und dort ist
nun die Fabel wahr geworden und hat sich unsrer bemächtigt. Was
wir zu erfinden glauben, haben uns in Wahrheit die Hexen der Nma
diktiert. Was wir für eine vom kabbalistischen Lebensbaum
inspirierte Grafik halten, ist tatsächlich das Relikt einer Vorzeit. Alles,
was dem Akt der Hyperstition unterzogen wird, findet seine Wurzeln
just in der Welt, die es beschreibt. So hat auch das Necronomicon
längst aufgehört, eine Erfindung Lovecrafts zu sein. Wir wissen
mittlerweile, dass Cthulhu keine Metapher ist.
Und so lese ich Land eigentlich immer in dieser Verschleifung der
Fiktion zur Realität. Also als Anleitung zum intensiven Halluzinieren.
Und ja: Halluzination ist ein politischer Akt.
P.
Lieber Philipp, Frankfurt a. M., den 3. März 2020
das ist genau die Spur, an der diese Ermittlung anfangen muss: eine
Grafik namens Numogram, die als Glyphe für den ganzen Anspruch
steht, esoterisch und okkult zu fantasieren, bis sich die Fantasie
selbst in die Wirklichkeit umstülpt. Das Esoterische des Zeichens soll
ins Exoterische, nämlich ins Soziale und Politische, greifen. Linkes
Denken wittert hier eine esoterische Tradition, die eigentlich nur weit
rechts landen kann. Man denkt an die Runenmagie bei der SS, wo
solche Sachen zum sogenannten Ahnenerbe gehören, man denkt
daran, dass die NS-Führung den Rat von Astrologen eingeholt hat
(Uranus und Merkur scheinen nicht gewusst zu haben, dass man
Russland nicht im Winter angreifen sollte). Nähe zum magischen
Denken dieser Art vermutet man nicht bei hypermodernen,
posthumanen Köpfen, nicht bei dem, was dort unter
Akzelerationismus läuft, nicht bei Nick Land, sondern bei Fans von
Julius Evola, die das Alte anbeten und wiederholen wollen, etwa bei
Alexander Dugin, diesem düsteren Ideologen, der gewisse
ultranationalistisch-geopolitische Strömungen in Russland mit dem
dort erwünschten Geraune versorgt. Dieser Dugin ist allerdings unter
anderem, das weiß man aus dem Netz, von Nick Land fasziniert. Als
Letzterer noch weniger bei Twitter unterwegs war und mehr auf
seinen Blogs, hat sich Dugin an den Debatten, die von dort
ausgingen, eifrig beteiligt. Dugin nimmt Land für voll als einen Feind
dessen, was auch Dugin hasst, als einen Feind der angeblich rein
westlichen Tradition des Menschenrechtsuniversalismus, aber er hält
ihn für einen Teufel. In diesem Zusammenhang erklärt Dugin dann
etwa in Interviews, er hasse zwar Joe Biden und Kamala Harris,
aber Nick Land oder dessen Geistescousin Reza Negarestani könne
er nie hassen, das seien wenigstens bewusste Dämonenanbeter.
Linke Kritik denkt die beiden Stränge des antiwestlichen Denkens,
den traditionalistischen und den akzelerationistischen, und daher
auch Nick Land und Dugin, seit Jahren zusammen, etwa bei
Harrison Fluss und Landon Frim, während gleichzeitig auf der
Website »Jacobite«, also einer der wenigen Plattformen, die Land
nach seinem Schwenk Richtung Rechtsradikalismus noch publiziert
haben, Dugin zustimmend zitiert wird. [Hier beginnt ein längerer,
Mitte 2022 verfasster Einschub, der einiges aktualisiert, was im
ursprünglichen Mailwechsel nur embryonal vorformuliert war.] Land
selbst wiederum sagt über Wladimir Putin, den Mann, den Dugin
verehrt als eine Art Messias, dass dieser Politiker ein tollkühner
Abenteurer sei und dass Land ihn skeptisch sehe, weil Putins
Militäraktionen den »shambling horror in a leprous liberal skinsuit«,
also den mit linken Lepra-Lappen verkleideten wackelnden
Schrecken, als den Land den Westen bezeichnet, leider nicht
schwächten. Putins Handeln lasse diesen Westen vielmehr gut
aussehen, das hat Land dagegen. Das Ziel, diesen Westen zu
zertrümmen, teilt er also mit Dugin. Sind Land und Dugin damit aber
wirklich zwei verschiedene Soldaten an verschiedenen
Frontabschnitten, die nicht nur gegen, sondern auch für dasselbe
kämpfen? Dugin hat offensichtlich eine seltsame Sorte Respekt vor
Land, der ihm allerdings wohl auch ziemlich unheimlich ist, und Land
graust es sowieso schon seit längerer Zeit vor gar nichts mehr. Seit
März 2022 müssen freilich alle, die das, was rechts so gedacht,
geschrieben, gehetzt wird, für ein Spiel halten, diesen Standpunkt
überdenken: Weltkriegsgeräusche in Mitteleuropa, das ist neu. Die
Kritik der Waffen und die Waffe der Kritik sind wieder aufeinander
abzustimmen; man sollte allerdings nicht in Diskursüberschätzung
taumeln (wer, zum Beispiel, die NATO kritisieren will, kann diesen
Job nicht einfach per Polemik gegen den Springer-Konzern
erledigen). [Ende des Einschubs.]
Vom Gefährlichen ist es, wie vom Erhabenen, nicht weit bis zum
Lächerlichen. Im Netz ist etwa Dugin mit einer
Verschwörungsfantasie zitiert worden, die davon redet, dass Land
vielleicht irgendwas mit der Entstehung oder Verbreitung des
Coronavirus zu tun haben könnte, der Mann lebe ja schließlich in
Schanghai, und das Virus komme doch aus China.
Verschwörungstheorien sind bekanntlich ein Markenzeichen des
faschistoiden Denkens, nicht erst heute. Es vermutet immer etwas
hinter den Dingen, Drahtzieher, Manipulation. Die Welt soll
Oberfläche sein und diese Oberfläche eine Lüge. Die derzeitige
Oberfläche ist eine Gegenwart, gegen die sowohl Land wie Dugin
sich aussprechen. Der Russe will hinter den Liberalismus und
Neoliberalismus zurück, in etwas, was er für die gute Alte Zeit hält,
der Exilant aus England dagegen will über das Gegebene in die
andere Richtung hinaus, in die Cybermonsterzukunft.
Spätestens seit Marx ist linkes, kritisches, vernünftiges Denken in
einem interessanten Sinn das Gegenteil einer
Verschwörungstheorie: Während die Verschwörungstheorie sagt,
diese oder jene Leute stecken aus bösem Willen hinter der
Erscheinungsebene der Wirklichkeit, verrät Marx in der
Kapitalanalyse, dass alles viel schlimmer ist: Eine falsche
Produktionsweise, eine falsche Art, zu wirtschaften, zu leben und zu
überleben, zwingt selbst den Mächtigsten, selbst den Herrschenden
ihre verrückte Logik auf. Sogar dann, wenn irgendwo eine
Kapitalistin oder ein Kapitalist was anderes wollen würde, als alle
Güter der Erde und alle Menschlichkeit dem Profit zum Fraß
vorzuwerfen, könnte sie oder er das nicht umsetzen, egal, ob sie
oder er einen guten oder einen bösen Willen hat, denn dann ginge
sie oder er ökonomisch kaputt. Der böse Wille, den die
Verschwörungstheorie entlarven will, zählt gar nichts. Die
Produktionsverhältnisse, der Stand der Produktivkräfte und die
Realverhältnisse zwischen den Menschen setzen sich gegen
dieselben und sozusagen über ihre Köpfe hinweg durch. Marx will
diese Verhältnisse daher ändern. Dugin und Land wollen sie auch
ändern, aber zum Schlechteren: Runter in den Dreck mit denen, die
sie für schwach und wertlos erklären, rauf auf den Thron mit,
entweder, dem virilen eurasischen Stammesrussen oder aber der
außerirdischen Menschmaschine. Der Unterschied zwischen Land
und Dugin, der zugleich ihre Gemeinsamkeit begrifflich erkennbar
macht, findet sich zum Beispiel bei ihren zwei Spielarten eines bei
beiden gleichermaßen ekligen Rassismus: Dugin will irgendetwas
Ur-Ethnisches wiederherstellen, Land will lieber Neues züchten.
Beide sind sich freilich in einem gewissen Sinne einig über die
Herkunft ihrer Ablehnung der Neuzeit, nämlich Nietzscheaner.
Friedrich Nietzsche dachte, seine Ideen würden Kriege entfesseln.
Ins Jetzt verlängert, ergäbe das einen Quatsch wie: Dugin schreibt,
Putin liest‘s, die Panzer rollen, die Welt wird neu aufgeteilt und
eingerichtet, oder auch: Land schreibt, Peter Thiel oder Elon Musik
lesen‘s, die technokapitalistisch-okkulte Transformation beschleunigt
sich auf Betreiben der von Land Unterrichteten, und again: die Welt
wird neu aufgeteilt und eingerichtet. Wenn das stimmen würde, wäre
klar, warum man Dugin oder Land lesen und diskutieren soll: Ihre
Texte wären dann Matrizen und Marschbefehle, sie könnten
erklären, was die Mächtigen denken und bald tun werden. Aber
diese Behauptung wäre selbst wieder eine Verschwörungstheorie,
nur mit reaktionären Ideologen als Drahtziehern statt mit
Echsenmenschen, Illuminaten oder Juden. Der wahre Grund, warum
die klarsten, deutlichsten, kompromissfernsten Texte sowohl der
traditionalistischen wie der akzelerationistischen Rechten
veröffentlicht und diskutiert werden sollten, ist ein anderer. Man kann
nämlich fragen: Wäre Theodor W. Adorno dafür gewesen, die
sogenannten Schwarzen Hefte, also halb private, teils absolut
grausig antisemitische Ergüsse von Martin Heidegger zu publizieren,
und zwar mit Einordnung, mit Kommentar, mit Anschlüssen für
Deutungen? Wäre er dafür gewesen, obwohl er wusste, dass Hitler
nicht Heidegger fragte, wenn er mal nicht entscheiden konnte, was
zu tun war? Ich glaube, Adorno hätte diese Publikation in der Tat
befürwortet. Wieso glaube ich das? Als Ideologiekritiker kannte
Adorno den Unterschied zwischen beispielsweise a) der Schwerkraft
und b) dem Kapitalismus sowie c) dem Faschismus.
Die Schwerkraft kann man in einem gewissen Sinn nicht
kritisieren: Wenn ich oben auf dem Eiffelturm stehe und was
loslasse, fällt es runter, Debatte zwecklos. Das, was sich da zeigt, ist
eine Beziehung von Ursache und Wirkung, keine von Begründung
und Schlussfolgerung, wie sie etwa ein Mensch äußern könnte, den
man fragt, warum er dies oder das tut. Den Kapitalismus kann man
im Gegensatz zur Schwerkraft kritisieren, das heißt, denen, die ihn
betreiben, kann man ihn auszureden versuchen. Aber auch der
Kapitalismus ist, wie Marx sagt, naturwüchsig, niemand hat ihn sich
ausgedacht und dann umgesetzt, er entstand historisch aus seinen
Voraussetzungen, die niemand zuvor vollständig als Programm
artikuliert hat. Der Faschismus schließlich besteht zwar auch aus
Ursache-und-Wirkung-Beziehungen, aber ALS IDEOLOGIE auch
aus Annahmen und Folgerungen derer, die ihn erfinden und
umsetzen. Er ist darin Resultat von Willen, Stimmung,
Überlegungen.
Das alles kann man kritisieren. Die wirkliche Beziehung zwischen
den falschen Ideen und dem schlechten und bösen Handeln ist,
dass Ideen die Zusammenhänge zwischen Ursachen und
Wirkungen, die von den Ideenproduzentinnen und Ideenproduzenten
ausagiert werden, in Zusammenhänge zwischen Annahmen und
Folgerungen fassen. Dadurch erst werden sie kritisier- und
diskutierbar. Wenn man nun das falsche oder böse gesellschaftliche
Handeln BEKÄMPFEN will, muss man dazu die Handlungen derer,
die es aufhalten, abstellen, blockieren können, KOORDINIEREN.
Die richtige Diskussion ist die Herstellung von
Handlungsdispositionen für den Widerstand. Man braucht
Diskussion und Diskutierbares also gerade auch dann, wenn man
nicht an Eigenwirkungen von Ideen glaubt, auch dann, wenn man
weiß, dass nicht Faschismus die Leute quält und tötet, sondern
Faschistinnen und Faschisten das tun.
Solche Unterscheidungen nun scheint der Begriff der Hyperstition
zum Verschwinden zu bringen – den Ideen selbst wird
Ursachenstatus zuerkannt. So verkehrt das als Sachbefund ist, so
treffend beschreibt es als Kurzschluss die Verfasstheit von
Ideologieproduktion heute, unter dezentralen, zum Beispiel
netzmedialen Bedingungen, die Land früh, noch vor seiner
Selbstneuerfindung als führender Neoreaktionär seiner Blase, hat
kommen sehen. Es ist eben meist nicht mehr so, dass eine oder
einer was schreibt, das viele lesen und dann auf- und nacharbeiten,
sondern: lokal endemische und dann plötzlich als Schwarmpanik
oder Lauffeuer ubiquitäre Konvulsionen erfassen verschiedene
Signalsphären und regulieren ihre Zustände. Land stellt das nicht als
Ideologiekritik hin, sondern als emphatisch für wahr gehaltene
Behauptung darüber, wie die Welt angeblich ist: Er denkt, man
könne so lange spinnen, bis es wahr wird, oder mit Alan Moore: »I
made it all up, and it all came true anyway«. Man kann hier fragen:
Spielt der Begriff dazu, die Hyperstition, bei ihm dieselbe Rolle wie
bei Plato die Anamnesis (wenn wir was erkennen, erinnern wir uns
an angeborenes Wissen) oder bei Chomsky die in die Genetik
reingefressene Grundsprache? Und für mich noch wichtiger: Ist die
Untersuchung dieser Obsession bei Land ein Weg, über das zu
reden, was er überhaupt intellektuell betreibt (ich will nicht sagen:
vorhat, aber: forciert, vorwärtsdenkt, ins Werk setzen will), seit
spätestens dem Bataille-Buch? Alle derartigen Ideen von magischer,
rein ideologischer Weltveränderung führen, soweit ich das Feld
überblicke, gern zu lauter Sachen, gegen die all diejenigen kämpfen
und unter denen all diejenigen leiden, die ich auf der Welt mag, ja
liebe, mit denen ich an derselben Sache arbeiten will und so weiter.
Land steht da wirklich für jedes Gegenteil von allem, dem mein
Leben mit Kopf und Herz gehört, er sagt zum Beispiel immer wieder
(und schreibt auch danach), dass es angeblich ein Wissen geben
soll, das nicht in alle Köpfe passt, sondern nur in auserwählte, und er
bekennt sich politisch zu etwas, das er »Neoreaktion« nennt und das
er von Mencius Moldbug (also Curtis Yarvin) hat, der wiederum die
USA ein »communist country« nennt, und so weiter. Land will den
Kapitalismus (den er nicht immer so nennt) in seiner
Zerfallsdynamik, die nach Lands Meinung keine ist, sondern eine
eschatologische Potenz, beschleunigen und ins »Transhumane«
weitertreiben, er will zuspitzen und Gas geben, statt zu steuern, er
will die Macht vorhandener Mächte entfesseln statt zerschlagen, er
glaubt (wie an die Verwirklichung von Ideen qua Ideen ) an die
Geltung von genetisch und metaphysisch in den Leuten verankerten
qualitativen Unterschieden der Auffassungsgabe (das heißt, an
»Human Biodiversity«, er ist Rassist) und verbreitet das alles auch
noch über Twitter, beteiligt sich also an nicht bezahlter Datenarbeit
für einen widerwärtigen Dreckskonzern.
Ich hasse das alles sehr. Sozialismus, den ich will, ist die Zeit, die
Ordnung, wo das alles nicht vorkommt, teils weil’s direkt verboten ist,
teils weil keiner mehr Gefallen an Ideen mit so wenig menschlichem
Gebrauchswert findet. Also warum lese ich Nick Land dann trotzdem
so aufmerksam und, würde ich doch behaupten: mit Gewinn?
Warum will ich, dass, was er schreibt, Verbreitung findet und
begriffen wird und diskutiert? Weil er eben etwas extrem Seltenes in
der Geschichte der letzten 250 Jahre ist: ein Mensch, der denkt und
argumentiert, wie das Allerschlimmste und Allerfalscheste denken
und argumentieren würde, wenn es überhaupt denken und
argumentieren könnte, was es nicht kann und auch nicht nötig hat.
Den letzteren Punkt, also dass die Mächte, denen er sich
verschreibt, ihn gar nicht brauchen, sieht Land übrigens selbst: In
»Schaltkreise« (»Circuits«), einem der akutesten Texte in Fanged
Noumena, erinnert er, nachdem er geschrieben hat, dass Herrschaft
das phänomenologische Porträt von Schaltkreisineffizienz ist, von
nicht funktionierender »control« oder schlicht Dummheit, an einen
Nietzschesatz: » Die Herren brauchen keine Intelligenz, argumentiert
Nietzsche, deshalb haben sie auch keine.« Nick Land ist, wie
Nietzsche, GEGEN die zufällig real Mächtigen, aber immer im
Namen der abstrakten Macht, des Rausches eines überlegenen
Riesen. Er liebt und sucht das, was die Mächtigen versprechen, aber
nicht einlösen können: Transzendentale Verfügungsgewalt über eine
unerschütterliche Wahrheit, groß und schrecklich.
Das Grundparadox jeder rechten Intelligenz ist, dass Leute wie
Edmund Burke oder Joseph de Maistre, also die ersten wirklich
modernen und intelligenten Reaktionäre, und ihre (wie gesagt: sehr
seltenen) denkenden Nachkommen (zu denen Yarvin und Land
gehören) dauernd Zeug denken müssen wie: »Die Aufklärung hat
die Religion besiegt, aber wir brauchen die Religion, weil sonst die
Gesellschaft von den frechen Dummköpfen überrannt und zerstört
wird, also lasst uns die Religion neu denken« – und daraus wird
dann die Esoterik bei Land, das Seinsgeblubber bei Heidegger, das
Gerede von den biologisch weitergegeben Echos der Urahnen in
den Seelen bei Benn usw. Die politisch handfest Rechten, denen die
denkenden Monster das alles anbieten, können aber das ganze
intellektuelle Zeugs, weil Nietzsche mit dem, was Land da zitiert,
richtig liegt, dann doch nicht gebrauchen. Land und alle
seinesgleichen argumentieren nämlich für etwas, das schon verloren
hat, sobald es in Argumentform auftreten muss, ein mystisches
Einverständnis mit »dem Starken« nämlich. Der Starke, der sich
rechtfertigen soll oder der einen Zweck angeben soll für seine Stärke
oder der eine Berechtigung dafür darlegen muss, sie zu gebrauchen,
ist sozial ja schon gar nicht mehr stark. Naturwüchsige, echte Macht
sagt nicht: Ich bin zu diesem und jenem da. Sie muss sagen: Ich
komme von damals und war schon vor dir da, beuge dich, Wurm.
Sie hat kein Interesse an Geschichte als funktionaler
Legitimitätsquelle im Sinne von »diese Arten von Zwang sind aus
dem und dem kausalen Grund notwendig«, denn wenn man »den
Grund« versteht, kann man ihn vielleicht abschaffen. Das rechte
Zeug ALS DENKEN ist daher immer bestenfalls die geistige
PARODIE dessen, was rechts wirklich läuft. Es macht damit aber,
wie gesagt, etwas SICHTBAR und DISKUTIERBAR. Und Nick Land
besorgt dieses Sichtbarmachen, dieses Diskutierbarmachen in
einem gar nicht trivialen Sinn BESSER als Dugin oder Götz
Kubitschek oder sonst irgendwelche Nostalgiker der Gewalt. Denn
deren Lehren und Behauptungen fassen den Stoff gar nicht an, der
die sozialen Realverhältnisse reguliert: Weltmarkt, Profit,
Produktivkraftentwicklung. Sie verhalten sich lieber wie ein alter
Grieche, der was von Zucht und Göttern labert, um die Sklaverei zu
rechtfertigen, von der er aber nicht direkt redet, oder ein Theologe im
Mittelalter, der von Engeln und Heilsgeschichte quasselt, aber das
Lehenswesen und die Stände und diesen ganzen Schmutz damit
stützt, ohne sie direkt zu diskutieren. Land dagegen spricht wie ein
Verliebter, der nicht den Mund halten kann, über den
Technokapitalismus, über die brass tacks, und wenn er dann doch
mal aufs Alte und angeblich Ewige zurückgreift, kommt er
sozusagen aus dem hellen Licht nicht raus, das er selber
angezündet hat. Er redet also über Sachen, über die man bei
Rheinmetall oder Google oder auf der Leitungsebene der F.D.P.
lieber nicht redet, zum Beispiel darüber, dass Technokapitalismus
und liberale Freiheit nicht vereinbar seien; und dass er dann die
Freiheit für verzichtbar erklärt, ist mehr Klartext, als Jeff Bezos sich
je trauen würde. Demgegenüber sind die poetischen Lizenzen, die er
sich nimmt, ja: die er sich schon in seiner Frühphase genommen hat,
sehr leicht als allegorische Umwege zu identifizieren, auf denen man
jedesmal schnell wieder zum Eingemachten gelangt, wenn man sich
von dem Spuk-Krempel nicht verwirren lässt. Wo es etwa über das
Numogram (oder eingedeutscht: Numogramm) beim CCRU heißt, es
komme »von Lemuria oder Atlantis oder noch weiter her« und sei
durch die hermetische »Tradition« weitergegeben worden, es sei
also keine Verballhornung des kabbalistischen Baums des Lebens,
sondern der sei vielmehr eine Verballhornung des Numogramms,
dann ist das wie ein Witz auf das Erbrecht, auf die Stammbaumlogik
des Rassismus oder auf die Behauptung modischer Islamisten oder
Identitärer, sie würden irgendwas Altes (den Propheten, das
Abendland) verteidigen (dabei haben sie sich das ausgedacht, um
sehr neuartige Banden mit Feldzeichen zu versorgen: sich selbst).
Die Aufklärung sagt: Die Monarchie ist ein Fetisch, das
Königshaus ist nur deshalb Königshaus, weil ihr ihm gehorcht. De
Maistre und Burke halten dagegen: Wir gehorchen nur, weil das
Königshaus königlich ist, seit alters her, genetisch und religiös (und
vielleicht schon seit Atlantis …). Oder wie Du komplett korrekt
paraphrasierst: »Tatsächlich aber ist unsere Einbildungskraft in einer
Schleife gefangen. Sie hat die Tore zur Tiefe geöffnet und dort ist
nun die Fabel wahr geworden und hat sich unsrer bemächtigt.«
Gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Leuten werden eben früher
oder später immer für Eigenschaften von Sachverhalten gehalten,
das ist das, was Castoriadis »imaginäre Institution« nennt und Land
»Hyperstition«, das ist das, was Marx unter dem Namen »Fetisch«
analysiert hat (Hypostasierung vorgefundener Muster und
Ontologisierung menschengeschaffener nämlich). Das ist aber eben
auch das, was Kritik paradoxerweise braucht, um es wenigstens
begrifflich vernichten, also bestimmt verneinen zu können.
Das Numogram stellt eine Choreografie für das Hin- und
Herschieben von Vorstellungen in nicht auf ihre Abschaffbarkeit
befragten gesellschaftlichen Zusammenhängen dar, die als
transzendental-mystische nur geahnt, nicht debattiert werden sollen.
Es ist wie die Wunschmaschine bei Deleuze-Guattari, wie die
maoistische Machtmetaphysik bei Foucault, wie die Ökonomie der
Verschwendung bei Bataille: Ein Zeichen, das man nicht weiter
analysieren können soll, ein Gegebenes, das irgendwie der
Zergliederung entrückt sein soll, eine Priortatsache. So denkt
Novalis über die Christenheit, so denkt »Achtundsechzig« über den
undialektischen Gegensatz Autorität-Revolte. Als oft angeblich linkes
Gesicht der zunehmenden Unlust, überhaupt zu denken, ist es der
Anarcho-Pol der Verfallsdynamik des Kapitalismus in der
kleinbürgerlichen Intelligenz. Ich wiederhole: Wenn solches Zeug
aus Entgrenzung (»unsagbar«, »transzendent«) und Denkverbot
(»man kann das nicht weiter begründen oder verstehen, es macht
sich selbst wahr«) sich dann der extremsten politischen Rechten
direkt anbietet, wie bei Heidegger, Benn und anderen deutschen
Spätromantikern nach 1933, dann wird nie was draus – die extreme
politische Rechte als Real-Bande hat einen zu guten Instinkt, sie
weiß, wenn sie Intellektuelle reinlässt, spielt sie das Spiel ihres
Feindes, der Vernunft, der Debatte, des Verstehens und Änderns.
Du siehst, die Pointe ist: Meine komplette Land-Lektüre
funktioniert marxistisch-leninistisch, und das könnte für unsern
Dialog und überhaupt produktiv sein, einfach deshalb, weil Land
selbst nach Jahrzehnten der Suche, in denen er keinen politischen
Ort für sein von Anfang an, von den strukturalistischen, den anti- und
den poststrukturalistischen Wurzeln seines Denkens her, ziemlich
robust aufgestelltes Programm der Vernichtung der Neuzeit finden
konnte, dann endlich doch einen solchen Ort gefunden hat, eben
Yarvins Projekt. Und dieses Projekt ist vor allem eins: explizit
antikommunistisch. Ich kann Dir also als Kommunist einen der
kompliziertesten Antikommunisten seit Erscheinen des Manifests der
kommunistischen Partei auslegen, das wäre mein Angebot. Es läuft
auf Ideengeschichte hinaus, und dabei findet man dann vielleicht
interessante Spuren. Ich halte es für gar keinen Zufall, dass Nick
Lands Bataille so nah bei Bernd Mattheus’ Bataille steht. Ich glaube
nämlich, dass Yarvin und der späte Land, aber erst recht der frühe
Land, nicht nur in Batailles Aufhebung der Ökonomie präformiert
sind, sondern vor allem in Batailles Kommunismus und Stalinismus
von 1953. Das ist ein inhaltlich in vieler Hinsicht grauenhafter, aber
formal großartiger Text, der unerschrocken ausspricht, was die
Derridas und Foucaults immer nur gestisch sagen, indem sie ihr
Denken hauptsächlich gegen die Parteisoldateska der
Kommunistischen Partei Frankreichs und deren intellektuelle
Vorherrschaft bis in die Eingeweide von Sartres Existenzialismus
und Humanismus ausbilden und schärfen: Fort von diesem
nichtwestlichen Sozialismus! Ich denke, die ganze geistige
Geschichte des Westens nach Stalins Tod besteht aus linken und
rechten Angriffen auf den Marxismus-Leninismus, offenen,
bewussten wie geträumten, auch unbewussten. Manches ist
Abweichung, Bekenntniswechsel, anderes direkt frontales
Dagegenreden. Leute, die mich deswegen für verrückt halten, halten
oft auch Land für verrückt. Ich halte ihn nicht für verrückt. Er ist ein
kluger Feind, vielleicht zu klug, um ein ganz effektiver Feind zu sein.
Um wie viel höher, nach Komplexität und
Interpretationsmöglichkeiten gemessen, steht etwa seine
Hyperstition als der Archäofuturismus von Guillaume Faye! Das lässt
sich messen, denke ich. Ich hab ein paar Maßstäbe dafür, schauen
wir doch mal, was die können.
Love, D.
Lieber Dietmar Zürich, den 6. März 2020
Mich interessiert dein Angebot durchaus, weil es mit einer
Bewegung zusammenfällt, die man Nick Land ja unzweifelhaft
anmuten kann: mit der Apostasie. Wenn man sich auf Soundcloud
anhört, wie Mark Fisher 2015 im Bad Vibes Club bemüht ist, Lands
Wiederauftauchen als politischer Sith Lord irgendwie zu
plausibilisieren, spürt man die Schockwirkung deutlich, die jeder
ideologische Abfall mit sich bringt. Ganz konkret besteht diese
Wirkung im Zwang, sich selbst im Häretiker wiederzuerkennen – und
sich dann, umgekehrt, wieder aus der Nemesis herausbuchstabieren
zu müssen. Das ist ein langer Weg, ein schmerzhafter Prozess, aber
doch gründlich und mit vielen feinen Differenzierungen und
Definitionen verbunden, die ganz nützlich sind für das, was wir hier
machen. Nämlich vielleicht genau dasselbe, was auch Fisher tut: Wir
spüren den Sog und die Bilder und die Referenzen, die wir nur zu
gut kennen, weil wir uns an ihnen auch schon lange, schon
Ewigkeiten, berauscht haben. Und dann richtet man den Blick auf
und sieht, dass der Malstrom, in dem der ganze Kram herumtreibt,
der einen gedanklich stimuliert, wirklich ein Mal-Strom ist. Die Droge
kommt von der Gegenseite, von der Leidenschaft des Bösen, um zu
Bataille zurückzukommen. Und in unserem Fall – excusé – wird
diese Leidenschaft dementsprechend auch durch die Gegenseite
des Technofaschismus produziert. Fisher spricht das Wort ganz am
Anfang aus, um dann nach und nach sich aus dem Strudel zu
befreien, indem er Lands Denken erst als »neolibertarian«
identifiziert, dann als »libertarianism of matter itself«, sodann als
»cosmic libertarianism« und am Ende als »neoanarchism«, was sich
viel netter anhört, wenn man aus unserem Milieu kommt. Interessant
ist aber doch die Frage, wie die Spur verläuft, der wir in diesem Fall
folgen und die wohl auch unsere Spur sein könnte, wenn wir nicht
davon überzeugt wären, dass Lands Diagnostik an einer ganz
entscheidenden Weggabelung falsch abbiegt. Gleichwohl: Was
verbindet uns mit diesem Denken?
Da landen wir dann vielleicht bei Lands Interview mit Wired UK
von 1997, das um die Aussage »organisation is suppression« kreist.
Man kann das ziemlich direkt auf den von dir erwähnten Nietzsche-
Satz beziehen, der zwischen Herrschaft und Kontrolle unterscheidet.
Herrschaft kommt bei Land nämlich nur dort zum Einsatz, wo
geplant werden muss. Dort, wo die Kybernetik aber perfektioniert
wurde, wo die sozialen Schaltkreise sich selbst organisieren,
modifizieren, perfektionieren, braucht es keine Planung mehr,
sondern nur noch Kontrolle. Was aber wird hier kontrolliert? Zu
welchem Zweck? Und die Antwort lautet: Kontrolle dient hier nicht
der Stabilisierung eines Systems wie bei Norbert Wiener, dessen
Kybernetik Land für eine »technische Spielerei« hält. Kontrolle
sichert vielmehr die Minimierung des Abstands von Input und
Output, im Zweifel die sprunghafte, selbstgesteuerte Transformation
von Systemen. Herrschaftsfrei ist das dann deswegen, weil der
Fluss der Energie keinem vorbestimmten Ziel mehr dient, sondern
ins Unbekannte driften soll, also dorthin, wo sich der Mensch selbst
gar nicht hinsteuern kann. Göttlicher Materialismus.
Vor zwanzig Jahren erwies sich Lands Volte dann auf den ersten
Blick als antivitalistisch: Die freie Vernetzung der Maschinen legt
gerade keinen vorkapitalistischen, in irgendeiner Form
»ursprünglichen«, also nicht entfremdeten Zustand der Menschheit
frei. Im Gegenteil: Wenn etwas aus ihnen werden soll, das diese
Welt aus Herr-Knecht-Verhältnissen hinauskatapultiert, dann
müssen die Maschinen das Leben ignorieren. Denn das Leben
basiert auf Subordinationsprinzipien, auf der Isolierung von
Zellfunktionen, auf der Unterwerfung bakterieller Prozesse.
Strukturen, die Land dann in Korporationen und staatlichen
Systemen wiederfindet.
Es gibt aber bereits in diesem frühen Interview einen seltsamen,
ungeheuren Unterton. Unterstellt wird nämlich, dass Systeme, die
ohne Selbstorganisation auszukommen versuchen, sukzessive von
Parasiten (»parasitically«) besiedelt und bewohnt werden. Dieser
Zustand wird nicht weiter kommentiert. Im gegebenen Kontext
könnte man darauf schließen, dass das parasitäre Leben innerhalb
eines Systems durchaus zu affirmieren sei, denn immerhin zeigt sich
an ihm die Abwesenheit von Herrschaft. Mir gefällt der Gedanke, wie
du ahnst. Meine Vermutung ist indessen noch eine andere: nämlich
die, dass der »Parasit« schon damals von Land als ein Problem der
sich wild verschaltenden Produktionsmittel gesehen wurde und in
der Konsequenz dann später, jetzt biologistisch aufgeladen, durch
die Akzeleration der kapitalistischen Maschinerie ausgetrieben
werden musste. Irgendwo hier – zwischen diesen beiden
Hypothesen – befindet sich der Glitch in Lands politischer
Entwicklung hin zum NRx. Und man muss diesen Glitch mit
Sicherheit noch enger einkreisen, bevor man auch auf der Falltür zu
stehen kommt.
Ich will die Klammer aber doch noch zu schließen versuchen: Die
Engführung von paranoischem Anti-Parasitismus und
herrschaftsfreiem System sieht man am offensichtlichsten wohl
gegen Ende von »Die dunkle Aufklärung«. Der Imperativ »Mach dein
eigenes Ding« steht da einerseits für die Aufkündigung einer
Teilhabe an Politisierung, die von Anfang an (und da steht er wirklich
ganz in Moldbugs Schuld) als ein parasitäres, lobbyzerfressenes
Geschehen begriffen wird. Andererseits – und da kämen wir jetzt zu
dir – begreift Land jenen Imperativ »Mach dein eigenes Ding« aber
auch als das »Andere« aller Dialektik. Er begreift ihn genau
genommen so anders, dass er nicht einmal mehr Argument sein
darf, denn dann wäre er Antithese und somit selbst wieder
dialektisch. Verraten wird dabei gleichwohl die apostatische Herkunft
seines Libertarianismus, nämlich der Leninismus, dessen Erbe die
Libertären überall walten sehen und dessen Frucht die
fortschreitende Politisierung gesellschaftlicher Wirklichkeiten ist.
Damit wäre die Grundlage für deine Vermessungen schon einmal
gesichert und wir sollten uns an ihnen auch abarbeiten. Gestatte mir
in der Sache aber noch zwei Überlegungen, auch auf die Gefahr hin,
redundant zu werden.
Zum Ersten: Da der Apostat ja immer auch zum System gehört,
dem er abzuschwören gedenkt, kennt er es vielleicht am besten,
denn er stellt es ja vom Kopf auf die Füße. Wenn für den Nick Land
der Gegenwart der Leninismus die treibende Kraft des Westens ist,
dann sieht er diese Kraft auch dort am Werk, wo wir nichts erkennen
können. Und das kann und konnte er nur, weil er sich die Freiheit
genommen hat, halluzinogen zu philosophieren. Als einer von
wenigen hat Land nämlich begriffen, dass man die Ödnis
marxistischer Wirklichkeitsübersetzung, die tradierte Formensprache
des dialektischen Materialismus, nur dadurch vom Tisch bekommt,
indem man sie fantastisch werden lässt. Weil Träume eben auch
Produktionsmittel sind, weil »Begehren und Science-Fiction« zur
Infrastruktur gehören, wie es in »CyberGothic« heißt. Diese
Halluzinationen müssen wir auf den folgenden Seiten bewohnen und
du findest dann vielleicht raus, hinter welcher Tür Lenin wohnt.
Zum Zweiten, und daran anschließend selbstkritisch: Es hat ja
schon seinen Grund, warum sich unsereiner mit dem Liberalismus,
egal welcher Schattierung, eigentlich nichts zu sagen hat. Und
warum wir stattdessen immer wieder bei Leuten wie Heinlein oder
Land anlangen, deren politische Bekenntnisse sich völlig antithetisch
zu unseren verhalten. Der offensichtlichste Grund ist wohl, dass man
einem libertären Fantasten eines nicht absprechen kann, nämlich die
Klarheit im Blick auf die eigene Lust. Deine Diagnose, dass die
Rechte mit Lands Texten eigentlich wenig anfangen kann, wird wohl
da ihren Anker finden: Die schonungslose Affirmation dessen, was
Kapitalismus alles beinhaltet, spricht eben all das aus, was jede
bürgerliche Verbrämung kapitalistischer Existenzformen
verschweigen will. Um es mit Brecht zu sagen: Ist der Kapitalismus
konsequent in der Praxis, dann ist er inkonsequent in der Ideologie.
Und da finden wir Land. Mit so jemandem kann man reden, denn
dann ist gesagt, was ist.
Aber es ist eben auch wichtig, wie es gesagt wird – und da wären
wir dann auch bei der Performance von Lands Texten. Zweifellos
kann man darin auch grassierenden Wahnsinn erkennen, wenn man
sich selbst noch für clean hält. Aber über weite Strecken – wir
können noch darüber diskutieren, ob und wo das endet – sind das
natürlich auch keine Schriften, die man auf ihre terminologische
Stringenz hin befragt, sondern die weniger verstanden als vielmehr
missbräuchlich konsumiert werden wollen. Sie suggerieren
Verständnis durch Wirkung.
In dem Zusammenhang würde ich dann auch noch einmal auf die
Hyperstition zu sprechen kommen und sie der marxistischen Logik
des Fetischs entziehen wollen. Für mich verbindet sich mit der
Hyperstition eher ein Sprachmodus, der zeigt, was ist, war und sein
wird, also eine Rede, die unmittelbar auf das Sein wirkt. So etwas
wie Delanys »Babel-17«: eine Sprachwaffe, mit der man aber auch
die Welt heilen könnte, wenn man das menschliche Subjekt aus der
Grammatik entfernt und die Maschine einfach mal laufen lässt. (Ich
würde ja im Übrigen behaupten, dass wir bei Delany vieles finden,
was CCRU später ausmacht. Muss noch mal Dhalgren lesen.)
Und jetzt habe ich ganz vergessen, was zum Okkulten zu sagen.
Kommt noch.
Shall rise / shall be dead,
P.
Lieber, Frankfurt a. M., den 10. März 2020
Du hast extrem konzis die zwei Kernfragen behandelt, die Land (für
mich) interessant und wichtig machen – ERSTENS: Er bricht mit
dem, was viele in seinen ursprünglichen Milieus so dauernd sagen
und schreiben, die Linksliberalen nämlich oder die linksradikal
kostümierten Linksliberalen. »Apostasie« sagst Du zu diesem Bruch,
und näherst Dich mit diesem religions-und dogmengeschichtlichen
Sprachgebrauch dem von Yarvin, dem ja auch Land folgt. Denn
beide nennen einen von ihnen behaupteten, angeblich
meinungsbildenden und -einhegenden Komplex aus Universitäten,
Schulen und Medien, den sie im Westen/Norden erkannt haben
wollen, mit einem Namen, der eine Kirchenorganisation unterstellt:
»The Cathedral« – gemeint ist der Universalismus der
Menschenrechte und sein Zerrspiegelbild in allerlei neueren, linken
Identitätspolitiken bis hin zur Intersektionalität. Beide, der
Universalismus wie seine neuen Folgen, sind nach Yarvin und Land
Ergebnisse des Protestantismus, also religiöse, künstliche
Kopfgebilde, die von einer Priesterschaft erfunden, verbreitet und
durchgesetzt wurden und werden. Deren Konstrukte verdecken im
Weltbild der zwei Neoreaktionäre die WAHRHEIT, die bei Nick Land
seit einigen Jahren GNON heißt, was gnostisch, hermetisch,
esoterisch und okkult klingt, aber einfach eine Thomas-Jefferson-
Paraphrase ist, nämlich die Abkürzung rückwärts (NONG) für eine
Formel, die aus dem amerikanischen politischen Flügel der
Aufklärung kommt, die Formel der Gesetze von »Nature and of
Nature’s God«.
GNON ist für Land die Finsternis der Wirklichkeit, kontrastiert
gegen die lichten Kuschelträume der Linksliberalen – neulich hat
Land anlässlich der beginnenden Coronakrise einen harten Tweet
rausgefeuert, eine Perversion von Platos Höhlengleichnis: Die
meisten Menschen lassen sich, sagt er da, von den Bildchen an der
Höhlenwand ablenken, der mutige, hingebungsvolle, intellektuell
unkorrumpierbare Gläubige GNONs dagegen steigt tiefer in die
Höhle, in die absolute Dunkelheit der Wahrheit.
GNON ist für Yarvin wie für Land alles, was die Linksliberalen
nicht wissen wollen und was sie laut den Prophezeiungen auf Lands
»Xenosystems«-Website wie in allen Schriften nach seinem
Zusammenbruch (und damit auch seinem Bruch mit seiner noch im
Cultural-Studies-Milieu verwurzelten Anbindung an irgendwelche
linken Diskurse), also: seit seiner Apostasie, vernichten wird. GNON
ist stärker als Ideale, GNON ist etwas, das sich verhält wie die
Großen Alten bei Lovecraft, wie Satan beim satanischen Black
Metal, die vergessenen Gottheiten der Germanen im heidnischen
(Black) Metal oder einfach die »Lawless Darkness« bei Watain.
GNON reißt den schönen Schein entzwei, der so tut, als könnten
Menschen es sich in der Welt wohnlich einrichten. Wir Menschen
sind nicht vorgesehen, unser Bewusstsein ist, wie bei Benn, ein
Fehler, eine Zufallsmeise der Evolution, die Naturgeschichte will und
wird über uns hinausgelangen, »think face tentacles« (Nick Land):
Nach uns kommen freie Monster, wir sind Zwerge, die sich selbst in
ihren Träumen eingesperrt haben, Zwerge, die GNON fressen wird –
am konsequentesten gestaltet ist diese Vision in Providence von
Alan Moore, auch ein britischer Okkultist, Hermetiker, Esoteriker, der
also in derselben Tradition steht wie Land, einer sehr britischen der
Apostasie, der doxastischen Apokalyptik und Eschatologie, einer
Zurückweisung derjenigen Selbstberuhigung des Denkens, die
glaubt, Denken könnte die Welt in den Griff kriegen (»Newton’s
Sleep« sagt der Ur-Ahnherr dieser Tradition dazu, William Blake).
Die Größten dieser Tradition sind, nach Blake, wohl David
Lindsay (A Voyage to Arcturus), Aleister Crowley, Austin Osman
Spare, Moore, Land und David Bowie (nicht nur, aber vor allem auf
Station to Station; der Mann hat seinen Éliphas Lévi wirklich
verstanden).
Alan Moores Providence endet damit, dass ein Wohlmeinender
die Ankunft der Grauenhaften Alten Götter, die unsere Welt fressen,
in letzter Minute noch aufhalten will, eine Beschwörung sucht, einen
technischen Trick, und eine andere Figur sagt ihm: Lass nur, es ist
nicht diese Art von Geschichte – die WIRKLICHE Geschichte
interessiert sich nicht dafür, was Menschen wollen. Das ist die
Apostasie: Land und seinesgleichen brechen mit der
abendländischen Idee des richtigen Lebens in der richtigen
Erkenntnis des Wahren, das auch noch das Gute sein soll, mit einer
Ideenspur, die von der Selbsterziehungsdenkerei der Griechen mit
ihrer Logik und Mathematik und Rhetorik und Epistemologie und
Ontologie über die christliche Heilsgeschichte und deren
philosophische Derivate zwischen Condorcet und Hegel bis zur
Fortschrittsvernunft der Aufklärung und deren illegitimem Kind reicht,
genau: der revolutionären Arbeiterbewegung.
Land sagt: Nein, die wirkliche Weltgeschichte ist nicht DIESE Art
von Geschichte. Sie ist dunkler, irrationaler (oder: transrationaler,
denn wie Nietzsche und Bataille affirmiert Land ja Teile des
abendländischen Rationalitätsverständnisses, die er aber gegen den
Rest kehren und waffenfähig machen will, bis hin, in seinen jüngsten
Arbeiten, zu den instrumentell-rationalen Voraussetzungen für
Raumfahrt oder Kosmologie). Dieser Bruch mit der aus dem
akademischen Leben, insbesondere der Human- oder
Geisteswissenschaften, und der Meinungssphäre in den liberalen
westlich-nördlichen, bürgerlichen Demokratien gewohnten
Vorstellung von unserer Epoche, von unserem Platz im historischen
Weltganzen, ist wohl das Erste, was Land interessant macht für
Menschen, die WIE ER, ABER GANZ ANDERS, denken, dass das
alles nicht hinhaut, was die Frommen uns dauernd erzählen.
Besonders lehrreich, und zugleich erschreckend, finde ich, wie
absurd konsequent er dabei vorgeht: Die Akademie und der
Medienquatsch im Westen nach 1945 haben, sagt er, eine größere
Toleranz nach links als nach rechts gezeigt, sie ließen eher mal
(wenn auch sehr kontrolliert, gedrosselt, überwacht, domestiziert
etc.) eine Marxistin was erzählen (weil die doch, after all, in der
akzeptierten Tradition stand, der aufgeklärten, aber irgendwie für
Altruismus empfänglichen, der linksliberalen; Marx fing schließlich
linksliberal an) als einen Nazi, daher hört Land MUTWILLIG
UMGEKEHRT eher einem Nazi zu als einem Linksliberalen. So mag
er denn auch Curtis Yarvin – der kein Nazi sein will, aber rechts von
so ziemlich allem steht, was in den Medien und an der Uni passiert –
lieber (und liest und deutet und verteidigt den eher) als etwa eine für
mich großartige, widersprüchliche Figur wie J. Moufawad-Paul.
Denn wo immer Land Marxismus vermutet, da ahnt er auch schon
dessen illegitimen Urenkel Habermas, und den findet er einfach
lächerlich und irrelevant (ich meine hier nicht Habermas persönlich,
sondern seine aus Lands Perspektive gesehen völlig verrückten
Ideen wie Konsens usw.). Die Apostasie, der Bruch mit dem
Linksliberalismus, hat Land erstens ein paar Brecheisen gegen
dessen notorische Heuchelei schmieden lassen, die man durchaus
auch zu was Anständigem gebrauchen kann, sie fordert aber
zweitens, noch wichtiger, diejenigen, die noch auf dem common
ground dieses Linksliberalismus stehen, zu Reaktionen heraus, die
ab und zu ihren intellektuellen, politischen und moralischen Bankrott
offenlegen. Wer auf Nick Land nur noch mit dem Finger zeigen kann
und sagen: Böse!, ist kampfunfähig. Lands gestische Wendung
gegen seinen Feind legt ihn allerdings auch fest auf lauter Sachen,
die, gelinde gesagt, weit weniger mit der Realität einer finsteren
transzendentalen Macht und viel mehr mit Lands kleinbürgerlicher
Sozialisation und Stellung zu tun haben, als ihm lieb sein kann,
nämlich grob ideologisches und sachlich restlos bescheuertes Zeug
wie die Idee, dass Menschengruppen politisch entlang von Linien
ihrer genetischen Verschiedenheit (»human biodiversity«) sortiert
gehören, dass Sozialismus »nicht funktioniert«, aber autoritäre
Kleinstaaterei (Modell Singapur) die Zukunft sein soll, dass
Demokratie bestenfalls das Postulat einer idiotisch-sentimentalen
Moral sein könne und mancherlei Elitenkäse mehr. Wo die Apostasie
Lands einen KRITISCHEN, einen NEGATIVEN, einen
DESTRUKTIVEN Charakter hat, da höre ich bei ihm satanische
Engel singen, deren Choräle mir süße Musik sind. Wenn er dann
aber durchblicken lässt, was er stattdessen will, nämlich
Übermenschenseparatismus und Beschleunigung derzeitiger
Entmenschungsdynamiken an allen Fronten, dann ist das halt leider
auch nicht klüger als der computerisierte Landkommunenquatsch
gewisser Neo-Hippies oder der chancenarme und halbgare
»Democratic Socialism« des ehrenwert-niedlichen Senators Bernie
Sanders. Noch wertvoller als den ERSTEN PUNKT besagter
Apostasie, der damit erst mal im Abriss dasteht, finde ich aber eh
den ZWEITEN PUNKT, den Du anreißt, wenn Du schreibst, »dass
man die Ödnis marxistischer Wirklichkeitsübersetzung, die tradierte
Formensprache des dialektischen Materialismus, nur dadurch vom
Tisch bekommt, indem man sie fantastisch werden lässt. Weil
Träume eben auch Produktionsmittel sind, weil ›Begehren und
Science-Fiction‹ zur Infrastruktur gehören, wie es in ›CyberGothic‹
heißt«.
Ich nenne diesen Punkt, nachdem Du den ersten, den Bruch mit
dem Linksliberalismus, »Apostasie« nennst, aus gewissen
ideengeschichtlichen Gründen, die ich hoffentlich gleich klarmachen
kann, die »postprogressive Sackgasse«.
Nick Lands erste substanzielle Veröffentlichung ist ein Buch über
Bataille. Land stammt, wie unter anderem dieser Umstand zeigt, aus
einer Intellektuellengeneration, die sich in den englischsprachigen
Ländern »den Franzosen« und ihren Quellen (zu denen Bataille
gehört) zuwandte, also den Strukturalisten und Poststrukturalisten,
dem Denken der Pariser Sechziger. Die Generation zuvor fand sich
noch in einer Lage, über die Wolfgang Pohrt im Rückblick gespottet
hat: »Es war einmal, dass die Universitäten Marxismus meterweise
produzierten. Sie produzieren heute anderes, und es macht nicht
mal einen Unterschied.« Dieses »andere«, eben das, was heute
linke wie rechte Theoriestars und Theorie-Apostaten, Deuterinnen,
Denkerinnen und Performer geprägt hat, kam auf als die zweite
große Abwendung bürgerlicher Intelligenz vom Marxismus. Die erste
gab sich selbst noch marxistisch, jedenfalls in ihren Anfängen: die
Kritische Theorie.
Diese ist, wenn man die bells und whistles abzieht, nichts als eine
in schöne und schwierige Sätze gefasste Enttäuschung einiger
Intellektueller darüber, dass die Weltrevolution, mit der sie doch
sympathisiert hatten, nicht kam, sondern stattdessen der
Faschismus. Ich kann mich in diese Enttäuschung gut einfühlen;
aber das Beleidigtsein quasimarxistischer Köpfe übers Ausbleiben
ihrer Erlösung durch die Arbeiterklasse führte leider zu
ansteckenden Gesten der Entsagung gegenüber der Epoche
insgesamt, Gesten, die sehr viel intellektuelle Potenz lahmlegten: Es
sollte plötzlich »kritisch« sein, zum Beispiel moderne Massenkünste
dünkelhaft als ästhetisch nicht diskussionswürdigen Scheiß abzutun
(»Kulturindustriethese«), und es sollte ebenso »kritisch« sein, wenn
man von Wissenschaft und Technik nichts verstand und auch nichts
hielt (»instrumentelle Vernunft«). Spätmarxistische Linke dieser
Prägung waren Leute, die an Film und Popmusik hassten, dass
diese industriell hergestellt wurden, und an Mathe, Physik und
Ingenieurswesen, dass derlei die Industrie ermöglichte und damit
dem Kapitalismus diente.
Völlig aufgegeben hatten diese Linken den Unterschied zwischen
kapitalistischer und sozialistischer Industrie, zwischen
Instrumentalität zu vernünftig ermitteltem Zweck und Instrumentalität
unter der Fuchtel von naturwüchsigen, nicht reflektierten Zwecken
(wie dem Profitmotiv). Da sie dachten, »die Guten« gewinnen den
Kampf zwischen Kapital und Arbeit eh nicht, wollten sie von der
ganzen Moderne nichts mehr wissen, die dieser Kampf war. Es ist
eine regressive Angelegenheit: Schlimm soll nicht mehr das
Lohnarbeitssystem sein, sondern die böse Fabrik, und ein Kapitalist
ist einfach ein böser reicher (alter weißer?) Mann, nicht jemand, der
sich die Arbeit anderer per Ausbeutung aneignet. Von da bis zu den
Weltuntergangssekten am rechten, apokalyptischen,
antihumanistischen Rand der Klima-Entrückten (also im
wiederbelebten Ökofaschismus, nicht bei ernsthaften Leuten, die
den Planeten nicht sterben lassen wollen) ist es nur noch ein
Schrittchen.
Strukturalismus und Poststrukturalismus wieder sind nun zwar ein
ANDERER Schritt aus dem Marxismus-Leninismus, welcher »nicht
funktioniert hatte«, aber sie sind AUCH ein Schritt dieser Art.
Während Horkheimer und Adorno dem Marxismus zunehmend
misstrauen, da er ZU MODERN war, misstrauen Strukturalismus,
Poststrukturalismus und schließlich die Cultural Studies, die sich von
ihnen inspirieren ließen und die Lands (wie aber auch Mark Fishers,
Sadie Plants oder Kodwo Eshuns) geistiger Mutterboden sind,
demselben Marxismus aus dem entgegengesetzten Motiv: Er war
ihnen NICHT MODERN GENUG.
Horkheimer und Adorno finden Lenin ZU OPTIMISTISCH,
Foucault findet ihn ZU SPIESSIG, zu brav in seinem
Gesellschaftsbild, zu sehr an Idealen und vernünftigen Zwecken
orientiert statt am Unfassbaren, zu schematisch – die
Gesellschaftsperspektive »der Franzosen« hält den Marxismus-
Leninismus für LANGWEILIG (Du sagst: »Ödnis«) statt für, sagen
wir: etwas, das übertrieben begeistert ist von seiner eigenen
Mission. Sie sehen ihn so, wie Deleuze und Guattari den Herrn
Freud sehen: als Opa mit überholten Denkschablonen in der Mappe.
(Pohrt übrigens, der ihnen da näher steht als den von ihm
bewunderten Herren Horkheimer und Adorno, fand Lenin tatsächlich
und wörtlich »langweilig«.)
Diese Diagnosen und Anamnesen (»langweilig«, »öde«) nehme
ich als Befunde ernst, soweit sie eine Beziehung des entwickelten
Intellektuellenbewusstseins zum marxistischen Erbe beschreiben
(Deine, Nick Lands), etwa so, wie ich es ernst nehme, wenn Deleuze
und Guattari sagen, Freuds Lehre begreife die Psyche zu Unrecht
als Theaterbühne statt als Produktionsstätte, ihn interessiere nur der
Schematismus des Symbolischen (dies oder das im Traum oder im
Symptom steht für dieses oder jenes Triebschicksal), nicht die
»Wunschmaschine«, man solle doch Fantasien HERSTELLEN, statt
sie zu DEUTEN.
Der Gedanke, den Du anführst, dass »Träume eben auch
Produktionsmittel sind, weil ›Begehren und Science-Fiction‹ zur
Infrastruktur gehören, wie es in ›Cybergothic‹ heißt«, stammt direkt
von Deleuze und Guattari, da hat Land diesen Einfall gelernt, und er
parallelisiert als Freudkritik die Traditionsmarxismuskritik der
spontaneistischen, anarchistischen (teils auch: maoistischen)
Achtundsechziger. Diese Kritik war bekanntlich der Meinung, der
traditionelle Marxismus-Leninismus DEUTE die Revolution und ihre
Voraussetzungen nur noch, statt sie zu MACHEN. Also: Wir wollen
Aktionen (und sei es symbolische …), nicht »die Ödnis marxistischer
Wirklichkeitsübersetzung, die tradierte Formensprache des
dialektischen Materialismus«, wie Du sagst. So ernst ich das nun
aber als Beschreibung dessen, wie sich Marxismus-Leninismus für
bestimmte Menschen in einer bestimmten historischen Situation
ANFÜHLT, nehme und nehmen muss, so wenig zutreffend finde ich
es als Tatsachenbehauptung. Ich sehe in dieser
Tatsachenbehauptung vielmehr die Fetischisierung eines
Verhältnisses (die Denkenden verhalten sich zu einer Lehre) als
angebliche Eigenschaft der Sache (der Lehre), zu der sich Leute da
verhalten.
»Marxismus ist öde« scheint mir nicht wahrer als: »Dieser
Mensch da ist unser König«: Wenn wir ihm gehorchen, ist er es,
wenn nicht, dann nicht. Soll heißen: Langeweile ist, wenn ich mit
etwas (im schlimmsten Fall: der ganzen Welt) »nichts anfangen«
kann, aber das kann an vielem liegen, nicht nur an dem Ding, mit
dem ich nichts anfangen kann.
Wer keinen Strom hat, empfindet den Computer als langweilig,
der ist nämlich ohne Strom ein inerter Kasten. In der Windstille ist
Segeltheorie öde. Es liegt nicht am Thema und nicht an der Theorie,
es liegt an der Lage. Intellektuelle machen immer denselben Fehler:
Wenn irgendwo ein Konzept gefunden wird und diejenigen, die ihm
folgen, das nicht erreichen, was sie damit erreichen wollen, liegt’s
am Konzept, weil Intellektuelle berufshalber Konzepte überschätzen.
Manchmal verlieren Leute aber aus anderen Gründen als
theoretischen einen Kampf. Es gibt sogar sehr knappe Ausgänge
und ausgeglichene Spielausgangssituationen, in denen es auf
Strategie und Taktik weniger ankommt als auf Glück, Einzelform etc.
– etwas in der Art war der Kalte Krieg, die Chancen des Ostens
standen nicht ganz so schlecht, wie man heute behauptet,aber es
ging zäh zu, insbesondere im Kapitalismus, wo der Klassenkampf zu
der Zeit, als man an der Uni, bei den Medien und in Kunst und Kultur
langsam die Lust am Marxismus verlor, tatsächlich ein wahnsinnig
zäher, überall sozialdemokratisch eingeschmierter und zugelaberter
Stellungskrieg geworden war (»Die Siebziger«, als Nick Land
Teenager sein musste, wirklich ein Fluch).
Weil »der Marxismus« und seine verkommenen Zerfallsformen,
von der Frankfurter Schule bis zur »Konsumkritik« (an der
»Wegwerfgesellschaft« oder »Überflussgesellschaft«, oh Lord, dabei
war und ist das Gute an Marx doch, dass er Produktionskritik treibt
und ermöglicht statt Konsumkritik oder gar, wie bei den
faschistischen antisemitischen Theorien übers Finanzkapital, die
noch stupidere Zirkulationskritik), im linksliberalen Milieu zwischen
Uni und Kunst und Medien und Kulturleben so absurd »hegemonial«
(d. h.: zerquatscht) waren damals, gab’s viel Apostasie – man
wandte sich, statt gleich einem ehrlichen Antikommunismus, erst mal
untergegangenen oder übersehenen Seitenarmen der marxistischen
und paramarxistischen Denkerei zu; einige entdeckten Gramsci (ein
wichtiger Schritt in Richtung Cultural Studies …), andere Trotzki,
wieder andere irgendwelche romantischen Linksradikalismen (von
Pannekoek führt ein komischer Weg zum Operaismus) oder Walter
Benjamin oder was auch immer. Alle wollten sie jedenfalls mehr
ORIGINALITÄT, mehr FANTASIE, weniger Langeweile und Ödnis.
Wie sah das aus? Das beste Momentbild, das ich kenne, bietet der
Godardfilm Tout Va Bien von 1972. Achtundsechzig war vier Jahre
her, alle im Film grübeln irgendwie bewusst oder unbewusst darüber,
warum nicht mehr draus wurde, warum »alles so weitergeht«.
Drei Szenen: Ein Arbeiter, der in einer Fleischfabrik einen wilden
Streik mit ausgelöst hat, beschwert sich darüber, dass die
Gewerkschaft (also: die etablierte Organisation des Arbeitskampfes)
ihm und seinesgleichen immer mit irgendwelchen Zahlen kommt und
den Leuten damit ausreden will, einfach mal drauflos zu kämpfen
(die Zahlen sind wohl betriebswirtschaftliche und
makroökonomische, Bestandteile »marxistischer
Wirklichkeitsübersetzung« eben, in Gestalt von Wirtschaftsanalyse).
Der Arbeiter sagt: Mir reicht es mit den ökonomischen Schulungen,
ich will dem Chef in den Arsch treten. Nächste wichtige Szene, eine
Weile später (diese Szenen kommen immer als Kontextmomente zu
der den Film gliedernden Liebes-Beziehungs-Stress-Geschichte
zwischen einem französischen linken Intellektuellen und
Filmemacher ohne Perspektive, Yves Montand, und einer
amerikanischen linken Intellektuellen und Journalistin ohne
Perspektive, Jane Fonda, denn das Private ist politisch bla bla bla):
Kampf der Studierenden. Die legen sich mit den Bullen an, aber der
Parteikommunist steht mit der Parteizeitung da und liest daraus vor,
man solle nicht individualistische Knallaktionen veranstalten, denn
das bringe nichts. Dritte wichtige Szene: In einem Riesensupermarkt
stehen die Menschen wie Zombies an den Kassen und lassen sich
abfertigen. Zum Angebot im Monsterladen gehört auch das
kommunistische Programm, ein Parteikommunist liest daraus vor
und will es verkaufen wie Seife oder Obst, aber ein paar wilde Studis
stellen ihn zur Rede: Los, erklär mal, wie soll das die Welt
verändern? Und er sagt nur: Kommen Sie ins Parteibüro. Na schön,
der ist eben langweilig, also fangen die Studis an, zu randalieren,
und klauen die Waren und stecken die Zombies mit ihrer Manie an,
die jetzt also auch plündern, und alle prügeln sich schließlich mit den
Bullen. Na ja. Das finde ICH langweilig, diesen
Kindergartenaufstand.
Der öde Typ mit der Zeitung hat einfach RECHT, wenn er sagt,
Steineschmeißen ohne Plan bringt nichts. Und der Arbeiter, der sich
eingeseift fühlt von den Zahlen der Gewerkschaft, zieht den falschen
Schluss, wenn er denkt: Scheiß doch auf die Zahlen. Denn der
einzige Weg, das reformistische Jonglieren mit Zahlen zu beenden,
ist der revolutionäre Gebrauch der Zahlen zur illusionslosen
Beschreibung der Lage. Wenn diese Lage trostlos ist, darf man das
der Beschreibung (»Wirklichkeitsübersetzung«) vorwerfen?
Ich verstehe gut, dass die besten Intellektuellen sich langweilen,
wenn immer nur das wiederholt wird, was stimmt – SO LANGE
DARAUS EBEN NICHTS FOLGT. Die Psychoanalyse sagt über die
Langeweile (etwa bei Otto Fenichel) ganz richtig, dass sie ein
VERHÄLTNIS des Bewusstseins zur Welt ist: Wenn ICH nicht tun
kann, was ICH eigentlich will, kann ich mit DER WELT buchstäblich
»nichts anfangen«, sie wird öde, sie wird Wüste. Ein Zustand fühlt
sich als Impulsarmut an, was in Wahrheit eine Einschätzung meiner
Chancen ist, etwas auszurichten. Die Pattsituation im
Weltklassenkampf war aus Blei. Seither ist sie gekippt. Die Lage ist
nicht mehr langweilig, sondern pure Scheiße (»We’ve got a bigger
problem now«). Die Idee der Warenhausplünderung hat sich als
Performance der Perspektivlosigkeit herausgestellt. Statt sich
angeekelt von der Welt abzuwenden, versuchen diverse Leute jetzt,
die Scherben der älteren Versuche, das Bewusstsein fit für die
Veränderung der Verhältnisse zu kriegen, einzusammeln und neu
zusammenzusetzen. Ein Teil der Menge der Spiegel für die Welt, die
so entstehen, sind rechte Zerrspiegel, ein anderer Teil zeigt
unverständliches Zeug, Esoterik. Man muss das, fürchte ich, alles
sichten.
Also zum Okkulten: Da würde ich, nachdem ich glaube, den
Zusammenhang, in dem das, was Land denkt und schreibt, für mich
passiert, erschöpfend dargestellt zu haben, im nächsten Durchgang
unbedingt tiefer rein wollen. Was ist das für eine Linie, Blake-Spare-
Crowley-Land, was ist das für eine Kabbala, was für eine Gnosis,
was für eine Hermetik, wozu dient die – und gabelt sich das vielleicht
so: Ist das, was man damit machen kann, eventuell mehr als das,
was Land damit macht und damit machen will?
Yourstens,
D.
Lieber Dietmar, Zürich, den 16. März 2020
wenn ich es recht besehe, kann ich deine Schlussfrage beantworten,
indem ich erst noch einmal auf die »Ödnis« zu sprechen komme. Du
hast mit Sicherheit recht: Langeweile ist kein Kriterium, wenn es um
die angemessene Beschreibung der politischen Lage geht. Wenn die
Lage langweilig ist, weil selbst zutreffende Diagnosen nicht zur
Heilung führen, sondern Kapitalismus halt Kapitalismus bleibt, dann
hat das nur bedingt was damit zu tun, dass die Leute es halt zu
beschwerlich finden, zum Beispiel so etwas wie den
Doppelcharakter von Arbeit zu denken. Und kein Zweifel:
Aktionismus, der revolutionär agiert, ohne es am Ende weder sein zu
können noch sein zu wollen, stabilisiert in jedem Fall das System,
gegen das er antritt.
Allerdings hat es mit der Ödnis marxistischer
Wirklichkeitsübersetzung noch eine andere Bewandtnis – und
sowohl Lands frühe akzelerationistische Verachtung von
Folklorepolitik als auch seine spätere libertäre Kritik an dem
Komplex, den er »The Cathedral« nennt, gründen in der Sehnsucht
nach einer Aufladung des Denkens mit dunkler Energie. Ich kann
diese Sehnsucht durchaus verstehen, denn ihr Refugium ist die
ästhetische Erfahrung. Du wolltest ja aber wissen, wozu diese
Aufladung gut sein könnte, und ich glaube, man kann bei Land
durchaus lernen, wozu sie taugt.
Einer der Texte, die Lands Selbstverständnis am klarsten
transportieren, ist zweifellos »Schamanischer Nietzsche« von 1995.
Oberflächlich betrachtet handelt es sich um die Lektüre einer
Nietzsche-Lektüre, nämlich derjenigen Batailles im dritten Teil der
Somme athéologique. Tatsächlich werden da aber die Weichen für
alles Weitere gestellt: hinsichtlich der Diktion, hinsichtlich der
Verortung dessen, was Land als Philosophie begreift, und
hinsichtlich des Erkenntniswertes von Dichtung. Im Zentrum des
Textes stehen ein Begriff und eine Frage: der Begriff der epoché und
die Frage, was wäre, »wenn Wissen ein Mittel zur Vertiefung des
Unwissens wäre?« Beginnen wir bei der epoché: Der Begriff gehört
zur Skepsis, und er ist für Land deswegen wichtig, weil sie ihm
präziser als alles andere zu bezeichnen scheint, was bei Nietzsche
die »Umwertung aller Werte« meint. Die epoché oder
»Zurückhaltung«, wie sie die Skeptiker verstehen, verläuft in zwei
Richtungen: Zum einen ist sie der schärfste Schnitt nach außen, die
Aufkündigung der Teilhabe an Wahrheitsgemeinschaft. Das ist nichts
wirklich Neues. Zum anderen aber – und da beginnt Lands
begriffsgeschichtliche Umschrift – öffnet der Akt der
Urteilsvermeidung auch einen Weg nach innen, insofern epoché
eben kein Modus der Apathie ist. Vielmehr wird der Skeptiker von
etwas »zurückgehalten«: Etwas hindert ihn daran, die Schatten in
Bilder, in Ideen aufzulösen, an der Leine der Vernunft den Weg in die
Gemeinschaft der Philosophen anzutreten. Um dieses Etwas, seine
Verbalisierung und seine Pragmatisierung, geht es bei Land. Es sitzt
unterhalb der epoché, diesseits des Einschnitts, an dem die
Herrschaft der Ratio beginnt.
Da will er hin: Alles Wissen dient der Vertiefung des Unwissens.
Und ich übersetze »unknowing« hier bewusst nicht als
»Nichtwissen«, sondern als »Unwissen«, weil es nicht um den alten
hermeneutischen Taschenspielertrick geht, dem zufolge jede Antwort
zwei neue Fragen ergibt. Nein: Alles Wissen dient der Vertiefung des
Unwissens mittels Rückstoßenergie, also mittels der
Abkehrbewegung von allem, was dem Wahrheitsdiskurs verpflichtet
ist. Und weil man mit der Sprache und den Bildern und der
Denktradition der abendländischen Philosophie nicht näher an das
Unwissen rankommt, sondern nur weiter weg, wählt er sich einen
eigenen Argumentationsmodus (der sich auf die Fiktion stützt) und
eine eigene Denktradition. Dort, wo diese zu konventionell
rüberkommt, schreibt er sie um, deswegen ist sein Nietzsche auch
nicht einfach Nietzsche, sondern ein »schamanischer Nietzsche«.
Gleiches gilt für Schopenhauer.
Die Hauptlinie der Traditionsbezüge Lands ist dann aber
tatsächlich okkult. Nicht, ja gerade nicht in einem wissenschaftlichen,
also banal geistesgeschichtlichen, überhaupt historischen Sinn
okkult, sondern in der Form der Bezugnahme. Er amalgamiert da
allerhand, zitiert aber eigentlich kaum – das wäre dann nämlich
wieder Verwissenschaftlichung. Okkulte Inhalte sind erst in ihrer
poetischen Transformation wirklich zugänglich: Deswegen zitiert er
nicht Blake, sondern Blake durch Rimbaud, deswegen nimmt er
zwar das Spiel mit der Gematria – also der kabbalistischen
Auflösung des Alphabets in Algebra – bei Crowley oder Kenneth
Grant zur Kenntnis, sagt aber zugleich, dass das alles nichts wert
sei, weil die ganze Kabbalistik nur nach einer grundlegenden
Erneuerung ihrer kulturellen Funktion zu gebrauchen wäre.
Überhaupt zielt die Annäherung an Crowley – das CCRU hatte
sein Hauptquartier am Ende ja in Crowleys Haus in Leamington Spa
– auf den inszenatorischen Charakter okkulter Zeichensysteme. Man
muss sie ernst nehmen, wie man auch Lands Cybermonstrositäten
ernst nehmen muss. Aber das, was diese Zeichensysteme
ermöglichen, ist im besten Falle Disruption. Im allerbesten Falle: die
Einsicht, dass die tote Materie lebt, also untote Materie ist, die sich
unseren Befehlen verweigert. Das kann man sich so vorstellen wie in
William Gibsons Neuromancer, also als technische Singularität
»Wintermute«, oder wie im Horror als Zombie oder eben wie bei
Land als beides zugleich. In jedem Fall ist das, was sich uns da
zeigt, nichts Steuerbares und auch nichts Widerrufbares mehr, also
kein Golem. Es zeigt sich ohnehin nur als eine Art
Interferenzphänomen: Dem Menschen erscheint etwas, was
offensichtlich nicht für ihn gedacht ist, was er nicht verarbeiten kann.
Das nimmt er dann als eine Störung, eben: eine Disruption seiner
Denkströme wahr, die immer auf Synthesen zielen.
Was Land von Crowley mitnimmt und weiterdenkt: »Nur das ist
wirklich hermetisch, was sich selbst verbirgt.« Das zitiert er in einem
Blogeintrag mit dem Titel »Occult Xenosystems« aus einem
wohlweislich ›verlegten‹ Exemplar von Crowleys 777 – und es meint
Zweifaches. Zum Ersten ist das, was uns hermetisch scheint, selbst
eben nicht verständlich, System, ›Tor zur andern Welt‹ oder
ähnliches. Zum Zweiten ist das Hermetische an einen Akt gebunden,
in dem es die Zeichenmaterie aufschichtet, den Grund aufwühlt, um
sich unter ihm zu verstecken. Wir registrieren die Bewegung, den
Schutt, die Risse im Boden. Es sind Spuren, aber wenn man in
ihnen Muster sehen, diese deuten, systematisieren und für sich
operationalisieren will, dann dringt man nicht zu ihrer Ursache vor. In
anderer Hinsicht ist das im Übrigen genau die Horrorsemantik, die
wir mit Land »Kapitalismus« nennen dürfen.
Damit will ich mich aber dann auch mal dem widmen, was da unten,
im Reich des Okkulten eigentlich so lauert, und fragen, welche
Beziehungen das Okkulte überhaupt zu Diskursen aufbauen kann,
die uns umgeben und beschäftigen. Ich belasse es erneut bei zwei
Beobachtungen, nämlich einer poetologischen und einer politischen.
Zunächst einmal die poetologische Beobachtung. Land greift sich
Trakl, er greift sich Rimbaud, weil er es da mit einer Lyrik zu tun hat,
die sich aus der Infernalität heraus bestimmt, oder umgekehrt: die
die Infernalität als Voraussetzung der Dichtung bestimmt. »Wahre
Poesie ist abscheulich [hideous]«, heißt es in »Schamanischer
Nietzsche«, und die Begründung dieser Feststellung ist die, dass
das poetische Sprechen »basale Kommunikation« ist. Die Dichtung
stößt die etablierten Prozesse der Sinnbildung von sich ab, sie
verweigert sich dem »pseudokommunikativen Diskurs« und ist
folglich der epoché als Bewegung ins Unwissen allein angemessen.
Wer dichtet, wer fingiert, der oder die kehrt um, richtet den Blick
nach unten und erkennt sich selbst als infernalische Schöpfung, als
»Traum des Bösen« oder als »böses Blut«, als »race inférieure de
toute éternité«. Lands konsequente Vermischung von Theorie und
literarischer Fiktion kommt von da her: Man muss immer wieder in
diesen Grund zurück, und nur ein Denken, das diesen Grund nie
verlässt, das also infernalisch, vulgo: poetisch bleibt, hat überhaupt
einen Wirklichkeitsbezug. Ich lasse das vorerst einmal so stehen.
Nun sind wir bereits im Dunklen und kommen – endlich – zur
politischen Beobachtung. Wie oben beiläufig erwähnt, verfährt Land
explizit nicht okkult im Sinne einer Tradierung okkulten Wissens,
sondern okkult in der Ausbildung von Wissensformen und -
verfahren, wie das der ganzen CCRU-Geschichte grundsätzlich
zukommt. Dazu gehört die Überbietung des kabbalistischen Etz
Chajim im Numogram; dazu gehört aber auch der riesige
lexikalische Apparat mit seinen verwirrenden Querbezügen, die nicht
darauf abzielen, ein Wissenssystem zu erzeugen, sondern vielmehr
Energie aus dem Unwissen, dem Nichtverstehen ziehen, Chiffren,
Losungen und Icons erzeugen (die man dann auf Shirts drucken und
auch teuer verkaufen kann). Das ist keineswegs nur Spiel, auch
wenn Spielen für diese Form okkulter Praxis essenziell ist. Das Spiel
mit arkaner Symbolik, mit den Verweisen auf Verworfenes,
Ausgeschlossenes, Technisch-Fantastisches, auf das kulturell
Inferiore – erst dieses Spiel erzeugt die negative Energie, mit der
man den Menschen über das, was er gerade darstellen soll,
hinaustreiben kann. Je verzweigter, je elaborierter das Spiel, umso
stärker der Schub – und wenn es einem wirklich darum ginge, das
spätkapitalistische Packeis aufzutauen, um mal nachzusehen, was
aufgetaute Gesellschaften dann so tun, dann braucht es dieses
okkulte Potenzial zwangsläufig.
Bataille hat das zum Ansatz seiner Faschismusdiagnose
gemacht: Sobald man sich auf das Feld der heterogenen sozialen
Existenzen begibt, also zu jenen, die vom Warentausch
ausgeschlossen sind, befindet man sich in einer anderen Welt mit
anderen Kommunikations- und Wissensstrukturen, mit scheinbar
unbegründbaren Hierarchien, Tabus, Ritualen. Der Fehler des
Liberalismus liegt nun darin, dass er glaubt, man müsse diese
Existenzen einfach nur eingemeinden, »homogenisieren«. Was de
facto bedeutet, sie zu Lohnsklaven zu machen, denn die
Homogenisierung organisieren ja die, die sie zahlen, solange sie die
Gleichmut dazu haben. Das infernale Reich möchte man hingegen
trockenlegen, denn da hat der Faschismus, den Bataille die
»souveräne Form der Heterogenität« nennt, seine Zelte
aufgeschlagen. Da wohnen die Abjekte, die Totschläger und
Rassisten, die Kulturfeinde und Perversen, die Satanistinnen und
Proleten, die Gegenaufklärer. Jeder Meter unsafe space. Das alles –
und auch da hat Bataille recht – ist faschistisches Hoheitsgebiet,
solange man es dem Faschismus ohne Einspruch zur Nutzung
überlässt. Man könnte aber auch überlegen, ob nicht gerade durch
eine Öffnung gegenüber dieser zweiten Welt, durch das Lernen ihrer
Sprache, sprich: durch das Prozessieren infernaler Impulse, auch
politische Befreiung möglich wird. Nicht im Sinne irgendwelcher
»Utopie«-Erzählungen. Fuck that. Sondern in der Etablierung eines
konsequenten, rohen und unendlichen Gegendiskurses, der ganz
zwingend Symbole, Kultus, Riten, Sakrales und Gegensakrales
aufruft, produziert und wieder ablegt, ein Gegendiskurs, der eben
»schamanisch« funktioniert. Also das absolute Negativ. Ideologie als
Ideologie.
Zwangsläufig müsste man sich dann wohl fragen: Kann man
diesen Gegendiskurs überhaupt am Laufen halten? Und wo landet
man, wenn er in seinen Formen wieder erstarrt? Lands Schriften
evozieren in ihrer Entwicklung natürlich genau diese Fragen,
delegitimieren sich folglich in ihren basalen Überlegungen noch
nicht. Was freilich zu konstatieren bleibt: Der Faschismus partizipiert
an diesem infernalen Konterdiskurs als dessen Verkürzung. Er
erscheint in seinem Licht somit als eine Schwäche, ein
Stehenbleiben, eine Umkehr zur Homogenität. The human face.
P.
Brother, Frankfurt a. M., den 22. März 2020
am 19. März 2020 hat der Autor, den wir hier einordnen und
auslegen, unter seinem schönen Twitternamen »Outsideness« einen
Tweet abgesetzt, der sagt: »It is not (of course) that Covid-19 is
capitalism. Rather, like capitalism, it is a systematic illiberal reaction
inducer.«
Wir, Du, ich, Nick Land, alle, befinden uns in dem Moment, in dem
der Tweet rausgeht, gerade im Griff einer Seuchenangst, deren
Berechtigung sich zeigen (oder von Maßnahmen, die den Verlauf der
Pandemie abmildern oder verschärfen, wieder verborgen werden)
wird. Land sagt: Die Infektion ist so etwas wie der Kapitalismus in
dem Sinne, dass sie illiberale Reaktionen hervorruft. Das ist ein
genialer Vergleich: Der Kapitalismus hat Produktiv- und
Zerstörungspotenzen freigesetzt durch ABSTRAKTION, er ist »nicht
zu fassen« wie die unsichtbaren Viren, die Leute verstehen ihn ohne
wissenschaftliches Training so wenig wie das, wovon sie nur die
Folgen sehen, wenn sie krank werden.
Mister Land, das wissen wir seit Jahrzehnten, mag das Illiberale
als Stachel (ist aber weder Nazi noch Leninist, also selbst NICHT
eindeutig illiberal, seine Ideen mischen ja vielmehr Liberales und
Illiberales wie die Nietzsches, nur linksliberal will er nie sein). Er
lehnt am Liberalen ab, was die ZEIT in ihrer Ausgabe vom
nämlichen 19. März, in der ersten Coronavirus-Verordnungswoche
der Bundesrepublik Deutschland, verteidigt hat mit einem Artikel von
Thomas Assheuer gegen den, na sagen wir, rechtskonservativen
Schriftsteller Uwe Tellkamp, einen Artikel, in dessen Vorspann es
heißt: »Im Liberalismus sind Geist und Macht getrennt. Ist das der
Grund, warum ehemalige DDR-Autoren wie Uwe Tellkamp die
kritische Öffentlichkeit verachten?«
Der Passus ist nicht recht redlich, weil er einen GEGNER der
DDR, eben Tellkamp, mit ihr zusammenschmeißt. Beide sind
»illiberal« im Sinne von Nick Land, die Volte in der
denunziatorischen Passage des Textes in der ZEIT plaudert
allerdings durchaus eine Wahrheit aus: Stimmt, im liberalen
bürgerlichen System sind Geist und Macht getrennt, das heißt, die
Mächte dieses Systems sind geistlos und sein Geist ist ohnmächtig.
Das kann man nicht gut finden. Wenn man nicht verrückt ist, läuft
es nämlich auf die totalitäre Hypostasierung des Grundsatzes »Der
Klügere gibt nach« als Diskursgesetz für alle hinaus.
Eine Möglichkeit, der liberalen Öffentlichkeit, die den Geist gern
zahm, konstruktiv, immer um Ausgleich, Schlichtung, Konsens
bemüht sieht, eins reinzuhauen, ist esoterisches Schreiben. Denn
»esoterisch« heißt ja: Niemand versteht es sofort und ohne
Deutungsaufwand, die allermeisten verstehen es nie.
Wenn wir beide Land nun in unserem Dialog hier bislang immer
eher einordnen als auslegen (unser ganzes Schreiben und Denken
dabei kreist bislang viel mehr um ANSCHLÜSSE [wohin tun wir ihn?]
als um INHALTE [woran glaubt er?]), dann ist das ein Feldeffekt der
landschen »Esoterik«: Bevor man in ihren Gehalt eindringen kann,
muss man das Eichmaß finden, das man von außen an sie anlegen
kann, um sie dann, wenn man erst mal einen Begriff von ihrer
Gestalt gewonnen hat, vielleicht öffnen zu können. Mein Eichmaß
habe ich Marxismus-Leninismus (ab jetzt: ML) genannt, Deins ist,
wenn ich das richtig sehe, eine engagierte, kompromißlose,
extremely charitable PHILOLOGIE (alles, was man nicht versteht an
Land, siehst Du als potenziell PRODUKTIV, nichts schmeißt Du weg,
weil es Dir zu dunkel ist, im Gegenteil).
Der Witz an dieser Lage ist, dass Land seit seiner Abkehr von der
Kultur-, Pop- und Theorielinken, mit der er früher ein paar
Plattformen teilte, immer exoterischer schreibt, immer weniger
esoterisch – d. h.: immer mehr Leute können immer leichter
verstehen, was da steht, oder können es zumindest glauben. Dabei
kontextualisiert er sogar seine ältesten Quellen, den Theoriekram,
den man früher »postmodern« nannte, in die neuen, sehr leicht
politisch (und: als RECHTS) lesbaren Zusammenhänge desjenigen
Denkens und Redens, das er »neoreaktionär« nennt, seit ihn sein
Guru Mencius Moldbug alias Curtis Yarvin zu dieser von jenem
erfundenen Strömung des Neo-Nietzscheanismus bekehrt hat.
Zum Beispiel in einem Tweet vom 16. März 2020: »Markets
having their hysterical ›Everything’s a fucking bubble!‹ Baudrillard
moment.«
Das heißt: Die Theorie der Simulation, von Baudrillard genommen
und aufs Internet, dessen virtuellen Raumcharakter etc., angewandt,
war für die Leute beim CCRU ein wichtiger Brückenkopf der
Verbindung von illegitimer, außer-, para-, krypto- und meta-
universitärer Theoretisiererei und neuer Cyberkultur. Jetzt aber rückt
Land sie in ein Bild, in welchem die Finanzwirtschaft insgesamt
erkennen muss: Es ist alles Dreck, alles virtuell, alles Phantomatik,
unseren ganzen Reichtum (auf dem Marx noch, durch Enteignung,
den Sozialismus aufbauen wollte) gibt es gar nicht.
Dass dieser Reichtum ABSTRAKT ist, heißt für den
Spätbaudrillardisten Land: Er muss zusammenbrechen. Wo
ABSTRAKTES zusammenbricht, wird ESOTERIK, die es begleitet
hat, zu EXOTERIK, zu direkter politischer Stellungnahme, ob
analytischer (wie in dem genialen Epidemie/Kapitalismus-Vergleich),
ob rein beschreibender (wie in dem Baudrillard-Crash-Tweet), ob
schließlich hämischer und billiger Art, wie in dem Tweet, den Land
am 12. März 2020 rausgehauen hat, als gemeldet wurde, dass die
spanische Gleichstellungsministerin (»Gleichstellung« ist, wie
Feminismus und Antirassismus, für Land eine rein liberale Idee, weil
sie Differenzen wegbügelt – woran sogar das eine oder andere
stimmt: »Alle sind gleich« heißt, vom liberalen Kapital aus gedacht:
Alle sind gleich ausbeutbar) Irene Montero positiv aufs neue
Coronavirus getestet wurde: »Taking an online course with
Coronachan on humor darkening«, also etwa: »Wir erleben einen
Online-Kurs mit Coronachan über die Verfinsterung des Humors«, so
nach dem Motto: Diese Leute wollten alle gleichstellen, jetzt werden
alle gleich krank. Das ist nicht besonders helle, und die Anspielung
auf das Netzdeppen-Witzwort »Coronachan« (Corona als geile
Manga-Schlampe) hat was Peinliches.
Lands erste große Veröffentlichung (wie ich finde: immer noch die
substanziellste unseres heiklen Autors, denn die Auslegung Batailles
liest schon den ganzen späteren Nick Land in Bataille hinein) ist
esoterisch im Sinne extremen Voraussetzungsreichtums – man
muss Bataille kennen und sich für ihn interessieren, um das Buch
gebrauchen zu können, außerdem viel Philosophiegeschichte und
ein paar popkulturelle Moves (die gestische Negativität zum Beispiel,
der Überbietungsnihilismus, das »absolute Negative« ist ja bei Briten
wie Land oder Alan Moore vor allem impliziter Schatten von PUNK,
der großen, heiligen, schönen, leuchtenden Kaputtmach- und
Kaputtheitserfahrung ihrer bejahrten Zivilisation; die »Großen Alten«
sind einfach die Sex Pistols, die absolute Negativität heißt: »Don’t
know what I want but I know how to get it« – waffenfähig gemachte
Langeweile). Wenn ich eine Kontinuität zwischen Lands
Bataillerhapsodien und seinen Tweets behaupten würde, die sich mit
Yarvins ebenfalls Corona-induziertem Wahnsinn rhetorisch
solidarisieren, der aus Anlass der Seuche sagte, jetzt sei es an der
Zeit, »1492 zurückzunehmen«, also den Globalismusansatz des
Universalismus, für den die sogenannte Entdeckung Amerikas steht
– das hat Yarvin in »The American Mind« geschrieben, und die
Parallele zur Idee von Goebbels, man werde mit dem NS »endlich
1789 zurücknehmen« ist auffällig –, wenn ich also die Destruktivität
von Yarvins Denken jetzt, das Land mit vielen Links und Retweets
feiert, dem er sich zur Seite stellt mit Diagnosen (Kapitalismus und
Illiberalismus), schnurrigen Vergleichen (Baudrillard und Börse)
sowie mauen Witzen (ha ha, die Feministin hat sich angesteckt), an
einen Punkt am Ende eines Bogens setzen würde, an dessen
Ursprung das Schlusskapitel des Bataillebuchs steht, in dem er die
Ödheit der ewigen Wiederholung des kapitalistischen Lebens und
seiner fortschrittlichliberalen Ideologien (»Humanism (capitalist
patriarchy) is the same thing as our imprisonment«) esoterisch-
theologisch zum Fluch und Bann eines doofen Gottes überhöht, der
sich immer nur wiederholt (»God is a scratched record«), dann
kannst Du diese Kontinuität als meine Idee von Lands Entwicklung
natürlich angreifen: War jener frühe Land nicht links, hat er nicht
immerhin »patriarchy« verdammt, während der jetzige über
Gleichstellungsministerinnen lacht, wenn sie Angst kriegen?
Ich behaupte, die esoterische Ader bei Land, das Ausfantasieren
von Arcana, will immer »inconclusive communication«, wie er im
Bataillebuch den Doppelstrom aus Batailletext und Landtext selbst
nennt. Diese Art Kommunikation ist ein öffentliches TASTEN nach
etwas, das er inzwischen GREIFEN zu können meint – im
Bataillebuch heißt das, was er da noch sucht, »aborting the human
race«: Zerschlagung des aufgeklärt-bürgerlichen
Menschenrechtsuniversalismus – sein Ziel, Batailles Ziel, Yarvins
Ziel.
Land wird im Laufe der Jahre einfach deshalb immer exoterischer
und immer expliziter, weil dieses Ziel immer näher rückt. Er kann es
immer deutlicher sagen, weil er es immer deutlicher sieht. Denn der
Imperialismus der Gegenwart ist faulender, sterbender Kapitalismus,
wie Lenin sagt. Es steht freilich keine deutlich erkennbare Alternative
auf dem Tagesplan, es gibt derzeit keine starke kommunistische
Bewegung, und so kommt dabei womöglich demnächst heraus, was
im Manifest der kommunistischen Partei das Bataille-artigste, Nick-
Land-hafteste, lovecraftianischste Bild ist: der »gemeinsame
Untergang der kämpfenden Klassen«.
Nun muss man bei Autorinnen und Autoren, die in irgendeinem
Abschnitt ihrer Werkbiografie esoterisch, okkult oder kryptisch
schreiben, also, sagen wir: so verschiedenen Figuren wie Unica
Zürn, Wilhelm Reich, Georg Cantor, Isaac Newton (im
Zahlenokkultismus-Teil seiner Arbeit), Marianne Fritz, Giordano
Bruno, Hegel oder Aleister Crowley (ich mische bewusst das Dichten
und das Denken hier, ich erzeuge ein Spektrum von der Poesie bis
zur strengsten Forschung), bekanntlich sehr aufpassen, wenn man,
wie ich das gerade veranstalte, Kontinuitäten zwischen den
verständlichen und zugänglichen Teilen des Werks einerseits und
den Büchern mit sieben oder mehr Siegeln andererseits behauptet.
Wer nämlich sagt, es gäbe Verbindungen dieser Art, behauptet
zwangsläufig mit, er oder sie habe das Schwer- bis Unverständliche
verstanden. Nur wer weiß, was im Dunkeln dasteht, kann sagen, wie
es mit anderem, hellerem Zeug zusammenspielt.
Nick Land ist aber in einem hier schon dargetanen Punkt ein
seltener Fall, der die Behauptung nahelegt, er ließe sich da doch
ganz gut fassen.
Die meisten Leute mit Esoterik-Output, auch alle von mir gerade
Genannten, sind entweder durchgängig (bzw.: immer mal wieder)
rätselhaft oder mit zunehmendem Alter immer mehr so geworden,
wobei sie oft das Material ihrer verständlicheren Phase nachträglich
mit Rätseln anreichern oder überschreiben – Cantor und Reich sind
die zwei auffälligsten Beispiele, aber auch die junge Fritz kann man
ganz platt als Empfindungs-und-Sozialrealismus-Autorin lesen, und
es wäre (und ist) natürlich sehr unredlich, wenn man etwa sagen
würde: Weil im späten, irren Zeug Motive, Prägungen, Wendungen
des früheren, transparenteren Zeugs wiederkommen, war schon das
frühe Zeug im Grunde irre und ist vom gesunden Menschenverstand
her zu verwerfen, wie das insbesondere bei Reich manche getan
haben, denen die simple Überprüfbarkeit seiner besten Erkenntnisse
(Körperpanzer, Verspannung und Seelenleiden, Notwendigkeit, in
der Therapie nicht nur die Symptome zu analysieren, sondern auch
den Charakter, Zusammenspiel von Ökonomischem und
Psychologischem im gesellschaftlichen und politischen Leben) nicht
gefällt und die das, was am frühen Reich Sprengkraft hat, gern per
Verweis auf die kosmische Spinnerei des späten Reich loswerden
wollen.
Die Besonderheit unseres Mister Land ist jedoch, dass er einen
einzigartigen Testfall einer These darstellt, die der
Politikwissenschaftler Arthur M. Melzer 2014 in einem der besten
polithermeneutischen Bücher, die ich kenne, entwickelt und
begründet hat, der Studie Philosophy Between the Lines. The Lost
History of Esoteric Writing – nämlich dass Esoterik einfach eine
besondere historische Schriftgestalt politischer Abweichung von der
vorherrschenden Ideologie (den »Ideen der Herrschenden« mit Marx
und Engels) ist, SELBST WENN DAS DENEN, DIE SO
SCHREIBEN, NIE VOLL BEWUSST WIRD.
Bewusst war es, wie alles, was sie taten, den Aufklärern – Melzer
zitiert die Unterscheidung zwischen »esoterisch« und »exoterisch«
aus Diderots Enzyklopädie, wo jener sagt, die »alten Philosophen«,
also die antiken Vorbilder der bürgerlichen Denkpartei seit dem
Humanismus und der Renaissance, hätten immer zwei Doktrinen
gehabt, eine exoterisch-öffentliche und eine esoterisch-verborgene.
Melzer zitiert dazu, beides als Motti seines Vorworts, gleich noch
Rousseau, der sagt, jene Denker hätten ihre wirklichen Ansichten
nicht öffentlich gelehrt, sondern geheim weitergegeben. Melzer steht
nicht auf Seiten der Aufklärung oder irgendeiner Linken. Er ist Leo-
Strauss-Fan, und diesem Lehrer will er auch seinen ganzen
Denkansatz verdanken, so stellt er’s jedenfalls dar. Je mehr nun,
siehe oben, die Verhältnisse die Abschaffung von
Humanismusresten und anderer progessistischer Bürgerfrömmigkeit
verheißen, desto exoterischer schreibt Nick Land, und zugleich
desto politischer: Mehr Bebilderung von Melzers These geht nicht.
Melzers und (mit einer Einschränkung, zu der später) auch mein
Lesemodell der Esoterik und Kryptik kann das philologische
Gewissen auf den ersten Blick nur als grauenhaft reduktionistisch
abstoßen: All der Reichtum von Schrift und (im Fall Blake, bei
illuminierten Manuskripten und Teilen der Kabbalistik bis hin zum
Numogram) Bild soll rein politisch zu lesen sein, als politische
Dissidenz obendrein? Alles, was man nicht versteht, soll »gegen das
System« sein, gerade insoweit man es nicht versteht?
Wer das eine Verkürzung findet, macht sich nicht klar, wie
umfassend so eine Verkürzung sein kann – der moderne bürgerliche
Liberalismus zum Beispiel verkürzt umgekehrt jede
Widerstandshandlung, jedes Aufbegehren und
Nichteinverstandensein und Randalemachen irgendwo auf der Welt,
solange es nicht in seinem Verwaltungsbezirk, in den
imperialistischen Kernstaaten, stattfindet, auf ein Moment seiner
eigenen Entstehungsgeschichte, nämlich den Kampf um
Individualismus, um Individualisierung, um seine Sorte Freiheit und
Subjektstatus. Deswegen wird ihm unterschiedslos alles, von
Arbeitskämpfen in Indien bei den Sweatshops dort über den in
mehrerlei Hinsicht sehr suspekten Arabischen Frühling (in dem sich
Aussichten auf gesellschaftlichen Fortschritt in meinem Sinn mit
finsterster Scheiße gemischt haben, und zwar so tight, dass keine
Zentrifuge sie mehr auseinanderkriegt) bis zu den Umzügen im
Hongkong 2019, zu einem Kampf für »die Freiheit«, weil aus seiner
Sicht die jeweiligen Gesellschaften noch nicht genug
Entfaltungsmöglichkeiten für Selfmade-Schwachsinn und
Aufsteigerdreck bieten.
Entstanden ist dieser Liberalismus bekanntlich aus dem
Humanismus, einer bürgerlichen Emanzipationsbewegung in genau
derselben individualisierenden Stoßrichtung (Gewissen!) via
Reformation und Aufklärung. Das ist eine Geschichte, die Land
heute, Yarvin folgend, als Niedergang sieht, und die Habermas dazu
drehsymmetrisch noch kürzlich breitestens als Fortschritt erzählt hat
(Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019). Das in Melzers und
meiner Perspektive Allerschlüssigste ist daher die Ansicht, dass
diese ganze Emanzipation des neuzeitlichen Subjekts, welches nicht
mehr im Ständesumpf und dessen Familienordnung (inklusive
Patriarchat, auf das der frühe, noch nicht dem »Dark Enlightenment«
verfallene Land im Bataille-Buch so rührend um Feminismus-Cred
bemüht schimpft, als wäre es im Kapitalismus nicht schon wesentlich
gelockert gegenüber allen vorkapitalistischen Sozieäten) feststeckt,
sich zuerst in Formen der Esoterik, in Formen der Mystik artikuliert,
vom Subjektbezug, der seine eigene Sexualität und
Erlebnissingularität behaupten lernt (das waren dann wirklich
hauptsächlich Frauen, die großen Mystikerinnen nämlich, eben weil
Frauen als ein DING, das man bewacht und auf das die vorwaltende
Reproduktionsordnung downgeloaded wird wie heute die
vorwaltende Produktionsordnung auf Ameisen an Geräten, gesehen
wurden und da raus wollten: Vibia Perpetua, Hildegard von Bingen),
bis hin zum Weltbezug, ja weit ins Kosmische, nämlich bei Giordano
Bruno (den man plattmacht, wenn man ihn nur als Verschlüssler des
himmelsmechanisch Richtigen liest – viel wichtiger an seinem
unermesslich wertvollen wirren Zeug ist, dass er für sich das Recht
in Anspruch nimmt, ein EIGENES WELTBILD zu bauen, das mal mit
dem der Kirche harmoniert, mal gegen es gerichtet ist und mal
irgendwie auf irgendeiner spekulativen Tangente oder noch radikaler
auf orthogonaler Linie davon wegstrebt).
Wenn man Esoterik und Mystik primär (aber, hier die
Einschränkung, eben doch nicht: ausschließlich) politisch liest, und
noch enger: als Siglenverzeichnis politischer Dissidenzen, politischer
Abweichungen, die sich nicht als PROTEST artikulieren (wollen), um
die alte, von Diedrich Diederichsen im Zusammenhang mit Jugend-
und Gegenkulturen geprägte Unterscheidung Protest (»gegen euer
System«) und Dissidenz (»was anderes machen«) zu bekräftigen,
kann man das gerade an den auch formal interessantesten
Esoterikerinnen und Esoterikern wie eine Art Suchalgorithmus
durchlaufen lassen, man findet viel so.
Das esoterische Spätwerk von Wilhelm Reich zum Beispiel ist ein
Aufstand GLEICHZEITIG gegen den Kapitalismus und sein Regime
über Körper, die bei der Verwertung des Werts helfen sollen, statt
Hippielust zu leben (diese Kante Reichs wurde dann stumpf mit der
Entdeckung des Hippielustlebens als kapitalistisch ausbeutbar in
den Sechzigern) UND gegen die Sowjetunion, der er von der Fahne
lief (weil die KPD beleidigt war und ihn rauswarf, als Reich Hitlers
Sieg anerkannte, ihn als Katastrophe beschrieb und den
Zweckoptimismus des organisierten deutschen Kommunismus mit
seinen Analysen unterlief).
Blake war ein Kleinbürgerrebell, sowohl gegen die Reste von
Feudalität und Absolutismus wie gegen die großbürgerliche
Weltumwälzungsvernunft (die er in Newton und dessen Sorte
Naturwissenschaft verkörpert sah), inklusive Wonnegraus beim
Anblick der bürgerlichen Revolution, die Blake sowohl faszinierte (als
große Randale, das lieben Kleinbürger periodisch) als auch abstieß
(denn, fragt der Kleinbürger, was wird aus meinem kleinen Gewerbe,
wenn es kracht?). Cantors Unendlichkeits-Irrsinn ist ein Anschlag auf
das Dingschema, auf das Zeit- und Geldmanagement der
Warenwirtschaft, das ist seine Dissidenz. Austin Osman Spare will
die Künstlertugenden, Skills und Privilegien der Zeit des
Konkurrenzkapitalismus (deren Aushängeschild bei ihm
»realistisches« Malen und Zeichen sind, selbst mit Zerrspiegeln, wie
es die Großen im 19. Jh. noch konnten) in den Monopolkapitalismus,
den kulturindustriellen Ramschimperialismus retten bzw. darin
verteidigen, das ist seine Dissidenz. Für Alan Moore und das
Erzählen gilt dasselbe, für Crowley und die Haltung »dekadenter
Dandy« wieder dasselbe (er ist Baudelaire, Poe, Wilde, Yeats nach
dem Tod der gesellschaftlichen und damit soziokulturellen
Voraussetzungen für die Wirkung von deren Haltungen).
Es gibt vorausweisende (wie bei Hildegard oder Bruno), aber auch
rückwärtsgewandte (wie bei Novalis) Esoterik-als-Gewand-von-
Dissidenz. Entscheidend ist nicht die Richtung, sondern die
Abweichung vom Verzeichnis zugelassener, erwünschter, von der
herrschenden Klasse belohnter und mit Verbreitungsgelegenheiten
gesegneter Ideologeme. Aus der unbestreitbaren Wahrheit, dass
man vom Gegebenen respektive Vorgeschriebenen in mehr als einer
Richtung abweichen kann, beispielsweise nach links wie nach
rechts, folgt die Delikatesse, dass manchmal die prononciertesten
Gegnerinnen und Gegner von Esoterikerinnen und Esoterikern
ihrerseits gar nichts anderes sein können als Esoterikerinnen und
Esoteriker, etwa im Fall Adorno gegen Heidegger oder Blake gegen
Newton (dessen esoterischer Werkteil für mich das
Allerinteressanteste an ihm überhaupt ist: Er greift einer Zeit voraus,
in der ALLES ZAHL ist, alles Quantität wird, alle Relationen so
geeicht werden können und das nicht Mathematisierbare gar nicht
mehr als wissenschaftlich empfunden wird, er greift also der
jüngsten Vergangenheit, eventuell Gegenwart voraus, partiell auch
immer noch der Zukunft, inkl. Big Data).
Die eigentliche Pointe meines von Melzer gestützten Vorschlags,
die Kabbala, Karmeliter-, Kartäuser-, Yesiden-, Sufi-, Buddha-,
Orgon- und Cybermystik als ideologisch-politische Dissidenz zu
entziffern, liegt für den Dialog zwischen Dir und mir darin, dass vor
allem Land selbst diesen Ansatz nicht zurückweisen kann oder als
Fehllektüre oder Textvergewaltigung verklagen, seit er gegen die
CATHEDRAL schreibt, die humanistisch-universalistisch-linksliberal-
aufgeklärte Hochkirche, die er entdeckt zu haben meint, die Religion
»unserer Zeit«, von der er abweicht, ohne sie heuristisch ganz zu
verlassen – das Mystische ist politisch, das Politische mystisch, das
sagt er selbst. Wo die Kathedrale sich auf »Enlightenment« beruft,
dann beruft er sich eben auf »Dark Enlightenment«, so wie Mystik
eben auch einen Gott hat, nur einen anderen als den der Amts- und
manchmal Staatskirche. Das Ganze ist bei ihm und Yarvin natürlich
ein Trick: Sie halten die historische Herkunft von Ideen einfach für
deren zureichende Inhaltsbestimmung. Wenn etwas also zuerst in
religiöser Gestalt auftaucht in der Ideengeschichte, ist es für sie halt
Religion. Das ist keine besonders originelle Denkfigur; insbesondere
die amerikanische reaktionäre Ideengeschichtsschreibung sieht den
Ursprung allen ihr verhassten Fortschrittsdenkens, jeder Idee von
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und vor allem: Verbesserbarkeit
»des Menschen« (lies: menschlicher Einrichtungen, in denen »die
Individuen einander machen«, wie es bei Marx und Engels früh und
viel richtiger als bei Foucault heißt, bei dem sie sich mehr oder
weniger selbst machen, auch wenn er das durch viel Gelaber über
irgendwas Soziales wieder verschmiert, aber in den ekligen
Sexbüchern steht es öfter ziemlich nackt), jeder Idee von besserem
Leben, im »Pelagianismus«. Das soll eine Häresie des Mittelalters
sein, für die ein Mönch namens Pelagius verantwortlich gemacht
wird – der lehrte, heißt es: Nix Erbsünde, Mensch an sich gut,
ansonsten mindestens verbesserbar, Presto, schon der halbe
Rousseau und drei Viertel der Neuzeit.
Diese Herleitung der UNO-Ideen von Pelagius ist erstens
ideengeschichtlich Mumpitz, der nur libertären,
rechtsanarchistischen, sozialdarwinistischen Deppen durch
Anschwärzen von Solidarität und Sozialismus als »religiös«
schmeicheln soll, indem er sie glauben macht, sie wären aufgeklärt
(zu diesem historischen Hintergrund: Ali Bonner, The Myth of
Pelagianism, 2018), zweitens aber rafft, wer sie ernst nimmt und für
hinreichend hält, die Verurteilung des linksliberalen Universalismus
zu begründen, evident nicht, dass wir Menschen nur sehr wenige
richtige Ideen hätten, wenn richtige Ideen immer gleich als richtige
Ideen auf die Welt kommen müssten (wie hoch ist die
Trefferwahrscheinlichkeit beim Raten?), statt sich aus falschen durch
Gegenprobe, Check im Experiment etc. entwickeln zu dürfen – »alle
Menschen haben von Geburt ab Rechte, weil sie Gott geschaffen
hat und weil sie ihm gleichen und weil man ihn schmäht, wenn man
die Menschen verletzt und misshandelt« ist eine falsche und
außerdem religiöse Idee, es gibt solche Rechte leider nicht (die
Natur scheißt drauf); aber wenn man das einsieht, kann man in
einem nächsten Schritt ja sagen: »Wir hätten solche Rechte gern,
ALSO SCHREIBEN WIR SIE ALS GESETZE UND REGELN
UNTEREINANDER FEST UND BESTRAFEN, WENN GOTT ES
HALT LEIDER NICHT TUT, SELBST ALLE, DIE DAGEGEN
VERSTOSSEN«, und das ist eine richtige Idee, wenn man unter
»richtig« versteht: etwas, das Leute mit Hirn im eigenen Interesse
einsehen und umsetzen können, zu ihrem und anderer Nutzen.
Leute wie die amerikanischen (Hobby-)Ideengeschichtler um den
ex-linken Renegaten David Horowitz oder die Neoreaction-Helden
Yarvin und Land haben den Topos »Eure Aufklärung und Eure
Emanzipation und Euer Fortschritt sind in Wirklichkeit religiöse
Sektensachen!« natürlich nicht erfunden. Es gibt ihn bei Carl Schmitt
(»politische Theologie«) und bei allen Rechten seit 1789, die was auf
dem Kasten haben, from Burke and De Maistre onward durch die
Lebensphilosophie, den Präfaschismus und Faschismus hindurch
bis heute, und das Einzige, was in diesem Sumpf hilft, ist, wiederum
sie so zu lesen, wie Walter Benjamin sie las – oder eben auch so,
wie Elizabeth Sandifer in »Neoreaction: A Basilisk« Nick Land liest,
einem Buch, das ich für das beste über Land und Co halte, obwohl
ich dem Buch an zehntausend Einzelstellen widersprechen würde.
Polemik vor dem Hintergrund gemeinsamer Skepsis, was den
Liberalismus angeht, ist einfach ertragreicher als das gequälte
Verstehenwollen und Verteidigen beim armen Mark Fisher und
einfach besser als die stumpfe Feindschaft der Po-MoLinken usw.
etc., weil sie INSTINKTIV das tut, was ich BEWUSST zu tun
empfehle: die ganze Esoterik politisch lesen, und GERADE die
Esoterik, statt nur die explizit politischen Stellungnahmen. Hier ist
allerdings der Moment für meine EINSCHRÄNKUNG dieses
Modells, die ich oben, in Absetzung von Melzer, versprochen habe.
Sie betrifft den Unterschied zwischen notwendig und hinreichend.
NOTWENDIG ist die politische Lektüre von Esoterik und Mystik,
weil sie etwas mit den Texten MACHT, sie GEBRAUCHT, statt sie
nur zu paraphrasieren, zu permutieren, zu iterieren usw., und was
sonst so an der Uni passiert.
Die politische Lektüre stellt, als etwas, das mehr ist als Deutung
(die nur auch drinsteckt), einen HANDLUNGSBEZUG her.
Aber HINREICHEND ist sie nicht – sie wagt einen first step, der
zweite aber muss Esoterik und Mystik als etwas ernst nehmen, das
die Grenze des für uns Menschen sinnlich Wahrnehmbaren zum
denkbaren Wahren betreten, also wissen will: Kann man etwas
wissen, das wir bisher nicht wissen konnten, weil unsere Sprech-
und Denkweisen uns einsperren?
Diesen Bereich versteht die Mystik, versteht die Esoterik
ONTISCH und METAPHYSISCH. Ich verstehe ihn EPISTEMISCH,
aber das heißt, wenn es nicht um Wissenschaft (Hypothese,
Gegenprobe, Verallgemeinerung zum Gesetz) geht: ÄSTHETISCH.
Lands esoterische Texte sind somit a) politische Waffen und b)
Kunstwerke.
Wer a) nicht sieht, kann b) nur tautologisch (als: »Ein schöner
Satz ist ein schöner Satz ist ein schöner Satz«) beschreiben.
Unpolitische Ästhetik ist impotent. Aber vorästhetische (wie
übrigens: vorwissenschaftliche) Politik auch, weil sie nie begeistert.
Aus beider Fallen, derjenigen einer unpolitischen Ästhetik wie einer
vorästhetischen Politik, scheinst Du mir in vorbildlicher
Entschlossenheit hinauszuwollen, wenn Du gegen die (diesmal nicht
als langweilig, sondern als roh fantasielos geschmähte klassisch
kommunistische Linke gerichtet) sagst: »Das infernale Reich wollte
man hingegen trockenlegen, denn da hatte der Faschismus seine
Zelte aufgeschlagen, den Bataille die ›souveräne Form der
Heterogenität‹ nennt. Da wohnen die Totschläger und Rassisten, die
Kulturfeinde und Perversen, die Satanistinnen und Proleten, die
Gegenaufklärer. Jeder Meter unsafe space. Und auch da hat Bataille
recht: Das alles ist faschistisches Hoheitsgebiet, solange man es
dem Faschismus ohne Einspruch zur Nutzung überlässt. Man
könnte aber auch überlegen, ob nicht gerade durch eine Öffnung
gegenüber dieser zweiten Welt, durch das Lernen ihrer Regeln, ihrer
Sprache und durch ein Mitspielen, sprich: durch das Ausleben
prärationaler, okkulter, infernaler Impulse auch politische Befreiung
möglich wird.«
Ich würde das NICHT unterschreiben, und zwar, weil ein schwarz
angemalter und brennender, teuflischer und menschenfressender
Hippie immer noch ein Hippie ist. Negativer Kitsch ist auch Kitsch.
Den Dämon im Menschen befreien, der nicht rational ist, das Es
rauslassen, das kollektive Dummbewusste, die Energien freisetzen
etc., das ist Michael Ende (der ja Crowleys »Tu was du willst« zum
Tabernakel in der Unendlichen Geschichte erhoben hat), das ist
Grönemeyer (»gebt den Kindern das Kommando / sie berechnen
nicht, was sie tun«). Der Luftballon, der mit Nervengas gefüllt ist,
reizt mich als Utopie so wenig wie der, in dem Lachgas ist. Was
diese ganze Denkbewegung, die mit Batailles Faschismustheorie
(die ich für sachlich genauso schwach halte wie seine
Kommunismustheorie) einfach die Behauptung der Nazis glaubt, sie
würden etwas ALTEM und VORMODERNEM zum Durchbruch
verhelfen (bei ihnen »das Völkische«, bei ihren Deutern dann das
»Infernale«), ist, dass sie übersehen, dass das, was da durchbricht
(wie bei ISIS, wie im Jugoslawien-Bürgerkrieg etc.) nicht alte Völker,
Rassen, Religionen sind, sondern die Verteilungskriegsdynamiken
des faulenden Kapitalismus, nicht Rückkehr des Vormodernen findet
statt, sondern der Zusammenbruch des Modernen, weil es seine
Rationalität (makro- wie mikroökonomisch) auf eine irrationale
PRÄMISSE gestellt hat (private Aneignung bei zunehmend
vergesellschafteter, global arbeitsteiliger Produktion).
Ich glaube den Faschisten, den dark hippies, ihr Geschwätz vom
Alten und Urigen nicht, und den light hippies ihres von Fantasie und
Kreativität genauso wenig. Die Letzteren wollen so tun, als wären sie
Kinder, während sie einfach Konsumhedonisten sind. Die KPs haben
in den Dreißigern nicht deshalb gegen die Nazis verloren, weil sie
Magie und Hexenkräfte ignorierten. Sie haben verloren, weil die
Arbeiterklasse in den Metropolen sich vom Versprechen kolonialer
und neokolonialer (»Lebensraum«) Extraprofite hat einseifen lassen,
nachdem sie sich schon von Klassenkompromissmüll der
Sozialdemokratie hatte einseifen lassen; sie haben verloren wegen
der Spaltung des Weltkommunismus
(»Trotzkismus«/»Stalinismus«/Anarchismus et cetera); sie haben
verloren wegen der Rückständigkeit Russlands, die unter (zu?)
großen Opfern aufgeholt werden musste; sie haben verloren, weil
das Kleinbürgertum sich nicht auf die Seite der Arbeiterklasse
geschlagen hat, da es lieber clever rumtaktierte usw. – also:
POLITISCH.
Aber EPISTEMISCH-ÄSTHETISCH sage ich: Yes, unbedingt, lass
uns mit Unbekannten und Variablen würfeln, wobei ich die
Entdeckung der Kugelgeometrie und der hyperbolischen Geometrie
interessanter finde als die Kabbala, weil man damit mehr MACHEN
kann, und die Entdeckung der Quasikristalle interessanter als die
Wiederentdeckung der Magie usw.
ABER: Das Periodensystem der Elemente als Entdeckung hat
schon auch viel mit mystischen Anregungen zu tun, die damals in
Russland so kursierten, und die Quarks heißen Quarks wegen
Joyce, man hat das Wort aus seinem esoterischen Hauptwerk
Finnegans Wake geholt, und Newtons Zahlenmeise war wichtig für
die Wahrheitsfindung, wie Leibnizens ganz anders geartete Meise(n)
auch. Ich bin für jede Meise auf diesem Niveau, aber: Der
Unterschied zwischen Fantasie und Sache ist dennoch zu
verteidigen.
Man wertet das Spinnen nicht ab, wenn man es nur als die Kür
behandelt, nicht als die Pflicht. Als Quelle der Erkenntnis sollte man
es nur im ästhetischen Sinn verstehen, nicht im politischen. Also:
Esoterik erst politisch einordnen, dann ästhetisch auslegen. »Was
macht es?« zuerst fragen, dann »Wie macht es das?«, und im »wie«
stecken neue Methoden für neue Einsichten – etwa der Kurzschluss
zwischen Virenverbreitung und Kapitalismus; das ist ja eine
Überblendung, was Land da in seinem Tweet macht, eine
ästhetische Technik.
»Halluzination ist ein politischer Akt«: Nein. Halluzination
beschreiben, aus Halluzination was folgern oder was dichten, das ist
ein politischer Akt – manchmal (Bruno, Hildegard …) ein linker, öfter
ein rechter, wenn der Kontext die absichtliche Verwischung der
Trennlinie zwischen Fantasie und Fakt ist – von dieser Verwischung
lebt die Ästhetisierung der Politik im Faschismus (der Faschismus
verhilft den Leuten zu ihrem Ausdruck statt zu ihrem Recht,
Benjamins geniale Einsicht), deswegen hat Karl Kraus 1934 im Juli
eine ganze Fackel darüber geschrieben, dass diejenigen, die wollen,
dass er gegen Hitler eine Satire schreibt, nicht begreifen, was Hitler
ist, dass »kämpfen« beim Schreiben eine METAPHER ist, aber bei
den Nazis die Faust aufs Auge KEINE Metapher mehr ist, und im
letzten Fackel-Heft schrieb er danach noch, gewisse Menschen
seien vom Wahn umfangen, die denken, dass ihm »zu einem Jaguar
soviel einfällt wie zu einem Trottel«.
Gegen die Ästhetisierung der Politik hilft nur die Politisierung der
Ästhetik. Du und ich sind aber nicht weit auseinander, sondern
konjugiert: Ich sage, political reading is necessary, only esthetics are
sufficient, Du sagst teilweise das Gegenteil, aber es läuft da eine
nicht uninteressante Dialektik. Du sagst: Lasst uns nicht abklemmen
und trockenlegen, was die neuen, anfangs immer irren und falschen
Ideen produziert. Einverstanden. Die tiefste Wahrheit bleibt, dass wir
die tiefste Wahrheit noch nicht wissen – schon Protagoras ist ein
Theologe und Politiker nach meinem epistemischen Herzen, wenn er
sagt, er könne über die Götter weder sagen, dass es sie gebe, noch,
dass es sie nicht gebe, weil die Sache dunkel sei und das
menschliche Leben kurz. Wo man echt nix weiß, ruhig weiter wie
wild raten, alles ist erlaubt.
ABER: Die Quelle der neuen, anfangs irren Ideen in allen Ehren,
nur habe ich bei Linken leider seit 1985 vor allem eins immer wieder
erlebt – sobald sie eine Idee nicht durchsetzen können, und sei sie
noch so richtig, und sei sie tausendmal durchdacht und jeder
vernünftige und unvernünftige Einwand gegen sie zwingend
widerlegt (z.B.: Sozialismus), sobald sie mit der Idee nicht
durchkommen, schmeißen sie die Idee weg und begeistern sich für
irgendeinen Krampf, den sie zum Beispiel »neues Denken«
(Gorbatschow) nennen.
Die Originalität ist bei linken Intellektuellen allzu oft eine Form der
Kapitulation.
Dann nehmen sie Abschied vom Proletariat oder von sonst einem
Subjekt eines konkreten Kampfes und entdecken den Traum, die
Wunschmaschine, die Weisheit der Naturvölker, das Dämonische
und das Verrückte und was weiß ich was. Nein. Ich will die Welt nicht
den Kindern geben noch den Teufeln. Nicht die kleinste Ecke.
Sie regieren sie doch längst, look at the news! Nö, stimmt auch
nicht. »THE WORLD IS RUDDERLESS!« (Alan Moore). Weil gar
niemand regiert (plant, argumentiert, das rational Begründete tut),
sieht es aus, als regierten Kinder, Irre, Böse oder ein BLIND IDIOT
GOD (bester Bandname ever). Die Großen Alten anbeten ist die
existenzielle Parodie des Gegebenen, insofern funny and cool, but a
little too close to Aufgeben. So here we are. Ich glaube, in diesen
fundamentalen Sachen (wie liest man das alles, wie liest man Land,
was will man von ihm) sind wir extrem klar geworden jetzt, und sehr
gut komplementär (let’s say: Du auf der Dunklen Spur, ich in Stalins
Stadionbeleuchtung of »Fortschritt und Vernunft um jeden Preis«).
Getrennt marschieren, vereint schlagen – das Gefängnis, von
dem Land spricht, steht ja noch, und das wollen wir, denke ich, beide
nicht – nur dass mir scheint, er erwartet die Befreiung ausgerechnet
von denjenigen Häftlingen, die ganz zu Recht eingesperrt sind,
während Du von denen die Ausbrechertricks lernen willst, sie aber
nicht ans Kommando des Aufstands lassen, which could work. Ich
bin absolut bereit, mir diese Tricks anzuschauen – und Du siehst sie
sehr genau.
Zum Weiteren: Weil die Grundhermeneutik jetzt klar ist, würde ich
nicht mehr viel zu sagen haben wollen dürfen außer das, was mich
einfach persönlich am meisten interessiert: seine SF-Affinitäten, die
möchte ich gern noch ein bisschen bedenken. Du hast Heinlein
genannt, dem ich in der Tat viel zutraue, obwohl ja auch er in
gewissem Sinn rechts stand, nur ganz anders als Land. Ich hätte ein
paar Ideen zu compare and contrast Land und Heinlein (und mit
Heinlein: die traditionelle SF insgesamt). Das wäre dann mein
Schluss-Statement, wir waren hier ja schon sehr umfassend.
Embraces in Flames,
Dietmar
Lieber Dietmar, Zürich, den 16. April 2020
vorab – und ich denke, das ist auch und gerade für das Verständnis
von Lands Faschismus-Koketterie (ich komme gleich dazu) enorm
wichtig –: Wir reden hier nicht von Archaik. Archaik bleibt letzten
Endes immer Oberfläche, kann nie Begründungszusammenhang
sein. Ich glaube aber, es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wenn
man okkulte Ästhetik von vornherein mit Archaik gleichsetzen würde,
also davon ausginge, dass es genügt, wenn man mit Berechnung
aufhört und einfach nach hinten kippt, um dann beim Mutterkult,
»Gaia Survivalism« oder Ähnlichem, wieder aufzuwachen. Das, was
du – zu Recht – mit dem Grönemeyer-Hippietum identifizierst, ist
nicht nur von der okkulten Praxis, die wir bei Land und im Umfeld
von CCRU finden, sondern auch von der okkulten Praxis des
Faschismus sehr weit weg. Ich will an dieser Stelle nicht allzu viele
Worte darüber verlieren, aber: Was der Faschismus leider sehr gut
verstanden hat, ist, dass man die Dynamik, die okkulte Systeme mit
sich bringen, sehr wohl berechnen, produzieren und steuern kann.
Die Ursprungsfantasien, das Schollen- und Ariergeschwafel: Das ist
das Futter für die Meute. Tatsächlich geht es denen darum,
Symbole, Rituale, Codes zu schaffen, die esoterisch und exoterisch
gleichzeitig sind, die das Publikum in sich einschließen und es sich
gleichzeitig dabei von außen beobachten lassen. Man sieht also
selbst dabei zu, wie man gerade ideologisch überschrieben wird, in
ein Zeichensystem gepresst wird, das man selbst gar nicht versteht,
mit dem man allenfalls ästhetisch umgehen kann. Die Entwicklung
dieser Technik verantwortet maßgeblich der Faschismus, der an gar
nichts mehr glaubt und sich sagt: Na fein, wenn es keine
Letztbegründungen für politisches Handeln mehr gibt – was alle
wissen –, dann geht es ab jetzt nur noch darum, genau diesen
Sachverhalt zu nutzen, um Ideologie in der offenen Werkstatt
herzustellen. Also: Verdunklung und Ästhetisierung der Lage im
Wissen darum, dass als einziges Ziel bleibt, Energie zu bündeln, zu
verteilen, zu speichern, effektive Formen zu schaffen. Das ist die
Funktion dieser okkulten Systeme, das ist auch die Funktion der
Hyperstition bei CCRU. Man investiert ein enormes Maß an Energie
in die Konstruktion irrationaler Zeichenwelten – weil man davon
ausgeht, dass historische Wahrheit wie eine Magnetspule
funktioniert. Inhaltliche Widersprüche, Verkehrung von Kausalitäten
und Zeitfolgen sind dabei total egal, sogar erwünscht. Es geht nur
um die Windungen, um möglichst hohe Induktivität. Aufladung. Also
schon was für Physiker. Arkane Techniken, halluzinogene
Substanzen, aber auch die Kunst und die künstlichen Welten selbst:
alles Infrastruktur, alles Produktionsmittel, nicht Überbau. Die
Herrschaft über diese Maschine sollte man nicht den falschen
Leuten überlassen. Stattdessen: aneignen, das alles,
vergesellschaften, in Anschlag bringen.
Die Erzähl- und Kunstformen, die wir beide mit Land für
hochrelevant halten – vorweg Science-Fiction und Horror auf ihre je
eigene Weise und auch in ihrer jeweilig adäquaten Übersetzung in
die Medien der Musik und des Films –, diese Erzähl- und
Kunstformen stellen vor diesem Hintergrund nichts in Aussicht, das
sind keine Vorboten dieser Vergesellschaftung. Tatsächlich ist in
ihnen bereits etwas realisiert, was man in einer überfälligen
Korrektur Benjamins das »Recht der Masse auf Ausdruck« nennen
könnte – also nicht der faschistische »Ausdruck der Masse«,
sondern vielmehr dessen instantane Überwindung in das sonst
unsichtbare kollektive beneath, beyond, behind, below. Aber damit
bin ich schon in die SF eingebogen und da muss man natürlich auf
»Lockende Leere« zu sprechen kommen, einen sehr gefährlichen,
weil sehr scharfsichtigen Essay. Ich breche mal ein paar Thesen
herunter und komme sogleich wieder da an, wo ich eben gerade
aufgehört habe, nämlich bei der Verarmung, um nicht zu sagen:
beim Bankrott der extraterrestrischen Vorstellungskraft. Die
Weltraumfantasie ist uns verloren gegangen, weil wir einmal
hingefahren sind (zum Mond), und da war halt nichts. Ich glaube im
Übrigen, dass die Mondlandung mit diesem Bankrott weitaus
weniger zu tun hatte als die Fotos, die Mariner 4 1968 von der
Marsoberfläche übermittelt hat. Wie dem auch sei: Man fährt hin,
findet nichts und bringt als wirkmächtigstes Dokument dieser Reise
das »Blue Marble«-Bild mit, was dann im Kalten Krieg als Imago der
gemeinsamen Ökosphäre der Blockpolitik entgegengestellt wird.
Mentalitätsgeschichtlich ist das, und da hat Land recht, gleichwohl
ein Armutszeugnis: Zum Mond zu fahren, nur um seinen
Terrazentrismus zu feiern, ist Energieverschwendung. Und verrät in
der Tat ein imperialistisches Mindset.
So weit, so scharf. Es folgt die Entgegensetzung »Imperialismus
vs. Kolonialismus« und die implizite Errichtung eines
Kolonialbegriffs, der kein Zentrum mehr hat, sondern nur noch
Korporationen. Das ist jetzt perfide, weil gedanklich hier auf einer
ersten Ebene tatsächlich so etwas wie eine konsequente Entlarvung
unserer außerirdischen Fantasie abläuft: Den ersten Schritt – die
Erde vergessen, das terrestrische Zentrum verabschieden – gehen
wir mittlerweile noch locker mit, auch wenn dann freilich schon einige
Kandidaten wie Stapledon etc. unter den Tisch fallen. Den nächsten
Schritt aber, alles Erdähnliche, nämlich die Planetenform, gleich
mitzuverabschieden, das tut dann weh, weil wir einerseits durchaus
einsehen können, dass unser Denken in Imperien tatsächlich
wesentlich mit der planetarischen Organisation unserer
Vorstellungskraft zu tun hat, weil wir uns andererseits aber doch an
die Vorstellung von »Welten« verloren haben. Die Wunde, in die
Land hier mal so nebenher mit dem Vorschlaghammer reinhaut, liegt
im Zusammenhang von außerirdischer Imagination und
Machtstrukturen beschlossen. Wir lieben natürlich die Planeten, weil
wir uns in ihren Landschaften, ihrer Flora und Fauna und ihren
Zivilisationsentwürfen verstecken können. Land sieht in diesen
Verstecken, in diesen Planetenträumereien, aber genau den Grund
für unser Zurückbleiben, weil sie eben terrestrische Ideologie sind.
Sobald wir merken, dass auf den Planeten keine erdähnlichen
Biosphären, keine Abenteuerspielplätze und keine
Rätsellandschaften anzutreffen sind, drehen wir dann doch lieber
wieder um zur Blue Marble und verkennen die dann in aller
Beschränktheit weiter.
Dagegen dann eben: »The Void«. »The Void« meint mehr als
einfach nur ein semantisch vollkommen entleertes All. Es geht da
um die radikale Transformation unserer Haltung gegenüber dem
extraterrestrischen Raum: »The Void« ist »the Void«, weil wir nichts
mehr von diesem Raum erwarten, außer demjenigen, was wir ihm
selbst einschreiben. Und während uns gerade das ja maximal
langweilig scheinen mag – weil diese Erwartungshaltung der
Wahrheit entspricht und wir dann gleich wieder bei Blumenbergs
Astronoëtik rauskommen –, findet Land gerade diese
Ausgangshaltung spitze. Das All vermittelt uns kein Ethos mehr,
keine Diversität, keine Ökologie, keine »Geschichte« – also lassen
wir die Sentimentalitäten mal beiseite und nutzen den Raum endlich.
Der Treibstoff für diese Expedition aber ist der Kapitalismus,
organisiert über nationale Kooperativen, also in politisch-
ökonomischer Perspektive: der Faschismus. Die Mondnazis, die wir
das letzte Mal in Iron Sky gesehen haben, sind die erste Fantasie,
die aus der Verlockung der Leere geboren wurde, was durchaus
clever gesehen ist: Der Faschismus ist ja selbst »lure of the void«,
mündet in die Leere, in die Selbstnichtung. Dessen Energie will Land
ganz offen nutzen für sein Projekt der »techno-industriellen
Verdunkelung der Galaxie«, in deren Verlauf Planeten und Sonnen
dann einfach sukzessive pulverisiert werden – »Planeten sind nicht
unsere Freunde«. (Aber ein Backup machen wir sicherheitshalber
trotzdem noch von ihnen.)
Das Offensichtliche zuerst: Das ist die gleiche Rasierklinge, die
wir schon in unseren vorherigen Diskussionen geritten haben. Denn
natürlich hat Land recht in vielem, er sieht die Widersprüche in
dieser ganzen »Second Earth«-Denke sehr klar und kann sie auch
so beschreiben: Entweder ganz oder gar nicht, entweder man geht,
oder man bleibt. Jeder Schritt ins All ist der Beginn der Evakuation,
alles andere ist Augenwischerei. Und wenn man konsequent denkt,
dann geht es eben nicht nur um Kim-Stanley-Robinsonhafte
Resilienzentwürfe und auch nicht um Arche-Noah-Spiele wie in
Silent Running, sondern um die Einsicht, dass, wenn man da schon
rausgeht, die Erde ruhig vergessen werden soll, dass sich die
Spezies, die dann den Raum besiedelt, den Terrazentrismus
austreiben muss. Bin ich total mit einverstanden. Und im weitesten
Sinne ist das auch alles noch bewährter, unverdächtiger
Akzelerationismus: Lass den Kapitalismus uns ins All schießen, die
Lebensformen, die er dabei zeugt, werden sich im Zweifel nicht mehr
an ihn erinnern können. Also: Das wäre der akzelerationistische
Hebel.
Ich glaube aber, an diesem Text wird so deutlich wie sonst
nirgends, worin der ambivalente Reiz von Lands Texten liegt.
Einerseits verwandelt er die Energie, die er da am Werk sieht und
die es braucht, wenn man den Orbit verlassen will, in Rhetorik. Allein
die eingeschobene imaginierte Rede, die er mit dem »donnernde[n]
Applaus« enden lässt – das ist großartig gemacht. Der Faschismus
wird dabei zur Paralipse, also ein Ungenanntes-Genanntes, was
zum einen wiederum dem Faschismus in seinem Wesen vollends
entspricht, zum anderen aber auch analytisch wertvoll ist. Wenn
jemand einen Satz wie »Überhastete Denazifizierung ist nur was für
Softies« schreibt, nur um ihn dann durchzustreichen, dann bildet
dieser Strich die Spur, auf der wir, von Land hinterhergeschleift, über
unsere Skrupel hinwegrasen, und es geht ihm natürlich darum, dass
wir genau das merken, aber das Shuttle gleichwohl nicht verlassen.
Die Aussage wäre dann in etwa: Wer es wirklich ernst meint mit der
Selbstüberwindung des Menschen im All, mit Antiimperialismus, der
soll dann bitte erst einmal der »lockenden Leere« restlos
nachgeben, was heißt – ich habe es oben erwähnt –: sich gründlich
faschisieren, der Gewalt unterstellen, damit man genug Abstoßkraft
hat. Entnazifizierung dann hinterm Beteigeuze. Rhetorisch perfide,
weil wir dem Text in seinen Negationen und seiner Inszenierung
doch zustimmen möchten – um dann von der Seite zugeflüstert zu
bekommen, man möge doch mal bitte kurz an sich runterschauen,
was für eine Uniform man da grad trage. Man laufe ja rum wie bei
Heinlein (zu dem dann gleich noch was). Das ist in der Diagnose so
treffend wie in der Performanz gekonnt. Und gleichwohl ist die ganze
Zeit halt hängig, wie denn eigentlich die Frage lautet, auf welche
diese »society born from flight« die Antwort sein soll. Formulieren
lässt sich diese Frage zweifellos nur im Horizont der
identitätspolitischen Selbstfindung der Rechten, also in der Reflexion
darüber, welchen ontologischen Status die USA hat und wieso
dieser Status gefährdet ist, wenn die Kolonialisierung des Weltalls
ausbleibt, es keine »open frontier« mehr gibt. Wer die
Schwachstellen der zeitgenössischen Reaktion ausloten will, der
muss hier genau hinschauen. Die Analyse des Moments, »an dem
die Rechte schizoid wird« – vermutlich gelingt die keinem so gut wie
Land, das Auseinanderfalten des Widerspruchs in der Rebellion
gegen ein System, das man gleichzeitig von oben kontrollieren
möchte. Er bleibt aber eben dann am Ende doch einfach nur in
diesem Libertarianismus stecken, der gerade dann seltsam ältlich
wirkt, wenn man ihn an demjenigen misst, den er in seinem Text am
deutlichsten bemüht – Auftritt Heinlein.
Du hast ja in der Niegeschichte schon das Wesentlichste zu
Heinlein gesagt, und man soll das am besten auch dort nachlesen.
Land hat sich ihn zweifelsfrei zum geistigen Ziehvater erkoren, was
seine Forderung nach einer »unnachgiebige[n], gepanzerte[n] und
mit Schotten versehene[n] Ernsthaftigkeit, die Zivilisten niemals
richtig nachvollziehen« könnten, und seinen Wunsch nach der
Fusion von The Moon is a Harsh Mistress und Starship Troopers
unterstreicht. Ich wage zu behaupten, dass das, was sich in den
beiden genannten Romanen Heinleins zusammenschließen ließe,
gar nicht mal so furchtbar viel ist. Besser gesagt: dass beide Texte
sich vielmehr invers zueinander verhalten. Ich werde hier keine
Exegese veranstalten, aber um mal das Problem zu benennen: Im
einen Fall (bei den Loonies in The Moon is a Harsh Mistress) hat
man es tatsächlich mit Imperiumsflüchtlingen zu tun, deren
Gebahren völlig statisch ist und deren Staat herkömmlich-
terrestrischer nicht sein könnte. In Starship Troopers hat man es
hingegen mit einer Truppe zu tun, die ihre völlige
Deterritorialisierung, ihr bellizistisches Planetenhopping, gerade
dadurch ermöglicht bekommt, dass sie mit einem imperialen
Steuerungssystem – verkörpert im »Suit« – verschaltet ist. Heinlein
ist durchaus ein feiner Analytiker, was die Voraussetzungen von
extraterrestrischer Mobilität angeht, und eine der
Hauptvoraussetzungen ist eben: imperiale Kopplung. Wer nicht
imperial gekoppelt ist, der strandet. Das führt bei Heinlein auch auf
kommunikationstheoretische Reflexionen zurück, er hat ja nicht
zuletzt zwei Seminare bei Korzybski besucht. Wer imperial gekoppelt
ist, einer Generalsemantik gehorcht, der fliegt, dem gehört der
Weltraum. Mir ist schon einigermaßen klar, warum Land die beiden
Texte miteinander kurzschließen möchte. Indessen liegt die Pointe
doch darin, dass sie sich eben gar nicht in eins denken lassen, will
man nicht selber schizoid werden. Aber das überlasse ich nun dir.
P.
Lieber, Frankfurt a. M., den 30. April 2020
damit bringst du mich auf meine Zielgerade: Die Rempelei gegen
Grönemeyer muss ich besser erklären, nämlich den Zusammenhang
zwischen dem, was für mich verächtlicher Hippiedreck ist, und dem
Okkultismus, der Esoterik bei Land, zu der für mich auch sein Blick
auf Wissenschaft wie Technik gehört.
Mein ganzes Interesse an ihm lebt von einem Widerspruch: Er hat
eine völlig verkehrte Vorstellung davon, was eine Erkenntnisquelle
ist, welche Erkenntnisquellen es gibt, welche Methoden aus so einer
Quelle wirklich Erkenntnisse fördern, und er beschreibt seine eigene
Methode und die Quellen, aus denen er mit ihr schöpft, vollständig
falsch. Das ist die eine Seite des Widerspruchs. Die andere jedoch
ist: Trotzdem hat einiges von dem, was er so produziert,
Erkenntnischarakter. Manches ist nur verzerrt und verdreht wahr,
anderes sogar ganz direkt und wörtlich. Wie ist das möglich, wenn er
doch die falschen Erkenntnisquellen bewirtschaftet? Der Punkt
fasziniert mich, und ich glaube, der Hauptgewinn an unserem Dialog
ist für mich, dass ich es jetzt tatsächlich erklären kann.
Du sagst: Die okkulte Praxis bei Land und den Faschisten sei von
Grönemeyer-Hippietum »sehr weit weg«. Kommt drauf an, sage ich,
wie und von woher man misst: Die etwas obskure und insofern
rätselhafte Anspielung auf Grönemeyer bei mir zitiert das Lied
»Kinder an die Macht«, genauer die Zeile: »Gebt den Kindern das
Kommando / Sie berechnen nicht was sie tun«. Das lese ich als Lob
der Irrationalität: Kinder kommen zu ihren Entscheidungen nicht
durch die Verbindung von 1. Hypothesenminimalismus (man soll nur
so viele Gründe zulassen für Erscheinungen, die man erklären will,
oder Entscheidungen, die man treffen will, wie dazu absolut nötig
sind, nicht mehr – Occam’s Razor), 2. Beobachtung, Induktion,
Messung, 3. Modellbildung mit Zeichen für Daten und logische
gedankliche Verknüpfung, 4. Überprüfung der Modelle anhand des
von ihnen für ein Experiment Vorhersagbaren durch Gegenproben.
Die Schritte 1 bis 4 würde Grönemeyer »berechnen, was man tut«
nennen. Es sind rationale Kalküle. Die Quellen, die sie fürs
Rauskriegen von was auch immer und fürs Ausdenken von
Handlungen zulassen, sind nur zwei, nämlich genau die beiden, die
Richard Feynman in einem schönen Vortrag als die einzigen
Praktiken der Wissenschaft benannt hat: RATEN und TESTEN,
wobei RATEN unter anderem RECHNEN miteinbegreift, das heißt,
RATEN sensu Feynman ist nicht »irgendwas behaupten«, sondern
»aus unvollständigem Informationsstand Annahmen bauen«.
Da wir endliche Wesen sind, ist unser Informationsstand immer
unvollständig, also ist jede Annahme, auch eine, die wir irgendwann
so gut geprüft finden, dass wir sie »Naturgesetz« nennen, eine auf
unvollständigem Informationsstand gebaute und insofern ein Raten.
Kinder raten nicht rational, und Kinder testen nicht rational – die
Rationalität beim Raten und Testen ist beschrieben von den
Schritten 1 bis 4 oben. Von der Warte aus, die sich an das Gebot
hält, dass nur Raten und Testen legitime Erkenntnisquellen sind, und
dabei die Verfahrensregeln 1 bis 4 berücksichtigt, ist JEDE okkulte
Praxis exakt das Gleiche wie das, was Grönemeyers Kinder tun,
denn sie verletzt wie diese 1. den Hypothesenminimalismus (indem
sie zum Beispiel Wesen annimmt, die es nicht gibt, egal, ob das die
lieben Engel sind, bei den Kindern der Weihnachtsmann und der
Osterhase, oder im Okkultismus Satan oder Cthulhu), sie verletzt 2.
das Induktionsprinzip (Daten kommen für Kinder und Spinner nicht
nur aus Beobachtung und Messung, sondern aus prophetischen,
mantischen, visionären Zuständen, aus Kartenlegerei und
Handleserei, als Diktat des Engels Gabriel, als innere Stimme usw.),
sie verletzt 3. das Prinzip der logischen Verknüpfung der
Denkzeichen (Tarotkarten legt und deutet man nicht, wie man ein
System linearer Gleichungen löst oder so was, sondern mit
lächerlich großem Interpretationsspielraum, der genuin ästhetische
Kriterien wie »Inspiration« höher stellt als formallogische Konsistenz,
Kohärenz, Vollständigkeit usw.), und sie verletzt schließlich 4. das
Prinzip der Gegenprobe (die gesamte Esoterik ist ein grotesk
aufgeblasener Confirmation Bias, Statistik machen diese Leute gar
keine, Kontrollgruppen, Randomization etc. sind ihnen fremd – wenn
die Wahrsagerin was vorhersagt und genau das, oder etwas dem
hinreichend Ähnliches, tritt ein, ist für das magische Denken der Fall
erledigt, another win for wicca).
Dass Land seinen epistemischen Ort, seine Aussichts- und
Denkplattform, auf gleicher Höhe sowohl mit der Wissenschaft (im
Sinne meiner vier Spielregeln) als auch mit dem Okkultismus (im
Sinne ihrer Verneinung durch magisches Denken) sieht, denke ich
mir nicht aus, das schreibe ich ihm nicht einfach zu – er hat das
selber in aller wünschenswerten Klarheit artikuliert, nämlich in der
furiosen wissensgeschichtlichen Einleitung zu seinem brillanten (und
sehr schlimmen, nämlich im vollen Bewusstsein der
sozialdarwinistischen Konnotationen des Anti-Universalismus radikal
anti-universalistischen) »Desintegration«-Aufsatz von 2019. Da
schreibt er, die Neuzeit interpretiere die Religion und den Mythos als
»vorwissenschaftliche naturkundliche Erklärung« der phänomenalen
Welt und verschaffe der neuzeitlichen Wissenschaft im Aufstieg (also
ungefähr zur Zeit der Renaissance, als die ionische Naturphilosophie
vom städtischen Bürgertum wiederentdeckt wurde, die bereits ein
Testlauf der Antike für das moderne Verfahren 1 bis 4 war) ihren
»foundational myth«, ihren Gründungsmythos, und den brauche sie
nun mal, da wissenschaftliche Ideen, um echte Zivilisationsfaktoren
werden zu können, den Status mythischer Macht erlangen müssen,
wozu es »der kulturellen Wirksamkeit« bedarf, das heißt, was nicht
Mythos wird, unbefragbar und unhintergehbar Geglaubtes, kann in
keiner Gesellschaft die kulturelle Hegemonie unter den erklärenden,
begründenden und das technische Handeln bestimmenden
Praktiken erlangen.
Auf der Grundlage dieser mythischen Verfassung können
wissenschaftliche Verfahren und ihre Resultate, so Land,
gelegentlich sogar »eine mythische Kraft […], die zu ihrer streng
wissenschaftlichen Legitimität in keinem Verhältnis steht«, erwerben,
also Glaubensmacht weit über das hinaus, was vom Verfahren nach
den Spielregeln 1 bis 4 eigentlich gedeckt ist und gedeckt sein kann.
Wo man sich auf die Gründungsidee der Neuzeit namens »die alten
Mythen waren schlechte Wissenschaft, die neue Wissenschaft aber
ist im Gegensatz dazu ein guter Mythos« einlässt, akzeptiert man
einen Universalismus, der die Kulturen alle an derselben Ellle misst,
nämlich derjenigen, die für wahr hält: »The dominating apex of a
culture is some more-or-less scientific cosmology« – »Das
weltanschauliche Dach jeder Kultur ist eine mehr oder weniger
wissenschaftliche Kosmologie«. Der typische Land-Move an dieser
Stelle ist »akzelerationalistisch« im Sinne von »immanent
zuspitzend«, indem Land diese von ihm diagnostizierte
Selbstmythisierung der Wissenschaft nicht KRITISCH sieht und
angreift, sondern bereitwillig übernimmt. Okay, sagt er, wenn Mythos
schlechte Wissenschaft ist und Wissenschaft guter Mythos, dann
sind diese beiden Größen damit einander kommensurabel gemacht,
dann kann man sie mischen, wie man Äpfel und Birnen mischen
kann, sobald der gemeinsame Name »Obst« gefunden ist.
Der gemeinsame Name, von der Wissenschaft her gedacht, für
Mythos und Wissenschaft, lautet bei Land jetzt aber selbst wieder
»Wissenschaft«, und die Wertung »gute« und »schlechte« streicht er
einfach durch mit so einem Punkrock-Nietzsche-Gestus, wie ihn die
kühnsten Intellektuellen seiner Generation lieben, da kommen sie
halt vom Poststrukturalismus her, von Foucault vor allem, im Sinne
von: Wenn das, was an der Macht ist (»Wissenschaft«, laut Land, in
der Neuzeit), sagt, was »gut« und was »schlecht« sei, dann müssen
wir das nicht übernehmen, da spricht ein Mythos, eine Religion, und
deren Priester wollen uns was aufzwingen. Und wie die 68er gesagt
hätten: Die Kirche sagt, es gibt gute und schlechte Sexualität, die
gute ist ehelich und fortpflanzungsgeeignet, die schlechte nicht,
dann drehen wir das einfach um, so sagt Land jetzt: Wer den Mythos
»schlechte Wissenschaft« nennt, gibt zu, dass er immerhin
überhaupt Wissenschaft ist, und dann kann ich diese Art
Wissenschaft ja auch umgekehrt »besser« finden als das, was die
Deutsche Physikalische Gesellschaft oder die American
Mathematical Society und wie sie alle heißen so treiben.
Die Äquivalenz ermöglicht die Äquivokation. Der Rest ist ein
Hütchenspiel, bait and switch, aber so banal der »sleight of hand«-
Move an sich sein mag, mit seiner diffusen und auf einem
Kategorienfehler errichteten Analogiebildung als
Vertauschungsgelegenheitsmacherei, so faszinierend ist der Bruch
mit der Intellektuellentradition vor-poststrukturalistischer
Ideologiekritik, den Land da ausagiert: Bei Adorno und Horkheimer
war es noch der schlimmste VORWURF an die neuzeitliche
Wissenschaft, dass sie qua Technisierung und damit
Reflexionsbeseitigung in Automatismen selbst zum Mythos wird
oder, wie die zwei gern hegelten, in den Mythos »umschlägt«, und
populäre Formen dieses Angriffs aus Enttäuschung (»Wollten
Wissenschaft und Technik die Leute nicht aufklären, auf dass sie
selbstbestimmt statt heteronom usw. etc …?«) gibt es auch nach der
nietzscheanischen Morgenröte des Poststrukturalismus noch hier
und da, etwa als Robert Anton Wilson, auch einer von denen, die
Wissenschaft und Okkultismus miteinander vereinbar machen
wollten (allerdings eher im Zeichen von Timothy Leary und New Age
als in dem von Bataille und Artaud), der etablierten
Naturwissenschaft vorwarf, sie sei eine »neue Orthodoxie«, die nur
noch in ihren positivistisch angelegten Datenbanken und Tabellen
nachschauen könne, wenn eine wilde, neue Erscheinung auftauche,
und deshalb so wenig mehr der Erkenntnis förderlich sei wie die
mittelalterlichen Akademiker, die, wenn ihnen ein Bauer mit dem
Schubkarren einen Meteoriten brachte, nur in der Bibel und bei
Aristoteles nachsehen konnten, und falls das Ding da nicht vorkam,
bestritten sie seine Existenz.
Auch der Reim »Science and Technology / The New Mythology«
in »Type« (1990) von Living Colour ist selbstverständlich gerade
nicht als Aufwertung der Mythologie und Äquivalenzbildung gedacht,
sondern als Abwertung und Miesmacherei von science and
technology.
Bei Nick Land dagegen sind Mystik und science sozusagen
konvertierbare Währungseinheiten – all die Ausdrücke und
Ausdrucksweisen der Wissenschaften, aber auch der
»Geheimwissenschaften« (Madame Blavatsky), also die windigen
Spekulationen der beliebtesten Form der Halbbildung des
neunzehnten Jahrhunderts, der popularisierten vergleichenden
Religionswissenschaften, die damals »was fürs Gemüt« anboten,
während die tatsächlichen, vernünftigen Wissenschaften die
gesellschaftliche Produktion umwälzten und einen dermaßen
abstrakten Reichtum (»ungeheure« Warenhaufen, sagt Marx)
schufen, dass die Pseudokonkretion von Spiritismus und »alten
Legenden«, die Anschaulichkeit des Ausgedachten, als
Schmusedecke und Billigtröstung für Leute herhalten musste, die
Angst hatten, von diesen Fortschritten abgehängt zu werden
(Kleinbürger also, und da vor allem Intellektuelle, die irgendwie
gelehrt waren, aber unpraktisch: Die Geisteswissenschaften
begannen daher damals schon, an der Wiege des Imperialismus,
Geisterwissenschaften zu werden).
Land sieht nicht (und will auch gar nicht wissen), womit diese
Währungen gedeckt sind oder nicht – im »Desintegration«-Aufsatz
spricht er über Dunkle Materie so, als wäre die ein established fact
statt Bestandteil der größten kosmologischen
Verlegenheitskonstruktion der Wissenschaftsgeschichte. Wir können
halt mit unserem Standardmodell derzeit weniger als ein paar
Prozent des Zeugs, das es im Universum gibt, halbwegs griffig
beschreiben, der Rest soll Dunkle Materie und Dunkle Energie sein,
und es mag so kommen, dass man das alles mal nachweist.
Land jedoch behandelt die ganze Konstellation in seinem Aufsatz
als Bildspenderin für die Beschreibung der Verfasstheit und des
Auseinanderdriftens von etwas, das man im Gegensatz zu Dunkler
Materie sehr wohl und sehr gut beobachten kann. Es geht ihm um
die Weltgesellschaft der Gegenwart – die Größen, die man da
messen könnte, wo er sagt: »Es gibt die eine, zusammenhängende
Welt nicht, auf der man von links universale Gerechtigkeitspolitik zu
machen wünscht«, was er mit dem aus der Kosmologie bekannten
expandierenden Universum bebildert, dessen Teile miteinander
irgendwann aufgrund der Lichtgeschwindigkeitsbarriere nicht mehr in
Wechselwirkung treten können, sind ja statistisch erfasst:
Einkommensungleichheit, Abstand im Zugang zu Ressourcen usw.
Das sind alles eben NICHT Artefakte mathematisch-
physikalischer Arbeit wie die »dunklen« Modell-Entitäten der Physik,
sondern harte Daten – Land aber nimmt alles gleichermaßen für
bare Münze, und diese allseitige Konvertierbarkeit von
RESULTATEN der Wissensproduktion, egal, ob das Wissen stimmt
oder spinnt, ist zwar poetisch superproduktiv, aber sozialkognitiv
unglaublich gefährlich – um selber mal so eine Nick-Land-Metapher
aufzufahren: Es gab schon einen Grund, warum die Sowjetunion im
Blick auf ihren Rubel die Hand fest auf dem Devisenhandel hatte,
solange sie halbwegs gesund war: Das Außenhandelsmonopol ist, je
irrationaler der WELTMARKT von seinen Tauschwerten überall die
Gebrauchswerte auffressen lässt, desto wichtiger.
Früher gab’s den Goldstandard, da horteten die Staaten Gold, das
ihre Währung decken sollte, dann fingen sie an, andere, für gesund
befundene Währungen dafür einzusetzen; Länder packten Dollars in
Speicher, um ihr eigenes Geld zu stützen – und so ungefähr verfährt
Land, wenn er sozialdiagnostische Ausdrücke mit physikalischen
»stützt« und beide mit esoterischen und wieder andersrum.
Das führt dann, wie gesagt, zu starken, schönen, weil mit extrem
vielen impliziten Vergleichen und Unterscheidungen superdicht
gepackten, die herrliche Bastelarbeit des Auspackens
ermöglichenden Sätzen wie im Bataille-Buch diese eine irrsinnige
»kosmologische« Bemerkung darüber, wie die Welt gemäß Lands
Wahnsystem, das hier zur Abwechslung mal ein paar Bauteile bei
Thomas von Aquin (statt bei Einstein oder William Gibson oder aus
der Kabbala) holt, nach den Prinzipien der offenen
Binnenunterscheidung zwischen ihren Bestandteilen aufgebaut sei:
»Compositional strata are quarantined from logical differentiations;
ghettoized in the sordid slums that is paternalistically comprehended
by divine reason« (The Thirst for Annihilation, S. 183).
In der Tat beschreibt er damit weniger die Welt des Aquinaten
(oder irgendeine wirkliche) als vielmehr das eigene postvernünftige
Denken – seine Ideen-Paten und er selbst denken ausschließlich in
Bildermengen, aus denen dann einzelne Bilder ausgeschlossen oder
in die neue aufgenommen werden können. Es wird überhaupt nicht
gefolgert, es wird nicht gerechnet (so wenig wie bei Grönemeyers
Kindern), Heidegger zum Trotz auch nicht »gedacht«. Es wird nur
verglichen oder unterschieden, der einzige Schlussmodus ist »sieht
aus wie« und »sieht nicht aus wie«, gern auch in der Variante »klingt
wie« oder »klingt nicht wie« – meine beiden Lieblingsbeispiele, weil
sie nun wirklich extrem deutlich machen, wie intellektuell wüst das
ist, wenn auch interessant, stammen von Foucault und Derrida,
nämlich die Institutionentheorie des Ersteren, die aus nichts
Gescheiterem besteht als »ein Leprosorium sieht aus wie ein Knast
sieht aus wie ein Krankenhaus sieht aus wie ein Irrenhaus«, und
dazu der Aussetzer des Letzteren in Glas, wo er drüber nachdenkt,
was denn nun mit dem »Adler« Hegel sei, weil das Wort »Hegel«,
französisch ausgesprochen, ja wie das Wort »aigle« klingt, das in
dieser Sprache »Adler« bedeutet.
Richtig Scheiße wird dieses Verfahren der Vergleicherei und
Unterscheiderei, bei dem nicht mal der schlankste Syllogismus, nicht
das bescheidenste kausale Denken, geschweige dessen
Verallgemeinerung, Ausweitung und Abstraktion zum
stochastischen, statistischen, probabilistischen Denken stattfindet,
wenn man sich politischen Gegenständen zuwendet, wie sie das ja
alle immer gern tun. Politische Erscheinungen sind historische, also
in sich veränderliche, daher für Vergleiche und Unterscheidungen
zwar geeignet, aber auch so beschaffen, dass sie ihnen schnell
entgleiten. Das Einzige, was die Vergleichs- und Unterscheidungs-
(oder, mit einem der ihren, Deleuze: »Differenz- und
Wiederholungs«-)Besoffenen dann machen (können), ist das, was
Nietzsche ihnen in seinen schlampigen Genealogien vorgemacht hat
– die geistige Qualität dieser Sachen ist hinreichend von der Kritik
des Christentums bezeichnet, die der Typ hinterlassen hat, nach der
albernen Melodie: Jesus redet immer sehr demütig, Demut ist eine
Tugend der Sklaven, also ist das Christentum eine Sklavenmoral der
Unterworfenen, genau wie, weil es da ja auch um die Unterworfenen
geht (allerdings gar nicht demütig …), der Sozialismus
beziehungsweise die Sozialdemokratie, denn Jesus spricht vom
Berg zu einer schmutzigen Masse der Armen, das tut der
sozialdemokratische Agitator aber auch, quod erat demonstrandum
…
Weglassen kann man dann als Tiefdenker offenbar, dass diese
komische »Sklavenmoral« Christentum lustigerweise gerade als
»Herrenmoral« Geschichte gemacht hat, von Rom und Byzanz, wo
sie Staatsreligion wurde, übers ganze Mittelalter, wo sie den
Herrschenden im Feudalismus lieb und teuer war, und dann in den
Konkurrenzkapitalismus (dort als Protestantismus), von den
christlich legitimierten Herrschaftsansprüchen der Kolonialgeschichte
gar nicht zu reden, bis zur »Kathedrale« der Herren Land und Yarvin
… na, egal, wozu differenzieren, wenn ein zündendes Bild (die
schmutzige Masse lauscht der Predigt) sich malen lässt?
Das Problem fängt schon vor der, nennen wir’s sehr großzügig:
Argumentationsweise an, denn die Bilder (als Sprachbilder, also, mit
meinem Wortgebrauch, Denkzeichen) sind von vornherein unscharf,
noch bevor sie zu diesen »genealogischen« Tableaus verknüpft
werden. Nietzsche versteht unter »Sklave« einfach »jemand unten in
der Hierarchie«, kann den Sklaven daher nicht vom leibeigenen
Bauern noch vom Arbeiter trennen (wenn schon unterscheiden,
warum nicht auch mal funktional?), und eben deshalb hatten wir ja
zum Beispiel 2020 jetzt diese schönen Riesenprobleme damit, dass
Leute glauben, man habe die analytisch nötige Arbeit, den Feind ins
Visier zu nehmen, schon erledigt, wenn man Trump einen
»Bonapartisten« oder gleich »Faschisten« nennt, weil die
Benutzeroberfläche seiner Show eben Anleihen bei Sachen und
Sachverhalten macht, die den Analytikerinnen und Analytikern
bekannt vorkommen, na herzlichen Glückwunsch – allzubald kriegen
wir wohl die erwachsene Nüchternheit nicht wieder, mit der Stalin auf
die blöde Frage des Schriftstellers Emil Ludwig, ob er, Stalin, nicht
so was wie eine moderne Wiederkehr von Peter dem Großen sei,
die ausgezeichnete Antwort gab: »Nein, keineswegs. Geschichtliche
Parallelen sind stets gewagt. Diese Parallele ist unsinnig« – nämlich
wegen der Kleinigkeit des Klasseninhalts, wie der Generalsekretär
dem Dichter dann freundlicherweise noch erklärt: Peter war ja
Schutzherr der russischen Klasse der Gutsbesitzer und der
russischen Klasse der Kaufleute bei deren Aufstieg, und Stalin:
nichts dergleichen, sondern, wie er sagt, »nur ein Schüler Lenins«,
der den sozialistischen Staat aufbaut, nicht als Nationalstaat allein,
wie Peter bei seinem Reich, sondern ausdrücklich auch zu dem
Zweck, die internationale Arbeiterklasse zu stärken.
Die Verwirrung zwischen PETER und STALIN, zwischen DAMALS
und HEUTE, die Verwirrung zwischen Methoden der Erkenntnis (1
bis 4 …) und Resultaten, die Verwirrung auch zwischen Gründen
einer Handlung einerseits und Zwecken einer Handlung andererseits
(ich MUSS ins Flugzeug steigen, wenn ich rechtzeitig in Amerika
sein WILL: Der Grund ist die große Entfernung, der Zweck ist meine
Absicht, dort zu sein) ist heute im Intellektuellenmilieu total
geworden. Alle diese Denkschritte sind einander absolut
kommensurabel gemacht, konvertierbar – der »Marktplatz der
Ideen«, von dem die klassischen Liberalen schwärmen und den sie
mittels Forschunsgfreiheit, Meinungsfreiheit und anderer kognitiv-
diskursiv-privat-öffentlicher, also Kognition mit Diskussion,
Privatinteresse mit öffentlicher Verhandlung kommensurabel
schaltender, als UNIVERSAL, also für alle gültig gedachten Regeln
haben durchsetzen wollen, ist einfach dadurch inzwischen
tatsächlich durchgesetzt, dass sich der Prozess vollendet hat, den
Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei
beschreiben, wo sie sagen, die Kapitalmacht habe schließlich, wenn
sie mit ihrer Zurichtung der Arbeitsteilung inklusive sogenannter
geistiger Arbeit durch ist, »den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den
Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter
verwandelt«, auch wenn sie an der Uni arbeiten, wo heute vom
Drittmittelterror über den offen vom Kapital bezahlten Lehrstuhl bis
zu den symbolischen Nachäff-Spielen des »kulturellen Kapitals« das
Marktspiel gespielt wird und die Uni überhaupt als Produktionsstätte
im kapitalistischen Sinn gilt, als Ort, wo Wissen (ob wahr oder nicht,
egal, Hauptsache, irgendwer kauft es) produziert wird oder
wenigstens Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – auch hier:
Konvertierbarkeit über alles, man hat dann vielleicht einen Sommer
lang in der Germanistik die Nase vorn, wenn man ein bisschen
Hirnforschungsvokabular in den Text reinpanschen kann, und ganze
Fächer, oft mit »Studies« im Namen, sind das akademische
Äquivalent zu den Finanzmärkten mit ihren Bubbles, Booms und
Crashes geworden, na, weißt Du eh.
Das wirkliche, tatsächliche, money-bound Kapital bildet sich
unterdessen vom produktiven Faktor ins Handelskapital zurück, aus
dem es hervorgegangen ist – da war es NOCH NICHT produktiv und
konnte daher auch nicht dem Feudalismus die politische Macht
entreißen, inzwischen aber ist es vielerorts NICHT MEHR produktiv
sondern nur noch zerstörerisch, aber seine politische Macht ist total,
so groß, dass die ihm verpflichtete, von ihm unterhaltene bürgerliche
Politik, die doch der Ort für Zweck-Mittel- oder Grund-Zweck-
Unterscheidungen im Sozialen schlechthin sein müsste, diese
Unterscheidungen im allgemeinen Konvertierbarkeitsmahlstrom
verliert, sodass etwa, wenn im Irak oder in Jugoslawien die Bomben
abgeworfen werden sollen, nicht mehr mit »wir wollen« argumentiert
wird wie in den großen imperialistischen Militärabenteuern des
zwanzigsten Jahrhunderts (»wir wollen Lebensraum«, »wir wollen
die Hunnen zurückdrängen«), sondern nur noch mit »wir müssen«
und Satellitenfotos, die irgendein Scharping oder Colin Powell einem
Parlament vorhält, weil das GRÜNDE liefert, wo keine ZWECKE
mehr benannt werden – und dito in der Coronakrise, wo es den
Regierenden weltweit ganz recht zu sein schien, dass ihre
Entscheidungen sich medial als von den Virologen und den
Epidemiologen getroffene dargestellen konnten und damit auch der
Volkszorn sich auf diese Wissenschaftsfiguren konzentrierte.
Die schauerliche Konfusion ist Ergebnis der Tatsache, dass ein
Markt, wenn auf ihm auch Arbeitskraft verkauft wird und nicht nur
deren Erzeugnisse und wenn als Marktbedingung Profit gemacht
werden muss, immer über kurz oder lang dazu führt, dass der
Tauschwert, das Konvertieren, den Gebrauchswert, das Produzieren
für den Verbrauch, auffrisst – es steht im ganzen Marxismus überall,
am Lebendigsten aber lustigerweise bei einem eingeschworenen
Antisowjetisten, dem guten Wolfgang Pohrt in der Theorie des
Gebrauchswerts, geschrieben schon in den Siebzigerjahren. Die
schließlich im Verstummen besiegelte Isolation dieses großen
Mannes kam wesentlich auch daher, dass er nie sah, dass die
Sowjetunion, die er, von Westpropaganda und eigenem
Achtundsechzigerbrett vor dem Hirn beschränkt, nur als autoritär-
dirigistische Kasernenwirtschaft sehen konnte, unter anderem
tatsächlich ein Versuch war, das automatische Subjekt »Kapital«
durch die Arbeiterklasse zu ersetzen, nämlich ganz plan und direkt
ökonomisch: Beim Aufbau der Industrie in den Zwanzigern hätte das
Kapital in Russland zunächst Textilfabriken und so was bauen
lassen, weil sich das schneller rentiert, weil das rascher profitabel ist
und dann den Geldreichtum schafft, der in den Aufbau von
Schwerindustrie investiert, so war das ja in England, so fing der
eigentliche Kapitalismus an, aber die Bolschewiki wollten nunmal ein
Bündnis zwischen armer Bauernschaft und städtischem Proletariat,
um eine Klassenbasis für ihren Sozialismusversuch zu errichten,
also bauten sie Schwerindustrie, damit das Proletariat was zum
Tauschen hatte für die Landwirtschaft, die es ernähren sollte –
Maschinen, und bald Produkte der Produktion mittels derselben.
Der Gebrauchswert einer Fabrik fürs Kapital ist, dass sie Profit
macht, also ein Gebrauchswert unter der Fuchtel des Tauschwerts,
die Russen machten es tatsächlich umgekehrt, bis zum Schluss
übrigens, als die dreifache Aufgabe – »1. Den Produktivätsvorsprung
der feindlichen Kapitalisten aufholen; 2. Sich nicht von denen
totrüsten lassen; 3. Grundsicherung für alle Sowjet- oder DDR-
Menschen« – sie schon sehr ausgeleiert, schon sehr erschlafft, in
eine ziemlich große Dekadenz gesaugt hatte (die hieß Breschnew
oder Honecker, der Rest ist bekannt).
Hätte Pohrt das gesehen, wäre er vielleicht für eine persönliche
Form des Bündnisses Intelligenz/Arbeiterklasse (nämlich: Wolfgang
Pohrt/Sozialistische Weltbewegung) zu haben gewesen, so aber
vereinsamte und verbitterte er, während der Weltsozialismus verkam
und verblödete. Dahin ist Letzterem nun aber der Imperialismus
gefolgt, wie meine Beispiele aus der intellektuellen (Foucault,
Derrida) und politischen Sphäre (Scharping, Powell) indizieren
mögen, und die solidesten Wissenschaften oder zumindest die
Sachverhalte, die von ihnen öffentlich bekannt werden, können da
nicht außen vor bleiben – gerade liegt zum Beispiel neben dem
Keyboard, auf dem ich das hier tippe, ein im Frühjahr 2020
erschienenes populärwissenschaftliches Buch darüber, dass allerlei
wirkliche Dinge, nämlich der Planet Neptun, die Radiowellen und die
Antimaterie, nicht beim Beobachten und Messen, sondern rein
mittels mathematischer Kalküle »gefunden« und »entdeckt« wurden
– und das Buch von diesem Marcus Chown, »awardwinning science
writer and broadcaster« heißt The Magicians. Heiliger Nick Land,
bitt’ für uns!
Gemeint sind mit den »Magicians« die heroischen Figuren der
mathematischen Physik, im Untertitel des Buches: »Great minds and
the central miracle of science«, also »Magier«, »Wunder«. Es ist
genau das gleiche Verrühren von Wissenschaft und Spökenkiekerei
wie bei Nick Land, natürlich metaphorisch gemeint, aber wenn man
nicht mehr weiß, WIE und WARUM menschliche
Denkzeichensysteme (»Mathematik«) das Raten UND DAS
TESTEN effektiver machen, als sie andernfalls wären, fließt eben
Zauberei und Gnosis direkt mit vernünftiger Forschungsarbeit in
eins. Das macht sich dann übrigens auch in Künsten bemerkbar, die
von diesen Dingen was wissen wollen, weil es da um menschlich-
soziale Haltungen zur Welt geht und deren Darstellung halt das
Proprium der Künste ist – ja, hier rede ich jetzt endlich auch von
Science Fiction, der Kunst, deren ganz besondere
Auseinandersetzung mit dem menschlichen Dreieck Wissen-
Können-Dürfen das späte neunzehnte, das ganze zwanzigste und
den bis jetzt erkennbaren Teil des einundzwanzigsten Jahrhunderts
ästhetisch so sehr veredelt hat.
Der von Dir in diesem Zusammenhang genannte Heinlein zeigt, wie
Rationalität als reine Verfahrenslogik in dem Moment, in dem sie
irrationale Zweck-Mittel-Beziehungen in ihre Kalküle lässt (etwa die
völlig wahnsinnige: Ich muss dem Profitmotiv folgen, wenn ich
technischen Fortschritt will, anstatt dass ich direkt auf den
fortschrittlichen Gebrauchswertzweck hinarbeite), eben die
Konvertierbarkeit von richtigen in falsche Ideen ermöglicht und
umgekehrt, also zum Zufallsgenerator im abenteuerlichsten Sinn
wird, selber irrational. (DESHALB ist Heinlein in Teilen »rechts«,
obwohl doch als Verfechter von hard facts, hard sciences und hard
science fiction ein Champion des rationalen Kalküls – seine
Schwärmerei für die USA und ihren individualistischen Liberalismus,
als Gewerbefreiheit verstanden, weicht seine Birne auf bis an den
Punkt, an dem er sich mit »Stranger in a Strange Land« plötzlich
vom Technokraten zum Hippie wandelt, also bei Grönemeyers
Kindern landet, weil er außer Raten, Beobachtung und logischem
Schluss auf einmal eine Erkenntnisweise für möglich hält [und
seinem Romanhelden andichtet], die »unmittelbar das Wahre
erfasst«; er nennt es »to grok«, aber es ist einfach Gnosis, also
derselbe alte Plunder, der auch durch Lands Schriften wabert.)
Wo alles im Tausch verbrannt und verbraucht wird, ohne seine
»geschichtsbildende Potenz« zu entfalten, rückt das Motiv der
»Dezision« in den Mittelpunkt, das »Existenzielle« des Sich-für-
irgendwas-entscheiden-Müssens, das »Geworfensein« in ein
Angebot ohne Präferenzordnung, wie die bürgerliche Ökonomie
sagen würde etc. Das ist eben nicht, wie Carl Schmitt und Martin
Heidegger wollen, ein Urphänomen oder Attribut beziehungsweise
Merkzeichen des Menschlichen überhaupt, sondern, als Zerstörung
der Hierarchie der Gebrauchswerte (Nahrung brauche ich
dringender als ein iPhone), ein Resultat des außer jede Kontrolle
geratenen Tauschwerts, ein Phänomen des faulenden Kapitalismus,
des Imperialismus. Heinleins Helden (und, seltener, Heldinnen) sind
dezisionistisch drauf wie Lands irres Weltsubjekt GNON, they think
this is basic world-stuff, but it’s just capitalist.
Dass sie das nicht sehen (wollen), hindert aber weder Schmitt noch
Heidegger noch Heinlein noch Land daran, auf (wenn auch verzerrte
und verrückte, so doch erkennbare, distinkte) sehr explizite Weise
dargestellte emanzipatorische Impulse weiterzureichen, die sie von
ihren Erfahrungs- und Denkerschütterungserlebnissen in grauer
Hirnvorzeit abgekriegt haben. Die Impulse sind da, weil nun mal
jedes Denken, Betrachten, Innerwerden, noch das blödeste,
faschistoideste, gewaltgebannteste, hypnotisierteste, ideologisch
verblendetste, einen Bruch mit dem blinden Weitermachen, dem
gedankenlosen Fortexistieren darstellt, der dem authentisch
RECHTEN Willen (»das Stärkere setzt sich durch und das ist richtig
so, Geschichte ist verlängerte Naturgeschichte, alles andere hat das
Maul zu halten und zu gehorchen!«) immer das Liebste ist.
»Lockende Leere« von Land zum Beispiel ist, genau wie
Heinleins riesiges Projekt »Future History«, dessen Expansion-ins-
All-Fantasie ja in der komplett vernünftigen, im schönsten
vorstellbaren Sinn des Wortes RATIONALEN Überlegung »don’t put
all your eggs in one basket« gründet (wenn ein Klumpen Scheiß aus
dem All das Experiment Menschheit auslöschen würde wie
irgendwelche dummen Saurier, wäre das doch schade, also lasst
uns Mond und Mars und weißgottwas erobern, als Redundanz und
Backup, damit das Experiment weitergehen kann), eine tolle
Ausgestaltung des völlig berechtigten Empfindens »Ich will hier
raus!«; der Text ist eine (sicher unbewusste) Auflehnung gegen das
(Land sicher nicht ganz klare) Gesetz des Weltkapitals unserer Zeit,
das man »Globalisierung« genannt hat und dessen schlüssigste und
grusligste Zusammenfassung von Hermann Peter Piwitt stammt:
»Wenn du Geld hast, kommst du überallhin, aber nicht mehr raus«.
Land besteht demgegenüber in »Lockende Leere« darauf: Wir
kommen raus, wir müssen raus, selbst wenn wir alles Menschliche
dafür hinter uns lassen müssen. TRAGISCH ist daran wie an seinem
ganzen Posthumanismus und Akzelerationismus ja nur, dass er das
Menschliche mit dem Bürgerlichen verwechselt – aber diese Geste,
weg mit ALLEM, was man uns erzählt hat, weil das, was wir erleben,
so eklig ist, und her mit einem absichtlichen Kollaps aller Vokabulare
ineinander, um eine Sprache für den Wunsch nach Ausbruch und
totaler Transformation zu finden, die das, was noch nie gesagt
wurde, so sagt, wie es noch nie gesagt wurde, DAS hat Land mit
LINKEN Intellektuellen gemein, die ebenfalls in der Suppe der
einander völlig gleich gemachten Vokabulare schwimmen und das
hassen, aber anders als er die Idee »Emanzipation« nicht aufgeben
wollen, auch wenn sie darunter dann etwas verstehen, was keine
Emanzipationstheorie oder -praxis der letzten sechshundert Jahre
als »von ihrem Fleisch und Geist« erkannt hätte – ich meine Leute
wie diejenigen, die das »Xenofeminist Manifesto« geschrieben
haben, oder die unberechenbare, manchmal völlig abstruse und
manchmal absolut hinreißende Andrea Long Chu, oder die
neuheidnische Trans-Anarchistin Elizabeth Sandifer, also den linken
Flügel des Post-Poststrukturalismus, dessen rechter Flügel Land
unbedingt (wirklich: ums Verrecken, wie man so sagt) sein will und
zu dem dann seine Helden auch zu zählen wären, Yarvin, der
Blogger Spandrell und solche verrückten Nazimonster.
Sie alle greifen nach den Planken des gekenterten Schiffs »linke
Intelligenz mit Abstand zum sowjetischen Kommunismus« in der
besagten Suppe, deren Dämpfe, ich wiederhole, das Hirn benebeln
und es komplett vergessen lassen können, WIE und WARUM
menschliche Denkzeichensysteme (vor allem: »Mathematik«) das
Raten UND DAS TESTEN effektiver machen. Man darf bei Leuten,
die wie die allermeisten Linksintellektuellen der bürgerlichen Welt
eher geistes- und sozialwissenschaftliche als
mathematischnaturwissenschaftliche Bildungsgänge hinter sich
haben, gar nichts anderes erwarten, als dass ihnen der
Zusammenhang zwischen Denkzeichen und Sachverhalten ein
Rätsel ist; schließlich haben selbst die Naturwissenschaften, bei
denen dieser Zusammenhang Existenzbedingung ist, seine Struktur
inzwischen oft aus den Augen verloren, und zwar spätestens mit der
Verschiebung ihres Brennpunkts und ihrer Front vom mechanisch-
kausalen zum statistisch-probabilistischen Denken – der größte
Schock war die Quantenmechanik, in ihrem Feld wurde aus den
Rechensymbolen der Mathesis tatsächlich tendenziell so etwas wie
die »hierophantics«, die der Science-Fiction-Autor Rudy Rucker,
immerhin ein direkter biologischer Nachfahr Hegels, sich für seinen
tollen Roman Mathematicians in Love ausgedacht hat, also etwas,
das die Entwicklung mit einer Art lingua characteristica universalis
für einen probabilistischen Kosmos beendet, die wir als Spezies mit
den ersten Denkzeichen begonnen haben – »The human race’s
adoption of language and writing were first steps towards
hierophantics« (Rucker).
Einer der Exponenten der Ausgestaltung der Quantenmechanik zur
realitätstüchtigen Lehre der Fundamentalphysik hat als Erster den
Verlust der Klarheit über den besagten Zusammenhang zwischen
den effektivsten Denkzeichen und der Welt artikuliert, nämlich
Eugene Wigner in seinem epochalen Essay »The Unreasonable
Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences« von 1960.
Die Frage: »Wieso passt Mathe so gut zur Natur?«, oder anders:
»Wie kann man durch bloßes Rechnen den Planeten Neptun, die
Radiowellen und das Positron entdecken, ist das nicht Magie?«,
kann nur aufkommen, wo man zweierlei vergisst, eine doppelte
Beschränktheit des Werkzeugs Mathe nämlich, eine nach unten
(»Wie unrealistisch kann Mathe schlimmstenfalls werden?«) und
eine nach oben (»Wie viel von der Realität, die vielleicht gar nicht
auf die Mathe passt oder auf die umgekehrt die Mathe nicht passt,
könnten wir überhaupt entdecken?«).
Mathe automatisiert das Raten, das ist ihr Hauptgebrauchswert
für die Science Fiction, von der ich hier implizit ständig rede: Man rät
nicht mehr über Sachen, sondern über Beziehungen zwischen
Zeichen, die für sehr viele sehr verschiedene Sachen stehen, sehr
abstrakten Zeichen also, die eine große Zahl Variablen und
Invarianten beschreiben. Entwickelt wurde das Ganze aus der Natur,
auf die es passt, nämlich durch Zählen und Erdvermessung
(»Geometrie«), das heißt, die Grenze für Mathe nach unten ist die
Grenze von Zeug, das in unserer Reichweite als biologische Critters
liegt, eine Grenze der »effectiveness« im Sinne der ZWECKE
lebend-denkender Systeme, denn »effectiveness« ist ja immer ein
Maß für eine Eignung zu einem Zweck.
Dieses »Zeug« ist aber obendrein von der Mathe erfasst mit
MINIMALISMUS, mit Axiomatik und Definitioniskunst, die sich beide
mühen, alles wegzulassen, was nicht in jedem der vielen von dem
Formalismus zu beschreibenden Fälle gilt (und dennoch wird
manchmal was übersehen: Euklids Parallelenideen hingen daran,
dass er weder an die Kugel noch an die hyperbolische Geometrie
dachte).
Wenn man dann so ein sehr robustes, weil sehr minimalistisch an
Messungen angelehntes formales System hat, kann man es
studieren, wie etwa eine Fotografin ein Foto studiert: Sie sieht dann
Sachen, die SIE NICHT GESEHEN HAT beim Fotografieren, falls
der Bildgegenstand hochkomplex ist, aber DIE KAMERA HAT SIE
GESEHEN, der Automatismus, die mathematische Form – und beim
Nachsehen sieht die Fotografin sie dann eben auch. Aber sie sieht
NICHT das, was auch für die Kamera verdeckt war (zum Beispiel
Zeug, das hinter dem Zeug steht, dass auf dem Foto ist, also bei
Euklid: die Kugelgeometrie und die hyperbolische). Die verdeckten
Sachen sind die der zweiten Grenze, derjenigen »nach oben«, also
hypothetisches Zeug in der Natur und hinter den bis jetzt
beobachtbaren Erscheinungen (das heißt meinetwegen:
»metaphysisches« Zeug, insofern Physis = messbar, beobachtbar,
well, this held true so far), über das sich zwar wahre Aussagen
machen lassen, aber keine mathematischen. Gut, die mag’s geben,
aber je mehr wir die Mathesis ausweiten, weg von unseren
menschlichen Intuitionen (hin zu mehrwertigen Logiken oder
Geometrien mit exotischen Axiomensystemen oder whatever), desto
zuversichtlicher, sagen wir wenigstens: optimistischer dürfen wir
sein, dass Mathe vielleicht sogar Zeug denken (mit Denkzeichen
kalkulierbar machen) kann, das wir eigentlich NICHT denken können
– wie gesagt, Zeug, das wir nicht denken können, wird’s wohl,
nachdem unser Hirn ja Evolutionsprodukt unter spezifisch-endlich-
irdisch-lokalen Selektionsdruckformen ist wie unsere
Sinneszurüstung, ebenso gut geben wie Lichtwellenlängen, die
unsere Augen nicht sehen, oder Klangwellenlängen, die unsere
Ohren nicht hören, aber halt die anderer Tiere, deren Sinnesapparat
anderen Formen von Nischen-Selektionsdruck ausgesetzt war
(Fledermäuse usw.).
Die Mathesis ist ein »anderes Tier«, das wir selbst gezüchtet
haben, wie die Kunst übrigens – sie taugen gerade so, wie, siehe
oben, ein Fotoapparat taugt, nicht für mehr, aber auch nicht für
weniger.
Der Punkt, auf den ich rauswill, lässt sich jetzt aussprechen, nach all
den Präliminarien, Definitionen etc.: Das kollabierende Denken von
Land (und Heinlein und Andrea Long Chu und …) über Politisches in
Abhängigkeit von Wissen und Können, Forschung und Technik ist
zwar kein präziser Fotoapparat im Sinne meiner Metapher, aber
doch eine Lochkamera. Land glaubt, er bildet die Welt ab oder die
Welt hinter der Welt, und hält seine Quellen (Kabbala oder, sehr
schön rhapsodisch in Fanged Noumena: »Qwernomics«, also die
Ressource des Tippens) für hinreichend dignified, das Wirkliche
(GNON) darzustellen, und da irrt er sich, wie beschrieben, aber dafür
bildet er DIE LAGE DER INTELLEKTUELLEN ab, die nicht einfach
fressen wollen, was heute von der Weltsituation so angeboten wird,
aber auch keine sozialistische oder sonstwie emanzipative
Bewegung kennen (wollen), auf die sie setzen, zwar
verschwommen, aber eben deshalb inspirierend und
wirklichkeitsgetreu ab – sie IST ja verschwommen. Das war sie
historisch immer wieder, am alleraufregendsten und
hoffnungsstiftenden zum Beginn des bürgerlichen Zeitalters, als
noch nicht klar war, was die bürgerliche Welt für eine sein wird, und
eben auch nicht, was die bürgerlichen Wissenschaften für welche
sein werden – so konnte ein Mystiker mit völlig rationaler
Argumentation, sehr nahe an den Methodenschritten 1 bis 4, aber
doch zeittypisch verwirrt (er lehnte zum Beispiel die Astrologie ab,
bejahte aber die Magie), die ersten Überlegungen zur vernünftigen
Zuweisung von Menschenrechten, zur wechselseitigen Gewährung
solcher Rechte für alle und durch alle Menschen in der Gesellschaft,
formulieren, nämlich Pico della Mirandola mit seiner Oratio de
hominis dignitate (1486), die schon so aufgeklärt klingt wie Kant oder
John Rawls über denselben Gegenstand geschrieben haben, aber
neben naturrechtlichen halt auch magische und okkulte Quellen in
Anspruch nimmt (der Gegenstand wird der Forschung gerade
deutlicher denn je, es gibt dazu ein ganz fantastisches neues Buch,
erschienen im November 2019, von Brian P. Copenhaver, einem der
besten Kenner der Magiegeschichte: Magic and the Dignity of Man:
Pico della Mirandola and His Oration in Modern Memory).
Wenn Heinlein in Starship Troopers die Menschen- und Bürgerrechte
an das Ableisten des Militärdiensts koppelt, ist er sozusagen der
spiegelbildliche Anti-Mirandola: Mirandola holt aus okkulten
Voraussetzungen eine vernünftig-gewaltlose Sozialidee, Heinlein
aus rationalen, aber imperialistisch deformierten, eine irrational-
gewaltbegeisterte. Land steht sozusagen zwischen beiden,
manchmal hat er Sympathie für Emanzipatorisches, aber höchstens
in dem Sinn, dass das, was NACH den Menschen kommt, denen
Pico della Mirandola Menschenrechte schenken wollte, sich von
diesen Menschen emanzipieren soll, die für Land nur schwache,
gehetzte, verblödete, von religiös-universalistischem
Menschenrechtsgedusel beschwipste Dekadenzaffen sind. Der
Renaissancehumanist steht den beiden Köpfen der Weltall-
Eroberung nicht nur ideologisch oder ideengeschichtlich oder wie
immer man das Dings nennen will gegenüber, sondern als Insasse
eines anderen sozialen Resonanzsraums – ich kann hier nicht
anders, als zum Schluss meiner Überlegungen re: Nick Land auf
Deinen Ausgangspunkt unseres ganzen Dialogs zu rekurrieren, die
Einsicht nämlich, »dass die Texte, über die wir uns unterhalten, nicht
irgendwo entstehen, sondern in einem ganz bestimmten Raum«.
Ich nenne diesen Raum »Imperialismus« und begebe mich damit
natürlich in genau die Gefahr, vor der Stalin den armen Emil Ludwig
so scharf gewarnt hat: Ein Imperium leisteten sich die Römer (von
deren historischem Muster alle Science-Fiction-Leute genascht
haben, die sich interstellare Imperien ausdachten und ausdenken,
von Asimov und Heinlein über James Blish bis zu heutigen
antiimperialistischen Sachen wie Im Herzen des Imperiums von
Arkady Martine [2019]), aber auch die Engländer und später die US-
Amerikaner, und diese Reiche im Sinne der Untugend, die Stalin
zurückweist, alle über ein und denselben begrifflichen Leisten zu
schlagen, würde mir eigentlich Bauchschmerzen machen, wenn ich
es so plump meinen müsste. Aber ich kann’s ja präziser fassen,
wenn ich an Deine Überlegungen zu »imperialen
Steuerungssystemen« und »imperialer Kopplung« zum Schluss
nochmal direkt anschließen will. Im Interesse der Trennschärfe und
des auf schlanken Definitionen leichter als auf weitläufigen zu
errichtenden Hypothesenminimalismus definiere ich also
»Imperialismus« mit Lenin, Luxemburg und Varga so, dass die
Römer (und der Makedone und die Mongolen und was es sonst
noch gab) rausfallen, aber die Gesellschaft, in der Land (wie
Heinlein, die Poststrukturalisten usw.) denkt und schreibt, erfasst ist,
also nach ML-Doktrin, d. h. im Sinne der Leninschen
Imperialismusdefinition: 1. Kapital konzentriert sich wie nie zuvor, 2.
Kriege werden direkte Markteroberungszüge, die Konkurrenz
zwischen einzelnen Kapitalisten nimmt derweil gegenüber der
Bedeutung der Gesamtverwertungskrise ab, 3. Kapitalismus wird
immer unproduktiver, bildet sich tendenziell vom produktiven
(Gebrauchswert abwerfenden) Motor zum unmittelbaren
Herrschaftssystem ohne die berühmten Vorzüge des
Konkurrenzkapitalismus (bürgerliche Freiheiten etc.) um (»faulender,
sterbender Kapitalismus«, Lenin), 4. Gesamtkaptialismus in immer
härterem, direktem Kampf mit dem, was ihn umbringen und ablösen
will: Sozialismus, 5. Kapitalexport wird wichtiger als Warenexport. Zu
Punkt 4 sitzt natürlich der Einwand locker: Mag ja für Heinlein noch
hinhauen, aber wo ist der sozialistische Feind für den Imperialismus
(den deutscheuropäischen, den amerikanischen etc.) heute? Ich
muss also, sieht man, über die Volksrepublik China reden und
darüber, wo ich sie einordne. Nick Land, damit wir das nicht
vergessen, schreibt und lebt derzeit in Schanghai. Die
nichtmarxistische oder freelance-marxistische, linke und rechte, aber
jedenfalls westliche Diskussion vonseiten diverser Bürgerinnen und
Bürger derjenigen Staaten, die mit China Stress haben, über
»Staatskapitalismus«, »Scheinsozialismus« und wie die Schlagworte
sonst heißen, möchte ich uns an dieser Stelle (auch, weil ich grad an
einem größeren Ding sitze, das diese Sachen zu klären versuchen
wird) ebenso ersparen wie die umfangreiche binnenmarxistische
Debatte zum Thema »Übergangsgesellschaft« (das findet man eh
besser, als ich es hier umreißen könnte, bei Leuten wie Eike Kopf,
Vladimiro Giacché und in der wiederum marxistischen Kritik an
diesen). Was »die Chinesen« seit Deng sagen und denken, und wie
es zu bewerten wäre, lasse ich gleichermaßen weg, aber die Frage,
ob der gegenwärtige Imperialismus in China unter dem Aspekt der
KLASSENANALYSE einen Gegner hat, der in irgendeiner Form
Platzhalter dessen ist, was den Imperialismus umbringen muss,
kann man glücklicherweise ganz ohne derartige Philologie, Exegese,
Hermeneutik and whatnot beantworten.
Der alles durchherrschende Epochenkrieg, von dem ich ausgehen
muss, seit der ML mich über ihn aufgeklärt hat, ist der Kampf
zwischen dem Kapital und der lebendigen Arbeit. Vor Maos
Revolution wie seither war und bleibt (allen Geschichten von
neureichen Milliardären zum Trotz) China ein Land mit wenig Kapital
und viel Arbeitskraft, und sein Versuch, Reichtum zu akkumulieren,
proletarisiert Menschen fortlaufend, aus strategischen, durchaus
sehr nachvollziehbaren Gründen – auch wenn man die, sagen wir
mal, linksradikale (aus leninistischem Mund bekanntlich kein Lob)
Perspektive von Zhun Xu nicht teilt, die in der Abhandlung From
Commune to Capitalism: How Chinas Peasants Lost Collective
Farming and Gained Urban Poverty die Bewertung des Zerfalls
zahlreicher Landkommunen in der VRC beschreibt, wird man das
Tragische daran nicht verkennen. Aber wenn diese (und manch
andere) Maßnahme die bargaining power erhöhen sollte, die China
als »Land der Arbeit« auf dem Weltmarkt gegen den Imperialismus
in Stellung bringt, hat selbst das den Segen des ML, vorausgesetzt,
diese bargaining power wird eben wirklich als antiimperialistischer
Hebel verwandt. China also: wenig Kapital gemessen an viel
lebendiger Arbeit.
Und wie sieht es dann mit dem Imperialismus aus? Der hat viel
Kapital, klar, aber hat er wenig Arbeitskraft? Wieso hat er dann
Arbeitslose? Na, die sind Reservearmee zur Erpressung des
arbeitenden Teils der lohnabhängigen Massen, klar, aber in gewisser
Weise hat sich der Imperialismus eine Weile lang, nämlich von
spätestens 1945 bis zum Ende der Sowjetunion, tatsächlich
merkwürdig freundlich gegenüber der lebendigen Arbeit im
kernimperialistischen Territorium verhalten – aus wiederum
strategischem Grund: Man beteiligte die Lohnabhängigen in den
Metropolen an quasikolonialen Extraprofiten, an der schweinischen
Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt, und diese Beteiligung
nahm die Form von Sozialpartnerschaft an, bei der die
Sozialdemokratie im Imperialismus, von Willy Brandt bis zur
Democratic Party, sich auch noch einreden konnte, sie hätte das
alles mit den Gewerkschaften im Rücken erstritten beziehungsweise
herbeiverhandelt – Flächentarifverträge, Sozialversicherung,
Breitenbildung usw. Und das alles geschah, um die Massenloyalität
der Lohnabhängigen zu zementieren, um sie bei der Stange des
Kapitals zu halten, auf dass sie nicht zu irgendwas Sozialistischem,
gar zur Sowjetunion oder DDR überliefen, nicht geografisch
natürlich, sondern im Sinne einer Parteinahme– dass diese
»Genealogie« der »sozialen Marktwirtschaft« hinhaut, sieht man an
der Gegenprobe, kaum nämlich war der verbellte »Ostblock« weg,
wurde der ganze Zinnober wieder einkassiert. Das Proletariat im
Westen war sozusagen eine gecoddlete Klasse, eine, der man
suggerierte, sie sei die aufsteigende per kapitalistischer
Wohlstandsdynamik, der Kapitalism sei auch für sie da usw. – nun
ja, im Rückblick ist man immer schlauer, und wer nie zehn Jahre
verliebt einer für irgendwas Romantisches komplett ungeeigneten
Person nachgelaufen ist, weil sie ab und zu ein Taschentuch hat
fallen lassen, werfe den ersten Stein.
Aber »life can only be understood in reverse but must be lived
forward« (Megadeth, nach Kierkegaard) ist in der Tat eins der
großen dialektischen Geheimnisse auch des ML, insofern Marx dem
Kapitalismus tatsächlich den Sinn zuschreibt, die Bühne für den
Sozialismus vorzubereiten, die Produktivkräfte so weit zu entwickeln,
bis er sie nicht mehr weiterentwickeln, sondern nur noch in
Destruktionskräfte (gegen »den Arbeiter und die Erde«, wie er sehr
knapp sagt) verwandeln kann – also, obwohl ungeplant, hat dieser
Kapitalismus einen Sinn, FALLS die Leute danach zum Planen
übergehen, aber wenn sie das nicht tun, hatte er im Rückblick
keinen … das Denken, Raten, leider nicht Testen, alles also, was
Nick Land zwischen Qwernomics und Kabbala und Raumfahrt-
Utopistik produziert, könnte am Ende, ohne dass unser
merkwürdiger Denker das will und weiß, zu Klärungsprozessen
beitragen, die aufseiten der Klasse nötig sind, der’s gegeben ist, die
Zivilisation zu retten beziehungsweise überhaupt erst zu realisieren,
dann nämlich, wenn proletarisierte Intellektuelle, die das Kapital zu
seinen Hanseln gemacht hat, wie das Manifest es kommen sah,
durch die Konfrontation mit dem Durcheinander bei Land, den
Treffern ins Schwarze und den Abwegigkeiten, ihren Blick auf die
Realität schärfen lernen. Akzelerationismus interessiert sich für das
Gaspedal. Kommunistinnen und Kommunisten interessieren sich für
den Motor und das Lenkrad.
Pico della Mirandola war, ob er es wusste oder nicht, mit einer
Klasse verbündet, die einen großen emanzipatorischen Job in
Angriff nahm, als er seine Ratebeiträge ins Weltarchiv hineingab – er
war mit ihr verbündet, obwohl er nicht mal richtig ihre Sprache, die
der verwissenschaftlichten Produktion, der bürgerlichen Zukunft,
sprach, sondern ein Magier sein wollte. Ist Land so einer, oder ist er
Carl Schmitt? Man wird sehen. Und das gilt nicht nur für ihn, das gilt
für Dich und mich genauso, die wir die Geschichte um das werden
bitten müssen, um was jemand in der schönsten deutschen
Übersetzung eines der besten Stücke von Shakespeare eine ganz
andere Instanz bittet: »Führ uns von hier, dass dann mit bessrer
Muße ein jeder frag und höre, welche Rolle wir im weiten Raum der
Zeit gespielt«. Ich dank Dir sehr für diese Gelegenheit, ein paar
Sachen zu sichten, gegeneinander abzuwägen, zu wiederholen und
neu zu finden, umarme Dich und grüße – wie Pico della Mirandola
sicher nie gesagt hätte:
Rot Front!
ANMERKUNGEN
Vorwort
1 Mark Fisher, »Terminator vs Avatar« (2012), in: Robin Mackay, Armen Avanessian
(Hg.), #ACCELERATE. The Accelerationist Reader, Falmouth 22017, S. 335–346, hier
S. 341.
2 Lands Beitrag zum »Hyper-Racism« erschien 2014 auf seinem mittlerweile
deaktivierten Blog Outside In, gespiegelt wird er bis heute noch auf einer Website der
Alt-Right. Siehe hierzu detaillierter Armen Avanessian, Mahan Moalemi,
»Ethnofuturismen. Befunde zu gemeinsamen und gegensätzlichen Zukünften«, in:
dies. (Hg.), Ethnofuturismen, Leipzig 2018, S. 7–39, hier S. 13 (Anm. 5).
3 Mark Fisher, »Nick Land: Mind Games« (5.2011), in: {www.dazeddigital.com/art-
sandculture/article/10459/1/nick-land-mind-games}, letzter Zugriff 1.12.2022.
4 Mark Fisher, »they can be different in the future too: interviewed by rowan wilson for
ready steady book« (2010), in: Darren Ambrose (Hg.), K-Punk. The collected and
unpublished writings of Mark Fisher (2004–2016), London 2018, S. 627–636, hier S.
628.
5 »Communiqué from the Cybernetic Culture Research Unit« (November 1997), zit.
nach Mark Fisher, »Simon’s Interview with CCRU (1998)«, in: k-punk (20.1.2005), {k-
punk.abstractdynamics.org/archives/004807.html}, letzter Zugriff 1.12.2022. Die 1998,
nach dem Auszug des CCRU aus der Universität Warwick als »Communiqué One«
veröffentlichte »Message to Simon Reynolds« unterschlägt die Erläuterung »it [CCRU]
uses Sadie Plant as a screen and Warwick University as a temporary habitat. …
CCRU feeds on graduate students + malfunctioning academic (Nick Land) +
independent researchers + …«.
6 Das Gerücht verbreitet Land selbst im Vorwort seines Bataille-Buchs: »Death has no
representatives, but I have at least returned from the dead (a characteristic I
reluctantly share with the Nazarene).« Nick Land, The Thirst for Annihilation. Georges
Bataille and virulent nihilism (an essay in atheistic religion), London/New York 1992, S.
XXII.
7 Robin Mackay, »Nick Land – An experiment in inhumanism«, in:
{www.divus.cc/praha/de/article/nick-land-ein-experiment-im-inhumanismus}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
8 Ebd.
9 »Communiqué One. Message to Simon Reynolds« (1998), in: CCRU. Writings 1997–
2003, Cambridge, MA/London 22018, S. 7.
10 Ebd.
11 Siehe Donna J. Haraway, »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den
Technowissenschaften«, in: dies., Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und
Frauen, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 33–72, hier S. 39 f.
12 »Who’s pulling your strings?«, in: CCRU. Writings 1997–2003, S. 17–30.
13 »Bataille. I know nothing about him.« Land, The Thirst for Annihilation, S. XI f.
14 »Yes, I am – definitionally – a filthy beggar (like God), scrabbling at the coat-tails of a
reluctant and embarrassed attentiveness […]. I nag at the margins of this discourse on
the writings of Georges Bataille as a hideous confirmation of its cowardice and
moderation, simultaneous with the dreariness of its prostitution […].« Ebd., S. XV.
15 »Bataille’s most unfailing signature is spiritual disease.« Ebd., S. 79.
16 »My abnormal devotion to Bataille stems from the fact that nobody has done more
than he to obstruct the passage of violent blanks into a pacified oblivion, and thus to
awaken the monster in the basement of reason.« Ebd., S. XIV.
17 Ebd., S. 55.
18 Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, S. 85–92.
19 Georges Bataille, Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und
Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I). Mit einem Essay von Maurice Blanchot,
Berlin 22017, S. 16.
20 Nick Land, »Maschinenbegehren«, S. 70.
21 Nick Land, »Geist und Zähne«, S. 53.
22 Land, »Maschinenbegehren«, S. 70.
23 Ebd.
24 Nick Land, »Okkulturen«, S. 151.
25 Land, »Maschinenbegehren«, S. 80.
26 Nick Land, »Kernschmelze«, S. 85.
27 »Accelerationism«, in: {chinadigitaltimes.net/space/Accelerationism}, letzter Zugriff
1.12.2022.
28 Siehe Nick Land, »Die dunkle Aufklärung«.
29 Selten sind daraus in jüngster Zeit essayistische Unternehmungen Lands geworden –
was durchaus zu bedauern ist, vollziehen Einlassungen wie etwa »Why we need the
Canon Wars« (publiziert am 21.2.2023 im compactmag,
{compactmag.com/article/why-we-need-the-canon-wars}, letzter Zugriff 7.3.2023) bei
aller Verbrämung der »English literary supremacy« doch immer noch überraschende
Wendungen. So stößt man auch dort auf den »occult faith«, der in diesem Fall darin
besteht, den »core canon« der »englischen« Literatur gegen das Ansinnen der
»equity« zu verteidigen – und diesen Krieg nicht dem Menschen, sondern einem
unsichtbaren Numinosum, der durch ihn wirkenden heilig-ernsten Vorsehung (»solemn
providence«) zu überantworten. »Okkult« ist dieser Glaube insofern, als dass er eben
gerade nicht »belief« sein soll (»Belief matters little«), sondern eben »faith«,
Gehorsam gegenüber der Schrift. Genauer: Gehorsam gegenüber der Schrift als
Schrift, einem Medium, das sich immer nur selbst beglaubigt und das dem Menschen
nichts bietet als seine Nichtung: »Es verhält sich nicht so, dass die Schrift die
Apokalypse zum Gegenstand hat, schon gar nicht als einen Gegenstand unter
anderen. Schrift ist die Apokalypse. Wir bewohnen sie bereits« (ebd.). Der Mensch
lebt nach der Schrift, er geht in und mit ihr in den Untergang. Alles andere, jede
Abweichung vom Weg, wäre Interpretation, doch Interpretation ist für Land ein
Sekundär-, wo nicht ein Verfallsphänomen. Man muss die Welten, die das
menschliche Auge der Schrift abgewinnt, weder mögen noch verstehen noch für wahr
halten. Die Humanisierung des Kanons aber, seine Anpassung, Veränderung nach
menschlichen »Bedürfnissen« jedoch verstellt die providenzielle Notwendigkeit, deren
Verteidigung die landsche Frontlinie der »canon wars« markiert. (Die Verquickung von
Schriftreligion, Egalitätsphobie und Dehumanisierung bildet dann auch entsprechend
die Matrix, aus der sich der größte Teil von Lands englischem Kanon ableiten lässt:
Bedes Ecclesiastical History of the English People, die King-James-Bible,
Shakespeare, Hobbes’ Leviathan, Adam Smith, Darwin, Melvilles Moby Dick, Conrads
Heart of Darkness, Lovecraft – wäre er nur nicht noch so frisch –, im sogenannten
»para-canon« dann Octavia Butlers Xenogenesis.)
30 Nick Land, Fanged Noumena. Collected Writings 1987–2007, Falmouth/New York
2011.
31 {reddragdiva.tumblr.com/post/153311024103/b-im-beginning-to-educate-myself-on-
the}, letzter Zugriff 1.12.2022.
32 Land, »Die dunkle Aufklärung«, S. 207.
33 Man kann über sie auch hier etwas nachlesen: Roger Burrows, »On Neoreaction«
(29.9.2018), in: {www.thesociologicalreview.com/on-neoreaction/}, letzter Zugriff
1.12.2022.
Kunst als Aufstand
1 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1974, S. 16 (Hvh. i. O.).
2 Ebd., S. 22.
3 Ebd., S. 23.
4 Ebd., S. 30.
5 Ebd., S. 189 f.
6 Ebd., S. 294–299.
7 Ebd., S. 244.
8 Ebd., S. 79.
9 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Werke in zehn
Bänden II, Zürich 1977, S. 446.
10 Ebd., S. 484.
11 Unter all den komplexen Themen, die ich hier etwas leichtfertig und oberflächlich
behandelt habe, ist dies vielleicht das reichste und am stärksten verdichtete. Indem
Schopenhauer die exorbitante Form auf ein platonisches eidos zurückverweist, opfert
er zweifellos einen großen Teil der in Kants Idee der zweckfreien Zweckmäßigkeit
angelegten fruchtbaren Spannung, verringert aber zugleich auch die Gefahr eines
Rückfalls in die teleologische Theologie. Die Idee, die vielleicht am radikalsten die
Möglichkeit eines theistischen Rückfalls hinter sich zu lassen erlaubte, war die eines
göttlichen Unbewussten, das auf allen Ebenen jede Möglichkeit einer agentischen
Schöpfung ausschließt. Aber dies wäre das Bild eines verrückten Gottes. Dionysos?
12 Siehe Jacques Derrida, »Sporen. Die Stile Nietzsches«, in: Werner Hamacher (Hg.),
Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a. M./Berlin 1986, S. 129–168 (A. d. Ü.).
13 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 624.
14 Ebd., S. 649 f.
15 Ebd., S. 630.
16 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Zürich 1977, S. 671.
17 Ebd., S. 673.
18 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 559.
19 Walter F. Otto, Dionysos: Mythos und Kultus, Frankfurt a. M. 1933, S. 115.
20 Ebd., S. 74 f., 132.
21 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.,
Werke in zwei Bänden, Bd. 1, München 1981, S. 7–110, hier S. 30.
22 Ebd., S. 74.
23 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: eKGWB, NF-1885,2 [114], online
unter: {nietzschesource.org}, letzter Zugriff 1.12.2022.
24 Ebd., NF-1885,2 [117].
25 Ebd., NF–1885,2 [155].
26 Ebd., NF–1888,14 [47].
27 Georges Bataille, Das obszöne Werk, Reinbek 1977, S. 61.
28 Ebd., S. 59 f.
29 Georges Bataille, Die Literatur und das Böse, Berlin 2011, S. 20.
30 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: eKGWB, NF-1888,16 [40].
Schaltkreise
1 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 16.
2 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I,
Frankfurt a. M. 1977, S. 338.
3 Ebd., S. 10 f.
4 Ebd., S. 59.
5 Ebd., S. 36.
6 Ebd., S. 356.
7 Ebd.
8 Ebd., S. 365.
9 Ebd., S. 324.
10 Kenneth M. Sayre, Cybernetics and the Philosophy of Mind, London 1976, S. 50.
11 Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und
Maschine, Reinbek 1968, S. 61.
12 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 244.
13 Ebd., S. 438.
14 Ebd., S. 353.
15 Ebd., S. 67.
16 Ebd., S. 36.
17 Ebd., S. 416.
18 Ebd., S. 419.
19 Ebd., S. 418.
20 Ebd., S. 421.
21 Ebd., S. 11.
22 Ebd., S. 175.
23 Ebd., S. 414 f.
24 Antonin Artaud, Œuvres Complètes, Bd. VII, Paris 1956–1976, S. 146.
25 Antonin Artaud, Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, München 1979,
S. 7 f.
26 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 9.
27 Artaud, Œuvres Complètes, Bd. XII, S. 84.
28 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 9.
29 Ebd., S. 11.
30 Andras Angyal, »Disturbances in Thinking in Schizophrenia«, in: J. S. Kasanin (Hg.),
Language and Thought in Schizophrenia, Berkeley 1946, S. 120.
31 Antonin Artaud, Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit,
München 1980, S. 28 f.
32 Ebd., S. 10.
33 Ebd.
34 Artaud, Œuvres Complètes, Bd. XIII, S. 65.
35 Artaud, Schluss mit dem Gottesgericht, S. 11.
36 Ebd., S. 36.
37 Artaud, Œuvres Complètes, Bd. XIII, S. 287. (Passage, die in der Endfassung von
Theater der Grausamkeit fehlt; A. d. Ü.)
38 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 353.
39 Artaud, Œuvres Complètes, Bd. XII, S. 88 f.
Geist und Zähne
1 Jacques Derrida, De l’esprit: Heidegger et la question, Paris 1987, S. 137. Siehe auch
Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a. M. 1988, S. 102 f.
2 Ebd., S. 105.
3 Georg Trakl, Das dichterische Werk, München 1972, S. 216.
4 Arthur Rimbaud, Das poetische Werk, München 1988, S. 24.
5 Ebd.
6 Ebd., S. 28.
7 Trakl, Das dichterische Werk, S. 82.
8 Ebd., S. 95.
9 Ebd., S. 147.
10 Ebd., S. 94.
11 Im englischen Text aufgrund eines Lesefehlers (vergossne/vergessne) als »forgotten
blood« wiedergegeben. Land verweist auf die deutsche Ausgabe (Georg Trakl, Das
dichterische Werk, München 1972) und empfiehlt als englische Übersetzung G. Trakl,
Poems and Prose: A Bilingual Edition, Illinois 2005 (A. d. Ü).
12 Ebd., S. 43.
13 Ebd., S. 107, 54, 57.
14 Hendrik Ibsen, Klein Eyolf, in: ders., Sämtliche Werke, Berlin 1900, S. 13.
15 Ebd., S. 16.
16 Ebd., S. 13.
17 Hans Zinsser, Der Roman des Fleckfiebers. Ratten, Läuse, Menschen und
Weltgeschichte, Wien 1948, S. 151 f.
18 Ebd., S. 151.
19 Ebd., S. 160.
20 J. F. D. Shrewsbury, A History of the Bubonic Plague in the British Isles, Cambridge
1970, S. 7.
21 Ebd., S. 8.
22 Zinsser, Der Roman des Fleckfiebers, S. 158 f.
23 Shrewsbury, A History of the Bubonic Plague, S. 121.
24 Sigmund Freud, »Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose«, in: ders.,
Studienausgabe, Bd. VII: Zwang, Paranoia und Perversion, Frankfurt a. M. 1982, S.
43.
25 Ebd., S. 44.
Maschinenbegehren
1 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I,
Frankfurt a. M. 1977, S. 365.
2 Ebd., S. 52.
3 Ebd., S. 365.
4 Ebd., S. 416.
5 Ebd., S. 369 f.
6 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II,
Berlin 1992, S. 210.
7 Sigmund Freud, »Triebe und Triebschicksale«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10,
London 1949, S. 210–232, hier S. 213.
8 Ebd., S. 214.
9 Jean-François Lyotard, Libinöse Ökonomie, Zürich/Berlin 2007, S. 253.
10 Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13,
Frankfurt a. M. 1967, S. 3–69, hier S. 15.
11 Ebd., S. 28.
12 Freud, »Triebe und Triebschicksale«, S. 213.
13 Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 25.
14 Ebd., S. 23.
15 Sigmund Freud, »Das Ich und das Es«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 286.
16 Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 29.
17 Ebd., S. 33.
18 Ebd., S. 34.
19 Hans Moravec, Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher
Intelligenz, Hamburg 1990, S. 12.
20 Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 31.
21 Ebd., S. 10.
22 Ebd., S. 38.
23 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 415.
24 Ebd., S. 308, 415.
25 Ebd., S. 415.
26 Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 41.
Kernschmelze
1 Don DeLillo, Weißes Rauschen, Köln 1987, S. 17.
2 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I,
Frankfurt a. M. 1977, S. 308.
3 K. E. Drexler, Engines of Creation, Garden City, NY, 1986, S. 3 f.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 19.
6 Istvan Csicsery-Ronay Jr., »Futuristic Flu or, The Revenge of the Future«, in: George
Slusser, Tom Shippey (Hg.), Fiction 2000: Cyberpunk and the Future of Narrative,
Athens, GA, 1992, S. 26.
7 Ebd., S. 33.
8 Siehe Lynn Margulis, Early Life, Boston, MA, 1984.
Schamanischer Nietzsche
1 Etwa: »Gott sagte zu Nietzsche: / Das wird dich Mores lehren / du kleine lästige
Kreatur.« (A. d. Ü.)
2 Georges Bataille, Œuvres Complètes, Paris 1970–1988, Bd. XI, S. 246.
3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, Vorrede, S. 9.
4 Friedrich Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Herbst 1887«, in: eKGWB, NF-
1887,9 [106], online unter: {www.nietzschesource.org}, letzter Zugriff 1.12.2022.
5 Arthur Rimbaud, Das poetische Werk, München 1988, S. 44.
6 Ebd., S. 137.
7 Ebd., S. 128.
8 Bataille, Œuvres Complètes, Bd. I, S. 179.
9 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Herbst 1887«, in: eKGWB, NF-1887,10 [202].
10 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Winter 1883–1884«, in: eKGWB, NF-1883,24
[13].
11 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888«, in: eKGWB, NF-1888,14
[184].
12 Bataille, Œuvres Complètes, Bd. I, S. 220.
13 Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance. Atheologische Summe 3, Berlin 2005, S.
115.
14 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Abschnitt 343, in: eKGWB/FW.
15 Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 133.
16 Ebd., S. 36.
17 Rimbaud, Das poetische Werk, S. 47.
18 George Bataille, Die innere Erfahrung, Berlin 2017, S. 142.
19 Ebd., S. 182.
20 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Anfang 1888«, in: eKGWB, NF-1888,12 [1].
21 Bataille, Œuvres Complètes, Bd. IV, S. 203.
22 Bataille, Die innere Erfahrung, S. 53.
23 Bataille, Œuvres Complètes, Bd. V, S. 220.
24 Ebd., Bd. III, S. 95.
25 Ebd., Bd. V, S. 199. Zitat im Englischen verfälscht. Der französische Wortlaut: »abîmé
sans finir dans la contemplation satisfaite d’une absence« (endlos versunken in der
zufriedenen Betrachtung einer Abwesenheit) wird bei Land wiedergegeben als »an
abyss that does not end in the satiate contemplation of an absence« (A. d. Ü).
26 Ebd., Bd. IV, S. 17.
27 Ebd., Bd. V, S. 246.
28 Georges Bataille, Die Erotik, Berlin 2020, S. 97.
29 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888«, in: eKGWB, NF-1888,15 [19].
30 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Herbst 1887«, in: eKGWB, NF-1887,9 [41].
31 Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 28.
32 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888«, in: eKGWB, NF-1888,14 [9].
33 Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, S. 61, 197.
34 Ebd., S. 36.
35 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888«, in: eKGWB, NF-1888,14 [9].
36 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 – Herbst 1887«, in: eKGWB,
NF-1886,5 [71].
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd.
40 Ebd.
41 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: eKGWB, Abschnitt 13.
42 Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VII, S. 316.
43 Bataille, Die innere Erfahrung, S. 188.
44 Ebd., S. 158.
45 Bataille, Œuvres Complètes, Bd. V, S. 212.
46 Rimbaud, Das poetische Werk, S. 15.
47 Ebd.
48 Ebd., S. 11 f.
49 Ebd., S. 11.
50 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, in: eKGWB, Abschnitt 6.
51 Rimbaud, Das poetische Werk, S. 33.
52 Ebd.
53 Bataille, Die innere Erfahrung, S. 163.
54 Rimbaud, Das poetische Werk, S. 33.
55 Ebd., S. 26.
56 Ebd., S. 24.
57 Ebd.
58 Ebd.
59 Ebd., S. 28.
60 Ebd., S. 29.
61 Ebd., S. 34.
62 Bataille, Die innere Erfahrung, S. 133.
63 Ebd., S. 134.
64 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Lieder des Prinzen Vogelfrei.
CyberGothic
1 Antonin Artaud, »Brief gegen die Kabbala«, in: ders., Briefe aus Rodez. Postsur-
realistische Schriften, München 32001, S. 108–119, hier S. 109.
2 Ed Regis, Nano!: Remaking the World Atom by Atom, London 1995.
3 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I,
Frankfurt a. M. 1977, S. 427.
4 Kathy Acker, Im Reich ohne Sinne, Ravensburg 1989, S. 51.
5 William Gibson, Neuromancer, in: ders., Die Neuromancer Trilogie, München 2009, S.
147.
6 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2,
Berlin 1992, S. 124.
7 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 14.
8 Gibson, Neuromancer, S. 106.
9 B. Sterling, The Hacker Crackdown: Law and Disorder on the Electronic Frontier, New
York 1993, S. 280.
10 Gibson, Neuromancer, S. 300.
11 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 687.
12 Acker, Reich ohne Sinne, S. 7.
13 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 314.
14 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 26 (Übersetzung angepasst; A. d. Ü.).
15 Mark Leyner, Et Tu, Babe, New York 1993.
16 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 10 f.
17 Acker, Reich ohne Sinne, S. 11.
18 Gibson, Neuromancer, S. 42.
19 William Gibson, »Chrom brennt«, in: ders., Cyberspace, München 1988, S. 225.
20 Gibson, Neuromancer, S. 182.
21 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 465.
22 Gibson, Neuromancer, S. 84.
23 Ebd., S. 93.
24 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, Buch I, 1. Teil, 1. Abschnitt, § 4,
S. 25.
25 Gibson, Neuromancer, S. 184.
26 Ebd., S. 252.
27 Ebd., S. 70.
28 William Gibson, Mona Lisa Overdrive, in: ders., Die Neuromancer Trilogie, S. 739.
29 Ebd., S. 937.
30 Gibson, Neuromancer, S. 70.
31 Acker, Reich ohne Sinne, S. 77.
32 Gibson, Neuromancer, S. 70.
33 Gibson, Mona Lisa Overdrive, München 1996, S. 61.
34 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Buch I, 2. Teil, Erste Abteilung, Zweites Buch, 2.
Hauptstück, 3. Abschnitt, §4, S. 261.
35 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 27.
36 Gibson, Biochips, in: ders., Die Neuromancer-Trilogie, S. 440.
37 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 18 f.
38 Ebd., S. 343.
39 Gibson, Neuromancer, S. 46.
40 Ebd., S. 143.
41 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 27.
42 Gibson, Neuromancer, S. 140.
43 Ebd., S. 46.
44 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 61.
45 Ebd., S. 110.
46 Gibson, Biochips, S. 491.
47 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Buch II, 2. Teil, Zweite Abteilung, Zweites Buch, 1.
Hauptstück, S. 406.
48 Gibson, Neuromancer, S. 326.
49 Gibson, Mona Lisa Overdrive, in: ders., Die Neuromancer-Trilogie, S. 903.
50 Gibson, Neuromancer, S. 240.
51 Ebd., S. 109.
52 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 368.
53 Gibson, Neuromancer, S. 156 f.
54 Ebd., S. 43.
55 Ebd., S. 221.
56 Ebd., S. 325.
57 Ebd.
58 Kim E. Drexler, The Engines of Creation, Garden City, NY, 1986, S. 182.
59 Gibson, Neuromancer, S. 102.
60 Ebd., S. 250 f.
61 Ebd. 250.
62 Ebd., S. 229.
63 Ebd.
64 Drexler, Engines of Creation, S. 171.
65 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 537.
66 Ebd., S. 18.
67 Ebd., S. 49.
68 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Buch I, 2. Teil, Erste Abteilung, Zweites Buch, 3.
Hauptstück, Appendix, S. 312.
69 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 535.
70 Stuart A. Kaufmann, The Origins if Order: Self-Organization and Selection in
Evolution, New York/Oxford 1993, S. 45.
71 George Boole, The Mathematical Analysis of Logic: Being an Essay Towards a
Calculus of Deductive Reasoning, New York 1847, S. 15.
72 Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, New York 1996, S. 70.
73 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Buch I, 2. Teil, Erste Abteilung, Zweites Buch, 2.
Hauptstück, Abschnitt III, S. 197.
74 Ebd., S. 169.
75 Gibson, Neuromancer, S. 236.
76 Kant, Kritik der reinen Vernunft (zweite Auflage), Riga 1787, Buch I, 2. Teil, Erste
Abteilung, Zweites Buch, 2. Hauptstück, Abschnitt III, S. 208 f.
77 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 425.
78 Gibson, Neuromancer, S. 325.
79 Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus, S. 133 f.
80 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 690.
81 Acker, Reich ohne Sinne, S. 52.
82 Ebd.
83 Gibson, Neuromancer, S. 70.
84 Ebd., S. 155 f.
85 Ebd., S. 46.
86 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 124.
87 Acker, Reich ohne Sinne, S. 74.
88 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 150.
89 Ebd., S. 133.
Okkulturen
1 Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, Frankfurt a. M. 2020, S. 87 f.
2 Abkürzung für The End Of The World As We Know it – Das Ende der Welt wie wir sie
kennen (A. d. Ü).
Kabbala zur Einführung
1 Siehe »Incognitum«, »Introduction to ABJAD«, in: Robin Mackay (Hg.), Collapse I,
Oxford 2006.
2 Zum Numogramm siehe Abstract Culture 5: Hyperstition, London 1999.
3 PZ-Bestätigung der numogrammatischen Novazygone (Neuner-Zwillinge).
ONE + EIGHT = NINE + ZERO. (PZ 3 + 5 = (4 + 4 =) 8)
TWO + SEVEN = NINE + ZERO. (PZ 3 + 5 = (4 + 4 =) 8) THREE + SIX = NINE +
ZERO. (PZ 5 + 3 = (4 + 4 =) 8)
FOUR + FIVE = NINE + ZERO. (PZ 4 + 4 = (4 + 4 =) 8)
4 John Opsopaus, »Introduction to the Pythagorean Tarot«, in:
{wisdomofhypatia.com/OM/BA/PT/Intro.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
5 Unter Anwendung von August Barrows »Anglossic Qabbala«, die auf der
alphanumerischen Gematrie beruht. Diese Nummerierung des neurömischen
Alphabets, die das heute aus dem Hexadezimalbereich bekannte Verfahren fortsetzt,
ist ein kontinuierliches, nicht redundantes System, das die Ziffern 0 bis 9 durch
durchnummerierte Buchstaben von A (=10) bis Z (=35) ergänzt und die
alphanumerische Folge 0 bis z als eine Zahlenfolge behandelt, die den Ziffern einer
Modulus-36-Notation entspricht. Somit ist UNITY [Einheit] = 30+23+l8+29+34 = 134.
1+3+4 = 8.
Die Herrschaft des Dreifußes
1 Walter Russell Mead, God & Gold. Britain, America, and the Making of the Modern
World, New York 2007, S. 223.
2 Ebd., S. 231 f.
3 Bezieht sich auf den inzwischen deaktivierten Blog »Urban Future«, in dem der
vorliegende Text erschienen ist, sowie auf den dort ebenfalls erschienenen Text »East-
plus-West at the frontier of freedom« (A. d. Ü).
4 I Ging. Das Buch der Wandlungen. Erstes und zweites Buch, aus dem Chinesischen
verdeutscht u. erläutert v. Richard Wilhelm, Düsseldorf/Köln 1956, S. 197.
Ein Zeitreisender in Schanghai
1 Matt Novak: {paleofuture.com}, letzter Zugriff 1.12.2022; Eric Lefcowitz:
[retrofuture.com}, Link erloschen.
Die dunkle Aufklärung
1 »From Scratch. Libertarian Institutions and Communities« (April 2009), in: {www.cato-
unbound.org/issues/april-2009/scratch-libertarian-institutions-communities}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
2 Peter Thiel, »The Education of a Libertarian« (13.4.2009), in:
{www.catounbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian}, letzter Zugriff
1.12.2022.
3 Michael Lind, »Why libertarian apologize for autocracy« (30.11.2011), in:
{www.salon.com/2011/08/30/lind_libertariansim/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
4 Link erloschen.
5 Anthony Wile, »Exclusive Interviews. Dr. Hans-Hermann Hoppe on the Impracticality
of One-World Government and the Failure of Western-style Democracy« (27.3.2022),
in: {www.thedailybell.com/all-articles/exclusive-interviews/anthony-wile-dr-hans-
hermann-hoppe-on-the-impracticality-of-one-world-government-and-the-failure-of-
western-style-democracy/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
6 Mencius Moldbug, »Against Political Freedom« (16.8.2007), in: {www.unqualified-
reservations.org/2007/08/against-political-freedom/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
7 Mencius Moldbug, »Further Conversation on Regime Change« (16.9.2007), in:
{www.unqualified-reservations.org/2007/09/further-conversation-on-regime-change/},
letzter Zugriff 1.12.2022.
8 Moldbug, »Against Political Freedom«.
9 Mencius Moldbug, »How Dawkins got Pwned. Chapter 4: A Mystery Cult of Power«
(18.10.2007), in: {www.unqualified-reservations.org/2007/10/how-dawkins-got-pwned-
part-4/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
10 Ebd. sowie Mencius Moldbug, » How Dawkins got Pwned. Chapter 5: Planet 3.01«
(25.10.2007), in: {www.unqualified-reservations.org/2007/10/how-dawkins-got-pwned-
part-5/}, letzter Zugriff 1.12.2022. (Shub-Nigurrath ist eine von H. P. Lovecraft
erfundene Fruchtbarkeitsgottheit des Cthulu-Universums. A. d. Ü.)
11 Paul Gottfried, »When Democracy Murders Liberty« (5.2.2012), in:
{www.takimag.com/article/when_democracy_murders_liberty/}, letzter Zugriff
1.12.2022.
12 Justin Raimondo, »The ›Cairo 19‹ Got What They Deserve« (10.2.2012), in:
{original.antiwar.com/justin/2012/02/09/the-cairo-19-got-what-they-deserve/}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
13 »Liberty-clinger« ist der Name eines unbekannten Users, der David P. Goldmans
Artikel »Robert Kagan and Muslim Democracy« (9.2.2012) kommentierte. Siehe
{pjmedia.com/spengler/2012/02/09/robert-kagan-and-muslim-democracy-
n130728#thm-comments}, letzter Zugriff 1.12.2022 (A. d. Red.).
14 Nachtrag: Der Zuschreibung des hier angeführten Benjamin-Franklin-Zitats ist nicht zu
trauen. Barry Popik zufolge wurde der Ausspruch vermutlich 1992 von James Bovard
ersonnen. (An anderer Stelle bemerkt Bovard: »Es gibt im politischen Denken kaum
einen gefährlicheren Fehler, als Demokratie mit Freiheit gleichzusetzen«.)
15 »Occupy Movement Wants To Abolish Capitalism« (5.3.2012), in:
{www.thecollegefix.com/occupy-movement-wants-to-abolish-capitalism/}, letzter Zugriff
1.12.2022; John J. Miller, »Abolish Capitalism« (5.3.2012), in:
{www.nationalreview.com/corner/abolish-capitalism-john-j-miller/}, letzter Zugriff
1.12.2022.
16 Mencius Moldbug, »Jaroslav Hašek and the Kernel-Monitor Meme« (28.4.2007), in:
{www.unqualified-reservations.org/2007/04/jaroslav-haek-and-kernel-monitor-meme/},
letzter Zugriff 1.12.2022.
17 Steve H. Hanke, »On Democracy Versus Liberty (20.1.2011), in:
{www.cato.org/commentary/democracy-versus-liberty}, letzter Zugriff 1.12.2022.
18 Robin Hanson, »Is Pessimism Immoral?« (27.2.2012), in:
{www.overcomingbias.com/2012/02/is-pessimism-immoral.html}, letzter Zugriff
1.12.2022.
19 Tyler Durden, »Ex-ECB’s Juergen Stark says ECB’s Balance Sheet ›Gigantic‹,
Collateral Quality ›Schocking‹« (8.3.2012), in: {www.zerohedge.com/news/ex-ecbs-
juergen-stark-says-ecbs-balance-sheet-gigantic-collateral-quality-shocking}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
20 Mencius Moldbug, »How Dawkins got Pwned. Chapter 1: A Really Ugly Bug«
(26.9.2007), in: {www.unqualified-reservations.org/2007/09/how-dawkins-got-pwned-
part-1/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
21 Mencius Moldbug, »How Dawkins got Pwned. Chapter 2: M.41 And M.42«
(4.10.2007), in: {www.unqualified-reservations.org/2007/10/how-dawkins-got-pwned-
part-2/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
22 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 32007, S. 440.
23 Ebd., S. 441.
24 Mencius Moldbug, »How Dawkins got Pwned. Chapter 3: Manitou And The Zeitgeist«
(11.10.2007), in: {unqualified-reservations.blogspot.com/2007/10/how-dawkins-got-
pwned-part-3.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
25 Ebd.
26 Siehe Moldbug, » How Dawkins got Pwned. Chapter 1«.
27 Mencius Moldbug, »Petition Against The Reactosphere« (31.7.2011), in:
{www.unqualified-reservations.org/2011/07/petition-against-reactosphere/}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
28 William Blake, »Aus: Milton«, in: Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke,
zweisprachige Ausgabe, München 1996, S. 203.
29 Moldbug, »How Dawkins got Pwned. Chapter 2«.
30 Megan McArdle, »Europe’s Real Crisis« (April 2012), in:
{www.theatlantic.com/magazine/archive/2012/04/europes-real-crisis/308915/}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
31 Moldbug, »How Dawkins got Pwned. Chapter 3«.
32 Unabhängigkeitserklärung, online unter:
{usa.usembassy.de/etexts/gov/unabhaengigkeit.pdf}, letzter Zugriff 1.12.2022.
33 Mencius Moldbug, »Why I Am Not A White Nationalist« (22.11.2007), in:
{www.unqualified-reservations.org/2007/11/why-i-am-not-white-nationalist/}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
34 {www.amnation.com/vfr/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
35 {age-of-treason.blogspot.com/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
36 Paraphrase der letzten vier Verszeilen von Bertolt Brechts Gedicht »Die Lösung«, in:
ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Dritter Band: Gedichte 1, Frankfurt a. M.
1997, S. 404.
37 {age-of-treason.blogspot.com/2007/09/committing-pcs-most-mortal-sin.html}, Link
erloschen.
38 {www.theamericanconservative.com/article/2003/mar/10/00025/}, Link erloschen.
39 White Anglo-Saxon Protestant (A. d. Ü.).
40 Mencius Moldbug, »Why I Am Not An Anti-Semite« (23.6.2007), in: {www.unqualified-
reservations.org/2007/06/why-i-am-not-anti-semite/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
41 Moldbug, »Why I Am Not A White Nationalist«.
42 Jason Malloy, »James Watson Tells the Inconvenient Truth: Faces the
Consequences«, in: Gene Expression (31.10.2007),
{www.gnxp.com/blog/2007/10/james-watson-tells-inconvenient-truth_296.php}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
43 Anspielung auf Trayvon Martin, dessen Ermordung in den Vereinigten Staaten eine
Diskussion über Diskriminierung aufgrund von Race und Polizeiwillkür auslöste (A. d.
Red.).
44 Moldbug, »Why I Am Not A White Nationalist«.
45 John Derbyshire, »The Talk: Nonblack Version« (5.4.2012), in:
{takimag.com/article/the_talk_nonblack_version_john_derbyshire}, letzter Zugriff
1.12.2022.
46 {voxday.blogspot.com/2012/04/derbyshire.html}, Link erloschen.
47 Andrew C. McCarthy, »No, Mark …« (9.4.2012), in:
{www.nationalreview.com/corner/no-mark-andrew-c-mccarthy/}, letzter Zugriff
1.12.2022.
48 Elspeth Reeve, »Why John Derbyshire Hasn’t Been Fired (Yet)« (7.4.2012), in:
{www.theatlantic.com/politics/archive/2012/04/why-john-derbyshire-hasnt-been-fired-
yet/329592/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
49 Louis Peitzman, »Racist John Derbyshire Fired For Writing Most Racist Article
Possible« (8.4.2012), in: {www.gawker.com/5900109/racist-john-derbyshire-fired-for-
writing-most-racist-article-possible}, letzter Zugriff 1.12.2022.
50 Joanna Schroeder, »Racist Writings: Should Derbyshire And Weigel Be Fired?«
(7.4.2012), in: {goodmenproject.com/good-feed-blog/racist-writings-should-derbyshire-
and-weigel-be-fired/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
51 David Weigel, »John Derbyshire’s Advice for White People«(6.4.2012), in:
{slate.com/news-and-politics/2012/04/john-derbyshire-s-advice-for-white-people.html},
letzter Zugriff 1.12.2022.
52 David Weigel, »Derbyshire Again«(7.4.2012), in: {slate.com/news-and-
politics/2012/04/derbyshire-again.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
53 Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, Berlin 1964, Bd. 38, S. 214.
54 United States Crime Rates 1960–2019, in:
{www.disastercenter.com/crime/uscrime.htm}, letzter Zugriff 1.12.2022.
55 {destructure.wordpress.com/2012/03/20/trayvon-martin-faq/}, geschützter Link.
56 {www.miamiherald.com/2012/03/26/v-fullstory/2714778/thousands-expected-at-
trayvon.html}, Link erloschen.
57 {onestdv.blogspot.com/2012/04/american-masses-and-why-i-stand-with.html},
geschützter Link.
58 Lindy West, »A Complete Guide to ›Hipster Racism‹« (26.4.2012), in:
{jezebel.com/5905291/a-complete-guide-to-hipster-racism}, letzter Zugriff 1.12.2022.
59 {www.discovermagazine.com/blog/gene-expression#more-16427{, letzter Zugriff
1.12.2022.
60 Derbyshire, »The Talk: Nonblack Version«.
61 William Saletan, »Liberal Creationism« (18.11.2007), in:
{https://slate.com/technology/2007/11/liberal-creationism.html}.
62 William Saletan, »John Derbyshire’s Error. The ignorance of racial
profiling«(10.4.2012), in: {slate.com/news-and-politics/2012/04/john-derbyshire-
trayvon-martin-and-the-ignorance-of-racial-profiling.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
63 {www.theamericanconservative.com/millman/2012/04/09/a-quick-word-on-the-derb/?
utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=a-quick-word-on-the-derb}, Link
erloschen.
64 Martin Luther King Jr., »Ich habe einen Traum. Ansprache während des Marsches auf
Washington für Arbeitsplätze und Freiheit« (28.4.1963, Washington, D. C.), in:
{usa.usembassy.de/etexts/soc/traum.htm}, letzter Zugriff 1.12.2022.
65 John Derbyshire, »Who Are We? – The Dissident Right« (10.5.2022), in:
{www.vdare.com/articles/john-derbyshire-who-are-we-the-dissident-right}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
66 {practicallyhistorical.net/2012/04/14/most-duplicitous-sort/}, Link erloschen.
67 »Academic Claptrap and its Consequences« (14.5.2012), in: {www.the-american-
interest.com/2012/05/14/academic-claptrap-and-its-consequences/}, letzter Zugriff
1.12.2022.
68 Zitiert nach Carl Schurz, Abraham Lincoln, Berlin 1908, S. 90.
69 John Derbyshire, »The Future of Elite Attitudes on Race« (9.2.2012), in:
{www.johnderbyshire.com/Opinions/HumanSciences/racistelites.html}, letzter Zugriff
1.12.2022.
70 William F. Buckley Jr., »Our Mission Statement« (19.11.1955), in:
{www.nationalreview.com/1955/11/our-mission-statement-william-f-buckley-jr/}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
71 Siehe {www.martin-luther-king-zentrum.de/mlkz/reden/i-have-a-dream-dt}, letzter
Zugriff 1.12.2022 (Übersetzung leicht angepasst; A. d. Ü.).
72 Ebd.
73 Ebd.
74 Jessica Valenti, »Who Cares About John Derbyshire? Firing one racist doesn’t change
the conservative agenda« (9.4.2012), in: {www.thenation.com/article/archive/who-
cares-about-john-derbyshire/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
75 {campaign2012.washingtonexaminer.com/blogs/beltway-confidential/house-dems-
trained-make-race-issue/537146}, Link erloschen.
76 {www.splcenter.org/get-informed/intelligence-files/groups/league-of-the-south}, letzter
Zugriff 1.12.2022.
77 Jonah Weiner, »The Gwyneth Paltrow ›Niggas‹ Flap: Is It Ever OK for White People To
Use the Word?« (12.6.2012), in:
{www.slate.com/articles/arts/music_box/2012/06/gwyneth_paltrow_and_niggas_in_pari
s_is_it_ever_ok_for_white_people_to_use_the_word_.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
78 »Medieval Manoralism And the Hajnal Line« (6.2.2012), in:
{hbdchick.wordpress.com/2012/02/06/medieval-manoralism-and-the-hajnal-line/},
letzter Zugriff 1.12.2022.
79 {hbdchick.wordpress.com/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
80 {hbdchick.wordpress.com/start-here/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
81 {en.wikipedia.org/wiki/W._D._Hamilton}, letzter Zugriff 1.12.2022.
82 »›Culture‹ Of Honor« (27.1.2012), in: {hbdchick.wordpress.com/2012/01/27/culture-of-
honor/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
83 »al-hatfields vs. al-mccoys« (6.3.2011), in: {hbdchick.wordpress.com/2011/03/06/al-
hatfields-vs-al-mccoys/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
84 »Lost Cause« bezeichnet eine revisionistische und pseudowissenschaftliche
Ideologie, die sich nach der Niederlage im Amerikanischen Bürgerkrieg unter der
weißen Bevölkerung der Südstaaten entwickelte und die besagt, dass die
Konföderierten Staaten für eine gerechte Sache kämpften, da die Sklaverei
wirtschaftlichen Wohlstand gebracht habe (A. d. Red.).
85 {mises.org/about-mises}, letzter Zugriff 1.12.2022.
86 {articles.businessinsider.com/2011-12-20/politics/30537102_1_newsletters-paul-
campaign-conspiracy-theories}, Link erloschen.
87 John Derbyshire, »Liberty! Liberty!« (20.12.2007), in:
{johnderbyshire.com/Opinions/USPolitics/libertyliberty.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
88 Murray N. Rothbard, »Egalitarianism as a Revolt Against Nature«, in:
{www.lewrockwell.com/rothbard/rothbard31.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
89 {www.lewrockwell.com/dilorenzo/dilorenzo-arch.html}, letzter Zugriff 1.12.2022, und
{www.lewrockwell.com/woods/woods-arch.html}, letzter Zugriff 1.12.2022.
90 Tom G. Palmer, »Hans-Hermann Hoppe and the German Extremist Nationalist Right«
(1.7.2006), in: {tomgpalmer.com/2005/07/01/hans-hermann-hoppe-and-the-german-
extremist-nationalist-right/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
91 »30 New Activists Heading Up the Radical Right« (26.5.2012), in:
{www.splcenter.org/get-informed/intelligence-report/browse-all-
issues/2012/summer/30-to-watch}, letzter Zugriff 1.12.2022.
92 {againstpolitics.com/2012/03/30/democracy-cant-be-fixed-its-inherently-broken/}, Link
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93 John Derbyshire, »Partying With the Right Side on the Left Coast« 28.6.2012), in:
{takimag.com/article/partying_with_the_right_side_on_the_left_coast_john_derbyshire
}, letzter Zugriff 1.12.2022.
94 Hans-Hermann Hoppe, »On the Impossibility of Limited Government and the
Prospects for a Second American Revolution« (28.6.2008), in:
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95 Jonathan Rauch, »Demosclerosis« (5.9.1992), in:
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Link erloschen; »H.P. Lovecraft« (2.10.2011), in:
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97 {distributedrepublic.net/archives/2008/12/18/rampant-moldbuggery}, Link erloschen.
98 David Friedman, The Machinery of Freedom. Guide to a Radical Capitalism, in:
{www.daviddfriedman.com/The_Machinery_of_Freedom_.pdf}, letzter Zugriff
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99 Anspielung auf Billie Holidays Lied »Strange Fruit«, das die Unterdrückung der
Schwarzen in den USA anprangert. Der Ausdruck »Strange Fruit« hat sich als Symbol
für Lynchmorde etabliert (A. d. Red.).
100 {dixienet.org/rights/whatisstatesrights10252010.shtml}, Link erloschen.
101 Leda Cosmida, John Tooby, »Evolutionary Psychology. A Primer«, in:
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Science Model‹ Is W-R-O-N-G« (4.4.2012), in: {vdare.com/articles/john-harvey-s-race-
and-equality-the-standard-social-science-model-is-w-r-o-n-g}, letzter Zugriff 1.12.2022.
102 Herbert S. Lewis, »The Passion of Franz Boas« (Juni 2001), in:
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103 {www.powells.com/review/2002_11_21.html}, Link erloschen.
104 Joan Slonczewski, »Octavia Butler. A Biologist’s Response«, in:
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not-space/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
2 Sylvia Engdahl, »Confronting the Universe in the 21st Century«, in: The Space Review
(23.7.2012), {www.thespacereview.com/article/2125/1}, letzter Zugriff 1.12.2022.
3 John Michael Greer, »An Elegy for the Age of Space«, in:
{www.resilience.org/stories/2011-08-24/elegy-age-space/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
4 Tom Murphy, »Can Economic Growth Last?« (14.7.2011), in:
{dothemath.ucsd.edu/2011/07/can-economic-growth-last/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
5 Siehe Tom Murphy, »My Great Hope for the Future« (28.2.2012), in:
{dothemath.ucsd.edu/2012/02/my-great-hope-for-the-future/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
6 Tom Murphy, »Stranded Resources« (25.10.2011), in:
{https://dothemath.ucsd.edu/2011/10/stranded-resources/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
7 Ebd.
8 Craig Covault, »First Look: China’s Big New Rockets« (18.7.2012), in:
{www.americaspace.com/2012/07/18/first-look-chinas-big-new-rockets/}, letzter Zugriff
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9 Rand Simberg, »Towards a Conservative Space Policy« (1.2.2010), in:
{www.nationalreview.com/corner/towards-conservative-space-policy-rand-simberg/},
letzter Zugriff 1.12.2022.
10 Mike Snead, »How America Can and Why America Must Now Become a True
Spacefaring Nation«, in: {spacefaringamerica.net/2007/10/11/16--the-space-show-
appearance-talking-points.aspx/}, Link erloschen.
11 Siehe Wayne Biddle, Dark Side of the Moon: Wernher von Braun, the Third Reich, and
the Space Race, New York 2009.
12 Walter Russell Mead, »The Age of Hamilton« (6.12.2011), in: {www.the-american-
interest.com/2011/12/06/the-age-of-hamilton/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
13 Iain Murray, Rand Simberg, »Big Government’s Final Frontier« (11.10.2011), in:
{cei.org/opeds_articles/big-governments-final-frontier/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
14 Martin Elvis, »After Apollo«, in: {hir.harvard.edu/a-new-empire/after-apollo}, Link
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15 Rand Simberg, »A Space Program for the Rest of Us« (2009), in:
{www.thenewatlantis.com/publications/a-space-program-for-the-rest-of-us}, letzter
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16 Scott Pace in »8 Experts Weigh in on the Future of Human Spaceflight«, in:
{www.popularmechanics.com/space/moon-mars/a4640/4333599/}, letzter Zugriff
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17 Siehe »Time to End …«, in: {www.space-
travel.com/reports/Time_To_End_Pork_Barrel_Monster_Rocket_And_Expensive_Rus
sian_Space_Ferry_999.html}, Link erloschen.
18 Siehe Andrew Moseman, »Why Won’t the Political Parties Talk about Space?«
(12.9.2012), in: {www.popularmechanics.com/space/a11956/why-wont-the-political-
parties-talk-about-space-12636543/}, letzter Zugriff 1.12.2022.
19 John F. Kennedy, »Special Message to the Congress on Urgent National Needs«
(25.5.1961), in: {www.presidency.ucsb.edu/documents/special-message-the-congress-
urgent-national-needs}, letzter Zugriff 1.12.2022.
Desintegration
1 Ethan Siegel, »Cosmology’s Biggest Conundrum Is A Clue, Not A Controversy«, in:
Forbes (3.5.2019), {www.forbes.com/sites/startswithabang/2019/05/03/cosmologys-
biggest-conundrum-is-a-clue-not-a-controversy/?sh=2d9ce0fc78ea}, letzter Zugriff
1.12.2022.
2 Peter Galison, Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit,
Frankfurt a. M. 2006.
3 Geoff Manaugh, »The Coming Amnesia« (23.2.2017), in:
{www.bldgblog.com/2017/02/the-coming-amnesia/}, letzter Zugriff 27.1.2023.
4 Manaugh zitiert Krauss und Scherrer mit den Worten: »Wir leben womöglich in der
einzigen Epoche in der Geschichte des Universums, in der Wissenschaftler zu einem
genauen Verständnis der wahren Natur des Universums gelangen können.« Die
intellektuelle Indolenz dieser Behauptung ist bemerkenswert.
5 Die Isolierung genetischer Abstammungslinien ist Sache einer soliden, wenn auch
spontanen und unbewussten Experimentaltechnik. Man vermeide
Kreuzkontaminationen von Testproben. Das heißt, man kann es tun, wenn es sein
muss, aber man erwarte keine optimalen Ergebnisse. In der Regel setzen sich
optimale erkenntnistheoretische Ergebnisse durch.
6 Die baumähnliche Ausrichtung der Kladistik könnte nicht stringenter sein. Das Wort
»Klade« stammt vom Griechischen clados ab, was so viel wie Zweig bedeutet. Ein
Kladogramm ist ein abstrakter Baum, dessen Gliederungen Verzweigungen sind. Die
kritische Auseinandersetzung mit dem Kladogramm durch Deleuze und Guattari war
überaus einflussreich. Die beiden Autoren meinten, sie seien »von Bäumen
gelangweilt«. Als Alternative zur Baumstruktur schlagen sie das Rhizom vor – ein
Netzwerk, in dem jeder Knoten mit jedem anderen verbunden ist. Das »Rhizom«
selbst ist demgemäß kein taxonomisches, sondern ein morphologisches Konzept. Eine
um Ausgleich bemühte Position würde anerkennen, dass evolutionäre Bäume durch
ökologische Netze ergänzt werden müssen. Das eine wäre ohne das andere nicht
denkbar. Der Evolutionsbaum wird in Ökologien beschnitten und gebildet, die von
Seitenverbindungen bestimmt sind. Die Phylogenese ist überwiegend baumähnlich,
während die Ontogenese weit mehr laterale Einflüsse beinhaltet. Wir beschränken uns
hier mit kryptischer Kürze auf die Bemerkung, dass die Rhizomatik Deleuze-Guattaris
rhizomatisch mit dem Neodarwinismus verbunden, aber kladistisch neolamarckianisch
ist.
7 Das Ganze ist eine von Inkohärenzen und prinzipienlosen Ausnahmen durchsetzte
Vereinfachung. Vor allem werden »kleinen« Bevölkerungen ad hoc
Sondergenehmigungen gewährt. Der auffallend erratische Gebrauch des Wortes
»Völkermord« ist das offensichtlichste Indiz dafür. Eine der operativen Formel nähere
Konstruktion könnte lauten: Die Bevölkerungsaufteilung ist insofern absolut und
universell falsch, als sie die Isolation der nordwesteuropäischen Bevölkerungen
sichert.
8 Bruce Sterling, Alastair Reynolds, Neal Stephenson und viele andere bevölkern ihre
fiktiven Welten mit radikal unterschiedlichen Neo-Hominidentypen.
9 Robin Hanson widmete einen kürzlich erschienenen Blog-Beitrag drei
(vergleichsweise exotischen) Varianten baumartiger Abstammung. Die erste ist ein
merkwürdiges Gedankenexperiment, das uns nicht im Geringsten zu interessieren
braucht. Die zweite betrifft seinen Gedankenklon »ems« und ist relevant für eine Reihe
potenzieller und sogar bereits bestehender Software-Familien. Die dritte ist die
Struktur des Quantenmultiversums. Sie behauptet, dass eine baumartige Kosmologie
auf Wegen entsteht, die sich von den hier verfolgten stark unterscheiden. Hanson stellt
fest: »[E]ine Quantengeschichte ist zum Teil ein Baum aus Beobachtern. Die einzelnen
Beobachter in diesem Baum können zurückblicken und sehen eine Abfolge von
Zweigen bis hinunter zur Wurzel, wobei jeder Zweig eine Version ihrer selbst enthält.
Weitere Versionen ihrer selbst leben in anderen Zweigen dieses Baumes.« (Siehe
Robin Hanson, »Progency Probs: Souls, Ems, Quantum« (2.6.2019), in:
{www.overcomingbias.com/2019/06/progeny-probs-human-em-quantum.html}, letzter
Zugriff 1.12.2022.)
Baumartige Multiversen sind besonders zahlreich. Lee Smolin schlägt ein
darwinistisches Multiversum vor, in dem die Selektion nach dem Kriterium der
Fortpflanzungsfähigkeit mit der Erzeugung von Schwarzen Löchern vorgenommen
wird. Man könnte es als ein kladistisch strukturiertes Multiversum bezeichnen, wenn
sich dieses Etikett nicht auf so vieles andere anwenden ließe. Kladistische Multiversen
gehören zu der viel größeren Menge von kladistisch-strukturierten Einheiten, deren
Teile charakterisiert sind durch:
1. eine einzige Abstammungslinie,
2. genetisch nicht kommunizierende Geschwister,
3. eine Vielzahl potenzieller Nachkommen.
Solche Multiversen sagen ihre eigene Unwahrnehmbarkeit voraus. Da parallele
Zweige nicht miteinander kommunizieren, ist zu erwarten, dass ihre Existenz streng
theoretisch ist. Wäre das Multiversum ein Rhizom, würden wir mehr davon sehen.
Auch die Ontologie des Simulationsarguments neigt zum Zerfallsgeschehen.
Simulationen sind im Wesentlichen Experimente und daher vielfältig.
TEXTNACHWEISE
– »Art as Insurrection: the Question of Aesthetics in Kant, Schopenhauer, and Nietzsche«,
in: Nick Land, Fanged Noumena. Collected Writings 1987–2007, London / New York
2
2012, S. 55–80.
– »Circuitries«, in: ebd., S. 289–318.
– »Spirit and Teeth«, in: ebd., S. 175–201.
– »Machinic Desire«, in: ebd., S. 319–344.
– »Meltdown«, in: ebd., S. 441–459.
– »No Future«, in: ebd., S. 391–399.
– »Shamanic Nietzsche«, in: ebd., S. 203–228.
– »KataςoniX«, in: ebd., S. 481–491.
– »CyberGothic«, in: ebd., S. 345–374.
– »Origins of the Cthulhu Club«, in: ebd., S. 573–581.
– »Occultures«, in: ebd., S. 545–571.
– »Qabbala 101«, in: ebd., S. 591–605.
– »Reign of the Tripod« (23.9.2011), zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/1026/reign-of-the-tripod}, Link erloschen;
aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2011/09/23/reign-of-the-tripod/}.
– »A Time-Traveler’s Guide to Shanghai«
Part 1 (22.7.2011): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/798/a-time-travelers-guide-to-shanghai-
part-1}, Link erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2011/07/22/a-
time-travelers-guide-to-shanghai-part-1/}.
Part 2 (27.7.2011): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/802/a-time-travelers-guide-to-shanghai-
part-2}, Link erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2011/07/27/a-
time-travelers-guide-to-shanghai-part-2/}.
Part 3 (29.7.2011): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/811/a-time-travelers-guide-to-shanghai-
part-3}, Link erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2011/07/29/a-
time-travelers-guide-to-shanghai-part-3/}.
– »Implosion« (29.4.2011): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/414/implosion}, Link erloschen; aufrufbar unter:
{oldnicksite.wordpress.com/2011/04/29/implosion/}.
– »The Dark Enlightenment«
Part 1 (2.3.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{http://www.thatsmags.com/shanghai/article/1880/the-dark-enlightenment-part-1},
Link erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/03/02/the-dark-
enlightenment-part-1/}.
Part 2 (9.3.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/1901/the-dark-enlightenment-part-2}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/03/09/the-dark-
enlightenment-part-2/}.
Part 3 (19.3.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/1920/the-dark-enlightenment-part-3}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/03/19/the-dark-
enlightenment-part-3/}.
Part 4 (1.4.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/1973/the-dark-enlightenment-part-4}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/04/01/the-dark-
enlightenment-part-4/}.
Part 4a (19.4.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2062/the-dark-enlightenment-part-4a}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/04/19/the-dark-
enlightenment-part-4a/}.
Part 4b (3.5.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2159/the-dark-enlightenment-part-4b}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/05/03/the-dark-
enlightenment-part-4b/}.
Part 4c (17.5.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2210/the-dark-enlightenment-part-4c}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/05/17/the-dark-
enlightenment-part-4c/}.
Part 4d (15.6.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2351/the-dark-enlightenment-part-4d}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/06/15/the-dark-
enlightenment-part-4d/}.
Part 4e (3.7.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2412/the-dark-enlightenment-part-4e}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/07/03/the-dark-
enlightenment-part-4e/}.
Part 4f(inal) (20.7.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2497/the-dark-enlightenment-part-4final},
Link erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/07/20/the-dark-
enlightenment-part-4final/}.
– »Lure of the Void«
Part 1 (15.8.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2600/lure-of-the-void-part-1}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/08/15/lure-of-the-
void-part-1/}.
Part 2 (6.9.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2694/lure-of-the-void-part-2}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/09/06/lure-of-the-
void-part-2/}.
Part 3a (29.9.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/blog/view/9739}, Link erloschen; aufrufbar unter:
{oldnicksite.wordpress.com/2012/09/29/lure-of-the-void-part-3a/}.
Part 3b (26.10.2012): zuerst erschienen auf Nick Lands Blog Urban Future
{www.thatsmags.com/shanghai/article/2899/lure-of-the-void-part-3b}, Link
erloschen; aufrufbar unter: {oldnicksite.wordpress.com/2012/10/26/lure-of-the-
void-part-3b/}.
– »Disintegration«, in: Jacobite (15.7.2019), {jacobitemag.com/2019/07/15/disintegration/},
Link erloschen, aufrufbar unter: {web.archive.org/eb/20190715235206/
https://jacobitemag.com/2019/07/15/disintegration/}.
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eISBN 978-3-7518-0362-5
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