Dergotteswahn0000dawk 2
Dergotteswahn0000dawk 2
DAWKINS
De
SPIEGEL
DERBS
OFIES
WAHN
»Ich bin ein Gegner der Religion.
SP lehrt uns, damit zufrieden zu sein,
dass w die Welt nicht verstehen.«
Richard Dawkins
ue
Das Buch
Der Autor
DER GOTTESWAHN
Aus dem Englischen
von Sebastian Vogel
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-taschenbuch.de
Umwelthinweis:
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
»Genügt es nicht zu sehen, dass ein Garten schön ist, ohne dass
man auch noch glauben müsste, dass Feen darin wohnen?«
INHALT
VORWORT
1 EINTIEFRELIGIÖSER UNGLÄUBIGER
Verdienter Respekt
Unverdienter Respekt
2 DiE GOTTESHYPOTHESE
Polytheismus
Monotheismus
Säkularismus, die Gründerväter und die Religion
Nordamerikas
Die Armut des Agnostizismus
NOMA
Das große Gebetsexperiment
Die Neville-Chamberlain-Schule der Evolutionsanhänger
Kleine grüne Männchen 100
3 ARGUMENTEFÜRDIEEXISTENZGOTTES 108
Bayes’scheArgumente 149
Gruppenselektion 235
Cargo-Kulte 283
KinDHEIT,KINDESMISSHANDLUNG
UND WIE MAN DER RELIGION ENTKOMMT 431
Binker 480
Trost 487
Inspiration 500
NACHWORT 522
LITERATUR 53%
ANMERKUNGEN 547
PERSONENREGISTER SD
SACHREGISTER 565
VORWORT
Meine Frau ging als Kind nie gern zur Schule, und sie wäre am
liebsten ganz ausgestiegen. Erst viele Jahre später, als sie schon
über zwanzig war, ließ sie ihre Eltern wissen, wie unglücklich
sie damals gewesen war. Ihre Mutter war entsetzt: »Aber Lieb-
ling, warum bist du denn nicht gekommen und hast es uns ge-
sagt?« Lallas Antwort ist mein Motto des Tages: »Ich wusste
nicht, dass ich das gedurft hätte.«
Ich wusste nicht, dass ich das gedurft hätte.
Ich vermute - nein, eigentlich bin ich mir sicher -, dass es auf
der ganzen Welt viele Menschen gibt, die mit dieser oder jener
Religion groß geworden sind, sich damit aber nicht wohl-
fühlen oder darüber beunruhigt sind, dass im Namen ihrer Re-
ligion so viel Böses getan wird; Menschen, die den unbestimm-
ten Wunsch verspüren, die Religion ihrer Eltern hinter sich zu
lassen, und denen einfach nicht klar ist, dass dieses Hintersich-
lassen durchaus möglich ist. Sollten Sie zu diesen Menschen
gehören, dann haben Sie das richtige Buch vor sich. Es will be-
wusstseinsbildend wirken - unser Bewusstsein schärfen, dass
Atheist zu sein ein realistisches Ziel ist, noch dazu ein tapferes,
großartiges Ziel. Man kann als Atheist glücklich, ausgeglichen,
moralisch und geistig ausgefüllt sein. Das ist die erste Bot-
schaft, mit der ich das Bewusstsein schärfen will. Außerdem
möchte ich es noch in drei anderen Punkten erweitern, auf die
ich gleich zu sprechen komme.
Im Januar 2006 moderierte ich im britischen Fernsehen
(Channel Four) eine zweiteilige Dokumentation mit dem Titel
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The Root of All Evil? (»Die Wurzel alles Bösen?«). Dieser Titel
gefiel mir von Anfang an nicht. Religion ist nicht die Wurzel al-
les Bösen, denn nichts ist die Wurzel von allem, ganz gleich was
es ist. Begeistert war ich dagegen von der Werbeanzeige, die
Channel Four in den überregionalen Zeitungen schaltete. Es
war ein Bild der Skyline von Manhattan mit der Unterschrift
»Stellen Sie sich eine Welt ohne Religion vor.« Der Zusammen-
hang? Die Zwillingstürme des World Trade Center waren deut-
lich zu erkennen.
Stellen wir uns doch mit John Lennon mal eine Welt vor, in
der es keine Religion gibt - keine Selbstmordattentäter, keinen
11. September, keine Anschläge auf die Londoner U-Bahn,
keine Kreuzzüge, keine Hexenverfolgung, keinen Gunpowder
Plot, keine Aufteilung Indiens, keinen Krieg zwischen Israelis
und Palästinensern, kein Blutbad unter Serben/Kroaten/Musli-
men, keine Verfolgung von Juden als »Christusmörder«, keine
»Probleme« in Nordirland, keine »Ehrenmorde«, keine pomadi-
gen Fernsehevangelisten im Glitzeranzug, die leichtgläubigen
Menschen das Geld aus der Tasche ziehen (»Gott will, dass ihr
gebt, bis es wehtut«). Stellen wir uns vor: keine Zerstörung an-
tiker Statuen durch die Taliban, keine öffentlichen Enthaup-
tungen von Ketzern, keine Prügel auf weibliche Haut für das
Verbrechen, zwei Zentimeter nackte Haut zu zeigen. Übrigens
berichtete mir mein Kollege Desmond Morris, dass John Len-
nons großartiger Song in den Vereinigten Staaten manchmal
ohne die Zeile »and no religion too« gespielt wird. In einer be-
sonders dreisten Version wurde sie sogar zu »and one religion
too« abgeändert.
Vielleicht glauben Sie, der Agnostizismus sei eine plausible
Haltung, aber Atheismus sei genauso dogmatisch wie religiöser
Glaube? Dann hoffe ich, dass das zweite Kapitel Sie zum Um-
denken bewegt und Sie überzeugt, dass die »Gotteshypothese«
eine wissenschaftliche Hypothese über das Universum ist, die
man genauso skeptisch analysieren sollte wie jede andere auch.
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Vielleicht hat man Ihnen beigebracht, Philosophen und Theo-
logen hätten stichhaltige Gründe genannt, warum man an Gott
glauben sollte. Wenn Sie das glauben, werden Sie sich vielleicht
über das dritte Kapitel mit der Überschrift »Argumente für die
Existenz Gottes« freuen - doch sind diese Argumente, wie sich
zeigen wird, auffallend schwach.
Vielleicht halten Sie es für offensichtlich, dass es Gott geben
muss, denn wie sonst könnte die Welt ins Dasein getreten sein?
Wie sonst könnte es das Leben mit seiner reichen Vielfalt ge-
ben - mit biologischen Arten, die ganz und gar so aussehen, als
wären sie gezielt so gestaltet? Wenn Ihre Gedanken in solchen
Bahnen verlaufen, werden Sie hoffentlich aus dem vierten Ka-
pitel neue Aufschlüsse beziehen; dort geht es um die Frage,
»Warum es mit ziemlicher Sicherheit keinen Gott gibt«. Die
Illusion, das Lebendige sei gezielt gestaltet, weist keineswegs
auf einen Gestalter hin, sondern sie lässt sich viel prägnanter
und ungeheuer elegant mit der darwinistischen natürlichen Se-
lektion erklären. Selbst wenn die natürliche Selektion nur die
Welt des Lebendigen erklärt, so schärft sie doch unser Bewusst-
sein dafür, dass vergleichbare Erklärungsansätze uns auch zu
einem besseren Verständnis für den gesamten Kosmos verhel-
fen können. Die Erkenntnis der Leistungsfähigkeit von »Kran-
systemen« wie der natürlichen Selektion ist der zweite meiner
vier Punkte zur Bewusstseinserweiterung.
Vielleicht glauben Sie, es müsse einen Gott oder auch Göt-
ter geben, weil Anthropologen und Historiker berichten, dass
Gläubige in allen Kulturkreisen eine beherrschende Stellung
einnehmen. Wenn Sie dieses Argument überzeugend finden,
lesen Sie bitte das fünfte Kapitel über »Die Wurzeln der Reli-
gion«; es erklärt, warum Religionen so allgegenwärtig sind.
Oder glauben Sie, Religion sei notwendig, damit wir unsere
moralischen Grundsätze rechtfertigen können? Brauchen wir
denn nicht einen Gott, um gute Menschen zu sein? In den Ka-
piteln 6 und 7 erfahren Sie, warum das nicht der Fall ist. Haben
13
Sie immer noch eine Schwäche für die Religion und halten sie
für etwas Gutes, obwohl Sie selbst den Glauben verloren ha-
ben? Dann lädt Sie das achte Kapitel ein, darüber nachzuden-
ken, in welcher Beziehung Religion für die Welt alles andere als
gut ist.
Sollten Sie sich in der Religion gefangen fühlen, mit der Sie
groß geworden sind, dann lohnt es sich vielleicht zu fragen, wie
es dazu kam. Die Antwort ist meist eine Form kindlicher In-
doktrination. Wenn Sie religiös sind, besteht eine überwälti-
gend große Wahrscheinlichkeit, dass es sich um die Religion Ih-
rer Eltern handelt. Wenn Sie in Arkansas geboren wurden und
das Christentum für richtig, den Islam aber für falsch halten,
während Sie gleichzeitig ganz genau wissen, dass ein gebürtiger
Afghane genau umgekehrt denken würde, sind Sie das Opfer
der Indoktrination im Kindesalter. Gleiches gilt natürlich auch,
wenn Sie in Afghanistan geboren wurden.
Mit dem Thema »Religion und Kindheit« beschäftigt sich
mein neuntes Kapitel, das auch den dritten Punkt zur Bewusst-
seinserweiterung enthält. Genau wie Feministinnen aufheulen,
wenn sie »er« statt »er oder sie« und »Wähler« statt »Wähler und
Wählerinnen« hören, so sollte eigentlich auch jeder zusam-
menzucken, wenn von einem »katholischen Kind« oder einem
»muslimischen Kind« die Rede ist. Meinetwegen können Sie
von einem »Kind katholischer Eltern« sprechen; aber wenn Sie
hören, dass jemand »ein katholisches Kind« sagt, sollten Sie wi-
dersprechen und höflich darauf hinweisen, dass ein Kind zu
jung ist, um zu wissen, wo es in solchen Fragen steht, genau wie
es zu Wirtschaft und Politik noch keine festen Standpunkte
haben kann. Gerade weil es mein Ziel ist, das Bewusstsein zu
schärfen, entschuldige ich mich nicht dafür, dass ich dieses
Thema hier im Vorwort und dann noch einmal im neunten Ka-
pitel anspreche. Man kann es nicht oft genug sagen, und ich
sage es immer wieder: Das ist kein muslimisches Kind, sondern
das Kind muslimischer Eltern. Dieses Kind ist zu jung, um
14
selbst zu wissen, ob es Muslim ist oder nicht. So etwas wie ein
muslimisches Kind gibt es nicht. Und so etwas wie ein christ-
liches Kind auch nicht.
In den Kapiteln 1 und 10, am Anfang und Ende meines Bu-
ches, erkläre ich auf unterschiedliche Weise, wie ein richtiges
Verständnis für die großartige reale Welt, das aber nie zu einer
Religion werden wird, für unsere Inspiration die Rolle spielen
kann, die historisch —und völlig unzureichend - von der Reli-
gion mit Beschlag belegt wurde.
Mein vierter Punkt für die Bewusstseinserweiterung ist der
atheistische Stolz. Atheist zu sein ist nichts, wofür man sich
entschuldigen müsste. Im Gegenteil: Man kann stolz darauf
sein und hocherhobenen Hauptes bis zum Horizont blicken,
denn Atheismus ist fast immer ein Zeichen für eine gesunde
geistige Unabhängigkeit und sogar für einen gesunden Geist.
Viele Menschen wissen in ihrem tiefsten Inneren, dass sie
Atheisten sind, aber sie wagen nicht, es ihren Angehörigen oder
in manchen Fällen sogar sich selbst einzugestehen. Teilweise
liegt das daran, dass das Wort »Atheist« auf heimtückische
Weise zu einem entsetzlichen, beängstigenden Etikett aufge-
baut wurde. In Kapitel 9 zitiere ich die Komikerin Julia Sweeney
mit ihrer tragikomischen Geschichte, in der ihre Eltern aus der
Zeitung erfahren, dass die Tochter zur Atheistin geworden ist.
Dass sie nicht an Gott glaubt, das können sie gerade noch ertra-
gen, aber eine Atheistin? Eine ATHEISTIN? (Die Stimme der
Mutter steigert sich zum Kreischen.)
An dieser Stelle muss ich vor allem den amerikanischen Le-
sern etwas sagen, denn die heutige Religiosität in den Vereinig-
ten Staaten ist wirklich bemerkenswert. Die Anwältin Wendy
Kaminer übertrieb nur geringfügig, als sie bemerkte, sich über
Religion lustig zu machen sei ebenso gefährlich wie das Ver-
brennen einer Fahne in der American Legion Hall.! Atheisten
nehmen heute in Amerika die gleiche Stellung ein wie vor fünf-
zig Jahren die Homosexuellen. Heute, nach der Schwulenbe-
15
wegung, ist es für einen Homosexuellen zwar immer noch
nicht einfach, aber immerhin möglich, in ein öffentliches Amt
gewählt zu werden. Das Gallup-Institut befragte 1999 die US-
Bürger, ob sie eine ansonsten gut qualifizierte Person wählen
würden, wenn es sich um eine Frau (96 Prozent ja), einen Katho-
liken (94 Prozent), einen Juden (92 Prozent), einen Schwarzen
(92 Prozent), einen Mormonen (79 Prozent), einen Homose-
xuellen (79 Prozent) oder einen Atheisten (49 Prozent) han-
dele. Wir haben ganz offensichtlich noch einen langen Weg
vor uns. Aber Atheisten sind insbesondere in der Bildungselite
viel zahlreicher, als vielen Menschen klar ist. Das war schon im
19. Jahrhundert so, als John Stuart Mill sagen konnte: »Die
Welt wäre erstaunt, wenn sie wüsste, welch großer Anteil ihrer
hellsten Zierde, derer, die selbst nach der volkstümlichen Ein-
schätzung von Weisheit und Tugend am angesehensten sind,
der Religion ganz und gar skeptisch gegenüberstehen.«
Das gilt heute sicher in noch stärkerem Maße, und im drit-
ten Kapitel nenne ich dafür Belege. Dass so viele Menschen die
Atheisten nicht bemerken, liegt daran, dass viele von uns sich
nicht »outen«. Es ist mein Traum, dass dieses Buch den Men-
schen bei ihrem »Coming outc«hilft. Hier gilt genau das Gleiche
wie in der Homosexuellenbewegung: Je mehr Menschen sich
zu ihrer Überzeugung bekennen, desto einfacher wird es für
andere, sich ihnen anzuschließen. Irgendwann dürfte eine kriti-
sche Masse für den Beginn einer Kettenreaktion erreicht sein.
In den USA lassen Meinungsumfragen darauf schließen, dass
Atheisten und Agnostiker weitaus zahlreicher sind als prakti-
zierende Juden; ihre Zahl ist sogar größer als die der Anhänger
der meisten anderen religiösen Einzelgruppen. Aber im Ge-
gensatz zu den Juden, die bekanntermaßen in den USA eine der
effizientesten politischen Interessengruppen darstellen, und zu
den evangelikalen Christen, die eine noch größere politische
Macht haben, sind Atheisten und Agnostiker nicht organisiert,
und deshalb haben sie so gut wie keinen Einfluss. Atheisten zu
16
organisieren wurde häufig mit dem Hüten eines Sacks Flöhe
verglichen, weil sie in der Regel selbstständig denken und sich
keiner Autorität unterordnen. Aber es wäre ein Schritt in die
richtige Richtung, wenn sich eine kritische Masse derer bilden
würde, die sich outen und damit auch andere ermutigen, das
Gleiche zu tun. Auch wenn man Flöhe nicht hüten kann, ma-
chen sie sich in ausreichender Zahl doch so bemerkbar, dass
man sie nicht mehr ignorieren kann.
Das Wort »Wahn« (delusion, Irrglaube) im Titel meines Bu-
ches hat manchen Psychiatern Sorge bereitet: Sie sehen darin
einen Fachbegriff, mit dem man kein Schindluder treiben
sollte. Drei von ihnen schlugen mir in ihren Zuschriften einen
besonderen Begriff für religiöse Wahnvorstellungen vor: »relu-
sion«.” Vielleicht setzt sich das Wort ja durch. Vorerst werde
ich bei »Wahn« bleiben, muss meinen Begriffsgebrauch aller-
dings rechtfertigen. Das Penguin English Dictionary definiert
»delusion« als »falschen Glauben oder Eindruck«. Das Zitat, das
in dem Wörterbuch zur Erläuterung angeführt wird, stammt
erstaunlicherweise von Phillip E. Johnson: »Der Darwinismus
ist die Geschichte, wie die Menschheit von dem Irrglauben be-
freit wurde, ihr Schicksal werde nicht von ihr selbst, sondern
von einer höheren Macht bestimmt.« Kann das derselbe Phillip
E. Johnson sein, der heute in Amerika an der Spitze der krea-
tionistischen Bewegung gegen den Darwinismus steht? Er ist es
tatsächlich, und wie man vielleicht schon vermuten kann, ist
das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen. Ich hoffe, man
wird es mir zugute halten, dass ich darauf hingewiesen habe -
den gleichen Gefallen hat man mir in zahlreichen kreationisti-
schen Werken allerdings nicht getan. Dort werden Zitate aus
meinen Büchern absichtlich und irreführend aus dem Zusam-
menhang gerissen. Was immer Johnson selbst gemeint haben
mag, seinen Satz, für sich genommen, würde ich mit Vergnü-
‘gen unterschreiben. Das mit Microsoft Word gelieferte Lexi-
kon definiert delusion als »dauerhafte falsche Vorstellung, die
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trotz starker entgegengesetzter Belege aufrechterhalten wird,
insbesondere als Symptom einer psychiatrischen Erkrankung«.
Der erste Teil dieser Definition ist eine perfekte Beschreibung
des religiösen Glaubens. Und was die Frage angeht, ob es sich
um das Symptom einer psychiatrischen Erkrankung handelt, so
halte ich es mit Robert M. Pirsig, dem Autor des Buches Zen
and the Art of Motorcycle Maintenance (Zen und die Kunst, ein
Motorrad zu warten): »Leidet ein Mensch an einer Wahnvor-
stellung, so nennt man es Geisteskrankheit. Leiden viele Men-
schen an einer Wahnvorstellung, dann nennt man es Religion.«
Wenn dieses Buch die von mir beabsichtigte Wirkung hat,
werden Leser, die es als religiöse Menschen zur Hand genom-
men haben, es alsAtheisten wieder zuschlagen. Welch voreiliger
Optimismus! Eingefleischte Gläubige sind natürlich keinem Ar-
gument zugänglich; ihr Widerstand wurde in jahrelanger kindli-
cher Indoktrination aufgebaut, und die Methoden, mit denen
das geschehen ist, sind (ob durch Evolution oder gezielte Ge-
staltung) in Jahrhunderten gereift. Zu den besonders wirksa-
men immunologischen Hilfsmitteln gehört dabei die düstere
Warnung, man solle ein Buch wie dieses überhaupt nicht auf-
schlagen, denn es sei mit Sicherheit ein Werk des Teufels. Nach
meiner Überzeugung gibt es jedoch viele aufgeschlossene Men-
schen, die in ihrer Kindheit nicht allzu heimtückisch indok-
triniert wurden, die die Indoktrination aus anderen Gründen
nicht vaufgenommen« haben oder deren angeborene Intelligenz
stark genug war, um sich darüber hinwegzusetzen. Solche freien
Geister brauchen vielleicht nur ein wenig Ermutigung, um sich
ganz vom Laster der Religion zu befreien. Zumindest hoffe ich,
dass nach der Lektüre dieses Buches niemand mehr sagen kann:
»Ich wusste nicht, dass ich das gedurft hätte.«
Vielen Freunden und Kollegen bin ich für Hilfe bei der Abfas-
sung dieses Buches zu Dank verpflichtet. Ich kann sie nicht alle
erwähnen, aber neben vielen anderen sind mein Literaturagent
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John Brockman sowie meine Lektoren Sally Gaminara bei
Transworld und Eamon Dolan bei Houghton Mifflin zu nen-
nen. Beide Lektoren haben das Buch mit Einfühlungsvermö-
gen und intelligentem Verständnis gelesen und mir mit einer
Mischung aus Kritik und Ratschlägen sehr geholfen. Dass sie
aus ganzem Herzen begeistert an dieses Buch glaubten, hat
mir viel Mut gemacht. Gillian Somerscales war eine beispiel-
hafte Korrektorin; ihre Vorschläge waren so konstruktiv wie
ihre Korrekturen genau. Andere, die verschiedene Entwürfe
lasen und denen ich sehr dankbar bin, waren Jerry Coyne,
J. Anderson Thomson, R. Elisabeth Cornwell, Ursula Good-
enough, Latha Menon und insbesondere Karen Owens, eine
außergewöhnliche Kritikerin, die mit dem Hin und Her der
verschiedenen Entwürfe fast ebenso gut vertraut war wie ich
selbst.
Viel verdankt das Buch der zweiteiligen Fernsehdokumenta-
tion Root ofAll Evil?, die ich im Januar 2006 auf Channel Four
des britischen Fernsehens moderierte (und umgekehrt die
Fernsehsendung dem Buch). Ich danke allen, die an der Pro-
duktion mitgearbeitet haben, darunter Deborah Kidd, Russell
Barnes, Tim Cragg, Adam Prescod, Alan Clements und Hamish
Mykura. Für die Genehmigung, Zitate aus den Sendungen zu
verwenden, danke ich IWC Media und Channel Four. Root of
All Evil? erzielte in Großbritannien ausgezeichnete Einschalt-
quoten und wurde auch von der Australian Broadcasting Cor-
poration übernommen. Ob irgendein US-Fernsehsender es
wagt, sie auszustrahlen, bleibt abzuwarten. *
In meinem Kopf hat sich dieses Buch schon seit mehreren
Jahren entwickelt. Manche Gedanken haben während dieser
Zeit zwangsläufig ihren Weg in Vorträge gefunden, beispiels-
weise in meine Tanner Lectures an der Harvard University, aber
* Zum Zeitpunkt der Drucklegung ist dies noch nicht geschehen. Eine DVD ist jedoch
über www.richarddawkins.net/store zu beziehen.
29
auch in Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Insbesondere den
Lesern meiner regelmäßigen Kolumne in Free Inquiry werden
manche Passagen bekannt vorkommen. Ich danke Tom Flynn,
dem Redakteur dieser bewundernswerten Zeitschrift, dass er
mir so viel Anregung gab, indem er mich mit dem Schreiben
der regelmäßigen Kolumne beauftragte. Nach einer Pause kurz
vor Fertigstellung des Buches werde ich die Kolumne hoffent-
lich bald fortsetzen können, und ich werde sie zweifellos nut-
zen, um auf die Nachwirkungen des Buches zu reagieren.
Aus den verschiedensten Gründen zu Dank verpflichtet bin
ich Dan Dennett, Marc Hauser, Michael Stirrat, Sam Harris,
Helen Fisher, Margaret Downey, Ibn Warraq, Hermione Lee,
Julia Sweeney, Dan Barker, Josephine Welsh, Ian Baird und ins-
besondere George Scales. Heutzutage ist ein Buch wie die-
ses nicht vollständig, wenn es nicht zum Aufhänger für eine
lebendige Website wird, ein Forum für ergänzendes Material,
Reaktionen, Diskussionen, Fragen und Antworten —und wer
weiß, was die Zukunft noch bringt? Ich hoffe, dass www.
richarddawkins.net/, die Website der Richard Dawkins Foun-
dation for Reason and Science, diese Aufgabe übernehmen
wird, und ich bin sehr dankbar, dass Josh Timonen so viel
künstlerisches Talent, Professionalität und harte Arbeit hinein-
gesteckt hat.
Vor allem aber danke ich meiner Frau Lalla Ward, die mir bei
allen Zögerlichkeiten und Selbstzweifeln nicht nur mit morali-
scher Unterstützung und geistreichen Verbesserungsvorschlä-
gen zur Seite gestanden hat, sondern mir auch das ganze Buch
in zwei Entwicklungsstadien laut vorlas, sodass ich aus erster
Hand beurteilen konnte, welchen Eindruck es auf einen Leser
macht. Diese Methode empfehle ich auch anderen Autoren,
aber ich muss sie warnen: Damit etwas Gutes dabei heraus-
kommt, muss der Vorleser ein professioneller Schauspieler
sein, der mit Stimme und Ohr sensibel auf die Musik der Spra-
che eingestellt ist.
20
Ein tief religiöser Ungläubiger
Ich versuche nicht, mir einen persönlichen Gott vorzustellen;
es reicht aus, wenn man voller Staunen vor dem Aufbau der Welt steht,
so weit sie unseren unzureichenden Sinnen gestattet, sie einzuschätzen.
Albert Einstein
Verdienter Respekt
Der Junge lag auf dem Bauch im Gras, das Kinn auf die Hände
gestützt. Plötzlich überwältigte ihn eine eindringliche Wahr-
nehmung: verworrene Halme und Wurzeln, ein Wald im Klein-
format, eine Wunderwelt der Ameisen und Käfer, ja sogar - auch
wenn er die Einzelheiten zu jener Zeit nicht kannte - der Mil-
liarden Bodenbakterien, die lautlos und unsichtbar die Ökono-
mie dieses Mikrokosmos in Gang hielten. Der Miniaturwald
der Wiese schien anzuschwellen, eins zu werden mit dem Uni-
versum und dem verzückten Geist des Jungen, der darüber
nachdachte. Er deutete sein Erlebnis unter religiösen Gesichts-
punkten, und das führte ihn schließlich zum Priesterberuf. Als
anglikanischer Geistlicher ordiniert, wurde er als Kaplan an
meiner Schule zu einem Lehrer, den ich mochte. Anständigen,
liberalen Geistlichen wie ihm ist es zu verdanken, dass nie-
mand jemals behaupten konnte, mir sei die Religion mit Ge-
walt eingetrichtert worden.*
* Im Unterricht machten wir uns einen Sport daraus, ihn von der Heiligen Schrift ab-
zulenken und ihn zum Erzählen spannender Geschichten über das Fighter Command
21
Zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort
hätte auch ich dieser Junge sein können; ich hätte unter dem
Sternenhimmel gestanden, berauscht von Orion, Cassiopeia
und Großem Wagen, die Augen voller Tränen über die unhör-
bare Musik der Milchstraße, den Kopf schwer von den nächtli-
chen Düften der Frangipani- und Trompetenblumen in einem
afrikanischen Garten. Warum die gleichen Empfindungen mei-
nen Kaplan in die eine Richtung führten und mich in die ande-
re —diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Eine geradezu
mystische Reaktion auf Natur und Universum ist unter Natur-
wissenschaftlern und Rationalisten weit verbreitet. Sie hat nichts
mit einem Glauben an Übernatürliches zu tun. Zumindest als
Junge wusste mein Kaplan wahrscheinlich (genau wie ich)
nichts von den letzten Zeilen in Darwins On the Origin of Spe-
cies by Means of Natural Selection (Über die Entstehung der Arten
durch natürliche Zuchtwahl), von jener berühmten Passage über
die »bewachsene Uferstrecke«, »mit singenden Vögeln in den
Büschen, mit schwärmenden Insekten in der Luft, mit krie-
chenden Würmern im feuchten Boden«. Wäre sie ihm bekannt
gewesen, er hätte sich diese Passage sicher zu eigen gemacht
und wäre dann vielleicht nicht zum Priesterberuf gelangt, son-
dern zu Darwins Standpunkt, dass alles »durch Gesetze hervor-
gebracht wird, welche fort und fort um uns wirken«:
So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod un-
mittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir
der Luftwaffe und »Die Wenigen« zu veranlassen. Er war im Krieg bei der Royal Air
Force gewesen, und so spürte ich später eine gewisse Vertrautheit und ein wenig von
der Zuneigung, die ich bis heute für die Church of England hege (jedenfalls im Ver-
gleich zur Konkurrenz), als ich folgendes Gedicht von John Betjeman las:
Unser Pater ist ein alter Flieger,
Die Flügel hat man ihm jetzt schwer gestutzt,
Jedoch der Fahnenmast im Pfarrersgarten
Wird heute noch zu Höherem benutzt.
22
zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und voll-
kommenerer Tiere. Es ist wahrlich eine großartige Ansicht,
dass der Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen
oder einer einzigen Form eingehaucht wurde und dass,
während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwer-
kraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem
Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wunder-
vollsten Formen entwickelt hat und immer noch entwickelt.
Wie kommt es, dass kaum eine der großen Weltreligionen je-
mals die wissenschaftlichen Erkenntnisse betrachtete und
dann daraus folgerte: »Das ist besser, als wir dachten! Das
Universum ist viel größer, als unsere Propheten sagten, viel
gewaltiger, subtiler und eleganter. Gott muss größer sein, als
wir uns träumen ließen«? Stattdessen sagen sie: »Nein, nein,
nein! Mein Gott ist ein kleiner Gott, und ich will, dass er
klein bleibt.« Eine Religion, die die Größe des Universums
im Sinne der modernen Wissenschaft betont, könnte wahr-
scheinlich auf wesentlich mehr Ehrfurcht und Ehrerbietung
hoffen als die herkömmlichen Glaubensrichtungen.°
23
die gleiche Ansicht ausgezeichnet in seinem Buch Dreams of a
Final Theory (Der Traum von der Einheit des Universums):
24
scheen und Tempel, und viele Passagen in ihrem Buch schreien
geradezu danach, aus dem Zusammenhang gerissen und als
Rechtfertigung für eine übernatürliche Religion verwendet zu
werden. Sie geht sogar so weit, sich als »religiöse Naturalistin«
zu bezeichnen. Liest man ihr Buch aber genau, so stellt man
fest, dass sie eine ebenso überzeugte Atheistin ist wie ich.
»Naturalist« ist ein zweideutiges Wort. Ich muss dabei an den
Helden meiner Kindheit denken, Hugh Loftings Dr. Dolittle
(der übrigens mehr als nur einen Hauch von dem »philosophi-
schen« Naturforscher auf der HMS Beagle an sich hatte). Im
18. und 19. Jahrhundert verstand man unter einem Naturalis-
ten einen Naturforscher. Bei diesen Naturalisten handelte es
sich seit der Zeit von Gilbert White häufig um Geistliche. Dar-
win selbst war als junger Mann für das geistliche Amt vorgese-
hen - er hoffte, das gemütliche Leben als Landpfarrer würde
ihm genügend Zeit lassen, um seiner Leidenschaft für Käfer
nachzugehen. In der Philosophie dagegen bedeutet »Natura-
list« etwas ganz anderes: Es ist das Gegenteil von »Supernatu-
ralist«. Julian Baggini erklärt in seinem Buch Atheism: A Very
Short Introduction (»Atheismus - eine ganz kurze Einleitung«),
was es bedeutet, wenn ein Atheist sich den Naturalismus zu
eigen macht: »Die meisten Atheisten sind zwar überzeugt, dass
es im Universum nur einen Stoff gibt und dass er physikali-
scher Natur ist, aber gleichzeitig glauben sie, dass aus diesem
Stoff auch Geist, Schönheit, Gefühle und moralische Werte
hervorgehen - kurz gesagt, das ganze Spektrum der Phänomene,
die das Leben der Menschen bereichern.«
Gedanken und Gefühle der Menschen erwachsen aus den
äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im
Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem
Sinn vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der natür-
lichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative
Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Universum lauert,
keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer
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in dem Sinn, dass es Naturphänomene gibt, die wir noch nicht
verstehen. Wenn etwas außerhalb der natürlichen Welt zu liegen
scheint, die wir nur unvollkommen begreifen, so hoffen wir da-
rauf, es eines Tages zu verstehen und in den Bereich des Natür-
lichen einzuschließen. Und wie immer, wenn wir einen Regen-
bogen entzaubern, wird er dadurch nicht weniger staunenswert.
Wenn große Naturwissenschaftler unserer Zeit religiös zu
sein scheinen, so stellt sich bei näherer Betrachtung ihrer Über-
zeugungen in der Regel heraus, dass sie es nicht sind. Für Ein-
stein und Hawking gilt das mit Sicherheit. Martin Rees, der
derzeitige Königliche Astronom und Präsident der Royal So-
ciety, sagte mir einmal, er gehe als »ungläubiger Anglikaner zur
Kirche ... aus Loyalität zum ganzen Stamm«. Er hat keine theis-
tischen Überzeugungen, teilt aber mit den anderen erwähnten
Wissenschaftlern den poetischen, vom Kosmos inspirierten
Naturalismus. In einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung
forderte ich meinen Freund, den Frauenarzt Robert Winston,
ein angesehenes Mitglied der britischen jüdischen Gemeinde,
heraus: Er sollte zugeben, dass sein Judentum genau diesen
Charakter hat und dass er in Wirklichkeit nicht an Übernatür-
liches glaubt. Um ein Haar hätte er dies zugestanden, doch
dann scheute er vor der letzten Konsequenz zurück. (Um ehr-
lich zu sein: Eigentlich sollte er mich interviewen und nicht ich
ihn.) Als ich ihn in die Enge trieb, sagte er, nach seiner Erfah-
rung sei das Judentum eine gute Quelle für die Disziplin, mit
der er ein strukturiertes, gutes Leben führen könne. Womöglich
stimmt das, aber es hat natürlich nicht das Geringste mit dem
Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen über Übernatürliches
zu tun. Viele intellektuelle Atheisten bezeichnen sich stolz als
Juden und befolgen jüdische Riten; vielleicht tun sie es aus
Loyalität gegenüber alten Traditionen oder ermordeten An-
gehörigen, vielleicht aber auch aus einer verworrenen und ver-
wirrenden Bereitschaft heraus, die pantheistische Verehrung,
die viele von uns mit Einstein als ihrem bekanntesten Vertreter
26
teilen, als »Religion« zu bezeichnen. Sie mögen nicht gläubig
sein, aber sie »glauben an den Glauben«, um eine Formulierung
des Philosophen Daniel Dennett zu übernehmen .®
Zu den am häufigsten zitierten Bemerkungen von Einstein
gehört der Satz: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion
ohne Wissenschaft ist blind.« Aber Einstein sagte auch:
Ich bin ein tief religiöser Ungläubiger. Das ist eine irgendwie
neue Art von Religion.
Ich habe der Natur nie einen Zweck oder ein Ziel unterstellt,
oder irgendetwas anderes, das man als anthropomorph be-
zeichnen könnte. Was ich in der Natur sehe, ist eine großar-
tige Struktur, die wir nur sehr unvollkommen zu erfassen
vermögen und die einen denkenden Menschen mit einem
27
Gefühl der Demut erfüllen muss. Dies ist ein echt religiöses
Gefühl, das mit Mystizismus nichts zu tun hat.
28
wohl er als auch der Bischof glaubten jedoch, Einstein habe
mangels einer theologischen Ausbildung das Wesen Gottes
nicht verstanden. Das Gegenteil ist richtig: Einstein wusste
ganz genau, was er leugnete.
Ein amerikanischer römisch-katholischer Anwalt, der für die
ökumenische Koalition arbeitete, schrieb an Einstein:
29
etwas von diesen spirituellen Anfechtungen erzählt, und zwar
aus zwei Gründen: Erstens fürchtete ich, ich könne allein
durch meine Andeutungen das Leben und die Hoffnungen
eines Mitmenschen gefährden und schädigen, und zweitens
bin ich der gleichen Meinung wie der Autor, der sagte: »Es ist
ein niederträchtiger Zug in jedem, der den Glauben eines
anderen zerstört.«[...] Ich hoffe, Dr. Einstein, dass Sie falsch
zitiert wurden und dass Sie der riesigen Anzahl amerikani-
scher Menschen, die Ihnen mit Vergnügen die Ehre erwei-
sen, etwas Angenehmeres zu sagen haben.
Was für ein entsetzlich entlarvender Brief! Jeder Satz trieft von
intellektueller und moralischer Feigheit. Weniger kriecherisch,
dafür aber noch erschreckender war der folgende Brief, ge-
schrieben vom Gründer der Calvary Tabernacle Association in
Oklahoma:
30
In einem Punkt haben alle diese theistischen Kritiker recht:
Einstein war nicht einer der Ihren. Er reagierte mehrmals
sehr ungehalten auf die Vermutung, er sei ein Theist. Aber
was war er dann? Ein Deist wie Voltaire oder Diderot? Oder
ein Pantheist wie Spinoza, dessen Philosophie er bewunderte?
»Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen
Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der
sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen
abgibt.«
Führen wir uns noch einmal die Terminologie vor Augen.
Ein Theist glaubt an eine übernatürliche Intelligenz, die das
Universum erschaffen hat und die immer noch gegenwärtig ist,
um das weitere Schicksal ihrer ursprünglichen Schöpfung zu
beaufsichtigen und zu beeinflussen. In vielen theistischen Glau-
benssystemen ist dieser Gott eng in die Angelegenheiten der
Menschen eingebunden. Er erhört Gebete, vergibt oder be-
straft Sünden, greift durch das Vollbringen von Wundern in die
Welt ein, zürnt über gute oder schlechte Taten und weiß, wann
wir sie begehen (oder auch nur daran denken, sie zu begehen).
Ein Deist glaubt ebenfalls an eine übernatürliche Intelligenz,
aber deren Tätigkeit beschränkt sich darauf, die Gesetze aufzu-
stellen, denen das Universum unterliegt. Der deistische Gott
greift später nie mehr ein und interessiert sich sicher nicht ge-
zielt für die Angelegenheiten der Menschen. Pantheisten schließ-
lich glauben überhaupt nicht an einen übernatürlichen Gott,
sondern benutzen das Wort »Gott« als Synonym für die Natur,
für das Universum oder für die Gesetzmäßigkeiten, nach de-
nen es funktioniert.
Deisten unterscheiden sich von Theisten darin, dass der
Gott der Deisten keine Gebete erhört, sich nicht für Sünden
oder Beichte interessiert, unsere Gedanken nicht liest und uns
nicht mit launischen Wundern in die Quere kommt. Im Ge-
gensatz zu den Pantheisten halten die Deisten Gott dennoch
für eine Art kosmische Intelligenz, während er für die Pantheis-
31
ten ein metaphorisches oder poetisches Synonym für die Ge-
setze des Universums darstellt. Pantheismus ist aufgepeppter
Atheismus, Deismus ist verwässerter Theismus.
Man kann mit Fug und Recht davon ausgehen, dass be-
rühmte Einstein-Zitate wie »Gott ist raffiniert, aber boshaft ist
er nicht«, »Gott würfelt nicht« oder »Hatte Gott eine Wahl, als
er das Universum erschuf?« pantheistisch sind, aber nicht deis-
tisch und mit Sicherheit nicht theistisch. »Gott würfelt nicht«
kann man übersetzen mit »Der Zufall ist nicht der Kern aller
Dinge«. »Hatte Gott eine Wahl, als er das Universum erschuf?«
bedeutet: »Hätte das Universum auch auf andere Weise begin-
nen können?« Einstein benutzte den Begriff »Gott« in einem
rein metaphorischen, poetischen Sinn. Das Gleiche gilt für Ste-
phen Hawking und die meisten anderen Physiker, die gelegent-
lich in die Sprache religiöser Metaphern verfallen. Paul Davies
liegt mit seinem Buch The Mind of God (Der Plan Gottes) ir-
gendwo zwischen dem Einstein’schen Pantheismus und einer
seltsamen Form von Deismus - und wurde dafür mit dem Temp-
leton-Preis ausgezeichnet (einem sehr großen Geldbetrag, der
alljährlich von der Templeton Foundation vergeben wird, meis-
tens an einen Naturwissenschaftler, der bereit ist, etwas Nettes
über die Religion zu sagen).
Was Einstein’sche Religion ist, möchte ich mit einem weite-
ren Zitat von Einstein selbst zusammenfassen:
In diesem Sinne bin auch ich religiös, allerdings mit der Ein-
schränkung, dass »unserer Vernunft nicht zugänglich« nicht be-
32
deutet: »für immer und ewig unzugänglich«. Indes, ich nenne
mich lieber nicht »religiös«, weil diese Bezeichnung missver-
ständlich ist - auf verhängnisvolle Weise missverständlich, weil
für die allermeisten Menschen »Religion« das »Übernatürliche«
impliziert. Sehr schön hat es auch Carl Sagan formuliert:
»Wenn man mit »Gott« die Gesamtheit der physikalischen Ge-
setze meint, die das Universum beherrschen, dann gibt es
natürlich einen Gott. Doch dieser Gott ist emotional unbefrie-
digend. [...] Es hat nicht viel Sinn, zum Gravitationsgesetz zu
beten.«
Amüsant ist dabei, dass Sagans letzte Aussage schon von Re-
verend Dr. Fulton J. Sheen vorweggenommen wurde, einem
Professor an der Catholic University of America, der sie 1940
im Rahmen eines wütenden Angriffs auf Einsteins Ablehnung
eines persönlichen Gottes vorbrachte. Sheen fragte sarkastisch,
ob irgendjemand bereit wäre, sein Leben für die Milchstraße zu
opfern. Offenbar glaubte er, dies sei ein Argument nicht für,
sondern gegen Einstein, denn er fügte hinzu: »Seine kosmische
Religion hat nur einen Fehler: Er hat dem Wort einen Buchsta-
ben zu viel gegeben - den Buchstaben »s«.«In Wirklichkeit sind
Einsteins Überzeugungen alles andere als komisch. Dennoch
würde ich mir wünschen, dass die Physiker das Wort »Gott«
nicht mehr in ihrem speziellen metaphorischen Sinn verwende-
ten. Der metaphorische oder pantheistische Gott der Physiker
ist Lichtjahre entfernt von dem eingreifenden, wundertätigen,
Gedanken lesenden, Sünden bestrafenden, Gebete erhörenden
Gott der Priester, Mullahs, Rabbiner und der Umgangssprache.
Beide absichtlich durcheinanderzubringen ist in meinen Augen
intellektueller Hochverrat.
33
Unverdienter Respekt
Mein Titel, Der Gotteswahn, bezieht sich nicht auf den Gott
Einsteins und der anderen aufgeklärten Naturwissenschaftler
aus dem vorigen Abschnitt. Deshalb musste die Einstein’sche
Religion gleich zu Beginn aus dem Weg geräumt werden, ent-
hält sie doch erwiesenermaßen beträchtliches Verwirrungspo-
tenzial. Von jetzt an ist in diesem Buch nur noch von über-
natürlichen Göttern die Rede. Am vertrautesten unter diesen
Göttern ist meinen Lesern wahrscheinlich Jahwe, der Gott des
Alten Testaments. Auf ihn werde ich in Kürze zurückkommen.
Doch zuvor muss ich mich noch mit einer weiteren Frage aus-
einandersetzen, die sonst das ganze Buch überschatten würde:
den guten Manieren.
Durch das, was ich zu sagen habe, werden religiös orientierte
Leser sich möglicherweise beleidigt fühlen, und auf den nach-
folgenden Seiten zu wenig Respekt vor ihrem ganz persönli-
chen Glauben entdecken (vielleicht auch vor dem Glauben,
den andere hegen). Es wäre bedauerlich, wenn sie wegen einer
solchen Beleidigung nicht weiterlesen würden, und deshalb
möchte ich hier von Anfang an etwas klarstellen.
Nach einer verbreiteten Vorstellung, die in unserer Gesell-
schaft nahezu unter allen - auch den nicht religiösen - Menschen
anerkannt wird, ist religiöser Glaube gegenüber Beleidigun-
gen besonders empfindlich, weshalb man ihn mit einer beson-
ders dicken Mauer des Respekts schützen sollte. Dieser Respekt
gehört demnach in eine ganz andere Liga als der Respekt, den
jeder Mensch jedem anderen entgegenbringen sollte. Das hat
Douglas Adams in einer Stegreifrede in Cambridge kurz vor
seinem Tod so gut formuliert, dass ich seine Worte gar nicht oft
genug wiederholen kann:
34
heißt das Folgendes: »Wir haben hier eine Idee oder Vorstel-
lung, über die man nichts Abträgliches äußern darf; das darf
man einfach nicht. Warum nicht? Darum!« Wenn jemand
eine Partei wählt, mit der man nicht einverstanden ist, darf
man so viel darüber streiten, wie man will; jeder wird ein Ar-
gument für oder wider haben, aber keiner ist deswegen ge-
kränkt. Wenn jemand meint, die Steuern sollten erhöht oder
gesenkt werden, dann steht es jedem frei, sich darüber zu
streiten; wenn aber andererseits jemand sagt: »Ich darf am
Samstag kein Licht anknipsen«, dann sagt man: »Gut, ich re-
spektiere das.« |...]
Warum sollte es ganz legitim sein, die Labour Party oder die
Konservativen, die Republikaner oder die Demokraten, dieses
Wirtschaftsmodell, aber nicht jenes zu unterstützen, Macin-
tosh anstelle von Windows —aber man darf keine Meinung
darüber haben, wie das Universum entstanden ist und wer es
erschaffen hat, weil das heilig ist? Was heißt das denn?[...]
Wir sind es also gewöhnt, religiöse Ideen nicht anzugreifen,
aber es ist sehr interessant, was für einen Aufstand Richard
Dawkins entfacht, wenn er es doch tut! Alle werden furcht-
bar aufgeregt, weil man so etwas nicht sagen darf. Rational
betrachtet, gibt es keinen Grund, warum diese Dinge nicht
genauso offen diskutiert werden sollten wie alle anderen, es
sei denn, wir hätten irgendwie untereinander vereinbart, es
nicht zu tun.’
95
werden. Wenn man dagegen erklärt, ein Elternteil oder beide
seien Quäker, bekommt man kaum noch Gegenwind, ganz
gleich, wie schlecht man argumentieren kann und wie wenig
man über die Theorie des Pazifismus oder sogar über das
Quäkertum weiß.
Steht am einen Ende des Spektrums der Pazifismus, so finden
wir am anderen einen kleinmütigen Widerwillen dagegen,
Kriegsparteien mit religiösen Namen zu benennen. In Nordir-
land werden die Katholiken beschönigend zu »Nationalisten«
und die Protestanten zu »Loyalisten«.Selbst das Wort »Religio-
nen« wird zu »Gemeinschaften« entschärft. Der Irak versank als
Folge der amerikanisch-britischen Invasion 2003 in einem sek-
tiererischen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten. Es ist
eindeutig ein religiöser Konflikt, aber der Independent sprach am
20. Mai 2006 sowohl in der Titelschlagzeile als auch im ersten
Leitartikel von »ethnischer Säuberung«. »Ethnisch« ist in diesem
Zusammenhang ein Euphemismus. Was wir im Irak erleben, ist
eine religiöse Säuberung. Sogar die ursprüngliche Verwendung
des Begriffs im früheren Jugoslawien ist nachweislich eine Be-
schönigung der religiösen Säuberung unter Beteiligung orthodo-
xer Serben, katholischer Kroaten und muslimischer Bosnier.®
Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, welche
Vorrechte die Religion bei Medien und staatlichen Institutio-
nen in öffentlichen Diskussionen über Ethik genießt.” Jedes
Mal, wenn es zu einer ethischen Kontroverse über Sexualität
oder Fortpflanzung kommt, kann man darauf wetten, dass Re-
ligionsvertreter verschiedener Glaubensrichtungen in einfluss-
reichen Gremien sowie in Rundfunk- oder Fernsehdiskussio-
nen an hervorgehobener Stelle mitreden. Damit will ich nicht
sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute um jeden Preis zen-
sieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den ro-
ten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie
beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder
ein Arzt?
36
Ein weiteres Beispiel für die Bevorzugung der Religion: Am
21. Februar 2006 urteilte der Oberste Gerichtshof der USA in
Übereinstimmung mit der Verfassung, eine Kirche in New Me-
xico sei von einem Gesetz ausgenommen, das alle anderen be-
folgen müssen und das den Konsum halluzinogener Drogen
verbietet.!” Mitglieder des Centro Espirita Beneficiente Unioao
do Vegetal glauben, sie könnten Gott nur dann begreifen, wenn
sie Hoasca-Tee trinken, der das verbotene Betäubungsmittel
Dimethyltryptamin enthält. Wohlgemerkt: Es reicht, dass sie
glauben, die Droge verbessere ihr Verständnisvermögen. Be-
weise mussten sie nicht beibringen. Umgekehrt gibt es viele
Beweise, dass Haschisch bei Krebskranken während der Che-
motherapie die Übelkeit und andere Beschwerden lindert.
Dennoch urteilte der Oberste Gerichtshof 2005 - wiederum in
Übereinstimmung mit der Verfassung -, alle Patienten, die aus
medizinischen Gründen Cannabis nehmen, seien ein Fall für
Verfolgung durch die Bundesbehörden (und das sogar in den
wenigen Bundesstaaten, in denen diese spezielle Therapieform
gesetzlich zugelassen ist). Immer wieder ist Religion die Trumpf-
karte. Man stelle sich vor, die Mitglieder eines Kunstvereins
würden vor Gericht vorbringen, sie »glaubten«, sie könnten mit
einer bewusstseinserweiternden Droge die Werke des Impres-
sionismus oder Surrealismus besser verstehen. Erhebt aber eine
Kirche einen vergleichbaren Anspruch, gibt das oberste Ge-
richt eines Staates ihr Rückendeckung. Eine solche Macht hat
die Religion als Talisman.
Vor siebzehn Jahren wurde ich als einer unter 36 Autoren
und Künstlern von der Zeitschrift New Statesman beauftragt,
etwas zur Unterstützung des angesehenen Schriftstellers Sal-
man Rushdie zu schreiben, der damals zum Tode verurteilt
war, weil er einen Roman verfasst hatte. Erbost darüber, dass
christliche Religionsführer und sogar einige weltliche Mei-
nungsbildner »Mitgefühl« für die »Verletzung« und »Beleidi-
gung« der Muslime äußerten, zog ich folgende Parallele:
37
Wenn die Befürworter der Apartheid ihren Verstand bei-
sammen hätten, würden sie - nach allem, was ich weiß,
wahrheitsgemäß - behaupten, die Zulassung der Rassenmi-
schung widerspreche ihrer Religion. Dann würde ein großer
Teil ihrer Gegner sich auf den Zehenspitzen davonmachen.
Die Entgegnung, dies sei eine unfaire Parallele, weil es für
die Apartheid keine vernünftige Begründung gebe, verfängt
nicht. Das Entscheidende am religiösen Glauben, seine
Stärke und sein wichtigster Stolz, ist ja gerade, dass er keiner
rationalen Begründung bedarf. Von uns anderen dagegen
wird erwartet, dass wir unsere Vorurteile verteidigen. Fragt
man aber einen religiösen Menschen nach einer Rechtferti-
gung für seinen Glauben, verletzt man die »Religionsfrei-
heit«."
Damals wusste ich noch nicht, dass etwas ganz Ähnliches sich
auch im 21. Jahrhundert ereignen würde. Wie die Los Angeles
Times am 10. April 2006 berichtete, strengten zahlreiche
christliche Gruppen an Hochschulen in den ganzen Vereinig-
ten Staaten Gerichtsverfahren gegen die Universitätsleitungen
an, weil diese die gesetzlichen Diskriminierungsverbote durch-
setzten, darunter auch das Verbot, Homosexuelle zu belästigen
oder zu misshandeln. Ein typisches Beispiel war der zwölfjäh-
rige James Nixon aus Ohio: Ihm wurde 2004 gerichtlich das
Recht zugebilligt, in der Schule ein T-Shirt mit der Aufschrift
zu tragen: »Homosexualität ist eine Sünde, Islam ist eine Lüge,
Abtreibung ist Mord. Bei manchen Dingen gibt es eben nur
schwarz oder weiß.«!? Die Schulleitung hatte ihm das T-Shirt
verboten - und die Eltern des Jungen klagten gegen die Schule.
Ihr Standpunkt wäre durchaus vertretbar gewesen, wenn sie
ihre Klage auf die im ersten Verfassungszusatz garantierte Mei-
nungsfreiheit gestützt hätten. Aber das taten sie nicht, sondern
die Nixon-Anwälte beriefen sich auf die verfassungsmäßig
garantierte Religionsfreiheit. Finanziert wurde die erfolgreiche
38
Klage vom Alliance Defense Fund of Arizona, der es sich zur
Aufgabe gemacht hat, »den juristischen Kampf für die Reli-
gionsfreiheit voranzubringen«.
Der Reverend Rick Scarborough, Unterstützer einer ganzen
Welle ähnlicher Gerichtsverfahren, mit der die christliche Reli-
gion als juristische Rechtfertigung für die Diskriminierung der
Homosexuellen und anderer Gruppen dienen sollte, bezeich-
nete dies als den Bürgerrechtskampf des 21. Jahrhunderts: »Die
Christen gehen jetzt vor Gericht für das Recht, Christen zu
sein.«'” Auch hier gilt: Würden solche Leute für die Meinungs-
freiheit vor Gericht ziehen, müsste man vielleicht eine wider-
willige Sympathie für sie empfinden. Aber darum geht es nicht.
Das »Recht, Christ zu sein«, war in diesem Fall offenbar gleich-
bedeutend mit dem Recht, im Privatleben anderer Menschen
herumzuschnüffeln. Das Verfahren zur Durchsetzung der Dis-
kriminierung von Homosexuellen wird als Gegenklage gegen
eine angebliche religiöse Diskriminierung aufgebaut! Und die
Gerichte machen offensichtlich mit. Wer sagt: »Wenn du mir
verbietest, Homosexuelle zu beleidigen, verletzt du mein Recht
auf freie Vorurteile«, kommt damit nicht durch. Sagt man
jedoch: »Es verletzt meine Religionsfreiheit«, dann hat man
Erfolg. Worin eigentlich besteht bei genauerem Nachdenken
der Unterschied? Wieder einmal ist Religion der Trumpf, der
sticht.
An das Ende dieses Kapitels möchte ich eine Einzelfallstudie
stellen, die besonders gut beleuchtet, welch übertriebenen Re-
spekt die Gesellschaft vor der Religion hat und wie dieser über
den ganz normalen zwischenmenschlichen Respekt hinaus-
geht. Der Fall - eine lächerliche Episode, die zwischen den
Extremen von Komödie und Tragödie hin und her wechselte -
wurde im Februar 2006 bekannt. Im vorausgegangenen Sep-
tember waren in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten zwölf
Karikaturen erschienen, die den Propheten Mohammed dar-
stellten. Im Laufe der folgenden drei Monate wurde die Empö-
39
rung in der islamischen Welt sorgfältig und systematisch auf-
gebaut, und zwar von einer kleinen Gruppe in Dänemark le-
bender Muslime unter Führung von zwei Imamen, die dort
politisches Asyl genossen.'* Ende 2005 reisten diese boshaften
Exilmuslime von Dänemark nach Ägypten; im Gepäck hatten
sie ein Dossier, das kopiert und in der gesamten islamischen
Welt verbreitet wurde, auch - und das ist besonders wichtig —
in Indonesien. Das Papier enthielt einerseits falsche Aussagen
über die angebliche Misshandlung von Muslimen in Dänemark,
andererseits aber auch die absichtsvolle Lüge, die Zeitung
Jyllands-Posten sei ein Regierungsorgan. Außerdem enthielt es
die zwölf Karikaturen, denen die Imame jedoch - auch das
entscheidend —drei weitere Zeichnungen rätselhafter Her-
kunft hinzugefügt hatten, die mit Sicherheit in keinerlei Ver-
bindung zu Dänemark standen. Im Gegensatz zu den ersten
zwölf waren diese drei richtig beleidigend - oder sie wären es
gewesen, wenn sie tatsächlich Mohammed dargestellt hätten,
wie die eifrigen Propagandisten behaupteten. Eines der drei
Bilder, das besonders viel Schaden anrichtete, war überhaupt
keine Karikatur, sondern das gefaxte Foto eines bärtigen
Mannes, der sich mit Gummibändern eine Schweinemaske
umgebunden hatte. Wie sich später herausstellte, handelte
es sich dabei um eine Aufnahme der Nachrichtenagentur
Associated Press, die einen Franzosen zeigte, der in seiner Hei-
mat bei einem ländlichen Jahrmarkt an einem Schweine-
Quiek-Wettbewerb teilgenommen hatte.!” Die Aufnahme
hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem Propheten Mo-
hammed, dem Islam oder Dänemark zu tun. Die muslimi-
schen Aktivisten jedoch stellten auf ihrer Unheil stiftenden
Reise nach Kairo alle drei Verbindungen her - mit vorherseh-
baren Folgen.
Fünf Monate nachdem die Karikaturen zum ersten Mal er-
schienen waren, brach sich die sorgfältig kultivierte »Verlet-
zung« und »Beleidigung« auf explosive Weise Bahn. In Pakistan
40
und Indonesien verbrannten Demonstranten dänische Fahnen
(woher hatten sie die?), und an die dänische Regierung wurden
hysterische Forderungen nach einer Entschuldigung gerich-
tet. (Entschuldigung wofür? Die Regierung hatte die Karika-
turen weder gezeichnet noch veröffentlicht. In Dänemark
herrscht Pressefreiheit, ein Prinzip, das für die Menschen in
vielen islamischen Ländern möglicherweise nur schwer ver-
ständlich ist.) Zeitungen in Norwegen, Deutschland, Frank-
reich und sogar den Vereinigten Staaten (aber auffälligerweise
nicht in Großbritannien) druckten die Karikaturen aus Solida-
rität mit Jyllands-Posten nach und gossen damit weiteres Öl ins
Feuer. Botschaften und Konsulate wurden angegriffen, dänische
Waren boykottiert, dänische Bürger und sogar Menschen aus
westlichen Ländern ganz allgemein körperlich bedroht. In Pakis-
tan brannten christliche Kirchen, die keinerlei Beziehung zu
Dänemark oder Europa hatten. Neun Menschen kamen ums
Leben, als Aufständische in der libyschen Hafenstadt Bengasi
das italienische Konsulat angriffen und in Brand steckten. Ger-
maine Geer schrieb: »Was diese Leute am liebsten mögen und
am besten können, ist das Inferno.«'®
Ein pakistanischer Imam setzte auf den Kopf des »dänischen
Karikaturisten« eine Belohnung von einer Million Dollar aus.
Er wusste offenbar nicht, dass es insgesamt zwölf dänische Ka-
rikaturisten gab, und mit ziemlicher Sicherheit war ihm auch
nicht klar, dass die drei beleidigendsten Bilder in Dänemark
überhaupt nicht erschienen waren. (Und nebenbei gefragt:Wo-
her sollte die Million eigentlich kommen?) In Nigeria zündeten
Muslime aus Protest gegen die dänischen Karikaturen mehrere
christliche Kirchen an, und Christen (schwarze Nigerianer)
wurden auf der Straße mit Macheten überfallen und getötet.
Ein Christ wurde in einen Autoreifen gesteckt, mit Benzin
übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt. In Großbritan-
nien wurden Demonstranten fotografiert, auf deren Transpa-
renten stand: »Schlachtet die, die den Islam beleidigen«, »Tod
41
denen, die sich über den Islam lustig machen«, »Europa, du
wirst bezahlen: Die Zerstörung ist schon unterwegs« und »Ent-
hauptet alle, die sagen, der Islam sei eine gewalttätige Reli-
gion«. Glücklicherweise waren unsere Politiker zur Stelle und
erinnerten uns daran, dass der Islam doch eine Religion des
Friedens und der Barmherzigkeit ist.
Im Gefolge dieser Vorgänge interviewte der Journalist An-
drew Mueller den führenden »gemäßigten« Muslim in Groß-
britannien, Sir Igbal Sacranie.'” Dieser mag nach den heutigen
Maßstäben des Islam gemäßigt sein, aber nach Muellers Be-
richt steht er noch heute zu einer Bemerkung, die er machte,
als Salman Rushdie wegen eines Romans zum Tode verurteilt
wurde: »Der Tod ist vielleicht noch zu milde für ihn.« Mit die-
ser Aussage steht er in schändlichem Gegensatz zu seinem mu-
tigen Vorgänger als einflussreichster britischer Muslim, dem
verstorbenen Dr. Zaki Badawi, der Salman Rushdie in seinem
eigenen Haus Unterschlupf gewährte. Sacranie erklärte Muel-
ler, wie besorgt er wegen der dänischen Karikaturen sei. Auch
Mueller war besorgt, aber aus einem ganz anderen Grund: »Ich
fürchte, die lächerliche, völlig unverhältnismäßige Reaktion
auf ein paar nicht besonders lustige Skizzen in einer obskuren
skandinavischen Zeitung könnte bestätigen, dass ... der Islam
und der Westen grundsätzlich unvereinbar sind.« Sacranie da-
gegen lobte die britischen Zeitungen, weil sie die Karikaturen
nicht nachgedruckt hatten, woraufhin Mueller einen im Lande
weit verbreiteten Verdacht aussprach: »Die Selbstbeschrän-
kung der britischen Presse entspringt wohl weniger der Sensi-
bilität gegenüber muslimischer Unzufriedenheit als vielmehr
dem Wunsch, dass einem nicht die Fensterscheiben eingewor-
fen werden.«
Sacranie erklärte: »Die Person des Propheten, Friede sei mit
ihm, wird in der muslimischen Welt so tief verehrt, mit einer
Liebe und Zuneigung, die man nicht in Worte fassen kann. Sie
geht über die Liebe zu den Eltern, den Angehörigen, den Kin-
42
dern hinaus. Das ist ein Teil des Glaubens. Es gibt im Islam auch
das Gebot, den Propheten nicht abzubilden.« Das unterstellt,
wie Mueller es formuliert,
dass die Werte des Islam Vorrang vor allen anderen haben -
davon geht jeder Anhänger des Islam aus, genau wie jeder
Anhänger einer anderen Religion glaubt, sein Weg sei der
einzig Richtige, Wahre und Erleuchtete. Wenn jemand einen
Prediger aus dem 7. Jahrhundert mehr lieben will als seine
eigene Familie, dann ist das seine Sache, aber kein anderer ist
verpflichtet, das ernst zu nehmen.
Wenn man es jedoch nicht ernst nimmt und nicht den entspre-
chenden Respekt zollt, wird man physisch bedroht, und das in
einem Ausmaß, zu dem sich seit dem Mittelalter keine andere
Religion mehr verstiegen hat. Man muss sich fragen, warum sol-
che Gewalt nötig ist. Reicht es nicht, mit Mueller zu sagen:
»Wenn einer von euch Clowns irgendwo recht hat, dann wan-
dern die Karikaturisten doch sowieso in die Hölle - reicht das
nicht? Wenn ihr euch in der Zwischenzeit über Angriffe auf
Muslime aufregen wollt, dann lest mal die Berichte von Am-
nesty International über Syrien und Saudi-Arabien.«
Vielen Menschen ist auch aufgefallen, welcher Kontrast zwi-
schen der hysterischen »Verletztheit« der Muslime und der
bereitwilligen Veröffentlichung judenfeindlicher Karikaturen
in arabischen Medien besteht. In Pakistan wurde bei einer
Demonstration gegen die dänischen Karikaturen eine Frau in
schwarzer Burka mit einem Transparent fotografiert, auf dem
stand: »Gott segne Hitler.«
Als Reaktion auf dieses ganze hektische Chaos bedauerten
anständige liberale Zeitungen die Gewalt und legten symboli-
sche Bekenntnisse zur Meinungsfreiheit ab. Gleichzeitig drück-
ten sie aber »Respekt« und »Mitgefühl« für die »Beleidigung«
und »Verletzung« aus, unter denen die Muslime »gelitten« hät-
49
ten. Wie gesagt: Die »Verletzung« und das »Leiden« bestanden
nicht darin, dass irgendein Mensch Gewalt oder echte Schmer-
zen erlitten hätte: Es waren nur ein paar Linien aus Drucker-
schwärze in einer Zeitung, von der außerhalb Dänemarks nie
jemand etwas gehört hätte, wenn das Chaos nicht mit einer ge-
zielten Kampagne geschürt worden wäre.
Ich bin nicht dafür, jemanden nur um der Sache selbst willen
zu beleidigen oder zu verletzen. Aber für mich ist es faszinie-
rend und rätselhaft, dass die Religion in unserer ansonsten sä-
kularen Gesellschaft derart unverhältnismäßige Vorrechte ge-
nießt. Alle Politiker müssen sich respektlose Karikaturen ihrer
Gesichter gefallen lassen, und niemand geht zu ihrer Verteidi-
gung auf die Straße. Was ist das Besondere an der Religion, dass
wir ihr einen so einzigartigen Respekt entgegenbringen? H.L.
Mencken sagte einmal: »Wir müssen die Religion des anderen
respektieren, aber nur in dem Sinn und dem Umfang, wie wir
auch seine Theorie respektieren, wonach seine Frau hübsch ist
und seine Kinder klug sind.«
Vor dem Hintergrund dieses beispiellosen Respektsanspruchs
der Religion gebe ich hiermit für dieses Buch meine eigene Er-
klärung ab: Ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, je-
manden zu beleidigen, aber ich werde auch keine Samthand-
schuhe anziehen und die Religion nicht sanfter behandeln, als
ich es mit allem anderen tun würde.
Die Gotteshypothese
Die Religiondes einen Zeitalters ist die literarische Unterhaltung des nächsten.
Der Gott des Alten Testaments ist - das kann man mit Fug und
Recht behaupten —die unangenehmste Gestalt in der gesam-
ten Literatur: Er ist eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein
kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanati-
ker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein
frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völ-
ker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochisti-
scher, launisch-boshafter Tyrann. Wer von Kindheit an in seinen
Methoden geschult wurde, ist vielleicht unempfindlich gegen
ihre Entsetzlichkeit geworden. Klarer sieht der naive Mensch,
der mit der Sichtweise des Unwissenden gesegnet ist. Winston
Churchills Sohn Randolph schaffte es irgendwie, lange in Un-
kenntnis der Bibel zu bleiben. Doch dann unternahmen Evelyn
Waugh und ein Regimentskamerad einen vergeblichen Ver-
such, den jungen Mann ruhigzustellen, mit dem sie im Krieg
gemeinsam abkommandiert waren: Sie wetteten mit ihm, er
könne unmöglich die ganze Bibel in vierzehn Tagen durchle-
sen. »Leider war das Ergebnis nicht wie erhofft. Er hatte zuvor
noch nie etwas daraus gelesen und ist jetzt schrecklich aufge-
regt; ständig liest er uns laut Zitate vor, mit der Bemerkung
»Wetten, dass ihr nicht wusstet, dass das in der Bibel steht«.
Oder er schlägt sich einfach auf die Seite und schnaubt: »Mein
Gott, ist das ein beschissener Gott!«® Eine ähnliche Ansicht
45
vertrat auch der —belesenere - Thomas Jefferson: Er bezeich-
nete den Gott des Moses als »entsetzliche Gestalt —grausam,
rachsüchtig, launisch und ungerecht.«
Ein so leichtes Ziel anzugreifen ist unfair. Die Gotteshypo-
these sollte weder mit Jahwe, ihrer abstoßendsten Verkörpe-
rung, stehen und fallen noch mit ihrem fade-entgegengesetzten
christlichen Gesicht, dem »sanften Jesus, lieb und mild«. (Um
abermals fair zu sein: Diese Muttersöhnchengestalt verdankt
ihren viktorianischen Jüngern mehr als Jesus selbst. Kann ir-
gendetwas anderes so viel süßliche Übelkeit hervorrufen wie
»Christenkinder müssen sein/sanft gehorsam, gut wie er« von
Mrs. C.F. Alexander?) Mein Angriff gilt nicht den besonde-
ren Eigenschaften von Jahwe, Jesus oder Allah und auch kei-
nem anderen einzelnen Gott wie Baal, Zeus oder Wotan. Ich
möchte die Gotteshypothese, damit sie besser zu verteidigen
ist, wie folgt definieren: Es gibt eine übermenschliche, übernatür-
liche Intelligenz, die das Universum und alles, was darin ist,
einschließlich unserer selbst, absichtlich gestaltet und erschaffen
hat.
In diesem Buch wird dagegen eine ganz andere Ansicht ver-
treten: Jede kreative Intelligenz,die ausreichend komplex ist, um
irgendetwas zu gestalten, entsteht ausschließlich als Endprodukt
eines langen Prozesses der allmählichen Evolution. Da kreative
Intelligenz durch Evolution entstanden ist, tritt sie im Univer-
sum zwangsläufig erst sehr spät in Erscheinung. Sie kann das
Universum deshalb nicht entworfen haben. Gott im eben defi-
nierten Sinn ist eine Illusion - und zwar, wie in späteren Kapi-
teln deutlich werden wird, eine gefährliche Illusion.
Da die Gotteshypothese sich nicht auf Belege stützt, son-
dern auf lokale Überlieferungen und private Offenbarungen,
ist es nicht verwunderlich, dass sie in vielen Versionen existiert.
Religionshistoriker erkennen eine Entwicklung vom primiti-
ven Stammesanimismus über polytheistische Religionen wie
bei Griechen, Römern und Wikingern bis zum Monotheismus
46
des Judentums und seiner Abkömmlinge, des Christentums
und des Islam.
Polytheismus
47
Gesellschaft von großem Nutzen, insbesondere in den Verei-
nigten Staaten, wo die Summe der steuerfreien Gelder, die von
den Kirchen aufgesogen werden und die in die ohnehin dicken
Brieftaschen gut bezahlter Fernsehevangelisten fließen, ein nur
noch als obszön zu bezeichnendes Ausmaß erreicht. Der zu-
treffend so benannte Oral Roberts erzählte seinem Fernseh-
publikum einmal, Gott werde ihn töten, wenn die Zuschauer
ihm nicht acht Millionen Dollar spendeten. Unglaublich, aber
wahr: Es klappte. Steuerfrei! Roberts selbst ist immer noch
putzmunter, und das Gleiche gilt für seine »Oral Roberts Uni-
versity« in Tulsa (Oklahoma). Deren Gebäude mit einem Wert
von 250 Millionen Dollar wurden von Gott selbst mit folgen-
den Worten in Auftrag gegeben: »Wecket eure Studenten auf,
damit sie Meine Stimme hören, damit sie dorthin gehen, wo
Mein Licht schwach ist, wo Meine Stimme nur leise erklingt,
wo Meine Heilkraft nicht bekannt ist, bis an die äußersten En-
den der Erde. Ihre Werke werden größer sein als eure, und darin
bin Ich erfreut.«
Bei genauerem Nachdenken hätte mein imaginärer Hindu-
Kläger ebenso gut nach dem Motto »Wenn du sie nicht besie-
gen kannst, schließ dich ihnen an« handeln können. Dann wäre
sein Polytheismus eigentlich keiner, sondern nur ein verschlei-
erter Monotheismus. Es gibt nur einen Gott - Gott Brahma, den
Schöpfer, Gott Vishnu, den Erhalter, Gott Shiva, den Zerstörer,
die Göttinnen Saraswati, Laxmi und Parvati (die Gattinnen von
Brahma, Vishnu und Shiva), Gott Ganesh den Elefanten, und
Hunderte andere, die alle nur verschiedene Ausdrucksformen
oder Inkarnationen des einen Gottes sind.
Christen sollten sich für solche Haarspaltereien eigentlich er-
wärmen können. Denn ganze Ströme mittelalterlicher Tinte —
von Blut ganz zu schweigen —wurden über das »Geheimnis«
der Dreifaltigkeit vergossen, aber auch zur Unterdrückung von
Abweichungen wie der arianischen Ketzerei. Arius von Ale-
xandria leugnete im 4. Jahrhundert n. Chr., dass Jesus gleichen
48
Wesens (das heißt von der gleichen Substanz oder Wesensform)
sei wie Gott. Nun fragt man sich vielleicht: Was mag das be-
deuten? Substanz? Was für eine »Substanz«? Was genau ist mit
»Wesensform« gemeint? Die einzig vernünftige Antwort lautet
anscheinend: sehr wenig. Dennoch spaltete der Streit darum
die Christenheit ein volles Jahrhundert lang, und Kaiser Kon-
stantin befahl, alle Exemplare von Arius’ Buch zu verbrennen.
Haare und damit die Christenheit spalten - so hat es die Theo-
logie schon immer gemacht.
Haben wir nun einen Gott in drei Teilen oder drei Götter in
einem? Diese Frage beantwortet uns die Catholic Encyclopedia
mit einem Meisterstück scharfsinniger Argumentation:
In der Einheit der Gottheit sind drei Personen: der Vater, der
Sohn und der Heilige Geist. Diese drei Personen sind wirk-
lich voneinander unterschiedlich. Oder mit den Worten des
Athanasischen Glaubensbekenntnisses: »So ist der Vater
Gott, der Sohn Gott, der Heilige Geist Gott. Und doch sind
es nicht drei Götter, sondern ein Gott.«
Als wäre das nicht schon eindeutig genug, zitiert die Encyclope-
dia auch noch St. Gregorius den Wundertäter, einen Theologen
aus dem 3. Jahrhundert:
49
sicher nicht. Seine Worte vermitteln den typischen vernebeln-
den Beigeschmack der Theologie, an dem sich - anders als in
der Naturwissenschaft oder in den meisten anderen Wissensge-
bieten - seit achtzehn Jahrhunderten nichts verändert hat.
Thomas Jefferson hatte wie so oft recht, als er sagte: »Die ein-
zige Waffe, die man gegen unverständliche Aussagen einsetzen
kann, ist der Spott. Vorstellungen müssen klar umrissen sein,
erst dann kann die Vernunft sich mit ihnen beschäftigen; und
von der Dreieinigkeit hatte kein Mensch jemals eine klar um-
rissene Vorstellung. Es ist nur das Abrakadabra jener Scharla-
tane, die sich als Priester Jesu bezeichnen.«
Auch zu einem anderen Thema kann ich mir eine Bemerkung
nicht verkneifen: Die Religionsvertreter stellen mit anmaßender
Selbstsicherheit Behauptungen über winzigste Einzelheiten auf,
für die sie keinerlei Beleg haben und auch nicht haben können.
Ohnehin fördert vielleicht gerade die Tatsache, dass theologi-
sche Meinungen durch nichts belegt werden, die charakteris-
tische drakonische Feindseligkeit gegenüber Personen mit ge-
ringfügig abweichenden Ansichten, übrigens besonders auf dem
Gebiet der Dreifaltigkeitslehre.
In seiner Kritik des Calvinismus überhäufte Jefferson die
Lehre, »dass es drei Götter gibt«, wie er es formulierte, mit
Hohn und Spott. Doch gerade der römisch-katholische Zweig
des Christentums entwickelt den Dauerflirt mit dem Poly-
theismus in Richtung einer ungezügelten Inflation weiter. Die
Dreifaltigkeit wird (oder werden sie?) durch Maria erweitert,
die »Himmelskönigin«, die in allem außer ihrem Namen eine
Göttin ist und als Ziel der Gebete hinter Gott selbst nur ganz
knapp an zweiter Stelle steht. Weiter aufgeblasen wird das Pan-
theon durch eine Armee von Heiligen, die mit ihrer Fähigkeit
zu übernatürlichen Eingriffen vielleicht keine Halbgötter, aber
doch lohnende Ziele von Bitten in ihren jeweiligen Spezialge-
bieten sind. Das Catholic Community Forum führt eine sehr
hilfreiche Liste von 5120 Heiligen auf.” Das Spektrum der
50
Fachgebiete reicht dabei von Bauchschmerzen über Misshand-
lungsopfer, Magersucht, Waffenhändler, Schmiede, Knochen-
brüche und Bombentechniker bis zu Darmerkrankungen.
Außerdem dürfen wir nicht die vier Chöre der himmlischen
Heerscharen vergessen, die sich in neun Ordnungen gliedern:
Seraphim, Cherubim, Throne, Gewalten, Tugenden, Mächte,
Fürstentümer, Erzengel (die Chefs aller Engel) und die einfa-
chen Engel, darunter unsere alten Freunde, die stets wachsa-
men Schutzengel. Mich beeindruckt an der katholischen My-
thologie zum einen dieser geschmacklose Kitsch, vor allem
aber die lässige Unbekümmertheit, mit der die Details be-
schrieben werden. Das alles ist schamlos erfunden.
Papst Johannes Paul II. erzeugte mehr Heilige als alle seine
Vorgänger aus den vergangenen Jahrhunderten zusammen,
und eine besondere Zuneigung verband ihn mit der Jungfrau
Maria. Auf dramatische Weise offenbarten sich seine polytheis-
tischen Sehnsüchte 1981, als er in Rom einen Attentatsversuch
überlebte und seine Rettung auf einen Eingriff Unserer lieben
Frau von Fatima zurückführte: »Eine mütterliche Hand hat die
Kugel gelenkt.« Da muss schon die Frage erlaubt sein, warum
die Kugel nicht so gelenkt wurde, dass sie ihn völlig verfehlte.
Andere würden meinen, dass dem Chirurgenteam, das ihn an-
schließend sechs Stunden lang operierte, zumindest ein Teil des
Verdienstes gebührt. Entscheidend ist aber, dass es nicht ein-
fach Unsere liebe Frau war, die nach Ansicht des Papstes die
Kugel gelenkt hatte, sondern Unsere liebe Frau von Fatima. Ver-
mutlich waren Unsere liebe Frau von Lourdes, Unsere liebe
Frau von Guadeloupe, Unsere liebe Frau von Medjugorje, Un-
sere liebe Frau von Akita, Unsere liebe Frau von Zeitoun, Un-
sere liebe Frau von Garabandanal und Unsere liebe Frau von
Knock gerade mit anderen Aufträgen beschäftigt.
Wie kamen nur die Griechen, Römer und Wikinger mit sol-
chen polytheologischen Zwickmühlen zurecht? War Venus nur
ein anderer Name für Aphrodite, oder waren es zwei verschie-
51
dene Liebesgöttinnen? War Thor mit seinem Hammer eine
Ausdrucksform von Wotan oder ein anderer Gott? Wen küm-
mert esschon? Das Leben ist zu kurz, als dass man sich mit der
Unterscheidung zwischen einem Fantasieprodukt und vielen
anderen Fantasieprodukten herumschlagen sollte. Nachdem
ich nun meine Verbeugung vor dem Polytheismus gemacht
und damit den Vorwurf der Missachtung entkräftet habe,
werde ich darüber keine weiteren Worte mehr verlieren. Der
Einfachheit halber werde ich von nun an alle Gottheiten, ob
poly- oder monotheistisch, als »Gott« bezeichnen. Ich bin mir
auch bewusst, dass der Gott Abrahams aggressiv männlich ist
(um es vorsichtig auszudrücken), und werde diese Konvention
in meinem Gebrauch der Substantive berücksichtigen. Raffi-
niertere Theologen behaupten allerdings, Gott habe kein Ge-
schlecht, und manche feministischen Theologinnen machen
Gott weiblich, um historische Ungerechtigkeiten auszuglei-
chen. Aber was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer
nicht existierenden Frau und einem nicht existierenden Mann?
An der unglaublich irrealen Schnittstelle zwischen Theologie
und Feminismus ist vermutlich die Existenz tatsächlich un-
wichtiger als das Geschlecht.
Mir ist durchaus bewusst, dass man den Religionskritikern
vorwerfen kann, sie übersähen die Vielfalt der Traditionen und
Weltanschauungen, die man als religiös bezeichnet. Anthropo-
logisch orientierte Bücher - von James Frazers The Golden
Bough (Der goldeneZweig)über Pascal Boyers ReligionExplained
(Und Mensch schuf Gott) bis In Gods We Trust (»Wir vertrauen
auf Götter«) von Scott Atran —dokumentieren auf faszinie-
rende Weise die bizarre Phänomenologie von Aberglauben und
Ritualen. Wersolche Bücher liest, kommt nicht umhin, über die
Vielgestaltigkeit der menschlichen Einfalt zu staunen.
Doch darum geht es in diesem Buch nicht. Ich wende mich
gegen den Supernaturalismus in allen seinen Formen, und da-
bei ist es am wirksamsten, wenn ich mich auf die Form kon-
52
zentriere, die meinen Lesern höchstwahrscheinlich am ver-
trautesten ist und die sich am bedrohlichsten auf alle unsere
Gesellschaften auswirkt. Die meisten Leser sind sicher mit einer
der drei heutigen »großen« monotheistischen Religionen (oder
vier, wenn man das Mormonentum mitzählt) aufgewachsen,
die sich auf den mythologischen Vorvater Abraham berufen. Es
kann nicht schaden, diese Familie von Traditionen bei der wei-
teren Lektüre im Hinterkopf zu behalten.
Dies ist auch ein guter Augenblick, um einer unvermeidli-
chen Erwiderung auf das Buch zuvorzukommen - einer Erwi-
derung, die sonst so sicher wie das Amen in der Kirche in einer
Rezension auftauchen würde: »Der Gott, an den Dawkins
nicht glaubt, ist einer, an den auch ich nicht glaube. Ich glaube
nicht an einen alten Mann mit weißem Rauschebart, der oben
im Himmel wohnt.« Dieser alte Mann ist nur eine belanglose
Ablenkung, und sein Bart ist so langweilig, wie er lang ist. In
Wirklichkeit ist diese Ablenkung aber viel schlimmer als be-
langlos: Mit ihrer genau berechneten Dummheit soll sie davon
ablenken, dass das, was der Sprecher wirklich glaubt, nicht we-
niger dumm ist. Ich weiß, dass Sie nicht an einen alten Mann
mit Bart auf einer Wolke glauben, also vergeuden wir damit
keine Zeit. Ich greife nicht eine bestimmte Version von Gott
oder Göttern an. Ich wende mich gegen Gott, alle Götter, alles
Übernatürliche, ganz gleich, wo und wann es erfunden wurde
oder noch erfunden werden wird.
Monotheismus
53
sind im wahrsten Sinne des Wortes patriarchalisch - Gott ist der
allmächtige Vater -, und deshalb werden Frauen in den Ländern,
die von dem Himmelsgott und seinen irdischen männlichen Ver-
tretern heimgesuchtwaren, 2000 Jahre lang verachtet.
Gore Vidal
54
eine geringere Rolle als die Ähnlichkeiten. Und mit anderen
Religionen wie Buddhismus und Konfuzianismus werde ich
mich überhaupt nicht befassen. Es spricht sogar einiges dafür,
diese gar nicht als Religionen anzusehen, sondern als ethische
Systeme oder Lebensphilosophien.
Damit die einfache Definition der Gotteshypothese, die ich
an den Anfang gestellt habe, den abrahamitischen Gott be-
schreibt, muss sie noch beträchtlich ausgebaut werden. Er hat
das Universum nicht nur erschaffen, sondern er ist ein persönli-
cher Gott, der darin oder vielleicht auch außerhalb davon (was
immer das bedeuten mag) wohnt und die unangenehmen
menschlichen Eigenschaften besitzt, auf die ich bereits ange-
spielt habe.
Zu dem deistischen Gott eines Voltaire oder Thomas Paine
gehören keine - angenehmen oder unangenehmen - persönli-
chen Eigenschaften. Im Vergleich zu dem psychotischen Übel-
täter des Alten Testaments ist der Gott der Aufklärung aus dem
18. Jahrhundert ein viel prachtvolleres Wesen: Er ist seiner kos-
mischen Schöpfung würdig, weit erhaben über das Interesse
für unsere menschlichen Angelegenheiten, erhaben über unsere
privaten Gedanken und Hoffnungen, völlig desinteressiert am
Chaos unserer Sünden und gemurmelten Reue. Der deistische
Gott ist ein Physiker, der alle Physik zum Ende bringt, das Al-
pha und Omega der Mathematiker, die Apotheose der Techni-
ker; ein Über-Ingenieur, der die Gesetze und Konstanten des
Universums eingerichtet hat; er hat sie mit höchster Genauig-
keit und Vorwissen abgestimmt, hat das gezündet, was wir
heute als Urknall bezeichnen würden, und sich dann zur Ruhe
gesetzt. Seitdem haben wir nie mehr von ihm gehört.
In Zeiten stärkeren Glaubens wurden Deisten mit Atheisten
gleichgesetzt und verunglimpft. Susan Jacoby führt in Freethin-
kers: A History of American Secularism (»Freidenker: Eine Ge-
schichte des amerikanischen Säkularismus«) eine kleine Aus-
wahl von Schimpfwörtern auf, mit denen der arme Thomas
55
Paine bedacht wurde: »Judas, Reptil, Schwein, verrückter
Hund, Laus, Erzfeind, Bestie, Lügner, und natürlich Ungläubi-
ger«. Paine starb verlassen von seinen früheren politischen
Freunden (mit der ehrenwerten Ausnahme von Thomas Jeffer-
son), denen seine christenfeindlichen Ansichten peinlich wa-
ren. Heute haben sich die Verhältnisse so weit gewandelt, dass
Deisten eher in Gegensatz zu Atheisten gesetzt und mit den
Theisten in einen Topf geworfen werden. Immerhin glauben
auch sie an ein höheres Wesen, das das Universum erschaffen
hat.
56
beanspruchen als Jesus Christus oder Gott oder Allah, oder
wie man dieses höhere Wesen sonst nennen mag. Aber wie
jede wirksame Waffe, so sollte man auch Gottes Namen im
eigenen Interesse nur sparsam einsetzen. Die religiösen Grup-
pen, die überall in unserem Land heranwachsen, gehen nicht
klug mit ihrer Macht um. Sie wollen die Regierungsmitglie-
der zwingen, sich zu hundert Prozent ihrer Position anzu-
schließen. Wenn man in einer bestimmten ethischen Frage
nicht mit diesen religiösen Gruppen übereinstimmt, bekla-
gen sie sich und drohen mit dem Verlust von Geld und Wäh-
lerstimmen. Ehrlich gesagt, bin ich es leid, dass politische
Prediger überall in diesem Land mir als Bürger sagen, wenn
ich ein moralischer Mensch sein wolle, müsse ich an A, B, C
oder D glauben. Für wen halten die sich eigentlich? Woher
nehmen sie das Recht, mir ihre moralischen Überzeugungen
aufzuzwingen? Noch wütender bin ich als Gesetzgeber, der
die Drohungen aller möglichen religiösen Gruppen ertragen
muss, weil sie glauben, sie hätten das gottgegebene Recht,
bei jeder Abstimmung im Senat über meine Stimme zu be-
stimmen. Ich warne sie heute: Ich werde sie auf jedem
Schritt des Weges bekämpfen, wenn sie versuchen, ihre mo-
ralischen Überzeugungen im Namen des Konservativismus
allen Amerikanern vorzuschreiben.?'
9%
Da die Regierung der Vereinigten Staaten nicht in irgend-
einem Sinn auf die christliche Religion gegründet ist; da sie
in sich nicht den Charakter der Feindschaft gegen Gesetze,
Religion oder Seelenfrieden der Muselmanen trägt; und da
die besagten Staaten sich niemals an einem Krieg oder Feind-
seligkeiten gegen irgendeine mohammedanische Religion be-
teiligt haben, wird von den Parteien erklärt, dass kein aus re-
ligiösen Ansichten erwachsender Vorwand jemals zu einer
Störung der Harmonie zwischen den beiden Ländern führen
soll.
58
ein interessanter Gedanke, dessen weitere Untersuchung sich
lohnen würde. Jedenfalls besteht kein Zweifel, dass die lokale
Kirchengemeinde, die tatsächlich Merkmale einer Großfamilie
hat, für viele Amerikaner ein wichtiges Stück ihrer Identität
darstellt.
Einer weiteren Hypothese zufolge ist die Religiosität der
Amerikaner paradoxerweise gerade auf den säkularen Charak-
ter ihrer Verfassung zurückzuführen: Gerade weil die Vereinig-
ten Staaten juristisch ein säkulares Land sind, wurde die Reli-
gion zu einer Branche mit Zügen des freien Unternehmertums.
Verschiedene Kirchen konkurrieren - nicht zuletzt wegen der
damit verbundenen Einnahmen - um die einzelnen Gemein-
den, und der Wettbewerb wird dabei mit allen aggressiven Ver-
kaufspraktiken einer freien Marktwirtschaft geführt. Was mit
Seifenpulver funktioniert, funktioniert auch mit Gott, und die
Folgen grenzen heute in den weniger gebildeten Schichten ge-
radezu an religiöse Manie. In England dagegen ist Religion un-
ter der Ägide einer festgefügten Kirche kaum mehr als ein an-
genehmer geselliger Zeitvertreib, an dem man fast gar nichts
Religiöses erkennt. Diese englische Tradition brachte Giles Fra-
ser, ein anglikanischer Vikar, der nebenher in Oxford als Do-
zent für Philosophie tätig ist, sehr hübsch im Guardian zum
Ausdruck. Sein Artikel trägt den Untertitel »Bei der Gründung
der Kirche von England wurde Gott aus der Religion verbannt,
aber eine aktivere Glaubenshaltung hat auch ihre Gefahren«:
=
Kreuzzug oder legte im Namen irgendeiner höheren Macht
Bomben an den Straßenrand.”
(Damit ist er ein Kollege von Betjemans »Our Padre«, den ich
am Anfang von Kapitel 1 zitiert habe.) Weiter schreibt Fraser:
»Dieser freundliche Landgeistliche impfte Heerscharen von
Engländern sehr wirksam gegen das Christentum.« Am Ende
seines Artikels beklagt er einen neueren Trend in der Kirche
von England, die Religion wieder ernst zu nehmen, und sein
letzter Satz ist eine Warnung: »Es besteht Anlass zu der Sorge,
dass wir den Geist des englischen religiösen Fanatismus wieder
aus der bürgerlichen Flasche lassen, in der er seit Jahrhunder-
ten eingeschlossen war.«
In Amerika feiert der Geist des religiösen Fanatismus heute
fröhliche Urständ —die Gründerväter wären entsetzt gewesen.
Ob es nun paradoxerweise tatsächlich an der von ihnen ent-
worfenen säkularen Verfassung liegt oder nicht, die Begründer
der Vereinigten Staaten selbst waren mit ziemlicher Sicherheit
Säkularisten, nach deren Überzeugung man die Religion aus
der Politik heraushalten sollte. Das allein reicht, um sie ein-
deutig an die Seite derer zu stellen, die etwas dagegen haben,
beispielsweise die Zehn Gebote auf staatseigenen öffentlichen
Plätzen demonstrativ zur Schau zu stellen. Faszinierend sind
aber auch Spekulationen, wonach manche Gründerväter viel-
leicht über den Deismus hinausgingen. Könnten sie Agnos-
tiker oder vielleicht sogar eingefleischte Atheisten gewesen
sein? Die folgende Aussage von Jefferson unterscheidet sich
in nichts von dem, was wir als Agnostizismus bezeichnen
würden:
60°
ders kann ich vernünftigerweise nicht denken, [...] ohne
mich in den bodenlosen Abgrund der Träume und Phantas-
tereien zu stürzen. Ich bin mit den Dingen, die da sind, zu-
frieden und ausreichend beschäftigt, ohne mich zu quälen
oder mir Sorgen zu machen über jene, die es vielleicht
tatsächlich gibt, für die ich aber keine Belege habe.
Was die Frage angeht, ob er Atheist war, müssen wir uns mit
einem Urteil zurückhalten, und sei es auch nur, weil er
während seines politischen Lebens eine gewisse Vorsicht
walten lassen musste. Aber wie er schon 1787 an seinen Nef-
fen Peter Carr schrieb, darf man vor dieser Frage nicht aus
Angst vor den Konsequenzen zurückschrecken: »Wenn es
am Ende zu dem Glauben führt, dass es keinen Gott gibt,
wirst du den Anreiz zur Tugend in dem Trost und den ange-
nehmen Gefühlen bei dieser Übung finden, und in der Liebe
zu anderen, die sie in dir hervorbringt.«
61
Bemerkungen von Jefferson wie »Das Christentum ist das per-
verseste System, das jemals über den Menschen geleuchtet
hat« lassen sich sowohl mit dem Deismus als auch mit dem
Atheismus vereinbaren. Das Gleiche gilt für James Madisons
hemdsärmelige Klerikerfeindlichkeit: »Fast fünfzehn Jahrhun-
derte lang steht die juristische Institution des Christentums
auf dem Prüfstand. Was waren ihre Früchte? Mehr oder weni-
ger überall Überheblichkeit und Trägheit beim Klerus, Unwis-
senheit und Unterwürfigkeit bei den Laien, Aberglaube, Bi-
gotterie und Schikanen bei beiden.« Genauso könnte man
auch Benjamin Franklins Ausspruch »Leuchttürme sind nütz-
licher als Kirchen« deuten. John Adams war offensichtlich ein
stark antiklerikal eingestellter Deist (»Die beängstigenden
Apparate der kirchlichen Konzile ...«) und äußerte sich mit
einigen besonders prächtigen Tiraden vor allem gegen das
Christentum: »Wie ich die christliche Religion verstehe, war
und ist sie eine Offenbarung. Aber wie kommt es, dass mit der
jüdischen und christlichen Offenbarung Millionen von Fa-
beln, Märchen und Legenden vermischt wurden, die sie zur
blutigsten Religion aller Zeiten gemacht haben?« Und in
einem anderen Brief, dieses Mal an Jefferson, schrieb er: »Ich
erschaudere fast bei dem Gedanken, auf das schrecklichste
Beispiel für den Missbrauch von Trauer anzuspielen, das die
Geschichte der Menschheit überliefert hat: das Kreuz. Man
bedenke nur, welches Unheil diese Trauermaschine angerich-
tet hat!«
Ob Jefferson und seine Kollegen nun Theisten, Deisten,
Agnostiker oder Atheisten waren, in jedem Fall waren sie
auch leidenschaftliche Säkularisten: Nach ihrer Ansicht wa-
ren die religiösen Überzeugungen eines Präsidenten oder ihr
Fehlen absolut seine Privatangelegenheit. Alle Gründerväter
wären unabhängig von ihrem persönlichen religiösen Glau-
ben entsetzt gewesen, wenn sie den Bericht des Journalisten
Robert Sherman über ein Gespräch mit George Bush senior
62
gelesen hätten: Als dieser gefragt wurde, ob er bei Amerika-
nern, die Atheisten sind, den gleichen Bürgersinn und Patrio-
tismus erkennen könne, antwortete er: »Nein, ich finde nicht,
dass man Atheisten als Bürger betrachten sollte, und man
sollte sie auch nicht für Patrioten halten. Dies ist eine Nation
unter Gott.«* Geht man davon aus, dass Shermans Bericht
stimmt (leider benutzte er kein Tonbandgerät, und der Artikel
wurde damals in keiner anderen Zeitung abgedruckt), so kann
man ein Experiment machen und das Wort »Atheisten« durch
»Juden«, »Muslime« oder »Schwarze« ersetzen. Dann wird
klar, welches Ausmaß an Vorurteilen und Diskriminierung
Atheisten in den Vereinigten Staaten heute erdulden müssen.
Die in der New York Times veröffentlichten »Bekenntnisse
einer einsamen Atheistin« von Nathalie Angier sind eine trau-
rige, bewegende Beschreibung ihrer Gefühle der Isolation im
heutigen Amerika.” Tatsächlich ist die Isolation der Atheisten
in den Vereinigten Staaten jedoch eine durch Vorurteile
heimtückisch kultivierte Illusion. In Wirklichkeit sind Atheis-
ten in den Vereinigten Staaten zahlreicher, als den meisten
Menschen klar ist. Wie im Vorwort schon erwähnt, ist ihre
Zahl weit größer als die der religiösen Juden, und doch gehört
die jüdische Lobby in Washington bekanntermaßen zu den
einflussreichsten Kräften. Was könnten die amerikanischen
Atheisten nur erreichen, wenn sie sich richtig organisieren
würden?*
David Mills erzählt in seinem bewundernswerten Buch
Atheist Universe (»Das Universum des Atheisten«) eine Ge-
schichte, die man in einem Roman als unrealistische Karikatur
* Sehr nachdrücklich betont Tom Flynn, der Redakteur der Zeitschrift Free Inquiry, die-
sen Punkt in »Secularism’s Breakthrough Moment«, Free Inquiry 26:3 (2006),
S. 16£: »Wenn wir Atheisten einsam und unterdrückt sind, haben wir uns das ganz
allein selbst zuzuschreiben. Zahlenmäßig sind wir stark. Also: werfen wir unser Ge-
wicht in die Waagschale.«
63
polizeilicher Heuchelei abtun würde. Ein christlicher Wunder-
heiler betrieb einen »Wunderkreuzzug«, der einmal im Jahr
auch in Mills’ Heimatstadt kam. Der Heiler forderte unter an-
derem Diabetiker auf, ihr Insulin wegzuwerfen; Krebspatien-
ten sollten die Chemotherapie aufgeben. Stattdessen sollten sie
alle um ein Wunder beten. Vernünftigerweise entschloss sich
Mills, eine friedliche Gegendemonstration zu organisieren und
die Menschen zu warnen. Aber er machte einen Fehler: Er ging
zur Polizei, teilte seine Absicht mit und bat um Polizeischutz ge-
gen mögliche Angriffe von Anhängern des Wunderheilers. Der
erste Polizist, mit dem er sprach, fragte: »Willste für ihn oder
gegen ihn demonstrieren?« (womit er für oder gegen den Wun-
derheiler meinte). Als Mills erwiderte: »Gegen ihn«, sagte der
Polizist, er werde selbst an dem Umzug des Wunderheilers teil-
nehmen und Mills persönlich ins Gesicht spucken, wenn er an
dessen Demonstration vorüberkäme.
Daraufhin entschloss sich Mills, sein Glück bei einem zwei-
ten Polizeibeamten zu versuchen. Dieser erklärte, wenn ein
Anhänger des Wunderheilers Mills tätlich angreife, werde er
Mills verhaften, weil er »Gottes Werk zu stören versuche«.
Mills ging nach Hause und rief bei der Polizeistation an - in der
Hoffnung, bei höheren Diensträngen auf mehr Verständnis zu
treffen. Schließlich wurde er mit einem Sergeanten verbun-
den, der zu ihm sagte: »Geh zum Teufel, du Idiot. Kein Poli-
zist wird einen gottverdammten Atheisten schützen. Ich hoffe,
irgendjemand lässt dich schön bluten.« Diplomatische Worte
waren in dieser Polizeistation offenbar ebenso Mangelware wie
menschliche Freundlichkeit und Pflichtgefühl. Mills berichtet,
er habe an jenem Tag mit ungefähr sieben oder acht Polizeibe-
amten gesprochen. Keiner war hilfsbereit, und die meisten
drohten ihm unverblümt mit Gewalt.
Solche Anekdoten über Vorurteile gegen Atheisten gibt es in
Hülle und Fülle, aber Margaret Downey, die Gründerin des
Anti Discrimination Support Network (ADSN), zeichnet der-
64
artige Fälle mithilfe der Freethought Society of Greater Phila-
delphia systematisch auf.”° Ihre Datenbank mit Vorfällen in
den Kategorien Gemeinde, Schule, Arbeitsplatz, Medien, Fa-
milie und Behörden enthält Beispiele von Belästigung, Arbeits-
platzverlust, Meidung durch Angehörige und sogar Mord.?”
Angesichts ihrer dokumentierten Belege für Hass und Missver-
ständnisse gegenüber Atheisten glaubt man ohne weiteres, dass
es für einen ehrlichen Atheisten in den Vereinigten Staaten
so gut wie unmöglich ist, eine Wahl zu gewinnen. Das Reprä-
sentantenhaus besteht aus 435 Abgeordneten, der Senat hat
100 Mitglieder. Geht man davon aus, dass diese 535 Personen
in ihrer Mehrzahl zu den gebildeten Bevölkerungsgruppen ge-
hören, muss eine beträchtliche Zahl von ihnen schon aus statis-
tischen Gründen Atheisten sein. Um gewählt zu werden, muss-
ten sie lügen oder ihre wahren Gefühle verbergen. Wer mag es
ihnen verdenken angesichts der Wählerschaft, die sie überzeu-
gen mussten? Nach allgemeinem Dafürhalten wäre ein Be-
kenntnis zum Atheismus für jeden Präsidentschaftskandidaten
politischer Selbstmord.
Über ein solches politisches Klima in den Vereinigten Staa-
ten und seine Folgen wären Jefferson, Washington, Madison,
Adams und all ihre Freunde entsetzt gewesen. Ob sie nun
Atheisten, Agnostiker, Deisten oder Christen waren, vor den
Theokraten im Washington zu Beginn des 21. Jahrhunderts
wären sie erschrocken zurückgewichen. Stattdessen hätten sie
sich zu den säkularen Gründervätern des postkolonialen Indien
hingezogen gefühlt, insbesondere zu dem religiösen Gandhi
(Ich bin Hindu, ich bin Moslem, ich bin Jude, ich bin Christ,
ich bin Buddhist!«) und zu dem Atheisten Nehru, der einmal
sagte:
65
am liebsten damit aufräumen. Es steht anscheinend immer
für blinden Glauben und Reaktion, Dogma und Bigotterie,
Aberglauben, Ausbeutung und die Durchsetzung von Grup-
peninteressen.
*
»Sire,diese Hypothese brauche ich nicht«, sagte Laplace, als Napoleon sich erkundig-
te, wie der berühmte Mathematiker sein Buch schreiben konnte, ohne Gott zu er-
wähnen.
66
den, einschließlich der irrigen Vorstellung, die Existenz oder
Nichtexistenz Gottes sei eine Tabufrage, die für alle Zeiten
außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liege.
67
tung abschätzen. Ein gewisser Agnostizismus ist die angemes-
sene Haltung in vielen wissenschaftlichen Fragen, beispielsweise
wenn es um die Ursachen des großen Aussterbens am Ende des
Perm geht, das größte Artensterben der Erdgeschichte. Es
könnte auf einen Meteoriteneinschlag zurückzuführen sein,
wie er nach heutiger Indizienlage mit größerer Wahrschein-
lichkeit das spätere Aussterben der Dinosaurier verursachte.
Aber man kann sich auch mehrere andere Ursachen einzeln
oder in Kombination vorstellen. In der Frage nach den Ursa-
chen beider Aussterbeereignisse ist Agnostizismus also ver-
nünftig. Doch wie steht es mit der Frage nach Gott? Sollten wir
auch da Agnostiker sein? Dies wurde vielfach mit einem klaren
Ja beantwortet, und oft schwang dabei eine Selbstsicherheit
mit, die an Überheblichkeit grenzte. Ist eine solche Einstellung
richtig?
Zunächst möchte ich zwei Formen des Agnostizismus un-
terscheiden. Ein vorübergehender pragmatischer Agnostizis-
mus (VPA) ist das legitime Abwarten, ob es in der einen oder
anderen Richtung eine eindeutige Antwort gibt, zu der wir je-
doch bislang mangels Belegen nicht gelangen konnten (oder
auch weil wir die Belege nicht verstehen, weil wir noch keine
Zeit hatten, die Belege zu lesen, usw.). VPA wäre zum Beispiel
in der Frage nach dem Artensterben im Perm ein vernünftiger
Standpunkt. Es gibt eine Wahrheit, und irgendwann werden
wir sie hoffentlich erfahren; aber im Augenblick kennen wir sie
noch nicht.
Es gibt aber auch eine zutiefst unvermeidliche Form des Ab-
wartens, und die bezeichne ich als PPA (prinzipieller perma-
nenter Agnostizismus). PPAeignet sich für Fragen, die sich nie
beantworten lassen, ganz gleich, wie viele Belege wir sammeln,
einfach weil die Vorstellung, es könnte Belege geben, nicht zu-
trifft. Die Frage liegt auf einer anderen Ebene oder in einer an-
deren Dimension außerhalb des Bereichs, der für Beweise zu-
gänglich ist. Als Beispiel kann hier eine alte philosophische
68
Kamelle dienen, die Frage, ob ein anderer die Farbe Rot genauso
sieht wie man selbst. Vielleicht ist dein Rot mein Grün, viel-
leicht ist es auch ganz anders als alle Farben, die ich mir vorstel-
len kann. Dies bezeichnen Philosophen häufig als eine Frage, die
sich nie beantworten lässt, ganz gleich, welche Belege vielleicht
eines Tages zur Verfügung stehen. Und manche Wissenschaft-
ler und andere Intellektuelle sind - nach meiner Überzeugung
allzu eifrig - überzeugt, dass auch die Frage nach der Existenz
Gottes in die für alle Zeiten unzugängliche PPA-Kategorie ge-
hört. Wie wir noch sehen werden, ziehen sie daraus häufig den
unlogischen Schluss, die Hypothese von Gottes Existenz und
die Hypothese von Gottes Nichtexistenz könnten mit genau
der gleichen Wahrscheinlichkeit richtig sein. Ich werde hier
einen ganz anderen Standpunkt vertreten: Der Agnostizismus
hinsichtlich der Existenz Gottes gehört eindeutig in die VPA-
Kategorie. Entweder Gott existiert, oder er existiert nicht. Es
ist eine wissenschaftliche Frage. Eines Tages werden wir die
Antwort kennen, und bis es so weit ist, können wir einige sehr
stichhaltige Aussagen über die Wahrscheinlichkeit machen.
In der Geistesgeschichte gibt es viele Beispiele für Fragen,
von denen man früher glaubte, sie seien der Wissenschaft für
alle Zeiten unzugänglich, und später wurden sie dennoch be-
antwortet. Der berühmte französische Philosoph Comte
schrieb 1835 über die Sterne: »Wir werden nie und mit keiner
Methode in der Lage sein, ihre chemische Zusammensetzung
oder ihren mineralogischen Aufbau zu untersuchen.« Aber
schon bevor Comte diese Worte zu Papier brachte, hatte Fraun-
hofer begonnen, mit seinem Spektroskop die chemische Zu-
sammensetzung der Sonne zu analysieren. Heute widerlegen
Wissenschaftler mit Spektralanalysen jeden Tag Comtes Agnos-
tizismus und ermitteln sehr genau die chemische Zusammen-
setzung auch weit entfernter Sterne.” Ganz gleich, welche
Stellung Comtes Agnostizismus einnimmt, die Geschichte
mahnt zur Vorsicht: Wir sollten zumindest innehalten, bevor
69
wir allzu laut die ewige Wahrheit des Agnostizismus verkün-
den. Dennoch tun viele Philosophen und Wissenschaftler mit
Vergnügen genau das, wenn es um Gott geht. Das begann
schon bei T.H. Huxley selbst, der den Begriff überhaupt erst
erfand.”
Huxley erklärte seine Wortschöpfung, als er sich gegen einen
dadurch ausgelösten persönlichen Angriff zur Wehr setzte. Re-
verend Dr. Wace, der Leiter des Londoner King’s College, hatte
Hohn und Spott über Huxleys »feigen Agnostizismus« ausge-
schüttet:
Huxley war nicht der Typ, der eine solche Provokation auf sich
sitzen ließ. Seine 1889 verfasste Antwort war so deftig und sar-
kastisch, wie man es von ihm erwarten würde (auch wenn er
nie seine guten Manieren vergaß: Als »Darwins Kettenhund«
hatte er seine Zähne mit zivilisierter viktorianischer Ironie ge-
schärft). Nachdem er Dr. Wace seine wohlverdiente Strafe ver-
passt und die Überreste begraben hatte, kam Huxley auf das
Wort »Agnostiker« zurück und erläuterte, wie er darauf verfal-
len war. Andere, so erklärte er,
sind sich ganz sicher, dass sie eine gewisse »Gnosis« erlangt
haben - dass sie das Rätsel des Daseins mehr oder weniger
erfolgreich gelöst hätten; ich war mir ganz sicher, dass es mir
nicht gelungen war, und gelangte zu der festen Überzeu-
gung, dass es sich um ein unlösbares Problem handelt. Mit
70
Hume und Kant an meiner Seite hielt ich mich nicht für vor-
eilig, wenn ich an dieser Überzeugung festhielt. [...] Also
dachte ich nach und erfand eine Bezeichnung, die ich für zu-
treffend hielt: den »Agnostiker«.
Das sind edle Worte für einen Wissenschaftler, und einen T.H.
Huxley kritisiert man nicht leichtfertig. Aber als Huxley sich so
auf die Unmöglichkeit konzentrierte, Gott zu beweisen oder
zu widerlegen, ignorierte er offenbar die Abstufungen der
Wahrscheinlichkeit. Die Tatsache, dass wir die Existenz von et-
was weder beweisen noch widerlegen können, hebt die Exis-
tenz und Nichtexistenz dieses Etwas nicht in den gleichen
Rang. Ich glaube nicht, dass Huxley mir hier widersprechen
würde; als er scheinbar eine andere Ansicht vertrat, machte er
nach meiner Vermutung nur einen Rückzieher und gestand
einen Punkt zu, um sich einen anderen zu sichern. So etwas hat
jeder von uns hier und da schon einmal getan.
Anders als Huxley vertrete ich die Ansicht, dass die Existenz
71
Gottes eine wissenschaftliche Hypothese ist wie jede andere.
Sie in der Praxis zu überprüfen ist zwar schwierig, aber sie
gehört in dieselbe Kategorie des VPA wie die Kontroversen über
das Artensterben am Ende von Perm oder Kreidezeit. Gottes
Existenz oder Nichtexistenz ist eine wissenschaftliche Erkennt-
nis über das Universum, die man zumindest im Prinzip gewin-
nen kann, auch wenn es in der Praxis vielleicht nicht möglich
ist. Wenn Gott existiert und sich entscheidet, diese Tatsache zu
offenbaren, kann er selbst die Diskussion lautstark und eindeu-
tig zu seinen Gunsten entscheiden. Und wenn Gottes Existenz
nie mit Sicherheit bewiesen oder widerlegt werden kann, kön-
nen wir anhand der verfügbaren Anhaltspunkte und mit unse-
rer Vernunft zu einer Abschätzung der Wahrscheinlichkeit ge-
langen, die weit von 50 Prozent entfernt ist.
Nehmen wir also den Gedanken, dass es ein Spektrum von
Wahrscheinlichkeiten gibt, ernst, und ordnen wir die Aussagen
der Menschen über die Existenz Gottes darin zwischen den
Extremen der gegensätzlichen Sicherheiten an. Es ist ein unun-
terbrochenes Spektrum, aber man kann es mit den folgenden
sieben Punkten abbilden:
Te
5. Unter 50 Prozent, aber nicht sehr niedrig. Fachsprach-
lich: agnostisch mit Neigung zum Atheismus. »Ich weiß
nicht, ob Gott existiert, aber ich bin eher skeptisch.«
6. Sehr geringe Wahrscheinlichkeit, knapp über null. De
facto atheistisch. »Ich kann es nicht sicher wissen, aber ich
halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Gott existiert,
und führe mein Leben unter der Annahme, dass es ihn
nicht gibt.«
7. Stark atheistisch. »Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, und
bin davon ebenso überzeugt, wie Jung »weiß«,dass es ihn
gibt.«
Es würde mich wundern, wenn mir viele Menschen aus der Ka-
tegorie 7 begegnen würden, aber ich habe sie wegen der Sym-
metrie zur Kategorie 1 hinzugenommen, denn diese ist reich-
lich bevölkert. Es liegt in der Natur des Glaubens, dass man wie
Jung in der Lage ist, eine Überzeugung ohne ausreichende Be-
gründung zu besitzen (Jung glaubte auch, bestimmte Bücher in
seinem Regal würden von selbst mit einem lauten Knall explo-
dieren). Atheisten haben keinen Glauben, und mit Vernunft al-
lein kann man nicht zu der totalen Überzeugung gelangen, dass
etwas nicht existiert. Deshalb ist die Kategorie 7 in der Praxis
sicher weniger gut gefüllt als ihr Gegenüber, die Kategorie 1,
die viele engagierte Bewohner hat. Mich selbst rechne ich zur
Kategorie 6 mit starker Neigung zur 7; agnostisch bin ich nur in
dem gleichen Ausmaß wie gegenüber der Frage, ob unter mei-
nem Garten Feen leben.
Das Spektrum der Wahrscheinlichkeiten lässt sich gut auf
den VPA (vorübergehenden pragmatischen Agnostizismus) an-
wenden. Auf den ersten Blick ist es verlockend, den PPA (per-
manenten prinzipiellen Agnostizismus) in der Mitte des Spek-
trums anzusiedeln, wo die Existenz Gottes eine Wahrschein-
lichkeit von 50 Prozent hat, aber das ist falsch. PPA-Vertreter
behaupten, wir könnten in dieser oder jener Richtung nichts
)
darüber aussagen, ob Gott existiert. Die Frage ist für PPA-
Agnostiker prinzipiell nicht zu beantworten, und sie müssten
es eigentlich strikt ablehnen, sich irgendwo in dem Spektrum
der Wahrscheinlichkeiten einordnen zu lassen. Die Tatsache,
dass ich nicht sagen kann, ob dein Rot mein Grün ist, legt die
Wahrscheinlichkeit nicht auf 50 Prozent fest. Die angebotene
Behauptung ist so sinnlos, dass man sie nicht mit einer zahlen-
mäßigen Wahrscheinlichkeit aufwerten sollte. Dennoch wird
dieser verbreitete Fehler immer wieder begangen: Von der Vo-
raussetzung, dass die Frage nach der Existenz Gottes prinzipiell
nicht zu beantworten ist, vollziehen wir den Sprung zu der
Schlussfolgerung, seine Existenz und Nichtexistenz seien glei-
chermaßen wahrscheinlich.
Man kann den gleichen Fehler auch unter dem Gesichts-
punkt der Beweislast betrachten; in dieser Form wird er auf
vergnügliche Weise von Bertrand Russell mit der Parabel von
der himmlischen Teekanne nachgewiesen.
74
Existenz zu glauben, zu einem Kennzeichen von Exzentrik,
und der Zweifler würde in einem aufgeklärten Zeitalter die
Aufmerksamkeit von Psychiatern erregen, in einer früheren
Zeit dagegen die der Inquisitoren. ”
* Hier war ich vielleicht etwas zu voreilig. Denn im Independent on Sunday erschien am
5. Juni 2005 folgende Meldung: »Nach Angaben malaysischer Behörden hat sich eine
religiöse Sekte, die eine heilige Teekanne von der Größe eines Hauses gebaut hat,
über die Planungsvorschriften hinweggesetzt.« Vgl. http://news.bbc.co.uk/2/hi/asia-
pacific/4692039.stm (25.3.2007).
2)
Darrow sagte einmal: »Ich glaube so wenig an Gott, wie ich an
Rotkäppchen glaube.« Nach Ansicht des Journalisten Andrew
Mueller ist das Bekenntnis, man gehöre einer bestimmten Reli-
gion an, »nicht mehr und nicht weniger seltsam, als würde man
sich entschließen zu glauben, dass die Erde die Form eines
Rhombus habe und in den Scheren zweier riesiger grüner
Hummer namens Esmeralda und Keith durch den Kosmos ge-
tragen werde. Ein Lieblingstier der Philosophen ist das un-
sichtbare, unberührbare, unhörbare Einhorn, dessen Widerle-
gung die Kinder bei Camp Quest jedes Jahr versuchen.* Eine
im Internet sehr beliebte Gottheit - die sich ebenso wenig wi-
derlegen lässt wie Jahwe oder jede andere - ist derzeit das flie-
gende Spaghettimonster, das die Menschen vielfachen Behaup-
tungen zufolge mit seinem nudeligen Anhängsel tief berührt.”
Zu meinem Entzücken habe ich gesehen, dass das Evangelium
des fliegenden Spaghettimonsters inzwischen auch als Buch er-
schienen ist und großen Anklang findet.” Ich habe es selbst
noch nicht gelesen, aber wer muss schon ein Evangelium lesen,
wenn man doch weiß, dass es wahr ist? Übrigens kam es, wie es
kommen musste: Die große Spaltung ist bereits eingetreten,
und so gibt es jetzt auch eine Reformierte Kirche des fliegenden
Spaghettimonsters.”’
All diese aberwitzigen Beispiele haben eines gemeinsam: Sie
lassen sich nicht widerlegen, und doch glaubt niemand, die
Hypothese ihrer Existenz stehe auf der gleichen Stufe wie die
Hypothese ihrer Nichtexistenz. Russells entscheidende Aus-
* Camp Quest lenkt die amerikanische Institution der Sommerlager in eine ganz neue,
bewundernswerte Richtung. Während andere Sommerlager nach einem religiösen
oder Pfadfinder-Ethos geführt werden, wird Camp Quest, in Kentucky von Edwin
und Helen Kagin gegründet, von säkularen Humanisten geleitet, und die Kinder wer-
den aufgefordert, skeptisch und selbstständig zu denken. Außerdem lassen sie es sich
mit allen üblichen Outdoor-Aktivitäten gut gehen (www.camp-quest.org). Andere
Camp Quests mit ähnlichem Hintergrund sind mittlerweile in Tennessee, Minnesota,
Michigan, Ohio und Kanada entstanden.
76
sage lautet: Die Beweislast liegt nicht bei den Ungläubigen,
sondern bei den Gläubigen. Und mir geht es darum, dassfür die
Teekanne (das Spaghettimonster/Esmeralda und Keith/das
Einhorn usw.) nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit spricht wie
dagegen.
Dass Teekannen in Umlaufbahnen und Zahnfeen sich nicht
widerlegen lassen, gehört für keinen vernünftigen Menschen zu
den Tatsachen, die zu interessanten Diskussionen führen. Nie-
mand von uns fühlt sich verpflichtet, all die unzähligen herge-
holten Dinge zu widerlegen, die eine fruchtbare oder witzige
Fantasie sich ausdenken kann. Nach meiner Erfahrung ist es eine
amüsante Strategie, wenn ich auf die Frage, ob ich Atheist sei,
darauf hinweise, dass der Fragesteller ebenfalls Atheist ist, näm-
lich in Bezug auf Zeus, Apollo, Amon Ra, Mithras, Baal, Thor,
Wotan, das Goldene Kalb oder das fliegende Spaghettimonster.
Ich bin einfach schon einen Gott weiter.
Jeder von uns fühlt sich berechtigt, Skepsis bis hin zum regel-
rechten Unglauben zu äußern - nur besteht im Fall der Einhör-
ner, Zahnfeen oder der Götter Griechenlands, Roms, Ägyptens
oder der Wikinger (jedenfalls heute) keine Notwendigkeit, sich
diese Mühe zu machen. Im Fall des abrahamitischen Gottes da-
gegen müssen wir uns anstrengen, denn ein beträchtlicher An-
teil der Menschen, mit denen wir unseren Planeten teilen,
glaubt fest an seine Existenz. Wie Russells Teekanne zeigt, än-
dert die Tatsache, dass der Glaube an Gott im Vergleich zum
Glauben an die himmlische Teekanne weit verbreitet ist, aus
logischer Sicht überhaupt nichts an der Verteilung der Beweis-
last. Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Politik mag es
allerdings durchaus so erscheinen, als verschöbe sie sich. Dass
man Gottes Nichtexistenz nicht beweisen kann, ist eine allge-
mein anerkannte, triviale Erkenntnis, und sei es auch nur in
dem Sinn, dass man die Nichtexistenz von irgendetwas niemals
absolut beweisen kann. Entscheidend ist nicht, ob Gottes Exis-
tenz widerlegbar ist (das ist sie nicht), sondern ob sie wahr-
ZA
scheinlich ist. Das ist eine ganz andere Frage. Manche nicht wi-
derlegbaren Dinge gelten vernünftigerweise als sehr viel un-
wahrscheinlicher als andere, die ebenfalls nicht zu widerlegen
sind. Es besteht kein Anlass, Gott von solchen Überlegungen
im Spektrum der Wahrscheinlichkeiten auszunehmen. Und
erst recht besteht kein Anlass zu der Annahme, Gottes Exis-
tenz habe eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, nur weil
wir sie nicht widerlegen können. Ganz im Gegenteil. Mehr da-
zu später.
NOMA
78
Anschließend zitiert McGrath Stephen Jay Gould mit einer
ganz ähnlichen Aussage: »Um es für alle meine Kollegen und
zum soundsoviel millionsten Mal (von nächtlichen Diskussio-
nen im College bis zu gelehrten Abhandlungen) zu sagen: Die
Naturwissenschaft kann (jedenfalls mit ihren legitimen Me-
thoden) kein Urteil darüber abgeben, ob Gott die Natur beauf-
sichtigt. Wir können es weder bestätigen noch bestreiten; wir
können als Naturwissenschaftler einfach keinen Kommentar
dazu abgeben.« Trotz des selbstsicheren und fast einschüch-
ternden Tons von Goulds Behauptung muss man fragen, wie
eine solche Aussage zu rechtfertigen ist. Warum sollen wir als
Naturwissenschaftler keine Kommentare über Gott abgeben?
Und warum ist Russells Teekanne oder das fliegende Spaghetti-
monster nicht ebenso immun gegenüber naturwissenschaftli-
cher Skepsis? Wie ich in Kürze genauer darlegen werde, wäre
ein Universum mit einem schöpferischen Aufseher ganz anders
geartet als ohne ihn. Warum soll das keine naturwissenschaftli-
che Angelegenheit sein?
In geradezu epischer Breite betrieb Gould die Kunst der
geistigen Rolle rückwärts in Rocks ofAges: Scienceand Religion
in the Fullness of Life (»Felsen der Zeiten: Wissenschaft und Re-
ligion in der Fülle des Lebens«), einem seiner weniger bekann-
ten Bücher. Dort prägte er die Abkürzung NOMA für den
Ausdruck »non-overlapping magisteria« (»nicht überlappende
Wissensbereiche«):
79
nach dem Sinn der Schönheit). Um ein altes Klischee zu
strapazieren: Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Alter
der Felsen und Religion mit dem Fels des Glaubens; Wissen-
schaft fragt, wie der Himmel funktioniert, und Religion, wie
man in den Himmel kommt.
80
Welche Fachkenntnisse, die ein Naturwissenschaftler nicht
besitzt, können Theologen in die Untersuchung weit reichen-
der kosmologischer Fragen einbringen? In einem anderen Buch
habe ich berichtet, was mir ein Astronom aus Oxford antwor-
tete, als ich ihm eine dieser weit reichenden Fragen stellte:
»Ach, damit verlassen wir den Bereich der Naturwissenschaft.
An dieser Stelle muss ich das Wort meinem guten Freund er-
teilen, dem Kaplan.« Ich war damals nicht schlagfertig genug,
um die Antwort zu geben, die ich später zu Papier brachte:
»Aber warum dem Kaplan? Warum nicht dem Gärtner oder
dem Koch?« Warum sind Naturwissenschaftler so voll krieche-
rischem Respekt vor den Ambitionen der Theologen - und das
in Fragen, zu deren Beantwortung die Theologen sicher keine
größere Qualifikation mitbringen als die Naturwissenschaftler
selbst?
Einem langweiligen Klischee zufolge (das im Gegensatz zu
anderen Klischees noch nicht einmal stimmt) beschäftigt sich
die Naturwissenschaft mit Fragen nach dem Wie, während nur
die Theologie die Voraussetzungen mitbringt, Fragen nach
dem Warum zu beantworten. Was um alles in der Welt ist eine
Frage nach dem Warum? Nicht jeder Satz, der mit dem Wort
»Warum« beginnt, ist eine legitime Frage. Warum sind Ein-
hörner innen hohl? Manche Fragen verdienen einfach keine
Antwort. Welche Farbe hat die Abstraktion? Wie riecht die
Hoffnung? Nur weil man eine Frage in einen grammatikalisch
korrekten Satz kleiden kann, bedeutet das nicht, dass sie sinn-
voll wäre oder ein Anrecht auf unsere ernsthafte Aufmerk-
samkeit hätte. Und selbst wenn es sich um eine echte Frage
handelt und wenn die Naturwissenschaft sie nicht beantwor-
ten kann, heißt das noch lange nicht, dass die Religion dazu in
der Lage wäre.
Vielleicht gibt es tatsächlich tief greifende, sinnvolle Fragen,
die für alle Zeiten außerhalb des Bereiches der Naturwissen-
schaft liegen werden. Vielleicht klopft schon die Quanten-
81
theorie an die Tür des Unergründlichen. Aber wenn die Na-
turwissenschaft solche letzten Fragen nicht beantworten kann,
wieso denkt dann irgendjemand, die Religion sei dazu in der
Lage? Nach meiner Vermutung glaubte weder der Astronom
aus Oxford noch der aus Cambridge wirklich, dass Theologen
eine Qualifikation zur Beantwortung von Fragen besitzen, die
für die Naturwissenschaft zu tiefschürfend sind. Ich habe viel-
mehr den Verdacht, dass beide Astronomen sich wieder ein-
mal ein Bein ausrissen, um höflich zu sein: Theologen haben
über nichts anderes etwas Lohnendes zu sagen; werfen wir ih-
nen also einen Brocken hin, dann können sie sich eine Zeit lang
Gedanken über Fragen machen, die kein anderer beantworten
kann und die vielleicht niemals beantwortet werden. Ich selbst
glaube im Gegensatz zu meinen Astronomenfreunden nicht,
dass man ihnen solche Brocken hinwerfen sollte. Ich warte
noch immer auf einen stichhaltigen Grund für die Annahme,
dass die Theologie (im Unterschied zu historischer Bibel-
kunde, Literatur usw.) überhaupt ein Forschungsgegenstand
ist.
Ebenso können wir uns auch darauf einigen, dass die Be-
rechtigung der Naturwissenschaft, uns Ratschläge über morali-
sche Werte zu erteilen, gelinde gesagt problematisch ist. Aber
will Gould wirklich der Religion das Recht zugestehen, uns zu
sagen, was gut und was schlecht ist? Die Tatsache, dass sie an-
sonsten nichts zum Wissen der Menschheit beizutragen hat, ist
kein Grund, der Religion einen Freibrief zu erteilen und Hand-
lungsanweisungen von ihr entgegenzunehmen. Und über-
haupt: Welche Religion meinen wir eigentlich? Diejenige, in
der wir zufällig aufgewachsen sind? Und wenn ja, an welches
Kapitel, welches Buch der Bibel sollen wir uns halten - die sind
nämlich alles andere als einheitlich, und manche sind nach al-
len vernünftigen Maßstäben einfach widerwärtig. Wie viele
von denen, die die Bibel wörtlich nehmen, haben ausreichend
darin gelesen und wissen, dass die Todesstrafe nicht nur für
82
Ehebruch vorgeschrieben ist, sondern auch für das Sammeln
von Holz am Sabbat oder für freche Bemerkungen zu den El-
tern? Wenn wir das Dritte und Fünfte Buch Mose (Leviticus
und Deuteronomium) mit ihren vielen abwegigen Vorschrif-
ten ablehnen (was heute alle aufgeklärten Menschen tun),
nach welchen Kriterien entscheiden wir dann, welche morali-
schen Werte einer Religion wir uns zu eigen machen? Oder
sollen wir unter allen Religionen der Welt suchen, bis wir eine
finden, deren ethische Lehre uns in den Kram passt? Und wenn
ja, dann müssen wir erneut fragen: Nach welchen Kriterien
wählen wir aus? Und wenn wir unabhängige Kriterien haben,
um zwischen den Ethiken der verschiedenen Religionen zu
wählen, warum lassen wir dann nicht die mittlere Instanz weg
und treffen unsere ethischen Entscheidungen gleich ganz ohne
Religion? Auf solche Fragen werde ich im siebten Kapitel zu-
rückkommen.
Ich kann einfach nicht glauben, dass Gould, was er in Rocks
ofAges geschrieben hat, wirklich so meinte. Wie gesagt, wir ha-
ben uns alle schuldig gemacht, weil wir uns verleugnet haben,
um zu einem unwürdigen, aber mächtigen Gegner freundlich
zu sein, und ich kann mir nur vorstellen, dass auch Gould ge-
nau das getan hat. Allerdings kann man sich auch vorstellen,
dass er seine eindeutige, energische Aussage, Naturwissen-
schaft habe über die Existenz Gottes nicht das Geringste zu
sagen, tatsächlich so beabsichtigte: »Wir können es weder
bestätigen noch bestreiten; wir können als Naturwissenschaft-
ler einfach keinen Kommentar dazu abgeben.« Das hört sich
nach dauerhaftem, unabänderlichem Agnostizismus an, also
nach einem richtigen PPA. Es besagt, dass die Naturwissen-
schaft in religiösen Fragen nicht einmal Wahrscheinlichkeiten
beurteilen kann. In diesem bemerkenswert weit verbreiteten
Irrtum - viele wiederholen ihn wie ein Mantra, aber nach mei-
ner Vermutung haben nur die wenigsten gründlich darüber
nachgedacht - verkörpert sich das, was ich als »Armut des
ja
Agnostizismus« bezeichne. Gould selbst war übrigens kein un-
parteiischer Agnostiker, sondern er neigte stark einem echten
Atheismus zu. Auf welcher Grundlage gelangte er zu einer sol-
chen Haltung, wenn er doch der Meinung war, man könne nichts
darüber aussagen, ob Gott existiert?
Die Gotteshypothese besagt, es gebe in der uns umgebenden
Realität eine übernatürliche Handlungsinstanz, die das Univer-
sum entworfen hat und es - zumindest in vielen Versionen der
Hypothese - auch verwaltet und sogar mit Wundern eingreift,
das heißt mit vorübergehenden Verletzungen seiner ansonsten
erhabenen, unabänderlichen Gesetze. Richard Swinburne, einer
der führenden britischen Theologen, äußert sich in seinem
Buch Is There a God? (Gibt es einen Gott?) überraschend ein-
deutig zu diesem Thema:
Der Theist behauptet von Gott, dieser habe die Kraft, alles,
groß oder klein, zu erschaffen, zu erhalten oder zu vernich-
ten. Er kann auch Dinge sich bewegen oder etwas anderes
tun lassen. ... Er kann Dinge veranlassen, sich so zu bewe-
gen, wie sie sich gemäß Keplers Entdeckung tatsächlich be-
wegen. Er kann veranlassen, dass Schießpulver explodiert,
wenn man ein brennendes Streichholz daran hält; er kann
veranlassen, dass Planeten sich auf eine bestimmte Weise
verhalten; er kann chemische Substanzen explodieren oder
nicht explodieren lassen auch nach ganz anderen Gesetz-
mäßigkeiten als denen, die wir kennen. Gott ist nicht durch
die Gesetze der Natur beschränkt; er macht sie und kann sie
ändern oder aufheben, wenn er es will.
Das ist doch allzu einfach, oder? Nun, was es auch sein mag,
von der NOMA-These ist es jedenfalls weit entfernt. Und was
die Wissenschaftler, die sich der Denkschule der »getrennten
Wissensbereiche« angeschlossen haben, auch sonst noch sa-
gen mögen, sie sollten jedenfalls einräumen, dass ein Univer-
84
sum mit einem übernatürlichen, intelligenten Schöpfer etwas
ganz anderes ist als ein Universum ohne ihn. Der Unterschied
zwischen diesen beiden hypothetischen Universen könnte
kaum grundsätzlicher sein, auch wenn er sich in der Praxis
nicht ohne weiteres überprüfen lässt. Er untergräbt überdies
den selbstgefällig-verführerischen Grundsatz, wonach die
Naturwissenschaft im Zusammenhang mit der zentralen Exis-
tenzberechtigung der Religion zu schweigen habe. Dabei ist
die Gegenwart oder Abwesenheit einer schöpferischen Über-
intelligenz eindeutig eine wissenschaftliche Frage, auch wenn
sie in der Praxis nicht —oder noch nicht - entschieden ist. Das
Gleiche gilt für den Wahrheits- oder Unwahrheitsgehalt je-
der einzelnen jener Wundergeschichten, auf die die Religio-
nen zurückgreifen, um die Massen der Gläubigen zu beein-
drucken.
Hatte Jesus einen Menschen als Vater, oder war seine Mut-
ter zum Zeitpunkt seiner Geburt noch Jungfrau? Unabhängig
davon, ob heute noch genügend Belege existieren, um dies zu
entscheiden, handelt es sich hier um eine streng wissen-
schaftliche Frage, auf die es prinzipiell eine eindeutige Ant-
wort gibt: ja oder nein. Weckte Jesus Lazarus von den Toten
auf? Kam er selbst lebend wieder, nachdem er drei Tage zuvor
gekreuzigt worden war? Auf jede derartige Frage gibt es eine
Antwort, ob wir sie in der Praxis finden können oder nicht,
und diese Antwort ist ausschließlich naturwissenschaftlicher
Art. Bei den Methoden, die wir zu ihrer Beantwortung an-
wenden sollten, falls der unwahrscheinliche Fall eintreten
sollte, dass irgendwann geeignete Belege zur Verfügung ste-
hen, handelt es sich ausschließlich um rein wissenschaftliche
Methoden. Um die entscheidende Aussage noch dramati-
scher zu formulieren: Angenommen, forensische Archäolo-
gen förderten aufgrund besonderer Umstände und anhand
von DNA-Analysen den Beweis zutage, dass Jesus tatsächlich
keinen biologischen Vater hatte, kann man sich dann vorstel-
85
len, dass die Religionsvertreter mit den Achseln zucken und
auch nur annähernd etwas sagen würden wie »Na und?
Naturwissenschaftliche Beweise sind in theologischen Fra-
gen völlig bedeutungslos. Falscher Wissensbereich! Uns geht
es nur um letzte Fragen und ethische Werte. Weder DNA-
Analysen noch irgendwelche anderen naturwissenschaftli-
chen Belege haben für diese Frage so oder so die geringste Be-
deutung«?
Schon die Idee ist ein Witz. Man kann sein letztes Hemd
verwetten: Sollte es einen solchen naturwissenschaftlichen Be-
weis geben, würden alle sich darauf stürzen und ihn lautstark
verkünden. NOMA ist nur deshalb so beliebt, weil es keinen
Beleg für die Gotteshypothese gibt. Sobald es auch nur den
Hauch eines Indizes zugunsten des religiösen Glaubens gäbe,
würden die Religionsvertreter ohne Zögern die ganze Idee von
den getrennten Wissensbereichen über Bord werfen. Lassen
wir ausgebuffte Theologen einmal beiseite (obwohl auch die
den Unbedarften gern Wundergeschichten erzählen, um die
Gemeinden zu vergrößern): Ich habe den Verdacht, dass die
angeblichen Wunder für viele Gläubige der stärkste Grund des
Glaubens sind; und Wunder verletzen definitionsgemäß die
Gesetze der Naturwissenschaft.
Die römisch-katholische Kirche scheint einerseits manch-
mal nach NOMA zu streben, aber andererseits macht sie die
Vollbringung von Wundern zur unbedingten Voraussetzung für
die Heiligsprechung. So ist zum Beispiel ein Kandidat für die
Heiligsprechung der verstorbene belgische König —wegen sei-
ner Haltung zur Abtreibung. Derzeit laufen ernsthafte Unter-
suchungen, weil man feststellen will, ob nach seinem Tod ir-
gendwelche Wunderheilungen auf an ihn gerichtete Gebete
zurückzuführen sind. Das ist kein Witz. So ist es wirklich, und
es ist typisch für die Heiligengeschichten. Ich stelle mir vor,
dass das ganze Getue auch den gebildeteren Kreisen innerhalb
der Kirche peinlich sein muss. Warum es in der Kirche über-
86
haupt noch Kreise gibt, die die Bezeichnung »gebildet« verdie-
nen, ist ein mindestens ebenso großes Rätsel wie die, an denen
die Theologen ihre Freude haben.
Angesichts von Wundergeschichten hätte Gould wahr-
scheinlich ungefähr nach dem folgenden Muster geantwortet:
Der Witz an NOMA ist doch, dass es sich um einen Deal auf
Gegenseitigkeit handelt. Sobald Religion sich in das Revier
der Naturwissenschaft begibt und dort mit Wundern herum-
pfuscht, ist sie keine Religion mehr in dem Sinn, den Gould
verteidigt, und die liebenswürdige Eintracht ist dahin. Dabei
bleibt aber festzuhalten, dass die wunderfreie Religion, für die
Gould sich einsetzt, von den meisten praktizierenden Theis-
ten auf Kanzel oder Gebetsteppich gar nicht mehr als Reli-
gion anerkannt würde. Sie wären davon zutiefst enttäuscht.
Oder, in einer Abwandlung von Alices Bemerkung über das
Buch ihrer Schwester, bevor sie ins Wunderland stürzt: Wozu
ist ein Gott gut, der keine Wunder tut und keine Gebete er-
hört?
Denken wir doch an Ambrose Bierces scharfsinnige Defini-
tion des Wortes »beten«: »Darum bitten, dass die Gesetze des
Universums wegen eines einzigen, eingestandenermaßen un-
würdigen Bittstellers außer Kraft gesetzt werden.« Manche
Sportler glauben, dass Gott ihnen hilft, zu gewinnen - gegen
Konkurrenten, die genau genommen seiner Gunst nicht weni-
ger würdig sind. Autofahrer glauben, dass Gott ihnen eine Park-
lücke reserviert - und sie damit vermutlich einem anderen
wegnimmt. Diese Art des Theismus erfreut sich einer peinlich
großen Beliebtheit und lässt sich vermutlich durch nichts an-
deres beeindrucken als durch eine (oberflächlich) vernünftige
NOMA-Idee.
Aber folgen wir Gould ruhig einmal und stutzen wir die Re-
ligion auf eine Art nicht interventionistisches Minimum zu-
sammen: keine Wunder, keine persönliche Kommunikation zwi-
schen Gott und uns —weder in der einen noch in der anderen
87
Richtung -, kein Herumpfuschen an den Gesetzen der Physik,
kein Betreten des naturwissenschaftlichen Rasens. Höchstens
ein bisschen deistische Mitwirkung bei den Anfangsbedingun-
gen des Universums, sodass über lange Zeiträume hinweg
Sterne, Elemente, Chemie und Planeten entstehen konnten
und die Evolution des Lebens stattfand. Das ist doch sicher
eine angemessene Trennung? Zumindest mit einer solchen be-
scheidenen, unauffälligen Religion sollte NOMA doch leben
können, oder?
Nun ja, das könnte man meinen. Ich bin allerdings der An-
sicht, dass selbst ein nicht eingreifender NOMA-Gott, der viel
weniger gewalttätig und unbeholfen ist als der abrahamiti-
sche Gott, bei fairer, unvoreingenommener Betrachtung im-
mer noch eine wissenschaftliche Hypothese ist. Damit bin
ich wieder bei meiner Aussage: Ein Universum, in dem wir al-
lein oder nur mit anderen durch Evolution entstandenen In-
telligenzen zusammen sind, ist etwas ganz anderes als eines
mit einem ursprünglichen, richtungsweisenden Agens, dessen
intelligente Planung überhaupt erst für die Existenz dieses
Universums gesorgt hat. Ich erkenne an, dass es in der Praxis
unter Umständen nicht einfach ist, das eine Universum von
dem anderen zu unterscheiden. Dennoch hat die Hypothese
von der letztgültigen Planung etwas ganz Besonderes, und
ebenso speziell ist die einzige bekannte Alternative: die all-
mähliche Evolution im weitesten Sinn. Beide unterscheiden
sich so stark, dass sie nahezu unvereinbar sind. Evolution lie-
fert wie kein anderes Gedankengebäude eine echte Erklärung
für die Existenz von Dingen, die eigentlich so unwahrschein-
lich sind, dass man sie unter allen praktischen Gesichtspunk-
ten als ausgeschlossen betrachten kann. Und die Schlussfol-
gerung aus dieser Argumentation ist, wie ich in Kapitel 4
genauer darlegen werde, für die Gotteshypothese nahezu
tödlich.
88
Das große Gebetsexperiment
* Als an meinem College in Oxford der Leiter gewählt wurde, den ich zuvor bereits er-
wähnt habe, tranken die Fellows an drei aufeinander folgenden Tagen auf seine Ge-
sundheit. Bei der dritten derartigen Party erklärte er in seiner Dankesrede voller
Freude: »Es geht mir schon besser!«
89
rung wurde streng eingehalten. Die Patienten wurden rein
nach dem Zufallsprinzip einer experimentellen Gruppe (für
die gebetet wurde) und einer Kontrollgruppe (für die nicht ge-
betet wurde) zugeteilt. Weder die Patienten noch die Ärzte, das
Pflegepersonal oder die Versuchsleiter selbst durften wissen,
für welche Patienten gebetet wurde und welche zur Kontroll-
gruppe gehörten. Die Betenden mussten den Namen der Per-
son kennen, für die sie beteten, denn wie hätten sie sonst für
einen bestimmten Patienten und nicht für jemand anderen be-
ten sollen? Allerdings achtete man darauf, dass sie nur den Vor-
namen und den Anfangsbuchstaben des Nachnamens erfuh-
ren. Das war offensichtlich genug, damit Gott das richtige
Krankenhausbett ausfindig machen konnte.
Schon die Idee, ein solches Experiment durchzuführen, for-
dert ein großes Maß an Spott geradezu heraus, und der wurde
dem Projekt auch verdientermaßen zuteil. Soweit mir be-
kannt ist, machte Bob Newhart nie einen Sketch darüber, aber
ich kann seine Stimme vor meinem geistigen Ohr deutlich
hören:
90 0
Boston verbrauchten sie 2,4 Millionen Dollar von der Temple-
ton Foundation. In einer früheren Pressemitteilung der Stif-
tung hieß es über Dr. Benson: »Nach seiner Überzeugung spre-
chen immer mehr Belege dafür, dass Fürbittgebete in einem
medizinischen Umfeld wirksam sind.« Das Forschungsprojekt
war also in beruhigend guten Händen und wurde höchstwahr-
scheinlich nicht durch skeptische Schwingungen beeinträch-
tigt. Dr. Benson und sein Team überwachten in sechs Kliniken
insgesamt 1802 Patientinnen und Patienten, die sich alle einer
Bypassoperation am Herzen unterzogen hatten. Die Patienten
wurden in drei Gruppen eingeteilt. Für die Gruppe 1 wurde
gebetet, ohne dass die Kranken es wussten. Für die Gruppe 2
(die Kontrollgruppe) wurde nicht gebetet, und die Patienten
wussten ebenfalls nichts davon. Für die Gruppe 3 wurde gebe-
tet, und die Betreffenden wussten davon. Der Vergleich zwi-
schen den Gruppen 1 und 2 sagt etwas über die Wirksamkeit
von Fürbittegebeten aus, während man an Gruppe 3 ablesen
kann, ob es psychosomatische Auswirkungen hat, wenn man
weiß, dass andere für einen beten. |
Die Gebete wurden in den Kirchen von drei Gemeinden in
Minnesota, Massachusetts und Missouri gesprochen. Alle drei
waren weit von den Krankenhäusern entfernt. Wie bereits er-
wähnt, erhielten die Betenden nur den Vornamen und den ers-
ten Buchstaben des Nachnamens eines Patienten, für den sie
beten sollten. Es entspricht den Maßstäben für gute experi-
mentelle Arbeit, dass man so weit wie möglich standardisiert,
und deshalb wurden alle gebeten, in ihr Gebet die Formulie-
rung »für eine gelungene Operation mit schneller Genesung
und ohne Komplikationen« aufzunehmen.
Die Ergebnisse, über die das American Heart Journal im
April 2006 berichtete, waren eindeutig. Zwischen den Patien-
ten, für die gebetet, und denen, für die nicht gebetet wurde, war
kein Unterschied festzustellen. Welche Überraschung! Einen
Unterschied gab es jedoch zwischen denen, die wussten, dass
91
für sie gebetet wurde, und den beiden Gruppen der Unwis-
senden; aber dieser Unterschied wies in die falsche Richtung.
Die Patienten, die wussten, dass sie in den Genuss von Gebe-
ten kamen, litten signifikant häufiger an Komplikationen als
die Unwissenden. Wollte Gott sie ein wenig piesacken und
damit zeigen, dass ihm das ganze verrückte Unternehmen
nicht gefiel?
Wahrscheinlicher ist, dass die Patienten, die wussten, dass
für sie gebetet wurde, dadurch unter zusätzlichen Stress gerie-
ten —die Versuchsleiter bezeichneten es als »Leistungsangst«.
Dr. Charles Betha, einer der beteiligten Wissenschaftler, meinte
dazu: »Es hat sie vielleicht verunsichert, weil sie sich gefragt ha-
ben: Bin ich so krank, dass man Leute zum Beten rufen muss?«
Wäre es in der heutigen prozesslustigen Gesellschaft nun eine
unziemliche Erwartung, dass die Patienten, die wussten, dass
für sie gebetet wurde, und die deshalb Komplikationen beka-
men, eine Gruppenklage gegen die Templeton Foundation an-
strengen?
Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, sprachen sich viele
Theologen gegen diese Studie aus. Vielleicht hatten sie Angst,
weil das Experiment die Möglichkeit bot, sich über die Reli-
gion lustig zu machen. Der Oxforder Theologe Richard Swin-
burne erhob erst nach dem Scheitern der Untersuchung Ein-
spruch und erklärte, Gott erhöre Gebete nur dann, wenn sie
aus stichhaltigen Gründen gesprochen würden.” Für den einen
und nicht für den anderen zu beten, nur weil der Würfel bei
der Planung eines Doppelblindversuchs so gefallen ist, sei kein
stichhaltiger Grund. Gott werde das durchschauen. Genau
darum ging es in meiner Bob-Newhart-Satire, und Swinburne
hat recht, wenn er das Gleiche sagt. Aber in anderen Teilen sei-
nes Artikels übertrifft Swinburne jede Parodie. Nicht zum ers-
ten Mal gibt er sich Mühe, das Leiden in einer von Gott ge-
lenkten Welt zu rechtfertigen:
92
Mir verschafft mein Leiden die Gelegenheit, Mut und Ge-
duld zu zeigen. Dir verschafft es die Möglichkeit, Mitgefühl
zu haben und mitzuhelfen, damit mein Leiden gelindert
wird. Und es verschafft der Gesellschaft die Möglichkeit, zu
wählen, ob sie viel Geld investieren will, um eine Heilung
für diese besondere Art des Leidens zu finden. ... Ein guter
Gott bedauert zwar unser Leiden, seine größte Sorge besteht
aber sicher darin, dass jeder von uns Geduld, Mitgefühl und
Großzügigkeit an den Tag legen soll, damit sich ein heiliger
Charakter bildet. Manche Menschen müssen um ihrer selbst
willen unbedingt krank sein, und andere müssen unbedingt
krank sein, um anderen wichtige Entscheidungen zu ermög-
lichen. Nur so kann man manche Menschen dazu bewegen,
sich ernsthaft zu entscheiden, was für Menschen sie sein
wollen. Für andere Menschen ist Krankheit weniger wert-
voll.
* In der Version, die schließlich über den Sender ging, wurde dieser Wortwechsel he-
rausgeschnitten. Dass Swinburnes Bemerkung typisch für seine Theologie ist, zeigt
sich auch an einer ganz ähnlichen Äußerung über Hiroshima in seinem Buch The
Existence of God (Swinburne 2004, S. 264): »Angenommen, es wäre durch die Atom-
bombe von Hiroshima auch nur ein Mensch weniger verbrannt. Dann hätte es eine
Gelegenheit weniger für Mut und Mitgefühl gegeben ...«
93
Existenz unter Beweis stellen wollte, würde er dazu bessere
Wege finden als eine geringfügig verschobene Genesungsstatis-
tik für Herzpatienten in experimenteller Gruppe und Kon-
trollgruppe. Wenn uns Gott von seiner Existenz überzeugen
wollte, könnte er »die Welt mit Super-Wundern anfüllen«. Aber
dann lässt Swinburne sein Prachtstück los: »Es gibt für Gottes
Existenz ohnehin genügend Belege, und zu viel wäre für uns
vielleicht nicht gut.« Zu viel wäre für uns vielleicht nicht gut!
Man muss es dreimal lesen. Zu viele Belegesind nicht gut für uns.
Der kürzlich pensionierte Richard Swinburne war Inhaber
eines der renommiertesten britischen Lehrstühle für Theologie,
und er ist Fellow der British Academy. Wer einen angesehenen
Theologen braucht - einen angeseheneren gibt es kaum. Doch
vielleicht wollen wir auf Theologen lieber ganz verzichten.
Swinburne war übrigens nicht der einzige Theologe, der mit
der Studie nichts zu tun haben wollte, nachdem sie geschei-
tert war. Dem Reverend Raymond J. Lawrence stellte die New
York Times einen großzügig bemessenen Platz auf der Leitar-
tikelseite zur Verfügung, damit er erklären konnte, warum ver-
antwortungsbewusste Religionsführer »erleichtert aufatmen
werden«, weil man keinen Beleg für die Wirksamkeit von Für-
bittgebeten gefunden hatte.” Hätte er eine andere Melodie
angestimmt, wenn es mit der Benson-Studie gelungen wäre,
die Kraft von Gebeten nachzuweisen? Er vielleicht nicht, aber
wir können sicher sein, dass viele andere Pastoren und Theolo-
gen es getan hätten. Denkwürdig ist der Artikel des Reverend
Lawrence vor allem wegen folgender Offenbarung: »Kürz-
lich erzählte mir ein Kollege von einer gläubigen, gebildeten
Frau, die ihren Arzt wegen eines Kunstfehlers in der Behand-
lung ihres Mannes verklagt hatte. Ihr Vorwurf: Der Arzt habe
an den Tagen, als ihr Mann im Sterben lag, nicht für ihn ge-
betet.«
Andere Theologen schlossen sich den NOMA-inspirierten
Skeptikern an und behaupteten ebenfalls,es sei Geldverschwen-
94
dung, Gebete auf diese Weise erforschen zu wollen, weil über-
natürliche Einflüsse definitionsgemäß nicht in der Reichweite
der Wissenschaft lägen. Aber eines hatte die Templeton Foun-
dation richtig erkannt, als sie die Studie finanzierte: Die angeb-
liche Wirkung von Fürbittgebeten liegt zumindest prinzipiell
durchaus in Reichweite der Wissenschaft. Man kann einen
Doppelblindversuch anstellen, und er wurde angestellt. Er hätte
ein positives Ergebnis liefern können. Angenommen, das wäre
der Fall gewesen: Könnte man sich vorstellen, dass auch nur ein
einziger Religionsvertreter die Studie abgelehnt hätte, weil ja
wissenschaftliche Forschung für religiöse Fragen keine Bedeu-
tung hat? Natürlich nicht.
Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass der
negative Ausgang des Experiments die Gläubigen nicht er-
schütterte. Bob Barth, geistlicher Leiter der Gemeinde in Mis-
souri, die in dem Experiment einen Teil der Gebete vollzog,
meinte dazu: »Ein Mensch des Glaubens würde sagen, dass die
Studie interessant ist, aber wir beten schon seit langer Zeit, und
wir haben gesehen, dass Gebete wirken, wir wissen, dass sie
wirken, und die Erforschung von Gebeten und Spiritualität
steht noch ganz am Anfang.« Genau: Wir wissen aus unserem
Glauben, dass Gebete wirken, und wenn sich diese Wirksam-
keit wissenschaftlich nicht belegen lässt, dann machen wir ein-
fach weiter, bis wir das Ergebnis bekommen, das wir haben
wollen.
95
Teilen der Vereinigten Staaten steht die Naturwissenschaft
nämlich im Kreuzfeuer gut organisierter, politisch hervorra-
gend vernetzter und vor allem finanziell gut ausgestatte-
ter Gegner; die Behandlung der Evolution im Schulunterricht
ist heftig umkämpft. Da muss man es Wissenschaftlern wohl
nachsehen, wenn sie sich bedroht fühlen, denn der größte
Teil ihrer Forschungsmittel kommt letztlich vom Staat, und
die gewählten Volksvertreter müssen nicht nur auf den ge-
bildeten Teil der Wählerschaft Rücksicht nehmen, sondern
auch auf jene, bei denen sich Unkenntnis mit Vorurteilen
paart.
Als Reaktion auf solche Gefahren hat sich eine Lobby zur
Verteidigung der Evolution entwickelt, die vor allem durch das
National Center for Science Education (NCSE) vertreten wird.
Dessen Leiterin, Eugenie Scott, eine unermüdliche Aktivistin
im Dienste der Naturwissenschaft, hat 2004 selbst ein Buch
mit dem Titel Evolution vs. Creationism herausgebracht. Eines
der politischen Hauptziele des NCSE besteht darin, »vernünf-
tige« religiöse Meinungen zu hofieren und zu mobilisieren:
Man sucht die Nähe zu Kirchenvertretern und -vertreterinnen,
die kein Problem mit der Evolution haben und sie im Zusam-
menhang mit ihrem Glauben für unbedeutend halten (oder
darin seltsamerweise sogar eine Unterstützung sehen). Genau
diese Mehrheit von Klerus, Theologen und nicht fundamentalis-
tischen Gläubigen, denen der Kreationismus peinlich ist, weil
er die Religion in Misskredit bringt, will die Lobby zur Vertei-
digung der Evolution ansprechen. Dabei kommt man ihnen
sehr weit entgegen und macht sich die NOMA-These zu eigen -
alle sind sich einig, dass die Naturwissenschaft keine Bedro-
hung darstelle, weil sie völlig von den Aussagen der Religion
abgekoppelt sei.
Ein anderer prominenter Vertreter dieser Neville-Chamber-
lain-Schule der Evolutionsanhänger, wie wir sie in Anlehnung
an den britischen Appeasement-Politiker der Hitler-Jahre nen-
96
nen können, ist der Philosoph Michael Ruse. Er kämpft sowohl
auf dem Papier als auch vor Gericht sehr energisch gegen den
Kreationismus.*! Ruse bezeichnet sich selbst als Atheisten, ver-
tritt im Playboy aber die Ansicht:
Aus rein taktischer Sicht erkenne ich, wie reizvoll bei ober-
flächlicher Betrachtung Ruses Vergleich mit dem Kampf gegen
Hitler ist: »Winston Churchill und Franklin Roosevelt mochten
weder Stalin noch den Kommunismus. Aber durch den Kampf
gegen Hitler wurde ihnen klar, dass sie mit der Sowjetunion zu-
sammenarbeiten mussten. Ganz ähnlich müssen auch die Evo-
lutionsanhänger jeglicher Couleur gegen den Kreationismus
zusammenhalten.« Aber letztlich schlage ich mich doch auf die
Seite meines Kollegen, des Genetikers Jerry Coyne aus Chi-
cago, der über Ruse schrieb:
IR
die am weitesten verbreitete Form des Aberglaubens. Der
Kreationismus ist nur ein Symptom dessen, was sie als ihren
größeren Feind ansehen: die Religion. Zwar kann Religion
ohne Kreationismus existieren, aber einen Kreationismus
ohne Religion gibt es nicht.”
98
Die Journalistin Madeleine Bunting schrieb im Guardian
einen Artikel mit der Überschrift »,Warum die Lobby des Intel-
ligent Design Gott für Richard Dawkins danken muss«.” Es
gibt keine Anhaltspunkte, dass sie außer Michael Ruse noch ir-
gendjemanden befragt hätte, und ihr Artikel könnte ebenso gut
von Ruse als Ghostwriter verfasst worden sein.* Die Erwide-
rung schrieb Daniel Dennett, der völlig zu Recht Uncle Remus
zitierte:
* Das Gleiche gilt auch für den Artikel »When Cosmologies Collide« in der New York
Timesvom 22. Januar 2006, verfasst von der angesehenen (und in der Regel besser in-
formierten) Journalistin Judith Shulevitz. Für General Montgomery lautete die erste
Regel im Krieg: »Marschiere nicht auf Moskau.«Vielleicht sollte es auch eine erste Re-
gel des Wissenschaftsjournalismus geben: »Erkundige dich noch bei mindestens einer
anderen Person außer bei Michael Ruse.«
99
sehr leise treten, denn die erklärt eine Jungfrauengeburt für
unmöglich ...**
100
mehr als unanständig. Sie riecht nicht sofort nach größter Un-
wahrscheinlichkeit. Man kann auf unvollständigen Belegen
eine interessante Diskussion aufbauen, und wir können fest-
halten, welche Art Belege unsere Unsicherheit vermindern
würde. Wenn unsere Regierungen Geld für teure Teleskope
ausgeben würden, nur um nach Teekannen in Umlaufbahnen
zu suchen, wären wir empört. Aber den finanziellen Aufwand
für SETI, die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz mit Ra-
dioteleskopen, die den Himmel nach Signalen intelligenter
Wesen absuchen, können wir gutheißen.
Ich habe Sagan sehr gelobt, weil er sich in der Frage nach
außerirdischem Leben nicht auf sein Bauchgefühl verlassen
wollte. Aber man kann nüchtern beurteilen, was wir wissen
müssten, um die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen (und das
tat Sagan ja auch). Zu Beginn zählt man dabei vielleicht ein-
fach die einzelnen Punkte unseres Unwissens auf wie in der
berühmten Drake-Gleichung, einer Sammlung von Wahr-
scheinlichkeiten, wie Paul Davies es formulierte. Sie besagt,
dass man sieben Zahlen miteinander multiplizieren muss,
wenn man die Zahl unabhängig voneinander entstandener Zi-
vilisationen im Universum abschätzen will. Zu diesen sieben
gehören die Gesamtzahl der Sterne, die Zahl erdähnlicher
Planeten je Stern sowie die Wahrscheinlichkeiten von diesem
und jenem - ich brauche nicht alle Punkte aufzuführen, denn
mir geht es hier nur darum, dass sie alle unbekannt sind oder
nur mit einer sehr großen Fehlerspanne abgeschätzt werden
können. Multipliziert man derart viele Zahlen, die alle völlig
oder nahezu unbekannt sind, ist das Produkt - die geschätzte
Zahl außerirdischer Zivilisationen —mit so gewaltigen Fehler-
spannen behaftet, dass Agnostizismus ganz offensichtlich ein
sehr vernünftiger oder vielleicht sogar der einzig glaubwür-
dige Standpunkt ist.
Manche Zahlenwerte aus Drakes Gleichung sind heute
schon nicht mehr ganz so unbekannt wie 1961, als er sie erst-
101
mals formulierte. Damals kannte man kein anderes Sonnen-
system als unser eigenes mit seinen Planeten, die ein Zentral-
gestirn umkreisen, und als nahe gelegene Analogien standen
nur die Trabantensysteme von Jupiter und Saturn zur Verfü-
gung. Schätzungen für die Zahl solcher Systeme im Univer-
sum stützten sich auf theoretische Überlegungen in Verbin-
dung mit dem eher informellen »Mittelmäßigkeitsprinzip«:
dem Eindruck (gewonnen aus den unbequemen historischen
Lehren eines Kopernikus, Hubble und anderer), dass der Ort,
an dem wir zufällig leben, keine größeren Besonderheiten auf-
weisen sollte. Leider wird das Mittelmäßigkeitsprinzip aber
seinerseits durch das »anthropische Prinzip« entkräftet (siehe
Kapitel 4): Wäre unser Sonnensystem tatsächlich das einzige
im Universum, dann können wir als Wesen, die über solche
Dinge nachdenken, nirgendwo anders zu Hause sein. Aus der
Tatsache unserer Existenz könnten wir dann im Rückblick
schließen, dass wir an einem alles andere als durchschnittli-
chen Ort leben.
Heute stützen sich Schätzungen über die Häufigkeit von
Sonnensystemen nicht mehr auf das Mittelmäßigkeitsprinzip,
sondern sie werden durch direkte Belege untermauert. Wieder
einmal schlägt das Spektroskop zu, der Fluch des Positivismus
eines Comte. Planeten, die um andere Sterne kreisen, sind
selbst mit den leistungsfähigsten Teleskopen nur in seltenen
Fällen unmittelbar zu sehen. Aber der Standort eines Sterns
wird durch die Gravitationsanziehung der Planeten beein-
flusst, die ihn umkreisen, und zumindest wenn es sich dabei
um große Planeten handelt, macht sich die von ihnen verur-
sachte Doppler-Verschiebung des Spektrums im Spektroskop
bemerkbar. Vorwiegend dank dieser Methode kennen wir zu
der Zeit, da das vorliegende Buch entsteht, bereits 170 Plane-
ten, die außerhalb unseres Sonnensystems insgesamt 147 Sterne
umkreisen,“ und wenn Sie das Buch lesen, wird die Zahl sicher
schon wieder gewachsen sein. Bisher handelt es sich aus-
102
schließlich um mächtige »Jupiters«, denn nur ein Planet von
der Größe des Jupiter kann die Position des Sterns so stark ver-
ändern, dass wir es mit unseren heutigen Spektroskopen nach-
weisen können.
Damit haben wir unsere Schätzungen über eine zuvor rät-
selhafte Zahl aus der Drake-Gleichung zumindest quantitativ
verbessert. Das ermöglicht eine zwar immer noch bescheidene,
aber doch deutliche Abschwächung unseres Agnostizismus im
Zusammenhang mit dem Endergebnis der Gleichung. Was das
Leben auf anderen Himmelskörpern angeht, müssen wir bisher
noch Agnostiker bleiben - aber wir sind schon etwas weniger
agnostisch, weil unser Unwissen sich ein wenig vermindert hat.
Die Wissenschaft kann also den Agnostizismus Stück für Stück
abbauen, und zwar auf eine Weise, die Thomas Huxley im Son-
derfall Gottes widerwillig leugnete. Ich dagegen vertrete im
Gegensatz zur höflichen Zurückhaltung Huxleys, Goulds und
anderer die Ansicht, dass die Gottesfrage nicht prinzipiell und
für alle Zeiten dem wissenschaftlichen Zugriff entzogen ist.
Wie im Fall der Zusammensetzung von Sternen (entgegen
Comte) und der Wahrscheinlichkeit, dass es in ihren Umlauf-
bahnen Leben gibt, kann die Wissenschaft auch in das-Revier
des Agnostizismus zumindest Schneisen der Wahrscheinlich-
keitsaussagen schlagen.
In meiner Definition der Gotteshypothese kommen die
Worte »übermenschlich« und »übernatürlich« vor. Um uns den
Unterschied klarzumachen, stellen wir uns einmal vor, ein
SETI-Radioteleskop würde tatsächlich aus dem Weltraum ein
Signal auffangen, das eindeutig zeigt, dass wir im Universum
nicht allein sind. Übrigens ist die Frage, wie ein Signal aussehen
muss, damit wir von seiner intelligenten Entstehung überzeugt
sein können, alles andere als trivial. Nützlich ist es, wenn man
die Frage umdreht. Was sollten wir intelligenterweise tun, um
extraterrestrischen Zuhörern unsere Existenz bekannt zu ma-
chen? Rhythmische Impulse reichen dafür nicht aus. Die Ra-
103
dioastronomin Jocelyn Bell Burnell, die 1967 den ersten Pulsar
entdeckte, war von dessen exakt alle 1,33 Sekunden wieder-
kehrenden Signal so beeindruckt, dass sie es augenzwinkernd
als LGM-Signal (für little green men - »kleine grüne Männchen«)
bezeichnete. Später fand sie an einer anderen Stelle am Him-
mel einen zweiten Pulsar mit anderem Rhythmus, und damit
war die Hypothese mit den kleinen grünen Männchen weitge-
hend vom Tisch.
Metronomartige Rhythmen können durch viele nicht intelli-
gente Phänomene entstehen, von schwankenden Ästen über
tropfendes Wasser und die Zeitverzögerung in selbstregulieren-
den Rückkopplungsschleifen bis zu rotierenden Himmelskör-
pern in Umlaufbahnen. Bis heute hat man in unserer Galaxis
über tausend Pulsare gefunden, und man ist sich allgemein einig,
dass es sich in allen Fällen um rotierende Neutronensterne han-
delt, die ihre Radiowellen aussenden wie ein Leuchtturm sei-
nen rotierenden Lichtstrahl. Dass ein Stern in Zeiträumen von
Sekunden um seine Achse rotieren kann, ist ein verblüffender
Gedanke (man stelle sich nur vor, ein Tag auf der Erde würde
nicht 24 Stunden dauern, sondern nur 1,33 Sekunden), aber
verblüffend ist ohnehin alles, was wir über Neutronensterne
wissen. Entscheidend ist aber etwas anderes: Wir wissen heute,
dass das Phänomen der Pulsare auf einfache physikalische Ge-
setzmäßigkeiten zurückzuführen ist und nichts mit Intelligenz
zu tun hat.
Mit einem einfachen Rhythmus könnten wir unser intelli-
gentes Dasein dem wartenden Universum also nicht bekannt
machen. Als Hilfsmittel unserer Wahl werden häufig die Prim-
zahlen genannt, denn dass diese durch einen rein physikali-
schen Vorgang entstehen, kann man sich nur schwer vorstellen.
Aber ob wir nun Primzahlen oder etwas anderes entdecken:
Stellen wir uns einmal vor, SETI würde eindeutige Belege für
eine extraterrestrische Intelligenz liefern, gefolgt vielleicht von
einem ungeheuren Wissens- und Weisheitstransfer nach Art
104
der Science-Fiction-Romane A wie Andromeda von Fred Hoyle
oder Kontakt von Carl Sagan. Wie sollen wir reagieren? Eine
durchaus verzeihliche Reaktion wäre eine Art Anbetung, denn
jede Zivilisation, die ein Signal über eine so große Entfernung
aussenden kann, muss der unseren weit überlegen sein. Selbst
wenn diese Zivilisation zum Zeitpunkt der Aussendung nicht
weiter entwickelt wäre als unsere eigene, könnten wir uns auf-
grund der riesigen Entfernung ausrechnen, dass sie uns um
Jahrtausende voraus sein muss, wenn das Signal bei uns eintrifft
(es sei denn, sie hätte sich mittlerweile selbst ausgerottet, was
gar nicht so unwahrscheinlich ist).
Ob wir jemals von ihnen erfahren werden oder nicht: Es gibt
höchstwahrscheinlich außerirdische Zivilisationen, die über-
menschlich und auf eine Weise gottähnlich sind, wie es sich
heute kein Theologe vorstellen kann. Ihre technischen Errun-
genschaften würden uns ebenso übernatürlich vorkommen
wie unsere eigenen einem Bauern aus dem Mittelalter, den man
ins 21. Jahrhundert versetzen würde. Stellen wir uns nur vor,
wie Notebookcomputer, ein Handy, eine Wasserstoffbombe
oder ein Jumbojet aufihn wirken würden. Oder, wie Arthur C.
Clarke es in seinem dritten Gesetz formulierte: »Jede ausrei-
chend hoch entwickelte Technologie ist von Zauberei nicht
zu unterscheiden.« Die Wunder, die unsere Technik zuwege
bringt, wären den Menschen der Antike nicht weniger bemer-
kenswert erschienen als die Geschichten von Mose, der das
Wasser teilt, oder von Jesus, der darauf wandelt. Die Außerirdi-
schen unseres SETI-Signals würden uns wie Götter erscheinen,
genau wie die Missionare, die ebenfalls für Götter gehalten
wurden (und diese unverdiente Ehre bis zum Gehtnichtmehr
ausnutzten), als sie mit Gewehren, Teleskopen und Streichhöl-
zern in steinzeitlichen Kulturkreisen auftauchten und mit
ihren Tabellen sogar Sonnen- und Mondfinsternisse auf die Se-
kunde genau voraussagen konnten.
In welchem Sinn wären die am weitesten fortgeschrittenen
105
SETI-Außerirdischen demnach keine Götter? In welchem Sinn
wären sie übermenschlich, aber nicht übernatürlich? Die Ant-
wort lautet: in einer sehr wichtigen Hinsicht, die mit der Kern-
aussage dieses Buches zu tun hat. Der entscheidende Unter-
schied zwischen Göttern und gottähnlichen Außerirdischen
liegt nicht in ihren Eigenschaften, sondern in ihrer Entste-
hungsgeschichte. Gebilde, die so komplex sind, dass sie intelli-
gent sein können, sind das Produkt eines Evolutionsprozesses.
Ganz gleich, wie gottähnlich sie uns erscheinen, wenn wir ih-
nen begegnen: Am Anfang waren sie nicht so. Science-Fiction-
Autoren wie Daniel F. Galouye mit seinem Buch Counterfeit
World (Welt am Draht) haben sogar die Vermutung geäußert,
dass wir in einer Computersimulation leben, die von einer
weit überlegenen Zivilisation programmiert wurde (und ich
weiß nicht, wie man diesen Gedanken widerlegen sollte).
Aber auch die Simulatoren müssen irgendwoher stammen.
Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verbieten jede Idee, wo-
nach sie spontan ohne einfachere Vorläufer entstanden sein
könnten. Vermutlich verdanken sie ihre Existenz einer (uns
vielleicht unbekannten) Form der darwinistischen Evolution,
einem sich Stück für Stück aufbauenden »Kran«, aber keinem
»Himmelshaken«, um Daniel Dennetts Terminologie zu be-
nutzen.”
Himmelshaken - zu denen auch alle Götter gehören - sind
Hokuspokus. Sie leisten keine Deutungsarbeit, sondern er-
fordern selbst mehr Erklärungen, als sie liefern. Kräne dage-
gen sind Hilfsmittel, die tatsächlich etwas erklären. Und der,
leistungsfähigste Kran aller Zeiten ist die natürliche Selek-
tion. Sie hat das Leben aus der urtümlichen Einfachheit auf
die Schwindel erregenden Höhen der Komplexität, Schön-
heit und scheinbaren Gestaltung gehoben, die uns heute so
verblüffen. Dies ist das beherrschende Thema im vierten Ka-
pitel des Buches, »Warum es mit ziemlicher Sicherheit kei-
nen Gott gibt«. Bevor ich jedoch meinen wichtigsten Grund
106
darlege, warum ich ganz entschieden nicht an Gottes Exis-
tenz glaube, ist es meine Pflicht, die positiven Argumente für
den Glauben abzuhaken, die im Laufe der Geschichte ge-
nannt wurden.
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a = 2
5 Argumente für die Existenz Gottes
Eine Professurfür Theologiesollte in unserer Institution keinen Platz haben.
Thomas Jefferson
108
2. Die Ursache ohne Ursache. Nichts wird von sich selbst
verursacht. Jede Wirkung hat eine vorausgehende Ursa-
che, und wieder landen wir in der Regression. Diese
muss durch eine erste Ursache beendet werden, die wir
Gott nennen.
3. Das kosmologischeArgument. Es muss eine Zeit gegeben
haben, in der keine physikalischen Objekte existierten.
Da heute aber physikalische Gegenstände vorhanden
sind, muss irgendetwas Nichtphysikalisches sie ins Da-
sein gebracht haben, und dieses Etwas nennen wir Gott.
Alle drei Argumente stützen sich auf den Gedanken der Re-
gression und greifen auf Gott zurück, um sie zu beenden. Sie
gehen von der völlig unbewiesenen Voraussetzung aus, dass
Gott selbst gegen die Regression immun ist. Sogar wenn wir
uns den zweifelhaften Luxus erlauben, willkürlich einen End-
punkt der Regression zu postulieren und ihm einen Namen zu
geben, einfach weil wir einen solchen Endpunkt brauchen, be-
steht keinerlei Anlass, ihn mit den Eigenschaften auszustatten,
die Gott normalerweise zugeschrieben werden: Allmacht, All-
wissenheit, Güte, kreative Gestaltung, oder gar menschliche
Eigenschaften wie das Erhören von Gebeten, Vergebung der
Sünden und Lesen unserer innersten Gedanken. Übrigens ist es
der Aufmerksamkeit der Logiker nicht entgangen, dass Allwis-
senheit und Allmacht unvereinbar sind. Wenn Gott allwissend
ist, muss er bereits wissen, wie er mit seiner Allmacht eingrei-
fen und den Lauf der Geschichte verändern wird. Das bedeu-
tet aber, dass er es sich mit dem Eingriff nicht mehr anders
überlegen kann, und demnach ist er nicht allmächtig. Karen
Owens hat dieses geistreiche kleine Paradoxon in ebenso rüh-
rende Verse gefasst:
109
Allmacht genug, damit sogar er
Zukünftig auf andre Gedanken kommt?
110
Aber solche Abstufungen können wir nur durch den Ver-
gleich mit einem Maximum beurteilen. Menschen können
sowohl gut als auch schlecht sein, also kann das Maximum
des Gutseins nicht in uns liegen. Es muss ein anderes Ma-
ximum geben, das den Maßstab der Vollkommenheit bil-
det, und dieses Maximum nennen wir Gott.
Das soll ein Argument sein? Ebenso gut kann man sagen: Die
Menschen unterscheiden sich in der Stärke ihres Körperge-
ruchs, aber einen Vergleich können wir nur anhand eines voll-
kommenen Maximums an vorstellbarem Körpergeruch anstel-
len. Es muss also einen überragenden Stinker geben, der nicht
seinesgleichen hat, und den nennen wir Gott. Oder wir neh-
men jede beliebige andere Vergleichsgröße und leiten daraus
eine ebenso alberne Schlussfolgerung ab.
* Dabei muss ich immer an einen unsterblichen Vernunftschluss denken, den ein Schul-
freund während unseres gemeinsamen Geometrieunterrichts in einen euklidischen
Beweis schmuggelte: »Das Dreieck ABC sieht gleichschenklig aus. Also ...«
111
sch
Natural Theologyvon William Paley las. Pech für Paley: In spä-
teren Jahren hob Darwin das Argument aus den Angeln. Wohl
nie hat jemand auf so verheerende Weise durch kluges Nach-
denken eine verbreitete Überzeugung zunichte gemacht wie
Charles Darwin, als er das Gestaltungsargument zerstörte. Es
kam so unerwartet. Die zentrale Aussage —»nichts, was wir
kennen, sieht gestaltet aus, wenn es nicht gestaltet ist« —
stimmt dank Darwin eben nicht mehr. Die Evolution durch
natürliche Selektion erzeugt ein ausgezeichnetes Scheinbild
einer Gestaltung, die in Komplexität und Eleganz gewaltige
Höhen erreichen kann. Zu den herausragenden Beispielen für
Pseudo-Gestaltung gehören Nervensysteme, die als eine ihrer
bescheideneren Leistungen ein Zielsuchverhalten erzeugen.
Dieses Verhalten erinnert schon bei einem winzigen Insekt
eher an ein wärmegelenktes Geschoss als an einen einfachen
Pfeil. Ich werde in Kapitel 4 auf das Gestaltungsargument
zurückkommen.
Die Argumente für die Existenz Gottes lassen sich in zwei Ka-
tegorien einteilen - die A-priori- und die A-posteriori-Argu-
mente. Die fünf Punkte des Thomas von Aquin sind A-posteri-
ori-Argumente, die sich auf eine Besichtigung der Welt stützen.
Die Grundlage der A-priori-Argumente dagegen sind rein theo-
retische Überlegungen. Am berühmtesten ist der ontologische
Gottesbeweis, den der heilige Anselm von Canterbury 1078 for-
mulierte und der seither von zahlreichen Philosophen in im-
mer neuer Form wiederholt wurde. Anselms Argument hat
einen seltsamen Aspekt: Es richtete sich ursprünglich nicht an
die Menschen, sondern an Gott selbst und hatte die Form eines
Gebets. (Dabei würde man eigentlich meinen, dass man ein Et-
112
was, das ein Gebet erhören kann, nicht von seiner eigenen Exis-
tenz überzeugen muss.)
Man könne sich, sagt Anselm, ein Wesen denken, das so groß
ist, dass man sich nichts Größeres mehr vorstellen kann. Ein
solches größtmögliches Wesen können sich sogar Atheisten
ausmalen; sie würden nur bestreiten, dass es wirklich existiert.
Aber, so Anselms Argumentation, ein Wesen, das in der wirkli-
chen Welt nicht existiert, ist allein aufgrund dieser Tatsache
nicht vollkommen. Damit haben wir einen Widerspruch, und
siehe da, Gott muss existieren.
Ich möchte dieses kindische Argument einmal in eine ange-
messene Sprache übertragen, nämlich in die Sprache auf dem
Spielplatz.
113
Deshalb ist selbst der Tor überzeugt, dass es zumindest im
Verstehen etwas gibt, sodass man sich nichts Größeres vor-
stellen kann. Denn wenn er das hört, versteht er es. Und was
verstanden wird, existiert im Verständnis. Und sicher kann
das, wobei man sich nichts Größeres vorstellen kann, nicht
allein im Verständnis existieren. Denn angenommen, es exis-
tierte nur im Verständnis allein: Dann kann man sich vor-
stellen, dass es auch in der Wirklichkeit existiert; welche
größer ist.
114
leitet? Vielleicht sollte ich lieber an die Arbeit gehen und es lö-
sen. Vielleicht ist es ja ein Paradox wie das von Zenon.«
Bekanntlich konnten die alten Griechen Zenons »Beweis«
nur schwer durchschauen, dass Achill die Schildkröte niemals
einholen könne.* Dennoch waren sie vernünftig und zogen
nicht den Schluss, Achill werde tatsächlich nicht in der Lage
sein, die Schildkröte einzuholen. Stattdessen bezeichneten sie
es als Paradox und warteten, bis spätere Mathematikergenera-
tionen es erklären konnten. Natürlich verstand Russell so gut
wie kaum ein anderer, warum man keine Tabaksdose in die
Luft werfen sollte, um damit zu feiern, dass Achill die Schild-
kröte nicht einholen kann. Nur, warum ließ er die gleiche Vor-
sicht nicht auch gegenüber dem heiligen Anselm walten? Ich
denke, er war ein Atheist mit übertriebenem Gerechtigkeits-
sinn, der sich übereifrig desillusionieren ließ, wenn die Logik es
zu verlangen schien.** Vielleicht liegt die Antwort aber auch in
* Zenons Paradox ist so bekannt, dass die Einzelheiten in einer Fußnote verbleiben
können. Achill läuft zehnmal so schnell wie die Schildkröte und gibt ihr deshalb
beispielsweise 100 Meter Vorsprung. Achill läuft 100 Meter, und die Schildkröte ist
ihm jetzt zehn Meter voraus. Achill läuft die zehn Meter, und die Schildkröte ist
ihm einen Meter voraus. Achill läuft den einen Meter, die Schildkröte ist zehn Zen-
timeter vor ihm ...und so weiter ad infinitum - Achill holt die Schildkröte also nie-
mals ein.
** Etwas Ähnliches beobachten wir heute vermutlich bei den öffentlichkeitswirksa-
men Winkelzügen des Philosophen Anthony Flew, der auf seine alten Tage verkün-
dete, er habe sich zum Glauben an eine Art Gottheit bekehrt (was an vielen Stellen
im Internet eine Welle hektischen Nachbetens auslöste). Andererseits war Russell
ein großer Philosoph, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Vielleicht wird
nun Flews angebliche Bekehrung mit dem Templeton-Preis belohnt. Ein erster
Schritt in diese Richtung ist seine schändliche Entscheidung, den »Phillip E. John-
son-Preis für Freiheit und Wahrheit« anzunehmen. Der erste Träger dieser Auszeich-
nung war Phillip E. Johnson, der Anwalt, dem die Erfindung der »Keilstrategie« des
Intelligent Design zugeschrieben wird. Flew ist der Zweite, dem der Preis verliehen
wurde. Bei der verleihenden Institution handelt es sich um das Bible Institute of Los
Angeles (BIOLA). Man muss sich einfach die Frage stellen, ob Flew weiß, dass er be-
nutzt wird. Vgl. Victor Stenger, »Flew’s Flawed Science«, Free Inquiry 25:2 (2005),
S. 17-18; www.secularhumanism.org/index.php?section=library&page=stenger_25_2
(26.3.2007).
115
den Zeilen, die Russell 1946 schrieb, lange nachdem er das on-
tologische Argument durchschaut hatte:
116
Die Doktrin, Existenz sei Vollkommenheit, ist ausgespro-
chen seltsam. Sinnvoll und wahr ist es, wenn ich sage, mein
zukünftiges Haus werde, wenn es wärmegedämmt ist, besser
sein, als wenn es nicht wärmegedämmt ist; aber was soll es
bedeuten, wenn man sagt, es sei ein besseres Haus, wenn es
existiert, und ein schlechteres, wenn es nicht existiert?*°
117
terschied besteht darin, dass Gasking sich absichtlich einen
Scherz erlaubte. Wie er richtig erkannte, ist die Existenz oder
Nichtexistenz Gottes eine so große Frage, dass man sie nicht
mit »dialektischer Taschenspielerkunst« beantworten kann. Und
nach meiner Überzeugung ist die fragwürdige Annahme, Exis-
tenz sei ein Zeichen für Vollkommenheit, noch nicht einmal
die schlimmste Schwäche dieser Argumentation. Die Einzel-
heiten habe ich vergessen, aber irgendwann ärgerte ich einmal
eine Versammlung von Theologen und Philosophen, indem ich
das ontologische Argument umformulierte und damit bewies,
dass Schweine fliegen können. Sie hielten es für nötig, auf Mo-
dallogik zurückzugreifen, um zu beweisen, dass ich unrecht
hatte.
Das ontologische Argument erinnert mich wie alle A-priori-
Argumente für die Existenz Gottes an den alten Mann in Point
Counter Point (Kontrapunkt des Lebens) von Aldous Huxley, der
einen mathematischen Beweis für die Existenz Gottes ent-
deckt:
118
seine Herausforderung entgegen: »Monsieur, (a + b")/n=x, also
existiert Gott. Ihre Antwort, bitte!«
Das Entscheidende an diesem Mythos: Diderot war angeb-
lich kein Mathematiker und musste deshalb verwirrt den
Rückzug antreten. Wie B.H. Brown jedoch 1942 in der Zeit-
schrift Mathematical Monthly darlegte, kannte der Franzose
sich in Wirklichkeit ziemlich gut in der Mathematik aus, sodass
er auf dieses »Argument der Blendung mit Wissenschaft«, wie
man es nennen könnte (in diesem Fall: mit Mathematik), ver-
mutlich nicht hereingefallen wäre. David Mills druckte in sei-
nem Buch Atheist Universe ein Radiointerview nach, in dem er
von einem Religionsvertreter befragt wurde. Dieser führte das
Masse- und Energie-Erhaltungsgesetz an und unternahm da-
mit einen seltsam unwirksamen Versuch, mit Wissenschaft zu
blenden: »Wir bestehen doch alle aus Materie und Energie.
Macht dieses naturwissenschaftliche Prinzip den Glauben an
ein ewiges Leben nicht plausibel?« Mills antwortete geduldiger
und höflicher, als ich es getan hätte, denn eigentlich hatte der
Interviewer einfach nur gesagt: »Wenn wir sterben, geht keines
der Atome aus unserem Körper (und auch nichts von seiner
Energie) verloren. Deshalb sind wir unsterblich.«
Selbst mir ist trotz meiner langen Erfahrung nie ein der-
art törichtes Wunschdenken begegnet. Allerdings bin ich
auf viele der wunderschönen »Beweise« gestoßen, die unter
http://www.godlessgeeks.com/LINKS/GodProof.htm gesam-
melt wurden. Diese vergnügliche, nummerierte Liste enthält
»Hunderte von Beweisen für die Existenz Gottes«. Ich zitiere
hier ein amüsantes halbes Dutzend, angefangen beim Beweis
Nummer 36:
119
N.
”
37. Argument der möglichen Welten: Wenn alles anders ge-
wesen wäre, wäre alles anders. Das wäre schlecht. Also exis-
tiert Gott.
38. Argument des reinen Willens:Ich glaube an Gott! Ja, ich
glaube an Gott! Ich glaube, ich glaube, ich glaube. Ich glaube
an Gott! Also existiert Gott.
39. Argument des Unglaubens: Die Mehrheit der Weltbe-
völkerung besteht aus Nichtchristen. Genau das hat Satan
gewollt. Also existiert Gott.
40. Argument des Nach-Todeserlebnisses: Die Person X ist
als Atheist gestorben. Jetzt erkennt sie ihren Fehler. Also
existiert Gott.
41. Argument der emotionalen Erpressung: Gott liebt dich.
Wie kannst du so herzlos sein, nicht an ihn zu glauben? Also
existiert Gott.
120
Shakespeare. Sie sind erhaben, wenn es einen Gott gibt, und sie
sind auch erhaben, wenn es ihn nicht gibt. Sie beweisen nicht
die Existenz Gottes, sondern die Existenz Beethovens oder
Shakespeares. Ein großer Dirigent soll einmal gesagt haben:
»Wenn man Mozart hören kann, wozu braucht man dann noch
Gott?«
Ich war einmal »Gast der Woch«« in einer britischen Radio-
sendung mit dem Titel Desert Island Discs. Man sollte sich acht
Schallplatten aussuchen, die man mitnehmen würde, wenn
man auf einer einsamen Insel ausgesetzt würde. Meine Wahl
fiel unter anderem auf die Arie »Mache dich mein Herze rein«
aus der Matthäuspassion von Bach. Der Interviewer konnte
nicht begreifen, warum ich mir geistliche Musik aussuchte, ob-
wohl ich nicht religiös war. Ebenso gut könnte man fragen: Wie
kannst du Emily Brontes Wuthering Heights (Sturmhöhe) ge-
nießen, obwohl du genau weißt, dass es Cathy und Heathcliff
nie gegeben hat?
Ich hätte aber noch etwas hinzufügen sollen —und das sollte
man immer sagen, wenn der Religion etwa das Verdienst für
die Existenz der Sixtinischen Kapelle oder für Raffaels Verkün-
digung zugeschrieben wird. Auch große Künstler müssen ihren
Lebensunterhalt verdienen und nehmen Aufträge an, wo diese
zu bekommen sind. Ich habe keinen Anlass zu zweifeln, dass
Raffael und Michelangelo Christen waren - zu ihrer Zeit be-
stand praktisch keine andere Möglichkeit —,aber das ist fast ein
Zufall. Die Kirche war durch ihren gewaltigen Reichtum zur
wichtigsten Mäzenin der Künste geworden. Angenommen, die
Geschichte wäre anders verlaufen und Michelangelo hätte den
Auftrag erhalten, die Kuppel eines riesigen Wissenschaftsmu-
seums auszumalen: Hätte er dann nicht etwas mindestens eben-
so Inspiriertes geschaffen wie die Sixtinische Kapelle? Schade,
dass wir nie Beethovens Mesozoikum-Symphonieoder die Mozart-
Oper Das expandierende Universum hören werden. Und was
für eine Schande, dass uns Haydns Evolutionsoratorium versagt
121
geblieben ist - was uns aber nicht daran hindert, uns über seine
Schöpfungzu freuen.
Oder betrachten wir das Argument von der anderen Seite
und stellen wir uns das vor, was meine Frau sich zu meinem
Entsetzen ausmalte: Was wäre geschehen, wenn Shakespeare
gezwungen gewesen wäre, im Auftrag der Kirche zu arbeiten?
Mit Sicherheit wären uns Hamlet, König Lear und Macbeth ver-
sagt geblieben. Und was hätten wir im Gegenzug bekommen?
Den Stoff, aus dem die Träume sind? Na, dann träumen Sie mal
schön weiter!
Wenn irgendein logisches Argument die Existenz großer
Kunstwerke an die Existenz Gottes bindet, dann wird es von
seinen Vertretern nicht ausgesprochen. Man geht einfach da-
von aus, dass es offensichtlich sei, was es ganz sicher nicht ist.
Vielleicht muss man darin eine andere Version des Gestal-
tungsarguments sehen: Schuberts musikalisches Gehirn ist ein
Wunder der Unwahrscheinlichkeit, viel unwahrscheinlicher
sogar als das Wirbeltierauge. Vielleicht ist es auch viel prosai-
scher der Neid auf das Genie. Wie kann ein anderer Mensch es
wagen, so wunderschöne Musik/Dichtung/Kunst zu schaffen,
wenn ich dazu nicht in der Lage bin? Da muss Gott doch nach-
geholfen haben.
122
war in jener Jugendzeit von der Geschichte beeindruckt und
erzählte sie einmal einer Gruppe von Zoologen, die nach Fei-
erabend in einem Pub namens »Rose and Crown« in Oxford
saßen. Zufällig waren zwei erfahrene Ornithologen darunter,
und die brachen in Gelächter aus. »Schwarzschnabel-Sturm-
taucher!« riefen sie vergnügt wie aus einem Mund. Einer von
ihnen fügte hinzu, das diabolische Kreischen und Gackern
habe dieser Spezies in verschiedenen Regionen der Erde und in
unterschiedlichen Sprachen den Namen »Teufelsvogek einge-
tragen.
Viele Menschen glauben an Gott, weil sie überzeugt sind, sie
hätten ihn - oder einen Engel, oder eine Jungfrau im blauen
Gewand - in einer Vision mit eigenen Augen gesehen. Oder sie
hören ihn im eigenen Kopf sprechen. Dieses Argument des per-
sönlichen Erlebnisses überzeugt vor allem diejenigen, die nach
ihrer eigenen Behauptung ein solches Erlebnis hatten. Für alle
anderen ist es das am wenigsten überzeugende, insbesondere
wenn man dann noch über gewisse Kenntnisse in Psychologie
verfügt.
Sie sagen, Sie hätten Gott direkt erlebt? Nun ja, manche
Menschen haben auch einen rosa Elefanten erlebt, aber das be-
eindruckt Sie vermutlich nicht. Peter Sutcliffe, der Yorkshire
Ripper, hörte ganz deutlich die Stimme Jesu; sie befahl ihm,
Frauen umzubringen, und er wurde lebenslänglich eingesperrt.
George W. Bush behauptet, Gott habe ihm gesagt, er solle im
Irak einmarschieren (schade, dass Gott sich nicht dazu herabließ,
‚ihm zu offenbaren, dass es dort keine Massenvernichtungswaf-
fen gab). Menschen in psychiatrischen Kliniken halten sich für
Napoleon oder Charlie Chaplin, und andere glauben, die ganze
Welt habe sich gegen sie verschworen oder sie könnten ande-
ren ihre Gedanken in den Kopf senden. Darüber machen wir
uns lustig, aber wir nehmen ihre innerlich offenbarten Über-
zeugungen nicht ernst, vor allem weil nicht viele Menschen sie
teilen. Religiöse Erlebnisse sind nur in einer Hinsicht anders:
123
Zahlreiche Menschen behaupten, sie hätten sie gehabt. Sam
Harris war nicht übermäßig zynisch, als er in seinem Buch The
End of Faith (»Das Ende des Glaubens«) schrieb:
124
erleben ein ständiges »Umschalten« von dem einen inneren
Modell zum anderen. Das Bild, das wir betrachten, scheint fast
buchstäblich »umzuspringen« und zu etwas anderem zu wer-
den.
Besonders gut ist die Simulationssoftware unseres Gehirns
in der Lage, Gesichter und Stimmen zu konstruieren. Auf mei-
nem Fensterbrett steht eine Kunststoffmaske von Einstein. Von
vorn sieht sie aus wie ein festes Gesicht, was nicht weiter ver-
wunderlich ist. Etwas anderes aber überrascht: Wenn man sie
von hinten - also auf der hohlen Seite - betrachtet, sieht sie
ebenfalls wie ein festes Gesicht aus, und wir haben davon eine
wahrlich eigenartige Wahrnehmung. Geht man um die Maske
herum, scheint das Gesicht sich mitzudrehen, und das nicht
nur auf die schwache, wenig überzeugende Weise wie die
Blicke der Mona Lisa, die einen angeblich verfolgen. Es sieht
wirklich aus, als würde die hohle Maske sich bewegen. Wer so
etwas noch nie gesehen hat, muss beim ersten Mal vor Verblüf-
fung tief Luft holen. Und was noch seltsamer ist: Stellt man die
Maske auf einen langsam rotierenden Drehteller, scheint sie
sich in die richtige Richtung zu drehen, solange man auf die
feste Seite blickt, aber wenn man die hohle Seite anschaut, hat
man den Eindruck, sie würde in entgegengesetzter Richtung ro-
tieren. Die Folge: Wenn man den Übergang von der einen zur
anderen Seite beobachtet, scheint die ins Blickfeld rückende
Seite die andere zu »verschlingen«. Es ist eine verblüffende op-
tische Täuschung, und es lohnt sich durchaus, ein wenig Mühe
auf sich zu nehmen, um sie zu sehen. Manchmal kann man sich
der hohlen Seite erstaunlich weit nähern und sieht immer noch
nicht, dass sie »wirklich« hohl ist. Und wenn man es erkennt,
dann wiederum mit einem plötzlichen »Umspringen«, das sich
unter Umständen wieder umkehrt.
Warum passiert das? In der Konstruktion der Maske gibt es
keinen Trick. Man kann dafür jede hohle Maske nehmen. Der
Trick spielt sich im Gehirn des Betrachters ab. Die innere Si-
125
mulationssoftware empfängt Daten, die auf ein Gesicht hin-
deuten - das muss nicht mehr sein als zwei Augen, eine Nase
und ein Mund, alles ungefähr an den richtigen Stellen. Wenn
das Gehirn diese skizzenhaften Anhaltspunkte aufgenommen
hat, erledigt es selbst den Rest. Die Gesichts-Simulationssoft-
ware wird aktiv und konstruiert ein vollständiges, festes Modell
eines Gesichts, obwohl die Realität, die sich den Augen dar-
stellt, eine hohle Maske ist. Sich klarzumachen, wie die Illusion
der Drehung in der falschen Richtung entsteht, ist nicht ein-
fach, doch wenn man genau darüber nachdenkt, erkennt man
es: Die Rotation in Gegenrichtung ist die einzige Möglichkeit,
die optischen Eindrücke sinnvoll zu interpretieren, wenn eine
hohle Maske rotiert, die aber als feste Maske wahrgenommen
wird.°! Es ist die gleiche Illusion wie mit der rotierenden Ra-
darschüssel, die man manchmal an Flughäfen sieht. Solange das
Gehirn noch nicht das richtige Modell der Antenne entworfen
hat, scheint ein falsches Modell sich auf seltsam schiefe Weise
in der umgekehrten Richtung zu drehen.
All das soll hier nur dazu dienen, deutlich zu machen, wie
leistungsfähig die Simulationssoftware unseres Gehirns ist. Sie
kann ohne weiteres »Visionen« und »Erscheinungen« von
höchster Überzeugungskraft konstruieren. Einen Geist, einen
Engel oder die Jungfrau Maria zu simulieren wäre für eine der-
art hoch entwickelte Software ein Kinderspiel. Das Gleiche
gilt auch für das Hören. Wenn wir ein Geräusch hören, wird es
nicht naturgetreu über die Hörnerven weitergeleitet und an
das Gehirn übermittelt wie in einer hochwertigen Stereoan-
lage. Wie beim Sehen konstruiert das Gehirn auch hier ein
Geräuschmodell, das auf den ständig aktualisierten Daten der
Gehörnerven basiert. Das ist der Grund, warum wir einen
"Trompetenstoß als einen einzigen Ton wahrnehmen und nicht
als den Akkord reiner Obertöne, die ihm das blecherne
Schmettern verleihen. Von einer Klarinette gespielt, klingen
die gleichen Töne »holzig«, und eine Oboe klingt »näselnd«, al-
126
les wegen unterschiedlich stark ausgeprägter Obertöne. Stellt
man einen Klangsynthesizer sorgfältig so ein, dass er die ein-
zelnen Obertöne einen nach dem anderen hinzunimmt, hört
das Gehirn sie für kurze Zeit als Kombination reiner Töne,
aber dann greift die Simulationssoftware ein, und von da an
hören wir einen einzigen reinen Trompeten-, Oboen- oder an-
deren Ton. Nach ganz ähnlichen Prinzipien werden auch die
Vokale und Konsonanten der Sprache konstruiert, und das
Gleiche gilt auf einer höheren Ebene auch für Phoneme und
Wörter.
Als Kind hörte ich einmal ein Gespenst: Eine Stimme mur-
melte wie bei einem Vortrag oder Gebet. Die Worte konnte
ich fast, aber nicht ganz verstehen, und sie schienen mir einen
ernsten, erhabenen Klang zu haben. Ich hatte Geschichten
von Geheimkammern in alten Häusern gehört und fürchtete
mich ein wenig. Dennoch stand ich auf und schlich mich in die
Richtung, aus der das Geräusch kam. Beim Näherkommen
wurde es lauter, und dann machte es in meinem Kopf plötzlich
»klick«. Ich war jetzt so nahe herangekommen, dass ich erken-
nen konnte, was es war: Der Wind pfiff durch das Schlüssel-
loch und machte ein Geräusch, auf dessen Grundlage die
Simulationssoftware in meinem Gehirn eine männliche, ehr-
würdig klingende Stimme konstruiert hatte. Wäre ich als Kind
leichter zu beeindrucken gewesen, ich hätte möglicherweise
nicht nur unverständliches Sprechen »gehört«, sondern auch
einzelne Wörter oder sogar Sätze verstanden. Und wenn ich
nicht nur leicht zu beeinflussen, sondern auch religiös erzogen
gewesen wäre, wer weiß, welche Worte mir der Wind dann zu-
geflüstert hätte.
Ein anderes Mal - ich war ungefähr im gleichen Alter - sah
ich in einem Dorf am Meer, wie ein riesiges rundes Gesicht
voller unaussprechlicher Boshaftigkeit aus dem Fenster eines
ansonsten ganz normalen Hauses schaute. Zitternd ging ich
darauf zu, bis ich sehen konnte, was es wirklich war: ein Muster,
127
das durch den zufälligen Fall der Gardinen entstanden war und
nur entfernt einem Gesicht ähnelte. Das Gesicht selbst und sei-
nen bösen Ausdruck hatte mein ängstliches Kindergehirn kons-
truiert. Am 11. September 2001 glaubten fromme Menschen, sie
hätten in dem von den Zwillingstürmen aufsteigenden Rauch
das Gesicht des Satans gesehen. Unterstützt wurde dieser Aber-
glaube durch ein Foto, das im Internet veröffentlicht wurde und
weite Verbreitung fand.
Modelle zu konstruieren versteht das menschliche Gehirn
sehr gut. Geschieht es im Schlaf, bezeichnen wir es als Traum;
wenn wir wach sind, sprechen wir von Fantasie oder bei einer
besonders lebhaften Ausprägung von Halluzinationen. Wie ich
in Kapitel 10 genauer darlegen werde, sehen Kinder, die »Fan-
tasiefreunde« haben, diese manchmal so deutlich vor sich, als
wären sie Wirklichkeit. Wenn wir leichtgläubig sind, erkennen
wir in Halluzinationen oder lebhaften Träumen nicht das, was
sie sind, sondern wir behaupten, wir hätten einen Geist ge-
sehen oder gehört; oder einen Engel; oder Gott; oder - insbe-
sondere wenn wir zufällig weiblich, jung und katholisch sind -
die Jungfrau Maria. Solche Visionen und Erscheinungen sind
sicher kein stichhaltiger Grund für die Überzeugung, es müs-
se Geister oder Engel, Götter oder Jungfrauen tatsächlich
geben.
Schwieriger sind Massenvisionen abzuhandeln, beispiels-
weise der Bericht, wonach siebzigtausend Pilger 1917 im por-
tugiesischen Fatima sahen, »wie die Sonne sich vom Himmel
losriss und auf die Menge herunterstürzte«.”” Wie siebzigtau-
send Menschen die gleiche Halluzination haben können, ist
nicht ohne weiteres zu erklären. Aber noch schwieriger ist die
Vorstellung zu akzeptieren, dass es wirklich geschah, ohne dass
die übrige Welt außerhalb von Fatima es ebenfalls sah - und es
geht ja nicht nur um das Sehen, sondern es hätte sich als katas-
trophale Zerstörung des Sonnensystems bemerkbar machen
müssen, mit derart starken Beschleunigungskräften, dass alle
128
Menschen in den Weltraum geschleudert worden wären. In
diesem Zusammenhang fällt einem unweigerlich David Humes
prägnantes Kriterium für Wunder ein: »Keine Zeugenaussage
reicht aus, um ein Wunder zu belegen, es sei denn, die Zeugen-
aussage ist so, dass ihre Falschheit noch wundersamer wäre als
die Tatsache, von der sie berichtet.«
Dass siebzigtausend Menschen gleichzeitig eine Wahnvor-
stellung haben oder sich zu einer massenhaften Lüge verabre-
den, mag unwahrscheinlich sein. Ebenso unwahrscheinlich ist
es vielleicht, dass die Historiker mit ihrem Bericht, siebzigtau-
send Menschen hätten die Sonne tanzen gesehen, einen Fehler
gemacht haben, oder dass alle gleichzeitig eine Luftspiegelung
gesehen haben (man hatte sie überredet, in die Sonne zu
blicken, was für ihr Augenlicht bestimmt nicht gut war). Aber
jede dieser offenkundig unwahrscheinlichen Möglichkeiten ist
immer noch viel wahrscheinlicher als die Alternative: dass die
Erde plötzlich in ihrer Umlaufbahn seitwärts kippte und das
Sonnensystem zerstört wurde, ohne dass es außerhalb von Fa-
tima jemand bemerkt hätte. Ich meine, so abgelegen ist Portu-
gal nun wieder nicht.*
Mehr braucht man über persönliche »Erlebnisse« mit Göt-
tern oder anderen religiösen Phänomenen nicht zu sagen. Wer
ein solches Erlebnis hatte, glaubt unter Umständen hinterher
fest daran, dass es sich wirklich abgespielt hat. Aber man sollte
nicht erwarten, dass auch wir anderen es für bare Münze neh-
men, insbesondere wenn wir auch nur die geringsten Kennt-
nisse über das Gehirn und seine große Leistungsfähigkeit be-
sitzen.
129
Das Argument der HeiligenSchrift
Auch heute gibt es noch Menschen, die sich von Belegen in der
Bibel überzeugen lassen und dann an Gott glauben. Ein häu-
fig gebrauchtes Argument, das unter anderen auch C. S. Lewis
(der es eigentlich besser wissen musste) zugeschrieben wird,
lautet: Da Jesus behauptete, er sei der Sohn Gottes, muss er
entweder recht gehabt haben, oder er war verrückt oder ein
Lügner. »Verrückt, verlogen oder Gott.« Die historischen Be-
lege, wonach Jesus tatsächlich einen göttlichen Status für sich
in Anspruch nahm, sind äußerst dünn. Aber selbst wenn man
sie als stichhaltig bezeichnen könnte, sind die drei angebote-
nen Möglichkeiten schrecklich unzureichend. Eine vierte liegt
eigentlich so auf der Hand, dass man sie kaum zu erwähnen
braucht: Jesus war ehrlich, hatte aber unrecht. Das geht vielen
Menschen so. Doch wie gesagt, es gibt ohnehin keine echten
historischen Belege, dass er sich überhaupt für ein göttliches
Wesen hielt.
Die Tatsache, dass etwas schwarz auf weiß geschrieben
steht, überzeugt vor allem Menschen, die an kritische Fragen
nicht gewöhnt sind: »Von wem und wann wurde es geschrie-
ben?« »Woher wussten sie, was sie schreiben sollten?« »Haben
sie zu ihrer Zeit wirklich das gemeint, was wir in unserer Zeit
herauslesen?« »Waren sie unparteiische Beobachter, oder hat-
ten sie bestimmte Ziele, die ihre Schriften beeinflussten?« Seit
dem 19. Jahrhundert haben Theologen überwältigende Be-
lege dafür, dass die Evangelien keine zuverlässigen Berichte
über die wirklichen historischen Ereignisse darstellen. Alle
wurden erst lange nach dem Tod Jesu verfasst, und sie ent-
standen auch erst nach den Briefen des Apostels Paulus, in de-
nen so gut wie nichts über die angeblichen Tatsachen aus dem
Leben Jesu steht. Alle Texte wurden später über viele Gene-
rationen der »stillen Post« hinweg immer wieder abgeschrie-
ben (siehe Kapitel 5), und die Schreiber arbeiteten erstens
130
nicht fehlerfrei und hatten zweitens ohnehin ihre eigenen re-
ligiösen Ziele.
Ein gutes Beispiel, wie der Text durch religiöse Einstellun-
gen gefärbt wurde, ist der rührende Bericht über die Geburt
Jesu in Bethlehem und das nachfolgende Blutbad des Herodes
an den unschuldigen Kindern. Als die Evangelien viele Jahre
später verfasst wurden, wusste niemand genau, wann Jesus ge-
boren worden war. Aber aufgrund einer Prophezeiung im Al-
ten Testament (Micha 5,2) rechneten die Juden damit, dass
der lange erwartete Messias in Bethlehem zur Welt kommen
werde. Angesichts dieser Prophezeiung merkt das Johannes-
evangelium (7,41-42) ausdrücklich an, Jesu Anhänger hätten
sich gewundert, dass er nicht in Bethlehem geboren wurde:
»Andere sprachen: Er ist der Christus. Wieder andere sprachen:
Soll der Christus aus Galiläa kommen? Sagt nicht die Schrift:
aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem, wo
David war, soll der Christus kommen?«
Matthäus und Lukas gehen anders mit dem Problem um: Sie
gelangen zu dem Schluss, dass Jesus in jedem Fall in Bethlehem
geboren worden sein musste. Aber dorthin gelangen sie auf un-
terschiedlichen Wegen. Matthäus belässt Maria und Joseph
längere Zeit in Bethlehem; nach Nazareth ziehen sie erst lange
nach Jesu Geburt auf dem Rückweg von Ägypten, wohin sie
vor dem König Herodes und dem Blutbad an den unschuldigen
Kindern geflohen sind. Lukas dagegen erkennt an, dass Maria
und Joseph in Nazareth lebten, bevor Jesus geboren wurde.
. Wie konnten sie dann im entscheidenden Augenblick in Beth-
lehem sein und die Prophezeiung erfüllen? Lukas berichtet,
Kaiser Augustus habe zu der Zeit, als Kyrenius (Quirinius)
Statthalter in Syrien war, eine allgemeine Volkszählung zu
Steuerzwecken angeordnet, und dazu habe sich »ein jeder in
seine Stadt« begeben müssen. Joseph war »aus dem Hause und
Geschlechte Davids« und musste deshalb »in die Stadt Davids,
die da heißt Bethlehem« ziehen. Das klingt nach einer plausib-
131
len Lösung, doch wie A.N. Wilson in Jesus (Der geteilte Jesus),
Robin Lane Fox in The Unauthorized Version (Die Geheimnisse
der Bibel richtig entschlüsselt) und andere dargelegt haben, ist
das historisch völliger Unsinn. Wenn David überhaupt exis-
tierte, lebte er fast tausend Jahre vor Maria und Joseph. Warum
um alles in der Welt hätten die Römer von Joseph verlangen
sollen, dass er sich in die Stadt begab, wo fast ein Jahrtausend
zuvor einer seiner entfernten Vorfahren gelebt hatte? Es ist,
als sollte ich zum Beispiel auf einem Volkszählungsformular
angeben, dass meine Heimatstadt Ashby-de-la-Zouch ist,
wenn ich meine Abstammung zufällig auf den Seigneur de
Dakeyne zurückverfolgen könnte, der mit Wilhelm dem Er-
oberer nach Großbritannien kam und sich in dieser Ortschaft
niederließ.
Außerdem macht Lukas seine Datierung auch dadurch zu-
nichte, dass er so taktlos ist und Ereignisse erwähnt, die man in
der Geschichtswissenschaft auch unabhängig von der Bibel
nachprüfen kann. Es gab unter dem Statthalter Quirinius tat-
sächlich eine Steuerschätzung —es war allerdings eine lokale
Zählung, die keineswegs vom Kaiser Augustus für das ganze
Römische Reich angeordnet wurde -, aber die fand zu spät
statt: im Jahr 6 n. Chr., lange nachdem Herodes gestorben war.
Lane Fox gelangt zu dem Schluss, Lukas’ Geschichte sei histo-
risch falsch und in sich nicht stimmig, doch er hat Mitgefühl
mit dem Dilemma des Evangelisten, der unbedingt Michas
Prophezeiung erfüllen wollte.
In der Dezemberausgabe 2004 von Free Inquiry stellte Tom
Flynn, der Redakteur dieser ausgezeichneten Zeitschrift, eine
Sammlung von Artikeln zusammen, in denen die großen
Lücken und Widersprüche der allseits geliebten Weihnachtsge-
schichte dokumentiert werden. Flynn selbst zählt die vielen
Widersprüche zwischen Matthäus und Lukas auf, den beiden
einzigen Evangelisten, die überhaupt über die Geburt Jesu be-
richten. Und Robert Gillooly zeigt, wie alle wesentlichen Zu-
132
taten der Jesuslegende - der Stern im Osten, die Jungfrauenge-
burt, die Anbetung des Babys durch die Könige, die Wunder,
die Hinrichtung, die Wiederauferstehung und die Himmel-
fahrt — ausnahmslos aus anderen Religionen übernommen
wurden, die es zu jener Zeit im Mittelmeerraum und im Nahen
Osten bereits gab.” Nach Flynns Vermutung geriet Matthäus’
Wunsch, im Interesse der jüdischen Leser die Messiasprophe-
zeiungen (Abstammung von David, Geburt in Bethlehem) zu
erfüllen, in einen frontalen Konflikt mit Lukas’ Wunsch, das
Christentum für die Nichtjuden aufzubereiten und deshalb die
altbekannten Register der heidnisch-hellenistischen Religio-
nen (Jungfrauengeburt, Anbetung durch Könige usw.) zu zie-
hen. Die daraus entstehenden Widersprüche fallen sofort ins
Auge, werden aber von den Gläubigen stets geflissentlich über-
sehen.
Intellektuelle Christen brauchen keinen Gershwin, der ih-
nen sagt: »The things that you’re li’ble/To read in the Bible/It
ain’t necessarily so.« (»Was man so in der Bibel liest, das ist
nicht unbedingt so.«) Aber es gibt leider viele nicht intellektu-
elle Christen, nach deren Ansicht es absolut so sein muss —sie
nehmen die Bibel als buchstäbliche, genaue Beschreibung der
Geschichte sehr ernst und sehen darin einen Beleg, der ihre
eigenen religiösen Überzeugungen stützt. Schlagen diese Men-
schen eigentlich das Buch, das in ihren Augen die buchstäbli-
che Wahrheit enthält, niemals auf? Warum bemerken sie die
offenkundigen Widersprüche nicht? Sollte jemand, der die Bi-
bel wörtlich nimmt, sich nicht darüber beunruhigen, dass
Matthäus die Abstammung des Joseph von König David über
28 Zwischengenerationen zurückverfolgt, während es bei Lu-
kas 41 Generationen sind? Und was noch schlimmer ist: Bei
den Namen in den beiden Listen gibt es so gut wie keine Über-
einstimmungen! Und wenn Jesus von einer Jungfrau zur Welt
gebracht wurde, sind Josephs Vorfahren ohnehin bedeutungs-
los, und man kann sie nicht dazu benutzen, im Sinne Jesu die
133
ufe
alttestamentarische Prophezeiung zu erfüllen, wonach der Mes-
sias von David abstammt.
Der amerikanische Bibelforscher Bart Ehrman erläutert in
Whose Word Is It? (»WessenWort?«), welch gewaltige Unsicher-
heiten die Texte des Neuen Testaments vernebeln.* In der Ein-
leitung des Buches berichtet Professor Ehrman auf bewegende
Weise über seine eigene persönliche Entwicklung vom bibel-
gläubigen Fundamentalisten zum nachdenklichen Skeptiker.
Eine wichtige Triebkraft auf diesem Weg war für ihn die wach-
sende Erkenntnis, wie unglaublich fehlerhaft die heiligen Schrif-
ten sind. Was dabei interessant ist: Als er in der Hierarchie der
amerikanischen Universitäten aufstieg - von der untersten Stufe
am »Moody Bible Institute« über das Wheaton College (das auf
der Skala ein wenig höher steht, aber auch die Alma mater von
Billy Graham war) bis zum Princeton Theological Seminary -,
wurde er jedes Mal gewarnt, es werde schwierig für ihn werden,
angesichts des gefährlichen Fortschrittsglaubens seinen christli-
chen Fundamentalismus aufrechtzuerhalten. Die Prophezeiung
bestätigte sich, und wir, seine Leser, sind die Nutznießer. Weitere
erfrischend umstürzlerische, bibelkritische Bücher sind das be-
reits erwähnte Die Geheimnisse der Bibel richtig entschlüsselt von
Robin Lane Fox und The Secular Bible: Why Nonbelievers Must
Take ReligionSeriouslyvon Jacques Berlinerblau (»Die weltliche
Bibel: Warum Ungläubige Religion ernst nehmen müssen«). .
Die vier Evangelien, die in den offiziellen Kanon gelangten,
wurden mehr oder weniger willkürlich aus einer größeren Zahl
ausgewählt. Ursprünglich war es mindestens ein Dutzend, da-
runter das Thomas-, Petrus-, Nikodemus-, Philipp-, Bartholo-
mäus- und Maria-Magdalena-Evangelium.”* Diese zusätzlichen
Evangelien meinte Thomas Jefferson, als er in seinem schon
zitierten Brief an seinen Neffen schrieb:
* Ehrman 2006. Die US-Originalausgabe (San Francisco 2005) trägt den Titel Misquo-
tingJesus (»Jesusfalsch zitiert«). Warum machen Verlage so etwas?
134
Als ich vom Neuen Testament sprach, vergaß ich zu erwäh-
nen, dass Du alle Christushistorien lesen solltest, also sowohl
jene, bei denen ein Rat von Kirchenleuten für uns entschie-
den hat, dass ihre Autoren Pseudoevangelisten seien, als
auch die, die sie als Evangelisten bezeichnen. Denn diese
Pseudoevangelisten geben ebenso Anlass zu Inspiration wie
die anderen, und du solltest ihre Berichte mit deinem eige-
nen Verstand beurteilen, nicht mit dem dieser Kirchenleute.
* A.N. Wilson äußerte in seiner Jesus-Biografie ernste Zweifel an der Behauptung, Jo-
seph sei Zimmermann gewesen. Das griechische Wort tekton bedeutete tatsächlich
»Zimmermann«, es ist aber eine Übersetzung des aramäischen Wortes naggar, das auch
einen Handwerker oder einen gelehrten Mann bezeichnet. Dies ist nur eine von vie-
len aufschlussreichen Falschübersetzungen, unter denen die Bibel leidet; am berühm-
testen ist die falsche Übersetzung des Wortes almah für »junge Frau« in Jesajas He-
bräisch, aus dem im Griechischen parthenos (»Jungfrau«)wurde. Wie leicht so etwas
passieren kann, erkennt man beim Vergleich der Wörter »junge Frau« und »Jungfrau«
sofort, aber der Übersetzungsfehler wurde gewaltig aufgeblasen und gab den Anlass zu
der ganzen grotesken Legende, wonach die Mutter Jesu eine Jungfrau gewesen sei!
Der einzige Konkurrent um den Titel der folgenschwersten Falschübersetzung aller
Zeiten hat ebenfalls mit Jungfrauen zu tun. Wie Ibn Warraq vergnügt darlegte, beruht
die berühmte Versprechung, jeder muslimische Märtyrer werde 27 Jungfrauen erhal-
ten, ebenfalls auf einem Fehler: »Jungfrauen« ist hier eine falsche Übersetzung für
»weiße Trauben von kristallener Klarheit«. Wäre das allgemein bekannt gewesen, wie
viele unschuldige Opfer von Selbstmordanschlägen wären noch am Leben? Vgl. Ibn
Warraq, »Virgins?What Virgins?«,FreeInquiry 26:1 (2006), S.45 f.
135
schlächtige Wundergeschichten wie die im Kindheitsevange-
lium nach Thomas werde ohnehin niemand glauben. Aber es
besteht auch nicht mehr und nicht weniger Anlass, den vier ka-
nonischen Evangelien Glauben zu schenken. Bei allen handelt
es sich um Legenden, und als Tatsachenberichte sind sie ebenso
zweifelhaft wie die Geschichten über König Artus und die Rit-
ter der Tafelrunde.
Die meisten Gemeinsamkeiten der vier kanonischen Evan-
gelien gehen auf eine gemeinsame Quelle zurück, entweder
auf das Markusevangelium oder auf ein verlorenes Werk, des-
sen ältester noch vorhandener Nachkomme das Markusevan-
gelium ist. Wer die vier Evangelisten waren, weiß niemand,
aber mit ziemlicher Sicherheit sind sie nie persönlich mit Jesus
zusammengetroffen. Ihre Schriften waren zum größten Teil
keineswegs ein ehrlicher Versuch, Geschichte zu schreiben,
sondern es waren aufgewärmte Inhalte aus dem Alten Testa-
ment; die Autoren der Evangelien waren zutiefst überzeugt,
das Leben Jesu müsse alttestamentarische Prophezeiungen erfül-
len. Man kann sogar eine ernsthafte historische Argumentation
konstruieren - die allerdings keine verbreitete Unterstützung
erfährt -, wonach Jesus überhaupt nie gelebt hat; diese Ansicht
vertrat unter anderem Professor G. A. Wells von der University
of London in mehreren Büchern, darunter einem mit dem Ti-
tel Did Jesus Exist? (»Hat Jesus existiert?«).
Vermutlich hat es Jesus also tatsächlich gegeben, doch sehn
renommierte Bibelforscher im Neuen Testament (und natür-
lich erst recht im Alten Testament) ganz allgemein keinen zu-
verlässigen Bericht über die tatsächlichen historischen Ereig-
nisse, und deshalb werde ich die Bibel von jetzt an auch nicht
mehr als Beleg für irgendeine Art von Gottheit heranziehen.
Oder mit den weitsichtigen Worten, die Thomas Jefferson an
seinen Amtsvorgänger als Präsident der Vereinigten Staaten,
John Adams, schrieb: »Es wird der Tag kommen, an dem die
mystische Entstehung Jesu im Leib einer Jungfrau und mit
136
dem höchsten Wesen als Vater in die gleiche Kategorie einge-
ordnet werden wird wie die Fabel von der Geburt der Minerva
aus dem Kopf Jupiters.«
Der Roman The Da Vinci Code (Sakrileg) von Dan Brown
und der danach gedrehte Film gaben in Kirchenkreisen den
Anlass zu gewaltigen Kontroversen. Christen wurden aufgefor-
dert, den Film zu boykottieren und vor den Kinos, die ihn zeig-
ten, Mahnwachen aufzustellen. Tatsächlich ist die Geschichte
von Anfang bis Ende erfunden und reine Fiktion. In dieser Hin-
sicht gleicht sie genau den Evangelien. Der einzige Unterschied
besteht darin, dass Sakrileg eine moderne literarische Erfin-
dung ist, während die Evangelien schon vor sehr langer Zeit er-
funden wurden.
»Newton war religiös. Wer sind Sie denn, dass Sie sich für klü-
ger halten als Newton, Galilei, Kepler usw. usw. usw.? Wenn
Gott für die gut genug war, was glauben Sie denn, wer Sie
sind?« Bei einer derart verfehlten Argumentation kommt es
darauf zwar auch nicht mehr an, aber manche ihrer Vertreter
fügen sogar noch den Namen Darwin hinzu, von dem in hart-
näckigen, allerdings nachweislich falschen Gerüchten behaup-
tet wird, er habe sich auf dem Sterbebett bekehrt. Solche Ge-
schichten kommen wie ein schlechter Geruch immer wieder
137
auf,* seit sie absichtlich von einer gewissen »Lady Hope« in die
Welt gesetzt wurden: Sie erzählte ein rührendes Märchen, wo-
nach Darwin in der Abendsonne in seinen Kissen gelegen, im
Neuen Testament geblättert und gestanden habe, die ganze
Evolution sei falsch.
Ich werde mich im vorliegenden Abschnitt vor allem auf
Naturwissenschaftler konzentrieren, denn aus naheliegenden
Gründen wählen alle, die mit den Namen bewunderter Persön-
lichkeiten als religiösen Vorbildern hausieren gehen, sehr häu-
fig Vertreter der Naturwissenschaft.
Newton behauptete tatsächlich, er sei religiös, und das Glei-
che taten bis zum 19. Jahrhundert fast alle. Denn erst dann ließ —
was nach meiner Überzeugung bedeutsam ist —gegenüber
früheren Jahrhunderten der gesellschaftliche und juristische
Druck nach, sich zur Religion zu bekennen, während gleich-
zeitig die Wissenschaft mehr Unterstützung bot, um sich von
der Religion loszusagen. Natürlich gab es in beiden Richtungen
Ausnahmen. Schon vor Darwin waren nicht alle Wissenschaft-
ler gläubig; dies zeigt James Haught in 2000 Years of Disbelief:
Famous Peoplewith the Courage to Doubt (»2000 Jahre Unglau-
ben: Berühmte, die den Mut zum Zweifel hatten«). Und umge-
kehrt waren manche angesehenen Wissenschaftler auch nach
Darwins Zeit noch gläubig. Wir haben keinen Anlass, daran zu
zweifeln, dass Michael Faraday auch zu einer Zeit, als er über
Darwins Arbeiten bereits Bescheid wissen musste, noch ehrli-
che christliche Überzeugungen hegte. Er gehörte der Sekte der
* Selbst mir wurde die Ehre zuteil, dass man mir eine Bekehrung auf dem Sterbebett
prophezeite. Solche Voraussagen kehren sogar mit eintöniger Regelmäßigkeit wieder
(vgl. z.B. Steer 2003), und jede Wiederholung kommt mit der taufrischen Illusion da-
her, besonders witzig und überdies die erste zu sein. Vielleicht sollte ich zur Vorsicht
ein Tonbandgerät installieren, um meinen posthumen Ruf zu schützen. Meine Frau
fügt noch hinzu: »Was soll der Unsinn mit dem Sterbebett? Wenn du Ausverkauf be-
treiben willst, dann mach es rechtzeitig, gewinn den Templeton-Preis und schieb es
dann auf deine Senilität.«
138
Sandemanisten an, die an eine wörtliche Interpretation der
Bibel glaubten (Vergangenheitsform, denn die Sekte ist heute
praktisch ausgestorben); neu aufgenommenen Mitgliedern
wurden rituell die Füße gewaschen, und man zog Lose, um
Gottes Willen festzustellen. Faraday wurde 1860, ein Jahr
nach dem Erscheinen der Entstehung der Arten, Gemeinde-
ältester und starb 1867 als Mitglied der Sekte. Auch James
Clerk Maxwell, als Theoretiker ein Gegenpol zum Expe-
rimentalforscher Faraday, war gläubiger Christ. Das Glei-
che galt auch für die zweite Säule der britischen Physik im
19. Jahrhundert, William Thomson Lord Kelvin, der nachwei-
sen wollte, dass die Evolution aus Mangel an Entwicklungszeit
abwegig sei. Der große Pionier der Thermodynamik ging bei
seiner Fehldatierung davon aus, dass die Sonne eine Art Feuer
sei, dessen Brennstoff nicht erst nach Jahrmilliarden, sondern
schon nach wenigen Dutzend Millionen Jahren zur Neige ge-
hen müsse. Natürlich kann man nicht erwarten, dass Kelvin
bereits etwas über Kernenergie wusste. Erfreulicherweise blieb
es Sir George Darwin, Charles’ zweitem Sohn, vorbehalten,
1903 bei der Tagung der British Association seinen unadeli-
gen Vater zu bestätigen, indem er sich auf die Entdeckung
des Radiums durch das Ehepaar Curie berief und so die Schät-
zung von Lord Kelvin, der damals noch lebte, widerlegen
konnte.
Im 20. Jahrhundert findet man nicht mehr so leicht große
Wissenschaftler, die sich zur Religion bekennen, aber sonder-
lich selten sind sie auch nicht. Nach meiner Vermutung waren
die meisten von ihnen nur im Sinne Einsteins religiös, und das
ist, wie ich in Kapitel 1 dargelegt habe, eine falsche Verwen-
dung des Wortes. Es gibt aber auch einige echte Beispiele für
gute Naturwissenschaftler, die im vollständigen, traditionellen
Sinn ehrlich gläubig sind. Unter den britischen Wissenschaft-
lern unserer Zeit tauchen mit der liebenswerten Vertrautheit
der Seniorpartner in einer Dickens’schen Anwaltskanzlei im-
139
mer die gleichen drei Namen auf: Peacocke, Stannard und Pol-
kinghorne. Alle drei wurden entweder mit dem Templeton-Preis
ausgezeichnet oder sitzen im Beirat der Templeton Founda-
tion. Ich habe mit allen dreien sowohl in der Öffentlichkeit als
auch privat liebenswürdige Gespräche geführt. Verblüfft bin
ich immer noch, allerdings weniger über ihren Glauben an eine
Art kosmischen Gesetzgeber als vielmehr über ihr Festhalten
an den Details der christlichen Religion: Auferstehung, Verge-
bung der Sünden und so weiter.
Entsprechende Beispiele gibt es auch in den Vereinigten
Staaten, darunter Francis Collins, den Verwaltungsleiter des
amerikanischen Zweiges im offiziellen Human-Genompro-
jekt.* Aber wie in Großbritannien fallen sie auch hier wegen
ihrer Seltenheit auf und sind bei ihren Kollegen in der wis-
senschaftlichen Welt das Objekt amüsierter Verblüffung. Im
Jahre 1996 interviewte ich meinen Freund Jim Watson, den
genialen Begründer des Human-Genomprojekts. Das Ge-
spräch fand in Cambridge statt, im Garten von Clare, seinem
alten College, und war Teil einer Dokumentarsendung über
Gregor Mendel, den genialen Begründer der gesamten Gene-
tik, die ich für das BBC-Fernsehen vorbereitete. Mendel war
als Augustinermönch natürlich ein religiöser Mann; aber das
war im 19. Jahrhundert, und damals war der Eintritt ins Klos-
ter für den jungen Mann der einfachste Weg, um seine wis-
senschaftlichen Interessen weiter zu verfolgen. Für ihn war es
das Gleiche wie heute ein Forschungsstipendium. Ich fragte
Watson, ob er in unserer Zeit viele religiöse Wissenschaftler
kenne. Darauf erwiderte er: »So gut wie keinen. Manchmal
treffe ich mit solchen Leuten zusammen, das ist mir dann ein
bisschen peinlich [lacht], weil, weißt du, ich kann einfach
140
nicht glauben, dass jemand die Wahrheit aufgrund einer Of-
fenbarung anerkennt.«
Francis Crick, neben Watson der zweite Mitbegründer der
molekulargenetischen Revolution, legte seine Mitgliedschaft
im Churchill College in Cambridge nieder, weil die Institution
sich entschlossen hatte, auf Geheiß eines Geldgebers eine Ka-
pelle zu bauen. In meinem Interview am Clare College sprach
ich Watson bewusst darauf an, dass manche Menschen im Ge-
gensatz zu Crick und ihm keinen Widerspruch zwischen Na-
turwissenschaft und Religion erkennen können, weil es in der
Wissenschaft ihrer Ansicht nach darum gehe, wie die Dinge
funktionieren, in der Religion dagegen, wozu sie da sind. Da-
rauf erwiderte Watson: »Nun ja, ich glaube nicht, dass wir zu ir-
gendetwas da sind. Wir sind einfach Produkte der Evolution.
Man kann natürlich sagen: »Igitt, Ihr Leben muss aber ziemlich
öde sein, wenn Sie nicht glauben, dass es einen Zweck hat.«
Aber jetzt freue ich mich auf ein gutes Mittagessen.« Und wir
aßgengut zu Mittag.
Die Versuche der Religionsvertreter, in unserer Zeit wirklich
angesehene, religiöse Naturwissenschaftler zu finden, haben
etwas Verzweifeltes, und sie erzeugen den unverkennbar hoh-
len Klang von Fässern, an deren Boden gekratzt wird. Ich
konnte nur eine einzige Website finden, die angeblich »christli-
che Wissenschaftler und Nobelpreisträger« aufführte. Sie
nannte sechs Namen von mehreren hundert, die den Nobel-
preis bis heute erhalten haben. Wie sich dann herausstellte, wa-
ren vier der sechs überhaupt keine Nobelpreisträger, und min-
destens einer ist, wie ich sicher weiß, nicht gläubig, sondern
geht ausschließlich aus gesellschaftlichen Gründen in die Kir-
che. In einer systematischen Untersuchung von Benjamin Beit-
Hallahmi »stellte sich heraus, dass unter den Nobelpreisträgern
für Naturwissenschaften und auch für Literatur im Vergleich
zu den Bevölkerungsgruppen, aus denen sie stammen, ein be-
merkenswertes Ausmaß an Nicht-Religiosität herrscht«.”
141
Eine weitere Studie veröffentlichten Larson und Witham
1998 in der führenden Fachzeitschrift Nature: Danach glauben
von den US-amerikanischen Naturwissenschaftlern, die bei
ihren Kollegen als so hoch qualifiziert gelten, dass sie in die Na-
tional Academy of Sciences gewählt wurden (was einer Mit-
gliedschaft in der britischen Royal Society entspricht), nur sie-
ben Prozent an einen persönlichen Gott.” Dieses überwälti-
gende Übergewicht der Atheisten ist fast das genaue Gegenteil
zum Profil der amerikanischen Gesamtbevölkerung, in der
über 90 Prozent der Menschen an irgendein übernatürliches
Wesen glauben. Bei den weniger herausragenden Naturwissen-
schaftlern, die nicht in die Wissenschaftsakademie gewählt
wurden, liegt der Wert dazwischen. Wie in der Elitegruppe, so
sind die Gläubigen auch hier in der Minderheit, die allerdings
mit etwa 40 Prozent größer ist. Das sind genau die Verhältnisse,
mit denen ich gerechnet hätte: Amerikanische Naturwissen-
schaftler sind weniger religiös als die allgemeine amerikanische
Bevölkerung, und die angesehensten Wissenschaftler sind un-
ter allen am wenigsten religiös. Bemerkenswert ist der diamet-
rale Gegensatz zwischen der Religiosität der breiten amerika-
nischen Öffentlichkeit und dem Atheismus ihrer intellektuellen
Elite.’
Ein ganz klein bisschen amüsant ist dabei, dass »Answers
in Genesis«, die führende Website der Kreationisten, die Stu-
die von Larson und Witham ebenfalls zitiert — allerdings
nicht als Beleg, dass mit der Religion irgendetwas nicht
stimmt, sondern als Waffe in ihrem Streit mit jenen konkur-
rierenden Religionsvertretern, nach deren Ansicht die Evolu-
tion mit der Religion vereinbar ist. Unter der Überschrift
»National Academy of Science [sic] ist gottlos bis in die Kno-
chen«°® zitiert »Answers in Genesis« voller Vergnügen das
Ende des Briefes von Larson und Whitman an die Nature-Re-
daktion:
142
Während wir unsere Befunde zusammenstellten, gab die
NAS [National Academy of Sciences] eine Broschüre heraus,
die dazu aufforderte, an staatlichen Schulen die Evolution
zu unterrichten, was eine Ursache ständiger Reibereien zwi-
schen der wissenschaftlichen Welt und einigen konservati-
ven Christen in den Vereinigten Staaten darstellt. Das Heft
versichert dem Leser: »Ob Gott existiert oder nicht, ist eine
Frage, in der sich die Naturwissenschaft neutral verhält.«
Dazu sagte NAS-Präsident Bruce Alberts: »Es gibt in dieser
Akademie viele hervorragende Mitglieder, die sehr religiöse
Menschen sind, Menschen, die an die Evolution glauben,
viele davon Biologen.« Unsere Untersuchung lässt auf etwas
anderes schließen.
Man hat den Eindruck, dass Alberts sich aus den Gründen, die
ich im zweiten Kapitel unter der Überschrift »Die Neville-
Chamberlain-Schule der Evolutionsforscher« erörtert habe,
das NOMA-Prinzip zu eigen machte. »Answers in Genesis« ver-
folgt ganz andere Ziele.
Das Gegenstück zur US-Academy ist in Großbritannien
(und auch im Commonwealth mit Kanada, Australien, Neu-
seeland, Indien, Pakistan, den Englisch sprechenden afrikani-
schen Staaten und so weiter) die Royal Society. Während die-
ses Buch in Druck geht, arbeiten meine Kollegen R. Elizabeth
Cornwell und Michael Stirrat an einer vergleichbaren, aber
gründlicheren Untersuchung über die religiösen Überzeugun-
gen der Fellows in der Royal Society (FRS). Ihre vollständigen
Befunde werden in absehbarer Zeit veröffentlicht; die Autoren
haben mir freundlicherweise gestattet, hier einige vorläufige
Ergebnisse zu zitieren. Zur Einordnung der Überzeugungen be-
dienten sie sich eines Standardverfahrens, der Sieben-Punkte-
Skala nach Likert. Befragt wurden alle 1074 Fellows der Royal
Society, die eine E-Mail-Adresse besaßen (die große Mehr-
heit), und von diesen antworteten ungefähr 23 Prozent (was
143
für eine solche Untersuchung eine gute Quote ist). Zur Aus-
wahl standen verschiedene Aussagen, wie zum Beispiel: »Ich
glaube an einen persönlichen Gott, der sich für einzelne Men-
schen interessiert, Gebete erhört, sich um Sünden und Fehl-
tritte kümmert und darüber urteilt.« Zu jeder dieser Aussa-
gen sollten sich die Teilnehmer mit einer Zahl zwischen 1
(stimme überhaupt nicht zu«) und 7 (stimme völlig zu«)
äußern. Die Ergebnisse mit denen der Studie von Larson und
Witham zu vergleichen ist nicht ganz einfach, weil diese ihren
Befragten keine siebenstufige, sondern nur eine dreistufige
Skala vorlegten, aber der Trend ist insgesamt der Gleiche. In
ihrer großen Mehrzahl sind die FRS genau wie die US-Akade-
miker Atheisten. Nur 3,3 Prozent der Fellows äußerten zu der
Aussage, es gebe einen persönlichen Gott, starke Zustimmung
(das heißt, sie wählten auf der Skala die 7), 78,8 Prozent dage-
gen lehnten sie völlig ab (1 auf der Skala). Definiert man als
»Gläubige« diejenigen, die eine 6 oder 7 wählen, und als »Un-
gläubige« jene, die sich für 1 oder 2 entscheiden, so stehen
einem Übergewicht von 213 Ungläubigen nur 12 Gläubige
gegenüber. Außerdem bemerkten Cornwell und Stirrat einen
schwachen, aber signifikanten Trend, den auch Larson und
Witham festgestellt hatten und der von Beit-Hallahmi und
Argyle ebenfalls erwähnt wird: Biologen sind in sogar noch
höherem Maße Atheisten als Physiker. Einzelheiten und alle
übrigen sehr interessanten Befunde sind dem Artikel selbst
nach dessen Erscheinen zu entnehmen.”
Lassen wir die naturwissenschaftlichen Eliten der National
Academy of Sciences und der Royal Society jetzt beiseite, und
fragen wir uns ganz allgemein: Gibt es Anhaltspunkte, dass
Atheisten auch in der Gesamtbevölkerung eher unter den ge-
bildeten und intelligenteren Menschen zu finden sind? Mit
dem statistischen Zusammenhang zwischen Religiosität und
Bildungsniveau oder Religiosität und Intelligenzquotient be-
schäftigen sich mehrere Untersuchungen. Michael Shermer
144
beschreibt in How We Believe: The Search for God in an Age of
Science (»Wie wir glauben: Die Suche nach Gott im Zeitalter
der Wissenschaft«) eine Umfrage, die er zusammen mit seinem
Kollegen Frank Sulloway unter zufällig ausgewählten US-Ame-
rikanern durchführte. Neben vielen anderen interessanten Er-
gebnissen entdeckten sie, dass zwischen Religiosität und Bil-
dung tatsächlich eine negative Korrelation besteht: Besser
gebildete Menschen sind seltener religiös. Ebenso besteht ein
negativer Zusammenhang zwischen Religiosität und dem In-
teresse an Naturwissenschaft und (deutlich) liberalen politi-
schen Einstellungen. Das alles ist ebenso wenig verwunderlich
wie die Tatsache, dass zwischen der eigenen Religiosität und
der der Eltern eine positive Korrelation besteht. In soziologi-
schen Untersuchungen an britischen Kindern stellte sich he-
raus, dass nur jeder Zwölfte sich von den religiösen Überzeu-
gungen der Eltern abwendet.
Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, wenden die einzel-
nen Wissenschaftler unterschiedliche Messmethoden an, und
das macht es schwierig, ihre Untersuchungen zu vergleichen.
Zu diesem Zweck gibt es das Verfahren der Meta-Analyse: Ein
Wissenschaftler betrachtet alle veröffentlichten Forschungsar-
beiten zu einem Thema und stellt zusammen, wie viele Auf-
sätze zu der einen oder anderen Schlussfolgerung gelangen.
Zum Thema Religion und Intelligenzquotient kenne ich nur
eine einzige Meta-Analyse. Sie stammt von Paul Bell und er-
schien 2002 im Mensa Magazine (Mensa ist eine Vereinigung
von Menschen mit hohem Intelligenzquotienten, und deshalb
ist es nicht verwunderlich, dass ihre Zeitschrift auch Artikel zu
dem Thema enthält, das ihre Gemeinsamkeit darstellt). Bell
gelangt zu dem Schluss:
145
u
ren durchgeführt wurden, fanden alle außer vier einen um-
gekehrten Zusammenhang. Das heißt, je höher die Intelli-
genz oder das Bildungsniveau ist, desto geringer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass jemand religiös ist oder irgendeine
Form von »Glaubensüberzeugungen« hat.”
Pascals Wette
146
Diese Argumentation hat eindeutig etwas Seltsames. Über
den Glauben entscheidet man nicht wie über eine taktische
Frage. Zumindest ich kann darüber nicht mit meinem Willen
entscheiden. Ich kann mich entschließen, in die Kirche zu ge-
hen und das Glaubensbekenntnis zu sprechen, und ich kann
mich entscheiden, auf einen Stapel Bibeln zu schwören, von
deren Inhalt ich jedes Wort glaube. Aber das alles führt nicht
dazu, dass ich wirklich glaube, obwohl ich eigentlich ungläubig
bin. Pascals Wette kann höchstens ein Argument dafür sein,
dass man so tut, als glaubte man an Gott. Dann ist aber der
Gott, an den zu glauben man vorgibt, besser nicht einer von der
allwissenden Sorte, denn sonst durchschaut er die Täuschung.
Die lächerliche Idee, Glaube sei etwas, worüber man entschei-
den könne, wird von Douglas Adams in Dirk Gently’s Holistic
Detective Agency (Der elektrische Mönch) auf köstliche Weise
parodiert: Dort lernen wir den »elektrischen Mönch« kennen,
einen Roboter, der uns Mühen erspart, indem er »für uns
glaubt«. In der Werbung für das Deluxe-Modell heißt es: »Kann
Dinge glauben, an die man nicht einmal in Salt Lake City
glaubt.«
Ohnehin stellt sich die Frage: Warum finden wir uns so ein-
fach mit der Vorstellung ab, dass wir nur eines tun müssen, um
Gott zu gefallen, nämlich an ihn zu glauben? Was ist am Glau-
ben so Besonderes? Ist es nicht ebenso wahrscheinlich, dass
Gott Freundlichkeit, Großzügigkeit oder Demut belohnt?
Oder Ehrlichkeit? Wie sieht es aus, wenn Gott ein Wissen-
schaftler ist, der das ehrliche Streben nach Wahrheit als höchs-
te Tugend ansieht? Musste der Konstrukteur des Universums
nicht sogar ein Wissenschaftler sein? Bertrand Russell wurde
einmal gefragt, was er sagen würde, wenn er nach seinem Tod
Gott gegenüberstünde und erklären müsste, warum er nicht an
ihn geglaubt habe. Russells (ich würde fast sagen: unsterbliche)
Antwort lautete: »Keine ausreichenden Anhaltspunkte, Gott,
keine ausreichenden Anhaltspunkte.« Müsste Gott nicht vor
147
Russell und seinem mutigen Skeptizismus (ganz zu schweigen
von seinem mutigen Pazifismus, der ihn während des Ersten
Weltkriegs ins Gefängnis brachte) weit größeren Respekt ha-
ben als vor Pascal mit seinen ängstlichen Berechnungen? Wir
können zwar nicht wissen, in welche Richtung Gott springen
würde, aber um Pascals Wette abzulehnen, brauchen wir es
auch nicht zu wissen. Wie gesagt: Wir reden hier von einer
Wette, und Pascal behauptete nicht, es gehe darin um etwas an-
deres als um sehr unterschiedlich große Chancen. Würden wir
darauf wetten, dass Gott einen unehrlich vorgetäuschten Glau-
ben (oder auch ehrlichen Glauben) höher schätzt als ehrliche
Skepsis?
Und nehmen wir außerdem einmal an, der Gott, dem wir
nach dem Tod gegenübertreten, ist Baal, und angenommen,
Baal ist ebenso eifersüchtig, wie sein alter Konkurrent Jahwe
gewesen sein soll. Hätte Pascal dann nicht besser auf gar keinen
Gott anstelle des falschen Gottes gewettet? Bringt nicht sogar
die schiere Zahl der potenziellen Götter und Göttinnen, auf
die man wetten könnte, Pascals ganze Logik zum Einsturz?
Vermutlich wollte Pascal einen Witz machen, als er seine Wette
formulierte, darum handele ich sie ebenso scherzhaft ab. Aber
mir sind - unter anderem in der Fragestunde nach meinen Vor-
trägen — schon Menschen begegnet, die Pascals Wette ganz
ernsthaft als Argument für den Glauben an Gott anführten,
und deshalb war es richtig, dass ich mich hier kurz damit be-
schäftigt habe.
Und schließlich: Ist es möglich, eine Art umgekehrte Pascal-
Wette zu vertreten? Gehen wir einmal davon aus, dass es
tatsächlich eine geringe Wahrscheinlichkeit für die Existenz
Gottes gibt. Dennoch könnte man sagen: Ich kann ein besseres,
erfüllteres Leben führen, wenn ich annehme, dass es ihn nicht
gibt, sodass ich meine kostbare Zeit nicht damit vergeude, ihn
anzubeten, ihm Opfer zu bringen, für ihn zu kämpfen und zu
sterben, usw. Ich möchte diese Frage hier nicht weiter verfol-
148
gen, aber man sollte sie im Hinterkopf haben, wenn wir uns in
späteren Kapiteln mit den bösen Folgen beschäftigen, die aus
religiösem Glauben und Gehorsam erwachsen können.
Bayes’scheArgumente
Das seltsamste Argument für die Existenz Gottes, das mir un-
tergekommen ist, vertritt Stephen Unwin in seinem Buch The
Probability of God (Die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes).
Ich habe gezögert, seinen Gedankengang hier überhaupt zur
Sprache zu bringen, denn er ist weniger stichhaltig und auch
weniger durch ein hohes Alter geheiligt als andere. Aber Un-
wins Buch erregte 2003 bei seinem Erscheinen in der Presse
beträchtliche Aufmerksamkeit und bietet tatsächlich die Gele-
genheit, verschiedene Erklärungsstränge zusammenzuführen.
Ich empfinde für seine Ziele eine gewisse Sympathie, weil die
Frage nach der Existenz Gottes, wie ich in Kapitel 2 erläutert
habe, in meinen Augen als wissenschaftliche Hypothese der
Untersuchung zumindest prinzipiell zugänglich ist. Überdies
ist Unwins verschrobener Versuch, der Wahrscheinlichkeit einen
Zahlenwert zuzuordnen, eindeutig vergnüglich.
Der Untertitel Mit einer einfachen Formel auf der Spur der
letzten Wahrheit sieht ganz so aus, als habe der Verlag ihn in
letzter Minute hinzugefügt, denn aus Unwins Text spricht
durchaus keine sichere Erkenntnis. Besser betrachtet man das
Buch als Bedienungsanleitung, als Bayes-Theorem für Dummies,
wobei die Existenz Gottes als halb scherzhafte Fallstudie dient.
Ebenso gut hätte Unwin das Bayes’sche Theorem mithilfe
eines Mordfalles im Spiel Cluedo beweisen können. Der Kom-
missar nennt die Indizien. Die Fingerabdrücke auf der Pistole
weisen auf Mrs. Peacock hin. Zur quantitativen Erfassung des
Verdachts wird der Dame ein Zahlenwert zugeordnet. Aber
Professor Plum hat ein Motiv, ihr etwas anzuhängen. Vermin-
149
_
BE
dern wir also den Verdacht gegen Mrs. Peacock um den ent-
sprechenden Zahlenwert. Die kriminaltechnische Untersu-
chung ergibt, dass der Revolver mit einer Wahrscheinlichkeit
von 70 Prozent zielgenau aus großer Entfernung abgefeuert
wurde, was für einen Täter mit militärischer Ausbildung
spricht. Also fassen wir unseren wachsenden Verdacht gegen
Colonel Mustard in Zahlen. Das plausibelste Mordmotiv hat
indes Reverend Green.* Also setzen wir seine Wahrscheinlich-
keit mit einem höheren Zahlenwert an. Andererseits kann das
lange blonde Haar auf der Jackedes Opfers nur von Miss Scarlet
stammen, und so weiter. Dem Kommissar geht eine Mischung
mehr oder weniger subjektiv abgeschätzter Wahrscheinlichkei-
ten durch den Kopf, die seine Gedanken in unterschiedliche
Richtungen lenken. Das Bayes-Theorem soll ihm helfen, zu ei-
ner Lösung zu gelangen.
Es handelt sich um ein mathematisches Verfahren, bei dem
man viele verschiedene Wahrscheinlichkeiten in Betracht zie-
hen und am Ende zu einem abschließenden Urteil gelangen
kann, das eine eigene quantitative Wahrscheinlichkeitsabschät-
zung in sich trägt. Natürlich kann diese letzte Schätzung aber
nur so gut sein wie die Zahlen, die ursprünglich in sie einge-
flossen sind. Diese entspringen in der Regel subjektiven Ein-
drücken mit allen Zweifeln, die sich daraus meist ergeben. Hier
gilt demnach das Müll-rein-Müll-raus-Prinzip (Wer Müll rein-
tut, bekommt auch Müll wieder heraus) - zumal bei Unwins
Beispiel, den Argumenten für Gottes Existenz.
Unwin ist Berater für Risikomanagement und ein Bannerträ-
ger des Bayes’schen Wahrscheinlichkeitsbegriffs gegenüber sta-
tistischen Konkurrenzverfahren. Um das Bayes-Theorem zu
*
»Reverend Green« ist der Name einer Gestalt in der Cluedo-Version, die in Großbri-
tannien (dem Ursprungsland des Spiels), Australien, Indien, Neuseeland und allen an-
deren englischsprachigen Regionen mit Ausnahme Nordamerikas vertrieben wird.
Dort wird er plötzlich zu Mr. Green. Was soll das?
150
verdeutlichen, unterstellt er keinen Mord, sondern den größten
Fall von allen: die Existenz Gottes. Er geht dabei von völliger
Unsicherheit aus und entschließt sich, diese mit einer Anfangs-
wahrscheinlichkeit von jeweils 50 Prozent für die Existenz und
Nichtexistenz Gottes zu quantifizieren. Dann führt er sechs
Tatsachen auf, die für diese Frage eine Rolle spielen könnten,
versieht jede mit einer zahlenmäßigen Gewichtung, füttert die
Zahlen in die mathematische Maschine des Bayes-Theorems
und sieht nach, was herauskommt. Die Schwierigkeit besteht
(wie bereits erwähnt) darin, dass es sich bei den sechs Gewich-
tungen nicht um Messwerte handelt, sondern um Unwins per-
sönliche Beurteilungen, die er für diese mathematische Übung
in Zahlen gekleidet hat. Die sechs Tatsachen sind folgende:
A
WN
. Menschen tun Böses (Hitler, Stalin, Saddam Hussein).
. Die Natur tut Böses (Erdbeben, Tsunamis, Hurrikane).
. Es könnte kleinere Wunder geben (ich habe meinen
Schlüsselbund verloren und später wiedergefunden).
5. Es könnte größere Wunder geben (Jesus könnte von den
Toten auferstanden sein).
6. Die Menschen haben religiöse Erlebnisse.
Was die Aussage auch wert sein mag (in meinen Augen nichts):
Im Bayes’schen Wettrennen geht Gott anfangs in Führung,
dann fällt er weit zurück, rettet sich wieder über die 50-Pro-
zent-Linie, von der er ausgegangen war, und am Ende kann er
sich darüber freuen, dass er nach Unwins Schätzung mit einer
Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent existiert.
Unwin gelangt zu dem Schluss, dass das Bayes’sche Urteil
von 67 Prozent nicht gut genug ist, und unternimmt einen
bizarren Schritt: Er hilft mit einer Notfallinjektion namens
»Glauben« nach und treibt die Wahrscheinlichkeit damit auf
95 Prozent in die Höhe. Es hört sich nach einem Witz an, aber
151
so geht er tatsächlich vor. Ich wüsste gern, wie er es rechtfer-
tigt, aber dazu hat er wirklich nichts zu sagen. Ähnliche Absur-
ditäten sind mir auch an anderen Stellen begegnet, wenn ich
mich bei religiösen, ansonsten aber intelligenten Wissenschaft-
lern nach einer Rechtfertigung für ihren Glauben erkundigte,
nachdem sie eingeräumt hatten, dass es keine Belege gebe: »Ich
gebe zu, man kann es nicht beweisen. Es hat seinen Grund, dass
man es Glauben nennt.« (Der letzte Satz wird mit beinahe
gehässiger Überzeugung geäußert, wobei nichts auf eine Ent-
schuldigung oder Abwehrhaltung hindeutet.)
Erstaunlicherweise enthält Unwins Liste der sechs Aussagen
weder das Gestaltungsargument noch Thomas von Aquins fünf
»Beweise« und auch keines der ontologischen Argumente. Da-
mit gibt sich Unwin nicht ab; sie tragen zu seiner zahlenmäßi-
gen Abschätzung der Wahrscheinlichkeit Gottes nicht das Ge-
ringste bei. Er erörtert sie und tut sie —guter Statistiker, der er
ist —als inhaltsleer ab. Das muss man ihm nach meiner Über-
zeugung zugute halten, auch wenn er das Gestaltungsargu-
ment aus anderen Gründen verwirft als ich. Aber die Argu-
mente, die er durch seinen Bayes’schen Filter schlüpfen lässt,
sind in meinen Augen ebenso schwach. Damit will ich nur sa-
gen, dass ich ihnen andere subjektive Wahrscheinlichkeitsge-
wichtungen zuordnen würde als er, doch wen interessieren sol-
che subjektiven Einschätzungen überhaupt? In seinen Augen
wiegt die Tatsache, dass wir ein Gespür für Richtig und Falsch
haben, schwer zugunsten der Existenz Gottes, ich dagegen
kann nicht erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit sich dadurch
von der anfänglichen geringen Erwartung in die eine oder an-
dere Richtung verschiebt. Wie ich in den Kapiteln 6 und 7 dar-
legen werde, lässt sich nicht plausibel vertreten, dass unser
tatsächlich vorhandenes Gefühl für Richtig und Falsch in ir-
gendeinem eindeutigen Zusammenhang mit der Existenz einer
übernatürlichen Gottheit steht. Genau wie unsere Fähigkeit,
ein Beethoven-Streichquartett zu schätzen, ist auch unser Ge-
152
spür für das Gute (allerdings nicht unbedingt unsere Motiva-
tion, ihm zu folgen) mit Gott und ohne Gott genau das gleiche.
Andererseits meint Unwin, böse Dinge und insbesondere
Naturkatastrophen wie Erdbeben und Tsunamis sprächen stark
gegen die Wahrscheinlichkeit, dass es Gott gibt. Hier ist Unwins
Urteil dem meinen genau entgegengesetzt, aber er befindet
sich damit im Einklang mit den unbehaglichen Gefühlen vieler
Theologen. Die »Theodizee« (das heißt die Rechtfertigung der
göttlichen Vorsehung angesichts des offenkundig vorhandenen
Bösen) hat den Theologen schon immer schlaflose Nächte be-
reitet. Der maßgebliche Oxford Companion to Philosophy be-
zeichnet das Problem des Bösen als »den stärksten Einwand ge-
gen den traditionellen Theismus«. In Wirklichkeit spricht dieses
Argument nur gegen die Existenz eines guten Gottes. Aber
Güte gehört nicht zur Definition der Gotteshypothese, sie ist
nur eine wünschenswerte Ergänzung.
Zugegeben: Leute mit theologischen Neigungen sind oft
chronisch unfähig, das Wahre vom Wünschenswerten zu un-
terscheiden. Aber für intelligentere Menschen, die an ein über-
natürliches Wesen glauben, ist es kinderleicht, das Problem des
Bösen zu bewältigen. Man braucht nur einen boshaften Gott
zu postulieren —zum Beispiel einen Gott, wie er uns im Alten
Testament auf Schritt und Tritt begegnet. Wer sich dazu nicht
bereit finden kann, dem bleibt die Möglichkeit, sich einen eige-
nen Gott des Bösen zu erfinden, ihn Satan zu nennen und des-
sen kosmischen Kampf gegen den guten Gott für das Böse in
der Welt verantwortlich zu machen. Oder - eine noch raffinier-
tere Lösung - man postuliert einen Gott, der größere Dinge zu
tun hat, als sich mit den kleinen Kümmernissen der Menschen
abzugeben. Oder einen Gott, der dem Leiden gegenüber nicht
gleichgültig ist, es aber als den Preis für einen freien Willen in
einem geordneten Kosmos mit seinen Gesetzen betrachtet. Zu
jeder dieser Rationalisierungen kann man Theologen finden,
die sie vertreten.
2
153
Beim Nachvollzug von Unwins Bayes’scher Berechnung wür-
den mich aus all diesen Gründen weder das Problem des Bösen
noch ethische Überlegungen in die eine oder andere Richtung
weit von der ursprünglichen Nullhypothese (Unwins 50 Pro-
zent) wegführen. Aber ich möchte in dieser Frage überhaupt
nicht mitdiskutieren, weil ich persönliche Meinungen, Unwins
genauso wie meine eigenen, nicht für sonderlich spannend halte.
Gibt es doch ein viel schlagkräftigeres Argument, das nicht
von subjektiven Beurteilungen abhängt: das Argument der Un-
wahrscheinlichkeit. Erst dieses Argument führt uns tatsächlich
dramatisch weit von den 50 Prozent des Agnostizismus weg,
und zwar in den Augen vieler Theisten fast bis zur Extremposi-
tion des Theismus, in meinen Augen jedoch bis zum Extrem
des Atheismus. Darauf habe ich schon mehrfach angespielt.
Die ganze Argumentation dreht sich um eine berühmte Frage,
auf die fast jeder denkende Mensch von selbst kommt: Wer hat
Gott erschaffen? Strukturierte Komplexität ist mit einem ge-
staltenden Gott nicht zu erklären, denn jeder Gott, der etwas
gestaltet, müsste selbst so komplex sein, dass er für sich selbst
wiederum die gleiche Erklärung verlangt. Gott stellt eine un-
endliche Regression dar und kann uns nicht helfen, daraus zu
entkommen.
Wie ich im nächsten Kapitel darlegen werde, kann man mit
diesem Argument Gottes Existenz zwar formal-logisch nicht
widerlegen, sie aber doch als sehr, sehr unwahrscheinlich er-
scheinen lassen.
154
4 Warum es mit ziemlicher Sicherheit
keinen Gott gibt
155
Papier gebracht hat, weiß ich nicht genau, aber sie wurde ihm
von seinem engen Mitarbeiter Chandra Wickramasinghe zuge-
schrieben und ist vermutlich authentisch.°' Hoyle sagte: Die
Wahrscheinlichkeit, dass Leben auf der Erde entsteht, ist nicht
größer als die, dass ein Wirbelsturm, der über einen Schrott-
platz fegt, rein zufällig eine Boeing 747 zusammenbaut. An-
dere wandten diese Metapher später auf die Evolution kompli-
ziert gebauter Lebewesen an, die ebenfalls eine äußerst geringe
Plausibilität besitzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch zu-
fälliges Durcheinanderwirbeln der Einzelteile ein funktionsfä-
higes Pferd, ein Käfer oder ein Straußenvogel entstehe, liege
im gleichen Bereich wie die des zufälligen Entstehens einer
Boeing 747. Das ist, kurz zusammengefasst, das Lieblingsargu-
ment der Kreationisten —ein Argument, das man allerdings nur
dann vertreten kann, wenn man den wichtigsten Aspekt der
natürlichen Selektion nicht begriffen hat und glaubt, diese sei
nur eine Theorie der Zufälle, während sie in Wirklichkeit von
Chancen im eigentlichen Sinn und damit genau vom Gegenteil
handelt.
Die falsche Vereinnahmung des Unwahrscheinlichkeitsar-
guments durch die Kreationisten hat die immer gleiche allge-
meine Form; dabei ist es unerheblich, ob die Kreationisten sich
entschließen, dieses Argument in das politisch opportune Ge-
wand des »Intelligent Design« (ID) zu kleiden.* Stets wird ein
Phänomen, das man beobachtet - häufig ein Lebewesen oder
eines seiner komplizierten Organe, manchmal aber auch alles
mögliche andere vom Molekül bis zum ganzen Universum -, zu
Recht als statistisch unwahrscheinlich herausgestellt. Manch-
mal bedient man sich der Sprache der Informatik: Dann soll
der Darwinist erklären, woher die vielen Informationen in den
Lebewesen stammen, wobei der Informationsgehalt im fach-
* Intelligent Design wurde boshaft auch schon als Kreationismus im billigen Smoking
bezeichnet.
156
sprachlichen Sinn als Maß für die Unwahrscheinlichkeit oder
den »Überraschungswert« herangezogen wird. Oder man be-
dient sich des abgedroschenen Mottos der Wirtschaftwissen-
schaftler: Nichts ist umsonst, von nichts kommt nichts - und
wirft dem Darwinismus vor, er wolle etwas umsonst bekom-
men. Wie ich jedoch in diesem Kapitel nachweisen werde, ist
die Darwin’sche natürliche Selektion die einzige bekannte Ant-
wort auf die ansonsten unlösbare Frage, woher die Informatio-
nen stammen. Und dann wird sich herausstellen, dass es ausge-
rechnet die Gotteshypothese ist, die versucht, etwas umsonst
zu bekommen. Das Gebilde, das man durch die Berufung auf
einen Gestalter erklären will, mag noch so unwahrscheinlich
sein, der Gestalter selbst ist es mindestens ebenso. Gott ist
letztlich die höchste Form der Boeing 747.
Das Unwahrscheinlichkeitsargument besagt, dass kompli-
zierte Dinge nicht durch Zufall entstanden sein können. Und
weil für viele Menschen »Entstehung durch Zufall« gleichbe-
deutend mit »Entstehung ohne gezielte Gestaltung« ist, sehen
sie, wie nicht anders zu erwarten, in der Unwahrscheinlichkeit
einen Beleg für Gestaltung. Die Darwin’sche natürliche Selek-
tion zeigt jedoch, dass diese Annahme zumindest im Kontext
biologischer Unwahrscheinlichkeit falsch ist. Selbst wenn der
Darwinismus für die Welt des Unbelebten - etwa die Kosmo-
logie —nicht unmittelbar gilt, erweitert er unser Bewusstsein
auch in jenen Bereichen, die außerhalb seiner eigentlichen bio-
logischen Domäne liegen.
Denn ein tieferes Verständnis des Darwinismus lehrt uns,
misstrauisch gegenüber der leichtfertigen Annahme zu sein,
' Gestaltung sei die einzige Alternative zum Zufall. Stattdessen
lernen wir, nach langsam ansteigenden Linien zunehmender
Komplexität zu suchen. Schon vor Darwin hatten Philosophen
wie Hume begriffen, dass die Unwahrscheinlichkeit des Le-
bendigen kein Beweis für eine gezielte Gestaltung ist, aber sie
konnten sich die Alternative nicht ausmalen. Seit Darwin je-
157
doch sollten wir alle schon der Idee einer bewussten göttlichen
Gestaltung zutiefst misstrauen. Die Illusion der Gestaltung ist
eine Falle, in die schon viele getappt sind, doch Darwin sollte
uns eigentlich durch Erweiterung unseres Bewusstseins dage-
gen immunisiert haben. Ich wünschte nur, es wäre wirklich
so —bei uns allen!
158
»his«in dem englischen Wort history (»Geschichte«) in keinem
etymologischen Zusammenhang mit dem männlichen Prono-
men his steht. (Ein ähnlicher Fall wäre im Deutschen frau statt
man.) Etymologisch sind solche sprachlichen Bildungen eben-
so töricht wie die Entlassung eines Washingtoner Beamten im
Jahr 1999, der mit dem Wort niggardly (»schäbig«) angeblich
eine rassistische Beleidigung ausgesprochen hatte. Doch selbst
krasse Fälle wie niggardly oder herstory tragen dazu bei, das Be-
wusstsein zu erweitern.
Wenn sich unsere philologischen Nackenhaare wieder ge-
glättet und wir das Gelächter eingestellt haben, zeigt uns her-
story die Historie eben aus einem anderen Blickwinkel. Bei
dieser Form der Bewusstseinserweiterung stehen Geschlechts-
pronomina bekanntlich an vorderster Front. Er oder sie muss
sich fragen, ob sein oder ihr Stilgefühl es ihm oder ihr er-
laubt, so zu schreiben. Aber wenn wir von den unglücklichen
Schwerfälligkeiten der Sprache einmal absehen, wird auf
diese Weise unser Bewusstsein für die empfindlichen Punkte
bei der Hälfte der Menschheit erweitert. Man, mankind, »the
Rights of Man«, »all men are created equal«, »one man, one
vote« - mit der sprachlichen Gleichsetzung von »Mensch« und
»Mann« schließt das Englische die Frauen nur allzu oft aus.*
Als ich noch jung war, wäre ich nie auf die Idee gekommen,
dass Frauen sich durch eine Formulierung wie »the future of
man« hätten gekränkt fühlen können. In den seither vergange-
nen Jahrzehnten haben wir alle unser Bewusstsein erweitert.
Selbst diejenigen, die heute noch man statt human sagen, tun
es mit einem Ausdruck der entschuldigenden Befangenheit -
oder aber trotzig, weil sie sich für die traditionelle Sprache
* Das Altgriechische und Lateinische waren besser gerüstet. Das lateinische homo (grie-
chisch anthropo-) bedeutet Mensch im Gegensatz zu vir (andro-) für »Mann« und
femina (gyne-) für »Frau«.Die Anthropologie beschäftigt sich also mit der gesamten
Menschheit, Andrologie und Gynäkologie dagegen sind Se ee Fach-
gebiete der Medizin.
159
einsetzen oder sogar gezielt die Feministinnen ärgern wollen.
Das Bewusstsein all derer, die dem Zeitgeist huldigen, wurde
erweitert, selbst wenn sie anschließend negativ reagierten,
sich auf die Hinterbeine stellten und die Beleidigung verdop-
pelten.
Der Feminismus hat uns gezeigt, wie wirksam die Bewusst-
seinserweiterung sein kann, und ich möchte das gleiche Ver-
fahren auch auf die natürliche Selektion anwenden. Natürliche
Selektion ist nicht nur eine Erklärung für die Gesamtheit alles
Lebendigen, sondern sie erweitert auch unser Bewusstsein
dafür, dass die Wissenschaft erklären kann, wie aus einfachen
Anfängen ohne absichtliche Lenkung organisierte Komplexität
entsteht. Umfassende Kenntnisse über die natürliche Selektion
ermutigen uns, auch auf anderen Gebieten kühner zu werden.
Sie wecken auf diesen anderen Gebieten unser Misstrauen ge-
gen jene falschen Alternativen, von denen auch die Biologie in
vordarwinistischer Zeit verseucht war. Wer hätte vor Darwin
vermutet, dass etwas scheinbar eindeutig Gestaltetes wie der
Flügel einer Libelle oder das Auge eines Adlers in Wirklichkeit
das Endprodukt einer langen Reihe nicht zufälliger, aber den-
noch rein natürlicher Vorgänge ist?
Wie wirksam der Darwinismus das Bewusstsein erweitert,
bezeugt Douglas Adams in seinem rührenden, amüsanten Be-
richt über seine eigene Bekehrung zum radikalen Atheismus —
er bestand auf dem Beiwort »radikal«,damit niemand ihn fälsch-
lich für einen Agnostiker hielt. Ich hoffe, man wird mir die
Selbstbeweihräucherung, die in dem nachfolgenden Zitat zum
Ausdruck kommt, verzeihen. Meine Entschuldigung dafür: Die
Tatsache, dass Douglas durch meine früheren Bücher - mit de-
nen ich niemanden bekehren wollte - bekehrt wurde, war für
mich der Anlass, nun das vorliegende Buch - das bekehren
will - seinem Andenken zu widmen. In einem Interview, das
posthum in seinem Buch The Salmon of Doubt (Lachs im Zwei-
fel) erschien, wurde er von einem Journalisten gefragt, wie er
160
zum Atheisten geworden sei. Darauf erklärte er zunächst, wie
er Agnostiker wurde, und fuhr dann fort:
Ich grübelte und grübelte und grübelte. Aber ich hatte nicht
genügend Stoff, um weiterzugrübeln, und kam so zu keiner
Lösung. Ich hatte größte Zweifel daran, dass ein Gott exis-
tiert, wusste aber einfach nicht genug, um ein anderes gut
funktionierendes Erklärungsmodell für, nun ja, das Leben,
das Universum und den ganzen Rest an seine Stelle zu set-
zen. Irotzdem blieb ich am Ball und las und grübelte weiter.
Irgendwann, etwa mit Anfang dreißig, stieß ich zufällig auf
die Evolutionsbiologie, vor allem in Gestalt von Richard Daw-
kins’ Büchern The Selfish Gene (Das egoistische Gen) und
später The Blind Watchmaker (Der blinde Uhrmacher), und
plötzlich (ich glaube, bei der zweiten Lektüre von The Selfish
Gene) fügte sich eins ins andere. Es war ein ganz erstaunlich
einfaches Konzept, aber es ließ ganz unverkrampft Raum für
die unendliche und verwirrende Komplexität des Lebens.
Neben der Ehrfurcht, die das in mir auslöste, erschien mir
die Ehrfurcht, über die Leute im Hinblick auf religiöse Er-
fahrungen reden, ehrlich gesagt albern. Ich würde die Ehr-
furcht des Verstehens jederzeit über die Ehrfurcht der Ig-
noranz stellen.°?
161
niel Dennett machte darauf aufmerksam, dass die Evolution
einem unserer ältesten Gedanken zuwiderläuft: »Ich spreche
von dem Glauben, es müsse stets einen großen, schlauen Den-
ker geben, um etwas von niedrigerem Rang herzustellen. Ich
nenne das Schöpfungstheorie von oben nach unten. Will sagen:
Niemals sehen wir einen Speer, der einen Speermacher, nie-
mals ein Hufeisen, das einen Schmied, niemals einen Topf, der
einen Töpfer hervorbringt.«° Darwins Entdeckung, dass tat-
sächlich ein automatischer Prozess diese der Intuition wider-
sprechende Leistung vollbringt, war ein wahrhaft revolutionärer
Beitrag zum Denken der Menschheit, der unser Bewusstsein
ungeheuer stark erweitern kann.
Es ist erstaunlich, wie groß der Bedarf für eine solche Be-
wusstseinserweiterung ist, und das sogar bei hervorragenden
Naturwissenschaftlern aus anderen Fachgebieten als der Bio-
logie. Fred Hoyle war ein ausgezeichneter Physiker und Kos-
mologe, aber sein Missverständnis mit der Boeing 747 und an-
dere Fehler in der Biologie —er versuchte beispielsweise, den
fossilen Archaeopteryx als Fälschung abzutun - lassen darauf
schließen, dass er eine Bewusstseinserweiterung durch ausgie-
bigen Kontakt mit der Welt der natürlichen Selektion nö-
tig gehabt hätte. Auf der reinen Vernunftebene verstand er,
wie ich meine, die natürliche Selektion durchaus. Aber viel-
leicht muss man viel damit zu tun haben, darin eintauchen
und schwimmen, um ihre wahre Bedeutung einschätzen zu
können.
Andere Naturwissenschaften erweitern das Bewusstsein auf
anderen Wegen. Fred Hoyles eigene Wissenschaft, die Astrono-
mie, weist uns metaphorisch und buchstäblich unseren Platz
zu und stutzt unsere Eitelkeit so zurecht, dass wir auf die win-
zig kleine Bühne passen, auf der sich unser Leben abspielt: auf
einen kleinen Staubkrümel, der von der kosmischen Explosion
übrig geblieben ist. Die Geologie erinnert uns daran, wie kurz
sowohl unser individuelles Leben als auch das Leben unserer
162
Spezies ist. Sie erweiterte John Ruskins Bewusstsein und ver-
anlasste ihn 1852 zu seinem denkwürdigen Aufschrei: »Wenn
die Geologen mich nur in Ruhe lassen würden, dann ginge es
mir gut, aber diese schrecklichen Hämmer! Ihr Klingen höre
ich am Ende jeder Kadenz aus den Bibelversen!«
Die gleiche Wirkung auf unser Zeitgefühl hat die Evolu-
tion —was nicht verwunderlich ist, denn sie arbeitet in erdge-
schichtlichen Zeiträumen. Aber die Darwin’sche Evolution und
insbesondere die natürliche Selektion leisten noch mehr. Sie
zerstören in der Biologie die Illusion der gezielten Gestaltung
und lehren uns, auch in der Physik und Kosmologie gegenüber
jeder Gestaltungshypothese misstrauisch zu sein. Daran dachte
nach meiner Überzeugung auch der Physiker Leonard Suss-
kind, als er schrieb: »Ich bin kein Historiker, aber ich wage es
dennoch, eine Meinung zu äußern: Die moderne Kosmologie
begann eigentlich mit Darwin und Wallace. Im Gegensatz zu
allen anderen vor ihnen lieferten sie für unser Dasein eine Er-
klärung, die übernatürliche Kräfte völlig ablehnte. [...] Darwin
und Wallace setzten nicht nur für die Biologie einen Maßstab,
sondern auch für die Kosmologie.«°* Andere Physiker, die eine
solche Bewusstseinserweiterung schon lange nicht mehr nötig
haben, sind Victor Stenger, dessen Buch Has Science Found
God? (»Hat die Wissenschaft Gott gefunden?«) ich sehr emp-
fehlen kann (die Antwort lautet nein), und Peter Atkins, dessen
Werk Creation Revisited (»Ein zweiter Blick auf die Schöp-
fung«) mein Lieblingsbuch mit poetischer naturwissenschaftli-
cher Prosa ist.*
Erstaunt bin ich immer wieder über Theisten, die ihr Be-
wusstsein keineswegs auf die von mir vorgeschlagene Weise er-
weitert haben, sondern die natürliche Selektion als »Gottes
* Siehe auch sein 2007 erschienenes Buch God, the Failed Hypothesis: How Science
Shows that God Does Not Exist (»Die gescheiterte Gotteshypothese: Wie die Wissen-
schaft zeigt, dass es Gott nicht gibt«).
163
Methode, seine Schöpfung zu bewerkstelligen«, bejubeln. Sie
erkennen an, dass die Evolution durch natürliche Selektion ein
sehr einfacher, ordentlicher Weg ist, auf dem eine ganze Welt
voller Leben entstehen kann. Gott braucht dabei eigentlich
überhaupt nichts mehr zu tun! Diesen Gedankengang führt
Peter Atkins in dem gerade erwähnten Buch zu einer plausib-
len, gottlosen Schlussfolgerung: Er postuliert einen hypotheti-
schen, faulen Gott, der mit möglichst wenig Anstrengung ein
Universum voller Leben erschaffen will. Atkins’ Gott ist so-
gar noch fauler als der deistische Gott der Aufklärer aus dem
18. Jahrhundert: deus otiosus —ganz buchstäblich ein Freizeit-
gott, unbeschäftigt, arbeitslos, überflüssig, nutzlos. Schritt für
Schritt gelingt es Atkins, die Arbeitsbelastung des faulen Got-
tes immer weiter zu verringern, bis er am Ende nichts mehr zu
tun hat: Ebenso gut könnte er überhaupt nicht existieren. Mir
ist noch lebhaft Woody Allens scharfsinniges Gejammer in Er-
innerung: »Wenn sich herausstellt, dass es einen Gott gibt,
glaube ich nicht, dass er böse ist. Aber das Schlimmste, was
man über Gott sagen kann, ist, dass er so wenig aus seinem Ta-
lent gemacht hat.«
Man kann die Größe des Problems kaum übertreiben, das Dar-
win und Wallace gelöst haben. Als Beispiele könnte ich die
Anatomie, Zellstruktur, Biochemie und Verhaltensweisen
buchstäblich aller Lebewesen nennen. Die auffälligsten schein-
bar gestalteten Merkmale sind allerdings diejenigen, die sich
kreationistische Autoren aus naheliegenden Gründen heraus-
picken, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich
mein Beispiel aus einem kreationistischen Buch entnommen
habe. Life - How Did It Get Here? (Das Leben - wie ist es ent-
standen?) nennt keinen Autor, wird aber von der Wachtturm
164
Bibel- und Traktat-Gesellschaft verlegt. Weltweit erscheint es
in sechzehn Sprachen und mit einer Auflage von elf Millionen
Exemplaren. Es ist also offensichtlich sehr beliebt: Nicht weni-
ger als sechs dieser elf Millionen Exemplare wurden mir un-
aufgefordert und kostenlos von wohlmeinenden Menschen aus
der ganzen Welt zugeschickt.
Schlagen wir zufällig eine Seite dieses anonymen, freigebig
verbreiteten Werkes auf, so finden wir einen Schwamm, der
unter dem Namen Gießkannenschwamm oder Venusblumen-
korb (Euplectella) bekannt ist, und daneben steht ein Zitat von
keinem Geringeren als Sir David Attenborough: »Wenn man
ein so kompliziertes Gebilde aus Kieselsäurenadeln [...] be-
trachtet, ist man verwirrt. Wie können Zellen, die annähernd
selbstständig und mikroskopisch klein sind, zusammenarbei-
ten, um eine Million glasartiger Nadeln abzusondern und ein so
kompliziertes und schönes Gitterwerk zu erzeugen? Wir wis-
sen es nicht.« Und dann fügen die Wachtturm-Autoren eilig
ihre eigene Pointe an: »Eines wissen wir aber mit Sicherheit:
Der Zufall war hier kaum am Werk.« Stimmt, der Zufall war
tatsächlich nicht am Werk. In diesem Punkt sind wir uns alle
einig.
Die statistische Unwahrscheinlichkeit von Phänomenen
wie dem Euplectella-Skelett ist das zentrale Problem, das jede
Theorie des Lebendigen lösen muss. Je geringer die Wahr-
scheinlichkeit, desto weniger plausibel ist der Zufall als Lö-
sung - nichts anderes ist mit Unwahrscheinlichkeit gemeint.
Aber die denkbaren Lösungen für das Rätsel sind nicht, wie
fälschlich nahegelegt wird, Gestaltung und Zufall. Es sind
vielmehr Gestaltung und natürliche Selektion. Zufall ist an-
gesichts der großen Unwahrscheinlichkeit, die wir bei den Le-
bewesen beobachten, keine Lösung, und kein geistig gesunder
Biologe hat dies jemals angenommen. Gestaltung ist, wie wir
noch genauer erfahren werden, ebenfalls keine realistische
Lösung.
165
Doch zunächst möchte ich noch genauer deutlich machen,
welches zentrale Problem jede Theorie des Lebendigen lösen
muss: das Problem, wie man dem Zufall entkommt.
Blättern wir in dem Wachtturm-Buch weiter, so stoßen wir
auf die Pfeifenwinde (Aristolochia trilobata), eine wunder-
schöne Pflanze, deren elegante Teile so aussehen, als seien sie
absichtlich zu dem Zweck konstruiert, Insekten einzufangen,
mit Pollen zu bepudern und sie dann auf die Reise zu einer an-
deren Pfeifenwinde zu entlassen. Die raffinierte Eleganz der
Blüte veranlasst die Wachtturm-Autoren zu der Frage, ob dies
alles wohl durch Zufall oder durch intelligente Gestaltung ent-
standen sei. Noch einmal: Natürlich ist es nicht durch Zufall
entstanden. Und noch einmal: Auch intelligente Gestaltung ist
keine angemessene Alternative. Die natürliche Selektion ist
nicht nur eine sparsame, plausible und elegante Lösung, sie ist
auch die einzige jemals vorgeschlagene Alternative zum Zufall,
die wirklich funktioniert.
Die intelligente Gestaltung unterliegt dagegen genau dem
gleichen Einwand wie der Zufall: Sie ist für das Rätsel der sta-
tistischen Unwahrscheinlichkeit keine Lösung. Und je größer
die Unwahrscheinlichkeit ist, desto unplausibler wird die intel-
ligente Gestaltung. Bei genauer Betrachtung führt die These
von der intelligenten Gestaltung nur zu einer Verdoppelung
des Problems, denn, um es noch einmal zu sagen, der Gestalter
(die Gestalterin/das Gestaltende) wirft sofort die weiterge-
hende Frage nach seiner eigenen Entstehung auf. Ein Etwas, das
etwas so Unwahrscheinliches wie die Pfeifenwinde (oder ein
Universum) intelligent gestalten kann, muss noch: unwahr-
scheinlicher sein als die Pfeifenwinde. Die Lösung »Gott« be-
endet also nicht die unendliche Regression, sondern verstärkt
sie ganz gewaltig.
Blättern wir im Wachtturm-Buch nochmals um, so lesen wir
eine wortreiche Beschreibung des Mammutbaumes (Sequoia-
dendron giganteum), einer Pflanze, zu der ich eine besondere
166
Zuneigung hege, weil ein Exemplar in meinem Garten steht. Es
ist noch ein Baby, knapp über hundert Jahre alt, und doch ist es
der höchste Baum im weiten Umkreis. »Der winzige Mensch,
der vor dem Baum steht, kann nur in stiller Ehrfurcht staunend
an diesem Riesen unter den Bäumen emporschauen. Ist es ver-
nünftig, anzunehmen, dass dieser majestätische Riese und das
winzige Samenkorn, dem er entspringt, ohne Planung zustande
gekommen sind?« Ich kann mich nur wiederholen: Wenn man
glaubt, Zufall sei die einzige Alternative zur Gestaltung - nein,
dann ist es nicht vernünftig. Aber auch hier erwähnen die Auto-
ren mit keinem Wort die wirkliche Alternative, die natürliche
Selektion. Entweder begreifen sie es tatsächlich nicht, oder sie
wollen es nicht begreifen.
Alle Pflanzen, von der winzigen Pimpernelle bis zum Mam-
mutbaum, beziehen die Energie zu ihrem Aufbau aus der Pho-
tosynthese. Dazu wieder das Wachtturm-Buch:
Nein, man kann es nicht glauben; aber ein Beispiel nach dem
anderen wiederzukäuen bringt uns nicht weiter. Die »Logik«
der Kreationisten ist immer die Gleiche: Irgendein Natur-
phänomen ist statistisch so unwahrscheinlich, so komplex, so
schön, so ehrfurchtgebietend, dass es nicht durch Zufall ent-
standen sein kann. Und die Autoren können sich zum Zufall
keine andere Alternative vorstellen als die absichtliche Gestal-
tung. Also muss es ein Gestalter getan haben.
167
Auch die Antwort der Wissenschaft auf diese falsche Logik
ist immer die gleiche: Gestaltung ist nicht die einzige Alterna-
tive zum Zufall. Eine viel bessere Alternative ist die natürliche
Selektion. Eigentlich ist Gestaltung überhaupt keine Alterna-
tive, denn sie wirft ein viel größeres Problem auf als das, wel-
ches sie zu lösen vorgibt: Wer gestaltete den Gestalter? Für das
Problem der statistischen Unwahrscheinlichkeit versagen Zu-
fall und Gestaltung als Lösung gleichermaßen, denn der Zufall
ist das Problem, und die Gestaltung läuft durch Regression da-
rauf hinaus. Dagegen ist die natürliche Selektion eine echte Lö-
sung. Sie ist die einzige funktionierende Lösung, die jemals vor-
geschlagen wurde. Und sie funktioniert nicht nur, sie ist auch
von verblüffender Eleganz und Kraft.
Wie kommt es, dass die natürliche Selektion das Problem
der Unwahrscheinlichkeit lösen kann, während Zufall und Ge-
staltung von vornherein zum Scheitern verurteilt sind? Die
Antwort lautet: Natürliche Selektion ist ein additiver Prozess,
der das Problem der Unwahrscheinlichkeit in viele kleine Teile
zerlegt. Jedes dieser Teile ist zwar immer noch ein wenig un-
wahrscheinlich, aber nicht so sehr, dass sich ein echtes Hindernis
ergeben würde. Folgen viele solcher mäßig unwahrscheinlichen
Ereignisse in einer Reihe aufeinander, so ist das Endprodukt der
Anhäufung tatsächlich so unwahrscheinlich, dass es weit außer-
halb der Reichweite des Zufalls liegt. Diese Endprodukte sind
der Gegenstand der gebetsmühlenhaft wiederholten kreationis-
tischen Argumente.
Der Kreationist geht völlig am Wesentlichen vorbei, weil er
(Frauen sollten sich hier ausnahmsweise nichts daraus machen,
dass sie durch das Pronomen ausgeschlossen werden) darauf
besteht, das Eintreten des statistisch Unwahrscheinlichen als
ein einziges Ja-Nein-Ereignis zu betrachten. Die Leistung der
Akkumulation begreift er einfach nicht.
In meinem Buch ClimbingMount Improbable (Gipfel des Un-
wahrscheinlichen)habe ich diese Aussage in die Form einer Pa-
168
rabel gekleidet. Auf einer Seite des Berges ist eine Felswand, die
man unmöglich besteigen kann, aber auf der anderen Seite
führt eine sanfte Böschung zum Gipfel. Auf dem Gipfel steht
ein komplexes Gebilde, beispielsweise ein Auge oder der Fla-
gellenmotor der Bakterien. Die absurde Vorstellung, diese
Komplexität könne sich spontan selbst bilden, wird durch den
Sprung vom Fuß der Felswand zum Gipfel symbolisiert. Die
Evolution dagegen begibt sich auf die andere Seite des Berges
und kriecht über die sanfte Steigung zum Gipfel - das ist ganz
leicht. Das Prinzip des Aufstiegs über die sanfte Böschung im
Gegensatz zum Sprung über die Felswand ist so einfach, dass
man sich eigentlich fragen muss, warum es so lange dauerte, bis
ein Darwin auf der Bildfläche erschien und es entdeckte. Als
ihm das gelang, waren seit Newtons annus mirabilis fast zwei-
hundert Jahre vergangen, obwohl dessen Erkenntnisse allem
Anschein nach viel schwieriger zu gewinnen waren als die Dar-
wins.
Eine andere beliebte Metapher für extreme Unwahrschein-
lichkeit ist das Zahlenschloss an einem Banktresor. Theoretisch
könnte ein Bankräuber Glück haben und rein zufällig die rich-
tige Kombination treffen. In der Praxis ist das Schloss mit
einem so großen Unwahrscheinlichkeitsfaktor konstruiert, dass
ein solches Szenario quasi ausgeschlossen ist - es ist fast ebenso
unwahrscheinlich wie die Entstehung von Fred Hoyles Boeing
747. Aber stellen wir uns einmal ein minderwertiges Zahlen-
schloss vor, das uns nach und nach kleine Anhaltspunkte lie-
fert - die Entsprechung zu den »Wärmer, wärmer«-Rufen von
Kindern beim Topfschlagen oder Ostereiersuchen mit verbun-
denen Augen. Angenommen, die Tür öffnet sich jedes Mal ein
kleines Stück weiter, wenn man der richtigen Einstellung näher
kommt, und jedes Mal fällt ein wenig Geld heraus. Dann hätte
der Räuber den Tresor in kürzester Zeit ausgeräumt.
Kreationisten, die das Unwahrscheinlichkeitsargument für
ihre Zwecke nutzbar machen wollen, unterstellen immer, bio-
169
logische Anpassung sei ein Alles-oder-Nichts-Phänomen. Ein
anderer Name für das »Alles oder Nichts« lautet »Nicht redu-
zierbare Komplexität« (NRK). Entweder das Auge kann sehen,
oder es kann nicht sehen. Entweder der Flügel fliegt, oder er
fliegt nicht. Man geht davon aus, dass es keine nützlichen Zwi-
schenformen gibt. Aber das ist schlicht und einfach falsch. In
Wirklichkeit findet man solche Zwischenformen in Hülle und
Fülle - und genau das würde man nach der Theorie auch er-
warten. Das Zahlenschloss des Lebendigen ist eine »Wärmer,
kälter, wieder wärmer«-Ostereiersuchmaschine. Das wirkliche
Leben sucht sich die sanften Böschungen auf der Rückseite des
Unwahrscheinlichkeitsberges. Die Kreationisten dagegen sind
blind für alles mit Ausnahme der steil aufragenden Felswand
auf der Vorderseite.
Darwin widmete ein ganzes Kapitel seiner Entstehung der
Arten den »Verschiedenen Einwänden gegen die Theorie der
natürlichen Zuchtwahl«, und man kann mit Fug und Recht be-
haupten, dass er in diesem kurzen Kapitel alle seither geäußer-
ten Einwände schon vorwegnahm und abhandelte. Die größte
Schwierigkeit bieten Darwins »Organe von äußerster Vollkom-
menheit und Zusammengesetztheit«, die manchmal fälschlich
auch als »nicht reduzierbar komplex« bezeichnet werden. Als
besonders schwieriges Thema griff Darwin das Auge heraus:
»Die Annahme, dass sogar das Auge mit allen seinen unnach-
ahmlichen Vorrichtungen, um den Focus den mannigfaltigsten
Entfernungen anzupassen, verschiedene Lichtmengen zuzulas-
sen und die sphärische und chromatische Abweichung zu ver-
bessern, nur durch natürliche Zuchtwahl zu dem geworden sei,
was es ist, erscheint, ich will es offen gestehen, im höchsten
möglichen Grade absurd zu sein.«
Diesen einen Satz zitieren die Kreationisten vergnügt immer
und immer wieder. Dass sie jedoch niemals sagen, wie Darwins
Text weitergeht, versteht sich fast von selbst. Sein übertrieben
freimütiges Geständnis erweist sich dabei als rhetorisches Mit-
170
tel. Er ließ seine Gegner nahe an sich heran, damit der nachfol-
gende Schlag sie umso härter treffen konnte. Und dieser Schlag
bestand natürlich darin, dass Darwin mühelos erklären konnte,
wie sich das Auge in der Evolution ganz allmählich entwickelt
hat. Er verwendete dabei keine Formulierungen wie »nicht
reduzierbare Komplexität« oder »sanfte Böschung zum Gip-
fel des Unwahrscheinlichkeitsgebirges«, aber das Prinzip, um
das es in solchen Formulierungen geht, hatte er natürlich ver-
standen.
Das Argument der »nicht reduzierbaren Komplexität« wird
häufig in Formulierungen wie »Wozu ist ein halbes Auge gut?«
oder »Was nützt ein halber Flügel?« gekleidet. Man bezeichnet
ein Gebilde als nicht reduzierbar komplex, wenn es seine
Funktion völlig verliert, sobald man ein Einzelteil entfernt. Das
schien für Augen und Flügel auf der Hand zu liegen. Doch so-
bald man etwas genauer darüber nachdenkt, erkennt man den
Irrtum sofort. Eine Patientin, der man wegen grauem Star die
Augenlinse herausoperiert hat, sieht ohne Brille kein scharfes
Bild mehr, aber ihr Sehvermögen reicht trotzdem noch dafür
aus, dass sie nicht gegen einen Baum rennt oder eine Klippe
hinunterstürzt.
Ein halber Flügel ist natürlich nicht so gut wie ein ganzer
Flügel, aber immer noch besser als überhaupt kein Flügel. Ein
halber Flügel kann einem Tier beispielsweise das Leben ret-
ten, weil er den Sturz von einem hohen Baum abbremst. Und
51 Prozent eines Flügels sind vielleicht die Rettung, wenn der
Baum ein wenig höher ist. Ganz gleich, wie viel Prozent eines
Flügels man besitzt: Immer gibt es eine Fallhöhe, bei der das
Flügelfragment noch lebensrettend wirkt, ein etwas kleineres
Fragment aber nicht mehr. Das Gedankenexperiment mit dem
Sturz von unterschiedlich hohen Bäumen ist nur eine von vie-
len Möglichkeiten, das theoretische Prinzip zu verdeutlichen:
Es muss eine ununterbrochene Steigerung der Nützlichkeit ge-
ben, die von einem Prozent eines Flügels bis zu 100 Prozent
174
reicht. In den Wäldern der Erde gibt es eine Fülle von Tieren,
die durch die Luft segeln oder sich fallen lassen; an ihnen kann
man die vielen Schritte an dieser speziellen Böschung des Un-
wahrscheinlichkeitsgebirges auch in der Praxis erkennen.
Analog zu der Situation mit den unterschiedlich hohen Bäu-
men kann man sich auch ohne weiteres Situationen vorstellen,
in denen ein halbes Auge einem Tier das Leben rettet, während
es mit 49 Prozent eines Auges gestorben wäre. Sanfte Abstu-
fungen ergeben sich hier durch unterschiedliche Lichtverhält-
nisse oder unterschiedliche Abstände, aus denen ein Beutetier —
oder ein Verfolger - erkannt wird. Und wie bei den Flügeln
oder Flughäuten, so kann man sich plausible Zwischenstufen
auch hier nicht nur ausmalen, sondern es gibt sie im Tierreich
in Hülle und Fülle. Ein Plattwurm besitzt ein Auge, das nach
allen vernünftigen Maßstäben weniger als die Hälfte eines
menschlichen Auges ist. Ein Nautilus hat (wie vielleicht auch
seine ausgestorbenen Vettern, die Ammoniten, die im Paläo-
zoikum und Mesozoikum die Meere beherrschten) ein Auge,
das mit seiner Qualität in der Mitte zwischen Plattwürmern
und Menschen steht. Während das Auge der Plattwürmer zwar
Hell und Dunkel wahrnimmt, aber kein Bild erzeugt, produ-
ziert das »Lochkameraauge« des Nautilus eine echte Abbildung,
die aber im Vergleich zu der in unserem eigenen Auge unscharf
und düster ist. Dieser Verbesserung einen Zahlenwert zuzu-
ordnen wäre eine Pseudogenauigkeit, aber kein vernunftbegab-
ter Mensch kann abstreiten, dass die Augen der Wirbellosen
und vieler anderer im Tierreich besser sind als gar kein Auge,
und alle liegen auf der ununterbrochenen, flachen Steigung, die
zum Gipfel des Unwahrscheinlichen führt. Unsere eigenen Au-
gen liegen fast ganz oben - nicht am allerhöchsten Punkt, aber
doch an einem recht hohen. In Gipfel des Unwahrscheinlichen
habe ich den Augen und Flügeln ein ganzes Kapitel gewidmet
und nachgewiesen, wie leicht sich beide in der Evolution durch
langsame (oder vielleicht auch gar nicht so langsame), stufen-
172
weise Verbesserung entwickeln konnten; deshalb werde ich das
Thema hier nicht weiter ausführen.
Wir haben also gesehen, dass Augen und Flügel keine Kom-
plexität besitzen, die nicht reduzierbar wäre; doch interessan-
ter als diese Einzelbeispiele ist die allgemeine Lehre, die wir
daraus ziehen können. Die Tatsache, dass so viele Menschen in
diesen ganz offenkundigen Fällen völlig Unrecht haben, sollte
uns auch bei anderen, weniger naheliegenden Beispielen eine
Warnung sein —insbesondere wenn Kreationisten, die sich
heute hinter dem politisch opportunen Begriff einer »Intelli-
gent-Design-Theorie« verschanzen, Behauptungen über Zellen
und Biochemie herumposaunen.
Die beschriebenen Beispiele mahnen zur Vorsicht, und die
Lehre, die wir daraus ableiten können, lautet: Erkläre nicht ein-
fach, irgendetwas sei von nicht reduzierbarer Komplexität; es
besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass du die Details nicht
gründlich genug untersucht oder nicht eingehend genug darü-
ber nachgedacht hast. Andererseits dürfen wir auch auf der
Seite der Wissenschaft nicht zu dogmatisch-selbstsicher sein.
Vielleicht gibt es in der Natur tatsächlich etwas, das durch
seine echte, nicht reduzierbare Komplexität die sanfte Steigung
zum Gipfel des Unwahrscheinlichen ausschließt. In einem
Punkt haben die Kreationisten recht: Könnte man eine solche
echte, nicht reduzierbare Komplexität irgendwo stichhaltig
nachweisen, wäre Darwins Theorie am Ende. Das sagte schon
Darwin selbst:
173
Darwin konnte keinen derartigen Fall finden, und seit seiner
Zeit ist es trotz angestrengter und sogar verzweifelter Versuche
auch sonst niemandem gelungen. Für diesen heiligen Gral des
Kreationismus wurden viele Kandidaten vorgeschlagen, aber
keiner hielt einer gründlichen Analyse stand.
Ohnehin muss man fragen: Selbst wenn man irgendwann
echte, nicht reduzierbare Komplexität finden und damit Dar-
wins Theorie ruinieren würde, wer sagt denn, dass dann nicht
auch die Theorie des Intelligent Design am Ende wäre? In
Wirklichkeit ist die Theorie des Intelligent Design bereits am
Ende, denn wie ich immer und immer wieder betonen werde,
können wir eines mit Sicherheit sagen: So wenig wir auch
über Gott wissen, er muss in jedem Fall sehr, sehr komplex
sein, und diese Komplexität ist vermutlich nicht reduzier-
bar!
174
Unwissen eingesteht und sich sogar darüber freut, weil Unwis-
sen eine Herausforderung darstellt und Anlass zu weiterer For-
schung gibt. Mein Freund Matt Ridley schrieb einmal: »Die
meisten Wissenschaftler finden das, was bereits entdeckt ist,
langweilig. Was sie antreibt, ist das Unwissen.« Mystiker schwel-
gen im Geheimnisvollen und wollen, dass das Mysteriöse er-
halten bleibt. Wissenschaftler schwelgen ebenfalls im Geheim-
nisvollen, aber aus einem anderen Grund: Es verschafft ihnen
die Möglichkeit, etwas zu tun. In allgemeiner Form werde ich
im achten Kapitel nochmals darauf zurückkommen, dass es zu
den wirklich schlimmen Auswirkungen der Religion gehört,
dass sie uns lehrt, es sei eine Tugend, sich mit dem Nichtwissen
zufriedenzugeben.
Das Eingeständnis, etwas, das vorläufig ein Rätsel bleibt, nicht
zu wissen, ist ein unentbehrlicher Bestandteil guter Wissen-
schaft. Deshalb ist es, vorsichtig ausgedrückt, eine unglückse-
lige Strategie der kreationistischen Propaganda, nach Lücken
in den wissenschaftlichen Kenntnissen zu suchen und dann zu
behaupten, man müsse sie wie selbstverständlich mit »Intelli-
gent Design« füllen. Die folgende Unterhaltung ist hypothe-
tisch, aber ganz und gar typisch.
Der Kreationist sagt: »Das Ellenbogengelenk des Kleinen
gefleckten Wieselfrosches besitzt eine nicht reduzierbare
Komplexität. Kein Teil davon war zu irgendetwas nütze, bevor
nicht das Ganze zusammengefügt war. Ich wette, Sie können
sich keinen Weg vorstellen, auf dem sich der Ellenbogen des
Wieselfrosches in kleinen, allmählichen Schritten entwickelt
haben könnte.« Kann der Wissenschaftler darauf nicht sofort
eine erschöpfende Antwort geben, zieht der Kreationist auto-
matisch seinen Schluss: »Sehen Sie, dann hat die Alterna-
tivtheorie des »Intelligent Design« recht.« Man beachte die
einseitige Logik: Wenn Theorie A für einen Einzelfall keine
Erklärung liefert, muss Theorie B stimmen. Es braucht wohl
nicht besonders betont zu werden, dass die Argumentation
175
nie andersherum angewandt wird. Man fordert uns auf, uns
der Alternativtheorie anzuschließen, ohne auch nur zu prü-
fen, ob sie in dem untersuchten Einzelfall vielleicht ebenso
versagt wie die Theorie, an deren Stelle sie treten soll. Der
Theorie des Intelligent Design (ID) wird ein Freibrief ausge-
stellt, und sie wird wie von Zauberhand von den strengen An-
forderungen befreit, denen man die Evolutionstheorie unter-
wirft.
Hier geht es mir aber vor allem darum, dass die kreationis-
tische Taktik die natürliche - und sogar notwendige —Freude
der Naturwissenschaftler an (vorübergehender) Unsicherheit
untergräbt. Ein Naturwissenschaftler wird heute möglicher-
weise aus rein politischen Gründen zögern, bevor er sagt:
»Hm, interessante Beobachtung. Ich frage mich, wie sich das
Ellenbogengelenk bei den Vorfahren des Wieselfrosches ent-
wickelt hat. Wieselfrösche sind nicht mein Spezialgebiet, da
muss ich erst mal in die Universitätsbibliothek gehen und
nachsehen. Das könnte ein interessantes Projekt für einen
Doktoranden werden.« Sobald ein Naturwissenschaftler so
etwas sagt - und lange bevor der Doktorand mit seinem For-
schungsprojekt begonnen hat -—, würde die automatisch gezo-
gene Schlussfolgerung in einem kreationistischen Pamphlet
zur Schlagzeile werden: »Wieselfrosch kann nur von Gott ge-
staltet worden sein.«
Es besteht also eine unglückselige Verknüpfung zwischen
der methodischen Notwendigkeit in der Naturwissenschaft,
sich Bereiche des Nichtwissens als Themen der zukünftigen
Forschung zu suchen, und dem Bedürfnis der ID-Vertreter,
Bereiche des Nichtwissens zu suchen, um sich anschließend
zum automatischen Sieger zu erklären. Gerade weil die ID-
Theorie selbst keine Belege vorzuweisen hat, sondern wie ein
Unkraut in den verbliebenen Lücken der naturwissenschaft-
lichen Kenntnisse gedeiht, steht sie in unbehaglicher Nähe
zum Bedürfnis der Naturwissenschaft, eben diese Lücken als
176
Vorspiel zu ihrer Erforschung erst einmal zu erkennen und
bekannt zu machen. In dieser Hinsicht steht die Naturwis-
senschaft im Bündnis mit klugen Theologen wie Bonhoef-
fer gegen die gemeinsamen Feinde - eine naive, populis-
tische Theologie und die Lückentheologie des Intelligent
Design.
Die Liebesbeziehung der Kreationisten zu »Lücken« bei den
Fossilfunden steht symbolisch für ihre gesamte Lückentheolo-
gie. Einmal begann ich ein Kapitel über die sogenannte Kam-
brische Explosion mit dem Satz: »Es ist, als wären die Fossilien
ohne jede Evolutionsvergangenheit dorthin gestellt worden.«
Auch dies war ein rhetorisches Vorspiel, das die Neugier des
Lesers auf die nachfolgende, vollständige Erklärung wecken
sollte. Im Nachhinein kam mir die traurige Erkenntnis, dass ich
es hätte vorhersehen müssen: Meine geduldige Erklärung wurde
weggelassen und die Einleitung in Zitaten unbekümmert aus
dem Zusammenhang gerissen. Die Kreationisten schwärmen
für »Lücken« bei den Fossilfunden, genau wie sie Lücken ganz
allgemein lieben.
Viele entwicklungsgeschichtliche Übergänge sind sehr ele-
gant durch mehr oder weniger kontinuierliche Reihen von
Fossilien mit stufenweisen Veränderungen dokumentiert. In
manchen Fällen ist das nicht der Fall, und das sind dann die
berühmten »Lücken«. Eine geistreiche Bemerkung dazu mach-
te Michael Shermer: Wenn man ein neues Fossil findet, das
genau in die Mitte einer »Lücke« passt und sie auf diese Wei-
se zweiteilt, behaupten die Kreationisten sogleich, es gebe
nun doppelt so viele Lücken! Ohnehin setzt dann auch wieder
der unbegründete Automatismus ein. Ist ein postulierter ent-
wicklungsgeschichtlicher Übergang nicht durch Fossilien be-
legt, so wird automatisch unterstellt, es habe einen solchen
Übergang nicht gegeben und deshalb müsse Gott eingegriffen
haben.
Vollständige Belege für jeden Schritt einer Entwicklung zu
177
fordern ist in der Evolution wie in jeder anderen Wissenschaft
vollkommen unlogisch. Ebenso könnte man verlangen, jemand
solle nur dann wegen Mordes verurteilt werden, wenn jeder
seiner Schritte zu dem Verbrechen in einer Filmaufnahme fest-
gehalten wurde, ohne dass auch nur ein einziges Bild fehlt. Nur
ein winziger Bruchteil aller toten Organismen wird zu Fossi-
lien, und wir haben Glück, dass wir bereits so viele fossile Zwi-
schenformen besitzen. Es wäre ohne weiteres vorstellbar, dass
es überhaupt keine Fossilien gibt, und auch dann wären die
Belege für die Evolution, beispielsweise aus Molekulargene-
tik oder geografischer Verteilung, immer noch überwältigend
stark. Andererseits sagt die Evolutionstheorie eindeutig eines
voraus: Nur ein einzigesFossil, das man in der falschen geologi-
schen Schichtung findet, würde die ganze Theorie aus den An-
geln heben. Von einem eifrigen Popper-Anhänger gefragt, wie
man die Evolution überhaupt widerlegen könne, gab J.B.S.
Haldane die berühmte mürrische Antwort: »Durch Kanin-
chenfossilien im Präkambrium.« In Wirklichkeit wurden solche
echt anachronistischen Fossilien nie gefunden; kreationistische
Legenden über Menschenschädel in Kohleflözen und mensch-
liche Fußabdrücke zwischen Dinosaurierspuren wurden stets
widerlegt.
Lücken werden in den Köpfen der Kreationisten automa-
tisch durch Gott gefüllt. Das Gleiche gilt für alle scheinbaren
Steilhänge des Unwahrscheinlichkeitsgebirges, wenn der sanfte
Abhang nicht sofort zu erkennen ist oder aus anderen Gründen
übersehen wird. Wenn in irgendwelchen Bereichen die Daten
oder Kenntnisse fehlen, wird automatisch angenommen, sie
seien die Domäne Gottes. Der eilige Rückgriff auf die laut-
starke Behauptung, irgendwo gebe es eine »nicht reduzierbare
Komplexität«, spiegelt ein Versagen der Fantasie wider. Irgend-
ein biologisches Organ - wenn es nicht das Auge ist, dann viel-
leicht der Flagellenmotor der Bakterien oder ein biochemi-
scher Reaktionsweg - wird mit einer einfachen Behauptung
178
und ohne weitere Begründung für nicht reduzierbar komplex
erklärt, ohne dass man auch nur versucht hätte, die nicht redu-
zierbare Komplexität nachzuweisen. Trotz aller warnenden Be-
richte über Augen, Flügel und vieles andere wird bei jedem
Kandidaten für diese zweifelhafte Ehre aufs Neue unterstellt, er
sei ganz offensichtlich und selbstverständlich von nicht redu-
zierbarer Komplexität - sein Status wird durch Dekret festge-
legt. Denken wir darüber doch einmal genauer nach. Da die
nicht reduzierbare Komplexität als Argument für gezielte Ge-
staltung herangezogen wird, sollte man sie ebenso wenig durch
Dekret festlegen wie die Gestaltung selbst. Genauso könnte
man einfach behaupten, der Wieselfrosch (oder der Bombar-
dierkäfer usw.) sei ein Beleg für Gestaltung, ohne dass man dies
weiter begründen oder rechtfertigen müsste. So kann man
keine Wissenschaft betreiben.
Letztlich ist die Logik dieser Argumentation nicht überzeu-
gender als die folgende: »Ich [man setze den eigenen Namen
ein] bin persönlich nicht in der Lage, einen Weg zu erkennen,
auf dem [man setze ein biologisches Phänomen ein] Schritt
für Schritt aufgebaut werden konnte. Deshalb besitzt dieses
Phänomen eine nicht reduzierbare Komplexität. Und daraus
folgt, dass es gestaltet wurde.« Formuliert man es so, dann wird
die Fragwürdigkeit einer solchen Formulierung auf Anhieb er-
kennbar. Jetzt braucht nur ein Wissenschaftler daherzukom-
men, der eine Zwischenform findet oder sich zumindest eine
solche Zwischenform ausmalen kann. Und selbst wenn keine
wissenschaftliche Erklärung geliefert wird, ist die Annahme,
die »Gestaltung« sei eine bessere Begründung, einfach nicht
logisch. Hinter der Theorie des »Intelligent Design« steht eine
bequeme, defätistische Denkweise - es ist die klassische Vor-
stellung vom »Gott der Lücken«. Ich selbst habe sie frü-
her einmal als Argument des persönlichen Unglaubens be-
zeichnet.
Angenommen, wir sehen einen wirklich guten Zaubertrick,
179
zum Beispiel vom berühmten Magierduo Penn und Teller. Die
beiden haben einen Programmpunkt, bei dem sie gleichzeitig
scheinbar mit Pistolen aufeinander schießen und jeder die Ku-
gel des anderen mit den Zähnen aufzufangen scheint. Vor dem
Laden der Pistolen werden die Kugeln aufwendig mit einge-
kerbten Markierungen gekennzeichnet; der ganze Vorgang
wird von Freiwilligen aus dem Publikum, die Erfahrung im
Umgang mit Feuerwaffen haben, aus nächster Nähe beaufsich-
tigt; und es scheint, als wären alle Möglichkeiten für einen Trick
beseitigt. Am Ende ist Tellers markierte Kugel in Penns Mund,
und die von Penn landet im Mund von Teller. Nun kann ich,
Richard Dawkins, mir absolut nicht vorstellen, wie hier ein
Trick funktionieren soll. Das Argument des persönlichen Un-
glaubens ist ein Aufschrei aus den Tiefen der vorwissenschaft-
lichen Gehirnareale, und es zwingt mich fast zu sagen: »Das
muss ein Wunder sein. Es gibt dafür keine wissenschaftliche Er-
klärung. Übernatürliche Mächte müssen ihre Hand im Spiel
haben.«
Aber die leise Stimme der wissenschaftlichen Bildung sagt
etwas anderes. Penn und Teller sind Weltklasse-Illusionisten.
Es gibt eine völlig ausreichende Erklärung. Ich bin nur zu naiv,
zu unaufmerksam oder zu fantasielos, deshalb komme ich
nicht darauf. Das ist die richtige Reaktion auf einen Zauber-
trick. Und es ist auch die richtige Reaktion auf ein biologisches
Phänomen, das scheinbar von nicht reduzierbarer Komplexität
ist. Menschen, die von ihrer persönlichen Verblüffung über ein
Naturphänomen den Sprung zur eiligen Beschwörung des
Übernatürlichen vollziehen, sind nicht besser als jene Dumm-
köpfe, die einem Zauberkünstler beim Verbiegen eines Löffels
zusehen und dann zu der Schlussfolgerung gelangen, dies sei
»paranormalk.
Auf einen weiteren Gesichtspunkt weist der schottische
Chemiker A.G. Cairns-Smith in seinem Buch Seven Clues to
the Origin of Life (Biologische Botschaften: Eine Detektivge-
180
schichte der Evolution) hin und bedient sich dabei der Analogie
eines Torbogens. Ein frei stehender Torbogen aus grob behau-
enen, ohne Mörtel zusammengefügten Steinen kann durchaus
ein stabiles Bauwerk sein, aber er besitzt eine nicht reduzier-
bare Komplexität: Zieht man nur einen Stein heraus, bricht er
zusammen. Wie wurde er dann ursprünglich aufgebaut? Eine
Möglichkeit bestünde darin, dass man zunächst einen festen
Steinhaufen auftürmt und dann vorsichtig einen Stein nach
dem anderen entfernt. Allgemeiner betrachtet gibt es viele
Strukturen, die in diesem Sinn von nicht reduzierbarer Kom-
plexität sind: Sie überleben nicht, wenn ein beliebiges Teil
fehlt, aber errichtet wurden sie mithilfe eines Gerüstes, das
später abgebaut wurde und jetzt nicht mehr zu sehen ist. Wenn
das Bauwerk fertig ist, kann man das Gerüst gefahrlos entfer-
nen, und die eigentliche Struktur bleibt stehen. Auch in der
Evolution hatten Organe oder Strukturen, die wir heute sehen,
bei irgendeinem Vorfahren vielleicht ein Gerüst, das später
verschwand.
Die Vorstellung von »nicht reduzierbarer Komplexität« ist
nichts Neues, der Ausdruck jedoch wurde 1996 von dem Krea-
tionisten Michael Behe erfunden.‘ Ihm gebührt das Verdienst
(wenn man es denn »Verdienst« nennen will), den Kreatio-
nismus auf ein neues Gebiet ausgeweitet zu haben: auf die Bio-
chemie und Zellbiologie, die nach seiner Auffassung vielleicht
ein besseres Revier für die Jagd auf Lücken sind als Augen oder
Flügel. Sein bester Versuch an einem guten Beispiel. (das
dennoch ein schlechtes war) betraf den Flagellenmotor der
Bakterien.
Der Flagellenmotor der Bakterien ist ein Wunder der Natur.
Er treibt die einzige frei drehbare Achse an, die man außerhalb
unserer menschlichen Technik kennt. Große Tiere mit Rädern
wären, denke ich, ein echter Fall von nicht reduzierbarer Kom-
plexität - und das ist wahrscheinlich der Grund, warum es sie
nicht gibt. Wie sollen Nerven und Blutgefäße das Achslager
181
RN
überspannen?* Die Flagelle ist ein fadenförmiger Propeller, mit
dem das Bakterium sich seinen Weg durch das Wasser gräbt.
Ich sage absichtlich »gräbt« und nicht »schwimmt«, weil Wasser
sich im Größenmaßstab der Bakterien nicht - wie für uns - als
Flüssigkeit anfühlt. Es wirkt eher wie Sirup, Gelee oder gar
Sand, und Bakterien schwimmen darin nicht, sondern sie gra-
ben oder winden sich hindurch. Anders als die sogenannten
Flagellen der Protozoen und anderer größerer Lebewesen
schwingt die Bakterienflagelle nicht wie eine Peitsche hin und
her, und sie bewegt sich auch nicht wie ein Ruder. Vielmehr hat
sie eine echte, frei drehbare Achse, die in einem Lager rotiert
und von einem bemerkenswerten kleinen Molekülmotor ange-
trieben wird. Auf molekularer Ebene funktioniert dieser Motor
im Wesentlichen nach dem gleichen Prinzip wie die Muskeln,
er erzeugt aber keine vorübergehende Kontraktion, sondern
eine freie Drehung.** Man hat ihn treffend als kleinen Außen-
bordmotor bezeichnet (der allerdings nach technischen Maß-
* Ein Beispiel gibt es in der Belletristik. Der Kinderbuchautor Philip Pullman malt
sich in dem Buch His Dark Materials (»Seine dunklen Zutaten«) die Tierart der
»Mulefa« aus; diese leben in Symbiose mit Bäumen zusammen, die völlig runde Sa-
men mit einem Loch in der Mitte produzieren. Diese Samen dienen den Mulefa als
Räder. Da sie kein Teil des Tierkörpers sind, haben sie auch keine Nerven oder Blut-
gefäße, die sich um die »Achse« (eine kräftige Klaue aus Horn oder Knochen) he-
rumwickeln könnten. Der scharfsinnige Pullman fügt aber eine weitere Aussage
hinzu: Das System funktioniert nur deshalb, weil der Planet mit natürlichen Basalt-
streifen gepflastert ist, die als »Straßen« dienen. In unebenem Gelände sind Räder
ungeeignet.
nik
Faszinierend ist, dass das Prinzip der Muskelbewegung bei manchen Insekten (Fliegen,
Bienen und Wanzen) noch auf eine dritte Weise genutzt wird. Dabei ist die Flugmus-
kulatur durch ihren Aufbau auf eine Hin- und Herbewegung angelegt, wie ein Kol-
benmotor. Während andere Insekten - beispielsweise Grillen - wie die Vögel für je-
den einzelnen Flügelschlag einen Nervenimpuls aussenden, erteilt das Nervensystem
der Bienen nur die Anweisung, den Motor ein- oder auszuschalten. Der Mechanis-
mus der Bakterien sorgt weder für eine einzelne Kontraktion (wie die Flugmuskula-
tur der Vögel) noch für eine Hin- und Herbewegung (wie die Flugmuskulatur der
Bienen), sondern er erzeugt eine echte Rotation: In dieser Hinsicht gleicht er einem
Elektro- oder Wankelmotor.
182
stäben sehr ineffizient arbeitet - was für einen biologischen
Mechanismus ungewöhnlich ist).
Ohne ein Wort der Rechtfertigung, Begründung oder Erläu-
terung behauptet Behe einfach, der Flagellenmotor der Bakte-
rien sei von nicht reduzierbarer Komplexität. Da er keine Ar-
gumente zur Begründung seiner Aussage nennt, können wir
zunächst einmal vermuten, dass ihn seine Fantasie im Stich ge-
lassen hat. Weiter behauptet er, die biologische Fachliteratur
habe dieses Problem nicht zur Kenntnis genommen. Wie falsch
diese Behauptung ist, wurde 2005 auf drastische und (für Behe)
peinliche Weise in Pennsylvania in einem Gerichtsverfahren
unter dem Richter John E. Jones nachgewiesen. Dort sagte
Behe als Sachverständiger zugunsten einer Gruppe von Krea-
tionisten aus, die den Kreationismus als »Intelligent Design« im
Biologielehrplan der örtlichen Schule unterbringen wollten —
ein Ansinnen von »atemberaubender Albernheit«, wie Richter
Jones es formulierte (was dem Zitat und dem Mann dauerhaf-
ten Ruhm einbringen sollte). Wie wir noch sehen werden, war
es nicht die einzige Peinlichkeit, die Behe in diesem Verfahren
erdulden musste.
Der Schlüssel zum Nachweis nicht reduzierbarer Komple-
xität ist ganz einfach: Man muss zeigen, dass keines der Einzel-
teile allein von Nutzen ist. Alle gemeinsam mussten bereits an
Ort und Stelle sein, bevor sie irgendeine positive Wirkung ent-
falten können (Behes Lieblingsvergleich ist eine Mausefalle).
In Wirklichkeit finden die Molekularbiologen ohne weiteres
Teile, die außerhalb des Ganzen funktionieren, und zwar so-
wohl beim Flagellenmotor der Bakterien als auch bei Behes
anderen Beispielen für angeblich nicht reduzierbare Komple-
xität. Sehr gut formulierte Kenneth Miller von der Brown Uni-
versity die entscheidende Aussage; er ist nach meiner Einschät-
zung der überzeugendste Gegner des »Intelligent Design«, und
zwar nicht zuletzt deshalb, weil er gläubiger Christ ist. Religiö-
sen Menschen, die mir schreiben, nachdem sie von Behe übers
183
Ohr gehauen wurden, empfehle ich häufig Millers Buch Fin-
ding Darwin's God (»Darwins Gott«).
Im Zusammenhang mit dem Rotationsmotor der Bakterien
macht Miller auf das »Typ-IIl-Sekretionssystem« (Type Three
Secretory System, TTSS) aufmerksam.‘ Das TTSS dient nicht
zur Erzeugung von Drehbewegungen, sondern wird von para-
sitisch lebenden Bakterien dazu verwendet, toxische Substan-
zen durch ihre Zellwand nach außen zu pumpen, um ihren
Wirtsorganismus zu vergiften. In unserem menschlichen Grö-
ßenmaßstab könnten wir uns vorstellen, wir würden eine Flüs-
sigkeit durch ein Loch schütten oder pressen; aber auch hier
sieht die Sache im Größenmaßstab der Bakterien anders aus.
Jedes Molekül der ausgeschiedenen Substanz ist ein großes
Protein mit genau festgelegter Raumstruktur, und es ist unge-
fähr ebenso groß wie das TTSS selbst. Es ähnelt weniger einer
Flüssigkeit als vielmehr einer festen Skulptur. Die Substanz
»fließt« also nicht einfach durch ein Loch, sondern jedes Mo-
lekül wird einzeln durch einen genau passend geformten Me-
chanismus geschleust -—wie bei einem Automaten, der Spiel-
zeuge oder Getränkeflaschen ausgibt. Der »Automat« selbst
besteht dabei aus einer relativ geringen Zahl von Proteinmo-
lekülen, von denen jedes einzelne in Größe und Komplexität
mit den durchgeschleusten Proteinmolekülen vergleichbar ist.
Interessanterweise ähneln sich diese Molekülautomaten häufig
auch bei Bakterienarten, die ansonsten nur entfernt verwandt
sind. Die Gene zu ihrer Herstellung wurden vermutlich durch
»Kopieren und Einfügen« von anderen Bakterien übernom-
men: Diesen Vorgang beherrschen Bakterien erstaunlich gut,
und er ist selbst wiederum ein faszinierendes Thema. Aber ich
darf mich nicht verzetteln ...
Die Proteinmoleküle, die als Bausteine des TTSS dienen,
ähneln stark den Bestandteilen des Flagellenmotors. Für den
Evolutionsforscher ist klar, dass die TTSS-Proteine während der
Evolution des Flagellenmotors für eine neue, aber nicht gänz-
184
lich andere Funktion zweckentfremdet wurden. Das TTSS
schleust Moleküle durch die Zellwand, und wie nicht anders zu
erwarten, bedient es sich dabei in rudimentärer Form eines
ganz ähnlichen Prinzips wie der Flagellenmotor, der die Mo-
leküle immer wieder um eine Achse rotieren lässt. Offensicht-
lich waren entscheidende Bestandteile des Flagellenmotors be-
reits vorhanden und funktionsfähig, bevor sich der Motor
selbst entwickelte. Die Zweckentfremdung vorhandener Me-
chanismen ist ein naheliegender Weg, wie ein Apparat von
scheinbar nicht reduzierbarer Komplexität den Gipfel des Un-
wahrscheinlichen erklimmen kann.
Natürlich sind hier noch viele weitere Forschungsarbeiten
notwendig, und ich habe keinen Zweifel, dass man sie in An-
griff nehmen wird. Aber solche Arbeiten würden nicht getan,
wenn die Wissenschaftler sich faul mit einem Automatismus
wie der Theorie des »Intelligent Design« zufriedengeben wür-
den. Ein imaginärer Vertreter des »Intelligent Design« könnte
den Wissenschaftlern ungefähr Folgendes sagen: »Wenn ihr
nicht versteht, wie etwas funktioniert —macht euch nichts
draus. Gebt einfach auf und sagt, dass Gott es gemacht hat. Ihr
wisst nicht, wie ein Nervenimpuls zustande kommt? Gut! Ihr
versteht nicht, wie Erinnerungen im Gehirn gespeichert wer-
den? Ausgezeichnet! Die Photosynthese ist ein atemberaubend
komplexer Prozess? Hervorragend! Bitte arbeitet nicht weiter
an solchen Fragen! Gebt einfach auf und beruft euch auf Gott!
Lieber Wissenschaftler, steck bitte keine Arbeit in deine Fra-
gestellungen! Gib uns einfach deine Rätsel, die können wir gut
gebrauchen. Verspiel nicht dein kostbares Unwissen, indem du
es durch Forschung verminderst. Wir brauchen diese pracht-
vollen Lücken - als letzte Zuflucht für Gott.« Der heilige
Augustinus sprach es ganz offen aus:
Es gibt noch eine weitere Art der Versuchung, die noch stär-
ker mit Gefahren verbunden ist. Es ist die Krankheit der
185
Neugier. Sie treibt uns dazu, dass wir die Geheimnisse der
Natur aufdecken wollen, jene Geheimnisse, die außerhalb
unseres Verständnisses liegen, die uns nichts nützen und die
zu kennen wir uns nicht wünschen sollten.‘’
186
bemühen. [...] Esist unsere Verteidigung gegen schreckliche,
tödliche Krankheiten. Die Wissenschaftler, die diese Bücher
und Artikel geschrieben haben, mühen sich im Verborgenen
ab, ohne Buchtantiemen und Vortragshonorare. Ihre Anstren-
gungen helfen uns, schwere Gesundheitsstörungen zu be-
kämpfen und zu heilen. Dagegen tun Professor Behe und die
ganze Intelligent-Design-Bewegung nichts, um die wissen-
schaftlichen oder medizinischen Kenntnisse voranzubringen.
Und zukünftigen Wissenschaftlergenerationen sagen sie, sie
sollten sich die Mühe nicht machen.°®
187
reiche Schwachpunkte erkennen —genau wie man es erwartet,
wenn sie eine Entwicklungsgeschichte hinter sich haben, und
wie man es nicht erwarten würde, wenn jemand sie gezielt ge-
staltet hätte. Beispiele dafür habe ich in früheren Büchern erör-
tert, etwa den rückläufigen Kehlkopfnerv, der auf einem riesi-
gen, verschwenderischen Umweg zu seinem Zielpunkt verläuft
und damit seine Evolutionsvergangenheit verrät. Auch viele
unserer Erkrankungen, von Rückenschmerzen über Leisten-
bruch und Gebärmuttervorfall bis zur Anfälligkeit für Neben-
höhlenentzündungen, sind eine unmittelbare Folge der Tatsa-
che, dass wir heute aufrecht gehen, während die Form unseres
Körpers sich über Hunderte von Jahrmillionen hinweg für den
Gang auf allen vieren entwickelt hat. Ebenso wird unser Be-
wusstsein durch die Grausamkeit und Verschwendung der
natürlichen Selektion erweitert. Raubtiere sind wunderschön
so »gestaltet«, dass sie Beutetiere fangen können, und die Beu-
tetiere sind ebenso schön dazu »gestaltet«, ihnen davonzulau-
fen. Auf welcher Seite steht nun Gott?”
188
nungen unwahrscheinlicher, als den meisten Menschen klar ist.
Die späteren Evolutionsschritte fanden auf mehr oder weniger
ähnliche Weise unabhängig voneinander bei Millionen und
Abermillionen biologischen Arten statt, und zwar ständig und
immer wieder während der gesamten Erdgeschichte. Wenn wir
die Evolution komplexer Lebensformen erklären wollen, kön-
nen wir also nicht auf die statistischen Überlegungen zurück-
greifen, die wir auf den Ursprung allen Lebens anwenden. Die
Vorgänge der alltäglichen Evolution können - im Gegensatz zu
dem einen Ursprung (und vielleicht einigen anderen besonde-
ren Ereignissen) —nicht besonders unwahrscheinlich gewesen
sein.
Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick rätselhaft
erscheinen; ich muss sie näher erklären und bediene mich
dazu des sogenannten anthropischen Prinzips. Diese Bezeich-
nung wurde 1974 von dem Mathematiker Brandon Carter ge-
prägt; die Physiker John Barrow und Frank Tipler entwickel-
ten sie später in einem Buch weiter’! In der Regel wird das
anthropische Prinzip auf den Kosmos angewandt, und auch
darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Einführen
möchte ich den Gedanken aber im kleineren Maßstab unseres
Planeten.
Wir befinden uns hier auf der Erde. Deshalb muss die Er-
de ein Planet sein, der uns hervorbringen und am Leben erhal-
ten kann, selbst dann, wenn sie damit ein sehr ungewöhnli-
cher oder sogar einzigartiger Planet wäre. So ist unsere Art von
Leben beispielsweise unbedingt auf flüssiges Wasser angewie-
sen. Auch wenn Exobiologen nach Anzeichen für außerirdi-
sches Leben forschen, suchen sie in der Praxis das Weltall nach
Anzeichen für Wasser ab. Rund um einen typischen Stern wie
unsere Sonne gibt es eine sogenannte »Goldilocks-Zone«, in
der es nicht zu heiß und nicht zu kalt ist, sodass dort flüssiges
Wasser auf den Planeten existieren kann. In einem schmalen
Bereich liegen diese Umlaufbahnen zwischen solchen, die
189
vom Stern zu weit entfernt sind, sodass das Wasser gefriert,
und solchen, die dem Stern so nahe sind, dass das Wasser ver-
dampft.
Vermutlich muss eine lebensfreundliche Planetenumlauf-
bahn auch nahezu kreisförmig sein. Auf einer stark elliptischen
Bahn wie der des neu entdeckten zehnten Planeten Xena
würde der Planet nur einmal alle paar (Erd)-Jahrzehnte oder
-Jahrhunderte kurz die Goldilocks-Zone durchqueren. Xena
selbst berührt diese Zone bei seiner stärksten Annäherung an
die Sonne, die alle 560 Erdjahre einmal stattfindet, überhaupt
nicht. Die Temperatur auf dem Halleyschen Kometen
schwankt zwischen ungefähr 47 °C am sonnennächsten und
minus 270 °C am sonnenfernsten Punkt. Genau genommen
bewegt sich auch die Erde wie alle Planeten auf einer ellipti-
schen Umlaufbahn (sie ist der Sonne im Januar am nächsten
und im Juli am weitesten von ihr entfernt*), aber auch ein
Kreis ist ein Spezialfall der Ellipse, und die Erdumlaufbahn
kommt der Kreisform so nahe, dass sie die Goldilocks-Zone nie
verlässt.
Auch in anderer Hinsicht ist die Erde im Sonnensystem in
einer besonders vorteilhaften Lage, sodass sie sich als einziger
Planet für die Evolution des Lebens eignet. Der riesige Gravi-
tationsstaubsauger Jupiter liegt genau an der richtigen Stelle
und lenkt Asteroiden ab, die uns ansonsten mit tödlichen Kolli-
sionen gefährden könnten. Der eine, relativ große Mond der
Erde stabilisiert die Rotationsachse unseres Planeten’? und be-
günstigt das Leben auch sonst in mehrfacher Hinsicht. Unsere
Sonne ist etwas Besonderes, weil sie nicht zu einem Doppel-
sternsystem gehört und sich nicht mit einem Begleitstern in
einer gemeinsamen Umlaufbahn befindet. Doppelsterne kön-
nen zwar ebenfalls Planeten haben, aber deren Umlaufbahnen
* Wer das verwunderlich findet, leidet vielleicht an dem auf Seite 158 beschriebenen
Chauvinismus der Nordhalbkugelbewohner.
190
sind wahrscheinlich so chaotisch und veränderlich, dass sie die
Evolution von Leben nicht unterstützen.
Für die besondere Lebensfreundlichkeit der Erde wurden
zwei Erklärungen gegeben. Nach der Theorie der Gestaltung
hat Gott die Welt gemacht, unseren Planeten in die Gol-
dilocks-Zone gesetzt und alle Details gezielt so eingerichtet,
wie es für uns gut ist. Die anthropische Erklärung lautet ganz
anders und hat entfernte Anklänge an den Darwinismus. Die
Planeten im Universum befinden sich in ihrer großen Mehr-
zahl nicht in der Goldilocks-Zone ihrer jeweiligen Sterne und
eignen sich darum nicht für das Leben. Auf keinem dieser Pla-
neten gibt es Lebewesen. Aber so klein die Minderheit der Pla-
neten auch sein mag, die für das Leben die richtigen Vorausset-
zungen bieten, wir müssen uns zwangsläufig auf einem davon
befinden, denn nur deshalb sind wir da und können darüber
nachdenken.
Nebenbei bemerkt ist es eigentlich seltsam, dass das anthro-
pische Prinzip bei den Religionsvertretern so beliebt ist. Aus
einem völlig widersinnigen Grund glauben sie, es würde für ihre
Haltung sprechen. Das Gegenteil ist richtig. Das anthropische
Prinzip ist wie die natürliche Selektion eine Alternative zur Ge-
staltungshypothese. Es liefert eine vernünftige Erklärung für
die Tatsache, dass wir uns in einer Situation befinden, die unser
Dasein ermöglicht, und diese Erklärung kommt ohne göttliche
Gestaltung aus. Die Verwirrung im religiösen Denken kommt
meiner Meinung nach dadurch zustande, dass das anthropische
Prinzip immer nur im Zusammenhang mit dem Problem er-
wähnt wird, das es löst - der Tatsache, dass wir uns an einem le-
bensfreundlichen Ort befinden. Was dem religiösen Denken
dann allerdings entgeht, ist, dass für dieses Problem zwei Lö-
sungsvorschläge angeboten werden. Der eine ist Gott, der an-
dere das anthropische Prinzip. Es handelt sich um Alternativ-
vorschläge.
Flüssiges Wasser ist eine Vorbedingung für Leben, wie wir es
191
kennen, aber es reicht allein bei Weitem nicht aus. Im Wasser
muss das Leben erst einmal entstehen, und dies dürfte ein sehr
unwahrscheinlicher Vorgang gewesen sein. Nachdem das Leben
einmal da war, konnte die Darwin’sche Evolution fröhlich vo-
ranschreiten. Aber wie fing das Leben an? Die Entstehung des
Lebens war jenes chemische Ereignis oder jene Kette von Ereig-
nissen, durch die sich zum ersten Mal die unentbehrlichen Vo-
raussetzungen für die natürliche Selektion ergaben. Der wich-
tigste Bestandteil war dabei die Vererbung, entweder durch
DNA oder (wahrscheinlicher) durch etwas, das wie DNA - al-
lerdings mit geringerer Genauigkeit - kopiert wurde, beispiels-
weise die mit ihr verwandte Verbindung RNA. Erst nachdem
die entscheidende Zutat - irgendeine Art von Erbmolekülen -
vorhanden war, konnte die echte darwinistische Selektion ein-
setzen, und daraus entwickelten sich schließlich die komplexen
Lebensformen. Aber die spontane, zufällige Entstehung des ers-
ten Erbmoleküls erscheint vielfach als höchst unwahrschein-
lich. Vielleicht ist sie tatsächlich sehr, sehr unwahrscheinlich;
damit möchte ich mich ausführlicher befassen, denn es ist für
diesen Abschnitt des Buches von zentraler Bedeutung.
Die Entstehung des Lebens ist Gegenstand eines lebendigen,
allerdings auch spekulativen Forschungsgebietes. Man braucht
dafür Fachkenntnisse in Chemie, und die ist nicht mein Gebiet.
Ich bin hier nur ein Zaungast voll engagierter Neugier, und es
würde mich nicht wundern, wenn Chemiker irgendwann in
den kommenden Jahren berichten würden, dass es ihnen ge-
lungen ist, neues Leben im Labor entstehen zu lassen. Bisher ist
das allerdings noch nicht geschehen, sodass man nach wie vor
behaupten kann, die Wahrscheinlichkeit, dass es geschieht, sei
äußerst gering und sei es auch immer gewesen - obwohl es ja
tatsächlich einmal geschehen ist!
Hier können wir genauso argumentieren wie bei den Gol-
dilocks-Umlaufbahnen: So unwahrscheinlich die Entstehung
des Lebens gewesen sein mag, wir wissen, dass sie sich auf der
192
Erde ereignet hat, denn wir sind hier! Wie bei der Temperatur,
so kann man dafür auch hier zwei Erklärungen geben: eine Ge-
staltungshypothese und eine wissenschaftliche oder »anthropi-
sche« Hypothese. Die Gestaltungshypothese postuliert einen
Gott, der absichtlich ein Wunder vollbrachte, die Ursuppe mit
göttlichem Feuer anreicherte und die DNA oder etwas Ent-
sprechendes auf ihre folgenschwere Laufbahn schickte.
Die Alternative ist wie beim Goldilocks-Gürtel statisti-
scher Natur. Wissenschaftler berufen sich auf die Magie der
großen Zahlen. In unserer Galaxis gibt es nach Schätzungen
zwischen einer Milliarde und 30 Milliarden Planeten, und das
Universum enthält 100 Milliarden Galaxien. Streichen wir
aus Gründen der ganz normalen Vorsicht ein paar Nullen
weg, so gelangen wir für die Zahl der Planeten, die im Univer-
sum zur Verfügung stehen, zu einer vorsichtigen Schätzung
von einer Milliarde Milliarden. Nehmen wir nun an, die Ent-
stehung des Lebens, das heißt die spontane Entstehung einer
Entsprechung zur DNA, sei wirklich ein unglaublich unwahr-
scheinliches Ereignis. Angenommen, es ist so unwahrschein-
lich, dass es sich nur auf einem unter einer Milliarde Planeten
ereignet. Eine Forschungsförderungsorganisation würde je-
den Chemiker auslachen, der in seinem Finanzierungsantrag
einräumt, sein Forschungsvorhaben habe nur eine Erfolgsaus-
sicht von eins zu hundert. Und hier reden wir über eine
Chance von eins zu einer Milliarde. Und doch, selbst bei einer
derart absurd geringen Wahrscheinlichkeit wäre immer noch
auf einer Milliarde Planeten Leben entstanden - und einer
davon ist natürlich die Erde.’®
Das ist eine derart überraschende Schlussfolgerung, dass ich
sie noch einmal wiederholen will. Wenn die Wahrscheinlich-
keit, dass auf einem Planeten spontan Leben entsteht, bei eins
zu einer Milliarde liegt, findet dieses unglaublich unwahr-
scheinliche Ereignis dennoch auf einer Milliarde Planeten statt.
Die Chance, einen dieser Milliarde von lebentragenden Plane-
193
ten zu finden, erinnert an die sprichwörtliche Nadel im Heu-
haufen. Dennoch brauchen wir nicht lange nach einer solchen
Nadel zu suchen, denn wegen des anthropischen Prinzips müs-
sen alle Wesen, die sich überhaupt auf die Suche begeben kön-
nen, zwangsläufig schon auf einer dieser ungeheuer seltenen
Nadeln sitzen, bevor sie überhaupt zu suchen beginnen.
Jede Aussage über Wahrscheinlichkeiten steht im Kontext
eines gewissen Ausmaßes an Unwissenheit. Wenn wir nichts
über einen Planeten wissen, können wir für ihn beispielsweise
eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Milliarde für die Ent-
stehung von Leben postulieren. Führen wir in die Schätzung
aber weitere Annahmen ein, so ändert sich alles. Ein bestimm-
ter Planet kann besondere Eigenschaften haben, beispielsweise
eine bestimmte Häufigkeitsverteilung der chemischen Ele-
mente in seinem Gestein; dann verschiebt sich die Wahrschein-
lichkeit zugunsten der Entstehung von Leben. Mit anderen
Worten: Manche Planeten sind »erdähnlicher« als andere. Und
am erdähnlichsten ist natürlich die Erde selbst! Das sollte für
unsere Chemiker, die das Ereignis im Labor nachvollziehen
wollen, eine Ermutigung sein, denn damit verringert sich die
Chance auf einen Misserfolg.
Doch wie ich zuvor mit meiner Berechnung gezeigt habe,
würde selbst ein Modell, das nur eine Erfolgswahrscheinlich-
keit von eins zu einer Milliarde unterstellt, dennoch die Ent-
stehung von Leben auf einer Milliarde Planeten im Universum
voraussagen. Und das Schöne am anthropischen Prinzip ist,
dass es uns gegen jede Intuition sagt: Ein chemisches Modell
muss nur für einen unter einer Milliarde Milliarden Planeten
die Entstehung von Leben voraussagen, und doch haben wir
eine gute, völlig zufriedenstellende Erklärung dafür, dass es bei
uns Leben gibt.
In Wirklichkeit glaube ich keinen Augenblick lang, dass die
Entstehung des Lebens auch nur annähernd so unwahrschein-
lich war. Nach meiner Überzeugung lohnt es sich auf jeden
194
Fall, Geld aufzuwenden, um den Vorgang im Labor nachzu-
vollziehen, und aus den gleichen Gründen ist es auch richtig,
das SETI-Projekt zur Suche nach außerirdischer Intelligenz zu
finanzieren; ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es auch
anderswo intelligentes Leben gibt.
Selbst wenn man die Wahrscheinlichkeit, dass Leben spon-
tan entsteht, sehr pessimistisch einschätzt, ist diese statistische
Argumentation der Todesstoß für jeden Gedanken, man müsse
gezielte Gestaltung, »Intelligent Design«, postulieren, um die
Lücke zu füllen. Wie alle scheinbaren Lücken im Evolutions-
verlauf erscheint auch diese nur dann als unüberbrückbar, wenn
unser Denken darauf geeicht ist, Wahrscheinlichkeiten und Ri-
siken allein nach unseren Alltagsmaßstäben abzuschätzen,
etwa nach den Maßstäben, die Forschungsförderungsorganisa-
tionen an die Finanzierungsanträge von Chemikern anlegen.
Indes, selbst eine derart große Lücke lässt sich mit statistisch
untermauerter Wissenschaft ohne weiteres füllen. Dagegen
schließt die Statistik einen göttlichen Schöpfer nach der bereits
im Abschnitt über die Boeing 747 beschriebenen Gesetzmä-
Bigkeit definitiv aus.
Aber kehren wir nun zu der interessanten Frage zurück, die
den Ausgangspunkt dieses Abschnitts bildet. Angenommen, je-
mand wollte das allgemeine Phänomen der biologischen An-
passung nach den gleichen Prinzipien erklären, die wir gerade
auf die Entstehung des Lebens angewandt haben, und beriefe
sich dabei auf eine ungeheuer große Zahl verfügbarer Plane-
ten. Die beobachtete Tatsache lautet: Alle biologischen Arten
und alle Organe, die man jemals bei irgendeiner Art untersucht
hat, erfüllen ihre Aufgaben gut. Die Flügel von Vögeln, Bienen
und Fledermäusen eignen sich gut zum Fliegen. Mit Augen
kann man gut sehen. Blätter können gut Photosynthese betrei-
ben. Wir sind auf unserem Planeten von vielleicht zehn Millio-
nen Arten umgeben, und jede davon lässt unabhängig von den
anderen eine eindringliche Illusion gezielter Gestaltung entste-
195
hen. Jede Spezies eignet sich gut für ihre jeweilige Lebens-
weise. Können wir auch diese einzelnen Illusionen einer geziel-
ten Gestaltung mit dem Argument der »Riesenzahl von Plane-
ten« erklären? Nein, das können wir nicht. Ich wiederhole: Wir
können es nicht. Und wir sollten nicht einmal auf die Idee
kommen. Das ist wichtig, denn es zielt auf den Kern des
schlimmsten Missverständnisses im Zusammenhang mit dem
Darwinismus.
Ganz gleich, mit wie vielen Planeten wir jonglieren, die
Wahrscheinlichkeit könnte nie so groß sein, dass wir damit die
üppige Vielfalt und Komplexität des Lebens auf der Erde ge-
nauso erklären könnten wie die Tatsache, dass überhaupt Leben
existiert. Die Evolution des Lebendigen ist etwas ganz anderes
als seine Entstehung, denn - ich wiederhole es noch einmal —
der Ursprung des Lebens war ein einzigartiges, einmaliges Er-
eignis (oder hätte es sein können). Die Anpassung einer Art an
ihre Umgebungjedoch findet millionenfach statt und setzt sich
ständig fort.
Es ist klar, dass wir es hier auf der Erde mit einem allgemei-
nen Prozess zur Optimierung biologischer Arten zu tun haben,
der überall auf unserem Planten, auf allen Kontinenten und In-
seln ständig abläuft. Eines können wir mit Sicherheit voraussa-
gen: Wenn wir noch einmal zehn Millionen Jahre abwarten,
wird ein ganz neues Spektrum biologischer Arten an die herr-
schenden Lebensbedingungen ebenso gut angepasst sein wie
die heutigen Arten an ihre. Das ist kein statistischer Glücksfall,
den man erst im Nachhinein erkennt, sondern ein immer wie-
derkehrendes, vorhersagbares, vielfach ablaufendes Phänomen.
Und dank Darwin wissen wir, wie es zustande kommt: durch
natürliche Selektion. |
Mit dem anthropischen Prinzip lassen sich die vielgestalti-
gen Details der Lebewesen dagegen nicht erklären. Um eine
Begründung für die Vielfalt des Lebens auf der Erde und ins-
besondere für die umfassende Illusion gezielter Gestaltung zu
196
finden, brauchen wir Darwins leistungsfähigen »Kran«. Die
Entstehung des Lebens dagegen liegt außerhalb der Reichweite
dieses Krans, denn ohne sie kann die natürliche Selektion nicht
einsetzen. Nur an dieser Stelle kommt das anthropische Prin-
zip ins Spiel. Die einmalige Entstehung des Lebens können wir
erklären, indem wir eine sehr große Zahl von Gelegenheiten
auf den Planeten postulieren. Nachdem sich der erste Glücksfall
einmal ergeben hatte - und nach dem anthropischen Prinzip
hatte er sich bei uns ergeben -, übernahm die natürliche Selek-
tion das Ruder. Und natürliche Selektion ist nun ausdrücklich
keine Frage von Glück oder Zufall.
Allerdings wäre es denkbar, dass der Ursprung des Lebens in
der Evolutionsgeschichte nicht die einzige große Lücke ist, die
durch reines Glück überbrückt und dann anthropisch gerecht-
fertigt wurde. Mein Kollege Mark Ridley äußerte beispiels-
weise in seinem Buch Mendel’s Demon (»Mendels Dämon«, das
vom amerikanischen Verlag völlig grundlos und zur allgemei-
nen Verwirrung den neuen Titel The Cooperative Gene erhielt)
die Vermutung, die Entstehung der Eukaryontenzellen (das
heißt der Zellen, aus denen auch wir Menschen bestehen, mit
Zellkern, Mitochondrien und verschiedenen anderen kompli-
zierten Einzelteilen, die bei Bakterien nicht vorhanden sind)
sei ein sogar noch folgenschwereres, schwierigeres und statis-
tisch unwahrscheinlicheres Ereignis gewesen als die Entste-
hung des Lebens selbst.
Ein weiterer wichtiger Sprung, der möglicherweise ähnlich
unwahrscheinlich war, könnte die Entstehung des Bewusstseins
gewesen sein. Alles-oder-Nichts-Ereignisse wie diese lassen
sich möglicherweise mit dem anthropischen Prinzip erklären,
und zwar nach folgenden Grundsätzen: Es mag Milliarden Pla-
neten geben, auf denen sich Leben auf dem Niveau von Bakte-
rien entwickelte, aber nur ein winziger Bruchteil dieser Lebens-
formen schaffte jemals den Sprung zu einem Gebilde wie der
Eukaryontenzelle. Und von diesen wiederum überschritt ein
197
noch kleinerer Anteil den Rubikon zum Bewusstsein. Wenn es
sich in diesen beiden Fällen um Alles-oder-Nichts-Ereignisse
handelt, haben wir es hier, anders als bei der normalen, alltägli-
chen biologischen Anpassung nicht mit einem allgegenwärti-
gen, umfassenden Prozess zu tun. Die Aussage des anthropi-
schen Prinzips lautet: Da wir lebendige Eukaryonten sind und
ein Bewusstsein haben, muss unser Planet zu den wenigen
gehören, auf denen alle drei Lücken überbrückt wurden.
Die natürliche Selektion funktioniert, weil sie eine additive
Einbahnstraße in Richtung der Verbesserung ist. Nur damit sie
in Gang kommt, ist ein Glücksfall nötig, und dieses Glück wird
durch das anthropische Prinzip der »Milliarden Planeten« ga-
rantiert. Vielleicht war das Glück auch bei einigen späteren
Evolutionslücken von Bedeutung, und auch hier lässt es sich
anthropisch rechtfertigen. Aber was wir auch sonst vielleicht
sagen, Gestaltung funktioniert als Erklärung für das Lebendige
sicher nicht, denn Gestaltung ist letztlich nicht additiv, und
deshalb wirft sie mehr Fragen auf, als sie beantwortet - sie bringt
uns geradewegs zurück zur unendlichen Regression (siehe den
Abschnitt über die Boeing 747).
Wie befinden uns auf einem Planeten, der unsere Art von
Leben begünstigt, und wir haben zwei Gründe kennen gelernt,
warum das so ist. Erstens hat sich das Leben im Laufe seiner
Evolution so entwickelt, dass es unter den Bedingungen, die
dieser Planet bietet, gedeihen kann. Das liegt an der natürli-
chen Selektion. Der zweite Grund ist anthropischer Natur. Es
gibt im Universum Milliarden von Planeten, und ganz gleich,
wie klein der Anteil der evolutionsfreundlichen Welten unter
ihnen auch sein mag, unsere Erde muss zwangsläufig dazu-
gehören. Jetzt ist es an der Zeit, das anthropische Prinzip zu
einem früheren Stadium zurückzuverfolgen. Kehren wir von
der Biologie zurück zur Kosmologie.
198
Das anthropische Prinzip: die kosmologischeVersion
* „Vermutlich« sage ich, weil wir einerseits nicht wissen, wie stark sich fremde Lebens-
formen von uns unterscheiden könnten, und weil wir andererseits möglicherweise
auch einen Fehler machen, wenn wir nur fragen, wie sich die Änderung einer einzigen
Konstante auswirkt. Könnte es für die Größe der sechs Zahlen andere Kombinationen
geben, die sich als lebensfreundlich erweisen, was wir aber nicht bemerken, wenn wir
jeweils nur eine Zahl betrachten? Dennoch werde ich im weiteren Verlauf der Ein-
fachheit halber davon ausgehen, dass sich die offenkundige Feinabstimmung der sechs
Grundkonstanten nur sehr schwer erklären lässt.
199
wandelt wird, wenn Wasserstoffatome zu Helium verschmel-
zen. Diese Zahl hat in unserem Universum den Wert 0,007,
und allem Anschein nach muss sie auch sehr nahe bei diesem
Wert liegen, damit es überhaupt eine Chemie geben kann (die
ihrerseits die Vorbedingung für Leben ist).
Chemie, wie wir sie kennen, besteht aus der Kombination
und Neukombination der rund neunzig natürlich vorkommen-
den Elemente des Periodensystems. Das einfachste und am wei-
testen verbreitete dieser Elemente ist der Wasserstoff. Aus ihm
entstehen letztlich durch Kernverschmelzung alle anderen Ele-
mente im Universum. Die Kernverschmelzung oder Kernfusion
ist ein schwieriger Vorgang, der sich in der ungeheuren Hitze im
Inneren der Sterne (und auch in der Wasserstoffbombe) ab-
spielt. In relativ kleinen Sternen wie unserer Sonne entstehen
dabei nur leichte Elemente wie das Helium, das im Perioden-
system mit seinem einfachen Aufbau an zweiter Stelle hinter
dem Wasserstoff steht. Die hohen Temperaturen, die zum Zu-
sammenbau der meisten schweren Elemente erforderlich sind,
werden nur in größeren, heißeren Sternen erreicht; dort läuft
eine ganze Kaskade von Kernfusionsprozessen ab, deren Einzel-
heiten von Fred Hoyle und zwei seiner Kollegen aufgeklärt wur-
den (eine Leistung, für die Hoyle rätselhafterweise im Gegensatz
zu den beiden anderen keinen Anteil am Nobelpreis erhielt).
Diese großen Sterne können als Supernovae explodieren, sodass
sich ihr Material einschließlich der Elemente des Periodensys-
tems auf kosmische Staubwolken verteilt. Die Staubwolken
kondensieren irgendwann zu neuen Sternen und Planeten, da-
runter auch zu unserem eigenen. Das ist der Grund, warum die
Erde reich an Elementen ist, die schwerer und größer sind als
der allgegenwärtige Wasserstoff - Elemente, ohne die Chemie
und damit auch Leben nicht möglich wären.
Für unseren Zusammenhang ist dabei entscheidend, dass der
Zahlenwert der starken Wechselwirkung darüber bestimmt,
wie weit hinauf im Periodensystem die Fusionskaskade reicht.
200
Wäre er zu klein - beispielsweise 0,006 statt 0,007 -, würde
das Universum nichts anderes enthalten als Wasserstoff, und es
könnte keine interessante Chemie entstehen. Wäre er aber mit
0,008 zu groß, wären alle Wasserstoffatome zu schwereren
Elementen verschmolzen. Und in einer Chemie ohne Wasser-
stoff wäre Leben, wie wir es kennen, ebenfalls nicht möglich.
Vor allem gäbe es dann nämlich kein Wasser. Der Goldilocks-
Wert 0,007 ist genau der Richtige und macht die Vielfalt der
Elemente möglich, die wir für eine interessante, lebensfreund-
liche Chemie benötigen.
Rees’ übrige fünf Zahlen möchte ich hier nicht genauer be-
trachten. Die Aussage ist unter dem Strich immer die Gleiche.
Der tatsächliche Zahlenwert liegt in einem Goldilocks-
Bereich, und außerhalb davon wäre Leben nicht möglich. Was
sollen wir davon halten? Auch hier haben wir auf der einen
Seite die theistische und auf der anderen die anthropische Ant-
wort. Der Theist sagt: Als Gott das Universum einrichtete,
stimmte er die physikalischen Konstanten so ab, dass sie in der
Goldilocks-Zone lagen und Leben möglich machten. Es ist, als
hätte Gott sechs Knöpfe, an denen er drehen kann, und er
stellte jeden Knopf sorgfältig auf den Goldilocks-Wert ein. Eine
solche theistische Antwort ist wie immer zutiefst unbefriedi-
gend, weil sie die Existenz Gottes unerklärt lässt. Ein Gott, der
die Goldilocks-Werte für die sechs Zahlen ausrechnen kann,
muss mindestens ebenso unwahrscheinlich sein wie die fein
abgestimmte Zahlenkombination selbst, und die ist tatsächlich
sehr unwahrscheinlich - von dieser Voraussetzung waren wir
hier in unserer ganzen Erörterung ausgegangen. Demnach
bringt uns die theistische Antwort, was die Lösung des ange-
sprochenen Problems angeht, keinen Schritt voran. Ich sehe
keine andere Möglichkeit, als sie zu verwerfen, aber gleichzei-
tig staune ich darüber, wie viele Menschen das Problem über-
haupt nicht erkennen und sich mit dem Argument des »göttli-
chen Knöpfedrehers« zufriedengeben.
201
Die psychologischen Gründe für diese verblüffende Blind-
heit haben vielleicht damit zu tun, dass viele Menschen ihr Be-
wusstsein anders als die Biologen nicht durch die Beschäfti-
gung mit der natürlichen Selektion und ihrer Fähigkeit zur
Zähmung des Unwahrscheinlichen erweitert haben. J. Ander-
son Thomson wies mich aus seiner Perspektive als evolutions-
orientierter Psychiater noch auf einen weiteren Grund hin: Wir
alle haben die psychologische Neigung, unbelebte Gegen-
stände als handelnde Agenten zu personifizieren. Oder, wie
Thomson es formuliert: Wir halten eher einen Schatten für
einen Einbrecher als einen Einbrecher für einen Schatten. Eine
falsch-positive Interpretation ist unter Umständen Zeitvergeu-
dung, eine falsch-negative jedoch kann tödlich sein. In einem
Brief an mich äußerte er die Vermutung, in unserer Entwick-
lungsgeschichte könne die größte umweltbedingte Herausfor-
derung für unsere Vorfahren von ihnen selbst ausgegangen
sein. »Unser Erbe besteht darin, dass wir automatisch eine
menschliche Absicht unterstellen und uns häufig davor fürch-
ten. Wir haben große Schwierigkeiten, irgendetwas als nicht
von Menschen verursacht zu betrachten.« Dies haben wir dann
natürlich in verallgemeinerter Form auch auf göttliche Absich-
ten übertragen. Auf die fatale Attraktion von »Agenten« werde
ich im fünften Kapitel zurückkommen.
Biologen sind sich stärker als andere bewusst, wie gut man
mit der natürlichen Selektion die Entwicklung unwahrschein-
licher Dinge erklären kann, und deshalb geben sie sich in der
Regel nicht mit einer Theorie zufrieden, die dem Problem der
Unwahrscheinlichkeit völlig aus dem Weg geht. Und die theis-
tische Antwort auf das Unwahrscheinlichkeitsrätsel ist eine
Ausflucht ungeheuren Ausmaßes. Sie ist nicht nur eine Neu-
formulierung des Problems, sondern sie verschärft es noch auf
geradezu groteske Weise. Wenden wir uns deshalb der anthro-
pischen Alternative zu.
In ihrer allgemeinsten Form lautet die anthropische Ant-
202
wort: Wirkönnen die Frage überhaupt nur in einem Universum
erörtern, das uns Menschen hervorbringen konnte. Unsere Exis-
tenz bedingt also, dass die physikalischen Grundkonstanten je-
weils in ihrer Goldilocks-Zone liegen müssen. Dabei machen
sich einzelne Physiker für die Erklärung des Rätsels unserer
Existenz unterschiedliche Spielarten dieser anthropischen Ant-
wort zu eigen.
Hartgesottene Physiker sagen, die sechs Knöpfe seien von
vornherein überhaupt nicht drehbar gewesen. Wenn wir eines
Tages die lang ersehnte physikalische Einheitstheorie für alles
haben, wird sich herausstellen, dass die sechs Zahlen voneinan-
der oder von etwas bisher Unbekanntem abhängen, und zwar
auf eine Weise, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.
Vielleicht stellt sich dann heraus, dass die sechs Zahlen ebenso
wenig schwanken können wie das Verhältnis von Umfang und
Durchmesser eines Kreises. Es wird sich zeigen, dass ein Uni-
versum nur auf eine einzige Art und Weise existieren kann. Wir
brauchen keinen Gott, der an den Knöpfen dreht, weil es die
Knöpfe überhaupt nicht gibt.
Andere Physiker, unter ihnen auch Martin Rees, finden eine
solche Antwort unbefriedigend, und ich stimme darin mit ih-
nen überein. Dass ein Universum nur auf eine Art und Weise
existieren kann, ist ganz und gar plausibel. Aber warum war es
gerade diese eine Art und Weise, die alle Voraussetzungen für
unsere Evolution schuf? Warum musste es gerade ein Univer-
sum sein, das »gewusst haben muss, dass wir kommen«, wie es
der theoretische Physiker Freeman Dyson formulierte? Der
Philosoph John Leslie nennt als Analogie einen Häftling, der
zum Tod durch ein Exekutionskommando verurteilt wird. Nun
kann man sich vorstellen, dass alle zehn Mann des Erschie-
ßungskommandos ihr Ziel verfehlen. Im Rückblick kann der
Überlebende dann über sein Glück nachdenken und fröhlich
sagen: »Nun ja, natürlich mussten sie danebenschießen, sonst
könnte ich mir jetzt keine Gedanken darüber machen.« Aber
203
man kann es ihm sicher nachsehen, wenn er sich dennoch fragt,
warum keiner getroffen hat, und dann die Hypothese in Erwä-
gung zieht, dass alle bestochen oder betrunken waren.
Diesen Einwand kann man mit einem Gedanken beantwor-
ten, den auch Martin Rees selbst unterstützt: Danach gibt es
viele Universen, die nebeneinander existieren wie die Blasen
im Schaum und die ein »Multiversum« bilden (oder ein »Mega-
versum«, wie Leonard Susskind es lieber nennt).* Die Gesetze
und Konstanten in jedem einzelnen Universum —auch in dem,
das wir beobachten können - sind demnach nur dort gültig,
und das Megaversum als Ganzes besitzt eine Fülle unter-
schiedlicher Systeme solcher Gesetzmäßigkeiten. Das anthro-
pische Prinzip erklärt dann, dass wir uns in einem jener Uni-
versen (die vermutlich eine Minderheit bilden) befinden müs-
sen, deren Gesetze zufällig gerade die Voraussetzungen für die
spätere Evolution schufen und damit das Nachdenken über das
Problem ermöglichten.
Eine faszinierende Version dieser Multiversum-Theorie er-
gibt sich, wenn man über das endgültige Schicksal unseres
Universums nachdenkt. Je nachdem, welchen Wert Zahlen wie
die sechs Konstanten von Martin Rees haben, wird unser Uni-
versum sich entweder unendlich weit ausdehnen, oder es sta-
bilisiert sich irgendwann in einem Gleichgewichtszustand,
oder die Expansion kehrt sich letztendlich um und wird zu
einer Schrumpfung, an deren Ende der sogenannte »große Zu-
sammenbruch« oder »Big Crunch« steht. In manchen Modellen
folgt auf den »Big Crunch« wiederum eine Expansion und so
immer weiter, wobei ein Zyklus etwa zwanzig Milliarden Jahre
dauert. Nach dem Standardmodell unseres Universums ent-
*
Susskind 2006 vertritt auf großartige Weise das anthropische Prinzip im Megaver-
sum. Nach seinen Angaben haben die meisten Physiker etwas gegen diese Idee. Ich
verstehe nicht, warum. In meinen Augen ist sie von großer Schönheit - was ich viel-
leicht nur deshalb erkennen kann, weil mein Bewusstsein durch Darwin erweitert
wurde.
204
stand vor 13 Milliarden Jahren mit dem Urknall nicht nur der
Raum, sondern auch die Zeit. Das Modell der aufeinander fol-
genden großen Zusammenbrüche würde diese Vorstellung er-
weitern: Unser Raum und unsere Zeit begannen tatsächlich
mit dem Urknall, aber der war nur der bislang letzte in einer
langen Reihe von Urknallen, die jeweils nach dem Ende des
vorherigen Universums durch einen »Big Crunch« in Gang ge-
setzt wurden. Was sich in den Singularitäten des Urknalls ab-
spielt, weiß niemand, und es ist durchaus vorstellbar, dass dabei
jedes Mal auch die physikalischen Gesetze und Konstanten auf
neue Werte eingestellt werden. Wenn der Kreislauf aus Ur-
knall, Ausdehnung, Schrumpfung und Zusammenbruch im-
mer wieder wie ein kosmisches Akkordeon abläuft, haben wir
es nicht mit einer parallelen, sondern mit einer seriellen Form
des Multiversums zu tun. Auch hier wird das anthropische
Prinzip seiner Erklärungsfunktion gerecht. Unter allen Univer-
sen in der Reihe sind die Zahlen nur bei einer Minderheit so
eingestellt, dass sie Leben ermöglichen. Und natürlich muss
unser derzeitiges Universum zu dieser Minderheit gehören, denn
wir existieren darin. Mittlerweile gilt diese serielle Version des
Multiversums als weniger wahrscheinlich, denn neuere Be-
funde führen vom Modell des »Big Crunch« weg. Heute sieht
es eher danach aus, als würde unser Universum sich für alle
Zeiten weiter ausdehnen. °
Lee Smolin, auch er theoretischer Physiker, entwickelte eine
verblüffend darwinistische Variante der Multiversumtheorie,
die sowohl serielle als auch parallele Elemente enthält. Seine
Ideen legt er in dem Buch The Lifeofthe Cosmos (Warum gibt es
die Welt?) dar. Dreh- und Angelpunkt ist für ihn die Theorie,
dass Tochteruniversen aus Elternuniversen geboren werden,
und zwar nicht durch einen richtigen »Big Crunch«, sondern
eher lokal in schwarzen Löchern. Smolin bezieht auch eine Art
Vererbung mit ein: Die grundlegenden Konstanten eines Toch-
teruniversums sind gegenüber denen seines Elternuniversums
205
geringfügig »mutiert«. Vererbung ist der entscheidende Be-
standteil der Darwin’schen natürlichen Selektion, und auch in
Smolins Theorie ergibt sich der Rest ganz von selbst. Univer-
sen, die aufgrund ihrer Eigenschaften »überleben« und »sich
fortpflanzen«, gewinnen im Multiversum die Oberhand. Zu
diesen notwendigen Eigenschaften gehört auch, dass sie lange
genug erhalten bleiben, um sich »fortpflanzen« zu können. Da
die Fortpflanzung selbst in schwarzen Löchern stattfindet,
müssen erfolgreiche Universen die Voraussetzungen für die
Entstehung schwarzer Löcher bieten. Diese Fähigkeit schließt
mehrere weitere Eigenschaften ein. Eine Voraussetzung für die
Entstehung schwarzer Löcher ist beispielsweise die Fähigkeit
der Materie, zu Wolken und dann zu Sternen zu kondensieren.
Und die Sterne sind, wie wir bereits erfahren haben, auch die
Vorläufer in der Entwicklung interessanter chemischer Vor-
gänge - und damit des Lebens. Demnach, so Smolins Vermu-
tung, hat unter den Universen im Multiversum eine Darwin’sche
natürliche Selektion stattgefunden, die direkt die Fähigkeit
zum Hervorbringen schwarzer Löcher und indirekt die Entste-
hung des Lebens begünstigte. Nicht alle Physiker sind von Smo-
lins Ideen begeistert, aber der Physiknobelpreisträger Murray
Gell-Mann soll gesagt haben: »Smolin? Ist das nicht der junge
Bursche mit den verrückten Ideen? Er hat vielleicht nicht Un-
recht.«’* Ein boshafter Biologe würde sich unter Umständen
fragen, ob nicht auch manchen anderen Physikern ein wenig
darwinistische Bewusstseinserweiterung gut täte. |
Allerdings sind auch viele Autoren auf den verlockenden Ge-
danken gekommen, dass eine ganze Sammlung von Universen
zu postulieren möglicherweise ein Luxus sei, den man sich nicht
gestatten sollte. Wenn wir die exotische Vorstellung von einem
Multiversum zulassen, so die Argumentation, können wir den
ganzen Zirkus auch lassen und uns gleich für Gott entscheiden.
Sind nicht beide gleichermaßen verschwenderische, zusammen-
gestoppelte Hypothesen, und sind sie nicht gleichermaßen un-
206
befriedigend? Indes, wer so denkt, hat sein Bewusstsein noch
nicht durch Gedanken an die natürliche Selektion erweitert.
Der wichtigste Unterschied zwischen der wirklich weit herge-
holten Gotteshypothese und der scheinbar weit hergeholten
Hypothese vom Multiversum liegt in der statistischen Unwahr-
scheinlichkeit. Das Multiversum ist bei aller Exotik einfach.
Gott oder jedes intelligente Agens, das Berechnungen vornimmt
und Entscheidungen trifft, muss dagegen höchst unwahrschein-
lich sein - unwahrscheinlich in demselben statistischen Sinn
wie die Gebilde, die es angeblich erklärt. Das Multiversum mag
exotisch erscheinen, was die schiere Zahl der Universen betrifft.
Aber jedes dieser Universen ist in seinen Grundgesetzen ein-
fach —das heißt, wir postulieren nichts, was höchst unwahr-
scheinlich wäre. Über jede Art von Intelligenz indes müsste
man genau das Gegenteil sagen.
Manche Physiker sind bekanntermaßen religiös —als Bei-
spiele aus Großbritannien habe ich Russell Stannard und den
Reverend John Polkinghorne erwähnt. Wie nicht anders zu er-
warten, berufen sie sich darauf, wie unwahrscheinlich es ist,
dass alle physikalischen Konstanten auf ihre mehr oder weniger
schmale Goldilocks-Zone abgestimmt sind; demnach, so ihre
Vermutung, muss es eine kosmische Intelligenz geben, welche
die Abstimmung vorgenommen hat. Ich habe bereits dargelegt,
warum alle diese Gedanken mehr Probleme aufwerfen, als sie
lösen. Aber mit welchen Antworten haben sich die Theisten
bemüht, darauf zu reagieren? Was sagen sie zu dem Argument,
dass jeder Gott, der ein sorgfältig, weitsichtig abgestimmtes
Universum gestalten kann und so die Voraussetzungen für un-
sere Evolution schafft, ein höchst komplexes, unwahrscheinli-
ches Etwas sein muss und demnach noch schwieriger zu er-
klären ist als die Dinge, für die er eine Erklärung sein soll?
Wie Sie mittlerweile vielleicht schon ahnen, glaubt der
Theologe Richard Swinburne, er habe eine Antwort auf diese
Frage, und die legt er in seinem Buch Is There a God? (Gibt es
207
einen Gott?) dar. Zunächst zeigt er, dass er das Herz am rechten
Fleck hat: Er weist überzeugend nach, warum wir uns immer
für die einfachste Hypothese entscheiden sollten, die zu den
Tatsachen passt. Die Naturwissenschaft erklärt komplexe
Dinge mit den Wechselbeziehungen zwischen einfacheren
Dingen, letztlich also mit den Interaktionen der Elementarteil-
chen. Ich (und ich wage zu sagen: auch jeder andere) halte es
für einen großartig einfachen Gedanken, dass alle Dinge aus
Grundbausteinen bestehen, die zwar äußerst zahlreich sind,
aber alle zu einer kleinen, endlichen Gruppe von Teilchentypen
gehören. Wenn wir skeptisch sind, dann wahrscheinlich des-
halb, weil wir diese Idee für zu einfach halten. Aber für Swin-
burne ist sie überhaupt nicht einfach - ganz im Gegenteil.
Angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Teilchen eines
Typs - beispielsweise der Elektronen - so groß ist, kann es nach
Swinburnes Ansicht kein Zufall sein, dass so viele von ihnen die
gleichen Eigenschaften haben. Ein Elektron, das könnte er noch
verkraften. Aber Milliarden und Abermilliarden Elektronen,
alle mit den gleichen Eigenschaften, das erregt sein ungläubiges
Kopfschütteln. Für ihn wäre es einfacher, natürlicher, weniger
erklärungsbedürftig, wenn alle Elektronen sich voneinander
unterscheiden würden. Und was noch schlimmer ist: In seinen
Augen dürfte eigentlich kein Elektron seine Eigenschaften län-
ger als einen kurzen Augenblick beibehalten; jedes Teilchen
sollte sich von einem Augenblick zum nächsten launisch, zu-
fällig und flüchtig verändern. So sieht nach Swinburnes An-
sicht der einfache, ursprüngliche Stand der Dinge aus. Alles,
was einheitlicher (Sie oder ich würden sagen: einfacher) ist,
verlangt nach einer besonderen Erklärung: »Die Dinge sind nur
deshalb jetzt so,wie sie sind, weil Elektronen und Kupferstücke
und alle anderen materiellen Gegenstände im 21. Jahrhundert
die gleichen Kräfte wie im 19. Jahrhundert haben.«
An dieser Stelle kommt Gott ins Spiel. Gott bringt die Ret-
tung, weil er die Eigenschaften der Abermilliarden Elektro-
208
nen und Kupferstücke absichtlich und ständig aufrechterhält,
womit er die Neigung zu wilden, zufälligen Schwankungen,
die ihnen eigentlich innewohnt, unwirksam macht. Deshalb
wissen wir über alle Elektronen Bescheid, wenn wir eines ge-
sehen haben; deshalb verhalten sich Kupferstücke immer wie
Kupferstücke, und jedes Elektron und jedes Kupferstück
bleibt von Mikrosekunde zu Mikrosekunde wie auch von
Jahrhundert zu Jahrhundert gleich. Es liegt nur daran, dass
Gott ständig seine Finger aufjedes einzelne Teilchen hält, des-
sen freche Unbotmäßigkeiten in die Schranken weist und es
mit seinen Kollegen in eine Reihe zwingt, sodass sie alle im-
mer gleich sind.
Aber wie kann Swinburne behaupten, diese Hypothese, der
zufolge Gott seine Quadrillionen Finger auf unzählige Elektro-
nen hält, sei einfach? Sie ist natürlich genau das Gegenteil von
einfach. Swinburne bewerkstelligt das Kunststück zu seiner eige-
nen Zufriedenheit mit einem atemberaubenden Akt der intel-
lektuellen Unverfrorenheit. Er behauptet ohne jede Begrün-
dung, Gott sei nur eine einzige Substanz. Welch hervorragend
sparsame Ursachenerklärung im Vergleich zu dem Gedanken,
die unzähligen unabhängigen Elektronen seien rein zufällig alle
gleich!
209
kann alles logisch Mögliche tun), unendliches Wissen (Gott
weiß alles,was zu wissen logisch möglich ist) und unendliche
Freiheit. ’°
210
findet sich allerdings auch in anderen modernen theologischen
Schriften. Sehr entschieden äußerte sich beispielsweise Keith
Ward, damals Regius Professor of Divinity in Oxford, in seinem
1996 erschienenen Buch God, Chance and Necessity (»Gott,
Zufall und Notwendigkeite):
211
er eine ganz bestimmte Art der funktionellen Unteilbarkeit
meinte.’
An anderer Stelle lässt Ward erkennen, wie schwer es dem
theologischen Geist fällt, zu begreifen, wie es zur Komplexität
des Lebendigen kommt. Er zitiert den Biochemiker Arthur
Peacocke, einen weiteren Theologen und Naturwissenschaftler
(den dritten in meinem Trio der religiösen britischen Naturwis-
senschaftler), mit der Behauptung, lebende Materie habe eine
»Neigung zu zunehmender Komplexität«. Ward versteht darun-
ter »eine gewisse Gewichtung des entwicklungsgeschichtlichen
Wandels, welche die Komplexität begünstigt«. Im weiteren Ver-
lauf äußert er die Vermutung, ein solches Ungleichgewicht
könne »eine Gewichtung des Mutationsprozesses sein, die dafür
sorgt, dass immer komplexere Mutationen entstehen«. Ward ist
gegenüber dieser Vermutung skeptisch, und das sollten auch
wir sein. Der Evolutionstrend in Richtung zunehmender Kom-
plexität erwächst in den Abstammungslinien, in denen er über-
haupt vorhanden ist, weder aus einer inneren Neigung zur
Komplexität noch aus einem Ungleichgewicht der Mutationen.
Seine Triebkraft ist vielmehr die natürliche Selektion, jener Pro-
zess, der nach heutiger Kenntnis als Einziger letztlich in der
Lage ist, Komplexität aus Einfachem entstehen zu lassen. Die
Theorie der natürlichen Selektion ist wirklich einfach. Ebenso
einfach ist ihr Ausgangspunkt. Was sie andererseits erklärt, ist
über alle Maßen komplex —komplexer als alles, was wir uns
vorstellen können, aber immer noch nicht so komplex wie ein
Gott, der in der Lage sein soll, diese Komplexität zu gestalten.
Zwischenspiel in Cambridge
212
dergegeben habe. Dabei stieß ich, gelinde gesagt, auf aufrich-
tige Unfähigkeit, in der Frage nach Gottes Einfachheit eine ge-
meinsame geistige Grundlage herzustellen. Es war ein auf-
schlussreiches Erlebnis, und deshalb möchte ich gern darüber
berichten.
Zunächst sollte ich beichten (das ist vermutlich das richtige
Wort), dass die Tagung von der Templeton Foundation finanziert
wurde. Das Publikum bestand aus einer geringen Zahl handver-
lesener Wissenschaftsjournalisten aus Großbritannien und den
Vereinigten Staaten. Unter den achtzehn eingeladenen Vortra-
genden war ich der Vorzeigeatheist. Nach Angaben des Journalis-
ten John Horgan hatte jeder Zuhörer zusätzlich zu allen Spesen
die hübsche Summe von 15 000 Dollar erhalten, damit er an der
Konferenz teilnahm. Darüber wunderte ich mich. Aus meiner
langjährigen Erfahrung mit wissenschaftlichen Konferenzen war
mir kein Fall bekannt, in dem das Publikum (im Gegensatz zu
den Vortragenden) ein Honorar für die Teilnahme bekam. Hätte
ich das gewusst, wäre ich sofort misstrauisch geworden. Wollte
Templeton mit dem Geld die Journalisten bestechen und ihre
wissenschaftliche Integrität untergraben? John Horgan stellte
später die gleiche Frage und schrieb über die ganze Veranstal-
tung einen Artikel. Darin enthüllte er etwas, das ich sehr bedau-
erte. Die Ankündigung, dass ich einen Vortrag halten würde,
hatte bei ihm und anderen die Zweifel zerstreut:
213
Horgans Artikel selbst ist von liebenswürdiger Zweideutigkeit.
Trotz seiner Befürchtungen wusste er manche Aspekte der Ver-
anstaltung durchaus zu schätzen (und mir ging es, wie im Fol-
genden noch deutlich werden wird, genauso). Horgan schrieb:
214
Würde nicht ein atheistischer Naturwissenschaftler genau das
sagen, wenn er sich christlich anhören wollte? Ich zitierte noch
weitere Passagen aus Dysons Preisvortrag und fügte (in kursiv
gekennzeichneter Rollenprosa) satirisch-imaginäre Fragen an
einen Templeton-Funktionär ein:
215
Anreiz, den man den Journalisten in Cambridge geboten hatte,
und der Preis wurde ausdrücklich so angelegt, dass die Dotie-
rung höher ist als beim Nobelpreis. In einer faustischen Stim-
mung sagte mein Freund, der Philosoph Daniel Dennett, einmal
im Scherz zu mir: »Also Richard, wenn es dir irgendwann mal
schlecht gehen sollte ...«
Wie dem auch sei, ich nahm zwei Tage lang an der Konferenz
in Cambridge teil, hielt selbst einen Vortrag und beteiligte
mich an den Diskussionen zu mehreren anderen Beiträgen. Die
Theologen fragte ich nach ihrer Antwort auf meine Aussage,
dass ein Gott, der ein Universum oder irgendetwas anderes ge-
stalten könne, komplex und damit statistisch unwahrscheinlich
sein müsse. Die energischste Erwiderung lautete jedoch, ich
würde der Theologie gegen ihren Willen eine naturwissen-
schaftliche Erkenntnistheorie überstülpen.* Die Theologen
hätten Gott immer als einfach definiert. Was ich, der Natur-
wissenschaftler, mir denn herausnähme, den Theologen vor-
schreiben zu wollen, dass ihr Gott komplex sein müsse? Na-
turwissenschaftliche Argumente, an deren Anwendung ich aus
meinem eigenen Fachgebiet gewohnt sei, eigneten sich hier
eben nicht, denn die Theologen hätten schon immer gesagt,
dass Gott außerhalb der Naturwissenschaft angesiedelt sei.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Theologen, die diese
ausweichende Abwehrposition aufbauten, absichtlich unehr-
lich waren. Nein, ich hielt sie für aufrichtig. Gleichwohl wurde
ich unweigerlich an Peter Medawars Kommentar zu dem Buch
Der Mensch im Kosmos von Pater Teilhard de Chardin erinnert -
den vielleicht großartigsten Verriss aller Zeiten: »Man kann
dem Autor seine Unehrlichkeit nur deshalb nachsehen, weil er
andere erst täuschen konnte, nachdem er große Mühe darauf
verwendet hatte, sich selbst zu täuschen.«’” Bei meiner Diskus-
* Dieser Vorwurf erinnert an NOMA, mit deren überzogenen Behauptungen ich mich
in Kapitel 2 beschäftigt habe.
216
sion in Cambridge begaben sich die Theologen per definitionem
in eine erkenntnistheoretische Schutzzone, in der man sie mit
vernünftigen Argumenten nicht mehr erreichen konnte, weil
sie kategorisch erklärt hatten, dass dies nicht möglich sei. Wer
war ich denn, dass ich behauptete, rationale Argumente seien
die einzig zulässige Art von Argumenten? Neben naturwissen-
schaftlichen Kenntnissen gebe es eben noch andere Arten des
Wissens, und eine davon müsse man anwenden, um Gott ken-
nen zu lernen.
Wie sich dann herausstellte, war die wichtigste dieser ande-
ren Arten von Wissen die persönliche, subjektive Gotteserfah-
rung. In Cambridge behaupteten mehrere Diskussionsteilneh-
mer, Gott habe innerlich zu ihnen gesprochen, und zwar ebenso
lebhaft und persönlich wie ein anderer Mensch. Mit Illusionen
und Halluzinationen (dem »Argument des persönlichen Erleb-
nisses«) habe ich mich bereits in Kapitel 3 befasst, aber auf der
Tagung in Cambridge fügte ich noch zwei weitere Punkte an.
Erstens: Wenn Gott den Menschen tatsächlich etwas mitteilt,
liegt diese Tatsache ganz eindeutig nicht außerhalb der Natur-
wissenschaft. Gott platzt aus seinem wie auch immer gearteten
außerweltlichen Revier, das sein gewöhnlicher Aufenthaltsort
ist, in unsere Welt, wo seine Mitteilungen von menschlichen
Gehirnen aufgenommen werden können - und dieses Phäno-
men soll nichts mit Wissenschaft zu tun haben? Und zweitens:
Ein Gott, der an Millionen Menschen zur gleichen Zeit ver-
ständliche Signale sendet und von allen gleichzeitig Signale
empfängt, kann bei allen Eigenschaften, die er sonst noch be-
sitzt, nicht einfach sein. Was für eine Bandbreite! Gott hat viel-
leicht weder ein Gehirn aus Nervenzellen noch einen Prozes-
sor aus Silizium, aber wenn er über die Fähigkeiten verfügt, die
ihm zugeschrieben werden, muss er etwas weitaus Raffinierte-
res und nicht zufällig Konstruiertes besitzen als das größte Ge-
hirn oder die größten Computer, die wir kennen.
Immer und immer wieder kamen meine theologischen
217
Freunde auf den Punkt zurück, dass es einen Grund haben
müsse, warum es etwas und nicht nichts gibt. Alles müsse eine
erste Ursache haben, und die könnten wir genauso gut als Gott
bezeichnen. Ja, erwiderte ich, aber diese Ursache muss einfach
sein, und wie wir sie auch nennen, Gott ist dafür kein ange-
messener Name (es sei denn, wir befreien ihn ganz bewusst
von dem ganzen Ballast, den das Wort »Gott« in den Köpfen
der meisten Gläubigen mit sich herumschleppt). Die erste
Ursache, nach der wir suchen, muss das einfache Fundament
für eine »Kran-Konstruktion« sein, die sich selbst aufbaut und
schließlich jene Welt errichtet, die wir mit ihrer heutigen kom-
plexen Existenz kennen. Die Vorstellung, der ursprüngliche
erste Beweger sei so kompliziert gewesen, dass er intelligente
Gestaltung vollbringen konnte - ganz zu schweigen vom gleich-
zeitigen Gedankenlesen bei Millionen Menschen -, ist gleich-
bedeutend mit der Idee, man würde sich selbst beim Bridge ein
perfektes Blatt geben.
Sehen wir uns um in der Welt des Lebendigen, im Amazo-
nasregenwald mit seinem Gewirr aus Lianen, Bromelien, Luft-
und Brettwurzeln, mit seinen Heerscharen von Ameisen, mit
Jaguaren, Pekaris, Baumfröschen und Papageien. Was wir dort
sehen, ist die statistische Entsprechung zu einem perfekten
Blatt beim Kartenspiel (man denke nur daran, auf wie viele Ar-
ten man die Einzelteile austauschen könnte, und nichts davon
würde funktionieren), aber hier wissen wir, wie sie zustande
gekommen ist: durch den langsam arbeitenden Kran der natür-
lichen Selektion. Nicht nur Wissenschaftler protestieren gegen
die stillschweigende Annahme, etwas so Unwahrscheinliches
könne von selbst entstanden sein; auch der gesunde Menschen-
verstand stellt sich quer. Mit der Vorstellung, die erste Ursache,
der große Unbekannte, der dafür gesorgt hat, dass es etwas statt
nichts gibt, könne das Universum gezielt gestalten und zu Mil-
lionen Menschen gleichzeitig sprechen, entzieht man sich völ-
lig der Verantwortung, eine Erklärung zu finden. Es ist die ent-
218
setzliche Zurschaustellung einer selbstzufriedenen, das Den-
ken leugnenden Wundergläubigkeit.
Ich vertrete hier keine engstirnig-naturwissenschaftliche
Denkweise. Aber wer ehrlich nach der Wahrheit sucht, muss
sich zumindest daranmachen, so ungeheuer unwahrscheinliche
Phänomene wie einen Regenwald oder ein Korallenriff mit
einem Kran und nicht mit einem Himmelshaken zu erklären.
Bei dem Kran muss es sich nicht unbedingt um die natürliche
Selektion handeln. Zwar ist bisher noch niemand auf einen
besseren gestoßen, aber es könnte andere geben, die noch nicht
entdeckt worden sind. Vielleicht erweist sich die »Inflation«,
die in der Physik für den ersten winzigen Sekundenbruchteil
im Dasein des Universums postuliert wird, bei genauerer Un-
tersuchung als kosmologischer Kran, der neben Darwins biolo-
gischem Kran bestehen kann. Vielleicht handelt es sich bei dem
schwer fassbaren Kran, nach dem die Kosmologen suchen, aber
auch um eine weitere Version von Darwins Idee - um Smolins
Modell oder etwas Ähnliches. Vielleicht ist es auch das Multi-
versum in Verbindung mit dem anthropischen Prinzip, wie
Martin Rees und andere es annehmen. Es könnte sogar ein
übermenschlicher Gestalter sein -—aber wenn es so ist, wird es
mit ziemlicher Sicherheit kein Gestalter sein, der plötzlich ins
Dasein trat oder schon immer da war. Wenn unser Universum
gezielt gestaltet wurde (was ich keine Sekunde lang glaube),
und wenn der Gestalter darüber hinaus auch unsere Gedanken
liest und allwissende Ratschläge, Vergebung und Erlösung ver-
teilt, muss dieser Gestalter selbst das Endprodukt einer additi-
ven Leiter oder eines Krans sein, vielleicht das Produkt einer
Version des Darwinismus aus einem anderen Universum.
Als meinen Kritikern in Cambridge keine andere Verteidi-
gung mehr einfiel, gingen sie zum Angriff über. Meine ganze
Weltanschauung wurde als »neunzehntes Jahrhundert« verur-
teilt. Das ist ein so schlechtes Argument, dass ich es eigentlich
gar nicht erwähnen wollte, aber leider begegnet es mir recht
219
häufig. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden:
Wer ein Argument als »neunzehntes Jahrhundert« bezeich-
net, hat damit noch nicht erklärt, was falsch daran ist. Manche
Gedanken aus dem 19. Jahrhundert, nicht zuletzt Darwins
eigene gefährliche Idee, waren sehr gut. Jedenfalls wirkte ge-
rade diese Beschimpfung besonders gewichtig, kam sie doch
von jemandem (einem angesehenen Geologen aus Cam-
bridge, der auf dem faustischen Weg zum Templeton-Preis si-
cher schon ein ganzes Stück vorangekommen war), der sich zur
Rechtfertigung seines eigenen christlichen Glaubens auf die
»Historizität des Neuen Testaments« berief, wie er es nann-
te. Gerade im 19. Jahrhundert, als man sich der Befunderhe-
bungsmethoden der Geschichtsforschung bediente, kamen
doch den Theologen, insbesondere in Deutschland, ernste
Zweifel an dieser angeblichen Historizität. Darauf machten
auch die auf der Tagung in Cambridge anwesenden Theologen
eilig aufmerksam.
Jedenfalls kenne ich den Vorwurf »neunzehntes Jahrhun-
dert« schon seit langem. Er kommt häufig zusammen mit dem
Spott über den »Dorfatheisten« und dem Vorwurf »Im Gegen-
satz zu Ihren Vorstellungen, hahaha, glauben wir nicht mehr an
einen alten Mann mit langem weißem Bart, hahaha.« Alle drei
Witze sind der verschlüsselte Ausdruck von etwas anderem,
genau wie »law and order«, das Ende der Sechzigerjahre des
20. Jahrhunderts, als ich in den Vereinigten Staaten lebte, der
Politikerausdruck für Vorurteile gegen Schwarze war.*
Welche verschlüsselte Bedeutung hat demnach »Sie kom-
men aus dem 19. Jahrhundert« im Zusammenhang einer Dis-
kussion über Religion? Im Klartext bedeutet es: »Sie sind so
grob und ungeschlacht, wie können Sie so unsensibel und
220
schlecht erzogen sein, mir eine direkte, zugespitzte Frage wie
Glauben Sie an Wunder?« oder »Glauben Sie, dass Jesus von
einer Jungfrau zur Welt gebracht wurde?: zu stellen? Wissen
Sie nicht, dass man solche Fragen in gepflegter Gesellschaft
nicht stellt? Solche Fragen waren schon im 19. Jahrhundert
aus der Mode.« Aber überlegen wir einmal, warum es unhöf-
lich ist, religiösen Menschen heute eine solche Frage zu stel-
len. Es ist peinlich! Aber das Peinliche ist die Antwort, wenn
sie Ja lautet.
Welche Verbindung dabei zum 19. Jahrhundert besteht, ist
mir nicht ganz klar. Im 19. Jahrhundert war es für einen gebil-
deten Menschen zum letzten Mal möglich, an Wunder wie die
Jungfrauengeburt zu glauben, ohne dass es peinlich gewesen
wäre. Hakt man genauer nach, so sind viele Christen auch
heute noch so loyal, dass sie Jungfrauengeburt und Auferste-
hung nicht leugnen wollen. Andererseits ist es ihnen aber pein-
lich, denn mit ihrem rationalen Verstand wissen sie, dass es ab-
surd ist. Also wollen sie lieber nicht gefragt werden. Wenn dann
jemand wie ich auf der Frage beharrt, wirft man mir vor, ich sei
»aus dem 19. Jahrhundert«. Bei genauem Nachdenken ist das
eigentlich ganz lustig.
Am Ende der Tagung war ich angeregt und energiegeladen,
hatte sie mich doch in meiner Überzeugung bestärkt, dass das
Unwahrscheinlichkeitsargument —das Spiel mit der »höchsten
Form der Boeing 747« - sehr ernsthaft gegen die Existenz
Gottes spricht. Trotz vieler Gelegenheiten und Aufforderun-
gen habe ich darauf noch von keinem Theologen eine überzeu-
gende Antwort bekommen. Dan Dennett bezeichnet dieses
Argument zu Recht als »unwiderlegbare Zurückweisung, die
heute noch genauso verheerend ist wie vor zweihundert Jah-
ren, als in Humes Dialogen Philo sein Gegenüber Cleanthes da-
mit überfuhr. Ein Himmelshaken wäre im besten Fall nur eine
Verschiebung des Problems, aber Hume konnte sich keine
Kräne vorstellen, also gab er klein bei.«°° Erst Darwin lieferte
221
den unentbehrlichen Kran, an dem Hume natürlich seine helle
Freude gehabt hätte.
222
natürliche Selektion. Darwin und seine Nachfolger haben
uns gezeigt, wie Lebewesen mit ihrer ungeheuren statisti-
schen Unwahrscheinlichkeit und ihrer scheinbaren Gestal-
tung sich langsam und allmählich aus einfachen Anfängen
heraus entwickelt haben. Heute können wir mit Sicherheit
sagen, dass die Illusion der gezielten Gestaltung von Lebe-
wesen genau das ist: eine Illusion.
223
die Menschen, Gutes zu tun? Woher sollen wir wissen, was gut
ist, wenn es keine Religion gibt? Und warum soll man über-
haupt so feindselig sein? Warum haben alle Kulturkreise der
Welt ihre Religion, wenn sie falsch ist? Ob richtig oder falsch,
Religion ist allgegenwärtig, woher also kommt sie? Dieser letz-
ten Frage wenden wir uns nun als Nächstes zu.
224
> Die Wurzeln der Religion
In der Frage, wie die Religion entstanden und warum sie in al-
len Kulturkreisen der Menschen anzutreffen ist, hat jeder seine
Lieblingstheorie. Die Religion spendet Trost und Geborgen-
heit. Sie fördert das Gemeinschaftsgefühl in Gruppen. Sie be-
friedigt unser Bestreben, zu verstehen, warum wir existieren.
Auf solche Erklärungen werde ich im Folgenden zurückkom-
men. Aber zuvor möchte ich eine andere Frage stellen, die aus
naheliegenden Gründen Vorrang hat: eine darwinistische Frage
zur natürlichen Selektion.
Wir wissen, dass wir Produkte der Darwin’schen Evolution
sind; deshalb stellt sich die Frage,welchen Druck die natürliche
Selektion ausübte, sodass die Hinwendung zur Religion begüns-
tigt wurde. Besonders drängend ist diese Frage vor dem Hinter-
grund der Überlegungen zur darwinistischen Ökonomie. Reli-
gion ist verschwenderisch und extravagant, die darwinistische
Selektion indes richtet sich gewöhnlich gegen Verschwendung
und merzt sie aus. Die Natur ist ein kleinlicher Buchhalter: Sie
dreht jeden Pfennig um, sieht auf die Uhr und bestraft jedes
225
Über-die-Stränge-Schlagen. Wie Darwin schrieb, ist die natür-
liche Zuchtwahl:
226
Gefieder entfernt werden; es gibt noch mehrere andere Hypo-
thesen, von denen jedoch keine durch eindeutige Befunde be-
legt wird. Aber solche Unsicherheiten in den Details halten
einen Darwinisten nicht davon ab, mit großer Sicherheit zu un-
terstellen, dass die Ameisenbehandlung »für« irgendetwas gut
ist. In diesem Fall dürfte der gesunde Menschenverstand es
ähnlich beurteilen, aber in der darwinistischen Logik gibt es für
solche Annahmen einen bestimmten Grund: Würden die Vö-
gel es nicht tun, hätten sie statistisch geringere Aussichten auf
genetischen Erfolg, auch wenn wir die genaue Art der Schädi-
gung noch nicht kennen. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus
zwei Voraussetzungen: Erstens bestraft die natürliche Selek-
tion jede Zeit- und Energieverschwendung, und zweitens be-
obachtet man regelmäßig, dass die Vögel Zeit und Energie auf
das »Ameisenbad« verwenden.
Wenn man dieses »Anpassungsprinzip« in einem Satz zu-
sammenfassen kann, dann so, wie es der angesehene Genetiker
Richard Lewontin von der Harvard University —zugegebener-
maßen in extremer Form und leicht übertrieben - formulierte:
»Das ist der eine Punkt, in dem sich meiner Meinung nach alle
Evolutionsforscher einig sind: Es ist praktisch unmöglich, eine
Aufgabe besser zu erfüllen als es ein Lebewesen in seiner je-
weiligen Umwelt tut.«®! Hätte das Ameisenbad keinen Nutzen
für Überleben und Fortpflanzung, dann hätte die natürliche
Selektion schon längst jene Individuen begünstigt, die es unter-
lassen. Als Darwinist ist man versucht, das Gleiche auch für die
Religion anzunehmen; deshalb ist die nachfolgende Erörterung
nötig.
Für den Evolutionsforscher sind -—mit Dan Dennetts Wor-
ten - religiöse Rituale so auffällig »wie ein Pfau auf einer son-
nenbeschienenen Lichtung«. Religiöses Verhalten ist bei den
Menschen die leicht erkennbare Entsprechung zum Ameisen-
bad oder dem Bau der Laubenvögel. Es verbraucht Zeit und
Energie und ufert oft ebenso aus wie das Gefieder eines Para-
227
diesvogels. Religion kann für das Leben eines einzelnen from-
men Menschen, aber auch für andere zur Gefahr werden. Tau-
sende von Menschen hielten an ihrer Religion fest und wur-
den deshalb gefoltert - verfolgt von Eiferern, die in vielen Fällen
einer kaum unterscheidbaren anderen Glaubensrichtung an-
gehörten. Religion frisst Ressourcen, und das manchmal in ge-
waltigem Umfang. Der Bau einer mittelalterlichen Kathedrale
erforderte zehntausend Mannjahre, und doch wurde sie nie als
Wohnung oder zu einem anderen erkennbar nützlichen Zweck
verwendet. War sie eine Art architektonischer Pfauenschwanz?
Und wenn ja, auf wen zielte die Werbung? Geistliche Musik
und Heiligenbilder vereinnahmten in Mittelalter und Renais-
sance nahezu alle Begabungen. Gläubige Menschen starben für
ihre Götter, töteten für sie; sie peitschten sich den Rücken blu-
tig, gelobten im Dienste der Religion lebenslangen Zölibat oder
einsames Schweigen. Wozu das alles? Welchen Nutzen hat
Religion?
Mit »Nutzen« meint der Darwinist in der Regel, dass die
Überlebensaussichten für die Gene eines Individuums sich ver-
bessern. Dabei bleibt aber ein wesentlicher Punkt außer Acht:
Darwinistischer Nutzen beschränkt sich nicht auf die Gene
eines einzelnen Lebewesens, sondern er kann sich auch auf ins-
gesamt drei andere Ziele richten. Eines davon ergibt sich aus
der Theorie der Gruppenselektion, auf die ich später noch
zurückkommen werde. Das zweite ist eine Folgerung aus der
Theorie, die ich in meinem Buch The Extended Phenotype (»Der
erweiterte Phänotyp«) vertreten habe: Das Individuum, das wir
beobachten, ist möglicherweise unter dem manipulativen Ein-
fluss der Gene eines anderen Individuums tätig, beispielsweise
eines Parasiten. Dennett erinnert uns daran, dass die gewöhnli-
che Erkältung unter allen Bevölkerungsgruppen der Menschen
ebenso verbreitet ist wie die Religion, und doch werden wir
nicht vermuten, dass die Erkältung uns nützt. Man kennt viele
Beispiele, in denen Tiere manipuliert werden und sich so ver-
228
halten, dass es der Übertragung eines Parasiten auf den nächs-
ten Wirtsorganismus dienlich ist. Ich habe diese Aussage in
meinem »zentralen Theorem des erweiterten Phänotyps« zu-
sammengefasst: »Das Verhalten eines Tieres sorgt in der Regel
für das bestmögliche Überleben der Gene »für<dieses Verhal-
ten, und zwar unabhängig davon, ob diese Gene zum Körper
des Tieres gehören, welches das Verhalten zeigt.«
Drittens kann man den Begriff »Gene««in diesem Theorem
auch durch den allgemeineren Begriff »Replikatoren« ersetzen.
Da Religion allgemein verbreitet ist, war sie vermutlich für ir-
gendetwas von Nutzen, aber dieses Etwas müssen nicht wir
oder unsere Gene gewesen sein. Möglicherweise diente sie nur
den religiösen Überzeugungen selbst, die sich demnach als »Re-
plikatoren« ein wenig wie Gene verhielten. Auf diesen Gedan-
ken werde ich unter der Überschrift »Bitte leise treten, Sie
trampeln auf meinen Memen herum« zurückkommen. Zunächst
möchte ich mich jedoch mit den eher traditionellen Interpre-
tationen des Darwinismus beschäftigen. Danach versteht man
unter »Nutzen« den Nutzen für Überleben und Fortpflanzung
des Individuums.
Noch heute leben manche Völker als Jäger und Sammler,
beispielsweise die Stämme der australischen Ureinwohner
(Aborigines), vermutlich in gewisser Hinsicht ähnlich wie un-
sere entfernten Vorfahren. In ihrem Leben, darauf macht der
neuseeländisch-australische Wissenschaftsphilosoph Kim Ste-
relny aufmerksam, ist ein auffälliger Kontrast zu beobachten.
Einerseits können die Aborigines unter Bedingungen, die ihre
praktischen Fähigkeiten bis zum Äußersten fordern, hervorra-
gend überleben. Aber, so Sterelny weiter, so intelligent unsere
Spezies auch sein mag, es ist eine perverse Intelligenz. Die glei-
chen Völker, die in der Natur so schlau sind und wissen, wie
man überlebt, verstopfen sich ihren Geist mit Glaubensüber-
zeugungen, die spürbar falsch sind und für die das Wort »nutz-
los« eine nachsichtige Untertreibung darstellt. Sterelny selbst
229
kennt sich besonders gut bei den Ureinwohnern von Papua-
Neuguinea aus. Diese überleben unter harten Bedingungen bei
knapper Nahrungsversorgung durch »ihre legendären genauen
Kenntnisse ihrer biologischen Umwelt. Doch diese Kenntnisse
sind bei ihnen mit besessenen, destruktiven Vorstellungen über
Hexerei und die Schmutzigkeit der weiblichen Menstruation
verbunden. Viele der lokalen Kulturkreise quälen sich mit Ängs-
ten vor Hexerei und Magie, aber auch mit der Gewalt, die sol-
che Ängste begleitet.« Daraus ergibt sich Sterelnys provozie-
rende Frage, wie Menschen »gleichzeitig so klug und so dumm
sein können«.”
Die Einzelheiten sind in den verschiedenen Regionen der
Erde unterschiedlich, aber in keiner Kultur fehlt irgendeine
Form jener zeitaufwendigen, Wohlstand verschlingenden, Feind-
seligkeiten provozierenden Rituale, jener tatsachenfeindlichen,
kontraproduktiven Fantasien der Religion. Manche gebildeten
Menschen haben sich von der Religion losgesagt, aber alle sind
in einer religiösen Kultur aufgewachsen, und in der Regel
mussten sie sich bewusst für die Loslösung entscheiden. Der
alte nordirische Scherz »Ja, aber bist du nun ein protestanti-
scher oder ein katholischer Atheist?« birgt eine bittere Wahr-
heit. Religiöses Verhalten kann man genauso als allgemein-
menschliche Eigenschaft bezeichnen wie das heterosexuelle
Verhalten. Beide Verallgemeinerungen lassen individuelle Aus-
nahmen zu, aber all diese Ausnahmen bestätigen nur allzu gut
die Regel, von der sie sich abheben. Und allgemeine Eigen-
schaften einer Spezies verlangen nach einer darwinistischen
Erklärung.
Der darwinistische Vorteil sexuellen Verhaltens liegt natür-
lich sofort auf der Hand. Es dient dazu, Babys zu produzieren,
und das sogar in Fällen, in denen das Prinzip durch Verhütung
oder Homosexualität scheinbar außer Kraft gesetzt ist. Aber
wie steht es mit dem religiösen Verhalten? Warum fasten die
Menschen, warum machen sie Kniefälle, geißeln sich, verbeu-
230
gen sich in besessenem Rhythmus vor einer Mauer, gehen auf
Kreuzzüge oder engagieren sich für andere aufwendige Tätig-
keiten, die ein ganzes Leben in Anspruch nehmen und im Ex-
tremfall auch sein Ende herbeiführen können?
231
Wirkstoffkonzentration enthalten wie die Placebokontrolle -
nämlich null Moleküle.
Nebenbei bemerkt: Die immer stärkere Einmischung von
Anwälten in den ärztlichen Tätigkeitsbereich hatte auch die
bedauerliche Nebenwirkung, dass Ärzte sich heute in der nor-
malen Praxis nicht mehr trauen, Placebos zu verschreiben.
Oder sie sind durch bürokratische Vorschriften verpflichtet,
das Placebo in schriftlichen Aufzeichnungen, zu denen der Pa-
tient Zugang hat, zu benennen - was natürlich die beabsich-
tigte Wirkung vereitelt. Homöopathen haben relativ häufig
Erfolg, weil es ihnen im Gegensatz zu den Schulmedizinern
immer noch gestattet ist, Placebos zu verabreichen - wenn auch
unter einem anderen Namen. Außerdem haben sie mehr Zeit,
sich mit dem Patienten zu unterhalten und einfach freundlich
zu sein. In der Anfangszeit ihrer langen Geschichte verbesserte
sich der Ruf der Homöopathie sogar unabsichtlich dadurch,
dass ihre Arzneien keine Wirkung hatten - im Gegensatz zu
schulmedizinischen Maßnahmen wie dem Aderlass, die echten
Schaden anrichteten.
Ist Religion ein Placebo, das den Stress vermindert und da-
durch das Leben verlängert? Möglich wäre es; allerdings muss
diese Theorie sich gegen jene Skeptiker behaupten, die darauf
hinweisen, dass Religion in vielen Fällen den Stress nicht ver-
mindert, sondern ihn überhaupt erst verursacht. So kann man
sich beispielsweise kaum vorstellen, dass die nahezu ständigen
Schuldgefühle eines Katholiken, der mit den normalen mensch-
lichen Schwächen und unterdurchschnittlicher Intelligenz
ausgestattet ist, der Gesundheit zuträglich sind. Vielleicht ist es
unfair, hier die Katholiken herauszugreifen. Die amerikanische
Komikerin Cathy Ladman stellte fest: »Alle Religionen sind
gleich: Religion, das sind vor allem Schuldgefühle mit unter-
schiedlichen Feiertagen.« Ohnehin ist die Placebotheorie nach
meiner Überzeugung dem gewaltigen, weltweiten Phänomen
der Religion nicht angemessen. Dass es Religionen gibt, liegt in
232
meinen Augen nicht daran, dass sie bei unseren Vorfahren den
Stress verminderten. Das reicht als Gesamterklärungsmuster
nicht aus, eine ergänzende Rolle könnte es allerdings gespielt
haben. Religion ist ein umfassendes Phänomen, darum brau-
chen wir zu ihrer Erklärung auch eine umfassende Theorie.
Andere Theorien lassen die Notwendigkeit einer darwinisti-
schen Erklärung völlig außer Acht. Damit meine ich Vor-
schläge wie »Religion befriedigt unsere Neugier auf das Uni-
versum und unseren Platz darin« oder »Religion ist ein Trost«.
Wie wir in Kapitel 10 genauer erfahren werden, liegt in beiden
Aussagen wahrscheinlich eine gewisse psychologische Wahr-
heit, aber für sich genommen sind es keine darwinistischen Er-
klärungen. Zur Theorie, Religion sei Trost, bemerkt Steven Pin-
ker in seinem Buch How the Mind Works (Wie das Denken im
Kopf entsteht) zutreffend:
Dann [stellt sich] die Frage [...], warum sich ein Gehirn da-
hin entwickeln sollte, in Überzeugungen Trost zu finden, die
es eindeutig als falsch erkennen kann. Ein frierender Mensch
findet keinen Trost in dem Glauben, dass ihm warm sei; ein
Mensch, der sich einem Löwen gegenübersieht, lässt sich
nicht von dem Glauben beruhigen, dass es sich um ein Ka-
ninchen handele.”
233
letztgültige Erklärung hat mit dem Zweck zu tun, den die Ex-
plosion erfüllen soll: Sie soll einen Kolben aus dem Zylinder
drücken und damit die Kurbelwelle in Drehung versetzen. Die
naheliegende Ursache der Religion ist vielleicht die über-
mäßige Aktivität irgendeines Gehirnareals. Die neurologische
Idee eines »Gotteszentrums« im Gehirn werde ich hier nicht
weiter verfolgen, denn es geht mir nicht um vordergründige
Erklärungen, ohne dass ich diese damit kleinreden wollte. Eine
prägnante Erörterung des Themas findet sich zum Beispiel in
Michael Shermers Buch How We Believe:The Search for God in
an Age of Science (»Wie wir glauben: Die Suche nach Gott im
Zeitalter der Wissenschaft«); dort wird auch eine Vermutung
von Michael Persinger und anderen erwähnt, wonach visionäre
religiöse Erlebnisse mit einer Schläfenlappenepilepsie zusam-
menhängen.
Im vorliegenden Kapitel dagegen geht es mir um letztgültige
darwinistische Erklärungen. Wenn die Neurowissenschaftler
im Gehirn tatsächlich ein »Gotteszentrum« finden, werden die
darwinistischen Evolutionsforscher immer noch klären wollen,
durch welchen Selektionsdruck es begünstigt wurde. Warum
konnten diejenigen unter unseren Vorfahren, die eine geneti-
"sche Disposition zur Entwicklung eines Gotteszentrums hat-
ten, besser überleben und mehr Enkel haben als ihre Konkur-
renten, die keine solche Neigung besaßen? Die darwinistische
Frage nach den letzten Gründen ist nicht besser, nicht tiefgrei-
fender und nicht wissenschaftlicher als die naheliegende Frage
der Neurowissenschaft. Aber es ist die Frage, die ich hier erör-
tern möchte.
Auch mit politischen Erklärungen wie »Religion ist das Mit-
tel, mit dem die herrschende Klasse die Unterschicht unter-
drückt« geben Darwinisten sich nicht zufrieden. Sicher, die
schwarzen Sklaven in Amerika wurden mit der Aussicht aufein
besseres Jenseits vertröstet, was ihre Unzufriedenheit milderte
und ihren Besitzern nützte. Die Frage, ob Religionen gezielt
234
von zynischen Priestern oder Herrschern konstruiert werden,
ist interessant und sollte von Historikern genauer untersucht
werden. Aber auch dies ist für sich betrachtet keine darwinisti-
sche Frage. Auch hier will der Darwinist wissen, warum die
Menschen anfällig für die Verlockungen der Religion sind und
sich so der Ausbeutung durch Priester, Politiker und Könige
aussetzen.
Ein zynischer Herrscher könnte auch die sexuelle Lust als
Mittel der politischen Macht einsetzen, aber dann brauchen
wir ebenfalls eine darwinistische Erklärung dafür, warum es
funktioniert. Im Fall der sexuellen Lust ist die Antwort einfach:
Unser Gehirn ist so eingerichtet, dass Sex uns Spaß macht, weil
Sex im Naturzustand der Produktion von Nachkommen dient.
Ein politischer Herrscher kann seine Ziele auch mit Folter
durchsetzen. Wiederum muss der Darwinist einen Grund
dafür benennen, warum Folter ihren Zweck erreicht - warum
wir also fast alles dafür tun, heftige Schmerzen zu vermeiden.
Auch hier erscheint die Antwort beinahe banal, aber der Dar-
winist muss sie dennoch formulieren: Die natürliche Selektion
hat Schmerzen zu einem Zeichen für lebensbedrohliche kör-
perliche Schäden gemacht und uns darauf programmiert, sie
zu vermeiden. Die wenigen Menschen, die keine Schmerzen
empfinden oder sich nicht darum kümmern, sterben in der Re-
gel schon in jungen Jahren an Verletzungen, denen wir anderen
aktiv aus dem Weg gegangen wären. Aber was ist die Ursache
für die Lust auf Götter? Ob sie nun zynisch ausgenutzt wird
oder sich von selbst manifestiert —wie lautet die letztgültige
Erklärung dafür?
Gruppenselektion
235
drücklich als solche bezeichnet. Unter Gruppenselektion ver-
steht man die umstrittene Vorstellung, dass die darwinistische
Selektion zwischen biologischen Arten oder anderen Gruppen
von Individuen unterscheidet. Der Archäologe Colin Renfrew
aus Cambridge äußerte die Vermutung, das Christentum habe
durch eine Art Gruppenselektion überlebt, weil es Loyalität
und brüderliche Liebe innerhalb der Gruppe förderte, was es
den religiösen Gruppen erleichterte, auf Kosten nichtreligiöser
Gruppen zu überleben. D. S.Wilson, der amerikanische Apos-
tel der Gruppenselektion, entwickelte unabhängig davon in
seinem Buch Darwin’s Cathedral: Evolution, Religion and the
Nature of Society(»Darwins Kathedrale: Evolution, Religion und
das Wesen der Gesellschaft«) eine ausführlichere, im Wesent-
lichen aber ähnliche Vorstellung.
Wie eine solche Gruppenselektionstheorie für die Religion
aussehen könnte, möchte ich an einem erfundenen Beispiel
deutlich machen. Ein Stamm mit einem rührigen, streitsüchti-
gen »Kriegsgott«gewinnt Konflikte mit Nachbarstämmen, deren
Götter Frieden und Harmonie verlangen, und auch mit Stäm-
men, die überhaupt keine Götter haben. Krieger, die unbeirrbar
daran glauben, dass sie nach einem Märtyrertod sofort ins Para-
. dies kommen, kämpfen tapfer und geben bereitwillig ihr Leben.
Stämme mit einer solchen Religion überleben in den Stammes-
kriegen also eher, stehlen den unterworfenen Stämmen das Vieh
und nehmen sich deren Frauen als Konkubinen. Solche erfolg-
reichen Stämme bringen zahlreiche Tochterstämme hervor, die
abwandern und wiederum Tochterstäimme produzieren, wobei
alle den gleichen Stammesgott anbeten. Die Vorstellung, dass
Gruppen Tochtergruppen hervorbringen wie ein Bienenvolk,
von dem sich Schwärme abspalten, ist übrigens durchaus plau-
sibel. Eine solche Aufspaltung von Dörfern dokumentierte bei-
spielsweise der Anthropologe Napoleon Chagnon in seiner
berühmten Untersuchung über die »wilden Menschen«, die
Yanomamö im südamerikanischen Regenwald.°*
236
Chagnon ist kein Anhänger der Gruppenselektion, und ich
bin es auch nicht. Es gibt stichhaltige Einwände dagegen. Da
ich in der Kontroverse parteiisch bin, muss ich mich davor hü-
ten, hier mein Steckenpferd zu reiten und mich zu weit vom
Thema des Buches zu entfernen. Manche Biologen lassen je-
doch erkennen, dass sie die echte Gruppenselektion wie in
meinem hypothetischen Beispiel des Kriegsgottes mit etwas
anderem verwechseln, das sie ebenfalls als Gruppenselektion
bezeichnen, das sich aber bei näherem Hinsehen entweder als
Verwandtenselektion oder als wechselseitiger Altruismus ent-
puppt (siehe Kapitel 6).
Auch diejenigen, die wie ich die Gruppenselektion nicht für
besonders wichtig halten, räumen jedoch ein, dass sie prinzi-
piell ablaufen kann. Die Frage ist nur, ob sie nennenswerten
Einfluss auf die Evolution gewonnen hat. Stellt man sie als Al-
ternative neben die Selektion auf niedrigerem Niveau —bei-
spielsweise wenn die Gruppenselektion als Erklärung für indi-
viduelle Selbstaufopferung genannt wird -, ist die Selektion auf
niedrigerer Ebene wahrscheinlich stärker. Stellen wir uns nur
einmal vor, in der Armee unseres hypothetischen Stammes
gäbe es unter den vielen ehrgeizigen Märtyrern, die für den
Stamm sterben und sich eine himmlische Belohnung sichern
wollen, einen einzigen egoistischen Soldaten. Die Wahrschein-
lichkeit, dass er auf der Seite der Sieger ist, obwohl er sich im
Kampf zurückhält und so seine eigene Haut rettet, ist nur un-
wesentlich geringer. Dann nützt ihm das Märtyrertum seiner
Kameraden mehr, als es der ganzen Gruppe im Durchschnitt
nützt, denn alle anderen sind am Ende tot. Er wird sich besser
fortpflanzen als die anderen, und die Gene für die Ablehnung
des Märtyrertums gelangen in größerer Zahl in die nächste Ge-
neration. Deshalb nimmt die Neigung zum Märtyrertod in den
späteren Generationen immer weiter ab.
Das Beispiel ist stark vereinfacht, aber es macht ein hart-
näckiges Problem der Gruppenselektion deutlich. Theorien
237
der Gruppenselektion durch individuelle Selbstaufopferung
sind immer anfällig für die Zersetzung von innen. Fortpflan-
zung und Tod der Individuen spielen sich schneller und häufi-
ger ab als das Aussterben oder die Aufspaltung von Gruppen.
In mathematischen Modellen kann man besondere Bedingun-
gen konstruieren, unter denen die Gruppenselektion eine
wichtige Evolutionskraft ist. Im Hinblick auf die Natur sind
diese besonderen Bedingungen meistens unrealistisch, aber
man kann die Ansicht vertreten, dass die Religionen in den
Stammesgruppen der Menschen genau diese ansonsten unrealis-
tischen Bedingungen begünstigen. Das ist eine interessante
Denkrichtung, die ich hier aber nicht weiter verfolgen möchte;
allerdings muss ich einräumen, dass Darwin selbst, ansonsten
ein standhafter Verfechter der Selektion auf der Ebene des ein-
zelnen Lebewesens, der Gruppenselektion in einer Beschrei-
bung von Menschenstämmen sehr nahe kam:
238
Um die Spezialisten unter den Biologen zufrieden zu stellen,
die diesen Abschnitt vielleicht lesen, sollte ich noch etwas hin-
zufügen: Streng genommen dachte Darwin hier nicht an Grup-
penselektion im engeren Sinn, wonach erfolgreiche Gruppen
irgendwann Tochtergruppen hervorbringen, deren Häufigkeit
man in der Metapopulation der Gruppen quantitativ erfassen
könnte. Darwin stellte sich vielmehr Stämme mit altruisti-
schen, kooperativen Mitgliedern vor, die sich ausbreiteten und
als Individuen zahlreicher wurden. Sein Modell ähnelt eher der
Ausbreitung der Grauhörnchen in Großbritannien auf Kosten
der Eichhörnchen: Es handelt sich nicht um echte Gruppense-
lektion, sondern um ökologische Verdrängung.
Wie dem auch sei, ich möchte die Gruppenselektion jetzt bei-
seite lassen und mein eigene Ansicht über den darwinistischen
Überlebenswert der Religion darlegen. Ich gehöre zu der wach-
senden Zahl von Biologen, die in der Religion ein Nebenprodukt
von etwas anderem sehen. Allgemeiner gesagt, bin ich über-
zeugt, dass wir »in Nebenprodukten denken müssen«, wenn
wir Vermutungen über darwinistische Überlebensvorteile an-
stellen. Wenn wir nach dem Überlebenswert vor irgendetwas
fragen, haben wir unser Anliegen vielleicht schon falsch for-
muliert. Wir müssen die Frage in eine nützliche neue Form
bringen. Vielleicht hat das Merkmal, für das wir uns interessie-
ren (in diesem Fall die Religion), selbst keinen unmittelbaren
Überlebenswert, sondern es ist ein Nebenprodukt von etwas
anderem, das einen solchen Wert besitzt. Nach meiner Über-
zeugung ist es hilfreich, wenn ich den Gedanken an Nebenpro-
dukte an einem Beispiel aus meinem eigenen Fachgebiet ver-
deutliche: der Verhaltensforschung.
Motten fliegen in eine Kerzenflamme, und wenn man sie
239
dabei beobachtet, sieht es nicht nach einem Unfall aus. Sie ma-
chen extra einen Umweg, um sich selbst als Brandopfer darzu-
bringen. Wir könnten von »Selbstvernichtungsverhalten« spre-
chen und uns angesichts dieses provokativen Namens fragen,
wie die natürliche Selektion so etwas begünstigen konnte. Mir
geht es darum, dass wir zunächst die Frage anders formulieren
müssen, bevor wir überhaupt anfangen können, nach einer in-
telligenten Antwort zu suchen. Selbstmord ist es nicht. Der
scheinbare Selbstmord ist eine unerwünschte Nebenwirkung
oder ein Nebenprodukt von etwas anderem. Aber wovon? Nun
ja, ich möchte eine Möglichkeit nennen, die meine Aussage gut
verdeutlicht.
Künstliches Licht ist auf der Bühne der Nacht eine relativ
neue Erscheinung. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Mond
und Sterne nachts die einzigen Lichter. Sie sind unter opti-
schen Gesichtspunkten unendlich weit entfernt, das heißt, ihre
Lichtstrahlen fallen parallel ein. Deshalb eignen sie sich zur
Orientierung. Insekten nutzen bekanntermaßen Himmelskör-
per wie Sonne und Mond, um genau in gerader Linie ihre Rich-
tung einzuhalten, und mit dem gleichen Kompass finden sie
unter umgekehrten Vorzeichen auch nach der Nahrungssuche
wieder nach Hause. Das Nervensystem der Insekten ist darauf
ausgelegt, vorübergehend eine Faustregel nach folgendem
Schema aufzustellen: »Steuere einen Kurs, bei dem die Licht-
strahlen deine Augen in einem Winkel von 30 Grad treffen.«
Da die Insekten Komplexaugen besitzen, in denen gerade
Röhren oder Lichtleiter vom Mittelpunkt des Auges ausgehen
wie die Stacheln eines Igels, ergibt sich daraus in der Praxis
ganz einfach, dass das Licht immer in einem bestimmten Ein-
zelauge (Ommatidium) festgehalten wird.
Aber der Lichtkompass beruht auf der entscheidenden Vo-
raussetzung, dass der Himmelskörper sich in der optischen Un-
endlichkeit befindet. Ist das nicht der Fall, sind die Strahlen
nicht parallel, sondern sie streben auseinander wie die Spei-
240
chen eines Rades. Ein Nervensystem, das der Faustregel zufolge
einen Winkel von 30 Grad (oder jeden anderen spitzen Win-
kel) zu einer in der Nähe befindlichen Kerze einhält, als wäre
sie der unendlich weit entfernte Mond, steuert die Motte auf
einer spiralförmigen Bahn in die Flamme. Man kann es sich auf-
zeichnen; setzt man dabei einen spitzen Winkel wie 30 Grad
voraus, ergibt sich eine elegante logarithmische Spirale, die in
die Flamme führt.
In diesem speziellen Fall hat die Faustregel für die Motte also
tödliche Folgen, aber im Durchschnitt ist sie dennoch nützlich,
denn der Anblick einer Kerze ist für Motten im Vergleich zum
Anblick des Mondes selten. Die vielen hundert Motten, die
sich in aller Stille und sehr effizient am Mond, einem hellen
Stern oder auch dem entfernten Lichtkegel einer Großstadt
orientieren, bemerken wir nicht. Wie sehen nur die Motte, die
in unsere Kerze torkelt, und stellen die falsche Frage: Warum
begehen alle diese Motten Selbstmord? Stattdessen sollten wir
uns dafür interessieren, warum sie ein Nervensystem haben,
das die Richtung angibt, indem es einen festen Winkel zu
Lichtstrahlen einhält - eine Methode, die uns nur dann auffällt,
wenn sie schiefgeht. Formuliert man die Frage anders, löst sich
das Rätsel in Wohlgefallen auf. Es war nie berechtigt, von
Selbstmord zu sprechen. Wir haben es mit einem danebenge-
gangenen Nebeneffekt eines normalerweise nützlichen Kom-
passes zu tun.
Wenden wir nun dieses Prinzip des Nebenprodukts auf das
religiöse Verhalten der Menschen an. Wir beobachten, dass
eine große Zahl von Menschen - in vielen Regionen sogar 100
Prozent - religiöse Überzeugungen hat, die nachgewiesenen
wissenschaftlichen Tatsachen und auch den konkurrierenden
Religionen anderer Menschen krass widersprechen. Die Men-
schen hegen solche Überzeugungen nicht nur mit leidenschaft-
lichem Selbstbewusstsein, sondern sie verwenden auch Zeit
und Ressourcen auf aufwendige Tätigkeiten, die aus diesen
241
Überzeugungen erwachsen. Sie sterben dafür oder töten dafür.
Darüber staunen wir genauso wie über das »Selbstmordverhal-
ten« der Motten. Verblüfft fragen wir nach dem Warum. Mir
geht es darum zu zeigen, dass wir auch hier die falsche Frage
stellen. Das religiöse Verhalten könnte eine Fehlfunktion sein,
ein unglückseliges Nebenprodukt einer grundlegenden psy-
chologischen Neigung, die unter anderen Umständen nützlich
sein kann oder früher einmal nützlich war. Die Neigung, die bei
unseren Vorfahren von der natürlichen Selektion begünstigt
wurde, war demnach nicht die Religion als solche, sondern sie
hatte einen anderen Nutzeffekt, der sich nur nebenher zufällig
als religiöses Verhalten manifestiert. Wir werden das religiöse
Verhalten erst dann verstehen, wenn wir ihm einen anderen
Namen gegeben haben.
Wenn Religion also das Nebenprodukt von etwas anderem
ist, was ist dann dieses andere? Was ist die Entsprechung zur
Gewohnheit der Motten, sich anhand der Himmelskörper zu
orientieren? Wie sieht das primitiv-vorteilhafte Merkmal aus,
das manchmal falsch funktioniert und dann die Religion ent-
stehen lässt? Ich werde einen Vorschlag genauer ausführen,
aber ich muss darauf hinweisen, dass es sich nur um ein Bei-
spiel handelt: Diese Art von Dingen meine ich, und ich werde
auch auf Parallelvorschläge anderer Autoren zu sprechen
kommen. Mir geht es weniger um eine ganz bestimmte Ein-
zelantwort als vielmehr um das allgemeine Prinzip, dass man
die Frage richtig stellen und im Bedarfsfall neu formulieren
muss.
Meine eigene Hypothese hat mit Kindern zu tun. Mehr als
jede andere Spezies nutzen wir zum Überleben die Erfahrun-
gen früherer Generationen, und diese Erfahrungen müssen wir
an die Kinder weitergeben, um für ihren Schutz und ihr Wohl-
ergehen zu sorgen. Theoretisch könnten Kinder durch eigene
Erfahrungen lernen, nicht zu nahe an den Rand einer Fels-
klippe zu gehen, nicht unbesehen rote Beeren zu essen oder
242
nicht in einem Gewässer voller Krokodile zu schwimmen.
Aber für ein Kindergehirn bedeutet es, gelinde gesagt, einen
Selektionsvorteil, wenn es die Faustregel erlernt: »Glaube alles,
was die Erwachsenen dir sagen, ohne weiter nachzufragen. Ge-
horche deinen Eltern; gehorche den Stammesältesten, insbe-
sondere wenn sie in feierlichem, bedrohlichem Ton zu dir spre-
chen. Vertraue den Älteren, ohne Fragen zu stellen.« Das ist für
ein Kind in der Regel ein sehr nützlicher Grundsatz. Aber wie
bei den Motten kann auch hier etwas schiefgehen.
Ich habe nie eine beängstigende Predigt vergessen, die in
der Kapelle meiner Schule gehalten wurde, als ich ein kleiner
Junge war. Beängstigend war sie aus heutiger Sicht - damals
nahm mein Kindergehirn sie so hin, wie der Prediger es beab-
sichtigte. Er erzählte uns eine Geschichte über einen Trupp
Soldaten, die neben einer Eisenbahnlinie eine Übung abhiel-
ten. Der Vorgesetzte war in einem entscheidenden Augenblick
abgelenkt und versäumte es, den Befehl zum Stehenbleiben zu
geben. Die Soldaten waren so darauf gedrillt, Befehle ohne
Nachfragen zu befolgen, dass sie immer weiter dem näher
kommenden Zug entgegenmarschierten. Heute glaube ich die
Geschichte natürlich nicht mehr, und ich hoffe, der Prediger
glaubte sie auch nicht. Aber als ich neun war, hielt ich sie für
wahr, weil ich sie von einer erwachsenen Autoritätsperson
gehört hatte. Und ob der Geistliche sie glaubte oder nicht, in
jedem Fall wollte er, dass wir Kinder uns die Soldaten zum
Vorbild nahmen, die noch den absurdesten Befehl 'sklavisch
und unhinterfragt befolgten, wenn er von einem Vorgesetz-
ten kam. Soweit ich mich erinnere, bewunderten wir sie tat-
sächlich.
Als Erwachsener kann ich mir kaum noch vorstellen, dass
mein kindliches Ich sich tatsächlich fragte, ob ich den Mut auf-
bringen würde, meine Pflicht zu tun und mich vom Zug über-
fahren zu lassen. Aber genau so habe ich meine Gefühle in Er-
innerung, was immer das bedeuten mag. Die Predigt hinterließ
243
bei mir offensichtlich einen tiefen Eindruck, denn ich habe sie
noch heute im Gedächtnis und kann darüber berichten.
Der Fairness halber muss ich hinzufügen: Ich glaube, der
Prediger wollte uns mit seiner Geschichte keine religiöse Bot-
schaft vermitteln. Sie war wohl weniger religiös und eher mi-
litaristisch, ganz im Geist von Tennysons Gedicht »Charge
of the Light Brigade« (1854), das er durchaus hätte zitieren
können:
244
des Oberkommandos wäre es vollkommen töricht, wenn man
jedem einzelnen Soldaten gestatten würde, selbst zu entschei-
den, ob er Befehle befolgt oder nicht. Staaten, deren Infanteris-
ten nicht gehorchen, sondern aus Eigeninitiative handeln, wer-
den ihre Kriege in der Regel verlieren. Aus Sicht der Staaten ist
dies also nach wie vor ein gutes allgemeines Prinzip, auch wenn
es im Einzelfall manchmal in die Katastrophe führt. Soldaten
sind darauf gedrillt, so weit wie möglich zu Automaten oder
Computern zu werden.
Ein Computer tut, was man ihm befiehlt. Er gehorcht skla-
visch den Anweisungen, die ihm in seiner eigenen Programmier-
sprache erteilt werden. Deshalb kann er nützliche Tätigkeiten
wie Textverarbeitung und Tabellenkalkulation ausführen. Aber
das hat zwangsläufig einen Nebeneffekt: Er befolgt ebenso robo-
terhaft auch schlechte Anweisungen. Ob ein Befehl gute oder
schlechte Auswirkungen haben wird, kann er nicht unterschei-
den. Er gehorcht ganz einfach, genau wie Soldaten es tun sollen.
Computer sind wegen ihres Kadavergehorsams nützlich, aber
genau dieser Gehorsam macht sie zwangsläufig auch anfällig für
Infektionen durch Softwareviren und -würmer. Ein in böser Ab-
sicht geschriebenes Programm, das dem Computer sagt: »Ko-
piere mich und schicke mich an jede Adresse, die du auf der
Festplatte findest«, wird einfach ausgeführt, und die Ausfüh-
rung wiederholt sich in exponentieller Vervielfachung auf den
nächsten Computern, an die das Programm geschickt wird. Die
Konstruktion eines Computers, der gehorsam, nützlich und
gleichzeitig immun gegen Viren ist, ist schwierig oder gar un-
möglich.
Wenn ich gute Vorarbeit geleistet habe, sollte meine Argu-
mentation über Kindergehirn und Religion jetzt bereits klar
sein. Die natürliche Selektion stattet das Gehirn eines Kindes
mit der Neigung aus, den Eltern oder Stammesältesten alles zu
glauben, was sie erzählen. Ein solcher vertrauensvoller Gehor-
sam dient wie bei der Motte, die sich am Mond orientiert, dem
245
eb
Überleben. Aber die Kehrseite des vertrauensvollen Gehor-
sams ist sklavische Leichtgläubigkeit. Das unvermeidliche Ne-
benprodukt ist die Anfälligkeit für Infektionen mit geistigen
Viren. Aus stichhaltigen Gründen, die mit dem darwinisti-
schen Überleben zu tun haben, muss das Kindergehirn den El-
tern vertrauen und ebenso auch anderen älteren Menschen, die
von den Eltern als vertrauenswürdig bezeichnet werden. Dies
hat automatisch zur Folge, dass der Mensch, der vertraut, nicht
zwischen guten und schlechten Ratschlägen unterscheiden
kann. Das Kind kann nicht wissen, dass »Plansch nicht in einem
Teich voller Krokodile« ein guter Ratschlag ist, während »Du
sollst bei Vollmond eine Ziege opfern, sonst bleibt der Regen
aus« im besten Fall eine Vergeudung von Zeit und Ziegen dar-
stellt.
Beide Ratschläge klingen gleichermaßen vertrauenswürdig.
Beide stammen aus einer angesehenen Quelle und werden mit
feierlichem Ernst vorgetragen, der Respekt gebietet und Ge-
horsam fordert. Das Gleiche gilt für alle Aussagen über die
Welt, den Kosmos, unsere Moral und das Wesen der Menschen.
Wenn das Kind dann erwachsen wird und selbst wieder Kinder
hat, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach wie selbstverständ-
lich das Ganze - Sinnvolles und Unsinn —wieder auf die glei-
che ansteckende, gewichtige Weise an den eigenen Nachwuchs
weitergeben. |
Nach dieser Vorstellung würden wir damit rechnen, dass in
den einzelnen geografischen Regionen ganz unterschiedliche
willkürliche Überzeugungen tradiert werden, die alle keine
Grundlage in den Tatsachen haben, aber mit der gleichen
Überzeugung für traditionelle Weisheiten gehalten werden wie
der Glaube, dass Jauche gut für die Feldpflanzen ist. Man sollte
also erwarten, dass Aberglaube und andere nicht tatsachenge-
bundene Überzeugungen sich lokal weiterentwickeln und im
Laufe der Generationen verändern; das geschieht entweder
durch zufällige Verschiebungen oder durch eine Art Entspre-
246
chung zur darwinistischen Evolution, sodass sich schließlich
ein Muster mit einem gemeinsamen Ausgangspunkt und einer
deutlichen späteren Auseinanderentwicklung zeigt. Sprachen,
die einen gemeinsamen Vorfahren haben, entwickeln sich bei
einer ausreichend langfristigen geografischen Trennung aus-
einander (auf diesen Punkt werde ich in Kürze zurückkom-
men). Das Gleiche gilt offenbar auch für unbegründete, will-
kürliche Überzeugungen und Vorschriften, die von Generation
zu Generation weitergegeben werden —Überzeugungen, die
vielleicht durch die nützliche Programmierbarkeit des Kinder-
gehirns begünstigt wurden.
Religionsführer wissen genau, wie anfällig Kindergehirne
sind und wie wichtig es ist, dass die Indoktrination frühzeitig
stattfindet. Die Prahlerei der Jesuiten »Gib mir das Kind wäh-
rend seiner ersten sieben Jahre, dann gebe ich dir den Mann
zurück« ist zwar abgedroschen, aber deshalb nicht weniger
wahr (und bedrohlich). In jüngerer Zeit ist JamesDobson, der
Gründer der berüchtigten Bewegung »Focus on Family«,* mit
dem Prinzip genauso vertraut: »Wer darüber bestimmt, was
junge Menschen lernen und erleben —was sie sehen, denken
und glauben -, der bestimmt die Zukunft der Nation.«*
Aber wie gesagt, meine Vermutung über die nützliche
Leichtgläubigkeit des kindlichen Geistes ist nur ein Beispiel
dafür, wo Entsprechungen zur Orientierung der Motte an den
Sternen zu suchen wären. Unabhängig davon vertreten der
Verhaltensforscher Robert Hinde in Why Gods Persist (»Wa-
rum die Götter so hartnäckig sind«) sowie die Anthropologen
Pascal Boyer in ReligionExplained (Und Mensch schuf Gott) und
Scott Atran in In Gods We Trust (»Wir vertrauen auf Götter«)
* Ich war belustigt, als ich auf einem Autoaufkleber in Colorado den Spruch »Focus on
your own damn Family« las, aber heute kommt er mir nicht mehr so lustig vor. Viel-
leicht müssten manche Kinder vor der Indoktrination durch die eigenen Eltern ge-
schützt werden (siehe Kapitel 9).
247
EEE
allgemein den Gedanken, Religion sei ein Nebenprodukt nor-
maler psychologischer Neigungen - ich sollte vielleicht besser
sagen: viele Nebenprodukte, denn vor allem die Anthropologen
sind sehr darauf bedacht, die Unterschiede zwischen den Reli-
gionen der Welt herauszustellen, nicht nur die Gemeinsamkei-
ten. Die Befunde der Anthropologen erscheinen uns nur des-
halb so seltsam, weil sie uns nicht vertraut sind. Alle religiösen
Überzeugungen kommen denen, die nicht mit ihnen aufge-
wachsen sind, seltsam vor. Pascal Boyer erforschte das Volk der
Fang in Kamerun. Dort ...
Dann fährt Boyer mit einer Anekdote aus seinem eigenen Le-
ben fort:
248
Geht man davon aus, dass besagter Theologe der Hauptrich-
tung der Theologie angehörte, so glaubte er wahrscheinlich an
irgendeine Kombination folgender Aussagen:
® Zur Zeit unserer Vorfahren wurde ein Mann als Sohn einer
Frau geboren, die Jungfrau war; ein biologischer Vater war
daran nicht beteiligt.
® Derselbe vaterlose Mann sprach zu einem Freund namens
Lazarus, der schon so lange tot war, dass er stank, und La-
zarus erwachte sofort wieder zum Leben.
® Der vaterlose Mann selbst wurde wieder lebendig, nachdem
er tot und seit drei Tagen begraben war.
« Vierzig Tage später stieg der vaterlose Mann auf einen Berg
und verschwand dann mit seinem ganzen Körper im Him-
mel.
e Wenn man sich private Gedanken durch den Kopf gehen
lässt, kann der vaterlose Mann (und auch sein »Vater«, der er
selbst ist) die Gedanken hören und möglicherweise darauf-
hin etwas unternehmen. Gleichzeitig hört er auch die Ge-
danken aller anderen Menschen auf der Welt.
e Wenn man etwas Schlechtes oder etwas Gutes tut, kann der
vaterlose Mann es sehen, auch wenn es sonst niemand sieht.
Entsprechend werden wir belohnt oder bestraft, zum Teil
auch nach unserem Tod.
e Die jungfräuliche Mutter des vaterlosen Mannes ist nicht ge-
storben, sondern wurde körperlich in den Himmel »aufge-
nommen«.
e Wenn Brot und Wein von einem Priester (der aber Hoden
haben muss) gesegnet werden, »verwandeln« sie sich in
Fleisch und Blut des vaterlosen Mannes.
249
Psychologischfür Religiondisponiert
250
wohnt; deshalb kann er sich auch vorstellen, dass dieses Ge-
bilde den Körper verlässt und dann irgendwo anders existiert.
Dualisten interpretieren geistige Krankheiten bereitwillig
als »Teufelsbesessenheit« —die Teufel sind dann Geister, die
sich des Körpers vorübergehend bemächtigt haben und »aus-
getrieben« werden können. Ebenso personifizieren Dualis-
ten bei der kleinsten Gelegenheit unbelebte Gegenstände
und sehen sogar in Wasserfällen oder Wolken Geister und Dä-
monen.
Der 1882 erschienene Roman Vice Versa von F. Anstey* er-
scheint einem Dualisten durchaus sinnvoll, sollte aber für einen
eingefleischten Monisten wie mich eigentlich unverständlich
sein. Mr. Bultitude und sein Sohn finden auf rätselhafte Weise
heraus, dass sie ihre Körper getauscht haben. Der Vater ist zum
Vergnügen seines Sohnes gezwungen, in dessen Körper zur
Schule zu gehen. Gleichzeitig treibt der Sohn im Körper seines
Vaters dessen Geschäft durch seine unüberlegten Entschei-
dungen fast in den Ruin. Eine ähnliche Handlung erdachte
auch P. G. Wodehouse in Laughing Gas (Was macht der Lord
in Hollywood?). Darin werden der Earl von Havershot und
ein Kinderfilmstar zur gleichen Zeit in den nebeneinander
stehenden Stühlen eines Zahnarztes in Narkose versetzt und
wachen jeweils im anderen Körper wieder auf. Auch diese
Geschichte erscheint nur einem Dualisten sinnvoll. In Lord
Havershot muss irgendetwas sein, das nicht zu seinem Körper
gehört. Wie könnte er sonst im Körper eines Kinderstars wieder
aufwachen?
Ich bin wie die meisten Naturwissenschaftler kein Dualist,
aber ich habe dennoch ohne weiteres Spaß an Vice Versa oder
Was macht der Lord in Hollywood? Warum? Paul Bloom würde
sagen: Weil ich mit meiner Vernunft gelernt habe, Monist zu
sein, während ich gleichzeitig als Mensch auch ein Tier bin, bei
251
dem sich in der Evolution dualistische Instinkte entwickelt ha-
ben. Der Gedanke, dass hinter meinen Augen ein Ich steckt, das
zumindest im Roman in einen anderen Kopf wandern kann, ist
in mir und jedem anderen Menschen tief verwurzelt —ganz
gleich, wie stark wir intellektuell den Monismus bevorzugen.
Zur Unterstützung seiner Überzeugung führt Bloom experi-
mentelle Befunde an, wonach Kinder - und zwar vor allem
sehr kleine Kinder - sehr viel stärker zum Dualismus neigen als
Erwachsene. Dies lässt darauf schließen, dass eine Tendenz zum
Dualismus im Gehirn vorhanden ist, und die, so Bloom, schafft
eine natürliche Neigung, sich religiöse Gedanken zu eigen zu
machen.
Bloom äußert auch die Vermutung, wir besäßen eine ange-
borene Neigung, Kreationisten zu ein. Denn die natürliche Se-
lektion erscheine »intuitiv sinnlos«. Besonders Kinder neigen
dazu, allem einen Zweck zuzuschreiben. Das erklärt uns auch
die Psychologin Deborah Keleman in ihrem Artikel »Are
Children »Intuitive Theists<« (»Sind Kinder »intuitive Theis-
ten<?«) Wolken sind für Kinder »zum Regnen« da. Spitze Felsen
haben ihre Form, »damit Tiere sich daran reiben können, wenn
es sie juckt«.”° Allem einen Zweck zuzuschreiben nennt man
Teleologie. Kinder sind von Geburt an Teleologen, und manche
wachsen nie heraus.
Der angeborene Dualismus und die angeborene Teleologie
schaffen in uns unter geeigneten Bedingungen eine Neigung
zur Religion, genau wie der lichtgesteuerte »Kompass« der
Motten in ihnen eine Neigung zum »Selbstmord« schafft. Un-
ser angeborener Dualismus bereitet uns darauf vor, an eine
»Seele« zu glauben, die kein untrennbarer Bestandteil unseres
Körpers ist, sondern nur in ihm wohnt. Dass ein solcher kör-
perloser Geist nach dem Tod des Körpers an einen anderen Ort
wandert, kann man sich leicht vorstellen. Ebenso kann man
sich dann eine Gottheit ausmalen, die reiner Geist ist und nicht
als emergente Eigenschaft aus der Materie erwächst, sondern
252
von ihr unabhängig ist. Und noch klarer liegt auf der Hand, dass
die kindliche Teleologie in uns die Voraussetzungen für eine
Religion schafft. Wenn hinter allem eine Absicht steht, wessen
Absicht ist es dann? Die Absicht Gottes natürlich.
Aber wo liegt die Entsprechung zur Nützlichkeit des Motten-
Lichtkompasses? Warum sollte die natürliche Selektion den
Dualismus und die Teleologie im Gehirn unserer Vorfahren
und ihrer Kinder begünstigt haben? Bisher habe ich in meinem
Bericht über die Theorie des vangeborenen Dualismus« einfach
postuliert, dass Menschen von Geburt an Dualisten und Teleo-
logen sind. Aber welchen darwinistischen Vorteil hat das? Für
unser Überleben ist es wichtig, dass wir das Verhalten anderer
Gebilde in unserer Umwelt vorhersagen können, und deshalb,
so sollte man annehmen, hat die natürliche Selektion unser
Gehirn so gestaltet, dass es diese Aufgabe schnell und effizient
erfüllen kann. Könnten Dualismus und Teleologie uns dabei
dienlich sein? Ein wenig besser versteht man diese Hypothese
vielleicht, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt dessen be-
trachtet, was Daniel Dennett als intentionalen Standpunkt be-
zeichnet hat.
Dennett nimmt für die »Standpunkte«, die wir einnehmen,
wenn wir das Verhalten von Tieren, Maschinen und allen ande-
ren Gebilden verstehen und vorhersagen wollen, eine sehr
nützliche dreifache Klassifikation vor.”' Er unterscheidet zwi-
schen dem physikalischen Standpunkt, dem Gestaltungsstand-
punkt und dem intentionalen Standpunkt. Der physikalische
Standpunkt funktioniert im Prinzip immer, weil alle Dinge
letztlich den Gesetzen der Physik gehorchen. Aber vom physi-
kalischen Standpunkt aus etwas herauszufinden kann unter
Umständen sehr lange dauern. Wenn wir uns erst hinsetzen
und alle Wechselbeziehungen zwischen den beweglichen
Teilen eines komplizierten Gegenstandes berechnen wollen,
kommen wir mit unserer Voraussage über dessen Verhalten
vermutlich zu spät. Für Gegenstände, die tatsächlich gezielt ge-
253
staltet sind wie eine Waschmaschine oder eine Armbrust, ist
der Gestaltungsstandpunkt eine bequeme Abkürzung. Wir kön-
nen Vermutungen darüber anstellen, wie sich der Gegenstand
verhalten wird, wenn wir die Physik außer Acht lassen und uns
unmittelbar mit seiner Gestaltung beschäftigen. Dennett meint
dazu:
254
Wenn wir einen Tiger sehen, sollten wir mit unserer Voraussage
über sein mutmaßliches Verhalten nicht lange zögern. Die
Physik seiner Moleküle? Egal. Die Gestaltung seiner Glied-
maßen, Klauen und Zähne? Egal. Die Katze will uns fressen,
und sie wird ihre Gliedmaßen, Klauen und Zähne vielseitig
und fantasievoll einsetzen, um diese Absicht zu verwirklichen.
Der schnellste Weg zur Einschätzung ihres Verhaltens lässt
Physik und Physiologie außer Acht und geht sofort vom inten-
tionalen Standpunkt aus. Was dabei wichtig ist: Genau wie der
Gestaltungsstandpunkt sich auch auf Dinge anwenden lässt,
die nicht gestaltet sind, so funktioniert auch der intentionale
Standpunkt sowohl bei Dingen, die keine bewussten Absichten
haben, als auch bei solchen, die sie besitzen.
Mir erscheint es völlig plausibel, dass der intentionale Stand-
punkt als Gehirnmechanismus einen Überlebensvorteil bietet:
Er beschleunigt Entscheidungsprozesse in gefährlichen Augen-
blicken und entscheidenden zwischenmenschlichen Situatio-
nen. Dagegen leuchtet nicht sofort ein, dass der Dualismus
eine notwendige Begleiterscheinung des intentionalen Stand-
punkts ist. Ich möchte das Thema hier nicht weiter vertiefen,
aber nach meiner Überzeugung sollte man eine Argumentation
entwickeln, wonach hinter dem intentionalen Standpunkt eine
Art Theorie über den Geist anderer steht, die man mit Fug und
Recht als dualistisch bezeichnen könnte; das gilt vermutlich
insbesondere in komplizierten zwischenmenschlichen Situa-
tionen und vor allem dann, wenn Intentionalität höherer Ord-
nung ins Spiel kommt.
Dennett spricht von Intentionalität dritter Ordnung (der
Mann glaubt, dass die Frau weiß, dass er hinter ihr her ist), vier-
ter Ordnung (der Frau wird klar, dass der Mann glaubte, sie
wisse, dass er hinter ihr her war) und sogarfünfter Ordnung (der
Schamane vermutet, der Frau müsse klar geworden sein, dass
der Mann glaubte, die Frau wisse, dass er hinter ihr her war). In-
tentionalität sehr hoher Ordnung gibt es wahrscheinlich nur in
255
der Literatur, als Satire beispielsweise in dem vergnüglichen
Roman The Tin Men (Blechkumpel)von Michael Frayn:
256
Kinder und Naturvölker sehen eine Absicht hinter dem Wetter,
hinter Wellen und Strömungen oder abstürzenden Felsen. Die
gleiche Neigung haben wir alle im Zusammenhang mit Ma-
schinen, insbesondere wenn sie uns im Stich lassen. Manch
einer wird sich noch voller Mitgefühl daran erinnern, wie Basil
Fawltys Auto in der Serie Fawlty Towers eine Panne hat, wäh-
rend er gerade die lebenswichtige Aufgabe hat, den Gourmet-
abend vor der Katastrophe zu bewahren. Er warnt den Wagen
rechtzeitig, zählt bis drei, steigt aus, greift nach einem Ast und
prügelt wie ein Besessener darauf ein. Solche Impulse hat
wahrscheinlich fast jeder schon einmal zumindest einen
Augenblick lang gehabt - wenn nicht mit einem Auto, dann
vielleicht mit dem Computer.
Justin Barrett prägte die Abkürzung HADD für »hyperactive
agent detection device« (»überaktives Gerät zum Aufspüren
von Agenten«). Voller Überaktivität sehen wir Agenten, wo gar
keine sind, und dann vermuten wir Bös- oder Gutartigkeit, ob-
wohl die Natur in Wirklichkeit nur völlig gleichgültig ist. Ich
ertappe mich selbst immer wieder dabei, dass ich eine wilde
Abneigung gegenüber einem völlig unschuldigen unbelebten
Gegenstand wie meiner Fahrradkette empfinde. Kürzlich gab es
einen traurigen Bericht über einen Mann, der im Fitzwilliam
Museum in Cambridge über einen offenen Schnürsenkel stol-
perte, eine Treppe hinunterstürzte und drei unbezahlbare Vasen
aus der Quing-Dynastie zertrümmerte: »Er landete mitten zwi-
schen den Vasen, und die zersplitterten in unzählige Stücke. Er
saß noch wie betäubt da, als das Personal hinzukam. Alle stan-
den schweigend im Kreis, wie in einem Schockzustand. Dann
zeigte der Mann auf sein Schnürband und sagte: »Schauen Sie,
das da ist schuld!«”?
Andere Erklärungen über Religion als Nebenprodukt stam-
men von Hinde, Shermer, Boyer,Atran, Bloom, Dennett, Kele-
man und anderen. Dennett erwähnt eine besonders faszinie-
rende Möglichkeit: Danach wäre die Irrationalität der Religion
257
das Nebenprodukt eines ganz bestimmten eingebauten Irratio-
nalitätsmechanismus in unserem Gehirn - unserer genetisch
wahrscheinlich vorteilhaften Neigung, uns zu verlieben.
Die Anthropologin Helen Fisher beschrieb in ihrem Buch
Why We Love (Warum wir lieben) sehr eindringlich, wie ver-
rückt die romantische Liebe ist und wie übertrieben sie im Ver-
gleich zu den Dingen wirkt, die unbedingt nötig zu sein schei-
nen. Betrachten wir es einmal so: Aus der Sicht eines Mannes
ist es höchst unwahrscheinlich, dass irgendeine Frau in seinem
Bekanntenkreis hundertmal liebenswerter ist als die nächste
Konkurrentin, und doch würde er es wahrscheinlich genau so
beschreiben, wenn er in sie verliebt ist. Nüchtern besehen, ist
eine Art »Viellieberei« viel vernünftiger als das fanatisch-
monogame Engagement, zu dem wir neigen. (Als Viellieberei,
polyamory, bezeichne ich die Überzeugung, dass man gleich-
zeitig mehrere Angehörige des anderen Geschlechts lieben kann,
so wie man auch mehrere Weine, Komponisten, Bücher oder
Sportarten liebt.) Wir akzeptieren ohne weiteres, dass wir
mehrere Kinder, Eltern, Geschwister, Lehrer, Freunde oder
Haustiere lieben. Ist es vor diesem Hintergrund nicht ausge-
sprochen seltsam, dass wir von der Liebe in einer Partnerschaft
völlige Ausschließlichkeit fordern? Dennoch erwarten wir ge-
nau das und setzen alles daran, es zu erreichen. Dafür muss es
einen Grund geben.
Wie Helen Fisher und andere nachgewiesen haben, ist 12
liebtheit von ganz besonderen Gehirnzuständen begleitet; un-
ter anderem werden dabei neurologisch aktive chemische Subs-
tanzen (eigentlich also natürliche Drogen) ausgeschüttet, die
für diesen Zustand spezifisch und charakteristisch sind. Evolu-
tionspsychologen sind wie Fisher der Ansicht, dass der irratio-
nale Verliebtheitszustand wahrscheinlich als biologischer Me-
chanismus dafür sorgt, dass man einem zweiten Elternteil so
lange treu ist, bis man gemeinsam ein Kind großgezogen hat.
Aus darwinistischer Sicht ist es zweifellos aus allen möglichen
258
Gründen wichtig, einen guten Partner auszuwählen. Hat man
aber einmal die Wahl getroffen - selbst wenn es eine schlechte
Wahl war -und ein Kind gezeugt, ist es wichtiger, zumindest so
lange auf Biegen und Brechen an dieser Wahl festzuhalten, bis
das Kind aus dem Gröbsten heraus ist.
Könnte die irrationale Religion ein Nebenprodukt der irra-
tionalen Mechanismen sein, die ursprünglich von der natürli-
chen Selektion ins Gehirn eingepflanzt wurden, damit wir uns
verlieben? Religiöser Glaube hat sicher einige Gemeinsamkei-
ten mit dem Zustand der Verliebtheit (und beide ähneln in vie-
lerlei Hinsicht dem von einem Suchtmittel erzeugten Rausch-
zustand).* Der Neuropsychiater John Smythies weist allerdings
darauf hin, dass durch diese beiden Formen der Manie zum Teil
unterschiedliche Gehirnareale aktiviert werden. Dennoch fal-
len auch ihm gewisse Gemeinsamkeiten auf:
259
weise durch Briefe, Fotos oder sogar, wie in viktorianischer
Zeit, durch Haarlocken. Der Zustand des Verliebtseins hat
viele physiologische Begleiterscheinungen wie zum Beispiel
das heiße Schmachten.”°
260
chem Blick wie ein Liebhaber, der in die Augen der Gelieb-
ten blickt. [...] Jene ersten Tage als Priester sind mir als Tage
der Erfüllung und des bebenden Glücks in Erinnerung ge-
blieben - etwas Kostbares und doch viel zu Zerbrechliches,
als dass es von Dauer hätte sein können, so wie eine roman-
tische Liebesaffäre, die von der Realität einer schlechten Ehe
eingeholt wird.
261
ist das »Sich-Verlieben« dann nur ein Sonderfall, und ebenso
leicht erkennt man in Wolperts »irrationalem Festhalten« eine
weitere nützliche psychologische Neigung, mit der man wich-
tige Aspekte des irrationalen religiösen Verhaltens erklären
kann: Auch hier ist es ein Nebenprodukt.
Robert Trivers erläutert in seinem Buch Social Evolution
sehr ausführlich seine 1976 veröffentlichte Theorie über die
Evolution der Selbsttäuschung. Durch Selbsttäuschung, so
Trivers,
262
cher dargestellt werden, bevor sie überhaupt wahrgenom-
men werden.
263
sollen. Ein Beispiel mit tragischen Folgen ist der Glaube, Nas-
hornpulver wirke als Aphrodisiakum. Diese schicksalsschwere
Legende geht auf die angebliche Ähnlichkeit des Horns mit
einem erigierten Penis zurück. Dass die »homöopathische Ma-
gie«so weit verbreitet ist, lässt darauf schließen, dass es sich bei
dem Unsinn, der ein anfälliges Gehirn infiziert, nicht ausschließ-
lich um zufälligen, beliebigen Unsinn handelt.
Man ist leicht versucht, die biologische Analogie noch wei-
ter zu treiben und zu fragen, ob auch hier etwas Ähnliches wie
die natürliche Selektion am Werk ist. Verbreiten manche Ideen
sich leichter als andere, weil sie innere Reize oder Vorzüge ha-
ben oder weil sie sich besser mit vorhandenen psychologischen
Voraussetzungen vertragen? Lassen sich Wesen und Eigen-
schaften der Religion, wie wir sie beobachten, damit auf ähnli-
che Weise erklären wie die Entstehung der Lebewesen, die wir
mit natürlicher Selektion begründen? Wichtig ist hier der Hin-
weis, dass mit »Vorzüge« nur die Fähigkeit zum Überleben und
zur Verbreitung gemeint ist. Es bedeutet nicht, dass der betref-
fende Gedanke ein positives Werturteil verdient hätte und et-
was wäre, worauf wir aus menschlicher Sicht stolz sein können.
Selbst in einem evolutionsorientierten Modell muss es nicht
unbedingt eine natürliche Selektion geben. Biologen wissen,
dass ein Gen sich in einer Population nicht nur dann ausbreiten
kann, wenn es ein gutes Gen ist, sondern auch wenn es einfach
Glück hat. So etwas bezeichnet man als Gendrift. Welche Be-
deutung sie als Gegenstück zur natürlichen Selektion hat, war
umstritten. Heute ist sie aber in Form der sogenannten neutra-
len Theorie der Molekulargenetik allgemein anerkannt. Wenn
ein Gen mutiert, sodass verschiedene Formen mit gleicher Wir-
kung entstehen, sind die Unterschiede neutral und die natürli-
che Selektion kann keine Version gegenüber einer anderen be-
günstigen. Dennoch kann die neue Mutante durch das, was die
Statistiker als Stichprobenfehler bezeichnen, im Laufe der Ge-
nerationen die frühere Form im Genpool verdrängen. Dies ist
264
auf molekularer Ebene ein echter entwicklungsgeschichtlicher
Wandel (auch wenn wir am vollständigen Lebewesen keine
Veränderung erkennen). Die Evolution hat zu einer neutralen
Veränderung geführt, die nicht im Mindesten der natürlichen
Selektion zu verdanken ist.
In der Kultur gibt es als Gegenstück zur Gendrift eine allge-
genwärtige Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen kön-
nen, wenn wir uns mit der Evolution der Religion befassen. Die
Sprache entwickelt sich auf quasi-biologische Weise weiter,
und ihre Evolution scheint genau wie die zufällige Gendrift
keiner festgelegten Richtung zu folgen. Sie wird in einer kultu-
rellen Entsprechung zur Genetik weitergegeben und ist über
die Jahrhunderte einem allmählichen Wandel unterworfen, bis
schließlich verschiedene Abstammungslinien entstanden sind,
deren Vertreter sich gegenseitig nicht mehr verstehen. Mögli-
cherweise wird auch die Evolution der Sprache von einer Art
natürlicher Selektion gelenkt, aber die Argumente, die dafür
sprechen, erscheinen nicht sonderlich überzeugend. Wie ich
noch genauer erläutern werde, wurden solche Mechanismen
für wichtige Schritte der Sprachentwicklung postuliert, bei-
spielsweise für die große Vokalverschiebung, die zwischen dem
15. und dem 18. Jahrhundert im Englischen stattfand. Aber das
meiste, was wir beobachten, können wir auch ohne solche
funktionsorientierten Hypothesen erklären. Es erscheint durch-
aus plausibel, dass Sprache sich normalerweise durch eine kul-
turelle Entsprechung zur zufälligen Gendrift weiterentwickelt.
In verschiedenen Regionen Europas veränderte sich das Latei-
nische auf unterschiedliche Weise und wurde zu Spanisch, Por-
tugiesisch, Italienisch, Französisch, Rätoromanisch und den
verschiedenen Dialekten dieser Sprachen. Dass sich in solchen
unterschiedlichen Entwicklungen regionale Vorteile oder eine
Art »Selektionsdruck« widerspiegeln sollen, liegt, vorsichtig
ausgedrückt, nicht gerade auf der Hand.
Nach meiner Vermutung machen Religionen wie Sprachen
265
eine derart zufällige Evolution durch, und auch die Ausgangs-
punkte sind so willkürlich, dass die verblüffende - und manch-
mal gefährliche - Vielfalt entsteht, die wir heute tatsächlich
beobachten. Gleichzeitig ist es durchaus vorstellbar, dass eine
Form der natürlichen Selektion in Verbindung mit grundlegen-
den, einheitlichen psychologischen Eigenschaften der Men-
schen dafür sorgt, dass die verschiedenen Religionen gewisse
bedeutsame Aspekte gemeinsam haben. So lehren beispiels-
weise viele Religionen die objektiv unplausible, subjektiv aber
reizvolle Idee, dass unsere Persönlichkeit nach dem Tod des
Körpers weiterlebt. Der Gedanke an Unsterblichkeit überlebt
und verbreitet sich, weil er das Wunschdenken bedient. Und
Wunschdenken ist wichtig, weil es in der menschlichen Psycho-
logie eine nahezu allumfassende Neigung gibt, Überzeugungen
durch Wünsche zu färben (»Dein Wunsch war des Gedankens
Vater, Heinrich«, wie Heinrich IV. in Teil II von Shakespeares
Historiendrama zu seinem Sohn sagt).
Es kann wohl nicht bezweifelt werden, dass viele Aspekte
der Religion bestens geeignet sind, der Religion selbst und
ebendiesen Aspekten beim Überleben im Durcheinander der
menschlichen Kulturen zu helfen. Damit erhebt sich die Frage,
ob diese Eignung durch »intelligente Gestaltung« oder durch
natürliche Selektion zuwege gebracht wird. Die Antwort lau-
tet: vermutlich durch beides.
Was die Gestaltung angeht, so sind Religionsführer meistens
hervorragend in der Lage, die Kunstgriffe, die dem Überleben
der Religion dienen, in Worte zu fassen. Martin Luther etwa
war sich voll und ganz bewusst, dass die Vernunft der Erzfeind
der Religion ist, und warnte häufig vor ihren Gefahren: »Die
Vernunft ist das größte Hindernis in Bezug auf den Glauben,
weil alles Göttliche ihr ungereimt zu sein scheint, dass ich
nicht sage, dummes Zeug«, heißt es zum Beispiel in den Tisch-
reden.” Und an anderer Stelle: »Wer ein Christ sein will, der
steche seiner.Vernunft die Augen aus.« Kurz, die Vernunft solle
266
man allen Christen lieber austreiben. Luther verstand sich
hervorragend darauf, die unintelligenten Aspekte einer Reli-
gion intelligent zu gestalten und ihnen damit das Überleben
zu erleichtern. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass
er oder irgendein anderer die Religion gestaltet hätte. Sie könn-
te sich auch durch eine (nicht genetische) Form der natürli-
chen Selektion entwickelt haben; dann war Luther nicht ihr
Gestalter, sondern ein schlauer Beobachter ihrer Leistungs-
fähigkeit.
Zwar könnte auch die herkömmliche darwinistische Selek-
tion der Gene gewisse psychologische Neigungen begünstigt
haben, die als Nebenprodukt Religionen hervorbringen, aber
dass sie alle Details geprägt hat, ist unwahrscheinlich. Ich habe
es bereits angedeutet: Wenn wir auf diese Details eine Art Se-
lektionstheorie anwenden wollen, sollten wir uns nicht mit den
Genen beschäftigen, sondern mit ihrer kulturellen Entspre-
chung. Bestehen Religionen aus dem Stoff, aus denen die
Meme sind?
Was ist Wahrheit? In Fragen der Religioneinfach die Anschauung, die überlebt hat.
Oscar Wilde
267
dass diese unangenehme Erkrankung in unserer Spezies so weit
verbreitet ist. Und nicht einmal die Gene müssen einen Nut-
zen davon haben. An ihre Stelle kann jeder Replikator treten.
Die Gene sind nur das bekannteste Beispiel für Replikatoren.
Andere sind Computerviren, oder auch die Meme, Einheiten
der kulturellen Vererbung, die das Thema dieses Abschnitts bil-
den. Wenn wir Meme verstehen wollen, müssen wir uns
zunächst ein wenig genauer ansehen, wie die natürliche Selek-
tion im Einzelnen funktioniert.
Ganz allgemein formuliert, muss die natürliche Selektion
zwischen verschiedenen Replikatoren unterscheiden. Ein Re-
plikator ist ein Stück codierte Information, das exakte Kopien
seiner selbst erzeugt, wobei gelegentlich auch ungenaue Ko-
pien oder »Mutationen« vorkommen. An dieser Stelle setzt der
darwinistische Mechanismus an. Varianten des Replikators, die
zufällig besonders gut kopiert werden, werden auf Kosten der
anderen, deren Kopierfähigkeit weniger gut ist, zahlreicher.
Das ist natürliche Selektion in ihrer allereinfachsten Form. Das
Musterbeispiel eines Replikators ist ein Gen - ein DNA-
Abschnitt, der sich über eine unendliche Zahl von Generatio-
nen hinweg fast immer mit äußerster Genauigkeit verdoppelt.
Die zentrale Frage der Memtheorie lautet: Gibt es auch Ein-
heiten der kulturellen Vererbung, die sich wie Gene als echte
Replikatoren verhalten? Ich behaupte nicht, Meme seien
zwangsläufig eine direkte Entsprechung zu den Genen, aber je
ähnlicher sie den Genen sind, desto besser funktioniert die
Memtheorie. In diesem Abschnitt möchte ich die Frage stellen,
ob sich die Memtheorie auf den Spezialfall der Religion an-
wenden lässt.
In der Welt der Gene sorgen die gelegentlichen Verdoppe-
lungsfehler (Mutationen) dafür, dass der Genpool von jedem
Gen verschiedene Varianten enthält, die »Allele«, die unterei-
nander in Konkurrenz treten können. Worum konkurrieren sie?
Um die Stelle auf dem Chromosom, den »Locus«,der zu dieser
268
Allelgruppe gehört. Und wie konkurrieren sie? Nicht durch
den direkten Kampf Molekül gegen Molekül, sondern über
Stellvertreter. Diese Stellvertreter sind die »phänotypischen
Merkmale«, Dinge wie Beinlänge oder Fellfarbe: Ausdrucksfor-
men der Gene in Anatomie, Physiologie, Biochemie oder Ver-
halten. Das Schicksal eines Gens ist in der Regel an die Körper
gebunden, in denen es sich nacheinander niederlässt. In dem
gleichen Maß, in dem es in diesen Körpern eine Wirkung ent-
faltet, beeinflusst es auch seine eigenen Chancen, im Gesamt-
bestand der Gene erhalten zu bleiben. Im Laufe der Genera-
tionen nimmt die Häufigkeit einzelner Gene im gesamten
Genpool auf dem Weg über ihre phänotypischen Stellvertreter
zu oder ab.
Könnte das Gleiche auch für die Meme gelten? In einer
Hinsicht unterscheiden sie sich ganz deutlich von Genen: Es
gibt keine eindeutig erkennbare Entsprechung zu Chromoso-
men, Loci, Allelen oder sexueller Vermischung. Der Mempool
ist weniger strukturiert und organisiert als der Bestand an Ge-
nen. Dennoch ist es nicht offenkundig absurd, von einem
Mempool zu sprechen, in dem einzelne Meme mit einer be-
stimmten »Häufigkeit« vorkommen, wobei sich diese Häufig-
keit durch Konkurrenzbeziehungen zu anderen Memen än-
dern kann.
Gegen Erklärungen, die sich auf Meme stützen, wurden ver-
schiedene Einwände erhoben; diese erwachsen in der Regel aus
der Tatsache, dass Meme nicht völlig den Genen gleichen. Die
stoffliche Natur der Gene kennen wir heute genau (es sind
DNA-Abschnitte); bei den Memen ist das nicht der Fall, und
verschiedene Memetiker stiften Verwirrung, indem sie von
einem physischen Medium zum anderen wechseln. Existie-
ren Meme nur im Gehirn? Oder hat beispielsweise jedes mit
einem Limerick bedruckte Papier und jede elektronische Kopie
ebenfalls ein Anrecht darauf, als Mem bezeichnet zu werden?
Außerdem verdoppeln sich Gene sehr präzise; ist dagegen die
269
Kopiergenauigkeit der Meme nicht sehr gering - vorausgesetzt,
sie vervielfältigen sich überhaupt?
Diese angeblichen Probleme der Memtheorie werden über-
trieben. Der wichtigste Einwand ist die Behauptung, Meme
würden so ungenau verdoppelt, dass sie nicht als darwinisti-
sche Replikatoren fungieren könnten. Wenn die »Mutations-
rate« in jeder Generation sehr hoch ist, so die Vermutung, ist
das Mem durch die Mutationen bereits verschwunden, bevor
die darwinistische Selektion sich überhaupt auf seine Häufig-
keit im Mempool auswirken kann. Aber das ist nur ein Schein-
problem. Man stelle sich einen Schreinermeister oder einen
prähistorischen Steinwerkzeughersteller vor, der einem jungen
Lehrling eine bestimmte Fähigkeit beibringt. Würde der Lehr-
ling ganz genau jede Handbewegung des Meisters nachahmen,
müsste man tatsächlich damit rechnen, dass das Mem schon
nach wenigen »Generationen« der Weitergabe bis zur Un-
kenntlichkeit mutiert ist. Aber der Lehrling kopiert natürlich
nicht genau jede Handbewegung. Das wäre lächerlich. In Wirk-
lichkeit merkt er, welches Ziel der Meister erreichen will, und
ahmt es nach. Er schlägt einen Nagel ein, bis der Nagelkopf ver-
senkt ist, und führt die dazu erforderliche Zahl von Hammer-
schlägen aus - und das muss nicht die gleiche sein, die der Meis-
ter gebraucht hat. Solche Regeln können ohne Mutation über
eine unbegrenzte Zahl von Nachahmungs»generationen« wei-
tergegeben werden, und dabei spielt es keine Rolle, ob sich die
Ausführung in den Einzelheiten von einer Person zur nächsten
oder von Fall zu Fall unterscheidet. Die Stiche beim Nähen, die
Knoten in Seilen oder Fischernetzen, Origami-Faltmuster,
nützliche Kniffe bei Holz- oder Keramikarbeiten: All das lässt
sich auf abgegrenzte Elemente zurückführen, für die tatsäch-
lich die Aussicht besteht, dass sie unverändert über eine unbe-
grenzte Zahl von Nachahmungsgenerationen weitergereicht
werden. Die Einzelheiten mögen individuellen Veränderungen
unterworfen sein, aber das Wesentliche bleibt unverändert.
270
Mehr brauchen wir nicht, damit die Analogie zwischen Me-
men und Genen funktioniert.
In meinem Vorwort zu Susan Blackmores Buch The Meme
Machine (Die Macht der Meme) habe ich beispielhaft eine Ori-
gami-Anleitung zur Herstellung einer chinesischen Dschunke
aus Papier entwickelt. Es ist eine recht komplizierte Vorschrift,
in der das Papier 32-mal gefaltet oder auf ähnliche Weise
behandelt werden muss. Das Endergebnis (die chinesische
Dschunke) ist ein hübscher Gegenstand, aber hübsch sind auch
mindestens drei Zwischenstufen ihrer »Embryonalentwick-
lung«: der »Katamaran«, die »Schachtel mit zwei Deckeln« und
der »Bilderrahmen«. Der ganze Ablauf erinnert mich tatsächlich
an die Faltung und Einstülpung der Membranen eines Embryos,
der sich von der Blastula über die Gastrula zur Neurula weiter-
entwickelt. Wie man die chinesische Dschunke bastelt, lernte
ich als Junge von meinem Vater, und der hatte das Gleiche in
seinem Internat gelernt. Die Hausdame der Schule hatte da-
mals eine Begeisterung für die Herstellung chinesischer
Dschunken ausgelöst, und die hatte sich in der Schule wie eine
Masernepidemie verbreitet; anschließend war sie —ebenfalls
wie eine Masernepidemie —wieder verschwunden. 26 Jahre
später - die Hausdame war längst nicht mehr da - besuchte ich
die gleiche Schule. Ich löste wiederum die Begeisterung aus,
und wiederum verbreitete sie sich wie eine neue Masernepide-
mie, um dann erneut zu verschwinden. Die Tatsache, dass eine
solche Fähigkeit, die man lehren und lernen kann, sich wie eine
Epidemie verbreitet, liefert Aufschlüsse über die hohe Genau-
igkeit der Memweitergabe. Wir können sicher sein, dass die
Dschunken, die von der Schülergeneration meines Vaters in den
Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts gebastelt wurden, sich
nicht nennenswert von denen aus meiner Generation in den
Fünfzigerjahren unterschieden.
Systematischer könnte man das Phänomen mit einem Expe-
riment untersuchen, das eine Abwandlung des Kinderspiels
271
»Stille Post« darstellt: Wir nehmen zweihundert Personen, die
noch nie zuvor eine Dschunke aus Papier gefaltet haben, und
teilen sie in zwanzig Teams von je zehn Personen ein. Dann ver-
sammeln wir die Leiter der Teams um einen Tisch und zeigen
ihnen, wie man die Dschunke bastelt. Anschließend muss jeder
in seinem Team eine zweite Person auswählen und dieser ganz
allein wiederum vorführen, wie die Dschunke herzustellen ist.
Jede Person aus dieser »zweiten Generation« unterrichtet je-
manden aus der dritten Generation, und so weiter, bis in allen
Teams die zehnte Person erreicht wurde. Alle Dschunken wer-
den aufbewahrt und sowohl mit der Nummer des Teams als
auch mit der Zahl der Generation gekennzeichnet. Am Ende
kann man dann alle Produkte besichtigen.
Ich habe das Experiment nicht gemacht, würde es aber sehr
gern tun. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, wie das Ergeb-
nis aussehen würde. Es wird nicht allen Teams gelingen, die
Fähigkeit bis zum zehnten Mitglied in unveränderter Form
weiterzugeben, aber bei einem beträchtlichen Anteil wird es
der Fall sein. In manchen Teams werden Fehler auftreten: Viel-
leicht hat eine Kette ein schwaches Glied, sodass ein Schritt der
Anleitung vergessen wird, und dann gelingt natürlich allen
nachfolgenden Personen in der Kette der Zusammenbau nicht
mehr. Vielleicht gelangt das Team Nummer 4 bis zum »Kata-
maran« und scheitert dann. Das Mitglied Nummer 8 im Team
Nummer 13 erzeugt möglicherweise irgendwo zwischen der
»Schachtel mit zwei Deckeln« und dem »Bilderrahmen« eine
»Mutante«, sodass die neunte und zehnte Person in dieser
Gruppe die veränderte Version nachbauen.
Für die Teams, in denen die Fähigkeit erfolgreich bis zur
zehnten Generation weitergegeben wird, mache ich eine wei-
tere Aussage. Ordnet man die Dschunken in der Reihenfolge
der »Generationen« an, wird man von Generation zu Genera-
tion keine systematische Qualitätsabnahme beobachten.
Würde man dagegen ein Experiment machen, das in jeder Hin-
272
sicht genauso verliefe, außer dass es nicht um den Nachbau
einer Dschunke ginge, sondern um das Nachzeichnen, so würde
die Genauigkeit der Zeichnungen von der ersten bis zur zehn-
ten Generation mit Sicherheit abnehmen.
In einem solchen Experiment mit Zeichnungen würden alle
Bilder aus der zehnten Generation eine gewisse Ähnlichkeit
mit denen der Generation Nummer 1 aufweisen, und inner-
halb jedes Teams würde die Ähnlichkeit im Laufe der Genera-
tionen mehr oder weniger stetig abnehmen. In der Origami-
Version dagegen ist ein Fehler ein Alles-oder-Nichts-Ereignis:
Hier spielen sich »digitale« Mutationen ab. Entweder macht ein
Team keine Fehler und die Generation 10 ist im Durchschnitt
nicht schlechter als die Generation 5 oder 1, oder in einer Ge-
neration spielt sich eine »Mutation« ab, und alle nachfolgenden
Bemühungen, in denen die Mutation meist genau nachvollzo-
gen wird, sind völlig zum Scheitern verurteilt.
Wo liegt der entscheidende Unterschied zwischen den bei-
den Experimenten? Origami besteht aus einer Abfolge genau
abgegrenzter Handgriffe, von denen jeder einzelne leicht zu er-
lernen ist. Die meisten Einzelschritte sind Anweisungen wie
»Beide Seiten zur Mitte falten«. Selbst wenn ein einzelner
Teamangehöriger diese Anweisung vielleicht unvollkommen
ausführt, ist für den nächsten dennoch klar, was er tun wollte.
Origami besteht aus »selbstnormalisierenden« Einzelschritten,
die damit »digital« sind. Es ist das Gleiche wie bei dem Schrei-
nermeister: Seine Absicht, den Nagelkopf bündig ins Holz zu
schlagen, ist für den Lehrling ohne weiteres zu erkennen - die
Details der einzelnen Hammerschläge spielen dabei keine Rolle.
Entweder man führt einen Schritt der Origami-Anleitung aus,
oder man führt ihn nicht aus. Zeichnen dagegen ist ein analo-
ger Vorgang. Versuchen kann es jeder, aber manche Menschen
kopieren eine Zeichnung genauer als andere, und niemand ko-
piert sie hundertprozentig exakt. Wie originalgetreu eine Kopie
ist, hängt aber auch davon ab, wie viel Zeit und Sorgfalt man
273
auf ihre Anfertigung verwendet, und das sind stufenlos verän-
derliche Größen. Darüber hinaus werden manche Teammit-
glieder das Vorbild aus der vorigen Generation nicht genau
nachzeichnen, sondern ausschmücken und »verbessern«.
Worte sind - zumindest wenn sie verstanden werden - eben-
so selbstnormalisierende Gebilde wie die Handgriffe beim Ori-
gami. In dem ursprünglichen »Stille Post«-Spiel hört das erste
Kind eine Geschichte oder einen Satz, den es dem nächsten
Kind weitersagen soll, und so weiter. Umfasst der Satz weniger
als sieben Wörter in der Muttersprache der Kinder, wird er mit
hoher Wahrscheinlichkeit über zehn Generationen hinweg
ohne Mutationen überleben. Handelt es sich dagegen um eine
Fremdsprache, sodass die Kinder nicht Wort für Wort nach-
sprechen können, sondern den Klang phonetisch nachahmen
müssen, bleibt der Inhalt nicht erhalten. Der Verfall läuft dann
über die Generationen hinweg nach dem gleichen Prinzip ab
wie bei der Zeichnung, und der Inhalt geht verloren. Wenn die
Nachricht in der Muttersprache der Kinder einen Sinn hat und
keine ungewohnten Wörter wie »Phänotyp« oder »Allel« ent-
halten sind, bleibt er erhalten. Dann ahmt das Kind die Laute
nicht phonetisch nach, sondern erkennt jedes Wort als Element
eines begrenzten Wortschatzes, und wenn es die Nachricht an
das nächste Kind weitergibt, wählt es wieder das gleiche Wort,
auch wenn es vermutlich in einem etwas anderen Tonfall aus-
gesprochen wird. Auch geschriebene Sprache normalisiert sich
selbst: Ganz gleich, wie die Haken und Kringel auf dem Papier
sich in den Einzelheiten unterscheiden, sie stammen alle aus
einem endlichen Alphabet von (beispielsweise) 26 Buchstaben.
Die Tatsache, dass Meme durch solche selbstnormalisieren-
den Vorgänge manchmal sehr originalgetreu weitergegeben
werden, ist eine ausreichende Antwort auf die häufigsten Ein-
wände gegen die Analogie von Genen und Memen. Ohnehin
verfolgt die Memtheorie in ihrem jetzigen frühen Entwick-
lungsstadium nicht das Ziel, eine umfassende Erklärung für die
274
Kultur zu liefern und sich auf eine Stufe mit der Watson-Crick-
Genetik zu stellen. Ursprünglich entwickelte ich die Idee der
Meme, weil ich dem Eindruck entgegenwirken wollte, das ein-
zige darwinistische Phänomen sei das Gen - es bestand die Ge-
fahr, dass mein Buch The Selfish Gene (Das egoistische Gen)
einen solchen Eindruck vermittelte.
Auf diesen Punkt weisen auch Peter Richerson und Robert
Boyd in ihrem wertvollen, gut durchdachten Buch Not by
Genes Alone (»Nicht allein durch Gene«) hin. Zugleich nennen
sie aber Gründe, warum man nicht das Wort »Mem« verwen-
den, sondern lieber von »kulturellen Varianten« sprechen sollte.
Stephen Shennan bezog die Anregungen für sein Werk Genes,
Memes and Human History (»Gene, Meme und die menschliche
Geschichte«) teilweise aus einem älteren, ebenfalls sehr guten
Buch von Boyd und Richerson mit dem Titel Culture and the
Evolutionary Process (»Kultur und der evolutionäre Prozess«).
Weitere Abhandlungen in Buchform über Meme sind The Elec-
tric Meme (»Das elektrische Mem«) von Robert Augner, The Sel-
fish Meme (»Das egoistische Mem«) von Kate Distin und Virus
of the Mind: The New Science of the Meme (»Viren des Geistes:
Die neue Wissenschaft von den Memen«) von Richard Brodie.
Weiter als alle anderen jedoch trieb Susan Blackmore die
Memtheorie in ihrem Buch Die Macht der Meme oder die Evo-
lution von Kultur und Geist. Sie zeichnet immer wieder eine
Welt voller Gehirne (oder anderer Behältnisse oder Schalt-
kreise, beispielsweise Computer oder Funkfrequenzbänder), in
der Meme darum kämpfen, diese »Lebensräume« zu besiedeln.
Wie bei den Genen im Genpool, so behalten auch unter den
Memen diejenigen die Oberhand, die sich selbst gut vervielfäl-
tigen können. Das kann daran liegen, dass sie einen direkten
Reiz ausüben - dies trifft vermutlich bei manchen Menschen
auf das Unsterblichkeitsmem zu. Oder aber sie gedeihen in
Gegenwart anderer Meme, die sich im Mempool bereits stark
vermehrt haben. Auf diese Weise entstehen Memkomplexe
275
oder »Memplexe«. Wie immer, wenn es um Meme geht, so ge-
winnen wir auch hier neue Aufschlüsse, wenn wir uns den
genetischen Wurzeln der Analogie zuwenden.
Bisher habe ich die Gene aus didaktischen Gründen so dar-
gestellt, als seien sie isolierte Einheiten, die unabhängig von-
einander wirken. In Wirklichkeit sind sie natürlich nicht unab-
hängig, und das zeigt sich auf zweierlei Weise. Erstens sind
Gene auf den Chromosomen linear hintereinander aufgereiht
und wandern deshalb in der Regel in Gesellschaft ganz be-
stimmter anderer Gene, die benachbarte Positionen auf den
Chromosomen besetzen, durch die Generationen. In der Wis-
senschaft bezeichnet man eine solche Verbindung als Kopp-
lung; ich werde mich darüber hier nicht weiter äußern, denn
bei Memen gibt es weder Chromosomen noch Allele oder se-
xuelle Rekombination. Aber neben der genetischen Kopplung
sind die Gene noch in anderer Hinsicht voneinander abhängig,
und in diesem Fall gibt es bei den Memen eine gute Analogie.
Es hat mit der Embryonalentwicklung zu tun, die ein ganz an-
deres Gebiet ist als die Genetik - eine Tatsache, die häufig nicht
verstanden wird. Ein Organismus entsteht nicht wie ein Puzzle
aus vielen phänotypischen Einzelteilen, die jeweils von einem
bestimmten Gen beigesteuert werden. Einen Eins-zu-eins-
Zusammenhang zwischen bestimmten Genen und einzelnen
‚Aspekten von Anatomie und Verhalten gibt es nicht. Gene pro-
grammieren im Zusammenwirken mit Hunderten anderer
Gene die Entwicklungsprozesse, an deren Ende der fertige Or-
ganismus steht, ganz ähnlich wie die Wörter in einem Kochre-
zept einen Vorgang beschreiben, der mit dem fertigen Gericht
endet. Auch hier entspricht nicht jedes Wort des Rezepts einer
bestimmten Kochzutat. |
Gene wirken also beim Aufbau eines Organismus gruppen-
weise zusammen - das ist eine der wichtigsten Gesetzmäßig-
keiten der Embryologie. Man ist leicht versucht zu behaupten,
die natürliche Selektion würde solche Genkomplexe in einer
276
Art Gruppenselektion gegenüber anderen Genkomplexen be-
günstigen. Aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit stellen die
anderen Gene des Genbestandes einen wichtigen Teil der Um-
welt dar, in der jedes Gen im Vergleich zu seinen anderen Alle-
len der Selektion unterliegt. Da jedes Gen so selektiert wird,
dass es in Gegenwart der anderen - die auf ähnliche Weise se-
lektiert werden - erfolgreich ist, ergeben sich Gruppen zusam-
menwirkender Gene. Wir haben es hier eher mit einem freien
Markt als mit einer Planwirtschaft zu tun. Es gibt einen Metz-
ger und einen Bäcker, aber vielleicht existiert eine Marktlücke
für einen Hersteller von Kerzenleuchtern. Diese Lücke wird
durch die unsichtbare Hand der natürlichen Selektion ge-
schlossen. Das ist ganz etwas anderes, als wenn eine zentrale
Planungsinstanz das Dreiergespann Metzger/Bäcker/Kerzen-
leuchterhersteller begünstigt. Wie wir noch sehen werden, ist
die Idee von zusammenwirkenden Gruppen, die von unsicht-
barer Hand zusammengestellt werden, für unser Verständnis
der religiösen Meme und ihrer Funktionsweise von entschei-
dender Bedeutung.
In den verschiedenen Genpools bilden sich unterschiedliche
Gengruppen heraus. Gene im Genpool der Raubtiere pro-
grammieren Sinnesorgane zum Aufspüren von Beutetieren,
Klauen zum Festhalten der Beute, Reißzähne, Fleisch verdau-
ende Enzyme und vieles andere mehr; alle diese Gene sind ge-
nau so abgestimmt, dass sie gut zusammenwirken. Gleichzeitig
werden im Genpool der Pflanzenfresser andere Gruppen un-
tereinander verträglicher Gene wegen ihres Zusammenwir-
kens begünstigt. Dass ein Gen bevorzugt wird, wenn der zu-
gehörige Phänotyp zur äußeren Umwelt der Spezies - Wüste,
Wald oder was auch immer —passt, ist für uns ein vertrauter
Gedanke. Mit geht es jetzt darum, dass es auch begünstigt
wird, wenn es sich gut mit den anderen Genen seines jeweili-
gen Genpools verträgt. Ein Raubtiergen würde im Genpool
eines Pflanzenfressers nicht erhalten bleiben, und umgekehrt.
277
Aus der langfristigen Sicht der Gene stellt der Genpool einer
Spezies - der Gesamtbestand der Gene, die durch die sexuelle
Fortpflanzung immer wieder neu gemischt werden - die gene-
tische Umwelt dar, in der jedes einzelne Gen anhand seiner
Fähigkeit zum Zusammenwirken selektiert wird. Auch wenn
Mempools weniger stark reglementiert und strukturiert sind
als Genpools, können wir den Mempool als wichtigen Bestand-
teil der »Umwelt« jedes Mems im Memplex bezeichnen.
Ein Memplex ist eine Gruppe von Memen, die allein nicht
unbedingt eine gute Überlebensfähigkeit besitzen, in Gegen-
wart der anderen Meme ihres Memplexes jedoch erhalten blei-
ben. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich bezweifelt, dass
die Evolution der Sprache in ihren Details von irgendeiner
Form der natürlichen Selektion begünstigt wurde. Ich habe die
Vermutung geäußert, dass die Sprachevolution vielmehr durch
zufällige Verschiebungen vorangetrieben wird. Allerdings kann
man sich vorstellen, dass bestimmte Vokale oder Konsonanten
in gebirgigem Gelände besser über große Entfernungen tragen
und deshalb beispielsweise zu charakteristischen Merkmalen
der Dialekte von Schweizern, Tibetanern oder Andenvölkern
wurden, während andere Laute sich eher für das Flüstern im
dichten Wald eignen und deshalb Eingang in die Sprachen von
Pygmäen oder Amazonasindianern fanden. Aber die frühneu-
englische Vokalverschiebung, die ich als Beispiel für die natür-
liche Selektion in der Sprachentwicklung genannt habe, gehört
nicht in diese Kategorie. Sie hat vielmehr damit zu tun, dass
Meme in wechselseitig verträgliche Memplexe passen. Zu-
nächst verschob sich ein Vokal aus unbekannten Gründen -
vielleicht als modische Nachahmung einer bewunderten oder
mächtigen Person, wie es bei der Entstehung der spanischen
Lispellaute gewesen sein soll. Aber ganz gleich, wie die früh-
neuenglische Vokalverschiebung begann: Nachdem sich der
erste Vokal verändert hatte, mussten sich nach dieser Theorie
in der Folge auch andere wandeln, damit Zweideutigkeiten
278
vermieden wurden, und so immer weiter. In diesem zweiten
Entwicklungsstadium wurden Meme vor dem Hintergrund be-
reits vorhandener Mempools selektiert und bildeten einen
neuen Memplex aus untereinander verträglichen Memen.
Damit haben wir nun endlich die Voraussetzungen geschaf-
fen, um uns der memetischen Theorie der Religion zuwenden
zu können. Manche religiösen Gedanken überleben vielleicht
wie manche Gene wegen ihrer absoluten Leistung. Solche
Meme würden in jedem Mempool erhalten bleiben, ganz
gleich, von welchen anderen Memen sie umgeben sind. (Ich
muss noch einmal daran erinnern, dass »Leistung« hier nur
»Überlebensfähigkeit im Mempool« bedeutet. Darüber hinaus
verbindet sich mit dem Wort kein Werturteil.) Manche reli-
giösen Ideen überleben, weil sie sich mit anderen Memen
vertragen, die im Mempool bereits in großer Zahl vorhanden
sind —das heißt, sie werden zu Teilen eines Memplexes. Die
nachfolgende unvollständige Liste führt religiöse Meme auf,
von denen man sich ohne weiteres vorstellen kann, dass sie im
Mempool entweder wegen ihrer absoluten »Leistung« oder we-
gen ihrer Verträglichkeit mit dem vorhandenen Memplex er-
halten bleiben:
279
Wette habe ich die alte Annahme erwähnt, dass Gott eigent-
lich nur eins von uns verlangt: dass wir an ihn glauben. Dort
habe ich das als Kuriosität abgetan. Jetzt haben wir eine Er-
klärung dafür.)
e Glauben ohne Belege ist eine Tugend. Je mehr dein Glaube
den Belegen widerspricht, desto tugendhafter bist du. Be-
sonders großer Lohn erwartet die Glaubensvirtuosen, die es
schaffen, entgegen aller Begründung und Vernunft an etwas
wirklich Seltsames zu glauben, das nicht belegt ist und sich
nicht belegen lässt.
e Alle Menschen - selbst die, die keine religiösen Überzeu-
gungen haben - müssen solchen Überzeugungen automa-
tisch und ohne weiteres Nachfragen ein höheres Maß an Re-
spekt entgegenbringen, als man es anderen Überzeugungen
zugesteht (dieses Thema ist uns schon im ersten Kapitel be-
gegnet).
e Es gibt seltsame Dinge (beispielsweise die Dreifaltigkeit, die
Wandlung oder die Wiedergeburt), die wir gar nicht verste-
hen sollen.Wir dürfen uns nicht darum bemühen, sie zu ver-
stehen, denn ein solcher Versuch könnte sie zerstören. Ler-
nen wir lieber, Erfüllung darin zu finden, dass wir sie als
Geheimnisse bezeichnen. Man denke nur daran, auf welch
boshafte Weise Martin Luther die Vernunft verdammte (Zi-
tat auf Seite 266) und wie er damit solche Meme vor dem
Aussterben schützte.
e Schöne Musik, Kunst und Schriften sind sich selbst vermeh-
rende Zeichen religiöser Gedanken.
280
Einige Gedanken aus dieser Liste haben wahrscheinlich einen
absoluten Überlebenswert und würden in jedem Memplex ge-
deihen. Aber manche Meme bleiben wie Gene nur vor dem
Hintergrund anderer Meme erhalten, was zum Aufbau unter-
schiedlicher Memplexe führt. Zwei verschiedene Religionen
kann man als verschiedene Memplexe betrachten. Vielleicht
entspricht der Islam einem Fleisch fressenden und der Bud-
dhismus einem Pflanzen fressenden Genkomplex. Die Ideen
einer Religion sind nicht in einem absoluten Sinn »besser« als
die einer anderen, genau wie die Gene eines Raubtiers nicht
»besser« sind als die eines Pflanzenfressers. Solche religiösen
Meme besitzen nicht zwangsläufig eine absolute Überlebens-
fähigkeit, aber eines können sie gut: Sie gedeihen in Gegenwart
anderer Meme ihrer eigenen Religion, nicht aber, wenn Meme
anderer Religionen zugegen sind. Nach dieser Vorstellung
wurden beispielsweise der Katholizismus und der Islam nicht
unbedingt von einzelnen Menschen gestaltet, sondern sie ent-
wickelten sich getrennt voneinander als unterschiedliche An-
sammlungen von Memen, die in Gegenwart anderer Mitglieder
des gleichen Memplexes gut gedeihen.
Organisierte Religionen werden von Menschen organisiert:
von Priestern und Bischöfen, Rabbinern, Imamen und Aya-
tollahs. Aber um noch einmal das zu betonen, was ich schon
im Zusammenhang mit Martin Luther gesagt habe: Dies be-
deutet nicht, dass sie von Menschen erdacht und gestaltet
wurden. Selbst wenn Religionen zum Nutzen mächtiger Per-
sonen ausgenutzt und manipuliert wurden, bleibt immer
noch durchaus die Möglichkeit, dass die Form einer Religion
in ihren Einzelheiten vor allem durch unbewusste Evolution
geprägt ist. Dabei handelt es sich nicht um genetische natür-
liche Selektion, denn die ist so langsam, dass man mit ihr
die schnelle Evolution und Auseinanderentwicklung der Reli-
gionen nicht erklären kann. Die genetische natürliche Selek-
tion hat in diesem Zusammenhang die Funktion, das Gehirn
281
mit seinen Vorlieben und Voreingenommenheiten zur Ver-
fügung zu stellen - die Hardwareplattform und die Basis-
Software, die den Hintergrund für die memetische Selektion
bilden.
Vor diesem Hintergrund erscheint mir eine Art memetische
natürliche Selektion eine plausible Erklärung dafür zu sein,
warum sich bestimmte Religionen in den Einzelheiten so und
nicht anders entwickelt haben. In ihren ersten Evolutionssta-
dien, bevor die Überzeugung zu einer organisierten Religion
wird, überleben einfache Meme ausschließlich dadurch, dass
sie auf die Psyche der Menschen ganz allgemein einen Reiz
ausüben. An dieser Stelle überschneiden sich die Memtheorie
der Religion und die Theorie, wonach die Religion ein psycho-
logisches Nebenprodukt ist. Die späteren Phasen, in denen
die Religion organisiert, weiterentwickelt und von anderen
Religionen abgegrenzt wird, lassen sich mit der Theorie der
Memplexe gut beschreiben - eine Religion besteht dann aus
Gruppen untereinander verträglicher Meme. Das schließt eine
zusätzliche absichtliche Manipulation durch Priester und an-
dere nicht aus. Religionen sind vermutlich zumindest teilweise
intelligent gestaltet, ganz ähnlich wie die verschiedenen Schulen
und Moden in der Kunst.
Eine Religion, die fast in ihrer Gesamtheit intelligent gestal-
tet wurde, ist Scientology, aber nach meiner Vermutung han-
delt es sich dabei um eine Ausnahme. Ein weiterer Kandidat
für eine vollständig gestaltete Religion ist das Mormonentum.
Joseph Smith, dessen geschäftstüchtiger, verlogener Erfinder,
schrieb mit großem Aufwand ein ganz neues heiliges Buch, das
Buch Mormon. Er erfand aus dem Nichts eine neue amerikani-
sche Pseudogeschichte, die in pseudoaltem Englisch verfasst
war. Aber das Mormonentum hat sich seit seiner Konstruktion
im 19. Jahrhundert weiterentwickelt und ist heute in den Ver-
einigten Staaten eine der angesehenen Hauptreligionen - nach
den Angaben seiner Vertreter sogar die am schnellsten wach-
282
sende; mittlerweile heißt es sogar, man wolle einen eigenen
Präsidentschaftskandidaten aufstellen.
Die meisten Religionen entwickeln sich weiter. Ganz gleich,
welche Theorie der religiösen Evolution wir uns zu Eigen ma-
chen, sie muss in jedem Fall erklären, warum die Evolution der
Religion unter geeigneten Voraussetzungen so erstaunlich
schnell voranschreiten kann. Dazu eine Fallstudie:
Cargo-Kulte
283
wundersamen Besitztümern der weißen Einwanderer, also der
Beamten, Soldaten und Missionare. Vielleicht wurden sie zu
Opfern des dritten Gesetzes von Arthur C. Clarke, das ich be-
reits in Kapitel 2 zitiert habe: »Jede ausreichend hoch ent-
wickelte Technologie ist von Zauberei nicht zu unterscheiden.«
Den Inselbewohnern fiel auf, dass die Weißen, die sich
solcher Wunderdinge erfreuten, diese nie selbst herstellten.
Musste ein Gegenstand repariert werden, schickte man ihn ir-
gendwohin, und neue Gegenstände kamen als Fracht (»Cargo«)
mit Schiffen oder später mit Flugzeugen. Es war, so Atten-
borough, nie zu beobachten, dass die Weißen irgendetwas her-
stellten oder reparierten - ja, eigentlich taten sie überhaupt
nichts, was als nützliche Arbeit zu erkennen gewesen wäre.
(Hinter einem Schreibtisch zu sitzen war offenbar eine Form
der religiösen Verehrung.) Demnach musste die »Fracht« also
übernatürlichen Ursprungs sein. Und als wollten die Weißen
diese Vorstellung bestätigen, vollzogen sie Handlungen, bei de-
nen es sich nur um rituelle Zeremonien handeln konnte:
Sie bauen hohe Masten auf und befestigen Drähte daran; sie
sitzen lauschend vor kleinen Kisten, in denen Lichter glim-
men und die seltsame Geräusche oder krächzende Stimmen
von sich geben; sie veranlassen die Bewohner der Gegend, sich
gleich zu kleiden, und lassen sie dann auf und ab marschie-
ren - eine nutzlosere Tätigkeit kann man sich kaum ausmalen.
Dann plötzlich erkennt der Einheimische, dass er des Rätsels
Lösung gefunden hat. Diese unbegreiflichen Tätigkeiten sind
die Rituale, mit denen der weiße Mann die Götter dazu
bringt, ihnen Fracht zu schicken. Wenn der Einheimische die
Fracht haben will, muss er ebenfalls solche Dinge tun.
284
Die Anthropologen stellten zwei getrennte Ausbrüche in
Neukaledonien fest, vier auf den Salomonen, vier auf den Fid-
schi-Inseln, sieben auf den Neuen Hebriden und über fünfzig
in Neuguinea, die meisten davon unabhängig und ohne Zu-
sammenhang mit anderen. In ihrer Mehrzahl behaupteten
diese Religionen, ein bestimmter Messias werde die Fracht
bringen, wenn der Tag des Weltunterganges gekommen sei.
* Man vergleiche dies mit Jesaja 40,4: »Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge
und Hügel sollen erniedrigt werden.« Diese Ähnlichkeit ist allerdings wohl kein Zei-
chen für eine grundlegende Eigenschaft der menschlichen Psyche oder für das Jung’-
sche »kollektive Unbewusste«. Denn diese Inseln waren schon lange von Missionaren
verseucht.
285
trieben werden und nie wiederkommen; und die Fracht werde
in großen Mengen eintreffen, sodass alle so viel bekämen, wie
sie haben wollten.
Beunruhigender für die Regierung war eine zweite Prophe-
zeiung von John Frum: Er erklärte, bei seiner Wiederkehr
werde er neue Münzen mitbringen, auf denen das Bild einer
Kokosnuss eingeprägt sei. Deshalb müssten die Menschen ihr
ganzes Geld in der Währung der Weißen loswerden. Dies
führte 1941 zu einer gewaltigen Orgie des Geldausgebens; die
Menschen arbeiteten nicht mehr, und die Wirtschaft der Insel
nahm schweren Schaden. Die Kolonialverwaltung ließ die Rä-
delsführer verhaften, aber was sie auch unternahm, sie konnte
den Kult nicht abwürgen; Missionskirchen und -schulen stan-
den leer.
Etwas später machte sich eine neue Lehre breit: Danach war
John Frum König von Amerika. Wie es das Schicksal wollte, ka-
men ungefähr zu dieser Zeit amerikanische Truppen auf die
Neuen Hebriden, und Wunder über Wunder, unter ihnen wa-
ren auch Schwarze, die nicht arm waren wie die Inselbewoh-
ner, sondern
286
In den Fünfzigerjahren reiste der junge David Attenborough
mit dem Kameramann Geoffrey Mulligan nach Tanna, um den
John-Frum-Kult genauer zu erforschen. Sie fanden viele Spu-
ren der Religion und wurden schließlich mit dem Oberpriester
bekannt gemacht, einem Mann namens Nambas. Dieser nannte
seinen Messias ganz vertraulich John und behauptete, er würde
regelmäßig über »Funk« mit ihm sprechen. Das Funkgerät
(»Funk gehören John«) bestand aus einer alten Frau, die sich
einen Draht um die Taille gewickelt hatte, in Trance verfiel und
Kauderwelsch redete, das Nambas dann als die Worte John
Frums deutete. Der Priester behauptete auch, er habe schon
vorher gewusst, dass Attenborough zu ihm kommen werde,
denn das habe John Frum ihm über »Funk« mitgeteilt. Atten-
borough wollte das Funkgerät sehen, aber dieses Ansinnen
wurde erwartungsgemäß abgelehnt. Er wechselte das Thema
und erkundigte sich, ob Nambas den Messias John Frum schon
einmal gesehen hätte:
287
»Aber Sam, es ist schon neunzehn Jahre her, seit John gesagt
hat, die Fracht werde kommen. Er verspricht und verspricht,
aber die Fracht kommt nicht. Sind neunzehn Jahre nicht
eine lange Zeit zum Warten?«
Sam hob den Blick vom Boden und sah mich an. »Wenn
ihr zweitausend Jahre auf Jesus Christus wartet, und er
kommt nicht, dann kann ich auch mehr als neunzehn Jahre
auf John warten.«
288
noch Zeitzeugen gibt. Aber obwohl der zeitliche Abstand so
gering ist, steht nicht genau fest, ob es ihn überhaupt gab. Die
dritte Lektion ergibt sich aus der Tatsache, dass ähnliche Kulte
unabhängig voneinander auf verschiedenen Inseln entstanden.
Die systematische Untersuchung dieser Ähnlichkeiten liefert
Aufschlüsse über die menschliche Psyche und ihre Anfälligkeit
für Religionen. Und viertens sind die Cargo-Kulte nicht nur
untereinander ähnlich, sondern sie ähneln auch älteren Reli-
gionen. Das Christentum und andere Religionen, die heute
weltweit verbreitet sind, waren anfangs vermutlich ebenso lo-
kal begrenzte Kulte wie der um John Frum.
Wissenschaftler wie Geza Vermes, Professor für jüdische
Studien an der Universität Oxford, äußerten sogar die Vermu-
tung, Jesus sei nur eine von vielen charismatischen Gestalten
gewesen, die ungefähr zur gleichen Zeit in Palästina auftraten
und um die sich ähnliche Legenden rankten. Die meisten die-
ser Kulte verschwanden wieder; nur einer, so diese Vorstellung,
überlebte und begegnet uns heute noch. Im Laufe der Jahr-
hunderte wurde er durch weitere Evolution (durch memeti-
sche Selektion, wenn man es so formulieren will - was aber
nicht unbedingt nötig ist) zu dem raffinierten System —oder
eigentlich zu auseinanderstrebenden Nachfolgesystemen - ge-
formt, das heute in weiten Teilen der Welt eine beherrschende
Stellung einnimmt. Eine gute Gelegenheit, den Aufstieg von
Kulten und ihre weitere memetische Evolution zu studieren,
bietet der Tod charismatischer Gestalten aus unserer Zeit wie
Haile Selassie, Elvis Presley oder Prinzessin Diana.
Damit möchte ich meine Erörterung über die Wurzeln der
Religion abschließen. Ich werde nur im zehnten Kapitel noch
einmal darauf zurückkommen, wenn ich im Zusammenhang
mit den psychologischen »Bedürfnissen«, die von der Religion
erfüllt werden, das Phänomen des »imaginären Freundes« in
der Kindheit diskutiere.
Häufig herrscht die Ansicht, Ethik habe ihre Wurzeln in der
289
Religion; diese Auffassung möchte ich im nächsten Kapitel in-
frage stellen. Ich werde darlegen, wie man auch die Entstehung
der Ethik einer darwinistischen Fragestellung unterwerfen
kann. Die Frage, worin der darwinistische Überlebenswert der
Religion besteht, können wir genauso auch im Zusammenhang
mit der Ethik stellen. Die Ethik ist vermutlich sogar älter als die
Religion. Genau wie wir uns bei der Religion von der Frage ab-
gewandt und sie neu formuliert haben, werden wir auch bei
der Ethik feststellen, dass man sie vermutlich am besten als Ne-
benprodukt von etwas anderem betrachtet.
290
0 Die Wurzeln der Moral:
Warum sind wir gut?
Seltsam ist unsere Situation hier auf Erden. Jeder von uns kommt
zu einem kurzen Besuch, ohne zu wissen warum, und doch
anscheinend manchmal um einen Zweck zu erfüllen.
Es gibt jedoch eines, das wir mit Sicherheit wissen: Der Mensch ist kier
um der anderen Menschen willen - vor allem für jene,
von deren Lächeln und Wohlergehenunser eigenesGlück abhängt.
Albert Einstein
291
a
Design (»DasTrojanische Pferd des Kreationismus: Der Keil des
Intelligent Design«) gnadenlos offengelegt wird.
Ich bekomme von den Lesern meiner Bücher zahlreiche
Briefe.* Die meisten sind begeistert und freundlich, manche
enthalten nützliche Kritik, und ein paar sind auch gehässig
oder gar heimtückisch. Leider muss ich berichten, dass die
gehässigsten Zuschriften fast immer religiös motiviert sind.
Solche unchristlichen Beschimpfungen erleben all jene, die als
Feinde des Christentums wahrgenommen werden, sehr häufig.
Der folgende Brief wurde im Internet veröffentlicht. Sein
Adressat ist Brian Flemming, der Autor und Regisseur des
Films The God Who Wasn’t There (»Der Gott, den es nicht
gab«)” - ein Film, der sich aufrichtig und anrührend für den
Atheismus einsetzt. Unter der Überschrift »Brenne, während
wir lachen« und mit dem Datum vom 21. Dezember 2005
heißt es in dem Brief an Flemming:
* Es sind so viele, dass ich sie nicht alle angemessen beantworten kann. Dafür bitte ich
um Entschuldigung.
292
Indes, seine Nächstenliebe ist nicht von langer Dauer:
Mich tröstet die Gewissheit, dass die Strafe, die GOTT euch
auferlegen wird, tausendmal schlimmer ist als alles, was ich
euch antun könnte. Das Beste dabei ist noch, dass ihr ewig
für diese Sünden büßen werdet, von denen ihr überhaupt
nichts wisst. Der Zorn GOTTES wird keine Gnade kennen.
Um eurer selbst willen hoffe ich, dass euch die Wahrheit of-
fenbart wird, bevor das Messer sich in euer Fleisch senkt.
Frohe WEIHNACHTEN!
Für mich ist es ein echtes Rätsel, wie eine schlichte theologi-
sche Meinungsverschiedenheit Anlass zu so viel Gehässigkeit
geben kann. Das folgende Beispiel stammt aus dem Postein-
gang der Redaktion von Freethought Today (»Freidenkertum
heute«), einer Zeitschrift, die von der Freedom from Religion
Foundation (FFRF)herausgegeben wird und in den Vereinigten
Staaten friedlichen Widerstand gegen die schleichende Unter-
wanderung der verfassungsmäßigen Trennung von Kirche und
Staat leistet:
Wie war das doch gleich mit dem Käse? Amerikanische Freun-
de sagten mir, das könne als Anspielung auf den berüchtigt li-
beralen US-Bundesstaat Wisconsin gemeint sein, der sowohl
Sitz der FFRF als auch Heimat einer großen Molkereiindustrie
ist. Aber steckt nicht doch mehr dahinter? Und wie steht es mit
293
en
BP
Aue
den französischen »Käse fressenden Kapitulationsaffen«, auf
die der konservative Journalist Jonah Goldberg vor Beginn des
Irakkrieges eindrosch? Welchen Symbolwert hat Käse? Aber le-
sen wir weiter:
Für mich drängt sich hier vor allem die Frage auf, wie man glau-
ben kann, Gott habe eine derart hitzige Verteidigung nötig.
Man sollte doch meinen, dass Gott ohne weiteres in der Lage
ist, für seine eigenen Belange einzutreten. Wenn nicht er, wer
sonst? Außerdem ist noch zu bedenken, dass die so boshaft be-
294
schimpfte und bedrohte Redakteurin der Zeitschrift in Wahr-
heit eine sanfte, liebenswürdige junge Frau ist.
Wenn die Schmähbriefe, die ich selbst erhalte, meist nicht in
dieser Liga spielen, liegt das vielleicht daran, dass ich nicht in den
Vereinigten Staaten lebe. Doch auch aus ihnen spricht nicht ge-
rade jene Nächstenliebe, für die der Gründer des Christentums
gerühmt wurde. Das folgende Schreiben vom Mai 2005 stammt
von einem britischen Doktor der Medizin. Es ist zwar voller
Hass, wirkt auf mich aber eher gequält als gehässig und macht
deutlich, wie die ganze Frage der Ethik zu einem reichen Quell
der Feindseligkeit gegen den Atheismus wird. Nach einigen ein-
leitenden Absätzen, in denen er über die Evolution herzieht
(und die sarkastische Frage stellt, ob sich ein »Neger« noch »im
Evolutionsprozess befindet«), greift er Darwin persönlich an, zi-
tiert Huxley fälschlich als Evolutionsgegner und fordert mich
auf, ein Buch zu lesen (was ich getan habe), welches die Ansicht
vertritt, die Welt sei nur achttausend Jahre alt (kann er seinen
Doktor wirklich selbst gemacht haben?). Am Ende schreibt er:
295
menschlichen Beziehungen? Sind Sie geschieden? Verwit-
wet? Homosexuell? Menschen wie Sie sind niemals glück-
lich, sonst würden sie nicht so verbissen zu beweisen versu-
chen, dass es kein Glück gibt und dass nichts einen Sinn hat.
Der Ton dieses Briefes ist zwar nicht typisch, aber er spiegelt
eine verbreitete Empfindung wider. Sein Verfasser glaubt, der
Darwinismus sei seinem Wesen nach nihilistisch, weil er an-
geblich lehrt, dass wir durch blinden Zufall entstanden seien
(zum x-ten Mal: Natürliche Selektion ist genau das Gegenteil
eines Zufallsprozesses) und nach unserem Tod vernichtet wür-
den. Als unmittelbare Folge erwachsen aus dieser angeblichen
Negativität dann alle möglichen Übel. Vermutlich wollte der
Schreiber nicht wirklich unterstellen, der Stand als Witwer sei
eine unmittelbare Folge meines Darwinismus, aber an dieser
Stelle hatte der Brief bereits jenes Maß an panischer Boshaftig-
keit erreicht, das ich bei meinen christlichen Korrespondenz-
partnern immer wieder feststellen muss.
Weil ich der Frage nach dem letzten Sinn und der Poesie der
Naturwissenschaft schon ein ganzes Buch gewidmet habe, Un-
weaving the Rainbow (Der entzauberte Regenbogen), und darin
sehr gezielt und ausführlich den Vorwurf der nihilistischen Ne-
gativität widerlegt habe, werde ich mich dazu an dieser Stelle
zurückhalten. Stattdessen handelt das vorliegende Kapitel vom
Bösen und seinem Gegenteil, dem Guten. Es geht um die
Ethik: Woher kommt sie, warum sollten wir sie uns zu eigen
machen, und brauchen wir dafür eine Religion?
Die Ansicht, dass sich unser Gespür für Richtig und Falsch,
Gut und Böse aus unserer darwinistischen Vergangenheit ab-
leiten lasse, wurde bereits in mehreren Büchern vertreten - un-
296
ter anderem in Why Good Is Good (»Warum gut gut ist«) von
Robert Hinde, The Science of Good and Evil (»Die Wissenschaft
vom Guten und vom Bösen«) von Michael Shermer, Can We Be
Good Without God? (»Können wir ohne Gott gut sein?«) von
Robert Buckman und Moral Minds (»Moralisches Denken«)
von Marc Hauser. Im folgenden Abschnitt möchte ich dieser
Argumentation meine eigene Fassung geben.
Die darwinistische Vorstellung, natürliche Selektion sei die
Triebkraft der Evolution, scheint auf den ersten Blick nicht
dazu geeignet zu sein, unsere guten Eigenschaften oder unser
Gefühl für Moral, Anstand, Mitgefühl und Mitleid zu er-
klären. Hunger, Angst oder sexuelle Begierde lassen sich leicht
mit der natürlichen Selektion begründen, denn sie alle tragen
ganz unmittelbar zu unserem Überleben oder zur Erhaltung
unserer Gene bei. Doch wie steht es mit dem quälenden Mit-
gefühl, das wir empfinden, wenn wir ein weinendes Waisen-
kind sehen, eine alte, in ihrer Einsamkeit verzweifelte Witwe
oder ein Tier, das vor Schmerzen winselt? Woher kommt unser
machtvoller Drang, eine anonyme Geld- oder Kleiderspen-
de an Tsunamiopfer auf der anderen Seite des Globus zu
schicken, also an Menschen, die wir wahrscheinlich nie ken-
nen lernen werden und die uns im Gegenzug vermutlich kei-
nen Gefallen tun können? Woher stammt der Barmherzige Sa-
mariter in uns? Ist Güte nicht unvereinbar mit der Theorie der
»egoistischen Gene«? Nein, das ist sie nicht. Aber es ist im Zu-
sammenhang mit dieser Theorie ein verbreitetes, bedrücken-
des (und im Rückblick leider vorhersehbares) Missverständnis.*
* Für mich war es bedrückend, als ich im Guardian (»Animal Instincts«, 27. Mai 2006) le-
sen musste, Das egoistischeGen sei das Lieblingsbuch von Jeff Skilling, dem CEO des
berüchtigten Enron-Konzerns, und er habe daraus Anregungen sozialdarwinistischer
Natur bezogen. Der Journalist Richard Conniff vom Guardian liefert für dieses Miss-
verständnis eine gute Erklärung; vgl. http://money.guardian.co.uk/workweekly/story/
0,,1783900,00.html (1.4.2007). In meinem neuen Vorwort zur Jubiläumsausgabe, die
kürzlich zum 30. Jahrestag des Ersterscheinens bei Oxford University Press herausge-
kommen ist, habe ich mich bemüht, ähnlichen Missverständnissen vorzubeugen.
297
Br.
Es ist nur erforderlich, das richtige Wort zu betonen; die
richtige Gewichtung lautet »Das egoistische Gen«. Dann
steht es im Gegensatz zum egoistischen Organismus oder zur
egoistischen Spezies. Doch das muss ich etwas genauer er-
klären.
Die darwinistische Logik führt zu der Erkenntnis, dass je-
nes Element in der Hierarchie des Lebendigen, das überlebt
und vom Filter der natürlichen Selektion durchgelassen wird,
egoistisch ist. In der Umwelt überleben diejenigen Einheiten,
denen es gelingt, auf Kosten ihrer auf der gleichen Hierar-
chieebene angesiedelten Rivalen zu überleben. Genau das
bedeutet das Wort »egoistisch« in diesem Zusammenhang.
Die entscheidende Frage lautet: Auf welcher Ebene findet
das Ganze statt? Die Vorstellung vom egoistischen Gen —mit
der richtigen Betonung auf dem zweiten Wort —geht davon
aus, dass nicht der egoistische Organismus, die egoistische
Gruppe, die egoistische Spezies oder das egoistische Ökosys-
tem als Einheit der natürlichen Selektion (das heißt als Ein-
heit des Selbstinteresses) dient, sondern das egoistische Gen.
Das Gen bleibt in Form seiner Informationen über viele Ge-
nerationen hinweg erhalten, oder auch nicht. Im Gegensatz
zum Gen (und, wie man behaupten könnte, zum Mem) sind
Individuum, Gruppe oder Spezies keine Gebilde, die in die-
sem Sinn als Einheiten gelten können, denn sie stellen keine
exakten Kopien ihrer selbst her und konkurrieren nicht mit-
einander im Gesamtbestand solcher selbstverdoppelndenGe-
bilde. Genau dies tun aber die Gene, und das ist die völlig
logische Rechtfertigung dafür, das Gen als Einheit des »Egois-
mus« in diesem spezifisch darwinistischen Sinn herauszu-
greifen.
Wo sorgen die Gene nun für ihr eigenes »egoistisches«
Überleben im Verhältnis zu anderen Genen? Der nahelie-
gendste Weg besteht darin, dass sie die einzelnen Organismen
auf Egoismus programmieren. In vielen Fällen nützt das
298
Überleben des Organismus tatsächlich auch dem Überleben
der Gene, die darin zu Hause sind. Doch unterschiedliche
Umstände erfordern unterschiedliche Strategien. Unter man-
chen - gar nicht einmal so seltenen - Voraussetzungen sorgen
die Gene für ihr eigenes, egoistisches Überleben am besten
dadurch, dass sie den Organismus zum Altruismus veran-
lassen.
Welche Voraussetzungen das sind, ist heute ziemlich gut be-
kannt. Sie lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Ein Gen, das
den einzelnen Organismus darauf programmiert, seinen eige-
nen Verwandten einen Gefallen zu tun, nützt mit hoher statis-
tischer Wahrscheinlichkeit seinen eigenen Kopien. Die Häufig-
keit eines solchen Gens kann im Genpool so weit anwachsen,
dass Altruismus gegenüber den Verwandten zum Normalfall
wird. Die Versorgung der eigenen Kinder ist das offenkundigste
Beispiel, aber keineswegs das einzige. Bienen, Wespen, Amei-
sen, Termiten und in geringerem Ausmaß auch Wirbeltiere wie
Nacktmulle, Erdmännchen und Eichelspechte bilden Gesell-
schaften, in denen die älteren Geschwister für die jüngeren
(mit denen sie wahrscheinlich die Gene für die Brutpflege tei-
len) sorgen. Wie mein mittlerweile verstorbener Kollege W.D.
Hamilton nachweisen konnte, sorgen viele Tiere ganz all-
gemein für ihre nächsten Angehörigen: Diese werden vertei-
digt, beschützt, vor Gefahren gewarnt und auch sonst altruis-
tisch behandelt, weil eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit
besteht, dass auch Verwandte Kopien der gleichen Gene be-
sitzen.
Der zweite Haupttyp, für den wir eine gut ausgearbeitete
darwinistische Erklärung haben, ist der wechselseitige Altruis-
mus (»Eine Hand wäscht die andere«). Dieser Gedanke, der
erstmals von Robert Trivers in die Evolutionsforschung einge-
führt wurde und heute häufig in der mathematischen Sprache
der Spieltheorie formuliert wird, stützt sich nicht auf gemein-
same Gene. Das Prinzip funktioniert ebenso gut oder vielleicht
299
ut
sogar noch besser, wenn es sich um Angehörige ganz unter-
schiedlicher biologischer Arten handelt - in einem solchen Fall
spricht man von Symbiose. Auf dem gleichen Prinzip beruhen
auch Handel und Austausch unter den Menschen. Der Jäger
braucht einen Speer, und der Schmied hätte gern Fleisch. Die
Asymmetrie wird zum Ausgangspunkt für ein Geschäft. Die
Biene braucht Nektar, und die Blüte muss bestäubt werden.
Blüten können nicht fliegen, also bezahlen sie die Bienen in
Nektarwährung, damit diese ihre Flügel zur Verfügung stellen.
Vögel aus der Gruppe der Honiganzeiger finden Bienennester,
können aber nicht in sie eindringen. Honigdachse wiederum
brechen in Bienennester ein, doch ihnen fehlen die Flügel, um
danach zu suchen. Also dirigiert der Honiganzeiger den Honig-
dachs (und manchmal auch einen Menschen) mit einem be-
sonders aufreizenden Flug, der keinem anderen Zweck dient,
zum Honig. Von diesem Geschäft profitieren beide Seiten. Un-
ter einem großen Stein liegt vielleicht ein Goldschatz, aber der
Brocken ist so schwer, dass der Entdecker ihn nicht bewegen
kann. Er holt andere zu Hilfe, obwohl er dann mit diesen das
Gold teilen muss —aber ohne sie bekäme er überhaupt nichts.
Die Reiche des Lebendigen sind voll von solchen Beziehungen
auf Gegenseitigkeit: Büffel und Madenhacker, rote Röhrenblü-
ten und Kolibris, Zackenbarsche und Putzerfische, Kühe und
die Mikroorganismen in ihrem Darm. Der Altruismus auf Ge-
genseitigkeit wird möglich, weil sowohl in den Bedürfnissen als
auch in der Fähigkeit zu ihrer Befriedigung eine Asymmetrie
besteht. Das ist der Grund, warum sie zwischen unterschied-
lichen Arten besonders gut funktioniert. Die Asymmetrie ist
einfach größer.
Wir Menschen haben Schuldscheine und Geld als Hilfs-
mittel, um solche Transaktionen auch mit Verzögerung zu er-
möglichen. Die Handelspartner müssen sich ihre Güter nicht
zur gleichen Zeit übergeben, sondern können für die Zukunft
Schulden machen und diese sogar an andere weiterverkaufen.
300
Soweit mir bekannt ist, gibt es außer bei den Menschen bei
keiner Tierart eine unmittelbare Entsprechung zum Geld.
Aber auf formlosere Weise erfüllen Erinnerungen an die indi-
viduelle Identität die gleiche Funktion. Vampirfledermäuse
lernen, bei welchen Individuen in ihrer sozialen Gruppe sie
sich darauf verlassen können, dass Schulden (in Form von
hochgewürgtem Blut) zurückgezahlt werden und welche In-
dividuen Betrüger sind. Die natürliche Selektion begünstigt
Gene, die das Individuum in Beziehungen mit ungleich ver-
teilten Bedürfnissen und Gelegenheiten dazu veranlassen,
etwas zu geben, wenn es dazu in der Lage ist, und sonst um
etwas zu bitten. Außerdem begünstigt sie auch die Nei-
gung, sich an Verpflichtungen zu erinnern, Groll zu hegen,
Tauschbeziehungen zu überwachen und Betrüger zu bestra-
fen, die zwar nehmen, aber nicht geben, wenn sie an der Reihe
sind.
Betrüger wird es immer geben, und eine tragfähige Lösung
für das spieltheoretische Dilemma des gegenseitigen Altruis-
mus beinhaltet stets ein Element der Bestrafung unehrlicher
Zeitgenossen. Für derartige »Spiele« lässt die mathematische
Theorie zwei weit gefasste Klassen stabiler Lösungen zu. »Im-
mer fies sein« ist stabil, denn wenn alle anderen es genauso
machen, kann ein einzelnes freundliches Individuum nichts
erreichen. Es gibt aber noch eine zweite stabile Strategie.
(Stabil« bedeutet hier: Sobald die Lösung in der Bevölke-
rung eine gewisse kritische Verbreitung überschritten hat,
gibt es keine bessere Alternative.) Das ist die Strategie nach
dem Motto »Sei von Anfang an nett und unterstelle auch an-
deren im Zweifel nur Gutes. Zahle Gutes mit Gutem heim,
aber ahnde schlechte Taten.« In der Sprache der Spieltheorie
trägt diese Strategie (oder Gruppe ähnlicher Strategien) ver-
schiedene Namen; häufig wird sie als »Wie du mir, so ich dir«
oder »Schlag und Gegenschlag« bezeichnet. In der Evolution
ist sie unter bestimmten Bedingungen stabil, das heißt, in
301
einer Population, in der die Mehrheit nach diesem Prinzip
verfährt, schneidet weder ein einzelnes fieses Individuum
noch eines, das bedingungslos nett ist, besser ab. Es gibt
noch andere, kompliziertere Varianten des »Wie du mir, so
ich dir«, denen es unter bestimmten Umständen besser er-
geht.
Ich habe Verwandtschaft und gegenseitigen Nutzen als
Säulen des Altruismus in der darwinistischen Welt bezeich-
net, aber darüber hinaus gibt es auch sekundäre Strukturen,
die auf diesen großen Pfeilern ruhen. Insbesondere in der Ge-
sellschaft der Menschen, in der es Sprache und Tratsch gibt, ist
der Ruf sehr wichtig. Jemand kann beispielsweise in dem Ruf
stehen, freundlich und großzügig zu sein, und ein anderer
steht in dem Ruf; unzuverlässig zu sein, zu betrügen und sich
nicht an Abmachungen zu halten. Von einem Dritten weiß
man vielleicht, dass er großzügig ist, wenn man sein Vertrauen
erworben hat, dass er Hinterlist jedoch erbarmungslos be-
straft. Die nüchterne Theorie des gegenseitigen Altruismus
sagt voraus, dass das Verhalten aller Tierarten seine Grundlage
in unbewussten Reaktionen auf solche Eigenschaften der Art-
genossen hat.
In unserer menschlichen Gesellschaft verbreiten wir den
Ruf zusätzlich durch die Macht der Sprache, und zwar meist in
Form von Tratsch. Wir müssen nicht selbst darunter gelitten
haben, dass X es versäumt hat, in der Kneipe eine Runde aus-
zugeben, als er an der Reihe war. Unter Umständen wissen wir
nur vom Hörensagen, dass X ein Geizkragen ist oder- um dem
Beispiel eine ironische Komplikation hinzuzufügen - dass Y
entsetzlich viel tratscht. Der Ruf ist wichtig, und die Biologen
können durchaus einen darwinistischen Überlebensvorteil
darin erkennen, wenn man nicht nur Gutes mit Gutem vergilt,
sondern sich auch den Ruf erwirbt, sich so zu verhalten. The
Origins of Virtue (Die Biologieder Tugend) von Matt Ridley ist
nicht nur eine aufschlussreiche Darstellung des gesamten Ge-
302
bietes der darwinistischen Ethik, sondern es erläutert auch be-
sonders gut die Frage des Rufes.*
Eine weitere faszinierende Idee steuerten der norwegisch-
amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Thorstein Veblen
und - auf ganz andere Weise - der israelische Zoologe Amotz
Zahavi bei. Altruistisches Geben kann Werbung für die eigene
Dominanz oder Überlegenheit sein. Anthropologen kennen den
»Potlatch-Effekt«; der Name erinnert an die Sitte der rivalisie-
renden Indianerhäuptlinge im Nordwesten Nordamerikas, die
sich gegenseitig mit immer üppigeren, ruinösen Festen überbo-
ten. Im Extremfall setzen sich die gegenseitigen Einladungen
zum Gelage so lange fort, bis eine Seite in Armut versinkt, wo-
bei es dem Sieger jedoch kaum besser ergeht. Veblens Begriff des
»demonstrativen Konsums« (conspicuous consumption) kommt
vielen Beobachtern des modernen Lebens durchaus bekannt
vor. Zahavis Beitrag dagegen blieb bei den Biologen über viele
Jahre hinweg unbeachtet, bis er durch ausgezeichnete mathe-
matische Modelle des Theoretikers Alan Grafen bestätigt
wurde: Es handelt sich um eine evolutionsorientierte Version
des Potlatch-Begriffs.
Zahavi beschäftigte sich mit Graudrosslingen, kleinen,
braunen Vögeln, die soziale Gruppen bilden und gemeinsam
brüten. Wie viele kleine Vögel stoßen auch die Graudrosslinge
Warnschreie aus und geben sich gegenseitig Futter ab. In der
üblichen darwinistischen Untersuchung solcher altruistischen
* Den Ruf gibt es nicht nur bei Menschen. Wie kürzlich nachgewiesen wurde, spielt er
auch in einem der klassischen Fälle von gegenseitigem Altruismus bei Tieren eine
Rolle bei der symbiotischen Beziehung zwischen den kleinen Putzerfischen und ihren
wesentlich größeren »Kunden«. In einem gut durchdachten Experiment wurde ge-
zeigt, dass einzelne Putzerlippfische (Labroides dimidiatus), die von potenziellen Kun-
den beobachtet worden waren und sich als geschickte Putzer erwiesen hatten, von
diesen Kunden häufiger ausgewählt wurden als andere Putzerfische, die zuvor ihre
Reinigungsaufgabe vernachlässigt hatten. Vgl.R. Bshary/A. S. Grutter, »Image Scoring
and Cooperation in a Cleaner Fish Mutualism«, Nature 441 (22. Juni 2006),
S.975-978.
303
Verhaltensweisen würde man unter den Vögeln zuerst nach
Gegenseitigkeit und Verwandtschaftsbeziehungen suchen. Er-
wartet ein Graudrossling, der einen Artgenossen füttert, dass
er selbst später auch umgekehrt gefüttert wird? Oder ist der
Nutznießer ein genetisch enger Verwandter? Zahavi liefert
eine überraschende Interpretation: Dominante Graudrosslinge
sichern sich ihre Herrschaft, indem sie die Untergebenen füt-
tern. Um die vermenschlichte Sprache zu benutzen, die Za-
havi so großes Vergnügen bereitet: Der dominante Vogel sagt
so etwas wie »Sieh nur, wie haushoch ich dir überlegen bin —
ich kann es mir leisten, dir etwas zu fressen zu geben«. Oder:
»Sieh nur, wie haushoch ich dir überlegen bin - ich kann es mir
sogar leisten, mich für die Falken angreifbar zu machen; ich
sitze auf einem hohen Ast, spiele den Wächter und warne alle
übrigen Vögel des Schwarms, die am Boden nach Nahrung
suchen.«
Zahavis Beobachtungen und die seiner Kollegen lassen da-
rauf schließen, dass die Graudrosslinge aktiv um die gefähr-
liche Aufgabe des Wächters konkurrieren. Versucht ein un-
tergeordneter Vogel, einem dominanten Artgenossen Futter
anzubieten, so wird diese scheinbare Großzügigkeit energisch
zurückgewiesen. Im Wesentlichen lautet Zahavis Aussage: Die
Zurschaustellung von Überlegenheit wird durch den Aufwand
glaubwürdig. Nur ein wirklich überlegener Vogel kann es sich
leisten, diese Tatsache mit einem kostbaren Geschenk zu be-
kräftigen.
Ein Individuum erkauft sich seinen Erfolg - zum Beispiel
beim Anlocken von Paarungspartnern - mit einer kostspieligen
Demonstration der Überlegenheit, zu der betonte Großzügig-
keit und die Übernahme von Risiken im Interesse der Allge-
meinheit gehören.
Damit haben wir nun vier stichhaltige darwinistische Grün-
de, warum Individuen untereinander altruistisch, großzügig,
oder »moralisch« handeln. Der erste betrifft den Sonderfall der
304
Verwandtschaft. Der zweite ist die Gegenseitigkeit: Gefällig-
keiten werden vergolten und in »Erwartung« eines solchen Ge-
gengefallens erwiesen. Darauf folgt sofort der dritte: der darwi-
nistische Vorteil, den es bedeutet, wenn man sich den Ruf der
Großzügigkeit und Freundlichkeit erwirbt. Und wenn Zahavi
recht hat, gibt es viertens den speziellen, unmittelbaren Nut-
zen der zur Schau gestellten Großzügigkeit als Mittel, um für
sich selbst authentische, unverfälschte Reklame zu machen.
Während des größten Teils unserer Vorgeschichte wurde die
Evolution aller vier Formen des Altruismus durch die Lebens-
bedingungen der Menschen stark begünstigt. Die Menschen
lebten in Dörfern oder - noch früher - in eigenständigen Grup-
pen, die wie Paviane durch die Gegend zogen und von Nach-
bargruppen oder anderen Dörfern mehr oder weniger stark iso-
liert waren. Die meisten Angehörigen einer solchen Gruppe
waren untereinander enger verwandt als mit den Mitgliedern
anderer Gruppen —womit sich eine Fülle von Gelegenheiten
für die Evolution von Verwandtschaftsaltruismus bot. Und un-
abhängig davon, ob sie verwandt waren, trafen sich dieselben
Individuen während ihres ganzen Lebens immer wieder - ideale
Voraussetzungen für die Evolution des Altruismus auf Gegen-
seitigkeit. Ebenso konnte man sich unter diesen Bedingungen
hervorragend einen Ruf des Altruismus erwerben, und die glei-
chen Bedingungen eigneten sich dafür, Großzügigkeit unüber-
sehbar zur Schau zu stellen. Auf allen vier Wegen wurde die ge-
netische Veranlagung zum Altruismus bei den Frühmenschen
begünstigt. Man erkennt ohne weiteres, warum unsere Vorfah-
ren zu den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe freundlich wa-
ren, während sie sich gegenüber anderen Gruppen abweisend
bis hin zur Fremdenfeindlichkeit verhielten. Heute jedoch le-
ben die meisten Menschen in Städten, wo sie nicht ihre Ver-
wandten um sich herum haben und jeden Tag mit Personen zu-
sammentreffen, die sie nie wieder sehen werden; warum sind
wir dennoch auch heute gut zueinander, und das manchmal so-
305
gar zu Menschen, von denen man meinen könnte, dass sie zu ei-
ner ganz anderen Gruppe gehören?
Es ist wichtig, dass man sich keine falschen Vorstellungen
von der Reichweite der natürlichen Selektion macht. Diese
Selektion begünstigt nicht die Evolution eines kognitiven Be-
wusstseins dafür, was gut für unsere Gene ist. Ein solches
Bewusstsein konnte erst im 20. Jahrhundert die kognitive
Ebene erreichen, und auch heute ist das umfassende Wissen
darüber auf eine kleine Gruppe spezialisierter Wissenschaftler
beschränkt. Die natürliche Selektion begünstigt Faustregeln,
die in der Praxis den Genen nützen, von denen sie erzeugt
wurden. Aber es gehört zum Wesen von Faustregeln, dass sie
manchmal nach hinten losgehen. Im Gehirn eines Vogels sorgt
die Regel »Kümmere dich um die kleinen quiekenden Dinger
in deinem Nest und lass Futter in ihre roten aufgesperrten
Schnäbel fallen« normalerweise für die Erhaltung der Gene, die
diese Regel hervorgebracht haben, denn bei den quiekenden
Dingern mit den offenen Schnäbeln im Nest eines erwachse-
nen Vogels handelt es sich in den meisten Fällen um des-
sen Nachkommen. Die Regel wirkt sich aber schädlich aus,
wenn ein anderer Jungvogel auf irgendeinem Weg in das Nest
gelangt - ein Phänomen, das die Kuckucke zu ihren Gunsten
ausnutzen. Wäre es denkbar, dass unser Drang zur Nächsten-
liebe ebenfalls eine solche Fehlfunktion ist wie bei dem Teich-
rohrsänger, dessen Elterninstinkt in die Irre geht, wenn der
Vogel sich für einen kleinen Kuckuck abrackert? Eine noch ge-
nauere Analogie ist der Drang der Menschen, ein Kind zu
adoptieren. Ich muss aber sofort hinzufügen, dass ich den Be-
griff »Fehlfunktion« hier nur in einem streng darwinistischen
Sinn gebrauche. Er beinhaltet keinerlei Abwertung.
Meine Idee, es könne sich um einen »Fehler« oder ein »Ne-
benprodukt« handeln, sieht folgendermaßen aus: In alter Zeit,
als wir wie Paviane in kleinen, stabilen Gruppen lebten, pro-
grammierte die natürliche Selektion in unser Gehirn einen
306
Drang zum Altruismus ein; es war ein Trieb wie der Sexual-
trieb, der Fresstrieb, die Fremdenfeindlichkeit und so weiter.
Ein intelligentes Paar kann Darwin lesen und weiß dann, dass
das Bedürfnis nach Sexualität seine Ursache letztlich in der
Fortpflanzung hat. Beide wissen, dass die Frau kein Kind be-
kommen kann, weil sie die Pille nimmt. Dennoch stellen sie
fest, dass ihr Sexualtrieb sich durch dieses Wissen keineswegs
vermindert. Sexuelle Bedürfnisse sind sexuelle Bedürfnisse,
und in der Psyche des Einzelnen sind sie unabhängig von dem
darwinistischen Druck, der letztlich ihre Triebkraft war. Es ist
ein starker Trieb, der losgelöst von seiner letzten Begründung
existiert.
Nach meiner Vermutung gilt das Gleiche auch für unseren
Drang, freundlich zu sein - unseren Hang zu Altruismus, Groß-
zügigkeit, Einfühlungsvermögen und Mitleid. In alter Zeit hat-
ten wir die Gelegenheit zum Altruismus nur gegenüber unse-
ren Verwandten und denen, die es uns potenziell vergelten
konnten. Heute existiert diese Einschränkung nicht mehr, aber
die Faustregel ist immer noch da. Warum sollte es sie nicht
mehr geben? Es ist genau wie beim Sexualtrieb. Wenn wir
einen unglücklichen Menschen weinen sehen, müssen wir ein-
fach Mitleid empfinden (auch wenn dieser Mensch nicht mit
uns verwandt ist und uns unsere Hilfe nicht vergelten kann),
ganz ähnlich wie wir uns sexuell zu einem Angehörigen des an-
deren Geschlechts hingezogen fühlen (auch wenn diese Person
vielleicht unfruchtbar oder aus anderen Gründen nicht zur
Fortpflanzung in der Lage ist). Beides sind Fehlfunktionen,
darwinistische Fehler - segensreiche, kostbare Fehler.
Man sollte keine Sekunde lang daran denken, in einer sol-
chen darwinistischen Betrachtung eine Herabwürdigung oder
Verunglimpfung edler Gefühle wie Mitleid und Großzügigkeit
zu sehen. Das Gleiche gilt für den Sexualtrieb. Wenn sexuelles
Verlangen durch die Kanäle der Sprachkultur gelenkt wird,
kommt es in Form großartiger Dichtung und Dramatik wieder
307
zum Vorschein, beispielsweise in den Liebesgedichten von
John Donne oder als Shakespeares Romeo und Julia. Ebenso
geht es natürlich mit dem fehlgeleiteten, auf Verwandtschaft
oder Gegenseitigkeit beruhenden Mitleid. Aus dem Zusammen-
hang gerissen, erscheint die Gnade gegenüber einem Schuldner
ebenso undarwinistisch wie die Adoption eines fremden Kin-
des. Im vierten Akt des Kaufmanns von Venedig sagt Shake-
speare:
Sexuelle Begierde ist die Triebkraft für einen großen Teil aller
Bestrebungen und Bemühungen der Menschen, und vieles da-
von sind Fehlfunktionen. Es gibt keinen Grund, warum das
Gleiche nicht auch für das Bedürfnis gelten sollte, großzügig
und mitfühlend zu sein, wenn es sich dabei um die fehlgeleite-
ten Folgen des vorzeitlichen Dorflebens handelt. Beide Bedürf-
nisse konnte die natürliche Selektion in alter Zeit am besten
dadurch in uns verankern, dass sie Faustregeln ins Gehirn ein-
programmierte. Diese Regeln wirken sich noch heute auf uns
aus, obwohl sie sich unter den heutigen Bedingungen für ihre
ursprünglichen Funktionen nicht mehr eignen.
Aber die Faustregeln beeinflussen uns nicht auf rin
tisch-deterministische Weise, sondern sie sind gefiltert: durch
die kultivierenden Wirkungen von Literatur und Sitten, Geset-
zen und Traditionen - und natürlich durch die Religion. Genau
wie die primitive, im Gehirn eingepflanzte Regel der sexuellen
Lust, die den Filter der Zivilisation durchläuft und in Form der
Liebesszenen in Romeo und Julia wieder zum Vorschein kommt,
so taucht auch die primitive Regel der Blutrache - »Wir gegen
die anderen« - in Form des ständigen Kampfes zwischen Capu-
lets und Montagues wieder auf. Und die primitiven Regeln von
308
Altruismus und Mitgefühl erfreuen uns mit ihrer Fehlfunktion,
die zur geläuterten Versöhnung in Shakespeares letzter Szene
führt.
309
warten, wenn in unserem Gehirn ein Moralgefühl ebenso ein-
gebaut ist wie der Sexualinstinkt, die Höhenangst oder, wie
Hauser selbst gern sagt, die Sprachfähigkeit (die sich in den
Details von einem Kulturkreis zum anderen unterscheidet,
während die grundlegende Tiefenstruktur der Grammatik
überall gleich ist). Wie wir noch genauer erfahren werden, sind
die Antworten der Menschen auf solche ethischen Fragen of-
fenbar weitgehend unabhängig von ihren religiösen Überzeu-
gungen oder von deren Fehlen. Die Grundaussage von Hausers
Buch lautet in seinen eigenen Worten: »Die Triebkraft unserer
ethischen Urteile ist eine allgemeine ethische Grammatik, eine
Fähigkeit des Geistes, die sich in Jahrmillionen der Evolution
dahingehend entwickelt hat, dass sie Prinzipien zum Aufbau
eines ganzen Spektrums ethischer Systeme umfasst. Wie die
Regeln der Sprache, so fliegen auch die Gesetzmäßigkeiten, die
unsere ethische Grammatik bilden, unter dem Radar unseres
Bewusstseins hindurch.«
Die von Hauser erdachten ethischen Zwickmühlen sind
häufig Variationen des gleichen Themas: Ein herrenloser Wag-
gon ist auf einer Eisenbahnstrecke unterwegs und bringt meh-
rere Menschen in Lebensgefahr. In der einfachsten Version der
Geschichte steht eine einzelne Person namens Denise im Stell-
werk und kann den Waggon auf ein Nebengleis umleiten, um
so die fünf Menschen auf dem Hauptgleis zu retten. Leider
steht aber auch auf dem Nebengleis ein Mensch. Da es aber nur
einer ist, stimmen die meisten Befragten darin überein, dass es
ethisch zulässig oder sogar geboten ist, dass Denise die Weiche
umlegt und durch die Tötung eines Menschen die fünf anderen
rettet. Hypothetische Möglichkeiten, etwa dass es sich bei dem
einen Menschen auf dem Nebengleis um ein Genie wie
Beethoven oder um einen engen Freund handelt, lassen wir
hier einmal außer Acht.
Entwickelt man das Gedankenexperiment weiter, so ergibt
sich eine Reihe von immer schwierigeren ethischen Dilem-
310
mata. Was ist, wenn man den Waggon anhalten kann, indem
man von einer Brücke einen schweren Gegenstand vor ihm auf
die Schienen fallen lässt? Das ist einfach: Natürlich müssen wir
das Gewicht hinunterwerfen. Aber wie sieht es aus, wenn es
sich bei dem einzig verfügbaren schweren Gegenstand um
einen dicken Mann handelt, der auf der Brücke sitzt und den
Sonnenuntergang genießt? Hier sind fast alle übereinstimmend
der Ansicht, dass es ethisch unzulässig wäre, den Mann von
der Brücke zu werfen, obwohl es sich in einem gewissen Sinn
um die gleiche Zwangslage handelt, in der sich auch Denise
befindet, wenn ihre Weichenstellung einen Menschen tötet
und fünf andere rettet. Die meisten Menschen haben intuitiv
den starken Eindruck, dass zwischen den beiden Situationen
ein entscheidender Unterschied besteht, doch worin dieser
Unterschied besteht, können wir unter Umständen nicht arti-
kulieren.
Die Vorstellung, den dicken Mann von der Brücke zu
werfen, erinnert an ein anderes von Hauser konstruiertes
Dilemma. In einem Krankenhaus liegen fünf Patienten im Ster-
ben; bei jedem versagt ein anderes Organ. Alle könnte man ret-
ten, wenn jeweils ein Spender für das kranke Organ zur Verfü-
gung stünde, aber das ist nicht der Fall. Da fällt dem Chirurgen
auf, dass im Wartezimmer ein gesunder Mann sitzt, bei dem
alle fünf Organe gut funktionieren und sich für die Transplan-
tation eignen würden. In diesem Fall würde es fast niemand für .
ethisch vertretbar halten, den einen Menschen zu töten und
damit die fünf anderen zu retten.
Wie bei dem dicken Mann auf der Brücke, so haben auch
hier die meisten Menschen die gleiche Intuition: Man sollte
einen Unschuldigen, der zufällig in der Nähe ist, nicht ohne
seine Zustimmung in eine schlimme Situation hineinziehen.
Eine berühmte Formulierung für das Prinzip stammt von
Immanuel Kant: Ein vernunftbegabtes Wesen sollte niemals
gegen seinen Willen als Mittel zu einem Zweck benutzt wer-
314
den, selbst dann nicht, wenn dieser Zweck darin besteht, ande-
ren zu helfen. Das ist offenbar der entscheidende Unterschied
zwischen der Situation mit dem dicken Mann auf der Brücke
(oder dem im Wartezimmer) und dem Mann auf Denises Ne-
bengleis: Der dicke Mann wird gezielt als Mittel benutzt, um
den führerlosen Waggon zum Stehen zu bringen. Dies verletzt
eindeutig das Kant’sche Prinzip. Die Person auf dem Neben-
gleis wird nicht benutzt, um das Leben der fünf anderen auf
dem Hauptgleis zu retten. Hier ist das Nebengleis das Mittel,
und der Mensch hat einfach nur Pech, dass er gerade dort steht.
Aber warum stellt uns eine solche selbst gezogene Unterschei-
dung zufrieden? Für Kant war es ein moralisches Absolutum.
Für Hauser wurde es uns von der Evolution eingepflanzt.
Die hypothetischen Situationen rund um den führerlosen
Waggon wurden immer raffinierter, und entsprechend quälen-
der wurden die ethischen Dilemmata. Hauser stellt zwei hypo-
thetische Menschen namens Ned und Oscar mit ihren Zwangs-
lagen einander gegenüber. Ned steht neben dem Bahngleis.
Anders als bei Denise, die den Waggon auf ein Nebengleis len-
ken kann, führt Neds Weiche nur auf eine Gleisschleife, die
sich kurz vor den fünf Personen wieder mit dem Hauptgleis
vereinigt. Nur die Weiche umzulegen, hilft also nicht: Der
Waggon wird die fünf Menschen trotzdem überrollen, weil das
Nebengleis wieder auf das Hauptgleis mündet. Aber zufällig
steht auf dem Nebengleis ein sehr dicker Mann, der den Wag-
gon aufhalten könnte. Soll Ned die Weiche betätigen und den
Zug umleiten? Die meisten Menschen meinen intuitiv, er solle
es nicht tun. Aber worin besteht der Unterschied zwischen
Neds und Denises Dilemma? Vermutlich wenden die Befrag-
ten intuitiv das Kant’sche Prinzip an. Denise leitet den Waggon
um, damit er die fünf Menschen nicht überrollt, und das un-
glückliche Opfer auf dem Nebengleis ist ein »Kollateralscha-
den«, um den liebenswürdigen Rumsfeld’schen Ausdruck zu
gebrauchen. Denise bedient sich des Mannes nicht, um die an-
312
deren zu retten, Ned dagegen benutzt den dicken Mann tat-
sächlich, um den Waggon anzuhalten, und die meisten Men-
schen sehen darin (vielleicht ohne viel nachzudenken) einen
ebenso entscheidenden Unterschied wie Kant (der ausführlich
darüber nachdachte).
Sehr deutlich wird der Unterschied an Oscars Dilemma. Os-
car ist in der gleichen Situation wie Ned, nur liegt auf dem Ne-
bengleis ein schweres Eisengewicht, das den Waggon aufhalten
kann. Natürlich sollte Oscar sich ohne Probleme dafür ent-
scheiden, die Weiche zu betätigen und den Waggon umzulei-
ten. Allerdings geht vor dem Eisengewicht gerade ein Wande-
rer vorüber. Er wird wie Neds dicker Mann mit Sicherheit
sterben, wenn Oscar den Hebel umlegt. Der Unterschied be-
steht darin, dass Oscars Wanderer nicht dazu dient, den Wag-
gon zum Stehen zu bringen; er ist vielmehr wie in Denises Di-
lemma ein Kollateralschaden. Wie Hauser und die meisten von
ihm befragten Versuchspersonen, so habe auch ich das Gefühl,
dass Oscar den Hebel umlegen darf, Ned aber nicht. Aber ich
habe große Schwierigkeiten, meinen intuitiven Eindruck zu
begründen. Hausers entscheidende Aussage lautet: Solche in-
tuitiven ethischen Entscheidungen sind häufig nicht gut durch-
dacht, und dass wir sie dennoch so stark spüren, liegt an unse-
rem Erbe aus der Evolution.
Nun unternahmen Hauser und seine Kollegen ein faszinieren-
des anthropologisches Experiment: Sie stellten ihre ethischen
Fragen bei den Kuna, einem kleinen mittelamerikanischen
Stamm, der nur wenig Kontakt zu Menschen aus Industriestaa-
ten hat und keine institutionalisierte Religion besitzt. Den
»Eisenbahnwaggon auf dem Gleis« ersetzten sie durch eine
geeignete lokale Entsprechung, beispielsweise durch Kroko-
dile, die sich einem Kanu nähern. Von den entsprechenden
kleinen Unterschieden abgesehen, fällten die Kuna die gleichen
ethischen Urteile wie die meisten anderen Menschen.
Was für dieses Buch von besonderem Interesse ist: Hauser un-
313
tersuchte auch, ob sich religiöse Menschen in ihrer ethischen In-
tuition von Atheisten unterscheiden. Wenn wir unsere Ethik aus
der Religion beziehen, müsste es solche Unterschiede eigentlich
geben. Offensichtlich ist das aber nicht der Fall. In Zusammen-
arbeit mit dem Moralphilosophen Peter Singer konzentrierte
sich Hauser auf drei hypothetische Dilemmata und verglich
die Entscheidungen von Atheisten mit denen religiöser Men-
schen.”®Die Versuchspersonen sollten in allen Fällen wählen,
ob eine hypothetische Handlung »Pflicht«, »erlaubt« oder »ver-
boten« sei. Es handelte sich um folgende drei Dilemmata:
2. Sie sehen, wie ein Kind in einem Teich ertrinkt, und Hilfe
ist nicht in Sicht. Sie können das Kind retten, aber damit rui-
nieren Sie Ihre Hose. In diesem Fall waren 97 Prozent der
Befragten der Ansicht, man solle das Kind retten (verblüf-
fenderweise hätten drei Prozent offenbar lieber ihre Hose
gerettet).
Die wichtigste Erkenntnis aus der Studie von Hauser und Sin-
ger lautete: Was solche Entscheidungen angeht, besteht kein
statistisch signifikanter Unterschied zwischen Atheisten und
religiös gläubigen Menschen. Das steht offenbar im Einklang
mit einer Ansicht, die ich mit vielen anderen vertrete: Wir
brauchen Gott nicht, um gut zu sein - oder böse.
314
Wozu soll man gut sein, wenn es keinen Gott gibt?
315
wird Dostojewski eine solche Ansicht unterstellt, vor allem
weil er seiner Romangestalt Iwan Karamasow Bemerkungen
wie die folgende in den Mund legte:
Vielleicht bin ich naiv, aber ich neige, was die Natur des Men-
schen angeht, zu einer weniger zynischen Sichtweise als Iwan
Karamasow. Brauchen wir wirklich eine Überwachung - durch
Gott oder unsere Mitmenschen -, damit wir uns nicht egois-
tisch und verbrecherisch verhalten? Ich möchte sehr gern glau-
316
ben, dass ich eine solche Aufsicht nicht brauche - und Sie, lie-
ber Leser, auch nicht. Andererseits schwächt es unsere Zuver-
sicht, wenn wir hören, welche ernüchternden Erfahrungen Ste-
ven Pinker während eines Polizistenstreiks im kanadischen
Montreal machte. In seinem Buch The Blank Slate (Das unbe-
schriebene Blatt) schreibt er:
317
Vielleicht bin auch ich ein unverbesserlicher Optimist, weil ich
glaube, dass die Menschen selbst dann gut bleiben würden,
wenn sie nicht von Gott beobachtet und überwacht werden.
Andererseits glaubte vermutlich auch eine Bevölkerungsmehr-
heit in Montreal an Gott. Warum hielt die Angst vor seiner
Strafe sie nicht zurück, als die irdischen Polizisten vorüberge-
hend von der Bildfläche verschwunden waren? War der Streik
in der kanadischen Stadt nicht ein ziemlich gutes natürliches
Experiment zur Überprüfung der Hypothese, dass der Glaube
an Gott uns zu guten Menschen macht? Oder hatte der Zyni-
ker H. L. Mencken recht, als er bissig bemerkte »Die Leute sa-
gen, wir brauchen eine Religion, und in Wirklichkeit meinen
sie, dass wir die Polizei brauchen«?
Natürlich benahmen sich nicht alle Menschen in Montreal
schlecht, sobald die Polizei verschwunden war. Interessant
wäre eine Untersuchung der Frage, ob eine - vielleicht auch
nur geringfügige - statistische Tendenz bestand, dass religiöse
Menschen weniger plünderten und zerstörten als Ungläubige.
Meine nicht stichhaltig belegte Voraussage wäre genau das Ge-
genteil. Oft wird zynisch gesagt, in Schützengräben gebe es
keine Atheisten. Ich neige zu der Vermutung (für die ich auch
gewisse Belege habe, wobei es allerdings möglicherweise zu
einfach wäre, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen), dass nur
wenige Atheisten im Gefängnis sitzen. Damit behaupte ich
nicht unbedingt, Atheismus stärke die Moral, aber auf den Hu-
manismus —das ethische System, das sich häufig mit dem
Atheismus verbindet - trifft dies vermutlich zu.
Eine andere naheliegende Möglichkeit wäre, dass Atheismus
im Zusammenhang mit einem dritten Faktor steht - beispiels-
weise mit höherer Bildung, Intelligenz oder Nachdenklich-
keit —,der kriminellen Impulsen entgegenwirkt. Jedenfalls
sprechen die vorhandenen Forschungsergebnisse sicher nicht
für die allgemein verbreitete Ansicht, religiöse Überzeugung
sei mit höherer Moral verbunden. Befunde über solche Korre-
318
lationen sind niemals schlüssig, aber die Daten, die Sam Harris
in seinem Buch Letter to a Christian Nation (»Brief an eine
christliche Nation«) beschreibt, verblüffen trotzdem:
* Man beachte, dass die farblichen Zuordnungen in Amerika denen in Europa genau
entgegengesetzt sind: In Großbritannien ist blau die Farbe der Konservativen, rot wie
in der übrigen Welt die Farbe, die man traditionell mit der politischen Linken in Ver-
bindung bringt.
319
an und gelangt dabei zu einer verheerenden Erkenntnis: »Ein
höheres Maß des Glaubens an einen Schöpfer und ein höheres
Maß an Gottesverehrung korrelieren in den wohlhabenden
Demokratien mit einer höheren Quote an Morden, Kinder-
und Jugendsterblichkeit, Übertragung von Geschlechtskrank-
heiten, Teenagerschwangerschaften und Abtreibung.« Und
Dan Dennett kommentiert in Breaking the Spell: Religion as a
Natural Phenomenon (»Die Durchbrechung des Zaubers: Reli-
gion als natürliches Phänomen«) derartige Untersuchungen mit
trockenem Sarkasmus:
320
ob es sich um eine echte Überwachungskamera handelt, die
mit dem Bildschirm in der Polizeiwache verbunden ist, oder
um eine imaginäre Kamera, die im Himmel angebracht ist.
Aber vielleicht ist es unfair, die Frage »Warum soll man sich
Mühe geben, gut zu sein, wenn es keinen Gott gibt?« über-
haupt so zynisch zu interpretieren.*
Ein religiöser Denker könnte zu einer ernsthafteren morali-
schen Interpretation gelangen, die ungefähr so aufgebaut ist
wie die folgende Aussage: »Wenn du nicht an Gott glaubst,
dann glaubst du nicht, dass es irgendwelche absoluten ethi-
schen Maßstäbe gibt. Du kannst dich mit bestem Willen darum
bemühen, ein guter Mensch zu sein, aber wie willst du ent-
scheiden, was gut und was schlecht ist? Maßstäbe für Gut und
Böse liefert letztlich nur die Religion. Ohne Religion musst du
diese Maßstäbe unterwegs erst aufbauen. Das wäre Ethik ohne
Regelwerk - moralischer Blindflug. Wenn Moral nur eine Frage
der persönlichen Entscheidung ist, könnte Hitler behaupten, er
habe nach seinen eigenen, von der Rassenlehre inspirierten
Maßstäben moralisch gehandelt, und dem Atheisten bleibt
nichts anderes übrig, als schlecht und recht seine persönliche
Wahl zu treffen. Ein Christ, ein Jude oder ein Muslim dagegen
kann behaupten, dass das Wort »böse«eine absolute Bedeutung
hat, die zu allen Zeiten und an allen Orten gilt und der zufolge
Hitler absolut böse war.«
Selbst wenn es stimmen würde, dass wir Gott brauchen, um
moralisch zu handeln, würde Gottes Existenz damit natürlich
nicht wahrscheinlicher, sondern höchstens wünschenswerter
(was viele Menschen allerdings nicht auseinanderhalten kön-
nen). Aber darum geht es hier nicht. Mein imaginärer Religi-
onsvertreter braucht nicht einzuräumen, dass das religiöse
Motiv für gute Taten darin besteht, Gott in den Hintern zu
* H.L. Mencken definiert das Gewissen - wieder einmal mit seinem charakteristischen
Zynismus - als innere Stimme, die uns warnt, es könne jemand zusehen.
321
kriechen. Er behauptet etwas anderes: Ganz gleich, woher das
Motiv kommt, gut zu sein - ohne Gott gäbe es keinen Maßstab,
um zu entscheiden, was gut ist. Jeder von uns könnte das Gute
nach eigenem Gutdünken definieren und sich entsprechend
verhalten. Ethische Prinzipien, die sich ausschließlich auf die
Religion stützen (im Gegensatz etwa zur »goldenen Regel«, die
häufig mit Religionen in Verbindung gebracht wird, obwohl
man sie auch anders ableiten kann), könnte man als absolutis-
tisch bezeichnen. Gut ist gut und schlecht ist schlecht, und wir
brauchen uns nicht mit Einzelfallentscheidungen :herumzu-
schlagen, beispielsweise wenn jemand leidet. Mein Religions-
vertreter würde behaupten, nur die Religion könne eine
Grundlage für Entscheidungen über Richtig und Falsch liefern.
Manche Philosophen —der bekannteste unter ihnen war
Kant - haben versucht, eine absolute Moral aus nichtreligiösen
Quellen abzuleiten. Obwohl Kant selbst ein religiöser Mensch
war, was sich zu seiner Zeit fast nicht vermeiden ließ,* be-
mühte er sich darum, eine Ethik nicht auf Gott, sondern auf
die Pflicht um der Pflicht willen zu gründen. Sein berühmter
kategorischer Imperativ (in der Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten) schreibt uns vor: »Ich soll niemals anders verfahren,
als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein all-
gemeines Gesetz werden.« Das funktioniert beispielsweise für
das Lügen sehr gut.
Stellen wir uns einmal eine Welt vor, in der die RER
aus Prinzip lügen, in der Lügen also als etwas Gutes, Morali-
sches gelten. In einer solchen Welt würde das Lügen jeden Sinn
verlieren, denn schon seine Definition setzt voraus, dass die
Wahrheit unterstellt wird. Wenn ein ethisches Prinzip etwas
*
Dies ist die übliche Interpretation für Kants Überzeugungen. Der angesehene Phi-
losoph A. C. Grayling vertrat allerdings mit stichhaltigen Gründen in New Huma-
nist (Juli/August 2006) die Überzeugung, Kant habe sich zwar öffentlich an die
religiösen Konventionen seiner Zeit gehalten, sei aber in Wirklichkeit Atheist ge-
wesen.
322
ist, von dem wir uns wünschen, dass alle es befolgen, kann Lü-
gen kein ethisches Prinzip sein, denn es würde sich in der Sinn-
losigkeit auflösen. Lügen als Lebensregel ist von seinem Wesen
her instabil. Allgemeiner gesprochen, kann Egoismus oder un-
gezügelte Ausnutzung des guten Willens anderer für mich als
einzelnes, egoistisches Individuum funktionieren und mir per-
sönliche Befriedigung verschaffen. Aber ich kann mir nicht
wünschen, dass alle sich ein egoistisches Parasitenverhalten als
ethisches Prinzip zu eigen machen, und sei es nur, weil es dann
niemanden mehr gäbe, den ich ausnutzen könnte.
Der Kant’sche Imperativ funktioniert offensichtlich für die
Wahrheitsliebe und einige andere Fälle. Wie er sich auf die
Ethik im Allgemeinen erweitern lässt, ist nicht ohne weiteres zu
erkennen. Trotz Kant ist es verlockend, sich meinem hypotheti-
schen Religionsvertreter anzuschließen und zu behaupten, dass
eine absolute Moral sich in der Regel auf Religion gründe. Ist es
immer falsch, einen unheilbar kranken Patienten auf seinen
eigenen Wunsch hin aus seinem Elend zu befreien? Ist es immer
falsch, einen Angehörigen des eigenen Geschlechts zu lieben?
Ist es immer falsch, einen Embryo zu töten? Manche Menschen
glauben das und führen dafür absolute Gründe an. Auf Argu-
mente oder Diskussionen lassen sie sich nicht ein. Wer anderer
Meinung ist, hat es verdient, erschossen zu werden - natürlich
nicht buchstäblich, sondern nur metaphorisch (mit Ausnahme
einiger Ärzte in amerikanischen Abtreibungskliniken - darüber
mehr im nächsten Kapitel). Doch zum Glück muss Moral nicht
absolut sein.
Die Fachleute für Gedanken über Richtig und Falsch sind
die Moralphilosophen. Und die sind sich darüber einig, dass
»ethische Vorschriften zwar nicht unbedingt mit der Vernunft
konstruiert sein müssen, dass es aber möglich sein sollte, sie mit
der Vernunft zu verteidigen«, wie Robert Hinde es sehr präg-
nant formuliert hat.”° Man kann Moralphilosophen auf recht
unterschiedliche Weise klassifizieren, doch verläuft die große
323
Trennlinie nach heutiger Terminologie zwischen Deontologen
(zu ihnen gehörte Kant) und Konsequentialisten (darunter
»Utilitaristen« wie Jeremy Bentham, 1748-1832). »Deontolo-
gie« ist ein modischer Name für die Überzeugung, dass Moral
darin besteht, Regeln zu befolgen. Der Begriff, der sich vom
griechischen Wort für »das Bindende« ableitet, bedeutet wört-
lich »Pflichtenlehre«. Deontologie ist nicht genau das Gleiche
wie moralischer Absolutismus, aber in einem Buch über Reli-
gion ist es in den meisten Zusammenhängen nicht nötig, auf
den Unterschieden herumzureiten. Nach Ansicht der Absolu-
tisten gibt es absolute Maßstäbe für Richtig und Falsch, Vor-
schriften, die ihre Berechtigung nicht aus den Folgen beziehen.
Konsequentialisten sind pragmatischer: Nach ihrer Ansicht
sollte man die Frage, ob eine Handlung ethisch richtig ist, nach
den Folgen beurteilen. Eine Form des Konsequentialismus ist
der Utilitarismus, eine philosophische Richtung, die mit Ben-
tham, seinem Freund James Mill (1773-1836) und dessen Sohn
John Stuart Mill (1806-1873) in Verbindung gebracht wird.
Der Utilitarismus wird häufig unter einem leider sehr unge-
nauen Schlagwort von Bentham zusammengefasst: »Die Grund-
lage für Moral und Gesetzgebung ist das größtmögliche Glück
der größtmöglichen Zahl von Menschen.«
Absolutismus leitet sich nicht immer von einer Religion ab.
Doch absolutistische Ethik nicht religiös, sondern anders zu
begründen, ist schwierig. Die einzige Alternative, die ich mir
vorstellen kann, ist - insbesondere in Kriegszeiten - der Patrio-
tismus. Der angesehene spanische Filmregisseur Luis Buäuel
sagte einmal: »Gott und Vaterland sind ein unschlagbares Team;
bei Unterdrückung und Blutvergießen brechen sie alle Re-
korde.« Anwerbungsoffiziere appellieren bei ihren Opfern ein-
dringlich an das patriotische Pflichtgefühl. Im Ersten Weltkrieg
verteilten Frauen an junge Männer, die keine Uniform trugen,
weiße Federn:
324
Oh, we don’t want to lose you,
But we think you ought to go,
For your King and your country
Both need you so.
325
zogenen Autorität deprimierend wenig Neugier auf die (meist
höchst zweifelhaften) historischen Ursprünge ihrer heiligen
Bücher erkennen. Wie ich im nächsten Kapitel nachweisen
werde, trifft die Behauptung solcher Menschen, sie bezögen
ihre Ethik aus heiligen Schriften, in der Praxis ohnehin nicht
zu. Und das ist, wie jeder bei genauerem Nachdenken selbst
zugeben sollte, auch gut so.
326
Das »gute« Buch und der wandelbare
ethische Zeitgeist
Sean O’Casey
Die Heilige Schrift kann auf zweierlei Weise zur Quelle von
Ethik und Lebensmaximen werden: durch direkte Anweisun-
gen —etwa durch die Zehn Gebote, die in den Niederungen
und Kulturkämpfen der nordamerikanischen Provinz zum Ge-
genstand erbitterter Streitigkeiten wurden - oder durch den
Vorbildcharakter Gottes oder anderer biblischer Gestalten.
Hält man sich mit religiösem Eifer daran (das Attribut gebrau-
che ich hier metaphorisch, aber durchaus auch mit Blick auf
seine wörtliche Bedeutung), dann führen beide Wege zu einem
ethischen System, das jeder zivilisiertte moderne Mensch, ob
religiös oder nicht, widerwärtig finden würde - freundlicher
kann ich es nicht formulieren.
Doch ich will fair sein: Die Bibel ist in großen Teilen nicht
systematisch böse, sondern einfach nur grotesk. Nichts anderes
erwartet man von einer chaotisch zusammengestoppelten An-
thologie zusammenhangloser Schriften, die von Hunderten ano-
nymer Autoren, Herausgebern und Kopisten verfasst, umge-
arbeitet, übersetzt, verfälscht und »verbessert« wurden, von
Personen, die wir nicht kennen, die sich meist auch untereinan-
der nicht kannten und deren Lebenszeiten sich über neun Jahr-
hunderte erstrecken.!” Das erklärt wahrscheinlich schon einen
Teil der Ungereimtheiten in der Bibel. Doch leider halten uns
,
DET 327
religiöse Eiferer genau dieses seltsame Buch als unfehlbare
Quelle für Ethik und Lebensregeln unter die Nase. Wer seine
Moral wirklich auf den Wortlaut der Bibel gründen will, hat sie
entweder nicht gelesen oder nicht verstanden, wie Bischof John
Shelby Spong in The Sins of Scripture (Die Sünden der Heiligen
Schrift: Wie die Bibel zu lesen ist) sehr richtig feststellt. Spong ist
übrigens ein gutes Beispiel für einen liberalen Bischof, dessen
Glaube so hoch entwickelt ist, dass die Mehrzahl derer, die sich
als Christen bezeichnen, ihn überhaupt nicht mehr als solchen
erkennen würde. Eine ähnliche Persönlichkeit in Großbritan-
nien ist Richard Holloway, der kürzlich als Bischof von Edin-
burgh in den Ruhestand ging. Holloway bezeichnete sich sogar
- als »genesenden Christen«. Eine Podiumsdiskussion, die ich in
Edinburgh mit ihm führte, war eine der anregendsten und in-
teressantesten Begegnungen meines Lebens. !?!
Beginnen wir im Ersten Buch Mose, Genesis, und mit der all-
seits beliebten Geschichte von Noah, die auf den babyloni-
schen Utnapischtim-Mythos zurückgeht und auch aus älteren
Mythen anderer Kulturkreise bekannt ist. Die Legende von den
Tieren, die paarweise in die Arche steigen, ist zwar liebenswür-
dig, doch die Moral, welche die Noah-Geschichte vermittelt,
ist abscheulich. Weil Gott von den Menschen nichts mehr wis-
sen wollte, ließ er sie (mit Ausnahme einer Familie) einfach alle
ertrinken, einschließlich der Kinder und obendrein auch noch
aller anderen (vermutlich ebenfalls unschuldigen) Tiere.
Natürlich werden irritierte Theologen nun einwenden, dass
wir das Erste Buch Mose heute nicht mehr wörtlich nehmen.
Aber genau darum geht es mir! Wir suchen uns aus, welche
Stückchen aus der Bibel wir wörtlich glauben und welche wir
als Symbole oder Allegorien abschreiben. Dieses Herauspicken
328
und Auswählen ist ebenso eine Frage persönlicher Entschei-
dungen wie der Entschluss eines Atheisten, diese oder jene
ethische Regel zu befolgen, doch andere nicht; in beiden Fällen
gibt es dafür keine absolute Grundlage. Wenn das eine ein »mo-
ralischer Blindflug« ist, dann ist es das andere auch.
Ohnehin nehmen erschreckend viele Menschen ihre Bibel
einschließlich der Noah-Geschichte allen guten Absichten der
gebildeten Theologen zum Trotz nach wie vor wörtlich. Nach
einer Gallup-Umfrage machen solche Gläubige etwa 50 Pro-
zent der US-amerikanischen Wählerschaft aus. Ebenso gehör-
ten dazu zweifellos viele jener heiligen Männer in Asien, die
den Tsunami von 2004 nicht auf eine tektonische Plattenver-
schiebung zurückführten, sondern auf die Sünden der Men-
schen, vom Trinken und Tanzen in Bars bis zur Übertretung
irgendeiner albernen Sabbatvorschrift.!” Sie sind von der Noah-
Geschichte durchdrungen und bar jeder Gelehrsamkeit mit
Ausnahme der biblischen —wer will es ihnen also zum Vorwurf
machen? Ihre ganze Erziehung hat sie zu der Ansicht geführt,
Naturkatastrophen hätten etwas mit den Angelegenheiten der
Menschen zu tun und seien nicht Folge unpersönlicher Vor-
gänge wie der Plattentektonik, sondern Lohn für persönliches
Fehlverhalten. Nebenbei bemerkt: Welcheanmaßende Egozent-
rik steckt hinter dem Gedanken, welterschütternde Ereignisse
in einem Ausmaß, wie nur Gott (oder eine tektonische Platte)
sie bewerkstelligen kann, müssten immer in einem Zusammen-
hang mit den Menschen stehen? Warum sollte ein göttliches
Wesen, in dessen Geist es um Schöpfung und Ewigkeit geht,
sich auch nur einen Pfifferling um die kleinlichen Fehltritte der
Menschen kümmern? Wir Menschen tragen die Nase zu hoch
und blasen sogar unsere langweiligen kleinen »Sünden« noch
auf ein Ausmaß von kosmischer Bedeutung auf!
In einem Fernsehinterview fragte ich den Reverend Michael
Bray, einen prominenten amerikanischen Aktivisten und Ab-
treibungsgegner, warum die evangelikalen Christen sich so ver-
329
N
”L=,
sessen mit privaten sexuellen Neigungen wie der Homosexua-
lität beschäftigten, die keinen anderen Menschen in seinem
Leben beeinträchtigten. Seine Antwort klang ein wenig nach
Selbstverteidigung. Es bestehe die Gefahr, dass unschuldige
Christen zum »Kollateralschaden« würden, wenn Gott eine
Stadt mit einer Naturkatastrophe bestrafe, weil sie Sünder be-
herberge.
Die schöne Stadt New Orleans erlebte 2005 durch den Hur-
rikan »Katrina« eine schreckliche Überschwemmung. Und
worauf führte der Reverend Pat Robertson, einer der bekann-
testen amerikanischen Fernsehevangelisten und früherer Präsi-
dentschaftskandidat, den Hurrikan Berichten zufolge zurück?
Darauf, dass eine bekannte lesbische Komikerin sich zufällig
gerade in New Orleans aufhielt.* Nun sollte man meinen, dass
ein allmächtiger Gott die Sünder ein ganz klein wenig gezielter
ausradieren könnte, beispielsweise mit einem wohlüberlegten
Herzinfarkt, statt eine ganze Stadt zu zerstören, nur weil sie
zufällig eine lesbische Komikerin beherbergt.
Im November 2005 sorgten die Bürger von Dover in Penn-
sylvania in ihrer Schulbehörde für die Abwahl einer ganzen
Fraktion von Fundamentalisten, die die Stadt berüchtigt und
sogar lächerlich gemacht hatten, weil sie versuchten, die Lehre
des »Intelligent Design« im Unterricht durchzusetzen. Als Pat
Robertson hörte, dass die Fundamentalisten mit demokrati-
330
schen Mitteln an der Wahlurne unterlegen waren, ließ er eine
ernste Warnung an Dover ergehen:
Eins möchte ich den guten Bürgern von Dover gern sagen:
Wenn in Ihrer Gegend jetzt eine Katastrophe passiert, dann
wenden Sie sich bitte nicht an Gott! Sie haben ihn gerade
aus Ihrer Stadt verbannt, also fragen Sie nicht, warum er Ih-
nen nicht geholfen hat, wenn Ihre Probleme anfangen - und
ich sage nicht, dass sie anfangen werden. Aber wenn es pas-
siert, dann denken Sie dran, dass Sie Gott aus Ihrer Stadt ab-
gewählt haben. Wenn es so ist, dann bitten Sie ihn nicht um
Hilfe, denn dann ist er vielleicht nicht da.!'®
331
herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt;
aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den
Schatten meines Daches gekommen.« (1. Mose 19, 7-8).
Was immer diese seltsame Geschichte sonst noch bedeuten
mag, sie sagt sicher etwas darüber aus, welchen Respekt man in
einer zutiefst religiösen Kultur den Frauen entgegenbrachte.
Übrigens erweist es sich als unnötig, dass Lot die Jungfräulich-
keit seiner Töchter verschachert, denn es gelingt den Engeln,
die Rabauken auf wundersame Weise mit Blindheit zu schla-
gen und sie damit unschädlich zu machen. Dann warnen sie
Lot: Er solle sofort mit seinen Angehörigen und dem Vieh seine
Zelte abbrechen, weil die Stadt demnächst zerstört werde. Die
ganze Familie entkommt, nur Lots unglückselige Ehefrau wird
vom Herrn in eine Salzsäule verwandelt, weil sie ein - in unse-
ren Augen eigentlich geringfügiges - Verbrechen begangen hat:
Sie hat sich umgesehen und einen Blick auf das Feuerwerk ge-
worfen.
Im weiteren Verlauf der Geschichte haben Lots Töchter
noch einmal einen kurzen Auftritt. Nachdem ihre Mutter zur
Salzsäule erstarrt ist, leben sie mit dem Vater in einem Lager im
Gebirge. Da es ihnen an männlicher Gesellschaft fehlt, be-
schließen sie, ihren Vater betrunken zu machen und dann Ge-
schlechtsverkehr mit ihm zu haben. Lot bekommt nichts mit,
als seine ältere Tochter zu ihm ins Bett kommt und ihn anschlie-
ßend wieder verlässt, aber er ist noch nicht zu betrunken, um
sie zu schwängern. Am nächsten Abend kommen die Töchter
überein, dass jetzt die Jüngere an der Reihe sei. Wieder ist Lot
betrunken, merkt nichts und schwängert auch die zweite Toch-
ter (1. Mose 19, 31-36). Wenn diese gestörte Familie die beste
war, die Sodom in Sachen Moral vorzuweisen hatte, dann emp-
findet man fast eine gewisse Sympathie mit Gott und seinem
Gericht aus Feuer und Schwefel.
Einen gespenstischen Abglanz der Geschichte von Lot und
den Sodomiten finden wir im Buch der Richter, Kapitel 19.
332
Dort reist ein namenloser Levit (Priester) mit seiner Konku-
bine durch Gibea. Sie übernachten im Haus eines gastfreundli-
chen alten Mannes. Als sie beim Abendessen sitzen, kommen
die Männer aus der Stadt, klopfen an die Tür und verlangen,
der alte Mann solle seinen Gast herausgeben, »dass wir uns
über ihn hermachen«. Mit fast genau den gleichen Worten wie
Lot sagt der alte Mann: »Nicht, meine Brüder, tut doch nicht
solch ein Unrecht! Nachdem dieser Mann in mein Haus ge-
kommen ist, tut nicht solch eine Schandtat! Siehe, ich habe
eine Tochter, noch eine Jungfrau, und dieser hat eine Neben-
frau; die will ich euch herausbringen. Die könnt ihr schänden
und mit ihnen tun, was euch gefällt, aber an diesem Mann tut
nicht eine solche Schandtat!« (Richter 19, 23-24). Wieder
kommt die frauenfeindliche Ethik glasklar zum Vorschein. Ins-
besondere bei der Formulierung »die könnt ihr schänden« läuft
es mir eiskalt den Rücken herunter. Macht euch einen Spaß
daraus, meine Tochter und die Konkubine des Priesters zu
schänden und zu vergewaltigen, aber erweist meinem Gast, der
ja schließlich ein Mann ist, den gebotenen Respekt. Allerdings
geht die Sache bei aller Ähnlichkeit zwischen den beiden Ge-
schichten für die Geliebte des Priesters nicht so glücklich aus
wie für Lots Töchter.
Der Levit liefert sie der Meute aus, und dann findet die
ganze Nacht über eine Massenvergewaltigung statt: »Die
machten sich über sie her und trieben ihren Mutwillen mit ihr
die ganze Nacht bis an den Morgen. Und als die Morgenröte
anbrach, ließen sie sie gehen. Da kam die Frau, als der Morgen
anbrach, und fiel hin vor die Tür des Hauses, in dem ihr Herr
war, und lag da, bis es licht wurde« (Richter 19, 25-26). Am
Morgen findet der Levit seine Konkubine hingestreckt auf der
Türschwelle liegen und sagt etwas, das uns heute als kalt und
gefühllos erscheinen würde: »Lass uns ziehen.« Aber sie ant-
wortet nicht. Sie ist tot. Daraufhin »nahm er ein Messer, fasste
seine Nebenfrau und zerstückelte sie Glied für Glied in zwölf
333
Stücke und sandte sie in das ganze Gebiet Israels.« Ja, Sie haben
richtig gelesen. Schlagen Sie es nach: Richter 19, 29. Seien wir
nachsichtig und schieben wir es wieder einmal auf die allge-
genwärtige Absonderlichkeit der Bibel. In Wirklichkeit ist der
Bericht nicht ganz so absonderlich, wie er klingt. Es gab ein
Motiv dafür: Er sollte Rachegelüste schüren, und das gelang
ihm auch. Der Vorfall wurde zum Anlass für einen Rachefeld-
zug gegen den Stamm Benjamin, in dessen Verlauf, wie Richter
20 liebenswürdigerweise mitteilt, 60000 Menschen ums Le-
ben kamen. Die Geschichte ähnelt der von Lot so stark, dass
man sich fragen muss, ob hier ein Manuskriptbruchstück in ir-
gendeinem längst vergessenen Schreibsaal an die falsche Stelle
geraten ist. In jedem Fall ist es ein Zeichen für die chaotische
Entstehungsgeschichte heiliger Texte.
Lots Onkel Abraham war der Begründer aller drei »großen«
monotheistischen Religionen. Mit seiner Stellung als Patriarch
hat er eine fast ebenso starke Vorbildfunktion wie Gott. Aber
welcher heutige Ethiker würde sich ihm anschließen? Schon
relativ früh in seinem langen Leben geht Abraham mit seiner
Ehefrau Sara nach Ägypten und übersteht dort eine Hungers-
not. Ihm wird klar, dass eine so hübsche Frau auch die Begehr-
lichkeit der Ägypter wecken kann und dass er als ihr Ehemann
deshalb in Lebensgefahr ist. Also entschließt er sich, sie als
seine Schwester auszugeben. In dieser Eigenschaft wird sie in
den Harem des Pharao aufgenommen, und Abraham, der die
Gunst des Herrschers genießt, wird reich.
Aber Gott ist mit dem angenehmen Arrangement nicht ein-
verstanden und schickt sieben Plagen auf den Pharao und sein
Haus (warum eigentlich nicht auf Abraham?). Der Pharao ist
verständlicherweise betrübt und erkundigt sich, warum Abra-
ham ihm nicht gesagt habe, dass Sara seine Frau ist. Dann gibt
er sie ihrem Mann zurück und weist beide aus Ägypten aus
(1. Mose 12, 18-19). Seltsamerweise hat es den Anschein, als
wollte das Ehepaar die gleiche Nummer noch einmal abzie-
334
hen, dieses Mal bei Abimelech, dem König von Gerar. Auch er
wird von Abraham veranlasst, Sara zu heiraten, wiederum in
dem Glauben, sie sei nicht Abrahams Frau, sondern seine
Schwester (1. Mose 20, 2-5). Und auch er äußert seine Entrüs-
tung nahezu mit den gleichen Worten wie der Pharao. Mit bei-
den Herrschern muss man ein gewisses Mitgefühl empfinden.
Ist auch diese Ähnlichkeit ein Anzeichen für die Unzuverläs-
sigkeit der Texte?
Aber solche unangenehmen Episoden in der Geschichte
über Abraham sind noch Petitessen im Vergleich zu dem be-
rüchtigten Bericht über die Opferung seines Sohnes Isaak.
(Muslimische Schriften erzählen die gleiche Geschichte über
Ismael, Abrahams zweiten Sohn.) Abraham erhält von Gott den
Befehl, seinen geliebten Sohn als Brandopfer darzubringen.
Daraufhin baut er einen Altar, schichtet das Brennholz auf und
bindet Isaak darauf fest. Er hat das tödliche Messer bereits in
der Hand, da greift ein Engel auf dramatische Weise ein und
verkündet, der Plan habe sich in letzter Minute geändert: Gott
habe nur Spaß gemacht, habe Abraham »auf die Probe stellen«
wollen, um seinen Glauben zu prüfen. Ein heutiger Ethiker
muss sich einfach fragen, ob ein Kind sich von einem solchen
seelischen Trauma jemals wieder erholen würde. Nach moder-
nen ethischen Maßstäben ist diese widerwärtige Geschichte ein
Beispiel für Kindesmisshandlung, eine Schikane in zwei unglei-
chen Machtverhältnissen und die erste belegte Verteidigung
nach dem Muster der Nürnberger Prozesse: »Ich habe nur Be-
fehle ausgeführt.« Dennoch ist diese Legende einer der großen
Gründungsmythen aller drei monotheistischen Religionen.
Auch hier werden moderne Theologen einwenden, man
könne die Geschichte von Abraham, der Isaak opfert, nicht
wortwörtlich als Tatsache auffassen. Und wieder einmal ist die
angemessene Antwort zweifacher Natur. Erstens nehmen un-
geheuer viele Menschen noch heute ihre gesamte Heilige
Schrift als Tatsachenbericht, und diese Menschen haben, insbe-
r
335
sondere in den Vereinigten Staaten und in der islamischen
Welt, große politische Macht über uns andere. Und zweitens:
Wenn die Geschichte kein Tatsachenbericht ist, wie sollen wir
sie dann auffassen? Als Allegorie? Als Allegorie wofür? Sicher
nicht für etwas Lobenswertes. Als moralische Lehre? Aber was
für eine Moral könnte man aus dieser widerwärtigen Ge-
schichte ableiten? Wie gesagt: Ich will nachweisen, dass wir un-
sere Moral in Wirklichkeit nicht aus der Heiligen Schrift bezie-
hen. Oder wenn wir es tun, suchen wir uns aus der Bibel die
angenehmen Brocken heraus und lassen die hässlichen beiseite.
Doch dann müssen wir nach einem unabhängigen Kriterium
entscheiden, welches die ethisch akzeptablen Brocken sind.
Und woher dieses Kriterium auch kommen mag, aus der Heili-
gen Schrift selbst kann es nicht stammen; es steht vermutlich
uns allen zur Verfügung, ganz gleich, ob wir religiös sind oder
nicht.
Religionsvertreter versuchen, sogar in dieser erbärmlichen
Geschichte noch ein wenig Anstand für die Gestalt Gottes zu
retten. Tat Gott nicht etwas Gutes, indem er Isaaks Leben in
letzter Minute rettete? Für den unwahrscheinlichen Fall, dass
einer meiner Leser sich von diesem besonders obszönen Argu-
ment überzeugen lässt, möchte ich eine andere Geschichte
über ein Menschenopfer zitieren, die weniger glücklich endete.
Im Buch der Richter, Kapitel 11, schließt der Militärführer Jef-
tah mit Gott einen Handel ab: Wenn Gott dafür sorgt, dass Jef-
tah über die Ammoniter siegt, wird dieser ohne zu zögern alles
als Brandopfer darbringen, »was mir aus meiner Haustür entge-
gengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme«.
Jeftah schlägt die Ammoniter tatsächlich (»mit großen Schlä-
gen«, wie es sich für die Handlung im Buch der Richter gehört)
und kommt als Sieger nach Hause. Wie nicht anders zu erwar-
ten, kommt ihm seine Tochter, sein einziges Kind, aus dem
Haus entgegen und begrüßt ihn »mit Pauken und Reigeng; lei-
der ist sie das erste lebende Wesen, das dies tut. Verständlicher-
336
weise zerreißt Jeftah seine Kleider, aber es gibt kein Entrinnen.
Gott freut sich offensichtlich auf das versprochene Brandopfer,
und angesichts der Umstände erklärt die Tochter sich anständi-
gerweise einverstanden, geopfert zu werden. Sie bittet nur
darum, er möge sie für zwei Monate ins Gebirge gehen lassen,
damit sie ihre Jungfräulichkeit beweinen könne. Als die Zeit
um ist, kehrt sie brav zurück und lässt sich von Jeftah braten.
Dieses Mal fühlt Gott sich nicht bemüßigt, einzugreifen.
Gottes gewaltiger Zorn, wenn sein auserwähltes Volk mit
einem Konkurrenzgott liebäugelt, erinnert an nichts anderes so
stark wie an sexuelle Eifersucht der schlimmsten Art, und wie-
der einmal sollte ein moderner Ethiker darin alles andere als
ein gutes Vorbild sehen. Die Verlockungen sexueller Untreue
sind auch für diejenigen, die ihnen nicht erliegen, ohne weite-
res zu verstehen, und sie sind ein Hauptthema für Romane und
Dramen von Shakespeare bis zur Schlafzimmerkomödie. Für
die offenbar unwiderstehliche Versuchung, sich mit fremden
Göttern einzulassen, haben wir modernen Menschen dagegen
nicht ohne weiteres Verständnis. »Du sollst keine anderen Göt-
ter neben mir haben« ist in meinen naiven Augen ein Gebot,
das sich sehr leicht einhalten lässt; man könnte meinen, es sei
ein Klacks im Vergleich zu »Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Weib«. Oder seinen Esel. Oder sein Rind. Und doch
muss Gott im gesamten Alten Testament mit der gleichen vor-
hersehbaren Regelmäßigkeit wie in einer Schlafzimmerkomö-
die den Kindern Israel nur einen Augenblick lang den Rücken
zuwenden, und schon sind sie mit Baal zugange, oder mit
einem Flittchen von Götzenbild* - oder, bei einer unheilvollen
Gelegenheit, mit einem goldenen Kalb ...
* Diese höchst komische Idee stammt von Jonathan Miller, der sie aber erstaunlicher-
weise nie in einem Sketch der Reihe Beyondthe Fringeunterbrachte. Ihm verdanke ich
auch, dass er mir das Fachbuch empfahl, das die Grundlage dafür bildete: Halber-
tal/Margalit 1992.
337.
Noch mehr als Abraham dürfte Mose den Anhängern aller
drei monotheistischen Religionen als Vorbild gedient haben.
Abraham mag der ursprüngliche Patriarch gewesen sein, aber
wenn man jemanden als den Begründer der Lehre des Juden-
tums und der von ihm abgeleiteten Religionen bezeichnen
kann, dann ist es Mose. Als sich die Episode mit dem goldenen
Kalb abspielte, war Mose in sicherer Entfernung auf dem Weg
zum Berg Sinai, wo er Zwiesprache mit Gott hielt und von ihm
die behauenen Steintafeln erhielt. Die Menschen unten in der
Ebene (denen es bei Todesstrafe untersagt war, sich dem Berg
auch nur zu nähern) vergeudeten keine Zeit:
Als aber das Volk sah, dass Mose ausblieb und nicht wieder
von dem Berge zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron
und sprach zu ihm: Auf, mache uns einen Gott, der vor uns
hergehe! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose
widerfahren ist ... (2. Mose 32, 1).
Aaron lässt sich von allen das Gold geben, schmilzt es ein und
macht daraus ein goldenes Kalb. Für diese neu erfundene Gott-
heit baut er einen Altar, sodass alle ihr opfern können.
Nun ja, eigentlich hätten sie sich denken können, dass sie
nicht hinter Gottes Rücken solche Faxen machen durften. Er
ist zwar gerade im Gebirge, aber schließlich ist er allwissend
und schickt sofort Mose los, um sich Geltung zu verschaffen.
Mose eilt hektisch den Berg hinab, im Gepäck die Steintafeln,
auf denen Gott die Zehn Gebote niedergeschrieben hat. Als er
ankommt und das goldene Kalb sieht, wird er so wütend, dass
er die Tafeln fallen lässt, sodass sie zerbrechen. (Später gibt
Gott ihm eine Ersatzgarnitur, und alles ist gut.) Mose nimmt
das goldene Kalb an sich, verbrennt es, zermahlt es zu Pulver,
vermischt es mit Wasser und lässt die Leute es schlucken. Dann
weist er alle Angehörigen des Priesterstammes Levi an, Schwer-
ter zu nehmen und so viele Menschen wie möglich umzubrin-
338
gen. Die Gesamtzahl der Opfer beläuft sich auf dreitausend -
genug, so sollte man meinen, um Gottes Eifersuchtsanfall zu
beschwichtigen. Aber nicht doch: Gott ist immer noch nicht
fertig. Im letzten Vers dieses entsetzlichen Kapitels schickt er
denen, die vom Volk noch übrig sind, zum Abschied eine Plage,
»weil sie sich das Kalb gemacht hatten, das Aaron angefertigt
hatte«.
Das Vierte Buch Mose berichtet, wie Mose von Gott ange-
stachelt wird, die Midianiter anzugreifen. Seine Armee macht
kurzen Prozess, schlachtet alle Männer ab und brennt die
Städte des gegnerischen Stammes nieder. Frauen und Kinder
jedoch werden verschont. Über diese gnädige Selbstbeschrän-
kung der Soldaten ist Mose wütend: Er erteilt den Befehl, auch
alle männlichen Kinder umzubringen, ebenso alle Frauen, die
keine Jungfrauen sind: »Aber alle Mädchen, die unberührt sind,
die lasst für euch leben« (4. Mose 31, 18). Nein, Mose war für
moderne Moralisten sicher kein gutes Vorbild.
Wenn heutige religiöse Autoren dem Massaker an den Mi-
dianitern überhaupt eine symbolische oder allegorische Be-
deutung beilegen, so zielt diese genau in die falsche Richtung.
Soweit man es aus dem biblischen Bericht entnehmen kann,
wurden die unglückseligen Midianiter in ihrem eigenen Land
zu Opfern eines Völkermordes. Dennoch lebt ihr Name in der
christlichen Überlieferung nur in einem beliebten Kirchenlied
weiter (das ich auch nach fünfzig Jahren noch auswendig auf
zwei verschiedene Melodien singen kann, die beide in tristen
Molltonarten stehen): |
339
Smite them by the merit
Of the holy cross.
340
Die tragikomische Farce über Gottes manische Eifersucht
auf andere Götter ist im gesamten Alten Testament ein immer
wiederkehrendes Thema. Sie steht hinter dem ersten der Zehn
Gebote (gemeint sind die auf den Steintafeln, die Mose zer-
brochen hat: 2. Mose 20, 5. Mose 5) und wird noch deutlicher
in den (ansonsten ganz anders lautenden) Ersatzgeboten, die
Gott anstelle der zerbrochenen Tafeln ausgibt (2. Mose 34).
Nachdem Gott versprochen hat, die unglückseligen Amoriter,
Kanaaniter, Hethiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter aus ihrer
Heimat zu vertreiben, kommt er auf das zu sprechen, worum
es eigentlich geht: die Konkurrenzgötter!
Natürlich, ich weiß: Die Zeiten haben sich geändert, und heute
denkt kein Religionsführer (abgesehen von den Taliban und
ihresgleichen, ihrer amerikanisch-christlichen Entsprechung)
wie Mose. Und genau darum geht es mir: Woherunsere heutige
Ethik auch kommen mag, aus der Bibel stammt sie jedenfalls
nicht. Die Religionsvertreter kommen mir nicht mit der Be-
hauptung davon, die Religion liefere ihnen eine Art innere
Richtschnur, mit der sie besser definieren könnten, was gut und
was schlecht ist - die Religion sei eine bevorrechtigte Quelle
der Moral, die für Atheisten unerreichbar bleibt. Aber damit
341
kommen sie selbst dann nicht durch, wenn sie ihren Lieblings-
trick anwenden und bestimmte Stellen aus der Heiligen Schrift
nicht wörtlich, sondern als »Symbole« interpretieren. Nach
welchen Kriterien entscheiden sie denn, welche Stellen symbo-
lisch und welche wörtlich zu verstehen sind?
Die ethnische Säuberung, die zu Zeiten Moses begann, fin-
det ihren blutigen Höhepunkt im Buch Josua, einem Text,
der durch die darin aufgezeichneten blutrünstigen Massaker
ebenso auffällt wie durch seine genüsslich ausgebreitete Frem-
denfeindlichkeit. Oder, wie es in einem liebenswürdigen alten
Spiritual heißt: »Joshua fit the battle of Jericho, and the walls
came a-tumbling down ... There’s none like good old Joshuay,
at the battle of Jericho.« (»Josua schlug die Schlacht von Je-
richo, und die Mauern stürzten ein ... Niemand ist wie der gute
alte Josua in der Schlacht von Jericho.«) Jaja, der gute alte Josua
gab keine Ruhe: »[Sie] vollstreckten den Bann an allem, was in
der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und
Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln« (Josua 6,21).
Wieder einmal werden die Theologen einwenden, es habe
sich so nicht abgespielt. Nun ja, so nicht - in der biblischen
Geschichte brechen die Mauern zusammen, nur weil Männer
schreien und Trompete spielen, und so kann es tatsächlich
nicht gewesen sein; aber darum geht es nicht. Entscheidend ist
etwas anderes: Ob die Geschichte nun stimmt oder nicht, die
Bibel wird uns als Quelle unserer Moral vorgehalten. Und die
biblische Geschichte über die Zerstörung Jerichos durch Josua
sowie ganz allgemein über den Einzug ins Gelobte Land ist
moralisch nicht von Hitlers Invasion in Polen oder Saddam
Husseins Massakern an Kurden und Marsch-Arabern zu un-
terscheiden. Die Bibel mag eine fesselnde, poetische Erzäh-
lung sein, aber sie gehört sicher nicht zu den Büchern, die man
Kindern zur Festigung ihrer Moral in die Hand geben sollte.
Nebenbei bemerkt: Die Geschichte von Josua und Jericho
wurde zum Gegenstand eines interessanten Experiments zur
342
kindlichen Ethik; ich werde später in diesem Kapitel darauf
zurückkommen.
Übrigens sollte man nicht glauben, die Gottesgestalt in der
Geschichte habe im Zusammenhang mit dem Gemetzel und
Völkermord, welche die Eroberung des Gelobten Landes be-
gleiteten, irgendwelche Zweifel oder Skrupel gehabt. Im Ge-
genteil: Seine Befehle, etwa im Fünften Buch Mose, Kapitel 20,
sind von gnadenloser Eindeutigkeit. Er traf eine klare Unter-
scheidung zwischen den Menschen, die in dem benötigten Land
lebten, und jenen, die weit entfernt wohnten. Letztere sollten
aufgefordert werden, sich friedlich zu unterwerfen. Wenn sie
sich weigerten, sollten alle Männer getötet werden, und die
Frauen sollte man zur weiteren Fortpflanzung mitnehmen. Im
Gegensatz zu dieser noch relativ humanen Behandlung kann
man sich ansehen, was für die Stämme vorgesehen war, die das
Pech hatten, bereits in der Nähe des versprochenen »Lebens-
raumes« ansässig zu sein: »Aber in den Städten dieser Völker
hier, die dir der Herr, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du
nichts leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den
Bann vollstrecken, nämlich an den Hetitern, Amoritern, Ka-
naanitern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern, wie dir der
Herr, dein Gott, geboten hat.« (5. Mose 20,16-17)
Haben diejenigen, die uns die Bibel als Anregung zu morali-
scher Rechtschaffenheit vorhalten, eigentlich die geringste Ah-
nung davon, was darin tatsächlich geschrieben steht? Nach
dem Fünften Buch Mose, Kapitel 20, sind folgende Vergehen
mit dem Tod zu bestrafen: Verfluchen der Eltern; Ehebruch;
Geschlechtsverkehr mit der Stiefmutter oder der Schwieger-
tochter; Homosexualität; Ehe mit einer Frau und ihrer Tochter;
Sodomie (wobei, um zur Beleidigung noch die Ungerechtig-
keit hinzuzufügen, auch das unglückselige Tier getötet werden
muss). Natürlich wird man auch hingerichtet, wenn man am
_Sabbat arbeitet: Diese Aussage findet sich im Alten Testament
immer und immer wieder. Im Vierten Buch Mose, Kapitel 15,
343
a
al
finden die Israeliten in der Wildnis einen Mann, der am verbo-
tenen Tag Brennholz sammelt. Sie nehmen ihn fest und fragen
Gott, was sie mit ihm machen sollen. Wie sich herausstellt, ist
Gott an diesem Tag nicht in der Stimmung, halbe Sachen zu
machen. »Der Herr aber sprach zu Mose: Der Mann soll des To-
des sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen draußen vor
dem Lager. Da führte die ganze Gemeinde ihn hinaus vor das
Lager und steinigte ihn, sodass er starb, wie der Herr dem Mose
geboten hatte.« (4. Mose 15,35-36) Hatte dieser harmlose
Brennholzsammler eine Frau und Kinder, die um ihn trauer-
ten? Wimmerte er vor Angst, als die ersten Steine flogen, und
schrie er vor Schmerzen, als das Bombardement seinen Kopf
traf? Mich erschreckt heute an solchen Geschichten nicht, dass
sie sich tatsächlich abgespielt haben. Das war vermutlich nicht
der Fall. Aber ich kann nur den Kopf darüber schütteln, dass
Menschen ihr Leben noch heute auf ein derart widerwärtiges
Vorbild wie Jahwe stützen - und, was noch schlimmer ist, dass
sie rechthaberisch versuchen, dieses böse Ungeheuer (ob echt
oder erfunden) auch uns anderen aufzuzwingen.
Besonders bedauerlich ist, dass die Zehn-Gebote-Verkünder
gerade in den Vereinigten Staaten eine derartige politische
Macht haben, in jener großartigen Republik, deren Verfassung
von Männern der Aufklärung ausdrücklich in säkularen Begrif-
fen formuliert wurde. Würden wir die Zehn Gebote ernst neh-
men, müssten wir die Verehrung der falschen Götter und die
Herstellung von Götzenbildern als wichtigste und zweitwich-
tigste Sünde einstufen. Statt den unaussprechlichen Vandalis-
mus der Taliban zu verdammen, die in den Bergen Afghanis-
tans die 45 Meter hohen Buddhastatuen von Bamyan spreng-
ten, müssten wir sie wegen ihrer rechtschaffenen Frömmigkeit
loben. Was wir bei ihnen für Vandalismus halten, war sicher
von ehrlichem religiösem Eifer getragen. Dies zeigt sich sehr
deutlich in einer wahrhaft bizarren Geschichte, mit der die
Londoner Zeitung Independent am 6. August 2005 aufmachte.
344
Unter der Schlagzeile »Die Zerstörung Mekkas« berichtete das
Blatt:
345
a
Pascal (dem Mann mit der Wette): »Die Menschen tun nie so
vollständig und fröhlich etwas Böses, als wenn sie es aus reli-
giöser Überzeugung tun.«
Ich wollte hier nicht in erster Linie aufzeigen, dass wir un-
sere Moral nicht aus der Bibel beziehen sollten (obwohl ich
dieser Meinung bin). Mein Ziel war ein anderes: Ich wollte
nachweisen, dass wir (und das schließt die meisten religiösen
Menschen ein) unsere Moral in Wirklichkeit nicht aus der Bi-
bel beziehen. Wäre das der Fall, würden wir uns streng an den
Sabbat halten und es für gerecht und richtig halten, jeden hin-
zurichten, der dies nicht tut. Wir würden jede Braut steinigen,
wenn ihr Ehemann sich unzufrieden mit ihr zeigt und wenn sie
nicht beweisen kann, dass sie noch Jungfrau war. Wir würden
ungehorsame Kinder töten. Wir würden ... aber Moment mal.
Vielleicht war ich unfair. Nette Christen hätten vielleicht schon
gegen diesen ganzen Abschnitt protestiert: Dass das Alte Testa-
ment ziemlich unangenehm ist, weiß schließlich jeder. Aber
das Neue Testament und Jesus —sie bessern den Schaden aus
und bringen alles in Ordnung. Ist es nicht so?
Eines ist nicht zu leugnen: Aus ethischer Sicht ist Jesus gegen-
über dem grausamen Ungeheuer aus dem Alten Testament ein
großer Fortschritt. Wenn Jesus wirklich existiert hat, war er
(und wenn nicht, dann der Autor der Berichte über ihn) sicher
einer der großen ethischen Neuerer der Geschichte. Die Berg-
predigt ist ihrer Zeit weit voraus. Und sein Prinzip, »die andere
Wange hinzuhalten«, nahm Gandhi und Martin Luther King.
um zweitausend Jahre vorweg. Nicht umsonst schrieb ich ein-
mal einen Artikel mit der Überschrift »Atheisten für Jesus«
(und war später begeistert, als man mir ein T-Shirt mit dieser
Aufschrift schenkte).!”*
346
Aber die ethische Überlegenheit Jesu macht besonders deut-
lich, worum es mir geht. Jesus gab sich nicht damit zufrieden,
seine Ethik aus den Schriften zu beziehen, mit denen er aufge-
wachsen war. Er distanzierte sich ausdrücklich von ihnen, zum
Beispiel als er aus den düsteren Drohungen für die Verletzung
des Sabbats die Luft herausließ. »Der Sabbat wurde für die
Menschen gemacht und nicht die Menschen für den Sabbat«
wurde ganz allgemein zu einem klugen Sprichwort. Da es eine
Hauptthese dieses Kapitels ist, dass wir unsere Moral nicht
aus der Heiligen Schrift beziehen und auch nicht beziehen soll-
ten, muss Jesus als Beispiel für genau diese These gewürdigt
werden.
Allerdings vertrat Jesus in puncto Familie nicht gerade die
Werte, die wir in den Mittelpunkt stellen würden. Seiner eige-
nen Mutter gegenüber war er kurz angebunden, bis hin zur
Brüskierung, und seine Jünger forderte er auf, ihre Familien zu
verlassen und ihm nachzufolgen. »Wenn jemand zu mir kommt
und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder,
Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger
sein« (Lukas 14, 26). Die amerikanische Komikerin Julia Swee-
ney brachte ihr Befremden darüber in ihrem Solo-Bühnenpro-
gramm Letting Go of God (»Von Gott will ich lassen«) zum
Ausdruck:!” »Tun das nicht die Sekten? Einen dazu veranlas-
sen, dass man sich von der Familie trennt, damit sie einen bes-
ser indoktrinieren können?«!”
Trotz seiner fragwürdigen Wertvorstellungen in Sachen Fa-
milie waren die ethischen Lehren Jesu —wenigstens im Ver-
gleich zum ethischen Katastrophengebiet des Alten Testa-
ments —bewundernswert. Indes, auch im Neuen Testament
gibt es Prinzipien, die kein anständiger Mensch unterstützen
sollte. Damit meine ich besonders die zentrale Doktrin des
Christentums: »Sühne« für die »Erbsünde«. Diese Lehre, ein
Kernstück der neutestamentlichen Theologie, ist ethisch fast
ebenso anstößig wie die Geschichte von Abraham, der sich an-
347
N
.
schickt, Isaak zu grillen; dieser ähnelt sie stark, und das ist, wie
Geza Vermes in The Changing Faces of Jesus (»Die wechselnden
Gesichter Jesu«) deutlich macht, kein Zufall. Die Vorstellung
von der Erbsünde entspringt unmittelbar aus dem alttesta-
mentlichen Mythos von Adam und Eva. Ihre Sünde, die Frucht
eines verbotenen Baumes zu essen, erscheint so geringfügig,
dass sie nicht mehr als eine Ermahnung verdient. Aber die sym-
bolische Bedeutung der Frucht (die Erkenntnis von Gut und
Böse, was sich in der praktischen Erkenntnis äußerte, dass sie
nackt waren) reichte aus, um einen kleinen Obstdiebstahl zur
Mutter und zum Vater aller Sünden zu machen. Das Paar und
seine sämtlichen Nachkommen wurden für alle Zeiten aus
dem Garten Eden verbannt, das Geschenk des ewigen Lebens
wurde ihnen genommen, und alle folgenden Generationen wa-
ren zu Mühen und Schmerzen auf dem Acker und beim Ge-
bären von Kindern verdammt.
So weit, so rachsüchtig - eins zu null für das Alte Testament.
In der neutestamentlichen Theologie indes kommt als Krönung
noch eine neue Ungerechtigkeit hinzu: ein neuer Sadomaso-
chismus, über dessen Boshaftigkeit selbst das Alte Testament
kaum hinausgeht. Bei genauerem Nachdenken ist es wirklich
bemerkenswert, dass eine Religion ein Folter- und Hinrich-
tungsinstrument zum heiligen Symbol macht, das häufig an
Ketten um den Hals getragen wird. Lenny Bruce bemerkte
ganz richtig: »Wäre Jesus vor zwanzig Jahren getötet worden,
dann würden die katholischen Schulkinder heute kein Kreuz,
sondern einen kleinen elektrischen Stuhl um den Hals tragen.«
Noch schlimmer ist allerdings die dahinterstehende Theologie
und Bestrafungstheorie. Die Sünde von Adam und Eva soll in
der männlichen Linie weitervererbt worden sein - mit dem
Samen, wie Augustinus es formulierte. Was ist das für eine Mo-
ralphilosophie, die jedes Kind schon vor seiner Geburt dazu
verurteilt, die Sünden eines entfernten Vorfahren zu erben?
Auf Augustinus, der sich zu Recht als eine Art Autorität in
348
Sachen Sünde betrachtete, geht übrigens auch der Begriff »Erb-
sünde« zurück. Vorher sprach man von der »Sünde der Vorfah-
ren«. Augustinus’ Äußerungen und Diskussionen machen für
mich überdeutlich, welch ungesunde Versessenheit auf die
Sünde bei frühchristlichen Theologen herrschte. Sie hätten
ihre Schriften und Predigten darauf verwenden können, über
den sternenübersäten Himmel zu jubeln oder über Berge und
grüne Wälder, Meere und den Chor der Vogelstimmen. Diese
werden zwar gelegentlich erwähnt, aber das überwältigende
christliche Schwergewicht liegt auf der Sünde - Sünde, Sünde,
Sünde und nochmal Sünde. Wie kann man sein Leben von
einer derart niederträchtigen Hauptbeschäftigung beherrschen
lassen! Sam Harris schreibt mit großartigem Sarkasmus in Let-
ter to a Christian Nation: »Es scheint Ihre Hauptsorge zu sein,
der Schöpfer des Universums könnte Anstoß an irgendetwas
nehmen, was die Menschen tun, wenn sie nackt sind. Diese
Ihre Prüderie trägt jeden Tag zur Überfülle menschlichen Elends
bei.«
Kommen wir jetzt zum Sadomasochismus. Gott verkörperte
sich als Mann namens Jesus, damit er als Sühne für Adams Erb-
sünde gefoltert und hingerichtet werden konnte. Seit Paulus
diese abstoßende Lehre entwickelte, wurde Jesus immer als Er-
löser von allen unseren Sünden angebetet. Nicht nur von den
früheren Sünden Adams, sondern auch von zukünftigen Sün-
den, ganz gleich, ob zukünftige Menschen sich entschließen,
sie zu begehen, oder nicht!
Noch eine weitere Anmerkung: Schon vielen Menschen,
darunter auch Robert Graves in seinem umfangreichen Roman
King Jesus (König Jesus), ist aufgefallen, dass der arme Judas Is-
chariot in der Geschichte unverdient schlecht wegkommt. Im-
merhin war sein »Verrat« ein unabdingbarer Teil des kosmi-
schen Plans. Das Gleiche kann man auch über Jesu angebliche
Mörder behaupten. Wenn Jesus verraten und ermordet werden
wollte, um uns alle zu erlösen, ist es eigentlich doch unfair,
349
wenn diejenigen, die sich selbst für erlöst halten, ihren Zorn
über Jahrtausende hinweg an Judas und den Juden auslassen.
Ich habe bereits die lange Liste der nicht kanonischen Evange-
lien erwähnt. Ein Manuskript, bei dem es sich angeblich um das
verschollene Judasevangelium handelt, wurde kürzlich über-
setzt und erregte deshalb das Interesse der Öffentlichkeit.!” Es
wurde unter umstrittenen Umständen entdeckt, aber offen-
sichtlich tauchte es in den Sechziger- oder Siebzigerjahren des
20. Jahrhunderts in Ägypten auf. Die 62 in koptischer Schrift
beschriebenen Papyrusblätter wurden mit der Radiokarbon-
methode auf die Zeit um 300 n. Chr. datiert, der Text geht aber
wahrscheinlich auf ein älteres griechisches Manuskript zurück.
Wer der Verfasser auch gewesen sein mag, in jedem Fall ent-
hält dieses Evangelium eine Schilderung aus der Sicht von Ju-
das Ischariot, und es behauptet, Judas habe Jesus nur deshalb
verraten, weil dieser ihn darum gebeten hatte, eine solche Rolle
zu spielen. Der Verrat habe zu einem Plan mit dem Ziel gehört,
Jesus kreuzigen zu lassen, damit er die Menschheit erlösen
konnte. So heimtückisch diese Lehre ohnehin ist, sie wird noch
dadurch verschlimmert, dass Judas seither stets zum Bösewicht
erklärt wurde.*
Ich habe die Sühne, die zentrale Doktrin des Christentums,
als bösartig, sadomasochistisch und abstoßend bezeichnet.
Eigentlich könnten wir sie auch als total verrückt abtun, wäre
sie uns nicht so vertraut, dass unsere Objektivität eingelullt
wurde. Wenn Gott uns unsere Sünden vergeben will, warum
vergibt er sie dann nicht einfach, ohne sich selbst dafür foltern
und hinrichten zu lassen - womit er übrigens zukünftige Ge-
nerationen der Juden zu Pogromen und zur Verfolgung als
=
Mittlerweile ist das Buch Reading Judas von Elaine Pagels und Karen L. King erschie-
nen (London: Viking 2007). Es stützt sich auf Karen Kings Übersetzung des Judas-
evangeliums und zeigt Mitgefühl mit dem angeblichen Erzverräter (der in dem Evan-
gelium selbst in der dritten Person auftritt).
350
»Christusmörder« verdammte? Wurde auch diese Erbsünde
mit dem Samen weitergegeben?
Paulus, das machte der jüdische Wissenschaftler Geza Ver-
mes deutlich, hing an dem alten theologischen Prinzip der Ju-
den, wonach es ohne Blut keine Sühne gebe.!°®Genau das sagt
er zum Beispiel in seinem Brief an die Hebräer (9, 22). Dage-
gen tun sich progressive Ethiker heute wirklich schwer damit,
irgendeine Theorie zu vertreten, in der Strafe eine Vergeltung
darstellt, ganz zu schweigen von der Theorie des Sündenbocks —
ein Unschuldiger wird hingerichtet und bezahlt damit für die
Sünden der Schuldigen. Ohnehin muss man sich fragen: Wen
wollte Gott eigentlich beeindrucken? Vermutlich sich selbst -
er war Richter, Gericht und Hinrichtungsopfer in einem.
Als Krönung des Ganzen kommt noch hinzu, dass Adam,
der angeblich die Erbsünde beging, in Wirklichkeit nie existiert
hat. Dass Paulus das nicht wusste, kann man ihm nachsehen,
aber einem allwissenden Gott (und auch Jesus,wenn man glaubt,
dass er Gott war) hätte es eigentlich bekannt sein müssen. Je-
denfalls bringt diese seltsame Tatsache das gesamte Fundament
dieser ganzen quälend gehässigen Theorie zum Einsturz. Ach
ja, natürlich, die ganze Geschichte von Adam und Eva war ja
nur ein Symbol, stimmt’s? Ein Symbol? Um sich selbst zu be-
eindrucken, musste Jesus also gefoltert und hingerichtet wer-
den, als stellvertretende Bestrafung für eine symbolischeSünde,
begangen von einer Person, die gar nicht existiert hat? Wie ge-
sagt, das ist nicht nur boshaft und unangenehm, sondern auch
völlig verrückt.
Bevor ich das Thema Bibel verlasse, muss ich noch auf einen
besonders ungenießbaren Aspekt ihrer ethischen Lehren auf-
merksam machen. Christen machen sich nur in den seltensten
Fällen klar, dass viele der moralischen Vorgaben für andere, die
sowohl im Alten als auch im Neuen Testament vertreten wer-
den, ursprünglich nur für eine eng begrenzte Gruppe gedacht
waren. »Liebe deinen Nächsten« bedeutete nicht das, was wir
351
wiF
u
heute darunter verstehen. Es hieß nur »Liebe einen anderen Ju-
den«. Diesen springenden Punkt macht der amerikanische Arzt
und Evolutionsanthropologe John Hartung in einem bemer-
kenswerten Aufsatz über die Evolution und die biblische Ge-
schichte der Gruppenethik auf verheerende Weise deutlich.
Dabei hob er auch die Kehrseite gebührend hervor: die Grup-
penfeindseligkeit.!”°
352
Nach Hartungs Interpretation bietet die Bibel keine Grund-
lage für eine solch blasierte Selbstgefälligkeit der Christen. Je-
sus beschränkte seine Gruppe der Erretteten streng auf die
Juden; in dieser Hinsicht stand er in der alttestamentlichen Tra-
dition —eine andere kannte er nicht. Wie Hartung eindeutig
nachweist, sollte »Du sollst nicht töten« ursprünglich nicht das
bedeuten, was es für uns heute aussagt. Es hieß vielmehr ganz
gezielt: Du sollst keine Juden töten. Die gleiche Ausschließ-
lichkeit beinhalten alle Gebote, in denen von »deinem Nächs-
ten« oder »deinem Nachbar« die Rede ist. »Nachbar« bedeutet
Mitjude. Moses Maimonides, ein hoch angesehener Rabbiner
und Arzt aus dem zwölften Jahrhundert, erläutert die Bedeu-
tung des Satzes »Du sollst nicht töten« folgendermaßen: »Wer
auch nur einen einzigen Israeliten hinmetzelt, verstößt gegen
ein Gebot, denn die Heilige Schrift sagt: Du sollst nicht mor-
den. Wer aus freiem Willen in Gegenwart von Zeugen mordet,
soll zum Tod durch das Schwert verurteilt werden. Es bedarf
keiner besonderen Erwähnung, dass jemand nicht zum Tod
verurteilt wird, wenn er einen Heiden tötet.« Natürlich bedarf
das keiner besonderen Erwähnung!
In einem ähnlichen Sinn zitiert Hartung den Sanhedrin, das
oberste jüdische Gericht, das vom Hohepriester geleitet wird.
Dieser sprach einen Mann frei, der angeblich versehentlich
einen Israeliten umgebracht hatte, obwohl er eigentlich ein Tier
oder einen Heiden töten wollte. Dieses ärgerliche kleine ethi-
sche Dilemma wirft eine interessante Frage auf. Was ist, wenn
wir einen Stein in eine Gruppe aus neun Heiden und einem Is-
raeliten werfen und das Pech haben, dass der Israelit stirbt?
Hm, schwierig. Aber die Antwort liegt auf der Hand. »Dann
kann man seine Unschuld aus der Tatsache ableiten, dass die
Mehrzahl Heiden waren.«
Hartung bedient sich in vielen Fällen der gleichen Bibelzi-
tate über die Eroberung des Gelobten Landes durch Mose, Jo-
sua und die Richter, die auch ich in diesem Kapitel angeführt
353
ey
gi
habe. Ich habe vorsichtshalber eingeräumt, dass religiöse Men-
schen heute nicht mehr biblisch denken. Für mich ist damit be-
wiesen, dass unsere Moral aus anderen Quellen stammt, ganz
gleich, ob wir religiös sind oder nicht. Und diese andere Quelle,
wie sie auch aussehen mag, steht uns allen offen, ob mit Reli-
gion oder ohne sie.
Hartung dagegen berichtet über eine erschreckende Unter-
suchung des israelischen Psychologen George Tamarin. Dieser
legte über tausend israelischen Schulkindern im Alter von acht
bis vierzehn Jahren den Bericht über die Schlacht von Jericho
aus dem Buch Josua vor:
354
Meiner Meinung nach haben Josua und die Kinder Israel
richtig gehandelt, und zwar aus folgenden Gründen: Gott
hat ihnen dieses Land versprochen und ihnen erlaubt, es zu
erobern. Hätten sie nicht so gehandelt und niemanden getö-
tet, hätte die Gefahr bestanden, dass die Kinder Israel von
den Gojim assimiliert worden wären.
Josua hat etwas Gutes getan, denn die Menschen, die in dem
Land wohnten, hatten eine andere Religion, und als Josua sie
tötete, tilgte er ihre Religion von der Erde.
Ich halte das für schlecht, denn Araber sind unrein und wenn
man unreines Land betritt, wird man auch unrein und gerät
unter ihren Fluch.
Ich finde, Josua hat nicht richtig gehandelt; die hätten das
Vieh für sich selbst aufheben können.
355
N
Ich finde, Josua hat nicht richtig gehandelt, denn er hätte das
Eigentum von Jericho übrig lassen können. Wenn er das
Eigentum nicht zerstört hätte, hätte es den Israeliten gehört.
356
gebnis. Nur sieben Prozent hießen das Verhalten des Generals
Lin gut, 75 Prozent lehnten es ab. Mit anderen Worten: Spielte
die Loyalität zum Judentum für die Berechnung keine Rolle,
dann schlossen sich die Kinder in ihrer Mehrheit den morali-
schen Beurteilungen an, für die sich die meisten modernen
Menschen entscheiden würden. Josuas Verhalten war barbari-
scher Völkermord. Aber aus religiöser Sicht sieht alles ganz an-
ders aus. Und der Unterschied macht sich schon in jungen Jah-
ren bemerkbar. Ob Kinder den Völkermord verurteilen oder
gutheißen, hängt einzig von der Religion ab.
In der zweiten Hälfte seines Aufsatzes wendet sich Hartung
dem Neuen Testament zu. Kurz zusammengefasst, lautet seine
These: Jesus war ein Anhänger der gleichen Gruppenmoral - in
Verbindung mit Feindseligkeit gegenüber Außenstehenden -,
die im Alten Testament als selbstverständlich vorausgesetzt
wird. Jesus war ein loyaler Jude. Die Idee, den jüdischen Gott
auch den Ungläubigen nahezubringen, wurde erst von Paulus
erfunden. Hartung formuliert es krasser, als ich es wagen
würde: »Jesus hätte sich im Grab herumgedreht, wenn er ge-
wusst hätte, dass Paulus den Schweinen seine Lehre predigte.«
Seinen Spaß hat Hartung mit dem Buch der Offenbarung,
das sicherlich eines der seltsamsten Bücher der Bibel ist. Es
wurde angeblich von Johannes verfasst, und Ken’s Guide to the
Bible meint dazu sehr plastisch: »Wenn seine Briefe so wirken,
als hätte Johannes Hasch geraucht, dann hat er die Offenba-
rung unter dem Einfluss von LSD geschrieben.«'!” Hartung
macht auf zwei Verse in der Offenbarung aufmerksam, in de-
nen die Zahl der »Versiegelten« (worunter manche Sekten, bei-
spielsweise die Zeugen Jehovas, die »Erretteten« verstehen) auf
144.000 beschränkt ist. Hartung geht es vor allem darum, dass
es ausschließlich Juden sein müssen: 12000 aus jedem der
zwölf Stämme. Ken Smith geht noch einen Schritt weiter und
weist darauf hin, dass die 144000 Auserwählten »sich nicht
mit Frauen besudelten«, was vermutlich bedeutet, dass zu den
357
B -
Auserwählten auch keine Frauen gehören können. Nun ja, so
etwas hätte man eigentlich auch erwartet.
In Hartungs unterhaltsamem Aufsatz steht noch viel mehr.
Ich möchte ihn einfach noch einmal empfehlen und den Inhalt
in einem Zitat zusammenfassen:
358
Das Rätselhafte an diesem Vers ist für mich nicht die Aus-
schließlichkeit als solche, sondern die Logik. Viele Menschen
werden tatsächlich nicht ins Christentum, sondern in andere
Religionen hineingeboren - wie also entscheidet Gott, welchen
Menschen in Zukunft eine solche bevorzugte Geburt zuteil
wird? Warum begünstigt er gerade Isaac Watts und die Perso-
nen, die das Lied nach seiner Vorstellung singen sollten? Und
welcher Art war diese gottgefällige Einheit, bevor Isaac Watts
überhaupt gezeugt wurde?
Hier begeben wir uns in allzu tiefe Gewässer, aber für einen
theologisch eingestellten Geist sind sie vielleicht gar nicht so
tief. Jedenfalls erinnert das Kirchenlied von Isaac Watts an die
drei täglichen Gebete, die orthodoxe und konservative (nicht
jedoch reformierte) männliche Juden erlernen: »Gesegnet seist
du, dass du mich nicht zu einem Ungläubigen gemacht hast.
Gesegnet seist du, dass du mich nicht zu einer Frau gemacht
hast. Gesegnet seist du, dass du mich nicht zu einem Sklaven
gemacht hast.«
Religion ist zweifellos eine spaltende Kraft, und das ist
einer der wichtigsten Vorwürfe, die gegen sie erhoben wer-
den. Allerdings wird häufig zu Recht darauf hingewiesen, dass
es in Kriegen und Feindseligkeiten zwischen religiösen Grup-
pen oder Sekten nur in seltenen Fällen um echte theologische
Meinungsverschiedenheiten geht. Wenn ein paramilitärischer
Protestant in Nordirland einen Katholiken ermordet, mur-
melt er nicht: »Das hast du davon, du transsubstantiationisti-
sches, marienanbetendes, weihrauchstinkendes Arschloch!«
Viel wahrscheinlicher ist, dass er sich für den Tod eines ande-
ren Protestanten rächen will, der - vielleicht im Verlauf einer
Generationen alten Blutrache - von einem anderen Katholi-
ken umgebracht wurde. Religion ist ein Etikett für Feindselig-
keiten und Blutrache zwischen verschiedenen Gruppen, und
in dieser Hinsicht ist sie nicht unbedingt schlimmer als andere
Etiketten, beispielsweise die Hautfarbe, die Sprache oder die
359
Lieblings-Fußballmannschaft. Allerdings steht sie oft immer
dann zur Verfügung, wenn keine anderen Etiketten infrage
kommen.
Ja, ja, natürlich handelt es sich in Nordirland um politische
Probleme. Es stimmt, dass die eine Gruppe von der anderen
wirtschaftlich und politisch unterdrückt wurde, und das Ganze
reicht Jahrhunderte zurück. Es gibt echte Missstände und Un-
gerechtigkeiten, und die haben offensichtlich kaum etwas mit
Religion zu tun; nur - und das ist wichtig und wird allgemein
übersehen - gäbe es ohne die Religion keine Etiketten, anhand
derer man entscheiden könnte, wen man unterdrückt und an
wem man sich rächt. Und das eigentliche Problem in Nord-
irland besteht darin, dass solche Etiketten über viele Generatio-
nen vererbt wurden. Katholiken, deren Eltern, Großeltern und
Urgroßeltern katholische Schulen besucht haben, schicken ihre
Kinder ebenfalls auf katholische Schulen. Protestanten, deren
Eltern, Großeltern und Urgroßeltern protestantische Schulen
besucht haben, schicken ihre Kinder ebenfalls auf protestan-
tische Schulen. Beide Gruppen haben die gleiche Hautfarbe,
sie sprechen die gleiche Sprache, sie haben Spaß an den glei-
chen Dingen, und doch könnten sie ebenso gut zu verschiede-
nen biologischen Arten gehören, so tief ist die historische Kluft
zwischen ihnen.
Ohne Religion und religiös getrennte Erziehung wäre eine
solche Kluft einfach nicht vorhanden. Die verfeindeten Stämme
hätten sich durch Eheschließungen längst vermischt und auf-
gelöst. Vom Kosovo bis nach Palästina, vom Irak bis in den Su-
dan, von Nordirland bis zum indischen Subkontinent sollte
man sich alle Regionen mit unüberwindlicher Feindschaft und
Gewalt zwischen verschiedenen Gruppen einmal genau anse-
hen. Ich kann nicht dafür garantieren, dass Religionen immer
das beherrschende Etikett für freundliche und feindliche
Gruppen sind. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß.
Zu der Zeit, als der indische Subkontinent aufgeteilt wurde,
360
starben mehr als eine Million Menschen bei religiösen Konflik-
ten zwischen Hindus und Muslimen (und 15 Millionen weitere
wurden aus ihrer Heimat vertrieben). Außer der Religion gab
es kein anderes Kennzeichen, nach dem entschieden wurde,
wen man umbringt. Letztlich waren die Menschen durch nichts
anderes getrennt als durch die Religion. In jüngerer Zeit veran-
lassten weitere blutige Religionskonflikte den Schriftsteller
Salman Rushdie dazu, einen Artikel mit der Überschrift »Wie
immer ist die Religion das Gift im Blute Indiens« zu schreiben.
Sein letzter Absatz lautet:
Ich bestreite nicht, dass die starke Neigung der Menschen, in-
nerhalb der Gruppe loyal und nach außen feindselig zu sein,
auch ohne Religion vorhanden wäre. Ein kleines Beispiel dafür
sind die Fans konkurrierender Fußballmannschaften. Aber
selbst zwischen Fußballanhängern verlaufen manchmal reli-
giöse Grenzen, etwa bei den Glasgow Rangers und Celtic
Glasgow. Weitere wichtige Trennungszeichen sind Sprachen
(beispielsweise in Belgien) und Stammeszugehörigkeiten (be-
sonders in Afrika). Aber die Religion verstärkt und verschärft
das Übel in mindestens dreifacher Hinsicht:
361
e Durch die Etikettierung von Kindern. Von frühester Kind-
heit an spricht man von »katholischen Kindern« oder »pro-
testantischen Kindern« usw., obwohl sie sicher noch viel
zu jung sind und sich selbst nicht überlegen konnten, was
sie von der Religion halten (auf diese Form der Kindes-
misshandlung werde ich im neunten Kapitel zurück-
kommen).
e Konfessionelle Schulen. Kinder werden - wiederum häufig
bereits in sehr jungen Jahren - zusammen mit Angehörigen
der gleichen religiösen Gruppe und getrennt von den Kin-
dern der Anhänger anderer Religionen unterrichtet. Man
kann ohne Übertreibung sagen, dass die Probleme in Nord-
irland nach einer Abschaffung der Konfessionsschulen im
Laufe einer Generation verschwinden würden.
e Tabuisierung von »Mischehen«. Dieses Tabu schreibt die über-
kommenen Feindseligkeiten und Rachegelüste fort, weil es
die Vermischung verfeindeter Gruppen verhindert. Wären
Ehen zwischen ihnen erlaubt, würden die Feindseligkeiten
sich auf ganz natürliche Weise abschwächen.
Das nordirische Dorf Glenarm ist der Sitz der Earls of Antrim.
Bei einer Gelegenheit, für die es noch heute Zeitzeugen gibt,
tat der damalige Earl das Undenkbare: Er heiratete eine Katho-
likin. Sofort wurden überall in Glenarm als Zeichen der Trauer
die Fensterläden verschlossen. Ebenso verbreitet ist die Ab-
scheu vor »Mischehen« bei strenggläubigen Juden. In dem be-
reits beschriebenen Experiment nannten mehrere israelische
Kinder die entsetzlichen Gefahren der »Assimilation« als wich-
tigste Rechtfertigung für Josuas Schlacht von Jericho. Wenn
Angehörige verschiedener Religionen tatsächlich heiraten,
sprechen beide Seiten mit bösen Vorahnungen von der »Misch-
ehe«, und häufig gibt es langwierige Konflikte darüber, wie man
die Kinder erziehen soll. Als ich klein war und noch begeistert
die Ansichten der Anglikanischen Kirche vertrat, war ich wie
362
vor den Kopf geschlagen, als ich hörte, bei einer Heirat zwi-
schen einem katholischen und einem anglikanischen Partner
müssten die Kinder stets katholisch erzogen werden. Warum
ein Geistlicher einer beliebigen Konfession auf dieser Bedin-
gung bestand, konnte ich ohne weiteres begreifen. Was ich
nicht verstand (und bis heute nicht verstehe), war die Asym-
metrie. Warum schlugen die anglikanischen Priester nicht mit
der umgekehrten Regel zurück? Ich vermute, sie waren einfach
weniger gnadenlos. Mein alter Kaplan und Betjemans »Our
Padre« waren einfach zu nett.
In der Soziologie gibt es statistische Untersuchungen zur
religiösen Homogamie (Eheschließung zwischen Angehöri-
gen der gleichen Religion) und Heterogamie (Eheschließung
zwischen Angehörigen verschiedener Religionen). Norval D.
Glenn von der University of Texas in Austin sammelte eine
Reihe solcher Studien bis zum Jahr 1978 und analysierte sie
in ihrer Gesamtheit.''” Nach seinen Feststellungen besteht im
Christentum ein deutlicher Trend zu religiöser Homogamie
(Protestanten heiraten Protestanten, Katholiken heiraten Ka-
tholiken, und dies geht über den normalen Effekt nach dem
Motto »der Junge von nebenan« hinaus). Noch ausgepräg-
ter ist der Trend unter Juden. Insgesamt füllten 6021 verheira-
tete Personen den Fragebogen aus; davon bezeichneten sich
140 als Juden, und von diesen wiederum hatten 85,7 Prozent
auch Juden geheiratet. Das ist ein wesentlich größerer An-
teil, als man es bei einer Zufallsverteilung der homogamen
Ehen erwarten würde. Natürlich ist diese Erkenntnis für nie-
manden etwas Neues. Unter strenggläubigen Juden sind Ehen
mit Andersgläubigen verpönt; sehr deutlich wird das Tabu
in jüdischen Witzen über Mütter, die ihre Söhne warnen,
sich nicht von blonden Schicksen ködern zu lassen. Von drei
amerikanischen Rabbinern stammen die folgenden typischen
Aussagen:
363
e „Ich lehne es ab, interreligiöse Trauungen vorzunehmen.«
e »Ich traue nur dann, wenn die Paare ihre Absicht bekunden,
die Kinder als Juden zu erziehen.«
e »Ich traue, wenn die Paare bereit sind, sich vor der Ehe-
schließung beraten zu lassen.«
Zu Beginn dieses Kapitels wurde gezeigt, dass wir - auch die re-
ligiösen Menschen unter uns —die Grundlage unserer Moral
nicht in heiligen Büchern finden, auch wenn wir uns das viel-
leicht gern einbilden. Doch wie entscheiden wir dann, was
richtig und was falsch ist?
Ganz gleich, wie wir diese Frage beantworten - in der Frage,
was wir tatsächlich für richtig und falsch halten, besteht eine
überraschend weitreichende Übereinstimmung. Dieser Kon-
sens steht in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Re-
ligion. Er umfasst jedoch auch die meisten religiösen Men-
schen, unabhängig davon, ob diese der Ansicht sind, ihre Ethik
stamme aus der Heiligen Schrift oder nicht. Von bemerkens-
werten Ausnahmen wie den afghanischen Taliban und ihren
christlichen Entsprechungen in den USA abgesehen, legen die
364
meisten Menschen zumindest Lippenbekenntnisse für das glei-
che weit gefasste, liberale Spektrum ethischer Prinzipien ab. In
unserer Mehrzahl fügen wir anderen nicht unnötig Leid zu; wir
glauben an die freie Meinungsäußerung und treten selbst dann
dafür ein, wenn wir mit dem Inhalt der geäußerten Meinungen
nicht einverstanden sind. Wir bezahlen unsere Steuern; wir be-
trügen nicht, morden nicht, begehen keinen Inzest, tun nichts,
das wir auch von anderen nicht erleiden wollen. Manche dieser
ethischen Prinzipien finden sich in heiligen Büchern, aber dort
sind sie unter vielen anderen Regeln begraben, die kein anstän-
diger Mensch befolgen würde; und die heiligen Bücher selbst
bieten keine Leitlinien, anhand derer wir die guten Prinzipien
von den schlechten unterscheiden könnten.
Ein Weg, um diese allgemein anerkannte Ethik auszudrü-
cken, sind die »Neuen Zehn Gebote«. Verschiedene Personen
und Institutionen haben sich darum bemüht, sie zu formulie-
ren. Interessant ist dabei, dass alle Versuche zu recht ähnlichen
Ergebnissen führten, und diese sind charakteristisch für die
Zeit, in der ihre Urheber lebten oder leben. Die folgenden
»Neuen Zehn Gebote« stammen aus unserer Zeit. Ich habe sie
auf einer atheistischen Website gefunden:
® Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem
andern zu.
e Strebe immer danach, keinen Schaden anzurichten.
e Behandle deine Mitmenschen, andere Lebewesen und die
Welt im Allgemeinen mit Liebe, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit
und Respekt.
e Sieh über Böses nicht hinweg und scheue dich nicht, Ge-
rechtigkeit walten zu lassen, aber sei immer bereit, schlechte
Taten zu verzeihen, wenn sie freimütig eingestanden und
ehrlich bereut werden.
e Führe dein Leben mit einem Gefühl von Freude und
Staunen.
365
e Strebe stets danach, Neues zu lernen.
e Stelle alles auf den Prüfstand; miss deine Ideen immer an
den Tatsachen und sei bereit, auch lieb gewordene Überzeu-
gungen über Bord zu werfen, wenn sie sich nicht mit der
Wirklichkeit vereinbaren lassen.
e Versuche nie, zu zensieren oder dich von Meinungsverschie-
denheiten abzukapseln; respektiere immer das Recht der an-
deren, anderer Meinung zu sein als du.
e Bilde dir aufgrund deiner eigenen Vernunft und Erfahrung
eine unabhängige Meinung; lass dich nicht blind von ande-
ren führen.
° Stelleallesinfrage."
366
mich auch bemühen, Platz für ein paar andere zu finden, zum
Beispiel:
EEE 367
ligiös sind oder nicht, unsere Einstellung zu Richtig und Falsch
hat sich bei uns allen drastisch verändert. Was ist das Wesen
dieses Wandels, und welche Triebkraft steckt dahinter?
In jeder Gesellschaft gibt es einen gewissen Konsens, der ein
wenig rätselhaft ist und häufig als »Zeitgeist« bezeichnet wird.
Wie bereits erwähnt, ist das Frauenwahlrecht in den Demokra-
tien der ganzen Welt heute allgemein üblich, aber diese Re-
form ist erstaunlich jungen Datums. Die folgende Liste zeigt an
einigen Beispielen, wann den Frauen das Recht zu wählen ein-
geräumt wurde:
Neuseeland 1893
Australien 1902
Finnland 1906
Norwegen 913
VereinigteStaaten 1920
Großbritannien 1928
Frankreich 1945
Belgien 1946
Schweiz 1971
Kuwait 2006
368
jahren der nonchalante Jugendheld Bulldog Drummond,* der
zum Beispiel im Roman The Black Gang (»Die schwarze
Bande«) von »Juden, Ausländern und anderem ungewaschenen
Volk« spricht. In der Schlüsselszene des Romans The Female of
the Species (»Das Weibchen«) hat Drummond sich schlauer-
weise als Pedro, der farbige Diener des Oberschurken, verklei-
det. Bei seiner - für den Leser wie für den Bösewicht - überra-
schenden Enthüllung, nicht »Pedro«, sondern in Wirklichkeit
Drummond zu sein, hätte er sinngemäß sagen können: »Sie
glauben, ich sei Pedro. Aber da haben Sie sich schwer getäuscht.
Ich bin Ihr Erzfeind Drummond und hab mich nur schwarz an-
gemalt.« Indes, das sagt er nicht, sondern: »Nicht jeder Bart ist
falsch, aber jeder Nigger stinkt. Dieser Bart ist nicht falsch, mein
Lieber, und dieser Nigger stinkt nicht. Also kann doch irgend-
was nicht stimmen.« Als ich den Roman in den Fünfzigerjahren,
drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung, las, konnte ein Junge
die dramatische Spannung noch spüren, ohne den Rassismus zu
bemerken. Heute wäre so etwas unvorstellbar.
Nach den Maßstäben seiner Zeit war Thomas Henry Huxley
ein aufgeklärter, fortschrittlicher Liberaler. Aber seine Zeit war
nicht die unsere. 1871 schrieb Huxley:
369
:
Bisse geht, erfolgreich mit seinem Rivalen zu konkurrieren,
der ein größeres Gehirn und kleinere Kiefer hat. Die höchsten
Plätze in der Hierarchie der Zivilisation werden sicherlich
nicht in der Reichweite unserer dunklen Vettern liegen.''*
Ich will also sagen, dass ich nicht dafür bin und nie dafür war,
in irgendeiner Form die soziale und politische Gleichheit der
weißen und schwarzen Rasse herzustellen; dass ich nicht
dafür bin und nie dafür war, Neger zu Wählern oder Rich-
tern zu machen, sie in politische Ämter einzusetzen oder ih-
nen die Ehe mit Weißen zu gestatten; und zusätzlich möchte
ich sagen, dass es zwischen der weißen und der schwarzen
Rasse einen körperlichen Unterschied gibt, welcher es nach
meiner Überzeugung für alle Zeiten verbieten wird, dass die
beiden Rassen in sozialer und politischer Gleichberechti-
gung zusammenleben. Und da sie nicht so leben können,
während sie doch zusammenbleiben, muss es die Position
des Überlegenen und des Unterlegenen geben, und ich bin
wie jeder andere Mensch dafür, dass die überlegene Position
der weißen Rasse zugewiesen wird.
370
coln so etwas sagen konnten, dann kann man sich leicht vor-
stellen, was die Durchschnittsbürger der viktorianischen Zeit
dachten. Und wenn wir noch weiter zurück ins 18. Jahrhun-
dert blicken, so ist allgemein bekannt, dass Washington, Jeffer-
son und andere Vertreter der Aufklärung sich durchaus Skla-
ven hielten. Der Zeitgeist ändert sich unaufhaltsam; deshalb
halten wir den Wandel manchmal für selbstverständlich und
vergessen, dass er in Wirklichkeit ein echtes, eigenständiges
Phänomen ist.
Es gibt dafür noch viele weitere Beispiele. Als die ersten See-
leute auf Mauritius landeten und die Dodos sahen, hatten sie
keinen anderen Gedanken, als die zutraulichen Vögel mit Knüp-
peln zu erschlagen. Man wollte sie nicht einmal essen (den
Beschreibungen zufolge waren sie ungenießbar). Wehrlosen,
zahmen, flugunfähigen Vögeln mit einem Knüppel den Kopf
einzuschlagen war vermutlich einfach ein Zeitvertreib. Heute
wäre so etwas undenkbar, und wenn eine moderne Entspre-
chung zum Dodo auch nur durch Zufall ausstirbt - von absicht-
licher Tötung durch Menschen ganz zu schweigen -, gilt das als
große Tragödie.
Eine solche Tragödie - zumindest nach den Maßstäben un-
seres heutigen kulturellen Klimas —war in jüngerer Zeit das
Aussterben des Tasmanischen Beutelwolfes (Thylacinus). Auf
diese Tiere, deren Verschwinden heute pathetisch beklagt
wird, war noch 1909 eine Kopfprämie ausgesetzt. In viktoria-
nischen Romanen über Afrika sind »der Elefant«, »der Löwe«
und »die Antilope« (man beachte den aufschlussreichen Sin-
gular) nichts anderes als »Jagdwild«. Und was tut man mit
Wild, ohne lange darüber nachzudenken? Man erschießt es.
Nicht um es zu essen. Nicht aus Selbstverteidigung. Ein-
fach als »Sport«. Heute herrscht ein anderer Zeitgeist. Zu-
gegeben: Auch heute noch erschießen reiche, gelangweilte
»Sportler« in Afrika wilde Tiere von einem sicheren Land-
Rover aus und nehmen die ausgestopften Köpfe mit nach
371
Hause. Aber dafür bezahlen sie Unsummen, und gleichzeitig
werden sie vielfach verachtet. Natur- und Umweltschutz sind
mittlerweile allgemein anerkannte Werte und haben heute
die gleiche ethische Stellung, die früher der Einhaltung des
Sabbats und dem Meiden von Götzenbildern zugestanden
wurden.
Die »Swinging Sixties« gelten heute als legendäre Zeit einer
modernen Liberalität. Aber noch zu Beginn jenes Jahrzehnts
konnte ein Klägeranwalt in einem Prozess, in dem es um die
Obszönität von D. H. Lawrences Roman Lady Chatterley ging,
die Geschworenen fragen: »Wären Sie damit einverstanden,
dass Ihre kleinen Söhne und kleinen Töchter - denn Mädchen
können ebenso lesen wie Jungen [ist es wirklich zu glauben,
dass er das gesagt hat?] - dieses Buch lesen? Würden Sie die-
ses Buch in Ihrem Haus herumliegen lassen? Ist es ein Buch,
von dem Sie sich wünschen würden, dass Ihre Frau oder Ihre
Diener es lesen?« Die letzte rhetorische Frage macht auf be-
sonders verblüffende Weise deutlich, wie schnell sich der Zeit-
geist ändert.
Die amerikanische Invasion im Irak wurde vor allem wegen
der Opfer unter der Zivilbevölkerung allgemein verurteilt, und
doch ist die Zahl dieser Opfer um etliche Größenordnungen
geringer als die vergleichbaren Zahlen aus dem Zweiten Welt-
krieg. Der Maßstab dafür, was ethisch hinnehmbar ist, scheint
sich ständig zu verschieben. Donald Rumsfeld, dessen Äuße-
rungen heute so widerwärtig und kaltschnäuzig klingen, wäre
mit den gleichen Worten während des Zweiten Weltkrieges als
Liberaler mit blutendem Herzen durchgegangen. Irgendetwas
hat sich in den dazwischenliegenden Jahrzehnten verändert. Es
hat sich in uns allen verändert, und diese Veränderung hat nichts
mit Religion zu tun. Wenn überhaupt, hat sie sich nicht wegen,
sondern trotz der Religion abgespielt.
Die Verschiebung verläuft in einer erkennbaren, immer glei-
chen Richtung, und die meisten von uns sehen darin eine Ver-
372
besserung. Selbst Adolf Hitler, der die Grenzen des Bösen nach
allgemeiner Ansicht in bis dahin unerforschtes Gelände aus-
weitete, wäre zur Zeit eines Caligula oder Dschingis Khan
nicht sonderlich aufgefallen. Hitler ermordete zweifellos mehr
Menschen als Dschingis Khan, aber ihm stand auch die Tech-
nologie des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Und bezog selbst
Hitler jemals seine größte Freude daraus, »die Nächsten und
Liebsten seiner Opfer in Tränen gebadet zu sehen«, wie
Dschingis Khan es von sich behauptete? Wir beurteilen Hitlers
Bosheit nach den Maßstäben von heute, und der ethische Zeit-
geist hat sich seit Caligula ebenso weiterentwickelt wie die
Technologie. Besonders böse erscheint Hitler nur nach den
eher gutartigen Maßstäben unserer Zeit.
Zu meinen eigenen Lebzeiten haben zahlreiche Menschen
gedankenlos abschätzige Spitznamen und nationale Klischees
verwendet: »Spaghettifresser«, »Kanake«, »Iwan«, »Vandale«,
»Itzig«, »Nigger«, »Japs«, »Bimbo«. Ich will nicht behaupten,
dass solche Worte heute verschwunden wären, aber in besse-
ren Kreisen sind sie allgemein verpönt. An dem Wort »negro«,
das ursprünglich keine Beleidigung darstellen sollte, kann
man heute ablesen, wann ein englischer Prosatext entstan-
den ist. Ganz allgemein sind Vorurteile aufschlussreiche Hin-
weise auf die Entstehungszeit eines Schriftstücks. A. C. Bou-
quet, ein angesehener Theologe aus Cambridge, konnte zu
seiner Zeit das Kapitel über den Islam in seinem Werk Com-
parative Theology mit folgenden Worten einleiten: »Der Semit
ist von Natur aus kein Monotheist, wie man es Mitte des
19. Jahrhunderts annahm. Er ist ein Animist.« Die Versessen-
heit auf Rassen (im Gegensatz zur Kultur) und die aufschluss-
reiche Verwendung des Singulars (»Der Semit [...] Er ist ein
Animist«), mit der eine ganze Vielfalt von Menschen auf einen
Typus reduziert wird, waren damals keineswegs anstößig. Aber
sie sind ein weiterer kleiner Hinweis auf den sich wandelnden
Zeitgeist. Heute würde kein Theologieprofessor aus Cam-
A 373
bridge und auch sonst niemand sich so ausdrücken. Solche
kleinen Anhaltspunkte für sich wandelnde Sitten lassen den
Schluss zu, dass Bouquet sein Buch nicht später als in der
Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb. Tatsächlich erschien es
1941.
Geht man noch einmal vier Jahrzehnte zurück, ist der Wan-
del der Maßstäbe nicht mehr zu übersehen. In einem früheren
Buch (A Devil’s Chaplain) habe ich H. G. Wells’ utopische New
Republic zitiert, und ich möchte es jetzt noch einmal tun, weil
dieser Essay meine Aussage auf so schockierende Weise ver-
deutlicht.
Und wie wird die Neue Republik die niederen Rassen be-
handeln? Wie wird sie mit den Schwarzen umgehen? ... mit
dem gelben Mann? ... dem Juden? ... diesen Schwärmen
von schwarzen, braunen, schmutzig weißen und gelben
Menschen, die nicht der neuen Notwendigkeit der Effizienz
entsprechen? Nun ja, die Welt ist eine Welt und keine
mildtätige Institution, und ich glaube, sie werden gehen
müssen. [...] Und das ethische System dieser Menschen der
Neuen Republik, das ethische System, welches den Welt-
staat beherrschen wird, wird so gestaltet sein, dass es vor-
wiegend die Fortpflanzung dessen begünstigt, was in der
Menschheit gut, effizient und schön ist —schöne, kräftige
Körper, klares, leistungsfähiges Denken. [...] Und die Me-
thode, nach welcher die Natur bisher bei der Gestaltung der
Welt vorgegangen ist, mit der verhindert wurde, dass
Schwäche wiederum Schwäche hervorbringt, [...] ist der
Tod. [...] Die Menschen der Neuen Republik [...] werden
ein Ideal haben, welches das Töten lohnend macht.!!®
374
besseren Kreisen galten sie als durchaus akzeptabel. Der heu-
tige Leser dagegen keucht buchstäblich vor Entsetzen, wenn er
diese Zeilen liest. Eines müssen wir uns klarmachen: So ent-
setzlich Hitler auch war, er stand nicht so weit außerhalb des
Zeitgeistes seiner Epoche, wie es aus heutiger Sicht den An-
schein hat. Wie schnell sich doch der Zeitgeist wandelt - und
das zur gleichen Zeit auf breiter Front in der gesamten gebilde-
ten Menschheit!
Wie kommt es nun zu diesen gleichzeitigen, stetigen Ver-
änderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein? Es ist nicht
an mir, diese Frage zu beantworten. In meinem Zusammen-
hang reicht die Erkenntnis, dass die Ursache sicher nicht in
der Religion liegt. Würde man mich zwingen, eine Theorie zu
vertreten, so würde ich dies in dem folgenden Rahmen ver-
suchen: Wir müssen erklären, warum der Wandel des ethi-
schen Zeitgeistes bei einer so großen Zahl von Menschen im
Wesentlichen gleichzeitig stattfindet; und wir müssen er-
klären, warum er in einer relativ einheitlichen Richtung ver-
läuft.
Erstens: Wie wird die Gleichzeitigkeit bei so vielen: Men-
schen erreicht? Der Wandel verbreitet sich von einem Kopf
zum nächsten - durch Gespräche in Kneipen und auf Partys,
durch Bücher und Buchrezensionen, Zeitungen und Rund-
funk, und heute auch über das Internet. Ein Wandel des mora-
lischen Klimas kündigt sich in Leitartikeln an, in Fernseh-
Talkshows, politischen Reden, im Geplapper von Komikern
und in den Drehbüchern von Fernsehserien, in Parlamentsab-
stimmungen zur Verabschiedung neuer Gesetze und in den
Entscheidungen der Richter, die diese Gesetze interpretieren.
Man könnte auch sagen, dass sich die Memhäufigkeiten im
Mempool verändern, aber diesen Gedanken möchte ich hier
nicht weiter verfolgen.
Manche Menschen bleiben hinter der fortschreitenden Welle
des wechselnden ethischen Zeitgeistes zurück, andere sind ihr
"2;
ET 375
ein wenig voraus. Aber im 21. Jahrhundert sind die meisten von
uns einander viel näher, und wir sind den Menschen aus dem
Mittelalter, aus der Zeit Abrahams und noch aus den Zwanzi-
gerjahren des 20. Jahrhunderts weit voraus. Die ganze Welle
bewegt sich immer weiter, und selbst der Vorreiter aus einem
früheren Jahrhundert (ein naheliegendes Beispiel wäre T.H.
Huxley) würde sich hundert Jahre später bei den Nachzüglern
wiederfinden. Natürlich ist der Fortschritt kein ständiges Berg-
auf, sondern ein wechselndes Auf und Ab. Es gibt regional und
zeitlich begrenzte Rückschläge - wie in den Vereinigten Staa-
ten, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter ihrer Regierung
zu leiden haben. Betrachtet man jedoch einen längeren Zeit-
rahmen, so ist der Fortschrittstrend unverkennbar, und er wird
sich fortsetzen.
Was treibt ihn in diese einheitliche Richtung? Man darf
nicht übersehen, welch treibende Kraft einzelne Gestalten dar-
stellen, die ihrer Zeit voraus sind, sich bemerkbar machen und
uns andere überzeugen, sodass sie uns mitziehen. In den Verei-
nigten Staaten wurden die Ideale der Gleichberechtigung ver-
schiedener Rassen durch politische Führungsgestalten vom
Kaliber eines Martin Luther King vorangetrieben, aber auch
durch Unterhaltungskünstler, Sportler und andere prominen-
te Vorbilder wie Paul Robeson, Sidney Poitier, Jesse Owens
und Jackie Robinson. Die Emanzipation der Sklaven und der
Frauen hatte charismatischen Gestalten viel zu verdanken.
Manche davon waren religiös, andere nicht. Manche, die reli-
giös waren, vollbrachten ihre guten Taten wegen ihrer Religio-
sität. In anderen Fällen war die Religion nebensächlich. Martin
Luther King war zwar Christ, seine Philosophie des gewaltlo-
sen zivilen Ungehorsams stammte aber unmittelbar von dem
nicht religiösen Mahatma Gandhi.
Hinzu kommt die verbesserte Bildung und insbesondere die
wachsende Erkenntnis, dass jeder von uns sein Menschsein mit
den Angehörigen aller Rassen und beider Geschlechter ge-
376
meinsam hat - beides sind zutiefst unbiblische Ideen, die ihren
Ursprung in der biologischen Wissenschaft und insbesondere
in der Evolutionsforschung haben. Dass Farbige, Frauen und in
Nazideutschland auch Juden und Zigeuner schlecht behandelt
wurden, lag unter anderem daran, dass sie nicht als vollwertige
Menschen galten. Der Philosoph Peter Singer vertritt in seinem
Buch Animal Liberation (Befreiung der Tiere) wortreicher als je-
der andere die Ansicht, wir sollten auch den »Speziesismus«
hinter uns lassen und die menschliche Behandlung auf alle bio-
logischen Arten ausweiten, die es aufgrund der Leistungsfähig-
keit ihres Gehirns zu schätzen wissen. Vielleicht ist das ein
Hinweis, in welche Richtung sich der ethische Zeitgeist in
zukünftigen Jahrhunderten entwickeln könnte. Es wäre die
natürliche Fortschreibung früherer Reformen wie der Abschaf-
fung der Sklaverei und der Frauenemanzipation.
Genauer zu erklären, warum der ethische Zeitgeist sich so
umfassend und einheitlich wandelt, übersteigt die Möglichkei-
ten meiner amateurhaften Psychologie und Soziologie. In mei-
nem Zusammenhang reicht die Beobachtung, dass er sich
tatsächlich verändert und dass diese Veränderung nicht von der
Religion vorangetrieben wird - und erst recht nicht von der Bi-
. bel. Vermutlich steht dahinter keine einheitliche Triebkraft wie
die Gravitation, sondern ein komplexes Wechselspiel verschie-
dener Kräfte, ganz ähnlich wie beim Moore-Gesetz, das die ex-
ponentielle Zunahme der Leistungsfähigkeit von Computern
beschreibt. Was immer die Ursache auch sein mag: Das un-
übersehbare Phänomen des wandelbaren Zeitgeistes ist ein
mehr als ausreichendes Gegenargument gegen die Behaup-
tung, wir bräuchten Gott, um gute Menschen zu sein oder um
zu entscheiden, was gut ist.
377
Und was ist mit Hitler und Stalin?
Waren das nicht Atheisten?
378
hatten: Sie hatten auch beide einen Schnauzbart. Saddam Hus-
sein auch. Na und?
Die interessante Frage ist nicht, ob einzelne böse (oder gute)
Menschen Religionsanhänger oder Atheisten waren. Es ist
nicht unsere Aufgabe, böse Köpfe zu zählen und zwei konkur-
rierende Listen mit Niederträchtigen aufzustellen. Die Tatsa-
che, dass die Gürtelschnallen der Nazis die Aufschrift »Gott
mit uns« trugen, beweist überhaupt nichts, jedenfalls nicht
ohne eine weitere ausführliche Diskussion. Entscheidend ist
nicht, ob Hitler und Stalin Atheisten waren, sondern ob der Athe-
ismus die Menschen systematisch dazu veranlasst, schlimme
Dinge zu tun. Und dafür gibt es nicht den geringsten Anhalts-
punkt.
Dass Stalin tatsächlich Atheist war, scheint außer Zweifel
zu stehen. Er wurde in einer russisch-orthodoxen Bildungsan-
stalt erzogen, und seine Mutter war zeit ihres Lebens ent-
täuscht, dass er entgegen ihren Absichten nicht Priester ge-
worden war —eine Tatsache, die nach Angaben von Alan
Bullock Stalin stets als Anlass zur Heiterkeit diente.!!” Viel-
leicht lag es an seiner Priesterausbildung, dass Stalin nicht
nur der russisch-orthodoxen Kirche, sondern dem Christen-
tum und der Religion im Allgemeinen abschätzig begeg-
nete. Aber es gibt kein Indiz dafür, dass sein Atheismus das
Motiv für seine Brutalität lieferte. Ebenso wenig lagen die Be-
weggründe offenbar in seiner früheren religiösen Ausbil-
dung, vielleicht abgesehen davon, dass man ihn gelehrt hatte,
absolutistische Überzeugungen und starke Autoritäten zu
verehren und zu glauben, dass der Zweck jedes Mittel recht-
fertigt.
Die Legende, Hitler sei Atheist gewesen, wurde beharr-
lich gepflegt, und heute glauben viele Menschen daran, ohne
weiter nachzufragen. Von Religionsanhängern wird sie regel-
mäßig und trotzig wieder aufgetischt. In Wahrheit ist die
Frage alles andere als geklärt. Hitler wurde in eine katholische
379
Es
Familie hineingeboren und besuchte als Kind sowohl katho-
lische Schulen als auch katholische Kirchen. Das allein ist
natürlich nicht von Bedeutung: Er hätte die Religion ohne
weiteres aufgeben können, genau wie Stalin seinen russisch-
orthodoxen Glauben aufgab, nachdem er das theologische Se-
minar von Tiflis verlassen hatte. Aber Hitler sagte sich nie
offiziell vom Katholizismus los, und Indizien aus seinem ge-
samten Leben weisen darauf hin, dass er nach wie vor religiös
war. Er behielt vielleicht nicht die katholischen Überzeugun-
gen bei, glaubte aber offensichtlich nach wie vor an eine Art
göttliche Vorsehung. In Mein Kampf etwa berichtet er über
seine Reaktion, als er von der Kriegserklärung im Ersten Welt-
krieg erfuhr: »Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sa-
gen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in
die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem
Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser
Zeit leben zu dürfen.«!!® Aber das war 1914, da war er erst
fünfundzwanzig. Vielleicht änderte sich seine Einstellung
später?
Im Jahre 1920 - Hitler war einunddreißig - schrieb sein en-
ger Weggefährte und späterer Stellvertreter Rudolf Heß in
einem Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten: »Herrn
Hitler kenne ich persönlich sehr gut, da ich ihn beinahe täglich
spreche und ihm auch menschlich nahe stehe. Es ist ein selten
anständiger, lauterer Charakter, voll tiefer Herzensgüte, reli-
giös, ein guter Katholik.«!!” Natürlich könnte man sagen: Heß
hatte mit dem »anständigen Charakter« und der »tiefen Her-
zensgüte« so krass unrecht, da wird die Aussage über den
»guten Katholiken« wohl ebenfalls nicht gestimmt haben! Man
kann Hitler wohl kaum in irgendeiner Hinsicht als »gut« be-
zeichnen.
Das erinnert mich an ein Argument von seltener Dreistig-
keit, das mir häufiger als Beleg für die Behauptung, Hitler
sei Atheist gewesen, entgegengehalten wurde. Seine verschie-
380
denen Versionen kann man so zusammenfassen: Hitler war
ein schlechter Mensch; das Christentum lehrt uns, gut zu sein;
also kann Hitler kein Christ gewesen sein! Mit seiner Bemer-
kung über Hitler, nur ein Katholik habe Deutschland vereini-
gen können, hätte Göring demnach jemanden gemeint, der ka-
tholisch erzogen war, und nicht jemanden mit katholischem
Glauben.
Im Jahr 1933 sagte Hitler bei einer Rede in Berlin, er sei
überzeugt, dass die Menschen den Glauben brauchten; deshalb
habe er die atheistische Bewegung bekämpft und »ausge-
merzt«.!?? Das könnte darauf hindeuten, dass Hitler wie viele
andere »an den Glauben glaubte«. Aber noch 1941 sagte er sei-
nem Adjutanten, General Gerhard Engel, er werde immer Ka-
tholik bleiben.
Selbst wenn Hitler in späteren Jahren kein ehrlich gläubiger
Christ mehr war, wäre es sehr ungewöhnlich, wenn er nicht
unter dem Einfluss der alten christlichen Tradition gestan-
den hätte, die den Juden den Mord an Jesus vorwarf. In Mün-
chen sagte Hitler 1923 in einer Rede: »... dann retten wir es
[Deutschland] zuerst von seinem Verderber, dem Juden. [...]
Wir wollen vermeiden, dass auch unser Deutschland den Kreu-
zestod erleidet!«'?! In seinem Buch Adolf Hitler schreibt John
Toland über Hitlers religiöse Einstellung zur Zeit der »End-
lösung«:
381
Der Hass der Christen auf die Juden ist nicht nur eine katholi-
sche Tradition. Auch Martin Luther war ein bösartiger Antise-
mit. Auf dem Reichstag von Worms erklärte er, man solle alle
Juden aus Deutschland vertreiben, und er schrieb ein ganzes
Buch mit dem Titel Von den Juden und ihren Lügen, das ver-
mutlich auch Hitler beeinflusste. Luther bezeichnete die Juden
als »Natterngezücht«, und den gleichen Ausdruck benutzte
auch Hitler 1922 in einer bemerkenswerten Rede, in der er
mehrmals betonte, er sei Christ:
Mein christliches Gefühl weist mich hin auf meinen Herrn und
Heiland als Kämpfer. |...] Es weist mich hin auf den Mann,
der einst einsam, nur von wenigen Anhängern umgeben,
diese Juden erkannte und zum Kampf gegen sie aufrief, und
der, wahrhaftiger Gott, nicht der Größte war als Dulder,
sondern der Größte als Streiter! In grenzenloser Liebe lese
ich als Christ und Mensch die Stelle durch, die uns verkün-
det, wie der Herr sich endlich aufraffte und zur Peitsche
griff, um die Wucherer, das Nattern- und Otterngezücht,
hinauszutreiben aus dem Tempel! [...] Seinen ungeheueren
Kampf aber für die Welt, gegen das jüdische Gift, den er-
kenne ich heute, nach zweitausend Jahren, in tiefster Ergrif-
fenheit am gewaltigsten an der Tatsache, daß er dafür am
Kreuz verbluten mußte. [...] Als Christ habe ich nicht die
Verpflichtung, mir das Fell über die Ohren ziehen zu lassen,
sondern habe die Verpflichtung, ein Streiter zu sein für die
Wahrheit und für das Recht. [...] Wenn aber irgendetwas
mir Beweis ist für die Richtigkeit unseres Handelns, dann
ist es die täglich sich steigernde Not. Denn als Christ habe
ich auch eine Verpflichtung meinem eigenen Volk gegen-
über.!??
382
feststellen. Auf das Thema, dass die Judenverfolgung Gottes
Wille sei, kommt er in Mein Kampf zurück: »So glaube ich
heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: In-
dem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des
Herm.«'** Das war 1925. Das Gleiche sagte er 1938 in einer
Rede vor dem Reichstag, und ähnliche Äußerungen kennt man
aus seiner gesamten Laufbahn.
Als Gegengewicht zu solchen Zitaten muss man andere
aus seinen Tischgesprächen im Führerhauptquartier nennen, in
denen Hitler boshafte, christenfeindliche Ansichten äußerte.
Sie wurden von seinem Sekretär Martin Bormann aufgezeich-
net. Die folgenden Zitate stammen alle aus dem Jahre
1941:'?°
Christus war ein Arier. Aber Paulus hat seine Lehre benutzt,
die Unterwelt zu mobilisieren und einen Vor-Bolschewis-
mus zu organisieren. Mit dessen Einbruch geht die schöne
Klarheit der antiken Welt verloren.
Nachdem dies alles gesagt ist, gibt es für uns keinen Grund
zu wünschen, dass sich Italiener und Spanier von der Droge
des Christentums befreien. Lasst uns das einzige Volk sein,
das gegen diese Krankheit immun ist.
383
den waren (wobei Hitler seltsamerweise stets felsenfest darauf
beharrte, dass Jesus kein Jude gewesen sei). Möglicherweise
hatte Hitler bis 1941 eine Art Abkehr oder Desillusionierung
hinter sich, was das Christentum anging. Oder sind die Wider-
sprüche einfach dadurch zu erklären, dass er ein opportunisti-
scher Lügner war, dessen Worten man so oder so nicht glauben
konnte?
Nun könnte man argumentieren, Hitler sei seinen eige-
nen Worten und denen seiner Vertrauten zum Trotz in Wirk-
lichkeit nicht religiös gewesen, sondern habe nur die reli-
giösen Einstellungen seiner Zuhörer zynisch ausgenutzt.
Vielleicht war er ja der gleichen Ansicht wie Napoleon, der
einmal sagte: »Religion eignet sich hervorragend dazu, einfa-
che Leute ruhig zu stellen«, oder wie Seneca der Jüngere, der
meinte: »Religion gilt dem gemeinen Mann als wahr, dem
Weisen als falsch und dem Herrscher als nützlich.« Dass Hit-
ler zu einer solchen Unehrlichkeit fähig war, würde niemand
leugnen.
Doch selbst wenn dies sein wahres Motiv gewesen sein
sollte, sich als religiös auszugeben, ist daran zu erinnern, dass
Hitler seine Gräueltaten nicht allein verübte. Ausgeführt wur-
den die schrecklichen Taten von Soldaten und Offizieren, die
in ihrer Mehrzahl sicherlich Christen waren. Ja, das Christen-
tum des deutschen Volkes bildet sogar den Hintergrund für die
ganze Hypothese, die wir hier erörtern und mit der wir die
mutmaßliche Unehrlichkeit von Hitlers religiösen Bekenntnis-
sen erklären wollen.
Vielleicht hatte Hitler auch den Eindruck, er müsse eine
gewisse Sympathie für das Christentum erkennen lassen, weil
sein Regime sonst von der Kirche keine derart starke Un-
terstützung erhalten hätte. Diese Unterstützung kam auf
vielfache Weise zum Ausdruck. Unter anderem weigerte
sich Papst Pius XII. hartnäckig, gegen die Nazis Stellung
zu beziehen - heute für die Kirche ein Thema von beträcht-
384
licher Peinlichkeit. Entweder waren Hitlers Bekenntnisse zum
Christentum ehrlich gemeint, oder er täuschte den christ-
lichen Glauben nur vor, um die Zustimmung der deutschen
Christen und der katholischen Kirche zu gewinnen - was
ihm auch gelang. So oder so kann man wohl kaum behaupten,
die Gräueltaten des Hitler-Regimes hätten ihre Wurzeln im
Atheismus.
Selbst wenn Hitler gegen das Christentum vom Leder zog,
verzichtete er nie auf das Gerede von der Vorsehung, einer ge-
heimnisvollen Instanz, die ihn nach seiner eigenen Überzeu-
gung dazu ausersehen hatte, Deutschland in göttlicher Mission
zu führen. Manchmal bezeichnete er sie als »Vorsehung«, bei
anderen Gelegenheiten als »Gott«. Als Hitler 1938 nach dem
»Anschluss« Österreichs im Triumph in Wien einfuhr, erwähnte
er in seiner überschwänglichen Rede Gott im Gewande der
Vorsehung: »In diesem Augenblick möchte ich nur dem dan-
ken, der mich einst von hier weggehen ließ in meine Heimat,
auf dass ich sie hineinführe ins Deutsche Reich, in ein Deut-
sches Reich.«!?®
Nachdem Hitler 1939 in München nur knapp einem
Attentat entgangen war, erklärte er, die Vorsehung habe ein-
gegriffen und ihm durch eine Änderung seines Terminkalen-
ders das Leben gerettet: Er habe den Bürgerbräukeller schon
früher als vorgesehen verlassen, und dies sei eine Bestäti-
gung, dass er dazu ausersehen sei, seine Ziele zu erreichen.
Der Erzbischof von München, Kardinal Michael Faulhaber,
ordnete nach dem fehlgeschlagenen Attentat an, im Dom ein
Te Deum zu lesen und »der göttlichen Vorsehung im Namen
der Erzdiözese für die glückliche Rettung des Führers zu
danken«.!?’
Einige Gefolgsleute Hitlers ließen mit Unterstützung
von Goebbels keinen Zweifel daran, dass sie den National-
sozialismus selbst zu einer Religion machen wollten. Das
folgende Zitat stammt von Reichsarbeitsführer Robert Ley;
385
es wirkt bewusst wie ein Gebet und hat sogar den Ton-
fall des christlichen Vaterunsers oder des Glaubensbekennt-
nisses:!?®
386
Stalin war Atheist, Hitler vermutlich nicht; doch selbst
wenn auch Hitler Atheist gewesen wäre, ist die Diskussion
um die beiden Diktatoren unter dem Strich ganz einfach.
Einzelne Atheisten können scheußliche Dinge tun, aber
nicht im Namen des Atheismus. Stalin und Hitler begingen
entsetzliche Taten, aber der eine im Namen eines dogmati-
schen, doktrinären Marxismus, der andere im Namen einer
krankhaften, unwissenschaftlichen Theorie der Erbgesund-
heit, die mit halb-wagnerianischen Fantastereien unterlegt
war. Religionskriege werden tatsächlich im Namen der Reli-
gion geführt, und das ist in der Geschichte entsetzlich oft ge-
schehen. Dass ein Krieg im Namen des Atheismus geführt
würde, kann ich mir nicht vorstellen. Was sollte der Grund
sein?
Hinter einem Krieg können viele Motive stecken: wirt-
schaftliche Habgier, politischer Ehrgeiz, ethnische oder rassi-
sche Vorurteile, tief sitzende Vergeltungs- oder Rachegelüste,
oder der patriotische Glaube an die Bestimmung der eige-
nen Nation. Ein noch plausibleres Kriegsmotiv ist der uner-
schütterliche Glaube, die eigene Religion sei die einzig wahre,
insbesondere wenn dieser Glaube durch ein heiliges Buch
bestärkt wird, das alle Ketzer und Anhänger konkurrie-
render Religionen zum Tode verurteilt und ausdrücklich
verspricht, die Krieger Gottes würden geradewegs in den
Himmel der Märtyrer eingehen. Sam Harris trifft in seinem
Buch The End of Faith (»Das Ende des Glaubens«) wie so oft
_ ins Schwarze:
387
| lagert. Noch heute bringen wir uns wegen antiker Literatur
um. Wer hätte gedacht, dass etwas so Tragisch-Absurdes
möglich ist?
# i > ' ’
ur IPETBLER
> ee
2 wrh oe . u r bie a
hen nera we te ee er HaiS » ic > £y
- ke erae ara ._Ei [773m I nnsamors
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= We ‚m wui tab a Hinba LER a Kite
3 Was ist denn so schlimm an der Religion?
Warum diese Feindseligkeit?
Die Religion hat die Menschen überzeugt, dass im Himmel ein unsichtbarer Mann
wohnt, der alles sieht, was man tut - jeden Tag, jede Minute. Dieser unsichtbare
Mann hat eine Liste von zehn Dingen, die man nicht tun soll. Wenn man aber doch
eines dieser zehn Dinge tut, dann hat er einen besonderen Ort mit Feuer und Rauch
und Flammen und Folter und Angst. Dorthin schickt er einen, damit man für immer
dort lebt und leidet und brennt und erstickt und schreit und weint, bis an das Ende
der Zeiten ... Aber Er liebt dich!
George Carlin
Ich bin von Natur aus kein Mensch, der die Konfrontation
sucht. Die Situation der Gegnerschaft ist nach meiner Über-
zeugung keine gute Voraussetzung, um die Wahrheit zu er-
gründen, und Einladungen zu formellen Streitgesprächen
lehne ich regelmäßig ab. Einmal wurde ich aufgefordert, in
Edinburgh mit dem damaligen Erzbischof von York zu disku-
tieren. Ich fühlte mich geehrt und sagte zu. Nach der Diskus-
sion ließ der religiöse Physiker Russell Stannard in seinem
Buch Doing Away with God? (»Kein Platz mehr für Gott?«)
einen Brief nachdrucken, den er an die Zeitung Observer ge-
schrieben hatte:
hd
ne
389
Be
uf
tellektuellen Schaden zufügte«. Wir erfahren etwas über
»selbstbewusst lächelnde Atheisten« und lesen: »Löwen ge-
gen Christen 10:0«.
*
Ich habe nicht die Unverfrorenheit, mich aus den gleichen Gründen zu verweigern
wie einer meiner angesehenen Wissenschaftlerkollegen, wenn ein Kreationist ein for-
melles Streitgespräch mit ihm führen will (ich werde seinen Namen nicht nennen,
aber seine Worte sollte man mit australischem Akzent lesen): »In Ihrem Lebenslauf
würde sich das gut machen, in meinem nicht.«
390
Darauf könnte ich zunächst einmal erwidern: Die Feind-
seligkeit, die ich und andere Atheisten gelegentlich gegenüber
der Religion zum Ausdruck bringen, beschränkt sich auf Wor-
te. Ich werde niemanden wegen theologischer Meinungsver-
schiedenheiten bombardieren, enthaupten, steinigen, auf dem
Scheiterhaufen verbrennen oder kreuzigen, und ich werde
auch kein Flugzeug in ein Hochhaus lenken. Doch dabei be-
lässt es mein Gesprächspartner in aller Regel nicht. Er sagt
dann oft ungefähr Folgendes: »Kennzeichnet Ihre Feindselig-
keit Sie nicht als atheistischen Fundamentalisten, der auf seine
Weise genauso verbohrt ist wie die Spinner aus dem bibel-
treuen Süden der USA?« Diesen Vorwurf des Fundamentalis-
mus muss ich ausräumen, denn er wird bedrückend häufig er-
hoben.
391
überprüfen. Wenn ein wissenschaftliches Buch unrecht hat,
findet irgendwann jemand den Fehler, und in nachfolgenden
Büchern wird er korrigiert. Dass so etwas bei heiligen Büchern
nicht geschieht, liegt auf der Hand.
Philosophen, vor allem Amateure mit ein wenig philosophi-
scher Bildung, und unter diesen wiederum vor allem jene, die °
vom »Kulturrelativismus« infiziert sind, legen an dieser Stelle
vielfach eine altbekannte falsche Fährte: Danach ist der Glaube
des Wissenschaftlers an Belege selbst eine fundamentalistische
Glaubensüberzeugung. Mit solchen Behauptungen habe ich
mich schon an anderer Stelle auseinandergesetzt, deshalb will
ich mich hier nur kurz wiederholen.
Wir alle glauben in unserem Leben an Belege - ganz gleich,
wozu wir uns bekennen, wenn wir unsere Amateurphiloso-
phenkappe aufgesetzt haben. Wenn ich wegen Mordes ange-
klagt bin und der Staatsanwalt mich klipp und klar fragt, ob es
wahr sei, dass ich am Abend des Verbrechens in Chicago war,
komme ich mit philosophischen Ausflüchten - beispielsweise
»Das hängt davon ab, was Sie mit »wahr«meinen« - nicht davon.
Ebenso wenig verfängt die anthropologisch-relativistische Aus-
rede: »In« Chicago war ich nur nach Ihrer abendländisch-
naturwissenschaftlichen Definition von »in«.Die Bongolesen ha-
ben eine ganz andere Vorstellung von »in<;danach ist man nur
dann wirklich »in<einem Ort, wenn man ein gesalbter Stam-
mesältester ist und das Pulver vom getrockneten Hodensack
einer Ziege schnupfen darf.«!”°
Vielleicht sind Naturwissenschaftler fundamentalistisch,
wenn es darum geht, die Bedeutung von »Wahrheit« auf ir-
gendeine abstrakte Weise zu definieren. Aber das gilt auch für
alle anderen Menschen. Wenn ich sage, die Evolution sei wahr,
bin ich nicht fundamentalistischer, als wenn ich behaupte, dass
Neuseeland auf der Südhalbkugel der Erde liegt. Wir glauben
an die Evolution, weil die Belege dafür sprechen, und wir wür-
den sie von heute auf morgen aufgeben, wenn sie durch neue
392
Belege widerlegt würde. So etwas würde kein echter Funda-
mentalist sagen.
Fundamentalismus wird nur allzu leicht mit Leidenschaft
verwechselt. Ich wirke sicher leidenschaftlich, wenn ich die
Evolution gegen einen fundamentalistischen Kreationisten
verteidige. Das liegt aber nicht daran, dass ich auch selbst Fun-
damentalist wäre, sondern es gibt für die Evolution einfach
überwältigende Belege, und ich bin leidenschaftlich beunru-
higt darüber, dass mein Gegenüber sie nicht erkennt —oder,
was häufiger der Fall ist, sie nicht zur Kenntnis nehmen will,
weil sie seinem heiligen Buch widersprechen. Noch stärker
wird meine Leidenschaft, wenn ich darüber nachdenke, wie
viel die armen Fundamentalisten und jene, die von ihnen
beeinflusst werden, verpassen. Die Wahrheiten der Evolution
und viele andere naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind
so spannend, faszinierend und wunderschön; es ist wirklich
tragisch, wenn einem Menschen all das entgeht. Natürlich
wecken solche Gedanken meine Leidenschaft. Wie könnte es
anders sein? Aber dass ich von der Evolution überzeugt bin,
hat nichts mit Fundamentalismus oder religiösem Glauben zu
tun, denn ich weiß ganz genau, welche Voraussetzungen er-
füllt sein müssten, damit ich meine Ansichten ändere, und ich
würde es sofort tun, wenn die erforderlichen Belege auf dem
Tisch lägen.
So etwas passiert durchaus. In einem früheren Buch habe ich
berichtet, was ich als junger Student mit dem Doyen des Zoo-
logischen Instituts in Oxford erlebte. Dieser hatte jahrelang ge-
glaubt und gelehrt, den Golgi-Apparat (ein mikroskopisch
kleines Gebilde im Inneren der Zellen) gebe es nicht: Er sei in
Wirklichkeit ein Artefakt, eine Täuschung. In diesem Institut
war es üblich, dass alle Mitarbeiter sich jeden Montagnachmit-
tag den Forschungsbericht eines Gastwissenschaftlers anhör-
ten. An einem solchen Montag war ein amerikanischer Zellbio-
loge zu Besuch, der ganz und gar überzeugende Belege für die
>23
tatsächliche Existenz des Golgi-Apparats vorlegte. Nachdem
sein Vortrag zu Ende war, ging der alte Mann im Hörsaal nach
vorn, schüttelte dem Amerikaner die Hand und sagte voller
Leidenschaft: »Mein lieber Freund, ich möchte Ihnen dan-
ken. Ich hatte fünfzehn Jahre lang unrecht.« Wir klatschten
uns die Hände wund. Kein Fundamentalist würde jemals so et-
was sagen. In der Praxis würden auch nicht alle Naturwissen-
schaftler so reagieren. Aber alle Naturwissenschaftler legen zu-
mindest Lippenbekenntnisse für dieses Ideal ab — anders als
beispielsweise Politiker, die es vermutlich als Wankelmütigkeit
verurteilen würden. Die Erinnerung an das gerade beschrie-
bene Erlebnis lässt mir noch heute einen Kloß im Hals auf-
steigen.
Als Naturwissenschaftler stehe ich dem Fundamentalismus
feindselig gegenüber, weil er das Unternehmen Wissenschaft
aktiv torpediert. Er lehrt uns, unsere Meinung nicht zu än-
dern und kein Interesse an spannenden Dingen zu haben, die
man durchaus in Erfahrung bringen könnte. Er untergräbt die
Wissenschaft und schwächt den Verstand. Das traurigste Bei-
spiel, das ich kenne, ist der amerikanische Geologe Kurt Wise,
der heute das Center for Origins Research am Bryan College
in Dayton (Tennessee) leitet. Dabei ist es kein Zufall, dass das
Bryan College nach William Jennings Bryan benannt ist, dem
Ankläger des Biologielehrers John Scopes im Daytoner »Af-
fenprozess« von 1925. Wise hätte sich seinen Jugendtraum
erfüllen und Geologieprofessor an einer richtigen Universi-
tät werden können, einer Hochschule mit dem Wahlspruch
»Kritisch denken« anstelle des widersprüchlichen Mottos,
das sich auf der Website des Bryan College findet: »Denke
kritisch und biblisch.« Tatsächlich machte er an der University
‚ of Chicago ein echtes Examen in Geologie, dann folgten
zwei höhere Abschlüsse an keiner geringeren Hochschule
als Harvard, wo er bei keinem Geringeren als Stephen Jay
Gould studierte. Er war ein hoch qualifizierter, wirklich viel-
394
4
versprechender junger Wissenschaftler und schien auf dem
besten Weg zu sein, sich seinen Traum zu erfüllen: naturwis-
senschaftliche Lehre und Forschung an einer richtigen Uni-
versität.
Doch dann ereignete sich die Tragödie. Sie kam nicht von
außen, sondern fand in seinem eigenen Geist statt - einem
Geist, der durch fundamentalistisch-christliche Erziehung un-
terwandert und geschwächt war: Er war gezwungen zu glau-
ben, dass die Erde —der Gegenstand seiner wissenschaftlichen
Studien in Chicago und Harvard —weniger als zehntausend
Jahre alt sei. Mit seiner hohen Intelligenz erkannte er natürlich
sofort, dass seine Wissenschaft und seine Religion sich auf di-
rektem Kollisionskurs befanden, und der Konflikt in seinem
Kopf bereitete ihm zunehmend ungute Gefühle. Eines Tages
konnte er die Belastung nicht länger ertragen und suchte die
Entscheidung buchstäblich mit der Schere: Er nahm eine
Bibel, blätterte sie durch und schnitt alle Verse heraus, die be-
seitigt werden müssten, wenn das naturwissenschaftliche Welt-
bild richtig war. Am Ende dieses arbeitsintensiven und er-
barmungslos ehrlichen Unterfangens war von seiner Bibel so
wenig übrig,
dass ich es anstellen konnte, wie ich wollte: Obwohl alle Sei-
tenränder der Heiligen Schrift noch unversehrt waren,
konnte ich sie nicht mehr in die Hand nehmen, ohne dass sie
auseinanderfiel. Ich musste mich zwischen Evolution und
Heiliger Schrift entscheiden. Entweder hatte die Heilige
Schrift recht und die Evolution war falsch, oder die Evolu-
tion war richtig, und ich musste die Bibel wegwerfen ... In
jener Nacht nahm ich das Wort Gottes an und verwarf alles,
was ihm jemals widersprechen würde, einschließlich der
Evolution. Damit warf ich tief bekümmert all meine wissen-
schaftlichen Träume und Hoffnungen ins Feuer.
325
Ich finde das entsetzlich traurig; aber während mich die Ge-
schichte mit dem Golgi-Apparat zu Tränen der Bewunderung
und Begeisterung rührte, ist die Geschichte von Kurt Wise ein-
fach nur Mitleid erregend - Mitleid erregend und verachtens-
wert. Den Todesstoß für seine Laufbahn und sein Lebensglück
hatte er sich selbst zugefügt. Dabei war dieser Schritt so
unnötig, und er hätte ihm so leicht entgehen können. Er hätte
nur die Bibel wegwerfen oder sie nach Art der Theologen sym-
bolisch oder allegorisch interpretieren müssen. Stattdessen
wählte er die fundamentalistische Methode: Er warf Wissen-
schaft, Belege und Vernunft weg, und damit auch all seine
Träume und Hoffnungen.
In einem Punkt ist Kurt Wise vielleicht einzigartig unter den
Fundamentalisten: Er war ehrlich — auf eine verheeren-
de, schmerzliche, schockierende Weise. Man sollte ihm den
Templeton-Preis verleihen; er wäre vielleicht der erste aufrich-
tige Preisträger. Wise holt Dinge an die Oberfläche, die ge-
wöhnlich im Kopf von Fundamentalisten unterschwellig ab-
laufen, wenn sie mit wissenschaftlichen Belegen konfrontiert
werden, die ihren Glaubensüberzeugungen widersprechen.
Sein letzter Absatz lautet:
396
ich, ich kann nicht anders«), aber der arme Kurt Wise erinnert
mich eher an die Gestalt des Winston Smith in Orwells 1984:
Er bemüht sich verzweifelt zu glauben, dass zwei plus zwei
fünf ist, wenn der Große Bruder das sagt. Indes, Winston
wurde gefoltert, während Wise’ Doppeldenk nicht durch kör-
perliche Foltern erzwungen wird, sondern durch religiösen
Glauben —ein Zwang, dem manche Menschen sich offenbar
ebenso wenig entziehen können und den man deshalb durch-
aus als mentale Folter bezeichnen kann. Ich stehe der Religion
feindselig gegenüber, weil sie Kurt Wise so etwas angetan hat.
Und wenn sie dies einem in Harvard ausgebildeten Geolo-
gen antun kann, dann kann man sich leicht ausmalen, was sie
bei weniger begabten und weniger gebildeten Menschen an-
richtet.
Die fundamentalistische Religion ist ganz wild darauf, die
naturwissenschaftliche Ausbildung vieler tausend argloser,
wohlmeinender, eifriger junger Köpfe zu ruinieren. Eine nicht
fundamentalistische, »vernünftige« Religion hat solche Wirkun-
gen vielleicht nicht. Aber sie macht es dem Fundamentalismus
leichter, indem sie Kindern schon in jungen Jahren beibringt,
dass unhinterfragter Glaube eine Tugend sei.
397
auch nicht alle den Wunsch haben werden, mein Buch zu le-
sen). Man muss vielmehr zugeben, dass der Absolutismus alles
andere als tot ist. Er beherrscht auch heute noch den Geist
zahlreicher Menschen auf der ganzen Welt. Am gefährlichsten
ist er in der muslimischen Welt und in der im Entstehen be-
griffenen amerikanischen Theokratie (siehe Kevin Phillips,
American Theocracy). Dieser Absolutismus erwächst fast im-
mer aus starkem religiösem Glauben und ist ein gewichtiger
Grund für die Annahme, dass Religion in der Welt eine Kraft
des Bösen sein kann.
Im Alten Testament steht eine der schlimmsten Strafen
auf das Vergehen der Gotteslästerung. In manchen Ländern
sind solche Vorschriften noch heute in Kraft. Das pakistani-
sche Strafgesetzbuch sieht in Abschnitt 295-C für dieses
»Verbrechen« die Todesstrafe vor. Am 18. August 2001 wurde
der Arzt und Dozent Dr. Younis Shaikh wegen Gottesläste-
rung zum Tode verurteilt. In seinem Fall bestand das Verbre-
chen darin, dass er seinen Studenten gesagt hatte, der Prophet
Mohammed sei kein Muslim gewesen, weil er die Religion
erst im Alter von vierzig Jahren erfunden habe. Wegen die-
ser »Lästerung« zeigten ihn elf Studenten bei den Behörden
an. Häufiger wird der Gotteslästerungsparagraf in Pakistan
gegenüber Christen angewandt, etwa gegen Augustine Ashiq
»Kingri« Masih, der in Faisalabad im Jahr 2000 zum Tod
verurteilt wurde. Masih war Christ und durfte deshalb sei-
ne Freundin, eine Muslima, nicht heiraten; unglaublich, aber
wahr: Das pakistanische (und islamische) Recht verbietet die
Eheschließung zwischen einer muslimischen Frau und einem
nicht muslimischen Mann. Er versuchte, zum Islam zu kon-
vertieren, aber nun warf man ihm vor, er habe dies aus nie-
deren Beweggründen getan. Aus dem Bericht, den ich gelesen
habe, geht nicht klar hervor, ob dies schon das Kapitalverbre-
chen war oder ob es darin bestand, dass er angeblich etwas
über die Moral des Propheten selbst gesagt hatte. So oder so
398
wäre sein Verhalten in einem Land, dessen Gesetze frei von
religiöser Bigotterie sind, sicher nicht mit dem Tod bestraft
worden.
In Afghanistan wurde Abdul Rahman 2006 zum Tode verur-
teilt, weil er zum Christentum konvertiert war. Hatte er je-
manden ermordet, jemandem wehgetan, etwas gestohlen, et-
was beschädigt? Nein. Er hatte nur seine Meinung geändert. In
seinem Inneren und ganz privat hatte er es sich anders über-
legt. Er hegte gewisse Gedanken, die der herrschenden Partei in
seinem Land nicht gefielen. Wohlgemerkt, das alles geschah
nicht im Afghanistan der Taliban, sondern im »befreiten« Af-
ghanistan eines Hamid Karsai, den eine Koalition unter ame-
rikanischer Führung eingesetzt hatte. Mr. Rahman entging
schließlich der Hinrichtung, aber nur weil er auf Unzurech-
nungsfähigkeit plädiert hatte und weil international erhebli-
cher Druck ausgeübt wurde. Er hat jetzt in Italien Asyl bean-
tragt, um nicht von Eiferern ermordet zu werden, die erpicht
darauf sind, ihre islamische Pflicht zu tun. Selbst die Verfassung
des »befreiten« Afghanistan enthält einen Artikel, wonach der
Abfall vom Glauben mit dem Tod bestraft wird. Wie gesagt:
Abfall bedeutet nicht, dass Menschen oder Sachwerte geschä-
digt werden. Es handelt sich um ein reines Gedankenverbre-
chen, um Orwells Begriff aus 1984 zu verwenden, und nach of-
fiziellem islamischem Recht steht darauf die Todesstrafe. Es
gibt sogar Beispiele, dass sie tatsächlich vollstreckt wird: Am
3. September 1992 wurde Sadiq Abdul Karim Malallah in
Saudi-Arabien öffentlich enthauptet, nachdem man ihn ent-
sprechend dem Gesetz der Abtrünnigkeit und Gotteslästerung
überführt hatte. !”
In einer Fernsehsendung traf ich einmal mit Sir Igbal Sa-
cranie zusammen, den ich im ersten Kapitel als führenden
»gemäßigten«MuslimGroßbritanniens
bezeichnethabe.Ich
fragte ihn damals nach der Todesstrafe als Sühne für Abtrün-
nigkeit. Er wand und krümmte sich, war aber nicht in der Lage,
399
Br:
sie zu leugnen oder zu kritisieren. Stattdessen versuchte er im-
mer wieder, das Thema zu wechseln, und behauptete, es han-
dele sich um ein unwichtiges Detail. Und ein solcher Mann
wurde von der britischen Regierung geadelt, weil er sich an-
geblich für »gute Beziehungen zwischen den Religionen« ein-
gesetzt hatte.
Christen sollten deswegen allerdings nicht in Selbstgefällig-
keit verfallen. Noch 1922 wurde John William Gott in Groß-
britannien wegen Gotteslästerung zu neun Monaten Zwangs-
arbeit verurteilt: Er hatte Jesus mit einem Clown verglichen.
Fast unglaublich, aber wahr: Das Verbrechen der Gottesläste-
rung findet sich noch heute im britischen Strafgesetzbuch, und
2005 stellte eine christliche Gruppe einen privaten Strafantrag
gegen die BBC, weil diese Jerry Springer, the Opera ausgestrahlt
hatte.'??
In den Vereinigten Staaten bot es sich in den letzten Jah-
ren geradezu an, den Begriff »amerikanische Taliban« zu prä-
gen, und eine schnelle Google-Suche zeigt, dass dies auf min-
destens einem Dutzend Websites bereits geschehen ist. Die
dort zusammengetragenen Zitate von amerikanischen Re-
ligionsführern und religiösen Politikern erinnern beängsti-
gend an die engstirnige Bigotterie, herzlose Grausamkeit und
schiere Bösartigkeit der afghanischen Taliban, des Ayatollah
Chomeini und der wahhabitischen Behörden in Saudi-Ara-
bien. Eine besonders reichhaltige Quelle für bösartig-über-
geschnappte Äußerungen ist die Website »The American
Taliban«.
Den Vogel schießt dort eine gewisse Ann Coulter ab, die, wie
amerikanische Kollegen mir versichert haben, keine Erfindung
der Satirezeitschrift The Onion ist. Sie wird mit den Worten zi-
tiert: »Wir sollten ihre Länder besetzen, ihre Anführer töten
und sie zum Christentum bekehren.«!”° Andere Prunkstücke
sind der Kongressabgeordnete Bob Dorman mit »Das Wort
»Gay«sollte man nur benutzen, wenn es Got Aids yet?« Schon
400
Aids gekriegt?«] bedeutet«, der General William G. Boykin mit
»George Bush wurde nicht von einer Mehrheit der Wähler in
den Vereinigten Staaten gewählt, sondern von Gott ernannt«
sowie als älteres Zitat die berühmte Aussage von Ronald Rea-
gans Innenminister zum Umweltschutz: »Wir brauchen die
Umwelt nicht zu schützen, das Jüngste Gericht steht kurz be-
vor!«
Die afghanischen und die amerikanischen Taliban sind gute
Beispiele dafür, was passiert, wenn Menschen ihre heiligen
Schriften wörtlich und ernst nehmen. Sie führen uns heute auf
entsetzliche Weise vor Augen, wie das Leben unter der Theo-
kratie des Alten Testaments ausgesehen haben könnte. Ein
ganzes Buch, das die Gefährdung durch die »christlichen Tali-
ban« (allerdings nicht unter diesem Namen) darstellt, ist The
Fundamentals of Extremism: The Christian Right in America
(»Die Grundlagen des Extremismus: Die christliche Rechte in
Amerika«) von Kimberly Blaker.
401
Ai
>
den Titel »Vater des Computers«, beging 1954 Selbstmord,
nachdem man ihn wegen der Straftat privater homosexuel-
ler Handlungen verurteilt hatte. Zugegeben: Turing wurde
nicht lebendig unter einer von einem Panzer umgeworfenen
Mauer begraben. Er hatte die Wahl zwischen zwei Jahren Ge-
fängnis (man kann sich vorstellen, wie die anderen Häftlinge
mit ihm umgegangen wären) und einer Behandlung mit Hor-
monspritzen, die einer chemischen Kastration gleichgekom-
men wäre und dazu geführt hätte, dass er weibliche Brüste
bekommen hätte. Seine endgültige private Entscheidung fiel
auf einen Apfel, den er mit einer Zyankalispritze präpariert
hatte.!*
Im Zweiten Weltkrieg war Turing der entscheidende Kopf
bei der Entschlüsselung der deutschen Enigma-Codes gewe-
sen; man kann also durchaus behaupten, dass er zum Sieg über
die Nazis einen größeren Beitrag geleistet habe als Eisenhower
oder Churchill. Dank Turing und seinen Kollegen vom »Ultra«-
Projekt in Bletchley Park waren die alliierten Generäle an der
Front über lange Zeit hinweg über die Pläne der Deutschen be-
reits im Bilde, bevor die deutschen Generäle sie umsetzen
konnten. Als Turings Arbeit nach dem Krieg nicht mehr der
Geheimhaltung unterlag, hätte man ihn eigentlich in den
Adelsstand erheben und zum Retter der Nation erklären müs-
sen. Stattdessen wurde das sanftmütige, stotternde, exzentri-
sche Genie zerstört, und zwar wegen eines »Verbrechens«, das
in der Privatsphäre begangen wurde und niemandem Schaden
zufügte. Wieder einmal begegnet uns das unverkennbare Mar-
kenzeichen der glaubensorientierten Moralisten: Sie sorgen
sich leidenschaftlich um das, was andere Menschen privat tun
(oder sogar denken).
Die Einstellung der »amerikanischen Taliban« zur Homose-
xualität ist ein Musterbeispiel für ihren religiösen Absolutis-
mus. Bei Reverend Jerry Falwell, dem Gründer der Liberty
University, klingt das so: »AIDSist nicht nur die Strafe Gottes
402
für Homosexuelle; es ist Gottes Strafe für eine Gesellschaft,
die Homosexuelle toleriert.«'”” Das Erste, was mir an solchen
Leuten auffällt, ist ihre großartige christliche Nächstenliebe.
Was für eine Wählerschaft wählt Legislaturperiode für Legis-
laturperiode einen derart dümmlich-bigotten Mann wie den
republikanischen Senator Jesse Helms aus North Carolina?
Einen Mann, der einmal schimpfte: »Die New York Times
und die Washington Post sind selbst mit Homosexuellen ver-
seucht. So gut wie alle da unten sind homosexuell oder les-
bisch.«'”° Wahrscheinlich eine Wählerschaft, die Moral in
einem eng gefassten religiösen Rahmen betrachtet und sich
von allen bedroht fühlt, die nicht ihren absolutistischen
Glauben teilen.
Ich habe bereits Pat Robertson, den Gründer der Christian
Coalition, zitiert. Er hatte 1988 ernsthafte Chancen, von der
Republikanischen Partei als Präsidentschaftskandidat nomi-
niert zu werden, und er sammelte drei Millionen freiwillige
Wahlkampfhelfer sowie eine vergleichbare Geldsumme - eine
beunruhigend starke Unterstützung angesichts der Tatsache,
dass folgende Zitate für ihn typisch sind: »[Homosexuelle]
wollen in die Kirchen kommen, den Gottesdienst stören und
Blut verspritzen, damit alle Menschen AIDS bekommen, und
den Geistlichen wollen sie ins Gesicht spucken.« »[Familien-
planung] bedeutet, dass man den Kindern die Unzucht bei-
bringt und die Menschen zum Ehebruch verführt, zu jeder Art
von Sodomie, Homosexualität und lesbischen Beziehungen -
also zu allem, was die Bibel verurteilt.« Auch bei Robertsons
Einstellung zu Frauen würde den afghanischen Taliban ganz
warm ums schwarze Herz werden: »Ich weiß, dass es die Da-
men schmerzt, so etwas zu hören, aber wenn sie heira-
ten, haben sie die Führerschaft eines Mannes anerkannt, näm-
lich ihres Ehemannes. Christus ist der Haushaltsvorstand, und
der Ehemann ist der Führer der Frau, so ist es nun einmal.
Punkt.«
403
Gary Potter, Präsident der Catholics for Christian Political
Action, hat Folgendes zu sagen: »Wenn die christliche Mehr-
heit in diesem Land die Führung übernimmt, wird es keine sa-
tanischen Kirchen mehr geben, keine frei verkäufliche Porno-
grafie, kein Gerede über die Rechte von Homosexuellen.
Nachdem die christliche Mehrheit die Kontrolle übernommen
hat, wird man Pluralismus als unmoralisch und böse ansehen,
und der Staat wird niemandem das Recht einräumen, Böses zu
praktizieren.« Wie man aus diesem Zitat eindeutig erkennt,
sind mit »böse« keineswegs Handlungen gemeint, die für an-
dere Menschen schlimme Folgen haben. Vielmehr geht es um
private Gedanken und Handlungen, die nicht den privaten
Vorlieben »der christlichen Mehrheit« entsprechen.
Ein weiterer wortgewaltiger Prediger mit einer geradezu be-
sessenen Abneigung gegen Homosexuelle ist Pastor Fred
Phelps von der Westboro Baptist Church. Als die Witwe von
Martin Luther King starb, organisierte Pastor Phelps eine Ge-
gendemonstration zu ihrer Bestattung und erklärte dort: »Gott
hasst Schwule und Schwulenhelfer! Also hasst Gott auch
Coretta Scott King, und jetzt quält er sie mit Feuer und Schwe-
fel, wo der Wurm niemals stirbt und das Feuer niemals gelöscht
wird, und für alle Zeiten möge der Rauch ihrer Qualen aufstei-
gen.«!”” Natürlich kann man Fred Phelps ohne weiteres als
Wirrkopf abschreiben, aber er bekommt viel Unterstützung
durch andere Menschen und ihr Geld. Glaubt man seiner eige-
nen Website, so hat Phelps seit 1991 in den Vereinigten Staa-
ten, Kanada, Jordanien und dem Irak nicht weniger als 22000
Demonstrationen gegen Homosexuelle organisiert (also im
Durchschnitt vier pro Tag) —Veranstaltungen, auf denen Slo-
gans wie »Wir danken Gott für AIDS« zu lesen waren. Ein
besonders liebenswürdiges Detail auf seiner Website ist ein
automatischer Zähler, der angibt, wie viele Tage ein ganz be-
stimmter, namentlich benannter, verstorbener Homosexueller
bereits in der Hölle brennt.
404
Die Einstellungen gegenüber der Homosexualität sagen viel
darüber aus, was für eine Moral aus religiösem Glauben er-
wächst. Ein ebenso aufschlussreiches Beispiel ist die Frage
der Abtreibung und der Unverletzlichkeit des menschlichen
Lebens.
405
des Bundesstaates - im Durchschnitt wurde alle neun Tage ein
Todesurteil vollstreckt. Vielleicht tat Bush ja einfach nur seine
Pflicht und führte die Gesetze des Bundesstaates aus?'”° Aber
was sollman dann von dem berühmten Bericht des CNN-Jour-
nalisten Tucker Carlson halten? Carlson, selbst ein Befürwor-
ter der Todesstrafe, war schockiert darüber, wie Bush »humor-
voll« eine Gefangene aus der Todeszelle nachäffte, die bei ihm,
dem Gouverneur, um einen Aufschub der Hinrichtung nach-
gesucht hatte: »Bitte«, wimmert Bush, die Lippen in gespielter
Verzweiflung zitternd, »bitte töten Sie mich nicht«.«'* Viel-
leicht wäre diese Frau auf mehr Mitgefühl gestoßen, wenn sie
darauf hingewiesen hätte, dass sie früher einmal ein Embryo
war.
Die Betrachtung von Embryonen scheint tatsächlich auf
viele gläubige Menschen ganz außergewöhnliche Wirkungen
zu haben. Mutter Teresa aus Kalkutta sagte in ihrer Rede zur
Verleihung des Friedensnobelpreises tatsächlich: »Der größte
Zerstörer des Friedens ist die Abtreibung.« Wie bitte? Kann man
eine Frau mit einer solch blauäugigen Wahrnehmung noch in
irgendeiner Frage ernst nehmen, ganz zu schweigen davon, dass
‚man sie ernsthaft des Nobelpreises für würdig hält? Wer ver-
sucht ist, sich von der scheinheilig-heuchlerischen Mutter Te-
resa einnehmen zu lassen, sollte das Buch The Missionary Posi-
tion: Mother Teresa in Theory and Practice (»Der missionarische
Standpunkt: Mutter Teresa in Theorie und Praxis«) von Chris-
topher Hitchens lesen.
Aber kehren wir zu den »amerikanischen Taliban« zurück
und hören wir, was Randall Terry zu sagen hat, der Gründer
einer Organisation namens Operation Rescue, die Abtrei-
bungsärzte und -kliniken einschüchtert: »Wenn ich oder Men-
schen wie ich das Land führen würden, solltet ihr euch besser
aus dem Staub machen. Denn wir werden euch finden, wir
werden euch vor Gericht stellen, und wir werden euch hin-
richten. Ich meine jedes Wort davon ernst. Ich werde es zu
406
einem Teil meiner Mission machen, dafür zu sorgen, dass sie
vor Gericht gestellt und hingerichtet werden.« Terry spricht
hier von Ärzten, die Abtreibungen vornehmen, und dass er
dabei christlich inspiriert ist, macht er in anderen Aussagen
deutlich:
Ich will, dass eine Welle der Intoleranz über euch hinweg-
fegt. Ich will, dass eine Welle des Hasses über euch hinweg-
fegt. Ja, Hass ist gut. [...] Unser Ziel ist eine christliche Na-
tion. Wir haben eine biblische Pflicht, und wir sind von Gott
gerufen, damit wir dieses Land erobern. Wir wollen keine
Gleichberechtigung. Wir wollen keinen Pluralismus.
Unser Ziel muss einfach sein. Wir müssen eine christliche
Nation haben, die auf Gottes Gesetz aufbaut, auf den Zehn
Geboten. Da gibt es keine Ausrede. !*
407
möglich; und sollte die Entscheidung angesichts der Tatsache,
dass der Embryo noch kein Nervensystem hat, nicht ohnehin
dem gut entwickelten Nervensystem der Mutter überlassen
bleiben?
Dass auch ein Konsequentialist Gründe haben könnte, eine
Abtreibung abzulehnen, ist nicht zu leugnen. Man könnte bei-
spielsweise mit einer »schiefen Bahn« argumentieren (was ich
allerdings in diesem Fall nicht tun würde). Der Embryo leidet
vielleicht nicht, aber eine Kultur, welche die Tötung menschli-
chen Lebens hinnimmt, läuft leicht Gefahr, zu weit zu gehen:
Wohin führt das alles? Zum Kindesmord? Der Augenblick der
Geburt ist für die Definition von Regeln eine natürliche
Grenze, und man könnte die Ansicht vertreten, dass es schwie-
rig ist, in einem früheren Stadium der Embryonalentwicklung
eine ähnliche Abgrenzung vorzunehmen. Solche Argumente
über eine schiefe Ebene könnten also dazu führen, dass wir
dem Augenblick der Geburt eine größere Bedeutung beimes-
sen, als es ein streng interpretierter Utilitarismus gern tun
würde.
Auch Argumente gegen die Sterbehilfe kann man unter dem
Gesichtspunkt der schiefen Bahn formulieren. Stellen wir uns
einmal folgende (erfundene) Äußerung eines Moralphiloso-
phen vor: »Wenn man den Ärzten gestattet, todkranke Patien-
ten von ihrem Leiden zu befreien, legt demnächst jeder seine
Oma um, um an ihr Geld zu kommen. Wir Philosophen sind
dem Absolutismus vielleicht entwachsen, aber die Gesellschaft
als Ganzes braucht absolute Regeln wie »Du sollst nicht töten«,
sonst weiß niemand mehr, wo die Grenze ist. Unter manchen
Umständen hat der Absolutismus vielleicht - wenn auch aus
den falschen Gründen in einer alles andere als idealen Welt —
bessere Folgen als der naive Konsequentialismus. Aus philoso-
phischen Gründen könnte man vielleicht nur schwer verbie-
ten, dass Menschen, die schon tot sind und um die niemand
trauert —beispielsweise Obdachlose nach einem Verkehrsun-
408
fall — aufgegessen werden. Aber aus Gründen der schiefen
Bahn ist das Kannibalismustabu so wertvoll, dass wir es nicht
verlieren dürfen.«
Eine solche Argumentation nach dem Motto »Wehret den
Anfängen« kann man als Methode interpretieren, mit der Kon-
sequentialisten den Absolutismus durch die Hintertür wie-
der einführen. Aber die religiösen Abtreibungsgegner halten
sich mit der schiefen Bahn gar nicht erst auf. Für sie ist die Sa-
che viel einfacher. Ein Embryo ist ein »Baby«, ihn zu töten ist
Mord, fertig. Ende der Diskussion. Aus diesem absolutistischen
Standpunkt ergeben sich viele Folgerungen. Zunächst einmal
muss die Forschung mit embryonalen Stammzellen trotz ihres
großen Potenzials für die medizinische Wissenschaft eingestellt
werden, weil sie den Tod embryonaler Zellen einschließt. Wie
widersprüchlich das ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass
die künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation oder IVF)
gesellschaftlich anerkannt ist, obwohl der weibliche Organis-
mus dabei regelmäßig zur Produktion überzähliger Eizellen
angeregt wird, die man dann außerhalb des Körpers befruch-
tet. Dabei erzeugt man bis zu einem Dutzend befruchtete
Eizellen; nur zwei oder drei davon werden in die Gebärmutter
eingepflanzt, und dann rechnet man damit, dass eine oder
möglicherweise auch zwei überleben. Bei der IVF werden be-
fruchtete Eizellen in zwei Stadien getötet, und die Gesellschaft
sieht darin im Allgemeinen kein Problem. Die künstliche Be-
fruchtung ist seit fünfundzwanzig Jahren ein Standardverfah-
ren, das viel Freude in das Leben kinderloser Paare bringen
kann.
Aber religiöse Absolutisten haben auch mit der künstlichen
Befruchtung ihre Probleme. Eine bizarre Meldung erschien am
3. Juni 2005 im Guardian unter der Überschrift »Christliche
Paare folgen einem Aufruf zur Rettung übrig gebliebener Em-
bryonen nach IVF«.Der Bericht handelte von einer Organisation
namens »Snowflakes« [»Schneeflocken«], die es sich zum Ziel
409
gesetzt hat, die in Befruchtungskliniken übrig gebliebenen
Embryonen zu »retten«. »Nach unserer festen Überzeugung
hat der Herr uns aufgerufen, diesen Embryonen - diesen Kin-
dern - eine Chance zum Leben zu geben«, sagte eine Frau aus
dem US-Bundesstaat Washington, deren viertes Kind aus der
»unerwarteten Verbindung zwischen konservativen Christen und
der Welt der Reagenzglasbabys« hervorgegangen war. Ihr Ehe-
mann hatte sich wegen dieser Verbindung Sorgen gemacht und
einen Kirchenältesten befragt; der hatte ihm den Rat gegeben:
»Wenn Sie die Sklaven befreien wollen, müssen Sie manchmal
ein Abkommen mit dem Sklavenhändler schließen.« Ich frage
mich, was solche Leute sagen würden, wenn sie wüssten, dass
die Mehrzahl aller Embryonen ohnehin ganz von selbst kurz
nach der Befruchtung als Fehlgeburt abgestoßen wird. Vermut-
lich sieht man darin am besten eine Art natürliche »Qualitäts-
kontrolle«.
Religiöse Köpfe eines bestimmten Typs erkennen nicht den
moralischen Unterschied zwischen der Tötung eines mikrosko-
pisch kleinen Zellhaufens und der Tötung eines ausgewachse-
nen Arztes. Ich habe bereits Randall Terry und die »Operation
Rescue« erwähnt. Mark Juergensmeyer zeigt in seinem er-
schreckenden Buch Terror in the Mind of God (Terror im Namen
Gottes) ein Foto des Reverend Michael Bray und seines Freun-
des, des Reverend Paul Hill. Die beiden tragen ein Transparent
mit der Aufschrift »Is it wrong to stop the murder of innocent
babies?« [»Ist es falsch, den Mord an unschuldigen Babys zu
verhindern?«] Beide sehen wie nette, adrette junge Männer
aus: gewinnendes Lächeln, leger-elegante Kleidung, das genaue
Gegenteil von starr blickenden Fanatikern. Aber die beiden
und ihre Freunde von der Army of God (AOG) haben es zu
ihrer Hauptbeschäftigung gemacht, Abtreibungskliniken in
Brand zu setzen, und sie machen keinen Hehl aus ihren Bestre-
bungen, Ärzte zu ermorden. Am 29. Juli 1994 nahm Paul Hill
eine Schrotflinte und ermordete Dr. John Britton sowie dessen
410
Leibwächter James Barrett vor Brittons Klinik in Pensacola
(Florida). Anschließend stellte er sich der Polizei und erklärte,
er habe den Arzt getötet, um für die Zukunft den Tod »un-
schuldiger Babys« zu verhindern.
Michael Bray stellt sich ausdrücklich hinter solche Aktionen
und gibt sich dabei den Anstrich hoher moralischer Ziele. Dies
erlebte ich selbst, als ich ihn für meine Fernsehdokumentation
über Religion in einem öffentlichen Park in Colorado Springs
interviewte.* Bevor ich auf die Abtreibungsfrage zu sprechen
kam, wollte ich mir mit einigen vorbereitenden Fragen ein Bild
von Brays bibelgestützter Moral machen. Ich wies darauf hin,
dass das biblische Gesetz für Ehebruch die Todesstrafe durch
Steinigung vorsieht. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass
er dieses Beispiel als offensichtlich übertrieben abtun würde,
aber er überraschte mich. Vergnügt erklärte er, man solle Ehe-
brecher nach einem ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren
durchaus hinrichten.
Darauf erwiderte ich, Paul Hill habe mit Brays voller Un-
terstützung kein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren ange-
strengt, sondern er habe das Gesetz selbst in die Hand genom-
men und einen Arzt getötet. Diese Tat seines Amtsbruders
verteidigte Bray dann mit den gleichen Argumenten, die er
auch in einem Interview mit Juergensmeyer gebraucht hatte:
Er machte einen Unterschied zwischen einer Tötung zur Ver-
geltung, beispielsweise wenn ein Arzt bereits im Ruhestand
lebe, und der Tötung eines praktizierenden Arztes, um zu ver-
hindern, »dass er regelmäßig Babys ermordet«. Darauf hielt ich
ihm etwas anderes vor: Ich sagte, Paul Hill habe zwar zweifel-
los aus ehrlicher Überzeugung gehandelt, aber die Gesellschaft
werde doch in entsetzlicher Anarchie versinken, wenn jeder
* Ähnlich hohe moralische Ansprüche erheben auch die Tierschützer, die Wissen-
schaftler, welche medizinische Forschung mit Versuchstieren betreiben, mit Gewalt
bedrohen.
411
EN;
sich auf seine persönliche Überzeugung beriefe und das Gesetz
in die eigenen Hände nehme, statt sich an die Gesetze seines
Landes zu halten. Ob es nicht der richtigere Weg sei, sich mit
demokratischen Mitteln um eine Änderung der Gesetze zu
bemühen?
Darauf erwiderte Bray: »Nun ja, das Problem ist, dass die Ge-
setze, die wir haben, keine authentischen Gesetze sind: Wir ha-
ben Gesetze, die von Menschen schnell nach Lust und Laune
gemacht wurden; das haben wir zum Beispiel an dem soge-
nannten Gesetz zum Recht auf Abtreibung gesehen, das den
Menschen von Richtern aufgezwungen wurde...« Damit wa-
ren wir bei einer Diskussion über die Verfassung der Vereinig-
ten Staaten und die Entstehung von Gesetzen. Brays Einstel-
lung zu solchen Themen erinnerte mich stark an die Haltung
militanter Muslime in Großbritannien, die ganz offen verkün-
den, sie fühlten sich nur an das islamische Recht gebunden,
nicht aber an die demokratisch verabschiedeten Gesetze ihrer
Wahlheimat.
Paul Hill wurde 2003 wegen des Mordes an Dr. Britton und
dessen Leibwächter hingerichtet. Zuvor erklärte er jedoch
noch, er würde es jederzeit wieder tun, um ungeborene Kinder
zu retten. In aufrichtiger Vorfreude, für sein Anliegen zu ster-
ben, erklärte er auf einer Pressekonferenz: »Ich glaube, indem
der Staat mich hinrichtet, macht er mich zum Märtyrer.« Zu
den rechtsextremen Abtreibungsgegnern, die gegen seine Hin-
richtung protestierten, gesellten sich in einer unheiligen Alli-
anz auch linksgerichtete Gegner der Todesstrafe; diese drängten
Jeb Bush, den Gouverneur von Florida, »dem Märtyrergehabe
von Paul Hill ein Ende zu machen«. Sie vertraten die durchaus
plausible Ansicht, die juristisch sanktionierte Tötung von Hill
werde weitere Morde provozieren und damit genau das Ge-
genteil der Abschreckungswirkung haben, die von der Todes-
strafe angeblich ausgehe. Hill selbst lächelte auf dem Weg zur
Hinrichtungskammer und sagte: »Ich rechne mit einer großen
412
Belohnung im Himmel. [...] Ich freue mich auf Seine Herrlich-
keit.«!? Außerdem regte er an, andere sollten seine gewalttäti-
gen Ziele weiter verfolgen. Da man mit Anschlägen zur Vergel-
tung seines »Märtyrertodes« rechnete, wurde die Polizei
während der Hinrichtung in erhöhte Alarmbereitschaft ver-
setzt. Mehrere Personen, die mit dem Fall in Verbindung ge-
bracht wurden, erhielten Drohbriefe, in denen Gewehrkugeln
lagen.
Die Ursache der ganzen entsetzlichen Vorgänge liegt in einer
unterschiedlichen Wahrnehmung. Manche Menschen halten
Abtreibung aufgrund ihrer religiösen Überzeugung für Mord
und sind bereit, zum Schutz der von ihnen als »Babys« be-
zeichneten Embryonen selbst Morde zu begehen. Auf der an-
deren Seite stehen die ebenso aufrichtigen Abtreibungsbefür-
worter, die entweder andere religiöse Überzeugungen oder
überhaupt keine Religion haben und sich an einer gut durch-
dachten konsequentialistischen Ethik orientieren. Sie halten
sich für Idealisten und bieten den Patientinnen, die sich in einer
Notlage befinden und ansonsten zu gefährlichen, unqualifi-
zierten Hinterhof-Quacksalbern gehen würden, eine medizini-
sche Dienstleistung an. Beide Seiten halten die jeweils andere
für Mörder oder Mordbefürworter. Und beide Seiten sind auf
ihre Art gleichermaßen ehrlich.
Die Sprecherin einer anderen Abtreibungsklinik bezeich-
nete Paul Hill als gefährlichen Psychopathen. Aber Menschen
wie er halten sich selbst nicht für gefährliche Psychopathen,
sondern für gute, moralische Menschen, die sich von Gott lei-
ten lassen. Nach meiner Überzeugung war Paul Hill kein Geis-
tesgestörter. Er war nur sehr religiös. Gefährlich, ja, aber kein
Psychopath. Gefährlich religiös.Aus der Sicht seiner religiösen
Überzeugungen war es völlig richtig und moralisch, Dr. Britton
zu erschießen. Das Falsche an Hill war sein religiöser Glaube
als solcher. Auch als ich Michael Bray persönlich kennenlernte,
hatte ich nicht den Eindruck, einem Psychopathen gegenüber-
413
aZu
zustehen. Eigentlich fand ich ihn sogar recht sympathisch. Er
wirkte auf mich wie ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch, wort-
gewandt und nachdenklich. Nur war sein Geist leider in gifti-
gem religiösem Unsinn gefangen.
Entschiedene Abtreibungsgegner sind fast immer tief reli-
giös. Ehrliche Abtreibungsbefürworter richten sich unabhängig
davon, ob sie persönlich religiös sind oder nicht, meist nach
einer nicht religiösen, konsequentialistischen Ethik und stellen
dabei vielleicht die gleiche Frage wie Jeremy Bentham: »Kön-
nen sie leiden?« Für Paul Hill und Michael Bray bestand zwi-
schen der Tötung eines Arztes und der Tötung eines Embryos
ethisch kein Unterschied, nur war der Embryo für sie ein un-
schuldiges »Baby«. Der Konsequentialist erkennt alle Unter-
schiede in der Welt. Ein Embryo im Frühstadium ähnelt in
Empfindungsvermögen und Aussehen einer Kaulquappe. Der
Arzt ist ein ausgewachsener, bewusster Mensch mit Hoffnun-
gen, Liebe, Zielen, Ängsten, einer gewaltigen Menge an mensch-
lichem Wissen und der Fähigkeit zu tiefen Gefühlen; er hinter-
lässt vermutlich eine am Boden zerstörte Witwe, verwaiste
Kinder und vielleicht auch betagte Eltern, die ihn abgöttisch
geliebt haben.
Paul Hill brachte echtes, tiefes, lang anhaltendes Leid über
Menschen, deren Nervensystem zum Leiden in der Lage war.
Sein Opfer, der Arzt, hatte nichts dergleichen getan. Ein Em-
bryo hat im Frühstadium kein Nervensystem und leidet
höchstwahrscheinlich nicht. Und wenn der Embryo bei einem
späten Schwangerschaftsabbruch ein Nervensystem hat und
tatsächlich leidet - was, wie jedes Leiden, zu beklagen ist -,
dann liegt es nicht daran, dass es sich um einen menschlichen
Embryo handelt. Es gibt ganz allgemein keinen Grund zu der
Annahme, ein menschlicher Embryo würde zu irgendeinem
Zeitpunkt mehr leiden als ein Rinder- oder Schafsembryo im
gleichen Entwicklungsstadium. Und es spricht alles dafür, dass
sämtliche Embryonen, ob menschlich oder nicht, weit weniger
414
leiden als ausgewachsene Kühe und Schafe im Schlachthof,
insbesondere wenn es sich um ein rituelles Schlachthaus han-
delt, wo die Tiere aus religiösen Gründen bei vollem Bewusst-
sein sein müssen, wenn man ihnen zeremoniell die Kehle durch-
schneidet.
Leiden zu messen ist schwierig,'* und in den Einzelheiten
kann man sicher unterschiedlicher Meinung sein. Das ist aber
ohne Bedeutung für meine Hauptaussage über den Unter-
schied zwischen konsequentialistischer und religiös-absoluter
Ethik.* Der einen Denkschule geht es darum, ob Embryonen
leiden können; die andere fragt, ob Embryonen Menschen
sind. Religiöse Ethiker diskutieren häufig über Fragen wie die,
wann ein Embryo zu einer Person wird, also zu einem mensch-
lichen Wesen. Säkulare Ethiker dagegen fragen eher: »Ganz
gleich, ob es ein Mensch ist (was bedeutet das bei einem klei-
nen Zellhaufen überhaupt?) - von welchem Entwicklungssta-
dium an ist ein Embryo jeder beliebigen Tierart in der Lage, zu
leiden?«
* Das Spektrum der Möglichkeiten ist damit natürlich nicht erschöpft. Eine deutliche
Mehrheit der US-amerikanischen Christen nimmt gegenüber der Abtreibung keine
absolutistische Haltung ein, sondern befürwortet die Möglichkeit der persönlichen
Entscheidung. Dies gilt zum Beispiel für die Religious Coalition for Reproductive
- Choice (www.rerc.org).
415
schen Argumentation daher, die dermaßen dumm ist, dass nur
dieser Umstand sie vom Vorwurf vorsätzlicher Unehrlichkeit
befreien kann. Ich meine den großen Beethoven-Trugschluss,
den es in mehreren Versionen gibt. Die folgende schreiben Pe-
ter und Jean Medawar* in ihrem Buch The Life Science (»Die
Wissenschaft vom Leben«) dem britischen Parlamentsabgeord-
neten Norman St John (heute Lord St John) zu, einem promi-
nenten katholischen Laien. Der wiederum hatte sie von Mau-
rice Baring (1874-1945), einem bekannten konvertierten
Katholiken und engen Weggefährten der katholischen Partei-
soldaten Gilbert Keith Chesterton und Hilaire Belloc. Baring
fasste sie in die Form eines erfundenen Dialogs zwischen zwei
Ärzten:
* Sir Peter Medawar erhielt 1960 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.
416
fünften an die neunte Stelle der Geschwisterreihe, steigert die
Zahl der taub geborenen Kinder auf drei und die der blinden
auf zwei und schreibt die Syphilis nicht dem Vater, sondern der
Mutter zu.
Als ich nach verschiedenen Versionen der Geschichte suchte,
fand ich insgesamt 43 Websites; die meisten davon schreiben
sie nicht Baring zu, sondern einem gewissen Professor L. R.
Agnew von der medizinischen Fakultät der University of Cali-
fornia in Los Angeles; dieser stellte angeblich seine Studenten
vor das Dilemma und sagte dann: »Herzlichen Glückwunsch,
Sie haben gerade Beethoven ermordet.« Wir können mit L.R.
Agnew nachsichtig sein und seine Existenz anzweifeln, aber es
ist schon verblüffend, wie solche modernen Legenden sich ver-
breiten. Ob die Geschichte ihren Ursprung tatsächlich bei Ba-
ring hat oder noch früher erfunden wurde, konnte ich nicht
herausfinden.
Aber erfunden ist sie mit Sicherheit. Sie ist von vorn bis hin-
ten falsch. In Wirklichkeit war Ludwig van Beethoven weder
das fünfte noch das neunte Kind seiner Eltern. Er war der Äl-
teste - oder streng genommen der Zweite, aber der ältere Bru-
der starb, wie es damals häufig vorkam, bereits im Säuglings-
alter und war nach heutiger Kenntnis weder blind noch taub
oder geistig behindert. Nichts deutet darauf hin, dass ein EI-
ternteil Syphilis hatte, die Mutter starb allerdings am Ende
tatsächlich an Tuberkulose. Auch das war damals nichts Unge-
wöhnliches.
Das Ganze ist tatsächlich eine moderne Legende, eine Fäl-
schung, die gezielt verbreitet wird, weil bestimmte Leute ein
ureigenes Interesse daran haben. Allerdings ist die Tatsache,
dass es sich um eine Lüge handelt, ohnehin bedeutungslos.
Selbst wenn sie wahr wäre, könnte man daraus keine stichhal-
tige Argumentation ableiten. Peter und Jean Medawar brauch-
ten den Wahrheitsgehalt der Geschichte überhaupt nicht an-
zuzweifeln, um auf den Schwachpunkt der Argumentation
417
aufmerksam zu machen: »Hinter diesem heimtückischen klei-
nen Argument steht eine atemberaubend falsche Überlegung.
Wenn man nicht gerade unterstellen will, dass zwischen einer
tuberkulösen Mutter, einem syphilitischen Vater und der Ge-
burt eines musikalischen Genies ein Kausalzusammenhang be-
steht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Welt ein Beethoven
verloren geht, bei einer Abtreibung nicht größer als bei keu-
scher Abstinenz vom Geschlechtsverkehr.«'*” Dieser lako-
nisch-spöttischen Zurückweisung durch die Medawars ist nichts
hinzuzufügen. (Allenfalls eine der »ungewöhnlichen Geschich-
ten« von Roald Dahl: Eine ebenso zufällige Entscheidung aus
dem Jahr 1888, keineAbtreibung vorzunehmen, bescherte uns
Adolf Hitler.) Um den entscheidenden Punkt zu verstehen,
braucht man allerdings ein Quäntchen Intelligenz - vielleicht
auch die Freiheit von einer bestimmten Form religiöser Erzie-
hung. Von den 43 »Lebensschützer«-Websites, die eine Google-
Suche an dem Tag, als dieser Abschnitt entstand, zu Tage för-
derte, erkannte keine einzige die Unlogik der Argumentation.
Alle (es handelte sich übrigens ausnahmslos um religiöse Web-
sites) fielen mit Pauken und Trompeten auf den Trugschluss
herein. Eine nannte sogar Medawar (dort Medavvar geschrie-
ben) als Quelle. Diese Leute waren erpicht darauf, eine zu
ihrem Glauben passende fehlerhafte Schlussfolgerung zu glau-
ben, und deshalb merkten sie nicht einmal, dass die Medawars
das Argument nur angeführt hatten, um es gnadenlos zu zer-
pflücken.
Wie die Medawars völlig zu Recht betonen, lautet die logi-
sche Schlussfolgerung aus dem Argument des »menschlichen
Potenzials«: Jedes Mal, wenn wir eine Gelegenheit zum Ge-
schlechtsverkehr ungenutzt verstreichen lassen, verweigern
wir potenziell einer menschlichen Seele das Existenzrecht.
Jede Verweigerung eines Angebots zur Paarung ist nach der irr-
sinnigen Logik dieser »Lebensschützer« gleichbedeutend mit
dem Mord an einem potenziellen Kind! Selbst Gegenwehr ge-
418
gen eine Vergewaltigung könnte man als Mord an dem poten-
ziellen Baby auffassen (nebenbei bemerkt, sprechen viele »Le-
bensschützer« einer Frau selbst nach einer brutalen Vergewalti-
gung das Recht auf eine Abtreibung ab). Wie daran sehr schnell
deutlich wird, steht hinter dem »Beethoven-Argument« eine
wahrhaft schlechte Logik. Am besten verkörpert sich seine sur-
reale Dummheit in dem großartigen Lied »Every Sperm Is
Sacred«, gesungen von Michael Palin und einem Chor von
mehreren hundert Kindern in dem Monty-Python-Film The
Meaning of Life (Der Sinn des Lebens) (wer ihn noch nicht ge-
sehen hat, sollte das unbedingt tun). Der große Beethoven-
Trugschluss ist ein gutes Beispiel dafür, in welchen logischen
Kuddelmuddel wir geraten, wenn unser Geist durch religiös
motivierten Absolutismus vernebelt ist.
Man sollte auch bedenken, dass »Lebensschützer« eigent-
lich nicht »das Leben schützen«. Gemeint ist ausschließlich
menschliches Leben. Dass man den Zellen der Spezies Homo sa-
piens einzigartige Sonderrechte einräumt, lässt sich mit der Tat-
sache der Evolution nur schwer vereinbaren. Zugegeben: Dies
wird viele Abtreibungsgegner nicht beeindrucken, weil sie
nicht begreifen, dass die Evolution eine Tatsache ist. Dennoch
möchte ich die Argumentation für Abtreibungsgegner, die in
wissenschaftlichen Dingen weniger unwissend sind, kurz zu-
sammenfassen.
Der Zusammenhang mit der Evolution ist ganz einfach. Die
Tatsache, dass es sich um Zellen eines menschlichen Embryos
handelt, kann ihm keine absolut andersartige ethische Stellung
verleihen. Das ist nicht möglich, weil wir in einer ununterbro-
chenen entwicklungsgeschichtlichen Beziehung zu den Schim-
pansen und in größerer Entfernung auch zu allen anderen biolo-
gischen Arten auf der Erde stehen. Nehmen wir beispielsweise
an, eine Art, die eine Zwischenstellung einnimmt - beispiels-
weise Australopithecus afarensis —hätte durch einen Zufall
überlebt und würde heute in einem abgelegenen Teil Afrikas
419
entdeckt. Würden wir diese Lebewesen »zu den Menschen
rechnen« oder nicht? Für einen Konsequentialisten wie mich
verdient diese Frage keine Antwort, weil nichts davon abhängt.
Es reicht, dass wir fasziniert und geehrt wären, wenn wir einer
lebenden »Lucy« begegnen würden.
Der Absolutist dagegen muss die Frage beantworten: Nur
dann kann er das ethische Prinzip anwenden, den Menschen
eine einzigartige Sonderstellung zuzuweisen, einfach weil sie
Menschen sind. Wenn es hart auf hart käme, müsste man wahr-
scheinlich ganz ähnlich wie im Südafrika der Apartheid beson-
dere Gerichte einsetzen, die darüber entscheiden, ob ein Indi-
viduum »als Mensch durchgeht«.
Selbst wenn man für Australopithecus noch eine eindeutige
Antwort geben könnte, muss es wegen der Kontinuität, die
ein unausweichliches Merkmal der biologischen Evolution ist,
irgendwo eine Zwischenform geben, die so dicht an der
»Grenze« liegt, dass das ethische Prinzip verschwimmt und
seine Absolutheit verliert. Besser sagt man: In der Evolution
gibt es keine natürlichen Grenzlinien. Die Illusion einer sol-
chen Grenze entsteht nur dadurch, dass die Zwischenformen
ausgestorben sind. Natürlich kann man die Ansicht vertreten,
dass Menschen stärker leiden können als andere Arten. Das
könnte durchaus stimmen, und dann ist es legitim, den Men-
schen genau deshalb eine Sonderstellung einzuräumen. Den-
noch zeigt die Kontinuität der Evolution, dass es keine absolute
Abgrenzung gibt. Absolutistische ethische Unterscheidungen
werden durch die Evolution hinfällig. Ein unbehagliches Be-
wusstsein für diese Tatsache dürfte wahrscheinlich sogar einer
der wichtigsten Gründe dafür sein, warum Kreationisten die
Evolution leugnen: Sie fürchten sich vor den vermeintlichen
ethischen Konsequenzen. Damit haben sie zwar unrecht, aber
ohnehin ist es ein seltsamer Gedanke, man könne Wahrheiten
in der Realität auslöschen, indem man sich überlegt, was
ethisch wünschenswert wäre.
420
Wie »Mäßigung« im Glauben den Fanatismus fördert
421
Es ist deshalb keine übertriebene Behauptung, wenn man
sagt: Würde die Stadt New York plötzlich in einem Feuerball
verschwinden, würde ein nicht unbedeutender Anteil der
amerikanischen Bevölkerung in der anschließend aufstei-
genden, pilzförmigen Wolke einen Silberstreif erkennen,
denn es würde ihnen anzeigen, dass jetzt das Beste ge-
schieht, was überhaupt geschehen kann: die Wiederkehr
Christi. Natürlich liegt sonnenklar auf der Hand, dass solche
Überzeugungen uns nicht gerade helfen werden, eine dauer-
hafte Zukunft aufzubauen - sei es sozial, wirtschaftlich, öko-
logisch oder geopolitisch. Man stelle sich die Folgen vor,
wenn ein maßgeblicher Teil der US-Regierung glauben
würde, dass das Ende der Welt tatsächlich bevorstehe und
dass es sich um ein ruhmreiches Ende handeln werde. Die
Tatsache, dass offenbar fast die Hälfte der amerikanischen
Bevölkerung so etwas ausschließlich aufgrund eines religiö-
sen Dogmas glaubt, sollte man als ethischen und intellektu-
ellen Notstand auffassen.
422
Invasion gemacht hatte). Dennoch war ganz Großbritannien
über die Bomben von London entsetzt. Die Zeitungen bemüh-
ten sich verzweifelt zu analysieren, was vier junge Männer
dazu treiben konnte, sich selbst in die Luft zu sprengen und
eine Menge unschuldiger Menschen mit in den Tod zu reißen.
Die Mörder waren britische Staatsbürger mit guten Manieren
und einer Vorliebe für Kricket, genau der Typ junger Männer, in
deren Gesellschaft man sich wohlfühlt.
Warum taten diese jungen Kricketliebhaber so etwas? Im
Gegensatz zu ihresgleichen in Palästina, bei den japanischen
Kamikazefliegern oder den Tamilentigern in Sri Lanka konnten
diese menschlichen Bomben nicht damit rechnen, dass ihre
Angehörigen durch den Verlust zu Helden würden, die Märty-
rerpensionen zur Unterstützung erhielten. Im Gegenteil: In
einigen Fällen mussten die Familien der Täter untertauchen.
Einer der Männer machte bewusst seine schwangere Frau zur
Witwe und seinen kleinen Sohn zum Waisen. Die Taten dieser
jungen Männer kamen einer Katastrophe gleich, und zwar
nicht nur für sie selbst und ihre Opfer, sondern auch für ihre
Angehörigen und die gesamte muslimische Gemeinschaft in
Großbritannien, die seither mit starken Widerständen zu
kämpfen hat. Nur religiöser Glaube ist eine so starke Kraft, dass
er ansonsten geistig gesunde, anständige Menschen zu einer
derart vollständigen Verrücktheit motivieren kann. Wieder ein-
mal traf Sam Harris mit seiner scharfsichtigen Unverblümtheit
den Nagel auf den Kopf. Als Beispiel wählte er den Al-Qaida-
Führer Osama bin Laden (der übrigens mit den Bombenan-
schlägen von London nichts zu tun hatte). Warum sollte je-
mand den Wunsch haben, das World Trade Center zu zerstören
und alle darin befindlichen Menschen zu töten? Wenn wir bin
Laden einfach als »böse« bezeichnen, entziehen wir uns unse-
rer Verantwortung, auf eine so wichtige Frage eine Antwort zu
finden.
423
Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand - und sei es
nur, weil bin Laden selbst sie geduldig und bis zum Erbre-
chen immer wieder formuliert hat. Sie lautet: Männer wie
bin Laden glauben tatsächlich, was sie sagen. Sie glauben,
dass der Koran Wort für Wort wahr ist. Warum tauschten
neunzehn gebildete Männer aus der Mittelschicht ihr Leben
in dieser Welt gegen das Privileg, Tausende ihrer Mitmen-
schen zu töten? Weil sie glaubten, sie würden zum Lohn un-
mittelbar ins Paradies eingehen. Nur selten lässt sich das
Verhalten von Menschen so umfassend und befriedigend er-
klären. Warum haben wir eine so starke Abneigung dagegen,
diese Erklärung anzuerkennen?'**
424
die Terroristen sind nicht vom Bösen motiviert. So fehlgelei-
tet sie uns auch erscheinen mögen, ihre Motive sind die glei-
chen wie bei den Christen, die Abtreibungsärzte ermorden:
Sie lassen sich von einer vermeintlichen Rechtschaffenheit
leiten und befolgen genau das, was ihre Religion ihnen vor-
schreibt. Sie sind keine Psychotiker, sondern religiöse Idealis-
ten, die aus ihrer eigenen Sicht rational handeln. Ihre Taten
halten sie für etwas Gutes, und zwar nicht aus irgendeiner
verzerrten persönlichen Verschrobenheit heraus und auch
nicht, weil sie vom Satan besessen wären, sondern weil sie von
klein auf zu einem umfassenden, unhinterfragten Glauben er-
zogen wurden.
Sam Harris zitiert einen gescheiterten palästinensischen
Selbstmordbomber, der erklärte, aus welchen Motiven er Israe-
lis ermorden wollte: »Aus Liebe zum Märtyrertum [...]. Ich
will keine Rache für irgendetwas. Ich wollte einfach ein Märty-
rer sein.« Am 19. November 2001 erschien in der Zeitschrift
The New Yorker ein Interview, das Nasra Hassan mit einem an-
deren gescheiterten Selbstmordattentäter geführt hatte, einem
höflichen jungen Palästinenser von 27 Jahren, der unter dem
Namen »S«bekannt ist. Dieser spricht mit einem derart poeti-
schen Wortreichtum von den gleichen Verlockungen des Para-
dieses, die auch von gemäßigten Religionsführern und -lehrern
gepredigt werden, dass ich es für lohnend halte, eine Passage
daraus wiederzugeben:
425
»Wir trieben, schwammen in dem Gefühl, dass wir an der
Schwelle zur Ewigkeit standen. Wir hatten keine Zweifel.
Wir legten in Gegenwart Allahs einen Eid auf den Koran
ab -—das Gelübde, nicht wankelmütig zu werden. Dieses
Dschihad-Gelübde heißt bayt al-ridwan nach dem Garten
im Paradies, der den Propheten und Märtyrern vorbehalten
ist. Ich weiß, dass es auch andere Wege zum Dschihad gibt,
aber dieser ist süß —der süßeste. Alle Märtyreroperationen,
die im Namen Allahs vollbracht werden, schmerzen weniger
als ein Mückenstich.«
S zeigte mir ein Video, auf dem die letzte Planungsphase
der Operation festgehalten war. In dem grobkörnigen Film
sah ich, wie er und zwei andere junge Männer ein rituelles
Frage- und Antwortspiel um die Ehre des Märtyrertums
spielten. [...]
Dann knieten der Planer und die jungen Männer nieder
und legten die rechte Hand auf den Koran. Der Planer sagte:
»Seid ihr bereit? Morgen werdet ihr im Paradies sein.«!*
426
sterben lieber, als dass sie nachdenken. Sie tun es tatsäch-
lich.«
Solange wir das Prinzip anerkennen, dass religiöser Glaube
respektiert werden muss, einfach weil es religiöser Glaube ist,
kann man auch den Respekt gegenüber dem Glauben eines
Osama bin Laden oder der Selbstmordattentäter kaum able-
gen. Die Alternative springt so ins Auge, dass man sie nicht son-
derlich betonen muss: Man kann das Prinzip des automati-
schen Respekts für religiösen Glauben aufgeben. Das ist ein
Grund, warum ich alles in meiner Macht Stehende tue, um die
Menschen nicht nur vor so genanntem »extremistischem« Glau-
ben zu warnen, sondern vor dem Glauben überhaupt. Die Leh-
ren der »gemäßigten« Religion sind zwar selbst nicht extremis-
tisch, sie öffnen aber dem Extremismus Tür und Tor.
Nun kann man natürlich sagen, dass der religiöse Glaube in
dieser Hinsicht nichts Besonderes ist. Auch die patriotische
Liebe zum Vaterland oder zur eigenen ethnischen Gruppe
kann doch den Boden für ihre eigene Form des Extremismus
bereiten, ist es nicht so? Ja, das sieht man an den japanischen
Kamikazefliegern und den Tamilentigern in Sri Lanka. Aber
der religiöse Glaube bringt rationale Berechnung besonders
wirksam zum Schweigen und übertrifft darin meist alle ande-
ren Motive. Nach meiner Vermutung liegt das vor allem an der
einfachen, verführerischen Versprechung, dass der Tod nicht
das Ende sei und dass auf Märtyrer ein besonders prächtiges
Jenseits warte. Zum Teil hat es aber auch schlicht damit zu tun,
dass der Glaube von seinem Wesen her kritische Fragen miss-
billigt.
Das Christentum lehrt ebenso nachdrücklich wie der Islam,
dass unhinterfragter Glaube eine Tugend ist. Man braucht für
das, was man glaubt, keine Begründung. Wenn jemand verkün-
det, dieses oder jenes gehöre zu seinem Glauben, ist die ge-
samte Gesellschaft - unabhängig davon, ob sie demselben
Glauben angehört oder nicht - aufgrund einer tief verwurzel-
427
ten Sitte dazu verpflichtet, dies ohne weitere Fragen zu »re-
spektieren«; es wird respektiert, bis es seinen Ausdruck eines
Tages in einem entsetzlichen Blutbad findet, beispielsweise in
der Zerstörung des World Trade Center oder in den Bomben-
anschlägen von Madrid und London. Dann setzt auf einmal
der große Chor der Distanzierer ein: Geistliche und »Führer
von Gemeinschaften« (wer hat die eigentlich gewählt?) er-
klären reihenweise, der Extremismus sei eine Perversion des
»wahren« Glaubens. Aber wie kann es eine Perversion des
Glaubens geben, wenn der Glaube selbst, dem ja die objektive
Rechtfertigung fehlt, gar keine handfesten Maßstäbe besitzt,
die man pervertieren könnte?
Einen ganz ähnlichen Standpunkt vertrat Ibn Warraq vor
einigen Jahren in seinem ausgezeichneten Buch Why I Am Not
a Muslim (Warum ich kein Muslim bin) aus der Sicht eines
hochgebildeten Islamgelehrten. Eine gute Alternative für den
Titel von Warrags Buch wäre allerdings Der Mythos vom
gemäßigten Islam; diese Überschrift trug ein Artikel in der Lon-
doner Zeitschrift Spectator vom 30. Juli 2005, verfasst von Pat-
rick Sookhdeo, dem Direktor des Instituts für islamische und
christliche Studien. »Heute führt die große Mehrheit der Mus-
lime ihr Leben, ohne auf Gewalt zurückzugreifen, denn der
Koran ist ein Gemisch, aus dem man nach Belieben auswählen
kann. Wer Frieden wünscht, findet friedliche Verse. Wer Krieg
will, findet kriegerische Verse.«
Im weiteren Verlauf erläutert Sookhdeo, wie die islamischen
Gelehrten vorgegangen sind, um mit den vielen Widersprü-
chen im Koran fertigzuwerden: Sie entwickelten das Prinzip
der Aufhebung, wonach spätere Texte den Vorrang gegenüber
früheren haben. Leider sind aber die meisten friedlichen Passa-
gen des Korans ziemlich früh entstanden, als Mohammed noch
in Mekka lebte. Die kriegerischen Verse verfasste er später, als
er nach Medina geflüchtet war. Das Ergebnis:
428
Der ständig wiederholte Slogan »Islam ist Frieden« ist seit
mindestens 1400 Jahren überholt. Nur 13 Jahre lang war der
Islam Frieden und nichts als Frieden. [...] Für die heutigen
radikalen Muslime - und auch für die mittelalterlichen Juris-
ten, die den klassischen Islam entwickelten - kommt die
Aussage »Islam ist Krieg« der Wahrheit näher. Al-Ghurabaa,
eine der radikalsten islamischen Gruppen Großbritanniens,
verkündete nach den Bombenanschlägen von London: »Je-
der Muslim, der leugnet, dass Terror zum Islam gehört, ist
ein Kafir.« Ein Kafir ist ein Ungläubiger (d.h. ein Nichtmus-
lim), und der Begriff stellt eine schwere Beleidigung dar. [...]
Wäre es denkbar, dass die jungen Selbstmörder keines-
wegs an den Rändern der muslimischen Gesellschaft in
Großbritannien standen und sich auch nicht an einer exzent-
rischen, extremistischen Interpretation ihres Glaubens ori-
entierten, sondern dass sie aus dem Kern der muslimischen
Gemeinschaft stammten und durch eine allgemein übliche
Interpretation des Islam motiviert wurden?
429
terfragen und zu durchdenken, statt sie die überlegene Tugend
eines Glaubens ohne Fragen zu lehren, kann man mit großer
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie nicht zu Selbst-
mordattentätern würden. Selbstmordattentäter begehen ihre
Taten, weil sie wirklich das glauben, was ihnen in ihren Reli-
gionsschulen beigebracht wurde: dass die Pflichterfüllung für
Gott gegenüber allem anderen Priorität hat und dass das Mär-
tyrertum im Dienste Gottes im Paradiesgarten belohnt wird.
Diese Lektion allerdings haben sie nicht unbedingt von ex-
tremistischen Fanatikern gelernt, sondern von anständigen,
sanftmütigen, zur Mehrheit gehörenden Religionslehrern, in
deren Koranschulen sie in Reih und Glied gesessen haben, um
mit rhythmischem Auf und Ab der arglosen kleinen Köpfe je-
des Wort aus dem heiligen Buch auswendig zu lernen wie
schwachsinnige Papageien. Glaube kann sehr, sehr gefährlich
sein, und ihn absichtlich in den verletzlichen Geist eines arglo-
sen Kinds einzupflanzen ist ein schwerer Fehler. Der Kindheit
und ihrer Verletzung durch die Religion wenden wir uns nun
im nächsten Kapitel zu.
430
Kindheit, Kindesmisshandlung
und wie man der Religion entkommt
In jedem Dorf gibt es eine Fackel, den Lehrer,
und jemanden, der dieses Licht löscht, den Pfarrer.
Victor Hugo
431
Edgardos Geschichte war in Italien zu jener Zeit durchaus
nichts Ungewöhnliches, und der Grund für solche Entführun-
gen durch Geistliche war stets der Gleiche: Immer war das
Kind zu irgendeinem früheren Zeitpunkt heimlich - meist von
einem katholischen Kindermädchen - getauft worden, und
später hatte die Inquisition von der Taufe erfahren. Ein zentra-
ler Bestandteil der römisch-katholischen Lehre besagte: Ein
Kind, das getauft wurde - und sei es auch noch so informell
und heimlich -, ist ein für alle Mal Christ. Die Möglichkeit,
dass ein solches »christliches Kind« bei seinen jüdischen Eltern
blieb, kam in der geistigen Welt der katholischen Behörden
nicht vor: Sie hielten trotz weltweiter Empörung standhaft
und mit völliger Aufrichtigkeit an ihrem bizarren, grausamen
Standpunkt fest. Die allgemeine Empörung wurde übrigens
von der katholischen Zeitung Civilta Cattolica auf die interna-
tionale Macht reicher Juden zurückgeführt - das klingt doch ir-
gendwie bekannt, oder?
Die Geschichte von Edgardo Mortara erregte besonders
großes Aufsehen, aber ansonsten war sie ganz und gar typisch
für viele andere. Edgardo war anfangs von Anna Morisi versorgt
worden, einem katholischen Mädchen von vierzehn Jahren, das
weder lesen noch schreiben konnte. Einmal wurde er krank,
und sie hatte entsetzliche Angst, der Kleine könnte sterben. Da
sie in dem lähmenden Glauben aufgewachsen war, ein unge-
tauftes Kind müsse ewig in der Hölle schmoren, bat sie einen
katholischen Nachbarn um Rat, und der erklärte ihr, wie die
Taufe zu vollziehen war. Sie ging wieder ins Haus, spritzte ein
wenig Wasser aus einem Eimer auf den Kopf des kleinen Ed-
gardo und sagte: »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes.« Das war alles. Und von die-
sem Augenblick an war Edgardo, juristisch betrachtet, Christ.
Als die Priester der Inquisition Jahre später von dem Vorfall er-
fuhren, handelten sie entschieden und schnell; auf die bedauer-
lichen Folgen ihres Tuns verschwendeten sie keinen Gedanken.
432
Was angesichts der gewaltigen Folgen, die der Ritus für eine
ganze Großfamilie haben kann, wirklich erstaunlich ist: Die ka-
tholische Kirche erlaubte (und erlaubt noch heute), dass jeder
Mensch jeden anderen tauft. Der Täufer muss kein Geistlicher
sein. Weder das Kind noch die Eltern noch sonst irgendjemand
muss mit der Taufe einverstanden sein. Nichts muss unter-
schrieben werden. Niemand muss offiziell Zeuge sein. Erfor-
derlich sind nur ein Spritzer Wasser, ein paar Worte, ein hilflo-
ses Kind und ein abergläubischer Babysitter, der eine religiöse
Gehirnwäsche hinter sich hat. Eigentlich wird sogar nur Letz-
terer gebraucht, denn wenn man annimmt, dass das Kind noch
klein ist und nichts bezeugen kann, erfährt es ja niemand. Eine
amerikanische Kollegin, die katholisch erzogen wurde, schrieb
mir Folgendes: »Wir haben früher unsere Puppen getauft. Ob
wir auch unsere kleinen protestantischen Freunde tauften,
weiß ich nicht mehr, aber es ist zweifellos geschehen und ge-
schieht auch heute noch. Wir haben unsere Puppen zu kleinen
Katholiken gemacht, haben sie mit in die Kirche genommen,
ihnen die Heilige Kommunion gespendet, und so weiter. Man
hat uns mit einer Gehirnwäsche schon frühzeitig zu guten ka-
tholischen Müttern gemacht.«
Wenn die Mädchen im 19. Jahrhundert auch nur entfernt
meiner heutigen Briefschreiberin ähnlich waren, muss man
sich eigentlich wundern, dass Fälle wie der von Edgardo Mor-
tara nicht wesentlich häufiger vorkamen. Aber auch so gab es
derartige Geschichten im Italien des 19. Jahrhunderts be-
drückend oft, und damit stellt sich natürlich eine naheliegende
Frage: Warum stellten die Juden in katholischen Ländern über-
haupt christliche Dienerinnen ein, wenn das mit einem derar-
tigen Risiko verbunden war? Warum achteten sie nicht genau
darauf, dass auch ihre Hausangestellten Juden waren? Wie-
derum hat die Antwort nicht mit Vernunft, sondern aus-
schließlich mit Religion zu tun. Die Juden brauchten Diener,
denen es ihre Religion nicht verbot, am Sabbat zu arbeiten. Bei
433
einem jüdischen Hausmädchen konnte man sich zwar darauf
verlassen, dass es das Kind nicht durch eine Taufe zum spiritu-
ellen Waisen machen würde, aber es durfte am Samstag auch
weder ein Feuer anzünden noch das Haus putzen. Das war der
Grund, warum jüdische Familien, die sich Dienstpersonal leis-
ten konnten, in Bologna zu jener Zeit meistens Katholiken ein-
stellten.
Im vorliegenden Buch habe ich mit Absicht darauf verzich-
tet, genauer auf die Gräueltaten der Kreuzritter, der conquista-
dores oder der spanischen Inquisition einzugehen. Grausame,
böse Menschen gibt es in jedem Jahrhundert, und sie haben
alle möglichen Überzeugungen. Aber diese Geschichte über
die italienische Inquisition und ihre Einstellung zu Kindern
macht besonders gut deutlich, wie ein religiöser Geist funktio-
niert und welche bösen Dinge gerade deshalb daraus erwach-
sen, weil er religiös ist. Zunächst ist da die bemerkenswerte
Vorstellung, ein Spritzer Wasser und ein kurzer Zauberspruch
könnten das Leben eines Kindes völlig verändern und seien
höher einzustufen als die Einwilligung der Eltern, die Einwilli-
gung des Kindes selbst, das Lebensglück des Kindes und sein
psychisches Wohlbefinden - also höher als alles, was gesunder
Menschenverstand und humane Gefühle für wichtig erachten
würden. Kardinal Antonelli formulierte es zu jener Zeit in
einem Brief an Lionel Rothschild, den ersten jüdischen Parla-
mentsabgeordneten in Großbritannien, nachdem dieser schrift-
lich gegen die Entführung des Kindes protestiert hatte. Der
Kardinal erklärte, er habe keine Möglichkeit einzugreifen, und
fügte dann hinzu: »Es mag hier angebracht sein, festzustellen,
dass, wenn die Stimme der Natur auch stark ist, die heiligen
Pflichten der Religion dennoch stärker sind.« Ja, hm, das sagt
doch alles, oder?
Das Zweite ist die erstaunliche Tatsache, dass die Priester,
Kardinäle und der Papst selbst offenbar tatsächlich überhaupt
nicht begriffen, welche entsetzliche Tat sie an dem kleinen
434
Edgardo Mortara begingen. Auch wenn es sich jedem ver-
nünftigen Verständnis entzieht: Sie glaubten ganz ehrlich,
dass sie ihm etwas Gutes taten, als sie ihn seinen Eltern weg-
nahmen und einer christlichen Erziehung zuführten. Sie fühl-
ten sich verpflichtet, ihn zu schützen! In den Vereinigten Staa-
ten verteidigte eine katholische Zeitung den Standpunkt des
Papstes im Fall Mortara; nach ihrer Ansicht war es undenk-
bar, dass eine christliche Regierung »ein christliches Kind
einer Erziehung als Jude überlässt«, und sie berief sich auf die
Religionsfreiheit als »die Freiheit eines Kindes, Christ zu sein
und nicht zu einem Leben als Jude gezwungen zu werden.
[...] Dass der Heilige Vater das Kind schützt, ist angesichts
des ganzen wilden Fanatismus und aller Bigotterie das größte
moralische Schauspiel, das die Welt seit langer Zeit gesehen
hat«.
Gab es jemals eine krassere Fehldeutung von Worten wie
»zwingen«, »wild«, »Fanatismus« oder »Bigotterie«? Dennoch
deutet alles darauf hin, dass die katholischen Vertreter vom
Papst an abwärts ehrlich glaubten, sie täten das Richtige: Es war
in ihren Augen moralisch richtig und richtig für das Wohlerge-
hen des Kindes. So stark kann Religion (und zwar die »ge-
mäßigte« Hauptströmung der Religion) Urteile verzerren und
normalen menschlichen Anstand ins Gegenteil verkehren. Die
Zeitung Il Cattolico zeigte sich ehrlich verblüfft, dass so viele
Menschen nicht erkannten, welch großherzigen Gefallen die
Kirche dem kleinen Edgardo Mortara getan hatte, als sie ihn
vor seiner jüdischen Familie rettete:
435
begreift dann sofort, welchen großen irdischen Vorteil der
Papst dem kleinen Mortara verschafft hat.
436
dernswerten —Überzeugung eingenommen, dass die Mortaras
es nicht über sich brachten, die Gelegenheit zu ergreifen und
das völlig bedeutungslose Ritual der Taufe über sich ergehen zu
lassen. Konnten sie nicht die Finger kreuzen oder leise »nicht«
flüstern, während sie getauft wurden? Nein, das konnten sie
nicht: Sie waren mit einer (gemäßigten) Religion aufgewach-
sen und nahmen deshalb das ganze lächerliche Theater ernst.
Was mich angeht, so denke ich nur an den armen kleinen Ed-
gardo: Er wurde unwissentlich in eine Welt hineingeboren, die
vom religiösen Geist beherrscht war, geriet unschuldig ins
Kreuzfeuer und wurde durch eine gut gemeinte Tat, die aber
für ein kleines Kind eine entsetzliche Grausamkeit bedeutete,
praktisch zum Waisen.
An vierter Stelle - um das Thema fortzusetzen - steht die
Annahme, man könne überhaupt zu Recht behaupten, dass ein
sechsjähriges Kind eine Religion hat, sei es nun die jüdische, die
christliche oder irgendeine andere. Um es anders zu formulie-
ren: Die Vorstellung, die Taufe eines unwissenden Kindes, das
nichts versteht, könne es mit einem Schlag von einer Religion
in eine andere befördern, erscheint absurd - aber sie ist sicher
nicht absurder, als wenn man einem kleinen Kind überhaupt
das Etikett einer bestimmten Religion aufdrückt. Für Edgardo
war nicht »seine« Religion von Bedeutung (er war so klein, dass
er überhaupt keine durchdachten religiösen Meinungen haben
konnte), sondern die Liebe und Zuwendung seiner Eltern und
Angehörigen, und die wurden ihm von zölibatären Priestern
geraubt, deren groteske Grausamkeit nur durch ihre völlige
Unsensibilität gegenüber normalen menschlichen Gefühlen
abgemildert wurde - eine Unsensibilität, die sich nur allzu
leicht einstellt, wenn ein Geist vom religiösen Glauben beses-
sen ist.
Aber ist es nicht auch ohne körperliche Entführung immer
eine Form der Kindesmisshandlung, wenn man behauptet, die
Kinder besäßen einen Glauben, über den sie mit ihrem gerin-
437
Br
gen Alter überhaupt nicht nachgedacht haben können? Den-
noch ist genau das bis heute üblich, und es wird fast nie infrage
gestellt. Es zu hinterfragen ist in diesem Kapitel mein wichtigs-
tes Anliegen.
Körperlicheund seelischeMisshandlung
438
einen grauenhaften, sexuell motivierten Mord an einem acht-
jährigen entführten Mädchen gegeben hatte. Dennoch ist es
eindeutig ungerecht, an allen Pädophilen auf eine Art Rache zu
nehmen, die nur für die winzige Minderheit der Mörder ange-
messen wäre. An allen drei Internaten, die ich besucht habe,
waren Lehrer beschäftigt, deren Zuneigung zu kleinen Jungen
eindeutig über die Grenzen des Anstandes hinausging. Das war
tatsächlich zu verurteilen. Wären sie aber 50 Jahre später von
Rächern oder Rechtsanwälten wie Kindesmörder verfolgt wor-
den, hätte ich mich verpflichtet gefühlt, sie zu verteidigen, ob-
wohl ich selbst in einem Fall das Opfer war (ein peinliches, an-
sonsten aber harmloses Erlebnis).
Die katholische Kirche hat im Rückblick eine große Bürde
an derartiger Schmach zu tragen. Ich mag die katholische Kir-
che aus allen möglichen Gründen nicht, aber noch weniger
mag ich Ungerechtigkeit, und deshalb muss ich mich einfach
fragen, ob diese eine Institution, insbesondere in Irland und den
Vereinigten Staaten, im Zusammenhang mit diesem Thema
nicht auf ungerechte Weise dämonisiert wurde. Meiner Mei-
nung nach richtet sich der Widerwille der Öffentlichkeit nicht
zuletzt gegen die Heuchelei von Priestern, die sich beruflich
vorwiegend damit beschäftigen, Schuldgefühle wegen »Sün-
den« zu wecken. Hinzu kommt der Vertrauensmissbrauch durch
eine Autoritätsperson, die zu verehren dem Kind von der
Wiege an anerzogen wurde. Ein solcher verstärkter Widerwille
sollte uns umso mehr dazu mahnen, nicht vorschnell zu urtei-
len. Wir sollten uns einfach bewusst sein, dass unser Geist über
eine bemerkenswerte Fähigkeit verfügt, falsche Erinnerungen
zusammenzubrauen, zumal wenn wir von skrupellosen Thera-
peuten und geldgierigen Anwälten noch dazu angestiftet wer-
den. Mit großem Mut und trotz boshafter Lobbyarbeit konnte
die Psychologin Elizabeth Loftus zeigen, wie leicht Menschen
sich völlig falsche Erinnerungen ausdenken, die ihnen, wenn sie
Opfer sind, allerdings ebenso real erscheinen wie echte Erleb-
439
er
nisse.!”! Weil dieser Sachverhalt unserer Intuition massiv wi-
derspricht, lassen sich Geschworene nur allzu leicht von auf-
richtigen, aber falschen Zeugenaussagen einwickeln.
Speziell in Irland kennt man, auch ohne sexuellen Miss-
brauch, die legendäre Brutalität der Christian Brothers, die
dort lange für die Erziehung eines beträchtlichen Teils der
männlichen Bevölkerung verantwortlich waren.'”? Das Glei-
che kann man über die häufig sadistisch grausamen Nonnen sa-
gen, die in Irland viele Mädchenschulen leiteten. Die berüch-
tigten Magdalenen-Heime, die Peter Mullan zum Thema seines
Films The Magdalene Sisters (Die unbarmherzigen Schwestern)
machte, gab es noch bis 1996. Doch nach vier Jahrzehnten ist
Schadenersatz für Prügel schwerer zu bekommen als für sexu-
elle Zärtlichkeiten, und es besteht kein Mangel an Anwälten,
die sich aktiv um Geschäfte mit Opfern bemühen, obwohl
diese sich ansonsten über die entfernte Vergangenheit keinerlei
Gedanken mehr gemacht hätten. Die längst vergangene Fum-
melei in der Sakristei ist eine Goldgrube - in vielen Fällen ist sie
so lange her, dass der angebliche Täter wahrscheinlich tot ist
und die Geschichte nicht mehr aus seiner Sicht erzählen kann.
Die katholische Kirche hat weltweit mehr als eine Milliarde
Dollar an Schadenersatz gezahlt.!” Man könnte fast Mitgefühl
mit ihr haben - allerdings nur so lange, bis man sich daran erin-
nert, woher das Geld ursprünglich stammt.
In der Diskussion nach einem Vortrag in Dublin wurde sch
einmal gefragt, was ich von den pressewirksamen Fällen sexu-
ellen Missbrauchs durch katholische Geistliche in Irland
hielte. Darauf erwiderte ich, sexueller Missbrauch sei zweifel-
los etwas Entsetzliches, aber der dadurch verursachte langfris-
tige psychische Schaden sei nachweislich geringer als der, den
eine katholische Erziehung anrichte. Die Bemerkung hatte ich
ad hoc aus dem Ärmel geschüttelt, aber zu meiner Überra-
schung erntete ich damit beim irischen Publikum (das zugege-
benermaßen aus Dubliner Intellektuellen bestand und ver-
440
mutlich für das Land als Ganzes nicht repräsentativ war) be-
geisterten Applaus. Dieser Vorfall fiel mir später wieder ein, als
ich einen Brief von einer über vierzigjährigen Amerikanerin
erhielt, die katholisch erzogen worden war. Wie sie mir be-
richtete, waren ihr im Alter von sieben Jahren zwei unange-
nehme Dinge widerfahren. Sie wurde von ihrem Gemeinde-
priester in seinem Auto sexuell missbraucht, und ungefähr zur
gleichen Zeit war eine kleine Schulfreundin, die auf tragische
Weise ums Leben gekommen war, zur Hölle gefahren, weil sie
Protestantin war. In diesem Glauben jedenfalls hatte man die
Briefschreiberin aufgrund der damaligen offiziellen Lehre ih-
rer elterlichen Kirche gelassen. Als Erwachsene stand sie ge-
genüber diesen beiden Fällen katholischer Kindesmisshand-
lung - die eine körperlich, die andere psychisch - auf dem
Standpunkt, dass die zweite bei weitem schlimmer gewesen
sei. Sie schrieb mir:
441
Angst einzujagen, zeigte angeblich auf einer Reise durch die
Schweiz einmal aus dem Autofenster und sagte: »Das ist der
beängstigendste Anblick, den ich jemals gesehen habe.« Es war
ein Priester, der sich mit einem kleinen Jungen unterhielt und
diesem dabei die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Hitchcock
beugte sich aus dem Autofenster und rief: »Lauf, kleiner Junge!
Lauf um dein Leben!«
»Knüppel und Steine brechen mir die Beine, doch Worte tun
mir niemals weh.« Dieses Sprichwort stimmt - allerdings nur,
solange man an die Worte nicht glaubt. Wenn jedoch unsere
ganze Erziehung und alles, was wir von Eltern, Lehrern und
Priestern je gehört haben, uns dazu veranlassen zu glauben -
wirklich zu glauben -, dass Sünder im Höllenfeuer brennen
(oder dass andere heimtückische Lehren stimmen, etwa die,
dass eine Frau Eigentum ihres Ehemannes sei), dann ist der Ge-
danke durchaus plausibel, dass Worte längerfristig größeren
Schaden anrichten als Taten. Nach meiner Überzeugung ist der
Ausdruck »Kindesmisshandlung« keine Übertreibung für das,
was Lehrer und Priester einem Kind antun, wenn sie es bei-
spielsweise in dem Glauben erziehen, ungebeichtete Todsün-
den würden mit dem ewigen Höllenfeuer bestraft.
In der bereits erwähnten Fernsehdokumentation Root ofAll
Evil? befragte ich eine Reihe von Religionsführern. Anschlie-
ßend wurde ich kritisiert, weil ich mir amerikanische Extremis-
ten ausgesucht hatte und keine angesehenen Vertreter aus der
Hauptrichtung der Religion, beispielsweise Erzbischöfe.*
Diese Kritik hört sich berechtigt an - nur ist das, was der
Außenwelt extremistisch erscheint, im Amerika des 21. Jahr-
hunderts bereits die Hauptrichtung. Zu den Interviewpart-
=
Ich hatte beim Erzbischof von Canterbury, beim Kardinalerzbischof von Westminster
und beim britischen Oberrabbiner wegen eines Interviews angefragt. Alle lehnten ab,
und das zweifellos aus gutem Grund. Der Bischof von Oxford willigte ein, und das
höchst angenehme Gespräch war ebenso wenig extremistisch, wie es bei den anderen
gewesen wäre.
442
nern, die dem britischen Fernsehpublikum am widerlichsten
vorkamen, gehörte beispielsweise Pastor Ted Haggard aus Co-
lorado Springs. In Bushs Amerika jedoch ist »Pastor Ted« kein
Extremist, sondern Präsident der National Association of Evan-
gelicals, die 30 Millionen Mitglieder hat, und eigenen Behaup-
tungen zufolge genießt er das Vorrecht, sich jeden Montag mit
Präsident Bush telefonisch beraten zu können. Hätte ich nach
heutigen amerikanischen Maßstäben echte Extremisten befra-
gen wollen, hätte ich mich an die »Rekonstruktionisten« wen-
den müssen, die sich mit ihrer »Dominion-Theologie« offen für
einen christlichen Gottesstaat in Amerika einsetzen. Ein be-
sorgter amerikanischer Kollege schrieb mir:
* Das Folgende hielt ich zunächst für eine Satire der Zeitschrift The Onion, aber es
ist offenbar ernst gemeint; vgl. www.talk2action.org/story/2006/5/29/195855/959
(1.4.2007). Es handelt sich um ein Computerspiel namens LeftBehind: Eternal Forces.
P. Z. Myers fasst es auf seiner hervorragenden Website »Pharyngula« so zusammen:
»Stellen Sie sich vor, Sie sind Fußsoldat in einer paramilitärischen Gruppierung, die
das Ziel hat, Amerika zu einem christlichen Gottesstaat umzugestalten und ihre irdi-
sche Vision von der Herrschaft Christi über alle anderen Lebensaspekte zu stellen ...
Sie haben den Auftrag - es ist ein religiöser und gleichzeitig militärischer Auftrag -,
alle Katholiken, Juden, Muslime, Buddhisten, Homosexuelle und alle, die sich für
die Trennung von Kirche und Staat einsetzen, zu bekehren oder umzubringen ...«
Vgl. http://scienceblogs.com/pharyngula/2006/05/gta_meet_lbef.php (1.4.2007);
eine Zusammenfassung findet sich unter http://select.nytimes.com/gst/abstract.
html?res=F1071FFD3C550C718CDDAA0894DE404482 (1.4.2007).
443
Ein weiterer Gesprächspartner in meinen Fernsehinterviews
war Pastor Keenan Roberts, der aus dem gleichen US-Bun-
desstaat - nämlich Colorado - stammte wie »Pastor Ted«. Pas-
tor Roberts pflegt eine besondere Art der Verrücktheit in
Form der »Höllenhäuser«, wie er sie nennt. In ein Höllen-
haus werden Kinder von ihren Eltern oder ihrer christli-
chen Schule gebracht, und dort macht man ihnen wahnsinnige
Angst vor dem, was nach dem Tod mit ihnen geschehen
kann. Schauspieler spielen in beängstigenden Szenen einzel-
ne »Sünden« wie Abtreibung und Homosexualität nach,
während ein scharlachrot gekleideter Satan schadenfroh zu-
sieht. Aber das alles ist nur das Vorspiel zur Glanznummer,
der Hölle selbst mit dem realistischen Geruch brennenden
Schwefels und den qualvollen Schreien der für immer Ver-
dammten.
Nachdem ich mir eine Probe angesehen hatte —der Teufel
war darin richtig schön diabolisch im kitschigen Stil des Böse-
wichts aus einem viktorianischen Melodram -, interviewte ich
Pastor Roberts in Gegenwart seiner Schauspieler. Er erklärte
mir, zwölf Jahre seien das beste Alter, in dem die Kinder das
Höllenhaus besuchen sollten. Ich war darüber ein wenig
schockiert und fragte ihn, ob es ihm keine Sorgen mache, dass
Zwölfjährige nach einer seiner Vorführungen Albträume be-
kommen könnten. Darauf erwiderte er - vermutlich aus ehr-
licher Überzeugung:
Mir ist etwas anderes wichtiger: Sie sollen begreifen, dass die
Hölle ein Ort ist, wohin sie auf keinen Fall kommen wollen.
Lieber erreiche ich sie mit dieser Botschaft im Alter von
zwölf Jahren, als dass ich sie damit überhaupt nicht erreiche
und sie dann ein Leben in Sünde führen und nie zum Herrn
Jesus Christus finden. Wenn sie wegen eines solchen Erleb-
nisses dann am Ende Alpträume haben, gibt es nach meiner
Überzeugung ein höheres Gut, das sie in ihrem Leben letzt-
444
lich erringen und erreichen, und das ist wichtiger als ein paar
Albträume.
445
feuer. Nach meiner Fernsehdokumentation über die Religion
erhielt ich neben vielen anderen Briefen auch den folgenden
von einer offensichtlich intelligenten, ehrlichen Frau:
Ich war von dem Brief sehr gerührt und antwortete (wobei ich
ein kurzfristiges, schändliches Bedauern darüber unterdrückte,
dass es für Nonnen keine Hölle gibt); ich schrieb ihr, sie solle
sich auf ihre Vernunft verlassen, denn diese sei ein großes
Geschenk, das sie - im Gegensatz zu Menschen, die weniger
Glück hatten - offensichtlich besitze. Ich äußerte die Ver-
mutung, Priester und Nonnen würden die Hölle deshalb so
extrem entsetzlich darstellen, weil sie einen Ausgleich für ihre
mangelnde Plausibilität schaffen wollten. Wäre die Hölle plau-
sibel, müsste sie nur mäßig unangenehm sein, um ihre Ab-
schreckungswirkung zu erzielen. Aber da ihre Existenz so un-
wahrscheinlich ist, muss man sie als besonders beängstigend
zeichnen, um einen Ausgleich für die fehlende Plausibilität zu
schaffen und ihr einen gewissen Abschreckungswert zu erhal-
446
ten. Außerdem stellte ich den Kontakt zu der erwähnten The-
rapeutin Jill Mytton her, einer reizenden, zutiefst aufrichtigen
Frau, die ich vor der Kamera befragt hatte. Jill war selbst in
einer ganz besonders anrüchigen Sekte namens Exclusive
Brethren aufgewachsen; die Gruppe war so unangenehm, dass
sogar eine ganze Website (www.peebs.net) sich mit der Für-
sorge für Menschen beschäftigt, die ihr entkommen sind.
Jill Mytton war mit der Angst vor der Hölle groß geworden
und hatte sich als Erwachsene vom Christentum abgewandt;
heute berät und therapiert sie andere, die in ihrer Kindheit
ähnlich traumatisiert wurden: »Wenn ich an meine Kindheit
zurückdenke, war Angst das beherrschende Element. Es war
die Angst vor Zurückweisung in der Gegenwart, aber auch vor
der ewigen Verdammnis. Für ein Kind sind Bilder von Höllen-
feuer und Zähneklappern sehr real. Sie haben nichts Metapho-
risches.«
Dann erkundigte ich mich, was man ihr als Kind nun tat-
sächlich über die Hölle erzählt hätte. Die Antwort bewegte
mich ebenso stark wie ihr Gesichtsausdruck während das lan-
gen Zögerns, bevor sie antwortete: »Es ist schon seltsam, oder?
Nach so langer Zeit kann es mich immer noch ... betroffen ma-
chen, ... wenn Sie ... wenn Sie mir diese Frage stellen. Die
Hölle ist ein schrecklicher Ort. Die völlige Zurückweisung
durch Gott. Die völlige Verurteilung. Da gibt es echtes Feuer,
echte Qualen, echte Foltern, und das geht immer so weiter und
es gibt kein Entrinnen.«
Im weiteren Verlauf erzählte sie mir, dass sie Selbsthilfe-
gruppen für Menschen leitet, die eine ähnliche Kindheit hinter
sich haben wie sie selbst. Ausführlich erklärte sie, wie schwer es
vielen Leuten fällt, so etwas hinter sich zu lassen: »Das Hinter-
sich-lassen ist außerordentlich schwierig. Man lässt ein ganzes
soziales Netzwerk zurück, ein ganzes System, in dem man
mehr oder weniger groß geworden ist, und ein Glaubenssys-
tem, von dem man jahrelang überzeugt war. Sehr oft lässt man
447
2a
auch Angehörige und Freunde zurück ... Für die existiert man
eigentlich nicht mehr.« Hier konnte ich meine eigenen Erfah-
rungen beisteuern —Briefe von Menschen in den Vereinigten
Staaten, die mir berichteten, wie sie meine Bücher gelesen und
anschließend ihre Religion aufgegeben hatten. Das Be-
drückende dabei: Viele erklärten, sie hätten es nicht gewagt, °
ihren Angehörigen etwas davon zu sagen; oder aber sie hätten
es der Familie gesagt und das habe schreckliche Folgen gehabt.
Das folgende Schreiben ist typisch. Es stammt von einem jun-
gen amerikanischen Medizinstudenten:
448
bens völlig verrückte Dinge tun. Vielen Dank, dass Sie mir
zugehört haben.
... als ich von meinem Büro im Hinterhof ins Haus ging,
wurde mir klar, dass da in meinem Kopf eine winzig kleine
leise Stimme sprach. Ich wusste nicht genau, wie lange sie
schon da war, aber plötzlich wurde sie einen Tacken lauter.
Sie flüsterte: »Es gibt keinen Gott.«
Ich wollte sie überhören. Aber da wurde sie wieder ein
bisschen lauter. »Es gibt keinen Gott. Es gibt keinen Gott.
Oh mein Gott, es gibt keinen Gott.« |... ]
Ich erschauderte. Es war ein Gefühl, als würde ich über
Bord fallen.
Dann dachte ich: »Aber ich kann das nicht. Ich weiß nicht,
ob ich es schaffe, nicht an Gott zu glauben. Ich brauche
Gott. Ich meine, wir haben doch eine Vergangenheit.« [...]
»Aber ich weiß nicht, wie man nicht an Gott glaubt. Ich
weiß nicht, wie man das macht. Wie steht man dann mor-
gens auf, wie kommt man durch den Tag?« Ich fühlte mich
unausgeglichen ...
449
ee
Dann dachte ich: »Na gut, immer mit der Ruhe. Setzen
wir mal kurz die Nicht-an-Gott-glauben-Brille auf, nur für
eine Minute. Setz die Kein-Gott-Brille auf, sieh dich kurz
um und nimm sie dann sofort wieder ab.« Also habe ich sie
aufgesetzt und mich umgeschaut.
Es ist mir peinlich, aber ich muss berichten, dass mir erst
einmal schwindelig wurde. Ich habe wirklich gedacht: »Wie
bleibt die Erde denn bloß da oben am Himmel? Sie meinen,
wir sausen einfach durch das Weltall? Das ist aber gefähr-
lich!« Ich wollte hinauslaufen und die Erde auffangen, wenn
sie aus dem Weltraum in meine Hände fiele.
Aber dann fiel mir ein: »Ach ja, Gravitation und Win-
kelimpuls sorgen dafür, dass wir vermutlich noch sehr, sehr
lange um die Sonne kreisen werden.«
Der erste Anruf von meiner Mutter bestand fast nur aus Ge-
schrei. »Atheistin? ATHEISTIN?!?1«
Dann rief mein Vater an und sagte: »Du hast deine Fami-
lie verraten, deine Schule, deine Heimatstadt.« Es war, als
hätte ich Staatsgeheimnisse an die Russen verkauft. Beide
erklärten, sie würden nicht mehr mit mir reden. Mein Vater
sagte: »Ich will nicht einmal, dass du zu meiner Beerdigung
kommst.« Nachdem ich aufgelegt hatte, dachte ich: »Ver-
sucht nur, mich aufzuhalten.«
450
Ich glaube, meine Eltern waren ein wenig enttäuscht, als ich
ihnen sagte, dass ich nicht mehr an Gott glaube, aber eine
Atheistin zu sein - das war etwas ganz anderes.
451
auf die Religion. Man stelle sich nur vor, was für ein Martyrium
es für intellektuell weniger gefestigte Menschen sein muss, die
durch Bildung und rhetorische Fähigkeiten nicht so gut gerüs-
tet sind wie diese beiden oder wie Julia Sweeney, und die dann
ihre Position gegenüber hartherzigen Angehörigen verteidigen
sollen. Solche Qualen durchlebten vermutlich viele von Jill
Myttons Patienten.
An einer früheren Stelle in unserem Fernsehgespräch hatte
Jill die beschriebene Form der religiösen Erziehung als geistige
Misshandlung bezeichnet, und auf diese Aussage kam ich spä-
ter mit folgenden Worten zurück: »Sie sprechen von religiöser
Misshandlung. Wenn Sie die Misshandlung, ein Kind mit einem
echten Glauben an die Hölle großzuziehen, in Relation setzen
sollten, wo steht sie Ihrer Ansicht nach, was die Traumatisie-
rung angeht, im Vergleich zu sexueller Misshandlung?« Darauf
erwiderte sie: »Das ist eine sehr schwierige Frage ... Ich glaube,
es gibt zwischen beidem große Ähnlichkeiten, denn in beiden
Fällen wird Vertrauen missbraucht; dem Kind wird das Recht
abgesprochen, sich frei und offen zu fühlen und normale Be-
ziehungen zu seiner Umwelt herzustellen. [...] Es ist eine
Form der Diffamierung; in beiden Fällen wird in gewisser
Weise das eigentliche Ich geleugnet.«
452
fekt. Dann warf er die Frage auf, ob Amnesty International -
der Nutznießer der Vortragsreihe, in deren Rahmen er auftrat —
einen Feldzug gegen verletzende oder schädliche Reden oder
Publikationen führen sollte. Er beantwortete die Frage selbst
mit einem klaren Nein gegenüber einer solchen allgemeinen
Zensur: »Die Meinungsfreiheit ist so kostbar, dass man nicht
damit herumspielen sollte.« Doch dann schockierte er sein
eigenes liberales Ich, indem er sich für die Zensur in einem
wichtigen Ausnahmefall einsetzte. Einzugreifen sei bei schwe-
ren Fehlentwicklungen in der ethischen und religiösen Erzie-
hung von Kindern,
453
Eine derart folgenschwere Aussage braucht natürlich eine um-
fassende Begründung, und die bekam sie auch. Ist es nicht eine
Frage der persönlichen Meinung, was Unsinn ist? Wurde nicht
auch die orthodoxe Naturwissenschaft so oft über den Haufen
geworfen, dass es uns zur Vorsicht mahnen sollte? Naturwis-
senschaftler halten es vielleicht für Unsinn, Astrologie oder den
wörtlichen Wahrheitsgehalt der Bibel zu lehren, aber andere
sind vom Gegenteil überzeugt, und haben nicht auch sie das
Recht, dies ihren Kindern beizubringen? Ist es nicht genauso
arrogant, wenn man darauf beharrt, Kinder sollten Naturwis-
senschaft lernen?
Ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie überzeugt
waren, man solle Kindern weniger beibringen, was sie denken,
als vielmehr, wie sie denken. Wenn sie sich auf faire, ordnungs-
gemäße Weise mit allen naturwissenschaftlichen Belegen be-
schäftigt haben, erwachsen werden und dann zu der Überzeu-
gung gelangen, die Bibel sei wortwörtlich wahr oder ihr Leben
werde von den Bewegungen der Planeten bestimmt, dann ist
dies ihr gutes Recht. Wichtig ist dabei, dass es ihr Recht ist,
selbst zu entscheiden, was sie denken wollen, und dass es nicht
das Recht der Eltern ist, es ihnen aufzuzwingen, nur weil sie die
Stärkeren sind. Besonders wichtig ist das natürlich, wenn man
bedenkt, dass die Kinder von heute die Eltern der nächsten Ge-
neration sind und dann möglicherweise jede Indoktrination,
die sie geprägt hat, wiederum weitergeben.
Solange Kinder klein, verletzlich und schutzbedürftig sind,
zeigt sich wahre moralische Obhut nach Humphreys Ansicht
darin, dass man sich ehrlich darum bemüht zu erraten, wie sie
sich selbst entscheiden würden, wenn sie dazu schon alt ge-
nug wären. Als bewegendes Beispiel nennt er das kleine In-
kamädchen, dessen 500 Jahre alte, tiefgefrorene Überreste
1995 in den Bergen von Peru gefunden wurden. Der Anthro-
pologe, der die Leiche entdeckte, bezeichnete sie als Opfer
eines Ritualmordes. Wie Humphrey berichtet, zeigte das
454
US-amerikanische Fernsehen eine Dokumentation über das
»Mädchen aus dem Eis«. Darin wurden die Zuschauer aufge-
fordert,
455
über die Inkapriester nach unseren Maßstäben und nicht nach
ihren eigenen fällen? Vielleicht war die Kleine ja verzückt und
glücklich über ihr Schicksal. Vielleicht glaubte sie wirklich, sie
werde sofort ins ewige Paradies eingehen, wo der Sonnengott
sie mit seiner strahlenden Gesellschaft wärmte. Vielleicht -
und das erscheint viel wahrscheinlicher - schrie sie aber auch
vor Entsetzen.
Humphrey - und mir - geht es allerdings um etwas anderes:
Ganz gleich, ob sie ein bereitwilliges Opfer war oder nicht, es
bestehen stichhaltige Gründe für die Annahme, dass sie sich
nicht bereitwillig geopfert hätte, wenn sie alle Tatsachen ge-
kannt hätte. Nehmen wir beispielsweise an, sie hätte gewusst,
dass die Sonne in Wirklichkeit eine Kugel aus Wasserstoff ist,
der heißer ist als eine Million Grad und der sich durch Kernfu-
sion in Helium verwandelt, und dass diese Kugel ursprünglich
aus einer Gas-Scheibe entstanden ist, aus der auch das übrige
Sonnensystem einschließlich der Erde hervorging ... Vermut-
lich hätte sie dann die Sonne nicht als Gott angebetet, und da-
mit hätte sich auch ihre Sichtweise in der Frage, ob sie diesen
Gott durch ihr Opfer besänftigen solle, geändert.
Den Inkapriestern kann man ihre Ignoranz nicht vorwerfen,
und man mag es für zu hart halten, sie als dumm und aufgebla-
sen zu bezeichnen. Aber man kann sie zu Recht beschuldigen,
dass sie ihre eigenen Überzeugungen einem Kind aufzwangen,
das zu jung war, um selbst zu entscheiden, ob es den Sonnen-
gott anbeten wollte oder nicht. Wie Humphrey außerdem be-
tont, kann man es den heutigen Dokumentarfilmmachern und
uns, ihrem Publikum, vorwerfen, dass sie und wir in dem Tod
des kleinen Mädchens etwas Schönes sehen - »etwas, das unsere
gemeinsame Kultur bereichert«.
Die gleiche Tendenz, wunderliche religiöse Gewohnheiten
einzelner ethnischer Gruppen zu glorifizieren und die in ihrem
Namen begangenen Grausamkeiten zu rechtfertigen, zeigt sich
immer und immer wieder. Sie wird zur Ursache quälender
456
Konflikte im Geist netter liberaler Menschen, die einerseits
Leiden und Grausamkeit nicht ertragen können, andererseits
aber von Postmodernisten und Relativisten darauf trainiert
wurden, andere Kulturen nicht weniger zu respektieren als ihre
eigene. Die Verstümmelung der Geschlechtsorgane von Frauen
(manchmal auch »Beschneidung« genannt) ist zweifellos
äußerst schmerzhaft, sie macht sexuelle Lust bei den Opfern
unmöglich (was vermutlich ihr eigentlicher Zweck ist), und die
eine Hälfte des anständigen liberalen Geistes will sie abschaf-
fen. Die andere Hälfte jedoch »respektiert« ethnische Kulturen
und glaubt, wir sollten nicht eingreifen, wenn »sie« »ihre«
Mädchen verstümmeln wollen.*
In Wirklichkeit sind »ihre« Mädchen natürlich eigenständige
Persönlichkeiten, und deren Wünsche sollte man nicht überge-
hen. Aber die Antwort kann auch schwieriger sein: Was ist,
wenn ein Mädchen selbst sagt, es wolle beschnitten werden?
Würde das Mädchen sich als umfassend informierte Erwach-
sene im Rückblick nicht vielleicht wünschen, es wäre nie ge-
schehen? Humphrey weist darauf hin, dass keine erwachsene
Frau, die der Beschneidung als Kind aus irgendeinem Grund
entgangen ist, die Operation später im Leben freiwillig auf sich
nimmt.
Ausführlich beschäftigt sich Humphrey auch mit den Ami-
schen (einer nach ihrem Begründer Jakob Amann benannten
mennonitischen Sekte) und deren Recht, »ihre eigenen« Kinder
auf »ihre eigene« Weise großzuziehen. Ätzend ist seine Kritik
an der Begeisterung unserer Gesellschaft
* Dies ist noch heute in Großbritannien regelmäßige Praxis. Wie ein leitender Beamter
der Schulbehörde mir berichtete, wurden Mädchen aus London auch 2006 zur Be-
schneidung zu einem »Onkel« nach Bradford geschickt. Die Behörden bleiben aus
Angst, »die Gemeinschaft« werde ihnen Rassismus vorwerfen, auf diesem Auge
blind.
457
BE,
für die Erhaltung der kulturellen Vielfalt. Nun gut, möchte
man vielleicht sagen, für ein Kind der Amischen oder der
Hasidim oder der Zigeuner ist es schon schwierig, wenn es
von seinen Eltern so erzogen wird —aber zumindest hat es
zur Folge, dass diese faszinierenden kulturellen Traditionen
erhalten bleiben. Würde nicht unsere ganze Zivilisation ver-
armen, wenn es sie nicht mehr gäbe? Vielleicht ist es eine
Schande, wenn einzelne geopfert werden müssen, damit -
eine solche Vielfalt bestehen bleibt. Aber so ist es nun ein-
mal: Es ist der Preis, den wir als Gesellschaft zahlen. Nur —
und ich fühle mich verpflichtet, daran zu erinnern: Nicht wir
zahlen diesen Preis, sondern sie.
458
Eltern in Wisconsin ihre Kinder nicht zur Highschool gehen
ließen. Schon der Gedanke an Ausbildung oberhalb eines be-
stimmten Alters verstieß gegen die religiösen Werte der Ami-
schen, und ganz besonders galt das für naturwissenschaftliche
Ausbildung. Der Bundesstaat Wisconsin verklagte die Eltern
und vertrat die Ansicht, den Kindern werde ihr Recht auf Bil-
dung verweigert. Der Fall ging durch alle Instanzen und er-
reichte schließlich den Supreme Court, der mit 6:1 Stimmen
zugunsten der Eltern entschied.!”® Die Mehrheitsmeinung des
Gerichts, niedergeschrieben vom Leitenden Richter Warren
Burger, enthielt folgende Passage: »Wie aus den Unterlagen
hervorgeht, birgt eine Schulpflicht bis zum sechzehnten Le-
bensjahr für Kinder der Amischen die echte Gefahr, dass die
Gemeinschaft und die religiöse Praxis der Amischen, wie sie
heute existieren, untergraben werden; sie müssten entweder
ihren Glauben aufgeben und sich in die Gesamtgesellschaft
einfügen, oder sie wären gezwungen, in eine andere, toleran-
tere Region abzuwandern.«
Richter William O. Douglas vertrat in seinem Minderheiten-
votum die Meinung, man hätte die Kinder selbst fragen sollen.
Wollten diese wirklich, dass ihre Schulzeit verkürzt wurde?
Wollten sie wirklich bei der Religion der Amischen verbleiben?
Nicholas Humphrey wäre sogar noch weiter gegangen. An-
genommen, man hätte die Kinder gefragt, und sie hätten ihre
Vorliebe für die Religion der Amischen bekundet: Können wir
davon ausgehen, dass sie dies auch getan hätten, wenn man sie
während ihrer Schulzeit über Alternativen informiert hätte?
Wenn eine solche Entscheidung plausibel wäre, sollte es dann
nicht auch junge Menschen aus der Außenwelt geben, die mit
den Füßen abstimmen und sich freiwillig den Amischen an-
schließen würden? Richter Douglas ging in einer etwas ande-
ren Richtung ebenfalls noch einen Schritt weiter: Er sah keinen
besonderen Anlass, gerade den religiösen Ansichten der Eltern
in der Entscheidung über die Frage, inwieweit sie ihren Kin-
459
dern die Bildung verweigern dürften, eine Sonderstellung ein-
zuräumen. Wenn die Religion ein Grund für Ausnahmen sei,
könnte es dann nicht auch säkulare Überzeugungen geben, die
ebenfalls ein solches Recht begründen?
Die Mehrheit des Obersten Gerichtshofes zog eine Parallele
zu manchen positiven Werten der Mönchsorden, von denen
man durchaus behaupten kann, dass sie für unsere Gesellschaft
eine Bereicherung darstellen. Aber wie Humphrey betont, be-
steht hier ein gravierender Unterschied: Mönche wählen aus
freien Stücken das Leben im Kloster. Die Kinder der Amischen
dagegen haben sich nie dafür entschieden, Amische zu sein; sie
wurden in die Gemeinschaft hineingeboren und hatten keine
andere Wahl.
Es hat schon etwas atemberaubend Anmaßendes und auch
Unmenschliches, wenn man Menschen, insbesondere Kinder,
auf dem Altar der »Vielfalt« und der wünschenswerten Erhal-
tung verschiedener religiöser Traditionen opfert. Wir anderen
freuen uns über Autos und Computer, Impfstoffe und Antibio-
tika, aber ihr seltsamen kleinen Leute mit euren Hauben und
Kniebundhosen, mit euren Pferdewagen, eurem altertümlichen
Dialekt und euren Plumpsklos, ihr bereichert unser Leben.
Natürlich muss es euch erlaubt sein, eure Kinder auf eurer
Zeitreise ins frühe 18. Jahrhundert bei euch festzuhalten, denn
sonst würde uns etwas Unwiederbringliches verloren gehen:
ein Teil der großartigen Vielfalt unserer menschlichen Kultur.
Ein kleiner Teil von mir kann erkennen, dass eine solche Argu-
mentation etwas für sich hat. Aber der größere Teil fühlt sich
dabei ausgesprochen unwohl.
Ein Erziehungsskandal
460
Abgeordneten Jenny Tonge antwortete und dabei rechtfertigen
sollte, warum eine Schule im Nordosten Englands, die (nahezu
als Einzige in Großbritannien) den wortwörtlichen biblischen
Kreationismus lehrt, staatliche Subventionen erhielt. Mr. Blair
erwiderte, es wäre ein Unglück, wenn Bedenken in dieser Frage
die Bemühungen beeinträchtigten, »ein möglichst vielfältiges
Schulsystem« zu erhalten.!”’ Die fragliche Schule, das Emma-
nuel College in Gateshead, ist eine der »City Academies«, die
von der Blair-Regierung im Rahmen einer stolzen Initiative ge-
gründet wurden. Reiche Wohltäter wurden und werden aufge-
fordert, einen relativ geringen Geldbetrag (im Fall des Emma-
nuel College zwei Millionen Pfund) bereitzustellen, der dann
durch eine wesentlich größere Summe aus Steuermitteln auf-
gestockt wird (20 Millionen Pfund für die Schule, dazu die lau-
fenden Betriebskosten und Gehälter); der Wohltäter erwirbt
sich damit das Recht, über das Ethos der Schule zu bestimmen,
die Mehrheit in der Schulverwaltung zu ernennen, Richtlinien
für Aufnahme und Ausschluss von Schülern aufzustellen, und
vieles andere mehr.
Der 10-Prozent-Wohltäter des Emmanuel College ist Sir Pe-
ter Vardy, ein wohlhabender Autohändler mit dem ehrenwer-
ten Wunsch, den heutigen Kindern die Ausbildung zu ermögli-
chen, die er selbst gern gehabt hätte. Weniger ehrenwert ist
dagegen sein Wunsch, ihnen auch seine persönlichen religiö-
sen Überzeugungen aufzudrücken.* Leider ließ sich Vardy mit
einer Clique amerikanisch inspirierter fundamentalistischer
Lehrer ein; ihr Kopf ist Nigel McQuoid, der früher das Emma-
nuel College leitete und heute Direktor einer ganzen Gruppe
von Vardy-Schulen ist. Das Niveau von McQuoids naturwis-
senschaftlichen Kenntnissen zeigt sich an seiner Überzeugung,
die Welt sei noch keine 10000 Jahre alt, sowie in folgendem Zi-
* H.L. Mencken bewies prophetische Qualitäten, als er schrieb: »Tief im Herzen jedes
Evangelisten liegt der Schiffbruch eines Autohändlers.«
461
tat: »Aber der Gedanke, dass wir uns einfach aus einem Knall
entwickelt haben, dass wir früher Affen waren, erscheint völlig
unglaublich, wenn man sich die Komplexität des menschlichen
Körpers ansieht. [...] Wenn man Kindern sagt, dass ihr Leben
kein Ziel hat - dass sie nur eine chemische Mutation sind -,
dann ist das nicht förderlich für ihr Selbstbewusstsein.«!”
Kein Naturwissenschaftler hat jemals behauptet, ein Kind
sei eine »chemische Mutation«. Diese Formulierung in einem
solchen Zusammenhang zu verwenden ist analphabetischer
Unsinn - auf der gleichen Stufe wie die Erklärungen des »Bi-
schofs«Wayne Malcolm, Leiter der Christian-Life-City-Kirche
in Hackney im Osten Londons, der nach einem Bericht des
Guardian vom 18. April 2006 »die wissenschaftlichen Belege
für die Evolution infrage stellt«. Wie viel Malcolm von den Be-
legen versteht, die er infrage stellt, kann man aus folgender
Aussage schließen: »In den Fossilfunden fehlen eindeutig die
Zwischenstufen der Entwicklung. Wenn ein Frosch sich in ei-
nen Affen verwandelt hat, sollte es dann nicht eine Menge Fraf-
fen geben?« |
Nun ja, auch Mr. McQuoid hat nicht Naturwissenschaften
studiert, also sollten wir uns fairnesshalber an den Leiter seiner
naturwissenschaftlichen Abteilung halten, Stephen Layfield.
Dieser hielt am 21. September 2001 am Emmanuel College
einen Vortrag mit dem Thema »Naturwissenschaftlicher Un-
terricht: Eine biblische Perspektive«. Der Text des Vortrages
wurde auf der christlichen Website www.christian.org.uk ver-
öffentlicht. Dort findet man ihn heute allerdings nicht mehr.
Das Christian Institute entfernte ihn einen Tag, nachdem ich
am 18. März 2002 in der Zeitung Daily Telegraph darauf auf-
merksam gemacht und ihn einer kritischen Analyse unterzogen
hatte.!°° Indes, etwas dauerhaft aus dem World Wide Web zu
entfernen ist schwierig. Suchmaschinen sind unter anderem
deshalb so schnell, weil sie Informationsspeicher anlegen, und
diese bleiben zwangsläufig noch eine gewisse Zeit erhalten,
462
wenn die Originale bereits nicht mehr vorhanden sind. Andrew
Brown, ein aufmerksamer britischer Journalist, der erste Kor-
respondent für religiöse Fragen beim Independent, machte den
Layfield-Vortrag ausfindig, lud ihn aus dem Google-Cache he-
runter und sicherte ihn durch Veröffentlichung auf seiner eige-
nen Website http://www.darwinwars.com/lunatic/liars/layfield.
html. Schon die Kennzeichnung, die Brown für diese Internet-
adresse wählte, ist eine unterhaltsame Lektüre. Betrachtet man
allerdings den Inhalt des Vortrags selbst, so wirkt sie durchaus
nicht mehr lustig.
Übrigens: Als ein neugieriger Leser an das Emmanuel Col-
lege schrieb und sich erkundigte, warum man den Vortrag von
der Website entfernt habe, erhielt er von der Schule die fol-
gende hinterhältige Antwort, die wiederum von Andrew
Brown festgehalten wurde:
463
verbergen hatte. Der folgende Absatz stammt vom Anfang des
Vortrages:
Stellen wir also von vornherein klar, dass wir eine Vorstellung
ablehnen, die - vielleicht unabsichtlich - im 17. Jahrhundert
von Francis Bacon populär gemacht wurde, dass es nämlich
»Zwei Bücher« (das Buch der Natur und die Heilige Schrift)
gebe, in denen man unabhängig voneinander nach Wahrheit
suchen könne. Wir stehen vielmehr fest zu der einfachen
Überzeugung, dass Gott auf den Seiten der Heiligen Schrift
maßgeblich und unfehlbar gesprochen hat. So angreifbar,
altmodisch oder naiv diese Aussage speziell einer ungläubi-
gen, fernsehtrunkenen modernen Kultur auch erscheinen
mag: Wir können sicher sein, dass sie ein Fundament dar-
stellt, wie man kein festeres legen und darauf aufbauen
kann.
464
ris über die Geologie der Sintflut vertraut zu machen.« Ja,
»Geologie der Sintflut« bedeutet genau das, was man darunter
versteht. Es geht um die Arche Noah. Die Arche Noah! - wo
die Kinder doch so atemberaubende Tatsachen lernen könnten
wie die, dass Afrika und Südamerika früher einmal verbunden
waren und dann mit der Geschwindigkeit, mit der Fingernägel
wachsen, auseinandergerissen wurden.
Lesen wir doch noch ein wenig mehr von Layfield (dem
Fachleiter für Naturwissenschaften) über die Sintflut als
schnelle Erklärung aus jüngerer Zeit für Phänomene, die sich
nach den wirklichen geologischen Befunden nur im Laufe vie-
ler hundert Millionen Jahre abspielen konnten:
In gewisserWeise ist das sogar noch schlimmer als die zuvor zi-
tierten Äußerungen von Nichtswissern wie Nigel McQuoid
465
ee
oder Bischof Wayne Malcolm. Denn Layfield hat eine natur-
wissenschaftliche Ausbildung. Eine weitere erstaunliche Pas-
sage lautet:
466
vielleicht einen klitzekleinen Mangel haben - doch auf diese
Idee kam Mr. Blair offensichtlich nicht.
Der vielleicht beunruhigendste Teil von Stephen Layfields
Vortrag ist der letzte Absatz mit der Überschrift »Was ist zu
tun?« Darin beschreibt er, welche Taktik Lehrer anwenden sol-
len, wenn sie fundamentalistisch-christliche Lehren im natur-
wissenschaftlichen Unterricht behandeln wollen. Er fordert die
Lehrer beispielsweise auf,
Der Rest von Layfields Vortrag ist nichts anderes als ein Propa-
gandahandbuch, ein Nachschlagewerk für religiöse Biologie-,
Chemie- und Physiklehrer, die im Rahmen des staatlich vorge-
gebenen Lehrplans die evidenzbasierte naturwissenschaftliche
Ausbildung unterlaufen und durch biblische Lehren ersetzen
wollen.
Am 15. April 2006 interviewte James Naughtie, einer der er-
fahrensten Nachrichtenmoderatoren der BBC, Sir Peter Vardy
in einer Rundfunksendung. Hauptthema des Gesprächs war
die polizeiliche Untersuchung eines von Vardy bestrittenen
Vorwurfes, die Blair-Regierung habe reiche Männer mit der
Verleihung von Adelstiteln bestechen wollen, damit sie Geld
für das System der City Academies zur Verfügung stellten.
Naughtie erkundigte sich bei Vardy auch nach dem Kreationis-
mus, und dieser leugnete kategorisch, dass das Emmanuel Col-
467
lege seinen Schülern den Jungerde-Kreationismus beibringe.
Doch ebenso kategorisch erklärte Peter French, ein früherer
Schüler der Institution:!°? »Uns wurde beigebracht, dass die
Erde 6000 Jahre alt ist.«* Wer sagt hier die Wahrheit? Nun,
wir wissen es nicht, aber Stephen Layfield legt in seinem Vor-
trag recht freimütig dar, wie er sich den naturwissenschaftli-
chen Unterricht vorstellt. Hat Vardy dieses sehr offenherzige
Manifest nie gelesen? Weiß er wirklich nicht, welche Ziele
sein naturwissenschaftlicher Fachleiter verfolgt? Peter Vardy
hat sein Geld mit dem Verkauf von Autos verdient. Würden
wir von ihm ein Fahrzeug kaufen? Und würden wir ihm wie
Tony Blair eine Schule zu 10 Prozent ihres Preises überlas-
sen —mit dem Angebot, alle laufenden Kosten zu überneh-
men, als Zugabe? Wir wollen nachsichtig sein mit Blair und
annehmen, dass er zumindest den Vortrag von Layfield nicht
gelesen hat. Aber es wäre wohl auch übertrieben, darauf zu
hoffen, dass er sich der Sache wenigstens jetzt annehmen
werde.
Schulleiter McQuoid formulierte eine Verteidigung für das,
was er sicher für die Aufgeschlossenheit seiner Schule hält; da-
raus spricht eine bemerkenswerte väterliche Herablassung:
Das beste Beispiel dafür, wie es hier zugeht, ist ein Vortrag
über Philosophie, den ich in der sechsten Klasse hielt. Sha-
quille saß da und sagte: »Der Koran ist richtig und wahr.«
Und Clare da drüben sagte: »Nein, die Bibel ist wahr.« Also
sprachen wir über die Ähnlichkeiten zwischen ihren Über-
zeugungen und über die Stellen, an denen sie unterschiedli-
cher Meinung sind. Wir kamen darin überein, dass nicht
beide wahr sein können. Schließlich sagte ich: »Tut mir leid,
Shaquille, du hast Unrecht, die Bibel ist wahr.« Und er sagte:
* Um zu verdeutlichen, wie falsch diese Aussage ist: Sie entspricht der Behauptung,
die Entfernung von New York nach San Francisco betrage etwa sieben Meter.
468
»Tut mir leid, Mr. McQuoid, Sie haben Unrecht, der Koran
ist wahr.« Dann gingen sie zum Mittagessen und setzten dort
die Diskussion fort. Genau das wollen wir. Wir wollen, dass
Kinder wissen, warum sie dies und nichts anderes glauben,
und dass sie es verteidigen können. !®
Was für ein reizendes Bild! Shaquille und Clare gehen ge-
meinsam zum Mittagessen, diskutieren leidenschaftlich über
ihre Ansichten und verteidigen ihre unvereinbaren Überzeu-
gungen. Aber ist es wirklich so reizend? Hat Mr. McQuoid
hier nicht in Wirklichkeit ein beklagenswertes Bild gezeich-
net? Worauf gründen Shaquille und Clare letztlich ihre
Argumente? Welche vernünftigen Begründungen können sie
in ihrer leidenschaftlichen, konstruktiven Diskussion an-
führen? Clare und Shaquille versichern sich einfach gegen-
seitig, das eine oder andere heilige Buch sei überlegen, und
das war’s. Mehr sagen sie offensichtlich nicht, und mehr kann
man auch nicht sagen, wenn man gelernt hat, dass Wahr-
heit nicht aus Belegen erwächst, sondern aus einer Schrift.
Beide wurden von ihrer Schule im Stich gelassen, und ihr
Schulleiter misshandelte zwar nicht ihren Körper, aber ihren
Geist.
469
Liebenswürdig? Herzerfrischend? Nein, nichts davon; es ist
grotesk. Wie können anständige Menschen es für richtig hal-
ten, vierjährige Kinder mit den Ansichten ihrer Eltern über
Kosmos und Theologie zu etikettieren? Stellen wir uns einmal
ein ähnliches Foto vor, dessen Unterschrift lautet: »Shadbreet
(Keynesianer), Musharaff (Monetarist) und Adele (Marxis-
tin), alle vier Jahre alt.« Wären dann die wütenden Protest-
briefe nicht vorprogrammiert? Sie sollten es jedenfalls sein.
Aber wegen der eigenartig privilegierten Stellung der Reli-
gion hörte man keinen Mucks, und ebenso still ist es auch bei
allen anderen ähnlichen Gelegenheiten. Man stelle sich vor,
welchen Aufschrei die Bildunterschrift »Shadbreet (Atheist),
Musharaff (Agnostiker) und Adele (säkulare Humanistin),
alle vier Jahre alt« ausgelöst hätte. Hätte man nicht vielleicht
sogar eine Untersuchung gegen die Eltern eingeleitet, um
festzustellen, ob sie überhaupt in der Lage sind, Kinder groß-
zuziehen?
Bei uns in Großbritannien, wo es keine verfassungsmäßige
Trennung von Staat und Kirche gibt, schwimmen atheistische
Eltern in der Regel mit dem Strom und lassen ihren Kindern in
der Schule jede Religion beibringen, die in der jeweiligen Kul-
tur gerade die Oberhand hat. »The-Brights.net« (eine amerika-
nische Initiative, die Atheisten in »Brights« umbenennt, wie es
den Homosexuellen mit dem Begriff »Gays« gelungen ist) ach-
tet genau darauf, unter welchen Bedingungen sie Kinder als
Mitglieder aufnimmt: »Die Entscheidung, ein Bright zu sein,
muss vom Kind kommen. Ein Junge oder Mädchen, dem man
sagt, er oder sie müsse oder solle ein Bright werden, kann KEIN
Bright sein.« Kann man sich auch nur ansatzweise eine Kirche
oder Moschee vorstellen, in der eine solche Regel verkündet
wird? Aber sollte man sie nicht eigentlich zwingen, genau das
zu tun?
Nebenbei bemerkt: Ich bin Mitglied der Brights geworden,
unter anderem weil ich wirklich neugierig war, ob man ein sol-
470
ches Wort memetisch in der Sprache installieren kann. Ebenso
wüsste ich sehr gern, ob der Bedeutungswandel von »gay«be-
wusst herbeigeführt wurde oder sich von selbst eingestellt
hat.!°* Die Brights-Kampagne kam nur unter Schwierigkeiten
in Gang, weil einige Atheisten sie aus Angst, man könne sie als
»arrogant« brandmarken, nachdrücklich verteufelten. Dagegen
leidet die Schwulenbewegung glücklicherweise nicht an einer
solchen falschen Bescheidenheit, und das dürfte der Grund
sein, warum sie Erfolg hatte.
In einem vorangegangenen Kapitel habe ich mich allgemein
mit dem Thema der »Bewusstseinserweiterung« befasst und
dabei zunächst darauf hingewiesen, welche Leistung die Femi-
nistinnen vollbracht haben: Heute zucken wir zusammen,
wenn wir Formulierungen wie »Männer guten Willens« an
Stelle von »Menschen guten Willens« hören. Ich möchte hier
das Bewusstsein in anderer Hinsicht erweitern. Ich meine, wir
sollten jedes Mal protestieren, wenn ein Kind so etikettiert
wird, als gehörte es zu dieser oder jener Religion. Kleine Kinder
können noch nicht selbst entscheiden, welche Ansichten sie
über den Ursprung des Kosmos, das Leben oder moralische
Prinzipien haben. Bei einer Formulierung wie »christliches
Kind« oder »muslimisches Kind« sollte es uns eigentlich kalt
den Rücken herunterlaufen.
Der folgende Bericht wurde am 3. September 2001 in der
Sendung »Irish Aires« des amerikanischen Radiosenders KPFT-
FM ausgestrahlt:
471
RER:
den Reihen der Protestierenden zur Schule gehen konnten.
Die Loyalisten höhnten und schrieen »sektiererische Miss-
handlung«, als die Kinder, manche davon erst vier Jahre alt,
von ihren Eltern zur Schule begleitet wurden. Als Kinder
und Eltern durch die Eingangstür der Schule traten, warfen
die Loyalisten mit Flaschen und Steinen.
472
Eltern«, wird ihm sofort klar, dass es Religion annehmen - oder
ablehnen —kann, wenn es alt genug dazu ist.
Man kann sogar mit gutem Grund die Ansicht vertreten,
dass es für die Bildung von Nutzen ist, wenn Religionen im
Schulunterricht verglichen werden. Ich selbst bekam meine
ersten Zweifel ungefähr mit neun Jahren, als ich (nicht in der
Schule, sondern von meinen Eltern) erfuhr, die christliche Re-
ligion, mit der ich aufgewachsen war, sei nur eines von vielen
einander ausschließenden Glaubenssystemen. Dies wissen
auch die Religionsvertreter selbst, und es macht ihnen häufig
Angst. Nach dem Bericht des Independent über das Krippen-
spiel wandte sich kein einziger Leserbrief gegen die religiöse
Etikettierung der Vierjährigen. Der einzige negative Brief
stammte von der »Campaign for Real Education«; deren Spre-
cher Nick Seaton erklärte, multireligiöser Unterricht sei höchst
gefährlich, weil »die Kinder heutzutage lernen, dass alle Reli-
gionen den gleichen Wert haben, und das bedeutet, dass ihre
eigene keinen besonderen Wert mehr hat«. Ja, es stimmt: Ge-
nau das bedeutet es. Es kann gut sein, dass dieser Sprecher
darüber besorgt ist. Denn bei einer anderen Gelegenheit sagte
derselbe Mann: »Alle Glaubensrichtungen als gleichermaßen
gültig darzustellen ist falsch. Jeder hat das Recht, seinen Glau-
ben gegenüber den anderen für überlegen zu halten, sei er nun
Hindu, Jude, Muslim oder Christ —welchen Sinn hat es sonst
überhaupt, einen Glauben zu haben?«
"Genau. Welchen Sinn hat das? Und welch leicht durch-
schaubarer Unsinn ist das! Natürlich sind die genannten Glau-
bensrichtungen untereinander nicht vereinbar. Welchen Sinn
hätte es sonst, den eigenen Glauben für überlegen zu halten?
Die meisten Glaubensrichtungen können also nicht »den an-
deren überlegen« sein. Lasst die Kinder etwas über unter-
schiedliche Glaubensrichtungen lernen, lasst sie selbst mer-
ken, dass verschiedene Religionen unvereinbar sind, und lasst
sie aus den Folgen dieser Unvereinbarkeit ihre eigenen Schluss-
473
folgerungen ziehen. Und was die Frage angeht, ob eine davon
»gültig« ist: Lasst sie selbst entscheiden, wenn sie alt genug
dazu sind.
Eines muss ich allerdings zugeben: Selbst ich bin ein wenig er-
schrocken darüber, wie wenig die Menschen, die einige Jahr-
zehnte später als ich erzogen wurden, über die Bibel wissen.
Vielleicht hat es auch überhaupt nichts mit den Jahrzehnten
zu tun. Wie Robert Hinde in seinem gedankenreichen Buch
Why Gods Persist („Warum die Götter so hartnäckig sind«) be-
richtet, gelangte eine Gallup-Umfrage in den Vereinigten Staa-
ten schon 1954 zu interessanten Ergebnissen: Drei Viertel aller
Katholiken und Protestanten konnten keinen einzigen Prophe-
ten aus dem Alten Testament benennen. Mehr als zwei Drittel
wussten nicht, wer die Bergpredigt gehalten hatte. Eine be-
trächtliche Anzahl der Befragten hielt Mose für einen der zwölf
Jünger Jesu. Wohlgemerkt, das war in den Vereinigten Staaten,
die deutlich stärker religiös orientiert sind als andere Industrie-
länder.
Die King-James-Bibel von 1611 - die so genannte Autho-
rized Version —enthält Passagen von herausragendem |literari-
schem Wert, zum Beispiel das Hohelied Salomos und den er-
habenen Prediger Salomo (der, wie man mir gesagt hat, auch
im originalen Hebräisch sehr gut ist). Aber dass die Bibel ein
Teil unserer Bildung sein muss, liegt nicht in erster Linie daran,
dass sie eine wichtige Quelle der literarischen Kultur darstellt.
Das Gleiche gilt auch für die Sagen über die griechischen und
römischen Götter, die wir kennen lernen, ohne dass man uns
aufforderte, daran zu glauben. Die folgende, schnell zusam-
mengestellte Liste enthält biblische oder von der Bibel inspi-
‚rierte Redewendungen und Sätze, die in Literatur und Um-
474
gangssprache häufig vorkommen; dabei reicht das Spektrum
von großer Dichtung bis zum abgedroschenen Klischee, vom
Sprichwort bis zum Tratsch.
475
für mich ist, ist gegen mich; salomonisches Urteil; auf un-
fruchtbaren Boden fallen; der Prophet gilt nichts im eigenen
Land; die Krumen vom Tisch der Reichen; Zeichen der Zeit;
Räuberhöhle; Pharisäer; Kriege und Kriegsgeschrei; die
Schafe von den Böcken scheiden; die Hände in Unschuld
waschen; der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht
der Mensch für den Sabbat; lasset die Kinder zu mir kom-
men; das Scherflein der Witwe; Arzt, hilf dir selbst; barm-
herziger Samariter; Früchte des Zorns; verirrtes Schaf; ver-
lorener Sohn; ich bin nicht wert, deine Schuhbänder aufzu-
knüpfen; den ersten Stein werfen; mehr hat nie ein Mensch
geliebt; der ungläubige Thomas; sein Damaskus erleben;
Glaube, Liebe, Hoffnung; Tod, wo ist dein Stachel?; ein Sta-
chel im Fleisch; vom Glauben abfallen; schnöder Mammon;
die Wurzel allen Übels; den guten Kampf kämpfen; alles
Fleisch ist wie Gras; das Aund O; Armageddon; De Profun-
dis (Aus der Tiefe, Herr); Quo Vadis; es regnet auf Gerechte
und Ungerechte.
Die Freude am Witz ist allerdings nur halb so groß, wenn man
die Anspielung auf Matthäus 5,45 nicht versteht (»Denn er
lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt reg-
476
nen über Gerechte und Ungerechte.«). Und die hübsche Pointe
von Eliza Doolittles Fantasie in My Fair Lady würde jedem
entgehen, der das Ende von Johannes dem Täufer nicht kennt:
477
Bible Literacy Report (der zugegebenermaßen von der berüch-
tigten Templeton Foundation finanziert wird) nennt viele Bei-
spiele und beruft sich auf die einhellige Meinung der Fachleute
für englische Literatur, wonach Bibelkenntnisse für ein umfas-
sendes Verständnis ihres Fachgebiets unentbehrlich sind.!°®
Das Gleiche gilt zweifellos für die französische, deutsche, rus-
sische, italienische und spanische Literatur sowie für die Werke
anderer großer europäischer Kulturnationen. Für jene, die in
den arabischen oder indischen Sprachen zu Hause sind, dürf-
ten Kenntnisse des Korans oder der Bhagavad-Gita ebenso un-
entbehrlich sein, wenn sie ihr literarisches Erbe in vollem Um-
fang erfassen wollen. Und um die Liste abzurunden: Man kann
Wagner (dessen Musik einer witzigen Formulierung zufolge
besser ist, als sie klingt) nicht in vollem Umfang schätzen, ohne
über die nordischen Götter Bescheid zu wissen.
Ich möchte das Thema hier nicht weiter vertiefen. Mit mei-
nen Ausführungen habe ich vermutlich zumindest meine älte-
ren Leser davon überzeugt, dass eine atheistische Weltan-
schauung keine Rechtfertigung ist, um die Bibel und andere
heilige Bücher aus unserem Bildungswesen zu verbannen. Und
natürlich können wir uns eine gewisse sentimentale Loyalität
zu den kulturellen und literarischen Traditionen beispielsweise
des Judentums, der anglikanischen Religion oder des Islam be-
wahren, ja wir können sogar an Trauungen, Beerdigungen und
anderen religiösen Ritualen teilnehmen, ohne uns den Glauben
an Übernatürliches zu Eigen zu machen, der sich historisch mit
diesen Traditionen verbindet. Wir können den Glauben an
Gott aufgeben, ohne den Kontakt zu einem wertvollen kultu-
rellen Erbe zu verlieren.
478
Eine notwendige Lücke?
Was kann erschütternder sein als durch ein 2,5-Meter-Teleskop
auf eine weit entfernte Galaxie zu blicken, ein 100 Millionen Jahre altes Fossil
oder ein 500.000 Jahre altes Steinwerkzeug in der Hand zu halten,
vor der gewaltigen räumlichen und zeitlichen Kluft zu stehen,
die der Grand Canyon ist, oder einem Wissenschaftler zuzuhören,
der der Erschaffung des Universums ins Gesicht gesehen hat
und nicht zurückgewichenist? Das ist tiefgründige,heiligeWissenschaft.
Michael Shermer
* Entweder ist das Buch notwendig oder die Lücke. Das Wortspiel wird dem New Yor-
ker Professor Moses Hadas (1900-1966) zugeschrieben.
479
Wissenschaft vielleicht? Mit Kunst? Mit zwischenmenschli-
chen Beziehungen? Mit Humanismus? Mit der Liebe zu diesem
Leben in der wirklichen Welt, weil wir ein anderes Leben jen-
seits des Grabes für nicht glaubhaft halten? Mit Liebe zur
Natur, oder mit Biophilie, wie es der große Insektenforscher
E.O. Wilson nannte?
Die Religion hat, wie man verschiedentlich meinte, im Le-
ben der Menschen vier wichtige Funktionen zu erfüllen: Er-
klärung, Ermahnung, Trost und Inspiration. Historisch betrach-
tet, strebte die Religion danach, unser eigenes Dasein und das
Wesen des Universums, in dem wir uns befinden, zu erklären.
In dieser Rolle wurde sie mittlerweile vollständig von der Na-
turwissenschaft verdrängt - ein Thema, mit dem ich mich im
vierten Kapitel befasst habe. Mit Ermahnung meine ich ethi-
sche Anweisungen, wie wir uns verhalten sollen —-damit habe
ich mich in den Kapiteln 6 und 7 befasst. Trost und Inspiration
habe ich bisher nicht angemessen berücksichtigt, darum werde
ich mich in diesem letzten Kapitel kurz damit beschäftigen.
Als Vorbereitung zum Thema des Trostes möchte ich das
Kindheitsphänomen des »Fantasiefreundes« betrachten, das
nach meiner Überzeugung in enger Verbindung zum religiösen
Glauben steht.
Binker
Ich hab 'nen Freund, den keiner kennt; Binker nenn ich ihn,
Binker ist der Grund dafür, dass ich nie einsam bin.
Ob ich auf der Treppe sitze, ob ich übe am Klavier
480
Oder spiel im Kinderzimmer, Binker, der ist stets bei mir.
Mein Papa ist wahrhaftig ein sehr gescheiter Mann,
Und eine bessre Mama niemand sich wünschen kann,
Und Nanny ist die Nanny, und ich sag zu ihr Nann -
Doch keiner von den dreien kann
Ihn sehn, den
Binker.
Binker ist wie ein Löwe kühn, lauf ich mit ihm in den Park,
Und wenn ich nachts im Dunkeln lieg, ist er wie 'n Tiger
stark.
Und keiner kann so gut wie er mir zum Beschützer taugen.
Er weint niemals, außer er kriegt mal Seife in die Augen.
Mein Papa ist der beste Papa und Ehemann,
Und Mama ist die beste Ma, die man sich wünschen kann,
Und Nanny ist die Nanny, und ich sag zu ihr Nann -
Doch keiner von den dreien kann
So sein wie
Binker.
481
Binker ist nicht verfressen, er isst nur gerne viel;
Drum sag ich, wenn Miss Maggie mir ein Bonbon schenken
will:
»Binker will auch ein Bonbon. Ich brauch zwei Bonbons,
Miss.«
Und dann ess ich sie beide auf, und er schont sein Gebiss.
Den Papa hab ich schrecklich lieb, nur ist er nie zu Haus,
Die Mami hab ich auch sehr lieb, nur geht sie manchmal aus.
Mit Nanny hab ich öfter Streit, die will mich immer kämmen.
Nur Binker lässt mich nie allein; der weiß sich zu beneh-
men.!”
482
Thema für die Forschung. Gefährte und Vertrauter, ein Binker
fürs Leben, das ist sicher eine der Rollen, die Gott spielt - und
an dieser Stelle würde eine Lücke klaffen, wenn es Gott nicht
mehr gäbe.
Ein anderes Kind, ein Mädchen, hatte einen »kleinen lila
Mann«, der ihr wirklich und sichtbar anwesend zu sein schien
und der mit einem leisen Klingeln funkelnd aus Luft Gestalt
gewann. Er besuchte sie regelmäßig, besonders wenn sie sich
einsam fühlte; aber je älter sie wurde, desto seltener geschah
es. An einem bestimmten Tag, kurz bevor sie in den Kinder-
garten kam, suchte der kleine lila Mann sie auf, nachdem er
sich mit seinem üblichen Klingeln angekündigt hatte, und er-
klärte, er werde sie von jetzt an nicht mehr besuchen. Da-
rüber war sie sehr traurig, aber der kleine lila Mann sagte,
sie sei jetzt schon groß und werde ihn in Zukunft nicht
mehr brauchen. Er müsse sie jetzt verlassen, damit er sich
um andere Kinder kümmern könne. Allerdings versprach er,
er werde wiederkommen, wenn sie ihn wirklich brauche.
Tatsächlich erschien er ihr viele Jahre später in einem Traum,
und zwar zu einer Zeit, als sie eine persönliche Krise durch-
machte und sich entscheiden musste, was sie mit ihrem Leben
anfangen wollte. Die Tür ihres Schlafzimmers öffnete sich,
ein ganzer Wagen voller Bücher tauchte auf, und geschoben
wurde er von ... dem kleinen lila Mann. Dies interpretierte
sie als Empfehlung, zur Universität zu gehen - ein Ratschlag,
den sie annahm und der sich später nach ihrem eigenen Ur-
teil als gut erwies. Die Geschichte rührt mich fast zu Tränen
und lässt mich vielleicht besser als alles andere verstehen,
warum imaginäre Götter im Leben mancher Menschen eine
derart tröstende, beratende Funktion erfüllen. Ein Wesen exis-
tiert nur in der Fantasie, aber es erscheint dem Kind dennoch
vollständig real, kann echten Trost spenden und gibt gute Rat-
schläge. Und was vielleicht noch besser ist: Imaginäre Freun-
de - und imaginäre Götter —haben die Zeit und Geduld, ihre
483
usE
ganze Aufmerksamkeit dem Betroffenen zu widmen. Außer-
dem sind sie viel billiger als Psychiater oder professionelle
Berater.
Haben sich die Götter in ihrer Rolle als Tröster und Berater
durch eine Art psychologische »Pädomorphose« aus Gestalten
wie Binker entwickelt? Pädomorphose bedeutet, dass kindli-
che Eigenschaften im Erwachsenenalter erhalten bleiben. Peki-
nesenhunde haben ein pädomorphes Gesicht: Das ausgewach-
sene Tier sieht aus wie das Junge. Aus der Evolution ist diese
Gesetzmäßigkeit gut bekannt, und sie gilt allgemein als wichtig
für die Entwicklung typisch menschlicher Merkmale wie unse-
rer gewölbten Stirn und des kurzen Unterkiefers. Evolutions-
forscher haben uns als jugendliche Menschenaffen bezeichnet,
und tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass junge Schimpansen
und Gorillas menschenähnlicher aussehen als ihre erwachse-
nen Artgenossen.
Könnten die Religionen sich in der Evolution ursprünglich
dadurch entwickelt haben, dass der Zeitpunkt im Leben, zu
dem die Kinder ihre Binker aufgaben, sich im Laufe der Gene-
rationen immer weiter nach hinten verschob, genau wie sich
auch die Abflachung der Stirn und die Entwicklung des vorste-
henden Kiefers immer stärker verlangsamten?
Der Vollständigkeit halber sollten wir wohl auch die umge-
kehrte Möglichkeit untersuchen. Haben sich die Götter viel-
leicht nicht aus ursprünglichen Fantasiefreunden wie Binker,
sondern diese aus zuvor bereits vorhandenen Göttern ent-
wickelt? Diese Variante kommt mir weniger wahrscheinlich
vor. Ich musste allerdings darüber nachdenken, als ich das Buch
The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral
Mind (Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammen-
bruch der bikameralen Psyche) des amerikanischen Psychologen
Julian Jaynes gelesen hatte. Es ist so seltsam, wie der Titel an-
deutet, und gehört eindeutig zu den Büchern, die entweder ba-
rer Unsinn oder das Werk eines Genies sind, aber nichts dazwi-
484
schen! Vermutlich trifft die erste Möglichkeit zu, aber meine
Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen.
Jaynes stellt fest, dass viele Menschen ihre eigenen Gedan-
kenprozesse als eine Art Dialog zwischen dem »Ich« und einer
anderen, im Kopf angesiedelten Person wahrnehmen. Heute
wissen wir, dass beide »Stimmen« zu uns gehören - und wenn
wir das nicht bemerken, behandelt man uns als Geisteskranke.
So erging es etwa Evelyn Waugh für kurze Zeit. Waugh, der nie
ein Blatt vor den Mund nahm, sagte einmal zu einem Freund:
»Ich hab dich ja so lange nicht gesehen, aber ich hab überhaupt
kaum Leute gesehen, ich war nämlich - wusstest du das? - ver-
rückt.« Nach seiner Genesung schrieb er einen Roman mit dem
Titel The Ordeal of Gilbert Pinfold (Gilbert Pinfolds Höllen-
fahrt); darin schilderte er diese Phase der Halluzinationen und
die Stimmen, die er gehört hatte.
Nach Jaynes’ Vermutung waren sich die Menschen noch um
1000 v. Chr. in der Regel nicht bewusst, dass die zweite Stim-
me - die Stimme des Gilbert Pinfold - aus ihrem eigenen Inneren
kam. Sie hielten die Pinfold-Stimme für einen Gott, beispiels-
weise für Apollo, Astarte oder Jahwe, oder auch - wahrschein-
licher noch - für einen kleinen Hausgott, der ihnen Ratschläge
oder Anweisungen erteilte. Jaynes lokalisierte die Stimmen der
Götter sogar in der Gehirnhälfte, die dem Gehirnareal mit dem
Sprachzentrum für die hörbare Sprache gegenüberliegt. Der
»Zusammenbruch der bikameralen Psyche« war für Jaynes so-
mit ein Wandel von historischer Dimension. Es war jener his-
torische Augenblick, als den Menschen klar wurde, dass Stim-
men, die sie von außen zu hören glaubten, in Wirklichkeit aus
ihrem Inneren kamen. Jaynes geht sogar so weit, diesen histori-
schen Übergang als Beginn des menschlichen Bewusstseins zu
bezeichnen.
Eine antike ägyptische Inschrift spricht von dem Schöpfer-
gott Ptah und bezeichnet die verschiedenen anderen Götter als
Abwandlungen von Ptahs »Stimme« oder »Zunge«. Moderne
485
Übersetzungen verwerfen die buchstäbliche »Stimme« und in-
terpretieren die anderen Götter als »objektivierte Begrifflich-
keiten seines [Ptahs] Geistes«. Jaynes lehnt eine solche übertra-
gene Lesart ab und nimmt stattdessen die wörtliche Bedeutung
ernst. Die Götter waren demnach Halluzinationen von Stim-
men, die im Kopf der Menschen sprachen. Außerdem äußert
Jaynes die Vermutung, solche Götter könnten sich aus der Er-
innerung an tote Könige entwickelt haben, die auf eine gewisse
Weise zu ihren Untertanen sprachen und damit als imaginäre
Stimme die Macht über sie behielten. Ob man diese These nun
plausibel findet oder nicht, das Buch von Jaynes ist in jedem
Fall so faszinierend, dass es eine Erwähnung in einem Buch
über Religion verdient hat.
Kommen wir nun zurück zu der Möglichkeit, im Rückgriff
auf Jaynes eine Theorie zu konstruieren, wonach Götter und
Fantasiefreunde wie Binker entwicklungsgeschichtlich verwandt
sind —und zwar genau andersherum, als es die Theorie der
Pädomorphose annimmt. Dies läuft auf die Vermutung hinaus,
dass der Zusammenbruch der bikameralen Psyche in der
Geschichte kein plötzliches Ereignis war, sondern dass der
Augenblick, in dem die eingebildeten Stimmen und Erschei-
nungen nicht mehr als real wahrgenommen werden, sich in ein
immer früheres Stadium der Kindheit verlagerte. Nach dieser
Umkehr der Pädomorphose-Hypothese verschwanden die ein-
gebildeten Götter zunächst aus dem Geist der Erwachsenen,
und dann zogen sie sich immer weiter in die Kindheit zurück,
sodass sie sich heute nur noch in Phänomenen wie Binker oder
dem kleinen lila Männchen erhalten haben. Allerdings wirft
diese Version der Theorie das Problem auf, dass sie nicht er-
klärt, warum Götter bis heute im Geist von Erwachsenen vor-
kommen.
Vielleicht ist es darum besser, Götter nicht als Vorläufer der
Binker-Gestalten oder umgekehrt anzusehen, sondern beide
als Nebenprodukte der gleichen psychischen Disposition zu
486
deuten. Götter und Fantasiefreunde haben beide die Fähigkeit
zu trösten, und sie geben eine ausgezeichnete Bühne ab für das
Ausprobieren von Ideen. Damit sind wir nicht mehr weit von
der im fünften Kapitel beschriebenen Theorie entfernt, wo-
nach die Religion in der Evolution ein psychologisches Neben-
produkt war.
Trost
Jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns mit einer wichtigen Funk-
tion Gottes beschäftigen: Er tröstet uns, und wenn er nicht
existieren sollte, stehen wir vor der humanitären Herausforde-
rung, etwas anderes an seine Stelle setzen zu müssen. Viele
Menschen räumen ein, dass Gott vermutlich nicht existiert
und dass er auch für die Ethik nicht nötig ist, aber dann prä-
sentieren sie das, was sie für eine Trumpfkarte halten: das
angebliche psychologische oder emotionale Bedürfnis nach
einem Gott. Trotzig fragen sie: Wenn man die Religion weg-
nimmt, was tritt dann an ihre Stelle? Was haben wir den ster-
benden Patienten anzubieten, den weinenden Hinterbliebe-
nen, den einsamen Eleanor Rigbys, für die Gott der einzige
Freund ist?
Die erste Antwort darauf sollte eigentlich überflüssig sein.
Dass Religion die Fähigkeit hat, zu trösten, macht sie nicht
wahrer. Selbst wenn wir ein gewaltiges Zugeständnis machen;
wenn wir schlüssig nachweisen, dass der Glaube an die Exis-
tenz Gottes für das psychische und emotionale Wohlbefinden
der Menschen völlig unentbehrlich ist; selbst wenn alle Atheis-
ten verzweifelte Neurotiker wären, die von einer erbarmungs-
losen kosmischen Angst in den Selbstmord getrieben würden -
selbst dann wäre das alles nicht der Hauch eines Beleges dafür,
dass religiöser Glaube der Wahrheit entspricht. Es könnte al-
lerdings ein Beleg dafür sein, dass es wünschenswert ist, sich
487
selbst von der Existenz Gottes zu überzeugen, obwohl er nicht
existiert.
Wie bereits erwähnt, unterscheidet Dan Dennett in Brea-
king the Spell: Religion as aNatural Phenomenon (»Die Durch-
brechung des Zaubers: Religion als natürliches Phänomen«)
zwischen dem Glauben an Gott und dem Glauben an den
Glauben. Man hält es für wünschenswert, zu glauben, selbst
wenn der Glaube als solcher falsch ist: »Herr, ich glaube; hilf
meinem Unglauben« (Markus 9,24). Die Gläubigen werden
aufgefordert, ihren Glauben zu bekennen, ganz gleich, ob sie
davon überzeugt sind oder nicht. Vielleicht muss man etwas
nur oft genug wiederholen, um sich irgendwann davon zu
überzeugen, dass es die Wahrheit ist. Sicher kennt jeder von
uns andere Menschen, die Gefallen an der Vorstellung von reli-
giösem Glauben finden und Angriffe darauf abwehren,
während sie gleichzeitig widerwillig einräumen, dass sie selbst
keinen Glauben haben. Ich war ein wenig schockiert, als ich
folgendes Musterbeispiel bei meinem wissenschaftlichen Vor-
bild Peter Medawar fand, der 1984 schrieb: »Ich bedaure sehr,
dass ich nicht an Gott und an religiöse Antworten im Allge-
meinen glaube, weil es meiner Überzeugung nach vielen Trost-
bedürftigen Zufriedenheit und Trost verschaffen würde, wenn
wir gute wissenschaftliche und philosophische Gründe für den
Glauben an Gott finden könnten.«!®
Seit ich Dennetts Unterscheidung kenne, finde ich sie ei vie-
len Gelegenheiten immer wieder bestätigt. Es ist wohl kaum
eine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass die Mehrzahl der
Atheisten in meinem Bekanntenkreis ihre Überzeugung hinter
einer frommen Fassade verbirgt. Sie glauben selbst nicht an
irgendetwas Übernatürliches, haben aber nach wie vor eine un-
bestimmte Schwäche für irrationale Überzeugungen. Sie glau-
ben an den Glauben. Es ist verblüffend, wie viele Menschen an-
scheinend den Unterschied zwischen »X ist wahr« und »Es ist
wünschenswert, dass die Menschen X für wahr halten« nicht
488
kennen. Vielleicht fallen sie auf den logischen Fehler auch
nicht wirklich herein, sondern halten die Wahrheit im Ver-
gleich zu den Gefühlen der Menschen einfach für unwichtig.
Ich möchte menschliche Gefühle nicht herabwürdigen, aber in
jedem Gespräch sollte klar sein, wovon die Rede ist: von Ge-
fühlen oder von der Wahrheit. Beide können wichtig sein, aber
es sind zwei unterschiedliche Dinge.
Ohnehin war mein hypothetisches Zugeständnis hergeholt
und falsch. Denn ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass
Atheisten im Allgemeinen zu unglücklicher, angstbesetzter
Verzweiflung neigen. Manche Atheisten sind glücklich. An-
dere fühlen sich entsetzlich. Auch manche Christen, Juden,
Muslime, Hindus und Buddhisten fühlen sich entsetzlich,
während andere glücklich sind. Es mag statistische Befunde
zum Zusammenhang zwischen Glücklichsein und Glauben
(oder Unglauben) geben, aber dass man daraus in der einen
oder anderen Richtung einen starken Effekt ablesen kann, be-
zweifle ich. Interessanter ist für mich die Frage, ob es einen
stichhaltigen Grund gibt, sich deprimiert zu fühlen, wenn
man ohne Gott lebt. Am Ende dieses Buches werde ich ge-
nau die gegenteilige Ansicht vertreten: Die Aussage, man
könne auch ohne übernatürliche Religion ein glückliches, er-
fülltes Leben führen, ist eine Untertreibung. Zunächst jedoch
muss ich die Behauptung untersuchen, dass die Religion Trost
biete.
Trost ist nach der Definition des Shorter Oxford Dictionary
die Linderung von Kummer oder psychischem Schmerz. Ich
möchte zwei Arten von Trost unterscheiden.
489
Es,
es in seine starken Arme schließt und ihm beruhigende
Worte ins Ohr flüstert.
490
berichtet in seiner Jefferson-Biografie: »Als seine Tage zur
Neige gingen, schrieb Jefferson mehr als einmal an Freunde,
er sehe dem bevorstehenden Ende weder mit Hoffnung noch
mit Furcht entgegen. Das war das Gleiche, als hätte er un-
missverständlich erklärt, dass er kein Christ war.«
Ich glaube, dass ich verwesen werde, wenn ich sterbe, und
dass nichts von meinem Ego übrig bleibt. Ich bin nicht jung,
und ich liebe das Leben. Aber ich würde es verachten, bei
dem Gedanken an die Vernichtung vor Schrecken zu zittern.
Das Glück ist wahr, auch dann, wenn es ein Ende finden
muss, und auch das Denken und die Liebe verlieren nicht
ihren Wert, weil sie nicht ewig währen. So mancher Mann
hat auf dem Schafott eine stolze Haltung gezeigt, und der
gleiche Stolz sollte uns lehren, über die Stellung des Men-
schen in der Welt die Wahrheit zu denken. Selbst wenn uns
die offenen Fenster der Wissenschaft nach der gemütlichen
Wärme der traditionellen, vermenschlichenden Mythen
zunächst vor Kälte erschauern lassen, so macht uns die fri-
sche Luft am Ende stark, und die unermesslichen Weiten be-
sitzen eine eigene Großartigkeit.!””
Dieser Aufsatz von Russell war für mich eine große Anregung,
als ich ihn mit 16 Jahren in meiner Schulbibliothek las, aber
später hatte ich ihn vergessen. Möglicherweise zollte ich Rus-
sell unbewusst (und Darwin bewusst) Respekt, als ich 2003 in
A Devil’s Chaplain schrieb:
Es ist mehr als nur etwas Großartiges an dieser Sicht des Le-
bens, auch wenn sie manchmal düster und kalt zu sein
491
scheint, solange man unter der Schmusedecke des Unwis-
sens steckt. Man kann eine große Erfrischung daraus bezie-
hen, wenn man aufsteht und das Gesicht direkt in den star-
ken, schneidenden Wind des Verstehens hält: in Yeats’
»Wind, der zwischen den Sternen weht«.
492
lügenden Arzt. Die Lüge des Arztes wirkte nur so lange, bis die
Symptome nicht mehr zu übersehen sind. Wer an ein Leben
nach dem Tod glaubt, kann letztlich niemals desillusioniert
werden.
Umfragen zufolge glauben in den Vereinigten Staaten unge-
fähr 95 Prozent der Bevölkerung, sie würden nach dem Tod
weiterleben. Lassen wir ehrgeizige Märtyrer einmal beiseite.
Dann muss ich mich einfach fragen, welcher Anteil der
gemäßigt religiösen Menschen im tiefsten Inneren wirklich
daran glaubt. Angenommen, sie wären wirklich ehrlich: Müss-
ten sie sich dann nicht alle verhalten wie der Abt von Ample-
forth? Als Kardinal Basil Hume ihm sagte, er (der Kardinal)
liege im Sterben, war der Abt begeistert: »Herzlichen Glück-
wunsch! Das ist ja großartig. Am liebsten würde ich gleich mit-
kommen.«!”! Der Abt war anscheinend ehrlich gläubig. Aber
gerade weil das so selten ist und so unerwartet kommt, erregt
die Geschichte unsere Aufmerksamkeit und gibt fast Anlass
zur Belustigung —das Ganze erinnert an die Karikatur einer
splitternackten jungen Frau, die ein Transparent mit der Auf-
schrift »Make Love Not War« trägt und der ein Zuschauer zu-
ruft: »Das nenne ich wahre Überzeugung!«
Warum sagen nicht alle Christen und Muslime etwas Ähnli-
ches wie der Abt, wenn sie hören, dass ein Freund in Sterben
liegt? Wenn eine gläubige Frau vom Arzt erfährt, sie habe nur
"noch wenige Monate zu leben, warum strahlt sie dann nicht
vor Vorfreude, als ob sie gerade einen Urlaub auf den Seychel-
len gewonnen hätte? Warum ruft sie nicht: »Ich kann es gar
nicht mehr erwarten!«? Warum bombardieren die gläubigen
Besucher an ihrem Krankenbett sie nicht mit Nachrichten für
jene, die schon früher gegangen sind? »Grüß meinen Onkel
Robert von mir, wenn du ihn siehst ...«
Warum reden religiöse Menschen in Gegenwart von Ster-
benden nicht so? Könnte es sein, dass sie all das, was sie be-
haupten, in Wirklichkeit gar nicht glauben? Oder vielleicht
493
ae
glauben sie es, fürchten sich jedoch vor dem Vorgang des Ster-
bens. Dazu besteht durchaus Anlass angesichts der Tatsache,
dass unsere Spezies als Einzige nicht einfach zum Tierarzt ge-
hen darf, um sich schmerzlos aus dem Elend befreien zu lassen.
Aber wenn es so ist, warum kommt dann der lautstärkste Wi-
derstand gegen Sterbehilfe und Beihilfe zum Selbstmord aus
dem religiösen Lager? Würde man angesichts einer Todesvor-
stellung ä la »Abt von Ampleforth« oder »Urlaub auf den Sey-
chellen« nicht damit rechnen, dass religiöse Menschen am al-
lerwenigsten am irdischen Leben hängen? Verblüffenderweise
ist es anders: Wenn man jemanden trifft, der sich leidenschaft-
lich gegen Sterbehilfe oder Beihilfe zum Selbstmord aus-
spricht, kann man in der Regel darauf wetten, dass es sich um
einen religiösen Menschen handelt. Offiziell wird es damit be-
gründet, dass Töten eine Sünde ist. Indes, warum stuft man es
denn als Sünde ein, wenn man ehrlich glaubt, dass man damit
einem anderen zu einer schnelleren Reise in den Himmel ver-
hilft?
In der Frage nach der Beihilfe zum Selbstmord geht meine
Einstellung von der bereits zitierten Beobachtung von Mark
Twain aus. Tot zu sein ist nichts anderes, als wäre man gar
nicht geboren - ich werde mich dann im gleichen Zustand
befinden wie zur Zeit Williams des Eroberers, der Dinosau-
rier oder der Trilobiten. Und das ist nichts, wovor man Angst
haben müsste. Der Prozess des Sterbens indes kann je nach-
dem, wie viel Glück oder Pech man hat, schmerzhaft und
unangenehm sein —und wir haben uns daran gewöhnt, dass
wir uns vor solchen Erlebnissen mit einer Vollnarkose wie
bei einer Blinddarmoperation schützen können. Wer ein
Haustier unter Schmerzen sterben lässt, wird wegen Tier-
quälerei verurteilt, wenn er nicht zum Tierarzt geht und dem
Tier eine Narkose verabreichen lässt, aus der es nicht mehr
aufwacht. Erweist ein Arzt jedoch einem Menschen, der mit
großen Schmerzen im Sterben liegt, den gleichen barmher-
494
zigen Dienst, läuft er Gefahr, wegen Mordes angeklagt zu
werden.
Wenn ich sterbe, soll mir das Leben unter Vollnarkose he-
rausgenommen werden, als wäre es ein erkrankter Blinddarm.
Aber dieses Vorrecht wird mir nicht zuteil werden, denn ich
habe das Pech, dass ich als Angehöriger der Spezies Homo sapi-
ens zur Welt gekommen bin und nicht etwa als Hund (Canis fa-
miliaris) oder Hauskatze (Felis catus). Das gilt zumindest dann,
wenn ich nicht in ein aufgeklärteres Land wie die Schweiz, die
Niederlande oder den US-Staat Oregon ziehe. Warum gibt es
nur so wenige aufgeklärte Regionen? Vor allem weil die Reli-
gion so starken Einfluss hat.
Nun könnte man natürlich sagen: Ist es nicht ein großer Un-
terschied, ob einem der Blinddarm oder das Leben herausge-
nommen wird? Eigentlich nicht - jedenfalls dann nicht, wenn
man ohnehin sterben wird. Und auch dann nicht, wenn man
religiös ist und ehrlich an ein Leben nach dem Tode glaubt.
Wenn man diesen Glauben hat, ist das Sterben nur der Über-
gang von einem Leben in ein anderes. Und falls der Übergang
mit Schmerzen verbunden ist, sollte man ihn ebenso wenig
ohne Narkose vollziehen wollen wie eine Blinddarmoperation.
Naiverweise sollte man eher damit rechnen, dass wir, die wir
den Tod für etwas Endgültiges und nicht für einen Übergang
halten, uns gegen Sterbehilfe oder Beihilfe zum Selbstmord
wenden. Und doch sind gerade wir diejenigen, die sich dafür
aussprechen.*
* Eine Untersuchung der Frage, welche Einstellung amerikanische Atheisten zum Tod
haben, gelangte zu folgenden Ergebnissen: 50 Prozent wünschten sich eine Feier zur
Erinnerung an ihr Leben; 99 Prozent befürworteten den ärztlich unterstützten
Selbstmord für Menschen, die dies wollen, und 75 Prozent wünschten es sich für sich
selbst; den Kontakt mit Religionsvertretern unter dem Krankenhauspersonal lehn-
ten 100 Prozent der Befragten ab. Siehe http://nursestoner.com/myresearch.html
(1.4.2007).
495
Unter den gleichen Gesichtspunkten müssen wir uns auch
fragen, was wir mit der Beobachtung einer meiner Bekannten
anfangen sollen, einer älteren Frau, die ihr ganzes Leben lang
ein Altersheim geleitet hatte und mit dem Tod ganz und gar
vertraut war. Sie stellte im Laufe der Jahre fest, dass religiöse
Menschen meist die größte Angst vor dem Tod haben. Natür-
lich müsste man ihre Beobachtung statistisch untermauern,
aber nehmen wir einmal an, sie hätte Recht: Was ist da los? Was
auch immer die Ursache sein mag, spricht dies nicht nach-
drücklich dagegen, dass Religion in der Lage sei, Sterbende zu
trösten?* Liegt es im Fall der Katholiken vielleicht an der Angst
vor dem Fegefeuer? Der fromme Kardinal Hume verabschie-
dete sich von seinen Freunden mit folgenden Worten: »Nun
denn, lebt wohl. Ich nehme an, wir sehen uns im Fegefeuer
wieder.« Ich nehme an, dass in diesen freundlichen alten Augen
ein skeptisches Zwinkern war.
Die Lehre vom Fegefeuer offenbart auf groteske Weise, wie
die theologische Psyche funktioniert. Das Fegefeuer ist eine
Art göttliches Ellis Island, ein Wartezimmer der Unterwelt, in
das die toten Seelen geschickt werden, wenn ihre Sünden nicht
so schlimm waren, dass sie in die Hölle kommen müssten, aber
immer noch schlimm genug, dass sie ein wenig Überprüfung
und Reinigung brauchen, bevor sie in die sündenfreie Zone des
Himmels aufgenommen werden.** Im Mittelalter verkaufte
* Ein Bekannter aus Australien prägte für die Tendenz, dass der religiöse Glaube mit
dem Alter zunimmt, eine großartige Redewendung: »Futtern fürs Finale.«
** Das Fegefeuer ist nicht zu verwechseln mit der Vorhölle, in die Babys wandern, wenn
sie ungetauft sterben. Aber was ist mit abgetriebenen Föten? Mit Blastocysten? Erst
kürzlich hat Papst Benedikt XVI. mit dem üblichen überheblichen Selbstbewusst-
sein die Vorhölle abgeschafft. Heißt das, dass alle Babys, die seit Jahrhunderten dort
geschmort haben, nun plötzlich in den Himmel fliegen? Oder bleiben sie dort, und
nur die neu Hinzugekommenen entgehen der Vorhölle? Oder hatten frühere Päpste
trotz ihrer Unfehlbarkeit unrecht? Solcherart sind die Dinge, die wir »respektieren«
sollen.
496
die Kirche den »Ablass« für Geld. Das lief darauf hinaus, dass
man sich für eine bestimmte Anzahl von Tagen aus dem Fege-
feuer freikaufte, und die Kirche gab ganz buchstäblich (und
mit atemberaubender Anmaßung) unterschriebene Zertifikate
heraus, in denen die Zahl der freigekauften Tage genau be-
zeichnet war. Es ist, als wäre der Ausdruck »unrechtmäßig« spe-
ziell für die Einnahmen der katholischen Kirche erfunden wor-
den. Und unter allen ihren Methoden, durch Nepp an Geld zu
gelangen, ist der Ablasshandel sicher eine der größten Betrüge-
reien in der Geschichte, das mittelalterliche Gegenstück zum
nigerianischen Internetbetrug, aber mit weitaus größerem Er-
folg.
Noch 1903 konnte Papst Pius X. genau aufführen, wie viele
Tage Befreiung aus dem Fegefeuer die einzelnen Ränge der
Hierarchie vergeben durften: Kardinäle 200 Tage, Erzbischöfe
100 Tage, Bischöfe nur 50 Tage. Zu jener Zeit wurde der Ablass
allerdings bereits nicht mehr unmittelbar für Geld verkauft.
Selbst im Mittelalter war Geld nicht die einzige Währung, mit
der man sich die Entlassung aus dem Fegefeuer verschaffen
konnte. Man konnte auch mit Gebeten bezahlen, entweder in-
dem man selbst vor dem Tod betete oder indem andere für den
Toten beteten. Und mit Geld konnte man Gebete kaufen. Wer
reich war, konnte für alle Ewigkeit Vorsorge für die eigene
Seele treffen. Meine eigene Hochschule, das New College in
Oxford, wurde 1379 (damals war es wirklich neu) von einem
der großen Wohltäter jenes Jahrhunderts gegründet: von Wil-
liam of Wykeham, Bischof von Winchester. Ein mittelalterli-
cher Bischof konnte zum Bill Gates seiner Zeit werden. Er kont-
rollierte die Entsprechung zur Datenautobahn (die damals zu
Gott führte) und häufte ungeheure Reichtümer an. Seine Diö-
zese war besonders groß, und Wykeham nutzte Geld und Ein-
fluss, um zwei große Bildungseinrichtungen zu gründen, die
eine in Winchester, die andere in Oxford. Bildung war ihm
wichtig, aber in der offiziellen Geschichte des New College,
497
Byws
die 1979 zum sechshundertsten Gründungsjubiläum erschien,
wird als wichtigstes Ziel des College etwas anderes genannt: Es
war »eine große Kirche, in der Fürbittegebete für sein Seelen-
heil gesprochen werden sollten. Für den Dienst in der Kapelle
stellte er zehn Kapläne, drei Priester und 16 Chorknaben ab,
und er ordnete an, dass sie als Einzige in ihrer Stellung blei-
ben sollten, wenn die Einnahmen des Colleges zurückgingen.«
Wykeham übergab das New College an die Fellowship, ein
Gremium, das seine Mitglieder selbst wählt und mittlerweile
seit über 600 Jahren ununterbrochen als feste Körperschaft
existiert. Vermutlich vertraute er darauf, dass wir über Jahr-
hunderte hinweg weiterhin für seine Seele beten würden.
Heute hat das College nur einen Kaplan* und keine Priester
mehr, und der stetige, jahrhundertelange Sturzbach der Gebete
für Wykeham im Fegefeuer ist auf ein Rinnsal von zwei Gebe-
ten pro Jahr geschrumpft. Nur die Chorsänger stehen nach wie
vor in Saft und Kraft, und ihre Musik ist tatsächlich zauberhaft.
Selbst ich empfinde als Mitglied dieser Fellowship einen An-
flug von Schuldgefühlen wegen Vertrauensmissbrauchs.
Nach dem Verständnis seiner eigenen Zeit tat Wykeham das
Gleiche wie ein heutiger reicher Mann, der eine hohe Vor-
schusszahlung an ein Unternehmen leistet, das ihm garantiert,
es werde seine Leiche einfrieren und vor Erdbeben, inneren
Unruhen, Atomkrieg und anderen Gefahren schützen, bis die
medizinische Wissenschaft irgendwann in der Zukunft heraus-
gefunden hat, wie man ihn auftauen und die Krankheit, an der
er gestorben ist, heilen kann. Werden wir als spätere Fellows
des New College seinem Gründer gegenüber vertragsbrüchig?
Wenn es so ist, sind wir in guter Gesellschaft. Hunderte von
mittelalterlichen Wohltätern starben im Vertrauen darauf, dass
ihre Erben, die dafür gut bezahlt wurden, ihnen durch Gebete
* Und der ist auch noch weiblich - was hätte Bischof William wohl davon gehalten?
498
die Zeit im Fegefeuer verkürzen würden. Für mich stellt sich
unausweichlich die Frage, welcher Teil der mittelalterlichen
Kunst- und Architekturschätze in Europa ursprünglich Ab-
schlagszahlungen auf die Ewigkeit waren, für die heute die
Treuepflicht verletzt wird.
Was mich aber an der Lehre vom Fegefeuer am meisten fas-
ziniert, ist der Beleg, den die Theologen dafür nannten: Dieser
Beleg ist so ungeheuer schwach, dass das muntere Selbstver-
trauen, mit dem er vorgebracht wird, geradezu komisch wirkt.
Der Artikel der Catholic Encyclopedia über das Fegefeuer ent-
hält einen Abschnitt mit der Überschrift »Beweise«. Darin wird
als entscheidender Beleg für die Existenz des Fegefeuers Fol-
gendes angeführt: Wenn die Toten allein auf der Grundlage ih-
rer irdischen Sünden in den Himmel oder die Hölle wandern
würden, hätte es keinen Sinn, für sie zu beten. »Warum soll
man für die Verstorbenen beten, wenn man nicht daran glaubt,
dass Gebete die Macht haben, jenen, die bisher vom Antlitz
Gottes ausgeschlossen sind, Trost zu spenden?« Schließlich be-
ten wir doch für die Toten, oder? Also muss es ein Fegefeuer ge-
ben, sonst wären die Gebete sinnlos! Q.e.d. Dies ist, ganz im
Ernst, ein Beispiel dafür, was im theologischen Geist als ver-
nünftiges Denken durchgeht.
Der gleiche bemerkenswerte Trugschluss spiegelt sich in
größerem Maßstab auch in einer anderen häufigen Anwen-
dung des Tröstungsarguments. Sie lautet: Es muss einen Gott
geben, denn wenn er nicht existieren würde, wäre das Leben
leer, sinnlos, vergeblich, eine Wüste aus Sinn- und Bedeutungs-
losigkeit. Warum muss man überhaupt darauf hinweisen, dass
diese Logik schon über das erste Hindernis stolpert? Vielleicht
ist das Leben leer. Vielleicht sind unsere Gebete für die Toten
tatsächlich sinnlos. Doch wenn man das Gegenteil annimmt,
setzt man bereits die Wahrheit der Schlussfolgerung voraus, die
man überhaupt erst beweisen will. Der angebliche Beweis ist
ganz offenkundig ein Zirkelschluss.
499
Das Leben ohne die Ehefrau kann durchaus unerträglich,
öde und leer sein, aber das verhindert leider nicht, dass sie tot
ist. Die Annahme, jemand anders (bei Kindern die Eltern, bei
Erwachsenen Gott) habe die Aufgabe, unserem Leben Sinn
und Bedeutung zu geben, hat etwas Kindisches. Es ist die in-
fantile Haltung dessen, der mit dem Fuß umknickt und sofort
jemanden sucht, den er deswegen verklagen kann. Jemand an-
ders muss für mein Wohlergehen verantwortlich sein, und
wenn ich mir wehtue, ist ein anderer daran schuld. Steht die
gleiche infantile Haltung in Wirklichkeit nicht auch hinter dem
»Bedürfnis« nach einem Gott? Sind wir wieder bei Binker?
Die wirklich erwachsene Einstellung dagegen lautet: Unser
Leben ist so sinnvoll, so ausgefüllt und großartig, wie wir selbst
es gestalten. Und wir können es wirklich großartig gestalten.
Wenn Wissenschaft überhaupt einen nicht materiellen Trost
spenden kann, dann fließt er in mein letztes Thema ein: die In-
spiration.
Inspiration
500
lichkeit nie geboren wird. Für uns, die wir Glück haben und da
sind, habe ich die relativ kurze Dauer des Lebens mit einem
dünnen Scheinwerferstrahl verglichen, der an einem riesigen
Zeitmaßstab entlangkriecht. Vor und hinter dem Lichtpunkt
ist alles in die Dunkelheit der toten Vergangenheit oder in die
Dunkelheit der unbekannten Zukunft gehüllt. Wir haben un-
glaubliches Glück, dass wir uns gerade in diesem Scheinwer-
ferkegel befinden. Unsere Zeit in der Sonne mag kurz sein, aber
angenommen, wir vergeuden auch nur eine Sekunde davon
oder beschweren uns, sie sei düster, öde oder (wie für ein Kind)
langweilig: Kann man darin nicht eine kaltschnäuzige Beleidi-
gung gegenüber den Milliarden Ungeborenen sehen, die gar
nicht erst die Gelegenheit zum Leben bekommen haben?
Schon viele Atheisten haben es besser formuliert, als ich es
könnte: Das Wissen, dass wir nur ein Leben haben, macht die-
ses Leben umso kostbarer. Entsprechend lebensbejahend und
lebensbekräftigend ist die atheistische Weltanschauung, und
gleichzeitig ist sie nicht von Selbsttäuschung, Wunschdenken
oder dem weinerlichen Selbstmitleid jener gefärbt, die glau-
ben, das Leben sei ihnen etwas schuldig. Emily Dickinson hat
einmal gesagt:
501
ser Welt zu überleben..Die Simulationssoftware wurde durch
die natürliche Selektion konstruiert und von Fehlern befreit,
und am besten eignet sie sich für die Welt, die unseren Vorfah-
ren in der afrikanischen Savanne vertraut war: eine dreidimen-
sionale Welt aus Gegenständen mittlerer Größe, die sich im
Verhältnis zueinander mit mäßiger Geschwindigkeit bewegen.
Ein unerwarteter Zusatznutzen besteht darin, dass unser Ge-
hirn sehr leistungsfähig ist und sich auch auf ein Modell der
Welt einstellen kann, das viel reichhaltiger ist als die nützlich-
keitsorientierten Vorstellungen, die unsere Vorfahren zum
Überleben brauchten. Kunst und Wissenschaft sind Ausdrucks-
formen dieses Zusatznutzens, die sich verselbstständigt haben.
Ich möchte ein letztes Bild zeichnen und damit vermitteln, wie
gut die Naturwissenschaft unseren Geist öffnen und die Psyche
zufriedenstellen kann.
502
kürzesten Ende reicht. Wie schmal er wirklich ist, kann man
sich nur schwer vorstellen, und es zu erklären ist eine echte
Herausforderung. Stellen wir uns einmal eine riesige schwarze
Burka vor, deren Sehschlitz die übliche Breite von ungefähr
zweieinhalb Zentimetern hat. Wenn das kurze schwarze Stück
Stoff oberhalb des Schlitzes das kurzwellige Ende des unsicht-
baren Spektrums darstellt und das lange Stück Stoff unterhalb
des Schlitzes dem langwelligen Ende dieses Spektrums ent-
spricht, wie lang muss die Burka dann insgesamt sein, damit der
Sehschlitz im gleichen Maßstab die üblichen zweieinhalb Zen-
timeter breit ist? Die Längen, um die es hier geht, sind so ge-
waltig, dass man sie ohne Hinzuziehung logarithmischer Ska-
len kaum sinnvoll darstellen kann. Das letzte Kapitel eines
solchen Buches ist allerdings nicht der richtige Ort, um mit Lo-
garithmen um sich zu werfen. Aber glauben Sie mir: Es wäre
die Mutter aller Burkas. Das zweieinhalb Zentimeter breite
Fenster des sichtbaren Lichts ist lächerlich klein im Vergleich
zu den vielen Kilometern aus schwarzem Stoff, die den un-
sichtbaren Teil des Spektrums darstellen, von den Radiowellen
am unteren Saum bis zu den Gammastrahlen oben auf dem
Kopf. Die Naturwissenschaft tut uns den Gefallen, das Fenster
zu vergrößern. Sie öffnet es so weit, dass das Gefängnis aus
schwarzem Stoff fast völlig von uns abfällt und unseren Sinnen
eine luftige, heitere Freiheit verschafft.
Optische Teleskope suchen den Himmel mit Linsen und
Spiegeln aus Glas ab; die Sterne, die sie dabei sehen, geben zu-
fällig Strahlung in dem engen Wellenlängenbereich ab, den wir
als sichtbares Licht bezeichnen. Andere Teleskope »sehen« im
Bereich der Röntgenstrahlen oder Radiowellen und bieten uns
eine Fülle anderer Bilder des Nachthimmels. Im kleineren
Maßstab »sehen« auch Kameras mit speziellen Filtern im Ul-
traviolettbereich, und die mit ihnen aufgenommenen Fotos
zeigen Blüten mit fremdartigen Streifen- oder Fleckenmus-
tern, die für Insektenaugen sichtbar sind und offenbar für sie
503
»gestaltet« wurden, für unsere unbewaffneten Augen aber un-
sichtbar bleiben. Das Wellenlängenfenster der Insekten hat
eine ähnliche Größe wie unseres, ist aber in der Burka ein we-
nig nach oben verschoben: Insekten sind für rote Farben blind,
sehen dafür aber ein wenig weiter ins Ultraviolette hinein als
wir - in den »ultravioletten Garten«.*
Die Metapher des schmalen Lichtbandes, das sich zu einem
ungeheuer breiten Spektrum erweitert, ist auch in anderen Be-
reichen der Naturwissenschaft nützlich. Wir leben ungefähr in
der Mitte eines labyrinthartigen Museums der Größenordnun-
gen und sehen die Welt mit Sinnesorganen und einem Nerven-
system, die so ausgelegt sind, dass wir nur einen kleinen, mitt-
leren Größenbereich wahrnehmen und verstehen, und auch
das nur, wenn die betreffenden Objekte sich mit mittlerer Ge-
schwindigkeit bewegen. Wir sind vertraut mit Gegenständen in
der Größenordnung zwischen einigen Kilometern (der Blick
von einem Berggipfel) und einem Zehntelmillimeter (die
Spitze einer Stecknadel). Außerhalb dieses Bereichs ist sogar
unsere Fantasie mangelhaft: Wir müssen Instrumente oder die
Mathematik zu Hilfe nehmen, deren Anwendung wir glückli-
cherweise erlernen können. Der Bereich von Größen, Entfer-
nungen und Geschwindigkeiten, mit denen unsere Fantasie gut
zurechtkommt, ist nur ein winziger Ausschnitt inmitten eines
gewaltigen Spektrums der Möglichkeiten, von den quantenme-
chanischen Seltsamkeiten am unteren Ende bis zur Einstein’-
schen Kosmologie am oberen.
Für den Umgang mit Entfernungen außerhalb jenes mittle-
ren Bereichs, mit dem unsere Vorfahren vertraut waren, ist un-
sere Fantasie erbärmlich schlecht gerüstet. Wir stellen uns das
*
»The Ultraviolet Garden« war der Titel einer meiner fünf Weihnachtsvorlesungen bei
der Royal Institution, die ursprünglich von der BBC unter dem Gesamttitel »Growing
Up in the Universe« ausgestrahlt wurden. Die ganze Reihe mit allen fünf Titeln ist un-
ter www.richarddawkins.net/home auf DVD erhältlich.
504
Elektron als winzige Kugel vor, die um einen Klumpen aus
größeren Kugeln kreist, den Protonen und Neutronen. In Wirk-
lichkeit sieht das Ganze überhaupt nicht so aus. Elektronen
sind keine kleinen Kugeln. Sie gleichen keinem Gegenstand,
den wir kennen. Es ist nicht einmal klar, ob das Wort »gleichen«
überhaupt noch etwas bedeutet, wenn wir den Horizonten der
Realität näher kommen. Unsere Fantasie verfügt bisher nicht
über das Rüstzeug, um in die Nähe der Quanten vorzudringen.
In ihren Größenbereichen verhält nichts sich so, wie unsere in
der Evolution entstandene Denkweise es von Materie erwartet.
Ebenso wenig kommen wir mit dem Verhalten von Objekten
zurecht, die sich mit einem nennenswerten Bruchteil der
Lichtgeschwindigkeit bewegen. Hier lässt uns der gesunde
Menschenverstand im Stich, denn die Evolution des gesunden
Menschenverstandes hat sich in einer Welt abgespielt, in der
nichts sich besonders schnell bewegt und in der nichts beson-
ders groß oder klein ist.
Der große Biologe J.B.S. Haldane schrieb am Ende seines
Aufsatzes über »Possible Worlds« (»Mögliche Welten«): »Ich
selbst habe nun den Verdacht, dass das Universum nicht nur
seltsamer ist, als wir annehmen, sondern seltsamer, als wir
überhaupt annehmen können. [...] Ich vermute, dass es mehr
Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als sich irgendeine
Schulweisheit erträumt oder überhaupt erträumen kann.«
Übrigens fasziniert mich die Beobachtung, dass der berühmte
Hamlet-Ausspruch, auf den Haldane hier anspielt, in der Regel
falsch ausgesprochen wird. Die Betonung muss nämlich auf
»Eure« liegen:
505
PET
Skeptiker. Manche Fachleute indes legen das Schwergewicht
auf die »Schulweisheit«, während das »Eure« fast verschwindet:
»... als Eure Schulweisheit sich träumt«. In meinem Zusammen-
hang spielt der Unterschied keine große Rolle, nur berücksich-
tigt die zweite Interpretation bereits Haldanes »irgendeine
Schulweisheit«.
Douglas Adams, der Widmungsträger dieses Buches, ver-
diente sich seinen Lebensunterhalt damit, dass er die Seltsam-
keiten der Naturwissenschaft ins Komische zog. Der folgende
Absatz stammt aus demselben improvisierten, 1998 in Cam-
bridge gehaltenen Vortrag, aus dem ich bereits im ersten Kapi-
tel zitiert habe:
506
kas bis auf die Dicke eines menschlichen Haares genau voraus-
sagen könnte. Dieser Erfolg bei den Voraussagen bedeutet of-
fenbar, dass die Quantentheorie in irgendeinem Sinn wahr sein
muss —so wahr, wie wir es kennen, selbst wenn wir ganz pro-
saische, dem gesunden Menschenverstand entsprechende Tat-
sachen einschließen. Aber um ihre Voraussagen treffen zu kön-
nen, muss die Quantentheorie derart rätselhafte Annahmen
voraussetzen, dass selbst der große Feynman sich zu der Be-
merkung hinreißen ließ: »Wenn Sie glauben, Sie verstehen die
Quantentheorie ... dann verstehen Sie die Quantentheorie
nicht.« (Es gibt mehrere Versionen des Zitats, aber diese er-
scheint mir am prägnantesten.)*
Die Quantentheorie ist so seltsam, dass Physiker bei dieser
oder jener paradoxen »Interpretation« Zuflucht suchen. »Zu-
flucht« ist tatsächlich das richtige Wort. David Deutsch macht
sich in seinem Buch The Fabric of Reality (Die Physik der Welt-
erkenntnis) die »Viele-Welten-Interpretation« der Quanten-
theorie zu eigen, vielleicht weil man von ihr nichts Schlechte-
res sagen kann, als dass sie auf groteske Weise verschwenderisch
ist. Sie postuliert eine riesige, schnell wachsende Zahl von Uni-
versen, die parallel zueinander existieren und gegenseitig nicht
nachweisbar sind, außer über das enge Schlupfloch quanten-
mechanischer Experimente. In manchen dieser Universen bin
ich bereits tot. In einer kleinen Minderheit von ihnen haben Sie
einen grünen Schnauzbart. Und so weiter.
Eine Alternative, die »Kopenhagener Interpretation«, ist
ebenso grotesk —nicht verschwenderisch, aber erschütternd
paradox. Ihr galt Erwin Schrödingers satirische Parabel von der
Katze. Schrödingers Katze ist in einer Kiste eingeschlossen, in
der ein quantenmechanisches Ereignis einen Tötungsmecha-
nismus in Gang setzt. Bevor wir den Deckel der Kiste öffnen,
* Eine ähnliche Bemerkung wird auch Niels Bohr zugeschrieben: »Wer von der Quan-
tentheorie nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden.«
507
wissen wir nicht, ob die Katze tot ist. Der gesunde Menschen-
verstand sagt uns aber, dass die Katze sich dennoch tot oder le-
bendig in der Kiste befinden muss. Die Kopenhagener Inter-
pretation widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Das
Einzige, was vor dem Öffnen der Kiste existiert, ist eine Wahr-
scheinlichkeit. Sobald wir die Kiste öffnen, bricht die Wellen-
funktion zusammen, und uns bleibt nur noch ein einziges Ereig-
nis: Die Katze ist tot, oder die Katze ist lebendig. Bevor wir den
Deckel aufgeklappt haben, war sie weder tot noch lebendig.
Betrachtet man den gleichen Vorgang nach der »Viele-Wel-
ten-Interpretation«, ist die Katze in manchen Universen tot,
und in anderen ist sie lebendig. Keine der beiden Interpretatio-
nen stellt den gesunden Menschenverstand oder unsere Intui-
tion zufrieden. Hartgesottene Physiker stört das nicht. Für sie
ist nur wichtig, dass die Mathematik funktioniert und dass die
Voraussagen sich experimentell bestätigen lassen. Die meisten
Menschen haben jedoch nicht genug Mumm, um ihnen zu fol-
gen. Offenbar haben wir ein Bedürfnis, uns bildlich vorzustel-
len, was »wirklich« vorgeht. Nebenbei bemerkt: Ich weiß, dass
Schrödinger sein Gedankenexperiment mit der Katze ur-
sprünglich formulierte, um die in seinen Augen absurde Ko-
penhagener Interpretation bloßzustellen.
Nach Ansicht des Biologen Lewis Wolpert sind die seltsa-
men Aspekte der modernen Physik nur die Spitze eines Eisber-
ges.Wissenschaft tut - anders als Technologie - dem gesunden
Menschverstand ganz allgemein Gewalt an.!’? Nach einer Be-
rechnung von Wolpert ist beispielsweise die Zahl der Moleküle
in einem Glas Wasser wesentlich größer als die Zahl möglicher
Füllungen für ein Glas Wasser aus dem Meer. Und da das ge-
samte Wasser auf unserem Planeten in seinem Kreislauf das
Meer durchläuft, folgt daraus die Erkenntnis: Jedes Mal, wenn
wir ein Glas Wasser trinken, bestehen gute Chancen, dass wir
dabei ein Molekül zu uns nehmen, das einmal die Harnblase
von Oliver Cromwell durchlaufen hat. Mit Cromwell oder der
508
Harnblase hat es dabei natürlich keine besondere Bewandtnis.
Haben Sie denn nicht gerade ein Stickstoffatom eingeatmet,
das schon einmal von dem Iguanodon links von der hohen Ur-
zeitpalme ausgeatmet wurde?
Freuen Sie sich nicht darüber, dass Sie in einer Welt leben,
die solche Vermutungen nicht nur möglich macht, sondern in
der Sie auch das Privileg haben, die Gründe dafür zu verste-
hen? Und in der Sie es Ihren Gegenübern erklären können -
nicht als Ihre persönliche Meinung, sondern als etwas, das Sie
nach eigenem Empfinden zwangsläufig anerkennen müssen,
wenn Sie Ihren Gedankengang verstanden haben? Vielleicht
meinte Carl Sagan unter anderem auch diesen Aspekt, als er er-
läuterte, warum er sein Buch The Demon-Haunted World: Science
.as a Candle in the Dark (Der Drache in meiner Garage oder die
Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu entlarven) schrieb: »Es kommt
mir pervers vor, die Wissenschaft nicht zu erklären. Wenn man
verliebt ist, will man das der ganzen Welt mitteilen. Dieses
Buch ist eine persönliche Erklärung, die meine lebenslange
Liebe zur Wissenschaft widerspiegelt.«'’*
Die Evolution komplexer Lebensformen, ja schon ihre Exis-
tenz in einem Universum, das physikalischen Gesetzen ge-
horcht, ist eine wunderschöne Überraschung - oder sie wäre es,
wenn man davon absieht, dass Überraschung ein Gefühl ist
und deshalb nur in einem Gehirn entstehen kann, das ein Pro-
dukt eben dieses überraschenden Prozesses darstellt. In einem
gewissen anthropischen Sinn sollte unser Dasein also keine
‚Überraschung sein. Dennoch stelle ich mir gern vor, dass ich
auch für meine Mitmenschen spreche, wenn ich darauf be-
harre, dass es etwas ausgesprochen Überraschendes ist.
Denken wir einmal darüber nach. Auf einem Planeten -
möglicherweise sogar nur einem einzigen im ganzen Univer-
sum -tun Moleküle, die normalerweise nichts Komplizierteres
bilden als einen Felsbrocken, sich zu felsblockgroßen Materie-
stücken zusammen, die so unvorstellbar komplex sind, dass sie
509
laufen, springen, schwimmen, fliegen, sehen und hören können
und dass sie andere, ähnlich komplexe Gebilde fangen und
fressen können - Materiestücke, die in manchen Fällen sogar
fähig sind, zu denken, zu fühlen und sich in andere Brocken aus
ebenso komplexer Materie zu verlieben. Im Wesentlichen wis-
sen wir heute, wie dieses Kunststück zuwege gebracht wurde,
aber das gilt erst seit 1859. Davor schien es wirklich sehr, sehr
seltsam zu sein. Heute ist es dank Darwin nur noch sehr selt-
sam. Darwin packte den Sehschlitz der Burka, riss ihn auf und
ließ das Licht der Erkenntnis hereinströmen, dessen Schwindel
erregende Neuigkeit und Kraft, den menschlichen Geist zu be-
flügeln, nicht ihresgleichen hatten —außer vielleicht in Ko-
pernikus’ Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des
Universums ist.
Ludwig Wittgenstein, einer der großen Philosophen des
20. Jahrhunderts, fragte einmal einen Bekannten: »Sagen Sie mir,
warum die Leute immer behaupten, es sei für die Menschen
eine ganz natürliche Annahme gewesen, dass die Sonne um die
Erde kreist und die Erde selbst sich nicht dreht.« Darauf erwi-
derte der Bekannte: »Nun ja, es hat doch den Anschein, als
würde die Sonne um die Erde kreisen.« Worauf Wittgenstein
fragte: »Wie hätte es denn ausgesehen, wenn es den Anschein
gehabt hätte, dass die Erde sich dreht?« Diese Bemerkung des
großen Philosophen zitiere ich manchmal in Vorträgen, und
dann rechne ich eigentlich damit, dass die Zuhörer lachen.
Aber stattdessen verstummen sie offenbar vor Verblüffung.
In der begrenzten Welt, in der sich die Evolution unseres Ge-
hirns abgespielt hat, bewegen sich kleine Gegenstände häufiger
als große, die eher als Hintergrund der Bewegung dienen. Wenn
die Erde sich dreht, bewegen sich Gegenstände, die uns nahe
sind und deshalb groß wirken - Berge, Bäume und Gebäude,
aber auch der Boden selbst - genau im Einklang zueinander
und zum Beobachter, aber anders als Himmelskörper wie
Sonne und Sterne. Aufgrund seiner Evolution projiziert unser
510
Gehirn die Bewegung auf die Himmelskörper und nicht auf die
Berge und Bäume im Vordergrund.
Ich möchte jetzt eine zuvor erwähnte Aussage weiter verfol-
gen: Dass wir die Welt so und nicht anders sehen, und dass
manche Dinge für uns intuitiv leicht zu begreifen sind, andere
dagegen nur schwer, liegt daran, dass auch unser Gehim selbst
durch Evolution entstanden ist: Es ist ein Bordcomputer, der sich
entwickelt hat, um uns das Überleben in einer Welt —ich
möchte sie als Mittelwelt bezeichnen - zu erleichtern, in der
die Objekte, die für unser Überleben von Bedeutung waren,
weder besonders groß noch besonders klein sind. Es war eine
Welt, in der die Dinge entweder stillstanden oder sich im Ver-
gleich zur Lichtgeschwindigkeit nur langsam bewegten, und in
der man sehr unwahrscheinliche Dinge gefahrlos als unmög-
lich betrachten konnte. Der geistige Sehschlitz unserer Burka
ist schmal, weil er nicht breit sein musste, um unseren Vorfah-
ren das Überleben zu erleichtern.
Die Naturwissenschaft indes hat uns entgegen unserer evo-
lutionsbedingten Intuition gelehrt, dass scheinbar feste Gegen-
stände wie Kristalle oder Felsen in Wirklichkeit fast vollständig
aus leerem Raum bestehen. Die übliche Illustration zeigt den
Kern eines Atoms wie eine Fliege in der Mitte eines Sportstadi-
ons. Das Nachbaratom befindet sich bereits außerhalb des Sta-
dions. Demnach ist das härteste, festeste, dichteste Gestein »in
Wirklichkeit« nahezu ausschließlich leerer Raum, unterbro-
chen nur von winzigen Teilchen, die so weit voneinander ent-
fernt sind, dass sie eigentlich gar nicht zählen. Warum sehen
Felsen dennoch fest, hart und undurchdringlich aus und fühlen
sich auch so an?
Ich versuche gar nicht erst, mir vorzustellen, wie Wittgen-
stein diese Frage beantwortet hätte. Aber als Evolutionsbiologe
habe ich darauf folgende Antwort: Unser Gehirn hat sich in der
Evolution so entwickelt, dass es unserem Körper hilft, sich in
seiner Umwelt zurechtzufinden, und zwar in dem Größen-
511
maßstab, in dem dieser Körper funktioniert. Die Evolution hat
uns nie darauf vorbereitet, uns in der Welt der Atome zu orien-
tieren. Wäre das der Fall, dann würde unser Gehirn einen Fel-
sen wahrscheinlich tatsächlich als Ansammlung leerer Räume
wahrnehmen. Gestein fühlt sich für unsere Hände hart und
undurchdringlich an, weil unsere Hände es nicht durchdringen
können. Dass das so ist, hat aber nichts mit den Größen und
Zwischenräumen der Teilchen zu tun, aus denen die Materie
besteht, sondern mit den Kraftfeldern, die sich mit diesen weit
voneinander entfernten Teilchen in »fester« Materie verbinden.
Für unser Gehirn ist es nützlich, Vorstellungen wie Festigkeit
und Undurchdringlichkeit zu konstruieren, weil sie uns helfen,
unseren Körper durch eine Welt zu steuern, in der ein Gegen-
stand - den wir als fest bezeichnen - nicht den gleichen Raum
einnehmen kann wie ein anderer.
An dieser Stelle kann vielleicht ein wenig heitere Auflocke-
rung nicht schaden. In The Men Who Stare at Goats (»Die Män-
ner, die Ziegen anstarren«) von Jon Ronson heißt es:
512
überhaupt zum größten Teil? Aus leerem Raum. Er be-
schleunigt seine Schritte. Woraus bestehe ich zum größten
Teil? Denkt er. Aus Atomen! Er läuft jetzt fast. Woraus be-
steht die Wand zum größten Teil? Denkt er. Aus Atomen! Ich
muss nur die leeren Räume verbinden ... Dann haut Gene-
ral Stubblebine mit der Nase heftig gegen die Wand. Ver-
dammt, denkt er. General Stubblebine ist vor den Kopf ge-
stoßen, weil es ihm nicht gelingt, durch die Wand zu gehen.
Was stimmt nicht mit ihm, warum kann er es nicht? Viel-
leicht liegt einfach so viel in seinem Eingangskorb, dass er
sich nicht ausreichend darauf konzentrieren kann. In seinem
Kopf besteht kein Zweifel, dass die Fähigkeit, durch Gegen-
stände hindurchzugehen, eines Tages im Arsenal der Ge-
heimdienste ein allgemein verbreitetes Hilfsmittel sein wird.
Und wenn es so weit ist - nun, wäre es eine zu naive An-
nahme, dass dann eine Welt ohne Kriege heraufdämmern
würde? Wer wollte sich schon mit einer Armee herumschla-
gen, die so etwas kann?
* Vgl.http://www.healthfreedomusa.org/index.php?page_id=299
(10.4.2007).
513
uee
durchdringen und dazu die riesigen Zwischenräume nutzen,
aus denen die Wand »in Wirklichkeit« besteht. Ebenso kommt
unsere Verständnisfähigkeit nicht mit den Vorgängen zurecht,
die sich abspielen, wenn Dinge sich nahezu mit Lichtge-
schwindigkeit bewegen.
Die menschliche Intuition, die in der Mittelwelt ihre Evolu-
tion und Schulung erlebt hat, kommt ohne zusätzliche Hilfe
noch nicht einmal mit Galileis Aussage zurecht, dass eine Ka-
nonenkugel und eine Feder, die man gleichzeitig von einem
Turm zu Boden fallen lässt, zur gleichen Zeit unten ankom-
men, wenn man die Luftreibung beseitigt. Der Grund: In der
Mittelwelt ist immer Luftreibung vorhanden. Wir wurden von
der Evolution als Bewohner der Mittelwelt geprägt, und diese
Tatsache setzt unserer Vorstellungskraft Grenzen. Sofern wir
nicht besonders begabt oder besonders hoch gebildet sind, ge-
stattet uns der schmale Schlitz unserer Burka nur den Blick auf
die Mittelwelt.
In einem gewissen Sinn müssen wir als Tiere nicht nur in der
Mittelwelt überleben, sondern auch in der kleinen Welt der
Atome und Elektronen. Die Nervenimpulse, durch die wir
denken und uns Vorstellungen machen, beruhen auf Vorgän-
gen in dieser Welt des Allerkleinsten. Aber keine Handlung, die
unsere Vorfahren ausführen mussten, keine Entscheidung, die
ihnen abverlangt wurde, erforderte Kenntnisse über diese mik-
roskopische Welt. Ganz anders sähe die Sache aus, wenn wir
Bakterien wären, die ständig von den thermischen Bewegun-
gen der Moleküle hin und her gestoßen werden. Aber wir Mit-
telweltbewohner sind viel zu schwerfällig und massiv, als dass
wir die Brown’sche Molekularbewegung überhaupt bemerken
würden. Ebenso ist die Schwerkraft ein bestimmender Faktor
in unserem Leben, während wir die zarte Kraft der Ober-
flächenspannung fast völlig vergessen. Ein kleines Insekt würde
genau die umgekehrten Prioritäten setzen und die Ober-
flächenspannung durchaus nicht als zart empfinden.
514
Steve Grand macht sich in Creation: Life and How to Make It
(Schöpfung: Das Leben und wie man es macht«) geradezu lus-
tig über unser Vorurteil zugunsten der Materie. Häufig neigen
wir dazu, überhaupt nur feste, materielle Dinge für »richtige«
Dinge zu halten. Wellen elektromagnetischer Schwankungen
im Vakuum erscheinen »unwirklich«. Noch in viktorianischer
Zeit glaubte man, Wellen müssten stets ein materielles Me-
dium haben. Da man kein solches Medium kannte, erfand man
eines und nannte es »Äther«. Aber dass »richtige« Materie un-
serem Verständnis stärker entgegenkommt, liegt nur daran,
dass unsere Vorfahren eine Evolution durchgemacht haben, die
ihnen das Überleben in der Mittelwelt ermöglichte, und dort
ist Materie ein nützliches Konstrukt.
Andererseits erkennen auch wir Mittelweltbewohner, dass
ein Wasserstrudel ein »Ding« ist und einen ganz ähnlichen
Wirklichkeitsgehalt wie ein Felsen hat, obwohl die Materie in
dem Strudel sich ständig verändert. In einer Wüstenebene in
Tansania, im Schatten des Ol Donyo Lengai, der den Massai als
heiliger Vulkan gilt, befindet sich eine große Düne aus Asche
von einer Eruption im Jahr 1969. Sie erhält ihre Form durch
den Wind. Das Schöne dabei ist aber, dass sie sich tatsächlich
bewegt. Sie ist das, was man fachsprachlich als Barchan oder Si-
cheldüne bezeichnet. Die ganze Düne wandert mit einer Ge-
schwindigkeit von etwa 17 Metern pro Jahr in westlicher Rich-
tung. Sie behält dabei ihre Sichelform bei und verschiebt sich
in die Richtung ihrer Spitzen. Der Wind weht den Sand an der
flacheren Böschung bergauf, und wenn die Sandkörner den
Dünenkamm erreichen, rieseln sie den steileren Abhang an der
Innenseite der Sichel hinunter.
Eigentlich ist auch eine solche Wanderdüne eher ein »Ding«
als eine Welle. Eine Welle scheint horizontal über das offene
Meer zu wandern, aber die einzelnen Wassermoleküle bewe-
gen sich vertikal auf und ab. Auch Schallwellen wandern vom
Mund des Sprechers zum Ohr des Zuhörers, aber die Luftmo-
515
leküle tun es nicht: Sonst wäre es kein Geräusch, sondern ein
Luftzug. Steve Grand macht darauf aufmerksam, dass auch wir
Menschen eher Wellen als dauerhafte »Dinge« sind. Er fordert
den Leser auf:
*
Manch einer wird vielleicht bezweifeln, dass Grands Behauptung wörtlich zu nehmen
ist, beispielsweise wenn man an die Moleküle in den Knochen denkt. Aber sinngemäß
stimmt sie sicher. Ein Mensch ähnelt einer Welle stärker als einen unveränderlichen
»Ding«.
516
schiedene biologische Arten in unterschiedlichen Welten le-
ben, gibt es eine verwirrende Vielfalt von »Wirklichkeiten«.
Was wir von der wirklichen Welt sehen, ist nicht die unge-
schminkte Realität, sondern ein Modell der Wirklichkeit, das
durch die Sinneswahrnehmung gesteuert und abgestimmt
wird - und dieses Modell wird so konstruiert, dass es für den
Umgang mit der Wirklichkeit nützlich ist. Wie dieses Modell
aussieht, hängt davon ab, was für Tiere wir sind. Ein Flugtier
braucht ein anderes Modell der Welt als ein Tier, das geht, klet-
tert oder schwimmt. Raubtiere brauchen ein anderes Modell
als Beutetiere, auch wenn die Welten beider sich zwangsläufig
überschneiden. Das Affengehirn muss in der Lage sein, mit sei-
ner Software ein dreidimensionales Labyrinth aus Ästen und
Baumstämmen zu simulieren. Dagegen braucht das Gehirn
einer Ruderwanze keine 3D-Software, denn diese Tiere leben
auf der Oberfläche von Teichen wie in einer Flachwelt ä la
Edwin Abbott.* Bei einem Maulwurf ist die Software für die
Konstruktion von Weltmodellen auf die Verwendung unter der
Erde abgestimmt. Ein Nacktmull hat vermutlich eine ähnliche
Weltabbildungssoftware wie ein Maulwurf; das Eichhörnchen
dagegen, obwohl wie der Nacktmull ein Nagetier, verfügt
wahrscheinlich für die Abbildung der Welt eher über eine ähn-
liche Software wie ein Affe.
In The Blind Watchmaker (Der blinde Uhrmacher) und auch
an anderen Stellen habe ich Spekulationen darüber angestellt,
ob Fledermäuse vielleicht mit den Ohren Farben »sehen«. Eine
Fledermaus, die sich in drei Dimensionen orientieren und In-
sekten fangen muss, braucht sicher ein ganz ähnliches Modell
der Welt wie eine Schwalbe, die im Wesentlichen die gleiche
Tätigkeit ausführt. Dass die Fledermaus die Variablen in ihrem
347
2
Modell mithilfe von Echos aktualisiert, während die Schwalbe
zu diesem Zweck das Licht benutzt, ist nebensächlich. Nach
meiner Vermutung dienen wahrgenommene Farbtöne wie
»rot« oder »blau« den Fledermäusen als innere Markierungen
für irgendeinen nützlichen Aspekt der Schallreflexe, vielleicht
für die akustische Beschaffenheit von Oberflächen; genauso
nutzen Schwalben die gleichen wahrgenommenen Farbtöne
zur Markierung verschiedener Lichtwellenlängen. Entschei-
dend ist dabei, dass das Wesen des Modells davon abhängt, wie
es genutzt wird, und nicht von der Art der Sinneseindrücke. Was
wir also von den Fledermäusen lernen können: Die allgemeine
Form des geistigen Modells - im Gegensatz zu den Variablen,
die durch die Sinnesnerven ständig neuen Input erhalten - ist
genau wie Flügel, Beine und Schwanz eine Anpassung an die
Lebensweise eines Tiers.
J.B. S.Haldane hatte in seinem zuvor bereits erwähnten Auf-
satz über »mögliche Welten« etwas Wichtiges über Tiere zu sa-
gen, deren Welt von Gerüchen beherrscht wird. Er wies darauf
hin, dass Hunde zwischen Caprylsäure und Capronsäure, zwei
sehr ähnlichen flüchtigen Fettsäuren, unterscheiden können,
und zwar auch dann, wenn diese eins zu einer Million verdünnt
sind. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Verbin-
dungen besteht darin, dass die Hauptmolekülkette der Capryl-
säure um zwei Kohlenstoffatome länger ist als die der Cap-
ronsäure. Ein Hund, so Haldanes Vermutung, kann die Säuren
wahrscheinlich »anhand des Geruchs in der Reihenfolge ihrer
Molekulargewichte anordnen, genau wie ein Mensch, der Kla-
viersaiten mithilfe der Töne nach aufsteigender Länge ordnet«.
Eine dritte Fettsäure, die Caprinsäure, gleicht den beiden an-
deren, nur ist ihre Kohlenstoffkette nochmals um zwei Atome
länger. Ein Hund, dem die Caprinsäure noch nie begegnet ist,
kann sich ihren Geruch wahrscheinlich ebenso leicht vorstel-
len, wie wir uns einen Trompetenton ausmalen, der einen
Ganzton höher ist als jener,den wir zuvor gerade gehört haben.
518
Für mich ist es eine völlig vernünftige Vermutung, dass ein
Hund oder ein Nashorn eine Mischung verschiedener Gerüche
als harmonischen Akkord wahrnimmt. Vielleicht gibt es auch
Dissonanzen. Melodien existieren wahrscheinlich nicht, denn
eine Melodie besteht aus Tönen, die im Gegensatz zu Gerü-
chen nach einem ganz bestimmten zeitlichen Muster anfangen
und aufhören. Vielleicht riechen Hunde und Nashörner auch
in Farben. Dann würde auf sie die gleiche Argumentation zu-
treffen wie auf die Fledermäuse.
Auch hier sind die Wahrnehmungen, die wir als Farben be-
zeichnen, nichts anderes als Hilfsmittel, mit denen unser Ge-
hirn wichtige Unterschiede in der Umwelt kennzeichnet.
Wahrgenommene Farbtöne - Philosophen sprechen von Qua-
lia —stehen in keinem inneren Zusammenhang mit Licht be-
stimmter Wellenlängen. Es sind interne Kennzeichnungen, die
dem Gehirn zur Verfügung stehen, wenn es sein Modell der
Außenwelt konstruiert, und es trifft damit Unterscheidungen,
die dem betreffenden Tier besonders ins Auge springen. In un-
serem Fall oder dem der Vögel handelt es sich dabei um Licht
unterschiedlicher Wellenlängen. Im Fall der Fledermaus, so je-
denfalls meine Spekulation, könnte es sich um Oberflächen
mit unterschiedlicher Beschaffenheit oder unterschiedlichen
Schallreflexionseigenschaften handeln: Dann ist rot vielleicht
glatt, blau samtig und grün rau. Und warum sollten es im Fall
eines Hundes oder Nashorns nicht Gerüche sein? Die Fähig-
keit, uns die fremdartige Welt von Fledermäusen und Nashör-
nern, Ruderwanzen oder Maulwürfen, Bakterien oder Bor-
kenkäfern auszumalen, gehört zu den Privilegien, die uns die
Wissenschaft verschafft, wenn sie am dunklen Tuch unserer
Burka zieht und uns das breitere Spektrum der Dinge zeigt, die
es gibt und über die wir uns freuen können.
Die Metapher der Mittelwelt - jenes mittlere Spektrum der
Phänomene, auf die uns der schmale Schlitz unserer Burka
einen Blick gestattet - lässt sich auch auf andere Maßstäbe oder
519
»Spektren« anwenden. Wir können eine Skala der Unwahr-
scheinlichkeit aufstellen, auf der unsere Intuition und Fantasie
nur durch ein ähnlich schmales Fenster hindurchgehen kön-
nen. Am einen Ende dieses Unwahrscheinlichkeitsspektrums
stehen potenzielle Ereignisse, die wir als unmöglich bezeich-
nen. Wunder sind äußerst unwahrscheinliche Ereignisse. Eine
Madonnenstatue könnte uns zuwinken. Alle Atome in ihrer
Kristallstruktur vibrieren hin und her. Da es so viele sind und
da sie keine Bewegungsrichtung bevorzugen, bleibt die Hand,
wie wir sie in der Mittelwelt sehen, felsenfest und unbeweg-
lich. Aber die wackelnden Atome in der Hand könnten sich rein
zufällig alle zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung bewegen.
Und noch einmal. Und noch einmal ... In diesem Fall würde
die Hand sich bewegen, und wir würden sehen, wie sie uns zu-
winkt. Es könnte geschehen, aber die Wahrscheinlichkeit, die
dagegen spricht, ist gewaltig: Wenn wir am Anbeginn des Uni-
versums begonnen hätten, die Zahl aufzuschreiben, hätten wir
bis heute noch nicht genug Nullen zu Papier gebracht. Die
Fähigkeit, solche Wahrscheinlichkeiten zu berechnen - das na-
hezu Unmögliche quantitativ zu erfassen, statt nur verzweifelt
die Hände zu heben - ist ein weiteres Beispiel dafür, welche be-
freienden Wohltaten die Wissenschaft dem menschlichen
Geist verschafft.
Die Evolution in der Mittelwelt hat uns für den Umgang mit
sehr unwahrscheinlichen Ereignissen schlecht gerüstet. Aber in
der riesenhaften Größe des Weltalls oder den gewaltigen erd-
geschichtlichen Zeiträumen erweisen sich Ereignisse, die in der
Mittelwelt unmöglich erscheinen, als unvermeidlich. Die Wis-
senschaft stößt das schmale Fenster auf, durch das wir das
Spektrum der Möglichkeiten gewohnheitsmäßig betrachten.
Berechnungen und Vernunft verschaffen uns die Freiheit, Mög-
lichkeitsregionen zu besuchen, die früher jenseits aller Gren-
zen zu liegen schienen oder scheinbar von Drachen bewohnt
waren.
520
Eine solche Erweiterung des Fensters haben wir bereits im
vierten Kapitel vorgenommen, als wir untersucht haben, wie
unwahrscheinlich die Entstehung des Lebens ist und wie selbst
ein nahezu unmöglicher chemischer Vorgang sich irgendwann
abspielen muss, wenn genügend Planetenjahre zum Ausprobie-
ren zur Verfügung stehen. Wir haben das Fenster auch erwei-
tert, als wir das Spektrum möglicher Universen betrachtet ha-
ben, jedes mit eigenen Gesetzen und Naturkonstanten - und
mit der anthropischen Notwendigkeit, dass wir uns nur in
einem der wenigen lebensfreundlichen Universen befinden
können.
Wie sollen wir Haldanes »seltsamer, als wir überhaupt an-
nehmen können« deuten? Seltsamer, als man im Prinzip anneh-
men kann? Oder nur seltsamer, als wir annehmen können, weil
unser Gehirn seine begrenzte entwicklungsgeschichtliche
Lehrzeit in der Mittelwelt durchgemacht hat? Könnten wir
uns durch Übung und Praxis aus der Mittelwelt emanzipieren,
die schwarze Burka herunterreißen und eine Art intuitives —
und nicht nur mathematisches —Verständnis für das sehr
Kleine, das sehr Große und das sehr Schnelle erlangen? Die
Antwort weiß ich wirklich nicht, aber ich finde es spannend, in
einer Zeit zu leben, in der die Menschheit an die Grenzen ihrer
Verständnisfähigkeit klopft. Und was noch besser ist: Vielleicht
entdecken wir am Ende, dass es keine Grenzen gibt.
521
NACHWORT
522
pelhafte Glaubwürdigkeit aufzubauen, und das funktioniert
erstaunlich oft. Man sollte darauf achten.
Für die Website RichardDawkins.net habe ich einen Artikel
mit der Überschrift »I’'man atheist BUT ...« [Ich bin Atheist,
ABER ...«] geschrieben; daraus übernehme ich hier die fol-
gende Liste der kritischen oder sonstwie negativen Aussagen
aus Rezensionen der Hardcoverausgabe. Diese Website, die von
dem begeisterten Josh Timonen betrieben wird, wurde zum
Anziehungspunkt für eine ungeheure Zahl anderer Beiträge,
deren Autoren die Kritikpunkte ausnahmslos zerpflückt ha-
ben. Sie tun das in einem weniger zurückhaltenden, offenher-
zigeren Ton als ich selbst oder meine Kollegen, die Philosophen
A.C. Grayling, Daniel Dennett, Paul Kurtz und andere, die sich
in gedruckter Form äußerten.
523
sche Schriften setzen in ihrer Mehrzahl voraus, dass es ihn gibt,
und sie benutzen dies als Ausgangspunkt. In meinem Zusam-
menhang brauchte ich nur jene Theologen zu berücksichtigen,
die den Gedanken, es könnte Gott nicht geben, ernst nehmen
und dann Argumente für seine Existenz anführen. Das habe
ich nach meiner Überzeugung im dritten Kapitel getan - und
zwar, so hoffe ich, mit einer guten Portion Humor und einiger-
maßen umfassend.
In puncto Humor ist übrigens die brillante »Antwort eines
Höflings«, die P. Z.Myers auf seiner Website »Pharyngula« ver-
öffentlichte, unübertrefflich:
324
Um die Aussage noch zu erweitern: Die meisten Menschen tun
Feen, Astrologie und das Fliegende Spaghettimonster als Un-
sinn ab, ohne sich zunächst in Bücher über Pastafarina-Theolo-
gie zu versenken.
»Sie nehmen sich grobe Aufwiegler wie Ted Haggard, Jerry Fal-
well und Pat Robertson vor anstelle kultivierter Theologen wie
Tillich oder Bonhoeffer, die jene Art von Religion lehren, an die
ich glaube.«
Wenn nur eine solche verfeinerte, nuancierte Religion vor-
herrschen würde, sähe die Welt sicher besser aus, und ich hätte
ein ganz anderes Buch geschrieben. Aber die traurige Wahrheit
lautet: Eine derart zurückhaltende, anständige Religion ist zah-
lenmäßig nicht der Rede wert. Für die große Mehrzahl der
Gläubigen auf der ganzen Welt ähnelt die Religion nur allzu sehr
dem, was man von Robertson, Falwell, Haggard, Osama bin La-
den, Ayatollah Chomeini und ihresgleichen hört. Das sind keine
Pappkameraden; sie haben großen Einfluss, und in der moder-
nen Welt muss sich jeder mit ihnen auseinandersetzen.
Sieht man sich die Sprache von Der Gotteswahn genauer an, so
ist sie weniger schrill oder unbeherrscht als vieles, was wir tag-
täglich zu lesen und zu hören bekommen - beispielsweise in
525
politischen Kommentaren, Theater-, Kunst- oder Buchrezensio-
nen. Meine Sprache hört sich nur deshalb heftig und unbe-
herrscht an, weil es fast überall die eigenartige Übereinkunft
gibt, religiöser Glaube genieße das besondere Privileg, über jede
Kritik erhaben und von ihr ausgenommen zu sein (siehe das Zi-
tat von Douglas Adams auf Seite 34f.).
Im Jahr 1915 sprach der britische Parlamentsabgeordnete
Horatio Bottomley für die Zeit nach dem Krieg folgende Emp-
fehlung aus: »Wenn Se eines Tages in einem Restaurant zufällig
feststellen, dass Sie von einem deutschen Kellner bedient wer-
den, schütten Sie ihm die Suppe in sein widerliches Gesicht;
wenn Sie feststellen, dass Sie neben einem deutschen Beamten
sitzen, leeren Sie das Tintenfass über seinem widerlichen
Kopf.« Das ist wirklich aufgeregt und intolerant (und, so sollte
man meinen, selbst vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit
lächerlich und rhetorisch unwirksam). Man vergleiche dies mit
dem ersten Satz meines zweiten Kapitels, der am häufigsten als
»aufgeregt« oder »schrill« bezeichnet wird. Es ist nicht an mir,
festzustellen, ob ich damit Erfolg hatte, aber meine Absicht
war weniger Polemik als vielmehr eine handfeste, aber auch
humorvolle Breitseite. In öffentlichen Lesungen aus Der Got-
teswahn ist dies die einzige Stelle, die garantiert herzhaftes
Gelächter provoziert, und deshalb benutzen meine Frau und
ich sie jedesMal, um bei einem neuen Publikum das Eis zu bre-
chen. Wenn ich eine Vermutung wagen darf, warum der Hu-
mor funktioniert: Nach meiner Überzeugung ist es das Miss-
verhältnis zwischen einem Thema, das man aufgeregt oder
vulgär hätte formulieren können, und der tatsächlichen Formu-
lierung mit einer langen Liste latinisierter oder pseudogelehr-
ter Wörter (»homophob«, »sadomasochistisch«). Dabei habe
ich mir einen der lustigsten Autoren des zwanzigsten Jahrhun-
derts zum Vorbild genommen, und niemand würde Evelyn
Waugh als schrill oder unbeherrscht bezeichnen (und ich habe
mich sogar verraten, als ich im Zusammenhang mit der sofort
526
anschließenden Anekdote auf Seite 45 seinen Namen genannt
habe).
Buchrezensenten und Theaterkritiker äußern häufig höh-
nisch-negative Meinungen und werden dann für den schnei-
denden Scharfsinn ihrer Äußerungen gelobt. In der Religions-
kritik dagegen ist schon Klarheit plötzlich keine Tugend mehr,
sondern sie klingt wie aggressive Feindseligkeit. Ein Politiker
greift den Vertreter der Gegenseite im Parlament unter Um-
ständen bitterböse an und erntet Applaus für seine herzhafte
Streitbarkeit. Bedient sich aber ein nüchtern nachdenkender
Religionskritiker einer Sprache, die in anderem Zusammen-
hang nur direkt oder ehrlich klingen würde, rümpft die feine
Gesellschaft die Nase und schüttelt den Kopf. Das gilt selbst
für die säkulare feine Gesellschaft, und insbesondere für jenen
Teil der säkularen Gesellschaft, der so gern sagt: »Ich in Atheist,
ABER;..«
527
et
nistinnen unser Bewusstsein für sexistische sprachliche Formu-
lierungen erweiterten, predigten sie vielleicht auch den eige-
nen Anhängerinnen, soweit es um zentrale Themen wie die
Rechte der Frauen und das Übel der Diskriminierung ging.
Aber auch die Gruppe der anständigen Liberalen brauchte eine
Schärfung des Bewusstseins für die Alltagssprache. Selbst wenn
wir in den politischen Fragen der Frauenrechte und Diskrimi-
nierung eine eindeutige Meinung hatten, beugten wir uns un-
bewusst den sprachlichen Konventionen, durch die sich die
Hälfte der Menschheit ausgeschlossen fühlte.
Das gleiche Schicksal wie die sexistischen Formulierungen
sollte auch andere sprachliche Konventionen ereilen, und die
Gruppe der Atheisten macht da keine Ausnahme. Bewusst-
seinserweiterung brauchen wir alle. Atheisten und Theisten
richten sich nach der gesellschaftlichen Konvention, wonach
man dem Glauben gegenüber besonders höflich und respekt-
voll zu sein hat. Und ich mache die Gesellschaft unermüdlich
darauf aufmerksam, dass wir es stillschweigend hinnehmen,
wenn Kindern das Etikett der religiösen Ansichten ihrer Eltern
aufgedrückt wird. Atheisten sollten ihr Bewusstsein für diese
Anomalie schärfen: Religiöse Ansichten gehören zu jenen el-
terlichen Überzeugungen, die man nach einem fast allgemein
gültigen Konsens auf die Kinder übertragen darf, obwohl diese
in Wirklichkeit so jung sind, dass sie sich noch gar keine Mei-
nung bilden können. Ein »christliches Kind« gibt es nicht; es ist
nur das Kind christlicher Eltern. Man sollte jede Gelegenheit
nutzen, dies den Leuten einzuhämmern.
528
sich niemals anders. Fundamentalistische Christen sind leiden-
schaftlich gegen die Evolution, und ich bin ein leidenschaftli-
cher Evolutionsanhänger. Leidenschaft gegen Leidenschaft, da
steht es unentschieden. Und das bedeutet nach Ansicht man-
cher Leute, dass wir gleichermaßen fundamentalistisch sind.
Aber, um einen Aphorismus zu umschreiben, dessen Herkunft
ich nicht genau ergründen konnte: Wenn zwei gegensätzliche
Ansichten mit gleicher Vehemenz vertreten werden, muss die
Wahrheit nicht zwangsläufig in der Mitte liegen. Möglicher-
weise hat die eine Seite einfach unrecht. Und das ist eine
Rechtfertigung für Leidenschaft auf der Gegenseite.
Fundamentalisten wissen, was sie glauben, und sie wissen
auch, dass nichts sie davon abbringen kann. Das Zitat von Kurt
Wise auf Seite 396 sagt alles: »Wenn alle Belege des Univer-
sums gegen den Kreationismus sprächen, würde ich das sofort
zugestehen, aber ich wäre dennoch Kreationist, weil es das ist,
was Gottes Wort offenbar besagt. Hier muss ich stehen.« Man
kann gar nicht genug betonen, worin der Unterschied zwi-
schen dem leidenschaftlichen Einsatz für biblische Grundaus-
sagen und dem ebenso leidenschaftlichen Einsatz des echten
Wissenschaftlers für Belege besteht. Der Fundamentalist Kurt
Wise erklärt, alle Belege des Universums könnten seine Mei-
nung nicht ändern. Der wahre Wissenschaftler mag noch so
leidenschaftlich an die Evolution »glauben«, aber er weiß ge-
nau, unter welchen Voraussetzungen er seine Ansicht ändern
würde. So erwiderte J.B. S. Haldane auf die Frage, welcher Be-
leg denn die Evolution widerlegen würde: »Kaninchenfossi-
lien im Präkambrium.« Ich möchte meine eigene, umgekehrte
Version zu Kurt Wises Erklärung formulieren: »Wenn alle Be-
lege im Universum für den Kreationismus sprächen, würde
ich das sofort zugestehen und meine Ansichten ändern. Aber
nach dem heutigen Stand der Dinge sprechen alle vorhan-
denen Belege (und das ist eine riesige Menge) für die Evolu-
tion. Aus diesem Grund, und allein aus diesem Grund, setze
529
ich mich für die Evolution mit einer Leidenschaft ein, die
an die Leidenschaft ihrer Gegner heranreicht. Doch meine
Leidenschaft gründet sich auf Belege. Ihre Leidenschaft ist
den Belegen entgegengesetzt und deshalb wahrhaft funda-
mentalistisch.«
Ich selbst bin Atheist, aber die Leute brauchen die Religion
»Was wollen Sie an ihre Stelle setzen? Wie wollen Sie Hin-
terbliebene trösten? Wie wollen Sie dem Bedarf gerecht wer-
den?«
Welch gönnerhafte Herablassung! »Natürlich, Sie und ich,
wir sind so intelligent und gebildet, wir brauchen keine Reli-
gion. Aber die normalen Leute, Kreti und Plethi, die Orwell’-
sche Masse, die Huxley’schen Delta- und Epsilon-Halbidioten,
530
die brauchen die Religion.« Dabei fällt mir ein, wie ich einmal
auf einer Tagung über populäre Wissenschaftsvermittlung
einen Vortrag hielt und mich gegen »Wissenschaft für Dumme«
aussprach. In der nachfolgenden Fragestunde erhob sich je-
mand im Publikum und vertrat die Ansicht, man müsse Wis-
senschaft für Dumme vermitteln, »um Minderheiten und
Frauen zur Wissenschaft hinzuführen«. Nach seinem Tonfall zu
urteilen, hielt er sich für liberal und progressiv. Ich kann mir
ungefähr vorstellen, was die Frauen und »Minderlieiten« im
Publikum davon hielten.
Kommen wir auf das Bedürfnis der Menschen nach Trost
zurück. Es ist natürlich vorhanden, aber hat es nicht etwas Kin-
disches, wenn wir glauben, das Universum sei uns von Rechts
wegen Trost schuldig? Die Bemerkung von Isaac Asimov über
die kindische Pseudowissenschaft lässt sich ebenso gut auf die
Religion anwenden: »Sieh dir jedes bisschen Pseudowissen-
schaft an, dann wirst du immer eine Schmusedecke finden,
einen Daumen zum Lutschen, einen Rockzipfel, an dem du
dich festhalten kannst.« Außerdem finde ich es erstaunlich, wie
viele Menschen nicht verstehen, dass »X tröstet mich« nicht
»X ist wahr« bedeutet.
Ein ähnlicher Kritikpunkt betrifft das Bedürfnis nach einem
»Zweck« im Leben. Dazu meinte ein kanadischer Kritiker:
531
Eigentlich schon, denn Sie gebrauchen das Wort »human«. Ja,
das glaube ich, aber ich muss es noch einmal wiederholen: Dass
ein Glaube trösten kann, steigert seinen Wahrheitsgehalt nicht.
Natürlich kann ich das Bedürfnis nach emotionalem Trost
nicht leugnen, und ich kann auch nicht behaupten, die in die-
sem Buch vertretene Weltanschauung habe etwa Hinterbliebe-
nen mehr als nur einen sehr bescheidenen Trost zu bieten. Aber
wenn der Trost, den die Religion anscheinend bietet, sich auf
die neurologisch höchst unplausible Annahme stützt, dass wir
den Tod unseres Gehirns überleben - würden wir dann wirk-
lich dafür eintreten wollen? Ohnehin habe ich vermutlich nie
bei einer Trauerfeier jemanden getroffen, der leugnen würde,
dass die nichtreligiösen Teile der Zeremonie (Nachrufe oder
die Lieblingsgedichte oder -musik der verstorbenen Person)
bewegender waren als die Gebete.
Der britische Facharzt Dr. David Ashton schrieb mir nach
seiner Lektüre von Der Gotteswahn und berichtete über einen
unerwarteten Todesfall: Am Weihnachtstag 2006 war sein ge-
liebter Sohn Luke im Alter von siebzehn Jahren gestorben.
Kurz vor dem Tod des jungen Mannes hatten die beiden sehr
wohlwollend über die gemeinnützige Stiftung gesprochen, die
ich eingerichtet habe, um Vernunft und Naturwissenschaft zu
fördern. Als Luke auf der Isle of Man beigesetzt wurde, äußerte
sein Vater vor der Trauergemeinde einen Wunsch: Wer. zu
Lukes Andenken etwas spenden wolle, solle es an meine Stif-
tung schicken. Die dreißig Zahlungen, die daraufhin eingingen,
summierten sich auf über 2000 Pfund, darunter mehr als 600
Pfund aus einer Sammlung in der örtlichen Dorfkneipe. Der
junge Mann war offensichtlich sehr beliebt gewesen. Als ich
das Programm der Trauerfeier las, war ich buchstäblich zu Trä-
nen gerührt, obwohl ich Luke nie kennen gelernt hatte, und ich
bat um die Genehmigung, es auf RichardDawkins.net wieder-
zugeben. Ein einsamer Flötist spielte Ellen Vallin, einen Trauer-
gesang von der Isle of Man. Zwei Freunde sprachen Nachrufe.
532
Dr. Ashton selbst rezitierte das großartige Gedicht Fern Hill
von Dylan Thomas (»Now as I was young and easy, under the
apple boughs« - es beschwört so schmerzlich die verlorene Ju-
gend herauf). Und dann - ich halte jetzt noch den Atem an,
wenn ich darüber berichte - las er die ersten Zeilen aus mei-
nem Buch Der entzauberte Regenbogen, Zeilen, die ich selbst
schon seit langem für meine eigene Beerdigung vorgesehen
habe:
Wir alle müssen sterben, das heißt, wir haben Glück gehabt.
Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren wer-
den. Die Männer und Frauen, die es rein theoretisch an mei-
ner Statt geben könnte und die in Wirklichkeit nie das Licht
der Welt erblicken werden, sind zahlreicher als die Sandkör-
ner in der Sahara. Und unter diesen ungeborenen Geistwe-
sen sind mit Sicherheit größere Dichter als Keats, größere
Wissenschaftler als Newton. Das wissen wir, weil die Menge
an Menschen, die aus unserer DNA entstehen könnten, bei
weitem größer ist als die Menge der tatsächlichen Men-
schen. Und entgegen dieser gewaltigen Wahrscheinlichkeit
gibt es gerade Sie und mich in all unserer Gewöhnlichkeit.
533
tive einfach nicht richtig kennen gelernt. Ebenso gilt es ver-
mutlich für den verharmlosenden Mythos, die Menschen
»bräuchten« eine Religion.
Kürzlich, im Jahr 2006, zitierte ein Anthropologe (der ein
Musterbeispiel für die Ich-bin-Atheist-Schmeichelei ist) die
frühere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir. Sie ant-
wortete auf die Frage, ob sie an Gott glaube: »Ich glaube an
Menschen, und Menschen glauben an Gott.« Ich würde lieber
sagen: Ich glaube an die Menschen, und wenn Menschen er-
mutigt werden, selbst über alle heute verfügbaren Erkennt-
nisse nachzudenken, stellt sich häufig heraus, dass sie nicht an
Gott glauben und ein erfülltes, zufriedenstellendes, ja wahrhaft
befreitesLeben führen.
534
ÄNHANG
Brights Deutschland
c/o Maximilian Hester
Seestraße 90
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en 535
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Fax: (031) 3716568
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nm
Dr. Zo& Hawkins, Dr. Beata Adams und Dr. Paul St John Smith, perssnlike
Mitteilung.
65
u
w
Sagan 1995; dt. 1996, S. 67f.
Weinberg 1993; dt. 1995, S. 254.
Zu der Fernsehdokumentation, in deren Rahmen das Interview stattfand,
gab es auch ein Begleitbuch (Winston 2005).
6 Vgl. Dennett 2006.
7”Adams 2003; dt. 2005, S. 182f. Dort findet sich die vollständige Ansprache.
Das Zitat wurde leicht gekürzt.
oo
Vgl. Perica 2002 und die Rezension des Buches durch C. S.Lilly in der Ame-
rican Historical Review: http://www.historycooperative.org/journals/ahr/
108.5/br_151.html (22.3.2007).
Vgl. »Dolly and the Cloth Heads«, in Dawkins 2003.
Vgl.R.Alford, »O Centro Espirita and Charming Betsy«,http://opiniojuris.
powerblogs.com/posts/1140544704.shtml (gepostet am 21.2.2006, ange-
sehen am 22.3.2007).
R. Dawkins, »The Irrationality of Faith«, New Statesman (London) vom
31. März 1989.
Vgl. Columbus Dispatch vom 19. August 2005.
Vgl. LosAngeles Times vom 10. April 2006.
Vgl. http://www.pkblogs.com/gatewaypundit/2006/02/islamic-society-of-
denmark-used-fake.html
Vgl. (22.3.2007).
http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/4686536.stm und http: 7
www.neandernews.com/?cat=6 (22.3.2007).
16
Vgl. Independent vom 5. Februar 2006.
17
Vgl. A. Mueller, »AnArgument with Sir Igbal«,Independenton Sunday vom
2. April 2006, Sunday Review Section, 5. 12-16.
18
Mitford/Waugh 2001.
347.
Vgl.http://www.newadvent.org/cathen/06608b.htm(22.3.2007).
Vgl. http://www.catholic-forum.com/saints/indexsnt.htm?NF=1(22.3.
2007).
Vgl. CongressionalRecord,16. September 1981.
Vgl. http://www.stephenjaygould.org/ctrl/buckner_tripoli.html (22.3.2007).
G. Fraser, »Resurgent Religion Has Done Away with the Country Vicar«,
Guardian vom 13. April 2006.
Vgl. R.I. Sherman in Free Inquiry 8:4 (Herbst 1988), S. 16.
Vgl.N. Angier, »Confessions of a Lonely Atheist«, New YorkTimesMagazine
vom 14. Januar 200]; http://www.geocities.com/mindstuff/Angier.html
(24.3.2007).
26
Vgl. http://www.fsgp.org/adsn.html (24.3.2007).
27
Über einen besonders bizarren Fall, bei dem ein Mann nur deshalb ermor-
det wurde, weil er Atheist war, berichtete der Newsletter der Freethought
Society of Greater Philadelphia vom März/April 2006. Vgl. http://
www.fsgp.org/newsletters/newsletter_2006_0304.pdf (24.3.2007) und
dort »The Murder of Larry Hooper«.
28
Vgl. http://www.hinduonnet.com/thehindu/mag/2001/11/18/stories/
2001111800070400.htm (24.3.2007).
29
Vgl. Q. de la Bedoyere, Catholic Herald vom 3. Februar 2006.
30
C. Sagan, »The Burden of Skepticism«, Skeptical Inquirer 12:1 (Herbst
1987), S. 38-46.
3DD
- Diesen Fall erörtere ich in Dawkins 1998.
3
T.H. Huxley, »Agnosticism« (1889), Nachdruck in Huxley 1931. Der voll-
ständige Text von »Agnosticism« findet sich auch unter http://www.
infidels.org/library/historical/thomas_huxley/huxley_wace/part_02.html
(24.3.2007).
3w
B. Russell, »IsThere a God?« (1952), Nachdruck in Russell 1997b.
34
A. Mueller, »An Argument with Sir Igbal«, Independent on Sunday vom
2. April 2006, Sunday Review Section, S. 12-16.
35
Vgl. New YorkTimes vom 29. August 2005; auch Henderson 2006.
36
Vgl. Henderson 2006.
37
Vgl. http://www.lulu.com/content/267888 (25.3.2007).
38
Vgl. H. Benson et al., »Study of the Therapeutic Effects of Intercessory
Prayer (STEP) in Cardiac Bypass Patients«, in American Heart Journal
151:4 (2006), S.934-942.
39
Vgl. R. Swinburne, Scienceand TheologyNews vom 7. April 2006.
40
Vgl. New YorkTimesvom 11. April 2006.
41
In Gerichtsverfahren und in Büchern wie Ruse 1982. Sein Artikel im Play-
boy erschien in der Ausgabe vom April 2006.
548
42
Coynes Antwort auf Ruse erschien in der Playboy-Ausgabe vom August
2006.
43
Vgl. M. Bunting, Guardian vom 27. März 2006.
44
Dennetts Antwort erschien im Guardian vom 4. April 2006.
45
Vgl.http://scienceblogs.com/pharyngula/2006/03/the_
dawkinsdennett_boogeyman.php;http://scienceblogs.com/
pharyngula/2006/02/our_double_standard.php;http://scienceblogs.com/
pharyngula/2006/02/the_rusedennett_feud.php(alleangesehenam
26.3.2007).
46
Vgl. »Die Enzyklopädie der extrasolaren Planeten«, http://vo.obspm.fr/
exoplanetes/encyclo/encycl.html (26.3.2007).
Vgl. Dennett 1995.
Vgl. die Internet Encyclopedia of Philosophy unter »The Ontological Ar-
gument«: http://www.iep.utm.edu/o/ont-arg.htm (26.3.2007).
49
Vgl. W. Grey, »Gasking’s Proof«, Analysis 60:4 (2000), S. 368-370;
http://www.uq.edu.aw/-pdwgrey/pubs/gasking.html (26.3.2007).
50
Das Thema der Illusionen erörtert R. Gregory in mehreren Büchern, da-
runter Gregory 1997.
51
Mein eigener Erklärungsversuch findet sich in Dawkins 1998, S. 268f.; dt.
2000, S. 347 ff.
52
Vgl. »The Spirituality of Fatima«, http://www.sofc.org/Spirituality/s-of-
fatima.htm (26.3.2007).
5w
Vgl. T. Flynn, »Matthew vs. Luke«, Free Inquiry 25:1 (2004), S. 34-
45; R. Gillooly, »Shedding Light on the Light of the World«, ebd., S. 27-
30.
54
Vgl. Ehrman 2006, auch Ehrman 2003a und 2003b.
5 un
Beit-Hallahmi/Argyle 1997.
56
Vgl. E.J. Larson/L. Witham, »Leading Scientists Still Reject God«, Nature
394 (1998), $.313.
5—
Unter http://www.leaderu.com/ftissues/ft9610/reeves.html (27.3.2007)
findet sich unter dem Titel »Not So Christian America« eine besonders in-
teressante Analyse der historischen Trends in den religiösen Ansichten der
US-Amerikaner. Ihr Autor ist T. C. Reeves, Professor für Geschichte an der
University of Wisconsin; als Grundlage dient Reeves 1996.
5 67
Vgl.http://www.answersingenesis.org/docs/3506.asp(27.3.2007).
59
R.E. Cornwell/M. Stirrat, Manuskript in Vorbereitung, 2006.
6o
P.Bell,»WouldYou Believe It?«,Mensa Magazine (Februar 2002), S. 12f.
61
Eine umfassende Übersicht über Vorkommen, Gebrauch und Zitate dieser
Analogie aus kreationistischer Sicht gibt G. Korthof unter http://
home.wxs.n//-gkorthof/korth046a.htm (27.3.2007).
549
62
Adams 2003; dt. 2005, S. 138. Meine »Totenklage für Douglas Adams«, die
ich am Tag seines Todes verfasste, erschien als Epilog zu Lachs im Zweifel
sowie in Dawkins 2003; dort findet sich auch die Ansprache, die ich bei der
Trauerfeier in der Kirche St.-Martin-in-the-Fields hielt.
6 [2%]
Interview im Spiegelvom 26. Dezember 2005 (in englischer Sprache); vgl.
http://www.spiegel.de/international/spiegel/0,1518,392319,00.html
(27.3.2007).
6 >u
Susskind 2006, S. 17.
6
Vgl. Behe 1996.
6a
Vgl. http://www.millerandlevine.com/km/evol/design2/article.html(29.3.
2007).
6
6
|Le
=Zitiert in Freeman 2002.
Dieser Bericht über den Prozess von Dover einschließlich der Zitate findet
sich in A. Bottaro/M. A. Inlay/N. J. Matzke, »Immunology in the Spotlight
at the Dover »Intelligent Design« Trial«, Nature Immunology 7 (2006),
S. 433 ff.
69
Vgl. J. Coyne, »God in the Details: The Biochemical Challenge to Evolution«,
Nature 383 (1996), S. 227f. Der Artikel von Coyne und mir mit dem Titel
»One Side Can Be Wrong« erschien im Guardian vom 1. September 2005;
vgl. http://www.guardian.co.uk/life/feature/story/0,13026,1559743,00.
html (29.3.2007). Der zitierte Blogger findet sich unter http://www.
religionisbullshit.net/blog/2005_09_O1_archive.php (29.3.2007).
7 [>]
Vgl. Dawkins 1995.
7 ‘et
Später räumte Carter ein, für das Prinzip als Ganzes wäre »Kennbarkeits-
prinzip« ein besserer Name gewesen als »anthropisches Prinzip«, doch
letztere Bezeichnung hatte sich bereits eingebürgert. Vgl. B. Carter, »The
Anthropic Principle and Its Implications for Biological Evolution«, Philo-
sophical Transactions of the Royal Society of London A, 310 (1983),
S. 347-363. In Buchlänge wird das anthropische Prinzip von J. Barrow
und F.Tipler (1988) behandelt.
72
Vgl. Comins 1993.
73
Ausführlicher vertrete ich diese Argumentation in Dawkins 1986.
74
M. Gell-Mann, zitiert auf der Website »Edge«, http://www.edge.org/
3rd_culture/bios/smolin.html (30.3.2007).
7
7
oo
ww
so Swinburne 1996; dt. 2006, S. 41f.
Ebd., S. 109.
Vgl. Ward 1996, S.99, und Polkinghorne 1994, S. 55.
7
J. Horgan, »The Templeton Foundation: A Skeptic’s Take«, Chronicle of
Higher Education vom 7. April 2006. Vgl. auch http://www.edge.org/
3rd_culture/horgan06/horgan06_index.html (30.3.2007).
550
79
P. B. Medawar, Rezension von Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kos-
mos, Nachdruck in Medawar 1982, S. 242.
Dennett 1995, S. 155; dt. 1997, S. 211.
Zitiert in Dawkins 1982, S. 30.
K. Sterelny, »The Perverse Primate«, in: Grafen/Ridley 2006, S. 213-223.
Pinker 1997; dt. 1998, S. 687.
Vgl. N. A. Chagnon, »Terminological Kinship, Genealogical Relatedness
and Village Fissioning among the Yanomamö Indians«, in: Alexander/
Tinkle 1981, Kap. 28.
° Darwin 1871, Bd. 1, S. 156; dt. 1966, S. 143f.
Zitiert in Blaker 2003, S. 7.
Boyer 2001; dt. 2004, S.359.
Vgl. z.B. Buss 2005.
Vgl. http://www.edge.org/3rd_culture/bloom04/bloom04_index.html
(3.4.2007).
90
Vgl. D. Keleman, »Are Children »Intuitive Theists<?«,PsychologicalScience
15:5 (2004), $. 295-301.
Vgl. Dennett 1987.
Guardian vom 31. Januar 2006.
Smythies 2006.
Tischreden, »17. Von der heiligen Taufe«, $ 10 »Nutzen der Kindertau-
fe«, in Luthers Sämtliche Schriften, Hg. J. G. Walch (Missouri-Ausgabe,
Nachdruck 1986), Bd. 22, S. 546; vgl. auch Bd. 23, Sp. 1910-1916
(Zitatsammlung s.u. »Vernunft«). Englischsprachige Zitate ohne
Quellenangabe unter: http://jmm.aaa.net.au/articles/14223.htm (31.3.
2007).
95
Dieser ausgezeichnete Film steht zur Verfügung unter http://www.
thegodmovie.com/index.php (31.3.2007).
96
Vgl. M. Hauser/P. Singer, »Morality without Religion«, Di Inquiry 26:1
(2006), 5. 18£
Dostojewski 1971, Bd. 1, S. 85f. (2. Buch, Kap. 6).
Pinker 2002; dt. 2003, S. 458f.
Hinde 2002, vgl. auch Singer 1994, Grayling 2003 und Glover 2006.
Vgl. Lane Fox 1992 und Berlinerblau 2005.
Vgl. Holloway 1999 und Holloway 2005. Holloways Formulierung vom
»genesenden Christen« findet sich in einer Buchrezension im Guardian vom
15. Februar 2003: http://books.guardian.co.uk/reviews/scienceandnature/
0,6121,894941,00.html (31.3.2007). Einen ausgezeichneten Bericht
über mein Gespräch in Edinburgh mit Bischof Holloway schrieb die
schottische Journalistin Muriel Gray im GlasgowHerald vom 5. September
554
2004; vgl.http://richarddawkins.net/article, 546,Neither-intellect-nor-faith-
will-save-humanity,Muriel-Gray (31.3.2007).
10 N
Eine beängstigende Sammlung von Zitaten amerikanischer Geistlicher,
die den Hurrikan Katrina auf die »Sünden« der Menschen zurückführten,
findet sich unter http://www.indymedia.org/en/2005/09/823994.shtml
(31.3.2007).
10 o
Vgl. den Bericht der BBC unter http://news.bbe.co.uk/2/hi/americas/
4427144.stm (31.3.2007).
104 R, Dawkins, »Atheists for Jesus«, Free Inquiry 25:1 (2005), S. 9.
105 Julia Sweeney zielt in die richtige Richtung, wenn sie auch kurz den Bud-
dhismus erwähnt. Das Christentum gilt vielfach im Vergleich zum Islam
als nettere, sanftere Religion, und den Buddhismus halten viele für die
netteste von allen. Aber die Vorstellung, wegen der Sünden in einem
früheren Leben auf der Leiter zur Wiedergeburt degradiert zu werden, ist
ebenfalls recht unangenehm. Sweeney meint dazu: »Als ich in Thailand
war, begegnete mir zufällig eine Frau, die einen entsetzlich missgebildeten
Jungen versorgte. Ich sagte zu der Betreuerin: »Das ist aber großartig, dass
Sie sich so um den armen Jungen kümmern.« Darauf erwiderte sie: »>Sagen
Sie nicht »der arme Junge«. Er muss in eine früheren Leben etwas Schreck-
liches getan haben, dass er so geboren wurde.«
106 Eine fundierte Analyse der von Sekten verwendeten Methoden findet sich
bei Barker 1984. Eher journalistische Berichte über moderne Kulte schrie-
ben Kilduff/Javers 1978 und Lane 1996.
10 Ss
Vgl. P.Vallely/A. Buncombe, »History of Christianity: Gospel according to
Judas«, Independent vom 7. April 2006.
108Vgl. Vermes 2000.
109Der Aufsatz von Hartung erschien ursprünglich in Skeptic 3:4 (1995), ist
jetzt aber am einfachsten zugänglich unter http://www.lraine.com/
swtaboo/taboos/ltn01.html (31.3.2007).
"10 Smith 1995.
je
IS. Rushdie, »Religion, As Ever, Is the Poison in India’s Blood«, Guar-
dian vom 9. März 2002: http://books.guardian.co.uk/departments/
politicsphilosophyandsociety/story/0,,664342,00.html(31.3.2007).
11 N
Vgl. N. D. Glenn, »Interreligious Marriage in the United States: Patterns
and Recent Trends«, Journal of Marriage and the Family 44:3 (1982),
S. 555-566.
11un
2w
http://www.ebonmusings.org/atheism/new10c.html (31.3.2007).
11
Vgl. Huxley 1871.
11
Vgl.http://www.classic-literature.co.uk/american-authors/19th-cent
abraham-lincoln/the-writings-of-abrahamlincoln-04/
(31.3.2007).
552
11 oo
Wells 1902, S. 299ff.
1l oo
I
© Vgl. Bullock 1991.
11
Hitler 1933, S. 177 (Bd.1, Kap. 5: »Der Weltkrieg«).
1l
Vgl. http://www.ffrf.org/fttoday/1997/march97/holocaust.html (31.3.
2007). Dieser Artikel von R. E. Smith, ursprünglich in Freethought To-
day vom März 1997 erschienen, enthält zahlreiche Zitate von Hitler
und anderen Nazis mit Quellenangaben. Der Heß-Brief wird im Ori-
ginalwortlaut von J. Fest in seiner Hitler-Biografie zitiert: Fest 1973,
Sa Re5%
120
Englische Version des Redezitats unter http://homepages.paradise.net.nz/
mischedj/ca_hitler.html (31.3.2007).
12 -
Bullock 2005, S. 96; dt. 1989, S. 76.
12 WW
mn Toland 1991; dt. 2004 (1977), Bd. 2, 5.881.
12
Hitler, Rede auf einer NSDAP-Versammlung am 12. April 1922, in
Jäckel/Kuhn 1980, S. 623; Baynes 1942, S. 19 £.(engl. Fassung).
12
Hitler 1933, S. 70 (Bd.1, Kap. 2: »Wiener Lehr- und Leidensjahre«).
12
Picker 1997.
12
am
= Bullock 2005, $. 43; dt. 1989, S. 417.
12
Vgl. http://www.ffrf.org/fttoday/back/hitler.html (31.3.2007). Dieser
Artikel von A.N. Gaylor über »Hitler’s Religion«, ursprünglich in Free-
thought Today erschienen, enthält zahlreiche Hitler-Zitate in englischer
Übersetzung.
12 ©
Reichsarbeitsführer Robert Ley, in Der Schulungsbrief. Das zentrale
Monatsblatt der NSDAP und DAF. April 1937, IV. Jahrgang, 4. Folge,
Herausgeber: Der Reichsorganisationsleiter.
129
Vgl. »What Is True?«, Dawkins 2003, Kap. 1.2.
130
Beide Wise-Zitate stammen aus seinem Beitragin dem 1999 erschienenen
Buch In Six Days, einer Aufsatzsammlung von Junge-Erde-Kreationisten
(Ashton 1999).
13DD
- Warraq 1995, S. 175; dt. 2003.
13
Dass John William Gott zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er
Jesus als Clown bezeichnet hatte, wird berichtet in The Indypedia, heraus-
gegeben vom Independent, 29. April 2006. Über den Versuch, die BBC
wegen Gotteslästerung zu verklagen, berichteten die BBC-Nachrichten
am 10. Januar 2005: http://news.bbe.co.uk/1/hi/entertainment/tv_and_
radio/4161109.stm (31.3.2007).
133
Vgl.http://adultthought.ucsd.edu/Culture_War/The_American_Taliban.
html (31.3.2007).
134
Vgl. Hodges 1983.
135
Dieses und die übrigen Zitate in diesem Abschnitt stammen von der
933
bereits genannten American-Taliban-Website:http://adultthought.ucsd.
edu/Culture_War/The_American_Taliban.html(31.3.2007).
136
Ebd.
13 S
So zu lesen auf der offiziellen Website von Pastor Phelps und seiner West-
boro Baptist Church, »godhatesfags.com«: http://www.godhatesfags.com/
fliers/jan2006/20060131_coretta-scott-king-funeral.pdf (31.3.2007).
138
Vgl. Mooney 2005 und Silver 2006. Silvers Buch erschien erst, als sich
das vorliegende Buch im letzten Korrekturstadium befand; ich konn-
te es deshalb nicht so ausführlich erörtern, wie es mir lieb gewesen
wäre.
139
Eine interessante Analyse der Frage,warum Texas in dieser Hinsicht etwas
Besonderes ist, findet sich unter http://www.pbs.org/wgbh/pages/front-
line/shows/execution/readings/texas.html (31.3.2007).
14
14
=©5http://en.wikipedia.org/wiki/Karla_Faye_Tucker (31.3.2007).
Diese Zitate von Randall Terry stammen von der bereits genannten Ame-
rican-Taliban-Website: http://adultthought.ucsd.edw/Culture: War/The_
American_Taliban.html (31.3.2007).
142
Bericht von Fox News vom 3. September 2003: http://www.foxnews.
com/story/0,2933,96286,00.html (31.3.2007).
143
Vgl. M. Stamp Dawkins 1980.
144
Vgl. www.truthorfiction.com/rumors/b/beethovenabort.htm (31.3.2007).
145
Medawar/Medawar 1977.
146
Der Artikel von Hari, ursprünglich im Independent vom 15. Juli 2005 er-
schienen, findet sich auch unter http://www.johannhari.com/archive/ar-
ticle.php?id=640 (1.4.2007).
14 S
Vgl. VillageVoicevom 18. Mai 2004: http://www.villagevoice.com/news/
0420,perlstein,53582,1.html (1.4.2007).
14 oo
Harris 2004, S. 29.
149
Vgl. N. Hassan, »An Arsenal of Believers«, New Yorkervom 19. Novschbier
2001. Der Artikel findet sich auch unter http://www.bintjbeil.com/
articles/en/011119_hassan.html (1.4.2007).
15 [>]
Bericht in den BBC News vom 30. August 2000: http://news.bbc.co.uk/
V/hi/wales/901723.stm (1.4.2007).
15 =
Vgl. Loftus/Ketcham 1994.
152
Vgl. J.Waters, »Abuse Has Deep Roots in the Past«, Irish Times vom 3. No-
vember 2003. Der Artikel findet sich auch unter http://oneinfour.org/
news/news2003/roots/ (1.4.2007).
15 w
Associated Press vom 10. Juni 2005; vgl. ran
reference/clergy/clergy426.html(1.4.2007).
154
Vgl. http://www.av1611.org/hell.html (1.4.2007).
554
155
Vgl. N. Humphrey, »What Shall We Tell the Children?«, in Williams 19985
Nachdruck in Humphrey 2002.
156
Vgl.http://www.law.umkc.edu/faculty/projects/ftrials/conlaw/yoder.html
(1.4.2007).
7 Vgl. J. Harris im Guardian vom 15. Januar 2005: http://www.guardian.
co.uk/weekend/story/0,,1389500,00.html (1.4.2007).
Vgl. Times Educational Supplement vom 15. Juli 2005.
Vgl. Daily Telegraph vom 18. März 2002; http://www.telegraph.co.uk/
opinion/main.jhtml?xml=/opinion/2002/03/18/do1801.xml (1.4.2007).
160
Vgl. Guardian vom 15.Januar 2005; http://www.guardian.co.uk/weekend/
story/0,,1389500,00.html (1.4.2007).
161
Der Text unseres Briefes, entworfen vom Bischof von Oxford, lautete:
Sehr geehrter Herr Premierminister,
wir schreiben Ihnen als Gruppe von Naturwissenschaftlern und Bischö-
fen, weil wir unserer Sorge um den naturwissenschaftlichen Unterricht
am Emmanuel City Technology College in Gateshead Ausdruck verleihen
wollen. Die Evolution ist eine Theorie von großer Erklärungskraft, die
eine Begründung für zahlreiche Phänomene in vielen Fachgebieten liefert.
Sie lässt sich durch Betrachtung der Belege verfeinern, bestätigen und
auch grundlegend verändern. Anders als die Sprecher der Schule behaup-
ten, ist sie keine »Glaubenshaltung«, die in die gleiche Kategorie gehören
würde wie der biblische Schöpfungsbericht, der ganz andere Funktionen
und Zielsetzungen verfolgt.
Es geht hier nicht nur um die Unterrichtsinhalte an einer einzigen Schule.
Vielmehr bestehen wachsende Befürchtungen darüber, was an den vorge-
sehenen Bekenntnisschulen der neuen Generation gelehrt wird und wie es
gelehrt wird. Nach unserer Überzeugung müssen die Lehrpläne in solchen
Schulen wie auch am Emmanuel City Technical College genau überwacht
werden, damit die Fachgebiete von Naturwissenschaft und Religion ange-
messen respektiert werden.
Mit freundlichen Grüßen
16 WW
N Vgl. British Humanist AssociationNews, März-April 2006.
16;
Vgl.T.Adams
imObserver
vom11.Juli2004;http://observer.guardian.co.uk/
magazine/story/0,11913,1258506,00.html
(1.4.2007).
164
Das Oxford English Dictionary führt »gay«auf den Slang amerikanischer
Strafgefangener um das Jahr 1935 zurück. P.Wildeblood hielt es in seinem
berühmten Buch Against the Law (London 1955) für erforderlich, »gay«
als »amerikanischen Euphemismus für »homosexuell« zu definieren.
165
Shaheen hat drei Bücher geschrieben und darin biblische Bezüge in den
Komödien, Tragödien und historischen Dramen getrennt zusammenge-
EEE 555
tragen. Die Gesamtzahl von 1300 wird erwähnt unter http://www.
shakespearefellowship.org/virtualclassroom/StritmatterShaheenRev.htm
(1.4.2007).
166
Im Internet zu finden unter http://www.bibleliteracy.org/Secure/
Documents/BibleLiteracyReport2005.pdf (1.4.2007).
167
Milne 1999, S. 107-110.
168
Medawar 1984, S. 96.
169
Aus der Erinnerung schreibe ich dieses Argument dem Oxforder Philoso-
phen Derek Parfitt zu. Ich habe seine Herkunft jedoch nicht genau re-
cherchiert, weil ich es nur nebenbei als Beispiel für den Trost der Philoso-
phie erwähne.
17 =}
Russell 1957; dt. 1968, S.62.
17 pe}
Bericht in den BBC-Nachrichten vom 25. Juni 1999; vgl. http://news.bbc.
co.uk/1/hi/special_report/1999/06/99/cardinal_hume_funeral/376263.
stm (1.4.2007).
17
17.
»Adams
w en 2003; dt. 2005,
Vgl. Wolpert 1992.
S. 172.
17
Sagan 1996; dt. 1997, S. 46.
556
PERSONENREGISTER
IR
Bierce, Ambrose 87 Cairns-Smith, A.G. 180
bin Laden, Osama 423f., 525 Caligula 373,378
Blackmore, Susan 271,275 Camus, Albert 295
Blair, Tony 422,424, 460£., 464, Carlin, George 389
466 ff. Carlson, Tucker 406
Blaker, Kimberly 401 Carr, Peter 61
Bloom, Paul 250ff., 256. Carter, Brandon 189
Bohr, Niels 507 Chagnon, Napoleon 236f.
Bondi, Herman 390 Chaplin, Charlie 123
Bonhoeffer, Dietrich 174, 177,525 Chesterton, Gilbert Keith 416
Bormann, Martin 383 Chomeini, Ayatollah 400, 525
Bottomley, Horatio 526 Churchill, Randolph 45
Bouquet, A.C.373f. Churchill, Winston 45, 97,402
Bowen, Justice 476 Clarke, Arthur C. 105, 284
Boyd, Robert 275 Collins, Francis 140
Boyer, Pascal 52, 247 f., 257 Comte, Auguste 69, 102f.
Boykin, William G. 401 Conniff, Richard 297
Bray, Michael 329, 410-414 Cornwell, R. Elizabeth 143f.
Britton, John 410-413 Coulter, Ann 400, 445
Brockman, John 214 Coyne, Jerry 97,187
Brodie, Richard 275 Cranmer, Thomas 436
Bront&,Emily 121 Crick, Francis 141, 275
Brown, Andrew 463 Cromwell, Oliver 508
Brown, B.H. 119 Curie, Marie u. Pierre 139
Brown, Dan 137
Bruce, Lenny 348 Dahl, Roald 418
Bryan, William Jennings 394 Darrow, Clarence 75f£.
Bshary,R. 303 Darwin, Charles 22, 25,89, 111f,
Buckman, Robert 288, 297 137 f£., 157 £., 160-164, 169 ff.,
Buckner, Ed 58 173f., 192, 196f., 204, 206,
Bullock, Alan 379 219-223, 225f., 238 f., 295, 307,
Bunting, Madeleine 99 446, 491, 510, 533
Bufuel, Luis 324 Darwin, George 139
Burger, Warren 459 David (König) 131-134
Burnell, Jocelyn Bell 104 Davies, Paul 32, 101
Bush, George sen. 62 Dembski, William 99
Bush, George W. 123, 401, 405 f., Dennett, Daniel 27,99, 106, 161,
422,424, 443 216, 221,227, 253 ff, 257,320,
Bush, Jeb 412 488, 523,527
Deutsch, David 507
558
Diana, Prinzessin 289 French, Peter 468
Dickens, Charles 139 Frisch, Karl von 254
Dickinson, Emily 501 Frum, John 285-289
Diderot, Denis 31, 118£.
Distin, Kate 275 Galilei, Galileo 137, 514
Dobson, James 247 Galouye, DanielF. 106
Donne, John 308 Galton, Francis 89
Dorman, Bob 400 Gandhi, Mahatma 65f., 346, 376
Dostojewski, Fjodor M. 316 Gasking, Douglas 117£.
Douglas, Stephen A. 370 Gaunilo von Marmoutier 117
Douglas, William ©, 459 Geer, Germaine 4]
Downey, Margaret 64 Gell-Mann, Murray 206
Drake, Frank 101 Gershwin, George 133
Dschingis Khan 373 Gillooly, Robert 132
Dyson, Freeman 203, 214f. Glenn, Norval D. 363
Glover, Jonathan 386f.
Ehrman, Bart 134 Goebbels, Joseph 385
Einstein, Albert 21,24, 26-34, 125, Goldberg, Jonah 294
139, 215, 291,315, 504 Goldwater, Barry 56
Eisenhower, Dwight D. 402 Goodenough, Ursula 24
Elizabeth II., Queen 288 Goodwin, Jan 421
Emerson, Ralph Waldo 45 Göring, Hermann 381
Engel, Gerhard 38] Gott, John William 400
Euler, Leonhard 118 Gould, Stephen Jay 79, 82 ff., 87,
Euriugena, Johannes 523 103, 394
Grafen, Alan 303
Falwell, Jerry 402, 525 Graham, Billy 134
Faraday, Michael 138. Grand, Steve 515f.
Faulhaber, Michael 385 Graves, Robert 349
Feynman, Richard 506f. Gray, Muriel 424
Fisher, Helen 258 Grayling, A.C. 322, 523
Flemming, Brian 292 Gregorius der Wundertäter, St. 49
Flew,Anthony 115 Gross, Paul 291
Flynn, Tom 63, 132. Grutter, A.S. 303
Forrest, Barbara 291 Guthrie, Thomas Anstey 251
Franklin, Benjamin 62
Fraser, Giles 59f. Hadas, Moses 479
Fraunhofer, Joseph von 69 Haggard, Ted 443 ff., 525
Frayn, Michael 256 Haile Selassie 289
Frazer, James 52, 263 Halbertal, M. 337
359
Haldane, J.B.S. 178,505, 518, 521, Isaak (Sohn Abrahams) 335f., 348,
529 367
Hamilton, W.D. 299 Ismael (Sohn Abrahams) 335
Hari, Johann 345, 421
Harries, Richard 466 Jacoby, Susan 55
Harris San 124,319,349, 387, Jammer, Max 28
421,423, 425, 527 Jaynes,Julian 484ff.
Hartung, John 352 ff., 357£. Jefferson, Thomas 46, 50, 56, 60ff.,
Hassan, Nasra 425 65£,/108, 134,136) 15871;
Haught, James 138 490f.
Hauser, Marc 297, 309-314 Jeftah 336.
Hawking, Stephen 24, 26, 32,523 Jesaja 285
Haydn, Joseph 121 Jesus 30, 46, 48, 50, 57, 70,85,
Helms, Jesse 403 105,123, 130-133,135£,.131,
Herodes Antipas 131 214, 221, 260, 283, 288f., 294,
Heß, Rudolf 380 346-351, 353, 357, 381, 383 f.,
Hill, Paul 410-414 400,421#,474
Hinde,
Robert
247,257,297,323,Johannes (Evangelist) 131, 357,
474 421,477
Hitchcock, Alfred 441f. Johannes Paul II. 51,97
Hitchens, Christopher 61,406, Johnson, PhillipE. 17,115
491,527 Jones, John E. 183, 186
Hitler, Adolf 29, 43, 96f., 151, 215, Joseph (Gatte Marias) 131 ff.
321,342, 373,375, 378-387, Josua 342, 354-357, 362
418 Judas Ischariot 349f.
Holloway, Richard 328 Juergensmeyer, Mark 410f.
Horgan,John 213ff. Jung, Carl Gustav 72f., 285
Hoyle, Fred 105, 155£, 162, 169,
200 Kagin, Edwin u. Helen 76
Hubble, Edwin Powell 102 Kaminer, Wendy 15
Hugo, Victor 431 Kant, Immanuel 116,311 ff,
Hume, Basil 493, 496 322-325
Hume, David 116, 129, 157, 221£. Karsai, Hamid 399
Humphrey, Nicholas 452, 454-457, Katharina die Große 118
459f. Keats, John 533
Hussein, Saddam 151, 342, 379 Keleman, Deborah 252, 257
Huxley, Aldous 118, 120, 530 Kelvin, William Thomson, Lord 139
Huxley, Julian 211 Kenny,Anthony 260
Huxley, Thomas Henry 70f.,78, Kepler,Johannes 84, 137
103, 295, 369 f., 376 Kertzer, David I. 431
560
King, Coretta Scott 404 Maria (Mutter Jesu) 50f., 126, 128,
King, Karen L. 350 131 £.,261
King, Martin Luther 346, 376, Maria Magdalena (Evangelistin)
404 134
Kohn, Marek 225 Maria, Königin 436
Konstantin (Kaiser) 49, 54 Mark Twain 490, 494
Kopernikus, Nikolaus 102 Markus (Evangelist) 136
Kurtz, Paul 500, 523 Marx, Karl 383
Kyrenius s. Quirinius Masih, Augustine Ashiq »Kingri«
398
Ladman, Cathy 232 Matthäus (Evangelist) 131 ff.
Lane Fox, Robin 132, 134 Maxwell, James Clerk 139
Laplace, Pierre-Simon 66 McCarthy, Joseph 98
Larson, Edward J. 142, 144 McGrath, Alister 78£.
Latimer, Hugh 436 McNeile, Herman 369
Lawrence, D.H. 372 McQuoid, Nigel 461 f., 465, 468.
Lawrence, Raymond J. 94 Medawar, Peter (u. Jean) 216,
Layfield, Stephen 462-468 416ff., 488
Lazarus 85, 249 Meir, Golda 534
Lear, Edward 110 Mencken, H.L. 44,318, 321,461
Lennon, John 12 Mendel, Gregor 140
Leslie, John 203 Micha (Prophet) 131f.
Lewis, C.S. 130, 522 Michelangelo 120f.
Lewontin, Richard 227 Mill, James 324
Ley, Robert 385 Mill, John Stuart 16, 324
Lincoln, Abraham 370£. Miller, Jonathan 337
Lofting, Hugh 25 Miller, Kenneth 183.
Loftus, Rlizabeth 439 Mills, David 63f.,119
Lot 331-334 Milne, A. A. 480
Lukas (Evangelist) 131ff. Mohammed 39f., 54, 345, 398
Luther, Martin 266f., 280f., 382, Moltmann, Jürgen 523
396 Montgomery, Bernard 99
Monty Python 283, 419
Mackie, J.L. 116 Morisi, Anna 432
Madison, James 62, 65 Morris, Desmond 12
Maimonides, Moses 353, 356 Morris, Henry 464.
Malallah, Sadiq Abdul Karim 399 Mortara, Edgardo 431 ff.,435 ff.
_ Malcolm, Norman 116 Moses 46, 105, 338-342, 344, 353,
Malcolm, Wayne 462, 466 474
Margalit, A. 337 Mozart, Wolfgang Amadeus 121
561
Mueller, Andrew 42f., 76 Pirsig, RobertM. 18
Mullan, Peter 440 Pius X. (Papst) 497
Mulligan, Geoffrey 287 Pius XII. (Papst) 384
Myers, P.Z. 100, 443, 524 Platon 295
Mytton, Jill 447,452 Poitier, Sidney 376
Polkinghorne, John 140, 207, 211
Nambas (Oberpriester d. John- Potter, Gary 404
Frum-Kultes) 287 Presley, Elvis 289
Napoleon 66, 123, 384 Pullman, Philip 182
Naughtie, James 467
Nehru, Jawaharlal 65£. Quirinius (Statthalter) 131f.
Neumann, John von 401
Newhart, Bob 90, 92 Raffael 121
Newton, Isaac 137f., 169, 533 Rahman, Abdul 399
Nikodemus (Evangelist) 134 Rahner, Karl 523
Nixon, James 38 Rawls, John 366
Noah 328f., 331 Reagan, Ronald 401
Rees, Martin 26, 80, 199, 201,
O’Casey, Sean 327 203f,219
Orwell, George 397,399, 530 Renfrew, Colin 236
Owens, Jesse 376 Richerson, Peter 275
Owens, Karen 109 Ridley, Mark 197
Ridley, Matt 175, 302
Pagels,Elaine 350 Ridley, Nicholas 436
Paine, Thomas 55f. Roberts, Keenan 444.
Paley,William 112 Roberts, Oral 48
Palin, Michael 419 Robertson, Pat 330f., 403, 525
Pascal, Blaise 146ff., 279, 345 £. Robeson, Paul 376
Paul, Gregory S. 319 Robinson, Jackie 376
Paulus (Apostel) 54, 130, 349, 351, Ronson, Jon 512
357,383 Roosevelt, Franklin D. 97
Peacocke,Arthur 140, 212 Rothschild, Eric 186
Penn & Teller 180 Rothschild, Lionel 434
Persinger, Michael 234 Rumsfeld, Donald 308, 372
Petrus (Evangelist) 134 Ruse, Michael 97,99
Phelps, Fred 404 Rushdie, Salman 37,42, 361
Philip,Prinz 288 Ruskin, John 163
Philipp (Evangelist) 134 Russell, Bertrand 74-77, 79, 100,
Phillipps, Kevin 398 114ff., 137, 147£., 426, 491
Pinker, Steven 233,317
562
Sacranie, Igbal 42, 399 Stirrat, Michael 143£.
Sagan, Carl 23, 33, 67, 100£f.,105 Stubblebine III, Albert 512£.
500, 509 Sulloway, Frank 145
Sara (Frau Abrahams) 334f. Susskind, Leonard 163, 204
Scarborough, Rick 39 Sutcliffe, Peter 123
Schrödinger, Erwin 507£. Sweeney, Julia 15, 347, 449f,, 452
Schubert, Franz 120, 122 Swinburne, Richard 84, 92 ff,
Scopes, John 394 207-211
Scott, Eugenie 96
Scotus, Duns 523 Tamarin, George 354, 356
Seaton, Nick 473 Teilhard de Chardin, Pierre 216
Seneca d.J. 384 Tennyson, Lord Alfred 244
Shaheen, Naseeb 477 Teresa, Mutter 406
Shaikh, Younis 398 Terry, Randall 406£,410
Shakespeare, William 120ff., 266, Theresa von Avila, hl. 260
308£, 337, 477,490 Thomas (Evangelist) 134 ff.
Shaw, George Bernard 231 Thomas von Aquin 108, 110ff.,
Sheen, Fulton J. 33 152, 211,445, 523
Shennan, Stephen 275 Thomas, Dylan 533
Sherman, Robert 62f. Thomson, J. Anderson 202
Shermer, Michael 144, 177,234, Tiger, Lionel 262
257,297,315, 479, 500 Tillich, Paul 525
Shulevitz, Judith 99 Timonen, Josh 523
Singer, Peter 314,377 Tipler, Frank 189
Skilling, Jeff 297 Toland, John 381
Smith, Joseph 282 Tonge, Jenny 461
Smith, Ken 357 Trivers, Robert 262, 299
Smolin, Lee 205f., 219 Turing, Alan 401f.
Smythies, John 259
Sookhdeo, Patrick 428 Unwin, Stephen 149-154
Spinoza, Baruch 31
Spong, John Shelby 328 Vardy, Peter 461, 464, 467 £.
St John, Norman 416 Veblen, Thorstein 303
Stalin, Josef 97, 151, 215, 378 ff., Venter, Craig 140
386. Vermes, Geza 289, 348, 351
Stannard, Russell 89, 140, 207, Vidal, Gore 54
389f. Voltaire 31,55
Steer, R. 138
Stenger, Victor 115, 163 Wace, Henry 70
Sterelny, Kim 229f. Wagner, Richard 478
563
Wallace, Alfred Russel 163 £. William of Wykeham 497.
Ward, Keith 211f. Williamson, Ross 67
Warraq, Ibn 47, 135, 428 Wilson, A.N. 132, 135
Washington, George 57,65, Wilson, D.S. 236
3 Wilson, E.O. 97,480, 500
Watson, Jim 140f., 275 Winston, Robert 26
Watts, Isaac 358f. Wise, Kurt 394, 396f., 529
Waugh, Auberon 220 Witham, Larry 142, 144
Waugh, Evelyn 45, 485, 526 Wittgenstein, Ludwig 510f.
Weinberg, Steven 23f., 345 Wodehouse, P.G. 251,477
Wells, G.A. 136 Wolpert, Lewis 261 f., 508
Wells, H.G. 374 Woodmorrappe, John 465
Whitcomb, John C. 464
White, Gilbert 25 Yeats, William Butler 492
Wickramasinghe, Chandra 156
Wilde, Oscar 267 Zahavi,Amotz 303ff.
Wilhelm der Eroberer 132 Zenon 115
564
SACHREGISTER
Aberglaube 52, 62, 66, 97f, 128, 340f., 343, 346 ff, 351,353,
453 357,398, 401, 443, 466, 474
Ablasshandel 497 Altruismus 237, 299-305,
Aborigines 229 307 ff.
Absolutismus 322ff., 397 £.,401 ff., »Amerikanische Taliban« 400ff.,
405, 408f.,419-422 406.
Abtreibung 38, 86, 405-419, 421, Amische 457-460
425,444 Amnesty International 43, 453
Abtrünnigkeit 70, 279,399 AmonRa 77
Achill und die Schildkröte (Para- Anarchismus 317
doxon) 115 Anglikanische Kirche 22, 60, 362 f.,
Adoption 306, 308 478
Afghanistan
344,364,399
ff,403, Anpassungsprinzip 227
Anstand 297
421
Agnostizismus 12, 16, 60, 62, Anthropisches Prinzip 102, 188f.,
65-75, 78, 83f., 100f, 103, 154, 191, 193, 196-199, 202-205,
160f., 213; s. a. PPA;VPA 219, 223,521
AIDS 400-404 Anti Discrimination Support Net-
Al-Ghurabaa 429 work (ADSN) 64
Allah 46, 57, 261, 294, 426 Antisemitismus 30, 382
Allegorien, biblische 328, 336, Aphrodite 51
339 Apokalypse 285
Allele 268f., 276f. Apollo 77,485
Alliance Defense Fund of Arizona A-posteriori-Argumente (für
39 Existenz Gottes) 112
Allmacht Gottes 54, 109, 210, 294, A-priori-Argumente (für Existenz
330 Gottes) 112,118
Allwissenheit Gottes 90, 109 Arche Noah 328, 465
Al-Qaida 423 Argumente für die Existenz Gottes
Altes Testament 28, 34, 45,53, 55, s. Existenz Gottes
131, 134, 136, 153, 328,337, Army of God (AOG) 410
565
Artensterben (Perm u. Kreidezeit) 354, 357 f., 364, 367,377,391,
68,72 395£,403,411,421,453£,
Assimilation, religiöse 356, 362 464-469, 474-478; s. a. Altes
Astarte 485 Testament; Neues Testament
Athanasisches Glaubensbekenntnis Bible Institute of Los Angeles
49 (BIOLA) 115
Atheismus 12, 15f., 18, 24f., 32, »BigCrunch« (»Großer Zusammen-
47,55£,, 60-65, 67, 73, 77,84, bruch«) 204£
97£,113,115£, 118, 142, 144, Bigotterie 62, 66, 399f., 435
154, 160f., 215, 295, 314, 318, Bikamerale Psyche 485f.
321f., 329, 341, 346, 365, 378- »Binker« 480-484, 486, 500
381,385, 387, 390f., 448-451, Biophilie 480
470£.,478, 487 ff,, 495, 501,522, Blutrache 308, 359
525,527 f.,530f., 534 Boeing 747, Die höchste Form der
Auferstehung Jesu 133, 140, 221, 155 ff., 162, 169, 195, 198, 212,
249 221
Aufklärung 55, 118, 164, 371 Bolschewismus 383
Auge, Entstehung 169-172, 188 Brahma 48, 294
Außerirdische Zivilisation 101, »Brights« 470£
103-106 British Academy 94
Australopithecus afarensis 419f. British Association 139
Brown University 183
Baal 46, 77,148, 337,340 Bryan College 394
Bayes-Theorem 149 ff. Buch der Chronik (Bibel) 465
Bedrängnisheilige 352 Buch der Offenbarung (Bibel) 357
Beethoven-Trugschluss 415f., 419 Buch der Richter (Bibel) 332 ff.,
Beichte 31 336,353
Beihilfe zum Selbstmord 494. Buch Josua (Bibel) 342, 353 f., 356
Bekehrung 115, 137. Bücher Mose (Bibel) 83,328, 331f.,
Bergpredigt 346, 474 335, 339ff., 343 f., 353, 465
»Beschneidung« v. Frauen 457 Buddhismus 55, 281
Beten s. Gebete Bulldog-Drummond-Romane 369
Beweise für die Existenz Gottes Burka, als Symbol 502 ff., 510f.,
s. Existenz Gottes 514,519, 521
Bewusstsein, Entstehung 197f.
Bewusstseinserweiterung 13ff., 158- Calvary Tabernacle Association 30
163, 187, 206f., 469, 471,527 £. Calvinismus 50, 308
Bhagavad-Gita 478 Cambridge University 80,82, 111,
Bibel 45, 66, 82, 130, 132 ff., 136, 140 f., 216-220, 236, 248,
139, 147, 163, 327-347, 351- 373£.
566
Camp Quest 76 Dominionismus 443
Campaign for Real Education 473 Dover (Pennsylvania) 330f.
Cargo-Kulte 283-289 Drake-Gleichung 101, 103
Catholic University of America 33 Dreifaltigkeit 48ff., 214,280
Catholics for Christian Political Dschihad 421,426, 429
Action 404 Dualismus, instinktiver/angeborener
Center for Origins Research 394 250-253, 255
Centro Espirita Beneficiente Unioao
do Vegetal 37 »Egoistisches Gen« 297f.
Christentum 14, 16, 47, 49£,53f,, Ehebruch 83, 343, 403, 411
58, 60, 62, 65, 133, 213, 236, Einfachheit Gottes 210-213
289, 292, 295, 319, 328 ff., 339, Einfühlungsvermögen 250, 307
347,349 ff., 353, 359, 363 £.,379, Embryonen 405-410, 413 ff., 419
381-386, 390, 395, 399 ff., 403 £., Emmanuel College 461 ff., 467£.
407,421,427,429, 432,435, Empirie 79
444f., 447,451, 466f.,473, 529 Entrückung 352
Christian Brothers 440 Entstehung des Lebens 156f., 160,
Christian Coalition 403 164, 188, 192-199
Christian Institute 462 Erbsünde 347 ff., 351
Chromosomen 268f., 276 Erklärung, Religion als 480
Church of England s.Anglikanische Ermahnung, Religion als 480
Kirche Erscheinungen 126, 128
Churchill College 141 Ethik 36, 55,83, 86, 289f, 295,
Clare College 140f. 303, 309f£,313f,318, 321-329,
Conquistadores 54, 434 333 f£,,337,341,343, 346£,351,
353f,358, 364ff, 373, 377,
Dänemark, Karikaturenstreit 39-44 413 ff, 419£,422, 453, 480,487
Darwinismus 13, 17,97, 106, Etikettierung, religiöse (von Kin-
156£, 160, 187, 191, 196, 219, dern) 360, 362, 437, 471 ff., 528
223, 225, 227-230, 233-236, Eukaryonten 197f.
239, 246, 253f,, 258, 267£, Euplectella 165
270, 275, 290, 296-299, 302- Evangelien/Evangelisten 130ff.,
307,309 134-137, 214,347, 350, 382
Deismus 31f,55f£., 60, 62, 65f., Evangelische Kirche s. Protestanti-
164, 213 sche Kirche
Demonstrativer Konsum 303 Evolution/Evolutionstheorie 18,
Deontologie 324 30,46, 88, 95-99, 106, 112,
Determinismus 308 138f., 141 ff, 156, 161-164,
DNA-Abschnitte 192f., 268f., 500, 171£,176ff., 181, 184, 186-192,
333 195-198, 202 ff., 207, 212, 222,
567
225, 227, 234, 237£, 247,250, Frauenwahlrecht 367.
252, 260-266, 281 ff., 288f., 291, Free Inquiry 20, 63, 132
295, 297, 299, 301,305 f., 310, Freedom for Religion Foundation
31253352) 377.89 1:393) (FFRF) 293
419f., 446, 462, 467,484, 505, Freethought Society of Greater
509-516, 520, 529. Philadelphia 65
Evolutionspsychologie 225, 250, Freier Wille 153
568
Gestaltungsstandpunkt 253-256 Hedonismus 295,315
Gewissen 32] Heilige/Heiligsprechung 50f.,
Glaube an den Glauben 488, 530 86
Glaubenskonflikte 58 Heilige Schrift s. Bibel
Glenarm (Nordirland) 362 Heterogamie 363
Gnade 308, 523 Hexenverfolgung 12,438
Goldene Regel 322 Hexerei/Hexen 98, 155, 230
Goldenes Kalb 77, 337£. Himmelfahrt 249
Goldilocks-Zone 189-193, 201, Himmelsgott 53£.
203, 207 »Himmelshaken« 106, 219, 221 ff.
Golgi-Apparat 393f., 396 Himmlische Heerscharen 51
Gottesbeweis s. Existenz Gottes Hinduismus 47£, 361
Gotteshypothese 12,45f.,55, 66, Hiroshima 93
69, 72, 84, 86, 88, 95, 103, 153, Hohelied Salomos (Bibel) 474
157:207,210,223 Hölle 43,93, 352, 389, 432, 441 f.,
Gotteslästerung 279, 398 ff. 444-447, 451f., 492, 496, 499
Gottesstaat 421,443 Holocaust 93
»Gotteszentrum« (im Gehirn) 234 Homogamie 363
Graudrosslinge 303 f. Homosexualität,
Großbritannien 41f., 47,89, 140, Diskriminierung/Bestrafung
143, 145, 345, 368, 399 ff ‚412, 15f.,38f., 330, 343, 401-405,
423, 429, 457, 461-470 443.
Großzügigkeit 93, 147, 302, 304f., Honiganzeiger 300
307,315 Human-Genomprojekt 140
Gründerväter (USA) 56f., 60, 62, Humanismus 318, 480
65f.
Gruppenethik/Gruppenmoral 352, »Imaginäre Freunde« s. »Fantasie-
357£. freunde«
Gruppenselektion 228, 235-239, Immunsystem 186, 188
277 Indien 12, 65 f., 360.
Gunpowder Plot 12 Indoktrination im Kindesalter,
Güte Gottes 109, 153 religiöse 14, 18,247, 367,442,
444-447, 453 f., 456-460, 467 ff.,
HADD (hyperactive agent detec- 472
tion device«) 257 Inka 454ff.
Halley’scher Komet 190 Inquisition 75,431 f., 434
Halluzinationen 124, 128, 217, Inspiration, Religion als 480, 500
482,486 »Intelligent Design« (ID) 99, 115,
Harvard University 19, 97, 227, 156 173-177.,.17941837183,
309, 394£,397 187, 195, 291,330
569
446, 471f,474,496£;s. a.
Intentionaler Standpunkt 253-256
Intentionalität höherer Ordnung Römisch-katholische Kirche
255 »Katrina« (Hurrikan) 330
Inuit 366 Katze, Schrödingers Parabel von der
Irak 36, 123, 360, 372, 422 507£.
Iran 421 Ketzerei 48, 279, 387
Irland 439f. Kindesmisshandlung, körperliche
Irrationalität (der Religionen) 213, s. Sexueller Missbrauch
257 Kindesmisshandlung, psychische
Islam 14,38, 40-43, 47,53f., 281, 431,437f.,441f.,452
335f,345, 361,373, 398 f., 407, King’s College 70
412,424, 427 ff., 478 King-James-Bibel 474
Israel 12,30, 421 Kolonialismus 54, 286
Kommunismus 97
Jahwe 34, 46, 261, 294,485 Komplexität, nicht reduzierbare
Jericho, Zerstörung 342, 354 ff., 362 s. Nicht reduzierbare Komplexität
Jesuiten 247 Konfessionelle Schulen 360, 362
Johannesevangelium 131 Konfuzianismus 55
John-Frum-Kult 288f. Konsequentialismus 324 f., 407 ff.,
Judasevangelium 350 413 ff., 420
Judentum 12, 16, 26, 29, 47,53f., Konservativismus 56f.
63,133, 213,338, 350, 353, Kopenhagener Interpretation (der
357 ff., 362 ff., 381-384, Quantentheorie) 507f.
478 Kopplung (genetische) 276
Judenverfolgung 381 ff.; s. a. Anti- Koran 54, 424, 428, 430, 468, 478
semitismus Kosmologie 109, 157, 163, 198,
Jugoslawien, Bürgerkrieg 12,36 219, 504
Jungfrauengeburt 85, 100, 133, Kosovo 360 =
135, 221,249 »Kran« 13, 106, 197, 218f., 221 ff.
Jüngstes Gericht 401 Kreationismus 17, 95-98, 142, 156,
Jyllands-Posten 39 ff. 164, 167-170, 173-178, 181,
183, 252, 254, 390, 393, 396,
Kambrische Explosion 177 420, 461, 463, 467 £.,529, 533
Kamikazeflieger 423, 427 Kreuz, als heiliges Symbol 348
Kategorischer Imperativ 322f. Kreuzzüge/-ritter 12,54, 60, 231,
Katholische Kirche/Katholischer 429, 434
Glaube/Katholizismus 14, 16, Kriegsdienstverweigerung, religiöse
28, 36, 51,58, 232, 248, 260, Gründe 35
281,352, 359f.,362f., 379-382, Kuckucke 306
385, 405, 431-436, 438, 440f., Kulturelle Vererbung 268
570
Kulturrelativismus 392 Missionierung 54, 105, 284 ff.
Kuna (Stamm) 313 Mitgefühl 93, 297, 309
Künstliche Befruchtung 409 Mithras 77
Mitleid 297, 307£
Laxmi 48 Mittelalter 228, 496-499
»Lebensschützer« 416, 418. Mittelmäßigkeitsprinzip 102
Liberty University 402 »Mittelwelt«511,513ff, 519ff.
London,
Bombenanschläge
12, »Module« des Gehirns 250
422ff,428f Monismus, instinktiver 250ff.
Lückentheologie 174-179, 181, Monotheismus 46ff., 53 f., 334f.,
188, 197 338,373
Lügen 322f. Montreal, Unruhen 317£.
Lukasevangelium 131ff., 347, 465 Moody Bible Institute 134
Moore-Gesetz 377
Madrid, Bombenanschläge 428 Moral13,79,
83,246,291,296f.,
Magdalenen-Heime 440 304,309£,312,315,318,
Magie/Zauberei 105, 135, 179£., 320-323,325,328£,332,336,
193, 230, 248, 263 f., 284, 452 339-343,346£,351,354,357,
Mammutbaum 166f.
364,375,
390,398,403,411,
Markusevangelium 136, 445, 488 413,448,455,
471
Märtyrer 135,236,279,387, Moralphilosophie 309,314,323,
412£,423, 425ff,429£,436 325,348,408
Marxismus 387 Mormonentum 53, 282
Massenvisionen 128 Motten
239-243,
245,247,250,
Maßstäbe für Gut und Böse 321f.
252f,261
"Matthäusevangelium131ff, 382, Multiversum 204-207, 219, 223
465,476 Mutationen 268, 270, 273f.
Megaversum 204 Mystizismus 28
Meinungsfreiheit 38, 43, 365, 453
Mekka 345 Nächstenliebe 293, 306, 315, 403,
Memplex 276, 278-282 445
Mempool 269f., 278f., 340,375 National Academy of Sciences
Memtheorie/Meme 229, 267- (NAS) 142 ff.
271, 274-282, 289, 298, 340, National Association of Evangelicals
375 443
Mennoniten 457 National Center for Science
Messe 260 Education (NCSE) 96
Ey
Naturkatastrophen, als göttliche Operation Rescue 406, 410
Strafe 329f. Optische Täuschungen 124f.
Natürliche Selektion 13, 112, Oral Roberts University 48
156 ff, 160-168, 188, 191£, Origami 271, 273f.
196 ff., 202, 206f., 212, 218, 223, Oxford University 59, 80 ff., 89,
225 ff., 235, 240, 242, 245, 92f,211,289, 452,497
252ff, 256, 259, 264-268, 270,
276 ff, 281 £, 296 ff,, 301, 306, Pädomorphose 484, 486
308, 502 Pädophilie 438.
Nebenprodukt, Religion als psycho- Pakistan 40f., 43, 398
logisches 239-242, 246, 248, Palästina 54, 289, 360, 421, 423,
250, 257 ff., 262f., 282, 290, 425
486f. Pantheismus 31f.
Necker-Würfel 124 Paradies 236, 279, 424 ff., 429.
»Neue Zehn Gebote« 365f. Paradoxa 109, 115, 506.
Neues Testament 134 ff., 138, 220, Parasiten 228f.
346 ff, 351,357, 466 Parvati 48
572
Propheten 23,474 Russisch-orthodoxe Kirche/Rus-
Prophezeiungen 131-134, 136, sisch-orthodoxer Glaube 379£
285f.
Protestantische Kirche/Protestanti- Säkularismus 56, 58 ff., 62, 65f,
scher Glaube 58, 329, 359£, 443
362f, 436, 441,472, 474 Sandemanisten 139
Ptah 485£ Sanhedrin 353
Pulsare 104 Saraswati 48
Putzerfische 303 Satan 120, 122, 128, 153, 294, 444;
s. a. Teufel
Quäkertum 36 Saudi-Arabien 43, 345, 367, 399 f.,
Quantentheorie/-mechanik 81f, 421
504-507 Schläfenlappenepilepsie 234
Schönheit, als Argument für Exi-
Rassismus 368 ff., 373,457 stenz Gottes 120ff., 280
Rationalismus 22, 97, 505 Schöpfung/Schöpfergott/Schöp-
Regression 108ff., 154, 168, 198 fungstheorie 31,55, 99, 117,
Rekonstruktionismus 443 162, 164, 294, 329, 463; s. a. Ge-
Religionsfreiheit 38f., 435 staltung
Religionskonflikte/-kriege 359 ff, Schuldgefühle, religiöse 232,315,
387 439
Religionsunterricht, schulischer Schwarze Löcher 205f.
362, 473f. Scientology 282
Religiöses Erlebnis, als Argument für Sechs Zahlen (nach Rees) 199ff.,
Existenz Gottes 122-129, 217 203 f.
Religiöses Verhalten 227, 230, 262 Seele 25, 60,250, 252
Religiosität und Bildung/Intelligenz, Sekten 54, 138f., 155, 347, 359,
negative Korrelation 144 ff. 457
Religious Coalition for Reproduc- Selbstmordattentate 12, 135, 422,
tive Choice 415 425 ff., 430
Replikatoren 229, 268, 270 Selbstnormalisierung 273f.
Richard Dawkins Foundation für Selbsttäuschung 262
Reason and Science 20 Selbstvernichtungsverhalten 240,
Rituale, religiöse 52, 187, 225, 227, 242
230, 284 Selektion s. Natürliche Selektion
Römisch-katholische Kirche 29,50, Selektionsdruck 234, 265
86, 432; s. a. Katholische Kirche SETI 101, 103-106, 195
Royal Society 26, 142 ff., 390, 466 Sexueller Missbrauch 438, 440f.,
Ruf, als Säule des Altruismus 302f., 452
305 Shiva 48
373
Simulationssoftware (unseres Teekanne, himmlische 74f., 77 ff.,
Gehims) :124-127,502 100
Sinai, Berg 338 Teleologie 252f.
Sintflut 465 Teleologisches Argument 111
Sixtinische Kapelle 121 Templeton Foundation/Templeton-
Skeptizismus 148, 506 Preis 32, 89, 91f.,95, 140,
Sklaverei 234, 367,370f.,377 213 ff., 220, 396, 478
Sodom und Gomorrha 331f. Terrorismus 424f., 429
Southern Baptist Church 352 Teufel 18,98, 122, 251, 444;
Sozialdarwinismus 297 s.a. Satan
Spaghettimonster, fliegendes 76f., Theismus 31f.,56, 62, 72, 78, 84,
79,525 87,153 ff., 163, 201, 207, 209,
211,252, 482, 528
Speziesismus 377
Spieltheorie 299, 301 Theodizee 153
Sprachen, Entwicklung von 247, Theokratie 65, 398, 401, 443
265,278 Thor.52, 772
Sprüche Salomos (Bibel) 474,477 Tod, Angst vor dem 259, 444,
Staatskirche 58 490 ff., 494, 496
Stammesanimismus 46 Tod, Leben nach dem 266, 279,
Stammzellenforschung 409 493,495
»Starke Wechselwirkung« 199 Todesstrafe 398f., 401, 405f., 411.
Sterbehilfe408,494£. Transsubstantiation 260, 359
»Stille Post« 272, 274 Trost, Religion als 231, 233, 259,
Sudan 360 480, 488 ff., 492, 499, 530 ff.
Südpazifikraum 283-288 Typ-Ill-Sekretionssystem (TTSS)
Sühne 347,349 ff., 399 184£.
Sünden31,33,
55,109,140,144,
Überlebenswert, darwinistischer
293,329f.,
340,348-351,
439,
442,494,496,499 239, 281, 290
Supernaturalismus 25,52 University of California 417
Symbiose 300, 303 University of Chicago 394f.
Symbole, biblische 328, 339 f., 342, University of London 136
348, 351 University of Texas 263
Syrien 43 Universum, Entstehung/Entwick-
lung 12,31 ff,35,46,55£,84,
Taliban 12,341, 344, 364, 399 ff., 88, 117£, 127, 147, 156, 161,
403,421 164, 166, 199 ff., 203-207, 210f.,
Tamilentiger 423, 427 216, 219, 222, 479
Tanna (Insel im Südpazifik) 285 ff. Unsterblichkeit, Annahme der
Taufe 432ff., 436. eigenen 119, 266, 275,316
274
Unwahrscheinlichkeit, Argument Wahhabitentum 345, 400
der 154-157, 165f., 168f., Wahrscheinlichkeit von Gottes
178, 202, 221 ff.;s. a. Existenz Existenz s. Existenz Gottes,
Gottes Wahrscheinlichkeit
Urknall 55, 110, 205 Wandlung 260, 280
Ursuppe 193 Weihnachtsgeschichte 132
USA 12, 15f., 37, 48, 56-59, 63, Weltreligionen 23
65f.,96, 100, 140, 142f., 293, Westboro Baptist Church 404
319,329 ff., 336, 344, 364, 376, Wheaton College 134
391,398, 400407, 410-415, Wiedergeburt 280
421,435, 439, 442445, 448, Wieselfrosch, Kleiner gefleckter
451,455, 458 ff., 474, 493, 527 175£,179
Utilitarismus 324, 407. Wissensbereiche, nicht überlap-
Utnapischtim-Mythos 328 pende 79, 84,86; s. a. NOMA
World Trade Center, Anschläge 12,
Venus 51 422f.,428
Vereinigte Staaten von Amerika Wotan 46, 52,77
s. USA Wunder 31,33,49,85 ff,, 129, 136,
Verliebtheit, Irrationalität 258-261 151,180, 193, 210, 221, 284
Vernunft, als Hindernis in Bezug auf Wunderheilungen 23]
den Glauben 266, 280
Vertrauensvoller Gehorsam 242- Yale University 250
247 Yanomamö 236
Verwandtenselektion 237
Verwandtschaft, als Säule des Zauberei s. Magie
Altruismus 299, 302, 304f., Zehn Gebote 60, 327,338, 341,
307£. 344, 353, 366, 389, 407
Viele-Welten-Interpretation
(der Zeitgeist, ethischer 364f., 368,
Quantentheorie)507f. 371#£,375,377£,422
»Viellieberei« 258 Zentrales Theorem des erweiterten
Vishnu 48 Phänotyps 229
Visionen 123, 126, 128, 234, 285 Zeugen Jehovas 357
Vokalverschiebung, große 265, 278 Zeus 46, 77
Voodoo 452 Zölibat 228
Vorhölle 496 Zufall, als Entstehungsprinzip 32,
Vorsehung, göttliche 153, 380, 385 157, 165-168, 197, 208, 296
VPA (Vorübergehender pragma- Zurschaustellung
vonÜberlegen-
tischer Agnostizismus) 68f., heit/Großzügigkeit,
alsSäuledes
72f. Altruismus303ff.
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377
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Begegnung 13
Afrotheren
373
dass er über ein enzyklopädisches Wissen über die Tiere
verfügte, er erspähte sie mit scharfem Blick und machte
uns mit begeisterten Worten auf sie aufmerksam. Die
Rüsselspringer gaben ihm immer wieder den Anlass zu
dem gleichen Witz, und der schien mit jedem Mal besser
zu werden: »Einer von den Small Five.«*
Die Rüsselspringer tragen ihren Namen, weil sie eine
lange, rüsselartige Nase haben. Sie sind größer als eu-
ropäische Spitzmäuse und laufen auf längeren Beinen -
ein wenig erinnern sie an Antilopen im Miniaturformat.
Früher waren die Rüsselspringer viel zahlreicher und
vielgestaltiger; neben den Insekten fressenden Arten, die
wir heute kennen, gab es auch einige, die sich von Pflan-
zen ernährten. Rüsselspringer haben eine interessante
Gewohnheit: Sie verwenden viel Zeit und Energie auf
den Bau von Rennbahnen, über die sie bei Bedarf vor
natürlichen Feinden fliehen können. Das hört sich nach
vorausschauendem Denken an, und in gewisser Weise ist
es das auch. Man sollte dahinter allerdings keine bewuss-
te Absicht vermuten (auch wenn man sie wie immer
nicht ganz ausschließen kann). Tiere verhalten sich oft-
mals so, als ob sie wüssten, was in Zukunft gut für sie sein
wird, aber wir müssen sehr darauf achten, das »als ob«
nicht zu vergessen. Der natürlichen Selektion gelingt es
hervorragend, Ziel und Absicht vorzutäuschen.
580
. Trotz des hübschen kleinen Rüssels kam nie jemand
auf die Idee, die Rüsselspringer könnten den Elefanten
besonders nahestehen. Man nahm immer an, sie seien
einfach die afrikanische Version der europäischen Spitz-
mäuse. In jüngerer Zeit jedoch haben molekularbiologi-
sche Befunde zu der überraschenden Erkenntnis geführt,
dass die Rüsselspringer mit den Elefanten enger ver-
wandt sind als mit den Spitzmäusen. Übrigens: der »Rüs-
sel« der Rüsselspringer ist, was ihre Verwandtschaft zu
den Elefanten angeht, mit ziemlicher Sicherheit neben-
sächlich. Kommen wir nun von den kleinen Fünf zu den
großen Fünf und damit zu den Elefanten selbst.
Heute gibt esnur noch zwei Gattungen von Elefanten:
den Indischen Elefanten (Elephas) und den Afrikanischen
Elefanten (Loxodonta). Früher jedoch streiften auch viele
andere Elefantenarten, beispielsweise die Mammuts und
Mastodons, durch alle Kontinente mit Ausnahme Austra-
liens. Faszinierende Indizien sprechen sogar dafür, dass
sie auch bis auf den fünften Kontinent gelangten. Von
dort wurde über Bruchstücke von Elefantenfossilien be-
richtet, aber möglicherweise handelte es sich dabei um
Strandgut aus Afrika. In Amerika waren Mastodons und
Mammuts bis vor rund 12000 Jahren zuhause, dann
wurden sie - vermutlich von Menschen der Clovis-Kul-
tur —ausgerottet. In Sibirien sind die Mammuts erst
vor so kurzer Zeit ausgestorben, dass einige Exempla-
re im Permafrost erhalten blieben und, wie der Dich-
ter uns versichert, sogar den Weg in die Suppentöpfe
fanden:
581
Das gefroreneMammut
Dies Geschöpf ist zwar rar, doch es findet sich
Im Osten von Nordsibirien.
Die Eingeborenen der Region, die wissen ganz genau,
Wie man sich aus dem Leichnam eine würzige Suppe braut;
Nur ein Umstand ist leider etwas hinderlich
Und kann zu Verwicklungen führen:
Wird die Haut vor dem Kochen nur ein bisschen angekratzt,
Dann ist die ganze Köstlichkeit gleich hoffnungslos ver-
patzt.
Und weil das Biest so groß ist, kommt sein Finder nicht
Oft dazu, das Gericht zu goutieren.
Hillaire Belloc
582
fanten oder Giraffen wird das Trinken zum Problem. Ihre
Nahrung finden solche Tiere meist auf Bäumen, das
dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum sie über-
haupt so groß wurden. Aber Wasser befindet sich auf
einem anderen Niveau, und das liegt häufig unangenehm
niedrig. Zum Trinken in die Knie zu gehen ist eine Mög-
lichkeit - so machen es zum Beispiel die Kamele. Aber
dann wieder aufzustehen ist anstrengend, ganz besonders
für Elefanten oder Giraffen. Beide lösen das Problem, in-
dem sie das Wasser durch eine lange Röhre saugen. Bei
Giraffen sitzt der Kopf am Ende der Röhre - sie bildet
den Hals. Deshalb müssen Giraffenköpfe relativ klein
sein. Der Kopf der Elefanten —der deshalb größer sein
und ein größeres Gehirn enthalten kann - verbleibt am
Ansatz der Röhre. Die Röhre selbst ist natürlich der Rüssel,
und der ist auch für vieles andere ein überaus praktisches
»Gerät«. Ich habe an anderer Stelle bereits Oria Douglas-
Hamiltons Äußerungen über den Rüssel des Elefanten
zitiert. Zusammen mit ihrem Mann lain hat sie ihr Leben
zu einem großen Teil der Erforschung und dem Schutz
der wilden Elefanten gewidmet. Der entsetzliche Anblick
einer »Massenkeulung« von Elefanten in Zimbabwe ver-
anlasste sie zu folgender zorniger Äußerung:
583
Der Rüssel erfüllt außerdem soziale Funktionen bei Liebkosungen,
bei Besänftigungsgesten, bei der Begrüßung und »Umarmung«, wenn
zwei Tiere ihre Rüssel ineinander verschlingen [...] und hier lag er nun,
amputiert wie so viele andere Elefantenrüssel, die ich überall in Afrika
gesehen hatte.
584
der vier Stellen, an denen das Wort in der englischen Bi-
bel vorkommt, wird erklärt, warum Kaninchen nicht ko-
scher sind: »And the Coney, because he cheweth the cud,
but divideth not the hoof; he is unclean unto you«* (Le-
viticus 11,5 und die sehr ähnliche Passage in Deuterono-
mium 14,7). Die Kaninchen kann Kingsley aber nicht
gemeint haben, denn im weiteren Verlauf erklärt er, der
Elefant sei ein Vetter 13. oder 14. Grades der Kaninchen.
Die beiden anderen Bibelstellen sprechen von einem
Tier, das zwischen den Felsen lebt: Psalm 104,18 (»The
high hills are a refuge for the wild goats; and the rocks for
the conies«**) und Sprüche 30,26 (»The conies are but a
feeble folk, yet make they their houses in the rocks«***).
Hier ist mit »coney« nach allgemein übereinstimmender
Ansicht der Klippdachs oder Klippschliefer gemeint, und
Kingsley, der bewundernswerte darwinistische Kleriker,
hatte Recht.
Nun, zumindest hatte er Recht, bis die lästige moderne
biologische Systematik eingriff. Den Lehrbüchern zufolge
sind Klippschliefer heute die engsten lebenden Verwand-
ten der Elefanten, was mit Kingsley übereinstimmt.
Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass wir auch die
Manatis und Dugongs mithinzurechnen müssen —mögli-
cherweise sind sie heute sogar die engsten lebenden Ver-
wandten der Elefanten, und die Klippschliefer lediglich
* In der Übersetzung von Martin Luther lautet die Passage: »... den Klipp-
dachs, denn er ist zwar ein Wiederkäuer, hat aber keine durchgespaltenen
Klauen; darum soll er euch unrein sein.«
** „Die hohen Berge geben dem Steinbock Zuflucht, und die Felsklüfte dem
Klippdachs.« (M. Luther)
** „.. die Klippdachse - ein schwaches Volk, dennoch bauen sie ihr Haus in
den Felsen.« (M. Luther)
585
eine Schwestergruppe. Manatis und Dugongs leben aus-
schließlich im Meer; sie kommen nicht einmal zur Paarung
an Land, und es mag scheinen, als würden wir hier ebenso
in die Irre gehen wie zuvor bei Flusspferden und Walen.
Reine Meeresbewohner sind von den Einschränkungen
befreit, die ihnen die Schwerkraft an Land auferlegt, so
dass die Evolution bei ihnen sehr schnell eine eigenstän-
dige Richtung einschlagen kann. Die an Land zurückge-
bliebenen Klippschliefer und Elefanten ähneln einander
heute stärker, genau wie Flusspferde und Schweine. Rück-
blickend betrachtet, verleihen die ein wenig rüsselartige
Nase und die kleinen Augen in einem runzeligen Gesicht
den Manatis und Dugongs ein entfernt elefantenähnliches
Aussehen, aber das ist vermutlich Zufall.
Die Manatis und Dugongs gehören zur Ordnung der
Seekühe oder Sirenia. Der Name geht darauf zurück, dass
sie angeblich den Sirenen der griechischen Sage ähneln,
aber ehrlich gesagt, ist die Ähnlichkeit nicht sonderlich
überzeugend. Mit ihrem langsamen, schläfrig-lässigen
Schwimmstil könnte man sie sich vielleicht als Meer-
jungfrauen vorstellen; auch säugen sie ihre Jungen mit
unter den Flossen liegenden Brustwarzen. Aber man wird
den Eindruck nicht los, dass die Seeleute, die diese Ähn-
lichkeit zuerst zu erkennen glaubten, schon sehr lange
unterwegs gewesen sein müssen. Die Seekühe sind neben
den Walen die einzigen Säugetiere, die niemals an Land
kommen. Eine Spezies, der Fluss-Manati, lebt im Süß-
wasser; die beiden anderen Manati-Arten findet man auch
im Meer. Dugongs sind ausschließlich Meeresbewohner;
ihre vier Arten sind alle vom Aussterben bedroht, was
meine Frau dazu veranlasste, ein T-Shirt zu entwerfen:
Dugoing Dugong Dugone —auf Deutsch etwa: Dugehen,
586
Dugong, Dugegangen. Eine herzzerreißende Geschichte
rankt sich um die fünfte Spezies, die riesige Steller-
Seekuh, die in der Bering-Straße zuhause war und über
fünf Tonnen wog. Sie wurde so stark gejagt, dass sie nur
27 Jahre, nachdem Berings vom Pech verfolgte Mann-
schaft sie 1741 entdeckt hatte, ausgestorben war. Das
zeigt, wie empfindlich Sirenen sein können.
Die Vordergliedmaßen der Seekühe sind wie bei Walen
und Delphinen zu Flossen geworden, und Hinterextre-
mitäten besitzen sie überhaupt nicht. Mit den Kühen sind
sie aber trotz des Namens nicht verwandt, und sie sind
auch keine Wiederkäuer. Ihre pflanzliche Ernährungsweise
erfordert einen ungeheuer langen Darm und erlaubt nur
einen geringen Energieverbrauch. Die Hochgeschwindig-
keits-Wasserakrobatik eines fleischfressenden Delphins
steht im krassen Gegensatz zum trägen Dahintreiben der
Dugong-Vegetarier: Marschflugkörper contra Fesselballon.
ISBN 978-3-548-36930-3
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»Das Buch hat sein Ziel schon längst erreicht: Die De-
batte um Erziehung in Deutschland ist angestoßen.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Zeit
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James Lovelock
Gaias Rache
WarumdieErdesichwehrt
ISBN 978-3-548-37210-5
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»Das wichtigste
strophe erschienen
Buch, das je über die Klimakata-
ist.« The Independent
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Dr. jur. Ralf Höcker
Das dritte Lexikon der Rechtsirrtümer
Die Angst vorm Blaulicht und andere juristische Fehleinschätzungen
Originalausgabe
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u2
Peter Scholl-Latour
Rußland im Zangenpgriff
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WIDER DIE RELIGION
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