Mann | Mario und der Zauberer
Lektüreschlüssel XL
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen
für Schülerinnen und
und Schüler
Schüler
Dieses Buch wurde klimaneutral gedruckt.
Alle CO2-Emissionen, die beim Druckprozess unvermeidbar
entstanden sind, haben wir durch ein Klimaschutzprojekt
ausgeglichen.
Nähere Informationen finden Sie hier:
Thomas Mann
Mario und
der Zauberer
Von Swantje Ehlers
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 332013.
E-Book-Ausgaben finden Sie auf unserer Website
unter www.reclam.de/e-book
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15541
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH,
Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Druck und Bindung: EsserDruck Solutions GmbH,
Untere Sonnenstraße 5, 84030 Ergolding
Printed in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-015541-7
Auch als E-Book erhältlich
www.reclam.de
Inhalt
Inhalt
1. Schnelleinstieg 7
2. Inhaltsangabe 11
3. Figuren 17
Hauptfiguren 17
Nebenfiguren 22
4. Form und literarische Technik 24
Aufbau 24
Gattungsmerkmale 31
Der Ich-Erzähler 34
5. Quellen und Kontexte 38
Entstehung 38
Intertextuelle Bezüge 39
6. Interpretationsansätze 43
Zeitgeschichtlicher Kontext 43
Textinterpretation 52
7. Autor und Werk 87
Kurzbiographie 87
Werkübersicht 92
Literaturgeschichtliche Einordnung 100
8. Rezeption 102
9. Wort- und Sacherläuterungen 109
10. Prüfungsaufgaben mit Lösungshinweisen 118
Aufgabe 1: Charakterisierung der Figur Cipolla 118
Aufgabe 2: Analyse einer Textstelle 121
Aufgabe 3: Erörterung der Rolle des Erzählers 124
11. Literaturhinweise/Medienempfehlungen 127
12. Zentrale Begriffe und Definitionen 131
5
1. Schnelleinstieg
1. Schnelleinstieg
Autor (Paul) Thomas Mann, geboren am
6. 6. 1875 in Lübeck, gestorben 12. 8. 1955
in Zürich
Erscheinungsjahr 1930
Gattung Novelle, politische Parabel
Ort und Zeit der Die Geschichte spielt in den 1920er
Handlung Jahren in einem italienischen Badeort
am Tyrrhenischen Meer.
Erzählaufbau Die Novelle besteht aus zwei Teilen.
Im ersten Teil berichtet ein Erzähler
von unerfreulichen Erlebnissen in
einem italienischen Badeort. Im
zweiten Teil schildert er die Abend
veranstaltung des Zauberers Cipolla
und seine hypnotischen Kunststücke,
die mit der Verführung Marios ihren
Höhepunkt erreichen und die Wende
zur Katastrophe einleiten.
Adaptionen • mehrere Lesungen
• zwei Verfilmungen (1976, 1994)
• zwei Ballette (1956, 1964)
• eine Oper (1988)
Mario und der Zauberer handelt von einem Feriener-
lebnis eines Ich-Erzählers im italienischen Badeort
Torre di Venere in den 1920er Jahren. Der Erzähler
verbringt dort mit seiner Familie einen etwa dreiwö- █ Unan
chigen Urlaub, der von vielen unangenehmen Ereig- genehme
Erlebnisse
nissen geprägt ist. Im Grand Hôtel dürfen sie nicht im Badeort
7
2. Inhaltsangabe
2. Inhaltsangabe
Ein Erzähler berichtet rückblickend von einem beson-
deren Ferienerlebnis, das er und seine Familie in den
1920er Jahren in einem italienischen Badeort an der
Westküste Italiens hatten.
Der Erzähler ist mit seiner Frau und ihren beiden
Kindern an den toskanischen Badeort Torre di Venere
gereist, um hier die Ferien zu verbringen. Es ist Mitte █ Ferien in
August und der Badestrand ist von italienischen und Torre di
Venere
internationalen Touristen überfüllt. Die Familie ist
im Grand Hôtel untergebracht, in dem sie gegenüber
den adligen italienischen Gästen herabsetzend be-
handelt wird und nicht wie diese auf der Veranda es-
sen darf. Die unter den Gästen befindliche Fürstin be-
schwert sich bei der Direktion über den bereits abge-
klungenen Keuchhusten des Jungen aus Angst, ihr
eigenes Kind könnte sich anstecken. Trotz des Attests
des Arztes, dass von dem nur noch leicht hustenden
Jungen keine Gefahr ausgehe, soll die Familie in ein
Nebengebäude des Hotels umziehen. Daraufhin ent-
scheidet sich der Familienvater, das Hotel zu verlassen
und in die benachbarte Pension Eleonora zu gehen.
Die Pension wird von Signora Angiolieri geführt, die
früher Gesellschafterin und Freundin der berühmten
Schauspielerin Eleonora Duse gewesen war. Sie zehrt
von dieser prestigereichen Bekanntschaft und hat ihre
Pension nach ihr benannt. Die Familie empfindet die
offene und herzliche Atmosphäre der Pension als an-
genehm.
11
3. Figuren
3. Figuren
Die Figuren in der Novelle lassen sich nach ihrer
Funktion im Handlungsgeschehen, ihren Namen,
den Orten, an denen sie auftreten, ihrer Nationalität
und dem Grad ihres Widerstandes gegen Cipolla cha-
rakterisieren. Im Titel der Novelle sind Cipolla und
Mario bereits als tragende Figuren hervorgehoben. Ei-
ne bedeutsame Rolle spielt der Erzähler, der als Kon-
trahent Cipollas auftritt. Einige Figuren sind durch
ihren Namen individualisiert: Cipolla, Mario, Fug-
gièro und Signora Angiolieri. Die anderen Figuren
werden durch Beruf (Hotelmanager, Doktor, Fischer,
Colonello), Adelstitel (Fürstin), äußeres Auftreten
(Herr im Schniepel), Herkunftsort (Herr aus Rom),
Alter und Geschlecht (junger Mann, Jüngling, ältere
Dame) gekennzeichnet. Innerhalb des Badeortes wer-
den einheimische Italiener und italienische und aus-
ländische Feriengäste unterschieden.
Hauptfiguren
Als Zauberkünstler und Schausteller gehört Cipolla █ Cipolla
dem Gewerbe eines fahrenden Künstlers an und steht
sozial am Rande der bürgerlichen Gesellschaft. Über
seine Herkunft erfährt der Leser nichts, doch deutet
sein Äußeres auf einen südländischen Typ hin: »eine
schmale, schwarz gewichste Scheitelfrisur lief, wie
angeklebt, vom Wirbel nach vorn, während das Schlä-
fenhaar, ebenfalls geschwärzt […] war« (S. 50). Er ist
17
4. Form und literarische Technik
4. Form und literarische Technik
Aufbau
█ Gliederung Die Novelle besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil
führt in die Novelle und ihren Schauplatz ein, zeich-
net ein düsteres Stimmungsbild, nimmt das katastro-
phische Ende vorweg und lässt bereits wichtige The-
men anklingen. Der zweite Teil untergliedert sich in
drei Handlungsabschnitte, die jeweils aus einer Ein-
leitung, zwei zugespitzten Ereignissen und abschlie-
ßendem Erzählerkommentar bestehen. Die Grenze
zwischen den beiden Teilen wird räumlich durch den
Ortswechsel und die Verlagerung des Handlungsge-
schehens von den Touristenorten Torre di Veneres
zum Saal, der am Ende der Hauptstraße in der ärmli-
chen Fischer- und Arbeitergegend liegt, und zeitlich
durch das Einsetzen der Nachsaison und den Um-
schlag des Wetters, das anfangs drückend heiß war
und nun schwül vom Scirocco ist, markiert. Der Gang
der Familie von ihrer Urlaubsunterkunft zum Saal
kennzeichnet inhaltlich wie formal den Übergang
vom ersten zum zweiten Teil und endet mit »Es war
eine Viertelstunde Weges.« (S. 34)
Die beiden Teile der Novelle sind nicht nur vonein-
ander abgegrenzt, sondern sie sind auch miteinander
█ Verknüp- verknüpft. Figuren aus dem ersten Teil treten im
fung der zweiten Teil wieder auf: der Erzähler mit seiner Fami-
Teile
lie, Signora Angiolieri und Mario. Die bedrückende
Atmosphäre setzt sich fort und steigert sich, das Wet-
24
4. Form und literarische Technik
ter, das die Stimmung veranschaulicht, sowie Natio-
nalismus und Patriotismus werden als Motive wieder
aufgenommen.
Erster Teil
Nach einer knappen Einleitung, in der der Erzähler
auf das katastrophische Ende verweist (»zum Schluß
kam dann der Choc«, S. 9), berichtet er von unerfreu-
lichen Ereignissen, die sich im Konflikt um den
Keuchhusten und die nackte Tochter am Strand zu-
spitzen. Der erste Teil endet mit einer längeren Refle-
xion des Erzählers.
Zweiter Teil
Der zweite Teil besteht aus drei Abschnitten und be-
schreibt insgesamt vierzehn sich steigernde Zauber-
kunststücke.
Der erste Abschnitt wird durch die Werbeplakate, █ 1. Abschnitt
die den Auftritt des Cavaliere ankündigen, eingeleitet
(»Zu diesem Zeitpunkt also zeigte Cipolla sich an«,
S. 32). Die Familie begibt sich um 20:45 Uhr zum Saal,
in dem die Vorführung stattfinden soll (»Einige Zeit
nach dem Diner […] pilgerten wir im Dunklen dort-
hin«, S. 34). Nach einer längeren Wartezeit tritt der
Zauberer auf und beginnt gegen 22:00 Uhr mit seinen
ersten Kunststücken. Darauf folgen Rechenspiele und
Kartentricks mit einer ersten Zuspitzung: der Beu-
gung des Willens eines jungen Herrn (S. 67). Das
25
5. Quellen und Kontexte
5. Quellen und Kontexte
Entstehung
Thomas Mann hat die Novelle im August 1929 wäh-
rend eines Badeaufenthaltes mit seiner Frau und den
beiden jüngsten Kindern im ostpreußischen Ostsee-
bad Rauschen, dem heutigen Swetlogorsk in Russ-
land, verfasst. Er unterbrach seine aufwendige Arbeit
am Joseph-Roman und begann, die Novelle zu schrei-
ben. Da er kaum Zusatzmaterial benötigte, konnte er
draußen am Strand an ihr arbeiten. Beendet hat er sie
später in München. Sie wurde zuerst 1930 unter dem
Titel Tragisches Reiserlebnis. Eine Novelle von Thomas
Mann in Velhagen und Klasings Monatsheften (Heft
8, April 1930) veröffentlicht. Im Mai 1930 erschien sie
unter dem Titel Mario und der Zauberer. Ein tragi-
sches Reiseerlebnis in der Buchausgabe des S. Fischer
Verlages mit Illustrationen von Hans Meid.
█ Biographi- Eigene Reiseerlebnisse haben Thomas Mann zu
scher Hin- dieser Novelle angeregt. Er befand sich mit seiner
tergrund
Frau Katia und seinen jüngsten Kindern, Elisabeth
und Michael, vom 18. August bis zum 13. September
1926 zu einem Badeurlaub in Forte dei Marmi am Li-
gurischen Meer. Die Familie wohnte zunächst in ei-
nem Grand Hôtel, zog aber nach einigen unangeneh-
men Erlebnissen in die benachbarte Pension Regina
um. Den Namen der Besitzerin Angela Querci hat
Thomas Mann zu Angiolieri abgewandelt. Wie in der
Novelle lief seine achtjährige Tochter Elisabeth nackt
38
5. Quellen und Kontexte
ans Wasser, um sich den Sand abzuspülen. Das rief
Empörung hervor und Thomas Mann musste ein
Bußgeld bezahlen. Die Familie besuchte eine Abend-
vorstellung des bekannten Illusionisten und Hypno-
tiseurs Cesare Gabrielli. Auch dieser trug eine Reit-
peitsche und erschlich sich einen Kuss von einem
jungen Mann, der danach fortlief. Die Tötung Cipol-
las geht auf eine Anregung von Thomas Manns Toch-
ter Erika zurück. Ein weiteres biographisches Element
ist mit der Figur Cipolla verbunden: Thomas Mann
wurde innerhalb der Familie wegen seiner dichteri-
schen Phantasie und eines Karnevalskostüms ›Zaube-
rer‹ genannt.
Intertextuelle Bezüge
Die Novelle enthält vielfache Bezüge auf andere lite-
rarische Texte. In der zehnten Novelle des sechsten
Tages des Decamerone von Giovanni Boccaccio taucht █ Giovanni
eine Figur namens Cipolla auf. Es handelt sich um ei- Boccaccio
nen Mönch, der andere täuscht, aber eines Tages
selbst betrogen wird und durch seine Redegeschick-
lichkeit und Erfindungsgabe sein Gesicht wahren
kann. Es ist zwar nicht gesichert, inwieweit Thomas
Mann auf diese Quelle zurückgegriffen hat, aber er
kannte die Novellensammlung. Vieles spricht dafür,
dass auch die Namen Sofronia, Silvestra und Angio-
lieri aus dem Decamerone stammen. In der achten
Geschichte des vierten Tages kommt die Schneiderin
Salvestra vor, die erst im Tode mit ihrem Geliebten
39
6. Interpretationsansätze
6. Interpretationsansätze
Zeitgeschichtlicher Kontext
Die Novelle wird zeitlich und räumlich im Italien der
1920er Jahre verankert. Mit Namen, Herrschaftssym-
bolen und Gesten wird auf den italienischen Faschis-
mus angespielt. Auch der biographische Hintergrund
liefert Daten, die auf das Italien der 1920er Jahre als
Schauplatz der Novelle verweisen. 1926 reiste Thomas
Mann mit seiner Familie nach Forte dei Marmi und
1929 begann er an der Ostsee mit der Niederschrift
der Novelle. Inwiefern der politisch-gesellschaftliche
Kontext zum Verständnis der Novelle und der Deu-
tung von Figuren, Handlungsgeschehen und Kon-
fliktlage beiträgt, ist eine Interpretationsfrage, die die
Literaturkritik unterschiedlich beantwortet hat. Um
sich dieser Frage zu nähern, muss zunächst geklärt
werden, was Faschismus ist und welche seiner Aspek-
te in der Novelle eine Rolle spielen.
Der Faschismus ist in Italien entstanden und war █ Italien der
Vorbild für andere europäische Länder und insbe 1920er
Jahre
sondere für Hitler. Am Gründungstag des italieni-
schen Faschismus (23. März 1919) nannte Benito Mus-
solini seine Bewegung fasci italiani di combattimento
(›Kampfbund‹) und wandelte sie 1921 in eine politi-
sche Partei um. Der Begriff ›Faschismus‹ geht auf das
italienische Wort fascio zurück, das vom lateinischen
fasces abgeleitet ist. Es bezeichnete ein Rutenbündel
mit einem Richterbeil. Die Lederriemen, die das Bün-
43
7. Autor und Werk
7. Autor und Werk
Kurzbiographie
Paul Thomas Mann, dessen erster Vorname nicht ge-
bräuchlich ist, wurde am 6. Juni 1875 in Lübeck gebo-
ren. Sein Vater Thomas Johann Heinrich Mann war
Inhaber einer Großhandelsfirma und wurde 1877
Senator der Freien und Hansestadt Lübeck. Seine
Mutter Julia, geborene da Silva-Bruhns, kam aus ei-
ner reichen deutsch-brasilianischen Kaufmannsfami-
lie. Nach dem Besuch einer Privatschule ging Thomas
Mann auf das Katharineum in Lübeck, einem angese-
henen Gymnasium. Als Schüler war er nicht sehr er-
folgreich und musste drei Klassen wiederholen. Er
verließ 1894 die Schule in der Untersekunda (11. Klas-
se) mit einem Abgangszeugnis, das heute der Mittle-
ren Reife entspricht.
Nach dem Tod des Vaters 1891 wurde die Firma auf-
gelöst. Thomas’ Mutter zog mit den drei jüngsten
Kindern nach München, während Thomas noch in
Lübeck blieb, um die Schule zu beenden. Sein Bruder
Heinrich lebte als Volontär des Fischer-Verlages in
Berlin. 1894 ging Thomas ebenfalls nach München.
Vorübergehend war er Volontär einer Versicherungs-
gesellschaft. Da er aus dem Erbe seines Vaters eine
monatliche Rente bezog, war er finanziell unabhängig
und ging in München keinem Beruf und keiner Aus-
bildung nach. Als Gasthörer besuchte er an der Uni-
versität Vorlesungen u. a. über Kunst- und Literatur-
87
8. Rezeption
8. Rezeption
Die Novelle wurde unmittelbar bei ihrem Erscheinen
█ Frühe sehr positiv aufgenommen und hat eine hohe Auf-
Rezeption merksamkeit auf sich gezogen, weil Thomas Mann
kurz zuvor den Nobelpreis erhalten hatte. Zwischen
1930 und 1933 erschien dann jedoch eine Vielzahl kri-
tischer Besprechungen. Ein Teil der Literaturkritik er-
kannte in der Novelle die zeitgeschichtlichen Anspie-
lungen auf den italienischen und deutschen Faschis-
mus in Deutschland. Ein anderer Teil dagegen nahm
eine unpolitische Perspektive ein und rezipierte die
Novelle nur als ein privates Ferienerlebnis.24 Zu einer
Entpolitisierung der Novelle neigte auch eine Lesart,
die den künstlerischen Wert hervorhob, ohne einen
Bezug zum politischen Kontext herzustellen. In Itali-
en wurde die Veröffentlichung der Novelle verboten.
Die italienische Literaturkritik ignorierte die Hinwei-
se auf den italienischen Faschismus und warf Thomas
Mann eine italienfeindliche Haltung vor. Die Novelle
durfte dort erst nach 1945 erscheinen.
█ Selbst Thomas Mann hat sich selbst unterschiedlich zu
deutungen seiner Novelle geäußert. Seine jeweiligen Deutungen
Thomas
Manns
sind als ein Reflex auf die zeitgeschichtliche Situation,
in der er sich gerade befand, und seine Einschätzung
der politischen Verhältnisse in Deutschland seit den
1920er Jahren zu verstehen. In einem Brief an den
24 Hans Rudolf Vaget, Thomas-Mann-Kommentar zu
sämtlichen Erzählungen, München 1984, S. 229 f.
102
8. Rezeption
Schriftsteller Otto Hoerth vom 12. Juni 193025 spricht
er vom Moralisch-Politischen, das aus einem privaten
Erlebnis entstanden sei. Auch in den darauffolgenden
Jahren schwächte er in Rücksicht auf seine Familie
und den Verlag den politischen Gehalt der Novelle
zugunsten des ethischen ab. Allerdings hatte er die
politische Situation auch falsch eingeschätzt und hielt
noch 1930 den Aufstieg des Faschismus und Hitlers
nicht für möglich. Erst später, als er bereits im kalifor-
nischen Exil lebte, betonte er in seiner Rede On My-
self (1940) die politisch-moralischen Anspielungen
der Novelle und wollte sie als »eine Warnung vor der
Vergewaltigung durch das diktatorische Wesen ver-
standen wissen«.26
Die politische und künstlerische Thematik der No-
velle und ihre Bezüge auf philosophische, ideologi-
sche und kulturelle Kontexte wurden in der For- █ Forschung
schung nach 1945 unterschiedlich akzentuiert. nach 1945
Eine politische Interpretation setzte nach 1945 vor █ Frühe
allem mit dem Literaturwissenschaftler Georg Lukács politische
Deutungen
ein, der im Zusammenbrechen des Widerstandes des
römischen Herrn das Scheitern des Bürgertums vor
dem Faschismus sah.27 An diese These schloss die Re-
zeption in der früheren DDR an, die in Cipolla einen
Faschisten sah, dessen Ende durch einen Vertreter des
25 Thomas Mann, Briefe, hrsg. von Erika Mann, Bd. 1,
1889–1936, Frankfurt a. M. 1961, S. 299 f.
26 Mann (s. Anm. 13), Bd. 13, S. 166 f.
27 Lukács (s. Anm. 19), S. 35.
103
9. Wort- und Sacherläuterungen
9. Wort- und Sacherläuterungen
9,1 Torre di Venere: ital. ›Turm der Venus‹, ein fikti-
ver Ortsname; Venus ist die Göttin der Liebe. Mit
den sexuellen Konnotationen des Ortsnamens
spielt Cipolla, wenn er den Giovanotto den »Tür-
mer der Venus« (S. 57) nennt.
9,5 Cipolla: ital. ›Zwiebel‹.
9,21 f. Portoclemente: ein fiktiver Ortsname.
10,1 Tyrrhenischen Meer: Tyrrhenisches Meer: nach
den Etruskern (Tyrrhenoi) genannter westlicher
Meeresteil Italiens.
10,4 Capannen: von ital. capanne: ›Badehütten‹.
10,22 Marina Petriera: wörtl. ›steinige Küste‹, fikti-
ver Badeort.
11,14 Grand Hôtel: Luxushotel.
11,17 Pineta-Gärten: Pinienhaine.
12,5 f. Cornetti al burro: ital. ›Butterhörnchen‹.
12,12 Flor: Blüte.
12,17 Mario: abgeleitet vom lateinischen Namen Mari-
us.
14,11 f. ai nostri clienti: clienti: ital. ›Kunden‹.
14,15 Pensionäre: Hotelgäste.
14,18 Klientele: schweiz. Kundschaft.
14,20 Pranzo: Mittagessen.
15,13 Principe: Fürst.
16,7 bedeuten: belehren.
16,15 Forum: Gerichtshof.
17,2 f. Dependance: Nebengebäude des Hotels.
17,5 Byzantinismus: Schmeichelei, Kriecherei.
109
10. Prüfungsaufgaben mit Lösungshinweisen
Aufgabe 2: Analyse einer Textstelle (S. 89–93)
Arbeitsauftrag: Analysieren Sie die Szene zwischen
Cipolla und dem Herrn aus Rom (von »Hier nun war
es, daß der Herr aus Rom […]« bis zu »Es war nun
schon alles einerlei.«) unter folgenden Fragestellun-
gen: Was geschieht in dieser Szene? Was sind Cipollas
Absichten und mit welchen Mitteln setzt er sie durch?
Wie verhält sich der römische Herr und wie reagiert
das Publikum? Wie ordnet sich die Szene in den Ge-
samtzusammenhang der Novelle ein?
Lösungshinweise
Allgemeine Anforderungen
Zur Aufgabe gehört eine Beschreibung der Interaktion
zwischen Cipolla und dem römischen Herrn, ihre gegen-
sätzlichen Ziele, Cipollas Vorgehen, das Verhalten des rö-
mischen Herrn und das Ergebnis. Die Analyse der Reak-
tion des Publikums öffnet den Blick auf einen weiteren
thematischen Schwerpunkt der Novelle: der Bildung ei-
ner Masse und des Verhältnisses von Führer und Masse.
Die Einordnung der Szene in den Gesamtzusammenhang
der Novelle erfordert einen Blickpunktwechsel zwischen
kleinem Textausschnitt und gesamtem Novellengesche-
hen.
121
12. Zentrale Begriffe und Definitionen
12. Zentrale Begriffe und Definitionen
Charisma: griech. chárisma: Gnade, im älteren Christen-
tum eine von Gott geschenkte Gabe; außerordentliche Ei-
genschaften und Fähigkeiten, die einer Person zuge-
schrieben werden. Charisma begründet eine bestimmte
Form von Herrschaft
➤ S. 48 f., 63 f., 67, 72, 74–77, 83, 85 f., 108, 119 f.
Dekadenz: bezeichnet eine literarische Strömung innerhalb
der frühen Moderne (1880er bis 1920er Jahre). Typisch
sind die Ablehnung bürgerlicher Alltagswelten, die Dar-
stellung von Verfallserscheinungen, eine nervöse Über-
feinerung und eine Vorliebe für künstliche Welten. Hein-
rich und Thomas Mann ordnen sich mit ihren frühen
Werken in die Dekadenzliteratur ein. Zu ihren Themen
und Motiven gehören das Scheitern an der Lebenswirk-
lichkeit, der Niedergang einer Familie, die Künstlerpro
blematik, die Opposition von Kunst und Leben, hohe
Sensibilität und Lebensschwäche von Figuren.
➤ S. 41, 63 f., 94, 99 f.
Duse: Eleonora Duse, eine berühmte italienische Schau-
spielerin. Sie war befreundet mit Gabriele D’Annunzio,
einem Schriftsteller und Politiker, der 1919 die Hafenstadt
Fiume (kroat. Rijeka), die von den Vertragsparteien von
Versailles Jugoslawien zugeschlagen worden war, militä-
risch besetzte. Er unterlief damit die Friedensverhandlun-
gen und wurde international zu einem Problem. Im Auf-
trag der italienischen Regierung wurde er von der italieni-
schen Kriegsmarine vertrieben. D’Annunzio galt als
Gegenspieler Mussolinis, der von ihm das theatralische
131