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VL - 05 - Caspari (2024) Preis, Wert, Verteilung

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Prof. Dr. V.

Caspari (2024)

Preis, Wert und Verteilung der Einkommen

Wir erleben gerade wieder einmal eine Debatte über Mindestlöhne und Managergehälter. Es
dreht sich um «soziale Gerechtigkeit», ein ‚Wieselwort‘ unter dem jeder das versteht, was er
will, weil es wesentlich mehr als nur ein Gerechtigkeitskonzept gibt. Diese Debatte ist also
ein Gebräu, in dem verschiedene Gerechtigkeitskonzepte, gewürzt mit Neid und
Ressentiments, angerührt und immer wieder aufgekocht werden. Gleichwohl unterliegt dieser
Debatte eine rationale ökonomische Grundfrage, nämlich: „Wer bekommt Wieviel Wovon?“

Verteilungsregeln und Verteilungsgerechtigkeit


Betrachten wir einmal einfache Verteilungsregeln, die - weil als gerecht angesehen – häufig
angewandt werden.
Zwei Personen, A und B, bekommen einen Kuchen geschenkt und sollen ihn aufteilen. Die
Regel lautet: Einer teilt, der andere hat die Wahl. Diese Regel führt im Allgemeinen zu einer
Gleichverteilung, wenn beide gerne Kuchen essen. Schneidet der „Aufteiler“ A den Kuchen
in zwei unterschiedlich große Stücke, besteht die Möglichkeit, dass B, der zuerst wählen darf,
das größere Stück wählt. In weiser Voraussicht wird A gleich große Teile schneiden. Das
Ergebnis dieser Verteilungsregel ist: Jeder erhält einen nahezu gleich großen Anteil. Dieses
Resultat wird als gerecht empfunden, die Regel als Gerechtigkeit erzeugend.
Modifizieren wir die Ausgangslage ein wenig. Person A hat den Kuchen gebacken. Jetzt soll
er wieder auf die beiden Personen A und B aufgeteilt werden. Würden wir in diesem
modifizierten Fall die Regel „A schneidet, B wählt“ immer noch als angemessen ansehen?
Das Resultat wäre ja die Gleichverteilung. Ich vermute, dass wir die Regel nicht für ethisch
angemessen ansehen werden, weil sie ignoriert, dass Person A etwas geleistet hat, Person B
hingegen nicht. Sicherlich haben beide Hunger und vielleicht sogar gleich großen (wenn das
überhaupt verglichen werden kann). Aus der Perspektive der Bedürfnisbefriedigung ergibt
sich der Anspruch der Gleichverteilung: „Gleicher Hunger – gleicher Anteil“.
Aus der Perspektive der Bemühungen und der Leistungserbringung würde man Person A
zugestehen, über die Aufteilung des Kuchens zu entscheiden, d. h. Person A teilt und wählt
zuerst. Person B erhält den Rest. Wenn Person B unzufrieden wäre, könnte man sie
auffordern, selbst einen Kuchen zu backen. Wenn aber Person B – aus welchen Gründen auch

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Prof. Dr. V. Caspari (2024)

immer – keinen Kuchen backen kann, wird sie abhängig vom „Sozialverhalten“ der Person A.
Person A kann großzügig oder eher knauserig sein. Tendenziell wird A eher dann großzügig
sein, wenn der Kuchen groß ausfällt und eher knauserig sein, wenn der Kuchen klein
ausgefallen ist.
Wovon hängt nun die Größe des Kuchens ab? Wenn Person A vermögend ist und die Zutaten
kaufen kann, wenn sie Rezepturen weiß, d. h. gut backen kann, wenn sie einen Backofen hat,
dann fällt der Kuchen eher groß aus bzw. es entstehen sogar mehrere Kuchen. Wenn Person A
die Hälfte aller Kuchen an B abgeben muss, wird sie dann einen großen, bzw. viele Kuchen
oder eher einen kleinen bzw. wenige Kuchen backen?

Wir sehen hier in der einfachsten Form, dass Person A Anreizen ausgesetzt sein wird, die auf
die Größe des Kuchens einen Einfluss haben. Nimmt man dem, der die Leistung erbringt, in
dessen Augen „zu viel“ weg und verteilt es an den, der keine Leistung erbracht hat, reduziert
der Leistungserbringer seine Leistung. Ab welcher Relation - 50:50, 60:40 oder 80:20 - der
„Kuchenbäcker“ einen negativen Anreiz verspürt und „das Kuchenbacken“ reduziert, ist
subjektiv völlig verschieden. Eine allgemeine Regel kann nicht abgeleitet werden.

Eine neue Situation tritt ein, wenn Person A die Zutaten und den Backofen bereitstellt, und
Person B den Teig rührt und den Backvorgang beaufsichtigt. Jetzt haben beide gemeinsam
den Kuchen gebacken. Und wieder stellt sich die Frage: „Wer bekommt wieviel vom
Kuchen?“
Wer also ‚Wie viel‘ ‚Wovon‘ erhält, ist das Thema der ökonomischen Theorie der Verteilung.
In jedem Wirtschaftssystem wird die Verteilungsfrage auf ihre eigene Weise beantwortet.
Wieder hilft hier ein kurzer Blick zurück in die Wirtschaftsgeschichte.

In dem Wirtschaftssystem der Jäger und Sammler wurden die gejagten und gesammelten
Güter verteilt, d. h., jeder bekam Fleisch von den erlegten Tieren und erhielt von den
Pflanzen, die gesammelt wurden, obwohl manche Männer und Frauen gejagt und gesammelt
haben und die Alten das Feuer und die Kinder gehütet hatten - und letztere somit nicht direkt
an der Nahrungsbeschaffung beteiligt waren. Wir wissen durch noch existierende Jäger- und
Sammlergesellschaften, dass es Regeln der Verteilung gibt, die als Traditionen dann
weitergegeben werden, wenn sich die Regeln bewähren, d. h., wenn sie sicherstellen, dass die
Gruppe/Horde mit diesen Regeln gut überlebt.
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Nach der neolithischen Revolution, als die Menschen sesshaft wurden, betrieb der
Familienverband Subsistenzwirtschaft, d. h. alle Güter und Dienstleistungen wurden innerhalb
der Familie erzeugt und verteilt. Überschüsse wurden eher gehortet als ausgetauscht. Auch
hier blieben die Verteilungsregeln - wie bei den Jägern und Sammlern – der Tradition
verhaftet. Solche Verteilungsregeln haben im Grunde sogar bis in die gegenwärtige Zeit
überlebt – seien es Großfamilien in der agrarischen Produktion oder Kleinfamilien mit
traditioneller Rollenteilung. Alle Mitglieder erhalten ein ‚Dach über dem Kopf‘ sowie Essen
und Kleidung in weitgehend egalitären Proportionen. Obwohl die unterschiedlichen
Tätigkeiten der Haushaltsmitglieder mit einem höheren oder niederen Prestige verbundenen
sein mögen, führt dies nicht zu einer extremen Ungleichverteilung der Essenszuteilung. Die
Unterschiede werden von den Mitgliedern als maßvoll und ‚gerecht‘ akzeptiert, wenn sie eine
dafür vorgebrachte Begründung richtig finden und wenn sich die ‚Regel‘ wiederum als
erfolgreich für die Familie herausstellt. Wenn ein Familienmitglied z. B. harte Pflugarbeit im
Frühjahr zu verrichten hat und sein Kalorienbedarf hoch ist, erhält es mehr Nahrungsmittel,
vielleicht auch mehr Fleisch als die anderen.

Durch die sich herausbildende Schichtung (Stratifikation) innerhalb einer aus familiären
Subsistenzökonomien bestehenden Gesellschaft, z. B. Dorfgemeinschaft, ergibt sich die
Frage, ob z. B. ein Häuptling oder eine Schamanin durch ihre herausgehobene Stellung in der
innerdörflichen Verteilung eine Sonderrolle erhält, d. h. im Prozess der Güterverteilung
Vorteile erhält oder nicht. In den sakralen Königtümern (z.B. Inka, Pharaonen usw.) war das
gesamte Land Eigentum des Herrschers. Alle anderen Haushalte bekamen Land zugeteilt.
Von den Erträgen mussten Abgaben an den Haushalt des Herrschers abgeführt werden. In
diesen Gesellschaften bestimmen die Herrschaftsbeziehungen die Verteilung. Dem Herrscher
gehörte alles Land und damit alles, was darauf entsteht (Pflanzen) oder lebt (Nutztiere). Da
alle Produktion und alles Getier Eigentum des Herrscherhaushalts ist, verteilt der Herrscher
das entstandene Produkt bzw. die Anrechte darauf. Welche Regeln der Verteilung er
entwickelt, ist zwar grundsätzlich ein Willkürakt, doch muss er auf zwei Aspekte achten: Die
Menschen sollten die Regeln ‚irgendwie‘ als gerecht anerkennen, und die Regeln sollten die
Reproduktion der Menschen nicht unmöglich machen. Reproduktionsfähigkeit sichert die
physische Stabilität der Gesellschaft und ‚Gerechtigkeit‘ sorgt für soziale Stabilität. Beide
Bedingungen helfen, die Herrschaft des sakralen Königs zu sichern.

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Um die Regeln der Verteilung als gerecht anzuerkennen, bedarf es einer umfassenden
Begründung der Herrschaft des Königs, seines Eigentums, des Rechts und damit der
Verteilungsregeln. Hierzu hat man in allen solchen Kulturen religiöse Systeme oder
Mythologien geschaffen, die klären, durch welchen Umstand sich z. B. der Landbesitz des
Sakralkönigs legitimiert. Auf diesem religiösen oder mythologischen Unterbau fußt dann das
Recht, in dem z. B. die Verteilungsregeln formuliert werden.
Überspringen wir die griechisch-römische Epoche und schauen uns als nächstes das
Feudalsystem im Hinblick auf seine Verteilungsregeln an.

Im Feudalsystem mussten die Vasallen keine Güter an den Lehnsherren abführen. Die
Vasallen erhielten eine Fläche Land und verpflichten sich im Gegenzug, dem Lehnsherren
Kriegsdienste zu leisten. Jeder Landbesitzer, egal ob Vasall oder Lehnsherr, führte einen
Haushalt, der im frühen Mittelalter in West- und Mitteleuropa in der Form des
Villikationshofs auftrat. Die leibeigenen Bauern erhielten wiederum Land (Hufen) zugeteilt,
das sie für den eigenen Lebensunterhalt bewirtschafteten. Auf dem Salland des
Villikationshofs mussten sie Arbeitsdienste leisten, für die sie keine direkte Gegenleistung
erhielten, aber eben Schutz und Boden, um sich und ihre Familien zu reproduzieren.
Auch im Feudalsystem bestimmten die Herrschaftsverhältnisse die Verteilung von
Einkommen, Vermögen und Lebenschancen. Im Unterschied zur sakralen Herrschaft war der
Feudalismus aber weitgehend dezentralisiert. Es gab nicht den einen Haushalt des Herrschers,
sondern viele verschiedene Herrscherhaushalte. Geistliche und weltliche Herrscher waren
insofern getrennt als die geistlichen Herrscher den Kirchenzehnt bekamen, während die
Landeigentümer die Feudalrente – zuerst als Arbeitsrente, später als Produkten- bzw. als
Geldrente – erhielten. Über die Höhe der Feudalrente gab es zwischen Landeigentümern und
Leibeigenen immer wieder Auseinandersetzungen, denn der Zuwachs des Einen war der
Verlust des Anderen. Obwohl der Leibeigene strukturell unterlegen war, versuchte er z. B.
durch möglichst langsames Arbeiten seine Kräfte für die eigene Landbearbeitung zu schonen.
Um die Bummelei zu unterbinden, setzte der Landeigentümer und Herr wiederum Fronvögte
ein. Heftige Verteilungskonflikte traten meist dann auf, wenn die Bauernschaft (d. h. die
Leibeigenen) sich nicht mehr reproduzieren konnte, d. h., wenn Hunger und andere Not, wie
z. B. kein Brennholz, die Menschen plagte. Als z. B. im 15. Jhdt. die Nutzung des
Allmendelandes (konnte von allen, meist als Viehweide, Teiche zum Angeln, Wälder zur
Jagd)) durch die Landherren eingeschränkt oder gar aufgehoben wurde, kam es zu
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Bauernaufständen. Auf diesem Allmende-Land konnten die Bauern vor allem jagen, fischen
und Holz machen. Es war also eine Quelle von Realeinkommen. Eine Beschränkung des
Zugangs war gleichbedeutend mit einer Realeinkommensverkürzung, die vor allem
lebensnotwendige Güter betraf.
Wem wovon wieviel zustand, war tradiert und wurde durch Herrschaft durchgesetzt.
Legitimiert wurde die Verteilung durch den sozialen Stand und dessen gesellschaftliche
Funktion. Jeder stand dort, wo ihn oder sie das Schicksal (Gott!) hingestellt hatte. Da es kaum
sozialen Auf- oder Abstieg gab, folgte der Sohn dem Weg des Vaters, die Tochter dem der
Mutter. Die Städte nahmen die auf, die aus ihrem Stand ausgestoßen wurden oder ihn
verließen. Dort entwickelte sich eine andere soziale Lebensweise und Wirtschaft mit anderen
Regeln der Verteilung.
Die Verteilung in den Städten löste sich von der direkten Herrschaft der Landbesitzer durch
drei ganz wesentliche Änderungen:
(1) In der Stadt gab es keine Leibeigenschaft
(2) Die schrittweise Einführung der Vertragsfreiheit.
(3) Die Herausbildung von Märkten, auch für Land, Arbeitsleistungen und Kapital.
Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft in der frühen Neuzeit, schrittweise ab dem 18. Jhdt.,
ist der Bauer Eigentümer seiner selbst und damit auch seiner Arbeitsleistung. Durch die
Vertragsfreiheit konnte er die Arbeitsleistung gegen Lohn verkaufen – wenn er einen fand,
der sie kaufen wollte. Einen solchen Markt, auf dem Anbieter und Nachfrager von
Arbeitsleistungen zusammentreffen, nennt man Arbeitsmarkt. Dieser Prozess fand in England
früher als auf dem europäischen Kontinent statt. Er wurde durch das „enclosure movement“
initiiert, als die Lords das Allmende Land zum Privateigentum erklärt haben und zahlreiche
Kleinbauern ihre Subsistenzwirtschaft zum Leben nicht mehr ausreichte und sie deshalb
„arbeiten“ gegen Lohnzahlungen gingen. So entstand das Landproletariat. Wer auf dem Land
keine Arbeit fand, wanderte in die Stadt und suchte dort.

Analoges geschah später auch auf den Kapital- und Bodenmärkten. Die Preise für die
Leistungen dieser Produktionsfaktoren sind die Zinsrate und die Rentenrate, kurz auch als
Lohn, Zins und Rente bezeichnet.

Musste der Bauer im Feudalsystem die Feudalrente in Form von Arbeit, Produkt und später in
Geld an den Landherren abführen, schließt er in einer kapitalistischen Marktwirtschaft als
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freier Farmer mit den Landeigentümern einen Pachtvertrag ab. Die Pacht ist die an die
Landeigentümer zu zahlende Rente. Der Unterschied zum Feudalsystem ist ein doppelter:
Einmal bedeutet freier Vertragsabschluss, dass keiner zu etwas gezwungen wird. Die zu
zahlende Rente wird freiwillig und nicht erzwungen gezahlt. Wenn dem Farmer die
Rentenforderung zu hoch ist, braucht er den Pachtvertrag nicht zu unterschreiben. Zum
zweiten bildet sich der Pachtpreis auf dem Markt durch die Relation von Angebot und
Nachfrage und wird nicht durch Herrschaft festgelegt! Wenn auf der Angebotsseite viele
Landeigentümer Land zur Pacht anbieten und auf der Nachfrageseite viele Pächterbauern
Land nachfragen, dann herrscht Konkurrenz auf dem Markt für Pachtland. Die Herrschaft des
Landherren über die Rente ist gewichen. Stattdessen bestimmen nun die Marktverhältnisse die
Rentenhöhe. Im Prinzip kann die Rente höher oder niedriger sein als im Feudalsystem. Im
Unterschied zum Feudalsystem kann der Pächterbauer (Farmer) nun aber Arbeitsleistungen
auf dem Arbeitsmarkt kaufen. Auch dort bildet sich durch die Verhältnisse von angebotenen
zu nachgefragten Arbeitsdiensten ein Lohn für jede Art von Arbeitsleistungen heraus. Ob
dieser Lohn nun ausreicht, um die Arbeitskraft reproduzieren zu können, ist a priori nicht
sicher. Analoges gilt für den Pächterbauer. Der Pächterbauer muss die marktübliche Rente an
den Landeigentümer zahlen und den marktüblichen Lohn an die Arbeitskräfte. Wenn vom
Verkauf der Ernte die Pacht und die Lohnsumme abgezogen werden, bleibt das Einkommen
des Pächterbauern übrig. Das kann – aber es muss nicht – zum Überleben reichen.

Wir sehen, dass im kapitalistischen Marktsystem die Herrschaft der Landeigentümer


gebrochen ist. Sie bestimmen die Verteilung nicht mehr durch Herrschaft. Stattdessen wirken
unterschiedliche Marktkräfte auf die Preise für die Faktorleistungen. Wenn man jetzt von
seinem Einkommen nicht überleben kann, ist der ‚Schuldige‘ nicht der ‚blutsaugende‘
Feudalherr, sondern die zunächst einmal anonymen Marktverhältnisse. Lässt sich etwas Licht
in die Dunkelheit der Verteilung bringen? Gibt es Gesetzmäßigkeiten der Verteilung? Das
war die zentrale Frage, mit der sich der englische Ökonom David Ricardo (1772 – 1823)
vornehmlich beschäftigte.
Bevor wir uns mit Ricardo und seinen grundlegenden und bis zum heutigen Tage gültigen
Einsichten befassen, wollen wir eine gängige und vordergründig plausible verteilungs-
politische Forderung beleuchten: „Man muss von seiner Arbeit leben können!“ Damit wird
ein Mindestlohn begründet. Man überlege einmal, wir würden diese Forderung auch auf die
anderen Einkommensarten ausdehnen. „Man muss von seinem Kapital leben können!“ Wenn
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1.500,00 € ausreichend für das Leben wäre, eine Person aber ‚nur‘
1.000,00 € Kapital hätte, dann müsste der Zinssatz 150 % betragen – wohlgemerkt der
„Mindestzins“ – um 1.500,00 € als Zinseinkommen zu ermöglichen.
„Man muss von seinem Boden leben können!“ Kann jemand von 10 ha Boden in der Sahara,
im Permafrostboden Sibiriens oder im Hochgebirge der Anden leben? Im Falle des Bodens
sieht jeder vernunftbegabte Mensch sofort, dass die Fruchtbarkeit der Böden sehr verschieden
ist. 10 ha Boden in der hessischen Wetterau erbringt möglicherweise einen Ertrag, von dem
man leben kann, die gleiche Fläche in der Sahara, in Sibirien oder den Anden ermöglicht das
sicher nicht. Wenn der Boden unfruchtbar, das Kapital gering und die Arbeit unproduktiv ist,
kann man von keinem dieser Produktionsfaktoren leben, weil sie lediglich einen geringen
oder gar keinen Ertrag abwerfen. Wir sehen also, dass ein „Leistungsaspekt“ für die Zahlung
eines Einkommens von Bedeutung ist. Dabei spielt aber die subjektive Anstrengung z. B.
eines Arbeitenden nicht die entscheidende Rolle, sondern die Produktivität der Arbeit, d. h.
die Relation von Ertrag (Output) pro Arbeitszeit. Die Verausgabung von Arbeitszeit allein ist
nicht maßgebend. Analog spielt für den Boden nicht die Fläche, d. h. die Ausdehnung die
entscheidende Rolle, sondern die Flächenproduktivität, d. h. der Ertrag pro Fläche. Auch im
Falle des Produktionsfaktors Kapital ist der Wertumfang des Kapitals allein kein Maß der
„Produktivität“, sondern seine Rendite, d. h. der Rückfluss in Euro aus einer investierten
Summe Euro pro Zeiteinheit.

Welche Rolle spielt z. B. die Fruchtbarkeit (= Flächenproduktivität) des Bodens für die
Beantwortung der Frage, wie groß die Rente sein wird? Diese Frage können wir mit Hilfe des
klassischen Ökonomen D. Ricardo (1772 – 1823) beantworten.
Wir haben in einem Land, sagen wir England, unterschiedlich fruchtbare Böden. Bis auf ganz
wenige Landflächen gehört das meiste Land den Grundherren. Weiterhin gibt es viele
Pächterbauern und viele Arbeiter. Die Pächter pachten Land von den Grundherren gegen
Zahlung einer Rente (Pacht) und bewirtschaften das Land mit Hilfe von Arbeitern, denen sie
einen Lohn pro Zeiteinheit zahlen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, es werde nur eine
Getreideart, Weizen, angebaut, der von den Pächterbauern auf dem Weizenmarkt verkauft
wird. Die Pächterbauern erwirtschaften einen Erlös 𝑝 ∙ 𝑥, wobei 𝑝 den Weizenpreis und 𝑥
die verkaufte (= produzierte) Menge darstellt. Aus diesem Erlös 𝑝𝑥 müssen die
Pächterbauern die Rente (Bodenpacht) und den Arbeitslohn 𝑤∙𝑁

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Prof. Dr. V. Caspari (2024)

[𝐿𝑜ℎ𝑛𝑠𝑎𝑡𝑧 (𝑤) 𝑚𝑎𝑙 𝑍𝑎ℎ𝑙 𝑑𝑒𝑟 𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑒𝑟 (𝑁) ] zahlen. Was übrig bleibt, ist der Gewinn 𝐺
des Pächterbauern.
Nun weiß man, dass der Ertrag pro Fläche Land mit der Menge der eingesetzten Arbeit
variiert. Je geringer der Arbeitseinsatz, desto geringer ist der Ertrag 𝑥. Umgekehrt steigt der
Ertrag mit der eingesetzten Menge Arbeit an. Ab einem bestimmten Punkt nimmt aber der
Ertrag nur unterproportional mit der eingesetzten Arbeitsmenge zu, d. h. es gilt:
𝑋 = 𝐹(𝑁), 𝑁 = 0 → 𝑋 = 0.
𝑑𝑋 𝑑! 𝑋
> 0, <0
𝑑𝑁 𝑑𝑁 !
𝑋: 𝐸𝑟𝑡𝑟𝑎𝑔 (𝑊𝑒𝑖𝑧𝑒𝑛)𝑖𝑛 𝑀𝑒𝑛𝑔𝑒𝑛𝑒𝑖𝑛ℎ𝑒𝑖𝑡𝑒𝑛 (𝑧. 𝐵. 𝑇𝑜𝑛𝑛𝑒𝑛)
𝑁: 𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑠𝑖𝑛𝑝𝑢𝑡 (𝑆𝑡𝑑. )𝑖𝑛 𝑍𝑒𝑖𝑡𝑒𝑖𝑛ℎ𝑒𝑖𝑡𝑒𝑛 𝑜𝑑𝑒𝑟 Mannstunden.
"#
"$
𝐺𝑟𝑒𝑛𝑧𝑒𝑟𝑡𝑟𝑎𝑔; 𝑑𝑒𝑟 𝑧𝑢𝑠ä𝑡𝑧𝑙𝑖𝑐ℎ𝑒 𝐸𝑟𝑡𝑟𝑎𝑔 𝑣𝑜𝑛 𝑊𝑒𝑖𝑧𝑒𝑛, 𝑑𝑒𝑟
𝑑𝑢𝑟𝑐ℎ 𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑧𝑢𝑠ä𝑡𝑧𝑙𝑖𝑐ℎ𝑒 𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑠𝑒𝑖𝑛ℎ𝑒𝑖𝑡 ℎ𝑒𝑟𝑣𝑜𝑟𝑔𝑒𝑏𝑟𝑎𝑐ℎ𝑡 𝑤𝑖𝑟𝑑.

𝑋 𝐹 (𝑁)
= ∶ 𝐷𝑢𝑟𝑐ℎ𝑠𝑐ℎ𝑛𝑖𝑡𝑡𝑠𝑒𝑟𝑡𝑟𝑎𝑔; 𝐸𝑟𝑡𝑟𝑎𝑔 𝑝𝑟𝑜 𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑠𝑖𝑛𝑝𝑢𝑡.
𝑁 𝑁

Der Pächterbauer maximiert den Gewinn pro Arbeiter, d. h.


𝐺 𝑝 ∙ 𝐹 (𝑁) 𝑅
= − – 𝑤 ! max !
𝑁 𝑁 𝑁
Der Preis des Weizens ist bei freier Konkurrenz vom Markt gegeben und sei 𝑝 = 1. Der
Lohnsatz sei ebenfalls vom Markt gegeben. Die Rentenzahlung 𝑅 ist vertraglich fixiert. Unser
Pächter kann nur 𝑁, die Arbeitszeit (-leistung), variieren um 𝐺 ⁄𝑁 𝑧𝑢 𝑚𝑎𝑥𝑖𝑚𝑖𝑒𝑟𝑒𝑛. Wir
!" ⁄#
bestimmen das Maximum von 𝐺 ⁄𝑁, indem wir bilden und diese Ableitung Null
!#
setzen:
!" ⁄# &% ∙# –&(#) +
!#
= #&
+ #&
= 0

𝑊𝑖𝑟 𝑙ö𝑠𝑒𝑛 𝑎𝑢𝑓:


+ & (#)
#
= #
− 𝐹 , (𝑁 ),
𝑅 𝑋
= – 𝐹 ! (𝑁 ),
𝑁 𝑁

𝑅 = 𝑋 − 𝑁 ∙ 𝐹 ! (𝑁).

Wenn der Pächterbauer den Gewinn pro Arbeiter maximiert, ergibt sich die Rente pro
Arbeiter als Differenz zwischen Durchschnittsprodukt und Grenzprodukt der Arbeit.

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Prof. Dr. V. Caspari (2024)

𝑋
X/N

X/N

Das Rechteck gibt die Höhe des Erlöses an. Die mit bezeichnete Teilfläche spiegelt
den Anteil der Rente wider.

Rente

Löhne +
Gewinn

Die untere Teilfläche gibt den Teil des Erlöses an, der für Löhne und Gewinn übrigbleibt.

Nehmen wir an, dass der Lohn auf dem Subsistenzniveau liegt, weil – wie seinerzeit üblich –

auf dem Arbeitsmarkt ein dauerhaftes Überangebot für Landarbeiter vorliegt. Dann ist der

Gewinn das Residuum.

Rente

Gewinn

Subsistenzlohn

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Die Zusammenhänge ergeben sich aus der Logik des Handelns. Sie sind insofern nicht
beliebig zu verändern, da alle am Prozess der wirtschaftlichen Verteilung beteiligten Gruppen
freiwillig handeln und zu nichts gezwungen werden.

Die quasigesetzmäßigen Zusammenhänge kann man nun nutzen, um abzuschätzen, wie sich
die Verteilung ändert, wenn sich bestimmte Größen ändern. Um sich solche Änderungen
vorstellen zu können, hilft wieder ein kurzer Blick in die Wirtschaftsgeschichte. Während der
Napoleonischen Kriege verhängte Napoleon I. die sogenannte Kontinentalsperre (21.11.1806
- 1814) gegen Großbritannien. Ziel der Sperre war es, die Getreideimporte des UK zu
unterbinden, d. h. die Ernährungssituation auf der britischen Insel zu verschlechtern.
Bei völlig freien Märkten kommt es aufgrund eines Angebotsrückgangs zu einem Preisanstieg
für Getreide und aller mit Getreide hergestellten Produkte (Brot, Backwaren, Bier usw.).
Dieser Preisanstieg hat zwei ganz unterschiedliche Auswirkungen. Die Lebenshaltungskosten
aller steigen, d. h. für Menschen mit geringem Einkommen droht Hunger. Das ist der Effekt
auf die Güternachfrage. Das Güterangebot, d. h. die Getreideproduktion im Inland, wird sich
aber erweitern, weil durch die höheren Getreidepreise auch Böden mit geringerer
Fruchtbarkeit, die bisher als Weideland oder Jagdland genutzt wurden, bei höheren Preisen
für den Getreideanbau lohnend werden. Es wird also mittelfristig zu einer Ausdehnung des
Getreideanbaus kommen. Damit verbessert sich die Versorgungslage. Würden die Preise für
Getreide künstlich niedrig gehalten – wie in Frankreich vor der Französischen Revolution –
wäre ‚das Volk‘ zwar kurzfristig zufrieden, aber die Bauern würden, wie in Frankreich
geschehen, die Produktion einschränken, da sie bei niedrigen Preisen nur auf den besten
Böden Gewinne, von denen sie leben müssen, erzielen können. Die Getreideknappheit nähme
zu und nicht ab! Die Getreideknappheit und damit der Hunger der französischen Bevölkerung
führte zum Aufruhr und letztlich auch zur Revolution. Weder fraternité noch égalité wirken so
revolutionär wie der Hunger. Da man in England bei höheren Preisen auch schlechtere Böden
bebaute, gab es keinen Hunger und damit auch keine politische Revolution, aber eine
industrielle Revolution.

Wenn also, wie in England geschehen, nun auch schlechtere Böden mit Getreide bebaut
wurden, wird die Getreideknappheit reduziert. Wem nutzt nun dieser Preisanstieg des
Getreides? Den Arbeitern, den Pächterbauern oder den Landherren?

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Löhne können nicht ohne massive Konsequenzen unter das Subsistenzniveau fallen. Also
gehen wir davon aus, dass die Geldlöhne an die durch den Getreidepreisanstieg induzierten
Preissteigerungen angepasst werden, so dass die Reallöhne auf dem Subsistenzniveau bleiben.
Damit ändert sich für die Arbeiterschaft - d. h. für den Anteil der Löhne am Gesamtprodukt –
nichts, denn ihr Anteil bleibt konstant. Was mit den beiden anderen Anteilen geschieht, sehen
wir als nächstes. Durch den höheren Getreidepreis wird ja der Anbau von Getreide auch auf
Böden niederer Produktivität ausgedehnt.

Gewinn

Lohn Lohn Lohn

Hohe mittlere niedere geringe


Fruchtbarkeit Fruchtbarkeit Fruchtbarkeit Fruchtb.

Auf dem Boden mit geringster Fruchtbarkeit gibt es keine Rente, weil dieser Boden quasi
„frei“ ist; keiner ist an ihm interessiert, niemand will ihn pachten, weil man mit diesem Boden
bislang „nichts anfangen“ konnte. Auf diesem Boden wird nur Lohn und Profit erwirtschaftet,
da keine Pacht zu zahlen ist. Auf allen besseren Böden entsteht eine Rente, deren Anteil
zunimmt, wenn auf immer schlechteren Böden Getreide angebaut werden kann. Wenn der
Anteil der Rente steigt (siehe Veränderung von „Schwarz“ nach „Rot“ im Diagramm), der
Anteil der Löhne konstant bleibt, muss der Anteil der Gewinne sinken – sein Anteil wird „ein-
gequetscht“. Diese, auf der höheren Fruchtbarkeit der Böden beruhende Rente, nennt man
Differentialrente, oder auch extensive Rente.
Wer also gewinnt bzw. verliert durch die Preiserhöhung von Getreide? Die Antwort ist
eindeutig: Die Pächterbauern verlieren, denn ihr Einkommensanteil, der Gewinn, geht
eindeutig zurück, während die Landherren gewinnen, denn ihr Anteil, die Rente, steigt!
Ricardo hatte genau diesen Zusammenhang in einem bedeutenden Aufsatz „Essay on the
Influence of a Low Price of Corn on the Profits of Stock“ im Jahr 1815 veröffentlicht.

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Ricardo und Malthus, aber besonders das Parlament und die britische Öffentlichkeit stritten
sich über die sogenannten „Kornzölle“.1 Sie sollten auch nach dem Wegfall der
Kontinentalsperre dafür sorgen, dass der Getreidepreis hoch blieb. Aus Ricardos Analyse ist
leicht ablesbar, dass die Hauptprotagonisten der Kornzölle die Landlords waren (die die
Mehrheit im Parlament stellten). Ricardo forderte hingegen die Abschaffung der Kornzölle,
um billigeres Getreide aus Kontinentaleuropa (Frankreich und Preußen) importieren zu
können. Durch die sinkenden Getreidepreise bräuchte unfruchtbares Land nicht bebaut
werden. Als Folge sänken die Renten und die Gewinne stiegen. Eine weitere Konsequenz aus
der Änderung der Einkommensverteilung ergibt sich aus der unterschiedlichen Verwendung
von Renten und Gewinnen, was schon Adam Smith thematisiert hatte. Landlords nutzten ihr
Renteneinkommen i. d. R. um ihre Schlösser, Ländereien und ihre notwendige Dienerschaft
zu bezahlen, d. h. ihre Ausgaben sind überwiegend konsumtiv. Pächterbauern verwenden ihre
Gewinne nur dann rein konsumtiv, wenn sie sehr niedrig ausfallen. Sobald sie über das für die
Reproduktion notwendige Niveau hinausgehen, werden die Gewinne in die Verbesserung der
Agrartechnik, die Viehbestände usw. invertiert, d. h. Gewinne werden eher investiv, d. h.
produktiv verwendet. Auch die Arbeiter wandern von der Landwirtschaft in die Industrie.
Diese Aspekte hatte Ricardo vor Augen. Er befürchtete, dass durch die anhaltend hohen
Renten und die geringen Gewinne die Investitionen in die Produktivität der Agrartechnik und
der Industrie zu gering ausfielen und sich damit wirtschaftliche Stagnation ausbreiten würde.
Die Vertreter der Interessen der Grundherren warfen u.a. das Argument der Unabhängigkeit
Englands von Getreideimporten in den Raum. Sie plädierten für eine höheres Autarkieniveau.
Ähnliche Überlegungen wurden auch in der BRD bezüglich der Energiepolitik angeführt. Soll
man den Steinkohlebergbau aufrechterhalten? Wenn ja, wie sollte man das finanzieren, da ja
Steinkohle auf dem Weltmarkt nur ca. die Hälfte der deutschen Produktionskosten kostet. Die
‚historische‘ Antwort wäre „Kohlezölle“ gewesen, gewählt wurde der Kohlepfennig. Da man
aber von Ricardo etwas gelernt hatte, fördert man inzwischen in der BRD keine Steinkohle
mehr. Diese Erkenntnis setzte sich aber erst ganz langsam durch und benötigte rund 50 Jahre.
Genau wie bei den Kornzöllen in England – denn endgültig wurden sie auch erst Jahrzehnte
nach dem Ende der Kontinentalsperre abgeschafft. Ökonomische „Wahrheiten“
widersprechen oft den Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Je mächtiger diese
im politischen System verankert sind, desto stärker stemmt sich die „Politik gegen die
1
vgl. hierzu Th. R. Malthus, D. Ricardo, R. Torrens, E. West: Die Corn-Law-Pamphlets von 1815, hrsg. von
B. Schefold, Düsseldorf 1996.

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Ökonomie“. Es gibt aber auch das Phänomen, dass ökonomische „Wahrheiten“ ganz einfach
unangenehm für alle Beteiligten sind, was den englischen Journalisten Thomas Carlyle in der
Mitte des 19. Jahrhunderts veranlasste, die VWL als „dismal science“ zu charakterisieren.

Ricardos ökonomische Theorie richtet seine argumentative Stoßrichtung gegen die Bezieher
von Renteneinkommen, gegen die Grundherren also. Die implizite normative Ausrichtung im
Ricardo‘schen Ansatz lautet letztendlich: „Wachstum und Kapitalakkumulation erhöhen den
Wohlstand einer Volkswirtschaft“ und deshalb sind das positive und für alle Mitglieder einer
Volkswirtschaft wünschenswerte Ziele.
Thomas R. Malthus, mit dem Ricardo eine persönliche Freundschaft verband, sah in der
Verteilungsverschiebung zugunsten der Grundherren – anders als Ricardo - kein Problem. Er
wollte die Protektion der heimischen (engl.) Landwirtschaft und nannte dafür auch Gründe.

Arbeit und Wertbildung

Dass einer Person ein Vermögenszugang entsteht, weil er oder sie etwas geleistet hat, ist eine
relativ moderne Vorstellung. Im späten Mittelalter gab es noch die enge Beziehung zwischen
Eigentum bzw. Besitz und sozialem Stand, der als „Gottgegeben“ legitimiert wurde. Erst mit
der Ablösung der Scholastik durch die ersten bürgerlichen Gesellschaftstheoretiker wie z. B.
dem Philosophen und Sozialökonomen J. Locke (1632 – 1704) gewann die Idee, dass die
Arbeitsleistung Eigentum legitimiert, an Bedeutung.
„Es ist so auch nicht verwunderlich, -…-, dass das durch die Arbeit geschaffene Eigentum
größeren Wert erlangen mochte als der gemeinsame Landbesitz. In der Tat ist es die Arbeit,
die den unterschiedlichen Wert aller Dinge ausmacht, …“ wenn wir fragen, was sie (die
Dinge, V.C.) im Eigentlichen der Natur verdanken und was der Arbeit, so werden wir sogar
sehen, dass man in den meisten Fällen neunundneunzig Hundertstel voll der Arbeit zurechnen
darf.“ (Locke, J. (1966); Über die Regierung, S. 36-37)

Aus dem Eigentum an der eigenen Person wird gefolgert, dass auch die Resultate der Arbeit
einer Person deren Eigentum sind bzw. werden. Das sind im Kern antifeudalistische
Denkfiguren, weil Eigentum an der eigenen Person die Aufhebung der Leibeigenschaft ja
voraussetzt. Für adlige Feudalherren legitimierte sich ihr Eigentum nicht durch ihre Arbeit,

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sondern durch das Lehnsverhältnis. Der Waffendienst für den Lehnsherrn bildete also die
„Gegenleistung“ für das Lehen, die nur im Kriegsfall eingefordert wurde. Einkommen oder
Vermögen musste (sollte) dem Stand entsprechen – es sollte standesgemäß sein. Mit Arbeit
oder Leistung hatte das nichts zu tun! Die Idee, Arbeit als Legitimation von Eigentum,
Vermögen und letztlich auch Eigentum zu begreifen, bekommt erst in der Theorie der
bürgerlichen Gesellschaft eine herausgehobene Stellung. Ziemlich früh finden wir diesen
Gedanken bei Locke, wie oben gezeigt.

Bei Adam Smith rückt „die Arbeit“ noch mehr in das Zentrum der Betrachtung. Smith
versuchte in seinem „Wohlstand der Nationen“ zu klären, (i) wie man Wohlstand misst und
(ii) wodurch er gemehrt werden kann? Smith hatte bereits in seinen „Vorlesungen über
Jurisprudenz“ das Messen des Reichtums in Geld hinterfragt, weil er erkannt hatte, dass der
Wert des Reichtums, wenn man ihn in Geldeinheiten ausdrückt, vom Wert der Geldeinheit
abhängt und damit mit dessen Veränderungen schwankt. Könnte man den Reichtum eines
Menschen oder einer Nation auch in Arbeit messen? Nehmen wir einen Landarbeiter, der für
einen 10 Stunden währenden Arbeitstag 100,00 € erhält. In einem Land werden 5 Mill.
Tonnen Weizen mit einem Gesamtwert von 5 Mrd. Euro produziert. Dividiert man die 5 Mrd.
Euro durch den Wert des 10-stündigen Arbeitstags, ergibt sich eine Zeitgröße:

Man kann es auch so ausdrücken: Der Landarbeiter müsste 10 Tage arbeiten um 1 Tonne
Weizen kaufen zu können. Würde nun die Produktivität des Landarbeiters zunehmen, würde
er mehr Weizen produzieren, d. h. 1 Tonne Weizen würde weniger Arbeit ‚kaufen‘ oder
anders ausgedrückt, der Landarbeiter müsste weniger arbeiten, um sich eine Tonne Weizen
kaufen zu können. Quintessenz: Der Messvorgang zeigt, dass die Steigerung der
Arbeitsproduktivität zu einer Mehrung des Wohlstands (= Gütervermehrung) führt. Entweder
man erzeugt in der gleichen Arbeitszeit mehr Weizen oder die gleiche Weizenmenge mittels
weniger Arbeitszeit. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität war ein zentrales Thema von
Smith. Mit seinem bekannten Beispiel über die Steigerung der Produktivität in der
Stecknadelproduktion beginnt bekanntlich sein bedeutendes Werk von 1776 „An Inquiry into
the causes of the Wealth of Nations.“
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Wenn man also Preise von Gütern in Lohneinheiten ausdrückt, ergibt sich die Zahl der
Arbeitsstunden, die z. B. der „Durchschnittsarbeitnehmer“ arbeiten muss, um sich eine
Einheit von dem gemessenen Gut kaufen zu können.
Tabelle: Realpreise in Arbeitsstunden (bei Smith Preise in kommandierter Arbeit)
Jahr Zucker (1kg) Kaffeebohnen (1 kg) Bier (1ltr)
1913 1,28 7,25 0,93
1930 0,78 8,43 1,00
1950 1,00 24,41 1,15
1970 0,21 3,01 0,23
1985 0,13 1,64 0,12
Verhältnis 9,8 4,4 7,8
1913/1985
Quelle: Stat. Bundesamt, Fachserie 17, Reihe 7.
Drückt man Güterpreise in Lohneinheiten, d. h. also in „kommandierter“ Arbeitszeit aus, so
ist dies ein Messkonzept. Eine völlig andere Angelegenheit ist die im obigen Locke-Zitat
beinhaltete Behauptung oder Hypothese, der Wert eines Gutes sei überwiegend auf Arbeit
zurückzuführen. Diese Hypothese, die von Marx, aber auch schon bei Ricardo und Smith als
Arbeitswertlehre mehr oder weniger gut ausgearbeitet wurde, wollen wir im nächsten Schritt
etwas genauer beleuchten, bevor wir uns dann der sogenannten „subjektiven“ Werttheorie
oder auch Nutzentheorie zuwenden werden. In der Arbeitswertidee schwingt immer auch die
Vorstellung mit, dass Einkommen, das nicht durch Arbeit erwirtschaftet wird – ‚arbeitsloses‘
Einkommen nämlich – letztendlich leistungsloses Einkommen darstellt. Damit ist (und war)
nicht die Arbeitslosenunterstützung gemeint, sondern die Gewinn-, Zins- und
Rentiereinkünfte, d. h. also die Einkommen aus Kapital sowie Vermietung und Verpachtung.
Inwiefern Kapital- und Bodeneinkünfte aus Sicht der Arbeitswerttheorie „leistungslose“
Einkommen darstellen, werden wir im Folgenden und kritisch hinterfragen. Nicht nur John
Locke, auch Adam Smith ging davon aus, dass in einem gedachten Naturzustand zwei Güter
A und B sich in dem Verhältnis der jeweils in ihnen enthaltenden Arbeitsmengen
austauschen: „Auf der untersten Entwicklungsstufe eines Landes, noch bevor es zur
Kapitalbildung kommt und der Boden in Besitz genommen ist, ist das Verhältnis zwischen
den Mengen Arbeit, die man einsetzen muss, um einzelne Gegenstände zu erlangen, offenbar
der einzige Anhaltspunkt, um eine Regel für deren gegenseitigen Austausch ableiten zu
können. Bedarf es in einem Jägervolk gewöhnlich doppelt so viel Arbeit, einen Biber zu

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töten, als einen Hirsch zu erlegen, sollte natürlich im Tausch ein Biber zwei Hirsche wert
sein!2
Formal ausgedrückt:

Der Biber ist also doppelt so teuer wie der Hirsch, d. h. das Verhältnis der Preise von Biber zu
Hirsch ist 2:1. Ob das nun das Verhältnis 2 € : 1 € oder 4 £ : 2 £ oder 8 $: 4 $ ist, hängt von
der Festlegung der Geld- bzw. Währungseinheit ab. Das Verhältnis der beiden Geldpreise für
Biber und Hirsch entsprechen also dem Verhältnis der in Biber und Hirsch jeweils
vergegenständlichten Menge Arbeit. Wenn es in entwickelten Wirtschaftsweisen zur Kapital-
akkumulation kommt, müssen neben den Arbeitsaufwendungen auch die Kapitalaufwendun-
gen berücksichtigt werden, so dass keine direkte Proportionalität von Arbeitswerten und
Preisen besteht. Gleichwohl bemühten sich Smith und Ricardo einen konsistenten Weg zu
finden, um zeigen zu können, dass Güter, in denen mehr Arbeit enthalten ist, relativ mehr
kosten als Güter, in denen weniger Arbeit vergegenständlicht ist.

Wir wollen jetzt den ricardianischen Argumentationsstrang verlassen und uns der
Argumentation von Karl Marx zuwenden, der die Arbeitswerttheorie der klassischen
Ökonomen aufgegriffen hat und sie zur Theorie der Ausbeutung der Arbeit ausbaute.
Aus der Perspektive der Ausbeutungslehre erscheint dann das Kapitaleinkommen,
Gewinn + Zins (= Profit) wie bereits die Grundrente der Feudalherren als „leistungsloses“
Einkommen, d. h. ein Einkommen, das im Unterschied zum Arbeitseinkommen ganz ohne
Leistung zustande kommt und – was moralisch noch anrüchiger ist – dem Arbeiter, der die
Leistung erbracht hat, auch noch abgenommen wird. Der Arbeiter wird um sein „gerechtes“
Einkommen betrogen. Wie nun argumentiert Marx im Einzelnen?
Ein Arbeiter produziert innerhalb eines Arbeitstages eine bestimmte Menge eines Gutes. Also
ist in dieser Menge des Guts die Arbeit des Arbeiters vergegenständlicht. Der Arbeiter
bekommt für diese Arbeit einen Lohn. Wie viel von der Menge des Guts, die er produziert
hat, kann er mit diesem Lohn kaufen? Nehmen wir an, er kann die Hälfte seiner
Tagesproduktion kaufen, dann hat er mit seiner Arbeit mehr Wert geschaffen, als er in Form

2
A. Smith (1776, 1974); Der Wohlstand der Nationen, München: Beck Verlag, S. 42

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von Lohn erhalten hat. Marx nennt nun die eine Hälfte des Arbeitstags die ‚notwendige‘
Arbeit, die zweite Hälfte nennt er die Mehrarbeit. Die ‚notwendige‘ Arbeit ist die Zeit, die
notwendig ist, um die Reproduktion des Arbeiters in Form des Einkommens (Lohn) sicher zu
stellen. Die zweite Hälfte des Arbeitstags ist die Mehrarbeit. In dieser Zeit „erarbeitet“ der
Arbeiter den Wert, der dann als Profit vom Kapitaleigner angeeignet wird. Die Arbeitskraft
wird in der anderen Tageshälfte ausgebeutet. Um seinen Lohn zu erarbeiten, bräuchte der
Arbeiter nämlich nur die Hälfte des Tages arbeiten. Im frühen 19. Jhdt. dehnten die
Fabrikanten den Arbeitstag immer weiter aus, d. h. sie erhöhten die Mehrarbeit, weil die
notwendige Arbeit konstant blieb. Mit der Fabrikgesetzgebung in England wurde die
maximale Arbeitszeit pro Tag gesetzlich festgelegt. Nun konnte die Mehrarbeit nur gesteigert
werden, indem man die notwendige Arbeitszeit senkte. Bei konstanter Arbeitsproduktivität
heiß das aber, dass der Reallohn sinkt. Drückt man den Reallohn unter das Subsistenzniveau,
sterben die Arbeiter „wie die Fliegen“, und es kommt zu großen sozialen Unruhen. Wie aber
kann man die notwendige Arbeitszeit senken, ohne den Reallohn zu senken? Wenn man
mittels Maschinen die Arbeitsproduktivität massiv steigert, sinkt die notwendige Arbeitszeit,
d. h. bei konstantem Arbeitstag steigt die Mehrarbeit, d. h. die Ausbeutung. Nimmt nun über
lange Zeiträume die Arbeitsproduktivität zu, nimmt aus (marxistischer) arbeitswert-
theoretischer Perspektive die Ausbeutung zu. Wie reduziert man die Ausbeutung der Arbeiter
nun? Durch Verkürzung des Arbeitstags! Der Kampf der Gewerkschaften für eine 35 Std.
Woche, d. h. für eine Reduzierung des Arbeitstags, ist aus arbeitswerttheoretischer Sicht
vollkommen konsequent. Interessant ist auch, dass aus arbeitswerttheoretischer Sicht die
Mechanisierung, also die Substitution von Arbeitskraft durch Maschinerie, eine Reaktion der
Fabrikanten (Kapitalisten) auf die Beschränkung des Arbeitstags darstellt.

Diese arbeitswerttheoretische Argumentation ist in sich konsistent und blieb im Kern eine
Überzeugung, die in allen verschiedenen sozialistischen und gewerkschaftlichen Bewegungen
eine Rolle spielt. Wenn also die Argumentationskette der Arbeitswerttheorie logisch
konsistent ist, was lässt sich aus Sicht der modernen Ökonomie dagegen einwenden?
Wenn sich kein Fehler in der logischen Argumentationskette finden lässt, muss man sich mit
den Prämissen kritisch auseinandersetzen.

Die zentrale Prämisse der Marxschen arbeitswerttheoretischen Argumentation ist, dass die
Produktivität der Arbeitskraft groß genug ist, um den Subsistenzlohn in weniger als dem
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gesamten Arbeitstag zu erarbeiten, oder umgekehrt, dass die Arbeitskraft Mehrarbeit leistet.
In unserer Terminologie im historischen Teil dieses Skripts haben wir diesen Umstand mit
dem Begriff des Surplus bezeichnet. Einfach ausgedrückt: Die Arbeitskraft vermag kraft ihrer
Produktivität ein Surplus zu produzieren. Das ist die Prämisse der arbeitswerttheoretischen
Argumentation. Sie setzt voraus, was zu zeigen wäre, nämlich woher die Produktivität der
Arbeitskraft kommt. Zweifellos entsteht sie durch die Werkzeuge, die Maschinen und
verfahrenstechnischen Kenntnisse. Es ist also der Stand der Technik, der die Produktivität der
Arbeitskraft bestimmt. Darf man, wie Marx, so mir nichts dir nichts den - den Mehrwert
(Mehrarbeit) konstituierenden - Stand der Technik als ein „Verdienst“ der Arbeitskraft
zurechnen und anschließend behaupten, sie werde ausgebeutet? Kann und darf man mit der
gleichen Selbstverständlichkeit nicht einfach davon ausgehen, dass ein Teil des gesamten
Werts, nämlich der dem Stand der Technik geschuldete Mehrwert, den Eigentümern der
Kapitalgüter als Entlohnung zusteht? Das ist letztlich die Position der neoklassischen öko-
nomischen Theorie, auf die wir an späterer Stelle noch genauer eingehen werden.

Bedürfnisse, Nutzen und Wertbildung

Während die klassischen Ökonomen die Arbeitsleistung in das Zentrum des ökonomischen
Wertbildungsprozesses gerückt haben, griffen die Vertreter der Nutzentheorie eine andere
Grundvorstellung über die Wertbildung auf, die bereits in der Scholastik und selbst bei
Aristoteles auffindbar ist. Zur Bedürfnisbefriedigung benötigt der Mensch Güter und Dienste,
die er in einer arbeitsteiligen Wirtschaft eintauschen muss, wobei ihm selbst erstellte Güter
oder ein allg. Äquivalent (Geld) als Tauschmittel dienen.
Jeder Mensch misst bestimmten Gütern einen „Wert“ zu, einen Wert sein Bedürfnis zu
befriedigen. Da diese Bedürfnisse von Mensch zu Mensch individuell verschieden sind,
messen die Menschen den Gütern auch ganz unterschiedlichen Wert bei. Deshalb spricht man
auch von der ‚subjektiven‘ Werttheorie im Unterschied zu der Arbeitswerttheorie, die man
auch als ‚objektive‘ Werttheorie ansieht.

Nehmen wir als Beispiel zwei Personen A und B, und beide haben Durst. Sie können
zwischen Wasser, Bier, Cola, Tee und Wein wählen, um ihren Durst zu löschen. Es darf
vermutet werden, dass beide unterschiedliche Bewertungen abgeben werden: Wir fragen und

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bitten beide die Güter in der Reihenfolge anzuordnen, in der sie diese Güter konsumieren
würden um ihren Durst zu stillen. Es kommt zu der folgenden Anordnung:
Person A: Wasser > Cola > Bier > Wein > Tee
Person B: Cola > Bier > Tee > Wein > Wasser
Wir drücken durch das Zeichen > aus, dass die Person A “Wasser Cola vorzieht” und nennen
das eine Präferenzordnung. Die eine mag eben eher Wasser, die andere lieber Cola. Wenn wir
nun einer solchen Rangfolge von Gütern natürliche Zahlen zuordnen, dann würden wir für
Person A dem Gut Wasser den höchsten Zahlenwert und dem Gut Tee den geringsten
Zahlenwert zuordnen. Bei Person B bekäme Cola den höchsten Zahlenwert und Wasser den
niedrigsten. Wir erhalten eine Zuordnung von Zahlenwerten zu jeweiligen Gütern und nennen
eine solche Abbildung eine Nutzenfunktion.
UA = U (x1, x2, …, x4) und UB = U (x1, x2, …, x4). Betrachten wir eine ganz einfache
Nutzenfunktion, U = f(x) und x sei 0,5 kg Brot und das hätte den Nutzwert 10. Welchen
Nutzwert misst unsere Person nun einem weiteren Pfund Brot zu. Das, so würde man denken,
wird von seinem Hunger (Bedürfnis) abhängen. Zu vermuten ist, dass bei geringem Hunger
der zusätzliche Nutzwert des zweiten Pfunds Brot deutlich geringer ausfällt als der des ersten
Pfunds. Bei starkem Hunger hat das zweite Pfund einen deutlich höheren Nutzwert als bei
geringem Hunger, ist aber geringer als das erste Pfund. In der subjektiven Werttheorie spricht
man von einem sinkenden Grenznutzen, d.h. dU/dx = Uʹ(x) > 0 und d2U/dx2 = Uʺ < 0. U
U(x)

U‘(x)
x

Person A würde 0,5 Kg Brot einen höheren Wert zumessen als Person B. Also würde Person
A auch mehr für 0,5 kg Brot zu zahlen bereit sein als Person B. Auf einem Markt würde bei
einem hohen Brotpreis nur Person A Brot nachfragen (kaufen). Bei einem etwas geringeren
Preis für Brot würde Person A weiter Brot nachfragen und Person B hinzutreten. Somit steigt
bei sinkendem Brotpreis, die nachgefragte Menge Brot. (U‘(x) ist fallend mit dem Preis)

In der subjektiven Werttheorie spielt also nicht die Arbeitsleistung bei der Wertbildung keine
Rolle, sondern die Bedürfnisse und damit der Bedarf jedes einzelnen Menschen. Wenn die
Güter wie Manna vom Himmel fielen, wären Fragen der Güterbereitstellung auch gar kein
Problem und die Bedürfnisse wären relevant. Aber ganz so einäugig und naiv waren und sind
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die Vertreter der subjektiven Wertlehre natürlich nicht. Sie behandeln auch die Produktion der
Güter. Hierzu bleiben wir in der vereinfachten Denkwelt und nehmen nun den einfachsten
Fall an, nämlich Brot (x) werde nur mit Hilfe von Arbeit (N) und einem Ofen produziert. Der
Bäcker hat also durch den Ofen fixe Kosten Kf und variable Kosten Kv, die er dem Gesellen
bezahlen muss. Der Lohnsatz am Markt für Bäckergesellen sei w. Nehmen wir weiterhin an,
der Bäcker möchte seinen Verdienst maximieren. Dann ergibt sich die folgende Zielfunktion.
Max! V = Erlös (px) – Kosten (Kf +Kv). Das lokale Maximum der Verdienstfunktion liegt vor,
wenn die erste Ableitung von V(x) = Null ist. Also
dV/dx = p – dKv/dx = 0 à p = Kv ’(x)
Kv’ sind die Grenzkosten, d.h. die zusätzlichen Kosten, die eine zusätzliche Einheit Brot in
der Produktion kostet. Die Fixkosten (Ofen) variieren nicht mit dem Output x. Selbst wenn
der Bäcker gar nichts produziert, hat er die Kosten des Ofens zu tragen oder er verkauft seinen
Ofen und schließt seine Bäckerei.
p, K(x)
K‘(x)

p2

p1

x1 x2 x

Wenn also der Marktpreis p1 wäre, würde der Bäcker x1 anbieten, beim Preis p2 wäre die
angebotene Menge x2 also höher. Mit steigendem Preis am Markt weitet der Bäcker seine
angebotene Menge aus.

Das liegt nun eindeutig an der Form der Grenzkostenfunktion K‘(x) und wir müssen nun
klären unter welchen Bedingungen die steigend verläuft. Dazu müssen wir uns die
Produktionsfunktion anschauen, was in der Vorlesung behandelt werden wird.

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