Preview-9783863263454 A48417469
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Pinel
Steven J. Barnes
Paul Pauli
Matthias Gamer
Biopsychologie
Biopsychologie
11., aktualisierte Auflage
John P. J. Pinel
Steven J. Barnes
Paul Pauli
Matthias Gamer
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
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Authorized translation from the English language edition, entitled BIOPSYCHOLOGY, 11th Edition,
9780135710883 by JOHN P. J. PINEL, published by Pearson Education, Inc, publishing as Pearson,
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10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
27 26 25 24
Printed in Slovakia
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 19
5
10 Inhaltsverzeichnis
6
Inhaltsverzeichnis
7
10 Inhaltsverzeichnis
8
Inhaltsverzeichnis
9
10 Inhaltsverzeichnis
Kapitel 9 Aufmerksamkeit
283
9.1 Wie Sie Wichtiges von U nwichtigem trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
9.2 Was ist Aufmerksamkeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
9.2.1 Definition der Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
9.2.2 Merkmale der Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
9.2.3 Funktionen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
9.3 Theorien der Aufmerksamkeitsregulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
9.3.1 Frühe vs. späte Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
9.3.2 Kontrollprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
9.4 Quantifizierung der A ufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
9.4.1 Manuelle Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
9.4.2 Augenbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
9.5 Neuronale Mechanismen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
9.5.1 Elektrokortikale Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
9.5.2 Subkortikale Effekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
9.5.3 Räumlich spezifische Effekte im visuellen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
9.5.4 Merkmalsbasierte Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
9.5.5 Biased Competition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
9.6 Kontrolle der Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
9.6.1 Kontrolle der endogenen A ufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
9.6.2 Kontrolle der exogenen A ufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
9.7 Neuropsychologie der Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
9.7.1 Neglect. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
9.7.2 Simultanagnosie und B álint-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
10
Inhaltsverzeichnis
11
10 Inhaltsverzeichnis
12
Inhaltsverzeichnis
13
10 Inhaltsverzeichnis
14
Inhaltsverzeichnis
15
10 Inhaltsverzeichnis
16
Inhaltsverzeichnis
17
10 Inhaltsverzeichnis
Anhang 669
A.1 Anhang I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670
A.1.1 Das autonome Nervensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670
A.2 Anhang II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
A.2.1 Funktionen sympathischer und parasympathischer Neuronen . . . . . . . . . . . 671
A.3 Anhang III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
A.3.1 Die Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
A.4 Anhang IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
A.4.1 Funktionen der Hirnnerven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
A.5 Anhang V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
A.5.1 Kerne des Thalamus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
A.6 Anhang VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
A.6.1 Kerne des Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
Literaturverzeichnis
677
Stichwortverzeichnis
781
18
Vorwort
Die Biopsychologie ist das Teilgebiet der Psycho- Zweitens wurden die bisherigen Fokusthemen
logie, das in den letzten Jahrzehnten eine rasante neuronale Plastizität, kreatives Denken, klini
Entwicklung erfahren hat. Durch die interdiszipli- sche Implikationen und evolutionäre Perspekti
näre Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtun- ve um zwei neue Themen erweitert. Die beiden
gen wurde ein enormer Fortschritt im Verständnis neuen Fokusthemen Epigenetik und Bewusstsein
der biologischen Grundlagen psychischer Phäno- reflektieren interessante und zunehmend relevan-
mene und Prozesse erzielt. Auch wenn nach wie te Forschungsbereiche der Biopsychologie. Alle
vor viele Fragen offenbleiben und ganz grund- Fokusthemen werden im Text des Buches immer
sätzlich kritisch hinterfragt werden kann, inwie- wieder aufgegriffen und am Ende jedes Kapitels
fern unser Gehirn tatsächlich in der Lage ist, sich zusammengefasst. Damit soll verdeutlicht wer-
selbst umfassend zu verstehen, wissen wir zuneh- den, dass trotz der Diversität der Forschungsan-
mend mehr darüber, wie psychologische und bio- sätze innerhalb einzelner Themenbereiche immer
logische Prozesse zusammenhängen. wieder Querschnittverbindungen gezogen und
biopsychologische Sachverhalte verknüpft wer-
Diese vierte deutsche Auflage von Biopsychologie den können.
fasst das Wissen in diesem Bereich zusammen und
wurde auf Basis der gleichnamigen elften Auf- Die dritte Veränderung betrifft die Exkurse über
lage des englischsprachigen Lehrbuchs von John biopsychologische Forschung im deutschsprachi
P. J. Pinel und Steven J. Barnes umfangreich um gen Raum. Nachdem diese relevante Ergänzung in
die neuesten Erkenntnisse erweitert. Mit seinem der vorherigen Auflage des Buches bereits sehr po-
leicht verständlichen und anschaulichen Sprach- sitiv aufgenommen wurde, haben wir diese Exkur-
stil, den übersichtlichen und ansprechenden Il- se nun aktualisiert sowie durch die Beiträge wei-
lustrationen sowie den zahlreichen persönlichen terer Kolleginnen und Kollegen ergänzt. In diesem
Anekdoten und Fallbeispielen bietet dieses Buch Zusammenhang möchten wir Stefan Berti, Stefan
eine ideale Grundlage für Lehrveranstaltungen Debener, Katharina Domschke, Xaver Fuchs, Maria
der Biologischen Psychologie und der kognitiven Geisler, Onur Güntürkün, Alfons Hamm, Tobias
Neurowissenschaften sowie verwandter Diszipli- Heed, Markus Heinrichs, Cordula Hölig, Kirsten
nen. Zudem kann es als Nachschlagewerk für spe- Hötting, Clemens Kirschbaum, Iris-Tatjana Kolassa,
zifische Aspekte auch weiterer psychologischer Ulrike Krämer, Claus Lamm, Matthias Mack, Lynn
Fachrichtungen von großer Relevanz sein. Durch Matits, Wolfgang Miltner, Ron Mucha, Sebastian
den Aufbau des Buches mit Lernzielen zu Be- Ocklenburg, Jan Peters, Björn Rasch, Martin Reuter,
ginn jedes Kapitels sowie zahlreichen begleiten- Brigitte Röder, Markus Rütgen, Christian Seegelke,
den Wissensprüfungen im Text eignet sich dieses Paul Sauseng, Miriam Schiele, Ricarda Schubotz,
Buch ausgezeichnet zur Vorbereitung auf Prüfun- Rainer Schwarting, Bobby Stark, Jana Strahler,
gen im Fach Biopsychologie im Bachelorstudium Ursula Stockhorst, Thomas Straube, Christiane
der Psychologie sowie für vertiefende Lehrveran- Thiel, Thomas Weiß, Peter Weyers, Mathias Wey-
staltungen im Masterabschnitt des Studiums. mar, Julian Wiemer, Markus Wöhr und Christiane
Ziegler herzlich für ihre Beiträge danken. Diese
Neben der umfangreichen Aktualisierung der Li- Exkurse verdeutlichen sehr eindrücklich die For-
teratur und der Anpassung des Textes an die neu- schungsstärke und -breite der Biopsychologie im
esten Erkenntnisse im Bereich der Biopsychologie deutschsprachigen Raum. Wir hoffen sehr, dass
möchten wir folgende wesentliche Änderungen die Exkurse Sie auch motivieren, sich mit den bio-
hervorheben: Erstens wurde die Autorenliste um psychologischen und neurowissenschaftlichen
Matthias Gamer erweitert. Nachdem er für die Forschungsthemen an Ihrer eigenen Universität
vorherige Auflage des Buches bereits ein neues im Rahmen des Studiums auseinanderzusetzen.
Kapitel zum Thema Aufmerksamkeit beigesteuert Möglicherweise ergibt sich auch die Möglichkeit
hatte, arbeitete er nun umfassend an der Aktuali- zur Mitarbeit an biopsychologischen Forschungs-
sierung des Gesamtwerkes mit und brachte seine projekten, zum Beispiel im Rahmen von Bachelor-
Expertise im Bereich der Lehre und Forschung zu und Masterarbeiten oder durch eine Tätigkeit als
biopsychologischen Themen ein. wissenschaftliche Hilfskraft.
19
Vorwort
20
Vorwort
Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Steven Barnes promovierte an der Universität von
der kognitiven Neurowissenschaften, wobei sozia- British Columbia in Vancouver, Kanada. Er arbei-
le und emotionale Prozesse im Normbereich sowie tete anschließend als Postdoktorand, zunächst an
im Kontext psychischer Störungen im Fokus ste- der Abteilung für Epileptologie der Universität
hen. Zusätzlich werden Aspekte der forensischen Bonn in Deutschland und dann an der Simon Fra-
Psychologie in der Grundlagenforschung sowie der ser Universität, Abteilung für Interaktive Künste
praktischen Anwendung im Bereich der Glaubhaf- und Technologie, in Kanada. Aktuell ist er Profes-
tigkeitsdiagnostik erforscht. Matthias Gamer hat in sor of Teaching sowie Vize-Direktor für Undergra-
diesem Kontext mehr als 130 Artikel und Buch- duate Affairs am Institut für Psychologie der Uni-
kapitel publiziert sowie Software zur Verarbeitung versität von British Columbia in Kanada.
und Analyse von Biosignalen entwickelt. Er ist
aktuell Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs Neu Steven Barnes ist bekannt für seine Arbeit im Zu-
ral mechanisms of (mal)adaptive approach and sammenhang mit Online-Lerntechnologien (z.B.
avoidance behaviour und Vizedekan der Graduate das Tapestry-Projekt; siehe tapestry-tool.com), der
School of Life Sciences der Universität Würzburg. psychischen Gesundheit und dem Wohlbefinden
von Studierenden sowie der Bipolaren Störung
Seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere ist (BD). Er ist stellvertretender Leiter des Collabora
Matthias Gamer sehr engagiert in der Lehre tätig tive RESearch Teams zur Untersuchung psychoso-
und hat zahlreiche Veranstaltungen im Bereich zialer Fragen bei BD (CREST.BD; siehe crestbd.ca),
der Biopsychologie, der Neurowissenschaften so- einem BD-Forschungs- und Wissenschaftsnetz-
wie der allgemeinen und klinischen Psychologie werk, das 2018 den Canadian Institutes for Health
gehalten. Über seine Mitarbeit an der vorliegen- Research Gold Leaf Prize for Patient Engagement
den Auflage des Buches schreibt er: „Ich arbeite erhielt, Kanadas prestigeträchtigste Anerkennung
in meinen Veranstaltungen sehr gerne mit diesem für Patientenengagement in der Forschung in al-
Lehrbuch Biopsychologie, das einen exzellenten len Gesundheitsdisziplinen.
Einstieg in die Welt der Neurowissenschaften bie-
tet. Ich freue mich daher, nun aktiv an der Gestal- Er hat mehrere institutionelle Auszeichnungen für
tung und Weiterentwicklung des Buches mitarbei- seine Lehrtätigkeit erhalten, darunter den Killam
ten zu können und hoffe, dass dieses Werk einen Teaching Prize sowie das 3M National Teaching
Teil dazu beiträgt, meine Faszination für die Welt Fellowship, die höchste nationale Auszeichnung,
der Biopsychologie an zukünftige Generationen die in der Lehre in einem beliebigen Fachbereich
von Studierenden weiterzugeben.“ an einer Weiterbildungs einrichtung in Kanada
vergeben wird.
21
Vorwort
Digitale Lernkarten
Alle Glossarbegriffe stehen Ihnen als digitale
Lernkarten „Flashcard“ zur Verfügung, damit Sie
die Begrifflichkeiten und Ihre Definitionen leich-
ter lernen und einüben können – auch mobil auf
Ihrem Smartphone nutzbar.
Flashcards
https://www.pearson.de/mylab/biopsy11e/fc
22
Biopsychologie als
Neurowissenschaft 1
1.1 Was ist eigentlich B
iopsychologie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
LERNZIELE
24
1.1 Was ist eigentlich Biopsychologie?
Wenn er über seine Vergangenheit sprach, zeigte sich andeutungsweise sein Problem. Bei Erzählungen über seine
Schulzeit benutzte er die Vergangenheitsform, für Erzählungen über seine frühen Erlebnisse bei der Marine dagegen
wechselte er in die Gegenwartsform. Und noch beunruhigender war, dass er nie über etwas sprach, was ihm nach
seiner Zeit bei der Marine passierte.
Jimmie wurde von dem angesehenen Neurologen Oliver Sacks untersucht und schon ein paar Fragen verdeutlichten
sein sonderbares Problem. Jimmie glaubte, er sei 19 Jahre alt. Wenn man ihm einen Spiegel vorhielt und ihn aufforderte
zu beschreiben, was er sieht, wurde er so aufgewühlt und verwirrt, dass Dr. Sacks den Spiegel sofort aus dem Zimmer
trug.
Als Dr. Sacks nach zwei Minuten zurückkam, wurde er von einem wieder fröhlichen Jimmie begrüßt, der sich so ver-
hielt, als hätte er Dr. Sacks noch nie gesehen. Sogar als Dr. Sacks darauf hinwies, dass sie sich vor kurzer Zeit schon
getroffen hatten, war Jimmie sich sicher, dass dies nicht der Fall gewesen war.
Als dann Dr. Sacks fragte: „Was denken Sie, wo Sie hier sind?“, antwortete Jimmie: „Ich sehe diese Betten und dann
diese Patienten überall. Sieht für mich wie eine Art Krankenhaus aus.“ Aber Jimmie konnte nicht verstehen, warum
er im Krankenhaus sein sollte. Er befürchtete, dass er wegen einer Krankheit hier sein könnte, wusste es aber nicht.
Weitere Untersuchungen bestätigten, was Dr. Sacks befürchtete. Trotz guter sensorischer, motorischer und kognitiver
Fähigkeiten hatte Jimmie ein besorgniserregendes Problem: Er vergaß innerhalb von Sekunden alles, was ihm gesagt
oder gezeigt wurde. Jimmie konnte sich an praktisch nichts erinnern, was er nach seinem 20ten Lebensjahr erlebt
hatte, und er wird sich für den Rest seines Lebens an nichts erinnern können, was er noch erleben wird. Dr. Sacks war
wie benommen, als er über die Konsequenzen des Problems von Jimmie nachdachte.
Der Zustand von Jimmie war herzzerreißend. Da er keine andauernden Erinnerungen ausbilden konnte, war er eigent-
lich ein in der Zeit eingefrorener Mensch, ein Mensch ohne jüngere Vergangenheit und ohne Hoffnung für die Zukunft,
gefangen in einer andauernden Gegenwart, ohne Kontext und Bedeutung.
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Simon & Schuster Adult Publishing Group aus Der Mann, der seine Frau
mit einem Hut verwechselte von Oliver Sacks. Copyright 1970, 1981, 1983, 1984, 1985 bei Oliver Sacks.)
25
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
1.1.1 D
ie vier wichtigsten Themen die wahrscheinlich zur Evolution unseres Gehirns
dieses Buchs und Verhaltens geführt haben, häufig zu wichtigen
biopsychologischen Einsichten. Dieser Ansatz wird
Dieses Buch wird Ihnen viele neue Fakten vermit- als evolutionäre Perspektive bezeichnet. Eine wich-
teln, neue Befunde, Konzepte, Fachbegriffe und tige Komponente dieser evolutionären Perspekti-
vieles mehr. Viel wichtiger aber ist, dass Sie auch ve ist der vergleichende Ansatz, also der Versuch,
noch nach Jahren, lange nachdem Sie die meisten biologische Phänomene durch einen Vergleich ver-
dieser Fakten wieder vergessen haben, auf eine schiedener Spezies zu verstehen. Beim Lesen dieses
neue, produktive Art zu denken gelernt haben. Buches werden Sie feststellen, dass wir Menschen
Vier ausgewählte Denkansätze werden im Folgen- sehr viel über uns selbst durch Untersuchungen an
den besonders herausgehoben: kreatives Denken, evolutionär verwandten Spezies gelernt haben. Der
klinische Implikationen, die evolutionäre Pers- evolutionäre Ansatz ist daher einer der Eckpfeiler
pektive und die neuronale Plastizität. der modernen biopsychologischen Forschung.
Kreatives Denken. Wir werden ständig mit richti- Neuronale Plastizität. Bis Anfang der 1990er-Jah-
gen, aber auch falschen Informationen und Meinun- re glaubten die meisten Neurowissenschaftlerin-
gen zu biopsychologischen Themen konfrontiert – nen und -wissenschaftler, dass das Gehirn eine
durch Fernsehen, Zeitungen, Internet, Freundinnen dreidimensionale Matrix aus neuronalen Elemen-
und Freunde, Verwandte, Bücher, Lehrerinnen und ten ist, die durch ein komplexes Netzwerk von
Lehrer etc. Die Konsequenz ist, dass auch Sie wahr- Schaltkreisen miteinander verbunden sind. Die
scheinlich zu vielen Themen dieses Buchs schon vermutete beeindruckende Komplexität übersieht
eine feste Meinung haben. Weitverbreitete vorge- aber eines der wichtigsten Merkmale des Gehirns.
fasste Meinungen, die auch viele Forscherinnen Die Forschung der letzten vier Jahrzehnte hat
und Forscher haben, behindern aber oft wissen- nämlich eindeutig gezeigt, dass das Gehirn kein
schaftliche Fortschritte, auch die biopsychologische statisches Netzwerk neuronaler Verschaltungen
Forschung. Einige der wichtigsten Fortschritte der ist. Es ist vielmehr ein plastisches (veränderbares)
Biopsychologie wurden gerade von Forscherinnen Organ, das in Abhängigkeit des Umfeldes und der
und Forschern realisiert, die das einschränkende, individuellen Erfahrungen kontinuierlich wächst
konventionelle Denken überwunden haben und und sich verändert. Die Entdeckung der neuro-
neuen, kreativen Ansätzen gefolgt sind. Kreatives nalen Plastizität, wahrscheinlich eine der be-
Denken, also produktives Denken abseits von Kon- deutsamsten Erkenntnisse der modernen Neuro-
ventionen, ist ein Grundstein jeder Wissenschaft. In wissenschaften, wirkt sich auf viele Gebiete der
diesem Buch beschreiben wir Forschung, in der es biopsychologischen Forschung aus.
buchstäblich darum geht, „über den Tellerrand hin-
aus“ zu blicken und wir versuchen, diese kreativen Vermutlich ist Ihnen der Begriff der Neuroplas-
Ansätze und Methoden entsprechend zu würdigen. tizität auch bereits in den Medien begegnet. Oft
Sie sollten sich zudem ermutigt sehen, Ihr Denken wird dieses Phänomen dort als Allheilmittel pro-
auf die Grundlage von Beweisen statt auf allgemein pagiert, mit dem sich sowohl eine Verbesserung
akzeptierte Ansichten zu stützen. von Hirnfunktionen als auch eine Erholung von
Funktionsstörungen des Gehirns erzielen lässt.
Klinische Implikationen. Klinische, also krank- Doch entgegen der landläufigen Meinung ist die
heits- oder behandlungsrelevante Implikationen Neuroplastizität nicht immer vorteilhaft. Bei-
durchdringen die Biopsychologie vielfältig, insbe- spielsweise trägt sie zu verschiedenen Formen
sondere hinsichtlich zweier Aspekte: Zum einen von Dysfunktionen des Gehirns bei (siehe z.B. To-
stammt vieles von dem, was Biopsychologinnen maszcyk et al., 2014). Beispiele für die jeweiligen
und Biopsychologen über die Funktionsweise des positiven und negativen Aspekte finden sich an
normalen Gehirns gelernt haben, aus Untersu- vielen Stellen dieses Buches.
chungen über das erkrankte oder verletzte Gehirn.
Zum anderen spielen viele biopsychologische Er-
kenntnisse eine wichtige Rolle bei der Behand- 1.1.2 Neue Themen
lung von Dysfunktionen des Gehirns. Dieses Buch
Beim Lesen dieses Buches werden Sie sicher zu-
beschäftigt sich mit dieser Wechselwirkung und
sätzlich zu den beschriebenen vier Themenberei-
diskutiert viele Beispiele aus diesem Bereich.
chen eine Reihe weiterer Themen entdecken. An
Evolutionäre Perspektive. Auch wenn die evolutio- dieser Stelle möchten wir insbesondere auf zwei
näre Vergangenheit der menschlichen Spezies nie- dieser Themen eingehen, die in zukünftigen Auf-
mals mit absoluter Sicherheit zu entschlüsseln sein lagen dieses Buches eine größere Bedeutung be-
wird, so führt die Betrachtung der Umwelteinflüsse, kommen könnten.
26
1.1 Was ist eigentlich Biopsychologie?
Epigenetik. Die meisten Menschen sind davon Bewusstsein. Wie Sie sehen werden, behandelt die-
überzeugt, dass ihre Gene (siehe Kapitel 2) so- ses Buch auch verschiedene Aspekte des Bewusst-
wohl die Merkmale bestimmen, mit denen sie ge- seins (d.h. die Wahrnehmung oder Erkenntnis des
boren werden und die sich im Laufe ihres Lebens eigenen Selbst oder der Umwelt) aus biopsycho-
herausbilden, als auch die Charakteristika, die logischer Perspektive. Tatsächlich besteht ein we-
sie an ihre Kinder und Enkelkinder weitergeben. sentliches Ziel der biopsychologischen Forschung
In diesem Buch werden Sie erfahren, dass Gene in der Identifikation der neuronalen Korrelate des
nur einen kleinen Teil Ihrer Eigenschaften aus- Bewusstseins (siehe Ward, 2013; Blackmore, 2018).
machen. Tatsächlich ist jeder Mensch das Produkt Im Laufe der Lektüre dieses Buches werden Sie
andauernder Interaktionen zwischen Genen und bald verstehen, dass uns erstens eine große Menge
Erfahrungen. Genau diese Interaktionen stehen im an Informationen aus unserer Umgebung gar nicht
Zentrum des Forschungsfeldes der Epigenetik. Al- bewusst wird, es zweitens viele verschiedene Be-
lerdings geht es dabei nicht nur um isolierte Per- wusstseinszustände gibt, und drittens das Bewusst-
sonen. Mittlerweile wissen wir, dass auch die Er- sein dramatisch durch Dysfunktionen des Gehirns
fahrungen, die jemand in seinem Leben gemacht beeinträchtigt werden kann.
hat, an zukünftige Generationen weitergegeben
werden können. Dies ist eine fundamental andere
Denkweise darüber, wer wir sind und wie wir so- 1.1.3 Biopsychologie – eine Definition
wohl mit unseren Vorfahren als auch mit unseren Biopsychologie ist das wissenschaftliche Studium
Nachkommen verbunden sind. Entsprechend hat der Biologie des Verhaltens (siehe Dewsbury, 1991).
die Epigenetik derzeit einen großen Einfluss auf Dieses Forschungsgebiet wird manchmal auch als
die biopsychologische Forschung. Psychobiologie, Verhaltensbiologie, Verhaltens-
neurobiologie oder Verhaltensneurowissenschaft
Die anfängliche weltweite Ausstrahlung der deutschsprachigen Psychologie ist auch mit den Namen Hermann Eb-
binghaus, der als Erster systematisch das Gedächtnis untersuchte, Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse,
Oswald Külpe, dem Begründer der Würzburger Schule der Psychologie, sowie Max Wertheimer, Kurt Koffka und
Wolfgang Köhler, dem Begründer der Gestaltpsychologie, verknüpft. Biopsychologische Forschung im heutigen Sinne
wurde in dieser Zeit in Deutschland nicht durchgeführt. Erwähnenswert ist aber, dass der Gestaltpsychologe Wolfgang
Köhler von 1914 bis 1920 die Anthropoidenstation auf Teneriffa leitete und dort den Werkzeuggebrauch und das
Problemlöseverhalten von Schimpansen untersuchte. Mit dem nationalsozialistischen Regime (1933–1945) begann
der Niedergang der deutschsprachigen Psychologie, jüdische Professoren wurden umgebracht oder vertrieben und
Neuberufungen waren politisch motiviert. Beide Faktoren haben lange nachgewirkt und auch den Wiederaufbau der
deutschsprachigen Psychologie sehr erschwert (siehe Pauli und Birbaumer, 2001; Geuter, 1986).
Die Biopsychologie hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg als ein eigenes und erfolgreiches Forschungsgebiet in-
nerhalb der Psychologie in Deutschland entwickelt. Die ersten Lehrstühle für Biologische Psychologie wurden in den
1950er-Jahren berufen, häufig in Kombination mit einem anderen Fach der Psychologie (z.B. Professur für Biologische
und Klinische Psychologie oder Professur für Allgemeine und Biologische Psychologie). Heute gehört die Biologische
Psychologie innerhalb der deutschsprachigen Psychologie gemessen an Zitationen und eingeworbenen Drittmitteln zu
den erfolgreichsten Forschungsbereichen der Psychologie (siehe Abele-Brehm, 2017).
Die biopsychologische Forschung im deutschsprachigen Raum hat wichtige Beiträge zu vielen biopsychologischen For-
schungsthemen geliefert. Beispiele dafür werden Ihnen durch Exkurse, die wichtige Vertreterinnen und Vertreter der
biopsychologischen Forschung im deutschsprachigen Raum geschrieben haben, vorgestellt.
27
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
bezeichnet. Der Begriff Biopsychologie ist aber der 2000; Kandel & Squire, 2000). Die Biopsychologie
beste, da er ausdrückt, dass es sich um einen biolo- kann durch den Bezug zu anderen neurowissen-
gischen Ansatz innerhalb der Psychologie handelt schaftlichen Disziplinen weitergehend charakteri-
und nicht um einen psychologischen Ansatz inner- siert werden.
halb der Biologie – und die Psychologie spielt auch
in diesem Buch die Hauptrolle. Psychologie ist das Biopsychologinnen und -psychologen sind Neu-
wissenschaftliche Studium des Verhaltens – von rowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler,
allen gezeigten Aktivitäten eines Organismus und deren Forschung stark durch ihr Wissen über
von allen internen Prozessen, auf denen diese Akti- Verhalten und über die Methoden der Verhaltens-
vitäten vermutlich basieren (z.B. Lernen, Gedächt- forschung geprägt ist. Ihre Orientierung am und
nis, Motivation, Wahrnehmung und Emotion). ihre Expertise über Verhalten macht ihren Beitrag
zur Neurowissenschaft einzigartig (siehe Caciop-
po & Decety, 2009). Die Bedeutung ihres Beitrags
1.1.4 Die Ursprünge der Biopsychologie wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass
der letztendliche Zweck des Nervensystems darin
Die Erforschung der Biologie des Verhaltens hat besteht, Verhalten zu generieren und zu kontrol-
eine lange Geschichte, aber die Biopsychologie lieren (siehe Grillner & Dickson, 2002).
hat sich erst im 20. Jahrhundert zu einer wich-
tigen neurowissenschaftlichen Disziplin entwi- Die Biopsychologie ist eine integrative Disziplin.
ckelt. Die genaue Geburtsstunde lässt sich zwar Biopsychologinnen und -psychologen greifen bei
nicht bestimmen, aber die Publikation von „Die der Erforschung des Verhaltens auf das Wissen
Organisation des Verhaltens“ (The Organization aus anderen neurowissenschaftlichen Disziplinen
of Behavior) von Donald Hebb im Jahr 1949 hat zurück. Die folgenden Disziplinen der Neurowis-
sicherlich eine Schlüsselrolle gespielt (siehe auch senschaft sind für die Biopsychologie besonders
Brown & Milner, 2003). In seinem Buch entwi- relevant:
ckelte Hebb die erste umfassende Theorie, wie
komplexe psychologische Phänomene wie Wahr- Neuroanatomie. Forschung zur Struktur des
nehmung, Emotion, Gedanken und Erinnerungen Nervensystems (siehe Kapitel 3).
durch die Aktivität des Gehirns entstehen kön- Neurochemie. Forschung über die chemischen
nen. Hebbs Theorie hat dazu beigetragen, dass Grundlagen neuronaler Aktivität (siehe Kapi-
heute kaum noch jemand der Ansicht ist, dass tel 4 und 16).
psychologische Funktionen zu komplex sind, um Neuroendokrinologie. Forschung über die In-
ihre Wurzeln in der Physiologie und Chemie des teraktionen zwischen dem Nervensystem und
Gehirns zu haben. Hebb stützte seine Theorie auf dem endokrinen System (siehe Kapitel 14
Experimente mit Menschen und an Versuchstie- und 18).
ren, auf klinische Fallstudien und auf logische Ar- Neuropathologie. Forschung zu Dysfunktionen
gumente, die er anhand seiner aufschlussreichen des Nervensystems (siehe Kapitel 11 und 19).
Beobachtungen des Alltagslebens entwickelte. Neuropharmakologie. Forschung zur Wirkung
Dieser eklektische Ansatz wurde zum Kennzei- von Pharmaka und Drogen auf die neuronale
chen biopsychologischer Forschung. Aktivität (siehe Kapitel 4, 16 und 19).
Neurophysiologie. Forschung über die Funk-
Die Biopsychologie ist im Vergleich zu Physik, tionen und Aktivitäten des Nervensystems (sie-
Chemie oder Biologie noch ein „Kind“ – ein ge- he Kapitel 4).
sundes, rasch wachsendes Kind, aber nichtsdesto-
trotz ein Kind. Die mit dieser Jugend einhergehen-
den Vorteile zeigen sich auch in diesem Buch. Da 1.2 W
elche Arten von Forschung
die Biopsychologie nicht auf eine lange Geschich-
te zurückblicken kann, können Sie schnell in die kennzeichnen den
spannende aktuelle Forschung eintauchen. biopsychologischen Ansatz?
Die Biopsychologie ist breit gefächert und viel-
1.1.5 D
ie Beziehung der Biopsycho- fältig. Biopsychologinnen und -psychologen un-
logie zu anderen Disziplinen der tersuchen die unterschiedlichsten Phänomene
und sie verfolgen ihre Forschungsziele mit den
Neurowissenschaft
unterschiedlichsten Ansätzen. In diesem Kapitel
Neurowissenschaft ist Teamarbeit und Biopsycho- werden im Folgenden drei wichtige Dimensio-
loginnen und -psychologen spielen eine wichtige nen beschrieben, entlang derer biopsychologische
Rolle im Team (siehe Allbright, Kandel & Posner, Forschung variiert. Sie kann am Menschen oder
28
1.2 Welche Arten von F orschung kennzeichnen den b
iopsychologischen Ansatz?
an nichtmenschlichen Probanden durchgeführt tens sind sowohl das Gehirn als auch das Verhal-
werden, sie kann in Form von Experimenten oder ten von Versuchstieren weniger komplex, sodass
durch nicht-experimentelle Studien realisiert Untersuchungen an nichtmenschlichen Spezies
werden und sie kann entweder grundlagenorien- grundlegende Gehirn-Verhaltens-Interaktionen
tiert oder angewandt sein. wahrscheinlicher aufdecken können. Der zweite
Vorteil ist, dass dieser vergleichende Ansatz, bei
dem biologische Prozesse durch den Vergleich
1.2.1 Versuchspersonen und verschiedener Spezies erforscht werden, häufig
Versuchstiere zu neuen Einsichten führt. So kann zum Beispiel
der Vergleich des Verhaltens von Arten, die über
Menschen und andere Tiere sind Gegenstand bio-
eine Großhirnrinde verfügen, mit Arten, die keine
psychologischer Forschung. Als Versuchstiere
haben, wertvolle Hinweise über kortikale Funkti-
werden am häufigsten Mäuse und Ratten verwen-
onen liefern. Der dritte Vorteil besteht darin, dass
det, aber auch Katzen, Hunde und nichtmensch-
an Labortieren Forschung durchgeführt werden
liche Primaten werden oft untersucht.
kann, die aus ethischen Gründen am Menschen
Biopsychologische Untersuchungen an Men- nicht möglich ist. Das soll nicht heißen, dass die
schen haben im Vergleich zu Untersuchungen an Tierforschung keinem strengen ethischen Kodex
anderen Tieren einige Vorteile: Menschen kön- unterliegt (siehe Blakemore et al., 2012) – sie tut
nen Instruktionen befolgen und sie können über es. Allerdings gibt es für die Tierforschung weni-
ihr subjektives Erleben berichten. Zudem ist im ger ethische Einschränkungen als für die Human-
Gegensatz zu Versuchstieren meist keine Unter- forschung.
bringung erforderlich. Humanforschung ist daher
Glücklicherweise gehen die meisten Biopsycho-
gegenüber der Tierforschung häufig billiger. Tier-
loginnen und -psychologen sehr verantwortungs-
haltung ist nur dann akzeptabel, wenn sie den
voll mit ihren Probanden um, egal ob diese ihrer
höchsten Standards entspricht. Dies bedingt hohe
eigenen Spezies angehören oder nicht. Gleichwohl
Unterhaltskosten, was wiederum Tierforschung
wird die Beurteilung ethischer Fragen nicht dem
für viele Labors unerschwinglich macht, außer für
Ermessen eines einzelnen Forschenden überlas-
sehr gut finanzierte Forschungseinrichtungen.
sen. Biopsychologische Forschung jeder Art, ob
Der größte Vorteil, Menschen zu untersuchen, be- sie menschliche oder nichtmenschliche Probanden
steht – wenn man die Komplexität menschlicher betrifft, wird von unabhängigen Kommissionen
Gehirnfunktionen verstehen will – sicherlich da- entsprechend strikter ethischer Richtlinien über-
rin, dass sie ein menschliches Gehirn haben. Man wacht: „Forscher können sich nicht der folgenden
könnte sich in der Tat fragen, warum Biopsycho- Logik entziehen: Wenn die Tiere, die wir untersu-
loginnen und -psychologen überhaupt Tierfor- chen, sinnvolle Modelle unserer eigenen, höchst
schung betreiben. Die Antwort liegt in der evolu- komplexen Handlungen sind, dann müssen wir sie
tionären Kontinuität des Gehirns begründet. Die so respektieren, wie wir unsere eigenen Empfin-
Gehirne von Menschen und anderen Säugetieren dungen respektieren.“ (Ulrich, 1991, S. 197)
gleichen sich in vielen fundamentalen Merkmalen
Wenn Sie sich Gedanken über die Ethik biopsy-
und unterscheiden sich hauptsächlich in der Grö-
chologischer Forschung an Versuchstieren ma-
ße und im Ausmaß der kortikalen Entwicklung.
chen, sind Sie nicht allein. Auch viele Forschende
Mit anderen Worten, die Unterschiede zwischen
ringen mit verschiedenen Aspekten dieser Prob-
menschlichen Gehirnen und denen verwandter
lematik und stellen sich immer wieder die Frage,
Spezies sind eher quantitativ als qualitativ, und
ob der potenzielle Erkenntnisgewinn einer Studie
somit lassen sich viele der Prinzipien der mensch-
das Leid der Versuchstiere überwiegt.
lichen Gehirnfunktion aus Studien an Tieren ab-
leiten (siehe Hofman, 2014; Katzner & Weigelt, Wenn Menschen nach ihrer Meinung zu Tierversu-
2013; Krubitzer & Stolzenberg, 2014). Ein wich- chen gefragt werden, ordnen sie sich meist einem
tiger Unterschied zwischen Versuchspersonen vom zwei Lagern zu: (1) Personen, die Tierversu-
und -tieren liegt darin, dass Erstere freiwillig an che grundsätzlich befürworten, wenn – und nur
biopsychologischen Studien teilnehmen. Dies ist wenn – sowohl das Leid der Tiere minimiert wird
ein wesentlicher Grundsatz, der in der Studien- als auch der potenzielle Nutzen für die Mensch-
planung berücksichtigt werden muss. heit nicht mit anderen Methoden erreicht werden
kann; (2) Personen, die Tierversuche ablehnen, da
Umgekehrt haben nichtmenschliche Probanden
das Leid der Tiere nicht durch den potenziellen
im Vergleich zu menschlichen Probanden für die
Gewinn für die Menschheit aufgewogen werden
biopsychologische Forschung drei Vorteile. Ers-
kann. Wo positionieren Sie sich in dieser Debatte?
29
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
Da die biopsychologische Forschung an Versuchs- mente die fast alleinige Grundlage für das Wissen
tieren umstritten ist, gibt es hohe Hürden für die sind, das die Basis unserer modernen Lebensart
Durchführung entsprechender Studien. Diese ist. Es ist paradox, dass eine Methode, die so kom-
müssen immer von einer unabhängigen Kommis- plexe Leistungen hervorbringt, selbst so einfach
sion, der Personen mit unterschiedlichen fachli- ist. Um ein Experiment an lebenden Versuchs-
chen Hintergründen und Weltanschauungen an- personen durchzuführen, legt der Experimentator
gehören, vorab genehmigt werden. Die ethische oder die Experimentatorin zuerst zwei oder mehr
Beurteilung von Tierstudien erfordert eine sehr Bedingungen fest, unter denen die Personen getes-
genaue Begründung des Forschungsziels und der tet werden. Normalerweise werden unter jeder Be-
eingesetzten Methoden und sie erfolgt auf Basis dingung verschiedene Probandengruppen getestet
des sogenannten 3R-Prinzips. Die 3R stehen für (Intergruppen-Versuchsplan; „between-subjects
Reduktion („Reduction“), Verfeinerung („Refine- design“), manchmal ist es aber auch möglich, die-
ment“) und Ersatz („Replacement“). Reduktion selbe Probandengruppe unter jeder Bedingung zu
bezieht sich auf Bemühungen, die Zahl der in der testen (Intragruppen-Versuchsplan; „within-sub-
Forschung verwendeten Tiere grundsätzlich zu jects design“). Der Experimentator oder die Ex-
reduzieren. Verfeinerung meint die Verbesserung perimentatorin weist die Versuchspersonen den
der Haltungs- und Experimentalmethoden, um Bedingungen zu, führt die experimentellen Ma-
die Belastung der Tiere auf das unerlässliche Mi- nipulationen durch und misst das Ergebnis. Da-
nimum zu beschränken. Ersatz meint schließlich bei sorgt er oder sie dafür, dass nur ein relevanter
das Ersetzen von Studien an Versuchstieren durch Unterschied zwischen den zu vergleichenden Be-
alternative Techniken wie etwa das Experimen- dingungen besteht. Dieser Unterschied zwischen
tieren an Zellkulturen oder die Verwendung von den Versuchsbedingungen wird als unabhängige
Computermodellen. Variable (UV) bezeichnet. Die Variable, die im
Experiment gemessen wird, um den Effekt der
Eines der frühesten Beispiele für den Ersatz von unabhängigen Variablen zu erfassen, wird ab-
Versuchstieren ist der heute allgegenwärtige Ein- hängige Variable (AV) genannt. Wenn ein Experi-
satz von Crashtest-Dummys in der Automobilin- ment korrekt durchgeführt wird, dann muss jeder
dustrie. Vor dem Aufkommen dieser technischen Unterschied zwischen den Bedingungen, der sich
Hilfsmittel wurden manchmal lebende Schweine in der abhängigen Variable zeigt, kausal durch die
als Passagiere in Crashtests verwendet. Dieses unabhängige Variable bedingt sein.
Beispiel zeigt eindrücklich, dass sich unsere Vor-
stellungen darüber, wann Tierversuche ethisch Warum ist es so wichtig, dass sich die Versuchs-
vertretbar sind, ständig ändern. Heutzutage, da bedingungen – außer in der unabhängigen Vari-
Dummys eine brauchbare Alternative darstel- able – nicht unterscheiden? Der Grund ist, dass
len, würde niemand mehr auf die Idee kommen, es bei mehreren Unterschieden zwischen den
Schweine für Crashtests zu verwenden. Ähn- Bedingungen schwierig ist festzustellen, ob die
lich verhält es sich auch mit anderen Bereichen unabhängige Variable oder ein unbeabsichtigter
der Tierforschung und es wäre denkbar, dass die Unterschied – der als konfundierende Variable
jüngste Entwicklung komplexer Computermodel- bezeichnet wird – zu den in der abhängigen Vari-
le nichtmenschlicher und menschlicher Gehirne ablen beobachteten Effekten geführt hat. Die expe-
(siehe Frackowiak & Markram, 2015) die biopsy- rimentelle Methode ist zwar konzeptuell einfach,
chologische Forschung bereits zu Ihren Lebzeiten die Eliminierung aller konfundierenden Variablen
grundsätzlich verändern könnte. kann aber ziemlich schwierig sein. Die Leserinnen
und Leser von Forschungsartikeln müssen daher
immer darauf achten, ob die Experimentatorinnen
1.2.2 E
xperimente und nicht- und Experimentatoren konfundierende Variablen
experimentelle Studien übersehen haben könnten.
Biopsychologische Forschung umfasst sowohl Anhand eines Experiments von Lester und Gor-
experimentelle als auch nicht-experimentelle Stu- zalka (1988) lässt sich sehr gut veranschaulichen,
dien. Zwei häufige Arten nicht-experimenteller wie konfundierende Variablen durch ein gutes
Studien sind quasi-experimentelle, korrelative experimentelles Design verhindert werden kön-
Studien sowie Fallstudien. nen. In diesem Experiment wurde der sogenann-
te „Coolidge-Effekt“ demonstriert (siehe Lucio et
Experimente. Das Experiment ist die Methode,
al., 2014; Tlachi-López et al., 2012). Unter dem
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur
Coolidge-Effekt versteht man die Beobachtung,
Aufdeckung von Ursache-Wirkungs-Zusammen-
dass nach Kopulation mit einem Sexualpartner
hängen verwenden. Man kann sagen, dass Experi-
30
1.2 Welche Arten von F orschung kennzeichnen den b
iopsychologischen Ansatz?
das männliche Geschlecht nicht mehr zu einer ge-Effekt bei Weibchen nicht auftritt. Das Problem
weiteren Kopulation mit diesem Sexualpartner besteht nach Lester und Gorzalka darin, dass die
fähig ist, jedoch eine Kopulation mit einem neu- Männchen der meisten Säugetierarten sexuell
en Sexualpartner erfolgen kann (siehe Abbil- schneller ermüden als die Weibchen. Dadurch
dung 1.2). Bevor Sie sich als Leserin oder Leser sind Versuche, den Coolidge-Effekt bei Weibchen
nun wilden Fantasien hingeben, sollte betont wer- zu demonstrieren, immer mit der Ermüdung der
den, dass es sich bei den Probanden in der Studie Männchen konfundiert. Wenn also einem Weib-
von Lester und Gorzalka um Hamster handelte chen inmitten der Kopulation ein neuer Sexual-
und nicht um studentische Versuchspersonen. partner präsentiert wird, so kann die dadurch
ausgelöste Zunahme der sexuellen Empfänglich-
keit des Weibchens ein echter Coolidge-Effekt
sein oder eine Reaktion auf die größere sexuelle
Energie des neuen Männchens. Da weibliche Säu-
getiere normalerweise nur wenig sexuelle Ermü-
dung zeigen, ist diese konfundierende Variable für
den Nachweis des Coolidge-Effekts bei Männchen
kein ernstes Problem.
31
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
32
1.2 Welche Arten von F orschung kennzeichnen den b
iopsychologischen Ansatz?
bedingungen betrachtet, aber sie ermöglichen oft auf andere Fälle übertragen werden können. Da
ein tiefergehendes Bild, als dies Experimente oder sich Menschen voneinander sowohl in ihrer Ge-
Quasi-Experimente tun. Außerdem sind sie eine hirnfunktion als auch in ihrem Verhalten unter-
hervorragende Methode, um überprüfbare Hypo- scheiden, ist es wichtig, skeptisch gegenüber jeder
thesen zu generieren. Allerdings haben alle Fall- biopsychologischen Theorie zu sein, die nur auf
studien ein großes Problem: ihre Generalisier- einigen wenigen Fallstudien basiert.
barkeit, also das Ausmaß, in dem die Ergebnisse
Camillo Golgi und Santiago Ramón y Cajal 1906 Forschung über die Struktur des Nervensystems
Charles Sherrington und Edgar Adrian 1932 Entdeckungen zu Funktionen der Neurone
Henry Dale und Otto Loewi 1936 Entdeckungen zur Übertragung von Nervenimpulsen
Joseph Erlanger und Herbert Gasser 1944 Forschung über die Funktionen einzelner Nervenfasern
Walter Hess 1949 Forschung über die Rolle des Gehirns bei der Kontrolle des Verhaltens
John Eccles, Alan Hodgkin und Andrew Huxley 1963 Forschung über die ionischen Grundlagen der neuronalen Übertragung
Ragnor Granit, Haldan Hartline und George Wald 1967 Erforschung der Chemie und Physiologie des Sehens
Bernhard Katz, Ulf von Euler und Julius Axelrod 1970 Entdeckungen im Zusammenhang mit der synaptischen Übertragung
Karl von Frisch, Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen 1973 Erforschung des Verhaltens von Tieren
Roger Guillemin und Andrew Schally 1977 Entdeckungen im Zusammenhang mit der Hormonproduktion des Gehirns
Roger Sperry 1981 Forschung über die Unterschiede zwischen den Hemisphären des Gehirns
David Hubel und Torsten Wiesel 1981 Forschung über Neurone des visuellen Systems
Rita Levi-Montalcini und Stanley Cohen 1986 Entdeckung und Erforschung von neuralen Wachstumsfaktoren
Alfred Gilman und Martin Rodbell 1994 Entdeckung von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren
Christiane Nüsslein-Volhard, Eric F. Wieschaus und 1995 Forschung über die genetische Steuerung der Embryonalentwicklung
Edward B. Lewis
Arvid Carlsson, Paul Greengard und Eric Kandel 2000 Entdeckungen zur synaptischen Übertragung
Paul C. Lauterbur und Peter Mansfield 2003 Forschung über die Grundlagen der Kernspintomographie
Linda Buck und Richard Axel 2004 Forschung zum olfaktorischen System
John O’Keefe, May-Britt Moser und Edvard Moser 2014 Forschung über das Positionierungssystem des Gehirns
Jeffrey Hall, Michael Rosbach und Michael Young 2017 Entdeckungen zu den molekularen Mechanismen der Kontrolle circadianer
Rhythmik
David Julius und Ardem Patapoutian 2021 Entdeckungen der menschlichen Rezeptoren für Temperatur- und
Berührungsempfinden
33
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
1.2.3 A
ngewandte Forschung und Tabelle 1.1 listet chronologisch Nobelpreise auf,
Grundlagenforschung die für Forschungsarbeiten mit Bezug zu Gehirn
oder Verhalten vergeben wurden. Diese Liste soll
Biopsychologische Forschung kann entweder Ihnen einen groben Eindruck vermitteln, wel-
grundlagenbezogen oder angewandt sein. Bei- che offizielle Anerkennung die Verhaltens- und
de Forschungsrichtungen unterscheiden sich in Gehirnforschung genießt – sie ist nicht dazu ge-
mancherlei Hinsicht, aber weniger in ihren Eigen- dacht, auswendig gelernt zu werden. Später in
schaften als in den Motiven der Forschenden, die diesem Kapitel, wenn es um die Bewertung von
sie durchführen. Grundlagenforschung ist haupt- Forschung geht, werden Sie noch erfahren, dass
sächlich durch die Neugier der Forschenden mo- das Nobelpreiskomitee keineswegs unfehlbar war.
tiviert – sie wird allein mit dem Ziel des Wissens-
erwerbs durchgeführt. Im Gegensatz dazu hat
angewandte Forschung das Ziel, einen direkten
Nutzen für die Menschheit zu erbringen.
1.3 W
elche Teilbereiche hat die
Biopsychologie?
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
sind der Ansicht, dass die Grundlagenforschung Wie Sie nun bereits wissen, gibt es mehrere, grund-
letztendlich von größerem praktischen Nutzen sein legend verschiedene Ansätze biopsychologischer
wird als die angewandte Forschung. Ihrer Meinung Forschung. Biopsychologinnen und -psychologen
nach lassen sich aus einem Verständnis grundle- mit denselben Forschungsansätzen neigen dazu,
gender Prinzipien problemlos Anwendungen ab- ihre Forschung in denselben Zeitschriften zu pu-
leiten. Bemühungen, direkt zu Anwendungen zu blizieren, dieselben wissenschaftlichen Kongresse
gelangen, ohne zuerst ein grundlegendes Verständ- zu besuchen und denselben wissenschaftlichen Or-
nis gewonnen zu haben, halten sie für kurzsichtig. ganisationen anzugehören. Diejenigen Forschungs-
Natürlich müssen Forschungsprojekte nicht kom- ansätze der Biopsychologie, die besonders stark
plett grundlagen- oder anwendungsbezogen sein, gewachsen sind und sich gut entwickelt haben,
viele Forschungsprogramme beinhalten Elemente werden im Allgemeinen als abgrenzbare Bereiche
aus beiden Ansätzen. Außerdem wird Grundla- anerkannt. Dieser Abschnitt soll Ihr Verständnis
genforschung oft zum Inhalt translationaler For- der Biopsychologie und ihrer Vielfältigkeit vertie-
schung, Forschung, die darauf abzielt, die Befunde fen, indem sechs ihrer Hauptbereiche vorgestellt
der Grundlagenforschung nutzbar zu machen (sie- werden (siehe Abbildung 1.4 (1) Physiologische
he Howells, Sena & Macleod, 2014). Psychologie, (2) Psychopharmakologie, (3) Neuro-
psychologie, (4) Psychophysiologie, (5) Kognitive
Ein wichtiger Unterschied zwischen Grundlagen-
und angewandter Forschung besteht darin, dass
die Grundlagenforschung anfälliger für politische
Launen und Regularien ist. Politikerinnen und Physiologische
Politiker und die wählende Öffentlichkeit kön- Psychologie
nen oft nur schwer verstehen, warum Forschung
ohne unmittelbaren praktischen Nutzen unter-
stützt werden sollte. Wenn es nach Ihnen ginge, Vergleichende
Psychopharmakologie
würden Sie Millionen von Euro bereitstellen zur Psychologie
34
1.3 Welche Teilbereiche hat die Biopsychologie?
35
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
Der Fall des Herrn R., ein Student mit Hirnschädigungen, der zur Architektur wechselte
Herr R. war ein 21-jähriger ausgezeichneter Student. Eines Tages hatte er einen Autounfall, bei dem er mit seinem Kopf
auf das Armaturenbrett schlug. Nach dem Unfall verschlechterten sich seine Noten, aus dem ausgezeichneten Studen-
ten wurde ein mittelmäßiger Student. Er hatte vor allem Schwierigkeiten, seine Semesterarbeiten fertigzustellen. Nach
einem schwierigen Jahr an der Universität kam er schließlich zu einer neuropsychologischen Begutachtung, die einige
erstaunliche Erkenntnisse erbrachte.
Herr R. gehörte zu dem Drittel von Linkshändern, bei dem die Sprachfunktionen in der rechten anstelle der linken He-
misphäre repräsentiert sind. Zudem besaß Herr R. zwar einen überdurchschnittlichen Intelligenz-Quotienten (IQ), sein
verbales Gedächtnis und seine Lesegeschwindigkeit waren jedoch nur unterer Durchschnitt, was für eine Person mit
seiner Intelligenz und Bildung äußerst ungewöhnlich ist.
Der Neuropsychologe schlussfolgerte, dass sein rechter Temporallappen möglicherweise durch den Autounfall beschä-
digt wurde, was zu einer Beeinträchtigung seiner Sprachfähigkeiten führte. Er empfahl Herrn R. eine Berufsausbildung,
für die keine höheren verbalen Gedächtnisleistungen erforderlich sind. Dieser Empfehlung entsprechend wechselte
Herr R. sein Studienfach und begann mit Erfolg ein Architekturstudium.
gesunder
Kontroll-
probant
C
S1
drei
S2
verschiedene
schizophrene
Probanden
S3
Abbildung 1.5: Augenbewegungen eines gesunden Probanden (oben) und dreier Patienten mit Schizophrenie (unten) beim Verfolgen eines
Pendels.
Adaptiert nach Iacono, W. G. und Koenig, W. G., 1983.
36
1.3 Welche Teilbereiche hat die Biopsychologie?
Die sechs Hauptbereiche der Biopsychologie Beispielhafte Beiträge dieser Ansätze zur Gedächtnisforschung
Physiologische Psychologie: Untersuchung der neuro- Physiologische Psychologinnen und Psychologen haben den Beitrag einer bestimm-
nalen Mechanismen des Verhaltens durch die Manipu- ten Hirnregion, des Hippocampus, an Gedächtnisleistungen untersucht, indem sie
lation des Nervensystems von Tieren in kontrollierten diesen bei Ratten chirurgisch entfernt und im Anschluss daran die Leistung der Ratten
Experimenten. in verschiedenen Gedächtnisaufgaben untersucht haben.
Psychopharmakologie: Untersuchung der Wirkung von Psychopharmakologinnen und -pharmakologen haben versucht, die Gedächtnisleis-
Pharmaka und Drogen auf Gehirn und Verhalten. tung von Patientinnen und Patienten mit Morbus Alzheimer durch die Gabe bestimm-
ter Substanzen, welche die Neurochemie des Gehirns verändern, zu verbessern.
Neuropsychologie: Untersuchung der psychologischen Neuropsychologinnen und -psychologen konnten zeigen, dass Patientinnen und
Auswirkungen von Dysfunktionen des Gehirns an Patienten mit Schädigungen des Hippocampus sowie benachbarter Hirnregionen
menschlichen Patientinnen und Patienten. unfähig waren, neue Erinnerungen zu bilden.
Psychophysiologie: Untersuchung der Beziehung Psychophysiologinnen und -physiologen fanden heraus, dass vertraute Gesichter
zwischen physiologischer Aktivität und psychologi- die üblichen Veränderungen in der Aktivität des autonomen Nervensystems hervor-
schen Prozessen am Menschen mittels nichtinvasiver rufen, selbst bei Personen mit Gehirnschädigung, die angaben, dass sie kein Gesicht
physiologischer Messungen. erkennen konnten.
Kognitive Neurowissenschaft: Erforschung der Kognitive Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben bildgebende
neuronalen Mechanismen der menschlichen Kognition, Verfahren dazu verwendet, die Aktivitätsveränderungen in verschiedenen Teilen des
hauptsächlich unter Verwendung funktioneller Bild- Gehirns sichtbar zu machen, die bei menschlichen Versuchspersonen während der
gebung. Ausführung von Gedächtnisaufgaben auftreten.
Vergleichende Psychologie: Erforschung der Evolution, Vergleichende Psychologinnen und Psychologen haben nachgewiesen, dass Vogel-
Genetik und Adaptivität des Verhaltens, hauptsächlich arten, die Samenvorräte verstecken, größere Hippocampi haben, was bestätigt, dass
unter Verwendung der vergleichenden Methode. der Hippocampus für das Ortsgedächtnis wichtig ist.
Tabelle 1.2: Die sechs Hauptbereiche der Biopsychologie mit beispielhaften Beiträgen zur Gedächtnisforschung
37
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
der Forschenden untersucht Verhalten im Labor, kann, wenn die wissenschaftliche Zusammen-
andere verfolgen einen ethologischen Ansatz und arbeit auf der Strecke bleibt und invalide Schluss-
untersuchen das Verhalten von Tieren in ihrer na- folgerungen gezogen werden.
türlichen Umgebung.
Abschließend sei noch einmal erwähnt, dass der 1.4.1 Konvergierende Arbeitsweise:
Zweck dieses Abschnitts darin lag, die Vielfalt
Wie kooperieren Biopsycho
der Biopsychologie durch die Beschreibung ihrer
sechs wichtigsten Bereiche aufzuzeigen. Diese loginnen und -psychologen?
sind nochmals in Tabelle 1.2 zusammengefasst. Da jeder der sechs biopsychologischen For-
Aktuelle Fortschritte innerhalb dieser Bereiche schungsansätze seine eigenen Stärken und
werden in den nachfolgenden Kapiteln darge- Schwächen hat und da die Mechanismen, mit
stellt. denen das Gehirn das Verhalten kontrolliert, so
komplex sind, lassen sich wichtige biopsycholo-
gische Forschungsfragen kaum durch ein einziges
1.4 W
ie arbeiten Biopsycho Experiment und nicht einmal durch eine Reihe
von Experimenten, die denselben allgemeinen
loginnen und -psychologen? Ansatz verfolgen, lösen. Wissenschaftlicher Fort-
In diesem Kapitel wird beschrieben, wie For- schritt ist am wahrscheinlichsten, wenn verschie-
schung in der Biopsychologie stattfindet. Zu- dene Ansätze so auf ein einziges Problem ange-
nächst erfahren Sie, wie Biopsychologinnen und wandt werden, dass die Stärken eines Ansatzes
-psychologen zusammenarbeiten und welche Be- die Schwächen der anderen kompensieren. Dieses
deutung diese Zusammenarbeit für die Weiterent- kombinierte Herangehen wird als konvergierende
wicklung des Fachs hat. Anschließend wird be- Arbeitsweise bezeichnet (siehe Thompson, 2005).
handelt, wie Rückschlüsse auf Gehirnfunktionen Bedenken Sie z.B. die relativen Stärken und
gezogen werden können, die selbst nicht direkt Schwächen von Neuropsychologie und Physio-
beobachtbar sind. Dies sind wichtige Komponen- logischer Psychologie bei der Untersuchung der
ten der biopsychologischen Forschung und Sie psychologischen Auswirkungen von Verletzun-
werden im Weiteren sehen, was alles schiefgehen gen des menschlichen Großhirns. Hier liegt die
38
1.4 Wie arbeiten Biopsychologinnen und -psychologen?
Stärke des neuropsychologischen Ansatzes darin, auch gezeigt werden, dass Alkohol die Entwick-
dass er sich unmittelbar mit den Patientinnen und lung von Gehirnschädigungen bei Ratten mit ei-
Patienten befasst, während seine Schwäche darin nem Thiamindefizit beschleunigt, was auf einen
besteht, dass dieser Fokus auf den Menschen kei- zusätzlichen direkten neurotoxischen Effekt hin-
ne Experimente erlaubt. Im Gegensatz dazu ist es weist (Ridley, Draper & Withall, 2013).
die Stärke der Physiologischen Psychologie, dass
die Vorteile der experimentellen Methode und Die Kernaussage dieses Abschnitts über das Kor-
der neurowissenschaftlichen Techniken in der sakow-Syndrom ist, dass Fortschritte in der Bio-
Tierforschung voll zum Tragen kommen können. psychologie normalerweise durch konvergieren-
Ihre Schwäche hingegen ist, dass die Bedeutung de Arbeitsweisen erzielt werden – in diesem Fall
von Befunden aus der Tierforschung für mensch- durch die Konvergenz von neuropsychologischen
liche neuropsychologische Defizite immer infrage Fallstudien (an Korsakow-Patientinnen und -Pa-
gestellt werden kann (siehe Couzin-Frankel, 2013; tienten), Quasi-Experimenten am Menschen (Ver-
Readon, 2016). Hier wird klar, dass sich diese bei- gleich von Personen mit Alkoholabhängigkeit und
den Forschungsansätze sehr gut ergänzen, zusam- solchen, die keinen oder wenig Alkohol trinken)
men können sie Fragen beantworten, auf die ein und kontrollierten Experimenten an Versuchstie-
Ansatz allein keine Antwort finden würde. ren (Vergleich von Ratten mit Thiamindefizit und
Kontrolltieren). Die Stärke der Biopsychologie liegt
Um zu prüfen, wie diese konvergierende Arbeits- in der Vielfalt ihrer Methoden und Ansätze. Das
weise tatsächlich realisiert wird, kommen wir bedeutet auch, dass es für eine Bewertung biopsy-
noch einmal auf den Fall Jimmie G. zurück. Die chologischer Behauptungen selten ausreicht, die
neuropsychologische Störung, die bei Jimmie vor- Befunde eines einzigen Experiments oder auch ei-
lag, wurde erstmals im späten 19. Jahrhundert von ner Versuchsreihe, die auf derselben Methode oder
dem russischen Arzt Sergei Korsakow beschrie- demselben Ansatz beruht, heranzuziehen.
ben und später als Korsakow-Syndrom bekannt.
Das Hauptsymptom ist ein schwerer Gedächtnis- Was hat nun diese Forschung zum Korsakow-
verlust, wobei – wie Sie im Fall Jimmie G. gesehen Syndrom Jimmie G. und anderen Patientinnen
haben –, die betroffenen Personen oft anderweitig und Patienten wie ihm gebracht? Heute empfiehlt
recht leistungsfähig sind. man Menschen mit Alkoholabhängigkeit, mit dem
Trinken aufzuhören, und sie werden gleichzeitig
Da das Korsakow-Syndrom häufig bei Personen mit hohen Thiamindosen behandelt. Das Thiamin
mit schwerer Alkoholabhängigkeit auftritt, hielt schränkt die Entstehung weiterer Hirnschäden ein
man es zuerst für eine direkte Folge der toxischen und führt häufig zu einer leichten Verbesserung
Wirkung des Alkohols auf das Gehirn. Diese des klinischen Zustands. Unglücklicherweise
Schlussfolgerung zeigt eindrücklich, dass es nicht sind aber die bereits eingetretenen Dysfunktionen
ratsam ist, kausale Schlüsse aufgrund von Qua- des Gehirns weitgehend irreversibel.
si-Experimenten zu ziehen. Weitere Forschung
zeigte nämlich, dass das Korsakow-Syndrom vor
allem durch Hirnschädigungen infolge eines Man- 1.4.2 Wissenschaftliches Schluss
gels an Thiamin (Vitamin B1) bedingt ist. folgern: Wie erforschen
Erste Unterstützung erhielt die Thiaminmangel- Biopsychologinnen und
Interpretation des Korsakow-Syndroms durch die -psychologen die nicht
Entdeckung, dass das Syndrom auch bei mangel- beobachtbaren Tätigkeiten
ernährten Menschen, die wenig oder keinen Al- des Gehirns?
kohol tranken, auftrat. Zusätzliche Unterstützung
erbrachten Experimente, die Ratten mit einem Wissenschaftliches Schlussfolgern ist die grund-
Thiamindefizit mit ansonsten identischen Kon- legende Methode der Biopsychologie sowie
trolltieren verglichen. Die Ratten mit dem Thia- der meisten anderen Wissenschaften – und der
mindefizit zeigten ähnliche Gedächtnisdefizite Grund, warum Wissenschaft spannend ist und
und Muster von Gehirnschäden wie viele Men- Spaß macht. Dieser Abschnitt vermittelt weitere
schen mit Alkoholabhängigkeit (siehe Mumby, Einsichten in das Wesen der Biopsychologie, in-
Cameli & Glenn, 1999). Diese Personen entwi- dem das wissenschaftliche Schlussfolgern defi-
ckeln das Korsakow-Syndrom häufig, da ihre Ka- niert, illustriert und diskutiert wird.
lorienzufuhr hauptsächlich durch Alkohol erfolgt, Die wissenschaftliche Methode ist ein systemati-
welcher keine Vitamine enthält und zudem den scher Ansatz, um durch sorgfältige Beobachtung
Metabolismus des nur in geringen Mengen auf- bestimmte Dinge herauszufinden. Allerdings kön-
genommenen Thiamins stört. Allerdings konnte
39
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
nen viele Prozesse, die Forschende untersuchen, beobachtbar sind, logisch abzuleiten. So wie eine
nicht direkt beobachtet werden. Zum Beispiel Detektivin oder ein Detektiv sorgfältig Hinweise
wenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- zur Rekonstruktion eines unbeobachteten Verbre-
ler empirische (Beobachtungs-)Methoden an, um chens sammelt, so sammelt eine Biopsychologin
Eiszeiten, Schwerkraft, Verdunstung, Elektrizität oder ein Biopsychologe sorgfältig relevante Maße
und Kernfusion zu untersuchen – und nichts da- des Verhaltens und der neuronalen Aktivität, aus
von kann direkt beobachtet werden. Beobachtet denen die Natur der neuronalen Prozesse, die
werden können nur die Auswirkungen, nicht aber das Verhalten steuern, abgeleitet werden kann.
die Prozesse selbst. Die Biopsychologie unter- Die Tatsache, dass die neuronalen Mechanismen
scheidet sich in dieser Hinsicht nicht von ande- des Verhaltens nicht direkt beobachtbar sind und
ren Wissenschaften. Eines ihrer Hauptziele ist es, daher durch wissenschaftliches Schlussfolgern
durch empirische Methoden die nicht direkt be- untersucht werden müssen, lässt die biopsycho-
obachtbaren Prozesse zu charakterisieren, durch logische Forschung zu solch einer Herausforde-
die das Nervensystem Verhalten steuert. rung werden – und, wie bereits erwähnt, zu solch
einem Vergnügen.
Die empirische Methode, die Biopsychologin-
nen und -psychologen sowie andere Forschende Zur Illustration des wissenschaftlichen Schluss-
verwenden, um das Unbeobachtbare zu unter- folgerns soll hier ein Forschungsprojekt vorge-
suchen, wird wissenschaftliches Schlussfolgern stellt werden, an dem Sie sich beteiligen können.
genannt. Die Forschenden messen sehr sorgfältig Anhand einiger einfacher Beobachtungen Ihrer
entscheidende Ereignisse, die beobachtbar sind, visuellen Fähigkeiten unter verschiedenen Bedin-
um daraus die Natur von Ereignissen, die nicht gungen können Sie das Prinzip erschließen, nach
40
1.5 Kritisches Denken über biopsychologische Behauptungen
dem Ihr Gehirn die Bewegung von Abbildern auf genommen, als er anschließend versuchte, seine
der Retina in Bewegungswahrnehmungen umsetzt Augen zu bewegen? Er nahm eine Bewegung der
(siehe Abbildung 1.7). Eine Eigenschaft dieses stationären Umwelt in dieselbe Richtung wahr, in
Mechanismus wird sofort klar. Halten Sie Ihre die er seine Augen zu bewegen versuchte. Wenn
Hand vor Ihr Gesicht und bewegen Sie dann deren ein visuelles Objekt auf einen Teil der Retina pro-
Abbild über Ihre Retina, indem sie Ihre Augen, jiziert ist und es dorthin projiziert bleibt, obwohl
Ihre Hand oder beide gleichzeitig bewegen. Sie die Augen nach rechts bewegt werden, dann muss
werden feststellen, dass nur die Veränderungen sich das Objekt auch nach rechts bewegt haben.
des Netzhautbilds, die durch die Bewegung Ihrer Das bedeutet, als Merton Signale an seine Au-
Hand verursacht werden, zu einer Bewegungs- genmuskeln schickte, die Augen nach rechts zu
wahrnehmung führen, Bewegungen des Netzhaut- bewegen, nahm sein Gehirn an, dass die Augen-
bilds, die durch Ihre eigenen Augenbewegungen bewegung tatsächlich ausgeführt wurde, und es
produziert werden, dagegen nicht. Offensichtlich hat eine Bewegung der stationären Objekte nach
muss es in Ihrem Gehirn ein Gebiet geben, das die rechts wahrgenommen.
Bewegungen des Netzhautbilds überwacht und
davon die durch die Bewegung der eigenen Augen Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Biopsycho-
verursachten Abbildbewegungen subtrahiert, so- loginnen und -psychologen durch wissenschaft-
dass der Rest als Bewegung wahrgenommen wird. liches Schlussfolgern viel über die Aktivität des
Gehirns lernen können, ohne die Aktivität di-
Versuchen wir nun, die Art der Informationen rekt zu beobachten – und das können Sie auch.
über Ihre Augenbewegungen, die Ihr Gehirn zur Übrigens sind Neurowissenschaftlerinnen und
Bewegungswahrnehmung verwendet, näher zu -wissenschaftler immer noch dabei, die Art des
beschreiben. Versuchen Sie Folgendes: Schließen Rückkoppelungsmechanismus, der aufgrund der
Sie ein Auge und drehen Sie dann Ihr anderes Untersuchung von Hammond et al. erschlossen
Auge leicht nach oben, indem Sie sanft mit einer wurde, zu untersuchen – und sie haben unser Ver-
Fingerspitze auf Ihr unteres Augenlid drücken. ständnis mithilfe moderner neuronaler Aufzeich-
Was sehen Sie? Sie sehen alle Gegenstände in Ih- nungsmethoden verfeinert (z.B. Joiner et al., 2013;
rem Gesichtsfeld nach unten wandern. Warum ist Wurtz et al., 2011).
das so? Der Gehirnmechanismus, der für die Be-
wegungswahrnehmung verantwortlich ist, scheint
Augenbewegung nicht per se zu berücksichtigen. 1.5 K
ritisches Denken über
Vielmehr werden nur diejenigen Augenbewegun-
gen berücksichtigt, die aktiv durch neuronale Sig- biopsychologische
nale des Gehirns an die Augenmuskulatur erzeugt Behauptungen
werden, und nicht diejenigen, die passiv durch
externe Hilfsmittel verursacht werden (z.B. durch Wir alle haben schon gehört oder gelesen, dass wir
Ihre Finger). Als Ihr Auge passiv bewegt wurde, nur einen kleinen Teil unseres Gehirns wirklich
nahm Ihr Gehirn also an, dass es unbewegt blieb, verwenden, dass es wichtig ist, drei Mahlzeiten
und führte die Bewegung des Netzhautbilds auf am Tag zu essen, dass Intelligenz vererbt wird,
eine Bewegung der Gegenstände in Ihrem Ge- dass man mindestens acht Stunden Schlaf pro
sichtsfeld zurück. Nacht braucht, dass es ein Gen für Schizophrenie
gibt, dass Heroin eine besonders gefährliche (har-
Das visuelle System kann auch in die andere te) Droge ist und dass neurologische Erkrankun-
Richtung ausgetrickst werden. Anstatt die Augen gen mittels Gentechnik geheilt werden können.
passiv ohne Signal des Gehirns zu bewegen, kön- Dies sind nur einige weitverbreitete Behauptun-
nen die Augen auch stationär gehalten werden, gen über biopsychologische Phänomene (siehe
obwohl das Gehirn versucht, sie zu bewegen. Da Howard-Jones, 2014). Einige dieser Behauptungen
dieses Experiment mit einer Lähmung der Au- sind glaubhaft. Aber sind sie wahr? Wie kann man
genmuskulatur verbunden ist, können Sie nicht das herausfinden? Und wenn sie nicht wahr sind,
persönlich teilnehmen. Hammond, Merton und warum glauben so viele Menschen daran?
Sutton (1956) injizierten eine lähmende (bewe-
gungshemmende) Substanz in die Augenmusku- Wir hoffen, dass Sie lernen, zwischen falschen
latur ihres Probanden – das war Merton selbst. Behauptungen und aufregenden neuen Erkennt-
Die lähmende Substanz war der aktive Wirkstoff nissen zu differenzieren. Dieser letzte Abschnitt
von Curare, dem lähmenden Gift, mit dem eini- des Kapitels beginnt mit einer Vermittlung dieser
ge Ureinwohner Südamerikas ihre Blasrohrpfeile wichtigen Lektion.
beschichten. Was denken Sie, hat Merton wahr-
41
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
1.5.1 Evaluation biopsychologischer Der erste Schritt bei der Beurteilung der Gültigkeit
Behauptungen jeglicher wissenschaftlichen Behauptung besteht
darin festzustellen, ob die Behauptung und die
Wie Sie bereits erfahren haben, besteht ein wichti- dahinterstehende Forschung in einer angesehenen
ges Ziel dieses Buchs darin, Ihnen kreatives Den- wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen sind. Der
ken (produktiv und unkonventionell) über biopsy- Grund dafür ist, dass ein Artikel vor der Veröffent-
chologische Informationen beizubringen. Der erste lichung in einer angesehenen wissenschaftlichen
Schritt des kreativen Denkens besteht oft darin, die Zeitschrift von Expertinnen und Experten auf die-
Schwachstellen bestehender Meinungen und der sem Gebiet – normalerweise drei bis vier – begut-
zugrunde liegenden Evidenzen zu erkennen. Den achtet und als qualitativ hochwertig beurteilt wer-
Prozess, mit dem diese Schwächen identifiziert den muss. Tatsächlich veröffentlichen die besten
werden, nennt man kritisches Denken. Die Identi- wissenschaftlichen Zeitschriften nur einen klei-
fikation der Schwachstellen bestehender Überzeu- nen Teil der eingereichten Manuskripte. Gegen-
gungen ist einer der wichtigsten Startpunkte für über wissenschaftlichen Behauptungen, die diesen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, neue strengen Begutachtungsprozess nicht durchlaufen
kreative Ansätze anzunehmen. Dieser letzte Kapi- haben, sollten Sie besonders skeptisch sein.
telabschnitt soll die Entwicklung Ihres kreativen
Denkvermögens anstoßen, indem zwei Behauptun- Der folgende erste Fall behandelt eine unveröf-
gen beschrieben werden, die in der Geschichte der fentlichte Behauptung, die hauptsächlich durch
Biopsychologie eine wichtige Rolle gespielt haben. Nachrichtenmedien verbreitet wurde. Der zweite
Für beide Behauptungen war die zugrunde liegen- Fall betrifft eine Behauptung, die ursprünglich
de Evidenz aber sehr mangelhaft. Bemerkenswert durch publizierte Forschungsarbeiten unterstützt
ist, dass gesunder Menschenverstand genügt und wurde. Da beide Fälle Teil der Geschichte der Bio-
man kein Fachwissen haben muss, um die Schwä- psychologie sind, ist es leicht, sie im Nachhinein
chen dieser Behauptungen zu erkennen. zu beurteilen.
Für alle, die bei diesem sorgfältig arrangierten Ereignis anwesend waren, sowie für die meisten der Millionen, die später
darüber gelesen hatten, war Delgados Schlussfolgerung zwingend. Wenn eine Stimulation des Nucleus caudatus den
Angriff eines rasenden Stiers abbrechen konnte, dann musste der Nucleus caudatus ein „Zähmungszentrum“ sein. Es
wurde sogar vorgeschlagen, dass Menschen mit Psychopathie durch die Stimulation des Nucleus caudatus mittels im-
plantierter Elektroden effektiv behandelt werden könnten. Wie denken Sie darüber?
Analyse von Fall 1. Delgados Vorführung lieferte wenig bzw. keine Unterstützung für seine Schlussfolgerung. Eigent-
lich hätte es für jeden, der sich nicht durch die provokative Natur des von Delgado inszenierten Medienereignisses ge-
fangen nehmen ließ, offensichtlich sein sollen, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, wie eine Gehirnstimulation
den Angriff eines Stiers stoppen kann – und die meisten sind einfacher oder direkter und somit wahrscheinlicher als die
von Delgado vorgeschlagene Erklärung. Beispielsweise könnte die Stimulation beim Stier einfach Verwirrung, Schwin-
del, Übelkeit, Schläfrigkeit oder vorübergehende Blindheit bewirkt haben, anstatt seine Aggressivität zu reduzieren;
oder die Stimulation könnte schmerzhaft gewesen sein. Es ist völlig klar, dass eine Beobachtung, die auf so viele ver-
schiedene Weisen interpretiert werden kann, nicht zur Unterstützung einer bestimmten Interpretation herangezogen
werden kann. Wenn es mehrere Interpretationsmöglichkeiten für eine Verhaltensbeobachtung gibt, gilt die Regel, dass
die einfachste Erklärung die beste ist – diese Regel wird als Morgans Kanon bezeichnet (eine allgemeingültige Version
dieses „Sparsamkeitsprinzips“ ist als Ockhams Rasiermesser (Ockham’s razor) bekannt). Der folgende Kommentar
von Valenstein (1973) liefert eine vernünftige Bewertung von Delgados Demonstration:
42
1.5 Kritisches Denken über biopsychologische Behauptungen
Tatsächlich gibt es keinen guten Grund zu glauben, dass die Stimulation irgendeine direkte Wirkung auf die Aggres-
sionsneigung des Stieres hatte. Eine Analyse der Filmaufnahmen zeigt klar, dass der Angriff des Stieres gestoppt wurde,
weil er, solange die Stimulation andauerte, genötigt war, sich ständig im Kreis zu drehen. Nach Auswertung des Films
kann jede Wissenschaftlerin bzw. jeder Wissenschaftler mit Fachwissen in diesem Bereich nur den Schluss ziehen, dass
die Stimulation eine Nervenbahn aktiviert hatte, die Bewegung steuert. (S. 98)
rechter
Präfrontal-
lappen
linker
Präfrontal-
lappen
Abbildung 1.8: Die rechten und linken Präfrontallappen, deren Ver- Abbildung 1.9: Vorgehen bei der von Moniz und Lima entwickel-
bindungen mit dem übrigen Gehirn durch die präfrontale Lobotomie ten präfrontalen Lobotomie.
unterbrochen werden.
43
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
Aufgrund Moniz’ Behauptung, die präfrontale Chirurgie sei therapeutisch erfolgreich, kam es sehr schnell zu einer
weiten Verbreitung verschiedener Varianten der präfrontalen Psychochirurgie. Eine solche Variante war die transorbi-
tale Lobotomie, die in Italien entwickelt und in den späten 1940er-Jahren von Walter Freeman in den USA populär
gemacht wurde. Bei diesem Eingriff wurde ein Eispickel-ähnliches Instrument unter dem Augenlied eingeführt, mit ein
paar Hammerschlägen durch die Augenhöhle getrieben und in die Frontallappen gestoßen, wo es hin und her bewegt
wurde, um die Verbindungen zwischen den Präfrontallappen und dem übrigen Gehirn zu durchtrennen (siehe Ab-
bildung 1.10). Diese Operation wurde in chirurgischen Praxen häufig durchgeführt.
Analyse von Fall 2. So unglaublich es auch klingen mag, das von Moniz initiierte Programm der Psychochirurgie
(also Chirurgie am Gehirn zur Behandlung psychologischer Probleme) basierte größtenteils auf einer Beobachtung an
zwei Schimpansen in einer einzigen Situation. Moniz fehlte jegliches Verständnis für die Vielfalt von Gehirn und Ver-
halten – sowohl innerhalb als auch zwischen Spezies. Ein psychochirurgisches Behandlungsprogramm sollte niemals
initiiert werden, ohne zuvor die Auswirkungen des Eingriffs an einer großen Stichprobe von unterschiedlichen nicht-
menschlichen Säugetierarten sorgfältig untersucht zu haben. Dies zu unterlassen, ist nicht nur unklug, es ist auch
unethisch.
Eine zweite entscheidende Schwachstelle im Wissenschaftsfall „präfrontale Psychochirurgie“ war der Fehler von Moniz
und anderen, die Auswirkungen des chirurgischen Eingriffs nicht schon bei den ersten Patientinnen und Patienten
sorgfältig zu evaluieren (siehe Mashout, Walker & Matuza, 2005; Singh, Hallmayer & Illes, 2007). Die ersten Berichte
über den therapeutischen Erfolg der Operation beruhten auf dem Eindruck der Personen, die am wenigsten objektiv
waren – nämlich den Ärzten, die die Operation empfohlen hatten, sowie ihren Kollegen. Der Zustand der Patientinnen
und Patienten wurde häufig als gebessert beurteilt, wenn sie sich leichter führen ließen, und es wurden kaum An-
strengungen unternommen, wichtigere Aspekte ihrer psychologischen Anpassung zu beurteilen oder das Auftreten
negativer Nebenwirkungen zu dokumentieren.
Schließlich stellte sich heraus, dass die präfrontale Lobotomie kaum therapeutischen Nutzen hat, aber eine große Band-
breite unerwünschter Nebenwirkungen verursacht, wie z.B. sozial unangemessenes Verhalten, fehlende Voraussicht,
emotionale Abgestumpftheit, Epilepsie und Harninkontinenz. Daher wurde die präfrontale Lobotomie in vielen Teilen
der Welt aufgegeben – allerdings erst nachdem über 40.000 Patientinnen und Patienten allein in den USA lobotomiert
wurden. Und auch heute noch werden präfrontale Lobotomien in einigen Ländern durchgeführt.
Besonders besorgniserregend ist, dass nicht nur informierte und damit einverstandene Erwachsene mit der präfronta-
len Lobotomie „behandelt“ wurden. Howard Dully beschreibt in seinen Memoiren, wie er im Alter von zwölf Jahren
lobotomiert wurde (Dully & Fleming, 2007). Die Lobotomie wurde von seiner Stiefmutter arrangiert, sein Vater hatte
zugestimmt und Walter Freeman führte sie in zehn Minuten durch. Dully hat den größten Teil seines weiteren Lebens
in Anstalten, im Gefängnis und in betreuten Wohnheimen verbracht und sich gefragt, womit er die Lobotomie verdient
hatte und wie sehr sie für seinen bedauernswerten Lebensweg verantwortlich war. Spätere Recherchen ergaben, dass
Dully ein normales Kind war, mit einer Stiefmutter, die von ihrem Hass auf ihn besessen war. Tragisch ist, dass weder
der Vater noch die medizinische Profession ihn vor Freemans Eispickel schützten.
Einwandfreie wissenschaftliche Methoden wer- Erfreulicherweise hat die Biopsychologie aus den
den manchmal als unnötige Hindernisse auf dem Fehlern und falschen Schlussfolgerungen von
Weg von Patientinnen und Patienten, die nach Be- Delgado, Moniz, Freeman und anderen gelernt.
handlung suchen, und Therapeutinnen und The- Die sorgsame Umsetzung der wissenschaftlichen
rapeuten, die diese zur Verfügung stellen wollen, Methode und die Ableitung wohlbegründeter
angesehen. Die unvorhergesehenen Konsequen- Schlussfolgerungen sind in der modernen Biopsy-
zen der präfrontalen Lobotomie sollten uns aber chologie nahezu allgegenwärtig.
zur Vorsicht mahnen, Wissenschaft zugunsten
von Zweckmäßigkeit zu opfern. Nur durch Einhal- Sie stehen nun an der Schwelle, die erstaunliche
tung wissenschaftlicher Regeln können Forschen- und faszinierende Welt der Biopsychologie zu be-
de die Öffentlichkeit vor falschen wissenschaftli- treten. Hoffentlich wird Ihr Gehirn Freude daran
chen Behauptungen schützen (siehe Rousseau & haben, etwas über sich selbst zu lernen.
Gunia, 2016).
44
1.5 Kritisches Denken über biopsychologische Behauptungen
45
1 Biopsychologie als Neurowissenschaft
D A S W I C H T I G S T E I N K Ü R Z E
Dieses Kapitel hat drei der Hauptthemen dieses Buchs eingeführt, wobei kreatives Denken im
Vordergrund stand. Erstens haben Sie den kreativen Ansatz von Lester und Gorzalka zur Erfor-
schung des Coolidge-Effekts bei Weibchen kennengelernt. Dann haben Sie drei wichtige Konzepte
erarbeitet, die Ihnen helfen werden, biopsychologische Behauptungen zu bewerten: (1) die expe-
rimentelle Methode, (2) die konvergierende Arbeitsweise und (3) das wissenschaftliche Schluss-
folgern. Abschließend wurden Ihnen zwei biopsychologische Behauptungen vorgestellt, die früher
weitgehend anerkannt waren, und Sie haben gelernt, wie kritisches Denken zur Identifikation der
Schwachpunkte und zur Entwicklung kreativer neuer Interpretationen beiträgt.
Zudem haben Sie gelernt, dass zwei der anderen Hauptthemen dieses Buchs – klinische Implika-
tionen und die evolutionäre Perspektive – mit bestimmten Teilbereichen der Biopsychologie ver-
bunden sind. Klinische Implikationen ergeben sich am häufigsten aus neuropsychologischer, psy-
chopharmakologischer und psychophysiologischer Forschung und die evolutionäre Perspektive ist
ein Definitionsmerkmal der Vergleichenden Psychologie. Die zwei neuen Themen – Epigenetik und
Bewusstsein – werden Ihnen in den folgenden Kapiteln dieses Buches begegnen.
Antworten 1.1
(1) Neuropsychologie; (2) Psychophysiologinnen und -physiologen; (3) Physiologischen Psychologen;
(4) Psychopharmakologie; (5) Kognitive Neurowissenschaft; (6) Vergleichende Psychologinnen und Psy-
chologen.
46
Evolution, Genetik und Erfahrung
2
2.1 Von Dichotomien zu Interaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
LERNZIELE
2.4 Epigenetik der Entwicklung von Verhalten: Eine Interaktion zwischen genetischen Faktoren und Erfahrung
Erörtern Sie, welche Erkenntnisse für die Genetik des Verhaltens aus den frühen selektiven Züchtungs-
experimenten gewonnen wurden.
Erklären Sie, wie die klassischen Untersuchungen zur Phenylketonurie unser Verständnis der Genetik
des Verhaltens verbessert haben.
48
2.1 Von Dichotomien zu Interaktionen
trieren: (1) Ist Verhalten physiologisch oder psy- während der letzten Jahrhunderte. Heute wissen
chologisch bedingt? (2) Ist es vererbt oder wird es die meisten Menschen zwar, dass das menschli-
erlernt? Beide Fragen haben sich als irreführend che Verhalten eine physiologische Grundlage hat,
erwiesen, sie gehören aber zu den häufigsten Fra- aber viele halten noch an der dualistischen An-
gen, die in biopsychologischen Lehrveranstaltun- nahme fest, dass es eine Kategorie menschlicher
gen gestellt werden. Aus diesem Grund werden Tätigkeit gibt, die irgendwie über die Aktivität des
sie hier ausführlich behandelt. menschlichen Gehirns hinausgeht.
2.1.1 Ist Verhalten physiologisch oder 2.1.2 Ist Verhalten angeboren oder
psychologisch bedingt? gelernt?
Die Vorstellung, dass innermenschliche Vorgän- Die Neigung, in dichotomen Begriffen zu denken,
ge entweder physiologisch oder psychologisch betrifft auch die Art und Weise, wie Menschen
bedingt sind, hat in vielen Kulturen eine lange über die Entwicklung von Verhaltensfähigkeiten
Tradition. In der westlichen Kultur war lange Zeit denken. Gelehrte haben jahrhundertelang darü-
Wahrheit, was von der Kirche als wahr bestimmt ber debattiert, ob Menschen und Tiere ihre Ver-
wurde. Um 1400 begannen sich die Dinge aber zu haltensfähigkeiten ererbt oder durch Lernen er-
ändern. Hungersnöte, Seuchen und marodierende worben haben. Diese Debatte wird gewöhnlich als
Armeen, die im Mittelalter wiederholt über Euro- Anlage-Umwelt-Problem (nature-nurture issue)
pa hinwegfegten, wurden seltener, und das Inter- bezeichnet.
esse richtete sich auf Kunst, Handel und Bildung –
die Zeit der Renaissance (Wiedergeburt) begann Die meisten der frühen nordamerikanischen
(1400–1700). Einige Gelehrte der Renaissance be- Experimentalpsychologinnen und -psychologen
gnügten sich nicht damit, dem Diktat der Kirche waren völlig davon überzeugt, dass die Umwelt
zu folgen. Stattdessen begannen sie, Phänomene (Lernerfahrungen) die entscheidende Rolle spielt.
durch direkte Beobachtung zu erforschen – dies Das Ausmaß dieser Überzeugung spiegelt sich in
war die Geburt der modernen Wissenschaft. den oft zitierten Worten von John B. Watson wi-
der, dem Vater des Behaviorismus:
Ein Großteil der während der Renaissance an-
gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse Wir haben keinen wirklichen Beweis
widersprach den Vorschriften der Kirche. Dieser für die Vererbbarkeit von (Verhaltens-)
Konflikt wurde durch den bedeutenden franzö- Merkmalen. Ich wäre voller Zuversicht,
sischen Philosophen René Descartes gelöst. Des- dass die sorgfältige Erziehung eines ge-
cartes (1596–1650) schlug eine Philosophie vor, sunden, wohlgestalteten Babys, das einer
die – anschaulich gesprochen – einen Teil des langen Generationenfolge von Betrügern,
Universums der Wissenschaft und den anderen Mördern, Dieben und Prostituierten ent-
Teil der Kirche zusprach. Er argumentierte, dass stammt, letztendlich zu einem positiven
das Universum aus zwei Elementen aufgebaut Ergebnis führen wird. Wer hat Beweise, die
ist: (1) physische Materie, welche den Naturge- dagegen sprechen?
setzen unterworfen und somit legitimer Gegen- … Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlge-
stand wissenschaftlicher Untersuchungen ist, und stalteter Kinder und eine von mir gestal-
(2) menschlicher Geist (Seele, Selbst), welcher tete Welt, um sie großzuziehen, und ich
keine physische Substanz besitzt, menschliches garantiere, dass ich irgendeines zufällig
Verhalten kontrolliert, keinen Naturgesetzen un- herausgreife und so ausbilde, dass es zu
terliegt und somit der angemessene Wirkungs- jeder Art Spezialist wird, die ich wähle –
kreis der Kirche ist. Der menschliche Körper, ein- Arzt, Anwalt, Künstler, Kaufmann oder, ja,
schließlich des Gehirns, wurde vollständig dem auch ein Bettler oder Dieb. (Watson, 1930,
physischen Bereich zugeordnet, ebenso die Tiere. pp. 103-104)
Der kartesische Dualismus, als der Descartes´ Phi- Zur selben Zeit als die Experimentalpsychologie
losophie bekannt wurde, wurde von der römisch- in Nordamerika Fuß fasste, wurde die Ethologie
katholischen Kirche genehmigt und somit wurde (die Erforschung des Verhaltens von Tieren in
die Vorstellung, dass das menschliche Gehirn und freier Natur) zum dominanten Ansatz der Verhal-
der menschliche Geist getrennte Entitäten sind, tensforschung in Europa. Die europäische Etho-
weithin akzeptiert. Diese Annahme hat bis heute logie (z.B. von Frisch, Lorenz und Tinbergen)
überlebt, trotz des wissenschaftlichen Fortschritts konzentrierte sich, im Gegensatz zur nordameri-
49
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
kanischen Experimentalpsychologie, auf die Er- keiten besitzen (z.B. komplexe Problemlösefähig-
forschung des instinktiven Verhaltens (Verhalten, keiten), von denen ursprünglich angenommen
das bei allen Mitgliedern einer Spezies auftritt, wurde, dass sie rein psychologisch und daher rein
sogar wenn diese anscheinend keine Gelegenheit menschlich seien (siehe Bartal, Decety & Mason,
hatten, es zu lernen) und betonte die Rolle der Na- 2011). Die beiden folgenden Fallgeschichten il-
tur oder angeborener Faktoren bei der Verhaltens- lustrieren diese beiden Beweislinien. In beiden
entwicklung. Da instinktives Verhalten nicht ge- Fällen geht es um das Bewusstsein seiner Selbst
lernt ist, ging die frühe Ethologie davon aus, dass (Selbst-Bewusstheit), das gemeinhin als das zen-
es vollständig angeboren ist. Mit dieser Annahme trale Merkmal des menschlichen Geistes angese-
lag sie allerdings falsch, genauso falsch wie die hen wird (siehe Apps & Tsakiris, 2014).
frühe Experimentalpsychologie.
Der erste Fall basiert auf Oliver Sacks` (1985) Be-
richt über „den Mann, der aus dem Bett fiel“. Der
2.1.3 D
ie traditionellen Dichotomien Patient litt an Asomatognosie, einem Verlust der
Fähigkeit zu erkennen, dass ein Körperteil zum
passen nicht zur Biologie des
eigenen Körper gehört. Die Asomatognosie betrifft
Verhaltens normalerweise die linke Seite des Körpers und ent-
Den Debatten über „physiologisch oder psycholo- steht gewöhnlich aufgrund einer Schädigung des
gisch“ und „angeboren oder erworben“ liegt eine rechten Frontal- und Parietallappens (siehe Fein-
falsche Denkweise über die Biologie des Verhal- berg et al., 2010; siehe Abbildung 2.1). Der ent-
tens zugrunde. Die heutigen Forschungsfragen, scheidende Punkt hier ist, dass die Veränderungen
die den aktuellen Aufschwung der biopsycholo- in der Selbst-Bewusstheit dieses Patienten zwar
gischen Forschung lenken, gehen in eine ganz an- sehr komplex sind, aber eindeutig auf eine Gehirn-
dere Richtung (siehe Churchland, 2002). Was ist läsion zurückzuführen sind. Tatsächlich können
nun falsch an den alten Denkweisen und welche praktisch alle menschlichen Empfindungen durch
neuen Ansätze gibt es? Manipulationen am Gehirn erzeugt werden.
50
2.1 Von Dichotomien zu Interaktionen
Der Patient wurde aufgeregt und verzweifelt. Dr. Sacks versuchte, ihn zu beruhigen und ihm ins Bett zurück zu helfen.
Als letzten Versuch zur Beruhigung des Patienten stellte ihm Dr. Sacks die Frage, wo denn sein linkes Bein sei, wenn
das, das an ihm festgemacht ist, nicht seines sei. Der Patient wurde bleich und sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht
fallen. Er antwortete, dass er keine Ahnung habe, wo sein eigenes Bein sei – es sei verschwunden.
(Nachdruck mit der Erlaubnis von Simon & Schuster, Inc. and Pan Macmillan, London aus The Man Who Mistook His
Wife for a Hat and Other Clinical Tales by Oliver Sacks. Copyright © 1970, 1981, 1983, 1984, 1985 bei Oliver Sacks.)
Lage sind – in diesem Fall zu Selbst-Bewusstheit. Elefanten, Orang-Utans und Europäische Elstern,
Ihre Gehirne sind zwar weniger komplex als die um nur einige zu nennen. Wir Menschen bestehen
der Menschen, aber manche Tierarten sind trotz- den Spiegeltest erst ab einem Alter zwischen 15
dem zu komplexen psychologischen Prozessen fä- und 24 Monaten.
hig (siehe Gomez-Marin & Mainen, 2016).
Das Denken „Anlage oder Umwelt“ gerät in
Seit der Studie von Gallup haben viele Tierarten Schwierigkeiten. Die Geschichte der Anlage-Um-
den sogenannten „Spiegeltest“ (engl. „mirror self- welt-Dichotomie kann durch eine Paraphrasie-
recognition test“) bestanden, darunter Asiatische rung von Mark Twain zusammengefasst werden:
1 „Toward a Comparative Psychology of Mind“ by G. G. Gallup, Jr., American Journal of Primatology 2:237–248,
1983. Copyright © 1983 John Wiley & Sons, Inc.
51
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
„Gerüchte über ihren Tod sind stark übertrieben.“ durch die Interaktion beider Faktoren. Sobald Sie
Nach jeder Widerlegung taucht sie in einer leicht besser verstehen, wie genetische und Umweltfak-
modifizierten Form wieder auf. Als Erstes wurde toren interagieren, werden Sie die Unhaltbarkeit
nachgewiesen, dass auch andere Faktoren außer dieser Annahme klarer erkennen. Vorerst soll die
Genetik und Lernen die Entwicklung des Verhal- Schwäche dieser Annahme durch eine Metapher,
tens beeinflussen – Faktoren wie die fetale Umwelt, eingebettet in eine Anekdote, veranschaulicht
Ernährung, Stress und sensorische Stimulation ha- werden (siehe den Fall der nachdenklichen Stu-
ben erwiesenermaßen einen Einfluss. Dies führte dentin unten).
zu einer Erweiterung des Konzepts der „Umwelt-
einflüsse“, worunter nun neben Lernen auch die Diese Metapher sollte Ihnen – falls Sie es verges-
verschiedensten Erfahrungseinflüsse zusammenge- sen haben – veranschaulichen, warum es nicht
fasst wurden. Die Konsequenz war, dass sich in der sinnvoll ist, die Interaktion zwischen zwei Fak-
„Anlage-oder-Umwelt“-Dichotomie ein Wechsel toren verstehen zu wollen, indem man nach dem
von „genetische Faktoren oder Lernen“ hin zu „ge- Beitrag jedes einzelnen Faktors fragt. Wir würden
netische Faktoren oder Erfahrung“ vollzog. nie fragen, wie viel die Musiker und wie viel die
Instrumente zur Musik beitragen. Wir würden
Als Nächstes wurde überzeugend argumentiert, auch nie fragen, wie viel das Wasser und wie viel
dass Verhalten immer durch genetische und Um- die Temperatur zur Verdunstung beisteuert oder
weltfaktoren gemeinsam gesteuert wird (siehe welchen Beitrag der Vater und welchen die Mut-
Johnston, 1987; Rutter, 1997) und nie durch einen ter an der Fortpflanzung haben. Ebenso sollten wir
der beiden Faktoren allein. Angesichts dieser Er- nicht fragen, wie viel die Genetik und wie viel die
kenntnis wurde vielfach nur die eine Art des „An- Erfahrung zur Entwicklung des Verhaltens beitra-
lage-Umwelt“-Denkens durch eine andere ersetzt. gen. In jedem Fall liegt die Antwort im Verständ-
Es wurde nicht mehr gefragt: „Ist es genetisch oder nis der Natur der Interaktionen (siehe Sung et al.,
durch Erfahrung bedingt?“, sondern: „Wie viel 2014; Uher, 2014). Wie wichtig es ist, Entwicklung
von ihm ist genetisch bedingt und wie viel ist das in Form von Interaktionen zu verstehen, wird spä-
Ergebnis von Erfahrung?“ ter im Kapitel noch deutlicher.
Wie schon die vorangegangenen Versionen der Ein Modell der Biologie des Verhaltens. In diesem
„Anlage-Umwelt“-Frage, so hat auch die Variante Abschnitt haben Sie bisher gelernt, warum Men-
„Wie viel von ihm ist genetisch bedingt und wie schen dazu neigen, über die Biologie des Verhal-
viel ist das Ergebnis von Erfahrung?“ einen grund- tens in Dichotomien zu denken, und Sie haben ei-
sätzlichen Fehler. Das Problem besteht in der Prä- nige der Gründe kennengelernt, warum diese Art
misse, dass sich genetische und Erfahrungsfakto- zu denken nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns nun
ren additiv kombinieren – dass also eine Fähigkeit, eine Sichtweise der Biologie des Verhaltens näher
wie z.B. Intelligenz, durch die Verknüpfung eines betrachten, die von den meisten Biopsychologin-
bestimmten Teils genetischer und eines bestimm- nen und Biopsychologen übernommen wurde.
ten Teils empirischer Faktoren entsteht und nicht Abbildung 2.3 stellt diesen Ansatz schematisch
„Das wäre dumm“, antwortete sie. „Die Musik stammt von beiden. Es macht keinen Sinn zu fragen, was der Anteil
des Musikers und was der Anteil des Instruments ist. Irgendwie entsteht die Musik aus der Interaktion der beiden. Nach
dieser Interaktion müssten Sie fragen.“
„Das ist absolut richtig“, sagte ich. „Erkennen Sie nun, warum …“
„Sie brauchen nichts mehr zu sagen“, unterbrach sie mich. „Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Intelligenz ist das
Produkt einer Interaktion zwischen Genen und Erfahrung, und es ist dumm herausfinden zu wollen, wie viel davon
durch die Gene und wie viel durch die Erfahrung bedingt ist.“
52
2.2 Die menschliche Evolution
EVOLUTION
2
GENE
Die Gene eines jeden Individuums
initiieren ein einzigartiges Programm
neuronaler Entwicklung. ERFAHRUNG
Abbildung 2.3: Schematische Darstellung eines Ansatzes, auf dessen Basis die meisten Biopsychologinnen und Biopsychologen über Bio-
logie des Verhaltens nachdenken.
dar. Er ist, wie andere einflussreiche Ideen auch, 2.2 Die menschliche Evolution
einfach und logisch. Das Modell lässt sich auf eine
einzige Prämisse herunterbrechen, nämlich dass In diesem Abschnitt werden Sie erfahren, wie
alles Verhalten aus der Interaktion dreier Faktoren evolutionäre Prozesse Gehirn und Verhalten ge-
resultiert: (1) der genetischen Ausstattung eines formt haben. Als Startpunkt und Hintergrundwis-
Organismus, die ein Produkt seiner Evolution ist, sen geht es zunächst um die Geschichte der Evolu-
(2) seiner Erfahrung und (3) seiner Wahrnehmung tionstheorie. Darauf aufbauend erhalten Sie eine
der aktuellen Situation. Prüfen Sie das Modell Übersicht über Schlüsselaspekte zur Rolle der
bitte sorgfältig und bedenken Sie seine Implika- Evolution für Gehirn und Verhalten. Schließlich
tionen. werden Sie lernen, welches die häufigsten falsch
verstandenen Ansichten zur Evolution sind.
Die nächsten drei Abschnitte dieses Kapitels be-
fassen sich mit drei Elementen dieses Verhaltens-
modells: Evolution, Genetik und Interaktion zwi- 2.2.1 Darwins Theorie der Evolution
schen Genetik und Erfahrung bei der Entwicklung
des Verhaltens. Im letzten Abschnitt werden die Die moderne Biologie begann im Jahr 1859 mit
genetischen Grundlagen von psychologischen Un- der Veröffentlichung von Charles Darwins Vom
terschieden zwischen Menschen dargestellt. Ursprung der Arten (On the Origin of Species).
53
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
In diesem monumentalen Werk beschrieb Darwin jedoch (4) direkte Beobachtungen von schnellen
seine Theorie der Evolution – die einflussreichste evolutionären Veränderungen (siehe Barrick &
Theorie innerhalb der Biowissenschaften. Darwin Lenski, 2013). Beispielsweise konnte Grant (1991)
war nicht der Erste, der vorschlug, dass sich Arten an Finken auf den Galapágos-Inseln – eine Popu-
aus bereits bestehenden Arten entwickeln (also lation, die schon Darwin untersuchte (siehe La-
einer systematischen Veränderung unterliegen), michhaney et al., 2015) – schon nach einer ein-
aber er war der Erste, der viele unterstützende Be- zigen Dürreperiode evolutionäre Veränderungen
weise zusammentrug, und er war der Erste, der beobachten. Abbildung 2.4 veranschaulicht
einen Vorschlag machte, wie die Evolution abläuft diese vier Arten von Beweisen.
(siehe Bowler, 2009).
Darwin argumentierte, dass die Evolution über na-
Darwin präsentierte drei Arten von Beweisen zur türliche Selektion erfolgt (siehe Pritchard, 2010).
Unterstützung seiner Behauptung, dass sich Spe- Er wies darauf hin, dass sich die Mitglieder einer
zies entwickeln: (1) Er dokumentierte die Evolu- Spezies in ihrer Struktur, ihrer Physiologie und
tion anhand von Fossilien, die aus immer jün- ihrem Verhalten stark unterscheiden und dass
geren geologischen Schichten stammten. (2) Er diejenigen vererbbaren Merkmale, die mit hohen
beschrieb auffallende strukturelle Ähnlichkeiten Überlebens- und Fortpflanzungsraten zusammen-
zwischen lebenden Spezies (z.B. zwischen einer hängen, am wahrscheinlichsten an die nächsten
menschlichen Hand, dem Flügel eines Vogels und Generationen weitergegeben werden (siehe Kings-
der Pfote einer Katze), was nahelegt, dass sie von ley, 2009). Er argumentierte, dass die natürliche
einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. (3) Er Selektion, wenn sie sich von Generation zu Ge-
verwies auf die bedeutenden Veränderungen, neration wiederholt, zur Entwicklung von Arten
die durch selektive Züchtung bei domestizierten führt, die hinsichtlich ihrer Überlebens- und Re-
Pflanzen und Tieren hervorgerufen wurden. Den produktionschancen immer besser an ihre spezi-
überzeugendsten Beweis für die Evolution liefern fische ökologische Nische angepasst sind. Darwin
nannte diesen Prozess natürliche Selektion, um
seine Ähnlichkeit zu künstlichen selektierenden
Zuchtpraktiken, die von Züchtern domestizier-
Fossilien ändern sich
systematisch über die ter Tiere angewandt werden, zu betonen. So wie
verschiedenen geolo- Pferdezüchter schnellere Pferde erhalten, indem
gischen Schichten
hinweg. Hier ist die sie die schnellsten Pferde in ihrem Bestand zur
Evolution des mensch-
lichen Schädels Zucht heranziehen, so erschafft die Natur besser
dargestellt. angepasste Tiere durch natürliche Selektion der
am besten angepassten. Unter Fitness im Sinne
Darwins versteht man die Fähigkeit eines Organis-
mus, zu überleben und die eigenen Gene an die
Zwischen verschiedenen noch
lebenden Arten existieren nächste Generation weiterzugeben.
bemerkenswerte strukturelle
Ähnlichkeiten (z. B. zwischen Die Evolutionstheorie war unvereinbar mit den
dem menschlichen Arm und
einem Fledermausflügel). verschiedenen dogmatischen Ansätzen, die Teil
des Zeitgeistes des 19. Jahrhunderts waren, und
stieß daher anfangs auf Widerstand. Widerstand
gibt es auch heute noch, allerdings so gut wie nie
von denen, die die Beweise verstanden haben (sie-
Domestizierte Pflanzen
und Tieren wurden he Curry, 2009; Short & Hawley, 2015).
durch selektive Zucht-
programme entschei-
dend verändert. Die Evolution ist beides, ein wunderba-
res und ein wichtiges Konzept, das heute
sogar noch entscheidender ist als früher,
Das Wirken der Evolution für das menschliche Wohlergehen, die
konnte auch direkt beobachtet medizinische Wissenschaft und unser Ver-
werden. Aufgrund einer
18 Monate dauernden Dürre ständnis der Welt (siehe Mindell, 2009).
auf einer der Galapágosinseln
waren nur noch große, schwer Die Theorie ist außerdem zutiefst überzeu-
zu fressende Samen vorhan- gend – so dass man darauf wetten kann …
den. Dies führte bei einer
Finkenart zu einer Vergröße- die unterstützende Evidenz ist überwälti-
rung des Schnabels.
gend, vielseitig und nimmt immer zu, sie
Abbildung 2.4: Vier Arten unterstützender Beweise für die Theorie, ist leicht verfügbar, in Museen, Literatur,
dass sich die Arten durch Evolution entwickeln. Lehrbüchern und in einem wahren Berg
54
2.2 Die menschliche Evolution
von wissenschaftlichen Studien. Niemand den, kämpfen Männchen mit niedrigem Rang nur
muss und niemand sollte die Evolution wenig und somit sind die niedrigen Ränge einer
nur aus einem Glauben heraus akzeptie- Hierarchie nur schwer zu differenzieren.
ren (Quammen, 2004, S. 8).
Warum ist die soziale Dominanz nun ein wichti-
ger Faktor der Evolution? Ein Grund besteht darin,
2.2.2 Evolution und Verhalten dass in vielen Arten dominante Männchen mehr
Manche Verhaltensweisen sind für die Evolution kopulieren als nicht dominante und somit erfolg-
ganz offensichtlich bedeutsam. Zum Beispiel er- reicher ihre Merkmale an nachfolgende Generatio-
höhen die Fähigkeiten, Nahrung zu finden, Feinde nen weitergeben. McCann (1981) untersuchte den
zu meiden oder seine Nachkommen zu verteidi- Einfluss sozialer Dominanz auf die Kopulationsra-
gen sicherlich die Chancen eines Tiers, seine Gene te an zehn See-Elefantenbullen, die zusammen in
an zukünftige Generationen weiterzugeben. Ande- derselben Kolonie lebten. Abbildung 2.5 zeigt,
re Verhaltensweisen spielen eine weniger offen- wie sich diese gewaltigen Tiere gegenseitig her-
sichtliche Rolle, sind aber trotzdem nicht weni- ausfordern, indem sie sich zu ihrer vollen Größe
ger bedeutsam – beispielsweise soziale Dominanz aufrichten und Brust gegen Brust drücken. Ge-
und Balzverhalten. wöhnlich gibt der kleinere von beiden nach. Falls
er das nicht tut, folgt ein bösartiger Kampf, bei
Soziale Dominanz. Die männlichen Vertreter vie- dem die Kontrahenten versuchen, sich in den Na-
ler Spezies legen durch Rangkämpfe mit anderen cken zu beißen. McCann fand heraus, dass wäh-
Männchen eine stabile soziale Dominanzhierarchie rend des Untersuchungszeitraums 37 Prozent der
fest (siehe Qu et al., 2017). Bei manchen Spezies Kopulationen auf das dominante Männchen ent-
führen diese Auseinandersetzungen zu physischen fielen, auf das rangniedrigste Männchen hingegen
Verletzungen, bei anderen werden sie hauptsäch- nur 1 Prozent (siehe Abbildung 2.5).
lich über Posieren und Drohgebärden ausgetragen,
bis einer der beiden Kontrahenten nachgibt. Das Ein weiterer Grund, warum soziale Dominanz ein
dominante Männchen gewinnt normalerweise alle wichtiger Faktor der Evolution ist, besteht darin,
Auseinandersetzungen mit anderen Männchen dass in manchen Arten dominante Weibchen eher
der Gruppe, das Männchen an der zweiten Rang- mehr und auch gesünderen Nachwuchs haben. So
stelle besiegt gewöhnlich alle anderen Männchen, fanden beispielsweise Pusey, Williams und Goo-
mit Ausnahme des dominanten Männchens usw. dall (1997) heraus, dass Schimpansenweibchen
Nachdem eine Hierarchie erst einmal etabliert ist, mit einem hohen Rang mehr Nachwuchs haben
nehmen die Feindseligkeiten ab, da die Männchen und dieser mit größerer Wahrscheinlichkeit bis
mit einem niederen Rang lernen, die dominanten zur sexuellen Reife überlebt. Sie führten diesen
Männchen zu meiden oder sich ihnen schnell zu Vorteil auf die Tatsache zurück, dass ranghöhere
unterwerfen. Da die meisten Kämpfe um hohe Po- Schimpansenweibchen eher Zugang zu ergiebigen
sitionen in der sozialen Rangordnung geführt wer- Futtergebieten haben (siehe Pusey & Schroepfer-
Walker, 2013).
40
Prozentsatz insgesamt beobachteter
30
Kopulationen
20
10
55
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
Balzverhalten. Bei vielen Spezies geht der Ko- Evolution der Wirbeltiere (Vertebraten). Komple-
pulation ein kompliziertes Balzritual voraus. Das xe, vielzellige, im Wasser lebende Organismen
Männchen nähert sich dem Weibchen und signa- tauchten erstmals vor ungefähr 800 Millionen Jah-
lisiert sein Interesse. Sein Signal (das olfaktorisch, ren auf der Erde auf. Ungefähr 250 Millionen Jah-
visuell, auditorisch oder taktil sein kann) kann re später entwickelten sich die ersten Chordatiere
beim Weibchen ein Signal auslösen, welches wie- (Chordaten; siehe Satoh, 2016). Chordatiere besit-
derum beim Männchen eine andere Reaktion her- zen einen dorsalen Nervenstrang (große Nerven-
vorruft und so weiter und so fort, bis schließlich fasern, die in der Mitte des Rückens oder Dorsums
die Paarung erfolgt. Reagiert ein Partner nicht an- verlaufen). Sie bilden eine von ungefähr vierzig
gemessen auf die Signale des anderen, so kommt großen Kategorien, sogenannten Phyla (Stämme),
es wahrscheinlich nicht zur Kopulation. in die Zoologen die Tierarten einteilen (Zhang,
2013). Die ersten Chordaten mit Rückenwirbeln
Balzverhalten begünstigt wahrscheinlich die Evo- zum Schutz ihres dorsalen Nervenstrangs entwi-
lution neuer Spezies. Unter einer Art (Spezies) ckelten sich ungefähr 25 Millionen Jahre später.
versteht man eine Gruppe von Organismen, die Die Rückenwirbel werden auch als Vertebrae be-
hinsichtlich der Reproduktion (Fortpflanzung) von zeichnet und die Chordaten, die sie besitzen, als
anderen Organismen isoliert ist. Das bedeutet, dass Vertebraten (Wirbeltiere). Die ersten Vertebraten
die Mitglieder einer Spezies nur durch Paarung mit waren primitive Knochenfische (Shu et al., 1999).
Mitgliedern ihrer eigenen Spezies fortpflanzungs- Heute existieren sieben Vertebratenklassen: drei
fähige Nachkommen hervorbringen können (siehe Klassen von Fischen sowie Amphibien, Reptilien,
de Knijff, 2014). Eine neue Art spaltet sich von ei- Vögel und Säugetiere.
ner bereits existierenden ab, wenn eine Barriere die
Paarungen zwischen einer Teilpopulation und dem Evolution der Amphibien. Die ersten Knochenfi-
Rest der Spezies verhindert. Hat sich eine solche sche wagten sich vor ungefähr 410 Millionen Jah-
Reproduktionsbarriere erst einmal gebildet, so ent- ren aus dem Wasser (siehe dazu Abbildung 2.6).
wickelt sich die Teilpopulation unabhängig vom Fische, die für kurze Zeitperioden an Land überle-
Rest der Art, bis sie sich miteinander nicht mehr ben konnten, hatten zwei große Vorteile: Sie konn-
fortpflanzen können (siehe Arnegard et al., 2014; ten aus stockenden Gewässern in nahe gelegene
Roesti & Salzburger, 2014). frische Gewässer flüchten, und sie konnten auch
Nahrungsquellen an Land nutzen. Die Vorteile des
Die Reproduktionsbarriere kann geografischer Na- Lebens an Land waren so groß, dass die natürliche
tur sein, z.B. wenn einige Vögel gemeinsam auf eine Selektion die Flossen und Kiemen der Knochen-
isolierte Insel fliegen, wo sich mehrere Generationen fische zu Gliedmaßen und Lungen umwandelte –
ihrer Nachkommen nur untereinander fortpflanzen und so entwickelten sich vor circa 370 Millionen
und somit zu einer eigenen Spezies entwickeln. Jahren die ersten Amphibien. Amphibien (z.B.
Alternativ – und das ist hier der entscheidende Frösche, Kröten und Salamander) müssen in ih-
Punkt – kann die Barriere auch durch Verhalten be- rer Larvenform im Wasser leben, nur erwachsene
dingt sein. Einige Mitglieder einer Spezies könnten Amphibien können auf dem Land überleben.
ein abweichendes Balzverhalten entwickeln, was
eine Reproduktionsbarriere zwischen ihnen und
den übrigen Artgenossen (Mitgliedern derselben
Art) bilden kann. Zur Fortpflanzung kommt es näm-
lich nur, wenn ein angemessener Austausch von Si-
gnalen beim Balzverhalten stattfindet.
2.2.3 D
er Verlauf der menschlichen
Evolution
Durch die Untersuchung von Fossilien und den
Vergleich heute existierender Arten gelang es uns
Menschen, einen Blick in die Vergangenheit zu
werfen und die evolutionäre Geschichte unserer
eigenen Art zu rekonstruieren – auch wenn man-
Abbildung 2.6: Rechts zu sehen ist ein kürzlich entdecktes Fossil
che Details noch kontrovers diskutiert werden. Im eines fehlenden evolutionären Bindeglieds, links eine Rekonstruktion
folgenden Abschnitt wird die menschliche Evolu- des Tiers. Es hat Schuppen, Zähne und Kiemen wie ein Fisch und pri-
tion, wie sie zurzeit verstanden wird, zusammen- mitive Handwurzeln und Fingerknochen ähnlich wie Landtiere.
fassend dargestellt. © Beth Rooney Photography
56
2.2 Die menschliche Evolution
Evolution der Reptilien. Vor ungefähr 315 Millio- Brustdrüsen. Daher werden die Mitglieder dieser
nen Jahren entwickelten sich die Reptilien (z.B. Klasse als Säugetiere bezeichnet. An einem gewis-
Echsen, Schlangen und Schildkröten) aus einer sen Punkt hörten die Säugetiere damit auf, Eier zu
Linie von Amphibien. Reptilien waren die ersten legen. Stattdessen ernährten die Weibchen ihre
Vertebraten, die mit Schalen ummantelte Eier leg- Jungen in der feuchten Umwelt ihrer eigenen Kör-
ten und mit trockenen Schuppen bedeckt waren. per, bis die Jungen reif genug waren, um geboren
Beide Anpassungen reduzierten die Abhängigkeit zu werden. Das Schnabeltier ist eine überlebende
der Reptilien von feuchten Lebensräumen. Ein Säugetierart, die noch Eier legt.
Reptil muss seinen ersten Lebensabschnitt nicht
mehr in der feuchten Umwelt eines Teichs oder Die erste Lebensphase im Bauch der Mutter zu
Sees verbringen, stattdessen durchlebt es diese verbringen, stellte einen beträchtlichen Überle-
Zeit in der feuchten Umwelt eines schalenum- bensvorteil dar. Dadurch wurde die langfristige
mantelten Eis. Und einmal geschlüpft kann ein Sicherheit und Stabilität der Umwelt garantiert,
Reptil weit entfernt von Wasser leben, da seine die zur Entfaltung komplexer Entwicklungspro-
trockenen Schuppen den Wasserverlust durch die gramme notwendig ist. Heute zählen die meisten
wasserdurchlässige Haut stark reduzieren. Klassifikationssysteme ungefähr 26 verschiedene
Säugetierordnungen. Menschen gehören zur Ord-
Evolution der Säugetiere. Vor ungefähr 225 Milli- nung der Primaten (Herrentiere). In unserer übli-
onen Jahren, zur Blütezeit der Dinosaurier, entwi- chen bescheidenen Art haben wir unsere eigene
ckelte sich aus einer Linie von kleinen Reptilien Ordnung nach dem lateinischen Wort primus be-
eine neue Klasse von Vertebraten. Die Weibchen nannt, was so viel wie „der Erste“ oder „der Vor-
dieser neuen Klasse säugten ihre Jungen mit Ab- derste“ bedeutet.
sonderungen aus speziellen Drüsen, sogenannten
Menschenaffe
Flachlandgorilla, Silberrücken
Halbaffe
Koboldmaki
Altweltaffe Abbildung 2.7: Beispiele für
Husarenaffe fünf verschiedene Primaten-
familien.
Menschenaffe: © Kevin Schafer/Photo-
library/Getty Images; Hominide: © Vla-
dimir Sazonov/Shutterstock; Halbaffe: ©
Daniel Frauchiger, Switzerland/Moment/
Neuweltaffe Hominide Getty Images; Neuweltaffe: © Michael
Krabs/Alamy Stock Photo; Altweltaffe: ©
Totenkopfäffchen Mensch Anatoliy Lukich/Shutterstock.
57
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
Primaten lassen sich besonders schwer kategori- Entstehung des Menschen. Die Primatenfamilie,
sieren, da es kein einzelnes Merkmal gibt, das alle zu der auch der Mensch gehört, ist die der Ho-
Primaten besitzen, aber andere Tiere nicht. Die miniden (siehe Abbildung 2.9). Diese Familie
meisten Experten stimmen aber darin überein, dass besteht aus sechs Gattungen, darunter auch Aust-
es ungefähr 16 Primatenfamilien gibt; Abbil- ralopithecus und Homo. Basierend auf Fossilien-
dung 2.7 zeigt Mitglieder von fünf dieser Familien. funden geht man davon aus, dass die Gattung
Homo wiederum mindestens acht Spezies umfasst
Die Menschenaffen (Gibbons, Orang-Utans, Goril- (siehe Wiedemann, 2014; Gibbons, 2015a), wobei
las und Schimpansen) haben sich wahrscheinlich sieben dieser Spezies mittlerweile ausgestorben
aus einer Linie von Altweltaffen entwickelt. Men- sind. Eine der ausgestorbenen Spezies ist der
schenaffen haben, wie Altweltaffen auch, lange Neandertaler (Homo neanderthalensis). Nur uns
Arme und greifende Füße, wodurch sie gut an die Menschen (Homo sapiens) gibt es noch.
Lebensweise und Fortbewegung in Bäumen an-
gepasst sind. Und sie besitzen gegenüberstellbare
Daumen, die allerdings nicht lang genug sind, um Reich
für präzise Manipulationen von großem Nutzen zu (Regnum) Tiere
sein (siehe Abbildung 2.8). Im Gegensatz zu Alt- Stamm
weltaffen besitzen Menschenaffen keinen Schwanz (Phylum) Chordaten
und können über kurze Entfernungen aufrecht
gehen. Schimpansen sind die nächsten lebenden
Verwandten des Menschen, nahezu 99 % des ge- Klasse (Classis) Säugetiere
netischen Materials dieser beiden Spezies sind
identisch (siehe Rogers & Gibbs, 2014; aber auch
Cohen, 2007). Wahrscheinlich ist aber die Affenart, Ordnung (Ordo) Primaten
die tatsächlich Vorfahre des Menschen war, lange
ausgestorben (Jaeger & Marivaux, 2005). Familie (Familia) Hominidae
58
2.2 Die menschliche Evolution
59
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
alt und damit das bisher älteste gefundene Musik- Wir Menschen haben kaum Grund, eine evo-
instrument. Ackerbau und Viehzucht wurden erst lutionäre Überlegenheit für uns zu beanspru-
vor circa 10.000 Jahren eingeführt (siehe Larson chen. Wir sind die letzte überlebende Art einer
et al., 2014), und Schrift wurde bis vor ungefähr Familie (der Hominiden), die erst seit einem
7500 Jahren nicht genutzt. kurzen evolutionären Zeitraum existiert.
Die Evolution schreitet nicht immer langsam
und graduell voran. Schnelle evolutionäre Ver-
2.2.4 G
edanken über die menschliche änderungen (d.h. innerhalb weniger Genera-
Evolution tionen) können durch plötzliche Umweltver-
änderungen oder durch adaptive genetische
Die Hauptzweige der Evolution der Wirbeltiere
Mutationen ausgelöst werden. Ob die mensch-
veranschaulicht Abbildung 2.12. Versuchen
liche Evolution schrittweise oder in Sprüngen
Sie, bei der Betrachtung der Abbildung über die
(plötzlich) verlaufen ist, wird unter Paläonto-
folgenden, oft missverstandenen Aspekte der Evo-
logen (Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lution nachzudenken. Diese Punkte werden Ihnen
ler, die Fossilien untersuchen) immer noch in-
eine neue Perspektive eröffnen, auch bezogen auf
tensiv diskutiert.
Ihren eigenen Ursprung.
Nur wenige Ergebnisse der Evolution haben
Die Evolution folgt keiner einzelnen Linie. Ob- bis heute überlebt – quasi nur die Spitzen des
wohl es üblich ist, sich die Evolution in Form evolutionären Buschs. Es existieren nur noch
einer evolutionären Leiter oder Skala vorzu- weniger als 1 % aller bekannten Arten.
stellen, wäre ein dichter Busch eine angemes- Die Evolution führt nicht zu einer vorherbe-
senere Metapher. stimmten Perfektion – die Evolution ist eher
mit einem Kesselflicker zu vergleichen als mit
Vor
Millionen
Jahren Säugetiere
Knochenfische
6 ERSTE HOMINIDEN
60
2.2 Die menschliche Evolution
einem Architekten. Eine verbesserte Anpas- der Flügel eines Vogels und der Flügel einer
sung erfolgt über Veränderungen bereits existie- Biene nur wenig strukturelle Ähnlichkeit, aber
render Entwicklungsprogramme. Die Ergebnis- beide entwickelten sich aufgrund des gemein-
se können zwar im Kontext einer bestimmten samen Vorteils, fliegen zu können.
Umwelt eine Verbesserung bedeuten, sind aber Mittlerweile gibt es klare Evidenz, dass Homo
niemals ein perfektes Design. So hat z.B. die sapiens sich mit anderen Homo-Spezies (z.B.
Tatsache, dass sich das Sperma von Säugetie- Homo neanderthalensis), mit denen er Kontakt
ren bei Körpertemperatur schlecht entwickelt, hatte, gepaart hat (siehe Dannemann & Raci-
zur Evolution des Scrotums (Hodensack) ge- mo, 2018; Gibbons, 2014; Wong, 2015). Diese
führt – sicher keine perfekte Designerlösung. Befunde zum Paarungsverhalten haben die
Nicht alle existierenden Verhaltensweisen oder Sichtweise auf unsere Ursprünge verändert:
Strukturen sind adaptiv. Evolution entsteht Wir sind nicht das Ergebnis einer einzelnen ur-
oft durch Veränderungen in Entwicklungspro- sprünglichen Homo-Population, sondern die
grammen, die zu verschiedenen, miteinander Nachkommen von mehreren Homo-Populatio-
in Beziehung stehenden Merkmalen führen, nen, die koexistierten und interagierten.
von denen nur ein einziges adaptiv sein kann.
Ein zufällig entstandenes, nicht adaptives evo-
lutionäres Nebenprodukt wird „Spandrel“ ge- 2.2.5 D
ie Evolution des menschlichen
nannt (Deutsch: Spandrille, ursprünglich ein Gehirns
Fachwort in der Architektur für eine dekorierte
Die anfängliche Forschung zur Evolution des
Fläche zwischen einem Rundbogen und seiner
menschlichen Gehirns bezog sich hauptsächlich
rechteckigen Umrandung). Der menschliche
auf dessen Größe. Diese Forschung basierte auf
Nabel ist ein solches Spandrel, er erfüllt keine
der Annahme, dass ein enger Zusammenhang zwi-
adaptive Funktion und ist lediglich ein Neben-
schen Größe des Gehirns und intellektuellen Fähig-
produkt der Nabelschnur. Auch Verhalten oder
keiten besteht – eine Annahme, die schnell zu zwei
Strukturen, die einst adaptiv waren, können
Problemen führte. Erstens wurde festgestellt, dass
ihre Funktion verlieren oder sogar maladaptiv
der moderne Mensch, der sich für das intelligen-
werden, wenn sich die Umwelt verändert.
teste aller Lebewesen hält, nicht das größte Gehirn
Nicht alle existierenden adaptiven Merkmale
besitzt. Mit einem Gehirngewicht von circa 1350
haben sich aufgrund ihrer gegenwärtigen Funk-
Gramm liegen die Menschen weit hinter Walen
tion entwickelt. Einige Merkmale, sogenannte
und Elefanten, deren Gehirne zwischen 5000 und
Exaptationen, haben sich entwickelt, um eine
8000 Gramm wiegen (Manger, 2013; Patzke et al.,
bestimmte Funktion zu erfüllen, und wurden
2014). Zweitens zeigte sich, dass die Größe des Ge-
später zur Erfüllung einer anderen Funktion ko-
hirns anerkannter Intellektueller (z.B. Albert Ein-
optiert. So sind z.B. die Flügel von Vögeln Exap-
steins) unauffällig war, was sicher nicht ihrem gi-
tationen – es sind Gliedmaßen, die ursprünglich
gantischen Intellekt entsprach. Heute ist klar, dass
zur Fortbewegung an Land entstanden sind.
die Gehirngröße gesunder Erwachsener zwar stark
Ähnlichkeiten zwischen Spezies müssen nicht
variiert (zwischen 1000 und 2000 Gramm), dass
unbedingt auf einem gemeinsamen evolutionä-
aber zwischen Gehirngröße des Menschen und In-
ren Ursprung beruhen. Ähnliche Strukturen,
telligenz kein eindeutiger Zusammenhang besteht.
die einen gemeinsamen evolutionären Ur-
sprung haben, werden als homolog bezeichnet, Ein offensichtliches Problem beim Versuch, die
ähnliche Strukturen, die keinen gemeinsamen Größe des Gehirns in Bezug zur Intelligenz zu
evolutionären Ursprung haben, als analog. Die setzen, besteht in der Tatsache, dass größere Tie-
Ähnlichkeiten zwischen analogen Strukturen re normalerweise auch größere Gehirne haben,
entstehen durch konvergente Evolution. Dar- wahrscheinlich weil zur Regulation und Kontrolle
unter versteht man die evolutionäre Entwick- ihres größeren Körpers mehr Gehirngewebe not-
lung ähnlicher Lösungen bei nicht verwandten wendig ist. Somit sagen die Tatsachen, dass große
Arten zur Bewältigung derselben Umweltan- Menschen im Schnitt größere Gehirne haben als
forderungen (siehe Stern, 2013). Die Entschei- kleine Menschen, biologisch männliche Personen
dung, ob strukturelle Ähnlichkeiten homolog tendenziell größere Gehirne als biologisch weib-
oder analog sind, erfordert eine sorgfältige Ana- liche Personen besitzen und Elefanten über grö-
lyse der Ähnlichkeit. So weisen z.B. der Flügel ßere Gehirne als Menschen verfügen, nichts über
eines Vogels und der Arm eines Menschen eine die relative Intelligenz dieser Populationen aus.
grundlegende Gemeinsamkeit in der Struktur Dieses Problem führte zu dem Vorschlag, dass
des Skeletts auf, die einen gemeinsamen Vor- das prozentuale Gehirngewicht bezogen auf das
fahren nahelegt. Im Gegensatz dazu besitzen
61
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
62
2.3 Grundlagen der Genetik
63
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
In einem seiner frühen Experimente untersuchte über Vererbung infrage: dass Nachkommen die
Mendel die Vererbung der Samenfarbe: Braun oder Merkmale ihrer Eltern erben. Irgendwie wurde
Weiß. Er begann damit, die Nachkommen zweier das rezessive Merkmal (weiße Samen) der ersten
reinerbiger Zuchtformen von Erbsen mit braunen Generation von Erbsenpflanzen an ein Viertel der
und weißen Samen zu kreuzen. Durch diese Kreu- Erbsenpflanzen der zweiten Generation weiterge-
zung entstanden ausschließlich Nachkommen mit geben, obwohl die erste Generation dieses Merk-
braunen Samen. Danach kreuzte Mendel diese mal nicht zeigte. Die äußerlich beobachtbaren
erste Generation von Nachkommen miteinander Merkmale eines Organismus werden als Phänotyp
und stellte fest, dass in der zweiten Generation bezeichnet, die Merkmale, die er durch sein gene-
ungefähr drei Viertel der Nachkommen braune tisches Material an seine Nachkommen weiterge-
Samen und ungefähr ein Viertel weiße Samen ben kann, als Genotyp.
besaßen. Mendel wiederholte dieses Experiment
viele Male mit verschiedenen Paaren dichotomer Mendel entwickelte eine Theorie, um seine Ergeb-
Merkmale der Erbsenpflanzen, und jedes Mal war nisse zu erklären. Diese beinhaltete vier Ideen.
das Ergebnis das gleiche. Ein Merkmal, welches Erstens schlug Mendel vor, dass es für jedes
Mendel als das dominante Merkmal bezeichnete, dichotome Merkmal zwei Arten vererbter Fak-
trat bei allen Nachkommen in der ersten Genera- toren gibt – z.B., dass die Samenfarbe durch
tion auf. Das andere Merkmal, welches er als das einen Faktor für braunen Samen und einen für
rezessive Merkmal bezeichnete, trat bei ungefähr weißen Samen bestimmt wird. Heute bezeich-
einem Viertel der Nachkommen der zweiten Ge- nen wir jeden vererbten Faktor als ein Gen.
neration auf. Mendel hätte ein ähnliches Ergebnis Als Zweites schlug Mendel vor, dass jeder Or-
erhalten, wenn er ein Experiment mit reinerbigen ganismus zwei Gene für jedes seiner dichoto-
Zuchtlinien braunäugiger (dominant) und blauäu- men Merkmale besitzt. So hat z.B. jede Erbsen-
giger (rezessiv) Menschen durchgeführt hätte. pflanze entweder zwei Gene für braune Samen,
Die Ergebnisse von Mendels Experimenten stell- zwei Gene für weiße Samen oder je eines von
ten die zentrale Prämisse aller vorherigen Ideen beiden. Die beiden Gene, die dasselbe Merk-
B1 B2 w1 w2 B1 w1 B2 w2
B1 w1 B1 w2 B2 w1 B2 w2 B1 B2 B1 w2 B2 w1 w1 w2
Abbildung 2.14: Wie Mendels Theorie die Ergebnisse seines Experiments zur Vererbung der Samenfarbe bei Erbsenpflanzen erklärt.
64
2.3 Grundlagen der Genetik
65
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
ander verbunden. Dieses spezifische Bindungs- aus der Flüssigkeit des Zellkerns an. Somit sind
muster hat eine wichtige Konsequenz: Die zwei nach kompletter Trennung zwei doppelsträngige
Stränge, die ein Chromosom bilden, sind exakt DNA-Moleküle entstanden, die beide mit dem
komplementär zueinander. So ist z.B. die Abfolge Original identisch sind.
Adenin, Guanin, Thymin, Cytosin und Guanin auf
einem Strang immer mit der komplementären Ab- Die Replikation der Chromosomen verläuft nicht
folge Thymin, Cytosin, Adenin, Guanin und Cyto- immer nach Plan, es können Fehler auftreten, und
sin auf dem anderen verknüpft. Abbildung 2.16 manchmal haben diese Fehler bedeutsame klini-
illustriert die Struktur der DNA. sche Konsequenzen. Zum Beispiel befindet sich
beim Down-Syndrom, das Sie in Kapitel 11 ken-
Die Replikation ist ein entscheidender Vorgang nenlernen werden, ein zusätzliches Chromosom in
des DNA-Moleküls. Ohne sie wäre eine mitoti- jeder Zelle. Häufiger jedoch sind Fehler bei der Re-
sche Zellteilung nicht möglich. Abbildung 2.17 plikation in Form von Mutationen – Veränderungen
zeigt, wie man sich eine DNA-Replikation vor- einzelner Gene. In den meisten Fällen verschwin-
stellt. Die zwei DNA-Stränge beginnen sich zu den Mutationen innerhalb weniger Generationen
trennen. Dann ziehen die freigelegten Nukleotid- aus dem Genpool, da die Organismen, die sie geerbt
basen beider Stränge freie komplementäre Basen haben, eine geringere Fitness besitzen. In manchen
Fällen jedoch erhöhen Mutationen die Fitness und
tragen so zu einer schnellen Evolution bei.
* &
G C
$ 7 T A
T A
7 $ G C
ursprüngliches
G C DNA-Molekül
* & T A
C G
T A
7 $
G C
A T
* & G C
T A
$ 7 C G
C G
C C A G
7 $ T G G T C
A T
G
C A
& T G
A
C
G
G
C
T C
C
A
A
A
C
Bindung zwi-
A
T
T
T
G
schen Adenin T
G
$ 7 A
und Thymin zwei identische
DNA-Moleküle
Bindung zwi- entstehen
* & schen Guanin
und Cytosin
Abbildung 2.17: DNA-Replikation. Während sich die zwei Stränge
des ursprünglichen DNA-Moleküls trennen, ziehen die Nukleotidba-
Abbildung 2.16: Schematische Darstellung der Struktur eines sen eines jeden Strangs freie komplementäre Basen an. Sobald diese
DNA-Moleküls. Beachten Sie die komplementären Paare von Nuk- Trennung abgeschlossen ist, sind zwei DNA-Moleküle entstanden,
leotidbasen: Thymin mit Adenin, Guanin mit Cytosin. die beide identisch mit dem ersten sind.
66
2.3 Grundlagen der Genetik
somenpaar, das die Ausprägung des Geschlechts aber, dass diese Abschnitte Stücke beinhalten,
eines Individuums determiniert. Es gibt zwei Arten die eine Funktion haben (siehe Hawkins, Al-at-
von Geschlechtschromosomen, X und Y, die sich in tar & Storey, 2018). Diese sogenannten Promoto-
ihrem Aussehen unterscheiden und unterschied- ren sind DNA-Abschnitte, deren Funktion darin
liche Gene tragen. Frauen besitzen zwei X-Chro- besteht, festzulegen, ob bestimmte Strukturgene
mosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. die Synthese von Proteinen durch Genexpression
Merkmale, die durch Gene auf den Geschlechts- initiieren. Die Kontrolle der Genexpression durch
chromosomen beeinflusst werden, bezeichnet man einen Promotor ist ein wichtiger Prozess, denn er
als geschlechtsgekoppelte Merkmale. Beinahe alle beeinflusst sehr stark, wie sich eine Zelle entwi-
geschlechtsgekoppelten Merkmale werden durch ckelt und wie sie funktioniert, sobald sie ausge-
Gene auf dem X-Chromosom kontrolliert, da das reift ist. Ein Promotor ist wie ein Schalter, weil er
Y-Chromosom klein ist und nur wenige Gene trägt in zwei Richtungen reguliert werden kann: nach
(siehe Maekawa et al., 2014). oben oder nach unten. Die Proteine, die an die
DNA anbinden und die Genexpression verstärken,
Merkmale, die durch Gene auf dem X-Chromosom werden Aktivatoren genannt, die Proteine, wel-
kontrolliert werden, treten bei einem Geschlecht che die Genexpression reduzieren, Repressoren.
häufiger auf als bei dem anderen. Wenn das Merk-
mal dominant ist, tritt es häufiger bei Frauen auf. Die Expression eines Strukturgens wird in Ab-
Frauen besitzen die doppelte Chance, ein domi- bildung 2.18 veranschaulicht. Die Genexpression
nantes Gen zu erben, da sie die doppelte Anzahl an beinhaltet zwei Phasen. In der ersten Phase, der
X-Chromosomen haben. Im Gegensatz dazu treten Transkription, entflechtet sich der kleine Ab-
rezessive geschlechtsgekoppelte Merkmale häufi- schnitt des Chromosoms, der das Gen enthält. Die-
ger bei Männern auf. Der Grund dafür ist, dass sich ser freigelegte Abschnitt eines der beiden DNA-
rezessive geschlechtsgekoppelte Merkmale nur Stränge dient als Vorlage für die Transkription
bei Frauen manifestieren, die zwei der rezessiven eines kurzen Strangs Ribonukleinsäure (RNS bzw.
Gene besitzen – eines auf jedem ihrer X-Chromo- RNA nach dem Englischen „ribonucleic acid“).
somen –, wohingegen sich die Merkmale bei allen Die RNA ähnelt der DNA mit den Ausnahmen,
Männern manifestieren, die das Gen besitzen, da dass anstelle der Nukleotidbase Thymin die Base
sie ja nur ein X-Chromosom haben. Die Farbblind- Uracil vorkommt und sie statt eines Rückgrats aus
heit ist ein klassisches Beispiel für ein rezessives Phosphat und Desoxyribose eines aus Phosphat
geschlechtsgekoppeltes Merkmal. Da das Gen für und Ribose besitzt. Der Strang der transkribierten
Farbblindheit sehr selten ist, erben Frauen fast nie RNA wird als Boten-RNA oder messenger-RNA
zwei dieser Gene und die Störung tritt bei ihnen (mRNA) bezeichnet, da er den genetischen Code
nahezu nie auf. Im Gegensatz dazu ist jeder Mann, aus dem Zellkern transportiert.
der ein solches Gen besitzt, farbenblind.
Nachdem die messenger-RNA den Zellkern ver-
lassen hat, beginnt die zweite Phase der Genex-
2.3.3 G
enetischer Code und pression, die Translation. Bei der Translation
heftet sich die messenger-RNA an eines der vielen
Genexpression
Ribosomen im Cytoplasma der Zelle (der klaren
Strukturgene (oder kodierende Gene) enthalten Flüssigkeit innerhalb einer Zelle). Das Ribosom
die für die Synthese von Proteinen notwendige bewegt sich dann am Strang der mRNA entlang
Information. Proteine sind lange Ketten von Ami- und übersetzt dabei den genetischen Code.
nosäuren, sie kontrollieren die physiologischen
Aktivitäten der Zellen und sind wichtige Bestand- Jede Gruppe aus drei aufeinanderfolgenden Nu-
teile der Zellstruktur. Alle Zellen des Körpers (z.B. kleotidbasen auf einem Strang der mRNA wird
Gehirnzellen, Haarzellen und Knochenzellen) als Kodon bezeichnet. Jedes Kodon instruiert das
enthalten exakt dieselben Gene. Wie entwickeln Ribosom, eine von zwanzig verschiedenen Ami-
sich dann aber verschiedene Zelltypen? Ein Teil nosäuren an das Protein, das es konstruiert, an-
der Antwort liegt in Abschnitten von DNA, die zuhängen. So instruiert z.B. die Sequenz Guanin-
keine Strukturgene beinhalten (nicht-kodierende Guanin-Adenin das Ribosom, die Aminosäure
oder regulatorische Abschnitte). Tatsächlich wur- Glycin anzuhängen. Jede Aminosäurenart wird
de lange angenommen, dass alle Gene Struktur- von Molekülen der transfer-RNA (tRNA) zum
gene sind, heute weiß man aber, dass diese nur Ribosom transportiert. Während das Ribosom ein
einen kleinen Teil von jedem Chromosom bilden. Kodon liest, zieht es ein Molekül der transfer-RNA
an, das an die passende Aminosäure geheftet ist.
Die Funktion der nicht-kodierenden DNA-Ab- Das Ribosom liest ein Kodon nach dem anderen
schnitte wird noch nicht gut verstanden. Klar ist ab und fügt eine Aminosäure nach der anderen
67
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
mR
2 Ein messenger-RNA-Strang wird
von einem der freigelegten DNA-
NA Stränge transkripiert und transportiert
den genetischen Code aus dem
Zellkern in das Cytoplasma der Zelle.
Aminosäure DN
A
tRNA
Abbildung 2.18: Genexpression. Der Transkription eines DNA-Abschnitts in einen komplementären Strang messenger-RNA folgt die Trans-
lation des messenger-RNA-Strangs in ein Protein.
hinzu, bis es ein Kodon erreicht, das anzeigt, dass 2.3.4 Das Humangenomprojekt
das Protein komplett ist. Daraufhin wird das Pro-
tein ins Cytoplasma freigesetzt. Eines der ehrgeizigsten wissenschaftlichen Projek-
te aller Zeiten begann im Jahr 1990. Es wurde als
Zusammengefasst besteht der Prozess der Genex- Humangenomprojekt (engl. „Human Genome Pro-
pression also aus zwei Phasen: Die erste Phase be- ject“) bekannt und beruhte auf einer losen Koope-
inhaltet die Transkription des Basensequenzcodes ration zwischen großen Forschungsinstitutionen
der DNA in einen RNA-Basensequenzcode; die und einzelnen Forscherteams aus verschiedenen
zweite Phase betrifft die Translation des Basense- Ländern. Der Zweck dieser Kooperation bestand
quenzcodes der RNA in ein Protein. darin, eine Karte sämtlicher drei Milliarden Basen
der menschlichen Chromosomen zu erstellen.
68
2.3 Grundlagen der Genetik
Ein Motiv für das Humangenomprojekt waren dem Beginn von Typ-2-Diabetes (Altersdiabe-
mögliche medizinische Anwendungen. So wur- tes) gefunden, aber diese 18 Varianten erklären
de angenommen, dass, sobald das menschliche nur 6 % der Erblichkeit der Erkrankung (siehe
Genom beschrieben ist, es relativ unkompliziert Stumvoll, Goldstein & van Haeften, 2005).
möglich werden würde, Variationen im Genom
mit bestimmten Krankheiten zu verknüpfen und
dann Behandlungs- und Präventionsprogramme 2.3.5 Moderne Genetik: Die
für Patientinnen und Patienten zu entwickeln. Entwicklung der Epigenetik
Mehr als zwei Jahrzehnte nach der vollständigen
Seit der Entdeckung der Gene in den 1960er-Jah-
Beschreibung des menschlichen Genoms sind die-
ren standen Struktur und Expression der Prote-
se medizinischen Wunder aber noch nicht einge-
in-kodierenden Gene im Zentrum von Forschung
treten (siehe Hall, 2010). Aber trotzdem hat das
und Denken zur Genetik (siehe Franklin & Man-
Humangenomprojekt unser Verständnis von uns
suy, 2010; Zhang & Meaney, 2010). Ungefähr
als Menschen verändert und das Feld der Genetik
zur Jahrhundertwende jedoch hat sich das For-
revolutioniert. Drei wichtige Erkenntnisse waren:
schungsgebiet der Genetik verändert. Das Interes-
Während des Humangenomprojekts wurden se verschob sich auf die Mechanismen, über die
viele neue Techniken zur Untersuchung der Erfahrung und Erlebnisse auf die Entwicklung
DNA entwickelt. Viele Techniken, die vorher einwirken. Die führte zu einem explosionsartigen
unmöglich erschienen, sind mittlerweile Rou- Anwachsen des Interesses an einem Gebiet der
tine. Ergebnisse, die zuvor nur über Monate Genetik, das seit 1942 nur im Hintergrund fortbe-
erzielt werden konnten, sind nun in wenigen stand, – die Epigenetik („epi“ ist altgriechisch und
Stunden möglich. Die Nutzung dieser Tech- bedeutet „außerdem“).
niken hat es erlaubt, die Genome von vielen
Epigenetik untersucht alle Mechanismen der Ver-
Spezies zu entschlüsseln, auch die von schon
erbung, die nicht auf eine Veränderung der Gen-
lange ausgestorbenen Arten (siehe Shapiro &
sequenz der DNA zurückzuführen sind.
Hofreiter, 2014), was zu wichtigen Erkenntnis-
sen über die Evolution geführt hat. Warum hat die Epigenetik um die Jahrhundert-
Die Erkenntnis, dass wir Menschen zwar die wende so schnell an Bedeutung gewonnen? Die
komplexeste aller Spezies sind, aber nur eine re- folgenden vier Faktoren waren dafür wichtig:
lativ geringe Anzahl von Strukturgenen haben,
hat viele Wissenschaftlerinnen und Wissen- Die Entwicklung des Humangenomprojekts hat
schaftler überrascht. Menschen haben ungefähr zu einer Vielzahl von neuen Forschungstechni-
21.000 Strukturgene, Mäuse ungefähr gleich ken geführt.
viele und Mais hat sogar viel mehr. Tatsächlich Es wurde festgestellt, dass die Protein-kodie-
bilden die Protein-kodierenden (d.h. Struktur-) renden Gene nur ungefähr 1 % der mensch-
Gene nur ungefähr 1 % der menschlichen DNA. lichen DNA ausmachen. Es blieb unklar, was
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ha- die anderen 99 % der DNA machen – oft wur-
ben mittlerweile auch einen fast vollständigen de dieser „Rest“ als „Abfall-DNA“ (engl. „junk
Katalog mit der Gesamtheit der Proteine, die von DNA“) oder „genetischer Müll“ angesehen.
unseren Genen enkodiert sind, erzeugt: das Pro- Es wurde festgestellt, dass der Großteil der
teom des Menschen (siehe Ommen et al., 2018). RNA-Moleküle klein ist – nur 1,2 % gehören
Mittlerweile wurden Zusammenhänge zwi- zu den großen Protein-kodierenden Arten. Dies
schen vielen Variationen im Genom des Men- weist darauf hin, dass die Proteinkodierung
schen und bestimmten Krankheiten identifi- nur eine „Nebenaufgabe“ der RNA ist (siehe
ziert. Dieses Wissen ist aber weniger nützlich Dolgin, 2015; Wilusz & Sharp, 2013).
als erwartet: Da jede Krankheit mit so vielen Außerdem bestand im Großen und Ganzen
Genen assoziiert ist, ist es schwer, die Inter- Konsens darüber, dass Entwicklung das Resul-
aktionen zwischen diesen Genen und/oder Er- tat von Gen-Umwelt-Interaktionen ist (siehe
fahrungen zu präzisieren (Hall, 2010). Verstärkt Abbildung 2.3). Allerdings waren Mechanis-
wird dieses Problem dadurch, dass selbst wenn men, die dieser entscheidenden Interaktion zu-
viele Gene als bedeutsam für eine Krankheit grunde lagen, noch unbekannt (siehe Oureshi &
identifiziert wurden, alle zusammen nur für Mehler, 2012).
einen kleinen Teil der Erblichkeit der Krank-
Angestoßen durch diese vier Faktoren dauerte es
heit verantwortlich sind (Manolio et al., 2009).
nicht lange, bis die Welle der epigenetischen For-
Beispielsweise wurden Zusammenhänge zwi-
schung wichtige Entdeckungen machte. Nach 50
schen 18 verschiedenen Genvarianten und
Jahren Genetik-Forschung mit einem ausschließ-
69
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
lichen Fokus auf den genetischen Code als Me- lierung bindet eine Methylgruppe an ein DNA-
chanismus der Vererbung führte die neue epige- Molekül, bei Säugetieren normalerweise an
netische Forschung zu Ergebnissen, die diese enge Cytosin (siehe Schübeler, 2012). Bei der Histon-
Sichtweise infrage stellte. modifikation werden Histone (Proteine, um die
die DNA gewickelt ist) in der Form verändert,
Die Epigenetik ist ein relativ junges Forschungs- und dabei wird auch die Form der anliegenden
feld, hat aber schon eine beeindruckende Menge DNA verändert; dies kann über mehrere unter-
von wichtigen Entdeckungen zusammengetragen; schiedliche Mechanismen geschehen. Beides,
fünf davon sind: DNA-Methylierung und Histonmodifikation,
Epigenetische Forschung über nicht-kodierende können die Genexpression verstärken oder ab-
DNA hat viele aktive Abschnitte gefunden, von schwächen (siehe Bintu et al., 2016; Keung &
denen viele die Expression benachbarter Gene Khalil, 2016).
zu kontrollieren scheinen. Die Annahme, dass Die Forschung zur Epigenetik hat so viel In-
nicht-kodierende DNA „Abfall-DNA“ ist, ist teresse auf sich gezogen, dass es mittlerweile
sicherlich nicht länger haltbar (siehe Pennisi, eine weltweite Initiative gibt, das Epigenom
2014; Tragante, Moore & Asselbergs, 2014). jedes Zelltyps zu entschlüsseln. Ein Epigenom
Es wurden viele epigenetische Mechanismen stellt einen Katalog von allen möglichen Modi-
entdeckt, über die die Genexpression reguliert fikationen der DNA innerhalb eines bestimm-
werden kann. Die zwei am häufigsten unter- ten Zelltyps dar – aber nur Veränderungen, die
suchten (siehe Abbildung 2.19) sind DNA- nicht die Sequenz der Nukleotidbasen betref-
Methylierung und Histonmodifikation (sie- fen (siehe Romanoski et al., 2015). Im Jahr 2018
he Campbell & Wood, 2019; Cavalli & Heard, war bereits das Epigenom von über 600 Zellty-
2019; Schultz et al., 2015). Bei der DNA-Methy- pen charakterisiert (siehe Esteller, 2018).
Chromosom
Histon
Histonmodifikation
modifiziertes Histon
C
G
A
T
G
von DNA umwickeltes Histon C
T
A
T
C A
T G G
T
A G A C
G C
C
A
T
G
T
C
T
C
G
G
tion eines Histon-Proteins (um das die
G
C
T
DNA-Methylierung
T
70
2.3 Grundlagen der Genetik
Manche epigenetischen Mechanismen betreffen alle Modifikationen der RNA, die nach der Tran-
Veränderungen nach der Transkription der RNA skription auftreten – die keine Modifikationen
(Post-Transkriptions-Veränderung), die nicht der RNA-Basensequenz beinhalten (siehe Blu-
die RNA-Basensequenz betreffen. Dies wurde dau et al., 2019; Helm & Motorin, 2017).
in allen bisher untersuchten RNA-Molekülen Bemerkenswert ist, dass epigenetische Verän-
beobachtet, wobei das Interesse insbesondere derungen (z.B. DNA-Methylierung oder His-
epigenetischen Modifikationen von messenger- tonmodifikation) durch bestimmte Erfahrungen
RNA (mRNA) und transfer-RNA (tRNA) galt. (z.B. neuronale Aktivierungen, Hormonaus-
Die besonders hohe Auftretenshäufigkeit von schüttungen, Umweltveränderungen) induziert
RNA-Modifikationen hat eine neue Initiative an- werden können, die dann lebenslang bestehen
gestoßen, die Katalogisierung des sogenannten bleiben (Campbell & Wood, 2019; Handel & Ra-
Epitranscriptoms von verschiedenen Zelltypen. magoplan, 2010; Nadeau, 2009; Nelson & Nade-
Das Epitranscriptom einer Zelle bezieht sich auf au, 2010; Riccio, 2010; Sweatt, 2013).
Wichtige und interessante Forschungsfragen im Rahmen der epigenetischen Forschung sind, ob bestimmte Psychopa-
thologien mit bestimmten epigenetischen Risikoprofilen in Zusammenhang stehen und ob Psychotherapie solche epi-
genetischen Risikoprofile wieder normalisieren kann. Erste Arbeiten legen dies nahe und bestätigen eine Schlüsselrolle
epigenetischer Mechanismen an der Schnittstelle zwischen Risiko und Resilienz (siehe Schiele und Domschke, 2017).
Beispielsweise wird für die Panikstörung vermutet, dass das Enzym Monoaminoxidase-A (MAO-A), das für den Ab-
bau von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin relevant ist, eine besondere Rolle in der Krankheitsentstehung spielt,
da bereits Zusammenhänge zwischen funktionellen Veränderungen im MAOA-Gen und der Panikstörung sowie den
Ansprechraten auf Psychotherapie zur Behandlung der Erkrankung gefunden wurden. Entsprechend wurde bei Patien-
tinnen mit Panikstörung eine Hypomethylierung des MAOA-Gens beobachtet sowie eine dynamische Veränderung der
MAOA-Methylierung in Abhängigkeit von Umweltereignissen (Domschke et al., 2012). In einer Studie von Ziegler et al.
(2016) konnte die MAOA-Hypomethylierung als Risikoprofil für die Panikstörung bei Frauen repliziert werden. Darüber
hinaus konnte gezeigt werden, dass das Ausmaß der Hypomethylierung auch mit der Symptomstärke assoziiert ist.
Durch eine erfolgreiche Psychotherapie normalisierte sich das epigenetische Risikoprofil einer MAOA-Hypomethylie-
rung wieder: Die MAOA-Methylierung erholte sich bei den Patientinnen, die von der Therapie profitierten, veränderte
sich aber bei Therapie-Non-Respondern nicht (siehe Abbildung), und es bestand wiederum ein Zusammenhang
zwischen dem Ausmaß der Veränderung in der Methylierung und der Abnahme der Symptome durch die Therapie.
Ein vergleichbares Muster zeigte sich bei der Höhenphobie: Auch hier stieg die MAOA-Methylierung nach einer erfolg-
reichen psychotherapeutischen Intervention (Schiele, Ziegler et al., 2018).
Veränderungen in der MAOA-Methylierung bei Frauen mit Panikstörung, die von einer kognitiven Verhaltenstherapie profitiert haben
(Responder) bzw. nicht profitiert haben (Non-Responder).
Beitrag von K. Domschke, C. Ziegler, M. Schiele, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Freiburg.
71
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
Epigenetische Mechanismen können nachgewie- es immer mehr Belege für die Annahme, dass Ver-
senermaßen andauernde Veränderungen erzeu- erbung über transgenerationale epigenetische Me-
gen. Aber können diese erfahrungsinduzierten chanismen auch bei Menschen vorkommt (siehe
Veränderungen auch an zukünftige Generationen Yeshurun & Hannan, 2018). Tatsächlich wäre es
weitergegeben werden? Das heißt, könnten die ein evolutionärer Vorteil, wenn neue Anpassun-
Erfahrungen Ihrer Eltern an Sie und Ihre Kinder gen an eine veränderte Umwelt schnell weiter-
weitergegeben worden sein? Biologen haben eine gegeben werden könnten (siehe Lowdon, Jang &
Vererbung epigenetischer Effekte an nachfolgende Wang, 2016; Yeshurun & Hannan, 2018).
Generationen zunächst an Pflanzen beobachtet,
aber mittlerweile wurden solche Effekte auch für Zum Abschluss dieses Abschnitts über Epigenetik
Säugetiere berichtet. Transgenerationale Epige- sollten Sie sich eine Pause gönnen und über die
netik ist ein Untergebiet der Epigenetik, das die bedeutsamen Implikationen des gerade Gelernten
generationsübergreifende Weitergabe von Erfah- nachdenken. Es spricht viel dafür, dass sich die
rungen über epigenetische Mechanismen unter- genetische Ausstattung jeder Person während des
sucht (siehe Hughes, 2014). Beispielsweise wurde Lebens in Abhängigkeit von Erfahrungen verän-
nachgewiesen, dass Mäuse, die die Assoziation dert, und es gibt Belege dafür, dass diese erfah-
zwischen einem Geruch und einem schmerzhaf- rungsinduzierten Veränderungen an zukünftige
ten elektrischen Reiz erlernt haben, die Erinne- Generationen weitergegeben werden können.
rung an diese Erfahrung auf nachfolgende Gene- Diese Befunde haben das Gebiet der Genetik revo-
rationen mithilfe epigenetischer Mechanismen lutioniert und haben bedeutsame Auswirkungen
übertragen (siehe Dias et al., 2015; Dias & Ressler, darauf, wie wir Menschen über unsere Vorfahren,
2014; Szyf, 2014; Welberg, 2014). Außerdem gibt uns selbst und unsere Nachkommen nachdenken.
72
2.4 Epigenetik der Entwicklung von Verhalten: Eine Interaktion zwischen genetischen Faktoren und Erfahrung
2.4 E
pigenetik der Entwicklung Tryon untersuchte mit seinen selektiven Zucht-
experimenten ein Verhalten, das auch im Fokus
von Verhalten: Eine Inter- der Untersuchungen früher Psychologinnen und
aktion zwischen genetischen Psychologen zum Lernen lag: dem Verhalten von
Laborratten in einem Labyrinth. Er begann damit,
Faktoren und Erfahrung eine große heterogene Gruppe von Laborratten zu
Im folgenden Abschnitt dieses Kapitels werden trainieren, ein komplexes Labyrinth zu durch-
zwei klassische Beispiele geschildert, wie gene- laufen. Die Ratten erhielten Futter als Belohnung,
tische Faktoren und Erfahrung interagieren und sobald sie das Ziel erreichten. Tryon paarte dann
so die Ontogenese des Verhaltens steuern. Onto- die Weibchen und Männchen, die während des
genese ist die Entwicklung von Individuen über Trainings am seltensten in falsche Labyrinthgän-
die Lebensspanne, Phylogenese dagegen ist die ge gelaufen waren – und diese bezeichnete er als
evolutionäre Entwicklung von Arten über Jahre. „labyrinthschlaue“ Ratten. Außerdem paarte er
Aus jedem Beispiel wird ersichtlich, dass die Ent- Weibchen und Männchen, die beim Training am
wicklung ein Produkt der Interaktion zwischen häufigsten in falsche Gänge gelaufen waren – die
Genen und Erfahrung ist, was, wie wir mittlerwei- „labyrinthdummen“ Ratten.
le wissen, wahrscheinlich über epigenetische Me-
Als der Nachwuchs der labyrinthschlauen und
chanismen vermittelt wird (siehe Sweatt, 2013).
labyrinthdummen Ratten erwachsen war, wurde
deren Leistung im Labyrinthlernen untersucht.
2.4.1 S
elektive Züchtung „labyrinth- Dann wurden wieder die klügsten Nachkommen
der labyrinthschlauen und die dümmsten der
schlauer“ und „labyrinthdummer“ labyrinthdummen Ratten miteinander gepaart.
Ratten Diese selektive Züchtungsprozedur wurde über
In diesem Kapitel haben Sie bereits erfahren, dass 21 Generationen durchgeführt. Ab der achten Ge-
die meisten Psychologinnen und Psychologen an- neration gab es kaum noch Überlappung in den
fänglich annahmen, dass sich Verhalten vor allem Leistungen der beiden Stämme beim Labyrinthler-
durch Lernen entwickelt. Tryon (1934) stellte diese nen. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen
Annahme infrage, indem er nachwies, dass Verhal- machten die schlechtesten Ratten des labyrinth-
tensmerkmale selektiv gezüchtet werden können. schlauen Stammes weniger Fehler als die besten
URSPRÜNGLICHE POPULATION
25
20
15
10
5
VIERTE GENERATION
Prozent der Population
25
20
15
10 „labyrinth-
„labyrinth- dumm“
5 schlau“
ACHTE GENERATION
25
20
15
„labyrinth-
10 „labyrinth- dumm“
5 schlau“
Abbildung 2.20: Selektive Züchtung von „la-
byrinthschlauen“ und „labyrinthdummen“ Rat-
Fehler
tenstämmen durch Tryon (1934).
Adaptiert nach Cooper, R. M. und Zubek, J. P., 1958.
73
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
des labyrinthdummen Stammes (siehe Abbil- vierten Umwelt (einem kahlen Gruppenkäfig aus
dung 2.20). Maschendraht) oder (2) einer angereicherten,
stimulierenden Umwelt (einem Gruppenkäfig
Um die Möglichkeit zu kontrollieren, dass eine aus Maschendraht, der Tunnel, Rampen, visuelle
gute Leistung im Labyrinth irgendwie durch Ler- Reize und andere Objekte enthielt, die entworfen
nen von den Eltern auf den Nachwuchs übertra- wurden, um Interesse zu wecken). Als die laby-
gen wurde, verwendete Tryon eine ausgeklügelte rinthdummen Ratten das Erwachsenenalter er-
Kontrollprozedur, eine überkreuzte kontrollierte reicht hatten, machten sie nur dann signifikant
Aufzucht („cross-fostering control procedure“): Er mehr Fehler als die labyrinthschlauen Ratten,
testete jeweils den Nachwuchs labyrinthschlau- wenn sie in einer verarmten Umwelt aufgezogen
er Ratten, der von labyrinthdummen Ratten auf- wurden (siehe Abbildung 2.21).
gezogen wurde, und den Nachwuchs labyrinth-
dummer Ratten, der von labyrinthschlauen Ratten
aufgezogen wurde. Trotzdem machten die Nach-
kommen labyrinthschlauer Ratten weniger Feh- verarmte
ler, sogar wenn sie von labyrinthdummen Ratten Umwelt
angereicherte
großgezogen wurden, und die Nachkommen laby- Umwelt
rinthdummer Ratten machten selbst dann viele 150
Fehler, wenn sie von labyrinthschlauen Ratten
Fehler im Labyrinth
großgezogen wurden.
74
2.5 Genetische Grundlagen psychologischer Unterschiede
Spiegel der Phenylbrenztraubensäure nachgewie- Zeitspanne, die gewöhnlich früh im Leben auf-
sen. Angespornt durch seine Entdeckung iden- tritt und während der eine bestimmte Erfahrung
tifizierte Følling andere retardierte Kinder, die gemacht werden muss, um bedeutsame Auswir-
ebenfalls abnormal hohe Spiegel der Phenylbrenz- kungen auf die Entwicklung eines bestimmten
traubensäure im Urin aufwiesen. Daraus schloss Merkmals zu haben, ist die sensitive Phase dieses
er, dass diese Subpopulation geistig behinderter Merkmals.
Kinder an derselben Erkrankung litt. Zusätzlich
zur geistigen Behinderung gehören folgende Sym-
ptome zur PKU: Übelkeit, epileptische Anfälle, 2.5 G
enetische Grundlagen
Hyperaktivität, Irritabilität und Hirnschädigungen
(Strisciuglio & Concolino, 2014). psychologischer Unterschiede
Das Transmissionsmuster der PKU innerhalb Dieses Kapitel hat bisher schwerpunktmäßig drei
eines Stammbaums betroffener Individuen weist Themen behandelt: die menschliche Evolution,
darauf hin, dass sie durch eine einzelne Genmu- die Genetik und die Interaktion von Genetik und
tation vererbt wird. Ungefähr einer von 100 Men- Erfahrung basierend auf epigenetischen Mecha-
schen europäischer Abstammung trägt das PKU- nismen. Alle drei Themen konvergieren auf eine
Gen. Da das Gen aber rezessiv ist, entwickelt sich einzige fundamentale Frage: Warum sind wir so,
PKU nur in homozygoten Individuen (diejenigen, wie wir sind?
die ein PKU-Gen sowohl von ihrer Mutter als auch
Sie haben gelernt, dass wir alle ein Produkt der
von ihrem Vater erben). In den Vereinigten Staaten
Interaktion zwischen Genen und Erfahrungen
wird ungefähr eines von 16.000 Kindern mit PKU
sind und dass die Einflüsse von Genen und Er-
geboren (siehe Bilder et al., 2016).
fahrungen auf die individuelle Entwicklung nicht
Die Biochemie der PKU hat sich als relativ einfach trennbar sind. Im letzten Abschnitt dieses Kapi-
erwiesen. Homozygoten Trägern des PKU-Gens tels wird es weiterhin um die Bedeutung der Gen-
fehlt die Phenylalaninhydroxylase, ein Enzym, Umwelt-Interaktion gehen, aber mit einem Fokus
das zur Umwandlung der Aminosäure Phenylala- auf Entwicklungsfragen, die sich grundlegend von
nin in Tyrosin benötigt wird. Als Folge sammelt den bisher behandelten unterscheiden – die Ent-
sich Phenylalanin im Körper an, und zudem sind wicklung von individuellen Unterschieden.
die Spiegel des Neurotransmitters Dopamin, das
normalerweise aus Tyrosin synthetisiert wird, be-
sonders niedrig (siehe Boot et al., 2017). Die Folge 2.5.1 Entwicklung von Individuen
ist eine abnormale Gehirnentwicklung. versus Entwicklung von
individuellen Unterschieden
Die Verhaltenssymptome der PKU resultieren,
wie andere Verhaltensmerkmale auch, aus der Bisher hat sich dieses Kapitel mit der Entwick-
Interaktion zwischen genetischen und Umwelt- lung von Individuen beschäftigt. Ab hier geht es
faktoren: hier zwischen dem PKU-Gen und der nun um die Entwicklung von Unterschieden zwi-
Ernährungsweise (siehe Rohde et al., 2014). Daher schen Individuen. Bei der Entwicklung von Indi-
wird in den meisten modernen Krankenhäusern viduen sind die Effekte von Genen und Erfahrung
das Blut jedes neugeborenen Kindes routinemäßig untrennbar miteinander verknüpft, bei der Ent-
auf einen hohen Phenylalaninspiegel untersucht wicklung von individuellen Unterschieden sind
(siehe Casey, 2013). Bei einem hohen Spiegel wird sie aber trennbar.
das Kind sofort auf eine spezielle phenylalanin-
Um den relativen Beitrag der Gene und der Er-
arme Diät gesetzt. Diese Diät reduziert beides, den
fahrung auf die Entwicklung von Unterschieden
Phenylalaningehalt im Blut und das Risiko einer
in psychologischen Merkmalen zu bestimmen,
geistigen Behinderung – allerdings kann die Ent-
untersuchen Verhaltensgenetiker Individuen, de-
wicklung subtiler kognitiver Defizite nicht ver-
ren genetische Ähnlichkeit bekannt ist. So ver-
mieden werden (siehe Brown & Lichter-Konecki,
gleichen sie z.B. oft eineiige Zwillinge (mono-
2016). Entscheidend bei dieser Behandlung ist
zygote Zwillinge), die sich aus derselben Zygote
der Zeitpunkt des Beginns. Die phenylalaninarme
entwickelt haben und somit genetisch identisch
Diät reduziert das Risiko einer geistigen Behin-
sind, mit zweieiigen Zwillingen (dizygoten Zwil-
derung nur dann bedeutsam, wenn sie während
lingen), die sich aus zwei Zygoten entwickelt ha-
der ersten Lebenswochen begonnen wird. Um-
ben und sich somit nicht ähnlicher sind als ein
gekehrt wird die Phenylalanin-Restriktion in der
gewöhnliches Geschwisterpaar. Untersuchungen
Ernährung normalerweise im Erwachsenenalter
von eineiigen und zweieiigen Zwillingen, die in
gelockert, was kaum nachteilige Folgen hat. Die
75
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
der Kindheit durch Adoption voneinander ge- Phänotyp zwischen Probanden dieser Studie aus;
trennt wurden, sind besonders aufschlussreich sie können nichts über die relativen Beiträge von
zur Ermittlung der relativen Beiträge von Genen Genen und Erfahrung an der Entwicklung eines
und Erfahrung an den Unterschieden in der psy- Individuums sagen.
chologischen Entwicklung des Menschen. Die
umfangreichste Studie dieser Art ist die Minneso- Das Konzept der Erblichkeitsschätzungen kann
ta-Studie über getrennt aufgewachsene Zwillinge ziemlich verwirrend sein. Daher sollten Sie hier
(„Minnesota Study of Twins Reared Apart“, siehe eine Pause einlegen und sorgfältig über diese De-
Bouchard & Pedersen, 1998). finition nachdenken, bevor Sie weiterlesen. Die
Musikmetapher kann Ihnen dabei helfen. Erin-
nern Sie sich daran, dass die Musik das Ergebnis
2.5.2 S
chätzung der Erblichkeit: Die der Interaktion von Musiker und Instrument ist.
Wir können nicht fragen, welcher Anteil der Mu-
Minnesota-Studie über getrennt
sik vom Musiker und welcher Anteil vom Instru-
aufgewachsene Zwillinge ment kommt. Lassen Sie uns nun aber sagen, wir
In der Minnesota-Zwillingsstudie wurden 59 ein- haben mehrere Musiker und hören jedem zu, wie
eiige Zwillingspaare und 47 zweieiige Zwillings- er Musik spielt. Jetzt können wir fragen: Zu wel-
paare, die getrennt voneinander aufgewachsen chem Anteil sind die Unterschiede in ihrer Musik
waren, untersucht sowie viele Paare eineiiger und auf ihre Instrumente und zu welchem Anteil auf
zweieiiger Zwillinge, die gemeinsam aufgewach- ihre musikalischen Fähigkeiten zurückzuführen?
sen waren. Das Alter der Zwillinge lag zwischen In vergleichbarer Weise können wir bei einer Stu-
19 und 68 Jahren. Jeder Zwilling wurde insgesamt die über die Intelligenz von vielen Personen fra-
ungefähr 50 Stunden lang an der University of gen: Zu welchem Anteil sind die Unterschiede in
Minnesota untersucht, wobei der Fokus auf der der Intelligenz auf Unterschiede in ihrer Umwelt
Beurteilung der Intelligenz und der Persönlich- und zu welchem Anteil auf Unterschiede in ihren
keit lag. Würden sich die erwachsenen eineiigen Genen zurückzuführen?
Zwillinge, die getrennt voneinander aufgewach-
Diese Überlegungen führen zu einem wichtigen
sen waren, als ähnlich erweisen, da sie genetisch
Punkt: Die Größe der Erblichkeitsschätzung einer
identisch sind, oder würden sie sich als verschie-
Studie hängt vom Grad der genetischen und um-
den erweisen, weil sie in einem unterschiedlichen
weltbedingten Variation ab, aus denen sie berech-
familiären Umfeld aufgewachsen waren?
net wurde; sie kann nicht unbedingt auf andere
Die Ergebnisse der Minnesota-Zwillingsstudie Gruppen von Individuen oder andere Situationen
erwiesen sich als bemerkenswert konsistent – übertragen werden. Beispielsweise gab es in der
sowohl intern, also über die verschiedenen un- Minnesota-Zwillingsstudie nur eine geringe Um-
tersuchten kognitiven und Persönlichkeitsdimen- weltvariation. Alle Probanden wurden in indust-
sionen hinweg, als auch extern, im Vergleich zu rialisierten Ländern (Großbritannien, Kanada und
den Befunden aus anderen, ähnlichen Studien. USA) von Eltern aufgezogen, die die strengen An-
Im Allgemeinen waren sich erwachsene eineiige forderungen für eine Adoption erfüllen konnten.
Zwillinge auf allen psychologischen Dimensio- Daher war der größte Teil der Variation in Intel-
nen erheblich ähnlicher als erwachsene zweieiige ligenz und Persönlichkeit der Probanden durch
Zwillinge, unabhängig davon, ob das Zwillings- genetische Variation bedingt. Wenn die Zwillinge
paar in demselben familiären Umfeld aufgewach- jeweils getrennt von sehr unterschiedlichen El-
sen war oder nicht (siehe Turkheimer, 2000). tern (z.B. reiche europäische Adlige versus Perso-
nen, die in Armut leben) adoptiert worden wären,
Um die Größe des Betrags der genetischen Variati- wären die Erblichkeitsschätzungen für IQ und
on bei einer bestimmten Studie, wie z.B. der Min- Persönlichkeit wahrscheinlich deutlich geringer
nesota-Zwillingsstudie, abzuschätzen, berechnen ausgefallen.
Forscher oft die Heritabilität. Eine Erblichkeits-
schätzung (Heritabilitätsschätzung) bezieht sich Nachdem Sie nun die Bedeutung von Erblich-
nicht auf die individuelle Entwicklung, sie ist keitsschätzung verstehen, können Sie deren Grö-
vielmehr eine numerische Schätzung des Anteils ße für verschiedene komplexe menschliche Ei-
der Variabilität eines bestimmten Merkmals in ei- genschaften und Verhaltensmerkmale einordnen,
ner bestimmten Studie, der durch die genetische z.B. für Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften,
Variation in dieser Studie bedingt ist (siehe Turk- Aggression, Scheidung, religiöse Überzeugung,
heimer, Pettersson & Horn, 2014). Erblichkeits- psychische Krankheit und Fernsehkonsum. Die
schätzungen sagen somit etwas über den Beitrag Antwort ist einfach, da die Erblichkeitsschätzun-
genetischer Unterschiede zu Unterschieden im gen dazu neigen, gleich auszufallen, unabhängig
76
2.5 Genetische Grundlagen psychologischer Unterschiede
davon, welche bestimmte Eigenschaften oder & Morison, 2011; Silva et al., 2011). Außerdem
welches Verhaltensmerkmal betrachtet wird, und erlaubt der Vergleich monozygoter und dizygo-
unabhängig von der Grundlage der Berechnung ter Zwillinge eine Abschätzung, wie stark diese
(z.B. Zwillingsstudie, Adoptionsstudie oder Fa- Veränderungen durch Umwelt- oder genetische
milienstudie). Bei den repräsentativen Stichpro- Faktoren bedingt sind. Falls die epigenetischen
ben aus westlichen Gesellschaften, die untersucht Veränderungen durch genetische Faktoren kont-
wurden, haben alle komplexen Eigenschaften und rolliert wären, würde man bei monozygoten Zwil-
Verhaltensmerkmale eine bedeutsame Heritabili- lingen ähnlichere Muster epigenetischer Verände-
tät – meistens zwischen 40 und 80 Prozent. rungen erwarten als bei dizygoten Zwillingen.
Der Befund, dass die genetische Variabilität be- Der erste systematische Nachweis von epigeneti-
deutsam für individuelle Unterschiede bei prak- schen Unterschieden bei menschlichen Zwillingen
tisch allen menschlichen Eigenschaften und wurde von Fraga und Kollegen (2005) publiziert.
Verhaltensmerkmalen ist, hat einige bedeutende Sie haben Gewebeproben (Blut, Haut, Muskel)
Genetiker veranlasst zu argumentieren, dass keine von 40 monozygoten Zwillingspaaren im Alter
weiteren Studien zur Heritabilität durchgeführt zwischen drei und 74 Jahren hinsichtlich epige-
werden sollten (z.B. Johnson et al., 2009; Petronis, netischer Veränderungen (z.B. DNA-Methylierung,
2010). Was könnten weitere Studien zur Heritabi- Histonmodifikation) untersucht. Nach ihren Befun-
lität aufdecken? Diese Genetiker sehen allerdings den waren die Zwillinge in jungen Jahren epigene-
sehr viel Potenzial in zwei anderen Arten von tisch nicht unterscheidbar, aber mit zunehmendem
Zwillingsstudien, über die immer öfter berichtet Alter häuften sich Unterschiede, wobei jedes Ge-
wird. Dieses Kapitel schließt mit der Diskussion webe ein anderes epigenetisches Profil zeigte (sie-
dieser Studien. he Zong et al., 2012). Im Ergebnis wurde die frühe-
re Annahme, dass monozygote Zwillinge genetisch
identisch sind, widerlegt, und die übliche Praxis,
2.5.3 E
in Blick in die Zukunft: Zwei monozygote Zwillinge als identische Zwillinge zu
Arten von Zwillingsstudien bezeichnen, wäre damit nur noch eingeschränkt
möglich (siehe Abbildung 2.22).
Zwei Arten von Zwillingsstudien haben vor Kur-
zem viel Aufmerksamkeit von Genetikern und an- In einer weiteren Studie über epigenetische Ver-
deren Wissenschaftlern auf sich gezogen. Teilen änderungen bei Zwillingen haben Wong und Kol-
Sie diesen Enthusiasmus? legen (2010) die DNA-Methylierung an Zellen der
Zwillingsstudien über epigenetische Effekte. Die
meisten Studien zur Epigenetik wurden an nicht-
menschlichen Arten durchgeführt. Für Pflanzen
und Tiere ist es mittlerweile relativ eindeutig,
dass epigenetische Veränderungen durch Erfah-
rungen ausgelöst werden können, lebenslang be-
stehen bleiben und an die nachfolgende Genera-
tion weitergegeben werden können (siehe Szyf,
2014). Aber lassen sich diese erstaunlichen Befun-
de auch auf den Menschen übertragen? Zwillings-
studien könnten einen Ansatz zur Beantwortung
dieser Fragen liefern (siehe Aguilera et al., 2010;
Feil & Fraga, 2012).
77
2 Evolution, Genetik und Erfahrung
Mundschleimhäute von 46 monozygoten und 45 Turkheimer und Kollegen untersuchten die Erb-
dizygoten Zwillingspaaren untersucht. Die Pro- lichkeit des IQ an zwei Stichproben von sieben-
ben wurden den Zwillingen im Alter von fünf jährigen Zwillingen: eine aus Familien mit nie-
Jahren und dann nochmals im Alter von zehn Jah- derem sozioökonomischem Status und eine aus
ren entnommen und nach DNA-Methylierungen Familien mit mittlerem bis höherem sozioöko-
untersucht. Wong und Kollegen fanden in beiden nomischem Status. Die Erblichkeitsschätzung
Zwillingsgruppen und zu beiden Altersstufen für Intelligenz, basierend auf den Zwillingen aus
bedeutsame DNA-Methylierung. Da die Konkor- Familien mit mittlerem bis höherem sozioökono-
danzraten der DNA-Methylierung bei monozygo- mischem Status, erbrachte – wie zu erwarten – 70
ten und dizygoten Zwillingen vergleichbar waren, Prozent. Dagegen belief sich die Erblichkeitsschät-
schlossen die Autoren, dass Unterschiede in der zung für Intelligenz, basierend auf den Zwillingen
DNA-Methylierung vorwiegend die Folge von aus Familien mit niederem sozioökonomischem
Umwelteinflüssen sind. Status, auf nur zehn Prozent. Dieser Effekt wurde
in der Folge repliziert und auf andere Altersgrup-
Die Entdeckung von epigenetischen Unterschie- pen erweitert, z.B. Kleinkinder (Tucker-Drob et
den bei monozygoten Zwillingen eröffnet die al., 2010) und Adoleszenten (Harden, Turkheimer
Möglichkeit, dass epigenetische Unterschiede er- & Loehlin, 2007).
klären, warum ein Zwilling eine Krankheit entwi-
ckelt, der andere aber nicht (Bell & Spector, 2012; Eine wichtige Implikation der Studie von Turk-
Haque, Gottesman & Wong, 2009). Wenn diese heimer et al. (2002) ist, dass sie uns zwingt, Intel-
epigenetischen Unterschiede einmal identifiziert ligenz als das Ergebnis der Interaktion von Genen
sind, könnten sie wichtige Hinweise über die und Umwelt zu verstehen und nicht als Ergebnis
Ursache und den Mechanismus der Krankheit lie- von nur dem einen oder dem anderen. Vermutlich
fern. Bell und Spector (2011) vermuten, dass die ist es so, dass jemand zwar das Potenzial für eine
Untersuchung monozygoter Zwillinge, die sich in herausragende Intelligenz geerbt haben kann, die-
der Erkrankung unterschieden, also Erkrankungs- ses Potenzial aber in einer Umwelt ohne hinrei-
diskordant sind, ein besonders zielführender For- chende Ressourcen nicht zur Entfaltung bringen
schungsansatz ist (siehe auch Czyz et al., 2012). kann (siehe Nisbett et al., 2012).
Diese Art von Studien beginnt mit der Identifikati-
on von monozygoten Zwillingen, die hinsichtlich Dieser Befund hat auch wichtige Implikationen
der interessierenden Erkrankung diskordant sind. für die Entwicklung von Programmen zur Unter-
Dann werden die einzelnen Zwillingspaare nach stützung von Personen, die in Armut leben. Viele
epigenetischen Unterschieden untersucht, wobei Politikerinnen und Politiker argumentieren gegen
man sich vor allem auf DNA-Gebiete konzentriert, solche Programme, da die meisten Erblichkeits-
für die eine Bedeutung für die Erkrankung vermu- schätzungen für Intelligenz hoch sind. Sie argu-
tet wird. Groß angelegte Studien an monozygoten mentieren fälschlich, dass spezielle Programme
Zwillingen über Altersstufen, unterschiedliche für die Armen Geldverschwendung sind, da Intel-
Gewebe und verschiedene epigenetische Effekte ligenz größtenteils vererbt sei (d.h. eine hohe Erb-
hinweg könnten unser Wissen über menschliche lichkeitsschätzung hat). Die Befunde von Turk-
Erkrankungen bedeutend verbessern (siehe Bell & heimer und Kollegen allerdings sagen aber etwas
Spector, 2011; Tan et al., 2014). anderes: Die Bekämpfung der Armut würde dazu
führen, dass alle Kinder ihr intellektuelles Poten-
Zwillingsstudien über die Wirkung von Erfah- zial ausschöpfen könnten.
rung auf die Heritabilität. Wenn man an Herita-
bilität denkt, ist es besonders wichtig sich daran
zu erinnern, dass Erblichkeitsschätzungen von
den besonderen Bedingungen und den Proban-
den einer gegebenen Studie abhängen. Dieser
Punkt wird besonders gut durch eine wichtige
Studie von Turkheimer et al. (2003) verdeutlicht.
Vor der Studie von Turkheimer et al. wurden alle
publizierten Studien zur Erblichkeit von Intelli-
genz (IQ) an Familien der Mittel- und Oberschicht
durchgeführt, und die Erblichkeitsschätzungen
für Intelligenz lagen meist um circa 75 Prozent.
78
2.5 Genetische Grundlagen psychologischer Unterschiede
In diesem Kapitel wurden die Themen Evolution, Genetik und Entwicklung eingeführt, aber zwei
Themen standen im Vordergrund: Überlegungen zur Epigenetik und zu kreativem Denken über die
Biologie des Verhaltens. Bezogen auf die Überlegungen zur Epigenetik haben Sie das Forschungs-
feld Epigenetik kennengelernt und seine wichtigen Implikationen für unser Verständnis von Ver-
halten erfahren. Dieses Kapitel hat von Ihnen auch verlangt, über einige wichtige biopsycholo-
gische Phänomene in einer kreativen neuen Art nachzudenken: die Anlage-Umwelt-Frage, die
Physiologie-vs.-Psychologie-Dichotomie, die Genetik von psychologischen individuellen Unter-
schieden und die Bedeutung von epigenetischen Effekten.
Zwei andere Themen wurden ebenfalls in diesem Kapitel behandelt: die evolutionäre Perspekti-
ve und klinische Implikationen. Die evolutionäre Perspektive wurde anhand der vergleichenden
Forschung zum Selbstbewusstsein bei Schimpansen, anhand der Überlegungen zur evolutionären
Bedeutung der sozialen Dominanz und des Balzverhaltens entwickelt.
Die klinischen Implikationen wurden durch die Fallgeschichte des Mannes, der aus dem Bett fiel,
durch die Diskussion der Phenylketonurie (PKU) und durch die Diskussion von Erkrankungs-dis-
kordanten Zwillingsstudien aufgezeigt.
Antworten 2.1
(1) Umwelt-; (2) Kartesischen Dualismus; (3) Fitness; (4) Spezies; (5) Reptilien; (6) Schimpansen;
(7) Busch; (8) 1 %; (9) Spandrel oder Spandrille; (10) Exaptation; (11) homolog; (12) Analoge.
Antworten 2.2
(1) dichotome; (2) Phänotyp; Genotyp; (3) Allele; (4) homozygot; (5) Gameten; (6) Mitose; (7) Diversität;
(8) Nukleotidbasen; (9) Mutationen; (10) Geschlechts-; (11) Humangenomprojekt; (12) Epigenetik.
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