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Die Halbe Stadt - Die Es Nicht Mehr Gibt - Eine Kindheit in Berlin

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Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt

Eine Kindheit in Berlin (West)


Inhaltsübersicht
Danach: Prenzlauer Berg
Davor: Alt-Mariendorf
Hermannplatz
Die Passage
Unter den Linden
Kolonie Alpental
Zauberkönig
Mau-Mau-Siedlung
Karl-Marx-Straße
Schulmesse
Der Polizeipräsident in Berlin
Transit
Ägyptisches Museum
Am Insulaner
Union-Film-Studios
Am Glienicker See
The Wall
Unterm Fernsehturm
Auf der Spree
RIAS und SFB
Kaiser-Wilhelm-Platz
U-Bahnhof Schloßstrasse
In der Eissporthalle
Forum Steglitz
Europa-Center
Das Blub in Britz
St. Dominicus
Ku’damm-Eck
In der Gropiusstadt
Deutsch-Amerikanisches Volksfest
In Rudow
Yorckbrücken
Mariendorf und Marienfelde
Im Marmorhaus
Am Teltowkanal
Im Schimmelpfeng-Haus
In den Dschungel
Am Lützowplatz
Geisterbahn
Axel-Springer-Hochhaus
Amerika-Haus
Zehlendorfer Häuser
Messehallen am Funkturm
Grenzübergang Friedrichstraße
Ost-Berlin, Alexanderplatz
Brandenburger Tor
Flughafen Tegel
Flughafen Tempelhof
Corbusierhaus und Olympiastadion
Made in Berlin
Dein Herz kennt keine Mauern
Faszinierendes Berlin
Martin-Gropius-Bau
1988, weit weg von Berlin
Sowjet-Mode und Neon-Nazis
Redskins
Hasenheide
Prom
Berlin von oben
Nollendorf- und Winterfeldtplatz
Der Himmel über dem Savignyplatz
AVUS nach Dreilinden
Kreuzberg 61
Hardenbergstraße
Gleisdreieck
Andrews Barracks
Far Out, Lehniner Platz
In den Zelten
Friedenauer Bäume
Berlin Tourist Information
Madhouse
Danach: Friedrichshain
Tiergarten
Dank
[zur Inhaltsübersicht]

Danach: Prenzlauer Berg


P
lötzlich war es dann ja möglich, den Osten einfach so zu betreten. Man
musste sich kein Visum besorgen in einem der tristen «Büros für
Besuchs- und Reiseangelegenheiten» (BfBR) und sich auch nicht mehr
durch ganz merkwürdig kulissenhafte Räume an hinter Glasscheiben
sitzenden Kontrolleuren in grauen Uniformen vorbeischieben, die mit
mindestens so viel willkürlicher Macht ausgestattet waren wie ein Berliner
Busfahrer. Nachdem man also ohne diese zweifelhaften Kicks einfach so
nach drüben konnte, kam natürlich schnell die Frage auf, wo man vielleicht
mal ausgehen könnte, abends in Ost-Berlin. Das war, bevor die vielen
Wessis aufkreuzten und da was aufmachten, diese ganzen Bars und diese
Clubs.
Es hieß, man solle nach Prenzlauer Berg fahren, da gäbe es auf jeden Fall
ein paar Läden, in denen die Jugend tanzt und trinkt, so um den
Senefelderplatz herum. Ich notierte mir die beiden Namen und stellte dabei
fest, dass Ost-Berlin ganz normal mit drin war in meinem zerfledderten
Falk-Plan. Das war mir jahrelang überhaupt nicht aufgefallen. Entsprechend
unzerfleddert war der rechte Teil vom Stadtplan. Der Senefelderplatz ließ
sich einfach über das Straßenverzeichnis finden, so wie die Plätze im
Westen auch. Der einzige Unterschied war, dass die Häuserblocks auf der
Westseite rosafarben und im Osten grau eingezeichnet waren.
Als Holger und Mariola mich abholten, setzte ich mich mit dem Falk-
Plan auf den Beifahrersitz neben Holger. Mariola stieg hinten ein, obwohl
es ihr Auto war und sie sonst immer fuhr. Sie wirkte etwas lustlos.
Wir wollten auf jeden Fall durchs Brandenburger Tor in den Osten
fahren, aber das war noch gar nicht möglich. Wir fuhren also doch nicht auf
jeden Fall durchs Brandenburger Tor, sondern daran vorbei und dann durch
den offenen Grenzübergang Invalidenstraße. Danach verfuhren wir uns
sofort. Zwar hatte ich den Stadtplan auf den Knien, aber das nützte uns
wenig, weil Holger mit dem Phänomen Straßenbahn nicht zurechtkam. Er
konnte nie so fahren und so abbiegen, wie ich es ihm sagte, weil immer
irgendwo Schienen waren und die Verkehrsführung auch sonst so sonderbar
war, dass er irgendwann nur noch fluchte. Wenn ich sagte: «Jetzt rechts!»,
schrie er: «Ja, wie denn bitte!», und dann mussten wir Ewigkeiten auf
derselben großen Straße weiter geradeaus fahren, weil in deren Mitte eine
Straßenbahntrasse entlangführte und kilometerweit keine
Wendemöglichkeit vorgesehen war. Die schlechte Straßenbeleuchtung tat
ein Übriges, deswegen hatten wir überhaupt erst die Seitenstraße verpasst,
in die wir eigentlich einbiegen wollten.
Mariola bekam noch miesere Laune. Sie hatte sowieso schon keine große
Lust auf den Osten gehabt, wo es ihrer Meinung nach einfach nur genauso
aussah wie in Polen, also, was sollte sie da.
«Man soll sich hier verfahren», sagte sie. «Das ist Strategie.»
Ich hielt diese Einschätzung bestenfalls für eine Mischung aus Wahrheit
und Propaganda. Allerdings sah es wirklich trist aus, dieses graue, kaputte
Ost-Berlin im Graupelregen. Schließlich bogen wir doch noch irgendwo ab
und entdeckten nach einigen Runden um ein paar Häuserblocks eine kleine
Gaststätte. Holger stellte das Auto direkt vor der Kneipe ab, Parkplätze gab
es reichlich. Drinnen im Lokal war es schummrig und gut gefüllt. Manche
Leute saßen, manche standen. Wir blieben stehen, orderten ein billiges Bier
und erfragten vom Mann hinterm Tresen Hinweise darüber, wo wir sonst
noch hingehen könnten, hier in der Gegend, worauf er uns ein fußläufig
erreichbares Tanzlokal empfahl. Daraus, wie lang der Weg dorthin
tatsächlich war, konnten wir später schließen, dass man im Osten offenbar
Strecken als fußläufig bezeichnete, für die wir ganz klar das Auto
genommen hätten, zumal bei nasskalter Witterung.
Das Tanzlokal war nur mäßig besucht, und wir fühlten uns deplatziert,
weil wir gleich als Westler auffielen. Im Osten als Westler aufzufallen war
meiner Meinung nach viel unangenehmer als andersherum. Es war nicht zu
leugnen, da musste man Mariola recht geben, dass es im Osten einfach
schlechter war als im Westen. Das Bier schmeckte so mittel, die Cola gar
nicht, die Musik war nicht der neueste heiße Scheiß aus London, der Sound
war schlecht, und um das ostige Interieur super zu finden, würde man erst
einmal diesen dreifach gebrochenen Retro-Trash-Geschmack ausbilden
müssen. Unser Trip in den Osten hatte einen Beigeschmack von
Elendstourismus. Außerdem war es für uns als West-Berliner kaum zu
ertragen, plötzlich «Wessis» genannt zu werden, wo doch unser Leben lang
andere die Wessis gewesen waren.
Am Ende des Abends setzte sich Mariola wieder ans Steuer; sie fuhr
auch besser als Holger. Zur Erholung gingen wir noch ins Rock-It, unsere
Stammdisco in der Karl-Marx-Straße, die trotz ihres Namens im Westen
lag.

All die Kinder aus Westdeutschland, die nach der Wende unkontrolliert
nach Berlin strömten, sahen den Osten der Stadt mit ganz anderen Augen.
Je westlicher die Prägung, desto faszinierender der Osten. Mariola war als
gebürtige Polin rundum immun gegen jede Ostblock-Exotik, aber auch wir
waren ja keine Wessis. «Wessis» waren in unserem Sprachgebrauch Leute
aus Wessiland, und Berlin, auch West-Berlin, lag mitten im Osten
Deutschlands. Geographisch, landschaftlich und architektonisch. Noch
nicht einmal die freie Marktwirtschaft, das zentrale Wesensmerkmal des
Westens, war jemals vollständig angekommen im Subventionsland West-
Berlin. Mit Bröckelfassaden, Leerstand, Brandmauern, Brachen und
allgemeiner Kaputtheit waren wir schon vor dem Mauerfall gut bedient
gewesen, da gab es wenig Nachholbedarf.
Junge Zuwanderer aus Baden-Württemberg, Hessen oder Niedersachsen
kamen da aus anderen Welten. Schon früher war West-Berlin das große
Abenteuer für Schüler auf Klassenfahrt gewesen, aber der Berliner
Doppelpack mit dem ruinierten Ostteil war es nun noch viel mehr. Und
während das Gebot der Stunde in den Sechzigern Revolution hieß, in den
Siebzigern Punk und in den Achtzigern Häuserbesetzung, ging es in den
Neunzigern um Party. Die Fete war tot, jedenfalls als Wort, man sagte jetzt
nur noch Party. Einige Jahre zuvor hätte ich gesagt, Partys sind
Veranstaltungen, bei denen Erwachsene in schicken Klamotten und mit
Martini-Gläsern in der Hand um einen Pool herumstehen, während im
Hintergrund Bossa-nova-Musik läuft. Feten hingegen wären wild, laut und
tanzorientiert. Dieses Bild war aber gekippt, in etwa zeitgleich mit der
Mauer. Wer jetzt noch Fete sagte, hatte den Schuss nicht gehört und
qualifizierte sich als Hörer von Radiosendern, deren Programmidee es war,
die größten Hits der sechziger, siebziger und achtziger Jahre zu spielen.
Zusammen mit der Fete wurde auch die Diskothek endgültig eingemottet,
ab jetzt hießen Tanzlokale «Clubs». Wer in den Achtzigern einen Taxifahrer
nach einem Club gefragt hätte, wäre vor einem Puff abgesetzt worden.
Die Club-Party ging also los, aber ohne mich. Die Neuzugänge aus dem
Wessiland dominierten das Gelände, und in meiner von Skepsis
zerfressenen Wahrnehmung taten sie dabei so, als würden sie hier alles neu
erfinden. Sie übernahmen auch die Stadtmagazine und die Lokalpresse und
schrieben nur noch über ihre eigenen neuen Spielplätze im Osten der Stadt.
West-Berlin fühlte sich wie das erstgeborene Kind, dem ein frisches,
entzückend brüllendes Geschwisterchen die Show stiehlt, indem es einfach
in die Windeln kackt.
Ich brauchte überhaupt kein neues Berlin, mein altes Berlin funktionierte
noch sehr gut.

In meinem alten Berlin machte ich 1990 das Abitur und immatrikulierte
mich danach an der Freien Universität im schönen Dahlem. Meine neue
Stammstrecke wurde die damalige U-Bahn-Linie 2 (und heutige U3)
zwischen Wittenbergplatz und Thielplatz, ein Streckenabschnitt mit fast
lächerlich hoher Musikerfrequenz. Allein schon diesen einen, immer sehr
ordentlich gekleideten kleinen Südamerikaner mit seiner Gitarre hatte man
mindestens einmal am Tag im Waggon stehen, wie er mit fisteliger Stimme
ein sentimentales Liebeslied mit «Corazon» drin sang, als hätte ihn jemand
dazu verdonnert. Zu seinem Gesang und auch sonst trug er eine
vorwurfsvolle Miene zur Schau, vielleicht wegen der Ausbeutung der
Dritten Welt.
Im Studium lernte ich nach Berlin zugezogene Westdeutsche erstmals
selber und in größerer Zahl kennen. Es war nur eine Frage der Zeit
gewesen, bis das passieren würde, denn zugezogene Westdeutsche hatten
die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in West-Berlin von jeher
dominiert, was man als einheimische Schülerin, die sich vornehmlich in
einheimischen Schülerkreisen bewegte, nicht unbedingt mitbekommen
hatte. Das war in jedem Fall interessant, und es waren natürlich ein paar
ganz Nette dabei. Nach einigen Wochen hatte ich plötzlich Freunde, die gar
nicht in Berlin zur Schule gegangen waren und keine Ahnung hatten, wo
Bezirke wie Marienfelde und Rudow überhaupt liegen, geschweige denn,
wie es da aussieht. Und die das zehn, fünfzehn Jahre später immer noch
nicht wussten, es sei denn, sie hatten sich beizeiten auf eine romantische
Beziehung mit einem Ureinwohner oder einer Ureinwohnerin eingelassen.
Mit der fuhren sie dann hin und wieder zu den am Stadtrand lebenden
Eltern und staunten dabei aus dem Auto- oder Busfenster heraus: «Dass das
hier noch Berlin ist!»
Zum Ausgleich hatten die Studenten aus Westdeutschland aber, kaum
waren sie hier, sofort ihre Fühler in den Osten ausgestreckt und wussten
immer, in welche Clubs man gerade ging. Dabei nahmen sie weiterhin an,
dass ich mich am besten auskennen müsste, so als Berlinerin. Sie waren
sich nicht darüber im Klaren, dass sie eigentlich zwei Städte gleichen
Namens bewohnten, von denen mir die eine genauso neu war wie ihnen.
Nur ganz langsam gewöhnte ich mich überhaupt an den Gedanken, den
Osten in meine alltäglichen Bewegungen durch die Stadt mit
einzubeziehen. Um von Kreuzberg nach Wedding zu kommen, zum
Beispiel, fuhr ich noch lange auf den vertrauten Wegen um Mitte herum, bis
mich bei irgendeiner Gelegenheit eine – natürlich westdeutsche –
Kommilitonin darauf aufmerksam machte, dass ich einen Umweg nahm. An
den einst bizarren Geisterbahnhöfen der U-Bahn-Linien 6 und 8 hielten
jetzt die Züge. Man konnte dort einfach zum Spaß aus- und wieder
einsteigen, sogar an der Station mit dem fast schon karikaturistisch-
sozialistischen Namen «Stadion der Weltjugend».

In den achtziger Jahren waren die ersten «coolen» Reiseführer


herausgekommen, solche, in denen Insider-Tipps zu Kinolandschaft,
Shopping-Möglichkeiten und das Nachtleben Vorrang hatten vor den
konventionelleren Informationen über Historie und Öffnungszeiten von
Museen. Gerade unter West-Berlin-Besuchern gab es einen erhöhten Bedarf
an Antworten auf Fragen wie: Wo ist es wild, wo ist es cool, wo chic und
wo abgerissen, wo alternativ, wo lesbisch oder schwul, und wie muss man
aussehen, um dabei nicht negativ aufzufallen.
Hin und wieder wurde in solchen Stadtführern auch auf eine junge
Berliner Spezies hingewiesen, die mit hippen Neondiscobesuchern und
anderem Szenevolk wenig gemeinsam hatte: die «Vorstadtjugend». Diese
bevölkerte laut Reiseführer am Wochenende den Ku’damm, fiel in Kinos
und Diskotheken ein und nervte dabei total rum. So wie es die
Vorstadtjugend überall und zu allen Zeiten tat und tut und tun wird.
In West-Berlin allerdings gab es, in Ermangelung von Vorstadt,
tatsächlich gar keine Vorstadtjugendlichen. Es gab allenfalls den Stadtrand.
Und die Jugendlichen, die dort wohnten, waren mit der Innenstadt viel
stärker verbunden als echte Vorstadtjugendliche in echten Vorstädten, allein
schon deshalb, weil vom West-Berliner Rand aus gesehen der Blick
automatisch in die Stadt gerichtet war, denn drumherum verlief ja die
Mauer.
Es gab da also die große Gruppe derer, die im Berlin der Achtziger noch
zu jung waren, um zu irgendeiner interessanten oder gesellschaftlich
relevanten Szene zu gehören, die aber immer dabei waren, wenn die
anderen am Inszenieren, Posen und Machen waren. Die selber noch nicht
prägten, aber ihrerseits geprägt wurden, vom großen Getriebe West-Berlin,
mit allen seinen Sonderlichkeiten.
Diese Jugendlichen, das waren wir.
Das Stadion der Weltjugend wird 1950 anlässlich des ersten
«Deutschlandtreffens der Jugend» im Ost-Berliner Bezirk Mitte
errichtet, wo es das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Polizeistadion
ersetzt und zunächst Walter-Ulbricht-Stadion heißt. Bei Umbauten im
Folgejahr werden die Stadiontribünen mit den Trümmern des kurz
zuvor gesprengten Berliner Stadtschlosses aufgefüllt. Für die
10. Weltfestspiele der DDR wird es 1973 abermals umgebaut und
bekommt nun den Namen «Stadion der Weltjugend». Auch der
angrenzende U-Bahnhof wird umbenannt, was allerdings nur für die
West-Berliner Bevölkerung sichtbar ist, da der obere Zugang zur U-
Bahn-Station verschlossen und kaum sichtbar ist, während von
unten die West-Berliner Passagiere den Bahnhof ohne Halt
durchfahren (siehe Kapitel «Geisterbahn»). 1992 wird das Stadion
der Weltjugend abgerissen. Im Jahr 2005, nach dreizehn Jahren
Zwischennutzung als Golf- und Volleyballplatz, kauft der
Bundesnachrichtendienst das Gelände und beginnt dort im Oktober
2006 mit dem Bau seiner neuen Superzentrale.
[zur Inhaltsübersicht]

D
er U-Bahnhof Alt-Mariendorf war einer der beiden Endbahnhöfe der
Linie 6, und wie auf Endbahnhöfen üblich, warteten meistens auf
beiden Gleisen Züge, in die man sich schon hineinsetzen konnte, bevor sie
losfuhren. Manchmal allerdings gab es einen Zug, in den durfte man nicht
einsteigen, weil er die Strecke Richtung Tegel nicht zurück-, sondern zur
Wartung in den Betriebsbahnhof fahren würde. Der Schaffner brüllte dann
«NICHT einsteigen» in sein Mikrophon, in einem Ton, als würde er mit
einer besonders begriffsstutzigen Horde von Kindern schimpfen.
Nicht immer ganz zu Unrecht. Eines Morgens standen wir auf dem
Bahnhof, die diensthabende Schaffnerin schrie: «NICHT einsteigen!», und
plötzlich rannte Heike wie besessen los, sprang in den leeren Zug, die
Türen schlossen sich hinter ihr, und der Zug rollte Richtung
Betriebsbahnhof. Wir sahen Heike, wie sie uns durch eines der Fenster
vollkommen entsetzt anguckte. Sie presste eine Hand gegen das Glas, ihr
Mund ging auf und zu, aber man hörte sie nicht. Dann, kurz bevor Heike im
Tunnel verschwunden wäre, brüllte die Schaffnerin: «ZUG ANHALTEN!»
Der Zug hielt, die Türen gingen wieder auf, und Heike durfte aussteigen.
Die Schaffnerin rief: «Und ick sach noch laut und deutlich: ‹NICHT
einsteigen!› Dit nächste Mal hörnse mal zu, wat ick hier ansage, junge
Dame.»
«Sag mal, Heike», meinte Nicole, als wir in der richtigen U-Bahn saßen
und durch den Tunnel fuhren, «was wolltest du eigentlich im
Betriebsbahnhof?»
«Ach, Mann», sagte Heike und holte ein Heft aus ihrer Schultasche. So
einfach sollte Heike nun nicht zur Tagesordnung übergehen können, fand
ich und legte meine Hand auf ihre Schulter: «Du musst schon auch zuhören,
wenn man dir laut und deutlich etwas sagt, Heike!»
«Ist ja gut jetzt.»
Es war aber noch nicht gut, denn Anja wollte auch noch mal: «Schnell
warst du! Trainierst du heimlich?»
Jeden Morgen trafen wir uns unterirdisch auf dem U-Bahnhof Alt-
Mariendorf, um zusammen zur Schule zu fahren: Nicole, Anja, Heike und
ich. Alt-Mariendorf war die südliche Endstation der in Nord-Süd-Richtung
verlaufenden U6, und im Berliner Süden, da wohnten wir. Präziser gesagt:
Wir wohnten im mittleren Süden von West-Berlin, dort, wo die große,
abenteuerliche Stadt ganz besonders langweilig war, in den spießigen
Tempelhofer und Steglitzer Unterbezirken Lankwitz, Mariendorf und
Marienfelde. Weiter westlich lag Zehlendorf, da waren die Leute allgemein
reicher und akademischer. Weiter östlich war Neukölln mit den
Unterbezirken Britz, Buckow, Rudow und Gropiusstadt, wo die meisten
unserer Mitschüler zu Hause waren. Unsere Schule befand sich in Nord-
Neukölln, und da ging die Fahrt morgens auch hin, an jedem Schultag, eine
Dreiviertelstunde hin und eine Dreiviertelstunde zurück, sieben Jahre lang,
von 1983 bis 1990.

In Neukölln, Postbezirk 1000 Berlin 44, lebten auch meine Großeltern. Sie
bewohnten eine Zwei-Zimmer-Altbauwohnung mit Dielenboden und Stuck
an der Decke, in der sie acht Kinder großgezogen hatten. Vom Balkon aus
konnten sie ihre Kirche auf der anderen Straßenseite sehen, und die aus
Breslau vertriebenen Nonnen vom Orden der Armen Schulschwestern von
Unserer Lieben Frau gründeten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur
eine Straße weiter eine katholische Schule. Das waren die wichtigsten
Eckdaten für ein intaktes nachbarschaftliches Umfeld. Der Opa ging
Unterschriften sammeln für die staatliche Anerkennung der Schule, und
selbstverständlich wurden alle acht Kinder dort eingeschult, sieben Töchter
und ein Sohn.
Die jüngsten Kinder wohnten noch zu Hause, als die älteren schon die
ersten Enkel in Obhut gaben, damit sie von Oma Berge handgeriebener
Kartoffelpuffer mit Apfelmus serviert bekamen, dazu Malzbier und
hinterher selbstgebackenen Streuselkuchen. Wenn sie mit umgebundener
Schürze in der Küche vor sich hin werkelte, sang sie dabei ausgedachte
Lieder mit merkwürdig bedeutungslosen Texten, in denen zum Beispiel
«Bauze» auf «Plauze» gereimt wurde.
Als kleines Kind blieb ich oft bei den Großeltern über Nacht und ging
sonntags an der Hand meiner Oma mit zur Kirche, ein rotes
Backsteingebäude mit hohem Kirchturm, das trotz seiner Andersartigkeit
mittendrin in der Häuserfassade stand. Der Opa war nicht ganz so
verlässlich beim Kirchgang dabei, meistens kam er entweder später und
stellte sich hinten in die letzte Reihe, oder er blieb einfach zu Hause in
seinem Sessel sitzen und las die Zeitung. Wenn die Oma sich darüber
beschwerte, ging er manchmal so weit zu behaupten, die Kirche sei kein
Frosch, sie hüpfe nicht weg.
Es war eine Eigenart der Kirche, extrem lange zu dauern. Länger als
sonst irgendetwas, das ich kannte. Meine Oma saß mal, und mal stand sie,
dann kniete sie wieder. Ich machte Spiele mit meinen Fingern, deren
Unterhaltungswert sich bald erschöpfte. Danach sah ich mir die Bilder an.
Auf einem großen Wandgemälde vorn neben dem Altar war etwas Ovales,
Braunes drauf, das vielleicht ein Brot war oder ein Schuh, vielleicht auch
ein Klumpen Matsch. Vieles in der Kirche war irgendwie unklar. Während
der Gabenbereitung zum Beispiel sprach die Gemeinde den kryptisch-
eindrucksstarken Satz: «Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter
mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.» Ich
machte mir viele Gedanken darüber, wie und wann es wohl dazu käme, das
der Herr einginge unter einem Dach. Bei Pflanzen wusste ich, dass man sie
gießen muss, damit sie nicht eingehen. Aber der Herr?
Es gab viel Hall in der Kirche. Schon wenn etwas Kleines herunterfiel,
hörte man es überall. Ich musste mich sehr zusammenreißen, nicht laut in
die Stille zu rufen, um den Hall zu testen. Ab und zu wollte meine Oma mir
zeigen, wie ich die Hände zum Gebet falten solle, dann guckte ich schnell
weg, oder ich tat so, als wäre es mir nicht möglich, meine Hände so zu
halten wie sie ihre. Danach blätterte ich im Gesangbuch, wo es seit dem
letzten Mal auch nichts Neues zu entdecken gab, und irgendwann, wenn ich
kurz davor war, vor Langeweile zu kollabieren, sang der Pfarrer schließlich:
«Gehet hin in Frieden.»
«Dank sei Gott, dem Herrn», sang meine Oma, und die Orgel ertönte
zum Schlusslied. Am Ende machten alle noch eine Kniebeuge neben der
Bank, tauchten die Hand ins Weihwasserbecken und bekreuzigten sich. Ich
hüpfte raus ans Licht und sprang die drei Stufen der Steintreppe vor der
Kirche im Ganzen hinunter.
Oma klemmte ihre Handtasche unter und sagte: «So, dann werd ich jetzt
mal Mittag machen.»

Gut zwanzig Jahre später, nachdem die Mauer gefallen und beide
Großeltern gestorben waren, brachte es ihre Gegend zu deutschlandweiter
Prominenz als amtlich beglaubigter Problembezirk mit hoher
Arbeitslosigkeit, hohem Ausländeranteil und hoher Jugendkriminalität. In
der Berichterstattung über soziale Missstände in Neukölln wird immer
wieder gern darauf verwiesen, wie viele Geschwister der Intensivstraftäter
XY hat und wie viele Mitglieder die Familie Z., wobei diese Familien meist
nicht Familien, sondern Clans genannt werden. Offenbar haftet
Großfamilien, wenn sie nicht gerade von Adel sind, nach wie vor etwas
gesellschaftlich Suspektes an.
Meine Großeltern kamen zwar nicht aus dem Nahen Osten nach
Neukölln, wie die meisten Zuwanderer heute, sondern aus Ostpreußen, und
als Religion hatten sie den Katholizismus im Schlepptau. Aber eine
Großfamilie auf engstem Raum gründen, das konnten sie auch.
Die katholische Schule in ihrer Nähe hatte sich seit ihrer Gründung im
Jahr 1948 erheblich vergrößert. Sie war zweimal umgezogen und hatte sich
in eine Grund- und eine Oberschule geteilt. Die Oberschule erhielt in den
sechziger Jahren ein großzügiges Areal auf dem Gelände einer
Kleingartenkolonie, mit zwei eigens gebauten Schulhäusern, einer
Turnhalle, zwei Schulhöfen, Laubengängen und Blumenbeeten. Hinter dem
einen Schulhof lag das Wohnhaus der Ordensschwestern, von denen seit
Schulgründung nicht mehr allzu viele übrig waren. Diejenigen, die noch
lebten, waren hochbetagt, und Neuzugänge waren kaum zu verzeichnen.
Es gab noch mehr katholische Schulen in Berlin: neben einigen
Grundschulen zum Beispiel das Canisius-Kolleg im Bezirk Tiergarten, wo
man, für Berlin ungewöhnlich, schon in der fünften Klasse aufgenommen
wurde und Latein als erste Fremdsprache hatte. Die Jesuitenschule befand
sich in einem merkwürdigen Niemandsland zwischen den unendlichen
Weiten des Tiergartens und großen, verwunschenen Grundstücken, auf
denen pittoreske Ruinen verlassener Botschaftsgebäude der ehemaligen
Achsenmächte unter dichtem Gestrüpp vor sich hin verfielen. In
Charlottenburg war die Liebfrauenschule, in Schöneberg St. Franziskus und
im Berliner Norden hatten sie die Salvator-Schule – aber mit dem Norden
hatten wir noch weniger zu tun als mit Zehlendorf. Bis heute hält sich die
informelle Grenze zwischen Nord- und Süd-Berlin weitaus hartnäckiger als
die zwischen Ost und West.
Morgens in der U-Bahn verglichen wir unsere Hausaufgaben oder fingen
überhaupt erst damit an. Manchmal, wenn es sehr ruckelte oder der Zug
plötzlich bremste, hatte man einen langen, ausgerutschten Strich im Heft.
Überhaupt fielen die in der Bahn erledigten Hausaufgaben generell krakelig
aus und konnten von den Lehrern leicht als U-Bahn-Werke identifiziert
werden. Ab und zu wurden Grundsatzvorträge darüber gehalten, dass
Aufgaben konzentriert und sorgfältig zu Hause und nicht husch, husch auf
den Knien in der Bahn gefertigt werden sollten, es heiße schließlich
Hausaufgaben und nicht U-Bahn-Aufgaben, das war dann der Spruch dazu.
Allerdings war es nun einmal so, dass wir jeden Morgen eine
Dreiviertelstunde in der U-Bahn saßen, wo es sonst nicht viel zu tun gab,
während es nachmittags nach der Schule sehr viel zu tun gab. Die U-Bahn
bot sich deshalb sehr wohl dafür an, dort Aufgaben zu erledigen, wie auch
immer sich diese nannten. Schließlich wollten wir nicht die ganze Fahrt
lang auf die gereimte Brot-Reklame über den Zugfenstern starren: «Janz
wurscht, wat druffliecht – eens ist wichtig: mit Paech-Brot liechste imma
richtig!» Oder: «Beim Jawort schweigt die junge Braut, weil sie noch
schnell ein Paech-Brot kaut!» Dann schon lieber Hausaufgaben.
Neben Nicole, Anja, Heike und mir stiegen noch andere Schüler unserer
Schule jeden Morgen am Bahnhof Alt-Mariendorf ein. Zum Beispiel der
Angeber und Napoleon. Der Angeber war groß und hager mit einem spitzen
Adamsapfel und einem Aktenkoffer als Schultasche. Napoleon war kleiner
als der Angeber, hatte einen sportlichen Rucksack und wirkte auf
undefinierbare Art französisch. Wenn beide im Zug nebeneinandersaßen,
sah man Napoleon kaum jemals reden, denn der Angeber redete die ganze
Zeit. Ob Napoleon ihm dabei zuhörte, war schwer zu sagen, es schien aber
nicht so. Der Angeber guckte manchmal auch zu uns rüber oder sagte hallo,
Napoleon aber sagte nie hallo. Er beachtete uns gar nicht. Wir fanden beide
ziemlich stulle, beobachteten sie aber genau, wo sie uns nun mal jeden
Morgen, und oft auch noch am Nachmittag, gegenübersaßen. Jedenfalls so
lange, wie sie auf unserer Schule waren, denn der Angeber und Napoleon
waren zwei Stufen über uns. Als wir sie nicht mehr trafen, vermissten wir
sie ein bisschen, und Anja gestand, dass sie Napoleon «eigentlich ganz süß»
gefunden habe.
«Ich seh den manchmal in der Kirche», meinte Nicole. «Soll ich es ihm
sagen?»
«Spinnst du?», rief Anja, und dann mit Nachdruck: «Wehe!»
Anja war sehr blond und bekam schnell einen roten Kopf.
Wenn wir in der U-Bahn keine Hausaufgaben machten, langweilten wir
uns und wurden zur Pest. Heike hatte dieses Spiel erfunden, bei dem wir
einem beliebigen Fahrgast entgeistert auf die Schuhe starrten und dabei
tuschelten. Höchst verunsichert versuchten unsere Opfer irgendwann, die
eigenen Schuhe möglichst unauffällig zu inspizieren. Dabei konnten sie
natürlich nichts Besonderes entdecken. Sie warteten ein paar Augenblicke
ab und sahen dann abermals und genauer hin. Danach guckten sie auf
unsere Schuhe, und irgendwann stiegen sie aus, oder wir, und das Rätsel
wurde niemals aufgelöst. Wahnsinnig komisch fanden wir das.
Manchmal setzten wir uns nicht nebeneinander, sondern verteilten uns im
Waggon und taten so, als würden wir uns nicht kennen. Dabei versuchten
wir vorsätzlich, nicht zu lachen, was ein probates Mittel war, grandiose
Lachanfälle zu evozieren. Deren plötzliches Auftreten konnten die anderen
Mitfahrenden wiederum nicht einordnen, was wir grässlicherweise wieder
total komisch fanden und woraufhin wir noch mehr lachen mussten. Alle
anderen waren natürlich schwer genervt, besonders Napoleon.
Die meisten Menschen sahen es uns aber letztlich nach. Sie dachten
vielleicht: Ach, die armen Mädchen in dieser engen grauen Stadt,
wenigstens lachen sie.

Auguste Viktoria Friederike Luise Feodora Jenny von Schleswig-


Holstein-Sonderburg-Augustenburg, Gemahlin von Wilhelm II. und
letzte deutsche Kaiserin, engagiert sich als Schirmherrin des
«Evangelischen Kirchenbauvereins» zum Ende des
19. Jahrhunderts für die Errichtung evangelischer Kirchen in Berlin.
Gleichzeitig ordnet sie an, dass katholische Kirchen nicht frei
stehend, sondern in die Häuserfronten hineingebaut werden
müssen.
[zur Inhaltsübersicht]

Z
ur Grundschule war ich meistens mit dem Rad gefahren, von Lankwitz
nach Marienfelde, jeden Tag ungefähr zwanzig Minuten hin und
wieder zurück. Ein unspektakulärer Stadtrandschulweg durch die Ausläufer
unserer Neubausiedlung hindurch, über eine vierspurige Straße, an einem
Polizei-Übungsgelände vorbei und zum Schluss durch lauschige
Einfamilienhausstraßen mit alten Bäumen am Straßenrand. Als es Winter
und die Temperaturen ekelhaft wurden, zeigte mir meine Mutter, wie ich
mit dem Bus zur Schule käme. Dafür musste ich erst in einen kleinen
einstöckigen Bus steigen und dann, am dörflichen Knotenpunkt Lankwitz-
Kirche, wechseln in einen großen gelben Doppeldecker der Buslinie 2.
Erstaunlich viele Leute wollten morgens mit dem 2er-Bus fahren, unter
anderem die Schüler eines Oberstufenzentrums. Der Bus war, wenn er
Lankwitz-Kirche anhielt, bereits gut gefüllt. Sitzplätze gab es keine mehr,
weder unten noch auf dem Oberdeck. Trotzdem standen an der Haltestelle
all diese Leute, und ich mittendrin. Einmal sah ich im Fernsehen einen
Bericht über Tokio und wie eng die Leute da in der U-Bahn
zusammenrücken müssen, und mein Vater sagte: «Ach du Scheiße, so
schrecklich ist es also in Tokio», aber ich sah keinen Unterschied zum 2er-
Bus.
Oft mussten Leute sogar draußen bleiben und auf den nächsten Bus
warten, und manchmal war ich darunter. Ab Lankwitz-Kirche rauschte der
Bus an den folgenden Haltestellen einfach vorbei, weil sowieso keiner mehr
hineinpasste. Als Grundschulkind war ich kleiner als die Schüler des
Oberstufenzentrums und trug auch noch diesen Schulranzen auf dem
Rücken, einen sperrigen roten Scout. Das machte es nicht leichter.
Erleichtern oder erschweren konnten es einem nur die Busfahrer. Manche
schlossen einfach die Tür, obwohl noch Leute hineingepasst hätten, oder
brüllten Verbote und Kommandos ins Mikrophon. Einige sagten aber auch:
«So, jetzt alle mal noch enger zusammenkuscheln, damit wa keen draußen
lassen müssen!» Oder: «Achtung, jetzt jeht’s um die Kurve, umfallen kann
ja keener.»
An einem besonders kalten Morgen, als sich die Schüler im 2er-Bus
schon stapelten, wartete an einer Haltestelle ein kleines Mädchen, kleiner
als ich, mit Schulranzen, Wollmütze und Puppe im Arm. Der Busfahrer
fragte: «Kiekt ma da draußen, solln wa die Kleene nich noch mitnehm mit
ihrer Püppi?» Der ganze Bus johlte: «Mit-neh-men!», und schob sich noch
ein bisschen enger aneinander, damit die Kleene einsteigen konnte mit ihrer
Püppi.
Viele Buskinder in meinem Alter trugen ihre Monatskarte in einem
Lederetui um den Hals, wohl, damit sie nicht verlorengeht. Mir persönlich
gefiel das nicht so gut. Noch unschöner als umgehängte Monatskarten fand
ich nur die meist roten Zahnspangendosen, die man ebenfalls an einer
Strippe um den Hals tragen konnte. Meine Monatskarte hatte ich in einer
blauen BVG-Plastikhülle stecken und konnte auch so gut auf sie aufpassen.
In der Oberschule stopfte man später alles Mögliche mit in diese blaue
Monatskartenhülle hinein; Briefchen, Zettel, Fotos, Notizen. Außen
gehörten Aufkleber darauf. Eine dicke Monatskartenhülle mit interessantem
Inhalt war ein wichtiger Beleg für den sozialen Status.
Für die Monatskarte selber musste man jeden Monat eine neue Marke
kaufen, und zwar an einem Monatsmarkenverkaufsschalter. Davon gab es in
der ganzen Stadt aber nur ein paar wenige. Einer war in einem dunklen,
verpissten Winkel vom U-Bahnhof Hermannplatz angesiedelt. Wenn man
sich dort zum Ende des Monats eine Stunde vor Schalteröffnung einfand,
standen schon mindestens vierzig Leute Schlange. Auf die Sekunde
pünktlich ging der graue Rollladen vor dem Schalterfenster hoch, und
dahinter kam ein übellauniger, teigiger Beamter zum Vorschein, der
Machthaber über die Herausgabe der kleinen Klebemarken. Noch etwas
später schlängelten sich die Monatsmarken-Aspiranten durch den ganzen
Bahnhof, die Wartezeit lag bei bis zu fünf Stunden. Und wehe, man
brauchte nicht nur eine neue Marke, sondern auch eine neue Monatskarte,
weil die alte abgelaufen war. Dann hatte man besser das ganze korrekt
ausgefüllte und korrekt abgestempelte Arsenal von Formularen, Passbildern
und Bescheinigungen dabei, sonst wurde man vom teigigen Schalterdiktator
angeschnauzt und ohne Monatskarte weggeschickt.
Einmal, bei einer Familienfeier, erzählten meine Tante und mein Onkel
von der ewigen Warterei in einem der «Büros für Besuchs- und
Reiseangelegenheiten», in denen man die Visa für einen Besuch in der
DDR beantragen musste. Alle schüttelten entrüstet die Köpfe und sagten,
wie schrecklich, diese Schikane, aber ich sah keinen Unterschied zur
gängigen Monatsmarkenverkaufspraxis der BVG.

Im Mai 1987 führen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) die


Möglichkeit des Abonnements für Monatsmarken ein.
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Die Passage

J
eden Morgen um acht war der gesamte U-Bahnhof Karl-Marx-Straße
rappelvoll mit Katholiken im Alter von zwölf bis zwanzig, die sich
unbedingt dort treffen mussten, um, ihrem altersgemäßen Herdentrieb
folgend, den Weg bis zur Schule grüppchenweise gehen zu können. Wegen
der langen Anfahrtswege vieler Schüler begann der Unterricht erst um
Viertel nach acht, oder, im Berliner Sprachgebrauch: um viertel neun. Die
BVG beklagte sich in regelmäßigen Abständen bei der Schulleitung über
die Verstopfung des Bahnhofs. Daraufhin wurden wir von den Lehrern
ermahnt, uns nicht «unnötig» am Bahnsteig aufzuhalten, was wir aus
unserer Sicht auch gar nicht taten, denn schließlich trafen wir uns dort, um
zusammen zur Schule zu gehen, und das war nicht unnötig, sondern total
nötig. Das sah man anders bei der BVG. Die Beschwerde bei der Schule
war nur Teil einer größeren, konzertierten Aktion zur Rückeroberung des
Bahnhofs, bei der wir unter anderem per Lautsprecher dazu aufgefordert
wurden, «den Bahnsteig nach Verlassen des Zuges unverzüglich zu
räumen». Wer trotzdem noch dort herumstand, bekam es mit stocksauren
BVG-Beamten zu tun, die mit Bußgeldern drohten. Wir sahen uns dann
vorübergehend dazu gezwungen, uns oberirdisch zu treffen, vorzugsweise
an der Passage.
Die Passage, ein gründerzeitlicher Durchgang zwischen Karl-Marx- und
Richardstraße, war einstmals als prunkvolles Kommerz- und
Amüsierzentrum im Herzen Neuköllns angelegt worden, mit Kino und
Festsaal und Pipapo. Aber das war vor dem Krieg gewesen. Jetzt war die
Passage bröcklig und von zerzausten Neuköllner Stadttauben bewohnt. Die
Inhaber der Geschäfte wechselten häufig, und manchmal standen die Läden
lange leer. Eine Zeitlang gab es einen subkulturell orientierten
Klamottenladen mit einem Doc-Martens-Schuhregal vor der Tür, aber
keiner von uns hat ihn jemals betreten. Ich erinnerte mich, dass sich ganz
früher das Kartoffelgeschäft «Krohn» an dieser Stelle befunden hatte, in
dem meine Oma ihre Kartoffeln kaufte für die Kartoffelpuffer. Damals fand
ich nichts Besonderes daran, dass es einen Laden nur für Kartoffeln gab,
und auch dass meine Oma ihren Einkauf mit den Worten «Na, haben Sie
schöne Kartoffeln heute?» einzuleiten pflegte, war völlig normal.
Irgendwann war dann ein McDonald’s in der Passage, und im September
1989, als wir fast fertig waren mit der Schule, wurde die Passage doch noch
rehabilitiert, indem das schöne große Passage-Kino da reinkam, wo achtzig
Jahre zuvor schon einmal eines gewesen war. Darüber freuten wir uns, nicht
nur wegen der Filme, sondern auch weil es schick und sauber war und
damit das Gegenteil vom Möbelladen.
Der Möbelladen war Horror gewesen. Er war das Ranzigste, was man
sich vorstellen konnte, und er war riesig. Alles, was später Kino wurde, war
vorher Möbelladen. Das große, hohe Foyer war von oben bis unten
zugerümpelt mit alten, speckigen Möbeln, und auch draußen in der Passage
standen überall die keimigen Sofas herum und ließen sich von den Passage-
Tauben vollkacken. Dazwischen saßen die Betreiber des Möbelladens. Sie
trugen runde, verspiegelte Sonnenbrillen und lange Bärte, fuhren Harleys
und sahen allgemein so aus, als wären sie Mitglieder der zeitgleich
erfolgreichen Band ZZ Top. Ein beliebtes Spiel beim Durchgang durch die
Passage war es, jemanden überraschend auf eines der Ekelsofas zu
schubsen. Es war deshalb ratsam, immer auf der Hut zu sein und nicht zu
nah an den Garnituren vorbeizugehen. Das Möbelgeschäft blieb mir ein
Rätsel. Es konnte unmöglich Menschen geben, die Geld dafür bezahlten,
diese Sachen anzufassen und mit nach Hause zu nehmen. Der tägliche Weg
durch die vom Möbelladen dominierte Passage begründete in mir eine
tiefsitzende Abneigung gegen Trödelläden und Flohmärkte und deren
Geruch und ungerechterweise auch gegen die am Möbelladen völlig
schuldlose Band ZZ Top.
Im Jahr 1908 lässt der Kaufmann Paul Dädlich auf einem schmalen
Grundstück zwischen Karl-Marx- und Richardstraße das «Rixdorfer
Gesellschaftshaus» als Ladenpassage und Amüsierzentrum mit
Filmtheater und Ballsaal errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg
folgen Leerstand und Zwischennutzung. 1985 beginnt die Yorck-
Kino-Gruppe mit der Restaurierung der alten Kinosäle. Nachdem der
ehemalige Ballsaal 1988 bereits vom Musiktheater «Neuköllner
Oper» bezogen worden war, eröffnete am 13. September 1989 das
neue Passage-Kino.
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Unter den Linden

D
ie Straße war voller Trümmer gewesen, als Oma im Sommer nach
Kriegsende mit den ersten sechs von später acht Kindern nach
Neukölln zurückkehrte. In der Straßenmitte gab es immerhin einen
freigeräumten Trampelpfad. Sie waren gekommen, ohne überhaupt zu
wissen, ob das Haus noch stand. Das Gebäude war in Ordnung, aber in der
Zweizimmerwohnung hatte man eine fremde Frau einquartiert, deren Haus
nicht mehr in Ordnung war, eine Metzgerin namens Frau Gut. Sie schlief
fortan im Wohnzimmer, die Oma mit den Kindern im Schlafzimmer. Wo
ihre Männer abgeblieben waren, wussten sie beide nicht. Frau Gut wohnte
bei ihnen, bis sie endlich eine eigene Bleibe gefunden hatte und die Familie
ihr zweites Zimmer wieder selber beziehen konnte.
Ein paar warme Sommerwochen lang hatten sie ihre beiden Zimmer für
sich. Dann, an einem Tag im August, an dem sich die Kinder schon
wahnsinnig auf das große Weißbrot freuten, das meine Oma aus dem frisch
erstandenen Mehl backen wollte, klingelte es an der Tür, und draußen stand
die halbe aus Ostpreußen geflüchtete Verwandtschaft. Sieben Frauen und
drei Kinder. Sie waren sehr erschöpft, hatten vorläufig keine Unterkunft
und großen Hunger. Und die Krätze.
Immerhin konnten einige von ihnen professionell schneidern, und so
wurden aus überflüssig gewordenen Textilien diverse Kleidungsstücke
improvisiert. Die kleine Gitte bekam zum Beispiel ein sehr schickes, aber
übel kratzendes Kleid aus einer alten Soldatenuniform, und nachdem von
der endlich überflüssig gewordenen Hakenkreuzflagge das aufgenähte
Hakenkreuz abgetrennt war, wurde daraus ein schönes rotes Sommerkleid
für Renate.
Kurz vor Weihnachten rappelte der Briefschlitz, und auf die Dielen im
Flur fiel eine Postkarte aus Frankreich. Sie war vom Opa, aus französischer
Kriegsgefangenschaft. «La Schapelle», las Oma vor mit ihren schon damals
nicht so guten Augen. Opa schrieb, es gehe ihm gut und er werde bald
wieder da sein. Die Postkarte wurde an die Spitze des Weihnachtsbaums
gesteckt, was ein sehr angemessener Ort war, denn Weihnachtsbäume
waren Opas große Leidenschaft.
Von Beruf war er Tischler und an der Staatsoper Unter den Linden
angestellt, wo es zu seinen saisonalen Aufgaben gehörte, den großen
Weihnachtsbaum im Opernfoyer zu schmücken. Immer in der Adventszeit
beschaffte er die riesige Tanne für die Treppenhalle und richtete sie
weihnachtlich her, auch in jenen Jahren, als die nationalsozialistische Partei
die Macht übernommen hatte und das Haus gern zum Repräsentieren
nutzte. Hermann Göring, der zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt gerade
den eigens für ihn ausgedachten Titel «Reichsmarschall» trug, ordnete an
einem Tag im Advent an, der Weihnachtsbaumschmücker der Staatsoper
möge auch in seinem Heim den Baum beschmücken. Göring wohnte
außerhalb von Berlin, in der Schorfheide, auf einem, wie man munkelte,
übertrieben großen Anwesen, das er nach seiner verstorbenen Frau Carin
«Carinhall» genannt hatte. Und so setzte Opa sich in die S-Bahn, fuhr da
raus und dekorierte den Baum von Hermann und seiner aktuellen Frau
Emmy Göring. Der zur Verfügung gestellte Baumschmuck war vermutlich
der Ausstattung des Opernbaumes nachempfunden, von bunten
Hakenkreuzanhängern aus Blech oder ähnlichen Kuriositäten hat Opa
jedenfalls hinterher nichts berichtet.
Nun war also wieder Weihnachten, und Opa war nicht da, um den Baum
zu schmücken; nur seine Postkarte aus La Chapelle hing daran. Es dauerte
noch genau ein Jahr, bevor er zu seiner Familie zurückkehrte. Pünktlich
zum Weihnachtsfest 1946 kam er mit einem Zug aus Frankreich und
schmückte den Baum, zu Hause in Neukölln und an der Staatsoper Unter
den Linden.
Neukölln und Unter den Linden befanden sich nun allerdings in politisch
und wirtschaftlich auseinanderdriftenden Gebieten. Der Arbeitsplatz im
Bezirk Mitte gehörte zum sowjetischen, der Neuköllner Wohnort zum
amerikanischen Sektor der Stadt. Nachdem Nahrungsmittel lange Zeit nur
auf Bezugsschein zu haben waren und alles andere auf dem Schwarzmarkt
getauscht wurde, gab es im Sommer des Jahres 1948 endlich neues, stabiles
Geld, die D-Mark. Im Sowjetsektor hatten sie die schöne D-Mark aber
nicht. Da hatten sie jetzt eine andere Mark, und in dieser Mark bekam Opa
sein Gehalt ausgezahlt – mit dem die Oma zu Hause in Neukölln nichts
kaufen konnte. Die Kinder wurden zum Einkaufen bis in die sowjetische
Zone nach Treptow geschickt. Das war nicht mal eben um die Ecke,
sondern ein weiter Weg, vor allem retour, mit vollen Einkaufstaschen.
Opas Anstellung als Bühnentischler an der Oper hatte aber ohnehin bald
ein Ende, denn allen Angestellten mit Wohnsitz in West-Berlin wurde
alsbald gekündigt. In einem Schreiben teilte man ihnen mit, dass «die
Provokationen des kapitalistischen Adenauer-Regimes» diesen Schritt
leider unausweichlich machten.
Natürlich hatte zu diesem Zeitpunkt niemand die Absicht, eine Mauer zu
errichten.

1743 wird auf dem Prachtboulevard Unter den Linden die Königliche
Hofoper fertig gestellt, der Architekt ist Wenzeslaus von
Knobelsdorff. Genau einhundert Jahre später brennt das Gebäude
vollständig nieder und wird im Jahr darauf, 1844, als Neubau wieder
eröffnet. Nach dem Ende der Monarchie erhält das Haus den Namen
«Staatsoper Unter den Linden». Im Zweiten Weltkrieg wird es durch
Bomben zerstört; 1941 beginnt der Wiederaufbau. Seit 2010 wird die
Staatsoper umfangreich saniert, für die Aufführungen wird
vorübergehend das Schillertheater in Charlottenburg genutzt.
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A
ls Kind blieb ich manchmal eine ganze Woche bei den Großeltern,
weil meine Eltern verreist waren. Ich schlief mit der Oma im großen
Bett, Opa übernachtete im Wohnzimmer. Im Winter stand Oma sehr früh
auf, heizte die Öfen an und legte sich dann wieder hin. Abends wurde
ferngesehen.
Im Sommer goss Oma die Geranien auf dem Balkon, und wir fuhren
zusammen in den Schrebergarten nach Britz. Britz ist offiziell ein
Unterbezirk von Neukölln, der mit dem bekannteren Kiez aber keinerlei
Ähnlichkeit aufweist. In Britz lebt man grün und beschaulich, und die
Straßen tragen Namen wie Onkel-Bräsig-Straße, Trappenpfad oder
Möwenweg. Der Garten gehörte zur Laubenkolonie «Alpental», die am
Rande eines Industriegebiets lag, direkt an der Grenze. Ich wunderte mich
nicht darüber, dass eine völlig plane Berliner Gartenkolonie in Mauernähe
«Alpental» hieß.
Der Weg vom U-Bahnhof Blaschkoallee zur Gartenkolonie war lang für
ein Kind, das ohnehin nicht gern lief, dazu staubig und öde. Rechts des
Weges lagen Brachen hinter Backsteinmauern, links eine weitgehend
unbefahrene Straße mit kaputtem Kopfsteinpflaster und dahinter
irgendwelche Lagerhallen für Bretter. Schließlich, nachdem man das Tor
zur Kolonie passiert hatte, ging es an einer Reihe von anderen Gärten
vorbei. Gärten mit adretten braunen Holzhäuschen, wie man sie in den
echten Alpen findet, zum Teil sogar mit Hirschgeweihen dran. Davor
jeweils sehr gepflegter Rasen, Tannenbäume, Blumenbeete, plätschernde
kleine Brunnenanlagen, Zwerge.
Unsere Parzelle war nicht so. Der Rasen war viel zertrampelter und
voller Gänseblümchen und Löwenzahn, und manchmal lagen mengenweise
zermatschte Kirschen darauf herum. Der Gesamteindruck war irgendwie
uneinheitlich. Mein Opa pflanzte willkürlich hier mal eine Rose und dort
eine Tulpe, es gab keine Figuren, Brunnen oder Geweihe, und die Laube
war nicht aus Holz, sondern grau verputzt mit einem Vordach aus
gelblichem Wellplastik, auch «Berliner Welle» genannt. Die Pächter der
anderen, adretteren Anlagen waren vom wochenendlichen Remmidemmi in
unserer Parzelle nicht begeistert.
Es war phantastisch. An warmen Tagen wurde das Planschbecken
aufgepustet, alle, die kamen, brachten ein paar Snacks mit, und Oma hatte
mehrere Bleche voll Streuselkuchen gebacken. Der Tisch und die
Liegestühle wurden aus der Laube geholt und unter den Apfelbaum gestellt.
Ich drehte mich an einer Hand um die Eisenstange, die das Vordach der
Laube stützte, bis meine Handfläche ganz heiß wurde und nach Eisen roch.
Opa hatte einen Herzschrittmacher, und Oma hatte Zucker und schlechte
Augen. Wenn sie den Kuchen auf den Tisch stellte, sagte sie: «Nehmt euch!
Ich darf ja nicht», und wenn man ihr etwas zeigen wollte: «Ich kann ja nicht
sehen.»

Noch öfter als ich war Omas Cousine Martha zu Besuch bei Oma und Opa.
Sie saß auf dem Sofa, gackerte immer über irgendetwas und wirkte leicht
verstrahlt. Gern tischte ich ihr wild erfundene Geschichten aus meinem
Alltag auf, in denen es hoch herging. Dann schlug sie die Hände über dem
Kopf zusammen und rief: «Is nicht wahr!», und zu meiner Oma: «Fränze!
Was die mir hier wieder erzählt!»
Oma: «Na, lass sie mal erzählen.»
Gemeinsam mit Tante Martha sahen wir uns die Hochzeit von Prinz
Charles und Lady Diana an, die beeindruckend war, aber auch sehr lang.
Oma und Tante Martha waren ganz ergriffen, besonders davon, dass im
Wappen von Prinz Charles das Motto «Ich dien» zu lesen war. «Ich dien»,
sagte Oma immer wieder und nickte anerkennend. Es bestand kein Zweifel
daran, dass dieser Mann ein guter und höchst integrer Mensch sein musste,
und ein Prinz war er obendrein. Nur leider würde ich ihn nicht mehr
heiraten können. Sehr viel später empfahl mir meine Mutter, ich solle mir
doch «den Felipe von Spanien» angeln. Sie hatte im Fernsehen eine Doku
über ihn gesehen und meinte: «Du, der hat ein paar sehr schöne
Ländereien.»
Opa war längst nicht mehr am Leben, sein Sessel in der Ecke am Fenster
schon lange leer, als ich bei Oma war und Kartoffelpuffer serviert bekam.
Ein Kartoffelpuffer hatte einen komischen schwarzen Fleck, der anders
aussah als einfach nur angebrannt. Ich schnitt den Fleck ab, pulte mit dem
Messer daran herum und sah, dass Oma einen Käfer mitgebacken hatte,
einen dicken Junikäfer. Ich sagte ihr nichts davon und entsorgte das Insekt
unauffällig über der Balkonbrüstung, von wo es vier Stockwerke
herunterfiel aufs Neuköllner Straßenpflaster. Sie konnte wirklich nicht gut
sehen.

Als im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung die Städte


wachsen, entsteht die Idee der «Armengärten», in denen
Arbeiterfamilien und Bedürftige selber Obst und Gemüse anbauen,
sich erholen und ihren Kindern Naturnähe bieten können. Im Jahr
2012 existieren laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und
Umwelt in Berlin 74094 Kleingärten in 932 Kleingartenanlagen, die
zusammen eine Fläche von 3046 Hektar (rund 3,5 Prozent der
Stadtfläche) einnehmen und sich zu relativ gleichen Teilen auf
ehemalige Ost- und West-Bezirke verteilen.
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Zauberkönig

I
ch war froh darüber, dass wir in Lankwitz ganz anders wohnten als Oma
und Opa in Neukölln. Unser Haus war neu und sieben Stockwerke hoch,
und trotzdem musste man niemals Treppen laufen, denn es gab einen
Fahrstuhl. Die Wohnungen waren hell, die Wände darin nicht so hoch wie
in den Altbauten, und ringsherum war alles grün mit Wiesen, Bäumen und
Gebüschen. Meine Freundin Judith und noch ein paar andere Kinder
wohnten im selben Haus, und in den Nachbarhäusern gab es noch viel mehr
potenzielle Spielgefährten. Der Spielplatz als zentraler Treffpunkt lag direkt
vor der Tür. Ich ging einfach raus oder klingelte bei jemandem, zuerst
meistens bei Judith.
Bei Oma und Opa im Haus lebten nur alte Leute wie Frau Ewert oder
Frau Zichi, und wenn wir Kinder zu viel tobten, kamen sie und beschwerten
sich. Irgendwann zog bei Oma nebenan auch eine Familie ein. Sie
stammten aus einem anderen Land, und ihr Sohn hieß Attila. Manchmal
ging ich rüber zum Spielen; es gab dort sehr flauschige Auslegeware und an
den Wänden viele Fotos in silbernen Rahmen.
Die anderen Kinder aus der Lankwitzer Nachbarschaft mussten immer zu
einer bestimmten Zeit wieder zu Hause sein, zum Beispiel um sechs, oder
sie sollten nur da spielen, wo ihre Mütter sie sehen und irgendwann
hineinrufen konnten. Manche durften nicht alleine in die Einkaufspassage
oder über die Straße. Für mich aber gab es keine Vorgaben. Ich durfte hin,
wohin ich wollte, und ging dann nach Hause, wenn die anderen gingen. Als
mir das auffiel, bat ich meine Mutter darum, mir auch mal irgendetwas zu
verbieten und mir zu sagen, wann ich zu Hause sein muss.
«Was soll ich dir denn verbieten?», fragte sie.
«Na, irgendwas.»
«Na gut, ich verbiete dir, hinterm Haus zu spielen.»
«Nein, das geht nicht!»
«Was willst du denn hören? Was dürfen denn die anderen Kinder nicht?»
«Kathrin darf nicht rüber ins Einkaufszentrum, und Jana darf nur da
spielen, wo ihre Mutter sie noch sehen kann, vom Fenster oder vom Balkon
aus.»
«Okay, dann darfst du jetzt auch nicht mehr ins Einkaufszentrum.»
«Und wenn ich mir bei Zuntz Gummimäuse kaufen will?»
«Dann darfst du.»
Danach rief sie gleich bei Tante Evi an und erzählte ihr, dass ich mich
über mangelnde Verbote beklagt hätte.
Dabei war es nicht so, dass ich mich vor nichts zu fürchten hatte. Im
Gegenteil, es gab sehr viel zu fürchten. Das unangefochten
Allerfürchterlichste war die Affenmaske. Sie tauchte eines Tages auf dem
Spielplatz auf, ein Menschenkörper mit einem schrecklichen Affenkopf.
Die Affenmaske jagte ein paar ältere Kinder über den Spielplatz, die
schreiend auseinanderstoben. Ich rannte auch, beziehungsweise meine
Beine rannten ganz von allein, und zwar irrsinnig schnell, so schnell, dass
ich es selber gar nicht richtig mitbekam. Als wäre ich den gesamten Weg
und durch alle Türen hindurch in einem einzigen Satz gesprungen, hing ich
plötzlich an meiner Mutter und wollte sie nicht wieder loslassen.
Es gab diese Geschichte von einer etwas dicklichen Cousine, die nach
dem Krieg draußen vor dem Haus spielte, als jemand aus Quatsch rief: «Die
Russen kommen!» Die Cousine rannte los und sprang durchs geöffnete
Fenster, eine Leistung, die hinterher selbst die sportlichen älteren Brüder
nicht wiederholen konnten. Russen und Affenmasken konnten ängstlichen
Kindern Superkräfte verleihen.
Meine Mutter blickte aus dem Fenster und sagte: «Guck doch mal, das ist
nur ein Kind mit einer Faschingsmaske! Die spielen nur.» Ich kam nicht ans
Fenster und ging an dem Tag auch nicht mehr raus. Dafür träumte ich jetzt
regelmäßig von der Affenmaske, es waren schlimme Träume. Ich fragte
andere Kinder, ob sie die schreckliche Affenmaske kannten, und die
meisten hatten sie durchaus schon gesehen, waren aber nicht annähernd so
beeindruckt wie ich.
Ein paar Wochen später, ich saß gerade auf der Schaukel, tauchte sie
wieder auf dem Spielplatz auf, die furchtbare Affenmaske, und diesmal
fuhren mir keine Superkräfte in die Beine. Ich rutschte von der Schaukel
und konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Die Beine schlackerten
nur, und ich musste mich am Gestänge der Schaukel festhalten, um nicht
umzufallen.
Am nächsten Tag fuhr mein Vater mit mir nach Neukölln, aber nicht zu
Oma und Opa, sondern zum «Zauberkönig» in der Hermannstraße. Der
Laden befand sich nicht unten in einem Wohnhaus wie andere Neuköllner
Geschäfte, sondern besetzte ein kleines, flaches Gebäude gleich neben dem
Eingang zum Friedhof. Eine Weile guckten wir in das Schaufenster, in dem
lauter merkwürdige Dinge lagen: Zaubertinte und komische Brillen,
Kugeln, die wie Augen aussahen, abgeschnittene Finger, Vampirzähne,
bunte Girlanden und Kacke aus Plastik.
«Und drinnen», sagte Papa, «sind die ganzen Masken.»
Wir gingen hinein. Das Geschäft war klein und vollgestellt, und in den
Regalen weiter oben entdeckte ich tatsächlich viele Masken, darunter auch
eine Affenmaske, genau so eine wie die vom Spielplatz.
«Tach, Herr Klepke», sagte mein Vater zum Mann hinter dem
Verkaufstresen.
Hier also kaufte mein Vater das Rohmaterial, die Ausstattung für seine
Zaubertricks. Er ging regelmäßig zu diesem Zauberverein, unter dem ich
mir gar nichts vorstellen konnte, und zu Hause führte er uns oft seine
neuesten Tricks vor. Wenn ich ihn fragte, wie er das mache, sagte er
meistens, das sei geheim. Manchmal gab er auch bei Familienfeiern eine
kleine Vorstellung, und einmal zauberte er beim Schulfest.
«Ulrike wollte sich mal so eine Affenmaske ansehen», sagte mein Vater.
«Die da?»
Ich nickte. Herr Klepke holte die Maske vom Regal herunter und reichte
sie mir über den Tresen. Mein Vater sagte: «Guck mal! Ist nur ’ne Maske.»
Ich drehte und bewegte sie ein bisschen hin und her.
«Setz doch mal auf», meinte mein Vater, doch das wollte ich nicht, sie
roch komisch. Ich bekam aber auch keine Zitterbeine.
Ob ich jetzt weniger Angst hätte vor Affenmasken, fragte mich mein
Vater auf dem Weg nach Hause. Tatsächlich hatte ich jetzt nicht mehr so
große Angst. Trotzdem fand ich die Existenz von Affenmasken irgendwie
überflüssig. Aus dem Sortiment vom «Zauberkönig» hatte ich mir lieber das
Pupskissen ausgesucht, denn ich fand, im Gegensatz zu einer Affenmaske
konnte man ein Pupskissen immer gut gebrauchen.

Den «Zauberkönig», 1884 gegründet, gibt es noch heute. Er wird


von der Tochter des vormaligen Betreibers Günter Klepke
weitergeführt.
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D
er Junge, der zu der Affenmaske gehörte, wohnte in der Mau-Mau.
Das war durchaus symptomatisch, denn ganz generell war es ein
Problem, wenn man durch die Mau-Mau-Siedlung musste. Keiner konnte
mir sagen, warum die so hieß und ob die Bewohner ihrerseits einen lustigen
Namen für unsere Häuser hatten, vielleicht Memory-Viertel oder Quartett-
Kolonie.
Die Mau-Mau war eine Ansammlung zweigeschossiger Reihenhäuser mit
Grünflächen zwischendrin und lag ungefähr fünf Gehminuten in Richtung
Stadtrand hinter unserem Viertel. Besonders brenzlig war der kleine,
unbefestigte Fußweg, der direkt an der Mau-Mau entlangführte. Auf der
einen Seite des Pfades war einfach gar nichts, nur leeres Gelände mit Gras,
Gestrüpp und ein bisschen Müll, auf dem einmal im Jahr ein kleiner Zirkus
mit schäbigen Wagen und traurigen Tieren herumstand. Zweimal schon
hatten mich Kinder auf diesem Weg vom Fahrrad geschubst, und Kathrins
Bruder hatten sie das Rad sogar weggenommen. Wenn meine Mutter mir
verboten hätte, den kleinen Weg neben der Mau-Mau zu nehmen, ich hätte
das gut verstanden. Meine Eltern sprachen aber überhaupt nie irgendwelche
Warnungen in Zusammenhang mit der Mau-Mau-Siedlung aus.
Einmal hatte Ramona aus dem Nebenhaus einen Jungen mit zum
Spielplatz gebracht, der richtig spitze Wurfpfeile hatte. Abwechselnd
warfen sie die Pfeile in den Sand. Ich fragte den Jungen, wie er heiße, und
er antwortete: «Roland.»
So einen Namen hatte ich noch nie gehört und fragte deshalb nach:
«Wie?»
«Ro-land», sagte er. «Bist du taub, oder was?» Und dann warf er mir
einen Pfeil in den Fuß.
Ich sah runter auf meinen Fuß und sah den Pfeil darin stecken. Zuerst
konnte ich es kaum glauben, dass da wirklich ein Pfeil steckte, in meinem
Fuß, aber als kein Zweifel mehr daran bestand, fing ich an zu weinen. Ich
zog den Pfeil heraus und rannte damit nach Hause.
Am Abend, als mein Vater von der Arbeit nach Hause gekommen war,
wollte er alles ganz genau wissen.
«Und der hieß Roland, ja?»
«Ja, Roland. Ro-land.»
«Und hat der dir den Pfeil aus Versehen in den Fuß geworfen?»
«Gar nicht aus Versehen, sondern mit Absicht!»
«Habt ihr euch vorher gezankt?»
«Ich hab ihn nur gefragt, wie er heißt, und dann habe ich noch mal
gefragt, und dann hat er mir gleich den Pfeil in den Fuß geworfen.»
Mein Vater hielt den Pfeil in seiner Hand.
«Und der ist ein Freund von der Ramona?»
«Ja.»
«Und wie alt ist der?»
«So wie Ramona.»
Ein paar Tage später saßen wir alle bei Tante Evi und Onkel Bobby, und
mein Vater erzählte ihnen von Roland und dem Pfeil, und plötzlich auch
von Rolands Eltern, die in der Mau-Mau-Siedlung wohnten.
«Ganz freundliche, vernünftige Leute», sagte mein Vater. Sie seien sehr
erschrocken gewesen, als sie hörten, dass ihr Sohn anderen Kindern Pfeile
in die Füße wirft.
Ich war total erstaunt darüber, dass mein Vater so schnell herausgefunden
hatte, wer die Eltern von Roland waren.
«Du warst bei dem Roland zu Hause?»
«War ich.»
«Und woher wusstest du, wo der überhaupt wohnt?»
«Hab ich rausgefunden.»
Vielleicht lernt man so etwas im Zauberverein, dachte ich.
Im Fernsehen gab es auch eine Sendung, in der immer Verbrecher gesucht
wurden. Es war eine sehr gute Sendung, denn sie bot den Leuten die
Möglichkeit, der Polizei dabei zu helfen, die Verbrecher zu finden. Einmal
ging es um einen Mann, der in etwa Babel Balalaika hieß, und als ich am
nächsten Morgen aufwachte, hatte ich den Namen gleich wieder im Kopf.
Es war ein finsteres Foto von Babel Balalaika gezeigt worden. Er war ein
Mann mit Bart.
Es nieselte draußen, aber ich sah, dass Patrick Siegmann trotzdem mit
einem Ball auf der Wiese spielte. Ich ging also raus und erzählte Patrick
Siegmann von Babel Balalaika. Das interessierte ihn sofort. Er hatte früher
mit seinem großen Bruder zusammen eine Detektei geleitet.
«Pass mal auf», sagte Patrick Siegmann und zog mich unter den
Baldachin vor seiner Haustür, wo wir nicht so nass wurden.
Normalerweise machte ich nicht viel mit Patrick Siegmann. Manchmal
wusste ich gar nicht genau, warum ich mit einigen mehr machte als mit
anderen, Patrick Siegmann zum Beispiel war eigentlich sehr nett. Er war
eines von den ordentlichen Kindern, immer sauber angezogen, und er sagte
nie «Du alte Scheiße» zu anderen. «Du alte Scheiße» sagte immer Thomas
Trummer. Trotzdem hatte ich mit Thomas Trummer bislang viel öfter
gespielt als mit Patrick Siegmann, der mir jetzt erzählte, dass in dem
Fliegenpilzhäuschen auf dem Spielplatz vorhin ein komischer Mann
gesessen habe. Eventuell ein gefährlicher Mann. Ich fragte ihn, wie der
Mann ausgesehen habe. Seine Beschreibung des Mannes passte exakt auf
die Beschreibung, die ich ihm vorher von Babel Balalaika gegeben hatte.
Im Regen gingen wir zusammen zurück zum Spielplatz, aber das
Fliegenpilzhäuschen war leer. Der ganze Spielplatz war leer. Wir
beschlossen, Babel Balalaika in der Einkaufspassage zu suchen. Zuerst
gingen wir in das Geschäft von Frau Albrecht und fragten sie, ob sie einen
verdächtigen Mann mit Bart gesehen habe. Frau Albrecht sagte, sie könne
uns leider nicht weiterhelfen. Patrick Siegmann hatte Geld dabei und kaufte
sich bei ihr zwei Schaummäuse und zwei Cola-Flaschen-Gummis. Die
Cola-Flaschen teilte er mit mir. Wir liefen überall herum, ohne einen Mann
zu finden, der Babel Balalaika hätte sein können, und sahen uns dann die
Auslagen im Spielzeuggeschäft an. Patrick Siegmann meinte, dass er sich
zum Geburtstag einen Tacho für sein Fahrrad gewünscht habe. Ich wusste
nicht, was ein Tacho ist, aber ich stellte mir vor, dass es etwas wäre, das
sehr gut zu ihm und seinem silbernen Fahrrad passen würde. Ich beschloss,
in Zukunft mehr mit Patrick Siegmann zu machen. Schließlich traute er sich
noch, in den Blumenladen zu gehen und dort nach Babel Balalaika zu
fragen. Ich wartete draußen und beobachtete durch die Scheibe, wie die
Verkäuferin den Kopf schüttelte.
Wir kehrten um, und unterwegs wollte Patrick Siegmann von mir wissen,
was für ein Auto wir hätten. «Audi», antwortete ich, und dann lieferte er
mir detaillierte Informationen über den Wagen seines Vaters. Als wir zurück
zum Spielplatz kamen, stupste er mich mit dem Ellenbogen und sagte: «Er
ist wieder da!»
Babel Balalaika war zurück im Fliegenpilzhäuschen. Jetzt war auch klar,
dass wir ihn nicht gefunden hatten, denn im Gegensatz zu uns war er im
Meyer-Supermarkt gewesen, das sah man gleich an der Tüte. Er hatte sich
etwas zu trinken gekauft. Jetzt waren wir ein wenig aufgeregt. Ich wollte
gleich losgehen, um die Polizei zu rufen, aber Patrick meinte, wir müssten
erst noch Beweise sammeln. Augenblicklich war ich damit einverstanden,
denn er hatte natürlich mehr Ahnung.
Vorsichtig näherten wir uns dem Spielplatz, und zwar so, dass Babel
Balalaika uns nicht sehen konnte. An der Hecke blieb ich stehen. Nicht so
Patrick Siegmann, er wagte sich weiter vor Richtung Fliegenpilzhäuschen.
Ich war wirklich sehr froh, ihn dabeizuhaben. «Du!», schrie er laut. Aber
Babel Balalaika reagierte nicht. Patrick Siegmann ging noch näher ran,
dann brüllte er abermals. Jetzt drehte Babel Balalaika sich zu ihm um, und
Patrick rief: «Wie heißt du?»
Babel Balalaika murmelte etwas, aber ich konnte es nicht gut verstehen.
Patrick kehrte zurück und meinte, der Mann hätte so etwas Ähnliches
gesagt wie «Babel Bailailaikum». Wir sollten jetzt wirklich schnell die
Polizei rufen, forderte ich, aber Patrick Siegmann war noch immer nicht so
weit. Er wollte erst seiner Mutter davon erzählen. Er sagte, sie solle dann
die Polizei rufen. Ich weiß die Nummer, sagte ich, 110. Patrick Siegmann
erklärte, das wisse er auch schon, er müsse jetzt aber nach Hause.
Schließlich ging er zu seiner Haustür und ich zu meiner.
Von unserem Fenster aus ließ ich den Spielplatz nicht aus den Augen und
wartete auf die Polizei. Es hörte auf zu regnen. Nach einer Weile sah ich
Patrick Siegmanns Mutter, die mit einer anderen Frau zum
Fliegenpilzhäuschen ging und etwas zu Babel Balalaika sagte. Der nahm
seine Einkaufstüte und verließ den Spielplatz in Richtung Einkaufspassage.
Draußen wurde es heller, und anstelle von Babel Balalaika waren jetzt
wieder einige Kinder auf dem Spielplatz, auch die kleine Schwester von
Thomas Trummer. Sie sah zerstrubbelt aus und weinte schon wieder.
In den fünfziger Jahren werden am Rande mehrerer nach dem Krieg
stark zerstörter Städte einfache Siedlungen für «unverschuldet in
Not geratene», meist ausgebombte und geflüchtete Familien gebaut.
Die abwertende Bezeichnung «Mau-Mau-Siedlung» bezieht sich in
einer etwas undurchsichtigen Assoziationskette auf die afrikanische
Guerillatruppe der Mau-Mau, die zur selben Zeit den
Unabhängigkeitskrieg gegenüber den Briten in Kenia führte.
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D
anach kam ich kaum noch mit Kriminalität in Berührung. Dabei
könnte man meinen, ich müsste viel erlebt haben im Laufe der
späteren Jahre, schon weil ich ab der siebten Klasse jeden Tag mit der U-
Bahn via Kreuzberg nach Neukölln und wieder zurück gefahren bin und
noch ein paar Jahre später, so ab fünfzehn, sechzehn, an Wochenenden auch
abends unterwegs war in der großen Stadt. Es gibt Leute, die steigen einmal
im Jahr in ein öffentliches Verkehrsmittel und erleben gleich die
fürchterlichsten Dinge. Ich habe aber äußerst wenig erlebt, was mir
bedrohlich erschienen wäre. Bis auf ein einziges Mal.
Das Rock-It gehörte zu meinen wichtigsten Ausgehzielen während der
letzten Schuljahre und besonders nach dem Ende meiner Schulzeit – dann
auch unter der Woche. Dienstag und Donnerstag waren die angesagten
Tage. Das Rock-It lag in Neukölln und war bei den oberen Jahrgängen
unserer Schule äußerst beliebt. Es kamen aber auch Leute aus anderen
Teilen der Stadt als Dauergäste ins famose alte Rock-It an der Karl-Marx-
Straße, was kein Wunder war, denn es war ziemlich gut dort. Der Eintritt
kostete fünf Mark, und für die fünf Mark erhielt man drei
Getränkegutscheine, weshalb man eher von einem Eintrittsgeschenk
sprechen konnte als von einem Eintrittspreis. Keine Ahnung, welche Idee
dieser Kalkulation zugrunde lag. Die Musik im Rock-It war genau das, was
die Jugend wollte, wenn ihr die teeniehafte Popcharts-Begeisterung und
alles andere, was sie bislang gemocht hatte, auf einmal peinlich wurde.
Plötzlich war es wichtig, sich komplexer, geheimnisvoller, dunkler,
individueller oder jedenfalls anders als vorher darzustellen. Diese
Bedürfnisse bediente man im Rock-It mit Musik von The Cure, den Smiths,
Sisters of Mercy, Killing Joke, New Order, ein bisschen U2 und ein
bisschen R. E. M.
Im Rock-It gab es kein Laufpublikum, keiner stolperte zufällig dort rein.
Das war erstens der abseitigen Neuköllner Lage zuzuschreiben, denn
ansonsten gab es dort keine weiteren angesagten Discos oder Bars; nur
Eckkneipen mit Namen wie «Bierquelle» oder «Bei Dieter» und eine
außergewöhnlich hoch frequentierte Currywurstbude an der
Saltykowstraße, deren Betreiber angeblich schon Millionär war. Zweitens
lag das Rock-It gut versteckt im ersten Stockwerk eines hässlichen,
zwischen den Neuköllner Altbauhäusern etwas nach hinten versetzten
Neubaus über einem traditionsreichen Bettengeschäft, und nur der
aufgeklebte Schriftzug an der nicht allzu gut einsehbaren Fensterfront wies
darauf hin, dass diese Lokalität überhaupt existierte. Durch einen
Betoneingang gelangte man ins Treppenhaus, in dem man sich zu
bestimmten Stoßzeiten gleich hinten in die Reihe stellen konnte, die sich
treppauf bis zum Eingang zog.
Eines Abends zu Beginn der Neunziger, also schon nach meiner
Schulzeit, war ich auf dem Weg ins Rock-It. Am Umsteigebahnhof
Mehringdamm stand ich auf dem Bahnsteig, und ein paar Meter neben mir
hampelte ein extrem nervöser Skinhead in Springerstiefeln mit weißen
Schnürsenkeln von einem Fuß auf den anderen. Er war mies drauf und
brütete Unheil aus. Nur hatte sich bislang noch kein geeignetes Objekt
gefunden, an dem er seine überfällige Explosion hätte zünden können. Auf
dem Bahnsteig hielten sich nur wenige Leute auf, und niemand beachtete
ihn.
Als ich den jungen Türken herankommen sah, war klar, dass gleich etwas
passieren würde. Das Spiel lief ab wie vorgesehen, und der Türke ging mit
offensiv abschätziger Miene dicht am Glatzköpfigen vorbei. Unheilvolle
Blicke kreuzten sich.
«Hast’n Problem, hast’n Problem? Kanake?»
«Was is? Was is?»
«Ob du’n Problem hast, hab ick dich jefragt.»
«Ey, was willst du, Pisser?»
Der Skinhead zog eine Pistole aus der Bomberjacke, darauf hatte er
offenbar die ganze Zeit gewartet: «Wann kannick endlich meine Knarre
ziehn, wann kannick endlich meine Knarre ziehn?»
Jetzt fuchtelte er also mit der Pistole herum und schrie weiterhin etwas
von Problemen. Der Türke wollte verständlicherweise schnell weg und aus
der Schusslinie raus, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte, so ohne
Stolz-, Gesichts- und Ehrverlust. Deshalb machte er vor dem Skinhead halt,
zeigte mit dem Finger auf die Pistole und wiederholte permanent: «Ey. Ey.»
Ich, die danebenstand, wusste natürlich sofort, was zu tun war. Mir konnte
ja nichts passieren. Ich nahm den Türken beiseite und sagte: «Wir gehen
jetzt hier mal weg.»
Das klappte sehr gut. Er lief hinter mir her, und wir verließen den
Bahnsteig, während der Verrückte mit der Knarre da stehen blieb. Danach
kehrte ich zurück, und als die U-Bahn kam, stieg ich, diskret und mit
gebührendem Abstand, mit dem Irren in dasselbe Waggon. Er beachtete
mich nicht, möglicherweise war der Vorfall von vor drei Minuten auch
schon in seinem vernebelten Nazikopp versunken. Breitbeinig setzte er sich
auf eine Bank und redete manchmal vor sich hin. Andere Fahrgäste
schauten auf, aber kaum einer ahnte, dass er irgendwo eine Knarre in der
Jacke hatte.
Karl-Marx-Straße stieg ich aus und machte mich auf die Suche nach
uniformiertem Personal – BVG, Wachschutz, Polizei, irgendetwas. Aber ich
fand niemanden. Dann ging ich ins Rock-It.
Dort traf ich Silke und Johnny, die eigentlich nicht oft tanzen gingen, und
erzählte ihnen von dem bewaffneten Freak. Johnny machte den Mund auf,
wohl um etwas zu sagen, nieste aber stattdessen, zweimal hintereinander,
dann zog er ein leidvolles Gesicht. Silke war ohnehin die geeignetere
Kommentatorin für den Vorfall, denn sie studierte Polizeivollzugsdienst an
der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, die
merkwürdigerweise im Ku’damm-Karree residierte, wo es sonst nur
Geschäfte und einen Trödelmarkt gab.
«Mehringdamm müsste doch ’ne Notrufsäule haben», sagte sie und hatte
mich damit sofort auf dem falschen Fuß erwischt, denn an Notrufsäulen
hatte ich während meiner heldenhaften Aktion gar nicht gedacht.
«Üble Geschichte jedenfalls», meinte Johnny. «Aber wir gehen jetzt mal,
ich glaub, ich werd krank.»
Sie überließen mir jeweils zwei Getränkemarken und machten sich
davon, während ich mich mit sieben Freigetränkebons in der Hosentasche
auf die Suche nach den anderen begab, mit denen ich noch verabredet war
an diesem Abend im Rock-It.

In dem populären, vom Informationszentrum Berlin ab 1981


herausgegebenen Stadtführer Berlin für junge Leute steht in der
siebten, überarbeiteten und erweiterten Auflage von 1987 über das
Rock-It: «Publikum bis dreißig, gute Atmosphäre um Mitternacht.» In
den Neunzigern zieht das Rock-It weg aus Neukölln, seine Spur
verliert sich nach diversen Umzügen und Umbenennungen im neuen
Jahrtausend.
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Z
uerst wusste ich nicht, wie ich es finden sollte, als Silke zum ersten
Mal erklärte, dass sie an der Fachhochschule Polizeivollzugsdienst
studieren wolle. Silke, Anja und ich hatten eine Freistunde und saßen
draußen auf dem Schulhof mit je einer frischen Rosinenschnecke vom
Bäcker in der Sonnenallee.
«Ich mach Sport und Bio auf Lehramt», sagte Anja. «Oder Sport und
Kunst.»
«Warum denn Kunst?», fragte ich. «Ist doch gar nicht so deine Sache,
Kunst.»
«Ich weiß halt noch nicht so genau. Und machst du jetzt Psychologie
oder Publizistik?»
«Vielleicht auch Politologie.»
«Hauptsache, irgendwas mit P, oder wie?»
«Was wird man denn mit so was?», fragte Silke.
Diese Frage mochte ich nicht, aber zum Glück redete Silke gleich weiter:
«Ich geh übrigens zur Polizei, gehobener Dienst.»
Gehobener Dienst. Soso. Sie hatte offenbar nicht irgendwie irgendeine
Idee, sondern einen ganz genauen Plan.
«Seit wann das?», fragte Anja.
«Hab ich mir so überlegt.»
«Na ja, paar Monate haben wir ja noch», meinte Anja. Aber ich wusste:
Wenn Silke sagte, sie geht zur «Polizei, gehobener Dienst», dann war das
bombensicher genau das, was sie auch tun würde.
Sie war eine unkomplizierte Person mit bemerkenswerten Muskelkräften,
die sie erstmals an einem Mittwochmorgen unter Beweis stellte, als sie in
der Schulmesse die Predigt ruinierte.
Jeden Mittwoch fand vor Beginn des Unterrichts in der Pfarrei St. Clara,
der Kirche in Omas Straße, die Schulmesse statt. Die Teilnahme war
grundsätzlich freiwillig, und die Versuchung, nicht zur Messe zu kommen,
war enorm groß. Ihretwegen begann der Unterricht mittwochs erst um halb
neun, der Gottesdienst aber war um halb acht. Ging man also zur
Schulmesse, musste man eine halbe Stunde früher aufstehen als sonst. Ging
man nicht, konnte man eine halbe Stunde länger schlafen als sonst.
In den ersten Wochen an der Oberschule in Neukölln waren die Schüler
der siebten Klassen noch fast vollzählig im Schulgottesdienst vertreten. Im
Laufe des Schuljahres dünnte das etwas aus, und bei den älteren Jahrgängen
nahm die Teilnahme dann kontinuierlich ab. Abiturienten saßen kaum noch
in der Schulmesse. Auch waren die Schüler am Mittwochmorgen um
7.30 Uhr singfaul, was dem Direktor ganz besonders missfiel. Er selbst kam
immer zur Schulmesse und sang demonstrativ laut.
Reihum kümmerte sich eine Klasse um die Vorbereitung des
Gottesdienstes, suchte die Lieder aus, formulierte die Fürbitten und legte
fest, wer die Lesung vortragen sollte. Diese Aufgabe war gar nicht mal so
unbeliebt. Sie bedeutete einen kleinen Auftritt vor der halben Schüler- und
Lehrerschaft, bei dem man in ein Mikrophon sprach und dabei Gelegenheit
hatte, die eigene Stimme in einem ungewohnten Sound durch ein riesiges
Gebäude hallen zu hören.
An dem Mittwoch, als unsere Klasse erstmals die Schulmesse vorbereitet
hatte, stellte der Pfarrer in seiner Predigt folgende These auf: In der
Gemeinschaft ist man stärker als allein. Zur Illustration hatte er
Mikadostäbchen mitgebracht, und er bat Silke, die zufällig links neben
seinem Stehpult saß, sie solle mal aufstehen und ein einzelnes
Mikadostäbchen durchbrechen. Silke erhob sich und zerbrach das hölzerne
Stäbchen. Das Knacken hallte in den hohen Bögen der Kirche wider. Alle
konnten nun sehen: Der Einzelne ist schwach und zerbrechlich.
Danach reichte der Pfarrer Silke ein dickes Bündel Mikadostäbchen, wie
es selbst die meistens Jungs nicht hätten durchbrechen können. Silke aber
bog es kurz, es krachte, und das dicke Bündel war entzwei. Des Pfarrers
These war damit widerlegt, den Beweis hatte Silke eindeutig erbracht.
Sie setzte sich wieder hin. In ihrem Gesicht war keine Häme und kein
Triumph. Sie hatte ganz absichtslos das getan, was sie tun konnte, ohne sich
in die eine oder die andere Richtung manipulieren zu lassen. Weder hatte
sie sich übermäßig angestrengt, das Mikadostäbchenbündel zu zerbrechen,
um den Pfarrer zu brüskieren und die Mitschüler zu amüsieren, noch hatte
sie sich für eine Versuchsanordnung einspannen lassen, deren Ergebnis
eigentlich von vornherein feststehen sollte. Der Pfarrer jedenfalls hatte es
anders erwartet, das sah man ihm an.

Das Ku’damm-Karree ist eine 1975 in Betrieb genommene


weitläufige Ladenpassage, zu der nicht nur das Theater am
Kurfürstendamm gehört, sondern auch die unterirdische
«Mehrzweckanlage Ku’damm-Karree», ein Atomschutzbunker für
3592 Personen. 1999 eröffnet die Multimediaausstellung «Story of
Berlin» im Ku’damm-Karree, deren Besuch auch die Möglichkeit
einer Bunker-Besichtigung beeinhaltet.
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Der Polizeipräsident in Berlin

E
twas Besseres als Silke hätte dem Polizeivollzugsdienst gar nicht
passieren können. Nachdem sie Anja und mir in der Freistunde auf
dem Schulhof verkündet hatte, sie wolle zur Polizei, ging sie natürlich auch
zur Polizei. Zur Schutzpolizei. Gehobener Dienst. Sie revidierte ihre
Zukunfts- und Berufsvorstellungen nicht noch x-Mal, so wie ich. Sie
absolvierte Praxisphasen, schloss ihr Studium ab und trat gegen Mitte der
neunziger Jahre ihre erste Stelle an, und zwar auf einem Polizeiabschnitt in
Neukölln.
Das war genau in der Zeit, zu der dieses Neukölln begann, in die
Schlagzeilen zu geraten, als sozialer Brennpunkt. Ich studierte an der Freien
Universität in Dahlem ein Fach mit P, meine Großeltern waren beide
gestorben, das Rock-It war nach Schöneberg umgezogen, und so führte
mich schon seit längerer Zeit nichts mehr nach Neukölln. Silke hingegen
tauchte jetzt ganz tief ein in die Probleme unseres alten Schulkiezes. Wenn
wir uns trafen, erzählte sie von einem Alltag, der von meinem
grundverschieden war. Ich kannte all die Ecken und die Straßen, in denen
sich die Szenen aus Silkes Geschichten abspielten, und trotzdem kamen sie
von einem anderen Planeten.
Meine eigenen beruflichen Pläne waren indessen immer noch reichlich
verschwommen. Gerade überlegte ich, ob ich vielleicht «irgendwas mit
Schreiben» machen sollte, und dachte, das, was Silke da täglich erlebte,
wäre doch schon mal ein trefflicher Stoff für mindestens eine tolle
Reportage.
«Sag mal, Silke», sagte ich zu ihr, als wir uns an einem Freitagmorgen
vor ihrem Schichtbeginn im Café Atlantic in der Bergmannstraße zum
Frühstück trafen. «Meinst du, ich könnte vielleicht mal mitkommen bei
deiner Arbeit? Mit Streife fahren und so?»
«Warum?»
«Na ja, ich überlege, ob ich was darüber schreiben könnte.»
«Für eine Zeitung?»
«Keine Ahnung. Vielleicht für eine Zeitung.»
«Willst du jetzt Journalist werden?»
«Frag mich nicht immer, was ich werden will.»
«Ich mache mir halt Sorgen.»
Ich sah Silke an. Nein, das hatte sie nicht ernst gemeint.
«Außerdem würde ich, wenn schon, dann Journalistin werden.»
Silke biss von ihrem Marmeladenbrötchen ab, draußen brüllte ein
Radfahrer einem Auto hinterher, das ihm gerade die Vorfahrt genommen
hatte. Sie kaute und sagte: «Also, ich kann mich ja mal kundig machen bei
meinem Vorgesetzten.»
Ein paar Tage später rief sie mich an mit der Nachricht, so etwas sei
«prinzipiell möglich». «Mein Vorgesetzter kann das aber nicht entscheiden,
du müsstest erst eine Erlaubnis bei der Pressestelle des Polizeipräsidenten
beantragen.»
«Okay.»
«Haste was zu schreiben?»
«Hab ich.»
«Schreib dir mal auf: ‹Der Polizeipräsident in Berlin, zu Händen Frau
Knakowske›, und dann musst du schreiben: PPr, und zwar großes P, großes
P, kleines r, und dann: Stab 41.»
«PPr Stab 41.»
«Genau. Das ist die entsprechende Dienststelle. Die Adresse ist Platz der
Luftbrücke 6, 12101 Berlin. Haste?»
«Hab ich.»
«Und dann beziehste dich in dem Schreiben am besten auf meinen
Vorgesetzten, Polizeihauptkommissar Maschek. Der ist informiert.»
Diese Ansagen vermittelten mir gleich eine Ahnung von den weniger
aufregenden Seiten des Polizeialltags, von der Polizei als Behörde.
Ich schrieb den Brief, schickte ihn ab und wartete. Nach zwei Wochen
rief ich bei der Pressestelle des Polizeipräsidenten an und hinterließ eine
Nachricht auf einem Anrufbeantworter. Nach noch mal zwei Wochen hakte
ich die Idee ab und dachte nicht mehr daran, bis schließlich, fast einen
Monat später, ein Schreiben von der Pressestelle des Polizeipräsidenten in
meinem Briefkasten lag. Betreff: Ihr Anliegen wurde genehmigt. Darunter:

Sie dürfen ein Team der Polizei bei Einsätzen begleiten. Die
Termine sind noch mit dem Dienstgruppenleiter
abzustimmen. Die in der Anlage beigefügten Vordrucke bitte
ausgefüllt an uns zurücksenden: 1. Einverständniserklärung
zur Leumundsüberprüfung, 2. Niederschrift über die
Verpflichtung zur datenschutzrechtlichen Geheimhaltung
nach § 8 des Berliner Datenschutzgesetzes, 3. Verpflichtung
nach § 1 des Gesetzes über die förmliche Verpflichtung
nichtbeamteter Personen (Verpflichtungsgesetz).

Silke freute sich. Einen Moment lang hatte ich befürchtet, es könnte alles
eine Zumutung für sie sein, aber sie freute sich.
Hauptkommissar Maschek saß in seinem Dienstzimmer und bot mir
einen Kaffee an, einen klassischen Behörden-Filterkaffee aus der
Thermoskanne. Er legte mir noch mehr unverständliche Formulare zum
Unterschreiben vor und überreichte mir ein in Folie verschweißtes Schild
zum Anklemmen, verbunden mit der Anweisung, dieses bitte stets sichtbar
an meiner Kleidung zu tragen. Auf dem Schild stand «Praktikantin».
Es war früher Abend, die Spätschicht übergab an die Kollegen von der
Nachtschicht. Silke stellte mich ihrem Kollegen vor, mit dem sie heute
Streife fahren würde, holte mir eine schusssichere Weste aus einem
Schrank, die ich mir überziehen musste, und dann ging es auch gleich los
zum ersten Einsatz: Ladendiebstahl beim Aldi in der Hermannstraße.
Ein älterer Mann mit grauen Haaren, grauem Gesicht und roter
Säufernase hatte ein Päckchen Wurst gekauft, dazu aber noch eine Packung
Kekse geklaut. Ganz zerknirscht saß er in diesem Kabuff neben den Kassen,
aus dem der Ladendetektiv heraus-, aber keiner hineingucken konnte, einer
dieser Orte, von denen man gar nicht weiß, dass sie existieren. Als die
Polizei kam, sagte er gleich:
«Ick jeb allet zu. Ick hab Scheiße jebaut, ick weeß dit. Dit is nich korrekt,
wat ick jemacht hab, ick schäm mir.»
Silke musste alles in ein Protokoll notieren. Der Ladendetektiv war ein
erstaunlich sanftmütiger Mensch mit einem langen, unaussprechlichen
Namen; er sah den Mann an: «Ich kenne Sie, Sie sind ja Stammkunde.»
«Ja, ick bin hier Stammkunde.»
Silke fragte ihn, ob er einen Job habe, und der Mann erklärte, er arbeite
Teilzeit. Warum er dann stehlen müsse, fragte Silke.
«War ja grad bei der Bank, und da warn fünf Mark minus. Da hab ick mir
die Kekse einjesteckt.»
Der Detektiv seufzte. «Hier, ich geb Ihnen die zwei fünfzig für die
Kekse, damit können Sie die an der Kasse bezahlen. Sie haben aber
trotzdem ab jetzt zwei Jahre Hausverbot, tut mir leid.»
Gleich danach wurden wir zum nächsten Ladendiebstahl gerufen,
diesmal bei H&M an der Karl-Marx-Straße.
Berlin ist das einzige Bundesland, in dem nicht nur die konkrete
Person des Polizeipräsidenten, sondern die gesamte polizeiliche
Behörde den Namen Polizeipräsident beziehungsweise «Der
Polizeipräsident in Berlin» trägt. Die ersten weiblichen Polizistinnen
werden 1926 eingestellt.
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Transit

A
lle anderen Kinder, mit denen ich in den Ferien auf der Nordseeinsel
Föhr die Tage verbrachte, kamen nicht aus Berlin. Manche waren aus
Lübeck, manche aus Hamburg und manche aus Bremen. Ein paar kamen
auch von nirgendwoher, sie wohnten einfach dort auf der Insel. Einmal
lernte ich am Strand ein Mädchen kennen, das sehr merkwürdig sprach, und
sie erklärte mir, das sei Schwäbisch.
«Das klingt aber komisch», sagte ich zu ihr, denn ansonsten fand ich sie
ganz nett. Sie meinte, Schwäbisch sei praktischer als Hochdeutsch, zum
Beispiel heiße es auf Hochdeutsch: «Hast. Du. Einen. Ball.» Sie sprach das
sehr umständlich, abgehackt und mit Pausen zwischen den Wörtern. Auf
Schwäbisch aber könne man einfach sagen: «Haschtn Ball?», und das sei ja
wohl viel kürzer und einfacher. Abends im Bett fiel mir auf, dass man auch
ohne Schwäbisch sagen kann: «Hast ’n Ball?» Aber am nächsten Tag war
das Mädchen nicht mehr da, und ich konnte ihr nicht mehr beweisen, dass
man Schwäbisch nicht brauchte.
Wenn ich erzählte, dass ich aus Berlin war, wollten die meisten gleich
wissen: Ost oder West? Ich sagte: «West natürlich!», denn als Ost-Berliner
konnte man nicht einfach nach Föhr fahren, um dort Urlaub zu machen.
Manchen musste ich das extra erklären. Fast allen aber musste man
erklären, dass die Mauer nicht durch Berlin hindurch, sondern um Berlin
herumgebaut ist. Also wohl auch durch Berlin hindurch, aber eben nicht
nur. Um ganz West-Berlin stehe die Mauer und dahinter sei alles Osten, in
jeder Richtung. Viele wollten das nicht glauben und lieber erst mal ihre
Eltern fragen, ob das auch die Wahrheit sei. Besonders schrecklich war es,
wenn eines der Kinder hinterher meinte: «Mein Vater sagt, das stimmt gar
nicht!» Das machte mich sehr wütend, denn die Welt war so geregelt, dass
es reichte, erwachsen zu sein, um gegenüber Kindern recht zu haben. Ich
machte mir eine innere Notiz: Wenn ich später erwachsen bin, will ich nur
dann recht haben, wenn es auch wirklich stimmt, was ich sage.
Die, die mir glaubten, dass die Mauer um die ganze halbe Stadt
herumführt, waren manchmal schockiert. Wie man denn da rauskäme? Na,
mit dem Auto oder mit dem Flugzeug, meinte ich. Ob es nicht schrecklich
wäre, immer so eingesperrt zu sein? Erstens, sagte ich, sieht man die Mauer
nur, wenn man da hinfährt. Da, wo ich wohne, sehe ich die zum Beispiel nie
und ich sei auch noch niemals zufällig dagegengeprallt und musste mir
denken: Oh, die Mauer, dann muss ich wohl jetzt wieder umkehren. Und
zweitens konnte ich immer auf das Meer um Föhr herum zeigen und
erklären: «Berlin ist auch wie eine Insel.» Das war das überzeugendste
Argument, danach hatte es jeder verstanden. Nur einmal tauchte der
Einwand auf, das Meer sei aber viel schöner als eine Betonmauer. Im Meer
lebten Fische und Krebse, außerdem bewege es sich und bei Ebbe sei es
sogar manchmal weg. Es war ein einheimisches Kind, das mich damit
konfrontierte. Ich hatte dem nicht viel entgegenzusetzen. Eine Insel im
Meer war wirklich schöner als eine Insel im Osten, oder, wie meine Mutter
sagte, in der Täterä.
Zu der Insel im Meer fuhr man mit einer Fähre, was an sich schon toll
und Bestandteil vom Urlaub war, obwohl es bei trübem Wetter an Deck
extrem ungemütlich sein konnte, während man bei Sonnenschein keinen
Schatten fand und die Möwen beängstigende Attacken flogen. Durch die
Täterä fuhr man mit dem Auto oder mit dem Zug. Ich fand es nicht
uninteressant, wenn mein Vater an der Grenze hielt und wir darauf warteten,
dass ein Mann in grauer Uniform herantrat und nach Schusswaffen,
Munition, Funkgeräten und Kindern fragte. Waffen und Funkgeräte
verneinte mein Vater, aber er sagte: «Ein Kind», und das war ich. Der
Grenzer guckte nach hinten rein zu mir, und ich guckte zurück. Danach kam
noch mal irgendwas mit Papieren, und dann konnte man durch den Osten
fahren. Kulunk, kulunk machte es immer bei der Fahrt über die
Betonplatten der Transitautobahn, weil die Fugen dazwischen so groß
waren. Das Grenzprocedere gehörte, ähnlich wie das Fährefahren, zum
Gesamterlebnis des Reisens.
Verwirrend war die Berlin-Beschilderung außerhalb der Stadt. Da stand:
«Berlin – Hauptstadt der DDR». Berlin sei nicht die Hauptstadt, hatte ich
von meinen Eltern gelernt und mich immer schon ein wenig darüber
gewundert, denn Berlin sah einfach sehr danach aus, als müsste es eine
Hauptstadt sein. Und nun bestätigten die Schilder meinen Eindruck. Groß
und offiziell war darauf zu lesen, dass Berlin eben doch die Hauptstadt ist.
Ich machte meine Eltern darauf aufmerksam, dass sie da womöglich etwas
übersehen hatten, von wegen «nicht die Hauptstadt», aber eine Erklärung
hatten die Erwachsenen natürlich wieder schnell bei der Hand: Nicht West-,
sondern Ost-Berlin sei Hauptstadt der DDR, die Hauptstadt von
Deutschland sei Bonn. Meiner Meinung nach war das eindeutig ein
Pluspunkt für die DDR.
Meine Eltern hielten trotzdem nie in der DDR an den Intershops an, aus
politischen Gründen, und waren froh, wenn ich unterwegs nicht auf die
Toilette musste. Beim Teekesselchenspiel auf der langweiligen
Transitstrecke punktete ich dann mit dem Teekesselchen «Berlin», von dem
es ja offenbar zwei verschiedene gab, eine Heimatstadt und eine Hauptstadt.
Es war schließlich meine Mutter, die mal rausmusste. Wir hielten an
einer Raststätte, und während sie zur Toilette verschwand, kaufte mein
Vater ein paar belegte Brote für uns. Nachdem sie wieder zurück war,
betrachtete meine Mutter ihr Brot mit Misstrauen und biss nur sehr
zögerlich hinein.
«Wie sah es dadrin denn aus?», fragte sie.
Mein Vater zuckte die Schultern. Wie sollte es da schon ausgesehen
haben.
«Die Bedienung hatte Pickel an den Beinen», sagte er, und meine Mutter
steckte die Stulle angewidert zurück in die Tüte.
An die Nordsee fuhren wir aber meistens mit dem Zug und ohne Männer.
Wir, das waren meine Mutter, ich, Tante Evi und ihre Pflegetochter Mbuyi,
die wie ich in Berlin geboren, deren Eltern aber aus Afrika nach Berlin
gezogen waren. Ihre Papiere wurden an beiden Grenzübergängen immer
extra ausführlich kontrolliert – ein Procedere, das wir gern noch einmal
nachspielten, wenn der Zug wieder rollte.
Wenn wir endlich auf der Insel waren, flanierten Mbuyi und ich über die
Strandpromenade, wo sich alte Tanten mit Hut in unseren Weg stellten, um
dem kleinen dunkelhäutigen Mädchen Bonbons zuzustecken und ihre Haare
anzufassen.
«Versteht sie Deutsch?», fragten sie mich.
«Nein», sagte ich. Und dann zu Mbuyi: «Huba huba huba?»
«Hubala hubala», antwortete sie.
«Sie bedankt sich herzlich für die Bonbons.»

Der Transitverkehr zwischen West-Berlin und der restlichen


Bundesrepublik verlief über festgelegte Strecken, die nicht verlassen
werden durften. Treffen mit DDR-Bürgern waren dabei streng
verboten. Bei der Durchreise durch die DDR mit dem Auto wurden
am Grenzkontrollpunkt die Personal- und Fahrzeugpapiere geprüft,
und die Durchreisenden erhielten ein Transitvisum mit Datum- und
Uhrzeitstempel, das bei der Ausreise wieder abgegeben werden
musste.
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Ägyptisches Museum

I
m Frühjahr 1980 gastierte die große Tutanchamun-Ausstellung im
Ägyptischen Museum in Berlin. Schon Wochen vorher hingen Plakate
mit dem goldenen Pharaonenkopf überall in der Stadt, ich sah ihn in
Zeitungen und Magazinen. Er sah so kindlich, so schön und so prächtig aus,
dass sich alle kleinen Mädchen in Tutanchamun verliebten. Meine Freundin
Jana aus dem Nebenhaus ging mit ihren Eltern am ersten Wochenende nach
der Eröffnung ins Museum und brachte einen großen Ausstellungskatalog
mit, in dem wir blätterten, als ich bei ihr zu Hause war. Während wir die
Abbildungen von Hieroglyphen und Schätzen betrachteten, erzählte ich ihr,
dass ich am nächsten Wochenende ebenfalls die Tutanchamun-Ausstellung
besuchen würde.
Schön für dich, sagte Jana, aber nicht ungefährlich, wegen des Fluchs.
Ich fragte sie, was denn für ein Fluch? Ich solle bloß nichts von da
mitnehmen, meinte sie, man könne bei der Ausstellung nämlich Sachen
kaufen, aber die stammten aus dem Grab von Tutanchamun, und wenn man
sie mitnähme, treffe einen der Fluch der Pharaonen.
«Echt?»
«Guck mal hier.» Jana, oder Janas Eltern, hatten vorne in den Katalog
Zeitungsausschnitte hineingelegt, in denen es darum ging, wie
Grabplünderer vom Fluch der Pharaonen heimgesucht wurden. Alle starben
binnen Tagen bei mysteriösen Unfällen oder an schrecklichen Krankheiten.
Am Sonntag fuhr ich mit Mama und Papa ziemlich weit, quer durch die
Stadt bis zum Schloss Charlottenburg. Eine zwiespältige Gegend, wie ich
fand. Natürlich stand da das schöne Schloss, in dem wir auch schon mal
drin gewesen waren. Bei der Besichtigung mussten sich alle Besucher große
Filzpantoffeln über die normalen Schuhe ziehen, in denen man nicht richtig
gehen konnte, nur schlurfen. Dass alle in großen Filzschuhen
herumschlurfen mussten, war das Eindrücklichste am Schloss
Charlottenburg, zusammen mit einem Zimmer, das bis dicht unter die
Decke voll war mit Porzellan. Der Rest war ganz schön und mit viel Gold,
aber ich war froh, als wir die Filzschuhe zurückgeben und wieder nach
draußen gehen konnten.
Danach spazierten wir durch den Schlossgarten, zusammen mit all den
anderen Berlinern, die sich an diesem Sonntag gedacht hatten: Und heute
fahren wir mal zum Schloss Charlottenburg. Irgendetwas musste man
offenbar immer unternehmen am Sonntag, aber irgendetwas stimmte auch
nicht an dieser Idee, oder warum sonst waren Sonntagsausflüge meist
irgendwie bedrückend? Um das Schloss Charlottenburg herum war es
jedenfalls besonders bedrückend, was vielleicht an der gediegenen,
weitläufigen Leere der Gegend lag, in der die Sonntagsberliner herumirrten
auf der Suche nach Glorie und Vergangenheit, Kaffee und Kuchen.
Das Ägyptische Museum befand sich gegenüber vom Schloss. Draußen
hingen überall die bekannten Plakate mit dem goldenen Tutanchamun
darauf. Auf dem Weg vom Auto zum Museum war es windig, kalt und nass,
und nach der langen Fahrt hatte ich die Lust auf die gesamte Unternehmung
fast verloren. Im Museum aber war es trocken, warm und angenehm
beleuchtet, und vor allem waren die Dinge, die es dort zu sehen gab,
wahnsinnig faszinierend. Vor der berühmten goldenen Totenmaske des
Pharaos drängelten sich die Leute, Tutanchamun war der große Star. Alle
starrten ihn an, alle wollten etwas von ihm. Daran war er selbst nicht
unschuldig, denn sein Blick, seine großen umrandeten Augen, seine
eigenartige Haube mit einem Schlangen- und einem Geierkopf über dem
Gesicht, sein ganzes massivgoldenes Wesen suggerierte einem, dass er
Bescheid wusste über alle Geheimnisse der Welt. Und über die anderer
Welten auch.
Unten im Museum, bevor man sich an der Garderobe seine Sachen
zurückholte, war tatsächlich dieser Laden, in dem es ägyptische Sachen zu
kaufen gab, genau wie Jana berichtet hatte. Mir gefielen besonders die
kleinen goldenen Kettenanhänger mit Hieroglyphen, und meine Mutter
meinte, ich könnte mir einen aussuchen.
«Aber der Fluch!», sagte ich. Sie sah mich an. «Jana hat mir erzählt, die
Sachen darf man auf gar keinen Fall mitnehmen, weil einen sonst der Fluch
der Pharaonen trifft.»
«So ein Unsinn.»
«Das ist kein Unsinn, das stand sogar in der Zeitung. Hat Jana mir
gezeigt.»
«Ulrike, es gibt Zeitungen, die schreiben nur Quatsch. Außerdem sind
das hier gar nicht die echten Sachen aus den Pharaonengräbern. Das ist
doch alles nachgemacht.»
So kam ich zu einem sehr schönen, echt nachgemachten goldenen
Anhänger mit Hieroglyphen, der in einer kleinen blauen Schmuckschachtel
zwischen Samtkissen eingeklemmt war.
Gleich am nächsten Tag zeigte ich Jana und Kathrin den Anhänger.
Jana sagte: «Hätt ich lieber nicht gemacht an deiner Stelle.»
Ich erklärte ihr, dass man in dem Museumsladen gar keine echten
ägyptischen Sachen kaufen könne, bloß Nachbildungen, aber Jana meinte:
«Hätt ich trotzdem nicht gemacht.»
Als ich meinen neuen Anhänger abends an einer Kette um meinen Hals
hängen wollte, konnte ich ihn nicht mehr finden. In der Schmuckschachtel
war er nicht, und auch nirgendwo sonst. Am nächsten Tag traf ich Jana und
erzählte ihr davon. Sie machte ein ernstes Gesicht und sagte: «Also, ich hab
gestern gesehen, wie Kathrin sich etwas in die Hosentasche gesteckt hat,
nachdem du uns den Anhänger gezeigt hast.»
«Hat sie den Anhänger eingesteckt?»
Jana hob die Schultern. «Es war irgendwie klein und golden.»
«Dann muss ich jetzt sofort zu Kathrin und sie nach dem Anhänger
fragen!»
«Würde ich nicht machen.»
«Warum?»
«Wird sie ja nicht zugeben, dass sie den geklaut hat. Ich will eh nicht
mehr so viel mit Kathrin machen. Meine Mutter sagt auch, Kathrin ist
eigentlich kein guter Umgang.»
Das hatte ich noch nie gehört: «kein guter Umgang».
«Hat sie dir auch schon mal was weggenommen?»
«Schon ganz oft.» Jana hob wieder die Schultern.
Ich war schockiert. Mir hatte sie bis jetzt noch nie etwas weggenommen.
Zu Hause erzählte ich meiner Mutter, dass Kathrin mir den Anhänger aus
dem Ägyptischen Museum gestohlen habe, Jana hätte es gesehen. Meine
Mutter meinte, dann solle ich zu Kathrin gehen und ihr sagen, dass sie mir
den Anhänger wiedergeben soll, vielleicht wollte sie ihn ja nur mal borgen
und hätte sich nicht zu fragen getraut.
Genau, dachte ich mir, genau so muss es gewesen sein. Sie wollte den
Anhänger vielleicht gar nicht stehlen.
Bei Kathrin zu Hause war ich nur selten, weil sie sich das Zimmer mit
ihrer kleinen Schwester teilen musste, was nervte. Das andere Zimmer
teilten sich ihre beiden Brüder, und die nervten noch mehr. Kathrin hatte ein
Meerschweinchen, und einen Hund gab es auch. Es war insgesamt sehr voll
in der Wohnung. Das letzte Mal war ich bei ihr gewesen, als ihr kleiner
Bruder von einem Auto angefahren wurde. Damals klingelte ich bei
Kathrin, lief nach oben, weil sie im ersten Stock wohnte, und sagte ihrer
Mutter Bescheid. Die stand gerade in der Küche mit einer Schüssel in der
Hand, die sie einfach auf den Boden fallen ließ und dann rausrannte.
Kathrins Bruder war nicht viel passiert, er hatte am nächsten Tag nur einen
Verband an der Hand und ein Pflaster am Knie.
Ich klingelte also wieder bei Kathrin. Sie konnte gerade nicht
runterkommen, deshalb ging ich zu ihr hoch. Ihr kleiner Bruder rannte mit
einem Flugzeug in der Hand durch die Wohnung und schrie dabei:
«Torpedo! Torpedo!» Kathrin war in ihrem Zimmer und sollte den
Meerschweinchenstall sauber machen. Ihre kleine Schwester saß auf dem
Bett und kämmte eine Puppe. Ich erzählte Kathrin, dass Jana gesehen hätte,
wie sie etwas Kleines, Goldenes in ihre Hosentasche gesteckt hat, und
fragte sie, ob sie sich meinen ägyptischen Anhänger hätte ausleihen wollen.
Kathrin sah mich mit offenem Mund an.
«Ich hab den Anhänger nicht», sagte sie. «Ich hab mir überhaupt gar
nichts von dir in die Hosentasche gesteckt!»
«Wär aber auch nicht schlimm», meinte ich. «Wenn du dir was borgen
willst von mir, kannst du mich ruhig fragen.»
«Ja, weiß ich ja.»
«Aber ich finde seit gestern meinen Anhänger nicht mehr.»
«Ich hab ihn aber nicht! Jana lügt!»
Ein paar Tage später kam Jana zu mir. Sie holte ein kleines Papierknäuel
aus ihrer Hosentasche, drückte es mir in die Hand und sagte, ich solle es
erst auswickeln, wenn sie weg sei. Danach ging sie gleich wieder. Ich
faltete das Papier auseinander und fand darin den goldenen Anhänger. Ich
freute mich riesig, lief zu meiner Mutter und sagte: «Guck mal, Jana hat mir
den Anhänger zurückgebracht!»
«Ich kann Jana nicht leiden», meinte meine Mutter.
«Wieso?»
«Weil sie eine intrigante kleine Zicke ist.»

In den ehemaligen Offizierskasernen, die der preußische Baumeister


Friedrich August Stüler gegenüber vom Schloss Charlottenburg nach
Entwürfen Friedrich Wilhelms IV. errichtet, residiert ab 1960 das
Ägyptische Museum. Im Jahr 2005 zieht die ägyptische Sammlung
West zurück an ihren ursprünglichen Standort auf der Museumsinsel
im Ostteil der Stadt; die während der deutschen Teilung in zwei
Sammlungen verwahrten Exponate werden dort wieder
zusammengeführt. Im östlichen Stülerbau befindet sich seit 2008 die
Sammlung Scharf-Gerstenberg mit vielen Gemälden der
Surrealisten, im westlichen, seit 1996, das Museum Berggruen.
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Am Insulaner

D
ie Allianzen innerhalb der Kinderszene in unserem Viertel waren
stetig im Wandel. Einen Sommer lang hatte ich mich fast
ausschließlich mit Daniela Graf getroffen, es war 1982, der Sommer der
Neuen Deutschen Welle. In Spanien war gerade Fußballweltmeisterschaft.
Manchmal sahen Daniela und ich uns ein WM-Spiel im Fernsehen an, und
dann schrieben wir auf die Melodie von Peter Schillings «Major Tom»
einen Song für Pierre Littbarski mit dem Refrain «Ja, wenn Litti stürmt,
jeder Torwart türmt». Wir nahmen das Lied auf Kassette auf, hatten aber
selbstverständlich keinen Schimmer, wie die Kassette zu Pierre Littbarski
kommen sollte.
Ich danke dem Himmel, dass es damals nicht die Möglichkeit gab,
selbstgemachte Videos auf YouTube hochzuladen.
Fast täglich fuhren wir mit dem Fahrrad zum Sommerbad am Insulaner.
Der Insulaner ist ein begrünter Hügel, ein erhöhter Park, zu dem neben dem
Bad eine Sternwarte, ein Planetarium und eine Minigolf-Anlage gehören.
Wie bei so ziemlich allen begrünten Hügeln Berlins liegen darunter die
Trümmer der Stadt, Steine, die noch in den dreißiger Jahren Gebäude
waren.
Schon während wir unsere Räder zwischen den anderen zweihundert
Rädern vor dem Bad anschlossen, brachte uns die Geräuschkulisse aus
Kindergekreisch, dem Sound ins Wasser plumpsender Körper, den Ansagen
des Bademeisters durchs Megaphon («Nicht vom Rand springen!»)
zusammen mit der verheißungsvollen Geruchsmelange aus Chlor,
Sonnencreme und Pommes in herrlichste Sommerbadstimmung.
Wir lagen auf unseren Badetüchern und spielten Kniffel, das war unser
Ding. Ab und zu ging es zur Abkühlung ins Wasser. Manchmal suchten wir
aber auch den Spielplatz auf, denn das quadratisch angelegte Klettergerüst
war ein angesagter Treffpunkt, um Viereckenraten zu spielen. Für
Viereckenraten brauchte man vier Mitspieler, aber weil der Andrang groß
war, spielten wir in Zweierteams zu acht. Daniela und ich waren natürlich
ein Team. Oben auf dem Klettergerüst, auf jeder Ecke, saßen also jeweils
zwei Spieler. Einer musste eine Frage stellen, und zwar nach dem Muster:
«Eine Blume mit R.» Die anderen mussten raten, welche Blume mit R
gemeint ist, und wer die richtige Antwort hatte, konnte mit dem Fragesteller
die Ecke tauschen, also runterspringen vom Gerüst und auf der anderen
Seite wieder hochklettern. Wenn man oben war, hatte man «Sitze!» zu
schreien. Wer Erster war, durfte die neue Frage stellen.
In diesem Sommer lautete jede dritte Frage: «Eine Gruppe der Neuen
Deutschen Welle mit XY», was eine neue Spaß-Dimension in dieses
grundsimple Spiel brachte, denn Neue-Deutsche-Welle-Gruppen hatten sehr
viel interessantere Namen als Blumen, Länder oder Mädchen. Daniela und
ich kannten anfangs nur Trio, Nena und Falco, aber es gab da diesen etwas
älteren Jungen, der sich sehr gut auskannte mit Gruppen der Neuen
Deutschen Welle. Von ihm lernten wir so irritierende Bandnamen wie
Einstürzende Neubauten, Stahlnetz, Fehlfarben oder Neonbabies. Um
mithalten zu können, bemühten wir uns intensiv um Weiterbildung. Wir
hielten Augen und Ohren offen für alles, was deutsch war und einen
schrägen Namen hatte, im Radio, auf den kleinen, an Stromkästen
geklebten Plakaten, in Zeitschriften, im Fernsehen. Auf einem Plakat
entdeckte ich den Bandnamen «Sprung aus den Wolken». Ich war entzückt
und brachte ihn beim nächsten Viereckenraten am Insulaner sofort zum
Einsatz. «Eine NDW-Gruppe mit S», forderte ich, und bekam Stahlnetz,
Spider Murphy Gang und Spliff. Als niemand mehr weiterwusste, löste ich
auf: «Sprung aus den Wolken.» Alle waren beeindruckt. Musik von denen
kannte ich nicht. Hätte mir wahrscheinlich auch nicht gefallen, denn für
experimentellen Industrial Noise Punk hatte ich mit elf noch kein Ohr.
Immerhin aber hatte ich, als die Schule wieder losging, von NDW
unendlich mehr Ahnung als alle anderen in meiner Klasse und fand Nena
und Markus unfassbar langweilig.
Nachdem der Sommer vorbei und das Bad am Insulaner geschlossen
hatte, gingen Daniela Graf und ich noch zusammen Minigolf spielen auf
dem Minigolfplatz am Lankwitzer Gemeindepark. Ich hatte dort schon
einmal mit meiner Mutter Minigolf gespielt, wobei sie mir die Spielregeln
erklärt hatte, aber leider völlig falsch. Sie hatte gesagt, man hätte zehn
Versuche, den Ball ins Loch zu schlagen, und wenn man es nicht schafft,
bekommt man eine 11 in den Block eingeschrieben. Irgendwann stand der
Mann vom Minigolfplatz neben uns und fragte:
«Wat machen Sie denn hier?»
Wir wussten nicht gleich, worauf er hinauswollte.
«Sie spielen ja ewig hier. Man hat nur sechs Schläge.»
«Ach so», sagte meine Mutter.
Aber der Mann war noch nicht fertig mit uns.
«Wenn sich jeder hier zwanzig Schläge nimmt pro Bahn, dann könnwa
ooch den Eintritt verdoppeln, hier. So jehts ja nich, hier.»
Außer uns waren nur zwei andere Männer auf dem Platz. Die waren
mehrere Bahnen vor uns und hatten jeder ein kleines Köfferchen dabei, in
dem sie ihre eigenen Bälle mitgebracht hatten. Unterschiedliche Schläger
hatten sie auch. Ihnen winkte der Mann freundlich zu, als er ging und uns
endlich wieder in Ruhe ließ. Irgendwie war die Minigolfpartie danach für
mich verdorben, und meine Mutter nannte den Mann einen Spießer.
Daniela Graf ging gern Minigolf spielen; sie hatte sogar ein paar eigene
Bälle und einen eigenen Schläger, so wie die Männer auf dem Platz damals.
Es war in Ordnung, mit ihr zu spielen, aber erstens gewann sie ständig mit
ihren Spezialbällen, und zweitens hatte der Minigolfplatz irgendwie
verschissen bei mir, zumal derselbe Mann, der Spießer, immer noch da in
seinem Häuschen saß. In den Ferien am Insulaner und während der Fußball-
WM war es einfach besser gewesen mit Daniela. Die Kassette mit dem
Littbarski-Lied blieb bei ihr liegen und wurde vergessen oder mit NDW-
Musik überspielt.
Im Finale der Fußball-WM besiegte Italien Deutschland mit 3:1.

Der Insulaner an der Bezirksgrenze von Steglitz und Schöneberg ist


einer der vielen Erhebungen Berlins, die nach dem Zweiten
Weltkrieg aus den Trümmern der Stadt aufgeschüttet werden.
Seinen Namen erhält der Trümmerberg 1951 durch einen
Ideenwettbewerb an Schöneberger Schulen. Die Siegeridee
«Insulaner» bezieht sich auf die äußerst beliebte kabarettistische
Radiosendung «Die Insulaner», die von 1948 bis 1964 im RIAS lief.

Die 1980 gegründete Berliner Band Sprung aus den Wolken zählt
zur Bewegung der «Genialen Dillettanten». 1987 steuern sie ein
Stück zum Soundtrack des Films Der Himmel über Berlin von Wim
Wenders bei. Ihr vorläufig letztes Album erscheint 2011.
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Union-Film-Studios

D
ie Einzige aus dem ganzen kinderreichen Viertel, mit der ich dieselbe
Schule besuchte, war Judith, denn Judith war ebenfalls katholisch.
Wir gingen auch zusammen zur Erstkommunion in unserer kleinen, flachen
Neubau-Kirche, die überhaupt nichts gemeinsam hatte mit der großen,
hohen Kirche in Neukölln. Vor der Erstkommunion besuchten wir einmal in
der Woche den Erstkommunionsunterricht. Davor waren wir schon zum
Beichtunterricht gegangen. Den Abschluss des Unterrichts bildete die erste
Beichte, bei der es darauf ankam, dem Pfarrer die Sünden aufzuzählen, die
wir begangen hatten.
Am Tag vor der Beichte saßen Judith und ich vor je einem Zettel, auf
dem wir gerade die Sünden notierten, von denen wir am nächsten Tag bei
der Beichte erzählen wollten. Das hatte uns die Katechetin so geraten, damit
wir in der Aufregung nicht alles vergessen. Unser Sünden-Brainstorming
verlief etwas schleppend, wobei mir mehr Sünden von Judith einfielen als
von mir selber. Zum Beispiel hatte sie mich auf dem Nachhauseweg vom
Beichtunterricht einfach nur so aus Gemeinheit in die Büsche geschubst,
und einmal, als wir allein bei ihr zu Hause waren, hatte sie mich zu einer
Mutprobe aufgefordert, die darin bestand, auf der Balkonbrüstung
entlangzuspazieren. Judith wohnte im siebten Stock. Ich wäre noch nicht
einmal bei uns im zweiten Stock auf der Balkonbrüstung spaziert, aber
Judith schwang sich hoch und lief von links nach rechts. Und als sie sah,
dass ich fast ausflippte vor Angst, ging sie provozierend langsam zurück
von rechts nach links.
Auf meinen Beichtzettel schrieb ich, dass ich meiner Mutter manchmal
nicht geholfen hatte mit irgendwas, dass ich mein Zimmer nicht aufgeräumt
und dass ich geschwindelt hätte.
Judith war nicht von Anfang an mit mir auf der katholischen
Grundschule, sie kam erst zur fünften Klasse dazu. Hauptsächlich, weil ihre
Eltern sich davon einen positiven Einfluss auf ihre Tochter erhofften, die
sich schon damals mehr für Jungs als für Schule interessierte. Dabei ließen
sie leider völlig außer Acht, dass nicht Judith von ihrem Umfeld geprägt
wurde, sondern dass es stets andersherum war.
Wenig überraschend hatte Judith nach dem Schulwechsel keinerlei
Schwierigkeiten, in ihrer neuen Klasse anzukommen, alle wollten sofort mit
ihr befreundet sein, Mädchen wie Jungs. Judith verteilte ihre Gunst mal so
und mal so. Nachmittags standen jetzt plötzlich die Jungs aus der Klasse
vor der Tür zu unserem Haus. Sie klingelten bei Judith, und weil ich
zufällig auch in dem Gebäude wohnte, klingelten sie noch bei mir. Judiths
Eltern waren wenig begeistert von diesem Andrang. Ihrer Ansicht nach
sollte ihre Tochter am Schreibtisch sitzen und lernen. Judith aber wollte
unbedingt raus, besonders wenn Ingo Römer vor der Tür stand.
Ganz anders die Problematik bei mir. Ich hatte gar kein Interesse daran,
nach draußen zu gehen, wenn die Jungs aus der Klasse bei uns zu Hause
klingelten. Ich wusste überhaupt nicht, was ich mit denen anfangen sollte,
und mir war auch völlig klar, dass sie gar nicht wegen mir da unten standen.
Nur meine Mutter wollte das nicht einsehen.
«Also, jetzt hör mal», sagte sie. «Die sind extra hergekommen. Du gehst
jetzt schön da runter!»
Judith und Ingo Römer gingen schließlich miteinander, wobei Judith
zusätzlich noch mit Frank Hellberger von ihrer alten Schule ging, was Ingo
Römer aber nicht so mitbekam.
An einem Nachmittag fuhr Judiths Vater seine Tochter und mich zu den
Berliner Union-Film-Studios, den ehemaligen UFA-Filmstudios, in der
Oberlandstraße südlich vom Flughafen Tempelhof, und setzte uns dort ab.
In der Gegend standen keine Wohnhäuser, nur Gebäude mit sehr wenigen
Fenstern und Metallzäunen davor. Es sah gar nicht aus wie sonst in Berlin,
es war ein komisches Nirgendwo. Von hier wurde also die ZDF-Hitparade
gesendet. Wir waren ziemlich aufgeregt, schließlich verfolgten wir die
Hitparade, seit wir denken konnten, und in der aktuellen Ausgabe waren
Geier Sturzflug, Hubert Kah, die Conditors und Nena dabei. Die Karten, die
Judiths Vater irgendwoher hatte, waren allerdings nicht für die echte
Übertragung der Sendung, sondern für die Generalprobe vor der
Übertragung der Sendung. Das war uns aber egal, und Judith freute sich
wahnsinnig auf Nena.
Kaum waren wir aus dem Auto gestiegen, bog der schnauzbärtige
Saxophonist von Geier Sturzflug um die Ecke. Geier Sturzflug hatten
gerade viel Erfolg mit ihrem Hit «Bruttosozialprodukt». Judith und ich
stießen uns gegenseitig die Ellenbogen in die Seiten und gingen aufs
Studiogelände, wo eine Menschentraube um einen kleinen Mann mit
schwarzen Haaren herumstand. Er schrieb den Leuten Autogramme auf alle
möglichen Zettel, denn er war einer von Nena. Merkwürdig, dass es diese
Leute, die man sonst nur im Fernsehen sah, auch in Wirklichkeit gab. Judith
wollte unbedingt ein Autogramm von Nena haben, aber nur von Nena
selber, die Band war ihr egal.
Wir hatten 1-a-Plätze oben auf der Galerie, gleich in der zweiten Reihe.
Es war sehr hell und warm, überall hingen Lampen und Scheinwerfer.
Kameraleute lümmelten hinter unglaublich riesigen Fernsehkameras, einer
trank aus einer Büchse Cola. Wir guckten noch so herum, als plötzlich
Dieter Thomas Heck vor uns auftauchte, als hätte er sich da hingebeamt. Er
sprach mit dem Rücken zu uns in eine Kamera und sagte mit seiner original
Dieter-Thomas-Heck-Stimme: «Hier ist Berlin! Willkommen zur
Generalprobe der ZDF-Hitparade.» Wir waren begeistert.
Bevor es losgehen konnte, ging es noch ein bisschen hin und her mit
irgendwelchen Signalen aus der Regie, die wohl nicht so gut funktionierten,
und ab und zu ertönte eine laute Stimme und machte eine Ansage. Doch
dann traten endlich die Conditors auf. Sie hatten eine als Freiheitsstatue
verkleidete Frau dabei, die auf der Treppe hinter ihnen unbeweglich
verharrte, dazu sangen sie ihr Lied «Himbeereis im heißen Tee».
Ansonsten wunderten wir uns etwas über die Sänger und die anderen
Bands, wie sie aussahen und was sie so taten. Definitiv hatten die meisten
nicht die Sachen an, die sie normalerweise fürs Fernsehen anzogen, und sie
gaben sich auch sonst nicht besonders viel Mühe mit ihrer Probe-
Performance. Besonders Nena, die am Schluss dran war, hatte ganz klar
ganz wenig Bock. Als sie fertig war und mit ihr die Veranstaltung, stürmten
haufenweise Zuschauer los, um sich ein Autogramm von ihr abzuholen.
Auch Judith lief die Treppe runter zu Nena, und ich hinterher. Dort standen
wir vor einer Wand von dicht aneinandergedrängten großen Rücken, durch
die sich nicht einmal Judith durchschieben konnte, die ja sonst immer alles
konnte. Es dauerte eine Weile, bis der Pulk sich etwas lockerte und wir zu
Nena vordringen konnten, die da etwas genervt auf Blöcken, Zetteln und
Plattenhüllen herumkritzelte, die Leute ihr unter die Nase hielten. Ab und
zu pustete sie ihren Pony hoch, so wie wir das auch oft machten.
Ponyhochpusten war eine angesagte Geste. Judith streckte ihr einen Block
entgegen und wartete, bis Nena mit ihrem Stift bei ihr vorbeikam. Endlich
war Judith mal nicht die Königin im Raum.
Als wir wieder bei ihrem Vater im Auto saßen, sahen wir uns in aller
Ruhe Nenas Autogramm an, einen blauen gebogenen Strich, nach hinten
raus krakelig abgerutscht.

Berlin ist das einzige Bundesland der alten BRD, in der die
Grundschule auf sechs, anstatt auf vier Jahre ausgelegt ist, mit
Ausnahme einzelner, vor allem altsprachlicher Gymnasien, die
bereits mit der Klassenstufe fünf beginnen. Die sechsjährige
Grundschule existiert heute in Berlin und Brandenburg.

Am 15. Dezember 1984 moderiert Dieter Thomas Heck zum letzten


Mal die ZDF-Hitparade; im Jahr 2000 wird die Sendung ganz
eingestellt.
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Am Glienicker See

K
urt Mühlenhaupt hatte weiße Haare und einen weißen Bart, trug ein
mit Farbe bekleckertes Hemd und eine weite Leinenhose, dazu
Künstlerschuhe. Auf dem Kopf hatte er natürlich einen Hut. Die
Erwartungen, die unbedarfte Fünftklässler aus Berliner
Mittelschichtsfamilien an einen schratigen Künstler stellten, erfüllte er
mühelos. Er empfing uns merklich routiniert, denn so ziemlich jede
Berliner Schulklasse auf Klassenfahrt in Kladow stattete ihm einen Besuch
ab. Der Bezirk Kladow, grün, dörflich und etwas isoliert westlich der Havel
gelegen, war für Klassenfahrten innerhalb Berlins hoch favorisiert. Und
Kurt Mühlenhaupt, der dort wohnte, hatte die Monopolstellung als lokale
kulturelle Attraktion.
Was wir gleich gut fanden an Kurt Mühlenhaupt, war, dass er nicht mit
uns redete wie mit kleinen Kindern. Er polterte und berlinerte einfach
drauflos, während er uns zeigte, was er gemalt und sonst noch gebastelt
hatte, eine Menge Zwerge zum Beispiel, die überall in seinem wucherigen
Garten und dem kramigen Haus herumstanden. Manche wirkten müde,
einige hatten rot lackierte Fingernägel, alle trugen einen Bart und hatten
große, gebogene Gesichter mit markanten Nasen. Über seine Bilder
wunderten wir uns etwas. Ein echter Maler, dachten wir, einer, der
tatsächlich fürs Malen Geld bekommt, müsste doch echt richtig gut malen
können, also richtig gute Bilder, so wie die, die in Museen hingen. Aber
Kurt Mühlenhaupt malte mehr so wie wir, nur viel größer. Er erklärte uns
ein riesiges Gemälde, auf dem ein Baby, Kinder, Erwachsene und alte Leute
drauf zu sehen waren, und meinte, es handele von den verschiedenen
Lebensphasen.
«Erst mal wirste jeborn», sagte er und zeigte auf das Baby, das sehr
unzufrieden wirkte. «Da sind wa alle solche Würmchen. Und danach
kommen hier die Kinder. Die spielen und haben noch keene Sorgen, und
dann sindse schon Jugendliche», er zeigte auf ein sich küssendes Paar, «und
wolln nur noch knutschen.» Darüber kicherten wir.
Kurt Mühlenhaupt schaute uns an. «Ihr so … na ja. Kleene Kinder seid
ihr nich mehr, aber Jugendliche nu ooch noch nich.»
Das war wahrscheinlich korrekt.
«Und dann», erzählte Kurt Mühlenhaupt weiter, «dann werdense
erwachsen und hetzen nur noch durchs Leben. Von denen sieht man hier nur
noch die Hacken.» Am rechten Gemälderand sahen wir die Hosenbeine und
die Schuhe eines Mannes und die hohen Absätze einer Frau.
«Na, und am Schluss biste alt, denn haste wieder viel Zeit. Und dann
stirbt man.» Ein Sarg war auch auf dem Bild gemalt.
Kurt Mühlenhaupt hatte gerade, es war 1981, seinen Feuerwehrbrunnen
auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg gebaut, ein Brunnen, bei dem drei
Feuerwehrmänner aus Stein Wasser aus ihren Schläuchen spritzen. Er war
damals sechzig und lebte nach unserem Besuch noch weitere
fünfundzwanzig Jahre.

Leider hatten wir die gesamte Klassenfahrt über Pech mit dem Wetter;
schon als wir auf der Fähre standen, die uns über die Havel brachte, kam
der erste Regen auf. Die ganze Woche lang konnten wir draußen nicht
schwimmen gehen, nur einmal Tretboot fahren. Mehr als uns lieb war,
saßen wir im oder vor dem Carl-Sonnenschein-Haus, dem regionalen
Schullandheim des Erzbistums Berlin, und diskutierten die Frage, wie man
die Zecken aus den Katzen herausholen muss, ob drehen, und wenn ja, in
welche Richtung, oder ob man Öl drauftun muss oder Pattex. Jeder hatte
seine eigene Meinung zum Zeckenthema.
Wir fuhren zum Glienicker See, saßen in Regenjacken und
Gummistiefeln am Ufer und guckten auf die Bojen, die markierten, ab wo
das Wasser zur DDR gehörte. Auf der anderen Seite des Sees stand die
Mauer, und hinter der Mauer standen auf einem Turm zwei Grenzposten,
die uns durch ihre Ferngläser beobachteten. Damit sich das auch lohnte für
sie, machten wir ein paar müde Faxen.
Als Ersatz dafür, dass wir weder im Glienicker See noch in der Havel
schwimmen konnten, fuhren wir an einem Tag zum Hallenbad Spandau-
Süd. Das Schwimmerbecken beachteten wir gar nicht, wir verbrachten die
Zeit ausschließlich im Sprungbecken. Ein paar von den Jungs konnten vom
Einer springen und dabei eine Rolle in der Luft schlagen, und Ingo Römer
traute sich sogar einen Köpper vom Dreier. Von den Mädchen schafften
Judith und Tanja Konopke schließlich auch den Salto vom Einer. Ich konnte
auf dem Einer einen Handstand machen und mich dann ins Wasser kippen
lassen. Da war ich aber nicht die Einzige.
Was ich als Einzige konnte, war, nach dem Sprung ins Wasser mit dem
Kopf oben zu bleiben. Das fiel nur erst mal keinem auf. Mir war es früher
selbst nie aufgefallen, dass andere untertauchten, während ich oben blieb.
Aber in der ersten Sendung der neuen Fernsehshow Wetten, dass…? trat ein
Mann auf, der wettete, dass seine sechzehnjährige Tochter genau das
konnte. Vom Einer springen und dann mit dem Kopf oben bleiben. Einige
Leute im Saal wetteten dagegen, aber das Mädchen schaffte es. Natürlich
schaffte sie es, ich wusste genau, dass sie das schafft – ich war zehn und
ging auch nicht unter, noch nicht einmal, wenn ich vom Dreier sprang; da
würde eine Sechzehnjährige das ja wohl locker vom Einer schaffen. Erst
seit dieser Wette beobachtete ich, dass alle anderen untertauchten, wenn sie
ins Wasser sprangen. Dabei war es gar keine Zauberei, oben zu bleiben,
man musste nur sofort losschwimmen, sobald man im Wasser war.
Im Vorschulalter hatte ich einen Schwimmkurs im Stadtbad Lankwitz
besucht, bei dem die Kinder in jeder Stunde mit einem Styroporklotz
weniger an ihrem Schwimmgürtel ins Wasser geschickt wurden.
Irgendwann waren es einfach zu wenige für mich. Immer wieder gluckerte
ich unter, aber der Schwimmlehrer sah das nicht, und ich hatte keine Luft
mehr übrig, um nach ihm zu rufen. Also paddelte ich Richtung Beckenrand,
als plötzlich der Schwimmlehrer auftauchte und «Weiterschwimmen!» rief.
Mit letzter Anstrengung blubberte ich: «Kann nicht mehr», worauf der
Lehrer sagte: «Wer sprechen kann, kann auch noch schwimmen.» Danach
ging ich nicht mehr zum Schwimmkurs.
Für Judith musste ich auf der Klassenreise ständig Botengänge machen
und Briefchen zwischen ihr und Ingo Römer hin- und hertragen. Die Fete
am letzten Abend torpedierte sie, indem sie einfach mit ihrem Walkman auf
dem Zimmer blieb, woraufhin alle möglichen anderen dann auch meinten,
die Fete öde finden und aufs Zimmer gehen zu müssen. Vor der Rückfahrt
im Bus entschied Judith per Abzählvers, wer neben ihr sitzen durfte. Ich saß
dann neben Nicole.

Das östliche Ufer des Groß Glienicker Sees liegt in Berlin, das
westliche gehört zum Potsdamer Stadtteil Groß Glienicke. Während
das Gewässer in West-Berlin ein beliebtes Ausflugsziel ist, wird der
Seeblick in Groß Glienicke zu DDR-Zeiten durch die Mauer
versperrt, und nur der Straßenname der dahinterliegenden
«Seepromenade» erinnert an die Existenz eines Gewässers.

Der Künstler Kurt Mühlenhaupt stirbt 2006 in Bergsdorf im


Havelland, wo es heute auch ein Kurt-Mühlenhaupt-Museum gibt.
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The Wall

W
as ich die ganzen Grundschuljahre über sehr gern mochte, war
Briefpapier. Ich besaß viel Briefpapier. Mein Lieblingsbriefpapier
war eines aus hellblauem Umweltpapier mit einem Elefanten unten in der
Ecke, aus dessen Rüssel rosafarbene Herzen aufstiegen; ich hatte aber auch
ein sehr schönes Traumschiff-Briefpapier.
Für all das Briefpapier brauchte man natürlich Brieffreundinnen, und in
der von den Steyler Missionaren herausgegebenen Kinderzeitschrift «Weite
Welt», die wir umsonst in der Schule bekamen, gab es praktischerweise
eine Rubrik mit dem Titel «Wer schreibt mir?». Dort konnte man Adressen
von anderen finden, die ebenfalls eine Brieffreundin oder einen Brieffreund
suchten für ihr Briefpapier. Unter der Adresse standen die Hobbys der
Kinder, damit man jemanden finden konnte, zu dem man passt. Meistens
war eines der Hobbys: «Briefe schreiben».
Man schrieb also an eine von diesen Adressen, und dann wartete man auf
Antwort. Mit dieser Methode hatte ich mir bereits mehrere
Brieffreundinnen geangelt, bevor unsere Englischlehrerin während der
sechsten Klasse eine Liste rumgehen ließ, in die man sich eintragen konnte,
wenn man eine Brieffreundin aus England haben wollte. Selbstverständlich
trug ich mich ein in diese Liste und hatte bald eine neue Brieffreundin in
Cornwall. Sie hieß Olivia und schickte mir sehr viele Polaroidfotos von
sich, ihrer Familie und einigen Hunden. Alle außer den Hunden waren ein
bisschen dick, komisch angezogen und stark geschminkt. Aber dafür aus
England. England fand ich grundsätzlich gut, und Briefe auf Englisch zu
schreiben war ein ganz neuer Kick, auch wenn es viel länger dauerte. Damit
ich Olivias Briefe verstehen konnte, musste meine Mutter mir ein
Wörterbuch kaufen. Mein englisches Lieblingswort war von Anfang an
splendid. Im Englischwörterbuch stand als Übersetzung «glänzend,
großartig, herrlich», aber das waren ganz andere Wörter, sie waren nicht so
schlank, spontan und klangvoll wie splendid.
Nachdem wir ungefähr ein Jahr lang Briefe, Bilder und Aufkleber hin-
und hergeschickt hatten, schrieb Olivia, dass sie mit ihrer Mutter an einer
Gruppenreise nach Berlin teilnehmen werde. Sie fragte, ob wir uns dann
mal treffen wollten. Noch nie war ich auf die Idee gekommen, eine meiner
Brieffreundinnen in echt zu treffen, und war sofort sehr aufgeregt.
Mit meiner Mutter fuhr ich zu dem kleinen Hotel in der Knesebeckstraße,
einer Seitenstraße vom Ku’damm, in dem Olivia mit ihrer Mutter und den
anderen Engländern wohnte. Wir trafen uns unten im Hotel, in einem
hübschen kleinen Raum mit Kamin und alten Sofas. Ich mochte Olivia
sofort. Sie war zwar tatsächlich ein bisschen komisch angezogen und trug
schon Lidschatten, aber sie hatte schöne strahlende Augen und dunkle,
lockige Haare, und sie sprach astrein Englisch. Zuerst mal tauschten wir
Geschenke aus. Ich hatte für Olivia ein deutsch-englisches Wörterbuch
mitgebracht, sie überreichte mir Orangenmarmelade und einen Stoffhund.
Olivia zeigte das Wörterbuch ihrer Mutter, die es begeistert durchblätterte
und es «lovely» nannte. Ich zeigte auf den Hund und die Marmelade und
sagte: «Splendid.»
Dann wollten Olivia, Olivias Mutter und andere aus der englischen
Gruppe die Mauer sehen, The Wall. Es war leider kein sehr schöner Tag, es
war kalt und trübe, und an solchen Tagen war auch Berlin kalt und trübe, in
einer über das Wetter hinausgehenden Art und Weise. Ich bedauerte das
sehr, denn eigentlich wollte ich Olivia gern ein schönes und sonniges Berlin
zeigen.
Auf dem Weg zur U-Bahn gingen wir an der Gedächtniskirche und am
brandneuen Weltkugelbrunnen vorbei, den man kurze Zeit später nur noch
Wasserklops nannte, und die Engländer fotografierten beides und noch
einiges mehr. Ich unterhielt mich dabei mit Olivia, hauptsächlich über
Musik. Sie wollte wissen, was ich gern höre, und ich sagte: «Wham!» Ich
sagte es aber so: Wäm. Sie sah mich an und meinte: «Oh, Wahm», mit
langem A. Das wunderte mich sehr, denn ich dachte, die heißen Wäm, mit
Ä, und ich war mir nicht mehr sicher, ob wir über dieselbe Gruppe redeten.
«George Michael is fantastic», sagte Olivia, aber den kannte ich nicht.
Olivias Mutter versuchte in der Zwischenzeit mit meiner Mutter zu
reden, aber meine Mutter konnte leider fast kein Englisch. Trotzdem sah
ich, wie sie Olivias Mutter freundlich zuhörte und nickte und dass sie
lachte, wenn Olivias Mutter lachte. So ähnlich machte ich es dann auch mit
Olivia, denn obwohl ich eine Eins in Englisch hatte, verstand ich leider
nicht so viel.
Wir fuhren mit der Linie 1, die nur kurz unter der Erde und danach die
ganze Zeit oben entlangfuhr, was an diesem Tag gar nicht so gut war.
Olivia, ihre Mutter und die anderen Engländer blickten durch die Fenster
auf einen grauen Himmel über kaputten Häusern, auf überwucherte
Brachen und Gleisanlagen, die seit Ewigkeiten außer Betrieb waren. Die
Engländer sahen gesund und rotbäckig aus, sie strahlten und waren bereit,
alles lovely und fantastic zu finden, während die Leute in der U-Bahn
tendenziell so grau und trüb und manchmal auch so kaputt wirkten wie die
Stadt draußen, was mir ohne Engländer noch nie so sehr aufgefallen war.
Leider reichte mein Englisch nicht aus, um das Kaputte und Graue mit
Worten interessant zu machen.
Am Schlesischen Tor in Kreuzberg stiegen wir aus und gingen bis nah
ran an die Mauer. Die Engländer staunten sehr. Sie murmelten wieder: «The
Wall», und machten viele Fotos, von der Mauer und von sich vor der
Mauer. Dann stiegen wir alle noch auf eine Aussichtsplattform und guckten
rüber in den Osten, wo es eindeutig nicht weniger trüb aussah als im
Westen. «This is such a shame», sagte Olivias Mutter. Ich erkannte diese
Worte wieder aus dem Lied Such A Shame von der britischen Gruppe Talk
Talk.
Auf dem Weg zurück ins Hotel stieg eine Frau in den Zug, die uns
ansprach, als sie hörte, dass Englisch gesprochen wurde. Über Englisch in
der U-Bahn freuten sich die Leute oft, aber diese Frau war leider verrückt,
das sah man gleich.
«From America?», fragte sie.
Die Engländer schüttelten freundlich die Köpfe und sagten: «England.»
«England», wiederholte die Frau und nickte eifrig. Sie kam ganz dicht an
uns heran mit ihrem Mundgeruch und ihrem Bart und ihrer fleckigen
Einkaufstasche. «I am sixty-one!», rief sie.
Olivias Mutter nickte auch. «And are you on your way home just now?»,
fragte sie, sehr langsam und deutlich.
«Home Börlin!», rief die Frau. «Börlin!»
Alle nickten. Der Zug rumpelte zurück unter die Erde.

Schließlich schickte ich meine Adresse auch mal an die «Weite Welt», und
nur wenig später war unser Briefkasten so voll mit Post für mich, dass die
Briefe oben aus der Klappe herausguckten.
Einige Tage lang ging das so, dann wurde es immer weniger. Monate
später, als ich schon lange keine Antworten mehr bekommen hatte, lag noch
ein Nachzüglerbrief in der Post, er kam von einem Mädchen aus Halle in
der DDR. Schon der Umschlag und das Papier sahen anders aus als die
Briefe sonst. Ihr Name war Silvia, und sie hatte gleich ein Foto mit in den
Umschlag gelegt, ein Passfoto, auf dem sie einen Pullover mit
Rüschenkragen trug. Sie war ein Jahr älter als ich, sah aber noch älter aus,
fand ich, vielleicht wegen der Oma-Frisur. Ich antwortete ihr.
Sie hatte mir geschrieben, dass ihre Lieblingsfächer Mathematik und
Technisches Zeichnen sind, dass sie in einer Neubauwohnung wohnt und
ihr Vater in Ost-Berlin lebt. Ich schrieb ihr, dass ich auch in einer
Neubauwohnung wohne und dass ich Mathe nicht so mag, lieber Deutsch
und Englisch. Sie wollte wissen, welche Musik mir gefiel und ob ich in den
Ferien verreise. Zum Geburtstag schickte sie mir ein Paket, in dem kleine
geblümte Frotteetücher, Filzstifte und eine Halskette aus großen
Plastikkugeln drin waren. Ich wunderte mich über die Frotteetücher, und die
Filzstifte waren irgendwie nicht so dolle. Die Kette fand ich aber ganz
witzig. Meine Mutter benutzte die Lappen dann zum Putzen. Sie erklärte
mir, dass es in der DDR nicht so viel zu kaufen gibt, aber das wusste ich
längst.
Silvia fragte mich in einem ihrer Briefe, ob ich ihr ein paar Poster oder
Bilder von Pop-Gruppen senden könnte. Das war so Ende November, und
weil Silvia erst im Juni Geburtstag hatte, schickte ich ihr ein Paket zu
Nikolaus. Ich hatte extra Bravo, Popcorn und Mädchen gekauft und für
Silvia nur die Poster und ein paar Bilder herausgetrennt, weil meine Mutter
meinte, ganze Zeitschriften dürfe man nicht in die DDR schicken.
Außerdem legte ich Lebkuchenherzen und ein Paar sehr schicke lila-gelb
gestreifte Stulpen mit ins Paket. Die Stulpen hatte meine Mutter gekauft,
ein Paar für Silvia und eines für mich.
Zwei Wochen nach Nikolaus erhielt ich das Paket für Silvia wieder
zurück. Es sah zerknautscht aus, und es klebte ein Zettel drauf, auf dem
etwas von nicht erlaubten Druckerzeugnissen stand. Allerdings waren nur
die Lebkuchen und die Stulpen in der Schachtel, die ganzen Poster waren
nicht mehr dabei. Ich saß mit dem zerfledderten Paket in meinem Zimmer,
und zu meiner eigenen Überraschung war ich darüber so wütend, dass mir
die Tränen kamen. Es gab also erwachsene Menschen, die Zeit und Energie
darauf verwandten, minderjährige Mädchen daran zu hindern, sich Popstar-
Poster zuzuschicken. So etwas existierte tatsächlich, der Beweis lag neben
mir. Diese Mauer in meiner Stadt war offenbar doch sehr viel mehr als ein
Gimmick, den Touristen fotografierten. Das war mir hiermit klarer
geworden als durch mehrere Stunden Berlin-Kunde und
Geschichtsunterricht bei Frau Drechsler.
Ich schrieb Silvia einen Brief, in dem ich ihr erklärte, dass ich versucht
hätte, ihr Poster zu schicken. Es sei ein großes Poster von Paul Young dabei
gewesen und eins von Shakin’ Stevens plus ein paar andere Bilder plus
Lebkuchen und Stulpen, aber alles sei zurückgekommen, wohl, weil es
verboten wäre, und dass ich jetzt nicht wüsste, was ich noch tun könne, es
sehe so aus, als sei es eventuell nicht möglich, ihr die gewünschten Sachen
zu schicken. Ich erhielt aber keine Antwort mehr, und meine Mutter meinte,
wahrscheinlich läge das nicht an Silvia.
Viel später, Jahre später sogar, erhielt ich einen Brief aus den Philippinen.
Er war von einem Jungen mit spanischem Namen, der mir schrieb, er wolle
später mal Priester werden. Ich wusste nicht, warum mir ein Junge aus den
Philippinen erzählt, dass er Priester werden will, und tat den Brief in eine
Schublade. Am nächsten Tag, während ich im Schulunterricht aus dem
Fenster sah und meinem Gehirn erlaubte, in unspezifische Gedankenströme
einzutauchen, fiel mir unerwartet eine Erklärung dafür ein, nämlich dass die
«Weite Welt» auf den Philippinen noch später ankam als in der DDR.
Von 1982 bis 1984 wird der Breitscheidplatz zwischen Europa-
Center und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche neu gestaltet. Dabei
entsteht 1983 auch der Weltkugelbrunnen des Berliner Bildhauers
Joachim Schmettau, der bald darauf den Spitznamen
«Wasserklops» erhält und auch tatsächlich so genannt wird; im
Gegensatz zu «Telespargel» für den Fernsehturm, «Langer
Lulatsch» für den Funkturm, «Schwangere Auster» für die
Kongresshalle (heute: Haus der Kulturen der Welt) oder «Hohler
Zahn» für die Gedächtniskirche, welche allesamt im alltäglichen
Berliner Sprachgebrauch nicht vorkommen und als Stadtführerprosa
bezeichnet werden können.
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A
ls Sechstklässler waren wir die Größten in der Grundschule gewesen,
jetzt waren wir in der Siebten und die Kleinsten an der Oberschule.
Anja, Heike, Nicole und ich waren von der alten Marienfelder Grundschule
nach den Sommerferien 1983 zusammen in die Oberschule gewechselt, in
eine neue Klasse mit Schülern, die in anderen Ecken der Stadt lebten,
meistens in Britz, Rudow oder Gropiusstadt. Silke wohnte in Rudow.
Mitten im Schuljahr, sogar mitten unter der Woche, kam Saskia in unsere
Klasse. Sie saß sehr gerade und hatte Ost-Sachen an, also eine sehr
unmodische Jeans und graue Schuhe, die überhaupt keinen Bezug hatten zu
irgendwelchen anderen Schuhen, die man sonst kannte. «Ost» oder «ostig»
war bei uns gerade ein hochaktueller Schmähbegriff, mit dem man gewisse
ästhetische Ausfälle kurz und prägnant charakterisieren konnte.
«Wie findest du Nicoles neue Jacke?»
«Voll ostig.»
Saskia sprach auch anders. Etwas bedächtiger, aber gleichzeitig
kurzatmiger und auf jeden Fall stärker berlinerisch als wir. Sie sprach Ost-
Berlin, da kam sie nämlich her. Aus einer fremden Stadt, die sich ebenfalls
Berlin nannte und wie zufällig an unser Berlin grenzte. Ich hatte vorher
noch nie persönlich jemanden aus dem Osten getroffen, schon gar nicht ein
Mädchen in meinem Alter. Auf dem Schulhof umringten und bestaunten
wir sie und alles an ihr; wie sie angezogen war, ihre Schultasche, ihre
Frisur, wie sie dastand. Und wir hörten ihr zu, wie sie redete, welche Wörter
sie benutzte und wie sie die Wörter aussprach. Sie bewegte sich anders und
lachte anders.
Saskia war sehr diszipliniert und gut in der Schule, nur von Englisch
hatte sie keinen Schimmer. Wir mussten ab jetzt aufpassen mit dem Wort
«Ost». Wir konnten nicht mehr einfach alles als «Ost» bezeichnen, was wir
schäbig fanden, zumindest nicht, wenn Saskia in der Nähe war, und
zumindest nicht, solange sie komplett in Ostklamotten steckte. Wir fanden
sie selber auch gar nicht ostig. Wir fanden sie nämlich toll.
Das lag unter anderem daran, dass Saskia mengenweise interessante
Lieder kannte, die wir überhaupt nicht kannten und die sie uns auf dem
Schulhof vorsang. Unser Lieblingslied war eine traurige Liebesgeschichte,
in der das Mädchen stirbt, nachdem sie ein Kind bekommen hat. Es gab
darin faszinierende Textzeilen wie: «Rocky, ich habe noch niemals
geliebt / Ich weiß nicht, ob ich das bringe / denn es gehört doch mehr
dazu / als ein Flirt und ein Paar Ringe.» Und weiter: «Ich sagte: Kopf hoch,
Baby, lehn dich an mich / Es wird schon irgendwie gehn / Denn wenn du
mir ein wenig hilfst / ist Liebe kein Problem.»
Saskia musste uns das wieder und wieder vorsingen, und sie machte das
sehr stilvoll und selbstbewusst, ohne dabei eine Show abzuziehen, mit den
Händen in den Taschen ihrer komischen Ostjeans. Schließlich schrieb sie
den Text in ordentlicher kleiner Schrift auf eine Matrize und machte davon
Abzüge für uns alle. Noch lieber wollten wir das Lied aber aus ihrem Mund
und in ihrer Sprache hören, denn dabei wurde es für uns zu einer
herzzerreißenden Botschaft aus dem unbekannten Osten und darüber, wie
dort geliebt und gestorben wurde.
Eine Lehrerin empfahl Saskia, sie solle sich das Berlinern mal
abgewöhnen, das mache man hier nicht. Wir hielten die Luft an, weil das so
unverschämt war und obendrein noch falsch. Außerhalb der Schule
berlinerten auch wir manchmal, einige unserer Eltern noch mehr, und die
Busfahrer erst recht. Was die Lehrerin wirklich meinte, war: Berlinern ist
auf dieser Seite der Mauer unfein und proletarisch. In der Pause sagten wir
zu Saskia, sie könne von uns aus ruhig weiter berlinern, ausgerechnet diese
Lehrerin mit ihren geschmacksverirrten Röcken habe ja nun gar nicht zu
entscheiden, wie einer reden sollte.
Saskia lachte, sie hatte es zum Glück nicht krummgenommen. Ihr
Berlinerisch schliff sich trotzdem immer mehr ab, je länger sie im Westen
war. Irgendwann im Laufe des Schuljahrs hatte sie dann neue Hosen, neue
Schuhe und eine neue Frisur. Nur ihre ostige Schultasche behielt sie noch
sehr lange, als Erinnerung vielleicht.
Erst viel später stellte sich heraus, dass es sich bei dem Lied «Rocky» um
einen damals schon zehn Jahre alten Schlager des keinesfalls ost-, sondern
westdeutschen Hitproduzenten Frank Farian handelte, der damit außerdem
nur einen gleichnamigen amerikanischen Song gecovert hatte. Das wäre uns
aber auch egal gewesen, für uns blieb es ein Lied, das die Schulkinder in
Ost-Berlin sangen, wenn sie in ihren grauen Schuhen an grauen Häusern
vorbei nach Hause liefen, irgendwo unterm Fernsehturm.

Mit 368 Metern ist der 1969 eröffnete Fernsehturm auf dem
Alexanderplatz das höchste Bauwerk in Deutschland. An sonnigen
Tagen entsteht auf der silbernen Kugel des Turms eine Lichtreflexion
in Form eines Kreuzes, die zu Mauerzeiten auch «Die Rache des
Papstes» genannt wird.
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D
er zweite Weihnachtstag war bei uns der Großfamilienfeiertag.
Solange Oma noch einigermaßen konnte, kam die Familie am
26. Dezember bei ihr in Neukölln zusammen. Der Opa starb im Sommer
1980, am einundsiebzigsten Geburtstag meiner Oma, und andere aus der
Familie übernahmen das Schmücken des Weihnachtsbaums und das
Aufstellen der von Opa selbstgeschreinerten Krippe. Das sah man leider
sofort. Die großen Kugeln und die zarten Glasvögelchen waren komplett
anders auf dem Baum angeordnet als zu Opas Lebzeiten, das Lametta
nachlässiger verteilt. Völlig inakzeptabel war die Aufstellung der
Krippenfiguren. Es gab einen Bauern, der hatte bei Opa immer von draußen
durch ein kleines Fenster ins Innere des Stalls geguckt. Jetzt stand er
irgendwo in der Gegend herum. Auch die anderen Bauern standen überall,
nur nicht auf ihrer Position; Ochs und Esel lagen nicht nebeneinander, und
die Schafe waren viel zu zerstreut. Opa hatte die Figuren nie einfach nur
aufgestellt; er hatte eine kleine Szene choreographiert, mit klaren
dramaturgischen Motiven. Schließlich kam er von der Oper. Ich stellte die
Figuren um.
An die dreißig Leute drängelten sich an Weihnachten in der guten Stube,
wobei die Kinder sich meistens im Schlafzimmer aufhielten, um in den
Betten zu hüpfen, bis endlich der Weihnachtsmann mit zwei Bettbezügen
voller Geschenke an die Tür klopfte. Dann wurden vor dem Baum die
Gedichte aufgesagt. Die Kleinen nuschelten kurz etwas Unverständliches,
die Größeren rezitierten längere Klassiker. Die anschließende
Geschenkeverteilung dauerte ziemlich lange, und hinterher versanken alle
zwischen Bergen von Papier, Bändern, aufgerissenen
Spielzeugverpackungen und allerlei Glitter. Danach hüpften die Kinder
wieder in den Betten, nun schon etwas aufgedrehter, mit Sprüngen vom
Waschtisch über die Bettkante in die Decken, während ihre Eltern die
Geschenke sortierten und Verpackungen entsorgten. Zum Ende der
Veranstaltung schallte manch übermüdetes Geschrei durchs alte
Treppenhaus.
Geburtstagsfeiern verliefen etwas ruhiger. Manchmal saß ich mit meinem
Cousin Christian in einer Ecke, und wir erzählten uns die besten Gags aus
allen Bud-Spencer-Filmen nach; er konnte aber auch ein paar Otto-Platten
auswendig. Meine älteste Cousine Rita hatte in ihrem Zimmer einen
Fernseher mit Videogerät. Wenn bei ihr zu Hause gefeiert wurde, guckten
sich die Kinder dort Filme an, während die Erwachsenen weit weg in
Wohnzimmer und Küche saßen. Weil wir Kinder uns aber über recht
unterschiedliche Geburtsjahrgänge verteilten, konnten die Filme nicht für
alle Altersstufen gleich gut taugen, und so sah ich recht früh meine ersten
James-Bond-Filme, die Rocky Horror Picture Show und Barbarella, aber
nur zum Teil, weil ich mich irgendwann zu sehr vor den bösen Puppen mit
den scharfen Zähnen gruselte.
Während sich die Tanten mit den kleineren Kindern beschäftigten oder
der Dame des Hauses in der Küche zur Hand gingen, saßen die Männer mit
Getränken um einen Tisch herum und debattierten. Je später der Abend,
umso gewichtiger und meinungsfreudiger. So engagiert waren sie in ihren
Diskussionen, dass ihnen meistens die nachlässig im Vorbeigehen
geäußerten Bemerkungen ihrer Frauen entgingen, in denen die gesamte
lauthals geführte Debatte einfach ausgehebelt, pointiert widerlegt oder ad
absurdum geführt wurde. Der Grund, aus dem die Männer politische
Diskussionen lieber untereinander führen, dachte ich mir irgendwann, ist
gar nicht der, dass sie informierter oder interessierter wären als die Frauen.
Sie sind einfach nur ausschweifender. Würden die Frauen mitreden, wäre
alles viel zu schnell auf den Punkt gebracht.
Wenn angeheiratete Onkel etwas zu feiern hatten, vergrößerte sich die
Festtagsgesellschaft um die Anzahl ihrer Familienmitglieder, was bei
manchen nicht so stark ins Gewicht fiel, bei anderen aber eine
Vervielfachung bedeuten konnte. Solchen Events musste man mit
angemieteten Festsälen beikommen, wie diesem einen runden
Onkelgeburtstag im Hotel Seehof am Lietzensee in Charlottenburg. Bevor
es dunkel wurde, spazierte ich mit zwei meiner Cousinen am schönen
stillen Seeufer mitten in der Stadt entlang, an Steinskulpturen vorbei und
durch ein Tunnelgewölbe, durch das man von einem Teil des Sees zum
anderen kam. Meine Cousine Carola wusste, dass das Wasser aus dem
Lietzensee irgendwo unterirdisch weiter in die Spree fließt.
Über die Spree fuhren dieselben zwei verschwägerten Familien einige
Jahre später anlässlich der Silberhochzeit von Onkel und Tante den ganzen
Tag lang auf einem angemieteten Ausflugsdampfer. Dabei musste
kontinuierlich darauf hingewiesen werden, dass Berlin mehr Brücken habe
als Venedig, denn es war wichtig, die Stadt auf jeden Fall immer
flächendeckend mit Superlativen zu überziehen. Zum Glück konnte das
manchmal auch Anlass zu Selbstironie geben: «Berge hamwa nich, aber
wennwa welche hätten, dann wärense die höchsten.»
Für die Dampferpartie waren diverse Verwandte aus Westdeutschland
angereist, und die mussten besonders zugeschüttet werden mit Berlin-
Superlativen, gerade die jüngere Generation, die «drüben» zur Welt
gekommen war. Die interessierte sich aber vor allem dafür, wo man nach
der Familienangelegenheit später an Land noch hingehen könnte, um ein
paar eigene Berlin-Superlative zu erleben, die eher mit der fehlenden
Sperrstunde zu tun hatten. Ich war vierzehn und extrem heiß darauf, mit um
die Häuser zu ziehen, aber das war, trotz halbstündlich und mit größter
Dringlichkeit vorgetragener Nachfrage, von den Eltern nicht vorgesehen.
Schließlich stellte ich mich draußen an die Reling und brütete über die
endlose Ungerechtigkeit des Lebens, während ganz Berlin als eine einzige
grüne Uferböschung mit ins Wasser hängenden Weidenbäumen an mir
vorüberzog. Die Spree roch dabei so, wie ein Fluss mit sehr geringer
Fließgeschwindigkeit im Hochsommer typischerweise riecht.
Beim Verlassen des Dampfers hörte ich eine entfernte Verwandte zum
Abschied sagen: «Tschüs, allesamt. So jung sehen wir uns nie wieder.»
Stimmt voll, dachte ich, was für ein genialer Spruch – jedes Mal, wenn
man sich sieht, ist man automatisch älter als beim letzten Mal, und beim
nächsten Mal ist man wieder älter als jetzt. Das gab mir Hoffnung.
Irgendwann würde ich alt genug sein, um mitzuziehen in die Berliner
Nacht.

Als West-Berlin nach dem Ende der Blockade durch die Sowjetunion
wirtschaftlich am Boden ist, bemüht sich Heinz Zellermayer, Gründer
und Vorsitzender der Gaststätteninnung Berlin (West), bei den
alliierten Stadtkommandanten um eine Aufhebung der Sperrstunde.
Die Briten winken ab, werden aber von den Franzosen und
Amerikanern überstimmt. 1949 wird die Sperrstunde in den
westlichen Sektoren abgeschafft, und in Berlin damit ein für ganz
Deutschland einzigartiges Nachtleben begründet.

Der Lietzensee ist der nördlichste der Grunewaldseen, die durch ein
unterirdisches Urstromtal miteinander verbunden sind. 1904 wird der
Lietzensee durch die Neue Kantstraße künstlich in eine Nord- und
einen Südhälfte geteilt.
Die Spree, ein Nebenfluss der Havel, fließt auf einer Strecke von
vierundvierzig Kilometern durch Berlin, davon zu etwa einem Drittel
durch den Westteil. Die Stadt mit den meisten Brücken in
Deutschland ist, weit vor Berlin, Hamburg.
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RIAS und SFB

I
rgendwann zum Ende meiner Kindheit hin hatten sich meine Eltern
getrennt, und ich war mit meiner Mutter umgezogen, von Lankwitz nach
Mariendorf, vom Witz ins Dorf. Dort wohnten wir an einer kleinen, ruhigen
Straße in einem zweistöckigen Mehrfamilien-Reihenhaus mit Blick auf ein
großes Wiesengrundstück, auf dem ein Kindergarten stand. Die
Vermieterin, eine verbiesterte alte Frau mit schwarzem Persianermantel und
dunkelrot geschminktem Strichmund, wohnte im Haus nebenan und
terrorisierte täglich ihre Mieter, wenn die ihre Fenster nicht ordentlich
geputzt oder irgendwo ein Fahrrad abgestellt hatten. Die Möbel in ihrer
Wohnung waren mit Schutzbezügen aus durchsichtigem Plastik bedeckt,
das hatten wir gesehen, als wir bei ihr waren, um den Mietvertrag zu
unterzeichnen. Für einen Mantel aus frisch geborenen Lämmchen war sie
die perfekte Trägerin.
Ich hatte sie schon auf dem Weg vom Bus nach Hause vor mir
hertrippeln sehen und war extra langsam gegangen, um sie bloß nicht zu
überholen. Als ich an der Einfahrt war, sah ich, wie sie schimpfend die
Mülltonnen gerade rückte. Ich ging noch mal ein paar Schritte zurück und
wartete eine halbe Minute, bevor ich zur Haustür ging, aufschloss, die
Treppe hinaufstieg und die Wohnungstür öffnete. Ich zog Jacke und Schuhe
aus, wusch mir die Hände, nahm eine Banane, öffnete das Fenster in
meinem Zimmer und versuchte mich an den Hausaufgaben.
Vergeblich. Ich ging ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an, um
mich durch eine bescheidene Anzahl von fünf Programmen zu zappen.
Erstes, zweites, drittes, DDR1, DDR2 und wieder zurück. Im dritten
Programm, beim Sender Freies Berlin, blieb ich irgendwann hängen, die
Bilder sprachen mich an. Ich sah einen Berliner Innenstadtbezirk, vielleicht
Schöneberg oder Kreuzberg, und einen Jungen in meinem Alter, der mit
einer Videokamera herumlief, offenbar, um seinen Doppelgänger ausfindig
zu machen, vorzugsweise in Waschsalons. Er filmte Touristen auf dem
Ku’damm, alte Leute, Punker und türkische Kinder. Der Junge hatte einen
älteren, sehr faszinierenden Freund, der Telefonschaltungen um die Welt
legte, sodass es nacheinander bei Leuten in Moskau, Hongkong, Sydney,
New York, Rio und am Schluss wieder bei ihm in Berlin klingelte, und eine
ebenfalls sehr faszinierende Freundin, die den ganzen Tag Inseln malte.
Außerdem liefen zwei Männer durch den Film, die aus völlig unklaren
Gründen alles kaputt machten, was es doppelt gab. Eine linear erzählte
Geschichte war nicht zu erkennen.
Als der Film zu Ende war, suchte ich ihn sofort in der
Programmzeitschrift. Er hieß Der Doppelgänger, als Darsteller waren Anja
Franke und Rio Reiser aufgeführt. Rio Reiser, was für ein Name. Der
Sänger von der Band Die Ärzte hieß ja Farin Urlaub. Berlin war eine Stadt,
in der die Leute vielleicht mehr Fernweh hatten als anderswo, deshalb
legten sie sinnlose Telefonschaltungen über den Globus, malten Bilder von
fernen Inseln und gaben sich selbst solche Namen.
Warum gab es im Fernsehen nicht viel mehr Filme, die so schön waren?
Die mir die Stadt, in der ich lebte, auf eine Art zeigten, dass Waschsalons
plötzlich aussahen wie verzauberte Orte. Ich wollte mehr davon sehen, ich
wollte mehr darüber wissen, was so passierte in diesem Berlin, und ich
merkte außerdem, dass ich ebenfalls Fernweh hatte.
Dabei war das bessere Medium für mein sich veränderndes Lebensgefühl
zur Mitte der achtziger Jahre das Radio. Wenn ich von der Schule nach
Hause kam, schaltete ich ein und hörte «Jugendwelle RIAS 2 auf neun vier
drei». Da lief die Sendung «Musik nach der Schule», in der es immer um
irgendetwas ging, ein Thema oder eine Frage, weswegen man anrufen
sollte. Was «cool sein» bedeutet zum Beispiel oder wie man sich mit seinen
Eltern versteht. Danach wollten die Leute meistens noch wen grüßen, und
zwar «Andi und Julia aus der Neun A, Jenny, meinen Bruder, meine Eltern,
meine Oma und alle, die mich kennen». Manchmal durfte man sich ein Lied
wünschen. Ich schaffte es nicht einmal, bei dieser oder irgendeiner anderen
Sendung durchzukommen, obwohl ich es regelmäßig versuchte. Schon nach
den ersten vier Ziffern der Nummer war ein nervöses Besetztzeichen zu
hören, und das, obwohl noch drei Zahlen fehlten. Es war mir ein Rätsel, wie
andere sich jemals da reinwählen konnten, zumal es welche gab, die immer
wieder in der Leitung waren bei «Musik nach der Schule».
Einmal fragte der Moderator sogar nach: «Sag mal, Chrissie, dich hatte
ich doch schon öfter dran – wie schaffst du das, hier regelmäßig
durchzukommen? Ich habe gehört, man wählt sich die Finger wund, gibt’s
da einen Trick oder was?»
«Ja.»
«Und der wäre?»
«Verrate ich nicht.»
Ich mutmaßte, Chrissie hatte zu Hause eines dieser neuen Telefone ohne
Wählscheibe und mit Tasten. Vielleicht machte das einen Unterschied,
vielleicht aber auch nicht. Was immer der Trick war, ich kannte ihn nicht.
Am Wochenende lief die Sendung «Berlincharts» mit dem Jingle
«Berlincharts, die Monstersendung mit der besten Musik zu dieser Zeit in
dieser Stadt», und am Freitagabend die langlebige Chart-Sendung
«Schlager der Woche», seit 1968 moderiert vom ehemaligen Bassisten der
Beatband The Lords, Lord Knud.
Irgendwann fing auch ich mit dem populären Mitschneiden an, der
Aufnahme von Liedern aus dem Radio auf Kassette. Die Ergebnisse waren
alles andere als optimal, weil die Moderatoren immer auf die Anfänge oder
die letzten Takte der Songs draufquatschten. Zu Beginn des Jahres 1985
fanden sich in den Charts von «Schlager der Woche» gerade ein paar Top-
Knaller-Hits von Wham!, Duran Duran und Tears for Fears. Erstmals
entschloss ich mich dazu, bei dem Gewinnspiel der Sendung mitzumachen,
wo jede Woche aktuelle Singles verlost wurden, man musste nur eine
Postkarte an die Redaktion schicken.
Lord Knud war im Urlaub, und die Sendung wurde von einer Vertretung
moderiert. Nach meinen Erfahrungen mit Anrufen beim Radio machte ich
mir nicht viele Hoffnungen und schrieb deshalb auf die Karte: «Ich möchte
bitte auch mal was gewinnen!»
Noch vor der nächsten Sendung bekam ich ein Paket vom
Vertretungsmoderator Wolfgang Hellbich. Es war voll mit allen möglichen
Singles, und anbei lag eine Karte: «Sicher hast du schon oft teilgenommen
und nie etwas gewonnen. Ich bin ja kein Unmensch. Viele Grüße,
W. Hellbich.»
Diesen Trick habe ich selbstverständlich niemandem verraten.

«Schlager der Woche» wird noch im selben Jahr, im September


1985, eingestellt. Den RIAS gibt es noch bis 1993, aus dem
Schöneberger Rundfunkgebäude an der ehemaligen Kufsteiner
Straße, heute Hans-Rosenthal-Platz, sendet jetzt Deutschlandradio
Kultur. Der Sender Freies Berlin (SFB) fusionierte 2003 mit dem
Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) zum Rundfunk Berlin-
Brandenburg (RBB).

Der Musiker, Schauspieler und Sänger der Band Ton Steine


Scherben, Rio Reiser, stirbt 1996 und liegt auf dem Alten St. -
Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg begraben.
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Kaiser-Wilhelm-Platz

N
ach der Schule traf man sich mal da und mal dort, mal mit der einen
und mal mit der anderen. Die Nachmittage mit Heike verliefen
meistens sehr albern. Wir gingen viel nach draußen, stromerten um die
Häuser und klingelten Freunde aus ihrer Nachbarschaft raus. Mit Nicole
hingegen redete ich die meiste Zeit, wir blätterten in Zeitschriften oder
spielten draußen Federball. Mit Silke spielte ich eher Tischtennis, und
drinnen hörten wir zusammen Musik, manchmal tanzten wir auch dazu.
Anja wohnte von allen am nächsten. Eines Nachmittags, als wir uns bei
ihr zu Hause langweilten, brachte sie mir eine simple Melodie auf ihrem
Klavier bei, sodass wir dreihändig ein Stück spielen konnten. Ich war
erstaunt, wie einfach das ging, und wollte jetzt auch Klavier spielen.
In der Vorschule hatte ich viel Zeit damit zugebracht, Lieder am
Glockenspiel zu komponieren, deshalb empfahl die Lehrerin meinen Eltern,
das Kind ein Instrument lernen zu lassen. Das Kind hatte dazu eine klare
Meinung, es wollte Geige spielen. Geige spielen sieht sehr anmutig aus,
dachte es sich.
Wir gingen zur Musikschule Steglitz, sehr schön untergebracht in einer
alten Stadtvilla in Zehlendorf, wo es eine Verabredung gab mit Rüdiger
Trantow, dem Leiter der Musikschule. Er war sehr freundlich und fragte
mich, ob ich wirklich Geige spielen wolle. Ich nickte. Dann bekam ich eine
niedliche Viertelgeige ausgeliehen und eine Lehrerin zugewiesen.
Es war aber schwerer als gedacht, überhaupt nur einen geraden Ton aus
der Geige herauszukriegen. Zu Hause quietschte ich auf dem Instrument
herum, meine Eltern wussten nicht, was ich da tat. Niemand war überrascht,
als ich bald keine Lust mehr hatte, einmal in der Woche mit dem
Geigenkoffer zum Musikunterricht nach Lichterfelde zu fahren, wo die
Lehrerin in einem großen Schulzimmer mit hohen Bogenfenstern wartete
und im Gegensatz zur Vorschullehrerin nicht so überzeugt davon war, ein
Talent vor sich zu haben.
Anja hatte eine sehr alte Klavierlehrerin, die mit ihrem Yorkshireterrier
Daisy wiederum sehr beschaulich in Lichterfelde wohnte. Sie hatte noch
einen Platz für mich frei. Ihr Name war Wally Karsulke, und sie hatte in
ihrem Leben schon vielen Menschen Klavierunterricht gegeben, auch den
Kindern von Hans Rosenthal, wie sie gern erzählte. Hans Rosenthal wurde
bei meinen Großeltern immer sonntags nach der Kirche im RIAS gehört,
die Sendung begann und endete mit dieser erbaulichen Melodie aus dem
Film In 80 Tagen um die Welt, eine vortreffliche Großelternmelodie. Die
Quizsendung selbst hieß «Das klingende Sonntagsrätsel». Auf Föhr hing in
jedem Restaurant und in jeder Eisdiele eine unterschriebene
Autogrammkarte von Hans Rosenthal, weil er da immer seine Ferien
verbrachte, genau wie wir. Und jetzt hatte ich auch noch dieselbe
Klavierlehrerin, so ein Zufall.
Anja und ich hatten unsere Unterrichtsstunden nacheinander. Oft fuhren
wir mit unseren Klaviernoten in der Tasche gemeinsam zu Frau Karsulke,
gingen die ruhige Straße entlang bis zu dem Haus, in dem sie wohnte, und
dann durch das Treppenhaus mit dem dunkelroten Sisalläufer hoch zu ihrer
Wohnung. Während Anja dran war, wartete ich hinter den beiden auf Frau
Karsulkes geblümtem Sofa, bis ich an die Reihe kam. Danach nahm ich
neben Frau Karsulke an ihrem schwarzen Bechstein-Flügel platz, während
Daisy sich zu ihren Füßen eingerollt hatte. Hinter dem Flügel hing ein
horizontaler Spiegel in einem antiken Holzrahmen. In diesem Spiegel
konnten Anja und ich uns ansehen, während eine von uns auf dem Sofa und
die andere neben Frau Karsulke auf dem Klavierhocker saß. Manchmal,
wenn Frau Karsulke redete oder etwas vorspielte, machte ich vom Sofa aus
hinter ihrem Rücken irgendwelche Grimassen, so lange, bis Anja lachen
musste. Wenn ich an der Reihe war, rächte Anja sich und grimassierte
ihrerseits hinter mir und Frau Karsulke vor sich hin. Als einer dieser ganz
schlimmen Lachanfälle dabei herauskam, stemmte Frau Karsulke ihre
faltigen Hände, an denen sie immer viele Ringe trug, in die Hüften und
sagte: «Also, ihr beiden kommt lieber nicht mehr zusammen her.»
Eines Tages rief sie bei mir an, um die Stunde abzusagen. Sie schluchzte
so sehr, dass sie fast nicht sprechen konnte, und es dauerte eine Weile, bis
sie mir mitgeteilt hatte, dass Daisy gestorben war. Danach dauerte es
Wochen, bis Frau Karsulke wieder unterrichten konnte. Aber sie wurde
nicht mehr ganz die Alte und ging dann auch bald, mit über achtzig Jahren,
in den Ruhestand.
Mein Repertoire stagnierte danach bei Beethovens «Für Elise» und
Händels «Sarabande».
Ab und zu sah ich die Kleinanzeigen in den Berliner Stadtmagazinen
nach Klavierlehrern durch. Einmal meldete ich mich bei einer Frau, die aber
schon am Telefon so trutschig klang, dass ich es mir anders überlegte. Dann
kontaktierte ich einen Mann, in dessen Anzeige stand, er unterrichte Pop,
Jazz und Improvisation, was mich ansprach. Er gab mir einen Termin und
seine Adresse in der Hauptstraße in Schöneberg.
Ich rief Anja an, die ja ebenfalls seit längerer Zeit klavierlehrerlos
dastand, und erzählte ihr, dass ich jetzt wieder Unterricht nehmen wollte,
und zwar ganz anders als früher bei Frau Karsulke. Anja, sonst eigentlich
von fröhlich-unbekümmertem Wesen, reagierte skeptisch.
«Und jetzt willste einfach irgendeinen ausprobieren aus einer
Kleinanzeige?»
«Warum denn nicht?»
«Weiß nich. Kann man ja viel behaupten in so einer Anzeige.»
«Das werd ich ja dann sehen, ob der was taugt.»
«Geh da bloß nicht alleine hin. Da steht doch immer extra fett unter den
Anzeigen, dass Frauen nicht allein zu Leuten nach Hause gehen sollen.»
Ich bat meinen Vater, mich zu der vereinbarten Probestunde zu begleiten.
Wir fanden die Hausnummer ungefähr auf der Höhe vom Kaiser-Wilhelm-
Platz. Von unten sah ich einen Mann, der sich aus dem Fenster im dritten
Stockwerk lehnte, und ich dachte, das ist bestimmt der Klavierlehrer, der
wartet schon. Ich nickte ihm zu, dann gingen mein Vater und ich zum
Eingang. Ich klingelte.
«Hallo?», fragte der Klavierlehrer durch die Sprechanlage.
«Hallo, ich bin hier wegen der Klavierstunde.»
«Ich muss leider absagen, bin krank.»
«Ach so. Aber jetzt bin ich schon hier.»
«Bin leider krank.»
War der Typ jetzt so krank, dass er die Tür nicht mehr aufmachen konnte,
und das seit genau einer halben Stunde? Vorher hätte er noch anrufen
können, da hätte er mich noch zu Hause erreicht. Hatte er mich mit meinem
Vater kommen sehen? Ich war jedenfalls sehr froh über Anjas Ermahnung.
«Der ist ja wohl ein bisschen merkwürdig», meinte mein Vater.
Wo wir aber nun bis zum Kaiser-Wilhelm-Platz gefahren waren, wollte
ich die Gelegenheit zumindest dazu nutzen, mal wieder bei Deko Behrendt
vorbeizuschauen, einem der tollsten Geschäfte der Stadt.
«Wir können ja noch zu Deko Behrendt gehen», sagte ich zu meinem
Vater, und es stellte sich heraus, dass er den Laden gar nicht kannte.
Wir gingen ein Stück weiter an der Hauptstraße entlang und dann durch
die Tür hindurch in das Paralleluniversum von Deko Behrendt. Wenn man
es betritt, sieht es zuerst so aus wie ein besonders reichhaltig sortiertes
Geschäft für Partyartikel, mit einer großen Auswahl an Girlanden,
Papptellern, Tröten, Konfetti, Partyhüten, Knallbonbons und solcherlei
nützlichen Dingen. Aber dann führt der Laden nach hinten immer weiter
und weiter, vorbei an meterhohen Regalen mit Kunstblut, Bärten, Gebissen
und Brillen, Tier-, Vampir-, Krankenschwester- und anderen nur denkbaren
Verkleidungen in sämtlichen Größen, künstlichen Spinnen, abgeschnittenen
Ohren, Perücken, Masken, Lampions, Hüten, Juckpulver, Zaubertinte,
Gliedmaßen, Nasen, Schminke und Plastikblumen. Mein Vater staunte nicht
schlecht. Er kaufte sich eine Gummihand, die er für einen seiner
Zaubertricks gebrauchen konnte.
Mit dem Klavierlehrer machte ich keinen zweiten Termin aus. Mehrere
Jahre später las ich in der Zeitung von einem psychisch aus den Fugen
geratenen Pianisten, der gerade einer seiner Schülerinnen den Kopf
abgeschnitten hatte. Er wohnte an der Schöneberger Hauptstraße, Höhe
Kaiser-Wilhelm-Platz, im dritten Stock.

Deko Behrendt residiert unverändert in der Hauptstraße 18.


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U-Bahnhof Schloßstrasse

F
ür das Buchvorstellungsreferat zu Beginn der achten Klasse wählte ich
Die unendliche Geschichte von Michael Ende. Marcus Bratsch stellte
einen John-Sinclair-Geisterjäger-Roman vor, was unsere Deutschlehrerin in
Rage brachte. Ausführlich erklärte sie uns, dass diese Heftromane
überhaupt gar keine Literatur seien. Das Referat war für sie ein regelrechter
Skandal. Marcus Bratsch, sowieso klein und blass, verstand die Welt nicht
mehr, denn John-Sinclair-Romane waren für ihn das Größte.
Heike traf mit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo eine äußerst geschickte
Wahl. Wir hatten natürlich alle schon viel davon gehört, aber niemand hatte
das Buch von Christiane F. selber gelesen, wahrscheinlich durfte das
bislang keiner, denn immerhin war es ja recht drastisch. Alle hörten also
gebannt zu bei Heikes Referat, keiner spielte nebenbei Käsekästchen oder
schaltete auf Durchzug. Richtige Literatur war Wir Kinder vom Bahnhof
Zoo sicherlich auch nicht, galt aber als pädagogisch wertvolles Drogen-
Aufklärungsmaterial und wurde von der Lehrkraft deshalb nicht so
verrissen wie John Sinclair.
Heike hatte sich das Buch von ihrer großen Schwester Katja ausgeliehen,
die schon fünfzehn und in der Neunten war, also Welten von uns entfernt.
Heike las unter anderem die Stelle vor, in der Christiane F. sich in der Karl-
Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau befindet, ein Ort, den wir alle als
«Bonnies Ranch» im täglichen Sprachgebrauch führten. Diese Christiane
war tatsächlich in Bonnies Ranch gelandet, und das, obwohl sie nicht mal
verrückt war, sondern drogenabhängig. Außerdem erzählte sie in dem Buch
viel aus der Gropiusstadt, wo ungefähr die Hälfte meiner Mitschüler
wohnte.
Drogen, Sex, Bonnies Ranch, Gropiusstadt – wenn
Buchvorstellungsreferate den Sinn haben sollten, zum Lesen der
vorgestellten Werke zu animieren, dann hatte Heikes Referat jedenfalls den
durchschlagendsten Erfolg. Jeder wollte hinterher sofort das ganze Buch
lesen, und so wanderte es reihum, wofür Heikes Schwester von jedem eine
Leihgebühr von zwei Mark verlangte.
Die Welt der Fixer lag gleich um die Ecke und begegnete einem
wahrscheinlich jeden Tag in der U-Bahn, hatte aber trotzdem noch nie unser
Bewusstsein gestreift. Erst das Buch brachte sie in unser fröhlich-behütetes
Leben, doch das erschütterte uns überhaupt nicht. Wir lasen von den
bizarrsten Dingen, die an Plätzen und in Straßen passierten, die wir alle
kannten, wo einige von uns wohnten, und deren Protagonisten so alt waren
wie wir, doch es hatte nichts mit uns zu tun. Nach der Lektüre waren wir ein
bisschen angegruselt, aber auch fasziniert, ähnlich wie es einem mit
Vampiren und Zombies geht: Persönlich will man nicht mit ihnen
befreundet sein, in Büchern und Filmen kommen sie aber ganz gut.
Am Bahnhof Zoo und anderen einschlägigen Orten sah ich mich nun mit
gesteigertem Interesse um und versuchte zu erraten, wer hier wohl zur
vielbeschworenen «Szene» gehören mochte. Allerdings fand ich das nicht
so offensichtlich, wie es immer dargestellt wurde. Wahrscheinlich lag es
nicht daran, dass niemand da gewesen wäre, sondern dass mir der Blick
dafür fehlte. Damit ich einen Junkie als solchen erkennen konnte, musste er
schon zerstochen und komplett high neben mir in der U-Bahn stehen.
In Sozialkunde hielt ich zusammen mit Silke ein Referat über «Die neuen
Medien». Gemeint war das angekündigte Privatfernsehen. Wir gingen extra
zur Landeszentrale für politische Bildung in der Hauptstraße und holten uns
ein paar Materialien, aber das Thema war einfach reichlich öde. In den
Broschüren der Landeszentrale fanden wir Zeichnungen der technischen
Übertragungswege von Breitbandkabel- und Satellitenfernsehen sowie
komatöse Informationen zu Landesmediengesetzen und dualen
Rundfunksystemen.
Silke sagte: «Du erzählst das mit den Gesetzen und ich das technische
Zeug, okay?»
Während wir das taten, spielten alle Käsekästchen oder schalteten auf
Durchzug und starrten aus dem Fenster. Unser Lehrer fand das Referat
schlecht. Er meinte, die technische Seite gehöre am Rande dazu, aber das
eigentlich Interessante, nämlich die Auswirkungen von Privatfernsehen auf
die Inhalte des Fernsehens, das hätten wir ja nicht mal erwähnt. Er redete
sich wie die Deutschlehrerin in Rage und kündigte an, dass «amerikanische
Verhältnisse» auf uns zukämen. Silke und ich erhielten eine Drei minus,
aber immerhin wussten wir jetzt, dass es bei den «neuen Medien» nicht nur
um irgendwelche technischen und juristischen Detailfragen ging, sondern
dass wir uns schon mal vorsichtig auf amerikanische Verhältnisse im
Fernsehen freuen konnten.
In der nächsten Woche hielt Nicole gemeinsam mit Saskia ein Referat
über die neue Menschheitsseuche Aids. Nach unserem Reinfall bemühten
sie sich darum, die medizinischen Details nur kurz zu erwähnen und sich
auf die sozialen Auswirkungen zu konzentrieren, auf die Gefahr von
Stigmatisierung und Ausgrenzung. Sie berichteten von einer englischen
TV-Sendung, in der die Moderatorin einen Aids-Kranken vor laufenden
Kameras demonstrativ umarmt hatte. Der Lehrer schäumte. Wenn einer
Schnupfen habe, sagte er, bemühe der sich selbstverständlich um Abstand
und Ansteckungsvermeidung, und jetzt hätten wir einen tödlichen Virus und
wir sollen alle umarmen, die das haben? Zumal es sich um eine Krankheit
handele, die man sich nicht durch Mutter-Teresa-hafte Opferbereitschaft in
der Pflege lepröser Kinder zugezogen hätte, sondern durch exzessive
Vergnügungssucht. Sein Mitleid halte sich da sehr in Grenzen, sagte er ins
Klingeln hinein.
Wir hatten Schluss, strömten aus dem Klassenzimmer hinaus und dachten
nicht mehr im Geringsten darüber nach, wie sexuell übertragbare
Krankheiten moralisch zu bewerten waren, wen man umarmen sollte und
wen nicht, ob Vergnügungssucht in die Verdammnis führte, was falsch war
und was richtig, und ob Lehrer meistens eher recht hatten oder meistens
eher nicht.

Dem Christiane-F.-Buch konnten wir zwar entnehmen, dass es auch mit


dreizehn schon möglich war, sich die Nächte in Diskotheken um die Ohren
zu schlagen, andererseits hörte man von sechzehnjährigen Geschwistern,
dass sie noch nicht reingelassen wurden. Es hieß, dafür müsste man
zumindest seinen Schülerausweis fälschen. Vielleicht war es vor der
Veröffentlichung von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo für Minderjährige
einfacher gewesen, in Diskotheken zu gelangen, als danach. Aber das waren
ohnehin theoretische Überlegungen, von einer Teilnahme am sagenhaften
Berliner Nachtleben konnte bei uns noch keine Rede sein.
Allerdings gab es das Pop Inn, eine ausgewiesene Jugenddiskothek, die
von Leuten, die dem entsprechenden Alter gerade mal so entwachsen
waren, auch abfällig Kinderdisco genannt wurde. Kinder ab vierzehn
durften sich dort offiziell bis Mitternacht amüsieren. Das fanden wir ganz
interessant. Um das Pop Inn zu finden, musste man sich nicht zu später
Stunde in unbekannte Gefilde bis nach Wilmersdorf oder Schöneberg
vorwagen, denn es lag in der Steglitzer Ahornstraße, eine Seitenstraße der
Schloßstraße. Die Schloßstraße kannten wir alle gut, denn sie war die
Shopping-Meile des Berliner Südwestens, wobei es im allgemein üblichen
Sprachgebrauch nicht unbedingt hieß, man gehe shoppen, sondern man
fahre «in die Stadt».
Kaum waren wir vierzehn, planten Silke, Nicole, Anja, Heike und ich,
zusammen ins Pop Inn zu gehen, und zwar an einem Samstag. Nicole
sprang am Nachmittag desselben Tages ab mit der Begründung, sie habe
nun «doch keine Lust aufs Pop Inn», und legte damit den Grundstein für
eine spätere Serie kurzfristiger Absagen vor gemeinsamen
Unternehmungen.
Wir verabredeten uns draußen am U-Bahnhof Schloßstraße vor dem
Spielzeugladen «Werken Spielen Schenken», denn unten im Bahnhof war
die Lage verwirrend: Es gab zwei Bahnsteige auf unterschiedlichen Ebenen,
obwohl dort nur eine Linie verkehrte. Jeweils eine Seite vom Bahnsteig lag
einfach abgesperrt hinter einem Gitterzaun im Dunkeln. Das Gleis dahinter
war tot. Um in die andere Richtung zu fahren, musste man die Ebenen
wechseln. Warum das so merkwürdig arrangiert war, wussten wir nicht. Als
Berliner Kinder hatten wir uns früh damit abgefunden, dass Orte rätselhaft
sind. Dass Häuser kaputt sind und nicht bewohnt werden, dass zwischen
den Häusern Lücken sind, in denen dichtes Gestrüpp wächst, dass es
dunkle, leere U-Bahnhöfe gibt, an denen der Zug nicht anhält, und dass
überall ständig irgendetwas abgesperrt und nicht zugänglich ist.
Der Bahnhof war, sowohl oben als auch unterirdisch, im schrillsten
Siebziger-Jahre-Futurismus aus Lego-artigen Plastikverkleidungen in Blau
und Rot, runden Lampen und rohem Beton gestaltet. Oben stand man im
Schatten einer breiten Überführung, auf der, im gleichen kranken Siebziger-
Jahre-Style, der Bierpinsel thronte, ein mehr als seltsames Bauwerk, das als
Wahrzeichen von Steglitz herhalten musste, in meiner Phantasie aber von
Aliens bewohnt wurde. Lange bevor Men in Black in die Kinos kam, fragte
ich mich, ob unten, hinter dem Absperrgitter, auf der toten, dunklen Seite
des Bahnsteigs, vielleicht jene Aliens gefangen gehalten werden, die zu
gefährlich waren, um oben bei den anderen im Bierpinsel zu wohnen.
Die ganze Unternehmung fühlte sich nach einer großen Sache an, als wir
in die bürgerlich-ruhige Ahornstraße einbogen. Anja hatte sich sogar an
Lidschatten herangewagt.
Das Pop Inn hatte einen silberfarbenen Metallboden, und alle außer uns
wirkten sehr cool und routiniert und erwachsen gestylt. Wir fühlten uns als
genau das, was wir auch waren: vier unbedarfte Gymnasiastinnen von einer
katholischen Schule, die zum ersten Mal eine Diskothek betreten hatten.
Silke schlug vor, wir könnten uns was zu trinken holen. Das war eine
fabelhafte Idee. Getränke holen, dafür brauchte man nicht irgendein
Spezialwissen, das konnten wir schaffen, ohne dabei negativ aufzufallen.
Wir nahmen viermal Cola und tranken sie zügig aus. Danach wussten wir
nicht so recht weiter. Es gab ein paar, die tanzten, aber die meisten standen
so herum oder stolzierten hin und her.
Silke sagte: «Von mir aus könnwa jetzt wieder gehn.»
Draußen leuchteten, jeder auf einem schwarzen Kreis, die Buchstaben
POP INN verheißungsvoll über dem Baldachin vor dem Eingang. Nicole
wollten wir am Montag erzählen, der Abend wäre der pure Wahnsinn
gewesen.

Der 46 Meter hohe «Bierpinsel» wird 1976 als «Turmrestaurant


Steglitz» eröffnet. Er ist von denselben Architekten entworfen, die
auch das Internationale Congress Centrum (ICC) in Berlin zu
verantworten haben. Inspiration für die Form des Pop-Art-Turms war
kein Bier und auch kein Pinsel, sondern ein Baum. Im Jahr 2002
wird das Gebäude wegen Sanierungsbedarf geschlossen. 2010
eröffnet im modernisierten Bierpinsel erstmals wieder ein Café, und
die Fassade wird von Streetart-Künstlern neu bemalt.
Der darunterliegende U-Bahnhof Schloßstraße wird bei seinem Bau
1971 bis 1973 als zukünftiger Umsteigebahnhof zwischen der
bestehenden U9 und der geplanten Linie U10 angelegt. Rund vierzig
Jahre nach der Inbetriebnahme des Bahnhofs existiert immer noch
keine U10, aber nach wie vor spukt das Projekt durch die offiziellen
Flächennutzungspläne, und nach wie vor werden in Berlin Bahnhöfe
gebaut, die tote Gleise für die U10 bereithalten.
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In der Eissporthalle

W
ir verpassten wohl gar nicht so viel, denn wir hatten etwas für unser
minderjähriges Alter unvergleichlich viel Besseres als irgendwelche
Diskotheken, und das waren die Tanzveranstaltungen, die es beinahe jedes
Wochenende an irgendeinem Ort innerhalb des Mikrokosmos der
katholischen Berliner Jugend gab. Der Zeitgeist nannte sie, wie bereits
erwähnt, Feten, manchmal auch Fête.
Die meisten Feten fanden in den Räumlichkeiten der Kirchengemeinden
statt. Es gab ein paar Gemeinden, in denen mehrmals im Jahr getanzt
wurde, andere richteten einmal im Jahr eine Riesensause aus, zum Beispiel
zum Tanz in den Mai oder zu Fasching, und manchmal war plötzlich
irgendwo eine Fete, wo sonst nie eine war. Bei den Gemeindefeten traf man
durchgängig auf die interessante Gruppe der in etwa Gleichaltrigen.
Freunde, die Freunde der Freunde, Leute, die man nur vom Sehen kannte,
und die Freunde derer, die man nur vom Sehen kannte. Auch bei sehr
großen Veranstaltungen konnte man davon ausgehen, dass fast alle lose
miteinander assoziiert waren, und das machte die Kontaktaufnahme
untereinander sehr viel leichter als unter den Spielregeln des weitgehend
anonymen Ausgehbetriebs in der Stadt.
Die zwischenmenschlichen Auswirkungen einer Fete kamen oft auch erst
hinterher zum Tragen, zum Beispiel wenn Nicole am Montag in der Schule
zu Heike sagte: «Kennst du Gerald Nowack?»
«Nee, wieso?»
«Der findet dich gut.»
«Echt? Wer is’n dis?»
«Mein Bruder kennt den vom Fußball.»
«Und woher kennt der mich?»
«Der hat dich am Samstag bei der Alfons-Fete gesehen, er meinte, du
hättest ihn angelächelt.»
«Ach, dieser Dunkelhaarige, der da meistens mit deinem Bruder
rumstand?»
«Ja, mit so Adidas-Turnschuhen. Der ist echt ganz süß.»
«Und der hat gesagt, er findet mich gut?»
«Ja, der hat nach dir gefragt.»
Danach wurde noch erörtert, wer denn der Typ sei, den die schöne Frauke
Jeschonnek aus der Elften jetzt offenbar gegen den allseits angehimmelten
Marek eingetauscht hatte, wobei Nicole, die sich meistens gut auskannte,
meinte, der wäre letztes Jahr vom Canisius geflogen. Anja gab zu, den
Neuen aus der Parallelklasse süß zu finden, und dann sagten wir alle noch,
wen wir süß fanden. Zum Glück gab es dabei kaum Überschneidungen,
oder wir vermieden sie. Ich sagte zum Beispiel nicht, dass ich Georg Hacke
gut fand, weil ich vermutete, dass sowohl Nicole als auch Silke und
vielleicht sowieso alle Georg Hacke gut fanden.
Die feierfreudigsten Gemeinden in unserem Umfeld waren St. Dominicus
in Gropiusstadt, St. Alfons in Marienfelde und Maria Frieden in
Mariendorf. Am berühmtesten aber waren die Feten im Erich-Klausener-
Haus, kurz EKH genannt, besonders zu Fasching. Das Erich-Klausener-
Haus, ein Jugendzentrum in katholischer Trägerschaft, stand in der
Charlottenburger Witzlebenstraße, gleich am Lietzensee, und wenn man am
Abend der Fete zeitig dort eintraf, wartete man erst mal Minimum eine
halbe Stunde in der Schlange, die sich die Treppe hoch bis zum Eingang hin
aufgestaut hatte. Das war überhaupt nicht schlimm, wenn es nicht gerade
regnete, sondern der erste Akt des Ereignisses. Schließlich konnte man auch
vor der Tür schon mal auschecken, wer noch so alles da herumstand.
Zu den großen Feten im EKH fand sich die katholische Jugend aus ganz
Berlin ein. Man konnte davon ausgehen, dass wirklich alle da sein würden:
der gutaussehende Ministrant aus Herz Jesu, der eine aus Salvator, der Anja
mal einen Liebesbrief geschrieben hatte, die süßen Berger-Brüder, die
umgezogen waren und jetzt zur Rosenkranz-Basilika gehörten, sowie die
versammelten Mittel- und Oberstufen aller katholischen Schulen. Die
katholischen Gemeindefeten übten aber auch auf externe, vornehmlich
männliche Schüler eine große Faszination aus. Ein Phänomen, das sogar
von den Red Hot Chili Peppers besungen wurde, in ihrem Song Catholic
School Girls Rule. Dabei wohnten die Red Hot Chili Peppers gar nicht in
Berlin.

Im April 1985 besuchten Heike und ich unser erstes Popkonzert. Wir hatten
Karten für Frankie Goes to Hollywood in der Eissporthalle. Schon die U-
Bahn bis Kaiserdamm war total voll mit Leuten, die alle dorthin wollten,
und der Bus bis zur Eissporthalle war dann ein reiner Konzert-Zubringer.
Ich war ewig nicht in der Eissporthalle gewesen. Mein Vater hatte mich
früher manchmal zu Eishockeyspielen mitgenommen, bei denen es hoch
herging auf den Zuschauertribünen. Mir gefiel dabei schon mal gut, dass
der Trainer des Berliner Schlittschuhclubs immer mit kariertem Hut am
Spielfeldrand saß und dabei Xaver Unsinn hieß. Ein besserer Name war mir
nie begegnet. Außerdem gefielen mir die vielen mit Konfetti gefüllten
Luftballons. Als der Berliner Schlittschuhclub einmal gegen Düsseldorf
spielte, füllten die Düsseldorfer Fans die Luftballons allerdings mit Pfeffer,
was wirklich fies war und den Ruf der Stadt Düsseldorf und ihrer Bewohner
bei mir über Jahre hinweg schwer beschädigte.
Auch mit Tante Gitti war ich einmal in der Eissporthalle, bei Holiday on
Ice. Auf dem Rückweg sagte ich zu ihr, dass mir die Show zwar ganz gut
gefallen habe, dass Eishockey aber doch besser sei, weil man da vorher
nicht wisse, wer gewinnt.
Heike und ich sahen uns die anderen Leute an, die mit uns zu Frankie
Goes to Hollywood gingen. Die meisten waren auf jeden Fall älter, und das
überraschte uns nicht. Es war der Normalzustand unsres Lebens, dass alle
anderen älter waren. Die Busfahrer, die Lehrer, die Schüler aus der
Oberstufe, die Kassiererinnen, die Nachbarn, der Zahnarzt und die Popstars.
Und mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sich an diesem Zustand auch nie
etwas ändern. Alles andere war Theorie.
Bevor die Mitglieder von Frankie Goes to Hollywood die Bühne
betraten, gab es eine Vorgruppe. Sie hieß Berlin und kam aus Amerika. Die
Sängerin sah schrecklich aus, sie hatte die Haare zur Hälfte blond und zur
anderen Hälfte schwarz gefärbt, und die Musik ging erst recht nicht, noch
nicht einmal ihr großer Hit «Take My Breath Away» aus dem Film Top
Gun. Während sie den sang, ging sie weit von der Bühne weg, durchs
Publikum hindurch bis hoch auf die Zuschauerränge. Zum Glück war es das
letzte Lied. Wir dachten: Hurra, gleich geht’s los, aber es dauerte eine ganze
Weile, bis es im Saal dunkel und auf der Bühne bunt wurde und bis die
Lichter tanzten zu den exotischen Vogelgesängen, die der Anfang waren
von «Welcome to the Pleasuredome».
Danach war alles unfassbar großartig. So ein Konzert hatte ich noch nie
erlebt, bei dem die Leute hüpften und mitsangen, Lichtblitze umherzuckten
und einem alles um die Ohren flog. Bislang kannte ich nur die Deutsche
Oper, wo wir uns in der Adventszeit Hänsel und Gretel angesehen hatten
und manchmal auch die Zauberflöte, und ich kannte die Philharmonie.
Besonders die Philharmonie fand ich sehr schön mit dem großen weißen
Foyer, den freien Treppen und dem verschachtelten Konzertsaal, von dem
aus man überall herumgucken konnte auf all die festlich gekleideten Leute.
Als meine Mutter so alt war wie ich hier bei Frankie Goes to Hollywood,
ging sie zum Konzert der Rolling Stones in die Berliner Waldbühne. Nach
dem Konzert wurde die Waldbühne kurz und klein gehauen. Auch in dem
S-Bahn-Waggon, in dem meine Mutter zusammen mit einem Freund saß,
der Ministrant war und gern ihr richtiger Freund gewesen wäre, wurde
tranceartig weiterrandaliert. Der Freund schrie einen der Randalierer an:
«Was machst du denn da?», und meine Mutter erzählte, der Junge hätte
etwas erstaunt zu ihm aufgesehen, aber keine schlüssige Antwort gewusst
auf diese Frage.
Nach dem Konzert war es draußen dunkel, und alle, die vorher
erwartungsvoll hereingeströmt waren durch die kleinen Türen der großen
Eissporthalle, glitten jetzt, einmal kräftig von den Bässen durchmassiert,
ganz entspannt wieder hinaus und standen dann auf dem toten
Messegelände an der Jafféstraße, zwischen Eissporthalle, Deutschlandhalle
und stillgelegten Bahngleisen, wo es jetzt absolut nichts mehr zu sehen oder
zu hören gab und wo man noch nicht einmal etwas zum Kurz-und-klein-
Kloppen gehabt hätte.
Der Bus fuhr uns zurück zum Kaiserdamm, vorbei am dunklen ICC auf
der rechten und dem glitzernden Funkturm auf der linken Seite.

Die Waldbühne wird 1936 zeitgleich mit dem Olympiastadion in eine


natürliche Ausbuchtung der Fließwiese Ruhleben hineingebaut.
Nach dem Krieg dient sie als Konzertbühne, Freilichtkino und
Boxarena. Am 15. September 1965 wird die Waldbühne nach einem
Konzert der Rolling Stones bei Krawallen schwer beschädigt und
erst sieben Jahre später wieder vollständig repariert.
Die Deutschlandhalle wird 1935 auf dem Messegelände in
Wilmersdorf anlässlich der Olympischen Spiele 1936 in Berlin
erbaut. Im Krieg wird sie zerstört, dann wieder errichtet und für
Sportveranstaltungen, Zirkusshows (Menschen, Tiere, Sensationen)
und später auch für große Pop- und Rockkonzerte genutzt. 2008
wird der Abriss der eigentlich denkmalgeschützten Halle
beschlossen; am 3. Dezember 2011 wird ihr Dach mit vierzig
Kilogramm Sprengstoff zum Einsturz gebracht.
Die benachbarte, 1973 errichtete Eissporthalle wurde bereits zehn
Jahre vorher demontiert.
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Forum Steglitz

G
egen Ende der neunten Klasse lief ich neben Anja und Heike zur U-
Bahn, als Heike ganz beiläufig fragte: «Kennst du Jan aus der
Zehnten?»
«Fragst du mich?», wollte ich wissen.
«Ja, dich. Dich mit der Nase im Gesicht.»Heike war gern witzig.
«Nein, kenn ich nicht. Wer is das?»
«Meine Schwester findet den gut, aber jetzt hat der sie nach deiner
Telefonnummer gefragt.»
«Ach, ich weiß, wer das ist», meinte Anja. «So ein Blonder, ne? Aus der
Klasse von Holger und Oliver.»
«Kann sein», sagte Heike.
«Und warum hat der jetzt deine Schwester nach meiner Nummer gefragt,
wenn sie den doch gut findet? Sag doch mal!» Ich war ganz aus der
Fassung.
«Weiß der ja nich, dass sie ihn gut findet. Sie ist jedenfalls total sauer
jetzt.»
So richtig raffte ich diese Geschichte nicht, aber sie wühlte mich doch
einigermaßen auf.
Als ich in Alt-Mariendorf aus dem U-Bahn-Schacht nach oben ans Licht
stieg, schüttelte ich mein Haar und stellte mich mit einem neuen Ichgefühl
an die Bushaltestelle. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wer dieser Jan
war, aber das war auch zweitrangig. Wichtig war, dass mich vermutlich
einer gut fand, aus der Zehnten, und dann noch einer, der seinerseits gut
gefunden wurde von Heikes cooler Schwester Katja. Wichtig war
außerdem, dass andere darüber bereits Bescheid wussten, ohne dass ich es
selber hätte herumerzählen müssen.
Zu Hause trödelte ich ein bisschen rum und sah in den Spiegel.
Schließlich nahm ich das Telefon, um Silke anzurufen. Die Hand hatte ich
schon am Hörer, als es klingelte.
Jan aus der Zehnten redete nicht groß um den heißen Brei herum. Er
sagte, er würde mich gern kennenlernen und fragte, ob wir nach der Schule
mal was unternehmen wollen. Er fragte auch, ob ich überhaupt wisse, wer
er sei, und ich sagte, nein, das wüsste ich jetzt nicht so genau. Um das zu
ändern, schlug er vor, am nächsten Tag in der ersten Pause auf unseren Flur
zu kommen und mal hallo zu sagen.
«Okay», sagte ich. «Wir sind im zweiten Stock vom Hauptgebäude.»
Er sagte: «Ich weiß.»
Er war sehr selbstbewusst.
Am nächsten Tag zog ich meine neue Kombi aus einem schwarzen und
einem weißen Shirt an. In den ersten zwei Stunden fühlte ich mich reichlich
angespannt, und in der ersten Pause setzte ich mich mit Heike zusammen
nach draußen in den Flur, gleich ans Fenster neben der Glastür zum
Treppenhaus. Heike hatte ihrerseits eine neue Hose an, eine dunkelgraue
mit weißen Strichen drauf, wobei die Striche wie Pinselstriche aussahen;
sehr angesagt.
«Wo hast’n die her?», fragte ich.
«Fiorucci», sagte Heike.
Erst in der letzten Woche war ich bei Jean Pascale im Forum Steglitz
gewesen, wo es Fiorucci-Sachen gab, hatte diese Hose aber leider nicht
entdeckt. Bei Jean Pascale im Forum Steglitz kaufte ich wahrscheinlich die
meisten meiner Sachen. Im Forum Steglitz traf man meistens auch
irgendwen, den man ewig nicht gesehen hatte. Leute aus der Grundschule
zum Beispiel. Oft winkte man sich zu, während man auf den Rollbändern,
die anstelle von Rolltreppen die Etagen verbanden, aneinander vorbeifuhr.
Einer nach oben und einer nach unten. Meine Mutter vergaß im Forum
Steglitz nie zu erwähnen, dass sie hier den Schreck ihres Lebens bekommen
hatte, als ich mich oben auf der zweiten Ebene einmal hinter ihrem Rücken
am gläsernen Geländer hochgezogen hatte und dann über dem offenen
Lichthof, durch den man auf die unteren Ebenen blicken konnte, an dem
Geländer herumgeturnt war. Sie hatte gerade eine alte Bekannte getroffen,
wie es halt so ist im Forum Steglitz, die mitten im Gespräch erbleichte und
rief: «Oh Gott! Ihre Tochter!»
Ich guckte noch so ein bisschen neidisch auf Heikes Hose, da ging die
Flurtür auf, und Jan aus der Zehnten kam auf uns zu, was ich daher wusste,
dass Heike «Hallo, Jan» zu ihm sagte. Das war der vereinbarte Code zur
Identifizierung.

Bei seiner Eröffnung 1970 ist das Forum Steglitz deutschlandweit


eine der ersten Shopping-Malls nach amerikanischem Vorbild. Zuvor
befand sich dort ein traditionsreicher Wochenmarkt, der ins
Erdgeschoss des Einkaufszentrums integriert wurde. Im
Obergeschoss war bis 1989 eines der fünf offiziellen Büros für
Besuchs- und Reiseangelegenheiten zur Beantragung eines
Einreisevisums in die DDR untergebracht.
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Europa-Center

I
ch war natürlich wahnsinnig gespannt auf Jan gewesen, aber jetzt hatte
ich gar nicht die Ruhe, ihn mir wirklich anzusehen, denn ich war
komplett damit beschäftigt, cool zu bleiben, nicht zu kichern und so zu tun,
als wäre alles ganz normal, als hätte ich schon tausendmal hier gesessen
und mit Jungs aus der Zehnten geplaudert, die sich über Heikes Schwester
meine Telefonnummer besorgt hatten. Nach der Pause konnte ich den
anderen deshalb noch nichts darüber sagen, ob ich Jan jetzt auch gut fand
oder nicht. Ich konnte nur berichten, dass wir uns nach der Schule am Tor
treffen und dann zusammen zur U-Bahn gehen wollten.
Nach Schulschluss stand er schon da und wartete auf mich, und als ich
ihn da so stehen sah, fand ich ihn erst mal nur so mittel. Wir gingen
nebeneinander zur U-Bahn und redeten über die Schule. Er war genervt und
wollte nach der Zehnten abgehen, also sehr bald. Ich tat auch genervt von
der Schule und erzählte, dass ich nach der Zehnten gern für ein Jahr nach
Amerika gehen würde. Das klang natürlich super, und er war ein bisschen
beeindruckt.
Wir nahmen den Weg, der durch die kleine Grünanlage hinter der Schule
entlangführte und der schöner war als der Weg durch die Passage, wobei es
keine große Herausforderung war, schöner zu sein als die Passage. Der Weg
hintenherum führte zu dem anderen U-Bahn-Eingang an der Karl-Marx-
Straße, dort, wo der Zug nach Rudow mit dem vordersten Wagen hielt. Es
war wichtig, ob man vorn oder hinten in einen Zug stieg, denn Bahnhöfe
sind lang. Die meisten, die den Zug nach Rudow nahmen, stiegen
Johannisthaler Chaussee um in einen Bus, und die Treppe zu den Bussen
befand sich am vorderen Zugende.
Obwohl ich normalerweise den Zug in Richtung Rathaus Spandau nahm,
war es alternativ auch möglich, in die andere Richtung, nach Rudow, zu
fahren und Johannisthaler Chaussee in einen Bus nach Mariendorf
umzusteigen. Das machten wir trotz etwas längerer Fahrzeit manchmal im
Sommer, weil Busfahren dann schöner war als U-Bahn-Fahren. Jan musste
immer Johannisthaler Chaussee raus und ging deshalb grundsätzlich den
Weg hintenherum, zum anderen U-Bahnhof.
Am Bahnsteig trafen wir auf Leute aus seiner Klasse, die mit uns in den
Zug stiegen. Jan musste dabei mit seinen Kumpels rumalbern, so ein
bisschen Show machen und zwischendrin zu dem einen sagen: «Ey, Holger,
jetzt benimm dich mal, was soll die denn von mir denken?»
Der antwortete: «Ja, genau, Jan, was soll die eigentlich von dir denken?»
Und zu mir: «Sag mal, was denkst’n du eigentlich von dem?»
Und Jan dann wieder zu dem: «Halt doch einfach mal die Fresse, du
Spast.»
Es war die Zeit, als gerade die brandneuen U-Bahn-Waggons mit bunten
Sitzen eingeführt wurden, grau mit bunten Strichen drauf, was alle total
hässlich fanden. Johannisthaler Chaussee stiegen wir aus, und während alle
zu den Bussen strömten, blieb ich mit Jan noch kurz auf dem Platz vor dem
Eingang zur U-Bahn stehen.
«Wir können ja morgen zusammen ins Kino gehen», sagte Jan.
«Okay.»
«Hast du schon Police Academy gesehen?»
«Nee.»
«Dann können wir den ja gucken.»

Der nächste Tag war ein schulfreier Samstag. Wir hatten jetzt jeden zweiten
Samstag schulfrei, das war eine Verbesserung, vorher war es nur ein
Samstag im Monat gewesen. Jan und ich trafen uns Hallesches Tor, unten
an der Linie 6 beim DJ. Den Schaffner in seinem Kabuff, von wo aus er
immer «Einsteigen bitte!» und «Zurückbleiben!» oder auch mal «Nicht mit
dem Fahrrad in den ersten Wagen einsteigen!» ins Mikrophon rief, den
nannten Silke und ich den DJ. Inzwischen hörte man das aber auch bei ganz
fremden Leuten. Entweder hatte sich das schon verbreitet, oder es war so,
dass andere Leute auf dieselbe Idee gekommen waren.
Über diverse Treppen und Rolltreppen gingen Jan und ich zur Bahntrasse
der Linie 1 und suchten dort erst einmal eines von den großen Plakaten mit
dem Berliner Kinoprogramm. Wir waren uns nämlich nicht ganz einig, ob
der Film im Royal-Palast lief oder in der Filmbühne Wien.
Zwar hatten wir vorher beide bei der Kinoansage unter 11511 angerufen,
uns aber unterschiedliche Informationen gemerkt. Schließlich fanden wir
ein Plakat, und Royal war richtig (hatte ich gesagt). Danach warteten wir
dort auf den Zug, wo die Bahnhofsüberdachung zu Ende war und die Sonne
auf den Bahnsteig schien.
Nach einer Weile kam der Zug. Auf der Linie 1 fuhren diese ungewohnt
schmalen Züge, in denen man sich viel dichter gegenübersaß als in den
Zügen, mit denen wir sonst zur Schule fuhren. Jan zog die Tür auf. Die
Leute im Waggon wirkten alle sehr fröhlich, manche grinsten hinter ihren
Zeitungen. Kaum waren wir im Waggon, rief der Mann, der direkt an der
Zugtür stand und so ziemlich als Einziger nicht grinste: «Nach Ruhleben,
ein-steigen! Ruhleben, zuuurrrückblei-ben!» Ach so. Na klar. Der Ansager
war im Waggon.
Der Ansager, ein unscheinbarer, noch recht junger Mann, fuhr den
ganzen Tag mit der U-Bahn durch die Stadt und rief die Stationen aus. Man
freute sich, wenn man ihm begegnete. Jetzt rief er: «Nächste Station
Möckernbrücke. Umstiegsmöglichkeit zur U-Bahn-Linie 7 in Richtung
Rathaus Spandau und Richtung Rudow.» Er hatte das ganze Netz im Kopf
und war stets mit Ernst und Konzentration bei der Sache.
Nachdem der Ansager «Nächste Station Zoologischer Garten»
ausgerufen hatte, stiegen wir aus. Wir liefen über den Breitscheidplatz auf
den Wasserklops zu und machten dabei einen weiten Bogen um die
verrückte Oma.
Wie immer stand sie vor der Gedächtniskirche und redete laut übers
Ficken. Ich war schon ein paar Mal an der vorbeigekommen. Sie hatte
kurze graue Haare, war zweckmäßig und wetterfest gekleidet, trug eine
praktische Tasche bei sich und saß oder stand auf den Stufen vor der Kirche
mit mehreren Plakaten und Transparenten, auf denen «Ficken ist Frieden»
stand, in unterschiedlichen Variationen. Dabei war sie äußerst
diskutierfreudig und rief den Passanten nach, sie sollten heute noch ficken
oder wichsen. Wir mussten sie also unbedingt meiden, zwei katholische
Schüler, fünfzehn und sechzehn Jahre alt, bei ihrem ersten Date.
Weil wir etwas Zeit hatten, gingen wir die Granittreppe am Brunnen
hinunter, die einen direkt ins Untergeschoss vom Europa-Center führte.
Dort bummelten wir an den Läden vorbei, nahmen die Rolltreppe, die unter
den großen Lampen aus bunten Glassteinen zurück nach oben ins
Erdgeschoss führte, ließen dort einen anderen Brunnen hinter uns, den
Lotus-Brunnen, in dem sich mechanische Blütenkelche aus Metall unter der
Beobachtung von Touristen tagein, tagaus einen Schluck Wasser
weiterreichten, und gingen zum Royal-Palast-Kino.
Auf dem Weg von der Kasse zu den Kinosälen konnte ich uns in den
verspiegelten Wänden neben der Rolltreppe sehen. Ich stand eine Stufe
höher und war damit etwas größer als Jan. Es war ein kleiner, hübscher
Film, in dem wir langsam von unten nach oben schwebten. Er gefiel mir
gut.
Das Europa-Center am Breitscheidplatz wird 1965 eröffnet. Auf dem
Hochhausteil dreht sich weithin sichtbar ein Mercedesstern von zehn
Metern Durchmesser. Der Royal-Palast im Europa-Center, nach dem
Zoo-Palast das größte Kino in West-Berlin, war bis in die neunziger
Jahre hinein das einzige Filmtheater mit eigener Rolltreppe und
hatte eine der größten gebogenen Breitleinwände der Welt. Es wird
2004 geschlossen und 2006 abgerissen; der Rest des Europa-
Centers steht unter Denkmalschutz.

Helga Goetze, die Frau mit den «Ficken ist Frieden»-Transparenten,


wird 1922 in Magdeburg geboren. Sie heiratet und bringt sieben
Kinder zur Welt. Während ihrer Silberhochzeitsreise nach Italien
beginnt sie eine Affäre mit einem Italiener, die für sie zum
Erweckungserlebnis wird. Sie zieht 1978 nach Berlin und beginnt
1983, im Alter von sechzig Jahren, mehrere Stunden täglich vor der
Berliner Gedächtniskirche für die sexuelle Befreiung zu werben. Sie
stirbt 2007 und liegt auf dem Alten St. -Matthäus-Kirchhof in
Schöneberg begraben.

Die in den fünfziger Jahren gebauten U-Bahn-Wagen des Typs


«Dora», mit Wänden aus Holzfurnierimitat, grünen Sitzen und
rötlichem Boden, werden in den achtziger Jahren an die DDR
verkauft. Nach der Wende begegnen sie den West-Berliner
Passagieren wieder, bis sie in den Neunzigern nach China und von
dort nach Nordkorea verkauft werden. Heute noch fahren mehr als
hundert der alten Berliner U-Bahn-Wagen durch die Tunnel von
Pjöngjang.

Der «Ansager» findet immer wieder vereinzelte Nachahmer im


Berliner U-Bahn-Netz.
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D
raußen war es dämmerig geworden, während wir im Kino gesessen
hatten. Am Ku’damm war kaum noch was los. Wir schlenderten den
Tauentzien in Richtung Wittenbergplatz entlang. Mir war erst sehr spät klar
geworden, dass der Ku’damm zwischen Breitscheidplatz und
Wittenbergplatz gar nicht mehr Kurfürstendamm heißt, sondern eben
Tauentzienstraße, und dass diese Straße gemeint war, wenn die Leute vom
«Tauentzien» sprachen. Es war ein echtes Aha-Erlebnis, als ich zum ersten
Mal das Straßenschild mit dem Namen «Tauentzienstraße» bemerkte. Der
Groschen fiel mit einem sehr lauten Klirren vor mir zu Boden.
Am Broadway-Kino machten wir noch einen Schlenker durch die
skurrile kleine Einkaufspassage mit den Schaufenstern voll bunter T-Shirts,
hochhackiger Glitzerschuhe und indischem Schmuck. Als wir da standen
und uns das Zeug ansahen, nahm Jan meine Hand. Das fühlte sich etwas
fremdartig an, deshalb sah ich mich dazu gezwungen, ganz viel zu reden.
Weil wir uns gerade eine Badehose im Union-Jack-Design ansahen, kamen
wir darauf, dass wir morgen schwimmen gehen könnten. Fürs Freibad war
es noch nicht warm genug, darum beschlossen wir, ins Blub zu gehen. Als
Jan später am Mehringdamm umsteigen musste, verabschiedeten wir uns
mit einem unklaren Abschiedskuss irgendwo auf die Wange.
Am nächsten Morgen telefonierte ich gleich mit Silke, die wissen wollte,
wie es mit Jan im Kino war. Ich erzählte ihr, dass der Film echt lustig war,
aber das interessierte sie gar nicht so sehr.
«Und mit Jan?», fragte sie.
«War auch super.»
«Und?»
«Was, und?»
«Na, seid ihr jetzt zusammen?»
«Weiß ich doch nicht. Kann schon sein. Wir gehen heute ins Blub.»
«Habt ihr euch geküsst?»
«Nein! Hör doch mal auf!»
«Blub, soso, sehr romantisch.»
«Was machst du heute?»
«Versuch jetzt nicht vom Thema abzulenken!»
Ich wollte aber vom Thema ablenken und fragte: «Was macht Johnny?»
Seit Menschengedenken wurde Silke von Johnny angeschwärmt,
worüber die ganze Schule Bescheid wusste, weil Johnny kein Geheimnis
daraus machte. Bei jeder Fete stürzte er sofort auf Silke zu, sobald die
Musik langsam wurde, um mit ihr zu tanzen. Mit seiner obsessiven
Schwärmerei hatte Johnny fast schon einen grundsätzlichen Anspruch auf
Silke etabliert, und weil er ein netter Typ war, den alle mochten, funkte ihm
keiner dazwischen. Für Silke war das ein Problem. Gern hätte sie auch mal
mehr Auswahl gehabt beim Blues-Tanzen und überhaupt. So wie es war,
konnte sie niemals erfahren, bei wem sie sonst noch Chancen hatte, bei
Milch aus der Oberstufe zum Beispiel, der bei uns so hieß, weil er zum
Schulfasching mal als Milchtüte verkleidet kam. Wenn Milch irgendwo
auftauchte, hatte Silke gleich Sternchen in den Augen.
Es war Teil von Silkes Identität geworden, die Angebetete von Johnny zu
sein. Wären wir Indianer, hieße sie «Die-von-Johnny-angebetet-wird»,
womit sie längst so etwas Ähnliches wie seine Freundin war. Sie musste es
nur endlich mal annehmen, anstatt immer zu denken: Ich will aber lieber
Milch. Ich jedenfalls freute mich über Jan und sein Interesse an mir, obwohl
ich mich bislang ja eigentlich für Georg Hacke interessiert hatte, wenn auch
nur von weitem.
Nach dem Gespräch mit Silke packte ich meine Badesachen und fuhr los,
um Jan am U-Bahnhof Grenzallee zu treffen. Der Weg ins Blub – der Name
war ein Akronym für «Berliner Luft- und Badeparadies» – führte über einen
Holzsteg, der seinerseits über eine naturwüchsige Wiese führte. Das Blub
war 1985 eröffnet worden, es war neu und schön, voller Attraktionen wie
Whirlpools, Wellenbad, Meerwasserbecken und Riesenrutsche, und das
Blub-Logo prangte auf den aktuellen Trikots der Mannschaft von Hertha
BSC. Drinnen legten wir unsere Badetücher auf zwei Liegen, dann gingen
wir gleich ins Wellenbad. Auf Föhr gab es auch ein Wellenbad, und als
Kind hatte ich großen Respekt davor, wenn alle halbe Stunde für zehn
Minuten die Wellenmaschine lostobte. Die Wellen im Blub kamen mir
moderater vor. Oder ich war jetzt größer und konnte besser schwimmen.
Das Blöde war, dass Jan mit nass angeklatschten Haaren nicht so gut
aussah. Nachdem wir noch einmal durch andere Becken geplanscht waren,
legten wir uns auf unsere Liegen und seine Haare trockneten wieder. Jan
fing an, über die Mädchen aus seiner Klasse zu reden und wie er die fand.
Er erzählte mir, dass seine Kumpels mich Paulchen nannten, nach einem
Pulli mit Paulchen-Panther-Motiv, den ich manchmal trug. Dann standen
auf einmal zwei kleine Jungs vor uns. Sie hatten schon eine Weile in der
Nähe herumgehampelt und sich gegenseitig angestoßen. Jetzt stellten sie
sich neben Jan hin und trugen ihr Anliegen vor.
«Dürfen wir Sie mal was fragen?»
Jan guckte hoch. «Ihr könnt fragen, aber die Antwort ist Nein.»
Die Jungs sahen sich an.
«Wir wollten aber fragen, ob Sie Luke Skywalker sind.»
«Wie gesagt», meinte Jan, «die Antwort ist Nein.»
Die beiden kleinen Jungs flüsterten sich gegenseitig etwas ins Ohr, dann
wagte sich der eine noch mal vor: «Wir glauben aber trotzdem, dass Sie das
sind.»
Jan rappelte sich hoch: «Glaubt ihr wirklich, Luke Skywalker liegt hier
im Blub rum und spricht Deutsch?»
Sie tuschelten nochmals, zuckten mit den Schultern und zogen wieder ab.
«Passiert mir andauernd», meinte Jan. «Immer findet einer, dass ich
aussehe wie Luke Skywalker. Findest du auch, dass ich aussehe wie Luke
Skywalker?»
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wer Luke Skywalker war und wie der
aussah. Ich bemerkte aber, dass die beiden Jungs weiter zu uns
rüberguckten und mit Jans Auskunft nicht zufrieden waren.
Draußen war es mild. Jan war mit dem Fahrrad gekommen, das er jetzt
mit einer Hand neben sich herschob, um mich wieder zur U-Bahn zu
begleiten. Mit der anderen hielt er meine Hand, und über der Schulter trug
er noch seine Tasche mit den Badesachen. Das war nicht ganz
unkompliziert, und als es über einen Bordstein ging, fiel ihm sein Rad um.
Ich lachte. Er sagte: «Hör sofort auf zu lachen.»
Ich lachte weiter. Jan ließ sein Rad liegen, warf die Tasche dazu, packte
meine Schultern und küsste mich. Es war mir schon klar gewesen, dass das
irgendwann passieren musste.

Das marode gewordene Blub wird 2002 wegen akutem Rattenbefall


vorübergehend und 2003 wegen Insolvenz endgültig geschlossen.
Angeblich soll auf dem 35000 Quadratmeter großem Gelände in
Zukunft ein Resorthotel mit Badelandschaft entstehen.
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I
ch hatte jetzt also einen Freund. Der Status des Zusammenseins war
offiziell und gegenseitig beglaubigt durch einen Kuss vorm U-Bahnhof
Grenzallee. Von dem großen romantischen Mythos «erster Kuss» hatte ich
mir zwar mehr erwartet, aber ich beschwerte mich nicht.
In den großen Pausen trafen wir uns auf dem Schulhof, und ich freute
mich darauf, in Zukunft mit meinem Freund zu den Feten und auch sonst
überall hin- und überhaupt mehr auszugehen. Konzerte würde ich besuchen
und mit ihm Tanzen gehen und dabei nicht mehr so abhängig sein von der
alten Mädchen-Clique.
Die nächste Fete stand unmittelbar bevor, und zwar am Samstag in
Dominicus. Es hatte seit einiger Zeit keine große Fete mehr gegeben, und
entsprechend hatte sich bereits sozialer Bedarf angestaut. Johnny machte
sich definitiv große Hoffnungen, dass dies ein wichtiger Abend für ihn und
Silke sein könnte. Für Heike und Gerald Nowack, die jetzt schon eine Weile
umeinander herumgeschlichen waren, musste endlich mal ein Anlass her,
und Anja hatte in ihrem Volleyballverein irgendwen kennengelernt, den sie
am Samstag mitbringen wollte. Ich selber würde dann souverän
danebenstehen und mir die weiteren Entwicklungen milde lächelnd ansehen
mit meinem schmucken Freund, den Heikes Schwester nicht bekommen
hatte und die deswegen immer noch leicht angesäuert wirkte.
Es war also ein Schock, als Jan am Freitag in der Pause ganz lapidar zu
mir sagte, dass er am Samstag zum fünfzigsten Geburtstag seiner Tante
gehen müsse, und meinte, wir könnten uns danach ja noch bei ihm treffen
oder bei mir.
«Da ist doch Dominicus», rief ich.
«Ach so», sagte Jan. «Gehst du dahin?»
Ob ich da hingehe, fragte der mich! Ich instruierte ihn, er müsse nach
dem Geburtstag unter allen Umständen, auf jeden Fall und unverzüglich
nach Dominicus kommen, was immerhin seine Gemeinde war, und mich
dort treffen und nicht zu Hause. Wozu denn zu Hause überhaupt?
Manchmal wunderte ich mich über andere.
Samstagabend saß ich in meinem Zimmer und überlegte, ob ich nicht
einfach auch erst später zur Fete fahren sollte, aber es war mir einfach nicht
möglich. Ich saß seit zwei Uhr wie auf Kohlen, und außerdem, wer weiß,
was ich dann alles verpassen würde. Ich traf Silke also pünktlich um acht
beim DJ am U-Bahnhof Lipschitzallee. Zusammen gingen wir die Treppen
nach oben, und da standen schon lauter Grüppchen vor dem
Gemeindezentrum herum. Johnny war da mit seinem Freund Stefan und mit
Minski, wir sagten hallo und gingen mit denen gemeinsam rein. Ich war
unangemessen aufgeregt. Wir quatschten ein bisschen dies und das, wobei
ich wie üblich mit Minski aneinandergeriet, weil Minski so ein beknackter
Proll war. Um genervt zu sein, reichte mir inzwischen sein bloßer Anblick,
reichten seine teuer-geschmacklosen Popperklamotten. Aber dabei beließ er
es ja nicht, er musste auch noch reden. Wie geil er mit seinem Bruder
dessen Auto getunt und was seine Uhr gekostet hatte. Wenn Minski laberte,
verlor ich die Beherrschung. Und weil ich gerade diesen Spruch
aufgeschnappt hatte, brachte ich den gleich an:
«Sag mal Minski, wo ist eigentlich der Bus?»
«Welcher Bus?»
«Na, der Bus mit den Leuten, die dein Gelaber hören wollen?»
«Der war gut», meinte Minski.
Er vereinnahmte einfach meine Kritik, der Arsch. Außer mir störte sich
kaum einer an ihm; die anderen sahen es als mein persönliches Problem an,
dass der mich so auf die Palme brachte mit seinem Angeberscheiß. Das
wiederum fand ich blöd an den anderen, dass sie dieses Minski-Gesabbel
anscheinend ganz normal fanden. Es gab ja auch nicht nur Minski allein, es
gab so ein paar Minskis bei uns.
Nun aber dachte ich mir: Sollt ihr doch! Hört ihr mal schön dem Minski
zu! Ich geh jetzt tanzen, und nachher kommt nämlich mein Freund. Ich
brauch euch gar nicht.
Leider war die Musik eher mittel, und kaum jemand tanzte. Die meisten
Leute standen im Vorraum und auf der Treppe herum, bis schließlich die
unvermeidliche Blues-Runde begann, und zwar mit Hello von Lionel
Richie. Ächz. Ich mochte, wenn es Blues sein musste, Careless Whisper
von George Michael (der mir inzwischen ein Begriff war), aber am meisten
The Power of Love, natürlich von Frankie Goes to Hollywood. Gerald
Nowack und Johnny waren jetzt weniger wählerisch mit der Musik, sie
stürzten sofort auf Heike und Silke zu, wobei Heike begeisterter wirkte als
Silke, und auch Anja und ihr etwas blasser Volleyball-Kollege mit dem
Namen Carsten hatten sich bereits zusammengefunden. Dieses Paar-Ding
griff ganz schön um sich.
Jan war noch nicht da, und es war schon halb zehn. Ich hatte Panik, dass
sie gleich The Power of Love spielen würden und er wäre nicht da, um mit
mir zu tanzen, während alle anderen tanzen würden zu The Power of Love.
In meiner Angst verließ ich den Raum, um mir an der Theke eine Cola zu
bestellen. Gerade als ich dabei zusah, wie die Cola aus der Flasche in einen
Plastikbecher gegossen wurde, tippte mir jemand an die linke Schulter. Ich
drehte mich nach links um. Da stand ein mir unbekanntes Mädchen, das zu
mir sagte: «Der war das.» Dabei zeigte sie auf Jan, der rechts hinter mir
stand und über seinen gelungenen Scherz lächelte: «Na, Paulchen,
amüsierst du dich gut?»
Ich wollte mich gar nicht lange unterhalten. Ich schleifte Jan den Gang
hinunter in den Raum mit der Musik, wo wir uns an den Rand stellten, die
Cola tranken und beobachteten, wie die Tanzenden mehr oder weniger und
meist auch nur einseitig verliebt aneinanderklebten und sich in langsamen
Schritten zu True von Spandau Ballett drehten. Silke wirkte nicht so, als
würde die Liebe zu Johnny heute in ihr entflammen, und Johnny sah nicht
so aus, als würde er sich davon beirren lassen. Bei Heike und Anja
hingegen wurde gerade alles klargemacht, die klebten ganz eng zusammen.
Und dann mischten sich unter die letzten Takte von True die ersten Töne
von The Power of Love. Sofort zog ich Jan auf die Tanzfläche, um endlich,
mit meinem Freund, zu The Power of Love von Frankie Goes to Hollywood
zu tanzen, so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.

St. Dominicus an der Lipschitzallee wird 1977 erbaut und ist die
einzige katholische Gemeinde im Berliner Ortsteil Gropiusstadt.
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Ku’damm-Eck

A
uf der Rückseite vom Wertheim am Ku’damm, in der Augsburger
Straße, hatte ein großer neuer Plattenladen eröffnet, WOM, World of
Music. Johnnys Freund Stefan war gleich in der ersten Woche dort gewesen
und hatte erzählt, dass es in dem Geschäft einen großen runden Tresen
gäbe, an dem mehrere Leute gleichzeitig mit Kopfhörern Platten anhören
könnten, viel besser als bei City Music am Breitscheidplatz.
Meine erste Platte hatte ich mir bei Sound & Fashion in Marienfelde
gekauft, da war es überhaupt nicht vorgesehen, sich über Kopfhörer
irgendwas anzuhören, und alles, was ich wusste, war, dass ich das eine Lied
aus dem Radio haben wollte, etwas von einer Girlband, die nicht Banane
hieß, aber so ähnlich. Der Verkäufer kramte eine Single von Bananarama
hervor, Anja stand dabei. Bei ihr zu Hause baten wir ihren Bruder, die Platte
auf seinem Plattenspieler aufzulegen. Es war genau das Lied, das ich
gesucht hatte, und ich freute mich. Anjas Bruder fand es auch ganz gut. Er
kramte eine leere Kassette heraus und überspielte es sich gleich.
Inzwischen hatte ich ein paar mehr Platten, aber nicht sehr viele, obwohl
mir so einige einfielen, die ich gern gehabt hätte. Anja hatte bald
Geburtstag und wünschte sich von mir und Silke eine Platte von Simply
Red, die musste ich also sowieso besorgen.
Ich fuhr ganz allein zum Ku’damm, denn ich wollte in Ruhe durch den
neuen Plattenladen gehen. Oben am U-Bahnhof Kurfürstendamm stand
schon der stadtbekannte «Sendermann» mit einem großen spitzen Papphut,
auf dem «CIA-Opfer» stand, vor sich ein großes Blatt Papier, klein
beschriftet mit seiner Leidensgeschichte, in der es um Strahlen, Sender und
Geheimdienste ging. Ich war mir wie immer nicht ganz sicher, ob da etwas
Wahres dran war. Die Ausführungen darüber, wie und mit welchen Mitteln
er von sämtlichen Geheimdiensten der Welt verfolgt wurde, waren so
vertrackt und präzise, dass man sich das eigentlich nicht ausdenken konnte.
Schon gar nicht, wenn man verrückt ist.
Durchs Ku’damm-Eck ging ich zur Augsburger und überlegte, ob ich für
Heike vielleicht noch ein krasses T-Shirt aus diesem riesigen Metal- und
Grufti-Laden holen sollte, nur so als Gag. Vielleicht auf dem Rückweg. Das
Ku’damm-Eck war ein ähnlich merkwürdiges Gebäude wie der Bierpinsel.
Von außen bestand es sogar aus den gleichen Plastikbausteinen, nur waren
sie beim Ku’damm-Eck weiß und beim Bierpinsel rot. Innen gab es wohl
ein Wachsfigurenkabinett, aber ich kannte niemanden, der jemals drin
gewesen war. Es gab auch ein Café namens «Café des Westens», so stand es
jedenfalls außen dran, aber auch dort hatte ich noch nie gesessen. Früher,
also ganz früher, so vor dem Krieg oder was, hatte es irgendwo gegenüber
mal ein legendäres Café des Westens gegeben, aber damit hatte das im
Ku’damm-Eck bestimmt nichts mehr zu tun. Im Wesentlichen kannte ich im
Ku’damm-Eck eben nur diesen Gothic-Laden, der auf mehreren Etagen
Dinge wie große silberne Gürtelschnallen und Buttons verkaufte,
hauptsächlich aber schwarze T-Shirts, auf denen motorradfahrende Skelette
und Schriftzüge von Metal-Bands aufgedruckt waren. Oben, im dritten
Stock, waren außerdem noch zwei Kinosäle untergebracht, die zum
Marmorhaus gehörten.
Nach dem Ku’damm-Eck musste man ein Stück weit an der Rückseite
von Wertheim entlanggehen, bis man an einen wenig benutzten
Kaufhauseingang kam, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es ihn
gibt. Dort war der Eingang zu WOM. Ich konnte es kaum fassen, der
Plattenladen zog sich weiter und weiter, er streckte sich bis zur
Rankestraße. Kaum war ich drin, wurde ich ganz nervös beim Anblick all
der Platten, so ähnlich wie es mir manchmal in großen Buchläden erging,
bei Kiepert am Ernst-Reuter-Platz zum Beispiel.
Es gab verdammt viele Platten, die ich mir anhören wollte. Im letzten
Sommer, als wir mal wieder an die Nordsee fahren wollten, hatte der Zug
Verspätung, und ich kaufte mir in dem Zeitungsladen am Bahnhof Zoo ein
neues Musikmagazin, das Pop Special hieß. Draußen regnete es wie blöd,
und wir wussten nicht recht, wo wir die Zeit bis zur Abfahrt verbringen
sollten. Schließlich setzten wir uns in das triste Bahnhofsrestaurant
«Terrassen am Zoo», zu erreichen über das niedrige Zwischengeschoss, das
man immer auf dem Weg von der Bahnhofshalle zu den Gleisen passiert.
«Schön ist es hier nicht», sagte meine Mutter. Trotzdem setzten wir uns
mit Tante Evi und Mbuyi an das große Panoramafenster zum
Hardenbergplatz und bestellten etwas zu trinken. Ein paar andere Gäste
waren ebenfalls Opfer der Zugverspätung, aber nicht alle. Manche waren
einfach nur so da, an diesem muffigen Ort. Sie sahen nicht gut aus. Wir
guckten raus auf den verregneten Platz und sahen den BVG-Bussen beim
Anhalten und Abfahren zu.
Ich blätterte ein bisschen durch mein Heft. Es war voller Interviews,
Plattenbesprechungen, Comics und witziger Kommentare, und ganz ohne
Styling-Tipps, Foto-Lovestorys und Psycho-Tests. Als wir endlich im Zug
saßen, las ich es von der ersten bis zur letzten Seite durch. Auf der
Rückreise las ich es gleich noch einmal. In unserem Mariendorfer
Zeitschriftenkiosk konnte ich die nächste Ausgabe nach den Ferien
allerdings nicht bekommen, die kannten das Magazin gar nicht. Ich musste
lange danach suchen und fand es schließlich am Kiosk im U-Bahnhof
Mehringdamm. Danach bestellte ich ein Abo. Die nächsten Monate wurde
mir mein Pop Special nach Hause geliefert, es war für mich das erste
wirklich interessante Magazin nach den Micky-Maus-Heften. Dann aber,
nach nur drei Ausgaben, kam anstelle von Pop Special plötzlich das
langweilige Teenie-Heft Popcorn durch den Briefschlitz, zusammen mit der
Nachricht, Pop Special gäbe es nicht mehr. Man könne als Ersatz aber
wählen zwischen den Verlagsprodukten Popcorn und Pop Rocky, in meinen
Augen Pest und Cholera.
Immerhin hatte ich danach eine Liste von Bands und Platten beisammen,
die ich mir unbedingt anhören wollte. Mit vier Platten unterm Arm ging ich
bei WOM zu dem großen runden Tresen, in dessen Mitte ein
kaugummikauender Mann mit schwarzem Joy-Division-T-Shirt stand,
routiniert Platten auflegte und wieder einpackte. Allerdings war kein
Kopfhörer frei, und hinter jedem Hörenden warteten schon mindestens drei
Leute, die zum Teil mehr als vier Platten unter dem Arm trugen; aber das
war mir jetzt egal.
Als ich nach langer Zeit endlich an der Reihe war mit meinen Platten,
war es allgemein leerer geworden. Hinter mir wartete keiner mehr, ich
musste mich beim Anhören nicht gehetzt fühlen. Dafür stand neben mir ein
sehr gut aussehender Mann in einer schwarzen Lederjacke, der unter seinem
Kopfhörer interessiert auf meine Platten guckte. Irgendwann war er weg,
und jemand anderes nahm seinen Platz ein. Aber als ich meinen Kopfhörer
absetzte, um die Platte wechseln zu lassen, tauchte er plötzlich wieder auf,
legte mir ein paar neue Platten hinzu und sagte: «Die solltest du dir auch
noch anhören.» Dann war er wieder weg.
Am Ende wollte ich mindestens dreimal so viele Platten haben, wie ich
mir hätte leisten können, was genau eine war, und für diese eine musste ich
mich jetzt entscheiden. Ich merkte, dass ich riesigen Durst und nichts
gegessen hatte. Ermattet suchte ich schnell nach der Simply-Red-Platte für
Anja, ging schließlich damit und mit sonst nichts zur Kasse und hoffte,
dabei nicht von dem Mann in der Lederjacke gesehen zu werden.
Zu dem Grufti-Laden im Ku’damm-Eck ging ich dann auch nicht mehr.
Das Ku’damm-Eck wird 1996 geschlossen und zwei Jahre später
abgerissen. 2001 entsteht ein neues Ku’damm-Eck, das rund ist und
anstelle eines Metal-Gothic-T-Shirt-Ladens eine C&A-Filiale
beherbergt.

Der sogenannte Sendermann macht sich erstmals in den siebziger


Jahren in der Stadt bemerkbar, als er überall Wände und Mauern mit
seinen Botschaften vom «Sender Terror» besprüht. Später stellt er
sich mit selbstbeschrifteten Schildern, manchmal auch mit einem
kegelförmigen, ebenfalls beschrifteten Papierhut auf den
Kurfürstendamm und warnt dort vor «Sender Morden» oder «Folter
mit Sendern». In der zweiten Hälfte der Achtziger verliert sich seine
Spur. In einschlägigen Foren im Internet wird er jedoch heute noch
manchmal als Beispiel für einen genannt, der «zu viel wusste».
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In der Gropiusstadt

D
er letzte Schultag vor den Sommerferien 1986 war für Jan der letzte
Schultag überhaupt. In keiner Gemeinde gab es eine Fete zu Ehren
des abgeschlossenen Schuljahrs und der bevorstehenden sechs freien
Wochen, oder jedenfalls wusste keiner von was. Das war ein bisschen
schwach, fand ich. Dann aber dachte ich: Warum überhaupt so abhängig
sein von den üblichen Feten? Wir leben doch in einer großen und
aufregenden Stadt, die zum Beginn der Sommerferien mit Sicherheit noch
anderes zu bieten hatte als Schülerfeten in katholischen Gemeindehäusern.
Ich könnte mir ja ein Stadtmagazin kaufen, überlegte ich, zwei gab es zur
Auswahl, den Tip und die Zitty, und da könnte ich mich mal informieren,
das wäre zum Beispiel eine Maßnahme.
Der U-Bahnhof Karl-Marx-Straße beherbergte einen Zeitungskiosk, und
dort bekäme ich bestimmt ein Stadtmagazin; da könnte ich dann gleich
reingucken, so plante ich vor mich hin, während wir im Pulk die Treppen
zur U-Bahn hinuntergingen. Dabei entging mir, dass Jan sich gerade an der
Verabredung zu einem Beach-Volleyball-Turnier beteiligte. Ich wollte
meine Hand eben aus seiner lösen und vermelden, dass ich schnell zum
Kiosk müsse, da sagte er: «Warte mal, bleib mal hier», und eröffnete mir,
dass wir beide zusammen mit seinem Freund Holger ein Team für das
Turnier morgen bilden würden und dass wir drei uns am besten vorher
schon treffen sollten zum Trainieren. Ich war keine große Anhängerin
weder von Beach-Volleyball-Turnieren noch von Turnieren im
Allgemeinen, aber schließlich war es Jans Schulabschluss und nicht meiner,
und wenn er sich da Beach-Volleyball wünschte, dann spielten wir eben
Beach-Volleyball. Wenn es sein musste, auch auf irgendeiner Wiese in
Rudow. Die U-Bahn kam, und wir stiegen ein, ich ohne Stadtmagazin.
Am nächsten Tag trafen wir uns eine Stunde vor dem offiziellen Beginn
des Turniers zum Training, Jan, Holger und ich. Ich war etwas spät dran,
weil ich die Wiese nicht gleich gefunden hatte, auf der das Volleyballnetz
irgendwo in der Gropiusstadt aufgespannt war. Die angrenzenden Häuser
waren nur zwei- oder dreigeschossig. Weiter hinten, hinter vielen Bäumen,
ragten höhere und noch höhere Gebäude hervor.
Holger war ein zurückhaltender und witziger Typ, nur war er von Jans
sportlichem Ehrgeiz ungefähr genauso weit entfernt wie ich. Weil keines
der anderen Teams so frühzeitig und engagiert wie wir am Platz war,
konnten wir uns ein bisschen warm spielen. Für mich war das Training
trotzdem kontraproduktiv, weil ich schon nach viermal baggern knallrote
Unterarme hatte. Deshalb wurde beschlossen, dass meine Position vorn am
Netz sein sollte.
Nach und nach trafen die anderen ein, bis insgesamt vier gemischte
Teams beisammen waren. Wir spielten gleich zu Anfang gegen Marko aus
der Klasse von Holger und Jan, dessen sehr sportliche Freundin Sandra und
deren ebenfalls sehr sportliche Freundin, deren Namen ich nicht kannte.
Entgegen aller taktischen Überlegungen im Vorfeld spielte Jan das Spiel auf
unserer Seite quasi allein. Gar nicht mal, weil Holger und ich so wahnsinnig
schlecht oder faul gewesen wären, sondern weil er einfach jeden Ball
annahm, egal auf welcher Position. Und es war auch nicht so, dass wir
damit gegen Marko und Sandra gewinnen konnten. Was mich unter
anderem deshalb nervte, weil Sandra nicht wie ich in Klamotten, in denen
man sich einigermaßen bewegen konnte, angetreten war, sondern in einem
Sportmäuschen-Outfit mit engem weißem Tanktop, sehr knappen blauen
Shorts, farblich passenden Schweißbändern an den Handgelenken und
einem hoch angesetzten Pferdeschwanz. Wenn das gegnerische Team
Angabe hatte, klatschten die drei in die Hände und riefen: «Punk-ten!», und
wenn wir Angabe hatten, klatschten sie in die Hände und riefen: «Haben
wir!» Wenn sie einen Punkt machten, klatschten sie sich gegenseitig ab und
machten: «Whooo!»
Holger und ich meinten nach diesem ersten Spiel zu Jan, dass es so nicht
weitergehen könne. Wir müssten mit ein bisschen mehr System spielen, mit
echten Positionen und Abspielen. Beim nächsten Match bemühte sich Jan
auch um die Umsetzung dieser Strategie, er sprang nicht gleich zu jedem
Ball hin und rief sogar: «Schön!», wenn ich etwas ganz okay gemacht hatte.
Wir verloren damit zwar wieder, aber nur knapp, und ich sah eine gute
Chance, die Marko/Sandra-Formation in der nächsten Runde zu schlagen.
Aber dazu kam es nicht mehr. Es fing an zu regnen, erst ein bisschen und
dann tierisch. Von Süden, von weit hinter der Grenze, dort, wo keine
Hochhäuser mehr waren und auch sonst nichts, zog eine schwarze DDR-
Gewitterfront heran. Wir hörten schon den Donner, und das Turnier wurde
abgebrochen.
Holger, Jan und ich gingen erst mal zu Jan nach Hause, weil er in einem
der dreistöckigen Häuser um die Ecke wohnte. Die letzten Meter rannten
wir durch den Regen. Jans Mama stellte uns einen Teller Suppe hin, und als
wir am Tisch saßen, fragte Holger: «Und was machen wir jetzt?»
Jan sah mich an. «Weiß nicht», sagte er und gähnte mit voller Absicht.
«Kino?», fragte Holger, und ich rief: «Genau!»
Jan sah mich wieder an, als hätte ich irgendwas nicht begriffen, und
meinte zu Holger, er solle doch mal Marko anrufen, der wolle später noch
ins Kino, und da könne er sich ja anschließen.
«Ja und wir?», fragte ich.
«Wir könnten hierbleiben und Fernsehen gucken.»
Jan hatte einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer, einmal hatten wir
schon einen Abend bei ihm mit Fernsehen verbracht. Allerdings wollte er
dabei immer knutschen, während mich der Film durchaus interessierte.
«Ach komm», sagte ich. «Wir gehen jetzt alle ins Kino! Guck mal, es hat
aufgehört zu regnen.»
Das waren zwei gegen einen, und nachdem ich von Drei Männer und ein
Baby auf Rocky IV umgeschwenkt war, fuhren wir zusammen zum
Ku’damm und sahen den Film im Gloriapalast, wobei Jan in der Mitte saß,
zwischen Holger und mir. Den Film fanden wir alle gut.
Auf dem Rückweg, in der U-Bahn, war ich in der Mitte, zwischen Jan
und Holger, und Jan hatte den Arm um mich gelegt. Uns gegenüber saßen
auch drei, genauso wie wir, zwei Männer und eine Frau, mit der Frau in der
Mitte. Sie waren deutlich älter und sehr viel mondäner als wir. Die Frau
hatte große silberne Kreolen an den Ohren, trug einen kurzen engen Rock
mit schwarzen und grünen Längsstreifen, schwarze Strumpfhosen und
spitze schwarze Stiefeletten. Während wir auf dem Weg nach Hause waren,
ging für diese drei der Abend gerade erst los. Zuerst beachteten sie uns gar
nicht, nur der eine Typ grinste irgendwann zu uns rüber. Dann guckte auch
die Frau.
«Sind die süß», sagte sie in einem etwas gedehnten Tonfall, dann stieß sie
den anderen Typen mit dem Knie an. «Ey, guck mal, sind die süß, wa.»
Jetzt sahen wir uns gegenseitig an, wir die und die uns, und der eine Typ,
der, der uns zuerst registriert hatte, fing an, uns zu analysieren. «Also, ihr
beide seid zusammen», meinte er zu Jan und mir, und zu Holger: «Und du
bist so der Kumpel, der mit dabei ist.»
Wir nickten.
«Und ihr kommt grad aus dem Kino.»
«Genau», sagte ich.
«Siehste, Volltreffer», sagte der Typ.
«Was habt ihr denn gesehen?», wollte die Frau wissen, und ich
antwortete: «Rocky.»
Der andere Typ, der bislang nichts gesagt hatte, verzog das Gesicht.
«Näääh. Guckt euch mal was Vernünftiges an nächstes Mal.»
«Was denn?», meinte die Frau. «Darf man nur Diva sehen, oder was?»
«Ja, halt nich so’n Scheiß.»
«Rocky ist doch super. Ich wette, du kennst das nicht mal!»
Der Mann rümpfte weiter die Nase, die Frau machte ihn nach.
«Und? Wo geht’s jetzt noch hin?», fragte der erste Typ wieder.
«Nach Hause», sagte ich. Die beiden Herren neben mir hielten sich die
ganze Zeit fein zurück.
«Kommt doch noch mit», schlug die Frau vor. «Wir gehen ins Café
Swing.»
Ich sah Jan von der Seite an und knuffte ihn in den Arm. Er verzog das
Gesicht, was klar gewesen war. Ich wusste natürlich selber nicht, ob ich
wirklich mit irgendwelchen Leuten mitgehen wollte ins Café Swing, von
dem ich auch nicht viel wusste, oder ob ich nur mal eben die Möglichkeit
nutzte, ohne Risiko die Abenteuerlustige zu markieren, weil Jan sowieso
nicht mitziehen würde.
«Warum nicht?», fragte ich.
«Spinnst du? Die lassen dich da noch gar nicht rein.»
«Das kriegen wir schon hin, Luke Skywalker», stellte der gesprächigere
Typ klar, aber Jan fand das weder lustig noch überzeugend.
«Also, ich würde mitkommen», sagte da Holger.
Die Frau kaute auf ihrem Kaugummi, wippte dabei mit der schwarzen
Stiefelette und sagte noch einmal: «Ihr seid echt voll süß.»
Es war dann so, dass Holger tatsächlich mit den dreien ausstieg und Jan
und ich nach Hause fuhren. Jan war während der restlichen Fahrt wieder
etwas wortkarg, und meine Laune war auch nicht mehr top. Dann trennten
sich unsere Wege.
Zum Glück kam in Alt-Mariendorf gleich mein Bus. Ich setzte mich oben
ans Fenster und sah in die Nacht hinaus, sah die hellen Scheinwerfer auf der
Trabrennbahn, die kleinen Seitenstraßen, die Wohnhäuser. Ab und zu
veränderte ich den Fokus und guckte mein Spiegelbild im Busfenster an.
Ich fragte mich, ob es sich gelohnt hätte, mit auszusteigen und jetzt mit
Holger und den drei Schicken aus der U-Bahn irgendwo zu sein, wo ich
vorher noch nie gewesen war.

1962 beginnt Walter Gropius mit der Planung einer modernen


Großsiedlung im Neuköllner Süden, zwischen den Ortsteilen Britz,
Buckow, und Rudow. 1975, sechs Jahre nach dem Tod des
Architekten, ist die Siedlung fertig gebaut und erhält den Namen
«Gropiusstadt».

Der Gloria-Palast eröffnet 1926 am Kurfürstendamm 10. 1930 findet


hier die Filmpremiere von Der blaue Engel mit Marlene Dietrich statt.
Im Krieg brennt das Kino vollständig aus und wird 1953 in einem
Neubau zwei Häuser weiter wieder eröffnet. 1998 wird der Gloria-
Palast geschlossen, das alte Foyer mit Wendeltreppe und
Kassenhäuschen ist jedoch noch erhalten, ebenso wie die
beleuchtete Eingangsbalustrade und das goldene Kinoschild an der
Hausfassade.

Im Café Swing, das seit 1982 am Nollendorfplatz ansässig ist,


beginnen alle Konzerte um ein Uhr nachts und sind kostenlos. In den
neunziger Jahren verliert es an Publikum und muss 2002 schließen.
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Deutsch-Amerikanisches Volksfest

A
nja, Heike, Silke und ich stiegen am Kranoldplatz in Lichterfelde in
den 11er-Bus, der auf einer langen Tour durch Lichterfelde und
Dahlem bis nach Zehlendorf fuhr, wo wir an der Haltestelle Oskar-Helene-
Heim, gleich hinter der Kreuzung Argentinische und Clayallee ausstiegen,
um aufs Deutsch-Amerikanische Volksfest zu gehen. Das machten wir jetzt
im dritten Jahr in Folge. Diesmal hatte es im Vorfeld allerdings
Meinungsverschiedenheiten gegeben, nachdem Anja auf die Frage, ob wir
Samstag oder Sonntag gehen sollten, gesagt hatte: «Samstag ist schlecht, da
kann Carsten nicht.»
«Der soll ja auch gar nicht mit», meinte Heike.
«Er wollte aber mitkommen.»
«Er darf aber zu Hause bleiben.»
«Du kannst ja wohl meinem Freund nicht verbieten, aufs Deutsch-
Amerikanische Volksfest zu gehen.»
«Ja, und dann bringe ich Gerald mit, und Ulrike bringt Jan mit, und Silke
kann dann so mitlaufen mit drei Pärchen, oder wie?»
«Kommt eben noch Johnny mit.»
Silke: «Auf gar keinen Fall.»
«Ich finde auch, das sollte unser Ausflug bleiben», sagte ich, und Heike
meinte, wenn Anja unbedingt mit ihrem Carsten da hinwolle, dann müsse
sie eben ein zweites Mal gehen.
Noch unterwegs im Bus gab Anja sich etwas säuerlich und teilte uns mit,
Carsten habe das schon doof gefunden, von uns ausgeschlossen worden zu
sein.
«Gottchen», sagte Heike.
Das Motto in diesem Jahr war «Broadway in Berlin». Alles sah aber
weitgehend so aus wie im Jahr davor, als das Motto «The American
Frontier» hieß. Zuerst schlenderten wir durch die obligatorische
Westernstadt und aßen gegrillte Maiskolben, dann entdeckten wir ein Zelt
mit der Aufschrift «Rodeo» und gingen hinein. Es war nicht besonders voll.
Ein kleiner drahtiger Mann saß auf einer Bullenattrappe, die sich drehte und
zuckte, bis der Mann herunterfiel.
«Gar nicht schlecht, Rudi!», rief ein Kommentator durchs Mikrophon.
«Applaus für Rudi!» Dann bestieg, unter dem Jubel seiner Kumpels, ein
jugendlicher Angebertyp den Bullen und fiel, unter noch größerem Jubel,
sofort wieder herunter. Der Ansager kommentierte: «Wenn aus dir mal ein
Cowboy werden soll, musst du noch üben!» Und dann: «Wir haben hier auf
unserem wilden Tier schon viel zu lange keine Lady mehr gesehen. Ladys,
für euch ist der Spaß umsonst, also traut euch, ihr werdet auch
vorgelassen.» Er sprach wie ein Radiomoderator.
Heike meinte: «Soll ich?»
«Mach doch», sagte Anja.
«Aber ihr sollt mitkommen!»
Wir begleiteten Heike zu dem hiesigen DJ, einem dicken Mann mit einer
Baseballkappe. Der freute sich: «Ah, vier Ladys.»
«Nur die da», sagte Anja und schob Heike nach vorne.
«Soso. Und wie heißt die da?»
«Heidi», antwortete Heike.
Nachdem der aktuell reitende Typ vom Bullen geflogen war, drehte der
DJ sein Mikro laut und rief: «Und jetzt ein großer Applaus für eine mutige
Lady. Hier kommt Heidi!»
Für Heike war die Sache damit jetzt schon ein gelungener Spaß. Ich
dachte: Vielleicht war das sogar ihre Hauptmotivation, hier mitzumachen –
einfach zwei Buchstaben in ihrem Namen zu verändern, so was fand Heike
superkomisch. Über die weichen Polster stapfte sie auf den elektrischen
Bullen zu und kletterte nicht ganz ungeschickt, aber auch nicht ganz
anmutig in den Sattel.
Ich hielt mir eine Hand vor Augen und sagte: «Sie wird sich weh tun.»
Anja aber schüttelte den Kopf: «Sie hat früher so Kunstreiten gemacht.»
Anja kannte Heike am besten, sie waren seit der Grundschule in
derselben Klasse, Nicole und ich gingen in die Parallelklasse.
Heike saß die ersten drei Runden ganz locker und trotzdem wie
festgeklebt auf dem Bullen. Der Ansager meinte: «Endlich mal ein richtiger
Kerl hier!», und ein paar umstehende Gruppen von Jungs riefen: «Heidi!
Heidi!» Heike glühte.
Der Ansager legte einen unheilvollen Ton in seine Stimme und fragte:
«Heidi, bist du bereit für Stufe vier?»
Heike nickte, die Jungs brüllten: «Heidi! Heidi!»
Stufe vier war definitiv eine Steigerung. Heike wurde heftig
herumgewirbelt, einmal rutschte sie gefährlich zur Seite, fing sich aber
wieder, gerade noch so.
Jetzt sprach der Ansager in feierlichem Ton: «Heidi, du bist heute die
Erste, die es bis Stufe fünf schafft, und damit meine ich nicht nur die Ladys,
sondern überhaupt. Einen Riesenzwischenapplaus für dich, Heidi!»
Alle jubelten, es war voller geworden im Zelt.
«Aber – über Stufe fünf ist hier noch keiner hinausgekommen. Bis du
bereit für Stufe fünf, Heidi?»
Heike sah nach Stufe vier schon deutlich zerwühlt aus, aber sie
konzentrierte sich, lächelte und nickte.
Stufe fünf war schrecklich. Das Auge konnte dem wilden Gezappel kaum
folgen, Heikes blonder Schopf flog von links nach rechts und von rechts
nach links, und schließlich flog die ganze Heike durch die Luft.
Danach machten wir noch dies und das. Wir fuhren mit dem Break
Dancer, wo uns ein paar am Rande stehende Jungs «Hallo, Heidi!» zuriefen.
Als wir genug hatten, verließen wir das Volksfest, gingen wieder auf die
Clayallee und bis zur Haltestelle vom 11er-Bus an der Argentinischen
Allee.
Silke sagte: «Heike ist der Star des Tages.»
Heike sagte: «Schade, dass Gerald das nicht gesehen hat», worauf Anja
mit dem Fuß aufstampfte und «Siehste!» rief.
Ich: «Wir werden es ihm in den leuchtendsten Farben schildern.»

Das Deutsch-Amerikanische Volksfest findet erstmals 1961 und


danach jeden Sommer bis einschließlich zum 50. Jubiläum 2010 auf
der Truman Plaza an der Clayallee in Zehlendorf statt. Neuer
Veranstaltungsort ist seit 2012 ein Gelände in der Nähe des Berliner
Hauptbahnhofs (ehemals Lehrter Stadtbahnhof) in Moabit. Auf der
Truman Plaza entstehen derweil Luxusapartments.
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E
s war immer noch warm, als das neue Schuljahr losging. Jan hatte mit
einer Ausbildung als technischer Zeichner angefangen, und ich
verbrachte die Pausen wieder mit anderen Leuten. Wenn ich von der Schule
nach Hause kam, schaltete ich das Radio in der Küche an und schob mir
eine Pizza in den Ofen. Ich machte meine Hausaufgaben, dann kam meine
Mutter von der Arbeit und fragte, wie es in der Schule war. Manchmal
fragte sie auch noch: «Und was habt ihr Schönes gelernt heute?», aber das
war nur ihre Art von Humor. Danach legte sie sich auf die Couch, sagte:
«Nur ein Viertelstündchen ausruhen», und schlief sofort ein. Sie war immer
müde nach der Arbeit, weil sie morgens schon um fünf aufgestanden war.
Wenn bei mir um halb sieben der Wecker klingelte, war sie längst aus dem
Haus.
Mit Jan telefonierte ich öfter, als dass ich ihn sah. An einem Freitagabend
war ich bei ihm, und wir sahen in seinem Zimmer fern, was natürlich seine
Idee war. Allerdings lief im Ostfernsehen ein spannender Film, ein
Vampirfilm, den ich unbedingt zu Ende sehen wollte, obwohl ich meiner
Mutter versprochen hatte, ich wäre vor zwölf wieder zu Hause, und obwohl
Jan zwischendrin wieder nur knutschen wollte. Ich rief also meine Mutter
an und sagte, keine Sorge, ich bin hier bei Jan, aber wir wollen noch diesen
Film zu Ende sehen, danach nehme ich mir ein Taxi. Meine Mutter gab mit
immer Taxigeld mit, falls es spät wurde oder der Bus nicht kam. Meistens
benutzte ich es nicht.
«Mhm», meinte meine Mutter. «Was sagt denn die Mutter von Jan
dazu?»
«Die ist gar nicht da.»
«Dann komm jetzt bitte nach Hause.»
«Aber ich will den Film noch zu Ende sehen.»
«Komm jetzt bitte, es ist wirklich sehr spät.»
«Hä? Das stimmt doch gar nicht. Warum soll ich plötzlich vor zwölf zu
Hause sein? Mir kann hier nichts passieren, ich bin bei Jan. Ob ich mir jetzt
ein Taxi nehme oder nach dem Film, das ist doch egal!»
«Ich habe gesagt, du sollst jetzt nach Hause kommen, basta.»
So kannte ich sie gar nicht. Ich rief mir ein Taxi und fuhr nach
Mariendorf. Jan fand das auch nicht gut.
Meine Mutter lag in ihrem Bett und las ein Buch. Ich ging zu ihr rein und
sagte: «Kannst du mir mal erklären, was das sollte?»
Sie nahm die Lesebrille ab und sah mich an. «Also, hör mal. Ihr könnt da
nicht bis in die Nacht hinein alleine in der Bude sitzen. Dafür bist du ein
bisschen zu jung, Fräulein.»
Ich zog dieses verständnislos bockige Gesicht, das meine Mutter nicht
leiden konnte und das sie «das blöde Gesicht» nannte.
«Ich war bislang aber nicht zu jung, um bis in die Nacht hinein auf Feten
zu gehen. Und wenn ich irgendwo übernachte, bin ich sogar die ganze
Nacht weg!»
«Du übernachtest aber nicht irgendwo, sondern bei deinen Freundinnen.»
«Aber jetzt ist doch Jan mein Freund!»
«Eben.»
Was war bloß los mit ihr?

Am Wochenende drauf feierte Silke ihren Geburtstag. Sie machte eine Fete
bei sich zu Hause, in ihrem Partykeller in Rudow. Silke wohnte ziemlich
weit ab vom Schuss, jottwede sagte meine Mutter. Man musste nach der U-
Bahn mit dem Bus bis zur Endstation durchfahren und danach noch ewig
latschen, deshalb meldete ich an, nach der Fete bei ihr übernachten zu
wollen.
Jan kam nicht mit. Er rief mich am späten Nachmittag an und nölte, er sei
müde und wolle nicht mehr raus.
Als ich bei Silke eintraf, war es noch hell, und alle saßen draußen auf der
Terrasse. Silkes Mutter hatte Kuchen gebacken und Salate gemacht, von
denen sie uns riesige Mengen auf die Teller schaufelte und dabei die ganze
Zeit Sekt trank. Jedem, der kam, bot sie ein Gläschen an «zum Anstoßen
auf die Silke», danach saß sie mit am Tisch und wollte unbedingt
Geschichten und Tratsch aus der Schule hören. Sie bekam gar nicht genug
davon. Von mir wollte sie wissen, wo ich meinen Freund gelassen hätte.
Silkes Vater beschäftigte sich vornehmlich mit dem Grill. Einmal nur
näherte er sich der Terrasse und sagte: «So. Gibt Würstchen.»
Es wurde immer voller im Garten. Johnny, Stefan und Minski erschienen
zusammen mit Heike und Gerald in Minskis Auto, und Anja hatte natürlich
ihren Carsten dabei. Es waren auch ein paar Leute aus der Nachbarschaft
eingeladen, wie Silkes Kindergartenfreundin Trixie und andere, die ich
nicht kannte. Ich hatte bei Silke angeregt, sie könnte doch Milch und dazu
vielleicht noch Georg Hacke einladen, aber sie hatte sich nicht getraut.
Es wurde schließlich dunkler und kühler, und das Geschehen verlagerte
sich in den Keller. Johnny und vor allem Stefan hatten Platten und CDs
mitgebracht, was gut war, denn Stefan hatte den besten Musikgeschmack
weit und breit.
Die Feier nahm ihren unspektakulären Verlauf. Irgendwann ging ich nach
oben zur Toilette, wobei ich mich an ein paar Leuten vorbeidrängeln
musste, die auf der mit Teppichboden ausgelegten Treppe saßen. Einige von
ihnen hatten ein Bier in der Hand, obwohl es im Kühlschrank gar keines
gab. Als ich die Treppe wieder runterstieg, bot mir jemand eine Flasche an,
es war einer aus Silkes Rudower Nachbarschaft. Ich nahm das Bier und
setzte mich damit auf die unterste Stufe, direkt vor den Jungen, der es mir
gereicht hatte. Er klonkte seine Flasche gegen meine und sagte: «Bleib mal
so sitzen, ich flechte dir einen ganz tollen Zopf, so einen französischen»,
und machte sich gleich ans Werk. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein
Junge die komplizierte Technik des Flechtens französischer Zöpfe
beherrschen würde. Das konnte ich nicht mal selber.
«Ich mach das immer bei meiner kleinen Schwester», sagte er, und Trixie
reichte von weiter oben auf der Treppe einen Haargummi runter. Als er
fertig war, stand ich auf und ging nochmals ins Bad, um mir das Ergebnis
anzusehen; Trixie organisierte dafür sogar einen Handspiegel. Es war ein
tadelloser, französisch geflochtener Zopf, so einer, wie ihn gerade alle toll
fanden, aber keiner zustande brachte. Ganz erstaunlich.
«Ich bin begeistert», sagte ich zu ihm, als ich zurückkehrte, und er sagte:
«Ich bin Simon.»
Unweigerlich löste sich alles irgendwann auf, und jeder musste noch
irgendwie nach Hause kommen. Ich zum Glück nicht, und die aus der
Nachbarschaft hatten es auch nicht weit. Simon ging deshalb als einer der
Letzten, und bevor er sich verabschiedete, gab er mir einen kleinen Zettel
mit seiner Telefonnummer drauf.
«Kannst ja mal anrufen», sagte er.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, machte ich mich auf den
Weg nach Hause. Bei strahlendem Sonnenschein lief ich durch die schmale,
ewig lange Straße zwischen geparkten Autos und verschiedenartigen
Zäunen vor Einfamilienhäusern entlang und begegnete niemandem. Der
Bus stand schon da, ein paar Meter von der Haltestelle entfernt, der Fahrer
saß auf seinem Sitz, aß einen Apfel und las die B. Z. Nach einigen Minuten
sprang der Bus mit einem zischenden Geräusch an, fuhr zwei Meter vor,
und der Fahrer öffnete die Tür. Ich hatte rechts neben der Haltestelle
gewartet, der Bus stoppte aber links daneben, obwohl dort niemand stand.
Ich ging die drei Schritte nach links, stieg ein, zeigte meine Monatskarte
vor und sagte: «Guten Morgen.»
Der Busfahrer tippte auf seine Uhr und meinte: «Morgen is jut», machte
die Tür zu und fuhr los. Ich kletterte hoch aufs leere Oberdeck und setzte
mich irgendwohin.
Zu Hause stand meine Mutter auf dem Balkon und hing Wäsche auf.
«Jan hat vorhin angerufen», sagte sie.
Ich packte meine Tasche aus, bürstete mir die Haare in die eine oder
andere Richtung und probierte vergeblich, mir einen französischen Zopf zu
flechten. Schließlich rief ich Jan an. Er fragte, ob wir uns morgen
Nachmittag treffen könnten.

jottwede = j. w. d. = janz weit draußen


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Yorckbrücken

N
ach der Schule kauften Anja, Heike und ich eine Tüte Kürbiskerne
beim türkischen Gemüsehändler in der Richardstraße und setzten uns
damit auf eine Bank in die Sonne.
«Ich weiß nich, vielleicht sollte ich lieber Schluss machen mit Gerald»,
sagte Heike.
«Warum sagst du das immer und tust es nicht?», fragte Anja.
«Na ja.»
Wir merkten, dass ihre Trennungsabsichten nicht ernst waren, sie wollte
uns nur ein bisschen schocken. Wir bekrümelten den Boden mit
Kürbiskernschalen.
«Und Jan?», fragte Anja.
«Den treff ich gleich noch», sagte ich. «Guckt mal, jetzt ist hier alles voll
mit Kürbiskernschalen.»
«Ist doch was Natürliches», meinte Heike. «Das verwittert.»
«Hundekacke ist auch was Natürliches», erwiderte ich, und Anja griff
den Gedanken auf: «Nur weil was natürlich ist, ist es längst nicht schön.»
Danach bummelte ich noch ein bisschen über die Karl-Marx-Straße, um
Zeit herumzukriegen, denn Jan hatte später Schluss als ich. Ich ging in den
beliebten Geschenkartikelladen Nanu-Nana und zu Leiser, wo es früher ein
Kinderkarussell gegeben hatte, mit dem ich immer gefahren war, wenn
meine Oma Schuhe kaufte. Vielleicht hatte sie manchmal auch nur so getan,
als wollte sie Schuhe kaufen, damit ich in dem Karussell fahren konnte.
Einmal habe ich dann gekotzt in dem Karussell bei Leiser.
Bei Nanu-Nana kaufte ich einen lilafarbenen Stift, danach fuhr ich zur
Yorckstraße, wo Jan schon wartete. Irgendwie hatte ich den Eindruck, ihn
ewig nicht gesehen zu haben. Wir gingen unter den Yorckbrücken entlang,
wobei Jan von seiner Arbeit erzählte. Rechts von uns rollte der Verkehr, und
wenn ein Laster oder ein Bus vorbeikam, wurde es so laut, dass wir das
Gespräch unterbrechen mussten. Die Mauer links von uns war bunt
plakatiert und voller Graffiti, darüber rankten Bäume und Gesträuch,
dahinter lag ein großes grünes Niemandsland. Wir bogen in die
Katzbachstraße ein, kauften uns am Viktoriapark ein Eis und gingen damit
ein Stück in den Park hinein, bevor wir uns auf eine Bank setzten.
«Ich muss was mit dir besprechen», sagte Jan. Ich sah ihn an, er machte
ein angestrengtes Gesicht.» Also, weißt du, ich bin mir irgendwie nicht
mehr so sicher, ob wir echt so gut zusammenpassen.»
Er hörte auf, sein Eis zu essen. «Weil … irgendwie … ich finde, wir
haben sehr verschiedene Interessen.»
Ich nickte und machte: «Hm.»
«Zum Beispiel, du gehst gern aus, und ich möchte mehr zu Hause
bleiben.»
«Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen.»
«Vielleicht sollten wir lieber nur so Freunde sein und nicht ein Paar.»
Sein Eis tropfte.
«Dein Eis tropft.»
Ratlos guckte Jan sein Eis an. «Ich kann das nicht mehr essen.»
Er hielt es mir hin, aber ich wollte kein zweites Eis, und so warf er es in
den Mülleimer, der neben der Parkbank stand.
Abschließend spazierten wir eine Runde durch den Park, bevor wir
zurück zur U-Bahn gingen, wieder unter den Yorckbrücken hindurch, wo es
unter jeder Überführung dunkel und schattig war und auf den kleinen
Abschnitten zwischen den Brücken hell und sonnig. Beim Abschied
umarmten wir uns kurz und lächelten uns herzlich an, zum Beweis dafür,
dass alles richtig war. Dann gingen wir beide unserer Wege.

In der großen Pause regnete es, und wenn es regnete, drängelten sich immer
alle unter der Überdachung zusammen. Heike und Nicole hatten Milch
geholt, also Milch zum Trinken, und so standen wir da mit unseren
Milchtüten und redeten über die Jahreszeiten. Die meisten beklagten das
nahende Ende des Sommers, was mir natürlich und vernünftig erschien. Es
war aber auch klar, dass es einen geben musste, der sagt: «Also, ich freu
mich schon auf den Winter. Winter ist toll.» Und jemand anderes: «Der
Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit.» Ich hielt das nicht für glaubwürdig.
Ich dachte, alle lieben doch den Sommer, aber wenn er vorbeigeht, muss
man damit umgehen, und dann sagt man so einen Quatsch wie: «Der Herbst
ist meine Lieblingsjahreszeit.»
Heike fing wieder damit an, dass sie vielleicht mit Gerald Schluss
machen müsste. Dieses Mal konnte ich sie ausbremsen.
«Ich bin jetzt jedenfalls nicht mehr mit Jan zusammen», sagte ich.
Alle sahen mich an und fragten: «Was? Seit wann denn das? Was war
denn?»
Heike schüttelte den Kopf: «Ich fass es nicht. Kannst du nicht mal ganz
normal vorher was sagen? Du erzählst nie was!»
«Da gab es auch nichts zu erzählen», sagte ich. «Wir haben uns gestern
getrennt, ich hab da vorher nicht groß drüber nachgedacht, das ist einfach
so passiert.»
«Du hast dich einfach so spontan getrennt?», fragte Anja.
«Nein, er hat damit angefangen.»
Es klingelte.
Danach, im Geschichtsunterricht, schob mir Silke ihr Heft rüber. «Wegen
Simon???», hatte sie auf eine leere Seite geschrieben. Ich nahm meinen
neuen Stift, den, den ich am Tag zuvor bei Nanu-Nana gekauft hatte, und
notierte: «NEIN!!! Hab doch gesagt, dass es von Jan ausgegangen ist! Wir
hatten zu unterschiedliche Interessen, deshalb.» Ich schob ihr das Heft
zurück.
Nach einer Weile bekam ich es wieder: «Aber warst du nicht
VERLIEBT???»
«What Is Love Anyway?» kritzelte ich darunter, das war ein Song von
Howard Jones. Danach beteiligte ich mich mit großem Interesse am
Unterricht.

Die Yorckbrücken umspannen zwischen Manstein- und


Katzbachstraße einen ungefähr fünfhundert Meter langen Abschnitt
der Yorckstraße an der Bezirksgrenze von Schöneberg und
Kreuzberg. Bei den Brücken handelt es sich um alte, größtenteils
stillgelegte Eisenbahnbrücken. Einige werden noch von Zügen der
S-Bahn, der Regional- und der Fernbahn befahren.

Der Viktoriapark befindet sich auf dem Kreuzberg, der


ausnahmsweise nicht aus Trümmern aufgeschüttet ist, sondern eine
natürliche Erhebung und namensstiftend für den gesamten Bezirk
ist.
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Mariendorf und Marienfelde

A
m nächsten Abend rief ich bei Simon an.
«Hey», sagte er, «ich hätte nicht gedacht, dass du dich noch
meldest.»
Es war erstaunlich leicht, mit ihm zu telefonieren. Er hielt das Gespräch
im Fluss, war unterhaltsam und hatte etwas Verbindliches und
Wohlerzogenes, etwas sehr Angenehmes.
«Und?», fragte er, als sich das Gespräch dem Ende zuneigte. «Wann
gehen wir mal zusammen tanzen?»
«Wenn du willst, am Samstag.»
«Ja, phantastisch! Wo gehen wir hin?»
«Also, da ist eine Fete bei uns in Maria Frieden.»
«Was ist das?»
«Maria Frieden ist meine Kirchengemeinde, und am Samstag ist dort eine
große Fete. Vielleicht fährst du mit Silke hin, die weiß, wo das ist.»
«Du bist auch auf dieser katholischen Schule, ne?»
«Genau.»
Feten im Gemeindesaal von Maria Frieden gab es nicht so oft, aber
wenn, dann wurde ein enormer Aufwand betrieben. Diese Fete sollte als
Motto die Tropen haben. Eine Bar wurde aufgebaut, mit Palmen und
Früchten aus Neonpapier dekoriert und mit Schwarzlicht angeleuchtet. Wir
waren ästhetisch voll auf der Höhe der Zeit. Den ganzen Nachmittag half
ich mit, danach fuhr ich nach Hause, zog mich um und ging mit anderen
Jugendlichen aus der Gemeinde in die Vorabendmesse. Für unsere
Aufgeregtheit war das eine ideale Antiklimax vor der großen Sause. Ich
mochte unsere Kirche, sie war ein moderner Bau in Zeltform, von innen
angenehm hell und mit einem blauen Christus-Mosaik-Fenster an der
Stirnseite hinter dem Altar. Nebenan wartete der fertiggeschmückte Saal
darauf, dass es losginge.
Um acht Uhr hatte sich draußen schon eine Schlange gebildet. Das
Stempelkissen für die Eintrittsstempel an der Kasse war auch mit
Schwarzlichtfarbe getränkt, alles total up to date. Zuerst kamen Anja und
Carsten, dann tauchte Heike mit Gerald auf, anschließend Johnny, Stefan
und Minski, und irgendwann waren sie alle da. Nicole, Saskia, Milch,
Georg Hacke, die halbe Schule. Ganz verliebt war ich plötzlich in alle
meine Freunde und Bekannten, sogar in ihre Macken und in ihre zum Teil
absurden Klamotten war ich verliebt, wie sie da so aufkreuzten in
erwartungsfroher Stimmung, mich begrüßten, lachten, tanzten und den
riesigen, ambitioniert dekorierten Raum ausfüllten mit sich selbst.
Mit Nicole und Stefan stand ich schließlich an der Neon-Tropen-Bar, wo
wir das bizarre Aussehen unserer Zähne, Augen und weißen
Kleidungsstücke unter dem Schwarzlicht bestaunten. Ich beobachtete, wie
Johnny Ausschau nach Silke hielt und Silke nach irgendwem anderes,
wahrscheinlich Milch. Aus Jans ehemaliger Klasse waren auch viele da,
darunter Holger. Er erzählte mir von dem Abend im Café Swing und wo er
dann noch überallhin gegangen war mit diesen Typen aus der U-Bahn. Von
Jan redeten wir nicht. Endlich entdeckte ich Simon. Er stand ein paar Meter
entfernt von mir und sah sich suchend um. Ich ging zu ihm rüber und
begrüßte ihn: «Schön, dass du da bist.»
Dann wussten wir einen Moment lang nicht weiter.
«Tanzen wir?», fragte Simon.
Wir schoben uns zur Tanzfläche durch und tanzten zu allem, was uns
angeboten wurde, während die Lichteffekte von Discokugel zu Stroboskop,
dann zu Nebelmaschine und wieder zu Discokugel wechselten. Beim
nächsten Einsatz der Nebelmaschine kam das erste langsame Lied, es war
«Nightshift» von den Commodores.
Die Herausforderung beim Blues-Tanzen war, wo man dabei hingucken
sollte. Schließlich schaute man nicht seinen Tanzpartner an, sondern über
dessen Schulter hinweg irgendwo in den Raum hinein, auf die anderen
Paare und diejenigen, die am Rande der Tanzfläche standen. Heike tanzte
mit Gerald und Silke mit Johnny, Holger tanzte mit einer aus seiner Klasse,
und Heikes Schwester Katja tanzte mit Milch.
Nachdem die Musik wieder schneller geworden war, hatten Simon und
ich die Tanzfläche verlassen und waren rausgegangen, an die Luft. Draußen
standen zwei Polizeiwagen. Ein paar Leute aus meiner Gemeinde redeten
mit den Polizisten, und die Polizisten redeten in ihre Funkgeräte.
«Was’n los?», fragte ich und bekam zur Antwort, am U-Bahnhof
Westphalweg hätten sich Skinheads zusammengerottet, um die Fete zu
stürmen.
Das war eine entsetzliche Nachricht. Die Bekloppten rückten wieder an.
Letztes Jahr, bei einer großen Fete in St. Alfons, war das schon einmal
passiert. Es ging so weit, dass die Türen verrammelt werden mussten.
Scheiben gingen zu Bruch, und dann kam auch die Polizei. Kirchliche
Gemeindefeten stürmen, das war jetzt das neue Ding bei den Rechten. Sich
mit wehrhaften Punkern anzulegen war ihnen vielleicht zu gefährlich
geworden, und jetzt suchten sie sich harmlosere Ziele. Als Nächstes würden
sie vielleicht Kindergeburtstage torpedieren.
Neben mir tauchte Katja Arm in Arm mit Milch auf und wollte ebenfalls
wissen, was los sei. In diesem Moment stiegen die Polizisten wieder in ihre
Wagen. Das fand ich nicht gut.
«Fahren die jetzt weg?», fragte ich.
Die Motoren sprangen an, und ja, sie fuhren weg. Katja, Milch, Simon
und ich standen da und überlegten, ob die Gefahr denn abgewendet wäre,
als auf der anderen Straßenseite eine kleinere Gruppe von Skinheads
auftauchte und johlend näher kam. Am Kiosk gegenüber machten sie halt
und kauften sich Bier. Keiner wusste, ob die Gruppe nur die Vorhut für eine
größere Meute war oder ob sie einfach auf der anderen Straßenseite bleiben
und uns in Ruhe lassen würde.
Bevor wir das herausfinden konnten, kehrte einer der Polizeiwagen
zurück und hielt bei dem Kiosk an.
«’n Abend», riefen die Skins und prosteten den Polizisten zu.
Die Polizisten stiegen aus. «Schön’ guten Abend, die Herren.» Sie
wandten sich an den Verkäufer im Kiosk: «So, allet friedlich hier?»
Ein drahtiger Skin schwenkte seine Bierflasche durch die Luft und rief:
«Wir trinken hier ’n Bier! Dit darf man doch, wa?»
«So lange Sie dit leise und friedlich machen, dürfen Sie», erklärte der
Polizist.
«Na aber klärchen. Könnse unbesorgt sein.»
«Und bei der Feier da drüben», sagte der Polizist und zeigte mit dem
Daumen über seine Schulter zu uns, «da sind Sie nich einjeladen.»
«Och nö? Dit is aber schade! Wat ham die denn jegen uns?»
«Hamwa uns verstanden?»
«Jaja.»
«Sie trinken hier Ihr Bierchen aus, und dann haunse wieder ab.»
«Jaja. Is ja jut.»
«Sindwa nich erwünscht da drüben», kommentierte einer in unsere
Richtung, und dann drehten sie wieder ab, zurück zur U-Bahn. Ein anderer
erhob dabei seinen Mittelfinger und rief: «Feiert noch schön,
Kirchenspastis.»
Simon legte seinen Arm um meine Schultern, und wir gingen wieder
rein, um eine weitere Runde zu tanzen. An der Hauswand, zwei Meter
neben dem Eingang, lehnten zwei Rockabillys in amerikanischen
Baseballjacken und wirkten ein wenig enttäuscht, dass die Action jetzt
ausgeblieben war.
Am nächsten Morgen, ich weiß auch nicht genau warum, rief ich zuerst
bei Jan an. Ich wollte wissen, wie es ihm ging.
«Würde gern mal diesen Husten loswerden», sagte er. Wie war’s gestern
in Maria Frieden?»
Möglicherweise hatte er schon davon gehört, wie es war.
Ich sagte: «War super. Was hast du gemacht?»
«Nichts Besonderes.»
«Na ja. Meld dich einfach mal wieder.»
«Mach ich.»
Mit Simon telefonierte ich erst gegen Mittag, und wir verfielen auf die
Idee, für Mittwoch ein paar Leute zum Minigolfspielen
zusammenzubekommen. Unter anderem deshalb sprach ich danach noch
mit Silke, die sich aber komisch benahm und versuchte, mich schnell
wieder loszuwerden, was vielleicht an der Person lag, die da im
Hintergrund auf ihrer Gitarre herumzupfte.
«Hast du grad Besuch?», fragte ich.
«Was?»
«Wer spielt denn da Gitarre?»
«Äh … Johnny ist grad hier.»
«Aha?»
«Ja. Was gibt’s?»
«Simon und ich wollen am Mittwoch mit euch Minigolf spielen.»
Es war kühl geworden. Simon hatte noch einen Freund mitgebracht und
Johnny Minski. Wir standen auf dem Minigolfplatz in Marienfelde, den
Johnny ausgesucht hatte, weil er da wohnte, und ich hatte schon klamme
Finger, als wir noch gar nicht angefangen hatten. Simons Haare kräuselten
sich aber sehr hübsch in der feuchten Luft, und überhaupt gefiel er mir im
direkten Vergleich viel besser als Jan, auch und gerade bei Tageslicht.
Minski wollte, dass wir um Geld spielen. Jeder sollte zwei Mark fünfzig
einsetzen, dann würde der Sieger fünfzehn Mark gewinnen. Das hatte er so
ausgerechnet und war voll stolz darauf. Ich war dagegen. Die Idee stank
schon deshalb, weil sie von Minski kam; aber alle anderen fanden es
unverhohlen spitze. Simons Kumpel, er hieß Ansgar, wollte sogar, dass wir
fünf Mark setzen, was aber nur noch Minski gut fand.
Minski und Ansgar, da hatten sich zwei gefunden. Beide veranstalteten
einen hochpeinlichen Zirkus, wenn sie dran waren mit Bällchen-ins-Loch-
Schubsen, unterhielten sich aber lautstark über Autos, wenn Silke oder ich
an der Reihe waren. Minski machte einmal auch ein lautes Plopp-Geräusch
mit dem Mund, als ich gerade den Ball schlagen wollte. Mein Schlag ging
total daneben, und Minski kicherte sich einen ab in dieser Minski-Ekel-
Lache, die ihm eigen war.
«Das findeste witzig, Minski», sagte ich und guckte dabei so angewidert,
wie ich nur konnte.
«Allerdings», meinte Minski.
Als Minski das nächste Mal dran war, klatschte ich neben seinem Ohr
laut in die Hände, sodass er jetzt seinen Schlag verbaselte, was gerecht und
okay war, allerdings warf er auch da das Gekicher wieder an, um zu zeigen,
dass er zwar ebenfalls schreckhaft war, aber mehr Humor hatte als ich. Das
war natürlich leicht zu durchschauen. Im weiteren Verlauf des Spiels
bestand ich darauf, dass Minski nicht mehr in der Nähe sein durfte, wenn
ich dran war.
Alles in allem war dieser Nachmittag etwas anstrengend, und das nicht
nur wegen dem Angebergespann Ansgar und Minski, sondern auch ein
bisschen wegen Silke und Johnny, die beide nicht wussten, wie sie sich
zueinander verhalten sollten. Was zweifellos mehr Silkes Schuld war als
Johnnys. Wenn Silke mal gewusst hätte, wie sie zu Johnny stand, dann hätte
Johnny auch gewusst, wie er sich verhalten sollte. Wusste er aber nicht. Es
hatte, ganz am Ende der Fete, wohl einen Kuss gegeben zwischen Silke und
Johnny, ein Ereignis, das Johnny sicherlich kurzfristig in andere Sphären
katapultiert hatte. Deshalb herrschte jetzt noch mehr Befangenheit zwischen
den beiden. Daran hatte Johnnys Besuch bei Silke am Tag nach der Fete
offenbar nichts ändern können.
Silke war außerdem damit beschäftigt, einzuordnen, was bei mir gerade
los war. Erst die plötzliche Trennung von Jan, und jetzt war ich mit ihrem
Freund aus Kindertagen zusammen. Das war für sie «bisschen komisch»,
wie sie gesagt hatte. Und dann noch das feuchtkalte Wetter.
Was mich persönlich am meisten störte, war dieser dämliche Ansgar.
Müsste ich den jetzt immer ertragen? Warum war Simon mit so einem
Idioten befreundet? Jan hatte den netten Holger als Kumpel gehabt.
In diese klägliche Szenerie passte es am Ende bestens hinein, dass
Minski knapp vor Ansgar gewann und die fünfzehn Mark einsackte. Johnny
schlug vor, dass wir uns alle noch in das Eiscafé an der Marienfelder
Chaussee setzen sollten, gleich neben Sound & Fashion, wo ich mir meine
erste Single gekauft hatte, aber das erschien mir kaum reizvoll. Ich wollte
lieber nach Hause. Simon brachte mich zur S-Bahn.
Auf dem Weg dorthin fing es an zu nieseln. Ich dachte, dass es schade
war, Simon nicht im Sommer kennengelernt zu haben, denn im Sommer
konnte man viel besser verliebt sein.

Mariendorf und Marienfelde sind mittelalterliche, von den


Tempelrittern gegründete Siedlungen mit jeweils eigenen
Ortskernen. Beide Dörfer werden 1920 eingemeindet und bilden
zusammen mit den Ortsteilen Lichtenrade und Tempelhof den
Berliner Bezirk Tempelhof. Die einzige überregional bekannte
Attraktion ist die 1913 eröffnete Trabrennbahn Mariendorf.
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S
imon musste man nicht erst davon überzeugen, dass Wochenenden
zum Ausgehen da waren. Während sich die anderen zu einem
Spieleabend bei Gerald zusammenfanden, wollten wir ins Kino, und der
weitere Plan war, danach noch irgendwo zu tanzen. Simon sagte, wir sollten
das Sugar Shack ausprobieren. Freunde von ihm hätten erzählt, es sei super
da und man käme unter achtzehn problemlos rein.
Leider hatte Simon wieder Ansgar mitgebracht, und Ansgar seine
Freundin Ines, die perfekt zu ihm passte. Obwohl wir uns vorher nie
begegnet waren, tat sie schon auf dem Weg zum Kino, als wären wir
irgendwie verbündet, einfach so, als Mädchen. Darin sah sie eine
bedeutsame Gemeinsamkeit. Wenn einer von den Jungs etwas sagte, guckte
sie mich augenrollend an, als müssten Mädchen immer ein bisschen genervt
sein von Jungs-Themen. Aber nur so lustig-kokett.
In dieser Konstellation standen wir im Foyer des Marmorhaus-Kinos
herum, wo mir ein Filmplakat ins Auge fiel; es war ein Plakat von Krieg
der Sterne. Auf dem Bild war Jan zu sehen, wie er, in einen weißen Space-
Anzug gekleidet, ein Laserschwert in meine Richtung schwang.
«Ist das da Luke Skywalker?», fragte ich in den Raum hinein. Die
anderen folgten meinem Blick. Ansgar sagte: «Da auf dem Star-Wars-
Plakat? Na klar.»
«Warum?», fragte Simon, und in einem Film hätte das Mädchen
daraufhin versonnen geantwortet: «Ach … nur so eine Frage.»
Ich aber sagte: «Der sieht total aus wie mein Exfreund», und daraufhin
erstarrte Ines, peinlich berührt.
Als im Kino das Licht ausging, fühlte ich mich ein bisschen elend, und
das hing mit Luke Skywalker zusammen. Er fehlte mir plötzlich. Wir
befanden uns in Saal 3, in dem es neben normalen Kinositzen auch ein paar
Zweiersitze ohne Lehne in der Mitte gab, und auf solchen Sitzen hatten wir
Platz genommen. Simon hielt meine Hand, aber ich saß ganz eingefroren
da.
Der Film hieß Pretty in Pink. Es ging um ein Mädchen, das einen Freund
hat, mit dem sie aufgrund unterschiedlicher Interessen nicht
zusammenbleiben kann, weswegen sie sich einem anderen zuwendet, der
vordergründig zwar besser zu ihr passt, sie aber nicht glücklich macht. Am
Ende zieht sie ein rosafarbenes Ballkleid an und ist dann doch wieder mit
ihrem Freund vereint, weil sie sich nämlich wirklich lieben. Ich fand die
Jungs in dem Film allerdings beide nicht besonders, wohingegen Ines
hinterher sofort zu mir meinte: «Der war ja voll süß, oder?»
«Welcher?»
«Na der, mit dem sie am Schluss zusammen war.»
«Geht so.»
«Ich fand den auch nicht so süß», sagte Ansgar und schmiss sich in
bester Minski-Art weg über seinen Spruch.
Es hatte schon wieder geregnet, der Ku’damm war nass. Wir bogen in die
Joachimstaler Straße, setzten uns in die Billigpizzeria «Amigo» und
bestellten alle Pizza. Als sie vor mir auf dem Tisch lag, merkte ich, dass ich
gar keinen Appetit hatte und nichts runterbekam. So wie Jan, als er im
Viktoriapark sein Eis nicht mehr essen konnte, nachdem wir beschlossen
hatten, nicht mehr zusammen zu sein. Simon aß die Hälfte von meiner
Pizza, und Ines kommentierte: «Kein Wunder, dass du so dünn bist.» Dabei
aß ich normalerweise sehr viel Pizza, und dünner als sie war ich auch nicht.
Alles in diesem schlecht beleuchteten Laden mit den hässlichen Kacheln
machte mich nur noch unglücklicher, und ich war froh, als wir endlich in
Richtung Nürnberger Straße gingen, wo das Sugar Shack sein sollte. Die
frische Regenluft tat gut, es roch nach nassem Asphalt.
Neben Simon zu gehen war angenehm. Ich mochte ihn und verstand
selber nicht, warum sich diese Luke-Skywalker-Problematik da jetzt
hineindrängte. Allerdings verstand ich auch nicht, warum er so blöde
Freunde hatte.
Als wir vorm Sugar Shack standen, öffneten wir die Tür, gingen rein und
bezahlten. So einfach war das. Ich bekam einen Stempel auf den
Handrücken und einen pinkfarbenen runden Plastikchip mit dem Aufdruck
«Sugar Shack» als Getränkecoupon.
Ich hatte vorher noch nie so viel gute Musik hintereinander gehört.
Anders als bei den Feten wechselte der Musikstil nicht ständig. Alles fügte
sich ohne Pausen hintereinander, es war fast gar kein Schrott dabei, und
zwischen all den Leuten konnte man Ansgar und seine Freundin leicht
irgendwo stehenlassen.
Dann kam ein Song, den ich schon einmal gehört hatte, ein gutes
Tanzlied, aber auch sehr melancholisch, der Text ging: «I saw you / And
him / Walking in the rain / You were holding hands / And I will never be the
same.» Davon wurde ich auch wieder traurig, aber nicht so elend und
einsam traurig wie vorhin im Kino, sondern verstanden von der Musik und
von allen, die um mich herum mit mir dazu tanzten. Fast hätte ich jetzt
lieber alleine getanzt, ohne Simon. Ich schrie in sein Ohr, dass ich mal zur
Toilette müsse, und verließ die Tanzfläche. Da sah ich Holger. Er stand mit
anderen Leuten aus Jans ehemaliger Schulklasse neben der Bar herum. Ich
ging hin und sagte hallo.
«Na», rief Holger in mein Ohr. «Ziehste mit deinem neuen Freund um
die Häuser?»
Ich schaffte es noch, kurz zu nicken, dann heulte ich los.
«Was’n passiert?»
Ich versuchte, mich wieder zu fassen. Holger sah mich hilflos an. Ich
wischte mit den Händen durch die Luft und machte ihm Zeichen, dass es
hier zu laut sei, um mich zu erklären, und dass ich ihn lieber mal anriefe. Er
fummelte einen Zettel aus seinem Portemonnaie heraus, lieh sich einen Stift
und kritzelte seine Nummer auf den Zettel.
«Ja, mach mal!», brüllte er.
Dann suchte ich nach der Toilette.

Das UFA-Filmtheater Marmorhaus wird 1913 am


Kurfürstendamm 236 eröffnet. In den achtziger Jahren macht es sich
besonders durch die langen Filmnächte einen Namen, in denen man
für den Preis einer Karte die ganze Nacht alle Filmsäle nutzen darf.
2001 wird das Kino geschlossen.
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Am Teltowkanal

A
n der Endstation in Rudow stieg ich aus dem Bus, zusammen mit
einem kleinen Mädchen mit Schulranzen auf dem Rücken. Sie trottete
eine Weile vor mir her, dann bog sie nach rechts in eine der schmalen
Seitenstraßen ab, die hier alle Blumennamen trugen. Als ich ihr nachsah,
hüpfte sie ausgelassen. Total stumpf lief ich den altbekannten Weg zu Silke
weiter, bis mir auffiel, dass ich da gar nicht hinwollte. Zu Simon hätte ich
vorher abbiegen müssen. Anstatt zurückzulaufen, dachte ich, könnte ich
nach links einen Bogen schlagen, stand aber plötzlich am Teltowkanal und
guckte auf die öde Grenze. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen, wie
eigentlich immer in Silkes Gegend, nur ein paar Enten schwammen über
das Wasser, an den weißen Grenzbojen vorbei. Rechter Hand verfiel eine
nutzlose Brücke. Da war es dann wieder, das Stadtrand-Feeling in einer
Stadt, die mehr so war wie ein großes Zimmer. Ich kehrte um und fand dann
relativ umständlich die Straße und das Haus von Simon.
Wir saßen in seinem Zimmer, und er zeigte mir eine neue Platte, die er
sich gekauft hatte; sie war von den Smiths. Lange fand ich den Moment
nicht, um zu sagen, was ich sagen wollte, obwohl wir beide wussten, was
kommen würde. Er legte die Platte auf und sagte: «Ansgar und Ines
mochtest du nicht so, oder?»
«Na ja», meinte ich. «Ging so. Ich war aber auch ganz schön schlecht
drauf am Samstag.»
«Warum eigentlich?»
«Ich glaube … wahrscheinlich hänge ich noch an meinem Exfreund.»
«Luke Skywalker?»
Ich nickte.
Holger hatte mir am Telefon erzählt, dass er in letzter Zeit auch nicht
mehr viel mit Jan gesprochen habe. Er habe wohl ein paar neue Freunde aus
der Berufsschule und sei dabei, seinen Tauchschein zu machen. Und das mit
Simon hätte er längst mitbekommen. Ich hatte Holger noch aufgetragen, Jan
von mir zu grüßen und ihm zu sagen, dass er sich mal bei mir melden solle.
«Das ist schade, aber ich habe mir das schon gedacht», sagte Simon.
Er drehte die Platte um. «Das vorletzte Stück auf der zweiten Seite ist
total super, das musst du dir jetzt noch anhören.» Es hieß: «There Is A Light
That Never Goes Out».
Jan rief mich nicht an. Nach ein paar Tagen hielt ich es nicht mehr aus und
wählte seine Nummer.
«Ey, Paulchen», sagte er und erzählte mir dies und das vom Job und vom
Tauchkurs. Ich schlug vor, dass wir uns am Freitag treffen sollten, ich
könnte ihn von der Arbeit abholen oder von der Berufsschule.
Jan sagte: «Okay.»
Wir hatten eine Verabredung.
Am Donnerstagabend klingelte das Telefon, und Jan erzählte mir, er sei
mal wieder krank. Er hustete in den Hörer. Ich sagte, wie schade, gute
Besserung und dass wir das ja einfach auf nächste Woche verschieben
könnten. Er meinte, er melde sich dann.
Nach dem Auflegen hatte ich ein grässliches Gefühl im Hals und im
Magen, und dieses Gefühl sagte mir, dass es keinen Anruf mehr geben
würde und auch kein Treffen.
Es hatte vollkommen recht damit.

Der Teltowkanal verbindet im Süden Berlins die Spree mit der


Unteren Havel. Zu Mauerzeiten bildet er über weite Strecken ein
Grenzgewässer zwischen Neukölln im Westen und Treptow im
Osten.
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Im Schimmelpfeng-Haus

I
n die Sache mit der Tanzschule war ich einfach hineingeraten. Anja und
Carsten hatten die fixe Idee, so einen Kurs besuchen zu müssen, und
suchten nach Leuten, mit denen sie sich zum Gruppentarif anmelden
könnten. Heike und Gerald ließen sich rekrutieren, Silke wollte dann auch
mitmachen, und Johnny musste man nicht zweimal fragen, ob er als ihr
Tanzpartner dabei sein würde. Schließlich überredete sie mich ebenfalls,
und Johnny überredete Stefan.
Die Tanzschule lag mitten in der City, im ersten Geschoss des
Schimmelpfeng-Hauses, das wie eine Brücke über die Kantstraße gebaut
war, dort, wo sie auf die Hardenberg- und die Budapester Straße trifft. Oben
an dem Gebäude stand in großen Leuchtbuchstaben der Name
«Schimmelpfeng», aber nicht weil es der offizielle Name des Hauses
gewesen wäre, sondern nur als Werbung für irgendein Inkasso-
Unternehmen. Ohnehin las ich immer «Schimmelpfennig» und dachte,
Silke hätte sich vertan, als sie sagte, die Tanzschule befinde sich in dem
Schimmelpfeng-Haus. Silke vertat sich öfter mal mit Begriffen, aber
diesmal hatte sie richtig gelesen.
Trotz der zentralen Lage, inmitten oft beschrittener Wege, zwischen
Gedächtniskirche und Zoo, und obwohl weithin sichtbar «Tanzstudio» über
die Fensterfront geschrieben stand, war mir die Tanzschule nie aufgefallen.
Vielleicht lag das an der nach hinten versetzten Fassade. Der
Breitscheidplatz hörte dort auf, und der Bereich um den Zoo mit Zoo-
Palast-Kino und dem Büro- und Geschäftskomplex vom Bikini-Haus fing
noch nicht an. Es war eine Ecke, die es geschafft hatte, mitten im City-
Gewimmel ein toter Punkt und die Rückseite von allem zu sein.
Selbst das große China-Restaurant, das in einem verglasten Bogen unter
dem Schimmelpfeng-Gebäude hervorragte, hatte ich vorher kaum
registriert. Ich fragte mich, ob es sich dabei wohl um das China-Restaurant
handelte, das von Harald Juhnke auf diesem singulären Reklameplakat in
dem Schaukasten schräg vor dem Zoo-Palast-Kino beworben wurde. Auf
dem Bild sitzt Harald Juhnke vor einer riesigen und wie lackiert glänzenden
«Ente kross» an einem Tisch. In der rechten Hand hält er ein Paar
chinesische Essstäbchen, mit denen er dem kompakten Vogel niemals wird
beikommen können, und guckt dabei irrsinnig schmierig in die Kamera,
was aber nicht allein an seinem geschauspielerten Blick liegt, sondern vor
allem an der unnachahmlichen Haltung der linken Hand, mit der er dem
Betrachter die Ente präsentiert. Das Foto war derart bemerkenswert, dass es
zu den geheimen Sensationen des Ku’damms gehörte, so wie Helga Goetze,
der Sendermann und die Tütenlady, die mit Tüten voller Tüten plus einem
mit Tüten vollgestopften Einkaufswagen täglich ihre einsamen Runden
durch die Besuchermassen drehte. Es hieß, sie sei früher einmal
wohlhabend gewesen. Das Juhnke-Bild wurde von Touristen fotografiert,
und das Nachahmen seiner Pose war ein Standard-Gag. Allerdings war es
erstaunlich schwer, sie wirklich zu kopieren. Wer sich einmal daran
versucht hatte, begriff das wahre Ausmaß ihrer großartigen Künstlichkeit
und damit die Juhnke’sche Kunst.
Den Eingang zur Tanzschule mussten wir unter der dunklen Haus-
Brücke, zwischen Betonpfeilern und Schmuddelkinos, erst einmal suchen.
Drinnen standen schon andere Kursteilnehmer, die meisten älter als wir und
nicht unbedingt auf die stilvollste Art chic gemacht. Das wirkliche Desaster
aber war, dass Stefan kurzfristig abgesagt und seinen Platz weitergegeben
hatte, und zwar an Minski.
In dem Raum hinter der Fensterfront, mit Blick zum Breitscheidplatz,
stellten wir uns auf, Anja und Carsten, Heike und Gerald, Silke und Johnny.
Und Minski und ich. Minski guckte mich so an, als wollte er sagen: «Tjaha!
Da musste nun durch!» Ich wollte heulen. Ein kleiner Trost kam vom
Tanzlehrer, der erklärte, dass die Tanzpaare in diesem Kurs prinzipiell
rotieren, damit man sich nicht auf einen Tanzpartner einschießt und am
Ende nur mit dem tanzen kann. Minski guckte mich so an, als wollte er
sagen: «Na siehste! Haste noch mal Glück gehabt!»
Und irgendwie war es dann auch egal, denn das Ganze hatte mit Tanzen
für meine Begriffe ungefähr so viel zu tun wie Malen nach Zahlen mit Kurt
Mühlenhaupt oder wie meine Klavierkünste mit denen des Pianisten vom
Symphonieorchester.
«Vor, Vor, Seit, Seit», rief der Tanzlehrer, und dabei hielt man sich am
Tanzpartner fest und vollführte irgendwelche Schritte zu grauenhafter
Musik. Ob da jetzt noch Minski dabei war oder nicht, machte keinen großen
Unterschied mehr. Es fügte sich auch nahtlos in das Trash-Kolorit der
Tanzstundenabende, dass es ringsum keinen schönen Ort gab, wo wir uns
nach dem Kurs noch hätten zusammensetzen können. Der zweistöckige
Horror-McDonald’s am Hardenbergplatz war so ziemlich das Einzige, was
uns dazu einfiel, und da wurde es schon wieder schwierig mit Minski, wie
er da so im Neonlicht saß und mit vollem Burger-Mund seine
vorhersehbaren Witze riss. Mein Leben konnte so nicht weitergehen.
Ich erinnerte mich daran, dass ich nach der zehnten Klasse ein Jahr in
Amerika verbringen wollte. Die zehnte hatte gerade angefangen, vielleicht
sollte ich mich jetzt mal langsam darum kümmern. Nur wie? Im
Telefonbuch nachgucken? Unter A?
Die Antwort kam innerhalb der nächsten Tage von unserem
Klassenlehrer. Er habe so Bewerbungsunterlagen für einen
Schüleraustausch in die USA, sagte er nach dem Morgengebet, falls das
jemanden interessiere. Nach der Stunde holte ich mir die Unterlagen bei
ihm ab. Es waren nicht nur einfach Bewerbungsunterlagen für einen
Schüleraustausch, sondern sogar für ein Stipendium. Dass es so etwas gab!
Ich sah Licht am Horizont.
In der Bewerbung musste man ausführlich begründen, warum man ein
Jahr weg und warum gerade in die USA wolle. Das fiel mir leicht. Ich
schrieb, dass ich Fernweh hätte wie Rio Reiser und Farin Urlaub, dass es
endlich auch mal etwas anderes geben müsse als den U-Bahnhof Alt-
Mariendorf, den U-Bahnhof Mehringdamm und den U-Bahnhof Karl-Marx-
Straße, den Weg durch die Passage, die Gemeindefeten, die Schulmessen,
Silke, Nicole, Anja, Heike, Johnny, Stefan und Minski, RIAS und SFB.
Und USA, das sei einfach naheliegend. Ich sei doch geboren, aufgewachsen
und würde immer noch im amerikanischen Sektor dieser Sektorenstadt
leben. Außerdem wäre ich erst kürzlich auf dem Deutsch-Amerikanischen
Volksfest gewesen.
Möglicherweise formulierte ich das alles etwas anders. Aber als ich die
Bewerbung weggeschickt hatte, war mir klar, dass ich da jetzt nicht mehr
rauskommen würde. Nicht weil ich mir unsicher gewesen wäre, ob ich
wirklich so lange und so weit fortwollte, sondern weil ich es jetzt nicht
mehr ertragen hätte, nicht wegzugehen. In der nächsten Tanzstunde sah ich
auf die Lichter und den Verkehr an der Kreuzung von Kant-, Budapester-
und Hardenbergstraße und auf die Gedächtniskirche und dachte: Bald bist
du in Amerika. Morgens in der U-Bahn rauschten die Bahnhöfe in der
immer gleichen Reihenfolge vorbei: Westphalweg, Uhlandstraße, Kaiserin-
Augusta-Straße, Alt-Tempelhof, Tempelhof, Paradestraße, Platz der
Luftbrücke, und ich dachte: Bald bist du in Amerika. Würde es mit dieser
Bewerbung nicht klappen, müsste ich mir etwas anderes einfallen lassen.
Dann bekam ich eine Einladung zum Auswahlgespräch.
Obwohl das 1960 gebaute Schimmelpfeng-Haus zwischen
Kurfürstendamm und Hardenbergstraße unter Denkmalschutz steht,
wird es 2009 abgerissen, zumindest der Brückenteil über der Kant-
bis hin zur Hardenbergstraße. An dieser Stelle soll demnächst ein
Bürohochhaus entstehen, der Atlas Tower.

Auf dem legendären Plakat wirbt Harald Juhnke nicht für das China-
Restaurant im Schimmelpfeng-Haus, sondern für das Restaurant
seines chinesischen Schwiegervaters im schräg
gegenüberliegenden Bikini-Haus. Harald Juhnke stirbt 2005 in
Rüdersdorf bei Berlin.
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I
ch telefonierte alle paar Tage mit Holger, auch noch, als es gar nicht
mehr um Jan ging. Manchmal plauderten wir in den Schulpausen
miteinander, aber am liebsten telefonierten wir abends, und zwar
stundenlang. Mit keiner Freundin hatte ich jemals so ausgiebig am Hörer
gehangen wie jetzt mit Holger. Das lag vielleicht auch daran, dass er mit
seiner Mutter allein lebte, so wie ich mit meiner. Bei anderen kam nach
spätestens einer halben Stunde irgendein Familienmitglied angelaufen und
wollte auch mal wen anrufen.
Holger und ich redeten über unsere Freunde, über Klamotten, Lehrer,
Schule, Musik und ab und zu auch darüber, wo das Leben hingehen sollte.
Manchmal guckten wir einfach zusammen fern, als würden wir auf dem
Sofa nebeneinandersitzen. Über die Telefonrechnung mussten wir uns keine
Gedanken machen, niemand in West-Berlin musste sich Gedanken über
Ortsgespräche machen, es gab nämlich keine Zeittaktung. Jedes Gespräch
kostete 23 Pfennig. Man konnte sich abends mit dem Telefonhörer ins Bett
legen, sich nachts gegenseitig beim Schnarchen zuhören und sich morgens
gleich wieder begrüßen, immer für 23 Pfennig.
Das Gute an Holger war auch, dass er einen weit ausgehfreudigeren
Freundeskreis hatte als ich, was natürlich kein Kunststück war. Aktuell
herrschte Feten-Flaute, und es ging einfach nicht, dass Tanzen jetzt nur
noch aus Vor-Vor-Seit-Seit und einer misslungenen Drehung im
Schimmelpfeng-Haus bestand. Deshalb schloss ich mich eines Samstags
Holger und seiner Crew an, die wieder ins Sugar Shack gingen. Ich sagte
ihm, er solle mich zu Hause abholen. Wir könnten dann zusammen Pizza
essen, und meine Mutter würde endlich einmal den Typen sehen, mit dem
ich ewig unsere Telefonleitung blockierte.
Das erwies sich als zwiespältige Idee. Holger war ein so netter und
vertrauenserweckender Junge, dass meine Mutter mich einerseits freudig
mit ihm in die Nacht ziehen ließ. Andererseits wollte sie sich danach nicht
mehr damit abfinden, dass Holger nur ein Freund war und nicht der
zukünftige Schwiegersohn.
Am Wittenbergplatz trafen wir Oliver und Christian aus Holgers Klasse
und, der Wahnsinn, Georg Hacke. Außerdem Mariola, die neu war an der
Schule. Sie kam frisch aus Polen und sprach noch etwas gebrochen
Deutsch, sah allerdings auf eine glamouröse Art westlicher aus als wir alle
zusammen und war außerdem als Einzige von uns bereits volljährig. Nur
wegen ihrer Sprachschwierigkeiten hatte man sie nicht in die Oberstufe
geschickt. An unserer braven Schule war Mariola eine schillernde
Erscheinung, und ich fühlte mich privilegiert, mit ihr auszugehen.
Wir gingen an den beleuchteten Schaufenstern und dem seit einigen
Stunden vergitterten Eingang vom KaDeWe vorbei und überquerten danach
die Passauer Straße. Oliver wirkte aufgedreht und laberte herum, das Sugar
Shack sei doch irgendwie das Pop Inn unter den Ku’damm-Discos und ob
wir nicht einfach mal in den Dschungel gehen sollten, wo die coolen Typen
rumhängen.
«Kannste ja versuchen», meinte Georg Hacke. «Ich bin da jetzt schon
zweimal nicht reingekommen, und ich sag dir noch was: Frauke Jeschonnek
angeblich auch nicht.»
Es war sehr schwer vorstellbar, dass Georg Hacke irgendwo nicht
reinkommen würde, aber dass die allerschönste Frauke Jeschonnek jemals
irgendwo nicht reinkommen sollte, das musste ein Gerücht sein. Aber dann
sagte Christian: «Das stimmt. Meine Schwester war auch dabei. Dschungel
kannste vergessen.»
«Was ist Dschungel?», fragte Mariola.
«Dschungel ist voll cool», erklärte Oliver. «Coolste Disco von Berlin.
David Bowie, Iggy Pop, Nina Hagen.»
«Und wo gehen wir?»
«Sugar Shack. Kinderdisco.»
«Du redest Müll», sagte Holger.
Mir war es egal, wohin wir gingen. Hauptsache, irgendwo reinkommen
und tanzen, ohne Instruktionen und ohne Minski, aber mit Georg Hacke
dabei. Mir reichte das vollkommen.
Das Sugar Shack war voller als beim letzten Mal, und es wurde viel
getanzt, eigentlich tanzten da alle an diesem Abend. Auch wir. Mariola
tanzte eher minimalistisch. Georg Hacke lächelte mich beim Tanzen einmal
an. Es war perfekt. Trotzdem fischte mich Mariola irgendwann von der
Tanzfläche und sagte: «Komm!»
Plötzlich standen alle an der Tür. Sie konnten unmöglich jetzt schon
gehen wollen.
«Spinnt ihr?», frage ich.
«Mariola will in den Dschungel», erklärte Christian.
«Ich denke, da kommt man nicht rein.»
«Wir versuchen’s mal», sagte Oliver. «Wenn’s klappt, zahle ich den
Eintritt.» Oliver hatte Kohle. Ich protestierte nicht. Ich war dabei.
Wir gingen auf derselben Straßenseite ein paar Häuser weiter in Richtung
Augsburger, bis dahin, wo sich weithin sichtbar Leute vor einem Eingang
drängelten. Dem Eingang zum Dschungel natürlich. Holger sagte: «Och
nee», aber ich fand es ganz interessant. Wir stellten uns dazu. Die Tür ging
auf, drei Leute kamen raus, aber reingelassen wurde keiner. Fünf Minuten
später dasselbe Spiel. Vor uns sagte jemand: «Los, wir gehen ins Cha Cha»,
und kurz danach zogen ein paar Leute ab. Die Tür ging erneut auf, zwei
Typen verließen den Dschungel. Der Mann an der Tür warf einen kurzen
Blick auf die Wartenden. Er nickte Mariola zu und winkte sie rein. Mariola
hakte Oliver rechts und Holger links unter, Christian und Georg nahmen
mich in die Mitte. Sie schob mich mit den beiden Jungs weiter, und dann
waren wir einfach drin, wie auch immer das genau funktioniert hatte. Die
plötzliche Nähe von Georg Hacke hatte meine Wahrnehmung getrübt.
Der Dschungel hatte auf jeden Fall nichts mit einem Dschungel zu tun,
obwohl ein paar Palmen herumstanden. Es war viel heller als im Sugar, die
Leute waren extravaganter gestylt, aber auch älter. Alle rauchten, und
aktuell tanzte niemand. Man saß oder stand herum, unten an der Bar und
oben auf einer Galerie, und hielt dabei einen Drink in der Hand. Die
meisten sahen aus, als wäre ihnen langweilig. Oliver strahlte, als Einziger
im Raum, wie mir schien.
«Scheiß auf Frauke Jeschonnek», rief er. «Mariola ist die Königin der
Nacht!»
Dann erbot er sich, eine Runde Getränke zu spendieren.
So standen wir also eine Zeitlang da und tranken langsam unsere Gläser
leer. Mariola sah uns an und fragte: «Gehen wir zurück zu Kinderdisco?»
Im Sugar war die Stimmung inzwischen noch besser geworden.

In den späten siebziger Jahren zieht die Diskothek Dschungel vom


Winterfeldplatz in die Räumlichkeiten eines chinesischen
Restaurants in der Nürnberger Straße. Die Wendeltreppe zur
Empore, ein Aquarium und ein kleiner Springbrunnen werden von
den Vorbetreibern übernommen. In den Folgejahren entwickelt sich
der Dschungel zur wahrscheinlich angesagtesten Diskothek der
Stadt; 1980 setzt ihm die Gruppe Ideal in ihrem Song «Berlin» ein
Denkmal. Trotzdem übersteht auch der Dschungel den nach dem
Mauerfall einsetzenden Bedeutungsverlust der City-West nicht und
muss 1993 schließen.
Im Stadtführer Berlin für junge Leute steht 1987 über den
Dschungel: «Disco im Stil der fünfziger Jahre, nicht der übliche
Disco-Sound, Publikum 25–35 Jahre. Einlasskontrollen,
empfehlenswert nur für kleine Gruppen.» Und über das Sugar
Shack: «Lebendige Neondisco mit jungem, adretten Publikum, sich
eher ‹cool› gebend.»

Während Postminister Kurt Gscheidle in der restlichen


Bundesrepublik 1980 die Zeittaktung für Ortsgespräche einführt,
bleibt West-Berlin noch bis Mitte 1992 vom Zeittakt verschont.
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A
ls der Tanzkurs überstanden war, kam als finale Herausforderung
noch der Abschlussball. Mit meiner Mutter und Tante Evi ging ich
los, um ein Kleid zu kaufen, auch weil man in den USA ebenfalls diese
Abschlussbälle hatte, für die man ein Kleid brauchte. Das wusste ich aus
Pretty in Pink. Dafür war die Tanzschule in jedem Fall gut gewesen, dass
sie jetzt einen Anlass dafür lieferte, ein festliches Outfit zu besorgen, das
ich dann schon mal hätte für Amerika. Auch wenn ich noch kein Ticket
dahin hatte.
Wir gingen ins KaDeWe. Früher konnte man mir mit dem KaDeWe
drohen. Nichts hasste ich so sehr wie das KaDeWe. Ging man einmal da
rein, kam man den ganzen Tag nicht wieder raus und war gefangen in einem
riesigen Labyrinth voller Zeug. Man stand auf Rolltreppen oder in
Fahrstühlen herum und stiefelte endlos hinter den Eltern an Regalen und
Kleiderständern vorbei, an Stoffballen, Vorhängen, Küchenmaschinen,
Koffern, Gläsern und all dem anderen scheißlangweiligen KaDeWe-Kram.
Standard-Textbausteine waren «Wann gehen wir endlich?» (ich) und
«Bald, wir brauchen nur noch dieses und jenes» (Eltern). In der
Spielwarenabteilung gab es zwar durchaus interessante Dinge zu sehen,
irrsinnig viele Barbie-Klamotten zum Beispiel, total gute Roller Skates und
sogar Autos und kleine Häuser für Kinder. Das Problem war aber, dass man
das alles dann auch haben wollte, was wieder nicht ging («zu teuer»).
Immerhin gab es die große Fressabteilung ganz oben, da konnte man sich
einen Moment lang hinsetzen und Kartoffelpuffer essen. So gut wie bei
Oma waren die aber nicht.
Die Phobie war inzwischen überwunden, aber so ganz optimal lief es
auch an diesem Tag nicht im KaDeWe. Mutter und Tante breiteten ständig
Kleider vor mir aus und sagten: «Guck mal das. Das ist doch nicht
schlecht», aber richtig gut fand ich es meistens nicht. Schließlich betrat ich
mit zwei Optionen eine Umkleidekabine. Während ich mich auspellte,
unterhielten sich zwei Frauen in der Kabine nebenan.
«Wat hastn da für ’ne Größe jenomm?»
«Na 38.»
«38? Haste abjenomm?»
«Ick hab imma 38.»
«Nimm mal lieber 40.»
Ich kam mit dem ersten Kleid aus der Kabine und hatte gleich eine
Verkäuferin neben mir, die an mir rumzuppelte und «Schön!» sagte, mit
Nachdruck.
«Mir gefällt’s auch», meinte meine Mutter. Aber mir gefiel es nicht.
«Bisschen was Farbenfroheres vielleicht», schlug die Verkäuferin vor
und zog los, um Entsprechendes zu suchen. Als ich das zweite Kleid
vorführte, das mir noch weniger behagte, standen Verkäuferin, Mutter und
Tante schon mit mehreren neuen Kleidern da, die mir genauso wenig
zusagten.
«Probier doch wenigstens mal an», beharrten sie. «Wenigstens das hier,
guck mal, das ist schick.»
Es war schwer, wieder rauszukommen aus der Nummer. Die Kleider
waren alle nichts, und die Verkäuferin schüttelte schon den Kopf: «Na, wat
hättense denn gern? Wat hamse sich denn so vorjestellt?»
Als ich am Ende keine der Sachen wollte, herrschte zwischen den drei
Frauen immerhin Einigkeit darüber, dass Mädchen in meinem Alter
schwierig seien.
Wir gingen nach oben in die Lebensmitteletage, um Kartoffelpuffer zu
essen, und dabei wurde beschlossen, dass ich noch mal alleine oder mit
Silke losziehen sollte, um ein Kleid zu kaufen.
Was dann auch klappte.
Ich kam also zu meinem Kleid, allerdings musste ich damit nun zu dem
Abschlussball der Tanzschule gehen. Was ich sowieso gemacht hätte, denn
im Grunde war ich beim Ausgehen nicht besonders wählerisch. Das Leben
war noch nicht so, dass jede Stunde voll war mit Arbeit, Verpflichtungen
und Terminen und dass man am Abend dankbar war für ein paar ruhige
Stunden. Ganz im Gegenteil. Wenn es einen Abschlussball gab, dann ging
ich dahin, zumal mit einem neuen Kleid. Auch wenn eine Tanzkapelle
spielte, auch wenn Minski dabei war.
Wir hatten einen runden, weiß eingedeckten Tisch für uns, und auf dem
Tisch stand eine Flasche Sekt in einem Kühler. Der Tisch befand sich in
irgendeinem Bankettsaal im Hotel Berlin am Lützowplatz. Keiner von uns
sah richtig gut angezogen aus. All die Kleider und die Anzüge wirkten
merkwürdig fremd an ihren Trägern und waren teilweise eine Nummer zu
groß. Anja steckte in einer Horrorkombination aus schwarzem Rock, weißer
Bluse und gelbem Jackett. Wir tranken den Sekt aus, die Tanzkapelle spielte
Tanzkapellenmusik, und wir versuchten zu erraten, ob dazu jetzt Foxtrott,
Tango oder Walzer zu tanzen sei. Anja und Carsten zogen als Erste los, um
es auszuprobieren, sie hatten sich auch als Einzige für den Nachfolgekurs
angemeldet, damit sie noch einen Discofox lernen konnten und einen Jive.
Nach und nach gingen alle tanzen, Heike ging mit Gerald und Silke mit
Johnny, aber ich konnte einfach nicht. Ich brachte es nicht fertig. Ich konnte
mich nicht mit Minski auf die Tanzfläche stellen und ausprobieren, ob eher
die Wiener oder die langsamen Walzerschritte passten zum aktuellen
Geschrammel. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Minski saß da in
seinem Anzug und fand das jetzt nicht mehr witzig.
«Das ist doch bescheuert», sagte er. Ja, es war bescheuert. Bescheuert mit
Extrakäse. Ich konnte mich nicht überwinden, fand den Zugang nicht zu
irgendeiner fröhlichen Scheißegal-Haltung und war verstockt. Johnny und
Silke kehrten von der Tanzfläche zurück.
«Jetzt komm», sagte Johnny zu mir und wollte mit mir tanzen. Aber das
ging natürlich auch nicht. Meine Haltung war: Ich will nicht tanzen, Punkt.
Wäre ich mit Johnny gegangen, wäre meine Haltung ja gewesen: Ich tanze
schon, nur nicht mit Minski. Und das wäre dann doch zu gemein gewesen.
Minski ging mit Silke tanzen, und ich saß mit Johnny am Tisch. Das war
eine vorläufige Verbesserung der Situation.
«Was meinst du?», fragte Johnny. «Sollen wir uns noch eine Flasche Sekt
leisten?»
«Ja, bitte», sagte ich.
«Und willst du jetzt den ganzen Abend hier so sitzen?»
«Wahrscheinlich.»
Silke, Minski, Heike und Gerald kehrten zurück an den Tisch. Wir
bestellten noch eine Flasche Sekt. Ich saß tatsächlich den ganzen Abend da,
in meinem neuen Kleid, und tanzte nicht ein einziges Mal. Auch nicht, als
ein fremder Mensch von einem anderen Tisch kam und mich aufforderte.
Wenigstens war Minski zum ersten Mal richtig sauer auf mich.
Um 22 Uhr warteten draußen Johnnys Vater, Anjas Vater und Silkes
Mutter in ihren Autos. Ich fuhr bei Anja mit. Carsten setzte sich nach vorn
neben Anjas Vater, der ihn gleich zuquasselte mit Geschichten aus seiner
eigenen Tanzschulzeit, während Anja und ich still hinausblickten auf die
nächtliche Schöneberger Szenerie mit Straßenstrich und allem, was
dazugehört.

Das KaDeWe, eigentlich «Kaufhaus des Westens», wird 1907 in der


Tauentzienstraße am Wittenbergplatz eröffnet. Im Zweiten Weltkrieg
wird es schwer beschädigt, als ein amerikanisches Kampfflugzeug in
sein Dach stürzt. 1950 ist Wiedereröffnung, doch erst nach
mehreren Umbauten wird es in den späten siebziger Jahren wieder
das gehobene Luxus-Warenhaus, das es bei seiner Gründung
einmal war. Derzeit hat es 60000 Quadratmeter Verkaufsfläche und
ist damit das zweitgrößte Kaufhaus Europas nach Harrod’s in
London.
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Geisterbahn

I
n letzter Zeit musste ich oft zum Ku’damm. Früher war ich ganz selten
da hingekommen, und plötzlich andauernd. Neuester Anlass war das
Auswahlgespräch für das Amerika-Stipendium, das im Hotel am Zoo
stattfand. Am U-Bahnhof Kurfüstendamm stieg ich aus und steuerte
zielstrebig das protzig vorgelagerte Messingportal des Hotels an, ging durch
eine automatische Tür zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Der
Fahrstuhl kam, und als die Tür sich gerade schließen wollte, sprang noch
schnell ein Junge mit rein. Er fragte gleich: «Gehst du auch zum
Auswahlgespräch?»
Ich sagte ja, und er sagte: «Cool. Ich bin Ben.»
Oben saßen schon zwei Mädchen auf einem Sofa, die ebenfalls zum
Auswahlgespräch wollten. Beide wirkten sehr selbstbewusst auf mich, so
wie Ben. Selbstbewusst und weltläufig. Ich fühlte mich klein und kindlich
neben denen. Eine Tür wurde geöffnet, und heraus traten vier weitere
Bewerber, die wohl gerade ihr Gespräch beendet hatten. Eine freundliche
Frau sagte: «Sie können jetzt reinkommen.»
Wir nahmen nebeneinander auf den vier Stühlen Platz, die noch
angewärmt waren von den vorangegangenen vier Kandidaten. Uns
gegenüber saßen vier Leute hinter einem Tisch, drei Männer und eine Frau.
Einer der Männer blickte ganz ernst, die anderen lächelten. Durch die
Fenster hinter ihnen konnten wir auf die herbstlichen Ku’damm-Bäume und
die verschnörkelten Fassaden sehen. Dann sollten wir uns nacheinander
vorstellen und kurz beschreiben, warum wir ein Jahr in den USA
verbringen wollten. Die Dunkelhaarige neben mir hieß Franziska. Sie redete
flüssig und freundlich und sagte, dass sie Amerika gern kennenlernen
wolle, weil wir alle sehr beeinflusst seien von der amerikanischen Kultur,
außerdem halte sie es generell für wichtig, den eigenen Horizont zu
erweitern. Das war eine geniale Antwort, fand ich und war sofort ratlos,
was ich dem noch hinzufügen könnte. Sie spiele außerdem Klavier, erzählte
Franziska, und lese gern. Was sie denn lese, wollte der eine freundliche
Mann wissen. Franziska antwortete: «Im Moment Hermann Hesse.»
Dann war ich an der Reihe. Ich war viel zu aufgeregt, eingeschüchtert
und auch ansonsten nicht fähig, mir jetzt noch schnell etwas Schlaues
auszudenken, und sagte daher, dass ich was von der Welt sehen wolle und
besonders Amerika, weil ich amerikanische Filme mögen würde. Welche
Filme ich denn möge, fragte der freundliche Mann wieder, und ich
erwiderte, wahrheitsgemäß, dass ich Filme mit Doris Day und Rock
Hudson möge. Franziska guckte mich belustigt an und der freundliche
Mann auch.
Nachdem Ben und das andere Mädchen sich vorgestellt hatten, bekamen
wir eine neue Aufgabe. Der freundliche Mann (immer redete er) meinte, wir
sollten uns jetzt vorstellen, wir seien also als Austauschschüler in den USA
und bei einer netten Gastfamilie gelandet, die in einem kleinen Ort in den
ländlichen Weiten des Heartlands wohne. Man verstünde sich gut, aber das
Umfeld sei ausgesprochen dörflich und gewöhnungsbedürftig für
Stadtkinder wie uns. Da würden wir nun bei einer Familienfeier auf reiche
Verwandte aus Kalifornien treffen, mit denen man sich blendend unterhält
und die am Ende des Tages der Meinung sind, hier würde man doch
versauern und nichts sehen von Amerika, und einen deshalb einladen, zu
ihnen zu ziehen; sie hätten ein großes, tolles Haus in Küstennähe, mit Pool
und vielen Partys. Was wir denn dazu sagen würden?
Ben lachte schon, als die Frage noch nicht ganz zu Ende gestellt war, und
sagte dann, zu meinem großen Erstaunen: «Was ist denn das für eine Frage?
Ab nach Kalifornien!»
Der freundliche Mann lächelte freundlich. Ich dachte: Schlau bist du ja
nicht, Ben. Wir Mädchen gaben andere Antworten. Das blonde Mädchen,
ihr Name war Ina, meinte, das könne sie nicht so einfach beurteilen, da
bräuchte sie mehr Informationen, ob das denn einfach so ginge zum
Beispiel und was die Gastfamilie dazu sagen würde. Das war etwas weniger
dreist, aber meiner Meinung nach hatte auch Ina den Hintergrund der Frage
nicht erfasst, bei der es natürlich darum ging, ob wir nur auf eigenes
Vergnügen aus waren oder ob wir uns auch als verantwortungsbewusste
Botschafter im interkulturellen Austausch begriffen. Immerhin sollten hier
Stipendien vergeben werden, und zwar vom Deutschen Bundestag.
Ich antwortete, in schön deutlicher Unterscheidung zu meinen
Vorrednern, dass ich die erste Familie keinesfalls vor den Kopf stoßen
würde. Sie hätten mich schließlich aufgenommen, ohne zu wissen, wer da
kommt. Es gehe ja nicht darum, möglichst viele tolle Sachen zu erleben,
sondern Neues kennenzulernen und auch selber Botschafter zu sein.
Während ich das sagte, nickten die Frau und der Mann mit dem ernsten
Gesicht die ganze Zeit über und strahlten pure Zustimmung aus. Dann sagte
Franziska, sie sähe das so wie ich. Die eine Familie hätte sich auf ein Risiko
und ein Abenteuer eingelassen, die anderen hätten einen erst eingeladen,
nachdem man sich gut verstanden hat. Warum hatten sie nicht längst selbst
einen Gastschüler in ihrem tollen Haus? Außerdem bilde ein mondänes
Umfeld in Kalifornien genauso nur einen kleinen Ausschnitt von Amerika
ab wie ein ländliches Gebiet. Wahrscheinlich sei das Dorf sogar
aufschlussreicher.
Wieder heftiges Nicken bei Frau und Mann, und auch ich staunte nicht
schlecht, wie Franziska noch mal einiges draufgesetzt hatte auf meine
Begründung. So jemanden hatte ich bislang noch nicht getroffen.
Danach gab es ein paar weitere Fragen und etwas Geplauder, bei dem Ina
und Ben zeitweise miteinander redeten, während Franziska oder ich gerade
sprachen. An deren Stelle hätte ich das lieber nicht so gemacht.
Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Wir wurden freundlich
verabschiedet, und draußen auf dem Sofa warteten schon die nächsten
Kandidaten, die sich gleich da hinsetzen würden, wo wir eben noch
gesessen hatten.
«Mich nehmen die bestimmt nicht», sagte Ben im Fahrstuhl.
«Du hättest das mit ‹Ab nach Kalifornien› vielleicht nicht so sagen
sollen, kann ich mir vorstellen», meinte Ina.
«Is halt so. Is mir auch egal, ob die mich auswählen, ich hab mich noch
bei anderen Organisationen beworben.»
Ben schlug vor, in das neueröffnete Marché-Restaurant am Ku’damm zu
gehen, da bekomme man frischgepressten Orangensaft. Franziska hatte
offensichtlich wenig Lust, sich weiter mit Ben zu unterhalten, und
verschwand Richtung U-Bahn. Wir restlichen drei suchten das Marché auf
und holten uns jeder einen frischgepressten Orangensaft, der lecker, aber
auch ganz schön teuer war. Ben kam aus Wannsee und Ina aus
Charlottenburg. Ich fand es toll, Bekanntschaft mit Leuten von anderen
Schulen und aus anderen Teilen der Stadt zu machen. Ina musste dann weg,
und ich wollte mir noch eine neue Jacke kaufen. Ben sagte, bei Marc
O’Polo gäbe es gerade gute Jacken.
«Ah», sagte ich. «Und wo ist der Laden noch mal?» Ich war da nämlich
nie drin gewesen. Ben kam mit, um mir das Geschäft zu zeigen. Wir gingen
den Ku’damm ein Stück weiter zurück, dabei redete Ben von seinem
Hockeyverein und erzählte, dass er Weihnachten wieder auf Teneriffa sein
werde. Im Marc-O’Polo-Shop zeigte er mir gleich die Jacken, die er super
fand. Ich fand sie in Ordnung, ein bisschen langweilig vielleicht, vor allem
aber kosteten die ungefähr dreimal so viel, wie ich überhaupt an Geld
dabeihatte.
«Hm», sagte ich. «Ich werd mal noch weitergucken.»
Ben schrieb mir seine Telefonnummer auf und meinte, ich solle doch
Bescheid sagen, wenn ich Nachricht von den Amerika-Fuzzis erhalten
hätte.
An dem Tag fand ich keine Jacke. Ich war viel zu wuschig und
angespannt, um zu shoppen. Auf dem Rückweg war ich sogar so sehr in
Gedanken, dass ich Hallesches Tor den Zug in die falsche Richtung nahm.
An der nächsten Station hörte ich mit halbem Ohr noch die Durchsage:
«Kochstraße, letzter Bahnhof in Berlin-West», verbrachte aber einen
Moment zu lange mit der inhaltlichen Auswertung dieser Ansage, und dann
rollte der Zug auch schon wieder in den Tunnel. Na gut. Immerhin war mir
das nicht in der U8 passiert, da war die Schleichstrecke durch den Osten
noch viel länger und ohne Ausstiegsmöglichkeit. Die U6 hielt immerhin
zwischendrin am Bahnhof Friedrichstraße. Der Zug wurde langsamer und
fuhr im Schritttempo durch den ersten Geisterbahnhof: Stadtmitte. Das war
weder besonders interessant noch besonders angenehm. Im gelben
Dämmerlicht erahnte man einen kaputten Bahnsteig und sah schemenhaft
einen oder zwei Wachposten mit umgeschnalltem Gewehr herumstehen, mit
denen man mehr Mitleid hatte als Angst vor ihnen. Sie hatten einen
wirklich unangenehmen Arbeitsplatz, und nach Amerika konnten sie auch
nicht fahren. Dann beschleunigte der Zug wieder etwas, bis er abermals
durch einen Geisterbahnhof zuckelte, Französische Straße. Friedrichstraße
stieg ich aus und wartete auf dem gegenüberliegenden Gleis auf den
nächsten Zug zurück.
Ich fühlte mich gar nicht wohl. Ich verspürte sogar eine leichte Panik.
Der Bahnhof mit den hässlichen schleimgelben Kacheln sah ein bisschen
aus wie der Bahnhof Hermannplatz, aber überall standen rauchende
Gestalten mit eingefallenen Gesichtern, Betrunkene und alte Leute mit
großen Taschen herum. Es roch komisch, die Lampen surrten und
verbreiteten ein kaltes, bläuliches Licht. Schnell wollte ich hier weg, ganz
schnell. Der Zug kam und kam nicht. Ich fixierte den Boden vor meinen
Füßen und rührte mich nicht von der Stelle. Als ich endlich wieder in der
U-Bahn saß, schlich der Zug noch langsamer als zuvor durch die beiden
Geisterbahnhöfe, und zum ersten Mal beim U-Bahn-Fahren dachte ich
darüber nach, dass ich in einem kleinen Kasten saß, der tief unter der Erde
durch einen schmalen, dunklen Tunnel rollte, und das machte mich
plötzlich nervös. Erst nach der Station Mehringdamm, als der Zug die
vertrauten Tempelhofer Bahnhöfe abklapperte, ließ das Gefühl allmählich
nach. Ich freute mich sehr, nach Hause zu kommen, und ich freute mich
sehr, meine Mutter zu sehen.

Am Sonntag, den 13. August 1961, dem Tag, an dem in Berlin die
erste, provisorische Version der Mauer gebaut wird, sperrt man
gleichzeitig alle Ost-Berliner U- und S-Bahnhöfe, die von Zügen aus
dem Westen passiert werden. Das betrifft vor allem Bahnhöfe im
Bezirk Mitte, da dieser wie eine Ausbuchtung in den Westteil
zwischen Kreuzberg und Wedding hineinragt. Die Eingänge zu den
Bahnhöfen werden verrammelt; Grenzsoldaten bewachen die
Gleisanlagen bei Tag und bei Nacht.
Auf den in nordsüdlicher Richtung verlaufenden U-Bahn-Linien U6
und U8 und der S-Bahn-Linie S2 durchqueren die West-Berliner
Fahrgäste nach der Durchsage «Letzter Bahnhof in Berlin-West»
fortan jene sogenannten Geisterbahnhöfe. Einzige Ausnahme ist der
Bahnhof Friedrichstraße. Dort kann man aussteigen, um nach Ost-
Berlin einzureisen. Oder um umzukehren, wenn man sich verfahren
hat.
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M
ir war nicht klar, wie die Chancen überhaupt standen, wie viele
Leute sich da auf wie viele Stipendien beworben hatten. Klar war
mir nur, dass sich in unserer Gruppe Franziska sehr gut und Ben sehr
schlecht präsentiert hatten.
Ich hatte mich vorher noch nie für etwas beworben, wusste also nicht, ob
ich gut war darin. Bei Preisausschreiben und beim Loseziehen hatte ich
jedenfalls nie viel Glück. Wenn ich mal gewonnen hatte, dann nur weil ich
nachgeholfen und «Ich möchte bitte auch mal was gewinnen» auf die
Postkarte geschrieben hatte. Beim «Berliner Kinderscheckheft», wo es
immer Tausende von Gewinnen gab, hatte ich in all den Jahren, in denen
ich ein Scheckheft besaß, nur einmal gewonnen.
Das Kinderscheckheft war, so wie das Erwachsenenscheckheft, das aus
mir unerfindlichen Gründen den Titel «Tag der offenen Tür» trug, ungefähr
postkartengroß und voller Gewinnspiele. Außerdem hatte jedes Heft eine
eigene Losnummer. Die Gewinnspiele, an denen ich teilnahm, brachten alle
nichts, aber über die Losnummer gewann ich einen roten Trainingsanzug,
gestiftet vom Axel Springer Verlag.
Mein Vater fuhr mich damals nach Kreuzberg, sehr dicht an die Mauer
ran, zum großen goldenen Springer-Hochhaus, wo der Gewinn abzuholen
war. Allerdings nicht einfach so. Um den Trainingsanzug zu bekommen,
musste ich mich von meinem Vater verabschieden und zusammen mit ein
paar anderen Kindern in eines der oberen Stockwerke fahren. Eine junge
Frau begleitete uns und übergab uns oben an eine andere Frau mit langen
roten Fingernägeln, Pagenschnitt und einem adretten Kostüm. Sie war sehr
geschäftig und nervös und verteilte uns um einen Tisch, auf dem Tabletts
mit Pfannkuchen standen, an denen wir uns aber nicht sofort bedienen
durften. Für jedes Kind stand ein Namensschild auf dem Tisch, damit man
wusste, wo man sich hinsetzen sollte. Mein Schild konnte ich aber nicht
finden. Ich wandte mich an die Frau mit den roten Fingernägeln, die gerade
ziemlich genervt zu einer anderen Frau sagte: «Wo bleibt denn der
Fotograf?»
«Ich finde meinen Namen nicht», sagte ich.
«Moment», meinte die Frau und schickte die andere hinaus, um den
Fotografen zu suchen.
«Ich finde meinen Namen nicht», wiederholte ich.
«Wie heißt du denn?»
«Ulrike Sterblich.»
Wir gingen zusammen um den Tisch herum.
«Guck mal hier», sagte die Frau und zog einen Stuhl vor, auf den ich
mich setzen sollte. Auf dem Schild stand «Ulrike Gelblich». So hieß ich
doch gar nicht.
Um den Tisch herum saßen jetzt sechs oder sieben Kinder
unterschiedlichen Alters; ein kleinerer Junge durfte seine Mutter
dabeihaben. Auf dem Stuhl neben mir fläzte sich ein ziemlich großer Junge,
der im Raum umherguckte, dabei so mit dem Kopf vor sich hin nickte und
dann zu mir sagte: «Cool, wa?»
Die Frau mit den Fingernägeln stellte sich an einem Ende des Tisches auf
und bemühte sich um ein Lächeln. Hinter ihr stand ein Mann im Anzug, er
hatte die Arme verschränkt und lehnte an der Fensterbank.
«Herzlich willkommen hier im Axel-Springer-Hochhaus», begann die
Frau. «Zunächst einmal möchte ich euch allen zu eurem tollen Gewinn
gratulieren. Ihr könnt euch ganz doll freuen, das sind wirklich ganz schicke
Trainingsanzüge, die ihr da gewonnen habt.»
Dann ging die Tür auf, und herein trat die andere Frau mit dem
Fotografen. «Na endlich, da sind Sie ja», sagte die Frau mit den
Fingernägeln. Dann wandte sie sich wieder uns Kindern zu: «So, bevor ihr
in eure leckeren Pfannkuchen beißt, stellt euch doch mal auf für ein Foto.»
Der Fotograf schob uns eine Weile im Raum herum und sagte
schließlich: «Hier ist gut.»
«Vielleicht sollten die Kinder für die Aufnahme in die Pfannkuchen
beißen», meinte die Frau, und der Fotograf sagte: «Sehr gut, bringense mal
Pfannkuchen her.»
Die Fingernagelfrau reichte die Anweisung weiter: «Holen Sie mal die
Pfannkuchen. Und einen Trainingsanzug!»
Die zweite Frau kam mit einem Tablett Pfannkuchen und einem
verpackten Trainingsanzug an. Wir nahmen uns jeder einen Pfannkuchen,
sollten mit dem Reinbeißen aber noch warten, bis der Fotograf das
Kommando dazu gab. Er hockte sich ein bisschen verkrümmt vor uns hin
und drehte an seiner Kamera.
«So, und jetzt alle in die Pfannkuchen beißen, so richtig mit Schmackes.»
Wir bissen alle in die Pfannkuchen.
«Na, noch mal! Freut euch ma noch mehr. Zeigt mir mal so richtig, wie
lecker die Pfannkuchen sind. So, jeder mit einem frischen Pfannkuchen,
bitte.»
Wir legten unsere angebissenen Pfannkuchen zurück auf das Tablett und
nahmen uns neue, in die wir wieder hineinbissen.
Am Ende bekam jeder seinen Trainingsanzug ausgehändigt, und man
begleitete uns wieder runter ins Foyer, wo die Eltern auf uns warteten.
Draußen war es schon dunkel geworden, nur der Grenzstreifen hinter der
Mauer lag in gleißend hellem Licht. Auf der Verpackung von meinem
Trainingsanzug klebte ein Etikett mit der Aufschrift «Ulrike Gelblich».
Am nächsten Tag war das Foto von uns in der Berliner Morgenpost
abgedruckt. Darunter stand: «Diese jungen Gewinner eines brandneuen
Trainingsanzugs ließen es sich schmecken bei Pfannkuchen und Kakao im
Axel-Springer-Hochhaus.»
1952 beginnt der eigens dafür gegründete «Tag der offenen Tür
e.V.» mit der Herausgabe des Berlin-Scheckhefts in stark limitierter
Auflage. Ziel ist die finanzielle Unterstützung bedürftiger Berliner
Journalisten und Künstler mit den Erlösen aus dem Verkauf des
Hefts und diversen Veranstaltungen. Mit einer auf dem Heft
aufgedruckten Losnummer nimmt man an einer Lotterie teil, bei der
es jedes Mal ein «Traumhaus» innerhalb der Stadt zu gewinnen gibt.
Einige Jahre lang gibt es zusätzlich zum Berlin-Scheckheft auch das
Kinderscheckheft, das nach demselben Prinzip funktioniert.
Das Berlin-Scheckheft existiert noch heute, allerdings hat es
Bedeutung und Popularität eingebüßt. Vielleicht, weil es nicht mehr
wie früher in limitierter Auflage erscheint und weil Rabatt- und
Couponaktionen sowieso überall präsent sind. Seit 2008 wird es
nicht mehr vom «Tag der offenen Tür e.V.» herausgegeben, und
Traumhäuser kann man auch nicht mehr gewinnen.
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D
er Brief mit der Zusage verschaffte mir eine neue Perspektive für
mein Leben. Alles war gut. Anbei lag die Einladung zu einem
Kennenlerntreffen beim «Verein Berliner Austauschschüler» im Amerika-
Haus in der Hardenbergstraße.
Wie vereinbart rief ich gleich bei Ben an, um ihm zu erzählen, dass ich
genommen worden war. Ben hatte ebenfalls ein Schreiben erhalten, mit
einer Absage natürlich, er betonte aber nochmals, das sei ihm egal. Ich
fragte ihn, ob er mit einer anderen Organisation fahren werde, und er sagte,
das sei nicht klar und im Moment auch nicht so wichtig, er habe jetzt
nämlich eine Freundin und würde deshalb sowieso nicht gern fortgehen.
War ich froh, keinen Freund zu haben.
Polizisten gingen vor dem Amerika-Haus auf und ab, am Eingang stand
ein hauseigener Sicherheitsmann. Der fragte mich, wo ich hinwollte, und
die Antwort «Zum Verein Berliner Austauschschüler» funktionierte als
Sesam-öffne-Dich. Danach musste ich noch meine Tasche vorzeigen, dann
sagte der Mann: «Die Treppe hoch.» Das Procedere war vielversprechend,
offenbar ließ man hier nicht jeden einfach so rein. Man musste schon
besonders qualifiziert sein.
Das Amerika-Haus hatte ich immer schön gefunden, ein flaches Gebäude
im Bauhaus-Stil mit einer Mosaiksteinfassade in Hellblau und Weiß und mit
drei orangefarbenen Querstreifen über einer langen Fensterfront. Es weckte
angenehme Schwimmbad-Assoziationen.
In einem mittelgroßen Raum mit Blick auf die Hardenbergstraße kamen
an diesem Nachmittag erstaunlich viele Schüler zusammen, die alle im
nächsten Jahr in die Welt hinausgehen wollten, die meisten in die USA,
einzelne auch nach Spanien, Japan, Griechenland oder Lateinamerika.
Vorne, auf einem Tisch, saß der freundliche Mann aus der
Auswahlkommission; er war der Leiter des Vereins und nannte sich Uli.
Uli begrüßte uns und erklärte, für ein erstes Kennenlernen würden wir
heute Kleingruppen bilden, ansonsten träfen wir uns ab jetzt jeden
Donnerstag hier, um uns gemeinsam auf das Auslandsjahr vorzubereiten.
Während er redete, tippte mir jemand von hinten an die Schulter, es war
Franziska. Sie saß mit Roots-Schuhen an den Füßen im Schneidersitz auf
ihrem Stuhl und sagte: «Hey.»
«Hey», antwortete ich, «Ja, super. Du auch.»
Sie zeigte mit dem Daumen nach oben. «Sorry, dass ich nach dem
Auswahlgespräch nicht mit euch mitgegangen bin, aber ich konnte diesen
Typ da echt nicht ab.»
«Nee, klar. Der wurde auch nicht genommen.»
«Hast du denn noch Kontakt mit dem?»
Ich wollte nicht sagen, dass ich ihn erst vor ein paar Tagen angerufen
hatte. Warum machte ich so etwas überhaupt? Ich war immer so unkritisch.
«Nee», sagte ich, «aber sonst wäre der ja hier.»
«Der war so ein Turboidiot.»
«Voll.»
Wir wurden in die angekündigten Kleingruppen aufgeteilt, die sich alle in
unterschiedlichen Räumen versammeln sollten. Meine Gruppe traf sich in
einem ziemlich großen Zimmer, in dem ein einsamer Stuhlkreis
herumstand. Wir waren fünf Schüler und ein Mann und eine Frau, die sich
Officer nannten. Die beiden hatten ihren Auslandsaufenthalt schon
absolviert und arbeiteten nun ehrenamtlich im Austauschschülerverein mit.
Um die Marschrichtung vorzugeben, machten die beiden Officer den
Anfang bei der Vorstellungsrunde. Zuerst redete die Frau. Sie sagte ihren
Namen und wie alt sie sei, dann sprach sie über ihre Familie. Offenbar kam
sie aus großbürgerlichen Verhältnissen im Bezirk Grunewald und hatte
immer die zweite Geige hinter ihrer Schwester gespielt, eine anscheinend
sehr hübsche und sehr sportliche Person, genau wie die tennisspielende
Mutter. Sie selber war nicht so sportlich und fühlte sich auch sonst der
Schwester unterlegen. Dieses Defizit kompensierte sie durch
Nahrungsaufnahme, was man sehen konnte.
Dadurch, erzählte sie, sei sie aber nur noch mehr zur Außenseiterin
geworden, auch in der Schule. Schließlich war sie dann ein Jahr weg
gewesen, in einer anderen Familie und gleichzeitig in einer anderen Kultur,
und das sei sehr gut für sie gewesen, denn dadurch habe sie sich vom Druck
ihrer Familie etwas lösen und mehr zu sich finden können.
Sie war aber nicht in den USA gewesen, sondern in Ecuador, und jetzt
studiere sie Lateinamerikanistik.
Ihre Vorstellung hatte bestimmt zwanzig Minuten gedauert und war sehr
persönlich und emotional ausgefallen. Danach sprach der Mann, und er
redete sogar noch länger als die Frau. Auch bei ihm ging es im
Wesentlichen um die Familie. Nachdem er fertig war, schwiegen wir alle.
Dann sollte jemand von uns über sich berichten. Erst dachte ich, niemand
würde sich melden, aber ein schlaksiger Junge namens Fabian sagte
Kaugummi kauend, er könne ja mal weitermachen.
Fabian sprach nicht so lange wie die zwei Officer. Sein Thema war ein
Unfall, bei dem er sich die linke Hand zerschmettert hatte, weshalb er nun
nicht mehr Gitarre spielen konnte. Alle starrten auf seine Hand, die mit
weißem Verband umwickelt auf Fabians sorgfältig zerschlissener Jeans
ruhte. Das Ganze war eine Katastrophe für ihn, denn er hatte eine Band, die
zum Senatsrockwettbewerb eingeladen war, wo er nun nicht dabei sein
konnte. Wir konnten alle sehr gut verstehen, dass ihn das frustrierte.
Nach Fabian und vor der Kaffeepause sollte noch jemand drankommen,
und es meldete sich Lisa. Lisa, sehr hübsch und sehr selbstbewusst und in
teuren Klamotten, sah nicht so aus, als könnte sie Probleme haben. Hatte sie
aber trotzdem. Nach ihrem Bericht, in dem mir nicht richtig klar geworden
war, was genau jetzt so schrecklich war in ihrem Leben, wirkte sie
erschüttert, und während der Kaffeepause nahm Fabian sie tröstend in den
Arm.
Bei mir wuchs indessen die Panik vor meinem Auftritt. Mir fiel nichts
ein, was ich erzählen konnte, schon gar keine interessanten Probleme. Ich
konnte hier nicht sitzen und sagen: «Ich gehe im Großen und Ganzen gern
zur Schule, habe keine Geschwister, aber ein paar gute Freundinnen, und im
Moment mag ich Frankie Goes to Hollywood.» Das entsprach nicht den
Erwartungen und würde allen zeigen, dass ich mich noch nie so richtig mit
mir und meiner Identität auseinandergesetzt hatte. Aus lauter Nervosität
trank ich eine Tasse Kaffee.
Als wir uns wieder zusammensetzten, hatte Lisa immer noch etwas
gerötete Augen, wirkte aber sonst ganz zufrieden. Zu meinem unendlichen
Entsetzen nickte der Officer gleich in meine Richtung und sagte: «Mach du
doch mal weiter, Ulrike.»
Ich schwitzte Ratlosigkeit und Koffein. «Ich weiß gar nicht, was ich
erzählen soll», begann ich. «Ich glaube, ich habe mich noch nicht so richtig
intensiv mit meinen Problemen auseinandergesetzt.»
Der Officer nickte verständnisvoll: «Und welche Probleme sind das?»
Ich überlegte. «Weiß ich jetzt nicht.»
«Das ist doch toll. Erzähl uns einfach nur was von dir, Ulrike.»
«Okay», sagte ich und berichtete, dass ich keine Geschwister, aber ein
paar gute Freundinnen hätte und dass ich meistens ganz gern zur Schule
gehe. Nachdem ich eine Weile ziellos herumgeplappert hatte, sagte ich
noch: «Neulich, in der U-Bahn, habe ich mich plötzlich ganz beengt gefühlt
in diesem kleinen Waggon so tief unter der Erde. Das war, als ich zu weit
gefahren und dann Friedrichstraße ausgestiegen bin, um wieder
umzukehren. Und als der Zug dann unterm Osten durch an den
Geisterbahnhöfen vorbeigeschlichen ist, wurde mir ganz mulmig.»
Ich war sehr froh, dass mir das noch eingefallen war. Die beiden Officer
lächelten freundlich, und die Frau meinte: «Danke, Ulrike. Felix, wie wäre
es, wenn du weitermachst?»
Felix hatte Angst vor dem Atomkrieg.
Hinterher ging ich mit Franziska zum U-Bahnhof Zoologischer Garten.
An der Treppe schlauchte uns ein blasses Mädchen um Geld an, Franziska
gab ihr 50 Pfennig, die sie lose in ihrer Hosentasche hatte.
«Wie war deine Kennenlernrunde?», fragte ich sie.
«Lustig», meinte Franziska.

Von seiner Eröffnung 1957 bis ins Jahr 1990 wird das Amerika-Haus
Berlin vom Kultur- und Informationszentrum des United States
Information Service betrieben. Nach der Wende, von 1990 bis 2006,
ist es dem US-Außenministerium unterstellt und nur noch
eingeschränkt zugänglich; auch der «Verein Berliner
Austauschschüler» muss ein neues Quartier beziehen. 2006 wird
das Haus an die Stadt Berlin zurückgegeben, seither ist die Nutzung
unklar. Es gibt allerdings Konzepte zur Gründung eines West-Berlin-
Museums.

Den Senatsrockwettbewerb gibt es schon längst nicht mehr.


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Zehlendorfer Häuser

E
s passierte so dies und das donnerstags im Amerika-Haus. Manchmal
bekamen wir einen Text mit, den wir lesen sollten, manchmal sahen
wir auch einen Film. Es ging dabei um Amerika und amerikanische
Geschichte, Deutschland und deutsche Geschichte, um kulturelle Identität,
Fremdheit, Familie. Die meiste Zeit unterhielten wir uns aber einfach. Man
fragte sich gegenseitig, auf welche Schule man ging, manche kannten sich
auch schon aus der Schule. Wenn ich den Namen meiner Schule nannte,
sahen einige mich komisch an und sagten: «Aha?» Ein Mädchen fragte:
«Glaubst du an Gott, oder was?» Noch nie im Leben hatte mich jemand
gefragt, ob ich an Gott glaubte, also, was sollte ich jetzt mal eben dazu
sagen?
Ein verblüffend großer Teil der Schüler kam aus dem Berliner
Südwesten, aus Zehlendorf, Wilmersdorf und Steglitz, manche aus
Charlottenburg, und an den Wochenenden waren jetzt häufig Feten, Feiern
und Rumsitzabende bei Leuten aus dem Amerika-Haus. Allein oder mit
anderen fuhr ich mit wenig benutzten Buslinien durch grüne Villenviertel
und saß dann in großen Häusern mit großen Wohnküchen und interessanten
Möbeln oder in weitläufigen Altbauwohnungen mit hohen Bücherwänden.
Manchmal waren Eltern zu sehen, meistens aber nicht. Trotzdem waren sie
immer präsent durch ihre Ordnung oder Unordnung, ihre Bücher, die Bilder
und Plakate an den Wänden, die Schallplatten und den Krimskrams in den
Regalen.
Arthur hatte sich die Haare erst blond und dann grün gefärbt, in der
Hoffnung, damit irgendwie aufzufallen oder zu provozieren. Es war
allerdings kaum möglich, als Jugendlicher in Berlin aufzufallen, denn es
war ja alles schon da. Alle Haarfarben, alle Styles, zur Schau getragenes
Kaputtsein genauso wie zur Schau getragenes Adrettsein. Es gab Punker, es
gab Popper, Rockabillys und Psychobillys, Waver, Rocker, Gruftis, rechte
und linke Skins, Teds, Mods, Ökos, Autonome, schwule Autonome und
Macho-Autonome, Lesben, Rastas, Kiffer, Fixer, Verrückte und Freaks in
jeder Altersklasse. Zum Glück waren auch die berühmten Wilmersdorfer
Witwen noch ausreichend präsent. Ihnen fiel die wichtige Rolle zu, ab und
zu doch noch den Kopf zu schütteln und sich zu ereifern über «die Jugend
von heute».
Arthur feierte seinen Geburtstag bei sich zu Hause, weit draußen in
Nikolassee. Eine U-Bahn-Querverbindung durch den Süden existierte nicht;
ich hatte die Wahl, erst mal nach Norden zu fahren, um dann mit der S-
Bahn wieder nach Süden zu gelangen, oder mich mit Bussen umständlich
nach Westen hindurchzuschlängeln. Ich machte die Bustour, stieg von einer
Linie um in die nächste und noch mal in eine andere. Im BVG-Atlas hatte
ich die Strecke vorher genau recherchiert.
In Lichterfelde wartete ich auf den 3er-Bus, mit dem ich bis zur
Potsdamer Chaussee durchfahren wollte. Die Blätter von den Bäumen lagen
schon mehrheitlich unten und taten sich zu braunen Verklumpungen
zusammen, die man optisch von der allgegenwärtigen Hundekacke nur
schwer unterscheiden konnte. Ich hatte meinen Walkman dabei und hörte
eine Mixkassette. Das machte so eine Reise erträglich, das war sogar ganz
schön.
Als der Bus kam, stieg ich ein und ging nach oben. Hinten drin saß
Fabian, wahrscheinlich auch auf dem Weg zu Arthurs Party. Fabian, der an
der Welt litt, weil er derzeit mit seiner Hand nicht Gitarre spielen konnte,
und den alle so bewundernswert fanden. Einmal, am Rande des
Kennenlernnachmittags, hatte ich ihn gefragt, was für Musik er denn mache
mit seiner Band. Daraufhin hatte er verzweifelt an mir vorbeigeguckt und
nichts geantwortet.
«Hallo», sagte ich jetzt und setzte mich vorsichtshalber nicht neben,
sondern schräg vor ihn. Er sah mich leicht verwirrt an, als müsste er erst
einmal überlegen, wer ich sei, dann sagte er auch: «Hallo.» Danach
schwiegen wir bis zur nächsten Haltestelle. Weil ich das kaum aushalten
konnte, fragte ich schließlich: «Fährst du zu Arthur?»
Fabian überlegte wieder einen Moment oder tat so, als müsste er einen
Moment überlegen. «Ja. Zu Arthur.»
Die Strecke dauerte ewig. Wie schön wäre es gewesen, einfach weiter
Musik zu hören und dabei Bäume, Häuser und Lichter vorbeirauschen zu
lassen. Den Walkman hatte ich aber schnell in meine Tasche gepackt, aus
Angst, Fabian könnte nachfragen, was ich da hörte, und es furchtbar finden.
So war es natürlich auch furchtbar, und außerdem interessierte sich Fabian
wahrscheinlich für nichts weniger als für meine Mixkassette.
Endlich bog der Bus in die Potsdamer Chaussee ein. Fabian sagte, ganz
von sich aus: «Nächste isses, ne?» Aber kaum waren wir ausgestiegen,
wollte er nach rechts, während ich mir ganz sicher war, dass wir erst ein
Stück nach links zu gehen hatten.
«Ich glaube, wir müssen hier lang», meinte ich und zeigte nach links.
Fabian zuckte die Schultern: «Keine Ahnung.»
Es war mir völlig schleierhaft, warum jemand einfach irgendwohin lief,
wenn er keine Ahnung hatte, aber das schien zu Fabians Gesamtkonzept zu
gehören. Danach ging er halb hinter, halb neben mir, wobei er sich
unaufhörlich räusperte. Als ich nach rechts in eine Seitenstraße abbog,
rannte er, den Blick immer auf den Boden gerichtet, erst einmal ein paar
Meter weiter geradeaus.
«Äh, hier lang», sagte ich schon wieder, und er: «Ach so.»
Wir gingen durch kleine Straßen, über nasses Laub und an Hecken und
Jägerzäunen entlang, hinter denen trotz Dunkelheit erkennbar prächtige
Häuser standen. Die Straßenführung wurde aber immer krummer, und ich
verlor leider die Orientierung. Ich dachte, dann frag ich mal Fabian. Was im
Übrigen auch die einzige Möglichkeit war.
«Weißt du, wo wir jetzt hinmüssen?»
Fabian seufzte und ließ theatralisch den Kopf hängen. «Ich dachte, du
weißt das.»
«Ich habe gerade etwas die Orientierung verloren.»
«Toll.»
Aktuell befanden wir uns in einer Straße, an der die Häuser sehr
imposant auf einer leichten Anhöhe hinter den Umzäunungen thronten,
während auf der anderen Straßenseite einfach nur Wiese war. Wortlos ging
Fabian ein paar Schritte vor, drückte auf eine Klingel und wartete. Ich
stellte mich halb hinter, halb neben ihn und sah hoch zur Tür der alten Villa,
aus der jetzt ein großer, gerader alter Mann heraustrat.
«Ja, bitte!», rief er.
«Entschuldigen Sie die Störung», sagte Fabian. «Wir suchen die …
äh …» Ich warf die Adresse ein. Der alte Mann streckte den Arm aus,
zeigte mit einem fuchtelnden Finger in die Richtung, aus der wir gerade
herkamen, und erklärte: «Hier runter. Um die Kurve. Bis zur nächsten Ecke.
Dann die erste links.» Das «Links» bellte er noch mal besonders heraus.
Dann schloss er die Tür. Fabian rief ihm noch ein «Vielen Dank» hinterher.
Arthur wohnte in einem modernen weißen Haus mit flachem Dach; ein
Mädchen in einem grünen Kleid und mit genauso grünen Schuhen öffnete
uns die Tür. Sie gestikulierte mit der Zigarette in ihrer Hand und sagte:
«Arthur ist gerade … ich weiß nicht … vielleicht in der Küche.» Das war
eine Begrüßung nach Fabians Geschmack, er blickte auf und fragte das
Mädchen nach einer Zigarette. Ich ging ins Haus und stand gleich in einem
großen Wohnraum mit schwarzen Ledersofas und hellen Teppichen. Auf
den Sofas saßen diverse Leute, die ihre Schuhe neben sich auf den Teppich
geworfen hatten, um es sich im Schneidersitz bequem zu machen.
«Heeeey!», rief einer und umarmte mich zur Begrüßung wie seine
allerbeste Freundin.
«Hey», sagte ich und strahlte eifrig zurück.
«In der Küche sind voll geile Salate!» Damit war er dann auch schon
wieder weg.
In der Küche lehnte Arthur an der Spüle. Um ihn herum stapelte sich
benutztes Geschirr, dazwischen standen Salatschüsseln, Baguettebrot,
Käsestücke, Weintrauben und Leute mit Tellern und Gläsern in der Hand.
«Hallo», sagte ich, und Arthur: «Heeey, schön, dass du gekommen bist,
nimm dir einfach, was du brauchst.»
Früher als die meisten machte ich mich irgendwann wieder auf den
umständlichen Rückweg.

Lied der Wilmersdorfer Witwen aus dem Grips-Theater-Musical


Linie 1 von 1986:
Wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin,
sonst wär’n wir längst schon russisch, chaotisch und grün.
Was nach uns kommt, ist Schiete,
denn wir sind die Elite.
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Messehallen am Funkturm

M
eine Oma brauchte sehr lange, bis sie es an die Tür geschafft hatte.
Ich war seit ein paar Wochen nicht mehr zu Besuch gewesen, aber
meine Mutter hatte mir schon erzählt, dass es ihr in letzter Zeit schlechter
ging. Ich stand oben vor der Wohnungstür neben der letzten Treppe, die
zum Dachboden führte, und hörte, wie sie von weitem «Mo-ment» rief und
«Komme ja schon!». Schließlich öffnete sie mir. Kein Wunder, dass sie so
lange gebraucht hatte, sie konnte fast gar nicht mehr gehen. Ich brachte sie
zurück ins Bett und holte mir in der Küche ein Glas Wasser, damit setzte ich
mich zu ihr.
«Trinkst du wieder ein olles Wasser!», sagte sie.
«Wie geht’s?», fragte ich.
«Ach, der olle Fuß.» Oma guckte durch ihre dicken Brillengläser zum
Fenster hinaus. Über den Hinterhof sah man auf Neuköllner Dächer.
«Kommst du von der Schule, ja?»
«Genau.»
Sie schnappte kurz nach Luft, der Fuß schmerzte. Es tat mir leid, dass ich
sie zur Tür geklingelt hatte, dadurch war es bestimmt schlimmer geworden.
«Na ja. Haben wir ja schon bald wieder Weihnachten.»
Die alte Wohnung mit der bettlägerigen Oma hatte etwas Geisterhaftes,
wie man da im Schlafzimmer saß und das Wohnzimmer eigentlich nicht
mehr betreten musste. Zwischendrin ging ich doch noch mal rüber in die
Stube, einfach nur um dort gewesen zu sein. Ich trat kurz raus auf den
Balkon, fröstelte und ging wieder rein. Die große Holzuhr auf dem Schrank
tickte so laut, wie sie immer getickt hatte, die Dielen knarrten an denselben
Stellen, an denen sie immer geknarrt hatten.
Aus dem Alter, in dem man die Weihnachtsgeschenke selber bastelt, war
ich langsam herausgewachsen. Andererseits war das Taschengeldbudget
nicht so, dass ich richtig gute Geschenke hätte kaufen können, zumindest
nicht für Erwachsene, die ihr eigenes Geld hatten. Trotzdem machte ich
nach dem Besuch bei Oma einen Stopp bei Karstadt am Hermannplatz, weil
ich noch Weihnachtsgeschenke brauchte. Eine Weile irrte ich durchs
Kaufhaus, bis ich dringend auf Toilette musste.
Auf der Suche nach den Kundentoiletten kam ich an der
Ausstellungsfläche mit dem Weihnachtstinnef vorbei, den ich mir ohne
großes Interesse ansah, bis ich vor einer Reihe kleiner plüschiger
Schneemänner stand und einen von denen in die Hand nahm. Der
Schneemann hatte unten am Bauch einen gelben Punkt mit der Aufschrift
«PRESS». Ich drückte PRESS, und der kleine plüschige Schneemann
begann zu singen. Dabei wackelte er mit dem Kopf und ruderte mit seinen
Stummelärmchen. Das war unfassbar bescheuert. Ich drückte noch ein
weiteres Mal. In der Hand hielt der Schneemann ein Schild aus Filz mit der
Aufschrift Let It Snow. Das Schild war falsch herum angebracht, sodass
man es kaum lesen konnte, und wenn der Schneemann singend mit den
Ärmchen ruderte, haute er sich das Schild gegen den Kopf. Ich drückte
abermals den Knopf. Wieder zappelte der Schneemann in meiner Hand wie
ein kleines, pelziges Tierchen, und dabei sang er eifrig die drei
Weihnachtslieder, die er halt konnte. Ich stellte ihn zurück ins Regal, nahm
einen anderen Schneemann gleicher Bauart in die Hand und drückte erneut
PRESS. Nun musste ich wirklich sehr dringend zur Toilette und machte
mich schnell davon.
Während ich am Waschbecken stand und mir die Hände wusch, fühlte ich
immer noch das kleine weiche Gezappel darin, wie einen Phantomschmerz.
Ich ging zurück zum Regal mit den lächerlichen Schneemännern. Meinen
ersten Schneemann erkannte ich sofort wieder, er hatte einen flacheren
Hinterkopf als die anderen, und seine Augen waren etwas zu dicht
beieinander angeklebt worden. Ich nahm ihn, drückte nochmals seinen
Knopf und trug ihn zur Kasse.
Für meine Mutter hatte ich jetzt ein wunderbares Geschenk.
Früher waren wir in der Adventszeit immer zum Indoor-
Weihnachtsmarkt in den Messehallen am Funkturm gefahren, in denen
unendlich viel Kinderunterhaltung geboten wurde. Man konnte backen,
Wände bemalen, hüpfen, Karussell fahren, Puppentheater angucken und
neue Spiele ausprobieren, die noch gar nicht auf dem Markt waren. In einer
Halle gab es eine Ausstellung mit Krippen aus aller Welt, in einer anderen
fuhren ausschließlich Modelleisenbahnen.
Trotz des riesigen Angebots war das Wichtigste beim Weihnachtsmarkt
in den Messehallen, dass man einen dieser silbernen Heliumballons mit sich
herumtrug, der magisch und glänzend in der Luft schwebte, nur durch ein
buntes Geschenkband mit dem Handgelenk verbunden. Wenn man ihn
berührte, knisterte die dünne Folie, und einen speziellen Geruch hatte er
auch. Der Feind der schönen Ballons war die schiere Höhe der Messehallen.
Hielt man seinen Ballon nicht gut fest oder löste er sich vom Handgelenk,
segelte er grausam lange Richtung Decke mit seinem
Geschenkbandschwanz und klebte dann da, traurig und unerreichbar fern an
den kalten Metallstreben. Ein furchtbarer Anblick.
Meine Mutter freute sich sehr über den kleinen singenden
Zappelschneemann. Er wurde zum Grundstein einer ganzen Sammlung
singender Weihnachtsgimmicks.

Der riesige Weihnachtsmarkt unterm Funkturm, der die Hälfte der


Messehallen belegte, existierte bis 1983. An seine Stelle tritt von
1984 an der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche.
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D
as Gründungsjahr der Stadt Berlin auf 1237 zu datieren erschien mir
nach den Erklärungen im Geschichtsunterricht nicht vollkommen
schlüssig, trotzdem wurde 1987 zum großen Jubeljahr der 750-Jahre-Berlin-
Feiern erkoren. Systemübergreifend in West und Ost, wie man las. Der
Winter scherte sich nicht darum, er war eiskalt, und an einem Tag im Januar
krachten auf dem vereisten Mariendorfer Damm überall die Autos
ineinander. Ein paar Tage später durften gar keine privaten Pkws fahren, es
gab den ersten Smog-Alarm seit Jahren. Die öffentlichen Verkehrsmittel
waren an diesem Tag deutlich voller als sonst. Es schneite wieder und
wieder, und alle freuten sich, als er endlich weg war, der Winter.
Auf den Straßen, in öffentlichen Gebäuden und in allen Geschäften
tauchte jetzt das 750-Jahre-Berlin-Logo auf, ein Quadrat, bestehend aus vier
Unterquadraten. Im ersten Quadrat befand sich ein rotes Dreieck, im
zweiten eine blaue Kurve, im dritten ein gelber Kreis und im vierten die
Inschrift «750 Jahre Berlin 1987». T-Shirts, Tassen, Taschen, Fähnchen,
Aufkleber, Poster und Notizblöcke wurden mit dem Logo bedruckt. Wir
nahmen das so am Rande zur Kenntnis.
Interessanter war, dass es jetzt im Radio einen neuen Sender gab, der
weder zum SFB noch zum RIAS gehörte. Der erste Vorbote des
Privatradios. Eigentlich waren es sogar zwei neue Sender, die sich aber eine
Frequenz teilen mussten. Tagsüber lief der Privatsender Hundert,6, der
damit genauso hieß wie die Frequenz. Hundert,6 spielte keine besonders
tolle Musik und war auch sonst nicht dazu geeignet, mich von den
Jugendwellen RIAS 2 und SFB 2 wegzulocken.
Um 19 Uhr allerdings beendete Hundert,6 vorläufig das Programm, und
zwar immer mit der Nationalhymne. Kaum war sie zu Ende, wurde ihr
Nachklang mit einer Klospülung entsorgt. Die Klospülung war das Signal
zum Sendebeginn von Radio 100, dem Chaotensender. So nannten ihn
jedenfalls die Leute, die gern Hundert,6 hörten. Radio 100 hatte nur vier
Stunden Sendezeit, von 19 bis 23 Uhr. In der ersten Stunde liefen meistens
Berichte auf Kurdisch, Türkisch oder Polnisch, von denen man nur etwas
hatte, wenn man Kurdisch, Türkisch oder Polnisch sprach, aber danach ging
es drei Stunden lang sensationell ungewöhnlich zu. Die Moderatoren
sprachen ungeschliffen, fielen sich gegenseitig ins Wort, bekamen Lach-
und Hustenanfälle und spielten an Musik einfach das, was sie persönlich
gut fanden, egal ob es neu war oder alt und in den Charts oder nicht. Um
23 Uhr, zur Sendeübergabe an Radio Hundert,6, wurde ein
achtzehnstündiges Pausensignal angekündigt.
Ein paar Leute vom Amerika-Haus hörten auch gern das neue Radio 100,
und wir unterhielten uns darüber, als wir an Pfingsten alle mit der U-Bahn
zur Friedrichstraße fuhren, zum gemeinsamen Ost-Berlin-Ausflug, dem
ersten in meinem Leben. Ich hatte im Büro für Besuchs- und
Reiseangelegenheiten im Forum Steglitz den Antrag für ein Tagesvisum
gestellt. Das Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten (BfBR) war eine
der wenigen Institutionen im Forum Steglitz, die ich nie zuvor betreten
hatte. Es ähnelte den polizeilichen Meldestellen, wo man ebenfalls mit
ausgefüllten Formularen in auf totalen Reizentzug ausgelegten Räumen und
Fluren herumsaß, um irgendwann von den Schergen undurchsichtiger
Instanzen Stempel und Papiere zu bekommen, die erforderlich waren für
irgendwas. Erst hatte ich im BfBR meinen (gebührenpflichtigen) «Antrag
auf Einreise in die DDR» abzugeben, danach musste ich noch einmal hin,
um den «Berechtigungsschein für den Empfang eines Visums» abzuholen,
zusammen mit anderen Zetteln, die noch auszufüllen waren, damit ich das
berechtigte Visum nun auch empfangen konnte.
Ich fragte mich, wie die DDR-Bürger, die dort arbeiteten, jeden Tag
dahin und abends wieder zurück über die Mauer kamen und ob sie in ihren
Arbeitspausen Gelegenheit hatten, durch die kapitalistische Warenwelt im
Forum Steglitz zu stromern, ob sie sich mal einen Pulli bei Jean Pascale
kauften oder eine Hose bei Wit Boy. Oder ob dort nur ausgewähltes
Personal arbeitete, das dem Konsumterror des Westens zutiefst ablehnend
gegenüberstand. Ich hätte fragen können, aber man hätte mir
wahrscheinlich sowieso keine aufschlussreiche Antwort gegeben. Und dann
vielleicht auch keinen Visumsberechtigungsschein ausgestellt.

Wir stiegen Friedrichstraße aus und folgten den Anzeigen zur Einreise in
die DDR. «Bürger Berlin West» stand auf einem Leuchtschild, «Über Bstg.
B». Wir gingen Treppen hinauf und dann durch einen langen unterirdischen
Tunnel, in dem von unten die Schritte hallten und von oben die
Leuchtstoffröhren surrten, wie sie nur im Osten surren konnten. Wir sagten
alle nicht mehr viel, ebenso wenig wie die anderen Leute, die auch nach
Ost-Berlin wollten. Schließlich gelangten wir treppab wieder auf einen
Bahnhof, diesmal S-Bahn. Den S-Bahnhof mussten wir ganz durchqueren,
danach ging es wieder ein paar Treppenabsätze hoch, und durch ein
Labyrinth aus furnierten Stellwänden gelangten wir zum eigentlichen
Grenzübergang.
Noch um eine Ecke mussten wir biegen, hin zu den Kontrollkabinen für
«Bürger Berlin (West)». Dort stellten wir uns an. Ich hatte überhaupt keinen
Überblick mehr, in welchem Teil des Bahnhofs ich hier eigentlich stand und
überhaupt. Vor mir verschwand einer nach dem anderen durch eine der
schmalen Türen, bis ich schließlich selber in die Kontrollkabine eintrat. Sie
war lang und eng und beherbergte einen erhöht hinter einem Glasfenster
sitzenden Grenzpolizisten. Den grüßte ich, wie es die Konventionen des
zivilen Miteinanders so vorsehen, obwohl das zivile Miteinander hier schon
nicht mehr vorhanden war, denn einer von uns war nicht in Zivil.
Durch eine Öffnung schob ich ihm die erforderlichen Papiere für die
Einreise in die Hauptstadt der DDR hindurch, meinen behelfsmäßigen
Berliner Personalausweis, den «Berechtigungsschein für den Empfang eines
Visums», eine Zollerklärung sowie Wasweißichnichtwasnoch. Der Grenzer
sah sich das alles an. Er sah auch mich an und verglich mich mit dem Bild,
das in meinem Ausweis war und auf dem ich viel kürzere Haare hatte als
jetzt. Dann guckte er hinter mich, und zwar nach oben. Ich drehte mich,
seinem Blick folgend, auch in diese Richtung und entdeckte den langen
schmalen, schräg aufgehängten Spiegel, der die Kabine in ihrer ganzen
Länge abdeckte. Guckte der, was ich mit den Händen machte? Was für
Schuhe ich anhatte?
Wie zum Abschluss jeder ordentlichen Kinderpost kritzelte der Mann
noch etwas und stempelte hier und stempelte da. Dann schob er mir meine
Papiere zurück, darunter das Tagesvisum. Es summte laut, die Tür öffnete
sich, der Mann sprach einen freundlichen Gruß. Ich trat aus der Kabine, und
die Tür krachte hinter mir zu.
Die meinten es ganz schön ernst mit ihrer übertriebenen Grenze.
Ein paar Holzfurniermeter weiter musste ich mein Geld umtauschen,
25 Deutsche Mark in 25 Ostmark. Eine Frau kontrollierte meinen
geblümten Rucksack, danach ging es noch einmal um eine Nadelöhrkurve,
und dann, nach einem kurzen Durchgang und ein paar vergleichsweise
harmlosen Absperrvorrichtungen, stand ich endlich in Berlin (Ost).

Das Grundgesetz weist Berlin (West) nach der deutschen Teilung als
Bundesland der BRD aus; dieser Status ist nach dem
Viermächteabkommen aber nicht offiziell anerkannt. Berlin hat
deshalb keine Stimmrechte in Bundestag und Bundesrat, die
Berliner wählen nicht mit bei den Bundestagswahlen und besitzen
anstelle eines normalen Ausweises der Bundesrepublik nur einen
«behelfsmäßigen Personalausweis», der seinen Inhaber zwar als
deutschen Staatsangehörigen ausweist, aber nicht die Bezeichnung
«Bundesrepublik Deutschland» und auch keinen Bundesadler trägt.
Während Ausländer und echte Bundesbürger mit echten Ausweisen
spontan nach Ost-Berlin reisen können, müssen die Berliner vorher
umständliche Antrags- und Genehmigungsprozeduren durchlaufen.

Radio 100 wechselt irgendwann die Frequenz, von 100,6 nach


103,4 MHz, und geht bald Vollzeit auf Sendung. Der «erste
linksalternative Privatsender» ist eine wichtige Plattform für die
DDR-Bürgerrechtsbewegung im West-Berliner Exil. In der
regelmäßigen Sendung «Radio Glasnost» werden auf Kassette
eingeschmuggelte Tondokumente von Regimekritikern gesendet,
wird über oppositionelle Veranstaltungen berichtet und Musik von in
der DDR unerwünschten Bands gespielt. 1991 geht Radio 100 in die
Insolvenz.
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Ost-Berlin, Alexanderplatz

E
in paar Meter weiter um die Ecke fanden wir vor dem Tränenpalast
wieder zusammen und hörten Uli zu, der uns erklärte, wir würden nun
alle ins Zeughaus gehen und danach könnte jeder den Tag so verbringen,
wie er wolle. Vor Mitternacht müssten wir die DDR aber wieder verlassen
haben mit unserem Tagesvisum.
«Und wenn man erst nach Mitternacht auscheckt?», fragte einer.
«Probier es nicht aus», sagte Uli.
«Ja, aber was passiert dann?»
«Dann verwandeln sich hier alle in Vampire und Werwölfe.»
Er zeigte uns am Tränenpalast den Ausgang nach Westen, danach gingen
wir durch die Friedrichstraße, die es zum Teil ja auch bei uns gab. Unter
den Linden bogen wir nach links ein. Einige kannten das alles schon,
andere bestaunten die seltsame Szenerie. Ich gehörte zu den Staunenden.
Unter den Linden war als Geschäftsstraße angelegt, trotzdem gab es keinen
Laden, in dem ich etwas hätte kaufen wollen. Da war mal ein Reisebüro für
Reisen nach Ungarn und mal ein Geschäft mit Uhren und eins mit
hässlichen Taschen. Die Geschäfte waren groß, hoch und ziemlich leer.
Wenn ich mich umdrehte, lag weit hinter all den Lindenbäumen das
Brandenburger Tor von der anderen Seite, und auf der gegenüberliegenden
Straßenseite sah ich die Staatsoper, an der mein Großvater früher gearbeitet
und den Weihnachtsbaum geschmückt hatte, solange er das noch durfte.
Im Zeughaus war das Museum für Deutsche Geschichte untergebracht,
dort sahen wir uns in der Ausstellung «40 Jahre sozialistisches Vaterland
DDR» die auf dieser Seite der Mauer offiziell herrschende Interpretation
vom Lauf der Dinge an, was einige absurd fanden, während andere kühl
behaupteten, die Darstellung von Geschichte sei doch überall ideologisch
gefärbt.
Am Ausgang schärfte Uli uns ein letztes Mal ein, rechtzeitig auszureisen
und vorher um Himmels willen nicht den Ausweis oder das Visum zu
verlieren. Anschließend zersplitterte sich alles in kleine Grüppchen und
zerstob in unterschiedliche Richtungen. Franziska wollte eine
Buchhandlung suchen. Ich hatte vorher den Tipp bekommen, dass es am
Alexanderplatz eine größere Buchhandlung geben solle, in der man unter
anderem auch die guten Klaviernoten der Edition Peters für einen Bruchteil
des West-Preises kaufen konnte. Irgendwie mussten wir unsere Ostmark ja
loswerden, wieder mit rausnehmen durfte man das Geld nicht. Wir gingen
also zum Alexanderplatz, Franziska und ich, außerdem Paula und Diana.
Franziska und Paula kannten sich von der Schule, wo sie in Parallelklassen
gingen, und Diana war die Einzige, die bei mir in der Nähe wohnte,
weshalb wir oft zusammen zu den Treffen und wieder zurück fuhren. Sie
hatte den Fehler begangen, sich etwas zu auffällig anzuziehen für den Ost-
Ausflug mit ihrer ziemlich bunten Hose. Ein paar ältere Leute starrten uns
unverfroren an. Eine Frau blieb stehen und schüttelte demonstrativ den
Kopf, und ein Mann beschimpfte uns sogar. Hier war das Erregen von
Aufmerksamkeit noch ganz einfach.
Der Alexanderplatz war verdammt weitläufig. Wir gingen an der
Weltzeituhr vorbei und an dem Centrum-Kaufhaus, das so aussah, als hätte
man eine riesige Häkeldecke darübergelegt, so eine aus dickem, weichem
Plastik, und fanden schließlich die Buchhandlung, die wir gesucht hatten.
Ich kaufte mir eine Klaviernotensammlung und eine Ausgabe von
Cervantes’ Don Quichotte. Ein paar Mark wurde ich dabei los. Diana hatte
die großartige Idee, anschließend auf den Fernsehturm zu fahren. Daran
hatte bislang noch keiner gedacht, obwohl es so naheliegend war. Was
könnte man in Ost-Berlin Besseres tun, als sich mal selbst da
hochzubegeben, in diese rätselhafte goldene Kugel, die man auch im
Westen immerzu sehen konnte, um von dort aus runterzugucken auf das
ganze Berlin, West und Ost, mitsamt Mauer durch die Mitte.
Leider wurde nichts daraus. Vor dem Fernsehturm stand eine irrsinnig
lange Schlange, Wartezeit mindestens zwei Stunden. Wir liefen also eine
Weile ziellos herum und setzten uns dann in eine Kneipe, in der alle
rauchten und Bier tranken und wo nichts beschönigt wurde, weder am
Sozialismus noch sonst irgendetwas. Als nach ziemlich langer Zeit jemand
an unseren Tisch kam, bestellten wir Fassbrause und Käsebrote, und
während wir auf unsere Getränke warteten, guckte ein junger Mann, nur ein
paar Jahre älter als wir, vom Nebentisch zu uns rüber.
«Wo seitern her?», fragte er schließlich.
«Aus’m Westen», antwortete Paula.
«Ja, dit seh ick, aber woher?»
«Berlin», sagte ich.
«Schön. Jut jehts euch. Könnta mal hier so rüberkomm, wa.»
«Wenn man sich ein Visum besorgt hat.»
«Ick weeß. Wat habta euch so anjekiekt?»
«Wir waren im Zeughaus.»
Der Mann lachte sich kaputt. «Na großartich!»
Wir erhielten unsere Lieferung Fassbrause und Käsebrote.
«Ick jeh heute wieder rufen», sagte der Mann.
«Was rufst du denn?», fragte Franziska.
«Am Brandenburger Tor.» Der Mann machte eine Kunstpause. «Da
treffenwa uns und rufen, dass die Mauer wegsoll.»
«Im Ernst?»
«Mein voller Ernst. Hamwa jestern schon jemacht. Ma sehn, wat heute
passiert.»
Wir kauten auf unseren Broten herum.
«Was ist denn gestern passiert?», fragte Franziska.
«Na, noch nich so viel. David Bowie hamwa jehört, wa. ‹Heroes›. Hat er
uns jewidmet.»
Vor dem Reichstag lief gerade das dreitägige «Concert for Berlin» mit
David Bowie, den Eurythmics, Genesis und was weiß ich noch wem.
Angeblich waren die Boxen so aufgestellt, dass man die Musik auch
jenseits, beziehungsweise diesseits, der Mauer gut hören konnte, und
offenbar stimmte das.
«Das ist ja spannend», meinte Paula.
«Und warum seid ihr da nich? Bei dem Konzert? Ick würd da sofort
hinjehn, wenn ick könnte.»
«Zu teuer», sagte Diana.
Der Mann lachte wieder los. Er freute sich über diesen Aspekt
ausgleichender Gerechtigkeit. «Jaaaa», rief er, «dit is denn wieder der
Kapitalismus, wa!» Er trank sein Bier aus, dann stand er auf, gab jeder von
uns die Hand, sagte: «Allet Jute noch. Grüßt mir West-Berlin», und ging.
Wir bezahlten unsere Rechnung, wurden dabei aber leider nur sehr wenig
Geld los, zusammen keine fünf Mark. Wo wir jetzt hinwollten, war völlig
klar: Wir wollten zum Brandenburger Tor.
Wir irrten ein wenig desorientiert durch Straßen mit braungrauen,
bröckeligen Häusern und sehr wenigen Autos, bis wir wieder die Straße
Unter den Linden gefunden hatten. Es war erst später Nachmittag, deshalb
trödelten wir in Richtung Westen. Diana zog mit ihrer Hose noch immer
Blicke auf uns.
Beim Spazierengehen stellte sich heraus, dass alle außer mir schon Post
von ihren amerikanischen Gastfamilien erhalten hatten und jetzt ein
bisschen mehr darüber wussten, was sie demnächst erwartete. Diana hatte
das große Los mit einer offenbar sehr coolen Familie in Kalifornien
gezogen, Franziska ging nach Vermont und Paula nach Florida. Ich war
bislang nur einer Region zugeordnet worden, bestehend aus den Midwest-
Staaten Minnesota, North und South Dakota, Iowa und Nebraska. Das war
die Region, in die keiner wollte.
Schon weit vor dem Brandenburger Tor verdichteten sich die Zeichen,
dass unser Mann in der Kneipe keinen Stuss geredet hatte. Überall sahen
wir Volkspolizisten, je näher am Tor, desto höher die Vopo-Dichte.
Irgendwann kamen wir gar nicht mehr weiter, zwei Polizisten stellten sich
uns in den Weg: «Bitte, kehren Sie um.»
«Wir wollen zum Brandenburger Tor», sagte Paula, aber die Vopos
meinten, das sei momentan nicht möglich.
«Warum nicht?», fragte Franziska.
«Bitte kehren Sie um», wiederholten die Polizisten und zeigten mit
ausgestrecktem Arm in die andere Richtung.
Wir machten kehrt, und Franziska seufzte: «Schon ein bisschen
anstrengend hier.»
Ich drehte mich noch einmal um. Über Ost-Berlin lagen graue Wolken,
im Westen schien die Sonne.

Am 6. Juni 1987 steht David Bowie beim ersten von zwei Abenden
des «Concert for Berlin» auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude
in West-Berlin und verliest auf Deutsch eine Botschaft: «Wir
schicken unsere besten Wünsche an all unsere Freunde, die auf der
anderen Seite der Mauer sind.» Danach singt er «Heroes», ein Lied,
das er zehn Jahre zuvor in Berlin komponiert und aufgenommen hat.
Auf der anderen Seite der Mauer haben sich junge Leute
versammelt, um die Musik zu hören. Es kommt zu ersten
Zusammenstößen mit der Polizei und der Nationalen Volksarmee.
Am zweiten Abend, an dem unter anderem die Band Genesis und
die Eurythmics spielen, werden die Krawalle lauter und die
Zwischenfälle heftiger; es gibt Festnahmen.

Der sogenannte Tränenpalast (eigentlich: «Grenzübergangsstelle


Bahnhof Berlin Friedrichstraße») wird ein Jahr nach dem Mauerbau
am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße errichtet. Im Inneren
der Halle finden die Grenzkontrollen für Ausreisende von Ost- nach
West-Berlin statt. Der Grenzübergang Friedrichstraße ist nur mit S-
und U-Bahnen zu erreichen. Ab 1991 wird der Tränenpalast als
Veranstaltungsort für Konzerte, Shows und Tanzabende genutzt.
2006 muss der Betrieb eingestellt werden, nachdem der Berliner
Senat das Grundstück verkauft hat. Der Tränenpalast steht unter
Denkmalschutz, unmittelbar neben der Halle wird jedoch 2009 ein
neuer Bürokomplex, das Spreedreieck, fertig gestellt.
Im September 2011 wird im Tränenpalast die ständige Ausstellung
«GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung» eröffnet, in der
man sich unter anderem die Original-Abfertigungskabinen ansehen
kann.
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Brandenburger Tor

M
ein restliches Geld hatte ich unauffällig in einer Blumenrabatte
liegen lassen, etwas Besseres war mir leider nicht eingefallen. Jetzt
saß ich mit Diana in der U6 nach Mariendorf. Wir waren ziemlich alle, und
es fühlte sich seltsam an, einfach so wieder im Westen zu sein, in einer
komplett anderen Welt.
Am Abend sah ich zusammen mit meiner Mutter die Nachrichten.
«Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Volkspolizei nahe
am Brandenburger Tor in Ost-Berlin» war die Topmeldung. Man sah, wie
einem Kameramann sein Aufnahmegerät aus der Hand geschlagen wurde,
während die Leute «Die Mauer muss weg!» und «Gorbi! Gorbi!» riefen. Es
war überhaupt keine geordnete Demonstration von im Demonstrieren
geübten Demonstranten. Es wirkte eher, als hätten sich ein paar Leute zu
einer Art Mutprobe verabredet, die darin bestand, verbotene Sachen zu
krakeelen. Der Mann in der Kneipe hatte schließlich auch nicht gesagt, er
gehe demonstrieren, er sagte ja bereits, er gehe «rufen».
Ein paar Tage später traf ich Diana in der U-Bahn, um abermals zum
Brandenburger Tor zu fahren, diesmal westseitig. Alle im «Verein Berliner
Austauschschüler» hatten Einladungen bekommen, um unter den geladenen
Gästen bei der Rede von Ronald Reagan dabei zu sein. Das hatte für
Kontroversen gesorgt. Einige wollten hingehen, andere wollten lieber an
den Demonstrationen gegen Reagan teilnehmen. Man müsse doch kein Fan
von Reagan sein, um sich das anzusehen, wenn man die einmalige
Möglichkeit dazu habe, sagten die einen. Man werde medial automatisch
dem Jubelvolk zugeschlagen, wenn man da teilnehme, meinten die anderen.
Kein Einziger vertrat die Ansicht, man sollte zum Brandenburger Tor
fahren, um Ronald Reagan zuzujubeln. Und wir waren immerhin alles
Leute, die bald für ein ganzes Jahr in die USA ziehen wollten. Reagan war
wirklich verdammt unpopulär. Die amerikanischen Sicherheitsbehörden, die
sich im Vorfeld zweifellos eingehende Gedanken darum gemacht hatten,
wer in die hochsensible Zone um das Rednerpult des Präsidenten
eingeladen werden sollte, verbanden offenbar andere Vorstellungen mit
unserem Verein. Gleichwohl waren wir völlig harmlos – selbst diejenigen
aus unserer Gruppe, die zu den Anti-Reagan-Kundgebungen gehen wollten,
verfielen nicht auf die Idee, ihre persönliche Einladung für Störaktionen bei
der Rede des Präsidenten zu nutzen.
Ich zögerte mit meiner Entscheidung. Hingehen oder nicht? Einerseits
war ich neugierig auf das Drumherum eines historischen Events,
andererseits wollte ich auch nicht fälschlicherweise zu den Jublern gezählt
werden, erst recht nicht hinterher in den Nachrichten. Franziska sagte, sie
werde hingehen. Bei ihr hatte ich eher damit gerechnet, dass sie anders
entscheiden würde. Diana sagte ebenfalls, sie ginge hin. Okay, dachte ich
mir, gehe ich also auch.
Allzu intensiv wurden wir nicht kontrolliert. Man guckte in unsere
Taschen und checkte die Einladungen. Deutsche und amerikanische
Fähnchen wurden verteilt, wir nahmen sie ohne die Absicht, damit in der
Luft herumzuwinken, wie man es bei den albernen Paraden im Osten
machen musste (nur niemals mit amerikanischen Fähnchen). Diana und ich
trafen auf niemanden, den wir kannten, dafür war es dann doch zu voll. Wir
hielten uns ganz am Rand ziemlich weit hinten versteckt, während Ronald
Reagan mit seiner Haartolle, seiner Frau, unserem Bundeskanzler Helmut
Kohl und dessen Frau die schwarz-rot-gelb behangene Tribüne betrat.
Dahinter war eine Sicherheitswand aufgestellt, die nur dort, wo Reagan
stand, ein Fenster aus bestimmt bombensicherem Panzerglas hatte, durch
das man die Mauer und das Brandenburger Tor sehen konnte.
Der Präsident begann zu reden, und in der Menge wurde es ruhig. Am
Anfang sagte er irgendwas über Kennedy, und dann redete er so weiter.
Nachdem wir Reagan einen Moment lang zugehört hatten, kamen Diana
und ich noch einmal auf Ost-Berlin und den Typ aus der Kneipe zu
sprechen und auf all die anderen Dinge, die wir hinterher über die Rufer
und ihre Zusammenstöße mit der Polizei gehört hatten. Diana meinte
außerdem zu wissen, dass ganz Kreuzberg heute wegen der Anti-Reagan-
Proteste abgeriegelt wäre, was ich mir aber kaum vorstellen konnte.
«Quatsch», sagte ich.
«Doch, echt», meinte Diana. «Hat mein Stiefbruder erzählt. Da wurde
schon letzte Nacht alles dicht gemacht.»
«Was der immer erzählt.»
Dianas Stiefbruder stand in Kontakt zur Kreuzberger Hausbesetzer-Szene
und versorgte Diana von dort mit allerlei Geschichten, bei denen ich
manchmal nicht genau wusste, wie glaubhaft sie waren. Diana klimperte
mit ihren grünen Augen und bestand darauf, Kreuzberg sei abgeriegelt.
Weiter vorn applaudierten die Leute und wedelten mit ihren Fähnchen
herum, offenbar hatte Reagan irgendetwas gesagt, etwas historisch sehr
Bedeutsames wahrscheinlich. Wir guckten wieder nach vorn. Reagan redete
noch ein bisschen, dann war die Veranstaltung auch schon zu Ende.
An der Moltkestraße stiegen wir in einen Bus, der durch die John-Foster-
Dulles-Allee und an der Siegessäule vorbei zum Zoo fuhr. Überall war
Polizei, die Stimmung war äußerst angespannt.
Auch an diesem Abend konnte ich in den Nachrichten noch einmal
sehen, was ich tagsüber erlebt und teilweise verpasst hatte. Zum Beispiel
wie Ronald Reagan gerufen hatte: «Mr. Gorbachev, tear down this wall!»
Genau wie die Jugendlichen auf der anderen Seite ein paar Tage vor ihm.
Nur auf Englisch. Dann hieß es, Zehntausende Berliner hätten dem
Präsidenten vor dem Brandenburger Tor zugejubelt, und dabei hatten sie
auch Diana und mich eingerechnet, obwohl wir das Jubeln vermieden
hatten. Weiter wurde gemeldet, es habe auch Proteste gegeben und
Krawalle in der Innenstadt, wie schon am Tag zuvor.
Auf Radio 100 wurde atemlos darüber berichtet, dass ganz Kreuzberg
abgeriegelt sei.

Bevor der amtierende US-Präsident Ronald Reagan anlässlich der


750-Jahr-Feier 1987 zu einem Besuch nach Berlin kommt, gibt es
Unstimmigkeiten zwischen dem amerikanischen Planungsstab und
dem Berliner Senat über den Ort, an dem Reagan seine große
öffentliche Rede halten soll. Im US-Außenministerium begeistert
man sich dafür, dass der Präsident vor der symbolträchtigen Kulisse
des Brandenburger Tors spricht, das auf Ost-Berliner Gebiet direkt
an der Mauer steht. In Berlin befürchtet man, diese Provokation
könnte das Verhältnis zu Ost-Berlin belasten und sensible
Verhandlungsprozesse torpedieren. Schließlich muss sich der
Berliner Senat dem Willen des Weißen Hauses beugen, und Reagan
hält seine Berliner Rede am 12. Juni 1987 vor 40000 geladenen
Gästen am Brandenburger Tor.
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K
aum gab es mal ein, zwei wärmere Sommertage, taumelten die
Neuntklässler nach der Schule gleich hormonell überdreht in die
Freibäder. Zu Hause öffnete ich zuerst das Fenster und dann den Brief aus
Amerika, den ich gerade aus dem Postkasten geholt hatte. Vom Sommerbad
am Ankogelweg wehten die vertrauten Planschgeräusche zu mir herein.
Meine Gastfamilie hieß schlicht und ergreifend Wood, und sie wohnten
in Minnesota, in einem kleinen Ort namens Quimby. Der Vater, Walter
Wood, war bei einer Versicherung, die Mutter, Gloria Wood, arbeitete als
Sekretärin, so wie meine Mutter auch. Sie hatten zwei Töchter, eine in
meinem Alter und eine dreizehnjährige. Die jüngere hieß Tina und mochte
Filme und Leichtathletik, die ältere hieß Kelly und interessierte sich für
Filme und Volleyball. Sie waren aktiv in der katholischen Gemeinde. Auf
dem beiliegenden Foto sahen die Woods sehr freundlich aus. Gloria und
Walter Wood waren auf jeden Fall älter als meine Eltern. Walter und die
ältere Tochter Kelly trugen Brillen, und zwar ziemlich große. Die kleinere
Tina hatte ein breites Grinsen und viele Sommersprossen, und die Mutter
trug eine praktische Kurzhaarfrisur. Mutter und Töchter hatten alle die
gleichen Schuhe aus weißem Leinen an den Füßen.
Ich rief Silke an, die nur mäßig interessiert wirkte. Überhaupt hatte sie
sich innerlich schon ein bisschen von mir verabschiedet und orientierte sich
momentan stärker an Nicole. Meine Mutter aber wollte alles haarklein
übersetzt haben, als sie von der Arbeit kam, und sah sich lange das Foto an.
«Die sehen ja ausgesprochen nett aus», sagte sie. «Nicht wie Plastik-
Amis.»
Trotzdem war sie traurig. «Jetzt gehst du also wirklich weg. Hoffentlich
sind die da nett zu dir, in diesem Quimby.»
Der letzte Schultag war keine große Sache. Es klingelte, Kinder stürzten
bescheuert vor Glück aus dem Schulgebäude, und wir schlenderten durch
die Passage zur U-Bahn. Es war ja nicht so, dass ich nicht wiederkommen
würde, außerdem hatte ich noch fünf Wochen Ferien in Berlin vor mir. In
diesen ging ich mit Holger ins Kino, mit Silke ins Schwimmbad, es gab
eine Fete mit Übernachten bei Nicole, Johnnys Geburtstagsfeier und
diverse, leicht überspannte Abschiedsfeiern von angehenden
Austauschschülern auf dem Sprung nach anderswo.
Auf dem riesigen Parkplatz vor der Deutschlandhalle war ein ebenso
riesiges Zirkuszelt aufgebaut, aber nicht für Zirkusvorstellungen, sondern
zum Tanzen. Es nannte sich «Die Macht der Nacht» und unterschied sich
schon in der Dimension von allem, was ich bislang gesehen hatte. Ich war
mit Holger und seinen üblichen Kumpels dort. Mariola war dabei,
zusammen mit einer polnischen Freundin, die ähnlich exaltiert war wie sie
selbst. Franziska und ein paar andere wollten auch noch da hinkommen an
diesem Abend.
Die Musik war ganz anders in diesem Zelt. Kaum bekannte Songs, und
alles mit einem schnellen und geraden Beat, der auf die meisten hier drin
eine leicht euphorisierende Wirkung auszuüben schien. Einzelne fingen an,
auf die großen Boxentürme zu steigen und dort oben zu tanzen, zum
Beispiel Mariola und ihre Freundin, und weil Mariola da oben so sichtbar
und exponiert war, fanden sich nach und nach noch mehr bekannte
Gesichter zu ihren Füßen ein. Unter anderem Georg Hacke mal wieder.
Ich dachte: Was soll’s, ich bin ja bald weg, und unter dieser Prämisse
gelang es mir, Georg einfach mal anzulachen, so ganz direkt. Georg lachte
zurück und rief in mein Ohr: «Du bist bald weg, hab ich gehört.»
«Im August.»
«Schade! Aber schön für dich.»
So einfach war das. Viel Geplauder war in diesem Inferno sowieso nicht
drin, also verlegten wir uns aufs Nebeneinanderstehen mit minimalen
Tanzbewegungen. Dann brüllte mir von hinten jemand ins Ohr.
«Hey! Wir sind da drüben.» Das war Paula.
Ich ging mit ihr mit, um irgendwo am anderen Ende des Zeltes Franziska
zu begrüßen. Eine Weile stand ich da mit Paula, Franziska und deren
Freunden herum, dann wurde ich unruhig und wollte zurück dahin, wo
Georg Hacke war. Leider war ich mir aber nicht mehr sicher, von wo genau
ich hergekommen war, auch sah ich Mariola nicht mehr auf einer Box
tanzen. Ich drängelte mich durchs unübersichtliche Gewühl. Die
Sichtverhältnisse wurden durch immer mehr Nebel und Stroboskop
verschlechtert, und am Ende fand ich niemanden mehr wieder, weder
Holger noch Georg noch Franziska. Ich verließ das Zirkuszelt, vor dem die
Leute jetzt Schlange standen, um hineinzugelangen, und machte mich im
dunklen Niemandsland der Jafféstraße auf die Suche nach dem Nachtbus.

An einem Donnerstag im August holte mein Vater meine Mutter und mich
zu Hause in Mariendorf ab. Gemeinsam luden wir meine beiden schweren
Koffer ins Auto und fuhren zum Flughafen Tegel, einmal durch die ganze
Stadt, von Süden nach Norden.
«Tja, nu isses so weit», sagte meine Mutter.
«Mannomann», sagte mein Vater.
Aus dem Autofenster sah ich mir das Berlin an, wie es sich an diesem
Sommermorgen routiniert aufmachte in den Tag: Leute an Bushaltestellen,
Müllautos, Taxifahrer mit dem Ellenbogen aus dem Fenster raus, Bäume an
den Straßen, Grünstreifen, Ampeln, Apotheken, Bäckereien, die
Stadtautobahn.
Danach sechseckiger Flughafen, Abschied, Pan-Am-Maschine nach
Frankfurt.
Am Abend saßen Franziska und ich mit einer Tüte Chips auf dem Bett
eines Hotelzimmers am John F. Kennedy Airport in New York und sahen in
der Ferne die Skyline von Manhattan leuchten, als wäre sie nicht ganz real.
Jetzt war ich wirklich sehr weit weg von Berlin.
Wir hatten Glück gehabt mit dem Anschlussflug ab Frankfurt, denn die
Maschine war überbucht, wie auch immer so etwas passieren konnte. Aus
diesem Grund wurden Leute von der Economy-Class in die Business-Class
gesetzt, Franziska und ich zumindest. Franziska war während des Fluges
ein paar Mal aufgestanden und zu den anderen nach hinten gegangen, aber
ich hatte mich kaum von meinem Platz bewegt. Das lag vor allem an dem
Fisch. Ich hatte einen Riesenhunger gehabt, und als das Essen kam, gab es
Fisch. Ich wusste, dass ich Fisch nicht gut vertrage. Es roch aber köstlich,
und etwas anderes würde es in den nächsten Stunden nicht mehr geben.
Vorsichtig schnitt ich in den Fisch hinein und kostete ein Stück. Es
schmeckte ausgezeichnet, und ich aß den ganzen Fisch auf, geradezu gierig.
Eine Stunde später wurde mir übel. Franziska war eingeschlafen, die
Stewardessen hatten die Blenden an den Fenstern überall heruntergezogen,
es war dunkel. Ich saß auf der Fensterseite und musste über Franziska
klettern, dann wankte ich zur Toilette, übergab mich und war für den Rest
des Fluges völlig fertig. Als wir in New York landeten, mussten wir unser
schweres Gepäck abholen und zu dem Bus schleppen, der uns ins Hotel
bringen sollte. Gepäck für ein ganzes Jahr. Sommersachen, Wintersachen,
Übergangssachen. Fotos, ein paar Kassetten, Gastgeschenke. Ich dachte,
gleich breche ich zusammen.
Aber jetzt saßen wir hier, mit Chips und Manhattan-Skyline. Vorhin, als
wir auf dem Weg in unser Zimmer aus dem Hotelfahrstuhl gestiegen waren,
lag da ein in viereckige Folie eingeschweißtes Haargummi auf dem Boden.
Es war einer Frau aus der Handtasche gefallen, als sie sich ein Bonbon
herausgeholt hatte. Ich hob es auf und wollte es ihr hinterhertragen, aber
Franziska hielt mich fest und meinte: «Lass mal, das ist doch peinlich.»
«Wieso?», meinte ich. «Die hat ein Haargummi verloren.»
Franziska schüttelte den Kopf. «Das ist doch ein Kondom.»
Irgendwie hatte ich es bislang geschafft, hinter dem Mond zu leben.

Am nächsten Tag, nach einem weiteren Flug, diesmal von New York nach
Minneapolis, saß ich auf dem Rücksitz eines Autos der Marke Oldsmobile,
eine Automarke, von der ich noch nie etwas gehört hatte, und fuhr durch
eine Landschaft, die ich nie gesehen hatte. Weit und flach und voll riesiger
Monokulturfelder mit Mais und Soja. Hin und wieder kamen wir an einer
Ortschaft mit einer Tankstelle und ein bis zwei Imbissrestaurants namens
Taco Bell oder Wendy’s vorbei. Jetzt war ich noch weiter weg von Berlin.
Gelegentlich stellte mir jemand eine Frage, die immer mit «So» begann.
«So, how was your stop in New York?» Meistens musste ich sie darum
bitten, die Frage zu wiederholen, dann kramte ich in meinem Schulenglisch
nach Worten, dann war es wieder still im äußerst geräumigen Oldsmobile.
Wenn sie im Auto untereinander redeten, verstand ich fast nichts, und was
da an Landschaft an meinen Augen vorbeizog, hatte eine unerwartet
bedrückende Wirkung. Ich hatte überhaupt keine mentale Kategorie für die
Einordnung solch monumentaler Ödnis. Wenn alle Sinne Fremdartiges
melden und ringsherum gibt es nur Maisfelder, Himmel und eine
unendliche, gerade Straße, dann weiß man, wie sich Verlorenheit anfühlt.
Hätte mir zu diesem Zeitpunkt jemand angeboten, auf der Stelle wieder
nach Hause zu fliegen, ich hätte nicht gezögert.
Meine Uhr zeigte die alte Zeit: in Berlin wurde es Abend.
1974 wird der Flughafen Berlin-Tegel eröffnet und löst damit den
Flughafen Tempelhof als wichtigsten Verkehrsflughafen in West-
Berlin ab. Aufgrund des Viermächteabkommens über Berlin dürfen
ausschließlich Fluglinien der West-Alliierten in Tegel starten und
landen. Das sind vor allem die Pan Am, die Air France und die
British Airways. 2013 soll Tegel als Flughafen geschlossen und der
gesamte Flugverkehr vom neuen Airport Berlin-Brandenburg
übernommen werden, wenn er denn fertiggestellt ist.
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S
chon in der zweiten Woche hatte ich Post von Heike. Sie schrieb, dass
in Berlin alles so sei wie immer. In der Schule müssten sie jetzt
Profilfächer wählen und Klausuren schreiben. Sie wollte wissen, wie die
Jungs so seien in Amerika, und dann kam sie zu ihrem Hauptanliegen,
nämlich dass sie ganz dringend die Pille bräuchte. Sie sei jetzt seit über
einem Jahr mit Gerald zusammen, aber traute sich nicht, ihre Mutter wegen
der Pille zu fragen.
«Das bleibt aber unter uns, o.k.?», schrieb sie. «Bloß nicht Silke oder
Anja davon schreiben, o.k.? Keine Ahnung, wie die darüber denken. Bei
Nicole weiß ich nicht. Aber ihr auch nichts davon schreiben, o.k.? Bitte,
behalte das wirklich für dich!!! Es geht ja auch niemanden etwas an, finde
ich. Aber ich glaube, du kannst mich ganz gut verstehen, und außerdem bist
du gerade weit weg. Und sonst? Na ja, Samstag ist schulfrei, puh. Anja hat
sich eine Dauerwelle machen lassen, sieht so aus wie schon mal.»
Ich setzte mich gleich hin und schrieb ihr zurück, dass sie wegen der
Pille einfach zum Arzt gehen könne, da bräuchte sie keine Genehmigung
von den Eltern. Das wusste ich von Franziska.
Dann hatte ich Geburtstag. Ich wurde siebzehn in einem Ort, der Quimby
hieß, weniger als tausend Einwohner hatte und eine kleine Poststation,
einen Gemischtwarenladen, eine Videothek und einen Friseur auf der Main
Street. Die Häuser in Quimby waren aus Holz, und es gab keine Zäune, nur
den einen um das Sportfeld herum, das gleich hinter unserem Haus lag.
Meine Gastschwestern legten sich auch in den Ferien früh schlafen, Kelly,
die ältere, noch früher als Tina, die jüngere. Wenn Kelly morgens aufstand,
ging sie ins Bad, schmierte sich erstaunliche Mengen Make-up ins Gesicht
und stylte sich die Haare so ähnlich wie Hannelore Kohl.
Als ich an meinem Geburtstag morgens in die Küche trat, stand auf dem
Esstisch ein Kuchen und ein Paket von meiner Mutter, auf dem noch ein
Brief von Nicole lag. Ich riss das Paket auf, während Tina danebensaß und
sehr gespannt verfolgte, was man als deutsches Mädchen zum siebzehnten
Geburtstag bekommt. Es gab Parfüm («Loulou» von Cacharel) eine neue
Swatch-Uhr, zwei Tüten Gummibärchen und eine Tüte Colaflaschen. Die
Uhr war genau die, die ich mir gewünscht hatte. Tina fragte, ob sie ein
Gummibärchen probieren dürfe. Ich riss erst die Gummibärchentüte auf,
dann den Umschlag von meiner Mutter.
Sie schrieb, neben allen möglichen Glückwünschen, dass es gestern auf
dem Tempelhofer Flughafen zur 750-Jahr-Feier ein bombastisches
japanisches Feuerwerk gegeben habe. Ganz Berlin hätte sich nach
Tempelhof geschoben, der Verkehr sei zusammengebrochen und sie sei
schließlich mit Tante Evi und Onkel Bobby auf der Stadtautobahn stecken
geblieben, die kurz darauf auch gesperrt wurde, weil alle Leute ihre Wagen
verließen, um von der Autobahnbrücke aus das Feuerwerk zu sehen. «Es
war wohl das größte Feuerwerk, das es in Europa jemals gegeben hat, und
ich kann das nur bestätigen.»
In Berlin war weiterhin alles spektakulär und das Größte. Sie machten
einfach weiter mit ihrer Superlativkultur, auch ohne mich.
Ich erzählte Kelly und Tina von dem Feuerwerk, aber so richtig schienen
sie mir das mit der Größe nicht zu glauben. Sie dachten wohl, das sei reine
Prahlerei, beziehungsweise dachten sie, vielleicht sei das ja ein großes
Feuerwerk für europäische Verhältnisse, aber hier in Amerika gäbe es
garantiert die allergrößten Feuerwerke. Amerika, musste ich feststellen, war
von eigenen Superlativen noch überzeugter als Berlin. Und während man in
Berlin amerikanische Präsidenten, amerikanische Volksfeste, amerikanische
Kommandanten und amerikanische Sektoren kannte, wusste man in
Amerika noch nicht einmal genau, wo Berlin überhaupt ist.
Nicole schickte eine Geburtstagskarte, auf die sie ein paar Sätze
gekritzelt hatte: «Schule absolut stressig gerade. Was noch? Heike trägt
neuerdings Cowboystiefel, und Samstag ist mal wieder Dominicus-Fete
nach langer Flaute. Und sonst passiert absolut NICHTS.»
Mit Kelly und Tina aß ich ein Stück von dem Geburtstagskuchen, den die
Gasteltern für mich besorgt hatten. Er war mit einer vanilligen weißen
Creme überzogen. Fete in Dominicus, wie gern wäre ich da hingegangen.
Bestimmt wurde viel getanzt. Hier hieß es nicht Fete und auch nicht Party,
sondern «Dance», und der erste Dance, bei dem ich gleich in der ersten
Woche nach meiner Ankunft in Quimby war, ließ nichts Gutes ahnen.
Getanzt wurde nämlich gar nicht beim Dance, wie auch, zu der beknackten
Musik. Zu Bon Jovi und Poison kann man doch nicht tanzen. Dabei kam
Prince aus Minnesota. Sie hatten Prince und tanzten zu Bon Jovi!
Der Kuchen mit seiner weißen Vanillecreme machte mich ganz süchtig.
Immer wieder holte ich mir noch ein kleines Stück, das ich mir direkt in den
Mund stopfte. Dabei hoffte ich, keiner würde merken, dass ich im Laufe des
Tages den halben Kuchen alleine aufgegessen hatte.

Als einer der ersten Verkehrsflughäfen in Deutschland nimmt Berlin-


Tempelhof im Jahr 1923 den Flugbetrieb auf. In den dreißiger Jahren
entsteht nach Plänen des Architekten Ernst Sagebiel der noch heute
bestehende Monumentalbau, der bei seiner Fertigstellung 1941 das
größte Gebäude der Welt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird
Tempelhof amerikanischer Militärstützpunkt; 1948 ist der Flughafen
bei der Blockade West-Berlins von großer Bedeutung für die
Versorgung der Stadt durch die sogenannte Berliner Luftbrücke.
Später ist er phasenweise für den zivilen Luftverkehr geöffnet, vor
allem aber strömen die Berliner einmal im Jahr zum «Tag der
offenen Tür» aufs Flugfeld, unter anderem, um die
«Rosinenbomber» zu sehen, jene Flugzeuge, die während der
Blockade Lebensmittel in die Stadt brachten.
1993 übergibt die U.S. Air Force den Flughafen wieder an die Stadt
Berlin. Der Flughafenbetrieb wird 2008 komplett eingestellt, im Mai
2010 wird das Tempelhofer Feld, so wie es ist, zur freien Nutzung für
die Bevölkerung geöffnet. Die zukünftige Gestaltung des Areals ist
umstritten.
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Corbusierhaus und Olympiastadion

D
ie Erfahrung mit den miesen Feten teilten auch die anderen
Austauschschüler. Arthur, der in Colorado gelandet war, schrieb mir:
«Die Partys hier sind wirklich das ALLERALLERALLERLETZTE. Da
kann ich dir nur zustimmen.»
Ich stellte die neue Swatch auf meine amerikanische Zeitzone ein. Die
kleinere, alte Swatch aber stellte ich wieder auf Berliner Zeit, und so trug
ich beide Uhren nebeneinander am linken Handgelenk.
Viel später, als ich längst zurück in Berlin war, wurde ich die neue Uhr
wieder los. Das war an einem Tag, an dem ich Franziska im Corbusierhaus
besuchte. Vorübergehend hatte sie in dem Hochhaus am Olympiastadion die
Wohnung einer Bekannten übernommen. Es war eine ziemliche Anreise
dorthin. Zuerst fuhr ich mit der U-Bahn zum Theodor-Heuss-Platz, in
dessen Mitte, als Mahnmal gegen Vertreibung, auf einem Podest eine ewige
Flamme brannte. Vom Theodor-Heuss-Platz musste man mit dem Bus
weiter über die Heerstraße Richtung Westend bis zur Reichssportfeldstraße
und ging dann von dort aus bergan direkt aufs Olympiastadion zu.
Als Kind war ich einmal beim Katholikentag im Olympiastadion
gewesen und dann nie mehr, bis Silke und ich in den Sommerferien nach
der achten Klasse die Idee hatten, da mal hinzufahren. Wir wussten nicht
genau, ob man überhaupt reinkäme in das Stadion, aber wir wollten es
versuchen. Wir reisten mit der U-Bahn an und gingen dann in der
Sommerhitze über den menschenleeren Olympischen Platz. Es gab nicht
viele Orte in der Stadt, an denen man eine so große plane Fläche einfach für
sich hatte. Vielleicht gar keinen anderen.
Silke sagte: «Ich muss unbedingt rennen.» Dann rannten wir beide im
Zickzack über den Platz, um etwas zu machen mit all der Fläche.
Das Haupttor unter den olympischen Ringen stand offen. Wir gingen
hindurch, spazierten durch die pompösen Außengänge mit den
Fackelhaltern an den Pfeilern und schließlich ins Stadion hinein, wo sich
noch einmal ein riesiger Raum auftat, den wir wieder ganz für uns hatten,
90000 freie Sitzplätze. So allein konnte man sich selten fühlen, so weit
sehen auch nicht; aber vor allem war es der stillste Ort unter freiem Himmel
überhaupt. Mitten im Grunewald war es lauter, da knackten Äste, sangen
Vögel und irgendwo rief immer einer seinen Hund. Hier im Olympiastadion
waren wir uns nicht mehr sicher, ob es überhaupt noch andere Menschen
gab auf dem Planeten.
Eine Weile saßen wir so da und ließen uns davon beeindrucken, dann
gingen wir wieder durchs Haupttor hinaus auf den Olympischen Platz und
von dort aus ins Sommerbad am Olympiastadion. Die Badeanzüge trugen
wir schon unter den Kleidern.
Auf dem Weg zu Franziska kam ich nun aber von der Heerstraße, denn
ich wollte ja nicht zum Stadion. Auf halber Strecke ging nach rechts eine
Steintreppe ab, die in ein kleines Kiefernwäldchen führte, hinter dem sich
das monolithische Corbusierhaus trotz seiner Größe gut versteckt hielt. Das
Gebäude stand auf Betonpfeilern, durch die der Wind hindurchjagte, und
ich beeilte mich, durch die automatische Glastür ins Foyer zu gelangen, wo
es einen sehr kleinen Supermarkt und eine noch kleinere Post gab. Mit
einem der drei Fahrstühle fuhr ich hoch zu Franziska, die in einer
Einzimmerwohnung in der neunten «Straße» wohnte, wie die Etagen im
Corbusierhaus hießen. Neben mir stand eine Frau, die auf meine Swatch
guckte und sagte: «Darf ich Sie was fragen? Ich sammle nämlich Swatch-
Uhren, und genau die da fehlt mir noch!»
Der Fahrstuhl hielt an der siebten Straße, aber die Frau stieg nicht aus,
obwohl sie die Sieben gedrückt hatte. Sie blieb im Fahrstuhl stehen und bot
mir 60 Mark für meine Swatch.
«Das ist für mich leider Quatsch», entgegnete ich, «weil ich mir hinterher
ja eine neue kaufen muss für 65 Mark, da würde ich ja Geld verlieren.»
«Stimmt», meinte die Frau. «Also 65 Mark.»
«Wissen Sie, ich will eigentlich keine neue. Ich find meine schön.»
Die Frau stieg mit mir in der neunten Straße aus und bot mir siebzig
Mark. Ich sagte: «Achtzig.»
Wir stiegen wieder in den Fahrstuhl und fuhren nochmals hinunter zur
siebten Straße, wo die Frau wohnte. Die Flure im Corbusierhaus waren
nicht besonders schön, sehr lang und fensterlos. Wir blieben schließlich vor
einer Tür stehen, sie schloss auf und sagte: «Kommse ruhig rein.»
Kaum war ich durch die hässliche Tür und aus dem hässlichen Flur raus,
stand ich in einer wahnsinnig schicken und hellen Maisonette-Wohnung mit
großer Fensterfront und amerikanischer Wohnküche. Die Frau sauste die
Treppe runter und kehrte mit ein paar Geldscheinen zurück.
«Hier, gucken Sie, da sammle ich die Uhren.» Sie zeigte mir einen
weißen Vitrinenschrank, in dem tatsächlich haufenweise Swatch-Uhren
aufgestellt waren. Ich nahm meine vom Handgelenk und gab sie ihr. Die
Frau lächelte selig, sagte: «Die bekommt einen schönen Platz!», und
erbrachte damit den Beweis, dass man mit Uhren noch wesentlich
unsinnigere Dinge tun konnte, als zwei davon am selben Handgelenk zu
tragen.
Ich ging die siebte Straße entlang und fuhr wieder hinauf zur neunten
Straße. Diesmal standen drei italienische Architekturstudenten im
Fahrstuhl, die mich auf Englisch fragten, ob ich hier wohne, sie würden
nämlich gern mal eine der Wohnungen von innen sehen. Ich nahm sie mit
zu Franziska.

In Quimby, Minnesota, trug ich also zwei Uhren am Arm und erhielt den
nächsten Brief von Heike. Sie bedankte sich für meinen Rat in Sachen Pille,
schrieb aber auch, dass sie jetzt doch Nicole davon erzählt habe. Und Anja
wüsste das jetzt ebenfalls und würde sie gut verstehen. Allerdings wüsste
sie nicht mehr so genau, ob sie überhaupt noch mit Gerald zusammen sein
wolle, vielleicht sollte sie lieber Schluss machen, sie finde ja zum Beispiel
Georg Hacke gerade ganz süß. Das solle ich aber bitte um Gottes willen für
mich behalten.
Ich schrieb ihr schnell zurück, sie solle sich besser nicht von Gerald
trennen.
Außerdem bekam ich an diesem Tag noch Post von Sabine Breck, die ich
aus dem Amerika-Haus kannte und die zu den wenigen gehörte, die
ebenfalls in meiner Region gestrandet waren, im Staate South Dakota.
Vorher hatte ich nie viel mit Sabine Breck zu tun gehabt, aber nun schrieb
sie mir:
«Hi! Wie geht’s DIR denn so, von wegen Culture Shock und Familie und
so??? Ich find’s ganz O.K. (inzwischen). Minnesota ist rechts von mir,
richtig? Sind ja fast alle anderen in Kalifornien. Voll fies. Das ist ein
absoluter Scheißbrief, wirf ihn bitte weg! Meine Gastschwester hat mich
zum Friseur gezerrt, ich habe jetzt eine Dauerwelle. Na ja, hab mich dran
gewöhnt. Also, wie gesagt, ein blöder Brief, ist auch nur zur
Kontaktaufnahme gedacht (d.h.: bitte antworten!!!). Mach’s gut, viele
Grüße, Sabine»
Später kamen noch zwei Mädchen aus der Nachbarschaft zu Besuch.
Brenda wohnte direkt nebenan, Tara gegenüber. Ich war allein im Haus und
freute mich sehr. Zusammen sahen wir uns das Jahrbuch aus ihrem letzten
Schuljahr an, und sie erklärten mir, wer nett sei und wer ein Jerk. Dann ging
es auch noch ums Wetter. Als Tara den Wetterbericht aus dem Radio
erwähnte, fragte sie vorsichtig nach, ob mir Radiogeräte bekannt seien.
Brenda lachte sich scheckig, und Tara schämte sich. Sie hätte eben
vorsichtshalber lieber fragen wollen, sagte sie.
Danach machten wir uns zusammen auf zum Popcornstand an der Main
Street. Dort gab es Popcorn und Limo zu kaufen, und als wir ankamen,
standen schon drei andere freundliche Schüler der Quimby Highschool mit
einer Tüte Popcorn und je einer Dose 7 Up dort herum. Das wird jetzt also
mein neuer Hangout, dachte ich, und die Idee gefiel mir gut. Einfach zum
Popcornstand gehen, und da trifft man dann immer ein paar Leute. Genau
so hatte ich sie mir vorgestellt, die schönen Seiten des dörflichen Lebens.
Und die drei Gleichaltrigen freuten sich ihrerseits über mich, für sie war ich
ein neues Gesicht und hatte einen lustigen Akzent. Es wurde eine frische
Tüte Popcorn geordert. Ein quirliges Mädchen mit Dauerwelle (natürlich,
alle hatten ja Dauerwelle) spendierte mir eine Büchse 7 Up. Neben 7 Up
gab es noch Mountain Dew, Mello Yello, Dr. Pepper und Pepsi, und der
Oberbegriff für das, was man bei uns gemeinhin Limonade nennt, war hier
Pop. Ich wurde gefragt, wo ich her sei, und ich antwortete: «From Berlin,
Germany.»
«Is that in Europe?»
Die kleine Runde löste sich noch vor 20 Uhr auf. Brenda, Tara und ich
liefen im hellen Abendlicht am Sportfeld vorbei nach Hause. Die breiten
geraden Straßen waren leer, es war warm, der Himmel riesig, und plötzlich
hatte ich fast kein Heimweh mehr.
Walter und Gloria Wood räumten gerade den Geschirrspüler leer, als ich
die Wohnküche betrat und Gloria mich fragte, wo ich denn gerade herkäme.
Ich sei mit Brenda und Tara am Popcornstand gewesen, sagte ich. Gloria
meinte, sie sehe es nicht gern, dass ich da hinginge. Ich fragte noch mal
nach, denn ich dachte: Ach, sicher so ein Missverständnis, ich habe mich
wohl komisch ausgedrückt in meinem Schulenglisch. Ich war doch nur am
Popcornstand, mit anderen Schülern, Popcorn essen, Pop trinken. Es gibt
zudem gar nichts anderes, was man machen könnte, abends, hier im Dorf.
Es lag aber kein Missverständnis vor. Sie hätten es ihren Töchtern nicht
erlaubt, am Popcornstand rumzuhängen, sagte Gloria, und das gelte nun
auch für mich. Als ich ratlos dastand, zwischen Tür und Geschirrspüler, hob
Walter Wood hinter dem Rücken seiner Frau entschuldigend die Hände,
mischte sich da aber lieber nicht ein.
Ich dachte an die Möglichkeit, bei irgendeiner Gelegenheit coole
Verwandte oder gern auch Nicht-Verwandte aus Kalifornien
kennenzulernen, die mir anbieten würden, meinen Wohnort zu ihnen zu
verlegen, damit ich etwas sähe von Amerika.

Das Berliner Olympiastadion wird anlässlich der Olympischen


Sommerspiele 1936 nach Plänen des Architekten Werner March
erbaut. Zur Fußball-Weltmeisterschaft 1974 wird es teilüberdacht
und für die WM 2006 von Grund auf umgebaut und modernisiert. Es
fasst seitdem rund 74000 Zuschauer.

1957 findet in Berlin die Internationale Bauausstellung «Interbau»


statt, für die vor allem das Hansaviertel in Tiergarten gebaut wird,
aber auch, nach Plänen des Schweizer Architekten Le Corbusier
und in unmittelbarer Nähe zum Olympiastadion, das Corbusierhaus.
Mit 530 Wohnungen auf siebzehn Geschossen ist es bis heute das
größte Wohngebäude der Stadt. Die Straße zwischen Heerstraße
und Olympiastadion, an der das Corbusierhaus steht, wird 1997 von
«Reichssportfeldstraße» in «Flatowallee» umbenannt.
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Made in Berlin

E
in paar Dinge waren merkwürdig überrepräsentiert in diesem winzigen
Kaff, in dem ich nun lebte. Zum einen gab es sieben Kirchen
verschiedener Glaubensrichtungen, und zum anderen drei
Austauschschüler. Das Kirchengewirr ließ sich kulturell und historisch
bestimmt erklären, die hohe Gastschülerdichte jedoch war einzig auf Susan
Jaeger zurückzuführen, die äußerst umtriebige ortsansässige Repräsentantin
unserer internationalen Austauschorganisation. Susan selber nahm jedes
Jahr eine Austauschschülerin in ihre Familie auf, nun schon seit acht Jahren
in Folge. In diesem Jahr war es Rosanna aus Venezuela. Daneben hatte sie
für das Schuljahr zwei weitere Familien als Gastgeber rekrutieren können:
Die Andersons hatten einen Belgier namens Étienne aufgenommen, und
den Woods hatte sie mich aufgeschwatzt.
Am zweiten Wochenende nach meiner Ankunft, kurz vor Schulbeginn,
lud Susan Jaeger Étienne und mich zu einem Abendessen in ihr Haus ein.
Susan und ihr Mann waren äußerst freundliche Leute und merklich erfahren
im Umgang mit Gastschülern, doch Rosanna war trotzdem voller Heimweh.
Sie konnte auch kaum Englisch. Étienne war ein höflicher, schmaler Junge
mit feinen Händen und sehr korrekten Tischmanieren, und sein Englisch
war ebenfalls unter aller Sau. Er kannte mehr Wörter als Rosanna, aber sein
Akzent war so stark, dass man ihn kaum verstand. Für ihn sei es wichtig
gewesen, eine Familie mit Klavier im Haus zu finden, damit er während
seines Auslandsjahrs regelmäßig üben könne. Das erzählte Susan, und
Étienne nickte. Dann legte er los, er habe seinen Eltern versprechen
müssen, täglich zu üben, denn nur unter dieser Bedingung hätten sie ihm
erlaubt, in die USA zu kommen, und das auch nur für das halbe Schuljahr,
sein Vater sei grundsätzlich dagegen gewesen, er sei Museumsdirektor und
sehr konservativ, aber sein Bruder habe im letzten Jahr heftig gegen den
Vater rebelliert, wovon er nun profitiere, sonst hätte das sicher niemals
geklappt mit einem Auslandsaufenthalt, und dazu noch in Amerika, der
Vater habe gemeint, wenn schon, dann England, doch die Mutter habe ihn
schließlich unterstützt in seinem Wunsch, und jetzt sei er also hier.
Étiennes plötzlicher Redeschwall war etwas anstrengend gewesen in
seinem unverständlichen Englisch. Danach war er gleich wieder ganz
verhalten und stocherte mit großem Interesse in dem Süßkartoffelbrei auf
seinem Teller.

Am ersten Schultag begrüßte Mr. Lindahl, Lehrer für Wirtschafts- und


Sozialkunde, die neue Senior Class. Besonders begrüßte er Rosanna,
Étienne und mich als die neuen, wie er sagte, Aliens an der Schule und
klärte uns vor der gesamten Klasse darüber auf, dass wir uns keine
Illusionen darüber machen sollten, hier mehr zu lernen als ein bisschen
umgangssprachliches Midwest-Englisch, das dem schönen und erhabenen
britischen Original weithin unterlegen sei. Jedes Jahr hätten sie hier ein paar
Aliens an der Quimby Highschool, aus Europa, Japan, Australien und
Südamerika, und jedes Jahr müsse er sich vor den Aliens schämen für die
unfassbare Dummheit der amerikanischen Teenager. Also bitte, sagte er, es
tue ihm persönlich sehr leid, aber die Schule sei hier so, mit all diesem
lächerlichen Mickey-Mouse-Stuff wie Homecoming und ständigen
Sportveranstaltungen. Da müssten wir jetzt durch. Aber danach könnten wir
ja wieder zurück in unsere angenehmen Länder mit den guten Schulen,
während er selber hier festhänge in diesem kläglichen Sumpf der Ignoranz.
Mr. Lindahl redete schnell und lief dabei nervös hin und her. Er war klein
und schmal, trug eine große Brille und taubenblaue Polyesterhosen aus den
siebziger Jahren. Den Kopf hielt er etwas schief, und manchmal stotterte er.
Niemand sagte etwas zu seiner Ansprache. Alle kritzelten gelangweilt in
ihren Heften, guckten höchstens ein bisschen amüsiert und kauten
Kaugummi. Das war die erste Schulstunde in Amerika.
Bei den Woods hatte ich Post von Tante Evi, die mir schrieb, alle hätten
schon den Brief zu lesen bekommen, den ich meiner Oma geschickt hatte,
auch den Nachbarn und der Pflegerin habe sie ihn schon gezeigt. Weiter las
ich, dass Mbuyi sich gerade einen alten Männerhut bei Made in Berlin
gekauft hätte, weil das momentan chic sei. Made in Berlin war ein großes
Secondhand-Geschäft an der Potsdamer Straße, in dem ich kurz vor meiner
Abreise einmal mit Nicole gewesen war. Ich hatte mir dort ein silbergraues
Herrenjackett gekauft. Nicole fand den Laden doof. Auch meine Mutter war
wenig begeistert von meinem Neuerwerb, sie bestand darauf, das Jackett,
das sie «oll» und «speckig» fand, zuerst einmal in die Reinigung zu geben,
und dann war es vor meinem Abflug ganz zufällig noch nicht fertig zum
Abholen. Ich hatte sie gebeten, es mir nachzuschicken, aber sie schaffte es,
dieses Anliegen konsequent zu ignorieren. Jetzt dachte ich wieder an mein
supercooles Jackett und an die momentane Unmöglichkeit, dazu auch noch
einen passenden Hut bei Made in Berlin zu holen.
Natürlich hätten mir Hut und Jackett wenig geholfen in Quimby. Eine
Zeitlang lebte ich noch in der Vorstellung, als Repräsentantin einer
europäischen Metropole die Menschen auf dem flachen Land im
amerikanischen Mittelwesten mit urbanen Styles beeindrucken zu können,
doch das funktionierte nicht. Sie verstanden meinen Geschmack genauso
wenig wie ich ihren. Der angesagteste Mädchenschwarm der Schule zum
Beispiel hatte ein großes, fleischiges Gesicht und als Frisur einen
verschärften Vokuhila, nämlich mit Dauerwelle im hinteren
Langhaarbereich. Für mich sah er wie ein groteskes Riesenbaby aus oder
wie ein peinlicher Schlagersänger, doch meine Mitschülerinnen fanden ihn
überaus attraktiv.
Der Graben zwischen Stadt und Land schien dabei allerdings eine
größere Rolle zu spielen als der zwischen Europa und Amerika. Im
amerikanischen Fernsehen konnte ich nämlich sehr wohl Menschen sehen,
die denen, die ich von zu Hause kannte, in Geschmack und Verhalten
ähnlicher waren als das Quimby-Volk. Meine neue Stilikone war Lisa Bonet
in der Cosby-Show-Spin-off-Serie A Different World, in der sie ein College-
Girl war, das gern Herrenjacketts und Hüte im Secondhand-Look trug. Und
bei Brenda zu Hause sah ich auch Purple Rain, den Film von Prince, der
gleich um die Ecke, hier in Minnesota, spielte und keinen Zweifel daran
ließ, dass Minnesota durchaus interessant sein konnte. Zumindest in
urbaneren Gefilden.
Schließlich brach das ominöse Homecoming an, von dem Mr. Lindahl in
der ersten Schulstunde gesprochen hatte. Dabei wurde schnell klar, was er
mit «Mickey-Mouse-Stuff» gemeint hatte.
Dem Event vorangestellt war eine Woche, die sich Spirit Week nannte. In
der Spirit Week hatte jeder Tag ein Motto: Montag war «Sporttrikot-Tag»,
Dienstag «Ulkige-Haare-Tag» (wie sollten die bloß noch ulkiger werden?),
Mittwoch «Hawaii-Tag», Donnerstag «Regenbogen-Tag» und Freitag
«Formeller Tag» mit Anzügen und Kleidern. Was das alles sollte, blieb mir
schleierhaft. Ich fand es aber gut, dass überhaupt etwas passierte, und
machte jeden Mottotag beherzt mit. Außerdem wurden während der Spirit
Week in großen Scheunen von jeder Schulklasse topgeheime, karnevaleske
Wagen für die Homecoming-Parade gebaut, die thematisch darauf ausgelegt
waren, das gegnerische Team des Homecoming-Footballspiels zu
demoralisieren.
Am Tag vor Homecoming wurden die Homecoming Queen und der
Homecoming King gewählt. Étienne und ich fanden es interessant, dass in
Amerika derartige Sehnsüchte nach Monarchie existierten, die Königinnen
und Könige dann aber demokratisch gewählt wurden. Nicht alle in der
Quimby Highschool machten mit beim Mickey-Mouse-Stuff. Es gab eine
ganze Reihe von Leuten, die Homecoming versiert ignorierten, und diese
hatten eine größere Schnittmenge mit denen, die sich abends auch am
Popcornstand einfanden. Meine Gastschwester Kelly, davon abgesehen,
dass sie am Popcornstand sowieso nicht herumhängen durfte, war auf jeden
Fall eher pro Mickey-Mouse-Stuff. Sie stellte sich sogar als Homecoming
Queen zur Wahl, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Am Tag der Parade war es sonnig und warm. Mit Rosanna und Étienne
stand ich zwischen den anderen Bewohnern von Quimby am Straßenrand
und sah all die aufwendig gezimmerten und geschmückten Wagen
vorbeiziehen. Das königliche Paar saß auf einem eigenen Fahrzeug, winkte
zu uns herab, und wir winkten fröhlich zurück. Das anschließende
Footballspiel gewann die Quimby Highschool gegen die Mannschaft der
Elmwood High. Während des Spiels verteilte ich um mich herum
Gummibärchen und Cola-Flaschen, die erst skeptisch probiert und dann
vehement nachgefordert wurden.
Der Dance am Abend war leider wieder eine Katastrophe.

Made in Berlin war schon in den Achtzigern ein großer Secondhand-


Laden an der Potsdamer Straße in Schöneberg. Später zog das
Geschäft zum Hackeschen Markt. Mittlerweile gibt es eine zweite
Filiale an der Friedrichstraße.
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Dein Herz kennt keine Mauern

A
ls Gastgeschenke hatte ich den Woods ein paar von den 750-Jahre-
Berlin-Gimmicks mitgebracht. Ein Berlin-T-Shirt mit dem klobigen,
bunten Logo für jeden, außerdem einen großen Berlin-Bildband und die
Maxi-Single mit dem aktuellen Hit «Berlin. Berlin …» von John F. und die
Gropiuslerchen. Sie legten das Vinyl auf den Plattenspieler, und dann
hörten wir uns alle zusammen das Lied an. Den Text verstanden sie
natürlich nicht, deshalb versuchte ich, das ein bisschen zu übersetzen. Aber
übersetzte Lieder: na ja – «Berlin, Berlin, your heart doesn’t know any
walls»; ich kam mir etwas komisch vor dabei.
Den Bildband holte ich in regelmäßigen Abständen unter dem Coffee
Table hervor, um ihn mir in allen Details anzusehen. Ich war ein bisschen
besessen von dem Gedanken, auf einem der Bilder, irgendwo in einer
Menge von Menschen, auf einem Ausflugsdampfer oder auf dem
Ku’damm, jemanden zu entdecken, den ich kannte, vielleicht sogar mich
selber. Ich kam darauf, weil das bei Silkes Vater einmal so gewesen war.
Silkes Vater war in den Sechzigern aus Bayern nach Berlin gezogen. Als er
seine Eltern in seiner ehemaligen Heimat besuchte, brachte er ihnen
ebenfalls einen Berlin-Fotoband mit. Die Eltern freuten sich, sagten danke
schön und legten das Buch auf den Esszimmertisch. Als Silkes Vater aber
wieder zurück in Berlin war, riefen sie ihn an und bedankten sich noch
einmal ganz überschwänglich für das «tolle Buch» mit dem «tollen Foto»
drin.
Fünfzehn Jahre später saß Silke mit ihrem Vater bei den Großeltern in
Bayern und Silkes Oma meinte: «Kennt Silke denn schon das Buch?»
«Welches Buch?»
«Na, das tolle Berlin-Buch, mit dem tollen Foto drin.»
Sie holte den alten Bildband hervor, und Silke blätterte lustlos darin
herum.
«Seite 42», rief die Oma. Silke schlug Seite 42 auf und staunte nicht
schlecht, dort ein historisch wirkendes Foto von der ehemaligen Berliner
Folk-Kneipe Go-In zu finden, auf dem ihr Vater als zentraler Fluchtpunkt
des Bildes mit einer Bierflasche in der Hand in der ersten Reihe thront und
sich offenbar köstlich amüsiert.
«Das hast du mir ja noch nie gezeigt», sagte Silke zu ihrem Vater.
«Was hab ich dir noch nie gezeigt?»
«Na, das tolle Bild hier.»
Silkes Vater sah sich die Aufnahme an und konnte es kaum fassen.
In meinem Fotoband fand ich niemanden, den ich kannte, und
irgendwann hatte ich wirklich jedes Gesicht in jeder Menschenmenge
abgesucht.

Zum Einkaufen fuhren wir in absurd große Supermärkte, deren Cornflakes-


Regale allein nicht in unsere Bolle-Filiale hineingepasst hätten. Manchmal
wurde dort von einem Angestellten, der neben einer Popcornmaschine
stand, frisches Popcorn an die Kunden verteilt, die ihre überdimensionierten
Einkaufswagen vor sich herschoben und für die es das Normalste auf der
Welt war, dabei eine frische Tüte Popcorn in die Hand gedrückt zu
bekommen. In diesen Supermärkten gab es alles, außer normales Brot. Im
Brotregal lagen zweihundert Sorten weiches Toast, aber man fand dort nicht
ein einziges richtiges Brot. Ich fragte, rein interessehalber, ob es auch
normales Brot gäbe. Die Frage löste größtes Unverständnis aus. Hier sei
doch alles voller Brot, sagten die Woods und zeigten auf das vielfältige
Toast-Angebot.
Kelly hatte schon ihren Führerschein, und zusammen mit ein, zwei
Freundinnen fuhren wir ab und zu in den nächstgrößeren Ort, um ins Kino
zu gehen, wo es das Popcorn nur in riesigen Behältern und Getränke nur in
Eimern gab. Das Popcorn war immer buttrig und salzig, niemals süß.
Hinterher aßen wir Pizza, wobei es üblich war, sich eine zu teilen, weil die
Pizza die Ausmaße eines Traktorreifens hatte. Meistens fuhren wir aber zu
Footballspielen in umliegende Dörfer, um zu sehen, ob das Quimby-Team
eher verlor oder eher gewann. Mit der Zeit verstand ich das Spiel sogar.
Einmal unternahm die ganze Familie einen Trip nach Minneapolis, zum
fünfzigsten Geburtstag von Walter Woods Schwester, die Liz hieß und eine
sympathische Person mit einem verblüffend aufgeschlossenen
Freundeskreis war. Bei der Feier bildeten die ländliche Verwandtschaft und
die urbanen Freunde von Tante Liz Parallelgesellschaften, die sich nicht
viel zu sagen hatten und auch recht unterschiedlich aussahen, wobei die
Woods noch am kompatibelsten wirkten. Ein freundliches Ehepaar mit
einem sehr gut aussehenden Sohn, der an der örtlichen Uni Architektur
studierte, unterhielt sich länger und sehr interessiert mit mir. Der Mann
erzählte, dass seine Großeltern aus Deutschland eingewandert seien. Er
habe sogar Verwandte in Berlin und könne ein paar Sätze Deutsch. Der
Sohn fragte mich, wie ich als europäische Stadtbewohnerin denn so
zurechtkäme in einem gottverlassenen Minnesota-Kaff, er könnte das
keinen Monat lang aushalten. Ich sagte, wenn das Kaff eines nicht sei, dann
gottverlassen. Schließlich gäbe es sieben Kirchen unterschiedlicher
Glaubensrichtungen und in der Schule hätte ich gerade aufgeschnappt, wie
ein Mädchen einem anderen erzählte, was Jesus ihr letzte Nacht im Traum
mitgeteilt habe. Auch hätte ich Mitschüler, die mich unchristlich nannten,
weil ich in meiner katholischen Schule nicht gelernt hätte, dass die
biblische Schöpfungsgeschichte ein wörtlich zu nehmender
Tatsachenbericht sei.
Das sprudelte alles so aus mir heraus. Die Mutter legte mir ihre Hand auf
die Schulter und sagte, das tue ihr sehr leid. Der Sohn entschuldigte sich
auch und versicherte, das sei wirklich nicht repräsentativ für das ganze
Amerika.
Hätten sie mich gefragt, ob ich zu ihnen nach Minneapolis ziehen
möchte, ich wäre sofort dabei gewesen, vollkommen egal, was ich damals
im Auswahlgespräch zu diesem Thema beifallheischend herumgelabert
hatte. Minneapolis gefiel mir ausgesprochen gut. Und der Sohn auch.
Sie fragten aber nicht.
Wir schliefen in einem Hotel, in dem Kelly und ich uns ein
Doppelzimmer teilten. In der Nacht träumte ich von zu Hause. Das passierte
mir zwar oft, aber in diesem Hotelzimmer in Minneapolis träumte ich noch
intensiver als sonst. Ich lief durch eine Berliner Straße, die ich sofort an
ihren typischen Bürgersteigen mit den rautenförmig angeordneten
Gehwegplatten in der Mitte und den kleinen Pflastersteinen links und rechts
erkannte. Alle paar Meter stand ein Baum an der Seite. Ich sah das alles
sehr klar, diese typische Berliner Straße, und dachte, wenn das so klar eine
typische Berliner Straße ist, dann bin ich wohl auch wirklich wieder in
Berlin. Jetzt musste ich nur noch eine U-Bahnstation finden oder eine
Bushaltestelle, dann könnte ich mich orientieren und einfach nach Hause
fahren. Leider wurde die Straße immer schmutziger. Ich musste den Blick
nach unten richten, um nicht in schlammige Pfützen oder Hundedreck zu
treten. Aus meiner Tasche flogen jetzt lauter dichtbeschriebene
Papierblätter heraus, sie segelten in die Pfützen und in den Dreck. Neben
mir hielt ein Auto an, darin saß der architekturstudierende Sohn aus
Minneapolis. Er stieß die Beifahrertür auf und rief, ich solle schnell
einsteigen. Ich konnte meine Papiere aber nicht einfach so herumliegen
lassen, und außerdem wollte ich gar nicht nach Minneapolis, jetzt, wo ich
doch wieder in Berlin war.
Vor der Rückfahrt nach Quimby wollten die Woods noch ein bisschen in
Minneapolis shoppen, und nach dem Duschen fragte Kelly, ob sie sich
Klamotten von mir borgen dürfe, nur mal so. Ich hatte natürlich nicht viel
dabei. Sie zog meine Hose von gestern und ein Ersatz-T-Shirt von mir an,
und beim Frühstück guckte Gloria sofort komisch und fragte ihre Tochter,
wie sie denn bitte heute aussehe. Tina sprang der Schwester zur Seite und
erklärte ihrer Mutter, Kelly wolle eben auch mal aussehen wie ein Mädchen
aus der Stadt.

Das Musikprojekt «John F. und die Gropiuslerchen» veröffentlicht


1987, zur 750-Jahr-Feier Berlins, den mit O-Tönen von John
F. Kennedy, Willy Brandt, Walter Ulbricht und Ernst Reuter
unterlegten Song «Berlin, Berlin … dein Herz kennt keine Mauern».
1989 wird der Song aktualisiert und unter dem Titel «Berlin, Berlin …
die Mauer ist weg» ein erfolgreicher Chart-Hit.
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E
s wurde Herbst in der mit Maisfeldern bepflanzten Prärie. Abends ging
ich manchmal hinaus, um mir den theatralischen Sonnenuntergang
anzusehen, und danach war der Himmel übersät mit Sternen, mehr als ich
jemals vorher gesehen hatte. Wenn Gloria nicht da war, sah ich Walter
Wood heimlich im Garten rauchen. Ich versuchte immer, zuerst ihn zu
fragen, ob ich irgendwas durfte, zum Beispiel mit Brenda ins Kino gehen
oder übernachten bei Rosanna. Obwohl er dann nur überfordert an mir
vorbeisah, mit den Schultern zuckte und bedächtig sagte, da solle ich besser
seine Frau fragen. Einmal fragte ich sie, nein, ich fragte nicht, ich sagte ihr,
ich würde mir an den nächsten Sonntagen gern die anderen Kirchen von
Quimby ansehen. Es interessiere mich, wie es da so zugehe, die hiesige
katholische Messe unterscheide sich schließlich bis auf die Sprache
überhaupt nicht von den katholischen Gottesdiensten zu Hause in Berlin.
Eine Zeitlang mochte ich es genau so. Der Gottesdienst am Sonntag war
ein Stück Heimat, das Einzige in Amerika, was mir durch und durch
vertraut war, wo ich mich nicht fremd fühlte, sondern genauso zugehörig
wie alle anderen um mich herum. Aber jetzt wollte ich eben auch mal die
anderen kennenlernen, die Presbyterianer, die Baptisten, die Mennoniten,
die neuapostolisch evangelisch lutherisch reformierten freikirchlich
charismatischen Adventisten, je exotischer, desto besser. Am meisten
interessierten mich solche, die während der Messe Zuckungen bekamen und
in Zungen redeten. Gloria Wood sah mich mit herabgezogenen
Mundwinkeln an und sagte, das könne sie nicht gutheißen.
Ich wollte wissen, warum nicht.
Sie antwortete nicht. Sie wischte mit dem Handtuch über die
Arbeitsflächen in der Küche und runzelte die Stirn. Ich kannte das schon.
Meistens schaffte ich es nicht, mich in ihr Schweigen hineinzudrängen, aber
diesmal unternahm ich eine Anstrengung und sagte, weißt du, dieses
Austauschjahr ist für mich, die Idee dabei ist, dass man neue Dinge
kennenlernt. Deshalb bin ich hierhergekommen.
Dann ging ich schnell in mein Zimmer, um ihr nicht länger beim
Schweigen zuhören zu müssen.
Beim Abendessen meinte Gloria, ich könne von ihr aus andere Kirchen
besuchen, wenn ich zusätzlich in die katholische Messe ginge.
Ich wollte wissen, warum.
Sie erklärte, dass die anderen nicht zählten.

Es kam weiterhin viel Post aus Berlin. Von meinen Eltern, von Silke, von
Heike und Nicole, manchmal von Anja, oft von Holger und ab und zu auch
von Johnny; von Tante Evi, von Mbuyi; und von Saskia, die mir zuletzt sehr
anschaulich die Auswirkungen des jüngsten BVG-Streiks geschildert hatte,
wie sie von Mehringdamm bis zur Schule laufen musste und trotzdem mit
anderen, die auch zu spät erschienen, Ärger kriegte von den Lehrern, die
alle ein Auto hatten. Außerdem korrespondierte ich mit einigen anderen
Austauschschülern, die in anderen Bundesstaaten gelandet waren, vor allem
mit Franziska und Diana. Auch Olivia aus Cornwall schrieb mir jetzt nach
Quimby, wobei sich ihre Briefe in letzter Zeit nur noch um ihren Verlobten
drehten und um den Ring, den er ihr geschenkt hatte.
Meine Mutter fragte, ob ich denn in Quimby etwas mitbekäme von den
aktuellen Geschehnissen in Deutschland, man sei ja gerade sehr aufgebracht
hier, und dann schilderte sie mir in leicht verwirrender Art und Weise die
Chronologie der Barschel-Affäre. «Wir sind alle sehr schockiert», schrieb
sie am Schluss.
Ansonsten schien sie ständig mit Tante Evi und Onkel Bobby essen zu
gehen und beklagte wie üblich ihre Haare, ihre Figur und die zu kurzen
Wimpern.
Weil die lokalen Zeitungen in Minnesota nur über lokale Ereignisse
berichteten und auch die Fernsehnachrichten wenig international
ausgerichtet waren, hatte ich tatsächlich keine Ahnung, was aktuell in
Deutschland und in Berlin passierte. Zu dieser Zeit an diesem Ort war das
auch ganz egal, es fragte ja keiner danach.
Allerdings wurden Rosanna, Étienne und ich alle paar Wochen
irgendwohin eingeladen, um Vorträge über unsere Länder zu halten. In
umliegende Schulen, kirchliche Frauenclubs, Seniorenclubs, Lions Clubs,
Farmer Clubs und was sonst noch für Clubs. Dabei fiel es Étienne auf, dass
er zwar über Belgien und Rosanna über Venezuela sprach, ich Deutschland
aber nur kurz erwähnte und dann ausschließlich über Berlin redete. Ich fand
das vollkommen legitim.
Nach all den Einladungen kannte ich Étiennes Belgien-Dias mit den
dazugehörigen Erklärungen, Zahlen und all den Scherzen, die er dabei zu
machen pflegte, in- und auswendig. Genauso Rosannas leiernden
Kurzvortrag über Venezuela. Und natürlich hätten beide jederzeit und ohne
weiteres meinen Berlin-Vortrag übernehmen können, zusammen mit der
Karte und den Bildern, die ich immer zum Herumreichen mitbrachte. Auf
der Karte sah man Deutschland mit allen Sektorengrenzen und der Insel
West-Berlin inmitten der DDR, weit hinter dem Eisernen Vorhang. Wenn
ich sie vorzeigte, wartete ich gern auf das Raunen, das danach durch den
Raum ging. Für die meisten erzählte ich hier etwas ganz Neues und
Unerhörtes. Sofort hagelte es Nachfragen: Wie käme ich denn da rein und
wieder raus, wie gefährlich sei das, und würde man dabei auch echten
Kommunisten begegnen?
Bei Vorträgen vor Schulklassen wurde das Berlin-Szenario üblicherweise
für einen Spaß gehalten. Wenn die Schüler am Ende noch Fragen stellen
durften, fragten sie Rosanna und mich, wie uns die amerikanischen Jungs
gefielen, und Étienne, wie er die Mädchen fände, im Vergleich zu den
belgischen Mädchen.
Rosanna antwortete, dass ihr die amerikanischen Jungs ganz gut gefielen,
ich sagte, ich fände ihre Frisuren komisch. Meistens fragte dann einer nach,
was für Frisuren, und meistens konnte ich darauf wahrheitsgemäß
antworten: So eine wie deine. Jedes Mal ein Brüller. Étienne meinte, er
finde Mädchen einfach grundsätzlich schön, amerikanische und belgische,
aber auch deutsche und venezolanische. Das fanden alle charmant, zumal er
mit diesem französischen Akzent sprach.
Nach unseren Vorträgen sagte Étienne immer zu mir: Wirklich
faszinierend, dieses Berlin, und ich antwortete: Dann komm mich doch mal
besuchen. Das war unser Ritual. Er kam dann später tatsächlich, da waren
die Kommunisten aber schon weg.
Als wir am ersten Abend seines Besuchs in einer schrottigen Bar in der
Rosenthaler Straße im Osten saßen, wo ich mich nur hin verirrte, wenn ich
jemanden herumzuführen hatte, meinte er nach ein paar Bier zu mir, ich sei
die erste Person, gegenüber der er das so äußern würde, weil er sich erst
jetzt richtig sicher sei, aber diese Frage nach den Mädchen damals, wie er
die amerikanischen Mädchen finde, die sei in Wirklichkeit völlig an ihm
vorbeigegangen, denn interessanter finde er nämlich Jungs. Und da hätte
ich recht, die amerikanischen hatten schreckliche Frisuren. Und Berlin,
sagte er, sei wirklich genau so faszinierend, wie er es sich vorgestellt habe.

In Berlin spiegeln sich auf kleinem Raum die von den vier alliierten
Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eingerichteten Sektoren
Deutschlands. Der West-Berliner Norden wird von Frankreich, der
Süden von den USA und das dazwischenliegende Gebiet von
England kontrolliert. Der Osten der Stadt bildet die sowjetische
Zone.

Im September 1987 gerät der amtierende Ministerpräsident


Schleswig-Holsteins, Uwe Barschel, in den Verdacht, seinen
politischen Gegner Björn Engholm ausspioniert zu haben. Im
Oktober wird Barschel in einem Genfer Hotel tot in der Badewanne
aufgefunden.
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Martin-Gropius-Bau

I
n den Briefen von Silke, Anja, Heike und Nicole ging es wochenlang nur
noch um die Franzosen. Zuerst fuhr die Klasse nach Frankreich, danach
kamen die Franzosen nach Berlin. Viel Spaß schien das alles nicht zu
machen. Der Grundton ihrer Berichterstattung war genervt, nicht wegen der
Franzosen selber, aber wegen der vielen Vorbereitungen, die ihnen
aufgebürdet wurden. In Zweiergruppen mussten sie alle einen
Programmpunkt planen. Silke und Saskia hatten die Koordination eines
Besuchs im Martin-Gropius-Bau übernommen, in dem es zur 750-Jahr-
Feier gerade eine neue Ausstellung mit dem viel strapazierten Titel «Berlin,
Berlin» zu sehen gab. Anja und Heike organisierten einen Trip zum
Checkpoint Charlie, und Nicole kümmerte sich mit noch zwei anderen um
die Abschiedsfete. Hinterher stöhnten sie alle darüber, wie anstrengend die
Woche gewesen sei. Für nichts anderes hätten sie mehr Zeit gehabt, noch
nicht einmal für ihre Freunde.
Silke schilderte, wie ein offenbar etwas zappelig veranlagter Franzose auf
dem Weg zum Gropius-Bau aus der U-Bahn gesprungen war, um ein
klebriges Eispapier in den Müll zu werfen, und dann nicht mehr schnell
genug wieder ins Waggon kam. Die Türen gingen zu, und die anderen
fuhren ohne ihn weiter. Der Lehrer der Franzosen stieg daraufhin an der
nächsten Station aus, um zurückzufahren, aber der Zappelige hatte
seinerseits schon die nächste Bahn genommen, sodass man am Ende lange
auf den Lehrer warten musste, der sich im Berliner U-Bahn-Netz nicht so
gut zurechtfand wie sein nur kurz verlorengegangener Schüler.
Über die Franzosen selber erfuhr ich nicht sehr viel, sie schienen keinen
bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Noch nicht einmal Nicole
machte Anmerkungen dazu, ob ihr die Jungs gefallen hätten.
Ich faltete Silkes Brief wieder zusammen, legte mich aufs Bett und
dachte daran, wie ich mir vor etlichen Jahren mit meinen Eltern die
Preußen-Ausstellung im Gropius-Bau angesehen hatte. Hauptsächlich
konnte ich mich an die Exponate von Uniformen preußischer Soldaten
erinnern, weil sie so unfassbar klein waren, nicht viel größer als ich, damals
zehn- oder elfjährig. Interessanter als die Ausstellung fand ich das Haus.
Der Martin-Gropius-Bau stand direkt an der Mauer und wirkte auf mich wie
etwas, das da eigentlich nicht hingehörte. Ein höchst ungewöhnlicher
Quader mit griechischen Säulen vor dem Eingang und vor den Fenstern, an
der Fassade goldene Bilder und Mosaike, aber rundherum nichts als
Schotter und Gestrüpp. Eine Zeitlang wunderte ich mich auch darüber, dass
der Architekt Gropius so unterschiedliche Bauten wie diesen und die
Hochhaussiedlung im südlichen Neukölln zu verantworten hatte.
Es wurde kalt in Minnesota. Ende November fiel der erste Schnee, und
an einem Wochenende im Dezember schlug Kelly vor, Ski zu fahren. Mir
war rätselhaft, wo man in dieser unendlichen Ebene ein Skigebiet finden
sollte, aber zusammen mit Tina fuhren wir bei der Farm ihrer Tante vorbei,
borgten uns Skier, Stöcke und den Minivan aus, luden noch die Zwillings-
Cousins Shawn und Brad mit ihren Snowboards ein und düsten nach
Mankato. Tatsächlich gab es vor der Stadt Mankato ein kleines Skigebiet
mit Liften und allem Drum und Dran, es nannte sich «Mount Kato». Den
halben Tag fuhren wir dort rauf und runter. Im Lift fragte mich jemand,
woher ich käme, und diesmal sagte ich, der Einfachheit halber: «Europe.»
Um vier Uhr trafen wir uns am Restaurant, aßen etwas, luden die Skier
ein und machten uns auf den Weg zurück nach Quimby. Es wurde dunkel,
und es hatte wieder angefangen zu schneien, worüber Kelly, die schon mit
der Schaltung des Minivans nicht gut zurechtkam, leise fluchte. Und
plötzlich war alles nur noch weiß. Wir guckten aus dem Fenster und sahen
nichts mehr. Als wäre irgendwo ein defekter Fernseher explodiert und hätte
die Welt mit einer einzigen großen Funkstörung überzogen, war um uns
herum nur noch weißes Gestöber. Wir fuhren durch einen sagenhaften
Schneesturm.
«Blizzard!», rief Shawn, und Tina sagte, das hätten wir alle bereits
bemerkt. Kelly fuhr in Schrittgeschwindigkeit durch das Nichts. Sie saß
weit vorgebeugt, dicht an der Windschutzscheibe, und wirkte immer
verzweifelter. Sie sagte, das sei hier echt Scheiße jetzt, sie sähe nichts.
Tatsächlich sagte sie sonst niemals Scheiße, doch wir anderen konnten auch
nichts tun, um ihr zu helfen. Deshalb saßen wir nur stumm in dem beheizten
Kleinbus und hörten dem Wind beim Pfeifen zu.
Irgendwo hatte ich gelesen, dass TV-Rauschen irgendetwas mit dem
Weltall zu tun hätte, mit der kosmischen Hintergrundstrahlung. Nun musste
ich diese Information, deren gedanklicher Ursprung für die anderen nicht
nachvollziehbar war, unbedingt teilen. Allerdings hatte ich Schwierigkeiten,
den Begriff «Hintergrundstrahlung» ins Englische zu übersetzen. Die
beiden Jungs glaubten mir kein Wort. Davon hätten sie noch nie etwas
gehört. TV-Störungen sollen aus dem Weltall kommen? Was man euch in
Deutschland so alles erzählt. Köstlich.
«Eine Unsinn!», rief Brad unvermittelt auf Deutsch, worauf Shawn sagte:
«Eine große Limonade!» Dann beömmelten sie sich ohne Ende.
«Ihr könnt Deutsch?», fragte ich.
Sie rissen sich zusammen und konzentrierten sich. «Ja, Frau.» Dann
wieder ein Irrsinnsgelächter. Tina erzählte, die beiden hätten in der Schule
Deutsch als Fremdsprache.
«Guten Tag, ich habe Dürst!»
Es rumpelte, Kelly war offenbar ein wenig von der Straße abgekommen.
Mit verzerrtem Gesicht lenkte sie den Wagen wieder zurück auf die
Fahrbahn und tastete sich weiter voran durch den Schneesturm, wobei man
mit einem Auto nicht wirklich tasten kann, nur Gas geben, bremsen und
lenken.
Die Zwillinge steigerten sich indessen in eine dadaistische Konversation
aus sinnlos aneinandergereihten deutschen Wortfetzen hinein. Irgendwann,
als Shawn mit aufgerissenen Augen immer wieder «Große Schnee! Große
Schnee!» skandierte, konnte ich nicht mehr. In dieser bedrohlichen
Situation, zusammen mit der Müdigkeit, die sich nach stundenlangem
Skifahren in der Wärme des Autos einstellte, gab mir «große Schnee»
einfach den Rest, und ich hatte einen schlimmen Lachanfall. So einen, bei
dem man die Kontrolle über die eigene Mimik völlig verliert und der ganze
Körper sich verkrümmt. Und bei dem alle um einen herum in
Mitleidenschaft gezogen werden, sodass sich danach auch Tina und die
Zwillinge auf der Rückbank kugelten und zu gar nichts mehr zu gebrauchen
waren.
Nur die arme Kelly lachte nicht. Sie trug die Verantwortung, sie war den
Tränen nahe, und hinten im Wagen drehten alle durch.

Von Holger hatte ich eine Weile nichts gehört, aber kurz vor Weihnachten
bekam ich einen Brief von ihm. Er war jetzt endlich mit Mariola
zusammen. Außerdem hatte er ein neues Hobby, nämlich auf Flohmärkte zu
gehen. Als Weihnachtsgeschenk hatte er mir eine alte Postkarte in den
Umschlag gelegt, die er auf dem Flohmarkt an der Straße des 17. Juni
gefunden hatte. Vorne drauf waren vier verschiedene Berliner
Stadtpanoramen, aufgenommen in den frühen Siebzigern. Einmal Ku’damm
mit Gedächtniskirche, einmal Funkturm, einmal die noch nicht eingestürzte
Kongresshalle und einmal Berlin bei Nacht. In der Mitte stand der
Aufdruck: «Dufte, unser Berlin.» Hintendrauf hatte jemand mit Tinte in
schwungvoller Schrift geschrieben: «‹Von Natur ist der Berliner gutmütig,
leicht gerührt, in hohem Grad wohltätig und unter Umständen großer Opfer
fähig. Dagegen ist er ebenso leicht aufbrausend, zum Streit geneigt,
rechthaberisch und spottsüchtig. Er kann keinen guten oder schlechten Witz
unterdrücken.› Meyers Konversationslexikon, 2. Band: Atlantis –
Blatthornkäfer.»

Der Architekt Martin Gropius (ein Großonkel des Baumeisters Walter


Gropius) entwirft 1877 gemeinsam mit Heino Schmieden die Pläne
für ein Kunstgewerbemuseum im Stil der italienischen Renaissance.
Gropius stirbt 1880; das Gebäude wird 1881 fertig gestellt. Im
Zweiten Weltkrieg wird es schwer beschädigt und gerät nach der
Teilung Berlins in eine abseitige Randlage. Erst ab 1978 wird der
Martin-Gropius-Bau unter Leitung der Architekten Winnetou
Kampmann und Ute Weström neu errichtet. Wiedereröffnung ist
1981, im selben Jahr findet dort auch die große Preußen-
Ausstellung statt.

Über den Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni, die nach Osten
hin auf das Brandenburger Tor zuläuft, heißt es in Berlin für junge
Leute 1987: «Treffpunkt interessanter, vielfach ein wenig
ausgeflippter Leute. Wer früh kommt, hat natürlich eine reiche
Auswahl an originellen Sachen.»
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1988, weit weg von Berlin

A
m Nachmittag sah ich auf meine beiden Uhren. In Berlin war es kurz
vor Mitternacht, dort machte man sich gerade bereit zum großen
Angestoße. Leider hatte ich keine Ahnung, wo und wie. In ihren Briefen
hatten alle nur geschrieben, sie wüssten noch nicht, was sie an Silvester
machen würden. Ich trat an mein Fenster, das nach Osten hinausging, und
sagte: «Frohes neues Jahr.»
Im Keller trafen Gloria und Walter Wood Vorbereitungen für eine kleine
Silvesterparty. Kelly durfte zu ihrem Freund fahren und mit dessen Familie
feiern, und auch mir war es gestattet, mit Brenda und Tara zu einer kleinen
Party im Ort zu gehen, obwohl die dort anwesenden Gleichaltrigen genau
die waren, mit denen die Woods so gar nicht einverstanden gewesen wären.
Zum Glück wurde heute nicht näher nachgefragt.
Étienne hatte sich schon vor Weihnachten aus dem Staub gemacht, er war
ja nur für ein halbes Jahr gekommen. Wir hatten uns tränenreich
verabschiedet, und in der ersten Woche nach seiner Abreise ging es mir
schlecht. Wir waren so sehr zu Komplizen in der Fremde geworden, dass
ich mich fast wieder so allein und verloren fühlte wie ganz zu Anfang.
Dafür rückte Rosanna jetzt stärker in den Fokus. Ihr Englisch war
inzwischen so weit gediehen, dass man sich mit ihr unterhalten konnte.
Über Silvester war sie aber mit ihrer Gastfamilie nach Florida geflogen, und
das war sicher schön für sie.
Die Party, zu der Brenda und Tara mich mitnahmen, fand im Haus eines
kleinwüchsigen Typs statt, der vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig und
der ältere Bruder von Scott aus der zehnten Klasse war. Es sah für meine
Begriffe reichlich desolat aus in dem kleinen Haus. In einem Zimmer lag
nur eine Matratze, überall hing Wäsche herum, alles war kahl und
spartanisch. Als wir ankamen, saßen sieben Personen in der Küche: der
Gastgeber, sein Bruder Scott, zwei Freunde von Scott, alle aus der zehnten
Klasse, sowie Lenny Cooper und Troy Jones aus meiner Klasse.
Scott und seine beiden Freunde waren schon gründlich hinüber. In
Minnesota durfte man zwar mit 16 schon den Führerschein machen,
Alkoholkonsum war aber erst ab 21 legal, und in den Regeln der
Austauschorganisation stand geschrieben, dass man bei einem Verstoß
umgehend nach Hause geschickt würde. Deshalb lehnte ich das mir
angebotene Bier ab.
Das könne ich doch nicht machen, sagte Lenny, und er schlug vor, dass
wir ein Trinkspiel spielten, das Quarters hieß. Er kramte eine
Vierteldollarmünze (Quarter) aus seiner Jeanstasche und erklärte, dass man
die so auf den Tisch knallen müsste, dass sie hoch und in ein leeres Glas
hineinspringt. Wenn es klappt, muss der Nächste das Glas mit Bier
vollgießen und austrinken. Ich mochte Lenny Cooper eigentlich ganz gern.
Er war in meiner Kunst-Klasse, wo er, unabhängig von der
Aufgabenstellung, stets die Plattencover seiner Lieblingsbands abmalte:
Anthrax und Metallica in Acryl auf Leinwand. Lenny war schon kriminell
auffällig geworden, er hatte eine leere Scheune angezündet, und als er
erwischt wurde, lag leider auch noch Dope auf dem Rücksitz seines
Wagens. Außerdem zerschmetterte er manchmal verwaiste Briefkästen mit
dem Baseballschläger aus einem fahrenden Auto heraus. Zu mir war er aber
immer nett, und außerdem hatte er eine normale Frisur.
Wir spielten also Quarters, und Lenny knallte die Münze gleich in das
Glas rein. Er goss Bier in das Glas und reichte es an Scott weiter. Scott
trank es halb leer, dann pustete er Luft aus seinem Mund, sagte: «’scuse
me», und stand auf. Dabei stieß er seinen Stuhl um. Er hob ihn sehr
umständlich wieder auf und schwankte zur Toilette, von wo er vorerst nicht
wieder zurückkam. Dabei war es erst halb zehn.
Keine fünf Minuten später torkelte der Nächste zur Toilette und kehrte
ebenfalls nicht zurück. Der dritte Zehntklässler hatte sich mit seinem Stuhl
dicht an die Wand gekuschelt und behielt die Augen geschlossen. Wir
spielten also zu sechst, Lenny, Dave und der Gastgeber, Brenda, Tara und
ich. Ich trank bis Mitternacht insgesamt zwei Gläser Bier, wovon ich
überhaupt nichts merkte. Die drei Jungs rauchten zwischenzeitlich einen
Joint, und ich war sehr gespannt, was danach mit ihnen passieren würde. Es
passierte aber ebenfalls nichts.
Um Mitternacht stießen wir alle an. Ich verkündete, dass ich in diesem
Jahr zurück nach Hause fahren würde. Danach tauchte Scott kurz im
Türrahmen auf, er sah nicht gut aus. Er blickte in der Küche herum, als
suchte er etwas, dann war er wieder weg. Als ich immer dringender pinkeln
musste, war das Grund genug, zurück zu den Woods zu gehen. Ich hatte
keine Lust, mir jetzt hier die Toilette anzugucken. Wenn sie überhaupt frei
war.
Im Hause Wood plätscherte die Party auch langsam aus. Gloria kam
lachend auf mich zu und wünschte mir ein frohes neues Jahr, ohne
nachzuhaken, wo ich den Abend verbracht hatte. So ein bisschen Sekt tat
ihr ausgesprochen gut.

Im Februar 1988 finden in Calgary, Kanada, die XV. Olympischen


Winterspiele statt, bei denen sich die DDR-Eiskunstläuferin Katarina
Witt gegen ihre US-amerikanische Konkurrentin Debi Thomas in
einer «Carmen»-Kür durchsetzt und die Goldmedaille holt. Die
deutsche Tennisspielerin Steffi Graf gewinnt im September das US-
Open-Turnier der Damen, und im November löst George
H. W. Bush, Vater des späteren Präsidenten George W. Bush, den
amtierenden Ronald Reagan als Präsident der Vereinigten Staaten
von Amerika ab. Im Jahr 1988 sterben, unter anderen, Nico, Chet
Baker und Franz Josef Strauß.
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Sowjet-Mode und Neon-Nazis

R
osanna machte unzählige Fotos vom Schnee, der zugegebenermaßen
sehr imposant daherkam. Mehrmals fiel die Schule aus, weil Blizzards
über das Land fegten, und waren sie vorüber, war alles meterhoch
verschneit. Die Temperaturen im Januar sanken mit eingerechnetem
Windchill auf minus 70 Grad Celsius, da ging keiner mehr freiwillig nach
draußen.
In Berlin hatten sie den wärmsten Winter seit dreißig Jahren.
Rosanna fotografierte nicht nur, sie hatte sich außerdem unglücklich in
Dave verliebt. Dave jedoch war mit einem sehr hübschen Mädchen aus dem
nächstgrößeren Ort zusammen, ein gertenschlankes Cheerleader-Püppchen.
Rosanna verfluchte sie, obwohl die ihr nichts getan hatte. Ihren Frust killte
sie mit tütenweise Nacho-Chips, Popcorn und Oreo Cookies, was ihre
Chancen bei Dave bestimmt nicht verbesserte, denn sie ging immer mehr in
die Breite. Gewichtszunahme war ein bekanntes Gastschülerphänomen.
Auch ich merkte, wie mir die eine Jeans enger wurde, aber das waren milde
Veränderungen im Vergleich zu dem, was sich an Rosanna vollzog.
Silke schrieb mir auf einem Sarah-Kay-Briefpapier, das sie bestimmt
schon seit ihrer Kindheit hatte, Silvester sei total öde gewesen. Sie hatte mit
Anja und Carsten bei Johnny zu Hause gesessen – da hätte ich ihr auch
vorher sagen können, dass das öde wird. Weiter schrieb sie: «Ich hatte
eigentlich Lust, zu Silvester mal was Alkoholisches zu trinken, aber Anja
und Carsten, diese Hänger, haben den ganzen Abend Tee getrunken! Johnny
und ich haben dann ein bisschen Sekt getrunken, und um zwölf haben wir
geknutscht. Kann sein, dass wir jetzt zusammen sind. Die anderen sind alle
schon wie alte Ehepaare miteinander, dabei erzählt Heike ständig, dass sie
gar nicht mehr richtig in Gerald verliebt ist. Heimlich findet sie Georg
Hacke gut, wusstest du das? Falls nicht, sag ihr nicht, dass ich es dir erzählt
habe, o.k.?»
Ich stöhnte. Immerhin schrieb sie auch noch andere Sachen, zum
Beispiel, dass in Berlin jetzt die Sowjet-Mode ausgebrochen sei, überall in
der Stadt trügen Leute T-Shirts mit roten Sternen und rote Sterne als
Anstecker, Ohrringe und Aufnäher. «Andererseits verbreiten sich gerade
aber auch ganz schlimm die Neon-Nazis. Zum Beispiel Jochen, weißte,
mein Cousin, der ist jetzt voll der Neon-Nazi geworden. Ich finde das ganz
schrecklich, du müsstest mal hören, was der redet.»
Wäre es nicht so ein echter Silke-Verhörer gewesen, ich hätte vermutlich
gedacht, es handele sich bei «Neon-Nazis» wirklich um eine neue,
irgendwie bunte Mode von rechts außen.
Nicole schrieb mir auf schlichtem Karopapier, dass sie mich vermisse,
«weil die anderen ständig nur mit ihren Freunden zusammenhängen».
Im Briefwechsel mit meiner Mutter war das Thema Winterstiefel ein
Dauerbrenner. Ich hatte nämlich keine. Nachdem ich ihr ein Foto von mir
vor meterhohen Schneebergen geschickt hatte, schrieb sie mal wieder: «Sag
mal, auf dem Bild hast du ja so dünne Trittchen an. Warum ziehst du denn
keine Stiefel an? Hast du keine? Oder was. Nachher wirst du noch krank.
Du musst Dich immer warm anziehen!»
Ich antwortete: «Was die ‹Trittchen› angeht, ich brauche wirklich keine
warmen Stiefel, niemand hier läuft in warmen Stiefeln rum (die Hälfte der
Mädchen trägt jetzt noch hochhackige Pumps!!!), denn man läuft ja hier
nicht. Der Amerikaner nimmt eines seiner Autos, um eben mal um die Ecke
zu fahren.»

Während die Sowjet-Mode bereits in den neunziger Jahren


weitgehend verschwunden ist, gibt es leider immer noch ein paar
Neo-Nazis.
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E
s war immer noch Winter, als Susan Jaeger Rosanna und mich zu
einem internationalen Gastschüler-Wochenende nach Blackbush Falls
brachte. Ungefähr eine Stunde lang fuhren wir in nördlicher Richtung über
die schnurgerade Landstraße zwischen schneebedeckten Feldern, bis wir
den Ort erreichten, der mit fünftausend Einwohnern immerhin fünfmal so
groß war wie Quimby. Auf dem Programm standen Erfahrungsaustausch,
Freizeit und Party. Für drei Nächte wohnten wir bei anderen Gastfamilien
vor Ort, und für die Party sollten wir alle selber Musik mitbringen. Hurra!
Nach und nach trafen alle in der Cafeteria der Schule von Blackbush
Falls ein, Gastschüler aus Norwegen, Frankreich, Kolumbien, Japan,
Australien und diversen anderen Ländern. Es gab ein großes Hallo. Manche
kannten sich schon von anderen Treffen, alle redeten augenblicklich
drauflos. Man hatte sich sofort lieb untereinander und bildete sich ein, die
Welt zu repräsentieren. Dafür fehlten allerdings die Repräsentanten weiter
Teile Asiens und des gesamten afrikanischen Kontinents.
Dann kamen die lokalen Gastfamilien, um uns einzusammeln. Ich wurde
von einem Mädchen abgeholt, nicht viel älter als ich. Sie trug einen dicken
roten Anorak und Jeans, hatte ein ruhiges, freundliches Gesicht und
halblange dunkle Haare ganz ohne Dauerwelle. Ihr Name war Becky. Wir
stiegen in ein großes, morsches Auto, in dem ziemlich viel Müll herumlag,
und Becky erzählte, ihre Mutter sei auch Deutsche. Sie fragte mich, ob ich
schon mal in einem Indianerreservat gewesen sei.
Ich antwortete, nein, noch nie.
Dann sei jetzt Premiere, sagte Becky.
Für mich war nicht erkennbar, wo das Indianerreservat anfing. Das Haus
von Beckys Familie stand irgendwo in der verschneiten Landschaft. Becky
parkte den Wagen, nahm meine Tasche von der Rückbank, und wir gingen
hinein. Ihre Mutter begrüßte mich herzlich, aber nicht auf Deutsch. Sie war
sehr dick. Becky und ich zogen unsere Anoraks aus, dann zeigte Becky mir
ihr Zimmer, in dem ich jetzt schlafen würde; es war ein schönes Zimmer
voller Stofftiere und mit einem großen Bett. Sie erklärte, das sei ein
Wasserbett, und zeigte mir, wie ich es beheizen könnte. Auf dem Bett lag
ein neues, sehr angesagtes T-Shirt der Marke Guess. Becky meinte, das sei
für mich. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Zum Glück hatte ich
von zu Hause gerade neuen Berlin-Tinnef nachgeordert und auch eine
Kleinigkeit als Gastgeschenk dabei.
Wir gingen zurück ins Wohnzimmer, wo Beckys Mutter drei große
Becher mit Mountain-Dew-Limonade vollgegossen hatte und mir gleich
nochmal erzählte, dass sie auch Deutsche sei. Sie sprach astrein
Amerikanisch, keinen Schatten eines deutschen Akzents konnte ich
heraushören. Ich fragte sie, wie lange sie denn hier lebe, und sie sagte, sie
sei hier geboren. Ihre Großeltern seien als junge Leute aus Deutschland
eingewandert, sie lebten nicht weit von hier, in New Ulm. Ob ich vorher
schon in einem Indianerreservat gewesen sei, wollte sie wissen.
Nein, sagte ich.
Das hier sei ein Indianerreservat, erzählte Beckys Mutter, und ihr Mann
ein Indianerhäuptling. Er komme heute erst spät zurück aus Minneapolis.
Im Haus würden ansonsten noch Beckys jüngere Schwester und eine
Pflegetochter wohnen. Die Tür ging auf, ach, da sei sie ja schon.
Die Pflegetochter sah sehr indianisch aus und trug einen
abgeschrabbelten weißen Anorak mit verblassten blauen und rosafarbenen
Sternen darauf. Sie nahm sich einen Becher voll Mountain Dew und
verschwand wieder.
Die sei sehr schüchtern, meinte Becky. Dann machten wir uns Toasts und
den Fernseher an und aßen sehr informell auf dem Sofa unser Abendbrot.
Ich fühlte mich wohl. Zum Schlafen zog ich gleich das neue Guess-Shirt an.
Als ich am Morgen in die Wohnküche kam, saß der Indianerhäuptling mit
einem gegrillten Toast in der Hand auf dem Sofa und guckte Football. Er
hatte schüttere dunkle Haare, eine Brille und war ebenfalls dick.
Guten Morgen, rief er, du bist wohl das deutsche Mädchen. Und ohne auf
meine Antwort zu warten, wollte er wissen, ob ich gut geschlafen hätte. Ich
sagte, ich hätte sehr gut geschlafen, und das stimmte auch. Ich solle mir
einfach einen Toast machen, sagte der Häuptling, Butter stehe noch
draußen, Käse und Marmelade fände ich im Kühlschrank, Milch auch. Ich
nahm mir ein Glas Milch und schmierte mir einen Toast mit Marmelade.
Vor dem Kühlschrank klebte der Boden, da war wohl Mountain Dew
ausgekippt, ein paar Fliegen und Katzenhaare hatten sich auch schon mit
verleimt.
Guck mal, rief der Indianerhäuptling wieder, da spielen die Washington
Redskins gegen die Chicago Bears. Redskins, ja? Er schüttelte den Kopf
und zeigte mit indignierter Miene auf den Bildschirm. Ob ich das sähe,
fragte er, die Cheerleader würden mit indianischen Federkronen auf dem
Kopf herumhüpfen, darüber könne er sich aufregen, das seien heilige
Kultgegenstände. Man stelle sich vor, es gäbe ein Footballteam, das sich
«Die Christen» nennt, und die Cheerleader wedelten mit Kreuzen und
trügen Dornenkronen aus Plastik.
Das würde nicht gehen in diesem Land, sagte ich und löste meinen Fuß
vom Boden, was ein Schmatzgeräusch machte.
Ganz genau, rief der Häuptling, das würde nämlich gar nicht gehen, und
nach einer Pause fügte er sinngemäß hinzu: Aber mit uns können sie es ja
machen, wir sind ja nur die Ureinwohner.
Ich meinte, vielleicht wüssten die gar nicht, dass der Federschmuck
heilig sei.
Ja, sagte er, das wüssten sie tatsächlich nicht, aber wenn, dann wäre es
ihnen auch egal.
Ich erzählte ihm nicht, dass wir früher in Indianerverkleidungen durch
den Garten getobt waren. Mit heiligem Federschmuck auf dem Kopf haben
wir Omas Streuselkuchen gegessen und uns auf dem Spielplatz um die
Schaukel gezankt.
Er lächelte mich freundlich an und fragte, woher in Deutschland ich denn
käme. Aus Berlin, antwortete ich. Ja, sagte er, sie hätten schon mal einen
Berliner hier gehabt, einen Studenten, der sich für Indianersprachen
interessierte. Die Deutschen interessieren sich verblüffend viel für die
indianische Kultur. Seine Frau sei übrigens auch Deutsche.
Nach dem Frühstück fuhren wir zu einer Bingo-Halle, die einfach in der
Gegend herumstand. Das waren für mich die drei erkennbaren Merkmale
des Reservats: Erstens, es gab Spielhallen, zweitens, es gab Indianer, und
drittens, die Gebäude standen tendenziell planlos irgendwo herum.
In der Bingo-Halle saßen vornehmlich ältere Leute mit Stapeln von
Karten an langen, kahlen Tischen, während per Lautsprecher Zahlen
durchgegeben wurden, so lange, bis jemand auf seiner Karte eine
Zahlenreihe voll hatte und «Bingo» rief. Es war sehr unglamourös. Wir
tranken Pop und warteten auf Beckys Vater, der hier und dort nach dem
Rechten sehen musste, weil er Mitbetreiber der Halle war.
Am Abend fuhren Becky und ich zu der angekündigten Party nach
Blackbush Falls ins Haus der Familie, bei der eine italienische
Gastschülerin wohnte. Alle hatten ihre Kassetten mitgebracht. Die
Südamerikaner tanzten frenetisch, und jeder blieb so lange, wie er wollte.
Es war der erste Dance in Amerika, der diesen Namen verdiente.
Am Montag sollten wir alle am normalen Schulunterricht der Blackbush
Falls Highschool teilnehmen und vor einer Klasse Fragen über unsere
Länder beantworten, bevor wir wieder abgeholt und auf unsere Käffer
verteilt würden. Meine deutsch-indianische Gastfamilie hatte mich am
Abend vorher mit Geschenken, hauptsächlich indianisch bemalten
Töpferarbeiten, überhäuft und verabschiedete mich, als wäre ich ihre eigene
Tochter. Ich hatte ein letztes Mal in Beckys beheizbarem Wasserbett
geschlafen und überlegt, ob ich hierbleiben würde, wenn es die Möglichkeit
dazu gäbe. Doch zu meiner eigenen Überraschung wollte ich lieber wieder
zurück zu den emotional zurückhaltenden Woods nach Quimby, wo der
Küchenboden glänzte.
Morgens gingen wir zusammen raus in die Kälte, Becky, ihre Schwester,
ihre Pflegeschwester und ich, die temporäre Gastschwester. Der Schnee war
mit einer geriffelten Eiskruste überzogen, und es war wie immer windig. An
der Straße warteten wir auf den gelben Schulbus. Darin saßen
ausschließlich indianische Kinder in dicken Anoraks, die schweigend aus
den Fenstern sahen, nach draußen, wo es keine Farben mehr gab, nur Weiß
mit ein bisschen Braun, und die Luft darüber grau. Der Busfahrer hatte das
Radio an, und es lief «Hazy Shade of Winter» in der Version von den
Bangles.
Immer wenn ich später irgendwo diesen Song hörte, saß ich für einen
Moment wieder in dem gelben Schulbus voller Indianerkinder, der durch
eine weißgraue Landschaft fährt. Niemand sagt etwas, und die Bangles
singen, es sei der Frühling unseres Lebens.

Im Magazin des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem lagern


fast 30000 Objekte aus nordamerikanischen Indianerkulturen, die im
Laufe vergangener Jahrhunderte dort gesammelt wurden, darunter
viele heilige Kultgegenstände. Eine Auswahl des Bestands kann seit
1999 in der Dauerausstellung «Indianer Nordamerikas» besichtigt
werden.
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F
ranziska schrieb mir, Paula habe ihr geschrieben, sie habe gehört,
Sabine Breck sei vorzeitig nach Hause geschickt worden, man hätte sie
in South Dakota beim Ladendiebstahl erwischt.
Ich sah Sabine Breck nie wieder in meinem Leben, aber Jahre später
dachte ich noch einmal an sie, und zwar an jenem Abend, als ich mit Silke
und ihrem Polizei-Kollegen im Funkwagen durch Neukölln fuhr. Nachdem
sie den ersten Ladendiebstahl mit dem armen alten Mann beim Aldi in der
Hermannstraße protokolliert und aufgenommen hatten, wurden sie gleich
zum nächsten gerufen, bei H&M an der Karl-Marx-Straße. Es war
inzwischen nach Ladenschluss, und wir gingen durch das leere Geschäft,
zwischen T-Shirt-Stapeln und Kleiderständern hindurch bis zu einer Art
Tapetentür, durch die man aus der glitzernden Verkaufskulisse
hinüberwechselte in die Eingeweide der Warenwelt, in das große
Verkaufslager und die kleinen Schuhkartonräume der Filialverwaltung.
In so einem winzigen, fensterlosen Kabuff erwarteten uns die
Filialleiterin und der Ladendetektiv. Die Filialleiterin hatte kurze blondierte
Haare, an den Wänden hingen die Dienstpläne für die nächste und die
laufende Woche, und dazwischen saßen zusammengesackt diese beiden
vielleicht fünfzehnjährigen Mädchen auf braunen Klappstühlen aus Plastik.
«Schönen guten Abend allerseits», sagte Silke.
Das eine Mädchen, das mit der sowieso schon ganz verschmierten
Wimperntusche, schluchzte sofort laut auf.
Der Detektiv erklärte: «Jo, also die Damen hier sind aus der Umkleide
mit ein paar mehr Sachen rausgekommen, als sie vorher anhatten. Die
Verpackungen haben sie hinter den Spiegel gestopft.»
Vor ihm auf dem Tisch lagen die leeren Hüllen billiger
Nylonstrumpfhosen.
«Insgesamt drei Paar Strumpfhosen, zwei T-Shirts, ein Paar Ohrringe, ein
Armband. Warenwert insgesamt 52 Mark 96, und eine Strumpfhose fehlt
noch.» Silke wandte sich an die Mädchen: «Wo ist die fehlende
Strumpfhose?»
«Ich hab alles rausgegeben, ehrlich», schluchzte die Verheulte und bekam
einen Schluckauf.
Silke fragte die andere: «Hast du irgendwo noch eine Strumpfhose?»
Die andere guckte erschrocken und schüttelte den Kopf. Ihr Make-up war
noch perfekt.
«Sie ist Austauschschülerin aus Frankreich», sagte die Verschmierte.
«Sie wohnt gerade bei uns.»
«Da fehlt aber definitiv eine Strumpfhose.» Der Detektiv hielt mit der
Linken drei leere Verpackungen hoch, mit der Rechten zwei schwarze
Strumpfhosen.
«Gut. Dann müssen wir noch mal ganz genau nachsehen», meinte Silkes
Kollege. «Von wem ist diese Tasche?»
Die Verschmierte bekam sofort einen neuen Weinkrampf.
«Meine.» Und dann, leicht hysterisch: «Den Mercedesstern dadrin hat
mir ein Freund geschenkt, und der ist auch schon ganz alt! Den hat er schon
von seinem großen Bruder bekommen! Und die Rauchsachen dadrin
gehören mir überhaupt nicht! Die hab ich da aufbewahrt für eine Freundin,
weil ihre Eltern so streng sind und immer in ihre Tasche gucken! Das
müssen Sie mir glauben!»
Silkes Kollege zog einen bestickten kleinen Samtbeutel aus der Tasche
und aus dem Samtbeutel ein kleines Tütchen mit Marihuana, losem Tabak
und Blättchen.
«Wirklich, das gehört mir gar nicht!»
Er blieb völlig unbeeindruckt. «Finde ich hier drin noch irgendwas, das
Ihnen nicht gehört?»
«Nein, nur das.»
«Da ist jedenfalls keine Strumpfhose drin», sagte der Polizist, griff sich
als Nächstes die Tasche der Französin, holte einigen Krimskrams raus und
stopfte ihn wieder zurück. Weiterhin keine Strumpfhose. Die Filialleiterin
verschränkte die Arme: «Irgendwo muss sie ja sein.»
«Okay», meinte Silke. «Können wir in irgendein Nebenzimmer rein?»
«Hier raus und dann rechts, da ist offen.»
Silke verschwand mit der Verschmierten nach nebenan, kam wieder und
verkündete: «Keine Strumpfhose.» Danach ging sie mit der Französin und
fand nochmals keine Strumpfhose.
«Ich hab nur eine Strumpfhose genommen, und Camille auch, wirklich!»,
sagte das verschmierte Mädchen. Silkes Kollege fragte die Filialleiterin und
den Detektiv, ob die dritte Verpackung nicht von einem anderen, bisher
nicht entdeckten Diebstahl herrühren könnte.
«Kann, kann», antwortete der Detektiv.
«Wie auch immer», sagte die Filialleiterin. «Ihr habt jetzt beide zwei
Jahre Hausverbot, und zwar in allen Filialen. Weltweit.»
Beim Rausgehen schnappte sich Silkes Kollege die leeren
Strumpfhosenverpackungen, sah sie an, warf sie wieder zurück auf den
Tisch und sagte zum Detektiv: «Die eine hier hat auch eine ganz andere
Größe.»
Als wir die beiden Mädchen anschließend zu ihren Eltern fuhren, wurde
abermals Rotz und Wasser geheult, diesmal von beiden. Es klang durch,
dass die Französin zu Hause einen strengen Papa hatte, der ebenfalls
Polizist war, und bei der anderen war die Versetzung ins nächste Schuljahr
gefährdet. Außerdem hatte sie am nächsten Tag Geburtstag.
Das Domizil war ein Altbau mit prunkvollem Eingang an der
Hasenheide. Bevor wir hineingingen, bedrängte das verschmierte Mädchen
Silke und ihren Kollegen, dass sie bitte ihre «Rauchsachen» unten in die
Mülltonne werfen dürfe, sie hätte Angst, ihre Eltern würden die Tasche nun
ebenfalls kontrollieren.
«Das geht natürlich nicht», antwortete der Polizist. Das Mädchen
krümmte sich, richtete sich wieder auf, faltete die Hände und winselte:
«Bittebittebitte! Ich werde nie wieder klauen und auch nie wieder für
jemanden die Rauchsachen verwahren!»
Silke und ihr Kollege wechselten Blicke, anschließend öffnete der
Polizist wortlos die Mülltonne und sah in eine andere Richtung, während
das Mädchen den Inhalt des Samtbeutels hineinschüttete. Danach drückte
Silke eine Klingel, eine Stimme fragte: «Ja, bitte?», und Silke sprach in die
Anlage: «Polizei, wir bringen Ihre Töchter.»
Oben stand eine sehr erstaunte Frau in der Tür. Sie blickte von den
Polizisten auf ihre Tochter, auf ihre Gasttochter, auf mich und wieder auf
die Polizisten, dann sagte Silke mit einem verbindlichen Lächeln: «Die
Mädchen haben leider eingekauft, ohne zu bezahlen.»
Die Frau sagte: «Ui.»
«Das tun Mädchen in dem Alter manchmal», meinte Silke.
Die Frau schüttelte den Kopf und sah auf ihre Tochter: «Frollein,
Frollein.»
«Ich glaube aber, die machen das nicht noch mal.»
Die Frau hielt die Tür auf, und die Mädchen huschten in die Wohnung.
Im Flur hing ein großes Filmplakat von Fritz Langs Metropolis.
«Und jetzt?», fragte die Frau.
«Sie kriegen Post von uns und müssen sich danach mit den Damen noch
mal auf der Wache einfinden.»
«Gibt das eine Anzeige?»
Silke schüttelte den Kopf. «Bagatelldelikt. Die bekommen ein
Normverdeutlichungsgespräch.»
In diesem Moment dachte ich an Sabine Breck. Ob sie auch zusammen
mit ihrer Gastschwester erwischt wurde? Was hatte sie wohl geklaut? Und
hatte sie vor ihrer Abschiebung ebenfalls so ein
Normverdeutlichungsgespräch über sich ergehen lassen, von den Cops in
South Dakota?
Silke, ihr Kollege und ich liefen die Treppen wieder hinunter und gingen
durchs nasse Laub zurück zum Funkwagen. Auf der anderen Seite der
Straße lag dunkel die Hasenheide, man hörte Polizeisirenen. Silke sagte:
«Was’n da schon wieder los?»

Der Volkspark Hasenheide zwischen Kreuzberg und Neukölln ist


nach seiner früheren Nutzung als Jagdgebiet und Hasengehege im
17. Jahrhundert benannt. Heute dient er als Naherholungsgebiet und
Drogenumschlagplatz.
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Prom

D
er Schnee taute, der Winter verzog sich, die Felder wurden grün. Es
wurde warm, es wurde heiß, das Schuljahr in Quimby ging dem Ende
entgegen.
Bevor es so weit war, gab es noch einen wichtigen Termin namens Prom,
eine mit höfischen Ritualen versetzte Tanzveranstaltung, zu der nicht
wenige Mädchen sich auch so kleideten wie der europäische Adel im
19. Jahrhundert. Ich hatte mein Kleid ja schon mitgebracht. Es entsprach
nicht ganz den lokalen Gepflogenheiten, aber es erinnerte mich an den
schönen Tag, an dem ich es mit Silke zusammen in der Schloßstraße
gekauft hatte, und wie wir dabei noch den Angeber ohne Napoleon gesehen
und ihm heimlich gefolgt waren, um zu erfahren, wo er hingeht. Er ging ins
Forum Steglitz, fuhr rauf zu Schaulandt, diesem riesigen Musikgeschäft mit
den Gespenster-Logos, und verbrachte Ewigkeiten zwischen den Platten
und CD-Regalen. Als uns das zu langweilig wurde und wir auch langsam
merkten, was für eine peinliche Aktion das war, schlenderten wir am
Angeber vorbei, als ob wir nur zufällig da wären, sagten hallo, verließen
das Forum Steglitz und setzten uns ins Café Melanie, das einzige uns
bekannte Café weit und breit.
Noch wichtiger als das Kleid war beim Prom das Date, die Begleitung
durch eine Person des anderen Geschlechts. Noch einmal bedauerte ich die
verfrühte Abreise von Étienne. Rosanna spekulierte in konsequenter
Realitätsferne darauf, dass Dave sich vorher noch von seiner Freundin
trennen und sie zu seinem Prom-Date machen würde. Sie hatte auch schon
Anzeichen dafür ausgemacht, zum Beispiel hatte er sie morgens einmal
angelächelt. Ich ging eher von der pragmatischen Variante aus, die da wäre,
dass am Ende Rosanna und ich miteinander und ohne männliche Begleitung
zum Prom gingen.
Nach der Kunststunde fing mich Lenny Cooper ab. Er hatte ein rot-
weißes Tuch in die Haare und noch zwei weitere gemusterte Tücher um die
zerrissene Jeans geknotet, kaute auf seinem Kaugummi und fragte mich, ob
ich denn ein Prom-Date hätte. Ich sagte nein.
Vielleicht, wenn ich wollte, könnten wir ja zusammen zum Prom gehen,
meinte er, und ich sagte: «Okay.»
Nach der Schule schlenderte ich mit Tina und Kelly nach Hause, und
natürlich erzählte ich, dass Lenny Cooper mich gefragt hätte, ob wir
zusammen zum Prom gehen würden. Oh Gott, meinte Kelly und schüttelte
den Kopf, und ich sagte, ach komm, der sei doch ganz nett.
Kelly machte große Augen und fragte, ob ich denn etwa Ja gesagt hätte.
Ich hätte «Okay» gesagt, antwortete ich.
Ich solle es vergessen, meinte Kelly.
Ich erinnerte sie daran, dass nicht sie, sondern ich mit Lenny Cooper zum
Prom gehen wolle, also, wo sei das Problem?
Wo das Problem liege? Frag mal Mom und Dad, sagte sie.
Tina meinte, sie finde Lenny Cooper ganz cool, denn Tina hatte ihre
eigene Meinung.
Beim Abendbrot kam Kelly, die gern mal petzte, sofort mit der Sache
heraus und erzählte, ich wolle mit Lenny Cooper zum Prom. Gloria runzelte
schrecklich die Stirn, Walter seufzte.
Was das denn für eine Idee sei, fragte Gloria.
Warum, fragte ich zurück, bislang hätte ich kein Prom-Date, und Lenny
habe mich heute gefragt. Ich fände ihn nett und habe halt «Okay» gesagt.
Nun, sagte Gloria, dann müsse ich ihm morgen wohl mitteilen, dass es
doch nicht okay ist.
Ich wollte wissen, warum.
Kelly machte wieder ihr Kopfgeschüttel und sagte, als würde ihre
Meinung mich interessieren, dass Lenny ja wohl kaum akzeptabel sei, er
könne froh sein, dass er auf freiem Fuß ist und nicht im Kittchen, wo er
nämlich hingehöre.
Ich will ihn ja nicht heiraten, rief ich, und auch nicht mit nach Hause
nehmen, weder hierher noch nach Berlin, sondern nur zum verdammten
Prom mit ihm gehen, was denn, bitte schön, daran der fucking big deal sei?
Ich hatte verdammt gesagt und «fucking». Tina duckte sich und hielt
ihren Kopf ganz dicht über den Teller, sodass keiner ihr Gesicht sehen
konnte. Walter rückte seine Brille zurecht. Kelly hörte auf zu kauen. Gloria
schluckte den letzten Bissen, den sie noch im Mund hatte, hinunter und
sagte mit belegter Stimme, ich möge auf meinen Ton achten, so würde in
diesem Haus nicht gesprochen.
Am Abendbrottisch sitzen und sich zoffen. So ein richtiger Familienzwist
mit petziger Schwester und ungerechten Eltern, irgendwie hatte das auch
was.
Schließlich legte Walter sein Besteck beiseite und sagte, mit Lenny
Cooper zum Prom, das gehe nun wirklich nicht. Tina sah mich an und
meinte, vielleicht habe ihr Vater da recht.

Zum Prom kam Dave mit seiner Freundin, Lenny kam gar nicht, und ich
ging mit Rosanna. Das war wohl das Beste für alle, denn immerhin hatte ich
nach allen Querelen aushandeln können, nach dem Prom bei Rosanna
übernachten zu dürfen. Das bedeutete, wir konnten noch auf die After-
Prom-Party gehen, die in einer großen Scheune auf dem Hof von Dave
stattfand. Kelly erschien da nicht (oder durfte nicht), aber Lenny war da,
und das passte sowieso besser zu ihm als diese Mickey-Mouse-
Veranstaltung vorher.
Auf der Scheunenparty gab es Bier zu trinken, und Rosanna hatte
ordentlich Durst. Ich war bestens gelaunt, denn es war Sommer, und alle
waren gut drauf in dieser Scheune mit dem großen roten Sonnenuntergang
dahinter und den illegalen Getränken in der Hand. In wenigen Wochen war
das Schuljahr zu Ende, danach kamen noch ein paar Wochen Ferien, und
dann der Rückflug nach Hause, nach Berlin.
Bei dieser Feier redete ich mit allen, auch mit Leuten wie mit Greg und
Jason, mit denen ich das ganze Jahr über kaum ein Wort gewechselt hatte.
Ich stand mit den beiden zusammen, und Greg, ein unglaublicher
Langweiler, der den mittleren Westen der USA noch niemals verlassen
hatte, fragte mich, ob ich mich gut amüsiere. Ich sagte: Absolut, und er
meinte dann: Ja, die Amerikaner verstünden zu feiern.
Auf dem Weg zur Toilette passierte ich ein paar Heuballen. Auf einem
saßen Rosanna und Lenny Cooper und knutschten. Später, bei ihr zu Hause,
kotzte Rosanna noch in den Garten.

Das Café Melanie in der Rheinstraße ist, auf seine unspektakuläre


Art, immer noch da.
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ieder fuhren wir in dem großen Oldsmobile nach Minneapolis, Walter,
Gloria, Kelly und Tina Wood, ich und meine beiden Koffer. Ich war

W nicht traurig, ich freute mich auf mein Zuhause in Berlin, machte im
Kopf aber auch eine Liste der Dinge und der Menschen, die ich vermissen
würde. Rosanna. Den guten Kunstunterricht. Die Weite des Landes.
Mr. Lindahl. Tara, Brenda, Lenny, meine Schulfreunde. Das
Fernsehprogramm.
Plötzlich bogen wir ab auf einen kleinen Umweg, ich dachte, um
vielleicht etwas zu essen. Tina lächelte wissend, alle wirkten so mild. Vor
uns tauchte ein futuristisches weißes Gebäude mit verspiegelten Fenstern
auf, und Walter Wood sagte in seiner bedächtigen Art, sie hätten sich
überlegt, vielleicht würde ich mich freuen, wenn wir hier vorbeifahren, das
sei das brandneue Tonstudio von Prince.
«Paisley Park!», rief Tina.
Gloria, die Prince selbstredend nicht mochte, fragte, ob man denn da
reinkönne.
Kelly bezweifelte das, aber ihre Mutter meinte, wenn wir jetzt schon
hergefahren seien, sollten wir es doch zumindest einmal versuchen.
Ich war ganz gerührt von dieser Aktion. Walter parkte den Wagen, Kelly,
Tina und ich stiegen aus und gingen zum Eingang. Dort gab es einen
kleinen Empfangsbereich, in dem ein sehr großer dunkelhäutiger Mann saß.
Kelly, erstaunlich erfindungsreich, sagte, ich sei Architekturstudentin aus
Deutschland und würde mich für das Gebäude interessieren, ob wir
vielleicht einen Blick hineinwerfen dürften.
Der Mann schüttelte den Kopf und meinte, sorry Ladies, aber das ginge
nicht.
Wir trollten uns zurück zum Wagen, stiegen ein und fuhren weiter.
Ich fand, da hatten die Woods einen sehr würdigen Abschluss
hinbekommen.
Nachdem ich am Flughafen meine Koffer aufgegeben hatte, umarmte ich
Gloria und Walter, dann Kelly und Tina. Tina war ganz albern und
aufgedreht, aber Kelly kullerten Tränen übers Gesicht. Bevor ich in den
Sicherheitsbereich verschwand, drehte ich mich um und winkte. Tina
winkte frenetisch zurück, Gloria lächelte sanft, Kelly schnäuzte sich die
Nase und Walter Wood hatte nasse Augen. Okay, dachte ich, diese vier
Nasen werde ich auch vermissen.
Vor der Landung in Tegel kippte der Pilot die Maschine so zur Seite, dass
ich eine schöne Sicht auf die Havel und ihre Seen hatte, mit den vielen
weißen Segeln darauf und all dem Grün drum herum. Es war ein strahlender
Sommertag in Berlin.

Vor dem Zweiten Weltkrieg ist die von Binnengewässern umgebene


Stadt Berlin, die via Stettin (dem heutigen Szczecin) sogar über
einen Zugang zur Ostsee verfügt, ein Zentrum des deutschen
Wassersports. Nach dem Bau der Mauer konzentriert sich der
Segelsport auf die Havelgewässer im Westen, auf den Wannsee und
den Tegeler See, bis hoch zum geteilten Nieder Neuendorfer See.
Auf diesen begrenzten West-Berliner Wasserflächen tummeln sich
im Sommer um die 20000 Segelschiffe, Paddel-, Ruder- und
Motorboote.
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A
lle aus der Schule waren noch verreist, und ich war ganz froh darüber.
Erst mal in Ruhe ankommen. Unsere Mariendorfer Straße war
lächerlich klein und schmal, die Autos waren mini und der Service überall
ganz mies.
Berlin war immer noch da und hatte sich auch nicht wesentlich verändert.
Meine Mutter hatte sich ein paar Tage frei genommen, und wir fuhren zu
Oma nach Neukölln, gingen essen und shoppen in Steglitz. Als sie wieder
arbeitete, traf ich mich zuerst mit der ebenfalls frisch zurückgekehrten
Franziska. Wir fuhren zum Nollendorfplatz und liefen die Einemstraße
entlang, weil wir zur «Garage» wollten, einem weiteren großen
Secondhand-Laden. In der Gegend um den Nollendorfplatz schien mir
Berlin ganz besonders Berlin zu sein, vielleicht, weil ich zum ersten Mal
nach meiner Rückkehr in die Innenstadt kam. Ich war ganz beduselt vor
lauter Heimatgefühl und urbaner Freiheit, hier in der total schmucklosen
Einemstraße, mit dem Berliner Pflaster unter den Schuhsohlen.
Neben mir lief Franziska und strahlte auch.
In der Garage kaufte ich mir eine schwarz gefärbte Jeans, ein
Matrosenhemd und zwei Blusen. Die Sachen wurden an der Kasse
gewogen, bezahlt wurde nach Gewicht.
Anschließend überquerten wir den Nollendorfplatz noch einmal in die
andere Richtung und folgten der Maaßenstraße hinunter zum
Winterfeldtplatz, wo gerade Markt war. Wir schlenderten an Ständen von
türkischen Obsthändlern, niederländischen Käseverkäufern und
afrikanischen Taschenanbietern vorbei, tranken Saft, hörten hier und da den
vertrauten Sound englischer Sprache und aßen ein asiatisches Nudelgericht.
An einem Schmuckstand kaufte sich Franziska ein Paar indische Ohrringe.
Danach gingen wir weiter durch die Goltzstraße, in zwei, drei
Trödelläden mit altem Nippes hinein. Wir ließen das Café M rechts liegen
und setzten uns am Ende der Straße vors Café Savo, zwischen Leute mit
Frisuren, wie wir sie lange nicht mehr gesehen hatten, und bestellten
Milchkaffee, den wir lange nicht mehr getrunken hatten.
«Paula und Arthur sind auch wieder da», sagte Franziska. «Die wollen
morgen ins Kino gehen, zu Der Himmel über Berlin, im Filmkunst 66. Das
ist doch vielleicht genau das Richtige für die Wiedereingewöhnung.»
«Was is’n das für ein Film?»
«Von Wim Wenders. Mit Otto Sander und Peter Falk, und Nick Cave
spielt auch mit.» Über diesen Nick Cave schien sich Franziska besonders zu
freuen, während ich den mal wieder nicht kannte. Sie hatte einfach mehr
cooles Wissen.
Peter Falk kannte ich natürlich aus Columbo, und Otto Sander hatte ich
einmal persönlich getroffen. Der Zauberverein, dem mein Vater angehörte,
veranstaltete manchmal öffentliche Aufführungen, und ab und zu wurden
dort auch Zauberer angefragt. Für eine große Veranstaltung, bei der sich die
Filmbranche in den ehemaligen UFA-Studios an der Oberlandstraße feierte,
dort, wo ich schon einmal mit Judith bei der Hitparaden-Generalprobe war,
hatte man sich vom Zauberverein ein paar Leute vermitteln lassen, die an
den Tischen der illustren Gäste herumgehen und sie mit kleinen Tricks
amüsieren sollten. Mein Vater war dabei und nahm mich mit.
Ich war davon nicht durchweg begeistert, denn ich pubertierte gerade. Ich
war so sehr mit Pubertieren beschäftigt, dass ich manchmal Schwierigkeiten
hatte, die anderen Dinge auch noch auf die Reihe zu kriegen. Zum Beispiel,
wo und wie ich meine Arme und Beine positionieren sollte, während ich
stand oder saß, und mit welchem Gesichtsausdruck. In dieser Lage die
Rolle einer Tischzauberei-Assistentin mit Würde auszufüllen, empfand ich
als Überforderung.
Silke war noch bei mir, bevor mein Vater mich abholte, und beriet mich
bei der Garderobe. Die eventuell zu befürchtende Uncoolness der Filmfest-
Situation wollte ich durch nachlässig-lässige Kleidung abfedern und zu
einer schmalen schwarzen Nadelstreifenhose von meiner Mutter das
silbergraue Secondhand-Jackett von Made in Berlin anziehen, das ich
damals gerade frisch gekauft und mit einem Button verziert hatte. Meine
Mutter fand das erwartungsgemäß entsetzlich und redete mir gut zu, lieber
einen «schicken Rock» und keine Secondhand-Jacke anzuziehen. Silke
schlug sich auf ihre Seite. Das war nicht weiter verwunderlich, denn bei
allen Qualitäten, die sie hatte, war Silke modisch nicht besonders weit vorn.
Irgendwie setzten sie sich aber durch mit ihrer Meinung, und als mein Vater
eintraf, trug ich einen Rock ohne silbergraues Jackett.
Schon vor dem Eingang der Studios ging es los mit Merkwürdigkeiten.
Ein Mann sprach uns an und klagte furchtbar darüber, keine Einladung zum
Event bekommen zu haben, obwohl er doch mit total vielen Prominenten
auf Du und Du sei. Zum Beweis schlug er ein dickes Fotoalbum auf, in das
er viele Bilder von sich zusammen mit Personen aus Funk und Fernsehen
geklebt hatte. Besonders viele hatte er mit Hans Rosenthal.
«Und was kann ich da jetzt tun?», fragte mein Vater.
«Vielleicht können Sie mich irgendwie mit reinbringen», sagte der Mann.
Ich flüsterte meinem Vater ins Ohr: «Ich glaube, der ist nicht ganz dicht.»
Er nickte und meinte, das habe er sich auch schon gedacht, und so gingen
wir ohne den undichten Mann hinein.
Wir liefen ein bisschen herum und sahen uns das Bühnen-
Unterhaltungsprogramm an, wobei mein Vater leise zu mir sagte: «Guck
mal, da neben dir steht der Schamoni.»
«Wer ist Schamoni?»
«Na, der Schamoni von Radio Hundert,6.»
«Ich mag Hundert, 6 nicht.»
«Was hast du denn gegen Hundert,6? Ich hör den gern. Nur dass dann
irgendwann immer dieses Chaotenradio kommt …»
Ich wollte jetzt nicht einsteigen in diese Diskussion, außerdem bereute
ich gerade intensiv meine Kleiderwahl. Eindeutig hätte ich mich in der
Nadelstreifenhose und dem alten Jackett wohler gefühlt. Das Bedauern
wurde über den Abend noch größer, als wir schließlich durch den Festsaal
zogen und vor angetrunkener B- und seltener A-Prominenz
Zauberkunststücke vorführten.
Als wir an den Tisch kamen, an dem Otto Sander saß, freute sich Papa.
Er zeigte Otto Sander alle Tricks, die er gerade parat hatte, und Otto Sander
freute sich auch. Er applaudierte und war ausnehmend nett und höflich,
ganz anders als einige der Knalltüten an den anderen Tischen. Am Schluss
sagte mein Vater: «Das war mir ein besonderes Vergnügen, Herr Sander. In
Das Boot fand ich Sie übrigens großartig.»
«Das Vergnügen war ganz meinerseits», sagte Otto Sander, stand auf und
gab uns beiden zum Abschied die Hand, bei mir mit einer kleinen
Verbeugung.

Als nach dem Bau der Mauer die Station Potsdamer Platz
geschlossen wird, verliert der verbliebene Streckenabschnitt der U-
Bahn zwischen Gleisdreieck und Nollendorfplatz seine Funktion, und
die Strecke wird 1972 stillgelegt. Der Bahnhof Bülowstraße wird
dabei komplett außer Betrieb genommen und für einen türkischen
Basar genutzt. Auf den stillgelegten Gleisen am Nollendorfplatz
entsteht ein Flohmarkt, mit ausrangierten Bahnwaggons als
Verkaufsflächen. Zeitweilig verkehrt auf den Gleisen zwischen dem
Basar am Bahnhof Bülowstaße und dem Flohmarkt am
Nollendorfplatz eine alte Straßenbahn. 1993 wird die Strecke für die
neue U2 wieder in Betrieb genommen.
Die Gegend um den Schöneberger Winterfeldtplatz ist in den
siebziger und achtziger Jahren eine Hochburg von Hausbesetzern
und Vertretern der Alternativkultur außerhalb Kreuzbergs. Die
Alternative Liste, der West-Berliner Landesverband der Grünen,
kommt hier auf Wähleranteile von über 50 Prozent.
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D
er Wim-Wenders-Film begann mit einem Engel, der oben auf der
Gedächtniskirche steht und auf die Stadt hinunterblickt. Menschen
laufen über den Ku’damm, Menschen laufen über den Mehringplatz am
Halleschen Tor mit der Friedenssäule in der Mitte. Man sieht den Funkturm,
das Messegelände, Altbauten, die Stadtautobahn. Franziska, Paula, Diana,
Arthur, ich und noch ein paar mehr von uns frisch Zurückgekehrten saßen
in den Kinositzen und waren selber überrascht, wie gerührt wir darüber
waren, unserer vertrauten, aber lang nicht gesehenen Stadt so auf der
Leinwand wieder zu begegnen. Die Leute in der U-Bahn, die spielenden
Kinder in einem Neubauviertel, die alte Langenscheidtbrücke in
Schöneberg, die gerade abgerissen worden war und jetzt neu aufgebaut
wurde, die Siegessäule, die Magnetbahn am Potsdamer Platz und immer
wieder die Mauer. Dazwischen Archivbilder der gerade zerbombten Stadt
mit Menschen, die fassungslos durch Trümmer laufen und sich Tücher vors
Gesicht halten, weil überall auf den Straßen die Toten liegen, darunter
kleine Kinder.
Zu dem Engel gesellt sich ein zweiter Engel, gespielt von Otto Sander.
Die beiden Engel bewegen sich durch die Stadt, und der eine verliebt sich
in eine Zirkusakrobatin mit französischem Akzent, die ab und zu punkige
Konzerte besucht. Bei einer Konzertszene in einem Club fragte Arthur
mich: «Wo is’n das?» Als ob ich so etwas wüsste.
Auch ein Waschsalon war zu sehen, ich war ja inzwischen der Meinung,
in jedem guten Film sollte einmal ein Waschsalon auftauchen. Dann gab es
noch eine andere Konzertszene mit einem sehr eindrucksvollen Sänger an
einem ungewöhnlichen Ort, nämlich in einem prunkvollen Saal mit
Kronleuchtern und alten Teppichen. Diesmal fragte ich Arthur, ob er wisse,
wo das sei, und er wusste Bescheid: «Das ist im alten Hotel Esplanade.»
«Und der Sänger?»
«Nick Cave.»
Am Ende des Films stand auf der Leinwand: «Fortsetzung folgt.»
Wir traten aus der Kinotür, raus auf die Ecke Bleibtreu- und
Niebuhrstraße und waren ganz benommen. Wir mussten uns erst mal
justieren, wie wir da jetzt selber standen unter dem Himmel von Berlin,
unter dem schon so vieles passiert war, bevor es uns überhaupt gegeben
hatte. Kriege und Trümmer und millionenmal geboren und gestorben, und
wo weiterhin so viel passierte, und wir waren mittendrin, im Jahr 1988 in
Charlottenburg, eine Gruppe heimgekehrter Austauschschüler. Ein paar
verabschiedeten sich gleich, aber Paula schlug vor, noch zum Savignyplatz
zu gehen. Franziska, Diana, Arthur und ich waren dabei.
Der Savignyplatz war keine mir vertraute Gegend. Wir passierten einen
S-Bahn-Bogen, gingen dann ein paar Meter weiter an der Bahntrasse
entlang, wo es ein paar Läden und Lokale gab, und setzten uns in eine
Kneipe mit dem Namen «Jahrmarkt». Ganz legal durften wir uns fünf Biere
bestellen.
«Was wird das wohl für eine Fortsetzung werden von dem Film?», fragte
Paula.
Arthur sagte: «Da fällt dann die Mauer.»
«Genau», meinte Diana. «Wim Wenders geht zu Honecker und sagt: ‹In
meinem nächsten Berlin-Film soll es darum gehen, dass die Mauer fällt,
könnte man das vielleicht arrangieren?›»
Ich fühlte mich gut, als wir später in Richtung Zoo den dunklen
Savignyplatz überquerten, der von allem etwas war, ein bisschen
verkommen und gefährlich mit suspekten Gestalten auf der Grünanlage und
schlafenden Pennern auf den Bänken, ein bisschen bürgerliches
Charlottenburg ringsherum und ein bisschen Künstler- und Intellektuellen-
Hangout mit Programmkinos und Buchläden. Neben mir hatte ich nette
Leute, und über mir war der Himmel über Berlin, der niemals so riesig und
sternenübersät aussah wie der Himmel über der Prärie. Dafür hatte er
andere Qualitäten.
In den zwanziger Jahren gehört das alte Grand Hotel Esplanade am
Potsdamer Platz zu den vornehmsten Adressen in Berlin. Nach dem
Krieg steht nur noch ein kleiner Teil des Hotels einsam in einer
Trümmerwüste, der bald als Restaurant und Festsaal genutzt wird.
Die Mauer führt unmittelbar am Esplanade vorbei, aus der ehemals
zentralen Lage ist eine Randlage geworden. Der
Veranstaltungsbetrieb wird bis 1981 weitergeführt, dann muss das
Hotel wegen Einsturzgefahr weitgehend schließen, ist aber weiterhin
als Drehort für Filme begehrt. Schon 1972 taucht in berühmten
Szenen des Musicals Cabaret der Kaisersaal des Hotels auf; 1986
dreht Wim Wenders dort für Der Himmel über Berlin. Nach einer
spektakulären Versetzung der Gebäudefragmente mit Hilfe von
Computermodellen und einer Luftkissenkonstruktion wird der
Kaisersaal ins heutige Sony Center integriert; 2007 eröffnet dort ein
Restaurant. Auch der alte Frühstückssaal des Hotels wird nebenan
wieder aufgebaut und beherbergt heute das Café Josty.
Die Magnetbahn (auch M-Bahn genannt) wird 1983 über den
Potsdamer Platz gebaut und 1984 als Teststrecke mit drei Stationen
(Gleisdreieck, Bernburger Straße und Kemperplatz) in Betrieb
genommen. 1989 dürfen auch reguläre Fahrgäste mit der M-Bahn
fahren; 1991 wird die Strecke jedoch wieder demontiert, um Platz zu
machen für den Wiederaufbau der U-Bahn-Linie U2. Zeitweilig
diskutierte Pläne, eine M-Bahn-Strecke zum Flughafen Schönefeld
zu bauen, werden nicht verwirklicht.
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AVUS nach Dreilinden

D
as neue Schuljahr fing an, und ich fuhr jetzt oft mit dem Rad zur
Schule. Der Hinweg war kein Problem, aber auf dem Rückweg
verzettelte ich mich zuerst immer wieder im Neuköllner Straßengewirr.
Wenn ich da wieder herausgefunden hatte, führte mich der Weg am
Neuköllner Krankenhaus vorbei in die Gottlieb-Dunkel-Straße, die zuerst
von einem Industriegebiet und dann von Friedhöfen gesäumt wurde. Den
letzten Friedhof auf der linken Seite kannte ich, da lag der Opa begraben.
Bei der Trauermesse hatte ich sein Lieblingslied «Maria, breit den Mantel
aus» auf der Flöte gespielt und mein weißes Erstkommunionskleid
getragen. Dass die Straße am Friedhof Gottlieb-Dunkel-Straße hieß, hatte
ich mir damals gleich gemerkt, weil es so ein einprägsamer
Friedhofsstraßenname war. Nach der Gottlieb-Dunkel-Straße kam die
Rixdorfer Straße, wo es von der Sarotti-Fabrik her oft und intensiv nach
Schokolade roch.
Für die Fortbewegung durch die Stadt hatte ich von jeher mein Rad
gehabt und das öffentliche Verkehrsnetz, und am Wochenende nahm ich mir
für nächtliche Rückfahrten manchmal ein Taxi. Damit war ich immer und
überall gut hin- und wieder zurückgekommen, trotzdem hatte meine Mutter
die Idee, mir zum Achtzehnten den Führerschein zu schenken,
beziehungsweise erst einmal die Fahrstunden. Sie selber besaß keinen
Führerschein und fand es auch deshalb praktisch, wenn demnächst eine von
uns Auto fahren können würde.
Ich meldete mich bei der Fahrschule um die Ecke an, begann mit ein paar
Theorie-Stunden, und dann kam die erste Praxisstunde. Der Fahrlehrer hatte
einen Schnauzbart und trug einen braunen Lederblouson. In Minnesota war
ich einmal mit Rosanna und ihrer Gastschwester auf einem leeren Highway
Auto gefahren, dabei war der Wagen lustig gehoppelt; Rosannas
Gastschwester hatte sich ausgeschüttet vor Lachen. Jetzt hatte ich trotzdem
keine Ahnung, wo Gas, Bremse und Kupplung waren.
«Die Jungs wissen dit immer», sagte der Fahrlehrer. Aber ich war ja kein
Junge.
Das Auto durch ein paar leere Mariendorfer Seitenstraßen zu lenken
fühlte sich an wie eine unglaubliche Zumutung, und das war noch gar nichts
verglichen mit der totalen Überforderung, die sich einstellte, als es später
auf Straßen ging, auf denen auch andere Autos fuhren. Neben mir saß
natürlich immer dieser Fahrlehrer, der sich halb gelangweilt und halb
genervt in den Sitz fläzte und schwerverdauliche Sprüche klopfte. Am Ende
jeder Fahrstunde war ich nass geschwitzt und hatte ein leichtes Zittern in
den Beinen.
Der Schwierigkeitsgrad steigerte sich kontinuierlich. Erst ging es auf
kleine, dann auf richtig große Kreuzungen. Schließlich fuhren wir auf dem
Großen Stern einmal um die Siegessäule herum und später sogar auf die
Stadtautobahn, aber zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, irgendeinen
Fortschritt zu machen und an Kontrolle über das Fahrzeug oder an
Überblick über die Verkehrssituation hinzuzugewinnen. Es blieb einfach
immer gleich schrecklich. Jede einzelne Fahrstunde war schlimmer als jede
Mathe-Klausur, und in Mathe war ich schon nicht besonders gut.
Sogar wenn ich nicht selber im Auto saß, hatte ich ab jetzt Probleme mit
dem Verkehr. Ständig dachte ich, das kann ja wohl nicht wahr sein, wie
viele Autos immerzu und überall um einen herum sind. Wie man sie
immerzu hört, immer sieht, immer riecht. Als trostlosestes Geräusch der
Welt empfahl sich mir «Autoverkehr auf nasser Fahrbahn», und wenn ich
an der Ampel stand, sah ich die ganze Zeit auf den an mir vorbeirollenden
Verkehr, während die Leute in den Autos mich gar nicht ansahen, und auch
das war ätzend. So arrogant. Mir fiel neuerdings auf, wie manche Leute sich
veränderten, sobald sie hinterm Steuer saßen. Zusammen mit der
Maschinerie um sich herum entwickelten sie ein ganz neues
Machtbewusstsein.
Auf der anderen Seite sah ich, dass so ziemlich jeder lernen konnte, ein
Auto zu steuern. Selbst Leute, die sonst nicht viel auf die Reihe bekamen,
konnten prima Auto fahren. Minski zum Beispiel. Demnach, so meinte ich,
müsste es auch mir möglich sein, mich wie selbstverständlich hinters Steuer
zu setzen, den Schlüssel herumzudrehen und loszufahren.
War es aber nicht.
Am Schluss mussten noch die Spezial-Fahrstunden «Nachtfahrt» und
«Autobahnfahrt» absolviert werden, bevor ich mich zur Prüfung anmelden
konnte.
Weil es Sommer war, fiel die Nachtfahrt sehr spät aus. Mein Fahrlehrer
war mir im Dunkeln nicht sympathischer als im Hellen, fand aber, dass es
eine hübsche Idee sei, mit offenen Fenstern und offenem Schiebedach über
den erleuchteten Ku’damm zu cruisen. Theoretisch, in einem anderen Auto
und mit anderer Begleitung, wäre es das auch gewesen, optimalerweise auf
dem Beifahrersitz. So lenkte ich selber, und der Fahrlehrer machte über den
Skulpturenboulevard genau die Sprüche, die ich von ihm erwartet hatte
(«Dit soll nun Kunst sein, na schön Dank auch»; «Die schönen Cadillacs
hättense lieber mal mir jeben solln»). Allerdings, als hinter mir jemand
hupte, nur weil mir auf dem Adenauerplatz der Wagen abgesoffen war, stieg
er aus, mitten auf der Kreuzung, und beschimpfte den Fahrer durch dessen
ebenfalls offenstehendes Fenster: «Haste Tomaten uffn Augen, oda wat? Da
steht ja wohl groß und leuchtend FAHRSCHULE druff auf dem Wagen,
und dit bedeutet, dass da eener fahren lernt! Da hupt man nich, wenn da mal
der Wagen absäuft!»
Ich sah, wie der andere Fahrer entschuldigend die Hände hob. Mein
Fahrlehrer stieg wieder ein und sagte: «Kannick nich ab, sowat.»
Als Nächstes kommentierte er dann wieder einen vor uns herzuckelnden
Lada mit polnischem Kennzeichen, vollgepackt mit großen karierten
Taschen: «Wat machen dien hier? Die solln ma schön zu ihrm
Krempelmarkt fahrn, is aba die falsche Richtung, Leute. Komm, den musste
übaholn, jetze, der stinkt.»
Für die Autobahnfahrt gab es nicht viel Auswahl, um einmal schneller als
80 Stundenkilometer zu fahren. Nachdem ich das Fahrschulauto zwischen
Funkturm und ICC hindurchgesteuert hatte, musste ich rauf auf die AVUS,
wobei der Fahrlehrer darauf bestand, dass ich mindestens einmal auf
120 Stundenkilometer beschleunigte, was ich wiederum völlig irre fand.
Wir passierten die ewig verwaisten Zuschauertribünen, auf denen ich noch
nie einen Menschen hatte sitzen sehen, außer in dem Ärzte-Film Richy
Guitar, und steuerten auf den Grenzkontrollpunkt Dreilinden zu. Dahinter,
das wusste ich, wurde man von einem sowjetischen Panzer auf einem
Betonsockel begrüßt. Aber natürlich wollten wir die Grenze nicht passieren,
wir wollten nur ein wenig auf die Tube drücken. Kurz vorher machten wir
kehrt und rasten wieder zurück. Erneut passierten wir Funkturm und ICC
und bogen dann ein in den breiten Kaiserdamm mit seinen schönen
Laternen.

Zur 750-Jahr-Feier wird 1987 auf dem Kurfürstendamm der


«Skulpturenboulevard» als Museum im öffentlichen Raum
eingeweiht. Zu den sieben Exponaten zählen unter anderem die
Beton-Cadillacs des Künstlers Wolf Vostell. Die Skulpturen stoßen
bei weiten Teilen der Berliner Bevölkerung und der Boulevardpresse
auf Ablehnung, sogar eine Bürgerinitiative wird dagegen gegründet.
Noch heute stehen drei der sieben Skulpturen auf dem Ku’damm,
unter ihnen Vostells Zwei Beton-Cadillacs in Form der nackten Maja.
Als die polnische Regierung Anfang 1989 die Grenze nach Westen
öffnet, strömen polnische Bürger nach West-Berlin, um Zigaretten,
Alkohol, Kleidung und alle möglichen Waren der östlichen
Mangelwirtschaft im Westen zu verkaufen. Auf einer schlammigen
Freifläche in der Nähe vom Potsdamer Platz entsteht der berühmt-
berüchtigte Polenmarkt, der im Sommer vom rot-grün regierten
Senat verboten wird.

Die AVUS (Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße) ist 1921 die


erste Straße in Europa, die ausschließlich für den Autoverkehr
bestimmt ist. Sie beginnt am Funkturm, verläuft weiter durch den
Grunewald und führt über den Grenzkontrollpunkt Dreilinden direkt
auf die Transitstrecke durch die DDR. Noch bis 1998 wird sie an
manchen Wochenenden für Autorennen gesperrt; heute ist von
dieser Tradition nur noch die alte Zuschauertribüne übrig, die 2007
von einem Investor gekauft wird und wahrscheinlich hinter Glas
gesetzt werden soll.
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Kreuzberg 61

W
ir standen vor dem TÜV-Gelände in der Alboinstraße, und weil es
regnete, warteten wir im Auto auf den Prüfer namens Baumann. Es
half mir nicht, dass mein Fahrlehrer dabei die Stirn in Falten legte und vor
sich hin murmelte: «Baumann, harte Nuss. Lässt viele durchfallen.»
Baumann kam schließlich, setzte sich hinten rein, schüttelte seinen
Schirm aus und sagte: «Dann mal los.»
Meine Beine schlackerten derart, dass ich kaum die Kupplung
durchtreten konnte. Sehr umsichtig fuhr ich an den Rechts-vor-links-
Straßen vorbei, überhaupt machte ich alles sehr, sehr korrekt. Dann forderte
Baumann: «Jetzt bitte auf die Stadtautobahn.»
Neben mir fuhr ein Laster. Ich wusste nicht, ob ich den jetzt besser
überholen sollte oder nicht, entschied mich aber nach all der Vorsicht und
Langsamkeit, die ich vorher an den Tag gelegt hatte, für etwas mehr
Rasanz. Der Fahrlehrer ging auf die Bremse, es tutete.
Danach zitterte ich noch mehr, das Einparken auf dem holprigen
Kopfsteinpflaster vor dem TÜV dauerte eine Ewigkeit. Am Schluss saßen
wir alle still im Auto, Baumann, der Fahrlehrer und ich, an den Scheiben
rann das Wasser herunter.
«Mein Gott, waren Sie nervös», sagte Baumann, und dann hielt er einen
Vortrag darüber, was ich alles nicht gut gemacht hatte, besonders in die
Sache mit dem Laster steigerte er sich noch mal richtig rein. Am Schluss
seufzte er, zog theatralisch einen Kuli aus seiner Innentasche, kritzelte
etwas auf ein Papier in seiner Mappe, gab mir das Papier und meinte: «Weil
ich heut milde gestimmt bin.» Dann reichte er meinem Fahrlehrer die Hand
und stieg aus.
Mein Fahrlehrer saß da, hatte die Unterlippe nach vorn geschoben und
nickte. «Glück jehabt», sagte er. «Großet Glück jehabt.»
Ich war so unendlich froh, den ganzen Fahrschulscheiß hinter mir zu
haben. Meine Mutter freute sich auch, sie hatte es mir aber die ganze Zeit
über nicht richtig geglaubt, dass ich Probleme mit dem Fahrenlernen hatte.
Sie dachte, alles fiele mir leicht. Nun schlug sie vor, ein Auto anzuschaffen.
Ich stutzte. Das mit dem Fahren hatte ich doch gerade erst überstanden. Ich
brauchte jetzt dringend eine Pause und antwortete ihr, dass ich vorerst kein
Auto benötigte.
Zwei Wochen später fuhr ich nach der Schule bei Stefan mit. Er war mit
dem Wagen seines Vaters zur Schule gekommen, weil er sich bereit erklärt
hatte, die Farbeimer zu transportieren, die wir brauchten, um den
Oberstufenraum neu zu streichen. Der Oberstufenraum war eine mit alten
Sofas möblierte, lehrerfreie Zone, in der wir anfallende Freistunden mit
Rumdösen überbrückten.
Bei der Renovierungsaktion waren am Ende sehr viel weniger Leute
dabei, als sich angemeldet hatten, und ganz zum Schluss, beim Aufräumen
und Saubermachen, waren nur noch Stefan und ich da. Wir brachten
Farbeimer, Farbroller und Pinsel zurück in sein Auto, dann nahm er mich
mit bis nach Mariendorf. In der Gneisenaustraße hielt er kurz an, denn er
wollte aus einem Fotogeschäft seine fertig entwickelten Filme abholen. Er
stellte das Auto in zweiter Reihe direkt vor dem Laden ab, kurz vor einer
Baustelle, und sagte: «Wenn der andere da rauswill, fährste einfach ein
Stück vor, kannste ja jetzt.»
Kaum war Stefan im Geschäft verschwunden, kam tatsächlich der
andere, der, dessen Auto Stefan gerade zugeparkt hatte, und wollte raus. Ich
setzte mich ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr an der Baustelle vorbei.
Dahinter kam aber gleich eine Bushaltestelle und dann schon wieder die
nächste Seitenstraße. Natürlich schaffte ich es nicht, schnell in die linke
Spur zu wechseln, um bei der nächsten Möglichkeit den Mittelstreifen zu
kreuzen und gleich wieder zurückzufahren, also musste ich erst einmal
weiter geradeaus. Den Sitz und den Rückspiegel hatte ich mir beim
Wegfahren nicht eingestellt, beim Wechsel in den dritten Gang verschaltete
ich mich, und das Auto machte komische Geräusche. Mir brach sofort der
Schweiß aus. Die nächste Umkehrmöglichkeit war die große Kreuzung am
Mehringdamm. Es wurde aber noch schlimmer, als ich beim Zurückfahren
auf Höhe des Fotoladens nicht anhalten konnte, weil alles vollgeparkt war.
Über den breiten, baumbestandenen Mittelstreifen hinweg sah ich Stefan
auf der anderen Seite der Straße, wie er irritiert nach links und rechts
guckte, aber nicht zu mir hinüber. Ich musste indessen weiter, und dann
kam das Umleitungsschild, das mich nach rechts in die Zossener Straße
schickte. Danach wusste ich überhaupt nicht mehr, was tun. Ich schlich im
Schneckentempo durch Kreuzberg 61, wurde ab und zu angehupt, hielt an,
um endlich den Sitz nach vorn zu ziehen, mich zu konzentrieren und die
heraufquellenden Tränen aus den Augen zu wischen. Irgendwann, tausend
Jahre später, war ich irgendwie wieder auf der Gneisenau. Stefan stand noch
immer da, ratlos, mit hängenden Schultern. Er strahlte vor Erleichterung,
als er mich unendlich langsam heranrollen sah. Danach setzte ich mich
einfach gar nicht mehr hinter ein Steuer.

Kreuzberg teilte sich auf in die alten Postbezirke «1000 Berlin 36»
und «1000 Berlin 61», wobei 61 der größere, westliche Teil ist.
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S
eit wir dort auf einmal zu den Ältesten gehörten, standen die einstmals
so wichtigen Gemeindefeten bei uns nicht mehr sehr hoch im Kurs,
denn was sollten wir auf Kindertanzveranstaltungen, bei denen uns die
Jungs bis zur Schulter reichten. Die entstehende Feier-Lücke wurde
größtenteils ausgefüllt von den Uni-Feten, vor allem denen in der «Alten
TU-Mensa» und in der Hochschule der Künste (HdK), beides in der
Hardenbergstraße. Mariola wollte nach dem Abi an der HdK Kunst
studieren, sie arbeitete gerade an ihrer Bewerbungsmappe. Natürlich kannte
sie auch schon diverse Kunststudenten. Ansonsten hatte aber keiner
irgendwelche Kontakte in die Hochschulen. Die TU-Feten waren überall
plakatiert, die großen HdK-Feten ebenfalls. Es war dort ein bisschen so wie
früher auf den EKH-Feten, aber das Publikum rekrutierte sich aus Berliner
Oberstufenschülern von überall her und ein paar Studienanfängern der
Unis. Das ging gut zusammen, dieser Graben war weniger tief als der
zwischen uns und den Fünfzehnjährigen auf den Gemeindefeten.
Auch sonst fuhr ich wieder regelmäßig zur Hardenbergstraße, denn im
Amerika-Haus fanden jetzt die Austauschschüler-Nachbereitungstreffen
statt. Danach ging es meistens weiter ins Café Hardenberg, wo wir die
langen Tische im hinteren Teil blockierten und beim Personal nicht
besonders beliebt waren. Manchmal splitterte sich ein Grüppchen ab und
ging in die Filmbühne am Steinplatz, weil da irgendwas lief. Auf dem Weg
zwischen Amerika-Haus und Café Hardenberg mussten immer noch
mehrere Leute telefonieren, wobei die Telefonzellen in der
Hardenbergstraße nicht gut in Schuss waren, meistens roch es schlecht, auf
dem geriffelten Aluboden klebten Kaugummis und die drei dicken
Telefonbücher (Branchenbuch, Telefonbuch Berlin A–K und Telefonbuch
Berlin L–Z) waren reichlich zerfleddert.
Wenn es sonst keine Fete gab am Wochenende, hatte irgendjemand aus
der Amerika-Haus-Crew fast immer eine Idee, die besser war als der
ansonsten noch optionale Spieleabend bei Heike, Johnny, Anja oder Gerald.
Im Sommer gingen wir ins Open-Air-Kino in der Waldbühne und sahen
dort eine Reihe von obligatorischen Open-Air-Kino-Filmen wie Blues
Brothers oder Tote tragen keine Karos. Einmal waren wir spät nachts in der
Rocky Horror Picture Show im Hollywood-Kino ganz hinten am Ku’damm,
wo verkleidete Leute saßen und Reis warfen, und ein anderes Mal, ebenfalls
erst nach Mitternacht, gingen wir ins Xenon zu Koyaanisqatsi. Das war zu
Beginn der Osterferien, nachdem wir schon lange im Hardenberg gesessen
hatten und ich eigentlich todmüde war. Draußen an der frischen Luft fühlte
ich mich vorübergehend etwas munterer. Umso sedierender war es dann in
dem schmalen, vollbesetzten und gutbeheizten Kinoraum, in dem
selbstverständlich geraucht wurde, und zwar nicht nur Tabak. Der Film
startete ohne Werbeblock. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Film das
überhaupt war, der merkwürdige Titel sagte mir nichts, aber als nach einer
Viertelstunde klar wurde, dass eine Handlung nicht zu erwarten war, sackte
ich einfach in den Sitz, starrte auf die Leinwand und verfiel in einen etwas
unklaren Zustand, in dem sich Müdigkeit, suggestive Bilder, verstörende
Musik und Marihuana-Schwaden zu einem namenlosen Effekt
zusammentaten.
Nach dem Film stand ich neben den anderen auf der Kolonnenstraße, es
war viertel drei, und es erschien mir viel zu anstrengend, noch mit
jemandem zu reden. Ich sagte tschüs in irgendeine Richtung und ging
einfach los, in irgendeine andere Richtung. Dabei verfolgte ich die vage
Idee, ein Verkehrsmittel zu finden, zum Beispiel einen Nachtbus.
Schließlich hielt ich ein Taxi an. Dafür hatte ich zwar nicht genug Geld
dabei, aber ich konnte zu Hause ja welches holen, aus der Schublade in der
Küche, wo immer etwas drin war, falls ich was brauchte.
Die Taxifahrerin hörte reichlich anstrengende Musik, ein ziemliches
Kontrastprogramm zur Musik aus dem Film gerade, und sie war auch noch
kommunikativ gestimmt.
«Wo kommst du denn gerade her?», fragte sie.
«Xenon», sagte ich.
«Was lief?»
«Ich weiß jetzt gar nicht, wie der Film hieß.»
Sie sah mich durch den Rückspiegel an. «Weißt du denn noch, worum es
ging in dem Film?»
«Puh, nee. Der hatte gar keine Handlung.»
«Aha?»
«Der war nur so mit Bildern und Musik. Vielleicht ging es irgendwie
darum, dass die Menschen die Erde zerstören oder so was. Der Titel war
jedenfalls ein ganz komisches Wort. Keine Ahnung.» Es kostete mich
einige Anstrengung, so viel zu reden.
«Koyaanisqatsi», meinte die Taxifahrerin. «Mit Musik von Philip Glass.»
«Ah», sagte ich einfach. «Genau.»
Die Taxifahrerin erklärte mir noch, dass Koyaanisqatsi «Leben im
Ungleichgewicht» bedeute und ein Wort aus der Sprache der Hopi-Indianer
sei. Sie war ja wohl voll die Auskennerin. Ich fragte sie, was sie da für
Musik höre.
«House.»
«Haus?»
«Genau.»
«Die Musik heißt Haus?» Heute Nacht war einfach alles sehr
merkwürdig, vielleicht schlief ich ja schon.
Ich solle mal in die Turbine Rosenheim gehen, sagte die Taxifahrerin, da
gäbe es immer Acid House.
«Acid House, ach so», murmelte ich, als sei mir das bestens bekannt, und
sie meinte noch, das sei das neue Ding. Na ja, dachte ich, wenn sie als
Auskennerin das sagt, dann muss das ja stimmen.
Mittlerweile fuhren wir den Tempelhofer Damm runter, ich sah all die U-
Bahn-Stationen, an denen ich jeden Tag unterirdisch vorbeikam, mal wieder
von oben. Das Flugfeld vom Flughafen Tempelhof, das Ullsteinhaus, und
als wir bei der Dorfkirche Alt Mariendorf vom Tempelhofer auf den
Mariendorfer Damm wechselten, sagte die Taxifahrerin: «Puh, du wohnst ja
ganz schön weit draußen. Du bist wohl Berlinerin.»
Nachdem ich das Geld geholt und bezahlt hatte, raschelte mir kurz vor
der Haustür ein Igel über den Weg.

Die 1950 eröffnete Filmbühne am Steinplatz ist ein kleines


Programmkino mit angeschlossenem Café-Restaurant. Der
Kinobetrieb wird 2003 eingestellt, das Restaurant ist noch
bewirtschaftet.

Das kleine Ladenkino Xenon in Schöneberg besteht seit 1909.

Die Berliner Hochschule der Künste (HdK) wird 2001 in Universität


der Künste (UdK) umbenannt.
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Gleisdreieck

V
or Weihnachten hatte ich einen Zettel im Briefkasten, dem zu
entnehmen war, dass ich ein Paket abholen konnte, und zwar im
zentralen Paketamt am Gleisdreieck. Warum es nicht wie sonst in der
Postfiliale am Mariendorfer Damm lag, ich wusste es nicht.
Nach der Schule fuhr ich weiter bis Möckernbrücke. Dort stieg ich aus
der unterirdischen U7 durch die verglaste Überführung über dem
Landwehrkanal um in die Hochbahn der U1 und fuhr eine Station bis
Gleisdreieck. An diesem Hochbahnhof stiegen kaum jemals Menschen zu
oder aus, denn am Gleisdreieck gab es eigentlich nichts, außer, wie ich nun
zur Kenntnis nahm, eine Paketstelle. Vom Bahnsteig aus sah ich ringsherum
nur überwucherte Gleise, Backsteinlagerhallen und Ruinen.
Der Ausgang, vor dem ich zuerst stand, war vergittert, und über der
Vergitterung stand «Kein Ausgang!», daneben ein roter Kreis mit weißem
Balken in der Mitte. Rund und rot ist ein Verbot, dachte ich. Der andere
Ausgang führte zu einer desolaten Straße, die unter einer Hochbahnbrücke
entlangführte, und ich musste mich fragen: «Paketstelle – jetzt wo?
Diesseits oder jenseits der Brücke? Einmal um den finsteren
Lagerhausblock gehen? Und wenn ja, in welche Richtung?»
Missmutig lief ich nach hier und nach dort, bis ich hinter einer
Plastiküberdachung ein gelbes Schild erahnte, gelb wie die Post. Ich betrat
das dahinterliegende Gebäude aus rotem Backstein und befand mich danach
allein in einem Raum. Immerhin: Von irgendwo hörte ich Stimmen. Aus
meiner Schultasche kramte ich den Zustellzettel, dann stand ich da und
räusperte mich. Ich rief über den Schalter hinweg ein «Hallo?» in den Raum
hinein. Danach ein lauteres «Hallo!», und siehe da, schon kam einer
herbeigeschlurft. Ein Mann. Im Gesicht sah er gelblich aus, und allgemein
wirkte er so, als würde er hier hausen.
Ich sagte: «Ich möchte ein Paket abholen.»
Der Mann sagte nichts, er sah mich auch nicht an. Er nahm nur traurig
meinen Paketschein entgegen, machte «Hm» und verschwand wieder nach
hinten.
Nach einer nicht ganz kleinen Weile kehrte ein anderer Mann mit einem
Paket zurück. Dieser Mann war nicht schmal und gelbgesichtig wie der
erste, sondern aufgedunsen und rotgesichtig, und er wollte meinen
Personalausweis sehen. Ich hatte aber nur meinen Schülerausweis dabei.
«Wat?», sagte er. «Sie ham Ihrn Personalausweis nich dabei? Aba dit is
Ihn schon klar, dasse ohne Ausweispapiere standesrechtlich erschossen
wern könn, ja?»
«Von den Paketbeamten?»
«Von die Alliierte!»
Ich hatte überhaupt keine Angst vor den Alliierten, die Alliierten waren
unsere Freunde. Noch nie hatte mich einer von denen nach meinen Papieren
oder irgendetwas anderem gefragt. Ein größeres Problem als die Alliierten
schien mir der Paketbeamte zu sein, der nun behauptete, mein
Schülerausweis reiche nicht aus zur Identifikation.
«Und jetzt?», fragte ich.
«Na wat wohl und jetz. Müssense wohl noch mal wiedakomm mippm
Ausweis.»
Ich ging. Ich ging wieder zurück zum Bahnhof, und während ich die
Treppen hochstieg, war ich voller Hass. Ich stellte mir vor, wie der
Paketbeamte ohne Ausweis rausging zum Schrippenholen und auf dem Weg
zum Bäcker standesrechtlich erschossen wird, von die Alliierte.
Am nächsten Tag fuhr ich wieder zum Gleisdreieck, mit Ausweis
natürlich. Immerhin kannte ich jetzt schon den Weg zur Post. In der
Pakethalle wartete vor mir ein Mann, der auch ein Paket abholen wollte. Er
hatte seine Papiere dabei, bekam sein Paket und ging damit hinaus. Diesmal
stand eine Frau hinter dem Schalter, sie wirkte relativ normal. Ich zeigte
meinen Ausweis vor und sagte, ich wolle mein Paket abholen.
«Wo hamse denn den Paketschein?», fragte die Frau.
«Den hab ich jetz nicht mehr.»
«Na, den brauchense aber.»
«Aber ich war ja gestern schon hier, da hatte ich den Paketschein ja
abgegeben.»
«Wie abgegeben?»
«Na», ich vollführte verzweifelte Gesten, «ich hab dem Mann gestern
doch den Paketschein gegeben. Dann hat der damit mein Paket rausgesucht,
aber dann durfte ich es ja nicht mitnehmen, weil ich den Ausweis nicht
dabeihatte! Den Paketschein hat er mir aber nicht zurückgegeben, und jetzt
bin ich wieder da und habe meinen Ausweis dabei!»
Die Frau sah mich gequält an, dann seufzte sie und ging mit meinem
Ausweis in der Hand nach hinten.
Von dort kehrte sie, nach einer den schwierigen Umständen
angemessenen Wartezeit, mit dem Paket zurück. Es kam aus Quimby, und
der Paketzettel lag noch dabei. Ich unterschrieb auf dem Zettel, nahm mein
Paket und ging zum Ausgang. Die Frau rief mir hinterher: «Hier! Ick hab
noch Ihrn Ausweis, junge Frau! Den brauchense, sonst könnse
standesrechtlich …»
Familie Wood hatte mir zu Weihnachten eine in ihrer Funktion nicht
näher definierbare Metallplakette mit einem Eistauchervogel, dem
Symboltier des Bundesstaats Minnesota, geschickt, außerdem eine Tasse,
ebenfalls mit Eisvogel.
Von anderen aus dem Amerika-Haus hörte ich, dass sie ihre Pakete
teilweise beim Zollamt in Schöneberg abholen mussten, nach zweistündiger
Wartezeit, komplizierten Erklärungen zum Inhalt und manchmal sogar erst
nach Zahlung von Zollgebühren. Die Woods hatten zum Glück eine
Zollerklärung mit der Aufschrift «Weihnachtsgeschenke: Tasse, Plakette»
ordnungsgemäß aufs Paket geklebt; ich war glimpflich davongekommen.

Es gehört zu den politischen Grundsätzen des Senats in West-


Berlin, den Bestand der vielen nach dem Mauerbau brachliegenden
Gleisanlagen, die Verbindungen nach Ost-Berlin darstellen,
unverändert zu erhalten, um auch dadurch das Nicht-Einverständnis
mit der Teilung der Stadt auszudrücken.
Auf den weiten Brachen am Gleisdreieck wird 2011 eine
Parklandschaft eröffnet, die neben Spielplätzen und Skaterbahn
auch viel unberührte «Gleiswildnis» bietet, die sich dort während der
vergangenen Jahrzehnte mitten in der Stadt entwickeln konnte.

Auf West-Berliner Territorium gilt das Grundgesetz zwar de facto,


jedoch nicht formell. Über dem Grundgesetz rangiert das alliierte
Recht, eine Ansammlung von Gesetzen und Direktiven der
Siegermächte, die in Teilen kriegsrechtlicher Art sind und mit der Zeit
immer anachronistischer werden. So steht laut alliiertem Recht auf
Delikte wie unerlaubten Waffenbesitz (inklusive Stichwaffen) oder
unbefugtes Tragen alliierter Uniformen die Todesstrafe, die
tatsächlich jedoch niemals verhängt wird. Unter West-Berlinern hält
sich das hartnäckige Gerücht, dass Personen, die sich gegenüber
alliierten Militärs nicht ausweisen können, von diesen erschossen
werden dürften.
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I
n der Schule wurde ein neues, von der Schulleitung initiiertes
Oberstufenprojekt angekündigt, in dem es um «Begegnung» ging, und
zwar zwischen Oberstufenschülern (uns also) und jungen, in Berlin
stationierten amerikanischen Soldaten, aus unklaren Gründen auch GIs
genannt.
Zur Eröffnung des Projekts gab es eine kleine Veranstaltung in der Aula,
zu der die Schulleitung sogar Pressevertreter eingeladen hatte. Man verband
offenbar einige Ambitionen mit der Sache. Vorn saßen der Schulleiter und
die stellvertretende Schulleiterin und neben ihnen vier uniformierte GIs.
Die stellvertretende Schulleiterin sprach ein paar wohlfeile, in Englisch
gehaltene Worte des Willkommens an Amerikaner, Presse und Schüler, in
denen es, wie nicht anders zu erwarten, um Austausch, Begegnung und die
deutsch-amerikanische Freundschaft ging.
Dann stellten die Amerikaner sich vor, und am Schluss durften wir noch
Fragen an sie richten. Markus Werkmeister wollte wissen, wie es käme,
dass ihre Schuhe alle so sehr glänzten. Der eine mit den sehr kurzen Haaren
erklärte, in der Army müsse man immer glänzend geputzte Schuhe tragen,
es gäbe aber auch dieses schon per se glänzende Kunstleder, das man nicht
dauernd polieren müsste. Er besah sich die Schuhe seiner Kollegen und
sagte, seine eigenen seien auf jeden Fall aus dem Kunstleder und diese und
diese auch, nur der mit den längeren Haaren hätte blankpoliertes Echtleder
an den Füßen.
Eine SFB-Reporterin fragte Silke und mich hinterher, wie wir das Projekt
fänden und ob wir in unserem Leben schon mal was mit den hier
stationierten Vertretern der alliierten Streitkräfte zu tun gehabt hätten. Wir
sagten, dass wir oft auf dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest waren, und
auf dem Deutsch-Französischen auch.
Der nächste Termin des Projekts sah einen Besuch in den Andrews
Barracks an der Finckensteinallee in Lichterfelde vor. Die zehn von uns, die
sich nach der Einführungsveranstaltung zur Teilnahme entschlossen hatten,
fuhren zusammen mit der stellvertretenden Schulleiterin in der U-Bahn bis
Yorckstraße, danach mit der S-Bahn nach Süden, anschließend mit dem 3er-
Bus. Wir merkten es unserer stellvertretenden Schulleiterin sofort an, dass
sie öffentliche Verkehrsmittel nicht viel benutzte. Zum einen hatte sie keine
Monatskarte und musste sich als Einzige einen Fahrschein kaufen, zum
anderen zuckte sie bei jedem einsteigenden Freak und jedem U-Bahn-
Musiker zusammen und sah sich um, als sei sie im Zoo.
Es war ein bisschen sensationell, die ganz eigene Welt der U.S. Army
betreten zu dürfen. In Lichterfelde sah man oft GIs, morgens joggten sie
durch die Straßen und sangen dabei diese Army-Songs, die man aus
manchen amerikanischen Filmen kannte. Einer sang etwas vor, die anderen
sangen es nach. In der Kirche gab es solche Wechselgesänge auch, nur
weniger dynamisch. Wir hatten davon gehört, dass die Amerikaner kleine
Städte in der Stadt hatten, mit eigenen Geschäften, eigenen Kinos und
eigenen Clubs. Ihren eigenen Radiosender AFN kannten wir natürlich. Es
gab auch ein paar Ami-Discos, die nicht auf Militärgelände, sondern frei
zugänglich und mitten in der Stadt lagen, wie das Chic am Adenauer-, das
Silver Shadow am Breitenbachplatz und, bevor dort vor ein paar Jahren
eine Bombe explodiert war, das La Belle in Friedenau. Die Ami-Discos
galten als funky, standen aber auch im Ruf, zu viele Frauen vom Typus
blondierte Sekretärin anzuziehen. Ob das stimmte, wusste ich nicht.
In Amerika war gerade Thanksgiving, und wir waren in den Andrews
Barracks zum Essen eingeladen. Der GI mit den kurzen Haaren holte uns
am gutbewachten Eingangstor ab und führte uns in eine Art Cafeteria, wo
es schon im Eingangsbereich auf unerklärliche Art amerikanisch roch; ein
wenig zimtig, irgendwie. Ich hatte einen sofortigen Quimby-Flashback.
In der Cafeteria aßen wir mit diversen Angehörigen der Armee, heute
alle in Zivil, und es waren auch ein paar Frauen dabei, sogar Kinder. Es gab
natürlich Truthahn mit Soße, Cranberrys und Süßkartoffelbrei und zum
Nachtisch Kürbiskuchen. Silke und Nicole waren mit von der Partie und
fragten, was is’n dies und was is’n das, und überall an dem langen Tisch
erklärten einzelne amerikanische Soldaten einzelnen deutschen Schülern,
was sie da auf dem Teller hatten. Alle fanden alles toll, und unsere
stellvertretende Direktorin strahlte über die gelungene Begegnung.
Unsere Amis kamen jetzt regelmäßig zu Besuch. Mal spielten sie mit den
Jungs Basketball und mal saßen sie im Englisch-Leistungskurs und
unterhielten sich mit uns. Ihre Aufstellung variierte stets ein bisschen, nur
einer war immer dabei, nämlich der eine kurzhaarige, der offenbar einen
höheren Dienstgrad hatte als die anderen und der als einziger ausgezeichnet
Deutsch sprach. Sein Name war Matt.
Einmal fanden sich Matt, ein anderer Kurzhaariger und der eine mit den
längeren Haaren zu einer Diskussionsrunde über amerikanische
Außenpolitik zusammen. Das war garantiert deren eigene Idee gewesen,
denn auf politische Debatten wollte die Schulleitung von jeher eher weniger
hinaus. Im Raum saß der halbe Leistungskurs Politische Weltkunde (PW)
und ein paar einzelne Interessierte.
Der mit den längeren Haaren hatte an dem Tag zusätzlich einen
Dreitagebart, außerdem trug er einen Rollkragenpullover aus dicker Wolle
und Öko-Schuhe. So konnte man also auch drauf sein in der U.S. Army.
Matt und der andere hatten gebügelte Hemden an, und bevor ich nach
sieben Schulstunden noch mal richtig auf Empfang gestellt hatte, ging es
bereits hoch her zwischen Matt und dem Öko-GI. Sie waren ziemlich
schnell beim Thema Iran und Irak, wobei Matt die Haltung seiner
Regierung eher verteidigte und der andere sie eher ablehnte. Matt geriet
immer weiter in die Defensive, während der Unrasierte referierte, wie die
USA Saddam Hussein erst verteufelt und dann plötzlich unterstützt hätten.
Je nach Interessenlage sei er mal ein böser und mal ein guter Diktator.
Zwischen den beiden saß der dritte Typ und sagte gar nichts, und die
stellvertretende Direktorin war sichtbar unglücklich über den Verlauf der
Veranstaltung.
Der Unrasierte war hinterher ziemlich schnell weg, Matt und der andere
hingen noch ein bisschen herum. Die stellvertretende Direktorin klopfte
Matt auf die Schulter und sagte, er sei absolut im Recht mit seiner
politischen Meinung. Dann machten wir uns alle auf den Weg nach Hause.
Auf Matt und seinen Kollegen wartete vor der Schule ein großes
schwarzes Auto mit Chauffeur und laufendem Motor.
«Hey», sagte Matt zu Silke, Nicole und mir. «Ich will am Samstag ins
Far Out gehen, kommt ihr mit?»
Wir sahen uns an und meinten: «Ja, klar.»
«Ich finde es aber nicht gut», sagte ich dann noch und deutete auf das
wartende Auto, «dass da die ganze Zeit der Motor läuft. Den kann man
doch auch anmachen, wenn man wirklich losfahren will. Sonst ist das
nämlich Umweltverschmutzung.»
Matt guckte mich an und sagte: «Stimmt. Ich werde es dem Fahrer
sagen.»

Nach 1945 übernimmt die U.S. Army die im Krieg weitgehend


zerstörten Kasernenanlagen der Königlich Preußischen
Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde und baut sie unter dem Namen
«Andrews Barracks» neu auf. Nach dem Abzug der Alliierten wird
das Gelände mit Wohnhäusern bebaut, einige Teile werden vom
Bundesarchiv genutzt.
Auf die Diskothek La Belle in der Hauptstraße 78 in Friedenau wird
in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1986 ein Bombenanschlag
verübt, bei dem drei Menschen sterben und viele verletzt werden.
Die Täter werden erst 2001 vom Landgericht Berlin verurteilt, wobei
auch der politische Hintergrund der Tat und die Rolle der libyschen
Regierung bei dem Anschlag zur Sprache kommen.
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N
icole machte am Samstag mal wieder einen Rückzieher. Dafür hatte
Johnny sich angeschlossen und Anja mit Carsten. Heike kam auch,
aber ohne Gerald. «Er ist unpässlich», erklärte sie mir unterwegs in der U-
Bahn.
«Was hat er denn?»
Sie imitierte einen leidenden Gesichtsausdruck und ein schwächliches
Husten.
«Ah», sagte ich, «tödlicher Männerhusten.»
Wir trafen Silke und Johnny am Lehniner Platz, wo gegenüber vom
Rondell der Schaubühne, aus der jetzt noch einzelne Theaterbesucher
herauskamen, der Eingang zur Diskothek war. Auf pinkfarbenem
Hintergrund stand in geschwungenen gelben Neonbuchstaben «far out»
über einer Glastür, und dahinter hing als Erstes ein gerahmtes Bhagvan-
Porträt.
«Was uns da wohl erwartet», meinte Silke.
«Was soll uns schon erwarten?», fragte Heike.
«Na ja, ich weiß ja nicht, so mit Bhagvan und so.»
«Denkste, du kriegst da gleich eine Gehirnwäsche?»
«Wird schon nicht so schlimm sein», sagte ich.
Der erste Unterschied zu anderen Diskotheken war, dass das
Einlasspersonal nicht betont cool, sondern betont freundlich war, was sich
an der Bar fortsetzte, wo gutgelaunte, in Rottönen gekleidete Menschen ihre
Cocktailshaker zur Musik schüttelten. Das Licht war angenehm, die Luft
war vergleichsweise gut, der Sound so, dass man sich noch unterhalten
konnte. Das Publikum war sowohl stilistisch als auch in der Altersstruktur
sehr gemischt, die Musik ebenfalls. Die Tanzfläche war groß und von unten
beleuchtet, und von einem großen Bild blickte gütig der bärtige Guru auf
die Szenerie herunter. Alle waren zufrieden. Die Sektenanhänger-Thematik
wurde ganz entspannt als Kuriosum verbucht, sollten sie ihren Guru ruhig
dort aufhängen, als Katholiken waren wir da tolerant.
Matt war schon drinnen, er hatte einen Army-Kollegen mit dessen
Berliner Freundin dabei, sie mit hoch angesetztem Pferdeschwanz und
Ringelpulli, er im karierten, ordentlich in die Jeans gesteckten Hemd und
mit großen Zähnen. Matt stellte uns alle vor und besorgte anschließend eine
Runde Getränke.
Es war schön, mal wieder mit den alten, knorpeligen Schulfuzzis
unterwegs zu sein. Anja und Carsten verstanden sich hervorragend mit
Matts Freunden, und Johnny, der inzwischen an der Uni war, stellte Matt
viele Fragen. Silke, Heike und ich tanzten, und Matt sorgte immer für
Getränkenachschub. Er bestand darauf, uns einzuladen. Wir amüsierten uns
bestens, es wurde sogar spät.
Als die anderen schließlich alle gegangen waren, bot Matt Heike und mir
an, uns in seinem Auto mitzunehmen auf dem Weg nach Süden. Er hatte in
einer Seitenstraße vom Ku’damm geparkt, und Heike und ich staunten nicht
schlecht, als er auf einen nagelneuen roten Chevrolet zusteuerte, der glänzte
wie das Kunstleder der GI-Schuhe und dessen Türen sich nach oben hin
öffneten wie bei dem Auto aus Zurück in die Zukunft. Heike setzte sich
nach vorn, ich quetschte mich hinten rein. Dann machte Matt Musik an, die
laut und glasklar von überall her kam, aber leider von Bruce Springsteen
war. Heike und ich legten Einspruch ein, und Matt zählte die Alternativen
auf. Schließlich einigten wir uns auf eine Motown-Compilation. Er hatte
einen CD-Player im Auto, so etwas hatten wir noch nicht mal zu Hause. In
seinem Ami-Flitzer fühlten wir uns wie die Ostler.
Matt bog auf den nächtlichen Ku’damm ein, und zum Gesang der
Supremes cruisten wir über den Adenauerplatz, vorbei an den teuren
Boutiquen, an Filmpalast und Marmorhaus und kamen schließlich auf die
Kreuzung zur Joachimstaler Straße.
«Was ist eigentlich das da?», fragte Heike, als wir dort an der Ampel
stehen blieben, und zeigte auf einen schicken Glaskasten, der auf einem
Betonpfeiler hoch über diesem Pavillon thronte, der vorn einen Kiosk und
hinten einen Zugang zum U-Bahnhof Kurfürstendamm beherbergte. Ich sah
hoch zu dem Glaskasten. Er sah vollkommen vertraut aus in seinem
Fünfziger-Jahre-Design, wahrscheinlich, weil ich ihn schon tausendmal
gesehen hatte. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, was das sein sollte. Ich
war sogar total überrascht, dass der da überhaupt war, dieser Kasten, mit
einer schönen alten Uhr und einem bequemen Drehstuhl drin. Ich kannte
ihn und hatte ihn trotzdem noch nie bemerkt, obwohl die Frage ja schon
berechtigt war, warum hier, an einer der markantesten Kreuzungen der
Stadt, ein so merkwürdiges Konstrukt mit so unklarer Funktion über den
Dingen schwebte. Wie konnte man nur so sein, so unaufmerksam immer.
«Das ist eine alte Verkehrskanzel.» Das wusste natürlich Matt. «Ich
denke, von dort aus wurden früher die Ampeln gesteuert.»
«Ich hab das Ding bislang gar nicht richtig wahrgenommen», sagte ich.
«Ich auch nicht», sagte Heike.
In einem öden Dorf wie Quimby wollte ich immer alles wissen. Warum
heißt Quimby Quimby, warum führt eine Schienenstrecke durch den Ort,
aber nie ein Zug, warum gibt es so viele Kirchen, und wie heißen sie, und
warum kommt an Homecoming keiner nach Hause? Alle waren genervt von
meinen Fragen gewesen. Aber durch meine eigene Stadt lief ich wie blind.
Matt gefiel sich außerordentlich in der Rolle des Stadterklärers und nahm
deshalb nicht den kürzesten Weg, sondern kreuzte noch ein bisschen hier
und dort entlang. Immer noch zum Sound alter Motown-Hits fuhren wir
unter dem als «Sozialpalast» bekannten großen Wohnhaus über der
Pallasstraße hindurch, und Matt erzählte, dass hier früher der Sportpalast
stand, in dem Goebbels den «totalen Krieg» ausgerufen hatte. Dann zeigte
er uns ein ominöses Gebilde, den Schwerbelastungskörper an den S-Bahn-
Gleisen in der General-Pape-Straße. Einen umzäunten, bröckeligen,
riesigen runden Klotz, der laut Matt von den Nazis da hingestellt worden
war, um zu testen, ob der sandige Berliner Boden Albert Speers
monumentale Bauphantasien überhaupt mitmachen würde.
In Mariendorf dirigierte ich Matt bis zu meiner kleinen Straße, dann
brauste er mit Heike weiter zu ihrer kleinen Straße. In der nächsten Woche
tat Heike, was sie seit Jahren tun wollte: Sie trennte sich von Gerald.

Bevor es einigermaßen intelligente Verkehrsleitsysteme gibt, werden


an verschiedenen großen Kreuzungen in Deutschland
Verkehrskanzeln gebaut, aus denen heraus die Ampelphasen
manuell gesteuert werden. Die Verkehrskanzel auf dem
Joachimstaler Platz steht unter Denkmalschutz, ebenso wie der
darunterliegende Kiosk, unter dem sich wiederum eine öffentliche
Toilette und der U-Bahnhof Kurfürstendamm befinden.

1928 eröffnet am Lehniner Platz das vom Architekten Erich


Mendelsohn entworfene Kino «Universum» als größtes Filmtheater
der Stadt. Nach Kriegsschäden neu aufgebaut, wird das Gebäude
zunächst wieder als Kino, später als Musical-Theater und Tanzlokal
genutzt, bevor es von 1978 bis 1981 vom Architekten Jürgen
Sawade zu einem technisch modernen Theater umgebaut und vom
Ensemble der Schaubühne am Halleschen Ufer unter dem Namen
«Schaubühne» als feste Spielstätte übernommen wird.
Das Far Out besteht noch bis ins Jahr 2006, am Ende bevorzugt mit
After-Work-Partys und Motto-Abenden.
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In den Zelten

W
ir waren alle ein bisschen geschockt. Natürlich redete Heike immer
davon, dass sie Schluss machen wollte mit Gerald, praktisch seit sie
ihn kannte. Man hatte sie bereits vor sich gesehen, wie sie am Tag ihrer
Goldenen Hochzeit zu uns sagen würde: «Ich weiß nicht, ich glaub, ich
sollte mich trennen», aber gerade deshalb hatte ihre Beziehung so
unerschütterlich gewirkt. Nun, wir hatten uns getäuscht. Ein Amerikaner in
einem roten Chevy war in ihr Leben gebraust und hatte Gerald ausgebootet,
auch wenn Heike bislang noch so tat, als hätte Matt nichts zu tun mit ihrer
Entscheidung, immer schön darauf verweisend, dass sie doch schon ewig
gesagt hätte, sie wolle Schluss machen.
«Ja, eben», sagten wir. «Das sagst du immer schon.»
«Ja, also», sagte Heike.
Wir waren auf dem Weg ins Tempodrom, wo es seit dem letzten Sommer
ein neues Festival gab, das sich «Heimatklänge» nannte und unter dem
Slogan «Umsonst und draußen» firmierte. Das musikalische Thema in
diesem Sommer war «Orient». Natürlich hatten wir keine Ahnung von der
orientalischen Musikszene, aber das war egal. Es war umsonst, es war
draußen, und es begann nicht erst um elf, sondern am frühen Abend. Bei
solchen Rahmenbedingungen kamen alle möglichen Leute zusammen,
Silke, Heike, Heikes Schwester Katja mit ihrem aktuellen Freund, und
Holger hatte auch gesagt, dass er kommen wollte. Sogar Nicole war dabei.
Es war immer ein abenteuerlicher Weg zum Tempodrom, damals, als das
Tempodrom noch ein echtes Zirkuszelt war. Der nächste Bahnhof war die
S-Bahn-Station Lehrter Stadtbahnhof. Zwar war der Lehrter Stadtbahnhof
von meiner Stammstrecke aus, der U6, mit nur einmaligem Umsteigen zu
erreichen. Der Umsteigebahnhof jedoch war ausgerechnet Friedrichstraße,
und der Weg von der U- in die S-Bahn führte durch denselben langen,
surrenden Leuchtstoffröhrentunnel, durch den man auch gehen musste,
wenn man Ost-Berlin besuchen wollte. Auf dem S-Bahnhof stand man dann
da zwischen DDR-Beschilderung und Intershop; ein bizarrer
Zwischenaufenthalt auf einem anderen Planeten, unterwegs zum
Amüsement.
Der Lehrter Stadtbahnhof war nur eine Station vom Bahnhof
Friedrichstraße entfernt und vor kurzem, anlässlich der 750-Jahr-Feier,
komplett renoviert worden. Vorher war er mir immer wie eine Sandburg
erschienen, jetzt war er eine modernisierte Sandburg. Am Lehrter
Stadtbahnhof war nie viel los, es sei denn, es gab eine Großveranstaltung
im Tempodrom oder auf dem Platz der Republik. Der Weg zum
Tempodrom führte in Mauernähe entlang und dann über die von geflügelten
Drachen aus rotem Sandstein bewachte Moltkebrücke rüber. Danach musste
man gleich nach rechts in das grüne Areal hinein, aus dem bereits Musik zu
hören war. Die Straße am Tempodrom hieß «In den Zelten», und lange
dachte ich, sie hieße so wegen des Tempodrom-Zelts.
Auf der Bühne stand eine Band aus Marokko und spielte entsprechend
marokkanische Musik. Silke und ich hatten Hunger. Wir stellten uns in der
extrem langen Verpflegungsschlange an, und als wir uns mit Reis-Käse-
Rollen und Getränkebechern in den Händen durch die Leute schlängelten,
sagte Silke: «Da drüben ist übrigens Holger.»
Holger war mit Christian und Oliver gekommen. Silke und ich nahmen
die drei mit zu den anderen, wobei ich unterwegs noch Diana begegnete,
die ich wirklich lange nicht gesehen hatte. Diana hatte noch eine Freundin
dabei, und die beiden schlossen sich an. Dann entdeckte ich Matt, wie er
suchenden Blicks durchs Publikum ging. Er sah mich auch, kam sofort
herbeigeeilt, und als ich sagte: «Die anderen sind irgendwo da vorn»,
strahlte er hoffnungsvoll, während ich mich fühlte wie eine menschliche
Fusselrolle.
Als wir die anderen gefunden hatten, strahlte Matt noch mehr, und Heike
strahlte auch. Christian und Oliver hatten sich bereits mit Diana und ihrer
Freundin bekannt gemacht. Das Ganze erinnerte mich ein wenig an den
Abend vor zwei Jahren, als ich am Ende sowohl Holger als auch Franziska
in dem großen «Macht der Nacht»-Partyzelt an der Jafféstraße verloren
hatte, und dabei spürte ich einen kleinen Stich. Da war doch noch was
gewesen. Da war doch noch Georg Hacke. Mal gewesen.
«Sag mal», fragte ich Holger, «was mir grad so einfällt. Was macht
eigentlich Georg Hacke?»
«Georg? Lustig, dass du fragst, der wäre fast mitgekommen.»
«Ah.» Ich trank einen Schluck aus meinem Becher. «Und dann isser aber
doch nicht mitgekommen.»
«Nee, aber er meinte, vielleicht geht er später ins Rock-It.»
«Ah ja?»
Es gab eine Pause während des marokkanischen Konzerts, die ich gern
dazu nutzen wollte, mal zu überlegen, wo man danach vielleicht noch
hingehen könnte. Diana erwähnte eine 60s-Soul-Party im Statthaus
Böcklerpark, und Christian fuhr sofort ab auf die Idee. Silke und Nicole
wollten anschließend eigentlich nirgendwo mehr hin.
«Willst du auch dahin?», fragte ich Holger.
«Warum nicht», sagte er.
«Na ja, 60s-Soul-Party, weiß ja nicht.»
«Findest du doch gut, 60s Soul.»
«Ja, aber diese Partys.»
Holger sah mich etwas ratlos an. «Wo willst du denn lieber hin?»
Ich tat, als wüsste ich das grad selbst nicht so genau.
«Meintest du nicht vorhin, dass noch ein paar Leute ins Rock-It
wollten?»
Die anderen wollten alle lieber 60s Soul, und so fand ich mich kurze Zeit
später am Eingang zum Statthaus Böcklerpark wieder, das in einem
Grünareal am Landwehrkanal in Kreuzberg lag. Dadrin war es eigentlich
perfekt. Eine große Fete mit absolut phantastischer Musik, zu der alle
tanzten und niemand herumstand. Aber ich war nicht zufrieden mit der
Situation. Ich war sogar richtig schlecht gelaunt. Ein paar Mal wollte ich
gehen, aber dann kam immer irgendein Lied, das so toll war, dass ich es
noch hören musste. Zugleich ärgerte ich mich darüber, dass ich mich nicht
locker machen konnte. Als Heike irgendwann neben mir stand und sagte:
«Tschüs, wir gehen», womit sie wie selbstverständlich schon Matt und sich
meinte, ergriff ich schnell die Mitfahrgelegenheit im Mattmobil.

Dank einer Erbschaft kann sich die Krankenschwester Irene


Moessinger 1980 ihren Traum erfüllen: Sie gründet in einem
Zirkuszelt am Potsdamer Platz einen eigenen Veranstaltungsbetrieb,
das Tempodrom. 1985 zieht das zeitweilig insolvent gewordene
Tempodrom um in den Tiergarten, auf ein Areal neben der
Kongresshalle (heute: Haus der Kulturen der Welt), in die historische
Straße In den Zelten, benannt nach den im 18. Jahrhundert dort
aufgestellten Gastronomiezelten geflüchteter Hugenotten. Nach der
Wende muss das beliebte Tempodrom dem Kanzleramt weichen,
das in unmittelbarer Nachbarschaft gebaut wird. 2001 wird das neue
Tempodrom eröffnet, ein in Zeltform gestalteter Festbau am Anhalter
Bahnhof.
Das Weltmusik-Festival «Heimatklänge» findet 1988 bis 2006 in
jedem Sommer mit wechselnden regionalen Schwerpunkten statt.

Der Lehrter Stadtbahnhof befindet sich auf der S-Bahn-Linie S3, die
zwischen Friedrichstraße und Wannsee verkehrt, und ist vor dem
Bahnhof Friedrichstraße der letzte Halt in West-Berlin. Die S-Bahn
wird auch auf West-Berliner Gebiet bis Anfang 1984 von der
Deutschen Reichsbahn der DDR betrieben (und deshalb von einem
Großteil der West-Berliner boykottiert). Als die BVG die S-Bahn-
Strecken am 9. Januar 1984 schließlich von der Reichsbahn
übernimmt, findet am Lehrter Stadtbahnhof jedes Mal ein, von den
Fahrgästen weitgehend unbemerkter, Personalwechsel zwischen
BVG- und Reichsbahn-Mitarbeitern statt.
Obwohl der denkmalgeschützte Bahnhof 1987 für zehn Millionen DM
saniert wurde, wird er im Sommer 2002 abgerissen, um Platz zu
machen für den Bau des neuen Berliner Hauptbahnhofs.
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E
s war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Oma umziehen musste. Erst
wurde das eine Bein abgenommen, aber der olle Fuß tat ihr danach
immer noch weh, wo immer er jetzt war, und dann fing der andere auch an.
Die alte Wohnung im vierten Stock ohne Fahrstuhl konnte sie auch mit
fremder Hilfe kaum mehr verlassen, das Bad war ihren Bedürfnissen nicht
angemessen, und nachts konnte sie nicht mehr allein bleiben.
Ihre Kinder suchten ihr ein Zimmer in einem Pflegeheim in Friedenau.
Sie hatte das Zimmer für sich und konnte ihre eigenen Möbel dort
reinstellen; es gab große Fenster und einen großen Balkon. Vom Bett aus
guckte Oma jetzt nicht mehr in einen Neuköllner Hinterhof, sondern auf
einen Garten, an den sich der Spielplatz eines Kindergartens anschloss. Man
konnte sie in den Rollstuhl setzen und sie durch die grünen Friedenauer
Straßen fahren. Jeden Vormittag kam eine ihrer Töchter oder der Sohn und
blieb bis zum Abend. Aber Oma war unglücklich. Sie vermisste die
Wohnung, in der sie acht Kinder großgezogen und mit Tante Martha auf
dem Sofa gesessen hatte, und das alte Bett, in dem Horden von Enkeln
herumgesprungen waren und in dem der Opa gestorben war, nachts im
Schlaf. Sonntags hatte meine Mutter Besuchstag bei ihr, und manchmal
ging ich mit.
An dem Sonntag nach dem Abend im Statthaus Böcklerpark waren
Mama und ich ausgiebig unserer gemeinsamen Passion des Spät-in-den-
Tag-Reinschlafens nachgegangen, dann holte ich Schrippen, während sie
den Frühstückstisch deckte. Als ich mit den Schrippen zurückkehrte, sagte
sie: «Holger hat angerufen.»
Nach dem Frühstück rief ich Holger zurück.
Er sagte: «Du wolltest doch wissen, was Georg Hacke macht.»
«Wieso?»
«Wärste mal gestern noch ’ne Viertelstunde länger geblieben, dann
hätteste ihn fragen können.»
«Ah ja?»
Dreck. Verdammter, verdammter Dreck.
«Ich hab aber auch noch was Gutes für dich», meinte Holger. «Nächsten
Samstag ist mal wieder EKH-Fete.»
«Uff.»
«Jetzt tu nich so. Da gehn wir hin.»
«Mal gucken.»
«Kannste dir ja noch überlegen. Mariola, ich und Georg gehen
jedenfalls.»

Oma lag im Bett, guckte zum Fenster raus und schnalzte mit ihrem Gebiss.
«Hallo», rief meine Mutter.
Oma drehte den Kopf, konnte aber noch nicht viel erkennen. Ich beugte
mich über sie und sagte: «Hallo, Oma.»
«Ach!» Sie lachte. «Das Ulrikchen!»
An der Wand gegenüber vom Bett hing ein großes gerahmtes Foto vom
Opa im Garten, wie er stolz seinen Fliederbusch präsentiert. Er hatte noch
im hohen Alter dicke schwarze Haare und eine gewisse Ähnlichkeit mit
Freddy Quinn. Ich sah mir das Bild genauer an, und Oma sagte: «Ja, ja. Der
Papa. Mit seinem Flieder.»
Oma klagte, ihr sei warm. Meine Mutter schüttelte die Bettdecke auf und
schlug sie zurück, jetzt lag die Oma da, inzwischen ganz ohne Beine, ein
schmales Rümpfchen von der Länge eines dreijährigen Kindes. Wir setzten
sie in den Rollstuhl, meine Mutter legte eine leichte Decke über Omas
Beinstümpfe, und dann gingen wir raus in die Sonne. Schoben sie unter den
Alleebäumen entlang bis zu dem grünen Platz, wo wir uns an den Brunnen
mit der hohen Steinskulptur setzten, die, für einen Brunnen nicht dumm,
eine Impression der Sintflut darstellen sollte. Da saßen wir wie immer eine
Weile, Oma guckte in die Bäume, wiegte den Kopf nach links und nach
rechts und machte: «Hmmm, hmmm», als ob sie sagen wollte: «Also, diese
Bäume, die sind mir schon welche.» Und wie immer kam auch irgendein
Hund angelaufen, um sich schwanzwedelnd von meiner Oma den Nacken
kraulen zu lassen.
Auf dem Rückweg erzählte sie, wie immer, wenn wir die Handjerystraße
passierten, dass ihre alte Neuköllner Straße früher auch Handjerystraße
geheißen habe, beziehungsweise Prinz-von-Handjery-Straße, bevor sie
zeitweilig in Adolf-Hitler-Straße umbenannt wurde und danach in
Briesestraße.
Vor der Rollstuhlrampe zum Wohnheim verabschiedete ich mich von
Mutter und Großmutter, ging zum Friedrich-Wilhelm-Platz und nahm die
U-Bahn nach Hause. Mir gegenüber saß ein altes Ehepaar. Erst sagten sie
lange nichts zueinander, dann sagte sie, wahrscheinlich in Bezug auf
irgendetwas lang davor Gesagtes: «Weißte doch.»
Dann, nach einigen Minuten, er: «Na ja, nu.»
Ich dachte: Noch sechsmal schlafen bis Samstag.

Friedenau ist ein kleiner Ortsteil des Bezirks Schöneberg, der auch
für seine Schriftstellerdichte bekannt ist. In Friedenau wohnen, unter
anderem und verteilt über verschiedene Dekaden, Kurt Tucholsky,
Erich Kästner, Uwe Johnson, Günter Grass und Herta Müller.
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A
m Samstag versuchte ich lieber gar nichts zu erwarten, noch nicht
einmal, dass Georg überhaupt da sein würde. Ich sah ihn aber schon
von weitem vor dem EKH stehen; die Hände in den Hosentaschen,
plauderte er mit Holger und Mariola. Als ich kam, grinste er und sagte:
«Lange nicht gesehen.»
Ich bekämpfte eine innere Heike, die reflexhaft «Und doch
wiedererkannt» sagen wollte, und sagte stattdessen: «Sehr lange.» Das war
viel schöner und viel mutiger. Und zahlte sich sofort aus, als Georg danach
meinte: «Viel zu lange!»
Drinnen trafen wir unweigerlich auf viele Bekannte, was in diesem Fall
ein Nachteil war. In irgendeiner Disco wären wir zusammen reingegangen
und dann zusammen dadrin gewesen, hätten nebeneinander
herumgestanden und miteinander getanzt, aber hier wurden wir gleich
zerrieben zwischen all den Leuten, die wir kannten. Ich konnte mich auf
niemanden richtig konzentrieren und hielt immer mit einem Auge Ausschau
nach Georg, den ich einmal mit Holger in einer Gruppe von ehemaligen
Schülern stehen sah und dann mit zwei Mädchen, die ihn beide ganz
offensichtlich und ganz ekelerregend anflirteten. Es war eine Scheißfete, die
nur gut war für den allerletzten Beweis, dass die Ära der Feten jetzt
wirklich zu Ende war. Irgendwann tauchten Holger und Mariola wieder
neben mir auf, aber nur um sich zu verabschieden.
«Ich komm mit», sagte ich.
«Wo is’n Georg?», fragte Holger.
«Keine Ahnung.»
Sie nahmen mich in Mariolas Auto mit zur U-Bahn, und ich bewunderte,
wie lässig Mariola ihren VW Käfer durch die Stadt lenkte, als wäre es
nichts. Als wir gerade vor einer roten Ampel standen, fragte mich Mariola,
ob ich Interesse an einem Job bei der Privatzimmervermittlung in der
Berliner Tourist-Information hätte. Sie habe da im letzten halben Jahr
gearbeitet, wolle jetzt aber bei einer Fotografin als Assistentin anfangen,
und deshalb könnte ich ihren Platz übernehmen.
«Ist total gut da», meinte sie. «Da jobben lauter Studenten, und du musst
nur Zimmer finden für Touristen. Alles ganz angenehm und gut bezahlt.»
Natürlich wollte ich so einen Job übernehmen.

Die zentrale Privatzimmervermittlung des Verkehrsamts Berlin (es wurde


großer Wert darauf gelegt, dass es nicht Fremdenverkehrsamt hieß) befand
sich zusammen mit der Berlin Tourist Information ebenerdig im Europa-
Center, Eingang Budapester Straße. Tatsächlich waren alle anderen, die dort
arbeiteten, Studenten. Wir saßen ungefähr zu zehnt um ein großes Rondell
herum, vor uns je ein Telefon und in der Mitte des Rondells die
Karteikarten mit den verfügbaren Privatzimmern, geordnet nach Standard,
Lage und Bettenzahl und bekritzelt mit allerlei Vermerken: «Total
unfreundliche Zicke»; «Nur bei mehr als einer Übernachtung!»; «Keine
Englischkenntnisse»; «Achtung: ohne Frühstück!». Oder: «Will keine
Schwarzen und keine Schwulen (angeblich ‹wegen der Nachbarn›)».
«Der Tante möchte ich gern mal einen afrikanischen Transvestiten
vermitteln», kommentierte ein Kollege.
«Und zwar im Rollstuhl und mit Augenklappe und Papagei auf der
Schulter», ergänzte ein anderer.
Ins Foyer kamen Touristen, die entweder kein Hotelzimmer mehr finden
konnten oder keines wollten. Deren Wünsche und Bedürfnisse wurden auf
Zettel geschrieben und zu uns nach hinten gereicht: «Spanisches Ehepaar,
bisschen Englisch, 3 Nächte, möglichst zentral.» «Möglichst zentral» stand
fast immer drauf. Dann fing man an, etwas Passendes aus der Kartei
herauszusuchen und die Gastgeber anzurufen. Für gewöhnlich dauerte das
eine Weile, denn meistens war keiner zu Hause, und wenn jemand ans
Telefon ging, hieß es oft: «Passt leider gerade gar nicht, aber sonst immer
gerne.» Oder man sollte erst einmal ausführlich erklären, «was das denn für
welche sind». («Wie gesagt, ein Paar aus Spanien, so um die fünfzig
vielleicht, besser kenne ich die jetzt auch nicht.»)
Wenn endlich jemand gesagt hatte: «Könnse vorbeischicken, die Leute,
sagense denen aber nochma deutlich, sie müssen bei 27B klingeln, die
Letzten habens ewich nich jefunn, weilse imma bei 27 jesucht ham, is aba
27B, sagense dis denen!», notierte man sich die Adresse auf einen Zettel,
ging damit ins Foyer, rief sich das spanische Ehepaar herbei, erklärte denen
auf einem großen laminierten Stadtplan an der Wand den Weg zu ihrem
Gastgeber und kringelte das Ziel auch noch mal mit Kuli auf deren eigenem
Stadtplan ein. Ich war immer froh, wenn die Leute nicht mit dem Auto
unterwegs waren. Den schnellsten Weg mit der U-Bahn hatte ich ruck, zuck
herausgesucht, aber wie man wo mit dem Auto am besten durchkam, war
mir natürlich nicht geläufig. Die meisten wollten ohnehin ein Taxi nehmen.
«And be sure to go to number 27B, okay?»
«¿…?»
«Numero 27B! B!»
«B. Sí, sí, B.»
Das Verkehrsamt im Europa-Center machte morgens um halb acht auf
und hatte bis um halb elf am Abend durchgängig geöffnet, sieben Tage in
der Woche. So viel Service bot sonst keine Institution, die das Wort «Amt»
im Namen trug. Meistens arbeitete ich am Wochenende, wenn es am
vollsten war. Wenn einmal ein paar Minuten nichts zu tun war, unterhielt
man sich mit irgendwem, der auch gerade nichts zu tun hatte,
normalerweise darüber, was man studiert und woher man kommt. Mit
meiner Auskunft: «Ich komme aus Berlin und gehe noch zur Schule», war
ich dabei das exotischste Tier im Zoo. Am zweitexotischsten in der
Privatzimmervermittlung waren Leute, die nicht Kunst- oder
Geisteswissenschaften studierten, sondern Chemie oder Elektrotechnik.
Früher hatte ich mal in einer Buchbinderei in der Bülowstraße gearbeitet;
ich hatte Englisch-Nachhilfe gegeben und ein paar Wochen Töpfe
geschrubbt in einer Fachhochschul-Kantine in Reinickendorf. Silke und
Nicole jobbten beide bei C&A in der Karl-Marx-Straße und Johnny und
Stefan als Kartenabreißer bei Menschen Tiere Sensationen in der
Deutschlandhalle. Aber nach allem, was ich gesehen und gehört hatte, war
der allerbeste Job, den man überhaupt finden konnte, genau der hier, in der
Privatzimmervermittlung des Fremdenverkehrsamts, hier im Europa-Center,
zwischen Studenten, denen ich schon mal dabei zuhören konnte, wie sie
über die Uni redeten, Touristen, in deren Stadtpläne ich Kringel reinmalte,
und Berlinern, die in ihren Wannseevillen, Schöneberger Altbauten und
Spandauer Reihenhäusern ein Zimmer hatten, das sie an Touristen
vermieten wollten.
Einmal wurde ich zum Telefondienst in der Verwaltungszentrale im
Rathaus Schöneberg eingeteilt. Dort saßen wir zu viert in einer Amtsstube
und nahmen Anrufe von Leuten entgegen, die ein Hotelzimmer in Berlin
suchten. Uns fiel die Aufgabe zu, ihnen zu erklären, dass bis Mitte
September in der ganzen Stadt keine Hotelzimmer mehr frei seien, allein
schon wegen der Funkausstellung. Es gäbe nur noch die Privatzimmer, und
die würden einzig vor Ort vermittelt. Fast alle Anrufer jaulten, tobten und
weinten und erklärten uns, welche desaströsen Auswirkungen das jetzt für
sie hätte. Ein Kollege hatte immer den Spruch parat: «Tut mir wirklich leid,
aber Berlin hat nur eine begrenzte Zahl von Hotelzimmern, und ein
Ausweichen nach außerhalb ist, wie Sie wissen, in dieser Stadt nicht
möglich.»
Den übernahm ich. Diese Erklärung hatte etwas Seriöses und Offizielles,
das den persönlichen Ärger der Anrufer in eine geopolitische Perspektive
setzte, gegen die sie nichts sagen und schon gar nichts ausrichten konnten.
Die meisten beruhigten sich daraufhin und sahen ein, dass vor allem die
Mauer schuld war. Die Mauer, die DDR, die Russen, der Zweite Weltkrieg,
Hitler.
«Jaja», sagten sie dann. «Natürlich, ist ja klar.»
Was waren ihre Hotelprobleme schon gegen die Probleme einer bipolaren
Welt, die aufgeteilt war in Ost und West.
Die Freiheitsglocke läutete, endlich hatten wir Mittagspause.

Nachdem der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay die


Blockade West-Berlins durch Einrichtung der Luftbrücke erfolgreich
aufgebrochen hat, initiiert er als Vorsitzender des Nationalkomitees
für ein freies Europa eine Spendenaktion, bei der eine Replik der
berühmten «Liberty Bell» von Philadelphia (sie wurde geläutet, als
die Unabhängigkeitserklärung 1776 verlesen wurde) für die Stadt
Berlin gegossen werden soll. 1950 wird die neue Freiheitsglocke im
Turm des Rathauses Schöneberg, dem West-Berliner
Regierungssitz und Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters und
der alliierten Verbindungsoffiziere, aufgehängt und täglich um zwölf
Uhr geläutet.
Sonntagnachmittags wird das Läuten der Freiheitsglocke im RIAS
übertragen, begleitet vom feierlich gesprochenen Freiheitsgelöbnis:
«Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes
einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das
gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem
Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo
auch immer sie auftreten mögen.»
Im Sommer 1963 hält US-Präsident John F. Kennedy vor dem
Rathaus Schöneberg seine berühmte Rede, in der zweimal die auf
Deutsch gesprochenen Worte «Ich bin ein Berliner» fallen. Drei Tage
nach seiner Ermordung im selben Jahr wird der Platz vor dem
Rathaus in «John-F.-Kennedy-Platz» umbenannt.
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Madhouse

D
er eine Verkehrsamt-Kollege, der mit dem guten Telefonspruch, lud
mich nach der Schicht im Rathaus noch auf ein Getränk in eine
Kneipe in der Akazienstraße ein. Er studierte Soziologie an der Freien
Universität und beschäftigte sich für ein Referat gerade intensiv mit dem
Untergang der Titanic, worüber er sehr interessant reden konnte. Wir
glichen unsere Dienstpläne ab und verabredeten, nach der nächsten
gemeinsamen Schicht im Europa-Center irgendwo ins Kino zu gehen.
Unterdessen braute sich weiterhin allerlei zusammen. Erst waren ja schon
die vielen Polen gekommen, weil sie das plötzlich durften, um zwischen
Schlammlöchern am Potsdamer Platz zu verkaufen, was sie hatten. Dann
fingen DDR-Bürger an, in westdeutschen Botschaften zu campieren, dann
sah man in den Nachrichten Michail Gorbatschow mit seinem freundlichen
runden Gesicht, wie er vor dem 40. Jahrestag der DDR erklärte, Erich
Honecker sei nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Man sah, wie sich
Legionen von DDR-Bürgern nicht nur zum Rufen versammelten, sondern
auf die Straße gingen, um gut organisiert zu demonstrieren.
Am Tag der Verabredung mit dem Titanic-Experten merkte ich, wie
wenig Lust ich auf dieses Date hatte. Wir sahen einen Film in dem kleinen,
auf den letzten Metern der Kantstraße versteckten Olympia-Kino am Zoo,
aber als der Typ danach vorschlug, irgendwo noch was zu trinken, sagte ich,
dass ich nach Hause müsse. Als ich dort ankam, war Honecker ganz frisch
abgesägt.
Manche Leute stellten jetzt schon Mutmaßungen darüber an, wie lange es
die DDR überhaupt noch geben würde. Und diese Mauer.
Mariola meinte: «Nächstes Jahr ist die Mauer weg.»
Wir standen im Rock-It herum und lachten.
«Nicht lachen!», rief sie. «Nächstes Jahr: Mauer weg.»
«Ja», sagte Holger, «so schnell geht das nicht. Leider.»
«Geht ratzfatz.» Mariola zündete sich eine Zigarette an.
Keine zwei Wochen später krachte es. Im Fernsehen sagte Günter
Schabowski etwas Unfassliches über unverzügliche Erteilung von
Ausreisevisa, und kurz danach sah man schon die Bilder von denen, die ihn
umgehend beim Wort genommen hatten. Alle riefen sich gegenseitig an,
damit keiner aus Versehen unwissend zu Bett ging, und Holger sagte, man
werde sich morgen Nachmittag bei Mariola treffen, um dann irgendwohin
zu fahren, wo sich die Ost-West-Massen entgegentaumeln. Meine Mutter
und ich blieben noch lange wach und sahen die Dauer-Sondernachrichten.
Am Morgen hörte ich im Radio, dass die Senatorin für Bildung, Jugend
und Sport es den Berliner Schulen freistellte, nach den ersten zwei
Unterrichtsstunden zu schließen, damit die Schüler Gelegenheit hätten, da
hinzugehen, wo sich die historischen Vorkommnisse ereigneten. Als ich
danach das Haus verließ, prallte ich schon auf dem Weg zur Bushaltestelle
auf solche Vorkommnisse. Vor dem Obststand an der Ecke stand eine
Ostfamilie, sich in wechselnden Konstellationen vor Obst fotografierend,
und auf dem Mariendorfer Damm war jedes zehnte Auto ein Trabbi. Der
Bus war um einiges voller als sonst, speziell auf dem Oberdeck war
ordentlich was los. Vor dem Postamt, an dem der Bus auf halber Strecke zur
U-Bahn vorbeikam, hatte sich eine rätselhafte Schlange gebildet, und an der
Station vor der Post rumpelten einige Leute vom Oberdeck herunter, um
sich noch hintendran zu stellen.
In der U-Bahn herrschte fast wieder Normalität, nur ein paar wenige
Ostler waren zu sehen, gut erkennbar an ihren fisseligen Frisuren, den
Stonewashed-Jeans und den grauen Schuhen. Bis auf die Schuhe sahen sie
eigentlich genauso aus wie Amerikaner vom Dorf. Ab Mehringdamm
herrschte dann erneut kompletter Irrsinn. Bahnsteige, Treppen, Rolltreppen,
Züge, alles total überlaufen, mit einem Ost-West-Quotienten von ungefähr
fünfzig zu fünfzig.
Auf dem Weg durch die Passage, wo nach längeren Bauarbeiten endlich
das prächtige Kino eröffnet hatte, spekulierten wir auf einen kurzen
Schultag. Immerhin lag der Grenzübergang Sonnenallee gleich um die
Ecke, da könnte man doch hinfahren. Nur Nicole war der Meinung, dass
unsere Schule, an der man mit Stolz darauf blickte, dass niemals auch nur
eine einzige Unterrichtsstunde ausfiel, selbst heute nicht von ihrer Linie
abweichen würde.
«Schulfrei? Träumt weiter.»
«Nicole, falls du es noch nicht bemerkt hast, es geht hier nicht um
Hitzefrei oder so. Es ist ein historischer Tag», sagte Anja.
«Dem historischen Tag ist es nur vollkommen schnurz, ob wir frei
bekommen oder nicht, und die Schulleitung gibt uns niemals frei, auch
wenn die ganze Mauer fällt.»
«Die ganze Mauer fällt doch gerade!»
«Ja, sag ich ja.»
Über den zentralen Lautsprecher gab es eine Durchsage vom Direktor:
Kein schulfrei. Die historischen Ereignisse, sagte er, würden auch nach
Schulschluss nicht beendet sein, noch früh genug könnte heute jeder daran
teilhaben.
Wir waren empört. Das Sowjetimperium mochte dieser Tage abweichen
von allen möglichen Doktrinen, aber unsere Schuldoktrin ficht das nicht an.
Die stand fester als der antifaschistische Schutzwall. Nur Nicole blieb
gelassen in ihrem Triumph.
«Hab ich euch doch gleich gesagt», meinte sie in der Pause.
Alle anderen Schulen machten dicht, und während wir versuchten, uns
auf Vektorenrechnung zu konzentrieren und im Kunstunterricht ein
Piktogramm für die Cafeteria zu entwerfen, strömten deren Schüler schon
zu den Grenzübergängen oder zum Brandenburger Tor.
Gleich nach dem Unterricht fuhr ich zu Mariola, die am Südstern eine
kleine Wohnung zur Zwischenmiete bezogen hatte, von irgendeiner
Bekannten, die zum Studieren nach Frankreich gegangen war. In Berlin
eine Wohnung zu finden war fast zu einem Ding der Unmöglichkeit
geworden, auch von daher käme es ganz gelegen, wenn sich das räumlich
abgezirkelte Halbstadtleben etwas erweiterte.
«Komm rein», sagte Mariola. «Ich mach gerade Spaghetti.»
Auf ihrem Bett saß Holger mit einer Zeitung in der Hand. Und auf ihrem
Schreibtischstuhl saß Georg Hacke. Das traf mich etwas unvorbereitet.
«Oh», sagte ich. «Hallo.»
Georg stand auf und bot mir den Stuhl an.
Ich setzte mich auf den Stuhl, Georg auf den Fußboden. Er strahlte mich
an und sagte: «Wahnsinn, oder?»
Darüber war ich einen Moment lang sehr irritiert, aber dann dachte ich:
Ach ja, die Mauer, und antwortete: «Ja, unglaublich.»
Holger sah von der Zeitung hoch: «Ach so! Wisst ihr, warum da überall
Leute an den Postämtern Schlange stehen?»
«Nee», meinte ich. «Warum denn?»
«Begrüßungsgeld abholen.»
Mariola reichte jedem einen Teller Nudeln. Ich bekam vor Aufregung
kaum etwas herunter, konnte aber nicht mehr genau unterscheiden, woher
die Aufregung rührte, von den «Vorkommnissen» oder von Georg.
«Wo wollen wir denn nun hin?», fragte Holger.
«Ku’damm», sagte Mariola.
Georg nickte. «Ja, Ku’damm.»
«Kommen noch mehr Leute?», fragte ich.
«Nö», sagte Holger. «Würde sonst auch etwas voll werden im Auto.»
Es war gerade noch hell, als wir in Mariolas Käfer stiegen; Georg und ich
kletterten nach hinten auf die Rückbank. Die Wege in die City waren
verstopft mit Autos von überall her, aber wir kamen trotzdem durch bis zur
Lietzenburger Straße, wo wir den Wagen stehen ließen. Zu Fuß gingen wir
weiter Richtung Ku’damm.
Schon in der Augsburger gab es ein Riesengedrängel, und wir wurden
dreimal in starkem Ost-Berlinerisch gefragt, ob man denn auf dem richtigen
Weg zum Ku’damm sei, einmal von einem vielleicht fünfzehnjährigen
Mädchen, das in der überfüllten U-Bahn ihre Freundinnen aus den Augen
verloren hatte.
«Wir wollten alle zum Ku’damm», sagte sie. «Da find ick die ja
vielleicht wieda.»
«Könnte schwierig werden», meinte Holger. «Aber kannst ja erst mal mit
uns kommen.»
Sie hieß Vera und kam aus Hohenschönhausen. Ich blamierte mich mit
der Frage, ob das in Berlin sei, worauf sie mich ansah und meinte: «Wo’n
sonst?» Den anderen war das mit Sicherheit auch nicht klar gewesen.
Auf dem Ku’damm lief alles zusammen, die ganze Stadt, Ost und West,
Tempelhof und Treptow, Mariendorf und Hohenschönhausen. In zwei
großen Strömen gingen die Menschen auf der einen Seite den Ku’damm
hoch und auf der anderen Seite hinunter, und für die Größe dieses Auflaufs
war es merkwürdig still. Es war kein Volksfest, es gab keine Buden und
keine Bühnen, keine Musikbeschallung und keine Hüpfburgen. Es war ein
ungeplantes, unorganisiertes Dortsein mit dem einzigen Ziel,
offenstehenden Mundes herumzugehen, zu gucken und zu begreifen.
Einzig an der Kreuzung zur Joachimstaler gab es ein wenig Gelärme,
dort war der Verkehr zum Stillstand gekommen. Die Leute turnten auf den
Autos herum, hupten, grölten und reichten Sektflaschen herum, manche
hatten ihre Autoradios auf Anschlag gedreht. Jetzt da oben in der
Verkehrskanzel sitzen, dachte ich.
Ein paar Meter weiter, bei Joe am Ku’damm, gab es Freibier und
moderate Musikbeschallung nach draußen. Vera sagte ein paar Mal: «Ick
fass dit allet nich.»
In der Uhlandstraße sahen wir eine Schlange vor einem Geschäft, es war
ein Erotik-Center. Ganze Familien standen davor, das verblüffte sogar
Mariola.
«Da woll’n Sie doch nicht rein», sagte ich zu einer Frau, die mit zwei
halbwüchsigen Töchtern auf Einlass wartete. «Das ist ein Pornokino.»
Mit konfusem Blick sah sie mich an.
«Doch!», rief sie. Dann wischte sie mit einer Hand durch die Luft und
sagte, damit ich es ein und für alle Mal wisse: «Wir ham doch so wat noch
nie jesehn!»
Vera strahlte plötzlich. «Tante Hertha!», rief sie und stürzte auf eine
ältere Dame weiter vorn in der Sexshop-Schlange zu, der sie tränenreich in
die Arme fiel. Sie drehte sich noch einmal zu uns um und winkte. Wir
winkten zurück, dann setzten wir unseren Weg ohne sie fort. Holger und
Mariola gingen vorneweg, Georg legte seinen Arm um meine Schulter.
Später an diesem Abend fuhren wir noch zum Tanzen ins Madhouse an
der Hauptstraße in Schöneberg. Dort saßen an diesem wie an jedem anderen
Freitag auch, auf einem Treppenpodest in einer dunklen Ecke, schwarz
gewandet und deshalb quasi unsichtbar, die Gruftis und warteten, bis ihre
Musik kam, um dann fledermausartig auf die Tanzfläche zu schwärmen und
dort, in leicht nach vorn gebeugter Haltung, den Drei-Schritte-vor-drei-
Schritte-zurück-Tanz zu performen.
Am 9. November 1989 verliest Günter Schabowski in seiner
neugeschaffenen Position als «Sekretär für Informationswesen im
Zentralkomitee der SED» während einer live übertragenen
Pressekonferenz aus seinen Unterlagen einen Text über die
Neuregelung der Ausreiseverfahren für DDR-Bürger vor, der zu
diesem Zeitpunkt eigentlich noch nicht zur Veröffentlichung bestimmt
war und aus dem praktisch hervorgeht, dass es keine
Ausreisebeschränkungen mehr gibt, vulgo, dass die Mauer offen ist.
Nachrichtenagenturen vermelden Minuten später die Öffnung der
innerdeutschen Grenze.
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Danach: Friedrichshain

W
ährend der nächsten Wochen fuhr ich morgens in einem äußerst
komfortablen Reisebus zur U-Bahn. Weil die Busflotte der BVG
nicht mehr ausreichte, um die vielen Menschen zu befördern, wurden alle
möglichen Fahrzeuge als Linienbusse eingesetzt. Immer noch standen
Menschen vor dem Postamt Schlange, immer noch war die U-Bahn sehr
voll.
Kurz vor Weihnachten gingen Georg und ich, Holger und Mariola, Silke
und Johnny und Heike und Matt zur offiziellen Öffnung des Brandenburger
Tors. Es regnete die ganze Zeit, und keiner von uns hatte einen Schirm
dabei oder eine Regenjacke. Völlig durchnässt fuhren Georg und ich
hinterher mit zu Mariola, wo wir alle unsere Sachen auf die Heizung legten
und danach wieder Mariolas Spaghettinudeln aßen.
Mit Holger und Mariola startete ich im nächsten Jahr diesen ersten
Ausgehversuch in Ost-Berlin, bei dem Holger sich ausgiebig verfuhr und
wir nach einem Bier irgendwo in Prenzlauer Berg wieder im Rock-It
gelandet waren. Danach ließen wir den Osten vorerst in Ruhe. Manchmal
kaufte ich mir eine Zitty, und nachdem ich die Comics alle durchhatte, las
ich mit nicht allzu großem Interesse, was es jetzt für neue Clubs gab im
Osten. Im Sommer, nach meinem Abi, fuhren wir raus ins neue Umland, an
alle möglichen Seen, deren Namen meistens auf -itz endeten. Im Radio
hörte ich den neu aufgestellten DDR-Jugendsender DT64, der so
energiegeladen und experimentierfreudig klang wie lange nichts mehr.
Wenn wir ausgingen, fuhren wir weiterhin nach Neukölln oder nach
Schöneberg oder in die Oranienstraße nach Kreuzberg. Die neuen
Kommilitonen an der Uni aber gingen ausschließlich im Osten aus, und
nachdem ich mal vom Trash und vom Sox und der Schnabelbar in der
Oranienstraße erzählt hatte, kam ein paar Tage später einer an und meinte,
er habe da letztens auch hingewollt, konnte aber keinen der von mir
erwähnten Läden finden. Je ausführlicher ich es ihm beschrieb, umso
ratloser sah er mich an. Erst an seiner Nachfrage: «Also, wenn ich jetzt
vorm Tacheles stehe, ist das dann so schräg gegenüber?», merkte ich, dass
er die ganze Zeit dachte, es ginge um die Oranienburger Straße in Mitte.
«Nein!», rief ich. «Doch nicht in der Oranienburger! Nicht im Osten! In
der Oranienstraße ist das!»
«Ach so. Und wo ist die Oranienstraße?»
So waren die drauf, meine neuen Kommilitonen. Keinen Schimmer vom
Westen.
Natürlich ging ich auch mal mit ihnen aus, dorthin, wo die eben so ihre
Nächte verbrachten, in die Clubs von Mitte und Prenzlauer Berg. Einmal
stand ich mit Anja plus Kommilitonen in so einem Ost-Laden. Es war voll
und laut und stickig, und plötzlich sackte Anja in sich zusammen. Zwei
Umstehende hoben sie auf und brachten sie nach draußen. Der eine von den
beiden hatte sein Auto in der Nähe geparkt, da legten wir Anja schließlich
auf den Rücksitz mit den Beinen nach oben. Sie war wach, aber ganz blass
und benommen.
«Hat sie was genommen?», fragte der Typ, aber Anja hatte in ihrem
Leben noch nie «was genommen». Wahrscheinlich trank sie an Silvester
immer noch am liebsten Tee.
«Ich fahr euch mal besser ins Krankenhaus.» Er war Medizinstudent.
In der Notaufnahme vom Klinikum am Friedrichshain war nicht viel los.
Nur eine Frau von schwer abschätzbarem Alter mit langen fettigen Haaren
saß dort im Warteraum. Als ich mich zu ihr setzte, nickte sie mir gleich zu
und wollte wissen, weshalb ich denn da sei.
«Meine Freundin ist umgekippt», sagte ich.
Die Frau lachte und zeigte dabei ihre schlechten Zähne. «Drogen, wa.»
«Nein.»
«Denn Kreislauf.»
«Wahrscheinlich.»
«Ick warte auf mein Mann, der hat’n Messer in’ Hals jekricht.»
«Weia!»
Sie winkte ab: «Halb so schlimm.»
Ein junger, leicht verschrammter Rechtsradikaler betrat den Raum und
fläzte sich auf einen freien Stuhl.
«Na», sagte die Frau. «Habta euch jekloppt?»
Der Glatzköpfige spitzte die Lippen und nickte.
«Und mit wem habta euch jekloppt?»
«Na, mit so Zecken.»
«Und wegen wat habta euch jekloppt?»
«Na, wegen Deutschland.»
«Aha.» Sie lachte wieder diebisch. «Wo issn Deutschland?»
«Fängt im Westen anner Maas an und jeht bis zur Memel im Osten.»
Die Frau sah mich an, hoch amüsiert: «Hörste dit?»
Der Typ wollte noch etwas sagen, aber die Frau hatte ihren
Aufmerksamkeitsfokus schon wieder verschoben. Sie guckte an mir vorbei
zur Tür und stand dann auf. Ich drehte mich um und sah einen Mann mit
einem Loch im Hals. Die Frau stellte sich zu ihm.
«Jeht schon, jeht schon», sagte der Mann.
«Und, wat haste jesagt?» Sie sprach jetzt etwas leiser.
«Na, nüscht hab ick jesacht.»
«Tut mir ja ooch leid.»
«Jajaja.»
«Wat sagenwa, wenn die Polizei nochma nachfragt?»
«Na, willste in Knast?»
«Nee.»
«Denn sagenwa janüscht.»
Als Nächstes kam Anja durch die Tür. Sie war immer noch ein bisschen
blässlich, aber das war jetzt wirklich halb so schlimm.

Aufgrund von Verbindungen zum Neuen Forum steht der DDR-


Jugendsender DT64 unter Beobachtung des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS). Am 8. November 1989, dem Tag vor der
Grenzöffnung, spricht die Belegschaft des Senders ihrer Leitung das
Misstrauen aus, zwei Tage später wird eine Morgensendung live
vom Kurfürstendamm ausgestrahlt; erste Kontakte zum SFB werden
aufgenommen. Ab dem 1. April 1990 sendet DT64 ein eigenes 24-
Stunden-Programm unter dem Motto «Power from the Eastside», ein
langfristiges Bestehen des Senders ist aber nicht gesichert. Trotz
breiter Proteste wird DT64 Ende 1991 abgeschaltet.
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Tiergarten

I
m Frühling unternahmen Georg und ich abermals einen Ausflug zum
Brandenburger Tor, das nun für Fußgänger geöffnet war. Es war meine
Vorstellung, eine fixe Idee von mir, dass wir zusammen da durchflanieren,
und zwar von Osten nach Westen.
Wir fuhren zur Friedrichstraße, bogen Unter den Linden ein und
spazierten in der Mitte der Straße, die territorial und politisch immer noch
zur Hauptstadt der DDR gehörte, auf das Tor zu. Georg hatte seinen Arm
wieder um meinen Hals geschlungen, ich hielt meinen Daumen in seiner
Gürtelschlaufe eingehängt. Genau so gingen wir dann auch durch das Tor,
das erstaunlich groß und breit war, wenn man direkt darunter stand.
Mit den nächsten Schritten verließen wir die Hauptstadt wieder und
betraten den uns bekannten Teil von Berlin, die Noch-nicht-Hauptstadt. Wir
gingen nach links in den Tiergarten, bis wir kurz vor der Entlastungsstraße
an einen kleinen See kamen, auf dem wie von oben ausgekippt lauter
beschriebene Papierblätter schwammen, die sich bis ans Ufer verteilt hatten.
Ein kleiner Hund preschte auf die weißen Blätter zu, jagte ihnen kurz nach,
drehte dann ab und preschte weiter über die Wiese. Einen Besitzer konnten
wir nicht sehen. Am Seeufer hoben wir ein paar Blätter auf, sie hatten
offensichtlich mal ein Tagebuch gebildet, das Tagebuch eines Mannes, der
darin fast ausschließlich seine nicht ganz unkomplizierte Beziehung zu
einer gewissen Monika protokollierte. Georg ließ die Blätter zurück auf den
feuchten Boden fallen. Von weiter hinten kam ein Punker-Pärchen näher.
Wir gingen weiter, während die beiden ans Seeufer traten, ein paar Seiten
aufhoben, lasen, sie wieder fallen ließen und schließlich ihren Hund riefen,
den sie originellerweise Honecker nannten.
Georg und ich überquerten die Entlastungsstraße und spazierten noch
eine ganze Weile durch den Tiergarten.
Am Abend waren wir bei Franziska, die eine Auszugsparty in ihrer
kleinen Corbusierhaus-Wohnung am Olympiastadion feierte, weil die
eigentliche Mieterin sie wieder beziehen wollte. Es war sehr voll, und
Georg und ich blieben die meiste Zeit auf dem Balkon, der nach Osten hoch
über der Stadt lag. Je dunkler es wurde, umso heller glitzerten die Lichter,
der Mercedesstern auf dem Europa-Center, das Postbankhaus am
Halleschen Ufer, dahinter der Fernsehturm in Mitte, und alles andere
dazwischen und ringsherum. Georg schlang seinem Arm um meinen
Nacken.
Neben uns tauchte einer auf, den wir nicht kannten. Er öffnete eine
Bierflasche und sagte: «Schön, wa?»

Im Juni 1990 wird an der Bernauer Straße mit dem offiziellen Abriss
der Berliner Mauer begonnen. Im September 1994 sind alle alliierten
Streitkräfte aus Berlin abgezogen: Franzosen, Briten, Amerikaner
und Russen. Einzelne von ihnen bleiben als Privatiers in der Stadt.
Die Entlastungsstraße wird zurückgebaut und durch den
Tiergartentunnel ersetzt. Der Potsdamer Platz wird neu bebaut, im
Jahr 2000 schlägt die Berlinale, die Internationalen Filmfestspiele
Berlin, dort erstmals ihr Hauptquartier auf. Nach wie vor bleiben die
meisten Berliner auch bei Umzügen innerhalb ihres angestammten
Bezirks wohnen, selten ziehen sie vom Westen in den Osten oder
umgekehrt. Der innerstädtische Verlauf der Mauer wird nach ihrem
vollständigen Abriss durch einen Doppelstreifen von Pflastersteinen
gekennzeichnet; um das ehemalige West-Berlin herum führt nun die
Rad- und Wanderroute «Berliner Mauerweg».
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Dank

Besonderer Dank gilt Carola Pietsch und den Mitarbeitern der Polizeiwache
vom Abschnitt 55 für den Einblick in ihre Arbeit; Albrecht Metzger, dem
Regisseur des Films Der Doppelgänger, fürs spontane Vorbeibringen seiner
Filmdokumente; Lutz Göllner für den Zugang zum Analog-Archiv der Zitty
und meinen Tanten für die alten Geschichten.
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Über Ulrike Sterblich

Ulrike Sterblich, geboren 1970 in Berlin (West), lebt, mit


Zwischenstationen in den USA, den Niederlanden, Brasilien und München,
immer noch in ihrer Heimatstadt, wo sie Bücher und Kolumnen schreibt
und Gastgeberin der Talk- und Lesebühne «Berlin Bunny Lectures» ist.
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«Wir nahmen die Linie 1, die nur kurz unter der Erde und danach die ganze
Zeit oben entlangfuhr, was an diesem Tag gar nicht so gut war. Olivia, ihre
Mutter und die anderen Engländer blickten durch die Fenster auf einen
grauen Himmel über kaputten Häusern, auf überwucherte Brachen und
Gleisanlagen, die seit Ewigkeiten außer Betrieb waren. Die Engländer
sahen gesund und rotbackig aus, sie strahlten und waren bereit, alles
‹lovely› und ‹fantastic› zu finden, während die Leute in der U-Bahn
tendenziell so grau und trüb und manchmal auch so kaputt wirkten wie die
Stadt draußen, was mir ohne Engländer noch nie so sehr aufgefallen war.
Leider reichte mein Englisch nicht aus, um das Kaputte und Graue mit
Worten interessant zu machen.
Am Schlesischen Tor in Kreuzberg stiegen wir aus und gingen bis nah
ran an die Mauer. Die Engländer staunten sehr. Sie murmelten wieder: ‹The
Wall› und machten viele Fotos, von der Mauer und von sich vor der Mauer.
Dann stiegen wir alle noch auf eine Aussichtsplattform und guckten rüber
in den Osten, wo es eindeutig nicht weniger trüb aussah als im Westen.
‹This is such a shame›, sagte Olivias Mutter. Ich erkannte diese Worte
wieder aus dem Lied ‹Such A Shame› von der britischen Gruppe Talk
Talk.»
Zwischen der Karl-Marx-Straße in Neukölln, Kudamm-Kinos und
KaDeWe, zwischen dem Schrebergarten in Britz, Forum Steglitz und
Europa-Center – eine Zeitreise zu einem verschwundenen Archipel und den
Menschen, die ihn bewohnten: West-Berlin. Schillernd komische
Geschichten aus der halben Stadt, die es nicht mehr gibt.

«Wenn einer eine Stadt wie Berlin volley nehmen kann, dann ist es Ulrike
Sterblich.» (Wolfgang Herrndorf)
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Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei


Hamburg, Oktober 2012
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der
Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München
(Abbildung: Topographische Karte, Blatt: Berlin-Mitte, Stand 1981
[Landesarchiv Berlin, F Rep. 270, Nr. A 240, Blatt 0808]; Foto: Hanns-Jörg
Fiebrandt)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Buchausgabe 978-3-499-62840-5 (2. Auflage 2012)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-47581-6
www.rowohlt-digitalbuch.de
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