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Ernst Jünger - Die Biographie Helmuth Kiesel 2015 Penguin Random House Verlagsgruppe GMBH 97836410234

Das Dokument ist eine umfassende Analyse des Lebens und Werkes von Ernst Jünger, das sich über verschiedene Epochen erstreckt, einschließlich seiner Kindheit, seiner Erfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie seiner literarischen und politischen Aktivitäten. Es beleuchtet Jüngers Entwicklung von einem Kriegsbegeisterten zu einem kritischen Beobachter der Zivilisation und reflektiert die historischen Umstände, die sein Denken prägten. Zudem wird Jüngers Rolle im Kontext des 20. Jahrhunderts und die Auswirkungen seiner Schriften auf die deutsche Gesellschaft diskutiert.

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Ernst Jünger - Die Biographie Helmuth Kiesel 2015 Penguin Random House Verlagsgruppe GMBH 97836410234

Das Dokument ist eine umfassende Analyse des Lebens und Werkes von Ernst Jünger, das sich über verschiedene Epochen erstreckt, einschließlich seiner Kindheit, seiner Erfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie seiner literarischen und politischen Aktivitäten. Es beleuchtet Jüngers Entwicklung von einem Kriegsbegeisterten zu einem kritischen Beobachter der Zivilisation und reflektiert die historischen Umstände, die sein Denken prägten. Zudem wird Jüngers Rolle im Kontext des 20. Jahrhunderts und die Auswirkungen seiner Schriften auf die deutsche Gesellschaft diskutiert.

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Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

ERSTER TEIL – Geborgenheit und Abenteuerlust


1895
Familienchronik
Kindheit und Schulzeit
In der Retrospektive

ZWEITER TEIL – Im »Großen Krieg«


»Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt«: der Bellizismus der
Vorkriegszeit
»Muß man nicht dankbar sein, so große Dinge erleben zu dürfen«:
Dichter und ...
»Da war ich aller Sorgen ledig«: der »Kriegsmutwillige« Ernst
Jünger
»Sei gesegnet ernste Stunde«: poetische Mobilmachung
Das Beispiel Thomas Mann
»Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr«: kriegskritische
Wendung
Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg

DRITTER TEIL – »De bello maximo«: der Kriegsschriftsteller


Kriegsende, Revolution und Reichswehrzeit
Erlebnis und Erzählung
»Habent sua fata…«
Kleinere Kriegsschriften
Versuche, sich »einen Vers« auf den Krieg zu machen

VIERTER TEIL – Studium und nationalistische Publizistik


Auftakt im Völkischen Beobachter
Leipziger Jahre: Student und »Gebieter«
Im Namen der »Frontsoldaten«
Im »großen Babylon«: Flaneur und Asket in Berlin

FÜNFTER TEIL – Im »Dritten Reich«


Die »totalitäre Revolution«: Geschichte, »elementar« und
»barbarisch«
Jüngers Absagen
Stationen der »inneren Emigration«

SECHSTER TEIL – Im zweiten Krieg


»Hauptmann Jünger«
»Sitzkrieg« am Oberrhein und »Westfeldzug«
Besatzungssoldat in Frankreich und Wachtruppenführer in Paris
Im Pariser Kommandostab
Attentate und Geiselerschießungen
Reflexionsfiguren
Pariser Leben und Lieben
Greuelnachrichten und eine Erkundungsreise
In Erwartung der Apokalypse
Auf die Katastrophe zu und dem Frieden entgegen
Attentat und Abzug
Ernstel †
Kriegsende

SIEBTER TEIL – Nachkrieg


Publikationsverbot und Jünger-Debatte
Strahlungen: Text und Rezeption
Exkurs: Jünger und die deutschen Verbrechen der NS-Zeit
Heliopolis: »Weltroman« und Weltstaatsutopie

ACHTER TEIL – Zwischen Erfolg und Außenseitertum


Jüngers »Comeback«
Jünger in Wilflingen: Hochmut und Leutseligkeit auf dem Dorf
Die Essays der fünfziger und sechziger Jahre: Waldgänger und
Welthistoriker
Gläserne Bienen: Technikmelancholie
Die sechziger und siebziger Jahre
NEUNTER TEIL – Späte Kontroversen und späte Schriften
Blickverschärfung um 1968
Das Spätwerk
Ehrungen und Streit
Macht und Geist
Vordenker der »konservativen Wende«?

ZEHNTER TEIL – Die letzten Jahre


Kalte Bäder
Seifenblasen
Letzte Dinge

ANHANG
Personenregister
Bildnachweis
Copyright
EINLEITUNG

Zwei Mal Halley oder Die Verdüsterung der Welt


April 1986. Ernst Jünger hat am 29. März seinen einundneunzigsten
Geburtstag gefeiert und ist wenige Tage später, begleitet von seiner Frau, zu
einer Reise nach Malaysia aufgebrochen. Er will seine Käfersammlung
komplettieren, und er hofft, in der klaren Luft des malaiischen Berglands
einen besonders guten Blick auf den Halleyschen Kometen zu haben. Dieser
zieht nach sechsundsiebzig Jahren wieder einmal an der Erde vorüber: zum
zweiten Mal in Jüngers Leben. Wie immer wird Tagebuch geführt, werden
die Stationen der Reise festgehalten, allerlei Beobachtungen notiert und mit
manchmal weit ausgreifenden Reflexionen verbunden. Am 8. April trifft
Jünger in Kuala Lumpur ein und wird von Wolfram Dufner, dem deutschen
Botschafter, mit dem Jünger seit 1954 bekannt ist, in Empfang genommen.
Am 11. April fahren die Ehepaare Dufner und Jünger nach Frazer’s Hill.
Dort liegt – auf 1600 Meter Höhe über dem mehr als hundert Millionen
Jahre alten malaiischen Urwald – die ehemalige Bergresidenz des englischen
Gouverneurs, die nun als Erholungs- und Gästehaus der Regierung dient.
Täglich klingelt der Wecker um fünf Uhr, weil der Komet kurz danach über
den Baumwipfeln auftauchen müßte. In den ersten drei Nächten ist jedoch
der Himmel bedeckt, und die Hoffnung, den Kometen ein zweites Mal sehen
zu können, schmilzt, weil die Rückreise schon für den 15. April geplant ist.
Aber dann kommt es doch zu einem »Wiedersehen«. Unter dem Datum des
15. April vermerkt das Reisetagebuch, das 1987 unter dem Titel Zwei Mal
Halley als Monographie erscheint und 1995 die Tagebuchfolge Siebzig
verweht IV eröffnet:
Wolfram Dufner klopfte an – um, wie ich dachte, uns zur
Abfahrt zu wecken, aber es war noch dunkel, und er rief:
»Der Komet ist da!« Das war kaum zu glauben – wir stürzten
in sein Zimmer, ich mit dem Feldstecher in der Hand. In der
Tat – Halley stand ebenso deutlich am Himmel wie damals zu
Rehburg vor sechsundsiebzig Jahren, als ich ihn mit Eltern
und Geschwistern gesehn hatte. (21, 41)
»Damals zu Rehburg«: Das dürfte um den 18. Mai 1910 gewesen sein, als
der Halleysche Komet der Erde am nächsten kam und viele Menschen von
Untergangsängsten ergriffen wurden; Jakob van Hoddis hat damals sein
epochal wirkendes Gedicht Weltende geschrieben. Die Familie Jünger, durch
die Apothekertätigkeit des Vaters und eine Beteiligung am Kalibergbau
wohlhabend, bewohnte in Bad Rehburg, einem kleinen Kurort am
Steinhuder Meer nordwestlich von Hannover, eine schöne Villa. In einer der
Nächte, in denen der Komet zu sehen war, muß der Vater die Familie vors
Haus gerufen haben, um ihr die Erscheinung zu zeigen. Daran erinnert sich
nun der Tagebuchschreiber in Kuala Lumpur, und er verbindet mit dieser
Erinnerung eine Reflexion auf die geschichtliche Erfahrung, die ihm seitdem
zuteil wurde, und auf die epochale Differenz zwischen der Zeit um 1910 und
der Gegenwart von 1986:
Ich glaube, es war Ranke, der sagte, als Historiker müsse man
alt werden, denn nur, wenn man große Veränderungen
persönlich erlebt habe, könne man solche wirklich verstehen.
Er wird damit wohl weniger den einzelnen Vorgang als den
Gewinn an Erfahrung gemeint haben. Das Verhältnis ähnelt
dem des Soldaten, der nur auf dem Exerzierplatz geübt, zu
jenem, der auch im Gefecht gestanden hat.
Wieviel Zeit muß verfließen, ehe man den eigenen Vater
versteht. Wenn ich an ihn zurückdenke, um den wir damals
vor unserem Hause standen – die Mutter, vier Söhne und die
Tochter -, will es mir scheinen, daß er einerseits typisch die
Epoche vertrat, in der er lebte, sich andererseits von ihr
kritisch distanzierte und zudem archaische Züge besaß.
Typisch für die Epoche war schon das Bild, das wir boten:
der Vater inmitten seiner großen Familie. So hielt es der
Kaiser, hielten es die meisten unserer Bekannten und die
Bauern ringsum. In gewissen Abständen mußten wir, was mir
nicht angenehm war, mit ihm nach Hannover fahren – erst
zum Friseur, dann zum Photographen, möglichst an einem
Tag, an dem im Theater eine Mozartoper gespielt wurde.
Das Bild ist zugleich archaisch: die Familie bei der
Betrachtung eines ungewöhnlichen Zeichens am Himmel; ein
Rest von Ehrfurcht läßt sich nicht abweisen. […]
Was einer glaubt oder nicht glaubt, ist nicht belanglos, doch
nebensächlich – es gehört zu den zeitlichen Umständen. Der
Vater hielt nicht viel vom Jenseits, und doch habe ich ihn in
der Glorie gesehen. Er meinte, daß man in seinen Kindern
weiterlebt. Sie würden sich an ihn erinnern, so wie er selbst
sich an seine Großeltern, besonders die westfälischen,
erinnerte. Es war wohl in dieser Stimmung, in der er sagte, als
wir damals beisammenstanden: »Von euch allen wird
Wolfgang vielleicht den Kometen noch einmal sehen.«
Wolfgang war unser Jüngster, doch auch der erste von uns
Geschwistern, der starb. So trete ich für ihn ein.

Wir betrachteten das Gestirn lange; der Himmel über dem


Urwald blieb klar. Wenn etwas bei der Begegnung fehlte, so
der Enkel, dem ich den Erinnerungsgruß an Halley hätte
weitergeben können – die nächste Wiederkehr wird, wenn ich
richtig gezählt habe, im Jahr 2062 stattfinden. Und wenn sich
etwas geändert hat, so die Stimmung – vom Optimismus, mit
dem der Vater seine Prophezeiung aussprach, blieb keine
Spur zurück. (21, 42 und 44)
In der Tat: Von dem Optimismus, der das Lebensgefühl der Menschen um
1910 – wenn auch nicht unangefochten – bestimmte, war um 1986 nichts
mehr zu spüren. Zwei Weltkriege und der Holocaust, die Ost-West-
Konfrontation und die atomare Hochrüstung, eine Reihe von
Wirtschaftskrisen und die immer deutlicher werdende Beeinträchtigung der
natürlichen Umwelt durch das rapide Wachstum der Industriegesellschaft
hatten dazu geführt, daß man in der Erwartung von militärisch
herbeigeführten oder zivilisatorisch verursachten Katastrophen globalen
Ausmaßes lebte. 1986 erschien mit der Rättin von Günter Grass ein Roman,
der die »Erziehung des Menschengeschlechts«, die von Lessing einst voll
aufklärerischer Zuversicht imaginiert und beschworen worden war, in den
alles durchdringenden Lichtblitzen einer zufällig ausgelösten atomaren
Katastrophe enden sah. Und das war weder das einzige noch das erste Buch
dieser Art: Drei Jahre zuvor hatte Christa Wolf mit ihrer Erzählung
Kassandra und den dazugehörigen Vorlesungen eine ähnliche Prophetie
ausgesprochen. Und noch ein paar Jahre früher, 1978, hatte Hans Magnus
Enzensberger mit seinem Pasticcio Der Untergang der Titanic und den
gleichzeitig erschienenen Randbemerkungen zum Weltuntergang das Ende
aller Fortschrittsideologien konstatiert und eine soziale und zivilisatorische
Dauerkatastrophe in Aussicht gestellt.
Auch Jünger stand solch düsteren Erwartungen nicht fern; ja, er war einer
der ersten, der ihnen Ausdruck verlieh: Sein Roman Eumeswil, der 1977
erschien und somit die Reihe der apokalyptischen Bücher jener Jahre
anführt, handelt von einer Zeit jenseits der großen »Feuerschläge« und sieht
die Erben des »Letzten Menschen« in einer Welt leben, die den Charakter
einer »Deponie« hat. Eumeswil ist die Summe einer von Katastrophen
geprägten Geschichtserfahrung, die bald nach 1910 einsetzte und Jünger
zunächst zum Aktivisten der zivilisatorischen Modernisierung machte, dann
aber zum entschiedenen Zivilisationskritiker werden ließ. Sein Werk ist eine
erfahrungsgesättigte dichterische Chronik der vielfältigen Verfehlungen und
Destruktionen des 20. Jahrhunderts und zugleich ein Versuch, sie
geschichtsphilosophisch zu deuten und zu verkraften. Mit einer kühnen, aber
nicht ganz unberechtigten Formulierung hat der Philosoph Peter Koslowski
gesagt, die Reihe der von 1920 bis 1990 erschienenen Schriften Ernst
Jüngers lasse sich zu einem »Epos der Moderne« zusammenschließen und
enthalte eine sukzessiv entfaltete und dichterisch gestaltete Philosophie der
Moderne (einschließlich ihrer als »postmodern« bezeichneten Modulationen
im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts).

Ernst Jünger im »deutschen Jahrhundert«


Mit einer kleinen und merkwürdig symmetrisch anmutenden Abweichung
von jeweils vier Jahren umschließt die Halleysche Periode das »kurze« 20.
Jahrhundert. Dieses offenbarte in der »Urkatastrophe« des 1914 entfesselten
Krieges ein brutales Antlitz und stieß sich auf dramatische Weise vom
gelasseneren und friedlicheren Gang des »langen« 19. Jahrhunderts ab. Und
es endete, geschichtsmorphologisch gesehen, 1990 etwas vorzeitig mit der
überraschenden Beseitigung der politischen Folgen, die sich aus jener
»Urkatastrophe« ergeben hatten: mit dem Zusammenbruch des Ostblocks,
der Beseitigung des Eisernen Vorhangs, der Wiedervereinigung
Deutschlands und der Reintegration der slawischen Länder nach Europa.
Dieses Jahrhundert hätte, wie der französische Soziologe Raymond Aron
und der aus Breslau stammende amerikanische Historiker Fritz Stern 1979
gesprächsweise darlegten, »Deutschlands Jahrhundert werden können«, weil
Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts das modernste Land Europas
war und aufgrund seiner ökonomischen Leistungen wie seiner technischen,
wissenschaftlichen und künstlerischen Innovationen das Potential besaß, die
ökonomische und kulturelle Führungsmacht Europas zu werden. Und
tatsächlich wurde das 20. Jahrhundert, wie der Historiker Eberhard Jäckel in
seiner 1996 erschienenen »Bilanz« ausführte, das »deutsche Jahrhundert«,
wenn auch in einem ganz anderen Sinn: »Kein anderes Land hat Europa und
der Welt im 20. Jahrhundert so tief seinen Stempel eingebrannt wie
Deutschland, schon im Ersten Weltkrieg, als es im Mittelpunkt aller
Leidenschaften stand, dann natürlich unter Hitler und im Zweiten Weltkrieg,
zumal mit dem Verbrechen des Jahrhunderts, dem Mord an den europäischen
Juden, und in mancher Hinsicht gilt es kaum weniger für die Zeit nach
1945.«
Zweifellos erfährt dieser Befund eine gewisse Relativierung, wenn man
den Blick über Europa hinausschweifen läßt und – wie der britische
Historiker Eric Hobsbawm in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts –
in Rechnung stellt, daß sich die drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg
aufgrund eines außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums als »eine Art von
Goldenem Zeitalter« gestalteten, in dem die Folgen der destruktiven
deutschen Eingriffe in die Geschichte überspielt wurden. Und dennoch ist
nicht zu vergessen, daß Deutschland im »kurzen« und zunächst einmal
katastrophalen 20. Jahrhundert eine fatale Rolle gespielt und eine
außerordentliche historische Schuld auf sich geladen hat. Von daher aber
fällt ein Schatten auf fast jedes deutsche Leben, das mit dem beginnenden
20. Jahrhundert zu seiner verantwortlichen Entfaltung kam.
Dies gilt in besonderer Weise für den 1895 geborenen Ernst Jünger, der
mit dem »Großen Krieg« nicht nur mündig, sondern auch gleich prominent
wurde und in der Nachkriegszeit, die – nach Jüngers Ansicht – nur eine neue
Vorkriegszeit sein konnte, ein entschiedenes und bestimmendes Wort
mitreden wollte. Was er dann in seinen Kriegsbüchern und in seinen
zahlreichen politischen Artikeln publik machte, hat Aufsehen erregt und ihm
eine beträchtliche Lesergemeinde verschafft, hat ihn aber auch bei vielen
Zeitgenossen wie Nachgeborenen in Mißkredit gebracht und ihm schroffste
Verurteilungen eingetragen. So betrachtet ihn Hans-Ulrich Wehler im vierten
Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte, der die Zeit von 1918 bis
1949 behandelt und im folgenden immer wieder dankbar herangezogen wird,
als einen der »intellektuellen Totengräber der Weimarer Republik«, und bei
anderen Gelegenheiten wertete er ihn mit nachgerade biblisch klingenden
Formulierungen als »eine der Unheilsfiguren der neueren deutschen
Geschichte«, speziell als einen »der großen Verderber der neueren deutschen
Geistesgeschichte«.
Die vorliegende Biographie hätte nicht geschrieben werden können, wenn
der Verfasser der Meinung wäre, daß derartige Verdikte der historischen
Weisheit letzter Schluß seien. Man wird sie relativieren dürfen. Die
Weimarer Republik ist nicht an Ernst Jünger zugrunde gegangen, und der
Anteil, den er als Repräsentant der antiparlamentarischen Rechten an ihrem
Untergang gehabt haben mag, wird nicht größer sein als der Anteil, den die
zahlreichen prominenten Vertreter der antiparlamentarischen Linken gehabt
haben dürften (nur daß diese erst neuerdings, 2005, durch eine umsichtige
und nicht abwiegelnde Studie von Riccardo Bavaj in den Blick gerückt
wurden). Man sollte Jüngers Einfluß auf den Gang der deutschen Geschichte
nicht überschätzen; es gab andere Wirkungspotenzen. Von den
Stahlgewittern, die 1920 erstmals publiziert wurden, dürften bis 1930 etwa
sechsunddreißigtausend Exemplare verkauft worden sein; von Erich Maria
Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues wurden nach dem
Erscheinen als Buch im Januar 1929 innerhalb weniger Wochen
zweihunderttausend Exemplare abgesetzt. Zudem sollte man nicht
übersehen, daß Jünger mit der »Bewegung«, von der Deutschland vollends
ins Unheil und zu beispiellosen Verbrechen getrieben wurde, keineswegs
konform ging. Und schließlich sollte man, bevor man Acht und Bann über
ihn verhängt, Jüngers anhaltende Auseinandersetzung mit der deutschen
Geschichte in ihrer ganzen Breite und Tiefe zur Kenntnis nehmen: in ihrer
diagnostischen Reichhaltigkeit, ihrer ästhetischen Eindringlichkeit und ihrer
allzu oft verleugneten humanen Qualität.
Es müßte denjenigen, die etwa Jüngers Bücher über den Ersten Weltkrieg
nur als Dokumente einer bellizistischen Verblendung, einer barbarischen
Roheit und einer verführerischen Kriegsverherrlichung betrachten, zu
denken geben, daß Remarque, als er 1928 an seinem Roman arbeitete, die
Stahlgewitter und das Wäldchen 125 mit größtem Lob bedachte: Diese
Bücher seien, so schrieb Remarque, »von einer wohltuenden Sachlichkeit,
präzise, ernst, stark und gewaltig«. Und wer meint, in Ernst Jünger eine
Unheilsfigur schlechthin sehen zu müssen, möge doch bedenken, wie sehr
und beharrlich Carl Zuckmayer, der seit seinem Fröhlichen Weinberg (1925)
unter Nationalisten und Nationalsozialisten zu leiden hatte, Jünger trotz
mancher Differenzen über Jahrzehnte hinweg schätzte. Als ihm Annemarie
Suhrkamp, die Frau des Verlegers Peter Suhrkamp, die zweite, 1938
erschienene Fassung von Jüngers Abenteuerlichem Herzen zukommen ließ,
schrieb Zuckmayer aus dem schweizerischen Chardonne, wohin er emigriert
war, an sie:
Liebste Mirl,/es ist gar kein Zufall, dass wir uns bei Ernst
Jünger begegnen: seit vielen Jahren, lang schon bevor man
ihn in »unsren Kreisen« kannte, […], lese ich seine Bücher,
die mich – bei aller Gegensätzlichkeit – immer wieder
stilistisch, inhaltlich, gedanklich, entzücken. […] So fern mir
in vieler Hinsicht die »Stahlgewitter« sind und so fremd der
»Arbeiter«, den ich auch für ein ganz verfehltes Buch halte, –
so nah und verwandt und geradezu hinreissend empfinde ich
einige Kapitel aus »Blätter und Steine«, »Afrikanische
Spiele«, und jetzt scheint mir dies neue vielleicht am
schönsten. Qualität, Persönlichkeit, Sprache: es gibt nur noch
ein paar Findlinge, wenigstens in unsrer Altersklasse, die das
noch haben.
Diese Wertschätzung setzt sich in der Beurteilung Jüngers fort, die
Zuckmayer 1943 für den amerikanischen Geheimdienst schrieb und die 2002
unter dem Titel Geheimreport publiziert wurde:
Ernst Jünger halte ich für den weitaus begabtesten und
bedeutendsten der in Deutschland verbliebenen Autoren. Ich
glaube, dass sowohl seine wie seines jüngeren Bruders
Opposition gegen das Naziregime echt ist und mit jener nur
sehr bedingten Opposition aus anderen konservativen oder
Offizierskreisen nicht identisch ist. Bei den Jünger’s kommt
sie aus tiefren Quellen. Es handelt sich nicht um militärisch-
politische Taktiken, in denen sie etwa mit Hitler differieren,
sondern um den Geist. Ernst Jüngers Kriegsverherrlichung
hat nichts mit Aggression und Weltbeherrschungsplänen zu
tun – sein Herren-Ideal nichts mit demagogischem Unsinn à
la Herren-»Rasse«. Ohne Pazifist oder Demokrat zu sein, ist
es ihm bestimmt ernst mit der Vorstellung einer
Weltgestaltung vom Geist her und durch das Medium der
höchstentwickelten und höchstdisziplinierten Persönlichkeit.
[...].
Nach der Rückkehr aus dem Exil bemühte sich Zuckmayer um eine
Begegnung mit Jünger. Sie kam nicht zustande, was Zuckmayer sehr
bedauerte. Am 14. November 1967 schrieb er an Jünger: »Ihnen bisher nicht
begegnet zu sein, empfinde ich als einen der größten Mängel in meinem
Leben.« Das mag eine geflissentliche Übertreibung gewesen sein, aber an
Zuckmayers außerordentlicher Wertschätzung für Jünger ist nicht zu
zweifeln. 1970, als Jünger aus historisch-politischen wie literarischen
Gründen mannigfacher Kritik ausgesetzt war, schlug Zuckmayer ihn für den
Goethepreis der Stadt Frankfurt vor. Zur Begründung schrieb er unter
anderem, es gebe »kaum ein anderes Gesamtwerk eines lebenden deutschen
Schriftstellers«, das nach »literarischem und intellektuellem Rang« dem von
Ernst Jünger voranzustellen sei.
Mit diesen Hinweisen auf eine anerkennende Rezeption durch
Zeitgenossen, denen man ein Urteil wohl zutrauen darf, sollen Jüngers
Leben und sein Werk nicht für sakrosankt erklärt werden. Sie müssen sich
selbstverständlich eine kritische Musterung und eine Beurteilung auch nach
heutigen Maßstäben gefallen lassen. Doch verlangt die Gerechtigkeit auch
die Berücksichtigung der geschichtlichen Umstände, und das Interesse an
einer möglichst breiten und eindringlichen historischen Erkenntnis sollte von
einer Tabuisierung bestimmter Gegenstände abhalten. Im übrigen ist
komplexen Sachverhalten – und der Gegenstand dieses Buches darf wohl als
ein solcher bezeichnet werden – nicht mit einfachen Formeln beizukommen.
ERSTER TEIL

Geborgenheit und Abenteuerlust

Ernst Jünger in der Fremdenlegion, Herbst 1913


Die Die Jünger-Geschwister um 1912: Friedrich Georg, Johanna Hermine,
Wolfgang, Ernst und Hans Otto: herausgeputzt, aufgeweckt, selbstbewußt.
Der Vater hat im Kali-Bergbau reichlich Geld verdient, die Währung ist
stabil, die Wirtschaftfloriert, Deutschland ist eine Großmacht. Die junge
Generation spürt die »Sekurität«und blickt erwartungsvoll in die Zukunft.
1895

1895, Jüngers Geburtsjahr. Die Fertilitäts- oder Geburtenrate ist um 1895 in


Deutschland so hoch wie nie zuvor und nie wieder danach. Das hat seinen
Grund: Mehrheitlich blicken die Deutschen in diesen Jahren mit Stolz auf ihr
Land, mit Zufriedenheit auf ihre Situation und mit Optimismus in die
Zukunft. Der siegreiche Krieg gegen Frankreich, der zur nationalen
Einigung und Gründung des Deutschen Reichs geführt hat, liegt ein
Vierteljahrhundert zurück, und seither lebt man – trotz einiger
konjunktureller Einbrüche und sozialer Spannungen – in einer Zeit der
Prosperität und der Modernität, der Neurasthenie und der Vitalität, des
national(istisch)en Größenbewußtseins und der imperialistischen
Aspirationen, des Fortschrittsdenkens und der Sekurität.
Prosperität und Modernität, Neurasthenie und Vitalität, Nationalismus und
Imperialismus, Fortschrittsdenken und Sekurität -: Diese acht Begriffe
markieren, was man in Anlehnung an die Astrologie, die aus der
Konstellation der Gestirne bei der Geburt eines Menschen auf dessen
Charakter und Lebensgang schließen will, als die soziale Nativität oder
Geburtskonstellation Ernst Jüngers bezeichnen kann: als das Ensemble der
sozialen – und das heißt allemal auch: kulturellen, politischen,
ökonomischen – Gegebenheiten oder Umstände, die für den Lebensweg des
1895 Geborenen von weitreichender Bedeutung sein sollten. Die
geschichtlichen Sachverhalte, die mit diesen acht »Merkworten«
(Herder/Hofmannsthal) jener Epoche aufgerufen werden, haben Jünger
ursprünglich geprägt und auf eine Bahn gelenkt, die ihn zunächst einmal
zum Aktivisten der deutschen Katastrophe werden ließ. Sich ihr zu
entwinden, war nicht leicht.
Prosperität: Die Gründung des Deutschen Reiches fiel mit einer
konjunkturellen Aufwärtsbewegung zusammen und intensivierte diese noch
einmal beträchtlich. 1873 aber kam es zu einer Weltwirtschaftskrise, die
auch in Deutschland – trotz eines kontinuierlichen Wachstums – zu
wiederholten Konjunkturkrisen und einer anhaltenden Deflation führte. Die
Folgen waren ein markanter Verfall von Preisen, Gewinnen und Renditen
sowie Lohnsenkungen, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit. Diese »Große
Deflation« hielt bis in die neunziger Jahre an. 1895 aber ist sie überwunden.
Es beginnt ein furioser wirtschaftlicher Aufschwung. Die Wachstumsrate
schnellt empor, erreicht 4,5 Prozent und bleibt trotz einiger Depressionsjahre
bis 1913 auf diesem Niveau. Die Auswanderung geht stark zurück, die
Einwanderung nimmt zu. Einkommen und Löhne steigen deutlich und
kontinuierlich an und erlauben die Entwicklung eines höheren
Lebensstandards auf breiter Ebene, auch wenn klassenspezifische
Differenzen groß bleiben und manifeste Armut noch weit verbreitet ist.
Aber: Die wirtschaftliche Entwicklung, die sich um 1894/95 abzuzeichnen
beginnt, weckt Hoffnungen und erlaubt einen zuversichtlichen Blick in die
Zukunft. Deutschland wird nach den Vereinigten Staaten von Amerika und
neben Großbritannien die zweit- oder drittgrößte Wirtschaftsmacht und zum
»Workshop of the World«. Dies schmeichelt dem Nationalismus und läßt
imperialistische Begehrlichkeiten entstehen.
Modernität: Zum Jahreswechsel 1886/87 publizierte eine Gruppe junger
Berliner Autoren, zu der auch Gerhart Hauptmann zählte, zehn Thesen zur
Bedeutung und Zukunft einer gegenwärtigen, wirklichkeitsorientierten und
wissenschaftlich grundierten Literatur. Die fünfte dieser Thesen lautet:
»Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die
Moderne.« Damit wurde nicht nur eine kulturell wichtige Bewegung
proklamiert: die Abwendung von ästhetischen Normen, die sich aus der
Antike herleiteten, und die Hinwendung zu gegenwärtigen Vorstellungen
und Werten; es wurde auch ein neues Wort in Umlauf gebracht: das
Substantiv »die Moderne«, das es bis dahin nicht gegeben hatte. 1894 wird
dieses Wort in den Großen Brockhaus aufgenommen, 1896 in Meyer’s
Konversationslexikon, und als Bezeichnung für die zeitgenössische soziale
und kulturelle Konfiguration indiziert oder, anders gesagt, als Bezeichnung
für die gegenwärtige, als durchaus neuartig empfundene Epoche.
Und in der Tat, Deutschland ist sichtbar in die Moderne eingetreten,
gewinnt zügig jene Modernität, die bis heute unsere Vorstellung von
»Moderne« primär bestimmt: Die Industrialisierung greift mit neuer
Dynamik um sich und prägt mit ihren Fabrikanlagen und Arbeitersiedlungen
zahlreiche Städte und ganze Regionen. Viele Städte wachsen zu veritablen
Großstädten an. Der Eisenbahnverkehr wird ausgebaut und technisch
optimiert: 1892 wird die preußische Schnellzuglokomotive eingeführt, die
eine Höchstgeschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde erreicht (1907:
154,5), während die Züge um 1875 kaum halb so schnell waren. 1895 gibt es
die ersten Autos mit luftgefüllten Gummireifen, beginnt die
Serienproduktion von Motorrädern, erhalten die elektrischen Straßenbahnen
die bis heute gebräuchlichen Bügelstromabnehmer, bekommt Graf Zeppelin
das Patent auf sein Luftschiff, wird (in Frankreich) der Cinematograph
entwickelt und damit das Kino auf den Weg gebracht, entdeckt Wilhelm
Röntgen die nach ihm benannten elektromagnetischen Strahlen. Die
naturwissenschaftliche Erkundung und Erklärung der Welt ist so weit
fortgeschritten, daß der Zoologe und Popularphilosoph Ernst Haeckel 1899
glaubt behaupten zu können, die sogenannten »Welträtsel«, also die Fragen
nach den letzten Gründen und Bedingungen der Welt und des Lebens, seien
gelöst. Kurzum: Die Technik gibt der Welt und dem Leben jenes Aussehen,
das bis heute als »modern« gilt; die Wissenschaft vermittelt den
Zeitgenossen das Bewußtsein oder Gefühl, in einer weitestgehend
erforschten und wissenschaftlich-technisch beherrschbaren Welt zu leben;
die Künste reflektieren diese Entwicklung und nehmen darüber ein
Aussehen an, das sie ebenfalls als dezidiert »modern« erscheinen läßt, auch
dann, wenn sie, wie dies häufig der Fall ist, die forcierte technische und
soziale Modernisierung kritisieren und beklagen.
Neurasthenie: Die Moderne bringt ihre eigene Krankheit hervor: die
Neurasthenie oder reizbare Nervenschwäche, von der sich viele
Zeitgenossen, Männer wie Frauen, plötzlich befallen fühlen. Man weiß nicht
so recht, woher die Neurasthenie rührt und was es mit ihr auf sich hat. Einige
medizinische Experten führen sie auf die natürliche Dekadenz zurück; die
meisten Beobachter aber verweisen auf die notorisch gewordene
Überforderung der Menschen durch die Moderne: durch das wirbelnde
Leben in den Großstädten; durch die Reizungen des Konsums in einer Welt
der beginnenden Massenproduktion und der Verfügbarkeit exotischer Waren;
durch das entfaltete kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem
Konkurrenzprinzip, mit seiner Verbindung von Chance und Risiko, mit
seinem undurchschaubaren Auf und Ab der Konjunktur; durch den daraus
sich ergebenden Leistungsdruck im persönlichen Leben, in dem die Arbeit
ein immer größeres Gewicht bekommt und zugleich das Gefühl entsteht, daß
es kein Fertigwerden gebe und daß man stets in der Gefahr schwebe, im
Lebenskampf gegen die harte Konkurrenz zu unterliegen. In einem
Kommersbuch aus Jüngers Geburtsjahr 1895 findet sich ein Lied mit dem
Titel Nervöses Zeitalter, in dem es heißt:
Überall ein Rennen, Jagen nur nach Mammon, schnödem
Geld;
jeder möcht die erste Geige gerne spielen in der Welt.
Hastges Treiben, hastge Miene, wildes Wogen und Getös!
Und der Mensch wird zur Maschine, und der zweite wird
nervös.
Joachim Radkau, der dieses Syndrom in einer aufschlußreichen Studie
dokumentiert und analysiert hat, schreibt der Nervosität jener Zeit zu Recht
einen doppelten Charakter zu: Sie war »echte Leidenserfahrung« und
»kulturelles Konstrukt«, also Bewußtmachung und Profilierung dieser
Leidenserfahrung, zum Teil aber auch Induzierung und Stimulus. Und
Radkau macht weiterhin deutlich, daß diese moderne Nervosität zu einer Art
von Zeitstil wurde, den Habitus der wilhelminischen Gesellschaft prägte und
sich nicht nur im privaten und beruflichen Leben zeigte, sondern auch in der
Sphäre der Politik, die ja nach dem Amtsantritt Wilhelms II. in der Tat
»nervös« wurde: gereizt, lamentierend, unzufrieden, ungeduldig, sprunghaft,
aggressiv.
Eng verwandt mit der Vorstellung der Neurasthenie ist die der modernen
Degeneration, die 1892/93 von dem jüdischen Arzt und Schriftsteller Max
Nordau in einem zweibändigen Werk unter dem Titel Entartung als
epochales Phänomen profiliert und attackiert wurde. Unter »Entartung«
verstand Nordau – im Anschluß an medizinische Schriften – eine
»krankhafte« und erbliche »Abweichung« von einem »ursprünglichen« und
gesunden Typus; sie mindere – so Nordau – die physische wie die
psychische Integrität der Betroffenen, mache sie für sittliche Perversionen
aller Art anfällig und verhindere, daß sie ihre »Aufgabe in der Menschheit«
erfüllen (I, 27). Den Grund für diese um sich greifende »Degeneration« oder
»Entartung« sah Nordau in der Überforderung der Zeitgenossen durch die
Moderne: »Gleichsam von einem Tag auf den andern, ohne Vorbereitung,
mit mörderischer Plötzlichkeit mußten sie den behaglichen Schleichschritt
des frühern Daseins mit dem Sturmlauf des modernen Lebens vertauschen
und das hielten ihr Herz und ihre Lunge nicht aus« (I, 64). Die Folgen dieser
überfordernden Modernisierung sah Nordau in der modernen Kunst und
Literatur: im Ästhetizismus eines Baudelaire wie im Naturalismus eines
Zola, in Wagners Musik wie in Nietzsches Philosophie. Nordau war sowohl
ein gründlicher Kenner der modernen Kunst als auch ein entschiedener
Vertreter der rationalistischen Moderne, und als solcher mißverstand er die
transrationale moderne Kunst in einem fatalen Kurzschlußverfahren als
Symptom für »Degeneration« und denunzierte sie als »Entartung«. In
Nordaus Buch betrachtet die Moderne sozusagen ihr künstlerisches und
philosophisches Selbstporträt – und erschrickt so sehr darüber, daß sie es
verwerfen muß. Das Erschrecken der Moderne über sich selbst gehört zur
Moderne und wird zu reaktionären Rebellionen gegen die Moderne und zu
Vernichtungsaktionen gegen ihre avantgardistischen Vertreter und Werke
führen.
Vitalität: Neurasthenie erscheint nicht nur als Schwäche, die sich den
Herausforderungen und Zumutungen des Lebens nicht gewachsen fühlt. Sie
zeigt sich auch – wie bei Wilhelm II. – als Agilität und »kinetische Energie«
(Radkau), die alle Schwächegefühle verdrängt und voller Ungeduld auf
Möglichkeiten zur erfolgreichen Betätigung wartet. Schwächegefühl und
Kraftmeierei, Lebensangst und Lebensgier gehören eng zusammen.
Gleichzeitig mit der Mode der Neurasthenie greift der Vitalismus um sich:
der Kult des »gesunden«, kräftigen und schwungvollen Lebens, das
Dekadenz und Schwächezustände nur als Übergangserscheinungen kennt
und sich im übrigen rational weder erklären noch bändigen läßt; das Leben
gilt als etwas zutiefst Irrationales, das nur intuitiv zu erfassen ist. Die ersten
Ansätze dieser Philosophie oder Ideologie des »Lebens«, von dem man nun
mit geradezu religiöser Emphase spricht, finden sich in der Zeit des Sturm
und Drang; der große Anreger und wichtigste Exponent aber ist Friedrich
Nietzsche. Für ihn bedeutet Leben ständiges Werden, ständiges Wachstum,
ständige Steigerung, was allerdings auch von Destruktionen begleitet ist:
»Zeugen, Leben und Morden ist eins«, heißt es in der dritten von Nietzsches
Fünf Vorreden. Die Verherrlichung des Lebens verbindet sich mit dem
Bekenntnis zur Tat, zur Aggressivität, zum Kampf, zum Krieg, auch zu einer
»neuen Barbarei« als Übergang zu einem »neuen Menschen«. Von den
1880er bis in die 1920er Jahre spielt dieser Vitalismus eine große Rolle.
Nationalismus: Nationalismus ist um 1895 weder etwas Neues noch etwas
spezifisch Deutsches. Er entstand aus den politischen Revolutionen der
Neuzeit, angefangen vom niederländischen Unabhängigkeitskampf gegen
Spanien bis zur Französischen Revolution und zu den anschließenden
deutschen Freiheitskriegen. In dieser Phase war der Nationalismus im
wesentlichen eine Form der politischen Selbstverständigung und
Selbstbestimmung, der inneren und äußeren Nationsbildung; er wirkte
integrierend und mobilisierend – und zeigte allerdings gleich auch die Fratze
der nationalen Überheblichkeit, des Hasses auf andere Nationen und der
tendenziell totalitären Feindseligkeit gegenüber »unangepaßten« Gruppen im
Inneren. Im 19. Jahrhundert wuchsen dem Nationalismus neue, nämlich
wirtschaftliche und soziale Funktionen zu: Er lieferte die Begleitmusik für
den großen Prozeß der Modernisierung, spornte zu den Leistungen der
Industrialisierung wie der Handelsexpansion an – und ließ darüber
hinwegsehen, mit welchen Zumutungen an Mobilisierung und
Disziplinierung, Ausbeutung und Entfremdung dies für die Menschen
verbunden war.
Das zersplitterte Deutschland gehörte in politischer wie ökonomischer
Hinsicht nicht zu den »Pionierländern« und Gewinnern dieses Prozesses,
sondern zu den »Nachzüglern« und Verlierern – bis sich mit der
Reichsgründung von 1871 eine Wende abzeichnete. Diesen Umständen
verdankt der Nationalismus die außerordentliche Wirkungskraft, die er in
Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht: Er wird zum
ideologischen Rüstzeug für den Aufstieg zur politischen und ökonomischen
Großmacht. Er artikuliert und nährt als »Reichsnationalismus« das
Bewußtsein, ebenfalls einer großen Nation anzugehören, die aufgrund ihrer
kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen Anspruch auf eine
Führungsposition in der Welt hat. Er greift von der hauptsächlich
bürgerlichen und protestantischen Trägerschicht der früheren Jahrzehnte auf
fast alle sozialen Gruppen über und erfaßt nach dem »Kulturkampf« die
zunächst ausgegrenzten Katholiken ebenso wie nach dem Ende der
»Sozialistenverfolgung« die sozialdemokratische Arbeiterschaft, desgleichen
die Juden (»deutsche Staatsbürger mosaischen Glaubens«), auch wenn der
Antisemitismus, der in eben diesen Jahren eine biologistisch-nationalistische
Radikalisierung erfährt, ihnen permanent vorhält, daß sie als Angehörige
einer fremden »Rasse« zu vollgültigen und willkommenen Mitgliedern der
deutschen Nation nicht werden könnten. Nationalismus gewinnt den
Charakter einer »politischen Religion« und wird in dieser Form für viele
Menschen zum existentiellen Sinnhorizont und globalen Heilsversprechen:
»Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!«
Imperialismus: Imperialismus ist die Fortsetzung des Nationalismus in
internationalem und tendenziell globalem Rahmen: Die nationalen
Interessen und Ansprüche sollen durch eine Schaffung von Einflußsphären
oder eine Eroberung von Kolonien befriedigt und gesichert werden. So
wenig wie der Nationalismus ist der Imperialismus ein spezifisch deutsches
Phänomen; vielmehr ist das deutsche Expansionsstreben der
Wilhelminischen Ära integraler Bestandteil des westeuropäischen
Imperialismus. Dieser hat mehrere Motive: die Dynamik des
Industriekapitalismus, die ständig neue Rohstoffquellen und Absatzmärkte
verlangt; die sozialdarwinistische Vorstellung, daß auch die Nationen einem
natürlichen Kampf ums Überleben unterworfen und deswegen gezwungen
seien, ihre nationalen Interessen gegenüber anderen Nationen kämpferisch
und expansiv durchzusetzen; die durch den Nationalismus genährte
Vorstellung, daß die je eigene Nation dazu berufen sei, die Welt zu ordnen
und ihr die eigentliche »Zivilisation« oder »Kultur« zu bringen. Und er
erscheint den Zeitgenossen als unentrinnbare Notwendigkeit: Wer die
Schaffung eines Imperiums oder wenigstens von großen merkantilen und
politischen Einflußsphären versäumte, war nach Meinung der Zeitgenossen
dazu verurteilt, ökonomisch zurückzufallen und politisch ausgeschaltet zu
werden – zum Nachteil aller Angehörigen einer Nation, die dann in der
Heimat von der Verarmung bedroht waren und in der Fremde als Menschen
zweiter Klasse behandelt wurden. Das doppelte Elend von Emigranten, die
Not in der Heimat und die Deklassierung in der Fremde, ist eine von
zahllosen Deutschen erlittene Erfahrung und wird in der Literatur jener Zeit
vielfach reproduziert – bis hin zu Hans Grimms voluminösem Roman Volk
ohne Raum (1926), der zum Bestseller nur werden konnte, weil er auf diesen
Erfahrungen aufbaute und die Ängste, die damit verbunden waren, aufrief.
Um 1895 steht für die meisten Deutschen fest: Deutschland muß, wenn es
einen »Platz an der Sonne« erringen und behalten will, »Welt(macht)politik«
treiben, und es braucht dafür ein starkes Heer und eine starke Flotte. Der
Imperialismus fordert und fördert den Militarismus.
Fortschrittsdenken: »Evolution« und »Entwicklung« sind Zentralbegriffe
des Weltverständnisses im ausgehenden 19. Jahrhundert. Selbstverständlich
denkt man sie sich als Fortschritt zu immer höheren Organisationsformen
und immer besseren Zuständen des Lebens. Die Aufklärung und der
Idealismus hatten die Idee der »Perfektibilität« oder
Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und der menschlichen
Gesellschaft in die Welt gebracht. Im 19. Jahrhundert warteten
wirkungsreiche Philosophen – Auguste Comte, Karl Marx, Herbert Spencer
– mit Theorien auf, welche die Geschichte als gesetzmäßige und stufenweise
Aufwärtsentwicklung erscheinen ließen. Darwins biologische
Abstammungs- und Entwicklungslehre wirkte beglaubigend und
inspirierend; sie gab dem Fortschrittsglauben naturwissenschaftliche
Evidenz und ließ im sogenannten Sozialdarwinismus gleichsam ein
Fortschrittssicherungsprogramm für menschliche Gesellschaften entstehen.
Die Errungenschaften von Wissenschaften und Technik taten ein übriges, um
den Glauben an den Fortschritt unabweisbar und allgemein zu machen. Um
1895 sind vor allem die Gebildeten davon überzeugt, daß die Wissenschaft
die Welt in Bälde vollständig erklärt haben wird und daß sie im Verein mit
der Technik das menschliche Leben in allen Bereichen erleichtern und
sichern wird.
Sekurität: Das Jahr 1895 bezeichnet ungefähr die Mitte jener Zeit, die der
österreichisch-jüdische Romancier und Essayist Stefan Zweig in seiner
aufschlußreichen Autobiographie Die Welt von gestern (postum 1943/44) als
»das goldene Zeitalter der Sicherheit« oder, wie man damals auch gerne
sagte, der »Sekurität« beschrieben hat. Der letzte Krieg liegt über zwanzig
Jahre zurück, und ein neuer ist nicht abzusehen, obwohl ihn einige Politiker
und Zeitanalytiker vorhersagen und zum Teil auch herbeiwünschen. Aber
das europäische Staatensystem wirkt stabil, und es wird ja noch zwanzig
Jahre dauern, bis es mutwillig zur Disposition gestellt wird. Die Wirtschaft
floriert, der Wohlstand der bürgerlichen Schichten nimmt beträchtlich zu,
und die Lage der deutschen Arbeiterschaft hat sich durch steigende
Reallöhne und die weltweit als vorbildlich betrachtete Sozialgesetzgebung
verbessert (1878: Arbeiter-, Jugend- und Mütterschutz; 1883:
Krankenversicherung; 1884: Unfallversicherung; 1889: Invaliditäts- und
Altersversicherung).
Gewiß ist das Leben nicht frei von Spannungen und Niederlagen. Es gibt
soziale Konflikte und Zusammenbrüche von Firmen, die das
Sekuritätsgefühl unterminieren und Niedergangsängste aufkommen lassen.
Nicht grundlos schreibt der Lübecker Patriziersproß Thomas Mann von 1897
bis 1900 mit der kleinen Rente, die er nach der Liquidation der väterlichen
Getreidefirma erhält, die Geschichte des »Verfalls einer Familie« (so der
Untertitel der 1901 erschienenen Buddenbrooks); und nicht von ungefähr
entstehen um 1910 Gedichte wie Georg Heyms Umbra vitae und Der Krieg,
die von der Erwartung einer baldigen Katastrophe diktiert sind. Aber das
Beispiel von Jüngers Vater, der 1913 im Alter von 45 Jahren glaubt, für den
Rest seines Lebens vorgesorgt zu haben, zeigt, daß man sich von derartigen
Prognosen nicht allzusehr beeindrucken läßt. Man lebt, um noch einmal mit
Stefan Zweig zu reden, in dieser »Welt der Sicherheit wie in einem
steinernen Haus« – und ahnt nicht, daß die nächsten drei Jahrzehnte mit
geschichtlichen Stößen aufwarten werden, die auch das Haus der Sekurität
gründlich erschüttern und den Bewohnern die Sicherheit des Auskommens
und des bloßen Überlebens weitgehend entziehen. Ein halbes Jahrhundert
später, 1958, wird Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner
Weihnachtsansprache sagen: »Ist es nicht traurig, daß die Mehrzahl der jetzt
Lebenden Ruhe, Frieden und Sicherheit, ein Leben frei von Angst, niemals
gekannt hat?«

Familienchronik

Heidelberger Geburtsgeheimnisse

29. März 1895: Ernst Jünger wird als das erste Kind von Ernst Georg Jünger
und Karoline Lampl in Heidelberg geboren. Die Nativität, also die
Konstellation der Gestirne im Zeichen des Widder, wird von Astrologen als
günstig beurteilt, und Jünger bezieht daraus zeitlebens eine gewisse
Zuversicht. Ansonsten gibt es, was die Umstände der Geburt angeht, einige
Unklarheiten. Die Eltern sind, wie die Eintragungen im Standesamt
Heidelberg anzeigen, noch nicht verheiratet, und doch wird das Kind nicht,
wie damals üblich, unter dem Namen der Mutter, also Lampl, sondern unter
dem Namen Jünger registriert. Als Geburtshaus wird »Ziegelgasse 3«
genannt, doch beruht dies, wie der Heidelberger Stadthistoriker Michael
Buselmeier vermutet, auf einer Verwechslung: »Ziegelgasse 3« ist ein
»Arme-Leute-Haus«, in dem die Hebamme wohnt, die dem Kind ans Licht
der Welt verhilft. Der Vater hat sich im ersten Stockwerk des viel
vornehmeren Hauses »Sophienstraße 15« eingemietet, doch ist nicht
dokumentiert, ob die Mutter bei ihm oder im Haus »Ziegelgasse 3« wohnt.
Beide sind sie jedenfalls kurz zuvor von München, wo sie sich
kennengelernt haben, nach Heidelberg übergesiedelt, wo Ernst Georg Jünger
als Assistent des Chemikers Victor Meyer arbeitet. Daß die Lebens- und
Familienverhältnisse etwas irregulär sind, scheint im akademischen Milieu,
zumindest im naturwissenschaftlichen Sektor, belanglos zu sein. Die Ehe
zwischen Ernst Georg Jünger und Karoline Lampl wird – laut einer
Randbemerkung auf Ernst Jüngers Geburtsurkunde – erst in der zweiten
Hälfte des Jahres 1897 auf Helgoland geschlossen.
Woher stammen Ernst Georg Jünger und Karoline Lampl? Und was
bringen sie an möglicherweise prägenden Anlagen mit? Einiges hat ihr Sohn
in einer 1914 verfaßten Familienchronik festgehalten und später an
verschiedenen Stellen seines Werks mitgeteilt. Süddeutsches und
Norddeutsches flossen zusammen, naturwissenschaftliche Orientierung und
künstlerische Neigungen verbanden sich.

Vorfahren

Jüngers Urgroßvater Georg Christian Jünger wurde 1810 im


württembergischen Neckargartach geboren, einem damals selbständigen
Dorf, das nur durch den Neckar von Heilbronn getrennt war. Georg Christian
Jünger wurde Schuster und lebte später als Schuhmachermeister in
Osnabrück. Seine Frau Gertrud Wilhelmine geb. Niemann entstammte einer
bäuerlichen Familie, die in Ösede bei Osnabrück einen Hof besaß. Fleiß,
Akkuratheit und Bescheidenheit wurden geschätzt, aber doch ging des
Urgroßvaters Leben nicht im Beruf allein auf. Er liebte es, mit seinem Sohn
zusammen »einen starken Kaffee zu brauen, die lange Pfeife zu rauchen und
die Gartenlaube zu lesen« (so die Familienchronik). Die Gartenlaube war
eine Vorläuferin der modernen Illustrierten und das erste große deutsche
Massenblatt. 1852/53 von einem liberal und progressiv denkenden Verleger
gegründet, war sie ein wichtiges bürgerliches Aufklärungsblatt, »die
eigentliche Trägerin des demokratischen Gedankens« und »das freiheitliche
Gewissen Deutschlands«, wie der naturalistische Dramatiker Hermann
Sudermann in seiner Autobiographie bemerkt. Zudem war sie ein Blatt, das
mit einem breiten Spektrum von Artikeln über Kunst wie über soziale
Probleme, über technische Errungenschaften wie medizinische Themen
informierte und durchaus auch respektable Literatur druckte. Diese
Gartenlaube, nicht das harmlose Familienblatt, zu dem sie nach der
Reichsgründung allmählich wurde, hat der auf der überlieferten
Porträtaufnahme nachdenklich aussehende Mann um 1860 mit seinem Sohn
gelesen: ein Medium der bürgerlichen Aufklärung und der kulturellen
Modernisierung.
Der Sohn, Ernst Jüngers Großvater, wurde 1840 in Osnabrück geboren
und auf den Namen Christian Jakob Friedrich Clamor Jünger getauft, bald
aber nur »Fritz« gerufen. Er besuchte das Lehrerseminar in Osnabrück und
unterrichtete anschließend im benachbarten Bramsche, wo er seine spätere
Frau kennenlernte, die 1839 geborene Wirtstochter Hermine Wolters. In der
zweiten Hälfte der sechziger Jahre wechselte er an eine private
Mädchenschule in Vegesack, dann an das neugegründete Lyzeum II (später
Goethe-Gymnasium) in Hannover, wo er in den Vorklassen Mathematik und
Biologie unterrichtete. Von 1872 bis 1896 bewohnte er mit seiner Familie
ein großes Haus in der Weinstraße (16a), das zugleich als Pensionat für eine
kleine Zahl von Schülern aus der Umgebung, aber auch aus England und
Spanien diente. Die überlieferten Photos zeigen wohlhabende und
selbstbewußte Bürgerlichkeit, die auch Ernst Jünger noch kennenlernte, als
er 1903 bei den Großeltern einzog, um das Gymnasium besuchen zu können
(die Eltern waren inzwischen nach Schwarzenberg im Erzgebirge gezogen).
Einiges von der Atmosphäre und dem Ethos dieses bürgerlichen Haushalts
hat er später in der Schülergeschichte Die Zwille (1973) festgehalten.
Besonders bemerkenswert ist, was dort in dem Kapitel »Die Einrichtung«
über die Haltung des Pensionsleiters gegenüber dem zivilisatorischen
Fortschritt gesagt wird: Er hält in vielen »Modernisierungsgesprächen« (18,
95) an allem fest, was die Autonomie und Autarkie seines Hauses bewahren
hilft, am Handpumpenbrunnen auf dem eigenen Grundstück wie an
Öllampen, weil in beiden Fällen keine Leitungen nach außen nötig sind, das
Haus nicht »angezapft« wird und keine »Abhängigkeit von anonymen
Maschinisten« entsteht (94). Möglicherweise ist hinter dem Pensionsleiter
der Zwille der Großvater zu sehen, und jedenfalls verweist diese Figur auf
eine Bürgerlichkeit, die auf ein auskömmliches und möglichst autonomes
Leben Wert legte und den Modernisierungsimperativen der Zeit, die diese
Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit gefährdeten, mit Mißtrauen
begegnete. Auch dieses Bürgertum gehört zu Jüngers Erfahrungshorizont
und ist vielleicht mit ursächlich für seine später deutlich werdende Neigung
zu einem möglichst unabhängigen Leben eher am Rand der urbanen
Moderne. Im übrigen bekam Jünger von diesem Großvater 1905 ein für ihn
bedeutungsvolles Buch geschenkt: Alexander von Humboldts Reisen in die
Aequinoctialgegenden, und zeit seines Lebens blieb er von dem Mut dieses
Reisenden und von seiner präzisen Beobachtung fasziniert (vgl. 20, 57 und
60).

Der Vater

Der Ehe von Fritz und Hermine Jünger entsproß 1868 als erster Sohn Ernst
Georg Jünger, der Vater Ernst Jüngers. Er begeisterte sich früh für die
Naturwissenschaften, speziell für die Chemie, und richtete sich bereits als
Schüler unter dem Dach des elterlichen Hauses ein Laboratorium ein. So
verwundert es nicht, daß er Chemie studierte, auf Geheiß des Vaters, der die
Chemie als brotlose Kunst betrachtete, allerdings auch soviel Pharmazie, daß
er sich später als selbständiger Apotheker niederlassen konnte; seine
pharmazeutischen Famulaturen führten ihn 1888 für ein Jahr nach Berlin,
danach für ein Jahr nach London. Mit dem Chemiestudium begann Ernst
Georg Jünger in Marburg, wechselte dann aber nach München und
schließlich nach Heidelberg, wo er 1895 von dem renommierten Chemiker
Victor Meyer aufgrund einer Arbeit über »Synthesen in der m-Terpenreihe«
zum »Dr. phil.« promoviert wurde. Meyers jüngste Tochter hat ihn später als
einen »charmanten Gesellschafter« beschrieben (14, 65). Bis zum
Jahresende 1896, möglicherweise bis zum Sommer 1897, arbeitete Ernst
Georg Jünger als Assistent von Meyer. Wie Ernst Jünger in den Subtilen
Jagden mitteilt, gelang es seinem Vater, aus dem Waldmeister das Cumarin
zu isolieren, das in der Parfümerie zur Erzeugung von Heu- und
Lavendeldüften gebraucht wird (10, 11). Ob eine akademische Laufbahn
nicht geplant war oder daran scheiterte, daß sein Lehrer Meyer Anfang
August 1897 Selbstmord beging, ist nicht mehr auszumachen; Friedrich
Georg Jünger bemerkt in seinem Erinnerungsbuch Grüne Zweige, dem Vater
sei der Gedanke, daß er als Privatdozent Jahre hindurch in einer abhängigen
Stellung hätte leben müssen, so zuwider gewesen, daß er sich entschloß, der
Universität den Rücken zu kehren. Jedenfalls zog die junge Familie – die
Eltern waren jetzt wohl auch getraut – im Sommer 1897 nach Hannover, wo
Ernst Georg Jünger ein Laboratorium einrichtete, um als Gerichts- und
Handelschemiker tätig werden zu können. Offensichtlich war damit aber
nicht ausreichend Geld zu verdienen, denn 1901 übersiedelte die Familie
nach Schwarzenberg im Erzgebirge, wo der Vater die Adlerapotheke
erworben hatte. Ganz zufrieden scheint er dort nicht gewesen zu sein, denn
bereits vier Jahre später, 1905, wurde die Apotheke wieder verkauft. Es ging
zurück nach Hannover, und Ernst Georg Jünger beteiligte sich nun –
erfolgreich – am Kalibergbau.
Der Vater Ernst Georg (1868 – 1943)
1907 übersiedelte die Familie nach Rehburg am Steinhuder Meer und
bezog eine geräumige Villa, die von Parkbäumen umgeben war und im
weitläufigen Garten ein zweistöckiges Wirtschaftsgebäude hatte. Ebenfalls
in den Subtilen Jagden teilt Jünger mit, daß sich sein Vater »schon vor dem
fünfundvierzigsten Jahr [also vor 1913] zur Ruhe« setzte, weil er glaubte, für
den Rest seines Lebens mit dem bis dahin erworbenen Vermögen gut
auskommen zu können, und weil er der Meinung war, daß nach dem
Fünfundvierzigsten »eigentlich niemand mehr arbeiten und jeder sich seinen
Neigungen widmen« solle (10, 12). – Nach dem Krieg sah Ernst Georg
Jünger sich freilich gezwungen, mit dem Rest seines durch die Inflation
dezimierten Kapitals die Löwenapotheke im sächsischen Leisnig zu kaufen
und wieder zu arbeiten. Zeitlebens aber frönte er seinen Liebhabereien: dem
Klavierspiel, dem Schachspiel, dem Studium historischer und juristischer
Literatur, der Astronomie usw. Seine Bibliothek war überaus reichhaltig;
seine astronomischen Instrumente waren exquisit und hätten einer kleinen
Sternwarte Ehre gemacht.
In den »Rehburger Reminiszenzen« der Subtilen Jagden (1967) erscheint
Ernst Georg Jünger als ein etwas exzentrischer Mann, der sich mit
Leidenschaft seinen Neigungen hingab, seien es geschichtlichen Studien
oder Schachspiel, und sein Haus für die meist nicht weniger exzentrischen
Koryphäen der gerade gepflegten Gebiete offenhielt. An Vorbildern für ein
außergewöhnliches und gewagtes Leben im wissenschaftlich-künstlerischen
Bereich hat es dem jungen Ernst Jünger also nicht gefehlt, und der Devise
seines Vaters, daß man nach dem Fünfundvierzigsten nicht mehr arbeiten
solle, stimmte er »von Herzen« zu und »übertrumpfte« sie noch, indem er
sich sagte, »besser finge man mit dem Arbeiten gar nicht erst an« (10, 12).
In den eingangs zitierten Notaten aus Zwei Mal Halley (1987) oder
Siebzig verweht IV (1995) bekommt das Bild des Vaters aber noch einen
deutlich anderen Valeur. Da wird er zum »pater familias« in einem
archaischen und zugleich epochentypischen Sinn (21, 42ff.): Archaisch, daß
er mit den Seinen den Sternenhimmel betrachtet und in »schwierigen
Situationen« die Führung übernimmt. Typisch, daß er sie zum
Porträtphotographen und in die Oper führt. Typisch auch seine
rationalistische und positivistische Grundeinstellung, die sich während der
Heidelberger Studienzeit herausgebildet hatte und ihn beispielsweise
bemerken ließ: »Gedanken werden durch Kombination und Zerfall von
Eiweißmolekülen produziert.« Typisch ferner das Interesse an der
Geschichte, einer Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts, und zwar in jener
Spielart, die vor allem die »großen Einzelnen« exponierte; selten, so erinnert
sich Jünger 1966, »verging bei uns ein Tischgespräch, bei dem nicht von
Napoleon und Alexander die Rede war« (4, 271). Typisch schließlich auch
die Vorliebe für ein diszipliniertes Leben ohne Exzesse und Berauschungen.
Die Porträtaufnahmen zeigen einen schlanken Mann mit einem ebenmäßig
geformten, klar und modern wirkenden Antlitz, fern allem Wilhelminisch-
Teutonischen, das in den männlichen Gesichtern jener Zeit so häufig
anzutreffen war. Im übrigen scheint er ein von Natur aus heiterer und agiler
Mann gewesen zu sein. In den Annäherungen hielt Jünger fest: »Früh hörte
man ihn auf der Treppe, nicht als Sarastro, sondern als Papageno, wie es
seiner Stimme und Stimmung entsprach. Er sang oder pfiff, wenn er
herunterkam; aufwärts nahm er die Stufen im Sprung« (11, 251).
Diesem vielseitig tätigen und zugleich disziplinierten, zielstrebigen und
erfolgreichen Mann konnte es nicht gefallen, daß sein ältester Sohn ein
miserabler Schüler war und nach dem Kriegseinsatz Gefahr lief, wahlweise
ein kümmerlich lebender Garnisonsoffizier oder ein »verbummelter«
Student zu werden. Es scheint zu Spannungen gekommen zu sein, die
zeitweilig zu einer sehr negativen wechselseitigen Wahrnehmung führten.
Aber mehr und mehr stellte sich bei Ernst Jünger das Bewußtsein ein, daß er
seinem Vater viel verdankte. Und in der Tat: Ernst Georg Jünger hat seinem
Sohn die Welt auf nachhaltige Weise erschlossen. Er hat ihn, indem er ihm
zu Weihnachten 1908 einen Käferkasten samt Fangausrüstung und
Bestimmungsbuch schenkte, nicht nur zum Entomologen werden lassen,
sondern auch zum genauen Beobachter mit einem Blick für das Detail wie
für die systematischen Zusammenhänge. Er hat ihm neben dem Interesse an
der Natur und am Kosmos auch das Interesse an der Geschichte und an der
Literatur vermittelt. Und er hat ihn, wie Jünger am 8. April 1969, am
hundertsten Geburtstag des Vaters notierte, »herausgerissen«, »wo immer die
Dinge schwierig« oder gar »katastrophal« wurden (4, 565): 1913 zum
Beispiel, als er den Achtzehnjährigen aus dem leichtfertigen Gang in die
Fremdenlegion zurückholte, und 1919, als er dem perspektivlosen
Kriegsheimkehrer riet, seine Notizen aus dem Krieg in eine breitere
Darstellung zu überführen.
Daß sich in Jünger das lebenslang anhaltende Gefühl einstellte, »geleitet
zu sein« (4, 487 und 576f.), dürfte nicht zuletzt auf die Fürsorge
zurückzuführen sein, die ihm der Vater fortwährend, insbesondere aber in
prekären Situationen, angedeihen ließ. Dem entspricht, daß der Vater für
Jünger bis zu seinem Tod im Januar 1943 eine Person von großer Autorität
war. Und dies galt nicht nur für lebenspraktische Entscheidungen, bei denen
sein Rat beachtet sein wollte; es galt auch für die Reflexion der politischen
Entwicklung, bei der Jünger immer wieder auch auf die Ansichten des Vaters
zurückkam.
Möglicherweise hatte der Vater auch prägenden Einfluß auf Jüngers Stil.
Kurz nach Ernst Georg Jüngers Tod charakterisierte ihn sein Sohn Friedrich
Georg in seinen Erinnerungen an die Eltern folgendermaßen:
Sein Drang nach Unabhängigkeit machte sich heftig, schroff,
auch verletzend geltend, wo immer die Vermutung einer
Gefährdung auftauchte. Er war dann kalt und zugleich wach.
Welche Kälte in der Ironie steckt, habe ich durch ihn
begriffen. Doch war er nicht eigentlich ironisch, sondern
sarkastisch und beißend. Seine Repliken waren so kurz wie
entwaffnend; sie verschlugen dem Betroffenen den Atem. [...]
Seine Sätze waren so kurz und genau, wie ein scharfer Wille,
gepaart mit einem geübten wissenschaftlichen Denken, sie
hervorzubringen vermag. Seine Kürze hatte etwas
Willensmäßiges; in ihr steckte ein Befehlston. Dieser hatte
nichts Militärisches, sondern war reine, schneidende
Verständigkeit. Auch schätzte er das Ungemütliche und war
der Ansicht, daß ein einziger ungemütlicher Mensch mehr in
Bewegung bringe als ein Dutzend gemütliche. […] Als Kind
und auch später noch verletzte er mich manchmal mit der
Kälte seiner Urteile, die wie auf Eis gebettet waren.
Willensmäßigkeit, Kürze, Sarkasmus, Befehlston, schneidende
Verständigkeit, Kälte -: Das sind Vokabeln, die schon oft auf Jüngers Stil
angewandt wurden, ohne daß ein Bezug zum Vater hergestellt worden wäre.
Friedrich Georg Jüngers Ausführungen legen es aber nahe, anzunehmen, daß
der apodiktische Gestus, der Jüngers Schreiben von Anfang an bestimmt, auf
das Vorbild des Vaters zurückgeht (und durch das Studium Nietzsches und
anderer Meister der Entschiedenheit nur ausgebaut und verfeinert wurde).
Zugleich ist festzustellen, daß sich in diesem Gestus mehr als ein nur
individueller Zug manifestiert; vielmehr zeigen sich in der scharf profilierten
Ausdrucksweise von Jüngers Vater auch das Selbstbewußtsein des Besitz-
und Bildungsbürgertums auf dem Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters
sowie der offensive Geist der Wilhelminischen Epoche. In mancher Hinsicht
war Jünger deren Erbe, auch wenn er in den zwanziger und dreißiger Jahren
die bürgerliche Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts wegen ihrer
rationalistischen und utilitaristischen Ausrichtung als Quelle der modernen
Verflachung des Lebens scharf kritisierte.
Von dieser Kritik wurde der Vater nicht ausgenommen. Zwar gibt es in
Jüngers Werk keinen direkten Angriff auf den Vater, aber doch die eine oder
andere Wendung, die sich auch auf ihn beziehen läßt. So etwa in der ersten
Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1929), wo Jünger – unter der
Überschrift »Neapel« – nicht nur seiner zoologischen Studien im Aquarium
von Neapel gedenkt, sondern auch an den unbekümmerten und schneidigen
Rationalismus erinnert, dem die Generation des Vaters gehuldigt hatte. Diese
alles durchdringen wollende Geisteshaltung wird nun als »Anarchie des
Verstandes« bezeichnet und mit dafür verantwortlich gemacht, daß diese
Generation jede »Bindung« abzustreifen suchte und folglich auch von der
erzieherischen Vermittlung der tradierten humanistischen Werte abrückte (9,
105). Damit korrespondieren – neben einigen Passagen der Afrikanischen
Spiele und einschlägigen Bemerkungen der Tagebücher – jene Ausführungen
von Zwei Mal Halley oder Siebzig verweht IV, in denen die rationalistische
Einstellung des Vaters durch einige seiner schroff positivistischen
Aussprüche exemplifiziert und in die Nähe jenes arroganten Nihilismus
gerückt wird, den Iwan Turgenjew in seinem Roman Väter und Söhne
dargestellt hat (21, 43). Alles in allem ist das Bild des Vaters, das Jünger in
seinen Schriften entwickelt, ambivalent: ein Dokument der Hochachtung, die
vor allem dem archaisch wirkenden »pater familias« zukommt, aber auch
der Kritik, die insbesondere dem Repräsentanten einer rein rationalistischen
und tendenziell nihilistischen Geisteshaltung gilt. Auf seine
heranwachsenden Söhne hat dieser Mann, wie aus den Aufzeichnungen
Friedrich Georg Jüngers noch deutlicher als aus den Schriften Ernst Jüngers
hervorgeht, faszinierend und abstoßend zugleich gewirkt. Liebe scheint er
nicht viel ausgestrahlt zu haben; das blieb der Mutter überlassen.

Die Mutter

Jüngers Mutter Karoline, genannt Lily, wurde 1873 geboren. Ihr Vater
stammte aus einer Familie, die in Dießen am Ammersee einen Bauernhof
bewirtschaftete; gelegentlich verbrachte Karoline mit ihren kleinen Kindern
dort einige Ferientage. Ihre Mutter kam aus Eichstätt. Zeitweilig lebten die
Eltern von Jüngers Mutter in München, wo die Tochter von den Englischen
Fräulein erzogen wurde. In München lernte sie auch den Chemiestudenten
Ernst Georg Jünger kennen, dem sie – ohne Erlaubnis der Eltern – nach
Heidelberg folgte. Die bayerischen Großeltern scheinen für Jünger keine
größere Bedeutung gewonnen zu haben. Über den Großvater erfährt man
nichts. Die »Münchner Großmutter« kam hin und wieder zu Besuch,
vorzugsweise aus Anlaß der »Kindbetten«, und waltete dann, fast unablässig
betend, im Haus. Dem über siebzigjährigen Verfasser der Annäherungen ist
sie fast nur schemenhaft in Erinnerung: als »kleine Graue, die lautlos die
Lippen bewegt« (11, 250f.); immerhin weiß er auch noch, daß die Imitatio
Christi des Thomas a Kempis ihr »Brevier« war (21, 281). Daß ihre Tochter
einen norddeutschen »Ketzer« genommen hatte, war für die Münchner
Großmutter ein »Unglück«, entspricht aber dem emanzipatorischen Geist,
der in Jüngers Mutter – wie auch immer – rege wurde und der ihr den Mut
gab, aus ihrem Milieu hinauszutreten. In den Annäherungen berichtet Jünger
über die Reisen, die er nach 1925 mit der Mutter machte, kommt auf einen
Besuch in Santa Maria Maggiore in Rom zu sprechen und fügt dem eine
aufschlußreiche Charakterisierung der Mutter an:
Die Mutter Lily (1873 – 1950)
Übrigens hörte ich die Mutter das Wort Maria nur einmal
aussprechen, in einem mir fremden Gebet, als der kleine
Bruder Felix gestorben war. Das mußte aus der frühen
Kindheit kommen, denn schon als junges Mädchen hatte sie,
wenn die Großeltern sonntags von Kirche zu Kirche zogen,
dagegen revoltiert. Sie las damals Ibsen, hatte auch einmal
mit dem Bruder zusammen den Dichter angesprochen, als er
vor dem Café Luitpold in der Sonne saß. Revoltierende
Frauen dieser Generation waren nach ihrem Herzen; gern las
sie in späteren Jahren Lily Brauns »Memoiren einer
Sozialistin« und die Tagebücher der Reventlow. Als sie hörte,
daß eine der ersten Suffragetten, ich glaube, Lady Pankhurst,
im Britischen Museum ein Meisterwerk demoliert hatte, war
das eine frohe Botschaft für sie. Es gab ein Bild, auf dem
diese Dame durch einen Polizisten abgeschleppt wurde; sie
trug einen Rock, der bis über die Fußspitzen hing. (11, 250)
An anderen Stellen hat Jünger die Liste der Autoren, die von seiner Mutter
in ihrer Jugend gelesen wurden, erweitert; sogar der Skandalautor der
Jahrhundertwende, Wedekind, gehörte dazu. Auch in der Ehe blieb Lily
Jünger – von der häuslichen Arbeit durch Dienstboten einigermaßen
entlastet – eine passionierte Leserin, die in ihrer »Lesewut« (Friedrich Georg
Jünger) große Bestände älterer wie zeitgenössischer Literatur rezipierte,
speziell auch »Schriften gebildeter Ärzte«: Jung-Stilling, Carus, Hufeland,
Schleich (4, 556). Literatur stand – neben der Sorge um das Wohlergehen
ihrer Kinder – anscheinend im Zentrum ihres Lebens. Den Faust kannte sie
auswendig, und ihre Reisen führten sie regelmäßig nach Weimar, wo sie
dann Goethes Lieblingsplätze besuchte. In den Annäherungen erwähnt
Jünger ausdrücklich auch ihre Freude an heiterer Geselligkeit, zumal beim
Wein und im Süden; aber was er an ihr geradezu rühmt, ist, daß »Verlaß«
(11, 249 und 263) auf sie war, wenn eines der Kinder in der Bredouille
steckte. Es scheint, daß er diese nachsichtige Verläßlichkeit über die
Schulzeit hinaus häufig nötig hatte. Freilich hatte ihr Verständnis auch
Grenzen: Auf die »ersten erotischen Wallungen« des ältesten Sohnes
reagierte sie mit Befremden, obwohl sie, wie Jünger eigens anmerkt,
Rousseaus Emile gelesen hatte, »um nichts zu versäumen« (21, 60); und
auch von seinem gelegentlichen Konsum von Rauschgiften durfte sie nichts
erfahren (11, 254ff.). Bemerkenswert ist, wie Jünger in einem Brief, den er
am 31. August 1927 an seinen Bruder Friedrich Georg schrieb, die
Bedeutung des mütterlichen Naturells kennzeichnete: »Das mütterliche
Erbteil verlieh uns eine wunderliche Mischung von starkem Leben und
mimosenhafter Empfindlichkeit, auch Neigung zum Phlegma dazu. Es
kommt nun immer darauf an, daß das erste dieser beiden ›Gene‹, wie der
Zoologe sagen würde, die beiden anderen dominiert.«
Ernst Georg Jünger starb am 9. Januar 1943 in Leisnig. Seine Apotheke
wurde nach dem Krieg in einen »volkseigenen Betrieb« überführt; das Haus
aber diente Jüngers Mutter und ihrem dritten Sohn Hans Otto, der sie in
ihren letzten Jahren pflegte, als Wohnung. Karoline Jünger starb am 20.
Dezember 1950.
Bald nach dem Tod der Mutter hat Friedrich Georg sein Bild der Eltern
schriftlich fixiert und es unter dem Titel Erinnerung an die Eltern zunächst
der Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Jüngers beigetragen, später ans
Ende seines Spiegels der Jahre gestellt. Von Jünger gibt es kein
vergleichbares Porträt. Die Erinnerung an die Eltern war für ihn wohl stärker
belastet als für den Bruder. Was er über die Eltern schrieb, entstand in großer
zeitlicher Distanz und blieb bruchstückhaft. Die meisten dieser
Erinnerungssplitter, die sich in den Tagebüchern oder in autobiographischen
Passagen anderer Schriften finden, gelten dem Vater, der in der damaligen
Zeit selbstverständlich die dominierende Bezugsperson war; er bot
offensichtlich vielerlei Anlaß für eine geistige Auseinandersetzung lange
über seinen Tod hinaus. Aber auch die »gute Mutter« (21, 60) gewinnt in
den entsprechenden Notizen Kontur und erscheint als eine den Charakter des
Sohnes nachhaltig prägende Kraft. Die Erinnerung an den Vater war durch
Respekt getragen, der in Verehrung überging, aber Kritik nicht ausschloß,
die Erinnerung an die Mutter durch Liebe. Das Grab der Eltern konnte
Jünger fast fünfzig Jahre lang nicht besuchen, da ihm die Einreise in die
DDR verwehrt war. Erst nach dem Fall der Mauer wurde dies möglich, und
im Mai 1992 unternahm er im Alter von siebenundneunzig Jahren die erste
Reise ans Elterngrab (22, 75 – 77).

Die Geschwister

Nach dem erstgeborenen Ernst hatten Ernst Georg und Karoline Jünger noch
sechs weitere Kinder: den zweiten Sohn Friedrich Georg (1898 – 1977); die
einzige Tochter Johanna (Hanna) Hermine (1899 – 1984); die weiteren
Söhne Hans Otto (1905 – 1976) und Wolfgang (1908 – 1975) sowie
Hermann und Felix, die allerdings schon im frühen Kindesalter starben.
Hanna heiratete in den zwanziger Jahren nach München. Friedrich Georg
wurde im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, studierte danach Jura und
wurde Schriftsteller. Hans Otto war musikalisch sehr begabt und
mathematisch geradezu ein Wunderkind; er wurde Physiker, berechnete im
Zweiten Weltkrieg die Flugbahnen der für London bestimmten Raketen und
machte als Primzahlenforscher auf sich aufmerksam. Wolfgang wurde
Geograph und trat in den vierziger Jahren als Sachbuchautor hervor; bei
Goldmann erschien von ihm 1940 Kampf um Kautschuk und erreichte bis
1942 vier Auflagen. Um 1930 lebten die vier Brüder vorübergehend allesamt
in Berlin und trafen sich gelegentlich mit Bekannten zu abendlichen
Gesprächen über Politik und Kultur. Dann führten die Lebenswege
auseinander und wurden Kontakte selten. Nur mit Friedrich Georg blieb
Ernst Jünger zeitlebens in enger Verbindung. Er korrespondierte
durchgehend mit ihm, besuchte ihn häufig, unternahm Reisen mit ihm,
erhielt wichtige Anregungen von ihm und erörterte mit ihm häufig
Probleme, die sich bei der Arbeit stellten. Der Zeichner A. Paul Weber hat
Ernst und Friedrich Georg Jünger in den dreißiger Jahren beim Schachspiel
porträtiert -: ein Bild, das die agonale Atmosphäre, die zwischen den beiden
Brüdern herrschte, sichtbar werden läßt. Sie waren sich nicht nur Stütze,
sondern auch Herausforderung.
Kindheit und Schulzeit

»Afrika im Hirn«: Langeweile in der Schule

Ernst Jünger wurde in Heidelberg geboren, doch erlangte diese Stadt keine
weitere Bedeutung für ihn. Etwa zweieinhalb Jahre nach der Geburt ihres
ersten Sohnes zogen die Eltern nach Hannover, zu früh, als daß dieser eine
Beziehung zu Heidelberg hätte entwickeln können. Nicht einmal eine vage
Erinnerung blieb ihm. Auf Nachfrage ließ Jünger 1989 mitteilen, daß er in
Heidelberg »als kleiner Kerl beinahe ertrunken wäre, weil er sich zu tief über
den Rand eines Regenfasses gebeugt« habe und erst im letzten Augenblick
vom Kindermädchen an den Beinen herausgezogen worden sei; aber das
wußte er nur, weil es ihm die Mutter später erzählte. Auch die Erinnerungen
an die folgenden Jahre bis zur Einschulung scheinen nicht sehr dicht
gewesen zu sein, und was Jünger in einer kleinen Ansprache zu seinem
neunzigsten Geburtstag mitteilte, ist kaum der Rede wert, abgesehen von der
Mitteilung, daß er es im letzten Jahr vor der Einschulung liebte, morgens im
Hannoveraner Stadtwald, der an das Elternhaus grenzte, mit Kameraden zu
spielen, und daß ihm der Gedanke, diese Möglichkeit durch die Einschulung
zu verlieren, äußerst unangenehm war (20, 498).
Bekanntlich nehmen Eltern und Schulbehörden auf solch kindliche
Vorlieben keine Rücksicht. An Ostern 1901 wurde Ernst Jünger mit seinem
Jahrgang in Hannover eingeschult, und damit begann eine dreizehnjährige
Leidenszeit. Bis zum Notabitur im August 1914 wechselte er mindestens
zehnmal die Schule: Vom Hannoveraner Lyceum II (dem heutigen Goethe-
Gymnasium), das damals auch als Vor- oder Grundschule diente, führte der
Weg in die Volksschule in Schwarzenberg, dann wieder zurück ins Lyceum
II, bald darauf ins Gymnasium in Schneeberg, dann erneut ins Lyceum II,
dann – der schlechten Zensuren wegen – in Internate (»Pressen«) in
Hannover und Braunschweig (1905 – 07), dann kurzfristig wieder ins
Lyceum II, danach in die Scharnhorst-Realschule in dem in der Nähe von
Rehburg gelegenen Wunstorf, 1912 in die Reformschule (Gymnasium und
Oberrealschule) in Hameln und 1914 schließlich in das Gildemeistersche
Institut in Hannover. Der Grund für diese schulische Odyssee lag weniger in
den drei Umzügen der Familie (Hannover – Schwarzenberg – Hannover –
Rehburg) als vielmehr in Jüngers schlechten Leistungen, die während der
Pubertät ihren Tiefpunkt erreichten. Im »Rückblick« der Subtilen Jagden
erinnert sich Jünger:
Einmal, […], ich glaube, in [der] Quarta, bekam ich das
schlechteste Zeugnis, das wohl je im Lyceum II zu Hannover
erteilt worden ist. Fünfen durchaus, einschließlich des
Betragens und selbstverständlich des Fleißes – nur in meinem
wirklich erbärmlichsten Fache, dem Singen, eine Vier,
vermutlich dank einem acte de pitié des Gesanglehrers.
»Versetzung vollkommen ausgeschlossen« stand unter diesem
Dokument. (10, 97)
Daß Jünger ein solch erbärmlich schlechter Schüler war, lag sicherlich
weniger an einem Mangel an Begabung als vielmehr an seinem Naturell und
an den schulischen Verhältnissen. Von Kindstagen an, so hat Jünger später
mehrfach betont, war ihm jeder Zwang verhaßt, und das galt natürlich auch
für die Schule. Hinzu kam, daß er ein sehr verträumtes Kind war und sich in
der Zwangsanstalt der Schule zu einem passionierten Tagträumer
entwickelte. Als Basis seiner Träumereien, die in absenceartige Zustände des
»Unbeteiligtseins« (9, 51) führen konnten, dienten ihm Abenteuer-, Kriegs-
und Heldenbücher aller Art, die er nicht nur in der Freizeit las, sondern,
geschützt durch den breiten Rücken eines eigens dafür gewählten
Vordermanns, auch während des Unterrichts: von Homer und Flavius
Josephus über Ariost und Defoe bis zu Cooper und Karl May, zuvor schon
Schwabs Sagen des klassischen Altertums und die Märchen aus
tausendundeiner Nacht, die der Neunjährige auf dem Geburtstagstisch der
Mutter entdeckte und fasziniert zu lesen begann. So war er, während an der
Tafel mathematische Operationen durchgeführt oder syntaktische Strukturen
analysiert wurden, mit Sindbad dem Seefahrer oder mit Old Shatterhand
unterwegs, tummelte sich im Lager der Griechen vor Troja oder baute mit
Robinson die Insel aus. Als 1983 die Nöte der Schulzeit wieder einmal in
seiner Erinnerung aufstiegen, vergegenwärtigte sich Jünger eine
entsprechende Episode am Schneeberger Gymnasium:
Beim Abfragen der Zehn Gebote konnte ich das Luthersche
»Was ist das?« nicht aufsagen. Ich hatte es nicht gelernt und
mußte nachsitzen. Der Religionslehrer ließ mich mit dem
Kleinen Katechismus in der leeren Klasse allein. Ich wußte
mir etwas Besseres, nahm den »Robinson Crusoe« aus dem
Tornister und war mit ihm auf seiner Insel allein. Der
Pädagoge kam nach einer Stunde wieder: »Kannst du es
nun?« Keine Antwort – er ging kopfschüttelnd hinaus.
Offenbar ein aussichtsloser Fall. (20, 267)
Die Lektüre, die Jünger auf diese Weise bewältigt hat, läßt sich aus seinen
Schriften einigermaßen erschließen. Sie ist von einer beachtlichen Breite. Da
sind zunächst einmal die deutschen Schulklassiker: Lessing, Goethe,
Schiller, Hölderlin, Uhland, dazu Chamisso, Platen u. a.; dann antike
Autoren: neben Homer, den Jünger besonders schätzte, Herodot, Platon,
Ovid, Plutarch und Tacitus; dazu ausländische Klassiker: Ariost, Byron,
Stendhal, Sue, Victor Hugo, Dostojewski (von ihm den Raskolnikow als
Kriminalroman); vereinzelt auch moderne Autoren: Verlaine (Rimbaud
hingegen erst nach dem Krieg); dann die international renommierten
Abenteuerbücher: von Cervantes und Grimmelshausen über Defoe und
Dumas, Marc Twain und Sealsfield bis zu Jules Verne, Cooper und Karl
May; daneben Reisebücher: Alexander von Humboldt, Gerstäcker,
Hackländer, Wörishöffer, Stanley u. a.; dazu Kriminalliteratur und
Detektivromane, auch in der aufkommenden Heftchen-Form; schließlich
philosophische Schriften: Schopenhauer und Nietzsche. Die Liste ist nicht
vollständig; aber sie umfaßt die wichtigsten Namen und läßt die
geschichtliche wie die sachliche Breite von Jüngers Jugendlektüre erkennen.
Im übrigen korrespondiert sie einigermaßen mit dem, was Walter Benjamin
in seiner Berliner Kindheit um 1900 in den Abschnitten »Schmöker« und
»Schülerbibliothek« als Lektüre beschreibt; auch Benjamin nahm seine
Zuflucht zu derartigen Büchern, um das »Elend des öden Schulbetriebs« zu
vergessen.
Wie weit das Verständnis der gelesenen Bücher – etwa der Schriften
Schopenhauers – ging und wie Jünger diese extrem unterschiedliche Lektüre
verarbeitete, ist im einzelnen nicht auszumachen. Deutlich sind aber die
Folgen insgesamt: Welt und Existenz verdoppelten oder verdreifachten sich
für Jünger. Neben dem zivilisierten Europa mit seinen Zwangsanstalten (wie
der Schule) gab es, das zeigte die Reiseliteratur, Kontinente, auf denen noch
ein freies und abenteuerliches Leben möglich war. Hinter der sinnlich
erfahrbaren Wirklichkeit gab es, das lehrten Philosophen und Dichter, die
Welt der Ideen und der kosmischen Bezüge. So berechtigt und wichtig wie
die wissenschaftliche Erkundung der Welt war dementsprechend die
intuitive oder visionäre, philosophische oder poetische Schau. Und der Blick
auf das Leben und die eigenen Möglichkeiten sollte nicht durch
Zweckrationalität und Sekuritätsverlangen bestimmt, sondern durch den
Geist der großen Krieger, Entdecker und Abenteurer inspiriert sein.
Demgegenüber verblaßte, was Schule war, und wurde zu einer langweiligen
Nebensache.
Das Leben in der Literatur ist freilich nur ein Grund für Jüngers
schulisches Versagen. Ein anderer und nicht minder wichtiger liegt in dem
Umstand, daß die Schulen jener Zeit jugendfeindliche Anstalten waren, in
denen erbarmungslos Druck ausgeübt wurde und Zwang permanent spürbar
war. Nach 1871, so kann man im letzten Teil von Thomas Manns
Buddenbrooks (1901) lesen, war ein neuer Geist in die Schulen einzogen:
»Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten
hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da
waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu
höchster Würde gelangt, [...]. Die Schule war ein Staat im Staate geworden,
in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein
die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um
nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern
gut angeschrieben zu stehen.« Disziplinierung rückte ins Zentrum der
pädagogischen Ambitionen und führte bei vielen Lehrern zur Entwicklung
eines betont autoritären Habitus, zur Pflege stark repressiver
Unterrichtsmethoden und tendenziell sadistischer Sanktionsweisen. In seinen
späten Schulerzählungen – also in der Zwille (1973) und in Sp. R. Drei
Schulwege (1991) – hat Jünger wie Thomas Mann und andere Autoren, die
in jener Zeit den Schuldrill über sich ergehen lassen mußten, solche
Schultyrannen und ihre Methoden geschildert, nicht ohne Hinweise darauf,
daß es auch andere gab. Zeitweilig kam sich der notorisch schlechte Schüler
wie ein Hase vor, der in eine Treibjagd geraten war (10, 101). Zu Recht hat
man gesagt, daß der Haß auf die bürgerliche Gesellschaft, der in Jüngers
Generation entstand, wesentlich auch auf den repressiven Charakter der
damaligen Schulen zurückzuführen ist.
Es gab allerdings auch Lichtblicke. Zunächst einmal die Ferienzeiten, in
denen Jünger die Schule vergessen durfte. Sein Bruder Friedrich Georg hat
in seinem »Erinnerungsbuch« Grüne Zweige (1951) ausführlich beschrieben,
wie er zusammen mit Ernst winters wie sommers das Gebiet zwischen
Rehburg und dem Steinhuder Meer erkundete und wie sie sich in einem
abenteuerlichwilden Leben übten:
So streiften wir weit umher, und bald wurde uns die
Landschaft so vertraut, daß auch ihre heimlichsten Orte uns
nicht fremd blieben. Sie war so mannigfaltig, daß sie uns
immer beschäftigte. Und die Wälder darin waren nur eines
unserer Ziele. Wenn wir sie verließen, gingen wir in die
Heide, ins Moor, in die Brüche und an den See. Vor allem
zogen uns die Brüche und die Bruchwiesen an, die an das
Steinhuder Meer grenzten. Wir besuchten sie oft und waren in
dem Abschnitt, der zwischen dem Dreckmoor und dem
Steinbruch liegt, wie zu Hause. […] Um ganz ungehindert zu
sein, entkleideten wir uns, versteckten unsere Kleider in
einem Erlenbusch und schweiften halbe Tage lang nackt
durch die Sumpfwiesen und Rohrwälder, die als breiter,
grüner Streifen das Wasser umgaben. Um die Stechmücken,
blinde Fliegen und Bremsen abzuwehren, rieben wir den
Körper ganz mit dem zähen, schwarzen Schlamm ein, so daß
wir das Aussehen von Mohren bekamen. Dann eilten wir in
schnellem Lauf über die dünne Grasnarbe der schwimmenden
Wiesen, die unter unserem Gewichte wie ein träger See auf
und nieder wallten. Es war kein ungefährliches Spiel.
Manchmal brachen wir mit einem Fuß ein und sanken bis an
den Schenkel in den schwarzen Schlamm, der weich und tief
unter dem Rasen stand. Mancher Schauer lief mir da über den
Rücken. Hier badeten wir, sonnten uns und verplauderten
lange Stunden. Oft auch schlichen wir, mit Knüppeln
bewaffnet, die Stichgräben entlang, um Hechte zu schlagen,
die regungslos im Wasser standen, fischten mit der Hand
Weißfische und Quappen aus den unterhöhlten Ufern und
scheuten nicht davor zurück, den tiefen Uferschlamm des
Meeres mit Hilfe von Stangen zu überqueren, um die
Aalkörbe der Steinhuder Fischer auf ihren Inhalt zu
untersuchen, ein waghalsiges Unternehmen. Die Uferwiesen
standen voll Wollgras und blühender Sumpfkalla, an den
Moorlöchern breitete sich der rote Teppich der Drosera aus,
und im Genist brüteten zahlreiche Vögel. Überall schossen
die hohen Halme und Binsen, die Schirmblumen und Dolden
aus der Feuchte hervor, und in diesem üppigen Wachstum gab
es geheime Verstecke, Nester und grüne Lauben, die zum
Verweilen einluden. Niemals begegneten wir hier einem
Menschen, denn der Ort war so gemieden, daß nicht einmal
die Hütejungen ihn aufsuchten.
Zu den Lichtblicken darf wohl auch der Schüleraustausch gerechnet werden,
der Jünger im September 1909 für einige Wochen nach Buironfosse bei
Saint-Quentin brachte. Zwar mokierte er sich in seinen ersten Reisenotizen
(22, 427f.) über einige Umstände seines Aufenthalts, etwa den Mangel an
»Moneten« und die befremdliche Erscheinung der französischen
Landpfarrer; aber insgesamt scheinen ihm die Wochen in Buironfosse
gefallen zu haben, wurden vielleicht zum Ausgangspunkt für seine Liebe zu
Frankreich. Und schließlich gab es auch in der Schule hellere Zeiten: In der
Braunschweiger »Presse«, in der Jünger 1906/07 wissensmäßig auf
Vordermann gebracht werden sollte, wurde er von den Lehrern plötzlich sehr
anerkennend behandelt; offensichtlich hatte ihnen ein Heft mit Notizen und
Skizzen, das ihnen in die Hände gefallen war, einen gewissen Respekt vor
ihrem Zögling eingeflößt. Als er abgemeldet wurde, weil er nach der
Übersiedlung der Familie Jünger die Scharnhorst-Realschule in Wunstorf
besuchen sollte, wurde er vom Leiter des Braunschweiger Internats mit
Bedauern verabschiedet. Aber auch in Wunstorf war er nicht ganz und gar
unglücklich. Mit Lehrern und Mitschülern kam Jünger besser zurecht als je
zuvor. Die Leistungen wurden in einzelnen Fächern besser; seine
Belesenheit, speziell auch in philosophischer Richtung, fiel auf und brachte
ihm Anerkennung ein, ebenso die Publikation einiger erster Gedichte im
Hannoverländischen Gaublatt des Wandervogels.
1910 oder 1911 wurden Ernst Jünger und sein Bruder Friedrich Georg
Mitglieder der Wunstorfer Ortsgruppe des Wandervogels. Diese
Jugendbewegung war um die Jahrhundertwende entstanden. 1895/96 hatten
sich in Steglitz einige Oberschüler zusammengetan, um gemeinsame
Wanderungen zu unternehmen oder, wie es bald hieß, »auf Fahrt« zu gehen.
Damit verfolgten sie mehrere Ziele: Sie wollten – wenigstens zeitweilig –
der Enge der bürgerlichen Welt wie der strengen Aufsicht durch Eltern und
Lehrer entfliehen, um für einige Tage oder Wochen ein Leben nach eigenen
Vorstellungen zu führen. Zugleich wollten sie dabei der Natur
näherkommen, die vielberufene »Nervosität« des Stadtlebens abstreifen und
ihre körperliche Leistungsfähigkeit erproben. 1901 wurde diese Gruppierung
in Vereinsform gebracht, und so entstand der Wandervogel, der alsbald
Ortsgruppen in vielen Städten hatte. Zunächst war er eine Bewegung der
männlichen Jugend; aber schon 1905 wurde in Steglitz auch ein
Wandervogel für Mädchen gegründet, und bald kam es zu
gemeinschaftlichen »Fahrten«. Von Schulbehörden und Elternschaft wurden
diese Aktivitäten teils mit Mißtrauen beobachtet, teils unterstützt; man
spürte, daß der Wandervogel ein Protest gegen die Bürgerlichkeit war,
begriff ihn aber auch als ein notwendiges Ventil für überschüssige
jugendliche Kraft und tolerierte oder förderte ihn deswegen.
Welche Bedeutung der Wandervogel für die Formierung eines neuen
Generations- und Lebensgefühls in der bürgerlichen Jugend nach 1900 hatte,
ist umstritten und keinesfalls mit einem Satz zu sagen. Er war eine
Aufbruchsbewegung, in der nach neuen Lebensformen gesucht und über
Werte heftig diskutiert wurde. Er war mit Verdrängung von Sexualität
verbunden, leugnete die Bedeutung der Sexualität für die Jugendlichen,
ermöglichte aber gerade dadurch ein neues, tendenziell unerotisches
kameradschaftliches Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das vor allem
bei Mädchen ein neues Freiheits- und Gleichwertigkeitsgefühl aufkommen
ließ. Er war von der mittelalterlichen und romantischen Vorstellung des
»fahrenden Scholaren« inspiriert, unterlag aber auch der zeitüblichen
Tendenz zur Übernahme militärischer Verhaltensformen und Rituale. Er
weckte den Sinn für die Natur und lenkte den Blick schon früh auf die
Beeinträchtigung der Umwelt durch die fortschreitende Industrialisierung
und Technisierung aller Lebensbereiche. Er pflegte Lagerfeuer- und
Burgenromantik, war aber keineswegs, wie oft behauptet wird, eine
durchgängig antimodernistische und industrie- oder technikfeindliche
Bewegung; die Wanderungen umgingen Fabrikanlagen nicht unbedingt,
sondern hatten solche oft als Ziel oder nahmen die Gelegenheit zu einer
beiläufigen Werkbesichtigung gerne wahr. Insgesamt ist festzustellen, daß
der Wandervogel seinen Mitgliedern die Welt in ihrer ganzen Vielfalt
erschließen wollte, auch in ihrer Modernität.
Dies zeigt sich auch in dem, was Jünger in den Annäherungen (1970) über
seine Wandervogelzeit berichtet: Eine größere »Fahrt« durch das
Weserbergland nahm selbstverständlich ihren Ausgang vom Kaiserdenkmal
an der Porta Westfalica, führte dann aber in eine Spinnerei und in ein
Kalkwerk, weil dem Gruppenführer aufgefallen war, daß die Mitglieder
seiner Gruppe von der Produktion der Dinge, mit denen sie täglich
umgingen, keinerlei Anschauung hatten (11, 81). Besichtigt wurden aber
auch eine Kläranlage und eine Fabrik, die am Weg lag und sich als Brauerei
erwies – und die »Horde« mit einem gewaltigen Rausch entließ. Erfahren hat
Jünger in dieser Gruppe ferner die burschikose Kameradschaftlichkeit der
Wandergruppen, in denen Gleichheitsansprüche und Rangunterschiede
ständig ausagiert wurden, eine bisweilen grobianische Ungezwungenheit und
– nicht zuletzt – den »Zauber der Erschöpfung« (11, 91), der auf langen und
anstrengenden Wanderungen zu walten begann und die Welt in einem
anderen Licht erscheinen ließ. Erfahren hat er auch das Glück des
gemeinsamen Singens; den Zupfgeigenhansel kannte man auswendig (11,
83). Und schließlich bot der Wandervogel für Jünger auch Anlaß, sich als
Lyriker zu versuchen. Es entstanden Gedichte im Stil des Zupfgeigenhansel.
Zwei davon wurden, wie schon erwähnt, im Hannoverländischen Gaublatt
publiziert und sind im letzten Supplementband der Gesamtausgabe
wiedergegeben (22, 683f.). Andere hat Jünger seinem Bruder Friedrich
Georg gegeben, doch hat dieser das wachslederne Notizbuch, in dem sie
aufgezeichnet waren, verloren. Es wird nicht schade um sie sein; die beiden
überlieferten Gedichte legen die Vermutung nahe, daß es sich um Schul- und
Vereinslyrik konventionellster Art gehandelt haben wird. Immerhin: Zwei
der Gedichte wurden veröffentlicht, und man weiß, wie wichtig es für einen
angehenden Literaten ist, sich gedruckt zu sehen.
Als angehender Literat scheint sich Jünger nach 1910 durchaus gefühlt
und geriert zu haben. In der Festzeitung zum Einjährigenkommers der
Scharnhorst-Realschule in Wunstorf charakterisierte sich Jünger 1912 mit
den Versen:
Die Kunst ist auch bei uns vertreten
Durch Jünger oder den Poeten.
Auch soll er häufig einen heben
und dann in höheren Regionen schweben.
Das Büffeln läßt ihn ziemlich kühl,
Für Liebe hat er mehr Gefühl.
Postlagernd schreibt er leider auch,
Wie’s bei verdorbner Jugend Brauch.
Jetzt schreibt er diese Verse hier,
Damit ihr lustig seid beim Bier. (22, 685)
Die Verse verweisen nicht nur auf Jüngers poetische Ambitionen, sondern
auch auf erotische Neigungen und auf einen notorisch gewordenen
Alkoholkonsum. Das war allerdings nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil:
Kneipabende nach studentischer Art waren in den letzten Gymnasialklassen
Usus und wurden von Lehrern und Eltern toleriert; kräftig trinken zu
können, gehörte zu einem Akademiker wie zu jedem richtigen Mann. Im 73.
Abschnitt der Annäherungen (an »Drogen und Rausch«) berichtet Jünger
auch von den »Kneipen«, die während seiner beiden Jahre in Hameln
(1912/13) wöchentlich im »Bremer Schlüssel« abgehalten wurden; der
fünfundsiebzigjährige Verfasser der Annäherungen rechnete sie nun zu den
»frühen Einstiegen«.
Nach Hameln war Jünger gewechselt, um dort das Abitur zu machen, was
an der Realschule in Wunstorf nicht möglich gewesen wäre. Er absolvierte
einen Tanzkurs und trat in den Hamelner Ruderclub ein, obwohl ihm das
drillmäßige Rudern wenig behagte. Die schulische Situation scheint sich
erträglich gestaltet zu haben. Im Fach Deutsch erhielt er gute Noten. Unter
einen Aufsatz über die »Exposition in Goethes Hermann und Dorothea«
schrieb der Lehrer: »Die Arbeit zeigt neben den Vorzügen der früheren
besonders in der ersten Hälfte eine Neigung zu gesuchter und überladener
Ausdrucksweise, die weiter ausgebildet eine bedenkliche Gefahr für seinen
Stil bilden würde. Also Maß halten im Schmuck der Rede! Noch gut.« Auch
in anderen Fächern, etwa in Mathematik, gelang es Jünger, bessere Noten zu
erzielen. Dennoch mochte er sich mit dem tristen »Mechanismus der
Schule«, wie Friedrich Georg Jünger schreibt, nicht mehr abfinden und
beschloß, dem Zwang wie der Langeweile ein Ende zu setzen und ins
vermeintliche Land der Freiheit und des Abenteuers zu emigrieren: nach
Afrika, das ihm durch Reise- und Abenteuerbücher so vertraut und
verlockend war. Seit langem hatte er »Afrika im Hirn«, wie es in Gottfried
Benns Gedicht Ostafrika von 1925 heißt.

»Laß dich photographieren«: in der Fremdenlegion

In der 1936 publizierten Erzählung Afrikanische Spiele, in der Jünger seinen


wagemutigen Ausflug nach Afrika reflektiert, kauft sich der Held zur
Vorbereitung ein Buch mit dem Titel »Die Geheimnisse des dunklen
Erdteils« (15, 82). Dieser erfundene Titel spielt auf zwei Bücher des
englischen Forschungsreisenden Henry Morton Stanley an, die Jünger
während seiner Schulzeit gelesen hat: Durch den dunklen Welttheil oder die
Quellen des Nils (2 Bände, deutsch 1881 und 1885) und Im dunkelsten
Afrika (deutsch 1890). Derartige Bücher waren um 1900, als das Streben
nach Kolonien im vollen Gang war, populär; Stanleys Dunkelstes Afrika
bekam Jünger von seiner Großmutter geschenkt. Andere Titel, die sich
Jünger aus einer Hamelner Leihbibliothek besorgte, kamen hinzu und
nährten seine Vorstellung von Afrika als einem Kontinent, auf dem es noch
möglich war, ein freies und abenteuerliches Leben zu führen: »Afrika«, so
heißt es rückblickend im Abenteuerlichen Herzen, »war für mich der
Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen, der einzig mögliche Schauplatz
für ein Leben in dem Format, in dem ich das meine zu führen gedachte; und
es stand für mich fest, daß, sowie ich freie Verfügung besaß, ich mich
dorthin zu wenden hatte. […] Daß es noch Wildnisse gab, die nie ein Fuß
beschritten hatte: dies zu wissen, bedeutete für mich ein großes Glück.« (9,
48f.)
Aber wie kommt man 1913 als achtzehnjähriger Gymnasiast nach Afrika?
Jünger gedachte, sich der französischen »Fremdenlegion« zu bedienen: jener
»Légion étrangère«, die 1831 gebildet worden war, um den
nordafrikanischen Kolonialbesitz zu schützen, und die bereitwillig aufnahm,
was militärtauglich war, ohne lange nach der Herkunft der Bewerber und
ihren meist dubiosen Motiven zu fragen. Daß Jünger auf diese Idee kam, ist
nicht verwunderlich. Die Fremdenlegion hatte damals einen großen Nimbus,
der sich nicht zuletzt einer Vielzahl schwärmerischer Erinnerungsbücher wie
kritischer Aufklärungsschriften verdankte, und Jünger dürfte einige davon
gekannt haben; auch Carl Zuckmayer wollte, als er ein halbes Jahr vor dem
Abitur wegen Aufsässigkeit vom Gymnasium verwiesen werden sollte, zur
Fremdenlegion. Allerdings war die Werbung für die Legion in Deutschland
durch das Strafgesetzbuch verboten, und so mußte, wer in die
Fremdenlegion eintreten wollte, zunächst einmal nach Frankreich gelangen,
was angesichts der strengen Grenzkontrollen durchaus riskant war, wenn
man nicht legitime Gründe für den Übertritt nachweisen konnte.
Ende Oktober 1913 war Jünger soweit, diesen Schritt zu wagen. In den
Sommerferien hatte er, um sich auf das Klima in Afrika einzustellen, an
sonnigen Tagen Stunden im väterlichen Treibhaus zugebracht, wo es, wie
Friedrich Georg Jünger schreibt, »infernalisch heiß und schwül« wurde.
Nach Hameln zurückgekehrt, nahm er sein Schulgeld, das für die nächsten
Monate hätte reichen sollen, kaufte sich einige Ausrüstungsgegenstände und
machte sich per Bahn auf den Weg nach Verdun. Dort angekommen, meldete
er sich – am 3. November – auf einem Rekrutierungsbüro der Fremdenlegion
und ließ sich für fünf Jahre verpflichten. Unverzüglich wurde er über
Marseille nach Algier gebracht, wo er am 8. November eintraf und für eine
dreimonatige Grundausbildung der 26. Instruktionskompanie in Sidi-Bel-
Abbès zugeteilt wurde: jener etwa 75 Kilometer südlich von Oran gelegenen
Garnisonsstadt, die als Zentrale oder »Mutter« der Fremdenlegion galt.
Jüngers Ziel war es freilich nicht, sich zum Legionär drillen zu lassen;
vielmehr träumte er von einem freien Leben im wilden Afrika und fühlte
sich stark genug, sich alleine durchzuschlagen. So stahl er sich bei erster
Gelegenheit mit einem oder mehreren Kameraden aus der Garnison, um sich
nach Marokko abzusetzen und dort die Freiheit zu finden. Die etwa 130
Kilometer bis zur Grenze schienen überwindbar zu sein; aber das
Unternehmen war schlecht vorbereitet, und Jüngers Konstitution war den
Anstrengungen eines Marsches durch das weglose Bergland nicht
gewachsen. Deutlicher als die einschlägigen Kapitel der Afrikanischen
Spiele zeigen die Erinnerungen des Kameraden Charles Benoît alias Karl
Rickert, wie jämmerlich der Fluchtversuch verlief und wie lächerlich er
endete: Da sich schon nach einigen Stunden Blasen an den Füßen einstellten
und ein Weitermarschieren nicht erlaubten, gruben sich die Flüchtlinge in
einige Strohhaufen ein, um auszuruhen. Dort entdeckte sie am Morgen der
Besitzer und rief die in der Nähe stationierten Gendarmen. Von diesen
wurden sie festgenommen und nach Sidi-Bel-Abbès zurückgebracht, wo sie
seitens der Kameraden mit Spott und Hohn empfangen und anschließend
vom Kommandeur mit acht Tagen »Loch« bedacht wurden.
Inzwischen hatte Jüngers Vater durch ein Schreiben seines Sohnes wie des
fürsorglichen Garnisonsarztes in Marseille erfahren, wohin sein Ältester
verschwunden war. Am 9. Dezember schrieb der Vater ihm, er solle »alle
Dummheiten« lassen, »auf Beförderung« dienen und den Drill als
»Vorübung« für seine »Dienstzeit in Deutschland« betrachten. Denn für den
Vater war klar, daß er seinen Ältesten zurückholen mußte, und in der Tat
gelang es ihm mit juristischer und diplomatischer Hilfe, die Anwerbung
seines Sohnes für widerrechtlich erklären zu lassen. Am 13. Dezember
konnte er ihm telegraphieren: »FRANZOESISCHE REGIERUNG HAT
DEINE ENTLASZUNG VERFUEGT«; und er setzte hinzu: »LASZ DICH
PHOTO GRAPHIEREN«. Am 20. Dezember wurde Jünger entlassen und
zurück nach Verdun geschickt. Als »Beute« brachte er ein schmuckes
Legionärsphoto mit und einige Käfer, die er auf dem Schießplatz von Sidi-
Bel-Abbès gefangen hatte (21, 408). Auf dem Rückweg nach Deutschland
wurde er erneut von einem Gendarmen gestellt, diesmal von einem
deutschen, der glaubte, Jünger wolle sich seiner Wehrpflicht entziehen; und
wiederum mußte der Vater intervenieren und den Sohn vor Arrestierung und
gerichtlicher Verurteilung retten. Jünger hat dies im Januar 1950 seinem
damaligen Sekretär Armin Mohler erzählt, der es in seinem Ravensburger
Tagebuch festgehalten hat:
Aus der Fremdenlegion zurück, ging EJ in
Entlassungskleidung über Grenze, da er aus gesandtem Geld
erst in Lothringen neue Kleider kaufen wollte. Fällt Gendarm
auf, der ihn auf Wache mitnimmt und einspinnt; am anderen
Tag Verhör durch Referendar. Dann freie Reise nach Hause.
Anzeige wegen Versuch, sich der Wehrpflicht zu entziehen,
läuft. Vater fährt mit EJ nach Metz, da dortiges Gericht
zuständig, nimmt einen der besten Advokaten, Georgi. Zu
dieser Zeit neues Statut für Elsaß-Lothringen; Georgi dabei
großer Mann. Erreicht Freispruch. (EJ hatte behauptet, nur in
Besuchsabsicht über Grenze gegangen zu sein; dann sei er zur
Legion gepreßt worden.) So nicht vorbestraft, was wohl
wichtig für Lebenslauf, da sonst wohl nicht Offizier.
Der mehr oder minder glückliche Heimkehrer hat aus diesem letzten
Abenteuer ein Gedicht gemacht, das – bis aufs Ende – allerdings nicht dem
eigenen Erleben entspricht, sondern in auffallendem Widerspruch zur
eigenen Einstellung den Klischees der Legionärsromantik folgt:
Der Legionär

Dort steht der Grenzpfahl! Nun bin ich frei,


Nun sind die Qualen der Knechtschaft vorbei.
Vorbei die Schrecken der Wüstenglut,
Dort ist die Heimat, und alles ist gut.

Stets dacht ich an dich als der Freiheit Land,


Unterm Zelt, im Gefecht, im Sonnenbrand.
Im prison, im cafard, wenn alles verblich,
Blieb mir nur eins: die Hoffnung auf dich.
Als die Schüsse krachten vor Tazas Höhn,
Traf mein letzter Blick auf die weißen Moscheen.
Doch als ich verließ das Spital von Oran,
Dankt ich der Kugel, die den Fuß mir nahm.

Jetzt steh ich hier in der blauen Montur,


Der verklärte Blick grüßt die deutsche Flur.
Zur Erde sink ich, ich küsse den Grund,
Und jubelnde Laute stammelt der Mund.

Da spür ich eine Faust im Kragen,


Und eine Heimatstimme hör ich fragen:
Wat liegt denn da? Der kommt aus die Legion.
Det is ja strafbar, komm, mein Sohn.
Ich fahre auf und sehe den Gendarmen.
Jetzt gehts ins Loch, da gibt es kein Erbarmen.
So rauh der süßen Schwärmerei entrissen,
Wird eins mir klar:’s ist hier wie dort beschissen. (22, 686)
Dieses Heimkehrergedicht blieb bis zur Veröffentlichung im postum
erschienenen Nachlaßband der Sämtlichen Werke (2003) ungedruckt.
Verständlicherweise. Der biographische Gehalt ist gering, die poetische
Qualität nicht größer. Und doch hat das Gedicht ein Moment, das Beachtung
verdient: die überraschende Kluft zwischen dem eigenen Erleben und der
literarischen Umsetzung. Überraschend ist dabei weniger, daß Jünger seinem
Heimkehrer eine heroische Legionärsvergangenheit zuschreibt, als vielmehr,
daß er ihn von Sehnsucht nach der Heimat als dem Land der Freiheit erfüllt
sein läßt, was keinerlei Entsprechung in Jüngers eigener Einstellung oder
Empfindung hatte. Nun ist es zwar eine Selbstverständlichkeit, daß man
zwischen dem realen Autor Ernst Jünger und der literarischen Figur, dem
Legionär des Gedichts, unterscheidet; Literatur und Leben sind zweierlei,
auch wenn die Literatur das Leben des Autors reflektiert. Dennoch ist die
Kluft in diesem Fall auffällig – und sollte als Hinweis darauf genommen
werden, daß es auch in anderen Bereichen von Jüngers lebensgeschichtlich
grundiertem Werk, etwa in den Kriegsbüchern, eine beträchtliche Differenz
zwischen dem eigenen Erleben und der literarischen Darstellung geben kann.
Nach der afrikanischen Eskapade scheint es zu einem Gentlemen’s
Agreement zwischen Vater und Sohn gekommen zu sein: Der Sohn
versprach, das Abitur zu machen; der Vater stellte dafür eine
Kilimandscharo-Expedition in Aussicht. Im übrigen kam vom Vater kein
Wort des Tadels -: ein Schachzug, den der Sohn nicht nur als generös
empfand, sondern auch als beschämend und zugleich verpflichtend. Im
Januar 1914 bezog er das Gildemeistersche Institut in Hannover, um sich auf
das Abitur vorzubereiten. Ob Jünger die Abschlußprüfung bestanden hätte,
sei dahingestellt; mehr als für den Schulstoff interessierte er sich auch jetzt
wieder für einen neu entdeckten Autor: Nietzsche. Auch hatte er eine erste
Freundin, in die er einen Sommer lang heftig verliebt war; einige Passagen
der 1922/23 entstandenen Erzählung Sturm erinnern an sie, und in der
Gestalt der Dorothea, die in den Afrikanischen Spielen als eine Art von
Seelenführerin erscheint, wird sie beschworen. Aber das blieb Episode. Ende
Juli/Anfang August 1914 begann der Erste Weltkrieg und setzte der Liebe
wie der Schule ein Ende. Am 4. August meldete sich Jünger als Freiwilliger,
und zweieinhalb Wochen später, am 21. August, legte er an der
Oberrealschule an der Lutherkirche unter deutlich leichteren Bedingungen
das Notabitur für Kriegsfreiwillige ab.

In der Retrospektive

Schülergeschichten aus der bösen alten Zeit

Daß Jünger sich in der Schule nicht zurechtfand und zum Versager wurde,
ist, wenn man den Blick auf die großen Autoren jener Jahrzehnte richtet,
nichts Außergewöhnliches: Thomas Mann (geb. 1875) verbrachte seine
Gymnasialzeit nicht nur träumend, sondern, wie er später schrieb, »faul,
verstockt und voll liederlichen Hohns über das Ganze«, das er als Folter
empfand; bevor er 1894 ohne Abitur mit dem sogenannten »Einjährigen«
abging, blieb er zweimal sitzen. Hermann Hesse (geb. 1877) war zunächst
ein recht guter Schüler, der sogar das anspruchsvolle württembergische
»Land[es]examen« bestand; unter der Disziplin im theologisch
ausgerichteten Seminar im ehemaligen Kloster Maulbronn brach er aber
zusammen, mußte schließlich die Gymnasialausbildung aufgeben und eine
Lehre beginnen, zunächst als Mechaniker, dann als Buchhändler. Alfred
Döblin (geb. 1878) war von Anfang an ein schlechter Schüler und mußte am
Köllnischen Gymnasium in Berlin zwei Klassen wiederholen, bevor er im
Jahr 1900 als Zweiundzwanzigjähriger das Abitur mit mäßigen Noten
erlangte. Daneben gab es freilich auch Autoren, die das Gymnasium
problemlos durchliefen und gute oder sogar sehr gute Zeugnisse nach Hause
brachten: Hugo von Hofmannsthal (geb. 1874) brillierte in alten wie neuen
Sprachen und war durchweg ein Musterschüler. Rainer Maria Rilke (geb.
1875) erzielte in der Militär-Unterrealschule St. Pölten außer in Turnen und
Fechten beste Noten und bestand 1895 am deutschen Staatsgymnasium zu
Prag-Neustadt das Abitur mit einem ausgezeichneten Zeugnis. Robert Musil
(geb. 1880) war ein guter Schüler mit vorzüglichen Noten, mußte aber
wegen einer »Nerven- und Gehirnkrankheit« mehrfach aus der Schule
genommen und privat unterrichtet werden. Franz Kafka (geb. 1883) hatte
zwar Schwierigkeiten in Mathematik, war aber in den humanistischen
Fächern Jahr für Jahr ein »Vorzugsschüler«. Gottfried Benn (geb. 1886)
wiederum erreichte das Klassenziel allemal mit zufriedenstellenden Noten.
Auch Bertolt Brecht (geb. 1898) absolvierte das Gymnasium ohne größere
Probleme mit durchschnittlichen Noten.
Das Bild ist also ziemlich uneinheitlich, und keinesfalls kann man jedes
Versagen der Schule anlasten. Gleichwohl dürften die Schulen jener Zeit für
viele Begabungen eher hemmend als fördernd gewesen sein. Selbst der
»Vorzugsschüler« Rilke beurteilte sie 1902 in einer Besprechung von Ellen
Keys Buch Das Jahrhundert des Kindes (schwedisch 1900, deutsch 1902)
äußerst negativ: Die Schule »verachtet den Einzelnen, seine Wünsche und
Sehnsuchten, und sie sieht ihre Aufgabe darin, ihn auf das Niveau der Masse
herabzudrücken. Man lese die Lebensgeschichte aller großen Menschen; sie
sind, was sie geworden sind, immer trotz der Schule geworden, nicht durch
sie.« Ganz in diesem Sinn heißt es auch in einem Artikel des Expressionisten
und Aktivisten Franz Pfemfert, der im April 1911 unter dem Titel Im
Zeichen der Schülerselbstmorde in der Zeitschrift Die Aktion erschien,
»feindlich« und »verständnislos« stehe die »lebensfremde Schule« mit ihrer
»verknöcherten Unterrichtsmethode« der Seele der Schüler gegenüber und
sei deswegen in hohem Maß verantwortlich für die nicht abreißende Folge
von Schülerselbstmorden, die soeben mit einem Doppelselbstmord in
Charlottenburg und drei Selbstmorden in Leipzig fortgesetzt worden war.
Diese repressiven und nicht selten in den Selbstmord treibenden
Verhältnisse wurden in der Literatur jener Zeit immer wieder thematisiert
und angegriffen: Frank Wedekind, der selbst ein ganz ordentlicher Schüler
gewesen war, schrieb 1891 die »Kindertragödie« Frühlings Erwachen, deren
Uraufführung von der Zensur bis 1906 verhindert wurde: eine satirisch
zugespitzte Szenenfolge, die vor Augen führt, wie ein Schüler und eine
Schülerin zu Opfern von Leistungsdruck und Prüderie werden. Rainer Maria
Rilke schrieb 1899, offensichtlich unter dem Druck der Erinnerungen an den
Turndrill in der Kadettenanstalt, die 1902 publizierte Erzählung Die
Turnstunde: Ein Schüler, der beim Turnen immer »der Allerletzte« war, will
sich endlich durch eine außerordentliche Kletterleistung hervortun – und
erliegt den damit verbundenen physischen und psychischen Anstrengungen.
Ebenfalls 1902 erschien Emil Strauß’ Roman Freund Hein: Sein Held ist ein
musikalisch hochbegabter Junge, der allerdings in den Hauptfächern
schwach ist, zweimal am Abitur scheitert und sich, um der Qual ein Ende zu
setzen, erschießt. Drei Jahre später, 1905, erschien (vordatiert auf 1906)
Hermann Hesses Erzählung Unterm Rad: die autobiographisch eingefärbte
Geschichte eines Schülers, der unter dem Leistungsdruck des Elternhauses
und eines elitären Internats zusammenbricht und schließlich in
alkoholisiertem Zustand in einen Fluß gerät und ertrinkt, wie vor ihm schon
ein anderer Schüler des Internats. Gleich ein Jahr später, 1906, folgte Robert
Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß: die eindringliche
Darstellung der Ängste und Nöte, denen die Zöglinge der Kadettenschulen
ausgesetzt waren, und der sadistischen, auch sexuell aufgeladenen
Machtspiele, die in diesen Internaten unter den Zöglingen stattfanden.
Die Reihe dieser berühmt gewordenen »Schulbücher« wäre leicht zu
erweitern und ebenso leicht durch eine Reihe von autobiographischen
Dokumenten und Darstellungen zu ergänzen. So hat Georg Heym in seinem
Tagebuch massive Kritik an der rigiden und geisttötenden schulischen
Erziehung geübt, der er ausgesetzt war, und hat im August 1906 einen
Protest- und Abschiedsbrief an das Provinzialschulkollegium in Berlin
entworfen, in dem er unter der Vorgabe, sich das Leben genommen zu
haben, die »Misere« seines Schülerdaseins ausbreitete. Alfred Döblin
wiederum hat in eine ausführliche Reflexion seines Lebens, die er 1928 aus
Anlaß seines 50. Geburtstags schrieb, eine scharfe Abrechnung mit seiner
Gymnasialzeit eingefügt: Eine Zeit der Abtötung sei es gewesen, an deren
Ende er beim letztmaligen Verlassen der Schule auf den Boden gespuckt
habe, um sich zu befreien; und doch habe ihn diese tyrannische Zeit in allen
Lebensphasen mit entsprechenden Angstträumen immer wieder eingeholt.
Letzteres hätte auch Ernst Jünger sagen können: Immer wieder verzeichnen
die Tagebücher Prüfungsträume, und als der Siebenundsiebzigjährige 1972
an der Zwille schrieb, bemerkte er: »Die Schule hängt mir immer noch nach,
viel intensiver als das Militär« (5, 76), was etwas heißen will!

Ernst Jüngers Versionen

Jüngers literarische Verarbeitung der Schulzeit beginnt mit dem


Abenteuerlichen Herzen (1929). Einige Passagen dieser »Aufzeichnungen«,
die das Lebensgefühl einer Generation fixieren wollen (9, 33f.), gelten der
Schulzeit, speziell den beiden Jahren in Hameln, die der Flucht in die
Fremdenlegion vorausgingen. Das wilde Lesen und Träumen dieser Jahre
erfährt eine sozialpsychologische Motivierung und Profilierung, die durch
die Zivilisationskritik von Rathenau und Spengler, aber auch durch
Nietzsches Nihilismustheorie inspiriert ist: Es erscheint nun als »Protest
gegen die bürgerliche Ordnung« und »gegen die Mechanik der Zeit« (42f.),
als »passiver Widerstand« (53) einer Jugend, die sich in der rationalistischen
und saturierten, aber doch auch kalten und engen Welt heimatlos fühlte (64)
und diese bürgerliche Welt preisgeben, ja zerstören wollte, um an jenen
»magischen Wachstumspunkt« (106) zu gelangen, an dem der Nihilismus in
die Konstitution neuer Werte umschlagen sollte. Solchermaßen wird das
schulische Versagen im Abenteuerlichen Herzen positiviert und heroisiert;
von Leiden an der Schule ist keine Rede.
Diese Sichtweise erlaubte es Jünger, nun auch den gescheiterten Aufbruch
in die Freiheit und Großartigkeit Afrikas zu retten und als positives Moment
in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Damit hatte er freilich seine
Schwierigkeiten. In der ersten, 1934 erschienenen Jünger-Biographie von
Wulf Dieter Müller ist zu lesen, daß auch die engsten Freunde Jünger auf das
afrikanische Abenteuer nur in einem »Augenblick der guten Laune« (16)
ansprechen durften, weil ihm der Vorgang peinlich war. Und noch die
Afrikanischen Spiele von 1936 schloß Jünger mit dem Bekenntnis, daß er
sich durch den deplorablen Ausgang des Ausbruchsversuchs »lange in
[s]einer Freiheit verletzt« fühlte und »an diesen Ausflug nicht rühren«
mochte, »wie an eine Wunde, die spät vernarbt« (15, 245).
Diese Scheu wich offensichtlich mit dem Abenteuerlichen Herzen. Bereits
im folgenden Jahr, 1930, schrieb Jünger einen fiktiven (und allerdings erst
1979 publizierten) Brief-Essay mit dem Titel An einen verschollenen Freund
(9, 23 bis 29). Gemeint war damit jener Karl Rickert alias Charles Benoît,
mit dem zusammen Jünger aus dem Quartier der Fremdenlegion ins freie
und wilde Afrika hatte fliehen wollen. Er trat in den fünfziger Jahren wieder
mit Jünger in Verbindung, aber um 1930 hielt Jünger ihn, weil er lange
nichts mehr von ihm gehört hatte, für tot. Mit dem Brief-Essay an diesen
verschollenen Gefährten beschwor Jünger jene jugendliche Sehnsucht nach
Freiheit und Abenteuer, die ihn 1913 zum Gang in die Fremdenlegion wie
zur Flucht aus ihr gedrängt hatte und die sich im Abenteuerlichen Herzen auf
andere, auf literarische Weise äußerte. Daß die beiden »Expeditionen« des
Jahres 1913 scheiterten, ist nun nicht mehr so peinlich. Zu Beginn des
letzten Abschnitts heißt es: »Auch auf Irrfahrten ist es von Bedeutung, daß
man das Besteck aufnimmt. Denn das Heil liegt nicht am Ende des Weges,
sondern in der Figur, die seine Linie beschreibt« (9, 29). Damit war die
Basis gewonnen für eine versöhnliche Reflexion des afrikanischen Debakels.
Sie wurde im Sommer 1933 begonnen und erschien 1936 unter dem Titel
Afrikanische Spiele.

Afrikanische Spiele
Die Afrikanischen Spiele (15, 75 – 245) sind ein romanhaft poetisierter und
mythologisch grundierter Bericht über den Ausflug nach Afrika. Vieles
stimmt mit dem überein, was Jünger, wie man aus anderen Quellen weiß,
tatsächlich erlebt hat, und der Text ist in der autobiographisch wirkenden
Ich-Form geschrieben. Zwar heißt der Held nicht Ernst Jünger, sondern
Herbert Berger, und was ihm widerfährt, mag teilweise hinzuerfunden sein;
aber es ist so modelliert, daß die Bedeutung, die das afrikanische Abenteuer
für Jünger im Lauf der Zeit gewann, hervortritt. Dieses Moment der
poetischen Anreicherung und Pointierung aus der Sicht der Jahre nach 1930
ist zu berücksichtigen, wenn man die Afrikanischen Spiele liest. Sie spiegeln
nicht nur das Bewußtsein des achtzehnjährigen Abenteurers, sondern auch –
und vielleicht mehr noch – das des über fünfunddreißigjährigen Autors, der
manches deutlicher sieht als der Achtzehnjährige und einiges kritischer und
nüchterner beurteilt.
Wie der Schüler Ernst Jünger befindet sich Herbert Berger »in einem
geheimen Aufstand« (15, 77) gegen die bürgerliche Welt, in die er
hineinwachsen und auf die er durch die schulische Disziplinierung
vorbereitet werden soll. Er erinnert sich:
Es schien mir ganz unmöglich, etwas »werden« zu können;
schon das Wort war mir zuwider, und von den tausend
Anstellungen, die die Zivilisation zu vergeben hat, schien mir
nicht eine für mich gemacht. Eher hätten mich noch die ganz
einfachen Tätigkeiten gelockt, wie die des Fischers, des
Jägers oder des Holzfällers, allein seitdem ich gehört hatte,
daß die Förster heute eine Art von Rechnungsbeamten
geworden sind, die mehr mit der Feder als mit der Flinte
arbeiten, und daß man die Fische in Motorbooten fängt, war
mir auch das zur Last. Mir fehlte hier selbst der mindeste
Ehrgeiz, und jenen Gesprächen, wie sie die Eltern mit ihren
heranwachsenden Söhnen über die Aussichten der
verschiedenen Berufe zu führen pflegen, wohnte ich bei wie
einer, der zu Zuchthaus verurteilt werden soll. (15, 81)
Berger flüchtet sich ins Lesen und entwickelt, inspiriert durch Afrikabücher,
die Vorstellung eines verwegenen männlichen Lebens in Afrika. Dem
Schreibenden ist bewußt, daß er ein Opfer schlechter Bücher und
mangelnder Urteilsfähigkeit wurde; aber er beharrt darauf, daß er
»Gesundheit« insofern besaß, als er »das Außerordentliche jenseits der
sozialen und moralischen Sphäre vermutete«, die ihn umschloß (82), also
jenseits der bürgerlichen Welt der Belle Époque. In seinem selbstbewußten,
ja »selbstherrlichen« Wunsch, sich das Leben so einzurichten, wie es seinen
Neigungen entspricht, rüstet sich Berger mit Rucksack und Pistole aus und
reist über Köln und Trier nach Verdun, um dort der Fremdenlegion
beizutreten. Der Grenzübertritt ist ein »Übertritt« (89) nicht nur über die
Grenze zweier Länder, sondern auch über die Grenze zweier Lebensweisen:
der bürgerlichen und der abenteuerlichen; er wird pointiert durch eine Art
von »Waffenweihe«, die darin besteht, daß sich Berger den ungesicherten
Revolver an die Brust setzt und den Abzug bis zum Druckpunkt zurückführt
(101): ein spielerisches, aber hochriskantes Bekenntnis zum gefährlichen
Leben. In Verdun wirft Berger sein Geld in die Kanalisation, um sich zum
Eintritt in die Fremdenlegion zu nötigen, und verpflichtet sich dann auch zu
einer fünfjährigen Dienstzeit. Im Rekrutierungsbüro imponiert ihm, daß nach
Papieren nicht gefragt wird und daß er sich auch, wenn er will, einen neuen
Namen zulegen darf: ein augenfälliger »Gegensatz zu allen Regeln der
schulmeisterlichen Welt« (113), die er nun endgültig hinter sich gelassen hat.
Daß diese administrative Großzügigkeit zu den Wirkungsmechanismen einer
»Narrenfalle« (113) gehört, ist eine Einsicht, die wohl der Schreiber hat,
nicht aber schon der glückliche neue Legionär hatte.
In dem Quartier, in dem Berger auf die ärztliche Untersuchung und die
Abreise ins »Gelobte Land« (113) warten muß, stellen sich bald auch
Kameraden ein. Ihre knapp gehaltene Charakterisierung ergibt ein erstes
Spektrum von Naturen, die für die Fremdenlegion prädestiniert sind, und
von Motiven, die diese Menschen eben dorthin trieben: ein Dresdener
Keramiker, für dessen Wesen »das ziel- und planlose Umhertreiben auf der
Landstraße« der allein angemessene Zustand zu sein schien und der sich zur
Legion nur hatte anwerben lassen, weil er den Winter fürchtete (115); ein
alpenländischer Tonbrenner, der in einem entlegenen Gebirgsdorf unter der
Fuchtel eines unbarmherzig prügelnden Vaters aufgewachsen war, dann
unter den trunk- und händelsüchtigen Tonbrennern gelebt hatte und wohl
durch eine Mordtat gezwungen war, in der Fremdenlegion unterzutauchen:
ein Mensch, der, wie später hinzugefügt wird, aus der Zeit des »Faustrechts«
(167) zu kommen schien und zum Leben in der bürgerlichen Welt nicht
taugte; ein in allerlei Unterhaltungskünsten geübter Schlosser mit einem
starken Wandertrieb, der sich nach Jahren bei einem ambulanten Varieté
entschlossen hatte, bei der Fremdenlegion neue Abenteuer zu suchen; ein
berufsloser Jüngling, der mit Schaustellern umhergezogen war und nach dem
Auseinanderbrechen der Truppe sein Heil allein noch in der Fremdenlegion
sah. Dieses Spektrum wird später, nach der Ankunft in Sidi-Bel-Abbès, um
einige weitere Typen ergänzt. Es finden sich da Legionäre, die den Beruf des
Soldaten gewählt haben und ihn mit Ernst und Eifer ausüben, daneben aber
natürlich auch wieder solche, die aus Verlegenheit oder Verzweiflung in die
Fremdenlegion eingetreten sind und nun ihre Zeit abdienen müssen: die
einen zurückgezogen und knauserig in der Hoffnung, ein paar Groschen für
das Leben danach auf die Seite zu bringen, die anderen gesellig und immer
noch abenteuerlustig. Alles in allem erscheint die Legion als eine
Versammlung ganz unterschiedlicher Naturen und Temperamente aus allen
möglichen Schichten der Gesellschaft. Was sie eint, ist die Erfahrung einer
grundsätzlichen Inkompatibilität mit der zivilen europäischen Gesellschaft
oder die Erfahrung eines Bruchs, der zur Flucht zwang, daneben und in
unterschiedlicher Intensität auch der Wunsch nach einem abenteuerlichen
Leben.
Für Berger werden zwei Begegnungen bedeutungsvoll. Die eine ist die
mit dem Marseiller Militärarzt Goupil, die andere die mit dem Legionär
Benoît. Sie ereignen sich kurz nacheinander und stehen in einem sowohl
komplementären als auch kontrastiven Verhältnis zueinander.
Der Militärarzt Goupil trifft Berger, als dieser an einem der ersten Abende
nach der Ankunft im Fort St. Jean den Wall bestiegen hat, um den Blick über
den Golf von Marseille zu genießen. Rasch erkennt Goupil, daß er jemanden
vor sich hat, der an einem »Lektüreschaden« (Ulrich Prill) leidet: durch die
Lektüre von Abenteuerbüchern der bürgerlichen Gesellschaft entfremdet und
zu einem Schritt veranlaßt wurde, der sinnlos ist, weil eine Flucht aus der
europäischen Zivilisation nicht mehr möglich ist. Goupil zu Berger:
Sie sind noch zu jung, um zu wissen, daß Sie in einer Welt
leben, der man nicht entflieht. Sie wollen da außerordentliche
Dinge entdecken, aber Sie werden nichts finden als eine
Langeweile tödlicher Art. Heute gibt es nichts als die
Ausbeutung, und für den, der besondere Neigungen besitzt,
sind besondere Formen der Ausbeutung erdacht. […] Die
Kolonien sind auch Europa, kleine europäische Provinzen, in
denen man die Geschäfte ein wenig offener und
unbedenklicher treibt. Auch Ihnen, mein lieber Berger, wird
es nicht gelingen, die Mauer zu durchbrechen, an der schon
Rimbaud scheiterte. Kehren Sie daher zu Ihren Büchern
zurück, und kehren Sie schnell, kehren Sie schon morgen
zurück! (15, 146)
Bald nach dieser Belehrung und Mahnung trifft Berger auf einen deutschen
Legionär, der sich Charles Benoît nennt. Er ist etwa fünfundzwanzig Jahre
alt, hatte, wie er Berger erzählt, Deutschland und Frankreich als »Freiherr«
(156) oder Landstreicher durchwandert und war, weil ihm dies allmählich zu
langweilig geworden war, vor Jahren in die Legion eingetreten, in der
Hoffnung, den »Weg zur Hölle« (157) gefunden zu haben. Er lernte alles
kennen, was die Legion zu bieten hatte: Steineklopfen und strapaziöse
Märsche, Lazarette und Gefängnisse, den Cafard und die Langeweile, in
Asien die zierlichen Frauen und das Opium. Nach Ablauf seiner
Verpflichtung arbeitete er einige Zeit in Lyon als Maurer und führte ein
kleinbürgerliches Leben, aber nun hat er sich erneut eingeschrieben, um
»wieder nach unten« und »an die Sonne« zu kommen (162).
Benoît ist für Berger Exempel und Beweis dafür, daß ein abenteuerliches
Leben noch möglich ist. Am nächsten Tag verwirft er die Rückzugschance,
die ihm Doktor Goupil bei der letzten Musterung bietet, und läßt sich dem
Transport nach Afrika zuteilen. Seine Absicht, sich gleich nach der Ankunft
in Afrika von der Legion abzusetzen, um das erträumte Leben in völliger
Freiheit zu beginnen, ist allerdings nicht zu realisieren; die Bewachung ist zu
gut, und so kommt Berger über Oran (170) nach Sidi-Bel-Abbès, in die
»schöne, gute Herrin« der Legion (178).
Dienst und Freizeit erweisen sich als so langweilig, daß Berger, der
Schule glücklich entronnen, paradoxerweise beschließt, freiwillig an einer
Lagerakademie teilzunehmen, doch sucht er weiterhin nach einer
Möglichkeit, ins vermeintlich wilde und freie Afrika zu gelangen. Dafür
wird es auch Zeit, denn inzwischen hat sich der von Doktor Goupil
benachrichtigte Vater eingeschaltet und betreibt die Rückführung des Sohnes
nach Frankreich und seine Entlassung aus der Legion. Wenige Tage später
versucht er mit Benoît, dem diese Abwechslung gerade recht kommt, zu
fliehen und über Tlemcen nach Marokko zu gelangen. Dies entspricht dem
Fluchtversuch, den Jünger selbst mit Benoît unternommen hat, und wie diese
beiden gescheitert sind, so scheitern auch Berger und Benoît. Sie werden
aufgegriffen, nach Sidi-Bel-Abbès zurückgebracht und mit ein paar Tagen
Arrest bestraft. Dann trifft der vom Vater erwirkte Entlassungs- und
Rückführungsbescheid ein. Berger muß zurück, und er absolviert die
Rückreise im Bewußtsein, daß er nun »leben [muß] wie die anderen auch«
(241).
Afrika war für Berger das »Gelobte Land« (15, 113 und 191). Die
Expedition dorthin zeitigte jedoch eine Folge von Enttäuschungen, die an
drei Punkten besonders augenfällig wurden: In Oran wurde Berger zum
Abtragen eines großen Steinhaufens kommandiert, und er erwartete, daß
dieser Steinhaufen etwas Wunderbares preisgeben würde, etwa eine goldene
Schlange. Aber nichts dergleichen geschah; der Steinhaufen blieb ein
Steinhaufen, wie man ihn allenthalben sehen konnte, und Berger begann sich
bald zu langweilen (172f.). Als er dann während des nächtlichen
Fluchtversuchs in ein wildes Gestrüpp mit morgensternartigen Früchten
geriet, glaubte er, endlich im wilden Afrika angekommen zu sein; aber am
nächsten Tag wurde deutlich, daß es sich um ein Artischockenfeld handelte,
dessen Stauden in ganz regelmäßigen Reihen angepflanzt waren (218 und
222).
Am letzten Abend in Afrika meinte er schließlich, am Strand ganz
»herrliche Muscheln« schimmern zu sehen; aber bei längerem Betrachten
stellte sich heraus, daß es nur glühende Kohlen waren, die in gewissen
Abständen von einer etwas höher gelegenen Werkstatt auf den Strand
geworfen wurden. Nach dieser letzten »Entzauberung« (240), die dem
Adepten Don Quijotes zuteil wurde, fällt der Abschied von Afrika etwas
leichter, doch nimmt der Wiedereintritt in die zivile Welt bedenkliche Züge
an: Die Wirtsleute, bei denen Berger nach seiner Ankunft in Nancy Quartier
sucht, kassieren seine Kupferstücke mit einem Lächeln, das dem ähnelt, mit
dem der trübsinnige Charon, der in der griechischen Mythologie die
Verstorbenen über den Grenzfluß zur Unterwelt zu bringen hat, seinen
Obolus entgegennimmt (242): Die Rückkehr in die Sphäre der Zivilisation
erscheint als Eintritt ins Reich des Todes oder des nur schattenhaften
Daseins.
Das bleibt freilich nicht unkorrigiert. Am nächsten Morgen erwacht
Berger, verläßt das schäbige Quartier, erfreut sich des Schnees, der über
Nacht gefallen ist, wie der reinen Luft, spürt, daß »die Zeit der Kindheit«
vorbei ist – und fühlt sich »heiter wie nach einem Aderlaß« (244). Die
»Entzauberung« wird als Therapie erkennbar. Was dem heimkehrenden
Abenteurer wohl erst im Lauf der Jahre aufgegangen sein wird, darf der
Verfasser der Afrikanischen Spiele zum Schluß auf prägnante Weise als
Lehre formulieren:
Der Vorstoß in das Gesetzlose ist lehrreich wie der erste
Liebeshandel oder wie das erste Gefecht; das Gemeinsame
dieser frühen Berührungen liegt in der Niederlage, die neue
und stärkere Kräfte weckt. Wir werden ein wenig zu wild
geboren und heilen die gärenden Fieber durch Tränke von
bitterer Art. […] »Willkürlich leben kann jeder«, lautet ein
bekanntes Wort; richtiger ist, daß willkürlich niemand leben
kann. (15, 244f.)
Der Gang zur Fremdenlegion war der falsche Weg, um dem bequemen, aber
auch devitalisierenden Gehäuse der modernen Zivilisation zu entkommen.
Diese Einsicht wird, wie bei Jünger üblich, auch symbolisch dargestellt.
Volker Mergenthaler, dem wir eine aufschlußreiche Untersuchung der
Afrikanischen Spiele verdanken, hat auf eine Episode hingewiesen, die eher
beiläufig wirkt und doch von hohem Bedeutungsgehalt ist: Auf dem Fort St.
Jean in Marseille angekommen, entdeckt Berger auf dem Wall eine kleine
Eidechse, »ein leuchtend grünes Tierchen mit rotem Rückenstreif« (15, 136).
Berger fängt diese kleine Echse und sperrt sie in eine Zigarettenschachtel,
um sie später etwas genauer zu betrachten. Dazu findet sich bald auch
Gelegenheit, und danach läßt Berger die kleine Eidechse wieder frei. Daß
dieser Vorgang von symbolischem Rang ist, wurde in der Erstausgabe der
Afrikanischen Spiele dadurch signalisiert, daß dieses leuchtend grüne
Tierchen mit seinem roten Rückenstreif auf dem Schutzumschlag abgebildet
war. Rot und Grün sind aber die Farben der Legion; sie zieren das Wappen
des Regiments, dem Berger zugeteilt wird, und erscheinen an den Epauletten
der Uniform. So ist die Eidechse als Symbol für die Legion zu sehen, die
Berger – wie die Eidechse – für sich in Dienst nehmen wollte; daß er das
grün-rote Tierchen bald wieder freiläßt, symbolisiert die Unangemessenheit
dieser Verbindung. Wäre sie nicht aufgelöst worden, wäre Berger –
Verkehrung des Bildgehalts – der Gefangene der Legion gewesen und hätte,
wie ihm während der Betrachtung der Eidechse von einem Kameraden
deutlich gemacht wird, »auf solche Liebhabereien verzichten müssen«.
Dieses Schicksal bleibt dem Helden der Afrikanischen Spiele erspart, wie
es – Dank sei dem Vater! – auch ihrem Verfasser erspart blieb – bis er mit in
den Krieg zog und, wie die Kriegstagebücher zeigen, zum Gefangenen der
Armee wurde.

Die Zwille
Wie für die 1936 erschienenen Afrikanischen Spiele gilt auch für die 1973
publizierte Erzählung Die Zwille (18, 9 – 269), daß sie autobiographisch
grundiert ist und daß der Blick, der in diesem Buch auf die Schulzeit
geworfen wird, durch die Erfahrungen und Einsichten bestimmt ist, die dem
fast achtzigjährigen Verfasser im Lauf seines langen Lebens zugewachsen
sind. So entspricht die Modernisierungskritik, die in der Zwille beiläufig
geübt wird (91ff.), wohl kaum dem Denken des Schülers Jünger, allemal
aber dem des älter gewordenen Autors. Und fraglich ist, ob die Trauer, die
den Schüler Clamor beim Gedanken an einen von seinem Mitschüler Teo
getöteten Vogel befällt (234 und 240f.), aus einer Empfindungsweise schon
des Schülers Jünger resultiert oder erst aus der Einstellung des älteren
Jünger, die nicht mehr an Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, sondern
an Schopenhauers Mitleidsethik orientiert war. Diese Probleme müssen aber
hier so wenig ausgelotet werden wie das Verhältnis von eigenem Erleben,
das in die Zwille eingeflossen ist, und fiktionaler Anreicherung. Bei aller
nachträglichen Perspektivierung und fiktionalen Gestaltung darf die Zwille
als Darstellung und Reflexion jener Gegebenheiten betrachtet werden, die
dem heranwachsenden Jünger die Schulzeit zur Qual machten. Und im
Unterschied zu den Afrikanischen Spielen, die das Leiden an der Schule als
Grund für die Flucht nach Afrika nur summarisch benennen, stellt die Zwille
es ins Zentrum und fächert es auf.
Die Zwille hat zwei Hauptfiguren: zum einen den sensiblen, ängstlichen,
wehrlosen und zum Dulden verurteilten Clamor, eine Figur aus dem Geist
von Schopenhauers Mitleidsethik; und zum andern den herrschsüchtigen,
kühn und immerzu siegreich agierenden Teo, eine Figur aus dem Geist von
Nietzsches Philosophie des »Willens zur Macht«. Der Fokus der Erzählung
liegt freilich auf Clamor. Es ist hauptsächlich seine Geschichte, die
vergegenwärtigt wird, und es ist vorwiegend seine – leidende und mitleidige
– Erfahrung des Lebens, die den Blick auf das Geschehen einfärbt. Zum
Leiden scheint er, den seine Eltern – wohl aufgrund einer entsprechenden
Lebenserfahrung – auf den Namen »Clamor«, Klageschrei, taufen ließen,
durch Naturell und Sozialisation bestimmt zu sein: Er ist »schwach auf der
Brust«, »wetterfühlig« und hat, was spät bemerkt wird, schlechte Augen
(15); zudem ist er »schwer von Begriff« und obendrein »verträumt« (53).
Seine Mutter, eine ängstliche Frau mit einem blassen Gesicht, »das zugleich
hilflos und wissend war« (59), ist im Kindbett gestorben (14); die
unablässige mütterliche Fürsorge, die ein grundsätzliches Weltvertrauen
schafft, bekam das Kind nicht zu spüren. Der Vater, ein Müllersknecht, starb
unter der Last der Mehlsäcke, als der Junge die ersten Schuljahre hinter sich
hatte; mit ihm verlor er die leitende Hand, die ihm bei Gängen durch die
Mühle oder über das Feld immer wieder etwas Sicherheit gegeben hatte. Daß
er nicht allzu lange als Waise im Dorf herumgestoßen wird, verdankt er dem
Mühlenbesitzer, der meinte, daß der sensible Junge auf die höhere Schule
gehörte, und ihm durch ein entsprechendes »Legat« oder Vermächtnis die
nötigen Mittel hinterließ (52).
So kam Clamor ins Haus des Professors Quarisch, eine »Pension« für
zwölf Schüler, die das städtische Gymnasium besuchen. Professor Quarisch
ist der Bruder des Superus, des Dorfpfarrers, dem vom verstorbenen
Mühlenbesitzer die Sorge für Clamor übertragen worden war, und er ist
zudem der unglückliche Vater des einige Jahre älteren Teo, der – anders als
Clamor – ein ganz furchtloses Naturell hat und durch eine außergewöhnliche
Sozialisation zu einem verwegenen und herrischen jungen Mann wurde: Im
Alter von neun Jahren empörte sich Teo gegen den Vater, der ihn züchtigen
wollte, indem er ihm zwischen die Beine fuhr und sich dort so verbiß, daß
der Vater – offensichtlich bei Gefahr der Kastration – um Schonung bitten
und flehen mußte. Dann verbündete sich Teo mit dem Vikar, der wiederum
die Frau des Superus in seinen Bann schlug. Als die ménage-à-trois
unhaltbar wurde, setzten sich Vikar, Pfarrersfrau und Sohn ins Ausland ab
und lebten für einige Zeit in Ägypten, wo sich der aufgeweckte Teo vollends
zu einem frühreifen Jüngling mit ausgeprägten Herrenallüren entwickelte.
Nach dem Tod der Mutter kehrte er zurück und wurde in die Pension seines
Onkels Quarisch gegeben, um das Abitur zu machen. Hier wurde er,
hochbegabt und dreist, nicht nur zum Schrecken der Mitschüler, die er sich
mit brutalen Mitteln gefügig machte, sondern auch mißliebiger Lehrer, die er
auszuspähen und zu terrorisieren verstand. Für Clamor wird Teo ein Peiniger
und ein Helfer.
Erzählt wird Clamors Leidensgeschichte in drei Teilen auf eine Weise, in
der sich Darstellung der Gegenwart und Rekapitulation der Vergangenheit so
ineinanderschieben, daß es nicht leicht ist, den genauen Gang des
Geschehens zu erkennen und seine zeitliche Erstreckung zu bestimmen. Man
gerät manchmal in Zweifel über die Abfolge der aktuellen wie der erinnerten
Geschehnisse, und wie lange Clamors Aufenthalt in der Pension dauert, ist
kaum festzustellen. Darauf kommt es aber auch gar nicht an. Die Erzählung
ist darauf angelegt, deutlich zu machen, daß Vergangenheit und Gegenwart
für den furchtsamen und schutzlosen Clamor ein Kontinuum des Leidens
bilden und daß er an dem Druck, der von Mitschülern wie Lehrern auf ihn
ausgeübt wurde, zerbrochen wäre, wenn dieser länger angehalten hätte.
Der Eingang der Erzählung vergegenwärtigt in zweimaligem Einsatz
Clamors ersten Schultag nach der ersten Nacht in der Pension. Allerdings
wird der Bericht sofort aufgebrochen, um mit dem ersten Kapitel die
bedrängenden Kindheitserfahrungen zu beschwören und um mit den
weiteren Kapiteln gleich auch die negativen Erfahrungen der folgenden
Wochen zu integrieren. »Angst«, »Bangen« und »Furcht« sind die
Leitvokabeln des Berichts. Die Ängste, die in der dörflichen Kindheit
aufkamen, finden in der Stadt neue Anlässe und intensivieren sich: Von der
Pension führt der Weg zum Gymnasium durch Gärten, die mit plötzlichen
Schrecknissen aller Art aufwarten. Das Gymnasium ist ein verwirrender
Bau, in dem man sich als Neuling kaum zurechtfinden kann. Clamor kommt,
von keiner Mutter geleitet, gleich am ersten Tag zu spät und wird vom
Katheder aus von dem Mathematiklehrer Hilpert mit »stahlhartem Blick«
gemustert und sofort als notorischer »Bummelant« eingeschätzt (21). Von
der Kameradschaft bleibt er ausgeschlossen: Der Dorfjunge kennt die
Sprache der Stadtschüler nicht, kann sich auch nicht vorstellen, seinen
verstorbenen Vater als seinen »Alten« und den Direktor als den »Direx« zu
bezeichnen (23).
Und immer wieder droht der Schulweg, der insgesamt bedrängend ist und
zudem drei Abschnitte hat, an denen die Gefahr sich steigert: den
Grenadierplatz, auf dem Infanterieabteilungen oft Sturmangriff üben und
den Jungen in Angst versetzen; die Spinnerei, in deren Nähe der
schwächliche Clamor von derben jungen Arbeitern verächtlich angerempelt
wird; das Gefängnis, vor dem sich nicht selten Szenen der Gewalt und
Verfolgung abspielen, die in Clamor das Gefühl einer prinzipiellen
Gefährdung und Verschuldung aufkommen lassen. Wohl erhält Clamor
gelegentlich auch einen freundlichen oder aufmunternden Wink, und wenn
am Montagmorgen in der Schulandacht die vom Dorf her vertrauten Choräle
gesungen werden, darunter Neanders »Lobe den Herren« mit dem Vers »Der
dich auf Adelers Fittichen sicher geführet«, glaubt Clamor, mit der
Gemeinschaft zu verschmelzen, fühlt er sich für ein paar Augenblicke
geborgen (49 und 245f.). Aber dann folgen die Schrecknisse des Unterrichts
und des Schulwegs, die Clamor oft so beängstigen, daß er sich in ein
»Versteck« flüchtet: auf den stillgelegten »Abtritt« in einem verlassenen
Seitenflügel der Pension. Es ist ein »unguter Ort« mit zotenhaft bekritzelten
Wänden und abgestandener Luft. Aber Clamor kann sich dort einschließen
und über seine Ängste nachdenken. Und er findet dort seinesgleichen:
In den Winkeln des Aborts hauste der Kanker, der
Weberknecht. Er war nicht größer als eine Pferdebohne, doch
hatte er Beine, die über den Handteller klafterten. Wenn
Clamor ganz still saß und nachsann, sah er den Weberknecht
sich hervorwagen und über die Wand huschen: ein überaus
ängstliches Wesen, denn wenn man auch nur die Hand
ausstreckte, warf es eines seiner langen Beine aus der Hüfte
und eilte auf den übrigen davon. Das abgetrennte Bein blieb
liegen und webte, als ob es lebendig wäre, noch lange Zeit.
Clamor tat es dann leid, daß er das Tier erschreckt hatte. Er
kannte die Bewegung, denn wenn er in der ersten Stunde
fühlte, daß Herr Hilpert die Augen auf ihn richtete, begann
sein Bein ähnlich zu weben wie bei diesem Knecht. Dabei
brauchte er Herrn Hilperts Augen nicht einmal zu sehen. (45)
Als Weberknecht empfindet sich Clamor in der Mathematikstunde des
schrecklichen Doktor Hilpert, der in Clamors Ängstlichkeit und Versagen die
Gelegenheit sieht, seine Frustration darüber loszuwerden, daß er es nicht
zum Universitätsdozenten gebracht hat, und auch die Turnstunde ist dazu
angetan, in Clamor Gedanken an die Weberknechte aufkommen zu lassen.
Der Weberknecht wird Clamors Existenzsymbol. Im Anblick der
Weberknechte erkennt Clamor sich in seiner kreatürlichen Schwäche und
Verletzlichkeit. Wie bei diesen Kankern beginnen seine Beine »von selbst zu
weben«, wenn in der Mathematikstunde der »Strahl« von Doktor Hilperts
»grauen Augen« auf ihn fällt (164 und 245). Vor den Weberknechten will
Clamor »hinknieen« (241), nachdem Teo, um seine Zwille zu erproben,
einen Specht getötet hat, und zu den Weberknechten will er fliehen, als er
nach Teos Angriff auf die Wohnung des Konrektors aufgegriffen und für den
Übeltäter gehalten wird: »hin zu den Weberknechten, hin zum Gebet« (260).
Clamors Leiden an der Schule ist primär ein individuelles, nicht
repräsentatives. Es gibt Gegenbeispiele: Der Schulzensohn und Pferdenarr
Buz, der nicht heller als Clamor ist, erträgt alle Drangsale mit Dickfelligkeit
und Humor. Teo glänzt in allen Fächern und versteht es, sich in eine Position
zu bringen, die ihm Macht nicht nur über die Mitschüler, sondern auch über
die Lehrer gibt; sein Symbol ist denn auch die schrecken- oder gar
todbringende Zwille (152). Clamor indessen ist ein »Hochsensitiver« (58),
der über die Robustheit eines Buz oder über die Souveränität eines Teo nicht
einmal ansatzweise verfügt. So wird er zum Opfer des sadistischen Lehrers
Hilpert wie des herrschsüchtigen Mitschülers Teo. Er denkt nicht daran, in
den Tod zu fliehen; und doch verweist der Selbstmord eines Mitschülers, der
sich just in Clamors schlimmster Leidensnacht ereignet, an diese damals oft
gewählte und somit durchaus naheliegende Möglichkeit. Dieser Mitschüler,
Paulchen Maibohm, erhängte sich, weil er sich anders nicht mehr der
sexuellen Übergriffe und Prügel des Konrektors Zaddeck erwehren konnte,
und Clamor findet ihn, als er in jener immer blauer, immer benommener
werdenden Nacht wieder einmal Zuflucht zu den Weberknechten nimmt:
Clamor stürzte den Gang hinunter, riß wie ein Ertrinkender
die Tür zu den Weberknechten auf.
Nun wurde das Blau majestätisch – von den gekalkten
Wänden sich verdichtend, einströmend in die Puppe, die an
der Decke hing.
Die Puppe war drollig; ein Hampelmann. Sie war in den
gestreiften Matrosenanzug Paulchen Maibohms gekleidet; sie
trug die kurzen Hosen und die Lackschuh mit den breiten
Schleifen, die er so oft bewundert hatte, wenn auch nur von
fern. Hier sah er sie ganz nah. Auf dem Abtritt lag Paulchens
Aufgabenheft.
Es war so still, wie er es noch nie gehört hatte – - – ja,
diese Stille hörte er. So rauschte der Wald, auch wenn kein
Wind wehte. Er wagte den Kopf zu heben – - – die Puppe
wies ihm die Zunge; sie war blitzblau. (18, 260f.)
Wenn Clamor nicht in eine Lage kommt, in der er nur noch wie Paulchen
Maibohm reagieren könnte, so ist dies dem Zeichenlehrer zu verdanken, der
sich Clamors annimmt und ihm ein neues und, wie man vermuten darf,
angemesseneres Zuhause bietet. Clamor kennt es von einigen Besuchen her:
»Im Haus des Zeichenlehrers war es wie in einem Garten, in dem die
Blumen sich wohlfühlen« (230). Der Zeichenlehrer, der sich anders kleidet
als die akademischen Kollegen und keinen »stahlharten« Blick hat, ist der
Repräsentant einer Welt, die nicht wie die wilhelminische Gesellschaft durch
Autoritarismus, Unterwerfungswillen und militaristisches Gebaren geprägt
ist. Er weiß, daß Clamor dieser Gesellschaft entrissen werden muß. Er holt
ihn von der Schule, und er ist entschlossen, ihn vor dem Militärdienst zu
schützen, denn das »wäre Gift für ihn«. So der Zeichenlehrer. Der Text sagt
weiter: »Er hatte weibliche Augen, Augen zum Empfangen, nicht zum
Zielen und Schießen; er sah, doch er visierte nicht« (268).
Jüngers Zwille ist eine späte Wiederaufnahme und Fortsetzung der
Schulund Internatsgeschichten der Wilhelminischen Zeit. In manchem
erinnert sie an die entsprechenden Erzählungen von Rilke, Hesse, Musil und
anderen. Die Kapitelüberschrift »Die Turnstunde« (157) könnte eine
Reverenz an Rilkes gleichnamige Erzählung sein. Möglich ist aber auch, daß
die Darstellung der Turnstunde – wie der »Zeichenstunde« (247), der
»Mathematik« (163) und der Schulwege – eine originäre Umsetzung
gleichartiger Erfahrungen ist -: man denke nur an Kafkas Beschreibung der
Ängste seines Prager Schulwegs oder an Friedrich Georg Jüngers
Schilderung der Drangsale, die er in den Turnstunden unter einem hartnäckig
ihn verfolgenden Lehrer auszuhalten hatte. Dies gilt im übrigen auch für
andere Motive, die an weitere literarische Werke erinnern. So läßt die
Dampframme, die Clamor am zweiten Schultag erschreckt (34) und ihm als
Symbol einer prinzipiellen Gefährdung vor Augen bleibt, an Alfred Döblins
Roman Berlin Alexanderplatz von 1929 denken, in dem die Dampframme
für den Protagonisten Biberkopf eine ähnliche Funktion erlangt; aber auch in
diesem Fall könnte es sich um das Resultat einer gleichartigen Erfahrung
und eines gleichartigen ästhetischen Blicks handeln. Indessen müssen diese
möglichen Bezüge zu anderen literarischen Werken hier nicht weiter
untersucht werden. Festzuhalten bleibt, daß die Zwille eine letzte auf eigener
leidvoller Erfahrung beruhende Reflexion der wilhelminischen Schule – und
zugleich auch der wilhelminischen Gesellschaft – ist.
Sie ist kritisch, aber nicht denunziatorisch. Neben Verurteilungswürdigem
steht Anerkennenswertes. Der Müller Braun, der den verwaisten Clamor mit
einem großzügigen Vermächtnis bedenkt, wird als ein »Heger« bezeichnet
(59), der vielen Gutes tat und förderte, was ihm gefiel. Der Superintendent
oder »Superus« Wilhelm Quarisch, unter dessen Obhut Clamor steht, und
sein Bruder Friedrich, in dessen Pension er untergebracht wird, wirken in
mancher Hinsicht etwas beschränkt und altmodisch, sind aber in hohem Maß
verantwortungsbewußt und fürsorglich. Daß über Friedrichs Pension gesagt
wird, »da hat sich noch keiner umgebracht« (56), ist – vor dem Hintergrund
der vielen Schülerselbstmorde in jener Zeit – ein bemerkenswertes Lob, das
allerdings zugleich auf einen traurigen Makel der allgemeinen schulischen
Verhältnisse verweist. Der Rektor des Gymnasiums, das Clamor besucht,
wird vom Superus als ein »scharfer, doch umsichtiger Fuhrmann«
bezeichnet (60), und der Fortgang der Erzählung zeigt, daß er mit einigem
Erfolg bemüht ist, seine Schule – wie Friedrich Quarisch seine Pension – auf
einem Kurs zu halten, der zwischen traditionelleren und moderneren
Vorstellungen vermittelt (81f., 101f., 209f. und 245f.). Im Ordinarius Bayer
findet Clamor einen Lehrer, der sich ihm mit einer grundsätzlichen
Sympathie für die Kinder vom Land freundlich und fürsorglich zuwendet.
Der Turnlehrer Mez, der noch den Habitus der patriotischfreiheitlichen
Burschen- und Turnerschaften pflegt, ist »stramm, aber nicht bösartig«
(162), und obwohl der ängstliche und schmalbrüstige Clamor
selbstverständlich auch im Turnen ein Versager ist, bleibt die Turnstunde für
ihn dank der burschikosen Freundlichkeit dieses Lehrers erträglich. Im
Zeichenlehrer Mühlbauer trifft Clamor schließlich auf einen Pädagogen, der
aufgrund einiger wenig schulgerechter Zeichenblätter Clamors hinter dessen
Ängstlichkeit und Verträumtheit etwas »Ungewöhnliches« (249) sich
vorbereiten sieht und deswegen diesen Schüler in seine Obhut nehmen will.
Schließlich gibt es auch einen Garnisonschef, einen Major, der den Weg von
der Kaserne zu seiner Wohnung gerne zu Fuß zurücklegt und für den
verängstigten Clamor, wenn er ihm begegnet, immer ein paar freundliche
Worte hat (47); der Major plädiert, als Clamor anstelle Teos verdächtigt
wird, die Fenster seiner Wohnung eingeschossen zu haben, auch für
Nachsicht (263).
Neben diesen insgesamt positiven Gestalten stehen aber andere: so der
Mathematiklehrer Hilpert, der von einer geradezu unmenschlichen
Sachlichkeit ist und einen untergründigen Sadismus hegt (163ff.); so auch
der Konrektor Zaddeck, der ein brutaler Prügelmeister ist (163 und 192) und
sich zudem als Päderast entpuppt (264). Damit wird im übrigen ein Moment
in den Blick gerückt, das in der Gesellschaft, die in der Zwille
vergegenwärtigt wird, eine nicht nur periphere Bedeutung hat: die
verdrängte, aber untergründig mächtig arbeitende Sexualität.
Selbstverständlich wird Clamor vom Superus mit verblümten Worten und
Gesten vor dem Laster der Onanie gewarnt (56), und ebenso
selbstverständlich träumen die Pensionsschüler von den »Titten« (44) und
von der »Kruppe« (181) des Dienstmädchens, das ihnen aufwarten muß.
Homoerotik mag bei ihren Gruppenbildungen im Spiel sein; zu
homosexuellen Aktivitäten kommt es nicht. Aber Homosexualität ist
Gesprächsgegenstand, weil sie in der Gesellschaft eine kaum verhüllte Rolle
spielt: Es gibt am Ort einen Delikateßhändler, der einen entsprechenden
Salon führt und den einen oder andern Primaner oder Husaren gut
ausstaffiert und für sein Entgegenkommen honoriert (134ff.); auch wird mit
der Erwähnung des »Kanonenkönig[s]« (136) Friedrich Krupp, dessen
bohemistisches Leben auf Capri 1902 von sozialistischen Blättern als
homosexuell skandalisiert worden war, und des Kaiser-Freundes Philipp zu
Eulenburg (147), dem 1906 Homosexualität unterstellt worden war, auf die
(vermutete) Verbreitung der Homosexualität in den höchsten Rängen der
wilhelminischen Gesellschaft verwiesen.
Gegenüber der städtischen Gesellschaft, deren sittliche Verfassung durch
eine Reihe von mehr oder minder auffallenden Abweichungen in Frage
gestellt wird, erscheint die ländliche Gesellschaft, der Clamor entstammt, als
Hort von altertümlicher Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit. Die
Sozialkontrolle funktioniert; man weiß, was sich gehört, und ist im übrigen
nicht verklemmt. Aber auch hier gibt es, wie das Ehedrama des Superus
zeigt (61ff.), verstörende sittliche Einbrüche. Zudem wird ein Vorfall in
Erinnerung gerufen, der auf einen überaus problematischen Zug dieser
Gesellschaft aufmerksam macht: In einer seiner kummervollen Nächte
erinnert sich Clamor, wie in seinem Dorf ein entlaufener Zuchthäusler
aufgegriffen und von den Bauern, weil er ein Messer bei sich hatte, fast
totgeschlagen worden war, bevor sie ihn ins »Spritzenhaus« geschleift
hatten. Für den Superus, der den Vorfall mit seinem Bruder erörtert, zeigt
sich darin eine tiefsitzende, auf den Dreißigjährigen Krieg zurückgehende
Neigung zur »Bestialität«, die nun durch die Verwerfungen und
Beängstigungen der Moderne stimuliert und intensiviert wird (187).

Sp. R. Drei Schulwege


Alles in allem werden die schulischen und allgemeineren gesellschaftlichen
Verhältnisse der Wilheminischen Ära, in der Jünger heranwuchs, in der
Zwille nicht durchweg verworfen oder mit jener satirischen Einseitigkeit
geschildert, wie dies etwa in Heinrich Manns Romanen Professor Unrat
(1905) oder Der Untertan (1914/1918) der Fall ist. Aber doch wird deutlich,
daß es sich um eine Gesellschaft handelte, die nicht nur schwache, sondern
auch schlechte Seiten hatte. Die Fassade der Sittenstrenge verdeckte manche
Leidenschaft, die damals nicht zulässig war. Der allenthalben gehegte
Autoritarismus ermöglichte und verschleierte in Bereichen, in denen es –
wie insbesondere in der Schule und beim Militär – starke hierarchische
Verhältnisse gab, die Entfaltung von Sadismus. Und eine deutliche Neigung
zur bestialischen Gewalt gab es nicht nur bei der Landbevölkerung, sondern,
wie die allgemeine Vorliebe für die Prügelstrafe und das Beispiel des
brutalen Konrektors Zaddeck zeigen, auch im Bildungsbürgertum. Es war
eine Gesellschaft, die robuste Naturen verlangte und züchtete; weniger
robuste erschienen leicht als minderwertig und liefen Gefahr, auf die eine
oder andere Weise zertreten zu werden. In der Gestalt Clamors hat Jünger
dieses Schicksal beschworen, auch wenn die Geschichte für Clamor gut
ausgeht. In der kurzen Erzählung Sp. R. Drei Schulwege (22, 733 bis 769),
die 1991 entstand, hat er dieses Sensitivenschicksal ein weiteres Mal und,
wie der Obertitel Sp[äte] R[ache] signalisiert, in anklägerischer Absicht
dargestellt.
Der Protagonist von Sp. R. heißt Wolfram und ist, wie sich zeigt, ein
sensibler Junge, der leicht ins Träumen verfällt und bald auch von
epileptisch wirkenden Anfällen oder »Absencen« heimgesucht wird. Der
erste der drei Schulwege, die Wolfram nacheinander zu gehen hat, führt zur
Vorschule. Er ist der beste, denn auf ihm wird Wolfram noch von seinem
Großvater begleitet, der dem Jungen die Angst nimmt und dafür sorgt, daß er
rechtzeitig in die Schule kommt. Der zweite Weg führt zu Tegtmayers
Institut, einer privaten »Presse«, in der es einen Mathematiklehrer gibt, der
Wolfram das Leben schwermacht. Der Weg zur Schule und mehr noch der
Weg von der Schule nach Hause wird täglich zur Qual, weil Wolfram sich
von dem Mathematiklehrer verfolgt fühlt und seine Angst bisweilen so groß
wird, daß er sich in die Hose macht. Der dritte Weg führt zum Gymnasium,
und je näher Wolfram diesem kommt, umso größer wird seine Angst. Der
Klassenlehrer haßt den Sonderling, die Mitschüler mögen ihn nicht. Als
dann wieder einmal die Betragensnoten verhandelt werden und die
Kameraden ihn vielfach denunzieren, wird der Träumer unversehens zum
Rebellen: verteidigt sich mit einer Rede, in welcher er Sokrates und Karl
May zusammenwirken läßt, und teilt dem verblüfften Klassenlehrer vor der
versammelten Klasse mit, daß er ihn »pädagogisch für eine Null hält«. Dann
packt er seine Bücher und verläßt die Klasse – für immer. Die beiden letzten
Sätze der Erzählung sagen noch, daß Wolfram nach Arosa geschickt wird,
weil er im Anschluß an den Kraftakt der Rebellion von einer
Lungenentzündung heimgesucht wird, und daß »sein ferneres Schicksal
unbekannt« ist. Das läßt eher Böses als Gutes ahnen. Aber selbst wenn
Wolfram genesen sein und später in ein auskömmliches oder erfolgreiches
Leben gefunden haben sollte -: dann nicht wegen, sondern trotz der Schule,
die für ihn kein Ort der Förderung, sondern des Martyriums war.
Offenbar hat es den alten Jünger stark beunruhigt, daß auch er mit seiner
Verträumtheit in jener Zeit leicht hätte unter die Räder kommen können. Daß
ihm dies nicht widerfuhr, verdankte er zum einen dem Verständnis, das ihm
von den Eltern und einigen Lehrern entgegengebracht wurde, zum andern
vielleicht auch jenen Komponenten seines Naturells, die er in der Zwille in
fast grandioser Übersteigerung seinem Teo und zuletzt auch dem Wolfram
der Späten Rache hat angedeihen lassen. Jünger war, wenn man nach der
autobiographischen Signifikanz der Zwille fragt und deren Figurationen zur
Charakterisierung Jüngers heranzieht, weder Clamor noch Teo, sondern
wohl eine Mischung aus beiden, und wenn er, wie es scheint, sich zunächst
nach der Seite Teos hin entwickelte, so traten später diejenigen Züge seines
Naturells, die Clamor in reiner Form verkörpert, in den Vordergrund. Die
Zwille ist aus der Perspektive Clamors, nicht Teos geschrieben.
ZWEITER TEIL

Im »Großen Krieg«

Eine Seite aus Jüngers Kriegstagebüchern


Der einundzwanzigjährige Leutnant Jünger 1916 auf dem
Truppenübungsplatz Sisonne (westlich von Laon). Schlimme Erfahrungen,
verbunden mit zwei Verwundungen, liegen hinterihm, und die
Vorbereitungen zur Somme-Schlacht, der größten»Materialschlacht«, sind
im Gang. Wird man sie heil überstehen?
»Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt«: der
Bellizismus der Vorkriegszeit

Der Sommer des Jahres 1914 war, wie Stefan Zweig in seiner berühmten
Autobiographie Die Welt von gestern festhielt, ein besonders »üppiger«
Sommer mit lang anhaltenden Sonnentagen. Die europäische Bourgeoisie
weilte in der Sommerfrische: in den mondänen binnenländischen Badeorten
und an den Meeresküsten. Als am 29. Juni die Nachricht verbreitet wurde,
daß der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine
Gemahlin in Sarajevo einem Attentat einer serbischen Terrororganisation
zum Opfer gefallen seien, rief dies selbstverständlich große Erregung hervor,
ließ aber keineswegs gleich Kriegsangst aufkommen. Die Familie Jünger
begab sich, wie in den Jahren zuvor, auf die Insel Juist; nur Ernst blieb in
Rehburg, um sich während der Ferien auf das gefürchtete Abitur
vorzubereiten. Er sollte es schneller bekommen, als er dies erwartet hatte,
freilich unter fatalen Umständen.
Den Schüssen von Sarajevo folgten markige Worte kriegslüsterner
Regenten und Politiker. Kaiser Wilhelm II. schrieb auf den Rand eines ersten
Berichts über die politische Lage nach dem Attentat: »Jetzt oder nie … Mit
den Serben muß aufgeräumt werden, und zwar bald.« Die nächsten Wochen
brachten hektische diplomatische und strategische Aktivitäten. Sondierungen
wurden getätigt, Eventualitäten geprüft, Unterstützungszusagen gegeben,
Ultimaten gestellt. Ein Krieg war nicht unvermeidbar, aber viele
Verantwortliche wollten ihn, weil sie ihn für überfällig und notwendig
hielten.
Der Bellizismus jener Epoche gehört zu den Phänomenen, die man nur
mit Befremden wahrnehmen kann. Aber er ist in seiner perversen
Verführungskraft historisch erklärbar als Resultat einer romantischen
Kriegsphilosophie, die sozialdarwinistisch fundiert und nationalistisch
aufgeladen wurde. Spätestens seit der Romantik gab es die Vorstellung, daß
Kriege nicht als Katastrophen zu betrachten seien, sondern als Momente der
Erneuerung: »Im Kriege«, sagt der Dichter Klingsohr in Novalis’ Roman
Heinrich von Ofterdingen (1802), »regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile
sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung
anschießen.« Das war vielleicht metaphorisch gesprochen, meinte vielleicht
nicht den militärischen Krieg, sondern geistige, kulturelle, auch religiöse
Auseinandersetzungen. Aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde diese
romantische Idee des Kriegs als einer Phase der Erneuerung ausgebaut und
ausdrücklich auf den militärischen Krieg übertragen. Darwinistische
Vorstellungen wurden in begründender Absicht herangezogen: Das Leben –
auch das der Völker – sei ein »Kampf«, für den man sich durch Training
»fit« zu halten habe und in dem die Oberhand behalten müsse, wer nicht
unter die Räder kommen wolle. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
waren viele führende Politiker und tonangebende Intellektuelle der Meinung,
daß die Zukunft ihrer Nation in einer notfalls auch kriegerischen Expansion
liege und ein Krieg von Zeit zu Zeit aus sozialhygienischen Gründen
notwendig sei, beispielsweise um der epidemisch um sich greifenden Zeit-
und Verfallskrankheit der Nervenschwäche oder Neurasthenie
entgegenzutreten.
Der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti schrieb im
Gründungsmanifest des Futurismus, das am 20. Februar 1909 im Pariser
Figaro erschien und rasch um die ganze Welt ging: »Wir wollen den Krieg
verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den
Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die
man stirbt, und die Verachtung des Weibes.« 1912 schwärmte der preußische
General und Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi in seinem weltweit
Aufsehen erregenden Buch Deutschland und der nächste Krieg von der
»Schöpferkraft des Kampfes« und bezeichnete den Krieg als eine »sittliche«
wie »biologische Notwendigkeit«, die wichtige Tugenden hervortreibe und
minderwertige Rassen zum Verschwinden bringe; man dürfe deswegen den
Krieg nicht vermeiden wollen, vielmehr müsse man sich auf ihn vorbereiten
und müsse ihn, wenn die Belange der Nation dies erforderten, herbeiführen.
Und so dachte man keineswegs nur in Deutschland, sondern überall auf der
Welt. Bernhardi zitierte unter anderem, was der amerikanische Präsident
Theodore Roosevelt, der für seine Vermittlung im russisch-japanischen
Krieg 1906 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, am 4.
Dezember 1906 den Kongreß der Vereinigten Staaten wissen ließ: »Es muß
immer im Auge behalten werden, daß ein Krieg, wo der Friede nur durch das
Opfer der Gewissensüberzeugung oder der nationalen Wohlfahrt erlangt
werden kann, nicht nur zu rechtfertigen ist, sondern für ehrenhafte Männer
und eine ehrenhafte Nation zum Gebot wird. Ein gerechter Krieg ist auf die
Dauer für die Seele einer Nation weit besser als der blühendste Friede, der
durch das Dulden von Unbill oder Ungerechtigkeit erlangt ist.«
In Deutschland war diese Bereitschaft zum Krieg aus mehrerlei Gründen
besonders stark. Man empfand sich als wirtschaftliche und militärische
Großmacht: Deutschland produzierte 1914 mehr Roheisen als England und
Frankreich zusammen, hatte eine größere Armee als Frankreich und eine
Flotte, die mit der englischen zu rivalisieren begann. Zugleich glaubte man
sich zurückgesetzt: Die überseeische Welt war nahezu verteilt, und das (erst)
jetzt so mächtige Deutschland hatte nur ein paar kleine Flecken
abbekommen. Und zugleich sah man sich als »Volk ohne Raum«: In
Deutschland kamen um 1900 auf einen Quadratkilometer einhundertundvier
Menschen, in Frankreich nur zweiundsiebzig. Und schließlich fühlte man
sich in Deutschland nicht weniger als in England und in Frankreich dazu
berufen, der Welt Maßstäbe zu geben: durch die deutsche Philosophie, die
deutsche Wissenschaft, die deutsche Qualitätsarbeit (»Made in Germany«),
die deutsche Leistungskraft, die deutsche Sozialpolitik, die deutsche
Biederkeit.
Aus dieser ressentimentgeladenen Kombination von Gefühlen des
Zurückgesetztseins wie der Überlegenheit resultierte der wilhelminische
Anspruch auf »Weltpolitik«, der nach der Jahrhundertwende zu einer
Eskalation der Kriegsvorbereitungen und zu mehreren brisanten Situationen
führte, so zu den Marokko-Krisen von 1905 und 1911. Diese und andere
Gefahrenmomente ließen um 1910 bei vielen Zeitgenossen das Gefühl
aufkommen, daß ein Krieg bevorstehe: Edvard Munch wurde um 1910
während einer Ausstellung in Hamburg von Kriegsangst ergriffen und reiste
ab. Georg Heym entwarf 1911 in zwei dramatisch bewegten Gedichten mit
dem Titel Der Krieg Bilder der plötzlich hereinbrechenden Zerstörung und
des Untergangs. Georg Trakl begann 1912 sein Gedicht Menschheit mit den
ahnungsvollen Versen:
Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen.
Aber keineswegs sah man dem Krieg nur mit Angst entgegen. Georg Heym
wünschte sich in einer Tagebuchnotiz, »daß man einen Krieg begänne, er
kann ungerecht sein«, damit das »langweilig« gewordene Leben im »faulen«
Frieden ein Ende fände. Johannes R. Becher sehnte sich 1912/13 in dem
Gedicht Beengung nach einem »großen Weltkrieg«, der das Eingesperrtsein
in der modernen Zivilisation beenden sollte. Gustav Sack ließ den
Protagonisten seines 1913 publizierten Romans Ein verbummelter Student
gegen Ende nach einem Krieg rufen und hoffen, daß in dem »jauchzenden
Vernichten« etwas »Höheres« sich zeige. Ernst Stadler schwärmte 1913 in
dem Gedicht Der Aufbruch vom Gang in die Schlacht, gleich, ob sie zum
Triumph oder zum Tod führen mochte:
Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen,
Feuer über Helm und Bügel,
Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltnem
Zügel.
Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen,
Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen.
Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken
Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und
glühend trinken.
Die Motive für diese Kriegslust, in der sich Zerstörungswille und
Untergangsbereitschaft verbanden, klingen in den zitierten Texten an:
Überdruß an der Welt der Sekurität und des Reglements; Stefan Zweig hat
dies in seiner Autobiographie unter Verweis auf Freuds Abhandlung Das
Unbehagen in der Kultur (1930) als »Unlust an der Kultur« bezeichnet.
Verbunden damit war die Sehnsucht nach Abenteuer, Entgrenzung, Ekstase,
Erneuerung; Georg Kaiser hat dieses Zusammenwirken von
Normalitätsüberdruß und vitalistischer Lebensgier in seinem 1912
begonnenen und 1916 publizierten Drama Von morgens bis mitternachts
eindrucksvoll dargestellt: Dem Protagonisten, einem Sparkassenangestellten,
erscheint das berufliche wie das familiäre Leben plötzlich als »Grab«; kurz
entschlossen greift er in die Kasse und setzt sich mit 60 000 Goldmark nach
Berlin ab, um in den großen Vergnügungsstätten der Metropole das »wahre«,
nämlich das »entfesselte« und »brodelnde« Leben zu erfahren. Zu dieser
Verachtung des aufregungslosen und unheroischen bürgerlichen Lebens trat
die fatale Unterschätzung des Kriegs als eines romantischen und für den
Sieger gewinnbringenden Unternehmens.
Das hätte man um 1914 bereits besser wissen können. Man hätte sich an
Bertha von Suttner halten können, die Trägerin des Friedensnobelpreises des
Jahres 1905. Sie hatte in ihrem 1889 erschienenen Roman Die Waffen
nieder, der bis 1910 ungefähr fünfzigmal aufgelegt wurde, auf der Basis von
Archivstudien am Beispiel der Schlacht von Königgrätz (1866) gezeigt, daß
ein Krieg schon damals – natürlich! – nicht romantisch, sondern grausam
war: zehntausenden von Soldaten einen schrecklichen Tod auf dem
Schlachtfeld brachte und ebenso viele in primitive Lazarette warf, wo sie auf
faulendem Stroh lagen und bei lebendigem Leib von Mücken und Würmern
angefressen wurden. Man hätte Iwan Bloch studieren können, einen
polnisch-russischen Unternehmer jüdischer Herkunft, der zum
Kriegstheoretiker und Pazifisten geworden war: Er hatte in einem
sechsbändigen Werk, das seit 1899 in deutscher Übersetzung vorlag, die
These vertreten, daß ein Krieg zwischen den hochindustrialisierten
europäischen Nationen in einem jahrelang sich hinziehenden
Abnutzungskampf mit unüberwindbaren Defensivsystemen erstarren und mit
dem unvermeidlichen Zusammenbruch der Volkswirtschaften zu sozialen
Revolutionen führen werde. Man hätte sich von dem englischen
Schriftsteller und Pazifisten Norman Angell belehren lassen können, der
1933 mit dem Friedensnobelpreis bedacht werden sollte. Er hatte 1910 mit
seinem sogleich weltweit verbreiteten Buch The Great Illusion (deutsch: Die
falsche Rechnung) auf umsichtige Weise dargelegt, daß kein Krieg, auch
kein siegreicher, dazu geeignet sei, »jene moralischen und materiellen
Vorteile zu verschaffen, deren die modernen europäischen Völker bedürfen«.
Und man hätte sich erinnern können, was der neunzigjährige
Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke am 14. Mai 1890 in seiner
letzten Rede im Reichstag gesagt hatte:
Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn
Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern
schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist
seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen. Es sind die
größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor,
gegeneinander in den Kampf treten; keine derselben kann in
einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen
werden, daß sie sich für überwunden erklärte, daß sie auf
harte Bedingungen hin Frieden schließen müßte, daß sie sich
nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach
Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern. Meine Herren, es
kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg
werden – und wehe dem, der Europa in den Brand steckt, der
zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!
All dies war vergeblich gesagt. Angells Warnung wurde ebenso verdrängt
wie Suttners Erinnerung an das Elend der Kriege des 19. Jahrhunderts, und
anders als der erfahrene Moltke glaubte die politisch-militärische
Führungsriege um Kaiser Wilhelm II. fest daran, daß ein Krieg – und zumal
ein Präventivkrieg – regional begrenzbar und vor allem von kurzer Dauer
sein werde. Wie man weiß, kam es anders: Der Krieg, zu dem vor allem die
deutsche Führung gedrängt hatte, wurde kein auf den Balkan
eingeschränkter Lokalkrieg, sondern begann sofort als europäischer Krieg,
weitete sich zum Weltkrieg aus und wurde zur »Urkatastrophe des
zwanzigsten Jahrhunderts« (so Ernst Schulin, im Anschluß an George F.
Kennan: »the great seminal catastrophe of this century«). Er war auch nicht
in ein paar Monaten abgetan, sondern dauerte vier auszehrende Jahre – und
bildete den blutigen Auftakt zu einer Epoche der Aggressionen und
Destruktionen, die man neuerdings als einen »zweiten Dreißigjährigen
Krieg« bezeichnet (so Hans-Ulrich Wehler, im Anschluß an Raymond
Aron).

»Muß man nicht dankbar sein, so große Dinge


erleben zu dürfen«: Dichter und Denker nach der
Kriegserklärung

Diese historischen Weiterungen lagen, als Ende Juli/Anfang August 1914 die
Mobilmachungen ausgerufen und die Kriegserklärungen ausgegeben
wurden, freilich jenseits des Vorstellungsvermögens der allermeisten
Zeitgenossen. Im übrigen galt, daß der Krieg, wie die politische Führung
sagte, unvermeidbar sei und daß er kurz und siegreich sein werde. So
wurden die Kriegserklärungen an Rußland (am 1. August) und an Frankreich
(am 3. August) mit großem Jubel aufgenommen; in Berlin kam es zu
Ansammlungen, die zwischen zwei- und dreihunderttausend Menschen
umfaßten. Man weiß heute, daß dieser aus der Erregung der
vorangegangenen Krisenwochen hervorbrechende Jubel propagandistisch
stimuliert war und große Bevölkerungsgruppen nicht in ihn einstimmten,
sondern dem Krieg mit Angst entgegensahen. Gleichwohl ist von einer
genuinen Volksbegeisterung zu sprechen, von der auch Menschen ergriffen
wurden, die ansonsten auf Besonnenheit und Distanz achteten. Aus der
Vielzahl einschlägiger Dokumente verdient insbesondere ein Brief zitiert zu
werden, den Thomas Mann am 7. August 1914 aus seinem Landhaus in Bad
Tölz an seinen Bruder Heinrich sandte; es spiegelt sich in ihm die ganze
Verunsicherung jener Zeit: das emotionale Oszillieren zwischen Entsetzen
und Hingerissensein, zwischen Zukunftsängsten und Fatalismus oder
Heroismus und nicht zuletzt zwischen alter intellektueller
Deutschlandverachtung und neuer Vaterlandsliebe:
Ich bin noch immer wie im Traum, – und doch muß man sich
jetzt wohl schämen, es nicht für möglich gehalten und nicht
gesehen zu haben, daß die Katastrophe kommen mußte.
Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen, innerlich
und äußerlich, wenn sie vorüber ist? Ich persönlich habe mich
auf eine vollständige Veränderung der materiellen
Grundlagen meines Lebens vorzubereiten. Ich werde, wenn
der Krieg lange dauert, mit ziemlicher Bestimmtheit das sein,
was man »ruiniert« nennt. In Gottes Namen! Was will das
besagen gegen die Umwälzungen, namentlich die seelischen,
die solche Ereignisse im Großen zur Folge haben müssen!
Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen
Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen? Mein
Hauptgefühl ist eine ungeheure Neugier – und, ich gestehe es,
die tiefste Sympathie für dieses verhaßte, schicksals- und
rätselvolle Deutschland, das, wenn es »Civilisation« bisher
nicht unbedingt für das höchste Gut hielt, sich jedenfalls
anschickt, den verworfensten Polizeistaat der Welt zu
zerschlagen.
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit gegenüber einer Welt von Feinden
und in einer Stunde der Bewährung muß für viele Zeitgenossen
überwältigend gewesen sein. Noch ein Vierteljahrhundert später, als schon
der Zweite Weltkrieg tobte, schrieb Stefan Zweig in seiner Autobiographie:
Trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich
die Erinnerung an diese ersten Tage [des Ersten Weltkriegs]
in meinem Leben nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende
und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden
hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. Eine Stadt
von zwei Millionen, ein Land von fast fünfzig Millionen
empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß sie
einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß
jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende
Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu
läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der
Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen
Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit.
Das Verhalten der deutschen und österreichischen Schriftsteller zu Beginn
wie im Verlauf des Ersten Weltkriegs war naturgemäß unterschiedlich und
kann nicht pauschal charakterisiert werden. Die einen mußten in den Krieg,
die andern gingen freiwillig; entschiedene Kriegsgegner gab es anfangs nur
sehr wenige. Einige Beispiele, in typologischer Absicht ausgewählt, mögen
dies illustrieren: Dem Mobilisierungsbefehl unverzüglich zu folgen hatte der
vierzigjährige expressionistisch-futuristische »Wortkünstler« und
Reserveoffizier August Stramm; er unterzog sich seiner militärischen Pflicht
ohne große patriotische Emphase, aber mit uneingeschränkter innerlicher
Zustimmung, lehnte eine vom Sturm-Herausgeber Herwarth Walden
erwirkte Freistellungsmöglichkeit ab, stieg zum Bataillonskommandeur auf
und fiel am 1. September 1915 an der Ostfront. Ebenso mußte der
achtundzwanzigjährige Gottfried Benn, der eine militärärztliche Ausbildung
erhalten hatte, sofort einrücken. Wie Tausende von mobilisierten Männern
ließ er sich am 1. August trauen, nahm Anfang Oktober an der Erstürmung
Antwerpens teil und wurde dafür mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet,
leistete danach bis Herbst 1917 Dienst an einem Krankenhaus in Brüssel und
lebte im übrigen so komfortabel, daß er 1921 schreiben konnte: »Ich denke
oft an diese Wochen zurück; sie waren das Leben, sie werden nicht
wiederkommen, alles andere war Bruch.«
Als Einjährigen-Freiwilliger, der seit 1913 bei der bayerischen Infanterie
diente, mußte der fünfundzwanzigjährige expressionistische Lyriker Alfred
Lichtenstein mit ins Feld; er fiel am 25. September 1914 in der Nähe von
Reims. Freiwillig meldeten sich der einundfünfzigjährige Richard Dehmel,
der in seiner Jugend nicht wehrtauglich gewesen war, und der
achtundvierzigjährige Hermann Löns; Dehmel überlebte den Krieg, Löns
fiel im September 1914 beim ersten deutschen Angriff auf Reims. Freiwillig
meldete sich auch der siebenundzwanzigjährige Georg Trakl, der sich dann
unter dem Eindruck der Schlacht bei Grodek (6. – 11. September) das Leben
nehmen wollte und am 3. November an einer Überdosis Kokain starb. Und
freiwillig meldeten sich gleich bei Kriegsbeginn auch der achtzehnjährige
Carl Zuckmayer und der einundzwanzigjährige Ernst Toller. Zuckmayer
legte ein Notabitur ab, machte den ganzen Krieg an der Westfront mit und
brachte es bis zum Leutnant. Toller bewährte sich an der Westfront und
wurde zum Unteroffizier befördert. 1916 brach er jedoch zusammen, wurde
zum Pazifisten, verarbeitete seine Erfahrungen in seinem Drama Die
Wandlung und wurde einer der Führer des Münchener
Munitionsarbeiterstreiks und der Münchener Revolution. Andere, die sich
ebenfalls freiwillig meldeten, hatten das Glück, wegen ihrer schwachen
Konstitution nicht angenommen zu werden: so Hugo Ball, der am 6. August
in München abgewiesen wurde, nach einem privaten Besuch an der
Westfront pazifistisch zu denken begann und im Mai 1915 in die Schweiz
emigrierte, um seine dadaistische Zeitkritik zu entfalten; so Hermann Hesse,
der sich, seit 1912 in der Schweiz lebend, am 29. August auf dem Berner
Konsulat als Freiwilliger anbot, aber »wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit«
zurückgestellt wurde und sich bald zum entschiedenen Pazifisten
entwickelte. Selbst Franz Kafka, der nach einer ersten Musterung im Juni
1915 auf Antrag der Versicherungsanstalt, bei der er arbeitete, zurückgestellt
worden war, meinte im Frühjahr 1916, sich endlich im Krieg bewähren zu
sollen, und schaffte sich übungshalber ein paar schwere Stiefel an. Die
zweite Musterung im Juni 1916 fiel ebenfalls positiv aus; aber erneut wurde
Kafka – wider seinen Wunsch – aufgrund einer Intervention seines
hellsichtigen Vorgesetzten zurückgestellt.
Vor allem das Beispiel Kafkas zeigt, wie schwer es für die Zeitgenossen
war, sich der Suggestion zu entziehen, daß der Krieg nicht Elend und
Barbarei bedeutete (was man im Frühjahr 1916 schon wissen konnte),
sondern eine Chance zur männlichen Bewährung und zudem eine Erlösung
aus dem unheroischen Dasein eines faden und ermattenden zivilen Lebens.
Daß es Ausnahmen gab, entschiedene und konsequente Kriegsgegner von
der ersten Stunde an, ist freilich auch festzustellen. Exemplarisch genannt
seien der im Elsaß geborene René Schickele, der immer gegen die nationale
Konfrontation geredet hatte und ab 1916 in Zürich die pazifistischen Weißen
Blätter herausgab; der aktivistisch-expressionistische Berliner Schriftsteller
Ludwig Rubiner, der gleich nach Beginn des Kriegs nach Zürich
übersiedelte und 1916 die Herausgeberschaft der kriegskritischen Zeitschrift
Zeitecho übernahm; der radikale Kriegsgegner Leonhard Frank, der 1915
nach Zürich floh und 1917 unter dem vielzitierten Titel Der Mensch ist gut
eine Sammlung pazifistischer Erzählungen vorlegte; der in Wien lebende
Fackel-Herausgeber Karl Kraus, der die Publikation seiner Zeitschrift aus
Empörung über den Krieg einstellte, dann aber mit aufsehenerregenden
Vorträgen (ab November 1914) und mit seiner wieder aufgenommenen
Fackel (ab Oktober 1915) zum wohl schärfsten Kritiker des Kriegs und
speziell der publizistischen Kriegspropaganda wurde; der in Deutschland
hoch angesehene französische Biograph und Romancier Romain Rolland,
der, vom Krieg in der Schweiz überrascht, zur Versöhnung aufrief, aber
damit wenig Widerhall fand und von Thomas Mann in den Betrachtungen
eines Unpolitischen seitenlang abgekanzelt wurde; schließlich Annette Kolb,
die Tochter eines Münchener Gartenarchitekten und einer Pariser Pianistin,
die den Krieg von Anfang an als Quelle unermeßlichen Leids und bleibender
Feindseligkeit zwischen den Völkern ablehnte.

»Da war ich aller Sorgen ledig«: der


»Kriegsmutwillige« Ernst Jünger

Vor dem Hintergrund dieser mehrheitlich bellizistischen Stimmung ist nun


Ernst Jüngers Teilnahme am Krieg zu sehen. Er war, wie eingangs schon
bemerkt, im Juli 1914 nicht mit der Familie nach Juist gefahren, sondern in
Rehburg geblieben, um sich auf das Abitur vorzubereiten. Als am 1. August,
einem Samstag, die Mobilmachung für den 2. August verkündet wurde, saß
er gerade auf dem Dach des Wirtschaftsgebäudes, das zum Anwesen gehörte
und nach einem Brand neu gedeckt werden mußte. Seine Reaktion auf das
Eintreffen der Mobilmachungsorder schilderte Jünger Anfang der dreißiger
Jahre in einem Bericht, der, anläßlich der Überarbeitung der Stahlgewitter
entstanden, 1934 im Rahmen der ersten kleinen Jünger-Biographie von Wulf
Dieter Müller gedruckt wurde und heute im Anhang zu den Schriften über
den Ersten Weltkrieg zu finden ist. Es heißt dort:
Während wir [der Autor, der Gärtner Meier und ein
Dachdecker] auf dem von den Sonnenstrahlen erwärmten
Dache saßen und plauderten, fuhr unten, wie gewöhnlich um
diese Stunde, der Landbriefträger mit seinem Rade vorbei.
Ohne abzusteigen, rief er uns die beiden Worte
»Mobilmachung befohlen!« zu, die wohl schon seit Stunden
der Telegraph unaufhörlich über Stadt und Land verbreitete.
Der Dachdecker hatte gerade seinen Hammer erhoben, um
einen Schlag zu tun. Nun hielt er mitten in der Bewegung
inne und legte ihn ganz sacht wieder hin. In diesem
Augenblick trat ein anderer Kalender bei ihm in Gültigkeit.
Er war ein gedienter Mann, der sich schon in den nächsten
Tagen bei seinem Regiment zu stellen hatte. Meier war
Ersatzreservist, auch ihm stand nun die Einberufung bevor.
Ich faßte wie Hunderttausende in dieser Stunde den
Entschluß, mich als Kriegsfreiwilliger zu beteiligen.
So war mit einem Schlage, wie überall in Deutschland, wo
Männer zusammen waren, aus unserer kleinen friedlichen
Gemeinschaft eine militärische geworden. Wir packten das
Gerät zusammen und beschlossen, unten im Dorfe einen
Trunk zu tun. Vor dem Rathause sahen wir, daß der
Mobilmachungsbefehl bereits angeschlagen war. Im Kruge
war keine besondere Aufregung zu bemerken – dem
niedersächsischen Bauern ist die Begeisterung fremd, die
zähe Erdkraft ist sein eigentliches Element. Erst spät gingen
wir wieder nach Hause und sangen auf der einsamen
Landstraße das schöne Lied:
»Auf, auf Kameraden von der Infanterie, es
gilt für unser Leben – -.«
Am nächsten Tage [also am Sonntag, dem 2. August]
kamen meine Eltern zurück. Alle Badeorte hatten sich
fluchtartig geleert. Am Nachmittag fuhr ich nach Hannover,
um mich dort bei einem Regiment einschreiben zu lassen.
Neben den Geleisen sah man zuweilen mit Stroh ausgestopfte
Puppen im Winde baumeln. Die Bahnwärter hatten den Zaren
Nikolaus aufgehängt.
Am Ernst-August-Platz marschierte ein ausrückendes
Regiment vorbei. Die Soldaten sangen, Frauen und Mädchen
hatten sich in ihre Reihen gedrängt und sie mit Blumen
geschmückt. Ich habe seitdem noch manche begeisterte
Volksmenge gesehen, keine Begeisterung war so tief und
mächtig wie an jenem Tag. (1, 542f.)
Ein überraschend nüchterner Bericht! Von dem vielberufenen Massentaumel
ist zwar am Rande die Rede, von einem Taumel des eigenen Herzens
hingegen nicht. Der Handwerker auf dem Dach läßt den eben erhobenen
Hammer nicht etwa mit einem kraftvollen Schlag, der schon dem Feind
gegolten hätte, auf das Gebälk krachen; er legt ihn »ganz sacht« weg: ein
lieb gewordenes Werkzeug, das er vielleicht nie wieder in die Hand nehmen
wird. Die Bauern zeigen keine Begeisterung, vielleicht nicht nur aus
angeborener Erdenschwere, sondern weil sie sich Sorge machen, wie die
Ernte eingebracht werden kann, wenn die tüchtigsten Männer und ein Teil
der Pferde eingezogen werden; man weiß heute aus vielen anderen Quellen,
daß die Kriegsbegeisterung, die in den Städten ausbrach, auf dem Land
keinen großen Widerhall fand. Und der Autor selbst? Kein Wort von
nationalistischer Begeisterung, von patriotischem Pflichtbewußtsein oder
von politisch motivierter Kriegswut, nur von einer Wandlung des
Gemeinschaftsgefühls, das durch die Mobilisierungsnachricht eingeleitet
und auf dem gewiß etwas alkoholisierten Rückweg vom Dorfkrug durch
Soldatenlieder vertieft wird. Erwägungen, die dem Entschluß, sich als
Kriegsfreiwilliger zu melden, vorausgegangen wären, werden nicht
mitgeteilt; der Entschluß, am Krieg teilzunehmen, scheint für Jünger so
selbstverständlich gewesen zu sein wie für einige hunderttausend andere
junge Männer, die glaubten, gar nicht anders zu können. Carl Zuckmayer hat
dieses Gefühl des Nicht-anders-Könnens, das offensichtlich wie ein Bann
auf den meisten jungen Männern lag, in seiner 1966 erschienenen
Autobiographie Als wär’s ein Stück von mir in Erinnerung gerufen. Er
schreibt:
Da und dort traf ich [nach der Plakatierung des
Mobilmachungsbefehls] Schulkameraden oder Freunde aus
der Nachbarschaft, und auch das gehörte zu dem
Unfaßlichen: wir sprachen kaum miteinander, wir berieten
uns nicht, wir schauten uns nur an, nickten uns zu, lächelten:
es war gar nichts zu besprechen. Es war selbstverständlich, es
gab keine Frage, keinen Zweifel mehr: wir würden mitgehen,
alle. Und es war – das kann ich bezeugen – keine innere
Nötigung dabei, es war nicht so, daß man sich etwa vor den
anderen geniert hätte, zurückzubleiben. Man kann vielleicht
sagen, daß es eine Art von Hypnose war, eine
Massenentscheidung, aber es gab keinen Druck dabei, keinen
Gewissenszwang. Auch in mir, der ich am vorletzten Abend
[in der holländischen Sommerfrische] noch zu einer
Holländerin gesagt hatte: »Nie werde ich in einen Krieg
gehen!«, war nicht mehr der leiseste Rest einer solchen
Empfindung.
Bei Jünger mag zu diesem kollektiven Gefühl, daß die Teilnahme am Krieg
für seinesgleichen selbstverständlich sei, hinzugekommen sein, daß er sich
auf diese Weise endlich der verhaßten Schule entziehen konnte. Dies gelang
ihm denn auch, und zwar mit einem Erfolg, der in Friedenszeiten fraglich
gewesen wäre. In seinem Bericht über den Kriegsausbruch heißt es weiter:
Am nächsten Morgen [also am Montag, dem 3. August]
begab ich mich zur Kaserne des 74. Infanterie-Regiments, die
ich bereits von Tausenden von Freiwilligen belagert fand. Es
war ganz unmöglich, vorzudringen. Erst am dritten Tage [also
am 4. August, an dem der Vormarsch über die belgische
Grenze begann] gelang es mir, beim Füsilier-Regiment 73
anzukommen, wo man mich tauglich fand und in die Listen
einschrieb. Als die Aufnahme erledigt war, rief mir der
Schreiber noch nach: »Was sind Sie? Oberprimaner? Wollen
Sie auch Abitur machen?« Dies war eine Sorge, die ich im
Eifer ganz vergessen hatte; sie kam mir auch nicht mehr so
wichtig vor. Immerhin ließ ich mir einen Schein ausstellen
und wurde mit einigen Leidensgefährten fünf Tage lang
schriftlich und mündlich examiniert. Die Prüfung war
natürlich milde, und es war eigentlich weniger schwierig, sie
zu bestehen, als durchzufallen, obwohl dies einem
Unglücksraben unter uns wirklich gelang. Nachdem ich mich
noch in die Matrikel der Heidelberger Universität hatte
einschreiben lassen, war ich alle Sorgen los. (1, 543)
»Kummer« bereitete in den nächsten Wochen allein der rasche Vormarsch
der deutschen Truppen, die schon viereinhalb Wochen nach dem Beginn des
Feldzugs, am 5. September, bei Meaux bis auf etwa vierzig Kilometer an
Paris heranrücken konnten, so daß die Einnahme von Paris nur noch eine
Frage von Tagen zu sein schien. Dann kam es freilich zum sogenannten
»Wunder« oder »Drama an der Marne«: Die zurückgewichenen
französischen Truppen konnten in eine Lücke zwischen den deutschen
Armeen eindringen und deren Vormarsch im Zusammenwirken mit ihren
englischen Verbündeten stoppen, ja die deutschen Truppen zum Rückzug auf
die Aisne-Linie zwingen. Damit begann der Feldzug zum Stellungskrieg zu
werden. Jünger mußte keine Angst mehr haben, nicht mehr zum Zug zu
kommen und um die »Männertaufe« durch pfeifende Kugeln gebracht zu
werden. Und endlich kam auch der Befehl, sich am 6. Oktober bei der
Truppe einzufinden.
Über den Beginn des Ersten Weltkriegs und seine Meldung als
Freiwilliger hat sich Jünger im Lauf seines Lebens mehrfach geäußert; der
zitierte Erinnerungstext von 1934 ist nur die ausführlichste und bündigste
Schilderung seines Eintritts in den Krieg. In deskriptiver Hinsicht gibt es
keine bemerkenswerten Differenzen zwischen den verschiedenen
Erinnerungen an den August 1914, wohl aber in der Wertung. So betont
Jünger im Wäldchen 125, das – im Druck auf 1925 datiert – wohl im Herbst
1924 erschien, sehr viel stärker als in dem Erinnerungstext von 1934 das
Gemeinschaftserlebnis der Mobilmachungstage, schreibt ihm einen
religiösen Charakter zu und behauptet, daß es »die Erlösung von einem
Leben ohne tiefere Ziele« gebracht habe (W1, 153; ab der 6. Auflage
gestrichen). Daran dürfte ein Stück subjektiver Wahrheit sein: Jünger mag
im Krieg tatsächlich die Möglichkeit gesehen haben, seiner Abenteuerlust,
die ja aus einem Überdruß an der Banalität des bürgerlichen Lebens
resultierte, in dem Bewußtsein nachgehen zu können, sie diene nun einem
höheren geschichtlichen Sinn. Im übrigen aber ist die Emphase, mit der
Jünger im Wäldchen 125 den Beginn des Ersten Weltkriegs beschwört, im
Kontext seines Versuchs zu sehen, den August 1914 im Sinne eines »neuen
Nationalismus« als Ausgangspunkt einer nationalen Erneuerung erscheinen
zu lassen. Im August 1914 war Jünger von diesem Nationalismus noch weit
entfernt, und seine patriotische Begeisterung hielt sich durchaus in Grenzen;
noch im Oktober 1922 erinnert er sich in einem Brief an den Bruder
Friedrich Georg daran, daß er es nur »drollig« fand, als sich die
Hannoveraner plötzlich mit »Gott strafe England« grüßten. Auch andere
Zeugnisse deuten darauf hin, daß Jünger vor dem Ersten Weltkrieg eine eher
kosmopolitische Einstellung hatte, eine »Weltanschauung«, wie er 1923 den
Protagonisten seiner Erzählung Sturm sagen läßt, »die irgendwie über das
Nationale hinausgriff« (15, 37). Schließlich ist auch in Jüngers
Kriegstagebüchern von nationaler Emphase wenig zu spüren, und noch
weniger von Begeisterung für die Monarchie und das kaiserliche Regiment;
dieses wird wegen seiner verfehlten Kriegsführung vielmehr zunehmend
zum Gegenstand von Kritik.
»Sei gesegnet ernste Stunde«: poetische
Mobilmachung

Wer im August 1914 nicht so genau wußte, aus welchen Gründen und für
welche Ziele er in den Krieg zog, konnte es sich allenthalben sagen lassen
und bald auch vielfach lesen. Der Erste Weltkrieg wurde sogleich auch zu
einem »Krieg der Geister«, wie der Titel einer bereits 1915 publizierten
»Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege« lautete: ein
Krieg, der von einer heute schwer faßbaren »geistigen Mobilmachung«
(Kurt Flasch) begleitet wurde, die speziell auch eine »poetische
Mobilmachung« (Julius Bab) war. Schuldirektoren und Professoren hielten
schwungvolle Reden, mit denen sie die ausmarschierenden Abiturienten und
Studenten verabschiedeten und die Bevölkerung auf den Krieg einschworen;
der Philosoph und Nobelpreisträger Rudolf Eucken ergriff allein im ersten
Kriegsjahr sechsunddreißigmal das Wort, um über »die sittlichen Kräfte des
Krieges« und die »weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes« zu
reden (so die Titel zweier Reden aus den Mobilisierungswochen). Pfarrer
und Lehrer, arrivierte Autoren und unbekannte Dilettanten griffen zur Feder,
um ihre Zustimmung zum Krieg in Verse zu fassen und publik zu machen,
unter ihnen beispielsweise ein gewisser »Berthold Eugen« (Brecht), der drei
Jahre zu jung war, um schon mit ausrücken zu können, dafür aber den
Ausmarsch der Augsburger Garnison mit durchaus heroischen
Zeitungsartikeln begleitete und in Gedichten vom »heiligen Gewinn« des
tödlichen Geschehens sprach. Was auf diese Weise an Reden, Artikeln und
Gedichten zusammenkam, füllte Bibliotheken; bis Ende 1914 sollen allein
schon 235 Bändchen mit Kriegsgedichten erschienen sein, und die Zahl der
gedruckten Reden und Abhandlungen ging bald in die Tausende. Das erste
Kriegsgedicht eines renommierten Lyrikers, Richard Dehmels Lied an alle,
erschien am 4. August in der Frankfurter Zeitung:
Sei gesegnet ernste Stunde,
Die uns endlich stählern eint;
Frieden war in aller Munde,
Argwohn lähmte Freund wie Feind –
Jetzt kommt der Krieg,
Der ehrliche Krieg!
Dumpfe Gier mit stumpfer Kralle
Feilschte um Genuß und Pracht;
Jetzt auf einmal ahnen alle,
Was uns einzig selig macht –
Jetzt kommt die Not,
Die heilige Not!

Feurig wird nun Klarheit schweben


Über Staub und Pulverdampf;
Nicht ums Leben, nicht ums Leben
Führt der Mensch den Lebenskampf –
Stets kommt der Tod,
Der göttliche Tod!

Gläubig greifen wir zur Wehre,


Für den Geist in unserm Blut;
Volk, tritt ein für deine Ehre,
Mensch, dein Glück heißt Opfermut –
Dann kommt der Sieg,
Der herrliche Sieg!
Manches von dem, was »in dieser großen Zeit«, wie Karl Kraus am 19.
November 1914 in seiner ersten kriegskritischen Rede sarkastisch sagte, zu
Papier gebracht wurde, ist als Ausdruck einer wochenlang aufgestauten
Erregung verständlich. Anderes zeugt von einem völligen Verlust
rhetorischer wie intellektueller Selbstkontrolle und wirkt nachgerade
erschütternd. Während Deutschland für seine vermeintlich hehren Ziele und
Tugenden überschwenglich gerühmt wurde, unterstellte man den
Nachbarländern, die nun zu Feinden geworden waren, jede Niedertracht. So
schilderte Arnold Zweig in seiner Erzählung Die Bestie, die bald nach dem
völkerrechtswidrigen und von Kriegsverbrechen begleiteten Einmarsch nach
Belgien entstand und gegen Ende des Jahres 1914 publiziert wurde, auf eine
geradezu brutale Weise, wie ein belgischer Bauer drei deutsche Soldaten, die
bei ihm Quartier genommen haben, ermordet und ausweidet:
Einem nach dem andern durchschnitt er rasch und obenhin
kalt, innerlich glühend, den Hals über dem Adamsapfel,
vermied den heißen roten Guß, der aufsprang, und warf sich,
als der dritte, zu hinterst liegend, von dem Röcheln und
Zappeln der Sterbenden ein Viertel erweckt, vergeblich
versuchte sich aus der Betäubung zu retten, auf ihn mit einem
Sprunge der Raserei, der ihm das Messer durchs Herz trieb,
so daß die Spitze, hinten heraustretend, sich an den Ziegeln
des Fußbodens verbog. Schnell schleppte er nun das große
Schaff herein, in dem er das Schweineblut aufzufangen
pflegte, und lehnte die Körper über seine Kante, so daß sie
sich, die Köpfe schief an den Muskeln der Halswirbel
hängend, reinlich ausbluten konnten. […] Er schloß die
Kammer ab, stieg aufwärts, scheuerte den Fußboden des
Zimmers bis er ganz sauber lag, streute weißen Sand und
wartete daß es trockne, indes er achtsam die Kleider der
Soldaten durchsuchte und außer vielen nützlichen
Gegenständen drei viereckige Ledertäschchen fand, die man
wohl um den Hals gehängt trug, und darin ziemlich viel
deutsches Geld, Gold, Silber und Papier, von dem er wußte,
daß es mehr wert sei als die heimischen Francs. […] Noch
immer wach wie am Vormittag kehrte er in den Keller zurück,
in die Kammer, die nach Tod roch, besah seine Opfer
aufmerksam, hatte einen Einfall, band sich die
Schlächterschürze um und nahm ihnen aus der geöffneten
Bauchhöhle die Eingeweide heraus, die Lunge, das Herz […],
warf das Herausgelöste in die Wanne und trug das Ganze
schließlich in den Schweinestall, schüttete es in den Trog und
sah befriedigt zu, wie die Tiere gierig fraßen.
Arnold Zweig war, als er dies schrieb, sechsundzwanzig Jahre alt und
begierig, mit in den Krieg zu ziehen, wurde aber wegen seiner
Kurzsichtigkeit und Schmächtigkeit zurückgestellt. Später kam er bei
Verdun wie an der Ostfront zum Einsatz und wurde zum Antimilitaristen; die
beiden Romane Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) und Erziehung
vor Verdun (1935), in denen Zweig seine Erfahrungen verarbeitete, sind
eindrucksvolle Antikriegsromane. Bis zu seiner »Umerziehung« vor Verdun
war Zweig jedoch ein strammer Vertreter der deutschen Kriegsideologie.
Neben der Erzählung Die Bestie, die eigentlich als literarische
Greuelpropaganda zu bezeichnen ist, erschien im Dezember 1915 in den
Süddeutschen Monatsheften ein Aufsatz von Zweig (allerdings ohne
Nennung des Verfassers), der sich unter der Überschrift Kriegsziele
vorbehaltlos zu den deutschen Ansprüchen und Militäraktionen bekennt.
Zweigs Schriften aus den ersten beiden Kriegsjahren sind indessen nur ein
Beispiel für die heute unfaßbare Fanatisierung und Brutalisierung des
Denkens in jener Zeit.
Zum Kern der deutschen Kriegsideologie wurden die »Ideen von 1914«,
die nach Kriegsbeginn von einigen wirkungsmächtigen Professoren und
Publizisten – dem Ökonomen Johann Plenge, dem Wirtschaftshistoriker
Werner Sombart, dem protestantischen Theologen Ernst Troeltsch und dem
schwedischen Politologen Rudolf Kjellén – entwickelt und ausdrücklich
gegen die »Ideen von 1789« gestellt wurden, also gegen die für die Moderne
fundamentalen Vorstellungen von individueller Freiheit, von prinzipieller
menschlicher und rechtlich-politischer Gleichheit sowie von klassen- und
völkerübergreifender Solidarität. Zusammenfassend können die »Ideen von
1914« folgendermaßen umrissen werden: (1.) Der Krieg ist der in der
göttlichen Weltordnung vorgesehene Moment, in dem – 1914 so gut wie
etwa 1813, dem Beginn der antinapoleonischen »Freiheitskriege«, oder
1756, dem Beginn des Siebenjährigen Kriegs – die erschlafften Lebenskräfte
sich wieder anspannen und durch die Bewährung im Kampf erneuern. (2.)
Der Krieg wird dadurch zu dem Moment, in dem das deutsche Volk seine
spezifische historische Mission erfüllen kann. Diese besteht in der Rettung
des Lebens und der »echten« Kultur vor dem Ersticken in der modernen
westlichen Zivilisation. Damit war auch gesagt, daß sich in diesem Krieg
»Kultur« und »Zivilisation« gegenüberstanden, und das heißt in
weltanschaulicher Hinsicht: Glaube gegen Wissen, Idealismus gegen
Rationalismus, Herz gegen Kopf; in sozialethischer Hinsicht: Kulturwille
gegen Krämergeist, Tatenlust gegen Advokatenlist, soldatischer Wagemut
gegen bürgerliches Sekuritätsbedürfnis, Opfergesinnung gegen
Luxusstreben, Todesbereitschaft gegen Lebensverhaftung; und in politischer
Hinsicht: Gemeinschaft gegen Gesellschaft, Rangordnung gegen Gleichheit,
Gehorsam gegen Freiheit, Monarchie gegen Demokratie. Die
nationalistischen Illusionen, die in diesen Vorstellungen walten, muß man
heute nicht mehr entlarven, ebensowenig die antiliberalen, antimodernen und
antiwestlichen Affekte, die sich in den »Ideen von 1914« artikulierten. Sie
wirken heute nicht nur befremdlich, sondern lächerlich; damals aber fanden
sie Anklang bei Dichtern und Denkern von Rang und Namen – und sie
behielten ihre Wirkungskraft noch weit über den Ersten Weltkrieg hinaus.
Das Beispiel Thomas Mann

Der prominenteste und beredteste literarische Vertreter der »Ideen von


1914« war Thomas Mann. Von der Teilnahme am Krieg blieb der 1875
geborene Autor verschont, obwohl sein Jahrgang durchaus noch eingezogen
wurde. Bei einer ersten Musterung zu Beginn des Kriegs wurde Mann
zurückgestellt; eine Nachmusterung am 11. November 1916 brachte die
endgültige Freistellung wegen Magenschwäche und Nervosität. Aber Mann
wollte durchaus seinen Beitrag zu dem »großen, grundanständigen, ja
feierlichen Volkskrieg« leisten, und so entdeckte er sich als Künstler-Soldat
und widmete sich für die Dauer des Kriegs fast ausschließlich dem
»Gedankendienst«, also der Verteidigung und Rechtfertigung des
»deutschen« Kriegs durch eine Reihe von Essays, die ungefähr im
Vierteljahresturnus publiziert wurden. Bereits im November 1914 erschienen
die Gedanken im Kriege, die sagen, worum es in diesem Krieg geht:
Deutsche »Kultur«, also »Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack«
und »stilvolle Wildheit«, steht gegen westliche »Zivilisation«, also
»Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptizismus, Auflösung«
und »Geist«. Und das Deutschland Luthers und Kants und Friedrichs des
Großen muß gegen die »Zwangszivilisierung«, die ihm droht, verteidigt
werden. Im Februar 1915 folgte Friedrich und die große Koalition, eine
Erinnerung an den rücksichtslosen Wagemut und die »ans Barbarische«
grenzende Angriffslust des Preußenkönigs:
Er verachtet die verschanzte Stellung, die sonst in so hohen
Ehren stand. Die Schlacht um jeden Preis! Den Feind zur
Bataille zwingen! »Bataillen gehören dazu, um zu
dezidieren.« Angriff, Angriff! Attaquez donc toujours! Der
Bajonettangriff ist seine Passion, er hat seine Ausführung
zuerst geregelt. Nicht überflüssig schießen, vor allem nicht zu
früh! Auf zwanzig, auf zehn Schritt vom Feinde ihm »eine
starke Salve in die Nase geben und darauf sofort demselben
mit den Bajonetts in die Rippen sitzen.«
Dann, im Mai 1915, der Brief an die Zeitung »Svenska Dagbladet«,
Stockholm, der im Juni auch in Deutschland publiziert wurde: eine
Verteidigung gegen den Vorwurf, daß Deutschland böswillig den Krieg
herbeigeführt habe:
Ein wenig Mut zur Geistesklarheit, meine Herrschaften! Zum
Kriegführen gehören zwei oder mehrere, und wenn nur
Deutschland bereit gewesen wäre, es auf die ultima ratio
ankommen zu lassen, wenn nicht auch die anderen den Krieg,
wie die korrekte Redensart lautet, »in ihren Willen
aufgenommen« gehabt und ihn einem diplomatischen Erfolge
Deutschlands begeistert vorgezogen hätten, – nun! so wäre er
nicht gekommen! Hatten nicht alle ihre Hoffnungen und
Wünsche? Waren nicht alle am Krieg interessiert? Rußland
wollte Konstantinopel und das offene Meer gewinnen,
Frankreich die verlorenen Provinzen zurückerobern, England
die deutsche Konkurrenz zu Boden schlagen, und alle
miteinander gaben sich der innigen Hoffnung hin,
Deutschland unschädlich zu machen.
Die Unterscheidung zwischen Offensiv- und Defensivkrieg sei in diesem
Fall einfältig oder heuchlerisch. Und im übrigen gelte, »daß es nur für die
Tapferkeit und den Menschenstolz eines Volkes spricht, wenn es frei zu
wollen sich entschließt, was das Verhängnis ihm zu wollen auferlegt«, auch
wenn man dabei schuldig werden sollte: »Welche Duckmäuserei, durchaus
nicht schuldig werden, nicht schuldig sein zu wollen!« Zum Jahrestag der
Mobilmachung, zum 1. August 1915, folgten die Gedanken zum Kriege:
eine erneute Beschwörung des deutschen Siegs und damit der deutschen
Mission:
Nach einem Jahre stellt sich heraus, daß Deutschland geistig
gesiegt hat, bevor noch die Entscheidung der Waffen fiel; daß
seine Feinde sich ideell entwaffnet fühlen, bevor sie es
physisch sind. Ihr Losungsruf hat gewechselt, er lautet nicht
mehr: »Gegen den Militarismus!« Er lautet: »Das deutsche
Beispiel!« »Wir müssen Deutschland nachahmen!«
»Organisation!«
Ab Herbst 1915 entstanden die Betrachtungen eines Unpolitischen, von
denen einige Teile separat publiziert wurden, bevor das Ganze im Herbst
1918 in Buchform erschien: eine trotzige Beschwörung und ausufernde
Amplifikation der »Ideen von 1914« kurz vor dem Zusammenbruch. Noch
einmal wird der Gegensatz zwischen »Kultur« und »Zivilisation«
aufgemacht und breit entfaltet. Noch einmal wird ein Zerrbild der westlichen
Zivilisation gegeben:
Gesetzt, die Entente hätte rasch und glänzend gesiegt, die
Welt wäre vom deutschen »Alpdruck«, dem deutschen
»Protest« befreit worden, das Imperium der Zivilisation hätte
sich vollendet, [wäre] oppositionslos übermütig geworden:
das Ergebnis wäre ein Europa gewesen, – nun, ein wenig
drollig, ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-
elegant, ein Europa, schon etwas allzu »menschlich«, etwas
preßbanditenhaft und großmäulig-demokratisch, ein Europa
der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und
Lusteuropa à la Edward the Seventh, ein Monte-Carlo-
Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte.
Zudem würde ein Sieg der »Weltentente der Zivilisation« die Politisierung
und Demokratisierung Deutschlands bedeuten, was dem Verfasser der
Betrachtungen nicht weniger zuwider ist als das Pariser Kokottentum:
Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche
die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik
bewirkt. […] Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit,
Ordnung und Anstand.
Diese Haltung resultiert nun aber nicht etwa aus einer subjektiven
Abneigung gegen Politik und Demokratie (was bei Thomas Mann dasselbe
meint), sondern aus dem Umstand, daß Politik, daß Demokratie aufgrund
des Aristokratismus des deutschen Volkes objektiv »etwas Undeutsches,
Widerdeutsches« ist. Wenn für die Deutschen eine andere Gesellschaftsform
als die Monarchie in Frage kommt, so ist es für Mann der »Volksstaat« oder
eine Art von »Staatssozialismus«, der freilich »etwas anderes ist als der
menschenrechtlerisch-marxistische«. Um diese seine aristokratisch-
unpolitische Eigenart und Kultur zu verteidigen, war Deutschland
legitimiert, jedes Mittel anzuwenden: Sowohl die völkerrechtswidrige
Okkupation des neutralen Belgien als auch die empörende Versenkung des
britischen Passagierdampfers »Lusitania«, bei der 1198 Menschen einen
schrecklichen Tod fanden, werden vom Verfasser der Betrachtungen
gerechtfertigt: »Not vor Recht«, sagte er schon in seinem Brief an die
Zeitung »Svenska Dagbladet«, und in den Betrachtungen verweist er auf
Nietzsche, der in Menschliches, Allzumenschliches bemerkte, daß – Zitat aus
dem Aphorismus I/477 »Der Krieg unentbehrlich« – »eine solche hoch
kultivierte und daher notwendig matte Menschheit, wie die jetzige Europas,
nicht nur der Kriege, sondern der größten und furchtbarsten Kriege – also
zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der
Kultur ihre Kultur und ihr Dasein selber einzubüßen«. Im übrigen glaubte
Thomas Mann, der nie einen Kampfplatz oder ein Lazarett besucht hatte, zu
wissen, daß der Krieg nicht nur Elend und Barbarei bedeute, sondern auch
seine erhabene Menschlichkeit und seine förderlichen Seiten habe. Es ist
allerhand, Hellsichtiges und Verstiegenes, was dem Verfasser der
Betrachtungen am Schreibtisch seiner Münchener Villa oder seines Tölzer
Landhauses durch den Kopf ging, aber die Lektüre lohnt sich, wenn man
wissen will, wie man damals über den Krieg philosophieren konnte, und
wenn man eine Folie für eine zeitgemäße Einschätzung von Ernst Jüngers
Kriegsschriften gewinnen will. – Thomas Mann also:
Menschlichkeit ist selbstverständlich. Wenn ich im Felde
wäre, wenn ich die Greuel der Verwüstung mit meinen Augen
sähe, sehen müßte das irrsinnige Zerreißen der
Menschenkörper, hören die gewürgten Stimmen der
Milchbärte, die die Erlaubnis erbettelten, Freiwillige zu
werden, und im Trommelfeuer, kindlich versagend, »Mutter!
Mutter!« schreien, – glaubt man, ich bliebe hart, bliebe
›patriotisch‹, bliebe ›stimmungsvoll‹ und wäre der Roheit
fähig, ›meinem Blatt‹ einen journalistisch-brauchbaren
Bericht zu liefern? Und doch, wenn der Krieg als
Wirklichkeit unmittelbar auf meine Nerven wirkte, – würde
ich gegen die Zerrüttung, die grenzenloses Erbarmen und
eigene Todesangst meinem Herzen zufügen würden, nicht ein
wenig mißtrauisch bleiben? Würde ich mich nicht erinnern,
daß die zehntausendfache Multiplizierung des Todes eine
Illusion ist, daß der Tod die individuellen Grenzen in
Wirklichkeit nicht verläßt, daß der einzelne immer nur seinen
Tod stirbt, nicht auch den der anderen? Der Tod wird nicht
schrecklicher dadurch, daß er sich für unsere Augen
verzehntausendfacht. ›Menschlichkeit‹ hindert nicht, daß wir
alle zum bitteren Tode verurteilt sind; und es gibt Bett-Tode,
so gräßlich wie nur irgendein Feldtod. Auch ist jedes Herz
nur eines begrenzten Maßes von Schrecken fähig, – worüber
hinaus anderes beginnt: Stumpfheit, Ekstase, oder noch etwas
anderes, der Einbildungskraft des Unerfahrenen nicht
Zugängliches, nämlich Freiheit, eine religiöse Freiheit und
Heiterkeit, eine Gelöstheit vom Leben, ein Jenseits von
Furcht und Hoffnung, das unzweifelhaft das Gegenteil
seelischer Erniedrigung, das die Überwindung des Todes
selbst bedeutet. Ich öffne wieder den Brief eines jungen
Reserve-Leutnants von der flandrischen Front, eines
Studenten sonst und Poeten, und lese nach, was mich bei
erster Einsicht so sehr erschütterte. »Angesichts dieser
unermeßlichen Übermacht des Todes«, schreibt er, »bei
diesem vollkommenen Hilflossein im Trommelfeuer tage-
und nächtelang, meist bei Regen, in offenen Trichtern, in der
grauenhaften Öde, dem Höllenlärm der Abwehrzone, wird
der einzelne leicht fröhlich, nicht verzagt; so ganz frei aller
Sorgen ist man, so los von der Erde, hoffnungslos, doch
unbeschwert! […] Ich bin fröhlich wie unsere Leute, die sich
mit 39° Fieber und schweren Lungenentzündungen auch noch
nicht krank melden. Merkwürdig, gegenüber diesen
unermeßlichen Zumutungen an Leiden und Strapazen möchte
man lachen, so frei von allen Sorgen, aller Verantwortung ist
man, so ganz in der Hand Gottes.«
Lehrt nicht dieser Brief, daß die Seele des Menschen nicht
umzubringen, nicht zu entwürdigen ist, daß ihre wahre Kraft
und Hoheit sich erst im Leiden ganz bewährt? Unzweifelhaft
handelt es sich bei jenen Trichterbewohnern, die bei 39°
Fieber die humanitäre Möglichkeit, sich krank zu melden,
ablehnen und ihren ungeheuerlichen Zustand dem
Lazarettleben vorziehen, um einen Rausch, eine über alle
Erfahrung des zivilisierten Lebens hinausgehende Steigerung
des Lebensgefühls. Aber wer wäre so philiströs, den Rausch
untermenschlich zu nennen? Und wer beneidete nicht den
Verfasser des angeführten Briefes um sein Erlebnis der
Freiheit?
Die exzentrische Humanität des Krieges beleidigt den
humanitären Sinn und stößt ihn ab, wie der Anblick eines
Berauschten und Verzückten den Nüchtern-Vernünftigen
beleidigt und abstößt. […] Möge aber ferner der Krieg die
physische und seelische Lebensform des einzelnen sogar tief
unter die gewohnte Zivilisationsstufe hinabdrücken, – von
seiner verrohenden Wirkung zu sprechen wäre offenbar
dennoch falsch. Es kann, nach der Aussage
vertrauenswürdiger Beobachter, von individueller Verrohung
durch den Krieg, ins Große gerechnet, durchaus nicht die
Rede sein. Nach ihnen liegt die Gefahr vielmehr in einer
Verfeinerung des einzelnen Mannes durch ein so langes
Kriegsleben, einer Verfeinerung, geeignet, ihn seinem Alltag
auf immer zu entfremden. Man braucht die äußere
Erweiterung des Horizonts nicht in Anschlag zu bringen, die
der Bauer oder Arbeiter erfuhr, indem die Zeit ihn in
Gegenden und unter Menschen trug, die als Wirklichkeit zu
begreifen er sich nie hätte träumen lassen: In seinem tiefsten
Innern als ein anderer wird er nach Hause zurückkehren und
es schwer haben, sich in der kleinlichen Enge des Alltags
wieder zurechtzufinden. Es ist nicht Dichtereinbildung
erforderlich, um ahnungsweise zu ermessen, welche seelisch-
geistige, religiöse Erhöhung, Vertiefung, Veredelung die
jahrelang-tägliche Nähe des Todes im Menschen
hervorbringen – welche nervösen Veränderungen sie zeitigen
muß oder doch kann. Das kümmerliche Weib des aus der
Welt heimkehrenden Kriegers wird einen anderen Mann
wiederempfangen als den, der auszog; nur auf den ersten
Blick wird sie ihn wiedererkennen, wird vielleicht bald Scheu
vor ihm empfinden, ihn sonderbar finden – und er wäre ein
Sonderling, wenn die Genossen seines Schicksals nicht so
zahlreich wären. Wird er noch Geschmack an ihr finden?
Wird sie seinen Nerven noch genügen? Er ist durch den Krieg
an Freiheit und materielle Sorglosigkeit gewöhnt, – welche
den Boden ausmachen, auf dem höhere Menschlichkeit,
nervöse Kultur gedeihen. Er hat ein außerordentliches Leben
geführt, – das oft grauenhaft war, oft auch von abstumpfender
Schwere, aber auch hochgespannt, exzentrisch, tausendfach
erschütternd und bildend, luxuriöse Gefühle, hohe
Kameradschaft, innige Frömmigkeit und was wissen wir noch
ausbildend. Wie wird ihm das Zuhause gefallen, das eng,
niedrig, kleinlich-sorgenvoll geblieben ist und wo er nun
ohne Gefahr und Luxus, mit der Bürgerlichkeit als Ideal,
wieder leben soll? Was ich da andeute und manches andere,
was zusammen damit angedeutet sein soll, ist gewiß
bedenklich genug; aber mit Verrohung hat es durchaus nichts
zu tun, sondern würde vielmehr eine Erhöhung, Steigerung,
Veredelung des Menschlichen durch den Krieg bedeuten. -
So geht es noch eine Seite lang weiter, doch mag das Zitierte genügen, um
zu sehen, mit welchen Sophismen man dem Krieg auch nach drei Jahren des
grausamen Verwundens und Tötens noch positive Seiten abgewinnen
konnte. Die 1914 entfaltete Kriegsideologie, die, wie eingangs bemerkt, weit
zurückreichende Wurzeln hat, immunisierte gegen die Wahrnehmung und
angemessene Einschätzung der furchtbaren Destruktivität des Kriegs, und
die ästhetizistische »Sympathie mit dem Tode«, zu der sich Thomas Mann in
der Vorrede der Betrachtungen wie gegen Ende des Tugend-Kapitels
bekannte, tat ein übriges. In der zweiten Auflage, die 1922 erschien, hat
Thomas Mann den Abschnitt über die »exzentrische Humanität des Krieges«
komplett gestrichen, ebenso den anschließenden Abschnitt über einen
Leutnant, der das »Glück« hatte, durch einen langen Lazarettaufenthalt in
einen Freund der Schönen Literatur verwandelt zu werden.
Über die Motive, die Mann zu diesen Streichungen veranlaßt haben, kann
man nur mutmaßen. Vielleicht geschah es aus Scham darüber, daß er dies
fern aller eigenen Erfahrung geschrieben hatte, vielleicht aber auch, weil er
in den zwischenzeitlich verstrichenen Jahren hatte beobachten können, wie
recht er mit seinen Überlegungen – leider – hatte, und wie unrecht zugleich.
Recht hatte er mit der Vermutung, daß es vielen der heimkehrenden Soldaten
und zumal der Offiziere schwerfallen würde, sich wieder ins bürgerliche
Leben zu fügen; unrecht hatte er mit seiner Meinung, daß mit dieser
Entfremdung von der Bürgerlichkeit kulturelle »Verfeinerung« und
menschliche »Veredelung« verbunden sein würden. Die
antirepublikanischen Umtriebe und Gewalttaten der abgedankten Offiziere,
die sich in Freikorps und Geheimorganisationen zusammenschlossen,
dürften Thomas Mann stutzig gemacht haben, zumal er sich um 1920 mit der
Republik anzufreunden begann und 1922 mit seiner Berliner Rede Von
deutscher Republik ein emphatisches Bekenntnis zum neuen Staat ablegte. In
Ernst Jünger, der den »Großen Krieg« gerade so sehen mochte, wie der
Verfasser der Betrachtungen ihn gesehen hatte, sollte er einen
paradoxerweise geistesverwandten Antipoden finden. Jünger wird die
Betrachtungen in den Anfangsjahren der Weimarer Republik lesen und sie
als Anregung und Vorgabe für seinen »neuen Nationalismus« betrachten.
Thomas Mann stand mit seiner verstiegenen Verteidigung des Kriegs nicht
allein. Viele andere Beispiele wären zu nennen. Angeführt sei aber nur noch
Hugo von Hofmannsthal, weil sich bei ihm – wie bei Thomas Mann –
Denkfiguren finden, die auch in Jüngers Reflexion des Kriegs eine Rolle
spielen werden. Auch der 1874 geborene Hofmannsthal, der 1894/95 sein
Freiwilligenjahr bei dem k. u. k. Dragonerregiment 6 geleistet und danach
noch zweimal an Manövern teilgenommen hatte, durfte den Krieg von der
Heimat aus beobachten. Zwar erhielt er am 26. Juli die Einberufung zu
einem Landsturm-Feldregiment nach Pisino und mußte tatsächlich
ausrücken. Aber erwartungsgemäß war er bereits am 4. August wieder in
Wien, wurde aus gesundheitlichen Gründen vom Truppendienst freigestellt
und der Pressegruppe des Kriegsfürsorgeamts zugeteilt. Während der
Kriegsjahre schrieb er etwa zwanzig kleinere Aufsätze oder Artikel, in denen
er versuchte, den Sinn des Kriegs aufzuweisen und die Opfer, die für ihn
erbracht wurden, zu rechtfertigen.
Im Hinblick auf Jünger sind vor allem drei Vorstellungen von Interesse:
zunächst die Behauptung, daß das »große leidensvolle Erlebnis« des Kriegs
für die Gemüter eine reinigende und veredelnde Wirkung habe (in Aufbauen,
nicht einreißen, 1915); dann die Vorstellung, daß der Krieg »Arbeit«
darstelle (in Unsere Militärverwaltung in Polen, 1915) und die Soldaten
»Arbeiter des Krieges« seien (in Geist der Karpaten, 1915); schließlich auch
die romantisch-symbolistische Idee, daß die moderne Schlacht, die aufgrund
des ungeheuren Einsatzes von Menschen und Geräten völlig unübersichtlich
geworden sei, eine »geheime Chiffrenschrift« darstelle, die nur von wenigen
»höchsten Führern« gelesen werden könne und einer »geistigen Schöpfung«
bedürfe, damit sie für die »Mitkämpfer« die beobachtenden Zeitgenossen
überhaupt erst verständlich werde (in Die Taten und der Ruhm, 1915). Es ist
nicht anzunehmen, daß Ernst Jünger Hofmannsthals Kriegsschriften gelesen
hat; aber er wird sich – Symbolist auch er – just an dieser Übersetzungs- und
Sinngebungsaufgabe versuchen. So läßt er 1923 den Protagonisten seiner
Erzählung Sturm beim Anblick der »Kampfanlagen« an der Westfront
bemerken, daß dies nur »die Form, der augenblickliche Stil« sei, der das
»Eigentliche« des gewaltigen Geschehens nicht berühre und folglich auch
nicht unmittelbar erkennen lasse (15, 23).
»Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr«:
kriegskritische Wendung

Nicht bei allen Zeitgenossen hielt die Zuversicht in die militärische


Überlegenheit Deutschlands und in den kulturellen Wert des Kriegs so lange
vor wie bei Thomas Mann und anderen Vertretern der »Ideen von 1914«.
Die großen Verluste der Herbstoffensiven rüttelten das humanitäre
Bewußtsein wieder auf, und der Übergang zum Stellungskrieg, der die
Phrasen von einem raschen Sieg Lügen strafte, ließ die Befürchtung
aufkommen, daß der Krieg lange dauern, ungeheuer viel Leid mit sich
bringen und statt der erhofften menschlichen Erneuerung oder gar
»Veredelung« eine große Verrohung bewirken werde. Zu denen, die eine
solche skeptische Betrachtungsweise entwickelten, gehörte Sigmund Freud.
Auch er empfand den Kriegsbeginn zunächst als Befreiung, bekannte, daß
seine »ganze Libido« nun Österreich-Ungarn gehöre, und empfahl
»Neurotikern«, die angesichts einer drohenden Einberufung seinen Beistand
suchten, sich dem Dienst an der Gemeinschaft zu unterziehen; es würde
ihnen guttun. Im Verlauf des Winters begann Freud aber, an dem brutalen
Töten und massenweisen Sterben Anstoß zu nehmen. Er stellte sich die
Frage, welche mentalen Voraussetzungen dieses Morden ermöglichten und
was es kulturell, sozialpsychologisch und anthropologisch zu bedeuten hatte.
Mit einem Vortrag über das Thema »Wir und der Tod«, den Freud am 16.
Februar 1915 hielt, näherte er sich einer Antwort an. In vertiefter und
erweiterter Form gab er sie mit den beiden Essays Die Enttäuschung des
Krieges und Unser Verhältnis zum Tode, die im Frühjahr 1915 entstanden
und bald darauf in der Zeitschrift Imago unter der gemeinsamen Überschrift
Zeitgemäßes über Krieg und Tod publiziert wurden.
Die »Enttäuschung, die dieser Krieg hervorgerufen hat«, ist für Freud eine
doppelte. Sie besteht zum einen darin, daß es den europäischen
Kulturvölkern nicht gelungen war, ihre »Interessenkonflikte auf anderem
Wege zum Austragen zu bringen«, und daß sie statt dessen wie »primitive«
Völker den Krieg gewählt hatten. Und sie besteht zum andern darin, daß
dieser Krieg nicht etwa einem »ritterlichen Waffengang« gleicht, sondern
brutaler und gemeiner ist als jeder Krieg zuvor:
Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der
Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen
des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens
ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein
früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu
denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das
Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des
Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des
friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die
Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im
Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und
keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er
zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander
ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen,
welche ein Wiederanknüpfen derselben für lange Zeit
unmöglich machen wird.
Die Frage stellte sich, wie es zu diesem enttäuschenden Absturz von der
vermeintlich gesicherten Höhe der Kultur und der Humanität kommen
konnte und was dieser Fall anthropologisch zu bedeuten hatte. Freud gibt in
seinen beiden Essays mehrere einander ergänzende Anworten. Im ersten
Essay, Die Enttäuschung des Krieges, entwickelt Freud die These, daß die
»Kultureignung« der Menschen nicht so groß sei, wie angenommen wurde.
Zwar seien viele Menschen zum »Kulturgehorsam« gewonnen worden, seien
dabei aber nicht ihrer Natur oder ihren Triebregungen gefolgt, sondern
hätten diese unterdrückt und seien solchermaßen zu »Kulturheuchlern«
geworden. Das aber bedeutet, daß die »Enttäuschung« dieses Kriegs auf
einer »Illusion« oder Fehleinschätzung beruht, die zu korrigieren ist: »In
Wirklichkeit sind sie [die »Kulturheuchler« und Kriegsenthusiasten] nicht so
tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren,
wie wir’s von ihnen glaubten.« Im zweiten Essay, Unser Verhältnis zum
Tode, vertieft Freud diese Antwort, indem er mit geradezu schockierenden
Worten auf die tötungslüsterne Erbschaft des Menschen verweist. Über den
»Urmenschen« schreibt er:
Der Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung
des Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn
herbeizuführen. Er war gewiß ein sehr leidenschaftliches
Wesen, grausamer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete
gerne und wie selbstverständlich. Den Instinkt, der andere
Tiere davon abhalten soll, Wesen der gleichen Art zu töten
und zu verzehren, brauchen wir ihm nicht zuzuschreiben.
Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde
erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule
als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihe von
Völkermorden.
Und:
Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten,
macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen
Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die
Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.
Das, was der Krieg aus dieser Veranlagung macht, wird nun von Freud in
einer Weise beschrieben, die Punkt für Punkt an den Weltkriegsteilnehmer
Ernst Jünger denken läßt:
Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt
den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er
zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod
nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als
Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen
soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen
hinwegzusetzen.
Nicht nur diese Sätze über den regressiven Effekt des Kriegs finden
Entsprechungen in Jüngers Kriegsschriften; auch das, was Freud in seinem
zweiten Essay über die Voraussetzungen und Folgen des neuen,
kriegsbedingten Verhältnisses zum Tod schreibt, erinnert an Jünger und
zeigt, in welchem Maß dieser in seinem Verhalten wie in seinen literarischen
Reflexionen des Kriegs Produkt und zugleich Antipode des bürgerlichen
Lebensgefühls war. – Freud geht von der Beobachtung aus, daß die moderne
Kultur – anders als frühere, heroischere Epochen – dazu tendiert, den Tod als
ein zufälliges Unglück zu betrachten und ihn nicht mehr als eine
Notwendigkeit des Lebens zu akzeptieren:
Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in
Betracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich
sind wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder,
Experimente mit explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei
das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den
Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein
Unglück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der
Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele andere
Verzichte und Ausschließungen im Gefolge. Und doch hat der
Wahlspruch der Hansa gelautet: Navigare necesse est, vivere
non necesse! Seefahren muß man, leben muß man nicht.
Was durch diese Scheu vor dem Todesrisiko an Lebensintensität
verlorengeht, versucht der Kulturmensch nun freilich zu kompensieren:
Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt
der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die
Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu
sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen
anderen zu töten. Dort allein erfüllt sich uns auch die
Bedingung, unter welcher wir uns mit dem Tode versöhnen
könnten, wenn wir nämlich hinter allen Wechselfällen des
Lebens noch ein unantastbares Leben übrigbehielten. […].
Auf dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit von
Leben, deren wir bedürfen. Wir sterben in der Identifizierung
mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind
bereit, ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem
anderen Helden zu sterben.
Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, daß in Freuds Ausführungen ein
Psychogramm des jungen Ernst Jünger enthalten ist: des Lesers von
Abenteuerund Heldenbüchern, des Fremdenlegionärs, des
Weltkriegsteilnehmers und Kriegsschriftstellers. Jünger wird seine Helden-
und Abenteuerbücher in eben dem von Freud beschriebenen Sinn
verschlungen haben. Sie mögen ihn mit dazu disponiert haben, das
Todesrisiko zu mißachten oder, mehr noch, mit dem Risiko des Todes zu
»sympathisieren« (um die entsprechende Formulierung Thomas Manns
aufzugreifen). Es scheint, daß er an seinen eigenen Tod so wenig glauben
mochte wie an den von Old Shatterhand, der doch auch alle Kämpfe überlebt
haben mußte, um von ihnen berichten zu können – was Jünger von früh an
auch vorhatte: Nicht umsonst zog er mit einem Notizbuch in den Krieg und
bestückte es täglich mit Erinnerungsdaten. Und schließlich dürfte auch jenes
Gefühl des »Gefeit-Seins«, das sich während des Kriegs in ihm
herausbildete und das ihm ermöglichte, sich trotz mehrerer Verwundungen
immer wieder unerschrocken in gefährlichste Situationen zu begeben, durch
Reminiszenzen an Helden- und Abenteuerbücher genährt worden sein. Im
hohen Alter hat sich Jünger – in einer Journal-Notiz vom 19. April 1986 –
einmal gefragt, ob er »nicht im Grunde als Leser gelebt« und in der Welt
immer nur gesucht habe, was die Bücher versprachen: »Die Welt der Bücher
wäre dann die eigentliche, zu der das Erlebnis nur die erhoffte Bestätigung
darstellte – und diese Hoffnung würde stets enttäuscht« (21, 52).
Mit Freud ist nun aber noch zu fragen, was der Krieg im Hinblick auf die
kulturelle Verdrängung des Todes bedeutet. Die Antwort lautet: Der Krieg
hat den Tod und das Todesrisiko ins gesellschaftliche Bewußtsein
zurückgeholt. Täglich kommen Tausende ums Leben, und Zehntausende
sind stündlich vom Tod bedroht. Was dies für die Betroffenen, die Soldaten
und ihre Angehörigen mit sich bringt, weiß Freud aus eigener Erfahrung:
Zwei seiner Söhne, Martin und Ernst, stehen im Feld und sind immer wieder
in Gefechte verwickelt; ein weiterer Sohn, Oliver, ist als Ingenieur im
Einsatz. Ihr Schicksal ist Freuds Hauptsorge. Aber überraschenderweise
klagt er nun nicht über die Barbarei des massenweisen Tötens und die
Ängste um die Söhne, die er gewiß auch ausgestanden hat, sondern stellt
fest: »Das Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen
vollen Inhalt wiederbekommen.« Das hätte auch in den Betrachtungen eines
Unpolitischen stehen können – oder in den Stahlgewittern oder in Kampf als
inneres Erlebnis, wenngleich es zwischen diesen Schriften beträchtliche
Unterschiede gibt. Im übrigen hätte Jünger wohl dem größten Teil von
Freuds Beobachtungen und Diagnosen zugestimmt und sie nur teilweise
anders bewertet. Jedenfalls zeigen spätere Bemerkungen etwa über das
»Urgestein der Bestialität«, das im Menschen vorhanden ist und alle
kulturellen Meliorationen überdauert, eine große Nähe zu Freuds
Kriegsanthropologie. Umgekehrt hätte Freud in seiner Rationalität und in
seinem Humanismus Jüngers Anerkennung der archaischen Erbschaften, die
im Krieg sichtbar geworden waren, nicht akzeptiert.
Die neue und nachdenkliche Einschätzung des Kriegs, die sich in Freuds
Essays vom Frühjahr 1915 manifestierte, breitete sich im Verlauf dieses
Jahres aus. Zeitschriften wie die Aktion und das Zeitecho, das ab 1916
bezeichnenderweise nicht mehr in Berlin, sondern in Zürich erschien,
brachten Essays, Gedichte und Graphiken, die einen Eindruck von der
Brutalität des Kriegs und vom Elend der Soldaten zu vermitteln suchten. Von
Januar 1915 an erschienen im Sturm, dem wichtigsten Blatt des
Expressionismus, das ganze Jahr über die Kriegsgedichte August Stramms,
der am 1. September an der Ostfront fiel. Mit den Mitteln der »Wortkunst«,
die sich häufig isolierter und verfremdeter Wörter bediente, um einen
prägnanten Eindruck vom »Wesen« der thematisierten Dinge oder
Situationen zu schaffen, fixierte Stramm die unheimlichen Erfahrungen
dieses Kriegs: die Einsamkeit des Postenstehens; die alles durchdringende
Kälte; die überall lauernde Gefahr; die würgende Angst; das jähe
Erschrecken; die Grauenhaftigkeit des Sturmangriffs:
Wacht
Die Nacht wiegt auf den Lidern
Müdigkeit flackt und neckt
Der Feind verschmiegt
Die Pfeife schmurgt
Verloren
Und
Alle Räume
Frösteln
Schrumpfig
Klein.

Patrouille
Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.

Sturmangriff
Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen
Kreisch
Peitscht
Das Leben
Vor
Sich
Her
Den keuchen Tod
Die Himmel fetzen.
Blinde schlächtert wildum das Entsetzen.
Auch in seinen Briefen, die bald in Umlauf kamen, beschrieb Stramm die
erschütternde Negativität des Kriegs, in besonders pointierter Weise in
einem hochgradig sarkastischen Brief vom 5. März 1915, der im Krieg
gleichsam die bittere Offenbarung des 20. Jahrhunderts sieht:
Ich sitze in einem Erdloch, genannt Unterstand! famos! Eine
Kerze, Ofen, Sessel, Tisch. Alles Konform der Neuzeit. Die
Kultur des 20. Jahrhunderts. Und oben drauf klatscht es
ununterbrochen! Klack! Klack! Scht.summ! Das ist die Ethik
des 20. Jahrhunderts. Und neben mir aus der Wand ringeln
sich einige Regenwürmer. Das ist die Ästhetik des 20.
Jahrhunderts.
Europa, das mit der ersten Silbe seines Namens den Anspruch auf Gutsein
erhob, entpuppte sich, wie der Lyriker Albert Ehrenstein 1916 in seinem
Gedichtband Der Mensch schreit bemerkte, als »Barbaropa«. Die
Begeisterung für den vitalisierenden Krieg wich der Klage über das
grauenhafte Gemetzel. In Zürich stimmte der Kriegsflüchtling Hugo Ball
seine dadaistische Totenklage an: eine Lamentation, die nur aus einer Folge
von eindrucksvollen Klagelauten besteht und solchermaßen jedes Wort des
Trostes oder der Sinngebung vermeidet.
Stefan George, der in der Vorkriegszeit durchaus auch die Vorstellung
eines reinigenden, befreienden und veredelnden Kriegs gepflegt hatte, bei
Kriegsbeginn aber zur Mäßigung riet und seine »Jünger« vor Chauvinismus
warnte, hat diesem Umschlag von Kriegseuphorie in Kriegskritik in seinem
1917 publizierten Gedicht Der Krieg Gestalt gegeben. Der erste Abschnitt
dieses langen Gedichts erinnert an den Beginn des Kriegs:
Wie das getier der wälder das bisher
Sich scheute oder fletschend sich zerriss
Bei jähem brand und wenn die erde bebt
Sich sucht und nachbarlich zusammendrängt:
So in zerspaltner heimat schlossen sich
Beim schrei DER KRIEG die gegner an.. ein hauch
Des unbekannten eingefühls durchwehte
Von schicht zu schicht ein verworrnes ahnen
Was nun beginnt... Für einen augenblick
Ergriffen von dem welthaft hohen schauer
Vergass der feigen jahre wust und tand
Das volk und sah sich gross in seiner not.
Das lyrische Subjekt, das in diesem Gedicht als der »Siedler auf dem berg«
erscheint und getrost mit George identifiziert werden darf, mochte in den
Jubel allerdings nicht einstimmen, sah das vollends würdelose
Vernichtetwerden des modernen Kriegs voraus, das im fünften Abschnitt mit
eindringlichen Versen vor Augen gerufen wird:
Zu jubeln ziemt sich nicht: kein triumf wird sein·
Nur viele untergänge ohne würde..
Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig
Unform von blei und blech · gestäng und rohr.
Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden
Von vormals klingen der als brei und klumpen
Den bruder sinken sah · der in der schandbar
Zerwühlten erde hauste wie geziefer..
Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.
Erkrankte welten fiebern sich zu ende
In dem getob. Heilig sind nur die säfte
Noch makelfrei verspritzt – ein ganzer strom.
Ernst Jünger, der als »Kriegsmutwilliger« (1, 17) auszog, hatte dieses
grauenhafte Geschehen vier Jahre lang auszuhalten. Wie er dies überstehen
konnte, ohne dabei seelisch zu zerbrechen, ist heute schier unbegreiflich,
und fast ist man genötigt, sich etwa in dem langen und eindrucksvollen
Kapitel, das Carl Zuckmayer in seiner Autobiographie Als wär’s ein Stück
von mir dem Ersten Weltkrieg widmet, zu versichern, daß dies offensichtlich
menschenmöglich war – wie so vieles »Unmenschliche«, das das 20.
Jahrhundert seinen Kindern noch zumuten sollte.

Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg

»Fröhlich, wie an einem Feiertage«: auf dem Weg an die Front

Am 1. August 1914 wurde die Mobilmachung für den folgenden Tag


verkündet. Am 4. August meldete sich der Primaner Ernst Jünger in
Hannover beim Füsilierregiment 73 Prinz Albrecht von Preußen als
Freiwilliger und wurde als tauglich angenommen. Das Stammregiment, also
das Königlich Hannoversche Garderegiment, hatte von 1779 bis 1783, als
das Kurfürstentum Hannover durch Personalunion mit Großbritannien
verbunden war, die Festung Gibraltar erfolgreich gegen die Franzosen und
Spanier verteidigt; die Angehörigen des Regiments trugen zur Erinnerung
daran am Ärmel ihrer Waffenröcke ein blaues Band mit der Aufschrift
»Gibraltar« und wurden »Gibraltars« genannt (1, 24). Am 21. August legte
Jünger das Notabitur ab, und am 6. Oktober begann die dreimonatige
Grundausbildung beim Ersatzbataillon des 73. Regiments in der Bultkaserne
Hannover. Der Drill wird hart gewesen sein; aber einem Schinder wie dem
Unteroffizier Himmelstoß, den Erich Maria Remarque im zweiten Kapitel
seines Romans Im Westen nichts Neues schildert, scheint Jünger nicht in die
Hände gefallen zu sein. Es ist ja auch fraglich, in welchem Maß die Figur
des Unteroffiziers Himmelstoß als repräsentativ gelten darf; Carl Zuckmayer
berührt dieses Thema im Kriegskapitel seiner Autobiographie und schreibt:
»Die meisten unserer ausbildenden Unteroffiziere waren Männer mittleren
Alters, anständige und brave Leute, die – bei aller Strenge im Dienst –
keinerlei Neigung zu Brutalität und Sadismus hatten.« Jünger deutet in
seinem 1934 publizierten Bericht über den Beginn des Ersten Weltkriegs an,
daß er Schwierigkeiten hatte, sich in den Drill zu schicken, doch gibt es bei
ihm keine Klage; im Gegenteil:
Die Ausbildungswochen vergingen schnell, die Tage
verbrachte ich auf der Vahrenwalder Heide oder auf dem
Waterlooplatz und die Abende mit guten Kameraden oder mit
einem Liebchen, wie sich das gehört. Ich lernte schießen und
marschieren und machte auch Bekanntschaft mit der
preußischen Disziplin, an deren Ecken und Kanten ich mich
zunächst heftig stieß und der ich doch mehr zu verdanken
habe als allen Schulmeistern und Büchern der Welt. (1, 544)
Nach nicht ganz drei Monaten und einem letzten Weihnachtsfest zu Hause
kam dann der Marschbefehl:
Am 27. Dezember 1914 wurden wir plötzlich alarmiert; die
Front wartete auf uns. Schwer bepackt und doch fröhlich, wie
an einem Feiertage, marschierten wir zum Bahnhof ab. In
meiner Rocktasche hatte ich ein schmales Büchlein verwahrt;
es war für meine täglichen Aufzeichnungen bestimmt. Ich
wußte, daß die Dinge, die uns erwarteten, unwiederbringlich
waren, und ich ging mit höchster Neugier auf sie zu. Auch
hatte ich einen natürlichen Hang zur Beobachtung; ich hegte
schon früh eine Vorliebe für Fernrohre und Mikroskope als
für Werkzeuge, mit denen man das Große und Kleine sieht,
und unter den Schriftstellern schätzte ich von jeher die, denen
neben einem scharfen Auge für alles Sichtbare auch ein
Instinkt für das Unsichtbare gegeben ist. (1, 544)
Das wurde um 1930 geschrieben, als Jünger in Erwägung zog, seinem ersten
Kriegsbuch In Stahlgewittern eine neue erzählerische Form zu geben. Der
letzte Satz verweist auf ein Ziel, das Jünger mit seinen Büchern nach dem
Krieg tatsächlich verfolgte: den – nach Jüngers Meinung – verborgenen Sinn
des Kriegs wie einzelner Kriegsabschnitte oder -phänomene
herauszuarbeiten und zu profilieren. Das Notizbüchlein, das er mit sich
führte, und die vierzehn weiteren, die im Lauf der Jahre hinzukamen, gaben
dafür die Basis ab. Zunächst hatten sie allerdings die Funktion eines
Merkbuchs, in dem neben interessanten Beobachtungen aller Art das
persönliche Erleben des Kriegs festgehalten werden sollte.

»Büchlein für meine täglichen Aufzeichnungen«: Jüngers


Kriegstagebücher

Bei diesen Tagebüchern, die heute in Jüngers Nachlaß im Deutschen


Literaturarchiv in Marbach am Neckar liegen, handelt es sich um insgesamt
fünfzehn Hefte, die numeriert sind. Die Endnummer ist zwar XIV, doch gibt
es die Hefte XIV A und XIV B. Hinzu kommt ein Heft, in das Jünger im
ersten Halbjahr 1916 Käferfunde eingetragen hat. Die meisten Hefte haben
ein Format von etwa 11 auf 17 cm und zählen etwa 60 Blätter oder 120
Seiten; einige Hefte haben ein Format von 8,5 auf 14,5 cm. Die größeren
Hefte wurden nachträglich neu in grünes Kaliko gebunden; die kleineren
haben den originalen Einband aus rötlicher Hochglanzpappe mit Schuppen-
oder Marmormuster. Bei den meisten ist der Schnitt rot eingefärbt. Das
zwölfte Heft ist deutlich stärker und hat ebenfalls noch den Originaleinband:
Lederrücken und schwarzen Kartondeckel mit grünen Punkten. Das
dreizehnte Heft ist in einen blauen Leinenstoff gebunden und hat eine Art
von Kuvertverschluß mit Druckknopf. Der Zustand der Hefte ist gut; man
sieht ihnen nicht an, was sie mitgemacht haben. Die Blätter sind teils kariert,
teils liniert und wurden von Jünger – je nach Gegebenheit – mit
»Tintenblei«, mit reinem Bleistift oder mit Tintenfeder beschrieben, am
Anfang in lateinischer Schrift, dann in Sütterlin. In der Regel ist die Schrift
gut lesbar, was darauf schließen läßt, daß die Eintragungen bei relativer
Ruhe vorgenommen wurden; gelegentlich aber ist Jüngers Hand
anzumerken, daß die Situation nicht eben ruhig und sicher war.
An manchen Tagen hat Jünger mehrfach Notizen gemacht, um wichtig
scheinende Einzelheiten festzuhalten. Die Länge der Eintragungen ist
unterschiedlich: Manchmal wird ein Tag mit zwei oder drei Zeilen bedacht;
in anderen Fällen umfaßt der Bericht eine oder mehrere Seiten; gelegentlich
werden einige Tage zusammenfassend rekapituliert. Die Aufzeichnungen
sind weithin ausformuliert, also nicht nur stichwortartig gehalten, sondern in
ganzen Sätzen. Einzelne Episoden – wie z. B. die nächtliche Patrouille vom
28./29. Juli 1916 – sind so ausführlich und lebendig dargestellt, daß sie fast
im originalen Wortlaut in die Stahlgewitter hätten eingehen können; auch die
»große Schlacht« vom März 1918 (1, 233ff.) ist in einem fließenden, aber
auch gut untergliederten Text dargestellt, der sich über viele Seiten erstreckt.
Nicht nur die Elaboriertheit dieser Darstellung, auch der gleichbleibende
klare Schriftzug und die einheitliche Tinte zeigen an, daß diese Passage
unter geeigneten Bedingungen an einem Stück geschrieben wurde, vielleicht
im Lazarett oder im Genesungsurlaub.
In diesem Punkt hat es einige philologische Irritationen gegeben, die im
folgenden ausgeräumt werden sollen. Jünger erweckte nämlich 1924 mit
dem Vorwort zur fünften Auflage der Stahlgewitter den Eindruck, als
bestünden die Kriegstagebücher nur aus stichwortartigen Notizen, die
während der Gefechte oder unmittelbar danach gemacht worden seien. Er
schrieb 1924:
Es war eine seltsame Beschäftigung, im bequemen Sessel das
Gekritzel dieser Hefte zu entziffern, an deren Deckeln noch
der vertrocknete Schlamm der Gräben klebte, und dunkle
Flecken, von denen ich nicht mehr wußte, war es Blut oder
Wein.
Ich machte dabei die Beobachtung, daß sich in diese Zeilen
der heiße Atem der Schlacht, eine wilde Ursprünglichkeit
brannte, die stärker und unmittelbarer wirkt als der stilisierte
Bericht. Zwischen jenen Blättern und diesem Buche besteht
der Unterschied von Tat und Literatur.
»Ran! Kein Pardon. Wut. Aus Stollen Schüsse,
Handgranaten rein. Geheul. Über den Damm. Packe einen am
Hals. Hände hoch! Sprungweise hinter Feuerwalze vor.
Melder Kopfschuß. Sturm auf M.G.-Nest. Mann hinter mir
fällt. Schieße Richtschützen ins Auge. Handgranaten. Drin!
Allein, Streifschuß. Wasser, Schokolade. Weiter. Einige
fallen. Zwei Mann laufen zurück, Kopfschuß, Bauchschuß.
Bin grimmig. Engländer fliehen aus Baracken, einer fällt.
Stockung, befehle Sturm gegen Dorfrand Vraucourt.
Volltreffer, Verluste, Vor!«
Das ist tatsächlichster Stil, einfacher Rhythmus, ohne
Skrupel und Schnörkel, wie alles, was die Schlacht gebiert.
Diese unmittelbare und rauhe Kristallisation des Erlebnisses
würde schon in kurzer Zeit rätselhaft vor dem Leser stehen
wie das Knochengerüst eines ausgestorbenen Tieres. Es war
also nötig, sie mit Fleisch zu umkleiden […]. (SG III, XIIf.)
Den Eindruck, daß die Tagebücher nur aus stichwortartigen Notizen
bestünden, die erst nach dem Krieg in einen lesbaren Text überführt worden
seien, hat Ulrich Böhme, der als erster Literaturwissenschaftler Einblick in
die Tagebücher erhielt, bekräftigt. Böhme teilte in seiner 1972 erschienenen
Dissertation Fassungen bei Ernst Jünger einige Zeilen aus den Tagebüchern
mit und parallelisierte sie mit dem entsprechenden Text der Stahlgewitter.
Die Tagebuchnotiz lautet bei Böhme:
Stürmen Höhe im M.G.-Feuer Wedelst. Ordonnanz
Kopfschuß. Bubi weint. Sturm auf M.G. Nest. Mann hinter
mir fällt. Schieße Schützen ins Auge. Drin! Mun.-Zähler.
läuft fort. Handgranate … MG Nest rechts Beinschuß und
Kopf. Streifschuß des Jägers. MG aufbauen. MG. Nest und
Hohlweg fällt. Durch Mulde vor. M.G. Feuer Schokolade vor!
Man sieht, daß dies den mittleren Zeilen der von Jünger mitgeteilten Notiz
entspricht, doch gibt es einige Differenzen, die erklärungsbedürftig sind. Die
Überprüfung an den Tagebüchern ergab folgendes: Die Notizen, auf die
Jünger wie Böhme zurückgriffen, finden sich auf der sechstletzten Seite des
dreizehnten Hefts und beziehen sich auf die »große Schlacht« vom 21./22.
März 1918. Böhme zitiert korrekt, abgesehen davon, daß im Original nicht
drei Fortsetzungspunkte stehen, sondern drei Wörter, die allerdings nicht
lesbar sind, und daß in der letzten Zeile nach »Feuer« und »Schokolade« ein
Punkt folgt. Jünger hat seine Notiz 1925 also überarbeitet, um sie auf die
Linie seiner eigenen Interpretation zu bringen. In den Stahlgewittern
entspricht den von Jünger und Böhme mitgeteilten Zeilen ein Text von
knapp fünf Seiten (SG I, 147 – 151 = 1, 245 – 250). Den mittleren Zeilen der
Jüngerschen Version, denen die drei mittleren Zeilen bei Böhme entsprechen
(»Sturm auf M.G. … fällt.«), ist in den Stahlgewittern der folgende
Abschnitt zuzuordnen:
Währenddessen leistete das rechte Maschinengewehrnest und
der 60 Meter vor uns liegende Hohlweg noch immer
erbitterten Widerstand. Wir versuchten, das englische
Maschinengewehr darauf einzurichten, hatten aber keinen
Erfolg damit, vielmehr sauste mir bei diesem Bemühen ein
Geschoß am Kopfe vorbei, streifte einen hinter mir stehenden
Jägerleutnant am Kopfe und verwundete einen Mann sehr
bedenklich am Oberschenkel. Mit mehr Glück brachte die
Bedienung eines leichten Maschinengewehrs ihre Waffe am
Rande unseres kleinen Grabenhalbmondes in Stellung und
jagte den Engländern eine Reihe von Geschossen in die
Flanke. (SG I, 150f. = 1, 249; vgl. auch 1, 507)
Das ist nun aber nicht die Überführung der Notizen in den Text der
Erstausgabe der Stahlgewitter; vielmehr ist dieser Abschnitt die
überarbeitete Version eines entsprechenden Abschnitts aus der Schilderung
der »großen Schlacht« im dreizehnten Heft. Dort lautet die Passage:
Unterdessen war das rechte M.-G.-Nest noch immer in voller
Tätigkeit, da wir höchstens 100 m. davor waren, versuchte
ich, das engl. M.G. darauf in Stellung zu bringen, was uns
aber nicht gelang. Vielmehr sauste mir bei diesem Bemühen
eine Kugel am Kopf vorbei, streifte einen Jägeroffizier am
Kopf und traf einen Mann sehr bedenklich am Oberschenkel.
Besser glückte es einer l[eichten].M.G.-Bedienung, ihr
Gewehr in Stellung zu bringen.
Festzuhalten ist zweierlei: Die Tagebücher bestehen nicht aus
stichwortartigen Notizen, sondern weitgehend aus fortlaufend geschriebenen
Berichten. Die Notizen über die »große Schlacht«, die sich am Ende des
dreizehnten Hefts finden und rund neuneinhalb Seiten umfassen, bilden die
Ausnahme; Jünger hat dafür das Heft umgedreht und von hinten
beschrieben, um nach der Schlacht da wieder einzusetzen, wo er
unterbrochen worden war. Nun stellt sich natürlich die Frage, ob er in
anderen Fällen nicht ähnlich verfahren ist und etwa auf separaten Zetteln
Notizen gemacht hat, die er dann in Ruhepausen in einen ausführlicheren
und fließenden Text überführte. Dies läßt sich nicht ausschließen, doch
spricht wenig dafür, weil die Tagebuchhefte durchaus als Notizhefte auch für
andere Dinge verwendet wurden. Aber wie auch immer -: Die erste Fassung
der Stahlgewitter entstand nicht auf der Basis von stichwortartigen Notizen,
sondern auf der Basis eines über lange Partien gut ausformulierten Textes.
Von den Stahlgewittern unterscheiden sich die Kriegstagebücher
allerdings dadurch, daß sie sich auf das Faktische konzentrieren. Sie halten
fest, was Jünger erlebt hat; die Reflexionen, die sich in den Stahlgewittern
damit verbinden, fehlen in den Tagebüchern zum größten Teil. So vermerkt
Jünger – um ein Beispiel zu geben – zwar, daß er mit seiner Kompanie am
23. August von einem Soldaten abgeholt und in die Stellung von Guillemont
gebracht wurde; anders als in den Stahlgewittern wird aber nicht gesagt, daß
dies der erste Soldat mit Stahlhelm gewesen und daß mit ihm ein neuer
Typus in Erscheinung getreten sei (1, 99). Erst in der Notiz des folgenden
Tages wird erwähnt, daß die Kompanie mit Stahlhelmen ausgerüstet wurde,
und angemerkt, daß der Stahlhelm »dem Soldaten ein wüstes Aussehen«
verleihe. Das mag der Ausgangspunkt für die spätere Bearbeitung gewesen
sein.
Auf der Basis seiner Tagebücher hat Jünger seinen Kriegseinsatz
unmittelbar nach dem Krieg in den 1920 publizierten Stahlgewittern
beschrieben. Ihnen folgten weitere Bücher, die mehr oder minder
Erinnerungscharakter haben und jedenfalls auf Jüngers eigenen Erfahrungen
basieren: Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), Sturm (1923), Feuer und
Blut (1925) sowie Das Wäldchen 125 (1925). Steht man nun vor der
Aufgabe, ein Bild von Jüngers Kriegseinsatz zu entwickeln, so fühlt man
sich sogleich versucht, die Kriegstagebücher und die darauf aufbauenden
Bücher synoptisch zu lesen und in eine synthetische Darstellung zu
überführen. Dies hieße aber, den Werk- und Kunstcharakter der
Stahlgewitter und der folgenden Schriften zu ignorieren. Sie sind nicht nur
als Erfahrungsberichte zu lesen, sondern auch als literarische Werke, in
denen die Kriegserfahrung eine poetische Umsetzung und nachträgliche
ideologische Deutung erfährt. Sie müssen deswegen auch in eigenen
Kapiteln erörtert werden, in denen nicht das lebensgeschichtlich
Tatsächliche im Vordergrund steht. Hingegen konzentriert sich dieses
Kapitel auf eben das Faktische von Jüngers Kriegseinsatz, der auf der Basis
der überlieferten Tagebücher rekapituliert wird.

»Ich bekomme ganz andere Ideale«: der Grabenkrieg

Von Hannover wurde die 9. Kompanie, der Jünger angehörte, mit der
Eisenbahn über Gießen, Koblenz, Trier und Sedan in die Champagne
transportiert, wo das 73. Regiment lag. In den Waggons herrschte, wie
Jünger in seinem Notizbuch festhielt, drangvolle Enge, aber die Stimmung
war »fidel«. Hinter Sedan nahm die Landschaft ein »kriegsmäßiges
Aussehen« an: »Zerstörte Häuser, gesprengte Brücken, die langsam
überfahren werden, und die verfaulten Garben der Ernte auf den Feldern.« In
Bazancourt, einem knapp zwanzig Kilometer nordwestlich von Reims
gelegenen Städtchen, war die Fahrt zu Ende, und per Fußmarsch ging es
nach Westen in das etwa zwanzig Kilometer nördlich von Reims gelegene
Dorf Orainville, das dem Regiment als Ruheort diente. Hier verbrachte
Jünger die ersten Kriegsmonate bis Mitte April 1915, unterbrochen durch
einen mehrwöchigen »Offiziersaspirantenkursus« in Recouvrence. In den
ersten Tagen erlebte er in Orainville eine Beschießung durch die
französische Artillerie, bei der es Tote gab, und wohl auch ein kleineres
Infanteriegefecht. Gemessen an dem, was Jünger vom Krieg erwartet hatte,
war das enttäuschend; am 4. Januar notierte er mit der Blasiertheit des
Abenteurers:
Ich bin sehr neugierig, wie sich eine Schrapnellbeschießung
ausmacht. Im allgemeinen ist mir der Krieg schrecklicher
vorgekommen, wie er wirklich ist. Der Anblick der von
Granaten Zerrissenen hat mich vollkommen kalt gelassen,
ebenso die ganze Knallerei, trotzdem ich einigemale die
Kugeln sehr nahe habe singen hören. Im allgemeinen sind mir
die Kälte und die Nässe in unseren Erdlöchern das
Unangenehmste.
Ob der Anblick der getöteten Soldaten Jünger tatsächlich so kalt ließ, ist
indessen fraglich; in den Stahlgewittern stellt er seine Reaktion auf die
Beschießung differenzierter dar und macht vor allem deutlich, welch
nachhaltig verunsichernde Wirkung von diesem Überfall ausging (1, 12ff.).
Was näher an der Wahrheit ist, die Tagebuchnotiz vom 4. Januar 1914 oder
die 1918/19 niedergeschriebene Darstellung der Stahlgewitter, muß offen
bleiben: In beiden Fällen ist allerdings mit einer starken Stilisierungsabsicht
zu rechnen. Der Tagebuchschreiber, der vom ersten Augenblick an nicht nur
für sich allein schrieb, wollte sich als erfahrungssüchtigen und
unerschrockenen Helden zeigen; der Verfasser der Stahlgewitter wollte, wie
zu sehen sein wird, bei allem auch dort zu beobachtenden Willen zur
Selbstheroisierung ein nuanciertes Bild der psychischen Wirkungen der
Kriegserfahrung geben.
Die Kriegsform, die Jünger zunächst kennenlernte, war die des
Stellungsoder Grabenkriegs. Auf beiden Seiten der Front wurden
ausgedehnte Grabensysteme angelegt, aus denen heraus der Gegner
beobachtet und attackiert wurde. Für die Soldaten brachte dies vor allem
zwei Tätigkeiten mit sich: Wachestehen und Schanzen, das eine ermüdend,
das andere kräftezehrend. Hinzu kamen Kälte und Nässe. Jünger klagte denn
auch bald über die Strapazen und notierte am 8. Januar 1915, also eine
Woche nach der Ankunft im Frontgebiet:
Ich bekomme, wie damals in Algerien, ganz andere Ideale.
Ein solides Studentenleben mit Lehnstuhl und weichem Bett
und einem kleinen Freundeskreis ohne Verbindungseseleien,
schöne Ausflüge und gute Bücher. Und eine Käfersammlung.
Vorher muß ich irgendwie noch nach Afrika reisen, um zu
sehen, daß man auch darin nur Phantastereien nachgejagt hat.
Sechs Wochen mußte Jünger den Grabenkrieg ertragen, dann ging es zurück
in die Ruhestellung Bazancourt. Von dort wurde Jünger zu dem schon
erwähnten Kurs nach Recouvrence kommandiert, der bis um den 20. März
dauerte; am 21. März war Jünger wieder bei seiner Einheit in Bazancourt.
Mitte April 1915 wurde diese nach Lothringen verlegt und kam bei Les
Esparges, einem etwa fünfzehn Kilometer südwestlich von Verdun
gelegenen Dorf, zum Einsatz. Dort wurde Jünger, ohne einen französischen
Soldaten gesehen zu haben, erstmals verwundet: Ein Granatsplitter
durchschlug Uniform wie Geldbörse und schnitt den linken Oberschenkel
auf. In panischer Flucht brach Jünger zusammen, wurde von Sanitätern
aufgelesen und in ein Feldlazarett gebracht. Von dort wurde er mit einem
Lazarettzug nach Heidelberg transportiert, wo er etwa vierzehn Tage blieb
und einige Vorlesungen besuchte. Dem folgte ein Heimaturlaub in Rehburg,
während dessen der Vater Jünger vorschlug, sich zu einem Offizierskurs zu
melden. Das Regiment akzeptierte die Bewerbung, und Jünger verbrachte
den Sommer 1915 im Ausbildungslager Döberitz. Im September kehrte er
als Fähnrich zum Regiment zurück, das nun im Artois lag. Jüngers Einheit
hatte ihre Stellung in den Gräben zwischen den Dörfern Douchy und
Monchy, etwa zwölf Kilometer südlich von Arras. Hier, im »blutigen
Dreieck« zwischen Arras, Albert und Cambrai, sollte Jünger den größten
Teil der folgenden drei Jahre bis zum Kriegsende verbringen. Ende
November 1915 wurde er zum Leutnant befördert.
Im Herbst 1915 erstarrte der Krieg in dieser Gegend zum Stellungskrieg,
in dem sich die Gegner belauerten und beschossen, ohne daß es zu
bemerkenswerten Veränderungen der Front gekommen wäre. Die Stellungen
wurden nicht nur gut gesichert, sondern auch komfortabel ausgebaut. Im
Wäldchen 125 hat Jünger später seine Unterkunft beschrieben:
In Monchy besaß ich neben einem bequemen Unterstand für
ruhige Zeiten, in dem mir ein breiter Lichtschacht das
Tageslicht auf den Schreibtisch warf, eine unterirdische
Behausung, zu der vierzig in Kreidefels gehauene Stufen
führten, so daß selbst die schwersten Granaten in dieser Tiefe
sich nur als angenehme Erschütterungen bemerkbar machten,
wenn wir dort bei endlosen Mauschelpartien zusammensaßen.
In die eine Wand hatte ich mir ein Lager einbauen lassen,
mächtig wie die Kastenbetten der westfälischen
Bauernhäuser, in dem ich, abgeschieden vom leisesten
Geräusch, umschlossen von schweren Eichenbohlen, mitten
im weichen, trockenen Kreidegestein schlief. Eine elektrische
Ampel hing am Kopfende, so daß ich gemütlich lesen konnte,
bis ich müde wurde; die Wände waren mit farbigen Blättern
aus der ›Jugend‹ geschmückt, und das Ganze wurde durch
eine dunkelrote, an Ringen bewegliche Decke von der
Außenwelt abgeschlossen und fremden Besuchern unter
entsprechenden Späßen als Gipfel der Lasterhaftigkeit
vorgeführt. Damals konnte man, gesichert durch
Drahtverhaue von fünfzig Schritt Breite, es wagen, im
Nachtanzug zu schlafen, und die Armeepistole, die neben der
Zigarettendose griffbereit lag, wurde nur benutzt, wenn man
die Langeweile durch einen Streifzug unterbrechen wollte.
Das war eine prächtige Zeit. (1, 315f.)
So idyllisch, wie es hier klingt, war das Leben zwischen Monchy und
Douchy freilich nicht immer. Aus den Tagebüchern wie aus den
Stahlgewittern ist auch zu ersehen, wie zermürbend der Stellungskrieg im
Winter wurde. Im übrigen war er mit bedrückenden Zerstörungen
verbunden. Deutlicher als in den Stahlgewittern (1, 43f.) steht dies unter dem
Datum des 1. Dezember 1915 im Tagebuch:
An der Front die Dörfer zerstört, die Bäume zerschossen, die
Brunnen verfallen, die Felder aufgewühlt und hoch
überwuchert. Hier im besetzten Land ein Volk gezwungen zu
einer Lebensweise, die es nie kannte, gezwungen das graue
Brot des Krieges hinunterzuwürgen und gezwungen, Kinder
zu gebären, die vielleicht später nicht in dies Land der
Heiterkeit hineinpassen werden.
Vielleicht erinnerte sich Jünger, als er dies schrieb, an die Wochen, die er im
Sommer 1909 in dem etwa fünfzig Kilometer südwestlich gelegenen Saint-
Quentin verbracht hatte und die ihm einen Eindruck von einem freieren und
freudigeren Leben vermittelt hatten. Seine Klage gilt aber nicht nur der
Zerstörung dieser Lebenskultur, sondern auch dem unentwegten Töten, das
Ströme von Blut »vielleicht unnütz«, wie er befürchtet, vergießt und
»Millionen Mütter in Gram und Elend« stürzt. Weiter heißt es:
Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen,
der wert war zu leben. Was soll das Morden und immer
wieder Morden? Ich fürchte, es wird zuviel vernichtet und es
bleibt zu wenig, um wieder aufzubauen. […] Der Krieg hat
mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens
geweckt.
Jünger war nachdenklich geworden und stellte sich wohl öfter die Frage
»Wozu, wozu – - -«, die das Tagebuch einmal nach der Beerdigung einiger
gefallener Kameraden vermerkt. Trotzdem mochte er die Abenteuerlust und
die Heldengesinnung, mit denen er in den Krieg gezogen war, nicht
verabschieden; vielmehr beschwor er sie in einem Gedicht, das er am 26.
Januar 1916 in Douchy auf die erste Seite des vierten Notizbuchs schrieb
und seiner Mutter widmete, von neuem:
1. Mein Tagebuch. Was auf die weißen Seiten
Mit krauser Schrift ich kritzeln werde,
Noch ruhts im dunklen Schoß der Zeiten,
Ein kleines Schicksal auf der großen Erde.
2. Noch tobt der Kampf. Nur Todesnot und Grauen,
Stahlhärte gegen blutge Schmerzen
Wirst du in diesen Blättern schauen,
Und stille Hoffnung wunder Menschenherzen.

3. Doch still davon. Ich kann es wohl ertragen,


Mich reizt die wilde Schönheit der Gefahr.
Hier wirst du lesen, wie ich mich geschlagen,
Und wenn ich fiel, daß es in Ehren war. (22, 687)
Der Stellungskrieg im Artois zog sich bis zum Frühsommer 1916 hin und
begann Jünger so anzuöden, daß er sich Anfang April zur Luftwaffe
meldete, allerdings vergeblich. Indessen ergab sich eine Veränderung daraus,
daß Jünger von Mitte April bis Mitte Juni einen weiteren Ausbildungskurs in
Croiselles (etwa zehn Kilometer südlich von Arras) besuchen durfte. Teil
dieses Kurses waren auch Besichtigungen des Aufmarsch- und
Bereitstellungsgebiets hinter der Front. Hier gewann Jünger ein Bild von
jener ungeheuren ›Kriegsindustrie‹ oder allgemeinen ›Mobilisierung‹, die
notwendig war, um die Front mit Munition, Verpflegung, Uniformen,
Sanitätsmitteln und Gebrauchsgegenständen aller Art zu versorgen; noch die
›Mobilisierungsschriften‹ der frühen dreißiger Jahre sind von diesem
Eindruck geprägt. Während des Lehrgangs entwickelte sich eine
Liebesbeziehung zu einer siebzehnjährigen Französin namens Jeanne aus
dem sechs Kilometer entfernten Quéant. Jünger hatte sie schon im Dezember
1915, als er in Quéant stationiert war, kennengelernt, besuchte sie nun von
Croiselles aus mehrfach mit dem Pferd und wechselte Briefe mit ihr; in
einem, den er unter dem Datum des 30. April in sein Notizbuch übertrug,
schrieb sie: »Je n’aime pas les soldats allemands, ilyades cochons, mais vous
avez une bonne discipline.« In der ersten Fassung der Stahlgewitter ist von
dieser Episode keine Rede; ab der dritten Fassung von 1924 bekommt sie
etwa eine Druckseite, die freilich nicht erkennen läßt, wie eng Jüngers
Beziehung zu diesem Mädchen war.

»Man to«: in die Materialschlacht

Die schönen Tage von Croiselles wurden durch die Rückversetzung an die
Front Mitte Juni 1916 beendet. Sie fiel mit der englischen Offensive an der
Somme zusammen, die – als Pendant zur deutschen Offensive bei Verdun –
den Stellungskrieg beenden sollte. Die Somme-Schlacht, die sich daraus
entwickelte und die Jünger miterlebt hat, gilt als die größte Materialschlacht
der Geschichte. Ihr Zentrum lag etwa dreißig Kilometer südlich von Arras
auf der nördlichen Seite der Somme im Gebiet zwischen Albert, Combles
und Péronne. In monatelanger Vorbereitung richteten die Alliierten auf die
Angriffsbreite von etwa vierzig Kilometern rund 1600 leichte und 1350
schwere Geschütze sowie 1100 Minenwerfer ein; die Geschütze standen im
Abstand von zehn bis zwanzig Metern. Eröffnet wurde die Schlacht am 24.
Juni 1916 mit einer sieben Tage anhaltenden schweren Beschießung der
deutschen Frontlinie südöstlich von Albert.
Historiker haben errechnet, daß die Engländer die deutschen Stellungen
mit etwa anderthalb Millionen Granaten belegten, auf jeden Quadratmeter
also etwa eine Tonne Material warfen. Dem folgte am 1. Juli ein etwa
dreißig Kilometer breiter Infanterieangriff, bei dem 120 000 englische
Soldaten eingesetzt wurden. Davon fielen am ersten Tag etwa 20 000, die
meisten davon in den ersten Stunden, und weitere 40 000 wurden verwundet,
da die deutschen Stellungen das Bombardement besser überstanden hatten,
als auf englischer Seite angenommen worden war, und die englischen
Soldaten in dichtes Maschinengewehrfeuer gerieten. Bis Oktober kam es
fortlaufend zu verlustreichen Kämpfen, ohne daß wesentliche
Veränderungen erreicht werden konnten, und Mitte November wurden die
Vorstöße endlich eingestellt. Bis dahin waren ungefähr 1 200 000 Soldaten
getötet oder schwer verwundet worden (die Zahlenangaben differieren), 500
000 Engländer, 200 000 Franzosen, 500 000 Deutsche.
Jüngers Einheit wurde am 23./24. August bei dem heftig umkämpften
Dorf Guillemont eingesetzt. Was dies bedeutete, wird aus dem Tagebuch
ersichtlich: »Wir kommen nach Guillemont!!« heißt es nach der
Bekanntgabe des Einsatzorts. Erschrecken und Beklommenheit steigen auf.
Am Abend des 22. August ist Jünger damit beschäftigt, sich und seinem
Burschen Mut zu machen:
Hielt Unterricht mit meinem Jungen, so ungefähr mit dem
Motto: Wir werden wohl draufgehen, aber immer mit frohem
Mut. […] Also morgen früh auf nach Guillemont, mehr wie
den Kopf kanns nicht kosten.

Man to!
Jünger überlebte mehrere Artilleriebeschießungen von außerordentlicher
Heftigkeit und konnte mit seiner Kompanie in den letzten Augusttagen in die
Ruhestellung von Combles zurückkehren. Dort wurde er am 1. oder 2.
September durch eine Schrapnellkugel am linken Unterschenkel verletzt und
mußte nach Saint-Quentin ins Lazarett gebracht werden, während seine
Kompanie zum zweiten Mal nach Guillemont vorrückte und dort von den
Engländern fast völlig aufgerieben wurde. Der zweiten Verletzung folgten
vierzehn Tage Lazarett und vierzehn Tage Urlaub. Danach kehrte Jünger zu
seinem Regiment zurück, das inzwischen wieder bei Verdun lag, dann
jedoch bald ins Somme-Gebiet zurückverlegt wurde. Jünger wurde als
Spähoffizier eingesetzt und erhielt einen Abschnitt am Saint-Pierre-Vaast-
Wald zugewiesen. Dort wurde er am 12. November durch einen gezielten
Schuß an beiden Beinen verletzt, konnte sich aber zu einem Verbandplatz
retten und kam wieder für vierzehn Tage ins Lazarett. Anfang Januar bekam
er das Eiserne Kreuz Erster Klasse verliehen, und Mitte Januar wurde er für
vier Wochen in die Nähe von Laon zu einem Kompanieführerkurs
kommandiert. Die Monate danach brachten den Rückzug von der Somme,
der von zahlreichen kleineren Gefechten begleitet war und eine verwüstete
Landschaft mit völlig zerstörten Dörfern zurückließ (vgl. 1, 136). Aus den
Tagebuchaufzeichnungen sind zwei Stellen hervorzuheben, die Jüngers
psychische Befindlichkeit deutlicher als sonst hervortreten lassen.
Die eine vom 5. März 1917 betrifft den Tod eines englischen Leutnants
namens Stokes, der bei der Annäherung von Jüngers Leuten entdeckt und
durch eine Handgranate so schwer verwundet wurde, daß er an Ort und
Stelle starb. Er hatte, schreibt Jünger, der sich seine Papiere geben ließ, »ein
intelligentes, aber vom Tod verkrampftes Gesicht. Er war sehr gut
angezogen und hatte eine Menge Londoner Mädchenadressen bei sich. Es tat
mir leid um den armen Kerl, wie er da lag in einer Munitionshöhlung, die
Füße weiß vom Schnee.« Die Begegnung mit diesem toten englischen
Leutnant, dem Jüngers Leute soeben das Schicksal bereitet hatten, dem er
selbst vor einigen Monaten knapp entgangen war, muß ihn tief bewegt
haben. Er nahm sich vor, der Familie nach dem Krieg zu schreiben, um ihr
die Todesumstände und den Ort mitzuteilen, ordnete eine Bestattung an, ließ
ein Holzkreuz zimmern und mit Schuhnägeln beschriften: »R.I.P./LTN.
STOKES/+ 5.III.17«. Eine Skizze dieses Kreuzes fügte Jünger seinen
Aufzeichnungen bei und merkte dazu an: »Kreuz des Ltn. Stokes, nach
meinem Entwurf angefertigt am 5.III.17« -: eine Pedanterie, die wohl nur als
Versuch zu erklären ist, diesen bewegenden Vorfall seelisch zu verarbeiten.
Es wäre jedoch verfehlt, anzunehmen, daß Jünger durch derartige Momente
in seiner Bereitschaft, selber zu töten, nachhaltig geschwächt worden wäre.
Am nächsten Tag tötete er einen Engländer, der sich unvorsichtig aus der
Deckung wagte, mit einem Fernschuß, obwohl von diesem keinerlei Gefahr
ausging: Geradezu automatisch folgte Jünger hier dem Gesetz des Kriegs,
das gebot, jeden feindlichen Soldaten, der sich zeigte, unter Feuer zu
nehmen.
Die zweite bemerkenswerte Stelle findet sich im elften Tagebuch unter
dem Datum des 24. Mai 1917. Jünger hatte vom Kommandeur des
Regiments, dem sonst durchaus geschätzten Oberst von Oppen, wegen einer
nicht näher benannten »Kleinigkeit« vermutlich bürokratischer oder
disziplinarischer Art einen scharfen Tadel erhalten, fühlte sich frustriert und
begann, die Absurdität dieses Kriegs zu empfinden:
Wenn ich über die grüne Wiese vor mir auf das zerschossene
la Baraque sehe, dann muß auch ich, einst so Kriegslustiger
mir die Frage vorlegen: Wann hat dieser Scheißkrieg ein
Ende? Was hätte man in dieser Zeit nicht alles sehen und
genießen können. Welcher Genuß muß es zum Beispiel sein,
eine holländische Landschaft bei sinkender Sonne zu
durchwandern. Wandern! Frei wie der Falk herumstreifen
ohne lästigen Zwang und Fessel. Noch ist kein Ende
abzusehn. Die Sache wird höllisch monoton.
Auch diese Stimmung behielt nicht die hier bekundete Intensität; aber ganz
verschwand sie nicht mehr, zumal sich im Sommer 1917 die Anzeichen
dafür, daß der Krieg verlorengehe, zu mehren begannen. Gleichviel, der
Krieg ging weiter, und die Niederlage sollte mit neuen Taktiken abgewendet
werden. Dazu gehörte die Aufstellung von Stoß- oder Sturmtrupps, die aus
den besten Soldaten zusammengesetzt und dafür trainiert wurden, die
feindlichen Linien durch kühne Aktionen aufzusprengen. Jünger, dessen
Einheit im Juli 1917 in Cambrai stationiert war, wurde mit der Bildung eines
solchen Trupps beauftragt. Trotzdem war Jünger mit den Verhältnissen bei
der Infanterie so unzufrieden, daß er zum zweiten Mal seine Versetzung zur
Luftwaffe beantragte, wiederum vergeblich. Ende Juli wurde die Einheit
dann nach Flandern verlegt, wo ein weiträumiger Artilleriekampf tobte, und
kam in der Nähe des legendären Langemarck (acht Kilometer nördlich von
Ypern) zum Einsatz. Am 29. Juli konnte Jünger mit dafür sorgen, daß sein
schwerverwundeter Bruder Friedrich Georg zurücktransportiert wurde, und
einige Tage später gelang es ihm, mit einer kleinen Gruppe versprengter
Soldaten den englischen Vorstoß aufzuhalten. Anfang August wurde die
Einheit nach Lothringen verlegt und bezog etwa zwanzig Kilometer südlich
von Metz in Regniéville Quartier. Jünger erhielt den Auftrag, mit einem
Trupp von vierzehn Mann eine »gewaltsame Aufklärung« zu unternehmen.
Die Aktion scheiterte und kostete zehn Soldaten das Leben. Mitte Oktober
wurde Jüngers Einheit wieder nach Flandern verlegt und bei Pass[ch]endaele
(zehn Kilometer nordwestlich von Ypern) in Kämpfe verwickelt. Anfang
November durfte Jüngers Kompanie für einige Tage nach Tourcoing (bei
Lille) ins Ruhequartier einziehen. Unter dem Datum des 4. November 1917
vermerkt das Tagebuch:
Wir genießen nach der Flandernschlacht natürlich in vollen
Zügen die Annehmlichkeiten der großen Stadt. Ich lernte eine
Strohwitwe in der Vorstadt Mouvaux kennen. Das »Bonne
chance, je ne t’oublierai pas« beim Abschied klang echt und
herzlich.

»Pour le mérite«

Von Tourcoing ging es zurück ins Artois. Ende November/Anfang Dezember


war Jüngers Einheit an der erfolgreichen Abwehr der berühmten englischen
Tankoffensive bei Cambrai beteiligt. Jünger wurde durch einen Schuß, der
seinen Stahlhelm durchschlug, am Hinterkopf und durch einen Granatsplitter
an der Stirn verwundet. Nach der Schlacht wurde er durch das Ritterkreuz
des Hausordens der Hohenzollern mit Schwertern ausgezeichnet. In den
folgenden Monaten blieb die Einheit in der Gegend zwischen Arras und
Cambrai und wurde in die Vorbereitung der von Ludendorff geplanten
Michael-Offensive einbezogen. Beim Vorrücken verlor Jünger am 19. März
1918 durch einen Granateinschlag fast seine ganze Kompanie. Er selbst
nahm dann an der Offensive teil und wurde am 22. März in der Nähe von
Vraucourt (südlich der Straße von Arras nach Cambrai) zweimal verwundet:
Ein Schuß durchfuhr seine Brust knapp über dem Herzen, ein weiterer
verletzte ihn erneut am Kopf. Es folgten Lazarettaufenthalt und
Heimaturlaub. Anfang Juni kehrte Jünger zum Regiment zurück, das noch
immer südlich von Arras bei Bapaume lag und heftigen englischen
Angriffen ausgesetzt war. Am 23. August unternahmen die Deutschen einen
Gegenangriff, bei dem Jünger am Nachmittag des 25. August in der Nähe
des Dorfes Favreuil (nördlich von Bapaume) einen Lungenschuß erhielt.
Angehörige seiner Kompanie brachten ihn zu einem Verbandplatz, wobei ein
Sanitäter, der ihn tragen half, und danach ein anderer Soldat, der ihn auf die
Schulter genommen hatte, durch Kopfschüsse getötet wurden. Vierzehn Tage
lag Jünger in einem Feldlazarett in der Nähe von Cambrai, wo ihm das
Goldene Verwundetenabzeichen verliehen wurde. Dann wurde Jünger mit
einem Lazarettzug nach Hannover transportiert und ins Clementinenstift
eingewiesen. Dort erreichte ihn am 22. September 1918 die Nachricht, daß
er vom Kaiser mit dem Orden »Pour le mérite« bedacht worden sei. Die
1936 erschienene Geschichte der Ritter des Ordens »pour le mérite« im
Weltkrieg führt das Schreiben an, mit dem der Divisionskommandeur
Generalmajor von Busse Jünger noch vor der Schlacht bei Bapaume für
diese höchste preußische Kriegsauszeichnung vorschlagen wollte:
Lt. Jünger ist in der ganzen Division bekannt als rücksichtslos
tapferer Führer, der von seinen Füsilieren alles verlangen
kann, dem seine Kompanie unbedingt folgt, wohin er sie
führt. Er war sechsmal verwundet und jedesmal, wenn neue
Kämpfe bevorstanden, wieder bei der Truppe. Er hat an den
vielen besonders schweren Kampfhandlungen des Regiments
hervorragenden Anteil genommen.[...] Das leuchtende
Beispiel, das er unzählige Male gegeben hat, ist in den
schweren Zeiten, die die Division durchgemacht hat, von so
großer Bedeutung, daß ich diesen jungen Offizier, der auch
den erfolgreichsten Fliegern wohl gleichwertig zu achten ist,
zu der hohen Auszeichnung mit dem Orden »Pour le mérite«
in Vorschlag bringe.
Nach der Schlacht bei Bapaume ließ von Busse dem hinzufügen:
Am 25. August ist Lt. Jünger zum 7. Male verwundet worden.
Er hatte an dem Angriff des Regiments gegen Sapignies
wieder in vorderster Linie teilgenommen, war als einer der
ersten in das Dorf eingedrungen, dann aber, weil die
Nachbardivision dem Angriff sich nicht anschloß, von den
Engländern völlig umfaßt worden. Es gelang ihm, schon
verwundet, sich mit dem Rest seiner Kompanie durch die
Engländer hindurchzuschlagen. Vom Feldlazarett aus
versprach er mir brieflich, sobald als irgend möglich zur
Truppe zurückzukehren.
Dazu sollte es nicht mehr kommen. Denn nun sorgten die nicht mehr zu
bestreitende Übermacht der Alliierten und schließlich die Rebellion
deutscher Soldaten für ein überraschend plötzliches Kriegsende, das Jünger,
der unter diesen Umständen zum letzten Empfänger des militärischen »Pour
le mérite« geworden war, entweder im Hannoverschen Clementinenstift oder
im Elternhaus in Rehburg erlebte.
Der militärische »Pour le mérite« wurde während des Ersten Weltkriegs
nahezu siebenhundertmal verliehen. Ungefähr vierhundertachtzig
Auszeichnungen gingen an Generäle und Kommandeure von größeren
Truppenteilen. Ungefähr siebzigmal wurde der Orden an Jagdflieger
vergeben, deren ›Erfolge‹ gut sichtbar und genau zählbar waren, und nur
elfmal an Kompanieführer der Infanterie, deren ›Leistungen‹ allzu leicht in
der Unübersichtlichkeit des Schlachtfelds untergingen. Um so höher wurde
die Auszeichnung für Jünger bewertet. Sie war im übrigen mit einem
monatlichen »Ehrensold« verbunden, den Jünger – trotz dramatisch
wechselnder Staatsformen – zeitlebens erhalten haben soll; in der
Bundesrepublik wurde die Höhe dieses Ehrensolds 1957 auf fünfundzwanzig
Mark festgesetzt.

Soldatisches und Unsoldatisches

Es bleiben einige Dinge nachzutragen, die sich teils aus den Tagebüchern,
teils aus anderen Quellen ergeben.
Zunächst einmal: In Jüngers Tagebüchern spielt die vielberufene
Begeisterung für Kaiser und Vaterland keine große Rolle. Zwar finden sich
Bruchstücke patriotischer Phraseologie, aber sie wirken aufgesetzt. Jünger
ist nicht für das Wilhelminische Reich in den Krieg gezogen; im Gegenteil,
am 1. Dezember 1915 notierte er: »Vorm Kriege dachte ich wie mancher:
nieder, zerschlagt das alte Gebäude, das neue wird auf jeden Fall besser.«
Auch während des Kriegs änderte sich diese Einstellung nicht. Sosehr sich
Jünger über die Hohenzollern-Orden freute: Er kämpfte nicht für das
kaiserliche Regiment und seine militärische Filiation, die er aus der Position
des Frontoffiziers wahrnahm und nicht selten mit schneidender Kritik
bedachte. Davon zeugen nicht nur einschlägige Bemerkungen in den
Tagebüchern und in der ersten Fassung der Stahlgewitter; auch Jüngers
letzter Gefechtsläufer Wilhelm Marquardt erinnert sich in seinem 1980
niedergeschriebenen Bericht, daß Jünger bei den Soldaten dafür bekannt
war, daß er Befehle von vorgesetzten Dienststellen, die er für falsch hielt,
ignorierte oder ausdrücklich ablehnte. Komplementär dazu ist bereits in den
Tagebüchern die Entwicklung eines massiven Selbstbewußtseins zu
beobachten.
Immer wieder betont Jünger, welche Gefahren er bestand und was unter
seiner Führung erreicht wurde. Dies wirkt manchmal etwas aufdringlich und
erweckt den Eindruck, daß Jünger im Fall seines Todes alles für seinen
Nachruhm getan haben wollte. Vermutlich sind die Selbstrühmungen aber
auch noch einem anderen Motiv geschuldet: In einem Krieg, der wie keiner
vorher dazu angetan war, den Soldaten ihre körperliche Nichtigkeit
bewußtzumachen und den einzelnen in der Weite der unübersichtlichen
Schlachtfelder verschwinden zu lassen, bedurfte es wohl solcher
Selbstbespiegelung, um sich als handlungsfähiges und einigermaßen
bedeutungsvolles Subjekt zu erfahren. Bei Jünger nahm dies gelegentlich
allerdings hypertrophe Züge an. Mit Blick auf eine etwas riskante Patrouille,
an der er sich beteiligt hatte, notierte er am 19. Juni 1917: »In solchen
Momenten Führer sein mit klarem Kopfe, heißt der Gottähnlichkeit nahe
sein. Wenige sind auserlesen.« Freilich hatte die Selbstüberschätzung, die
sich in einer solchen Notiz dokumentiert, keinen Bestand, sondern wurde
durch Angstzustände oder durch Abkanzelungen von oben gebrochen. Aber
einiges dürfte zurückgeblieben sein und später mit als Quelle für Jüngers
Selbstbewußtsein wie seine literarische Selbstinszenierung gedient haben.
Sodann: Die Stahlgewitter lassen Jünger als einen Soldaten erscheinen,
der keinerlei sexuelle Begierden und Probleme kannte. Die Beziehung zu
jener Jeanne aus Quéant wird eher als platonische Liebe dargestellt. Daß
Sexualität ein Hauptthema von Gesprächen unter Soldaten war, wird nur
andeutungsweise erwähnt, und von der militärisch organisierten
Kriegsprostitution ist nicht im entferntesten die Rede. Die Tagebücher und
die Kriegsschriften, die auf die Stahlgewitter folgen, zeigen indessen ein
etwas anderes Bild. In den Tagebüchern sind nicht nur die Affäre mit Jeanne
und die Liebesnacht von Mouvaux festgehalten. Es gibt einige weitere
Eintragungen, die auf Bordellbesuche und anschließende Ängste vor einer
venerischen Infektion hindeuten. Auch wurden im dritten Heft einige Blätter
herausgeschnitten, die von einem etwas belastenden amourösen Abenteuer
berichtet haben dürften. Einiges davon kommt in Büchern zur Sprache, die
ein allgemeineres Bild des Kriegs geben und nicht autobiographisch gelesen
sein wollen. Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) widmet dem »Eros« ein
eigenes Kapitel und schwärmt von der rasch zugreifenden Liebe der
Landsknechte (7, 35ff.); auch werden die Liebesbegegnungen zwischen
einem Studenten-Soldaten und einem Bauernmädchen (39) sowie einem
»Landsknecht« und einer Strohwitwe aus Mouvaux (68) beschrieben,
freilich so, daß sie ohne Kenntnis der Tagebücher nicht als autobiographisch
zu verstehen sind. Die Erzählung Sturm (1923) handelt von einer Gruppe
von drei miteinander befreundeten Zugführern, die sich gern auch in
»erotischen Gesprächen« ergehen (15, 20), und eine der kleinen
Erzählungen, die Fähnrich Sturm geschrieben hat und vorliest, reflektiert die
Verrohung oder Barbarisierung des Sexualverhaltens durch den Krieg (58).
Und spät findet sich in Annäherungen (1970) noch ein Kapitel, das von den
Maßnahmen berichtet, die fällig waren, wenn jemand während des
Fronturlaubs von »Venus geschlagen« wurde (11, 140ff.)
Schließlich: Auch im Krieg ging Jünger seinen beiden großen Passionen
nach, dem Sammeln von »Naturalien« sowie dem Lesen. Zum Jahresbeginn
1916 legte er unter dem gravitätischen Titel »Fauna coleopterologica
douchyensis« ein Käfersammelbuch an, das – dem Titel nach – nicht
weniger als eine Käferkunde des Gebiets um Douchy werden sollte. Vom 2.
Januar bis zum 27. Juli verzeichnet das Heft 149 Fänge unter Angabe von
Datum, Ort, Tageszeit, Art, Fundstelle und Wetter. Die Fundstellenangaben
heißen üblicherweise »unter Rinde von Eschen« oder »unter Moos auf
Gartenerde«, mitunter aber auch »im Unterstand des III. Zuges« oder »bei
einer Latrine im Schützengraben«. Aus einer Journalnotiz vom 21. Mai 1985
geht hervor, daß Jünger die Käfer nicht nur registriert, sondern auch
präpariert hat:
Damals, als wir in Douchy lagen, habe ich sogar präpariert.
Mein lieber Paulicke sagte: »Herr Leutnant – die Käfer sind
schön.« Mehr nicht. Aber auch noch den Kasten in Stellung
und zurück zu tragen, war eine Zumutung. Immerhin war er
leicht, und für die Wissenschaft müssen Opfer gebracht
werden. (20, 509f.)
Aber nicht nur der Käferkasten mußte mit in die Stellung genommen
werden. Wenn der Tornister gepackt wurde, gab es für den Burschen, der
dies zu besorgen hatte und genau Bescheid wußte, nur eine »einzige Frage«,
nämlich: »Welche Bücher sollen diesmal mit?« (1, 306). Zeit zum Lesen
hatte Jünger reichlich, und dies nicht nur während des langwierigen
Stellungskriegs vom Herbst 1915 bis zum Frühjahr 1916. Der schon zitierte
Wilhelm Marquardt, der Jünger während der bewegteren Schlußphase des
Kriegs im Sommer 1918 beobachtete, erinnerte sich später daran, daß Jünger
auch in dieser Zeit oft »lesend oder schreibend« vor seinem Bunker saß. Und
im übrigen gab es selbst in Gefechten Ruhezonen, in denen gelesen werden
konnte. Während der heftigen Beschießungen im Wäldchen 125 las Jünger
unter großer Faszination und mit bleibendem Eindruck Fontanes Irrungen,
Wirrungen (4, 501 und 21, 52), und vor seinem Einsatz in der Schlacht von
Bapaume schmökerte er, »in der warmen Sonne liegend«, in Laurence
Sternes skurrilem Roman Tristram Shandy (GS I, 176 = 1, 289) – um die
Lektüre nach diesem »letzten Sturm« im Lazarett dort fortzusetzen, »wo der
Angriffsbefehl sie unterbrochen hatte« (1, 298; vgl. auch 9, 37f.).
Einige Titel, die Jünger während des Kriegs gelesen hat, sind bekannt,
weil sie in den Tagebüchern, in Briefen oder in sonstigen Schriften erwähnt
werden; eine vollständige Liste gibt es jedoch nicht. Manche Bücher ließ er
sich von zu Hause schicken, andere hat er von Kameraden übernommen oder
aus Feldbuchhandlungen bezogen. Besonders eingeprägt hat sich ihm die
Lektüre von Alfred Kubins phantastischem Roman Die andere Seite (1909).
Das Nachwort zum 1975 veröffentlichten Briefwechsel mit Kubin datiert die
Begegnung mit diesem Buch, das Jünger zeitlebens schätzte, auf den Herbst
1916 (14, 21); der Briefwechsel mit Friedrich Georg meldet die Lektüre
indessen am 1. Februar 1918. Laut Nachwort griff Jünger das Buch, durch
die Illustrationen angeregt, auf der Rückreise vom Heimaturlaub in der
Militärbuchhandlung von Cambrai auf – und verlor die Nacht darüber (14,
21): Das Leben im Krieg war gerade so brüchig und zwielichtig wie das
Leben in Kubins »Traumstadt« Perle; der Roman bestärkte Jünger in seiner
Neigung, hinter realen Vorgängen einen geheimen Sinn zu suchen. –
Bedeutung erlangte auch die hingebungsvolle Lektüre von Ariosts
Heldenepos Orlando furioso/Der rasende Roland im Frühjahr 1917. Sie hat,
wie aus den Tagebüchern zu ersehen ist, auf Jüngers Einstellung zum Krieg
abgefärbt und die heroisierenden Züge seiner Selbstverständigung bekräftigt.
Das elfte Heft, das Jünger in dieser Zeit eröffnete, steht unter dem Titel »De
bello maximo« und hat neben der klassischen Sentenz »Mors certa, hora
incerta«/»Der Tod ist sicher, seine Stunde nicht« zwei Verse aus dem
Rasenden Roland zum Motto:
Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen Wenn er auch
kommt, wenn er nur rühmlich ist (XVII, 15)
Im Ersten Weltkrieg wurden nach neuesten Schätzungen nahezu neun
Millionen Soldaten getötet, davon über zwei Millionen deutsche; von
Jüngers Jahrgang 1895 fanden etwa 35 Prozent der jungen Männer den Tod.
Weitere Millionen von Männern wurden schwer verwundet und kehrten als
Krüppel oder entstellt nach Hause zurück. Jüngers Kompanie wurde
zweimal, Anfang September 1916 bei Guillemont und im März 1918 bei
Cambrai, fast völlig vernichtet. Er selbst wurde, wie er am Ende der
Stahlgewitter (1, 299) mit einem gewissen Stolz darlegt, durch vierzehn
Geschosse verwundet und trug – mit Ein- und Ausschüssen – zwanzig
Narben davon. Drei dieser Geschosse, zwei Granatsplitter und eine
Schrapnellkugel, stammten aus flächendeckenden Beschießungen; die
restlichen elf Geschosse, Gewehrkugeln und Handgranatensplitter, waren auf
Jünger persönlich gerichtet. Dies ist im Hinblick auf die vielberufene
Anonymität und Technizität des Ersten Weltkriegs ein bemerkenswerter
Umstand und erklärt ein Stück weit Jüngers Beharren darauf, daß auch in
diesem Krieg der einzelne wahrgenommen wurde und eine Rolle spielte.
Daß Jünger bei all dem nicht nur sein Leben behielt, sondern auch
unverstümmelt und unentstellt nach Hause kam, grenzt an ein Wunder. Und
hochgradig erstaunlich ist, daß er dies alles ohne manifeste psychische
Verstörung überstand.
Möglicherweise hat das Tagebuchschreiben hierzu beigetragen. Es mag
mehrfach motiviert gewesen sein: durch die Absicht, ein Merkbuch für die
spätere Beschreibung des ›Abenteuers‹ Krieg zu führen; durch den Wunsch,
für den Fall des Todes ein Dokument eines heroischen Kriegerlebens zu
hinterlassen, wie es in dem Gedicht an die Mutter ausdrücklich gesagt wird;
dann aber auch durch das deutlich erkennbare Interesse, den Krieg mit dem
distanzierten und zugleich scharfen Blick eines Forschers wahrzunehmen
und zu dokumentieren. Die Registratur der bei Douchy erspähten Käfer und
das Notieren der selber ausgeführten wie der wahrgenommenen
militärischen Aktivitäten entspringt ein und demselben Geist des
Beobachtens, Ordnens, Überblick-Herstellens, den Jünger von seinem Vater
anerzogen bekommen hatte. Man kann diesen Geist, wie John King dies in
seiner aufschlußreichen Studie über Jüngers Kriegsschriften vorschlägt, als
den spezifischen Geist der dezidiert wissenschaftlich ausgerichteten
europäischen Neuzeit oder Moderne betrachten. Doch sollte man nicht ganz
ignorieren, daß dieser Geist bereits in der Antike am Werk war; er zeigt sich
in der Anabasis des Xenophon (etwa 430 – 355 v. Chr.) wie in der Naturalis
historia des älteren Plinius (23/24 – 79 n. Chr.), der ums Leben kam, weil er
nach dem Ausbruch des Vesuvs aus Forscherdrang wie Hilfsbereitschaft mit
seinem Schiff in die Gefahrenzone eilte. Die Neuzeit – beginnend mit Tycho
Brahe, Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei, Francis Bacon usw. – hat
diesen Geist allerdings methodisch diszipliniert, praktisch intensiviert und
sozial verallgemeinert; zur Zeit von Jüngers Vater bestimmte er den Habitus
der fortschrittlichen bürgerlichen Intelligenz, und Jünger wurde auf ihn
eingeschworen, als er zu Weihnachten 1908 einen Käfersammelkasten
erhielt.
Das Beobachten mit dem Ziel, das Wichtigste zu notieren, mochte das
Geschehen an der Front verständlicher erscheinen lassen, und das
kontinuierliche Führen des Tagebuchs diente zweifellos auch der
psychischen Stabilisierung: Es half, die Schreckenserfahrungen zu
verarbeiten, Distanz zum Grauen zu gewinnen und das Gefühl zu bewahren,
diesem Leben gewachsen zu sein. In der Erstfassung des Wäldchens 125
bemerkt Jünger selbst, daß das Tagebuchschreiben »Befreiung« bedeute und
daß auch in der »einfachsten Darstellung ein gewisser Trost liege« (W, 60).
Wie brüchig diese Tröstung indessen war, hat John King bemerkt: »Gleich
unter der Oberfläche [der oft so unpersönlich und pseudo-wissenschaftlich
wirkenden Aufzeichnungen] lauert das Trauma, dem mechanisierten und zur
Routine gewordenen Tod ausgesetzt zu sein, das zwar meist unterdrückt
wird, doch in seltenen Augenblicken der Klarheit an die Oberfläche gelangt,
und zwar an Textstellen, die ein scharfes Bewußtsein der Absurdität zeigen,
vier Jahre damit zu verbringen, für den Kaiser zu kämpfen.«
Außer seinen Tagebüchern, seinen Narben und seinen Orden brachte
Jünger aus dem Ersten Weltkrieg noch ein paar Erinnerungsstücke mit:
einige Käfer, einige Versteinerungen aus diversen Gräben und zwei
demolierte Stahlhelme. Der eine hatte einem englischen Oberleutnant gehört,
der bei einem Angriff auf eine von Jünger und einigen Soldaten besetzte
Feldwache erschossen worden war; die tödliche Kugel hatte auch den Rand
des Stahlhelms zerschmettert (1, 161). Den andern hatte Jünger selbst
während der Schlacht bei Cambrai getragen; er war von einer Kugel
durchschlagen worden, die dann Jüngers Schädel streifte (1, 226 und 228).
Jünger hat diese beiden Stahlhelme zeitlebens aufbewahrt und in seinen
Arbeitszimmern so aufgestellt, daß sie in seinem Blickfeld waren: Trophäen
und Memento mori zugleich.
DRITTER TEIL

»De bello maximo«: der Kriegsschriftsteller

Otto Dix, Fliehender Verwundeter (Sommeschlacht 1916), 1924


Porträtphotographie in der nungen und Orden, vor allem Erstausgabe der
Stahlgewitter der »Pour le mérite« und das (1920). Der pelzverbrämte
»Eiserne Kreuz«, gut sichtbar Mantel, der wohl kaum der sind. Man hat es
mit einem Kleiderordnung entsprach, ist Helden zu tun! so drapiert, daß alle
Auszeich-

Kriegsende, Revolution und Reichswehrzeit


Die Schlacht bei Bapaume, in der Jünger am 25. August 1918 ein letztes Mal
verwundet wurde, gehört in den Rahmen der letzten Versuche der deutschen
Heeresleitung, die Offensive der Kriegsgegner aufzuhalten und das Blatt zu
wenden. Bald danach wurde die Vergeblichkeit dieses Bemühens so
deutlich, daß sich die Heeresleitung endlich genötigt sah, die
Unabwendbarkeit der Niederlage einzugestehen. Am 28./29. September
erklärte sie gegenüber führenden Repräsentanten des Kaiserreichs, daß der
Krieg verloren sei und sofort ein Waffenstillstand herbeigeführt werden
müsse, um eine militärische Katastrophe zu verhindern. Dann begann eine
Art Revolution von oben, die bald durch eine Revolution von unten
konterkariert wurde: Am 30. September eröffnete ein
»Parlamentarisierungserlaß« den Weg zur Verwandlung der konstitutionellen
in eine parlamentarische Monarchie. Am 3./4. Oktober ersuchte die neue
Reichsregierung auf Drängen der Heeresleitung den amerikanischen
Präsidenten Wilson um die Vermittlung eines Waffenstillstands.
Die Bekanntmachung dieses Ersuchens führte dazu, daß die pazifistischen
und revolutionären Gruppen, die sich vielerorts gebildet hatten, starken
Zulauf erhielten und eine erste Radikalisierung erfuhren. Ende Oktober
begannen in Wilhelmshaven und Kiel die Matrosen der Hochseeflotte mit
Protesten gegen den Plan der Seekriegsleitung, der überlegenen englischen
Flotte in der Nordsee eine »Verzweiflungsschlacht« zu liefern. In Kiel und
bald darauf auch in anderen Großstädten wurden Soldaten- und Arbeiterräte
gebildet, die in Konkurrenz zu den bestehenden Obrigkeiten traten und diese
vielerorts verdrängten. In Berlin kam es am 9. November zu riesigen
Demonstrationen, bei denen auch die Abdankung des Kaisers gefordert
wurde. Da der Kaiser, der im Hauptquartier in Spa weilte, sich einem
entsprechenden Ersuchen des Reichskanzlers Max von Baden verschloß,
verkündete dieser um die Mittagszeit eigenmächtig die Abdankung des
Kaisers und übergab zugleich das Amt des Reichskanzlers an den
Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei, Friedrich Ebert. Dieser
versuchte, die Revolution einzudämmen, konnte aber nicht verhindern, daß
nun die Republik proklamiert wurde, und dies gleich zweimal: Gegen 14
Uhr trat der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann an ein Fenster des
Reichstags und rief der verstummten Menge zu: »Das deutsche Volk hat auf
der ganzen Linie gesiegt! Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der
Militarismus ist erledigt. Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die
deutsche Republik!« Etwa zwei Stunden später proklamierte der Führer der
Unabhängigen Sozialdemokraten, Karl Liebknecht, vom Balkon des
kaiserlichen Schlosses die »freie sozialistische Republik Deutschland«. Im
Anschluß daran kam es in Berlin und in vielen anderen Städten zu
revolutionären Aktionen, die allenthalben zur Ablösung der regierenden
Fürsten und zur Bildung von Revolutionsregierungen führten. Am 11.
November wurde der Waffenstillstand vereinbart. Der Krieg war zu Ende,
und Deutschland war nominell eine Republik; aber noch war nicht
ausgemacht, wie diese Republik gestaltet werden und wer in welchem Maß
dabei mitzureden haben sollte.
Ernst Jünger hat diese Vorgänge in Hannover und Rehburg erlebt. Nach
seiner letzten Verwundung hatte er zwar gehofft, bald wieder an die Front
zurückkehren zu können; aber ein Versuch, die Feldtauglichkeit durch einen
Sprung über einen Sessel zu demonstrieren, führte zu einem schweren
Rückschlag und band den Genesenden ans Clementinenstift in Hannover.
Während der Revolutionstage scheint er sich in Rehburg aufgehalten zu
haben. Über sechzig Jahre später, am 9. November 1979, notierte er in
seinem Journal:
An diesem 9. November, 1918, telefonierte der Vater aus
Hannover nach Rehburg: »Hier ist die Revolution
ausgebrochen; Ernst soll um Himmels willen zu Haus
bleiben.«
Das Fräulein vom Amt unterbrach: »Herr Doktor, ich muß
abschalten.«
Ich zog Uniform an, schnallte die Armeepistole um und
ging hinunter zum Bahnhof, wo der Zug längst abgefahren
war. Die Mutter hatte die Uhr um eine Stunde zurückgestellt.
(5, 535)
Klugheit und List der Mutter haben dem Sohn vermutlich einige
Unannehmlichkeiten erspart. Achselstücke, Orden und Pistole hätten ihm die
revoltierenden Soldaten und Arbeiter in Hannover mit großer
Wahrscheinlichkeit abgenommen, und wie er, immer noch angeschlagen, die
Konfrontation mit ihnen überstanden hätte, bleibt die Frage. Als ein Trupp
solch revoltierender Soldaten eine Woche später, am 16. November, in
Rehburg erschien und in der Villa Jünger eine »Haussuchung« mit unklarem
Ziel veranstaltete, war er, wie er zwei Tage später dem Bruder Friedrich
Georg schrieb, immerhin schon klug genug, »die ungesicherte Armeepistole
[…] in der Hosentasche« versinken zu lassen und sich rasch zurückzuziehen.
Eine Erinnerung an das Leben in dem »anarchischen Raum« Krieg und
Frieden, Revolution und Normalität sowie – persönlich gesehen –
Versehrtheit und Lebensgier findet sich in der zweiten »Fassung« des
Abenteuerlichen Herzens unter der Überschrift »Aus dem Guckkasten« (9,
208ff.).
Den Untergang des Kaiserreichs und das Verschwinden seiner
Repräsentanten wird Jünger nicht allzusehr bedauert haben. Seine
Kriegstagebücher und späteren Schriften zeigen eine deutliche Distanz zur
wilhelminischen Ordnung; sie war für Jünger eine lebensfeindliche und
überholte Zwangsanstalt. Für die Revolution konnte er dennoch keine
Sympathie entwickeln. Sie bedeutete für ihn die Destruktion des
militärischen Lebensrahmens und stellte mit ihrem pazifistischen Impetus
seine bellizistische Lebensauffassung in Frage. Wenn er schon nicht für
Kaiser und Vaterland gefochten hatte -: dafür, daß nun Pazifisten und
Defätisten das Wort führten und Offizieren die Schulterstücke
heruntergerissen wurden, hatte er auch nicht gekämpft. Er muß sich
einigermaßen düpiert gefühlt haben, durch den Verlauf der Geschichte
gleichsam betrogen und hereingelegt. Spätere Bemerkungen zu dieser Zeit
deuten darauf hin, daß Jünger in eine Lebens- oder Sinnkrise geriet.
Deren Virulenz konnte durch die Übernahme in die Reichswehr nur bis zu
einem gewissen Grad gedämpft werden. Zwar war es eine große
Auszeichnung für Jünger, in das Offizierskorps der Reichswehr
aufgenommen zu werden. Aber von der Größe und dem Glanz der alten
Streitkräfte war wenig geblieben, und von ihrer Kriegstauglichkeit noch
weniger. Der Friedensvertrag von Versailles hatte die Stärke der Reichswehr,
die bis 1914 auf 748 000 Soldaten angewachsen war, auf 115 000 Soldaten
beschränkt. Das Heer durfte – einschließlich der 4000 Offiziere – nur 100
000 Mann zählen. Schwere Artillerie und innovative Waffen wie Panzer,
Flugzeuge und Unterseeboote waren ebenso verboten wie
Mobilisierungsvorbereitungen. Es sollte sichergestellt werden, daß die
deutschen Streitkräfte nicht mehr als Instrument einer aggressiven
Außenpolitik zu benutzen waren; laut Artikel 160 des Friedensvertrags
sollten sie nur »für die Erhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen
Gebietes« bereitstehen, also eine Art von Bereitschaftspolizei darstellen.
Und in der Tat wurde Jüngers Einheit für derartige Aufgaben herangezogen.
Am 7. Januar 1920 schrieb er aus dem siegerländischen Eitorf an seinen
Bruder Friedrich Georg: »Wir stellen in der Hauptsache gegen die
Schmuggler Posten und Patrouillen aus, denn wir grenzen an das von
Engländern besetzte Gebiet. Sodann versuchen wir, die durch die
Demobilmachung überall verstreuten Waffen zu beschlagnahmen. Zu diesem
Zweck werden ganze Dörfer umstellt und durchsucht.« Eine Photographie
aus demselben Jahr zeigt Jünger, den strahlenden »Pour le mérite« am Hals,
während einer Patrouillenübung in Bad Salzuflen im Kreis einer
Mannschaft, die zum Teil Zivilkleidung trägt; er muß sich wie beim
Indianerspiel vorgekommen sein. Zudem war er, der mehrfach eine
Kompanie in die Schlacht geführt hatte, nur noch Zugführer und leistete
seinen Dienst unter Offizieren, die längst nicht so hoch dekoriert waren wie
er. Und schließlich diente er einer Republik, der man sich in seinen Kreisen
nicht eben sonderlich verbunden fühlte. Seinem Sekretär Mohler erzählte
Jünger 1949, beim Fahneneid auf den Reichspräsidenten Ebert habe er
zusammen mit seinem Bruder Friedrich Georg »drei Finger [der linken
Hand] nach unten gespreizt, damit der Eid wieder hinausfahre«.
Jünger gehörte dem 16. Infanterie-Regiment in Hannover an. Von dort aus
wurde er im Dezember 1919 zum Grenzschutz nach Eitorf kommandiert. Im
März 1920 war er wieder in Hannover und erlebte hier den sogenannten
Kapp-Putsch. Dieser hatte seinen Anlaß in den Truppenreduzierungen, die
von der Reichsregierung zwecks Erfüllung des Versailler Vertrags verfügt
worden waren, zielte letztlich aber auf den Sturz der gewählten Regierung.
Er begann am 13. März mit dem Einmarsch der Brigade Ehrhardt in Berlin,
brach aber binnen weniger Tage zusammen, weil die Gewerkschaften den
Generalstreik ausriefen und die Leitung der Reichswehr unter Generaloberst
Hans von Seeckt sich für neutral erklärte.
Auch in Hannover kam es zu Unruhen, über deren Verlauf Jünger nach
dem Ende des Putschversuchs am 17. März in einem ausführlichen Brief an
seinen Bruder Friedrich Georg berichtete: Im Anschluß an eine Debatte
unter den Offizieren der Garnison gab der Standortkommandant, Major
Joachim von Stülpnagel, die Devise aus, daß die Rolle der Reichswehr in der
»Verteidigung der Ordnung« bestehe. Jünger wurde zur Eindämmung einer
Demonstration und zur Entwaffnung einer »welfisch« (also antipreußisch)
orientierten und rebellisch sich verhaltenden Einheit herangezogen, brauchte
aber, wie er mit Erleichterung konstatierte, keine Waffen einzusetzen.
Geradezu auffallend an seinem Bericht ist, daß er sich einer politischen
Bewertung sowohl des Putschversuchs als auch der ›Ordnungspolitik‹ des
Kommandanten von Stülpnagel völlig enthält. Man hat den Eindruck, daß
Jünger, wenn Stülpnagel eine andere Linie verfolgt hätte, leicht auch auf
dieser hätte mitgehen können.

Literarische Studien

Nach Kriegsende war Jünger durch seinen Vater dazu angeregt worden, die
Kriegstagebücher für eine Publikation zu überarbeiten. Daraus wurden die
Stahlgewitter. Sie entstanden zwischen Winter 1918/19 und Frühjahr 1920 in
Hannover, Eitorf und Leisnig, wohin Jüngers Eltern 1919 übergesiedelt
waren. Man darf annehmen, daß er einen Teil seiner Dienstzeit für die Arbeit
nutzen konnte, zweifellos aber auch einen großen Teil seiner Freizeit opfern
mußte. Was davon übrigblieb, gehörte zum guten Teil der Lektüre. In
Hannover hatte Jünger unweit des Waterlooplatzes, an dem die Kasernen
lagen, eine kleine Wohnung bezogen (Mittelstraße 7a parterre), »in der
schon Hindenburg als Leutnant gehaust hatte« (6, 256 und 11, 212); sie war
in Kürze mit so vielen Büchern angefüllt, daß Kameraden, die zu Besuch
kamen, bedenkliche Augen machten (11, 191). Aus Eitorf schrieb Jünger am
7. Januar 1920 an Friedrich Georg: »Meist würdest Du mich […] an den
Abenden beim Studium einer riesigen Goethe-Ausgabe erblicken, die ich
Seite für Seite durchlese. Ich möchte mir in den nächsten Jahren einen
vollständigen Überblick über die deutsche Literatur und Philosophie
verschaffen, und zwar zunächst rein quantitativ.« An diesem ebenso naiven
wie ehrgeizigen Bildungsprogramm hielt Jünger in den nächsten Jahren fest.
Am 16. März 1921 schrieb er – nun aus Berlin – wiederum an Friedrich
Georg: »Ich stehe früh auf in meiner Zelle [in der Militär-Turnanstalt] und
lese mein Kapitel, wie es dem Mönch gebührt. Die geistlichen Übungen des
Ignatius von Loyola, Grazians Handorakel, Kants Träume eines
Geistersehers bilden mein Vorfrühstück, daneben aber auch die Biographien
von Tacitus und Sueton.« Und die Bibliothek wuchs. Am 14. Januar 1923,
um nur einen Hinweis wiederzugeben, schrieb Jünger wiederum aus
Hannover an Friedrich Georg: »Die argentinische Armee bezahlte für das
Übersetzungsrecht von In Stahlgewittern etwa eine Million Mark. Gleich
erwachte der Krösus in mir; ich ging zu Schmorl, um eine siebzehnbändige
Prachtausgabe von E. Th. A. Hoffmann zu erstehen. Bei Lafaire kaufte ich
dann die Werke von Jean Paul, den Goncourts, Gautier, Tacitus, Catull,
Horaz, Martial, Lesage, Verlaine und Baudelaire.« In einem weiteren Brief
vom 25. September meldete er den Erwerb von Lichtenberg, Kleist, Victor
Hugo und Hebbel. Beim Kauf legte er Wert auf schöne Ausgaben. Wenn ein
antiquarisch erworbenes Buch, das ihm wichtig war, keinen repräsentativen
Einband hatte, ließ er es unter Verwendung älterer Einbände aus
goldbedrucktem Leder neu binden.
Was Jünger damals alles gelesen hat, ist nicht genau bekannt. Eine
Leseliste oder ein Büchertagebuch hat er – trotz seiner Neigung zur
Dokumentation – nicht geführt. Manches hat er in den Briefen jener Zeit
vermerkt, anderes in späteren Aufzeichnungen. So schrieb er am 27. Januar
1923 an den Bruder Friedrich Georg: »J. J. [i. e. Jean Jacques Rousseau]
habe ich gelesen, die Bekenntnisse widern mich an« -: eine Bemerkung, die
gleich auch erkenntlich macht, daß Jünger selbst ein Autor war, für den
bestimmte Enthüllungen, Bekenntnisse oder Selbstbezichtigungen nicht in
Frage kamen. Ein sehr viel späterer Verweis auf die Lektüre der
Nachkriegszeit findet sich in einer Tagebuchnotiz vom 27. Mai 1986, in der
es über Jean Paul heißt: »Gleich nach dem Ersten Weltkrieg hatte sein Titan
mich belebt wie Wasser einen Verdurstenden« (21, 103). In den 1970
erschienenen Annäherungen hielt Jünger summarisch fest, daß er in einem
»Lesesturm« sich zunächst die Klassiker und Romantiker angeeignet, dann
aber unter Anleitung des Bruders auch die »neueste Literatur« zur Kenntnis
genommen habe, insbesondere die Expressionisten und namentlich Trakl
(11, 365). Insgesamt zeigen die verschiedenen Hinweise, daß Jüngers
Lektüre- und Anschaffungsprogramm umfassend war. Es schloß die
Klassiker der Antike ebenso ein wie die wichtigsten Vertreter der frühen
Moderne und der avantgardistischen Zehner-Jahre. Hinzu kam eine große
Anzahl von dämonologischen und alchemistischen Werken aus der frühen
Neuzeit, über die Jünger sich die Welt der Symbole erschloß und Elemente
des hermetischen Denkens aneignete. Eigens zu nennen sind einige Autoren,
die Jünger in dieser Zeit las und die eine besondere Bedeutung für ihn
erlangten.
Friedrich Nietzsche: Die wichtigste Lektüre der frühen Nachkriegszeit
scheint Nietzsche gewesen zu sein. In der Originalfassung des 1924/25
publizierten Wäldchens 125 findet sich ein Satz, der Nietzsche eine
einzigartige Bedeutung zuschreibt. Es heißt dort:
Wir hatten – von dem einsamen Nietzsche abgesehen, dem
wir fast alles verdanken, was uns am stärksten bewegt – nach
dem Kriege, der unsere äußere Einheit wieder begründete,
keinen, der wie Balzac »mit der Feder vollenden wollte, was
mit dem Schwert begonnen war«. (W 1, 154)
Wann Jüngers Nietzsche-Lektüre begann, ist nicht ganz sicher auszumachen.
Einiges deutet auf das letzte Schuljahr zwischen der ›Exkursion‹ nach Afrika
und dem Beginn des Kriegs, anderes auf die Zeit unmittelbar nach
Kriegsende. In den handschriftlichen Kriegstagebüchern gibt es keine
ausdrückliche Bezugnahme auf Nietzsche, wohl aber in den
Originalfassungen der Kriegsbücher aus den frühen zwanziger Jahren, was
vermuten läßt, daß Jünger erst zu dieser Zeit mit Nietzsche vertraut wurde
und in den Bann von dessen Denken geriet. Auch ist nicht bekannt, in
welchen Ausgaben er Nietzsche zu dieser Zeit gelesen hat. Aber ungeachtet
dieser Unklarheiten ist festzustellen, daß der Beginn von Jüngers Nietzsche-
Rezeption in die Zeit fiel, in der die Deutschen sich zum »Volk Nietzsches«
– so eine Formulierung von Jünger (KiE 1, 91) – und Nietzsche zu ihrem
Hauptphilosophen machen wollten: in die Zeit, die vor allem an dem
Philosophen des »Willens zur Macht« interessiert war und sich zudem
anschickte, die nationalistisch und militaristisch verwendbaren
Komponenten von Nietzsches Werk hervorzukehren. Galt Nietzsche zuvor in
manchen Kreisen als Kosmopolit oder Internationalist und als Gefahr für ein
gesundes Nationalempfinden, so wurde in den Jahren um 1914 versucht,
auch ihn zu einem patriotischen oder gar nationalistischen Denker zu
machen, mit welchem Recht auch immer. Ebenso begann man den
heroischen, militanten, kämpferischen Nietzsche herauszustellen, auch den
Artilleristen, der Nietzsche während seiner Militärzeit vom Oktober 1867 bis
zum Oktober 1868 widerwillig gewesen war. Es ist symptomatisch für
Jüngers Nietzsche-Auffassung, daß er ihn gerne den »Alten Pulverkopf«
nannte, was – ausweislich des Feldgrauen Büchmann, eines 1916
erschienenen Lexikons der Soldatensprache – eine gängige, im übrigen auch
von Jünger in anderen Zusammenhängen verwendete Bezeichnung für einen
Artilleristen war. Freilich mag Jünger dabei auch an jenes Diktum aus Ecce
homo gedacht haben, mit dem der Verfasser von sich sagt, daß er »kein
Mensch«, sondern »Dynamit« sei.
Nietzsches Einfluß auf Jünger war vielfältig und nachhaltig: Mit
Nietzsche interpretierte Jünger den Krieg als einen elementaren Modus des
Lebens und den Kampf auf Leben und Tod als ein Geschehen, in dem sich
das Leben auf dionysische oder orgiastische Weise entfaltet. Im Sinne von
Nietzsches zweiter »unzeitgemäßer Betrachtung« Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben versuchte Jünger in seinen Kriegsbüchern, den
Krieg – trotz der Niederlage – in Form einer »monumentalischen Historie«
zu beschreiben, also in rühmender, heroisierender, sinnstiftender und
antiresignativer Absicht. Von Nietzsche übernahm Jünger die Vorstellung
vom »Leben« als einem Prozeß des unablässigen Werdens und Vergehens,
des unbarmherzigen Tötens und Getötet-Werdens, Verzehrens und Verzehrt-
Werdens, und die daraus sich ergebende Philosophie der schöpferischen
Zerstörung, die auch für den kulturellen Bereich und das geschichtliche
Handeln geltend gemacht wurde. Ebenso übernahm er von Nietzsche – oder
genauer: aus Nietzsches Schriften in der damals publizierten Form – die auf
Schopenhauer aufbauende Vorstellung, daß das »Leben« von einem einzigen
»Willen« durchwaltet sei und daß dieser »Wille«, so nun Nietzsche, der
»Wille zur Macht« sei, der sich in den geschichtlichen Bewegungen und
Interaktionen agonal entfalte und immerfort auf eine Überwindung des
Status quo dränge. Im Anschluß an Nietzsche kam Jünger in der zweiten
Hälfte der zwanziger Jahre mehr und mehr zur Ansicht, daß der aktuelle
geschichtliche Prozeß auf eine »Entwertung aller Werte« hinauslaufe
(Nihilismus-Diagnose) und diese Entwertung so weit vorangeschritten sei,
daß mit dem Beginn einer Konstitution neuer Werte und mit der Erscheinung
eines »neuen Menschen« oder »Übermenschen« zu rechnen sei. Von
Nietzsche lernte er, daß die Wahrnehmung der Welt standortabhängig oder
»perspektivisch« sei und daß Erkenntnis einen Perspektivenwechsel oder
eine Perspektivenkombination verlange, »stereoskopisches Sehen« (so
Jünger). Wie Nietzsche verstand Jünger schließlich die Schriftstellerei als
eine kriegerische Tätigkeit; die brisanten Formulierungen des »alten
Artilleristen« (9, 97) dienten ihm als Muster für sein eigenes Schreiben und
verführten ihn häufig genug zu extremen Äußerungen.
In seinen frühen Schriften hat sich Jünger immer wieder durch
namentliche Nennung oder leicht identifizierbare Zitate ausdrücklich auf
Nietzsche bezogen. Bei den Überarbeitungen hat er manche dieser
Nennungen getilgt, und in späteren Schriften finden sich von vornherein
weniger. Es scheint, daß Jünger etwas aus Nietzsches Schatten heraustreten
wollte. Auch ist zu beobachten, daß die rein zustimmende Rezeption von
einer punktuell kritischen Sichtweise abgelöst wurde, insbesondere im
Hinblick auf die Philosophie des Willens zur Macht. Die
Auseinandersetzung mit Nietzsche blieb aber eine Konstante in Jüngers
Denken und erlebte nach dem Erscheinen der Kritischen Studienausgabe
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die sich der fast neunzigjährige
Jünger 1983 kaufte, eine neue (und letzte) Phase der intensiven Lektüre und
Reflexion.
Johann Georg Hamann: Als Jünger 1925 in Leipzig zum ersten Mal den
jungen Philosophen Hugo Fischer besuchte, lagen bei diesem Hamanns
Brocken auf dem Tisch: geistreiche und zugleich tiefsinnige Betrachtungen
zur Bibel, mit denen der Königsberger Philosoph und Geschäftsmann Johann
Georg Hamann sich im Jahr 1758 aus einer Lebenskrise gerettet hatte. Seine
Zeitgenossen bezeichneten Hamann wegen seiner außergewöhnlichen
Belesenheit und Scharfsinnigkeit mit dem Wort, das im Matthäus-
Evangelium (2, 1f.) für die drei »Könige« oder »Weisen« (»magoi«) aus dem
Morgenland oder Osten verwendet wird, als einen »Magus in Norden«, und
Goethe nannte ihn gar den »zu seiner Zeit hellsten Kopf«. Jünger war von
dem, was er bei Fischer zu lesen und wohl auch zu hören bekam, so
fasziniert, daß er alsbald zum passionierten Hamann-Leser wurde.
Antiquarisch erwarb er eine Hamann-Ausgabe, die im Laufe der Jahrzehnte
um eine Vielzahl einzelner Schriften ergänzt wurde und zu einer stattlichen
Sammlung anwuchs. Damit ist auch gleich gesagt, daß Jünger sich mit
Hamann – wie mit Nietzsche – zeitlebens befaßte; Hamann war für ihn nicht
weniger wichtig als Nietzsche und Schopenhauer. Am 14. Dezember 1995
notierte er in seinem Journal:
Meine speziellen Anreger, man könnte sie auch Erwecker
nennen, die den Charakter formen und sich ihm einprägen:
Rimbaud als Dichter
Schopenhauer als Denker
Hamann als Magier. (22, 209)
Daß hier nicht Nietzsche, sondern Schopenhauer als der erweckende und
prägende »Denker« genannt wird, ist überraschend, erklärt sich indessen
daraus, daß Jünger im Verlauf der dreißiger und vierziger Jahre von
Nietzsches Willens- und Ermächtigungsphilosophie abgerückt war und sich
wieder auf die schon früher rezipierte Schopenhauersche Philosophie des
Mitleids besonnen hatte. Aber zurück zu Hamann: Jünger schätzte ihn als
»Magier«, das heißt: als Eröffner und Verwalter oder Lehrer eines Wissens,
das, wie Jünger einmal sagte, gleichsam »die Anstrengungen der Chemie in
das Gebiet der Alchimie einzubeziehen strebt« (7, 123), also das rational
erschlossene und auf mathematische Formeln gebrachte Wissen um ein
»magisches« Denken ergänzt, das sich in Analogien und rational nicht
verifizierbaren Zusammenhängen bewegt. Durch Hamann, der den
aufklärerischen Glauben an die Vernunft und die vernunftgeleitete
Vervollkommnung (»Perfektibilität«) des Menschen als epochalen
Selbstbetrug kritisiert hatte, fühlte sich Jünger in seiner Skepsis gegenüber
der Aufklärung und dem Fortschrittsglauben bestärkt. Mit Hamann glaubte
er, daß es neben der rationalen eine intuitive Erkenntnis gibt, die als
»Offenbarung« erscheint, und daß die größten Lehrer der Menschheit – von
Heraklit bis Goethe – ihr Wissen nicht wie Descartes und Newton dem
rationalen Denken verdanken, sondern solchen »Offenbarungen« (vgl. 13,
135). Mit Hamann glaubte Jünger auch an den Erschließungs- oder
Erkenntniswert der Sprache, und zwar nicht der logisch durchgearbeiteten
Begriffssprache, sondern der aller rationalen Reflexion vorausgehenden
Bildlichkeit und Klanglichkeit der Wörter. Daß er 1934 ein »Lob der
Vokale« schrieb und darin dem elementaren Ausdrucks- oder Sensationswert
der Vokale nachspürte, ist nicht nur auf Rimbauds Gedicht Voyelles
zurückzuführen, sondern auch auf Anregungen durch Hamann. Und
schließlich wurde Jünger durch Hamann – wie durch Nietzsche – in seiner
Vorliebe für die aphoristische und epigrammatische Ausdrucksweise
bestärkt. Ein erster und zugleich massiver Niederschlag seiner
Auseinandersetzung mit Hamann ist im Abenteuerlichen Herzen (1929) zu
sehen, und aufschlußreich für die große Bedeutung, die Hamann dadurch für
Jünger gewann, ist, was er am 13. Januar 1934 an Carl Schmitt über Hamann
schrieb:
Ich hoffe, mich in späteren Jahren einmal eingehend mit
Hamann beschäftigen zu können; ich sehe in seiner Stellung
zu Kant und den Enzyklopädisten eine der bedeutendsten
Begegnungen zwischen dem Auge und dem Ohr, zwischen
Licht und Sprache, zwischen Erkenntnis und Offenbarung
überhaupt. Seit der kopernikanischen Revolution sind das
äußere und das innere Auge in Opposition getreten, und die
Uebereinstimmung der menschlichen und göttlichen Dinge ist
durch die cartesianische Zirbeldrüse ersetzt. Es gibt aber in
diesem Raume noch einige Geister, denen der Einklang nicht
verloren gegangen ist, und die, wie ich neulich schrieb,
zugleich diesseits und jenseits der Moderne stehen. Hierzu
rechne ich Pascal, und bei Hamann ist die Sprache, was bei
Pascal die Mathematik.
Darüber hinaus ist mit Günter Figal nur noch festzustellen, daß der
Hamannsche Gedanke, die Welt werde bei kundiger Betrachtung lesbar und
transparent für ihren verborgenen Sinn, der »Hauptschlüssel« für Jüngers
Werk ist.
E. T. A. Hoffmann: Über Hamann darf allerdings der Romantiker E. T.A.
Hoffmann nicht vergessen werden. Jünger kannte ihn wohl von Jugend an
und hat sich 1923 eine »siebzehnbändige Prachtausgabe« zugelegt. Was ihn
an Hoffmann so faszinierte, wird aus seinen Schriften rasch ersichtlich, etwa
aus dem 1922 erschienenen Essay Der Kampf als inneres Erlebnis. Dort
wird im Kapitel »Vom Feinde« in einer an August Stramms Kriegsgedichte
erinnernden Weise geschildert, welch unheimliche, ja grauenerregende Züge
die nächtliche Frontlandschaft bisweilen annahm, und dann heißt es – mit
stillschweigendem Bezug auf Hoffmanns Märchenerzählung Der goldne
Topf: »E. Th. A. Hoffmann ist der Dichter dieser Durchbrüche [des
Unheimlichen und Entsetzlichen], aus seinen Hofräten und Spießbürgern
gleißt unvermittelt das Gespenstische auf, der Anblick eines Türknaufs
zaubert ein würgendes Erlebnis hervor« (7, 93). In ähnlicher Weise wird
Hoffmann auch in anderen Schriften angeführt. Neben Hamann – und mit
anderen Romantikern wie Novalis – war er für Jünger der wichtigste
Gewährsmann für die Vielschichtigkeit der Welt, die wahrzunehmen und
darzustellen freilich eine besondere Optik und eine besondere
Schreibtechnik verlangte -: Fähigkeiten, die Jünger später mit den Begriffen
des »stereoskopischen Blicks« (9, 20ff.) und der »Kristallographie« (9,
182f.) bedachte.
… und Goethe: So wenig wie E. T.A. Hoffmann darf Goethe vergessen
werden. In dem Brief vom 7. Januar 1920, in dem Jünger über seine
Literaturstudien berichtete, ist ja ausdrücklich die »riesige Goethe-Ausgabe«
erwähnt. Die damalige Lektüre ergänzte die frühere schulische
Beschäftigung mit Goethe und ließ Jünger zu einem gründlichen Goethe-
Kenner werden. Verstreut über Jüngers Werk und zumal über die
Tagebücher, findet sich eine Fülle von Goethe-Zitaten oder Anspielungen,
und erst jüngst hat der koreanische Germanist Wonseok Chung in einer
umsichtigen Dissertation gezeigt, wie groß die gedankliche Affinität Jüngers
zu Goethe war, sichtbar etwa in Ganzheitlichkeitsvorstellungen, in der
Verbindung von Naturwissenschaft und Kunst, in einer morphologischen
und symbolistischen Weltbetrachtung, aber auch in der Wertschätzung von
Heiterkeit. Fast ist man erstaunt, daß Goethe unter den »speziellen
Anregern« nicht genannt wird; aber da wird ja auch Nietzsche nicht genannt

Oswald Spengler: Von den zeitgenössischen Autoren, die Jünger nach
dem Ersten Weltkrieg las und die eine prägende Bedeutung für ihn erlangten,
ist an erster Stelle wohl Oswald Spengler zu nennen, der 1918/19 durch zwei
Bücher zum Autor der Stunde geworden war und bald als Vordenker der
sogenannten Konservativen Revolution galt. Im September 1918 war der
erste Band von Spenglers geschichtsphilosophischem Werk Der Untergang
des Abendlandes erschienen (der zweite folgte 1922). Schon vor dem Krieg
begonnen, war dieses Buch keineswegs eine Reflexion des Kriegs oder gar
der deutschen Niederlage. Vielmehr entwickelte es in kühn
analogisierendem Zugriff und apodiktischem sprachlichen Gestus eine
»Morphologie der Weltgeschichte«, deren Kernthese besagt, daß die
Weltgeschichte aus einem Neben- und Nacheinander von – bisher acht –
autonomen Hochkulturen besteht, die wie lebende Organismen die Phasen
der Entstehung und des Wachstums, der Blüte und der Reife sowie des
Verfalls und Verschwindens durchlaufen. Die abendländische Kultur hatte
Spengler zufolge ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert und ging nun der
zivilisatorischen Verflachung oder »Fellachisierung« entgegen. Der
»Untergang des Abendlandes« vollzog sich demnach als ein ebenso
zwangsläufiger wie natürlicher Prozeß, für den ein Ereignis wie der »Große
Krieg« allenfalls periphere Bedeutung haben konnte.
Und doch wirkte Spenglers Buch 1918/19 wie eine Sinndeutung des
Kriegs und zumal der deutschen Niederlage: Sie verlor nun den Charakter
des nur Mißglückten oder gar nur Zufälligen und erschien als Manifestation
eines Verfallsprozesses, der letztlich hingenommen werden mußte, sei es nun
in fatalistischer Passivität oder in heroischem Widerstreben. Für letzteres
plädierte Spengler mehr oder minder deutlich mit seinem zweiten Buch, dem
1919 erschienenen Pamphlet Preußentum und Sozialismus. Er verwarf darin
sowohl den englischen Liberalismus als auch den marxistischen
Kommunismus und glorifizierte demgegenüber das Preußentum, wie es mit
Friedrich Wilhelm I. in Erscheinung getreten war. Der englische Händler-
Liberalismus war für Spengler materialistisch und individualegoistisch, der
marxistische Sozialismus materialistisch und klassenegoistisch. Hingegen
bedeutete Preußentum für Spengler Staatssozialismus oder Vereinigung aller
in selbstloser Arbeit für den Staat, dessen Sinn in der imperialistischen
Machtentfaltung zugunsten der Staatsangehörigen wie der – vermeintlich –
überlegenen Staatsidee bestand. Spengler hat Nietzsches Machtphilosophie
auf die Politik übertragen und in der Nachkriegsdepression nationalistisch
ausgespielt.
Spenglers Wirkung war ungeheuerlich. Beide Bücher erschienen in
Massenauflagen. Intellektuelle von Rang – genannt sei Thomas Mann –
zählten zu Spenglers faszinierten Lesern. Ebenso Ernst Jünger. Ein Brief
vom 27. August 1922 an den Bruder Friedrich Georg dokumentiert eine
eingehende Beschäftigung mit dem Untergang; die politischen und
geschichtsphilosophischen Schriften bis hin zur Zeitmauer (1959) und zum
geschichtsphilosophisch ambitionierten Roman Eumeswil (1977) weisen
vielerlei Anleihen von Spengler auf, und in seinen autobiographischen
Schriften und Äußerungen hat Jünger vielfach auf die anregende, in mancher
Hinsicht sogar prägende Kraft Spenglers hingewiesen. Sie betrifft Jüngers
später entfaltetes Konzept des »neuen Nationalismus« und die damit
verbundene Favorisierung eines autoritären Staats. Sie betrifft die Bedeutung
des Phänomens »Arbeit« für die durchgreifend »mobilisierte« Moderne. Sie
betrifft die Philosophie des »Verlorenen Postens«, also des heroischen
Ausharrens auch in einer geschichtlichen Situation, die durch den
fortgeschrittenen oder gar vollendeten Nihilismus bestimmt ist und noch
keinerlei positive Perspektive erkennen läßt. Sie betrifft schließlich auch
Jüngers Geschichtsbild, das von Spenglers Sicht beeinflußt ist, aber doch
nicht in ihr aufgeht. Schon in dem Brief vom 27. August 1922 distanzierte
sich Jünger von Spengler, indem er bemerkte, daß er sich in seiner
Ȇberzeugung von der Einheit der Menschheits-Geschichte nicht
erschüttern« lasse, weil sonst die Geschichte der Menschen ins Gebiet der
»Zoologie« fiele. Anders als Spengler, der – nach Jüngers Exegese – im
Neben- und Nacheinander der autonomen Hochkulturen keinen Fortschritt
des Ganzen zu erkennen vermochte, wollte er daran festhalten, daß es nicht
nur ein getrenntes Auf und Ab der Kulturen gebe, sondern ein Beerben und
eine Progression des Ganzen. Allerdings schwankte er in diesem Punkt auf
Dauer zwischen Zustimmung und Ablehnung.
Thomas Mann: Auf deutsche Autoren »schöner« Literatur nimmt Jünger
in seinen Schriften relativ selten Bezug. Um so auffälliger ist es, daß er in
seiner politischen Publizistik nach 1925 immer wieder Thomas Mann
erwähnt. Von ihm scheint Jünger insbesondere zwei Werke gelesen zu
haben: die im Herbst 1918 erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen
und den 1924 publizierten Roman Der Zauberberg. Durch beide sah sich
Jünger zunächst in seinem antidemokratischen Affekt bestätigt: Mit den
Betrachtungen habe Thomas Mann die »korrupte Luft des Novemberstaates
[…] mit wunderbarer Klarheit vorausgesagt« (PP, 308) und – wie später mit
dem Zauberberg – das dürftige und ridiküle Wesen des
»Zivilisationsliteraten« enthüllt (PP, 314 und 351); den Zauberberg schätzte
Jünger überdies, weil er – wie Kubins Roman Die andere Seite – »den
langsamen Angriff der Verwesung« auf die Gesellschaft der Vorkriegszeit
erfaßte (PP, 462 = 14, 24). Daß Thomas Mann 1922 mit seiner Berliner Rede
Von deutscher Republik ins Lager der Demokraten gewechselt und für die
Republik eingetreten war, hat Jünger zunächst einmal ignoriert. Erst später,
um 1928, hörte er damit auf, Thomas Mann als Kronzeugen der prinzipiellen
Verfehltheit der Republik anzuführen. Seine Wertschätzung für den
Zauberberg hielt aber an; noch im Mai 1929 nannte Jünger ihn den
»bedeutendsten Roman der Nachkriegszeit«. Zwar glaubte er feststellen zu
müssen, daß sich »das in den Krieg einmündende Ende« dieses Romans
geradezu »störend« an den »zivilisatorischen Inhalt« anschließe; aber das
schien ihm weniger ein Fehler als vielmehr die ästhetische Entsprechung für
den Umstand zu sein, daß der Krieg als »elementarer Akt« alle
zivilisatorischen Einhegungsversuche zunichte mache (PP, 483f.).
Und möglicherweise schätzte Jünger am Zauberberg noch etwas anderes:
die Figur des jüdisch geborenen Jesuiten Leo Naphta, der zum Gegenspieler
des »Zivilisationsliteraten« Settembrini wird. Während dieser gegenüber
dem »Zögling« Hans Castorp unentwegt für Humanität und zivile Tugenden,
bürgerliche Freiheiten und Demokratie plädiert, verlangt der
fundamentalistische Naphta die Wiederherstellung eines »Gottesstaates«, der
durch »absoluten Befehl« und »eiserne Bindung« geprägt sein sollte, durch
»Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich«, durch die »Vergewaltigung der
Persönlichkeit« und »Askese«, durch »Terror« und Überwindung der
humanistischen »Blutscheu«. Naphta ist ein »Revolutionär der Erhaltung«,
wie es im Zauberberg heißt, oder, wie man auch sagen kann, ein Exponent
jener »konservativen Revolution«, die ideologisch und organisatorisch kaum
faßbar war, aber im politischen Denken der zwanziger Jahre eine wichtige
Rolle spielte und in Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Stefan
George, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt u. a. renommierte
Vertreter hatte. Auch der Thomas Mann der frühen Nachkriegsjahre war ein
Repräsentant dieser Geistesströmung und wirkte als solcher auf Ernst und
Friedrich Georg Jünger, die bald auf diese Linie des Denkens
einschwenkten. Mit dem düster funkelnden Naphta, dessen totalitäre Welt-
und Gesellschaftsvorstellungen von Settembrini als »monströser Irrsinn«
bezeichnet werden, hat Thomas Mann sich von dieser kulturell-politischen
Einstellung distanziert, zugleich aber eine Figur geschaffen, die – trotz
karikaturhafter Zuspitzungen – faszinierend wirkt und die Virulenz des
konservativ-revolutionären und hier auch totalitären Denkens erahnbar
werden läßt. Jünger konnte auf Naphta nicht zustimmend verweisen; dafür
war die Position, die Thomas Mann diesem zugeschrieben hatte, zu extrem,
zu katholisch, zu gegenwartsfern. Wohl aber wird er die Gestalt Naphtas mit
großem Interesse betrachtet und als Bestätigung dafür gewertet haben, daß
die humanistisch-demokratische Einstellung des »Zivilisationsliteraten«
Settembrini nicht ohne Alternative war.
Maurice Barrès: In einer Tagebuchnotiz vom 5. Februar 1983 bemerkte
Jünger: »Barrès hat nach dem Ersten Weltkrieg stark auf mich gewirkt« (20,
248). Gemeint ist der französische Schriftsteller und Politiker Maurice
Barrès, der seit 1906 Mitglied der Académie Française war. Barrès war eine
vielseitige, schillernde und anregende Persönlichkeit. Literaturlexika
bezeichnen ihn als »Romancier des Ich-Kults der Dekadenz«, der sich mit
aristokratischem Gestus gegen die nivellierenden Tendenzen des
Naturalismus wandte; als »Fanatiker des Traditionalismus«; als Vertreter
eines auf Blut und Boden sich berufenden Nationalismus und eines
ästhetizistischen Katholizismus; im übrigen war er ein Wortführer des
Antiparlamentarismus, des Antisemitismus und des anti-»teutonischen«
Revanchismus, nach dem Krieg, an dem er als Soldat teilnahm, aber auch
ein Befürworter einer französisch-deutschen Annäherung und Kooperation.
Trotz ihrer Unschärfe lassen diese Etikettierungen erkennen, was Jünger an
Barrès interessiert oder gar fasziniert haben könnte: der Nationalismus und
der Antiparlamentarismus, ebenso die Blutmystik des 1894 erschienenen
Buchs Du sang, de la volupté et de la mort. Jünger will dieses Werk, das
1907 unter dem Titel Vom Blute, von der Wollust und dem Tod auch in
Deutschland Verbreitung gefunden hatte, schon vor dem Krieg rezipiert
haben.
Was er um 1920 tatsächlich von Barrès gelesen hat, ist schwer
auszumachen, weil sich Jüngers Hinweise zum Teil auf spätere Lektüren
beziehen und in der Wilflinger Bibliothek nur die kaum benutzten Cahiers
stehen. Deutlich wird aus den späteren Notizen aber allemal, daß Barrès eine
der Inspirationsquellen für den »neuen Nationalismus« war, den Jünger nach
1920 zu entwickeln begann. Später hat er sich von Barrès etwas distanziert.
Am 7. Mai 1945 bemerkte er in einer Tagebuchnotiz, daß Barrès’ Weg für
ihn »nicht mehr gangbar« war (3, 433), und am 11. Mai 1971 reihte er ihn –
ohne ihn zu verwerfen – unter seine »negativen Lehrmeister« ein (5, 33f.).
Charles Baudelaire: In seinem zweiten, 1922 erschienenen Kriegsbuch
Der Kampf als inneres Erlebnis zitiert Jünger im Kapitel »Grauen« einen
ungenannten »poète maudit« mit den Versen:
Et dites-moi s’il est encore quelque torture
Pour ce vieux corps sans âme et mort parmi les morts? (7, 22)
Es sind die beiden letzten Verse des Sonetts Le mort joyeux/Der frohe Tote
aus Baudelaires Gedichtsammlung Les Fleurs du Mal/Die Blumen des
Bösen. Der Tote, froh, das Leben hinter sich zu haben und nun nicht in einer
Gruft eingeschlossen zu sein, sondern – wie ein gefallener Soldat – in der
bloßen Erde zu liegen, lädt die Würmer ein, seinen »Zerfall« zu
»durchkriechen«, und ruft sie am Ende als Zeugen dafür auf, daß nun alles
Leiden beendet sei:
Und sagt, ob diesem Leib, seellos und tot
Bei Toten, noch etwas wie Marter droht!
(Übersetzung: Carlo Schmid)
Mit seinen 1857 erstmals erschienenen Blumen des Bösen war Charles
Baudelaire zum Mitbegründer der ästhetizistischen Décadence und des
Symbolismus geworden. Beides ist im Hinblick auf Jünger wichtig: der
Ästhetizismus, weil er die ›Malitätsflorifizierung‹ lehrte, die Verwandlung
des Bösen oder Widerwärtigen in Schönes; der Symbolismus, weil er dazu
anhielt, hinter der unmittelbar wahrnehmbaren Wirklichkeit eine andere,
höhere Welt zu sehen. Wann Jünger mit Baudelaires Werk erstmals in
Berührung kam, ist nicht feststellbar; möglicherweise war es, wie in Kampf
als inneres Erlebnis angedeutet (7, 62), während des Kriegs. Deutlich ist
aber, daß Baudelaire in der Zeit nach dem Krieg eine Art von
Orientierungsfigur wurde: nicht nur, daß er in Kampf als inneres Erlebnis als
›Nothelfer‹ gegen das Grauen vor der drohenden Verwesung aufgerufen
wird; auch in der 1923 erschienenen Erzählung Sturm taucht er als einer der
›Lehrer‹ des Titelhelden auf (15, 31 sowie 37), als Exempel einer
bohemehaften und ästhetizistischen Lebensweise. Im übrigen interessierte
sich Jünger um 1920 auch für Baudelaires Schriften über den Konsum von
Drogen, Les Paradis artificiels und Du Vin et du Haschisch.
Arthur Rimbaud: Arthur Rimbaud war ein zweiter »poète maudit«, der
Jünger faszinierte. Wiederum ist nicht ganz sicher, wann Jünger sich zum
ersten Mal mit Rimbaud befaßte. In einer Tagebuchnotiz vom 8. Oktober
1981 bemerkt er, daß er mit seinem Bruder »früh« Gespräche über Rimbaud
geführt habe, und dies hat in der Jünger-Forschung die Vermutung
aufkommen lassen, daß er ihn schon während der Schulzeit oder nach dem
Gang in die Fremdenlegion gelesen habe. Ein Brief vom 6. September 1921
an Friedrich Georg deutet aber darauf hin, daß die Erstlektüre in den
Spätsommer 1921 fiel. Es heißt in diesem Brief, der auch die Intensität von
Jüngers literarischen Studien erkennen läßt:
Ich lese jetzt Arthur Rimbaud, einen Dichter, der als Jüngling
die Feder beiseite warf, nachdem er mit Verlaine halb Europa
als Vagabund durchzogen hatte, dann in den Urwäldern
untertauchte und als Dreißigjähriger in Marseille starb. Sein
großes Gedicht »Das trunkene Schiff« gehört zu den
Zeugnissen, die in dämonischer Sprache geschrieben sind. Ich
vergleiche es gern mit »Les Phares« von Baudelaire, aber
während dort die Schönheit in vollkommener Rüstung und
Besinnung erscheint, lodert sie bei Rimbaud in den bunten
Farben des Unterganges auf.
Vom Trunkenen Schiff war Jünger damals so hingerissen, daß er es eines
Abends zwei Kameraden vorlas. Einer der beiden war der spätere
Generaloberst Werner von Fritsch; er hat diese Lesung, wie Jünger am 6.
Mai 1979 festhielt, damals in bemerkenswerter Weise kommentiert:
Fritsch hat mich zusammen mit einem Kameraden einmal in
der Hannoverschen Mittelstraße 7a parterre besucht. […] Ich
las ihnen »Das trunkene Schiff« von Rimbaud vor, ein
Gedicht, das mich damals ungemein beschäftigte, fast eine
Wende herbeiführte.
Zwanzig Jahre später, als Fritsch [am 22. September 1939
beim Einmarsch in Polen] schon gefallen war, begegnete ich
in Paris jenem Kameraden; er erzählte mir, daß Fritsch ihm
auf dem Rückweg gesagt habe: »Der täte gut, wenn er bald
seinen Hut nähme.« Ein treffendes Urteil, wahrscheinlich
auch gut gemeint. (5, 478; vgl. auch 11, 185)
Daß sich Jünger nach dem Ersten Weltkrieg für Rimbaud begeisterte, ist bei
seiner Vorliebe für Abenteurer nicht verwunderlich; aber es ist auch nicht
selbstverständlich, wie die apologetische Weise zeigt, in der Jünger den
»jungen Gallier« in der Erstfassung von Feuer und Blut anführt (FuB, 52).
Der Wunsch, ihn im Kameradenkreis und gegenüber dem Publikum der
Kriegsbücher zur Geltung zu bringen, muß mächtig gewesen sein und kann
nicht allein durch den Verweis auf die poetische Bedeutung Rimbauds
erklärt werden. Vielmehr ist mit John Kings Studie über Jüngers literarische
Verarbeitung des Ersten Weltkriegs zu vermuten, daß Jünger in Rimbaud –
sehr zu Recht – einen Autor gesehen oder gewittert hat, der ihm insofern
bedeutend oder gar vorbildlich sein mußte, als er aus den
Entfremdungserfahrungen, die das moderne Leben mit sich brachte, die
Konsequenz zog, die Vorstellung einer konsistenten Persönlichkeit mit
einem geschlossenen Weltbild preiszugeben. »[Car] je est un autre«/»[Denn]
ich ist ein anderer«, heißt die berühmt gewordene Formulierung, mit der
Rimbaud das Zerfallen der Persönlichkeit in seinen sogenannten
»Seherbriefen« vom 13. und 15. Mai 1871 benannte. Jünger wollte Rimbaud
hierin offensichtlich nicht folgen; seine sorgfältige Dokumentation der
Kriegserfahrung und die Sinngebungsversuche der Kriegsbücher weisen in
die entgegengesetzte Richtung. Aber das große Interesse an Rimbaud läßt
vermuten, daß in Jünger der Verdacht keimte, daß dieser Versuch zum
Scheitern verurteilt sein könne, weil kein Bewußtsein in der Lage war, die
Millionen der durch diesen Krieg zerstörten Leben mit einem bündigen
Sinnentwurf zu quittieren.
Die außerordentliche Bedeutung, die Rimbaud für Jünger gewann, deutet
sich in einigen Tagebuchnotizen an. Am 8. November 1982 notiert Jünger,
daß er durch ihn eine erste und läuternde »Ahnung« von dem bekommen
habe, »was die Sprache vermag« (20, 204), und am 14. Dezember 1995
bezeichnete er Rimbaud als seinen dichterischen »Erwecker« (22, 209). An
anderen Stellen nannte er ihn einen der »Kirchenväter der Moderne« (11,
185) und zudem einen der »Auguren der Malstromtiefen« des 20.
Jahrhunderts (2, 13). Das Trunkene Schiff betrachtete Jünger als »Fanal« der
Dichtung des 19. Jahrhunderts und mithin der alten, »kopernikanischen«
Welt, die mit dem Ersten Weltkrieg unterging (2, 489).
Joris-Karl Huysmans: Weniger prägend, aber auch nicht ohne Wirkung
war die Lektüre einiger Werke von Joris-Karl Huysmans, der mit seinen
Romanen A rebours/Gegen den Strich (1884, dt. 1921) und Là-bas/Tief
unten (1891, dt. 1903) ein Vertreter der Décadence war und mit Romanen
wie La Cathédrale (1898, dt. 1924) und L’Oblat (1903) zum Missionar eines
ästhetizistischen Katholizismus wurde. Jünger hat einige seiner Bücher nach
dem Ersten Weltkrieg gelesen und hat ihn auf Dauer als Begleiter auf dem
Weg ›nach unten‹ und in den »Mangel« geschätzt (2, 267); die Wilflinger
Bibliothek weist diverse französische und deutsche Ausgaben auf. Die
ästhetizistischen Ansprüche der Huysmansschen Helden, so verstiegen sie
auch waren, bildeten für Jünger gleichsam eine Marke, an der er die Verluste
an Genußmöglichkeiten aller Art ablas. Die Lektüre um 1920 rief in Jünger,
wie er am 27. Februar 1945 und noch einmal am 28. Juni 1987 notierte, »die
Tendenz zu einem expressionistischen Katholizismus wach« (3, 376 und 21,
173). Diese blieb zwar episodisch, korrelierte aber mit seinem Wunsch nach
einem geschlossenen und sinnhaft wirkenden Weltund Geschichtsbild.
Später hat Jünger die Kathedrale als eine »subalterne« und mithin geist- und
kunstlose Aufzählung der Schönheiten der Kathedrale von Chartres
bezeichnet und abgewertet (3, 340).
Walter Serner: Walter Serner wurde 1889 in Karlsbad als Sohn eines
jüdischen Zeitungsverlegers geboren und hieß zunächst Walter Eduard
Seligmann. 1909 konvertierte er zum Katholizismus und nahm den Namen
Serner an. Bis 1913 studierte er in Wien und Greifswald Rechtswissenschaft
und erwarb den juristischen Doktortitel. Als überzeugter Pazifist emigrierte
er 1914 in die Schweiz und schloß sich den Dadaisten um Hugo Ball an.
Hier entstanden die Aphorismen, die 1920 unter dem Titel Letzte Lockerung
manifest dada publiziert wurden. Serner war ein erster Meister des »totalen
Ideologieverdachts«, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg sagte, und ein
Hauptvertreter jener radikal aufgeklärten oder gänzlich illusionslosen und
deswegen zynisch sich äußernden Vernunft, die Peter Sloterdijk 1983 im
»historischen Hauptstück« seiner Kritik der zynischen Vernunft als einen
wichtigen Zug der Weimarer Intellektualität beschrieben hat. Die Letzte
Lockerung ist das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für die aus dem Ersten
Weltkrieg resultierenden dadaistischen Einreden gegen alle Sinnerhaltungs-
und Sinnstiftungsversuche. Im sechsten Aphorismus heißt es:
Es ist allgemein bekannt, daß ein Hund keine Hängematte ist;
weniger, daß ohne diese zarte Hypothese Malern die
Schmierfaust herunterfiele; und überhaupt nicht, daß
Interjektionen am treffendsten sind: Weltanschauungen sind
Vokabelmischungen … […]. Ob einer in richtig
funktionierenden Trochäen oder sonstwie bilderstrotzend (alle
Bilder sind plausibel) oder sozusagen expressionistisch mir
vorsäuselt, daß ihm übel war, und, seit er es schwarz auf weiß
hat, besser wurde, oder, daß ihm zwar wohl war (schau,
schau!), aber übel wurde, als er das nicht mehr begriff
(teremtete!): es ist immer dieselbe untereselhafte
Anstrengung, aus der Verlegenheit sich ziehen zu wollen,
indem man sie (stilisierend, ogottogotto) – GESTALTET. Das
heißt: aus dem Leben, das unwahrscheinlich ist bis in die
Fingerspitzen, etwas Wahrscheinliches machen! Über dieses
Chaos von Dreck und Rätsel einen erlösenden Himmel
stülpen!! Den Menschenmist ordnend durchduften!!! Ich
danke … Gibt es ein idiotischeres Bild als einen (puh) –
genial stilisierenden Kopf, der bei dieser Beschäftigung mit
sich selbst kokettiert? [...] O, über die so überheitere
Verlegenheit, die mit einer Verbeugung vor sich selber endet!
DESHALB (dieser stilisierten Krümmung wegen) werden
Philosophien und Romane erschwitzt, Bilder geschmiert,
Plastiken gebosselt, Symphonien hervorgeächzt und
Religionen gestartet! Welch ein erschütternder Ehrgeiz, zumal
diese eitlen Eseleien durchwegs gründlich (sc. besonders
gründlich in mitteleuropäischen Gauen) mißglückt sind! Alles
Unfug!!!
Konsequenterweise läßt der Verfasser gegen Ende des Kapitels »Blague« mit
dem letzten Satz des achtundfünfzigsten Aphorismus denn auch wissen:
Ich würde mich freuen, zu hören, daß diese Seiten der
LETZTE Mist sind, der geschrieben wurde. Ich würde mich
sehr freuen.
In stark erweiterter Form erschien die Letzte Lockerung 1927 im Rahmen
einer siebenbändigen Gesamtausgabe mit dem Untertitel »Ein Handbrevier
für Hochstapler und solche die es werden wollen«: auch in dieser Form eine
Schule der Entlarvung wie des Betrugs. Serner führte ein etwas
abenteuerliches Leben und war zuletzt Lehrer in Prag, bevor er am 10.
August 1942 zusammen mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert und
zehn Tage später in ein Vernichtungslager geschickt wurde.
Jünger hat, wie er am 12. Dezember 1983 und am 15. Januar 1984 in
Tagebuchnotizen festhielt, die Letzte Lockerung 1920 gelesen und im
Original besessen (20, 309 und 312f.). Sie hat ihn nachhaltig beeindruckt,
und der Titel wurde für ihn gleichsam zu einem ›Merkwort‹ und
epochendiagnostischen Begriff: Mehrfach taucht in den Tagebuchnotizen die
Formel »Letzte Lockerung[en]« auf, wenn von gesellschaftlichen oder
geschichtlichen Auflösungserscheinungen die Rede ist (vgl. 4, 448 und 6,
320). Und das bedeutet: Serner war für Jünger – ähnlich wie Kubin – ein
Zeitgenosse und Künstler, der den nihilistischen Prozeß, den Jünger – im
Anschluß an Nietzsche – für unumkehrbar hielt, scharfsichtig beschrieb und
gleichzeitig betrieb, ein Autor, der an den magischen »Nullpunkt« des
Denkens heranführte und ihn markierte. Dafür hat Jünger Serner geschätzt.
Selber wollte er an diesem Punkt freilich nicht stehenbleiben, und insofern
ist Jüngers Schaffen gegen die ›letzten Lockerungen‹ nicht nur Serners
gerichtet. Dies gilt implizit schon für die Kriegsbücher und ihre
verzweifelten Sinngebungsversuche; explizit wird es in dem 1949
publizierten Roman Heliopolis, in dem ein Philosoph oder »freier Denker«
namens Serner auftaucht, aber eine ganz und gar un- oder anti-sernersche
Position vertritt (16, 100ff.).
Daß Jünger Serners Letzte Lockerung gelesen hat, ist kein Zufall. Sie
erschien in der Reihe der Silbergäule des Hannoveraner Verlegers Paul
Steegemann, der im zentral gelegenen Café Kröpcke seinen Stammplatz
hatte und die ortsansässigen Avantgardisten um sich versammelte, darunter
auch den Dadaisten und MERZ-Künstler Kurt Schwitters. Mehrfach
bemerkte Jünger in späteren Aufzeichnungen, daß auch er – zum
»Mißvergnügen« seiner Vorgesetzten – in Steegemanns »Gesellschaft«
verkehrte (20, 312; vgl. 11, 212ff.); aber es bleibt unklar, ob er mit
Schwitters persönlichen Kontakt hatte, und es ist eher unwahrscheinlich.
Überliefert ist, daß Jünger Steegemann einige Novellen und Gedichte zum
Druck überlassen habe, und es wurde schon die Frage gestellt, ob nicht der
eine oder andere Text unter einem Pseudonym erschienen ist, da Jünger als
Angehöriger der Reichswehr nicht unter seinem Namen publizieren durfte
und bei Steegemann auch andere und renommierte Autoren unter
Pseudonymen gedruckt wurden. Wie dem auch sei, die Bekanntschaft mit
Steegemann, dessen Silbergäule Jünger allesamt gelesen haben will, deutet
darauf hin, daß Jünger, anders als seine militärische Einbindung es erwarten
läßt, keine Berührungsängste gegenüber der künstlerischen Avantgarde
hatte.
Dies zeigt sich auch in Jüngers Versuch, Kontakt mit Gottfried Benn
aufzunehmen. Der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr zu ermitteln, weil das
Schreiben, das Jünger an Benn sandte, nicht erhalten ist und Jüngers spätere
Hinweise etwas vage sind. Auch die Art des Schreibens ist unbekannt.
Möglicherweise war es nicht ein Brief, sondern ein Gedicht, denn Jünger
versuchte sich damals mit Gedichten im expressionistischen Stil, publizierte
einige unter einem Pseudonym und wandte sich im Februar 1921 mit einem
Gedicht an Alfred Kubin. An Benn könnte Jünger Ende 1921 geschrieben
haben. Armin Mohler hielt 1949 in seinem Ravensburger Tagebuch fest,
Jünger habe »bei der Nachricht, B. wolle nichts mehr schreiben«, einen Brief
an diesen gerichtet. Dies könnte sich auf Benns Essay Epilog und lyrisches
Ich beziehen, dessen erster Teil im Oktober 1921 in der Zeitschrift Die
Zukunft als Anzeige der Gesammelten Schriften (1922) erschien und mit dem
Bekenntnis endet: »siebenunddreißig Jahre und total erledigt, ich schreibe
nichts mehr -«. An anderer Stelle bemerkte Mohler, daß Jünger durch Benns
Gedicht Gesänge I, das er noch in den fünfziger Jahren auswendig gekannt
habe, zu seinem Schreiben veranlaßt worden sei. Dieses Gedicht, das 1913
in der Zeitschrift Die Aktion erschienen war, lautet (in der Originalfassung):
Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
Glitte aus unseren stummen Säften vor.

Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel:


Vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
Wäre zu weit und litte schon zu sehr. -
In der Tat hat Jünger dieses Gedicht, das auf die Erfahrung des
schmerzhaften Lebens mit einem massiven (und zugleich ironisch
gebrochenen) Regressionswunsch reagiert, außerordentlich geschätzt. In den
Annäherungen hat er es 1970 ganz zitiert und gerühmt. In einer
Tagebuchnotiz vom 1. Juli 1987 kam er anläßlich einer Fahrt durch das
sumpfige Flachmoor von La Brière zu Formulierungen, die deutlich an
Benns Verse erinnern (21, 177), und eine Tagebuchnotiz vom 12. Juni 1984
wirkt wie eine Konkretisierung von dessen regressiver Phantasie, wendet sie
vollends ins Positive: »Die Stimmung im Urmeer und in den warmen
Sümpfen mag die eines sanften Orgasmus gewesen sein, wie sie noch heute
bei den Protozoen, vielleicht auch bei den Pflanzen zu vermuten ist« (20,
372).
Benn hat auf Jüngers Schreiben nicht geantwortet. Es war nicht seine Art,
auf Zuschriften von dilettierenden Adepten – und mehr konnte Jünger für
Benn damals nicht sein – mit einigen alles- und nichtssagenden Zeilen zu
antworten, wie Thomas Mann dies zu tun pflegte. Für Jünger muß das
Ausbleiben einer Antwort freilich enttäuschend und schmerzhaft gewesen
sein; noch dreißig Jahre später, als er nach dem Erscheinen von Heliopolis
einen zweiten Annäherungsversuch unternahm, erinnerte er sich, daß seine
erste »Botschaft« (so Jünger am 30. November 1949 in der Dedikation von
Heliopolis an Benn) resonanzlos geblieben war.
Das Schreiben an Benn ist wohl nicht nur als Hommage an den
bewunderten Verfasser der Gesänge und der von Jünger ebenfalls
geschätzten Rönne-Novellen zu verstehen, sondern auch als Versuch, in
Kontakt mit bereits bekannten Autoren zu treten und sich in ihre Riege
einzureihen. Auch die Übersendung eines Gedichts an Alfred Kubin dürfte
in solcher Weise motiviert gewesen sein. Jünger hatte Kubins phantastisch-
visionären Katastrophenroman Die andere Seite von 1909 während des
Kriegs mit Faszination gelesen, und ebenso begeistert war er von der
Federzeichnung Der Mensch, die 1902 entstanden und 1910 im Hyperion-
Almanach publiziert worden war. Gleichsam im Vorgriff auf den Futurismus
zeigt sie eine nackte menschliche Figur mit steil wehendem Haar, die,
zwischen zwei Rädern stehend, auf einer Art von Eisenbahnschiene in einer
Steilkurve wie auf einer Sprungschanze nach unten saust. Die Fahrt muß
nicht in die Katastrophe führen; das Gleis dreht zur Seite und führt in einem
sanft ansteigenden und wieder fallenden Schwung in die Ferne des
Horizonts. Aber die Fahrt ist riskant und verlangt einen Menschen, der auch
auf steiler Strecke bei höchstem Tempo und schwindelerregenden Blicken in
tiefe Abgründe die Balance zu halten weiß. Auf dieses Bild bezieht sich das
ekphrastische Gedicht, das Jünger unter dem Datum des 22. Februar 1921 an
Kubin sandte:
Traum, hirndurchglüht, wird Vision, Krystall,
Urfrage Sein zu Wahnsinn, Katarakt:
Aufrechter Mensch; geschleudert in das All,
Orkan im Haar, bleich, einsam, nackt.

Ausschnitt endloser Kurve dämmert Welt,


Absturz in Dunkel, transzendenter Schwung,
Aufschrei das Leben, jäh aus Nichts geschnellt,
Ein Rampenlicht zu irrem Zirkussprung.
(22, 688 und BW Kubin, 13)
Obwohl dieses Gedicht fast nur aus Schlagworten des Expressionismus
besteht, darf es – vor dem Hintergrund jener Zeit – als eine durchaus
eindrucksvolle poetische Reflexion von Kubins Bild bezeichnet werden.
Auch die besten expressionistischen und futuristischen Lyriker haben nicht
immer nur besser geschrieben. Bloß schrieben sie 1921 nicht mehr so, und
wenn Jünger Derartiges auch an Benn gesandt hatte, war diesem die Antwort
schon aus Gründen der Idiosynkrasie unmöglich gemacht. Auch Kubin hat
nicht geantwortet. Aber er hat dieses Gedicht aufbewahrt, weswegen es als
einziger der expressionistischen Versuche Jüngers erhalten ist, und er konnte
sich, als Jünger ihm im Februar 1929 ein zweites Mal schrieb, noch »sehr
gut« daran erinnern (BW Kubin, 16).
Bald nach der Entstehung des Kubin-Gedichts wurde Jünger freilich des
expressionistischen und futuristischen Tons überdrüssig. In seinem zweiten,
1922 erschienenen Kriegsbuch Der Kampf als inneres Erlebnis, das in
seinem visionären Gestus durchaus expressionistisch wirkt, finden sich
plötzliche und rabiate Ausfälle gegen expressionistische Künstler: »Häckel
ist mir ein Greuel geworden«, heißt es da, und: »Sternheim kann ich längst
nicht mehr lesen« (KiE 1, 82; später gestrichen). Die Gründe dafür sind auf
verschiedenen Ebenen zu suchen. Hans-Harald Müller hat im Jünger-Kapitel
seiner aufschlußreichen Studie Der Krieg und die Schriftsteller darauf
hingewiesen, daß Jünger den Expressionismus als »Verstandeskunst«
ablehnen mußte, obwohl er ihn als Ausdruck für das »Wilde und Barbarische
des dionysischen Seins«, das er in seinen Kriegsbüchern feierte, hätte
gutheißen und verwenden können. In der Tat polemisierte Jünger ab 1922
verschiedentlich gegen den kalten Intellektualismus jener avantgardistischen
Kunst, die oft unter dem Begriff ›Expressionismus‹ subsumiert wird. Aber
vermutlich hat Jünger nicht nur den Intellektualismus der Avantgarden
abgelehnt, sondern – nach einer kurzen Phase der Begeisterung – auch den
futuristisch-expressionistischen Reduktions- und Ballungsstil, der ihm – im
Vergleich zur Differenziertheit der romantischen und ästhetizistischen
Schreibweise – als Verarmung erscheinen mußte. Zudem war er zu sehr an
der Empirie der Dinge und Erfahrungen interessiert, als daß er bereit
gewesen wäre, deren Darstellung dem Prinzip der Dauer-Innovation und des
Experiments um seiner selbst willen zu unterwerfen. Jedenfalls nahm Jünger
davon Abstand, die grundlegenden und signifikanten Vertextungstechniken
der avantgardistischen Moderne, also die Sprengung der Syntax und die
Montage von Wortmaterial und Textelementen, anzuwenden, obwohl sein
wichtigster Gegenstand, der Krieg mit seinen Diskontinuitäts- und
Schreckenserfahrungen, eben dies als naheliegend erscheinen lassen mochte.
Nicht umsonst hatte ja F. T. Marinetti für die Demonstration der
futuristischen Freisetzung der Wörter (»parole in libertà«) die Evokation
einer Schlacht gewählt (Bataille/ Schlacht, 1913, die futuristische
Umsetzung einer Gefechtsreportage aus dem italienisch-libyschen Krieg von
1911/12).
Ist Jünger deswegen ein un- oder gar antimoderner Autor? Die Antwort
auf diese Frage hängt zunächst einmal, wie Günter Figal in einem
bemerkenswerten Aufsatz über Ernst Jünger, Baudelaire und die Modernität
verdeutlicht hat, davon ab, was man unter Moderne oder Modernität
versteht. Wenn man darunter versteht, was die Futuristen, Dadaisten und
Surrealisten vorgeführt haben, wirkt Jünger nicht wie ein ausgesprochen
moderner Autor; aber auch Thomas Mann und Franz Kafka wären dann
keine modernen Autoren, und damit dürfte evident sein, daß es neben der
avantgardistisch montierenden Moderne eine andere Moderne gab -: eine
»reflektierte Moderne«, die nicht derart brachial verfuhr wie jene, sondern
die traditionellen, von der Romantik, dem Realismus und dem Ästhetizismus
entwickelten Schreibweisen unter behutsamer Modernisierung fortführte.
Jünger wurde nach seiner Abwendung vom Expressionismus zu einem
Vertreter dieser reflektierten Moderne, die bei ihm einen betont
klassizistischen Zug annahm. Letzteres zeigt sich nicht nur an der primär
traditionalistisch wirkenden Erzählweise der Schriften, die ab 1923
entstanden; es zeigt sich vor allem an den Überarbeitungen oder späteren
»Fassungen« der frühen Kriegsbücher. Diese Fassungen dienten nicht zuletzt
dem Ziel, die Essenz der Dinge herauszuarbeiten und in einer sprachlichen
Form erscheinen zu lassen, die das bloß Situative und zumal das nur
Modische abgestreift hatte. Dies entspricht, worauf Figal hingewiesen hat,
Baudelaires geradezu kanonisch gewordener Vorstellung von Modernität
(und zugleich Kunst), die in einem vielzitierten Satz des 1863 erschienenen
Essays Le peintre de la vie moderne prägnant ausformuliert ist: »La
modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont
l’autre moitié est l’éternel et l’immuable«/»Die Modernität ist das
Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der
Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist«. Ob Jünger
diesen Satz gekannt hat, darf dahingestellt bleiben. Festzuhalten ist, daß er
sich um 1923 um eine Darstellungsweise bemühte, die auf reflektierte Weise
modern war und zunehmend klassizistisch wurde. Solchermaßen ging er auf
Distanz zum Avantgardismus, mit dem er um 1922 sympathisierte. Ebenso
wahrte er aber auch Abstand von der dezidiert antimodernistischen
›Heimatkunst‹, obwohl er sie 1925 im Löns-Kapitel des Wäldchens 125
gegen die Moderne ausspielte (W, 151ff.). Auch diese forcierte Sympathie
mit der ›Heimat-‹ oder ›Blut und Boden-Literatur‹ blieb Episode: In seiner
politischen Publizistik, die um 1925 einsetzte, polemisierte Jünger bald
mehrfach und heftig gegen eine »konservativ« sich nennende, in Wahrheit
aber nur abgestandene Literatur (vgl. bes. PP, 413 und 511), und die Eloge
auf Hermann Löns hat er bei der Überarbeitung des Wäldchens 125 um 1933
gestrichen.

Schwert oder Feder?

Die ästhetischen Perspektiven, die sich aus Jüngers Lektüreprogramm


ergaben, mußten hier so ausführlich dargestellt werden, weil Jünger sich um
1922 als Autor zu begreifen begann und, wie der teilweise erhaltene
Briefwechsel mit dem Kriegsschriftsteller Franz Schauwecker zeigt,
literarische Muster und Orientierungsmöglichkeiten suchte. Den Weg in die
Autorschaft haben zwei Momente begünstigt: der Erfolg der 1920 im
Selbstverlag erschienenen Stahlgewitter, die 1922 von dem renommierten
Berliner Militaria-Verlag Mittler übernommen wurden, und die Mitwirkung
an der Heeres-Vorschriftenkommission, die Jünger Gelegenheit gab, in
Zusammenarbeit mit Hannoveraner und Berliner Offizierskollegen Fragen
der militärischen Taktik zu erörtern und in Aufsätzen für das Militär-
Wochenblatt darzustellen. Fünf Aufsätze dieser Art sind zwischen November
1920 und August 1923 erschienen (vgl. PP, 14ff.). Die Titel lauten: Skizze
moderner Gefechtsführung (November 1920); Die Technik in der
Zukunftsschlacht (Oktober 1921); Auf welchen Grundgedanken beruht die
Infanterietaktik (Juli 1922; Autorschaft Jüngers nicht gesichert); Über
Angriffsgeschwindigkeit (Mai 1923); Die Ausbildungsvorschrift für die
Infanterie (August 1923).
Der letzte dieser Artikel ist ein einführender Kommentar zur Neufassung der
genannten Ausbildungsvorschrift, zu der Jünger aus seiner Fronterfahrung
heraus Vorstellungen und »Namen wie ›Schützenreihe‹, ›Schützenkette‹ und
›Schützenrudel‹« beigesteuert hatte (20, 214). Die früheren korrespondieren
aber mit den beiden ersten Kriegsbüchern und verdienen eine gewisse
Beachtung. Das Hauptthema ist die Modernisierung der Gefechtsführung
(wie der vorausgehenden Ausbildung) im Licht der Kriegserfahrungen.
›Modern‹ ist eine auffallend häufig gebrauchte Vokabel. Wie in den
Kriegsbüchern beklagt Jünger, daß zu lange an alten Formen festgehalten
wurde und daß sie jetzt sogar »lustig« wieder aufwuchern. Die Wirkung der
Fernwaffen und der gewaltige Materialeinsatz verlangen aber die
»Auflösung der Verbände« in kleine »Grüppchen«, die eine Konzentration
des feindlichen Vernichtungsfeuers nicht erlauben. Die Front verliert
dadurch ihren »linearen« Charakter, wird »unzusammenhängend«,
»verwickelt«, »tief gestaffelt« und braucht Kämpfer oder Kampftechniker,
die selbständig zu handeln vermögen und in jeder Situation über das nötige
technische Rüstzeug und Können verfügen, kurz: den intelligenten,
technisch versierten und sportlich gestählten Sturmsoldaten oder
Stoßtruppmann. Fraglich bleibt allerdings, was letztlich entscheidend ist:
Fortschrittlichkeit der Technik und Fülle des Materials oder Mut und
Leistungskraft des Menschen. In dieser Frage, die auch in den
Kriegsbüchern eine zentrale Rolle spielt, kommt Jünger in den Wochenblatt-
Artikeln zu keiner klaren Antwort. Die These, daß »Maschine und Material
überragende Bedeutung« erlangt haben, und die These, daß es zuletzt doch
auf den »Mann« ankommt, »auf seine Eigenschaften, seine Tüchtigkeit,
seinen Geist, seine Schulung und seine Art, sich zu schlagen«, stehen auf
engem Raum neben- und gegeneinander; wie in den Kriegsbüchern wird die
Erkenntnis der überragenden Bedeutung der Technik und des Materials
durch heroische Rhetorik konterkariert.
Die Mitwirkung in der Vorschriftenkommission und das Schreiben der
Wochenblatt-Artikel hatten für Jüngers Entwicklung zum Schriftsteller
vermutlich eine erhebliche Bedeutung. Nach dem Abschluß des ersten
Artikels schrieb er am 1. November 1920 an seine Mutter:
Der Artikel von Gädtke [i. e. eine Rezension der
Stahlgewitter] hat ja einen rechten Erfolg gehabt. Ihr habt
meine Briefe mit Bestellungen ja wohl alle erhalten? Wenn
jetzt erst mein bombiger Aufsatz im Militär-Wochenblatt
erscheint[,] kommen noch viel mehr. Ich habe jetzt Vertrauen
zu meiner Feder bekommen und bin dabei, den
Stahlgewittern einen zweiten Band anzufügen, der lediglich
das innere Erleben darstellen soll […]. Außerdem muß ich
auch mehr Geld verdienen.
Dieser Brief zeigt dreierlei: (1.) Jünger empfand die Mitwirkung in der
Vorschriftenkommission und die Niederschrift des ersten Aufsatzes als eine
bemerkenswerte Schulung seines Schreibvermögens, und in der Tat ist der
Stil des ersten Wochenblatt-Artikels viel geschliffener als der oft noch
umständlich und sperrig wirkende Stil der Erstfassung der Stahlgewitter. (2.)
Jünger bemerkte während der Arbeit in der Vorschriftenkommission, daß
eine systematische Reflexion der Kriegserfahrungen noch ausstand und ein
zweites Kriegsbuch verlangte; dies führte zum Kampf als inneres Erlebnis.
(3.) Jünger kam auf die Idee, mit dem Schreiben Geld verdienen zu wollen;
die Überlegung, den schlecht bezahlten Dienst zu quittieren und als
Schriftsteller zu leben, war der nächste und bald folgende Schritt. Am 15.
Dezember 1921 erkundigte er sich mit einem (nicht überlieferten) Brief bei
Franz Schauwecker, ob es denn unter finanziellen Gesichtspunkten möglich
sei, als »freier Schriftsteller« zu leben.
Vorerst blieb Jünger allerdings bei der Reichswehr und wirkte,
vorübergehend wieder nach Berlin kommandiert, erneut in der
Vorschriftenkommission mit. Die Infanterie-Gruppe bestand neben Jünger
aus drei weiteren Offizieren (Hüttmann, Kienitz, Westernhagen), die
allesamt Karriere machten und in den Generalsrang aufstiegen. Ihr
Vorgesetzter war der Inspekteur der Infanterie, General Friedrich von
Taysen, der Jünger schätzte und »protegierte« (20, 215); ihm mußte
regelmäßig Bericht erstattet werden. Die Tage in der Bendler- und
Friedrichstraße waren wohl nicht allzu anstrengend; jedenfalls erlaubten sie
Jünger, auch das nächtliche Berlin kennenzulernen. Am 6. September 1921
schrieb er an Friedrich Georg, daß er die Abende oft mit einem etwas
dubiosen, aber anregenden Bekannten verbringe und mit ihm Berlin
erkunde:
Zuweilen fahren wir noch mitten in der Nacht in den Norden,
in die Gegend der Markthallen hinaus und spazieren dort
plaudernd im Gewimmel der überfüllten Straßen hin und her.
Wir handeln dabei düstere Themen wie den Selbstmord ab,
treten auch nach Belieben in kleine Wirtschaften und
Amüsier-Lokale ein.
Andere Gänge führten, wie aus den Berlin-Abschnitten der Annäherungen
hervorgeht, zum Alexanderplatz, wo der etwas animalisch wirkende
Bekannte »Weiber an[zu]quatschen« liebte (11, 120). Berlin faszinierte
Jünger. Am 7. März 1923 schrieb er dem Bruder, er erkenne nun »in der
Kapitale den Ort, an dem ein Gang über die Straße mehr lohnen kann als ein
in einer Provinzstadt schlecht verbrachtes Jahr«. In den Annäherungen findet
sich eine prägnante Charakterisierung der damaligen Szenerie:
Ökonomisch gesehen, fielen diese Exkursionen in die
Hochblüte der Inflation, stilistisch in eine Zeit, da der
Expressionismus auf das Stadtbild übergriff. Die Schäbigkeit
der Straßenzüge, der überfüllten Häuser, deren Fassaden
abblätterten, der sich umtreibenden Massen, die zum Teil
noch in zurechtgeschneiderten Uniformen gingen, wurde
durch neue Effekte brutalisiert. Die Leuchtröhren kamen auf
– weißes, blaues und rotes Neonlicht, das den Gesichtern eine
Leichenfarbe gab. Kirchner hatte das schon 1912 gesehen;
auch hier ging die Vision des Künstlers dem Scharfsinn der
Techniker voraus. (11, 120f.)
In Jüngers Briefen aus jener Zeit ist gelegentlich von einem spartanischen
oder mönchischen Lebensstil die Rede. Daran ist sicher etwas Richtiges;
neben dem Bildungstrieb wird die Geldknappheit dafür gesorgt haben. Aber
nur asketisch hat Jünger in dieser Zeit nicht gelebt. Mohler berichtet in
seinem Ravensburger Tagebuch unter dem Datum des 11. Dezember 1949,
Jünger habe von einem gewissen Domeier erzählt, einem Bekannten aus der
Nachkriegszeit, »tollem Kerl, mit dem er in Hannover zuweilen V zu viert
machte«. Über eine andere Form seines nicht immer mönchischen Lebens,
über seine Räusche, hat Jünger selber detaillierte Auskunft gegeben.
An exzessiven Trinkgelagen hatte Jünger schon während des Kriegs
teilgenommen; sie gehörten zum Leben an der Front, dienten der Pflege der
Kameradschaft und der Verdrängung der täglich erfahrenen Zumutungen.
Nach dem Krieg gab es dergleichen ebenfalls, wie aus einem Brief vom 22.
November 1921 an den Bruder Friedrich Georg hervorgeht. Ausführlich
berichtet dieser Brief von einem Fest in Hannover und einem anschließenden
Besäufnis, bei welchem »zuletzt stehend ungeheuerliche Trinksprüche
ausgebracht wurden, bis alles in der leeren Bedeutung des Rausches
unterging«. Dem fügte Jünger hinzu, daß er dergleichen »sehr gern« habe:
Es liege darin »etwas vom Vorgefühl künftiger Größe«, »vielleicht einer
solchen, die man auf Erden nie erreicht«, und sei ein »Mysterium unter
Männern«, in dem sich der wahre Rang der Beteiligten offenbare. Davon
mag man halten, was man will; in jedem Fall zeigt dieses Lob des
kameradschaftlich herbeigeführten Alkoholrausches, daß dieser für Jünger
damals einen hohen Wert hatte und als Möglichkeit, sich wieder einmal in
einem ›anderen Zustand‹ zu erfahren, geradezu kultiviert wurde. Demselben
Ziel dienten wohl die Drogenexperimente, die Jünger nun intensivierte (und
über die er 1970 in den Annäherungen ausführlich berichtete: 11, 169ff.).
Schon während seines letzten Erholungsurlaubs im Frühsommer 1918 hatte
Jünger, angeregt durch entsprechende Romane, sich einmal mit Äther
berauscht. Dies wiederholte er nach dem Krieg und ging dann auch zu
anderen Drogen über, die damals in Hannover wie in Berlin leicht zu haben
waren: Chloroform, die »Fliegerdroge« Kokain, Opium und Cannabis. Die
Versuche führten zum Teil in üble Zustände; es fehlte ein kundiger
Einweiser. Die Zahl der Experimente hielt sich wohl in Grenzen. Entweder
fand Jünger nicht den Zugang, der zum Dauerkonsum hätte animieren
können, oder es fehlte das entsprechende Bedürfnis. Jedenfalls bekam das
Interesse an Drogen und Räuschen bald einen literarisch-theoretischen Zug.
Am 28. Juli 1923 schrieb Jünger an seinen Bruder: »Noch eine Bitte: ich
führe eine umfangreiche Akte mit der Überschrift: ›Der Rausch‹. Wenn Du
in Zeitschriften auf medizinische, chemische, physiologische und
psychologische Data stößt, so schneide sie bitte aus. Ebenso bin ich dankbar
für die Angabe von Literaturstellen.«
In dieser Zeit lernte Jünger auch seine spätere Frau kennen: die am 14.
März 1906 in Döhren bei Hannover geborene Lidy Toni Margarete Anni von
Jeinsen, genannt Gretha und – in Jüngers Tagebüchern – Perpetua. Sie
stammte aus einer Offiziersfamilie, die verarmt war, weil ihr Urgroßvater,
wie Gretha zu Beginn ihres Erinnerungsbuchs Silhouetten berichtet, in einer
einzigen Nacht seinen ganzen Besitz, zu dem drei Güter gehörten, an seine
jüngeren Brüder verspielte. Sie besuchte in Hannover das Lyzeum und fühlte
sich dort, von ältlichen »Goldzwickerdamen« beaufsichtigt, nicht weniger
unwohl als seinerzeit ihr späterer Mann in der Schule. Daß sie das Abitur
erlangen könne, schien ihr so unwahrscheinlich, daß sie ihre Eltern
überredete, die Schule abbrechen zu dürfen. Danach kam sie, um
Haushaltsführung zu erlernen, für ein Jahr in ein dörfliches Pfarrhaus. 1922
war sie aber wieder in Hannover, beteiligte sich am Gymnasiasten-
Liebhabertheater – und lernte Ernst Jünger kennen. In den Silhouetten
berichtet sie:

Gretha von Jeinsen (1906 – 1960)


An einem Herbstnachmittag [es war, wie Jünger am 20.
November 1987 notierte, »am Mittag des 9. Oktober 1922 bei
Sonnenschein«] wanderte ich über die Georgstraße, um den
Pindopp [eine Freundin namens Herta] abzuholen und in van
Houtens Kakao-Stube das übliche Stück Torte mit ihm zu
verzehren. Nichtsahnend strebte ich dem Zentrum zu.
Es tauchte in der Ferne auf: ein wehender Militärmantel,
eine Reichswehrmütze, ein schleppender Säbel. Am
Kragenausschnitt, weithin leuchtend: ein blauer Stern.
Darüber hinaus erblickte ich ein paar blitzender Augen, die
sich bei meinem Näherkommen mit unwiderstehlicher Gewalt
an mich hefteten und mich gleichsam in sich aufzunehmen
schienen. Diesmal tat mein Herz einen gewaltigen Schlag, so
heftig, um nach kurzem Stillstand wie mir schien, in einen
wahren Trommelwirbel hineinzugeraten. Es schossen mir so
viele Gedanken zugleich durch den Kopf, daß ich mit
äußerster Anstrengung den Blick geradeaus richtete, um
raschen Schrittes an dieser Gefährdung vorbeizukommen.
Immerhin nicht so rasch, daß ich nicht den überraschten
Ausdruck wahrgenommen hätte, mit dem der Leutnant
stehenblieb.
Es war Liebe auf den ersten Blick, hervorgerufen durch Schönheit und
Tapferkeit. Wie der Blick des Leutnants durch die Schönheit des Fräuleins
gebannt wurde, so der Blick des Fräuleins durch den »Pour le mérite«. Zu
einem Gespräch kam es freilich erst einige Tage später im Haus eines
Verwandten. Am 18. August 1995 hielt der hundertjährige Jünger in seinem
Journal fest:
Erinnerungen, insulär. Gretha begegnete ich zum ersten Male
auf der Hannoverschen Georgstraße vor dem Hause 22; Popp,
ihr entfernter Onkel, machte uns bekannt. Sie war sechzehn,
ich siebenundzwanzig Jahr alt und sah wohl, wie es mir beim
Betrachten von Photos vorkommt, jünger aus. Popp rühmte
mich gebührend und
Das Fräulein staunt’, daß in so jungen Jahren
Ers in den Waffen schon so weit gebracht.
(Ariost)
Dann Shakespeare:
Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand;
Ich liebte sie um ihrer Schönheit willen.
So jedenfalls Carl Schmitt zu Paul Adams in einem Berliner
Lokal, als er uns zusammen eintreten sah. (22, 192)
An eine Heirat war allerdings nicht ohne weiteres zu denken. Dafür war das
Einverständnis der Truppe erforderlich, und diese erteilte eine
Heiratserlaubnis an einen vermögenslosen Offizier nur, wenn die Braut eine
Mitgift vorweisen konnte, die es erlaubte, einen standesgemäßen Haushalt
zu führen. Bei Gretha von Jeinsen war dies nicht der Fall. Jünger mußte sich
zwischen ihr und der Reichswehr entscheiden – und hat sich für Gretha
entschieden. Diese wartete im übrigen keineswegs nur auf die Heirat,
sondern war darum bemüht, sich eine Schauspielerinnenkarriere zu eröffnen.
Wie weit dieser Versuch geführt hat, ist nicht klar zu erkennen. Armin
Mohler hat in seinem Ravensburger Tagebuch unter dem Datum des 6. März
1950 festgehalten, was Gretha Jünger ihm seinerzeit über ihr Engagement
beim Theater erzählte. Demnach wirkte sie in Hannover in Schauspielen wie
Operetten mit und erhielt kurz vor der Hochzeit ein Angebot aus Zürich. Ihr
Bühnenname soll »Inge Sturm« gelautet haben, nach anderer Version
»Wilma Sturm«; in jedem Fall verweist »Sturm« auf Jünger, der diese
Vokabel nicht nur als Name für den Helden seiner ersten Kriegserzählung
wählte, sondern auch als Pseudonym für sich selber benutzte. Daß Gretha
von Jeinsen unter einem Pseudonym auftrat, ist wohl auch auf Jünger
zurückzuführen; er sah das Engagement nicht gerne und war – laut Gretha –
nur einmal im Zuschauerraum. Daß Gretha in Leipzig und Berlin auf der
Bühne stand, ist unwahrscheinlich, doch bemerkte sie gegenüber Mohler,
daß eine Berliner Wagnersängerin versucht habe, sie »in Berlin zur Oper zu
bringen«.
Insgesamt zeigt sich, daß Jüngers Leben in den ersten Nachkriegsjahren
von unterschiedlichen, teils gegenstrebigen Neigungen motiviert und
perspektiviert wurde. Eine militärische Karriere schien möglich, ebenso aber
auch eine literarische Existenz. Asketische Neigungen wurden durch
exzessive sinnliche Erfahrungen konterkariert. Disziplinierter Dienst in
militärischen Formationen wechselte mit Ausschweifungen in jenes Milieu,
in dem sich Künstler, Ärzte und Polizeioffiziere, Dealer und Prostituierte,
notorische Ehrenmänner und notorische Gauner ein Stelldichein gaben. Wie
Jünger 1970 in den Annäherungen schrieb, fühlte er sich damals vielfach
bedrängt und in besonderem Maß anfällig; der verlorene Krieg und die
russische Revolution hatten zu einer fundamentalen Verunsicherung geführt
(11, 223).
Politisch gesehen, fiel Jüngers Zeit bei der Reichswehr mit den frühen
Krisenjahren der Weimarer Republik zusammen. Es war die Zeit der
Putschversuche und der politischen Morde. Jünger hätte gute Chancen
gehabt, in die eine oder andere Aktion verwickelt zu werden. Beim
sogenannten Kapp-Putsch hätte er sich in Hannover leicht unter jenen
»Welfen« finden können, die mit den Putschisten sympathisierten. Der oben
erwähnte Domeier gehörte, wie Mohler berichtet, bei diesem Putschversuch
zur Brigade Ehrhardt, aus der jene »Organisation Consul« hervorging, die
am 24. Juni 1922 den von rechter Seite als »Erfüllungspolitiker«
denunzierten Außenminister Walther Rathenau ermorden ließ. Domeier soll
versucht haben, Jünger für das Attentat zu gewinnen, fand aber kein Gehör;
für desperadohafte Aktionen war er nie zu haben. Im übrigen scheint Jünger
bis gegen Ende seiner Reichswehrzeit politisch ziemlich indifferent gewesen
zu sein, was vermutlich mit seinem Selbstverständnis als Offizier zu tun
hatte: Galt für ihn doch, wie er 1926 einmal bemerkte, daß in einer »guten
Armee von Politik keine Rede« sein sollte (PP, 146).
Daß Jünger sich entschloß, aus der Reichswehr auszuscheiden, ist wohl
auf mehrere Gründe zurückzuführen. Einer davon – und vielleicht der
ausschlaggebende – mag gewesen sein, daß er Gretha von Jeinsen bei den
gegebenen Vermögensverhältnissen als aktiver Offizier nicht hätte heiraten
können. Ein anderer dürfte in dem Mangel an Aufstiegschancen gelegen
haben, den Jünger nach seinem Ausscheiden offen kritisierte: »Die erste
Rangliste der Reichswehr weist überraschend wenig Frontoffiziere auf«,
konstatierte er in einem 1928 publizierten Aufsatz über die Reichswehr (PP,
422), und in einer 1929 geschriebenen Rezension zu Max René Hesses
Roman Parthenau stellte er fest, der im Krieg hoch dekorierte Held des
Romans stehe für jenen Typus von »Führer«, »der in der napoleonischen
Armee mit 27 Jahren Divisionskommandeur und mit 35 Jahren Marschall
von Frankreich gewesen wäre, und der in Deutschland zehn Jahre nach dem
Weltkriege vielleicht hin und wieder vertretungsweise eine Kompanie führen
darf« (PP, 487). Ebendieses Schicksal wird Jünger schon während seiner
aktiven Zeit gesehen und gefürchtet haben; er konnte sich ja ausrechnen, daß
er – unter Friedensbedingungen – frühestens 1931 zum Hauptmann befördert
würde. Ebenso muß ihm bewußt und bedrückend geworden sein, daß er
nicht mehr in einer kriegstauglichen Wehrmacht diente, sondern in einem
Verband mit »Konzession zur Soldatenspielerei«, wie er 1927 einmal schrieb
(PP, 355). Aus den Briefen der aktiven Zeit wird jedenfalls ersichtlich, daß
die Verhältnisse bei der Reichswehr Jüngers Lebensvorstellungen und
Leistungsansprüchen immer weniger genügten. Am 22. November 1921
schrieb er an Friedrich Georg, der zu dieser Zeit in Leipzig Jura studierte:
Übrigens fühle ich mich in der Tat bei dem, was ich treibe,
nicht recht am Platz. Ich begegne Dir hier in dem, was Du
über die Juristerei geschrieben hast, obgleich ich in dem
verworrenen Zustande, in dem sich die Dinge befinden, das
Heer noch vorziehe. Auf der anderen Seite fehlen mir zur
geistigen Übung vierundzwanzig Stunden am Tag. Der
Offizier genießt nur scheinbar einen Überfluß an Zeit, denn
dieser geht im Gesellschaftlichen, das heißt heute, im
Belanglosen auf. Wenn jeder wie bei den Jesuiten eine
geistige Sparte mitverwaltete, könnte ein hoher Orden sich
herausbilden. Dergleichen heute auch nur zu erwähnen,
scheint absurd, obwohl es in jedem wirklichen Gremium, wie
noch im Kreise um Friedrich den Großen, vorgebildet ist.
Und in einem Brief vom 3. Dezember 1921 heißt es:
Vielleicht habe ich geleistet, was die Preußen von mir
erwarteten, und ich frage mich manchmal, ob sie denn auch
leisteten, was ich von ihnen erwartete.
Das klingt, da die Relativsätze im Präteritum stehen, als sei die
Entscheidung schon gefallen, der Abschied innerlich schon genommen.
Freilich dauerte es dann noch über anderthalb Jahre, bis Jünger tatsächlich
aus der Truppe ausschied. Am 28. Juli 1923 schrieb er dem Bruder, daß er
»zur ärztlichen Untersuchung beurlaubt« sei und die »Feststellung« seiner
»Dienstunfähigkeit« erwarte. Tatsächlich machte der Lungenschuß, den er
zuletzt erhalten hatte, ihm bis zum Ende der zwanziger Jahre zu schaffen
(11, 225). Ob er deswegen wirklich »dienstunfähig« war, ist zu bezweifeln.
Manches deutet darauf hin, daß Jünger seinen Lungenschuß als Vorwand
benutzte, um von der Reichswehr loszukommen, ohne als ›Defätist‹ oder
›Abtrünniger‹ zu gelten. Jedenfalls schied er zum 31. August 1923 aus dem
Dienst aus, ohne daß es ihn sonderlich berührt hätte. Am 25. September
schrieb er dem Bruder:
Meine persönlichen Angelegenheiten sind abgewickelt. Es
wurde mir die Uniform des I[nfanterie]. R[egiments]. 16
verliehen; ich werde wohl kaum Gebrauch davon machen.
Zwei Tage davor, am 23./24. September, war im Völkischen Beobachter
Jüngers erster politischer Artikel erschienen; einen Monat später, am 26.
Oktober, immatrikulierte sich der Leutnant a. D. an der Universität Leipzig
als stud. rer. nat. für das Fach Zoologie. Lebenspraktisch begann für Jünger
eine neue Epoche, aber der Krieg, der ihn geprägt hatte, ließ ihn nicht los: Er
wurde nicht nur zum Thema zweier weiterer Bücher, die während der
Studienjahre entstanden; er blieb ein wichtiges Thema auch der politischen
Publizistik und der anschließenden weltanschaulich-politischen Essayistik.
Sehr viel später, am 28. Oktober 1988, hat Jünger in einem Schreiben an
seinen französischen Übersetzer Julien Hervier bemerkt, daß ihm der Erste
Weltkrieg bis zur zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938) »wie
ein Stein im Magen« gelegen habe (21, 326f.).
In Stahlgewittern

Entstehung
In dieser nicht eben »großartigen« Zeit (um noch einmal mit Karl Kraus zu
reden) griff Jünger zur Feder und schrieb jenes Buch, das sein literarisches
Ansehen begründen und sein Leben auf eine ganz andere Bahn lenken sollte:
In Stahlgewittern/Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Die Anregung
dazu war vom Vater ausgegangen. Dieser hatte die Notizhefte, die sein
ältester Sohn aus dem Krieg mitbrachte, gelesen und hatte ihm schon
während des letzten Heimaturlaubs vorgeschlagen, sie zu publizieren. Im
letzten Notizheft finden sich denn auch unter dem Datum des 17. Juni, an
dem Jünger schon wieder an der Front war, erste Gedanken zu einem
»Vorwort«, das einer Publikation vorangestellt werden sollte:
Im Vorwort darauf hinweisen, daß wohl kaum im Kriege von
einem Frontsoldaten derartig genaue Aufzeichnungen über
jeden Tag gemacht sind, daß diese Blätter also ein Spiegel der
großen und kleinen Erlebnisse des Infanteristen der
vordersten Linie sind.
Ferner daß diese Blätter nichts beschönigen und in
rosafarbener Beleuchtung darstellen wollen[,] sondern nur
eine genaue Schilderung des täglichen Lebens des Kriegers
im Feldlager, im Schützengraben, in der Ruhe und im Gefecht
bezwecken, mit all seinen nervenerregenden Aufregungen [,]
mit all den offenen und versteckten Schwierigkeiten, die oft
selbst dem, der dabei war, nicht klar geworden sind. Die
einzige Rücksichtnahme, die ja eine Veröffentlichung erst
ermöglicht, ist die auf noch lebende Teilnehmer.
Man darf wohl annehmen, daß diese Notiz nicht nur als Gedächtnishilfe für
den Autor selbst gedacht war, sondern – angesichts der von Jünger oft
beschworenen »morituri«-Stimmung – auch als Vorgabe für eine Publikation
der Tagebücher durch einen Herausgeber. Das war freilich nicht nötig. Nach
der Genesung von seiner letzten und schwersten Verwundung konnte Jünger
die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen selbst in die Hand nehmen. Am
13. November 1918 schrieb er aus Rehburg an Friedrich Georg, daß er,
obwohl sein Atem klinge, als ob er »an einer Pfeife söge«, an seinen
Aufzeichnungen arbeite und »bereits den siebzigsten großen Bogen erreicht«
habe. Es dauerte dann aber noch über ein Jahr, bevor Jünger seinem Bruder
am 20. Januar 1920 aus Eitorf, wo er nun stationiert war, melden konnte:
»Mit der Bearbeitung meiner Tagebücher bin ich jetzt fertig – […].«
Aus dieser Zeit der Umarbeitung dürften jene Notizen stammen, die sich
auf den letzten Blättern des letzten Notizhefts finden und dem Wert der
Aufzeichnungen wie dem Zweck der Publikation gelten. So heißt es einmal:
Der Zweck meiner Bücher [also der Notizhefte] ist lediglich
dem Leser sachlich zu schildern, was ich inmitten meines
Regiments erlebt habe und was ich mir dabei gedacht habe.
Dann aber wird die Zielsetzung modifiziert. Der sachliche Erlebnisbericht
soll nun ein Leistungsbericht werden, der mit der Forderung nach
Anerkennung verbunden ist:
Ich bin kein Mann der Feder, trotzdem hoffe ich, daß jeder,
der das Buch aus der Hand legt, eine Ahnung bekommen hat
von dem, was von uns Infanteristen geleistet wurde. Wir
haben viel, vielleicht Alles, auch die Ehre verloren. Eines
bleibt uns: die ehrenvolle Erinnerung an die herrlichste
Armee, die je existierte, und an den gewaltigsten Kampf, der
je gefochten wurde. Sie hochzuhalten inmitten dieses
Zeitalters des Renegatentums und der moralischen
Verkümmerung ist die stolzeste Pflicht eines jeden, der nicht
nur mit Gewehr und Handgranate, sondern auch mit
lebendigem Herzen für Deutschlands Sache focht.
Als Jünger dies schrieb, muß er bereits willens gewesen sein, seine
Aufzeichnungen gründlich zu überarbeiten. Es ist nicht mehr von der
Publikation seiner »Bücher« die Rede, sondern von einem »Buch« von ganz
neuer Qualität. Hierfür sind einige Notizen aufschlußreich, die auf zwei
Zetteln in der vorderen Umschlagtasche des dreizehnten Hefts zu finden
sind:
Edition des Tagebuches I.
Die Sprache ist noch vielfach zu trocken, muss durch Dialoge
aufgefrischt werden.
Die Schilderung wichtiger Abschnitte etc. immer ausgeruht
herangehen, die 2 – 3 ersten Morgenstunden ausnutzen.
Das Tagebuch in seiner ersten Form ist nur ein Rahmen, in
den Schilderungen der Landschaft, der jeweiligen Stimmung
der Truppe, der Verpflegung, der Unterbringung, der
taktischen Vorübungen u.s.w. eingeschoben werden müssen.
Ed. des Tagebuches II.
Jeder Abschnitt muss zuvor genau disponiert werden. Erst die
allgemeinen Verhältnisse und Vorbedingungen, – dann die
Ausführung.
Immer so schreiben, daß jeder Leser klare Verhältnisse
sieht, nicht unbekannte, alleinstehende Namen anführen.
Neben den Stil- und Dispositionsvorgaben verdient der Hinweis Beachtung,
daß fürs Schreiben die ersten zwei bis drei Morgenstunden genutzt werden
sollten. Offenbar ließ der Dienst dergleichen zu. Jüngers Arbeit an einem
Erinnerungsbuch war bei seiner Einheit bekannt; vermutlich nahmen seine
Vorgesetzten Rücksicht darauf, stellten ihn vielleicht von Teilen des Dienstes
frei. Der erste Leser der entstehenden Stahlgewitter war jedenfalls Jüngers
Kompaniechef in Eitorf, Hauptmann Wilhelm Trauthig.
Als stilistische Orientierungsgröße scheint Jünger keinen Geringeren als
Cäsar vor Augen gehabt zu haben. Am 16. August 1918 bat er seinen Bruder
Friedrich Georg, ihm sein »altes kleines Exemplar De Bello Gallico« ins
Feld zu schicken, und am 20. Januar 1920 fügte er der Meldung, daß die
»Bearbeitung« seiner Tagebücher abgeschlossen sei, hinzu:
[…] – sie enthält die Quintessenz von vier Jahren, die ich
nicht ohne Gewinn zubrachte. Indessen bemühe ich mich, die
Sache zum Wort kommen zu lassen, und nicht meine Ansicht
über sie. Darin erblicke ich den Maßstab solcher Arbeiten,
deren Vorbild in der caesarischen, und nicht in der
ciceronianischen Prosa liegt.
Stilistischer Anspruch und literarische Leistung klaffen allerdings ein
bißchen auseinander. Aber dies lag nicht nur an den unterschiedlich
entwickelten Darstellungsfähigkeiten, sondern auch an den Erfahrungen:
Jüngers Bericht »de bello maximo« ist nicht der Bericht eines Feldherrn, der
die Kämpfe in der Regel aus sicherer Distanz beobachtete und neuzeitliche
Fernwaffen nicht kannte, sondern eines Frontsoldaten, der oft in vorderster
Linie stand und jederzeit in Gefahr war, von einem plötzlich auftauchenden
Feind niedergemacht oder von einer in weiter Ferne abgefeuerten Granate
ohne Chance der Abwehr zu »brei und klumpen« gestampft zu werden, wie
es in Georges Gedicht Der Krieg heißt. Darüber ließ sich schwerlich mehr in
»caesarischer« Diktion reden!
Auch nicht leicht im Stil Homers oder Ariosts, auf die Jünger, wie die
originalen Tagebücher und die daraus entstandenen Kriegsbücher zeigen,
mitunter als Orientierungsgrößen blickte. Zwar gehören bei diesen die
Darstellung schrecklicher Verwundungen und fürchterlicher Schmerzen
durchaus zum Heldenbericht. Aber die Erfahrung des technisierten Kriegs,
des Tötens über große Distanzen hinweg und des Zerstampftwerdens ohne
Möglichkeit der Gegenwehr oder des Ausweichens, fehlte ihnen. Auf diese
Differenz hat Jünger selbst an seinem hundertsten Geburtstag hingewiesen,
indem er in seiner Ansprache bemerkte, daß er als Ariost-Leser von der
Realität des Kriegs enttäuscht worden sei. Und er fügte hinzu: »Karl Marx
hat es auf die Formel gebracht: ›Ist eine »Ilias« möglich mit Schießpulver?‹
Das ist mein Problem« (22, 175).

Sachlichkeit und Pathos

Wer die Stahlgewitter heute zur Hand nimmt, hat in der Regel nicht jenen
Text vor Augen, den Jünger 1920 zum Druck brachte, sondern eine der
späteren Fassungen, am ehesten die von 1961 oder 1978. Jünger hat nämlich
sein erstes Kriegsbuch mehrfach und teilweise so stark überarbeitet, daß
zwischen der Originalausgabe von 1920 und den späteren Versionen
erhebliche Unterschiede bestehen. Dies ist ein so bemerkenswerter Vorgang,
daß er in einem eigenen Kapitel dargestellt werden muß. Hier geht es nur
darum, auf diesen irritierenden Umstand hinzuweisen und klarzustellen, daß
die Ausführungen dieses Kapitels auf der Originalausgabe von 1920
basieren. Spätere Fassungen werden dort berücksichtigt, wo signifikante
Abweichungen zu beobachten sind; die interessantesten werden in spitzen
Klammern wiedergegeben. In allen Fällen werden jedoch, um dem Benutzer
der jüngsten Ausgaben die Orientierung zu erleichtern, nach den
Seitenangaben der Erstausgabe von 1920 (z. B. SG I, 150f.) auch die
entsprechenden Seitenzahlen der siebten und letzten Fassung (SG VII)
angeführt, die sich im ersten Band der Sämtlichen Werke von 1978 findet (z.
B. 1, 249f.). Seit der sechsten Fassung von 1961 lautet der Titel von Jüngers
erstem Kriegsbuch schlicht In Stahlgewittern, und der Bericht beginnt
unmittelbar mit der Ankunft des Autors in Bazancourt, wo die »langsamen
Takte des Walzwerks der Front« schon sehr deutlich zu vernehmen sind und
die Ankömmlinge mit »ungläubiger Ehrfurcht« erfüllen (1, 11 = SG I, 1). In
der Originalfassung geht dem einiges voraus, was den Charakter und die
Absicht dieses Buchs betrifft. Der durchaus poetisch klingende Titel hat den
sachlich erläuternden Zusatz »Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers«,
und dem Namen des Autors ist eine biographische Notiz beigefügt:
»Kriegsfreiwilliger, dann Leutnant und Kompanie-Führer im Füs.-Regt.
Prinz Albrecht v. Preußen (Hannov. Nr. 73)«. Beide Zusätze enthielten für
die Zeitgenossen bedeutungsvolle Signale: Mit dem – etwas irreführenden –
Untertitel »Aus dem Tagebuch« wurde Authentizität annonciert, mit der
Kennzeichnung des Verfassers als Stoßtrupp- und Kompanieführer
Erfahrung in der Kampfzone. Wer die Stahlgewitter ins Auge faßte, durfte
erwarten, den wirklichkeitsgesättigten Bericht eines mutigen und bewährten
Frontoffiziers zu lesen, nicht die Rechtfertigungsschrift eines
Generalstäblers, der weit vom Schuß gesessen hatte.
Ein Porträtphoto des Verfassers, das dem Titelblatt folgte, tat ein übriges:
Es zeigte den Leutnant Jünger in Uniform und mit einem pelzverbrämten
Mantel, der aber so drapiert war, daß alle Auszeichnungen sichtbar wurden:
das Verwundetenabzeichen, das Eiserne Kreuz, der seltene und strahlende
Orden »Pour le mérite«. Auf der Rückseite des Titelblatts und gegenüber
dem Porträt findet sich eine weitere Zweckbestimmung und eine Zueignung:
»Zur Erinnerung an meine gefallenen Kameraden./Herrn Hermann
Stegemann in Verehrung gewidmet.« Die »Erinnerung« an die »gefallenen
Kameraden« besagt, daß In Stahlgewittern auch als Gedenkbuch betrachtet
werden wollte. Die Dedikation an den Publizisten Hermann Stegemann
(1870 – 1945), der während des Kriegs als Militärexperte für eine Schweizer
Zeitung gearbeitet und von 1917 bis 1921 eine erste Geschichte des Krieges
in vier Bänden vorgelegt hatte, wurde von Jünger in der vierzehnten Auflage
von 1934 durch einen Zusatz erklärt. Es heißt dort: »Er war einer der
wenigen Fürsprecher, die der deutsche Soldat während des Krieges im
Auslande fand.« Indessen war die Widmung an Stegemann wohl nicht nur
als Dankadresse gemeint, sondern auch als Bekenntnis zu dessen Arbeit und
als Absichtserklärung: Die Stahlgewitter sind nicht zuletzt ein Versuch, das
Bild des deutschen Weltkriegssoldaten mitzugestalten.
Jüngers Ziele werden in der Originalausgabe in einem »Vorwort«, das –
mit leichten Modifikationen – auch den Ausgaben bis 1934 vorangestellt
wurde, auf eine bemerkenswerte Weise verdeutlicht. Im mittleren Abschnitt
dieses viereinhalbseitigen Vorworts heißt es:
Der Zweck dieses Buches ist, dem Leser sachlich zu
schildern, was ein Infanterist als Schütze und Führer während
des großen Krieges inmitten eines berühmten Regiments
erlebt, und was er sich dabei gedacht hat. Es ist entstanden
aus dem in Form gebrachten Inhalt meiner Kriegstagebücher.
[…] Der Mensch neigt zur Idealisierung des Geleisteten, zur
Vertuschung des Häßlichen, Kleinlichen und Alltäglichen.
Unmerklich stempelt er sich zum »Helden«.
Ich bin kein Kriegsberichterstatter, ich lege keine Helden-
Kollektion vor. Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein
können, sondern wie es war. […] Der Grad der Sachlichkeit
eines solchen Buches ist der Maßstab seines inneren Wertes.
(SG I, VIIf.)
Sachlichkeit -: Das war die Devise der Nachkriegszeit, schon bevor 1925 die
»Neue Sachlichkeit« als zeitgemäße Haltung gegenüber der Welt und als
neues künstlerisches Rezept proklamiert wurde. Bereits während des Kriegs
war der Ruf nach Sachlichkeit laut geworden, und bei Jünger fand er früh
Gehör. Der Verismus vieler Passagen der Stahlgewitter und die mitunter
demonstrative ethische Indifferenz des Autors sind Annäherungen an den
Stil der Neuen Sachlichkeit, haben ihn mit auf den Weg gebracht. Zugleich
trägt das Werk aber auch Züge des Expressionismus, der ja noch im
Schwange war, als Jünger sein erstes Kriegsbuch schrieb. Schon der Titel In
Stahlgewittern könnte expressionistischer kaum sein, auch wenn Jünger ihn,
wie er am 3. August 1968 notierte, bald nach Kriegsende in einer der
altnordischen Sagas gefunden haben will (4, 511), und in der Tat gibt es in
den Skaldenzitaten der Sagas eine Reihe von Genitivmetaphern (kenningar),
die mit »Stahlgewitter« übersetzt werden können, so z. B. »stála él«, »stála
hregg«, »stáls hrid« und »stála skúr«. Hinzu kommt die gut
expressionistische Neigung zur visionären Überformung der Wirklichkeit
und zum pathetischen Ausdruck. Beides durchkreuzt schon im Vorwort den
Willen zur Sachlichkeit. Der Anfang ist es überhaupt wert, ausführlich zitiert
zu werden:
Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der
gewaltigste der Kriege ist uns noch zu nahe, als daß wir ihn
ganz überblicken, geschweige denn seinen Geist sichtbar
auskristallisieren können. Eins hebt sich indeß immer klarer
aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung
der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht;
Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren.
Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände
wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zu
Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen
Gesundungsprozeß unterworfen. »Die Division ist reif für den
Großkampf.«
Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine
Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich
das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten
sich müde Kolonnen auf zermahlenen Straßen dem brandigen
Horizont entgegen. »Licht aus!« Ruinen und Kreuze säumten
den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und
Flüche unterbrachen das Knirschen der Riemen, das Klappern
von Gewehr und Schanzzeug. Verschwommene Schatten
tauchten aus den Rändern zerstampfter Dörfer in endlose
Laufgräben.
Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht
ziehende Kompanien. Das wäre Hohn gewesen. Keine
Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über
zerhackten Karrées, das Morgenrot leuchtete keinem
fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben.
Selten umwand der Lorbeer die Stirne des Würdigen.
Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine
Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort nicht so wohlfeil
geworden wäre. Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen,
denen es nicht vergönnt war, vor aller Augen sich an der
eigenen Kühnheit zu berauschen. Einsam standen sie im
Gewitter der Schlacht, wenn der Tod als roter Ritter mit
Flammenhufen durch wallende Nebel galoppierte. Ihr
Horizont war der Rand eines Trichters, ihre Stütze das Gefühl
der Pflicht, der Ehre und des inneren Wertes. Sie waren
Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem
Feinde in die Augen blicken zu können, nachdem alles
Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die
Welt in blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor
zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister
des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit
kompliziertesten Mitteln der Vernichtung. (SG I, Vf.)
Man kann hier den Willen zur Sachlichkeit durchaus am Werk sehen. Mit
wenigen, aber prägnanten Sätzen wird der Charakter des technisierten Kriegs
schonungslos beschrieben und qualifiziert: Menschen werden zu Material
degradiert; der Trichterlandschaft des Schlachtfelds ist der Irrsinn des
Ganzen anzusehen; das Leben der Soldaten ist ein anhaltendes Elend und
eine dauernde Strapaze; was frühere Kriege an chevalereskem Glanz gehabt
haben mochten, ist restlos verschwunden. Die dominierende Farbe ist Grau,
was nicht nur metaphorisch gemeint ist, sondern auch dem Schlamm der
Grabenund Trichterlandschaft gemäß ist und überdies dem Umstand
entspricht, daß die bunten Uniformstücke, die am Anfang des Kriegs noch
zu beobachten waren (SG I, 4 = 1, 16), und die blitzenden Teile der Montur
im Stellungskrieg rasch verschwanden, weil sie den Blick und die Geschosse
des Feindes auf sich lenkten. Aber die Sprache arbeitet der Nüchternheit des
Bildes, das zunächst evoziert wird, kräftig entgegen, so als sei sie eigentlich
der anderen, der roten Farbe verpflichtet, die ja auch genannt ist: Vokabeln
wie »zerglühen«, »wälzen«, »zerstampfen« und »brandiger Horizont«
erwecken die Vorstellung eines Geschehens von ungeheurer Dynamik und
Größe. Hinzu treten Metaphern, die diesen Eindruck verstärken, indem sie
ihn mit vergleichbaren Lebensoder Vorstellungsbereichen in Verbindung
bringen: mit exotischer Gefährlichkeit (»geschmeidige Tiger der Gräben«);
mit dämonischer Schauerlichkeit (»der Tod als roter Ritter mit
Flammenhufen«); mit der erhabenen und zugleich sinnverwirrenden Natur
(»Gewitter der Schlacht«, »Wüste des Irrsinns«).

Metaphern des Kriegs

Damit ist ein Punkt berührt, der die Qualität von Jüngers Kriegsdarstellung
wesentlich bestimmt: die reiche, manchmal auch etwas aufdringlich
wirkende Metaphorik, die gleich mit dem Titel In Stahlgewittern inauguriert
wird, im Vorwort eine erste Entfaltung erfährt und durch das ganze Werk
hindurch eine bedeutungsvolle Rolle spielt. Freilich ist metaphorisches
Sprechen keine Spezialität Jüngers. Metaphorik, die von der Ähnlichkeit
verschiedener Dinge ausgeht und Wahrnehmungen oder Erfahrungen von
einem Gebiet auf ein anderes überträgt, gehört wesentlich zum Sprechen und
dient keineswegs nur dem Schmuck, sondern auch der Erschließung oder
Deutung von Wirklichkeit und der Fokussierung der Rede. Deswegen finden
Metaphern und Vergleiche insbesondere da Verwendung, wo neuartige oder
außergewöhnliche Erfahrungen verarbeitet werden müssen und für andere
anschaulich gemacht werden sollen. Pointiert benennt der Anglist Rainer
Emig die Funktion der Metaphorik in der internationalen Kriegsliteratur des
20. Jahrhunderts mit der Formel: »sehen, nicht verstehen, metaphorisieren«
– was dann freilich Verständnis suggeriert und Deutung, welcher Art auch
immer, impliziert.
Die Metaphorik von Jüngers Kriegsschriften wurde schon vielfach – und
zumeist kritisch – reflektiert. Neuerdings hat sie der belgische Germanist
Hans Verboven in einer Spezialstudie komplett registriert und analysiert.
Demnach hat Jünger in den Stahlgewittern einige große Metaphernsysteme
etabliert, die auch in den folgenden Kriegsschriften »zum Einsatz kommen«,
teilweise in bedeutungsvoller Auswahl oder Modifikation. Dies kann hier
nicht umfassend dargestellt werden, doch seien die signifikantesten
Beispiele und wichtigsten Befunde wiedergegeben.
Ein erstes Metaphernsystem, das gleich mit dem Titel eingeführt wird,
läßt den Krieg als Naturvorgang erscheinen: Aufmärsche vollziehen sich wie
die Gezeiten des Meeres, rollen in breiten »Wellen« heran und nehmen im
Angriff den Charakter einer »Sturmflut« an; die Schlacht gleicht einem
»Ausbruch der Elemente« (SG I, 51f. = 1, 103), in dem feurige Unwetter,
Erdbeben und Vulkanausbrüche zusammenwirken und ein apokalyptisches
Szenarium entstehen lassen. Ein weiteres Metaphernsystem zeigt den Krieg
als Spektakel akustischer und visueller Art: Der Ankömmling wird von »dem
langsamen Takte des Walzwerkes der Front« begrüßt (SG I, 1 = 1, 11), einer
»Melodie«, die ihn lange begleitet, und die Beschießungen, die der
Grabensoldat über sich ergehen lassen muß, gleichen einem vielstimmigen
Konzert, in dem das Zwitschern, Pfeifen, Flöten und Heulen einzelner
Geschosse den Dauerton des Trommelfeuers koloriert. Das Schlachtfeld ist
ein »Tanzplatz des Todes« (SG I, 166 = 1, 273), auf dem sich unter dem
Getöse der heransausenden oder explodierenden Geschosse ein
gespenstisches und grausiges Treiben entfaltet. In einem dritten
Metaphernsystem erhält der Krieg den Charakter einer Gestaltung -:
erscheint als industrieller Produktionsprozeß, in dem ganze
Truppenverbände in riesigen Kesseln und Öfen »zu Schlacke zerglüht«
werden, damit andernorts Bewegungsraum entsteht; oder als Landwirtschaft,
in der mit schweren Geschossen geharkt und mit Granaten gepflügt wird;
oder als Jagd, in der auf menschliche Beute ausgegangen wird. In allen
diesen Prozessen geschieht »Verwandlung« oder »Enthüllung« -: werden die
Soldaten zu Material oder Beute, zu »Meistern des Sprengstoffs« oder zu
großen Jägern, zu »Frontschweinen« oder »Wanderratten«, zu Bestien oder
Barbaren, zugleich aber auch zu Vorboten oder Begründern einer »neuen
Rasse«, wie sie für das Leben in einer »härteren Welt« (1, 99) vonnöten sein
wird. Zu diesen drei großen Metaphernsystemen kommen einige kleinere, in
denen der Krieg als Kommunikation, als Spiel oder als Sport erscheint.
Die meisten der von Jünger verwendeten Metaphern und Vergleiche sind
nicht originell, sondern gehören zur Tradition der dichterischen wie der
sachlichen Rede über den Krieg und mögen sich wie selbstverständlich
eingestellt haben. Die Massierung und Variierung der Metaphern zeigen aber
an, daß Jünger mit großer künstlerischer Bewußtheit arbeitete. Und die
Effekte sind deutlich: Der Krieg wird zu einem mythischen Geschehen, das
mit der Gewalt und Unaufhaltbarkeit eines kosmischen Vorgangs oder einer
Naturkatastrophe über die Menschen hereinbricht und von ihnen letztlich
nicht zu verantworten, sondern nur zu bestehen ist. Der Glaube an eine
Vermeidbarkeit des Kriegs ist töricht, und Fragen nach den Ursachen sind
müßig; sie bleiben an der Oberfläche von Konstellationen und
Entwicklungen, die dem metahistorischen und kosmischen Gesetz folgen,
wonach der Krieg, wie Jünger mit dem damals vielzitierten Heraklit immer
wieder sagt, der »Vater aller Dinge« ist (SG I, VIII; vgl. Heraklit, Fragment
53) und die Welt im Feuer Verwandlung erfährt (Fragmente 52, 57 und 61).
Zu Recht hat Verboven dies als metaphorisch produzierte »Ideologie«
bezeichnet und angemerkt, daß Jünger durch den Gebrauch dieser
Metaphernsysteme sowohl die Suche nach anderen Erklärungen des Kriegs
als auch andere Bewertungen – etwa als Verbrechen, Raubzug oder
Mordaktion – ausschloß. Mit Verboven ist aber auch darauf hinzuweisen,
daß Jüngers Metaphorik durchaus auch eine kritische Betrachtung des
Kriegs zuläßt, ja sogar provoziert, etwa wenn davon die Rede ist, daß der
Graben unter dem Beschuß der Artillerie zur »Fleischbank« (SG I, 170 = 1,
280: »Schlachtbank«) wurde, bedeckt mit »Blut, Hirn- und Fleischfetzen,
auf denen sich Schwärme von Fliegen sammelten« (SG I, 170; später
gestrichen).
Auch das Metaphernsystem, das den Krieg als industriellen
Produktionsprozeß erscheinen läßt, erlaubt oder provoziert Assoziationen,
die leicht in Reflexionen auf die ökonomischen Hintergründe des Kriegs
übergehen oder überführt werden können. Im übrigen ist, wenn man Jüngers
Kriegsmetaphorik ideologiekritisch betrachtet, zu berücksichtigen, daß das
Zustandekommen des Ersten Weltkriegs Zeitgenossenschaft und Nachwelt in
eine Erklärungsnot gebracht hat, die bis heute nicht restlos behoben ist; erst
jüngst hat dies der englische Historiker David Stevenson in seiner
monumentalen Geschichte des Ersten Weltkriegs wieder deutlich gemacht.
Wohl sind die Vorgänge und Faktoren, die in den Krieg geführt haben,
gründlich untersucht und austariert; und doch haftet der Bedenkenlosigkeit,
mit der dieser Krieg herbeigeführt wurde, und der Bereitschaft, mit der er
nicht nur in Deutschland akzeptiert und begrüßt wurde, etwas an, was sich
der Rückführung auf einseitige politische Ambitionen (Deutschlands »Griff
nach der Weltmacht«), ökonomische Interessen (»Sozialimperialismus«),
diplomatische Versäumnisse usw. entzieht. Die neue Historiographie
vermeidet die Metaphern des »Hineinschlitterns« oder des »Ausbruchs« aus
diskursgeschichtlichen Gründen in der Regel peinlich. Sie ist aber genötigt,
ein geradezu pathologisch wirkendes Szenarium zu beschreiben, in welchem
in einem Klima der Unverantwortlichkeit ein ideologisch oder
mentalitätsmäßig begründeter Zwang herrschte und einen Automatismus
entstehen ließ, der die politischen Akteure – man kann ohne Metaphern
kaum auskommen – gleichsam zu Marionetten machte und große Teile der
Bevölkerung applaudieren ließ. Nicht nur für Jünger, sondern auch für seine
Zeitgenossen war dieses Szenarium nur mit Metaphern faßbar, die auf
rational nicht durchschaubare und menschlich nicht mehr kontrollierbare
Mächte und Umstände verwiesen. So breitet sich in Thomas Manns Roman
Der Zauberberg (1924), der in den letzten Jahren vor dem Krieg spielt,
gegen Ende ein »Dämon« namens »Großer Stumpfsinn« aus und beherrscht
die Gemüter der Menschen, bis sich die »lang angesammelten
Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit« in jenem großen
»Donnerschlag« entladen, der historisch gesehen den »Ausbruch« des Ersten
Weltkriegs markiert und bei Thomas Mann ein »Weltfest des Todes«
eröffnet. Das von Thomas Mann beschriebene »Unheilsgemenge von
Stumpfsinn und Gereiztheit« entspricht der tendenziell pathologischen
Kombination von Gehemmtheit und Gereiztheit, die Joachim Radkau mit
seiner kulturhistorischen Untersuchung Das Zeitalter der Nervosität als ein
Hauptcharakteristikum der Vorkriegsgesellschaft kenntlich gemacht und
zugleich als wichtige Vorbedingung für den Ersten Weltkrieg benannt hat.
Indem Thomas Mann diesen pathologischen Zustand als »Dämon«
bezeichnet, betont er nur die Unbegreiflichkeit dieses fatalen Syndroms, und
indem er von einem »Weltfest des Todes« spricht, exponiert er die
schauerliche Irrationalität des massenhaften Todes auf den Schlachtfeldern
des Ersten Weltkriegs. Die Metaphorisierung zeigt an, daß das rationale
Verstehen und bündige Erklären an eine Grenze gelangt war.

Heroisches

Metaphorik und Sachlichkeit schließen einander nicht aus; Metaphorik kann


auch Ausdruck von Sachlichkeit sein. Es ist aber deutlich, daß Jüngers
massive Metaphorik die »Sachlichkeit« seiner Kriegsdarstellung, die im
Vorwort der Originalfassung der Stahlgewitter annonciert und beschworen
wird, immer wieder übersteigt. Gleiches wurde auch im Hinblick auf die
heroischen Passagen der Stahlgewitter gesagt, doch bedarf auch dies der
Prüfung. Immerhin war es ein guter Kenner von Jüngers Werk, Hans-Harald
Müller, der in einer aufschlußreichen Studie über den Kriegsroman der
Weimarer Republik behauptete, daß Jünger mit den Stahlgewittern versucht
habe, »sein Kriegserlebnis zugleich ›sachlich‹ zu beschreiben und heroisch
zu interpretieren«, und daß dieser Versuch zu einer prekären »Spannung
zwischen deskriptiver Genauigkeit und heroischer Ideologie« habe führen
müssen. »Interpretation« oder »Ideologie« sind die heroischen Passagen der
Stahlgewitter für Müller deswegen, weil er meint, daß Heroismus an eine
feudale Gesellschaftsformation und an vormoderne Kampfstrukturen
gebunden sei. Pointiert gesagt: Nur im Zweikampf, nicht aber in der
Materialschlacht, sei Heroismus zu beweisen, und nur in einer feudalen
Gesellschaft von überschaubarer Größe, nicht aber in einer nivellierten
modernen Massengesellschaft, könne Heroismus zur Geltung kommen und
Gefolgschaft erzwingen.
Daran ist zweifellos etwas Richtiges. Der technisierte und mit großen
Menschenmassen operierende moderne Krieg erlaubte kein Heldentum, wie
es Achill demonstrierte, der Heerführer und Einzelkämpfer zugleich war.
Auch gehört es zum modernen Krieg mit seinen Fernwaffen, daß heroische
Leistungen in der Unübersichtlichkeit der weiträumigen Schlachtfelder oder
durch die Macht des alles zerstampfenden und verschüttenden
Artilleriefeuers ausgelöscht werden. Dem entspricht, daß nach dem Ersten
Weltkrieg der »unbekannte Soldat«, von dem weder Name noch Leistung
überliefert waren, zum Repräsentanten eines anonymen Heldentums wurde
und ins Zentrum der nationalen Gedenkfeiern und Monumente rückte. Und
ebenso entspricht dem, daß Jünger 1931/32 im Arbeiter zu dem Schluß kam,
daß die Kampfkraft des Soldaten im modernen Krieg »kein individueller,
sondern ein funktionaler Wert« sei und die Tugend des einzelnen darin
bestehe, »daß er ersetzbar« sei (8, 115 und 157). Auch schon in den
Stahlgewittern gibt es Momente, und nicht wenige, die zu diesem Befund
drängen, doch erhält er keine Alleingeltung. Vielmehr versucht Jünger,
deutlich zu machen, daß es auch in diesem Krieg, der durch Maschinen und
Material dominiert und entschieden wurde, Heldentum gab, und zwar nicht
nur ein Heldentum des Ausharrens und Ertragens oder Erleidens, sondern
auch des mutigen Auftretens, des entscheidenden Eingreifens und der
kämpferischen Bewährung; und daß dieses Heldentum keineswegs
unbekannt und ungerühmt blieb, sondern im Bewußtsein der Truppen
vorhanden war, in den Zusammenkünften besprochen wurde und bisweilen
auch Anerkennung seitens der militärischen Leitung und in der
Öffentlichkeit fand: Der Orden »Pour le mérite«, der an Jünger verliehen
wurde, und der Heldenkult, den es durchaus auch in der Zeit der Weimarer
Republik gab, bezeugen dies.
Der technisierte Erste Weltkrieg bestand nicht nur aus anonymisierenden
Materialschlachten; vielmehr hatte auch er, wie aus den Stahlgewittern und
vielen anderen Kriegsbüchern bis hin zu Remarques Im Westen nichts Neues
zu ersehen ist, eine Fülle von Kampfsituationen, die den einzelnen
exponierten und vielerlei Tugenden und Fähigkeiten von ihm verlangten:
Mut, Umsicht, Geistesgegenwart, Entscheidungskraft, körperliche
Aktionsfähigkeit. Das Bestehen solcher Situationen als »heldenhaft« zu
bezeichnen, ist weder abwegig noch in höherem Maß »Interpretation« als die
vermeintlich »sachliche Beschreibung« des Kriegs als unpersönliches
Geschehen oder gar, wogegen sich Jünger verwahrt, als »uninteressante
Massenschlächterei« (so SG I, 133; später gestrichen). Im übrigen hat
Annette Rink in einer neueren Studie über Jüngers Verhältnis zur Antike
gezeigt, daß es zwischen den Helden der Ilias und den Helden der
Stahlgewitter so viele Analogien gibt, daß – anders als Jünger befürchtete
und Müller meinte – auch nach homerischen Kriterien von »Heldentum« zu
reden wäre. Ob und in welchem Maß man »Heldentum«, das homerische
wie das Jüngersche, schätzen und bewundern will, ist allerdings eine andere
Frage.
Noch ein weiteres Motiv, zu dem sich Jünger im Vorwort der
Stahlgewitter bekennt, arbeitet der Tendenz zur Sachlichkeit entgegen. Es ist
die von Volker Mergenthaler profilierte Absicht Jüngers, nicht nur einen
Bericht über die Kriegserfahrung eines Stoßtruppführers zu geben, sondern
auch ein Heldenund Gedenkbuch zu schreiben. Dazu heißt es im Vorwort:
[…] wie viele habe ich kennen gelernt, die unter dem grauen
Tuch ein Herz von Gold und einen Willen von Stahl bargen,
eine Auslese der Tüchtigsten, die sich dem Tode in die Arme
warf – mit stets gleichbleibender Freudigkeit. Ob ihr gefallen
seid auf freiem Felde, das arme, vom Blut und Schmutz
entstellte Gesicht dem Feinde zu, überrascht in dunklen
Höhlen oder versunken im Schlamm endloser Ebenen,
einsame, kreuzlose Schläfer; das ist mir Evangelium: Ihr seid
nicht umsonst gefallen. Wenn auch vielleicht das Ziel ein
anderes, größeres ist, als ihr erträumtet. Der Krieg ist der
Vater aller Dinge. Kameraden, euer Wert ist unvergänglich,
Euer Denkmal tief in den Herzen eurer Brüder, die mit Euch
standen, vom flammenden Ringe umschlossen. […] Möge
dies Buch dazu beitragen, eine Ahnung zu geben von dem,
was ihr geleistet. [...] (SG I, VIIIf.)
Die Absicht, ein Heldendenkmal zu stiften, hat sich auf die Stahlgewitter in
zweifacher Weise ausgewirkt: Zum einen kommt es zu einer Art von
»heroischer Zensur« (Kittsteiner/Lethen), die dafür sorgt, daß das Gräßliche,
Schäbige und Dreckige des Kriegs in einer Dosierung und Form zur Sprache
kommt, die mit dem Anspruch auf Heldentum verträglich ist. Auch Jüngers
Soldaten stehen im Kot, haben Läuse und müssen sich mit Ratten
herumschlagen; aber das bestimmt nicht ihr Bild, sondern verblaßt neben
dem, was sie gegenüber dem Feind stündlich auszuhalten und zu leisten
haben. Zum andern gibt es Ansätze zur Sakralisierung. Das Vorwort rückt
die Gefallenen, indem es sie als »kreuzlose Schläfer« und implizit als
Verkünder eines »Evangeliums« bezeichnet, in die Nähe Christi, und auch an
anderen Stellen lassen sich Anklänge an die Bibel finden, so etwa im Kapitel
»Die große Schlacht«, wo es heißt: »Zwölf Mann der siebenten Kompanie
hatten sich während der letzten Stunde um mich geschart; da es kalt zu
werden begann, führte ich sie zu dem kleinen Unterstande, vor dem mein
Engländer lag[,] und schickte sie aus, um Decken und Mäntel von
Gefallenen zu suchen« (SG I, 153). Zu Recht sagt Mergenthaler, daß die
Gestaltung dieser Episode eine auffallende Nähe zur biblischen Sprache und
christlichen Ikonographie aufweist und an Jesus im Kreis der Jünger denken
läßt. Ob dies tatsächlich beabsichtigt war, sei dahingestellt; zu sehen ist
jedenfalls, daß Jünger in den Stahlgewittern eine Stilhöhe anstrebte, die eine
Integration sakraler Vorstellungen und Wendungen ermöglichte. Insgesamt
ist festzuhalten, daß »Sachlichkeit« ein von Jünger angestrebtes und
tatsächlich auch vorfindliches Charakteristikum der Stahlgewitter ist, aber
gewiß nicht das alleinige und auch nicht das vordringlichste oder
dominierende. Die im Vorwort annoncierte und zum Wertkriterium erhobene
Sachlichkeit wird durch die Absicht, auch ein Helden- und Gedenkbuch zu
schreiben, gebrochen und heroisierend überformt.

Tektonik der Stahlgewitter

In Stahlgewittern ist in der ersten Fassung in neunzehn Kapitel untergliedert,


ab der vierten Fassung von 1934 in zwanzig Kapitel. Die Erhöhung der
Kapitelzahl resultiert aus der Erweiterung und Unterteilung des
ursprünglichen Schlußkapitels »Mein letzter Sturm« in zwei Kapitel, von
denen das neue die Überschrift »Wir schlagen uns durch« erhielt. Die
Kapitelüberschriften bestehen zur einen Hälfte aus Ortsangaben (»Von
Bazancourt bis Hattonchâtel«, »Les Esparges« usw.), zur andern Hälfte aus
Namen großer Schlachten (»Der Auftakt zur Somme-Offensive«, »Die
Cambraischlacht«) und aus Hinweisen auf thematisierte Besonderheiten
(»Vom täglichen Stellungskampf[e]«, »Gegen Inder«). Wer die Ortsnamen,
die Jünger in den Überschriften nennt, auf kriegsgeschichtlichen Karten –
etwa dem Faltblatt »Westlicher Kriegsschauplatz« aus der seinerzeit weit
verbreiteten zweibändigen Geschichte des Ersten Weltkriegs von Walter
Bloem (Der Weltbrand, 1922) – aufsuchen will, wird außer Langemarck und
Cambrai keinen finden: Die meisten von ihnen tauchen auf den Karten, die
den Verlauf des Kriegs aus der Sicht der Heeresleitung, der
Kriegsberichterstattung und der Historiographie dokumentieren, nicht auf.
Mit dieser spezifischen Verortung des Geschehens wird allein schon durch
das Inhaltsverzeichnis, das die Einzelausgaben der Stahlgewitter hatten,
deutlich, daß Jünger nicht den »Großen Krieg« oder den Westfeldzug
schlechthin rekapitulieren wollte, sondern seinen Krieg oder allenfalls den
seiner Einheit, und zwar aus der Perspektive eines Kompanieführers, der nur
registrieren konnte, wohin er transportiert wurde, und dessen Blickfeld auf
die Reichweite des Feldstechers und des Stellungsplans beschränkt war.
Jünger beschreibt nicht, was irgendwo geplant und mit großen
Truppenbewegungen realisiert wurde, sondern was er erlebte. Warum er sich
in dieser oder jener Situation befindet, bleibt ihm unter Umständen durchaus
»rätselhaft« (SG I, 80 = 1,150).
Der Takt des Berichts wird von den Bewegungen und Einsätzen der
»Gibraltars« vorgegeben, die allerdings mit den größeren Bewegungen des
Kriegs korrespondierten und das eine oder andere Mal, in der »Somme-
Offensive« und in der »Cambraischlacht«, in die Kernzonen führten.
Überdeckt wird durch diese geographische Untergliederung des Berichts der
zeitliche Verlauf des Kriegsgeschehens. Zwar werden Daten genannt, sogar
in großer Dichte, wenn die Schilderung eines Gefechts dies verlangt; darüber
hinaus aber bleiben die zeitlichen Verhältnisse im vagen, und nur
gelegentlich ergeben sich Bezüge zu Vorgängen wie etwa dem Rückzug von
der Somme oder dem Rückzug auf die »Siegfriedstellung«, die den
Charakter von phasenbildenden Zäsuren hatten. Erst in der Fassung von
1934 hat Jünger versucht, die Korrespondenz seiner Kriegserfahrungen mit
den kampftechnischen Phasen des Ersten Weltkriegs zu verdeutlichen, indem
er zu Beginn des Kapitels über den »Auftakt zur Somme-Offensive« bzw.
»Somme-Schlacht« einen entsprechenden Hinweis einfügte:
Mit ihr sollte dieser erste und leichteste Abschnitt des Krieges
beendet sein; wir zogen nun gleichsam in einen neuen Krieg.
Was wir bislang, freilich ohne es zu ahnen, erlebt hatten, war
der Versuch gewesen, den Krieg durch Feldschlachten alten
Stiles zu gewinnen, und das Versanden dieses Versuches im
Stellungskrieg. Nun stand uns die Materialschlacht mit ihrem
riesenhaften Aufgebot bevor. Diese wiederum wurde gegen
Ende des Jahres 1917 durch die mechanische Schlacht
abgelöst, deren Bild jedoch nicht mehr zur vollen Entfaltung
kam. (SG IV, 69 = 1, 75f.)
Unabhängig von dieser kampftechnischen oder strategischen
Untergliederung des Kriegs gibt es in den Stahlgewittern einen Wechsel
zwischen dramatischen und weniger dramatischen, entspannteren Phasen. Er
ergibt sich aus dem Wechsel von Fronteinsatz und Ruhestellung wie aus dem
Wechsel von bewegungslosem Stellungskrieg und eigenem oder
gegnerischem Angriff mit entsprechenden Kämpfen. Zeiten relativer Ruhe,
in denen bei den Soldaten fast Langeweile aufkommt, wechseln mit Zeiten
massiver Beschießungen und verlustreicher Aktionen. Hier ist von den
Anfängen des Einsatzes »in den Kreidegräben der Champagne« bis zur
»großen Schlacht« im Frühjahr 1918 eine deutliche Steigerung zu
beobachten, die aus der zunehmenden Erbitterung der Kriegsparteien, aus
dem wachsenden Materialaufwand und dem Einsatz neuer Kampfmittel,
besonders des Gases und der Tanks, resultiert. Anders gesagt: Jüngers
Kriegsbericht gestaltet sich als Gang durch eine Schreckenswelt, die immer
fürchterlicher, brutaler, grauenhafter wird.
Diese Welt wird mit Hilfe unterschiedlicher Darstellungsmittel
vergegenwärtigt: Die akustischen und optischen Phänomene an der Front,
die so faszinierend wie beängstigend wirken, werden mit großer
Differenziertheit beschrieben. Schilderungen größerer Vorgänge werden
durch kriegstechnische Reflexionen ergänzt und auf eine exemplarische
Ebene gehoben. Fragwürdige Verhaltensweisen der Soldaten werden unter
psychologischen wie ethischen Gesichtspunkten erörtert und entschuldigt
oder verurteilt. Drastische Beschreibungen von tödlichen Einschlägen
werden durch Vergleiche und Metaphern gesteigert oder durch sarkastische
oder humoristische Bemerkungen gebrochen. Wie Stendhal, dessen Werk er
gut kannte, arbeitet Jünger mit Kontrastierungen aller Art, etwa dem
Gegensatz zwischen der aufblühenden Natur und der ständigen
Todeserwartung (SG I, 81 = 1, 151) oder dem Gegensatz von verlustreichem
Kampfgeschehen und anschließender Landsknechtsfröhlichkeit, um die
Ungeheuerlichkeit dieser Kriegserfahrung und die seelischen Spannungen,
denen die Soldaten ausgesetzt waren, hervortreten zu lassen.

Erlebnis und Erzählung

Schock und Langeweile

Wie schon erwähnt, setzen die Stahlgewitter in der Erstfassung mit einem
Abschnitt über die Mobilmachung und Ausbildung in Hannover ein; ab der
vierten Fassung von 1934 beginnen sie dann mit der Ankunft des Zugs auf
dem Bahnhof von Bazancourt (etwa 18 Kilometer nordöstlich von Reims).
Und bald kommt es zu einer schockierenden Initiation in die Welt der
Vernichtung: Schon während des ersten Frühstücks ertönt plötzlich »ein
eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen« in der Luft, unter dem sich
die erfahrenen Soldaten wunderlich zusammenducken und das »in
polterndem Krachen« endet. Gleich danach erscheinen kleine Gruppen von
Soldaten, die blutüberströmte und verstümmelte Kameraden ins Lazarett
schleppen. Die Wirkung des Ganzen auf den eben angekommenen
Beobachter ist verstörend:
Was war das nur? Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und
die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so
unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dies
geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das
völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte
einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die
Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische
Erscheinung am hellen Mittag.
Eine Granate war oben am Portal des Schlosses krepiert
und hatte eine Wolke von Steinen und Sprengstücken in den
Eingang geschleudert, […]. Sie erschlug 13 Opfer, […].
Im Gespräch mit meinen Kameraden merkte ich, daß dieser
Zwischenfall manchem die Kriegsbegeisterung sehr gedämpft
hatte. Daß er auch auf mich stark gewirkt hatte, ersah ich aus
den zahlreichen Gehörstäuschungen, die mir das Rollen jedes
vorüberfahrenden Wagens in das fatale Geräusch der
Unglücks-Granate verwandelten. (SG I, 2f. = 1, 13f.)
Die erste Fassung geht danach wieder zur Schilderung des weiteren Verlaufs
des ersten Tags über, ab der dritten Fassung folgt eine summierende
Reflexion solcher Erfahrungen:
Das sollte uns übrigens durch den ganzen Krieg begleiten,
dieses Zusammenfahren bei jedem plötzlichen und
unerwarteten Geräusch. Ob ein Zug vorüberrasselte, ein Buch
zu Boden fiel, ein nächtlicher Schrei erscholl – immer stockte
der Herzschlag für einen Augenblick unter dem Gefühl einer
großen und unbekannten Gefahr. Es war ein Zeichen dafür,
daß man vier Jahre lang im Schlagschatten des Todes stand.
(SG III, 3 = 1, 14).
Abgesehen von dieser ersten Schreckenserfahrung bringen die ersten
Wochen für den »Kriegsmutwilligen« (1, 17) nur Enttäuschungen: Der Krieg
bleibt unpersönlich; statt der erhofften Gefechte gibt es lang sich
hinziehende Nachtwachen, anstrengende Schanz- und Reinigungsarbeiten,
demütigendes Essenholen und friedensmäßiges Exerzieren.
Desillusionierung tritt ein:
Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment hatten wir fast alle
Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren. Statt
der erhofften Gefahren hatten wir Schmutz, Arbeit und
schlaflose Nächte vorgefunden, zu deren Bezwingung ein uns
wenig liegendes Heldentum gehörte. <1934 gestrichen: Diese
dauernde Überanstrengung war Schuld der Führung, die den
Geist des neuartigen Stellungskrieges noch nicht erfaßt hatte.
In einem kurzen, draufgängerischen Kriege kann und muß der
Offizier die Mannschaft rücksichtslos erschöpfen, in einem
sich lang hinschleppenden führt dies zu physischem und
moralischem Zusammenbruch. Die ungeheure Postenzahl und
die ununterbrochene Schanzarbeit war zum größten Teil
unnötig und sogar schädlich. Nicht auf gewaltige
Verschanzungen kommt es an, sondern auf den Mut und die
Frische der Leute, die dahinterstehen. »Eiserne Herzen auf
hölzernen Schiffen gewinnen die Schlachten.«> <Seit 1934
statt dessen:> Schlimmer noch war die Langeweile, die für
den Soldaten entnervender als die Nähe des Todes ist. (SG I,
6 = 1, 19)
Die desillusionierende Erfahrung des Grabenkriegs, den Jünger zwischen
Douchy und Monchy (etwa 15 Kilometer südlich von Arras) auszuhalten
hatte, wird in zwei späteren Kapiteln, »Douchy und Monchy« sowie »Vom
täglichen Stellungskampf[e]«, ausführlich geschildert (SG I, 20ff. = 1, 50ff.):
Man lebt mit Ratten zusammen, die sich an den Leichen der gefallenen
Soldaten gemästet haben. Die Wälle des Grabens wirken einengend und
bedrückend. Das Leben wird schläfrig und schwerfällig. Nachts breitet sich
eine Kälte aus, die nicht nur physischer, sondern auch »geistiger« Art ist.
Das kleinste Geräusch im Vorfeld bewirkt, daß alle Sinne schlagartig »bis
zum Schmerz geschärft« sind. Immer wieder wird man durch den dumpfen
Abschuß einer der verhaßten Minen aufgeschreckt und in einen Stollen
gejagt. Und nicht selten muß man mit ansehen, wie ein Kamerad, der für
einen Augenblick zu wenig Deckung hat, durch einen Kopfschuß
niedergestreckt und, wenn er nicht auf der Stelle tot ist, von Sanitätern auf
einer Bahre abtransportiert wird: »Kaum ist sie entschwunden, ist alles
wieder beim alten. Einer wirft einige Schaufeln Erde über die rote Lache,
und jeder geht seiner Beschäftigung nach. <1934 gestrichen: Man ist ja so
stumpf geworden>« (SG I, 23 = 1, 54). Wenn es länger regnet, verwandelt
sich der Graben in eine Schlammpfütze, in der man bis zur Hüfte und weiter
versinkt. Einmal, im Dezember 1915, werden die deutschen wie die
englischen Besatzungen durch das Wasser aus den Gräben getrieben, und es
setzt ein lebhafter Tauschhandel ein, der aber alsbald durch einen tödlichen
Schuß beendet wird. Zeitweilig gibt es zwar auch Ruhe; Lektüre wird
möglich und eine landsknechtsmäßige Geselligkeit breitet sich aus, aber
keinen Augenblick ist man vor einem Feuerüberfall sicher. Dennoch leidet
Jünger unter der Eintönigkeit des Grabendienstes und unternimmt, wenn die
Langeweile zu groß wird, riskante nächtliche Erkundungsgänge (SG I, 46ff.
= 1, 94ff.).
»Langeweile« ist in den späteren Fassungen der Stahlgewitter ein
Negativ-, ja ein Horrorwort. Langeweile ist für den Soldaten schlimmer als
alles andere (1, 19 und 96). Das mag freilich ein Spezifikum von Jüngers
Sichtweise sein und mit dem zusammenhängen, was ihn dazu bewogen
hatte, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden: die Gelangweiltheit im
allzu sicheren Leben der Vorkriegszeit und – komplementär dazu – die kaum
zu bezähmende Abenteuerlust, die ihn ja ein Jahr vor Kriegsbeginn nach
Afrika getrieben hatte. Zwar dürfte Jünger bald bemerkt haben, »daß dieser
Krieg« – wie es ab der vierten Fassung am Ende des Kapitels über die
Schlacht von Les Esparges heißt – »mehr als ein großes Abenteuer
bedeutete« (1, 39); aber ganz wollte er von der Abenteuer-Perspektive nicht
lassen, und auch dem mögen sich die fortgesetzten Klagen über jede Art von
eintönigem Dienst oder über längere Ruhepausen verdanken. Er scheint
damit übrigens nicht allein gewesen zu sein. Noch im Sommer 1918
beobachtete er neue Kriegsfreiwillige, deren abenteuerliches Aussehen und
draufgängerisches Verhalten ihn »lebhaft an Grimmelshausens
Simplizissimus erinnerten« (SG I, 168 = 1, 277).

Literarische Muster

Der Simplizissimus wird bei dieser Gelegenheit nicht zum ersten Mal
erwähnt. Gleich am Anfang der Stahlgewitter, als von der ersten
»Läusejagd« zu berichten ist (SG I, 9 = 1, 26), wird auf ihn verwiesen, und
das ist ein bedeutungsvolles Signal. Der Name »Simplizissimus« steht in den
Stahlgewittern für mehrerlei: zunächst einmal für die Naivität, mit der
Jünger in den Krieg gezogen war und die ihm auf schmerzhafte Weise
ausgetrieben wurde; dann aber auch für seinen Versuch, den Krieg trotz aller
böser Erfahrungen partiell in einem abenteuerlichen oder humoristischen
Licht erscheinen zu lassen; und schließlich auch für die Absicht, die
Stahlgewitter in die Tradition jener Bücher zu stellen, in denen der Krieg –
wie eben im Simplizissimus – nicht nur als Katastrophe erscheint, sondern
auch als Möglichkeit einer abenteuerlichen Welterfahrung. Freilich war der
Krieg, über den Jünger zu berichten hatte, so weit von dem des »alten
Simplizissimus« (1, 277) entfernt, daß dieser nicht der alleinige Patron der
Stahlgewitter bleiben konnte. Mit Dante bekam Jüngers Buch einen zweiten.
Der Eintritt in die Somme-Schlacht wird von jenem »Lasciate ogni
speranza« begleitet (SG I, 49), das in Dantes Divina Commedia über dem
Tor zum Inferno steht (III, 9): »Laßt jede Hoffnung hinter euch« (1, 99).
»Hölle« und »höllisch« werden dann auch zu zentralen Vokabeln der
Metaphernbildung.
Grimmelshausens Abenteuerlicher Simplizissimus und Dantes Inferno
sind nicht die einzigen Texte, die in den Stahlgewittern aufgerufen werden,
um Haltungen oder Befindlichkeiten und Situationen zu charakterisieren. Es
ist nicht möglich, diese Nennungen hier alle aufzuführen und in ihrer
Funktion zu interpretieren, zumal es auch in diesem Punkt Unterschiede
zwischen den verschiedenen Fassungen gibt. Von besonderer Bedeutung
sind jedoch drei Verweise, die sich schon in der Originalausgabe von 1920
finden. Mit einem Zitat von Nietzsche besteht Jünger darauf, daß der Feind
oder Gegner zu achten sei, weil nur der Kampf gegen einen achtenswerten
Gegner ehrenvoll sei (SG I, 87; später gestrichen). Ein Vers aus Ariosts
Orlando Furioso/Rasendem Roland, den Jünger im Frühjahr 1917 las,
erscheint als Ausweis des eigenen todesverachtenden Heroismus und soll
zugleich die Stahlgewitter in die Reihe der großen Heldenliteratur stellen
(SG I, 101 = 1, 181). Und schließlich wird Sternes skurriler Roman Tristram
Shandy angeführt, den Jünger im August 1918 vor seinem letzten Einsatz in
der Schlacht von Bapaume, »in der warmen Sonne liegend«, las (SG I, 176 =
1, 289). Orlando Furioso und Tristram Shandy -: den beiden Titeln
entsprechen zwei Haltungen, in denen Jünger dem Krieg begegnete: eine
heroische, die sich an der Lektüre von Heldenbüchern erbaute, und eine
dandyhafte, die den lebensbedrohlichen Ernst der Situation einfach ignoriert
und sich da, wo andere sich vor Angst in die Hosen machen, gelassen in ein
Kunstwerk versenkt. Freilich, der Krieg hat weder vor dem Helden Respekt,
noch nimmt er Rücksicht auf den Dandy: Beim Vorrücken rauscht eine
»Brisanzgranate« an und jagt auch Jünger in einen Trichter, wo er »mit dem
Knie in das Angstprodukt eines Vorgängers« stürzt, so daß sein Bursche
nachher »mit dem Messer eine grobe Säuberung vornehmen« muß (SG I,
177 = 1, 290).
Schlachtbeschreibung

Der enervierende Stellungskrieg wurde im Frühsommer 1916 durch die


Somme-Offensive der Engländer beendet. Ihr gelten drei Kapitel der
Stahlgewitter. Jünger und seine Kameraden wissen, was auf sie zukommt;
der Bataille geht der Ruf voraus, daß sie eine Schlacht werde, »wie sie die
Weltgeschichte noch nie gesehen hatte« (SG I, 48 = 1, 98). Tatsächlich führt
sie in ein Grauen, das die Erfahrungen in den Gräben um Douchy und
Monchy fast als Idylle erscheinen läßt. Unter einem Artilleriebeschuß, der
die Erde erbeben läßt, bezieht Jüngers Einheit in der Nacht vom 24. auf den
25. August, also nach zwei Monaten verlustreicher Kämpfe, Stellung in
einem Hohlweg bei dem Dorf Guillemont, dem »damaligen Brennpunkt der
Somme-Schlacht« (SG I, 49 = 1, 98). Der Morgen zeigt dann ein Bild, das
noch in der Beschreibung schockierend wirkt:
Der Hohlweg erschien nur noch als eine Reihe riesiger, mit
Uniformstücken, Waffen und Toten gefüllter Trichter; das
umliegende Gelände war, soweit der Blick reichte, völlig von
schweren Granaten umgewälzt. Nicht ein einziger armseliger
Grashalm zeigte sich dem suchenden Auge. Der zerwühlte
Kampfplatz war grauenhaft. Zwischen den lebenden
Verteidigern lagen die toten. Beim Graben von
Deckungslöchern bemerkten wir, daß sie in Lagen
übereinander geschichtet waren. Eine Kompanie nach der
anderen war dicht gedrängt im Trommelfeuer ausharrend
vernichtet. Dann waren die Leichen durch die von den
Geschossen hochgeschleuderten Erdmassen verschüttet, und
die nächste Kompanie war an den Platz der Gefallenen
getreten.
Der Hohlweg und das Gelände dahinter lag voll Deutscher,
das Gelände davor voll Engländer. Aus den Böschungen
starrten Arme, Beine und Köpfe; vor unseren Erdlöchern
lagen abgerissene Gliedmaßen und Tote, über die man zum
Teil, um dem steten Anblick der entstellten Gesichter zu
entgehen, Mäntel oder Zeltbahnen geworfen hatte. Trotz der
Hitze dachte niemand daran, die Körper mit Erde zu
bedecken.
Das Dorf Guillemont unterschied sich vom übrigen Terrain
nur dadurch, daß die Trichter infolge der zu Staub
zermalmten Steine der Häuser von weißlicherer Farbe waren.
Vor uns lag der wie ein Kinderspielzeug zerknüllte Bahnhof
von Guillemont und weiter hinten der in Späne zerrissene
Wald von Delville. (SG I, 53f. = 1, 105f.)
Zwei Fragen stellen sich: Wie kamen die Soldaten mit solchen Erfahrungen
zurecht? Und was bedeutet die Schilderung solcher Szenarien für die
Rezeption der Stahlgewitter?
Nicht an dieser, aber an anderer Stelle finden sich Hinweise auf
Bewältigungstechniken (SG I, 76 = 1, 144f.): Ein Keller, der »einen
Volltreffer bekommen« hat, muß geräumt werden. Grausige Funde sind zu
erwarten. Bevor Leutnant Jünger den Raum betritt, zündet er sich »für alle
Fälle eine Zigarre an«. Die Bergung der grauenhaft verstümmelten oder
aufgeschlitzten Leichen und die Registratur der persönlichen Wertsachen
geschieht unter beklommenem Schweigen, dessen Verletzung durch eine
witzig sein wollende Bemerkung gerügt wird. Ein Verwundeter erhält vor
dem Abtransport den »stoischen Rat«: »Beiß die Zähne zusammen,
Kamerad!« Nachdem die Aktion abgeschlossen ist, hat Leutnant Jünger dann
aber doch noch einen kräftigen Cherry-Brandy nötig (in der Erstausgabe
hieß es: »eine Reihe von Shery-Brandis«), um wieder »ins Gleichgewicht«
zu kommen. Zigarren also und Alkohol, aber auch gemeinsame und
demonstrative Sachlichkeit oder Abgebrühtheit halfen, mit den Erfahrungen
des Grauens fertig zu werden. Hinzu trat die Kraft der Serie, die freilich
auch eine vielfach wiederholte und belastende Auseinandersetzung mit dem
Grauenvollen oder Grausigen bedeutete. In die dritte, 1924 aufgelegte
Fassung der Stahlgewitter hat Jünger in die Beschreibung eines eben
erstürmten Grabens zwei Abschnitte eingefügt, in denen er dieses Thema
ausdrücklich reflektiert:
Obwohl ich mir vorgenommen habe, in diesem Buche die
Betrachtung [zugunsten der »Leistung« oder der Fakten] ganz
zurückzustellen, so möchte ich doch hier diesen für das
Kriegserlebnis so bedeutsamen Augenblick der ersten
Erscheinung des Grausigen streifen. Das Grausige gehörte ja
auch zu dem, was uns so unwiderstehlich in den Krieg
hinausgezogen hatte. Eine lange Zeit der Ordnung und des
Gesetzes, wie sie unsere Generation hinter sich hatte, bringt
einen wahren Heißhunger nach dem Außergewöhnlichen
hervor, der noch durch die Literatur gesteigert wird. […]
Und nun beim ersten Anblick des Grausigen hatten wir ein
Gefühl, das sich sehr schwer beschreiben läßt. Da auch das
Sehen und Erkennen von Gegenständen auf Übung beruht,
läßt sich etwas ganz Unbekanntes durch das Auge nur schwer
entziffern. So mußten wir immer wieder auf diese Dinge, die
wir noch nie gesehen hatten, starren, ohne ihren Sinn erfassen
zu können – sie waren uns eben gänzlich ungewohnt. Wie in
einem Traum, in einem Garten voll seltsamer Gewächse
schritten wir über diesen Boden, der überall Tote mit
verrenkten Gliedern, verzerrten Gesichtern und den
schrecklichen Farben der Verwesung trug. Erst später konnten
wir klar erkennen, was uns umgab. Und zuletzt waren wir so
an das Grausige gewohnt, daß, wenn wir hinter einer
Schulterwehr oder in einem Hohlweg auf einen Toten stießen,
dieses Bild in uns nur den flüchtigen Gedanken löste: »Eine
Leiche«, wie wir sonst wohl dachten: »Ein Stein« oder: »Ein
Baum«. (SG III, 20f.)
Jünger schildert hier den schrecklichen Prozeß der Gewöhnung an das, was
doch jeder Gewöhnung entzogen sein sollte. Das hat ihm viele Vorwürfe
eingebracht: Er verhalte sich wie ein Voyeur und stelle auf obszöne Weise
Leichen zur Schau. Er ästhetisiere das Inhumane und mache es genießbar. Er
sei ein Meister der Verdrängung und bewirke mit seiner Darstellung des
Grauenhaften auch die Abstumpfung der Leser. Aber ist das richtig? Gewiß
ist hier Ästhetisierung im Spiel: erzählerisches oder szenisches
Arrangement, einfärbende Benennung, Hervorhebung oder Ausklammerung
von Details, dazu der Garten-Vergleich, der auf den ersten Blick
beschönigend und verharmlosend wirken mag. Und doch wird nichts
beschönigt oder verharmlost, und nichts wird verdrängt. Der da schreibt,
weiß und sagt, daß er vier Jahre lang über einen Boden ging, der mit Leichen
unterlegt war. Und er sagt keineswegs, daß die Gefallenen wie friedlich
Entschlafene dalagen; vielmehr sagt er ausdrücklich und in krassem
Widerspruch zur Assoziation eines schönen Gartens, daß sie »mit verrenkten
Gliedern, verzerrten Gesichtern und den schrecklichen Farben der
Verwesung« in der Erde steckten. Die 1924 eingefügte Passage ist nicht
beschönigend und verharmlosend, sondern schockierend, und dies auf
doppelte Weise: durch die ästhetisch pointierte Evokation des Grauenhaften
und durch das Bekenntnis der Gewöhnung oder Abstumpfung, die
offensichtlich menschenmöglich ist und für die Soldaten wohl
überlebensnotwendig war. Dies dargestellt zu haben, ist keine obszöne
Verfehlung, sondern schonungslose Analyse – die freilich schockierend
wirkt und entsprechende Proteste hervorruft. Diese wenden sich aber
zumeist nicht gegen den Krieg, der die geschilderten Umstände geschaffen
und die einbekannten Verhaltensweisen hervorgetrieben hat, sondern gegen
den Berichterstatter, dem nun, weil er sich nicht ausdrücklich davon
distanziert, eine geradezu nekrophile Fixierung auf diese Art von
Todesgrauen und eine menschenverachtende Indolenz vorgeworfen werden.
Aber hätte Jünger wirklich ausdrücklich sagen müssen, daß das, was er da
schilderte, die eigene Abstumpfung eingeschlossen, empörend war? Als ob
die schockierende und beklemmende Darstellung dieser Dinge nicht Protest
und Selbstkritik genug wäre! Das hier sich offenbarende Manko ist nicht das
des Autors, sondern das seiner Kritiker, die offensichtlich weniger
ästhetische und psychologische Sensibilität haben, als der Autor ihnen
zugetraut hat. Dies scheint Jünger allerdings früh in Erfahrung gebracht zu
haben: Bei der dritten Überarbeitung der Stahlgewitter in den Jahren
1932/33 hat er die zuletzt zitierte Passage wieder gestrichen.
Die Rezeption der Stahlgewitter wurde in den letzten Jahrzehnten dadurch
bestimmt, daß Jünger in drei vielbeachteten Studien als reiner Ästhetizist
(Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens, 1978), als Musterbeispiel
des emotional verhärteten oder gepanzerten soldatischen und
präfaschistischen Mannes (Klaus Theweleit, Männerphantasien, 1977/78)
und als Exponent einer Ethik der Kälte (Helmut Lethen, Verhaltenslehren
der Kälte, 1994) dargestellt wurde. Die Beobachtungen und Analysen dieser
vielfach aufschlußreichen Untersuchungen sollen hier nicht rundweg
bestritten werden. In der Tat kappt Jünger, wie die oben zitierte Stelle über
den Kopfschuß eines Grabenpostens zeigt, oft die moralische Reflexion –
»Man ist ja so stumpf geworden« – zugunsten der bloßen Beschreibung, die
dann ästhetizistisch wirken und auf emotionale Panzerung sowie ethische
Kälte schließen lassen mag. Aber an der erwähnten Streichung ist ebenso zu
sehen, daß der Habitus des kalten und gepanzerten Ästhetizisten, den Jünger
sich nach und nach zuschrieb, etwas voluntativ Einseitiges hatte: Er
entspricht dem zeitgemäßen Willen zur Sachlichkeit, der im Vorwort der
Stahlgewitter beschworen wurde, und mag zudem eine willentlich forcierte
und demonstrativ hervorgekehrte Reaktion auf die schweren
Traumatisierungen durch den Krieg gewesen sein. Keineswegs aber macht er
den ganzen Jünger aus. Die Stahlgewitter zeigen nicht einen Menschen, der
allen Schreckenserfahrungen ungerührt standhält, sondern jemanden, der
permanent mit Ängsten zu kämpfen hat, Verstörungen erleidet und
Nervenzusammenbrüche erlebt. Letzteres widerfährt ihm zum ersten Mal
während der Schlacht von Les Esparges, in der er nicht einen Gegner zu
Gesicht bekommt, aber plötzlich in heftigen Beschuß gerät und seine erste,
glimpfliche Verwundung erleidet:
Wir schwärmten aus und legten uns erwartungsvoll in eine
Reihe flacher Mulden, von irgendwelchen Vorgängern
ausgehoben. Mitten in scherzende Zurufe schnitt
markerschütterndes Geheul. Zwanzig Meter hinter uns
wirbelten Erdklumpen aus weißer Wolke und klatschten hoch
ins Geäst. Vielfach rollte der Schall durch den Wald.
Beklommene Augen starrten sich an, Körper schmiegten sich
in niederdrückendem Gefühl völliger Ohnmacht an den
Boden. Schuß folgte auf Schuß. Stickige Gase schwammen
im Unterholz, Qualm verhüllte die Gipfel, Bäume und
Zweige stürzten rauschend zu Boden, Schreie wurden laut.
Wir sprangen hoch und rannten blindlings, von Blitzen und
betäubendem Luftdruck gehetzt, von Baum zu Baum,
Deckung suchend und wie gejagtes Wild riesige Stämme
umkreisend. Ein Unterstand, in den viele liefen, erhielt einen
Treffer, der den dicken Balkenbelag hochriß.
Ich eilte mit dem Unteroffizier keuchend um eine mächtige
Buche. Plötzlich blitzte es in dem weit ausgreifenden
Wurzelwerk, und ein Schlag gegen den linken Oberschenkel
warf mich zu Boden. Ich glaubte, von einem Erdklumpen
getroffen zu sein, doch belehrte mich reichlich strömendes
Blut bald, daß ich verwundet war. Es zeigte sich später, daß
mir ein haarscharfer Splitter eine Fleischwunde geschlagen
hatte, nachdem seine Wucht durch meine dicke Leder-
Geldtasche abgeschwächt war.
Ich warf meinen Tornister fort und rannte dem Graben zu,
aus dem wir gekommen waren. Von allen Seiten strebten
Verwundete aus dem beschossenen Gehölz strahlenförmig
darauf zu. Der Durchgang war entsetzlich, von
Schwerverwundeten und Sterbenden versperrt. Eine bis zum
Gürtel entblößte Gestalt mit aufgerissenem Rücken lehnte an
der Grabenwand. Ein anderer, dem ein dreieckiger Lappen
vom Hinterschädel herabhing, stieß fortwährend schrille,
erschütternde Schreie aus. – Und immer neue Einschläge.
Ich will offen gestehen, daß mich meine Nerven restlos im
Stiche ließen. Nur fort, weiter, weiter! Rücksichtslos rannte
ich alles über den Haufen. Ich bin kein Freund des
Euphemismus: Nervenzusammenbruch. Ich hatte ganz
einfach Angst, blasse, sinnlose Angst. Ich habe später noch
oft kopfschüttelnd an jene Momente zurückgedacht. (SG I, 15
= 1, 36f.)
Einen zweiten Nervenzusammenbruch erleidet Jünger in der
Frühjahrsoffensive 1918. Als seine Kompanie während des Vormarsches in
einem großen Granattrichter rastet, wird sie unter Beschuß genommen:
Da pfiff es wieder hoch in der Luft; jeder hatte das
zusammenschnürende Gefühl: die kommt hierher! Dann
schmetterte ein betäubender, ungeheurer Krach; – die Granate
war mitten zwischen uns geschlagen …
Halb ohnmächtig richtete ich mich auf. Aus dem großen
Trichter strahlte unsere in Brand gesetzte Maschinengewehr-
Munition ein intensives rosa Licht. Es beleuchtete den
schwelenden Qualm des Einschlages, in dem sich schwarze
Körper wälzten[,] und die Schatten der nach allen Seiten
auseinander stiebenden Überlebenden. Gleichzeitig ertönte
ein vielfaches, grauenhaftes Gebrüll und Hilfegeschrei.
Ich will nicht verheimlichen, daß ich zunächst, wie alle
anderen, nach einem Augenblick starren Entsetzens aufsprang
und planlos in die Nacht rannte. Erst in einem kleinen
Granatloch, in das ich kopfüber gestürzt war, wurde mir der
Vorgang klar. Ich mußte mich an den schrecklichen Ort
zurückzwingen; […].
Die Verwundeten stießen noch immer ihre furchtbaren
Schreie aus. Einige kamen auf mich zugekrochen und
winselten, meine Stimme erkennend: »Herr Leutnant! Herr
Leutnant!« Einer meiner liebsten Rekruten, dem ein Splitter
den Schenkel zerknickt hatte, klammerte sich an meinen
Beinen fest. Meinem Unvermögen zu helfen, fluchend,
klopfte ich ihm ratlos auf die Schulter. Solche Augenblicke
vergißt man nie.
Ich mußte die Unglücklichen dem einzig überlebenden
Krankenträger überlassen, um das Häuflein Getreuer, das sich
um mich gesammelt hatte, aus dem gefährdeten Bereich zu
führen. Vor einer halben Stunde noch an der Spitze einer
kriegsstarken, ausgezeichneten Kompanie, irrte ich nun mit
wenigen, seelisch vollkommen deprimierten Leuten durch das
Grabengewirre. Ein blutjunges Milchgesicht, das vor einigen
Tagen noch, von seinen Kameraden verspottet, beim
Exerzieren der schweren Munitionskästen wegen geweint
hatte, schleppte nun diese Last, die er aus der furchtbaren
Szene gerettet hatte, getreulich auf unserem mühsamen Wege
mit. Diese Beobachtung gab mir den Rest. Ich warf mich zu
Boden und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus,
während die Leute düster um mich herumstanden. (SG I, 141
= 1, 234f.)
Diese beiden Zusammenbrüche liegen drei Jahre auseinander, wirken
vereinzelt und waren es in dieser extremen Form wohl auch. Im übrigen aber
wird aus den Stahlgewittern, zumal aus der Erstfassung, durchaus
ersichtlich, daß die Angst an der Front eine ständige Begleiterin war, daß
sich die Zeitspanne zwischen dem Abschuß einer feindlichen Granate und
ihrem Einschlag mit zunehmender Erfahrung »immer furchtbarer« gestaltete
(SG I, 64) und daß selbstverständlich auch Jünger oft genug am liebsten
weggerannt wäre:
Du kauerst zusammengezogen einsam in deinem Erdloch und
fühlst dich einem unbarmherzigen, blinden
Vernichtungswillen preisgegeben. Mit Entsetzen ahnst du,
daß deine ganze Intelligenz, deine Fähigkeiten, deine
geistigen und körperlichen Vorzüge zur unbedeutenden,
lächerlichen Sache geworden sind. Schon kann, während du
dies denkst, der Eisenklotz seine sausende Fahrt angetreten
haben, der dich zu einem formlosen Nichts zerschmettern
wird. Dein Unbehagen konzentriert sich auf das Gehör, das
das Heranflattern des Todbringers aus der Menge der
Geräusche zu unterscheiden sucht. […].
Ja, warum springst du denn nicht auf und stürzt in die
Nacht hinein, bis du in einem sicheren Gebüsch wie ein
erschöpftes Tier zusammenbrichst? (SG I, 101f.)
Diese Absätze hat Jünger bei der Überarbeitung in den Jahren 1932/33
ebenso gestrichen wie jene oben zitierte Passage über die Abstumpfung.
Über die Gründe kann auch hier nur spekuliert werden. Die getilgten
Passagen hätten das Bild des heroischen Kriegers, das er von sich zu
vermitteln suchte, nicht gestört, da er ja dem Impuls zum Wegrennen nicht
nachgab. Vermutlich ging es dem späteren Jünger um Glättung. Es scheint,
daß er manche Negativitäten des Kriegs zugunsten der heroischen und
dandyhaften Stilisierung tilgte, zugunsten also eines literarisch-ästhetischen
Musters, in das er sich zusehends verliebte. Aber was auch immer die
Motive gewesen sein mögen -: der Effekt dieser Streichungen war jedenfalls,
daß die verbliebenen Hinweise auf die Ängste, die Jünger auszustehen hatte,
nicht mehr wahrgenommen wurden und sich das Bild des Autors der
Stahlgewitter auf den mehr oder minder empfindungslosen Offizier, den
immer nur forschen Stoßtruppführer verengte.
Den forschen und kampfeslüsternen, zum Töten bereiten und
entschlossenen Jünger gibt es allerdings auch, und in erschreckendem Maß.
Mit »geheimer Wollust« bestückt er am ersten Kriegstag sein Gewehr mit
scharfer Munition (SG I, 2 = 1, 14), und in vielen Gefechten oder bei
sonstigen Gelegenheiten macht er von Gewehr, Pistole und Handgranaten
mörderischen Gebrauch. Einmal tötet er mit kalter Gelassenheit:
Am Vormittag […] schlenderte ich durch meinen Graben und
sah auf einem Postenstande den Leutnant Pfaffendorf, der
von dort mit einem Scherenfernrohr das Feuer seiner
Minenwerfer leitete. Ich trat neben ihn und bemerkte sofort
einen Engländer, der hinter der dritten feindlichen Linie über
Deckung ging und sich in seiner kakibraunen Uniform scharf
vom Horizont abhob. Ich riß dem nächsten Posten das
Gewehr aus der Hand, stellte Visier 600, nahm den Mann
scharf aufs Korn, hielt etwas vor den Kopf und zog ab. Er tat
noch drei Schritte, fiel dann auf den Rücken, als ob ihm die
Beine unter dem Leib fortgezogen wären, schlug ein paarmal
mit den Armen und rollte in ein Granatloch, aus dem wir
durch das Glas noch lange seinen braunen Ärmel leuchten
sahen. (SG I, 69 = 1, 134)
Anders in der Schlacht. In ihr wird Jünger, wenn es zur Konfrontation mit
dem Feind kommt, vom »Draufgängertum« (SG I, 131) oder »Furor« (1,
223) gepackt und von wilder Tötungswut fortgerissen, so etwa in der
verzweifelten Offensive vom März 1918:
In einer Mischung von Gefühlen, hervorgerufen durch
Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß gingen wir im Schritt auf
die feindlichen Linien los. Ich war weit vor der Kompanie,
gefolgt von meinem Burschen und einem Einjährigen. Die
rechte Hand umklammerte den Pistolenschaft, die linke einen
Reitstock aus Bambusrohr. Ich kochte vor einem mir jetzt
unbegreiflichen Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten,
beflügelte meine Schritte. Die Wut entpreßte mir bittere
Tränen.
Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt
lastete, konzentrierte sich in den Gehirnen. So mögen die
Männer der Renaissance von ihren Leidenschaften gepackt
sein, so mag ein Cellini gerast haben, Werwölfe, die heulend
durch die Nacht hetzen, um Blut zu trinken. (SG I, 146 = 1,
242)
Die folgende Schilderung der Erstürmung einer englischen Stellung zeigt
dann Widersprüchliches: Einen englischen Offizier, der ihm eine
Photographie seiner Familie entgegenhält, läßt Jünger, obwohl er die Pistole
schon auf ihn gerichtet hat, unbehelligt stehen, und einen andern setzt er
allein durch körperliche Kraft außer Gefecht, ohne ihm das Leben zu
nehmen (SG I, 147f. = 1, 243f. und 246). Dann aber verwendet auch er die
Waffen, erschießt einen Gegner gezielt mit dem Gewehr und feuert mit
seiner Pistole auf die in den Graben gedrängten Engländer, bis das Magazin
leer ist.
Man liest das mit Entsetzen. Man möchte die Augen davor verschließen.
Man weigert sich, das zu verstehen, obwohl es aus der Zeit und aus der
Situation heraus erklärbar ist. Und man fragt sich, ob das auch noch
beschrieben werden mußte. Vielleicht nicht zwingend. Zuckmayer bemerkt
in seiner Autobiographie: »Ich habe kein Kriegsbuch geschrieben und keine
Kriegsgeschichten erzählt. Mir schien es unmöglich, das mitzuteilen –
vergeblich, das als Wirklichkeit Erlebte, sei es in einem verklärten,
heroischen, kritischen Licht, wiederzugeben oder auch nur sachlich davon zu
berichten.« Aber, abgesehen davon, daß Krieg und Militarismus in
Zuckmayers Werk vielfach thematisch wurden und das achtzig Seiten
umfassende Weltkriegskapitel seiner Autobiographie kein geringes
Kriegsbuch ist -: das ist Zuckmayers Meinung, die aus Zuckmayers
Befindlichkeit resultiert und nicht gleich als verbindlich auch für andere zu
betrachten ist. Für Jünger, der als Infanterist dem Krieg auf ganz andere
Weise ausgesetzt war als der Artillerist Zuckmayer, war die literarische
Reflexion der Kriegserfahrung und speziell auch der persönlich begangenen
Tötungen offensichtlich unabweisbar nötig, und dies in eben der Form, in
der sie in den Stahlgewittern vorliegt, also unter Einschluß von
Schilderungen, die – zwischen Bekenntnis und Selbstrühmung oszillierend –
uns heute den Atem verschlagen. Hätte Jünger trotzdem schweigen sollen?
Vermutlich stand dies gar nicht in seinem Belieben. Die Verbissenheit, mit
der Jünger zwischen Ende 1918 und 1925 den Krieg thematisiert, deutet
darauf hin, daß er durch den Krieg in einer Weise traumatisiert war, die ihm
etwas anderes als die fortgesetzte Bearbeitung des »Kriegserlebnisses« kaum
ermöglichte. Und hätte er geschwiegen, so fehlte uns dieses vielleicht
eindringlichste Dokument einer Geschichtserfahrung und einer damit
verbundenen Verhaltensweise, die »fürchterlich« oder »erschütternd« zu
nennen euphemistisch ist – und die doch millionenfache Wirklichkeit war
und millionenfach verkraftet werden mußte.

Die Geburt des »Frontsoldaten«: Jüngers normative Anthropologie

Zu Jüngers Versuch, diese Traumatisierung zu lindern, gehört auch die


Tendenz, den Krieg – und die eigene Beteiligung – als einen im Grunde
sinnvollen Vorgang zu deuten. So fürchterlich er auch war -: der Krieg, und
zumal der Krieg in der Form der Materialschlacht, wird in den
Stahlgewittern zur Schmiede eines neuen soldatischen und menschlichen
Typus, und ebendies ist sein edukativer Sinn. Er zeigt sich zum ersten Mal
beim Eintritt in die SommeSchlacht Ende August 1916:
Vor uns rollte und donnerte ein Artilleriefeuer von nie
geahnter Stärke, tausend zuckende Blitze hüllten den
westlichen Horizont in ein glühendes Flammenmeer. […].
Ein Mann in Stahlhelm meldete sich bei mir, um meinen
Zug in das berühmte Städtchen Combles zu führen, wo wir
vorläufig in Reserve bleiben sollten. <1934 eingefügt: Dies
war der erste deutsche Soldat, den ich im Stahlhelm sah, und
er erschien mir sogleich als der Bewohner einer neuen,
geheimnisvolleren und härteren Welt.> Neben ihm im
Straßengraben sitzend, fragte ich natürlich begierig nach den
Verhältnissen in Stellung und vernahm eine eintönige
Erzählung von tagelangem Hocken in Granattrichtern ohne
Verbindung und Annäherungswege, von unaufhörlichen
Angriffen, von Leichenfeldern und wahnsinnigem Durst, vom
Verschmachten Verwundeter und anderem mehr. <1934
modifiziert: Das vom stählernen Helmrand umrahmte,
unbewegliche Gesicht und die eintönige, vom Lärm der Front
begleitete Stimme machten einen gespenstischen Eindruck
auf uns.> Man merkte dem Manne an, daß er jeden Schrecken
bis zur Verzweiflung durchgekostet und dann verachten
gelernt hatte. Nichts schien zurückgeblieben als eine große
und männliche Gleichgültigkeit. <Ab 1934: Wenige Tage
hatten diesem Boten, der uns in das Reich der Flammen
geleiten sollte, einen Stempel aufgeprägt, der ihn auf eine
unaussprechliche Weise von uns zu unterscheiden schien.>
»Wer fällt, bleibt liegen. Da kann keiner helfen. Niemand
weiß, ob er lebend zurückkommt. Jeden Tag wird angegriffen,
doch durch kommen sie nicht. Jeder weiß, daß es auf Leben
und Tod geht.«
<1934 hinzugefügt: Nichts war in dieser Stimme
zurückgeblieben als eine große und männliche
Gleichgültigkeit.> <Zusatz in der Ausgabe der Deutschen
Hausbücherei 1934: Mit solchen Männern kann man
kämpfen.>
<Ab 1961: Nichts war in dieser Stimme zurückgeblieben
als ein großer Gleichmut. Sie war vom Feuer ausgeglüht. Mit
solchen Männern kann man kämpfen.> (SG I, 49 = 1, 99)
Man sieht: Die Materialschlacht soll einen Menschenschlag von exorbitanter
Härte hervorgebracht haben: den Vorboten jener »härteren Welt«, die Jünger
mit dem »Großen Krieg« heraufziehen sah. Er hat die Nerven, ein
Artilleriefeuer auszuhalten, das durch seine »wahnwitzige Wucht« nicht nur
Kopf- und Ohrenschmerzen verursacht, sondern die »Fähigkeit zum
logischen Denken« gefährdet, das »Gefühl der Schwerkraft« aufhebt und
den einen oder andern »tobsüchtig« werden läßt (SG I, 51f. = 1, 103). Aber
diese Schulung im Aushalten härtester Attacken auf alle Sinne und Nerven
ist noch lange nicht alles, was der Krieg dem neuen Typus an ›Erziehung‹
oder Formung angedeihen läßt. Er steckt ihn vielmehr in die 1916/17
aufkommenden Sturm- oder Stoßtrupps, deren Aufgabe es war, feindliche
Stellungen im Handstreich zu nehmen und auszuräumen. Jünger, der mit der
Bildung und Führung eines solchen Trupps beauftragt worden war (SG I, 91
= 1, 166), schildert im Kapitel über die Schlacht bei Cambrai eine solche
Aktion und beendet die Darstellung mit einem wahren Hymnus auf diese
neue Ausgeburt des »Großen Kriegs«:
Auch das moderne Gefecht hat seine großen Augenblicke.
Man hört so oft die irrige Ansicht, daß der Infanteriekampf zu
einer uninteressanten Massenschlächterei herabgesunken ist.
Im Gegenteil, heute mehr denn je entscheidet der Einzelne.
Das weiß jeder, der sie in ihrem Reich gesehen hat, die
Fürsten des Grabens mit den harten, entschlossenen
Gesichtern, tollkühn, so sehnig, geschmeidig vor- und
zurückspringend, mit scharfen, blutdürstigen Augen, Helden,
die kein Bericht nennt. Der Grabenkampf ist der blutigste,
wildeste, brutalste von allen, doch auch er hat seine Männer
gehabt, Männer, die ihrer Stunde gewachsen waren,
unbekannte, verwegene Kämpfer. Unter allen
nervenerregenden Momenten des Krieges ist keiner so stark,
wie die Begegnung zweier Stoßtruppführer zwischen den
engen Lehmwänden des Grabens. Da gibt es kein Zurück und
kein Erbarmen. Blut klingt aus dem schrillen
Erkennungsschrei, der sich wie Alpdruck von der Brust ringt.
(SG I, 133 = 1, 226, dort gekürzt)
Man muß sich bei dem heillosen Pathos nicht aufhalten. Der psychologisch
und historisch relevante Kern dieser Glorifizierung des Stoßtruppführers
besteht in der Feststellung, daß selbst in der Zeit der Materialschlacht »der
Einzelne« von entscheidender Bedeutung war und in seinem Bereich – wie
Jünger an der Steenbachlinie bei Langemarck (SG I, 100ff. = 1, 179ff.) – den
Gang der Dinge mitbestimmen und erfolgreich gestalten konnte. Diese
Erfahrung wurde zur Überzeugung, »daß aller Erfolg der Tat des Einzelnen
entspringt« (SG I, 174), nährte Jüngers Selbstbewußtsein über den Krieg
hinaus, motivierte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre seinen
nationalistisch-publizistischen Einsatz und blieb zeitlebens ein wichtiger
Artikel seines ethischen Credos. Im übrigen wurde diese Erfahrung auch zur
Basis des »Frontsoldaten«-Mythos, der die Weimarer Republik belastete,
weil mit ihm ein elitärer und agonaler, tatversessener und tendenziell
anarchischer Habitus propagiert wurde, der an den demokratischen
Verfahrensweisen des geduldigen Aushandelns von Kompromissen und
langwierigen Herstellens von Mehrheiten keinen Gefallen finden konnte.

Verwinden der »Niederlage«

Es stellt sich die Frage, wie Jünger angesichts des Heldentums, das er sich
und seinen Kameraden zuschreibt, die Niederlage erklärt. Andeutungsweise
nennen die Stahlgewitter zwei Gründe: zum einen die zahlenmäßige und
materielle Überlegenheit des Gegners, der ein unerschöpfliches Reservoir
von gut ausgerüsteten und verproviantierten Soldaten aufbieten und dazu
noch mit Tanks und immer mehr Flugzeugen anrücken konnte (SG I, 154
und 173 = 1, 254 und 285); zum andern die nicht selten wirklichkeitsfernen
Einsatzbefehle der höheren Stäbe, die Jünger in der ersten Fassung der
Stahlgewitter mehrfach kritisiert, und die erfahrungsferne und
kraftverzehrende Bürokratisierung und Reglementierung des militärischen
Alltags, die in der Erstausgabe ebenfalls mißbilligt wird (SG I, 164). Die
»Dolchstoßlegende«, der zufolge das »im Felde unbesiegte Heer« durch
Sozialisten und Defätisten »von hinten erdolcht« worden sei, spielt bei
Jünger indessen keine Rolle. Auch empfindet er es nicht als »Schmach«,
einem zahlen- und ausrüstungsmäßig weit stärkeren Gegner unterlegen zu
sein, zumal dessen Kampfgeist, wie Jünger in den Stahlgewittern mehrfach
betont, Respekt verdiente.
So können die Stahlgewitter trotz der absehbaren Niederlage als
Heldenbuch enden. Am 24. August wird der Berichterstatter schwer
verwundet, aber durch den selbstlosen Einsatz seiner Leute gerettet. Am 22.
September 1918 erreicht ihn im heimatlichen Erholungsurlaub ein
Telegramm des Divisionskommandeurs, das ihm zum krönenden Abschluß
einer ganzen Reihe von Auszeichnungen die Verleihung des höchsten
preußischen Militärordens verkündet:
Seine Majestät der Kaiser hat Ihnen den Orden Pour le Mérite
verliehen. Ich beglückwünsche Sie im Namen der ganzen
Division./General von Busse. (SG I, 181)
Das sind die letzten Sätze der Stahlgewitter. Kein Wort von der Niederlage,
die Ende September notorisch war. Für eine der beiden Hauptabsichten, die
Jünger mit seinem Buch verfolgte, nämlich die Absicht, den Heldentaten der
»herrlichsten Armee, die je die Waffen trug«, ein »Denkmal« zu setzen (SG
I, VIIIf.), war sie letztlich belanglos: Hektor ist ein Held, obwohl er den Fall
Trojas nicht verhindern konnte! Und im übrigen ist keine Niederlage
endgültig und nur eine Niederlage. Es kam – und das war die andere
Hauptabsicht der Stahlgewitter – darauf an, die Erfahrungen des Kriegs zu
bewahren und für die nationale Zukunft fruchtbar zu machen. Die
militärische Niederlage sollte, wie Jünger später verdeutlicht hat,
schonungslos analysiert und solchermaßen in einen sozialpsychologischen
und sozialethischen Zugewinn verwandelt werden. Das Vorwort zur
Erstfassung der Stahlgewitter spricht von einem anderen und größeren Ziel,
für das die Opfer des Kriegs erbracht worden und die Erfahrungen des
Kriegs mithin gut sein sollen (SG I, VIII). Worin dieses Ziel besteht und
inwiefern die gewonnenen Erfahrungen dafür nützlich sein konnten, wird
allerdings nicht gesagt.

»Habent sua fata…«

Die Stahlgewitter in der Weimarer Republik

Die Erstausgabe der Stahlgewitter erschien 1920 zum Teil mit der
Verlagsangabe »Hannover: Selbstverlag des Verfassers«, zum Teil mit der
Angabe »Verlag Robert Meier, Leisnig i. Sa.« oder »Leisnig: Verlag Robert
Meier«. Robert Meier war der Gärtner von Jüngers Vater; er wurde als
Verleger genannt, weil es Angehörigen der Reichswehr verboten war, ein
Gewerbe zu betreiben, und ein Selbstverlag galt als solches. Die Höhe der
Auflage betrug 2000 Exemplare. Der Titel wurde in den folgenden Auflagen
– bei leichter Variation der Hinweise auf den Verfasser und unter Änderung
der Verlagsangaben – beibehalten. Ab der 14. Auflage von 1934 lautete der
Titel »In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch« und verzichtete auf die
Hinweise auf den militärischen Rang des Verfassers. Seit der 26. Auflage
von 1961 heißt das Buch nur noch »In Stahlgewittern«. Ab der 2. Auflage
von 1922 erschien es im Berliner Verlag Mittler & Sohn, einem
traditionsreichen Militaria-Verlag, in dem auch die Kriegsbücher
prominenter Generäle publiziert wurden. Seit der 26. Auflage von 1961
gehören die Stahlgewitter – wie alle anderen Schriften Ernst Jüngers – zum
Programm des Klett- (Cotta-)Verlags Stuttgart.
Die Absatzzahlen der Stahlgewitter sind nicht genau bekannt und kaum
mehr sicher zu ermitteln, da die Verlage nicht alle Auflagenhöhen
dokumentiert haben. Die umsichtigen Untersuchungen von Liane Dornheim
und Eva Dempewolf lassen vermuten, daß bis 1990 mindestens 260 000
Exemplare verkauft wurden, möglicherweise aber 410 000; die irritierend
große Differenz ergibt sich daraus, daß nicht klar ist, wie oft die
auflagenstarke Sonderausgabe der Deutschen Hausbücherei Hamburg in den
dreißiger Jahren erschien. Bis 1928 wurden die Stahlgewitter vorzugsweise
von militärisch und kriegsgeschichtlich interessierten Kreisen
wahrgenommen. Der Absatz lag im Schnitt bei drei- bis viertausend
Exemplaren pro Jahr; bei Erscheinen der neunten Auflage im Jahr 1929
waren insgesamt 26 000 Exemplare verkauft. Erst als 1928/29 der Krieg –
zehn Jahre nach seinem Ende – erneut ins öffentliche Interesse gerückt und
literarisch thematisiert wurde, fanden auch die Stahlgewitter eine breitere
Beachtung. 1929 dürften annähernd 10 000 Exemplare abgesetzt worden
sein, danach ging der Verkauf wieder etwas zurück. Mit der 13. Auflage, die
1934 verkauft war, waren insgesamt 51 000 Exemplare vertrieben. Danach
stieg der Absatz sprunghaft an und erreichte 1940 die Zahl von 150 000
Exemplaren, 1943 die Höhe von 221 000 Exemplaren in der regulären
Ausgabe des Mittler-Verlags, durch die Hamburger Sonderausgaben
möglicherweise die Höhe von 370 000. Dies sind beachtliche Zahlen, doch
liegen sie weit unter den Absatzzahlen, die andere Kriegsbücher erreichten.
Von Hans Zöberleins Weltkriegsroman Der Glaube an Deutschland. Ein
Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz, der 1931 erschien, wurden bis
Anfang der vierziger Jahre etwa 500 000 Exemplare verkauft, und von Erich
Maria Remarques Anti-Kriegsroman Im Westen nichts Neues wurden
zwischen dem Erscheinen im Frühjahr 1929 und der Ächtung im Frühjahr
1933 allein in Deutschland weit mehr als eine Million Exemplare abgesetzt.
Jüngers Stahlgewitter blieben demgegenüber weit zurück; sie fanden
Beachtung, waren aber kein populäres Buch, geschweige denn ein Bestseller.
Bis 1928/29 wurden die Stahlgewitter, wie schon gesagt, hauptsächlich
wohl von militärisch und kriegsgeschichtlich interessierten Kreisen rezipiert.
Jedenfalls erschienen Besprechungen und Artikel, die sich ausdrücklich auf
die Stahlgewitter bezogen, zum größten Teil in Zeitschriften wie dem
Militärwochenblatt, dem Stahlhelm oder dem Deutschen Volkstum. Die
Wertung fiel durchweg positiv aus. Man rühmte – um ein paar
charakteristische Vokabeln zu zitieren – die »lebendige«, »anschauliche«,
»realistische« und zugleich »packende« Darstellung des Kriegs, lobte das
Buch dafür, daß es die Leistung der deutschen Soldaten deutlich machte, und
betrachtete es als Werk, das in der Schule wie beim Militär für die Erziehung
oder Ausbildung in einem kämpferischen und heroischen Sinn genutzt
werden konnte. Bei der Bewertung der Darstellung wurden
selbstverständlich Vokabeln verwendet, die auch in der Literaturkritik
gängig waren; gleichwohl ist zu sehen, daß die Stahlgewitter nicht als
literarisches Werk gelesen wurden, sondern als eine Art von Sachbuch, und
daß dem Verfasser weder literarische Ambitionen noch Leistungen
unterstellt wurden. Dies änderte sich erst, als die Stahlgewitter im Kontext
der Kriegsromane der Jahre um 1928/29 auch von der allgemeineren
Literaturkritik wahrgenommen wurden und Jünger zugleich mit dem
Abenteuerlichen Herzen als dezidiert literarischer Autor in Erscheinung trat.
Nun kam es zu Reaktionen von Publizisten und Autoren mit Rang und
Namen.
Eine erste, überaus bemerkenswerte – und erstaunlicherweise bis heute
nicht beachtete – Erinnerung an Jüngers Kriegsbücher erschien am 18. Juni
1928 in der Zeitschrift Sport im Bild, die zum Scherl-Verlag des
Antidemokraten Alfred Hugenberg gehörte. Ihr Verfasser war Erich Maria
Remarque, der damals für Sport im Bild arbeitete und gerade seinen Roman
Im Westen nichts Neues abgeschlossen hatte. In einem Artikel von etwa einer
Maschinenseite besprach er fünf Kriegsbücher, beginnend mit Jüngers
Stahlgewittern und dem Wäldchen 125. Er weiß nur Lob:
Fünf Kriegsbücher; alle fünf völlig verschieden. Die beiden
Bücher Jüngers von einer wohltuenden Sachlichkeit, präzise,
ernst, stark und gewaltig, sich immer weiter steigernd, bis in
ihnen wirklich das harte Antlitz des Krieges, das Grauen der
Materialschlacht und die ungeheure, alles überwindende
Kraft der Vitalität und des Herzens Ausdruck gewinnen. Den
Ablauf der Geschehnisse zeichnen die »Stahlgewitter« mit
der ganzen Macht der Fronterfahrung am stärksten, ohne
jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum des
Soldaten wieder, aufgezeichnet von einem Menschen, der wie
ein Seismograph alle Schwingungen der Schlacht auffängt.
Das »Wäldchen 125« ist breiter angelegt, zergliedert mehr,
legt den seelischen Grund frei für die Möglichkeiten, die den
einzelnen überhaupt befähigen, diese schweren Kämpfe zu
überstehen. Jünger, einer der wenigen jungen
Infanterieoffiziere mit dem Pour le mérite, ist wie kaum ein
anderer berechtigt, über die Schlacht und den Krieg
auszusagen. Er tut es schlicht, einfach und dadurch mit großer
Wucht. – Malerischer, lyrischer ist Riebicke […].
Von der Remarque-Forschung wurden diese Ausführungen mit Befremden
wahrgenommen. Man vermißte ein Zeichen der Ablehnung und verwies,
einen gewissen Opportunismus unterstellend, darauf, daß dieser Artikel ja in
einer Zeitschrift des Hugenberg-Verlags erschienen sei. Aber damit tut man
Remarque unrecht, verfehlt die Sache und verschließt sich der Erkenntnis,
daß der Verfasser des Antikriegsromans Im Westen nichts Neues die
Stahlgewitter und das Wäldchen 125 trotz der unterschiedlichen Beurteilung
des Kriegs geschätzt hat und möglicherweise eine Art Dank für das abstatten
wollte, was er aus diesen beiden Büchern darstellungstechnisch und
psychologisch gelernt haben dürfte (auch wenn viele Interpreten unentwegt
behaupten, Remarques Roman sei auf Schritt und Tritt ein
Kontrastprogramm zu Jüngers Kriegsbüchern). Der Grund für diese
Wertschätzung liegt, wie die Besprechung zeigt, in der deskriptiven
Genauigkeit und emotionalen Eindringlichkeit, mit der in den Stahlgewittern
und im Wäldchen 125 nicht nur die unfaßbare Fürchterlichkeit des Kriegs
dargestellt wird, sondern auch die kaum faßbare Resistenz der Soldaten.
Anders gesagt: Für Remarque waren die Stahlgewitter und das Wäldchen
125 Bücher von großer Eindruckskraft und Dokumente von großer
Authentizität oder Wahrhaftigkeit. Dazu gehörte für Remarque offensichtlich
auch die Artikulation der ideologischen Einstellung, auch wenn er diese
selber nicht teilte. Jedenfalls wandte sich Remarque nicht kritisch gegen
Jüngers Bellizismus und Heroismus, sondern rühmte an den Stahlgewittern,
daß sie zeigen, wie mächtig solche Motivationen des Herzens waren.
Es scheint, daß Remarque Jüngers Bücher mit einem ähnlichen Sensorium
wie André Gide gelesen hat, der nach der Lektüre der Stahlgewitter am 1.
Dezember 1942 in sein Journal eintrug: »Le livre d’Ernst Jünger sur la
guerre de 14, Orage d’Acier, est incontestablement le plus beau livre de
guerre que j’aie lu; d’une bonne foi, d’une véracité, d’une honnêteté
parfaite.«/»Ernst Jüngers Buch über den 14er Krieg, Stahlgewitter, ist ohne
jeden Zweifel das schönste Kriegsbuch, das ich je gelesen habe; aufrichtig,
wahr und höchst ehrenhaft.« Im übrigen mögen Remarque und Gide
deutlicher als viele Kritiker der Stahlgewitter gespürt haben, daß dieses
Buch trotz aller bellizistischen Phrasen und heroischen Aufschwünge in
einem solchen Maß vom Grauen des Kriegs erfüllt war und in einer solchen
Kraßheit von ihm sprach, daß es in die Nähe eines Antikriegsbuchs geriet.
Tatsächlich hat es der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Paul Levi
seinerzeit so gesehen. Er schrieb in einem Artikel, der am 11. Januar 1930 in
Leopold Schwarzschilds linksliberalem Tagebuch erschien: »Den Schrecken
des ganzen Erlebens hat vielleicht keiner so geschildert, kaum ist eine
furchtbarere Anklage gegen den Krieg geschrieben als dieses Buch eines
Mannes, der zum Kriege ›positiv‹ eingestellt ist […].« Bei den
Stahlgewittern ist offensichtlich eine Rezeption möglich, die der
ausdrücklichen Kriegsbegeisterung des Verfassers widerspricht; sie sind ein
durchaus doppeldeutiges Buch, genauso wie Remarques Antikriegsroman Im
Westen nichts Neues ein doppeldeutiges Buch ist und neben dem Elend des
Kriegs auch das Abenteuer Krieg zeigt. So ist es denn auch entschieden zu
einfach, wenn man – wie Heinz Ludwig Arnold – das Verhältnis zwischen
Jünger und Remarque auf den Gegensatz von »gestählt« und »zerstört«
reduziert; es wird dabei überlesen, daß die Stahlgewitter nicht nur von einer
voluntativen Stählung schwadronieren, sondern auch von einer tatsächlichen
und schweren Traumatisierung zeugen.
Diese Doppeldeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Stahlgewitter hat
1928/29 auch der Gründer und Vorsitzende des KPD-nahen »Bundes der
proletarisch-revolutionären Schriftsteller«, Johannes R. Becher, bemerkt.
Becher kannte die Stahlgewitter schon aus früheren Jahren. In seinem 1924
erschienenen Roman Levisite oder Der einzig gerechte Krieg, in dem er ein
Bild zukünftiger revolutionärer Kämpfe entwarf, verwendete Becher nicht
nur Jüngers Titelmetapher, sondern auch andere Formulierungen, die aus den
Stahlgewittern abgeleitet sein könnten. Und Becher hat wohl auch dafür
gesorgt, daß 1929 einige Seiten aus Jüngers Feuer und Blut in das von Kurt
Kläber im Internationalen Arbeiterverlag herausgegebene »Volksbuch« Der
Krieg aufgenommen wurden. Jedenfalls schrieb Becher im Vorwort, die
Stahlgewitter seien »das unbarmherzigste, das brutalste und nackteste
Kriegsbuch«, dessen Nationalismus nur »aufgeklebt« sei und das Bild des
Kriegs nicht dominieren könne: »In dem Kampf zwischen Wirklichkeit und
Gesinnung siegt die Wirklichkeit. Ernst Jünger möchte ein Ausruf sein, er
wird wider Willen zu einem Fragezeichen.«
Besonders bemerkenswert ist schließlich noch eine Stellungnahme des
Publizisten Fred Hildebrandt, die am 25. Oktober 1929 im linksliberalen
Berliner Abendblatt im Rahmen einer Übersicht über »Bücher vom Kriege«
erschien. Sie setzt mit einigen Sätzen über Jünger ein:
Um mit einem Autor der politischen Gegenseite zu beginnen,
der überdies einige Jahre vor Remarque Kriegsbücher
erscheinen ließ und der zudem ein außerordentliches
schriftstellerisches Talent ist: Ernst Jünger, ein ehemaliger
Sturmtrupp-Offizier, der mit dem höchsten militärischen
Orden ausgezeichnet wurde und als Leutnant den Pour le
mérite erhielt. An Lebensnähe, Sachlichkeit und
Wahrhaftigkeit könnten also seine Schilderungen nichts zu
wünschen übriglassen, und sie lassen es auch nicht. Aber sie
lassen auch nichts zu wünschen übrig an dichterischer Wucht
und Darstellungskraft, ja, leider steht dieses enorme Talent im
anderen Lager.
Das erinnert an den Artikel von Remarque und geht sachlich über diesen
nicht hinaus, abgesehen von dem wichtigen Punkt, daß Jünger nun erstmals
ausdrücklich als Schriftsteller und literarisches Talent gewürdigt wird. Er
war nun nicht mehr nur der Verfasser eines Kriegsbuchs, sondern eines
Werks von literarischer Qualität.
Über die internationale Rezeption der Stahlgewitter gibt es nur punktuelle
Erkenntnisse. Jünger bemerkte am 14. Januar 1923 in einem Brief an seinen
Bruder Friedrich Georg, die argentinische Armee habe für das
Übersetzungsrecht eine Million Mark bezahlt. In der Tat erschien die erste
Übersetzung ins Spanische 1922 in Buenos Aires; Jorge Luis Borges hat sie
mit Begeisterung gelesen und verfolgte von da an Jüngers Werk mit
bleibendem Interesse. Eine zweite Übersetzung ins Spanische erschien 1987
in Barcelona. In England kam die dritte, ›nationalistische‹ Fassung der
Stahlgewitter unter dem Titel Storm of Steel im Jahr 1929 heraus und fand
große Resonanz in Tageszeitungen wie beim kaufenden Publikum. Man
goutierte Jüngers Heroismus, aber auch seine stilistische Kühle und seine
ironische Distanz. Am 12. Juli 1929 schrieb Jünger an seinen Bruder
Friedrich Georg, daß er seit dem Erscheinen von Storm of Steel viele Briefe
aus England erhalten habe, zuletzt ein Schreiben von einem Schotten, der am
21. März 1918 aus nächster Nähe und unter einiger Angst beobachtete, wie
Jünger mit seiner Gruppe das »M.-G.-Nest« ausräumte, das den Deutschen
zuvor schwere Verluste zugefügt hatte. Eine erste französische Übersetzung
erschien 1930 in Paris, doch hielt sich das Interesse von Presse und
Publikum sehr in Grenzen.

Revisionen

Zwischen der ersten Publikation der Stahlgewitter im Jahr 1920 und der
Aufnahme in den ersten Band der Sämtlichen Werke im Jahr 1978 wurde der
Text von Jünger so oft überarbeitet, daß die Forschung bis zu zwölf
»Fassungen« unterscheidet. Besonders bemerkenswert sind sechs
Bearbeitungen, die – einschließlich der Originalausgabe – zu sieben
signifikant unterschiedlichen Fassungen geführt haben:

Diese sieben Fassungen weichen nicht nur in Kleinigkeiten voneinander ab,


sondern weisen Veränderungen auf, die einen erheblichen Umfang haben
und durch ihren systematischen Charakter auf bestimmte
Überarbeitungsabsichten hindeuten. In seitenweiser Zählung ergaben sich –
laut Hermann Knebel – von der ersten zur zweiten und dann zur jeweils
nächsten Fassung folgende Quantitäten: I zu II: Änderungen im Umfang von
15 Seiten; II zu III: 65 Seiten; III zu IV: 169 Seiten; IV zu V: 72 Seiten; V zu
VI: 121 Seiten; VI zu VII: 7 Seiten. Von der ersten bis zur siebten Fassung
wuchs der Text um etwa 25 Prozent. Vom Text der ersten Fassung finden
sich in der siebten Fassung noch etwa 84 Prozent, ein »Kerntext«, der sich –
unter zahlreichen Änderungen auf der Wortebene – durch alle Fassungen
hindurch erhalten hat und in der siebten Fassung noch etwa 64 Prozent des
Gesamttextes ausmacht. Änderungen sind auf allen Textebenen zu
beobachten. Dies kann hier nur exemplarisch und in der Absicht beschrieben
werden, die von Fassung zu Fassung sich ändernde Qualität und Tendenz der
Modifikationen zu charakterisieren.
In der Forschungsliteratur liest man gelegentlich, die erste Fassung der
Stahlgewitter sei – stilistisch gesehen – eine »schwache Schrift« (Böhme)
gewesen und habe noch Sätze enthalten, die »nicht einmal druckreif« zu
nennen seien. Tatsächlich finden sich in den ersten Auflagen Sätze, die sehr
sperrig und im einen oder andern Fall sogar grammatikalisch inkorrekt sind.
Böhme führt als Beispiel den folgenden Satz an: »Ein großer Splitter einer
auf die dem Eingang gegenüberliegende Grabenwand schlagende Granate
sauste in den Stollenhals […]« (SG I, 31f.). In der Ausgabe von 1924 heißt
es dann korrekt »einer […] schlagenden Granate«, wodurch der Satz
allerdings auch nicht viel verständlicher wird. Dazu bedurfte es einer
völligen Umformung, die Jünger im Zuge der Bearbeitung von 1932/33
vornahm. Ab 1934 lautet der Satz: »Eine Granate schlug hoch oben auf dem
gegenüberliegenden Grabenrande so unglücklich ein, daß sie einen großen
Splitter in den eigentlich völlig gedeckten Stollenhals schleuderte.« Solch
verbesserungsbedürftige Formulierungen finden sich in den frühen
Ausgaben in größerer Zahl, daneben inkorrekte oder veraltete Schreibweisen
(»prison[n]er«, »Kompa[g]nie«). Keineswegs aber ist es so, daß die
Erstfassung der Stahlgewitter nicht auch schon druckreif gewesen wäre und
noch keine literarische Qualität gehabt hätte. Einzuräumen ist nur, daß sie
durch einige Schwächen beeinträchtigt war, die zum Teil aus der
Unerfahrenheit des Autors und einem Mangel an Lektorat resultierten, zum
Teil aber auch aus den stilgeschichtlichen Umständen und den
außergewöhnlichen Sachverhalten. So ist zum einen zu berücksichtigen, daß
um 1919 zwei Stilpostulate miteinander konkurrierten: das
expressionistische, das zur syntaktischen Ballung und semantischen
Emphase drängte, und das der einsetzenden »Sachlichkeit«, das eine
Entpoetisierung des Ausdrucks verlangte.
Bei einem Autor, der seinen Stil noch nicht gefunden hatte, war dies ein
ungünstiger Augenblick für den Beginn der literarischen Produktion. Zum
andern ist zu bedenken, daß Jünger Vorgänge darzustellen hatte, die
beispiellos waren und deren Darstellung auf Schritt und Tritt Probleme
aufwarf und Entscheidungen verlangte, die einem späteren Blick wieder
fragwürdig wurden. Ein Beispiel bietet die Schilderung des Geschehens nach
dem fürchterlichen Granattreffer, der einen großen Teil von Jüngers
Kompanie auf einen Schlag vernichtete. Bis zur fünften Fassung heißt es,
daß einige Verwundete auf den unversehrten Leutnant Jünger »zugekrochen«
kamen und »winselten: ›Herr Leutnant, Herr Leutnant!‹« In der sechsten
Fassung wurde »winselten« durch »jammerten« ersetzt, und man wird wohl
richtiggehen, wenn man – mit Reinhard Wilczek – vermutet, daß Jünger das
Wort »winselten« in späteren Jahren als »herabwürdigend« empfand und
deswegen austauschte. Zugleich fragt man sich aber, ob »winselten« nicht
doch der Ausdruck war, der dem Elend jener halb zerschmetterten
Menschen, die nur noch kriechen konnten, besser entsprach als
»jammerten«. In diesem wie in vielen anderen Fällen ist des Abwägens kein
Ende, und so erklärt es sich, daß von Fassung zu Fassung eine mehr oder
minder größere Zahl von stilistischen Veränderungen vorgenommen wurde,
die weitaus meisten bei der fünften Bearbeitung vor der Überführung der
Stahlgewitter in die erste Werkausgabe (1961: Fassung VI).
Nicht bei allen Modifikationen ging es um stilistische Verbesserung oder
sachliche Präzisierung. Manche dienten der Modernisierung des Textes, so
die Tilgung des »e« in den Genitiv- und Dativ-Endungen von Hauptwörtern
(»des Zug[e]s«, »auf dem Marsch[e]«). Die Formen mit »e«, die
geschichtlich im norddeutsch-protestantischen Raum bevorzugt worden
waren, galten seit dem 19. Jahrhundert als Merkmal eines archaisierenden,
gehobenen, nachdrücklichen oder feierlichen Sprechens. Mithin paßten sie
zu Jüngers Absicht, mit den Stahlgewittern ein Helden- und Gedenkbuch zu
schreiben, doch gehört die Verwendung eines »e« in den genannten Formen
und an Flexionsstellen, an denen sich – wie beispielsweise in »du
wäsch[e]st« oder »iss[e]st« – schwer sprechbare Konsonantenverbindungen
ergaben, überhaupt zu Jüngers Stil. Er hatte diese Form des prononcierten
Sprechens in seiner Kindheit von seinem Großvater anerzogen bekommen
(6, 446 und 22, 735) und hielt noch an ihr fest, als andere Autoren seiner
Generation sie längst verabschiedet hatten und zu weiteren Abschleifungen
übergingen, Benn etwa zu »stehn« und »gehn«. In den fünfziger Jahren
dürfte ihm dann aber deutlich geworden sein, daß die »e«-Formen die Texte
nun weniger archaisch und erhaben erscheinen ließen als vielmehr
gravitätisch und altmodisch; bei der fünften Bearbeitung der Stahlgewitter
strich er sie -: ein Zugeständnis an den Sprach- oder Stilwandel, dem Jünger
sich, wie er 1964 darlegte (6, 446), nicht entziehen wollte. Wenn die
sprachliche Form der Stahlgewitter dadurch – wie Böhme es sieht – eine
Dynamisierung erfuhr, die dem Gegenstand besser entsprach, so war dies ein
willkommener Nebeneffekt einer sprachlichen Modernisierung, der sich
Jünger unabhägig von den Stahlgewittern anschloß. Im übrigen sind in
diesem Punkt die Bearbeitungen uneinheitlich und manchmal geradezu
widersprüchlich, wie sich an einem exemplarisch herausgegriffenen Satz
zeigt, der mehrere Bearbeitungen erfahren hat; er ist zugleich ein Beispiel
für den Abbau des um Genauigkeit bemühten und dadurch oft verdreht
wirkenden Vorschriftenstils der ersten Fassungen. In den Ausgaben bis 1934
lautet dieser Satz (aus dem Kapitel »Vom täglichen Stellungskampf«):
Es ist im Kriege immer mein Ideal gewesen, den Gegner
unter Ausschaltung jedes Haßgefühls nur im Kampfe als
solchen zu betrachten und ihn als Mann seinem Mute
entsprechend zu werten.
In der Ausgabe von 1934 wird der Nominalstil reduziert, die unnötige
Qualifikation »als solchen« gestrichen und das Dativ-»e« vom »Mute«
gestrichen; er lautet nun:
Es ist im Kriege immer mein Bestreben gewesen, den Gegner
ohne Haß zu betrachten und ihn als Mann seinem Mut
entsprechend zu schätzen.
In der Fassung von 1978 wird der Nominalstil noch weiter reduziert, aber
dem »Mut« wird sein 1934 apokopiertes »e« zurückgegeben, wohl aus
Gründen des Gleichklangs (mit dem »Kriege«) und des Rhythmus, die beide
für den »Euphoniker« Jünger von großer Wichtigkeit waren. Der Satz lautet
endlich:
Ich war im Kriege immer bestrebt, den Gegner ohne Haß zu
betrachten und ihn als Mann seinem Mute entsprechend zu
schätzen. (1, 64)
Im Bereich der stilistischen Veränderungen ist auch der Umgang mit
Fremdwörtern zu sehen, ein Thema, das mit dem Beginn des Ersten
Weltkriegs wieder einmal zur Streitfrage geworden war: Durfte man
weiterhin mit einem Vokabular arbeiten, das man aus dem feindlichen
Ausland bezogen hatte? Hugo von Hofmannsthal hat dieser Frage im
November 1914 einen eigenen Essay – Unsere Fremdwörter – gewidmet
und darin den Gebrauch der Fremdwörter durchaus verteidigt. Jünger scheint
sich in den zwanziger Jahren den Fremdwortgegnern angeschlossen zu
haben. Bis zur fünften Fassung der Stahlgewitter (1935) war er bemüht,
Fremdwörter durch deutsche Wörter zu ersetzen, was einige Arbeit
verursachte, weil gerade die militärische Sprache eine Vielzahl von
Fremdwörtern aufwies. So wurde, um einige Beispiele zu geben,
»quittieren« zu »bestätigen«, »Terrain« zu »Landschaft«, »Offensive« zu
»Großangriff«, »Ordonnanz« zu »Gefechtsläufer« oder »Meldeläufer«,
»Siesta« zu »Mittagsruhe«. Das Hauptmotiv für diese Substitutionen dürfte
eine zeitgemäße Tendenz zum nationalistischen Sprachpurismus gewesen
sein; ebenso mögen aber auch sachliche und kommunikative Erwägungen
eine Rolle gespielt haben: Mit »Großangriff« wird die Dimension einer
»Offensive« betont; »Mittagsruhe« paßt im Hinblick auf den deutschen
Kontext zweifellos besser als »Siesta«; und mit »Gefechts«- oder
»Meldeläufer« wird auf deutsch und in konkretisierender Weise
wiedergegeben, was das aus dem Französischen entlehnte »Ordonnanz« an
den betreffenden Stellen meint. Bemerkenswert ist nun aber, daß Jünger
diese »Ausmerzung von Fremdwörtern« (Eva Dempewolf) in der fünften
Bearbeitung, die zur sechsten Fassung von 1961 führte, rückgängig gemacht
hat, indem er etwa zwanzig neue Fremdwörter einfügte, aus »Anzug«
»Montur« machte, aus »Leute« »Ordonnanzen«, aus »dichte Verstärkungen«
»massierte Reserven«, aus »geheimnisvolle Ziffern« »Hieroglyphen« usw.
Offensichtlich war die Tendenz zum Sprachpurismus durch die Einsicht
relativiert worden, daß an der einen oder andern Stelle ein Fremdwort besser
angebracht war als seine deutsche Entsprechung, zumal dann, wenn es sich
um einen fachsprachlichen Begriff handelte.
Neben stilistisch zu qualifizierenden Änderungen hat Jünger vor allem in
den Bearbeitungen der zwanziger und dreißiger Jahre semantisch-
pragmatische Modifikationen vorgenommen: Militärische Abkürzungen und
Namenskürzel wurden aufgelöst, Namen wurden eingefügt, Sachverhalte
und Vorgänge wurden durch kleine Erweiterungen präzisiert und so
beschrieben, daß sie leichter vorstellbar wurden. Jünger hatte gelernt, seinen
Text mit fremden Augen zu sehen, und bemerkte, daß manches für die Leser
verständlicher gemacht werden konnte oder mußte. Geändert wurden auch
viele Stellen, die über die emotionale Befindlichkeit, die ethische Haltung
und die politische Einstellung des Autors Auskunft gaben.
Die verschiedenen Fassungen der Stahlgewitter wurden im Verlauf der
letzten Jahrzehnte mehrfach miteinander verglichen (Böhme 1972, Liebchen
1977, Knebel 1991, Dempewolf 1992, Kunicki 1993). Zunächst kam es zu
zwei divergierenden Befunden: Ulrich Böhme vertrat 1972 die These, daß
die Bearbeitungen primär durch das Ziel einer idealen literarischen Fassung
des Kriegsberichts motiviert waren. Demgegenüber kam Gerda Liebchen
1977 zur Ansicht, daß die Bearbeitungen weniger literarisch motiviert waren
und also nicht so sehr einer poetischen Optimierung dienten als vielmehr der
nachträglichen Ausrichtung der Stahlgewitter auf den rezenten politischen
Kontext und die aktuelle politische und weltanschauliche Haltung des
Autors. Hermann Knebel hat 1991 die erste These treffend als
»Finalitätsthese« bezeichnet, die zweite als »Opportunitätsthese«, und hat
zugleich die – naheliegende – Ansicht vertreten und plausibilisiert, daß
sowohl »Finalität« als auch »Opportunität« Änderungskriterien waren.
Knebel kam zu seiner vermittelnden These durch einen genaueren
Vergleich der sieben Stahlgewitter-Fassungen. Sein Befund deckt sich aber
auch mit dem, was Jünger selbst an verschiedenen Stellen und meist ohne
speziellen Bezug auf die Stahlgewitter über seine Bearbeitungsmanie gesagt
hat. Der wichtigste einschlägige Text ist das »Nachwort« Auf eigenen
Spuren, das sowohl den zehnten und letzten Band der ersten Werk-Ausgabe
(1965) als auch – in überarbeiteter Form – den achtzehnten und zunächst
letzten Band der zweiten Werk-Ausgabe (1983) beschließt. Jünger stellt sich
hier selbst die Frage, woher jene anhaltende »Unzufriedenheit mit den
eigenen Texten« kommt, die ihn veranlaßt, in »ameisenhaft[er]« Weise an
den Texten »herumzuminieren«, sobald sie ihm wieder vor die Augen
kommen, und seine erste Antwort lautet: aus dem »Gefühl, daß die Deckung
der Aussage mit dem Gemeinten nicht genügt und daß der Satz besser,
schlichter und treffender formuliert werden kann« (18, 467). Mit dem Maler
Raphael Mengs ist er der Meinung, daß alle Werke nur »relativ fertig« oder
»relativ vollendet« sind (18, 468 sowie 20, 305f.) und wie der Wein reifen
müssen, wozu freilich auch sorgfältige Pflege gehört. In seinen Journalen
berichtet Jünger immer wieder von der Überarbeitung älterer Texte und gibt
Beispiele für Streichungen, durch die ein Text »massiert« wird (6, 433), und
für kleine Korrekturen, die einen Satz in logischer wie kommunikativer
Hinsicht verbessern (6, 445). Und am 4. Juli 1984 notiert er in seinem
Journal, daß er »Annäherung« für den »wichtigste[n] Maßstab der
literarischen Leistung« halte (20, 383).
»Bearbeitungsmanie«

Daß Werke oder Texte immer nur »relativ fertig« seien, galt für Jünger nicht
nur unter stilistischen Aspekten, sondern auch unter kognitiven. Dies hat er
zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber es ergibt sich aus verschiedenen
Äußerungen über die Verarbeitung der Kriegserfahrung. Denn mehrfach hat
Jünger schon in den zwanziger Jahren – etwa im Vorwort zum Wäldchen 125
– betont, daß die Bedeutung der Kriegserfahrung nicht ein für allemal
erkannt und fixiert sei, sondern erst mit der Zeit hervortrete. Er schrieb
deswegen dem Wäldchen 125, wie er selber einräumte, »Betrachtungen« ein,
die erst aus der Entstehungszeit dieser Schrift datierten und die ihm während
des Kriegs noch fernlagen. In prinzipieller Absicht bemerkte er am 5.
September 1943 im Zweiten Pariser Tagebuch: »Ich widerspreche mir nicht
– das ist ein zeitliches Vorurteil. Ich bewege mich vielmehr durch
verschiedene Schichten der Wahrheit, von denen die jeweils höchste sich die
anderen unterstellt« (3, 144; vgl auch 21, 107). Dieses evolutionistische
Denken gilt insbesondere auch für die Bearbeitungen der Stahlgewitter.
Auch sie wurden mit nachträglich sich einstellenden Einsichten und neu
entwickelten Sinnzuschreibungen ausgestattet, sind mithin Produkte einer
kognitiven ›Reifung‹ und eines Sinngebungsversuchs, der –
verständlicherweise – zu keinem befriedigenden Ende finden konnte und
durch die geschichtliche Entwicklung immer wieder tangiert wurde.
Zu diesem kognitiv motivierten Überarbeitungs- oder
Umschreibungsprozeß gehört auch, daß die Texte »gesäubert« wurden.
Jünger selbst hat diese Vokabel 1983 in einer Tagebuchnotiz zum Wäldchen
125 verwendet (20, 248). Er bezeichnete damit die Tilgung jener anti-
demokratischen Wendung, die ihm bei der Überarbeitung um 1933 nicht
mehr behagte, weil sie »Mode zu werden begann« (209) oder, weniger
snobistisch gesagt, weil sie Beifall von »Leuten« bekam, die Jünger nun
»nicht mehr paßten« (248). Auch anderes mag mitgespielt haben. Am 24.
April 1935 schrieb Jünger an seinen Bruder Friedrich Georg:
Gestern habe ich die Bearbeitung des ›Wäldchen 125‹
abgeschlossen; ich darf damit zufrieden sein. Ich habe auf
diese Weise den ersten Teil des Jahres damit zugebracht,
meine Autorschaft nach rückwärts auszubauen, damit kein
Satz hinter mir bleibt, dem ich nicht zustimmen kann. Es
handelt sich dabei im Grunde um die Herausschälung des
Kernes, der mir immer deutlich war, den sichtbar zu machen
aber meine Mittel inzwischen gewachsen sind. Als ich aus
dem Kriege zurückkam, fand ich eine Reihe von Worten vor,
die man zunächst auf Treu und Glauben übernehmen mußte,
deren zweifelhafter Charakter mich jedoch immer stärker
beunruhigte. Nicht zuletzt hat die Pöbelherrschaft, die sich
auch der Sprache bemächtigt hat, jene Vorliebe für alles
Schlechte, Billige, Abgestandene und künstlich Gesteigerte
mir Sinn und Verantwortung geschärft. Es gibt heute auch
gute Dinge, die man nicht mehr aussprechen darf.
Man darf dies wohl auf die Stahlgewitter-Fassungen übertragen. Auch in
ihnen hat Jünger 1933 ›Säuberungen‹ vorgenommen, weil er, wie er 1985 im
Hinblick auf das Wäldchen 125 ausdrücklich sagte, »möglichen
Mißverständnissen vorbeugen wollte« (20, 492) und weil er meinte, die
nationalistische ›Aufladung‹ von 1924 wieder tilgen zu sollen.
Die wiederholte Überarbeitung seiner Texte hat Jünger vielfache und zum
Teil heftige Kritik eingetragen. Manche Beobachter sahen in den
Veränderungen unredliche Manipulationen mit dem Ziel einer doppelten
Beschönigung: Nicht nur die Zeichen seiner literarischen Unzulänglichkeit
habe Jünger beseitigen wollen, sondern auch die Dokumente seiner
ideologischen Verfehlungen. Das mag so sein; Jünger selbst hat sich dazu
bekannt, wenn auch mit anderen Worten. Die Frage ist aber, ob Jüngers
Überarbeitungen etwas Unerlaubtes sind und den Vorwurf der
»Falschmünzerei« oder der historischen Unredlichkeit rechtfertigen. Jünger
selbst hat sich dagegen verwahrt und hat in dem schon erwähnten
»Nachwort« zur ersten Werkausgabe darauf insistiert, daß der Autor
berechtigt sei, »sein geistiges Eigentum zu verwalten« (18, 475); dies
schließe reinigende und bessernde Eingriffe in die Texte ein und sei als
»Zugabe« und »Bereicherung« zu sehen, nicht aber als Verdrängung von
Früherem, da ja nichts Gedrucktes verlorengehe. Er hätte im übrigen auf
andere Autoren verweisen können, die ihre Schriften überarbeitet haben,
etwa auf Thomas Mann, der 1922 für die Neuauflage der erstmals 1918
erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen umfangreiche Passagen,
die ihm unter den veränderten historisch-politischen Bedingungen peinlich
geworden waren, gestrichen hat. Überdies hätte er an ihm demonstrieren
können, wie man von einem dezidierten Anti-Republikaner zu einem
bekennenden Republikaner werden konnte, ohne das Gefühl zu haben, seine
frühere Gesinnung preisgegeben oder verraten zu haben; jedenfalls stellte
der frisch gebackene Demokrat Thomas Mann 1922 im Vorwort zur
Druckfassung seiner aufsehenerregenden Rede Von deutscher Republik fest,
er wisse bei allen Unterschieden zwischen dem, was er 1918 geschrieben
habe, und dem, was er in seiner jüngsten Rede gesagt habe, »von keiner
Sinnesänderung«.
Auch wenn man dem Autor das Recht auf eingreifende Bearbeitungen
einräumt, hat der Vorgang etwas Irritierendes, zumal dann, wenn man an der
Entwicklung des Autors und an der Wirkung auf seine Zeit interessiert ist.
Die Aktualisierungs- und Meliorisierungsabsichten, die den Bearbeitungen
zugrunde liegen, zeitigen Verzerrungseffekte, die unmerklich bleiben und,
wenn sie aufgedeckt werden, kognitiv und moralisch verunsichernd wirken.
Man weiß plötzlich nicht mehr so recht, wovon man eigentlich spricht, wenn
man etwa von den Stahlgewittern spricht, und jede wertende Einschätzung
eines Werks oder des Autors insgesamt wird durch den Verdacht, daß die
Werke in der vorliegenden Form nicht nur stilistisch verbessert, sondern
eventuell auch ideologisch entschärft oder verharmlost seien, unterminiert.
Dieser Verunsicherungsfaktor, der nur durch einen erheblichen
philologischen Aufwand auszuschalten ist, hat zu der teilweise heftigen
Kritik seitens der früheren Forschung geführt. Inzwischen ist der Ton
gelassener geworden, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist – dank der
oben erwähnten Studien – hinreichend bekannt, wie sich die verschiedenen
Fassungen der Kriegsschriften voneinander unterscheiden, und der
Skandalwert hält sich sehr in Grenzen. Zum andern ist – durch Steffen
Martus – deutlich gemacht worden, daß Jüngers Bearbeitungsmanie eine
gewisse historische und zugleich poetologische Notwendigkeit oder
zumindest Erklärbarkeit hat: Sie liegt in der von Jünger 1929 ausdrücklich
formulierten Auffassung, daß Philologie oder Poesie nur eine »feinere Art
der Kriegsgeschichte« sei (9, 126).
Das ist weder eine Novität noch ein Spezifikum Jüngers. Vielmehr hat
man zwischen Kunst und Kampf, zwischen Poesie und Krieg immer schon
Analogien gesehen und in entsprechende Metaphern gefaßt. Die Antike
kennt den Dichterstreit, das Mittelalter den Sängerkrieg, und im 18. und 19.
Jahrhundert ist vielfach von Dichterfehden die Rede. Jonathan Swift hat
1704, als in Europa der Streit zwischen den Vertretern des an der Antike
orientierten und des neuzeitlichen Wissens tobte, einen satirischen Bericht
über die Schlacht zwischen den alten und modernen Büchern publiziert.
Nietzsche hat Erkennen und Schreiben, Philosophie und Philologie als
Surrogate von Kampf und Krieg betrachtet. Ungewöhnlich ist allerdings die
Intensität, die diese Vorstellung bei Jünger erlangte und die ihn zum
fortlaufenden Inspizieren, Absichern, Aufladen und Schärfen seiner Texte
veranlaßte. Aber auch darin ist weniger eine individuelle Marotte zu sehen
als vielmehr ein Ausdruck einer allgemeineren Erfahrung und epochalen
Tendenz. Die zwanziger Jahre deklarierten Literatur als »Waffe« (Friedrich
Wolf, 1928), sprachen vom »Kampf der Geister« (Walter Benjamin, 1928)
und benutzten Literatur als Mittel der ideologischen »Frontbildung«. Am
Ende der zwanziger Jahre herrschte auch im literarischen Bereich
Bürgerkriegsstimmung, und die dreißiger Jahre brachten »Säuberungen«, die
von der Musterung der Texte ausgingen und in nicht wenigen Fällen in der
Liquidierung der Autoren endeten. Jüngers Gefühl, daß ein Autor permanent
»auf der Hut sein und sich absichern« müsse, ist eine Reaktion auf eine Zeit,
die vom Krieg geprägt war und unter der Ägide der totalitär-extremen
Ideologien, die miteinander konkurrierten, in den Vorstellungen des
Kampfes, der Frontbildung, der strikten Freund-Feind-Unterscheidung und
der Vernichtung befangen blieb.
Indessen wäre es verfehlt, Jüngers Bearbeitungsmanie allein auf seine
bellizistische Mentalität zurückzuführen. Vielmehr sind auch seine vielen
Hinweise darauf ernst zu nehmen, daß alles Schreiben immer nur
»Annäherung« an den Gegenstand sein könne, weil er immer wieder in
einem anderen Licht erscheine und sich der Bannung oder verbindlichen
Fassung durch ein Wort entziehe. Nicht erst während der zwanziger Jahre,
sondern schon während der Kriegsjahre hat Jünger erfahren, wie sich unter
dem Druck der historischen Erfahrung der Blick auf den Krieg veränderte
und die Gültigkeit aller Kriegsdarstellungen, die Stimmigkeit allen Redens
über den Krieg in Zweifel zog. Im übrigen war er von Nietzsche, auch wenn
er sich dem in diesem Punkt nicht strikt angeschlossen haben mag, darüber
belehrt, daß alles Erkennen »perspektivisch« oder abhängig vom
historischen, soziologischen, ideologischen usw. Standort sei und daß die
Sprache aufgrund ihrer groben grammatikalischen und begrifflichen
Abstraktionen nur sehr begrenzt zur Abbildung der Wirklichkeit tauge, eine
»Begräbnisstätte der Anschauung« sei, wie es in dem Essay Über Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne von 1872/73 heißt. Jünger klagt
darüber nicht mehr so heftig wie der Verfasser dieses Essays oder der
Verfasser des berühmten Chandos-Briefs von 1902. Man hatte verstanden
und akzeptiert, daß die immer nur perspektivisch mögliche Erkenntnis und
Beschreibung der Welt auf eine permanente – und letztlich nie
zufriedenstellende, immer vergebliche – Arbeit am Text hinauslaufen würde.
Die poststrukturalistische Negation der Möglichkeit fester Bedeutungen
überhaupt, die Jünger, wie eine Bezugnahme auf Lacan in einer
Tagebuchnotiz vom 8. September 1974 anzeigt, noch zur Kenntnis
genommen haben könnte, wäre für ihn weder eine große Überraschung noch
ein Skandal gewesen.

Ein Werk in sechs Fassungen

Jüngers mehrfach motivierte Bearbeitungsmanie führte im Fall der


Stahlgewitter zu sechs bemerkenswerten Bearbeitungen und, als Ergebnis,
zu sieben mehr oder minder deutlich voneinander sich absetzenden
»Fassungen«. Auf der Basis der detaillierten Analysen der Forschung läßt
sich der Überarbeitungsprozeß folgendermaßen charakterisieren:
Mit der ersten Überarbeitung, die von der 1920 erschienenen
Originalfassung zur Fassung II von 1922 führte, versuchte Jünger zunächst
einmal, das geschilderte Geschehen durch eine größere Zahl von
präzisierenden Einfügungen besser vorstellbar zu machen. Daneben
unterstrich er die grausigen Momente des Geschehens und den blutigen
Humor, mit dem die Soldaten bisweilen darauf reagierten. Es scheint, daß
Jünger dem Krieg damit einen abenteuerlichen Anstrich geben und den
Soldaten einen landsknechtsmäßigen Charakter zuschreiben wollte, wie er
dies in seinem zweiten, 1921 entstandenen Kriegsbuch Der Kampf als
inneres Erlebnis schon getan hatte. Die Darstellung des Kriegs und des
soldatischen Lebens sollte wohl historisch grundiert und an die Reihe der
großen Kriegsepen angeschlossen werden. Ebenso betonte Jünger in der
zweiten Fassung die Rolle des »Rausches« für den bedingungslosen und
erfolgreichen kämpferischen Einsatz. Im übrigen blieb es bei der
Konzentration auf das Kriegsgeschehen; politische Erwägungen oder gar
Bekenntnisse finden sich in der zweiten Fassung so wenig wie in der ersten.
Erneuert wurde mit einem zweiten Vorwort die Hoffnung, daß das Buch
dazu beitragen werde, hinter dem »Grauenhaften seiner äußeren Gestaltung«
den großen Sinn dieses Kriegs hervortreten zu lassen. Herausgenommen
wurden die fünf Lichtbilder, möglicherweise weil ihre Qualität nicht eben
gut war, möglicherweise aber auch, weil zumindest das Bild, das Jünger
neben dem Leichnam eines gefallenen Inders zeigt, als pietätlos empfunden
wurde. Wie aus Armin Mohlers Ravensburger Tagebuch hervorgeht, spielte
es in Jüngers Bewußtsein noch 1949 eine bemerkenswerte Rolle.
Die zweite Bearbeitung, die zur Fassung III von 1924 führte, bedeutete
einen massiven Eingriff und veränderte den Charakter der Stahlgewitter
beträchtlich. Die Form des tagebuchartigen Berichts wurde zugunsten
interpretatorischer Reflexionen gesprengt. Diese galten vor allem zwei
Themen: dem modernen, technischen Krieg und der nationalen Idee, zwei
Themen, die in einen engen Zusammenhang gebracht wurden: In der
Materialschlacht bildete sich – Jünger zufolge – jener harte Typus, der dazu
berufen ist, die Nation durch eine Zeit zu führen, die von unerhörter
»Brutalität« sein wird (SG III, XIV: Vorwort). Der Fronteinsatz erscheint als
Vorbereitung auf eine nationale Aufgabe, und deswegen wird der Nation in
der dritten Fassung der Stahlgewitter eine überraschend große Bedeutung
zugeschrieben. Dies geschieht ausdrücklich an zwei Stellen, die sich beide
ganz am Ende des Buches finden. Bei der ersten handelt es sich um einen
längeren Einschub in den Bericht über den Rücktransport nach der letzten
Verwundung. In der siebten Fassung, die seit 1978 vertrieben wird und auch
in den Sämtlichen Werken wiedergegeben ist, umfaßt dieser Bericht – wie in
den Fassungen vor und nach 1924 – nicht mehr als drei Sätze:
Nach vierzehn Tagen lag ich in dem federnden Bett eines
Lazarettzuges. Die deutsche Landschaft war bereits in den
Frühschimmer des Herbstes getaucht. Ich hatte das Glück, in
Hannover ausgeladen zu werden, und wurde im
Clementinenstift untergebracht. (1, 299)
In der Fassung III von 1924 fügte Jünger nach dem ersten Satz eine kurze
»Entwicklungsgeschichte seines Nationalgefühls« (Dempewolf) ein:
Nach 14 Tagen lag ich in dem federnden Bett eines
Lazarettzuges. Wieder einmal schwirrte deutsche Landschaft,
diesmal in den Frühschimmer des Herbstes getaucht, an mir
vorüber, und wieder ergriff mich wie damals [nach der ersten
Verwundung bei der Ankunft] in Heidelberg das wehmütige
und stolze Gefühl, dem Lande inniger verbunden zu sein
durch das im Kampfe für seine Größe vergossene Blut. […]
Ich war hinausgezogen in der Absicht, einen fröhlichen
Krieg, ein vom überschäumenden Blute der Jugend
berauschtes Fest zu feiern, und hatte mir über die Idee, für die
ich einstehen sollte, die Waffe in der Faust, wenig Gedanken
gemacht. Nun sah ich zurück: Vier Jahre der Entwicklung
inmitten einer zum Sterben bestimmten Generation, in
Höhlen, verqualmten Gräben und blitzenden Trichterfeldern
verbracht, nur von den kargen Freuden des Landsknechts
durchschossen, endlose Nächte, in denen Wache sich an
Wache reihte – kurz ein eintöniger Kalender voll Mühen und
Entbehrungen, durch die roten Daten der Schlachten in
Abschnitte geteilt. Und aus allen Opfern war, fast ohne daß
ich es gemerkt, die Idee des Vaterlandes immer reiner und
glänzender herausgeschmolzen. Das war der bleibende
Gewinn des Spiels, das so oft um den vollen Einsatz
gegangen war: die Nation war für mich nicht mehr ein leerer,
von Symbolen verschleierter Begriff – wie hätte es auch
anders sein können, wo ich so viele dafür hatte sterben sehen
und selbst dazu geschult war, zu jeder Minute, Tag und
Nacht, ohne Besinnen das Leben in die Schanze zu schlagen
für ihren Bestand. (SG III, 280f.)
Dies wird noch weiter amplifiziert, doch bleibt die »Idee des Vaterlandes«
merkwürdig abstrakt, wird nicht mit Werten verbunden, die dem »Vaterland«
eigentümlich wären und für die zu sterben gerechtfertigt wäre. Vielmehr
wird in ziemlich allgemeiner Weise dargelegt, »daß das Leben nur durch den
Einsatz für eine Idee einen tieferen Sinn erhält«; aber daß das Vaterland
diese Idee sein solle oder müsse, wird nicht gesagt. Erst ganz am Schluß
wird noch einmal das Vaterland beschworen. Die dritte Fassung endet mit
einem Hinweis darauf, daß die »Winterkampagne«, auf die sich der
genesende Verfasser schon wieder freute, »vorläufig vertagt« wurde und daß
er statt dessen genötigt war, sich »an anderen Kämpfen [zu] beteiligen«.
Dann folgt ein letzter Abschnitt ganz aus der Sicht von 1924:
Wir sind inzwischen durch diese Kämpfe geschritten und
sehen schon wieder das Getümmel neuer Kämpfe vor uns im
ungewissen Licht. Wir – unter diesem wir verstehe ich die
geistige und begeisterungsfähige Jugend des Landes – werden
sie nicht scheuen. Wir stellen uns vor das Andenken von
Toten, die uns heilig sind, und unserem Schutze fühlen wir
die wahren, die geistigen Güter des Volkes anvertraut. Wir
stehen für das, was sein wird, und für das, was gewesen ist.
Wenn auch von außen Gewalt und von innen Barbarei sich in
finsteren Wolken zusammenballen, – solange noch im Dunkel
die Klingen blitzen und flammen, soll es heißen: Deutschland
lebt und Deutschland soll nicht untergehen!
Diese beiden Einfügungen entsprechen der nationalistischen Haltung, die
Jünger um 1925 einnahm; zusammen mit unauffälligeren nationalistischen
Akzentuierungen der Geschehnisse sind diese beiden bekenntnishaften
Stellen Ausdruck des – schwachen – Versuchs, aus dem »Erinnerungsbuch
für ein spezifisches Soldatenpublikum«, wie Hermann Knebel pointiert sagt,
»ein ideologisch-aktivistisches Kampfmittel« zu machen.
Um 1930 wandte sich Jünger von dem forcierten Nationalismus, den er in
den letzten Jahren vertreten hatte, ab. Damit wurde die dritte,
nationalistische Fassung der Stahlgewitter für ihn problematisch, und so
schritt er zu einer weiteren, dritten Bearbeitung. Sie wurde im Laufe des
Jahres 1932 aufgenommen und zog sich bis August hin. Sie war als
gründliche Revision geplant; Jünger hatte sich dafür ein mit leeren Blättern
»durchschossenes« Exemplar der dritten Fassung von 1924 anfertigen
lassen, das erhalten ist und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt.
Tatsächlich betreffen die Modifikationen fast jeden Satz und haben
eingreifenden Charakter. Knebel registrierte 1700 Änderungen, von denen er
685 als inhaltlich und 1015 als stilistisch wertete. Diese Unterscheidung mag
in Einzelfällen fraglich sein, doch zeigt sie eine Tendenz. 46 größere
Passagen wurden gestrichen, aber 60 hinzugefügt; der Umfang wuchs um
knapp 30 Seiten. Es ist, wie es in dem »durchschossenen«
Korrekturexemplar heißt, »die Arbeit eines Jahres«.
Die Änderungen modifizierten den Text unter verschiedenen Aspekten.
Wie schon bei den früheren Bearbeitungen wurden Fremdwörter ersetzt,
ebenso Formulierungen, die im Kasinoton gehalten waren und allzu
nonchalant klangen. In sachlicher Hinsicht weist die dritte Bearbeitung zwei
wichtige Tendenzen auf: Zum einen wurde die Darstellung des modernen
Kriegs intensiviert. Elemente der romantisch-metaphysischen
Kriegsphilosophie wurden zugunsten der Darstellung der kommunikativen,
logistischen, taktischen und moralischen Probleme der Materialschlacht und
des Stellungskampfes zurückgenommen. Im Sinne des Arbeiters, den Jünger
im Herbst 1932 abgeschlossen hatte, erscheinen bestimmte Soldaten – hier
die Mitglieder eines Fernmeldetrupps – nun als »eine besondere Art von
unbekannten Arbeitern im tödlichen Raum« (SG IV, 126 = 1, 126) und wird
der Krieg zum Paradigma jenes aggressiven Umbaus der Welt, den Jünger
im Arbeiter als gesteigerte Form der Moderne imaginierte. Zum andern hat
Jünger 1932/33 die nationalistischen Akzentuierungen und Bekenntnisse, die
er den Stahlgewittern zehn Jahre früher einschrieb, wieder
zurückgenommen. Gestrichen wurden nicht nur die oben zitierten
Einfügungen am Ende des Buches; gestrichen wurden – nach der Zählung
von Dempewolf – auch 26 kleinere Stellen mit nationalistischer Tendenz
(und einige noch verbliebene wurden in einer weiteren, kleineren
Bearbeitung für eine Neuauflage im Jahr 1935 getilgt). Zugleich wurden
Bemerkungen eingefügt oder vorhandene Ausführungen dahin gehend
bearbeitet, daß die Achtung des Verfassers vor dem »Gegner« deutlich
wurde und den Charakter eines Postulats erhielt. Eva Dempewolf hat auf
eine Stelle aufmerksam gemacht, an der nicht nur dieser Effekt, sondern
auch Jüngers Bearbeitungsweise besonders gut zu beobachten ist. Im Kapitel
»Vom täglichen Stellungskampf« heißt es in der zweiten Fassung von 1922:
Es ist im Kriege immer mein Ideal gewesen, den Gegner
unter Ausschaltung jedes Haßgefühls nur im Kampfe als
solchen zu betrachten und ihn als Mann seinem Mute
entsprechend zu werten. Ich habe gerade in diesem Punkte
unter den englischen Offizieren viele verwandte Naturen
kennengelernt. (SG II, 36)
In der dritten, »nationalistischen« Fassung von 1924 wurde dieser Abschnitt
um die folgende Reflexion auf die Dignität des Nationalgefühls ergänzt:
Es gehört dazu allerdings, daß man sich nicht durch
übertriebenes Nationalgefühl blenden läßt, wie es bei einem
großen Teil der Franzosen und Deutschen der Fall ist. Das
Bewußtsein der Bedeutung der eigenen Nation sollte jeder
ebenso selbstverständlich und unaufdringlich in sich tragen
wie der Gentleman das Bewußtsein der unbedingten
Ehrbarkeit. Nur so bleibt auch zur Anerkennung anderer
Platz. (SG III, 46)
Bei der Überarbeitung von 1932/33 hat Jünger diese Reflexion auf das
Nationalgefühl, die noch nicht einmal »nationalistisch« zu nennen ist,
gestrichen; anscheinend war ihm nun schon das implizite Postulat eines
gewissermaßen natürlichen, dabei aber auch gemäßigten
Nationalbewußtseins zu viel, schien ihm jetzt wohl auch mißbrauchbar zu
sein. Statt dessen fügte er den Ausführungen von 1922 Bemerkungen an, die
nicht nur die Achtung des Gegners verlangten, sondern unter bestimmten
Umständen auch Fürsorge für ihn:
Es ist im Kriege immer mein Bestreben gewesen, den Gegner
ohne Haß zu betrachten und ihn als Mann seinem Mut
entsprechend zu schätzen. Ich bemühte mich, ihn im Kampfe
aufzusuchen, um ihn zu töten, und erwartete auch von ihm
nichts anderes. Niemals aber habe ich niedrig von ihm
gedacht. Wenn mir später Gefangene in die Hände fielen,
fühlte ich mich für sie verantwortlich und suchte für sie zu
tun, was in meinen Kräften stand. (SG IV, 57)
Insgesamt ist festzustellen, daß Jünger die Stahlgewitter mit der dritten
Bearbeitung von 1932/33 politisch entschärft und dem nationalistischen
Mißbrauch ein Stück weit entzogen hat; wer das Buch in nationalistischem
Sinn verwenden wollte, fand im Text kaum mehr Ansatz- und
Legitimationspunkte. Die nationalistische Perspektivierung von 1924 ist
zurückgenommen. Die vierte Fassung von 1934 ist, wie Hermann Knebel zu
Recht sagt, »internationalistischer« und strebt einen Platz im
»weltliterarischen Diskurs« über den Ersten Weltkrieg an. Mit ihr waren die
Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Stahlgewitter zu einem
internationalen Klassiker der Weltkriegsliteratur werden konnten.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue französische Ausgabe anstand
und zugleich eine Werkausgabe geplant wurde, hat Jünger die Stahlgewitter
in den Jahren 1958/59 erneut einer gründlichen Revision unterzogen und in
eine sechste Fassung überführt. Knebel zählt 2110 Änderungen und wertet
1550 als stilistisch, 560 als inhaltlich relevant. Schließlich kam es für die
zweite Werkausgabe (Sämtliche Werke, 1978) zu einer letzten
Überarbeitung, die – Knebel zufolge – allerdings nur zu 68 stilistischen
Änderungen führte. Mit der durchaus noch einmal eingreifenden
Bearbeitung von 1958/59 änderten die Stahlgewitter ihren Charakter ein
letztes Mal, und zwar dergestalt, daß die sechste und die siebte Fassung in
der Forschungsliteratur als »zivile« (Kunicki) oder »humanistische«
(Knebel) Fassungen bezeichnet werden. Wiederum liegt dies an einer
Vielzahl von kleinen Änderungen, die sowohl die emotionalen Reaktionen
als auch die ethische Grundhaltung des Verfassers etwas anders erscheinen
lassen, und an einigen bekenntnishaften Einfügungen, die diese neu
entwickelte oder zumindest forcierte Einstellung deutlicher werden lassen.
So berichtet Jünger im Kapitel »Die Große Schlacht«, wie er vor einer eben
erstürmten englischen Stellung einen englischen Soldaten, den er während
des Angriffs niedergeschossen hatte, wiederfand. In der Ausgabe von 1934
lautet diese Stelle (wie in den Ausgaben zuvor):
Davor lag mein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, den mein
Schuß quer durch den Schädel getroffen hatte. Ein
merkwürdiges Gefühl, einem Menschen ins Auge zu sehen,
den man selbst getötet hat. (SG IV, 265)
In der »humanistischen« Fassung von 1961 ist diese Stelle stilistisch
überarbeitet und auf eine ethisch signifikante Weise ergänzt. Sie lautet nun,
und das ist immerhin einige Jahre vor der 1967 erschienenen Abhandlung
von Alexander und Margarete Mitscherlich über die deutsche Unfähigkeit zu
trauern:
Davor lag mein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, dem das
Geschoß quer durch den Schädel gefahren war. Er <später:
Es> lag da mit entspanntem Gesicht. Ich zwang mich, ihn zu
betrachten, ihm ins Auge zu sehen. Nun hieß es nicht mehr:
»Du oder ich«. Oft habe ich später an ihn zurückgedacht, und
mit den Jahren häufiger. Der Staat, der uns die Verantwortung
abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir müssen
sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab. (SG VI, 260
= 1, 252)
Vergleichbar ist auch eine kleine, aber bemerkenswerte Einfügung in das
Kapitel »Der Somme-Rückzug«. Dort schildert Jünger, wie die deutschen
Soldaten die Dörfer und Landstriche, die sie räumen mußten, ausplünderten
und abbrannten, damit der nachrückende Gegner nur noch eine »Wüstenei«
vorfand (SG IV, 137). In der sechsten und siebten Fassung von 1961 bzw.
1978 heißt es dann:
Zum ersten Male sah ich hier die planmäßige Zerstörung, der
ich später im Leben noch bis zum Überdruß begegnen sollte;
sie ist unheilvoll mit dem ökonomischen Denken unserer
Epoche verknüpft, bringt auch dem Zerstörer mehr Schaden
als Nutzen und dem Soldaten keine Ehre ein. (SG VI, 141f. =
1, 136)
Alles in allem ist zu sehen, daß es vor allem vier Motive waren, die Jünger
zur Überarbeitung der Stahlgewitter bewogen: (1.) Jünger hatte mit einem
doppelten Stilproblem zu tun: Einerseits hatte er einen Krieg zu
vergegenwärtigen, der weniger heroisch als zermürbend und dreckig war;
andererseits war er gewillt, diesen Krieg im großen Stil der alten Helden-
und Kriegsepen zu beschreiben. Einerseits wollte er dem
Sachlichkeitspostulat der beginnenden zwanziger Jahre genügen;
andererseits wurde er durch die Erinnerung an die Gefallenen zu einer
sakralisierenden Darstellung gedrängt. Mit der permanenten Überarbeitung
der Stahlgewitter versuchte Jünger, zwischen diesen divergierenden
Momenten zu vermitteln. (2.) Viele Änderungen folgen dem Wunsch, dem
Tatsächlichen einen zugleich exemplarischen Charakter zu geben. (3.) In der
Differenz zwischen der »nationalistischen« Fassung von 1924 und der
»internationalistischen« Version von 1934, aber nicht nur dort, zeigt sich der
Wunsch, den Kriegsbericht aktuellen politischen Wirkungsabsichten
anzupassen bzw. aktuellen politischen Bewegungen zu entziehen. (4.)
Weitere Modifikationen sind auf Einstellungsänderungen des Autors oder
auf eine Intensivierung bestimmter Haltungen zurückzuführen. Von Trauer
wurde Jünger, wie die Errichtung des Grabkreuzes für den gefallenen
englischen Leutnant Stokes zeigte, schon während des Kriegs ergriffen; aber
erst in der »humanistischen« Fassung des älter werdenden Jünger wird sie
thematisch.

Kleinere Kriegsschriften

Der Kampf als inneres Erlebnis

Jüngers zweites Kriegsbuch, Der Kampf als inneres Erlebnis, erschien 1922
im Berliner Militaria-Verlag Mittler als schmaler Band von 116 Seiten. 1926
war eine zweite Auflage fällig. Jünger nutzte dies zu einer Überarbeitung,
die vor allem Stilistisches betraf, den Charakter des Buches aber nicht
veränderte. Bis 1943 erschienen zehn Auflagen mit insgesamt 32 000
Exemplaren, daneben einige Teilabdrucke. Nach 1945 gab es zwei Drucke
im Rahmen der beiden Werkausgaben von 1960 und 1978. Gegenüber dem
Text von 1926 sind wiederum kleine Veränderungen zu beobachten, aber
keine nennenswerten inhaltlichen Eingriffe. Eine Separatausgabe erschien
nach 1945 verständlicherweise nicht mehr: Das Buch ist ideologisch so
verstiegen, daß niemand Interesse an seiner Verbreitung haben konnte. In der
Werkausgabe durfte es aber nicht fehlen, und zwar nicht nur aus Gründen
der Vollständigkeit: Bei allem, was an ihm zu kritisieren sein mag, ist Der
Kampf als inneres Erlebnis ein bemerkenswertes Dokument einer
gedanklich forcierten und literarisch ambitionierten Auseinandersetzung mit
dem Trauma des Ersten Weltkriegs. »Was soll ich eure Nerven schonen«,
fragt der Verfasser seine Leser im Kapitel über das Grauen (KiE 1, 15 = 7,
22). Unbarmherzig wollte Jünger aufdecken und vor Augen führen, was der
Krieg bedeutete. Leitende Impulse für die Darstellung kamen aus der
Romantik, von Nietzsche und aus dem Expressionismus.
Schon der Titel verweist auf die Romantik und auf Nietzsche so gut wie
auf den Expressionismus als die zur Entstehungszeit des Textes eben
abklingende stilistische Dominante. Novalis hat in den Blütenstaub-
Aphorismen (bes. 16 und 24) dazu aufgerufen, die Welt im eigenen »Innern«
als unsere eigentliche Welt zu erkunden und auszubauen. Nietzsche hat an
verschiedenen Stellen seines Werks davon gesprochen, daß menschliche
Triebe, die sich nicht nach außen entfalten, eine »Verinnerlichung« erfahren
und daß daraus »Seele« und »Kultur« erwachsen (Genealogie II, 16, und
Jenseits, 229). Der expressionistische Künstler – so Kasimir Edschmid in
einem 1918 in der Neuen Rundschau erschienenen Essay über
Expressionismus in der Dichtung – war von der Absicht geleitet, die Welt in
einem »visionären« Akt ganz und gar zu verinnerlichen (»in uns selbst« zu
spiegeln), um sie dann in ihrem »eigentlichsten Wesen« zeigen zu können.
Alle diese Vorstellungen von ›Verinnerlichung‹ mögen Jünger bei der
Arbeit an Kampf als inneres Erlebnis geleitet haben. Jedenfalls kann man
seine Schrift als Versuch verstehen, die vielfältigen psychischen Erfahrungen
des Kriegs aufzudecken und zum anthropologisch bewußten und
akzeptierten seelischen Besitz zu machen. Das war übrigens nicht ganz neu:
Bereits 1919 hatte Franz Schauwecker, der wie Jünger freiwillig in den
Krieg gegangen und als Leutnant ausgeschieden war, in seinem »Frontbuch«
Im Todesrachen/Die deutsche Seele im Weltkrieg einen ähnlichen Versuch
unternommen. Jünger kannte dieses Buch; Schauwecker hatte es ihm im
November 1921 als Dank für die Stahlgewitter geschickt. Von Todesrachen
unterscheidet sich Der Kampf als inneres Erlebnis aber durch eine weitaus
größere rhetorische Wucht und eine schärfere programmatische Aussage.
Für Jünger war die ›Verinnerlichung‹ des Kriegs ein Gebot der Stunde und
zugleich eine Aufgabe von historischer Tragweite. Wie die
expressionistischen Autoren, die Kurt Pinthus 1919/20 mit der berühmten
Gedichtsammlung Menschheitsdämmerung ins Bewußtsein gerufen hatte,
fühlte sich Jünger an einer Epochenwende von welt- und
heilsgeschichtlicher Bedeutung. Der Kampf als inneres Erlebnis hebt mit der
Pathetik und der weit ausholenden Gebärde an, die schon die
Expressionisten von Nietzsche übernommen hatten:
Zuweilen erstrahlt an den Horizonten des Geistes ein neues
Gestirn, das die Augen aller Rastlosen trifft, Verkündung
<später: Verkündigung > und Sturmsignal einer Weltwende
wie einst den Königen aus dem Morgenlande. Dann ertrinken
die Sterne ringsum in feuriger Glut, Götzenbilder splittern zu
irdenen Scherben, und wieder einmal schmilzt alle geprägte
Form in tausend Hochöfen, um zu neuen Werten gegossen zu
werden.
Die Wellen solcher Zeit umbranden uns von allen Seiten.
Hirn, Gesellschaft, Staat, Gott, Kunst, Eros, Moral, Zerfall,
Gärung – Auferstehung? […] Denn mag auch vieles unter
Fiebern sterben, so braut zu gleicher Zeit die gleiche Flamme
Zukünftiges und Wunderbares in tausend Retorten. (KiE 1, 1
= 7, 11)
Es versteht sich bei Jünger von selbst, daß der Krieg dieses neue Gestirn war
– und zugleich das geschichtliche Aggregat, in dem die alte »Ordnung«
liquidiert oder in einen »Glutstrom« verflüssigt wurde, der nun einer neuen
Formung harrte. Was in Kampf als inneres Erlebnis postuliert und prophezeit
wird, ist die Emergenz einer neuen Welt oder Kultur, in der vollends zur
Geltung kommen wird, was sich im Krieg angebahnt hat und was Jünger in
einer Folge von dreizehn prägnant formulierten Kapiteln, die zwischen
Erfahrungsbericht und Programmschrift oszillieren, unter je einem
bedeutungsvollen Stichwort als Essenz des Kriegs zu profilieren sucht. Der
Krieg soll »aus seinem Zentrum heraus betrachtet« werden (52/53), und
zwar von einem, der den Mut hatte, »der Gorgo ins Antlitz zu starren«
(12/19). Es spricht ein Unerschrockener und Erfahrener; der Duktus seines
Sprechens signalisiert »analytische Entschlossenheit und klassifikatorische
Souveränität« (Mergenthaler).
Der Kampf als inneres Erlebnis beginnt mit einem Kapitel über Blut. Im
Blut steckt die tierische und frühmenschlich wilde Erbschaft des heutigen
Menschen, stecken immer noch »Blutdurst« und Vernichtungslust. Im
»maschinenhaften Treiben« der Friedenszeiten fließt das Blut »kühl und
regelmäßig« durch die Adern, aber im Krieg »schäumt [es] auf« und läßt
»vom Grunde der Seele« das Tier aufsteigen, das blutigen Kampf will und
die Menschen massenhaft auf die Schlachtfelder treibt. Auch das Grauen,
das aus der plötzlichen Begegnung mit einem Feind und mit dem Tod
erwächst, steckt tief im Menschen, schreckt ihn aber nicht nur, sondern
fasziniert ihn zugleich, obwohl es ihn bis zum Wahnsinn ängstigen kann. Im
Graben, wo der Soldat ständig mit dem Feind und mit dem Tod konfrontiert
ist, kommen diese atavistischen Dispositionen zur Entfaltung, prägen dem
Kämpfer »den Stempel des Tierischen auf« und jagen ihn ins »Gemetzel«, in
»Orgien der Wut«, in denen es zu Szenen von unfaßbarer »Wüstheit«
kommt. Das färbt auf den Eros ab: Auch Liebe – das Wort »Sex« war
damals noch nicht gebräuchlich – wird auf barbarische Weise geübt, im
raschen Zugriff »mit harter Faust und ohne viel Sentiment«. Es ist der Fehler
des Pazifismus, daß er diese Disposition des Menschen zum Krieg verkennt
und zugleich übersieht, daß es »die heilige Pflicht der höchsten Kultur« ist,
»die stärksten Bataillone zu haben«; denn »Leben heißt töten« oder getötet
werden. Mut ist deswegen notwendig und schätzenswert, köstlich und heilig;
er ist »der Schlüssel zu allen Schätzen, der Hammer, der große Reiche
schmiedet[e], der Schild, ohne den keine Kultur besteht« (KiE 1, 46 = 7,
48f.).
Landsknechte sind die Exponenten dieser Disposition zum Krieg; der
Kampf ist ihr Element, dem sie sich, ohne nach Zweck und Recht zu fragen,
mit Verwegenheit und »göttlicher Frechheit« zuwenden. Im Kontrast dazu
steht das zivile Leben mit seinen Bequemlichkeiten und Freuden, wie es dem
Soldaten in komfortablen Ruhestellungen gelegentlich wieder begegnet.
Auch dieses Leben ist nicht verächtlich, und es läßt auch im Krieger die
Frage aufsteigen, worin denn Sinn und Gewinn des Kriegs liegen. Das
Feuer, mit dem der industrialisierte Krieg aufwartet, stellt den Soldaten auf
eine harte Probe. Es betäubt alle Sinne und löscht Erinnerung und
»Ichgefühl«. Wer danach wieder zu sich kommt und zur Aktion fähig wird,
gehört wohl zu jener »neuen Rasse«, die für die neuen und härteren Kämpfe
der Zukunft bestimmt ist. Untereinander zeigen sich die Vertreter der »neuen
Rasse« freilich auch als Menschen mit kleinlich wirkenden materiellen
Interessen und sexuellen Begierden. Das enge Zusammenleben mit ihnen in
den verdreckten und stinkenden Unterständen ist eine Zumutung und läßt sie
als »Material« erscheinen. Und doch stehen auch sie im Dienst jener
»höheren Aufgabe«, die im Krieg zu erfüllen ist. Angst gefährdet die
Erfüllung dieser Aufgabe. Daß die Angst angesichts der Vernichtungskraft,
die sich im modernen Krieg entfaltet, überwunden werden kann, grenzt an
ein Wunder. In der Erstausgabe von 1922 gibt es keine Erklärung dafür. In
der zweiten Auflage von 1926 werden zwei Faktoren genannt: eine starke
Idee, die »unbarmherzig ihre Anforderungen stellt«, und das Gefühl,
»inmitten dieser tödlichen Wüsten unsichtbar mit den großen Kraftströmen
des Lebens verbunden« zu sein (KiE 2, 97 = 7, 90). Der Feind bleibt im
technisierten Krieg merkwürdig fern und unpersönlich. Trotzdem ist er
immer präsent und macht das Leben im Graben zu einem
nervenaufreibenden Zustand. Im Kampf erreicht die Feindseligkeit ihren
Höhepunkt; und doch bedeutet der Kampf auch eine Art von Vereinigung
durch eine höhere Kraft. Vorm Kampf gewinnt das Leben »einen seltsamen
Reiz. Alles Beschwerende sinkt ins Unwesentliche, der Augenblick wird
köstlicher Besitz. Zukunft, Sorge, alles Lästige, mit dem uns trübe Stunden
überschwemmten, wird wie ein ausgerauchtes Zigarettenende zur Seite
geschleudert« (111f./99f.). Und dann fügen sich die Einheiten in die
»finstere Parade der Menschen, der Tiere und des Materials«, die durch das
»Leben selbst«, durch den »Willen zum Kampf und zur Macht«,
vorangetrieben wird.
Insgesamt ist Der Kampf als inneres Erlebnis ein gedanklich und
sprachlich aufs äußerste forcierter Versuch einer Rechtfertigung des Kriegs
unter hauptsächlich drei Aspekten: (1.) Anthropologisch wird der Krieg im
»Leben« verankert, das – Nietzsche zufolge – durch den »Willen zur Macht«
bestimmt ist, und in der menschlichen Natur (»Blut«), die ihre tierische
Herkunft trotz aller Humanisierung nicht losgeworden ist und nicht
loswerden kann. Manches, was Jünger zur atavistischen Erbschaft des
Menschen und zur »dünnen Tünche unserer <einer> sogenannten Kultur«
(54/55) sagt, erinnert nicht nur an Nietzsche und Spengler, sondern kommt
bis in die Formulierung hinein dem nahe, was Freud 1915 in seinen beiden
Essays Zeitgemäßes über Krieg und Tod darlegte. Von Freud unterscheidet
sich Jünger freilich dadurch, daß er um jeden Preis gutheißen will, was jener
nur beklagen kann. Im übrigen erlaubt die Verankerung des Kriegs in der
menschlichen Natur, daß Jünger von einer Suche nach politischen,
ökonomischen oder sozialen Gründen völlig absehen kann. (2.)
Geschichtsphilosophisch deutet Jünger den Krieg mit einer hegelianischen
Vorstellung als Werkzeug des »Weltgeist[es]« (112/102) und im Anschluß an
Nietzsche als Transformation einer vernunftbestimmten in eine
triebbestimmte Kultur (3/13). Diese wird allerdings nicht ›primitiv‹ sein;
vielmehr werden Trieb und Intellekt sich paaren und die Technik in ihren
Dienst nehmen, um Schlachten von unerhörter Größe und »Schönheit« zu
schlagen. Welchem Ziel diese Schlachten dienen, ist für Jünger indessen
nicht wichtig: »Alle Ziele sind vergänglich, nur die Bewegung ist ewig, und
sie bringt unaufhörlich herrliche und unbarmherzige Schauspiele hervor«
(113f./103).
Das ist die Übertragung des L’art pour l’art auf die Geschichte – und
mithin auch das Ende einer teleologischen Geschichtsphilosophie:
Schlachten um der Schlachten willen. Ihr ›Wert‹ wird nicht mehr darin
gesehen, daß sie helfen, ein politisch, ökonomisch, sozialethisch oder
kulturell begründetes Ziel herbeizuführen, sondern darin, daß sie der auf
Kampf und Krieg angelegten menschlichen Natur erlauben, sich in
exzessiver und zugleich erhabener Weise zu entfalten. (3.) Kampf und Krieg
werden damit auch als ästhetische Phänomene gewürdigt und gerechtfertigt.
Was Nietzsche in seiner Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik vom »Dasein der Welt« insgesamt gesagt hatte, daß es
nämlich nach dem Zerfall der Werte »nur als ästhetisches Phänomen
gerechtfertigt« sei (KAS 1, 19, 47 und 152), überträgt Jünger auf den Krieg:
Kampf bedeutet Rausch und Ekstase, ist »Leben im Katarakt« (50/51), in
dem sich der Mensch von »Rasse« (nicht im biologischen Sinn!) als
»Tänzer« im Sinne Nietzsches erfährt: als jemand, der die Figuren des
Lebens leicht und souverän realisiert. Der Krieg als gewaltige Entfaltung des
Willens zur Macht ist erhaben und feierlich. Seine barbarischen, grausigen,
wüsten, dreckigen, schäbigen und irrsinnigen Aspekte werden nicht
geleugnet, sondern eher betont. Die Ästhetik des Häßlichen und
Schrecklichen, die seit der Romantik um sich griff und im
expressionistischen Jahrzehnt eine besondere Virulenz entfaltete, hat gelehrt,
derartige Momente nicht als Störung, sondern als integralen Bestandteil oder
gar als Steigerung des Schönen und Erhabenen zu empfinden. In der zweiten
Fassung von 1926 räumt der Verfasser mit geradezu provokativ an Kant
anklingenden Formulierungen ein, daß es nicht jedermanns Sache ist, sich in
die »erhabene Zwecklosigkeit« der Schlachten »wie in ein Kunstwerk oder
wie in den gestirnten Himmel versenken zu können«, fügt aber gleich hinzu:
[…] wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene
Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung
empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres,
sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt. (KiE 2, 113 = 7,
103)
Manches von dem, was im Kampf als inneres Erlebnis zur Sprache kommt,
ist diagnostisch bemerkenswert: so die Beschreibung der psychischen
Verstörungen, die durch die furchtbaren Grabenkämpfe in den Soldaten
hervorgerufen wurden (29/34); ebenso die Ahnung, daß dieser Krieg
aufgrund der angehäuften Masse an Aggressivität »nicht das Ende, sondern
der Auftakt der Gewalt« gewesen sei (74/73). Anderes ist hingegen nur
erschreckend und abstoßend: so vor allem das perverse Bekenntnis zur Lust
des massenweisen Tötens mit dem Maschinengewehr, auch wenn es
rollenhaft formuliert ist und Jüngers Kriegstagebücher keinen Hinweis auf
eine eigene Aktion dieser Art enthalten:
Aber wenn man selbst voll grimmer Lust hinterm
Maschinengewehre hockt, dann ist das Gewimmel da vorn
nicht mehr als ein Mückentanz. Zum Dauerfeuer! Hei, wie
das spritzt! Da kann gar nicht Blei genug aus der Mündung
fegen <1926: fliegen>. Und nachher sitzen sie beisammen
und erzählen: »Junge, das war schön! Das war wenigstens
noch Krieg. Da lag einer neben dem andern wie hingerotzt
<1926: hingespuckt>!« (KiE 1, 45 = KiE 2, 46 = 7, 48)
Das Ungeheuerliche dieser Stelle mag durch den Umstand etwas relativiert
werden, daß die Literatur jener Zeit dergleichen Bekenntnisse von Mordlust
zuließ; man denke an den Schluß von Hesses Demian (1919) und an die
»Hochjagd auf Automobile« gegen Ende des Steppenwolfs (1927). Die
Bewertungskriterien waren anders als heute; die Selbstzensur wirkte in
diesem Punkt längst nicht so scharf. Trotzdem bleibt die Stelle skandalös
und wirft die Frage auf, wie dergleichen nach den grauenhaften Erfahrungen
des Ersten Weltkriegs geschrieben werden konnte. Die im Weltkrieg
erfahrenen Destruktionen haben die Affinität zur Gewalt offensichtlich nicht
geschwächt und bedeuteten im Hinblick auf deren Darstellung keine
Sensibilisierung. Es dauert lange, bis aus der Geschichte etwas gelernt wird.
An Jüngers Überarbeitungen seiner Texte, an der Tilgung von Barbarismen
und an der Einfügung von Wörtern wie »Trauer« sind die Fristen ablesbar.
Der Kampf als inneres Erlebnis ist vom Expressionismus inspiriert, wenn
auch nicht nur von ihm allein. Das schmale Werk ist der Versuch, ein
visionär vertieftes Bild des Kriegs zu geben und sein eigentliches Wesen zu
enthüllen. Expressionistisch ist das Gefühl, in einer Zeit zwischen »Zerfall,
Gärung, Auferstehung« (1/11) zu leben, ebenso die Vorstellung, daß der
Krieg die Geburt des »neuen Menschen« eingeleitet habe (KiE 1, 74 =
verstärkt in KiE 2, 76f. = 7, 72f.). Expressionistisch ist die Neigung, mit
starken Bildern, Vergleichen, Metaphern zu arbeiten, wie dies gleich schon
an den ersten Sätzen zu beobachten war. Expressionistisch aufgeregt und
aufgesteilt war die Sprache der ersten Fassung von 1922, die in der
sozusagen nach-expressionistischen Zweitfassung von 1926 an einigen
Stellen abgeflacht wurde. Der zweite Abschnitt des Kapitels »Eros« lautete
in der Erstfassung:
Naturgesetz, daß diese Wiederentdeckung der Gewalt, auf die
Spitze getriebenes Mannestum, zusammenfallen mußte mit
einem Wirbel der Erotik. Starrende Wucht und Glut des
männlichen Gedankens durchstürzten das Weib zu Hingabe
wie Güsse siedenden Bleies durch eine Tafel Wachs. Dazu
das gesteigerte Hinunterschlingen des Lebens, des rein
animalischen Genusses am Sein im rasenden Tanze vorm
Schlunde der Ewigkeit. (KiE 1, 30)
Ab der zweiten Fassung lautet diese Stelle:
Es entspricht den Naturgesetzen <später: der Natur>, daß
diese Wiederentdeckung der Gewalt, dieses auf die Spitze
getriebene Mannestum auch die Beziehungen zwischen den
Geschlechtern verändern mußte. Dazu kam ein heftigerer
Wille, das Leben zu erfassen, ein innigerer Genuß am Sein im
Eintagsfliegentanze über dem Schlunde der Ewigkeit. (KiE 2,
30)
Die Anlehnung an den Expressionismus war nicht unreflektiert. In der
biographisch-werkgeschichtlichen Dokumentation Die Schleife, die 1955 zu
Jüngers sechzigstem Geburtstag erschien, berichtet der Herausgeber Armin
Mohler:
Im Gespräch hat Jünger einmal seinen frühesten Stil als
»katholischen Expressionismus« charakterisiert. Damit war
wohl gemeint, daß die auf heftige Expressivität gerichtete
Sprache nicht, wie bei den bekanntesten Vertretern jener
Strömung vor und nach dem Ersten Weltkrieg, einem
unbestimmten Menschheitspathos diente, sondern Bindung in
festeren Ordnungen suchte.
Dem entspricht, daß Jünger in der ersten Fassung von Kampf als inneres
Erlebnis, die in der Schlußphase des Expressionismus entstand, mehrfach
gegen jene Spielart der zeitgenössischen Literatur und Kunst polemisiert, die
eine solche »Bindung« vermissen läßt, also gegen den intellektualistischen
Expressionismus und den Dadaismus. So heißt es ganz am Ende, im
drittletzten Abschnitt:
Man fröstelt beim Lesen dieser künstlichen Gehirnekstasen,
deren Ja und Nein gleich wenig überzeugend klingt. Zuweilen
groteske Gedankenunzucht, Unfruchtbarkeit, zynische
Tertiärerscheinungen und das Irrenhaus zum Schluß. Manche
winden sich im Krampf der Worte und Farben oder
schleudern ihr Inneres in Form von bunten Klexen, von
Konservenbüchsen und Straßenbahnbillets auf die Leinwand
hinaus. Man muß gestehen, sie wissen sich gut zu treffen.
Andere merken, was ihnen fehlt, und greifen zum Infantilen
oder zur Kunst der Wilden zurück. (KiE 1, 115)
Das ist hart und denunziatorisch, dabei aber nicht originell, sondern nur die
rezent gemachte Kritik an der künstlerischen Moderne, die Max Nordau
1892/93 mit seinem zweibändigen Buch Entartung erstmals breit und
wirkungsvoll ausformuliert hat: die künstlerische Moderne als Produkt von
perversen Intellektualisten und Psychopathen. Hier dient diese Kritik dem
Affekt des »Frontsoldaten«, der sich die künstlerische Reflexion des Kriegs
anders vorgestellt hatte, als er sie bei den Spätexpressionisten und Dadaisten
realisiert fand: etwa auf den Gemälden und Blättern des Otto Dix, auf denen
die Gräßlichkeiten des Kriegs und das Elend der Kriegskrüppel mit
erschütternder Drastik vor Augen geführt wurde, oder in der Totenklage
eines Hugo Ball, die – ein erstes dadaistisches Lautgedicht aus dem Jahr
1916 – reiner Ausdruck der Klage ist und kein Wort der Tröstung oder
Sinnstiftung kennt. Was Jünger vorschwebte, war ein Heldengemälde oder
Heldengedicht, das auf leidenschaftlicher Erfahrung des Kriegs basierte und
im Geist Homers gehalten sein sollte. Im Kapitel »Mut« heißt es in der
Originalfassung:
An Mut war diese Zeit so überreich wie keine. Mancher
Hektor, mancher Achill blieb in den Nebeln der Feldschlacht.
Auch sie werden ihren Homer finden. Nicht einen von den
überklugen Literaten, die täglich ihr Fingerhütchen Gift
verspritzen. Auch jene sind nicht berufen, die während des
großen Rausches abseits in Genf oder Amsterdam am
Feuerchen saßen und alles schon vorher wußten. Nicht das
andere Erleben und nicht der kalte Verstand bezeichnen den
Dichter, sondern das Herz, das zwischen allen Begeisterungen
und Torheiten seiner Zeit im Strome treibend, unter den
Strudeln und Wirbeln des Geschehens die göttliche Kraft
errät und durch seine Kunst sich selbst und die Namenlosen
ringsum erlöst. Verständnis ist alles. Künstler sein heißt alle
Kräfte der Zeit bejahend umfassen, die Sonne der großen
Liebe in sich tragen, die alles bescheint. Noch ist die Welt
eiskalt. – - (KiE 1, 49)
Kein geringer Anspruch an den Dichter, aber zunächst auch kein
außergewöhnlicher! Daß der Dichter, der das Leid der Welt sowohl
verinnerlicht als auch zur Sprache bringt, eine Art von Erlöser wird, ist eine
alte Vorstellung, die aber gerade in der Moderne große Bedeutung erlangte:
etwa im 24. Kapitel von Walt Whitmans großem Song of Myself in Leaves of
Grass/Grashalme (1855ff.), die Jünger gut kannte, oder in Franz Werfels
Welt- und Menschenfreund-Gedichten (1908ff.), die paradigmatisch für den
messianischen Expressionismus sind. Ebenso gehört es spätestens seit
Charles Baudelaires Fleurs du Mal/ Blumen des Bösen (1857) und Arthur
Rimbauds berühmten »Seherbriefen« vom Mai 1871 zum Bild des modernen
Dichters, daß er sich allen Formen und Dimensionen der Existenz öffnet und
überläßt: dem Bösen wie dem Kranken, dem Perversen wie dem
Verbrecherischen. Daß Jünger dieses Anverwandlungspostulat und
Erlösungsversprechen auch auf den »Großen Krieg« mit seinen Hekatomben
von Toten und Verstümmelten ausdehnt, ist freilich ein Anspruch, den man
als prekär bezeichnen muß -: denn allzuviel mutet der Autor nicht nur sich
selber, sondern auch seinen Lesern zu.

Sturm
Bald nach dem Erscheinen von Kampf als inneres Erlebnis unternahm
Jünger einen neuen Versuch, den Krieg literarisch zu bearbeiten: Im Winter
1922/23 entstand die Erzählung Sturm, die vom 11. bis zum 27. April 1923
in sechzehn Folgen im Hannoverschen Kurier publiziert wurde. In der
Ausgabe der Sämtlichen Werke umfaßt sie knapp vierundsechzig Seiten (15,
9 bzw. 11 – 74). Sturm ist also eine kleine, aber inhaltlich wie
kompositorisch sehr bemerkenswerte Erzählung. Sie entfernt sich von der
verbissenen Kriegsapologetik der anderen Kriegsschriften und zeigt den
achtundzwanzigjährigen Autor als einen modernen Erzähler von Rang.
Die Geschichte, die in Sturm erzählt wird, ist auf den Frühsommer 1916
zu datieren: Die »Zwickmühle von Verdun« ist festgefahren, und nun
erwartet man an dem Frontabschnitt, an dem die Geschichte – fern von
Verdun – spielt, eine Offensive (15, 32). An die Somme-Offensive zu
denken, liegt also nahe, doch ist nicht der Ort von Bedeutung, sondern die
Brisanz der Situation. Die Erzählung berichtet denn auch nur über eine kurze
Zeitspanne: den Abend eines letzten Tages und die letzte Nacht, bevor am
Morgen der Angriff beginnt, der die Engländer in den Graben bringt und den
Titelhelden das Leben kostet. Diese zeitliche Einschränkung wird aber
dadurch verschleiert und gleichsam ausgedehnt, daß im rückblickenden
Erzählen auf weitere Ereignisse und längerfristige Erfahrungen rekurriert
wird. So entsteht der Eindruck, als werde nicht nur über diese wenigen
Stunden berichtet, sondern eine größere und repräsentative Episode des
Kriegs dargestellt. Freilich trägt dazu auch die skizzenhafte und zugleich
prägnante Erzählweise bei.
Das erste Kapitel charakterisiert die Stimmung, die zu diesem Zeitpunkt
des Kriegs herrscht: Die laufenden Verluste haben den Beziehungen
zwischen den Angehörigen der Einheit etwas »Flüchtige[s] und Traurige[s]«
gegeben; der Selbstmord eines Soldaten, der sich am Morgen auf der Latrine
erschoß, hat einen »Hauch von Sinnlosigkeit« hinzugefügt; Sturm gerät ins
Sinnieren, erinnert sich, daß er jüngst »seiner Grabenchronik, die er in den
Wachtpausen stiller Nächte zu führen pflegte«, eine scharfe Kritik am
modernen Staat und am modernen Krieg anvertraut hat. Kern dieser Kritik
ist die Entwertung des einzelnen, der für den Staat nur als Funktionsträger
zählt und im Krieg nicht mehr als Kämpfer in Erscheinung treten kann,
sondern als Objekt der Vernichtung durch Kampfgeräte und Material.
Anders als in Jüngers sonstigen Kriegsschriften wird hier nicht darauf
bestanden, daß auch dieser technisierte Krieg noch den Kampf von
Angesicht zu Angesicht kenne. Im zweiten Kapitel werden die drei
Zugführer vorgestellt, die während des vorausgehenden Stellungskriegs die
Abende miteinander zu verbringen pflegten: Leutnant Döhring, von Beruf
Verwaltungsjurist, gebildet und eloquent; Feldwebel Hugershoff, ein
avantgardistischer Maler oder »Kolorist«, der nicht gegenständlich malt,
sondern nur Farben aufträgt; Fähnrich Sturm, der vor dem Krieg in
Heidelberg Zoologie studierte, Neigungen zu einem aktiven wie zu einem
kontemplativen Leben hat, während seiner freien Zeit viel liest und selber
schreibt. Diese drei suchen abendlich im »Trunke« sowie in »literarischen
und erotischen Gesprächen« Ablenkung vom Krieg oder »die Flucht aus der
Zeit«. Gemeinsam ist ihnen eine Verbindung von »Urwüchsigkeit« und
»Dekadenz«, die sich an der Literatur von Juvenal bis Huysmans geschult
hat; ihren gemeinsamen Geschmack bezeichnet Sturm einmal als »Freude
am Duft des Bösen aus den Urwäldern der Kraft«, und man könnte auch
sagen: als Lust am Barbarischen. Sturm wird im dritten Kapitel genauer
charakterisiert: Er haust in einem alten Weinkeller, dessen Interieur einen
bohemehaften Eindruck macht und durch zwei Komponenten bestimmt
wird: zum einen durch eine bunte Sammlung von Büchern, die »wirr
durcheinandergeschichtet« waren und von Sturm wechselweise gelesen
wurden; zum andern durch militärische Karten und Waffen.
Trotz seiner Kritik an der Materialschlacht ist er vom Krieg fasziniert,
bewundert die gigantischen Kampfanlagen und ist überzeugt, daß dieser
Krieg »ein Urnebel psychischer Möglichkeiten« ist, in welchem »ein neues
Geschlecht eine neue Auffassung der Welt« gebiert. Daß der Krieg eine
barbarisierende Wirkung hat, bestreitet Sturm nicht; nur will er den Krieg
nicht darauf reduziert sehen. Und er selber hat barbarische Züge: geht täglich
auf den »Anstand« und freut sich, wenn er unter dem beifälligen Lächeln
seiner Leute verkünden kann, daß er »eben wieder einen umgelegt« hat.
Zugleich erscheint er als sensibler Autor, der versucht, »die letzte Form des
Menschen in ihren feinsten Ausstrahlungen auf lichtempfindliches Papier zu
bringen«. Dieses Vorhaben verlangt eigentlich einen Roman, der jedoch »bei
diesem Hexenkessel von Erscheinungen« und bei diesem »Leben voll
Aufregungen« nicht zu leisten ist; so arbeitet Sturm an einer Reihe von
Novellen, die durch einen Titel zusammengehalten werden sollten, der »das
Gemeinsame ihrer Zeit, Unrast, Sucht und fieberhafte Steigerung,
aussprechen sollte«: ein Vorgriff auf jenes »Dekameron des Unterstandes«
(15, 54), das Sturm zu schreiben gedenkt, wenn er den Krieg überlebt.
Aus dem entstehenden Novellenzyklus liest Sturm an diesem Nachmittag
und Abend vor, zunächst, im vierten Kapitel, die Charakterisierung eines
dreißigjährigen Großstädters namens Tronck: eines Dandys, der es liebt, in
dezenter, aber exquisiter Kleidung über die belebten Straßen der Stadt zu
flanieren, und dabei kaum bemerken will, welche Verunsicherung seine
Erscheinung für die übrigen, sozusagen gewöhnlichen Passanten darstellt.
»Strenges und Uniformes« nach Art »des Priesters oder des Offiziers«
werden bei ihm »durchbrochen und gemildert durch eine gewisse
künstlerische Leichtigkeit«; aus »Sehnsucht nach Form« überläßt er sich
nicht ganz den Freiheiten, die seine Zeit ermöglicht, sondern wahrt eine
gewisse »Gebundenheit«, die sich in seinem ganzen Auftreten zeigt. In der
Diskussion, die nach der Lesung zwischen den drei Zugführern entbrennt,
macht Sturm deutlich, worin er das Interessante oder Repräsentative seiner
Figur sieht: in der Möglichkeit, sich entweder ganz der individuellen Freiheit
oder aber einem Kollektiv zu verschreiben, konkret: den Krieg – wie »viele
unserer Literaten« – aus dem sicheren Genf oder Zürich zu betrachten oder
ihn freiwillig mitzumachen. Anders gesagt: In Tronck, der Sturm (und
Jünger) ähnelt, zeichnet Sturm/Jünger das Porträt eines wohlsituierten
Sprößlings des liberalen Zeitalters, der sich aus Freiheitsüberdruß nach einer
kollektiven Aufgabe und Form sehnt. Man muß, um dies heute verstehen zu
können, lesen, was Siegfried Kracauer 1915 in der Frankfurter Zeitung in
seinem Aufsatz Vom Erleben des Kriegs über den Typus des ungebundenen
und elitären »ästhetischen Menschen« geschrieben hat:
Die Erlösung, die den so gearteten Menschen der Krieg
bringt, besteht eben in der Fesselung der ungebundenen
Freiheit durch die Idee. Die Einsamkeit wird
weggeschwemmt, […], die inneren Kräfte stauen sich nicht
mehr, endlich haben sie ein würdiges Ziel für ihre
Auswirkung. Das harte, als wertvoll anerkannte Muß wird
ebenso wie die dadurch der Phantasie und dem Willen
gesetzte Schranke vom Gemüt wohltätig empfunden. Der
Seele bemächtigt sich das Glück des Dienens. […] Wir
besitzen viele Bekenntnisse über diese Glückszustände.
Deutlich spiegelt aus ihnen die tiefe Befriedigung der
Menschen wider, nun endlich eingereiht zu sein in das große
Ganze, als Gemeine dienen und so ein winziges Glied einer
gewaltigen Kette bilden zu dürfen.
Die Diskussion der drei Zugführer wird durch einen Beschuß mit Minen
unterbrochen, die bei den Soldaten wegen ihrer extremen Sprengkraft
gefürchtet sind. Sturm, der ins Freie geeilt ist, wird zwar nicht verletzt, aber
durch die Explosionen in Angst und Zittern versetzt:
[…]. Das Hirn arbeitete wie toll unter den springenden
Wellen des Blutes, zuweilen wurde ein geradezu lächerlich
zusammenhangloses Gedankenbruchstück an die Oberfläche
gerissen.
In einem vorüberhuschenden Augenblick der Kaltblütigkeit
bemerkte er, daß er vor Angst schwitzte. Er suchte sich seine
Erscheinung vorzustellen: ein zitterndes Bündel in zerrissener
Uniform, mit geschwärztem, von Schweißstriemen
durchzogenem Gesicht und aufgerissenen Augen, aus denen
die Furcht zu lesen war. […]
Die Kriegstechnik hatte verstanden, in diesen Minen der
Idee des Todes einen so gräßlichen Ausdruck zu geben, daß
die Granaten als harmlose Dinger dagegen erschienen. Es lag
eine furchtbare, mit Hinterlist gepaarte Kraft in ihnen. Alle
Sinne, selbst der für die Druckverhältnisse der Luft, der oben
in den Nasenschleimhäuten liegen mußte, wurden von ihnen
bis zur Überspannung gereizt. Auch darin äußerte sich die
Steigerung menschlicher Fähigkeiten durch die Technik: das
Angriffsgebrüll, das Klirren der Waffen und Hufe einer
früheren Zeit – hier war es um das Tausendfache verstärkt.
Daher war hier auch ein Mut erforderlich, der den
homerischer Helden bei weitem übertraf. (15, 41 und 43)
In seinen Keller zurückgekehrt, nimmt Sturm einen Schluck aus der
Schnapsflasche, zündet sich eine Zigarre an und überläßt sich seinen
Gedanken. Die Gefahr wirkt nach: »Wie wenig hatte daran gefehlt, daß es
ihn getroffen hätte. Daß er jetzt mit verkrampften Gliedern am Boden lag
wie der Tote, über den er im Graben gestolpert war. Mit großen, sinnlosen
Wunden im Körper und schmutzigem, von dunkelblauen Pulverkörnern
gesprenkeltem Gesicht.« Dann stellt sich eine »Vision« ein, die ein
eindrucksvolles – und beim frühen Jünger seltenes – Bekenntnis zum
Frieden, zur bürgerlichen Kultur und zur großstädtischen Zivilisation
darstellt: Sturm sieht sich, »elegant gekleidet«, nach einem Gang durch die
herbstlich heitere Heimatstadt in einer großen Buchhandlung. Mit dem
kenntnisreichen Inhaber führt er ein beschwingtes Gespräch über die großen
Namen und Werke der Kunst- und Literaturgeschichte und gerät dadurch in
ein wahres Glücksgefühl:
Ja, es war ein großes und göttliches Geschenk, daß man an
einem Vormittage wie an diesem im Herzen der Großstadt
stehen und solche Worte wie Diamanten in den sprühenden
Bach eines Gespräches schnellen durfte. An diesem Orte, von
Mahagonihölzern und funkelnden Spiegelgläsern umfaßt,
fühlte man sich als der bewußte und wertvolle Sohn einer
späten Zeit, auf die Jahrhunderte ganz unermeßliche Schätze
vererbt. – - – (15, 47)
Diese Vision steigert Sturms Furcht vor der »Vernichtung« und führt seine
Reflexionen in eine Aporie. Einerseits sagt er sich, daß Zerstörung ein
Prinzip der Natur ist und durch eine reiche Hervorbringung kompensiert
wird. Andererseits fragt er sich, ob dies »ein Trost für den Einzelnen« ist:
»Der lebte nur einmal im Licht, und wenn er verging, dann erlosch mit ihm
auch das Bild seiner Welt. – - -« (15, 48) Das eine bestätigt Jüngers
Lebensphilosophie, die zugleich Kriegsphilosophie ist; das andere ist ihre
Ablehnung im Namen des leidenden Individuums, über dessen Vernichtung
ebendiese Philosophie hinwegtrösten will. Aber in dieser geradezu
defätistischen Haltung kann Sturm nicht lange verweilen. Die Kameraden
kommen zurück und bringen einen Pionieroffizier mit, der mit großem
Genuß erzählt, daß er einmal die Besatzung eines französischen Stollens mit
Gas »wie Ratten ausgeräuchert« habe. Die Stimmung schlägt um, und Sturm
rühmt nun wieder die rauschhafte »Steigerung des Lebens«, wie sie nicht
zuletzt im »Sturmlauf eines Angriffes« zu erfahren ist. Schließlich wird
Sturm gebeten, erneut aus seinem Novellenzyklus vorzulesen, diesmal vom
»Menschen des Krieges«. Sturm reagiert darauf mit zwei Charakterstudien,
die freilich nicht dem Menschen im Krieg gelten, sondern dem Menschen
nach dem Krieg -: gleichsam ein Vorgriff auf die Situation des Autors zur
Zeit der Entstehung der Sturm-Erzählung und, nebenbei gesagt, ein Beitrag
zu der von Thomas Mann in den Betrachtungen aufgeworfenen Frage,
welche Auswirkungen denn der Krieg auf die Soldaten haben werde.
Die erste Lesung im sechsten Kapitel ist ein Porträt eines Fähnrichs Kiel,
eines geborenen Abenteurers, der nach Jahren »brutalen Sturmlauf[s]« im
Krieg nun auch die Erotik nur noch als »tollen Sturmlauf zum Ziel«
goutieren kann: als gierigen Gang durch ein Prostituiertenviertel, als raschen
Griff nach einem wundervollen und raubtierhaften Körper. Als Kiel dann
nachts im Gesicht der schlafenden Dirne die »Wellen des Ekels«
wahrnimmt, wird ihm bewußt, daß der Krieg auch auf ihn einen
»furchtbaren Einfluß« hatte, »Rückfall ins Barbarentum« bedeutete, »in ein
Netz mittelalterlicher Leidenschaften«. Die zweite Lesung im siebten
Kapitel handelt von einem jungen Mann namens Falk, einem bohemehaft
lebenden Einzelgänger, der ein erster Repräsentant von Jüngers
Zivilisationskritik ist: Aus Überdruß an der »Mechanisierung des
Menschen«, die »Europa zur Wüste« machte, überläßt er sich regressiven
Phantasien, wünscht manchmal, ein »ganz einfaches Tier« oder eine Pflanze
zu sein, und fühlt sich am wohlsten in einer mittelalterlich anmutenden
Bierschwemme, in der mit einer »Brutalität von historischem Ausmaß«
gezecht wird. Daß Falk diese Schwemme so liebt und sich dort mit
»schwerflüssigem« Bier berauscht, hat seinen Grund offensichtlich darin,
daß er im Alkoholrausch etwas sucht, was er im Krieg, im Kampf, erfahren
hat. Dies geht aus einem Gespräch hervor, das Falk am Ende der Erzählung
mit einer jungen Frau führt. Als diese ihn nach seinen Kriegserfahrungen
fragt, bekommt sie am Ende eines längeren Berichts von Falk zu hören, daß
von einem Sturmlauf, an dem er in wildem Furor sich beteiligt habe, das
Gefühl zurückgeblieben sei, »ganz unermeßliche Gewalten zu bergen«: »ein
Gefühl, wie es viel schwächer einer empfinden mag, der morgens nach
sinnlosem Rausche erwacht in der Erkenntnis, lange Stunden mit Hochdruck
und doch bewußtseinsfern gelebt zu haben«. Wie für Kiel, wie für Sturm und
wie für Jünger selbst bedeuten Krieg und Kampf für Falk rauschhafte
Lebenssteigerung.
Besonders bemerkenswert ist der Abschluß dieses Gesprächs. Die junge
Frau fragt nämlich nach Falks Geständnis, daß er sich nach jenem Sturmlauf
wie jemand gefühlt habe, der aus »sinnlosem Rausche« erwacht: »Also
spürten Sie Reue oder wenigstens Ekel?« Darauf gibt Falk eine Antwort, die
zeigt, wie problematisch die Reflexion oder Verarbeitung der
Kriegserfahrung für seinesgleichen, also auch für den Autor Jünger, gewesen
sein muß:
Das könnte ich nicht sagen. Grauen und Bewunderung
vielmehr und Gewißheit, nie so stark, nie so geschlossen
gewesen zu sein. Ich hatte getötet, das ließ sich nicht leugnen,
und nicht in der Verteidigung, sondern im Angriff. Auch
mußte ich gestehen, daß alle nationalen und heroischen
Ideale, die mir bisher die treibenden Kräfte schienen, im
Leidenschaftlichen verzischt waren wie Wassertropfen auf
glühenden Eisenplatten.
Wenn ich mit anderen darüber sprach, merkte ich, wie
wenig der Mensch im Grunde in sich zu Hause ist. Die einen
suchten das Getane zu heiligen, die anderen zu entschuldigen,
die dritten verdammten es, allen also schien nicht ihre
Empfindung, sondern das, was sie später darüber gedacht und
hineingelegt, das Wesentliche. Was sie erzählten, hatten sie
gar nicht erlebt, es stammte – - – (15, 70f.)
- – - je nachdem, wird man ergänzen dürfen, aus dem bellizistischen Denken
der Vorkriegszeit, das nach dem Krieg nicht einfach verschwunden war, oder
aus dem pazifistischen Denken, das nach 1918 verständlicherweise auf
offenere Ohren stieß. Wo mag Jünger sich bedient haben? Man wird – außer
an Nietzsche – an die Kriegsphilosophie der Vorkriegszeit und der
Kriegsjahre denken dürfen, die ›Kriegsgedanken‹ des damals von Jünger
verehrten Thomas Mann eingeschlossen. Man kann aber auch an ein Werk
denken, das in den Nachkriegsjahren bekannt wurde und Jünger allein schon
durch den Titel angesprochen haben dürfte: an die Biologie des Krieges aus
der Feder des Berliner Physiologen Georg Friedrich Nicolai.
Georg Friedrich Nicolai gehörte zu den Kriegsgegnern. Als im Oktober
1914 dreiundneunzig renommierte »Vertreter deutscher Wissenschaft und
Kunst« einen »Aufruf an die Kulturwelt« erließen, in welchem sie die
deutsche Kriegsführung gegen ausländische Kritik verteidigten, schrieb
Nicolai zusammen mit Albert Einstein einen »Aufruf an die Europäer«, der
dafür plädierte, den Krieg beizulegen und »aus Europa eine organische
Einheit zu schaffen«. Für das Sommersemester 1915 plante Nicolai eine
Vorlesung über den »Krieg als biologischen Faktor in der Entwicklung der
Menschheit«, die aber nicht stattfinden konnte, weil Nicolai als notorischer
Kriegsgegner eingezogen und in die Festung Graudenz versetzt wurde. Dort
schrieb er im Verlauf des Jahres 1915 die Biologie des Krieges, die dann
zweimal in Zürich publiziert wurde: 1917 in entstellter, 1919 in
überarbeiteter und vom Verfasser autorisierter Form. Die Abhandlung ist ein
systematisch angelegter und über 530 Druckseiten sich erstreckender
Versuch, die Kriegsphilosophie der Vorkriegszeit zu widerlegen und den
Krieg unter biologischen, psychologischen, soziologischen, ökonomischen
und ethischen Gesichtspunkten als verfehlt, schädlich, unfruchtbar und
rückständig zu erweisen. Alle Argumente der Befürworter des Kriegs
werden geprüft und entkräftet. Auch der von Jünger gepflegten Vorstellung,
daß der Krieg eine neue »Rasse« oder Elite entstehen lasse, wird
widersprochen: Der moderne Krieg, so Nicolai, bringt keine Auslese hervor,
sondern tötet wahllos und verschlingt am ehesten die Mutigsten und Besten.
Die seelischen Folgen sind negativ; sie bedeuten einen Rückfall der
Menschen auf frühere Entwicklungsstufen. Von ökonomischen Vorteilen
können, wenn man alles einkalkuliert, kaum die Sieger sprechen, die
Menschheit insgesamt schon gar nicht. Freilich sagt Nicolai auch, daß der
Krieg »seine letzten Gründe in den geheimsten und tiefsten Regungen der
menschlichen Seele hat«, also letztlich nicht auf politische oder
ökonomische Motive zurückzuführen ist. Auch macht Nicolai, ganz
objektiver Naturwissenschaftler, darauf aufmerksam, daß der Krieg,
gemessen an der »Grausamkeit« des »Lebens« schlechthin, kein exorbitantes
Ereignis darstellt:
Sehen wir den Krieg vom Standpunkt der gesamten
Menschheit an, so werden wir fast versucht, über die
Geringfügigkeit seiner Wirkungen zu lächeln. In jeder
Sekunde stirbt etwa ein Mensch auf Erden, aber selbst der
mörderische Weltkrieg von 1914 hat es kaum vermocht, diese
Ziffer in die Höhe zu schrauben: infolge dieses Krieges sind
im Durchschnitt in jeder Minute statt sechzig etwa
vierundsechzig Menschen gestorben.
Wir überschätzen eben aus unbewußter Sentimentalität
heraus die Opfer des Krieges! […].
Dieser Eindruck von der Belanglosigkeit des Krieges wird
noch erhöht, wenn wir seine Opfer mit denen des
Wirtschaftskampfes genauer vergleichen. Des Menschen
Leben währet siebenzig Jahre, und in der Tat sehen wir, daß
in bequemen und auskömmlich bezahlten Berufen, wie sie
von Gelehrten, Pastoren, Monarchen, Staatsmännern usw.
ausgeübt werden, eine große Zahl von Menschen dies Alter
erreicht. – Der Arbeiter wird aber im Durchschnitt nur
höchstens vierzig Jahre alt. Tuberkulose, Unterernährung und
bestimmte Berufskrankheiten (die man bezeichnenderweise
Malerkolik, Gießfieber, Schleifer-, Bergarbeiterkrankheit
usw. nennt) erledigen ihn vorzeitig. Auch Ausdrücke wie
Steinhauer-Lunge, Phosphor-Leber, Steinträger-Herz usw.
beweisen, daß man nicht darüber im Unklaren ist, warum
diese Menschen so früh zugrunde gehen.
Von den Einwohnern Europas sterben in jedem Jahr etwa
zwölf Millionen, das macht im letzten Jahrhundert mehr als
eine Milliarde. Da diese im Durchschnitt dreißig Jahre zu früh
gestorben sind, so sind im letzten Jahrhundert rund
sechsunddreißig Milliarden Menschenjahre allein in Europa
auf diese Weise vernichtet worden.
Nehmen wir nun auch an, daß im letzten Jahrhundert in
Europa etwa dreißig Millionen Menschen direkt oder indirekt
infolge des Krieges gestorben sind, deren Lebenszeit
gegenüber dem Durchschnitt etwa um zwanzig Jahre verkürzt
worden ist, so sind demnach durch den Krieg doch nur etwas
über eine halbe Milliarde Lebensjahre vernichtet worden.
Wir sehen also, daß die Kriegsopfer nur ein Sechzigstel der
Opfer des industriellen Schlachtfeldes betragen. Wahrlich,
angesichts dieser Zahlen kann man nicht sagen, daß der Krieg
die grausamste und härteste Form des Kampfes auf unserer
Mutter Erde ist […].
Das ist so erschütternd wie grotesk! Erschütternd sind Nicolais Darlegungen,
weil die Hinweise auf die Berufskrankheiten und die niedrige
Lebenserwartung der Arbeiterschaft schlagartig deutlich machen, was
Industrialisierung ehedem für die Masse der Menschen bedeutete. Grotesk
wirken sie, weil die Berechnung etwas quantifiziert, was nicht zu
quantifizieren ist, und weil der Vergleich den Unterschied zwischen dem
Krieg, der rein destruktiv ist, und der friedlichen Industrialisierung, die ja
doch auch für die Verbesserung der Lebensverhältnisse gesorgt hat,
übersieht. Aber es geht nicht darum, den mutigen Kriegsgegner Nicolai zu
kritisieren. Er wurde hier als Exponent eines naturwissenschaftlich sich
gerierenden Denkens angeführt, das damals gepflegt wurde und das, wenn es
den Krieg zum Gegenstand hatte, sogar bei prinzipieller Kriegsgegnerschaft
zu einer starken Relativierung oder Verharmlosung der Destruktivität des
Kriegs führen konnte; es immunisierte gegen das Erschrecken und die
moralische Empörung, die von der großen Zahl der Kriegsopfer ausgelöst
wurden. Eben solches Denken ist auch bei Jünger zu beobachten und prägt
nicht zuletzt auch die Einstellung seines Fähnrichs Sturm gegenüber dem
Krieg: Wie Nicolai feststellt, daß die Zahl der Kriegstoten angesichts der
Zahl der Toten, die das Leben schlechthin fordert, »belanglos« ist, so
konstatiert Sturm, der nicht zufällig auch Zoologe ist, daß die »Zerstörung«
des Kriegs, an der er mitwirkt und der er unterworfen ist, »im großen
kosmischen Schwung keine Ausnahme« darstellt (15, 48). Freilich findet
sich bei ihm auch gleich eine andere, entgegengesetzte Sichtweise, die nicht
den kosmischen Vorgang, sondern den einzelnen Menschen ins Auge faßt
und in dessen Untergang allein schon eine kosmische Katastrophe erblickt:
»wenn er verging, dann erlosch mit ihm auch das Bild seiner Welt. – - -«
Aber diese erschreckende Erkenntnis wird durch die Schilderung von
Sturms Ende wieder dementiert. Sturms Lesung wird – im achten und letzten
Kapitel – durch den Einschlag einer Mine und den folgenden Angriff der
Engländer unterbrochen. Die Explosion der Mine löscht Lampe und
Kaminfeuer. Um Licht zu bekommen, zerreißt Sturm das Heft, aus dem er
vorgelesen hatte, und zündet die Blätter mit einem Streichholz an. Der
Pionieroffizier hält die Flamme mit zerrissenen Büchern und Bildern am
Leben, bis der Ausgang aus dem Keller freigelegt ist. Dann stürzt sich Sturm
in den Kampf und schießt mit der Pistole, bis ihm »ein Schlag vor die linke
Brustseite Licht und Gehör« nehmen. Aber das wird nun nicht als
Weltuntergang geschildert, als schmerzliches Verlöschen der Wahrnehmung
oder als erschreckender Sturz ins Nichts, sondern als Eintauchen in einen
anderen und durchaus ästhetisch gearteten Zustand: »Sein letztes Gefühl war
das des Versinkens im Wirbel einer uralten Melodie« (15, 74). Das entspricht
dem, was Jünger erfahren haben will, als er am Ende seines letzten Sturms
durch einen Lungenschuß niedergestreckt wurde (1, 293).
Die Erzählung Sturm hat drei Dimensionen. Sie vergegenwärtigt auf
eindrucksvolle Weise die Schreckenserfahrungen der Front: die entsetzliche
Angst beim Anflug einer Mine; die physische Hilflosigkeit; die Auslöschung
des Denkens. Sie zeigt die barbarisierenden Folgen des Kriegs und
kontrastiert sie mit Bildern eines kultivierten friedlichen Lebens. Sie
reflektiert die Probleme der Kriegsdarstellung, die zugleich Probleme der
Kriegsbewältigung sind. Dies geschieht zum Teil durch eine direkte
Thematisierung, die wiederholt zum Ausdruck bringt, daß hierfür Distanz
notwendig sei (15, 31 und 39). Zum größeren Teil geschieht es aber auf
indirekte Weise durch die Strukturierung der Erzählung und ihren Ausgang.
So kurz die Erzählung ist, so vielschichtig und vielstimmig ist sie doch auch:
Es wird ja nicht nur von jenem allwissenden Anonymus erzählt, der in
Jüngers Namen die Geschichte von Sturm und seinen Kameraden zur
Kenntnis bringen und ebendas leisten darf, was Sturm aus Gründen der
zeitlichen Nähe für noch nicht möglich hält. Auch Sturm erzählt von
Menschen im Schatten des Kriegs, die wiederum ihre Kriegserfahrungen
reflektieren. Dies wird zudem von Sturms Kameraden kritisch bedacht und
kommentiert. Und überdies darf der Pionieroffizier seinen erfahrungsreichen
Eindruck vom Krieg wiedergeben und jene infernalische
Ausräucherungsaktion schildern, die so wenig in den ästhetizistischen Kreis
um Sturm passen will. Insgesamt wird dadurch ein multiperspektivisches
und facettenreiches Bild des Kriegs entfaltet, das freilich nur bruchstückhaft
und vorläufig sein will.
Wie Sturms novellistische Skizzen um weitere ergänzt werden müßten,
um ein komplettes Bild des zeitgenössischen Menschen zu geben, so müßte
auch die Erzählung Sturm um viele weitere Erzählungen ergänzt werden, um
ein hinreichend breites Bild des Kriegs zu vermitteln. Gleichviel -: Im
Ansatz wird geleistet, was der Titelheld der Erzählung sich nur
vorgenommen hat. Und während dessen Skizzen vom Krieg, den sie nicht
darzustellen vermögen, vernichtet werden, liegt die Erzählung Sturm im
Druck vor. In dem, was sie über Sturm und seine Freunde erzählt, negiert sie
Sturms These von der Unmöglichkeit einer adäquaten Kriegsdarstellung,
freilich aus einer unbestimmten Distanz heraus. Aber daß Sturms
Erzählungen am Ende vernichtet werden und Sturm als Erzähler
ausgeschaltet wird, wirkt wie ein Angriff auf den Wert oder die Gültigkeit
der Sturm-Erzählung insgesamt: Eigentlich dürfte sie, wenn sie dem
Schicksal ihres Helden gerecht werden wollte, nicht sein. In dem
Gedenkband Die Unvergessenen, den Jünger 1928 herausgab, finden sich die
Porträts von etwa zwanzig Künstlern, die im Krieg fielen. Von zweien –
Trakl, Stramm – gibt es künstlerische Texte, in denen die Kriegserfahrungen
der Verfasser festgehalten sind. Von keinem aber wissen wir, wie er sein
Sterben erfahren hat. Der Krieg hat sie vernichtet und stumm gemacht.
Die Erzählung Sturm genießt in der literaturkritischen Debatte über Jünger
großes Ansehen. Karl Heinz Bohrer hat sie 1978 in der Nachfolge des
Ästhetizismus angesiedelt und »ein Meisterstück innerhalb der Erzählkunst
der frühen zwanziger Jahre« genannt. John King bezeichnete sie 2003 unter
dem Eindruck der Postmoderne-Debatte aufgrund ihrer
multiperspektivischen Sichtweise als »proto-postmoderne« Erzählung. Das
ist allerdings irreführend: Multiperspektivismus gehört zur Moderne
spätestens seit den zwanziger Jahren. Hermann Hesse zeichnete in dem 1927
erschienenen Roman Der Steppenwolf das Bild des Titelhelden aus mehreren
Perspektiven und in ganz unterschiedlichen Darstellungsweisen. Alfred
Döblin erzählte 1928 in seinem Ersten Rückblick die traumatisierende
Geschichte vom Verschwinden seines Vaters dreimal hintereinander unter
jeweils anderer Perspektive, weil er glaubte, dem Vorgang und den
betroffenen Personen anders nicht gerecht werden zu können. Vieles, was als
konstitutiv für die Postmoderne gilt, war vordem typisch modern. Immerhin
verdeutlicht Kings Versuch, Jünger für die Postmoderne zu reklamieren, daß
Jünger mit seiner ersten dezidiert literarischen Arbeit den Anschluß an die
literarische Moderne suchte – und gewann.
Um so erstaunlicher ist es, daß Jünger selber diese Erzählung restlos
vergaß. Sie kam ihm nicht einmal in Erinnerung, als er 1958/59 die Texte für
den 1960 erschienenen Erzählungen-Band der ersten Werkausgabe
zusammenstellte, obwohl er sie damals gut hätte vorzeigen können. Es
bedurfte der Umsicht und Aufmerksamkeit des Jünger-Bibliographen und
Sammlers Hans Peter des Coudres, daß die frühe Erzählung wiederentdeckt
und 1963 erstmals als Buch gedruckt wurde. Wie aber kam es zu diesem
Vergessen? Man hat darin einen Verdrängungsvorgang gesehen, und dies hat
eine gewisse Plausibilität: Sturm widerspricht zwar nicht allem, was Jünger
in den zwanziger Jahren über den Krieg schrieb, setzt sich aber durch den
Verzicht auf eine explizite Apologie und Legitimation des Kriegs deutlich
davon ab und dementiert zudem ausdrücklich die nationalistische Motivik
der Kriegsbegeisterung von 1914. Solchermaßen mag die Sturm-Erzählung
für den soldatischen Nationalisten der folgenden Jahre durchaus
unangenehm gewesen sein; ihre Verdrängung hätte, wenn es so gewesen
wäre, mit der nationalistischen Aufladung der Stahlgewitter während der
zweiten Bearbeitung von 1923/24 korreliert. Dennoch bleibt dieses
Vergessen (oder wie immer dieser Vorgang zu bezeichnen ist) rätselhaft.
Denn jene Einstellung und jene Komponente von Jüngers produktivem
Vermögen, welche die Sturm-Erzählung ermöglicht hatten, blieben in Jünger
lebendig, und auch der Name »Sturm« blieb durch die nationalistischen
Jahre hindurch in seinem Gedächtnis und im Gebrauch: Die ersten Stücke
aus dem Abenteuerlichen Herzen erschienen 1927 in der Zeitschrift
Arminius. Kampfschrift für deutsche Nationalisten unter der Überschrift
Briefe eines Nationalisten und unter dem Namen oder Pseudonym »Hans
Sturm«. Im übrigen scheint Jünger nicht nur die ihm möglicherweise
unangenehme Sturm-Erzählung vergessen zu haben, sondern auch – wie aus
einer Tagebuchnotiz vom 9. November 1979 hervorgeht (5, 536) – die
Artikel für das Militär-Wochenblatt, die er zwischen November 1920 und
August 1923 schrieb und die zu ›verdrängen‹ er keinen Grund gehabt hätte.

Das Wäldchen 125


Als »Wäldchen 125« wurde auf den Lageplänen, mit denen Jünger arbeitete,
ein kleines Waldstück bezeichnet, das etwa 10 Kilometer westlich von
Bapaume zwischen den Dörfern Bucquoy und Puisieux lag und stark
umkämpft war. Jünger befand sich mit seiner Kompanie im Juni und Juli
1918 mehrfach in der Nähe dieses Wäldchens und konnte die verheerenden
Beschießungen gut beobachten, zum Teil wohl auch die dort sich
abspielenden Infanteriekämpfe. In der ersten Fassung der Stahlgewitter
skizziert er mit wenigen Sätzen, was dort an Vernichtungskraft konzentriert
war (SG I, 167). In späteren Fassungen erhält das Wäldchen 125
exemplarische Bedeutung:
Die beiden Artillerien [die englische und die deutsche]
spielten mit ihm wie zwei Raubtiere, die sich eine Beute
streitig machen; sie zerrissen seine Stämme und warfen ihre
Fetzen hoch in die Luft. Es war immer nur von wenigen
Männern besetzt, aber es hielt sich lange, und so war es,
weithin im toten Gelände sichtbar, ein Beispiel dafür, daß
auch die gewaltigste Gegenüberstellung von Machtmitteln
doch nur die Waage ist, auf der heute wie zu allen Zeiten das
Gewicht des Menschen gewogen wird. (1, 275)
Das ist, nachträglich geschrieben, der Kern dessen, was Jünger im Wäldchen
125 in epischer Breite darzulegen suchte. Die Stahlgewitter widmen dem
Wäldchen eine halbe Seite und den Wochen, die Jünger in seiner Nähe
verbrachte, knapp zehn Seiten; das Wäldchen 125 umfaßt in der
Originalausgabe 254 Seiten. Diese ungeheure Ausdehung wurde zum einen
dadurch erreicht, daß Jünger – in der Ich-Form schreibend – die Kämpfe um
das Wäldchen 125 ausführlich darstellte, wobei er weit über das hinausging,
was durch die entsprechenden Passagen des Kriegstagebuchs gedeckt ist;
zum andern dadurch, daß er auch eine Reihe typischer Situationen beschrieb
und Betrachtungen geschichtlicher, politischer und kriegstechnischer Art
einfügte. Solchermaßen ist das Wäldchen 125 eine vielschichtige, von
mehreren Absichten geprägte Schrift. Dies zeigt sich übrigens in der
urprünglichen Fassung, die, auf 1925 datiert, im Oktober 1924 erschien und
bis zur fünften Auflage von 1930 unverändert blieb, sehr viel deutlicher als
in den späteren Fassungen (ab der sechsten Auflage von 1936); denn bei der
Überarbeitung oder »Säuberung« um 1933 hat Jünger beträchtliche
Streichungen vorgenommen.
Das »Vorwort« der Erstausgabe deklariert das Wäldchen 125 in
zweifacher Hinsicht als Fortsetzung und Steigerung der Stahlgewitter. Zum
einen will es ein weiteres und intensiveres Stück der monumentalischen
Geschichtsschreibung im Sinne von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer
Betrachtung sein, die mit den Stahlgewittern begonnen wurde:
Wir, denen es obliegt, die Erinnerung nicht zu verwischen,
sondern zu verwalten und zu verwerten, müssen uns
bemühen, ihn [= den Krieg] zu unserem Eigentum zu
machen. Dem Sinn zu geben, was eine auf niederer Stufe
stehende Anschauung als Widersinn und Äußerung
menschlicher Unvollkommenheit betrachten mag, ist eine
heilige Pflicht gegenüber den Gefallenen wie gegenüber den
Werdenden, die fortbauen sollen an einem Werk, in dem sie
das Gewachsene und die innere Einheit erkennen müssen, um
mit wirklicher Überzeugung daran gehen zu können. (W, X)
Zum andern will das Wäldchen 125 eine Amplifikation des
autobiograpischen Kriegsberichts sein, konzentriert auf die Schlußphase des
Kriegs und auf eine Episode, die geeignet zu sein schien, die
zukunftsrelevante Essenz des Kriegs hervortreten zu lassen. Das Wäldchen
125 soll den Einsichten, die Jünger in den Jahren seit dem Ende des Kriegs
gewonnen zu haben glaubt, gerecht werden. Das führt, wie Jünger am Ende
des Vorworts freimütig einräumt, zu einer starken (und oft anachronistisch
wirkenden) Aufladung der vorgeblichen Tagebuchnotizen:
Ich fand nichts vor als eine Reihe von Tagebuchseiten, gefüllt
mit knappen Aufzeichnungen, die zum Teil nur persönliches
Interesse besaßen und aus der Erinnerung ergänzt werden
mußten. […] Es stellte sich bei dieser Arbeit heraus, daß ich
nicht mehr imstande war, die Eindrücke der Nachkriegszeit
von denen des Krieges scharf zu trennen. Manche
Betrachtungen hätten damals noch nicht in dieser Form zum
Ausdruck gebracht werden können, sie sind absichtlich
zurückdatiert, denn erst jetzt wird die Bedeutung vieler Dinge
klarer, vor allem das eine, daß der Verlust des Krieges für das
Volk wie für den Einzelnen nur die Vernichtung einer
bestimmten Form, nicht aber das Wesentliche war, und daß
schon während des Krieges um neue Ideen sich Kräfte zu
versammeln begannen. Und alles, was uns nicht vernichtet,
macht uns stark. (W, XII)
Nach dieser phrasenhaft endenden Erklärung, die an der programmatischen
Fiktionalität des Wäldchens 125 keinen Zweifel läßt, beginnen die
vorgeblichen Tagebuchaufzeichnungen in einem Ton, der an den poetischen
Realismus des 19. Jahrhunderts erinnert und Behaglichkeit und Souveränität
ausstrahlt. Der Krieg erscheint fast wie eine Sommerfrische: Zunächst lebt
der Verfasser in einer gemütlichen »Robinsonhütte«, »in die die Sonne durch
einen bunten Vorhang aus Ackerwinden und Kleeseide hineinscheint« (W,
23f. = 1, 318); dann bezieht er ein nicht weniger gemütliches Blockhaus und
bemerkt: »Ich bin mit dieser Wohnung recht zufrieden; sie ist mitten im
Gebüsch versteckt, trocken, winddicht und aus urwüchsigem, gemütlichem
Balkenwerk gebaut. Neben mir stehen, noch aus der Zeit, wo der Engländer
hier saß, einige Wellblechbaracken von halbkreisförmigem Profil. […]
Unsere Tage fließen hier recht bequem. Eine einsichtige Führung fordert nur
den unbedingt nötigen Dienst […]« (68f./350f.). Daß die umgebenden Felder
voller kleiner Kreuze stecken und ein »schwerer und dichter Leichengeruch
auf dieser sagenhaften Landschaft des Todes lastet«, mindert die
Behaglichkeit des Tagebuchschreibers kaum: Das gehört zu den
»Zaubergärten des Bösen«, in die er sich versetzt sieht (7f./307). Schließlich
wird er aber im Wäldchen eingesetzt und erlebt dort »aufgeregte« bzw.
»blutige« Tage (195/390): verlustreiche Beschießungen durch englisches
»Vernichtungsfeuer« und aufreibende Grabenkämpfe gegen einen
zahlenmäßig überlegenen Gegner. Die Schilderung dieser kleinen Schlacht
um das Wäldchen 125 füllt das letzte Fünftel der Aufzeichnungen und hat
zwei Ziele: zu zeigen, wie grauenhaft und unerbittlich dieser Krieg geführt
wurde, und darzutun, daß es gleichwohl Menschen gab, die all dem
gewachsen waren.
In diesen Beobachtungs- und Geschehensrahmen sind in lockerer Folge
Reflexionen eingefügt, die um mehrere Themen kreisen. Der Ton wechselt
dann vom Behaglich-Erzählerischen ins Magistrale und nicht selten ins
Nationalistisch-Prophetische. Das meiste davon fiel allerdings der anti-
nationalistischen »Säuberung« von 1933 zum Opfer.
Kriegführung und Niederlage: Die deutsche Kriegführung wird von
Jünger mit heftiger Kritik bedacht. Die leitenden Offiziere sind zu alt und
wissen zu wenig von den tatsächlichen Verhältnissen und Vorgängen an der
Front. In aufwendigem Schriftverkehr werden unsinnige Anweisungen
ausgegeben und verbreitet. Immer noch werden preußische Formalitäten
gepflegt, obwohl längst deutlich ist, daß dieser Krieg andere Fähigkeiten als
jene verlangt, die durch Exerzieren angedrillt werden konnten. So kommt
der Verfasser zum Befund, daß für die sich abzeichnende Niederlage »in
erster Linie Mängel der Führung« verantwortlich sein werden (W, 74). Einen
weiteren Grund sieht er in der »Stimmung« in der Truppe, die durch den
Verlust der kriegsleitenden Idee und durch das Aufkommen
klassenkämpferischer Parolen gekennzeichnet ist. Dabei geht es dem
Verfasser aber nicht um Schuldzuweisungen (etwa im Sinne der
»Dolchstoßlegende«), sondern nur darum, die Bedeutung der einzelnen
Faktoren zu ermitteln. Insgesamt hat die Niederlage für ihn eine
»geschichtliche Notwendigkeit« (178) und ist nur als Impuls zu begreifen,
die Kräfte der Nation neu zu entdecken und zu bündeln. Er ist überzeugt
davon, daß die Rivalität der Völker die Quelle der Leistungen ist, die
letztlich allen zugute kommen, und daß Deutschland zum Besten der Welt
eine führende Rolle spielen muß. Entscheidend ist, daß ein Volk vom
»Willen zur Macht« oder zur »Herrschaft« erfüllt ist und seine Aufgabe in
der Geschichte wahrnehmen will (30 und 190f.).
»Formentwicklung des Krieges« (W, 115): Die Zeit des stupiden
Stellungskriegs, der auf »Abnutzung« des Gegners durch ein möglichst
großes Materialaufgebot zielte, ist vorüber. Die Maschine hat das »Prinzip
der Bewegung« angenommen und diese dem Krieg wieder mitgeteilt. Die
englischen Tanks waren nur die ersten Beispiele dieses Prinzips; weitere und
bessere Maschinen – Jünger denkt an gepanzerte Flugzeuge, an »fliegende
Tanks«, die auch als »durch Propeller gezogene leichte Kampfwagen« in die
Schlacht eingreifen können – werden folgen und die Dynamik des Kampfs
steigern. Damit gewinnt die Maschine gegenüber dem Menschen an
Bedeutung, ohne ihn indessen bedeutungslos zu machen: So wenig mit dem
»Geist der Truppe« allein etwas gegen materielle Überlegenheit auszurichten
ist, so wenig ist mit guten Maschinen allein ein Krieg zu führen und der Sieg
zu erringen. Technik und »Moral« müssen zusammenwirken.
Herausbildung eines »neuen Geschlechts«: Stellungskrieg,
Materialschlacht und Technisierung des Kriegs haben einen Typus von
Soldaten entstehen lassen, der ein neues und zur Führung befugtes
Geschlecht »im alten Europa« darstellt: »ein Geschlecht, furchtlos und
fabelhaft, ohne Blutscheu und rücksichtslos, gewohnt, Furchtbares zu
erdulden und Furchtbares zu tun und das Höchste an seine Ziele zu setzen.
Ein Geschlecht, das Maschinen baut und Maschinen trotzt, dem Maschinen
nicht totes Eisen sind, sondern Organe der Macht, die es mit kaltem Verstand
und heißem Blute beherrscht« (W, 19). Die Exponenten dieses neuen
Geschlechts sind die Kampfflieger, die »an die Steigerung des Lebens durch
die Maschine« am besten gewöhnt sind (79), aber auch die Führer der Tanks
und Unterseeboote gehören in diese Kategorie, und nicht zuletzt die
Stoßtruppführer, die mit der neuesten Waffentechnik bestens vertraut sein
müssen. Sie alle sind es gewohnt, »die Maschine zu bedienen«, und sind ihr
zugleich »innerlich überlegen« (43). Man sieht: Bei aller Anerkennung der
modernen Technik ist es dem Verfasser wichtig, die Bedeutung des
»Geistes« oder »moralischen Faktors« (167) zu betonen.
Psychologische Führung: In der Pflege des »moralischen Faktors«, in der
Beobachtung und Lenkung der »Stimmung« im Heer, sieht Jünger eine
wichtige Aufgabe. Wer einen Krieg führen und gewinnen will, muß dazu
fähig sein, »eine Art Demagogie von oben zu betreiben« (W, 165). Die
»Gesetzmäßigkeiten« und Möglichkeiten, die es auf diesem Feld gibt, sind
von der »modernen Psychologie« zu erforschen und dem Führungskorps zu
vermitteln. Aber auch hier sollte die Wissenschaft oder Technik nicht
überschätzt werden, weil ihre Stärke im Zerfasern oder Zergliedern liegt,
während es doch darauf ankommt, den Menschen »als unzertrennliche
Einheit zu erfassen« (189). Lange bevor Jünger den Einsatz der »modernen
Psychologie« verlangt, stellt er fest: »Die psychologische Einwirkung auf
den Mann […] gehört zu den Fähigkeiten, die man nicht erlernen kann, und
wenn man ein ganzes Leben auf ihr Studium verwenden würde. Ihre
Wurzeln liegen im Gefühl und nicht im Willen, im Blute, und nicht im
Gehirn, aus ihr spricht die Rasse und nicht das Individuum, so wertvoll es an
sich auch sei« (29).
Kunst und Film: Psychologische Führung ist im Krieg ebenso nötig wie in
den vorausgehenden Momenten der Krise und Entscheidung für oder wider
den Krieg. Was sie zu vermitteln hat, muß längerfristig durch die Kunst,
zumal durch die Literatur, und durch den Film vorbereitet werden. In der
SommeSchlacht wurde – Jünger zufolge – nicht weniger verzweifelt
gekämpft als in Etzels Saal. Es ist Aufgabe der Kunst, dies zum Gegenstand
zu machen und darüber »wieder deutsch [zu] werden«, wie auch die
»Kämpfer erst durch diesen Krieg wieder erfahren haben, was Deutschland
ist« (W, 190). Der Film muß unterstützend hinzutreten: Sein »Wesen
verlangt Tat, Beweglichkeit, Handlung und Macht«, und deswegen ist gerade
der Film »für die Verherrlichung der modernen Schlacht vorzüglich
geeignet« (194). Wenn die Literatur dieser Aufgabe gerecht werden will,
muß sie freilich ihre Verstandeskälte sowie ihre Orientierung am
Naturalismus und an der großstädtischen Moderne preisgeben und wieder
ein Gespür für die Bedeutung von »Blut und Erde« oder »Boden«
entwickeln (151ff.). Das Vorbild für diese neu zu gewinnende Haltung ist
Hermann Löns, denn »aus allem, was er über Rasse und Landschaft
geschrieben hat, widerklingt nicht das intellektuelle Geschwafel des
Kaffeehauses, sondern der Atem einer großen und freien Natur. Hier finden
wir keine Zersplitterung, sondern Zusammenfassung, begrenztes, doch
klares Gefühl, Bodenständigkeit, Liebe zur Heimat und zum Volk, die
ebenso tief wie einfach und unaufdringlich ist« (155f.).
Gegen Aufklärung und Pazifismus, Demokratie und »Literatenpack«:
Wenn der Krieg – wovon Jünger überzeugt ist – ein Prinzip des Lebens ist
und zur Natur des Menschen gehört, dann kann und soll man zwar den
Frieden lieben (W, 143), aber nicht pazifistisch denken, weil man sonst allzu
rasch unter die Fuchtel derjenigen geriete, die nicht so denken (115).
Aufklärung, Pazifismus und Demokratisierung (193) sind – Jünger zufolge –
Gefahren für jede Kultur und jede große Idee, weil sie ein falsches Bild vom
Menschen zeichnen, den Schmerz und das Opfer scheuen, Bequemlichkeit
statt Disziplin schätzen und unbegründete Gleichheit an die Stelle von
begründeter Rangordnung treten lassen wollen. Deswegen sagt Jünger: »Ich
hasse die Demokratie wie die Pest« (74); und deswegen ergeht er sich in
wüsten Drohungen gegen die Vertreter dieses Denkens, insbesondere gegen
das »geschäftsmäßige Literatenpack, für das sofort die Prügelstrafe wieder
eingeführt werden müßte« (184).
Das sind betrübliche Entgleisungen, die weder verharmlost noch
entschuldigt werden sollen. Jünger hat sie 1933 allesamt gestrichen, und das
muß man nicht rückgängig machen wollen. Zu fragen bleibt aber, wodurch
jemand, der die Vorzüge einer einigermaßen freiheitlichen Kultur (denn das
war die bürgerliche Kultur der Wilhelminischen Zeit) genossen hatte und mit
der Sturm-Erzählung auf dem besten Weg war, ein ›Literat‹ zu werden, zu
solchen Äußerungen motiviert wurde. Da mag mehreres zusammengewirkt
haben: ein früh anerzogener und durch die Lektüre Nietzsches befestigter
Antidemokratismus und Antihumanismus; dazu der empörende und
aggressiv machende Verdacht, daß man, wenn die Pazifisten und
Humanisten recht hätten, vier Jahre lang für falsche Überzeugungen
Furchtbares erduldet und getan hätte; und schließlich die Angst, um den
Lohn der soldatischen Leistung gebracht und von der führenden Mitwirkung
an der Neugestaltung der Nation ausgeschlossen zu werden (oder eigentlich
zu bleiben). In diesem Sinne schreibt der Verfasser des Wäldchens 125:
Aber wenn wir den Krieg überleben und in das Land
zurückkehren sollten […]: Wir werden uns nicht so schäbig
abspeisen lassen, wie es mit der Jugend von 1813 geschah.
Für uns wird es keine Romantik geben, durch die wir uns von
den brennenden Fragen ablenken lassen und hinter der sich
die Ohnmacht zur Tat verbirgt. Wir haben uns an andere
Methoden gewöhnt. […] Wir alten Materialkämpfer sind stur
geworden, wir beißen uns in Ideen fest wie in irgendein
Grabenstück und sind durch keine Verstandesgründe zu
vertreiben, es ist ein sehr gefährlicher Schlag, der sich da
entwickelt hat. (W, 186)
Es ist der Rabaukenton der politisch aufgewühlten und in Kampfstimmung
versetzten zwanziger Jahre, der hier angeschlagen wird, einen geradezu
drohenden Klang annimmt und die Fähigkeit zur Tat beschwört. Bei Jünger
war dies freilich nicht viel mehr als Rhetorik. Da, wo wirklich Taten geplant
und ausgeführt wurden, war er nicht zu finden.
Das Wäldchen 125 ist Dokument eines ressentimentgeladenen
verzweifelten und deswegen sich versteigenden Versuchs, dem verlorenen
Krieg einen Sinn zu geben. Dies geschieht auf zweierlei Weise: Zum einen
wird dem Krieg eine nationale Bedeutung zugeschrieben. Im Krieg haben
die »Kämpfer«, so der Verfasser des Wäldchens 125, die Nation
wiederentdeckt (was durch die ganz und gar unpatriotische Haltung, die aus
Jüngers Kriegstagebüchern spricht, als ideologische Rhetorik entlarvt wird),
und zugleich hat der Krieg jene nationalen Anlagen wieder hervortreten
lassen, die durch Aufklärung, Humanismus, Pazifismus und Demokratismus
verschüttet worden waren. Zum andern wird der Krieg als Geburtshelfer
jener Fähigkeiten dargestellt, die der Nation das Leben in der Zukunft und in
einer führenden Position sichern sollen: der Beherrschung der »Maschine«
und der Beherrschung einer modernen Technik der Massenbeeinflussung.
Jünger erscheint hier, wie wiederum John King deutlich gemacht hat, als
Propagandist der technischen Moderne und der instrumentellen Rationalität,
kommt dabei aber mit seinen kulturkonservativen und irrationalistischen
Vorlieben in Konflikt, die ihn darauf bestehen lassen, daß der »Geist«
wichtiger sei als die »Maschine«, der »Glaube« wichtiger als die
Beherrschung der Technik, das »Blut« wichtiger als die Propaganda. Und
nicht nur hier, sondern auch auf dem Gebiet der Kunst zeigt sich Jüngers
Gespaltensein, sein Pendeln zwischen einer modernistischen und einer
antimodernistischen Haltung, dort allerdings mit umgekehrter Tendenz.
Denn hier tritt Jünger mit seiner Eloge auf Hermann Löns für eine Art von
Literatur ein, die er allenfalls partiell goutieren konnte. Wer von Tristram
Shandy schwärmte, wer den »poète maudit« Baudelaire zitierte (KiE 1, 16 =
7, 22), wer den ästhetizistischen Décadent Huysmans gegen die Naturalisten
ausspielte (W 160), konnte nicht im Ernst Löns’ Heidegeschichten zum
Muster einer zeitgemäßen deutschen Literatur erheben. Auch die Löns-
Passagen hat Jünger bei der Überarbeitung des Wäldchens um 1933
gestrichen.
Feuer und Blut
Ein Jahr nach dem Abschluß des Wäldchens 125, im Spätsommer 1925,
schrieb Jünger in Leipzig sein viertes Kriegsbuch: Feuer und Blut. Ein
kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht. Wie im Wäldchen 125 wird
eine Episode der Stahlgewitter separiert und ausführlicher behandelt,
nämlich die Michael-Offensive vom März 1918. In den Stahlgewittern sind
ihr unter der Überschrift »Die große Schlacht« etwas mehr als dreißig Seiten
gewidmet; in Feuer und Blut bekommt sie 193 Seiten. Wie im Fall des
Wäldchens resultiert die Ausdehnung aus einer größeren Detailliertheit des
Berichts und aus Reflexionen verschiedener Art. Anders als das Wäldchen
hat Feuer und Blut aber nicht die Form eines Tagebuchs, sondern eines
fortlaufend erzählten Berichts, der allerdings im Präsens steht, als wäre er
aus der Situation heraus gesprochen. In sechs Kapiteln wird das Ende der
Wartestellung vergegenwärtigt, dann der Abend vor der Schlacht, danach der
Aufbruch und das Einrücken in die Kampfstellung, schließlich der Beginn
der Offensive und ihr allmähliches Verebben am Widerstand des Gegners.
Informatorisch wird dem, was in den Stahlgewittern mitgeteilt wurde, nichts
wesentlich Neues hinzugefügt. Legitimiert wird das Büchlein in einem
knappen Vorwort mit der Behauptung, daß die Bedeutung der Vorgänge
inzwischen deutlicher geworden sei und daß »nicht von vergangenen
Dingen, sondern von zukünftigen die Rede« sei (FuB, 7).
In beiderlei Hinsicht ist Feuer und Blut freilich nicht viel mehr als eine
Dublette des Wäldchens. Erneut werden die Technisierung des Kriegs und
der Übergang vom Stellungskrieg zum Bewegungskrieg reflektiert. Erneut
wird die Geburt einer neuen »Rasse« verkündet, die sich durch das
Zusammenwirken von technischer Kompetenz, Blut und Intelligenz
auszeichnet. Der Anblick der vorüberziehenden Kampfmaschinen läßt den
Verfasser geradezu hymnisch werden: »Hier ist alles zusammengefaßt, was
wir haben, vorstellen und sind, hier zieht der moderne Mensch in seinen
eigensten Formen zur Schlacht. Hier verkörpert sich das beste Blut in der
Jugend und das letzte Maß der Intelligenz im technischen Arsenal, und beide
sind unsichtbar vereint durch die Idee, so wie die Seele Körper und Geist
vereint. Hier ist ein Ganzes, und nicht nur ein Teil« (FuB, 69). Erneut wird
ein Kunstwerk verlangt, das den großen Schlachten dieses Kriegs gerecht
wird und damit in die Nachfolge der alten Heldenepen und des
Simplizissimus rückt (49f.). Aber anders als im Wäldchen 125 dient in Feuer
und Blut nicht Hermann Löns als Vorbild, sondern Arthur Rimbaud, der
Verfasser des Poems Le bateau ivre/Das trunkene Schiff, das Jünger in den
Jahren vor 1925 mit Begeisterung gelesen hatte (5, 478). Mit Rimbauds
Augen blickt der Verfasser von Feuer und Blut am Vorabend der Schlacht
auf den Krieg:
Ja, die Landschaften dieses jungen Galliers schillern von
einem unerhörten Glanz, sie sind von einem vom Leben
trunkenen Gehirne geschaut. Da sind meergrüne Wiesen tief
unter See, über die Scharen von Ungeheuern gleiten, blaue
Wogenberge, von silbernen und goldenen Fischen belebt, und
einsame Ströme, über die Urwaldbäume gelb und violett
gefleckte Blütenkelche ziehen.
Aber sind die Landschaften, die uns erwarten, nicht noch
unmöglicher und fabelhafter? Da sind eisige Kraterfelder,
Wüsten mit feurigen Palmeninseln, rollende Wände aus Feuer
und Stahl und ausgestorbene Ebenen, über die rötliche
Gewitter ziehen. Da schwärmen Rudel von stählernen Vögeln
durch die Luft, und gepanzerte Maschinen fauchen über das
Feld. Und alles, was es an Gefühlen gibt, vom gräßlichsten
körperlichen Schmerz bis zum höchsten Jubel des Sieges,
wird dort zu einer brausenden Einheit, zu einem blitzartigen
Sinnbild des Lebens selbst zusammengeballt. Singen, Beten
und Jubeln, Fluchen und Weinen – was wollen wir mehr?
(FuB, 52f.)
Der Übergang von Löns zu Rimbaud ist nicht nur ästhetisch von Bedeutung,
sondern auch ideologisch. Der Nationalismus des Wäldchens ist in Feuer
und Blut deutlich zurückgenommen. Der Krieg wird nicht mehr für die
Nation geführt, sondern für die Erde: »Denn alles dies geschieht ja nicht für
uns, nicht für unsere Nation, nicht für die Gruppe von Nationen, der wir
verbunden sind. Es geschieht für die Erde selbst, die den Kampfhaften liebt«
(FuB, 72).

Versuche, sich »einen Vers« auf den Krieg zu


machen
In den ersten fünf Nachkriegsjahren hat Jünger seine Kriegserfahrungen vier
Mal in einem Buch reflektiert; ein fünftes Buch, das 1926 unter dem Titel
Ferdinand Dark. Der Landsknecht und Träumer angekündigt wurde,
erschien nicht. Dafür wurde die dauernde Berufung auf die Kriegserfahrung
zu einem Gravitationszentrum der politisch-nationalistischen Publizistik der
Jahre 1926 bis 1932, wurde der Krieg 1929 im Abenteuerlichen Herzen zur
»unvergleichlichen Schule« erhoben (9, 98), wirkte er als Inspirationsquelle
für die Mobilisierungsschriften der beginnenden dreißiger Jahre, also für die
Totale Mobilmachung (1930) und den Arbeiter (1932).
Die Perspektiven, in denen der Krieg in diesen Schriften gesehen und
gezeigt wird, sind unterschiedlich. Die Stahlgewitter (1920) sind ein
persönlicher Erfahrungs- und Heldenbericht, der zugleich ein Stück
monumentalischer Historie sein will: den Opfern ein Denkmal setzen und
ihrem Leiden einen Sinn geben will. Der Kampf als inneres Erlebnis (1922)
versucht in einer Form, die zwischen Erfahrungsbericht und
Programmschrift oszilliert, die anthropologisch bedeutungsvollen
Erfahrungen des Kriegs dingfest zu machen und typologisch zu profilieren.
Die Erzählung Sturm leistet Ähnliches in einer weniger angestrengten
fiktionalen Form. Im Wäldchen 125 und in Feuer und Blut (1924/25) werden
charakteristische Situationen des Kriegs vergegenwärtigt und im Licht der
Nachkriegserfahrung mit aktueller politischer Absicht reflektiert; beide
Schriften sind schon Annäherungen an die politische Publizistik der
folgenden Jahre, die aus der Erfahrung des Kriegs einen politischen
Führungsanspruch für den »Frontsoldaten« ableitet. In unterschiedlicher
Brechung und Akzentuierung stellen alle diese Schriften Versuche der
Traumabewältigung und der Sinngebung dar. Die wichtigsten Axiome der
Deutung lauten: Der Krieg war der große Umwerter aller Werte. Er beendete
das materialistisch und nihilistisch gewordene bürgerliche Zeitalter,
ermöglichte neue oder »elementare« seelische Erfahrungen und bereitete die
Erscheinung eines »neuen Menschen« vor. Daß die Deutschen den Krieg
verloren haben, ist demgegenüber bedeutungslos; ja mehr noch: Die
Niederlage wird diese Erfahrungen vertiefen und sich für die weitere
geschichtliche Entwicklung als positiver Posten erweisen. Im Krieg
offenbarte die imperialistische Moderne, die zur totalen Mobilisierung ihrer
Kräfte und zum Brechen aller Widerstände entschlossen war, welche
Ansprüche sie an den Menschen stellte; insofern war der Krieg für Jünger
die Schule der Moderne, und die Erfahrungen des Kriegs dienten ihm immer
wieder als Schlüssel für die Interpretation der Epoche. Diese Positivierung
des ja durchaus auch traumatisierenden »Kriegserlebnisses« äußerte sich in
den politischen Schriften der Jahre nach 1925 in Formulierungen, die das,
was in den Kriegsbüchern gesagt wird, bündeln und bisweilen überbieten. So
heißt es in dem Aufsatz Der Frontsoldat und die Wilhelminische Zeit, der am
20. September 1925 in der Zeitschrift des Wehrverbands Stahlhelm erschien:
Durch den Krieg wurde der Frontsoldat diesem Abschluß
[seiner Sozialisation im wilhelminischen Lebensstil] entzogen
und in ganz andere Bahnen gerissen. Er betrat eine neue,
unbekannte Welt, und dieses Erlebnis rief in vielen jene
völlige Veränderung des Wesens hervor, die sich am besten
mit der religiösen Erscheinung der »Gnade« vergleichen läßt,
durch welche der Mensch plötzlich und von Grund auf
verwandelt wird. (PP, 79)
Für die unentwegten und angestrengten Sinngebungsversuche, die er mit
seinen Kriegsbüchern und in seiner politischen Publizistik unternahm, ist
Jünger häufig und heftig kritisiert worden. Meist wurde dabei übersehen,
wieviel Anteil an seinen Kriegsschriften Klage und Trauer haben. Und
ebenso wurde dabei übersehen oder unterschätzt, wieviel seelische
Notwendigkeit hinter diesen Sinngebungsversuchen steckte. Dies hat
immerhin Tucholsky bemerkt, der in der Weltbühne immer wieder
Weltkriegserinnerungen von Offizieren besprach und kritisierte; auch
Jüngers Schriften waren ihm spätestens ab 1927 bekannt. In einem Artikel,
der unter der Überschrift Über wirkungsvollen Pazifismus am 11. Oktober
1927 in der Weltbühne erschien, beschrieb Tucholsky aber auf eine
überraschend verständnisvolle Weise das Motiv, das sich in vielen dieser
Kriegsbücher – und jedenfalls in den Jüngerschen – artikulierte:
Kein Mensch vermag eine ganze Epoche seines Daseins als
sinnlos zu empfinden. Er muß sich einen Vers darauf machen.
Er kann seine Leiden verfluchen oder loben, zu verdrängen
versuchen oder sie lebendig halten – aber daß sie sinnlos
gewesen seien, das kann er nicht annehmen. Der Pazifismus
hat seinen großen Augenblick versäumt, welcher das Ende
des Jahres 1918 war. Wir haben den Millionen, die
zurückgekehrt sind, kein seelisches Äquivalent für ihre
Leiden gegeben – hätte man die Krüppel als Opfer einer Idee
gefeiert, so wäre das im Menschen wohnende Element der
lebensnotwendigen Eitelkeit Triebfeder zum Frieden, zur
Kriegsverneinung geworden. Die andre Seite hat diese
gebornen Agenten des Pazifismus eingefangen.
Es ist sehr die Frage, ob eine Umsetzung von Tucholskys taktischer Idee
aufgegangen wäre und eine pazifizierende Wirkung entfaltet hätte. Daß ein
großer Teil der Weltkriegssoldaten am Militarismus festhielt, ist nicht nur
darauf zurückzuführen, daß diese ehemaligen Soldaten ihre Leistungen und
Opfer ignoriert fanden, sondern auch darauf, daß sie für die Probleme der
Gegenwart kaum eine andere Lösung als eine militärische sahen. Indessen
muß diese Frage hier nicht weiter erörtert werden. Festzuhalten bleibt, daß
Tucholsky das Motiv, dem Jüngers Kriegsbücher sich in hohem Maß
verdanken, aufgedeckt und anerkannt hat: »Kein Mensch vermag eine ganze
Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muß sich einen Vers
darauf machen.«
VIERTER TEIL

Studium und nationalistische Publizistik

Thomas Mann am 17. Oktober 1930 im Berliner Beethoven-Saal bei seiner


»Deutschen Ansprache«,die von Arnolt Bronnen und Ernst Jünger gestört
wurde. Die Zuhöhrer drehen sich nach den Krawallmachern und der Polizei
um.
Der »Zirkus Krone« in Münchenbei einer der legendären Hitler-Reden des
Jahres 1923. Der Saal faßte bis zu 5000 Menschenund war, wenn Hitler
sprach, meist brechend voll. Hier hörte ihn Jünger im Frühjahr1923, bevor er
einen ersten politischen Artikel für den »Völkischen Beobachter« schrieb.
»Reden an solchen Orten werden nicht verstanden; sie sind
Beschwörungen«, stellte er später in seinen Aufzeichnungenüber Hitler fest.
Auftakt im Völkischen Beobachter

Mit den Kriegsbüchern und den kriegstheoretischen Artikeln, die bis zum
Frühjahr 1923 erschienen waren, hatte sich Jünger als Historiograph und
Exeget des »Großen Krieges« etabliert. Als solcher fühlte er sich berufen,
nun auch zu Fragen der politischen Neuorientierung Deutschlands Stellung
zu nehmen. Während seiner aktiven Zeit als Offizier war ihm dies untersagt.
Aber gleich nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr am 31. August
1923 schrieb Jünger einen ersten dezidiert politischen Artikel, der am 23./24.
September 1923 unter der Überschrift Revolution und Idee in der
»Unterhaltungsbeilage« des Völkischen Beobachters erschien, also im
»Kampfblatt der national-sozialistischen Bewegung Großdeutschlands«, wie
der Untertitel des Völkischen Beobachters lautete. Als Auftakt zu Jüngers
politischer Publizistik verdient dieser Artikel einige Aufmerksamkeit:
Gleich mit dem ersten Satz übernimmt Jünger die Rolle eines
Repräsentanten und Sprechers eines bestimmten Teils der jüngeren
Generation oder »Jugend«, wie man damals sagte, und erklärt diesen
zugleich zur revolutionären Kraft: »Für uns, die geistige und
begeisterungsfähige Jugend Deutschlands, soweit sie zu freiheitlichem
Denken geboren oder erzogen war, hatte vor dem Kriege das Wort
Revolution einen starken und eigentümlichen Klang« (PP, 33). Tatsächlich
hatte das Wort ›Revolution‹ vor dem Krieg eine große Faszination erlangt
und war, wie der Ruf nach dem Krieg, zum Ausdruck jenes Unbehagens an
der bürgerlichen Kultur geworden, von dem Jünger und seine
Generationsgenossen ergriffen worden waren. Der anarchistische
Schriftsteller Erich Mühsam, mit dem Jünger sich später anfreundete, hatte
1913 sogar eine Zeitschrift mit dem Titel Revolution herausgegeben und am
Ende des Einleitungsartikels umrissen, was unter Revolution zu verstehen
sei: »Einige Formen der Revolution: Tyrannenmord, Absetzung einer
Herrschergewalt, Etablierung einer Religion, Zerbrechen alter Tafeln (in
Konvention und Kunst), Schaffen eines Kunstwerks, der
Geschlechtsakt./Einige Synonyma für Revolution: Gott, Leben, Brunst,
Rausch, Chaos.« Diesen diffusen Begriff von Revolution hatte Jünger 1923
hinter sich gelassen. In den weiteren Abschnitten seines Artikels stellte er
fest, daß jede Revolution ihre tragende und treibende Idee brauche, wie denn
auch die Reformation, die Französische und die Russische Revolution ihre
Leitideen gehabt hätten. Nicht aber die deutsche Revolution vom Winter
1918/19! Sie war – Jünger zufolge – nicht viel mehr als eine Meuterei, die
den mehr oder minder verlorenen Krieg beendete, das untergangsreife
Kaiserreich beseitigte, kurzfristig einige liberale und marxistische »Phrasen«
und »Schlagworte« aufwärmte, aber keine zeitgemäße Idee hatte und
deswegen nicht in der Lage war, Deutschland eine neue gesellschaftliche
Form zu geben: »Überall da aber, wo es galt, selbständig Neues zu schaffen,
versagten die Führer, sie sahen sich vorm Nichts und klammerten sich im
Gefühl der Ideenlosigkeit gerade an die Zustände, die sie zu bekämpfen
vorgaben. So wuchs der Kapitalismus durch ihre Hilfe mächtiger denn je,
die politische Unterdrückung wurde grenzenlos, die Freiheit der Presse und
des Wortes ein Kinderspott« (PP, 35). Dies korrespondiert mit der Kritik der
radikalen Linken an der Revolution wie an der Republik und wird weder der
historischen Bedeutung der Revolution noch der Leistung jener Politiker
gerecht, die Deutschland damals vor einem Sturz in ein politisches Chaos
mit unabsehbaren Folgen für die Bevölkerung bewahrt haben. Aber es geht
hier nicht um eine Widerlegung Jüngers, sondern um die Wahrnehmung des
Ausgangspunkts seiner politischen Kritik und Publizistik, daß nämlich eine
»echte Revolution« nicht stattgefunden habe und Deutschland infolgedessen
politisch, ökonomisch, sozial und ethisch verkommen sei. Man muß, wenn
man Jüngers Kritik liest, bedenken, daß sie in den Wochen der Hochinflation
geschrieben wurde, in denen der Kurs der Papiermark im Verhältnis zu
einem US-Dollar von 4,6 Millionen auf 25 Milliarden sank und eine
gigantische Umverteilung der Vermögensverhältnisse im Gang war, durch
die vor allem die breite Mittelschicht, der auch Jüngers Familie angehörte,
zu Schaden kam. Es heißt in Jüngers Artikel:
So hat das Reich seither fünf Jahre lang ohne eine andere Idee
als die der Lohnstreitigkeit gelebt, kein neues Gebäude hat
sich aus den Ruinen erhoben, kein festes und großes Ziel
wurde aufgepflanzt. Die Folgen haben sich gezeigt:
Schwankender Kurs, innere Zerfleischung, Ohnmacht den
äußeren Gewalten gegenüber. Hinter den Tarnfassaden von
Regierungen und Kabinetten herrscht die Freibeuterei in ihrer
nacktesten Form. Es gibt nur noch Plünderer und
Ausgeplünderte. Die Berufe, die die ideellen Güter des
Volkes zu wahren und zu mehren hatten, sterben aus. Die
Vertreter des Materialismus in seiner ganzen Gemeinheit,
Schieber, Börsianer und Wucherer, sind die wirklich
Regierenden. Alles Reden und Handeln dreht sich um Ware,
Geld und Profit. Alle Äußerungen des Staates, seine
Verordnungen, seine Erklärungen, seine Maßnahmen, sein
Geld, seine Aufrufe, dünsten den Geruch des Verwesens aus.
Wie könnte es auch anders sein, da die Revolution keine
Geburt, kein Aufstrahlen neuer Ideen, sondern eine
Verwesung war, die von einem sterbenden Körper Besitz
ergriffen hat. (PP, 35f.)
Nach dieser Bestandsaufnahme lenkt Jünger den Blick auf die Kraft oder
Bewegung, die in der Lage zu sein scheint, die versäumte Revolution
nachzuholen und das Blatt zu wenden. Sein Ton wird vollends predigerhaft,
ja prophetisch, sein Denken geradezu manichäisch:
Die echte Revolution hat noch gar nicht stattgefunden, sie
marschiert unaufhaltsam heran. Sie ist keine Reaktion,
sondern eine wirkliche Revolution mit all ihren Kennzeichen
und Äußerungen, ihre Idee ist die völkische, zu bisher nicht
gekannter Schärfe geschliffen, ihr Banner das Hakenkreuz,
ihre Ausdrucksform die Konzentration des Willens in einem
einzigen Punkt – die Diktatur! Sie wird ersetzen das Wort
durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das
Opfer, die Feder durch das Schwert.
Sie wird alle Kennzeichen der echten und gerechten
Empörung an sich tragen, und wird alle Finsterlinge
ausschließen, schon allein deshalb, weil es bei ihr nichts zu
verdienen gibt. Denn nicht das Geld wird in ihr die
bewegende Kraft darstellen, sondern das Blut, das in
geheimnisvollen Strömen die Nation verbindet und das lieber
fließt als sich knechten läßt. Das Blut soll unsere neuen Werte
gebären, es soll die Freiheit des Ganzen unter Opferung des
einzelnen erstehen lassen, es soll seine Wellen werfen bis an
die Grenzen, die uns zukommen, es soll alle Stoffe
ausscheiden, die uns schädlich sind. (PP, 36)
Man versteht nun, warum dieser Artikel im Völkischen Beobachter erschien.
Aus Jüngers Kritik an der Revolution des Winters 1918/19 und an der
Weimarer Republik war eine flammende Lobrede auf die »national-
sozialistische Bewegung« erwachsen. Zu fragen bleibt, was Jünger mit ihr
verband. Vermutlich war dies nicht viel mehr als das von Hitler und
Ludendorff ausgelöste Gefühl, daß die »Hitler-Bewegung« eine
unvergleichliche Radikalität habe und als einzige Kraft in der Lage sein
werde, einen Umsturz herbeizuführen. Jünger war im Frühjahr und Sommer
1923 mehrfach in München gewesen, hatte seine Schwester und Ludendorff
besucht und bei dieser Gelegenheit auch Hitler in einer der
Großveranstaltungen im Zirkus Krone reden hören. Nach dem Zweiten
Weltkrieg hat er diese Erfahrung in seinem Journal Jahre der Okkupation
(später Die Hütte im Weinberg) unter dem Datum des 29. März 1946
ausführlich reflektiert. Zweifellos ist diese Darstellung durch die
zwischenzeitliche Erfahrung beeinflußt; dennoch dürfte sie einigermaßen
wiedergeben, wie Jünger Hitler und seine Anhängerschaft damals
wahrgenommen hat:
Als ich ihn hörte, hatte ich den Eindruck eines blassen,
begeisterten Menschen, der nicht so sehr neue Gedanken
brachte als neue Kräfte entfesselte. Es schien weniger, daß er
des Wortes mächtig, als daß das Wort seiner mächtig war. So
stellt man sich ein Medium vor, das fast verzehrt wird durch
die Kräfte, die ihm zuströmen. […]
München war ein günstiger Boden für seine Anfänge,
günstiger als Berlin. Die Bevölkerung ist impulsiver; sie hatte
die Räterepublik gehabt. Ich sah Arbeiter, entlassene Soldaten
in Röcken aus feldgrauem Tuch, Burschen mit Gesichtern,
wie Leibl sie gemalt hat. Die Leute aus den Bergen kamen in
die Stadt. Sie hingen alle gebannt an seinem Wort.
Reden an solchen Orten werden nicht verstanden; sie sind
Beschwörungen. Er sagte nichts Neues, nichts, das durch die
Sozialdemokraten oder durch die Nationalisten nicht bereits
gesagt worden war. […] Aber das war bedeutungslos. Er
machte sogar unsinnige Vorschläge wie etwa den, die
Regierung solle französische Franken als Falschgeld
nachdrucken. Doch alles hatte eine starke Intensität, ein
mächtiges Fluidum.
Wenn ich den Eindruck hatte, mich in einem
Schmelztiegel, an einem Ort der nationalen Einigung zu
befinden, so war das nicht unrichtig. Aber es wirkte dahinter
noch etwas anderes, Zwingenderes: die Entdeckung der
klassenlosen Gesellschaft mit ihren Konsequenzen, ihrem
ungeheuren Anfall an Energie. Sie verwischt die Palette,
zerstört die Hierarchien, befreit die einzelnen von ihrer
Bindung und saugt sie in ein dynamisches Gefälle ein. Die
Masse erkennt ihre Einheit, ihre Gleichheit und sogar ihre
Freiheit in einem einzelnen. […]
Damals ergriff mich etwas anderes, wie eine Reinigung.
Die unermeßliche Anstrengung von vier Kriegsjahren hatte
nicht nur zur Niederlage, sie hatte zur Erniedrigung geführt.
Das entwaffnete Land war von hochgerüsteten, gefährlichen
Nachbarn umgeben, zerstückelt, durch Korridore
zerschnitten, geplündert, ausgesaugt. Das war ein böser, ein
grauer Traum. Hier stand nun ein Unbekannter und sagte, was
zu sagen war, und alle fühlten, daß er recht hatte. […]
Es war keine Rede, es war ein Elementarereignis, in das ich
geraten war. Die Inflation muß damals weit vorgeschritten
gewesen sein. Der Hunger ist eine große Sache, hungrige
Massen sind gute Zuhörer. Ich entsinne mich, daß nach dem
Schluß der Versammlung Männer mit Säcken herumgingen,
in die wir Geldscheine hineinstopften. (JdO, 247 – 249 = 3,
608 – 610, dort stilistisch leicht verändert)
Aus dieser Erfahrung heraus ist Jüngers erster politischer Artikel mit seiner
Beschwörung der kommenden »echten Revolution« unter dem Zeichen des
Hakenkreuzes entstanden. Hinzu kam noch, daß am 2. September 1923, dem
»Sedanstag«, in Nürnberg der »Deutsche Kampfbund« gegründet worden
war: ein revolutionär ambitioniertes Bündnis aus NSDAP, SA, »Bund
Oberland« und »Reichskriegsflagge«, das in Nürnberg mehr als 100 000
Mann aufmarschieren ließ. Um so größer dürfte dann Jüngers Enttäuschung
gewesen sein, als am 9. November der von Hitler und Ludendorff angeführte
Marsch zur Münchener Feldherrnhalle, der die »nationale Revolution«
einleiten und zu einer Rechtsdiktatur führen sollte, in einem geradezu
lächerlich wirkenden Fiasko endete. Fast scheint es, als sei der junge Prophet
der »völkischen« Revolution dadurch politisch orientierungs- und sprachlos
geworden. Jedenfalls fand Jüngers politische Publizistik vorerst keine
Fortsetzung: 1923 erschien kein weiterer Artikel, und 1924 blieb es bei
einem Artikel über Ludendorff, der am 9. April im Deutschen Tageblatt,
zugleich Großdeutsche Warte, erschien, einem »Kampfblatt der deutsch-
völkischen Freiheitsbewegung«. Dieser Artikel ist in zweierlei Hinsicht
bemerkenswert: Zum einen zeigt er Jüngers bleibende Nähe zur »völkischen
Bewegung« und seine – noch immer vorhandene – Wertschätzung für
Ludendorff an; zum andern sprach Jünger in diesem Artikel erstmals von
»uns Frontsoldaten« (PP, 45): einer Bevölkerungsgruppe (um einen
möglichst neutralen Terminus zu gebrauchen), der Jünger – als ihr
selbsternannter Sprecher – in den nächsten Jahren ein deutliches Profil als
»Erfahrungs-« oder »Schicksalsgemeinschaft« und eine beträchtliche
Bedeutung als revolutionäre politische Kraft geben wollte. Jüngers nächster
politischer Artikel erschien am 31. August 1925 in der Zeitschrift Gewissen
und steht nicht zufällig unter der Überschrift Revolution und
Frontsoldatentum.
Daß Jünger von Hitler bis zu einem gewissen Grad fasziniert war und dies
auch nach dem schmählich gescheiterten Putschversuch blieb, mag gegen
ihn einnehmen. Man glaubt ja heute gern, daß man selber auf den
lächerlichen »Anstreicher« (Brecht) nie und nimmer hereingefallen wäre,
sondern – wie der kleine Oskar Matzerath in dem nachträglich hellsichtigen
Roman Die Blechtrommel – den »Gasmann« gleich gerochen hätte. Auch
erscheint der Aufstand gegen die Republik als unbegreifliche politische
Verfehlung. Damals sah dies freilich etwas anders aus, wie aus einem Artikel
von Ernst Bloch zu ersehen ist, der am 12. April 1924 – also ein halbes Jahr
nach dem blamablen Münchener Putschversuch – unter dem Titel Hitlers
Gewalt im Berliner Tagebuch erschien (leicht verändert 1935 wieder in
Erbschaft dieser Zeit). In der Tagebuch-Fassung heißt es über Hitler:
Der Tribun Hitler, von geringer Herkunft […] ist zweifellos
eine mächtig suggestive Natur, leider um gar vieles
vehementer als all die echten Revolutionäre, die Deutschland
1918 zitierten; von einer Kraft des gesammelten Willens,
einem Vitaldruck und Talent der Entzündung, einem
Fanatismus der Vision, die ihn seinen Jüngern wie aus dem
Geschlecht Bernhard von Clairvaux, ja, der Jungfrau von
Orleans erscheinen läßt. Wie diese gab er der abgematteten
Ideologie des Vaterlandes ein fast rätselhaftes Feuer; und hat
eine neue aggressive Sekte, einen Templerorden, den Keim zu
einer stark religiösen Armee, zu einer Truppe mit Mythos
geschaffen. Nicht daraus auch erklärt sich die anhaltende
Kraft des Hitlerschen Programms, daß hier Befreiung von
Juden, der Börse, der Zinsknechtschaft des internationalen
Kapitals, von dem vaterlandsfeindlichen internationalen
Marxismus versprochen wird und ähnliche verworrene Musik
für die Wirtschaft an die Peripherie und die Staatsgesinnung
wieder ins Zentrum rückt, so klingt damit zugleich die Mystik
der alten, unbürgerlichen Zucht wieder auf, die säkularisierte
Ethik der Ritterorden.
Der Unterschied zu Jüngers Charakterisierung ist deutlich: Hier spricht
jemand, der nie Sympathie für Hitler entwickelt hat. Aber auch er, auch
Bloch sieht sich gezwungen, sowohl Hitlers Suggestionskraft als auch die
enthusiasmierende Attraktivität der völkischen Programmatik anzuerkennen.
Selbstverständlich hielt Bloch diese Programmatik für verworren und
anachronistisch; aber anders als viele andere Linke hatte Bloch ein Gespür
für die Wirkungskraft solcher Ideologeme – und betonte im übrigen, daß
sich in ihnen echte Bedürfnisse und berechtigte Erwartungen äußerten, wenn
auch auf falsche, verzerrte, pervertierte Weise. Dies erlaubte es ihm, in
einem weiteren Abschnitt seines Aufsatzes einen zwar wiederum kritischen,
partiell aber anerkennungsbereiten Blick auf Hitlers Anhängerschaft zu
werfen und zugleich ihr kommunistisches Pendant ins Auge zu fassen:
So ist nicht gering anzuschlagen, wie Hitler die Jugend hat.
Man unterschätze nicht den Gegner, sondern stelle fest, was
so vielen eine psychische Tatsache ist und sie begeistert.
Gewiß auch zeigen sich von hier aus mancherlei
Zusammenhänge mit dem Linksradikalismus, solche
demagogischer, formaler, wenn auch nicht inhaltlicher Art.
Dem bayerischen Pöbel wurde durch diese Verwandtschaft
(zumeist nur eine windfängerische Kopie des Sozialismus,
auf primitive Instinkte abgestimmt) der Fahnenwechsel erst
recht erleichtert. Bei den Kommunisten, wie bei den
Nationalsozialisten wird wehrhafte Jugend aufgerufen; hier
wie dort ist der kapitalistisch-parlamentarische Staat verneint,
hier wie dort wird die Diktatur gefordert, die Form des
Gehorsams und des Befehls, der Tugend der Entscheidung
statt der Feigheiten der Bourgeoisie, dieser ewig
diskutierenden Klasse. Es ist vor allem der Typus Hitler und
derer, die nach ihm sich bilden, charakterologisch und formal
stark revolutionär. Desto erkennbarer freilich auch sind die
Ziele dieser Schar, trotz aller Verworrenheit, nur der völlig
gegenrevolutionäre Willensausdruck versinkender Schichten
und ihrer Jugend.
Mit dem letzten Satz postuliert Bloch eine soziale Differenz zwischen dem
rechten und dem linken Radikalismus und stützt damit seine zuvor
getroffene Feststellung, daß es »Zusammenhänge« nur »formaler«, nicht
aber »inhaltlicher«, also programmatischer Art gäbe. Dies ist allerdings
fraglich. Sollten die Verneinung der Republik, die Forderung einer Diktatur,
das Verlangen nach einer autoritären und dezisionistischen Politik nur als
Formalien zu betrachten sein und nicht vielmehr als Ausdruck ein und
derselben anti-demokratischen und anti-bürgerlichen Haltung? Und wie
anders hätte Bloch, der gewußt haben wird, was er sagte, jene Formel von
der »ewig diskutierenden Klasse« der Bourgeoisie gebrauchen können -:
Stammt sie doch von dem wortmächtigen Konservativen, Antidemokraten
und Antisozialisten Donoso Cortés, der von 1809 bis 1853 gelebt und als
Diplomat und politischer Philosoph gewirkt hat, und war sie doch 1922 von
Carl Schmitt in dessen Politischer Theologie eindrucksvoll in Erinnerung
gerufen worden. Dort heißt es über dieses »erstaunlichste Aperçu über den
kontinentalen Liberalismus«:
Es liegt, nach Cortés, im Wesen des bürgerlichen
Liberalismus, sich in diesem Kampf [zwischen dem religiös
begründeten Konservativismus und dem atheistischen
Sozialismus des 19. Jahrhunderts] nicht zu entscheiden,
sondern zu versuchen, statt dessen eine Diskussion
anzuknüpfen. Die Bourgeoisie definiert er geradezu als eine
»diskutierende Klasse«, una clasa discutidora. Damit ist sie
gerichtet, denn darin liegt, daß sie der Entscheidung
ausweichen will. Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins
Reden verlegt, in Presse und Parlament, ist einer Zeit sozialer
Kämpfe nicht gewachsen.
Derartiges ist mit zu bedenken, wenn Jüngers politische Haltung im Herbst
1923 und in den nachfolgenden Jahren zur Debatte steht: Anti-
Bürgerlichkeit, Anti-Liberalismus und Anti-Parlamentarismus waren weit
verbreitet und hatten angesehene Fürsprecher, ebenso der Wunsch nach einer
autoritären und entscheidungsfreudigen Politik. Die ökonomischen und
sozialen Verhältnisse in Deutschland waren so beschaffen, daß man die
Tauglichkeit des Parlamentarismus durchaus in Zweifel ziehen konnte,
zumal wenn man nicht überzeugter Demokrat war, sondern auch andere
Herrschaftsformen für legitim hielt. Unter diesen Umständen war die
Faszination, die von Hitler und seiner »Bewegung« ausging, beträchtlich; sie
sprach gerade diejenigen an, die eine grundlegende politische, soziale und
moralische Erneuerung Deutschlands für nötig hielten. Wohin, wenn nicht zu
den Kommunisten, sollten sie sonst gehen? War doch die »Hitlerjugend«,
wie Bloch 1924 auch schrieb, zu dieser Zeit »die einzige revolutionäre
Bewegung in Deutschland«! Wer für Hitler und seine »Bewegung« eintrat,
konnte sich als revolutionärer Geist fühlen, als Teil einer breiten,
nationalistischen und sozialistischen Opposition gegen die »untaugliche«
Republik. Jünger hat später denn auch für einen Zusammenschluß von
Nationalisten und Kommunisten plädiert.

Leipziger Jahre: Student und »Gebieter«

Noch vor Hitlers Putschversuch hatte sich Jünger am 26. Oktober 1923 an
der Universität Leipzig als stud. rer. nat. für das Fach Zoologie
immatrikuliert. Die Wahl dieses Gebiets entsprach seinen frühen Neigungen;
er hatte sich ja schon einmal, vor dem Beginn seines Militärdienstes, in
Heidelberg für dieses Fach eingeschrieben. Daß Jünger nun nach Leipzig
ging, ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß auch sein Bruder Friedrich
Georg dort studierte und daß Leisnig in der Nähe lag, wo der Vater seit 1919
die Löwenapotheke betrieb. Friedrich Georg bemerkt in seinem
Erinnerungsbuch Grüne Zweige ausdrücklich, daß es wichtig war, an den
Wochenenden die Eltern besuchen zu können. Ebenso schreibt er, daß er
einen großen Teil der Freizeit mit seinem Bruder Ernst verbrachte, mit ihm
wanderte und badete. Jünger wohnte in Leipzig, wie sein erster Biograph
Müller 1934 erfuhr, »in einem billigen Atelier in der Nähe des Zoologischen
Instituts«. Finanziell war er nicht gut gestellt. 1924 erhielt er aufgrund seiner
Militärzeit monatlich siebzig Mark Pension; dazu kamen die
schriftstellerischen Einkünfte, die allerdings nicht üppig gewesen sein
können, da die Bücher ja keine Massenauflagen hatten. Müller bemerkt, daß
es Jüngers »Stolz« gewesen sei, »mit seiner kleinen Pension zu
wirtschaften«, und sein »Grundsatz«, »seine literarischen Einkünfte als
Lehrgeld zu verwenden, – sei es für die zahlreichen Reisen ins Ausland, sei
es zum Ausbau seiner Bibliothek«.
Jünger nahm das Studium sehr ernst und war ambitioniert. Am 1. Juli
1924 schrieb er an seine Großmutter, daß er hoffe, in einem Jahr die
»Doktor-Prüfung« abzulegen und dann an der Universität assistieren zu
können. Das Studienbuch zeigt, daß er sich nicht nur auf die Zoologie und
angrenzende Gebiete wie Mineralogie und Geologie beschränkte, sondern
auch Vorlesungen des Biologen und Philosophen Hans Driesch hörte, der
damals der prominenteste Vertreter des Neo-Vitalismus war. Dieser ist die
naturwissenschaftlich reflektierte Fortsetzung des älteren Vitalismus,
welcher die Möglichkeit einer rein chemisch-physikalischen Erklärung des
organischen Lebens verneinte und statt dessen eine »vis vitalis« postulierte:
eine entwicklungsbestimmende Lebenskraft nichtphysikalischer Art, die sich
in den Formen des organischen Lebens durchsetze, ein »nichtmechanisches
kausales Agens« der Form- oder Gestaltbildung. »Leben«, »Entwicklung«,
»Zweck«, »Typus«, »Form« und »Gestalt« sind Hauptbegriffe von Drieschs
Denken und spielen auch bei Jünger eine große Rolle, zumal in seinem
Arbeiter.
Im Umkreis von Driesch lernte Jünger bald auch den Philosophiedozenten
Hugo Fischer kennen, einen Intellektuellen, der für seine weitere
Entwicklung eine große, in mancher Hinsicht entscheidende Bedeutung
erlangen sollte. Fischer, Jahrgang 1897, war im Krieg an der Somme
verschüttet worden und seitdem nervlich angeschlagen. Ende 1917 vom
Militärdienst befreit, hatte er in Leipzig Philosophie, Geschichte und
Sanskrit studiert, war 1921 aufgrund einer Arbeit über »das Prinzip der
Gegensätzlichkeit bei Jacob Böhme« promoviert worden und hatte sich, als
Jünger nach Leipzig kam, eben mit einer Arbeit über »Hegels Methode in
ihrer lebensgeschichtlichen Notwendigkeit« habilitiert. Daneben beschäftigte
er sich mit Hamann und schickte sich zudem an, ein Buch über Nietzsche zu
schreiben; es erschien 1931 unter dem Titel Nietzsche Apostata oder Die
Philosophie des Ärgernisses. Mit allen diesen Interessengebieten hat Fischer
auf Jünger eingewirkt. Er hat Jünger mit den Schriften von Hamann und
Böhme bekannt gemacht und ihm Hegel nahegebracht, insbesondere dessen
Wertschätzung der Arbeit als einer gemeinschaftsbildenden Macht, ein
Moment, das für die Konzeption des Arbeiters von grundlegender
Bedeutung wurde. Er hat ihm Nietzsche als den Philosophen gezeigt, der
sich mit verzweifelter Kraft aus dem Schiffbruch der Dekadenz
herauszuarbeiten suchte, und er hat ihm die europäischen und planetarischen
Perspektiven von Nietzsches politischem Denken verdeutlicht, was Jüngers
Abkehr vom Nationalismus motivierte oder wenigstens begünstigte. Dieser
vielfachen Bedeutung entspricht, daß Fischer in Jüngers Schriften immer
wieder Erwähnung findet oder in Erscheinung tritt: Im Abenteuerlichen
Herzen taucht er als »Nigromontan« auf, in Besuch auf Godenholm als
»Schwarzenberg«, in weiteren Schriften als »Magister«. In Myrdun, dem
1943 publizierten Briefbericht über die Norwegen-Reise, die Jünger und
Fischer im Juli/August 1935 unternahmen, wird er folgendermaßen
charakterisiert: »Der Magister lebt in einem beständigen geistigen Training,
in einer ununterbrochenen Meditation, an der ich mich gern beteilige. Die
Eigenart und die Vorzüge seines Denkens sind Dir [dem Bruder Friedrich
Georg] bekannt; sie liegen vor allem in der intuitiven, fast hellsichtigen und
oft blitzartigen Feststellung. […] Dann fielen mir schon früh gewisse
Ähnlichkeiten mit Hamann auf – ich meine den verborgenen Charakter des
metaphysischen Menschen, der doch an entscheidenden Punkten
durchleuchtet« (6, 57).
In der Zoologie galt Jüngers Interesse zunächst den Insekten, dann der
Meeresfauna. In Leipzig hörte er bei Georg Grimpe Meeresbiologie. Ihn
begleitete er im Februar 1925 nach Neapel an die Stazione Zoologica di
Napoli. Dieses heute noch bestehende Forschungsinstitut war 1870 von dem
renommierten Biologen und Phylogenetiker Anton Dohrn gegründet worden.
Es ist in einem palaisartigen Gebäude untergebracht, das in einem Park am
Golf von Neapel liegt; seine prächtigen Aquarien waren die ersten in
Europa. Hier studierte Jünger unter Grimpes Anleitung bis April 1925 »die
Anatomie eines Tintenfisches« mit dem Namen »Loligo media« (20, 492f.;
vgl. auch 10, 330). Im Abenteuerlichen Herzen hat er diesen anatomischen
Studien einige Seiten gewidmet, freilich aus der Distanz eines Autors, der
die Wissenschaft quittiert hat (9, 96 – 104). Der Bericht ist stark
ästhetizistisch getrimmt und läßt kaum etwas von dem wissenschaftlichen
Ernst spüren, mit dem Jünger wohl doch am Werk war, wenn er seine
Objekte »nach allen Regeln der Kunst bearbeitete« (99). Deutlich aber tritt
hervor, was ihn an der Zoologie am meisten faszinierte: zum einen der Blick
auf die »tierischen Grundlagen« des menschlichen Lebens (98) und zum
andern die ästhetisch motivierte Beobachtung der Formen und Farben des
Lebens in allen seinen Stadien. Anzumerken bleibt, daß Jüngers Studien sich
in seinen Kriegsbüchern niederschlugen: in der dritten, 1924 entstandenen
Fassung der Stahlgewitter finden sich einige zoologische und geologische
Beobachtungen, die es in den ersten beiden Fassungen nicht gab.
Das Studium bedeutete eine Neuausrichtung von Jüngers Leben und
überlagerte seine schriftstellerischen wie seine politischen Ambitionen, ohne
sie indessen ganz zu verdrängen. Während des Studiums entstand 1924 in
Leisnig das Wäldchen 125, und am 27. März 1925 schrieb Jünger aus Neapel
an seinen Vater, er habe die Absicht, nach der Rückkehr eine
»Monographie« über Neapel zu erarbeiten und gleichzeitig seinen »großen
Zeitroman« fertigzustellen, vermutlich jenen Ferdinand Dark. Der
Landsknecht und Träumer, der 1926 vom Aufmarsch-Verlag angekündigt
wurde, aber nicht erschien. Politisch suchte Jünger nach seinem Ausscheiden
aus der Reichswehr Anschluß an die Wehrverbände, die zum Teil aus den
Freikorps hervorgegangen waren: jenen nach dem Krieg von entlassenen
Offizieren gebildeten »Freiwilligenverbänden«, die in Polen und
Oberschlesien gegen die vom Versailler Vertrag verfügten
Gebietsabtretungen kämpften, in Berlin und München wie im Ruhrgebiet
und in Mitteldeutschland im Auftrag der Reichsregierung die Revolution
und die folgenden Aufstände niederschlugen, bis 1923 ungefähr 300
sogenannte »Fememorde« verübten und insgesamt durch ihre Gewalttaten
wie durch ihr konspiratives Wirken die Rechtssicherheit und Stabilität der
jungen Republik beträchtlich gefährdeten. Von der Regierung wurden die
Freikorps zwar nach und nach verboten und aufgelöst, doch blieben einige
als »Arbeitsgemeinschaften« oder sonstige »Organisationen« bestehen, und
bisweilen kam es auch zu Kooperationen zwischen Regierungsstellen und
Freikorps, wenngleich deren Grundhaltung dezidiert antirepublikanisch war.
Den sogenannten Kapp-Putsch trug eines der stärksten Freikorps, die
Marinebrigade Ehrhardt, und am Hitler-Putsch beteiligte sich das Freikorps
Roßbach, dessen Führer, Gerhard Roßbach, nach dem Putschversuch ins
Ausland fliehen mußte, 1924 aber amnestiert wurde und die »Schilljugend«
gründete, die Hitler bis zur Gründung der »Hitlerjugend« im Herbst 1926 als
NS-Jugendorganisation betrachtete. An diesen Roßbach wandte sich Jünger,
nachdem er mit dem Studium in Leipzig begonnen hatte, und wurde sogleich
zum »Landesführer« des Freikorps Roßbach in Sachsen eingesetzt; auch
übernahm er in der »Schilljugend« das »Amt für Deutsches Schrifttum«. Es
zeigte sich aber, daß die sächsische Abteilung nur aus einigen dubiosen
Individuen bestand, die sich gelegentlich im »Hinterzimmer eines
Zigarrenhändlers« trafen und weniger an Politik als an ihre persönlichen
Belange dachten (3, 607). Nach vier Wochen legte Jünger seine
Landesführerschaft wieder nieder und zog sich zurück. Trotz der Kürze
dieses Engagements hatte er aber eine wichtige Erfahrung gemacht; die
zeitraubende und ineffektive Mitwirkung in solchen Organisationen war
seine Sache nicht (3, 614). Jünger war nicht organisationswillig, nicht
einmal als Führer.
Der Sommer 1925 muß für Jünger eine angespannte Zeit gewesen sein.
Diverse Entscheidungen standen an. Am 3. August heiratete er Gretha von
Jeinsen; die Trauung fand in der Leipziger Thomaskirche statt. Von Jünger
gibt es keine Reminiszenz daran, was indessen nicht verwunderlich ist. Aber
auch Gretha Jünger, die in ihren Silhouetten manches Ereignis auf
detaillierte Weise vergegenwärtigt, hält sich bei der Trauung nicht auf.
Eingefügt in einige Abschnitte, die dem schwierigen Problem der
Wohnungssuche gelten, heißt es:
Ich hatte soeben mein Gelübde als Ehefrau abgelegt, und zum
äußeren Zeichen meiner Unterwerfung unter das göttliche
Geschlecht und damit meinen Eheherrn, beschlossen, ihn
fortan nur noch als meinen Gebieter zu bezeichnen;
verschweige indessen nicht, daß er diesen Ehrentitel mit
einiger Skepsis aufnahm.
In den beiden folgenden Monaten schrieb Jünger mit Feuer und Blut ein
fünftes Kriegsbuch und steigerte damit seine Bekanntheit als
Kriegsschriftsteller; zugleich trat er mit diesem Buch in Beziehung zum
Magdeburger Frundsberg-Verlag und baute damit die Möglichkeit aus, als
freier Schriftsteller zu leben. Und schließlich wandte er sich im August 1925
wieder der politischen Publizistik zu. Ein erster Artikel erschien am 31.
August in der Zeitschrift Gewissen; ein zweiter folgte am 6. September in
der Stahlhelm-Beilage Die Standarte und eröffnete eine lange Reihe
politischer Artikel, die bis 1930 in dichter Folge erschienen, zunächst in
wöchentlichem Abstand. Für das Studium dürfte daneben nicht mehr viel
Zeit geblieben sein, zumal Jünger zumindest einen Teil der Artikel nicht nur
für den Tag schrieb, sondern in der Absicht, sie in ein Buch zu überführen.
So überrascht es auch nicht, daß er das Studium quittierte und sich am 26.
Mai 1926 exmatrikulieren ließ.
Knapp vier Wochen zuvor, am 1. Mai 1926, wurde Gretha von ihrem
ersten Sohn entbunden, der wie sein Vater auf den Namen Ernst getauft und
später »Ernstel« gerufen wurde. In einer Tagebuchnotiz vom 28. Juni 1987
bemerkt Jünger, daß er damals unter dem Einfluß von Huysmans’ Schriften
Gretha gefragt habe, ob sie »Ernstel nicht lieber katholisch taufen lassen
sollten«, worauf Gretha »ihn unverzüglich bei den Protestanten anmeldete«
(21, 173) -: ein Vorgang, der zum einen für Jüngers Affinität zum
Katholizismus symptomatisch ist, zum andern aber auch für Grethas
Vorbehalte gegen die literarisch induzierten Launen ihres »Gebieters« – und
für ihre Fähigkeit, ihm entgegenzutreten.
Das Leipziger Leben hatte, wie aus Grethas Silhouetten zu ersehen ist,
einen durchaus unbürgerlichen Charakter. Man wohnte zunächst in der
Sidonienstraße bei einer spionierenden Dragoner-Witwe, dann in der
Johann-Sebastian-Bach-Straße in einem spärlich möblierten »Atelier«;
Wohnungen waren schwer zu finden, und viel Geld konnte das junge
Ehepaar dafür nicht ausgeben. Mit Jüngers Bruder Friedrich Georg und dem
Philosophen Hugo Fischer, der mit seiner Frau in der Nähe in einem
einzigen Zimmer wohnte, wurden lärmende Feste gefeiert und Nächte in
philosophischen Gesprächen verbracht. Fischer war nicht nur ein
philosophisch außerordentlich anregender Intellektueller, sondern auch ein
etwas skurriler Mensch, der durch sein unkonventionelles Verhalten für
Komik und Lachen sorgte. Gretha Jünger hat ihn in ihren Silhouetten
liebevoll porträtiert und dabei die Spannweite seines Charakters betont:
»Hugo besaß [...] geniale Züge neben der merkwürdigsten Zerstreutheit
seines Wesens. Er schien uns ein unerschöpflicher Quell an Wissen,
Arbeitsdrang, Ernst und Begabung zu sein, wie andererseits das Muster eines
gänzlich unbeschwerten, kindlichheiteren Jünglings.« Geld war bei den
Fischers so rar wie bei den Jüngers, aber das minderte die Lebensfreude
nicht allzusehr: »Armut schreckte uns nicht«, bemerkt Gretha in den
Silhouetten lapidar.
Eine etwas längere Unterbrechung des Leipziger Lebens ergab sich aus
Jüngers Teilnahme an einem Fliegerkurs im Herbst 1926. Schon während
des Kriegs hatte er versucht, zur Fliegertruppe zu kommen. Aber die
Anträge auf Versetzung von der Infanterie zur Luftwaffe, die Jünger im
April 1916 und im Juli 1917 und erneut im Winter 1917/18 gestellt hatte,
waren abgelehnt worden. Nun wollte er die Erfahrung des Fliegens oder
Flugzeugführens nachholen und meldete sich zu einem Kurs auf dem am
Rand von Berlin-Spandau gelegenen Fliegerhorst Staaken. Sein Fluglehrer
war, wie Jünger am 20. September 1926 an Friedrich Georg schrieb, »ein
alter Jagdflieger aus der Staffel Richthofen«, der aber seinen Schüler, wie
aus dem Abenteuerlichen Herzen zu ersehen ist, »recht ungeschickt« fand (9,
117). Die Fliegerei blieb denn auch Episode, erlangte aber, wie ebenfalls aus
dem Abenteuerlichen Herzen hervorgeht, eine gewisse Bedeutung für
Jüngers Vorstellung vom modernen Menschen: Sie bestätigte Jünger in
seiner Ansicht, daß für das Leben in der modernen, technisch aufgerüsteten
Zivilisation eine besondere Mischung aus Intelligenz und Nervenkraft, aus
technischem Vermögen und körperlicher Konstitution nötig seien (9, 155).
Ein zweites Mal wurde das Leipziger Leben im Frühjahr 1927 durch eine
Reise nach Frankreich unterbrochen. Auch mit ihr wollte Jünger etwas
nachholen: die Begegnung mit Paris. Als entschieden moderner Mensch
reiste er selbstverständlich mit dem Flugzeug, von Berlin nach Köln mit
einer deutschen Maschine, von Köln nach Paris mit einer französischen. Der
Flug ging über die Schlachtfelder des »Großen Kriegs«, und diese
Wiederbegegnung ist im Abenteuerlichen Herzen ausführlich reflektiert (9,
117 – 124). Erstaunlicherweise ist von Paris nicht die Rede, obwohl das
Kapitel unter der Ortsangabe »Paris« steht. Vermutlich fühlte sich Jünger
dem Thema noch nicht gewachsen und wollte weitere Besuche mit
genaueren Impressionen abwarten.
Zur Leipziger Zeit gehört auch ein vielfach besprochenes Ereignis, das
nicht stattfand: Hitlers nicht realisierter Besuch bei Jünger. Die Anregung
dazu war wohl von Jünger ausgegangen; er hatte Hitler geschrieben und ihm
zuletzt die Standarte vom 3. Juni 1926 geschickt, ein Heft, in dem Jünger
mit einem Artikel unter der Überschrift Schließt Euch zusammen! für ein
Einschwenken der nationalistischen »Einzelbewegungen« in die
»nationalistische Endfront« plädierte (PP, 219). Am 11. Juni antwortet
Rudolf Heß als Hitlers »Privatsekretär« aus der Münchener »Kanzlei von
Adolf Hitler«:
Sehr geehrter Herr Jünger!
Herr Hitler läßt Ihnen für Ihren Brief vom 6.d.M. vielmals
danken, ebenso wie für die Standarte mit Ihrem Aufsatz
»Schließt Euch zusammen!«, der ihn sehr interessierte.
Herr Hitler würde sich freuen, Sie einmal persönlich
sprechen zu können. Die Gelegenheit ergibt sich
wahrscheinlich schon in allernächster Zeit, bei einer
Durchfahrt durch Leipzig im Auto. Sie erhalten rechtzeitig
Nachricht über die Stunde des Besuches.
Mit deutschem Gruß/Ihr ganz ergebener/R.
Heß/Privatsekretär
Welche Reaktion dieser Brief bei Jünger auslöste, ist nicht zu erkennen. Am
15. Juni 1926 schrieb er seltsam lapidar an Friedrich Georg:
Anbei der Brief von M. B. Hitler wird in der nächsten Woche
durch Leipzig kommen und hat sich bei mir angemeldet. Im
Garten auf der tabakartigen Staude in der Nähe der Erdbeeren
habe ich einen schönen Buprestes erbeutet.
Aus heutiger Sicht ist dieser Brief, der für Hitler nicht mehr übrig hat als für
einen Käfer, wenn auch für einen metallischen Prachtkäfer, ein erstaunliches
Dokument. Immerhin hatte sich der Führer der Nationalsozialisten angesagt,
dem Jünger seit 1923 akklamierte und dem er, seit er von ihm Mein Kampf
erhalten hatte, seine Kriegsbücher mit Widmungen sandte, Feuer und Blut
am 9. Januar 1926 mit den Worten: »Dem nationalen Führer Adolf Hitler!«
Fast kommt man auf den Verdacht, der zitierte Wortlaut des Briefs an
Friedrich Georg, der nur in Jüngers Abschrift überliefert zu sein scheint,
könnte gekürzt sein. Indessen gibt es auch Umstände, die geeignet sind, die
Beiläufigkeit dieser Notiz zu erklären: Zum einen war Hitler im Frühsommer
1926 keineswegs schon der kommende Diktator Deutschlands, ja noch nicht
einmal der unumstrittene Führer der NSDAP oder der »völkischen«
Bewegung insgesamt; er war mit einem Redeverbot belegt, was seine
öffentliche Wirksamkeit stark beeinträchtigte, und hatte größte Mühe, die
Gauführer der NSDAP hinter sich zu bringen. Vielleicht war sich Jünger, als
Hitler seinen Besuch ankündigte, nicht mehr so sicher, daß er wirklich den
»nationalen Führer« erwarten durfte. Zum andern sympathisierte er zwar mit
den nationalistischen Zielsetzungen der NSDAP; in einigen wichtigen
Punkten war er aber anderer Meinung und begann bald auch, die Differenzen
zwischen seinem »neuen Nationalismus« und dem Nationalsozialismus zu
benennen. Selbstbewußt und eigenständig, wie er sich fühlte, mochte er dem
Besuch des um Vorrang kämpfenden Hitler durchaus mit Skepsis oder gar
Abwehrwünschen entgegenblicken, und dies könnte zu dem Understatement
der Mitteilung an den Bruder geführt haben.
Indessen kam Hitler gar nicht. Auch ihm war das Treffen nicht vorrangig
wichtig. In letzter Minute, so teilt Mohler in seinem Ravensburger Tagebuch
mit, habe Hitler »abtelegraphiert, weil ihn ein politisches Ereignis am
Kommen verhinderte«. Danach ging Hitler nicht wieder auf Jünger zu, und
dieser – soweit bis heute bekannt ist – nicht auf Hitler. Jedenfalls kam es nie
zu einer persönlichen Begegnung. Bekannt ist allerdings, daß Hitler seine
Wertschätzung für Jünger behielt. Was er von ihm gelesen hat, ist eine
andere Frage. In den Teilen von Hitlers Bibliothek, die 1945 von
amerikanischen Soldaten in einer Salzmine beim Obersalzberg entdeckt
wurden und die heute zur »Rare Book Division« der Library of Congress in
Washington gehören, fand sich nur Feuer und Blut. Unterstreichungen und
Fragezeichen am Rand zeigen, daß Hitler das Buch gelesen hat und die eine
oder andere Stelle für bemerkenswert oder fragwürdig hielt; daß Feuer und
Blut für Hitler eine besondere Bedeutung gehabt hätte, kann man daraus aber
nicht erschließen.

Im Namen der »Frontsoldaten«

Im entscheidungsreichen Sommer 1925 kehrte Jünger wieder zur politischen


Publizistik zurück. Die Motive dafür sind wohl nicht bei ihm allein zu
suchen. Es gab auch einen Personenkreis, dem einiges an Jüngers Feder lag:
die Führung des Stahlhelm-Bundes.
Der Stahlhelm/Bund der Frontsoldaten 1918 war im November/Dezember
1918 von dem Weltkriegsoffizier und späteren NS-Minister Franz Seldte als
Wehrverband oder Kampfbund »zum Schutz von Eigentum, Moral und
Vaterland« gegen den Bolschewismus gegründet worden. Er beteiligte sich
an der Unterdrückung der revolutionären Unruhen in Deutschland,
bekämpfte den Versailler Vertrag wie die junge Republik und akklamierte so
offen der republikfeindlichen Gewalt, daß er nach der Ermordung Walther
Rathenaus in Preußen für einige Monate verboten wurde. Seine Hauptziele
waren die Überwindung der Republik, die Revision des Friedensschlusses
und die Pflege des »Geistes der Frontkameradschaft« als Voraussetzung für
das Wiedererstarken der deutschen Nation. Die Zahl seiner Mitglieder ist
nicht genau bekannt, zumal es Nebenorganisationen wie den Stahlhelm-
Studentenring Langemarck gab; die Angaben für 1925 schwanken zwischen
225 000 und 500 000, für 1930 zwischen 500000 und einer Million.
Zahlenmäßig war der Stahlhelm also deutlich schwächer als das 1924
gegründete prorepublikanische Reichsbanner »Schwarz-Rot-Gold«, das 1932
etwa dreieinhalb Millionen Mitglieder hatte. Aber in jedem Fall handelte es
sich um eine mächtige Vereinigung, die in der Wochenschrift Der Stahlhelm
ein weitverbreitetes Organ hatte; um 1925/26 wurden etwa 170 000
Exemplare gedruckt. Die Redaktion lag zunächst in den Händen des radikal
nationalistischen Ex-Offiziers Helmut Franke, der sich nach dem Krieg der
Freikorps-Brigade Ehrhardt angeschlossen hatte und auch als Autor von
Kriegsbüchern hervorgetreten war. Er wurde auch Generalsekretär des
Stahlhelm-Bundes, mußte aber 1923 wegen seiner Radikalität zurücktreten.
Auf Franke war es wohl zurückzuführen, daß Jüngers Kriegsbücher im
Stahlhelm durch Teilabdrucke und Besprechungen gewürdigt wurden, und er
gewann Jünger für die Mitarbeit, als er 1925 im Auftrag der Bundesleitung
eine Beilage zum Stahlhelm konzipierte, die als Forum für nationalistisch
eingestellte Intellektuelle gedacht war. Sie erschien unter dem Titel Die
Standarte und kündigte mit ihrem Untertitel »Beiträge zur geistigen
Vertiefung des Frontgedankens« an; im ersten Jahresrückblick vom August
1926 wurde sie von Franke aber auch als »Wochenschrift des neuen
Nationalismus« bezeichnet, eine Qualifizierung, die schon auf Jünger
verweist. Ebenfalls herangezogen wurde der Kriegsschriftsteller Franz
Schauwecker, und so ergab sich für die Standarte eine Führungsgruppe, die
aus Franke, Jünger und Schauwecker bestand. Franke übernahm die
organisatorische Leitung und Koordination, Jünger die programmatischen
Leitartikel, Schauwecker den feuilletonistischen Teil. Dank ihrer Bindung an
den Stahlhelm konnte die Standarte gute Honorare zahlen.
Jünger sah in der Mitwirkung an der Standarte den Beginn einer neuen
Lebens- und Wirkungsphase. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst und suchte
gute Mitarbeiter und Berater zu gewinnen, so auch den von ihm damals sehr
geschätzten Oswald Spengler, an den er am 7. August 1925 schrieb:
Nach einer längeren Zeit des rein wissenschaftlichen und
literarischen Studiums halte ich es auch für mich
wünschenswert, schärfer als bisher in das tatsächliche Leben
einzutreten. Das hat mich veranlasst, den nationalen Bünden
näherzutreten, von denen ich mich bis jetzt ferngehalten habe,
indessen sind sie der einzige Faktor, in den der Machtgedanke
augenblicklich hineingetragen werden kann, und was helfen
alle Worte ohne eine feste Basis, ohne
Verwirklichungsmöglichkeiten. Daher habe ich mit
Vergnügen ein Angebot des »Stahlhelm« ergriffen, der mir
wöchentlich eine Seite für eine Aufsatzreihe
programmatischer Natur zur Verfügung stellt. Ich habe das
Thema »Der Frontsoldat und seine Aufgabe« gewählt, ich
denke im ersten Teil diesem bisher fast lediglich empirisch
angewandten Worte einen festen Charakter zu geben und im
zweiten Teil zu einer bewussten Politik aufzurufen.
In dieser Absicht publizierte Jünger vom 31. August bis zum 20. Dezember
1925 neunzehn Artikel, die in erkennbar systematischer Absicht geschrieben
sind und 1926 unter dem Titel Die Grundlagen des Nationalismus auch als
Buch erscheinen sollten (wozu es aber nicht kam). Sie wollten die
Kriegserfahrung der Frontsoldaten für einen »neuen Nationalismus«
fruchtbar machen und stellten diesen neuen und zugleich soldatischen
Nationalismus gegen widerstrebende Tendenzen wie den Pazifismus und den
Internationalismus, aber auch den romantisierenden Traditionalismus. Seine
ideologische Basis war jener »integrale Nationalismus« Barrès’scher
Prägung, der die Nation als Totalität und seinsbestimmende Macht
betrachtete, zudem als die einzige Größe, die in der Lage war, den Prozeß
der modernen Individualisierung oder Atomisierung aufzuhalten und das
Volk als Ganzes für den Kampf ums Dasein oder um einen »Platz an der
Sonne« zu rüsten. Seinen Hauptfeind sah dieser Nationalismus im
Liberalismus, der den nationalen Machtstaat zugunsten der
individualistischen Gesellschaft schwächen wollte. Und dies sind die
weiteren Axiome von Jüngers Frontsoldaten-Nationalismus (die
Seitenzahlen beziehen sich auf die 2001 erschienene Edition der Politischen
Publizistik):
(1.) Die »Novemberrevolution« (289) war nötig, denn das
Kaiserreich hatte abgewirtschaftet und mußte vollends beseitigt
werden. Dies geleistet zu haben, ist das Verdienst der Revolution.
Ihr Defizit liegt darin, daß sie keine zukunftsträchtige Idee
entwickelte und es versäumte, die besten Kämpfer und Führer,
nämlich die Frontsoldaten und speziell die Frontoffiziere für sich
zu gewinnen. So blieb die Revolution ein bloßes
Abbruchunternehmen, das um einen konstruktiven Teil erst noch
ergänzt werden muß. In diesem Sinn sagt Jünger, es müsse »an
einer wirklichen Revolution gearbeitet werden« (63), und
unentwegt ruft er nach einer nationalistischen Revolution, die aus
der Republik einen autoritären und imperialistischen Staat macht.
(2.) Der Krieg wurde nicht verloren, weil die deutschen Soldaten
schlechter gewesen wären als die gegnerischen oder weil die
Heimat der Armee in den Rücken gefallen wäre; die sogenannte
»Dolchstoßlegende« wird von Jünger als verfehlt abgetan (83 und
108). Der Krieg wurde – Jünger zufolge – verloren, weil es an
einer zum Sieg befähigenden Idee fehlte und weil es folglich dem
Kaiserreich auch nicht gelang, seine Ressourcen mit derselben
Intensität wie die Kriegsgegner zu mobilisieren (567f. und 572ff.).
(3.) Der Krieg ist nicht nur als »Untergang einer alten Zeit«,
sondern auch als »Aufgang einer neuen Zeit« zu sehen (85), die
Niederlage als Chance zu einem Neubeginn und einem
Wiederaufstieg der Nation, der – wie in Frankreich nach 1871 –
durch die schmerzlichen und hellsichtig machenden Erfahrungen
der Niederlage inspiriert sein wird. Später wird Jünger noch
pointierend sagen: »Der Untergang ist ebenso bedeutend und
ebenso fruchtbar wie der Sieg« (284).
(4.) Diese Positivierung der Niederlage läßt aber nicht vergessen,
daß der Friede von Versailles nichts anderes war als ein moralisch
drapierter Machtspruch, der die Nationen, die sich ihm zu fügen
hatten, nachhaltig in Not brachte: ihnen den Ertrag ihrer Arbeit
raubte; jeden einzelnen dadurch »auf eine unwürdige
Lebenshaltung herunterdrückte«; ihnen das
Selbstbestimmungsrecht, das proklamiert worden war, in Wahrheit
vorenthielt (63f.).
(5.) Der Träger der notwendigen und zweifellos kommenden
revolutionären Erneuerung der Nation wird der Frontsoldat sein.
Er hat im August 1914 die Bedeutung der Nation entdeckt; er ist
»vom Schicksal in der Gewohnheit des Kampfes erzogen«
worden; er ist bereit und willens, für Ideen kämpferisch
einzutreten. Deswegen glaubt Jünger, sagen zu können: »Es gibt
augenblicklich in Deutschland keinen Stand und keinen
Menschenschlag, der so wie der Frontsoldat für die Erfüllung der
nationalen Aufgabe in Frage käme« (69). Das bedeutet eine
Aufgabe für den Frontsoldaten, begründet aber auch seinen
besonderen Mitwirkungs- oder gar Führungsanspruch, und nicht
zu Unrecht hat man gesagt, Jüngers »neuer Nationalismus« sei
eine Art »männlicher Fundamentalismus« (Bernd Weisbrod).
Immer wieder beschwört Jünger, daß die ungeheuren Probleme der
gegenwärtigen geschichtlichen Lage »nur von Männern gelöst
werden können« (530), wie denn auch »das durchaus Männliche
zu allen Zeiten das eigentlich Bedeutende und Wirkliche ist«
(533).
(6.) Es ist – Jünger zufolge – der Vorzug des national verankerten
Menschen, daß er eine richtungsweisende Tradition im Blut hat,
»eine instinktivere Sicherheit, eine Orientierung von Grund auf,
die dem Blute mitgegeben ist« (128). Diese muß aber gelebt, und
das heißt: weiterentwickelt werden. Dem Kaiserreich
nachzutrauern und auf nostalgische Weise preußische Formen zu
pflegen, ist falsch. Der moderne Staat, der nun die Form einer
Republik hat, muß aus dem Blut heraus ergriffen oder, wenn die
Republik dem Anspruch des Bluts nicht gewachsen ist,
zerschlagen werden (130f.).
(7.) Pazifismus und Internationalismus sind Fehlhaltungen. Der
Pazifismus, der nicht mit »Friedensliebe« zu verwechseln ist,
verkennt, daß das Leben Kampf bedeutet und daß Politik immer
auf den Krieg bezogen ist. Er ist damit einem fatalen Irrtum
verfallen. Der Internationalismus verleugnet und verrät die
Besonderheit einer jeden Nation, die indessen nicht abzustreifen,
sondern – zum Nutzen der Gesamtheit der Nationen – zu pflegen
und vertreten ist. Jüngers Nationalismus will der Vielfalt und der
entwicklungsgeschichtlich wichtigen Konkurrenz wegen die
eigene Besonderheit wahren, ohne die der anderen herabzusetzen,
zu verachten oder gar zu hassen.
(8.) Gegenüber dem bestehenden Staat, der Republik, können die
Nationalisten prinzipiell zwei Verhaltensweisen einnehmen: eine
legalistische, die versucht, das nationalistische Programm mit
verfassungsmäßigen Mitteln zur Geltung zu bringen, und also den
Weg über Wahlen ins Parlament suchen wird; oder aber eine
revolutionäre, die versucht, eine Bewegung zu bilden, die eines
Tages in der Lage ist, den Parlamentarismus zu erdrücken und die
»nationale Diktatur« auszurufen (152). Jünger läßt keinen Zweifel
daran, daß er dem den Vorzug gibt.
(9.) Die Technik oder Maschinenwelt ist ein Produkt des Intellekts
und bedeutet Fortschritt und Belastung zugleich. Die
Technisierung hat dem Leben viel »Glanz« genommen und hat zu
Normierungen aller Art geführt (160); sie hat aber auch einen
»Zaubergarten technischer Gewächse« entstehen lassen (159). In
jedem Fall ist der Prozeß der Technisierung irreversibel, und
daraus folgt, daß der »moderne Nationalismus« versuchen muß,
die Technik »den Fangarmen des Intellekts zu entwinden« und sie
»unter den Willen des Blutes« zu stellen (161). Ebenso muß er
versuchen, die Industriearbeiterschaft, in der Jünger ein
ungeheures Potential sieht, für sich zu gewinnen: »Der
Industriearbeiter ist der erste und stärkste Faktor beim Aufmarsch
des modernen Nationalismus […]« (162; vgl. 227, 267f., 286, 290,
312).
(10.) Jenseits dieser Artikelserie, die mit der letzten Ausgabe der
Standarte am 20./27. Dezember 1925 ihren »Schluß« fand (so der
Titel des letzten Artikels), benannte Jünger mit dem
Eröffnungsartikel für das Jahr 1926 »die vier tragenden
Grundpfeiler des modernen Nationalismus«. Es sind dies »der
nationale, der soziale, der kriegerische und der diktatorische
Gedanke« (179). Diese Vorstellung hat Jünger am 3. Juni 1926 in
einem weiteren Artikel variiert und dann immer wieder
beschworen. Unter dem eben genannten Datum heißt es:
Das Bild des Zukunftstaates hat sich in diesen Jahren geklärt.
Vierfach werden seine Wurzeln sein. Er wird national sein. Er
wird sozial sein. Er wird wehrhaft sein. Er wird autoritativ
gegliedert sein. Das bedeutet einen Staat, der von dem von
Weimar, aber auch von dem alten Kaiserreich durchaus
verschieden ist. Es bedeutet den modernen nationalistischen
Staat. Dies ist der Staat der Zukunft, denn der Nationalismus
ist nicht, wie unsere Schönschreiber, bei denen der Wunsch
Vater des Gedankens ist, meinen, durch den letzten Krieg und
seine Folgeerscheinungen vernichtet, sondern eine
Erscheinung, die erst mit ihm und durch ihn entstanden ist
und von der man vorher gar keine Ahnung hatte. Er ist ein
gänzlich unbürgerliches Gefühl, scharf unterschieden vom
Patriotismus der Vorkriegszeit, beweglich, feurig, und der
vitalen Energie unserer großen Städte verwandt, in denen er –
und dies ist wiederum eine typische Unterscheidung – im
Gegensatz zum konservativen Lebensgefühl in raschem
Anwachsen ist. Er ist nicht reaktionär, sondern revolutionär
von Grund auf. (PP, 218; vgl. auch 226, 251, 287, 500 und
504)
Mit dieser ersten Artikelserie machte sich Jünger zum Chefideologen und
herausragenden Sprecher der »neuen Nationalisten«, und er hatte, da seine
Artikel in der Stahlhelm-Beilage mit einer hohen Auflage erschienen,
möglicherweise eine große Leserschaft; die immer wieder genannte
Auflagenhöhe von 170 000 ist jedoch nur ein Anhaltspunkt, der über die
tatsächliche Rezeption der Beilage noch nicht viel sagt. Und eine ganz
andere Frage ist es, wieviel Zustimmung Jünger mit seiner schroffen
Ablehnung der Republik und mit seinen unentwegten Rufen nach einer
neuen und »wirklichen« Revolution fand. Viele der Stahlhelm-Mitglieder
dürften nach der postinflationären Konsolidierung der wirtschaftlichen und
der politischen Verhältnisse ihren Frieden mit der Republik gemacht haben
und mochten in ihrem Versuch, sich »auf den Boden der Tatsachen zu
stellen« (wie man damals gerne sagte) nicht jede Woche durch
Umsturzparolen gestört und verunsichert werden. Jedenfalls gab es derart
gewichtige Proteste gegen den Radikalismus der Stahlhelm-Beilage, daß die
Bundesleitung des Stahlhelm im Frühjahr 1926 auf Distanz zur Standarte
ging und sie schließlich vom Stahlhelm separierte. Sie wurde zwar weiterhin
vom Stahlhelm-Bund getragen, erschien aber – ab April 1926 – nicht mehr
als Stahlhelm -Beilage mit dem Titel Die Standarte, sondern als
eigenständige Zeit- schrift mit dem Titel Standarte – und mit einer
Auflagenhöhe von nur noch etwa zweitausend Exemplaren, die binnen
weniger Monate auf siebenhundert sank. Dann bereitete der Oberpräsident
von Sachsen der Zeitschrift ein Ende, indem er sie wegen eines – nicht von
Jünger stammenden – Artikels, der die Morde an Erzberger und Rathenau zu
rechtfertigen suchte, für vier Monate verbot. Der Reichskommissar für
Überwachung der öffentlichen Ordnung konstatierte bei dieser Gelegenheit,
daß der Standarte-Kreis »die geistige Elite des deutschen Faschismus« bilde
und daß sich die Zeitschrift zwar durch »die gute Qualität ihrer Beiträge«
auszeichne, aber »politisch keine einheitliche Linie« habe.
Für die Leitung des Stahlhelm-Bundes war das Verbot der Zeitschrift
indessen eine willkommene Gelegenheit, sich die radikalen »neuen
Nationalisten« um Jünger endlich vom Hals zu schaffen. Sie zögerte eine
Wiederaufnahme oder Neugründung so lange hinaus, bis Jünger und Franke
sich veranlaßt sahen, ein anderes Organ zu suchen oder zu schaffen. In der
folgenden Zeit publizierte Jünger seine Artikel nacheinander in mehreren
Zeitschriften, die alle nur sehr kurzlebig waren und auch nur geringe
Auflagenhöhen hatten: Von Ende November 1926 bis Mai 1927 gab er
zusammen mit Franke die in München erscheinende Zeitschrift Arminius
heraus, eine »Kampfschrift für deutsche Nationalisten« (so der Untertitel),
für die »Kapitän« Ehrhardt, der militärische Führer des sogenannten Kapp-
Putsches und Gründer der terroristischen »Organisation Consul«, das Geld
besorgte. Bis September 1927 publizierte Jünger im Arminius
siebenundzwanzig Beiträge. Zur selben Zeit fand er aber auch eine andere
interessante Publikationsmöglichkeit:
Im Herbst 1926 bekam Jünger Kontakt zu Ernst Niekisch, einem
bemerkenswerten politischen Publizisten. Niekisch war 1889 im
schlesischen Trebnitz geboren worden, aber im bayerischen Nördlingen
aufgewachsen. Er war Lehrer in Nördlingen und Augsburg und trat 1917 der
SPD bei. Er engagierte sich in der Novemberrevolution, wurde Vorsitzender
des »Zentralrats der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte« und
im Frühjahr 1919 Mitglied des Kabinetts der Münchener Räterepublik,
wofür er nach deren Zerschlagung zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt
wurde. In der Folgezeit schloß er sich dem nationalen Flügel der SPD an und
entwickelte eine Ideologie, die auf eine Vereinigung von Nationalismus und
Sozialismus, von kapitalistischem Westen und kommunistischem Osten
zielte; sie wird mit einem Begriff, den der sowjetische Politiker Karl Radek
1919 geprägt hat, als »Nationalbolschewismus« bezeichnet, könnte aber
ebenso gut auch »Nationalkommunismus« heißen. Um die Mitte der
zwanziger Jahre lebte Niekisch in Dresden, gründete den Widerstand -Verlag
und gab – ab 1926 – die monatlich erscheinende Zeitschrift Widerstand
heraus, deren Untertitel zunächst »Blätter für sozialistische und
nationalrevolutionäre Politik« lautete, ab 1928 »Zeitschrift für
nationalrevolutionäre Politik«. Friedrich Georg Jünger hat Niekisch in
seinem Erinnerungsbuch Spiegel der Jahre ausführlich porträtiert (34ff. und
183ff.). Er sei vom Typus eines »schwäbischen Bürgermeisters« gewesen,
dabei ein wissenschaftsfixierter Theoretiker und nachdenklicher Marxist,
aber kein Funktionär, zudem ein unermüdlicher Arbeiter und Debattierer.
Ernst Jünger bemerkte 1997 im Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco
Volpi, der Titel von Niekischs Zeitschrift habe sehr gut zur Lage und zu den
Schwierigkeiten jener Zeit gepaßt; galt es doch, Widerstand nach
verschiedenen Seiten hin zu leisten: »Gegen die Weimarer Republik, gegen
das Diktat von Versailles, gegen die Bourgeoisie, gegen die westliche Welt
und ihre ökonomischen und kapitalistischen Imperative« (40). Er hätte
hinzufügen können: auch gegen den Sowjetkommunismus, den Niekisch
bald als ökonomisch unfähig erachtete, und gegen Hitler, den er früh als eine
verhängnisvolle Gestalt betrachtete und öffentlich scharf angriff.
Niekisch hat sich im Oktober 1926 brieflich an Jünger gewandt und ihn
um Mitarbeit gebeten. Zu einem ersten Beitrag kam es im April 1927, und
ihm folgten bis 1933 siebzehn weitere. In einigen von ihnen setzte Jünger
seine programmatische Profilierung des »neuen Nationalismus« fort; in
anderen wandte er sich aber dem literarischen Bereich zu und erschloß sich
damit ein Gebiet, das für seine weitere publizistische Tätigkeit Bedeutung
gewinnen sollte. In verschiedenen Organen besprach Jünger in den nächsten
Jahren Bücher, vor allem einige der ab 1928 erscheinenden Kriegsromane,
aber auch Trotzkis autobiographische Schrift Mein Leben.
Gleichzeitig mit Niekisch lernte Jünger auch Friedrich Hielscher kennen,
eine etwas bizarre, aber doch auch bemerkenswerte Gestalt, die in Jüngers
Schriften unter den Pseudonymen »Bogumil«, »Bogo« und »Bodo«
auftaucht. Hielscher war 1902 in Plauen als Sohn eines Textilkaufmanns
geboren worden. 1919 schloß er sich einem Freikorps an, verließ dieses aber,
weil er sich nicht am Kapp-Putsch beteiligen wollte. Danach studierte er in
Berlin Jura, wurde 1926 mit »summa cum laude« zum Doktor beider Rechte
promoviert und entschloß sich nach einer kurzen Zeit im Staatsdienst, als
freier Publizist zu leben. Sein Denken kreiste um die Idee des Reichs, die bei
ihm die Form einer veritablen Reichstheologie annahm, ja, wie er selber
sagte, einer »Reichstheodizee«, also einer Erhebung des deutschen Reichs,
in dem sich höchstes »Seelentum« und größter »Machtwille« verbünden
sollten zu einer heilsgeschichtlichen Instanz, zum Reich Gottes auf Erden. In
Hermann dem Cherusker, in Eckehart, Luther, Friedrich dem Großen,
Goethe, Bismarck und vor allem Nietzsche hatte dieses Reich – Hielscher
zufolge – seine Propheten. In ihrem Sinn mußte die Depravation des Reichs
durch die westlichen Ideen des Liberalismus und Kapitalismus überwunden
und das Reich als sozialistische Hierokratie wiederhergestellt werden. Es
sollte – so Hielscher in seinem 1931 publizierten Buch Das Reich – »Staat
und Kirche« in einem sein, von einem Priester-Herrscher »uneingeschränkt«
regiert werden, das »Obereigentum« an allen Gütern haben und in seinem
gesellschaftlichen Leben den »Herzschlag des Ewigen« spüren lassen.
Selbstverständlich war Hielscher ein Verächter der Weimarer Republik; er
wollte sie aber nicht mit Gewalt zerstören, sondern ihr notwendiges Ende
geduldig abwarten. Der militante Aktivismus der Nationalsozialisten, die
Hielscher für völlig ungeistig hielt, war ihm ein Greuel, und er hat mit dafür
gesorgt, daß Jünger 1927 auf deutliche Distanz zum Nationalsozialismus
ging. »Greifen Sie an, wie Sie wollen«, schrieb er am 29. April 1927 an den
auf Umsturz drängenden Jünger, »aber nicht über die Nationalsozialisten!!!
Ich bitte Sie dringend darum. Denn die sind noch dümmer als Ehrhardt und
[sein Mitstreiter] Friedmann, und das will was heißen.«
Trotz seiner Skurrilität war Hielscher für Jünger ein anregender
Korrespondenz- und Gesprächspartner. So lange Jünger in Leipzig lebte,
versorgte Hielscher ihn mit Informationen über die Konstellationen unter
den Berliner Nationalisten. Als Jünger dann nach Berlin gezogen war, kam
es zu vielen Begegnungen und, wie Gretha Jünger berichtet, zu nächtelangen
und heftigen Debatten. Hielschers pantheistische Religiosität zog Jünger an,
ebenso seine Reichstheologie, von der sich in Jüngers nationalistischen
Schriften einige Spuren finden (vgl. PP, 538f., 556f. und 615). Am 23.
November 1929 schlug Jünger Hielscher brieflich vor, die »allgemeine
Arbeitsgemeinschaft«, die sich zwischen ihnen herausgebildet hatte, in Form
eines Briefwechsels über den »modernen Nationalismus« fortzuführen,
insbesondere aber über die Frage, »welche Möglichkeiten heute schon
gegeben sind, dem deutschen Willen einen dogmatischen Ausdruck zu
verleihen«. Hielscher antwortete fünf Tage später mit einem Brief, der
solchermaßen religiös und bekenntnishaft wirkte, daß Jünger in einige
Verlegenheit geriet und erst nach mehr als zwei Wochen zu einer etwas
abwiegelnden Antwort fand. Es folgte noch ein Antwortschreiben von
Hielscher, dann war der Briefwechsel über den »modernen Nationalismus«
beendet. Auch in seiner nationalistischen Zeit war Jünger viel zu stark auf
die Moderne fixiert, als daß er an Hielschers überholten
Gesellschaftsvorstellungen dauerhaft hätte Gefallen finden können. Die
»allgemeine Arbeitsgemeinschaft« blieb allerdings bestehen und führte zu
einigen publizistischen Kooperationen. Auch der sozusagen »allgemeine«
Briefwechsel hielt an; in der umsichtig kommentierten Edition von Ina
Schmidt und Stefan Breuer bietet er vielerlei Einblicke in das sektiererische
Treiben in der Sphäre der nationalistischen Bünde und Cliquen. Zudem
repräsentiert er eine Quelle für Jüngers gelegentlich hierophantisch
werdenden Stil, den auch seine Anhänger nicht immer verstehen konnten.
Ernst von Salomon, der wegen seiner Beihilfe zur Ermordung Walther
Rathenaus 1922 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war und sich
nach seiner Entlasssung dem Kreis um Jünger angeschlossen hatte, schreibt
in seiner Autobiographie Der Fragebogen (1951) mit Blick auf Jüngers
Artikel: »Zweifellos war es Ernst Jünger, welcher der Zeitschrift [dem
Vormarsch] Rang und Ansehen verschaffte, durch Artikel, die so geistvoll
waren und so gläsern klar in der Diktion, daß sie unsere Leser mit
bedeutendem Respekt aus der Hand legten, mit Bewunderung und dem
Gefühl, es genüge vollauf, wenn Jünger selbst sicher war, sie zu verstehen.«
Durch seine Herausgeberrolle und seine Beiträge im Arminius war Jünger
erneut für die Nationalsozialisten interessant geworden. Im April und Mai
1927 kam es zu einem kurzen Briefwechsel zwischen Jünger und Goebbels,
von dem allerdings nur ein Brief von Goebbels erhalten zu sein scheint.
Jünger hatte Goebbels wohl über seine Streitigkeiten mit Franke unterrichtet,
und Goebbels antwortete am 10. Mai mit einem Schreiben, in dem er auf
Distanz zu Franke ging und Jünger zugleich wissen ließ, daß »Herr Hitler«
»den dringenden Wunsch geäußert« habe, Jünger »einmal persönlich kennen
zu lernen«. Zu einer Begegnung kam es allerdings auch diesmal nicht,
obwohl Goebbels bemerkte, daß sich »demnächst eine Gelegenheit« zu
einem Treffen mit Hitler ergeben könne.
Vorausgegangen war diesem kleinen Briefwechsel eine erste persönliche
Begegnung, die allerdings beiderseits als enttäuschend empfunden worden
war und das Verhältnis zwischen Jünger und Goebbels dauerhaft belastete:
Auf Drängen von Franke war Jünger am 16. Februar 1927 mit nach Spandau
zu jener Veranstaltung gefahren, die in einer Saalschlacht endete, aber für
den von Hitler neu ernannten Berliner Gauleiter Goebbels einen ersten
großen Triumph bedeutete. Jünger, der in seinen Tagebüchern unter dem
Datum des 7. Mai 1945 über diese Veranstaltung berichtet, war »auf einen
Ehrenplatz« gesetzt worden, hatte aber, weil ihm die Rede des Gauleiters
zuwider war, die Veranstaltung verlassen, bevor die Saalschlacht begann.
Am folgenden Tag kam es in Frankes Berliner Wohnung zu einem erneuten
Treffen mit Goebbels und zu einer Aussprache. Darüber schreibt Jünger:
»Ich dachte nun in Frankes Wohnung, daß der Doktor die Mysterien
enthüllen werde; er brachte aber dieselben Gemeinplätze noch einmal vor«
(3, 428). Aber Goebbels war ebenso enttäuscht und notierte am 17. Februar
1927 in sein Tagebuch: »Abends heraus zu Hellmuth [richtig: Helmut]
Franke. Auseinandersetzung mit ihm und Ernst Jünger. Ich bin maßlos
enttäuscht. Das ist der pour lé merite Jünger. Knochenerweichung. Mangel
an Zivilkourage.« Diese Meinung hat Goebbels nie wieder geändert.
Bis April/Mai 1927 war Jünger Mitherausgeber des Arminius. Dann kam
es – weil Jünger nicht darüber informiert worden war, daß das Blatt von
»Kapitän« Ehrhardt finanziert wurde, dessen Legalitätskurs er nicht
gutheißen mochte – zu einem Zerwürfnis, und Jünger legte seine
Herausgebertätigkeit nieder. Zusammen mit Hielscher engagierte er sich nun
in der neu gegründeten Monatsschrift Der Vormarsch, die zwar auch von
»Kapitän« Ehrhardt finanziert wurde, aber nicht mehr auf den Legalitätskurs
verpflichtet werden sollte. Der Vormarsch sollte ein Blatt »für die
nationalistische Jugend« sein und schien für Jünger doppelt interessant zu
sein: Er konnte hier seine nationalistische Publizistik fortsetzen, und er
durfte hoffen, daß er nun speziell die »Jugend« als den vermeintlich
progressiven Teil der Bevölkerung erreichen würde. Aber einige
Berührungen mit dieser »Jugend« führten zu einer Enttäuschung, die so groß
und ärgerlich war, daß sich Jünger am 28. Januar 1928 in einem Brief an den
nationalsozialistisch orientierten Journalisten Ludwig Alwens, einen
Vertreter der Jugendbewegung, auf eine überraschend derbe Weise Luft
machte:
Offen gestanden ist mir dieses ganze ethische Geseich, diese
weichgebackene Problematik, dieses katzenjämmerliche
Sich-Unverstanden-Fühlen, diese Pubertäts-
Mondscheinschwärmerei und diese in das Gemüt verpflanzte
Keimdrüsenkultur zum Kotzen. Allen diesen Leuten müßte
einmal ein Schwärmer in den Arsch gesteckt und abgebrannt
werden, damit sie springen lernen und schreien, wie ihnen der
Schnabel gewachsen ist. Alle diese Leute sind ja prächtige
Kerle, wenn man ihnen die Stelzen unter den Beinen
wegschlägt und ihnen beibringt, daß ein gesunder Fick etwas
viel Anständigeres und Natürlicheres ist als diese
amerikanische Kameradschaftlichkeit mit nordischem Nackt-
Kultur-Ethos vermischt, das die Epidermis zu Leder gerbt.
Dies ist eine Gesellschaft, die aus ihren weltanschaulichen
und sexuellen Unzulänglichkeiten einen Moralkodex
zusammenschustern möchte, und diesen kritiklosen
Ansprüchen und tollen Überheblichkeiten muß einmal
gründlich der Riegel vorgeschoben werden, indem man
diesen Eichendorffschen Taugenichtsen in der dritten
Verwässerung zeigt, wie etwa wirkliche Taugenichtse und
Zugvögel aussehen und wie sich schäumender Most zu
gebärden pflegt.
Im Vormarsch, dessen Mitherausgeber er für sechs Monate bis März 1928
war, publizierte Jünger zwölf Artikel. Dann widmete er sich der
Niederschrift des Abenteuerlichen Herzens und – nicht zuletzt auch aus
wirtschaftlichen Gründen – der Herausgabe einiger Sammelbände über den
Krieg. Für politische und literarische Artikel standen ihm neben Niekischs
Widerstand mehr und mehr auch andere Zeitschriften zur Verfügung, die
sich um Artikel von Jünger bemühten, so etwa die evangelische
Kulturzeitschrift Eckart oder das linksliberale Berliner Tagebuch, dessen
Herausgeber im Spätsommer 1929 von Jünger einen klärenden Artikel über
den »neuen Nationalismus« erbat. Schließlich war er von Januar 1930 bis
Oktober 1931 noch einmal Mitherausgeber der kleinen Zeitschrift Die
Kommenden, einer »überbündischen Wochenschrift der deutschen Jugend«,
in der einige seiner Artikel im Nachdruck erschienen. Resümierend ist
festzustellen, daß Jünger publizistisch bis 1930 durchaus aktiv blieb und in
einem breiter werdenden Spektrum von Zeitschriften schreiben konnte, seit
der Separierung der Standarte vom Stahlhelm aber keine nationalistisch
orientierte Zeitschrift mehr zur Verfügung hatte, die eine bemerkenswerte
Auflagenhöhe, eine längere Kontinuität und ein verbandsmäßig organisiertes
Publikum von nennenswerter Größe gehabt hätte. Darin spiegeln sich
Jüngers Unwille und Unfähigkeit zur Verbandsarbeit, und zugleich zeigt sich
daran die typologische Eigenart von Jüngers politischer Publizistik: Mit ihrer
Fixierung auf die ebenso kompromißlose wie narzißtische Darstellung der
eigenen Position und mit ihrem Desinteresse an organisatorischen Fragen
und praktischer Politik war sie mit Verbandsarbeit nicht zu vereinbaren. Sie
ist die Verlautbarung nicht eines auf Effektivität achtenden Politikers,
sondern eines avantgardistischen Intellektuellen, der zwar einen
Führungsanspruch erhebt, sich aber durch praktische Widrigkeiten und
Mangel an Gefolgschaft nicht im geringsten beirren läßt.
Die Trennung vom Stahlhelm hatte für Jüngers Publizistik zweierlei
Folgen: Einerseits verlor die Entfaltung der Programmatik des »neuen
Nationalismus« den Schwung und die systematische Bündigkeit, die sie
während der Phase der ersten Standarte hatte. Andererseits konnte Jünger,
da er nun von der Rücksichtnahme auf einen großen Mitgliederverband
befreit war, seine teilweise sehr radikalen Positionen noch schroffer
ausformulieren. So kam es – in einer laufenden Auseinandersetzung mit
rivalisierenden Konzepten – zu einer Reihe von Präzisierungen und
Akzentuierungen. Zu nennen sind vor allem die folgenden:
(1.) Jünger besteht im Sinne eines kulturhistorischen Relativismus
darauf, daß »Wahrheit, Recht und Moral durch Zeit, Raum und
Blut« bedingt sind (280). Nationale Besonderheiten haben
deswegen für die betreffende Nation ein unabweisbares Recht und
sind auf dem »Schlachtfeld der Rechte« (283) kämpferisch zu
vertreten. Da dies selbstverständlich für alle Völker gilt, ist
Nationalismus ein universales Prinzip. Dies führt zu Rivalitäten
und »Feindschaften« unter den Völkern, doch sind diese »als
sinnvolle Äußerungen eines organischen Lebens« zu betrachten
und als »fruchtbar« zu bewerten (263). Nationalist sein heißt, die
»besondere Notwendigkeit« des jeweiligen Volks zu erkennen, als
obersten Wert zu setzen und mit allen in Frage kommenden
Mitteln zu vertreten (187).
(2.) Quintessenz und Inbegriff der nationalen Besonderheit ist das
»Blut« als Träger der »geheimnisvollen Energien eines
spezifischen Lebens« (233). »Blut« ist für Jünger aber – wie für
seinen französischen Anreger Barrès – »nicht ein vorwiegend
biologischer, sondern ein vorwiegend metaphysischer Begriff«
(233). Ebenso ist auch »Rasse« für Jünger »weniger ein stofflicher
als ein Bewegungsbegriff« (371). Anders gesagt: »Blut« und
»Rasse« stehen bei Jünger nicht für biologische Gegebenheiten,
sondern für kulturelle und ethische Qualitäten oder Ränge. Dem
entspricht, daß Jünger alle Versuche, »Blut« und »Rasse« mit
naturwissenschaftlichen Methoden ergründen zu wollen, und
ebenso alle Versuche, mit züchterischen Methoden eine
Optimierung von »Blut« oder »Rasse« erreichen zu wollen, für
verfehlt und lächerlich hält (193, 208 und 233). Im übrigen wirken
»Blut« und »Rasse« – Jünger zufolge – nicht abgrenzend, sondern
verbindend, insofern sie die Menschen befähigen, Lebenskraft und
Größe über zeitliche, nationale, soziale und ideologische Grenzen
hinweg zu erkennen, bei den Römern wie bei den Karthagern, bei
den Wortführern der französischen Revolution wie bei Napoleon
(195).
(3.) Dem entspricht, daß die »Judenfrage« und die völkische
Fixierung auf Antisemitismus für Jünger »keine Fragestellung[en]
wesentlicher Art« sind (295 und 504). Von sich aus hatte Jünger
für dieses brisante Thema auf über fünfhundert Seiten nur einige
abwiegelnde Sätze übrig. Dann allerdings wurde er eigens befragt
und kam zu Ausführungen, die prekär sind und einer eigenen
Erörterung bedürfen.
(4.) Der Hauptgegner des »neuen Nationalismus« ist für Jünger die
bürgerliche »Ordnung« einschließlich des parlamentarischen
Systems (410 und 506). Diese »Ordnung« gilt es zu zerstören. Im
September 1929 bekennt Jünger, daß er den Verfall der
bürgerlichen »Ordnung« unter dem Andrang des »Elementaren«
mit Freude beobachte: »Weil wir die echten, wahren und
unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine
Verwesung Spaß« (507). Liberalismus, Parlamentarismus und
Demokratie bedeuten für Jünger »Herrschaft der Zahl«, die den
Deutschen fremd sei, und Orientierung an ausländischen
Prinzipien (534). Thomas Manns Betrachtungen und die
Zurückweisung der »Ideen von 1789« durch die deutsche
Kriegsphilosophie wirken in diesen Vorstellungen nach.
(5.) Was die Wirtschaft angeht, so postuliert Jünger »eine straffe
Unterordnung unter den Staat«, hoffend, daß dadurch »die
wirtschaftliche Sicherheit des einzelnen wie der Gesamtheit«
erhöht wird (287).
(6.) Im Hinblick auf die Mittel, mit deren Hilfe die »wirkliche«
Revolution nachgeholt, die kraftlose bürgerlich-parlamentarische
Republik vollends zerschlagen und die »nationale Diktatur«
errichtet werden sollte, war Jünger entschieden der Meinung, daß
der um 1925/26 vieldiskutierte Aspekt der »Legalität« keinerlei
Bedeutung haben durfte. Von den sogenannten »legalen Mitteln«,
also von der Beteiligung an Wahlen und an der parlamentarischen
Arbeit, so befand Jünger im Juli 1926, sei »wenig zu befürchten«;
es seien »die Mittel von Durchschnittsköpfen und eines
Durchschnittswillens und daher zum Scheitern bestimmt«. Statt
dessen plädierte er, in einer »außergewöhnlichen Zeit« sich
sehend, für »außergewöhnliche Methoden« und fügte hinzu, daß
»gewonnene Revolutionen selbstverständlich legal« seien (228).
Der Parole »Hinein in den Staat!«, die der Stahlhelm-
Bundesvorstand am 3. Oktober 1926 als neue Richtlinie für das
politische Verhalten der Ortsgruppen und Landesverbände ausgab,
widersprach Jünger hartnäckig (250ff. und 264ff.). Die Beteiligung
an den Wahlen und an der Parlamentsarbeit war für Jünger ein
Irrweg, der nur dazu führen konnte, daß der »neue Nationalismus«
den Charakter einer lebendigen »Bewegung« verlor und in
Organisationen erstarrte.
(7.) Die Legalitätsfrage war von entscheidender Bedeutung für
Jüngers Verhältnis zu anderen radikal sich gebenden
Gruppierungen, zum Stahlhelm wie zu den Kommunisten und den
Nationalsozialisten. Vom Stahlhelm distanzierte er sich im Herbst
1926, von der NSDAP im Herbst 1929, als Hitler, um seinen
»Legalitätskurs« zu bekräftigen, der terroristischen holsteinischen
»Landvolkbewegung« seine Unterstützung entzog (508f.) und als
die NSDAP zur Beteiligung an einem Volksbegehren aufrief. Vor
allem damit verletzte die NSDAP die von Jünger geforderte
»Reinheit der Mittel« und erwies sich – in seinen Augen – als Teil
des bürgerlichen Systems (514). Mit Blick darauf hat man zu
Recht gesagt, daß die NSDAP für Jünger nicht radikal genug war;
man muß freilich hinzufügen: nicht radikal genug in der
Weigerung, sich am parlamentarischen System zu beteiligen. Und
im übrigen war ihm nicht nur Hitlers »Legalitätskurs« zuwider,
sondern auch dessen Verlogenheit. Die Kommunisten hat Jünger
wegen ihrer antibürgerlichen Radikalität und wegen ihres
»kriegerischen Willens zur Macht« (531) immer mit einiger
Sympathie betrachtet. Daß sie sich gegenüber der
»Landvolkbewegung« legalistisch zeigten, enttäuschte ihn. Zudem
störte ihn der deklamatorische Internationalismus; um 1929 galt
für Jünger, daß mit keiner »Macht« Frieden zu machen war, »die
sich der Nation versagt« (531). Im übrigen wollte er in einer Zeit,
»in der man es liebt[e], durch die faschistische oder die
bolschewistische Brille zu sehen« (493), eine eigenständige
Position finden.
(8.) Der »neue Nationalismus« war eine »Bewegung« in
Erwartung eines charismatischen Führers von gewaltiger Energie
und modernem Gepräge (65). Hitler ließ – Jünger zufolge – wie
Mussolini eine »Vorahnung« einer solchen Führerschaft aufsteigen
(77); »er sagte, was er wollte«, auf eine Weise, die verstanden
wurde und ihm in kurzer Zeit eine große Anhängerschaft vor allem
auch unter den Arbeitern einbrachte (148). Mit seinem
»Legalitätskurs« verlor er allerdings Jüngers Sympathie und wurde
zum »Herr[n] Hitler«, der für die Ergreifung der holsteinischen
Bombenleger eine Belohnung aussetzte, oder, wie Jünger am 18.
September 1929 an Ludwig Alwens schrieb, zum »Spießbürger«.
(9.) Mit den Jahren entwickelte Jünger eine klare Vorstellung vom
Verlauf geschichtlicher Transformationsprozesse. In einem seiner
letzten Artikel, der im Mai 1933 unter dem Titel Untergang oder
neue Ordnung? erschien, nannte er drei »Vorbedingungen« für die
»Verwirklichung einer neuen Ordnung«: »Es muß erstens ein
neues Prinzip oder eine neue Gesetzmäßigkeit vorhanden sein, die
die innere Einheit der werdenden Ordnung garantiert und ihr die
Maßstäbe schafft. Es muß zweitens ein neuer Mensch zu erkennen
sein, der dieses Prinzip zur Durchführung bringt und es zum
herrschenden erhebt. Drittens müssen sich neue und überlegene
Formen andeuten, in denen die Tätigkeit dieses Menschenschlages
zum Ausdruck kommt« (644f.). Auf allen drei Ebenen,
insbesondere aber auf der ersten und der dritten, hat die Literatur
mitzuwirken; sie hat, wie am Beispiel der Französischen und der
Russischen Revolution zu erkennen ist (122), die leitenden
Projektionen zu entwickeln und faszinierend zu machen.
Notwendigerweise äußert sich deswegen auch der »neue
Nationalismus« zunächst einmal stark literarisch (317), ohne daß
der Vorwurf, die »Frontsoldaten« seien nur noch »Frontliteraten«,
rechtens wäre: Es gibt Zeiten, die verlangen, daß man sich »der
Feder« bedient (273). Im übrigen plädiert Jünger – wie schon im
Wäldchen 125 – dafür, den Film als »Machtmittel« zu begreifen
und für die »planmäßige nationale Arbeit am Volke« einzusetzen
(358).
(10.) Von der national sich gebärdenden deutschen Literatur der
Gegenwart, also von der sogenannten »Heimatliteratur« und dem
historischen Roman, ist – Jünger zufolge – in dieser Hinsicht nicht
viel zu erwarten; sie ist gerade nicht Ausdruck jener blutvollen
Vitalität und Gefährlichkeit, die der »neue Nationalismus« für sich
beansprucht und die in den Großstädten eher als auf dem Land zu
finden ist (234), sondern einer deprimierenden »Unbeholfenheit
und provinziellen Schwerfälligkeit« (413). Erst 1929, mit Arnolt
Bronnens Roman O.S., der den Kampf deutscher
»Selbstschutzverbände« gegen widerrechtliche polnische
Annexionsbestrebungen in Oberschlesien im Jahr 1921 schildert,
lag – Jünger zufolge – ein Buch vor, das den Geist des »neuen
Nationalismus« atmete und zugleich »den Anspruch auf
Zugehörigkeit zur »modernen Literatur«« erheben durfte (484; vgl.
auch 509ff.). In der Tat wurde O.S. nicht nur von Jünger als
Beispiel der avancierten neusachlich-dokumentarischen
Schreibweise betrachtet, wie man sie seit der Mitte der zwanziger
Jahre verlangte und schätzte.

Reaktionen von links

Von den Artikeln der Jahre um 1929 hatte besonders Jüngers Beitrag für das
linksliberale Berliner Tagebuch große Resonanz. Dessen Herausgeber
Leopold Schwarzschild hatte Jünger im Sommer 1929 gebeten, den Lesern
des Tagebuchs die Position seines Kreises zu beschreiben. Jüngers Aufsatz,
der acht Druckseiten umfaßt, erschien am 21. September mit einer
bemerkenswerten redaktionellen Einleitung:
Manchen unserer Leser wird nicht einmal der Name Ernst
Jüngers bekannt sein, des unbestrittenen geistigen Führers
jenes »jungen Nationalismus«, von dem seit den
Höllenmaschinen-Attentaten und dem Sichtbarwerden der
»Landvolk«-Bewegung die Zeitungen voll sind. Noch viel
weniger wissen die meisten von der Ideenwelt dieses Kreises,
für den sogar Hugenberg, Hitler und die Kommunisten
reaktionäre Spießbürger sind. Daß wir heftigste Gegner dieser
Ideen sind, brauchen wir nicht zu versichern. Aber ebenso
brauchen wir nicht zu erklären, weshalb wir für notwendig
hielten, daß die Leser des TB einmal Authentisches darüber
hören. Wir haben Jünger aufgefordert, selbst darüber zu
reden, und er ist der Aufforderung nachgekommen. Was er im
folgenden ausführt zeugt wiederum für die ungewöhnliche
literarische Begabung dieses Autors. Aber je glanzvoller es
geschrieben ist, um so erschütternder wirkt das Jüngersche
Programm politisch. Eine Auseinandersetzung mit dem
Phänomen dieses Weltbildes ist notwendig: wir lassen sie in
der nächsten Woche folgen. (PP, 788f.)
Im anschließenden Artikel »Nationalismus« und Nationalismus (man könnte
auch sagen: alter und neuer Nationalismus) beschreibt Jünger seine
inzwischen bekannte Position mit aktueller Akzentuierung (PP, 501ff.):
Nationalismus ist unbedingter Wille zum Einsatz für die Nation, die als
zentraler Wert erkannt ist und gefühlt wird. Er strebt den »nationalen,
sozialen, wehrhaften und autoritativ gegliederten Staat aller Deutschen an«.
Er braucht kein Dogma. Antisemitismus ist für ihn »keine Fragestellung
wesentlicher Art«. Der Hauptgegner ist die bürgerliche Ordnung, die zerstört
werden muß. Das Proletariat muß von einer wirtschaftlichen zu einer
heroischen Größe werden. Die Revolution muß nachgeholt werden.
Kommunisten und Hitler haben sich als Teile des bürgerlichen Systems
entlarvt. – Dank des Publikationsorts und einer Stellungnahme des
Herausgebers, die eine Woche später erschien, fand Jünger mit diesen
Ausführungen eine breite Resonanz. In den folgenden Wochen wurde der
Tagebuch-Artikel von mehreren Zeitschriften nachgedruckt und erörtert (vgl.
PP, 788f. und 802).
Schwarzschilds Auseinandersetzung mit Jüngers Artikel erschien am 28.
September 1929 unter dem Titel Heroismus aus Langeweile im Tagebuch.
Schwarzschild geht respektvoll mit Jünger um, unterscheidet dessen
aristokratisch-heroischen Nationalismus vom »plebejischen Gassendreck des
Hitler-Nationalismus« und führt ihn auf Jüngers Kriegs- oder genauer:
Führererlebnis zurück. Wäre Jünger, so Schwarzschild, im Krieg nicht in
»Führerstellung« gehoben worden und hätte er in dieser Position nicht die
Chance gehabt, sich heroisch zu beweisen und dafür Anerkennung zu finden,
so wäre er nicht zu einem Lebensrezept gekommen, das derart stark auf die
Persönlichkeit setzt – und allerdings auch in Kauf nimmt, daß für die
»Steigerung Weniger mit der Erniedrigung Vieler bezahlt wird«. Mit der
Aufdeckung dieser Quelle von Jüngers Führer-Nationalismus ist auch gleich
der wichtigste Punkt der Kritik benannt: Der Jüngersche Nationalismus
würde zur »Erniedrigung Vieler« führen. Dem fügt Schwarzschild weitere
kritische Einlassungen hinzu: Jüngers Begründung dafür, daß Nation und
Nationalismus Werte darstellten, über die nicht mehr diskutiert werden
müsse, sei wenig überzeugend; sein Revolutionspostulat entbehre einer
Perspektive für die Zeit danach; in seinem Haß auf das Bürgertum artikuliere
sich eine törichte Angst vor der angeblichen Langeweile des bürgerlichen
Lebens, eine Angst, die verkenne, daß jedes Leben, selbst ein heroisches und
abenteuerliches, »irgendeine Art von Ordnung, irgendeine Art von
Wohlanständigkeit, irgendeine Art von Bürgerlichkeit« brauche.
Jüngers Artikel im Tagebuch und Schwarzschilds Stellungnahme führten
in nationalistischen Kreisen zu einer Debatte, die sich auch in
Zeitungsartikeln niederschlug. Diese wurden am 27. Dezember 1929 in der
Zeitschrift Die Kommenden, deren Mitherausgeber Jünger im Januar 1930
wurde, unter dem Titel Streit um Ernst Jünger dokumentiert (a.a.O., 613 –
618). Die Meinungen gingen auseinander. Einige Verfasser stimmten Jünger
zu und verteidigten ihn gegen Schwarzschilds Kritik: Angesichts des
Zustands der Republik müsse man revolutionär sein und auf die Zerstörung
dieser Staatsform hinarbeiten. Daß Jünger »keine konkreten Angaben über
die Struktur des kommenden Reiches« gemacht habe, zeuge von Klugheit,
weil Programme rasch veralten und die Form postrevolutionärer Staaten
nicht durch Programme bestimmt werde, sondern durch »Männer«, die
Geschichte machen. Wenn Jünger das Bürgertum verwerfe, so sei dies völlig
berechtigt: »Der Weg des deutschen Bürgertums hat in die Knechtschaft
geführt, und er endet in der Sklaverei« (617). Neben solcher Zustimmung
gab es aber auch Kritik. In einem Beitrag aus dem Wandervogel wurde
insbesondere Jüngers Verachtung von Organisationen und Formen kritisiert:
Es sei nicht zu erkennen, wie Jünger seine politischen Vorstellungen ohne
entsprechende Organisationen verwirklichen wolle, und es reiche nicht aus,
auf Chaos hinzuarbeiten; vielmehr müsse die neue »deutsche Ordnung«
schon frühzeitig bedacht werden (615). Schroffe Kritik kam von den
Nationalsozialisten, die sich durch Jüngers Tagebuch-Artikel mehrfach
angegriffen fühlten. Am 15. Oktober 1929 brachten die
Nationalsozialistischen Briefe einen Artikel, der sich unter der Überschrift
Nachtwächter Leopold primär gegen Schwarzschild wandte: Seine Kritik an
Jünger, die dessen Nationalismus auf die »Führerstellung« im Krieg
zurückführte, sei eine letzte Äußerung der längst überholten »Milieutheorie«
des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, die mit ihrem primitiven
Kausalitätsdenken menschliche Schicksale und Leistungen auf lächerliche
Weise verfehle. Zugleich wurde aber Jünger dafür kritisiert, daß er überhaupt
im Tagebuch geschrieben hatte: »Es ist schade um Jünger, daß er vor diese
Nachtwächter trat« (614). Dies wurde knapp zwei Wochen später, am 27.
Oktober, in dem von Goebbels herausgegebenen Berliner Angriff wiederholt,
allerdings in sehr viel schärferer Form:
Ernst Jünger, der einmal gute Kriegsbücher geschrieben hat,
ließ sich durch seinen Literatenehrgeiz verleiten, in dem
jüdisch-kapitalistischen »Tagebuch« des landesverräterischen
Schmierfinken Stephan Großmann [dem Begründer des
Tagebuchs] einen Artikel über »Nationalismus« zu schreiben
und dabei die nationalsozialistische Bewegung anzupöbeln,
wohl um sich in seiner neuen, koscheren Umgebung beliebt
zu machen. Das ist nicht anders, als wenn ein Deutscher etwa
in einer französischen Zeitung über rein deutsche Belange
schreibt und seine deutschen Volksgenossen dabei
beschimpft.
Dem folgen jene Sätze aus Jüngers Tagebuch-Artikel, die erklären, daß der
Antisemitismus für den »neuen Nationalismus« »keine Fragestellung
wesentlicher Art« sei und daß sich der Nationalsozialismus durch seinen
Legalitätskurs als Teil der bürgerlichen Ordnung erwiesen habe. Der Schluß
lautet:
Wir enthalten uns eines Kommentars, wenn uns ein solcher
auch sehr leichtfallen würde. Wir debattieren nicht mit
Renegaten, die uns in Schmutzblättern jüdischer
Landesverräter anpöbeln. Herr Jünger aber ist damit für uns
erledigt. (614)
Jünger hat auf die Kritik seitens der NSDAP zweimal reagiert. In einem
Artikel, der im Oktober-Heft von Niekischs Widerstand erschien, bemerkte
er, es sei im Sinne einer Klärung der anstehenden Fragen nur erfreulich,
wenn man Kritik zu hören bekomme, fügte dem aber hinzu, daß die
»nationalsozialistische Partei« für ihn »nicht nur eine kritische, sondern auch
eine kritisierbare Körperschaft« darstelle, und monierte dann im Ton
»kameradschaftlicher Sorge«, daß die NSDAP im Zuge ihres
Legalitätskurses »Bindungen« eingehe, die »zur Förderung des Zukünftigen
ungeeignet« seien; dies zwinge dazu, an der Unterscheidung zwischen dem
radikal anti-bürgerlichen und anti-republikanischen Nationalismus und dem
weniger radikal wirkenden Nationalsozialismus festzuhalten (PP, 514ff.). In
einem weiteren, als Schlußwort deklarierten Artikel, der im Januar 1930
ebenfalls im Widerstand erschien, ging er etwas ausführlicher auf die
Antisemitismus-Frage ein (was später noch zur Sprache kommen wird) und
verteidigte im übrigen sowohl die Publikation seines Nationalismus-Artikels
im Tagebuch als auch seine kompromißlose und einzelgängerische Haltung:
Er habe es immer für wichtiger gehalten, »Menschen zu suchen als Vereine
aufzuziehen« (PP, 541).
Der Tagebuch-Artikel zeigt, daß Jünger 1929 auch für die liberale und
linke Intelligenz interessant geworden war. Ein besonders bemerkenswertes
und beeindruckendes Dokument dieses Interesses stammt von dem 1906
geborenen Klaus Mann, dem ältesten Sohn von Thomas und Katia Mann,
der sich bereits einen Namen als Essayist gemacht hatte. Im Frühjahr 1930
hielt Klaus Mann in Wien vor der »Paneuropäischen Jugendsektion« einen
Vortrag, in dem er auch auf Jünger einging; der Text erschien 1931 unter der
Überschrift Die Jugend und Paneuropa, das Jünger-Kapitel später auch
separiert unter der Überschrift Ernst Jünger. Der Tenor von Manns
Ausführungen über Jünger wird aus den folgenden Sätzen ersichtlich:
Er verlockt zunächst mit seinem pathetisch blutrünstigen
Todhaß gegen die Zivilisation und mit seiner finsteren
Schwärmerei für den »heroischen Kern des Lebens«, für das
tragische Weltbild, die Läuterung des Menschengeschlechtes
durch das Blutbad. Die Jugend hängt an seinen Lippen, wenn
er seine düsteren Reden führt. Er ist der Rittersmann im
schwarzen Stahle, mit dem »abenteuerlichen Herzen«,
gereckt in »prächtiger Unbarmherzigkeit«. […] Er ist der
feindliche Typ unter den Jungen, den zu befehden sich’s
lohnt. Sein Denken ist von starker Intensität und von einer
gewissen mißleiteten Reinheit. […] Mit dem öffentlichen
Unfug der Rechtsradikalen hat er nichts gemein; über
Hugenberg fallen verächtliche Anmerkungen. »Man kann
sich heute nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen«,
behauptet er, einsamkeitssüchtig und stolz.
Die angeführten Komponenten von Jüngers Denken werden dann noch
etwas genauer dargestellt und in einem etwas süffisanten Ton als ebenso
verschroben wie verblendet abgetan. Dies gilt insbesondere auch für Jüngers
tragisch-pessimistisches Weltbild und seinen Nationalismus:
Der Barde der »Materialschlacht« stellt jeden als
rationalistisch-bürgerlichen Flachkopf, als optimistisch-
zivilisatorischen Vernunftfatzken hin, der bei seinen
schauerlichen Träumereien nicht mit kann oder will. Muß
man ein platter Optimist sein, wenn man zu hoffen wagt, die
Menschen könnten in absehbarer Zeit etwas friedlicher leben
untereinander? Hinter sich lassen die Lüge des Nationalismus
und die Güter dieser Erde gerechter verteilen? Den Begriff
der Schuld milder, einsichtiger handhaben, oder ihn ganz
fallen lassen?
Bemerkenswert dann auch der Schluß von Manns Essay, der Jüngers
sprachliches Vermögen anerkennt, aber auch noch einmal seine
›Mißleitetheit‹ und Gefährlichkeit beschwört – und zuletzt einen
interessanten Hinweis auf Jüngers Nachbarschaft zum Bolschewismus gibt:
Daß er schreiben kann, erst das macht ihn gefährlich. Seinen
Gaben nach gehört er zu uns; den Arnolt Bronnen [der
inzwischen aus dem Kreis um Brecht zu Goebbels gewechselt
war] gönnen wir gerne denen drüben. Aber ein Geist von der
finsteren Glut Jüngers kann Unheil stiften. Eine
geheimnisvolle Perversion des Gefühls hat ihn auf die Seite
getrieben, wo notorische Böswilligkeit und
Menschenfeindlichkeit sich als Tugend blähen. Ihnen leiht er
das Wort, dessen Sendung es ist, der Wahrheit zu dienen. Er
ist ein Verräter, den man übergehen könnte, wenn seine argen
Redereien nicht eine Jugend behexten, die der Phraseologie
des Liberalismus sterbensmüde war. So horchen all die
jungen Teutschen, die irgendwo haben läuten hören, daß die
Demokratie überwunden sei, neugierig auf, wenn ihr Führer
den Begriff der individuellen Freiheit kurzweg für »antiquiert
erklärt«; dabei ahnen die treuen Herzen nicht, wie unheimlich
diese Redensart ihres Heros sich mit der grausig großartigen
Formel Lenins berührt, der die Freiheit zu den bürgerlichen
Vorurteilen rechnete.
Die Kontroverse um den Tagebuch-Artikel bildet den Höhepunkt von
Jüngers politischer Publizistik und markiert zugleich den Beginn der
Schlußphase. Bis September 1933 erschienen noch fünfundzwanzig Artikel,
insgesamt also nicht mehr als im Jahr 1929 allein, und die meisten von ihnen
waren Abdrucke von Einleitungen in Büchern, die Jünger herausgab. Für
dieses Abrücken von der politischen Publizistik gibt es zwei Gründe: 1930
fand Jünger mit der Totalen Mobilmachung zur größeren essayistischen
Form und begann mit der Niederschrift des Arbeiters. Außerdem lockerte
sich seine Fixierung auf die Nation und den Nationalismus zugunsten einer
Haltung, die nicht mehr so sehr auf dem Wert nationaler Besonderheiten
insistierte als vielmehr den Zug zu einer planetarischen Zivilisation
wahrnahm und akzeptierte. Damit erlosch der Impetus, als Programmatiker
des Nationalismus tätig zu sein. 1930 dürfte das Jahr gewesen sein, in dem
Jünger – wohl unter Hugo Fischers Einfluß – zu sehen begann, daß, wie er
1945 notierte, der nationalistische Weg, »den Barrès noch gehen konnte«
und zu dem er selber durch Barrès mit inspiriert worden war, für seine
Generation »nicht mehr gangbar war« (3, 433).

»Totengräber der Republik«?

In späteren Jahren empfand Jünger die nationalistische Publizistik als so


mißlich, daß er die Artikel, die von seinem »Sekretär« Mohler und von
seinem Bibliographen des Coudres ausfindig gemacht worden waren, weder
in die zehnbändige Werkausgabe von 1960 noch in die achtzehnbändige
Ausgabe von 1978 aufnehmen ließ. Für diese Ausklammerung nannte er
1988 in einem Schreiben an Julien Hervier, den französischen Übersetzer
des Arbeiters, zwei Gründe: Zum einen betrachtete er seine politische
Schriftstellerei als einen zwar »wichtigen«, gegenüber dem »rein
literarischen« Werk aber nur »ephemeren« Teil seines Schaffens (21, 325f.).
Zum andern fürchtete er – nicht grundlos – die Wirkung bei der
professionellen Kritik und wollte lieber auf ein »Klima« warten, »das eine
sachliche Würdigung einigermaßen möglich macht« (21, 326).
Das ist allerdings ein schwieriges Kapitel. Das Register der
nationalpublizistischen Verfehlungen, das von zeitgenössischen und späteren
Kritikern aufgemacht wurde, ist lang und nennt gewichtige Vorwürfe: die
begriffliche Unschärfe seiner Blut- und Rassenmystik; den gedanklichen
Irrationalismus seines nationalistischen Fundamentalismus; dessen
imperialistische und damit friedensfeindliche Konsequenz; seine Blut- und
Barbarenromantik; seine militante und aggressive Sprache; seine
nihilistische Destruktionswut; seine bornierte und bösartige
Antibürgerlichkeit; seinen ungerechtfertigten und kurzsichtigen
Antirepublikanismus; den (prä)faschistischen Charakter seiner Staats- und
Gesellschaftsvorstellungen; die zeitweilige Kumpanei mit den
Nationalsozialisten; den partiellen Antisemitismus; die zum
Nationalsozialismus drängende Wirkung seiner politischen Publizistik. Diese
Vorwürfe sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Die meisten werden
durch Jüngers Artikel unmittelbar gerechtfertigt. Auch daß er in jenen Jahren
zum Faschismus tendierte (der allerdings vom Nationalsozialismus zu
unterscheiden ist), hat Jünger expressis verbis gesagt (PP, 255, und 20, 248).
Dafür schließlich, daß seine Schriften Zeitgenossen dazu motiviert haben,
sich dem Nationalsozialismus zuzuwenden, hat die Forschung Belege aus
autobiographischen Schriften beigebracht, und man muß sie gelten lassen,
auch wenn zu fragen bleibt, ob deren Verfasser nicht auch – wie Millionen
anderer Zeitgenossen – ohne Jüngers Schriften zum Nationalsozialismus
»gefunden« hätten.
Jüngers »neuer Nationalismus« ist aus heutiger Sicht nicht zu verteidigen.
Nichts ist an ihm zu entdecken, was man im Hinblick auf die weitere
geschichtliche Entwicklung oder gar die heutigen Probleme als positiv
einstufen könnte. Der Nationalismus dieser Zeit war eine grandiose
Verfehlung, die ungeheures und lange nachwirkendes Leid über die Welt
gebracht hat. Dennoch hat Jüngers Nationalismus – wie jedes historische
Phänomen – Anspruch auf »sachliche Würdigung« oder, anders gesagt: auf
eine Betrachtung auch (wohlgemerkt: auch) aus der Zeit heraus oder unter
Berücksichtigung der geschichtlichen Umstände.
Einen wichtigen Umstand hat Jünger selbst benannt, indem er eine
Bemerkung seines Übersetzers Julien Hervier im Vorwort zur französischen
Ausgabe des Arbeiters aufgriff und bekräftigte. In dem Schreiben an
Hervier, das unter dem Datum des 23. Oktober 1988 in Siebzig verweht IV
einging, heißt es:
Wie recht haben Sie mit der Erwähnung, daß meine
persönliche Lage nach 1918 der eines jungen Franzosen nach
1871 entsprach. Nur war der Versailler Friede brutaler als der
zwischen Bismarck und Thiers verhandelte. Auch haben wir
statt eines Gambetta und eines Clemenceau einen Wilhelm II.
und einen Adolf Hitler gehabt. (21, 327)
Dagegen kann man heute auf der Basis der jüngeren historischen Forschung
einwenden, daß der Versailler Vertrag nicht ganz so »brutal« oder
erdrückend gewesen sei, wie Jünger dies behauptete. Doch die meisten
Zeitgenossen, auch besonnenere und versöhnlichere, sahen dies anders.
Thomas Mann sagte 1930 in jener Deutschen Ansprache, die – unter Jüngers
Beteiligung – von Arnolt Bronnen und einigen SA-Leuten gestört wurde:
Der Versailler Vertrag war ein Instrument, dessen Absichten
dahin gingen, die Lebenskraft eines europäischen
Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten,
und dieses Instrument als die Magna Charta Europas zu
betrachten, auf der alle historische Zukunft sich aufbauen
müsse, war ein Gedanke, der dem Leben und der Natur
zuwiderlief und der schon heute in aller Welt kaum noch zum
Schein Anhänger besitzt.
Zu berücksichtigen ist ferner das Fortwirken der deutschen
»Kriegsphilosophie«. Einige Bemerkungen in den politischen Artikeln
zeigen, daß Jünger ein aufmerksamer Leser jener Betrachtungen eines
Unpolitischen war, in denen diese »Kriegsphilosophie« ihre glänzendste
Artikulation fand, und daß Thomas Manns schwelgerische Deutschtümelei
eine wichtige Quelle oder zumindest Bekräftigung für Jüngers Insistieren auf
der nationalen Besonderheit des Deutschen war, ebenso für seinen
Antirepublikanismus und für seine Wendung gegen den westlichen
Liberalismus und die westliche Zivilisation (vgl. PP, 308, 314, 345 und 351).
Daß Thomas Mann 1922 mit seiner vielbeachteten Rede Von deutscher
Republik und 1923 mit einer Gedenkrede auf Walther Rathenau, die unter
dem Titel Geist und Wesen der deutschen Republik in der Frankfurter
Zeitung erschien, sich als Republikaner bekannt hatte, kann Jünger nicht
entgangen sein. Aber er wird dies als einen Irrweg betrachtet haben, auf dem
er dem vorerst noch durchaus geschätzten Thomas Mann nicht folgen wollte.
Man muß hier ja auch sehen, daß nicht Jünger mit seinem Festhalten am
Antirepublikanismus oder Antiparlamentarismus die Ausnahme war,
sondern Thomas Mann mit seiner Zuwendung zur Republik und zur
Demokratie. Der republikfeindliche Antiparlamentarismus gehörte zur
Grundeinstellung vieler, wenn nicht der meisten Intellektuellen der
Weimarer Zeit, und zwar nicht nur der Rechten, wie man seit Kurt
Sontheimers Studie Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik
(1962) weiß, sondern, wie seit Riccardo Bavajs Studie Von links gegen
Weimar (2005) zu sehen ist, auch vieler und prominenter Vertreter der
Linken (wie Tucholsky und Ossietzky, von den Autoren des Bunds der
proletarisch-revolutionären Schriftsteller um Johannes R. Becher ganz zu
schweigen).
Auch mit anderen Komponenten seines nationalistischen Konzepts, die
heute – zu Recht – als völlig unsinnig gelten, stand Jünger nicht allein. Von
einer rassischen oder blutsmäßigen Besonderheit des deutschen Volks wie
auch anderer Völker sprachen damals viele und wiederum nicht nur rechte
Dummköpfe. Verweise auf die Bedeutung des Bluts lassen sich auch bei
Heinrich und Thomas Mann finden, bei letzterem etwa in jener Passage
seiner Deutschen Ansprache, in der er auf die Frage eingeht, ob die
parlamentarische Verfassung dem deutschen »Wesen« angemessen sei oder
seine »politische Sittlichkeit« entstelle und schädige:
Diese Sorgen einer volkspersönlichen, politischen Sittlichkeit
sind um so quälender, als im Grunde niemand konkrete
Vorschläge zum Richtigeren und Angemesseneren zu machen
weiß, und vorderhand kein Schluß übrig bleibt als der, daß,
solange es dem Deutschtum nicht gelingt, aus seiner
eigensten Natur in politicis etwas Neues und Originales zu
erfinden, man genötigt sei, aus dem Historisch-Überlieferten
das Persönlichste und damit Beste zu machen, zumal kein
Kenner des Deutschtums zweifelt, daß die bisher
unternommenen Versuche, den demokratischen
Parlamentarismus zu überwinden, der ost- und
südeuropäische, die Diktatur einer Klasse also und die des
demokratisch erzeugten cäsarischen Abenteurers, der Natur
des deutschen Volkes noch viel blutsfremder sind als das,
wogegen zu einem Teile seine Geste vom 14. September [=
die Reichstagswahlen, bei denen die Nationalsozialisten ihren
ersten großen Erfolg erzielten] sich richtete.
Hier hätte Jünger sagen können, daß ebendies, was Thomas Mann vermißte:
die Entwicklung einer spezifisch deutschen und mithin weniger
»blutsfremden« politischen Form, sein Ziel gewesen sei und daß er
deswegen schon 1926 einen »deutschen Faschismus« (PP, 255) propagiert
habe, der von dem Mussolinis durchaus verschieden sein sollte. Ihm aus
dieser Neigung zum Faschismus einen Vorwurf zu machen, ist
selbstverständlich legitim; daß Faschismus Unfreiheit und Zwang mit sich
brachte, konnte man auch 1926 wissen. Allerdings war wohl niemand in der
Lage, das Maß an Unfreiheit und Entrechtung vorauszusehen, das nach 1933
erreicht wurde. Dafür fehlte – trotz der Freiheitsund Rechtseinschränkungen,
die während des Kriegs geherrscht hatten – die historische Erfahrung: Carl
Zuckmayer berichtet im Kriegskapitel seiner Autobiographie, daß er in einer
Feldbuchhandlung die komplette pazifistische und anarchistische Literatur
bekommen habe und daß er Franz Pfemferts kriegskritische Aktion, die er
abonniert hatte, »wöchentlich brav per Feldpost zugestellt erhielt«. Und
ebensowenig wie das Ausmaß der Freiheits- und Rechtsberaubung konnte
man zwischen 1926 und 1930 die Gewalttaten und Verbrechen des
Nationalsozialismus voraussehen. Kurz, für einen »deutschen Faschismus«
zu plädieren, unter dem man sich keineswegs die spätere NS-Diktatur
vorzustellen hat, war um 1926 oder um 1930 nicht so töricht, wie es heute
wirkt, und auch nicht gleich verbrecherisch – ebensowenig wie Bertolt
Brechts Lob der KPdSU in der Maßnahme von 1930 oder Walter Benjamins
Lob für den Sowjetstaat in seinem Pariser Vortrag von 1934. Daß man in
einer »außergewöhnlichen Zeit« lebe, die »außergewöhnliche Methoden«
verlange (PP, 228), war nicht nur Jüngers Ansicht; seine ganze Generation
war geprägt durch einen Zug zum »Unbedingten«.
Schließlich ist Jüngers politische Publizistik im Kontext eines forcierten
Aktivismus, eines dezidierten Front-Denkens und einer ausgeprägten Haß-
›Kultur‹ zu sehen. Seit Heinrich Mann 1910 mit seinem Essay Geist und Tat
postuliert hatte, daß der Geist »Ratio militans« sein müsse und die Literaten
als »Agitatoren« zu wirken hätten, hatte die Idee des Aktivismus um sich
gegriffen, die von den Autoren verlangte, daß sie sich in die
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einmischten und dabei
kämpferisch oder militant auftraten. Nicht das distanziert-bedächtige Wort
wurde geschätzt, sondern die mitreißende oder herausfordernde Parole.
Kunst sollte »Waffe« sein, wie ein berühmter Slogan des kommunistischen
Dramatikers Friedrich Wolf aus dem Jahr 1928 sagte, und die Literatur sollte
als »Kriegsmittel« dienen, wie der nationalistische Journalist Ludwig
Alwens 1929 in dem von Jünger herausgegebenen Vormarsch schrieb.
Walter Benjamin hat diese Metaphorik 1928 auf das Gebiet der
Literaturkritik übertragen, indem er in seiner Einbahnstraße unter der
Überschrift Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen feststellte: »Der
Kritiker ist Stratege im Literaturkampf«, und »Das Kunstwerk ist in seiner
Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister«. Dementsprechend
wurde das literarische Feld als Kampf- oder Kriegsgebiet betrachtet, auf dem
»Front« zu machen war. Seit Beginn der zwanziger Jahre wurden links wie
rechts Artikel geschrieben, die zur kulturellen, weltanschaulichen und
politischen »Frontbildung« aufriefen, und wurden »Bünde« gegründet, die
denselben Zweck hatten. Daß Jünger in seinem Schlußwort zur Tagebuch-
Kontroverse schrieb, man stehe »heute ebenso an der Front wie im Kriege«,
nur daß man »nicht mit Tanks, sondern mit Omnibussen« fahre und daß »die
Druckerschwärze die Rolle des Pulvers übernommen« habe (PP, 540 und
546), ist kein Spezifikum eines Ex-Offiziers, sondern Jargon des
literarischen Aktivismus und der kulturellen Frontbildungszeit. Zu ihr
gehörte auch die ›Kultivierung‹ der Aggression und, wie Julien Benda 1927
in seiner Abhandlung La trahison des clercs/Der Verrat der Intellektuellen
bemerkte, die »intellektuelle Organisation des politischen Hasses«. Auch
hier war Heinrich Mann eine Leitfigur. Nicht nur, daß er 1915 in seinem
wirkungsreichen Zola-Essay von dem vielfach gerühmten
Gesellschaftskritiker sagte, es sei dessen »lebenslange Bestimmung«
gewesen, »Haß zu erregen«; er gerierte sich selbst, wie Mühsam 1915 und
Tucholsky 1922 festhielten, als ein großer Hasser, lange schon bevor er 1933
seine Essays zur jüngsten deutschen Geschichte unter dem Titel Der Haß
erscheinen ließ. Ähnliches läßt sich von George Grosz sagen: In seiner
Autobiographie beklagt Grosz die Weimarer Republik als eine »Orgie der
Verhetzung«, doch hatte er selber Anteil daran; Thomas Mann nannte ihn
einen »graphischen Schriftsteller des Hasses«, und Tucholsky schrieb über
ihn: »Er lacht nicht nur – er haßt.« Daß der Haß von Heinrich Mann und
George Grosz Phänomenen galt, die Haß oder zumindest scharfe
Gegnerschaft auch nach heutigen Maßstäben verdienten, sei unbestritten und
als unübergehbare Differenz zu Jünger anerkannt. Im Hinblick auf die
Beurteilung der politischen Publizistik Jüngers und speziell ihres
aggressiven Tons ist es aber von ebenfalls unübergehbarer Bedeutung, daß
sie aus einem die Fronten und Lager übergreifenden Klima erwuchs, in dem
der Haß nachgerade kultiviert wurde und die Sprache nicht aggressiv genug
sein konnte.
Vor allem wegen seiner nationalistischen und antirepublikanischen
Publizistik hat man Jünger zu den »Totengräbern« der Weimarer Republik
und zu den »Pionieren« des »Dritten Reichs« gezählt. Dem ist schwer zu
widersprechen; seine vielfache Polemik gegen die »korrupte Luft des
Novemberstaates« (PP, 308), sein Spott über die »Totgeburt der ersten
deutschen Republik« (350) und seine Anerkennung des Nationalsozialismus
als einer Kraft, der man nur »von Herzen den Sieg wünschen« könne (517),
werden ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Andererseits sollte man deren
Bedeutung für den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg des
Nationalsozialismus auch nicht überschätzen. Für beide Vorgänge gab es
Faktoren von ganz anderem Gewicht und Akteure von ganz anderer
Wirkungskraft. Wenn die »Macht des Wortes« so groß gewesen wäre, wie
Jüngers Kritiker es unterstellen, dann hätten auch die Reden und Schriften
der prorepublikanischen Intelligenz, etwa der Brüder Mann, eine ganz
andere Wirkung haben und die Republik vor dem Untergang retten müssen.

Zur »Judenfrage«

Mehrfach berührte Jünger in seiner politischen Publizistik das Thema


Judentum, und die entsprechenden Passagen haben ihm immer wieder den
Vorwurf eingetragen, ein Antisemit gewesen zu sein. Das ist nicht
unverständlich. Einige von Jüngers Äußerungen beruhen auf quasi-
ethnologischen Vorstellungen oder Stereotypen, die als rassistisch und
speziell antisemitisch zu bezeichnen sind, und einige klingen wohl radikaler,
als sie gemeint waren. Ein genauerer Blick ist nötig, und er soll nicht nur der
politischen Publizistik gelten, sondern auch dem Umfeld.
Nötig ist zuvor auch eine terminologische Klärung: Nach der
staatsbürgerlichen Gleichstellung der in Deutschland lebenden Juden im Jahr
1871 kam es zu einem verwirrenden Sprachgebrauch, der auf das
Integrationsproblem verwies. Rechtlich gesehen gab es nach 1871 im
Deutschen Reich nur noch Deutsche, abgesehen davon, daß sie
verschiedenen Landsmannschaften und verschiedenen Konfessionen
angehörten. Aber dies wurde in der Regel nicht betont; man sprach nicht
etwa von »deutschen Bayern« oder von »bayerischen Deutschen«,
ebensowenig von »katholischen« oder »protestantischen Deutschen«, wenn
die konfessionelle Zugehörigkeit nicht ausdrücklich thematisiert werden
sollte. Anders bei den Deutschen jüdischer Herkunft: Hier wurde es bald
üblich, von »deutschen Juden« oder von »jüdischen Deutschen« oder von
»deutschen Staatsbürgern jüdischen oder mosaischen Glaubens« zu reden.
Dies ging von beiden Seiten aus: von jenen Deutschen, welche die
Integration der Juden ablehnten, aber auch von Juden, die an ihrer Identität
als Juden demonstrativ festhalten wollten. Für eine historische Reflexion
ergibt sich daraus ein fast unaufhebbares terminologisches Problem:
Einerseits dürfte im Sinne des Gesetzes nur von Deutschen die Rede sein;
andererseits zwingen die verschiedenen und sozial überaus wirksamen
Versuche, den deutschen Staatsbürgern jüdischer Herkunft einen besonderen
Status zuzuschreiben, dazu, diese Differenz terminologisch festzuhalten. In
diesem Sinn ist im folgenden auch in den deskriptiven Partien von »Juden«
die Rede. Deren Zahl war im übrigen erstaunlich gering: Im Jahr 1910 gab
es 64,92 Millionen Deutsche; davon wurden 512 124 als »jüdisch« registriert
– gerade einmal 0,95 Prozent.
Über persönliche Beziehungen Jüngers zu Juden ist nicht viel bekannt.
Aus den Annäherungen geht hervor, daß die Familie Jünger in Hannover
einen jüdischen Hausarzt namens Sternheim hatte, der von der Mutter sehr
geschätzt wurde (11, 173); er dürfte das Vorbild für jenen Doktor Edelstein
gewesen sein, der in der späten Erzählung Sp. R. Drei Schulwege als Arzt
waltet und ebenfalls sehr anerkennend dargestellt wird (22, 749ff.). Aus
derselben Erzählung ist, wenn man einen autobiographischen Gehalt nicht
bestreitet, auch zu erschließen, daß Jünger während seiner Schulzeit mit
antisemitischen Sticheleien bekannt wurde: In der Vorschulklasse, so die
Erzählung, gab es unter den mehrheitlich protestantischen Schülern zwei
Katholiken und einen Juden. Es kam vor, daß sie als »katholischer Bock«
bzw. »Moses« tituliert wurden; aber wer das sagte, wurde auch bestraft (22,
741). Antisemitismus, so darf man daraus schließen, war nicht
selbstverständlich und wurde auch nicht einfach geduldet. Der Vater, von
dem in dieser Erzählung die Rede ist und der für Jüngers eigenen Vater
stehen könnte, hält den Antisemitismus für ein peripheres Phänomen; Doktor
Edelstein sieht das allerdings anders, weil er häufig genug erfahren hat, was
es bedeutet, »Edelstein« oder, wie sein Schwager, »Cohn« zu heißen.
Während der Wunstorfer Schuljahre um 1910 war Jünger wohl mit einem
jüdischen Mitschüler namens Hammerschlag befreundet; er hat ihm, wie aus
einem Brief Jüngers vom 2. April 1935 an Friedrich Georg Jünger zu
entnehmen ist, in ebendiesem Jahr zum vierzigsten Geburtstag gratuliert.
Im Ersten Weltkrieg muß Jünger mit jüdischen Kameraden in Berührung
gekommen sein, während der Leipziger Studienzeit und in den Berliner
Jahren mit jüdischen Kommilitonen, Dozenten und Publizisten. Nichts
deutet auf Aversionen oder gar eine antisemitische Einstellung hin. Er
kannte und schätzte den jüdisch-deutschen Schriftsteller und Revolutionär
Erich Mühsam, der 1934 im Konzentrationslager Oranienburg auf
bestialische Weise ermordet wurde (3, 148 und 515f.). Er war seit Ende der
zwanziger Jahre mit dem jüdischrumänischen Schriftsteller Valeriu Marcu
befreundet und bewunderte dessen historisch-politische Schriften (3, 429 u.
ö.). Er zitierte Weininger im Abenteuerlichen Herzen (1929) mit großer
Zustimmung (9, 100 und 134). Er sprach von Marx trotz einiger Kritik nur
mit Respekt und ohne jeden Seitenhieb auf dessen Judentum. Er schrieb dem
1922 von »Kapitän« Ehrhardts »Organisation Consul« ermordeten Walther
Rathenau in der Totalen Mobilmachung (1930) einen »tragischen Rang« zu
(7, 138). Aber unmittelbar nach dieser zweifellos positiv gemeinten
Qualifizierung, die damals nicht eben selbstverständlich war, findet sich ein
Satz, der dazu geführt hat, daß man lesen kann, auch die Originalfassung der
Totalen Mobilmachung habe »manche antisemitische Tirade« aufgewiesen
(Honold). Es heißt bei Jünger:
Wie ist es möglich, daß Rathenau, der in einem bedeutenden
Maße mobil gemacht wurde, der in der Organisation der
großen Rüstung eine Rolle spielte, und der noch kurz vor dem
Zusammenbruch sich mit dem Gedanken der »Erhebung in
Massen« beschäftigte, bald darauf den bekannten Ausspruch
formulieren konnte von der Weltgeschichte, die ihren Sinn
verloren hätte, wenn die Repräsentanten des Reiches als
Sieger durch das Brandenburger Tor in die Hauptstadt
eingezogen wären? Hier wird es sehr deutlich, wie eine
Mobilmachung sich die technischen Fähigkeiten eines
Menschen unterstellt, ohne jedoch in den Kern seines
Glaubens eindringen zu können. Bei jüdischen Intelligenzen
wird dieser Prozeß am besten zu beobachten sein, er war
jedoch keineswegs auf sie beschränkt. (KuK, 24)
Was Rathenau – Jünger zufolge – fehlte, war der unbedingte Glaube an
Deutschlands Recht auf den Sieg, war, wie es an anderen Stellen heißt, der
schiere »Wille zur Macht«, den Jünger damals noch für den entscheidenden
Faktor des Lebens und der Politik hielt. Damit stand Rathenau – Jünger
zufolge – aber nicht allein; vielmehr mangelte es, wie im nächsten Abschnitt
gesagt wird, der »führenden Generation« des Kaiserreichs überhaupt an den
»glaubensmäßigen Kräften«, die zum Sieg notwendig gewesen wären. Der
jüdische Intellektuelle Rathenau nahm in Jüngers Denken eine
Sonderstellung also nur insofern ein, als an ihm die Verfassung der
»führenden Generation« besonders deutlich wurde, und vermutlich hätte
Jünger zur Begründung gesagt: aufgrund einer ihm eingeprägten historischen
Erfahrung, für die der »Wille zur Macht« seit zweitausend Jahren ein
Fremdwort war. Im Licht der modernen Antisemitismusforschung ist diese
Indizierung Rathenaus als antisemitisch zu bezeichnen, allein schon
deswegen, weil sie Rathenau – und mit ihm den »jüdischen Intelligenzen«
schlechthin – einen besonderen Status oder eine besondere Qualität
zuschreibt und dadurch prinzipiell diskriminierend wirkt. Daß es im Sinne
Jüngers eine eher positive Diskriminierung war, weil Rathenau für ihn der
historisch Sensiblere war, deutlicher als die andern spürte und sagte, was die
Stunde geschlagen hatte, ändert daran nichts. Wer will, kann beim Vorwurf
des Antisemitismus bleiben. – In jüngeren Fassungen der Totalen
Mobilmachung fehlt der inkriminierte letzte Satz des Abschnitts über
Rathenau (vgl. 7, 138). Jünger hat ihn gestrichen. Er war nicht nur
verfänglich, er war auch thematisch völlig unnötig und im Sinne dessen, was
Jünger bei der Überarbeitung die Reduzierung auf den »substantiellen Kern«
nannte (7, 142), ganz und gar entbehrlich.
In seiner politischen Publizistik hat Jünger die »Judenfrage«, wie damals
allgemein gesagt wurde, zunächst einmal als unwichtig abgetan: »Wir sind
nicht der Ansicht«, heißt es 1927 in dem Aufsatz Die antinationalen Mächte,
»daß sich die deutsche Frage in der Judenfrage erschöpft« (PP, 295); daß die
Juden die Hauptfeinde der deutschen Nation seien, gehörte für Jünger in den
Bereich der »fixen Ideen« (294). In dem aufsehenerregenden Tagebuch-
Artikel vom September 1929, der eine bündige Darstellung des »neuen
Nationalismus« sein sollte, machte er sich über die Antisemiten geradezu
lustig, indem er schrieb: »Auch ist es nicht etwa ein Hauptkennzeichen des
Nationalisten, daß er schon zum Frühstück drei Juden verspeist – der
Antisemitismus ist für ihn keine Fragestellung wesentlicher Art« (504). An
anderer Stelle bekommt der Blick auf das Judentum sogar eine im
nationalistischen Sinn positive Note. In dem 1929 publizierten Aufsatz Der
Wille zur Gestalt, der gegen die »liberalistischen« »Nivellierungen« und
»Abstraktionen« – wie z. B. die Behauptung der Gleichheit aller Menschen
und das Prinzip der Gleichheit aller Stimmen bei Wahlen – polemisiert,
unterbrach Jünger seine Jeremiade, um einen Satz anzubringen, den ein
gewisser »Prof. Dr. Loewe« (möglicherweise der Zionist Heinrich Loewe)
»in der Repräsentantenversammlung des Gemeindevorstandes der jüdischen
Gemeinde zu Berlin« während einer »Diskussion über die Anschaffung einer
jüdischen Enzyklopädie« gesagt hatte: »Der apologetische Wert jeder
jüdisch-wissenschaftlichen Arbeit liegt in ihrer Objektivität.« Jünger hat
diesen Satz offensichtlich als Ausdruck des Willens zu einem völlig
vorurteilslosen und nicht-opportunistischen Denken und Verhalten gesehen,
das ein Bekenntnis zum Judentum mit einschließt, denn er fährt fort: »In
diesem Sinne läßt sich auch sagen, daß, wo heute auch immer die Gestalt,
das notwendige So-und-nicht-anders-Sein des Lebens im Mittelpunkte eines
Bestrebens steht, Arbeit geleistet wird, die für das Deutsche wertvoll ist«
(491). Auf das Verhältnis von Juden und Deutschen angewandt, heißt dies,
daß die Juden für die Deutschen interessant und wichtig sind, sofern sie sich
zum Judentum bekennen und das Judentum profilieren. Jünger war ein
Apologet der ethnischen und kulturellen Vielfalt und des Neben- und
Miteinanders, das für ihn zur Fülle der Welt gehörte, den Reiz des Daseins
ausmachte und im übrigen ein unverzichtbarer Faktor der geschichtlichen
Bewegung und Steigerung war; nichts war ihm mehr verhaßt als die
»liberalistische« oder aufklärerische »Nivellierung« und »Abstraktion« oder
Uniformierung. In diesem Sinn schrieb Jünger an anderer Stelle auch, er
begrüße die jüdische Orthodoxie, wie er »die wirkliche und ausgesprochene
Eigenart eines jeden Volkes begrüßen« müsse (544). Freilich, sein Plädoyer
für die je eigene »Gestalt« war um 1930 nicht nur ein Plädoyer für das
Recht, die je eigene »Gestalt« zu entwickeln und gesellschaftlich zur
Geltung zu bringen; es implizierte auch die Forderung, diese Gestalt
anzunehmen und offen zu zeigen, anstatt sie preiszugeben oder sie zu
unterdrücken und zu verbergen. Daraus aber resultierte in einem Aufsatz,
den Jünger dann doch der »Judenfrage« widmete, eine bestürzende
Konsequenz.
Die bisher zitierten Äußerungen zum Verhältnis von »neuem
Nationalismus« und Judentum führten dazu, daß Jünger von den
Nationalsozialisten als »Judenfreund« attackiert wurde (PP, 860f.), darauf
ausführlich in dem oben skizzierten Sinn replizierte (543f.) und auf diese
Weise auch für die neu entfachte Debatte über die Rolle der Juden in
Deutschland interessant wurde. So ist es zu erklären, daß sich der
Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte, Paul Nicolaus Coßmann, auch
an Jünger wandte, als er im Sommer 1930 ein Heft zum Thema »Die
Judenfrage« konzipierte. Coßmann war selber von jüdischer Herkunft, hatte
sich allerdings vom Judentum abgewandt und war 1905 zum katholischen
Glauben konvertiert. Die von ihm mit begründeten Süddeutschen
Monatshefte waren eine durchaus angesehene Zeitschrift, obwohl Coßmann
sie im Verlauf der zwanziger Jahre immer weiter nach rechts geführt und
zum Organ seiner vielfach denunziatorischen Artikel gemacht hatte.
Coßmann liebte scharfe Kontroversen, und so lud er für das geplante Heft
vierzehn Autoren ein, die das Judentum von verschiedenen Seiten
beleuchten sollten, unter ihnen so angesehene Repräsentanten des deutschen
Judentums wie Max Naumann und Leo Baeck. Jünger fiel der Part zu, den
deutsch-nationalistischen Standpunkt zu vertreten, und so entstand der
Artikel Über Nationalismus und Judenfrage, der im September 1930
zusammen mit dreizehn anderen einschlägigen Artikeln in der oben
genannten Themennummer der Süddeutschen Monatshefte erschien und kurz
danach in der Zeitschrift Die Kommenden noch einmal publiziert wurde.
Dieser sechsseitige Artikel, den man heute mit fassungsloser
Verwunderung, ja mit Entsetzen liest, ist eine komprimierte Manifestation
des zeitüblichen antisemitischen Denkens der sogenannten besseren und
gebildeten Kreise, dem sich Jünger beim Schreiben überlassen hatte und
dem er, in schneidige Formulierungen nicht weniger verliebt als seine
stilistischen Vorbilder Nietzsche und Spengler, radikalen Ausdruck verliehen
hatte. Dergleichen muß der Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte
freilich auch erwartet, wenn nicht bestellt haben; jene Zeit liebte ja, wie
Thomas Mann in seinem Doktor Faustus mit der Schilderung des Kridwiß-
Kreises (Kap. XXXIV) gezeigt hat, das exzessiv unverantwortliche Denken
und Reden über alles. Und dieser epochalen Neigung mag Jünger, der sich ja
bis dahin nicht eben als rabiater Antisemit geriert hatte, aus
Profilierungssucht und im übrigen in törichter Arglosigkeit gefrönt haben:
Zwar konzedierte er mit dem ersten Abschnitt seines Aufsatzes, daß der
Antisemitismus »für den Juden nicht angenehm« sei; zugleich bezweifelte er
aber, daß er ihm »gefährlich« werden könne (PP, 587). Im übrigen könnte es
sein, daß Jünger diesen Aufsatz auch unter dem Einfluß Carl Schmitts
schrieb, den er kurz zuvor kennengelernt hatte und der vom verderblichen
kulturellen Einfluß der Juden auf das christliche Abendland zutiefst
überzeugt war; es ist wohl kein Zufall, daß im zweiten, historisch
ausgreifenden Abschnitt von Jüngers Artikel, der von Schmitt vielfach
denunzierte jüdisch-preußische Rechtsphilosoph und Politiker Friedrich
Julius Stahl als Exempel für den – angeblich – negativen Effekt des
kulturellen Engagements der Juden in Deutschland erwähnt wird.
Jüngers Artikel ist geprägt von einem quasi-ethnologischen Denken, das
für alle Völker, die in sein Blickfeld geraten, Stereotypen bereithält oder
findet. Im Sinne dieses Denkens, das nicht exklusiv antisemitisch war, aber
hier eben die Juden betraf, spricht Jünger im Kollektivsingular von »dem
Juden« und glaubt zu wissen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten »der
Jude« hat, so zum Beispiel, daß seine Rhetorik »immer ethische Struktur
besitzt, weil sie keine heroische besitzen kann« (PP, 589), oder daß er der
»Meister aller Masken« ist. Neben den sonstigen gedanklichen und
sprachlichen Forciertheiten sind es diese zeitüblichen Stereotypen, die den
Artikel antisemitisch wirken lassen und verdecken, daß Jünger auch in ihm
eine eher differenzierte und auch anerkennende Stellung gegenüber dem
Judentum einnahm.
Mit den einleitenden Abschnitten skizzierte Jünger die Geschichte des
Judentums und des Antisemitismus in Europa: Die Juden konnten aufsteigen
und in gesellschaftlich wichtige Positionen einrücken, weil die Gesellschaft
ihre Eigenschaften und Fähigkeiten brauchte, der Liberalismus
beispielsweise »jene Vorurteilslosigkeit«, die – Jünger zufolge – zu den
»Kennzeichen« der jüdischen »Rasse« gehört (588). Die Quittung für diesen
Aufstieg ist der Antisemitismus, der nun in den »nationalen Bewegungen«
eine starke Intensivierung erfährt, aber, indem er sich »Vorstellungen
volksheilskundlicher Art« überläßt und von der »Unschädlichmachung von
Schwärmen atomistisch angreifender Bakterien und Spaltpilze« spricht,
»viel zu flach angesetzt wird« (590). Anders gesagt: Wenn Präsenz und
Einfluß der Juden gemindert werden sollen, dann sind eliminatorische
Bestrebungen verfehlt. Die Auseinandersetzung muß geistig geführt werden.
Die Vorstellung, daß man tatsächlich einmal versuchen würde, durch
Massenmorde ein »judenreines« Europa zu schaffen, lag Jünger – wie fast
allen Zeitgenossen – offensichtlich fern. Es bedurfte ja auch der
Radikalisierung durch den Nationalsozialismus und den zweijährigen
»Vernichtungskrieg« gegen Polen, bevor der Plan einer »Endlösung« durch
Genozid entstand – und aus Jüngers Pariser Tagebüchern ist zu ersehen, mit
welchem Unglauben und zugleich Erschrecken die ersten Nachrichten von
Massenvernichtungen aufgenommen wurden. Im übrigen gab es für Jünger
um 1930 gar keinen Grund, gegen die Juden in toto vorzugehen.
Auch der Artikel zur »Judenfrage« ist von der Überzeugung getragen, daß
die »wirkliche und ausgesprochene Eigenart eines jeden Volkes« zu
begrüßen sei (544). Davon weicht – Jünger zufolge – der »Zivilisationsjude«
allerdings ab (590ff.): Er gleicht sich dem Deutschen bis zur
Verwechselbarkeit an, verleugnet dadurch sein Judentum und verwässert
zugleich das Deutschtum; sein letztes Ziel besteht in der Leugnung der
Tatsache, »daß es ein Vaterland gibt«, und in der »Führung des
Nachweises«, »daß es den Juden eigentlich gar nicht gibt«. Dieser
Assimilationsprozeß, der zugleich ein Nivellierungsprozeß ist, muß – Jünger
zufolge – rückgängig gemacht werden. Dies kann aber nicht durch
eliminatorische Maßnahmen geschehen, sondern nur dadurch, daß die
Deutschen den »Willen zur Gestalt« aufbringen und ihre »Gestalt« in aller
Deutlichkeit herausarbeiten: zeigen, »wo in Wahrheit die deutschen Grenzen
liegen, was deutsche Literatur, deutsche Geschichte, deutsche Wissenschaft,
deutsche Psychologie eigentlich ist, was der Krieg, die Arbeit, der Traum,
die Kunst für uns bedeuten« (591). Durch diese Profilierung des Deutschen
würde »der Jude«, so meint Jünger, gezwungen, seine assimilatorischen und
nivellierenden Bestrebungen aufzugeben und sich wieder als Jude zu
begreifen und zu bekennen. Diese Konsequenz formulierte Jünger am Ende
seines Artikels mit einer Schärfe, die möglicherweise an Marx und Wagner
orientiert ist. Karl Marx hatte 1843 in seinem Aufsatz Zur Judenfrage
geschrieben: »Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die
Emanzipation der Menschheit vom Judentum.« Und Richard Wagner hatte
gegen Ende seines 1850 und 1869 publizierten Aufsatzes Das Judentum in
der Musik geschrieben: »Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für
die [1869: den] Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu
sein.« Der durch Lektüre und Gespräche bestens informierte Jünger konnte
beide Stellen kennen. Der letzte Satz seines Aufsatzes lautet: »Im gleichen
Maße jedoch, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt,
wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu
können, unvollziehbarer werden, und er wird sich vor seiner letzten
Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder
nicht zu sein.«
Man sieht: Anders als Marx und Wagner verlangte Jünger nicht das
Aufgehen des »Judentums« in der »Menschheit« schlechthin; das wäre die
von ihm verabscheute »liberalistische« Nivellierung und Unifizierung
gewesen. Jünger wollte ganz entschieden, daß das »Judentum« fortbesteht,
aber als »ausgesprochenes« »Judentum«; deswegen machte er der jüdischen
Orthodoxie seine Reverenz, und deswegen begrüßte er den Zionismus.
Zugleich wollte er im Sinne jenes jüngeren Nationalismus, der in der
Homogenität der Nation einen politisch fundamentalen Faktor sah, die
›Reinheit‹ der deutschen Nation gewahrt sehen. Diese beiden Postulate
verband er am Ende seines Aufsatzes Über Nationalismus und Judentum und
formulierte sie mit einem Ausschließlichkeitsanspruch, der ihm nicht
zustand, und mit einer Schroffheit, die schwer verständlich und völlig
unverzeihlich ist. Es stand Jünger so wenig wie irgendeinem anderen zu,
darüber zu befinden, ob Menschen jüdischer Herkunft in Deutschland oder
wo auch immer erkennbar als dezidierte Juden oder als nicht weiter
ausgewiesene Mitglieder ihrer Gesellschaft leben sollten. Und er hätte sehen
müssen, daß der letzte Satz vieldeutig und mißverständlich war. Was sollte
es auch heißen, daß »der Jude« durch den deutschen »Willen zur Gestalt«
vor die Alternative gestellt werde, »in Deutschland entweder Jude zu sein
oder nicht zu sein«? Daß das »Judentum« sich nur als »ausgesprochenes«
»Judentum« vor dem Aufgehen im »Deutschtum« bewahren könne? Oder
daß Juden, die nicht gewillt waren, in Deutschland als dezidierte Juden zu
leben, Deutschland verlassen sollten? Ausgewiesen werden sollten? Getötet
werden sollten? Jüngers Kritik an den »volksheilskundlichen« Vorstellungen
des nationalistischen Antisemitismus und seine Überzeugung, daß die
»Zivilisationsjuden« allein durch eine Profilierung der »Gestalt« des
Deutschen um ihren Einfluß gebracht werden könnten, schließen
eliminatorische Vorstellungen bei ihm aus. Aber die Sprache, in die Jünger
in seinem Artikel Über Nationalismus und Judentum verfiel, war leider die
des eliminatorischen Antisemitismus, an dessen bedrohliche Virulenz er, wie
der erste Abschnitt seines Aufsatzes zeigt, nicht glaubte. Dies haben andere
besser gesehen. 1932 schrieb Carl von Ossietzky über Hans Blüher und
Wilhelm Stapel, die kurz zuvor mit antisemitisch wirkenden Schriften
hervorgetreten waren:
Hans Blüher und Wilhelm Stapel beschwören beide
emphatisch, weder die physische noch geistige Mißhandlung
der Juden zu versuchen, auch nicht deren bürgerliche
Entrechtung. Die Herren vergessen den Zeithintergrund und
welche Resonanz sie finden können. Heute braucht sich kein
schwachnerviger Skribler selbst zu bemühen. Ein gutgezieltes
Wort genügt, um Hände in Bewegung zu bringen. In dieser
Zeit liegt viel Blutgeruch in der Luft. Der literarische
Antisemitismus liefert nur die immateriellen Waffen zum
Totschlag.
Diese Hellsicht fehlte dem Verfasser des Aufsatzes Über Nationalismus und
Judenfrage. Hätte er sie gehabt, so hätte er den letzten Satz dieses Aufsatzes
gewiß nicht geschrieben.
Im »großen Babylon«: Flaneur und Asket in
Berlin

Nach seinem Abschied von der Reichswehr war Jünger 1923 nach Leipzig
gezogen, weil er dort Zoologie studieren und in der Nähe seiner Eltern und
seines Bruders Friedrich Georg leben wollte. Im Mai 1926 gab er das
Studium auf, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen, der politischen
Publizistik und seinen erzählerischen Plänen. Nach dem Abbruch des
Studiums scheint sich bald die Frage gestellt zu haben, ob am Wohnort
Leipzig festgehalten werden sollte. Immer wieder hatte es sich gezeigt, daß
Berlin auch für die nationalistischen Bünde die Kommunikations- und
Entscheidungszentrale war und daß Jünger über Vorgänge, die ihn
tangierten, nicht optimal informiert war. Spätestens mit dem Jahreswechsel
1926/27 müssen Umzugspläne aufgekommen sein. Am 19. Februar 1927
fragte Jünger brieflich bei Hielscher in Berlin an, ob man »wegen der
Wohnungsangelegenheit miteinander in Fühlung bleiben« könne. Am 5.
März erklärte sich Hielscher bereit, für den Fall des Umzugs eine Wohnung
für Jünger zu suchen. Zunächst war dieser sich aber nicht klar darüber, ob er
gleich mit der ganzen Familie umziehen oder nur zeitweilig und allein nach
Berlin fahren wollte. Am 13. Mai teilte er dann Hielscher mit, er habe sich
»nunmehr doch mit dem Gedanken befreundet, sofort endgültig nach Berlin
überzusiedeln«, und am 24. Mai schrieb er an Alwens, er wolle nach Berlin
ziehen, »um auf den Lauf der Dinge besseren Einfluß nehmen zu können«.
In den folgenden Wochen war Hielscher »täglich«, wie er am 21. Juni
bemerkte, auf Wohnungssuche; aber es war nicht leicht, eine Wohnung zu
finden, die Jüngers Vorstellungen entsprach, und es glückte erst wenige Tage
vor dem festgesetzten Umzugstermin, dem 1. Juli 1927.
Über die aufregende Zeit, die mit dem Umzug nach Berlin begann, ist
man etwas besser informiert als über die Leipziger Jahre. Neben den
ausgewählten Briefen an den Bruder Friedrich Georg und an einige andere
Briefpartner liegen die Briefwechsel mit Friedrich Hielscher, Carl Schmitt
und Alfred Kubin nahezu komplett vor und geben Einblick in das Treiben
jener Jahre. Weiteres erfährt man nicht nur aus Gretha Jüngers Silhouetten,
sondern auch aus anderen autobiographischen Schriften, insbesondere von
Ernst von Salomon (Der Fragebogen, 1951), Arnolt Bronnen (Arnolt
Bronnen gibt zu Protokoll, 1954), Friedrich Hielscher (Fünfzig Jahre unter
Deutschen, 1954), Ernst Niekisch (Erinnerungen eines deutschen
Revolutionärs, 1958) und Alexander Mitscherlich (Ein Leben für die
Psychoanalyse, 1980): In den Berliner Jahren wurde Jünger zu einer Figur
des literarisch-politischen Lebens, die in späteren Rückblicken nicht
übergangen werden konnte. Selbstverständlich gibt es auch von Jünger
Äußerungen über die Berliner Zeit, aber sie sind sehr punktuell und über das
ganze Werk verstreut. In einer gewissen Konzentration finden sie sich in den
rückblickenden Aufzeichnungen aus der Zeit nach dem 7. Mai 1945, an dem
Goebbels’ Tod gemeldet worden war (3, 426ff.), und in den Berlin-Passagen
der Annäherungen, wo Jünger allerdings auch bedauert, seine
»Aufzeichnungen aus jenen Tagen« 1934 vernichtet zu haben, damit sie
nicht der Gestapo in die Hände fallen konnten (11, 121 sowie 3, 515 und
518).
Daß alle diese Erinnerungen – nicht nur die Jüngerschen, sondern auch die
seiner Bekannten – die historische Wirklichkeit nur fragmentarisch und in
perspektivisch gebrochener Form wiedergeben, also in mehr oder minder
hohem Maß unzuverlässig sind, versteht sich von selbst; es ist bei aller
Erinnerung so. In diesen Fällen kommt aber noch hinzu, daß zwischen der
Zeit des gemeinsamen Erlebens und der Zeit des Erinnerns und
Aufzeichnens die Zäsur von 1933 und jene zwölf Jahre liegen, die dafür
sorgten, daß die Lebenswege auseinanderführten, daß man sich nachher in
sehr unterschiedlichen Situationen befand und daß die Zeit um 1930 in
einem je spezifischen Licht erschien. Von Salomon lebte im »Dritten Reich«
politikfern als Filmautor und wurde danach von den Amerikanern für einige
Zeit interniert. Bronnen, der als Günstling des Reichspropagandaministers
Goebbels zu Beginn des »Dritten Reichs« in Amt und Würden kam, stürzte
über seine jüdische Herkunft, besann sich nach dem Krieg seiner
sozialistischen Anfänge und schrieb sein Protokoll in Ost-Berlin. Hielscher
arbeitete während der NS-Zeit für das »SS-AHNENERBE« und organisierte
zugleich einen Widerstandskreis; nach dem Krieg lebte er an verschiedenen
Orten als Privatgelehrter und Begründer religiöser Kreise. Niekisch saß von
1937 bis 1945 als Gegner des NS-Regimes im Zuchthaus, wurde danach
Mitglied der KPD und hatte in der SBZ/DDR verschiedene Ämter, bevor er
1953 mit der SED brach und nach West-Berlin übersiedelte. Mitscherlich,
der um 1930 vorübergehend im Kreis um Jünger und Niekisch sozusagen
hospitierte, wurde während der NS-Zeit wegen widerständischer Aktivitäten
für einige Monate inhaftiert, gründete 1960 in Frankfurt am Main das
Sigmund-Freud-Institut und wurde zu einem namhaften Kritiker der
bundesrepublikanischen Gesellschaft. Diese sehr unterschiedlichen
Lebenserfahrungen sind bei den Erinnerungen an die gemeinsame Berliner
Zeit von 1927 bis 1933/34 mit zu bedenken.
Am 28. Juni 1927 fuhr Jünger von Leipzig nach Berlin, um die letzte
Wahl zu treffen und den Mietvertrag abzuschließen. Am 1. Juli folgte die
Frau mit Kind und kam der Möbelwagen. Jüngers erste Wohnung lag in der
Nollendorfstraße (29/3) in »Berlin West« und war ein »Gartenhaus«. Es gab
Telefonanschluß, worauf Jünger Wert legte, und die Familie hatte mehrere
Räume zur Verfügung, was keine Selbstverständlichkeit war, aber die Küche
mußte mit der Vermieterin geteilt werden. Gretha Jünger beschreibt sie in
ihren Silhouetten als »eine streng erscheinende, aber liebenswürdige und
rechtliche Jüdin mit grauem Lockenkopf«, die sehr viel urbaner war als die
Leipziger Wirtinnen und mit der man einvernehmlich lebte und
wirtschaftete. Dennoch suchte man nach einer abgeschlossenen Wohnung
und zog im Herbst 1928 nach »Berlin Ost« in die Stralauer Allee (36, 1.
Stock). Ernst von Salomon, der Jünger hier besuchte, schreibt in seinem
Fragebogen darüber: Jünger »wohnte weit im Osten der Stadt, an der
Warschauer Brücke, einem Stadtteil, der vornehmlich von Arbeitern
bewohnt wurde. Die Aussicht aus seinem Zimmer ging auf das Gleisgewirr
der Stadt- und Reichsbahn, im Hause lärmten Kinder, und es roch nach
Kohl. Das Zimmer war nicht sehr hell, mit Büchern vollgestopft, mit
Masken und seltsamen, holzgeschnitzten Figuren geschmückt, auf dem
Schreibtisch stand ein Mikroskop, indes Käfersammlungen und
Einweckgläser voll merkwürdigen Geschlings irgendwelcher fahlgrüner
Substanzen auf den Regalen standen.«
Von der Stralauer Allee zog Jünger 1931 in die Dortmunder Straße (13)
im etwas feineren Nordwesten Berlins, und von dort ein Jahr später in die
Steglitzer (heute Zehlendorfer) Hohenzollernstraße (6, Parterre), die letzte
Berliner Wohnung. Sie hatte für Jünger den Vorteil, daß sein damals
vielleicht engster Gesprächspartner – Carl Schmitt – ganz in der Nähe
wohnte und zudem der Botanische Garten in wenigen Minuten zu Fuß zu
erreichen war. Dies war für Jünger nicht unwichtig, denn noch immer
widmete er sich botanischen Studien und bezog aus der Beobachtung von
Pflanzen ästhetische und weltanschauliche Anregungen. Am 28. Januar 1928
schrieb er an Friedrich Georg, daß er zwei bis drei Mal in der Woche im
Botanischen Garten »promeniere« und seine »Aufzeichnungen über die
Orchideen« fortsetze. So ist es auch nicht verwunderlich, sondern für
Jüngers Lebensführung – und allerdings auch für seine
Selbststilisierungsabsichten – nur symptomatisch, daß er den Journalisten
Ludwig Alwens im Herbst 1932 zu einem Gespräch über den eben
erschienenen Arbeiter in den Botanischen Garten mitnahm und daß der
Bericht darüber auch unter dem Titel »Gespräch im Botanischen Garten/Eine
Unterredung mit Ernst Jünger« publiziert wurde. Ausführlich hat Jünger
selbst die anregende und zugleich entspannende Atmosphäre, die er – mit
einer Jahreskarte ausgestattet – im Botanischen Garten fast täglich genoß, in
den Subtilen Jagden unter der Kapitelüberschrift »Steglitz« geschildert (10,
148 – 151).
Jüngers Berliner Lebensführung war eher bohemehaft als bürgerlich. Als
Ernst von Salomon ihn zum ersten Mal besuchte, war Jünger »in einen
Schlafrock gehüllt«, trug auf dem Kopf »ein buntes Käppchen«, hatte
»Filzpantoffeln« an den Füßen und »rauchte aus einem langen Weichselrohr
mit porzellanenem Kopf«. Er arbeitete intensiv und ohne Rücksicht auf die
Tages- oder Nachtzeit, machte aber auch – allein oder in Begleitung von
Gesprächspartnern – lange Spaziergänge und Ausfahrten, die vormittags zu
Berliner Parks führten, nachmittags mitunter »zu den märkischen Wäldern
und Seen« (10, 149).
Häufiges Ziel von Jüngers Stadtgängen waren Antiquariate (10, 153ff.),
da er als unermüdlicher und entdeckungsfreudiger Lese-Abenteurer immerzu
auf der »Jagd« nach ausgefallenen Büchern war. Auch liebte Jünger es,
allein oder in Gesellschaft Streifzüge durch das nächtliche Berlin zu
unternehmen. Die zwielichtige Gegend um den Alexanderplatz, den Alfred
Döblin nicht umsonst ins Zentrum seines damals entstehenden Romans
Berlin Alexanderplatz stellte, war Jünger gut bekannt; einige seiner
Impressionen hat er in seinem 1970 publizierten Rausch- und Drogenbuch
Annäherungen unter der an Döblin erinnernden Überschrift »Das große
Babylon« festgehalten. Äußerlich wirkte Jünger – zumindest in der
Öffentlichkeit und in den Diskussionszirkeln, in denen er auftauchte –
allerdings nicht bohemehaft-nachlässig, sondern gepflegt und soldatisch.
Photographien zeigen ihn zumeist in einem eleganten Anzug mit weißem
Hemd und Fliege, und ein französischer Interviewer bezeichnete sein
Gesicht 1932 als »ascétique, plein d’énergie et de réserve«. Tatsächlich hatte
Jünger auch asketische Neigungen, denen er zeitweilig folgte. Davon zeugt
ein Brief vom 14. August 1927 an Friedrich Georg. Es heißt darin: »Ich bin
jetzt in einer Kur begriffen, die eine gute Vorschule der Askese gibt. Ich
rauche schon seit Monaten nicht mehr, nun nähre ich mich nur noch von
Haferschleim, geröstetem Weißbrot und gehacktem Schinken. Es scheint
jedoch, daß dieses Leben zu größerer Arbeit fähig macht.« Im Umgang
scheint Jünger eher zugeknöpft und zurückhaltend als aufgeschlossen und
mitteilsam gewesen zu sein, aber gerade dadurch auch interessant. Bronnen
erinnerte sich später: »Der dunkle, schmale, kaum mittelgroße und drahtige
Mann erregte, wenn er schwieg, ähnliche Faszination in mir wie fünf Jahre
zuvor Bert Brecht.«
Auffallend und charakteristisch war auch Jüngers Sprechweise. Von
Salomon erinnert sich an einen »niedersächsisch schleppenden Tonfall«, und
Bronnen schreibt, Jünger habe »nasal, langsam« und »überheblich«
gesprochen. Niekisch charakterisiert Jünger in seinen Erinnerungen
folgendermaßen: »ein nicht großer Mann, schlank, straffe Haltung,
schmales, scharf geschnittenes Gesicht, gemessenes Benehmen, sehr
überlegte Sprechweise, schnarrende, offiziersmäßige Stimme. Er macht den
Eindruck äußerster Gepflegtheit und Selbstzügelung. Seine Sätze tragen
etwas von geschliffenen Aphorismen an sich.« Jünger und seine Freunde
liebten lange Diskussionsabende, bei denen es hoch herging. Daß er dabei
auch, wenn kein Brennmaterial für den Ofen mehr zur Hand war, Möbel
zertrümmerte und verheizte, wurde von Hielscher berichtet. Freilich vergaß
Hielscher hinzuzufügen, daß es sich dabei, wie aus Gretha Jüngers
Silhouetten zu ersehen ist, um einen einmaligen Vorgang aus dem kalten
Winter 1929 handelte, in dem ganz Berlin unter Brennstoffmangel litt, und
daß es sich bei den Möbeln um alte Stühle und Kisten handelte, die im
Keller abgestellt waren.
Jüngers Einkommensverhältnisse in den Berliner Jahren waren wohl nicht
üppig, aber auch nicht schlecht. Zwar gehörte er nicht zu den Erfolgsautoren
wie Bronnen und Remarque, die sich nach den Erfolgen von O. S. und Im
Westen nichts Neues ein luxuriöses Leben leisten konnten. Aber
Offiziersrente, Ehrensold für den Orden »Pour le mérite«, Tantiemen aus
dem um 1928/29 wieder anziehenden Verkauf der Stahlgewitter und
Honorare für die Zeitschriftenartikel und die Sammelbände, die Jünger um
1930 herausgab, dürften ein einigermaßen regelmäßiges und hinreichendes
Einkommen ergeben haben. Um 1929 schrieb Jünger gelegentlich
Theaterrezensionen für den Tag, vielleicht, um die Einkünfte etwas
aufzubessern.
Jüngers Einkünfte ließen auswärtige Urlaubsaufenthalte und längere
Reisen zu. 1928 verbrachte die Familie einen Teil des Juli auf Usedom,
einen Teil des August in Leisnig. In den Jahren 1929 und 1930 reiste Jünger
vermutlich zweimal nach Sizilien, 1929 mit seiner Frau und dem Ehepaar
Fischer, 1930 mit seiner Mutter und seinen Brüdern Friedrich Georg und
Hans Otto. Von der ersten dieser beiden Reisen berichten Aufzeichnungen,
die 1944 unter dem Titel Aus der goldenen Muschel publiziert wurden (6, 89
– 107), von der zweiten Friedrich Georg Jüngers 1943 gedruckte Briefe aus
Mondello; aus welcher der beiden Reisen der 1930 publizierte
Sizili[ani]sche Brief an den Mann im Mond resultierte, ist nicht sicher
auszumachen. Im Mai und Juni 1931 hielt Jünger sich ungefähr fünf Wochen
auf den Balearen auf und kehrte dann über Barcelona und Paris wieder nach
Berlin zurück. Im folgenden Jahr 1932 verbrachte er den Juni und Juli
zusammen mit Friedrich Georg auf den dalmatinischen Inseln um Korula;
ein Bericht darüber erschien 1934 unter dem Titel Dalmatinischer Aufenthalt
(6, 9 – 35). Während dieser Reisen entstand jene große Liebe zur
mediterranen Inselwelt, die Jünger nie wieder losließ und ihn nach dem
Zweiten Weltkrieg immer wieder in den Süden zog.

Unter Radikalen

In Berlin verkehrte Jünger in einer bunten Gesellschaft aus meist


nationalistisch orientierten Intellektuellen oder Schriftstellern mit stark
politischen Interessen. Es gab verschiedene Kreise, die sich teilweise
mischten und unerwartete Begegnungen ermöglichten. Bei Niekisch lernte
Jünger den anarchistischen Dichter Erich Mühsam kennen, der – wie
Niekisch – eine führende Rolle in der Münchener Revolution und
Räterepublik gespielt hatte, möglicherweise auch Ernst Toller (3, 515). Ein
Kreis bildete sich um Jünger und Hielscher; neben diesen beiden gehörten
ihm Jüngers Brüder Friedrich Georg, Hans Otto und Wolfgang an, die ab
1928 vorübergehend alle in Berlin wohnten, dann auch Franz Schauwecker,
Ernst von Salomon und Ernst Niekisch, ebenso der Photograph Edmund
(»Edmond«) Schultz, der vielerlei Verbindungen hatte und für Jünger ein
wichtiger Informant war (4, 52f.). Sporadisch erschienen auch andere und
auswärtige Vertreter des nationalistischen oder »völkischen« Flügels, so die
beiden Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Volkstum, Wilhelm Stapel und
Albrecht Erich Günther, der Pädagogik- und Philosophieprofessor Alfred
Baeumler und der Journalist Ludwig Alwens. Sicher kannte Jünger auch den
sogenannten »Salon Salinger«: die Wilmersdorfer Wohnung des deutsch-
jüdischen Journalisten Hans Dieter Salinger, in der um 1929/30 an jedem
Freitagabend politische Diskussionen mit Gesprächspartnern aus sehr
verschiedenen Lagern stattfanden.
Spätestens 1929 wurde Jünger aber auch für linksorientierte Intellektuelle
so interessant, daß manche in seinem Kreis erschienen oder ihm ihre Kreise
öffneten. So kamen Brechts Freund Arnolt Bronnen und der kommunistisch
orientierte Maler Rudolf Schlichter, der Porträtist der tonangebenden linken
Berliner Autoren, zu Jünger, und so kam Jünger zu Ernst Rowohlts
legendären Autorenabenden, deren Ruf nicht nur darauf beruhte, daß
infernalisch getrunken wurde, sondern auch darauf, daß der Hausherr es
liebte, für seine Feste – so Jünger in einer Tagebuchaufzeichnung vom 7.
Mai 1945 – »pyrotechnische Mischungen« von Gästen »auszutüfteln« (3,
430), also auch extrem »linke« und extrem »rechte« Autoren
aufeinandertreffen zu lassen. Ein ebenfalls gemischter Kreis war die
»Arbeitsgemeinschaft [oder Gesellschaft] zum Studium der [sowjetischen]
Planwirtschaft«, die im Winter 1931/32 gegründet wurde, um
rechtsorientierte Intellektuelle für die Sowjetunion zu interessieren; hier
trafen Ernst Jünger, Carl Schmitt, Ernst Niekisch und Friedrich Hielscher
mit KP-Mitgliedern wie Georg Lukács und Karl-August Wittfogel
zusammen (vgl. 3, 443). Und schließlich bildete sich ein Kreis um Valeriu
Marcu, wo Jünger sowohl dem alten Generalobersten Hans von Seeckt als
auch dem Romancier Joseph Roth begegnete, der gerade mit seinem
Radetzkymarsch aufwartete. In allen diesen Zirkeln trafen sehr
unterschiedliche Positionen und Temperamente aufeinander, und die
Unterhaltungen dürften entsprechend kontrovers und manchmal explosiv
gewesen sein. Eine Gemeinsamkeit scheint es allerdings gegeben zu haben.
Arnolt Bronnen bemerkt mit Blick auf die Gesellschaft, die sich in diesen
Kreisen traf: »Wir waren ja alle Anhänger der Katastrophen-Theorie, wir
sahen den völligen Niederbruch unserer Zivilisation, unserer Kultur voraus.«
Das ist schonungsvoll formuliert. Man sah den »Niederbruch« der noch
bestehenden zivilen Welt in diesen Kreisen weniger voraus, als daß man ihn
betrieb. Man war in diesen Kreisen um 1930 von einer Radikalität, deren
Hemmungslosigkeit in den damals publizierten Artikeln, die schon schlimm
genug sind, nur annäherungsweise erkennbar wird. An den
Diskussionsabenden dürften noch ganz andere Töne laut geworden sein. Das
ist nicht dokumentiert, aber einige Briefe Ernst Jüngers an Ludwig Alwens
lassen ahnen, mit welch erschreckender Radikalität und
Unverantwortlichkeit in diesen Kreisen gedacht und gesprochen wurde. So
schrieb Jünger am 30. August 1930 an Alwens:
[…] wir brauchen keine Wähler, sondern Krieger, keine
Stimmzettel, sondern Pulver und Gewehre. […] wir brauchen
einen Menschenschlag, der zugleich eine anarchistische
Haltung zur Gegenwart und eine heroische zur Zukunft
besitzt. Alles was nicht auf einen neuen Krieg hinzielt,
interessiert uns nicht. Wir wollen kein soziales oder
ökonomisches Opium, sondern Mord und Totschlag. Wir
müssen die Demokratie benutzen, um ganz Deutschland in
eine große Kaserne zu verwandeln, die es ja tatsächlich schon
ist, nämlich eine Mietskaserne, in der man entweder so oder
so verrecken kann. Da wir aber lieber durch Dynamit
umkommen wollen als durch Unterernährung, sind wir auf
die totale Mobilmachung angewiesen, die entweder durch den
Übergang zur Herrschaft oder durch den Untergang beendet
wird. […] Ich hoffe, daß man schon in drei Jahren auf den
Straßen um Gewehre schreien wird. Bis dahin müssen wir
unsere Forderungen aufgestellt haben, die nicht an den
Maßstäben der französischen Revolution, sondern an denen
von Dschingis-Khan gemessen sein müssen.
Und am 16. September 1930, also zwei Tage nach jener Reichstagswahl, aus
welcher NSDAP und KPD mit starken Stimmengewinnen hervorgegangen
waren, schrieb Jünger wiederum an Alwens:
Das Dogma, auf das ich jeden zu vereidigen gedenke, wird
die Notwendigkeit eines zweiten Weltkrieges sein. Da dieser
Krieg weltrevolutionären Rang besitzen wird, müssen in der
deutschen Innenpolitik Fragestellungen von
weltrevolutionärem Charakter aufgeworfen und zur Lösung
gebracht werden. Thesen und Antithesen müssen vor dem
Forum des in Permanenz erklärten Bürgerkrieges abgewogen
werden. Die Gerippe des XIX. Jahrhunderts müssen durch die
Knochenmühle des Chaos gejagt werden, deren Gang durch
einen innersten Willen zur Ordnung beschleunigt wird. […]
Dieses und manches mehr denke ich in ungefähr einem
Dutzend ganz kurzer Untersuchungen auszuführen, von
denen ich sicher bin, daß sie auf das Maß an Widerstand
stoßen werden, das zur Absonderung aller bloßen Mitläufer
notwendig ist.
Es war nicht nur Radikalismus, was sich hier artikulierte, sondern Ultra-
Radikalismus. Jünger meinte es ernst mit der Weltrevolution über einen
zweiten Weltkrieg. Der Brief ist, wie aus den hier nicht zitierten Teilen
ersichtlich wird, ein Vorgriff auf den eben entstehenden Arbeiter, in dem ja
auch eine »Kette von Kriegen und Bürgerkriegen« prophezeit wird (8, 83).
Indessen macht der letzte Satz auch deutlich, daß Jüngers radikale
Redeweise zum Teil auch aus der Not resultiert, sich in einer radikal
denkenden Umgebung verbal zu profilieren. Als sich 1933 die Chance
auftat, den Radikalismus der politischen Artikel und der Berliner
Diskussionsabende in die Praxis zu überführen, hielt sich Jünger – wie schon
während der vorausgehenden Zeit der politischen Attentate – völlig zurück.
Insofern erwies sich sein Ultra-Radikalismus doch als Verbal-Radikalismus,
der im Kontext der Haß-›Kultur‹ zu sehen ist, die am Ende des Kapitels über
Jüngers politische Publizistik als Epochenphänomen kenntlich gemacht
wurde. Damit ist auch gesagt, daß die Aggression gegen die bürgerliche
Gesellschaft und die Vernichtungswut, die sich in Jüngers Briefen an Alwens
und in weiteren Äußerungen dieser Art artikuliert, nicht ein Spezifikum
Jüngers ist, sondern eine epochale Fehlhaltung, die sich auch an ganz
anderen Stellen dokumentiert. So bekennt der antibürgerlich eingestellte
Protagonist von Hermann Hesses 1927 erschienenem Roman Der
Steppenwolf, daß er eine »rasende Lust« verspüre, »irgend etwas
kaputtzuschlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale«; und in seinem
drogeninduzierten »magischen Theater« darf er sich dann tatsächlich einer
»Hochjagd auf Automobile« hingeben, das heißt: dem genußvollen
Abschießen von Automobilisten als Exponenten der »blechernen«
Zivilisation, die nach Meinung des Steppenwolfs dringend zerstört werden
mußte. Gewiß, das ist Literatur, die nicht jenen Grad von persönlicher
Authentizität hat, der einem Brief anhaftet, auch wenn er deutlich zum
Manifest in der Tradition des literarisch-politischen Avantgardismus tendiert.
Aber von ungefähr kommen auch die Vernichtungswünsche des
Steppenwolfs nicht: Sie stehen für eine Destruktionswut, die sogar den
Pazifisten Hesse erfaßte und von diesem literarisch plausibilisiert wurde,
wenn auch nur in der Form einer surrealistischen Phantasie.
Es scheint, daß Jünger in den Berliner Jahren mehrfach auch auf Bertolt
Brecht gestoßen ist. Am 17. November 1928 schrieb Jünger an Alwens, er
werde demnächst unter anderem Brecht, Bronnen und Rowohlt treffen, und
am 23. November bemerkte er in einem weiteren Brief an Alwens, Brecht
sei »eine unmögliche Type«. Möglicherweise ging es bei diesem Treffen um
die Frage, ob man gemeinsam eine Zeitschrift herausgeben könne; aber
wenn es so war, wurde diese Idee rasch wieder fallengelassen. Mehrfach
könnten Jünger und Brecht bei dem Maler Rudolf Schlichter
zusammengetroffen sein. Ein Freund von Schlichter, der im Jahr 1900
geborene Fabrikant Heinrich Perrot, berichtete später über einen Besuch bei
Schlichter:
Als ich dort auftauchte, waren bereits andere Gäste anwesend.
Ernst Jünger und ein Historiker namens Schramm saßen um
den runden Tisch und tranken Kaffee. Nach einer
Viertelstunde erschien Berthold <!> Brecht, setzte sich auch
dazu, an einer Zigarre saugend. Ich fühlte mich so, als ob ich
von jeher zu diesen Leuten gehört hätte.
Jünger berichtete über das Buch, an dem er gerade arbeitete
und das von Waffentechniken in einem neuen Krieg, den er
für möglich hielt, handelte [eventuell Das Antlitz des
Weltkrieges, vielleicht aber auch ein anderes, nicht
ausgeführtes Projekt]. Es währte nicht lange, und in der
Runde prallten die widersprüchlichsten Meinungen über
Politik aufeinander. Ich bekam plötzlich große Angst und
sagte das auch: »Es schüttelt mich, wenn man, knapp
nachdem der entsetzliche Krieg vorübergegangen ist, sich
schon wieder mit dem Thema der Menschenvernichtung
beschäftigt.« Jünger meinte trocken, mit einer gewissen
Strenge in der Stimme, »Kriege wird es immer geben«,
während ich Brecht, seinen Gegner, als meinen
Bundesgenossen empfand. Daß die beiden Männer sich nicht
grün waren, war ja körperlich zu spüren. Speedy [Schlichters
Frau], die auch schweigen konnte, war dennoch im Kreis der
Mittelpunkt. Ich hatte den Eindruck, als ob die Kontrahenten
nur ihretwegen, vor ihr, so heftig miteinander debattierten
und sich so großartig aufführten. Rudolf schwieg!
Der Dramatiker Heiner Müller bemerkt in seiner 1992 erschienenen
Autobiographie Krieg ohne Schlacht, Jünger habe ihm 1988 bei einem
Besuch in Wilflingen gesagt, er habe Brecht bei Schlichter (oder anderswo)
»ungefähr zwölfmal« getroffen, doch ist dem Nachwort zum Briefwechsel
zwischen Jünger und Schlichter zu entnehmen, daß die Wiedergabe des
Gesprächs mit Jünger auf Mißverständnissen beruht (358). In Jüngers
eigenen Schriften findet sich nur der Hinweis, daß »man« an Rowohlts
Autorenabenden auch Brecht treffen konnte (3, 430). Aber es ist nicht
ersichtlich, ob Jünger bei Rowohlt tatsächlich mit Brecht
zusammengetroffen und ins Gespräch geraten ist. Und wenn es wirklich zu
rund einem Dutzend Begegnungen gekommen sein sollte, so wären diese
geradezu eindruckslos geblieben. Jedenfalls waren sie weder für Jünger noch
für Brecht einer weiteren Bemerkung wert, und auch in den eingangs
genannten Erinnerungen der Bekannten ist von Begegnungen und
Kontroversen zwischen Jünger und Brecht nicht die Rede. Allerdings dürften
die Aversionen gegen Jünger, die Brecht anläßlich der Ost-Berliner Jünger-
Debatte im Jahr 1946 äußerte, auch auf die Begegnungen um 1930
zurückzuführen sein.
Nach wie vor hatte Jünger auch Kontakte zu nationalistischen Kreisen und
Bünden. Im Sommer 1928 nahm er im mecklenburgischen Bad Stuer an
einer Tagung der vom Freikorpsführer Roßbach gegründeten »Schilljugend«
teil, im Sommer 1929 an einer Tagung nationalistischer »Führer« und
Publizisten auf dem Eichhof in Rheindahlen bei Mönchengladbach, die von
der »Mittelstelle für nationale Publizistik« organisiert worden war und
beraten sollte, wie die schleswig-holsteinische »Landvolkbewegung« für die
Ziele der revolutionären Nationalisten genutzt werden konnte; mit den
Vertretern der »Landvolkbewegung« hatte Jünger so intensiven Kontakt, daß
seine Wohnung, wie Gretha Jünger in den Silhouetten berichtet, zeitweilig
von der Polizei überwacht wurde. Im August 1930 besuchte Jünger für eine
Woche Hans Grimm, den Verfasser des vielgelesenen Romans Volk ohne
Raum (1926), der sein an der Oberweser gelegenes Gut Lippoldsberg zu
einem Zentrum konservativer und nationalistischer Autoren zu machen
suchte. Auch an der Tagung des »Nationalen Schrifttums«, die im Herbst
1931 unter Grimms Leitung in Berlin stattfand, nahm Jünger teil. Daraus
darf man allerdings nicht schließen, daß zwischen Jünger und Grimm
Harmonie bestand. Goebbels notierte am 15. Februar 1931 nach einem
Mittagessen mit Grimm, dieser sei »voll Verachtung gegen das
Literatentum« gewesen und habe »scharf gegen Jünger« geredet. Insgesamt
bleibt festzustellen, daß alle diese Zusammenkünfte folgenlos blieben.
Weder trugen sie dazu bei, daß die Umbruchs- und Erwartungsstimmung im
Sinne Jüngers zunahm, noch gelang es den »neuen Nationalisten« um
Jünger, den Nationalsozialisten das Wasser abzugraben. Jünger behielt die
Nationalisten-Treffen als frustrierende Veranstaltungen in Erinnerung, die
Tagung auf dem Eichhof wohl als verpaßte Chance (3, 48).
Im Februar 1929 nahm Jünger brieflichen Kontakt mit Alfred Kubin auf,
dessen Roman Die andere Seite er während des Kriegs mit großer
Faszination gelesen hatte und den er schätzte, weil er in ihm
»seismographisch ein Bild entscheidender Vorgänge unserer Zeit
vorgezeichnet« sah (so Jünger in seinem ersten Brief an Kubin: BW Kubin,
14). Nun schickte er ihm ein Exemplar des Abenteuerlichen Herzens, in dem
auf Kubins Roman Bezug genommen wird, und eine essayistische Reflexion
ebendieses Romans, die er für Niekischs Widerstand geschrieben hatte (PP,
458 – 465; vgl. auch 14, 20 – 32). Kubin reagierte freundlich und mit
Anerkennung für das Abenteuerliche Herz wie für den Essay. Daraus ergab
sich ein zwar nicht dichter, aber doch kontinuierlicher Briefwechsel. Zu
einer Begegnung kam es vorerst nicht; Kubin wohnte im
oberösterreichischen Zwickledt. Aber schon der briefliche Kontakt scheint
für Jünger von großer Bedeutung und besonderem Interesse gewesen zu
sein. Zum einen sah er in Kubin einen wesensverwandten Geist; und zum
andern führte die Korrespondenz mit Kubin in eine Sphäre jenseits der
Politik, in die Sphäre der Kunst, zu der sich Jünger seit der Arbeit am
Abenteuerlichen Herzen stärker als zuvor hingezogen fühlte. Der
Briefwechsel mit Kubin ist ein Briefwechsel nicht über politische, sondern
über künstlerische Angelegenheiten, und Jünger bedauerte es geradezu
einmal, daß sein Name »einen politischen Beigeschmack« hatte und er
deswegen als Redner für die Eröffnung einer Kubin-Ausstellung in Hamburg
nicht in Frage kam (BW Kubin, 26). Anders gesagt: In der 1929
einsetzenden Korrespondenz mit Kubin fühlte Jünger sich wesentlich als
Künstler, und zum ersten Mal mag er bemerkt haben, daß die Einbindung in
politische Zusammenhänge eine Gefahr für die Entfaltung seines
Künstlertums darstellen und seine Wahrnehmung unter Künstlern
beeinträchtigen konnte. Aber vorerst wurde sein Leben noch weitgehend von
den politischen Interessen bestimmt.
Mit seinen Berliner Bekannten besuchte Jünger politische Veranstaltungen
und Demonstrationen. Er hat nicht nur Goebbels gehört, sondern auch
Thälmann, und er ging zu den Großveranstaltungen der Kommunisten wie
der Nationalsozialisten in den Sportpalast (3, 426). Niekisch berichtet, daß
Jünger es »liebte«, bei großen Demonstrationen als Beobachter anwesend zu
sein, und daß er »Vergnügen daran hatte, zu verfolgen, wie die allgemeine
Aufregung turbulente Formen annahm«. Wenn es handgreiflich und
gefährlich wurde, brachte er sich allerdings rasch in Sicherheit; im
»Bürgerkrieg« wollte er sein Leben nicht lassen, nachdem er es durch den
ganzen Weltkrieg hindurch hatte behalten dürfen. Alexander Mitscherlich,
der über Ludwig Alwens mit Jünger bekannt geworden war und ihn für eine
gewisse Zeit als seinen »Mentor« betrachtete, berichtet in seiner
Autobiographie, daß er seinerzeit zu seiner großen Enttäuschung habe
beobachten müssen, wie der »Held des Weltkriegs« während der
Beobachtung einer Straßenschlacht in Berlin-Neukölln »mit großer
Behendigkeit« in einem Hausflur verschwunden sei, als in der Ferne ein
Panzerwagen der Polizei auftauchte. Im Unterschied zu Mitscherlich wußte
Jünger eben, was ein gepanzertes Fahrzeug mit einem Maschinengewehr
anrichten konnte, aber Mitscherlich, der dies damals noch nicht ermessen
konnte, begann Jünger daraufhin »zu verachten«.
Während der Berliner Jahre gewann Jünger zwei neue intellektuelle
Bekannte, zu denen sich ein so enges Verhältnis entwickelte, daß, was bei
dem distanzierten Jünger etwas heißen will, fast von Freundschaft
gesprochen werden kann: Valeriu Marcu und Carl Schmitt. Im Hinblick auf
Marcu hat Jünger 1995 im Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco Volpi
gesagt, daß sie »gut befreundet«, im Hinblick auf Schmitt, daß sie »wahre
Freunde« gewesen seien. Schmitt bezeichnete er gerne auch mit einem
vieldeutigen französischen Wort als seinen »Compère« (4, 484) -: seinen
Kameraden, Vertrauten, Gesinnungsgenossen. Mit Marcu wie mit Schmitt
blieb Jünger bis zu deren Tod in Verbindung, obwohl die Lebenswege nach
1933 sehr unterschiedlich verliefen.
Der Historiker und Publizist Valeriu Marcu war 1899 in Bukarest als Sohn
rumänischer Juden geboren worden, wandte sich schon als Jugendlicher dem
Kommunismus zu, lernte Lenin und Trotzki kennen, beteiligte sich 1919 an
der ungarischen Revolution, lebte dann in Deutschland und wechselte im
Verlauf der zwanziger Jahre vom linken ins rechte Lager. 1927 publizierte er
eine erste Lenin-Biographie, die zugleich ein Buch über das
nachrevolutionäre Rußland war, 1928 ein Buch über den preußischen
General Scharnhorst, der nach der Niederlage gegen Napoleon das
preußische Militär reformierte und damit eine der Grundlagen für den
Wiederaufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht schuf. Dieses
Buch – Das große Kommando Scharnhorsts. Die Geburt einer Militärmacht
in Europa – hat Jünger im August 1929 in Niekischs Zeitschrift Widerstand
in einem Artikel unter der Überschrift Der Wille zur Gestalt überaus lobend
besprochen, weil in ihm – so Jünger – die »bislang vom traditionellen
Patriotismus mit Beschlag belegte Gestalt […] Scharnhorsts als
Verkörperung der revolutionären Energie gewürdigt« (PP, 492f.) und mithin
zu einer Gestalt im Sinne von Jüngers »neuem« oder revolutionärem
Nationalismus gemacht wurde; es scheint, daß der Begriff der »Gestalt«, der
in Jüngers Arbeiter eine zentrale Rolle spielt, von Marcu mit angeregt
wurde. Ob Jünger Marcu schon vor oder erst nach dieser Besprechung
persönlich kennenlernte, ist aus Jüngers Aufzeichnungen nicht zu ersehen.
Es geschah jedenfalls bei Bronnen (3, 442), und man traf sich fortan
häufiger, nicht nur bei Bronnens abendlichen Einladungen, sondern auch in
der »Gesellschaft zum Studium der Planwirtschaft« und in Marcus Haus am
Wannsee. Jünger nahm Anteil an Marcus Arbeiten, erörterte mit ihm aber
auch seine eigenen Vorhaben, insbesondere die Konzeption des Arbeiters. Er
schätzte Marcus scharfen Verstand und sein historisches Wissen, vor allem
aber seine Fähigkeit zur Beurteilung der historisch-politischen Lage.
Der Jurist Carl Schmitt, 1888 im sauerländischen Plettenberg geboren,
hatte, als Jünger ihn 1929 durch Hugo Fischer kennenlernte, an der Berliner
Handelshochschule den Lehrstuhl des »Weimarer Verfassungsvaters« Hugo
Preuß inne und war im Begriff, zum führenden Staatsrechtslehrer der
Weimarer Zeit aufzusteigen. Im Verlauf der zwanziger Jahre hatte er mehrere
brillant formulierte Bücher vorgelegt, die von größter politischer Aktualität
und Brisanz waren: über die Idee der Diktatur (1921); über die »politische
Theologie« oder die »Lehre von der Souveränität« (1922); über die
»geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« (1923); über
»römischen Katholizismus und politische Form« (1924); über
»Volksentscheid und Volksbegehren – ein Beitrag zur Auslegung der
Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie«
(1927); dann die monumentale Verfassungslehre (1928) und die vielzitierte
Abhandlung Der Begriff des Politischen (1928). Hervorstechend an Schmitt
– und faszinierend für Jünger – waren insbesondere drei Momente: Das eine
war der Zug zur »politischen Theologie«, der aus Schmitts emphatischem, ja
radikalem oder fundamentalistischem »römischem« Katholizismus (bis
1926) resultierte. Gemeint ist damit die 1922 versuchte Herleitung
politischer Begriffe wie »Souveränität« und »Staat« aus theologischen
Zusammenhängen, eine zunächst historische Betrachtung, die freilich auch
einen aktuellen normativen und appellativen Aspekt hatte, eine bleibende
Verankerung politischer Begriffe in theologischen – und das hieß für
Schmitt: dezidiert christlichen – Dimensionen einschloß: Politik sollte
letztlich realisierte Theologie sein; politisches Geschehen sollte in
heilsgeschichtlichem Horizont gesehen und beurteilt werden.
Ein zweites Interessen- oder Faszinationsmoment war Schmitts
Parlamentarismuskritik: Wie viele Zeitgenossen sah Schmitt im
Parlamentarismus nicht mehr den Willen des Volks und die Einheit des
Staats repräsentiert, sondern die Interessen von Parteien und Verbänden, die
sich der Abgeordneten bemächtigt und den parlamentarischen Betrieb zu
einer »leeren und nichtigen Formalität« degradiert hatten. Die Konsequenz
lautete für Schmitt, daß der Parlamentarismus weder den Interessen des
Staats entsprach noch automatisch mit Demokratie gleichzusetzen war;
vielmehr sei auch an andere, plebiszitäre oder »cäsarische« Formen der
Demokratie zu denken, die sogar zur Herrschaftsform der Diktatur führen
könnten. Als drittes Moment kam Schmitts grandiose Definitionskunst
hinzu: Der Eingangssatz der Politischen Theologie – »Souverän ist, wer über
den Ausnahmezustand entscheidet« – wurde legendär, ebenso der
grundlegende Satz der Abhandlung Der Begriff des Politischen – »Die
spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen
Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von
Freund und Feind« -: ein Satz, der nicht nur Beifall fand, sondern auch auf
heftige Ablehnung stieß, weil er Feindschaft oder Gegnerschaft ins Zentrum
des politischen Denkens zu stellen schien, und nicht etwa Friedfertigkeit
oder Solidarität oder Gerechtigkeit. Theodor Haecker, ein 1921 zum
Katholizismus konvertierter Kulturkritiker und Hitler-Gegner, schrieb 1933
in seiner weitverbreiteten Abhandlung Was ist der Mensch, Schmitts
Definition des Politischen sei eine »ebenso primitive, schiefe, geistig
rudimentäre« Bestimmung wie etwa die sozialdarwinistische Formel vom
Leben als »Kampf ums Dasein« und verleite zum Schluß, »daß das Ziel des
Politischen nicht mehr der Friede ist, sondern der Krieg«. Wie sehr indessen
Jünger von Schmitts Denken angezogen war, zeigt der Brief, den Jünger am
14. Oktober 1930 nach der Lektüre des Begriffs des Politischen an Schmitt
schrieb:
Sehr geehrter Herr Professor!
Ihrer Schrift »Der Begriff des Politischen« widme ich
folgendes Epigramm:
»Videtur: suprema laus« [Augenfällig ist: höchstes Lob],
denn der Grad ihrer unmittelbaren Evidenz ist so stark, daß
jede Stellungnahme überflüssig wird, und die Mitteilung, daß
man Kenntnis genommen hat, dem Verfasser genügt.
Die Abfuhr, die allem leeren Geschwätz, das Europa
erfüllt, auf diesen dreißig Seiten erteilt wird, ist so
irreparabel, daß man zur Tagesordnung also, um mit Ihnen zu
sprechen, zur Feststellung des konkreten Freund-Feind-
Verhältnisses übergehen kann. Ich schätze das Wort zu sehr,
um nicht die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und
Bösartigkeit Ihres Hiebes zu würdigen, der durch alle Paraden
geht.
Der Rang eines Geistes wird heute durch sein Verhältnis
zur Rüstung bestimmt. Ihnen ist eine besondere
kriegstechnische Erfindung gelungen: eine Mine, die lautlos
explodiert. Man sieht wie durch Zauberei die Trümmer
zusammensinken; und die Zerstörung ist bereits geschehen,
ehe sie ruchbar wird.
Was mich betrifft, so fühle ich mich durch diese
substantielle Mahlzeit recht gestärkt. Ich gedenke, Ihnen
einige jener Leser zuzuführen, die heute ebenso selten wie
Bücher sind.
Mit Hochachtung Ernst Jünger
Der Brief offenbart nicht nur sachliche Übereinstimmung zwischen Jünger
und Schmitt. Mit seinen durchaus schmeichlerischen Wertungen zeigt er
auch Jüngers – in diesem Fall – uneingeschränkte Bereitschaft zur
Bewunderung; mit seiner ausgefeilten Diktion verrät er den Wunsch nach
Anerkennung, mit seinen geradezu buhlerisch eingesetzten
waffentechnischen Anspielungen das Bemühen um Anschluß und
Herstellung von militanter Gemeinsamkeit in einer Zeit, die der
ideologischen »Frontbildung« huldigte, Literatur als »Waffe« betrachtete
und von Überwältigungs- und Vernichtungswünschen erfüllt war.
Tatsächlich entwickelte sich in den nachfolgenden Monaten eine enge
intellektuelle Partnerschaft, die durch Briefe, Büchertausch, gemeinsame
Spaziergänge und wechselseitige Besuche – und sei’s nur »zu einem
Butterbrote«, wie es in einem Brief vom 11. September 1932 heißt –
gepflegt wurde. Zweifellos verdankt Jünger dem universal gebildeten
Schmitt vielerlei Anregungen nicht nur für die letzten politischen Artikel
einschließlich der Totalen Mobilmachung und für den Arbeiter; dazu gehört
leider auch, daß er sich für seinen (im letzten Kapitel erörterten) Artikel
Über Nationalismus und Judenfrage von Schmitts Haß auf das sogenannte
»Zivilisationsjudentum« anstecken ließ. Spannungen blieben freilich auch
nicht aus und intensivierten sich nach Hitlers »Machtergreifung«. Alles in
allem aber schätzte Jünger in Schmitt von Anfang an und auf Dauer den
universal belesenen Gesprächspartner, den definitionsmächtigen
Systematiker und den historisch überaus bewanderten Geschichts- und
Zeitdiagnostiker.
Neben Marcu und Schmitt war Arnolt Bronnen ein weiterer wichtiger
Bekannter der Berliner Jahre. Bronnen war – wie Jünger – im Jahr 1895 in
Wien als Sohn des jüdischen Gymnasialprofessors Ferdinand Bronner und
seiner nichtjüdischen Frau geboren worden, verleugnete aber seinen Vater
und nannte sich deswegen Bronnen. Er hatte im Ersten Weltkrieg als Offizier
gedient, war 1920 nach Berlin übergesiedelt, hatte sich zu Beginn der
zwanziger Jahre mit einigen grellen Dramen – Vatermord (1920), Die Geburt
der Jugend (1922), Exzesse (1923) – einen Namen gemacht und galt danach
für einige Jahre neben Brecht, mit dem er befreundet war, als der
bedeutendste junge Dramatiker. In der Tat bezog Brecht von Bronnen einige
Anregungen für sein Konzept des »epischen« Theaters und schätzte Bronnen
so sehr, daß er seinen Taufnamen »Berthold« an »Arnolt« anglich und fortan
»Bertolt« schrieb. Aber die Freundschaft zerbrach um die Mitte der
zwanziger Jahre, als Brecht zum Sozialismus tendierte und Bronnen, über
die »Kolonialisierung Deutschlands« durch die Siegermächte empört, ein
Faible für den widerständigen Nationalismus entwickelte. Dem entsprang
die Idee, einen Roman über die Vertreibung der Deutschen aus den
oberschlesischen Industriegebieten zu schreiben, also auch über die
legendären Kämpfe um den Annaberg (zwischen Oppeln/Opole und
Gleiwitz/Gliwice), die 1921 zwischen polnischen Freikorps und deutschen
»Selbstschutzverbänden« ausgetragen worden waren. An diesem
Oberschlesien-Roman, der 1929 unter dem Titel O. S. erschien, arbeitete
Bronnen, als Jünger in Berlin angekommen war und von sich reden machte.
Wann Bronnen und Jünger miteinander in Berührung kamen, ist nicht
genau festzustellen. Ernst von Salomon schreibt in seinem Fragebogen,
Bronnen sei nach dem Erscheinen von O. S. von seinen einstigen »linken«
Freunden geschnitten und ins »rechte« Lager gedrängt worden. Bronnen,
dessen Darstellung allerdings auch nicht zuverlässig ist, berichtet indessen in
seinem Protokoll, daß er sich während der Arbeit an O. S. in den
nationalistischen Kreisen umgesehen habe und dabei bald auf Jünger
gestoßen sei, ja, daß er in dem energiegeladenen und dynamischen,
nationalistischen und technikbegeisterten Jünger den ihm noch fehlenden
»Material«-Lieferanten für die Hauptfigur seines Romans, den patriotischen
und kämpferischen Automechaniker Krenek, gefunden habe. Wie dem auch
sei; nachdem O. S. erschienen war, besprach Jünger den Roman in kurzer
Zeit drei Mal: zunächst im Tag vom 23. Mai 1929 (PP, 483 – 486), dann –
sehr knapp – in Reclams Universum vom 8. August (PP, 494) und danach,
im Oktober, wieder ausführlicher in der Essener Bühnenzeitschrift Der
Scheinwerfer (PP, 509 – 513), von deren Redaktion Jünger gebeten worden
war, sich mit einem Artikel an der Debatte über O. S. zu beteiligen.
Jüngers Besprechungen waren des Lobes voll. Zwar räumte er ein, daß
über die literarische Qualität in einer Zeit ohne sichere Maßstäbe noch kein
verbindliches Urteil abgegeben werden könne; vor allem aber rühmte er O.
S. als ein Stück dezidiert »moderner Literatur«, das von der Not jener Zeit
wie von der elementaren Kraft des Lebens zeuge und deren barbarisierenden
Einbruch ins gesellschaftliche Leben unter Verzicht auf jedes
»konventionelle wie humanitäre Pathos« mit erfreulicher
»Rücksichtslosigkeit« schildere. Zudem begriff Jünger Bronnens Roman als
ein lang ersehntes dichterisches Zeugnis für die verzweifelten Kämpfe von
Nationalisten, die von der Öffentlichkeit bald vergessen oder verleugnet
worden waren. Im übrigen begrüßte er, daß der Nationalismus nun
»Unterstützung« auch von »linker« Seite erhielt -: nicht nur von dem
einstigen »Linken« Bronnen, sondern auch von dem als »linksorientiert«
geltenden Rowohlt-Verlag, in dem Bronnens O. S. – wie seine vorherigen
Bücher – erschienen war. An Ludwig Alwens hatte Jünger gleich nach
Erscheinen von O. S. geschrieben: »Die Sache ist insofern sehr wichtig, als
damit in die Front der großen, von der Linken in Anspruch genommenen
Verläge eine erste Bresche geschlagen wird. Ich werde das Ereignis durch
einen Leitartikel im ›Tag‹ begrüßen.« In der Tat erregte das Erscheinen von
Bronnens nationalistischem Oberschlesien-Roman im Rowohlt-Verlag
großes Aufsehen und wurde als Indiz eines Stimmungswechsels gewertet.
Als im folgenden Jahr auch noch Bronnens Roman über den Freikorpsführer
Roßbach im Rowohlt-Verlag erschien, sah der Verleger sich genötigt, sich
mit einem Artikel im Tagebuch zu rechtfertigen.

Gegen Thomas Mann

Nach dem Erscheinen von O. S. verdichteten sich die Kontakte zwischen


Jünger und Bronnen. Man sah sich in verschiedenen Kreisen, und zwischen
Bronnens Verlobter, Olga Schkarena, und Gretha Jünger entstand eine enge
freundschaftliche Beziehung. Bronnen, der den Skandal liebte und
zwischenzeitlich auch mit Goebbels Bekanntschaft geschlossen hatte, war
willens, energischer und sichtbarer als Jünger ins literarische Leben
einzugreifen. Eine Gelegenheit dazu bot die Deutsche Ansprache, die der
emphatische »Vernunftrepublikaner« Thomas Mann am 17. Oktober 1930
im Berliner Beethoven-Saal hielt.
Der Anlaß für Thomas Manns Rede war der Ausgang der Reichstagswahl
am 14. September. Diese hatte die extremen Parteien, insbesondere die
NSDAP auf eine Weise gestärkt, die für die meisten Zeitgenossen
überraschend, für manche bestürzend war. Gegenüber der letzten
Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 war der Stimmenanteil der KPD von 10,6
auf 13,1 Prozent gestiegen, der Anteil der NSDAP gar von 2,6 auf 18,3
Prozent, während der Anteil der SPD von 29,8 auf 24,5 Prozent
zurückgegangen war. Die NSDAP konnte mit 107 Abgeordneten als
zweitgrößte Fraktion in den Reichstag einziehen und ihre Destruktion des
Weimarer »Systems« an entscheidender und sichtbarer Stelle fortführen. In
dieser Situation glaubte Thomas Mann, an die »Vernunft« der Deutschen
appellieren zu müssen, und tat dies ebenso verständnisvoll wie entschieden.
Durchaus verständnisvoll gegenüber den Wählern der NSDAP räumte Mann
ein, daß es in Deutschland mancherlei Nöte, »Reizungen und Leiden« gab,
die auf den unglücklichen Vertrag von Versailles oder auf die Mängel des
parlamentarischen Systems zurückzuführen waren und begreiflicherweise
den Wunsch nach radikalen und dezidiert deutschen Lösungen aufkommen
ließen. Ebenso entschieden plädierte er aber auch dafür, die Stresemannsche
Vernunftpolitik, die auf eine friedliche Revision der Nachkriegsordnung
zielte, fortzusetzen. Zugleich unterzog er den forcierten »Neo-« und
»Radikal-Nationalismus« einer scharfen Kritik, verurteilte ihn
wendungsreich als eine gefährliche Mischung von Irrationalismus und
Fanatismus, als »orgiastische Verleugnung von Vernunft« und
»Menschenwürde«, als Verrat an den bürgerlichen Grundlagen Europas, als
»Politik im Groteskstil mit Heilsarmee-Allüren, Massenkrampf,
Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner
Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Munde hat«. Es war durchaus mutig,
dies in Berlin und in einer Situation zu sagen, in der Bürgerkriegsstimmung
herrschte und Gewalttätigkeiten aller Art gang und gäbe waren. Und
Bronnen sorgte dafür, daß auch Thomas Mann etwas davon zu spüren
bekam.
Zwischen Bronnen und Mann hatte es im Jahr zuvor einen Konflikt
gegeben. Bronnen hatte ein justizkritisches Theaterstück scharf kritisiert und
war dafür von Mann, der eben den Nobelpreis erhalten hatte, ebenso scharf
kritisiert worden. Als er nun am Abend vor der kurzfristig angesetzten
Veranstaltung im Beethoven-Saal von Manns Rede erfuhr und auch noch
zugesteckt bekam, daß sie ein Plädoyer für eine bürgerlich-
sozialdemokratische Koalition sein werde, rief er Jünger an, um mit ihm zu
beraten, ob man gegen den Redner vorgehen wolle. Man beschloß dann, so
Bronnen in seinem Protokoll, die Veranstaltung, bei der mit einiger
Prominenz zu rechnen war, zu besuchen, um »dortselbst eine Diskussion zu
entfachen«. Mit von der Partie waren noch Jüngers Bruder Friedrich Georg,
Edmund Schultz, der Germanist und Rundfunkredakteur Veit Roßkopf, der
1923 am »Hitler-Putsch« teilgenommen hatte, und wohl auch Alexander
Mitscherlich. Unabhängig davon – so Bronnen – schickte Goebbels zwanzig
mit Smoking bekleidete SA-Männer, denen allerdings eingeschärft worden
war, daß sie sich nur »geistig« betätigen und die geliehenen Smokings
schonen sollten. Im Saal herrschte nervöse Spannung, Thomas Mann sprach
stockend, und die Pausen nutzten Bronnen und seine Begleiter für
Zwischenrufe, bis die Polizei aufgefordert wurde, die Störer zu entfernen.
Der Protest des Publikums konzentrierte sich auf Bronnen, der erkannt
worden war. Als dieser nun gegen das Erscheinen der Polizei protestierte,
wurde er – unter einigem Tumult – von zwei Polizisten aus dem Saal
geführt, kurz danach aber wieder eingelassen. Immer noch herrschte Unruhe,
aber Thomas Mann konnte seine Rede beenden, wenn auch »nervös und
übereilt«, wie Bronnen bemerkt.
Während Bronnen in seinem Protokoll sich selbst als Initiator und
Anführer der Störaktion benennt, macht Mitscherlich in seiner
Autobiographie Jünger nachgerade zum Hauptverantwortlichen.
Mitscherlich schreibt dort (unter tunlicher Verschleierung der eigenen
Rolle): »Im Kreis um Jünger, zu dem auch Arnolt Bronnen gehörte, wurde
beschlossen, den Vortrag [von Thomas Mann] zu stören und zu sabotieren.«
Zwar erscheinen auch bei Mitscherlich Bronnen und die »SA-Leute, die von
Goebbels zur Störung herbeidirigiert worden waren«, als die
Krawallmacher; aber »all dies«, so heißt es dann weiter, geschah »mit einer
stillschweigenden Billigung Ernst Jüngers«. Und Mitscherlich fügte 1980
hinzu: »Es ist mir heute noch schmerzlich, damals auf der falschen Seite
gestanden zu haben.«
Vielleicht war es Jünger – gleich, welche Rolle er tatsächlich gespielt hat
– auch bald peinlich, gegen Thomas Mann agiert zu haben. Es ist auffallend,
daß Jünger diese Aktion in seinen autobiographischen Aufzeichnungen
nirgendwo erwähnt, obwohl sie ihm, wie eine Tagebuchnotiz seines
Sekretärs Mohler vom 21. Oktober 1949 verrät, sehr wohl und mit Details in
Erinnerung war; er scheint sie bald zu jenen Taten gezählt zu haben, an die
er sich lieber nicht erinnern wollte. Bezeichnenderweise findet sich auch in
Gretha Jüngers Silhouetten kein Wort davon, obwohl die Störung der Mann-
Rede gut in ihren Bericht über die Berliner Jahre gepaßt hätte und obwohl
sie ein anderes Ereignis dieser Art ausführlich darstellte: die Sprengung der
Premiere des Films Im Westen nichts Neues.
Bronnen zufolge war Goebbels durch die Störung des Vortrags von
Thomas Mann auf die Idee gekommen, in ähnlicher Weise auch andere
kulturelle Veranstaltungen propagandistisch und zugleich verunsichernd zu
nutzen. Als nächste Gelegenheit bot sich die Premiere der Verfilmung von
Erich Maria Remarques Kriegsroman Im Westen nichts Neues, der nach
seiner Erstpublikation in der Vossischen Zeitung vom 10. November bis 9.
Dezember 1928 als Buch rasch eine millionenfache Verbreitung gefunden
hatte, von nationalistischer Seite aber als defätistisch abgelehnt und als
»Entehrung« der deutschen Soldaten denunziert worden war. 1929 wurde Im
Westen nichts Neues in Hollywood von dem jüdischen, aus Schwaben nach
Amerika ausgewanderten Filmproduzenten Carl Laemmle verfilmt und
erwies sich rasch als überaus erfolgreich. Die deutsche Version sollte am 4.
Dezember 1930 im Berliner Mozartsaal am Nollendorfplatz vor einem
ausgewählten Publikum gezeigt werden, und aus diesem Anlaß wurden
Befürworter wie Gegner des Romans mobilisiert, so daß das Lichtspielhaus
von demonstrativ aufziehenden Menschenmassen umströmt war. Trotzdem
konnte die Vorführung unter Polizeischutz anlaufen, aber kurz nach Beginn
wurde im Saal eine größere Anzahl weißer Mäuse losgelassen, die dafür
sorgten, daß das Publikum kreischend nach den Türen drängte und die
Premiere abgebrochen werden mußte. Wer auf den Gedanken gekommen
war, weiße Mäuse einzusetzen, ist nicht klar. Gretha Jüngers Darstellung
vermittelt den Eindruck, es sei Bronnens Verlobte Olga Schkarena gewesen,
die damals ein Verhältnis mit Goebbels hatte; Bronnen schreibt indessen,
seine geltungssüchtige Verlobte habe, von Reportern befragt, zu Unrecht
behauptet, die Mäuse losgelassen zu haben (aber mit großem Erfolg: sie galt
von da an als die »Herrin der weißen Mäuse«).
Sicher scheint zu sein, daß Jünger hier die Hand nicht im Spiel hatte. Er
und seine Frau waren mit dem Omnibus zum Nollendorfplatz gefahren,
vielleicht, weil sie zur Premiere eingeladen waren, vielleicht aber auch nur,
weil Jünger wieder einmal eine Demonstration beobachten wollte. Gleich
nach dem Verlassen des Busses wurden sie aber, wie Gretha in den
Silhouetten schreibt, von einer »Woge« von Menschen erfaßt und in den
Eingang eines Restaurants geschwemmt, von wo aus sie das weitere
Geschehen beobachten konnten. Wie Jünger diese Aktion gegen den
Remarque-Film in der Sache beurteilte, geht aus Grethas Bericht leider nicht
hervor, ebensowenig aus Mohlers Notizen vom 28. November 1949, und
einschlägige Äußerungen von Jünger selbst gibt es nicht. Es ist fraglich, ob
er den Protest gutgeheißen hat. Jünger gehörte keineswegs zu denen, die
gegen Remarques Roman geiferten. Er hat ihn, wie dokumentiert ist, gelesen
und hat möglicherweise erlaubt, daß 1930 in den in Berlin erscheinenden
Grünen Heften der NS-Briefe vier Seiten aus Feuer und Blut als »Antwort an
Remarque« abgedruckt wurden; aber er hat ihn wohl nie direkt angegriffen.
Bis heute sind jedenfalls nur zwei kleine Bemerkungen Jüngers über
Remarque und Im Westen nichts Neues bekannt. Sie umfassen nicht mehr als
sechs Zeilen und enthalten kein herabsetzendes Wort, sondern bringen nur
zum Ausdruck, daß Jünger das sogenannte »Kriegserlebnis« anders als
Remarque bewertete (PP, 526 und 658). Überhaupt ist es charakteristisch für
Jüngers Umgang mit zeitgenössischen Autoren und ihren Werken, daß er
nicht kritisierte, sondern, wenn er sie nicht anerkennen konnte, schwieg. So
schlug die Verehrung für den Verfasser der antidemokratischen und
kriegsseligen Betrachtungen eines Unpolitischen nach dessen
republikanischer Wende keineswegs in Kritik oder gar Haß um, sondern ging
in Schweigen über. Auch dies läßt vermuten, daß Jünger mit den Aktionen
gegen Mann und Remarque letztlich nicht glücklich gewesen sein dürfte.

Begegnungen mit »Doktor Goebbels«

Während der Zeit, in der Jünger mit Bronnen Umgang hatte, häuften sich
auch die Begegnungen mit Goebbels, der 1926 von Hitler als »Gauleiter«
der NSDAP in Berlin eingesetzt worden war und es geschafft hatte, die
»rote« Metropole um 1930 auch »braun« schimmern zu lassen. Jünger hatte
1926/27 einige Briefe mit Goebbels gewechselt, und am 16./17. Februar
1927 war es, wie im letzten Kapitel erwähnt, anläßlich einer Goebbels-
Veranstaltung in Spandau zu einer ersten persönlichen Begegnung
gekommen, die freilich für beide Seiten enttäuschend verlaufen war. Danach
finden sich in Goebbels’ Tagebüchern nur noch negative Bemerkungen über
Jünger. An seiner früher entwickelten Bewunderung der Stahlgewitter hielt
Goebbels zwar fest; ansonsten aber konnte er an Jünger in literarischer wie
politischer Hinsicht nur Schwächen entdecken. Am 4. April 1929
konstatierte er nach einem Gespräch mit einem Gesinnungsgenossen: »Wir
sprachen über den ›Neuen Nationalismus‹, der langsam zum Literatentum
entartet. Es ist schade um Jünger. Aber wenn ein politischer Kopf keine
Nahrung mehr aus dem Volk, aus der Masse, aus einer Organisation zieht,
dann muß er allmählich verwelken.« Und am 7. Oktober 1929 notierte er:
»Gestern früh nach Weimar. Unterwegs Aufsatz geschrieben. Dann Lektüre:
Jünger ›Das abenteuerliche Herz‹. Das ist nur noch Literatur. Schade um
diesen Jünger, dessen ›In Stahlgewittern‹ ich jetzt noch einmal las. Die sind
wirklich groß und heldisch. Weil ein blutvolles Erleben dahinter stand.
Heute kapselt er sich ab vom Leben, und sein Geschriebenes wird deshalb
Tinte, Literatur.« In dieser Abwertung Jüngers wirkten literarische und
politische Motive zusammen. Auch Goebbels hatte sich ja als Schriftsteller
versucht, mit seinem 1929 publizierten und 1931 erneut aufgelegten Roman
Michael/Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern aber nur wenig und
dann negative Resonanz erzeugen können, so daß er Jünger weiterhin um
seinen Autorenruhm beneiden mußte. Dies ging anscheinend so weit, daß er,
wie Mohler am 28. November 1949 nach einem Gespräch mit Jünger
festhielt, Olga Schkarena einmal aus seinem Michael vorlas, »um dessen
höhere Qualität gegenüber dem Abenteuerlichen Herzen zu beweisen«.
Hinzu kam im September 1929 Jüngers Angriff auf die legalistische
Haltung der NSDAP und die Publikation eines entsprechenden Artikels im
linksliberalen Tagebuch. Dies führte, wie im Kapitel über die politische
Publizistik schon dargelegt wurde, zum öffentlich bekundeten Zerwürfnis
zwischen Jünger und der NSDAP. Goebbels reagierte auf Jüngers
Distanzierung am 27. Oktober 1929 in seinem Kampfblatt Der Angriff mit
der Feststellung, daß »Herr Jünger« nunmehr für die Nationalsozialisten
»erledigt« sei (PP, 860). Dennoch mußte ihm daran gelegen sein, Jünger und
seinen Kreis für die »Hitler-Bewegung« zu gewinnen, ja, Niekisch schreibt
in seinen Erinnerungen, daß Goebbels von Hitler den »Auftrag« erhalten
habe, »der Bewegung Intellektuelle zuzuführen«, und daß Hitler es
»vornehmlich auf Jünger abgesehen« hatte. Den idealen Helfer für dieses
prekäre Vorhaben fand Goebbels nun in Arnolt Bronnen, der nach dem
Erscheinen seiner Freikorpsromane O. S. und Roßbach bei Jünger einiges
Ansehen genoß und zudem für seine erregenden Gesellschaftsabende mit
Gästen unterschiedlichster Couleur bekannt war. Ob nun der Impuls,
Goebbels und Jünger zusammenzubringen, von Goebbels oder von Bronnen
ausging, ist nicht festzustellen; aber jedenfalls notierte Goebbels am 4.
Oktober 1930 in seinem Tagebuch: »Gestern: Arnolt Bronnen war bei mir.
Machte einen guten Eindruck. Leidenschaftlicher Kopf. Hat große
Wandlungen durchgemacht. Soll Halbjude sein? Ich glaube das nicht.
Jedenfalls war er sehr sicher und wieder sehr bescheiden. Er will in die
Wege leiten, daß ich im Rundfunk spreche. Auch soll eine Versöhnung mit
Ernst Jünger stattfinden.«
Bronnen und Goebbels hatten sich nach der Reichstagswahl vom 14.
September 1930 kennengelernt. Unter dem Eindruck des Erfolgs der
NSDAP hatte der Chefredakteur der im Ullstein-Verlag erscheinenden
Zeitschrift Der Querschnitt den Roßbach-Biographen Bronnen darum
gebeten, in kurzer Zeit einen mehrseitigen biographischen Artikel über
Hitler zu schreiben. Bronnen lehnte ab, weil ihm Hitler, wie im Protokoll
bemerkt, allzu unsympathisch war, schlug aber vor, über Goebbels zu
schreiben. Im Bemühen um Informationen kam es zu einer
Kontaktaufnahme, aus der sich rasch eine engere Beziehung entwickelte.
Daran hatte auch Bronnens Freundin Olga Schkarena ihren Anteil. Sie war
mit Goebbels aus früheren Tagen bekannt und hatte entweder schon ein
Verhältnis mit ihm oder fand sich rasch in ein solches ein. Jedenfalls traf
man sich über einige Zeit »bald täglich«, wie Bronnen schreibt, »meist zu
dritt«, und Bronnen organisierte, um Goebbels den Kreisen um Jünger und
Niekisch zu empfehlen, in seiner Wohnung in der Heilbronner Straße
Diskussionsabende. Bereits am 17. Oktober 1930 notierte Goebbels:
Abend bei Bronnen. Die Literaten sind versammelt. Am
besten gefällt mir Bronnen selbst. Er ist klar und nicht so eitel
wie die andern.
Am schlimmsten ist das bei Jünger und Schauwecker. Fast
unerträglich. Sie können sich nicht einfügen. Trotzdem muß
man ihre spitzen Federn gebrauchen. Ich will mit ihnen für
die [geplante] Tageszeitung ein radikales Feuilleton machen.
Das wird auch gelingen.
Sonst viel Literaten. Radikal im Denken, aber schlapp im
Handeln. Die persönlichen Unstimmigkeiten sind nun
wenigstens aus dem Wege geräumt.
Aber die versöhnliche Stimmung hielt nicht an. Schon am 24. November
notierte Goebbels, die »Neuen Nationalisten« um Jünger tränken und
theoretisierten zu viel, und im übrigen seien sie von einer durch nichts
gerechtfertigten »Aufgeblasenheit«. Es scheint, daß es zu bissigen
Kontroversen insbesondere zwischen Goebbels und Jünger kam. Aber diese
Abende verliefen, so Bronnen, »in einer Atmosphäre eisigster Ablehnung«
und nicht zu Goebbels’ Vorteil: »Vor allem Jünger«, so erinnert sich
Bronnen in seinem Protokoll, habe es verstanden, Goebbels vor den Augen
der anderen Diskussionsteilnehmer »so einschrumpfen« zu lassen, daß
»schon damals der Ausdruck ›Schrumpfgermane‹ geprägt« worden sei.
Auch Niekisch berichtet in seinen Erinnerungen von starken Animositäten:
Einmal sprach Goebbels in einem engeren Kreise
ausgewählter Gäste und wollte sich dabei als geistige Potenz
präsentieren. Er hatte Jünger dazu überredet, ebenfalls zu
erscheinen. Jünger saß in der ersten Reihe, fühlte sich aber
von dem hohlklappernden Geschwätz dergestalt angewidert,
daß er es nicht länger aushielt. Er verließ den Raum und
begab sich in eine nahe Weinstube, wo er hoffte, des üblen
Nachgeschmacks der Goebbels [s]chen Worte mit Hilfe eines
guten Trunkes Herr werden zu können. Später stellte sich
auch Goebbels dort ein und zeigte sich tief beleidigt, ja
empört, als er erkennen mußte, daß er ohne Wirkung auf
Jünger geblieben, ja dieser sogar vor ihm geflüchtet sei.
Nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 wurde Goebbels erhöhte
Aufmerksamkeit entgegengebracht. Größen aus allen Bereichen, der
Wirtschaft wie der Presse, des Rundfunks und des Theaters, fanden sich an
Bronnens Gästeabenden ein, um mit Goebbels in Kontakt zu kommen. Bei
der Hochzeit von Arnolt Bronnen und Olga Schkarena hielt er, wie Gretha
Jünger in ihren Silhouetten schreibt, geradezu »Hof« und bestimmte die
ganze Atmosphäre, was auch bedeutete, daß nach dem Erscheinen des
hinkenden Gauleiters nicht mehr getanzt wurde. Jünger und sein Kreis
entzogen sich, so berichtet Gretha Jünger, der Huldigung an den »Doktor«,
indem sie bei dessen Ankunft demonstrativ ins Raucherzimmer wechselten,
und sie selbst eröffnete nach einer Stunde des staunenden Zusehens zum
sichtbaren Schrecken einiger Anwesender den Tanz. Man muß diese Gesten
weder heroisieren noch überbewerten; aber in einer Atmosphäre der
Verängstigung und des Opportunismus waren sie Zeichen von
Selbstbewußtsein und Mut. Gretha Jünger will später erfahren haben, daß
Goebbels sie durchaus auch registrierte und in Erinnerung behielt. Das
Verhältnis zwischen Goebbels und Jünger war jedenfalls nicht nur gespannt,
sondern auch durch einige Kränkungen, die Jünger Goebbels zugefügt hatte,
belastet, und es ist fraglich, wie Jünger das »Dritte Reich« überstanden hätte,
wenn er nicht die Protektion des Militärs und möglicherweise auch Hitlers
genossen hätte.
Hitler hatte schon in Jüngers Leipziger Zeit versucht, sich den Verfasser
der Stahlgewitter und den Herausgeber der renommiertesten
nationalistischen Zeitschriften geneigt zu machen. Dies setzte sich in Jüngers
Berliner Jahren fort. Am 2. Juli 1929 ließ Hitler Jünger über seinen
Privatsekretär Rudolf Heß »vertraulich« seine »Denkschrift« zur damals
strittigen Frage eines Volksbegehrens zukommen, verbunden mit der
Einladung, vom 1. bis 4. August als »Ehrengast« am Nürnberger Parteitag
teilzunehmen. Gegenüber dem Publizisten und NSDAP-Mitglied Ludwig
Alwens erklärte Jünger am 17. Juli brieflich, daß er die Einladung
angenommen habe. Dann aber blieb er dem Parteitag doch fern, ohne daß die
Gründe dafür bekannt wurden. Man hat vermutet, daß er einer Begegnung
mit dem Stahlhelm-Führer Duesterberg ausweichen wollte, den Jünger in
seinen Artikeln immer wieder heftig attackiert hatte; aber das sind nicht
mehr als Mutmaßungen, und es könnte ebensogut sein, daß die Vorbehalte,
die Jünger und seine engsten politischen Vertrauten, Hielscher und Niekisch,
gegenüber den Nationalsozialisten hatten, sich gegen das Interesse an dem
Parteitagsspektakel durchsetzten und ihn letztlich davon abhielten, die Reise
nach Nürnberg anzutreten. Bald danach kam es, wie oben erwähnt, über die
Legalitätsfrage zu einer publizistischen Frontstellung, die allerdings nicht
unüberwindlich gewesen wäre, wenigstens nicht aus der Sicht Hitlers oder
seines Stabs. Am 10. Oktober 1929 erhielt Jünger von Heß (als Antwort auf
ein nicht überliefertes Schreiben von Jünger) einen weiteren Brief, der
gleichsam eine abschließende Beurteilung des Problems
»Landvolkbewegung« enthielt und Jünger aufrief, wissen zu lassen, was nun
in seinen Augen »das positive Ergebnis dieser Bombengeschichten« sei. Der
Brief zeigt deutlich, daß man in Hitlers Kanzlei darum bemüht war, mit
Jünger im Gespräch zu bleiben.
Wie groß Hitlers Interesse an Jünger tatsächlich war, ist schwer zu sagen.
Gewiß, es gibt die Briefe von Heß und Goebbels, die ein Interesse an einer
persönlichen Begegnung signalisieren. Aber eine solche kam nie zustande,
und wohl nicht nur, weil die Zeit immer zu knapp war. Es ist auch zu
bedenken, daß Hitler eine starke Aversion gegen »Literaten« hatte, zumal
wenn sie versuchten, die Partei auf eine Linie zu drängen, die nicht die seine
war. In diesem Sinn schrieb er am 30. Juni 1930 an Goebbels als den
Berliner »Gauleiter«, daß die NSDAP »kein Debattierklub wurzelloser
Literaten oder chaotischer Salonbolschewisten« und »politischer
Wandervögel« werden dürfe, und er verlangte eine »rücksichtslose
Säuberung« der Berliner Partei. Sicher hätte Hitler den Verfasser der
Stahlgewitter gerne in seinen Reihen gesehen; aber nur unter der Bedingung
einer rückhaltlosen Unterordnung, die indessen von den »Bündischen«, bei
denen Jünger als Leitfigur galt, immer verweigert wurde. Fraglich ist auch,
ob und – wenn ja – mit welcher Absicht Hitler Jünger einen Sitz im
Reichstag angeboten hat. Jünger erwähnt dies in einer Tagebuchnotiz vom
29. Mai 1977, und in biographischen Darstellungen ist von zwei Angeboten
in den Jahren 1927 und 1933 die Rede. Der Publizist Karl Otto Paetel, der
um 1930 zu den »Bündischen« und Nationalrevolutionären zählte, schreibt
in seinem 1949 publizierten Buch über Jünger, dieser habe das Angebot von
1927 mit der Bemerkung abgelehnt, »er halte das Schreiben eines einzigen
guten Verses für verdienstvoller als 60 000 Trottel zu vertreten«. Aber weder
die Angebote noch deren Ablehnung sind dokumentiert. Und es ist fraglich,
ob Jünger in Hitlers Überlegungen nach dem sensationellen Wahlerfolg vom
14. September 1930 noch eine nennenswerte Rolle spielte. In Ian Kershaws
monumentaler Hitler-Biographie von 1998, die 1300 Seiten umfaßt, wird
Jünger nur ein einziges Mal erwähnt, und da – ganz unabhängig von Hitler –
mit einer publizistischen Bemerkung über »den großen Politiker der
Zukunft«. Das aber heißt, daß Jünger für die Rekonstruktion von Hitlers
Leben, seines Denkens und seines Wirkens, letztlich eine Quantité
négligeable ist. Daß es zwischen 1926 und 1933 – und zumal aus Jüngers
Sicht – für einige Momente anders aussah, widerspricht dem nicht. Aber es
war peripher und blieb bedeutungslos. Und wenn Hitler in späteren Jahren
tatsächlich die Hand schützend über Jünger gehalten haben sollte, so wäre
dies nicht viel mehr gewesen als eine Sentimentalität des »kleinen
Gefreiten« gegenüber dem Träger des »Pour le mérite« und dem Verfasser
der Stahlgewitter.
Zu erwähnen bleibt, daß Jüngers Vater im Frühjahr 1932 der NSDAP
beitrat. Vermutlich folgte Ernst Georg Jünger hier nicht – oder nicht nur –
seiner politischen Überzeugung, sondern gab dem Druck nach, der in dieser
Zeit auf seinesgleichen ausgeübt wurde und der enorm war. So monierte der
Döbelner NSDAP-Kreisleiter mit einem Schreiben vom 13. Januar 1932,
daß Frau Jünger noch nicht der NS-Frauenschaft zugehöre, erinnerte an
»Disziplin« wie »Verantwortungsbewußtsein« und schloß mit der Hoffnung,
dieser »Hinweis« möge genügen, daß Frau Jünger »sich sofort bei der
örtlichen NS-Frauenschaft« anmelde. In Jüngers Erinnerungen an den Vater
findet die NSDAP-Mitgliedschaft keinerlei Erwähnung. Das kann als
Verschweigen eines peinlichen Faktums gewertet werden, aber auch als
Indiz dafür, daß diese Mitgliedschaft als Formalie oder als Opfer an die
Umstände betrachtet wurde, in der Familie aber kein Gesprächsgegenstand
war und das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht tangierte.

Das Berliner Werk: »Dampf hinter die Erscheinungen setzen«

Das Abenteuerliche Herz und Sizilianischer Brief an


den Mann im Mond
Auch nach dem Umzug nach Berlin blieb Jünger als nationalistischer
Publizist aktiv. Die Frequenz der Artikel ließ jedoch nach. 1927
veröffentlichte Jünger vierundzwanzig Artikel; zwei Drittel davon waren bis
Ende Juni in Leipzig entstanden, und nur ein Drittel wurde in der zweiten
Jahreshälfte in Berlin geschrieben. 1928 ging die Zahl auf zwölf zurück.
1929 stieg sie wieder auf sechsundzwanzig an, doch ist in diesem Jahr ein
auffälliger Themenwechsel zu beobachten: Zwar gibt es noch einige Artikel,
die den »neuen Nationalismus« zu profilieren suchen; aber der weitaus
größere Teil der Artikel befaßt sich mit Literatur: Alfred Kubins Roman Die
andere Seite wird erörtert. Bernanos’ Romane werden in den Blick gerückt.
In nicht weniger als elf Artikeln werden neue Bücher über den Ersten
Weltkrieg und die folgenden Freikorpszeiten besprochen, und zwar nicht nur
Dokumentationen oder Sachbücher, sondern auch Romane wie Arnolt
Bronnens O.S. und Max René Hesses Partenau. Man hat darin ein
Anzeichen für eine Neuausrichtung Jüngers gesehen, für einen Wechsel von
der Politik zur Literatur, wie er auch – und noch deutlicher – durch das
gleichzeitig entstehende und dezidiert »literarisch« wirkende Abenteuerliche
Herz markiert werde.
Das ist nicht geradezu falsch. Im Jahr 1928 kam es tatsächlich zu einem
Wechsel oder, genauer, zu einer Akzentverlagerung von einer rein politisch
intendierten Publizistik zu einem literarisch ambitionierten Schreiben. Mit
dem Abenteuerlichen Herzen wollte sich der politische Schriftsteller Ernst
Jünger als Dichter im emphatischen Sinn beweisen: als Autor, der nicht auf
das Gebiet der Politik und der Geschichte eingeschränkt war, sondern eine
spezifische, zugleich aber allgemein wichtige Sicht von Welt und Leben zu
verkünden hatte.
Gleichwohl ist das Abenteuerliche Herz kein unpolitisches Buch, sondern
steht in engem Zusammenhang mit Jüngers politischer Publizistik. Dies zeigt
sich schon in der Entstehungs- und Publikationsgeschichte: Aus Jüngers
Briefwechsel mit seinem Bruder Friedrich Georg ist zu ersehen, daß er
Anfang Oktober 1927 »mit einem neuen Buche ›Das Abenteuerliche Herz‹«
begann (und es Mitte September 1928 abschloß). Aber schon im
Februar/März 1927 waren in der Zeitschrift Arminius unter dem Jüngerschen
Pseudonym Hans Sturm drei Briefe eines Nationalisten erschienen, die
später – allerdings ohne ihren Titel – in das Abenteuerliche Herz eingingen.
Ob Jünger sich damals schon mit dem Gedanken zu einem Buch dieser Art
trug, ist nicht bekannt und spielt auch keine Rolle; allein schon die Tatsache
des Erscheinens dieser drei Briefe zunächst in einer nationalistischen
Zeitschrift und dann im Abenteuerlichen Herzen zeigt, daß es zwischen
diesen beiden Spielarten von Jüngers Schaffen eine relativ enge Verbindung
gab. Auch die weitere Publikationsgeschichte belegt dies: Als Vorabdruck
war das Abenteuerliche Herz vom 19. Oktober bis zum 18. November 1928
in der Tageszeitung Der Tag zu lesen, einem Blatt, das zum Hugenbergschen
Scherl-Verlag gehörte, zu welchem Jünger ebenfalls aufgrund seiner
politischen Publizistik Verbindungen hatte. Die Buchausgabe, die auf 1929
datiert ist, erschien bald darauf im Frundsberg-Verlag, der 1926 die zweite
Auflage von Feuer und Blut gedruckt hatte. Und gleichzeitig erschienen
Teile des Abenteuerlichen Herzens wieder in einer politisch ausgerichteten
Zeitschrift, nämlich in Ernst Niekischs Widerstand. Alles in allem heißt dies:
Das Abenteuerliche Herz markiert keinen völligen Systemwechsel; die
Niederschrift erwuchs aus Jüngers politischer Publizistik, und die
Veröffentlichung bewegte sich im Rahmen der militärisch-nationalistischen
Zeitschriften und Verlage (bis die Restauflage 1929 an die Hanseatische
Verlagsanstalt in Hamburg ging und von dieser mit einem entsprechenden
Impressum vertrieben wurde).
Literatur war für Jünger ja auch kein Gegensatz zur Politik, sondern eher
die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln oder die Vorbereitung von
Politik mit Mitteln der Literatur. In seinen politischen Aufsätzen wies Jünger
schon 1925 auf die Bedeutung der »schönen« Literatur für die Vorbereitung
der französischen wie der russischen Revolution hin (PP, 122), und 1927
bemerkte er, nachdem er und seine publizistischen Mitstreiter von einer
nationalistischen Zeitschrift etwas abschätzig als »Frontliteraten« bezeichnet
worden waren, man wisse sehr gut, warum man sich in dieser Zeit »der
Feder« und nicht der Waffe bediene (PP, 273). Das Ziel einer »eigentlichen«
oder »elementaren« Revolution, das in der politischen Publizistik immer
wieder beschworen wird, bildet, wenn auch nicht ausdrücklich proklamiert,
den Fluchtpunkt der zeitkritischen Polemiken des Abenteuerlichen Herzens.
Es ist ein durchaus militantes Buch, das einen fundamentalen Umsturz für
nötig hält und auf ihn hinarbeiten will. Daß es weniger politisch wirkt als die
vorausgehende Publizistik, liegt an mehreren Faktoren: Zwar ist auch im
Abenteuerlichen Herzen noch von der »Liebe zur Nation« die Rede (9, 121),
aber die nationalistische Rhetorik ist deutlich zurückgenommen, und
Vorstellungen eines zukünftigen deutschen Machtstaats werden nicht
entwickelt. Vor allem aber wird dem politischen Aktivismus eine Absage
erteilt. Unter der Ortsangabe »Zinnowitz« heißt es am Ende einer Passage,
die vom Willen zur Macht und von einem entsprechenden
Verantwortungsgefühl handelt:
Gerade dies, das Ausweichen vor der Verantwortung dort, wo
sie ernsthaft zu werden beginnt, und das Billige der Erfolge,
die heute zu ernten sind, hat mich die politische Tätigkeit sehr
bald als unanständig empfinden lassen. Welche Mauselöcher
der Verantwortungslosigkeit stellen die Parteien dar in einer
Zeit, in der die Werte bei Tag und Nacht auf der Goldwaage
zittern sollten, und wie dankbar muß man den jungen Leuten
sein, die sich vor einer jedem entschlossenen Herzen
unerträglichen Niederträchtigkeit hinter die Mauern der
Gefängnisse zurückgezogen haben. Man kann sich heute
nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen; man muß es
einsam tun wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im
Urwald Bresche schlägt und den nur die Hoffnung erhält, daß
irgendwo im Dickicht andere an der gleichen Arbeit sind. (9,
114)
Mit den »jungen Leuten«, die sich »hinter die Mauern der Gefängnisse
zurückgezogen haben« sollen, sind jene jungen Nationalisten gemeint, die an
Attentaten, Fememorden oder Sprengstoffanschlägen beteiligt waren und
dafür Haftstrafen abzubüßen hatten. Einige von ihnen gehörten zu Jüngers
Bekanntenkreis, und im Vormarsch-Verlag, dessen Programm Jünger mit
bestimmte, erschien 1928, als Jünger am Abenteuerlichen Herzen arbeitete,
unter dem Titel Wir klagen an! Nationalisten in den Kerkern der Bourgeoisie
eine Sammlung von Gefängnisberichten, die Jünger in der Tageszeitung Der
Tag unter dem Titel Aus der untersten Zelle emphatisch besprach (PP, 452 –
455). Daß sich diese »jungen Leute« in die Gefängnisse »zurückgezogen«
haben sollen, ist ein verstiegen wirkender Euphemismus, der freilich seinen
präzisen Sinn hat: Er macht die Aktivisten, die den von Jünger vielfach
postulierten Umsturz mit Gewaltaktionen herbeizuführen suchten, zu
Gewährsleuten seiner eigenen Tatenlosigkeit und seiner 1928 sich
verfestigenden Ansicht, daß die Verwerflichkeit der bestehenden
Verhältnisse ein aussichtsreiches und ehrenhaftes politisches Handeln nicht
zulasse; die Mordanschläge, die jene jungen Nationalisten in die
Gefängnisse gebracht haben, erscheinen nun als heroische Versuche, der
Korruption der politischen Verhältnisse durch mehr oder minder
aussichtslose, aber radikale und – im nationalistischen Sinn – ehrenhafte
Aktionen zu entfliehen. Lieber in der Drangsal einer »untersten Zelle« als in
der Pestluft der Weimarer Parteipolitik! Noch lieber freilich in der Freiheit
einer Berliner Schriftstellerexistenz! Jüngers politischer Radikalismus war
gebrochen durch seinen soldatischen Realitätssinn, der ihn davon abhielt,
sich auf Aktionen einzulassen, die zum Scheitern oder – trotz eines
punktuellen ›Gelingens‹ – zur Erfolglosigkeit verurteilt waren; weder am
Kapp-Putsch noch am Hitler-Putsch noch an einem der Mordanschläge, die
von Nationalisten verübt wurden, war Jünger beteiligt, und im
Abenteuerlichen Herzen bekannte er sich unumwunden zum Stillhalten: »In
der sauberen Begrenzung und im gerüsteten Abwarten liegt die Kraft kleiner,
kriegerischer Gemeinschaften […]« (9, 122). Nicht mehr in der politischen
Publizistik und nationalistischen Agitation sah Jünger seine Bestimmung
und Aufgabe, sondern in der zweckfreien Reflexion der Zeiterfahrung:
Ich hege einen Verdacht, der die Grenzen der Gewißheit
streift: daß unter uns eine erlesene Schar, die sich längst aus
den Bibliotheken und dem Staub der Arenen zurückgezogen
hat, im innersten Raume, in einem dunkelsten Tibet, an der
Arbeit ist. Ich glaube an Menschen, die einsam in nächtlichen
Zimmern sitzen, unbeweglich wie Felsen, durch deren
Höhlen die Strömung funkelt, die draußen jedes Mühlrad
dreht und das Heer der Maschinen in Tempo hält – hier aber
jedem Zweck entfremdet und von Herzen aufgefangen, die
als die heißen, zitternden Wiegen aller Kräfte und Gewalten
jedem äußeren Lichte für immer entzogen sind. (9, 39)
Unverkennbar, daß hier Vorstellungen der klassisch-romantischen Ästhetik
und zumal des daraus hervorgehenden Ästhetizismus zum Tragen kommen:
Abstand vom gesellschaftlichen Leben, Verzicht auf unmittelbare Wirkung,
Glaube an die fundamentale und langfristig wirksame Bedeutung der
ästhetischen Reflexion. Freilich, Wirkung in diesem Sinn hat noch jeder der
Vertreter einer »ästhetischen Erziehung« oder des »L’art pour l’art« gesucht,
und auch Jünger suchte sie: Mit seiner enthusiasmierten und gebieterischen
Sprache ist das Abenteuerliche Herz ein einziger Appell an eine erweiterte
»Schar« der Einverständigen, die der Autor, immer wieder auch »wir«
sagend, um sich zu sammeln und auf sich einzuschwören sucht.
Dies setzt ein beträchtliches Selbstbewußtsein voraus. Der Verfasser des
Abenteuerlichen Herzens bezieht es aus »zwei Umständen«, die er gleich zu
Beginn benennt (9, 33f.): Zum einen verfügt er über die Fähigkeit, sich und
das Treiben um sich her gleichsam aus »exzentrischen Fernen« zu betrachten
und unpersönlich zu werten, so als sei er nicht handelnd und leidend daran
beteiligt -: eine Sicht- oder Erfahrungsweise, die, so wenigstens der
Anspruch, eine besondere Objektivität erlaubt. Unter dem Begriff des
»stereoskopischen Sehens« wird dies im Verlauf der »Aufzeichnungen«
noch mehrfach reflektiert und verdeutlicht. Zum andern ist sich der Verfasser
gewiß, als Repräsentant seiner Generation zu sprechen und deren Erfahrung
in einem sozusagen idealtypischen Sinn zu fassen. Die Darstellung der
eigenen Entwicklung spielt hierbei eine wichtige Rolle und läßt das
Abenteuerliche Herz streckenweise wie eine Autobiographie erscheinen.
Aber die Rekapitulation der eigenen Lebensgeschichte bestimmt keineswegs
die Struktur des Textes. Sie bleibt bruchstückhaft und ist in eine Vielzahl
sehr unterschiedlicher Ausführungen eingebettet, die durch den Untertitel
des Buches als »Aufzeichnungen bei Tag und Nacht« deklariert sind und
insgesamt ein vielschichtiges Dokument einer ebenso verwirrenden wie
intensiven Zeiterfahrung bilden. Beobachtungen und Reflexionen des
wachen Lebens wechseln mit nächtlichen Traumbildern und korrespondieren
mit diesen auf eine Weise, die zu immer wieder neuen Bezugnahmen und
Deutungen Anlaß gibt. Die Wirklichkeit des Tages wird in der Nacht
schreibend kondensiert und bisweilen träumend überformt. Was sich »auf
der Tagseite des Lebens« als reife Erkenntnis einstelle, so bemerkt der
Verfasser, werde oft »auf der Nachtseite« gebildet (9, 67); nicht selten sei er
mit dem Gefühl erwacht, während des Schlafes ununterbrochen mit einem
Thema, das den Abend belastet hatte, befaßt gewesen und weiter gekommen
zu sein. Hierin ist – wie schon in der titelgebenden Vorstellung eines
»abenteuerlichen Herzens« – das Erbe der Romantik erkennbar: Hatte doch
Novalis in einem Gedicht, das Jünger bald auch zitiert (72), die Ansicht
vertreten, daß »Licht und Schatten« – oder eben Tag und Nacht, Bewußtes
und Unbewußtes – sich müßten »gatten«, damit »echte Klarheit« entstehe.
Insgesamt zählt das Abenteuerliche Herz fünfundzwanzig Textsequenzen
von unterschiedlicher Länge und Thematik. Es gibt Notizen, die kaum etwas
mehr als eine Seite füllen und nur einen Traum oder eine bestimmte
Beobachtung fixieren, aber auch Ausführungen, die sich über mehr als
zwanzig Seiten erstrecken und ein bestimmtes Thema – etwa die Schulzeit
oder die zoologischen Studien – in essayistisch freier Form erörtern: weniger
diskursiv als assoziativ sich bewegen, die eigene Erfahrung durch Zitationen
einschlägiger Literatur ergänzen, die punktuelle Beobachtung mit
weitergehenden Reflexionen verbinden, intuitive Einsichten mit dem Gestus
der Unabweislichkeit darbieten. Dem entspricht, daß die Sprechweise
zwischen sachlicher Prägnanz, bekenntnishafter Emphase und magistraler
Diktion wechselt. Durchweg aber ist sie die expressive Ausdrucksweise
eines »abenteuerlichen Herzens«: begeistert von all den wunderbaren,
bisweilen gefährlichen, allemal aber erregenden Dingen und Möglichkeiten,
die Welt und Leben zu bieten haben. Das Abenteuerliche Herz ist, wie
Claude David gesagt hat, eine einzige »Huldigung an die Pracht des
Daseins« – einschließlich seiner Schrecken – oder, mit den Worten des
Abenteuerlichen Herzens selbst, an »die lebendige Fülle der Welt« und an
»das bunte, sinnvolle und schicksalhafte Spiel, das sie bewegt« (9, 58; vgl.
auch 151).
Die fünfundzwanzig Textsequenzen des Abenteuerlichen Herzens sind
durch Ortsangaben – vorzugsweise Berlin und Leipzig, aber auch
H[annover], Neapel und Paris, Leisnig und Zinnowitz – getrennt. Die
meisten von ihnen verweisen wohl auf den Entstehungsort, einige – Neapel
und Paris zum Beispiel – auf den Gegenstand der folgenden Ausführungen.
Die Abfolge der Sequenzen wirkt beim ersten Blick sehr disparat; die
einzelnen Stücke scheinen ganz für sich zu stehen, können jedenfalls
unabhängig von den benachbarten Texten verstanden werden. Dennoch
lassen sich Zusammenhänge feststellen, aus denen sich thematische
Gruppierungen ergeben, die auf eine zwar nicht zwingende, aber doch
überlegte Anordnung schließen lassen: So begründen die Stücke 1 bis 6 die
Repräsentativität der »Aufzeichnungen«, zeigen den Verfasser als einen
Intellekt, der nach den geheimen Verbindungen zwischen den Dingen sucht,
und machen zugleich deutlich, daß er in einer Welt des jäh hereinbrechenden
Schreckens lebt. Das lange Stück 7 erklärt dann die Genese des
»abenteuerlichen Herzens« als »Protest gegen die Mechanik der Zeit« (9,
43), also »gegen die bürgerliche Ordnung« (42) und die »Zweckmäßigkeit«
des modernen Lebens (58). Es folgen neun Stücke (8-16), die teils Träume
rekapitulieren, teils die Möglichkeit und Qualität »magischer« und
»stereoskopischer« oder eben »abenteuerlicher« Welterfahrung reflektieren.
Ihnen folgt ein längeres Stück (17), das der Unzulänglichkeit der
positivistischen Wissenschaft, aber auch ihrer Bedeutung für die Zuspitzung
des Nihilismus gilt. Die beiden anschließenden Stücke (18 und 19) befassen
sich kritisch mit der politischen Entwicklung und verneinen die Möglichkeit
eines sinnvollen politischen Engagements. Im 20. Stück wird erneut der
geheime Zusammenhang der Dinge und die Möglichkeit der »magischen«
oder »stereoskopischen« Schau beschworen. Das 21. Stück kehrt zu Politik
und Geschichte zurück und deutet den Krieg und die Nachkriegszeit als
Endstufe des Nihilismus. Es folgt ein kurzes Stück (22): ein
Schreckenstraum mit einer Menschenschlachtung; dann wieder ein längeres
Stück (23) über die gefährliche Nervosität der Nachkriegszeit, die Erfahrung
des Bösen und die diesbezügliche Bedeutung von Träumen und Räuschen.
Das 24. Stück setzt sich mit humanitären Ideologien auseinander und
bekennt sich zu einer tragischen Weltsicht, die auch dem Leiden
Notwendigkeit und Wert zugesteht. Das 25. Stück beschwört schließlich die
Idee eines »kühneren« und »vornehmeren« Lebens mit seinen eigenen,
heroischen Wertungen. Insgesamt kann man sagen: Die gedankliche
Bewegung des Abenteuerlichen Herzens ist kreisförmig und zielgerichtet
zugleich, also spiralförmig. Verschiedene Themen werden mehrfach berührt
und auf einem je höheren Niveau reflektiert. Die Vergegenwärtigung
prägender Erfahrungen und Einsichten aus Kindheit, Krieg und Studium, aus
Wachsein, Traum und Rausch mündet in Stücke ein, in denen das
»abenteuerliche Herz« sein kritisches Verhältnis zur rationalistischen,
untragischen und unheroischen Weltsicht seiner Zeit mit eindringlicher
Emphase beschreibt. Es sind vor allem drei Themenkreise, die solchermaßen
erörtert werden: der geschichtliche Ort der Gegenwart, der Charakter der
Moderne und die »stereoskopische« Weltsicht.
Für die Bestimmung des geschichtlichen Orts der Gegenwart ist
Nietzsches Nihilismus-Diagnose grundlegend: die These, daß Rationalismus
und Historismus alle letztverbindlich sein wollenden Wertsetzungen
destruiert haben. Der letzte oder vorletzte Schritt auf dem Weg in den
vollendeten Nihilismus war – Jünger zufolge – der Erste Weltkrieg: »Wir
haben«, schreibt er mit sarkastischem Stolz, »stramm nihilistisch einige
Jahre mit Dynamit gearbeitet und, auf das unscheinbarste Feigenblatt einer
eigentlichen Fragestellung verzichtend, das 19. Jahrhundert – uns selbst – in
Grund und Boden geschossen« (9, 133). Der zweifelhafte Stolz auf diese
traurige Leistung wird durch die Annahme ermöglicht und legitimiert, daß
die radikale Destruktion der traditionellen Wertewelt die notwendige
Voraussetzung für die Neubildung oder Neuschöpfung von Werten sei. Sie
kann beginnen, wenn jener mehrfach beschworene »magische Nullpunkt«
erreicht ist, »an dem zugleich nichts und alles ist«: die alten Werte restlos
beseitigt und alle Möglichkeiten eröffnet sind (vgl. 106, 116f., 135 und 162).
Der Verfasser des Abenteuerlichen Herzens sieht diesen Punkt in nächster
Nähe.
Aus dieser Bestimmung des geschichtlichen Standorts ergibt sich Jüngers
Wertung der industriellen oder technischen Moderne. Sie ist positiv. Die
Technik erscheint nicht mehr – wie 1923 im siebten Kapitel der Erzählung
Sturm – als uniformierende und verödende Macht, sondern als eines der
Medien, in denen sich der Umschlag der nihilistischen Destruktion in einen
neuen werthaften Zustand vollzieht. Im 23. Stück, das unter der Ortsangabe
»H[annover] und Berlin« steht, wird ein eindrucksvolles Bild entfaltet:
Gestern noch, bei einem nächtlichen Spaziergang durch
entlegene Straßen des östlichen Viertels, in dem ich wohne,
bot sich ein einsames und finster heroisches Bild. Ein
vergittertes Kellerfenster öffnete dem Blick einen
Maschinenraum, in dem ohne jede menschliche Wartung ein
ungeheures Schwungrad um die Achse pfiff. Während ein
warmer, öliger Dunst von innen heraus durch das Fenster
trieb, wurde das Ohr durch den prachtvollen Gang einer
sicheren, gesteuerten Energie fasziniert, der sich ganz leise
wie auf den Sohlen des Panthers des Sinnes bemächtigte,
begleitet von einem feinen Knistern, wie es aus dem
schwarzen Fell der Katzen springt, und vom pfeifenden
Summen des Stahles in der Luft – dies alles ein wenig
einschläfernd und sehr aufreizend zugleich. Und hier
empfand ich wieder, was man hinter dem Triebwerk des
Flugzeuges empfindet, wenn die Faust den Gashebel nach
vorn stößt und das schreckliche Gebrüll der Kraft, die der
Erde entfliehen will, sich erhebt oder wenn man nächtlich im
D-Zug sich durch die zyklopische Landschaft des
Ruhrgebietes stürzt, während die glühenden Flammenhauben
der Hochöfen das Dunkel zerreißen und inmitten der rasenden
Bewegung dem Gemüte kein Atom mehr möglich scheint,
das nicht in Arbeit ist. Es ist die kalte, niemals zu sättigende
Wut, ein sehr modernes Gefühl, das im Spiel mit der Materie
schon den Reiz gefährlicherer Spiele ahnt und der ich
wünsche, daß sie noch recht lange nach ihren eigentlichen
Symbolen auf der Suche sei. Denn sie als die sicherste
Zerstörerin der Idylle, der Landschaften alten Stils, der
Gemütlichkeit und der historischen Biedermeierei wird diese
Aufgabe um so gründlicher erfüllen, je später sie sich von
einer neuen Welt der Werte auffangen und in sie einbauen
läßt. (9, 154)
Die Moderne ist faszinierend, aber auch ungemütlich und bedrohlich (80).
Die »peinliche« – also schmerzhaft scharfe und nach dem Leben greifende –
»Musterung und Mobilisierung der Werte« (140), die sich in dieser Zeit der
nihilistischen Transformation vollzieht, ist mit extremen Bedrängnissen und
verstörenden Schrecknissen verbunden. Diese erfahren in acht visionären
Stücken eine Verdichtung und Spiegelung. Sieben dieser Stücke sind
Traumnotate, und einige davon zählen zu den beklemmenden und vielfach
erörterten Glanzstücken des Abenteuerlichen Herzens. Damit ist zugleich
gesagt, daß Träume (oder Traumnotate) im Abenteuerlichen Herzen eine
große Rolle spielen, und das ist kein Zufall. Jünger kultivierte das Träumen
und war – auch hierin ein Adept der Romantiker – von der
existenzdiagnostischen Bedeutung des Träumens überzeugt. In den
»Adnoten« zum Arbeiter stellte er 1964 fest: In den Träumen »wohnt die
autochthone Kraft [des Lebens] mit ihrer Schönheit und ihren Schrecken,
hier sind die Orakel zu Haus« (8, 335).
Das erste der acht Schreckensstücke, das gleich an dritter Stelle steht, ist
freilich kein Traumnotat, sondern eine ingeniöse Imagination eines Sturzes,
der zur Erfahrung des »Entsetzlichen« führt:
Ich glaube, daß folgendes Bild das Entsetzen besonders
treffend zum Ausdruck bringt: Es gibt eine Art von sehr
dünnem und großflächigem Blech, mittels dessen man an
kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele
solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir
in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht, gleich
Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepreßt liegen,
sondern durch irgendeine Vorrichtung voneinander entfernt
gehalten werden.
Auf das oberste Blatt dieses gewaltigen Stoßes hebe ich
dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es
berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzt auf
das zweite Blatt, das ebenfalls, und mit heftigerem Knalle,
zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt
und so fort, und die Steigerung der Fallgeschwindigkeit läßt
die Detonationen in einer Beschleunigung aufeinander folgen,
die den Eindruck eines an Tempo und Heftigkeit
ununterbrochen verstärkten Trommelwirbels erweckt. Immer
noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig
rollenden Donner sich verwandelnd, bis endlich ein einziger,
fürchterlicher Lärm die Grenzen des Bewußtseins sprengt. (9,
35f.)
Man hat darauf hingewiesen, daß dieser Blechsturz Ähnlichkeiten mit der
Schußfahrt in den »Malstrom« hat, die Edgar Allan Poe in der
gleichnamigen Erzählung schildert. Auch dort geht es mit zunehmender
Geschwindigkeit und unaufhaltbarer Wucht in die bodenlose Tiefe eines
entsetzlichen Wirbels. Wenn Jünger durch diese ihm bekannte Erzählung
angeregt wurde, so hat er diesem Vorbild freilich etwas hinzugefügt, was für
seine eigene Schreckenserfahrung charakteristisch ist: den »Trommelwirbel«
rasch aufeinanderfolgender »Detonationen«, also den atemberaubenden und
am Bewußtsein rüttelnden »Lärm«, den er während des Kriegs im
»Trommelfeuer« häufig genug erlebt und später mehrfach beschrieben hat,
etwa zu Beginn des letzten Kapitels der Erzählung Sturm (15, 71f.). Aber
was auch immer in die Blechsturz-Imagination eingeflossen sein mag -: sie
dient dazu, die Erfahrung des »Entsetzlichen« vorstellbar zu machen und, in
einem weiteren Schritt, das »Entsetzen« von anderen Formen des
Schreckens zu unterscheiden:
So pflegt das Entsetzen den Menschen zu vergewaltigen – das
Entsetzen, das etwas ganz anderes ist als das Grauen, die
Angst oder die Furcht. Eher ist es schon dem Grausen
verwandt, das das Gesicht der Gorgo mit gesträubtem Haar
und zum Schrei geöffnetem Mund erkennt, während das
Grauen das Unheimliche mehr ahnt als sieht, aber gerade
deshalb von ihm mit mächtigerem Griffe gefesselt wird. Die
Furcht ist noch von der Grenze entfernt und darf mit der
Hoffnung Zwiesprache halten, und der Schreck – ja der
Schreck ist das, was empfunden wird, wenn das oberste Blatt
zerreißt. Und dann, im tödlichen Sturze, steigern sich die
grellen Paukenschläge und roten Glühlichter der
Schreckempfindungen bis zum Entsetzlichen. (9, 36)
Diese pointierte Phänomenologie des Schreckens dient der geistigen
Vorbereitung auf eine bevorstehende Katastrophenzeit; sie endet deswegen
in einer Apostrophe an den Leser, die einer Prophetie gleichkommt:
Ahnst du, was vorgeht in jenem Raume, den wir vielleicht
eines Tages durchstürzen werden und der sich zwischen der
Erkenntnis des Unterganges und dem Untergange erstreckt?
(9, 36)
Unmittelbar im Anschluß an diese Phänomenologie des Schreckens folgt ein
Schreckenstraum (4): Aus dem Schlaf gerissen, hört der Erzähler, daß ein
unheimlicher »Fremder« in der Stadt ist, und gleich darauf sieht er diesen in
seiner Stube auf dem Bett sitzen. Dieser Fremde hat große und rot glühende
Augen, mit denen er den Erzähler so lange anstarrt, bis sie zerspringen und
in Funken herabrieseln. Übrig bleiben »die schwarzen, ausgebrannten
Augenhöhlen«, »gleichsam das absolute Nichts, das sich hinter dem letzten
Schleier des Grauens verbirgt« (9, 37). Der Fremde verkörpert also den
Nihilismus – oder, genauer, die Angst vor ihm. So sehr Jünger davon
überzeugt war, daß die nihilistische Entwertung aller Werte notwendig sei
und bis zum »Nullpunkt« vorangetrieben werden müsse, so sehr fürchtete er
diesen Vorgang, weil er meinte, er müsse zu einer radikalen Desorientierung
und zu entsprechenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Kämpfen
führen. Daß »Nihilismus« von Wertbindungen und entsprechenden
Verantwortlichkeiten entlaste und daher ein »Glückgefühl« sei, wie Gottfried
Benn, Nietzsche überbietend, 1931 in seiner Rede auf Heinrich Mann sagte
und 1934 in Lebensweg eines Intellektualisten wiederholte -: diese Ansicht
hätte Jünger zweifellos als fatale Fehleinschätzung und Frivolität
empfunden.
Nicht alle Träume des Abenteuerlichen Herzens haben einen
katastrophischen Gehalt; aber durchgehend wirken sie verunsichernd,
bedrohlich oder gefährlich: Im ersten Traum in der Berliner Wohnung erlebt
der Erzähler eine Reihe von Begegnungen mit Schlangen, die zunächst
außerordentlich schön sind, dann immer unansehnlicher werden und zuletzt
tot im Staub liegen – unmittelbar bevor der Erzähler in einer Pfütze »einen
Haufen von Geldscheinen« findet (9, 65). Schlangen sind bei Jünger ein
Symbol für Schönheit und Gefährlichkeit; daß sie von Banknoten abgelöst
werden, deutet auf eine Verbürgerlichung des Lebens hin und ist für ein
»abenteuerliches Herz« kein gutes Zeichen. Ein »tragikomischer Traum«
führt den Erzähler in Amsterdam in ein Universitätsgebäude, wo er im
Rahmen eines medizinischen Experiments eine »dicke grünschwarze Viper«
verschlucken muß und als Dank »eine Nacht« mit einer Betreuerin erwarten
darf, statt dessen aber sein Bett später von »bösartigen Gestalten« umstellt
sieht, die mit »röhrenförmigen Zauberstäben« auf ihn eindringen (76f.). Ein
weiterer Traum solch milderer Art führt ihn auf eine Seeräuberinsel im
Atlantischen Ozean, wo er von einer berauschenden Blume ißt, dann in
Abwehrkämpfe gegen die Spanier gerät, darin schwer verwundet wird und
einen starken Blutverlust erleidet, im Einschlafen nach dem erneuten Genuß
jener Blume aber ahnt, daß er dieses interessante und gefährliche Leben
schon »unzählige Male« geführt hat und es noch »unzählige Male« führen
wird (95). Selbstverständlich sind diese Traumnotate (wie alle Träume und
wie jeder literarische Text) vieldeutig und mit wenigen Worten nicht
erschöpfend auszulegen. Ihr hauptsächlicher Gehalt ist aber unschwer zu
erkennen: Es ist die Fixierung auf das abenteuerliche und gefährliche Leben,
das der Träumer und Erzähler immer wieder aufsucht und an dem er festhält,
obwohl ihm deutlich ist, daß er »daran zugrunde gehen« wird (95).
Freilich droht das Leben mit noch ganz anderen Schrecknissen. In einem
weiteren Traum, dessen Geschehen in einer alten Klosterkirche spielt, muß
der Erzähler, der einem Mönchsorden angehört und zu einer sektiererischen
Gruppe zählt, miterleben, wie der Anführer dieser Gruppe plötzlich von
orthodoxen Mönchen ergriffen und in einer kultischen Handlung auf einem
Altar ermordet wird (9, 66f.). In einem zweiten Traum dieser Art wird der
Erzähler in ein »höllisches Schloß« geleitet und in ein Turmzimmer geführt,
in dem eine blonde junge Frau von einer schwarzhaarigen, die aber ihre
Schwester zu sein scheint, im Beisein der Mutter mit blitzenden und
scharfen Hufnägeln unbarmherzig zerstochen wird; der Erzähler, der diesem
Anblick nicht gewachsen ist und flieht, erkennt, daß »hinter jeder Tür, vom
tiefsten Keller bis in das höchste Turmgelaß«, solch »höllische Folterqualen
spielen« und daß von diesen »nie ein Mensch erfahren wird« (82). In einem
dritten Traum, der in dieser Reihe zu sehen ist, wird der Erzähler schließlich
mit einer Menschenschlachtung konfrontiert und anschließend von einer
»Alten« verfolgt, die ihm und seinen Gefährten, die sich in »Winkelzügen«
bewegen, mit großem Geschick den Weg abzuschneiden versteht. Dabei
wird dem Erzähler bewußt, daß dieser Vorgang exemplarische Bedeutung
hat: »Der geheime Mechanismus dieser komplizierten und aufregenden
Bewegungen scheint im Kampfe des Guten, zu dem wir unsere Zuflucht
nehmen, gegen das Böse zu liegen. Da wir jedoch nicht von Grund auf gut,
die Alte dagegen vollkommen böse ist, so müssen wir unterliegen« (136).
Karl Heinz Bohrer hat in seiner Studie über Jüngers Ästhetik des
Schreckens sowohl die literarische Grundierung als auch den epochalen
Gehalt dieser Traumnotate deutlich gemacht: Sie speisen sich – abgesehen
von Traumbildern, die Jünger tatsächlich gehabt haben mag – aus der
Schreckens- und Folterliteratur der »schwarzen« Romantik und der
Décadence, und sie berühren sich mit den Gewaltphantasien des
Surrealismus. In vielen motivlichen Einzelheiten wie in der
Darstellungstechnik lassen sich Analogien zu Texten von de Sade,
Hoffmann, Baudelaire, Poe, Wilde, Huysmans usw. finden, ebenso zu den
Theorien des Ästhetizismus. Aber trotz dieser ästhetischen Orientierung an
der Literatur des 19. Jahrhunderts haben Jüngers Traumerzählungen einen
eminenten epochalen Gehalt: Sie reflektieren die Ausbreitung mörderischer
Gewalt in der Zeit der beginnenden Totalitarismen und antizipieren die
Verwandlung eines großen Teils der Welt in eine Folterkammer. Der Mord in
der Klosterkirche verweist auf die »Säuberungen«, die in jenen Jahren bei
den extremen politischen »Bewegungen« oder Parteien üblich wurden. Der
Besuch in dem »höllischen Schloß« der Folter ist ein Blick in die Welt der
geheimen Domestizierungs- und Vernichtungslager; die bittere Einsicht, daß
von den dort erlittenen Qualen »nie ein Mensch erfahren« werde, hat
Thomas Mann in seinem 1947 erschienenen Epochenroman Doktor Faustus
gegen Ende des Teufelsgesprächs (Kap. XXV) erneut formuliert und als
Merkmal der Epoche benannt. Im Bild der »Alten«, die im Unterschied zum
nicht ganz guten Erzähler und seinen Gefährten »vollkommen böse« ist,
artikuliert sich die Ahnung, daß für die Zukunft mit Potenzen zu rechnen ist,
deren Vernichtungswut durch keinerlei ethische Bedenken mehr gezügelt
wird.
In diesen drei Traumerzählungen kulminiert die Epochendiagnose des
Abenteuerlichen Herzens, die Erwartung von katastrophalen Vorgängen. Die
Moderne war für Jünger wesentlich destruktiv. Dies entsprach den sozialen
und kulturellen Wahrnehmungen, die er in der Kriegs- und in der
Nachkriegszeit zu machen hatte; und es entsprach seiner
geschichtsphilosophisch begründeten Erwartung, daß der nihilistische Abbau
aller Werte seinem Höhe- oder Tiefpunkt entgegengehe: ein Vorgang, der
notwendigerweise als schmerzliche Destruktion erfahren werden mußte.
Nicht umsonst beharrt das Abenteuerliche Herz darauf, daß der
Erfahrungsschatz des Kriegs von größter Bedeutung für die Gegenwart und
die Zukunft sei (vgl. 40, 144 und 148). Und nicht umsonst propagiert es
»Tapferkeit« (81) und einen Heroismus, der mit dem Schmerz rechnet und
ihn als einen integralen Bestandteil oder Modus des menschlichen Lebens
und der geschichtlichen Entwicklung akzeptiert (159). In diesem Sinn ist das
Abenteuerliche Herz nicht nur Ausdruck der Klage über den Gang der
Moderne, sondern auch Ausdruck des Willens zu eben dieser Moderne in
ihrer geschichtlichen Notwendigkeit. Für den Verfasser gilt, »daß man der
Zivilisation nicht in die Zügel fallen darf«; vielmehr muß man »Dampf
hinter ihre Erscheinungen setzen« (80). Zwar ist nicht absehbar, wie man aus
der Gefahr, in der man sich bereits befindet, »mit heiler Haut
herauskommen« kann (80); aber sicher ist, daß das Heil nicht in einer neuen
»Biedermeierei« (154) zu suchen ist, sondern in einem neuen und nur auf
gefährlichen Wegen erreichbaren Zustand, in dem die rationalistisch
»entzauberte« und nihilistisch desorientierte Moderne durch Potenzierung
ihrer eigenen Mittel überboten und überwunden ist. Mit dem 1932
publizierten Traktat Der Arbeiter hat Jünger versucht, diesen Zustand und
den Weg dorthin näher zu beschreiben. Es heißt dort im zwölften Kapitel:
Es gibt einen Rausch der Erkenntnis, der mehr als logischen
Ursprunges ist, und es gibt einen Stolz auf technische
Errungenschaften, auf den Antritt der schrankenlosen
Herrschaft über den Raum, der eine Ahnung besitzt vom
geheimsten Willen zur Macht, dem all dieses nur eine
Rüstung für ungeahnte Kämpfe und Aufstände ist und gerade
deshalb so kostbar und einer liebevolleren Wartung bedürftig,
als sie noch je ein Krieger seinen Waffen zuteilwerden ließ.
(8, 50f.)
Mit der Charakterisierung der Moderne als defizitärem Zustand wie mit
seinen Überwindungshoffnungen stand Jünger nicht allein. Nietzsches
Nihilismusdiagnose hatte eine große Popularität erlangt und war durch die
These von der rationalistischen »Entzauberung der Welt«, die der
wirkungsreiche Soziologe Max Weber 1917 in seinem Vortrag Wissenschaft
als Beruf formuliert hatte, bekräftigt worden. Im Unterschied zu dem
nüchternen Weber glaubten viele Intellektuelle, daß die Zeit reif sei für eine
»Überwindung des Nihilismus« wie der »Entzauberung«, sei es durch eine
neue, auf Intuition setzende Wissenschaft, durch die Reaktivierung alter
Weisheitslehren, durch eine neue Religiosität oder Mystik, durch eine
humanistisch-sozialistische Utopie oder eine andere Idee. Siegfried Kracauer
hat schon 1922 in einem umfangreicheren Essay, der in der Frankfurter
Zeitung unter dem Titel Die Wartenden erschien, ein Register der damaligen
›Überwindungsbestrebungen‹ aufgemacht, und Norbert Bolz hat sie 1990 in
einer Untersuchung mit dem Titel Auszug aus der entzauberten Welt
ausführlicher beschrieben. Jüngers Abenteuerliches Herz ist ein prominentes
und eindrucksvolles Dokument dieses ›Überwindungsdenkens‹: Es ist ja
nicht nur von der Klage über die »Mechanik der Zeit« (9, 43) erfüllt,
sondern auch von dem Wunsch nach ihrer Überwindung – wie von der
Zuversicht, sie leisten zu können. Dies alles schwingt mit, wenn es im
Anschluß an die oben zitierte Evokation der faszinierenden technischen Welt
heißt: »O du stählernste Schlange der Erkenntnis – du, die wir verzaubern
müssen, wenn du uns nicht erwürgen sollst!« (154) Von Entwicklungs-,
Steigerungsoder Überwindungs-»Zauber« ist auch im Arbeiter die Rede,
etwa wenn darauf hingewiesen wird, daß in der Geschichte immer wieder
»Rassen« aufgetreten seien, denen »der Zauber neuer Mittel wie der Bronze,
des Eisens, des Pferdes, des Segels zur Verfügung« gestanden habe (8, 287),
oder wenn angemerkt wird, daß es neuerdings – in der Sowjetunion und im
zionistischen Palästina – Planungen gebe, aus denen die entsprechenden
gesellschaftlichen Gebilde »wie durch Zauberschläge« hervorgingen (8,
300).
Die Transformation der rationalistisch »entzauberten« und nihilistisch
desorientierten Moderne in eine wiederum sinnerfüllte und »wunderbare«
oder »abenteuerliche« Moderne hat sich Jünger als einen komplexen
Vorgang mit einer praktischen und einer theoretischen Seite vorgestellt.
Nicht nur Technik und Gesellschaft mußten auf eine neue Stufe gehoben
oder in eine neue Form gebracht werden; auch die Wahrnehmung der Welt
und des Daseins mußte grundlegend erneuert und potenziert werden. Mit
dem Abenteuerlichen Herzen wollte Jünger hierfür sowohl eine Anleitung
als auch ein Exempel geben.
Der Verfasser des Abenteuerlichen Herzens zeigt sich davon überzeugt,
daß zwischen »allen Dingen der Welt« (einschließlich seiner selbst)
»Verwandtschaft« oder »Harmonie« besteht (9, 34f. und 86). Sie ist dem
menschlichen Bewußtsein weitgehend verborgen und wird üblicherweise
kaum beachtet. Aber sie kann sich in Form einer unvermuteten Epiphanie
zeigen, so wie es Jacob Böhme geschah, der »beim Anblick eines zinnernen
Gefäßes plötzlich die ganze Liebe Gottes empfand« (35). Und es gibt
herausragende »Geister« wie den frühneuzeitlichen Arzt, Naturforscher und
Philosophen Paracelsus, die ein besonderes Sensorium dafür haben,
gleichsam einen »magischen Schlüssel«, der ihnen ein »magische[s]
Verständnis« der Welt eröffnet (68f.). Daß sich auch der Verfasser des
Abenteuerlichen Herzens zu diesen »Geister[n] erster Ordnung« rechnet, ist
nicht zu verkennen. Sein Buch beschwört nicht nur fortgesetzt die oftmals
erfahrenen Einklänge des Seins; es will eine Hinführung zu einer
entsprechenden Weltsicht sein, will gleichsam einen »magischen Schlüssel«
reichen. Er heißt »stereoskopisches Wahrnehmen« und wird im 14. Stück
beschrieben (82ff. sowie 196ff.).
»Stereoskopisch« heißt zunächst einmal »räumlich« oder »körperlich«
und mithin dreidimensional »sehen« oder »erscheinen«. Jünger verwendet
das Wort in einem etwas ungewöhnlichen Sinn als Bezeichnung für ein
mehrsinniges, mehrdimensionales oder mehrwertiges Wahrnehmen der
Dinge. Ein solches deutet sich beispielsweise an, wenn eine Nelke als
»sammetrot« charakterisiert wird, was man üblicherweise als »Synästhesie«
bezeichnet: als »Mitempfinden« einer zweiten Sinnesqualität, hier des
Tastwerts neben dem Farbwert oder, anders gesagt: als Evokation einer
Sinnesqualität durch eine andere und als Überlagerung oder Verschmelzung
beider. Daß Jünger den gut eingeführten Begriff der »Synästhesie« nicht in
Anspruch nahm, ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß er ihm zu eng
war. Denn die weiteren von Jünger angeführten Beispiele für
»stereoskopisches Wahrnehmen« liegen außerhalb des Bereichs der
»Synästhesie«. So rechnet Jünger den Reim, der ein rein akustisches
Phänomen ist und keineswegs einen anderen Sinn anspricht, zu den
»stereoskopisch« wirkenden Erscheinungen, weil der Gleichklang zwischen
zwei Wörtern – etwa »Brot und Tod« – eine »tiefere Harmonie« oder
»geheime Verwandtschaft« zwischen den Dingen andeute. Ebenso
bezeichnet er ein intuitives Durchdringen der Oberfläche von Erscheinungen
als »stereoskopisch« und illustriert es mit einer Leseerfahrung: Er habe
nämlich, als er in Baudelaires Tagebüchern las, daß dieser am 23. Januar
1862 »den Flügelschlag der Imbezillität« gespürt habe, »sehr deutlich ein
Gefühl« gehabt, »als ob hier zuerst das Wort ›Wahnsinn‹ gestanden hätte, bis
eine zitternde, von einem noch tieferen Entsetzen geführte Hand es in
›Imbezillität‹ verwandelte« (9, 88). Hier geht es weder um das
Mitempfinden einer anderen Sinnesqualität noch um den Anklang einer
»geheimen Verwandtschaft« zwischen den Dingen, sondern um die Ahnung
der Textgenese, also der historischen Dimension. Damit wird vollends
deutlich, daß Jüngers »Stereoskopie« mehr meint als »Synästhesie« im
üblichen Sinn: nicht nur das Mitempfinden einer zweiten Sinnesqualität,
sondern ein Sehen, das die Oberfläche eines Phänomens durchdringt und es
mehrdimensional oder mehrgestaltig wahrnimmt, sei es nun in seinen
verschiedenen Materialqualitäten, in seinen geschichtlichen
Entwicklungsstufen oder in seinen Bezügen zu anderen Dingen. Zu solchem
Sehen fordert das Abenteuerliche Herz vielfach auf, ausdrücklich im 20.
Stück, wo es heißt:
Betrachte das Tier, als ob es ein Mensch wäre, und den
Menschen als ein besonderes Tier. Betrachte das Leben als
einen Traum unter tausend Träumen und jeden Traum als
einen besonderen Aufschluß der Wirklichkeit. Dies alles
vermagst du, wenn du über den magischen Schlüssel verfügst.
(9, 130)
Etwa anderthalb Jahre nach dem Erscheinen des Abenteuerlichen Herzens
hat Jünger noch einmal beschrieben, was er unter »stereoskopischem« Sehen
verstand. Dies geschah am Ende eines kleinen Essays, der 1930 unter dem
Titel Sizilianischer Brief an den Mann im Mond im Rahmen eines
Sammelbands mit »magischen Geschichten« (so der Untertitel) erschien und
1934 in Jüngers Essaysammlung Blätter und Steine erneut gedruckt wurde,
jetzt unter dem modifizierten Titel Sizilischer Brief an den Mann im Mond.
Den Impuls zu diesem Essay gab eine Naturerfahrung während einer
Sizilienreise im Jahr 1929 oder 1930. Die Datierung ist nicht mit letzter
Sicherheit zu treffen, doch steht immerhin fest, daß die Reise nach der
Publikation des Abenteuerlichen Herzens stattfand; sie führte zu einer
Präzisierung der »magischen« oder »stereoskopischen« Weltsicht, die im
Abenteuerlichen Herzen entwickelt, exemplifiziert und propagiert wurde.
Der Sizili[ani]sche Brief wuchs gleichsam aus dem Abenteuerlichen Herzen
heraus und ist deswegen im Zusammenhang mit diesem zu sehen.
Der Sizili[ani]sche Brief an den Mann im Mond (9, 11 – 22) ist – wie
Hofmannsthals berühmter Brief des Lord Chandos aus dem Jahr 1902 – ein
erkenntnistheoretischer und poetologischer Essay. Es geht um die richtige
Wahrnehmung der Welt, die rationalistisch nicht ganz zu fassen ist, und um
den angemessenen sprachlichen Ausdruck. Die Rede vom »Mann im
Monde« ist ein Beispiel dafür: Man weiß, daß sich »hinter dem Mann im
Monde ein Lichtund Schattenspiel von Ebenen, Gebirgen, ausgetrockneten
Meeren und erloschenen Ringkratern versteckt« (14); aber vielleicht ist diese
aufgeklärte Sichtund Beschreibungsweise doch nicht die letztgültige. Wie
das Abenteuerliche Herz postuliert der Brief den »stereoskopischen Blick«
und sagt nun, daß dieser Blick »die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen
Körperlichkeit« erfassen solle (20), wofür man wohl auch sagen könnte: in
ihrer Beseeltheit und nachgerade personalen Wesenhaftigkeit. Um dies zu
verdeutlichen, schildert Jünger eine Wanderung, die zu einer magischen oder
mystischen und mithin »stereoskopischen« Welterfahrung führte. Sie
erstreckt sich über zwei Druckseiten und ist es wert, ausführlich zitiert zu
werden:
Ich stieg an diesem leuchtenden Vormittag in den Schluchten
des Monte Gallo empor. […] Dort, wo die letzten Blätter der
Opuntie nackt und neugierig über die rötlichen Mauern
spähten, schlossen sich die Bergtriften an, überragt von
Felsen und von den gelben Stauden der Wolfsmilch
überflammt. Dann führte der Weg durch ein schmal
eingeschnittenes Tal aus kahlem Gestein.
Ich weiß nicht und will auch nicht versuchen, es zu
beschreiben, wie mir inmitten dieser Mauern plötzlich die
Einsicht auftauchte, daß ein Tal wie dieses mit seiner
steinernen Sprache den Wanderer eindringlicher ergreift, als
es einer reinen Landschaft möglich wäre, oder daß, anders
gesprochen, eine solche Landschaft über tiefere Kräfte
verfügt. Nun hat es wohl nie ein Bewußtsein von Rang
gegeben, dem das nicht deutlich gewesen wäre, und doch sind
Augenblicke selten, in denen man über die Erkenntnis eines
beseelten Lebens, das in der Natur waltet, hinaus einem
körperlichen Ausdruck dieses Lebens gegenübersteht. Ja ich
glaube, daß sie seit ganz kurzer Zeit überhaupt erst wieder
möglich geworden sind. Ein solcher Augenblick aber war es
gerade, der mich in dieser Stunde überraschte – ich fühlte die
Augen dieses Tales voll Aufmerksamkeit auf mir ruhen. Mit
anderen Worten: es war unzweifelhaft, daß dieses Tal seinen
Dämon besaß. (9, 21f.)
Es ist ein »mystischer« oder »magischer« Augenblick, den der Verfasser des
Sizili[ani]schen Briefs da erlebte oder erlebt haben will, und jedenfalls ein
Augenblick der »Epiphanie«, der plötzlichen »Offenbarung« der Dinge, wie
sie in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts – zum Beispiel auch in
Hofmannsthals Chandosbrief – vielfach beschworen wurde. In solchen
Augenblicken zeigen sich – so die Erfahrung oder Suggestion der Autoren –
die Dinge nicht in rationalistischer Verkürzung oder Verflachung, sondern in
ihrem eigentlichen Wesen und in ihrem ganzen Sein. Weiter heißt es im
Sizili[ani]schen Brief:
Gerade jetzt und noch im Taumel der Entdeckung fiel mein
Blick auf deine schon sehr bleiche Scheibe, die dicht über
dem Höhenkamme und wohl nur aus der Tiefe heraus noch
am Himmel zu sehen war. Da stand in einer seltsam
blitzhaften Geburt das Bild des Mannes im Monde wieder
auf. Gewiß, die Mondlandschaft mit ihren Felsen und Tälern
ist eine Fläche, die der astronomischen Topographie ihre
Aufgaben stellt. Aber ebenso gewiß ist es, daß sie zugleich
jener magischen Trigonometrie, von der wir eben sprachen,
zugänglich ist – daß sie zugleich ein Gebiet der Geister ist
und daß die Phantasie, die ihr ein Gesicht verlieh, mit der
Tiefe des kindlichen Blickes die Urschrift der Runen und die
Sprache des Dämons verstand. Aber das Unerhörte für mich
in diesem Augenblicke war, diese beiden Masken ein und
desselben Seins unzertrennlich ineinander einschmelzen zu
sehen. Denn zum ersten Male löste sich hier ein quälender
Zwiespalt auf, den ich, Urenkel eines idealistischen, Enkel
eines romantischen und Sohn eines materialistischen
Geschlechtes, bislang für unlösbar gehalten hatte. Das
geschah nicht etwa so, daß sich ein Entweder-Oder in ein
Sowohl-Als-auch verwandelte. Nein, das Wirkliche ist ebenso
zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist.
Das war das Wunderbare, das uns an den doppelten Bildern
entzückte, die wir als Kinder durch das Stereoskop
betrachteten: Im gleichen Augenblick, in dem sie in ein
einziges Bild zusammenschmolzen, brach auch die neue
Dimension der Tiefe in ihnen auf. (9, 22)
Wie man sieht, wird das positivistische oder materialistische Weltbild, das
sich an die greifbaren Gegebenheiten hält, nicht einfach als falsch
verworfen; es ist eine der »Masken« oder Erscheinungsformen des Seins.
Aber es muß durch jene nicht-positivistische und nicht-materialistische Sicht
ergänzt werden, deren sich sowohl der Idealismus als auch die Romantik
befleißigten und die in der symbolistischen Dichtung seit der Romantik ihren
Ausdruck fand. Jünger hat 1980 gesagt, der Sizili[ani]sche Brief markiere in
seinem Werk »den Übergang vom Expressionismus (›Der Kampf als inneres
Erlebnis‹) zum Surrealismus« (8, 393), doch darf man dies nicht
mißverstehen. Jünger war kein Surrealist im Sinne Bretons und Aragons. Er
teilt mit diesen zwar die Ästhetik des Wunderbaren, des Plötzlichen und des
Schockierenden, kennt aber nicht das dezidiert surrealistische Verfahren der
écriture automatique und steht der Erotisierung des Alltags so fern wie dem
Kultus der Revolte oder des Amoklaufs. Kurz: Jüngers Affinität zum
französischen Surrealismus ist nicht so eng, wie Bohrer in seiner Ästhetik
des Schreckens suggeriert, und sie beruht nicht auf einer Rezeption des
französischen Surrealismus, sondern auf einer durchaus unterschiedlichen
Anverwandlung gemeinsamer Voraussetzungen. Wenn Jünger von seinem
»Surrealismus« spricht, ist dies kein Bekenntnis zum historischen
Surrealismus der Jahre um 1930, sondern zu einer supra-realistischen
Betrachtungsweise, die zwar auch beim historischen Surrealismus zu
beobachten ist, aber nicht von ihm entwickelt wurde und auch nicht über ihn
auf Jünger kam. Die Quelle von Jüngers sozusagen »sizilianischem«
»Surrealismus« ist der romantisch inspirierte Symbolismus. Was Jünger am
Ende seines Sizili[ani]schen Briefs beschreibt, ist gleichsam eine
Konkretisierung von Baudelaires Gedicht Correspondances (aus Fleurs du
Mal, 1857), das als Inbegriff des Symbolismus gelten darf und das Jünger
zweifellos kannte, weil er an anderer Stelle aus Stefan Georges Fleurs du
Mal-Übertragung zitiert:
Einklänge
Aus der natur belebten tempelbaun
Oft unverständlich wirre worte weichen ·
Dort geht der mensch durch einen wald von zeichen
Die mit vertrauten Blicken ihn beschaun.

Wie lange echo fern zusammenrauschen


In tiefer finsterer geselligkeit ·
Weit wie die nacht und wie die helligkeit
Parfüme farben töne rede tauschen.

Parfüme gibt es frisch wie kinderwangen


Süss wie hoboen grün wie eine alm ·
Und andre die verderbt und siegreich prangen

Mit einem hauch von unbegrenzten dingen ·


Wie ambra moschus und geweihter qualm
Die die verzückung unsrer seelen singen.
Dieser romantisch-symbolistischen Weltsicht ist sowohl das Abenteuerliche
Herz als auch der Sizili[ani]sche Brief an den Mann im Mond verpflichtet.
Zusammen bilden diese beiden Texte die weltanschaulich-ästhetische Basis
für Jüngers weiteres Schaffen. Es wird ihm immer darum gehen, die
verschiedenen »Masken« des Seienden sowohl zu unterscheiden als auch
übereinander zu legen und zu verschmelzen, um die Dinge in ihrer Ganzheit
und in allen ihren Beziehungen zu sehen. Das Abenteuerliche Herz bot nicht
nur die gedankliche Begründung dieser Weltsicht, sondern auch eine erste
und umfassende Exemplifizierung der »stereoskopischen« Wahrnehmung
der Welt und des Seins. Diese gilt, wie ausdrücklich angemerkt sei, auch für
den sozialen Bereich und erlaubt es, bestimmte Verhältnisse in einem ganz
überraschenden Licht zu sehen oder auf eine ganz unerwartete Weise zu
deuten. So heißt es im Abenteuerlichen Herzen (und ähnlich auch im
Sizili[ani]schen Brief): »Es ist ein dunkles Weben und Pochen, in dem wir
beisammen sind, und selbst in unseren schrecklichsten Feindschaften liegt
noch eine tiefe Brüderlichkeit« (9, 131 und 20).
Mit dem Abenteuerlichen Herzen hat Jünger ein Buch vorgelegt, das an
die Weltsicht und Poetik der Romantik anschließt und zugleich dezidiert
modern ist. Das ist kein Widerspruch. Mit dem berühmten 116. Athenäum-
Fragment, das die Vereinigung von Poesie und Philosophie, genialischem
Schaffen und kritischer Reflexion, Dichtung und Rhetorik, Kunstpoesie und
Naturpoesie, poetisch-gebundenem und prosaisch-freiem Ausdruck
verlangte, kurz: das Zusammentreten aller geistigen Disziplinen und
Ausdrucksformen zu einer »progressiven Universalpoesie« forderte, hat
Friedrich Schlegel um 1800 das Tor zur ästhetischen Moderne aufgestoßen.
Romantik ist deswegen nicht gleich schon Moderne im heutigen Sinn; dafür
bedurfte es erst noch der technischen und sozialen Modernisierung
(Industrialisierung und Urbanisierung) sowie deren ästhetischer Reflexion
im Naturalismus und in den künstlerischen Avantgarde-Bewegungen der
zehner Jahre des 20. Jahrhunderts (Futurismus, Expressionismus,
Dadaismus).
Aber mit der Romantik setzte jene Tendenz zur formalen Deregulierung
und Kombinatorik ein, die in der dekompositorischen und montierenden
Moderne der dadaistischen und nach-dadaistischen Zeit zur vollen
Entfaltung kam und sich 1928/29 in Alfred Döblins Roman Berlin
Alexanderplatz auf großartige Weise dokumentierte. Von diesem
kanonischen Werk der reflektierten Moderne mit seiner Collage von
unmittelbar eingefügten Wirklichkeitsmaterialien (wie Reklametexte und
Zeitungsmeldungen) und seinen unvermittelten Montagen disparater
Textteile innerhalb eines Abschnitts ist das Abenteuerliche Herz zwar
deutlich verschieden: Es kennt weder die Collage von Wirklichkeitsmaterial
noch die Montage von verschiedenen ›Reden‹ innerhalb eines
Textabschnitts; vielmehr ist bei allem, was zur Sprache kommt
(einschließlich der fast einhundert Verweise auf Texte verschiedener
Autoren), die vermittelnde Hand des Autors zu spüren, die alles einer
einheitlichen Diktion unterwirft. Aber insgesamt – oder makrostrukturell
gesehen – ist das Abenteuerliche Herz durchaus ein Montagetext, in dem
thematisch disparat wirkende Stücke so unvermittelt nebeneinander stehen,
daß die Nachbarschaft zunächst eher irritierend als plausibel wirkt und
Zusammenhänge fast nur versuchsweise hergestellt werden können und
unter anderer Perspektive auch anders ausfallen könnten. Es ist eine Kunst,
die die Welt und den Menschen im Zustand der Dekomposition und
Multiphrenie, der Zersplitterung und Segmentierung zeigt. Die Welt- und
Ich-Wahrnehmung ist vielfach gebrochen; die einzelnen Komponenten
stehen relativ unvermittelt nebeneinander; was sie verbindet, ist kaum
auszumachen und jedenfalls nicht mit einem Wort zu benennen. Gottfried
Benn hat diese Art der Darstellung 1950 in den poetologischen Passagen
seiner Autobiographie Doppelleben als »Orangenstil« oder »absolute Prosa«
bezeichnet und als avancierteste Form des modernen Romans ausgegeben:
Der [moderne] Roman ist […] orangenförmig gebaut. Eine
Orange besteht aus zahlreichen Sektoren, den einzelnen
Fruchtteilen, den Schnitten, alle gleich, alle nebeneinander,
gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht einige Kerne
mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die
Weite, in den Raum, sie tendieren in die Mitte, nach der
weißen zähen Wurzel, die wir beim Auseinandernehmen aus
der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phänotyp [der
Epoche], der Existentielle, nichts wie er, nur er, einen
weiteren Zusammenhang der Teile gibt es nicht.
Den Begriff »Phänotyp« hat Benn von dem dänischen Erbforscher Wilhelm
Johannsen übernommen. Er verstand darunter die epochenspezifische
Variante des zugrundeliegenden »Genotyps« oder, mit Benns Worten, das
aus dem »Genotyp« hervorgegangene »Individuum einer jeweiligen Epoche,
das die charakteristischen Züge dieser Epoche evident zum Ausdruck bringt,
mit dieser Epoche identisch ist, das sie repräsentiert«. Mit seinem Roman
des Phänotyp hat Benn im Frühjahr 1944 während seines Einsatzes in
Landsberg an der Warthe versucht, den »Phänotyp« seiner Zeit zu fixieren.
Das Werk blieb fragmentarisch, und dies wohl nicht nur wegen der prekären
Kriegslage: Die Epoche, die Benn in seinem Roman des Phänotyp zu
kondensieren suchte, war so uneinheitlich, so oft gespalten, von so
unterschiedlichen und gegenstrebigen Kräften gedrängt und gezerrt, daß
wohl jeder Versuch, sie durch eine Gestalt sichtbar zu machen, zum
Scheitern verurteilt war; nicht umsonst blieb auch Robert Musils
Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften nach zwei Jahrzehnten
angestrengter Arbeit als ein riesiger, 1500 Seiten umfassender Torso liegen.
Immerhin wird am »Landsberger Fragment«, das knapp fünfzig Seiten zählt
und in achtzehn thematisch sehr disparat wirkende Stücke unterteilt ist,
deutlich, daß Benn mit seinem Roman des Phänotyp, der in der
Literaturgeschichtsschreibung als innovative Leistung gilt, eben den Weg
einschlug, den Jünger 1928/29 mit dem Abenteuerlichen Herzen gegangen
war. Im Unterschied zu Benn hat Jünger dieses Vorgehen poetologisch weder
ausdrücklich reflektiert noch als Epochenstil ausgerufen; aber er hat mit dem
Abenteuerlichen Herzen nicht weniger als das Porträt eines Phänotyps der
Epoche in der dafür am besten geeigneten und innovativen Form des
»Orangenstils« oder der »absoluten Prosa« vorgelegt.

Sammelbände: Verewigung des Kriegs


Mit dem Abenteuerlichen Herzen hat sich Jünger vom Kriegsschriftsteller
und politischen Publizisten zum poetischen Autor, zum Dichter entwickelt.
Ob ein gänzlicher Übertritt auf das Gebiet der rein fiktionalen Literatur, etwa
des Romans oder der Novellistik, möglich gewesen wäre, ist indessen
fraglich; die Erzählungen und Skizzen, die bei anderen Autoren den Weg
zum ersten großen erzählerischen oder dramatischen Werk markieren, fehlen
bei Jünger. Er scheint seine Bestimmung um 1928/29 zwar jenseits der
politischen Publizistik gesehen zu haben, aber nicht unbedingt in der rein
dichterischen oder fiktionalen Literatur. Auch gab es Umstände, die hierfür
hemmend gewesen sein dürften: Jüngers engere Bekannte – Hugo Fischer,
Friedrich Hielscher, Ernst Niekisch, bald auch Carl Schmitt – waren keine
Literaten, sondern politisch ambitionierte Intellektuelle; Jünger stand
weniger in literarischen Diskussionszusammenhängen als in politisch-
publizistischen. Hier hatte er einen Namen, der etwas galt und gefragt war –
und letzteres um so mehr, als das Jahr 1928 den »Großen Krieg«, der zehn
Jahre zuvor zu Ende gegangen war, auf eine überraschend intensive Weise
wieder zum Thema machte. Es erschien eine solche Fülle von historischen
Abhandlungen, Memoiren und Kriegsromanen, daß der Wiener Pädagoge
und Schriftsteller Ernst Jirgal 1931 im Titel einer ersten sichtenden Studie
von der »Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur« sprach. Daß sich
Jünger in dieser Situation gefordert fühlte, versteht sich von selbst, und
zweifellos wurde er von politischen Interessengruppen wie von Verlagen
angehalten, sich an der literarischen Aufarbeitung des Kriegs zu beteiligen.
Als Verfasser von Kriegsbüchern, die nun wieder ins Blickfeld rückten, und
als herausragender publizistischer Vertreter der »Frontsoldaten« war Jünger
für Verleger, die einen Band über den Krieg auf den Markt bringen wollten,
der ideale Herausgeber und ein fast unverzichtbarer Beiträger. Hauptsächlich
darauf dürfte zurückzuführen sein, daß Jünger in den Jahren nach 1928
mehrfach als Herausgeber von Sammelbänden mit militärischer Thematik
tätig wurde.
Finanzielle Interessen dürften hinzugekommen sein. Jünger mußte nicht
nur für sich, sondern auch für seine Frau und seinen kleinen Sohn
aufkommen. Die Offizierspension war klein, die Honorare für die
Kriegsbücher und die Zeitschriftenbeiträge waren nicht üppig. Das Entgelt
für die Herausgeberschaft von Sammelbänden war sicher willkommen, aber
vermutlich bescheiden. Bei einem der beiden ersten von Jünger
herausgegebenen Bände, bei dem Gedenkbuch Die Unvergessenen, bezahlte
der Verlag die Autorenhonorare nicht, so daß Jünger gegen den Verlag
klagen und einige Honorare aus eigener Tasche vorstrecken mußte.
Diese beiden Bände erschienen 1928 im Berliner Andermann-Verlag in
jeweils großformatiger und repräsentativer Aufmachung. Der erste dürfte
wohl der Band mit dem von Gorch Fock – Seefahrt ist not! – übernommenen
Titel Luftfahrt ist not! gewesen sein. Er stand unter dem »Protektorat des
Deutschen Luftfahrtverbandes«, mit dem Jünger vermutlich durch seinen
Fliegerkurs von 1926 in Verbindung gekommen war. Der Band zählt 399
Seiten und bietet fast vierzig Beiträge zur Geschichte des Fliegens, zu
Flugzeugbau und Flugtechniken, zur Fliegerei in Krieg und Frieden, zur
Navigation wie zur Flugpolitik. Von Jünger stammt das »Vorwort« (jetzt in
PP, 397 – 407): eine emphatische Beschwörung der Wichtigkeit der Fliegerei
und der Herausforderung, die das Fliegen für das physische, intellektuelle
und technische Vermögen des Menschen darstellt. Mit der Fliegerei habe ein
»modernes Zeitalter der Entdeckungsfahrten« begonnen (403), und
selbstverständlich plädiert der ›Abenteurer‹ und ›Modernist‹ Jünger dafür,
diese neuen Möglichkeiten der Welterschließung auszuschöpfen. Dies sei
kein Luxus, sondern im Hinblick auf die Zukunft der deutschen Nation – wie
aller anderen Nationen auch – eine Notwendigkeit. Zudem sei die
Weiterentwicklung der Luftfahrt eine Dankesschuld gegenüber den Flug-
Pionieren, von denen viele – nicht zuletzt die Kampfflieger des Weltkriegs –
für ihre grundlegenden Leistungen mit dem Leben bezahlen mußten.
Jüngers zweiter Sammelband war das schon erwähnte Gedenkbuch Die
Unvergessenen. Auf 399 Seiten in großem Format (21 × 30 cm) und aus
schwerem Papier gibt dieser Band in alphabetischer Reihenfolge
vierundvierzig Porträts von Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Die Auswahl
ist bemerkenswert: elf Berufsoffiziere (darunter ein Admiral und drei
Generale); vier Kampfflieger (darunter selbstverständlich Manfred von
Richthofen); ein Militärarzt; ein sozialdemokratischer Politiker (Ludwig
Frank); zwei Gelehrte (Caspar René Gregory und Norbert von Hellingrath);
dann eine große, zwanzig Namen umfassende Gruppe von Literaten und
Malern: Hans Breuer (Herausgeber des Wandervogel-Liederbuchs Der
Zupfgeigenhansl), Richard Dehmel, Walter Flex, Gorch Fock, Walther
Heymann, Alfred Walter von Heymel, Alfred Lichtenstein, Friedrich
Lißmann, Hermann Löns (der Jüngers Regiment angehört hatte), Ernst
Wilhelm Lotz, August Macke, Franz Marc, Adolf Petrenz, Gustav Sack,
Reinhard Johannes Sorge, Ernst Stadler, August Stramm, Karl Thylmann,
Georg Trakl, Albert Weisgerber. Von Lichtenstein, Lotz und Stadler sind nur
Gedichte abgedruckt. Die übrigen Autoren und Maler sind mit Artikeln
bedacht, die zwischen vier und zwölf Seiten umfassen. Sie verbinden
biographische Informationen, die natürlich auch den Kriegseinsatz
hervorheben, mit Werkbeschreibungen, die in allen Fällen von guten
Kenntnissen getragen sind. Sieben Artikel stammen von Friedrich Georg
Jünger, darunter die über Hermann Löns, Gustav Sack und Georg Trakl. Die
Artikel über Franz Marc und den Graphiker und Dichter Karl Thylmann
wurden von Lothar Schreyer geschrieben, einem aus dem avantgardistischen
Sturm-Kreis kommenden und vielseitig tätigen Künstler und Theoretiker, der
zeitweilig auch am Bauhaus und an der Wegschule unterrichtete. Wie die
Auswahl der Gefallenen, so zeigt auch die Mitwirkung von Schreyer, daß es
bei diesem Unternehmen nicht um eine reaktionäre Veranstaltung ging,
sondern um eine Würdigung von Gefallenen, die zum größeren Teil durch
künstlerische oder wissenschaftliche Leistungen hervorgetreten waren.
Von Jünger stammen das sechsseitige Vorwort, das vierseitige Nachwort
und ein fünfzehnseitiger Artikel über den Leipziger Theologen Caspar René
Gregory. Dieser amerikanische Gelehrte hugenottischer Abstammung war
bei Kriegsausbruch 68 Jahre alt, meldete sich aber sogleich freiwillig und
bestand darauf, an der Front Dienst zu tun, und zwar nicht nur bei der
»Gräberverwaltung«, sondern auch im Schützengraben. Er kam im März
1917, als er wegen eines Sturzes vom Pferd das Bett nicht verlassen konnte,
bei einer Artilleriebeschießung zu Tode. Jünger wählte ihn als Beispiel für
einen Ausländer, der aus Liebe zu seinen Mitbürgern für sein Gastland
eintreten wollte, und als Exempel für einen Menschen, in dem akademische
und soldatische Disziplinierung zusammenwirkten. Bemerkenswert ist aber
auch, in welchem Maß Jünger Gregorys demokratische und soziale Haltung
beschreibt und rühmt: Gregory ist für ihn ein Demokrat und Sozialist im
Sinne Walt Whitmans, den Jünger hier zitiert, also nicht aus dem
»Ressentiment der Unterdrückten« (UV, 124; später gestrichen), sondern aus
Herzensgröße und aus Achtung vor allem Lebenden (14, 15):
So sagt Gregory: »Der Lampenputzer, der Straßenkehrer, der
Kloakenreiniger kann ein edler, gebildeter Mensch sein.« So
stellt er sich noch im Kriege für abgehetzte Frauen vor
Bäckerläden an, so nimmt er auf seiner Zwischendeckfahrt
über das Mittelmeer eine jüdische Auswandererfamilie gegen
die Späße des Schiffsvolkes in Schutz. <Später gestrichen:
So gilt seine besondere Anteilnahme dem Arbeiter. Diese
Anteilnahme entspringt keinem verschwommenen
Mitleidsgefühl, sie hat nichts Entwürdigendes.> (UV, 125 =
14, 15)
Diese Sätze betreffen nicht nur Gregory, sondern Jünger selbst, den
Verächter der parlamentarischen Demokratie und des bürokratischen
Sozialismus. Sie zeigen seine Sympathie mit jenem Demokratismus und
»Sozialismus des Herzens« (UV, 125), den Gregory verkörperte. Und die
später gestrichenen Stellen verweisen auf die Quelle seines Ressentiments
gegen eine Demokratie und einen Sozialismus, die »Gleichheit […] mit dem
Zollstock« schaffen wollen: Nietzsche.
Jüngers Vorwort – und ebenso das Nachwort – beschwören die
Dankesschuld der Überlebenden gegenüber den Gefallenen und die daraus
resultierende Pflicht, die Toten zu ehren. Das Buch soll dazu einen
spezifischen Beitrag leisten: Es soll mit dafür sorgen, daß die öffentliche
»Ehrung« der Gefallenen, die sich in Denkmälern und Erinnerungstafeln
ausdrückt, durch eine »Verehrung des Herzens« ergänzt und »erwärmt« wird
(UV, 9 = PP, 383). Sie kann sich, meint Jünger, an Gestalten von Rang und
Namen besser entzünden als an der Figur des unbekannten Soldaten, die zu
wenig zur Verehrung einlädt und zudem auch nicht dem Umstand gerecht
wird, daß der Soldat »eigentlich niemals ganz unbekannt« ist, weil »mit dem
Begriff des Soldatentums der der Kameradschaft untrennbar verbunden« ist
(UV, 11 = PP, 386). Auch hier zeigt sich Jüngers Tendenz, der These von der
Anonymität des modernen Kriegs zu widersprechen. Im übrigen arbeitet er
mit der bekannten Opfer- und Gedenkrhetorik: Die Opfer waren nicht
umsonst, weil der Tod zugleich »Zeugung« ist – sofern die Überlebenden
sich bemühen, den Gefallenen gerecht zu werden.
Bereits ein Jahr nach den Unvergessenen erschien 1929 ein zweiter von
Jünger herausgegebener Erinnerungsband mit dem Titel Der Kampf um das
Reich. Die Rechte lagen wieder beim Berliner Andermann-Verlag,
Ausführung und Distribution aber bei der »Deutschen Vertriebsstelle ›Rhein
und Ruhr‹/Wilhelm Kamp« in Essen. Gegenstand dieses wiederum
großformatigen Bands, der auf dreihundertzwanzig Seiten zwanzig Artikel
und einundsechzig Abbildungen bot, sind die revolutionären
Auseinandersetzungen der Jahre 1918/19, die Umsturzversuche bis zum
sogenannten Hitler-Putsch vom 9. November 1923 und die unmittelbar an
den Krieg anschließenden Kämpfe an der Ostgrenze des Deutschen Reichs
(wie ja die »Weimarer Republik« offiziell hieß), also im Baltikum und in
Oberschlesien. Der Titel »Kampf um das Reich« meinte also den Kampf um
die innere Form des Reichs wie um seine Grenzen -: Themen, die um 1929
für Jünger und seine Gesinnungsgenossen keineswegs erledigt waren. Die
Beiträger gehörten nicht alle zu seinem engeren Bekannten- oder gar
Freundeskreis, waren aber alle im nationalistischen Lager angesiedelt und
gehörten teilweise der NSDAP an; die meisten kamen zudem aus dem
Bereich der früheren Freikorps. An bekannten Namen seien Ernst von
Salomon sowie Gregor und Otto Strasser genannt.
Jüngers »Vorwort« (jetzt in PP, 527 – 536) wiederholt einige Grundsätze
seiner politischen Publizistik: Die politische und geistige Situation
Deutschlands ist in hohem Maß unübersichtlich, ja chaotisch. Alle
möglichen »Anschauungen, Traditionen, Theorien« usw. konkurrieren
miteinander und paralysieren gleichsam das Bewußtsein der Zeitgenossen.
Dieser Zustand ist die Folge der verfehlten Revolution von 1918/19 und der
fehlgeschlagenen Versuche, durch einen antiparlamentarischen Umsturz eine
eigentliche nationale Gesellschaftsund Staatsordnung herbeizuführen. Die
»deutsche Revolution« ist deswegen wiederzubeleben und zu »vollenden«
(PP, 536). Es gilt, die Versäumnisse der ersten Nachkriegs- und
Revolutionsjahre auszugleichen – und damit auch die Opfer zu rechtfertigen,
die damals gebracht wurden.
An diese erinnern die folgenden neunzehn Artikel über die
Niederschlagung der Revolution in Berlin und München wie der
kommunistisch geführten Arbeiteraufstände in Mitteldeutschland und im
Ruhrgebiet, über die Abtretungskämpfe im Baltikum und in Oberschlesien,
über den Kampf gegen die französische Besetzung des Rheinlands und des
Ruhrgebiets sowie über den Kapp-Putsch und den Hitler-Putsch.
Kämpferische Leistungen und Ruhmestaten werden gemeldet; die Artikel
bilden das konterrevolutionäre Pendant zu der nicht weniger heroisierenden
Darstellung dieser Vorgänge in zahlreichen Dramen und Romanen
sozialistisch-revolutionär eingestellter Autoren, von Franz Jungs
Revolutionsstücken (um 1920/21) bis zu Karl Grünbergs und Hans
Marchwitzas Ruhrgebietsromanen (um 1929). Die Darstellungen gleichen
sich nicht nur darin, daß jeweils von heldenhaften Leistungen und großen
Opfern die Rede ist, sondern auch darin, daß sie beiderseits als vergeblich
beklagt werden: Weder die einstigen Revolutionäre noch die einstigen
Konterrevolutionäre sind mit der Republik, die aus den Gründungskämpfen
hervorging, einverstanden. Doch sollen die Kämpfe und Opfer nicht ganz
umsonst gewesen sein: Auf beiden Seiten bedeuten die Opfer Verpflichtung
und werden die Kämpfe als Quellen wichtiger Erfahrungen und
Zielsetzungen betrachtet: Ernst von Salomon will aus den revolutionären
Kämpfen die »Erkenntnis« mitgenommen haben, »daß eine sozialistische
Staatsgestaltung streng an die Kraftquellen der Nation gebunden sein muß«
(Der Kampf um das Reich, 38). Für Hartmut Plaas ist das »Kapp-
Unternehmen« zwar gescheitert, aber der »Brigadegeist hat sich erhalten«
und ist nach wie vor ein politisches Element (189). Für Otto Strasser wurden
am 9. November 1923 Fehler gemacht, doch »befreiten die Schüsse vor der
Feldherrnhalle die Idee der deutschen Revolution« von mancherlei
»Schlacken« und machten als Ziel und Aufgabe »das dritte Reich«
erkennbar (308). Dem entspricht, daß Hitler in dem Band mit einem Porträt
vertreten ist (Nr. 58), obwohl Jünger um 1929 nicht mehr allzuviel von ihm
hielt. Insgesamt war Der Kampf um das Reich eine Kombination aus
konterrevolutionärer Geschichtsschreibung und nationalrevolutionärer
Programmatik. Seine Hauptbotschaft war, daß die »deutsche Revolution«
fortgeführt und die Republik überwunden werden mußte.
Ein vierter von Jünger herausgegebener Sammelband erschien 1930 im
Berliner Verlag Junker & Dünnhaupt unter dem Titel Krieg und Krieger. Er
ist – im Hinblick auf Jüngers Entwicklung wie auf die Mentalität seines
Kreises – sehr viel wichtiger als die vorausgehenden Bände, und er erregte
die nachhaltig wirksame Aufmerksamkeit Walter Benjamins.
Krieg und Krieger ist ein reiner Aufsatz-Band ohne Illustrationen. Er
umfaßt knapp zweihundert Seiten und enthält acht Beiträge von Autoren, die
Jünger damals nahestanden oder in der nationalistischen Bewegung eine
Rolle spielten. Die Aufsätze sind thematisch nicht eng aufeinander
abgestimmt, doch berühren sie sich vielfach. Alle sind von der Überzeugung
getragen, daß die Erfahrungen des Kriegs von großer Bedeutung auch für die
Friedenszeit seien und der Weltkrieg, der offensichtlich in Erwartung eines
weiteren Kriegs von ähnlicher Dimension mehrfach als der »erste
Weltkrieg« bezeichnet wird (55 u. ö.), einer Aufarbeitung bedürfe, welche
Kritik und zukunftsorientierte Auswertung miteinander verbinde: einer
»schöpferischen Kritik«, wie der zweite Aufsatz von Wilhelm von Schramm
sagt. In diesem Sinn versucht Friedrich Georg Jünger mit dem dritten
Aufsatz, den Weltkrieg phänomenologisch zu profilieren und geschichtlich
zu deuten: In ihm sei die sprengende Dynamik der Zeit wirksam geworden
und habe hinweggefegt, was für den Untergang reif gewesen sei; zugleich
habe dieser Krieg offenbart, mit welch mechanischer Härte der
»Daseinskampf« fortan geführt werde. Vier weitere Aufsätze wenden sich
spezielleren Themen zu: der Bedeutung der Freikorps in der frühen
Nachkriegszeit; dem Verhältnis von Krieg und Intelligenz; der
geschichtlichen Tendenz zur »Bändigung des Krieges durch den Staat«.
Besonders bemerkenswert sind zwei Aufsätze, die zwar weit entfernt
voneinander stehen, aber in mancher Hinsicht einander ergänzen: der
einleitende Aufsatz von Ernst Jünger mit dem ominösen Titel Die totale
Mobilmachung und der an siebter Stelle stehende Aufsatz Der Krieg und das
Recht von Werner Best.
Wie Friedrich Georg in Krieg und Krieger versucht auch Ernst Jünger in
seinem Aufsatz Die totale Mobilmachung (Originalfassung jetzt in PP, 558 –
582; modifiziert in SW 7, 121 – 141), die »Eigenart« des letzten Kriegs zu
bestimmen. Sie liegt – Jünger zufolge – darin, daß sich in ihm »der Genius
des Krieges mit dem Geiste des Fortschrittes durchdrang« (PP, 559 = SW 7,
121). Dieser zeigte sich in der Tendenz zur »totalen Mobilmachung« oder,
anders gesagt: in der »absoluten Erfassung der potentiellen Energie, die die
kriegführenden Industriestaaten in vulkanische Schmiedewerkstätten
verwandelt« und »das Bild des Krieges als einer bewaffneten Handlung […]
in das weitergespannte Bild eines gigantischen Arbeitsprozesses« überführt
(562/126). Die deutsche Kriegswirtschaft, die Bewaffnung der
Handelsschiffe, der »Kampf Ludendorffs um die Identität von militärischer
und politischer Führung« waren erste Maßnahmen dieser Art, die jedoch
ungenügend blieben und durch die amerikanische Fähigkeit, alle Kräfte des
Landes zu mobilisieren, weit übertroffen wurden (567/131). Dies war –
Jünger zufolge – kein Zufall, sondern hatte zwei Ursachen: Zum einen war
die Mobilisierungskraft der amerikanischen Demokratie deutlich größer als
die der deutschen Monarchien; und zum andern steht die westliche
»civilisation« jenem Geist des Fortschritts, der sich in der Tendenz zur
»totalen Mobilmachung« zeigt, näher als die deutsche »Kultur« (570/134).
Die geschichtliche Bedeutung dieser forcierten Mobilmachung in den letzten
Kriegsjahren liegt nun aber – Jünger zufolge – nicht nur darin, daß sie
Deutschland um den Sieg brachte und das Bild des Weltkriegs prägte,
sondern auch und mehr noch darin, daß sie ein neues Zeitalter eröffnete: das
»Arbeitszeitalter«, wie es in der späteren Fassung heißt (126), oder eben das
Zeitalter der »totalen Mobilmachung«, die Jünger nun allenthalben im
Gange sieht: in der Sowjetunion und im faschistischen Italien, aber auch in
Frankreich und Amerika. Was im Krieg begann, war nur »eine Andeutung
jener höheren Mobilmachung«, die unabweislich zum Gang der Geschichte
gehört und die mit dem Wechsel von Kriegs- und Friedenszeiten nur »ihr
Gebiet, nicht aber ihren Sinn« wechselt (572/136). Krieg und Frieden sind
bei dieser Sichtweise letztlich nur unterschiedliche Formen und Phasen jenes
»Arbeitsprozesses«, in dem die Welt ihr neues Aussehen sucht, und die total
mobilgemachte Moderne ist dadurch gekennzeichnet, daß »das weit
verzweigte und vielfach differenzierte Stromnetz des modernen Lebens
durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strome der
kriegerischen Energie zugeleitet« werden kann (562/126).
Vielfach hat man gesagt, Jünger sei mit seinem Aufsatz von 1930 der
Erfinder und Propagator sowohl der »totalen Mobilmachung« als auch des
»totalen Kriegs« geworden. Richtig ist, daß er einen Vorgang beschrieben
hat, der im Gange war, und daß er für diesen Vorgang – vielleicht nicht ganz
originär – eine sowohl treffende als auch einprägsame und mithin
popularisierungsfähige Formel gefunden hat. Die geschichtlichen
Inauguratoren und wirkungsmächtigen Förderer dieses Vorgangs waren
indessen andere und brauchten Jünger nicht als Vordenker und
Leitwortgeber. Auch scheint Jüngers Aufsatz in den militärtheoretischen
Debatten der dreißiger Jahre, in denen das Konzept des »totalen Kriegs«
entwickelt wurde, keine Rolle gespielt zu haben; jedenfalls findet sich in der
eingehenden Studie, die Marcus Pöhlmann diesen Debatten gewidmet hat,
kein Hinweis auf Jüngers Schrift, und überhaupt wird dieser nur am Rand
erwähnt. Mit anderen Worten: Jünger war weder der Inaugurator noch ein
unreflektierter Propagator der »totalen Mobilmachung«, sondern ihr
Diagnostiker. Er erkannte in ihr einen unabwendbaren Zug der Zeit, und ihre
Dynamik faszinierte ihn. Ebenso bemerkte er, daß der Vorgang der »totalen
Mobilmachung« mit einer rigorosen Indienstnahme des Menschen und mit
entsprechenden Freiheitsverlusten sowie sonstigen Opfern verbunden war,
doch war er – wie immer – »weit davon entfernt«, »das Unvermeidliche
beklagen zu wollen« (570/134). Dementsprechend changiert das Timbre
seines Aufsatzes über die »totale Mobilisierung« zwischen verhaltener
Begeisterung, unterdrückter Klage und sich souverän gebender
Ungerührtheit.
Der zweite beachtenswerte Aufsatz des Krieg und Krieger-Bands stammt
von einem damals siebenundzwanzigjährigen Juristen, der seit einigen
Jahren Kontakt zu Jünger hatte (und seinen Lebensweg noch öfter kreuzen
sollte). Werner Best war 1903 in Darmstadt geboren worden und ist ein
Vertreter jener Jahrgänge, die nicht mehr zum Kriegsdienst eingezogen
wurden, aber die Kriegsideologie eingetrichtert bekamen und nach dem
Ersten Weltkrieg die Frontsoldaten-Mentalität übernahmen und im
politischen Leben umsetzen wollten. Kalte Sachlichkeit, Verachtung von
Humanität, Härte und Kompromißlosigkeit gehörten zu ihrem Habitus. Best
wuchs wohlbehütet in einer bürgerlichen Umgebung auf, studierte
Rechtswissenschaft, machte 1925 mit zweiundzwanzig Jahren ein
herausragendes Examen und wurde 1927 aufgrund einer tarifrechtlichen
Arbeit promoviert. Schon während der Studienzeit war er in
nationalistischen Bünden aktiv, organisierte nationalistische Veranstaltungen
und begann, seine radikalen nationalistischen Positionen auch publizistisch
zu vertreten. Dadurch erregte er die Aufmerksamkeit Jüngers, der ihn 1928
bat, seine Ansichten einmal in einem längeren Aufsatz darzulegen. Der in
Krieg und Krieger publizierte Beitrag Der Krieg und das Recht dürfte auf
diese Bitte zurückzuführen sein. Als der Aufsatz 1930 erschien, war Best
gerade im Begriff, sich in der NSDAP zu engagieren.
In seinem Aufsatz Der Krieg und das Recht ging Best der Frage nach,
welche Bedeutung der Artikel 11 der Völkerbundssatzung von 1919 und der
1928 in Paris abgeschlossene »Kellogg-Pakt« für Krieg und Frieden hatten.
Der Artikel 11 sah vor, daß »jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg« als
Angelegenheit des Völkerbunds betrachtet werden und mit
friedenssichernden Maßnahmen quittiert werden sollte. Der Kellogg-Pakt
war auf Anregung des französischen Außenministers Briand und auf
Betreiben des amerikanischen Außenministers Kellogg zustande gekommen.
Er war ein »Vertrag zur Ächtung des Krieges« und sah vor, daß mögliche
Differenzen zwischen den Vertragspartnern nur durch »friedliche Mittel«
beigelegt werden sollten und daß die Vertragspartner »den Krieg als Mittel
für die Lösung internationaler Streitfälle verurteil[t]en«. Der Pakt trat am 25.
Juli 1929 in Kraft, nachdem er nicht nur von den Siegerstaaten des Ersten
Weltkriegs, sondern auch von Deutschland ratifiziert worden war; er
entsprach der von Briand und Stresemann, den Friedensnobelpreisträgern
des Jahres 1926, verfolgten Friedens- und Versöhnungspolitik. Best sah in
diesen Verträgen eine Konsequenz des rationalistischen und zugleich
utopischen westeuropäischen Denkens: »Die utopisch-rationalistische
Auffassung vom Krieg und vom Recht sieht im Krieg eine dem wahren
Wesen des Menschen widersprechende Naturwidrigkeit, die durch die
Schaffung eines der erkannten besseren Natur des Menschen entsprechenden
Rechtszustandes unterdrückt werden kann und soll« (KuK, 142).
Demgegenüber konstatierte Best für Deutschland eine »moralisch-
idealistische« Auffassung (144), die den Frieden als »regulative Idee« im
Blick hatte, aber auch den Fall ins Auge faßte, daß ein Krieg unvermeidbar
war, und deswegen den Krieg weder prinzipiell verurteilte noch mit
rechtlichen Sanktionen belegte; der Krieg stand nach dieser Auffassung
»außerhalb« des Rechts (145). Diese Trennung von Krieg und Recht wurde
nun von Best unter stillschweigender Bezugnahme auf Nietzsches Willens-
oder Machtphilosophie und in Übereinstimmung mit dem »neuen
Nationalismus« radikalisiert und positiviert: »Die innere Haltung, die hier
als Nationalismus bezeichnet wird, bejaht die friedlose, von Kampf und
Spannung erfüllte Wirklichkeit unserer Umwelt. Sie erstrebt keine
›Erlösung‹, keinen Zustand, der die gegenwärtige Unruhe endet. Denn sie
weiß aus unmittelbarer Gewißheit, daß alles Leben, daß die Dynamik des
Kosmos in Spannung, Kampf und Unruhe besteht« (150). Und: »Das Recht
kann – als Erscheinung der Wirklichkeit – nicht die Verneinung dieser
Wirklichkeit sein. Es kann deshalb nicht als Ordnung eines Zustandes das
Ende allen Kampfes bedeuten« (153). Vielmehr haben alle Nationen das
Recht, die Ausweitung ihrer Macht mit allen Mitteln, auch kriegerischen, zu
betreiben, ohne dafür rechtlich geächtet zu werden: »Wir lassen uns auch
nicht durch das Bewußtsein, daß wir selbst heute noch nicht in einem
Führerstand der gewandelten Kampffronten stehen, dazu verführen, in
billiger moralischer Entrüstung die Kampfmittel theoretisch zu verneinen,
die uns zur Zeit nicht zur Verfügung stehen. Nein, wir bejahen jedes Kampf-
und Machtmittel, weil wir uns ausdrücklich vorbehalten, auch unsererseits
eines Tages davon Gebrauch zu machen« (161). Diese Einstellung hat Best
als »heroischrealistische« bezeichnet, weil sich in ihr die »realistische«
Anerkennung der dynamisch-agonalen Wirklichkeit mit einer »heroischen
Sittlichkeit« verbinde (152).
Zwischen Jünger und Best herrschte in mancher Hinsicht weitgehende
Übereinstimmung. Auch Jünger hatte in seinen früheren nationalistischen
Artikeln die These vertreten, daß der Lebens- oder Machtanspruch einer
Nation nicht an rechtliche Normen gebunden sei, sondern Recht setze (PP,
187 und 283). Ebenso hatte er schon im April 1926 davon gesprochen, daß
die »Wertungen« der Frontsoldaten und neuen Nationalisten »heroische«
seien (PP, 185). So konnte er Bests nationalistischem Rechtssubjektivismus
leicht zustimmen, und ebenso leicht konnte er Bests Rede von einer
»heroisch-realistischen« Einstellung aufgreifen und auf seinen »neuen
Nationalismus« anwenden. Dies geschah nicht nur im »Vorwort« zu Krieg
und Krieger, sondern auch in einem Artikel, der im März 1930 in der
Literarischen Welt unter dem Titel Der heroische Realismus erschien.
Gleichlautend heißt es dort, die »Haltung« des neuen deutschen oder
»modernen« Nationalismus sei »die eines heroischen Realismus« (KuK, 5,
und PP, 553). Aber neben dieser Übereinstimmung gibt es Unterschiede. Sie
liegen im Ton und in der Haltung. Aus Bests Aufsatz spricht der Jurist und
Aktivist, der sich durch präzise juristische Argumente rechtliche Freiräume
für sein zukünftiges Handeln schaffen will. Aus Jüngers Aufsatz über die
»totale Mobilmachung« spricht der Beobachter, der zwischen Zustimmung
zu dem beschriebenen Phänomen und Ablehnung schwankt – und im
übrigen weit davon entfernt ist, sich selber als Akteur zu sehen.
Der Aufsatzband Krieg und Krieger fand in dem 1892 geborenen
Philosophen Walter Benjamin einen prominenten linken Kritiker. Seine
umfangreiche, sich über zwölf Seiten erstreckende Rezension erschien noch
1930 in der Zeitschrift Die Gesellschaft (jetzt in GS III, 238 – 250). Sie ist –
wie Schwarzschilds Tagebuch-Artikel, auf den Bezug genommen wird – ein
Anzeichen dafür, daß Jünger in den Jahren 1929 /30 zunehmend die
Aufmerksamkeit linker Intellektueller erregte. Benjamin sprach nicht ohne
Respekt von Jünger und dem Sammelband. Für Gerhard Günthers Aufsatz
Die Bändigung des Krieges durch den Staat fand er ein begrenztes Lob,
ebenso für Jüngers Charakterisierung der aktuellen gesellschaftlichen
»Wirklichkeit« als einer »total mobilgemachten«. Ansonsten aber stellt
Benjamins Rezension eine einzige Verurteilung von Krieg und Krieger dar:
Die Feier des Kriegs als eines elementaren Ereignisses von unabweisbarem
anthropologischem Wert war für ihn »lasterhafter Mystizismus« und eine
Taktlosigkeit gegenüber den Opfern. Aus der sicheren Erwartung eines
kommenden Kriegs sprach für Benjamin nichts als »Stumpfheit« (obwohl er
selber, wie der 1925 publizierte Artikel Die Waffen von morgen zeigt,
ebenfalls mit einem weiteren Krieg rechnete). Und in dem harten,
verschlossenen, unerbittlichen »Krieger«, den der Aufsatzband als Produkt
des Ersten Weltkriegs zeichnete und als Ideal beschwor, sah Benjamin
weniger das Bild des Soldaten als vielmehr das Bild »des bewährten
Klassenkämpfers«, und zwar des »faschistischen«:
Was sich hier unter der Maske erst des Freiwilligen im
Weltkrieg, dann des Söldners im Nachkrieg, heranbildete, ist
in Wahrheit der zuverlässige faschistische Klassenkrieger,
und was die Verfasser unter Nation verstehen, eine auf diesen
Stand gestützte Herrscherklasse, die niemanden und am
wenigsten sich selber Rechenschaft schuldend, auf steiler
Höhe thronend, die Sphinxzüge des Produzenten trägt, der
sehr bald der einzige Konsument seiner Waren zu sein
verspricht.
Man muß Jünger und seine Mitautoren nicht gegen Benjamin verteidigen.
Selbst wenn der Krieg unabdingbar zum »Leben« gehören und in der Natur
des Menschen angelegt sein sollte, müßte man ihn nicht als Inbegriff oder
höchste Intensität des Lebens betrachten; er wäre dann eine Fataliät, die uns
trotz ihrer beschämenden Unvermeidlichkeit immer wieder bestürzen müßte.
Und auch mit dem letzten Punkt seiner Rezension hat Benjamin einen
bemerkenswerten Punkt gesehen: daß nämlich die beschworene Verhärtung
des Soldaten nicht allein auf die Brutalitäten des Ersten Weltkriegs
zurückzuführen war, sondern auch auf die folgende Ideologisierung.
Benjamin spricht vom »Klassenkämpfer« oder »Klassenkrieger« und ordnet
ihn – was angesichts der Autoren des Krieg und Krieger-Bands verständlich
ist – dem Faschismus zu. Daß er dasselbe Phänomen auf bolschewistischer
Seite begrüßt und gerühmt hätte, ist bekannt und muß hier nicht weiter
ausgebreitet werden. Es entwertet auch seine Diagnose nicht, die sich im
übrigen einige Jahre später auch bei Jünger findet. Im Anschluß an die oben
zitierten Sätze bezeichnete Benjamin die »neuen Krieger«, die in dem
Sammelband profiliert wurden, als »Kriegsingenieure der Herrscherklasse«
(249). Eine ganz ähnliche Formulierung gebrauchte Jünger, als er 1938 in
der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens erstmals von jenen
»Mauretaniern« sprach, die fortan als elitäre Söldnertruppe durch Jüngers
Werk ziehen. Dort heißt es in einer autobiographisch wirkenden Passage, in
der Nigromontan (Hugo Fischer) für seine freiheitliche Lebenslehre gerühmt
wird:
Es ist leider richtig, daß ich seine Lehren allzu bald vergaß.
Anstatt bei meinen Studien zu verweilen, trat ich bei den
Mauretaniern ein, den subalternen Polytechnikern der Macht.
(9, 201)
Ob Jünger Benjamins Rezension gelesen hat, ist nicht bekannt. Aber es ist
deutlich, daß er 1938 eine ähnliche Perspektive wie Benjamin hatte.
»Polytechniker der Macht« ist eine nietzscheanisch eingefärbte Version der
marxistisch grundierten Formel »Kriegsingenieure der Herrscherklasse«.
Daß die »Mauretanier« als opportunistische »Polytechniker der Macht«
allemal auf der Seite der »Herrscherklasse« stehen, war für Jünger
selbstverständlich; nur ging sein Begriff der »Herrscherklasse« nicht in dem
der Kapitalisten auf.
Komplementär zu dem reinen Textband Krieg und Krieger erschien 1930
ein von Jünger herausgegebener Photoband mit dem Titel Das Antlitz des
Weltkrieges /Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Damit schloß Jünger sich
dem Trend zum Photobuch oder zur photographischen Dokumentation an,
der sich in diesen Jahren abzeichnete. Zwar enthalten auch schon frühere
Bände Photographien. In den Unvollendeten sind es Atelierporträts, in
Kampf um das Reich Aufnahmen vorzugsweise von Truppenteilen in Aktion,
also Momentaufnahmen, wie sie mit den kleinen Roll- und Packfilmkameras
möglich geworden waren, die im Krieg Verbreitung gefunden hatten, mit der
»Ernemann-Bob« oder der »Westentaschenkodak«. Hier wie dort haben die
Photographien illustrativen Charakter und sind entsprechend eng an die
jeweiligen Artikel gebunden. Anders in diesem fünften von Jünger
herausgegebenen Band, der im Berliner Verlag Neufeld und Henius erschien:
Das Antlitz des Weltkrieges enthält laut Titelblatt »etwa 200 photographische
Aufnahmen«, die Jünger aus dem Großen Bilderatlas des Weltkrieges
ausgewählt hatte, einem dokumentarischen Werk des Münchener
Bruckmann-Verlags, das zwischen 1915 und 1919 in drei Bänden erschienen
war. Diese Aufnahmen sind, auf Hochglanzpapier gedruckt, zu je vier oder
acht Blättern in regelmäßigen Abständen nach druckund bindetechnischen
Vorgaben in die Textblätter eingefügt und korrespondieren kaum einmal mit
den umgebenden Artikeln, sondern erscheinen als eine eigenständige, von
den Texten mehr oder minder unabhängige Geschichte des Weltkriegs in
Bildern. Durch die Anordnung der Photographien, insbesondere durch die
Anfangs- und Schlußbilder, werden Verlauf und Formen des Kriegs
angedeutet; die Bildlegenden geben perspektivierende Hinweise. Und im
einleitenden Artikel Krieg und Lichtbild wie in dem weiteren Artikel Das
große Bild des Krieges legt Jünger dar, was er mit seiner Auswahl vor allem
zeigen wollte: den Krieg »in seiner Eigenschaft als Arbeits- wie als
Kampfprozeß« (10) oder als »militärische Auseinandersetzung« im
»Rahmen eines gigantischen Arbeitsvorganges« (240), zudem in seinem
Grauen und mit seiner »landschaftlichen Verödung« (10). Im übrigen rühmt
der einleitende Artikel die Photographien als »Dokumente von besonderer
Genauigkeit« und Eindruckskraft:
Es ist auf diese Weise ein Schatz von Bildern entstanden, der
sich auf mannigfaltige Weise zusammensetzen läßt, und der
nicht nur die Erinnerung des Kämpfers lebhaft erregen,
sondern auch der Vorstellungskraft dessen, der an dieser Welt
nicht teilhaben konnte, eine wertvolle Hilfe erteilen wird. Das
Leben der Krieger in den Ruheorten, den Reservestellungen
und der Kampfzone, die Arten der Vernichtungsmittel und der
Anblick der durch sie bewirkten Zerstörung am Menschen, an
seinen Werken und Siedlungen und an der Natur, das Gesicht
des Schlachtfeldes in seiner Ruhe und in der höchsten
Steigerung seiner Bewegung, so wie es sich im Beobachter
aus den Gräben und Trichtern oder von der Höhe des Fluges
aus darstellte -, alles dies ist vielfach erfaßt und für spätere
Zeiten erhalten in einer Weise, die schriftliche
Aufzeichnungen ergänzt. (9f.)
Diese Wertschätzung der Photographie ist bei Jünger neu. Noch im
Abenteuerlichen Herzen, das 1929 erschien, lehnte er die Photographie und
zumal die Kriegsphotographie ab. Dort heißt es in der Passage, die den 1927
unternommenen Flug über die westlichen Frontlinien nach Paris reflektiert:
Was liegt an diesen Räumen – wir haben dort entschiedener
gelebt als im Raume und in der Zeit. Daher werden mir auch
alle Lichtbilder aus dem Kriege immer mehr verhaßt, wie
denn überhaupt die Photographie einen der unangenehmsten
Versuche darstellt, dem Zeitlichen eine unziemliche
Gültigkeit zu verleihen – als Schöpferin materieller Abbilder,
die den dunklen Strahlen der geistigen Sonne, von der
Swedenborg spricht, entzogen sind. (9, 118)
Der emphatische Autor, der ganz auf die Durchleuchtungs- und
Beschwörungskraft des Worts vertraute, hatte die Photographie abgelehnt;
noch im Einleitungsartikel zum Antlitz des Weltkrieges ist etwas davon zu
spüren, wenn es heißt, daß durch die Photographien die schriftlichen
Aufzeichnungen »ergänzt« würden. Dennoch ist eine überraschende
Aufwertung der Kriegsphotographien und der Photographie überhaupt zu
konstatieren. Sie mag auf mehrere miteinander zusammenhängende Faktoren
zurückzuführen sein: In den Jahren um 1930 entstanden zahlreiche
Photobücher und mit ihnen eine entsprechende Sensibilität für dieses neue
Medium. Das dürfte auch an Jünger nicht spurlos vorübergegangen sein,
zumal er in dieser Zeit ja stark daran interessiert war, sich alles, was modern
war, vorbehaltlos anzuschauen und unter Umständen anzueignen. Zudem ist
anzunehmen, daß der Zeichner und Photograph Edmund Schultz, der seit
1927 zu Jüngers engerem Bekanntenkreis zählte, Jünger für die Kunst des
Photographierens und für die Ausdrucksmöglichkeiten der Photographie
interessiert hat. Zwei Photobände dokumentieren eine zeitweilig enge
Zusammenarbeit der Brüder Jünger mit Edmund Schultz.
Unter dem Titel Das Gesicht der Demokratie erschien 1931 ein
»Bilderwerk zur Geschichte der deutschen Nachkriegszeit«. In fünf Kapiteln
rekapituliert es Deutschlands Entwicklung vom »Zusammenbruch« über die
»Verelendung« bis zur »Auflösung der Demokratie«. Schultz hat dafür von
verschiedenen Bilderdiensten rund 250 Photographien besorgt und –
vermutlich in Zusammenarbeit mit den Brüdern Jünger – zusammengestellt;
Friedrich Georg Jünger schrieb eine Einleitung in das Gesamtwerk und
vermutlich auch die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln. Das Konzept ist
das gleiche wie in dem von Franz Schauwecker herausgegebenen Photoband
So ist der Friede/Die Revolution der Zeit in dreihundert Bildern (1929) und
in dem von John Heartfield montierten und von Kurt Tucholsky
herausgegebenen »Bilderbuch« Deutschland, Deutschland über alles
(ebenfalls 1929): Die Photos sind thematisch geordnet und werden in kleinen
Legenden kommentiert. Im Vergleich zu dem Band von Heartfield und
Tucholsky, in dem die politische Entwicklung und die sozialen Verhältnisse
scharf kritisiert werden, sind die Kommentare bei Schultz und Jünger eher
zurückhaltend, sachlich und informativ. Trotzdem gewinnt der Band durch
die Zusammenstellung der Bilder und der durch Sachlichkeit schlagenden
Unterschriften eine klare Aussage: Deutschland ist durch die sogenannte
Friedenspolitik der Siegermächte zum »Objekt einer internationalen
Ausbeutung großen Stils« gemacht worden, zum »Objekt eines
weltwirtschaftlichen Verelendungsprozesses« (Gesicht, 17). Der Staat ist
dank der Demokratisierung in Auflösung begriffen, und der
Parlamentarismus ist nicht in der Lage, die Krise zu meistern. Deswegen
wird er auch von seinen eigenen Organen preisgegeben: Das Parlament
besteht zum großen Teil aus »Antiparlamentaristen« und ist von einem
»regierenden Ausschuß« praktisch ausgeschaltet (19). So kommen die
Herausgeber zu dem abschließenden Befund, daß die parlamentarische
Demokratie »kein Anfang« ist, sondern »ein Ende«, und daß Deutschland
eine Führung braucht, die gewillt ist, die »Freiheit« Deutschlands
»rücksichtslos zu erkämpfen« (152).
Im Jahr 1933 erschien unter dem Titel Die veränderte Welt ein ähnlich
aufgemachter Photoband. Der Herausgeber war wiederum Edmund Schultz,
die Einleitung stammte dieses Mal aber von Ernst Jünger. Der Untertitel
deklariert dieses Buch als »Bilderfibel unserer Zeit«, und der
Schutzumschlag verdeutlicht mit den Jahreszahlen 1918 und 1932, daß es
sich um einen Versuch handelt, die Nachkriegszeit insgesamt zu erfassen.
Ebenso signalisiert der Schutzumschlag mit einer Weltkugel, daß der Blick
nicht auf Deutschland fokussiert, sondern global ausgeweitet ist. In der Tat
bietet der Band zweihundert Photos aus aller Welt, die der Herausgeber
Schultz wiederum von mehreren Bilderdiensten bezogen hatte. Sie sind in
Kapitel unterteilt, die eine geschichtliche Entwicklung andeuten,
hauptsächlich aber die Physiognomie der »veränderten« oder »neuen« Welt
in systematischer Weise zur Erscheinung bringen sollen. Die
Kapitelüberschriften lauten: »Der Zusammenbruch der alten Ordnungen«,
»Das veränderte Gesicht der Masse«, »Das veränderte Gesicht des
einzelnen«, »Das Leben«, »Innenpolitik«, »Die Wirtschaft«,
»Nationalismus«, »Mobilmachung«, »Imperialismus«. In jedem Kapitel
werden Photos aus verschiedenen Ländern und Kontinenten gezeigt, aber
auffällig sind weniger die Unterschiede als vielmehr die Ähnlichkeiten
zwischen den Bildern: Arbeitslosigkeit, soziale Spannungen und
gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der
Polizei gibt es allenthalben, ebenso Volkssport, paramilitärische Ausbildung
der Jugend und Aufrüstung. Auch die tendenziell einheitlich wirkende
Modernisierung der Welt, auf die Jünger mit dem achten Kapitel der Totalen
Mobilmachung schon 1930 hingewiesen hat, ist überall zu beobachten; sie
zeigt sich in der Herausbildung eines rational und technisch wirkenden Stils,
der die Kleidung ebenso betrifft wie die Landschaftsgestaltung und den
Städtebau. Viele Bilder zeigen deutsche Verhältnisse, doch gibt es weder
eine Konzentration auf Deutschland noch eine Dramatisierung der deutschen
Situation; Deutschland bewegt sich im Takt der planetarischen Entwicklung.
Jüngers Einleitung, die auch in Niekischs Widerstand und in der
Täglichen Rundschau abgedruckt wurde (jetzt in PP, 629 – 635), sagt zu all
dem kein Wort, sondern bietet unter dem Titel Das Lichtbild als Mittel im
Kampf eine medienästhetische und medienpolitische Reflexion mit einigen
bemerkenswerten Beobachtungen zum Problem der Objektivität der
Photographie, der Rückwirkung der photogestützten Berichterstattung auf
den politischen Stil und schließlich zum Stand der Technik: Jünger
widerspricht der weit verbreiteten Meinung, daß die Photographie »ein
neutrales oder »objektives«« Medium sei; vielmehr wirke das »technische
Verfahren« wie ein »Filter, der nur für eine ganz bestimmte Schicht der
Wirklichkeit durchlässig« sei, und zudem finde »bereits durch den reinen
Akt der ›Aufnahme‹ eine Wertung statt«. Zu dieser verfahrensbedingten und
letztlich unaufhebbaren De-Objektivierung der Photographie komme der
unwillkürliche Perspektivismus der Wahrnehmung oder Deutung durch den
Betrachter: Die Photographie einer »Kriegsmaschine« wirke auf einen
Befürworter des Militärs von vornherein anders als auf einen Gegner. Und
schließlich habe man im Krieg und nach dem Krieg vielfach beobachten
können, wie Photographien retuschiert wurden, um bestimmten
propagandistischen Zwecken zu genügen.
Alles in allem ist die Photographie für Jünger eben kein »neutrales« oder
»objektives« Medium, sondern ein filterndes und tendenziöses, schon bevor
es durch Bearbeitung vollends zum »Kampfmittel« gemacht wird und, wie
es schon im 1932 publizierten Arbeiter hieß, »den Rang einer politischen
Angriffswaffe gewinnt« (8, 126). Die photogestützte Berichterstattung
verlangt im politischen Bereich mediengerechte Akteure. In diesem Sinn
stellt Jünger fest, es sei »heute sehr wohl ein Einwand gegen einen Politiker,
daß er schlecht zu photographieren ist«. Phototauglich zu sein und zu
wissen, wie man sich vor der Kamera zeigen darf, ist von entscheidender
Bedeutung; falsches Erscheinen vor der Kamera wird sanktioniert, richtiges
honoriert. Jünger rechnet die Photographie zu den »demokratischen
Mitteln«, doch zeigt sein Verweis auf das Bemühen von Diktatoren, sich in
möglichst günstigen Positionen photographieren zu lassen, daß er das
Lichtbild auch zu den demagogischen Mitteln zählte. Im Krieg erlangte die
»Momentphotographie« Konjunktur, und seitdem hat man gelernt, sie in
Publikationen »planmäßig« und wirkungsvoll einzusetzen, etwa in der
Zusammenstellung von Bildergruppen. In der Aufnahme- wie in der
Präsentationstechnik sah Jünger allerdings noch Entwicklungsmöglichkeiten.
Der Artikel über das Lichtbild als Kampfmittel zeugt von einem sowohl
kritischen als auch konstruktiven Medienbewußtsein. Jünger sah völlig klar,
daß die Photographie kein objektives oder neutrales Medium war; dies hielt
ihn aber nicht davon ab, das Lichtbild – trotz der früheren Abneigung – zu
schätzen und zu nutzen. Die Bilderfolge in Antlitz des Weltkrieges läßt nicht
nur eine kompositorische Arbeit erkennen, sondern auch eine Selektion: Die
letzte Gruppe zeigt erschütternde Bilder von gefallenen Soldaten auf
Schlachtfeldern oder in Gräben, aber nur von russischen, englischen und
französischen, nicht jedoch von deutschen. Auch hat man darauf
aufmerksam gemacht, daß Jünger mit retuschierten Bildern arbeitet. So
wurde in eine Photographie, die deutsche Soldaten im Laufschritt vor einem
zerstörten französischen Haus zeigt, eine Explosionswolke mit stiebenden
Funken und Splittern eingezeichnet, um den photographisch nicht
festgehaltenen Granateneinschlag zu zeigen und die Dramatik des
Geschehens zu verdeutlichen (Antlitz, 191). Man kennt dieses Photo aus
einer früher erschienenen Dokumentation ohne die Explosionswolke. Die
›Anreicherung‹ oder ›Optimierung‹ würde zu Jüngers unentwegter Arbeit an
seinen Texten passen, zudem auch seiner Einsicht in die essentielle
Künstlichkeit der Lichtbilder entsprechen. Allerdings ist unklar, ob Jünger
diese Retuschierung veranlaßt hat oder ob er nur eine bereits – und
erkennbar – retuschierte Vorlage übernahm.

Der Arbeiter: Zeitdiagnose und Zukunftsvision


Die Sammel- und Bildbände der Jahre um 1930 garnieren gleichsam Jüngers
wichtigstes politisches Buch: den im Herbst 1932 in der Hanseatischen
Verlagsanstalt (Hamburg) erschienenen Großessay Der Arbeiter. Herrschaft
und Gestalt. Er setzt die gesellschaftlichen und politischen Überlegungen der
Kriegsbücher und der nationalistischen Publizistik fort, bereichert sie durch
neuere Beobachtungen und profiliert oder modifiziert manche frühere
Position. Das in der Originalausgabe genau dreihundert Seiten zählende
Buch ist nicht einfach die Zusammenfassung der vorausgehenden Schriften,
wohl aber die abschließende Kodifikation oder ›Summe‹ von Jüngers
gesellschaftspolitischen Beobachtungen, Erwartungen und Hoffnungen zu
Beginn der dreißiger Jahre. Er stieß bei seinem Erscheinen auf so viel
Interesse, daß die beiden ersten Auflagen von jeweils zweitausend
Exemplaren rasch verkauft waren und noch im Erscheinungsjahr 1932 eine
dritte Auflage (von unbekannter Höhe) nötig war. Möglicherweise wurden
neben oder nach der zweiten und dritten Auflage auch einige
Sonderausgaben gedruckt. Insgesamt dürfte sich die Verbreitung dieses nicht
eben leicht lesbaren Buches jedoch in Grenzen gehalten haben; eine vierte
und vorerst letzte Auflage wurde jedenfalls erst 1941 fällig. Nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde der Arbeiter zwar noch dreimal neu gedruckt, aber
erst mit einiger Verzögerung, und nicht, weil es eine nennenswerte
Nachfrage gegeben hätte, sondern aus eher dokumentarischen Gründen:
1964 und 1981 im Rahmen der damals erscheinenden Werkausgaben und
1982 als Band 1 von »Cotta’s Bibliothek der Moderne«, die ebenfalls einen
dokumentarischen oder antiquarischen Charakter hat. Anders als die
vorausgehenden Kriegsbücher und den Essay Die totale Mobilmachung hat
Jünger den Arbeiter weder inhaltlich noch stilistisch überarbeitet, so daß es
problemlos möglich ist, ihn auch in einer der späteren Ausgaben zu lesen;
hier wird er nach dem achten Band der zweiten Werkausgabe (Sämtliche
Werke) von 1981 zitiert.
Jüngers Arbeiter ist eine vielschichtige Schrift, die weder einer
bestimmten Textsorte noch einer bestimmten Disziplin zuzuordnen ist. Mit
Thomas Pekar sind fünf primär wichtige Aspekte zu unterscheiden: »So ist
der Arbeiter a) ein visionär-prophezeiender Text, der nicht argumentativ
aufgebaut ist, sondern ein ›fertiges‹ Bild der Welt seinen Lesern
entgegenwirft; b) ein politisches Manifest, welches eine als richtig erkannte
Staatsform, den autoritär-imperialen Staat propagiert; c) der Versuch einer
sozialen Technik-Analyse, die bestimmte ›neue‹ weltweite Tendenzen […]
benennen will; d) der Entwurf einer ästhetischen Theorie, die es unternimmt,
die Rolle der Kunst, ja der Wahrnehmung überhaupt in dieser schrecklich-
schönen neuen Welt zu bestimmen; e) und schließlich ist der Arbeiter ein
philosophischer Traktat, der nichts weniger unternimmt, als eine neue
›Metaphysik‹ zu geben.« Bei alldem darf aber nicht übersehen werden, daß
der Arbeiter das Werk nicht eines wissenschaftlich, sondern eines dichterisch
ambitionierten Autors ist. Er verfährt hochgradig intuitionistisch und
konstruktivistisch, und er entwickelt seine programmatisch akzentuierte
Theorie der zivilisatorischen Entwicklung nicht in der sachlichen Sprache
der Wissenschaft, sondern im emphatischen Ton der Dichtung. Zu Recht hat
Manfred Schneider den Arbeiter deswegen in seiner 1997 erschienenen
Studie Der Barbar als »ein einzigartiges Zeugnis von Theorie-Poesie« (216)
bezeichnet.
Der Arbeiter hat einen einfachen Aufbau. Er besteht aus einer
durchnumerierten Folge von achtzig Kapiteln, die zwischen zwei und acht
Druckseiten umfassen und durch eingefügte Überschriften in sechzehn
thematisch enger zusammenhängende Gruppen gebündelt werden. Das
Ganze wird durch eine Zäsur nach dem siebenundzwanzigsten Kapitel in
zwei »Teile« untergliedert; die Numerierung läuft aber weiter und negiert
diese Zäsur, so daß sich die Frage stellt, welche Bedeutung die Unterteilung
hat. Hinzu kommt, daß die Ausführungen etwas Wucherndes oder – mit
einem Lieblingswort der Epoche wie des Textes selbst gesagt – etwas
»Organisches« haben und Neueinsätze nicht leicht erkennen lassen. Auch
blieben die beiden Teile ohne profilierende Überschriften. Dennoch haben
sie, wie kein Geringerer als Martin Heidegger in seinen Aufzeichnungen
zum Arbeiter verdeutlicht hat, eine gewisse Selbständigkeit. Der erste Teil,
so Heidegger, »handelt von der Arbeit als Prinzip der menschlichen
Wirksamkeit«; der zweite »zeigt das Prinzip im Vollzug (Typik und Technik)
und im Ziel (organische Konstruktion)«.
Daß in der modernen Welt alles Tun – auch das sogenannte
Freizeitvergnügen und sogar das asketische Sich-zurück-Ziehen – in
Produktions- und Konsumtionszusammenhängen stehe und mithin »Arbeit«
sei, die in mehr oder minder sichtbarer Weise auf alle Tätigkeiten und
Verhaltensweisen abfärbe und alle zu »Arbeitern« mache, ist die
grundierende These des Arbeiters. Sie ist nicht sonderlich neu und wäre auch
nicht sonderlich brisant gewesen, wenn sie nicht mit geradezu
umstürzlerischen gesellschaftspolitischen Vorstellungen verbunden worden
wäre. Ebendies aber geschieht hier auf eine fast atemberaubende Weise. Das
eigentliche und skandalisierende Thema des Arbeiters ist die Ablösung der
bürgerlichen Kultur durch jenen Typus, den Jünger mißverständlich als
»Arbeiter« bezeichnet. Sie hat sich – Jünger zufolge – im Ersten Weltkrieg
angedeutet und gewinnt nun, um 1932, an Dynamik und damit auch an
Sichtbarkeit. Die bürgerliche Ordnung, die in Deutschland äußerlich noch
besteht (8, 165), ist eine in jeder Hinsicht depravierte oder defizitäre
Ordnung: Der »Staat«, der feste »Bindungen« verlangt, ist durch die
»Gesellschaft« abgelöst, die der Entfaltung der »bürgerlichen Freiheit« dient
(27), und das heißt: den wirtschaftlichen Interessen (33) und dem Glück des
einzelnen (36). Das wichtigste Anliegen des Bürgers heißt deswegen
»Sicherheit« (23, 52 und 54). Diese Sicherheit schützt der Bürger, indem er
sie als Produkt der Vernunft wie der Moral ausgibt (24, 53f. sowie 271) und
indem er sie mit den Verhandlungskünsten des Advokaten verteidigt (23, 44
sowie 52). Zur »Totalen Mobilmachung« hingegen und zum heroischen
Sterben ist der Bürger ebensowenig fähig wie zur Führung (44 und 168).
Seine Herrschaft, die ohnehin nur eine Scheinherrschaft war, ist deswegen
zu Ende: Die bürgerliche Gesellschaft ist »zum Tode verurteilt« (27). Es
vollzieht sich »die Ablösung der bürgerlichen Scheinherrschaft durch die
Herrschaft des Arbeiters« (251). Jüngers Schrift hat deswegen zwei
grundlegende und nahezu gleichgewichtige Komponenten: Zum einen ist sie
eine »Schilderung des ungeheuren Todesprozesses« des Bürgertums (209);
zum andern ist sie eine Prophetie der Herrschaft des »Arbeiters«.
Vom Untergang des Bürgertums spricht Jünger mit einem Sarkasmus, der
bestürzend wirkt. Das Abstreifen des bürgerlichen »Kunst-, Kultur- und
Bildungsbetriebs« war für ihn – wie einst für den Futuristen F. T. Marinetti –
nur eine notwendige und zugleich erfreuliche »Gepäckerleichterung« (8,
211). Von den zivilisationskritischen Klagen über die herben Verluste, die
der Fortschritt in Richtung einer kollektivistischen und vollends
technisierten Zivilisation der bürgerlichen Lebensart zufügt, ist im Arbeiter
nichts zu hören. Die Gewißheit, daß der Prozeß der Geschichte in der
Herrschaft des »Arbeiters« ein geradezu erhabenes Ende finden wird, trägt
über alle Verlustanzeigen hinweg und erlaubt jenen kalten und bedenkenlos
heroischen Ton, der den Arbeiter kennzeichnet und ihn zur Zeit seines
Erscheinens aus der Masse der zivilisationsund fortschrittskritischen
Schriften heraushob und für viele Zeitgenossen, vor allem für jüngere, mit
faszinierend machte.
Freilich stand Jünger mit der Verabschiedung des Bürgertums nicht allein.
Sie gehört zu den Obsessionen und Gemeinplätzen der Zeit und findet sich
selbst bei ausgewiesenen Vertretern der bürgerlichen Kultur. Im März 1932
hielt Thomas Mann in der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin einen
Vortrag mit dem Titel Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters,
der bald darauf auch im Druck erschien. Der Vortrag ist eine einzige Lobrede
auf die »bürgerliche Epoche« und auf Goethes »deutsche Bürgerlichkeit«.
Und doch heißt es gegen Ende:
Der Bürger ist verloren und geht des Anschlusses an die neue
heraufkommende Welt verlustig, wenn er es nicht über sich
bringt, sich von den mörderischen Gemütlichkeiten und
lebenswidrigen Ideologien zu trennen, die ihn noch
beherrschen, und sich tapfer zur Zukunft zu bekennen. […]
Die neue, die soziale Welt, die organisierte Einheits- und
Planwelt, in der die Menschheit von untermenschlichen,
unnotwendigen, das Ehrgefühl der Vernunft verletzenden
Leiden befreit sein wird, diese Welt wird kommen, und sie
wird das Werk jener großen Nüchternheit sein, zu der heute
schon alle in Betracht kommenden, alle einem verrotteten und
kleinbürgerlich-dumpfen Seelentum abholden Geister sich
bekennen.
Damit kam Thomas Mann ganz in die Nähe von Jüngers Arbeiter, nur
enthielt er sich der Konkretisierung jener »organisierte[n] Einheits- und
Planwelt«, auf die sich das Bürgertum »tapfer« einstellen sollte. Auf Jüngers
Buch wurde er, wie eine Tagebuchnotiz vom 7. April 1933 verrät, durch eine
Besprechung in der Neuen Rundschau aufmerksam. Ob er es las, ist unklar;
aber die Grundideen von Jüngers Arbeiter spielen in der
Geschichtsdarstellung von Manns Doktor Faustus eine erhebliche Rolle.
Wenn Jünger vom »Arbeiter« spricht, meint er nicht den Arbeiter oder –
in der Terminologie jener Zeit – Proletarier, der durch seine Beschäftigung in
einem Industriebetrieb und durch seine unselbständige und unterprivilegierte
ökonomische Situation grob definiert ist. Mit »Arbeiter« meint Jünger die
menschliche Realisierung eines neuen »Organisationsprinzips der
Geschichte« (Günter Figal). Dafür verwendet er im ersten Teil des Arbeiters
den Begriff der »Gestalt«, im zweiten Teil auch den des »Typus«. »Gestalt«
war ein Modebegriff jener Zeit; er verweist auf die Gestaltpsychologie und -
philosophie, der es darum ging, in der Vielfalt der Erscheinungen
typologisch bedeutsame Figurationen oder Muster zu erkennen, aber auch –
worauf Jünger sich mehrfach ausdrücklich berufen hat – auf Goethes
Vorstellung einer »Urpflanze«, in welcher der Bauplan für alle weiteren
Pflanzen enthalten sein sollte (vgl. 8, 391 sowie 4, 596f. und 13, 135).
Besonders zwei Werke haben den Gestaltbegriff in den zwanziger Jahren
bedeutsam gemacht: zum einen Oswald Spenglers Untergang des
Abendlandes mit seiner morphologischen Betrachtung der Geschichte, die
im Werden und Vergehen der Kulturen die »Urgestalt der Kultur«
auszumachen suchte; und zum andern Leopold Zieglers Gestaltwandel der
Götter (1920), ein kultur- und religionsphilosophisches Werk, das einen
Beitrag zur Nihilismusdebatte darstellte und damals viel gelesen wurde, auch
von Jünger (vgl. 19, 611). Der Begriff »Typus« ist – wie übrigens auch
»Gestalt« – umgangssprachlich eingeführt, erinnert aber auch an Max
Webers Vorstellung eines »Idealtypus«, und das heißt (mit Webers eigenen
Worten): eines »Gedankenbild[es]«, »welches die Bedeutung eines rein
idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung
bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen«
und »verglichen« wird. Jünger hat nie verbindlich und erschöpfend gesagt,
welche Anregungen in seine Vorstellungen von »Gestalt« und »Typus«
eingeflossen sind, konnte es wohl auch nicht, weil ihm, wie er am 7. Juni
1970 in einer Tagebuchnotiz bemerkte, manches »unterschwellig mit auf den
Weg gegeben worden sein« mochte (4, 597), also durch ein Hörensagen,
dem keine Recherche nach Quellen und Hintergründen folgte. Im übrigen ist
im Auge zu behalten, daß Jünger solche Begriffe – zumindest zu jener Zeit –
als »organische« betrachtete, das heißt als Begriffe, die »im Laufe der
Betrachtung Veränderungen« durchmachen und erst »rückblickend zu
übersehen sind« (8, 20). Dem entspricht, daß Jünger 1963, also dreißig Jahre
nach dem Erscheinen des Arbeiters, unter dem Titel Typus, Name, Gestalt
eine fast hundertseitige Sammlung von einschlägigen Notizen publizierte –
die freilich auch nicht für letzte Klarheit und Eindeutigkeit sorgte (13, 83 –
173).
So wenig Jünger sich auf einen eindeutigen Begriff von »Gestalt« und
»Typus« festlegte, so wenig fixierte er, was genau unter der »Gestalt« des
»Arbeiters« zu verstehen sei. Wie jede geschichtsmächtige »Gestalt« von
zukünftiger Bedeutung konnte die »Gestalt« des »Arbeiters« – so Jünger –
nicht umfassend und erschöpfend erkannt, sondern nur erahnt werden (8, 89
und 394). Aber doch hat Jünger ihr einige konstitutive Merkmale
zugeschrieben. Der »Arbeiter« ist elementar und anti-individualistisch; er
begreift Herrschaft als Dienst und geht in der Arbeit auf; er verzaubert die
Welt mittels der Technik.
Daß der »Arbeiter« »elementar« sei oder »ein [positives] Verhältnis zu
elementaren Mächten« (8, 23) habe, meint, daß er sich in seinem Wirken
nicht an die Kriterien der vom Bürger kultivierten Vernunft und Moral hält
(53) und auch nicht nach diesen Kriterien zu beurteilen ist. Er setzt sich
abenteuerlustig und bedenkenlos den Gefahren der Welt aus und folgt den
dämonischen Trieben seines Herzens (56f.). Er ist barbarisch und destruktiv,
wo er auf veraltete und verkrustete Verhältnisse stößt (62ff.). Er ist vom
»Willen zur Macht« (74) beseelt und eine Herrschaftsfigur (48 und 71f.),
doch bedeutet Herrschaft für ihn Dienst, dem er sich opferfreudig widmet
(251 und 274). Freiheit und Gehorsam sind für Jüngers »Arbeiter« identisch
(155), weil seine Freiheit nicht eine »Freiheit wovon« ist, sondern eine
»Freiheit wozu« (254), konkret: die Freiheit zur Teilnahme an der technisch
gestützten Neugestaltung der Welt, die allerdings verlangt, daß die
Menschen nicht mehr ihrem Individualismus frönen, sondern sich in heeres-
oder ordensähnliche Organisationen eingliedern lassen und eine
entsprechende autoritäre und asketische Mentalität entwickeln (214f.). Hier
sieht Jünger eine Aufgabe für die beiden politischen Grundströmungen des
ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den Sozialismus und den
Nationalismus: Den Sozialismus betrachtet der Verfasser des Arbeiters als
»Voraussetzung einer schärfsten autoritären Gliederung«, den Nationalismus
als »Voraussetzung für Aufgaben von imperialem Rang« (254), was auch
heißt: von planetarischer Tragweite (248). Der »Arbeiter«, der in diesem
Prozeß geformt wird und ihn zugleich trägt und vorantreibt, wird eine neue
»Rasse« darstellen (156 u. ö.), die aber, wie Jünger ausdrücklich betont,
nicht mit »biologischen Rassebegriffen« zu fassen ist (156), sondern mit
mentalitätsmäßigen: nicht durch die biologische Erbschaft bestimmt ist,
sondern durch die geschichtlichen Aufgaben, die zu bewältigen sind.
Erstmals in Erscheinung trat die neue »Rasse« oder »Gestalt« des
»Arbeiters« im »deutschen Frontsoldaten« des Ersten Weltkriegs, wo er sich
im »Stahlbad« der »Materialschlachten« zu formen und zu bewähren hatte
(8, 43, 60f. und 64). Dieses heroische Standhalten und Kämpfen wird zum
Vorbild für die Existenz in der technisch hochgerüsteten und dynamisierten
Moderne. Überhaupt ist der Erste Weltkrieg für die geschichtliche
Entwicklung, die sich unter der Ägide des »Arbeiters« vollzieht, von
fundamentaler Bedeutung: Er ist die Scheide »zwischen zwei Zeitaltern«
(61); mit ihm setzt sich das Zeitalter des »elementar« gearteten »Arbeiters«
von dem des vernunft- und moralbestimmten Bürgers ab; mit ihm beginnt
die große Dekomposition der bürgerlichen Welt, die der »Herrschaft des
Arbeiters« vorausgehen muß. Sie ist noch nicht abgeschlossen, ja in ihrem
Umfang noch nicht einmal abzusehen (63). Sicher ist nur, daß sich die »neue
Weltordnung«, also die Ordnung des »Arbeiters«, »nicht als ein Geschenk
des Himmels oder als Erzeugnis einer utopischen Vernunft ergibt, sondern
über den Arbeitsgang einer Kette von Kriegen und Bürgerkriegen führt«
(83). Weiterhin ist also mit schmerzlichen Destruktionen zu rechnen, doch
sind Zerstörungen immer auch Vorbereitungen, Untergänge immer auch
Übergänge (64 sowie 82 u. ö.). Der »magische« »Nullpunkt«, an dem die
nihilistische Zersetzung der überkommenen Werte abgeschlossen ist und
eine Konstitution neuer Werte prinzipiell beginnen kann, ist – wie Jünger aus
der Entwicklung der Technik schließt – »bereits überschritten« (194); der
»Übergang zu gültigen schöpferischen Leistungen« ist jedoch noch nicht
vollzogen (222).
Aufgabe des »Arbeiters« ist die »totale Mobilmachung« der Erde oder,
anders gesagt, ihre restlose Verwandlung in einen technisch aufgerüsteten
Raum, in dem die natürlichen Ressourcen wie die menschlichen Kräfte
optimal genutzt werden. Diese Verwandlung geschieht in drei Phasen (8,
158): Die erste Phase ist wohl rein destruktiv und dient der Beseitigung der
Mobilisierungshemmnisse. Die zweite und aktuelle Phase ist »dynamisch-
nivellierend« (253) und bringt als »Übergangslandschaft« eine globale
»Werkstättenlandschaft« hervor, die ein großes Laboratorium ist, aber noch
keinen festen Stil und keine endgültige Form hat (176f. u. ö.). Die dritte
Phase, auf welche die Entwicklung zusteuert, ist die Phase der vollendeten
»Planlandschaft« und des »Arbeitsstaates« mit einem »Arbeitsplan« (247
und 288). Ihr Kennzeichen ist die Dominanz der »organischen
Konstruktion« (123 u. ö.), in welcher »der Mensch in hoher Einheit mit
seinen Mitteln erscheint« und »die Spannung zwischen Natur und
Zivilisation, zwischen organischer und mechanischer Welt« aufgelöst ist
(231). Unter »organischer Konstruktion« ist eine soziale Körperschaft (wie
ein Orden), in der die Individuen im Ganzen aufgegangen sind, ebenso zu
verstehen wie eine wohldurchdachte Kombination von Mensch und Gerät
oder technischer Anlage, wie sie mustergültig an einem Kriegsschiff zu
beobachten ist (213). Auch die »Arbeits- oder Staatsdemokratie« des
»Arbeiters«, welche die bürgerlich-liberale »Gesellschaftsdemokratie«
ablösen wird und den Namen einer »totalen Diktatur« (49) wohl eher
verdiente als den einer »Demokratie«, wird eine solche »organische
Konstruktion« sein (272f.). In ihr wird alles den Belangen des Ganzen
unterstellt. Die Organe der bürgerlichen Freiheit, also Parteien und
Parlamente, liberale Presse und freie Wirtschaft, werden abgebaut oder in
Instrumente der Herrschaft verwandelt (274 und 278), und »Menschen,
Güter, Nachrichten und Zahlungsmittel« werden einer »strenge[n]
Beaufsichtigung« unterworfen (290). Für einen Abkömmling des liberalen
bürgerlichen Zeitalters wird dies unfaßbar sein, doch wird sich die
Herausbildung der »Arbeitsdemokratie« mit einer solchen Notwendigkeit
vollziehen, daß ihr die »Zustimmung selbst der Leidenden« gewiß ist (274).
Dies wäre nicht vorstellbar, auch für Jünger nicht, wenn die »Arbeits-
oder Staatsdemokratie« nicht Zwecke hätte, welche die »Zustimmung« sogar
der »Leidenden« verdienten. Aber eben solche Zwecke verbindet Jünger mit
jener »Arbeits- oder Staatsdemokratie«, in der die »großen und kühnen
Pläne« (8, 194) der Technik vollends realisiert werden können, nämlich eine
größere Produktion, eine bessere Verteilung aller Güter (83), den »Schutz«
»kleiner und schwacher Völkerschaften« (309) und die Kultivierung der
Arbeit als »eines Elementes der Fülle und Freiheit« (310f.).
Jüngers Vorstellungen von einer ›geschlossenen‹ oder totalitären
Gesellschaft und seine Hoffnungen, daß deren globale Verwirklichung zu
einer besseren Welt führen würde, kamen nicht von ungefähr. Es gab
vielerlei und gewichtige historische und literarische Motivationen. An
historischen Vorbildern sind vor allem zwei zu nennen: zum einen die von
Walther Rathenau geleitete Festungs- oder Kriegswirtschaft, die Jünger ihrer
Mobilisierungsleistung wegen bewunderte (8, 291 und 297); zum andern die
sowjetrussische Planwirtschaft, deren Entwicklung er um 1930 im Rahmen
der Berliner Gesellschaft zum Studium der Planwirtschaft mit Interesse
verfolgte und deren katastrophale Fehlleistungen ihm vorerst noch verborgen
blieben. An literarischen Anregungen ist auf die vielen Schriften zu
verweisen, die – beginnend mit Thomas Manns Betrachtungen eines
Unpolitischen – in den zwanziger Jahren erschienen und aus der vielfach
behaupteten deutschen Gesinnung zur Ordnung und Bindung die Vorstellung
eines »Volksstaats« ableiteten, der die deutsche Alternative zur westlichen
Demokratie darstellen und den Herausforderungen der Moderne besser als
diese gewachsen sein sollte. Jüngers Arbeiter ist in dieser Hinsicht, wie
einige Kritiker längst angemerkt haben, nicht sehr originell, doch wird dies
dadurch etwas verschleiert, daß nicht einer der Anreger namentlich genannt
wird.
Daß Jünger solche hatte, ist indessen unverkennbar, und neben seinen
ständigen Gesprächspartnern Ernst Niekisch und Carl Schmitt sind vor allem
Valeriu Marcu, Hugo Fischer und Oswald Spengler anzuführen. Marcu hatte
sich so intensiv mit dem Sowjetkommunismus wie mit dem Kapitalismus im
Zeitalter der Nationalstaaten befaßt und war daher für Jünger, wie dieser
ausdrücklich bemerkt (3, 442), während der Konzeption des Arbeiters ein
besonders interessanter Diskussionspartner. Fischer, mit dem Jünger seit
1926 befreundet war, lieferte in seinem 1931 erschienenen Buch Nietzsche
Apostata eine Charakterisierung des modernen Arbeitsmenschen, die als
unmittelbare Vorlage für Jüngers Konzept gelten kann, und trug mit seinen
Verweisen darauf, daß bereits Nietzsche eine »Wirtschaftsgesamtverwaltung
der Erde« postuliert habe, wesentlich mit dazu bei, daß Jünger seine
nationalistische Perspektive relativierte und um eine »planetarische«
ergänzte. Spengler, mit dem Jünger seit 1925 in lockerer Verbindung stand,
hatte bereits 1919 mit seinem Traktat Preußentum und Sozialismus das Bild
einer Gesellschaft entworfen, in welcher »der Einzelwille« – wie in Jüngers
»Arbeitsstaat« – »im Gesamtwillen aufgeht«, und trat 1931 mit seiner knapp
gehaltenen Schrift Der Mensch und die Technik als ein erster konservativer
Denker dafür ein, die Technik nicht zu verwerfen, sondern als Schicksal zu
akzeptieren und den Weg der »faustischen« Kultur oder technischen
Weltbewältigung »tapfer zu Ende zu gehen«, obwohl der Untergang durch
innere Auszehrung sich – Spengler zufolge – schon abzeichnete.
Von Spenglers Mensch und Technik unterscheidet sich Jüngers Arbeiter
durch seine echte Begeisterung für Technik und durch seinen Optimismus.
Während Spengler den Untergang der technischen Kultur unausweichlich
kommen sah und sich nur noch um eine angemessene Haltung sorgte, blickte
Jünger weniger mit Ängsten als mit Hoffnungen in die Zukunft. Wohl
befürchtete er katastrophale Erschütterungen, Zusammenbrüche und
Untergänge. Aber diese mußten ja sein, mußten das Terrain für die globale
Realisierung der Ordnung des »Arbeiters« ebnen. Anders als Spengler, der
nur ein Untergangsprophet war und in heroischem Pessimismus verharrte,
war Jünger ein vollgültiger Apokalyptiker, der jenseits der Katastrophen die
Enthüllung (Apokalypse) oder Erscheinung einer neuen und besseren,
wohlgeordneten und herrlichen Welt erwartete. Daraus resultiert auch der
eigentümliche Ton des Arbeiters, der mit Klaus Vondung, Marcus Paul
Bullock und Jürgen Brokoff als dezidiert apokalyptische Sprechweise zu
bezeichnen ist. In ihr wirken mehrere Momente zusammen: der visionäre
Anspruch, eine neue geschichtsmächtige »Gestalt« erschaut und »sichtbar«
gemacht zu haben (8, 13); die Behauptung, daß dieses »Sehen von
Gestalten« ein »revolutionärer Akt« sei (46); die Schonungslosigkeit, mit
welcher der Untergang der bürgerlichen Welt verkündet und schlimme
Kriege nicht nur als unausweichlich vorausgesagt, sondern auch als
notwendig ausgegeben werden (83); die »Semantik der Gewißheit«
(Brokoff), die an ihren apophantischen Feststellungen (»Es ist zu sehen, daß
…«) keinerlei Zweifel aufkommen lassen will; schließlich das suggestiv-
bedrängende Timbre, das den ganzen Text durchdringt, und das anziehende
Pathos, das vor allem dort aufkommt, wo von der hohen Gefährlichkeit und
schrecklichen Unbarmherzigkeit der geschichtlichen Vorgänge die Rede ist,
von der »neuen Vermählung des Lebens mit der Gefahr« (63) und von der
»Stählung der Waffen und Herzen« (311), von notwendiger Barbarei und
aufzehrender Arbeit, von großen Leiden und massiven Blutopfern. Es ist ein
Pathos, das von den gewaltigen und entsprechend leidvollen
Transformationen, die es zu verkünden hat, fasziniert ist und fasziniert hat.
Das Erscheinen des Arbeiters Ende August/Anfang September 1932
wurde ein buchhändlerischer Erfolg und ein intellektuelles Ereignis. Die
Hanseatische Verlagsanstalt warb schon früh mit einem Prospekt, der Jünger
in eine Reihe mit Nietzsche und Spengler stellte und den Arbeiter als
Bestseller feierte. Nach einem Nietzsche-Zitat, das von der zukünftigen
Herrschaft der Arbeiter spricht, heißt es:
Was für den alternden Nietzsche noch erste Vision war, wird
bei Ernst Jünger zu einer grandiosen Darstellung der
zerstörenden u. aufbauenden Mächte unseres Jahrhunderts,
deren Wirkung auf unsere Zeit nicht geringer sein wird als
Spenglers »Untergang des Abendlandes«.
In 6 Tagen und noch vor Erscheinen des Buches über 5000
Stück verkauft.
Der Arbeiter wurde nicht nur stark rezipiert, sondern – als erstes von Jüngers
Büchern – auch vielfach und zugleich sehr kontrovers besprochen. Der Text
ließ seine Leser nicht kalt, sondern provozierte Stellungnahmen, die von
begeisterter Zustimmung bis zu schneidender Verurteilung reichten. Beides,
das große Interesse am Arbeiter wie seine polarisierende Wirkung, spiegelt
sich in der Würdigung, die das Buch im Frühjahr 1933 in der Neuen
Rundschau des S. Fischer-Verlags erfuhr: Auf nicht weniger als sechzehn
Seiten brachte diese wohl renommierteste Literaturzeitschrift unter der
Überschrift »Der Arbeiter – Herrschaft und Gestalt« nach einigen
repräsentativen Zitaten und einer redaktionellen Vorbemerkung gleich drei
Stellungnahmen, von denen die mittlere eher sachlich referierend ist, die
vorausgehende wie die nachfolgende aber stark wertend sind und in ganz
unterschiedliche Richtungen weisen. Die eine – von Kurt Heuser – steht
unter der Überschrift Ein frommes Buch und interpretiert den Arbeiter als
verheißungsvollen Ordnungsentwurf und drängende Beschreibung der
Aufgabe der Zeit: »es gilt, die unerhörten technischen Möglichkeiten unseres
Jahrhunderts so einzusetzen, daß sie, statt wie im bestehenden System
Verwirrung und Elend zu stiften, den wahren Reichtum der Menschheit
offenbaren«. Die andere – von Richard Behrendt – steht unter der
Überschrift Militaristischer Nihilismus und kritisiert Jüngers Buch mit einer
Kaskade von Negativvokabeln wie »irrational«, »pervers« und »primitiv«
als einen unvergleichlich destruktiven »Generalangriff« auf die bürgerliche
Kultur. Und ein anderer Kritiker, der Jesuitenpater Friedrich Muckermann,
fragte im November 1932 in der Zeitschrift Der Gral in Form eines offenen
Briefs an
Jünger nach der Zielvorstellung des Arbeiters und konstatierte eine
»Verwandtschaft« mit dem russischen Bolschewismus und speziell mit dem
Vernichtungs- und Herrschaftswillen Lenins:
Wissen Sie, daß ich je und je zwischen Ihren Zeilen das
Antlitz Lenins sah? Sie sind nicht der erste, der der Magie der
Fünfjahrpläne den Tribut seiner Andacht zollt. Da war der
Idee nach Herrschaft und Gestalt des Arbeiters. Da ging es
wirklich um einen geheimen Sinn, um eine Gestalt, zu denen
als Mittelpunkt hin alles geordnet werden sollte. Da war der
Arbeiter erkoren, Träger dieser neuen Symbole [von denen
Jünger im Arbeiter auch sprach] zu sein. […] Sie schreiben
irgendwo von einer Führerschicht, die sich nach dem Kriege
der Neuordnung der deutschen Verhältnisse angenommen
habe, daß ihr die »elementare Befehlssprache« nicht zur
Verfügung gestanden habe. Ich weiß nicht, ob Sie die heutige
Sprache der Führenden unter diesen Begriff einer
elementaren Befehlssprache bringen würden, aber ich will
doch Ihre Worte wiederholen: »Daher ist es eines der
wichtigsten Ergebnisse des Krieges, daß diese, nicht einmal
den Wertungen des Fortschritts gewachsene Führerschicht in
der Versenkung verschwand. Ihre schwächlichen Versuche,
sich wieder zu etablieren, verbinden sich notwendig mit allen
abgegriffenen und verstaubten Dingen der Welt, mit der
Romantik, dem Liberalismus, der Kirche, dem Bürgertum
…« Das hätte Lenin auch schreiben können, ja, es wäre die
Verwandtschaft noch weiter gegangen.
Nicht nur der Jesuit Muckermann las den Arbeiter als ein tendenziell
bolschewistisches Buch. Auch der Rezensent der Zeitschrift Die Neue
Literatur befand im November 1932, daß Jüngers Traktat »durch und durch
bolschewistisch« sei, bestens geeignet, für Stalins neuen »Fünfjahresplan
führende Mitarbeiter zu werben«. Ebenso meinte der ›völkisch‹ orientierte
Sozialphilosoph Max Hildebert Boehm in seinem 1933 publizierten Buch
Der Bürger im Kreuzfeuer, Jüngers technokratische Haltung sei im Grunde
»bolschewistisch«, und sein Arbeiter enthalte »das Programm eines
abgewandelten Bolschewismus«, der »starke Anleihen vom Amerikanismus
her« aufweise. Dies klingt heute abenteuerlich, wird aber verständlicher,
wenn man sich vor Augen hält, daß es einerseits um 1933 auch in Amerika
starke Tendenzen zum Korporativismus und Dirigismus gab (New Deal) und
daß andererseits Bolschewismus oder »Kommunismus« nach jener
berühmten Formulierung, die Lenin 1920 auf dem II. Sowjetkongreß der
UdSSR gebraucht hatte, auf »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«, also
technische Aufrüstung des ganzen Landes, reduziert wurde. Auch Heidegger
verwies in den Aufzeichnungen zum Arbeiter, die er 1934 anzulegen
begann, auf diese Formel und bemerkte gleich danach, Jüngers Arbeiter sei
eine »Metaphysik des recht verstandenen, d. h. von allen »bürgerlichen«
Vorstellungen gereinigten imperialen »Kommunismus««.
Und schließlich bemerkte Ernst Niekisch, der die Entstehung und
Publikation des Arbeiters aus großer Nähe verfolgt hatte, 1958 in seinen
Erinnerungen: Im Arbeiter »formt« Jünger »den geistigen Gehalt der
russischen Revolution und des Bolschewismus in deutsche Anschauungs-
und Denkweise um. Ohne die russische Revolution wäre dies Buch nie
möglich gewesen. Bevor ich meine Rußlandreise antrat, schrieb ich noch auf
Grund der Korrekturfahnen einen Aufsatz im Widerstand darüber, in dem ich
den Inhalt des Buches als ›nationalbolschewistisch‹ kennzeichnete.«
Ähnliches sagte Niekisch noch einmal 1965 in einem Beitrag zu der von
Mircea Eliade und Ernst Jünger herausgegebenen Zeitschrift Antaios, wo es
heißt, daß »der russische Bolschewismus« den Arbeiter »angeregt« habe. In
der bald darauf einsetzenden germanistischen Debatte über den Arbeiter
wurden diese Hinweise aber nicht aufgegriffen; vielmehr wurde dem
Arbeiter eine starke Affinität zum Faschismus und Nationalsozialismus
attestiert. Vielfach zitierte Etikettierungen lauten: »faschistisches
Modernitätskonzept« (Uwe-K. Ketelsen) und »Verfassung des
Nationalsozialismus« (Fritz J. Raddatz). Auch wird gern suggeriert, daß die
»Phantasmagorien eines faschistischen Ordnungsstaates«, die Jünger im
Arbeiter entfaltet hatte, in Deutschland bald Wirklichkeit geworden seien
(Ketelsen), daß der Arbeiter »die spätere totalitäre Realität des 3. Reiches bis
in die Details« vorweggenommen habe (Karl Prümm) oder einfach »den
nationalsozialistischen Staat« beschreibe (Jürgen Manthey) und daß »eine
der Möglichkeiten«, zu der das homogenisierende Gesellschaftskonzept des
Arbeiters führen konnte, »Auschwitz« heiße (Ketelsen).
Nun soll hier gar nicht bestritten werden, daß der Arbeiter ein totalitäres
Konzept darstellt, aus dem sich auch die Nationalsozialisten bedienen
konnten. Jünger selbst bemerkte in seinen rückblickenden Ausführungen
über Hitler, daß dieser »vermutlich über Dritte einige Formulierungen« aus
dem Arbeiter und der Totalen Mobilmachung »in den Schatz seiner
Schlagworte« übernommen habe (3, 615). Zugleich wies er aber auch darauf
hin, daß im Völkischen Beobachter (vom 22. Oktober 1932) eine sehr
unfreundliche Besprechung erschienen sei, und tatsächlich war diese
Besprechung (von Thilo von Trotha) eine schroffe Ablehnung von Jüngers
Arbeiter. Vor allem zwei Momente störten den Verfasser: daß Jünger keinen
biologischen Rassenbegriff habe und daß er nicht »ein rassisch-völkisches
Zeitalter« heraufkommen sehe und verkünde, sondern ein internationales
»Zeitalter des Arbeiters«, in dem »Blut und Boden« keine Rolle mehr
spielten und für das »die Entwicklung in China und Rußland« so
bedeutungsvoll sei wie die in Deutschland. In der Tat hatte Jünger die
nationalistische Perspektive zugunsten einer »planetarischen« relativiert:
Zwar sprach er wiederholt von einem neuen Aufstieg Deutschlands im
Zeichen des »Arbeiters« (8, 31 und 214); aber mit dem letzten Abschnitt
seines Buches begrüßte er die Arbeit an der »Planlandschaft«, »wo immer
sie geleistet wird« (310f.), und dafür hatte er zuvor nicht nur auf die
sowjetische »Erschließung moderner sibirischer Distrikte« verwiesen,
sondern auch auf die »zionistische Besetzung Palästinas« (299).
Abgesehen von diesen ideologischen Differenzen ist es aber auch, wie
Stefan Breuer deutlich gemacht hat, aus anderen Gründen höchst
fragwürdig, um nicht zu sagen: nicht erlaubt, den Arbeiter als Vorwegnahme
der »Realität des 3. Reiches« zu bezeichnen. Denn mit Breuer ist
festzustellen, daß aus dem Arbeiter – wie »aus allen Verlautbarungen des
neuen Nationalismus« – ein »starker Wille zum Staat« spricht: zu »einem
hierarchischen, autoritären, diktatorischen Staat, in dem das Individuum
vollkommen von der Organisation absorbiert werden sollte, aber eben doch
einem Staat, der all das sein würde, was das NS-Regime nicht war: Einheit,
Organisation, Disziplin, ein Gefüge mit festen Zuständigkeiten und damit
auch einer gewissen Verantwortlichkeit«. Kurz: Der Arbeiter plädierte für
einen autoritären, vielleicht totalitären Staat. Mit keinem Wort aber warb er
für die völlig unrechtmäßige, willkürliche und terroristische Herrschaft einer
nationalsozialistischen oder bolschewistischen Verbrecherclique. Und
ebensowenig empfahl er die Ausrottung bestimmter »Rassen« oder
»Klassen«; vielmehr verlangte er, daß »Völkerschaften«, die mit dem
Ausbau der technischen Kultur und der globalen »Planlandschaft« nicht
Schritt halten konnten, unter »Schutz« gestellt würden (8, 309). Es geht im
Arbeiter nicht um die Herrschaft einer »Rasse« (im nationalsozialistischen
Sinn) oder »Klasse« (im bolschewistischen Sinn), sondern um die
Erschließung der Welt in ihrer »Fülle« und um die Herbeiführung eines
Zustands, in dem Arbeit nicht als Entfremdung empfunden wird und
deswegen »Dienst« oder »Gehorsam« und »Freiheit« identisch sind. Wie
Brecht, der noch 1948/49 in seinem Kleinen Organon für das Theater von
jener »großen Produktion« schwärmte (§ 19), die in einer marxistisch
umgebauten Gesellschaft einsetzen und jedem Menschen ein autonomes und
kreatives Leben ermöglichen sollte, glaubte Jünger 1932 an die Möglichkeit,
die mit Händen zu greifenden Nöte und Ungerechtigkeiten der Zeit mit
technokratischen Mitteln, durch Organisation und Maschineneinsatz,
beheben zu können.
Mit all dem soll nur gesagt sein, daß es unzulässig ist, den Arbeiter als
bolschewistische oder nationalsozialistische Programmschrift auszugeben.
Nicht bestritten werden soll, daß er ein totalitäres Konzept darstellt. Die
erdrückenden Nöte der Jahre um 1930 schienen totalitäre Lösungen zu
verlangen. Darauf reagierte Jünger mit seiner »Theorie-Dichtung« Der
Arbeiter. Neben Brechts »Lehrstück« Die Maßnahme, das ein Jahr vor dem
Arbeiter abgeschlossen wurde und eine Huldigung an den Bolschewismus
darstellt, ist Jüngers Arbeiter eine zweite grandiose literarische Reflexion der
totalitären Versuchung der Zeit um 1930. Eine dritte, wenn auch weniger
programmatische, folgte 1934 mit Benns essayistischer Antikenphantasie
Dorische Welt.
Jüngers Arbeiter und Brechts Maßnahme sind sehr unterschiedliche
Werke. Sie stimmen aber darin überein, daß sie zur Beseitigung der
epochalen Not und im Interesse des Aufbaus einer vermeintlich besseren
Welt ein totales Wissen reklamieren und totale Mittel empfehlen. Im
Arbeiter ist es der Autor selbst, der totales Wissen beansprucht; in der
Maßnahme ist es die KPdSU, die alles weiß und den rechten Weg kennt (VI:
»Lob der Partei«). In beiden Texten wird zugunsten der großen und
umwälzenden Aufgaben die »Auslöschung« (Brecht) des Individuums
verlangt und die »Zustimmung selbst der Leidenden« (Jünger) zu ihrem
Schicksal postuliert, in der Maßnahme sogar das »Einverständnis« mit der
eigenen Liquidation. Insofern mag man in beiden Texten barbarische
Ungeheuerlichkeiten sehen. Aber man muß sich hinsichtlich der Wertung
solcher Manifestationen auch vor Augen halten, daß die Not der Zeit nach
radikalen Rezepten rief und kaum jemand dagegen gefeit war, ihnen zu
verfallen. Selbst Walter Benjamin, der – zu Unrecht allerdings! – als das
gute Gewissen der Zwischenkriegszeit gilt und der in seiner Rezension des
von Jünger herausgegebenen Sammelbands Krieg und Krieger die
Kriegsfixierung der Beiträger – zu Recht! – kritisiert hatte, plädierte 1933
mit seinem Essay Erfahrung und Armut für die Preisgabe überlieferter
Bildungsgüter und Wertvorstellungen – Jünger nannte dies
»Gepäckerleichterung« (8, 211) – und für ein neues »Barbarentum«:
Denn was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht
eben Erfahrung mit ihm verbindet? Wohin es führt, wenn sie
geheuchelt oder erschlichen wird, das hat das grauenhafte
Mischmasch der Stile und der Weltanschauungen im vorigen
Jahrhundert uns zu deutlich gemacht, als daß wir unsere
Armut zu bekennen nicht für ehrenwert halten müßten. Ja,
gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut [die Benjamin
auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zurückführte] ist
Armut nicht nur an privaten[,] sondern an
Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von
neuem Barbarentum.
Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen,
positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin
bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn
dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit
Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu
konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.
Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen
gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten
nämlich einen Zeichentisch haben, sie waren Konstrukteure.
Benjamin nennt dann eine Reihe von Philosophen, Wissenschaftlern und
Künstlern, die in diesem Sinn ›barbarisch‹ oder radikal verfuhren, darunter
auch Brecht, der – Benjamin zufolge – feststellte, »Kommunismus sei nicht
die gerechte Verteilung des Reichtums, sondern der Armut«, und Paul
Scheerbart, der technizistische Menschen entworfen und ihnen zum Zeichen
ihrer Neuartigkeit auch völlig neue Namen wie »Lesabéndio« gegeben hat.
Und von da aus fällt Benjamins Blick – wen überrascht es – auf die
Sowjetrussen, die ihren Kindern im Sinne der »neuen« und »positiven
Barbarei« nun auch »gerne ›entmenschte‹ Namen geben: sie nennen sie
Oktober nach dem Revolutionsmonat oder ›Pjatiletka‹, nach dem
Fünfjahrplan, oder ›Awiachim‹ nach einer Gesellschaft für Luftfahrt. Keine
technische Erneuerung der Sprache; sondern ihre Mobilisierung im Dienste
des Kampfes oder der Arbeit; jedenfalls der Veränderung der Wirklichkeit,
nicht ihrer Beschreibung.« – Benjamins Essay hätte gut in die etwas
farblosen Kunst-Kapitel von Jüngers Arbeiter gepaßt und hätte ihnen die
nötige Pointierung gegeben.
Auf den Marmorklippen:
Manuskriptseite, 1939
FÜNFTER TEIL

Im »Dritten Reich«
A. Paul Weber hat Ernst Jünger Jünger schätzte dieses Bild
und seinen Bruder Friedrich ganz besonders, weil es die
Georg mehrfach gemalt. »Melancholie« zum Ausdruck
Das obige Porträt, das farblich brachte, die ihn »beim Anblick
durch Ockergelb und Schwarz dieser Zeit leider häufig«
bestimmt ist, zeigt Jünger in der befiel.
Goslarer Zeit um 1935/36.
Rudolf Schlichter hat Ernst Jünger
zweimal porträtiert.
1929 malte er ihn im dunkelblauen
Anzug mit Fliege
und verschränkten Armen vor
rotem Hintergrund als innerlich
erregten, zugleich aber um
Haltung bemühten Intellektuellen.

Im Juli 1937 entstand das heroisch


anmutende Bild, das Jünger
mit nacktem Oberkörper und
zwei Narben aus dem Weltkrieg
vor einer unwirtlichen Gebirgsgegend
zeigt. Sein Gesicht sollte
»den Ausdruck gleichmütiger
Betrachtung« haben.

Die »totalitäre Revolution«: Geschichte,


»elementar« und »barbarisch«

Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf


Hitler zum Reichskanzler. Das war, wie die Historiker heute
übereinstimmend sagen, nicht die einzige Möglichkeit, die Krise der
Weimarer Republik zu bewältigen. Aber es war eben die, die durch den
Aufstieg der NSDAP, die Zersplitterung der übrigen politischen Kräfte und
die allgemeine Stimmung nahelag; und die Verantwortlichen glaubten, sie
wählen zu dürfen, weil sie überzeugt davon waren, daß sie den »Führer« der
NSDAP, der sich seit geraumer Zeit streng legalistisch gab, als
Reichskanzler im Zaum halten, ja vielleicht bald wieder loswerden könnten.
Das war, wie man heute weiß, ein schwerer Irrtum. Mit dem Tag der
»Machtergreifung«, wie Hitler sagte, oder der »Machtübergabe«, wie
manche Historiker lieber sagen, trat die sogenannte »braune Revolution« ins
Stadium der staatlichen Durchführung ein und gestaltete sich, wie Hans-
Ulrich Wehler im vierten Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte
darlegt, als »totalitäre Revolution«: als ein Vorgang, der »den analytischen
Verlaufskriterien einer evolutionären Umwälzung […] durchaus gerecht«
wurde, sich aber – im Unterschied zur französischen und amerikanischen
Revolution – nicht als soziopolitisch evolutionäre Schubkraft erwies,
sondern als Beginn eines katastrophalen Destruktionsprozesses. Diese
»totalitäre Revolution« war eine Mischung aus Machtsicherung und
Machtausweitung von oben (durch Gesetze) wie von unten (durch SA-
Terror), aus Täuschung und Zwang. Sie hatte folgende Komponenten:
Dauermobilisierung der NS-Verbände; Ausschaltung politischer Gegner
durch Einschüchterung, Vertreibung, Inhaftierung und Ermordung;
Einrichtung von »Konzentrationslagern«; »Säuberung« der höheren
Beamtenschaft, insbesondere im Bereich der Polizei und der Justiz;
Einschränkung von Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit;
Verhängung des Ausnahmezustands durch die »Notverordnung zum Schutz
von Volk und Staat«, die der Regierung und den NS-Verbänden das
Vorgehen gegen politische Gegner erleichterte; Durchsetzung eines
»Ermächtigungsgesetzes« »zur Behebung der Not von Volk und Reich«, das
der Reichsregierung erlaubte, auch verfassungsändernde Gesetze zu
erlassen; »Gleichschaltung« der Länder durch Angleichung der
Länderparlamente an den Reichstag und Einsetzung von
»Reichsstatthaltern«; Auflösung der gegnerischen Wehrverbände und
Überführung des Stahlhelms in die SA; Verbot und Auflösung von Parteien
und politischen Verbänden; Bildung der Deutschen Arbeitsfront als
Zwangsorganisation für Arbeiter und Unternehmer; kulturelle
»Säuberungen« (Bücherverbrennung) und Einrichtung einer
Reichskulturkammer als Zwangsorganisation für alle im kulturellen Bereich
Tätigen (Journalisten, Verleger, Schriftsteller, Bildende Künstler,
Schauspieler usw.) unter Ausschluß von Juden und Regimegegnern; Boykott
jüdischer Geschäfte und Entlassung jüdischer Beamter auf der Basis erster
rassistischer Gesetze. Die Phase der »Machtergreifung« und
Machtsicherung, die damit stichwortartig beschrieben ist, begann mit dem
gigantischen Fackelzug aus Stahlhelm- und SA-Leuten, der sich am Abend
des 30. Januar durch die Berliner Repräsentationsmeilen und das
Brandenburger Tor drängte; und sie endete Anfang Juli 1934 mit der
Liquidierung der innerparteilichen Opposition, mit Hitlers Absage an eine
»zweite Revolution« und mit der ›gesetzlichen‹ Sicherung des
zentralistischen Einparteien- und Führerstaats.
Die Reaktion der Bevölkerung auf Hitlers Ernennung zum Kanzler und
die alsbald einsetzenden »Maßnahmen« zur Sicherung der NS-Herrschaft
war höchst unterschiedlich. Es gab Jubel, aber ebenso Besorgnis und sogar
Protest, der freilich bald unterdrückt wurde. Unter den demokratisch
eingestellten und zumal linksorientierten Intellektuellen herrschte Empörung
und praktische Ratlosigkeit, die mit dem Reichstagsbrand in der Nacht vom
27. auf den 28. Februar und der gleichzeitig einsetzenden Verfolgung
beendet wurde: Brecht und Döblin, um nur zwei Beispiele zu nennen,
flohen, von Bekannten gewarnt, noch in der Brandnacht aus Berlin und
begaben sich ins Exil; viele andere folgten in den nächsten Tagen und
Wochen. Daß Autoren, die der NSDAP angehörten oder ihr nahestanden –
Hanns Johst, Will Vesper und Hans Grimm seien genannt -, über die
»Machtergreifung« erfreut waren und die folgenden »Maßnahmen«
begrüßten, versteht sich von selbst. Aber auch andere, von denen eine
zustimmende Haltung nicht unbedingt zu erwarten gewesen wäre, zeigten
Verständnis oder akklamierten und fanden sich bald auch zur Mitwirkung am
nationalen »Aufbruch« bereit. Gottfried Benn schrieb am 27. Februar 1933
an den mit ihm befreundeten Schriftsteller und Geschäftsmann Egmont
Seyerlen:
Die Revolution ist da und die Geschichte spricht. Wer das
nicht sieht, ist schwachsinnig. Nie wird der Individualismus
in der alten Form, nie der alte ehrliche Sozialismus
wiederkehren. Dies ist die neue Epoche des geschichtlichen
Seins, über ihren Wert oder Unwert zu reden ist läppisch, sie
ist da. Und wenn sie nach zwei Jahrzehnten vorüber ist,
hinterlässt sie eine andere Menschheit, ein anderes Volk.
Danach arbeitete Benn seine bekenntnishafte Ansprache Der neue Staat und
die Intellektuellen aus, die am 24. April im Rundfunk gesendet wurde. Über
die Absicht, die er mit diesem Vortrag verfolgte, schrieb er am selben Tag an
den Oldenburger Dramaturgen Carl Werckshagen:
Mir liegt daran, zunächst mal öffentlich zu zeigen, daß ein
Intellektueller, der Zeit seines Lebens auf Klasse gehalten hat,
trotzdem zum neuen Staat positiv stehen kann, stehen
muß!/Schmerzlich ist natürlich die Absage u Trennung in
Bezug auf alte »liberale« Werte u. Personen. Aber das Gesetz
der Geschichte ist so völlig klar, m. E., daß kein Zögern
möglich ist./ Alle müssen den Staat schützen, unser aller
Leben u Existenz hängt davon ab.
Das »geschichtliche Gesetz«, das Benn am Werk sah, hieß, wie er in seinem
Vortrag sagte, Bildung »autoritäre[r] Staaten«, »sowohl in Asien wie in
Europa, in der alten wie in der neuen Welt«, oder anders gesagt:
intranationale Sammlung, Rückzug auf die gemeinsam von
einem Volk geschichtlich durchlebte Landschaft, auf die
sprachliche und kulturelle Tradition, und wir empfinden in
dieser geschichtlichen Bewegung durchaus die
vorwärtsgerichtete, ordnende, positive, die moderne
Staatstendenz, die moderne Staatsidee, die den unfruchtbar
gewordenen marxistischen Gegensatz von Arbeitnehmer und
Arbeitgeber auflösen will in eine höhere Gemeinsamkeit, mag
man sie wie Jünger »Der Arbeiter« nennen oder nationalen
Sozialismus.
Daß die »Phantome der bürgerlichen Ära«, Demokratie, Geistesfreiheit usw.,
dieser Tendenz zum »totale[n] Staat« zum Opfer fielen, war für Benn
unabweisbar und mußte hingenommen werden, weil es zum
Bewegungsgesetz der Geschichte gehörte: »Die Geschichte«, so Benn mit
einer Formulierung, die wiederum an Jüngers Arbeiter erinnert, »verfährt
nicht demokratisch, sondern elementar, an ihren Wendepunkten immer
elementar.« Was damit gemeint war, wird deutlich, wenn man einen Blick
auf die »Thesen« wirft, die Benn zur Vorbereitung formuliert hatte. Dort
heißt es: »Die Geschichte arbeitet (an ihren Wendepunkten) nicht
demokratisch, sondern terroristisch.« Und: »Alle neuen geschichtlichen
Bewegungen beginnen als barbarisch: Mohamed, Dschingiskhan,
Christentum, französische Revolution, Sozialismus, Lenin.« In diesem Sinn
waren viele Zeitgenossen bereit, die Greueltaten, die von den
Nationalsozialisten und ihren Helfern nun begangen wurden, zu tolerieren
und zu entschuldigen. Ernst Rowohlt zum Beispiel schrieb am 19. Oktober
1933 an den amerikanischen Schriftsteller Sinclair Lewis:
Es ist kein Zweifel, daß bei dem Umsturz – eigentlich kann ja
kaum von Umsturz die Rede sein – nicht jeder mit
Samthändchen angefaßt worden ist, aber im allgemeinen kann
ich nur immer wieder sagen, daß ich den Eindruck gehabt
habe, daß dieser Umsturz sozusagen in Ruhe und Ordnung
vor sich gegangen ist. Es ist im Ausland wahnsinnig schwer
zu beurteilen, wie weit die jüdische Greuelpropaganda aus
rein jüdischem Instinkt und Motiven heraus in Scene gesetzt
wurde. Daran ist aber nicht der geringste Zweifel, daß eine
gewisse antisemitische Bewegung der Nationalsozialisten
durchaus berechtigt war. Wenn Du die genauen Zahlen
wüßtest, die darstellen, wie sehr sich der jüdische Teil der
deutschen Bevölkerung in Regierungsstellen,
Verwaltungsstellen, in leitende Arztstellen, in leitende
Juristenstellen usw. vorgedrängt haben <!>, so muß auch der
auf dem rassentheoretischen Gebiet ganz simpel und normal
empfindende Mensch zugeben, daß hier einmal unbedingt ein
Riegel vorgeschoben werden mußte. Daß dabei ungeheure
Härten vorkommen, ist einfach nicht zu vermeiden.

Jüngers Absagen

Von Jünger sind dergleichen Äußerungen nicht bekannt. So ultra-radikal er


im Sommer und Herbst 1930 von »Mord und Totschlag« geredet und vom
»Forum des Bürgerkrieges« geschwärmt hatte -: An dem, was nach dem 30.
Januar geschah und in die Wege geleitet wurde, mochte er nun doch keinen
Gefallen finden. Seine Gefühle gegenüber den Gleichschaltungsmaßnahmen
hielt er am 10. Mai 1933 in Gedichtform fest (vielleicht ein –
glücklicherweise nicht fortgesetzter – Versuch, sich die lyrisch-
epigrammatische Schreibweise als Form des Zeitkommentars anzueignen):
Gleichschaltung
Freude herrscht im Dritten Reich,
Hitler schaltet alles gleich.
Listig fragt man sich zuweilen:
Wird man dem Geschick enteilen?
Und wie stellt nach einem Jahr
Sich die dunkle Lage dar. (22, 688)
Jünger hatte sich offensichtlich früh dazu entschlossen, sich passiv und
beobachtend zu verhalten. An den NS-Journalisten Ludwig Alwens, der ihm
begeisterte und aktivistische Briefe sandte, schrieb er am 5. April 1933:
»Was mich betrifft, so nehme ich vorläufig die Stellung eines Außenseiters
ein; mein letztes Buch [also Der Arbeiter] scheint den neuen Herren contre
coeur zu gehen, und auf der anderen Seite bin ich der Meinung, daß
Deutschland sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat.« Es wäre falsch,
dies so zu verstehen, als hätte Jünger sich ausgebootet gefühlt und hätte nur
auf einen Wink der »neuen Herren« gewartet. Das Gegenteil ist der Fall: Er
bemühte sich nicht im geringsten um Kontakte und schlug alle Einladungen
zu Vorträgen aus. Allerdings stellte er sich auch nicht auf die Seite der
Gegner des »neuen Staates«. Wiederum an Alwens schrieb er am 12. Mai
1933: »In der letzten Zeit erscheinen allerlei Leute bei mir, um mich in
irgendwelche Oppositionskreise einzubeziehen. Ich lehne das natürlich ab.
Unsere Opposition liegt nicht diesseits, sondern jenseits der
augenblicklichen Ereignisse.« Auch gegenüber seinem Bruder Friedrich
Georg bekannte Jünger sich zur Passivität. In einem Brief vom 13. August
1933 an Friedrich Georg heißt es mit superlativischer Bestimmtheit: »Ich
halte nach wie vor die größte Zurückhaltung für das Richtigste.« Der Rest
war – zunächst einmal – Schweigen. In der fast komplett überlieferten
Korrespondenz mit Kubin, Schmitt und Hielscher findet sich zu Hitlers
»Machtergreifung« und den folgenden Vorgängen so gut wie nichts. Der
einzige dezidiert politische Aufsatz, den Jünger 1933 verfaßte und der im
Mai 1933 unter dem Titel Untergang oder neue Ordnung? in der Zeitschrift
Deutsches Volkstum erschien (PP, 642 -650), spricht zwar von einer
»Umwälzung«, deren Bedeutung die der Französischen Revolution
übertreffe und der nahekomme, welche die deutsche Reformation oder gar
die Völkerwanderung hatten. Aber mit dieser »Umwälzung« ist nicht die
»braune Revolution« oder die Begründung des »Dritten Reichs« gemeint,
sondern der von Jünger postulierte Eintritt ins Zeitalter des »Arbeiters«, für
den die Vorgänge in Deutschland nur untergeordnete Bedeutung hatten und
von Jünger nicht weiter reflektiert wurden. Im übrigen spricht Jünger nicht
als Tätiger oder Gestaltender, sondern eher als »Leidender«, der »die Folgen
dieser Umwälzung an sich selbst und an seinem eigenen Schicksal« spürt
(PP, 643). Anders als Benn drängte sich Jünger nicht zur Mitarbeit am
»neuen Staat«. Die einzige Ergebenheitsadresse aus Jüngers Feder ist das
Geleitwort zum Nachrichtenblatt für die Ritter des Ordens »Pour le mérite«,
das im September 1933 publiziert wurde. Aber es erschöpft sich in der
Feststellung, daß einerseits der »neue Staat«, der ein »Führerstaat« sei, jeden
»geborene[n] Führer« »willkommen« heißen werde und daß andererseits der
Orden »Pour le mérite« nicht nur eine Auszeichnung darstelle, sondern auch
eine »Verpflichtung« zum Dienst impliziere (PP, 660).
Jünger hat sich dem Dienst am »neuen Staat« bis zu seiner zweiten
Einberufung im Jahr 1939 entzogen. Dafür gab es mehrere Motive. Eines
war die oftmals bekundete Abneigung gegen die ›spießige‹ NSDAP, ein
anderes, wie Jünger am 2. April 1946 in einer retrospektiven Tagebuchnotiz
festhielt, die frustrierende Erfahrung, die er 1925/26 bei seinem Engagement
im Freikorps Roßbach gemacht hatte. Ein weiteres Motiv lag in seiner
Abneigung gegen die neuen Methoden, die nun angewandt wurden, um
beispielsweise bestimmte Positionen freizumachen. Bevor Jünger in dem
oben zitierten Brief vom 13. August 1933 zu dem Schluß kam, daß
»Zurückhaltung« das »Richtigste« sei, berichtete er seinem Bruder, daß
Bronnen »nunmehr fast ganz aus dem Rundfunk herausgedrängt worden« sei
und »eine Unzahl von Feinden« habe, die »eifrig damit beschäftigt« seien,
»ihn zur Strecke zu bringen«, indem sie in Wien versuchten, »seine
persönlichen Verhältnisse«, also seine jüdische Herkunft, aufzudecken. Und
hinzu kam, daß Jünger von einigen Maßnahmen des »neuen Staates« bald
selber unangenehm betroffen wurde: Am 12. April 1933 erschienen zwei
Polizisten bei ihm, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Unter dem
Datum des 24. August 1945 hat Jünger den Vorgang in seinem Journal
geschildert:
Es war Abend; ich saß allein in meiner Steglitzer Wohnung
und las Beardsleys »Venus und Tannhäuser«. Es klingelte,
zwei Polizisten standen vor der Tür. Sie traten ein und
überhörten meine Frage nach den Ausweisen. Sie wollten
wissen, ob ich Waffen hätte, öffneten auch gleich den
Nachttisch im Schlafzimmer. Der eine begann dann, wie in
eine Tasche in den Fond eines Sessels zu fahren und stach
sich eine Nadel in die Hand. Der andere sah erst den
Papierkorb und dann die Bücher an. »Haben Sie das
geschrieben?« Er zeigte auf mein Buch »Der Arbeiter«. Der
Titel schien ihm verdächtig zu sein.
Sie kamen endlich zu ihrem Anliegen, den Briefen von
Mühsam, die harmlos waren wie der Mann selbst. Ich gab
ihnen meine Briefmappe »H-M«. Sie begannen zu blättern,
stießen dabei gleich auf einige Namen, die hoch im Kurs
standen [Heß, Hitler], und brachen ihr Unternehmen ab. (3,
516)
Jünger kam ungeschoren davon, und seine Frau hatte, wie sie in ihren
Silhouetten schreibt, sogar den Mut, am nächsten Tag auf dem Steglitzer
Polizeirevier gegen die Hausdurchsuchung zu protestieren. Aber der Vorfall
demonstrierte, was man vom »neuen Staat« zu erwarten hatte, zumal er den
Blick auch auf Erich Mühsam lenkte, der nach dem Reichstagsbrand von der
SA verhaftet und, wie bald duchsickerte, mißhandelt oder gar ermordet
worden war. Wie viele andere Schriftsteller und Publizisten musterte auch
Jünger nun seine Schriftsachen und ließ einen guten Teil seiner Tagebücher
und Briefwechsel verschwinden (3, 518f.).
Ein letztes Mal traf Jünger in diesen Tagen auf Goebbels. Am 20. April
1933, dem Geburtstag des »Führers«, wurde im Berliner Staatstheater Hanns
Johsts Schauspiel Schlageter uraufgeführt. Johst, 1890 geboren, war
während des Ersten Weltkriegs, zu dem er sich freiwillig gemeldet hatte, mit
expressionistischpazifistischen Dramen und Gedichten hervorgetreten,
wurde in den zwanziger Jahren aber zum Nationalisten, spielte gegen Ende
der zwanziger Jahre im nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche
Kultur eine führende Rolle, trat 1932 der NSDAP bei und wurde am 1. März
1933 zum Ersten Dramaturgen am Staatlichen Schauspielhaus am
Gendarmenmarkt ernannt. Mit seinem Drama Schlageter brachte Johst die
erste Heldengestalt des »neuen Nationalismus« wie des Nationalsozialismus
auf die Bühne: Der 1894 geborene Leutnant und Freikorpskämpfer Albert
Leo Schlageter, der organisatorisch der NSDAP verbunden, aber kein
eigentlicher Nationalsozialist war, beteiligte sich während des
»Ruhrkampfs« gegen die französische Besatzung an Sabotageakten, um den
Abtransport deutscher Güter nach Frankreich zu verhindern. Von einem
französischen Spitzel verraten, wurde Schlageter verhaftet, von einem
französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und am 26. Mai 1923 auf
der Golzheimer Heide bei Düsseldorf füsiliert. Gleich nach seiner
Hinrichtung wurde er in Artikeln und Gedichten, bald auch in Dramen als
Held verehrt, und zwar nicht nur von Nationalisten, sondern auch von
Kommunisten.
Auch Jünger erwähnte ihn mehrfach in seinen politischen Aufsätzen wie
im Abenteuerlichen Herzen auf rühmende Weise und nannte ihn »ein erstes
Symbol« der neuen nationalistischen Bewegung (PP, 452 und 533). Johst
vergegenwärtigte nun Schlageters Aktivitäten im Ruhrgebiet und seinen Tod
in einem veristischen und zugleich agitatorischen Stück, das mit
wirkungsvoll grellen Szenen und kräftigen Sprüchen aufwartete. Berühmt
wurde ein Satz, den Johst einem Kameraden Schlageters in den Mund legte:
»Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!« – »Während
der Premiere«, so Jünger in seinen Aufzeichnungen vom 8. Mai 1945, also
vermutlich in der Pause, habe er Goebbels zum letzten Mal persönlich
gesehen: »›Was sagen Sie nun?‹ war sein letztes Wort an mich« (3, 437). Ob
sich die Frage nur auf das Theaterereignis oder auch auf die Etablierung der
NS-Herrschaft bezog, ist unklar, doch hatte sie in jedem Fall ihre
Berechtigung, denn Goebbels wußte, daß Jünger den Nationalsozialisten
weder das eine noch das andere zugetraut hatte. Nun wurde er eines anderen
belehrt, und es dürfte ihm allmählich so ergangen sein wie Benn, der nach
der Schlageter-Premiere zusammen mit anderen Mitgliedern der
»Dichterakademie« zu einem Bierabend mit NS-Größen geladen war – und
am nächsten Morgen zu Oskar Loerke sagte, er befürchte nun, »wir«, also
die nicht-»völkischen« Dichter, »würden nicht nur ausgeschaltet, sondern
auch körperlich vernichtet werden«.
Obwohl im Frühsommer 1933 vollends deutlich wurde, daß mit den
»neuen Herren« nicht zu spaßen war, verhielt sich Jünger resistent und ging
allmählich sichtbar auf Distanz. Seinem jüdischen Freund Marcu teilte er
mit, daß er, wenn er »als Jude Schwierigkeiten« bekomme, auf ihn »zählen«
und in seinem Haus wohnen könne. Zugleich verwahrte er sich demonstrativ
gegen nationalsozialistische Vereinnahmungsversuche. In zwei Fällen wurde
dies unmittelbar publik.
Von der »Gleichschaltung«, die bald nach der »Machtübernahme«
betrieben wurde, war auch die sogenannte »Dichterakademie« betroffen, die
1926 gebildete »Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der
Künste«. Sie war sowohl den nationalsozialistischen ›Kulturpolitikern‹ wie
Johst und Goebbels als auch den »völkisch«-nationalen Autoren wie Grimm
und Vesper ein Dorn im Auge, weil die meisten ihrer Mitglieder – und zumal
die renommiertesten: Heinrich und Thomas Mann sowie Alfred Döblin –
politisch und literarisch in eine andere Richtung tendierten.
Nach dem Beginn der NS-Herrschaft kam es unter Umständen, die nicht
erneut dargelegt werden müssen, und unter der kommissarischen Leitung des
neuen ›Aktivisten‹ Gottfried Benn zu einer Art von »Säuberung«, das heißt
zum Ausschluß sowohl der jüdischen als auch der politisch mißliebigen
Mitglieder und zur Berufung einer größeren Gruppe »völkisch«-nationaler
Autoren, unter ihnen Werner Beumelburg, Hans Grimm und Hanns Johst.
Diese neue Sektion wählte im Juni und im Oktober weitere Mitglieder, unter
ihnen – erstaunlicherweise auf Betreiben Hans Grimms – auch Ernst Jünger.
Hinsichtlich des Datums von Jüngers Wahl gibt es zwei verschiedene
Angaben: Josef Wulf zitiert in seiner Dokumentation Literatur und Dichtung
im Dritten Reich das Stuttgarter Neueste Tageblatt, das am 10. Juni 1933
meldete, neben anderen sei auch Ernst Jünger in die Akademie berufen
worden. Inge Jens hingegen schreibt in ihrer Geschichte der Sektion für
Dichtkunst, die Wahl sei im Oktober erfolgt. Möglicherweise handelte es
sich um ein Verfahren, das in zwei Schritten, Vorschlag und Wahl oder
Aufnahme, vollzogen wurde. Jedenfalls sah sich Jünger im Herbst 1933 zu
einer Erklärung veranlaßt – und schrieb am 16. November »An die Deutsche
Akademie der Dichtung, Berlin«:
Ich beehre mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich die Wahl in die
Deutsche Akademie der Dichtung nicht annehmen kann. Die
Eigenart meiner Arbeit liegt in ihrem wesentlich soldatischen
Charakter, den ich durch akademische Bindungen nicht
beeinträchtigen will. Im besonderen fühle ich mich
verpflichtet, meine Anschauungen über das Verhältnis
zwischen Rüstung und Kultur, die ich im 59. Kapitel meines
Werkes über den Arbeiter niedergelegt habe, auch in meiner
persönlichen Haltung zum Ausdruck zu bringen. Ich bitte Sie
daher, meine Ablehnung als ein Opfer aufzufassen, das mir
meine Teilnahme an der deutschen Mobilmachung auferlegt,
in deren Dienst ich seit 1914 tätig bin.
Mit der Versicherung, daß ich bereits in der Tatsache, daß
Sie an mich gedacht haben, eine hohe Auszeichnung erblicke,
Ihr sehr ergebener
Ernst Jünger
Das war eine entschiedene und mutige, kluge und zugleich kränkende
Absage. Entschieden war sie, weil es danach nichts mehr zu verhandeln gab
und Überredungsversuche ausgeschlossen waren. Mutig war sie nicht allein
wegen des nunmehr offen bekundeten Widerstands gegen
Vereinnahmungsversuche, sondern auch wegen der Berufung auf den
Arbeiter, der ja von nationalsozialistischer Seite scharf kritisiert worden war.
Klug war sie in ihrem Bekenntnis zum quasi »soldatischen« Dienst »an der
deutschen Mobilmachung«. Und kränkend muß sie für die aktivistische
Leitung der »Dichterakademie« gewirkt haben, weil Jünger mit dem Verweis
auf 1914 zum Ausdruck brachte, daß er in ganz anderen geschichtlichen
Dimensionen dachte und nicht gewillt war, Deutschland im »Dritten Reich«
aufgehen zu lassen. Die Antwort des Präsidenten der Akademie fiel
entsprechend aus: Ein Überredungsversuch wurde nicht unternommen. Statt
dessen wurde Jünger mitgeteilt, daß seine Absage gegenstandslos sei, da ihm
die »Berufung« in die Dichterakademie noch gar nicht »amtlich mitgeteilt«
worden sei. Die Presse wurde am 17. November durch Goebbels’
Ministerium angewiesen, über Jüngers Absage »nichts zu bringen« (so
wörtlich die »Anweisung Nr. 63«, die im Bundesarchiv liegt; vgl. auch 22,
100).
Jüngers Ablehnung der Mitgliedschaft in der »Dichterakademie« war ein
primär politisch motivierter Akt: Jünger wollte keine Anbindung an eine NS-
ORGANISATION oder an eine »gleichgeschaltete« Körperschaft. Aber auch
literatur- und kulturprogrammatische Überlegungen dürften eine Rolle
gespielt haben. Was war von der »völkisch« gewordenen Akademie zu
erwarten? Bestenfalls eine Propagierung und Protegierung jener sogenannten
»Heimatliteratur«, die Jünger in seiner politischen Publizistik als provinziell
und abgestanden kritisiert hatte (vgl. PP, 413 und 511) und von der er sich
nun auch dadurch distanzierte, daß er bei der Überarbeitung des Wäldchens
125 die Eloge auf den ›Heidedichter‹ Hermann Löns, die sich in der
Erstfassung findet, strich. Die »Dichterakademie«, und zumal die »völkisch«
gewordene, gehörte für Jünger zweifellos zu jenen musealen Einrichtungen,
die er zu Beginn des 59. Kapitels des Arbeiters, auf das er in seinem
Absageschreiben ausdrücklich und in erkennbar kränkender Absicht
verwies, scharf kritisiert hatte. Es heißt dort:
Wir leben in einer Welt, die auf der einen Seite durchaus einer
Werkstätte, auf der anderen durchaus einem Museum gleicht.
Der Unterschied zwischen den Ansprüchen, die diese beiden
Landschaften stellen, ist der, daß niemand gezwungen ist, in
einer Werkstätte mehr als eben eine Werkstätte zu sehen,
während in der musealen Landschaft eine
Erbauungsstimmung herrscht, die groteske Formen
angenommen hat. Wir haben eine Art des historischen
Fetischismus erreicht, die zum Mangel an Produktionskraft in
einem direkten Verhältnis steht. (8, 210)
Nach der Absage an die Akademie distanzierte sich Jünger noch mit einem
weiteren Schreiben vom NS-Regime. Am 14. Juni 1934 schrieb er an die
Redaktion des Völkischen Beobachters:
In der »Jungen Mannschaft«, Beilage zum »Völkischen
Beobachter« vom 6./7. Mai 1934, ist ein Auszug aus meinem
Buche »Das Abenteuerliche Herz« zum Abdruck gebracht.
Da dieser Abdruck ohne Quellenangabe erfolgte, muß der
Eindruck entstehen, daß ich Ihrem Blatte als Mitarbeiter
angehöre. Dies ist keineswegs der Fall; ich mache vielmehr
seit Jahren vom Mittel der Presse überhaupt keinen Gebrauch.
In diesem besonderen Falle ist noch hervorzuheben, daß es
nicht angängig erscheint, daß einerseits die offizielle Presse
mir die Rolle eines Mitarbeiters zuerkennt, während
andererseits der Abdruck meines Schreibens an die »Dichter-
Akademie« vom 18. <sic!> November 1933 durch offizielles
Presse-Kommuniqué unterbunden wird. Mein Bestreben läuft
nicht darauf hinaus, in der Presse möglichst oft genannt zu
werden, sondern darauf, daß über die Art meiner politischen
Substanz auch nicht die Spur einer Unklarheit entsteht.
Eine Abschrift dieses Briefs sandte Jünger am selben Tag seinem Bruder
Friedrich Georg, und zwar mit der Bemerkung: »Ich habe schon
verschiedene solcher Billette abgefaßt, wie jenes an die ›Dichter-Akademie‹,
die Du gelegentlich Bekannten zeigen kannst.« In der Tat verschickte Jünger
in den Jahren 1934/35 einige »Billette« dieser Art: Am 2. Januar 1934 lehnte
er die Mitgliedschaft in der »Vereinigung ›Deutscher Wille‹« ab. Am 9. Juli
1934 wies er eine Einladung des »Reichssenders« Leipzig mit der
Bemerkung ab, daß er »vom Mittel des Rundfunks keinen Gebrauch«
machen wolle. Am 14. Januar 1935 untersagte er dem Teubner-Verlag, Texte
aus seinen Kriegsbüchern in einer Weltkriegsanthologie abzudrucken. Und
tatsächlich war es ihm wichtig, seine distanzierte Haltung gegenüber dem
NS-Regime bekanntzumachen. In diesem Sinn schickte er Abschriften des
Briefs an den Völkischen Beobachter am selben Tag auch an Friedrich
Hielscher sowie an Carl Schmitt und Ludwig Alwens, die beide inzwischen
zu begeisterten NS-Aktivisten geworden waren. Im Fall Alwens führte dies
zum Ende des Kontakts und der publizistischen Kooperation, die im
Sommer 1927 unter dem Zeichen des »neuen Nationalismus« begonnen
hatte. Es war die Zeit der Entscheidungen und Trennungen. Am 8. Juli 1934
schrieb Jünger an Friedrich Georg, es sei an der Zeit, auch unter den
Freunden »Musterung« zu halten.
Der Kreis der Freunde und Bekannten, die man jetzt noch schätzen
mochte, war zu diesem Zeitpunkt freilich schon kleiner geworden und
schrumpfte täglich mehr. Erich Mühsam, den Jünger zu den »gutmütigsten
Menschen« zählte (3, 148), wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. Juli
1934 im KZ Oranienburg auf fürchterliche Weise totgeschlagen. Valeriu
Marcu, Karl Otto Paetel und Hugo Fischer waren entweder schon emigriert
oder standen im Begriff, dies zu tun. Auch für Jünger und die noch
verbliebenen Freunde muß sich 1933/34 die Frage der Emigration gestellt
haben. Friedrich Georg Jünger schrieb später, am 30. Mai 1946, an Niekisch,
er und sein Bruder Ernst hätten seinerzeit gehofft, daß Niekisch emigriere
und sich so in Sicherheit bringe, und Jünger bestätigte dies 1974 (14, 106f.).
Ob Jünger selbst die Emigration in Erwägung zog und nur, wie von Jean
Schlumberger zu hören war, durch die Sorge um seine Familie vom Schritt
über die Grenze abgehalten wurde, ist allerdings sehr fraglich. Nachdem er
in seiner Erzählung Sturm über die pazifistische Emigration während des
Ersten Weltkriegs geschrieben hatte, diese habe den »Anschluß« an das
Leben verloren (15, 38), mußte ihm die Vorstellung, nun selber zu
emigrieren, äußerst unangenehm gewesen sein. Auch gehörte es zu seiner
Philosophie des »verlorenen Postens« und zu seinem Habitus des
Beobachters, auch dann auszuharren, wenn die Lage lebensbedrohlich
wurde. In diesem Sinn schrieb er am 18. Dezember 1935 an Hugo Fischer,
der für das Frühjahr 1936 einen längeren Aufenthalt in Norwegen
vorgeschlagen hatte, daß er lieber bleiben wolle, weil »die Lage im
europäischen Zentrum sehr bald viel spannender werden« würde: »Sie
[Hugo Fischer] gleichen dem Beobachter am Rande des Vesuvs, der vor der
Eruption das Observatorium verläßt. Ich möchte doch bleiben, auch auf die
Gefahr hin, mitsamt meinen Instrumenten in die Luft zu fliegen.« Er mochte
dabei immerhin hoffen, in seinen Auszeichnungen aus dem Ersten
Weltkrieg, die in militärischen Kreisen nicht vergessen waren, einen guten
Schutzschild zu haben; wenigstens bemerkte er 1995 im Gespräch mit Gnoli
und Volpi, daß er als »Hochdekorierter« des Ersten Weltkriegs und als Autor
der Stahlgewitter gegenüber dem Nationalsozialismus etwas mehr Freiheit
und Sicherheit als andere gehabt habe.
Im übrigen blieb die Ablehnung der Emigration in der Erzählung von
1923 nicht Jüngers letztes Wort. Auch er lernte, wann auch immer, die
Emigration anders zu sehen. Jedenfalls bemerkte er in einer Tagebuchnotiz
vom 20. Juni 1984, bei »herrschender Infamie« sei »die Emigration um so
verdienstlicher, je weniger sie nötig« sei. Dies ist eine späte Anerkennung
der Emigration, auch wenn der nächste Abschnitt in eine Apologie der
»Anonymität« übergeht: »Am besten ist Anonymität – man hat mit der
Sache nicht mehr das mindeste zu schaffen – weder für noch gegen sie« (20,
373).
Dieser Satz von 1984, der freilich einen offenkundigen Irrtum enthält,
könnte das heimliche Motto schon für Jüngers Verhalten ab dem Herbst
1933 gewesen sein. Schon die Ablehnung der Mitgliedschaft in der
»Dichterakademie« und mehr noch der Brief an den Völkischen Beobachter
deuten darauf hin, daß es Jünger darum ging, »Anonymität« zu gewinnen
oder sich wenigstens aus der exponierten Position, in welcher er stets unter
Beobachtung und Druck stand, zurückzuziehen. Eben diesem Ziel diente
auch der Umzug von Berlin nach Goslar.
Stadt oder Land -: zwischen diesen beiden Lebensformen hat Jünger bis
zur Niederlassung im Wilflinger Forsthaus gewechselt und innerlich
geschwankt. Als er 1927 nach Berlin gezogen war und sein Bruder Friedrich
Georg sich ebenfalls für den Wohnort Berlin entschieden hatte, schrieb er
diesem am 9. September: »Ich bin sicher, daß diese Stadt der Ort unseres
dauernden Aufenthaltes werden wird, falls wir später nicht doch zum Lande
zurückkehren.« Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen
»Machtergreifung«, die der Atmosphäre in Berlin einen anderen Charakter
gab, schien es an der Zeit, über diesen Schritt nachzudenken. Die
Hausdurchsuchung am 12. April war, wie Jünger in seinem Journal (3, 517)
und Gretha in ihren Silhouetten schreiben, ein erster Anstoß gewesen, und
weitere Impulse kamen hinzu, so etwa Grethas Begegnung mit einem Hitler-
Adjutanten, der ihr – ohne zu wissen, wen er vor sich hatte – zu verstehen
gab, daß der Schriftsteller Ernst Jünger ein »Kommunist« sei -: eine
Einschätzung, die zu dieser Zeit nicht eben ungefährlich war. Hinzu kam,
daß einige Freunde und Bekannte die Stadt verlassen hatten, und zwar nicht
nur die verjagten Juden und politischen Emigranten; Hielscher hatte seine
Wohnung nach Potsdam verlegt, und Schlichter war schon 1932 ins
schwäbische Rottenburg am Neckar übergesiedelt, weil ihm das Berliner
Leben zu aufreibend geworden war. Im Herbst 1933 entschieden sich nun
auch Ernst und Gretha Jünger für den Abzug aus der Metropole und wählten
Goslar als neuen Wohnort. Ein Regimentskamerad aus dem Ersten
Weltkrieg, der spätere Bürgermeister Hermann Pfaffendorf, vermittelte eine
Wohnung in der Bel-Etage des Hauses Nonnenweg 4; der Umzug fand Ende
November/Anfang Dezember statt. Am 27. November 1933 schrieb Jünger
aus Leisnig, wo er offensichtlich Station machte, an Carl Schmitt: »Leider
hatte ich vor Antritt meines Retour offensif in die Gefilde des Harzes keine
Gelegenheit mehr, mich von Ihnen zu verabschieden.« »Retour offensif« ist
ein militärischer Terminus technicus und bedeutet »Gegenoffensive«. Das
aber heißt, daß Jünger die Übersiedlung nach Goslar nicht nur als Akt der
Distanzierung sah, sondern auch als ersten Schritt einer Wendung gegen das
NS-Regime. Jedenfalls war es nicht so, daß er »mit der Sache nicht mehr das
mindeste zu schaffen« haben wollte.
Wie wäre es auch möglich gewesen! Die Etablierung der NS-Herrschaft
schritt voran, und die Diskussion mit den verbliebenen Freunden ging
weiter, wenn sie nun auch auf Telefonate und Gespräche bei gelegentlichen
Besuchen beschränkt war. Neben seinem Bruder Friedrich Georg dürfte in
diesen Monaten Carl Schmitt der interessanteste Gesprächspartner für Jünger
geworden sein, obwohl er einen anderen Weg gewählt hatte: den der
Kollaboration.
Schmitt war unmittelbar vor und nach der »Machtergreifung« keineswegs
ein Anhänger Hitlers oder der NSDAP gewesen; er gehörte vielmehr zum
Kreis um Brüning und äußerte sich über Hitler und die NSDAP durchaus
kritisch (was ihm 1936 auch Ungnade eintragen sollte). Im Februar 1933 sah
er sich »aus dem Rennen«, und im April folgte er einem Ruf nach Köln auf
einen renommierten juristischen Lehrstuhl. Überraschenderweise ergab sich
nun aber die Möglichkeit, an der Kommentierung des Ermächtigungs- wie
des Gleichschaltungsgesetzes mitzuwirken, und so kam Schmitt in die Nähe
der »neuen Herren«. Bekenntnisse und Gunsterweise folgten eng
aufeinander: Schmitt leitete seine Kommentierung des Gesetzes »zur
Gleichschaltung der Länder« mit der Feststellung ein, daß die »deutsche
Revolution« in wenigen Tagen »ein Stück Reichsreform geschaffen« habe,
»das viele Jahrhunderte innerstaatlicher Zerrissenheit« überwinde und auch
den »Zusammenbruch des November 1918« heile. Dieser Sicht auf die
jüngste Entwicklung entsprach, daß er am 1. Mai 1933 in Köln der NSDAP
beitrat. Dann kamen Ehrungen und einflußreiche Ämter: Am 12. Juli wurde
Schmitt von Göring, der besonderen Gefallen an ihm gefunden hatte, in den
Preußischen Staatsrat berufen. Er übernahm Leitungsaufgaben in
verschiedenen juristischen Gremien, konnte bei der Besetzung aller
juristischen Lehrstühle mitreden und kehrte im Herbst 1933 auch wieder an
die Berliner Universität zurück. Bald galt er als »der Staatsrechtler des neuen
Reiches« oder als »Kronjurist des Dritten Reiches«.
Wie Jünger Schmitts Karriere und seine Kollaboration mit den
Nationalsozialisten wahrgenommen hat, ist nicht klar ersichtlich. Im
Briefwechsel zwischen Jünger und Schmitt spielt Politik keine nennenswerte
Rolle. Nur einmal, in einem Brief Jüngers vom 11. November 1934, ist
davon die Rede, daß ein jüngstes Gespräch in Berlin nicht nur eine
»zunehmende Politisierung«, sondern auch eine »wachsende Bösartigkeit«
erfahren habe und daß man sich »im Augenblick einer gewissen
Meinungsverschiedenheit« getrennt habe; zugleich versicherte Jünger aber,
daß ihr Verhältnis einen »gemeinsamen Ort« habe, »an dem eine solche
Differenz gar keine Rolle« spiele. Aber schon vor diesem Gespräch vom
November 1934 muß es, wie aus späteren Äußerungen zu ersehen ist, die
eine oder andere heftige Diskussion über die richtige Haltung gegenüber
dem Vorgehen der Nationalsozialisten nach der »Machtergreifung« gegeben
haben. So notierte Armin Mohler am 22. September 1949 in seinem
Ravensburger Tagebuch, daß Jünger, der sich zu dieser Zeit von Schmitt
angegriffen fühlte, in einer Unterhaltung bei Tisch ein »Gespräch um 1933«
erwähnt habe, in dem es um »Greuel im Columbiakeller«, einem
innerstädtischen KZ der SS, gegangen sei. In diesem Gespräch habe Schmitt
die offenbar kritischen Äußerungen Jüngers mit der Bemerkung quittiert,
»eine einzige solche Tat wiege mehr als tausend Jahre Geschwätz«. Vier
Monate später wurden diese Vorgänge dann auch Gegenstand des
Briefwechsels. Am 16. Januar 1950 schrieb Jünger an Schmitt unter
Bezugnahme auf die »folgenschwerste Entscheidung« in dessen Leben, ohne
diese allerdings zu nennen:
Sie werden sich der Nacht entsinnen, in der ich Sie auf der
Friedrichstraße verließ und in großer Trauer war. Auch
damals lebte ich in meinem Alltag nicht vorbildlich. Wären
Sie aber in der Sache meinem Rat und Beispiel gefolgt, so
würden Sie heute vielleicht nicht mehr am Leben sein, aber
berechtigt zum Urteil in letzter Instanz über mich. Wäre ich
damals Ihrem Rat und Beispiel gefolgt, so würde ich heute
gewiß nicht mehr am Leben sein, weder physisch, noch sonst.
Schmitts Tagebuchnotizen lassen vermuten, daß dieses Gespräch in der
Nacht vom 7. auf den 8. August nach einem Besuch im Weinhaus Habel
(Unter den Linden 30) stattfand, und eine sehr viel später von Jünger
verfaßte Notiz nennt wohl den Rat, den er seinem Gesprächspartner damals
gegeben hat. Unter dem Datum des 20. September 1994 heißt es in Jüngers
Journal: »Als C. S. Staatsrat werden sollte, habe ich ihm abgeraten und
vorgeschlagen, bei seinen Schwiegereltern in Serbien an einem
fundamentalen Staatsrecht zu arbeiten« (22, 160). Dies hätte Emigration und
politische Einflußlosigkeit bedeutet. Schmitt fühlte sich aber berufen,
zusammen mit anderen konservativ und etatistisch eingestellten Politikern
den »Staat« – und damit das alte und »heilige« »Reich« – gegen die
antietatistische »Bewegung« zu schützen. Schon damals sah Schmitt sich –
nach 2 Thess 2,6-7 und zugleich in grandioser Verkennung seiner
Möglichkeiten – als »Aufhalter« im heilsgeschichtlichen Sinn.
Trotz der Differenzen im ersten Jahr der NS-Herrschaft dauerte die
freundschaftliche Beziehung an. Im Briefwechsel kam es zu einem
intensiven Gedankenaustausch über literarische, historische und
philosophische Fragen. Das Ehepaar Schmitt besuchte das Ehepaar Jünger in
Goslar, und Carl Schmitt wurde Taufpate des zweiten Sohnes von Ernst und
Gretha Jünger, des am 9. März 1934 geborenen Carl Alexander. Man traf
sich auch im nahe gelegenen Wolfenbüttel, wo Schmitt Anfang Juni 1934
den Nachlaß des bedeutenden preußischen Staatsrechtlers Friedrich Julius
Stahl in Augenschein nahm. Stahl, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in
Berlin in führenden akademischen, kirchlichen und politischen Funktionen
wirkte, war jüdischer Herkunft, und Schmitt, dessen antisemitische
Einstellung mit Beginn des »Dritten Reichs« deutlich hervortrat, wollte
nachweisen, daß der »Assimilationsjude« Stahl den preußischen
Staatsbegriff auf eine besonders raffinierte und gefährliche Weise modifiziert
und ausgehöhlt habe. Jünger wußte darüber Bescheid, hat sich aber nicht
dazu geäußert; die juristische Materie lag ihm zu fern, und Antisemitismus
war, wie die politische Publizistik trotz einiger betrüblicher Formulierungen
zeigt, kein Feld, auf dem er sich zu profilieren wünschte. Zu erneuten
Differenzen, aber nicht zum Bruch kam es wenige Wochen nach dem
Besuch in Wolfenbüttel aus Anlaß des sogenannten »Röhm-Putsches«.
Bekanntlich ließ Hitler, um dem Drängen der SA-Führung auf eine
»zweite Revolution« ein Ende zu setzen, unter dem Vorwand eines angeblich
geplanten Putsch-Versuchs am 30. Juni und 1. Juli einen großen Teil der SA-
FÜHRUNG um den »Stabschef« Ernst Röhm liquidieren. Insgesamt wurden
bei dieser »Säuberungsaktion«, die von der SS und der Gestapo mit
logistischer Unterstützung der Reichswehr durchgeführt wurde, mehr als
achtzig Menschen ermordet, und zwar nicht nur SA-Leute, sondern auch
sonstige Gegner des »Führers« und des NS-Regimes. Jünger verbrachte jene
Tage mit der Familie im Sommerurlaub auf Sylt. Einige Äußerungen – etwa
in einem Brief vom 3. Juli an den Bruder Friedrich Georg und eine
beiläufige Bemerkung in den Subtilen Jagden (10, 232) – deuten darauf hin,
daß Jünger einen solchen »Schlag« erwartete, sich bedroht fühlte und außer
Reichweite kommen wollte. Recherchen, die Jünger selbst zu Beginn der
achtziger Jahre anstellte, ergaben allerdings, daß er – mit größter
Wahrscheinlichkeit – nicht auf der »Proskriptionsliste« stand (20, 231ff.).
Aber unabhängig von der Möglichkeit einer persönlichen Gefährdung wurde
Jünger durch die »Nachricht von den Massacres« – so am 8. Juli in einem
Brief an Friedrich Georg – elektrisiert und zu einer Analyse der allgemeinen
wie der persönlichen Lage gedrängt. Diese geschah zunächst im
Briefwechsel mit dem Bruder, dann aber, als Jünger Ende Juli vom Urlaub
zurückfuhr und in Berlin drei Tage Station machte, auch im Gespräch mit
Carl Schmitt. In diesem hatte er nun einen überaus interessanten
Gesprächspartner, denn Schmitt hatte eben jenen aufsehenerregenden Artikel
zu Papier gebracht, mit dem er die Mordaktion in der Deutschen Juristen-
Zeitung vom 1. August als »Staatsnotwehr« verteidigte und sich sogar zu der
These verstieg, daß dieses Verbrechen »höchste Justiz« darstelle und der
»Führer« mit solchem Vorgehen »das Recht vor dem schlimmsten
Mißbrauch« schütze (»Der Führer schützt das Recht […]«). Den Kern ihrer
Diskussion hat Jünger zumindest zweimal in verbal leicht abweichenden,
sachlich aber identischen Versionen wiedergegeben: 1995 im Gespräch mit
Antonio Gnoli und Franco Volpi, und zehn Jahre zuvor, am 18. November
1985, in den Erinnerungen an seinen im Frühjahr verstorbenen und nicht
immer nur geschätzten »Compère« Carl Schmitt. Es heißt dort:
Lebhaft widersprochen habe ich ihm, als Hitler nach dem
sogenannten Röhm-Putsch Staatsnotstand für sich in
Anspruch nahm und Carl Schmitt dazu nicht nur sagte,
sondern sogar schrieb, daß »der Führer Recht setze«. Ich
entsinne mich nicht mehr des genauen Wortlautes. Er meinte,
daß an Hitlers Legalität nach dem Ermächtigungsgesetz nicht
mehr zu zweifeln gewesen sei. Darüber ließ sich reden – mich
wunderte nur die Hartnäckigkeit, mit der ein so scharfer Geist
verkannte, daß seine Formulierung, wie logisch auch immer,
zeitlich und örtlich ein politisches Harakiri darstellte. Ich kam
damals von Helgoland [wo Jünger nach dem Urlaub auf Sylt
noch gewesen war]; als wir an seinem Haus am Fichteberg
vorbeigingen, fragte ich ihn, ob er schon ein
Maschinengewehr im Keller installiert habe – er quittierte den
Scherz mit einem verwunderten Blick. (20, 569f.)
Anders als der zu Recht verwunderte Schmitt rechnete Jünger offensichtlich
mit einem Gegenschlag, von dem dann auch der »Kronjurist des Dritten
Reiches« betroffen gewesen wäre, und mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Aber wer hätte den Gegenschlag führen und den Bürgerkrieg eröffnen
sollen? Die SA war gezähmt. Die KPD war personell dezimiert und in den
Untergrund getrieben. Die Gewerkschaften waren zerschlagen; der 1933
emigrierte Schriftsteller Oskar Maria Graf hat in seinem autobiographisch
grundierten Roman Die gezählten Jahre unter der Überschrift
»Kapitulation« geschildert, wie am 9. März 1933 das Münchener
Gewerkschaftshaus von der SA gestürmt und geräumt wurde. Zudem hatte
Hitler seit dem 1. Juli einen neuen Verbündeten: die Reichswehr. Die
»Machtergreifung« war abgeschlossen.
Gleichviel, Jünger lebte nach der Mordaktion vom 30. Juni/1. Juli
anscheinend im Gefühl, daß der Kampf um die Macht in Deutschland noch
anhalte und er selbst gefordert werden könne. Am 8. Juli schrieb er an seinen
Bruder Friedrich Georg auch: »Wenn man den Ereignissen mit einem
gewissen Gefühl der Nicht-Beteiligung beiwohnt, so doch nur wie ein
Schauspieler, der in den ersten Akten noch unbeschäftigt ist und wartet, bis
das Stichwort fällt, das auch ihn zum Handeln zwingt.« In den Wochen
danach muß es zwischen den Brüdern zu einem Gedankenaustausch über die
Frage gekommen sein, ob und wie deutlich man sich öffentlich gegen die
NS-Herrschaft aussprechen wolle. Dies hatte einen konkreten Anlaß: Die
Drucklegung von Friedrich Georgs erstem Gedichtband stand unmittelbar
bevor, und es ergab sich die Frage, ob das Gedicht Der Mohn aufgenommen
und publiziert werden sollte. Sie war durchaus angebracht, denn diese über
zwei Druckseiten sich erstreckende Elegie ist eine einzige Klage über die
Perversion der Verhältnisse und endet mit einer Versgruppe, die als eine
Replik auf die Aktion vom 30. Juni/1. Juli wie auf alle die Mordtaten
verstanden werden konnte, die seit der »Machtübernahme« begangen
worden waren:
Feste seh ich und Feiern, ich höre Märsche, Gesänge,
Bunt ist von Fahnen die Stadt, immengleich summet der
Schwarm.
Lauter als der Cherusker, der Romas stolze Legionen
Weihte der Nacht und dem Tod, stimmen den Siegruf sie an.
Habt ihr feindliche Heere geschlagen, die Fürsten gefangen,
Risset ihr Ketten entzwei, die euch der Sieger gestückt?
Nein, sie bejubeln den Sieg, der über Brüder erfochten,
Süsser als Siege sie dünkt, die man in Schlachten erstritt.
Schmerzend hallt in den Ohren der Lärm mir, mich widert der
Taumel,
Widert das laute Geschrei, das sich Begeisterung nennt.
Wehe! Begeisterung! Silberner Brunnen der Stille, du klarer,
Du kristallener Born, nennt es Begeisterung nicht.
Tiefer schweigen die Toten, sie trauern, sie hören das Lärmen,
Hören das kindische Lied ruhmloser Trunkenheit nicht.
Ernst Jünger sprach sich, wie er am 17. März 1946 an Ernst Niekisch
schrieb, aus Sorge um seinen Bruder gegen die Publikation dieses Gedichts
aus, aber Friedrich Georg Jünger hielt daran fest. Der Band erschien im
Oktober 1934 in Niekischs Widerstand-Verlag und erregte – nicht zuletzt
wegen der Mohn-Elegie – großes Aufsehen, und dies nicht nur in
Deutschland, sondern auch unter den Emigranten. Thomas Mann, der sich zu
dieser Zeit in Zürich aufhielt, notierte am 30. November 1934 in sein
Tagebuch: »Las in klassizistischen Gedichten eines F. G. Jünger, die
Bermann geschickt hatte, erschienen im ›Widerstandsverlag‹ (!) Berlin,
darin ein Stück ›Der Mohn‹, von fabelhafter Aggressivität gegen die
Machthaber, das ich, als die Meinen vom Theater zurückgekehrt waren,
ihnen beim Abendessen zu allgemeinem Erstaunen vorlas.« In Deutschland
fand Der Mohn nicht nur in der Buchfassung Verbreitung, sondern auch in
maschinenschriftlichen Kopien, und Leopold Schwarzschild druckte das
Gedicht im März 1936 in seiner in Paris erscheinenden Exilzeitschrift Das
neue Tagebuch.
Einen vergleichbaren Text konnte Ernst Jünger 1934 nicht vorlegen.
Immerhin hatte sein Essay-Band Blätter und Steine, der im Herbst 1934
erschien, einen »Anhang« mit hundert Prosa-Epigrammen, von denen man
einige als Spitzen gegen die »neuen Herren« und ihre Ideologie verstehen
konnte, so vor allem die Nummern 27 und 44:
Die Schauspieler der Macht ernten Lorbeer, der in
Treibhäusern gewachsen ist.
Die schlechte Rasse wird daran erkannt, daß sie sich durch
den Vergleich mit anderen zu erhöhen, andere durch den
Vergleich mit sich selbst zu erniedrigen sucht.
Das war vielleicht nicht sonderlich mutig und erreichte sicher nicht die
Wirkung von Friedrich Georg Jüngers Mohn. Aber mit dem 44. Epigramm
übte Jünger auf unverblümte Weise Kritik an der NS-Ideologie und mußte
mit einer entsprechenden Reaktion rechnen. Der Lektor der Hanseatischen
Verlagsanstalt berichtete später, das »Amt Rosenberg«, das sich zur Zensur
berufen fühlte, habe an einigen Epigrammen Anstoß genommen (20, 235),
und Jünger wollte, wie er am 15. November an seinen Bruder schrieb, gehört
haben, daß dem Berliner Sender die Besprechung von Blätter und Steine
verboten wurde. Ob dies stimmt, ist indessen fraglich, und wenn es stimmt,
muß es nicht unbedingt auf die zitierten Spitzen zurückzuführen sein. Im
Herbst 1934 brauchten die »neuen Herren« nicht mehr so besorgt um ihre
Macht zu sein, daß solche Kleinigkeiten sie hätten beunruhigen und zum
Einschreiten veranlassen müssen. Nicht einmal Friedrich Georg Jüngers
Elegie wurde verboten; sie konnte 1935 und 1936 in der zweiten wie dritten
Auflage der Gedichte erneut gedruckt werden, ebenso 1943 in der zweiten
Auflage des Bandes Der Taurus.

Stationen der »inneren Emigration«

Goslar

Auf das Jahr der »Machtergreifung« und »Gleichschaltung« folgten fünf


Jahre, die sich – vordergründig besehen, also ohne Blick auf die große Zahl
von Opfern wie für den Fortgang und das Ende der Entwicklung – für das
NS-Regime als eine einzige und überwältigende Erfolgsgeschichte
gestalteten: Die Konjunktur zog an und bescherte Deutschland ein
»Wirtschaftswunder« (auch wenn es möglicherweise nur eine Scheinblüte
war). Ab 1936 herrschte in Deutschland – als einzigem Industrieland –
Vollbeschäftigung. Durch sozialpolitische Maßnahmen wurde die »egalitäre
Leistungs- und Volksgemeinschaft« (Martin Broszat) auf den Weg gebracht.
Die technische Modernisierung der gesamten Lebenswelt wurde
beschleunigt. Außenpolitisch demonstrierte Hitler durch den Aufbau einer
Luftwaffe und die Wiedereinführung der Wehrpflicht jene Souveränität, die
der Vertrag von Versailles Deutschland vorenthalten hatte. 1935 fiel das
Saargebiet durch Volksentscheid an Deutschland zurück, und im Sommer
1936 lag über allem die Hochstimmung der Olympischen Spiele. Der
»Führer« triumphierte und durfte sich der begeisterten Zustimmung der
Massen sicher sein. Gewiß gab es weiterhin Polizeiterror und
Unterdrückungsmaßnahmen; aber für den weitaus größten Teil der
Bevölkerung bestand das »Dritte Reich« nicht aus »Furcht und Elend«, wie
Brecht dies 1938 mit einer Serie dramatischer Szenen suggerierte, sondern
aus neuem Glanz und neuen Lebenschancen. Daß dies aus der Perspektive
der Opfer und Gegner anders aussah und daß erst recht das historische Fazit
ganz anders ausfiel, widerspricht dem nicht.
Für Jünger wurde die Zeit ruhiger, aber nicht windstill. Mitte Dezember
1933 war man von Berlin nach Goslar umgezogen – und in eine ganz andere
Atmosphäre gekommen. Gretha beschrieb in ihren Silhouetten die Ankunft:
»Wir saßen in der Bibliothek [der Pfaffendorfs]; eine völlig andere Welt tat
sich hier auf als jene, die wir in Berlin zurückgelassen hatten. Ruhe,
Gelassenheit, ein Abwarten der Dinge. Nichts von der politischen Spannung,
der Elektrizität, dem unentwegten Auf und Ab der großen Stadt, deren
Arbeitsluft sich niemand entziehen kann und will.« Die Uhr, so Jünger in
den Subtilen Jagden, begann langsamer zu laufen (10, 160), und das Leben
nahm einen anderen Charakter an: statt des erregenden Verkehrs mit
politisch ambitionierten Intellektuellen gelassener und vertrauensvoller
Umgang mit dem Entomologen Wilhelm Jacobs und dem Schriftsteller,
Astrologen und Sammler Friedrich Lindemann; statt politisch-literarischer
Diskussionsrunden lange Leseabende; statt der Streifzüge durch die
hektische Metropole Skifahrten und lange Erkundungsgänge durch die
Goslarer Waldgebiete. Und Haushalt wie Familie wurden größer: Am 11.
März 1934 kam der zweite Sohn, Carl Alexander, zur Welt und wurde –
anders als der erste, 1927 geborene Sohn Ernstel – dem Paten Carl Schmitt
zuliebe katholisch getauft. Auch kam L[o]uise ins Haus, das Dienstmädchen,
das der Familie Jünger viele Jahre lang treu blieb und mehrere
Wohnungswechsel mitmachte.
Das Leben, das Jünger von nun an führte, kann als repräsentativ für jene
Existenzform gelten, die man schon bald nach der »Machtübernahme« mit
einer vermutlich von Thomas Mann geprägten Formulierung als »innere
Emigration« bezeichnete. Ihre Kennzeichen sind geistige und, soweit
möglich, auch organisatorische und räumliche Distanzierung von der
»Bewegung«; politische Zurückhaltung; Hinwendung zu Natur und Kunst;
Tendenz zum »einfachen Leben«; Pflege politisch unbelasteter
Freundschaften oder ›Ausklammerung‹ politischer Aspekte; Reduzierung
der Kommunikation auf einen engen Kreis von Vertrauten; Beschränkung
der Publikationstätigkeit auf politisch Unverfängliches oder Tarnung des
Politischen durch Kalligraphie oder Sklavensprache. Alle diese Züge sind
bei Jünger zu beobachten, wenn auch nicht in Reinkultur. Mit seinen
Kriegsbüchern, mit dem Arbeiter und dem Essayband Blätter und Steine, der
ja auch die Totale Mobilmachung enthielt, blieb er auch in diesen Jahren als
militärisch-politischer Schriftsteller präsent und wirksam. Es gab gleichsam
zwei Jünger: den früheren, der im »Dritten Reich« problemlos verlegt
werden konnte, der von manchen NS-Behörden geschätzt wurde und
geradezu NS-konform wirkte; und den späteren, der öffentlich auf Distanz
zum NS-Regime gegangen war. Vielleicht nicht demonstrativ genug. Der
deutsch-französische Schriftsteller Joseph Breitbach, mit dem Jünger später
freundschaftlichen Kontakt hatte, schrieb ihm am 19. November 1951, er
müsse sich doch fragen, ob er damals angesichts der »Fehlwirkung« seiner
Ideen sich nicht hätte veranlaßt fühlen müssen, Hitler eine »eklatante, der
ganzen Nation, und nicht nur den Eingeweihten hörbare Absage« zu erteilen.
Für Goslar hatte Jünger sich vorgenommen, die Entomologie, die er bis
dahin nur dilettantisch betrieben hatte, gründlicher zu erlernen. So nahm er
Verbindung zu einem ortsansässigen Entomologen und Botaniker auf, dem
schon erwähnten Heeresfachschuldirektor Wilhelm Jacobs oder »Rektor«
Jacobs, wie Jünger ihn in seinen Aufzeichnungen meist nennt, um dem
disziplinierten Charakter und distanzierten Auftreten dieses schon über
siebzigjährigen Herrn gerecht zu werden. Mit ihm war Jünger im ersten
Goslarer Frühling fast jeden Nachmittag unterwegs; von ihm erlernte er die
Tricks der »subtilen Jagden«: die Techniken, mit denen man die begehrten
Käfer allenthalben aufspüren und aufgreifen konnte, ebenso die Kunst des
Präparierens und Bestimmens. Unter der Überschrift »Goslar am Harz« hat
Jünger den Umgang mit dem »Rektor« in den 1967 erschienenen Subtilen
Jagden ausführlich geschildert und dabei auch deutlich gemacht, was die
Entomologie nun für ihn bedeutete: Entfernung von der Politik und
Gesprächsraum jenseits von Gesinnungsfragen. Noch mehr als zuvor begriff
Jünger seine entomologische Passion auch als Mittel der Tröstung über die
Widrigkeiten des Lebens und der Stabilisierung des Ichs in »turbulenten
Zeiten« (10, 160 – 175).
Unterbrochen wurde der Goslarer Alltag durch Ausflüge in die
Umgebung, durch gelegentliche Aufenthalte in Berlin, durch Besuche bei
den Eltern in Leisnig, durch Sommerurlaube auf Sylt (1934) und in
Timmendorfer Strand (1936), im Sommer 1935 durch einen fast
zweimonatigen »Vorstoß nach Norden« (6, 80): eine Schiffsreise nach
Mandalen im norwegischen Romsdalsfjord, die Jünger zusammen mit
seinem philosophischen Mentor und Freund Hugo Fischer unternahm. Die
Gegend von Mandalen galt als Künstlerkolonie. Jünger und Fischer lebten
dort vom 15. Juli bis zum 23. August bei dem deutschnorwegischen Arzt
Johann Heinrich Parow und seiner Frau in dem auf einer Landenge
gelegenen Dorf Eidsbygda und verbrachten ihre Zeit vorzugsweise mit
»Faulenzen« (6, 46), Fischen, Umherstreifen und Lesen. Fischer war
immerhin auch mit Exzerpten für ein neues Buch beschäftigt, vermutlich
»Lenin, Macchiavell des Ostens«, eine Abhandlung, die 1936 im Satz
vorlag, aber nicht gedruckt werden durfte, weil das
Reichspropagandaministerium ihr Erscheinen für »inopportun« hielt. Jünger
berichtete über den Aufenthalt in Eidsbygda alle paar Tage in langen Briefen
an Friedrich Georg, die später als eine Art Reisejournal gedruckt wurden:
auszugsweise im April 1939 in der Frankfurter Zeitung, komplett 1943 unter
dem Titel Myrdun als »Feldausgabe für die Soldaten im Bereich des
Wehrmachtsbefehlshabers in Norwegen«. Myrdun – der Titel bedeutet
»Moordaune« und meint das Wollgras, das in norwegischen Hochmooren
wächst – ist allerdings keine Mobilisierungsschrift, sondern das Gegenteil
davon: ein hellblau gebundenes Büchlein, das sich fast ganz auf die
Schilderung der Natur und des »einfachen Lebens« (durchaus im Sinne von
Ernst Wiecherts gleichnamigem Roman) konzentriert, kaum einmal auf die
Gespräche mit dem philosophischen Begleiter und auf dessen Studien
eingeht. Nur zu Beginn findet sich eine kleine Reflexion auf die politischen
Verhältnisse. Über die Ankunft in Eidsbygda schrieb Jünger:
Nachdem wir einige Einkäufe gemacht und Kaffee getrunken
hatten, fuhren wir mit einem Motorboot in die Fjord- und
Waldlandschaft hinein. Bald waren wir im besten Gespräch
[mit den »resoluten« Gastgebern], und ich dachte mir dabei,
daß in dem gleichen Maße, in dem sich die Staaten
konzentrierten und in dem ihre Ansprüche an den Einzelnen
sich verschärften, auch bestimmte Gegengewichte sich
auslösen. Der Mensch wird auf Verhältnisse verwiesen, die
ihm seit Urzeiten eigentümlich sind, wie auf den
Familienverband im sizilianischen Sinne, auf die
Gastfreundschaft, das Asyl und den Tauschhandel, und ich
möchte eine Zukunft prophezeien, in der auch der Räuber
seine Wiederauferstehung erlebt. (6, 44 = Myr, 16f.)
Sollte Jünger von fern doch an Emigration oder Vertreibung gedacht haben?
Auszuschließen ist es nicht, und Fischer ist 1938 diesen Weg gegangen,
indem er sich – nach weiteren Besuchen in Mandalen – »zur
Wiederherstellung seiner Gesundheit« in Leipzig von seinen Lehrpflichten
entbinden ließ, mitsamt seiner Familie nach Norwegen übersiedelte und an
einem neu gegründeten »Institut für Gesellschaftsforschung und
Arbeitslehre« in Oslo eine Dozentenstelle annahm.
Auf der Reise von Goslar nach Hamburg hatten Jünger und Fischer auf
dem in der Lüneburger Heide südlich von Uelzen gelegenen »Brümmerhof«
haltgemacht, einem Anwesen, das dem Hamburger Kaufmann und Mäzen
Alfred Toepfer gehörte. Dieser war ein Förderer von Niekischs
»Widerstandskreis« und hatte damals für längere Zeit den Graphiker und
Maler A[ndreas]. Paul Weber zu Besuch, den Haus-Illustrator des
Widerstand-Verlags, der mit seinen schockierend grotesken Graphiken das
Erscheinungsbild der Zeitschrift wie der Bücher des Verlags prägte. Hier
lernte Jünger auch den Hausherrn kennen, den er während der
Besatzungszeit in Paris wiedertreffen sollte; es war der Beginn einer langen
Freundschaft (vgl. 14, 102 – 130).
Selbstverständlich hielt Jünger in der Goslarer Zeit Kontakt zu seinem
Bruder und zu einigen engeren Bekannten oder Freunden. Mit Friedrich
Georg, Niekisch, Hielscher und Schmitt gab es eine rege Korrespondenz,
desgleichen mit Schlichter, der Berlin ja ebenfalls verlassen hatte und
zunächst in Rottenburg am Neckar, dann in Stuttgart lebte. Einige Briefe
wechselte Jünger auch mit Marcu, der ihm aus dem südfranzösischen Exil
schrieb und ihn über seine Lebensweise und seine Arbeiten informierte.
1933 hatte sich Marcu an Jünger gewandt und ihn gebeten, dafür zu sorgen,
daß ihm seine Bücher, die von der Polizei beschlagnahmt worden waren,
überstellt würden; der größte Teil wurde tatsächlich freigegeben, doch ist
nicht sicher, welchen Anteil Jünger daran hatte. 1934 sandte Marcu ihm sein
jüngstes historisches, thematisch aber aktuelles Buch Die Vertreibung der
Juden aus Spanien, das gerade im Amsterdamer Exil-Verlag Querido
erschienen war. In einem Brief an Friedrich Georg vom 11. März 1934
bemerkte Jünger dazu:
Der wesentliche Gedanke liegt darin, daß in Zeiten der
Verfolgung die jüdische Orthodoxie ihre Kraftquellen
offenbart. Die Juden sind und bleiben eine der sonderbarsten
Erscheinungen auf dieser höchst sonderbaren Welt – immer
dieselben in ihren feinen Instinkten und in ihrer groben
Instinktlosigkeit, die sie jetzt erst wieder die einfache
Tatsache verkennen ließ, daß im preußischen Staat und dem
»Suum cuique« ihre Sicherheit beruhte, und in der
Demokratie ihre Gefahr.
Der Kontakt zu den Berliner Freunden war nicht auf Briefe und Telefonate
beschränkt. Friedrich Georg war mehrfach zu Besuch in Goslar und blieb
mitunter einige Wochen. Mehrfach kamen auch Hugo Fischer und Carl
Schmitt, mindestens einmal Hielscher, Niekisch, Bronnen und Roßkopf, um
nur die Namen jener Bekannten zu nennen, mit denen Jünger in den Berliner
Jahren intensiveren Umgang hatte. Daneben stellten sich, wie den
Briefwechseln zu entnehmen ist, auch andere Besucher ein, und zwar in
solcher Vielzahl, daß Jünger am 3. März 1937 aus Überlingen an Niekisch
schrieb, er sei von Goslar auch weggezogen, weil ihm »der Betrieb der
Durchreisenden allmählich zu bunt« geworden sei.
Die kleinen Zusammenstöße mit NS-Organen ließen in der Goslarer Zeit
nach. Einmal, im Juli 1936, mußte Jünger der vom »Reichs-Jugend-
Pressedienst« ausgestreuten Nachricht entgegentreten, daß er bereit sei, in
Lagern der HJ, des BDM und des »Jungvolks« zu lesen. Ob es sich bei
dieser Nachricht um ein dreistes Propagandastück oder um einen plumpen
Vereinnahmungsversuch handelte, sei dahingestellt. Jünger, der von nichts
wußte, las die Meldung in der Frankfurter Zeitung, ließ sie dementieren und
unterrichtete, wie aus einem Brief vom 8. Juli 1936 zu ersehen ist, auch
seine Bekannten. Nach wie vor wollte er sicherstellen, daß seine Distanz
zum NS-Regime deutlich und bekannt war. Im Sommer 1936 wurde Jünger
– wie auch sein Bruder Friedrich Georg – nach einer negativen Einschätzung
durch die »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« eine
Zeitlang von der Gestapo observiert. Ziel war es, herauszufinden, ob Jünger
»für Lesungen aus eigenen Werken herangezogen« werden könne. Der
Befund der Gestapo lautete, daß dies durchaus möglich sei, da Jünger »in
den letzten Jahren politisch nicht mehr in Erscheinung getreten« sei, und das
»Kulturpolitische Archiv«, das die Observierung veranlaßt hatte, fügte dem
hinzu, daß es sich diesen Befund »bei der Bedeutung Jüngers und angesichts
des Widerhalls, den insbesondere sein Buch ›In Stahlgewittern‹ heute wie z.
Zt. des Erscheinens findet«, zu eigen mache. Verhandlungen mit Jünger
scheint es aber nicht gegeben zu haben, und eine Lesung schon gar nicht.
Mindestens zweimal sah sich Jünger während der Goslarer Zeit veranlaßt,
bei NS-Organen für Bekannte einzutreten. Der erste Fall war der des
Botanikers Friedrich Merkenschlager, der von 1927 bis 1933 Leiter des
botanischen Labors an der Biologischen Reichsanstalt für Land- und
Forstwirtschaft in Berlin-Dahlem war, dem Kreis um Niekisch angehörte
und um 1930 mit einer Rassentheorie hervortrat, die mit der
nationalsozialistischen Rassenlehre kollidierte, insofern sie die rassische
Mischung der Deutschen betonte und gerade auf sie den besonderen
Charakter und Wert der Deutschen zurückführte. Im Herbst 1933 wurde
Merkenschlager entlassen, doch kam es zu einer Untersuchung seines Falls,
in deren Rahmen Jünger von der NSDAP/»Abteilung zur Wahrung der
Berufsmoral« zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde. Jünger stellte sich
völlig auf die Seite von Merkenschlager, indem er mit einem Schreiben vom
27. Juni 1934 erklärte:
Den besonderen Wert seiner Rassenauffassung erblicke ich
darin, daß sie die Mannigfaltigkeit der in unserem
Volkskörper ruhenden Anlagen betont und die geheimen
Beziehungen bloßlegt, die die Eigenart der Rassen zu den
Formen der menschlichen Aktivität besitzt, so zum Kriege,
zur Jagd oder zum Ackerbau. Diese Anschauungen bewegen
sich auf der Linie der besten deutschen Tradition, wie sie in
den Ideen Herders und seines Schülers Klemm vorgezeichnet
ist, und wie sie in dieser Tiefe im ganzen ferneren Verlaufe
des 19. Jahrhunderts nicht mehr zum Ausdruck kommt.
Das war nicht nur mutig, sondern geradezu frech, insofern die
nationalsozialistische Rassenlehre ja auf den Rassentheorien des 19.
Jahrhunderts basierte. Aber Jünger durfte hoffen, daß das »Hohe
Inquisitionstribunal«, wie er bei der Übersendung einer Kopie seiner
Stellungnahme an Carl Schmitt schrieb, sich als nicht betroffen fühlen
würde, und im übrigen mochte er darauf vertrauen, daß die Berufung auf die
Autorität Herders ihre schützende Wirkung nicht verfehlen würde.
Der zweite Fall war der des Maler-Freunds Rudolf Schlichter, dessen
autobiographische Schriften Das widerspenstige Fleisch (1932) und Tönerne
Füße (1933) vom nationalsozialistischen »Kampfbund für deutsche Kultur e.
V.« als »pervers-erotische Selbstdarstellungen« verurteilt und auf die
»Ausmerz«-Listen für »öffentliche Büchereien und gewerbliche
Leihbüchereien« gesetzt worden waren. Nun teilte ihm der Präsident der
Reichsschrifttumskammer mit einem Schreiben vom 1. Juni 1935 mit, daß
durch diese Schriften seine »charakterliche Eignung für einen
kulturschöpferischen Beruf« in Frage gestellt werde, was nichts anderes
bedeutete, als daß Schlichter der Ausschluß aus der
»Reichsschrifttumskammer« und damit das Berufsverbot angedroht wurde.
Er durfte dagegen allerdings eine Stellungnahme und »Empfehlungen« von
Ernst Jünger und Ernst von Salomon einreichen, und Jünger war sogleich
bereit, ein entsprechendes Schreiben aufzusetzen. Es datiert vom 25. Juni
1935 und war, wie Jünger in einem Begleitschreiben an Schlichter selbst
bemerkte, »auf eine mittlere Intelligenz zugeschnitten«. Im übrigen
verteidigte er seinen Maler-Freund, indem er die Fakten, die Schlichter
vorgeworfen wurden, nicht bestritt, sondern anders beurteilte: Er
konzedierte, daß »das Geschlechtliche« in Schlichters Büchern »mit Freiheit
und sogar mit Wildheit behandelt« wurde, wertete dies aber nicht als
Perversion, sondern als Ausdruck einer schmerzlichen Erfahrung und führte
die Verbote, mit denen Schlichters Bücher belegt worden waren, darauf
zurück, daß in diesem Bereich immer noch der »Bürger« herrsche.
Ähnlich in der Frage des deutschen Charakters von Schlichters Kunst:
Schlichter sei zwar durch den Kommunismus und »alle Zersetzungsprozesse
der Großstadt hindurchgegangen«, dann aber zum »Schilderer der
schwäbischen Wälder und Berge« geworden und habe dadurch bewiesen,
daß er »die Verbindung mit der Erde« gehalten habe und »Deutscher aus
Substanz« sei. In beiden Fällen wurde nicht nur Schlichter verteidigt,
sondern zugleich die nationalsozialistische Bewertung von Schlichters Kunst
der Kritik unterzogen, insofern implizit gesagt wurde, daß sie noch in der
bürgerlichen Moral befangen und zudem unfähig sei, substanzielles
Deutschtum zu erkennen. Interessant wäre es, zu wissen, ob jene »mittlere
Intelligenz«, für die Jüngers Schreiben berechnet war, dies verstanden hat
und ob, wie Schlichter hoffte, die »Blubosäfte«, also die Blut- und Boden-
Säfte, einmal in Aufruhr gerieten. Geholfen hat Jüngers Schreiben dem
Schriftsteller Schlichter nicht: Am 1. Oktober 1935 wurde er aus dem
»Reichsverband Deutscher Schriftsteller« wie aus der
»Reichsschrifttumskammer« ausgeschlossen. Als Autor konnte Schlichter
fortan nicht mehr tätig sein, und seine Bücher blieben geächtet. Zudem fiel
davon ein Schatten auf seine Bilder. Nicht nur daß sie bei Wettbewerben und
Preisverleihungen übergangen wurden; Anfang September 1936 wurde sein
1935 entstandenes Gemälde An die Schönheit, das eine nackt liegende Frau
zeigt, beim Rücktransport von einer Ausstellung in Schlichters Wohnung auf
gezielte Weise beschädigt: Ein unbekannter Täter durchstach die Verpackung
mit einem Messer und brachte der abgebildeten Frau, wie Schlichter auch
Jünger wissen ließ, »an der Oberschenkelpartie einen zirka 15 cm langen Riß
bei«.
Zu den Bekannten Jüngers, die im »Dritten Reich« unter Druck gerieten,
gehörte auch Ernst Niekisch, der Hitler 1932 in einem scharfen Pamphlet
»ein deutsches Verhängnis« genannt und in seiner Wochenzeitung
Widerstand mehrfach polemische Artikel gegen den Nationalsozialismus
publiziert hatte. Im März 1933 wurde er nachts von der SA festgenommen,
aber nach einigen Stunden unversehrt wieder freigelassen. Die Aktion sollte
vermutlich eine Warnung sein. Niekisch war allerdings nicht bereit, seine
kritische Haltung gegenüber dem NS-Regime ganz zu verheimlichen. Er
versuchte lediglich, sie sprachlich so zu tarnen, daß es nicht allzu einfach
war, ihn anzugreifen. So gelang es ihm immer wieder, massiv kritische
Nachrichten – etwa als Zitate ausländischer Zeitungen – und
Meinungsartikel zu publizieren, und er fand damit Anklang: Die Auflage des
Widerstands stieg im Verlauf des Jahres 1933 um ein Drittel von etwa 3000
auf rund 4000 Exemplare. Im Verlauf des folgenden Jahrs fand die Gestapo
dann aber doch, daß Niekischs »Miesmacherei« ein Ende gesetzt werden
müsse, und am 19./20. Dezember 1934 erfolgte das Verbot des Widerstands.
Die Nachricht erreichte rasch auch Jünger, der sich sofort mit Niekisch
solidarisch erklärte. In einem Brief vom 23. Dezember an Niekisch,
bedauerte er auf ostentative – und mithin verwendbare – Weise das Verbot
der Zeitschrift und schloß mit den Sätzen: »Ich bitte Sie daher, sich darüber,
daß mir aus Ihrer Angelegenheit Unannehmlichkeiten erwachsen könnten,
keine Gedanken zu machen. Ich bitte Sie vielmehr, sich in jedem Falle auf
mich zu berufen, in dem Ihnen meine Unterstützung von Wert erscheint.« Ob
Niekisch von diesem Angebot Gebrauch machen konnte, ist nicht bekannt.
Der Widerstand blieb verboten, Niekisch indessen unbehelligt. In den
nächsten Jahren konnte er durch ganz Europa reisen und seinen neuen
»Widerstandskreis« aufbauen, der nun Widerstand im engeren Sinn leisten
wollte. Auch Jünger spielte hier eine Rolle, wenn auch nur eine periphere. In
seiner Autobiographie erwähnt Niekisch zwei Besuche in Goslar, die mit
konspirativen Treffen verbunden gewesen sein sollen, und im September
1947 rühmte er in einem Brief an seinen damaligen Assistenten Jünger
dafür, daß er den Mut hatte, seine Wohnung für diese Treffen zur Verfügung
zu stellen.
Während der Goslarer Jahre bekam auch Jüngers »compère« Carl Schmitt,
der »Kronjurist des Dritten Reichs«, zu spüren, daß er in sehr unsicheren
Verhältnissen lebte. Er war zu hohen Ehren aufgestiegen und übte in der
juristischen Sphäre einflußreiche Funktionen aus, aber es gab auch
nationalsozialistische Kreise, die nicht vergessen hatten, daß Schmitt sich
noch kurz vor der »Machtergreifung« kritisch über die NSDAP geäußert
hatte, und ihm mißtrauten. Im Verlauf des Jahres 1936 erfuhr Schmitt
deswegen immer wieder Behinderungen, und zudem wurde er von der SS in
der Zeitschrift Das Schwarze Korps scharf angegriffen: Er sei kein
überzeugter Nationalsozialist, sondern nur ein karrieresüchtiger Opportunist;
sein Antisemitismus sei nur ein Versuch, seine früheren Verbindungen zu
Juden zu verschleiern; immer noch sei er ein Werkzeug des politischen
Katholizismus und der Vertreter eines Staatsabsolutismus, der einer
»Bewegung« wie dem Nationalsozialismus, die den Staat auflösen und in
sich aufnehmen wolle, feindlich gegenüberstehe. Ende 1936 mußte Schmitt
seine politischen Ämter aufgeben und erhielt eine Art Reiseverbot, das erst
1941 gelockert wurde. Er war »kaltgestellt« und konnte froh sein, daß er –
dank der Protektion Görings – seinen Lehrstuhl behalten durfte und nicht
weiter angegangen wurde.
Die Schikanen und Unrechtshandlungen, denen nicht wenige von Jüngers
Bekannten ausgesetzt waren, hätten nicht nur Jüngers Blick auf das »Dritte
Reich«, sondern auch auf die vorausgehende Zeit verändern müssen.
Schlichter schrieb ihm, nachdem – wie oben erwähnt – sein Bild An die
Schönheit von einem Unbekannten lädiert worden war, am 10. September
1936, daß der Typus des anonymen Täters »heute geradezu gesetzlich
geschützt« sei, »was in der vielverlästerten liberalistischen Ära sicher nicht
der Fall gewesen wäre«. Jünger, der sich als Verächter der »liberalistischen«
oder bürgerlichen und rechtsstaatlichen »Ära« durchaus angesprochen
fühlen mußte, antwortete darauf nicht, sei es, weil er die Auseinandersetzung
scheute, sei es, weil er schon in der Vorbereitung seiner Südamerika-Reise
begriffen war. An seiner Stelle antwortete Gretha Jünger bereits am 11.
September mit einem Brief, an dessen Ende sie konzedierte, daß die früheren
Zeiten im Vergleich mit den gegenwärtigen Verhältnissen »Oasen« gewesen
seien, dem aber hinzufügte, daß sie über die zwischenzeitlich gemachten
Erfahrungen keineswegs »böse« sei. Dies entsprach durchaus der Ansicht
des »Gebieters«, wie Gretha ihren Gatten ja gerne nannte. Jüngers Briefe aus
den Jahren 1935/36 zeigen, daß er die bürgerliche Gesellschaftsordnung
nach wie vor als untergangsreif betrachtete, auch wenn er daran, wie er am
8. April 1936 an Friedrich Georg schrieb, »weder Behagen noch
Mißbehagen« mehr haben mochte. Eine Rückkehr zur parlamentarischen
Demokratie hielt er für unmöglich und wahrscheinlich auch nicht für
erstrebenswert. Das Leben in der Diktatur schreckte ihn nicht; vielmehr
stellte er in demselben Brief unter Verweis auf die diktatorischen Phasen der
römischen Geschichte fest:
Auch unter solchen Verhältnissen kann man leben; auch hier
kann im engsten Kreise Kunst, Wissenschaft und hohes
Menschentum gedeihen. Man wird das umso höher zu
schätzen wissen, je tiefer man der Anarchie ins Auge sah.
Allmählich leuchtet uns wieder ein, was selbst ein schlechter
Cäsar für das Imperium bedeutete.
Es scheint, daß Jünger die Diktatur als Zeit der heroischen Bewährung
betrachtete. Als Schriftsteller fühlte er sich nicht beengt. Gegenüber
Niekisch bemerkte er in einem Brief vom 8. Juni 1934: »Nichts ist dem Stile
förderlicher als die Zensur.« Unter den Bedingungen der Diktatur kam es
»beim Schreiben der Wahrheit«, um Brechts Postulat zu zitieren, darauf an,
jenen nuancierten Ton zu finden, der die Publikation regimekritischer oder
widerständiger Schriften ermöglichte, ohne den Autor und die Leserschaft zu
gefährden. Im übrigen stellte Jünger sich mit einer merkwürdigen Mischung
aus Lebensverachtung und Untergangslust darauf ein, einem großen
Destruktionsprozeß unterworfen zu sein: »Unser großes Thema«, so schrieb
er am 17. Dezember 1935 an Friedrich Georg, »ist die Haltung in einem
Raum, den die Vernichtung regiert.«
Jüngers Heroismus war freilich keiner der kühnen und demonstrativen,
aber letztlich fruchtlosen Tat. Gegenüber praktischen Aktivitäten hielt er sich
so weit zurück, daß er bis zum 20. Juli 1944 nie in Verdacht geriet. Die
Devise der Goslarer Zeit hieß »Rückzug«, und Jünger hat sie in einem Brief,
den er am 29. Oktober 1935 an den Goslarer Hausfreund Friedrich
Lindemann schrieb, als eine Komponente seines Wesens ausführlich
reflektiert. Lindemann, ein passionierter Astrologe, hatte Jünger hinsichtlich
seines Horoskops befragt, und der unter dem Zeichen des Widders geborene
Jünger antwortete, daß auch das Zeichen des Krebses – unter dem er
vermutlich gezeugt worden war – einen »sehr substantiellen Einfluß« auf ihn
ausübe, nämlich hemmend wirke, ihn oft zum Rückzug zwinge, dann aber
auch begünstige:
Der hemmende Einfluß dieses Zeichens wird mir deutlich bei
sehr verschiedenen Gelegenheiten, so beim Denken, Sprechen
und Entschließen, notwendigerweise also auch bei der
Aktion. Sehr auffällig ist auch ein bedenkliches Zögern und
Zaudern in Lagen, in denen es zuzugreifen gilt – die
ärgerliche Folge ist die verpaßte Gelegenheit. Neben diesen
kleinen Behinderungen gibt es auch stärkere, die sich darin
ausdrücken, daß ich zuweilen eine bedeutende Position
räumen muß, die ich bereits für sicher hielt. Diese Bewegung
ist jedoch zum Glück nicht lediglich negativer Natur; sie
bringt auch die günstigen Dinge wieder zurück. Hier gleiche
ich einem Schiff, das zuweilen strandet, aber nicht zerschellt,
sondern durch dieselbe Woge wieder zurückgetragen wird.
[…]
Auf diese Weise erkläre ich mir auch mein Glück im
Kriege, bei dem auffälliger als alles andere der gelungene
Rückzug ist. Sehr oft war ich mit vielen anderen auf einem
Posten, von dem kein Entrinnen mehr möglich schien; eine
starke Kraft zog mich dann glücklich zurück.
Bei allem Narzißmus lag in dieser astrologischen Spekulation ein Stück
Selbsterkenntnis – und allerdings auch eine Legitimierung jenes
Rückzugsverhaltens, das Jünger nun pflegte und das ihm sicher das Leben
gerettet, aber nach dem Ende des »Dritten Reichs« und zumal in den
sechziger und siebziger Jahren auch viel Kritik eingetragen hat. Manche
hätten Jünger gerne als Märtyrer gesehen.
Zu den »günstigen Dingen«, die er durch den Rückzug nach Goslar
wiedererlangte, hat Jünger die Muße für neue literarische Studien und
schriftstellerische Arbeiten gerechnet. Angeregt durch Hugo Fischer, Carl
Schmitt und die Lektüre von Flauberts Roman Die Versuchung des heiligen
Antonius besorgte sich Jünger im März 1934 die neunundsiebzig Bände
umfassende Bibliothek der Kirchenväter, die im Kösel-Verlag erschienen
war, und begann mit der Lektüre; die Verweise auf Augustinus und Origines,
die sich im gleichzeitig entstehenden Essay Über den Schmerz finden,
mögen darauf zurückzuführen sein. Von Schmitt wurde Jünger auch auf zwei
weitere Autoren hingewiesen, mit denen er sich dann intensiv beschäftigte
und die für sein weiteres Denken Bedeutung erlangten. Der eine war der
italienische Historiograph und Philosoph Giovanni Battista Vico, der zu
Beginn des 18. Jahrhunderts ein organologisch-zyklisches Geschichtsmodell
(Aufstieg, Blüte, Verfall und Wiederkehr) entwickelt hatte, ein Konzept, das
spätere Geschichtsphilosophen von Herder über Nietzsche bis Spengler
aufgriffen. Für Jünger – wie für Schmitt – erlangte Vico aber auch dadurch
Bedeutung, daß er nachdrücklich auf den geschichtlichen Erfahrungsgehalt
der Mythen hingewiesen hatte. Jüngers wachsendes Interesse an der
Mythologie und seine sich häufenden Verweise auf mythologische Figuren
dürften nicht zuletzt auch durch Vico inspiriert gewesen sein.
Der andere Autor war der französische, in Deutschland kaum bekannte
Romancier und Essayist Léon Bloy, der von 1846 bis 1917 gelebt hatte.
Durch den Krieg von 1870/71 war Bloy aus einer Phase der existentiellen
Orientierungslosigkeit herausgerissen und, wie bald gesagt wurde, in einen
»intoleranten Katholiken« verwandelt worden: in einen glühenden
Gläubigen und kraß polemischen Kritiker der gottlosen Moderne, in der
Bloy nur noch das Vorspiel der Apokalypse sehen konnte. Die scharfe Kritik
seiner nihilistischen Zeit verbindet Bloy mit seinem Zeitgenossen Nietzsche,
und diese Affinität (neben manchen Differenzen) mag Jünger den Zugang zu
Bloy erleichtert haben. Folgt man seinen eigenen Hinweisen, so sind es vor
allem fünf Momente, die Bloy für ihn bedeutend werden ließen:
(1.) Mehrfach verwies Jünger darauf, daß Bloy sich als »entrepreneur des
démolitions« oder »Abbruchunternehmer« bezeichnet und sich mithin eine
Rolle zugeschrieben habe, die Jünger zeitweilig für notwendig hielt und
selbst ausüben wollte. (2.) Mehrfach zitiert er Bloys Sentenz »Tout ce que
arrive est adorable«/»Alles, was geschieht, ist anbetungswürdig« -: eine an
Nietzsches »amor fati« erinnernde Formel des Einverständnisses mit dem
Lauf der Welt, aus der Jünger in manchen Stunden Trost gezogen haben
mag, die er allerdings auch in Frage stellte. (3.) Mehrfach findet sich bei
Jünger auch der Satz »Dieu se retire«/»Gott zieht sich zurück« mit einem
Verweis auf Bloy. Dies ist zwar irreführend, insofern sich dieser Satz, wie
dem aufschlußreichen Bloy-Porträt von Alexander Pschera zu entnehmen ist,
bei Bloy nicht nachweisen läßt; aber der Hinweis hat insofern Berechtigung,
als Bloy immer wieder von der Abwesenheit Gottes sprach und damit
ebendas meinte, was Nietzsche mit seiner Feststellung »Gott ist tot« gesagt
haben wollte: daß »das Göttliche«, so Pschera, »für den Menschen nicht
mehr sichtbar oder nicht mehr relevant« sei oder, anders gesagt: daß die
Epoche »fundamental« oder »temporär gottlos« sei. (4.) Im Gespräch mit
Gnoli und Volpi bemerkte Jünger 1995, »mindestens zweimal« habe er
Bloys Traktat Le salut par les juifs /Das Heil durch die Juden gelesen: ein
1892 publiziertes Pamphlet, das voller antisemitischer Ausfälle ist, sich aber
gegen den damals in Frankreich herrschenden massiven Antisemitismus
richtet und darauf besteht, daß das Heil von den Juden kommt, weil »das
Blut, welches am Kreuz für die Erlösung des Menschengeschlechtes
vergossen worden ist, und ebenso das, welches unsichtbar im Kelch des
Sakramentes am Altar täglich vergossen wird, auf natürliche und
übernatürliche Weise jüdisches Blut ist – der unendliche Strom hebräischen
Blutes, dessen Quelle in Abraham und dessen Mündung in den fünf Wunden
Christi liegt«. (5.) Bloy, dessen Leben eine einzige Elendsgeschichte
darstellt, hat im Anschluß an den Restaurationsphilosophen Blanc de Saint-
Bonnet eine Vorstellung des menschlichen Lebens entwickelt, in welcher
Leiden und Schmerz eine wichtige und positive Rolle spielen: Sie sind nicht
nur Teil der Imitatio Christi, in der sich jeder Christ zu üben hat, sondern
gehören zur conditio humana, erschließen den Wert des Lebens wie des
Menschseins und eröffnen die Perspektive auf das Absolute. Jünger, der
1934 einen Essay Über den Schmerz vorlegte, wird das mit Interesse gelesen
haben, vermutlich aber erst etwas später. Er bemühte sich zwar im Herbst
1934 um eine Gesamtausgabe der Werke Bloys und begann, wie die Briefe
an Schmitt zeigen, mit dem Lesen; zu einer intensiven Lektüre kam es aber
erst nach 1939. Von da an finden sich in Jüngers Schriften so viele
Bezugnahmen auf Bloy, daß man diesen zu den wichtigsten Anregern und
Gewährsleuten Jüngers zählen muß.
Als Autor hatte Jünger das Glück, mit dem Abenteuerlichen Herzen zur
Hanseatischen Verlagsanstalt (HAVA) gekommen zu sein. Dieses
Unternehmen des »Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands«
(DHV), dessen Geschichte Siegfried Lokatis umsichtig dargestellt hat,
wurde in den Jahren um 1930 zum »institutionellen Rückgrat der
Konservativen Revolution«, kam 1935 unter die Fuchtel der »Deutschen
Arbeitsfront« (DAF) und wurde einerseits – durch Kriegsbelletristik sowie
wehrwissenschaftliche und wehrwirtschaftliche Bücher – zum »Verlag der
›totalen Mobilmachung‹«, andererseits zum »Verlag des ›20. Juli‹«. Damit
ist auch schon angedeutet, warum der Wechsel zur HAVA für Jünger ein
doppelter Glücksfall war: Einerseits vermarktete die HAVA seine
Kriegsbücher, insbesondere die Stahlgewitter im Rahmen ihrer »Deutschen
Hausbücherei« (DHB), in einem beträchtlichen und für den Verfasser sicher
auch finanziell erfreulichen Umfang; andererseits fand er im Lektorat der
HAVA und insbesondere in ihrem Direktor Benno Ziegler eine Mannschaft,
die immer noch Wert auf literarische Qualität legte und bereit war, Jüngers
regimekritischen Kurs publizistisch mitzutragen, wie sie ja auch bereit war,
Werner Bergengruens Roman Der Großtyrann und das Gericht (1935) zu
verlegen, obwohl er als Kritik an den Rechtsbeugungen der Diktatur
verstanden werden konnte und folglich Schwierigkeiten zu befürchten
waren. Aber der HAVA-MANNSCHAFT, die eine seltsame Mischung aus
Regime-Gegnern und Kollaborateuren bildete, gelang es, sich
»Narrenfreiheit« zu verschaffen, wie bald gesagt wurde. In kritischen Fällen
zog einer der Lektoren seine SS-Uniform an und wurde im
Propagandaministerium vorstellig.
Neben der »subtilen Jagd« und der Lektüre widmete sich Jünger im ersten
Goslarer Frühjahr und Sommer der Zusammenstellung und Arrondierung
jenes Sammelbandes, der im Herbst 1934 unter dem Titel Blätter und Steine
erschien. Er umfaßt – neben dem »Vorwort« und dem »Epigrammatischen
Anhang« – sieben essayistische Texte, von denen vier bereits publiziert
waren. Der Titel verweist, so Jünger im »Vorwort«, auf die
Unterschiedlichkeit der Texte: Der poetologische Sizilische Brief sei als ein
»Blatt« zu betrachten, der kriegstheoretische Essay Feuer und Bewegung als
ein »Stein«. Der Band zeigt eine erstaunliche Breite von Interessen und
Schaffensbereichen. Nebeneinander stehen Reisebericht: Dalmatinischer
Aufenthalt, Ästhetisch-Poetologisches: Lob der Vokale, Sizilischer Brief und
Staubdämonen (über Kubin); Kriegstheoretisches: Feuer und Bewegung
sowie Zeitdiagnostisches und Geschichtsprogrammatisches: Die Totale
Mobilmachung und Über den Schmerz. Insgesamt suggeriert das Buch, der
Verfasser verfüge über ein umfassendes und zugleich genaues Welt- und
Geschichtswissen: Er hat ferne Küsten besucht und den Vokalen ihre
elementaren Bedeutungen abgelauscht; er kennt das Bewegungsgesetz wie
das Ziel der Geschichte, nämlich die kriegerische Herstellung der
planetarischen Arbeitsgesellschaft, und er hat im Schmerz den
entscheidenden Prüfstein für alle Wertvorstellungen gefunden.
Der sechzig Druckseiten umfassende Essay Über den Schmerz ist, wie
Jünger selbst im »Vorwort« betont, im Zusammenhang mit der Totalen
Mobilmachung und dem Arbeiter zu sehen. Denn er versucht deutlich zu
machen, daß die Überführung der bürgerlichen Welt mit ihren humanitären
Vorstellungen in die planetarische Arbeitsgesellschaft, die Jünger kommen
sah, mit großen Opfern verbunden sein wird – und folglich ein neues, nach-
bürgerliches und nach-humanitäres Verhältnis zum Schmerz verlangt. Nur
wer das Leben nicht als »maßgebenden Wert« betrachtet, sondern es für ein
Ziel zu opfern vermag, wird in diesem Transformationsprozeß gestaltend
mitwirken können; und nur wer die Geschehnisse wie ein Feldherr
»unberührt von den Ausstrahlungen des Schmerzes und der Leidenschaft«
beobachten kann, wird diesem Prozeß seelisch gewachsen sein (7, 173 und
174). Im Verhältnis zum Schmerz, der zu den »Elementarkräften« gehört
(156), liegt das Geheimnis des menschlichen Werts und der menschlichen
Macht (145). Insbesondere in Zeiten, in denen sich – wie zur Entstehungs-
und Publikationszeit des Essays – der Übergang zu einer anderen Ordnung
vollzieht, ist der Schmerz »der einzige Maßstab, der sichere Aufschlüsse«
über den Wert der Menschen und ihre Bestrebungen verspricht (191). – Man
sieht: Der Essay Über den Schmerz komplettiert Jüngers
›Mobilisierungsschriften‹. Er sagt eine Zeit des forcierten Umbaus der Welt
voraus und empfiehlt den Zeitgenossen, sich durch eine Philosophie des
Schmerzes auf die Opfer und Leiden einzustellen, die damit verbunden sind.
Er ist die Philosophie für die Zeit, in der die großen Planer in Moskau und
Berlin glaubten, durch den Einsatz einiger Hekatomben von Menschen eine
neue Welt in Fünf- oder Zehnjahresfrist schaffen zu können; für die Zeit, in
der man glaubte, mit Völkern experimentieren zu dürfen, und für einen
»Raum, den die Vernichtung regiert«, wie Jünger am 17. Dezember 1935 an
seinen Bruder Friedrich Georg schrieb. Und er verhält sich restlos affirmativ
dazu. Er ist aus der Perspektive des Feldherrn geschrieben und nicht aus der
des leidenden Menschen. Darin hat er eine gewisse Legitimität, insofern
allein schon die materielle Sicherung des Lebens, die Beschaffung von
Nahrung, Bau- und Brennstoffen, Unternehmungen verlangt, bei denen
Menschenopfer einzukalkulieren sind; nicht umsonst lautete die Devise der
Hanse »Navigare necesse est, vivere non«/»Seefahrt tut not, Leben nicht«.
Inakzeptabel sind die Bedenkenlosigkeit und Kälte, mit denen Jünger dem
»vivere non« zustimmt -: als gäbe es nur die Möglichkeit, das
Menschenopfer bedingungslos zu akzeptieren, und nicht auch die
Möglichkeit und Pflicht, unter allen Umständen auf die Vermeidung von
Opfern hinzuwirken. Freilich, Jünger hatte die Feldherrnoptik im Krieg
nicht, und er hat sie auch nicht auf Dauer beansprucht, sondern bald
aufgegeben: Die Erzählung Auf den Marmorklippen (1939) enthält explizite
Widerrufe.
Noch in Berlin hatte Jünger im Sommer 1933 begonnen, seinen zwanzig
Jahre zurückliegenden Ausbruch in die Fremdenlegion, der ihm
zwischenzeitlich oft unangenehm gewesen war, zu thematisieren. In Goslar
griff er diese Arbeit wieder auf, und so entstanden die Afrikanischen Spiele,
die Ende Februar 1936 abgeschlossen wurden und im Herbst bei der
Hanseatischen Verlagsanstalt erschienen. Insofern sie eine Schülergeschichte
sind und den Protest eines jungen Abenteurers und Träumers gegen die
Zwänge der Schule und der bürgerlichen Gesellschaft beschreiben, wurden
sie schon für den ersten Teil der vorliegenden Biographie genutzt. Indessen
müssen sie auch hier bedacht werden, insofern sie nämlich eine implizite
Reflexion auf die Zeit ihrer Entstehung darstellen. Denn Jünger sah sich im
Sommer 1933 wieder in einer Lage, der er sich zu entziehen wünschte. Er
hat dies auch selbst dargelegt, und zwar in einem Schreiben an Paul
Weinreich, den Hauptlektor der HAVA. Es heißt in diesem Brief vom 13.
September 1936, in dem Jünger einige Hinweise für die Verlagsankündigung
der Afrikanischen Spiele geben wollte:
Es ist kein Zufall, daß ich den Stoff erst in diesen Jahren und
nicht bereits in der sogenannten Verfallszeit bearbeitete. Es
spiegelt sich in ihm das Gefühl der Einsamkeit, das den
Einzelnen inmitten der ungeheuren Massen ergreift, und
demgegenüber der Wille zur freien Bewegung im geistigen
und geographischen Raume. Im besonderen gefällt mir die
Amoralität der Haltung, sie hält sich von der Auffassung
jeder der herrschenden Schulen entfernt. Ich begebe mich hier
an meinen anderen Pol, der der totalen Mobilmachung der
Massen entgegengesetzt ist, und den ich in seiner Gegenfigur,
nämlich in der Figur des Partisans noch schärfer
herauszuarbeiten gedenke. In diesem Sinne ist das Büchlein
zeitgemäß; es wird von vielen verstreuten Lesern als ein
Signal begriffen werden, daß Freiheit noch möglich ist.
Das konnte freilich so nicht stehenbleiben. Jünger war ja auch von der
»totalen Mobilmachung« der Welt und der Herausbildung einer tendenziell
totalitären Arbeitsgesellschaft überzeugt. So mußte er sein Bekenntnis zur
Freiheit und zum »Versuch, der strengen Kälte der heute heraufziehenden
technischen Ordnungen zu entfliehen«, notwendigerweise relativieren.
Weiter heißt es im Sinne des »heroischen Realismus«, den Jünger zu Beginn
der dreißiger Jahre entwickelt hatte:
Dieser Versuch [der Ausflucht] stellt sich als utopisch heraus;
wir müssen auf dem gebahnten und vorbestimmten Wege
marschieren, fechten und arbeiten. Dies erfährt jeder auf seine
besondere Art, und auch das Abenteuer stellt keinen Ausweg
dar.
Mithin haben die Afrikanischen Spiele zwei Seiten, die auch aktuelle
Gültigkeit beanspruchen durften: Zum einen waren sie Protest gegen den
stärker werdenden Zwangscharakter der gesellschaftlichen Entwicklung;
zum andern aber waren sie Anerkennung des Tatsächlichen und Bekundung
sowohl der Notwendigkeit als auch des Willens, die gegebenen Umstände
nicht nur auszuhalten, sondern aktiv oder kämpferisch zu bestehen und
produktiv zu nutzen. Dem entsprachen Jüngers Versuch, gerade auch im
»Dritten Reich« ein ›aufrechtes‹ Leben zu führen, wie sein ostentatives
Bemühen um den Ausbau des literarischen Werks.
Hier war Jünger auf zweierlei Weise tätig: Er erweiterte den Bestand
durch neue Texte wie den Essay Über den Schmerz, den Epigrammatischen
Anhang zu Blätter und Steine und eben die Afrikanischen Spiele; zudem
überarbeitete er frühere Werke mit dem Ziel, ihnen die marginalen
Einschreibungen der Entstehungszeit zu nehmen und dafür ihre »Substanz«
herauszustellen, wie Jünger in Briefen aus jener Zeit mehrfach sagte und wie
an der Überarbeitung des Abenteuerlichen Herzens zu beobachten ist. Zu
dieser Profilierung der »Substanz« gehörte bald nach dem Erscheinen der
letzten ›Mobilisierungsschrift‹ Über den Schmerz die Vermeidung der
unmittelbar politischen oder programmatischen Rede. Am 18. Januar 1935
schrieb er an Friedrich Georg: »Das Verbot des ›Widerstandes‹«, von dem ja
immer wieder Einladungen zu politischen Stellungnahmen ausgegangen
waren, »scheint mir, je mehr ich darüber nachdenke, auch seine guten Seiten
zu haben, denn es gibt Dinge, die man auch mit dem Stocke nicht mehr
anrühren soll.« Möglicherweise ist es nicht – oder nicht nur – auf die Zensur,
sondern auf diese Haltung zurückzuführen, daß bei der Neuauflage von
Blätter und Steine im Jahr 1941 der Epigrammatische Anhang sozusagen
»entpolitisiert« wurde; jedenfalls finden sich in ihm die oben zitierten
Epigramme 27 und 44 der Erstausgabe nicht mehr.
Durch seine politische Publizistik und die geschichtsphilosophischen
Passagen des Abenteuerlichen Herzens war Jünger – verständlicherweise –
in den Ruf eines Nihilisten geraten. Dies bekam er im Sommer 1935
mehrfach zu hören und zu lesen. Ein entsprechender Artikel fand sich in der
katholischen Zeitschrift Hochland, ein anderer in der in Brünn
erscheinenden Internationalen Zeitschrift für Theorie des Rechts. Dieser
Artikel des emigrierten Philosophen Karl Löwith (alias Hugo Fiala) galt
zwar primär Carl Schmitt und bezeichnete dessen Dezisionismus als
»aktiven Nihilismus«; aber neben Schmitt wurde Jünger – sehr zu Recht –
als wichtigster Vertreter dieses »aktiven« oder intentionalen Nihilismus
genannt und ausführlich zitiert. Um 1930 hätte Jünger sich damit
wahrscheinlich gebrüstet; jetzt begann es ihn zu stören, und in Briefen an
seinen Bruder Friedrich Georg, an Carl Schmitt, Hugo Fischer, Paul
Weinreich und andere trat er dem entgegen, indem er seine Haltung präziser
zu bestimmen suchte. An den Zürcher Publizisten Hans Barth schrieb er am
20. November 1935, es sei ja doch unmöglich, »absoluter« Nihilist zu sein
(was allerdings den Vorwurf des »aktiven« Nihilismus nicht entkräftet);
vielmehr könne man Nihilist »nur in Beziehung auf einen bestimmten
Zustand« sein, und nur in diesem »verantwortlichen Sinne« habe er sich
mitunter »der Waffe des Nihilismus bedient«. An seinen Bruder schrieb er
am 17. Dezember, daß sein Entschluß, im Raum der Vernichtung »zu stehen
und zu fallen, mit Nihilismus nicht das Mindeste zu schaffen« habe. An
Hugo Fischer schrieb er einen Tag später, daß es notwendig sei, den
Schweizern klarzumachen, »daß wir gerade das Gegenteil von Nihilisten
sind, nämlich die einzigen, die vor dem Nichts nicht zurückweichen und ihm
gegenüber noch in Rüstung sind«. Und schließlich teilte er Niekisch in
einem Brief vom 3. März 1937 mit, daß seine »Stimmung in diesen
Übergangsjahren sich vielleicht als die eines optimistischen Nihilismus
bezeichnen« lasse: also wohl eines temporären Nihilismus, der das Ende des
Werteverfalls bereits kommen sieht.
In die Goslarer Zeit fällt auch eine bemerkenswerte Auseinandersetzung
zwischen Jünger und Schlichter, die Jüngers Persönlichkeit und seine
Kunstvorstellungen betraf. Den Anlaß bot ein in Niekischs Widerstands-
Verlag erschienenes und von Hugo Fischer eingeleitetes Buch, das knapp
hundert »Zeichnungen, Holzschnitte und Gemälde« von A. Paul Weber
enthielt, darunter auch die Schwarz-Weiß-Kopie eines farbigen Ölporträts
Ernst Jüngers von 1935. Dazu bemerkte nun Schlichter, der Jünger bereits
1929 porträtiert hatte, in einem Brief vom 5. Januar 1936:
Das Bild, das Herr Weber von Ihnen malte, hat mich
enttäuscht. Obwohl man es farbig sehen müßte, um ein
endgültiges Urteil darüber abzugeben. Es fehlt im Ausdruck
gerade der Ihnen eigentümliche Charme, man spürt zu wenig
den geistigen Eros, die aggressive Spannung, kurzum Ihre
Bedeutung.
Diese Bemerkung veranlaßte Jünger zu einer ausführlichen Stellungnahme
und zu einer Würdigung Webers, die sich in einem Brief vom 14. Januar
1936 findet. Zunächst einmal verteidigte er Webers Porträt auf eine Weise,
die auch aufschlußreich für sein Selbstverständnis um 1935/36 ist:
Was mein Bild, über das Sie schreiben, betrifft, so muß ich es
als das beste bezeichnen, was bisher besteht – das, was Sie in
Berlin von mir malten, eingeschlossen, denn dieses gibt,
ebenso wie Ihr Porträt von Ernst v. Salomon, einen Zustand,
in dem die geistige Bewegung die Gestaltung allzusehr
überwiegt. Wenn Weber in seinem Bilde auch nur einen Zug,
nämlich den der Melancholie, die mich beim Anblick dieser
Zeit leider häufig befällt, festgehalten hat, so ist das doch eine
Leistung, die ich zu würdigen weiß.
Dem folgen Ausführungen über die Aggressivität von Webers Zeichnungen,
in denen Jünger den »politischen Haß«, den er selber empfand, auf
unvergleichliche Weise wiedergegeben sah, ebenso den Untergang der
bürgerlichen Welt, dessen Darstellung bei Kubin »noch Schmerz« bereitete,
wie Jünger durchaus treffend bemerkte, bei Weber hingegen »schon ein
Gefühl von grausamer Lust« gewährte. In dessen Bildern sah Jünger einen
»höchst gefährlichen Raum, der von einem unverletzlichen Auge gespiegelt«
wird. Diese Charakterisierung von Webers Kunst veranlaßte nun wiederum
Schlichter zu einer Apologie Webers, die einige grundsätzlich wichtige, auch
für Jünger hochgradig bedeutsame Sätze über das Verhältnis von Kunst und
Schmerz enthält. Es heißt in diesem Schreiben vom 2. Februar 1936:
Was Sie bei Weber als einen weiteren wichtigen Schritt [über
Kubin hinaus] bezeichnen, nämlich die Abwesenheit des
Schmerzes, möchte ich zu Webers Gunsten als nicht
zutreffend annehmen, denn es ist mir schlechterdings keine
Kunst vorstellbar, die ohne den gewaltigen Antrieb dieser
stärksten Emotion überhaupt möglich wäre. Gerade dies
unterscheidet echte Kunst von kalter Artistik, die nur
reproduzierend ist. Pathos im ursprünglichsten Sinn des
Wortes ist Leidensfähigkeit überhaupt. Eine Kunst, die über
das hinweg täuschen will, ist eine Täuschekunst. Auch die
Lust ist ein Korrelat des Schmerzes. Und die grausame Lust,
die Sie an Stelle des Schmerzes bei Weber sehen, erscheint
mir als der Versuch, den Schmerz nicht wahrhaben zu
müssen.
Wie Jünger diese Sätze las, ist nicht bekannt. Der Verfasser des Essays Über
den Schmerz, der nicht von der Empfindung, sondern von der Unterdrückung
des Schmerzes redet, hat auf diese konträre Schmerzphilosophie nicht
geantwortet. Begreiflicherweise! Sie stellte seinen ethischen Habitus und
seine ästhetische Programmatik komplett in Frage, ebenso die Dignität
seines literarischen Schaffens, insofern es – wie das »Vorwort« von Blätter
und Steine betont – um kalte Sachlichkeit bemüht war. Freilich -: Wie
Schlichter Webers Arbeiten als Ausdruck des unterdrückten oder in
»grausame Lust« verwandelten Schmerzes interpretierte, so kann man auch
Jüngers Werk als heroisch drapierte Schmerzkunst lesen.
Was Jünger bewog, Goslar zu verlassen, ist nicht klar ersichtlich. Die
schiere Zahl der Besucher, über die er gelegentlich klagte, kann es nicht
gewesen sein; dagegen hätte er sich leicht schützen können. Aber vielleicht
fühlte er sich noch zu sehr im Bannkreis Berlins und wollte prinzipiell
weniger belangbar sein. Jedenfalls entwickelte er im Sommer 1936 die
Absicht, im folgenden Frühjahr nach Süddeutschland überzusiedeln; aus
dem Briefwechsel mit Schlichter ist zu ersehen, daß zunächst Tübingen in
Erwägung gezogen wurde, dann, nach Schlichters Warnung vor der
kleinbürgerlichen Enge der schwäbischen Universitätsstadt, der Bodensee.
Diese Wahl ist überraschend, aber nicht zufällig. Jünger hatte kurz nach dem
Erscheinen des Arbeiters im Herbst 1932 den in Überlingen ansässigen
Kulturphilosophen Leopold Ziegler aufgesucht, um mit ihm ein Gespräch
über den Arbeiter wie über den Gestaltwandel der Götter zu führen (19,
611). Bei diesem Besuch hatte er offensichtlich die Schönheit des Sees und
die günstige Lage Überlingens schätzen gelernt; im übrigen liebte er das
mediterrane Klima. Der Rest blieb Gretha überlassen: Sie reiste an den
Bodensee und suchte dort ein Haus, während Jünger – am 19. Oktober 1936
– eine Reise antrat, von der er nicht mehr nach Goslar zurückkehrte, sondern
nach Überlingen.
Diese Reise, die ziemlich genau zwei Monate dauerte und am 15.
Dezember 1936 zu Ende ging, führte von Hamburg mit einem
Passagierschiff über die Azoreninsel Sao Miguel nach Pará (Belem) im
Amazonas-Delta und von dort über Pernambuco (Recife) nach Rio de
Janeiro, dann wieder zurück nach Bahia (Salvador) und von dort an den
Inseln Fernando Noranha und Sao Paulo vorbei durch die Kapverdischen
Inseln zunächst nach Palma/Gran Canaria, dann nach Casablanca und
schließlich durch den Golf von Biscaya und den Ärmelkanal zurück nach
Hamburg. Die vielfältigen Eindrücke an Bord, vor allem aber während der
Stadtbesichtigungen und Exkursionen ins Umland, sind in einem
Reisetagebuch registriert, das 1947 unter dem Titel Atlantische Fahrt
publiziert wurde (6, 109 – 183), und zwar im Rahmen der
»Kriegsgefangenenhilfe des Weltbundes der Christlichen Vereine Junger
Männer«. Eingebunden in die Schilderung des Lebens an Bord, der Hafen-
und Stadtbesichtigungen, der Besuche von Gärten und Märkten, der
Begegnungen mit Einheimischen und Touristen sowie der botanischen und
entomologischen Beutestücke, finden sich hier das Verlangen nach Freiheit
und zugleich das Gefühl, in Wahrheit auf einer Galeere zu leben oder wie
Melvilles Kapitän Benito Cereno als Geisel auf dem eigenen Schiff gehalten
zu werden (6, 167f.). Ob dies den Empfindungen und Reflexionen der
Reisezeit entspricht, ist allerdings eine andere Frage; auf die
Spiegelungsfigur des Benito Cereno wurde Jünger von Carl Schmitt erst im
Februar 1941 hingewiesen, und in der handschriftlichen Fassung des
Reisetagebuchs ist von Benito Cereno keine Rede.

Überlingen

Während Jünger zweimal den Atlantik überquerte, hatte Gretha ein Haus in
Überlingen gemietet und die Übersiedlung organisiert. Das Haus war von
dem schwäbischen Arzt Franz Schranz, der im sauerländischen
Siedlinghausen residierte und häufig Persönlichkeiten des konservativen
Spektrums zu sich einlud, vermittelt worden. Der Umzug von Goslar nach
Überlingen fand am 9. Dezember 1936 statt, eine Woche bevor Jünger in
Hamburg von Bord ging. Als er dann – nach einem Besuch bei den Eltern in
Leisnig – in Überlingen ankam, konnte er ein renoviertes und eingeräumtes
Haus betreten. Es lag etwas abseits in einem Weinberg (Weinbergstraße 11)
und war ein zweistöckiges »Schweizerhaus«, wie Gretha es bezeichnete,
also ein Gebäude im Stil der Bodenseelandschaft, mit einer breiten
Fensterfront und einer breiten Veranda an der südlichen Giebelseite, die dem
See zugekehrt war und einen sehr schönen Ausblick bot; Jünger konnte von
seinem Arbeitszimmer aus über die Insel Mainau hinweg auf die Schweizer
Bergketten blicken. Zudem war das Haus von einem Garten umgeben, den
Jünger mit großer Freude zu gestalten begann; in den Briefen an den Bruder
Friedrich Georg erwähnte er mitunter die Gartenarbeit und nannte die frisch
eingepflanzten Blumen. Und schließlich war das »Weinberghaus«, wie es
bald hieß, so geräumig, daß auch für den Bruder ein kleines Zimmer mit
Blick nach Süden eingerichtet werden konnte. Friedrich Georg Jünger hat
1947 einen Gedichtband unter dem Titel Das Weinberghaus veröffentlicht
und hat das Haus darin auch charakterisiert:
Gehst du längs der Uferhügel,
wirst das Haus am Hang du finden,
Wo sich seitwärts an dem Weinberg
Wiesenwege höher winden.

Wohlgeschützt liegt es am Hügel,


Der dem scharfen Nordwind wehrte,
Freien Blick hat es nach Süden,
Licht, so viel das Herz begehrte.

Licht von jedem graden Strahle,


Der vom Himmel niederbrannte,
Licht auch von dem Widerscheine,
Den das helle Wasser sandte.
Offen immer steht die Pforte,
Und der Freund weiß, der vertraute,
An der Treppe, feingefiedert,
Grünt das Jahr hindurch die Raute.
Wer durch Tor und Tür hier eintrat,
Jedem Freunde ein Gedenken!
Möge ihn das Jahr mit Licht und
Hellen Tagen reich beschenken.
Allerdings hatte das »Weinberghaus« auch Nachteile: Es war feucht, wie
man erst nach dem Einzug bemerkte, und es schien von einem Spuk
heimgesucht zu sein. In den ersten Wochen will Gretha häufig einen Geist
durchs Haus haben gehen hören, ebenso soll es nach Mitternacht des öfteren
eine Stunde lang kräftig gepoltert haben – bis Gretha eines Tages, als der
Geist wieder die Bodentreppe herunterstieg, ein Paar Holzpantinen nach ihm
warf und ihn damit vertrieb. In den Silhouetten schildert Gretha dies
humorvoll, aber doch auch mit Anspruch auf Seriosität!
Zum Haushalt gehörten neben Ernst und Gretha sowie den beiden Söhnen
Ernstel und Carl Alexander das Dienstmädchen L[o]uise und oft auch der
Bruder Friedrich Georg. Im September 1937 kam Ernstel allerdings ins
Internat nach Salem, wo er bis Dezember 1941 blieb. Auch entwickelte sich
geselliger Umgang mit Einheimischen. Am 5. März 1938 notierte Gretha in
ihrem Tagebuch: »Fastnacht über toll gefeiert mit den Hexen und dem
Anarchisten. Keine Nacht vor 5 Uhr im Bett.« Mit den »Hexen« waren die
Schwestern Weickhardt gemeint, von denen die eine, Citta, Friedrich Georg
Jüngers Frau wurde. Das Leben am Bodensee gefiel durch »Beschwingtheit,
Anmut und Lebendigkeit unter den Menschen« – so Gretha am 12. Juni
1937. Störend waren nur die »KdF.-Dampfer«: »dichtbesetzt, Pauken und
Trompeten, dicke Bäuche, Strohhüte, wieherndes Gelächter« – so Gretha am
30. Mai 1937 mit dem Zusatz: »Mein Herz weiß nichts von dieser
Volksgemeinschaft!«
Besucher kamen nach Überlingen nur wenige. Zu erwähnen ist Rudolf
Schlichter, der sich zusammen mit seiner Frau im Juli 1937 für einige Tage
in Überlingen aufhielt, um Jünger in seiner neuen, magisch-realistischen
Malweise mit nacktem Oberkörper vor einer heroischen Gebirgslandschaft
zu porträtieren. Es war die Zeit der Münchener Ausstellung »Entartete
Kunst«, in der auch vier graphische Blätter von Schlichter gezeigt wurden.
Eine Porträtzeichnung, die anläßlich des ersten von Schlichter gemalten
Jünger-Porträts um 1929 entstanden war, wurde bei dieser Gelegenheit
beschlagnahmt und ist seitdem verschwunden. Mit dem neuen Porträt war
Jünger selbst im übrigen nur begrenzt glücklich. Am 7. Februar 1940 schrieb
er vom Westwall an Schlichter:
Bezüglich des Bildes, das Sie in Überlingen von mir malten,
bin ich zu der Einsicht gekommen, daß in diesem Lande ein
solches Portrait schlecht möglich ist. Vor allem ist mir der
Gedanke, es so in fremder Hand zu wissen, unangenehm. Ich
würde es daher sehr begrüßen, wenn Sie mich mit einem
Mäntelchen wie auf dem schönen Bild von Speedy mit dem
Monde bekleiden würden, und wie es dem Kostüme –
schwarz mit rotem Futter – entspräche, das ich auf den ersten
Seiten der »Klippen« schildere. Wir würden dem Bilde dann
den Titel »Auf den Marmor-Klippen« geben, und ich glaube,
daß ich Ihnen einen Käufer dafür bringen könnte.
Schlichter antwortete auf dieses verlockend formulierte Ansinnen erst nach
mehreren Wochen, am 27. März 1940. Er schrieb, daß er durchaus
Verständnis für die von Jünger geäußerten »Gefühle« habe, dem Wunsch
aber doch nicht entsprechen wolle, weil die ursprüngliche Konzeption
»einen speziellen Reiz« habe und seine Frau Speedy an diesem Porträt
besonders hänge. Zur Beruhigung versprach er Jünger allerdings, das Bild
weder zu verkaufen noch reproduzieren zu lassen.
Von Belästigungen durch die nationalsozialistischen »Sicherheitsorgane«
blieb Jünger während der Überlinger Zeit verschont; anscheinend war es ihm
gelungen, sich aus dem Beobachtungsfeld zu ziehen. Aber weiterhin waren
Freunde und Bekannte der Verfolgung ausgesetzt: Am 22. März 1937
wurden Ernst Niekisch und über fünfzig seiner Anhänger aufgrund eines
Spitzelberichts verhaftet, und anders als 1933 kam Niekisch diesmal nicht
wieder frei, sondern wurde am 10. Januar 1939 zu lebenslänglichem
Zuchthaus verurteilt (und in Brandenburg-Goerden bis zur Befreiung durch
die Rote Armee am 27. April 1945 festgehalten: vgl. 14, 102ff.). Alexander
Mitscherlich, der noch zu Niekischs »Widerstandskreis« zählte, entging im
März 1937 der Verhaftung, weil er sich gerade in Zürich befand. Aber als er
– sich wieder in Sicherheit wähnend – im Dezember nach Überlingen fahren
wollte, um sich eine Wohnung zu suchen, wurde er kurz nach der Grenze
festgenommen und bis Mitte März 1938 in Nürnberg in Gestapo-Haft
gehalten und verhört. Im Herbst 1938 wurde Rudolf Schlichter verhaftet und
der »unnationalsozialistischen Lebensführung« bezichtigt, konkret: der
Kuppelei, weil das Ehepaar Schlichter noch zwei junge Männer in die
Wohnung aufgenommen hatte und bei einem böswilligen Nachbarn – wohl
nicht ganz unbegründeterweise – der Verdacht aufkam, daß die »Hetäre«
Speedy, die mit ihrem Mann eine sogenannte »Josefs«- oder »Engelsehe«
führte, mit diesen beiden sexuellen Umgang pflege. Im Fall Niekisch
versuchte Jünger helfend einzugreifen. Niekisch vermerkte später in seinen
Erinnerungen, Jünger habe sich nach seiner Verhaftung »vornehm«
verhalten: Er habe sich bemüht, die »Fühlung« mit seiner Frau und seinem
Sohn nie zu verlieren; er habe versucht, für ihn einzutreten, sei aber »schroff
abgewiesen« worden; auch habe er sich in Offizierskreisen ausdrücklich zu
ihm bekannt. Von Mitscherlichs Verhaftung scheint Jünger erst erfahren zu
haben, als dieser nach seiner Entlassung an den Bodensee kam, um Jünger –
ein letztes Mal – zu treffen und ihn vor der Gestapo zu warnen. Im Fall
Schlichter appellierte Jünger auf Bitten Speedys an einen bekannten und der
NSDAP verbundenen Juristen, sich des Angeklagten anzunehmen; trotzdem
wurde Schlichter im Januar 1939 zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die
jedoch durch die dreimonatige Untersuchungshaft bereits abgegolten waren.
Von Überlingen aus unternahm Jünger drei oder vier bemerkenswerte
Reisen. Die erste, ein paar Tage dauernde Reise führte ihn Mitte November
1937 über Stuttgart, wo er bei Schlichter haltmachte, nach Passau und
Zwickledt (auf der österreichischen Seite des Inn), wo Alfred Kubin lebte
und wo Jünger einen Tag und eine Nacht blieb (vgl. 14, 29 – 32). In Briefen
an Friedrich Georg und Schlichter hat Jünger die Eindrücke dieser Reise
ausführlich dargelegt: Er sah in Kubin, diesem Künstler des Verfalls, der in
einem alten Schloß mit verstaubten Möbeln wohnte, geradezu den
Antipoden der Zeit, »die das Planmäßige und das Konstruktive über alles
liebt«, wie er am 24. November 1937 an Schlichter schrieb; er hätte auch
sagen können: der »totalen Mobilmachung«. – Eine zweite, etwa
sechswöchige Reise führte Jünger im folgenden Frühjahr nach Rhodos.
Reisebegleiter war diesmal der Bruder Friedrich Georg. Am 14. April ging
es mit der Bahn von Basel über Mailand nach Triest, von dort zu Schiff über
Split, Durazzo, Brindissi und Korfu durch den Golf von Korinth nach Athen
und von dort über Smyrna (Izmir) durch die Sporaden nach Rhodos, wo die
beiden Reisenden am 23. April anlangten und sich im »Hotel delle Terme«
einquartierten. Die folgenden drei Wochen nutzten sie für Ausflüge zu den
Sehenswürdigkeiten der Insel, für Strandgänge und Bergwanderungen, vor
allem aber für entomologisch und botanisch motivierte Streifzüge ins
Rodinotal, das bald zum Lieblingsort wurde.
Am 14. Mai begann die Rückreise. Sie ging zu Schiff durch den Golf von
Korinth nach Bari und von dort mit der Eisenbahn über Venedig zurück nach
Deutschland. Selbstverständlich schrieb Jünger ein Journal, in dem er die
Route und die dominierenden Eindrücke festhielt; unter dem Titel Ein
Inselfrühling wurde es 1948 publiziert (6, 185 – 217). – Bald nach der
Rückkehr von Rhodos kam es etwas überraschend zu einer weiteren Reise,
die für eine gute Woche nach Paris führte und vermutlich der Vorbereitung
einer Übersetzung des Abenteuerlichen Herzens diente. In Paris hatte Jünger
vor allem mit dem 1903 geborenen Schriftsteller Joseph Breitbach zu tun,
der Ende der zwanziger Jahre mit einem Roman und Erzählungen über die
Nachkriegszeit hervorgetreten war, in Verbindung zur Kommunistischen
Partei gestanden haben soll und von den Nationalsozialisten angegriffen
wurde. Seit 1929 lebte er vorzugsweise in Paris und bemühte sich um eine
Intensivierung des kulturellen und zumal literarischen Austauschs zwischen
Deutschland und Frankreich. Zum Mißvergnügen mancher Exulanten setzte
Breitbach diese Bemühungen auch nach 1933 fort, weil seiner Meinung nach
die in Deutschland verbliebenen Autoren weder automatisch mit dem
Nationalsozialismus identifiziert noch dem Nationalsozialismus zugetrieben
werden sollten. Deshalb wandte er sich 1936 oder 1937 brieflich auch an
Jünger, und daraus ergab sich vermutlich im November 1937 eine erste
Reise Jüngers nach Paris, die nicht nur zur persönlichen Bekanntschaft mit
Breitbach führte, sondern – dank dessen Vermittlung – auch zur
Bekanntschaft mit Julien Green, André Gide und Jean Schlumberger (14,
93ff.). Merkwürdigerweise findet sich in den Briefwechseln keine Spur von
dieser Reise, während die vom Sommer 1938 mehrfach dokumentiert ist. Sie
muß Jünger nachhaltig beeindruckt haben. Nach Überlingen zurückgekehrt,
schrieb er am 13. Juli 1938 an Breitbach:
Wie meine Karte Ihnen bereits ankündigte, traf ich
wohlbehalten am Bodensee wieder ein, wie ein Bergmann,
der aus dem Venusberg ausgefahren ist. Die, wenn auch
flüchtigen Einblicke, waren für mich nicht ohne Wert. Ich
werde sie in meinem Innern bewahren wie Herodot, wenn er
bei der Erzählung seiner Reisen die Mysterien erwähnt. Zu
meinen Maximen gehört, daß alles auf dieser Welt mich
erstaunen und nichts mich befremden soll.
Neben den französischen kamen während der Überlinger Zeit zwei deutsche
Autoren zu Jüngers Bekanntenkreis: Stefan Andres und Gerhard Nebel.
Stefan Andres, 1906 geboren, hatte sich zu Beginn der dreißiger Jahre als
Erzähler einen Namen gemacht und war dabei, sich als Autor zu etablieren,
als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Darunter hatte er bald
vielfach zu leiden. 1935 verlor er wegen politischer Unbotmäßigkeit seine
Stelle als freier Mitarbeiter beim Reichssender Köln. Zudem bekam er
Schwierigkeiten, weil er mit einer »halbjüdischen« Frau verheiratet war. In
dieser Bedrängnis las er im Frühjahr 1937 Jüngers Abenteuerliches Herz und
Blätter und Steine. Diese Lektüre war für Andres so überwältigend und
zugleich erbauend, daß er am 12. August 1937 einen äußerst emphatischen
Brief an Jünger schrieb, ein Bekenntnis, das ganz überraschende
Rezeptionsmöglichkeiten dokumentiert. Der Katholik Andres schrieb
nämlich:
Ohne auf Einzelheiten Ihrer Welt eingehen zu wollen, scheint
mir doch merkwürdig: daß Sie die von Humanität ganz
verfälschte Frohbotschaft des Evangeliums auf eine andre
Weise verkündigen. Lächeln Sie nicht: denn das Evangelium
ist eine solche Schmerz- und Gewaltkur für den Menschen,
der sich seinem heroischen Aufruf überläßt, daß mir das
heutige Christentum ebenso unsinnig erscheint wie
anmaßend. Zwischen dem Evangelium und Ihrem
Pathangelium (verzeihen Sie das Wortspiel) bestehen
unterirdische Gänge – in denen ich vielleicht zur Zeit wohne,
noch nicht wissend, nach welcher Seite ich mich entscheiden
soll.
»Evangelium« heißt »Froh-« oder »Freudenbotschaft«, das von Andres neu
gebildete Wort »Pathangelium« bedeutet »Leidensbotschaft«. Aus seiner Not
heraus spürte Andres, daß es zwischen dem biblischen »Evangelium« und
dem Jüngerschen »Pathangelium« einen Zusammenhang gab, insofern hier
wie dort von Leidenserfahrungen und Erlösungshoffnungen die Rede ist und
der Mensch zur Entscheidung aufgerufen wird. Jünger ging darauf nicht ein;
die Korrespondenz wandte sich anderen Themen zu und brach im Frühjahr
1938 für fast zehn Jahre ab, vermutlich, weil Andres, der sich mit seiner
Familie bald nach seinem ersten Schreiben an Jünger nach Positano am Golf
von Salerno zurückgezogen hatte, möglichst unauffällig leben wollte. Aber
vielleicht blieb ihm der von Andres vorgenommene Brückenschlag zwischen
dem biblischen »Evangelium« und seinem »Pathangelium« in Erinnerung
und hat ihn mit dazu motiviert, in eine Lektüre der Bibel und eine
Auseinandersetzung mit der christlichen Botschaft einzutreten.
Im Juni 1938 erhielt Jünger einen ersten Brief von Gerhard Nebel, einem
1903 geborenen und in Heidelberg promovierten Altphilologen mit
genialischer Veranlagung. Nebel war Gymnasiallehrer, hatte aber eine starke
Neigung zu einem großspurigen Leben und zur Literatur. 1934/35 war er in
Nordafrika als Hauslehrer tätig, danach wieder in Deutschland als
Gymnasiallehrer, unter anderem an der Adolf-Hitler-Schule in Opladen, wo
er der NSDAP beitrat. 1937/38 schrieb er einen »Versuch« über Ernst
Jünger, den er der Hanseatischen Verlagsanstalt anbot. Diese leitete ihn an
Jünger weiter, was Nebel veranlaßte, sich brieflich an Jünger selbst zu
wenden und ihn um eine Beurteilung seines »Versuchs« zu bitten. Daraus
erwuchsen – nach anfänglichem Zögern Jüngers – ein Briefwechsel und eine
Serie von Begegnungen. Jünger nannte Nebel gelegentlich seinen »Schüler«,
was diesem nicht immer behagte. Gleichviel, von 1938 an spielte Nebel in
Jüngers Dasein eine gewisse Rolle, die für beide meist gewinnbringend war,
manchmal aber auch zu Belastungen führte.
Alles in allem war Jüngers Leben in Überlingen noch stärker als in Goslar
durch die Tendenz zum Rückzug bestimmt. Nicht nur, daß er weniger
Besucher als in Goslar empfing; er bemühte sich in jeder Hinsicht um
Distanz. An Friedrich Georg schrieb er am 7. Januar 1937, er sei
»entschlossen, das politische Gespräch jetzt überhaupt zu vermeiden«, weil
es einem »Exzeß« gleichkomme, und am 14. Februar bekräftigte er diesen
Vorsatz. Zu Ernst von Salomon, den Jünger im Spätsommer 1937 in Berlin
traf, soll er in seiner zugespitzten hannoveranischen Diktion gesagt haben, er
habe sich »einen erhöhten Standort ausgesucht«, von dem aus er beobachte,
»wie sich die Wanzen gegenseitig auffressen«. Als der Heidelberger
Soziologe Alfred Weber ihm Ende November 1937 schrieb, in seinen
»Capriccios«, also einigen vorab gedruckten Stücken aus der zweiten
»Fassung« des Abenteuerlichen Herzens, sei eine »Entfernung von allen
polemischen Elementen« zu beobachten, gab Jünger dies als Erfolgsmeldung
an seinen Bruder weiter.

Zweite Potenz: Das abenteuerliche Herz in neuer »Fassung«


Jüngers neue Haltung spiegelt sich deutlich in der zweiten »Fassung« des
Abenteuerlichen Herzens, die in Goslar und Überlingen entstand und 1938
bei der Hanseatischen Verlagsanstalt erschien. Mit der Originalfassung war
Jünger nicht mehr zufrieden; sie war ihm, wie er später einmal bemerkte, zu
stark dem Krieg – oder anders gesagt: der Vergangenheit – verhaftet (21,
326), und zudem war sie ihm nun zu militant oder polemisch.
Dementsprechend fehlen in der zweiten Fassung nicht nur die vielen
Bezugnahmen auf den Krieg als »Schule des Lebens« und dergleichen mehr;
der kämpferische Gestus ist einer eher deskriptiven Haltung gewichen.
Textmäßig blieb vom alten Abenteuerlichen Herzen nicht mehr als ungefähr
ein Drittel; der weitaus größere Teil ist neu oder so stark bearbeitet, daß vom
Original nicht mehr viel zu erkennen ist. Geändert wurde auch der Untertitel;
er lautete nun nicht mehr »Aufzeichnungen bei Tag und Nacht«, sondern
»Figuren und Capriccios«. Und das von Hamann bezogene Motto »Den
Samen von allem, was ich im Sinn habe, finde ich allenthalben« wurde um
einen Satz vom Ende der ersten »Fassung« ergänzt: »Dies alles gibt es also.«
Quantität und Qualität der Veränderungen hätten durchaus dazu
berechtigt, das Werk unter einem neuen Titel erscheinen zu lassen. Jünger
wollte aber den alten Haupttitel beibehalten und legte Wert darauf, daß es
sich um eine »zweite Fassung« handelte. In verschiedenen Briefen aus der
Zeit der Entstehung und des Erscheinens der neuen Version hat er das
Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten »Fassung« allerdings
genauer qualifiziert. An den HAVA-Lektor Paul Weinreich schrieb er am 18.
Februar 1937, bei dem, was gerade aus der Bearbeitung des Abenteuerlichen
Herzens hervorgehe, handele es sich »weniger um eine zweite Auflage als
um eine zweite Potenz«. Einige Monate später, am 9. September 1937,
schrieb er an die Photographin Ursula Litzmann, die er zu Beginn der
»atlantischen Fahrt« kennengelernt und der er einige Stücke der neuen
Version vorab zugesandt hatte: »Die Bearbeitung der neuen Fassung […] ist
gründlicher geworden, als ich beabsichtigte. Vom alten Text blieben kaum
dreißig Seiten bestehen […]; dennoch halte ich die Identität der beiden
Fassungen für gewahrt; es handelt sich nur um die Überführung in eine
andere Potenz oder in ausgeglühtere Zustände.« Weniger pathetisch kann
man sagen: Es handelt sich um Verdichtung, Steigerung oder Vertiefung und
Erweiterung.
Die zweite »Fassung« des Abenteuerlichen Herzens verzichtet auf eine
einleitende Selbstlegitimation des Erzählers und kommt unmittelbar zur
Sache, indem das Bild der »Tigerlilie« evoziert wird:
Lilium tigrinum. Sehr stark zurückgebogene Blütenblätter
von einem geschminkten, wächsernen Rot, das zart, aber von
hoher Leuchtkraft und mit zahlreichen ovalen, schwarzblauen
Makeln gesprenkelt ist. Diese Makeln sind in einer Weise
verteilt, die darauf schließen läßt, daß die lebendige Kraft, die
sie erzeugt, allmählich schwächer wird. So fehlen sie an der
Spitze ganz, während sie in der Nähe des Kelchgrundes so
kräftig hervorgetrieben sind, daß sie wie auf Stelzen auf
hohen, fleischigen Auswüchsen stehen. Staubgefäße von der
narkotischen Farbe eines dunkelrotbraunen Sammets, der zu
Puder zermahlen ist.
Im Anblick erwächst die Vorstellung eines indischen
Gauklerzeltes, in dessen Inneren eine leise, vorbereitende
Musik erklingt. (9, 179)
Selbstverständlich steht diese Evokation der Tigerlilie nicht zufällig am
Anfang, sondern weil sie sowohl methodisch als auch sachlich repräsentativ
für die zweite »Fassung« des Abenteuerlichen Herzens ist: methodisch,
indem sie die präzise Beschreibung »stereoskopisch« erweitert und in der
Blüte den Anklang einer geheimnisvollen Welt vernimmt; sachlich, insofern
die Tigerlilie in hoheitsvoller Form zeigt, daß das Schöne und das
Gefährliche sich durchdringen können (9, 217). In diesem Sinn beschreibt
die Evokation der Tigerlilie eine grundlegende »Figur« des Daseins, die in
verschiedenen Realisationen wiederzuerkennen ist und in der Form des
»Capriccios«, der überraschenden und tendenziell launigen oder heiteren
Skizze, dingfest gemacht wird: »Das Capriccio«, schrieb Jünger am 7. Juni
1938 an Schlichter, »ist gewissermaßen ein Augen-Blick, der auch den
Kulminationspunkt eines gewordenen Erlebnisses füllt.« Sowohl den
methodischen als auch den sachlichen Aspekt hat er vertieft und erweitert. In
methodischer Hinsicht erneuerte er seine Ausführungen über das
»stereoskopische« oder vielschichtige Wahrnehmen (196ff.) und ergänzte sie
um Ausführungen über die »Kristallographie«. Damit ist eine Darstellung
gemeint, bei der – wie bei der Betrachtung eines Kristalls – »Tiefe und
Oberfläche« der Dinge zugleich sichtbar werden (182f.). In sachlicher
Hinsicht vertiefte Jünger den Blick in die wunderbare Vielfältigkeit der Welt,
insbesondere aber – der geschichtlichen Situation entsprechend – in ihre
gefährliche Abgründigkeit und Bösartigkeit. Mehr noch als in der ersten ist
das Abenteuerliche Herz in der zweiten »Fassung« ein Buch über eine Welt,
die »aus den Fugen geht« und »Risse« aufweist, durch welche »Geheimnisse
der Architektur«, die gemeinhin verborgen sind, sichtbar oder wenigstens
erahnbar werden (255). Auf mustergültige Weise spiegelt sich diese
Weltsicht in dem an Kubinsche Bilder erinnernden Traumnotat »In den
Wirtschaftsräumen«:
Ich saß in einem großen Café, in dem eine Kapelle spielte und
viele gutgekleidete Gäste sich langweilten. Um den
Waschraum aufzusuchen, ging ich durch eine mit rotem
Sammet verhangene Tür, aber bald verirrte ich mich im
Gewirr der Treppen und Flure und geriet aus den elegant
eingerichteten Räumen in einen Flügel, der stark verfallen
war. Ich glaubte, in die Bäckerei gekommen zu sein; ein öder
Gang, den ich durchschritt, war wie mit Mehl bestäubt, und
schwarze Schaben krochen an den Wänden umher. Es schien
noch gearbeitet zu werden, denn ich kam in eine Ecke, in der
ein Rad mit langsamen, ruckartigen Drehungen einen Riemen
trieb; daneben bewegte sich zuweilen ein lederner Blasebalg
auf und ab. Um in die Backstube zu sehen, die wohl darunter
lag, beugte ich mich weit aus einem der erblindeten Fenster,
die auf einen verwilderten Garten hinausgingen. Der Raum,
den ich so erblickte, sah aber eher wie eine Schmiede aus. Bei
jedem Stoß des Blasebalges sprühte ein offenes Kohlenfeuer
auf, in dem Werkzeuge glühten; und jede Umdrehung des
Rades zog allerlei seltsame Maschinen an. Ich sah, daß man
sich zweier Gäste, eines Herrn und einer Dame, bemächtigt
hatte und sie nötigen wollte, die Kleider auszuziehen. Sie
sträubten sich sehr, und ich dachte mir: »Freilich, solange sie
noch die guten Sachen anhaben, sind sie in Sicherheit.« Es
schien mir jedoch ein böses Zeichen, daß der Stoff schon hier
und dort unter den Griffen nachgab und daß das Fleisch durch
die Risse zu sehen war. Leise entfernte ich mich, und es
gelang mir, den Weg in das Café wiederzufinden. Ich setzte
mich wieder an meinen Tisch, aber die Kapelle, die Kellner
und die schönen Räume erschienen mir nun in einem ganz
anderen Licht. Auch begriff ich, daß es nicht Langeweile war,
was diese Gäste empfanden, sondern Angst. (9, 244)
Die zeitgeschichtliche Motivierung dieses Traumbilds ist offensichtlich: Die
Zeit, in der man sich seines Lebens sicher sein durfte, ist vorbei; hinter den
Kulissen einer noch bürgerlich scheinenden Welt tut sich das Reich des
Geheimterrors auf, dessen Ahnung das Leben überschattet und lähmt.
Künstlerisch gesehen, erinnert das Traumbild nicht nur an Kubins
Untergangswelten, die Jünger sich während der Entstehungszeit der
»Capriccios« ja wieder vor Augen geführt hatte, sondern auch an den Roman
Le Jardin des supplices/Der Garten der Qualen (1899, deutsch 1902), ein
Werk des französischen Schriftstellers Octave Mirbeau, das in der Tradition
des Sadomasochismus steht und ausgiebig sexuelle Exzesse und Foltern aller
Art beschreibt. Mirbeaus Jardin des supplices gehört bekanntlich zu den
Quellen von Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie, und Jünger hat
diesen – damals in Deutschland verbotenen – Roman im August 1937 von
Rudolf und Speedy Schlichter zur Lektüre erhalten. Dies führte zu einem
speziellen kurzen Briefwechsel zwischen Jünger und dem Ehepaar
Schlichter, der hier Erwähnung verdient. Jünger lobte in einem Brief vom
26. August 1937 – wie in der zweiten »Fassung« des Abenteuerlichen
Herzens (9, 226) – Mirbeau dafür, daß er »die Gewalt des Schönen durch die
Nähe des Schmerzes erhöht«, kritisierte aber, daß er »sich diese Genüsse auf
Kosten von armen Teufeln verschafft, denen die Haut abgezogen wird«, und
sich nicht »selbst in Gefahr begibt«, um »Spannweite« zu erlangen. Darauf
antwortete Speedy Schlichter am 14. September mit einem mehrseitigen und
eindrucksvollen Brief, in welchem sie Jüngers Urteil als »moralisch«
zurückwies und darauf bestand, daß der Künstler das Recht habe,
Grausamkeit zu beobachten oder in rein beobachtender Weise darzustellen,
weil auch dies eine empfindungs- und erkenntnismäßig wichtige Perspektive
sei. Daß Speedy Schlichter dies Jünger sagen mußte, wirkt zunächst
erstaunlich. Sie merkte jedoch selbst an, daß sie einem Autor schrieb, der es
nicht scheute, sich selber in Gefahr zu begeben, und – was hier noch
wichtiger ist – in den Schreckensbildern der ersten »Fassung« des
Abenteuerlichen Herzens meist als Geängstigter anwesend war.
In der zweiten »Fassung« des Abenteuerlichen Herzens ist dies zwar nicht
durchweg, aber bisweilen und in auffälliger Weise anders. Die unheimlichen
Vorgänge in den »Wirtschaftsräumen« werden von dem Verfasser mit einer
gewissen Überraschung wahrgenommen, aber ohne Betroffenheit oder gar
Empörung; von der Angst der anderen Café-Besucher scheint er nicht
ergriffen zu sein. Er sieht die Ungeheuerlichkeit der Welt im Kleinen wie im
Großen und weiß sich in einer Zeit, in der die Vernichtungsgefahr durch das
Zusammenwirken von Grausamkeit und Geschäftssinn eine unerhörte
Verschärfung erfahren hat (318f.). Aber dagegen will er gewappnet sein, und
keine noch so gräßliche Entdeckung soll ihn erschüttern, nicht einmal die
des Kannibalismus, die unter der Überschrift »Violette Endivien«
vergegenwärtigt wird:
Ich trat in ein üppiges Schlemmergeschäft ein, weil eine im
Schaufenster ausgestellte, ganz besondere, violette Art von
Endivien mir aufgefallen war. Es überraschte mich nicht, daß
der Verkäufer mir erklärte, die einzige Sorte Fleisch, für die
dieses Gericht als Zukost in Frage komme, sei
Menschenfleisch – ich hatte das vielmehr schon dunkel
vorausgeahnt.
Es entspann sich eine lange Unterhaltung über die Art der
Zubereitung, dann stiegen wir in die Kühlräume hinab, in
denen ich die Menschen, wie Hasen vor dem Laden eines
Wildbrethändlers, an den Wänden hängen sah. Der Verkäufer
hob besonders hervor, daß ich hier durchweg auf der Jagd
erbeutete und nicht etwa in den Zuchtanstalten reihenweise
gemästete Stücke betrachtete: »Magerer, aber – ich sage das
nicht, um Reklame zu machen – weit aromatischer.« Die
Hände, Füße und Köpfe waren in besonderen Schüsseln
ausgestellt und mit kleinen Preistäfelchen besteckt.
Als wir die Treppe wieder hinaufstiegen, machte ich die
Bemerkung: »Ich wußte nicht, daß die Zivilisation in dieser
Stadt schon so weit fortgeschritten ist« – worauf der
Verkäufer einen Augenblick zu stutzen schien, um dann mit
einem sehr verbindlichen Lächeln zu quittieren. (9, 183f.)
Dieser bei jeder Lektüre erneut schockierende Text ist für die neue
»Fassung« des Abenteuerlichen Herzens in zweifacher Hinsicht
repräsentativ: Zum einen ist er ein Beispiel für jene neuen Schreckensstücke,
mit denen Jünger die Ungeheuerlichkeit der Zeit verdeutlichen wollte; außer
den »Violetten Endivien« und den »Wirtschaftsräumen« gehört der
»Oberförster« dazu (212ff.), aber auch eine Beobachtung wie der Blick auf
einen »Marktknecht«, der auf dem Bergener Fischmarkt mit »mechanischer
Achtlosigkeit« gut hundert Fischen die Kehle durchschnitt, während er mit
einem Dienstmädchen schäkerte (318f.). Zum andern signalisieren die
»Violetten Endivien« noch deutlicher als die »Wirtschaftsräume« den
Anspruch des Verfassers auf Unbelangbarkeit und Souveränität. Er erwartet
das Schlimmste, aber nichts soll ihn erschüttern oder gegebenenfalls
verraten, daß er von etwas berührt oder erschüttert war. Auch einem
Kannibalen-Traiteur wird er souverän entgegentreten, freilich nichts kaufen.
Er weiß, daß die Verwertung von Menschen zu den Möglichkeiten der
Geschichte gehört und gar als Fortschritt begriffen werden kann. In Friedrich
Georg Jüngers großer Abhandlung Die Perfektion der Technik, die um 1938
entstand, ist zu lesen (und es ist leider keine unfromme Legende, nur ist
hinzuzufügen, daß die Manufaktur in Meudon wohl schon in den letzten
Jahren Ludwigs XV. zu arbeiten begann):
Schon die alten Manufakturen, die man von der Fabrica
unterschied, von der Werkstätte, in der harte Stoffe durch
Feuer und Eisen bearbeitet wurden, befaßten sich mit der
Verwertung des menschlichen Leichnams. Die Verarbeitung
von Menschenhaut zu Leder kam in größerem Umfange in
der französischen Revolution auf. Über den Fabrikanten in
Meudon, der die Haut der Guillotinierten zu Leder
verarbeitete, haben wir Kenntnis durch einen Bericht vom 20.
September 1794. Diese Industrie wurde vom Nationalkonvent
durch eine Summe von 45 000 Francs unterstützt. Philippe
Egalité soll nur noch Hosen aus Menschenleder getragen
haben. Und Granier de Cassagnac besaß ein Exemplar der
Konstitution von 1793, das in Menschenhaut gebunden war.
(315f.)
Gegenüber den Ungeheuerlichkeiten, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts bis
zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu beobachten oder zu erahnen
waren, wollte der Verfasser des Abenteuerlichen Herzens einen erhöhten und
gleichsam unbelangbaren Standpunkt einnehmen. Die dazu nötigen
Fähigkeiten werden in der zweiten »Fassung« unter den Überschriften »Die
Schleife«, »Zur Désinvolture« und »Historia in Nuce: Der verlorene Posten«
reflektiert: »Schleife« meint »eine höhere Art, sich den empirischen
Verhältnissen zu entziehen«, kompromißlos und zur Not untergangsbereit (9,
200f.). »Désinvolture« heißt jene der eigenen Kraft bewußte »Ungeniertheit«
oder Souveränität des Verhaltens, in der sich eine »göttergleiche
Überlegenheit« über die Verhältnisse zeigt (260ff.). Der »verlorene Posten«
ist eine Insel der Ruhe inmitten des Unheils, doch sind die Zeichen deutlich,
und man tut gut daran, sich auf den Untergang einzustellen (262ff.).
Die zweite »Fassung« des Abenteuerlichen Herzens ist jedoch nicht nur
ein Buch, das einen überlegenen und heroischen Standpunkt in Anspruch
nimmt. Sie ist auch ein Schuldbekenntnis: In den Ausführungen über die
»Schleife« erinnert sich der Verfasser auch seines ferngerückten Lehrers
Nigromontanus, einer von Jünger öfter beschworenen Gestalt, in die Züge
verschiedener historischer Personen – nicht nur des Philosophen Hugo
Fischer – eingeflossen sind. Nigromontanus hat ihm die »Figur« der
»Schleife« oder die Kunst des Sich-Entziehens vermittelt und hat ihn
zugleich angehalten, ein kontemplatives Leben zu führen und sich einsamen
Studien zu widmen (189). Aber statt dieser Empfehlung zu folgen, trat der
Verfasser, wie er am Ende des Kapitels über die »Schleife« mit
ausdrücklichem Bedauern sagt, »leider« »bei den Mauretaniern ein, den
subalternen Polytechnikern der Macht« (201). »Mauretanier« ist bei Jünger
zu dieser Zeit die Bezeichnung für militärisch-politische Gruppierungen oder
»Orden«. In biographischer Hinsicht ist der zitierte Satz als Anspielung auf
die Zeit des nationalistischen Engagements im Umkreis des Stahlhelm zu
verstehen, das damit als Verfehlung qualifiziert wird.

Kirchhorst

Das Erscheinen der ahnungsvollen zweiten »Fassung« des Abenteuerlichen


Herzens fiel in eine Zeit der Krisen: Im März 1938 rückten deutsche
Truppen in Österreich ein und verhalfen dort den Nationalsozialisten zur
Macht. Im April und Mai kam es in der Tschechoslowakei zu
nationalsozialistischen Provokationen und zur Mobilmachung. Im August
trat der Chef des Generalstabs des Heeres Ludwig Beck aus Protest gegen
Hitlers Kriegspläne zurück. Im September provozierte Hitler die sogenannte
»Sudetenkrise«, die Ende September durch die Münchener Konferenz und
den anschließenden Einmarsch deutscher Truppen ins Sudetenland
›beigelegt‹ wurde. Zugleich wurde aber erkennbar, daß Hitler auf einen
Krieg aus war: Am 21. Oktober gab er den Geheimbefehl, die »Erledigung
der Rest-Tschechei« vorzubereiten. Auch Jünger scheint sich auf einen Krieg
und auf seine Reaktivierung eingestellt zu haben. Denn in den Wochen der
»Sudetenkrise« kam es, wie aus dem Briefwechsel mit Carl Schmitt und aus
Grethas Palette hervorgeht, zu Umzugsüberlegungen, die in Richtung
Norden wiesen und mit einer erstaunlichen Zügigkeit verfolgt wurden.
Anfang Januar 1939 konnte Jünger an Schmitt schreiben, daß ein neues
Domizil im Norden gefunden sei: das ehemalige Pfarrhaus von Kirchhorst
bei Hannover (heute Gemeinde Isernhagen).
Als Grund für den Umzug nannte Jünger immer wieder das Klima am
Bodensee: Die große Feuchtigkeit und die Föhneinbrüche seien ihm nicht
bekommen; auch sei das »weiche Klima« eine dauernde Verführung zu einer
»phäakischen Lebensweise«. Aber man darf daran zweifeln, daß es
tatsächlich die Witterung war, die Jünger, der das südliche Klima liebte, vom
Bodensee vertrieben hat, wo er sich ausgesprochen wohl fühlte. Der
eigentliche Grund für den Umzug in die Nähe von Hannover dürfte darin zu
sehen sein, daß Jünger für den Fall der Mobilmachung im Einzugsbereich
seiner alten Einheit leben wollte; dort konnte er sich aufgehoben fühlen. Im
übrigen machte man sich Sorgen um den Unterhalt der Familie im
Kriegsfall. In ihren Silhouetten berichtet Gretha über die Zeit der
Umzugsüberlegungen: »Schon beginnen die Lebensmittel knapp zu werden.
Ich brauche, um die Kinder versorgen zu können, ein Landhaus mit Gärten
und Ställen, ich muß Geflügel züchten und Schweine füttern lernen.«
Mit Hilfe des Goslarer Regimentskameraden Pfaffendorf wurde dann das
Pfarrhaus in Kirchhorst ausfindig gemacht und gemietet. Gretha organisierte
den Umzug, der Ende März/Anfang April 1939 stattfand. Über das neue
Domizil, das sie zuvor nicht gesehen hatte, schreibt sie in ihren Silhouetten:
»Ich fand ein großes, spartanisch einfaches und völlig verwahrlostes
Gebäude vor, in einem ebenso verwilderten, von herrlichen alten Buchen
bestandenen Garten, dessen Lage mich entzückte. Was freilich die Räume
anbetraf, den von den Wänden rieselnden Putz, so war vierzig Jahre
hindurch nicht das geringste für sie geschehen.« Es bedurfte einer
zweimonatigen Renovierungs- und Putzarbeit, bevor das Haus richtig
bewohnbar war. Aber neben den schon genannten Vorteilen hatte es auch
noch den Vorzug, daß es sehr geräumig war, vierzehn Zimmer und eine
Scheune hatte.
Am 3. April notierte Jünger in seinem Tagebuch: »Im neuen Haus zum
ersten Mal gearbeitet« (2, 27). Mit dieser Notiz, die den eben entstehenden
Marmorklippen galt, eröffnete Jünger ein neues Arbeitsjournal, das freilich
bald zu einem neuen Kriegstagebuch wurde. Die Anzeichen für einen Krieg
verdichteten sich, und Jünger beeilte sich, mit den Marmorklippen
voranzukommen. Zugleich wurde das neue Haus vollends bezogen und der
Garten bestellt: Da Jüngers Arbeitszimmer zu sehr im Inneren des Hauses
lag, richtete er sich auf dem Dachboden eine »Eremitenklause« ein und
bemerkte dazu: »Von jeher hatte ich für verstaubte Böden eine Neigung;
man webt in ihnen wie im Reiche der Vergessenheit« (2, 45f.). Viele
Tagebucheinträge vom Frühjahr 1939 sind der Gartenarbeit gewidmet und
verzeichnen geradezu ostentativ, was gepflanzt wurde und aufblühte. Es war
wohl der Versuch, Heimat zu gewinnen und sich ein Stück Erde
schönzumachen, bevor der Krieg begann. Im übrigen wurden nicht nur
Blumen ausgebracht, sondern auch allerlei Gemüsearten, und ab Herbst
wurde tatsächlich auch ein Schlachtschwein gefüttert.
Da Kirchhorst über Hannover leicht zu erreichen war, stellten sich auch
wieder alte Bekannte ein. Im Mai kam »Meister Lindemann« aus Goslar, im
Juni erschienen Arnolt Bronnen und Edmund Schultz, im Juli folgte Carl
Schmitt, im August Friedrich Hielscher. Längerfristig war Friedrich Georg,
dem auch in Kirchhorst wieder eine eigene »Zelle« eingerichtet wurde, zu
Besuch; man besprach das entstehende Technik-Buch. Eine Tagebuchnotiz
vom 4. Juni 1939 läßt die enge Beziehung zwischen den beiden Brüdern
erkennen, aber auch, unter welchem Gefühl der Verunsicherung Jünger
zeitlebens gelitten haben muß und in diesen Vorkriegsmonaten wieder litt:
»Die Nähe von Friedrich Georg«, bemerkte er, »ist seit den Kindertagen ein
großer Trost für mich« (2, 54). Das brüderliche Zusammenleben ging dann
allerdings zu Ende: Jünger rückte im November an die Front ab und
verbrachte die nächsten Jahre weitgehend in Paris. Friedrich Georg konnte
wegen seiner steifen Schulter, die von der schweren Verwundung im Ersten
Weltkrieg herrührte, keinen Kriegsdienst leisten und blieb zunächst in
Kirchhorst, wo er am 2. Dezember 1939 eine der beiden »Hexen« vom
Bodensee, Citta Weickhardt, heiratete. Zunächst hielt er sich – zusammen
mit seiner Frau – noch häufig in Kirchhorst auf, daneben auch in Leisnig bei
den Eltern; im Frühjahr 1942 entschied er sich dann aber für Überlingen als
Lebensmittelpunkt und zog zu seiner Frau in deren dicht am See gelegenes
Haus.
Friedrich Georg Jüngers Technik-Buch sollte 1940 unter dem Titel
Illusionen der Technik bei der Hanseatischen Verlagsanstalt erscheinen. Es
wurde aber zurückgestellt, und der Bleisatz verbrannte im Juli 1942 nach
einem britischen Bombenangriff auf Hamburg. Ähnlich erging es dem
zweiten Versuch, die Abhandlung zu publizieren: Im November 1944
verbrannte die erste gedruckte Auflage wiederum nach einem
Bombenangriff in einem Freiburger Lager des Frankfurter Klostermann-
Verlags. Erst 1946 konnte das Buch bei Klostermann unter dem Titel Die
Perfektion der Technik erscheinen. Es handelt sich, wie der Hamburger
Soziologe Stefan Breuer 1992 in seiner ökologisch-historischen Studie Die
Gesellschaft des Verschwindens feststellte, um »ein Buch von geradezu
bestürzender Weitsicht«, und was in ihm dargelegt wird und im Frühsommer
1939 in Kirchhorst erörtert wurde, erlangte für Ernst Jüngers Einschätzung
der technischen Moderne größte und korrektive Bedeutung. Am 11. März
1944 notierte Jünger in seinem Tagebuch (und teilte Entsprechendes seinem
Bruder mit):
Mein »Arbeiter« und Friedrich Georgs »Illusion der Technik«
gleichen dem Positiv und dem Negativ eines Lichtbildes – die
Gleichzeitigkeit der Verfahren deutet auf eine neue
Objektivität, während der enge Geist nur den Widerspruch
darin erblicken wird. (3, 236)
Der ist allerdings nicht zu übersehen, und auch Friedrich Georg bestand in
einem Brief vom 11. April 1944 darauf, daß das Verhältnis zwischen diesen
beiden Büchern doch »mit mehr Akkuratesse festgestellt werden« müsse.
Während nämlich Ernst Jünger im Arbeiter die Technik als ein Instrument
zur Erschließung des Reichtums der Welt feierte und ihren großen »Verzehr«
(8, 182) billigend in Kauf nahm, machte Friedrich Georg Jünger in seiner
Perfektion der Technik deutlich, daß die Technik »keinen neuen Reichtum
schafft«, sondern den vorhandenen Reichtum reduziert, »und zwar durch
Raubbau, das heißt auf eine Weise, die jeder Rationalität ermangelt, aber mit
rationalen Arbeitsverfahren. Sie vertilgt, indem sie fortschreitet, den
Bestand, auf den sie angewiesen ist.« Ihre Kennzeichen sind radikale und
universale Ausbeutung, ihre Folge ist die Verwüstung der Welt. Kurz -: Es
war eine radikale Negativierung der Technik wie der Utopie des Arbeiters,
die Friedrich Georg Jünger seinem Bruder im Frühsommer 1939 vortrug.
Aber sie konnte leicht Gehör finden, weil Ernst Jüngers Blick für die von
seinem Bruder beklagten Phänomene ja durchaus schon offen war.

»Das Renommierbuch der 12 Jahre«: Auf den Marmor-Klippen

Im Kirchhorster Pfarrhaus schloß Jünger am 28. Juli 1939 das Werk ab, das
er fünf Monate zuvor, Ende Februar, in Überlingen begonnen hatte: die
Erzählung Auf den Marmor-Klippen, die Thomas Mann später, im Dezember
1945, als das »Renommierbuch der 12 Jahre« bezeichnet hat, weil diese
Erzählung damals in vielen Kreisen innerhalb wie außerhalb Deutschlands
als das beste und mutigste Werk galt, das im nationalsozialistischen
Deutschland publiziert worden war. In der Tat sind die Marmor-Klippen ein
erstaunliches und eindrucksvolles Buch: ahnungsvoll und problembeladen,
mutig und resignativ zugleich, von einer eigentümlichen Ästhetik, die neben
Bewunderern auch viele Kritiker gefunden hat, ein Werk zudem, das immer
wieder die Frage provozierte, in welchem Verhältnis zur Zeitgeschichte es zu
sehen sei.
Für die gedankliche Konzeption der Marmor-Klippen, die auf den
Spätsommer 1938 zu datieren ist, gab es, wie Jünger 1972 in den Adnoten
mitgeteilt hat, zwei wichtige Impulse aus der Atmosphäre des letzten Jahrs
vor dem Zweiten Weltkrieg (22, 389 – 391). Das eine Ereignis, das Jünger
etwas kryptisch und mit einer Personenverwechslung schildert, war ein
Besuch, den der damals zwanzigjährige Heinrich von Trott zu Solz (nicht
dessen später hingerichteter Bruder Adam) zu nächtlicher Stunde bei den
Brüdern Jünger im »Weinberghaus« abstattete, um sie – vergeblich – für den
aktiven Widerstand gegen Hitler zu gewinnen -: eine »schicksalsvolle«
Nacht, wie Jünger später bemerkte (3, 280). Daraus wurde in der Erzählung
der Besuch des Prinzen Sunmyra in der Rautenklause (15, 314ff.), der auf
die Widerstands- und Attentatsproblematik verweist. Das andere
Vorkommnis war ein Besuch bei dem Komponisten Karl Gerstenberger in
Ermatingen (2, 310), der mit Friedrich Georg Jüngers Tagebuch auf den 29.
Oktober 1938 zu datieren ist. Dort wurde nach einem Gangfischessen so
heftig getrunken, daß Jünger nachts in »eine Art von Trance« geriet und in
ihr sah, wie »die schönen Städte am Ufer brannten und die Flammen sich im
Wasser spiegelten« -: ein »Vorbrand«, »wie man ihn in Westfalen und
Niedersachsen kennt« (22, 389), also die Antizipation der in Brand
gebombten Städte. Diese wenige Tage auseinander liegenden Ereignisse
haben, so Jünger, zur Konzeption der Erzählung geführt und ihre »Handlung
bis in die Einzelheiten« entstehen lassen. Allerdings wird man annehmen
dürfen, daß manches auch vorher schon angelegt war und nur auf die
erzählerische Ausführung wartete. Dies gilt nicht nur für Figuren wie den
Oberförster und die Mauretanier, die in der zweiten »Fassung« des
Abenteuerlichen Herzens in Erscheinung getreten waren; es gilt auch für die
Widerspiegelung der NS-GREUEL, die sich in den Marmor-Klippen findet,
und für die Geschichtsauffassung, die in ihnen zur Erscheinung kommt.
Damit ist auch schon angedeutet, daß die Marmor-Klippen eine
vielschichtige und vieldeutige Erzählung sind. Sie haben mehrere
Dimensionen und sind, wie Helmut J. Gutmann treffend gesagt hat, »auf
systematische Mehrdeutigkeit angelegt«. Zumindest drei Sinn-Dimensionen
lassen sich unterscheiden: eine zeitgeschichtlich-analytische und zugleich
politisch-aktuelle mit polemischem Charakter; eine geschichtsphilosophisch-
typologische mit mythischen Anklängen und kosmischen Perspektiven; eine
psychisch-archetypische. Diese drei Dimensionen, die sich durchdringen und
gleichsam eine Oberfläche haben, können der Verdeutlichung halber isoliert
betrachtet werden, doch zeigt sich der Sinngehalt der Marmor-Klippen erst
in der Zusammenschau.
Die Erzählung Auf den Marmor-Klippen (so die Schreibweise der
Erstausgabe, nach der im folgenden zitiert wird) ist in der Ich-Form
geschrieben und im elegischen Ton gehalten: Der namenlose Erzähler blickt
auf eine Zeit zurück, die knapp vergangen ist. Seine Erinnerung ist durch
»wilde Schwermut« bestimmt (MK 5 = 15, 249), weil es eine Zeit war, die
nun um so glücklicher erscheint, als sie im Schrecken endete. Die Erzählung
ist in dreißig Kapitel unterteilt, die – ungeachtet gewisser Überschneidungen
– in drei größeren Gruppen zu sehen sind: Ein erstes Drittel (Kap. 1 – 8)
bildet eine Art Exposition, in welcher die gesellschaftlichen und politischen
Verhältnisse dargestellt und die Vorgeschichte des eigentlichen Geschehens
andeutungsweise eingebracht werden. Ein zweites Drittel (Kap. 13 – 19)
rekapituliert die Ausbreitung des Terrors und die Entdeckung seiner
barbarischen Dimension. Das letzte Drittel (Kap. 20 – 30) gehört der
Schilderung eines – vergeblichen – Widerstandsversuchs und der daraus sich
ergebenden Katastrophe. Erzählt wird aus der Distanz eines sicheren und
noblen Asyls; aber der Erzähler ist ein Geschlagener, weil er nicht in der
Lage war, dem Verderben Einhalt zu gebieten.
Der Erzähler und sein Bruder Otho entstammen, wie einige Hinweise
vermuten lassen, einem ritterlichen Geschlecht aus dem Norden, hatten, ihrer
»Lehenspflicht« folgend, bei den »Purpurreitern« Dienst getan und waren
auf diese Weise sieben Jahre vor Beginn der Zeit, von der erzählt wird, am
Krieg der Marina-Region gegen Alta Plana beteiligt. Dieser Krieg war ein
unrechtmäßiger Eroberungskrieg gewesen, doch hatten es die beiden Brüder
nicht als ihre Aufgabe betrachtet, »nachzugrübeln, wo Recht und Unrecht
war« (61/287). Diese Haltung weist sie als »Mauretanier« aus: als Mitglieder
sozusagen der Internationale der militärischen und nicht-militärischen
»Polytechniker der Macht« (9, 201), deren »Kennzeichen« neben dem
unbedingten Willen zur Herrschaft »die amoralische Behandlung von
Machtfragen ist« (20, 249). Im siebten Kapitel erinnert sich der Erzähler an
die Zeit bei den Mauretaniern und an den Geist, der dort herrschte:
Wenn man in den Abgrund stürzt, soll man die Dinge in dem
letzten Grad der Klarheit wie durch überschärfte Gläser
sehen. Diesen Blick, doch ohne Furcht, gewann man in der
Luft der Mauretania, die von Grund auf böse war. Gerade,
wenn der Schrecken herrschte, nahm die Kühle der Gedanken
und die geistige Entfernung zu. Bei den Katastrophen
herrschte gute Laune, und man pflegte über sie zu scherzen
wie die Pächter einer Spielbank über die Verluste ihrer
Klientel.
Damals wurde es mir deutlich, daß die Panik, deren
Schatten immer über unseren großen Städten lagern, ihr
Pendant im kühnen Übermut der Wenigen besitzt, die gleich
Adlern über dumpfem Leiden kreisen. Einmal, als wir mit
dem Capitano tranken, blickte er in den betauten Kelch wie in
ein Glas, in dem vergangene Zeiten sich erschließen, und
meinte träumend: »Kein Glas Sekt war köstlicher als jenes,
das man uns an die Maschinen reichte in der Nacht, da wir
Sagunt zu Asche brannten.« Und wir dachten: Lieber noch
mit diesem stürzen, als mit jenen leben, die die Furcht im
Staub zu kriechen zwingt. (32/267).
Die ethische Frivolität dieses Anspruchs wird um so deutlicher, wenn man
berücksichtigt, daß von jenem Capitano kurz zuvor gesagt wurde, er habe
mit seinen Maschinen »den großen Aufstand in den Iberischen Provinzen
erledigt«, und wenn man bedenkt, daß der alte Ort Sagunt gerade eine
Flugstunde von Guernica entfernt liegt, ja, daß der Name Sagunt vielleicht
sogar für Guernica stehen soll: für jenen Ort, an dem – zwei Jahre vor der
Niederschrift der Marmor-Klippen – vollends unverhüllt zutage getreten
war, was es bedeuten mochte, sich mit den mauretanischen (oder einfach
militärischen) Machttechnikern ›oben zu halten‹.
Einer dieser mauretanischen Machttechniker, Braquemart, wird im
zwanzigsten Kapitel näher charakterisiert: Kalte, wurzellose und
nihilistische Intelligenz sind ihm eigen, dazu eine Affinität zu Gewalt und
Schrecken sowie eine Vorliebe für künstliche Welten und abgetötete
Schönheit. »Eisblumen blühten auf seiner Stirn« (106/317). Freilich ist an
ihm auch »ein feiner Schmerz« wahrnehmbar: »die Bitterkeit des Menschen,
der sein Heil verloren hat« und deswegen »mit kaltem Mute in die
Labyrinthe des Schreckens« eindringt, den verlorenen »Sinn der Heimat«
oder des Lebens in »fernen Abenteuerwelten« sucht (107/318). Man kennt
das; es ließe sich leicht auch vom Verfasser der Marmor-Klippen selbst
sagen, und Jünger war sich dessen bewußt. Braquemarts Porträt ist ein
Selbstporträt des Verfassers, genauer: ein Möglichkeitsporträt, das ihn in
einem Zustand zeigt, in dem er sich nie ganz befunden haben oder den er
schon überwunden haben wollte. Der Abschnitt, der auf die zitierten Sätze
folgt, deutet an, was Braquemart fehlt und was Jünger offensichtlich
gefunden oder entwickelt zu haben glaubte: ein Vertrauen auf die Fülle des
Lebens, das angesichts der Negativitäten der Zeit Gelassenheit und
Überlegenheit hätte geben können: »Désinvolture«. Aber gleich, mit welcher
Berechtigung Jünger diesen Anspruch erhob -: Von den skrupellosen
mauretanischen Machttechnikern distanziert er sich, insofern er mit dem
Erzähler identifiziert werden darf, ausdrücklich. Im dreizehnten Kapitel teilt
er nicht nur mit, daß er sich – wie sein Bruder – nach dem Krieg gegen Alta
Plana von den Mauretaniern und von den Waffen überhaupt verabschiedet
hat, um ein »von Gewalt gereinigt [es] Leben« zu führen, und er begründet
dies auf eine Weise, die geradezu als Widerrufung der affirmativen Passagen
des Essays Über den Schmerz zu betrachten ist: »In diesem Orden hoch
emporzusteigen, hatte es uns wohl nicht an Mut und Urteilskraft gefehlt.
Doch war die Gabe uns versagt geblieben, auf das Leiden der Schwachen
und Namenlosen herabzusehen, wie man vom Senatoren-Sitze in die Arena
blickt« (62/287). Und im fünfundzwanzigsten Kapitel schwört der Erzähler
sich beim Anblick des Leichnams des jungen Fürsten Sunmyra, der nach
einem Attentatsversuch auf den despotischen »Oberförster« ermordet wurde,
»in aller Zukunft lieber mit den Freien einsam zu fallen, als mit den
Knechten im Triumph zu gehn« (136/338).
Nach dem Abschied von den Mauretaniern haben sich die beiden Brüder
in die »Rauten-Klause« auf den »Marmor-Klippen« zurückgezogen, um dort
in naturkundlichen und philosophisch-historischen Studien der Ordnung und
dem Sinn der Welt nachzuspüren. Die Klause hat ihren Namen von den
»silbergrünen Rautenbüschen«, von denen sie umgeben ist und die – so die
heilkundliche Überlieferung – vor bösen Geistern schützen. Man hat sie sich
als ein Haus vorzustellen, das auf einem höheren Plateau der Marmorklippen
an den Fels gebaut ist. In seinem Untergeschoß befinden sich – in einer weit
in den Fels hineinführenden Höhle – Küche und Vorratskammern; darüber
liegen die Studierzimmer der beiden Brüder mit Bibliothek und Herbarium.
Die Marmorklippen sind als ein Felsmassiv zu denken, das steil aus einer
weit sich erstreckenden Ebene herausragt; der Name, so Jünger in einer
Tagebuchnotiz vom 16. April 1939, steht für die »Einheit von Schönheit,
Hoheit und Gefahr« (2, 37). Wenn die Brüder auf das höchste Plateau
steigen, stehen sie im Zentrum einer klar und bedeutungsvoll untergliederten
Landschaft, wie man sie von einem der höheren Berge am nördlichen Ufer
des Bodensees wahrnehmen mag. Jünger selbst hat auf verschiedene
Vorbilder in aller Welt verwiesen (2, 34), aber Arnold Rothe konnte zeigen,
wie sehr die Landschaft der Marmor-Klippen trotz aller symbolistischen
Überformung der Überlinger Seelandschaft gleicht: Nach Süden erstreckt
sich – von den Marmorklippen aus gesehen – die Küstenregion der
»Marina«, eines großen Sees oder Binnenmeers, von dessen anderem Ufer
die Alm- und Gebirgslandschaft von Alta Plana herüberschimmert. Die
Marina ist durch eine Reihe von kleinen Städten gesäumt, und zwischen
ihnen und den Klippen liegen zahlreiche Weiler, Burgen und Klöster, so
auch – auf einem sanften Hügel wie die Wallfahrtskirche Birnau – das
Kloster der Maria Lunaris (67/290). Bauwerke aus der Römerwie aus der
Merowingerzeit haben sich erhalten; die Marinaküste ist eine alte
Kulturlandschaft, deren Leben von Wohlstand und bürgerlicher
Behaglichkeit geprägt ist. Die Marmorklippen trennen diese urbane
Landschaft von der nach Norden hin gelegenen »Campagna«, einem leicht
steppigen Wiesengürtel, auf dem im Sommer zwischen alten Gehöften große
Rinderherden weiden. Die Campagna wiederum geht in ein »Sumpfland«
über, das nicht besiedelt ist, aber Schilfhütten und Baumnester aufweist, in
denen dubiose Gestalten Unterschlupf finden können. Und jenseits dieses
Sumpfgürtels beginnt – weiter nach Norden hin – der »Hochwald«
anzusteigen, der vom »Oberförster« beherrscht wird; dringt man in ihn ein,
so stößt man bald auf die Schinderstätte »Köppels-Bleek«. Hinter ihm, noch
sehr viel höher im Norden und dem Blick entzogen, liegt schließlich die
»Vater-Heimat« (62/287) der beiden Brüder.
Faßt man nun auch die Bewohner dieser unterschiedlichen Landstriche
genauer ins Auge, so zeigt sich vollends, daß die Landschaft der Marmor-
Klippen bei aller Ähnlichkeit mit der Überlinger Bodensee-Gegend eine
ausgesprochen symbolistische ›Architektur‹ hat, insofern in ihren
verschiedenen Regionen unterschiedliche Lebensprinzipien und Kulturstufen
angesiedelt sind: Ganz im Süden von Alta Plana wie ganz im Norden der
Vaterheimat leben offensichtlich starke Völker, die ihre Unabhängigkeit und
ihre eigene Ordnung zu verteidigen wußten. Noch gilt dies auch für die
Campagna, auf der wehrhafte Viehzüchter wie der alte Belovar im
Sippenverband nach alter Ordnung leben, doch ist die Campagna bereits
durch das anarchische Element des Oberförsters unterwandert. Und erst
recht ist dies in der Marina der Fall: Nach einem verlorenen Eroberungskrieg
gegen die »freien Völker« von Alta Plana ist die Bürgerschaft der Marina so
geschwächt, daß sie ihre Ordnung gegen den ihr feindlich gesonnenen
Oberförster nur noch mit Hilfe einer Söldnertruppe verteidigen kann. Aber
diese ist von zweifelhafter Loyalität und steht gesinnungsmäßig dem
Oberförster nahe. Das ist nicht verwunderlich: Wie der Oberförster ist auch
der Söldnerführer Biedenhorn ein Mauretanier.
Was den Oberförster in besonderer Weise charakterisiert und ihn anderen
überlegen macht, ist zum einen sein charismatisches Herrentum und zum
andern seine anarchische Vitalität, der jede politische und ethische Ordnung
zuwider ist. Beides zeigt sich in seinem Habitus, der zunächst einmal als
»fürchterliche Jovialität« beschrieben wird (29/265), in der Version von
1949 sogar als die »fürchterliche Jovialität des Menschenjägers«
([132]/335). Auf seinen Höfen hält er »welsche Kurtisanen«, um mit ihrer
Hilfe die Notabeln der angrenzenden Gebiete zu korrumpieren. Seine
Gefolgschaft besteht aus allerlei hergelaufenen Menschen mit dubioser
Vergangenheit und liederlichem Charakter; es ist das »Waldgelichter«, das
im Sumpfland zwischen dem Hochwald und der Campagna haust und von
dort aus mit Schandtaten aller Art Unsicherheit und Angst in die Campagna
und die Marina trägt. Barbarei und Kultur stehen sich gegenüber, und die
Barbarei ist im Begriff, sich den Raum der Kultur und Gesittung zu
unterwerfen. Über diesen Niederungen liegen auf den marmornen Felsen die
Rautenklause und auf einem benachbarten Hügel das Kloster Maria Lunaris,
das von Pater Lampros, dem »Klaren« oder »Leuchtenden«, geleitet wird. In
ihm finden die beiden nach dem Sinn und der Ordnung der Welt suchenden
Brüder einen Geistesverwandten, der ihnen allerdings voraus ist, weil er
nicht nur ein namhafter Naturkundler – Phyllobius – ist, sondern auch über
das esoterische Wissen der alten christlichen Mönchsorden verfügt.
Aber die Rautenklause ist nicht nur ein Ort der gelehrten Welterkundung
und der geistigen Läuterung, sondern auch ein Ort des ursprünglichen
Lebens. Denn nicht nur die beiden Brüder wohnen in ihr, sondern auch die
»Altmutter« Lampusa und der Knabe Erio. Dieser ist ein Sohn des Erzählers,
Produkt einer soldatischen Liebelei mit Lampusas Tochter Silvia, die den
Knaben bald nach seiner Geburt ihrer Mutter in die Arme drückte und »mit
fremdem Volk« davonging. Lampusa dient nun den beiden Brüdern als
»Schaffnerin« und verkörpert, wie dem Erzähler sehr wohl bewußt wird,
einen weiblichen Gegenentwurf zur betont männlichen Lebensweise der
beiden Brüder (Kap. 5): Während diese in ihren soldatisch karg
eingerichteten und streng geordneten Studios wohnen, haust Lampusa in
einer tief in den Felsen eingegrabenen Küche, in der es nach allerlei Vorräten
duftet. Während die beiden Brüder im Garten »streng nach der Regel«
pflanzen und die Beete mit penibel beschriebenen Porzellantäfelchen
bestücken, verscharrt Lampusa den Samen mit leichter Hand zwischen dem
Unkraut, das sie unbekümmert wuchern läßt, und zieht doch das Dreifache
von dem, was die Brüder von ihren säuberlich gejäteten Beeten ernten.
Überdies hat sie mit abendlichen Milchschalen die Lanzenottern angelockt,
die »in den Klüften und Schrunden der Rautenklause« hausten, so daß
Garten und Haus nun auch von zutraulich gewordenen Schlangen bewohnt
sind. Und schließlich finden sich in ihrer Küche allerlei Menschen ein, die
den beiden Brüdern nicht ganz geheuer sind. Kurz: Die hexenartige
Lampusa repräsentiert – wie der anarchische Oberförster – das
naturwüchsige und formlose Leben. Im Unterschied zu diesem ist sie aber
nicht destruktiv, nicht aufs Zerstören und Töten aus; vielmehr hat sie eine
Freude an allem, was wächst und gedeiht, und mit kupplerischer Freude ist
sie dabei, wenn sich beim Erzähler einmal eine junge Dame einfindet.
Diese Landschaft mit ihren verschiedenen Räumen und Populationen ist
in dreifacher Hinsicht modellhaft. Zum einen treffen in ihr verschiedene
Lebensprinzipien antagonistisch aufeinander: Ordnungsstreben und
anarchische Gesinnung; Unterwerfungsbegehren und Freiheitsliebe;
Lebensbejahung und Vernichtungslust. Zum andern begegnen sich
verschiedene Kulturstufen in ebenfalls antagonistischer Weise: Die Barbarei
des Hochwalds und des Sumpflands schickt sich an, die archaische Ordnung
der Campagna und die bereits dekadente Zivilisation der Marina samt der
Geistigkeit der Klöster und Gelehrtenklausen zu überwältigen und zu
zerstören. Und schließlich ist das Modell der Marmor-Klippen auf die
Zeitgeschichte zu beziehen. Dafür gibt es einige Motive, die zwar unscharf,
aber unübersehbar sind und eine zeitgeschichtliche Deutung geradezu
herausfordern: Zunächst die charismatische Gestalt des Oberförsters, die mit
ihrer »fürchterlichen Jovialität« an Göring, aber auch an Hitler denken läßt;
danach der Name der Schinderstätte »Köppelsbleek«, der zwar ein Goslarer
Flurname ist und den Ort meint, »an dem der Scharfrichter die Köpfe
bleichen ließ«, aber von Zeitgenossen sogleich als »Göbbelsbleek« gelesen
wurde (3, 435 sowie 10, 169 und 20, 299); dann die Sphäre des Terrors mit
nächtlichen Verhaftungen und geheimen Folterstätten, wie sie sich nach der
nationalsozialistischen »Machtergreifung« auftat; schließlich die an das
Ende der Weimarer Republik erinnernde ›Zerrüttungsstrategie‹, mit welcher
der Oberförster die Campagna und die Marina nach und nach destabilisiert
und für die Überwältigung reif macht. Jünger hat zwar in der Nachkriegszeit
mehrfach behauptet, daß die Marmor-Klippen »nicht speziell« auf die
»Vorgänge in Deutschland« zugeschnitten gewesen seien (3, 615). Er wollte
– in planetarischen und weltgeschichtlichen Dimensionen denkend – in
seiner Erzählung ein grundlegendes Muster der Geschichte offenbaren. In
der Tat könnte man in den Marmor-Klippen auch den Zersetzungsprozeß der
römischen Republik zwischen Tiberius Gracchus und Sulla gespiegelt sehen,
den Jünger gut studiert hatte. Zugleich hat er aber eingeräumt, daß die
»Vorgänge in Deutschland« in den Rahmen seiner Erzählung paßten, und im
Gespräch mit Gnoli und Volpi sagte er 1995 ausdrücklich, daß die Marmor-
Klippen seine Antwort auf Goebbels’ Triumph nach der »Machtergreifung«
gewesen seien.
Die Unterwanderung und gewalttätige Zerrüttung der Campagna und der
Marina, die in der mittleren Kapitelgruppe (9- 19) geschildert wird, ist
dadurch gekennzeichnet, daß die Gefolgsleute des Oberförsters mit äußerster
Grausamkeit arbeiten. Die Erzählung demonstriert dies am Beispiel der
»Perlenechsen«, die bei der Rautenklause leben und von dem
»Waldgelichter« gejagt werden:
Die schönen, goldgrünen und leuchtend weiß gesternten Tiere
hatten unser Auge oft erfreut, besonders wenn wir sie im
Brombeerlaub erblickten, das als ein rotes Rankenwerk die
Klippen überspann. Die Häute waren bei den welschen
Kurtisanen, die der Alte auf seinen Höfen aushielt, sehr
begehrt; auch ließen seine Muscadins [Rauschgifthändler]
und Spintrier [Strichjungen] sich daraus Gürtel und feine
Futterale fertigen. So wurden diese grünen Zauberwesen
unbarmherzig verfolgt und schlimme Grausamkeiten an ihnen
ausgeübt. Ja, diese Schinder nahmen sich nicht einmal die
Mühe, sie zu töten, sondern beraubten sie noch lebend ihrer
Haut und ließen sie als weiße Schemen die Klippen
hinunterschießen, an deren Fuß sie unter Qualen verendeten.
(54/282)
Die Schilderung dessen, was diesen schönen »Zauberwesen« angetan wird,
ist freilich nur ein schmerzender Verweis auf Schlimmeres:
Solche Aasjäger-Stückchen gaben indessen nur den Vorwand
her, um bei den Höfen und Häusern [der Marina] zu
spionieren, ob in ihnen noch ein Rest von Freiheit lebendig
war. Dann wiederholten sich die Banditen-Streiche, die man
schon aus der Campagna kannte, und die Bewohner wurden
bei Nacht und Nebel abgeführt. Von dort kam keiner wieder,
und was wir im Volk von ihrem Schicksal raunen hörten,
erinnerte an die Kadaver der Perlen-Echsen, die wir
geschunden an den Klippen fanden, und füllte unser Herz mit
Traurigkeit. (54f./282)
Der Anblick dessen, was »dort« geschieht, bleibt den beiden Brüdern nicht
erspart. Auf der Suche nach dem »Roten Waldvögelein«, einer seltenen
Orchidee, dringen sie an einem nebligen Tag in den Hochwald ein und bis
zur Rodung von Köppelsbleek vor. Was sie dort zusammen mit dem Roten
Waldvögelein erblicken, greift ihnen »wie mit Krallen nach dem Herzen«:
Die Rodung war mit dürrem Grase überwachsen, das nur im
Hintergrunde der grauen Kardendistel, die man auf Abraum-
Plätzen findet, wich. Von diesem trockenen Bestande hoben
sich seltsam frisch zwei große Büsche ab, die wir beim ersten
Blick für Lorbeer-Sträucher hielten, doch waren die Blätter
gelb gescheckt, wie man dergleichen in Fleischerläden sieht.
Sie wuchsen zu beiden Seiten einer alten Scheuer, die weit
geöffnet auf der Rodung stand. Das Licht, das sie beschien,
war zwar kein Sonnenlicht, doch gleißend und schattenlos
und hob den weißgetünchten Bau sehr scharf hervor. Die
Mauern waren durch schwarze Balken, die auf drei Füßen
standen, in Fächer eingeteilt, und über ihnen stieg spitz ein
graues Schindeldach empor. Auch waren Stangen und Haken
an sie angelehnt.
Über dem dunklen Tore war am Giebel-Felde ein Schädel
festgenagelt, der dort im fahlen Lichte die Zähne bleckte und
mit Grinsen zum Eintritt aufzufordern schien. Wie eine Kette
im Kleinod endet, so schloß in ihm ein schmaler Giebelfries,
der wie aus braunen Spinnen gebildet schien. Doch gleich
errieten wir, daß er aus Menschen-Händen an die Mauer
geheftet war. Wir sahen das so deutlich, daß wir den kleinen
Pflock erkannten, der durch den Teller einer jeden getrieben
war. […]
Das Innere der Scheune lag fast im Dunkel, und wir
erkannten nur dicht am Eingang eine Schinderbank mit
aufgespannter Haut. Dahinter schimmerten noch bleiche,
schwammige Massen aus dem finstren Grund. Zu ihnen sahen
wir in die Scheuer Schwärme stahlfarbener und goldener
Fliegen schwirren wie in ein Bienenhaus. Dann fiel der
Schatten eines großen Vogels auf den Platz. Er rührte von
einem Geier, der mit ausgezackten Schwingen auf das
Kardenfeld herniederstieß. Erst als wir ihn bis an den roten
Hals langsam im aufgewühlten Grunde schnäbeln sahen,
erkannten wir, daß dort ein Männlein mit der Hacke am
Werke war und daß der Vogel seine Arbeit begleitete, so wie
der Rabe dem Pfluge folgt.
Nun legte das Männlein die Hacke nieder und schritt, ein
Liedchen pfeifend, auf die Scheuer zu. Es war in einen grauen
Rock gekleidet, und wir sahen, daß es sich wie nach wackrem
Werk die Hände rieb. Nachdem es in die Scheuer eingetreten
war, begann ein Pochen und Schaben an der Schinderbank,
dazu es in lemurenhafter Heiterkeit sein Liedchen weiterpfiff.
[…] (93ff./309f.)
Nach einem Moment des Schreckens fliehen die Brüder, kehren aber noch
einmal zurück, um das Rote Waldvögelein auszugraben, genau zu vermessen
und im Fundbuch zu registrieren. Dies nicht zu tun, hätte bedeutet, vor der
Barbarei, die sich in Köppelsbleek zeigte, zu kapitulieren. Das betrachtende
Botanisieren ist für die Brüder eine Form des Widerstands und muß
deswegen unter allen Umständen fortgeführt werden.
Das weitere Geschehen ist rasch rekapituliert: Begleitet von Braquemart
unternimmt der junge, aus der Marina stammende Fürst Sunmyra einen
Vorstoß in den Hochwald, um den Oberförster zu töten. Er wird aber
vorzeitig entdeckt und zusammen mit seinem Begleiter auf Köppelsbleek
enthauptet. Da die beiden nicht zurückkehren, macht sich der Erzähler auf
die Suche, wobei er von dem streitbaren Campagna-Bauern Belovar samt
Söhnen, Knechten und einer starken Hundemeute begleitet wird. Ihnen stellt
sich die Hundemeute des Oberförsters in den Weg, und es kommt zu einem
blutigen Kampf. Der Erzähler verfolgt die Lieblingsdogge des Oberförsters
und gelangt dabei erneut nach Köppelsbleek, wo er die Köpfe Sunmyras und
Braquemars auf Stangen aufgesteckt findet. Den des Fürsten nimmt er an
sich und flieht durch den Wald an dem inzwischen getöteten Belovar und
seinem bereits brennenden Gehöft vorbei zu den Marmorklippen, von deren
Anhöhe er einen Blick auf die Marina wirft und diese nun »im Purpur-
Mantel der Vernichtung« sieht:
Nun war die Tiefe des Verderbens in hohen Flammen
offenbar geworden, und weithin leuchteten die alten und
schönen Städte am Rande der Marina im Untergange auf. Sie
funkelten im Feuer gleich einer Kette von Rubinen, und
kräuselnd wuchs aus den dunklen Tiefen der Gewässer ihr
Spiegelbild empor. Es brannten auch die Dörfer und die
Weiler im weiten Lande, und aus den stolzen Schlössern und
den Klöstern im Tale schlug hoch die Feuersbrunst empor.
Die Flammen ragten wie goldene Palmen rauchlos in die
unbewegte Luft, indes aus ihren Kronen ein Feuer-Regen fiel.
Hoch über diesem Funken-Wirbel schwebten rot angestrahlte
Taubenschwärme und Reiher, die aus dem Schilfe
aufgestiegen waren, in der Nacht. Sie kreisten, bis ihr
Gefieder sich in Flammen hüllte, dann sanken sie wie
brennende Lampione in die Feuersbrunst hinab.
Als ob der Raum ganz luftleer wäre, drang nicht ein Laut
herauf; das Schauspiel dehnte sich in fürchterlicher Stille aus.
Ich hörte dort unten nicht die Kinder weinen und die Mütter
klagen, auch nicht das Kampfgeschrei der Sippenbünde und
das Brüllen des Viehes, das in den Ställen stand. Von allen
Schrecken der Vernichtung stieg zu den Marmor-Klippen
einzig der goldene Schimmer auf. So flammen ferne Welten
zur Lust der Augen in der Schönheit des Unterganges auf.
(142f./341f.)
Von den Hunden, die hinter ihm herjagen, wird der Erzähler in letzter
Minute durch die von seinem Sohn Erio alarmierten Giftschlangen gerettet.
Allerdings muß er mit seinem Bruder dann die Flucht ergreifen. Die
Rautenklause und ebenso das Kloster Maria Lunaris fallen den Flammen
zum Opfer. Daß sie heil davonkommen, verdanken sie dem Söldnerführer
Biedenhorn, dem sie im Krieg gegen Alta Plana das Leben gerettet haben. Er
stellt ihnen seine Brigantine zur Verfügung, und mit dieser fliehen sie ans
Ufer von Alta Plana, wo sie freundschaftlich aufgenommen werden, weil sie
im Krieg auch dem Sohn eines Großen von Alta Plana Leben und Freiheit
geschenkt haben. So können sie in die festlich geschmückte Tenne der
Bodenalm »wie in den Frieden des Vaterhauses« einziehen.
Die Marmor-Klippen enthalten Stellen, die man leicht auf das NS-Regime
beziehen konnte und die gewagt waren. Nach der Schilderung der
Schinderhütte von Köppelsbleek heißt es:
So sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis
sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer
Feste sich kräuseln sieht -: Stankhöhlen grauenhafter Sorte,
darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der
Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit
schauerlich ergötzt. (96/310f.)
Daß die Marmor-Klippen trotz solcher Sätze und der augenfälligen
Analogien zur NS-Herrschaft publiziert werden konnten und nach dem
Erscheinen nicht sofort verboten wurden, ist verwunderlich. Die Umstände
der Veröffentlichung haben der damalige Leiter des Zensurreferats im
Propagandaministerium, Heinz Gruber, und der damalige Cheflektor der
Hanseatischen Verlagsanstalt, Paul Weinreich, dargelegt. Gruber, der vom
linken Flügel der NSDAP um die Brüder Strasser kam, will das Buch als
»nicht zensurpflichtig« eingestuft und gegenüber Vertretern des ebenfalls mit
Prüfungen befaßten »Amtes Rosenberg« als nicht zeitbezogen verteidigt
haben. Der »Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des
nationalsozialistischen Schrifttums« hatte man das Buch erst gar nicht
vorgelegt; vielmehr hatte die Verlagsleitung beschlossen, es ohne deren
»Unbedenklichkeitsvermerk« auf den Markt zu bringen. Man hoffte, daß
sich die NSDAP, wenn das Buch erst einmal in einigen tausend Exemplaren
verbreitet war, nicht die Blöße eines nachträglichen Verbots geben und es
außerdem nicht wagen würde, gegen den »Pour le mérite«-Träger Jünger
vorzugehen, zumal dieser nun wieder im Feld stand (vgl. 20, 234 – 237).
Diese Taktik war riskant, erwies sich aber als richtig. Zwar kam es zu
mehreren Interventionsversuchen, die aber alle erfolglos blieben,
möglicherweise auf Anordnung Hitlers unterdrückt wurden (vgl. 20, 233 –
237 sowie 552f. und 573). So konnten – laut Weinreich – vom Erscheinen
der Marmor-Klippen im Oktober 1939 bis zum Oktober 1943 rund 67 000
Exemplare ausgeliefert werden, zuletzt allerdings unter Behinderung durch
Papierverweigerung.
Der Absatz der Marmor-Klippen war von Anfang an beachtlich: In den
ersten drei Monaten wurden 12 000 Exemplare verkauft. Als 1942 kein
Papier mehr zugeteilt wurde, ließ der Militärbefehlshaber in Frankreich,
Carl-Heinrich von Stülpnagel, in Paris eine »Wehrmachtsausgabe« mit einer
Auflage von 20 000 drucken; auch in Riga soll es eine Wehrmachtsauflage
gegeben haben. 1942 erschienen Übersetzungen ins Französische und
Italienische; eine englische Ausgabe erschien 1947.
Erwartungsgemäß fanden die Marmor-Klippen eine starke Resonanz auch
in der Presse, die von Heidrun und Erwin Rotermund umsichtig registriert
wurde. Zusammenfassend kann man sagen, daß sich die nationalsozialistisch
gesteuerte Presse sehr zurückhielt, das Buch gar nicht oder nur nur knapp
erwähnte und als harmlos erscheinen ließ. In anderen Zeitungen und
Zeitschriften wurde die Erzählung indessen ausführlich besprochen. Fast
immer wiesen die Rezensenten in der einen oder anderen Form auf aktuelle
Bezüge des Buches zur NS-Realität hin, manche sehr getarnt, manche – wie
Gerhard Nebel – überraschend deutlich. Allzu deutlich wurden zwei
ausländische Rezensionen, von denen die eine 1942 in der Schweiz, die
andere 1944 in Amerika erschien. Sie wiesen so nachdrücklich auf Bezüge
zur Gegenwart hin, daß Jünger befürchtete, Schwierigkeiten zu bekommen.
In Zürich ließ er deswegen durch einen Bekannten intervenieren (2, 285 und
293).
Jünger hat später aufgrund verschiedener Hinweise, die ihm im Lauf der
Jahre zugetragen wurden, mehrfach zu verstehen gegeben, daß die Marmor-
Klippen während des Zweiten Weltkriegs als Widerstandsbuch gelesen
wurden oder – bis in den Kreis der »Weißen Rose« hinein (20, 283f.) – zur
Herausbildung von Widerstandsgesinnung beigetragen haben. Im einzelnen
ist dies schwer nachprüfbar, vor allem ist die Intensität der Wirkung kaum zu
bestimmen. Immerhin hat der Politikwissenschaftler und Publizist Dolf
Sternberger aus dem Rückblick von 1980 auf differenzierte Weise
beschrieben, welche Bedeutung die Marmor-Klippen 1940 für ihn erlangten:
Die Lektüre erregte und bewegte uns außerordentlich. Es [das
Buch] war wie ein Signal, das plötzlich aus der Düsternis
aufschießt und die Gegend erhellt. Es bot Stärkung und
wirkte als Mittel der Verständigung unter denen, die gegen
Bedrohung oder Versuchung der Tyrannei sich festigten.
Niemand unter den Lesern, die ich kannte, hat daran
gezweifelt, daß in den Visionen dieser Erzählung die
Erkenntnis unserer eigenen gegenwärtigen Lage
ausgesprochen war. In Chiffren war unseren elenden
Beherrschern das Urteil gesprochen. Man rieb sich die
Augen, es schien fast unglaublich, daß dergleichen möglich
war. […] Einzelne Wendungen, Momente und Motive sind
mir seither unverwischt im Gedächtnis, im Bildervorrat und
im Sprachschatz geblieben, über die vierzig Jahre hin. Vor
allem aber ist uns jener Entsetzensblick für Lebenszeit
gegenwärtig, den der Erzähler dort auf die »Schinderstätte«
tat, eine versteckte Blöße im Wald, wo Menschenleiber
ausgebeint werden und wo ein unscheinbares Männchen, vor
sich hin pfeifend, auf einer Werkbank Menschenhaut
bearbeitet. »Köppels-Bleek« – auch der Name des
grauenhaften Ortes ist wohl jedem im Sinn geblieben, der es
damals gelesen hat. Denn es war die Welt der
Konzentrationslager, die Sphäre des Geheimterrors, die hier
in ein unvergeßliches Momentbild gefaßt zu sein schien, fern
von Photographie und Reportage, eine szenische Abbreviatur
von eigner Macht und großer Schärfe. Gerade darum hatte es
eine eigentümlich befreiende Wirkung, ohne daß der tödliche
Ernst unserer wirklichen Situation irgend gemildert
erschienen wäre. Man war sprachlos gewesen, man hatte –
wie die Redensart geht – keine Worte; so über alle Begriffe
und Vorstellungen war, was man erfuhr und ahnte. Nun hatte
der Dichter ein Wort gefunden. Es schloß Erkenntnis ein,
präzise Wahrnehmung und ein Grauen, das doch auszuhalten
war.
Auf eine ähnliche Reaktion lassen zwei Briefe schließen, die Heinrich Böll
am 10. Februar und am 26. März aus dem Feld an seine Frau schrieb. Böll
nannte die Marmor-Klippen darin ein »unsagbar strenge[s] und sakrale[s]
Buch«, das ihn nachhaltig beschäftigte, und vermißte nur »eine würdige und
christliche Einordnung der Frau in die Welt«. Allerdings darf man nicht
glauben, daß Sternberger und Böll repräsentativ für die ganze Leserschaft
sind. Ein Brief vom 6. Dezember 1939, in dem Rudolf Schlichter Jünger
unter anderem vom Besuch eines Soldaten berichtet, korrigiert dieses Bild.
Bei dem Genannten handelt es sich um einen damals
fünfundzwanzigjährigen Mann, der Jünger 1944/45 bei der Kopie der
Friedensschrift half und später Leitender Kulturredakteur des Bayerischen
Fernsehens wurde. Es heißt in Schlichters Brief:
Kürzlich war Manfred Schwarz hier; er kam geradewegs aus
dem polnischen Feldzuge. Als wir ihn fragten, wie er sich
fühle, erklärte er, er hätte sich noch nie so »pudelwohl«
gefühlt wie jetzt. Wir saßen wie zwei altkluge Kinder
staunend vor solch jugendlicher Unangreifbarkeit. […] Er
erzählte uns u. a., daß er auch Ihr letztes Buch gelesen habe,
doch hatte ich den Eindruck, als ob er an den wichtigsten
Stellen vorbeigelesen habe, wahrscheinlich geschah dies ganz
instinktiv. Es ist vielleicht auch besser so.
Daß es möglich sein mochte, an dem »vorbeizulesen«, was zu einer
kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und dem Krieg hätte
führen können, ist verwunderlich, aber nicht ganz unerklärlich. Vor allem
zwei Komponenten von Jüngers Erzählung dürften dies ermöglicht haben.
Die eine ist die Untergangslust, die sich in den Marmor-Klippen artikuliert;
die andere ist die Klassifizierung von Menschen.
Der Erzähler der Marmor-Klippen und sein Bruder sind auf eine
Katastrophe eingestellt, ja, sie halten sie für nötig. Sie sind nämlich der
Meinung, daß Recht und Unrecht in der Welt dermaßen ineinander
verschlungen sind, daß es einer Reinigung durch einen apokalyptischen
Vorgang, durch einen Weltenbrand, bedarf, damit eine Lebensordnung, die
diesen Namen verdient, wieder hergestellt werden kann. Diese Vorstellung
geht auf biblische und frühgriechische Zeiten zurück; insbesondere bei
Heraklit, der in der Zeit von Jüngers Sozialisation in hohem Ansehen stand,
finden sich entsprechende Äußerungen (Fragmente 57 – 67). Von da an
durchzieht der Gedanke der »Ekpyrosis« oder »Ausbrennung« die ganze
abendländische Geistesgeschichte und erlangt in verschiedenen Epochen wie
der Romantik und bei einzelnen Autoren wie Hölderlin große Bedeutung.
Die »furchtbare« Flamme des Weltenbrands ist zugleich eine »fruchtbare«
Flamme; aus der Asche der verbrannten Welt steigt – gleich dem Vogel
Phönix – eine neue auf. In diesem Sinn schrieb Jünger, als er – in Erwartung
eines neuen Kriegs – an den Marmor-Klippen arbeitete, am 21. April 1939 in
sein Tagebuch: »Auch das historische System geht hin und wieder, um zu
bestehen, gleich dem Kosmos in Feuer auf« (2, 40). Und in diesem Sinn
einer letztlich fruchtbaren, erneuernden »Ekpyrosis« erlebt der Erzähler
denn auch den Untergang der Marina. Seine Schilderung ist entsprechend
perspektiviert und symbolisch aufgeladen: Vom Wehgeschrei der Menschen
und vom Brüllen der Tiere hört der Erzähler, wie er ausdrücklich sagt,
nichts; er sieht nur das faszinierende Feuerwerk, in dem hohe Flammen wie
»goldene Palmen« aufragen und über dem Tauben und Reiher kreisen, bis
sie wie »brennende Lampione« abstürzen. Palmbäume sind aber seit alters
her Symbole der Fruchtbarkeit, wie Tauben Symbole des Friedens sind und
Reiher den immer wieder aus der Asche aufsteigenden Phönix verkörpern.
Kurz: Vernichtung muß sein; im Sinne einer fatalen philosophischen
Tradition, der Jünger mit seiner Zeit anhing, ist der Untergang nicht zu
fürchten, sondern als Notwendigkeit zu begreifen und womöglich ästhetisch
als Vorschein einer neuen Welt zu genießen. Und das heißt: Man konnte die
Marmor-Klippen sehr wohl während des Polenfeldzugs lesen und sich dabei
»pudelwohl« fühlen, vorausgesetzt natürlich, man war so weit vom Zentrum
der »Ekpyrosis« entfernt, daß die fruchtbaren goldenen Flammen nicht
furchtbar sengend nach einem selber griffen. Freilich ist auch festzuhalten,
daß die Marmor-Klippen nicht zur Vernichtung aufrufen, sondern aller
Gewaltanwendung widersprechen und die Vernichtung, die geschieht,
beklagen, obwohl sie – vermeintlich – geschehen muß.
Die andere Komponente, die es ermöglichen mochte, die Marmor-Klippen
auch während einer militärischen Aktion mit gutem Gewissen zu lesen, ist
die Unterteilung der Menschen in gute und böse, hohe und niedrige,
wertvolle und unwerte. Natürlich gehören der Erzähler, sein Bruder Otho
und der Pater Lampros zu den »Optimaten«, wie der Bruder zu sagen pflegt
(22/260). Auch die Hirten der Campagna sind respektabel: rauh zwar, aber
auch gut und nach ihrer Sitte ehrenhaft. Anders aber die Gefolgsleute des
Oberförsters: Von ihnen hört man »das Niederste und Unterste, deß <!>
Menschen fähig sind« (44/275), und so ist es auch billig, daß der
Oberförster, um eine gewisse Ordnung zu halten, »zuweilen ein paar
Dutzend wie Krammets-Vögel in die Bäume knüpfen« läßt (58f./285).
Manche Populationen, so konnte man schlußfolgern, haben genau dies
verdient.
Derartige Momente sind in einigen literaturwissenschaftlichen Studien
registriert und zu einer massiven Kritik an den Marmor-Klippen gebündelt
worden, zuletzt von Roswitha Schieb, die in ihrer sehr bemerkenswerten
Dissertation zeigt, in welchem Maß Jünger in den fragwürdigen, zum Teil
diskriminierenden Klischees und Begriffen seiner Zeit befangen war. Auf
»der Ebene der Meinungen« oder, anders gesagt, der direkt mitgeteilten
Botschaft seien die Marmor-Klippen zwar eine »Widerstandsparabel«, nicht
aber auf der »Ebene der zugrundeliegenden Strukturen«. Zu diesen zählt
nicht nur die eben beschriebene Klassifizierung der Menschen, sondern auch
die Zelebrierung der soldatischen Männerwelt, die verächtliche Behandlung
der Frauen (die Schieb konstatiert), die lebensverachtende
Geschichtsphilosophie, die Ästhetisierung der Vernichtung und der
Selbstgenuß bei der Wahrnehmung von Leid und Untergang. Und diese
Kritik ist nicht einfach als gegenstandslos zu bezeichnen. Wer die Marmor-
Klippen mit den Augen der heutigen political correctness oder der
Nüchternheitspoetik des späteren Paul Celan liest, wird viel Anlaß zur Kritik
finden. Sie hat freilich einen anachronistischen Charakter, weil sie von
einem Autor verlangt, was die Bindung an seine Zeit kaum erlaubt. Noch
nicht einmal Dolf Sternberger, der doch nach dem Zweiten Weltkrieg das
sprachund ideologiekritische Wörterbuch des Unmenschen mit herausgab,
hat daran Anstoß genommen, daß die Marmor-Klippen
diskriminierenderweise von »Spintriern« reden und Menschen wie
»Krammetsvögel« baumeln lassen, und bekanntlich hat Celan nicht etwa mit
dem Gedicht Weggebeizt (1967) begonnen, sondern mit der Todesfuge
(1947), die ihm aber bald als so ›poetisch‹ erschien, daß er sie nicht mehr
öffentlich vorgetragen haben wollte. Anders gesagt: Kritik an Jünger und
speziell an den Marmor-Klippen auf der Basis einer später entwickelten
Ideologiekritik und Poetik ist nicht illegitim, sondern macht auf Aspekte
aufmerksam, die prinzipiell prekär sind; sie sollte aber nicht absolut gesetzt,
sondern durch die Berücksichtigung des geschichtlichen Standorts relativiert
werden.
Dies gilt auch für den Kitsch-Vorwurf, der gegen Jünger und speziell
gegen die Marmor-Klippen vielfach erhoben wurde. Auch hier ist
einzuräumen, daß – je nach Definition und Empfindlichkeit – vieles als
Kitsch betrachtet werden kann: die phantastische Landschaft, der
Aristokratismus, die Hirtenromantik, die preziöse Sprache, die Erzeugung
einer sentimentalen Stimmung und die genußvolle Artikulation der eigenen
Sentimentalität. Aber abgesehen davon, daß es hier sehr unterschiedliche
Empfindlichkeiten gibt, die nicht ohne weiteres einer engen Norm zu
unterwerfen sind, ist auch das Genre zu berücksichtigen: Die Marmor-
Klippen sind keine realistische, sondern eine symbolistische Erzählung mit
Anklängen an die Schauer-Romantik; als solche tendiert sie legitimerweise
zu Figurationen, die man als Kitsch empfindet, wenn man innerlich die Wahl
des Genres nicht akzeptiert hat und den Text mit einer anderen, etwa
realistischen Optik liest.
Vielfach wurde Kritik an der Imagination des Schindangers von
Köppelsbleek als Darstellung der KZ-Sphäre geübt; sie sei nicht nur
ästhetisierend, sondern verharmlosend und werde dem Grauen der
Vernichtungslager bei weitem nicht gerecht. Zweifellos ist dies so. Jünger
selbst kam, je mehr er über die Konzentrations- oder eigentlich:
Vernichtungslager erfuhr, auf den Verdacht, daß die Schilderung von
Köppelsbleek nicht eigentlich adäquat sei. Unter dem Eindruck von KZ-
Photographien mit Leichenbergen schrieb er 1972 in dem Essay Philemon
und Baucis:
Vielleicht habe ich die Schinderhütte noch etwas zu rosig
ausgemalt. Getötet wird dort [in den Vernichtungslagern]
nicht mehr kainitisch, nicht im Zorn, nicht aus Lust, sondern
eher auf wissenschaftliche Art. Die Öffentlichkeit wird
vermieden, trotzdem ist das Bewußtsein wach. Dafür spricht
die Technizität des Vorganges, das bezeugen die Aufnahmen.
(12, 470)
Man muß diese Selbstkritik nicht ganz und gar zurückweisen, aber doch
auch wieder historisch und ästhetisch relativieren. 1939 gab es die
Vernichtungslager, in denen fabrikmäßig gemordet wurde, noch nicht, und
sie waren wohl kaum erahnbar. Die Schinderhütte von Köppelsbleek steht –
historisch stimmig – nicht für den Völkermord an den Juden, sondern für
den individuellen Terror gegen Regimegegner und mißliebige Personen aller
Art. Dafür aber hat Jünger, wie Sternberger bezeugt, ein Bild geschaffen, das
nicht nur ästhetisch eindrucksvoll war und erschreckend wirkte, sondern
auch, wie Sternberger ausdrücklich sagt, »Erkenntnis« einschloß, indem es
nämlich auf die Exorbitanz dieses Terrors mit seinen atavistischen Folter-
und Ermordungsmethoden hinwies. Jünger war nicht der einzige Künstler,
der hierfür zum Bild der Menschenschlachtung griff; im Bereich der
bildenden Kunst gibt es Pendants von Giacomo Manzù (Christo e il
generale, 1942) und Alfred Hrdlicka (Anatomie des Leids, 1964).
Es bleibt die Frage, wie die Marmor-Klippen, die trotz mancher Kritik, die
man an ihnen üben mag, eine deutliche Verurteilung des NS-Regimes
darstellen, sich zur Idee des Widerstands verhalten. Immerhin gab ja der
Besuch eines jungen Widerständlers, Heinrich von Trotts, den Impuls zur
Konzeption und Niederschrift. Und mit dem Fürsten Sunmyra taucht ein
Widerständler auch in den Marmor-Klippen auf und versucht, begleitet von
dem Experten Braquemart, einen Anschlag auf den Oberförster auszuführen
(Kap. 20). Aber er scheitert und wird selber getötet. Pragmatische Gründe
für sein Scheitern werden nicht genannt; sie sind uninteressant. Sunmyra
muß scheitern, weswegen der Erzähler und sein Bruder auch davon absehen,
ihn auf seinem Gang in den Hochwald zu begleiten. Auch die Gründe für
diese Zurückhaltung werden nicht unmittelbar genannt; sie sind aber aus der
Erzählung zu erschließen: Die beiden Brüder sind offensichtlich der
Meinung, daß mit der Ermordung des Oberförsters oder, allgemein gesagt,
mit der Beseitigung des Anführers einer barbarisch-destruktiven Bewegung
nichts gewonnen wäre, weil dadurch der vorausgehende Verfall von Recht
und Sitte, der das Aufkommen und zersetzende Übergreifen dieser Kraft
provoziert und ermöglicht hat, nicht behoben würde. An die Stelle des
anarchisch-terroristischen Oberförsters würde nur der nihilistisch-
tyrannische Braquemart treten. Die Reinigung durchs »Feuer« eines
Bürgerkriegs kann dieser Gesellschaft nicht erspart bleiben. Deswegen
hoffte der Erzähler, daß die Aristokratie eines Tages zum offenen Kampf
antreten würde, und ist enttäuscht, daß nur ein jugendlicher Greis und müder
Träumer zum Attentat ansetzt. Sunmyra geht – nach Meinung des Erzählers
– den falschen Weg und muß scheitern. Die Marmor-Klippen stellen eine
politischpragmatisch wie geschichtsphilosophisch begründete Absage an das
Attentat dar. Ganz umsonst ist es freilich nicht: Es erinnert an die Werte und
Normen, die wieder geltend gemacht werden müssen. Insofern verdient der
Attentäter Anerkennung, ja Verehrung, selbst wenn er scheitert. Deswegen
birgt der Erzähler das Haupt des geköpften Sunmyra, konserviert es in einer
Amphore und übergibt es später den Bewohnern des Marinaufers, die es
beim Wiederaufbau ihres Domes in den Grundstein einfügen.
Die Marmor-Klippen erteilen der Idee eines Attentats, die an den
Verfasser herangetragen worden war, eine klare Absage. Das Problem war
für Jünger damit aber nicht erledigt. Der Verweis auf die unabdingbare
»Ekpyrosis«, die quietistisch abzuwarten war, wurde nicht nur durch das
täglich sich mehrende Verbrechen und Leiden in Frage gestellt, sondern auch
durch Jüngers oft bekundete Überzeugung, daß jeder einzelne wesentlichen
Einfluß auf das Geschick der Welt nehmen könne. Immer wieder finden sich
deswegen in den Aufzeichnungen der folgenden Jahre, also in den Pariser
Tagebüchern, Reflexionen auf die Attentatsproblematik und speziell auch
auf den Besuch, mit dem Heinrich von Trott Jünger für entsprechende
Planungen gewinnen wollte (2, 310 sowie 3, 280). Die Antwort, die Jünger
mit den Marmor-Klippen gegeben hatte, wurde immer wieder in Zweifel
gezogen.
Wie ist Jüngers Ablehnung des Attentats im Jahr 1939 aus heutiger Sicht
zu beurteilen? Die Vorstellung von der unabdingbaren Reinigung der
Verhältnisse durch eine Art von »Ekpyrosis« bedarf keiner Diskussion mehr;
es ist die Ideologie einer vergangenen Epoche. Eine andere Frage ist,
welchen Effekt man sich von einem Attentat auf Hitler im Herbst 1938, als
Heinrich von Trott Jünger aufsuchte, versprechen konnte. Hitler stand auf
dem Höhepunkt seines Ansehens und war von Paladinen umgeben, die den
Machtapparat beherrschten. Mit ihm mußte nicht gleich das NS-Regime
fallen. Zudem hätte Hitlers Ermordung zu diesem Zeitpunkt zu einer fatalen,
den Nationalsozialismus stützenden Mythenbildung führen können. Insofern
ist Jüngers Ablehnung des Attentats verständlich. Zugleich ist aber auch zu
sehen, daß viele politisch reflektierte Zeitgenossen der Meinung waren, daß
Hitler als die treibende Kraft beseitigt werden müsse; die zahlreichen, mehr
oder minder weit vorangetriebenen Attentatspläne zeugen davon. Und mit
Eberhard Jäckels Abhandlung Hitlers Herrschaft ist festzustellen, daß
»neben der Beseitigung im Krieg« das Attentat »die einzige Möglichkeit«
war, Hitler »zu stürzen«. Daß die wenigen realisierten Versuche – wie der
des hellsichtigen Johann Georg Elser und später der des Grafen Stauffenberg
– scheiterten, gab zwar den Skeptikern – unter ihnen Ernst Jünger – recht,
befreite sie aber nicht von dem schlechten Gewissen, diese Möglichkeit, die
auch 1938/39 schon als einziger Weg erkennbar war, ausgeschlagen zu
haben. Die Marmor-Klippen sind nicht zuletzt auch ein
Rechtfertigungsversuch gegenüber einem Anspruch, der – nicht zu Unrecht
– gerade an Jünger herangetragen worden war und den er nicht mit leichter
Hand abtun konnte.
SECHSTER TEIL

Im zweiten Krieg

Ernst Jünger und


Carl Schmitt im Park
von Rambouillet,
Oktober 1941
Frühsommer 1940: Hauptmann
Jünger als Kompanieführer auf
dem Vormarsch über Sedan in
Richtung Laon und Paris.
»Darf man denn hoffen, daß
man noch ins Feuer kommt«,
fragte er den kommandierenden
General. Auf der anderen Seite
flohen indessen emigrierte
Schriftsteller-Kollegen wie
Walter Benjamin und Alfred
Döblin, um nach Marseille
oder über die Pyrenäen nach
Lissabon und weiter nach Amerika
zu kommen.
»Hauptmann Jünger«

Das Leben in Kirchhorst und die Niederschrift der Marmorklippen waren


von der sicheren Erwartung eines neuen Kriegs geprägt. Anfang April 1939
war man in Kirchhorst eingezogen. Am 25. April erhielt Jünger vom
Bezirkskommando Celle seinen Wehrpaß und ersah daraus, daß »der Staat«
ihn im »Range eines Leutnants z. V. in seinen Listen führt[e]« (2, 41). Es
wird ihn nicht allzusehr überrascht haben; der Umzug von Überlingen nach
Kirchhorst war ja wohl geschehen, um im Fall eines neuen Kriegs, mit dem
man seit dem Herbst 1938 rechnete, und einer Einberufung, die Jünger dann
zu erwarten hatte, im Einzugsbereich der alten Einheit und damit der alten
Kameraden und Vorgesetzten zu sein; bald sollte er auch erfahren, daß es
gelegentlich gut war, »vom angesammelten Schatz der Verdienste« zehren
zu können (2, 81). Möglicherweise hätte Jünger die Einberufung vermeiden
können. Im August nahm er auf Einladung des Reichsaußenministers
Joachim von Ribbentrop auf Schloß Fuschl bei Salzburg an einer
Lagebesprechung teil. Wie der Publizist Friedrich Sieburg, den Jünger hier
kennenlernte, hätte er in den diplomatischen Dienst eintreten und einen
Auslandsposten annehmen können; er lehnte aber ab. Am 26. August erhielt
er dann den Mobilmachungsbefehl, der ihn für den 30. August nach Celle
beorderte. Am 28. August notierte er im Tagebuch ganz im Sinne der in den
Marmorklippen entfalteten »Ekpyrosis«-Vorstellung:
Fortgang der Mobilisation in allen Ländern. Noch wäre Zeit
für den deus ex machina. Was könnte er aber bringen? Doch
höchstens Aufschub. Das Strittige ist so gehäuft, daß nur das
Feuer es aufarbeiten kann. (2, 68)
Am 30. August erhielt Jünger unmittelbar vor dem Aufbruch nach Celle die
Beförderung zum Hauptmann zugesandt. Von da an wurde er von den
Kirchhorster Nachbarn, für die ein »Schriftsteller« eine eher dubiose Person
darstellte, als »Herr Hauptmann« angesprochen, Gretha Jünger als »Frau
Hauptmann«. Seinen Dienst hatte Jünger für eine Woche in Celle zu leisten,
dann in Blankenburg im Harz und ab dem 8. Oktober bei den altvertrauten
»73ern« in Bothfeld bei Hannover, was es ihm ermöglichte, mit dem Fahrrad
für die Nacht nach Hause zu fahren. Der Dienst behagte dem einstigen
Mobilisierungsenthusiasten wenig; Gretha schrieb am 7. November 1939 an
Carl Schmitt: »Frühmorgens verließ er uns, nicht eben heiter, denn der
Dienst ließ ihm keine Stunde für sich, und diese Umstellung empfand er
doch recht schwer.« Um dem stupiden Kasernendienst zu entgehen, meldete
sich Jünger im Oktober als einer der wenigen älteren Offiziere zum
Fronteinsatz. Am 3. November rückte er als Chef der zweiten Kompanie des
Regiments 287 auf dem Übungsplatz Bergen ein, von wo aus er am 6.
November mit einem Transportzug in Richtung Westen in Bewegung gesetzt
wurde. Gretha bedauerte dies natürlich, bemerkte aber in dem eben
erwähnten Brief an Schmitt, daß sie die Haltung der zurückgebliebenen
Kameraden als »beschämend« empfinde. Im übrigen freute sie sich nun, daß
sie in Kirchhorst eine kleine Landwirtschaft aufgezogen hatte: »Ich lebe
recht einsam mit Carl Alexander [da Ernstel wieder nach Salem abgereist
war]; er hat sich vom Nachbarn einen Stall bauen lassen und füttert nun
täglich die jungen Häschen darinnen, 11 an der Zahl. Auch ein großes und
grunzendes Borstentier wurde angeschafft, damit wir im Januar Schlachtfest
halten können; die Bauern versorgen mich gut, der Keller ist wohl gefüllt,
wir haben 20 Zentner Obst und Gemüse geerntet, Nüsse und Weintrauben,
sodaß ich unseren Einzug ins Pfarrhaus immer wieder begrüßen muß.«
Jüngers Bereitschaft, wieder in den Krieg zu ziehen, darf nicht darüber
hinwegtäuschen, daß die Stimmung eine völlig andere war als zu Beginn des
Ersten Weltkriegs. Man hatte nicht vergessen, was nach dem Jubel vom
August 1914 bald zu sehen war. In Grethas Palette heißt es unter dem Datum
des 3. September: »Endlose Kolonnen, am Haus vorbeiziehend, und mir
wird schwer ums Herz, wenn ich in all die jungen Gesichter blicke und daran
denke, wer von ihnen wiederkehren mag.« Jünger meinte in der Nacht vom
31. August auf den 1. September im Halbschlaf aus dem Radio die Botschaft
zu hören, daß »die Verständigung mit Polen gelungen sei«, und überlegte,
wie er den Herbst in Kirchhorst verbringen wolle (2, 69). Die
Tagebuchnotizen über den Anmarsch zum Westwall am Oberrhein und über
die folgenden Wochen sind extrem sachlich. Von Begeisterung und
Abenteuerlust findet sich keine Spur. An Lektüre werden Hebbels Briefe
verzeichnet, dazu die Bemerkung: »Es tut immer wohl, zu wissen, daß schon
einmal jemand auf dieser Galeere weilte und daß er sich würdig auf ihr
verhielt« (2, 85).

»Sitzkrieg« am Oberrhein und »Westfeldzug«

Am 11. November kam Jünger mit seiner Kompanie am Westwall an und


bezog auf der Höhe von Baden-Baden eine Stellung bei Greffern am Rhein.
In diesem Gebiet blieb er bis Mitte Mai, allerdings mit wechselnden
Standorten und in unterschiedlichem Dienst. Ab Februar war er im
Frontabschnitt Iffezheim eingesetzt, Ende Februar besuchte er einen
Offizierskurs in Karlsruhe, und mehrfach konnte er für ein paar Tage nach
Kirchhorst fahren. Am Wall kam es gelegentlich zu kleinen Schießereien,
ansonsten blieb es ruhig; es herrschte »Sitzkrieg«, da sich die französische
Armee hinter der Maginotlinie eingeigelt hatte und die deutsche – zugunsten
des »Blitzkriegs« in Polen – von einem Vorstoß im Westen absah. In einer
»Auwaldhütte« bei Iffezheim beging Jünger am 29. März seinen
fünfundvierzigsten Geburtstag (2, 118ff.), der aus zwei Gründen
bemerkenswert ist: Zum einen barg er – unter französischem Feuer – einen
verwundeten und einen toten Artilleristen und wurde dafür einige Monate
später mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet (2, 188); es
blieb der einzige Orden, den Jünger im Zweiten Weltkrieg erhielt. Zum
andern begann er den Tag, wie er in seinen Aufzeichnungen ausdrücklich
vermerkte, mit einer Lesung des dreiundsiebzigsten Psalms. Diesen hatte
Schlichter ihm am Ende eines Briefs vom 6. Dezember 1939 zur Lektüre
empfohlen; er handelt vom Glück, aber auch vom Ende der gottlosen
»Ruhmredigen« oder Mächtigen:
Ihre Person brüstet sich wie ein fetter Wanst;
sie tun, was sie nur gedenken. […]
Was sie reden, das muß vom Himmel herab geredet sein;
was sie sagen, das muß gelten auf Erden.
Darum fällt ihnen der Pöbel zu
und läuft ihnen zu in Haufen wie Wasser. […]
Ich hätte auch schier so gesagt wie sie […]
bis ich ging in das Heiligtum Gottes
und merkte auf ihr Ende.
Ja, du setzest sie aufs Schlüpfrige
und stürzest sie zu Boden.
Wie werden sie so plötzlich zunichte!
Sie gehen unter und nehmen ein Ende mit Schrecken.
Jünger zitierte dies in seinen Aufzeichnungen nicht. Er vermerkte lediglich,
daß er den »73sten Psalm« gelesen hatte. Das sollte Konsequenzen haben.
Am 10. Mai 1940 wurde der »Sitzkrieg« durch einen deutschen Vorstoß
nach Westen beendet. Auch Jüngers Einheit wurde in Bewegung gesetzt und
zog – in Tagesmärschen von vierzig bis fünfzig Kilometern – über Speyer,
Kaiserslautern und Idar durch Luxemburg und Belgien nach Sedan und von
dort nach Laon. Jüngers Aufzeichnungen halten die Route und einzelne
Eindrücke fest. Sie zeigen den forschen Soldaten, der einen inspizierenden
General fragt: »Darf man denn hoffen, daß man noch ins Feuer kommt?« (2,
146). Zugleich zeigen sie aber auch den bedächtiger und mitleidiger
gewordenen Menschen, der, indem er das »Foyer des Todes« zum zweiten
Mal durchschreitet, vom Anblick der Zerstörung entlang der Marschroute
»erschüttert« wird und seine früheren »dunklen Träumereien« von
»menschenleeren« Räumen als Verfehlung abtut (2, 147).
Ins »Feuer« kam Jünger nicht. Als »Soldat« meinte er, dies bedauern zu
müssen; im Hinblick auf das Leid, das damit verbunden gewesen wäre, war
es ihm aber doch recht (2, 184). Vom 7. bis zum 15. Juni lag er mit seiner
Einheit in Laon. Von da aus ging es mit Lastwagen über Château-Thierry
und Montmirail nach Bourges, wo Jünger am 22. Juni, dem Tag des
Waffenstillstands, ankam. Die zu erfüllenden Aufgaben waren die einer
nachrückenden Besatzungstruppe: die Militärherrschaft zu sichern und, wo
es nötig war, die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens wiederherzustellen.
Überall frönte Jünger seinen kulturellen Interessen. In Laon bemühte er sich
um die Sicherung der alten und wertvollen städtischen Bibliothek; in
Bourges stöberte er in Antiquariaten und nahm bei einer »Madame Cécile«
Sprachunterricht. Aber auch andere Dinge beschäftigten ihn: Im Gespräch
mit Gnoli und Volpi bemerkte Jünger 1995, er habe in Bourges auch Kontakt
zu internierten Deutschen aufgenommen und habe manchem helfen können.
Auch um Walter Benjamin, den man in Paris oder auf der Flucht vermutete,
soll er sich bemüht haben. Theodor W. Adorno schrieb am 18. Februar 1951
an Gershom Scholem, er habe von Max Bense gehört, daß einige deutsche
Offiziere, zu denen auch Jünger zählte, geplant hätten, Benjamin als
Lazarettpfleger im Heer unterzubringen und ihn auf diese Weise zu retten.
Was an dieser Mitteilung wahr ist und wie realistisch der Plan gewesen wäre,
muß dahingestellt bleiben. Scholem fand ihn 1951 zum Lachen »naiv und
komisch«, erkundigte sich dreißig Jahre später, am 17. Mai 1981, aber
dennoch bei Jünger, ob es den von Bense erwähnten Plan tatsächlich
gegeben habe. Jünger antwortete am 1. Juni, es sei durchaus möglich, doch
könne er sich, da »das Jahr 1940 von Ereignissen und Begegnungen
überfrachtet war«, nicht mehr erinnern. Wie auch immer -: Walter Benjamin
war Mitte Juni aus Paris nach Lourdes geflüchtet und versuchte Ende
September, über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen, um von dort weiter
nach Amerika zu fliehen; ein Einreisevisum hatte ihm Adorno vermittelt.
Indessen wurde er am 26. September an der spanischen Grenze wegen des
fehlenden französischen Ausreisevisums aufgehalten und nahm sich, eine
Rückführung und Auslieferung an die Deutschen befürchtend, in einem
Hotel des Grenzorts Port-Bou mit einer Überdosis Morphium das Leben.
Mit Benjamin irrten im Sommer 1940 viele deutsche Exulanten auf der
Flucht vor den deutschen Truppen durch Südfrankreich und wurden
interniert. Alfred Döblin, der Verfasser von Berlin Alexanderplatz, hat später
in seiner Schicksalsreise beschrieben, was seinesgleichen an Strapazen und
Ängsten auszuhalten hatte. Die Tatsache, daß der Hauptmann Jünger zu
Pferd an der Spitze einer Kompanie gegen Paris vorrückte, während auf der
anderen Seite Schriftstellerkollegen wie Benjamin und Döblin mit ein paar
Habseligkeiten in einem kleinen Handkoffer nach Süden flohen, gehört zu
den bedrückendsten Momenten der deutschen Literaturgeschichte, und nicht
selten wurde diese Konstellation dadurch pointiert, daß man Jünger
unterstellte, er sei in skrupelloser Siegerlaune durch Frankreich marschiert.
Dies wenigstens dürfte etwas anders gewesen sein. Resümierend schrieb
Jünger am 13. August 1940 an Carl Schmitt:
In Frankreich habe ich sehr viel gesehen, aber noch nicht
alles verdaut. Zuweilen war es mir wie Scipio auf den
Trümmern von Karthago zumute. Wie wird man wieder
anfangen, wenn der Krieg beendet ist?
Jener Scipio »Africanus minor« soll – auf den rauchenden Trümmern der
von ihm eroberten Stadt Karthago stehend – von der Angst befallen worden
sein, daß Rom eines Tages ebenso enden werde, und soll dabei die Verse
zitiert haben, mit denen in der Ilias der Untergang Trojas prophezeit wird:
»Einst wird kommen der Tag …«
Mit dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 war der »Westfeldzug«
beendet, und ein Teil der deutschen Invasionstruppen konnte nach
Deutschland zurückkehren. Für Jüngers Einheit begann der Rückzug von
Bourges am 3. Juli und führte in zwei Wochen über Troyes ins Moselgebiet
östlich von Metz und am 24. Juli zurück nach Deutschland. In Wadgassen
bei Saarbrücken wurde die Truppe auf die Eisenbahn gesetzt und in die
heimatlichen Standorte gebracht. Jünger hatte zunächst noch Dienst zu
leisten, bekam im September aber längerfristigen Urlaub. Am 10. September
schrieb er an Kubin noch unter militärischer Deckadresse:
Ich werde morgen wieder nach Kirchhorst gehen, mit Urlaub
auf unbestimmte Zeit. Zunächst habe ich einige Erholung
nötig, da mich der Vormarsch durch Frankreich recht
anstrengte, nicht so sehr physisch als durch eine Fülle von
Bildern, die die Augen überschütteten.
Größere Arbeiten gedenke ich vorläufig nicht zu beginnen,
da ich zu jeder Stunde wieder einberufen werden kann. Auch
ist die apokalyptische Landschaft, mit brennenden
Großstädten, den Studien abträglich.
Ein Journal über die folgenden Monate gibt es nicht. Den Briefwechseln und
den Aufzeichnungen Grethas ist zu entnehmen, daß Jünger sich meist in
Kirchhorst aufhielt und mit Lektüre und entomologischen Studien
beschäftigt war. Einmal erschien die Geheime Staatspolizei, um ihn wegen
seiner Verbindungen zu Ernst Niekisch zu vernehmen, wie es am 17.
Dezember 1940 auch Friedrich Georg geschah. Jünger verbrannte danach
dessen Briefe, die er bis dahin aufbewahrt hatte. Im übrigen bereiteten ihm
die beiden Söhne etwas Sorgen: Ernstel aus schulischen, Carl Alexander aus
gesundheitlichen Gründen.
In Jüngers Briefen und Tagebuchaufzeichnungen spielen familiäre Dinge
keine große Rolle. Auch die beiden Söhne werden nur selten erwähnt. Dies
entsprach der Zeit und der entschieden intellektuellen Ausrichtung von
Jüngers Korrespondenz. Aus den Kriegsjahren haben sich aber einige Briefe
an die beiden Söhne erhalten, die nicht nur von großer väterlicher Fürsorge
geprägt sind, sondern auch von großem Respekt vor der Eigenständigkeit der
beiden sich entfaltenden Jungen. Mustergültig zeigt sich dies in dem Brief
vom 1. April 1940, mit dem Jünger seinem ersten Sohn Ernstel zum
Geburtstag gratulierte: Natürlich läßt er sich auf die Wünsche und Vorhaben
des Jungen ein, der am 1. Mai seinen vierzehnten Geburtstag feiern darf;
aber weder gedanklich noch stilistisch gibt es eine ›kindgerechte‹
Ermäßigung. Die Vorstellungen des Sohnes, auf die Jünger eingeht, werden
vollkommen ernst genommen, und dieser wird als gleichwertiger
Gesprächspartner behandelt. Auffallend ist vor allem, daß Jünger in diesem
Brief weniger apodiktisch wirkt als in anderen Korrespondenzen, vielmehr
seine Meinungen und Ratschläge mit einem deutlichen kommunikativen
Gestus formuliert: »Ich finde, daß wir insbesondere Wilhelm I. noch immer
unterschätzen […]«, oder: »Daß Du Zeitschriften anschaffst, halte ich für
richtig […]«. Diese beiden Stellen zeigen im übrigen, was bevorzugte
Gesprächsgegenstände zwischen Jünger und seinem älteren Sohn waren,
wenn dieser sich in den Internatsferien zu Hause aufhielt: Geschichte,
Literatur, natürlich auch Botanik und Entomologie, zugleich aber auch der
Weg, sich Wissensgebiete zu erschließen und eine eigene Position zu finden.
Neben all dem blieb Jünger in Kirchhorst schriftstellerisch keineswegs
untätig. Er begann mit der Überarbeitung seiner Aufzeichnungen seit
Frühjahr 1939 und brachte sie in den folgenden Monaten in eine druckreife
Form. Sie erschienen dann 1942 unter dem Titel Gärten und Straßen im
Berliner Mittler-Verlag. Jünger kehrte also zum Verlag seiner Kriegsbücher
zurück, aber mit einem Werk, das, wie schon der Titel signalisiert, ganz
anders geartet war als In Stahlgewittern oder Feuer und Blut: kein
Schlachten- und Heldenbericht mehr, sondern ein Bericht über den Versuch,
in der Vernichtungswelt auf eine menschlich ehrenhafte Weise zu bestehen
und der Zerstörung, wo immer es möglich war, entgegenzuwirken. In Gärten
und Straßen durchdringen sich der Bericht des Offiziers und die Reflexion
des Ethikers. Zu Recht hat Carl Schmitt am 2. November 1941 nach der
Lektüre der Druckfahnen an Jünger geschrieben, er habe sich mit dieser
engen Verbindung von Ereignisschilderung und Meditation gewissermaßen
ein neues und eigentümliches »Genre« eröffnet. Es sollte neben – wenn nicht
vor – dem Essay und der Erzählung zur wichtigsten und jedenfalls
charakteristischen Form von Jüngers weiterem Schaffen werden. Mit Gärten
und Straßen beginnt der Stil der Strahlungen.

Besatzungssoldat in Frankreich und


Wachtruppenführer in Paris

Mitte Februar 1941 wurde Jünger wieder in Marsch gesetzt. Am 18. Februar
traf er mit seiner Einheit in Avesnes ein und bezog in Sars-Poteris Quartier.
Hier und im nahe gelegenen Saint-Michel verbrachte er die nächsten zwei
Monate mit Übungs- und Besatzungsdienst. Unterbrochen wurde der
Aufenthalt durch einen ersten Besuch in Paris. »Dort« – in der Nacht von
Samstag auf Sonntag – »eine Revue mit nackten Frauen vor einem Parkett
von Offizieren und Beamten der Besatzungsarmee mit einem Pelotonfeuer
von Sektpfropfen«; am Sonntag dann »zweimal in die Madeleine« (2, 231f.).
Dann ging es, am 24. April, mit der ganzen Einheit über Laon nach Paris
zum Wachdienst, der am 20./21. Mai mit einem parademäßigen
Vorbeimarsch – Hauptmann Jünger im Stahlhelm zu Pferd – am Grabmal
des Unbekannten Soldaten begann. Jünger hatte eine kleine Wohnung in dem
östlich des Zentrums gelegenen Stadtteil Vincennes und nutzte seine freie
Zeit, um Paris zu durchstreifen und Bekanntschaften zu machen. Die
wichtigste war wohl die mit dem Oberleutnant Horst Grüninger, der ein
Jünger-Leser war und ihn dem Chef des Kommandostabs, Oberst Hans
Speidel, vorstellte; denn in diesem Kreis entstand die Idee, Jünger, dessen
Aufenthalt in Paris begrenzt war und am 5. Juni auch zu Ende ging, auf
Dauer für Paris anzufordern.
Jünger genoß das Leben in Paris. Das Journal verzeichnet Wanderungen
durch Straßen und Parks, Besuche von Kirchen und botanischen Gärten,
ausdrücklich auch eine erotische Begegnung mit einer »sehr jungen
Kontoristin aus einem Warenhaus« (2, 238). Es verzeichnet aber auch einen
Anfall von »Tristitia« (236) und Schreckensträume, die ihm signalisierten,
daß er sich auf einer »Galeere« befand (240); in einen dieser Täume war
bezeichnenderweise auch »José« Breitbach einbezogen (233f.). Zu den
dienstlichen Obliegenheiten, die Jünger belasteten, zählte die Hinrichtung
eines Deserteurs, über die das Erste Pariser Tagebuch unter dem Datum des
29. Mai 1941 berichtet. Die entsprechenden drei Druckseiten haben dem
Autor viel Kritik eingebracht. Die entscheidenden Passagen lauten:
Zur Flut von widrigen Dingen, die mich bedrücken, kommt,
daß ich zur Aufsicht bei der Erschießung eines wegen
Fahnenflucht zum Tode verurteilten Soldaten befohlen bin.
Ich hatte zuerst die Absicht, mich krank zu melden, doch kam
mir das zu billig vor. Auch dachte ich: vielleicht ist es besser,
daß du dort bist als irgendein anderer. Und wirklich konnte
ich manches menschlicher fügen, als es vorgesehen war.
Im Grunde war es höhere Neugier, die den Ausschlag gab.
Ich sah schon viele sterben, doch keinen im bestimmten
Augenblick. Wie stellt sich die Lage dar, die heute jeden von
uns bedroht und seine Existenz schattiert? Und wie verhält
man sich in ihr?
Nach dieser Einleitung folgen zwei Abschnitte über das Vergehen des
Delinquenten und eine Besichtigung der Richtstätte in einem Waldstück bei
Robinson. Dann der Bericht über die Exekution:
Skizze der
Erschießung
Zu diesem Waldstück fuhren wir heut hinaus. Im Wagen noch
der Stabsarzt und ein Oberleutnant, der das Kommando führt.
[…] Wir treffen das Kommando bereits in der Lichtung an.
[…] Das Urteil wird verlesen. Der Verurteilte folgt dem
Vorgang mit höchster, angespannter Aufmerksamkeit, und
dennoch habe ich den Eindruck, daß ihm der Text entgeht.
Die Augen sind weit geöffnet, starr, saugend, groß, als ob der
Körper an ihnen hinge; der volle Mund bewegt sich, als
buchstabierte er. Sein Blick fällt auf mich und verweilt für
eine Sekunde mit durchdringender, forschender Spannung auf
meinem Gesicht. Ich sehe, daß die Erregung ihm etwas
Krauses, Blühendes, ja Kindliches verleiht. […] Der Pfarrer
stellt ihm noch einige leise Fragen; ich höre, daß er sie mit
»Jawohl« beantwortet. Dann küßt er ein kleines silbernes
Kreuz, das ihm vorgehalten wird, während der Arzt ihm ein
Stück roten Kartons von der Größe einer Spielkarte über dem
Herzen an das Hemd heftet.
Inzwischen sind die Schützen auf ein Zeichen des
Oberleutnants eingeschwenkt und stehen hinter dem Pfarrer,
der den Verurteilten noch deckt. Nun tritt er zurück, nachdem
er mit der Hand noch einmal an ihm heruntergestrichen hat.
Es folgen die Kommandos, und mit ihnen tauche ich wieder
zum Bewußtsein auf. Ich möchte fortblicken, zwinge mich
aber, hinzusehen, und erfasse den Augenblick, in dem mit der
Salve fünf kleine dunkle Löcher im Karton erscheinen, als
schlügen Tautropfen darauf. Der Getroffene steht noch am
Baum; in seinen Zügen drückt sich eine ungeheure
Überraschung aus. Ich sehe den Mund sich öffnen und
schließen, als wollte er Vokale formulieren und mit großer
Mühe noch etwas aussprechen. Der Umstand hat etwas
Verwirrendes, und wieder wird die Zeit sehr lang. Auch
scheint es, daß der Mann jetzt sehr gefährlich wird. Endlich
geben die Knie nach. Die Stricke werden gelöst, und nun erst
überzieht die Totenblässe das Gesicht, jäh, als ob ein Eimer
voll Kalkwasser sich darüber ausgösse. […] Rückfahrt in
einem neuen, stärkeren Anfall von Depression. Der Stabsarzt
erklärt mir, daß die Gesten des Sterbenden nur leere Reflexe
gewesen sind. Er hat nicht gesehen, was mir in grauenhafter
Weise deutlich geworden ist. (2, 244 – 247)
Man hat gegen diese für den Druck leicht modifizierte Aufzeichnung etliche
Vorwürfe erhoben: Verschleierung der eigenen Rolle: Während im
handschriftlichen Original stehe, daß Jünger zu dieser Exekution »als
Leitender befohlen« wurde, heiße es im Druck abmildernd »zur Aufsicht«;
dies sei eine Verschleierung der eigentlichen Funktion und zugleich ein Indiz
dafür, daß Jünger sich weigere, sich mit seiner »Verstrickung in die Untaten
des nationalsozialistischen Regimes im besetzten Frankreich«
auseinanderzusetzen. Selbststilisierung: Mit dem – ebenfalls nachträglich
eingefügten – Verweis auf die »höhere Neugier« stilisiere sich Jünger
gleichsam zu einem höherwertigen philosophischen Beobachter und
suggeriere zugleich, nicht nur ein subalterner Befehlsempfänger und
Funktionär der Vernichtungsmaschinerie gewesen zu sein.
Selbstgenüßlichkeit: Allzusehr betone Jünger seine eigene Befindlichkeit;
die Hinrichtung sei eine Gelegenheit, sich selbst in seiner Todesverliebtheit
zu genießen. Ästhetisierung und Mystifizierung: Jüngers Bericht sei nicht
durch Sachlichkeit bestimmt, sondern durch Ästhetisierung und
Mystifizierung; für das eine wird auf Details wie den »Tautropfen«-
Vergleich verwiesen, für das andere auf die »raunenden« Bemerkungen, daß
der gerade erschossene Mann »jetzt sehr gefährlich« werde und daß der
Stabsarzt nicht gesehen habe, was dem Verfasser »in grauenhafter Weise
deutlich geworden« sei. Um diese beiden Tendenzen noch stärker
hervortreten zu lassen, wurde Jüngers Bericht mehrfach mit jenem Bericht
verglichen, den Gottfried Benn 1928 aus Anlaß eines Films über die
Hinrichtung der englischen »Spionin« Edith Cavell und eines belgischen
»Komplicen« publizierte. Diese Exekution fand am 12. Oktober 1915 auf
einem Schießplatz in Brüssel statt, und Benn hatte sie ärztlich zu
beaufsichtigen. Sein Bericht, der ausführlich auch die geschichtlichen
Umstände und rechtlichen Seiten bedenkt, umfaßt sieben Druckseiten, ist
aber im Kern von äußerster Kürze und Härte:
Letzter Akt. Er dauert kaum eine Minute. Die Kompagnie
präsentiert, der Kriegsgerichtsrat liest das Todesurteil vor.
Der Belgier und die Engländerin bekommen eine weiße
Binde über die Augen und die Hände an ihren Pfahl
gebunden. Ein Kommando für beide: Feuer, aus wenigen
Metern Abstand, und zwölf Kugeln, die treffen. Beide sind
tot. Der Belgier ist umgesunken. Miß Cavell steht aufrecht
am Pfahl. Ihre Verletzungen betreffen hauptsächlich den
Brustkorb, Herz und Lunge; sie ist vollkommen und absolut
momentan tot; ganz verkehrt, im Film zu sagen, daß sie
angeschossen sich gequält habe und durch einen Fangschuß
am Boden getötet worden sei. Sie war vielmehr noch während
des Rufes Feuer sofort und unbezweifelbar tot.
Die Bewertung von Jüngers Bericht ist nicht einfach. Vor allem zwei Fragen
stellen sich: Mußte dieser Bericht geschrieben werden? Und ist er mit seiner
Tendenz zur Ästhetisierung und gar zur Mystifizierung nicht nur das
Dokument eines »ruchlosen Ästhetizismus«, wie Thomas Mann in anderem
Zusammenhang einmal gesagt hat: einer genußvollen Zurschaustellung
menschlichen Leidens? Die Antwort auf die erste Frage scheint
vergleichsweise einfach zu sein: Man muß sich ja nur vorstellen, welcher
Kritik Jünger ausgesetzt wäre, wenn bekanntgeworden wäre, daß er diese
Hinrichtung leitete oder beaufsichtigte – und in seinem Journal
stillschweigend darüber hinweggegangen wäre. Letztlich ist es keine Frage,
daß Jünger darüber berichten mußte, und zwar ausführlich und genau. Wozu
wäre er sonst ein Autor gewesen! »Auswahl und Ablehnung«, heißt es in
Rilkes Künstlerroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge einmal,
»gibt es [für einen Autor] nicht«; er hat zu beschreiben, was ihm widerfährt,
und zwar mit seiner ganzen Ingeniosität. Das Ergebnis steht freilich zur
Debatte, und im Zweifelsfall wird des Abwägens kein Ende sein. Hätte
Jünger so knapp und hart wie Benn geschrieben, wären ihm fast alle oben
aufgeführten Vorwürfe erspart geblieben.
Aber ist Benns Bericht dem Jüngerschen überlegen? Fehlen ihm nicht
gerade die Genauigkeit und Empathie, die die Opfer verdient hätten und um
die Jünger sich bemühte? Während man von Benn erfährt, daß Miss Cavell
noch während des Kommandos »sofort und unbezweifelbar« »vollkommen
und absolut momentan tot« war, zeigt Jünger, daß in dem Exekutierten beim
Einschlag der Geschosse ein Drama ablief und ein Leben zerbrach. Während
Benn durch die Hinrichtung völlig unberührt blieb, fühlte sich Jünger durch
diesen Vorgang und zumal durch den Anblick des eben »ordnungsgemäß«
Getöteten geistig in Gefahr gebracht; was anderes sollte es heißen, daß »der
Mann jetzt sehr gefährlich« wurde. Benn gleicht dem Stabsarzt, der nicht
verstanden hat, daß die »Gesten des Sterbenden« nicht nur »leere Reflexe«
waren, sondern stumme und anklagende Schreie eines gewaltsam
abgebrochenen Lebens.

Im Pariser Kommandostab

Am 5. Juni 1941 zog Jünger mit seiner Einheit aus Paris ab und kehrte in die
Gegend von Saint-Michel zurück. Gleichzeitig beantragte Oberst Speidel
beim Oberkommando der Wehrmacht Jüngers Versetzung in den
Kommandostab des Militärbefehlshabers in Frankreich zur besonderen
Verwendung des Stabschefs, also Speidels. Das Heerespersonalamt zeigte
sich wenig erfreut und warnte Speidel vor Jünger, gab dann aber nach und
verfügte die Versetzung, die Jünger am 14. Juni mitgeteilt wurde. Am 24.
Juni traf er in Paris ein, bezog ein Zimmer im »Raphael«, einem Luxushotel,
das oberen Diensträngen vorbehalten war, und begann seinen Dienst im
Hotel »Majestic«, einem riesigen und labyrinthischen Gebäude aus der
Jugendstilzeit, in dem zuvor das französische Rüstungsministerium
untergebracht war und das nun als Kommandozentrale der deutschen
Besatzung diente. Das »Majestic« liegt wenige hundert Meter neben dem
Arc de Triomphe, das »Raphael« ganz in der Nähe; für den Flaneur Jünger
war dies ein idealer Standort. Über Jüngers dreijährigen Aufenthalt in Paris –
bis zum 13. August 1944 – ist man relativ gut informiert: nicht nur durch
Jüngers Pariser Tagebücher und Korrespondenzen, sondern auch durch
Aufzeichnungen anderer und durch die ausführlichen Erinnerungen von
Gerhard Heller (Un Allemand à Paris, 1981 = In einem besetzten Land,
1982; vgl. 20, 180), Walter Bargatzky (Hotel Majestic, 1987) und Hans
Speidel (Aus unserer Zeit, 1977).
Der 1909 geborene Romanist und Publizist Gerhard Heller war von 1940
bis 1942 »Sonderführer bei der Propaganda-Staffel« in Paris und hatte
darüber zu wachen, daß nur Literatur erschien, die der deutschen
Besatzungsmacht genehm war. 1942 wechselte er in die Kulturabteilung der
deutschen Botschaft. Heller hatte Kontakte zu zahlreichen französischen
Intellektuellen, die nach dem Krieg bestehenblieben. Jünger hat seine
vermittelnde und vielfach hilfreiche Rolle 1982 in einer nachrufartigen
Tagebuchnotiz gewürdigt (20, 180). Walter Bargatzky, 1910 geboren, war
von 1940 bis 1944 Mitglied der juristischen Verwaltungsabteilung des
Militärbefehlshabers im »Majestic« und hatte enge Kontakte zu den Pariser
Widerständlern; nach dem Krieg wurde er Staatssekretär und zuletzt
Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Jünger hat Bargatzkys
Erinnerungen schon 1983, also vor der Drucklegung, gelesen und als
glückliche Ergänzung zu Hellers Bericht bezeichnet (20, 300f.). Der 1897
geborene Hans Speidel war von 1940 bis Mitte 1942 Stabschef in Paris,
dann für zwei Jahre Stabschef an der Ostfront, danach wieder Stabschef bei
Rommel in Frankreich, ein »konservativer Nicht-Nationalsozialist mit
großen Talenten« (Ulrich Herbert) und »elastisch bis zur
Undurchschaubarkeit« (Walter Bargatzky). Er sympathisierte mit den
Akteuren des Staatsstreichsversuchs vom 20. Juli und wurde deswegen im
September 1944 in Haft genommen, aber nicht mehr angeklagt.
Speidels Interesse an Jünger war mehrfach motiviert. Zum einen war dem
promovierten Historiker und weltläufigen Generalstäbler an einer geistig
gleichgesinnten und anregenden Mitarbeiterschaft gelegen; zum andern
suchte man im Kommandostab jemanden, der die Auseinandersetzungen
zwischen dem Militärbefehlshaber und der NSDAP dokumentieren konnte.
Denn immer wieder fühlte sich der Oberbefehlshaber, Otto von Stülpnagel,
gehalten, den Handlungsvorstellungen der SS und der Botschaft unter
Verweis auf rechtliche und sittliche Prinzipien entgegenzutreten, und er war,
wie Walter Bargatzky sich erinnert, nicht nur um »Korrektheit« bemüht,
sondern auch um den »geschichtlichen Ruf« der Wehrmacht und seiner
selbst besorgt.
Jünger wurde offiziell mit der Briefzensur beauftragt, hatte auf Befehl
Speidels aber auch Geheimakten über den Hegemonialkampf zwischen
Militär und Partei zu führen und bekam dafür einen Panzerschrank in sein
Dienstzimmer gestellt (2, 266 und 308 sowie 3, 552). Im übrigen gehörte er
– wie Bargatzky – bald zu jener Runde von »Georgsrittern«, die Speidel
häufig im Speisesaal des Hotels »George V« zum Abendessen um sich
versammelte: »eine relativ homogene Gruppe«, so der Historiker Ulrich
Herbert, »deren Habitus durch elitären Konservatismus, eine aus
intellektueller Verachtung, sozialer Arroganz und politischer Gegnerschaft
zusammengesetzte Distanz zu Hitler und den ›Parteileuten‹ sowie einen
deutschnational durchwirkten Patriotismus geprägt war«. Jünger schreibt im
Ersten Pariser Tagebuch, diese Gruppe habe »im Innern der
Militärmaschine eine Art von Farbzelle, von geistiger Ritterschaft« gebildet,
»die im Bauche des Leviathans tagt und noch den Blick, das Herz zu wahren
sucht für die Schwachen und Schutzlosen« (2, 272). Bestärkt wurde Jünger
in dieser Haltung durch Schopenhauers Mitleidsphilosophie, mit der er sich
1942 wieder beschäftigte.
Der Anspruch, den Blick und das Herz für Schwache und Schutzlose zu
wahren, war prägend für Jüngers Selbstverständnis in Paris und wurde von
ihm mehrfach beschworen, so etwa in der Aufzeichnung vom 28. Juli 1942,
in der es heißt: »Nie darf ich vergessen, daß ich von Leidenden umgeben
bin« (2, 356 sowie ähnlich 347). Seinen eigenen Aufzeichnungen, aber mehr
noch Berichten anderer ist zu entnehmen, daß er mit diesem Bewußtsein
auch aufzutreten und zu wirken suchte. Der jüdische Apotheker Georges Sée
hat bezeugt, daß Jünger dem »gelben Stern«, der den Juden 1942 verordnet
worden war, selbst in Uniform »den militärischen Gruß entbot«. Und Joseph
Breitbach teilte mit, daß Jünger zahlreichen französischen Juden das Leben
rettete, indem er sie über Aushebungstermine unterrichtete. Freilich verblaßt
dies alles neben den furchtbaren Dingen, die eben doch tagtäglich unter den
Augen und unter Mithilfe der Wehrmacht geschahen: Verhaftungen,
Folterungen, Erschießungen, Deportationen. Man kann fragen, warum die
»Ritter der Georgsrunde« nicht zum offenen Widerstand übergingen, als
ihrem jüdischen Apotheker Silberberg die Frau entrissen wurde, warum
Jünger in dem einen oder andern Fall nicht persönlich eingeschritten ist.
Walter Bargatzky, der sich diese Frage auch gestellt hat, schrieb dazu 1987
in seinen Erinnerungen:
Auch heute ziehe ich nicht im Geist ans Lagertor von Drancy
[nordöstlich von Paris, wo französische und deutsche Juden,
die von den französischen Behörden der deutschen Polizei
übergeben worden waren, bis zur Deportation festgehalten
wurden], die Pistole in der Hand. Acht Jahre Diktatur haben
mich gelehrt, wie machtlos man sein kann, und daß es allein
darauf ankommt, das Bewußtsein des Bösen zu behalten,
solange man die Situation nicht ändern kann. Mit Mut oder
Feigheit hat das nichts zu tun.

Attentate und Geiselerschießungen

Bald nachdem Jünger seinen Dienst in Paris angetreten hatte, ging das relativ
ruhige erste Jahr der deutschen Besatzung zu Ende. Am 22. Juni 1941
marschierte die Wehrmacht ohne Kriegserklärung in die Sowjetunion ein. In
Frankreich führte dies zur Formierung eines kommunistischen Widerstands.
Am 13. August kam es in Paris zu Zusammenstößen mit deutschen
Sicherheitskräften, am 21. August wurde in einer Station der
Untergrundbahn ein deutscher Marineverwaltungsassistent erschossen, am 3.
September ein Unteroffizier. Bereits nach dem ersten Attentat waren alle
französischen Bürger, die sich in deutscher Haft befanden, zu Geiseln erklärt
worden, und nach dem zweiten Attentat wurden drei von ihnen hingerichtet.
Dies war – so empörend es ist – nach damaligem Kriegsrecht legitim, und
der Oberbefehlshaber blieb mit der von ihm festgesetzten Zahl weit unter
dem, was sein Stellvertreter für angemessen hielt (nämlich zehn), und erst
recht unter dem, was Hitler verlangte (nämlich fünfzig oder hundert). Aber
selbstverständlich brachte die Erschießung der drei Geiseln kein Ende des
Widerstands, vielmehr folgten weitere Attentate und Geiselerschießungen in
immer höherer Zahl: Am 22. Oktober wurden achtundvierzig Franzosen
hingerichtet, zwei Tage später fünfzig, im Dezember fünfundneunzig.
Zugleich wurde den in Paris lebenden Juden eine Geldbuße von einer
Milliarde Francs auferlegt; überdies wurden eintausend Juden und
fünfhundert »Jungkommunisten« »nach dem Osten« abtransportiert. Die
weiteren Stufen der Attentate und Strafmaßnahmen können hier nicht
dargestellt werden. Insgesamt wurden bis Ende Mai 1942 fast tausend
Erschießungen angeordnet und nahezu fünfhundert vollzogen; die Zahl der
deportierten Menschen betrug etwa sechstausend.
Im »Majestic« hielt man die Geiselerschießungen für verfehlt; man
versuchte, sie zu umgehen und, als dies aufgrund der strikten Vorgaben aus
Berlin nicht mehr möglich war, quantitativ zu reduzieren. Die Stimmung im
»Majestic« war, wie man bei Bargatzky lesen kann, aufgeregt und bedrückt
zugleich. Jüngers Journal schweigt darüber. Vom 19. Juli bis zum 8. Oktober
1941 gibt es keine Eintragungen; dann ist – am 8. Oktober – zur Begründung
knapp von Dingen die Rede, die »eine Art von geistiger Lähmung«
hervorgerufen hatten. Um diese Zeit muß Jünger von Speidel (2, 266) oder
von Stülpnagel (20, 332) damit beauftragt worden sein, die Geschichte der
Attentate und Geiselerschießungen zu dokumentieren; jedenfalls verzeichnet
das Journal am 8. Dezember die Sichtung entsprechender Akten, unter denen
sich auch Abschiedsbriefe von Geiseln befanden (2, 282). Zwischen Herbst
1941 und Frühjahr 1942 entstand eine Dokumentation, die etwas mehr als
hundert maschinenschriftliche Seiten umfaßt und aus zwei Teilen besteht:
Ein erster, siebenundsiebzig Seiten zählender Teil rekapituliert in
chronikhaft nüchternem Stil mit präzisen Angaben die Attentate, die
Strafmaßnahmen und die Verhandlungen zwischen dem Militärbefehlshaber
von Paris, der französischen Regierung und der Berliner Führung. Ein
zweiter, neunundzwanzig Seiten umfassender Teil bietet in Jüngers
Übersetzung mehr als dreißig Abschiedsbriefe von Geiseln, die im Oktober
1941 erschossen worden waren. Sie bestätigen, was Jünger auch in der
Dokumentation festgehalten hatte: daß diese Geiseln bis in den Tod ein
»ruhiges und festes Verhalten« zeigten. Mit der Übersetzung der Briefe, die
über die verlangte Dokumentation hinausging, wollte Jünger ihnen ein
Denkmal setzen.
Mitte Februar 1942 ersuchte Otto von Stülpnagel, der wegen der
Geiselerschießungen »fast geisteskrank« wurde (20, 301), um seine
Abberufung; Ende Februar wurde er durch seinen Vetter Carl-Heinrich von
Stülpnagel abgelöst. Wenige Tage vor seinem Abschied empfing Otto von
Stülpnagel Jünger, um mit ihm über die »Geiselfrage« und die
Dokumentation zu sprechen (2, 308); anscheinend hat er sie in diesen Tagen
auch gelesen und mit Anmerkungen versehen. Später, im September 1945,
hat Otto von Stülpnagel aus britischer Haft in Lüneburg Jünger gebeten, ihm
die Dokumentation zukommen zu lassen, weil er sich mit ihrer Hilfe auf
seine Verteidigung vorbereiten wollte. Schwerkrank wurde er an
Weihnachten 1946 an Frankreich ausgeliefert. Bettlägerig verbrachte er
vierzehn Monate in einem Pariser Gefängnis; dann erhängte er sich, weil er
in diesem Zustand nicht mehr vor Gericht erscheinen wollte. Jünger nannte
Stülpnagels Situation im Herbst und Winter 1941/42 einen »Zustand, in dem
alles zur Schuld wird« (3, 552). Für Jünger selbst erwuchs aus der Tätigkeit
im »Majestic« eine Belastung, die zeitlebens anhielt. Im Alter von
achtundachtzig Jahren schrieb er am 3. September 1983 an Walter
Bargatzky, bei jedem Besuch in Paris blicke er in das »Majestic« hinein, und
mitunter »irre« er »im Traum, ohne einen Ausweg zu finden, auf den Fluren
umher« (20, 301 und 494).

Reflexionsfiguren

Während jener Jahre hat Jünger seine Situation auch mit Hilfe der religiösen
und mythologischen Überlieferung sowie der bildenden Kunst und Literatur
reflektiert. In den Tagebüchern und im Briefwechsel mit Carl Schmitt findet
sich eine Fülle entsprechender Hinweise. Am 3. September 1941 begann
Jünger mit der Lektüre der Bibel (3, 44), die ihn nun für Jahre begleitete und
ihm Deutungsmuster für die eigenen Erfahrungen gab (2, 13f.). Über vierzig
Eintragungen im Journal verweisen auf einschlägige Stellen und zeigen den
Fortgang dieser »ersten Gesamtlesung«, die am 28. Mai 1944, dem
Pfingstsonntag, mit der Lektüre der Offenbarung abgeschlossen wurde (3,
271). Daß Jünger den Kreis um Speidel »im Bauche des Leviathans« tagen
ließ (2, 272), war die Abbreviatur für eine staatsphilosophisch und zugleich
heilsgeschichtlich perspektivierte Situationsbeschreibung: Der »Leviat[h]an«
oder »Gewundene«, der im Alten Testament an mehreren Stellen genannt
und als riesiger Fisch oder mehrköpfiges Krokodil beschrieben wird, ist
einer der mächtigen Feinde Gottes wie der Menschen und taucht als solcher
wieder in der Apokalypse auf (Jes 27,1).
Der englische Philosoph Thomas Hobbes machte ihn mit seinem 1651
erschienenen Buch Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines
bürgerlichen und kirchlichen Staates zum Symbol des starken, souveränen
oder absolutistischen Staats, der seinen Untertanen zwar inneren Frieden und
äußeren Schutz garantiert, sie dafür aber auch mit harter Hand anfaßt. Carl
Schmitt hat dieses Symbol 1938 in seiner Abhandlung Der Leviathan in der
Staatslehre des Thomas Hobbes: Sinn und Fehlschlag eines politischen
Symbols nicht nur im Hinblick auf die Geschichte, sondern auch auf die
»totalitäre« Gegenwart reflektiert und es damit – auch für Jünger – wieder
aktualisiert. Zudem hat Schmitt im Frühjahr 1941 Jünger mehrfach mit
großem Nachdruck auf Herman Melvilles Benito Cereno (1856)
hingewiesen: eine Erzählung, die von einer Meuterei auf einem spanischen
Sklavenschiff handelt und mit grausigen Details schildert, wie die
rebellierenden Sklaven den Kapitän Benito Cereno zwingen, seine
seemännische Funktion auszuüben und beim Zusammentreffen mit einem
amerikanischen Schiff sogar seine Kapitänsrolle zu spielen, als wäre er
immer noch der Herr des Schiffes und einer fügsamen Besatzung. Der
»Staatsrat« und depotenzierte »Kronjurist des Reiches« sah darin, wie er am
17. September 1941 an Jünger schrieb, ein herausragendes »Situations-
Symbol« für sich und seinesgleichen. Jünger schätzte allerdings einen
anderen symbolisch lesbaren Text noch höher: Edgar Allan Poes Erzählung
Der Ma[e]lstrom (1841), die von einem »gigantischen Strudel« handelt, der
Schiffe, die in seine Nähe kommen, erfaßt und auf eine unaufhaltsame Weise
in die Tiefe des Meeres reißt. In dieser Erzählung sah Jünger, wie er am 3.
Juli 1943 im Zweiten Pariser Tagebuch festhielt, die »bildhafteste« der
»großen Visionen«, in denen die gegenwärtige »Katastrophe« vorausgesehen
wurde (3, 91). Als wolle er sich das Bild des Malstroms in immer wieder
neuen und realistischen Varianten vor Augen halten, begann Jünger in dieser
Zeit mit der Sammlung und Lektüre von Büchern über Schiffbrüche (2, 313
und öfter), in deren »Studium« er einen »Schlüssel« seiner Zeit sah (3, 369).
Zudem vertiefte er zusammen mit Carl Schmitt sein Interesse an den
phantastischen Bildern Hieronymus Boschs, in denen er die gleichsam
atavistische »Bedrohung« der eigenen Zeit erkannte. Und schließlich begann
Jünger im September 1941, sich intensiver mit dem französischen
Schriftsteller Antoine de Rivarol zu beschäftigen, der während der
Französischen Revolution für die Monarchie eingetreten war, deswegen
1792 emigrieren mußte und 1801 in Berlin verstarb. Er war für Jünger, wie
dieser am 17. Dezember 1954 an Schmitt schrieb, ein Mann »des verlorenen
Postens« und damit eine historische Spiegelfigur. Nach dem Krieg begann
Jünger, seine Maximen zu übersetzen und sein Leben zu beschreiben (14,
210 bzw. 256 – 329).
Das Ensemble der Reflexionsfiguren wäre indessen nicht vollständig,
wenn man nur die literarischen und künstlerischen anführte. Eine wurde von
der Natur geliefert und bezeichnenderweise von einer Frau empfohlen. Am
2. Oktober 1942 notierte Jünger:
Perpetua [= Gretha] schreibt mir […], daß man in diesen
Zeiten Eidechsentugenden entwickeln müsse; man muß sich
darauf verstehen, wie die raren sonnigen Stellen aufzuspüren
und zu nutzen sind. Das gilt auch für den Krieg; wir dürfen
nicht immer unfruchtbar sinnen, wann er zu Ende gehen wird.
Das ist ein Datum, das von uns unabhängig ist. Doch wohl
sind wir imstande, auch in den Wettern Freude zu spenden,
uns und anderen. Dann haben wir ein Zipfelchen vom Frieden
in der Hand. (2, 388)

Pariser Leben und Lieben

Trotz der bedrückenden Aspekte, die das Leben im besetzten Paris hatte,
genoß Jünger die Stadt mit ihren Menschen und Anlagen, mit ihren
unerschöpflichen Erfahrungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Nach der
viermonatigen Schreibpause setzt das Erste Pariser Tagebuch am 8. Oktober
1941 mit der Mitteilung ein, daß der Verfasser mit Speidel – unter
Polizeischutz – zum Mittagstisch »beim Botschafter de Brinon« gewesen sei
und dort unter anderem Sacha Guitry kennengelernt habe (2, 260f.). Brinon,
mit einer reichen jüdischen Frau verheiratet, war der Anführer der
französischen »Kollaboration« mit den Deutschen und der offizielle
Repräsentant der Vichy-Regierung gegenüber dem deutschen
Militärbefehlshaber; nach dem Krieg wurde er dafür angeklagt und im April
1947 hingerichtet. Sacha Guitry war in der Zeit zwischen den Kriegen als
Bühnenautor und Schauspieler der herausragende Vertreter des Pariser
Boulevardtheaters, hielt auf mondäne Weise hof (2, 263f.) und trug mit dazu
bei, daß Jünger in Gesellschaft kam. So lernte Jünger übers Jahr eine
beachtliche Zahl an Pariser Intellektuellen und Künstlern kennen: den
Verleger Gaston Gallimard wie die Schriftsteller Jacques de Benoist-Mèchin,
Jean Cocteau, Pierre Drieu La Rochelle, Alfred Fabre-Luce, Marcel
Jouhandeau, Paul Firmin Valentin Léautaud, Henry Millon de Montherlant,
Jean Paulhan und Paul Morand, um nur einige zu nennen. Einige von ihnen
– wie Cocteau – traf er im Salon der mäzenatisch eingestellten
Millionärsgattin Florence Gould; andere – wie Louis-Ferdinand Céline –
lernte er bei Veranstaltungen des »Deutschen Instituts« kennen. Seit seiner
Paris-Reise von 1937 oder 1938 war Jünger mit Jean Schlumberger bekannt
(14, 92ff.), der nun – wie Jean Paulhan – zum literarischen Korps der
Résistance zählte; trotzdem traf man sich 1943 und ging zusammen sogar ins
Theater (3, 177). Kontakte ergaben sich auch zu den Malern Georges Braque
(3, 163) und Picasso, den Jünger am 22. Juli 1942 nach einigen
vorausgehenden Begegnungen in seinem Atelier besuchte. Im Tagebuch
hielt Jünger unter anderem fest, Picasso habe »nach der realen Landschaft«
gefragt, »die hinter den [eben auf französisch erschienenen]
›Marmorklippen‹ zu suchen sei«, und habe im Hinblick auf den Krieg
bemerkt: »Wir beide, wie wir hier zusammensitzen, würden den Frieden an
diesem Nachmittag aushandeln. Am Abend könnten die Menschen die
Lichter anzünden« (2, 351).
Man hat Jüngers Pariser Existenzform – einer beobachtungsreichen Studie
von Rainer Gruenter folgend – oft als dandyhaft bezeichnet. Anlaß dazu
boten nicht nur Jüngers zahlreiche Hinweise auf seine mondänen
Beziehungen, sondern auch sein immer wieder sich äußernder
Aristokratismus, sein Manierismus, sein Bemühen um souveräne
Gelassenheit, seine Kälte, seine Provokationslust und seine Neigung, die
Welt als Schauspiel zu betrachten, wofür man in der vielberufenen
»Burgunderszene« vom 27. Mai 1944 ein mustergültiges Beispiel hat.
Insofern dies nicht nur Kennzeichen von Jüngers Pariser Leben, sondern
eben auch konstitutive Merkmale des Dandyismus sind, kann man eine
Affinität Jüngers zum Sozialtypus des Dandys durchaus behaupten. Aber ihn
darauf zu reduzieren, hieße, zu übersehen, daß Jüngers Existenz auch in der
Pariser Zeit nicht in der Pflege von Äußerlichkeiten und Ressentiments
gegen seine Zeit aufging, sondern einen Versuch darstellte, noch »im Bauche
des Leviathans« und im Bewußtsein, »von Leidenden umgeben« zu sein, die
Gunst der Stunde zu nutzen und an Erfahrungen zu sammeln, was
einzuholen war. Wozu wäre er sonst ein Autor gewesen, und wozu wäre
Autorschaft sonst vonnöten! Jünger hat die Differenz zwischen Dandytum
und Autorschaft übrigens selber bedacht und im sechsten Kapitel seiner
Rivarol-Einleitung erörtert. Demnach ist es die Erfahrung des Schmerzes
oder des geschichtlichen Leids, die den Dandy zum Dichter macht (14, 220 –
222).
Sophie Ravoux
(1906 – 2001)
Zu Jüngers Pariser Leben gehören neben der Einbindung in die
»Georgsrunde« und dem Umgang mit der »Haute Collaboration«
gelegentliche Besuche von deutschen Bekannten und Freunden, so etwa von
Carl Schmitt, mit dem Jünger im Oktober 1941 nach Port-Royal,
Rambouillet und Chartres fuhr, von Friedrich Hielscher, Benno Ziegler und
Carlo Schmid, mit dem Jünger unter anderem dessen Übersetzung von
Baudelaires Fleurs du Mal erörterte. Nicht weniger wichtig ist allerdings die
erotische Komponente, die in den Pariser Tagbüchern in einer Vielzahl von
Eintragungen aufschimmert. Die gedruckte Version der Tagebücher erweckt
den Eindruck, als habe Jünger freundschaftliche oder amouröse Beziehungen
gleich zu mehreren Frauen unterhalten: zu einer »Doctoresse« wie zu einer
Charmille und einer Camilla, zu einer Madame Dancart wie zu einer
Madame d’Armenoville. Die Recherchen von Tobias Wimbauer und Felix
Johannes Krömer haben jedoch ergeben, daß mit all diesen Namen nur eine
Person gemeint ist: die 1906 geborene (und 2001 verstorbene) Pariser
Kinderärztin Sophie Ravoux. Diese stammte allerdings nicht aus Paris,
sondern aus einer deutsch-jüdischen Magdeburger Familie namens Koch und
war, als »Halbjüdin« eingestuft, nach den ersten Pogromen nach Paris
geflüchtet. Dort heiratete sie 1938 den lothringischen Journalisten Paul
Ravoux (1898 – 1957), der bis zu seiner Ausweisung 1937 eine französische
Presseagentur in Berlin geleitet hatte. Paul Ravoux war gut mit Joseph
Breitbach bekannt und ein Gegner des Nationalsozialismus. Zusammen mit
einem Bekannten übersetzte er Hermann Rauschnings Entlarvungsbuch
Gespräche mit Hitler, das im Januar 1940 bei Gallimard unter dem Titel La
Révolution du Nihilisme erschien. Nach dem Waffenstillstand arbeitete
Ravoux in Vichy als Presseoffizier der französischen Militärregierung, bis er
– um den 10. Mai 1943 – von deutschen »Sicherheitskräften« verhaftet und
im KZ Dachau interniert wurde.
Die Geschichte von Jüngers Verhältnis mit Sophie Ravoux ist nicht
einfach zu rekonstruieren. In der Druckfassung der Pariser Tagebücher hat
Jünger sie, wie Krömer durch einen Vergleich mit dem Manuskript gezeigt
hat, stark verschleiert oder fiktionalisiert: Er setzte Tarnnamen ein und
änderte die Abfolge der Aufzeichnungen. Er strich manches weg, was
Rückschlüsse auf Fakten – wie etwa eine gemeinsame Nacht – erlaubt hätte,
und verlegte erotische Erfahrungen in die Traumsphäre. Er formulierte
Situationsbeschreibungen so, daß sie einen allgemeinen Charakter
gewannen. Er strich bei der Überarbeitung für die Neuausgabe von 1955
mehrere Stellen, die Hinweise auf die Entwicklung der Beziehung
enthielten, so eine Notiz vom 6. Dezember 1941, die den Beginn markiert,
und eine Notiz vom 2. April 1943, die einen Bruch anzeigte. Erkennbar wird
trotz aller Verschleierung, daß die Affäre zwei Phasen hatte. Die erste
begann im Spätherbst 1941 und dauerte bis zur »Exkursion« in den
Kaukasus und den anschließenden Urlaub in Kirchhorst (23. Oktober 1942 –
19. Februar 1943). Die zweite setzte im Frühjahr 1943 ein und dauerte bis zu
Jüngers Abzug aus Paris im August 1944.
Während der Zeit in Kirchhorst muß Gretha Jünger von dem Verhältnis
ihres Mannes mit Sophie Ravoux erfahren haben. Wie dies geschah, ist nicht
zu ersehen und auch nicht wichtig. Daß sie davon erfuhr und daß es eine
schmerzliche Auseinandersetzung gab, ist sicher; ein andeutungsreicher
Brief, den Gretha am 4. April 1943 an Rudolf Schlichter schrieb, zeugt
davon und spricht von einer »schweren Prüfung«, die zu bestehen war. Es
scheint, daß sie sich, als Jünger wieder nach »Babel« (so im Brief an
Schlichter) zurückkehrte, ihrer Dominanz einigermaßen sicher war. Einen
Tag vor Jüngers Abreise, am 17. Februar, verzeichnet ihr Tagebuch einen
Aphorismus, der zwar von Kränkung geprägt ist, aber auch von
Selbstbewußtsein zeugt – und freilich auch als Versuch zu verstehen ist, die
gebliebene Angst vor dem Verlust des Mannes zu bannen:
Wenn die Frauen wüßten, daß ihre Niederlage eine
wahrhaftige ist, so würden sie den Augenblick ihrer Hingabe
lange Zeit hinauszögern.
Über die legitime Frau und die Geliebte: Zwischen der
Herrscherin und der Favoritin kann ein Kampf um die Macht
immer nur von der letzteren ausgehen. Das beweist, daß sie
sich vor einer Niederlage mehr zu fürchten hat.
Jüngers Pariser Tagebücher registrieren Nachrichten aus Kirchhorst und
gelegentliches Nachdenken über »Perpetua«, einmal, beim Abschied aus
Kirchhorst am 17. Mai 1942, auch Spuren eines Ambivalenzkonflikts (2,
328) und im Frühjahr 1943 immer wieder Migräne. Dann, am 6. März 1943,
eine Notiz, die wie eine Replik auf Grethas Überlegungen klingt und
jedenfalls anzeigt, daß die Situation dramatisch war:
Unter uns Männern. Zwischen zwei Frauen kann unsere Lage
der des Richters beim salomonischen Urteil ähneln – doch
sind wir das Kind zugleich. Wir müssen uns der zusprechen,
die uns nicht teilen will. (3, 18)
Vorläufig wurde das Urteil freilich nicht gesprochen oder wenigstens nicht
vollzogen. Äußerlich blieb alles, wie es war. Die Tagebücher melden
weiterhin Besuche, Begegnungen und gemeinsame Spaziergänge, bis
»Madame d’Armenoville« (in der Ausgabe von 1949) alias »Charmille« (in
späteren Ausgaben) Jünger am Nachmittag des 13. August 1944 zu einem
letzten Gang entlang der Seine begleitet. Ob diese zweite Phase eine
wesentlich andere Qualität als die erste hatte, ist nicht zu erkennen. Sicher ist
aber, daß sie extrem belastet war, und zwar nicht nur durch Gretha Jüngers
Intervention, sondern auch dadurch, daß Paul Ravoux sich in deutscher Haft
befand und Sophie selbst Nachforschungen ausgesetzt war. Eine Notiz vom
29. Oktober, die allerdings von einer bemerkenswerten Ambivalenz ist,
lautet:
Dann durch die Rue d’Estrées und die Rue Babylone zur
Doctoresse, die am Vormittag ihres immer noch im Gefängnis
schmachtenden Mannes wegen zur Gestapo beordert worden
war. Da eine solche Ladung immer auch die Gefahr von
neuen Ungesetzlichkeiten einschließt, glich dieses Stündchen
einem Rekonvaleszentenbesuch.
In den alten Straßen war mir wieder so wohl zumute; ich
schritt in ihrem Banne wie in einem feinen Rausch dahin. (3,
184)
Was Sophie Ravoux für Jünger bedeutet hat, ist angesichts der nur
annäherungsweise aufhebbaren Fiktionalisierung der Pariser Tagebücher
nur schwer zu ermessen; auch ist der Briefwechsel zwischen Jünger und
Sophie Ravoux noch gesperrt. Aber vielleicht kann die Breite der
Erfahrungen durch zwei einschlägige Notizen angedeutet werden. Im
Manuskript des Ersten Pariser Tagebuchs ist unter dem Datum des 6.
Dezember 1941 festgehalten, daß Jünger nach einem ersten Abendessen bei
Sophie durch einen Wolkenbruch am Gehen gehindert wurde und die Nacht
bei ihr verbrachte. Dann heißt es: »Als ich in der Nacht erwachte, fühlte ich,
wie Sophie mit ganz zarten, schlanken Fingerspitzen mich abtastete. Sie zog
zuerst die Hände nach, jeden Finger einzeln, besonders dort, wo die Nägel
ansetzen.« Die Druckfassung schweigt über den Verlauf des Abends und der
Nacht, hält aber die erotische Erfahrung fest, wenn auch unter dem Datum
des 8. Dezember und indem sie sie in ein Traumgeschehen verwandelt und
mit jener Dorothea verbindet, die in den Afrikanischen Spielen genannt wird
und auf Jüngers erste Jugendliebe verweist. Die Umständlichkeit der
Tarnung und die Tatsache, daß der vorgebliche Traum einer Notiz über die
Abschiedsbriefe der erschossenen Geiseln folgt, darf wohl als Anzeichen
dafür gewertet werden, daß dem Verfasser eine Erfahrung zuteil geworden
war, die er trotz schwer belastender Umstände auskosten und gleichsam
verewigen wollte. Die zweite Eintragung datiert vom 22. Januar 1944 und
lenkt den Blick auf die geistige Übereinstimmung zwischen dem Verfasser
und Sophie Ravoux:
Begleitet von der Doctoresse, den Wald- und Wasserrundgang
absolviert. Es gibt Intelligenzen, mit denen wir auf besondere
Weise harmonieren, nicht ihrem Grad entsprechend, sondern
ihrer Art. Zu ihnen stehen wir nicht in Spannung, sondern in
Konkordanz. Die Unterhaltung ist wohltätig, erholsam,
angenehm; sie schreitet wie ein Uhrwerk fort, bei dem die
Räder konform gehen. Das ist der Eros der Intelligenz, der ihr
die Schärfe nimmt. (3, 217)
In der Erstausgabe des Zweiten Pariser Tagebuchs findet sich unter dem
Datum des 2. April 1943 eine Eintragung, deren zweiter, 1955 gestrichener
Teil auf die angestrebte Beendigung des Verhältnisses mit Sophie Ravoux
Bezug nimmt:
Ich lerne in diesen Tagen eine große Zahl von Menschen
kennen, gleich einem, der in besondere Aspekte tritt. Zu den
Ursachen, die hier wirken, rechne ich auch, daß eine Art von
Leere in mir zurückgeblieben ist, seitdem ich die Wurzeln,
die Camilla in mir geschlagen hatte, mir aus dem Inneren zog.
In diese Leere strömt eine Flut von Gegenständen ein. (Str,
293)
Im vorausgehenden ersten Teil, der in späteren Fassungen teils unter dem
Datum des 2., teils unter dem des 3. April steht, wird eine dieser neuen
Bekanntschaften genannt: die 1905 geborene (und 1992 verstorbene)
Schriftstellerin Umm-el Banine Assadoulaeff, »eine Mohammedanerin aus
dem südlichen Kaukasus«, die sich »Banine« nannte. Sie hatte Jüngers
Marmorklippen gelesen und ihm im Oktober 1942 kurz vor seiner Abreise in
die östlichen Kriegsgebiete unbekannterweise ihren Roman Nami zugesandt
(2, 398). Nun besuchte er sie in ihrem Studio, und damit begann eine weitere
freundschaftliche Beziehung. Auch sie scheint eine erotische Komponente
gehabt zu haben; jedenfalls soll es auf seiten Banines ein heftiges
Liebesbegehren und nach Gretha Jüngers Tod den Wunsch nach einer
Verbindung gegeben haben. Aber das Begehren blieb einseitig oder
zumindest asymmetrisch. Ein bilanzierender Rückblick, den Jünger am 12.
November 1985 in Form eines Briefes an Banine schrieb (20, 560 – 562),
deutet darauf hin, daß das Verhältnis immer etwas formell geblieben war.

Greuelnachrichten und eine Erkundungsreise

Der Brief vom 12. November 1985 ist auch insofern interessant, als Jünger
mit ihm der »Legende« entgegenzutreten versucht, daß er in Paris »ein
Leben geführt hätte wie einer von Hannibals Offizieren im capuanischen
Winterquartier«. Dem widerspricht Jünger, indem er feststellt: »In
Wirklichkeit war die Gefährdung stärker als im Ersten Weltkrieg, vor allem
unheimlicher – von den inneren Konflikten ganz abgesehen« (20, 562). In
der Tat war Jünger in Paris nicht ungefährdet. Bald nach dem Antritt seines
Dienstes im »Majestic«, im Oktober 1941, geriet er wegen einiger Briefe in
Schwierigkeiten, die er um 1936 aus der Schweiz an Joseph Breitbach
geschrieben hatte und die anscheinend verfängliche Äußerungen enthielten.
Breitbach, der 1937 französischer Staatsbürger geworden war, hatte sich
nach Kriegsbeginn zur Fremdenlegion gemeldet und war dem
Nachrichtendienst in der Schweiz zugeteilt worden. Seit 1941 hielt er sich
unter dem Namen Brion wieder in Südwestfrankreich auf. Als er erfuhr, daß
seine Pariser Habe von deutschen »Sicherheitskräften« beschlagnahmt
worden waren, ließ er Jünger entweder durch einen Brief oder durch Sophie
Ravoux wissen, daß sich in einem Banksafe auch seine Briefe aus der
Schweiz befänden, was Jünger in Unruhe hielt, bis es ihm mit Speidels Hilfe
gelang, die Briefe zu sichern und zu verbrennen (2, 266f. und 20, 252).
Ungefähr zur selben Zeit meldete sich ein Vertreter der Zensurabteilung des
Propagandaministeriums bei Speidel und ersuchte diesen, Jünger
anzuweisen, in der Druckvorlage von Gärten und Straßen einige Stellen zu
streichen, so vor allem den Hinweis auf den dreiundsiebzigsten Psalm. Da
Speidel sich diesem Ansinnen verschloß, konnte das Buch 1942 mit diesem
Verweis erscheinen; für eine zweite Auflage wurde dann aber das Papier
verweigert. Ebenso scheint es wegen der Marmorklippen zu einer Attacke
auf Jünger gekommen zu sein, die von einem alten Bekannten abgewehrt
wurde: von Werner Best, mit dem Jünger in den nationalistischen Jahren um
1930 publizistisch zusammengearbeitet hatte, bis es zum Auseinanderdriften
von Nationalisten und Nationalsozialisten kam. Best wurde NSDAP-
Mitglied und SS-Obergruppenführer. Er baute die Gestapo auf und spielte
eine wichtige Rolle im Unrechts- und Terrorsystem des »Dritten Reichs«.
Vom August 1940 bis Juni 1942 war er Chef des Verwaltungsstabs beim
Militärbefehlshaber in Paris und leitete dort unter anderem die
Judenverfolgung ein. Daß Jünger ihm nicht mehr nahestand, wird ihm nicht
verborgen geblieben sein; daß er sich trotzdem vor den Verfasser der
Marmorklippen stellte, hat mit jener Mentalität oder ›Kameraderie‹ zu tun,
die Jünger seit 1938/39 unter dem Begriff des »Mauretaniertums« faßte (20,
553f.).
Gefährdungen erwuchsen auch aus Jüngers Versuch, in Speidels Auftrag
den Hegemonialkampf zwischen dem Militärbefehlshaber und der NSDAP
und SS in Paris zu dokumentieren, sowie aus dem Bemühen des Kreises um
Speidel, sich ein Bild von den Vorgängen in den östlichen Kriegsgebieten
und von der politischen Stimmung unter der Generalität zu verschaffen. Es
war eine Zeit, in der allerlei verfängliche Nachrichten ausgetauscht und
Gespräche geführt wurden, die leicht einen konspirativen Charakter
annehmen und dadurch wieder gefährlich werden konnten; während des
Aufenthalts im Kaukasus wurde Jünger nach einer »freimütigen« Äußerung
»im Kameradenkreise« über »widrige Dinge« sofort vom
»Sicherheitsdienst« zum Abendessen eingeladen, was er zurecht als getarnte
Warnung verstand (21, 151), und nach dem Krieg erfuhr er, daß die
Tafelrunde um Speidel von einem französischen Kellner belauscht worden
war (3, 497 und 20, 273).
Vom November 1941 an hielt Jünger die Greuelnachrichten aus dem
Osten in seinen Aufzeichnungen fest. Er wurde von ihnen nicht nur
erschüttert; er sah sich auch in seiner geschichtsphilosophischen
Überzeugung bestätigt, daß der Prozeß des Nihilismus »am absoluten
Nullpunkt« angekommen sei (2, 315). Im Sommer 1942 entstand dann im
Pariser Stab der Plan, Jünger für eine gewisse Zeit an die Ostfront zu
kommandieren. Wozu dieses Kommando dienen sollte, ist nicht ganz klar.
Aus den vielen und variantenreichen Bemerkungen, die der Erkundungsreise
an den Kaukasus gelten, kristallisieren sich drei möglicherweise einander
ergänzende Motive heraus. Zunächst einmal sollte Jünger Gelegenheit
bekommen, jene »Plan«- und »Werkstättenlandschaft« zu sehen, von der er
im Arbeiter geschwärmt hatte (2, 366 und 20, 271); Carl-Heinrich von
Stülpnagel, der Jünger die Abordnung vorschlug, war vor seiner Pariser Zeit
Oberbefehlshaber des Frontabschnitts gewesen, den Jünger besuchen sollte
(438). Daneben sollte er im Hinblick auf die in Paris angestrebte Formierung
einer Opposition gegen Hitler die »Stimmung der dort befehlenden Generäle
erkunden« (20, 561f.). Und schließlich sollte er sichere und umfassende
Informationen über die Vernichtungsaktionen sammeln; ausdrücklich ist ja in
den Kaukasischen Aufzeichnungen unter dem Datum des 12. Dezember 1942
von der Absicht einer »Bestandsaufnahme« die Rede (442).
Am 23. Oktober 1942 nahm Jünger in der »Nique«-Bar von »Charmille«
Abschied, um nach Kirchhorst zu fahren. Dort verweilte er bis zum 12.
November, dann ging die Reise über Berlin zum Flugplatz Lötzen und von
dort mit dem Flugzeug über Kiew nach Rostow, schließlich mit der
Eisenbahn durch die Kubansteppe nach Woroschilowsk (Stawropol), wo
Jünger am 24. November ankam, im riesigen Dienstgebäude der
sowjetischen Geheimpolizei einquartiert wurde und bis zum 8. Dezember
blieb. Dann wechselte er nach Maikop und von dort aus in die Bergwelt des
Kaukasus bis in das gut 1400 Meter hoch gelegene Teberda. Im Teberdatal
wollte Jünger für längere Zeit bleiben und bisweilen in die »Gletscherwelt«
des Kaukasus aufsteigen; aber am 4. Januar 1943 wurde im Zusammenhang
mit der Einkesselung der sechsten Armee in Stalingrad der Rückzug
angeordnet. Zudem traf die Nachricht ein, daß der Vater schwer erkrankt sei
und daß mit seinem Sterben gerechnet werden müsse. Unter turbulenten
Umständen erhielt Jünger einen Platz in einem Flugzeug und konnte am 9.
Januar abreisen. Am 12. Januar traf er in Leisnig ein, rechtzeitig zur
Beerdigung des Vaters, der am 9. Januar verstorben war.
Selbstverständlich hat Jünger auch während dieser Reise Notizen gemacht
und sie später in längere Darlegungen überführt, die Kaukasischen
Aufzeichnungen, die 1949 im Rahmen der Strahlungen zwischen den beiden
Pariser Tagebüchern publiziert wurden. Und natürlich hielt er auch im
Kriegsgebiet am Kaukasus an seinem Lebensstil fest: besuchte in
Woroschilowsk das Stadtmuseum und den Friedhof (425ff.); setzte die
Bibellektüre fort (433); widmete sich der Käferjagd (464). Hauptsächlich
war er allerdings damit beschäftigt, Stellungen zu besichtigen und Gespräche
mit Reisebegleitern und Kommandeuren zu führen. Im Hinblick auf die drei
Motive seines Kommandos kam er zu bedrückenden Wahrnehmungen: In
Kiew, Rostow und Woroschilowsk sah er die perfekte »Entzauberung« (418
und 419) des einst »wunderbaren« Orients durch Planwirtschaft,
bolschewistische Deportationspolitik und Krieg; danach aber kamen Ödnis,
Schlamm und Schreckensbilder, die Jünger an Hieronymus Bosch erinnerten
(461).
Was die Generäle angeht, so beobachtete er »deren Verwandlung zum
Arbeiter«: zu »Spezialisten auf dem Gebiet der Befehlstechnik« ohne
politisches Gespür und Vermögen; die Hoffnung, unter ihnen Frondeure
gegen Hitler zu finden, mußte Jünger aufgeben (454). Dafür vielfältige
Greuelnachrichten: Berichte zum Beispiel »von den ungeheuerlichen
Schandtaten des Sicherheitsdienstes nach der Eroberung von Kiew«, wo
bekanntlich am 29. und 30. September 1941 in der Schlucht Babij Yar
nahezu vierunddreißigtausend Juden erschossen wurden, und Erwähnungen
von »Giftgastunnels«, »in die mit Juden besetzte Züge einfahren«. Jünger
betonte, daß es sich hierbei um Gerüchte handelte, zweifelte aber nicht
daran, daß »Ausmordungen im größten Umfang« stattfanden (470). Diesen
Gerüchten nachzugehen und die Vernichtungsstätten zu besuchen,
Massenexekutionen zu beobachten, hat sich Jünger nicht zugemutet. Nach
einem Notat vom 11. Dezember über die Methoden des Kampfs gegen
Partisanen heißt es unter dem Datum des 12. Dezember 1942 (hier in der
Fassung von 1949):
Die gestrige Besprechung [über den Kampf gegen die
Partisanen] zeigt mir, daß ich zu einer Bestandaufnahme in
diesem Lande nicht kommen werde: es gibt zuviele Stätten,
die Tabu für mich sind. Dazu gehören alle, an denen man sich
an Unschuldigen und Wehrlosen vergreift, und alle, an denen
man durch Repressalien und Kollektivmaßnahmen zu wirken
sucht. Ich habe übrigens auch gar keine Hoffnung, daß hier
Änderung möglich; derartiges gehört zum Zeitstil, das sieht
man schon an der Art, an der es überall begierig ergriffen
wird. Die Gegner sehen es voneinander ab.
Dann wieder der Gedanke, ob es nicht doch vielleicht gut
wäre, die Schreckensstätten aufzusuchen, als Zeuge, um zu
sehen und festzuhalten, welcher Art die Täter und Opfer sind.
Wie ungeheuer hat Dostojewski durch seine Berichte aus dem
Totenhaus gewirkt. Dem steht entgegen der Ekel, der mich
schon bei der Vorstellung von solchen Schauspielen ergreift.
Ich würde sofort als Widersacher sichtbar sein. Wem wäre
damit gedient?
Gedanke: zu solchem Zutritt müßte man höhere Weihen
empfangen als sie unsere Zeit verleiht. (Str, 224)
In späteren Fassungen ist – neben Kleinigkeiten – der Schluß modifiziert
und lautet:
Wie ungeheuer hat Dostojewski durch seine Berichte aus dem
Totenhaus gewirkt. Aber er war nicht freiwillig dort, sondern
als Gefangener.
Auch der Schau sind Grenzen gesetzt. Sonst müßte man zu
solchem Zutritt höhere Weihen empfangen haben, als sie die
Zeit verleiht. (2, 442)
Die Kaukasischen Aufzeichnungen sind seit Peter de Mendelssohns
Gegenstrahlungen vom November 1949 vielfach und scharf kritisiert
worden. Zwei Aufsatztitel aus dem Jahr 2004 lauten Das Schweigen des
Hauptmanns Jünger (Hannes Heer) und Jüngers Desaster im Kaukasus
(Helmut Lethen). Die Kritik entzündete sich zunächst einmal an Jüngers
Entscheidung, keine der »Schreckensstätten«, an denen es zu
Massenexekutionen gekommen war, aufzusuchen, um eine der sogenannten
»Sondermaßnahmen« zu beobachten. Schon Peter de Mendelssohn rügte
dies als Ausweichen. Anknüpfend an Jüngers Frage, wem damit gedient
gewesen wäre, wenn er sich bei einer solchen »Maßnahme« als
»Widersacher« gezeigt und, wie man hinzufügen muß, entsprechend
»behandelt« worden wäre, schrieb Mendelssohn: »Ja – das ist allerdings die
Frage. Wem wäre damit gedient? Ganz bescheiden möchte ich anmerken:
mir zum Beispiel. Ich hätte darin etwas wirklich ›Exemplarisches‹ zu
erblicken vermocht.« Hannes Heer, der zeitweilige Leiter des Hamburger
Ausstellungsprojekts »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941
bis 1944« spricht in seinem Aufsatz über »das Schweigen des Hauptmanns
Jünger« ganz dezidiert von »Feigheit«, als könne man es jemandem zur
Pflicht machen, eine Massenexekution beobachtungshalber aufzusuchen,
und schließt seine Abhandlung, indem er den »schon 1933 aus Deutschland
geflüchteten Juden Mendelssohn« zitiert: »Wem wäre damit gedient? Ganz
bescheiden möchte ich anmerken: mir zum Beispiel.« Am Ende eines
Aufsatzes, der im Vorwurf der »Feigheit« gipfelt, mag dies dem Verfasser
als vernichtende Pointe erschienen sein; man fragt sich freilich, inwiefern
ihm eigentlich damit gedient gewesen wäre, wenn Jünger als Gegner der
»Sondermaßnahmen« erkannt und ebenfalls »sonderbehandelt« worden
wäre.
Weitere Kritik gilt der Unfähigkeit Jüngers, dem beobachteten Grauen und
erst recht den vermuteten Mordaktionen in der emotionalen Reaktion wie in
der ästhetischen und moralischen Reflexion gerecht zu werden. »Ekel« sei
zu wenig, abgesehen davon, daß er aristokratisch sei, und die von Jünger
bevorzugte Bildlichkeit der »Schinderwelt« (2, 431) sei zu harmlos. Er hätte
photographieren sollen. – Darüber kann man streiten. Selbstverständlich
werden die Jüngerschen »Capriccios« aus der »Schinderwelt« allein dem
Schrecken des »Vernichtungskriegs« nicht gerecht, Photographien allein
aber auch nicht, sonst hätte man kein lied vunem ojsgehargetn jidischn volk,
keine Todesfuge, keine Ermittlung, keine Lügen in Zeiten des Krieges und
keinen Roman eines Schicksallosen schreiben müssen, noch bräuchte man
dergleichen zu lesen. Es gibt hier nicht das eine treffende Wort, das eine
adäquate und erschöpfende Medium. Die verschiedenen Darstellungsweisen
haben ihre je spezifische Leistungskraft, die allemal begrenzt ist, aber sie
ergänzen einander. Und sie wirken unterschiedlich auf die Rezipienten. Was
dem einen als eine defizitäre Reduktion ungeheuerlichen Grauens auf ein
Wort wie »Schinderwelt« erscheinen mag, kann für einen anderen zum
bestürzenden und auf Dauer beklemmenden Sammelbegriff für alle
atavistisch-modernen ›Bilder‹ aus der »Vernichtungszone« werden, die
historiographischen und die poetischen wie die photographischen.
Ein weiterer Vorwurf lautet, Jünger habe in seinen Kaukasischen
Aufzeichnungen mehr verschwiegen als gesagt, und vor allem habe er nicht
von der Beteiligung der Wehrmacht an den verbrecherischen
Vernichtungsaktionen geredet. Hannes Heer hat in seinem Aufsatz auf der
Basis militärischer Dokumente und militärgeschichtlicher Studien
nachgewiesen, daß Jünger sich in einem Gebiet bewegte, in dem es im
August und September unter Beteiligung der Wehrmacht zur Ermordung von
mehr als dreißigtausend Juden gekommen war, und daß Jünger zumindest
mit einem der Kommandeure gesprochen hat, die für die Beteiligung der
Wehrmacht an den »Sondermaßnahmen« des »Sicherheitsdienstes«
zuständig waren. Gemessen an dem, was der Historiker nach jahrelangem
Aktenstudium in einem fußnotenreichen Aufsatz dartun kann, sind Jüngers
Ausführungen in der Tat sehr unpräzise. Die Praxis des Judenmords wird
wenig konkret; die Quantitäten werden nicht einmal angedeutet; die
Beteiligung der Wehrmacht wird nicht explizit dargestellt. Was Jünger
tatsächlich in Erfahrung brachte oder in Erfahrung hätte bringen können, ist
allerdings fraglich: Niemand wird sich ihm als Massenmörder präsentiert
haben, und daß er die Berichte einsehen konnte, die den Kommandeuren
vorgelegen hatten und die später den Historikern zur Verfügung standen, ist
eher unwahrscheinlich.
Wie hätte der überall gegenwärtige »Sicherheitsdienst« reagiert, wenn
sich der Hauptmann Jünger aus dem bekanntermaßen »weißen« Pariser Stab
die Berichte über den Judenmord hätte aushändigen lassen wollen? Schwer
zu beantworten ist auch die Frage, ob Jünger mit seinen Aufzeichnungen die
Wehrmacht schonen wollte. Gewiß ist vor allem von den »Schandtaten des
Sicherheitsdienstes« die Rede. Aber zugleich wird deutlich, daß diese
»Schandtaten« im Beobachtungsfeld und Verantwortungsbereich der
Wehrmacht geschahen, und daß die Wehrmacht bei ihren Aktionen auch
nicht zimperlich verfuhr; manches von dem, was Jünger hörte, schien ihm
»in die Zoologie ein[zu]schneiden« (Str, 223 = 2, 441), und das heißt:
jenseits dessen zu liegen, was man bis dahin für menschenmöglich gehalten
hatte. Wenn Jünger nach dem Bericht eines Generals über die
»ungeheuerlichen Schandtaten des Sicherheitsdienstes« schreibt, daß ihn ein
»Ekel« vor den bislang so geliebten Uniformen, Schulterstücken und Orden
ergriffen habe (2, 470), unterscheidet er nicht etwa zwischen
Wehrmachtsuniformen und Sicherheitsdienst-Uniformen. Freilich, auf eine
ausdrückliche Verurteilung der Wehrmacht verzichtete er. Hannes Heer
bezeichnet ihn deswegen als einen der »wortmächtigsten Akteure des
›kollektiven Beschweigens‹, das für die fünfziger/sechziger Jahre in der
Bundesrepublik so charakteristisch war«. Er hätte ihn allerdings auch als
jemanden bezeichnen können, der sehr früh schon dokumentierte, was man
wissen oder ahnen konnte, und als jemanden, der gesagt hatte, was man
beim Anblick der deutschen Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg
empfinden konnte: »Ekel«.

In Erwartung der Apokalypse

Nach der Beerdigung des Vaters in Leisnig verbrachte Jünger gut vier
Wochen in Kirchhorst, einige Tage auch in Berlin. Das Tagebuch verzeichnet
Lektüre, Arbeit an der Käfersammlung und »Migräne«. Am 18. Februar
endete der Urlaub, am Tag darauf traf Jünger in Paris ein und nahm seinen
Dienst und das Pariser Leben wieder auf. Die Situation hatte sich allerdings
etwas verändert: Die Beziehung zu Sophie Ravoux war in Frage gestellt.
Speidel und Grüninger waren in Rußland. Das Klima in Paris wurde
feindselig; an Häuserwänden konnte man »1918« und »Stalingrad« lesen (3,
13), und bald zog Jünger, wenn er in Uniform erschien, Blicke voller Haß, ja
»Mordgier« auf sich (162). Überdies kam der Luftkrieg nach Paris; es gab
bedrohliche »Überfliegungen« und ab April auch Bombardements.
Dienstlich war Jünger nun auch für die »Aufsicht über die
Postüberwachungsstellen im besetzten Gebiet« zuständig (15).
Außerdienstlich verkehrte er weiterhin im Salon von Florence Gould und
pflegte die Kontakte zu den Pariser Bekannten. Überdies berichtet das
Journal von Sprachunterricht (114) und Lektüren, von Spaziergängen und
Bücherkäufen, von Besuchen in Museen und im Botanischen Garten. Aber
die Stimmung war getrübt, ja verstört. Unter dem Datum des 10. Juli 1943
vermerkt das Tagebuch: »Gefastet. Ich fühle, daß das künstliche Leben
dieser Stadt mir auf die Dauer nicht bekommt« (96). Bedrückend wirkten die
Nachrichten aus den östlichen Besatzungs- und Frontgebieten, aber auch die
Nachrichten aus Deutschland.
Wie schon im Ersten hielt Jünger auch im Zweiten Pariser Tagebuch fest,
was er über die Vernichtungsaktionen im Osten hörte. Einer seiner
Informanten, der als »Bogo« erscheint, war Friedrich Hielscher, der sich als
freier Forschungsbeauftragter der »Studiengesellschaft Deutsches
Ahnenerbe« Zugang zum Ghetto von Lodz (oder vorübergehend
Litzmannstadt) verschafft hatte und bestürzende Dinge berichtete (3, 175f.
und 20, 79). Ein anderer war Oberst Ernst Schaer (3, 481f.). Er hatte Jünger
schon im August 1942 Photographien von »Massenliquidierungen an der
Ostfront« gezeigt (20, 270); nun gab er wieder, was er von Oberst Kurt von
Tippelskirch, der von seiner Armee auf Erkundung geschickt worden war,
über eine »Erschießung von Juden« gehört hatte (3, 49 sowie Str, 330). Die
entsprechenden Notizen sind nicht nur wegen ihres Informationsgehalts
interessant, sondern auch, weil sie zeigen, wie diese Informationen beschafft
und vermittelt wurden. Zugleich zeigen sie, daß Jünger mit seinen
Aufzeichnungen eine dokumentarische Absicht verfolgte und die
Informationen sichern wollte; er registrierte sie nicht nur, sondern vermerkte
auch, daß er eigens nachgefragt habe, wer der Augenzeuge gewesen sei (3,
52). Im Juli 1943 erhielt er von Speidel über Grüninger eine Anfrage, ob er
noch einmal für dokumentarische Arbeiten über Stalingrad »in den Osten«
kommen wolle (94). Jünger wäre wohl bereit gewesen, bekam aber nicht die
Erlaubnis des Pariser Befehlshabers (98).
Zu den beklemmenden Nachrichten »aus dem Osten« kamen die
Schrekkensberichte über die Bombardierung der deutschen Städte,
insbesondere über das Inferno von Hamburg Ende Juli 1943 (3, 120f.). Der
Freund Carl Schmitt, der im Garten seines Dahlemer Hauses Geflügel hielt
und dafür aus Kirchhorst Futter bezog, wurde Ende August ausgebombt und
mußte in sein Elternhaus im sauerländischen Plettenberg übersiedeln. Am
26. Juli 1943 war Hannover Ziel eines ersten Angriffs amerikanischer
Bomber. Kirchhorst blieb verschont, aber die Innenstadt von Hannover, in
der Jünger eine Zeitlang gelebt hatte und die er liebte, wurde verwüstet. Die
Reaktion ist erstaunlich. Unter dem Datum des 30. Juli, an dem ein Bericht
von Gretha eingetroffen war, heißt es:
So seltsam es klingt: es liegt auch eine tiefe Freude im Verlust
– sie ist der Vorgeschmack jener Freude, die uns im letzten
zeitlichen Verlust, in dem des Lebens, überraschen wird. (3,
113)
Verlustfreude: Die geschichtlich fällige Katastrophe wird zustimmend
hingenommen, weil sie als Apokalypse im vollen Sinn dieses Wortes
erscheint, als Befreiung aus einer völlig heillosen Situation und als
Ermöglichung eines neuen Lebens. So hat dies nicht nur Jünger empfunden.
Der 1901 geborene Hans Erich Nossack, der die Niedersengung Hamburgs
aus einem ungefähr fünfzehn Kilometer südlich gelegenen Heidedorf
beobachtete, schrieb kurz danach in seinem Bericht Der Untergang, er habe
»bei allen früheren Angriffen den Wunsch gehabt: Möge es recht schlimm
werden«, weil er die Zerstörung für unumgänglich gehalten habe; auch sei
er, als er nach dem großen Brand auf die »tote Stadt« zugefahren sei, durch
»ein so echtes und zwingendes Glücksgefühl« ergriffen worden, daß es ihn
Mühe gekostet habe, »nicht jubelnd auszurufen: Nun beginnt endlich das
wirkliche Leben«. Allerdings schrieb Nossack dann auch, daß diese
Empfindung durch eine langjährige hochmütige Verachtung des kleinen,
friedlichen und fürsorglichen Lebens ermöglicht worden sei. Und: »Alles,
was Männer davon zu sagen wissen, ist Lüge. Nur in der Sprache der Frauen
darf darüber geredet werden. -«
Apokalyptisches Denken grundiert auch die vielberufene
»Burgunderszene« vom 27. Mai 1944, in der viele Kritiker den
erschreckenden Höhepunkt des Zweiten Pariser Tagebuchs gesehen haben.
»Alarme, Überfliegungen«, heißt es einleitend, und wie immer, wenn es
Fliegeralarm gab (vgl. 2, 34 und 154), suchte Jünger nicht den
Luftschutzbunker auf, sondern stieg aufs Dach des »Raphael«:
Alarme, Überfliegungen. Vom [1949: hohen; 1955
gestrichen] Dache des »Raphael« sah ich zweimal in der
Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken
aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe
davonflogen. [Ergänzung 1949: Es handelt sich um Angriffe
auf die Flußbrücken. Die Art und Aufeinanderfolge der gegen
den Nachschub gerichteten Maßnahmen deutet auf einen
feinen Kopf.] Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt
ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in
der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag
in gewaltiger Schönheit, gleich einem [Handschrift:
Blüten]Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.
[Ergänzung 1963: Alles war Schauspiel, war reine, von
Schmerz bejahte und erhöhte Macht.] (Str, 522 (1949) = 3,
271 (1979))
Unzählige Male ist diese Stelle als Beispiel für Jüngers einzigartigen
amoralischen oder gar barbarischen Ästhetizismus angeführt, als skandalös
bezeichnet und als kitschig verurteilt worden. Und es fragt sich ja auch, ob
man hier nicht tatsächlich im Sinne Thomas Manns von »ruchlosem
Ästhetizismus« sprechen muß, der aus Interesse an ästhetischen Sensationen
bei der Wahrnehmung wie bei der Darstellung von Vorgängen auch
leidvoller oder gar katastrophaler Vorgänge alle mitmenschlichen
Rücksichtnahmen abstreift: Der Beobachter zweier Luftangriffe hat einen
Blick nur für die strategische Finesse des Angriffs und die ästhetisch
faszinierenden Seiten des Vorgangs, die allein er in seiner Schilderung
herausarbeitet, obwohl er doch weiß und sich ausmalen kann, welche Angst
und Panik im Zielgebiet herrschen und wieviel Leid dort entsteht, während
er in sicherer Entfernung mit seinem Burgunderglas vor sich selbst posiert.
Nun hat die Forschung – zuletzt mit einer sehr umsichtigen Studie von
Tobias Wimbauer – allerdings auf einige Umstände hingewiesen, die der
»Burgunderszene« ihre Extravaganz und ihre Singularität nehmen. Bei
Marcel Proust und Oscar Wilde, bei E. T. A. Hoffmann und Stendhal, bei
dem spätantiken Gnostiker Zosimos von Panopolis und in der Apokalypse
sind Situationen oder Vorgänge geschildert, in denen die »Burgunderszene«
vorgebildet ist, am deutlichsten bei Proust, der selber 1917 vom Balkon des
Hotels »Ritz« aus das »hinreißende« »Schauspiel« eines Luftangriffs
beobachtete und im siebten Teil seiner Suche nach der verlorenen Zeit einen
Dandy von der apokalyptischen Schönheit eines Luftkampfes über Paris
schwärmen läßt. Zudem kann man auf Erich Kästner verweisen, der in
seinem Tagebuch Notabene 45 unter dem Datum des 7. Februar 1945
festhielt, daß er auf Einladung eines Textilhändlers in einem nahe bei Berlin
gelegenen Landhaus üppig gefeiert habe und daß man nachts »mit vollen
[Sekt]Gläsern in der Hand« vor das Haus getreten sei, um in Richtung
Potsdam »die langsam und lautlos sinkenden feindlichen Leuchtkugeln und
glitzernden Christbäume« zu betrachten, mit denen die Abwurfstellen für die
anfliegenden Bomber markiert wurden. Die »Burgunderszene« war also
keineswegs singulär; vielmehr zeigt sich in ihr eine Verhaltensweise, die –
abgesehen von gewissen Zuspitzungen – nicht ungewöhnlich war, und sie
steht in einer literarischen Reihe, die Jünger teilweise bekannt war und ihn
möglicherweise zur Fortsetzung animiert hat. Darüber hinaus wurde geltend
gemacht, daß man die Eintragung vom 27. Mai 1944 nicht isoliert lesen,
sondern im Zusammenhang des Journals sehen müsse. Sie steht nämlich
zwischen zwei wiederum bemerkenswerten Eintragungen: Die unmittelbar
vorausgehende vom 26. Mai berichtet von der sich steigernden Brutalität
dieses Kriegs und läßt den Verfasser zu dem Schluß kommen: »Ich muß die
Maximen ändern; mein moralisches Verhältnis zu den Menschen wird auf
die Dauer zu anstrengend. […] Ich muß […] einen Stand erreichen, von dem
aus ich dergleichen wie das Wesen von Fischen in einem Korallenriff oder
von Insekten auf einer Wiese oder auch wie der Arzt den Kranken betrachten
kann« (3, 269f.). Diese intentionale Anästhesierung, die den Charakter einer
Überlebenstechnik hat, wird dann am 27. Mai nicht nur vorgeführt, sondern
geradezu zelebriert. Und dem folgt am 28. Mai, dem Pfingstsonntag des
Jahres 1944, ganz unmittelbar die Mitteilung, daß der Verfasser an diesem
Morgen die »Lektüre der Offenbarung« beendet habe (3, 271). Die »Lektüre
der Offenbarung« bildet also mit den geistigen Hintergrund der
Eintragungen der letzten Tage. Die »Offenbarung« oder »Apokalypse« redet
aber, was oft übersehen wird, nicht nur von den schrecklichen
Destruktionen, die am Ende der Geschichte zu erwarten sind, sondern auch
von der Erneuerung der Welt: Vernichtung ist Verwandlung! Der
Apokalyptiker sieht im Brand der alten Welt den Vorschein der neuen und
im Schmerz des Untergangs das Opfer, das für den Neubeginn gebracht
werden muß. Die vielfach als widersinnig kritisierte Rede von »tödlicher
Befruchtung« ist – in seinem Sinn – nicht paradox. Denn »siehe, ich mache
alles neu!«
Das ist freilich noch nicht alles. Wimbauer hat auch die Vermutung
geäußert, daß die »Burgunderszene« wahrscheinlich gar keine faktengetreue
Rekapitulation eines realen Vorgangs ist, sondern ein Konstrukt, das weniger
der Darstellung eines Bombardements von Paris als vielmehr einer
Symbolisierung der dramatisch sich zuspitzenden Liebesbeziehung zwischen
Ernst Jünger und Sophie Ravoux gedient habe. Denn einerseits sei eine
Bombardierung, wie Jünger sie schildert, für den 27. Mai – und zumal für
den Abend – weder durch militärische Berichte noch durch andere
Aufzeichnungen belegt, und andererseits habe die »Burgunderszene« eine
deutliche erotische Symbolik (Kelche und Erdbeeren, zudem »rote Türme«
und »Kuppeln«). Dem ist nicht einfach zu widersprechen, doch sind zwei
Einwände zu machen: Zum einen redet die Eintragung vom 27. Mai für den
Abend nicht mehr ausdrücklich von einer Bombardierung, sondern nur von
einer »Überfliegung«, und ob eine solche in militärischen Akten registriert
wurde, bleibt zu fragen. Zum andern ist nicht auszuschließen, daß Kriegs-
und Liebesthematik sich in der »Burgunderszene« – wie so oft in der
Literatur – überlagern, so daß die Eintragung einen unauflösbaren
Doppelsinn hat. Die erotisch-biographische Komponente ist freilich nur für
den Rezipienten erkennbar (oder erahnbar), der durch externe Dokumente
über den Verlauf der Affäre Jünger-Ravoux informiert ist. Für den Leser des
Zweiten Pariser Tagebuchs allein hat die Eintragung vom 27. Mai nur einen
Sinn: Sie zeigt, daß Jünger gesonnen war, die ihrem Höhepunkt
zustrebenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ins Positive zu kehren
und als letztlich heilsgeschichtliche Ereignisse zu deuten.

Auf die Katastrophe zu und dem Frieden entgegen

Wie man bald sah, bedeutete die Schlacht von Stalingrad die Wende im
Krieg. »Stalingrad«, Ende Februar 1943 von Häuserwänden abgelesen, steht
deswegen am Anfang des Zweiten Pariser Tagebuchs. Weitere Etappen der
unaufhaltbaren Niederlage werden im Juli (Ostfront, Sizilien) und
September (Italien) verzeichnet. Allenthalben rüstete man sich für die
entscheidende Phase oder bereitete man sich auf die Zeit danach vor. In der
Sowjetunion wurde im Juli 1943 auf Initiative der sowjetischen Führung das
»Nationalkomitee ›Freies Deutschland‹« gegründet, in dem emigrierte
deutsche Kommunisten und Kriegsgefangene zusammenwirkten, um Hitler
propagandistisch zu bekämpfen. In diesem Sinn richtete Johannes R. Becher,
der 1929 mit Jünger in publizistischen Kontakt getreten war, im Oktober
1943 über Radio Moskau einen Aufruf an Jünger und einige andere Autoren,
die damals als nationalistisch, aber nicht als nationalsozialistisch galten,
darunter Hielscher, Schauwecker und Beumelburg: »Sie alle rufe ich an, für
die der Begriff ›Deutsche Nation‹ die oberste Gefühls- und Denkinstanz und
das ›Reich‹ das [aller]höchste Prinzip des Handelns ist: […] Es ist Zeit, daß
wir [die] Deutschlandstreiter von rechts bis links unsere Waffen
zusammenfassen, und daß wir mit zusammengefaßten Waffen Deutschlands
Verderber[n], der Nazikriegs-Schmarotzerclique, den Todesstoß versetzen.
Getrennt sind wir marschiert viele Jahre lang, vereint nun gilt es zu
schlagen!« Verständlich wird dieser von Bechers Deutschland-Pathos
getragene Aufruf vor dem Hintergrund der einstigen gemeinsamen
Gegnerschaft gegen die Weimarer Republik und den Kapitalismus;
ansonsten ist er das Dokument einer illusionären Einheitsfront-Idee und
eines vergeblichen Kommunikationsversuchs. Jünger erfuhr von dem Aufruf
erst, als er um 1990 in einem Archiv gefunden wurde, und bemerkte dazu,
daß Becher die damals gegebenen Möglichkeiten überschätzt habe (22, 120).
Er selbst begann am 27. Juli 1943 mit der Niederschrift seines »Aufrufs«
Der Friede, der 1945 mit dem Untertitel »Ein Wort an die Jugend Europas
und an die Jugend der Welt« publiziert wurde. Erste Überlegungen und
Aufzeichnungen stammen freilich schon von 1942 (2, 286 und 290). Im
übrigen wirkt die Entstehungsgeschichte der Friedensschrift, die Piet
Tommissen akribisch nachgezeichnet hat, aufgrund unterschiedlicher
Aussagen Jüngers und anderer etwas verworren, doch sind einige Daten gut
erkennbar. Den Impuls gab der Hamburger Kaufmann und Mäzen Alfred
Toepfer, der in Paris als Hauptmann mit der Devisenerwirtschaftung im
Rahmen der verschleierten »pillage« oder »Ausplünderung« tätig war.
Toepfer soll am Abend des 26. Juli im Garten eines Pariser Offiziersheims
zu Jünger gesagt haben: »Sie müssen jetzt einen Aufruf vorbereiten, der an
die Jugend Europas gerichtet ist« (3, 110). Die europäische Perspektive war
für Toepfer wichtig: Da die Niederlage Deutschlands abzusehen war, sollte
Europa so zusammengeschlossen werden, daß »raumfremde« Mächte wie
Rußland und Amerika nicht Fuß fassen konnten. Die Frage, ob die »Jugend
Europas und der Welt« von Vertretern der Generation, die Europa zweimal
»in Grund und Boden gebombt« hatte, einen Aufruf würde hören wollen,
kam den beiden wohl nicht in den Sinn, wurde von Jünger jedenfalls nicht
notiert und reflektiert: Man fühlte sich, obwohl man in Uniform war,
offensichtlich in solcher Opposition zum Krieg, daß man glauben konnte,
zum Spiritus rector des kommenden Friedens berufen zu sein – und dabei
geflissentlich übersah, daß andere dies ganz anders sehen mochten.
Der »Aufruf«, der zwischen Juli und November 1943 entstand (7, 193 –
236), hat zwei Teile: Der erste Teil trägt die Überschrift »Die Saat« und legt
– kurz gesagt – dar, daß sich in Europa nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund
alter »Versäumnisse und Fehler« »Recht und Unrecht so unentwirrbar
mischten, daß nur die Reinigung durch Feuerflammen blieb« (196 und 205).
Die Folge war der im Gang befindliche »Weltbürgerkrieg« (198) mit seinen
flächendeckenden Zerstörungen und jenen fürchterlichen Stätten, an denen
»die Welt sich rein zum Schlachthaus wandelte« (200). Der Krieg entzweit
die Völker zwar, ist aber dennoch »das erste allgemeine Werk der
Menschheit« (195), indem seine »roten Fronten […] zum ersten Mal die
Kugel des Planeten mit glühenden Nähten schweißten« (197). Die
ungeheuren »Opfer«, die für dieses Werk erbracht wurden, sind gleichsam
die »Saat«, die im Frieden aufgehen muß. Damit sie fruchtbar werden kann,
ist freilich – eine erstaunliche Wendung bei Jünger – »Vernunft« nötig (197).
Der zweite Teil trägt die Überschrift »Die Frucht«. Noch einmal betont
Jünger, daß – nachdem die Welt bis in den letzten »Winkel« »durch Feuer
gereinigt« worden ist und die Waffen »Raum zur Entscheidung« und »für
den geistigen Entwurf« geschaffen haben (207) – »Vernunft« (208) das
Regiment übernehmen und jene Verträge diktieren muß, die dafür sorgen,
daß dieser Krieg durch niemanden verloren, sondern durch alle gewonnen
wird (210): Die Nationalstaaten müssen in größere Bündnisse überführt
werden; Europa muß sich zusammenschließen; eine »planetarische
Ordnung« muß gefördert werden (211). Es muß »gründlich Justiz
geschaffen« werden (219); die vielen »Henker und Henkersknechte« müssen
»das volle Maß der Strafe« erhalten (220). Die Prinzipien des autoritären
und des liberalen Staats müssen in einer synthetischen Demokratie versöhnt
werden (224). Die »Kräfte, die der Totalen Mobilmachung gewidmet
waren«, müssen »zur Schöpfung« genutzt werden (222). Der Nihilismus, der
mit in die Katastrophe geführt hat, muß durch eine »Neue Theologie«
bekämpft und überwunden werden (229).
Man muß das kaum weiter kommentieren; es ist die Übertragung der nach
dem Ersten Weltkrieg entwickelten Opfer-Philosophie und der in den
Marmorklippen entfalteten »Ekpyrosis«-Idee auf den Zweiten Weltkrieg, der
damit zum unvermeidlichen »Weltbürgerkrieg« gemacht wurde. Daß damit
die deutsche Verantwortung für diesen Krieg verschleiert wurde, ist vielfach
und zu Recht kritisiert worden. Daß viele Leser Jüngers Opfer-Frucht-
Arithmetik als rücksichtslos inhuman empfanden, ist verständlich.
Bemerkenswert ist immerhin, daß Jünger nun der »Vernunft« eine so große
Bedeutung zuspricht, und nicht mehr – wie nach dem Ersten Weltkrieg –
dem »Willen zur Macht« oder dem »Blut«. Im übrigen sind manche der
Versöhnungshoffnungen, so grausig sie in der Friedensschrift auch
formuliert sind, ja eingetreten – und ›Kombattanten‹ wie Jünger, Heller und
Bargatzky, ja auch Speidel, konnten nach dem Krieg sogar das Gefühl
entwickeln, während des Kriegs in Paris Verbindungen geknüpft zu haben
und Vertrauensverhältnisse geschaffen zu haben, die sich tatsächlich als
fruchtbar erwiesen und bei der fundamental wichtigen Annäherung zwischen
Frankreich und Deutschland förderlich waren. Die Geschichtsphilosophie –
oder eigentlich: Geschichtstheologie – der Friedensschrift hat zwei Seiten:
Einerseits läuft sie auf eine salbungsvolle Entwirklichung des unermeßlichen
Leids hinaus, das im Zweiten Weltkrieg angerichtet wurde. Andererseits
bleibt sie nicht im Bann dieses Leids, sondern negiert ihn. Versöhnung muß
möglich sein.
Zur weiteren Bewertung von Jüngers Friedensschrift sei wiederum ein
Blick auf Thomas Mann geworfen. Dieser schrieb am 1. Januar 1947 an den
mit ihm befreundeten Mythenforscher Karl Kerényi, er arbeite gerade an des
»Dr. Fausti Wehklag«, mit welcher der Protagonist seines Romans Doktor
Faustus sein Schaffen beschließe, und knüpfte daran eine psychologisch
aufschlußreiche Reflexion auf sein Verhältnis zur Geschichte:
Nun, Klage ist ja ein recht aktueller Ausdrucksgehalt, finden
Sie nicht? Es sieht böse aus. Meine Nachrichten aus
Deutschland zumal sind gar so hoffnungslos. Freilich glaube
ich im Grunde, daß, alles in allem, die Menschheit doch, trotz
allem gegenteiligen Anschein, ein gutes Stück vorwärts
gestoßen worden ist. Auch ist sie eine zähe Katze. Selbst die
A-Bombe macht mich nicht ernstlich bange, ihretwegen.
Erweist sie sich nicht als zäh in uns selbst? Welch
sonderbarer Leichtsinn, oder welche Vertrauensseligkeit, daß
wir noch immer Werke schaffen! Für wen? Für welche
Zukunft? Und doch, ein Werk, und sei es eines der
Verzweiflung, kann immer nur den Optimismus, den Glauben
ans Leben zur letzten Substanz haben – wie es ja mit der
Verzweiflung eine besondere Sache ist: sie trägt die
Transzendenz zur Hoffnung schon in sich selbst.
Daß die Menschheit durch den Zweiten Weltkrieg »ein gutes Stück vorwärts
gestoßen worden« sei -: das möchte man angesichts der exorbitanten Tötung
von Menschen und Vernichtung von Kulturgütern, zu denen es in diesem
Krieg gekommen war, fast als Frivolität abtun. Aber es ist eine Formulierung
Thomas Manns, der gerade im Begriff war, sein großes »Klagewerk«
abzuschließen, und sie wurde am ersten Tag des Jahres 1947 sicher nicht
unbedacht geschrieben. Zweierlei äußert sich darin: zum einen eine
Geschichtsphilosophie, die sich seit den Zeiten der Aufklärung darin übte,
Negativitäten aller Art als Begleiterscheinungen oder gar Schmiermittel des
Fortschritts zu betrachten; zum andern ein Bedürfnis nach Trost, Entlastung
und positiven Perspektiven, das eine geradezu rücksichtslose Positivierung
der geschichtlichen Katastrophe erzwang. Diese Rechtfertigungsnot ist
Jünger nicht weniger als Thomas Mann zugute zu halten.
Laut Zweitem Pariser Tagebuch hat Jünger die Friedensschrift am 9.
November 1943 abgeschlossen und im Frühjahr 1944 überarbeitet.
Gleichzeitig kursierte sie in der »Georgsrunde«. Über Speidel soll sie an den
Generalfeldmarschall Erwin Rommel gekommen sein, der seit November
1943 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B zur Abwehr einer Invasion in
Frankreich war. Rommel soll – Speidel zufolge – gesagt haben, damit lasse
sich arbeiten (5, 470), und geplant haben, die Schrift drucken und in
Frankreich verbreiten zu lassen. Falls der Marschall diese Absicht
tatsächlich hatte, so wurde ihre Ausführung durch Rommels Verwundung am
17. Juli und durch die Ereignisse am 20. Juli überholt. An eine Publikation
der Friedensschrift durch die Wehrmacht war danach nicht mehr zu denken.
Am 24. August 1944 übergab Jünger eine Abschrift Toepfer, der sie dem
Direktor der Hanseatischen Verlagsanstalt, Benno Ziegler, überbrachte (3,
301 und 20, 386). Ziegler veranlaßte einen Druck, dessen Verbreitung
allerdings durch die Besatzungsmächte untersagt wurde.

Attentat und Abzug

Unter Carl-Heinrich von Stülpnagel, der schon 1938 an Umsturzplänen


beteiligt war, und seinem Adjutanten Caesar von Hofacker wurde der Pariser
Stab zu einem der Zentren des militärischen Widerstands; der 20. Juli wurde
von Paris aus mit geplant, und in Stülpnagels Befehlsbereich wurden die
Pläne der Verschwörer anfangs erfolgreich durchgeführt. Bargatzky, der zu
den Eingeweihten zählte, schildert in seinem 1987 publizierten Hotel
Majestic die Vorgeschichte und den Verlauf des 20. Juli ziemlich
ausführlich. Jünger spielt darin keine Rolle; aber in früheren
Aufzeichnungen Bargatzkys, die im Juli 1984 in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurden, ist auch von Jünger die Rede:
Am frühen Nachmittag des 21. Juli vor dem Eingang zum
»Majestic« traf ich Ernst Jünger, einen vertrauten
Mitbewohner des »Raphael«. Wir hatten ihn in die Details
nicht eingeweiht, aber er wußte, was lief, er war eine unserer
geistigen Stützen. Schweigend hörte er mich an, dann, in
seiner ruhigen, metallenen Stimme, das Verdikt: »Da muß
man doch einfach schießen.« Das war es, genau das hatten
wir versäumt. (vgl. 20, 387f.)
Auch in Jüngers Aufzeichnungen spiegeln sich die Gespräche, die zum
Attentat vom 20. Juli führten. Eine erste einschlägige Notiz findet sich unter
dem Datum 29. Januar 1944: die Reflexion eines Buches über den Anschlag,
den ein gewisser Joseph Fieschi am 28. Juli 1835 mit einem Bündel von
Gewehren auf König Louis Philippe verübte. Der König wurde nur leicht
verwundet, aber elf Menschen kamen ums Leben. Jüngers Ausführungen
machen deutlich, daß er Attentate prinzipiell für verfehlt hält: »Man köpft«,
wenn man »die Repräsentanten in ihrer physischen Erscheinung« zu treffen
sucht, »die Sprossen von Zweigen, die desto kräftiger ausschlagen« (3, 221).
In diesem Sinn schrieb er am 21. Juli, nachdem auch in Paris deutlich
geworden war, daß Stauffenbergs Attentat und mit ihm der Staatsstreich
gescheitert waren, er habe schon in den Marmorklippen angedeutet, »daß
durch Attentate wenig geändert und vor allem nichts gebessert« werde (288
und 291). Jünger war der Meinung, daß die restlose Niederlage des
Nationalsozialismus nicht durch die Beseitigung des »Führers« verhindert
oder verschleiert werden dürfe, wenn man nicht Mythen und Residuen
nationalsozialistischen Denkens schaffen wolle. Dies ist ein
bedenkenswertes Argument; man konnte aber auch wie Bargatzky der
Meinung sein, daß durch die Beseitigung Hitlers noch im Juli 1944 großes
Unheil verhindert worden wäre: Die Beendigung des Kriegs hätte
Hunderttausenden von Soldaten und Flüchtlingen das Leben gerettet und
dem Bombardement Deutschlands, das seinen Höhepunkt noch nicht erreicht
hatte, ein Ende gesetzt, bevor Städte wie Dresden, Würzburg und Pforzheim
zerstört und Tausende von Menschen zerfetzt wurden oder in den
Feuerstürmen verbrannten.
Bei Jüngers Vorbehalten gegen ein Attentat ist es verständlich, daß er
weder eine treibende Kraft des Widerstands war noch in die Attentatspläne
eingeweiht wurde. So blieb er auch von sicherheitsdienstlichen Zugriffen
verschont, während Stülpnagel und Hofacker verhaftet, vor Gericht gestellt
und gehängt wurden, Rommel zum Selbstmord mit Gift gezwungen und
sogar der vorsichtige Speidel in Haft genommen und immer wieder verhört
wurde. Jünger bekam nach dem 20. Juli nur zu spüren, daß im »Raphael«
plötzlich »Typen« erschienen, die keine »Vorgesetzten im alten Sinne« mehr
waren, sondern »Kommissare«, die nichts von alten Bindungen und
Verdiensten wußten (3, 291); er will damals seine Pistole gegen eine
Maschinenpistole ausgetauscht haben (20, 548). Aber die Zeit im »Raphael«
ging überraschend schnell zu Ende, weil die Invasion nicht mehr aufzuhalten
war und Paris geräumt werden mußte (abgesehen davon, daß Hitler die Stadt
zerstört sehen wollte). Jüngers Tagebuch verzeichnet am 30. Juli das letzte
Frühstück bei Sophie Ravoux, am 8. August einen letzten Aufenthalt auf der
Plattform von Sacré-Cœur, am 10. August einen letzten Besuch bei Florence
Gould und den Kauf eines Notizbuchs »von der Sorte«, die »in bewegteren
Zeiten das Journal« ersetzte, am 13. August Abschiedsbesuche und einen
letzten Spaziergang mit Sophie »an den Ufern der Seine«. Am 14. August
begann der Abzug, der nach Saint-Dié in den Vogesen führte. Dort löste sich
der Stab des Militärbefehlshabers von Paris auf, und Jünger fuhr zurück nach
Hannover, wo er sich beim General Loehning meldete, aber nach Hause
entlassen wurde. Am 4. September kam Jünger in Kirchhorst an. Das
Tagebuch vermerkt lapidar und frostig:
Kirchhorst. Begrüßung. Im Hause neue Flüchtlinge. Der
Garten verwildert, die Zäune verfallen; die Flure sind mit
Koffern und Kisten gefüllt.
Der Walnußbaum, den ich 1940 gepflanzt habe, trägt seine
erste Frucht. (3, 304)

Ernstel †
Ernstel Jünger (1926 – 1944)
Das letzte Kriegsjahr war nicht nur durch die allgemeine Entwicklung
belastet; es war auch durch die Gefährdung des Sohnes Ernstel überschattet.
Bilder aus jener Zeit zeigen den Siebzehnjährigen als hochgewachsenen und
aufgeweckten Jungen, dem Wagemut und Abenteuerlust aus den Augen
blitzen. Von der Internatsschule Salem war er 1941 in die Hermann-Lietz-
Schule in Ettersburg bei Weimar gewechselt, und von dort kam er im Herbst
1943 in die Oberstufe der Hermann-Lietz-Schule auf der Nordsee-Insel
Spiekeroog, wo er gleich auch als Marinehelfer erfaßt und uniformiert
wurde. Bereits in Ettersburg hatte Ernstel sich mit dem 1926 in Berlin
geborenen Juristensohn Wolf Jobst Siedler angefreundet, und zusammen mit
ihm und weiteren vierzehn Schülern wurde er am 11. oder 12. Februar
verhaftet, weil ein Mitschüler bei einer vorgesetzten Stelle gemeldet hatte,
daß die beiden Freunde sich fortwährend regimekritisch und defätistisch
geäußert hätten. Siedler berichtet in seiner Autobiographie Ein Leben wird
besichtigt, der Denunziant habe gemeldet, daß Ernstel während der
Beobachtung eines Kampfs zwischen zwei oder drei deutschen
Abfangjägern und Hunderten von britischen Bombern gesagt habe, der
Luftkrieg gleiche nun einem »Tontaubenschießen«, und daß er selbst
Ähnliches hinsichtlich der Überzahl der russischen Panzer gesagt habe; auch
solle Ernstel gesagt haben, Hitler müsse »gehängt« werden, und er sei bereit,
»mit am Strick zu ziehen«. Während die übrigen Mitschüler bald wieder
freikamen, wurden Jünger und Siedler am 15. Februar als Wortführer wegen
»Rundfunkverbrechens« und »Wehrkraftzersetzung« zu fünf bzw. neun
Monaten Gefängnis verurteilt.
Es versteht sich von selbst, daß Ernst und Gretha Jünger durch die
Nachricht von Ernstels Verhaftung in Angst und Sorge versetzt wurden;
leicht konnte man damals für dergleichen zum Tod verurteilt und
hingerichtet werden. Gretha Jünger reiste noch am 12. Februar nach
Wilhelmshaven, um den Sohn im Gefängnis zu besuchen; Jünger telefonierte
aus Paris mit dem Wilhelmshavener Marinestab und reiste Ende Februar
nach Berlin, um beim Oberbefehlshaber der Marine, Großadmiral Dönitz,
vorzusprechen, unterließ es aber zuletzt, weil man ihm sagte, eine solche
Intervention würde die Sache dramatisieren und verschärfen. Jünger bekam
nun zu spüren, daß er einem »weißen« Stab angehörte und nicht überall mit
Wohlwollen betrachtet wurde. Den März über zog sich die Angelegenheit
hin, und es war zu befürchten, daß sie vor den »Volksgerichtshof« gebracht
wurde. Mitte April unternahm Jünger eine zweite Reise, um Ernstel –
zusammen mit seiner Mutter – über Ostern in Wilhelmshaven im Gefängnis
zu besuchen (3, 249f.). Dann konnte glücklicherweise die Aufhebung der
Haft erreicht werden. Ende April wurde Ernstel auf Bewährung entlassen,
meldete sich aber sogleich zu einer Panzereinheit, um vor einem Zugriff der
Gestapo sicher zu sein. Nach einigen Tagen in Kirchhorst rückte er nach
Salzwedel zu den 73ern oder »Gibraltars« ein und wurde dort bis Herbst
zum Panzergrenadier ausgebildet. Am 25. September wurde er mit einigen
Kameraden per Bahn nach Italien in Marsch gesetzt. Es kamen einige Karten
und Briefe, ein letzter am 15. Dezember, obwohl Ernstel schon am 29.
November gefallen war. Die Todesnachricht traf in Kirchhorst am 11. Januar
1945 ein. In Gretha Jüngers Palette heißt es unter dem Datum des 14.
Januar: »Am 11. Januar erhielten wir die Nachricht, daß Atel [Ernstels
Kosename] am 29. November durch Kopfschuß gefallen ist.« Dann folgt ein
Brief an »einen Freund« mit dem Datum vom 26. März. In Ernst Jüngers
Tagebuch heißt es unter dem Datum des 12. Januar: »Ernstel ist tot, gefallen,
mein gutes Kind, schon seit dem 29. November des vorigen Jahres tot.« Und
am folgenden Tag:
Der liebe Junge hat den Tod gefunden am 29. November
1944; er war achtzehn Jahre alt. Er fiel durch Kopfschuß bei
einer Spähtruppbegegnung im Marmorgebirge von Carrara in
Mittelitalien und war, wie seine Kameraden berichten, sofort
tot. Sie konnten ihn nicht mitnehmen, brachten ihn aber kurz
darauf mit einem Panzerwagen ein. Auf dem Friedhof von
Turigliano bei Carrara fand er die letzte Ruhestatt.
Der gute Junge. Von Kind auf war es sein Bestreben, es
dem Vater nachzutun. Nun hat er es gleich beim ersten Male
besser gemacht, ging so unendlich über ihn hinaus.
War heute in der kleinen Bodenkammer, die ich ihm
abgetreten hatte und in der noch ganz seine Aura war. Trat
leise ein, als in ein Heiligtum. Fand unter seinen Papieren
dort ein Tagebüchlein, beginnend mit dem [vielleicht von
Napoleon geprägten] Motto: »Der kommt am weitesten, der
nicht weiß, wohin er geht.« (3, 360)
Am 12. Februar erhielten Ernst und Gretha Jünger aus Italien eine Aufnahme
vom Grab ihres Sohnes (3, 370). Am 23. November 1950 standen sie zum
ersten Mal am Grab in Turigliano, im Jahr darauf, am 9. Oktober 1951,
Jünger ein zweites Mal allein (22, 451 und 462). Wieder ein Jahr später
wurde Ernstels Leichnam nach Wilflingen überführt und am 6. Dezember
auf dem Dorffriedhof ein zweites Mal bestattet. Den Todestag beging Jünger
regelmäßig mit einem Besuch am Grab, meist auch mit einer Reflexion im
Tagebuch. Mitunter fragte er sich, ob er dem Sohn das Gefängnis und
möglicherweise den Tod erspart hätte, wenn er sich im Familienkreis
weniger freimütig-kritisch über Hitler und das NS-Regime geäußert hätte
(21, 152). Immer wieder stieg der Verdacht auf, daß Ernstel nicht gefallen,
sondern liquidiert worden sei: Seine Vorgeschichte war bekannt, das
Regiment war Himmler unterstellt, der Kompanieführer gab keine genaue
Auskunft. Erst am 14. März 1995 erhielt Jünger einen Brief eines
Kameraden seines Sohnes, der klarstellte, daß Ernstel mit seiner Abteilung
eingeschlossen und von einer feindlichen Kugel getroffen wurde (22, 173).

Kriegsende

Nach dem 20. Juli blieb Jünger unbehelligt, doch gestaltete sich seine Lage
auf eine fragwürdige Weise. Nach Hannover zurückgekehrt, ersuchte er im
Einverständnis mit dem Personalchef seiner Division unter Verweis auf ein
Magenleiden um »Überstellung in die Führungsreserve«, das heißt um
Beurlaubung. In der Tat hatte Jünger seit längerer Zeit Probleme mit dem
Magen, war beispielsweise vor der Reise in den Kaukasus zur Sondierung
seines Magens im Lazarett Suresnes gewesen (2, 398ff.). Die Beurlaubung
wurde am 16. September gewährt (3, 305), doch wurde ihm einen Monat
später, am 20. Oktober 1944, vom Generalkommando mitgeteilt, daß seine
»Entlassung verfügt« worden sei (aber keineswegs eine »unehrenhafte«, wie
später gelegentlich behauptet wurde). Jünger begrüßte dies als Möglichkeit
zu »sinnvoller und zweckloser« Arbeit »wie auf einem langsam sinkenden
Schiff« (312), doch war ihm auch damals schon bewußt, daß die Entlassung
aus dem Militärdienst auch die Entlassung aus der Militärgerichtsbarkeit
bedeutete – und damit der Gestapo und der NS-Justiz Zugriffsmöglichkeiten
eröffnete. Vielleicht waren auch bereits Anklagepunkte angesammelt und
Ermittlungen eingeleitet worden. Daß sie von Hitler selbst unterbunden
wurden, ist wohl eine Legende; ein entsprechendes Schreiben des
Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler an den Leiter der Partei-
Kanzlei der NSDAP Martin Bormann, das 1985 auftauchte und von Jünger
selbst für plausibel gehalten wurde (20, 548f.), erwies sich, wie Frank
Schirrmacher auf der Basis einer Expertise des Bundesarchivs Koblenz am
23. Oktober 1992 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darlegen konnte,
als Fälschung.
Jünger konnte lesen – Bloy, Bibel, Schiffbrüche – und sich seinen
Aufzeichnungen widmen. Fliegerangriffe zwangen die Bewohner des
Pfarrhauses oft in einen Unterstand; es gab gefährliche Einschläge in der
Nähe, aber keinen Treffer. Am 5. Januar 1945 wurde Jünger mit einem
Volkssturmkommando betraut; am 12. Februar erfuhr er, daß Goebbels die
Presse angewiesen hatte, von seinem bald bevorstehenden fünfzigsten
Geburtstag »nicht Notiz [zu] nehmen«. Im März begann er mit ostentativer
Zuversicht, den Garten zu richten; zugleich fing er an, Rivarols Gedanken
und Maximen zu übersetzen. Seinen fünfzigsten Geburtstag begann er in der
Nacht vom 28. auf den 29. März mit einer »einsame[n] Nachtwache« und
mit der Lektüre des dreiundsiebzigsten Psalms sowie der Gedichte Urworte,
Orphisch von Goethe, Gründonnerstag von Droste-Hülshoff und Trost-Aria
von Günther. Nachmittags wurde ein Schmetterlingsbaum gepflanzt, abends
war der eben ausgebombte General Loehning zu Gast: »Perpetua tischte
reichlich auf und hatte nicht nur Wein, sondern sogar noch eine Flasche
Champagner aufgetrieben, so daß wir fröhlich tafelten« (3, 391). Anfang
April gab es Nachfragen nach der Friedensschrift, die nun in Abschriften
verbreitet werden sollte. Dann rollten die amerikanischen Panzer an. Der
Krieg war zu Ende, und es begannen die »Jahre der Okkupation«.
SIEBTER TEIL

Nachkrieg

Bundespräsident
Theodor Heuss in
Wilflingen, Mai 1953

Der Roman Heliopolis erschien Für die Innenseite des von Emil
1949 in einem dunkelblauen Preetorius gestalteten SchutzLeineneinband
mit der in Gold umschlags hatte der mit Jünger
eingeprägten Paraphe, mit der seit Pariser Tagen bekannte
Jünger zu signieren pflegte. Maler Werner Höll einen Stadtplan
von Heliopolis gezeichnet.
Unter dem Buch ist die vorgelagerte
Insel Castelmarino
zu denken.

Publikationsverbot und Jünger-Debatte


Über Jüngers Leben in den ersten Nachkriegsjahren ist man durch sein
Tagebuch und die Briefwechsel mit Friedrich Georg Jünger, Carl Schmitt
und Gerhard Nebel gut informiert. Das Tagebuch berichtet relativ
ausführlich über die Jahre 1945 und 1946; mit Beginn des Jahres läßt die
Häufigkeit der Eintragungen nach: Jünger begann, an seinem Roman
Heliopolis zu arbeiten und den Druck der Kriegstagebücher vorzubereiten.
Sie erschienen 1949 unter dem Titel Strahlungen. Das Nachkriegstagebuch,
das die Zeit vom April 1945 bis zum Dezember 1948 dokumentiert, erschien
erstmals 1958 unter dem Titel Jahre der Okkupation. Für den dritten Band
der Werkausgabe von 1963 wurde dieser Titel durch den Titel Die Hütte im
Weinberg ersetzt: ein Bild, das sich im ersten Kapitel des Propheten Jesaja
findet und das Jünger bei seiner Zweitlektüre der Bibel am 13. Mai 1945
unter die Augen kam:
Euer Land ist wüst, eure Städte sind mit Feuer verbrannt;
Fremde verheeren eure Äcker vor euren Augen, und es ist
wüst wie das, so durch Fremde verheert ist.
Was aber noch übrig ist von der Tochter Zion, ist wie ein
Häuslein im Weinberge, wie eine Nachthütte in den
Kürbisgärten, wie eine verheerte Stadt.
Von Dingen, die dieser Prophetie entsprechen, ist in Jüngers
Aufzeichnungen durchaus die Rede: vorfahrende Patrouillen;
Einquartierungen; gefährliche Zusammenstöße mit Besatzungssoldaten;
Übergriffe von befreiten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern; Morde
und Selbstmorde; Greuelnachrichten aus den östlichen Gebieten
Deutschlands. Aber die entsprechenden Aufzeichnungen und Klagen halten
sich in Grenzen und erreichen längst nicht die Intensität, die sie in vielen
anderen Berichten aus der Nachkriegszeit haben. Kaum ein Wort über
Entbehrungen und Behinderungen, die Jünger mit Sicherheit auch zu spüren
bekam. Wer sich so aufgeführt hatte wie die Deutschen, hatte nicht allzuviel
Recht zum Klagen! Im übrigen ging es Jünger vergleichsweise gut: Er hatte
sein Haus. Er konnte arbeiten: lesen, Papiere ordnen, Aufzeichnungen
machen. Zwar wurde er von den Siegermächten mit Mißtrauen beobachtet:
Er stand auf einer von den Alliierten erstellten »Blacklist« von Personen, die
als »nicht geeignet für politisch führende, schöpferische oder
geschäftsführende Stellungen« galten und denen jede entsprechende
Tätigkeit untersagt war; auch soll er, wie aus einem Brief Breitbachs vom
17. Oktober 1951 hervorgeht, auf einer amerikanischen wie einer
französischen Liste deutscher »intellektueller Kriegsverbrecher« gestanden
haben, deren Auslieferung und Bestrafung gefordert werden sollte. Aber
Jünger wurde weder verhört noch verhaftet, wie etwa Carl Schmitt, der Ende
September 1945 ein erstes Mal für ein Jahr und Mitte März 1947 ein zweites
Mal für etwa zwei Monate in Haft genommen wurde. Anfang Juni 1946
mußte Jünger sich in Bad Oeynhausen einer mehrtägigen Befragung durch
eine sechsköpfige Kommission aus englischen und amerikanischen
Psychologen und Soziologen stellen; dabei sollte jedoch nur festgestellt
werden, ob Jünger und einige andere Geladene wieder zu öffentlichen
Tätigkeiten zugelassen und vom Publikationsverbot befreit werden konnten.
Das Ergebnis war im Fall Jünger negativ; er blieb auf der »Blacklist«. Ob er
sich anderen Entnazifizierungsverfahren unterziehen mußte und sich, wie oft
zu lesen ist, weigerte, den berühmten »Fragebogen« auszufüllen, ist unklar.
Insgesamt ist festzustellen, daß Jünger die »Jahre der Okkupation« nicht
etwa nur als demütigend oder entmündigend und bedrückend empfand,
sondern auch als herausfordernd, ja bereichernd. Im »Vorwort« zur
Erstaugabe des Nachkriegstagebuchs, das vom 12. August 1958 datiert,
betont Jünger denn auch den positiven Charakter dieser Zeit: Es waren Jahre
des erhöhten »geistige[n] Zustrom[s]«, der gesteigerten Lebensreflexion, der
»Fruchtbarkeit« (22, 384f.).
Als Jünger dies schrieb, war allerdings ein Ereignis verblaßt, das ihn
schockierte und bedrückte: die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki
durch zwei amerikanische Atombomben am 6. und 9. August 1945, die über
dreihunderttausend Menschen das Leben kostete. Anders als Brecht, der in
seinem Journal am 10. August nur bemerkte, daß dieser »Superfurz« den
Amerikanern die Siegesfreude verdorben habe, begriff Jünger die Tragweite
dieses Ereignisses sofort und hielt am selben Tag in seinen Aufzeichnungen
fest, daß der Mensch nun in einer Weise destruktiv werden könne, wie dies
»bisher nur durch kosmische Katastrophen möglich schien« (3, 504). Die
»japanische Schreckensnachricht« deprimierte ihn und beschäftigte ihn für
längere Zeit. Dabei stellte sich für ihn nicht nur die Frage, was die
Verfügung über ein solches Vernichtungsmittel für die Politik bedeuten
mochte; in Heliopolis findet sich eine wohl 1948 entstandene Passage, die
zeigt, daß Jünger in der Realisierung dieses Bombenabwurfs eine Perversion
des Menschen sah (16, 256f.).
Eingeflochten in die Mitteilungen über den Beginn der Besatzung und den
Verlauf der folgenden beiden Jahre sind Rückblicke auf die Jahre seit 1930,
veranlaßt durch Nachrichten oder durch Funde bei der Ordnung der Papiere.
Die Meldung von Goebbels’ Tod, die am 7. Mai durch den Rundfunk
verbreitet wurde, führte zu einer ausführlichen Rekapitulation ihrer
Begegnungen um 1930 (3, 426 – 444). Aus der »Ordnung von Manuskripten
und Briefschaften« (515) ergaben sich Erinnerungen an Niekisch (515ff.)
und Carl-Heinrich von Stülpnagel (548ff.). Als letzte Aufzeichnung dieser
Art erfolgt Ende März 1946 eine mehrteilige Auseinandersetzung mit Hitler,
die unter dem mehrfach wiederholten Motto »Provokation und Replik« steht
(3, 605 – 617). Gemeint ist damit der »Pendelschlag« der Geschichte, den
Hitler auf furchtbare Weise intensivierte: »Nach 1918 war Deutschland in
die Rolle des Provozierten geraten, und Hitler machte sich zu seinem
Anwalt, übernahm die Replik. Es lag in seinem Charakter, daß er aus der
Replik heraus zur maßlosen Provokation überging und damit wiederum zur
massiven Replik herausforderte.« Daß Hitler dies vermochte, führt Jünger
nicht nur auf die ihn begünstigenden Umstände zurück, sondern auch auf
seine spezifische »Begabung«: seine »entfesselnde, dynamisierende Kraft,
seinen Instinkt für vereinfachende Formeln«, seine Skrupellosigkeit
gegenüber moralischen und traditionalistischen Bedenken (613). Auch die
eigenen Beziehungen zu Hitler werden bedacht; daß dieser »einige
Formulierungen« aus der Totalen Mobilmachung oder dem Arbeiter in den
»Schatz seiner Schlagworte« übernehmen konnte, wird eingeräumt (615).
Die abschließenden Überlegungen gelten aber der Frage, »wie das Spiel
weitergeht« (616). »Provokation und Replik« klingt mechanistisch und
fatalistisch, doch zeigt sich, daß Jünger keineswegs an eine unabänderliche
Mechanik der Geschichte glaubte, sondern wesentliche Modifikationen für
möglich hielt. Dazu gehörte, daß der »Nationalstaat sich verbraucht« hatte,
so daß die »Replik« bei ihm nicht mehr ansetzen konnte.
Wenn eingangs festgestellt wurde, daß Jünger in der unmittelbaren
Nachkriegszeit vergleichsweise gut wegkam, so bedeutet dies nicht, daß er
ganz unbeeinträchtigt geblieben wäre. Stark betroffen wurde er durch das
»Gesetz Nr. 191«, das am 12. Mai 1945 erlassen wurde und für alle drei
Westzonen gültig war. Es verbot den Druck und die Verbreitung nicht
genehmigter Schriften und verhinderte, daß Benno Ziegler von der
Hanseatischen Verlagsanstalt die Friedensschrift drucken und ausliefern
konnte. Diese war zwar bereits gesetzt, und von den verschiedenen
Korrekturabzügen lagen ungefähr fünfzig Exemplare vor und kamen in
Umlauf; aber der geplante Druck von etwa fünfzigtausend Exemplaren
wurde durch das »Gesetz Nr. 191« unterbunden. Ziegler bemühte sich bei
den zuständigen Stellen der englischen Armee um eine Genehmigung, wurde
aber endlos hingehalten und zudem beschuldigt, die Schrift heimlich
verbreitet zu haben. Bis 1949 konnte die Friedensschrift nur in illegalen
Drucken mit geringer Auflagenhöhe erscheinen. Im Kreis um Jünger sprach
man von »geistigem Terror« (Nebel) und »Polizeistaat« (F. G. Jünger), und
Jünger selbst sah sich bald als »Outcast« (so am 10. Mai 1948 am Ende
eines rückblickenden Briefs an Gerhard Nebel).
Dazu mag beigetragen haben, daß Jünger nun erleben mußte, daß
ehemalige Weggefährten von ihm abrückten oder sich kritisch über ihn
äußerten. So schrieb Alexander Mitscherlich, der nun in Heidelberg
Privatdozent für Medizin war, im Mai 1946 zwei ausführliche Briefe an
Ernst und Gretha Jünger, in denen er darlegte, was Jünger ihm um 1930
bedeutet hatte und was ihn jetzt von ihm trennte. Er vermißte das humane
Verständnis für die Not der Massen, die Jünger immer nur als »Pöbel«
betrachtet habe, und er warf ihm vor, daß er sich als Soldat eine »höchst
fatale Mimikry« oder »Identifikation mit dem Nationalsozialismus« habe
zuschulden kommen lassen, anstatt die Distanz deutlich markiert zu haben
oder zum Widerstand übergegangen zu sein: »Wenn Sie«, so schrieb
Mitscherlich am 21. Mai 1946 an Jünger, »z. B. über den Sender Calais
gesprochen hätten, hätten wahrscheinlich Tausende von jungen Menschen
den Weg zu Ihnen gefunden und wäre viel Unheil verhütet worden.«
Dergleichen dürfte Jünger getroffen haben, auch wenn Mitscherlich betonte,
daß es ihm nicht um einen Angriff auf seine einstige »Vaterfigur« gehe,
sondern um ein klärendes Gespräch. – Daß eine Rundfunkrede Jüngers die
von Mitscherlich imaginierte Wirkung gehabt hätte, ist allerdings eine
Illusion; nicht einmal die vielen Ansprachen, die Thomas Mann vom
Oktober 1940 bis zum Kriegsende über Radio London an die »deutschen
Hörer« in Hitlers Reich richtete, hatten einen bemerkenswerten Effekt.
In der Rolle des »Outcast« fühlte sich Jünger allerdings gar nicht ganz
unwohl. Sie entsprach seinem Selbstbild und dem, was er erwartet hatte. Er
sah sich durch das Publikationsverbot auch nicht zur Untätigkeit und
Wirkungslosigkeit verurteilt. Die Friedensschrift wurde in hand- und
maschinenschriftlichen Kopien verbreitet und fand eine erstaunlich große
Resonanz. Am 15. Juli, 8. August und 1. September 1946 wandte Jünger
sich in drei längeren Zirkularbriefen »an die Freunde«. Im ersten dieser
Briefe stellte er mit Befriedigung fest, daß es einem einzelnen gelingen
konnte, »ohne Maschinen, ohne Drucker, ohne Presse, ohne Propaganda«
und »ohne politische Unterstützung« Ideen rasch und wirkungsvoll zu
verbreiten, und im dritten bestand er sogar darauf, daß die Friedensschrift
nur in »Handarbeit« vervielfältigt werden dürfe, weil ein handgeschriebenes
Exemplar, das in die Hände ausgewählter Zeitgenossen komme, mehr
bedeuten könne als eine gedruckte Auflage. Im übrigen nahm er am Ende
des zweiten Briefs die »Militärbehörden« in Schutz und betonte, daß sie sich
ihm gegenüber absolut »korrekt« verhielten und daß sich das Klima
gegenüber den »Haussuchungen, Polizeischikanen und Bespitzelungen der
letzten Jahre wohltätig« verändert habe.
Nicht zuletzt die Friedensschrift, die mit ihrer geschichtsphilosophischen
Abstraktheit und Kälte keineswegs allen Lesern gefiel, führte im Frühjahr
1946 zu einer Debatte um Jünger, die den ganzen Sommer über anhielt. Sie
fand in den Feuilletons von Tageszeitungen und in Rundfunksendungen statt,
aber auch in jenem »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung
Deutschlands«, den Johannes R. Becher nach seiner Rückkehr aus dem
Moskauer Exil im Juli 1945 als gesamtdeutsche Organisation initiiert hatte.
Dort kam es – auf Veranlassung Bechers – am Abend des 8. Mai 1946 zu
einer Aussprache über Jünger, an der auch Ernst Niekisch teilnahm, der im
Sommer 1945 der KPD beigetreten war. Am Tag danach schrieb dieser an
Friedrich Georg Jünger:
Gestern fand im Kulturbund eine Aussprache über das Werk
Ihres Bruders statt. Die Diskussion bewegte sich auf einem
sehr hohen Niveau. Die künstlerische und geistige Qualität
Ihres Bruders wurde von keiner Seite irgendwie herabgesetzt.
Auch die Kritik brachte ihre Bewunderung zum Ausdruck.
Aber der Hang zum Schrecklichen und Grässlichen, der in
verschiedenen Werken Ihres Bruders zum Ausdruck gebracht
ist, wird als Vorarbeit des Bestialismus und Hitlerismus
bezeichnet. Ich setzte demgegenüber auseinander, dass das
Bestialische des III. Reiches aus der Natur des deutschen
Volkes selbst hervorgequollen sei und dass Ihr Bruder nur in
sublimer Form registriert habe, was als Tatsache vor ihm
stand. Er sei kein Kämpfer, sondern nur ein Betrachter und
Spiegel gewesen. Ein Sprecher hob hervor, wie Ihr Bruder
das Preussische in ganz exquisiter, verführerischer
Ausdrucksform erlangt habe. Die Diskussion wurde
abgebrochen und soll später noch fortgesetzt werden. Was
praktisch hierbei herauskommen wird, weiss ich im
Augenblick noch nicht. Ich selbst dringe darauf hin, dass eine
offene, prinzipielle Aussprache in hiesigen Zeitschriften über
das »Problem Jünger« erfolgt.
Es wäre ein Fall, bei dem ich sagen könnte, dass Ihr Bruder
zuletzt ganz gut bestehen dürfte.
Mit dieser Einschätzung hat Niekisch sich allerdings getäuscht. Im Juni 1946
erschien in der vom »Kulturbund« herausgegebenen »Kulturpolitischen
Monatsschrift« Aufbau ein vierzehnseitiger Artikel von Wolfgang Harich,
der Jünger des Aristokratismus und des Bellizismus bezichtigte, ihn als
Wegbereiter des »Dritten Reichs« erscheinen ließ und vor allem die
Friedensschrift einer scharfen Kritik unterzog: Sie spreche eine völlig
unangemessene Sprache, verleugne die deutsche Schuld, mystifiziere und
rechtfertige erneut den Krieg und sei antibolschewistisch auf eine Weise, die
»von der Sowjetunion als glatte Herausforderung empfunden werden«
könne. Ähnliches schrieb Paul Rilla kurz darauf in der Weltbühne, und in
einer weiteren Aussprache, die im Sommer 1947 oder 1948 im Rahmen
einer Schulung für Kulturbund-Referenten stattfand, wurde diese Kritik an
Jünger erneuert und sozusagen ratifiziert. Auch Brecht, der von der zweiten
Aussprache gehört haben muß, notierte damals unter der Rubrik Gespräche
mit jungen Intellektuellen einige bissige Bemerkungen über Jünger. Nicht
Niekisch, sondern seine Kontrahenten setzen sich durch und bestimmten das
Jünger-Bild der SBZ und der DDR.
Wo immer die »Jünger-Debatte« geführt wurde, standen zwei Fragen im
Zentrum: Gehörte Jünger zu den Wegbereitern des Nationalsozialismus?
Und wie ist die Qualität seines literarischen Werks, seines Stils zu
veranschlagen? Naturgemäß blieb die Diskussion in beiden Fragen
kontrovers. Dem entspricht, daß 1947/48 mehrere Zeitschriften
Zusammenstellungen von widersprüchlichen Urteilen über Jünger
publizierten. Nicht bekannt wurde damals, was Thomas Mann im Rahmen
der »großen Kontroverse« über die Frage seiner Rückkehr nach Deutschland
schon am 14. Dezember 1945 an seine amerikanische Gönnerin und
Freundin Agnes E. Meyer schrieb, wobei er sich auf einen Deutschland
betreffenden Brief des emigrierten Schriftstellers Franz Rosenhaupt bezog:
In das Lob der »Marmorklippen« stimmt er ein, – es ist das
Renommierbuch der 12 Jahre und sein Autor zweifellos ein
begabter Mann, der ein viel zu gutes Deutsch schrieb für
Hitler-Deutschland. Er ist aber ein Wegbereiter und eiskalter
Genüßling des Barbarismus und hat noch jetzt, unter der
Besetzung, offen erklärt, es sei lächerlich, zu glauben, daß
sein Buch mit irgendwelcher Kritik am
nationalsozialistischen Regime etwas zu tun habe. Das ist mir
lieber, als das humanistische Schwanzwedeln und die
gefälschten Leidens-Tagebücher gewisser Renegaten und
Opportunisten. Aber eine Hoffnung für die »deutsche
Demokratie« stellt Ernst Jünger auch nicht gerade dar.
Das war nicht Manns letztes Wort über Jünger. Im September 1949 las er in
Kalifornien »Pätels Buch über Jünger«, also entweder Karl O. Paetels
Biographie Ernst Jünger: die Wandlung eines deutschen Dichters und
Patrioten, die 1946 in New York erschienen war, oder die umfangreichere
Darstellung Ernst Jünger: Weg und Wirkung, die dann allerdings
überraschend schnell nach Amerika gelangt wäre, da sie erst 1949 bei Klett
in Stuttgart erschien. Wie dem auch sei, am 21. September bemerkte Mann
in seinem Tagebuch, er könne an Jünger »nicht mehr finden, als daß er in der
Auflösung der Civilisation eine interessante Rolle spielt oder gespielt hat«.
Und drei Tage später, am 24. September:
Unbehagliches Nachdenken über E. Jünger nach der Lektüre.
Respekt vor der Männlichkeit seines Lebens. Vergleich mit
der metaphysischen Sehnsucht meiner eigenen Jugend.
Erinnerung an meine Berührungen mit den deutschen
National-Revolutionären, Gleichen, schnarrenden Studenten
etc. Unvergeßlich schauderhaft. Wie konnte er es aushalten?
Bemerkenswert ist hier nicht nur die Anerkennung der »Männlichkeit« von
Jüngers Leben, also wohl des Mutes und der Selbstbestimmtheit, die sich in
ihm zeigten und auch in gefährlichen Lagen durchhielten. Bemerkenswert ist
auch, daß Thomas Mann sich durch Jünger an eigene Lebensphasen und
Neigungen erinnert fühlte und dabei ein Unbehagen verspürte, dessen Anlaß
nur die partielle (und zeitlich verschobene) Parallelität zwischen seiner
eigenen und Jüngers Entwicklung gewesen sein kann. In dieser sah Mann,
wohin sein Weg hätte führen können, wenn er nicht die – von Jünger
verpaßte – Kurskorrektur vorgenommen hätte, die sich in den
republikanischen Reden der Jahre 1922/23 und im Zauberberg-Roman des
folgenden Jahres spiegelt.
Thomas Manns Behauptung, daß Jünger ein »Wegbereiter des
Barbarismus« gewesen sei, wurde erst mit der Publikation von Manns
Briefen im Jahr 1963 bekannt und beeinflußte das Jünger-Bild der Jahre um
1968. Aber dergleichen konnte man auch um 1947 in Zeitschriften lesen
oder in Diskussionen hören, und selbstverständlich blieb dies auch Jünger
nicht verborgen. Gegen Ende des dritten Zirkularbriefs »an die Freunde«
fragte er spöttisch und souverän sich gebend, er sei doch neugierig, ob es
seinen Gegnern gelingen werde, ihn »zum Kirchenvater des dritten Reiches
zu machen«. Indessen zeigen die Briefwechsel mit Nebel, Mitscherlich,
Breitbach und anderen, daß diese Souveränität nur aufgesetzt war.
Tatsächlich war Jünger um seinen Ruf äußerst besorgt, empörte sich, wenn
er Mißliebiges über sich las, und wandte sich mit scharfen Worten sogar
gegen seine französischen Fürsprecher Schlumberger und Breitbach, wenn
diese etwas verlauten ließen, was ihm nicht ganz behagte. Es stand ja auch
nicht wenig auf dem Spiel: Mit dem Etikett, ein oder gar der »Kirchenvater
des dritten Reiches« gewesen zu sein, wäre es kaum möglich gewesen, die
schriftstellerische Existenz fortzusetzen.
In dieser Situation schwang sich Gerhard Nebel, der seit 1938 immer
wieder die Nähe Jüngers gesucht hatte und ihm in Paris einige Male
begegnet war, zu seinem Verteidiger und Propagandisten auf: hielt Vorträge,
schrieb einen Essay, konzipierte ein erstes Jünger-Buch (das 1949 unter dem
Titel Ernst Jünger: Abenteuer des Geistes erschien), plante eine Zeitschrift
als Organ für die Brüder Jünger und versuchte, um den »Capitano« Jünger
eine Mannschaft von Freunden und Adepten zu versammeln. Und damit
stand er nicht allein. Auch in Basel hatte sich 1946 eine Gruppe gebildet, die
Jünger – und neben ihm Gottfried Benn und Carl Schmitt – Unterstützung
zukommen lassen wollte. Sie bestand zunächst aus den Publizisten Hans
Fleig und Erhard Hürsch sowie dem 1920 geborenen Studenten und
angehenden Journalisten Armin Mohler. Dieser war im Januar 1942 als
Soldat illegal von der Schweiz nach Deutschland übergewechselt, um sich
für den Kampf gegen die Sowjetunion zur Waffen-SS zu melden, war aber
abgewiesen und vorübergehend in ein Lager gesteckt worden. Nach seiner
Entlassung studierte er in Berlin, bis er im Dezember 1942 nach Basel
zurückkehrte, wo er für seine illegale Exkursion mit einem halben Jahr
Festungshaft bedacht wurde. Mohler und seine Freunde hatten allerdings so
wenig Geld, daß sie für ihre Unterstützungsaktion einen Mäzen oder
Geldbeschaffer brauchten; den fanden sie in dem Chemiker Albert Hofmann,
dem Entdecker der psychedelischen Wirkung des LSD, der bald zu Jüngers
Freundeskreis gehören sollte. Das Auftauchen Mohlers führte zu Irritationen
in Nebels Jünger-Kreis, die hier erwähnenswert sind, weil sie, so komisch
sie heute anmuten, einen Einblick in die Diskussionsgegenstände und
Gesinnungslagen jener Zeit eröffnen. Am 13. August 1948 schrieb Nebel an
Jünger:
Was Mohler anbelangt, so hatten Speidel, Ihr Bruder, [der
Verleger Günther] Neske denselben Eindruck wie ich. Mohler
ist auf dem »Arbeiter« hocken geblieben. Faschist von 1930.
Er hat eben unsere Erfahrungen nicht gehabt. Er hat
wahrhaftig Speidel wegen seiner Beteiligung am 20. Juli
angegriffen und verlangt, dass man den Fahneneid, zu dem
uns Hitler gezwungen hat, halten solle. Dazu seine
romantische Russophilie. Mohler weiss nicht, wer der
Leviathan ist. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Mohler
einmal die Redaktion »unserer« Zeitschrift übernehmen
könnte, aber Ihr Bruder fand ihn politisch unmöglich. Wir
haben dem Jungen kräftig zugesetzt. Neske hat ihn der
Antiquiertheit und Verstaubtheit bezichtigt.
Immerhin, Mohler setzte sein Interesse an den nationalistischen
Intellektuellen der Zeit vor 1933 in eine Dissertation um, die 1949 von den
Professoren Herman Schmalenbach und Karl Jaspers positiv begutachtet und
von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als
Doktorarbeit angenommen wurde. Daraus entstand das mehrfach aufgelegte
»Handbuch« Die Konservative Revolution in Deutschland. 1918 – 1932, ein
für das Studium jener Zeit unverzichtbares bio-bibliographisches
Informationswerk.
Es versteht sich von selbst, daß Jünger seine Verteidigung nicht anderen
allein überlassen wollte. Seine Zirkularbriefe waren Versuche, seine
»Freunde« zu informieren und zu mobilisieren. Im übrigen erhoffte er eine
baldige Aufhebung des Publikationsverbots und bereitete dafür nicht nur die
Kriegstagebücher vor, die ihn als Regimegegner zeigen sollten, sondern auch
eine Auswahl aus dem Briefwechsel mit seinem Bruder Friedrich Georg.
Diesen Plan hatten die beiden um 1936 schon einmal gefaßt, aber wegen
anderer Vorhaben nicht realisiert. Nun griff Jünger ihn wieder auf, weil er –
wie aus einem Brief vom 15. August 1948 an Nebel zu ersehen ist – der
Meinung war, daß er etwas für seine »posthume Existenz« tun müsse, also
für seinen guten Ruf über das Lebensende hinaus. Damals müssen die
maschinenschriftlichen »Brief-Journale« entstanden sein, die in Jüngers
Nachlaß zu finden sind. Nebel erhob zunächst Einwände gegen den
Publikationsplan, ließ diese aber nach einem ersten Einblick fallen, weil die
Briefe, wie er am 28. Oktober 1948 an Jünger schrieb, kaum »Privates«
enthielten und ihm »von höchstem öffentlichen und zeitgeschichtlichen
Interesse« zu sein schienen. Aber inzwischen war Jünger selbst wieder vom
Plan einer Briefausgabe abgekommen: die Publikation von Strahlungen und
Heliopolis war ihm wichtiger, und die Zeit dafür schien näherzurücken.
Dazu hatte Jünger durch seinen Umzug in den Süden und in die
französische Besatzungszone beigetragen. Schon im Herbst und Winter
1945/46 war er mindestens zweimal nach Überlingen gefahren, um den
Bruder Friedrich Georg zu besuchen und um unterwegs Bekannte aus der
Pariser Zeit zu treffen. Gegenüber Nebel bemerkte er am 8. Januar 1946, daß
sich dort »geistige Schwerpunkte« bildeten, die ihn interessierten. Weitere
Fahrten nach Süddeutschland folgten und führten recht früh auch schon ins
französische Stabsquartier im badischen Lahr (4, 406). Als sich dann die
englischen Militärbehörden mit der Erteilung der Publikationsgenehmigung
Zeit ließen (obwohl in ihren Gefangenenlagern mittlerweile Jüngers
Reisetagebuch Atlantische Fahrt verteilt wurde), reifte der Entschluß, in den
Süden überzusiedeln. Den letzten Impuls dazu gab eine Reise, die Jünger
Anfang September 1948 zunächst zur Feier des fünfzigsten Geburtstags
seines Bruders nach Überlingen führte, dann aber – zusammen mit dem
Verleger Vittorio Klostermann – nach Freiburg und Todtnauberg, wo Jünger
erstmals mit Martin Heidegger zusammentraf. Diese Begegnung muß so
einverständig und enthusiasmierend verlaufen sein, daß Jünger mit dem
Gedanken spielte, die Nachbarschaft Heideggers zu suchen und in den
Hochschwarzwald zu ziehen. Letztlich entschied er sich aber doch für die
Nähe zu seinem Bruder und wählte Ravensburg als neuen Wohnort; von dort
brauchte man mit dem Auto nicht mehr als eine Stunde nach Überlingen.
Im Herbst 1948 muß sich Jünger mehrfach und für längere Zeit in
Südwestdeutschland aufgehalten haben. Banine berichtet in ihrem 1951
erschienenen Buch Rencontres avec Ernst Jünger, daß sie sich im November
1948 fünf Tage in Tübingen aufgehalten und sich täglich mit ihm getroffen
habe. Reise und Zusammentreffen waren mit Hilfe des französischen Stabs
arrangiert worden; man war offensichtlich auch hier daran interessiert, die
kulturellen Beziehungen, die sich während der deutschen Besatzung von
Paris gebildet hatten, im Sinne einer Annäherungs- und Versöhnungspolitik
zu nutzen. Dies war keineswegs einfach: Banine berichtet auch, wie groß die
Vorbehalte französischer Intellektueller gegenüber Jünger geworden waren;
manche, die ihm während seiner Pariser Zeit freundschaftlich begegnet
waren, hatten sich in Gegner verwandelt und kritisierten ihn nun für seine
Kriegs- und Mobilisierungsschriften, aber auch dafür, daß er nicht emigriert
war, sondern an Hitlers Krieg als Offizier teilgenommen hatte.
Mitte Dezember 1948 erfolgte der Umzug in die französische
Besatzungszone. Aus dem geräumigen Kirchhorster Pfarrhaus ging es nach
Ravensburg in eine enge Etagenwohnung in der Wilhelm-Hauff-Straße 18.
Mehr war damals nicht zu haben, und auch dies war mit einem Marathon
durch Behörden verbunden (22, 429). Aber der Aufwand lohnte sich: Nun
war die französische Militärregierung für den Autor Jünger zuständig, und
diese erteilte bereits um den 10. Februar 1949 die Erlaubnis für den Druck
der Strahlungen. Damit war die Zensur für Jünger aufgehoben. Speidel soll
sich bei dem Kommandierenden General eingesetzt haben, und auch
Breitbach war, wie er am 19. November 1951 an Jünger schrieb, in Paris für
ihn eingetreten.
In Ravensburg entwickelte sich rasch eine gesellige Beziehung zum
evangelischen Stadtpfarrer Wolfram Gestrich und seiner Frau Gerda, einer
Ärztin. Auch erhielt Jünger einen ersten »Sekretär«: den frisch promovierten
Armin Mohler, der nach dem Abschluß seiner Doktorarbeit eine Art von
literarischer »Gesellenzeit« absolvieren wollte. Mohler traf im September
1949 in Ravensburg ein, bezog in der Nähe von Jüngers Wohnung ein
Zimmer und wurde für die nächsten vier Jahre Gehilfe und
Gesprächspartner. Er übernahm einen Teil der Korrespondenz, kümmerte
sich um das Archiv, beteiligte sich an der Redaktion der entstehenden
Publikationen, begleitete Jünger auf Spaziergängen oder ins Kino und nahm
am familiären wie am gesellschaftlichen Leben teil. Mohlers etwas
indiskretes Ravensburger Tagebuch vermittelt den Eindruck eines Lebens,
dem Ruhe und Form ebenso mangelten wie intellektuelle Geselligkeit und
produktive Anspannung. Vielfach ist in diesem Tagebuch von schweren
Trinkgelagen die Rede. Bald wurde auch deutlich, daß Ravensburg keine
Bleibe auf Dauer werden konnte, und es begann die Suche nach einem neuen
Domizil. Dennoch waren die anderthalb Jahre in Ravensburg für Jünger eine
gute Zeit: Sie erlaubten einen intensiveren Kontakt mit den Verlegern
Günther Neske, Ewald Katzmann, Vittorio Klostermann sowie Ernst Klett,
und sie brachten Jüngers literarisches »Comeback«: Als Mohler am 6.
September 1949 in Ravensburg ankam, fuhr man zusammen mit dem
Ehepaar Gestrich sogleich zu einem anderen Arztehepaar, das ein gutes
Radiogerät hatte, weil – nach einer Lesung aus den Strahlungen – für diesen
Abend eine Lesung aus Heliopolis angekündigt war.

Strahlungen: Text und Rezeption

Die Strahlungen erschienen im Frühjahr 1949 im Tübinger »Furche«-Verlag,


den der Verleger Ewald Katzmann Jünger zu Ehren in »Heliopolis«-Verlag
umbenannt hatte. In der Originalausgabe umfassen sie nach dem »Vorwort«
die beiden Pariser Tagebücher, die Kaukasischen Aufzeichnungen und die
Kirchhorster Blätter. Das erste, schon 1942 gedruckte Kriegstagebuch
Gärten und Straßen wurde 1963 anläßlich der ersten Werkausgabe
eingefügt, wie auch die Jahre der Okkupation angegliedert wurden. Die
Originalausgabe der Strahlungen erreichte noch im Erscheinungsjahr 1949
drei Auflagen mit insgesamt zwanzigtausend Exemplaren, war also ein
Erfolgsbuch und fand eine entsprechende Resonanz in den Medien.
Im »Vorwort« zu den Jahren der Okkupation schrieb Jünger einleitend,
das Tagebuch wolle nichts anderes als »die erste, flüchtige Berührung mit
der Wirklichkeit und ihren Eindruck fassen« (22, 383). Aber es ist völlig
klar, daß die Druckfassungen von Jüngers Tagebüchern nicht aus spontanen
Notaten bestehen; ja nicht einmal für die Handschriften gilt dies, denn schon
diese sind zum großen Teil nachträgliche Niederschriften auf der Basis von
Beobachtungen, die Jünger stichwortartig in seinen zahlreichen kleinen
Notizbüchlein festhielt. Jünger selbst hat darauf aufmerksam gemacht,
indem er in den Kaukasischen Aufzeichnungen unter dem Datum des 3.
Januar 1943 bemerkte: »Zum Tagebuch: die kurzen, kleinen Notizen sind oft
trocken wie Tee in Krümeln; die Abschrift ist das heiße Wasser, das ihr
Aroma erschließen soll« (2, 475). Mit der Abschrift gewannen die Notizen
in der Regel erheblich an Umfang und Gehalt; die Beobachtungen oder
Fakten wurden ergänzt durch deutende und wertende Bemerkungen. Dieser
Vorgang war mit der Drucklegung nicht abgeschlossen, sondern fand, wie
am Beispiel der »Burgunderszene« zu sehen war, mit den Überarbeitungen
für Neuausgaben seine Fortsetzung. Auch die Strahlungen liegen in
verschiedenen »Fassungen« vor, doch sind die Eingriffe bei weitem nicht so
stark wie im Fall der Stahlgewitter. Einen Gegensatz zu der Absicht, im
Tagebuch »die erste, flüchtige Berührung mit der Wirklichkeit und ihren
Eindruck [zu] fassen«, sah Jünger in den fortgesetzten Bearbeitungen nicht.
Unter dem Datum des 24. November 1944 berichtete er von einem
Streitgespräch mit Paul Léautaud, der »diese Praxis mißbilligte[e] und das
Wort, wie es im ersten Wurf gefallen ist, für unverletzlich, für sakrosankt
erklärt[e]«. Jünger war anderer Meinung: »Die beste Erfassung des ersten
Eindrucks ist die Frucht wiederholter Anstrengungen, passionierter
Abschriften« (3, 330). Das klingt paradox, doch ist einzuräumen, daß eine
später gefundene Formulierung den Charakter einer Wahrnehmung oder den
Kern eines Erlebnisses besser treffen mag als der erste Versuch der
Fixierung. Nachprüfbar ist dies alles nicht, selbst dort nicht, wo man die
ersten Notizen vorliegen hat; denn wie sollte man zeigen können, daß sie
den ersten Eindruck unverfälscht und vollständig wiedergeben? Man muß
sich hier mit der Entscheidung Jüngers abfinden, die ursprünglichen Notizen
und Aufzeichnungen in ein dezidiert »literarisches Tagebuch« (Lothar
Bluhm) zu überführen, das heißt: in ein Tagebuch, dessen Notate durch
genuin literarische Mittel und poetische Symbolisierungen überformt
werden. Das »literarische« Tagebuch ist nicht einfach fiktional, erfunden,
sondern hat dokumentarischen Charakter, zeigt, was einem bestimmten
Menschen widerfahren ist; aber es stilisiert das Bild dieses Menschen und
seiner Erlebnisse mit literarischen Mitteln, um einen ästhetischen und
interpretatorischen Mehrwert zu schaffen. Der exemplarische Charakter des
Dargestellten soll verdeutlicht werden.
Im Schreiben eines Tagebuchs sah Jünger eine doppelte »Leistung«, wie
er einmal ausdrücklich sagte: »eine Leistung von persönlichem und
archivalischem Wert« (21, 89). Der persönliche Wert ist in der
Rekapitulation des eigenen Lebens zu sehen, der archivalische in der
Nachricht oder Botschaft für andere – und also, wenn es sich um fremde
Tagebücher handelte, auch für ihn selbst. Jünger war ein passionierter
Tagebuch-Leser. In seinem späteren Tagebuch Siebzig verweht II notierte er
unter dem Datum des 21. Juli 1979:
Ein umfangreiches Tagebuch – wie etwa jene von Gide,
Léautaud, Léon Bloy, Julien Green, Hebbel, Grillparzer,
Barrès und anderen – läßt sich auch lesen wie ein Lexikon,
von dem man ein beliebiges Blatt aufschlägt. Man stößt auf
Gedanken, Erlebnisse, Stimmungen, auch Zusprüche von
ganz persönlichem Bezug, wie in den »Losungen«. Man
öffnet eine Flaschenpost an einen unbekannten Empfänger,
eine Mitteilung für Nachgeborene.
Ein unbestimmtes Fernweh findet hier sein Echo; Stendhal
war sich dieser Wirkung bewußt. (5, 501)
Von Hebbels Tagebüchern und Briefen sagte Jünger zu Beginn des Zweiten
Weltkriegs, als er am 2. Dezember 1939 mit einer erneuten Lesung der
Briefe begann, diese Lektüre habe ihn schon öfters im Leben gestärkt. Und
mit Blick auf die Situation im »Dritten Reich« fügte er hinzu:
Es tut uns immer wohl, zu wissen, daß schon einmal jemand
auf dieser Galeere weilte und daß er sich würdig auf ihr
verhielt. (2, 85)
Mit seinen eigenen Tagebüchern wollte Jünger dieses Reflexions- und
Unterrichtungswerk fortsetzen. In den Aufzeichnungen zeigt sich dies auf
Schritt und Tritt, und im ausführlichen »Vorwort« zu den Strahlungen hat
Jünger dies auch auf bemerkenswerte Weise erörtert. Dieses »Vorwort« (2,
11 – 23) erhebt das Tagebuch zu einer, wenn nicht zu der Hauptform der
Literatur in Zeiten der Tyrannis und des Kriegs: Es ist die Spiegelung einer
Krisensituation und Grenzerfahrung, die vorerst zu keiner anderen
Darstellung – etwa in Form eines Romans – finden kann. Es ist das
»Logbuch« »auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des [Poeschen]
Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer [wie der Leviathan] auftauchen«. Es
ist ein Dokument der »geistige[n] Erfassung der Katastrophe«. Und es kann
»im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch« sein. Das Titelwort
»Strahlungen« spricht dem Tagebuch verschiedene Funktionen zu: Es gibt
die »Strahlungen« wieder, die von der Welt, von den Dingen, Stätten und
Menschen her auf den Zeitgenossen oder Beobachter fielen. Es verwebt
»irdische und kosmische« oder aktuelle und immerwährende Strahlungen so,
daß »sinnvolle Muster aufleuchten« und das befremdende oder
beängstigende aktuelle Geschehen in einem ebenfalls »aufleuchtenden«
Ordnungsrahmen erscheint und deutbar wird. Insofern das Tagebuch dies
ermöglicht, erlangt es den Rang eines Kunstwerks. Und es leistet
»Vorarbeit« für den Leser, indem es Strahlungen einfängt, bündelt, sortiert,
wertet. Das Tagebuch ist ein kommunikatives Medium: Produkt der
kommunikativen Beziehungen des Autors und Kommunikationsangebot
zugleich. Wer die Strahlungen liest, erfährt nicht nur, was Jünger gesehen
und gedacht hat, sondern auch, was ihm andere an Mitteilenswertem
berichteten und was er bei seinen literarischen Streifzügen an
Bedenkenswertem auflas. Das »Bild der Katastrophe«, das Jünger mit den
Strahlungen geben wollte, sollte umfassender und aspektereicher sein, als es
der Blick und die Interpretationsfähigkeit eines einzelnen erlaubt hätten. In
diesem Sinn zitiert Jünger aus Büchern und Briefen, referiert er, was er von
›Kundschaftern‹ gehört hat, nennt er den vielbelesenen Carl Schmitt am 29.
Februar 1944 einen Zeitgenossen, der für die »Sichtung« der Bestände, aus
denen eine angemessene Beurteilung der Lage resultieren kann,
»unersetzlich« ist. Allerdings ist unverkennbar, daß Jünger an
beurteilungsrelevanten Meinungen nur zuließ, was seiner Sicht der Dinge
entsprach. Von einer sozioökonomischen Herleitung des »Dritten Reichs«
und des Zweiten Weltkriegs, die ihm in Paris gewiß einmal zu Gehör
gebracht wurde, findet sich in den Aufzeichnungen ebensowenig eine
bemerkenswerte Spur wie von Thomas Manns humanistischen Rundfunk-
Ansprachen, von denen Jünger auch einige gehört hat.
Trotz dieser Einschränkung haben die Strahlungen einen
kaleidoskopischen Charakter. Er resultiert aus der Unterschiedlichkeit der
registrierten Phänomene, aus der meist anekdotischen, bisweilen auch
maximenhaften Schreibweise und der montageartigen Komposition. Träume
und Reflexionen aller Art werden ebenso wiedergegeben wie Lesefrüchte
und Gespräche, private Unternehmungen und dienstliche Aktionen, aktuelle
Ereignisse und historische Reminiszenzen. Die anekdotische
Darstellungsweise macht meist die zugrunde liegende Situation erkennbar
und beglaubigt damit den Realitätsgehalt des Berichteten; im übrigen
zeichnet sie sich durch Prägnanz und Kürze aus. Diese ist wiederum
Voraussetzung für den raschen Themenwechsel, der zu einem frappierenden,
ja schockierenden Nebeneinander von Entsetzlichem und Schönem führt:
Paris, 30. März 1942 Claus Valentiner [ein Angehöriger einer
Dolmetscherkompanie] kehrte aus Berlin zurück. Er erzählte
von einem schauerlichen Burschen, früherem Zeichenlehrer,
der sich gerühmt hatte, in Litauen und anderen Randgebieten
ein Mordkommando geführt zu haben, das zahllose Menschen
schlachtete. Man läßt die Opfer, nachdem sie
zusammengetrieben sind, zuerst die Massengräber ausheben,
dann sich hineinlegen und schießt sie von oben in Schichten
tot. Zuvor beraubt man sie des Letzten, der Lumpen, die sie
am Leibe tragen, bis auf das Hemd.
Groteske Bilder der Athener Hungersnot. So fielen an den
Höhepunkten eines großen Wagnerkonzerts die Posaunen aus,
weil die geschwächten Bläser mit dem Atem nicht auskamen.

Paris, 4. April 1942 Gang durch die Elyseischen Gärten, in


denen ein erster Balsamduft von Blüten und jungem Grün die
Dunkelheit durchdrang. Besonders strömten ihn die
Knospenhülsen der Kastanien aus.
Am Nachmittag, um mich ein wenig zu zerstreuen, in
Valentiners Studio. Im Hof das alte Atelier von Ingres,
daneben eine hohe, schlanke Esche, die wie aus einem
Schacht zum Lichte treibt.
Claus erzählte, daß sein Vater [Max Valentiner], der alte
Wiking [Korvettenkapitän und U-Boot-Kommandant des
Ersten Weltkriegs], ihm einmal fünfhundert Mark
versprochen habe, falls er ihn mit einer schönen Französin,
die bei ihnen wohnte, durch ein Enkelkind erheiterte. (2,
323f.)
Es wäre verfehlt, diese Engführung des Entsetzlichen mit dem Idyllischen
einfach dem Gang des Lebens und der unwillkürlichen Abfolge der
Aufzeichnungen zuzuschreiben. In den fünf Tagen zwischen den beiden
Notaten wird auch anderes zu registrieren gewesen sein, was indessen keine
Berücksichtigung fand; zudem weiß man, daß Jünger, wenn es seiner
Aussageabsicht diente, die Reihenfolge und Datierung der Einträge
veränderte. In jedem Fall ist eine mehr oder minder bewußte Selektion und
Kombination im Spiel, und dies nicht nur hier, sondern auch an vielen
anderen Stellen, an denen Nachrichten aus der Schreckenswelt und
Mitteilungen von Natur- und Kunstgenüssen ineinandergeschoben werden.
Dies hat häufig Empörung hervorgerufen. Maßgeblich in dieser Hinsicht
wurde ja Brechts 1939 publiziertes Gedicht An die Nachgeborenen, in dem
es heißt:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Diese Verse wurden in zahllosen Kritiken und Diskussionsbeiträgen als
Bannfluch gegen Jüngers Strahlungen ausgespielt. Man sollte sie allerdings
genau lesen. Brecht sagt nämlich nicht einfach, daß ein Gespräch über
Bäume ein Verbrechen ist; er sagt vielmehr, daß es »fast« ein Verbrechen ist,
läßt ihm also eine Berechtigung, die vermutlich an bestimmte Bedingungen
geknüpft sein dürfte; und er formuliert die folgenden Verse nicht als
Aussage, sondern als Frage oder Vermutung, die ebensogut verneint wie
bejaht werden kann. Ganz so eindeutig, wie manche Beobachter meinen, ist
die Lage nicht einmal bei Brecht. Im übrigen hat auch er von der
Erscheinung eines »Glücksgotts« geträumt und Lieder des Glücksgotts
konzipiert, die – wie es in seinem Journal unter dem Datum des 20. Juli
1943 heißt – »ein ganz und gar materialistisches Werk« werden sollten:
»preisend das ›gute Leben‹ (in doppelter Bedeutung). Essen, Trinken,
Wohnen, Schlafen, Lieben, Arbeiten, Denken, die großen Genüsse«. Zehn
Jahre später charakterisierte Brecht in seinem Essay Bei Durchsicht meiner
ersten Stücke das Glücksgott-Projekt erneut und bemerkte im Kursivdruck:
»Es ist unmöglich, das Glücksverlangen der Menschen ganz zu töten.«
Jüngers Reden von duftenden Bäumen, ruhigen Ateliers und
versöhnlichen menschlichen Verhältnissen sind nichts anderes als ein
fortgesetzter Ausdruck dieses Glücks- oder Heilsverlangens, das aber das
Unglück oder Unheil, von dem es sich absetzen will, keinen Augenblick
vergessen kann; vielmehr steht es ganz in dessen Bann, was durch die
Details und die Metaphorik der Darstellung angezeigt wird: Der wohltuende,
Heilung verheißende »Balsamduft« der aufsprießenden Natur hat die
»Dunkelheit« zu durchdringen, die über den »Elyseischen« und mithin auf
das Paradies verweisenden Gärten liegt, und muß ohne Blick auf seine
schönen Quellen wahrgenommen werden. Das heißt: Man kann hoffen, daß
Glück und Heil sich in Oasen wie dem Hof des Ateliers halten und gegen die
Finsternis der Schreckenszeit durchsetzen werden, wie die Esche, die von
dort zum Licht treibt, und wie die Schönheit jener Französin, die bei dem
»alten Wiking« einen fast frivolen Wunsch nach Zeugung aufkommen läßt.
Zu haben ist das ersehnte Glück oder Heil indessen noch nicht, und es
scheint, als dürften auch seine Vorboten, die Blüten der Bäume, nicht in ihrer
Schönheit geschaut, sondern nur ›gewittert‹ oder ›erahnt‹ werden.
Dergleichen hätte Jünger in einem erzählerischen Text möglicherweise
ausformuliert; sein Roman Heliopolis weist vergleichbar pathetische und
zugleich sich selbst erklärende Stellen auf. Zur betont abgekühlten Tonlage
der Tagebücher paßten solche Ausführungen nicht und unterblieben, von
wenigen Ausnahmen abgesehen. Jünger vertraute darauf, daß seine Leser im
fürchterlichen Nebeneinander von Entsetzlichem und Idyllischem nicht den
Ausdruck von Kälte, sondern von Schmerz sehen würden, gegen den das
Glücksverlangen nicht aufkommen konnte. Die nächste Eintragung vom 5.
April berichtet von einem schweren Bombardement des Stadtteils Asnières,
und die folgende vom 6. April hält fest, daß Generalmajor Koßmann, der
Speidel als Chef des Generalstabs ablöste, wieder »fürchterliche
Einzelheiten aus den Lemurenwäldern im Osten« mitgeteilt habe.
Die Strahlungen wurden zwar zu einem Erfolgsbuch, fanden aber nicht
nur Anerkennung, sondern auch heftige Kritik. Während Alfred Andersch
sie im Mai 1950 in den Frankfurter Heften als »Logbuch« rühmte, sprach
Erich Kuby im selben Heft vom Erstarren Jüngers in einer unergiebigen
Manier. Auch Peter de Mendelssohn, der 1950 in der Zeitschrift Der Monat
unter dem Titel Gegenstrahlungen eine fünfundzwanzig Seiten umfassende
Erörterung publizierte, entdeckte vor allem Negatives: »schlampige«
Formulierungen, Irrelevanz, Selbstgefälligkeit, »Seelenkitsch« und
»Gedankenkitsch«, Schweigen über die deutsche Verantwortung für den
Zweiten Weltkrieg – und so weiter. Nur hinsichtlich eines Punktes läßt er
den Strahlungen uneingeschränkte Anerkennung zuteil werden: hinsichtlich
der Dokumentation der Nachrichten von den Verbrechen »der deutschen
Soldaten«:
Hier wird ihnen [Jüngers Landsleuten] nichts erspart, sondern
neu vor ihnen ausgebreitet (und zwar von einem, den sie nicht
»Greuelpropagandisten« zu schimpfen wagen werden), was
allgemach schon als »ausgestanden« gilt. Das ist wichtig. Die
Untaten und Missetaten der deutschen Soldaten, insbesondere
im Osten, aber auch in Frankreich, werden aufs genaueste
und unbarmherzigste notiert: als Manifestationen einer
entfesselten Dämonen- und Lemurenwelt. Hier häuft sich die
Evidenz auf das Fürchterlichste, und es ist keine Geheim-
Evidenz. Das ist ebenfalls wichtig. […] Konzentrations- und
Ausrottungslager, Gaskammern und andere
Vernichtungsstätten wie das Lodzer Ghetto, insbesondere die
Massaker der deutschen und ausländischen Juden und endlich
das häufig unmenschliche Verhalten des deutschen Bürgers
gegenüber den russischen Kriegsgefangenen, sind dem
Hauptmann Jünger und seinen Mitoffizieren geläufig und
häufiger Gesprächsstoff. […] Die zusammengetragene
Evidenz ist minutiös und überwältigend; sie lief einem
offensichtlich bis ins Pariser Hotel Majestic nach. Die
Schlußfolgerung ist erlaubt, daß das, was ein auf Druckposten
sitzender Hauptmann ohne viel Zutun wußte und erfuhr,
Tausende und Zehntausende von Offizieren und Soldaten
gewußt haben.
Schwer verständlich, daß die Kritik fünfzig Jahre später an genau diesem
Punkt ansetzte, Jünger »genaues Vorbeisehen« wie »verleugnendes
Notieren« vorwarf (Jan Philipp Reemtsma, 1998) und ihn als einen der
»wortmächtigsten Akteure des ›kollektiven Beschweigens‹« bezeichnete
(Hannes Heer, 2004). Wie man bei de Mendelssohn lesen kann, ist das
Gegenteil der Fall: »Die zusammengetragene Evidenz ist minutiös und
überwältigend.« Immerhin sieht man sich zu der Feststellung veranlaßt, daß
Jünger sich – in der grundsätzlich wichtigen Eintragung vom 1. Januar 1943
– geweigert habe, »die Massaker der Deutschen [im Osten] als reflexhaft
wiederholte asiatische Tat zu verstehen«; ja man kann nicht umhin, dem
hinzuzufügen: »ein Argument, das im sogenannten Historikerstreit hätte
verwendet werden müssen« (Jan Philipp Reemtsma).

Exkurs: Jünger und die deutschen Verbrechen der


NS-Zeit

Jünger hat der Darstellung der NS-Zeit einschließlich der deutschen


Verbrechen einen großen Teil seines Werks gewidmet. Die Tagebücher sowie
die einschlägigen essayistischen und erzählerischen Texte umfassen wohl
zweitausend Druckseiten, und Hunderte von Stellen in anderen Schriften,
insbesondere in den fünf Bänden von Siebzig verweht, sind hinzuzuzählen.
Das ist schon quantitativ nicht wenig, und es ist, wie bereits Peter de
Mendelssohn festgestellt hat, von überraschender Deutlichkeit. Es schließt
auch ein frühes Schuldbekenntnis ein. Im Zweiten Pariser Tagebuch heißt es
unter dem Datum des 16. April 1943:
In Gesprächen über die Grausamkeit dieser Tage taucht oft
die Frage auf, woher all die dämonischen Kräfte, wie die
Schinder und Mörder, kommen, die doch sonst niemand sah
und nicht einmal vermutete. Doch waren sie potentiell
vorhanden, wie nun die Wirklichkeit erweist. Das Neuartige
liegt in ihrer Sichtbarwerdung, in ihrer Freilassung, die ihnen
erlaubt, den Menschen zu schädigen. Zu dieser Freilassung
führte unsere gemeinsame Schuld: indem wir uns der
Bindungen beraubten, entfesselten wir zugleich das
Untergründige. Da dürfen wir nicht klagen, wenn das Übel
uns auch als Individuen trifft. (3, 42)
Für seine Thematisierung der Verfehlungen und Verbrechen der NS-Zeit hat
Jünger nicht viel Anerkennung gefunden. Liest man die diesbezüglichen
Analysen, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind, so gewinnt man
den Eindruck, daß alles, was Jünger zu diesem Thema geschrieben hat,
mißlich ist: defizitär oder falsch. Um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit
seiner eigenen Rolle im Vorfeld des »Dritten Reichs« habe er sich
konsequent gedrückt. An einem wirklichen und persönlich gefaßten
Schuldbekenntnis habe er sich mit einigen vagen Formulierungen
vorbeigemogelt. Seine Thematisierung der Verbrechen des
Nationalsozialismus und speziell der Wehrmacht sei allzu schonend und
weitgehend verschleiernd geblieben. Anstatt zu sagen, daß es sich bei den
Massenmorden, die während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen
verübt wurden, um genuin deutsche Verbrechen handelte, verweise er auf die
stalinistischen Mordaktionen und rede von einer allgemeinen
geschichtlichen Dynamik, die der Moderne einen menschenverachtenden
und mörderischen Zug gegeben habe. Das ist nicht alles unzutreffend!
Jüngers Auseinandersetzung mit seiner nationalistischen Publizistik ist
defizitär. Die politische und moralische Mitschuld an der »Freilassung« der
»Schinder und Mörder«, von der er in der Tagebucheintragung vom 16.
April 1943 spricht, hat er nie konkretisiert und zusammenfassend dargestellt,
sondern nur sporadisch in Form von punktuellen Hinweisen auf
Fehlhaltungen, Fehleinschätzungen oder problematischen Formulierungen.
Gemessen an den heutigen Kriterien, die aus einer jahrzehntelangen NS- und
Holocaust-Forschung resultieren und im »Historikerstreit« der Jahre
zwischen 1985 und 1995 profiliert wurden, ist Jüngers Thematisierung der
NS-Verbrechen in manchen Punkten prekär und erscheint insgesamt als zu
schonungsvoll. Aber man sollte, wenn man dies feststellt und Jünger zum
Vorwurf macht, zweierlei bedenken: Auch die Sprachregelungen des
»Historikerstreits«, der eher eine politische und volkspädagogische als eine
wissenschaftliche Debatte war, sind revisionsbedürftig, wie die historisch-
komparatistischen Forschungen der letzten Jahre zeigen; die von Jünger
behauptete Parallelität (nicht Abhängigkeit!) der nationalsozialistischen und
bolschewistischen Planungen und »Ordnungs«-oder Vernichtungsaktionen
ist seit dem »Historikerstreit« durch die Arbeiten von Baberowski und
Doering-Manteuffel deutlicher geworden.
Deutlicher geworden ist auch, daß die Auseinandersetzung mit der NS-
ZEIT und zumal mit ihren Verbrechen ein schwieriger geschichtlicher
Prozeß ist, dessen Erkenntnis- und Bekenntnismöglichkeiten durch
sozialpsychologische und politische sowie diskurs- und
wissenschaftsgeschichtliche Umstände bedingt waren, ja bis heute bedingt
sind und vermutlich unter dem einen oder anderen Aspekt immer
unzulänglich bleiben werden. Und das heißt vor allem, daß die Kriterien von
1995 oder 2005 nicht einfach auf die vorausgehenden Jahrzehnte und zumal
nicht auf die unmittelbare Nachkriegszeit zu übertragen sind. Davor haben
im übrigen schon Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem meist
einseitig anklägerisch verwendeten Buch Die Unfähigkeit zu trauern (1967)
gewarnt. Dort wird im einleitenden Kapitel an mehreren Stellen gesagt, daß
es den Deutschen unmittelbar nach dem Kriegsende psychologisch nicht
oder kaum möglich war, sich das volle Ausmaß ihrer Verbrechen und ihrer
Schuld bewußt zu machen (35); daß sie »in Massen einer Melancholie
verfallen wären«, wenn sie »die Realität, wie sie war, ›zur Kenntnis
genommen‹ hätten« (58); daß ein »submoralischer Notstand« gegeben war,
in dem »biologisch vorbereitete Selbstschutzmechanismen« griffen und die
»Notfallreaktionen« der Derealisierung, Verleugnung und Verdrängung in
Gang setzten (58 und 35); daß es »sinnlos ist, aus diesen Reaktionen sofort
nach dem Zusammenbruch einen Vorwurf zu konstruieren« (35). Anders
gesagt: Die defensive Thematisierung der deutschen Verbrechen und der
deutschen Schuld, wie sie sich in Jüngers Strahlungen und in den Essays der
frühen fünfziger Jahre findet, war möglicherweise das Maximum dessen,
was damals zu leisten war, oder kam wenigstens in dessen Nähe.
Im übrigen war es, wie schon gesagt wurde, gar nicht so wenig, was
Jünger zur Sprache brachte. Nicht nur, daß er die Nachrichten von den
Verbrechen »minutiös« überlieferte, wie de Mendelssohn feststellte;
ausdrücklich hat er auch deren Thematisierung und Bewußtmachung
verlangt. In dem 1953 publizierten geschichtsphilosophischen Essay Der
Gordische Knoten heißt es hinsichtlich der Ermordung der Einwohner von
Oradour-sur-Glane durch eine SS-Panzerdivision am 10. Juni 1944:
Es ist immer noch besser, daß man über Oradour spricht, als
daß man es verschweigt. Das würde bedeuten, daß die
schrankenlose Gewaltanwendung ihrerseits zur Regel
geworden sei. Man darf die Grenzen um so weniger aus den
Augen verlieren, als die Technik mit ihrer mörderischen
Massenwirkung sie zu verwischen droht. (7, 450f.)
Und im Hinblick auf die allgemeinere und neuartige Disposition zum
Massenmord, die während des Zweiten Weltkriegs zutage getreten war, heißt
es:
Die Ausdeutung der jüngsten Vergangenheit ist […] eine
Lebensfrage für uns. Wir müssen sie in uns austragen. Die
Fülle der Ereignisse, die uns in Anspruch nahmen, fordert zur
geistigen Bewältigung heraus, und das um so mehr, als die
Erklärungen, die von außen geboten werden, nicht zureichen.
(7, 440)
Daß Jünger von »Bewältigung« sprach, ist ihm später selbstverständlich
angekreidet worden. »Bewältigung« wurde ja bald als Synonym für
»Abstreifen« oder »Vergessen« und »Schlußstrich-Ziehen« verstanden. Wer
dies nicht wollte, sprach – im Anschluß an einen legendären Vortrag
Theodor W. Adornos von 1959 – von »Aufarbeitung der Vergangenheit«.
Aber nichts anderes war, wie Alexander und Margarete Mitscherlich 1967
feststellten, mit »bewältigen« gemeint: »eine Folge von
Erkenntnisschritten«, die sie – mit Freud – als »erinnern, wiederholen,
durcharbeiten« bezeichneten (24). In eben diesem Sinn hat Jünger von
»Bewältigung« gesprochen, wenn auch mitunter in allzu ›unbetroffenen‹
Formulierungen, die deplaziert wirken, so wenn es heißt, daß hier »ein
pädagogischer Schatz verborgen« liege, der »gehoben werden« müsse (7,
440). Aber auch dies ist das Gegenteil von »Schlußstrich-Ziehen«, für das
Jünger nie plädiert hat – und nicht plädieren konnte, weil er früh schon die
aller »Bewältigung« sich entziehende Exorbitanz der nationalsozialistischen
Verbrechen empfunden hatte. Bereits am 3. Dezember 1941 notierte er im
Ersten Pariser Tagebuch: »Es gibt Untaten, die die Welt im ganzen, in ihrem
sinnvollen Zusammenhang berühren« (2, 278). Und in dem 1959
erschienenen geschichtsphilosophischen Essay An der Zeitmauer stellte er
fest, das »Opfer«, das in den »großen Blutströmen« der Weltkriegszeit und
zumal in den unerklärlichen und schlechthin widersinnigen Massenmorden
erbracht worden sei, sei »vom historischen Menschen nicht wieder
gutzumachen« und durch »kein Mahnmal, kein Heroon« zu versöhnen: eine
unlöschbare »Hypothek« auf dem neuen Haus, das auf den Trümmern der
alten und zerstörten Welt errichtet wurde (8, 544). Als dann gegen Ende der
siebziger Jahre die Rede von der geschichtlichen Singularität oder
Unvergleichlichkeit des Holocaust aufkam, hat Jünger dem ausdrücklich
zugestimmt. Anläßlich der Lektüre von Sebastian Haffners Anmerkungen zu
Hitler (1978) notierte er am 8. Februar 1980 im Tagebuch:
Den anderen Hauptpunkt der Betrachtung [neben der Frage
nach Hitlers »Größe«] bildet das crimen, von dem Haffner zu
Recht sagt, daß Vergleichbares in der Geschichte nicht zu
entdecken sei. Es wird dort auch nicht zu finden sein, weil
wir [mit diesem Verbrechen] aus der Geschichte hinaustreten.
Die Perfektion der Mittel ist, wie auch beim Kriege, dafür nur
ein Indiz, neu aber ist die Konfrontation der titanischen mit
der göttlichen Welt. Das Recht wird schwächer, die Gewalt
wächst. (5, 577)
Und das heißt: Die Verbrechen des Nationalsozialismus und zumal der
Judenmord haben Jünger zufolge eine Dimension, die den Rückgriff auf den
Mythos als Reflexion elementarer Ereignisse verlangt oder nahelegt: Sie
sind rational nicht erklärbar und entziehen sich aller historischen Vergleiche.
Sie eröffnen ein neues Paradigma der Geschichte.
Daß es zu diesen exorbitanten Verbrechen kommen konnte, ist Jünger
zufolge auf die Verbindung zurückzuführen, welche, wie es in der
Friedensschrift heißt und an anderen Stellen variierend wiederholt wird, die
moderne Technik mit der »bleierne[n] Tyrannis« oder eben dem
Totalitarismus einging (7, 202). Diese Verbindung ist für ihn nicht zufällig,
sondern ergibt sich aus der Fortschrittsidee, die eine totale Realisierung
sucht. Jünger thematisierte damit sehr früh einen Zug der Moderne, der
später von Historikern und Soziologen genauer untersucht und schärfer
profiliert wurde, zuletzt von dem stalinistisch erfahrenen Soziologen
Zygmunt Bauman mit seinem 1989 erschienenen Buch Modernity and the
Holocaust (deutsch 1992 unter dem Titel Dialektik der Ordnung: die
Moderne und der Holocaust) und mit seinem 1991 erschienenen Buch
Modernity and Ambivalence (deutsch 1995 unter dem Titel Moderne und
Ambivalenz: das Ende der Eindeutigkeit). In Erweiterung von Befunden, die
etwas früher von Historikern wie Raul Hilberg und Detlev J. K. Peukert
entwickelt worden waren, macht Bauman vollends deutlich, daß die gegen
bestimmte Bevölkerungsgruppen gerichteten Vernichtungsaktionen des
Nationalsozialismus und des Kommunismus Stalinscher Prägung nicht im
Widerspruch zum modernen Zivilisationsprozeß stehen, sondern »legitime
Kinder des modernen Geistes« sind: Extremfälle moderner
»Sozialtechnologie«, die einem zweifelsfreien Fortschrittsdenken
verpflichtet war und, wie z. B. die weltweit gepflegten Eugenik-Programme
zeigen, allenthalben dazu tendierte, im Umgang mit Menschen über
traditionelle moralische Schranken oder humanitäre Prinzipien
hinwegzugehen und zu Maßnahmen zu schreiten, die schlicht barbarisch
waren, aber durch scheinbar wissenschaftliche Einsichten vermeintlich
rationalisiert und durch bürokratische und technische Verfahrensweisen
sozusagen zivilisiert wurden. In eben diesem Sinn heißt es in Jüngers Roman
Heliopolis in einem Abschnitt, der sich mit gewissen heliopolitanischen
Forschungs- und Verwaltungseinrichtungen befaßt: »Das ›Wissen ist Macht‹
des alten Francis Bacon hatte sich hier vereinfacht zum ›Wissen ist Mord‹«
(16, 238). Und der Mord wurde, wie es unter dem Datum des 12. Mai 1954
in den Strahlungen heißt, zur »Verwaltungssache« (3, 447), organisiert durch
Menschen vom Typ Himmlers, der nicht etwa einen »furchtbaren Glanz«
oder eine »luziferische Pracht« ausstrahlte, sondern »penetrante
Bürgerlichkeit« (3, 455).
Zwar betont Bauman, daß die Moderne nicht schon die »hinreichende
Ursache des Genozids« war, sondern nur die »notwendige Bedingung«;
geschichtliche Krisenerfahrungen besonderer Art und extreme ideologische
Verirrungen mußten hinzutreten, damit die bolschewistischen und
nationalsozialistischen Massenmorde Realität werden konnten. Aber dies
nimmt nicht alle Schuld von der Moderne: Sie hat die organisatorischen und
technischen Mittel zur Verfügung gestellt; sie hat durch den Geist des
Rationalismus und das Verfahren der Bürokratisierung jene »soziale
Distanz« zwischen Planenden und Betroffenen geschaffen, die zur modernen
Unmenschlichkeit gehört; und sie hat es – für den Fall, daß es möglich sein
sollte – versäumt, Sicherungen einzubauen, die eine Pervertierung der
modernen Zivilisation verhindert hätten. Dies kann man – in Erweiterung
des differenzierten Schuldbegriffs, den Karl Jaspers 1945/46 in seiner
Vorlesung Die Schuldfrage entwickelt hat – als die »kulturelle« Schuld oder
Verfehlung der Moderne oder ihrer Exponenten bezeichnen, und diese hat
Jünger, durch seinen Bruder um 1938/39 für die »Perfektion der Technik«
sensibilisiert, in seinen Schriften immer wieder angesprochen.

Heliopolis: »Weltroman« und Weltstaatsutopie

Als zweites Werk nach der Aufhebung des Publikationsverbots erschien im


Herbst 1949 der Roman Heliopolis, an dem Jünger von Januar 1947 bis
März 1949 gearbeitet hat. Heliopolis ist ein großartiger Roman, der nur
einen Nachteil hat: Er paßt nicht in unsere Zeit, ja, er paßte schon nicht mehr
in die Zeit seiner Entstehung und seines Erscheinens.
Dieses Unzeitgemäße beginnt beim Sprachlich-Stilistischen. Heliopolis ist
ein klassizistischer Roman, in seiner rhetorisch geschliffenen Diktion weit
entfernt von der umgangssprachlichen Ausdrucksweise, die in den
zeitgenössischen Roman Einzug hielt, und frei von jenen Vokabeln, die im
Englischen »four-letter-words« heißen und zu einem Markenzeichen der
Nachkriegsmoderne wurden. Jünger hat diese Tendenz während der Arbeit
an Heliopolis wahrgenommen, aber mit einer scharf kulturkonservativen
Tagebucheintragung vom 20. April 1948 verurteilt und für sich
ausgeschlossen (3, 654f.), ebenso am Ende des »Vorworts« zu den
Strahlungen mit einer bissigen Wendung gegen James Joyce (2, 22). Die
deutschen Entsprechungen zu den »four-letter-words« finden sich bei Jünger
so wenig wie bei Thomas Mann, während Hermann Broch, um ein Beispiel
zu nennen, glaubte, sie in seinem 1945 publizierten Roman Der Tod des
Vergil verwenden zu müssen, um seiner wie Vergils Zeit gerecht zu werden;
zeitgenössische Kritiker verglichen denn auch Heliopolis mit Thomas Manns
Doktor Faustus und fanden beide Werke reichlich manieriert und
altmodisch. Man kann dies, insofern es Jünger betrifft, verstehen, wenn man
die Schilderung jener Vereinigung mit einer Urlaubsgeliebten liest, die dem
Protagonisten einst gelang:
Der Mond schien Ingrids Züge zu verlöschen; er wandelte sie
zu einer Maske mit Augenhöhlen, die auf mich gerichtet
waren in mächtiger Stunde, in zwingender Konstellation. Wie
war die Gefährtin so ganz verändert, wie schmolz ihr
Eigentümliches dahin. Ich griff mit beiden Händen nach
ihrem Gesichte, zog, um sie wiederzuerkennen, mit den
Fingerspitzen die Formen nach – vom Haaransatze über die
Stirn und die geschlossenen Augen, über die Lippen, die mich
sanft berührten, bis zum Kinn. Ich folgte den Schultern, den
Linien des Körpers, den ich entdeckte wie ein unbekanntes,
doch urvertrautes Reich. Ich fühlte, wie er antwortete,
sinnpflanzengleich vor der Berührung bebend, doch sich
entfaltend in ihrer Zärtlichkeit. So schwingen Harfensaiten,
so wölbt sich die Amphore in des Töpfers Hand. Vom Meere
stieg ein Hauch von krausem Seetang auf; es schien, daß von
den Gletschern wie von nächtlichen Zinnen niederschmelzend
ihm der Flor der höchsten Gürtel Antwort gab. Ihm folgte
Kastanienblütenduft. (100f./96)
Es klingt nach 19. Jahrhundert und nach Heimatkunst, und zudem muß man,
um es richtig zu verstehen, noch wissen, wie blühende Eßkastanien duften.
Unzeitgemäß wirkte aber nicht nur diese Art von Erotik; unzeitgemäß war
auch das militärische Ambiente des Romangeschehens mit seinen
Scharmützeln, Kommandos, Gefolgschaften und waffentechnischen
Überlegungen. Dergleichen hatte man lange genug gehabt, und man wollte
davon loskommen, in der Literatur wie in der Realität. In Heliopolis lebt
gleichsam das Stabshotel »Majestic« fort; aber die Gesellschaft, in welcher
der Roman wirksam werden sollte, war – trotz des »Kalten Kriegs« – dabei,
der militärischen Welt den Rücken zu kehren. Die höchsten Repräsentanten
der im Erscheinungsjahr gegründeten Bundesrepublik waren keine Militärs,
sondern »ungediente« Zivilisten; nicht Heerführer regierten in West-Europa
und Nord-Amerika, sondern demokratisch gewählte Politiker (auch wenn sie
zuvor Generäle gewesen sein mochten).
Heliopolis kam weder beim Publikum noch bei der professionellen
Literaturkritik gut an, ja nicht einmal bei Jünger-Adepten wie Armin Mohler
und Gerhard Nebel. Wechselweise oder im Verbund wurden Komposition,
Inhalt und Stil kritisiert. Nebel schrieb dem Autor am 25. November 1949,
die Kritik gleichsam zusammenfassend, Heliopolis sei als Kunstwerk
»mißlungen«: »Die Teile rebellieren gegen das Ganze, das nicht die Kraft
hatte, sie zu unterwerfen. Die zeitliche und räumliche Bestimmtheit der
Handlung bleibt abstrakt, erdacht, leblos. Sie arbeiten mit verschiedenen
Wirklichkeitsbegriffen, die ständig und zum Verdruss des Lesers ineinander
umschlagen. Das Burgenland, die transhesperischen Bereiche, der Regent –
das alles ist mir zu artifiziell, zu blass, zu sehr blosse Allegorie, zu wenig
Symbol und Mythos. Außerdem ist das ganze Buch hochhermetisch – mir
erzählen jetzt schon Buchhändler, daß Käufer, die scheiterten, es
zurückbringen. Es wird wenigen Hunderten in Europa zugänglich sein.« Der
Erfolg der Strahlungen wiederholte sich nicht, und Jünger wurde von der
negativen Kritik so beeindruckt, daß er sich früh mit dem Gedanken befaßte,
den Roman eingreifend zu bearbeiten. Anläßlich der ersten Werksausgabe
hat er denn 1964 auch kräftige »Abstriche« gemacht, in der Hoffnung, daß
der Text dadurch »massiert« und die Handlung gewinnen würde (6, 433). Ob
die Überarbeitung dem Werk zugute kam und ob sie überhaupt notwendig
war, ist allerdings fraglich. Heliopolis ist ein anspruchsvoll konzipierter
Roman mit einem spannenden Geschehen und einem Helden, der sich in
einer kritischen geschichtlichen Situation über seine Haltung gegenüber der
Welt klarwerden muß. Die Entfaltung der Handlung wird allerdings immer
wieder durch exkursartige Partien unterbrochen, so durch »Ortners
Erzählung«, durch die Erörterung des Berichts vom »Steg von Masirah« und
durch ausführliche philosophische Reflexionen und Gespräche. Darüber –
wie Nebel – zu klagen, besteht eigentlich kein Anlaß. Alle diese Teile haben
ihre Funktion für das Ganze, und wenn man die Fassung von 1964, in der
lange Passagen getilgt sind, neben die Originalfassung hält, vermißt man
einiges. Im übrigen zeugt die Klage über die Verselbständigung einzelner
Teile von einem Romanbegriff, der im Widerspruch zur Flexibilität gerade
dieser Gattung steht, die in der Moderne lange vor Heliopolis exzessiv
genutzt worden war. Ein guter Teil der Kritik ist auf anachronistische und
zugleich dogmatische Voreingenommenheiten zurückzuführen.
Zu den 1964 gestrichenen Passagen gehört auch die knapp vier
Druckseiten umfassende Unterhaltung über den Roman, die sich in der
Originalfassung zu Beginn des Kapitels »Das Symposion« findet (120 –
124). Sie beschreibt den Anspruch, der hinter dem Konzept von Heliopolis
stand: einen Roman, ja einen »Weltroman« (122) zu schaffen, der das
Tagebuch oder den historischen Bericht in modellhafter und universal
gültiger Weise übersteigen und dabei weder im Realismus verharren noch im
Idealismus oder Utopismus sich verlieren sollte. In Heliopolis nahm dies die
Züge eines Ideen- und Staatsromans mit stark thesenhaftem und
allegorischem Charakter und utopisch-phantastischen Zügen an. Daß dieser
Roman »hochhermetisch« wirkte, wie Nebel schrieb, war auf zwei
Umstände zurückzuführen: zunächst auf die Fülle historischer,
mythologischer, religiöser, philosophischer und literarischer Anspielungen,
die zu realisieren, also wahrzunehmen und interpretatorisch auszuloten sind;
dann aber auch auf die vielen Bezugnahmen auf das vorausgehende Werk
und die Person des Verfassers. In mancher Hinsicht wirkt Heliopolis ja wie
eine Fortschreibung der Marmorklippen und der zweiten Fassung des
Abenteuerlichen Herzens. Die »Mauretanier« spielen hier wie dort eine
große Rolle; im Clubhaus eines Jägerordens hängt das Bild des
»Oberförsters« (33/37); an den gescheiterten Widerständler Sunmyra wird
erinnert (91 und 295/beide Passagen später gestrichen); an Nigromontan und
seine Lehre von der Identität von Oberfläche und Tiefe wird erinnert (15 und
294/19, gestr.). Die Philosophie des »Verlorenen Postens«, die im
Abenteuerlichen Herzen entfaltet wurde, findet sich wieder (91/gestr.),
ebenso die Vorstellung der »Désinvolture« oder »Desinvoltura« (101/96).
In der Charakterisierung des Dichters Ortner als kriegskundigem »Homer
von Heliopolis« (108/101) kann man Züge des Verfassers entdecken, und
mit der Erwähnung eines verschollenen, stereoskopisch schreibenden Autors
namens »Buprestis« (»Prachtkäfer«: 305/gestr.) wird er zur signifikanten
Figur des geschichtlichen Prozesses. Für Leser, die mit Jüngers Werk
vertraut waren und mit seinen Vorstellungen sympathisierten, mochte dies
orientierend oder gar ›heimatlich‹ wirken; für andere war es eher
befremdend und erschwerte den Zugang zu dem Roman. Im übrigen haftet
diesen Beschwörungen des eigenen Werks ein Moment der
Selbstkanonisierung an, das ebenfalls oft kritisiert worden ist. Sie haben
freilich auch einen anderen Aspekt, erweisen sich als Medium der
Selbstbefragung und der Selbstkritik. Die von Jünger so hochgeschätzte
»Desinvoltura« wird nicht mehr nur als schöne Unbefangenheit gerühmt. An
jenem Piloten, der dafür, daß er »eine Stadt am Gelben Meer pulverisiert«
hatte, als »Heros« gefeiert wird, erscheint sie als »unbeirrbare« Désinvolture
(303/gestr.), das heißt: als Indolenz oder Skrupellosigkeit. Und schon zuvor
wurde gesagt, daß ihr »Souplesse zur Seite stehen muß« (101/96): die
Fähigkeit, das Knie zu beugen. Noch wichtiger sind die Bezugnahmen auf
die Figur des »Arbeiters«, die eine entschiedene Kritik der
kollektivistischautoritären Tendenzen des Arbeiters darstellen (176 und
204/150f., gestr.). Heliopolis ist eine – von Jüngers Kritikern allerdings
kaum wahrgenommene – Revokation der programmatischen Seiten der
Mobilisierungsschriften aus der Phase des »heroischen Realismus« zu
Beginn der dreißiger Jahre. Die Widerrufe, die von Jünger immer wieder
verlangt wurden, hat er durchaus geleistet, nur eben nicht in historisch-
bekenntnishaften Schriften, sondern in literarischer Form.
Mit dem Titel Heliopolis erinnert Jüngers Roman an Bücher wie Johann
Valentin Andreaes Christianopolis (1619) oder Tommaso Campanellas
Civitas Solis/Sonnenstaat (1623) und läßt mithin eine Utopie erwarten.
Heliopolis ist aber nur in technologischer Hinsicht ein ›utopisches‹ Werk,
genauer: ein Zukunftsroman mit Science-fiction-Ambiente. Hier gibt es
Raketenflugzeuge und Weltraumstationen, Schwebepanzer und
Strahlungswaffen, thermische Bronce (als wunderbare Energiequelle) und
elektrische Tapeten, Permanentfilm (Videoüberwachung) und Phonophor
(Mobiltelefon und Navigationsgerät). Die Technik ist insgesamt so weit
gediehen, daß sie »den Wünschen homogen« zu werden beginnt; die
Versorgung der Menschen mit Konsumgütern ist also kein Problem mehr,
und die »Abschaffung des Proletariats« erscheint als möglich (220/186f.). In
diesen Feststellungen des »Bergrats«, der das Schatzamt des
heliopolitanischen »Prokonsuls« leitet, zeichnet sich – aufbauend auf der
technischen – auch eine gesellschaftliche Utopie ab; aber in Wahrheit sind
die Verhältnisse in Heliopolis trotz der technischen Erleichterungen des
Lebens weit von einer positiven utopischen Ordnung entfernt. Die modernen
technischen und bürokratischen Möglichkeiten werden von jenem
»Landvogt«, der in Heliopolis den Ton angibt, dazu genutzt, die Massen zu
manipulieren und in einer plebiszitär verschleierten Sklaverei zu halten
(201f./171). Im übrigen ist die Stadt Heliopolis durch die politischen
Gegensätze des 20. Jahrhunderts geprägt und dazu verurteilt, »noch einmal
abzuhandeln, was sich als ausweglos erwiesen hatte« (378/gestr.). In
Heliopolis wiederholt sich die böse politische Vergangenheit in der technisch
perfektionierten Zukunft. Die Projektion der Zukunft wird zur Aufarbeitung
der Vergangenheit und umgekehrt. Das läßt nichts Gutes erwarten.
Das Geschehen, das in dem »Rückblick auf eine Stadt« – so der Untertitel
von Heliopolis – geschildert wird, spielt in einer Zeit, die weit nach dem
Zweiten Weltkrieg zu denken ist: jenseits weiterer »großer Feuerschläge«
(59 und 300/61 und 254) und jenseits auch der Herrschaft eines »Regenten«,
der eine »planetarische Ordnung« geschaffen hatte (201ff./171), sich dann
aber wieder zurückzog, weil es ihm widerstrebte, auf Dauer mit Zwang zu
regieren und die Welt zu kolonisieren (426/335f.). Seitdem besteht ein
»Interregnum« (12/16), also eine Zeit provisorischer Regierungen, die
nirgendwo unangefochten bleiben. Heliopolis ist die an einem Meer
gelegene und eine große Hafenbucht umfassende Residenzstadt eines vom
Regenten eingesetzten »Prokonsuls«, eines Aristokraten, der sich durch
Edelmut, Rechtlichkeit und Kunstsinn auszeichnet; zu seinen Maximen
zählt, »daß echte Politik nur möglich sei, wo Dichtung vorausgegangen war«
(109/102). Diesem Vertreter der legitimen Macht ist aber in einem gewissen
»Landvogt« ein politischer Gegner erwachsen, dem es bereits gelungen ist,
einen Teil der Bevölkerung, der Medien und der Institutionen hinter sich zu
bringen. Wann immer es ihm günstig scheint, stiftet er Unruhen, die sich oft
in Gewalttätigkeiten entladen; auch läßt er Menschen verschleppen und
unterhält Gefängnisse, Folterstätten und Versuchsstationen, über die es böse
Gerüchte gibt. Noch ist der Prokonsul in der Lage, an jedem Punkt der Stadt
»Ordnung zu schaffen«, aber eben nur punktuell, während insgesamt die
Ordnung immer mehr entschwindet (54/56).
So hausen in Heliopolis zwei »feindliche Mächte nebeneinander wie in
den alten Kastellen von Florenz« (95/91): der Prokonsul als Vertreter einer
aristokratisch-militärischen Herrschaftsform, die den Menschen Freiheit und
Sicherheit gewährt, und der Landvogt, der mit Hilfe einer alles erfassenden
Behörde, des »Zentralamts«, »die Herrschaft einer absoluten Bürokratie«
anstrebt, seine Absichten aber demokratisch verschleiert (175f./150f.).
Zwischen diesen beiden Mächten stehen die »Mauretanier« und machen sich
dienstbar, wo es gerade ihren Machtinteressen entspricht. Und schließlich
gibt es die Parsen, eine ethnisch-religiöse Minderheit von großer
Kultiviertheit und Begabung für alles, was der »Verschönerung des Lebens«
dient. Wie die historischen Parsen, die im 8. Jahrhundert wegen der
zunehmenden muslimischen Unterdrückung aus Persien nach Indien
emigrierten und dort erfolgreiche Geschäftsleute wurden, sind auch die
Parsen, die sich in Heliopolis niedergelassen haben, wohlhabende
Geschäftsleute. Aber sicher sind sie auch hier nicht: Durch ihren Reichtum
ziehen sie Neid auf sich, durch ihre Andersartigkeit Haß.
Die Parsen sind gleichsam die Juden von Heliopolis. Der Roman selbst
stellt diese Verbindung her, indem er sagt, die Parsen hätten »die Erbschaft
der Verfolgung« angetreten, nachdem der Regent die Juden »mit Land
versehen« und zum Abzug aus Heliopolis veranlaßt hatte (65, 83 und
330/67, 82 und 276). Die Andersartigkeit der Parsen, die der Landvogt
immer wieder nutzt, um die Bevölkerung zu Pogromen zu motivieren, zeigt
sich in ihrer Kleidung und in ihren religiösen Gebräuchen, insbesondere in
der – von indischen Parsen bis ins 20. Jahrhundert praktizierten –
»Himmelsbestattung«: Bei ihr wird der Leichnam eines Menschen in einen
von Geiern umlagerten »Turm des Schweigens« gebracht, der nach oben
offen ist, so daß die Geier eindringen und das Fleisch und die Weichteile
verzehren können. Der Sinn dieser »Himmelsbestattung« besteht darin, daß
der Mensch in den Kreislauf der Natur zurückkehrt, ohne durch seinen
Leichnam die Elemente zu verunreinigen (382 und 390/304, gestr.). In
Heliopolis wird die »Himmelsbestattung« zunächst vom Parsenbeauftragten
des Landvogts in denunziatorischer Absicht geschildert (278/239f.), dann –
mit anderer Wertung – direkt vor Augen geführt, wenn der Held des Romans
ergriffen und erschüttert der Bestattung eines parsischen Bekannten
beiwohnt (387f./307f.).
Man fragt sich, warum Jünger anstelle von Juden Parsen zu Opfern der
heliopolitanischen Geschichte gemacht hat. Dafür gibt es zwei Motive: Das
eine ist der universalistische Anspruch, den Jünger mit Heliopolis ebenso
verfolgte wie zuvor mit der parabolischen Erzählung Auf den
Marmorklippen. Auch dieser »Weltroman« sollte auf mehr als nur die
deutsche Geschichte und die Verfolgung der europäischen Juden passen, was
angesichts der weiten Verbreitung von ethnisch oder sozial bedingten
Verfolgungen im 20. Jahrhundert eine durchaus berechtigte Perspektive ist;
noch einmal sei an die vergleichenden historischen Forschungen von
Baberowski und Doering-Manteuffel erinnert. Das andere Motiv hat Jünger
selbst am 28. November 1949 in einem Brief an Carl Schmitt dargelegt.
Demnach wählte er Parsen, weil er »eine dualistische Lehre aufführen«
wollte, also die Vorstellung, daß die Welt unter dem Widerspiel eines guten
und eines bösen Prinzips stehe und zu leiden habe. Diese Vorstellung
bekommt für Heliopolis in der Tat eine weitreichende Bedeutung; sie wird
dem Helden des Romans durch eine Parsin vermittelt und eröffnet diesem
einen völlig neuen Blick auf die Welt und die Geschichte.
Der Held des Romans, Lucius de Geer, ist ein Offizier mittleren Alters,
der im Dienst des Prokonsuls steht. Er stammt aus dem »Burgenland«, einer
von Krieg und Modernisierung verschonten Landschaft, in der man im
Einklang mit Natur und Herkommen leben und Menschlichkeit im besten
Sinn entwickeln und pflegen konnte. Zudem war er Schüler des Meisters
Nigromontan, der ihm ein Interesse für metaphysische Fragen einhauchte.
Beide Faktoren sind für eine militärisch-administrative Karriere in einer Zeit
skrupellos geführter Kriege und Bürgerkriege aber nicht förderlich; sie
hemmen, wie sich an de Geer zeigt, die Urteils- wie die Aktionsfähigkeit
und führen zu Handlungen, die menschlich ehrenhaft sind, aber militärisch-
politisch gefährlich wirken.
Als Lucius de Geer zu Beginn des Romans nach einer längeren
Erkundungs- und Erholungsreise nach Heliopolis zurückkehrt, hat sich die
Lage verschärft: Der Landvogt wartet mit neuen terroristischen Drohungen
auf und hat zudem Unruhen gestiftet, die sich wieder einmal gegen die
Parsen richten. Auf dem Weg vom Hafen zum »Palast«, der dem Stab des
Prokonsuls als Quartier dient, retten de Geer und seine Begleiter eine junge
heliopolitanische Frau, die in einem parsischen Haus beschäftigt war, vor der
Vergewaltigung, und im Laden des parsischen Maroquiniers Antonio Peri,
bei dem de Geer die Schatullen für seine Manuskripte und Dokumente
fertigen läßt, erkennt er die schreckliche Angst, die das Pogrom ausgelöst
hat. Angekommen im Palast, in dem de Geer ein nobles Appartement hat,
reflektiert der Zurückgekehrte die Lage und kommt zu dem Schluß, daß es
notwendig sei, sich für die bevorstehenden Zeiten auch von Künstlern,
Philosophen und Theologen beraten oder rüsten zu lassen (91/88). Dafür gibt
es gute Voraussetzungen: Der Prokonsul hat Künstler und Philosophen an
seinen Hof gezogen; es gibt eine »Kriegsschule« für Offiziersanwärter, in
der auf de Geers Betreiben ein moraltheologischer Kursus eingerichtet
wurde; und auf dem »Pagos«, auf dem neben dem Landschloß des
Prokonsuls die Kriegsschule liegt, lebt in einem »Apiarium« oder
»Immengarten« ein christlicher Mönchseremit von höchster geistiger
Ausstrahlung. Lucius de Geer nutzt alle drei Möglichkeiten der Reflexion.
Unmittelbar nach de Geers Rückkehr findet ein »Symposion« statt, an
dem außer ihm der Maler Halder, der Philosoph Serner und der Dichter
Ortner teilnehmen. Das Gespräch dreht sich zunächst um die
Orientierungsperspektiven, die sich aus den drei vertretenen Disziplinen
ergeben können, und führt mit der Frage nach dem, was Glück sei, zu einer
Apologie des Versuchs, »im Chaos dieser Welt« Inseln der Beschaulichkeit,
der Harmonie und der freundschaftlichen Kommunikation zu schaffen
(136/112). Dem schließt sich »Ortners Erzählung« an: eine Geschichte im
Stil des von Jünger überaus geschätzten E. T. A. Hoffmann (138ff./113ff.).
Sie berichtet von einem Mann, dem, als er sich durch Spielen ruiniert hatte,
von einem gewissen Doktor Fancy die Augen mit einer Säure so geschärft
wurden, daß er hellsehen konnte und in Geldgeschäften wie im Glücksspiel
nur noch Erfolge hatte, da er ja – im Unterschied zu seinen Konkurrenten –
die Bedingungen des Handelns gänzlich durchschauen konnte. Allerdings
machte ihn dies nur für eine Weile glücklich; dann spürte er, daß er zu einer
»Glücksmaschine« geworden war, das heißt: zu einem »Automaten«, der
immer erfolgreich war, aber Glück nicht mehr empfand, weil er das
Gegenteil davon und den »Genuß des Unvorhergesehenen« nicht mehr
kannte. So suchte er jenen Doktor Fancy erneut auf, ließ sich sein normales
Augenlicht wiedergeben und führte von da an ein bescheidenes, aber wieder
menschlich bewegtes Leben als Antiquar. Was diese Erzählung für den
Roman, für die geschichtliche Situation von Heliopolis besagt, wird am
Ende angedeutet: Es gibt technisch die Möglichkeit, in »Dämonenreiche«
einzutreten und die Menschen restlos verfügbar zu machen; aber sie werden
damit zu Automaten ohne Schicksal und Glück. Es wäre eine Herrschafts-
und Existenzweise, wie sie der Regent nicht wollte.
Bald nach dem Symposion stattet de Geer der »Kriegsschule« einen
Besuch ab, um einem moraltheologischen Kursus beizuwohnen
(223ff./188ff.). Dort wird unter dem Titel »Der Steg von Masirah« und mit
Verweis auf einen Bericht des Kapitäns James Riley aus dem Jahr 1815 eine
außerordentlich schwierige Führungs- und Entscheidungsfrage erörtert:
Jener Steg ist Teil eines wichtigen Handelswegs, der längs der
mauretanischen Küste läuft und bei Masirah einen halbmondförmig und
steilwandig ins Meer hinausragenden Gebirgsvorsprung umrunden muß. Er
führt in schwindelnde Höhen und ist so schmal, daß Menschen und
Maultiere nur hintereinander gehen können. Ein Ausweichen wäre für einen
Menschen nicht möglich, wenn ein anderer entgegenkäme, ein Umkehren
für die Maultiere nicht. Da dieser Pfad von beiden Seiten begangen, aber von
keiner Seite ganz überschaut werden kann, muß der Eintritt durch einen
starken Ruf angezeigt werden. In dem zu erörternden Fall wurde dieser Ruf
versäumt, so daß zwei Karawanen aufeinandertrafen: eine muslimische mit
Gold und eine jüdische mit Salz. In Rileys Bericht endet das fatale
Aufeinandertreffen der beiden Karawanen nach stundenlangen, aber
erfolglosen Verhandlungen in einem Kampf, bei dem Menschen und Tiere
ausnahmslos ins Meer stürzen. In Jüngers »Kriegsschule« sollen die
Offiziersanwärter nun prüfen, ob dieser traurige Ausgang vermeidbar
gewesen wäre, und einer von ihnen entwickelt tatsächlich eine andere
Lösung: Der Führer der arabischen Goldkarawane kauft dem Führer der
jüdischen Salzkarawane Tiere und Lasten ab. Dann läßt er die Tiere in den
Abgrund stürzen und die jüdischen Händler umkehren. Am Augangspunkt
des Stegs angelangt, vergütet er ihnen das Salz mit Gold und läßt ein
Denkmal errichten.
Jünger hat sich, wie seinen Tagebüchern zu entnehmen ist, mit dieser
Geschichte seit seiner Kaukasus-Reise im November 1942 mehrfach
beschäftigt (2, 427f. und 3, 306), bevor er diese Lösung fand. Sie beschrieb
für ihn, wie es dann in Heliopolis heißt, »eine jener scheinbar aussichtslosen
Lagen, aus denen der Mensch für sich das Recht ableitet, durch den anderen
hindurchzugehen« (227/193). Carl Schmitt wies ihn nach der Lektüre von
Heliopolis in einem Brief vom 25. November 1949 darauf hin, daß er damit
ein ethisches Problem thematisiert habe, das seit zweitausend Jahren am
Beispiel des »Brettes des Karneades« debattiert werde. Der Philosoph
Karneades von Kyrene, der von 214 bis 129 v. Chr. lebte, hatte nämlich die
Frage gestellt, wie sich ein »Gerechter« verhalte, wenn er nach einem
Schiffbruch ein Brett entdecke, das ein Schwächerer als er selbst ergriffen
habe: »Wird er ihn nicht von dem Brett herunterstoßen, um sich selbst darauf
zu schwingen und sich mit seiner Hilfe zu retten, zumal er mitten auf dem
Meere keinen Zeugen um sich hat?« Es geht, mit anderen Worten, um die
Frage, ob ein Mensch in einer solchen Situation das Recht hat, einem
anderen den Tod zu bereiten, um selber am Leben bleiben zu können -: eine
Frage, die mit der Radikalisierung der politischen und sozialen Spannungen
zu Beginn der dreißiger Jahre erneut virulent geworden war; nicht umsonst
hat Brecht sie um 1930 mit den »Schulopern« Der Jasager und der
Neinsager und dem »Lehrstück« Die Maßnahme gleich mehrfach zum
Gegenstand des Räsonnements im Theater gemacht. Die Maßnahme erlaubt
die Liquidierung eines Menschen, wenn dadurch seine andernfalls
gefährdeten Genossen und mit ihnen die Revolution gerettet werden können.
Daß Jünger nicht auf den Versuch setzte, den ausweglos scheinenden
Zustand durch eine trickreiche Tötung einer der beiden Parteien zu beenden,
sondern nach einer anderen Lösung suchte, ist hoch bedeutsam: Gegenüber
Umständen, die eine Vernichtung von Menschen zu verlangen und zu
rechtfertigen scheinen, wird am Vorrang des menschlichen Lebens
festgehalten. Und angesichts einer Situation, in der Menschen scheinbar
unausweichlich zu Todfeinden werden müssen, wird die Aufhebung der
reinen Gegnerschaft gefordert. Über den arabischen Kaufmann, der die alle
rettende Lösung fand, heißt es, daß er »sich für den Gegner mit
verantwortlich fühlte« (231/197). Solches Denken sprengte die damals
gepflegten Muster. Konsequenterweise wird der Kursus denn auch vom Chef
des militärischen Stabs kritisiert und abgesetzt; er ist für schroffe
Konfrontation und entschiedenen Zugriff. Der Roman läßt aber keinen
Zweifel daran, daß dies nicht genügt, um der Heillosigkeit der Zeit
entgegenzuwirken.
Unmittelbar nach der Stunde in der Kriegsschule und der anschließenden
Kritik durch den Stabschef besucht de Geer den Eremiten Pater Foelix in
seinem »Immengarten«. Der Eingang ist idyllisch und symbolträchtig:
Ein feines Summen wie im Inneren von kristallenen Glocken
erfüllte den Luftraum und verstärkte sich gipfelwärts, je mehr
man sich dem Apiarium des Pater Foelix näherte. Der
Immengarten des Eremiten war mit zahllosen Kelchen
wohlbestellt. Man sah die Sammlerinnen emsig von Blüte zu
Blüte schwirren, so daß ihr Flug gleich einem Teppich den
Grund bespann. Sie wimmelten in Trauben dort, wo die
Matten des Steinbrechs, der Hauswurz, des Zimbelkrautes
überhingen, im Honigrausch. Dann kehrten sie heimwärts,
balsamträchtig und pollenüberstäubt. Arbeit und Lust – sie
schienen hier tief verschmolzen im Fest der Blumenhochzeit,
im Liebesbotendienst. (239f./203)
Natürlich kommt das Gespräch auf die Bienen, und unvermeidlicherweise
wird es – angesichts der politischen Situation – staatsphilosophisch. Kann
das Zusammenleben der Bienen, kann das Bienenvolk oder der Bienenstaat
vorbildlich sein für die menschliche Gesellschaft? Pater Foelix benennt eine
Differenz: »Die Immen erfüllen das Gesetz, das ihnen [durch die Schöpfung
oder die Natur] vorgeschrieben ist.« Die Menschen hingegen haben
Gestaltungsfreiheit, die allerdings mit der Unterscheidung von »gut« und
»böse« verbunden ist und solchermaßen nicht nur Verfehlung, sondern auch
Verschuldung zuläßt. Abgesehen davon könnte das Bienenvolk oder der
Bienenstaat – Pater Foelix zufolge – schon vorbildlich sein, freilich nur,
wenn man erkennt, daß es im Bienenstaat keine Kommandos und keinen
Zwang gibt, sondern alles aus Lebensfreude und Liebe geschieht, Ausdruck
einer alles durchwaltenden »Liebesbeziehung« ist. Diese könnte und sollte
sich auch in menschlichen Gesellschaften entfalten, gleich welcher
politischen Verfassung sie sind; es bedürfte nur der Nachfolge Christi,
dessen »Lehre auf die Verwirklichung der Liebesbeziehung angelegt« ist
(246/gestr.). Was den Bienen die Natur sagt, muß den Menschen die
christliche Religion sagen.
Pater Foelix ist nicht der einzige, der sich auf Christus bezieht. Schon
zuvor, beim Symposion, hat der Philosoph Serner die Bedeutung Christi für
die Geschichte der Menschheit bestimmt:
Christus ist reine Repräsentation des Menschen, sowohl im
Zeitlichen als auch in der Substanz. Er nennt sich daher
sowohl des Menschen als auch Gottes Sohn. Sein Schicksal
enthüllt das Menschen-Schicksal, den Auftrag, der dem
Menschen gegeben ist. Er ist der Christ; und wenn Zahllose
sagten, sagen und sagen werden: »Ich bin ein Christ«, so
spricht sich damit wieder das Verhältnis des Menschen zu den
Menschen aus. (119/gestr.)
Am Ende des Romans ist auch Lucius de Geer zu Christus bekehrt. Von
»Bekehrung« kann man reden, denn man erfährt, daß de Geer in früheren
Zeiten, als er von einem gesellschaftlichen Leben träumte, das wie ein
»Uhrwerk« lief, Christus »haßte«, weil er den Menschen »unberechenbar«
gemacht hatte (412/gestr.). Inzwischen ist er mit Pater Foelix der Meinung,
daß nicht Mechanik, sondern Liebe unter den Menschen herrschen solle, und
daß auch »Größe« nicht ohne »Liebe« und »Mitleid« möglich sei
(352/gestr.). Ausdrücklich widerspricht er dem »alten Rat, daß man zunächst
das Mitleid in sich abtöten müsse, um den Fürchterlichen im Machtkampf
standzuhalten, und sich vererzen müsse durch und durch«. Härte dieser Art
war in der Antike möglich und gab einem Sulla seine Größe. »Doch fand
man zu seiner Unschuld nicht zurück. Ein Stern war aufgegangen und hatte
den alten Glanz zerstört. Von da an blieb das Leiden sichtbar, was auch der
Wille dagegen unternahm.« Das ist nicht nur ein Bekenntnis zur christlichen
Liebes- und Mitleidsethik; es ist zugleich auch eine Absage an den Willen
zur Macht oder zur technokratischen Weltbeherrschung, der auf
menschliches Leiden keine Rücksicht nehmen wollte.
Die zuletzt zitierten Stellen haben – neben einigen Sätzen in der
Friedensschrift und in den Strahlungen – wesentlich dazu beigetragen, daß
man um 1950 von einer religiösen oder gar christlichen Wendung in Jüngers
Schaffen sprach. Die weiteren Schriften der fünfziger Jahre schienen dies zu
bestätigen. Mehrfach wird dort eine »neue Theologie« verlangt, und
mehrfach wird Christus als Stifter einer neuen, freiheitlichen und humanen
Ethik gerühmt. Im 1951 publizierten Waldgang ist es Christus, der den
Menschen die Furcht vor dem Tod genommen und sie dadurch befähigt hat,
jeder Tyrannis entgegenzutreten (7, 331), und in der 1959 erschienenen
Zeitmauer heißt es:
Gewisse Dinge sind, zwar nicht tatsächlich, doch in der
Anschauung, unmöglich, seit Christus, das »neue Licht«,
erschienen ist. Die Kirchen können längst in Museen,
Remisen oder Lichtspielhäuser verwandelt sein; es bleibt ein
unausrottbares Bewußtsein für das, was im ethischen Sinne
schön oder häßlich ist. Dieses Häßliche kann in mythischer
Zeit schön gewesen sein – wie etwa das Schauspiel der
Blutopfer auf den mexikanischen Pyramiden – es wurde im
Augenblick zum Frevel, in dem christliche Augen es
wahrnahmen. Damit ist nicht gesagt, daß Christen nicht
ähnliches zuzutrauen wäre, aber es fehlt nun der Bluttat der
mythische Glanz, die Weihe, das Selbstbewußtsein der
antiken Macht. Das ist ein für alle Mal dem Menschen
abgedungen und abgekauft. (8, 477)
In späteren Jahren hat Jünger solche bekenntnishaften Töne eher vermieden,
und bei der Überarbeitung von Heliopolis hat er die christologischen
Passagen gestrichen. Auch hat er sich – bis zu seiner späten Konversion zum
katholischen Glauben – nie ausdrücklich als Christ bekannt oder die
christliche Religion als die allen anderen überlegene Religion bewertet. Im
Gegenteil, es scheint so, daß er sie als eine unter vielen Weisheits- und
Erlösungslehren betrachtete, deren Plausibilität oder Dignität man von Fall
zu Fall zu prüfen hatte. Symptomatisch für Jüngers Verhältnis zum
Christentum ist eine Bemerkung, die sich in Siebzig verweht IV unter dem
Datum des 18. April 1986 findet. Dort heißt es anläßlich von Pierre Jules
Renards Frage, ob man »einer niedrigen Seele Unsterblichkeit zubilligen«
könne: »Das scheint ihm absurd – ich möchte es, und darin mit den Christen
einig, bejahen« (21, 49). Offensichtlich fühlte Jünger sich, als er dies
notierte, nicht als dezidierter Christ, sondern als »homo religiosus sive
mythologicus«, der seine metaphysischen Vorstellungen dort nährte, wo er
etwas Bedenkenswertes fand. Trotzdem war seine um 1950 zu beobachtende
Zuwendung zum Christentum nicht nur ein folgenloses Zwischenspiel:
Neben der erneuten Beschäftigung mit Schopenhauers Mitleidsphilosophie
haben auch die Lektüre des Neuen Testaments und die Auseinandersetzung
mit der Gestalt Christi dazu beigetragen, daß Jünger die von Nietzsche
inspirierte Philosophie des Willens zur Macht, die er lange vertreten hatte,
ausdrücklich und auf Dauer verabschiedete.
Mit dem Besuch bei Pater Foelix endet der erste, gleichsam sondierende
Teil des Romans. Mit dem zweiten Teil kommt Dramatik ins Geschehen;
was passiert, erinnert an das Prager Attentat auf den SS-Führer Heydrich und
die nachfolgenden Vergeltungsaktionen: Messer Grande, ein hochrangiger
Mitarbeiter des Landvogts, fällt einem Sprengstoffanschlag zum Opfer. Der
Attentäter ist ein parsischer Medizinstudent, dessen Schwester bei den
vorausgehenden Unruhen vergewaltigt wurde. Selbstverständlich kommt es
zu einer neuen Parsenverfolgung, bei der nun auch de Geers Maroquinier
Antonio Peri und seine schöne Nichte Budur aus ihrem Haus geholt und in
ein Lager gesteckt werden. De Geer gelingt es, beim Parsen-Beauftragten
des Landvogts die Freilassung von Budur Peri zu erwirken, doch kann er
danach keine Bleibe für sie finden und muß sie in seinem Appartement
verborgen halten. Ihm ist bewußt, daß dies nicht die Billigung des
Stabschefs fände, weil es, wenn es bekannt würde, vom Landvogt als
Provokation betrachtet würde. Aber für de Geer zählen nicht mehr nur
politische und militärische Erwägungen, sondern auch menschliche. Die
Lage spitzt sich dann noch weiter zu: Im Stab des Prokonsuls beschließt
man, dem Toxikologischen Institut des Landvogts einen bewaffneten
»Besuch« abzustatten, und de Geer wird mit dem Kommando beauftragt.
Zugleich erfährt er, daß der Parsen-Beauftragte des Landvogts Budurs Onkel
für experimentelle Zwecke in das Toxikologische Institut bringen ließ. Die
nächsten Wochen vergehen mit Vorbereitungen auf das Unternehmen und
langen abendlichen Unterhaltungen zwischen de Geer und Budur, die ihrem
Gesprächspartner Einblicke in die gnostische Religiosität der
(heliopolitanischen) Parsen vermittelt. Diese glauben, daß sich im
Universum eine lichte und eine finstere Macht, ein guter und ein böser Geist
oder Gott kämpferisch gegenüberstehen und daß die Geschichte deswegen
eine Abfolge von lichten und finsteren Zeiten ist (330, 354 und 390/276,
288, gestr.). Gegenwärtig, so scheint es, hat die finstere Macht die Oberhand;
aber für Budur ist dies kein Grund zum Verzweifeln, denn mit den anderen
Parsen glaubt sie, »daß in den Zeiten der Finsternis ein neuer Sieg der
Lichtmacht vorbereitet wird« (354/288). Dies ist es auch, was de Geer in der
»Lorbeernacht« unter dem Einfluß einer von Antonio Peri übernommenen
Droge erfährt: Er erlebt die Welt in dieser Drogennacht als ein einziges und
ausweglos scheinendes Lager der Sklaverei und des Leidens – bis dann der
»Nullpunkt« erreicht ist und Lucius, von Budur mütterlich beschützt und in
Tränen ausbrechend, ein herrliches Licht aufgehen sieht und sich »in einem
wunderbaren und längst vertrauten Garten« wiederfindet (402).
Daß Jünger den gnostischen Parsismus so eindringlich schildert, kommt
nicht von ungefähr. Eine wichtige Anregung kam von Gerhard Nebel. Dieser
sandte Jünger im April 1947, kurz nach Beginn der Arbeit an Heliopolis, den
ersten, 1934 erschienenen Band von Hans Jonas’ Buch Gnosis und
spätantiker Geist, für den sich Jünger in einem Brief vom 20. Juni bedankte:
»Die Lektüre der Gnosis kam mir zustatten, auch für das Thema meines
Romans.« Das war allerdings etwas untertrieben, denn die Anregung, die
von Jonas’ Buch ausging, war nicht nur von peripherer Bedeutung, sondern
betraf zwei Fragen, die Jünger seit langem umtrieben und ihn nie losließen:
woher das Unheil der Welt rührte und ob es je zu beseitigen sei. Die Gnosis
bot auf beide Fragen eine Antwort: Das Unheil resultiert aus dem
prinzipiellen und unaufhebbaren Dualismus von Gut und Böse, der die Welt
durchwaltet, aus dem Widerspiel eines höchsten und vollkommenen Gottes,
dem die Idee des Kosmos zu verdanken ist, und eines böswilligen oder
stümperhaften Demiurgen, der die materielle Welt mit ihren Mängeln
geschaffen hat. Zudem bot die Gnosis eine geschichtliche Perspektive, die
mit der von Nietzsche übernommenen Nihilismusdiagnose in
Übereinstimmung zu bringen war: die Vorstellung einer Neuschöpfung oder
einer fundamentalen Wendung zum Guten. Nicht umsonst ist in der
gnostischen »Lorbeernacht« ausdrücklich vom »Nullpunkt« der
Nihilismustheorie die Rede.
Man hat in Jüngers Hinwendung zur gnostischen Vorstellung eines
Dualismus von Gut und Böse, der selbst in der Gottheit waltet und von ihr
ausgehend die ganze Welt durchdringt, einen Versuch gesehen, den
Menschen hinsichtlich seiner schuldhaften Teilhabe an der
Unheilsgeschichte zu entlasten. Das Problem der Anthropodizee, also der
Rechtfertigung des Menschen angesichts des geschichtlichen Unheils, würde
wieder zu einer Frage der Theodizee, also der Rechtfertigung Gottes. Der
Mensch gäbe die Verantwortung für die Geschichte, die er sich mit der
Ablösung der Geschichtstheologie durch die Geschichtsphilosophie im 18.
Jahrhundert zugezogen – um nicht zu sagen: angemaßt – hat, wieder an Gott
zurück und wäre schuldlos. So einfach ist es bei Jünger allerdings nicht! In
Heliopolis wird keine Lehre vertreten, die den Menschen entmündigt und
entschuldigt. Neben Überlegungen, die in diese Richtung deuten mögen
(oder so gedeutet werden können), stehen Sätze, mit denen die
Schuldfähigkeit des Menschen behauptet wird, und zwar von der höchsten
spirituellen Autorität des Romans: von Pater Foelix, der gegen Ende des
Gesprächs über die Bienen zweimal betont, »daß dem Menschen Erkenntnis
und damit Schuld verliehen ist« (247f./210). Die Menschen begehen das
Böse, das zu tun ihnen der Gang der Geschichte nahelegt, in schuldhafter
Freiheit.
Die Idee einer »neue[n] Schöpfung«, die sich bei de Geer mit der Person
des Regenten verbindet (354/288), gibt dem Roman am Ende eine positive
Perspektive, obwohl sonst eher Negativitäten zu verzeichnen sind: Der
»Besuch« im Toxikologischen Institut verläuft nicht planmäßig und nicht
ganz erfolgreich. De Geer und seine Mannschaft werden entdeckt und
verfolgt. Antonio Peri kann zwar befreit und abtransportiert werden; aber er
stirbt bald an den Folgen der Strapazen und der toxikologischen
Experimente, denen er unterworfen wurde. De Geer muß sich vom Stabschef
vorhalten lassen, daß er private und dienstliche Dinge vermengt habe und
dadurch zum Sicherheitsrisiko geworden sei. Er wird vom Dienst
suspendiert und muß seinen Abschied nehmen. Zugleich wird er aber
befördert und in die Mannschaft des fernen Regenten aufgenommen.
Persönlich kommt er also gut weg; aber seine ehrenvolle Abschiebung in
den transhesperischen Bereich des Regenten bedeutet auch, daß die
geschichtliche Welt, wie sie beschaffen ist, für seinesgleichen noch keinen
Platz hat. Mit dem vorletzten Satz verheißt der Roman indessen de Geers
Wiederkehr in der Gefolgschaft des Regenten. – An Carl Schmitt schrieb
Jünger am 28. November 1949: »Wir werden meiner Ansicht nach [aus der
Bestialität] nicht hinauskommen, bevor nicht ein ›Regent‹ auftritt.
(Vielleicht auch ein Papst dazu).«
ACHTER TEIL

Zwischen Erfolg und Außenseitertum

Martin Heidegger, Werner Heisenberg


und Ernst Jünger in der Technischen
Hochschule München, November 1953
Im Juli 1950 übersiedelte Jünger
von Ravensburg nach Wilflingen
ins leer stehende Schloß der
Reichsfreiherrn Schenk von
Stauffenberg, im April 1951 in
die dazugehörige Oberförsterei.
Jünger liebte es, lange Spaziergänge
zu machen, die ihn über
vier Jahrzehnte hinweg immer
wieder an dieselben Stellen -
etwa einen Ameisenhaufen -
führten.

Jüngers »Comeback«

Heliopolis fand in der Literaturkritik nicht nur positiven Anklang und wurde
vom Publikum nicht so begierig aufgenommen wie zuvor die Strahlungen.
Immerhin wurden in Deutschland in den ersten Jahren nach Erscheinen
ungefähr zwanzigtausend Exemplare verkauft, und Thomas Mann notierte
am 31. März 1950 etwas besorgt in seinem Tagebuch, daß »Jünger,
natürlich, in Deutschland« gegen ihn ausgespielt werde: »Er steht für die
Zukunft. Seine Gehirnlichkeit schadet ihm nichts.« Dies sollte sich zwar als
Fehleinschätzung erweisen, aber zunächst sah es in der Tat so aus, als würde
Jünger zum führenden deutschen Autor der Nachkriegszeit aufsteigen.
Ein möglicher Konkurrent wie Gottfried Benn hatte noch größere
Schwierigkeiten als Jünger, Verbots- und Verlagsprobleme zu überwinden
und sein »Comeback« zu erreichen. Den zurückgekehrten Exulanten schlug
– außer in Ost-Berlin, wo ein Teil der kommunistisch eingestellten
Exilautoren willkommen war – eher Ablehnung entgegen: Sie seien, so
wurde ihnen infamerweise vorgeworfen, für die Katastrophe von 1933 mit
verantwortlich gewesen und hätten es sich dann in den Fauteuils sicherer
Exilländer bequem gemacht. So hatte Jünger nach der Aufhebung des
Publikationsverbots eine gute Chance, die er mit zwei Werken von
respektablem Format und Gehalt bestens nutzen konnte: Mit den Tagebuch-
Strahlungen wurde er zum prominenten Geschichtszeugen und – für viele
Zeitgenossen – zum Exempel eines Deutschen, der sich in der
»Schinderwelt« menschlich und ehrenhaft verhalten hatte; mit Heliopolis
zeigte er sich als Dichter von Rang, der den »Weltroman«, welcher in der
Originalfassung von Heliopolis verlangt wird, tatsächlich geschrieben hat.
Das publizistische und organisatorische Umfeld war optimal: Zusammen
mit Jüngers beiden Büchern erschienen vier Bücher über ihn: Alfred von
Martin, Der heroische Nihilismus und seine Überwindung: Ernst Jüngers
Weg durch die Krise (1948); Gerhard Nebel, Ernst Jünger: Abenteuer des
Geistes (1949); Karl O. Paetel, Ernst Jünger: Weg und Wirkung (1949);
Hubert Becher S. J., Ernst Jünger: Leben und Werk (1949); auf die
Darstellungen von Nebel und Paetel hatte Jünger sogar etwas Einfluß
nehmen können. Das Hamburger Wochenmagazin Der Spiegel erschien am
26. Januar 1950 mit einem Jünger-Photo auf der Titelseite und brachte einen
vierseitigen und für Jünger sehr einnehmenden Lebens- und Werkbericht.
Mit Ewald Katzmann, Ernst Klett, Vittorio Klostermann und Günther Neske
hatte Jünger eine ansehnliche Riege von Verlegern an seiner Seite, die bereit
waren, sich für sein Werk zu engagieren. Und bis 1950/51 waren Nebel und
Mohler unablässig dabei, durch Vorträge und Artikel die Aufmerksamkeit
auf Jünger zu lenken. Auch versuchten sie, Jünger, Martin Heidegger, Carl
Schmitt und Gottfried Benn über Zeitschriftenprojekte und Tagungen zu
einer Gruppe mit konservativer Ausstrahlung zusammenzuschließen. Dafür
waren diese vier Charaktere allerdings zu unterschiedlich und zu
kompliziert. Zudem hatten alle vier das Problem, ihre Rolle in der
Nachkriegsgesellschaft und gegenüber dem neuen Staat zu finden.
Am besten gestaltete sich das Verhältnis zwischen Jünger und Heidegger.
Ein von Nebel betriebenes Zeitschriftenprojekt, in dem Jünger und
Heidegger führend tätig sein sollten, scheiterte zwar, weil Heidegger
zögerte, aus der »Sicherheit des Schweigens« herauszutreten und sich erneut
öffentlichen Angriffen auszusetzen; aber es kam zu einem intensiven
geistigen Austausch, zu wiederholten Begegnungen und – im Rahmen der
Festschriften zu Heideggers und Jüngers sechzigsten Geburtstagen – zu einer
respektvollen publizistischen Auseinandersetzung über die aktuelle
Bedeutung des Nihilismus. Im November 1953 ergaben sich im Rahmen der
legendären Vortragsreihe zum Thema Die Künste im technischen Zeitalter
gemeinsame öffentliche Auftritte, die in den Medien große Beachtung
fanden.
Durchaus erfolgreich, aber letztlich doch nicht zufriedenstellend verlief
Jüngers zweiter Versuch, sich Gottfried Benn zu nähern. Ein erstes
Schreiben, das Jünger Anfang der zwanziger Jahre an diesen gerichtet hatte,
war unbeantwortet geblieben. Im Spätherbst 1949 bekam Mohler Kontakt zu
ihm, und nun sandte Jünger ihm Heliopolis als »zweite Botschaft«. Diesmal
antwortete Benn mit einem kurzen Brief, der die langsame, oft einhaltende
Lektüre von Heliopolis anzeigte, und mit einem Sonderdruck seines
Aufsatzes Goethe und die Naturwissenschaften, dem handschriftlich ein
Widmungsgedicht hinzugefügt war:
Wir sind von Aussen oft verbunden,
Wir sind von Innen meist getrennt,
Doch teilen wir den Strom, die Stunden,
Den Ecce-Zug, den Wahn, die Wunden
Dess’, das sich das Jahrhundert nennt.
In der Tat wurden Benn und Jünger um 1949 immer wieder als Leitfiguren
des poetologischen Diskurses gesehen und miteinander verglichen oder
gegeneinander ausgespielt; Berührungspunkte gab es in der Essayistik ja
genug. Für Jünger scheint dies unproblematisch gewesen zu sein, aber Benn
hat sich mehrfach darüber echauffiert; letztlich betrachtete er Jünger nicht
als ebenbürtig. Seine Urteile über Jünger und dessen Schriften oszillieren
zwischen impulsiver Kritik und sozusagen unvermeidlicher, aber doch auch
echter Anerkennung. Schon Ende 1947 hatte sich Benn, durch die dauernden
Vergleiche neugierig gemacht, die damals in Abschriften kursierende
Einleitung in die Strahlungen besorgt und nach der Lektüre an seinen
Bremer Brieffreund F. W. Oelze geschrieben:
Ich las Satz für Satz, fing mit kameradschaftlichen Gefühlen
an, las die ganze Sylvesternacht, während meine Frau mit
[dem Schweizer Jungautor Erhard] Hürsch [der die Einleitung
mitgebracht hatte] in die Nähe tanzen gegangen war, u. ich
muss sagen: katastrophal! Weichlich, eingebildet,
wichtigtuerisch u. stillos. Sprachlich unsicher, charakterlich
unbedeutend. Manchmal nahe an Erkenntnissen, manchmal
vor gewissen Tiefen stehend, aber nirgends Durchbruch,
Haltung, Flammen. Er hat ja offenbar viel Zulauf u. viele
Bewunderer, gilt als unterdrücktes u. verkanntes Genie, aber
das ist hierzulande, wo immer auf das falsche Pferd gesetzt
wird, nichts Besonderes. Er hat in genügender Menge das
Mulmige, ohne das die Deutschen den Geist nicht ertragen,
das Gedrückte, leicht religiös Gefärbte, das den Autor so
angenehm harmlos u. achtenswert macht, die Klarheit und
Schärfe des durchbrechenden Genies mangelt ihm völlig, jede
Latinität: – kurz: Timmendorfer Strand contra Portofino.
Unter dem Eindruck von Heliopolis korrigierte Benn sein Urteil leicht. Am
11. Dezember 1949 schrieb er an Oelze: »Was soll ich dazu sagen, dass Herr
J. mir sein Buch sandte! Ich las darin und – denken Sie – es ist nicht
uninteressant. Es ist gestelzt, frisiert, altmodisch-archaisch, aber eine
gewisse Begabung zur Stilisierung ist ihm nicht abzusprechen. Eigentlich
bin ich überrascht. Über das Buch als Ganzes habe ich noch kein Urteil.
Einzelheiten sind bestimmt interessant.« Und nachdem er im Sommer 1950
Jüngers Beitrag zur Festschrift für Heidegger gelesen hatte, also den Aufsatz
Über die Linie, schrieb er am 14. August 1950 einen Brief an Jünger, in dem
er nicht nur einzelne Formulierungen als »brillant« bezeichnete, sondern
abschließend unter Berufung auf das Recht des Älteren auch bemerkte, er
habe den Eindruck, Jüngers »Reifung« sei »ganz außerordentlich sowohl in
Bezug auf Haltung wie Stil«. Und dies war keineswegs nur eine Höflichkeit.
Am 22. August schrieb Benn wiederum an Oelze: »Von Jünger bekam ich
einen Aufsatz […], der mir recht gut erscheint, eine seiner besten Arbeiten.
Ich bin doch verblüfft, wie sehr sich seine u. meine Gedankengänge z. T.
berühren, thematisch, natürlich kommen wir beide zu verschiedenen
Resultaten u. Perspectiven. Der Aufsatz ist auch nicht mehr so christlich
[…].« Zu einer weiteren Annäherung und zu einem intensiveren
Gedankenaustausch kam es trotzdem nicht. Zwar gingen Briefe und Karten
hin und her; zwar warb Jünger geradezu um Benn, lud ihn zu Besuchen, zu
gemeinsamen Reisen, ja sogar zur Teilnahme an einem Drogenexperiment
ein; aber es blieb bei reservierten Freundlichkeiten und
Solidaritätsbekundungen gegenüber gemeinsamen Kritikern. Am 16. Mai
1952 besuchte Jünger Benn in Berlin und verbrachte mit ihm und seiner
jungen Frau einen Abend in Benns Praxis und Wohnung in der Bozener
Straße. Eine Woche später, am 23. Mai 1952, schrieb Benn an Oelze:
Vorige Woche hatte ich Besuch von – - Ernst Jünger! Gross
angekündigt: er käme inkognito usw. War ganz nett.
Bescheidener als ich erwartet hatte. Wie sieht er aus? Nicht so
eitel u. affektiert wie seine Bilder. Meine Frau sagte, er
könnte ein Tischlergeselle sein, äusserlich. Der Abend war
ganz interessant. Wir tranken ganz reichlich u. dabei kamen
wir uns näher u. wurden offen miteinander.
Jünger hat über den Besuch bei Benn in zwei längeren Abschnitten (280 und
281) der 1970 publizierten Annäherungen berichtet. Auch für ihn scheint der
Abend angenehm und interessant verlaufen zu sein, mit einverständigen
Unterhaltungen über die Zeit der Schiffbrüche und des Aufenthalts im Bauch
des Leviathan (11, 370). Das Gespräch kam auf die Erschießung von Edith
Cavell am 12. Oktober 1915, die Benn ärztlich zu überwachen hatte, und
danach auf Jüngers neue Erzählung Besuch auf Godenholm, aus der Benn
eine Passage vorlas. Es handelte sich um eine Stelle, in der davon die Rede
ist, daß im »Mysterium« die Einheit der Welt zu erfahren sei -: zu sehen sei,
daß immer wieder »das Eine aus dem Getrennten aufstieg und sich mit
Glanz bekleidete« (15, 416). Nach dem Vorlesen dieser Passage legte Benn,
so Jünger, das Buch zwischen sich und seinen Gast auf das Sofa und sagte:
»Was ist das? Was ist das – - – das ist der Penis! Das kann nur der Penis
sein!« (11, 371) Jünger kommentierte dies 1970 nicht; aber offensichtlich
hatte ihm Benns Exegese seinerzeit nicht sonderlich gefallen. Der
Briefwechsel wurde fortgesetzt, die Anreden wurden sogar vertraulicher,
aber die Mitteilungen kürzer.
Problematisch gestaltete sich um 1949/50 Jüngers Beziehung zu Carl
Schmitt. Wie Heidegger war er wegen seines öffentlichen Eintretens für das
NS-Regime aus dem Staatsdienst entlassen worden und lebte, auf die
Unterstützung durch Freunde – auch Jünger – angewiesen, in seinem
sauerländischen Geburtsort Plettenberg, fühlte sich zu Unrecht geächtet und
flüchtete sich in gekränktes Schweigen. Seinen Antisemitismus und seine
pro-nationalsozialistischen Aktivitäten zu Beginn des »Dritten Reichs«
interpretierte er als einen letztmöglichen und riskanten Versuch, die
Apokalypse aufzuhalten. Im übrigen sah er sich, weil er zeitweilig unter
Kuratel gestanden hatte und schließlich ausgebombt worden war, als
Verfolgter und Opfer des NS-Staats. Zu einem Schuldbekenntnis fühlte
Schmitt sich jedenfalls nicht veranlaßt, zumal er ein Angehöriger jener
wilhelminischen Generation war, die Schuld nicht öffentlich bekannte,
Scham nicht zeigte. Dementsprechend betrachtete Schmitt jedes öffentliche
Eingeständnis von Schuld und Scham mit großem Ressentiment, ja mit
Verachtung, und insofern las er schon Jüngers Strahlungen mit Unbehagen,
erst recht aber Heliopolis; denn ganz richtig sah er in der Geschichte der
Parsen, die in Heliopolis der »Ausmordung« (285/16, 247) unterworfen
werden, eine (selbst)anklägerische Darstellung des deutschen Judenmords.
Dieser war schon einmal Gegenstand des Briefwechsels gewesen. Am 10.
Februar 1945 hatte Jünger an Schmitt geschrieben:
Man müßte jetzt auch wieder im Flavius Josephus lesen; die
Hartnäckigkeit der Juden bei der Belagerung von Jerusalem
ist außerordentlich. Zu den Erfahrungen dieser Zeit gehört,
daß es eine Rückkehr zum Heidentum, zur Vorväterbindung
nicht gibt. Es gibt nur die Wahl zwischen dem Alten und dem
Neuen Testament – jeder Angriff auf das Neue kommt dem
Alten zugute.
Dies ist einer der Gründe für die ungeheure Ausbreitung
der jüdischen Moral, abgesehen davon, daß diese Moral durch
die Exterminierung der Juden, an die sie gebunden war, nun
frei und virulent geworden ist. Es hat etwas Gespenstisches,
wie der blinde Wille sich ad absurdum führt.
Diese Stelle ist antisemitisch, insofern sie – wenn auch die »Hartnäckigkeit
der Juden« bewundernd – von einer spezifisch jüdischen »Moral« spricht
und deren »Ausbreitung« offensichtlich bedauert. Aber zugleich ist sie eine
Kritik an Vertreibung und an dem zur Flucht nötigenden Versuch der
Ausrottung der Juden, der als das Werk eines blinden Willens bezeichnet
wird. Dem Adressaten, der zeitweilig ein Aktivist dieses blinden Willens
war, kann dies nicht gefallen haben. Er äußerte sich nicht zu Jüngers letztem
Satz, verwies allein zu den vorausgehenden Überlegungen auf Bruno Bauers
1863 erschienene Schrift Das Judentum in der Fremde. Aber er wird den
letzten Satz weder übersehen noch vergessen haben; er bezeichnet eine
Differenz zwischen Jünger und Schmitt, die mit Heliopolis brisant wurde.
Mehrfach ist in den Briefen, die Schmitt und Jünger nach dem Erscheinen
von Heliopolis im Winter 1949/50 wechselten, von den Parsen als den
Stellvertretern der Juden die Rede; der Ton wurde überraschend scharf, und
es begann eine Auseinandersetzung über Schmitts Rolle zu Beginn des
»Dritten Reichs«. Sie konnte – bei Schmitts Grundeinstellung – freilich nicht
ausführlich werden. Am 5. Februar 1950 quittierte er Jüngers Kritik an
seinem Engagement für den Nationalsozialismus mit der Wendung »Capisco
et obmutesco«/»Ich habe verstanden und verstumme«. Der Briefwechsel
brach zwar nicht ab, wurde inhaltlich aber karger und erlangte nicht mehr die
alte Vertrautheit. Und in Schmitt häufte sich der Groll. In dem Tagebuch, das
er von 1947 bis 1951 führte, bedachte er Jünger nun mit einer Reihe bissiger
und bösartiger Bemerkungen: Er schmücke sich mit einem gefährlichen
Leben, das er gar nicht geführt, und mit Verdiensten, die er nicht gehabt
habe. Er schlage sich opportunistisch auf die Seite der Sieger und der
Gerechten. Er sei eine »Primadonna« geworden und denke nur noch in
Kategorien der öffentlichen Wirkung. Er betreibe eine schamlose
»Fruktifizierung des eigenen Briefwechsels«, indem er in seinen gedruckten
Tagebüchern Briefe und mündliche Äußerungen anderer mitteile und sich
damit schmücke (was man so sehen kann; aber der »geächtete« Schmitt hätte
es besser als Zeichen der Solidarität verstanden, daß Jünger ihn in den
Strahlungen immer wieder als hellsichtigen Zeitdiagnostiker zitierte). –
Schmitts Glossarium wurde 1991 postum publiziert. Jünger ist zunächst
schweigend darüber hinweggegangen (22, 61); später hat er, von Ernst Klett
brieflich darauf angesprochen, die Invektiven gegen sich auf die
Verfolgungssituation zurückgeführt, in der Schmitt sich um 1950 sah (22,
157ff.).
An der Störung der Beziehungen zwischen Jünger und Schmitt waren
nicht nur die Differenzen in der Beurteilung der NS-Zeit schuld. Für
Irritationen sorgten auch die Aktivitäten von Gerhard Nebel und Armin
Mohler, die Jünger und Schmitt immer wieder für gemeinsame Projekte
gewinnen wollten und sich dabei, wie der Briefwechsel zwischen Carl
Schmitt und Gretha Jünger offenbart, manche Fehlinformation und manche
Indiskretion zuschulden kommen ließen. Dies führte dazu, daß Gretha
Jünger 1950 Nebel zur »persona non grata« erklärte und daß Mohler 1953
wie ein Lügner aus dem Haus gehen mußte (obwohl er wahrscheinlich nur
berichtete, was Carl Schmitt ihm in einer alkoholisch gelösten Nacht
tatsächlich über Jünger an den Kopf geworfen hatte). Das braucht nicht
weiter ausgebreitet zu werden; es verdiente Beachtung nur im Hinblick auf
die Versuche, Jünger, Schmitt, Heidegger, Benn und andere als Kerngruppe
eines neuen Konservativismus zusammenzubringen: Dafür hätte es anderer
Vermittler und Organisatoren bedurft.
Während die Freundschaft zwischen Schmitt und Jünger sich auflöste,
vertieften sich die Beziehungen zwischen Schmitt und Gretha Jünger. Seit
der Goslarer Zeit standen sie in einen Briefwechsel, der sich während des
Kriegs intensiviert hatte. Nun, um 1949/50, erhöhte sich nicht nur die
Frequenz, sondern auch die Vertraulichkeit und Solidarität zwischen den
beiden Briefpartnern. Sie suchten sich in ihren Nöten zu stützen, und sie
bildeten eine Allianz der Besorgnis um Jünger. Schmitts Bedürftigkeit
resultierte nicht nur aus seiner Ausgrenzung, sondern auch daraus, daß seine
Frau Duska Anfang 1949 an Krebs erkrankte und im Dezember 1950
verstarb. Gretha Jünger hatte zum zweiten Mal eine schwere Ehekrise zu
bestehen. Mit der Publikation der Strahlungen wurden Jüngers Pariser
weibliche Bekanntschaften zum Gesprächsgegenstand im Freundeskreis, und
zugleich wurde deutlich, daß sie nicht gänzlich der Vergangenheit
angehörten. Weiterhin gab es Kontakte zwischen Jünger und den »Pariser
Damen«. Seit Mai 1946 korrespondierte Jünger wieder mit Banine; im
November 1948 traf er sie in Tübingen für einige Tage, und im Juni 1950
verbrachte er mit ihr einige Wochen in Antibes, während Gretha den Umzug
von Ravensburg nach Wilflingen organisierte. Banine demonstrierte dafür
im folgenden Jahr mit ihrem Buch Rencontres avec Ernst Jünger, daß dieser
mehr war als ein Mann für die oberschwäbische Provinz und daß das Land
seiner Liebe Frankreich hieß. Daß Gretha Jünger unter den Indiskretionen
der Strahlungen und unter der Fortsetzung der Pariser Beziehungen – in
welcher Form auch immer – litt, versteht sich von selbst. Anfang Januar
1950 reiste sie von Goslar (wo sie sich zeitweilig aufhielt, weil Carl
Alexander dort noch das Abitur machen wollte) nach Plettenberg, um ihre
Lage mit Carl Schmitt zu erörtern. Die Briefwechsel zwischen diesem und
Ernst wie Gretha Jünger offenbaren, daß die Situation dramatisch war,
möglicherweise eine Trennung in Erwägung gezogen wurde. Jünger verhielt
sich, wie aus einem Brief an Schmitt vom 16. Januar 1950 zu ersehen ist,
reumütig und gelobte Einkehr. Zur Trennung kam es nicht, aber auch nicht
zu einer dauerhaften Beruhigung. Am 18. Mai 1952 teilte Gretha Jünger
Schmitt mit, daß »E. J.« im Juni wieder nach Paris gehe. Im selben Brief
bemerkte sie zum ersten Mal, daß ihre Gesundheit »sehr schwankend« sei.
Ihre eigenen Aufzeichnungen und Briefe sowie die Mitteilungen von
Armin und Edith Mohler im Ravensburger Tagebuch zeigen, daß Gretha
Jünger eine sehr lebensfrohe und lebenstüchtige, selbstbewußte und mutige,
belesene und wortgewandte Frau war. Zehn Jahre nach ihrem Tod schrieb
Jünger in seinen Annäherungen: »Im Fühlen, Denken und Handeln war sie
großzügig. Theodor Heuss sagte einmal von ihr: ›Das ist eine Frau, der man
drei Güter anvertrauen kann‹« (11, 399). Ihr Leben an der Seite von Ernst
Jünger, unter Exzentrikern wie Hugo Fischer und Friedrich Hielscher sowie
im Bannkreis von Zelebritäten wie Carl Schmitt und Martin Heidegger war
sicher nicht leicht. Sie hat es aber souverän geführt, von Anfang an mit einer
gewissen Ironie betrachtet und in ihren 1955 publizierten Silhouetten mit
Liebe und Humor geschildert. Ernstels Tod und Jüngers Eskapaden, die sich
überlagerten, waren schwer zu verkraften. Ab einem bestimmten Zeitpunkt
mochte sie sich zwar sicher sein, daß sie »Perpetua« nicht nur genannt
wurde, sondern die »Bleibende« auch war; aber zugleich wußte sie auch, daß
ihr Mann, wie der gemeinsame Freund Martin von Katte es formulierte,
zwar »anhänglich« war, aber »nicht treu« (11, 399).
Noch etwas anderes erfüllte Gretha Jünger und Carl Schmitt mit Sorge:
Jüngers Absicht, seine Drogenkenntnisse um Experimente mit Meskalin und
LSD zu erweitern. Der Anlaß dazu war die Arbeit an Heliopolis, wo Drogen
ja eine große Rolle spielen; damals erkundigte sich Jünger bei Experten nach
der Wirkung bestimmter Stoffe. Zudem hatte er früher schon mit Drogen
experimentiert, und schließlich sah er sich in einer dichterischen Tradition,
zu der auch die Stimulation und Bewußtseinserweiterung durch Drogen
gehörten; Baudelaire und Rimbaud waren auch in dieser Hinsicht
Leitfiguren. Die Möglichkeit zu einem Meskalin-Experiment wurde ihm
durch den Hamburger Psychiater Walter Frederking eröffnet, der Meskalin
therapeutisch zu nutzen suchte. Man verabredete für Anfang Januar 1950 ein
Experiment im Haus des Verlegers Ernst Klett in Stuttgart, und dieses fand
zufällig an eben den Tagen statt, an denen Gretha nach Plettenberg zu
Schmitt reiste. In Stuttgart trafen sich derweilen Jünger, Klett, Frederking
und der Münchener Schauspieler Mathias Wieman, um das Meskalin-
Experiment anzutreten. Über den Verlauf hat Jünger in mehreren Kapiteln
der Annäherungen berichtet (11, 398ff.): Es dauerte zwölf Stunden.
Frederking verabreichte drei Dosen und führte Protokoll. Jünger zitiert
daraus und ergänzt Frederkings Notizen um eigene Erinnerungen an das
»Anfluten« von Bildern und die Veränderung der Wahrnehmung. Der
Bericht bleibt aber schwach und läßt nicht recht erkennen, welche
Wirkungen sich einstellten. Dreißig Jahre später, am 5. Juni 1981, notierte
Jünger nach einem Gespräch mit Klett, sie seien beide der Meinung, daß das
Meskalin-Experiment »eine bedeutende Charakteränderung bewirkt« habe,
aber auch dies wird nicht konkretisiert, sondern nur um die Bemerkung
ergänzt, daß ein Mal genüge (20,72f.). In den Annäherungen zitiert Jünger
allerdings auch Wieman, der nach einem weiteren Experiment schrieb, es sei
ihm klargeworden, daß es sich um einen erzwungenen und vielleicht
frevelhaften »Vorgriff« auf einen Zustand handle, der dem Menschen
eigentlich versperrt sei, und daß er sich frage, ob der wahre Weg zur
»Erleuchtung« nicht doch »über Fasten und Beten, über Sammlung und
Versenkung« führe (11, 402).
Insgesamt scheinen die Erfahrungen mit Meskalin eher bedrückend als
beglückend gewesen zu sein. Trotzdem hat Jünger das Experiment noch drei
Mal wiederholt, zwei Mal in Gesellschaft, ein Mal allein. Zudem war man
entschlossen, die Erkundung von Drogen fortzusetzen. Am 17. November
1951 schrieb Jünger an Benn, veranlaßt durch dessen Essay Provoziertes
Leben, er treffe sich zu diesem Zweck alle neun Monate mit Hamburger,
Stuttgarter und Baseler Freunden. Mit dem Baseler Freund war der LSD-
Entdecker Albert Hofmann gemeint, mit dem Jünger über Mohler bekannt
geworden war und mit dem er im Februar 1951 in Bottmingen bei Basel
unter ärztlicher Aufsicht einen ersten LSD-Versuch unternommen hatte.
Darüber sagte Jünger 1995 im Gespräch mit Gnoli und Volpi:
Es war eine harmonische Erfahrung, voll von Farben und von
der ausgeweiteten und transfigurierten Musik Mozarts
begleitet. Ich erinnere mich vor allem der Rauchspirale, die
von einem von Hofmann entzündeten Räucherstäbchen
aufstieg und sich in der Luft wiegte – eine Erinnerung, die ich
in Besuch auf Godenholm beschrieben habe.
In der Tat spielt in Besuch auf Godenholm ein »Faden« aus blauem Rauch,
der von einem »Räucherstäbchen« emporsteigt, sich wie eine
»Wunderblume« entfaltet und einen ätherischen Tanz beginnt, eine große
Rolle. Er stimuliert zwei der Personen, die ihn in einem abendlichen Zimmer
betrachten, zu grandiosen Visionen, die einen teils kosmogonischen, teils
apokalyptischen Charakter haben, die Welt in ihrer Fülle zeigen und in der
»goldenen« und »friedlichen Stille« des »Großen Mittags« ihren Höhepunkt
finden (76 und 89 = 15, 409 und 417); auch das oben zitierte Bild des aus
dem Getrennten aufsteigenden »Einen«, in dem Benn einen »Penis« sah,
gehört dazu. Und diese Visionen bleiben nicht folgenlos, sondern führen bei
den beiden Betroffenen zu einer Wesensveränderung: sie fühlen sich befreit,
ja aufgesprengt (105ff. = in SW 15 gestr.). Ob man in diesen Visionen aber
die Umsetzung eines LSD-RAUSCHS sehen darf, ist die Frage: Zu viele
Ingredienzien – die Schilderung von großem und kleinem Meeresgetier, die
Begegnung mit Toten und das Motiv des Weltenbrands – gehören zu Jüngers
Fundus. Und zudem ist ungewiß, ob man in diesen Visionen überhaupt den
Effekt einer Droge sehen soll: Nirgendwo ist ausdrücklich davon die Rede,
daß eine solche verabreicht worden wäre, und in der überarbeiteten Fassung
der Sämtlichen Werke ist nicht einmal mehr von einem »Räucherstäbchen«
die Rede; vielmehr steigt der Rauch von einem gewöhnlichen Leuchter auf
(15, 403). Offensichtlich wollte Jünger gar nicht erst den Gedanken an eine
Droge aufkommen lassen, sondern verdeutlichen, daß die mystischen und
wesensverändernden Erfahrungen von Godenholm allein der seelischen
Bereitschaft der Betroffenen und den stimulierenden Anweisungen ihres
Gastgebers, des geheimnisvollen Schwarzenberg (Nigromontan), zu
verdanken sind. Anders gesagt: Wenn in die Erzählung Besuch auf
Godenholm Erfahrungen aus den ersten LSD-Experimenten mit Hofmann
eingeflossen sind, so wird dieser Zusammenhang in ebendieser Erzählung
negiert; sie besteht gleichsam darauf, daß derartige existentielle Einsichten
ohne Drogen möglich sind.
Die letzte gemeinsame LSD-»Reise« haben Jünger und Hofmann 1970
unternommen. Inzwischen war Hofmann zu einem besonders vertrauten
Freund geworden, zu einem der wenigen, mit denen Jünger per »Du«
verkehrte. Offensichtlich hatten sie beide einander Interessantes und
Ergänzendes zu sagen. Im Juni 1948 schrieb Hofmann an Jünger, nachdem
er in Uppsala einen Vortrag gehalten hatte:
In der Beilage der Text, in dem ich versucht habe darzulegen,
daß das naturwissenschaftliche und das religiöse Weltbild
sich nicht widersprechen, sondern zwei komplementäre
Aspekte der einen transzendentalen Wirklichkeit darstellen.
Zu dieser Weltsicht verhalf mir ganz wesentlich Dein Opus,
in dem durch die Schilderung der Oberfläche und Tiefe der
Erscheinungen die Wirklichkeit stereoskopisch in größerer
Wahrheit sichtbar wird. (20, 373)

Jünger in Wilflingen: Hochmut und Leutseligkeit


auf dem Dorf

Als Ernst und Gretha Jünger nach Ravensburg umgezogen waren, wurde
rasch deutlich, daß die Wohnung zu klein war (obwohl Jünger sich von
einem guten Teil seiner Bücher getrennt hatte). Bald wurde also Umschau
nach einem anderen Domizil gehalten. Aus Mohlers Ravensburger Tagebuch
ist zu ersehen, daß man ans Bodensee-Ufer bei Bregenz dachte, dann an die
Rauhe Alb, dann an ein günstiges Haus auf dem Bussen. Auch ein Neubau
wurde in Erwägung gezogen. In jedem Fall aber sollte das neue Domizil in
Südwestdeutschland und in ländlicher Abgeschiedenheit liegen; eine
Übersiedlung in eine Großstadt kam so wenig in Frage wie die Rückkehr in
den britisch besetzten Norden. Die Lösung wurde durch die Ärztin Margret
Blersch angebahnt, die Jünger mit dem in Wilflingen ansässigen
Reichsfreiherrn Franz Schenk von Stauffenberg bekannt machte, einem
Verwandten des Hitler-Attentäters. Wilflingen liegt etwa sechzig Kilometer
nördlich von Ravensburg in der Nähe von Riedlingen; etwa zwölf Kilometer
südwestlich von Wilflingen liegt Sigmaringen. Um 1950 bestand der Ort aus
einigen Bauernhöfen und Handwerkerhäusern, die sich um die Kirche mit
einem barocken Zwiebelturm gruppieren. Am Rand liegt das Schloß des
Freiherrn Stauffenberg, daneben die »Oberförsterei«, ein stattliches
Gebäude, das der Konstanzer Fürstbischof Johann Franz von Stauffenberg
1728 hatte errichten lassen. Franz von Stauffenberg lebte seiner schweren
Kriegsverletzung wegen in diesem bequemeren Bau; die weitläufige
Wohnung im Schloß stand leer, und in diese durften Ernst und Gretha Jünger
Mitte Juli 1950 einziehen, mit ihnen Armin und Edith Mohler. Friedrich
Georg Jünger hielt nach einem Besuch am 12. November 1950 in seinem
Tagebuch fest, im Schlafzimmer seines Bruders zeige eine Stuckarbeit aus
dem 18. Jahrhundert über dem Bett die Verwandlung des Aktäon, welcher
Artemis, die Göttin der Jagd, beim Baden beobachtete und zur Strafe in
einen Hirsch verwandelt wurde: »Er hat schon einen Hirschkopf und ein
Hirschgeweih. Die Hunde hetzen ihn schon.«
Auch dieses Domizil konnte Jünger nicht lange behalten. Als Franz von
Stauffenberg im November 1950 verschieden war, ließ sein Erbe, Friedrich
von Stauffenberg, ihn wissen, daß er das Schloß selber beziehen wolle, bot
ihm aber zugleich sein großes Haus auf der Balinger Alb an. Schließlich
einigte man sich darauf, daß Jünger – im Frühjahr 1951 – in die
Oberförsterei umzog. Am 15. April 1951 schrieb Gretha Jünger an Carl
Schmitt: »Von Wilflingen ist zu berichten, daß sich der Umzug in die
Oberförsterei als sehr glücklich erwies; es ist ein schönes altes Haus mit
guter Atmosphäre, und es umgibt uns nicht wie im Schloß der
Stauffenberg’sche Reichtum, der mich stets ein wenig bedrückte. Die
einfache Luft ist mir lieber, weil sie klarer ist.«
Die Oberförsterei ist ein zweistöckiges Haus mit insgesamt elf Räumen
und einem Garten. Im Parterre befanden sich links neben dem Hausgang das
Eßzimmer und die Küche sowie ein weiterer kleiner Raum. Diesen und die
beiden Zimmer rechts neben dem Gang erhielten Armin und Edith Mohler.
Im Dachgaubenzimmer richtete sich Carl Alexander ein, der damals das
Riedlinger Gymnasium besuchte. Den mittleren Stock bewohnten Ernst und
Gretha Jünger. Hier lagen das Arbeits- und Bibliothekszimmer,
Schlafzimmer und Bad, dazu ein Sekretariats- und Archivraum. Anfangs bot
das Haus genügend Platz für Bücherregale und Käfervitrinen; später mußten
Räume in der Nachbarschaft angemietet werden. Der Garten war eine
Kombination aus Nutzund Ziergarten mit großen, von Buchs eingefaßten
Beeten.
Jüngers tägliches Leben in Wilflingen folgte einem festen Schema: Der
Tag begann um acht mit einem kalten Wannenbad. Danach wurde bis gegen
zehn Uhr gefrühstückt, dann folgten zwei bis drei Stunden Arbeit am
Schreibtisch. Mittagessen gab es – zumindest in späteren Jahren – nicht,
dafür war die Zeit zu knapp. Nachmittags pflegte Jünger lange Spaziergänge
zu machen oder im Garten zu arbeiten. Die späteren Stunden gehörten der
Post und den Zeitungen, der Käfersammlung und der Arbeit an Texten oder
der Lektüre. Dieser dienten nach dem Abendessen auch die restlichen
Stunden des Tages, oft bis tief in die Nacht hinein. Jünger führte ein zweites
Leben als Leser und war, wie er zu sagen pflegte, ein »Langstreckenleser«
(5, 587).
Wie Edith Mohlers Aufzeichnungen zu entnehmen ist, entwickelte sich in
der Oberförsterei ein reges gesellschaftliches Leben. Es gab gute Kontakte
zum Schloß mit wechselseitigen Einladungen. Fast täglich kamen Besucher.
Gern richtete Gretha Jünger Feste aus. Reich war man nicht, aber auch nicht
besorgt und nicht kleinlich; Gretha sandte, wie Edith Mohler schreibt,
»laufend Pakete an all die Freunde, denen es zu jener Zeit schlecht ging«.
Jünger wurde im Haus der »Chef« genannt und wirkte meist etwas
unterkühlt, doch gab es Momente, in denen er, wie Edith Mohler eigens
anmerkt, herzlich lachte oder »frohgelaunt vor sich hinpfeifend die
Gartentreppe hinunter sprang«. Schlichter hatte schon im Sommer 1949
festgestellt, daß in Jüngers Gesichtszügen eine »große Humanität« und eine
»gewisse Lockerung« zu beobachten sei. Ebenso bemerkte Banine in ihren
Rencontres avec Ernst Jünger zweimal und ausdrücklich, daß er, als sie ihn
1948 in Tübingen traf, nicht mehr so »eisig« gewirkt habe wie in Paris,
sondern freundschaftlicher und offener. Symptomatisch für Jüngers
Befindlichkeit in der frühen Wilflinger Zeit – und auch in anderer Hinsicht
interessant – ist, was Golo Mann nach einem ersten Besuch am 9. Dezember
1951 an Joseph Breitbach schrieb, mit dem Jünger damals einige verbitterte
Briefe gewechselt hatte:
Mon cher ami:
Bloss, trotz Deines Verbotes, einige Worte über meinen
Besuch bei Jünger. Nämlich: Du musst nett zu ihm sein. Er ist
arm. Arm nicht bloss im irdischen Sinn, obwohl ich fürchte,
er ist auch das: und es hat bei so stolzen Propheten immer
etwas Klägliches, wenn sie finanzielle Sorgen haben: denn sie
können doch nichts Rechtes dazu tun – in seinem Fall zum
Beispiel nicht für die Gazetten schreiben. Aber er ist auch
geistig ein überaus leidensfähiger, abgespaltener, im Wein
Kontakt mit anderen Seelen suchender und doch nicht
findender Bursche. Zu uns war er sehr nett, nach fünf
Minuten preussischen Schnarrens, ich unterhielt mich mit ihm
viele Stunden und über sieben Flaschen Wein, zu dritt, wie
mit einem alten Studienfreund. Man könnte nicht
unmanierierter und ehrlicher sein, als er, persönlich, ist: mit
seinen Schriften ist es etwas anderes. Den »Arbeiter«
zurückzunehmen, ist er zu hochmütig, er bringt es nicht
fertig. Soll man ihn tadeln, wenn ein Grösserer, nämlich
Thomas Mann, es auch nie fertig brachte, seine
»Betrachtungen« zurückzunehmen? So ist das Schriftsteller-
Gesindel nun einmal. Kurzum, ich mag ihn gern, und er tut
mir leid, obwohl ich weiss, dass er einmal ein grosser
Verbrecher war, auch jetzt von dem Hochmutsteufel nicht
ganz lassen kann. In dem »Waldgang« stehen doch auch ganz
schöne Sachen, oder nicht?
Mit der Dorfbevölkerung ging Jünger leutselig um. Er hatte, wie sporadische
Notizen in den Tagebüchern zeigen, einen Blick für die Charaktere sowie ein
Ohr für die Eigenart des bildkräftigen oberschwäbischen Idioms und die
Neigung der Bauern zu sentenzhaften Formulierungen und »polsternden«
Floskeln (20, 217; vgl. auch 21, 12f.). An Carl Schmitt schrieb er am 23.
Februar 1955: »Der Mutterwitz hat hier noch eine letzte Residenz.« Jünger
schloß Bekanntschaften und nahm Anteil am nachbarschaftlichen Leben. Er
wurde zur Jagd eingeladen, beteiligte sich an den dörflichen Festen, besuchte
die weihnachtlichen Theateraufführungen der Dorfjugend und war beim
»Fastnachten« dabei. Zu seinem sechzigsten Geburtstag wurde 1955 im
Gasthof »Zum Löwen«, in dem Jünger bald Stammgast war, ein Theaterfest
veranstaltet. Im Gespräch mit Gnoli und Volpi bemerkte er 1995, er habe die
Erfahrung gemacht, daß er die Ruhe und Konzentration für seine
schriftstellerische Arbeit in ländlicher Umgebung eher als in der Großstadt
finde; dies habe ihn in Wilflingen gehalten und »Wurzeln« schlagen lassen.
Ländliche Abgeschiedenheit bedeutete nicht Isolation. Es gab häufige
Zusammenkünfte mit den Verlegern, geschäftliche wie gesellschaftliche,
ebenso mit bekannten süddeutschen Entomologen wie dem Überlinger
»Monsignore« Adolf Horion, dem Freiburger Rechtsgelehrten Erik Wolf und
dem Tutzinger Unternehmer Georg Frey. Zunehmend stellten sich Besucher
ein, erwünschte und unerwünschte. Zu den Aufgaben der Sekretäre – nach
Mohler kurzfristiger Albert von Schirnding und Heinz Ludwig Arnold –
gehörte es auch, intellektuelle ›Hausierer‹ abzuwimmeln. Dann die
Korrespondenz mit vielerlei Zeitgenossen, nicht nur prominenten. Jünger
war für viele ein Ansprechpartner geworden. Am 11. Juni 1951 schrieb Paul
Celan aus Paris an Jünger, der sich gerade in Antibes aufhielt, um diesen auf
seine Gedichte – darunter die Todesfuge – aufmerksam zu machen und um
seine Unterstützung bei der Suche nach einem Verleger zu gewinnen:
Sehr geehrter Herr Ernst Jünger, wie schwer ist es doch,
diesen Zeilen die Richtung zu geben, die in Ihre Nähe weist!
Im Grunde können sie wohl nur die Hoffnung umschreiben,
Sie möchten das beigeschlossene Manuskript [des ersten
überarbeiteten Gedichtbands Der Sand aus den Urnen] an
einer Stelle aufschlagen, die Ihrem Entgegenkommen zu
danken weiß.
Auf vielerlei Wegen habe ich zu Ihrer Welt hinübergedacht
und Ihnen zu begegnen versucht – aber das Zeichen, unter das
ich mich stellte, schien mir nicht recht zu denjenigen zu
gehören, die es vermocht hätten, Ihr Auge auch für die
Gestalt unter ihm zu gewinnen. So geriet ich jedesmal ins
Stocken, wenn ich mich zu den Worten vortastete, die ich
meinen Gedichten vorausschicken müßte und zögerte selbst
in der Stunde, die mich Blatt und Blüte der Paulownia [einer
von Jünger in den Strahlungen mehrfach erwähnten Pflanze]
wählen ließ.
Nun hat ein Freund [Klaus Demus] – der einzige – es auf
sich genommen, Sie um das zu bitten, was mir so schlecht
gelingen will: sein Brief geht diesen Zeilen voraus. […]
Nun darf auch ich kommen und meine Gedichte auf Ihren
Tisch legen.
In Dankbarkeit und Verehrung
Ihr sehr ergebener
Paul Celan
Dieser Brief wurde 2004 von Tobias Wimbauer in Jüngers Nachlaß im
Deutschen Literaturarchiv in Marbach entdeckt und am 8. Januar 2005 in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert. Er hat zu einer Debatte über die
Frage geführt, ob Celans Brief tatsächlich eine gewisse Nähe und Verehrung
erkennen lasse (so Wimbauer) oder nur das fundamental Trennende
notdürftig verschleiere, um das Ziel einer Drucklegung der Gedichte zu
erreichen (so Jean Bollack). Das Erstgenannte dürfte der Fall gewesen sein
und wäre nicht so verwunderlich, wie es heute scheinen mag: Beide, der
junge Celan wie Jünger, waren Dichter des »hohen« Tons. Für Celan mochte
ein Schreiben an Jünger weniger problematisch gewesen sein als für einen
Teil der späteren Celan-Forschung. Jünger hat auf Celans Schreiben am 19.
Juni 1951 mit einem kurzen handschriftlichen Brief aus Antibes geantwortet
und hat ihn wissen lassen, daß ihm die Gedichte gefielen und er mit »Dr.
Mohler« beraten wolle, welcher Verleger dafür gewonnen werden könne. Ob
und wieviel Jüngers Fürsprache dazu beigetragen hat, daß Celans Gedichte
1952 unter dem Titel Mohn und Gedächtnis in der Deutschen Verlags-
Anstalt erscheinen konnten, ist allerdings nicht festzustellen.
Jüngers Briefwechsel aus den fünfziger Jahren zeigt den Versuch, mit
anderen Autoren Kontakt aufzunehmen oder zu pflegen. Die Korrespondenz
mit Benn ist dafür nur ein Beispiel. An Günter Eich und Heimito von
Doderer sandte Jünger 1952, Interesse vermutend und auf Resonanz hoffend,
den Essay Am Kieselstrand, doch ergab sich daraus keine größere
Korrespondenz. Dies gilt auch für Gertrud Fussenegger, die 1960 mit Zeit
des Raben – Zeit der Taube einen von Jünger inspirierten Roman über Léon
Bloy und Marie Curie vorlegte; Jünger wechselte Briefe mit ihr und
besuchte sie gelegentlich, aber ein intensiver Gedankenaustausch kam nicht
zustande. Andere Beziehungen brachen ab. Der Briefwechsel mit Stefan
Andres kam 1950 für zehn Jahre zum Erliegen, der mit Carl Schmitt 1960
für acht Jahre. Versuche der Kontaktaufnahme stehen neben der Preisgabe
oder Vernachlässigung von Beziehungen. Von einer systematisch und
kontinuierlich betriebenen Beziehungspflege oder gar Kreisbildung kann
mithin keine Rede sein. Im übrigen war Jünger bei gesellschaftlichen
Anlässen von einer scheuen und zugleich abweisenden Art, die eine
Kontaktaufnahme kaum zuließ. Symptomatisch ist ein Brief, den er am 6.
Februar 1959 an Otto Dix schrieb, der sich damals in der Bodensee-Region
aufhielt:
Sehr geehrter Herr Dix,
Erst durch die Zeitungen habe ich erfahren, daß ich am 27.
Januar in der Villa Reitzenstein [dem Stuttgarter Amtssitz des
baden-württembergischen Ministerpräsidenten] neben Ihnen
gesessen habe. Ich hatte bei der Vorstellung Ihren Namen
nicht verstanden, wie überhaupt kaum einen der anwesenden
Herren. Daß ich in dieser Unkenntnis neben Ihnen gesessen
habe, bedauere ich um so mehr, als ich seit langem Ihr Werk
schätze, auch oft mit meinem leider verstorbenen Freunde
Rudolf Schlichter darüber sprach. Vor einigen Jahren hat
eines Ihrer Bilder, ich glaube, es war in Saulgau, einen
besonderen Eindruck auf mich gemacht: ein Korb voll
Pilzen<sic >, die auf ihre stereoskopischen Formen reduziert
und so gewissermaßen kristallisiert waren. Da ich oft am
Bodensee bin, hoffe ich, daß ich das Versäumte nachholen
kann.
Mit den besten Grüßen
Ihr ergebener
EJ.
Friedrich Georg Jünger
(1898 – 1977)
Es scheint, daß Jüngers Brief unbeantwortet blieb. Zu einer Begegnung kam
es jedenfalls nicht (vgl. 5, 530). Und ähnlich ging es noch im selben Jahr mit
Carl Zuckmayer, der sich nach dem Krieg mehrfach um ein Treffen mit
Jünger bemühte. Am 10. November 1959 fuhr Jünger nach Marbach am
Neckar, um Zuckmayers Festrede zu Schillers zweihundertstem Geburtstag
zu hören, nahm aber keinerlei Kontakt mit Zuckmayer auf, so daß er ihm, als
er die Festrede zugesandt bekam, ausdrücklich schreiben mußte: »Ich war
anwesend […].« Bevor es siebzehn Jahre später zu einem endlich
verabredeten Treffen kam, starb Zuckmayer.
Einen bemerkenswerten und anspruchsvollen Versuch, Kommunikation
zwischen intellektuell und literarisch ambitionierten Zeitgenossen
herzustellen, unternahm Jünger 1958 mit der »Einladung zu einem Spiel«
mit dem Namen Mantrana (12, 517 – 519). »Mantra« ist ein maskulines
Sanskrit-Wort, das »Werkzeug des Denkens« bedeutet, aber auch »Spruch«,
»Gebet«, »magische Formel« und schließlich »Rat«. Jünger verstand
darunter »Maximen, die Erfahrungen oder Ansichten ausdrücken« (517).
»Mantrana« klingt an »Mantrayana« an, was »Weg des Mantra« und »Weg
zum Heil« bedeutet. Jünger bezeichnete damit ein »Flächen- und
Raumdomino«, das »mit Maximen gespielt« werden sollte, sei es mit selbst
verfaßten oder mit aufgelesenen. Am 21. April 1959 schrieb Jünger an Carl
Schmitt, er habe dieses Wort selber erfunden und erst nachträglich von einer
Londoner Indologin erfahren, daß es dieses Wort wirklich gegeben und daß
es »Beratung« bedeutet habe. Um das Spiel einzuleiten, formulierte Jünger
selbst fünfzig Mantras, die als »Ansatzpunkte« brieflich in Umlauf gebracht
wurden und Reaktionen oder Anlagerungen hervorrufen sollten. Die drei
ersten lauten:
Dunkelheit sollte das Nichtmitteilbare, nicht aber die
Unfähigkeit zur Mitteilung anbieten.

Der Schachautomat ist eine Erfindung zur Vernichtung des


Schachspieles.
Es ist viel Wahres im Unsichtbaren, viel Trug im Sichtbaren.
Wenn einer daher sagt: »Ich glaube nur, was ich sehe«, so
glaubt er sowohl zu wenig wie zu viel.
Im Kreis um Carl Schmitt, aber auch andernorts, wurde Jüngers Anregung
aufgegriffen, wurden Maximen gesammelt oder geschrieben und an Jünger
zurückgesandt. Der Ertrag erschien 1964 im Klett-Verlag in einer kleinen
Flügelmappe, die auf vier ungebundenen Bögen (oder vierundsechzig
Seiten) einhunderteinundsiebzig Mantras von sechsundsechzig Autoren
enthielt, aufgeteilt in dreißig Kapitel mit Überschriften wie »Das Leben hat
unscharfe Ränder« oder »Die Freiheit ist kleiner als jede Zelle«. Mit der
Publikation von 1964 war das Mantrana-Spiel aber noch lange nicht
beendet; einer Tagebuchnotiz vom 31. Oktober 1985 ist zu entnehmen, daß
auch noch zwanzig Jahre später Mantras in Wilflingen eintrafen (20, 557f.).
Einhundertfünfzig Mantras, die Jünger im Verlauf der Jahre selber
geschrieben hat, erschienen 1979 im zwölften Band der Sämtlichen Werke
(12, 520 – 535).
Eine gute Möglichkeit, im intellektuellen Leben der jungen
Bundesrepublik sichtbar zu werden und eine Rolle zu spielen, bot die 1948
gegründete »Bayerische Akademie der Schönen Künste« in München. Ihr
erster Generalsekretär, der 1905 geborene Clemens Graf von Podewils, war
mit Jünger seit der Pariser »Georgsrunde« bekannt und hätte sowohl ihn als
auch Friedrich Georg Jünger gerne unter den Mitgliedern der Akademie
gesehen; aber beide lehnten ab, weil sie so wenig wie möglich »organisiert«
sein wollten. Nur einmal mochten sie sich der freundschaftlichen Einladung
aus München nicht entziehen: Vom 16. bis 20. November 1953 veranstaltete
die Akademie der Schönen Künste an der Technischen Hochschule in
München eine abendliche Vortragsreihe zum Thema »Die Künste im
technischen Zeitalter«. Es sprachen der Religionsphilosoph Romano
Guardini über »Die Situation des Menschen«, der Physiker Werner
Heisenberg über »Das Naturbild der modernen Physik«, Martin Heidegger
über »Die Frage nach der Technik«, Emil Preetorius über »Die Bildkunst«
und Walter Riezler über »Die Musik«.
An der Vorbereitung der Tagung beteiligten sich beide Brüder Jünger, und
Friedrich Georg hielt auch einen Vortrag über »Die Sprache«. Ernst Jünger
hielt keinen Vortrag, nahm aber an der Tagung teil. Diese fand eine
außerordentlich starke Resonanz; der Vortrag von Heidegger mußte für die
rund dreitausend Hörer aus dem Auditorium Maximum mit Lautsprechern in
benachbarte Hörsäle übertragen werden. In der Presse erschienen
ausführliche Berichte und Bilder, die unter anderem Ernst Jünger und
Werner Heisenberg in einem konzentrierten Gespräch zeigen. Wäre es den
Brüdern Jünger und Heidegger darauf angekommen, sich ein Forum für
öffentliche Auftritte zu schaffen, so wäre diese Tagung ein vorzüglicher
Ansatzpunkt gewesen. Aber man hielt, wie Daniel Morat in seiner
umsichtigen Untersuchung dieser Vorgänge zeigt, am »Elitismus der
›Wenigen‹« fest und betrachtete die Möglichkeit erfolgreicher öffentlicher
Auftritte eher als Gefahr für die gedankliche Eigenständigkeit und die
moralische wie politische Integrität. Erst sechs Jahre später, im Januar 1959,
kam es zu einer Fortsetzung in Form einer Vortragsreihe über die Sprache,
die zunächst in der Aula der Universität München veranstaltet wurde, dann
in der West-Berliner Akademie der Künste.
Wiederum sprachen Martin Heidegger und Friedrich Georg Jünger, und
wiederum hatte Ernst Jünger sich dem Wunsch nach einem Vortrag
entzogen. Seit er sich nach der »Machtergreifung« aus der politischen
Sphäre zurückgezogen hatte, pflegte er das Desengagement und folgte
damit, wie einem Brief Carl Schmitts vom 23. August 1955 zu entnehmen
ist, der stoischen, zunächst von Epikur formulierten Devise »Lebe im
Verborgenen« (Fragment 551), die dann Ovid in seinen Tristien in den Vers
gekleidet hat: »Bene qui latuit, bene vixit«/»Der sich gut verborgen hat, der
hat sein Leben gut geführt«. Dieses Prinzip fand Jünger auch in den
Maximen Rivarols, die er damals übersetzte (14, 274 und 323f.). Nur mit
seinen Schriften, nicht aber als Akademie-Redner wollte Jünger aus der
Abgeschiedenheit seiner provinziellen Existenz hervortreten, und vor allem
wollte er sich in keiner auch nur andeutungsweise führerhaft oder
agitatorisch wirkenden Rolle sehen. Mustergültig läßt sich, wie Daniel
Morat deutlich gemacht hat, an Jünger nicht nur die »Deradikalisierung« des
deutschen Konservativismus beobachten, sondern auch seine Deaktivierung.
Vom Drängen zur »Tat«, das so fatale Folgen gehabt hatte, führte der Weg
zum Leben in »Gelassenheit«.
Jünger drängte nicht in die Öffentlichkeit der jungen Bundesrepublik,
verweigerte sich aber auch nicht ganz, wie es Carl Schmitt gerne gesehen
hätte. Am 1. Oktober 1955 empfing er in Wilflingen den ersten Besuch des
Bundespräsidenten Theodor Heuss. Am 26. Januar 1956 nahm er in Bremen
den Literaturpreis der Stadt Bremen (Rudolf-Alexander-Schröder-Preis)
entgegen, am 5. Oktober desselben Jahres den Kulturpreis der Stadt Goslar.
In seiner Dankrede für den Bremer Preis bemerkte Jünger selbst, daß es
eines gewissen Mutes bedürfe, ihn auszuzeichnen (14, 169f.), und in der Tat
wurde er mit Preisen nicht überhäuft. Den lange Zeit höchstdotierten und
angesehensten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, bekam er
– anders als Gottfried Benn, der ihn 1951 erhielt – zeitlebens nicht.
Mit dem Beginn der fünfziger Jahre wurden die Reisebeschränkungen
reduziert, und gleichzeitig nahmen die Verkehrsmöglichkeiten zu. Jünger
nutzte diese Chance sofort und vielfach. Vom 21. Mai bis 6. Juni 1950 hielt
er sich in der Schweiz auf und wartete auf das Visum, mit dem er nach
Antibes reisen wollte, um sich mit Banine zu treffen (22, 431 – 449). Da das
Visum nicht rechtzeitig eintraf, mußte er nach Wilflingen zurückkehren,
konnte dann aber am 12. Juni abreisen und den Rest des Monats – badend
und Käfer sammelnd – in Antibes verbringen; der 1960 publizierte Bericht
Ein Vormittag in Antibes (6, 387 – 420) und der Essay Am Kieselstrand (13,
9 – 23), der den »Plage de galets« bei Antibes beschreibt, erinnern daran.
Auch den Juni 1951 verbrachte Jünger mit Banine, die beide Aufenthalte in
ihren Jünger-Büchern lebendig geschildert hat, in Antibes. 1951 war er
zuvor nach Paris gereist, zum ersten Mal nach seinem Abzug im Sommer
1944; auch dieses Wiedersehen mit dem »Hotel Majestic« und anderen für
ihn wichtigen Orten ist in Banines Portrait d’Ernst Jünger ausführlich
geschildert.
Im Herbst 1950 sowie im Herbst 1951 fuhr Jünger jeweils für ein paar
Tage nach Italien, um Ernstels Grab zu besuchen. 1953 und 1954 machte er
Reisen in die Schweiz, im Mai 1954 auch die erste Reise nach Sardinien, wo
er vier Wochen in vormodernen Verhältnissen lebte und die Tage mit Hirten
und Fischern verbrachte. Ihr folgten im Juni 1955 eine zweite Reise nach
Sardinien und im Mai 1957 eine dritte, während der Jünger beim Baden von
einem Giftrochen gestochen wurde, so daß er danach einige Wochen im Bett
verbringen mußte. Auch im September 1957 war er wieder in Sardinien,
ebenso im Juli 1958, nachdem er zuvor – im Februar 1958 – einen lange
geplanten Besuch in den Vereinigten Staaten absolviert und sich in New
York und Washington aufgehalten hatte. Seit seinem Studienaufenthalt in
Neapel hatte Jünger eine Vorliebe für das mediterrane Klima; mit
zunehmendem Alter schätzte er es immer mehr und versuchte, möglichst in
jedem Jahr ans Mittelmeer zu kommen. Im folgenden Jahr 1959 ging die
Reise nach Griechenland, 1960 in levantinsche Länder. Von den meisten
dieser Reisen gibt es Tagebuchaufzeichnungen (22, 431ff.), die zum Teil
ausgearbeitet und als Bücher publiziert wurden (6, 219ff.). Nur über
Amerika schweigen die Bücher; aber daß Jünger aus Washington an Carl
Schmitt eine Ansichtskarte mit »herzlichen Grüßen aus Brobdingnag«
sandte, spricht Bände und zeigt, daß er sich wie Jonathan Swifts Gulliver in
einem höchst ungemütlichen Land von einschüchternden Dimensionen und
abweisenden Verhältnissen sah. Banine erinnert sich in ihrem Portrait
d’Ernst Jünger, daß er nach seiner Rückkehr aus Amerika zu ihr sagte, er
würde ganz New York für eine hundertjährige württembergische Eiche
geben. Freilich ist hierbei zu berücksichtigen, daß die USA-Reise durch eine
Depression überschattet war, in der sich Jünger seit Monaten befand und die
sich in dieser Zeit intensivierte. Am 31. Juli 1965 bemerkte er –
bezeichnenderweise in Hongkong – in seinem Journal: »Ohne Zweifel bin
ich besonders empfindlich gegen Beton. Daher fiel meine stärkste
Depression, insofern sie räumliche Ursachen hatte, zusammen mit meinem
Aufenthalt in New York« (4, 103).

Die Essays der fünfziger und sechziger Jahre:


Waldgänger und Welthistoriker

Nach dem Abschluß von Strahlungen und Heliopolis kehrte Jünger zu jenem
Genre zurück, dem er sich zu Beginn der dreißiger Jahre gewidmet hatte: zur
existenz- und geschichtsphilosophischen Essayistik. Zwischen 1950 und
1960 erschienen fünf einschlägige Essays, die zusammen knapp
vierhundertfünfzig Druckseiten umfassen. Sie alle sind letztlich jener Frage
verpflichtet, die ausdrücklich 1960 gestellt und zum Titel eines von H.
Walter Bähr herausgegebenen Sammelbands gemacht wurde: »Wo stehen
wir heute?« (7, 482 und 483). Für Jünger schloß die Antwort auf diese Frage
einen Blick in die Zukunft ein. Nach wie vor fühlte er sich nicht nur zur
diagnostischen Beschreibung der Zeit befähigt, sondern auch zur Prognose
der weiteren Entwicklung. In Tocquevilles Voraussage, daß Rußland und
Nordamerika die beiden Großmächte der zukünftigen Welt sein würden, sah
er ein überzeugendes »Beispiel für die Schärfe, mit der das Auge eines guten
Beobachters das Gefüge sich anschiebender Tatsachen zu durchdringen
vermag«: »Sein Blick reicht über Täler und Schluchten hinweg zum Gipfel,
der sich in der Ferne abzeichnet« (7, 491). Dieser prognostische,
Möglichkeiten eröffnende und Wege bereitende Blick bringt aber die Pflicht
mit sich, voranzugehen, was Jünger als Aufgabe der »Autoren« oder
»Dichter« betrachtete: »Immer muß Dichtung, müssen Dichter vorangehen«,
heißt es im Hinblick auf die »planetarische Ordnung«, die Jünger kommen
sah (7, 525).
Von den Essays der frühen dreißiger Jahre unterscheiden sich die der
fünfziger Jahre durch zwei Momente: Zum einen sind sie viel weniger
apodiktisch formuliert als die früheren. Der Verfasser erweckt nicht mehr die
Suggestion, daß alles, was er feststellen zu dürfen glaubt, zweifelsfrei sei; ob
es je zu einer endgültigen Entscheidung oder zu einem Ausgleich zwischen
Ost und West kommen wird, erscheint ihm als »fraglich« (7, 471), und im
Hinblick auf die Entwicklung der Staatenwelt sieht er 1959 ein ganzes
Register von Möglichkeiten (8, 532ff.). Der Ton ist entspannter als in den
früheren Essays, gelassener. Zum andern stehen die Essays der fünfziger
Jahre nicht mehr unter dem Primat des »Willens zur Macht«, propagieren
nicht mehr die Durchsetzung der Ordnung des »Arbeiters« ohne Rücksicht
auf das daraus resultierende Leid. Vielmehr lenken die Ausführungen den
Blick auf die leidenden Menschen zurück:
Man kann sich […] nicht darauf beschränken, im oberen
Stockwerk das Wahre und das Gute zu erkennen, während im
Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird. Man kann
das auch dann nicht, wenn man sich geistig in nicht nur
gesicherter, sondern auch überlegener Position befindet, und
zwar deshalb, weil das unerhörte Leiden von Millionen
Versklavter zum Himmel schreit. Immer noch liegt der Dunst
der Schinderhütten in der Luft. (7, 314)
Grundlegend für Jüngers Standortbestimmung ist Nietzsches Vorstellung,
daß er, Nietzsche, der »erste vollkommene Nihilist Europas« sei, zugleich
aber auch derjenige, der »den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende
gelebt« habe und mit seinem Werk eine Gegenbewegung ankündige. Der
1950 erschienene Essay Über die Linie (7, 237 – 280) gilt der Frage,
»welche Punkte die Bewegung inzwischen erreicht hat«. Jünger sieht den
Nihilismus, den »Niedergang der Werte«, weit fortgeschritten: Weder in der
Religion noch in der Kunst kommt ein absolut gültiger Wert zum Vorschein;
es gibt keine Heiligen und keine vollkommenen Kunstwerke mehr. Statt
dessen erscheint der Nihilismus in ungeahnter Größe und Stärke: Er wirkt
nicht »chaotisch«, sondern verbündet sich, wie man in der jüngsten
Geschichte gesehen hat und in der Gegenwart beobachten kann, mit großen
politischen Ordnungssystemen und mit der technischen Zivilisation. Er wirkt
nicht »krank«, sondern zeigt sich massenhaft in bester Gesundheit und bringt
im Sport wie im Beruf permanent Rekorde und Höchstleistungen hervor. Er
wirkt nicht »böse«, weil das, was man herkömmlicherweise als »böse«
bezeichnen würde, als unvermeidlicher Begleitumstand der geschichtlichen
Situation erscheint. Der Nihilismus beginnt also total zu werden und
vollkommen positiv zu wirken. Dennoch wird erkennbar, daß er eine große
»Reduktion« darstellt, allenthalben auf Vereinfachung aus ist und zu
»Schwund« führt. »Schwund« wird deswegen zu einer Hauptvokabel von
Jüngers Gegenwartsanalyse, meint aber nicht nur Reduzierung von Vielfalt,
sondern auch von Zeit und Muße und erscheint solchermaßen als
»Beschleunigung«.
»Schwund« und »Beschleunigung« kennzeichnen das nihilistische
Zeitalter, haben nun aber so viel an Werten verzehrt und überrundet, daß der
magische »Nullpunkt passiert« ist. Damit ist freilich noch nicht alles, ja noch
nicht einmal viel gewonnen: »Die Überquerung der Linie, die Passage des
Nullpunkts teilt das Schauspiel; sie deutet die Mitte, doch nicht das Ende an.
Die Sicherheit ist noch sehr fern. Dafür wird Hoffnung möglich sein.« Ein
»erster Hoffnungsblick« besteht in der Aussicht darauf, daß es zu einem
»Weltstaat« kommt, der den »Weltbürgerkrieg«, in dem die Gegenwart
begriffen ist, beendet. Weitere »Positiva« sind in der »metaphysischen
Beunruhigung der Massen«, im »Auftauchen der Einzelwissenschaften« aus
dem uniformen modernen Weltbild und im »Auftreten von theologischen
Themen in der Weltliteratur« zu sehen. Vorerst lebt man freilich noch im
»Unvermessenen« und Ungesicherten. Die »Totale Mobilmachung«,
gleichsam die Radikalform des aktiven Nihilismus, »ist in ein Stadium
eingetreten, das an Bedrohlichkeit noch das vergangene übertrifft«, und mit
einer weiteren »Beschneidung der Freiheit« ist zu rechnen; auch dem
erlösenden Kunstwerk steht noch viel »Widerstand« entgegen. Die
Beraubung des Menschen durch den Nihilismus ist also noch nicht vorüber,
sondern kann sogar noch zunehmen; aber es gilt, was Hölderlin in seiner
Hymne Patmos sagte: »Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.« Es
muß, so Jünger, in dieser Zeit »gewaltig anwachsen«. Der Blick in die
Zukunft darf deswegen wieder optimistisch werden.
Jünger hat den Essay Über die Linie in die Festschrift zu Heideggers
sechzigstem Geburtstag eingebracht, und Heidegger hat fünf Jahre später in
der Festschrift zu Jüngers sechzigstem Geburtstag geantwortet. Heideggers
Aufsatz, der – im Sinne des esoterischen Gesprächs unter Kennern und
Vertrauten – in Briefform gehalten ist und den Gratulationsband eröffnet,
trägt die Überschrift Über »Die Linie« und ist eine freundliche, aber doch
kritische und letztlich widersprechende Auseinandersetzung mit Jüngers
Zeit- und Nihilismusdiagnose. Heidegger stellt zunächst fest, daß seine
Abhandlung auf der Jüngerschen aufbaue, zieht dann aber deutlich in
Zweifel, daß die »Kenntnis und Erkenntnis« des Nihilismus schon für eine
Definition und Ortsbestimmung ausreiche, und fragt, ob eine »Erörterung
der Linie« nicht etwas »anderes« als das von Jünger Geleistete versuchen
müsse. Jünger wähne sich zwar schon jenseits der Linie, spreche aber noch
dieselbe Sprache wie diesseits, was bedeutet, daß von einer Überwindung
des Nihilismus keine Rede sein kann. Die »Verwandlung des Sagens« setze
die Preisgabe der Metaphysik und ein gewandeltes Verhältnis zum Sein
voraus, was Heidegger bei Jünger nicht sah. Alles in allem war Jüngers
Diagnose für Heidegger nicht tief genug in das Wesen des Nihilismus
»eingekehrt«, und sein Befund, daß die Linie schon überquert sei, zu
voreilig. – Jünger hat sich auf Heideggers Ausführungen nicht eingelassen.
Verständlicherweise. Er hätte zum Heideggerianer werden und zwischen
»Sein« und unterscheiden müssen. Das war ihm wohl zu viel. Er tat, was er
in solchen Fällen zu tun pflegte: Er schwieg. Und es scheint, daß er seine
Hoffnung auf ein baldiges Ende der nihilistischen Phase etwas reduzierte. In
seinem nächsten, 1951 publizierten Essay Der Waldgang konstatierte Jünger,
daß man sich immer noch »in der Nähe des Nullmeridians« aufhalte. Der
frühere Befund, man sei schon »jenseits der Linie«, und sei’s auch nur mit
dem Kopf, ist damit nicht widerrufen, aber abgeschwächt.
Der vielbeachtete Essay Der Waldgang (7, 281 – 374) reflektiert die
Existenz des freiheitswilligen einzelnen in der Zeit der verschärften
nihilistischen Vereinnahmung und Mobilmachung. Das klingt heute
befremdlich, weil man Jünger in der demokratisch verfaßten Bundesrepublik
sieht. Aber zum einen machte er – in Verkennung oder Verleugnung der
Differenzen – zwischen demokratischen und autoritären Staatsformen keinen
großen Unterschied; Staatlichkeit bedeutete für ihn immer progressive
Beschneidung der Freiheit und Vereinnahmung des Individuums. Und zum
andern hatte er nicht nur den Westen im Blick, sondern auch den Osten: die
achtundneunzigprozentigen Wahlergebnisse, die »Aufbau«-Parolen, den
Ausbau der Sicherheitspolizei und die Intensivierung der »Ausspähung«,
schließlich den Geheimterror und die Existenz von Lagern. Dem entspricht,
daß er, wie er am 21. November 1951 an Gottfried Benn schrieb, »aus der
Ostzone einige schöne Briefe über den Waldgang erhielt«, und Benn
zugleich bat, noch einige Exemplare in die »Zone« einzuschmuggeln. Aber
die progressive Vereinnahmung und Mobilisierung des einzelnen sah Jünger
allenthalben, und zum »Waldgang« als einem Versuch, sich der
Totalvereinnahmung zu entziehen, mochte hier wie dort Anlaß bestehen. Der
Waldgang ist nicht nur eine Reaktion auf die politischen Verhältnisse,
sondern mehr noch auf die zivilisatorische Entwicklung, die freilich auch die
politischen Verhältnisse prägt. Im »Waldgänger« sieht Jünger deswegen
neben dem »Arbeiter« und dem »Unbekannten Soldaten« eine dritte
wichtige »Gestalt« der Moderne: Der »Arbeiter« ist der Aktivist der
Moderne, der die Welt mit aller Gewalt neu gestalten und beherrschen will.
Der »Unbekannte Soldat«, der seinen Dienst auch in Fabriken leistet, ist der
Lastträger und »Opfergänger« dieses Umgestaltungs- und
Ermächtigungsprozesses. Der »Waldgänger« aber besitzt »ein ursprüngliches
Verhältnis zur Freiheit« und versucht, sich dem vereinnahmenden und
verzehrenden »Automatismus« des zivilisatorischen Prozesses zu entziehen.
Er steigt aus und taucht im Wald unter, wobei der Wald überall sein kann,
auch in einem dichtbevölkerten Großstadtviertel. Der Waldgang ist ein Akt
der Selbstbefreiung, freilich auch der Selbstausgrenzung. Er erfordert
entsprechenden Mut und bedarf der Rückversicherung in Kunst, Philosophie
und Theologie. Autoren haben Waldgänger zu sein und den in ihrer Freiheit
und Existenz bedrohten Menschen vorzuführen, daß Widerstand möglich ist.
Diese Verweigerungshaltung resultierte aus den Vereinnahmungs- und
Mobilisierungserfahrungen der beiden letzten Jahrzehnte und war für die
damalige Zeit nicht ungewöhnlich. Sie findet sich – als »Nonkonformismus«
– bei vielen Autoren der fünfziger Jahre, insbesondere auch bei jüngeren, die
sich dem Zugriff des Nationalsozialismus gerade noch entwinden konnten.
Als Beispiel ist der Jünger-Verehrer Alfred Andersch mit seinem Essay
Deutsche Literatur in der Entscheidung (1948) wie mit seinem
Lebensbericht Die Kirschen der Freiheit (1952) zu nennen. In prägnanter
Form zeigt sich diese Widerstandsgesinnung aber auch in Ingeborg
Bachmanns Gedicht Alle Tage (1952/53) und in Hans Magnus
Enzensbergers Gedicht Ins Lesebuch für die Oberstufe (1957). Das eine ruft
zu Nonkonformismus und zivilem Ungehorsam gegen staatliche Militanz
auf; das andere will die Schüler dazu anhalten, sich auf subversive
Tätigkeiten und auf die Flucht vorzubereiten. Heinrich Böll meinte,
Bachmanns Gedicht solle in jedem Lesebuch abgedruckt werden. Er hätte
sich dafür auf Jünger berufen können, der im Waldgang schrieb:
Nun leben wir in Zeiten, in denen täglich unerhörte Arten des
Zwanges, der Sklaverei, der Ausrottung auftreten können –
sei es, daß sie sich gegen bestimmte Schichten richten oder
über weite Landstriche ausdehnen. Dagegen ist der
Widerstand legal, als die Behauptung der menschlichen
Grundrechte, die von Verfassungen im besten Falle garantiert
werden, doch die der Einzelne zu vollstrecken hat. Hierfür
gibt es wirksame Formen, und der Bedrohte muß auf sie
vorbereitet, er muß in ihnen geschult werden; ja es verbirgt
sich hier das Hauptfach einer neuen Erziehung überhaupt. Es
ist schon ungemein wichtig, den Bedrohten an den Gedanken
zu gewöhnen, daß Widerstand überhaupt möglich ist – ist das
begriffen, dann wird mit einer winzigen Minderheit die
Erlegung des gewaltigen, doch plumpen Kolosses möglich
sein. (7, 362)
Aber nicht nur ein unfreiheitlicher Staat ist ein solcher Koloß; auch der
vereinnahmende und aufzehrende zivilisatorische Prozeß, die Welt des
Schwundes und der Hoffnungslosigkeit, die der von Jünger mehrfach
gerühmte Franz Kafka beschrieben hat, ist ein solches Monstrum. Sich ihm
zu entziehen und widerständig entgegenzutreten, erscheint um so sinnvoller,
als der »Nullmeridian« erreicht, wenn nicht schon überschritten ist. Positive
Ziele sind vorhanden, auch wenn sie noch nicht klar erkennbar sind. Zu
ihnen gehört – Jünger zufolge – die »planetarische Ordnung«, auf die sich
die Welt zubewegt und auf der ein »großer Friede errichtet werden« kann.
Der 1953 erschienene Essay Der Gordische Knoten (7, 375 – 479)
versucht, das Widerspiel von Freiheit und Zwang als Gegensatz zweier
weltgeschichtlich wirksamer Prinzipien darzustellen. Der Essay hätte auch
»Ost und West« betitelt sein können, weil sich in diesem Widerspiel –
Jünger zufolge – auch die beiden großen Räume der Erde begegnen. Der
letztlich gewählte Titel Der Gordische Knoten verweist auf eine dieser
Begegnungen: das legendäre Zusammentreffen Alexanders des Großen mit
dem phrygischen König Gordios. Dessen Streitwagen war – so die
Überlieferung – durch Seile mit dem Zugjoch verbunden, die von den
Göttern so kunstvoll verknotet waren, daß es als unmöglich galt, sie zu
lösen; dem aber, der dies doch vermochte, sollte die Herrschaft über Persien
zufallen. Alexander durchtrennte den Konten mit dem Schwert – und konnte
danach seinen siegreichen Eroberungszug durch Asien antreten und zum
Herrscher im Osten wie im Westen werden. Den Gordischen Knoten zu
lösen, heißt mithin, den Gegensatz zwischen Ost und West aufzuheben und
die Weltherrschaft auszuüben. Der Gegensatz zwischen Ost und West ist
aber der zwischen Despotismus und Freiheitlichkeit, zwischen Willkür und
Rechtlichkeit, zwischen Zoologie (oder Bestialität) und Ritterlichkeit.
Grundiert ist diese Antithetik durch die alte Völkertypologie, in der reale
historische Erfahrungen mit Wunschbildern von sich selbst wie vom
Fremden vermengt und zu schroff gegensätzlichen Stereotypen gesteigert
wurden. Jünger beglaubigt diese Typen gewissermaßen durch
Beobachtungen in der jüngeren Geschichte, und ist dafür scharf kritisiert
worden.
Der Verweis darauf, daß er von »Ost und West« nur in einem
metaphorischen Sinn spricht, kann ihn nicht ganz entschuldigen; das
Geographische klingt mit und wirkt nach Osten hin denunziatorisch.
Dennoch sollte man auch ernst nehmen, daß Jünger unter Ost und West,
unter Morgenland und Abendland, nicht Bezeichnungen für »absolute Orte«
verstanden haben will, sondern »Gleichnisse für zwei menschliche
Grundhaltungen«, und daß er schließlich den Kampf zwischen Ost und West
ins Innere des Menschen verlegt, weil beide Prinzipien »während der
Geschichte am sittlichen Charakter des Menschen geformt haben, in Ebben
und Fluten, im Wechsel von Spannung und Harmonie«. Dies bedeutet aber,
daß der Gegensatz von Ost und West nicht statisch und nicht von immer
gleicher konfrontativer Intensität ist. Die Ost-West-Begegnung muß nicht in
der aktuellen Form des »Weltbürgerkriegs« verharren; sie kann im
»Weltstaat« eine friedliche und steigernde Form annehmen: »Der Gegensatz
ist nicht unlösbar, sondern verweist auf ein Drittes: auf den Vertrag, durch
den sich die Partner, von der Furcht entbunden, reiner verwirklichen.«
Diesen Vertrag zu stiften hieße, den aktuellen Gordischen Knoten zu
durchschlagen. Daß dies gelingen wird, erscheint, wie Jünger einräumt, sehr
fraglich; und doch hält er daran fest, daß »die Notwendigkeit eines
Weltstaates sich immer dringender ankündet«.
Nach dem Gordischen Knoten stellte Jünger die essayistische
Zeitreflexion für eine Weile ein. Die nächsten Jahre gehörten kleineren
Schriften, der Neuausgabe früherer Werke, dem Sanduhrbuch (1954), dem
sardischen Reisebericht Am Sarazenenturm (1955), dem Rivarol-Buch
(1956) und der Erzählung Gläserne Bienen (1957). Nach deren Abschluß
kehrte Jünger wieder zur Zeitreflexion in essayistischer Form zurück; es
entstand die große, in der Originalausgabe über dreihundert Druckseiten
umfassende Abhandlung An der Zeitmauer, die 1959 erschien.
Die Abhandlung An der Zeitmauer (8, 397 – 645) baut auf dem Befund
des Essays Über die Linie auf, bestätigt und überbietet ihn. Das »Jenseits der
Linie« wird zum »Jenseits der Zeitmauer« und eröffnet einen ganz neuen
Zyklus der Geschichte, eine Geschichte jenseits der »Weltgeschichte«, in der
man sich bisher bewegte und die mit der Moderne ihren Abschluß und ihre
Überwindung findet. Diese Überbietung ist die Konsequenz aus zwei
Neuerungen, welche die nihilistische Bewegung beschleunigen und
verschärfen: Zum ersten Mal erscheint der »Weltuntergang« aufgrund der
atomaren Rüstung »möglich als unmittelbare Folge menschlicher Arbeit,
menschlichen Tuns«; und dank des Einblicks in die Struktur der
menschlichen Erbanlagen, der 1953 von James Watson und Francis Crick
eröffnet wurde, scheinen genetische Experimente möglich zu sein, die zu
einem unabsehbaren qualitativen Sprung in der Entwicklung des Menschen
führen könnten. In beiden Fällen kommen Kräfte zur Geltung, die außerhalb
jeder geschichtlichen Erfahrung liegen, und das heißt, daß der »Austritt aus
dem historischen Raum« oder eben aus der »Geschichte« möglich ist und
bevorsteht.
Die Zeitmauer ist der Ort, an dem die Schichten der Entwicklung
abzulesen sind und von dem aus der Sprung in den Raum jenseits der
Moderne wie der Weltgeschichte gewagt werden kann und muß. In diesem
Sprung findet die Zeit der Beschleunigung ihren Sinn; sie erweist sich jetzt
als Flucht vor den Folgen des eigenen Tuns wie als Vorbereitung auf den
Eintritt in eine völlig neue Phase der Erdgeschichte. Daß dieser Sprung fällig
ist, zeigt sich vor allem an zwei Umständen: an dem von Nietzsche
hellsichtig erkannten »Tod Gottes«, mit dem die alte
menschheitsgeschichtliche Werteordnung an ihr Ende gekommen ist, und an
den vielfachen Beunruhigungen, von denen Mensch und Welt ergriffen
werden, nicht zuletzt an den meteorologischen und atmosphärischen
Beunruhigungen, die zu beobachten sind. Sie vor allem sind Indizien dafür,
»daß wir uns nicht nur in einer weltgeschichtlichen, sondern auch
erdgeschichtlichen Veränderung befinden«. Die Erde will sich gleichsam ein
neues Kleid anlegen und, astrologisch gesehen, in ein »neues Haus«
eintreten. Die »humane« oder menschheitsgeschichtliche Einteilung oder
Betrachtung der Geschichte reicht für diesen Übertritt nicht mehr aus und
muß zugunsten einer »siderischen« preisgegeben werden, in welcher die
»Erdgeschichte« als »Gestirnsgeschichte« erscheint. In dieser
Metamorphose spielt der Mensch eine wichtige Rolle. Indem er sich als
Sohn der Erde entdeckt, mit Hilfe der Technik (einschließlich der
Biotechnik) ihre Kräfte nutzt und ihre Fülle erschließt, wird er zum
»Übermenschen« oder »Titanen«, dem der Austritt aus der bisherigen
Geschichte gelingt.
Das klingt nicht nur dramatisch, sondern katastrophisch, und Jünger
bekennt sich dazu: »Die Katastrophe hat […] ihren Platz und ihre Aufgabe
in der Welt. Sie ist nicht nur ein Zeichen dafür, daß die Ordnung gestört ist,
sondern auch dafür, daß sie sich wiederherstellen will.« Aber er hält einen
katastrophischen Verlauf des Übertritts mit weiteren Weltkriegen nicht für
die einzige Möglichkeit, sondern kommt zu einem größeren Spektrum von
Prognosen. Neben einem Weltkrieg, der zu einer planetarischen Ordnung
führen könnte, sieht er auch die Möglichkeit, daß es zu einer »pénétration
pacifique« der konkurrierenden Systeme kommt, zu einer friedlichen
wechselseitigen Durchdringung im allmählich sich einstellenden
Bewußtsein, daß man eigentlich »dasselbe gewollt« habe. Für diesen
zweiten Weg gibt es seine gute, astrologisch indizierte Chance: Das neue
Haus, in das die Erde eintritt, ist das des Wassermanns, in dem eine größere
Geistigkeit herrschen soll, und diese zeigt sich – Jünger zufolge – schon in
der »Vergeistigung« (oder dem zunehmenden »Raffinement«) »innerhalb der
technischen Welt sowohl in ihren liliputanischen wie in ihren titanischen
Bildungen, im unsichtbaren wie im sichtbaren Bereich«.
Kurz: Jüngers Blick über die weltgeschichtliche Zeitmauer ist nicht
pessimistisch, sondern optimistisch. Es mag sein, daß man sich für eine
Weile in einem chaotischen und »götterleeren Raum« bewegen muß. Dies
gehört zu den »Voraussetzungen eines großen Gestaltwandels«. Jünger ist
überzeugt davon, daß alle Anstrengungen der Menschen letztlich auf ein
»Gemeinsames« gerichtet sind und daß der Mensch auf der Erde letztlich
eine gute Heimat oder in der Erde eine gute Mutter hat. Der letzte Satz des
Essays An der Zeitmauer verbindet beides miteinander: »In ihm [dem
gemeinsamen Ziel] sind wir Brüder; und wenn wir uns selbst nicht aufgeben,
so wird auch unsere Mutter, die Erde, uns nicht im Stich lassen.«
Das Vorbild ist der Riese Antaios, der Sohn des Meergottes Poseidon und
Gaias, der Göttin der Erde, der unüberwindbar war, solange er den Kontakt
mit seiner Mutter nicht verlor. An ihn wird in der Zeitmauer mehrfach
erinnert, und nach ihm ist die Monatsschrift Antaios benannt, die Jünger
zusammen mit dem aus Rumänien stammenden und international tätigen
Kulturphilosophen Mircea Eliade von 1959/60 bis 1970/71 herausgab. Dies
ist bezeichnend für Jüngers Geschichtsbetrachtung, die auf mythologisch
codierte Einsichten zurückgriff und sie für die Bestimmung des aktuellen
Standorts wie für die Entwicklung geschichtlicher Perspektiven zu nutzen
suchte. Eine Gestalt der Frühzeit sollte die Orientierungsfigur für die Zeit
jenseits der alten Weltgeschichte sein. Was Antaios dazu prädestinierte, war
seine ›Bodenhaftung‹. Diese bedeutete, wie Jünger im Geleitwort der
Monatsschrift darlegte, zweierlei (14, 167f.): den Kontakt mit einer nie
versiegenden Kraftquelle sowie eine Hemmung vor leichtsinnigen und
überheblichen Bewegungen. Antaios steht aber auch für die bleibende
Dramatik der Geschichte. Denn wer glaubte, daß es unter der Ägide des
unüberwindbar scheinenden Göttersohns keine geschichtlichen Kämpfe und
keine Bewegung mehr gäbe, müßte sich durch den Mythos eines Besseren
belehren lassen. Nicht nur, daß Antaios immer wieder mit allerlei Helden zu
kämpfen hatte, die sein Reich betraten. Der größte von ihnen, Herakles, der
zur Erfüllung einer seiner Aufgaben durch des Riesen Land zog und von ihm
zum Kampf aufgefordert wurde, entdeckte die Quelle seiner Kraft, hob
Antaios von der Erde empor und konnte ihm danach den Brustkorb
zerdrücken. Dies aber heißt, daß Jünger, indem er Antaios zur Symbolfigur
der Zukunft jenseits der Zeitmauer machte, nicht das Ende des
Geschichtsprozesses schlechthin prophezeite, sondern nur den Anbruch einer
sozusagen antäischen Zeit, die ihre eigenen Konflikte haben und irgendwann
auch zu Ende gehen mochte.
Im Hinblick auf die nähere Zukunft war Jünger, wie der Zeitmauer-Essay
zeigt, vorsichtig geworden. Von einem aber war er überzeugt: daß der
»Weltstaat« kommen würde. Ihm widmete Jünger 1960 einen eigenen Essay,
Der Weltstaat (7, 481 – 526), der allerdings nur aus einer Wiederholung und
Erweiterung von Thesen bestehen konnte, die in den vorausgehenden Essays
bereits mehr oder minder deutlich anklangen: Der Weltstaat wird Realität
werden, aber nicht weil die politische Vernunft ihn gebietet und der
menschliche Wille einmal der Vernunft folgt, sondern weil die
zivilisatorische Entwicklung eine »Erd- oder Globalordnung« verlangt und
die traditionelle Aufteilung der Erde in nationalstaatliche Territorien
überspielt. Zwar gibt es noch zwei Groß- oder Weltmächte, die Vereinigten
Staaten von Amerika und die Sowjetunion. Aber deren Aufgabe besteht nur
darin, die Souveränität anderer Staaten an sich zu ziehen, um die Bildung
des Weltstaats zu ermöglichen; man habe es »mit Modellen zu tun oder,
besser noch, mit Modeln: den beiden Hälften der Gußform zur Bildung des
Weltstaates«. Zur Vereinigung wird es allerdings nicht durch Verhandlungen
und Verträge kommen; dafür sind die Unterschiede zu stark. Die
Vereinigung wird das Ergebnis stärkerer Antriebe sein, die teils aus der
zivilisatorischen Entwicklung resultieren, teils aus dem zunehmenden
Bewußtsein, daß die Sicherung der menschlichen Zukunft den Weltstaat
verlangt. Dieser wird nicht nur eine andere Quantität darstellen; er wird auch
eine andere Qualität haben: Staatliche »Organisation« und gesellschaftlicher
»Organismus« begegnen sich in einem neuen Brechungsverhältnis. Mit dem
Weltstaat verschwinden die nationalstaatlichen Antagonismen; die
»Organisation« kann abgebaut werden, und der »menschliche Organismus
als das eigentlich Humane« kann sich freier und reiner entfalten. In Jüngers
Weltstaat gehen zwei Träume in Erfüllung: der des Anarchisten vom
Absterben des Staats und der des Humanisten von einem freien und
friedlichen Leben auf Erden.
Mit dem 1960 erschienenen Weltstaat endete die Reihe der
zeitdiagnostischen Essays, nicht aber Jüngers essayistische Zeitreflexion
überhaupt. In verkürzter Form fand sie zunächst eine Fortsetzung in den
1964 publizierten Adnoten zum »Arbeiter« (8, 319 – 396), dann in vielen der
1965 begonnenen Aufzeichnungen, die später unter dem Titel Siebzig
verweht erschienen. Hier wie dort hielt Jünger an der Prognose des
Weltstaats fest, stellte sich nun aber der zuvor ausgeklammerten Frage, ob es
nicht doch auch im Weltstaat Konflikte geben würde und wie sie eingehegt
werden könnten. In den Adnoten nennt er einen möglichen Konfliktherd: die
»grobe Arbeit«, die irgendwo verrichtet werden muß, aber nicht mehr auf
eroberte Gebiete und Kolonien abgewälzt werden kann (8, 374). Die Lösung
sieht Jünger – ähnlich wie Brecht, der von der »Großen Produktion« träumte
– in einer verfeinerten Technik und einer effektiveren Nutzung der
natürlichen Ressourcen: Die »grobe Arbeit« würde überflüssig; der
Gegensatz zwischen Herren und Sklaven würde aufgehoben; Spannungen
zwischen Arm und Reich gäbe es nicht mehr. Daß es danach überhaupt keine
Konflikte mehr geben würde, hat Jünger wohl nie geglaubt, in späteren
Jahren ganz sicher nicht. In Siebzig verweht III heißt es unter dem Datum
des 20. Juni 1984:
Wenn die Heere abgeschafft werden, wird es keinen Krieg
mehr geben; das ist evident. Dagegen bleibt die Gewalt
permanent. Vergleichen wir die Armee einem Kruge, der die
Gewalt hegt und einfaßt, so strömt sie aus, wenn der Krug
zerbricht.
Im Weltstaat gibt es keinen Krieg, wohl aber Aufstände.
Damit nimmt die Gewaltanwendung Formen des
Bürgerkrieges an. Die Heere werden überflüssig, nicht aber
die Polizei. Die schweren Waffen sind Monopol des Staates;
sie wirken durch Existenz, nicht durch Gebrauch. (Das bleibt
utopisch ohne Fortschritt in der Vergeistigung.) (20, 374)
Der Weltstaat ist freilich nur ein Thema, das in den Adnoten zum »Arbeiter«
in der Auseinandersetzung mit der Schrift von 1932 skizziert wird. Auch
andere aus den Essays bekannte Themen – Beschleunigung, Titanismus,
Sinngebung der Arbeitswelt, Weltvergeistigung – werden berührt. Zwei
Themen sind allerdings neu und von besonderer Bedeutung. Das eine ist die
im Arbeiter von 1932 geübte Bürgerkritik, das andere die vermeintliche
Restauration in der Frühphase der Bundesrepublik.
Im Arbeiter hatte Jünger das Bürgertum außerordentlich scharf attackiert.
Es war für ihn die vernünftige und unheroische, advokatenschlaue und feige
Klasse, die jeden Kontakt zum »Elementaren« verloren hatte und deswegen
für die Errichtung der neuen Welt des Arbeiters untauglich war, von diesem
hinweggefegt werden mußte (8, 23ff.).
In den Adnoten relativiert Jünger diese Kritik auf zweifache Weise. Zum
einen räumt er ein, daß die massive Kritik am Bürgertum nicht allein auf
dessen ungenügendes Verhältnis zum Leben zurückzuführen sei, sondern
auch auf die Niederlage im Krieg, genauer: auf das Gefühl der Söhne, von
den Vätern umsonst geopfert worden zu sein (8, 344). Zum andern stellt er
fest, daß der Bürger »der geistige Vater des Arbeiters« ist und diesem mit
»einer umfassenden wissenschaftlichen Vorarbeit« gleichsam die
»Sprungschanze« errichtet hat (370). Das ist eine Rehabilitation des
Bürgertums, die nicht nur von historischer Bedeutung ist; denn
selbstverständlich braucht der Jüngersche Arbeiter, der ja weniger mit der
Hand als mit dem Kopf arbeiten wird, die bürgerliche Wissenschaft und wird
vorzugsweise als bürgerlicher Wissenschaftler leben und arbeiten. Der
Bürgersohn Jünger hat sich – reichlich spät – mit dem Bürgertum
ausgesöhnt. Aber seine Verkennung des Bürgertums hat ihn noch lange
beschäftigt. Am 6. November 1986 notierte er: »Wenn ich den »Arbeiter«
revidieren würde, sollte ich den ›Bürger‹ differenzieren; diese Heidelberger
und Göttinger Professoren werden im Rückblick unheimlich« (21, 127).
Eine Revision des Arbeiters hat Jünger mehrfach in Erwägung gezogen,
aber nie realisiert. Wie hätte sie auch aussehen sollen? Die einleitende
Verwerfung des Bürgertums hätte wegfallen müssen, und zwar nicht nur aus
Gründen der historischen Gerechtigkeit, sondern auch wegen der
zukünftigen Bedeutung der bürgerlichen Kultur. Die Vorstellung, daß der
Arbeiter dem Soldaten der Materialschlacht gleichen und die Gesellschaft
der Zukunft militärisch organisiert sein müsse, wurde um die Mitte der
sechziger Jahre durch einen vergleichenden Blick auf die gesellschaftliche
Wirklichkeit diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs widerlegt oder
zumindest gründlich in Frage gestellt: Nicht die Plan- und
Kommandowirtschaft des Ostens, sondern die freie Marktwirtschaft des
Westens hatte ein Wirtschaftswunder hervorgebracht. Die drei Jahrzehnte,
die seit dem Erscheinen des Arbeiters vergangen waren, hatten im
erfolgreichen Westen nicht zu einer militärisch strukturierten Gesellschaft
geführt, sondern zu einer Zivilgesellschaft, die sich, wie Carl Schmitt
beklagte, immer weiter vom Staat entfernte, demokratischer, moderner,
flexibler, individualistischer wurde – und darin nicht nur ihre Attraktivität,
sondern auch ihr Erfolgsgeheimnis hatte. Den Arbeiter unter
Berücksichtigung der neuesten Entwicklungstendenzen zu »revidieren«,
hätte geheißen, ihn fast völlig neu zu konzipieren. Die Grundthese von der
Verwandlung der Welt, die Freizonen und Mußestunden kennt, in eine Welt,
in der alles »Arbeit« ist und seinen Zweck im Reproduktionsprozeß findet,
hätte bleiben können. Die Vorstellung, daß die Überwindung der
zivilisatorischen Krise einen heroischen Weg beschreiten und in eine
kollektivistisch-autoritäre Gesellschaftsordnung führen müsse, hätte
preisgegeben werden müssen. Dies dürfte Jünger, wie seine Kritik an der
Restaurationsthese vermuten läßt, bewußt gewesen sein.
Das Thema »Restauration« war Anfang der sechziger Jahre, als die
Adnoten zum »Arbeiter« entstanden, ein zentrales Thema des politisch-
kulturellen Diskurses. Seit Hans Werner Richter, Walter Dirks und Eugen
Kogon um 1950 die These in Umlauf gebracht hatten, daß es im westlichen
Teil Deutschlands zu einer »Wiederherstellung« jener gesellschaftlichen
Verhältnisse gekommen sei, aus denen der Nationalsozialismus und mit ihm
die deutsche Geschichtsverfehlung erwachsen sei, war der
Restaurationsvorwurf von linken Intellektuellen unzählige Male wiederholt
worden und hatte die Bedeutung einer negativen Gründungslegende der
Bundesrepublik erlangt. Überall sahen progressive Kritiker der jungen
Bundesrepublik die Restauration am Werk, und selbstverständlich galt
Jünger mit seinem kulturellen Elitismus, mit seiner Gleichgültigkeit
gegenüber der Demokratie und mit seinem literarischen Klassizismus bald
als ein Exponent der Restauration.
Weder das eine noch das andere traf zu. Die Bundesrepublik war kein
Staat der Restauration, sondern einer nahezu unvergleichlichen und zudem
erfolgreichen Modernisierung im politischen und sozialen wie im
ökonomischen und kulturellen Bereich. Dies haben viele der frühen
Restaurationskritiker erst spät eingesehen, aber es gibt eindrucksvolle
Bekenntnisse, etwa von Hans Magnus Enzensberger, der 1988 in seinem
Essay-Band Mittelmaß und Wahn schrieb: »Die Rede von der Restauration,
ein in den fünfziger Jahren [auch bei Enzensberger] beliebter Topos, beruhte,
wie wir heute wissen, auf einer Augentäuschung. […] Als in den sechziger
Jahren die Gerüste fielen, war eine völlige Neukonstruktion zu besichtigen.«
Das hätte er sehr viel früher und zudem differenzierter in Jüngers Adnoten
lesen können. Dort stellt Jünger in einer entsprechenden Passage zunächst
einmal fest, daß der Prozeß der zivilisatorischen Modernisierung, den er im
Arbeiter beschrieben hatte, nach der »Katastrophe« mit ungeahnt großer
Macht wieder in Erscheinung trat und der »Restauration«, von der so viel die
Rede war, »einen neuen Sinn« gab: »Ihre musealen, retardierenden Kräfte
wirken nunmehr schattierend, inselbildend innerhalb der dynamischen
Flutungen« (8, 345). Dies war vielleicht nicht ganz originell; der Soziologe
Helmut Schelsky und der schweizerische Publizist Fritz René Allemann
hatten zehn Jahre früher schon Ähnliches gesagt. Aber es zeigt, daß Jünger
aufgrund seines Interesses an Modernisierungsphänomenen deutlicher als
die Kritiker der jungen Bundesrepublik sah, daß die restaurativ wirkenden
Momente den Prozeß der Modernisierung nur oberflächlich, punktuell und
momentan milderten oder verschleierten. Jünger hat früher erkannt, daß die
Bundesrepublik auf dem Weg in die westlich geprägte Moderne war.
Modernisierung ist ein umfassender und komplexer gesellschaftlicher
Prozeß. Grundlegend ist wohl die wissenschaftliche und technologische
Modernisierung, die seit dem Beginn der Neuzeit oder der Moderne das
Weltbild und die Lebenswelt tiefgreifend verändert hat. Das Weltbild wurde
auf die Basis der wissenschaftlichen Empirie gestellt, die zugleich die
Voraussetzung für die technologische Aufrüstung der Lebenswelt lieferte.
Dies blieb, wie man weiß, nicht ohne Folgen für das übrige gesellschaftliche
Leben, führte zum Übergang der ständisch geordneten in eine
funktionalistisch differenzierte Gesellschaft mit entsprechenden neuen und
breiteren Partizipationsansprüchen, die sich – mit unterschiedlicher
Reichweite – in der politischen Demokratisierung, in der ökonomischen
Mitbestimmung und im Ausbau der Sozialsysteme realisierten. Jüngers
Einstellung gegenüber diesem Prozeß war Wandlungen unterworfen, blieb
aber immer kompliziert und ambivalent. Die technologische Modernisierung
mit ihren Konsequenzen für das menschliche Leben betrachtete er als eine
unaufhaltbare und letztlich positive, den Sinn der Weltgeschichte
enthüllende Bewegung. Soziale Partizipation war für ihn eine
Selbstverständlichkeit; der Reichtum der Erde sollte allen zugute kommen.
Jüngers politische Schriften der Jahre um 1930 sind schroff
antikapitalistisch, und die privatkapitalistische Ausbeutung der Erde war ihm
jederzeit ein Greuel. Die politische Partizipation war ihm ziemlich
gleichgültig. Zeitlebens zweifelte er daran, daß eine demokratisch verfaßte
Gesellschaft besser sein würde als eine autoritär regierte, die ja nicht
unbedingt eine unrechtliche oder ganz und gar unfreiheitliche sein mußte;
hier wird deutlich, daß Jünger noch ein Kind des Obrigkeitsstaats war. Aber
er sah, daß die Demokratisierung unabweisbar zum Prozeß der Moderne
gehört, und kam in der Zeitmauer sogar zur Ansicht, »daß demokratische
Formen auf unabsehbare Zeit vorherrschen werden, vom Weltregiment bis
hinab in die kleinsten Zellen, bis in die Familie« (8, 635).
Im übrigen ist es – trotz berüchtigter anti-demokratischer Ausfälle – nicht
so, daß Jünger Demokraten nur verachtet und die Demokratie prinzipiell als
eine schwächere Form der politischen Organisation betrachtet hätte. 1928
rühmte er in dem Gedenkbuch Die Unvergessenen den Whitmanschen
Demokraten Caspar René Gregory (14, 15), und am 27. Oktober 1982 hielt
er nach dem Besuch von Jorge Luis Borges in seinem Journal fest:
»Whitmans ›Grashalme‹ zeigen die Demokratie in ihrer Stärke – Flauberts
›Bouvard et Pécuchet‹ ihre Infamie« (20, 192). Insgesamt ist festzustellen,
daß Jünger den Prozeß der Modernisierung (einschließlich seiner sozialen
und politischen Partizipationsansprüche) für unaufhaltbar hielt und als
Realisierung des Sinns der Schöpfung betrachtete. Zugleich ist aber zu
sehen, daß er diesen Prozeß vorerst hauptsächlich als einen Prozeß der
Reduzierung von Lebensraum und Lebensvielfalt erfuhr, als eine
schändliche Vernutzung der Welt und innerlich ärmer machende
Entzauberung des Kosmos. Dem versuchte er sich durch seinen
anarchischen, isolationistischen und antimodernistischen Lebensstil zu
entziehen, und dagegen hat er protestiert, indem er mit seinen Reisebüchern
und mit seinen 1965 einsetzenden Journalen auf den sich beschleunigenden
»Schwund« von Landschaft und Artenvielfalt sowie kultureller
Ursprünglichkeit und Buntheit hinwies.
Mustergültig zeigt sich dies in den beiden Berichten über die
Sardinienreisen von 1954 und 1955, Am Sarazenenturm (6, 219 -323) und
Serpentara (6, 363 – 385). 1954 verbrachte Jünger fast den ganzen Mai in
Illador, einem an der Südwestküste gelegenen »Ort ohne Anschlüsse« (226).
Man konnte ihn zwar über holprige Bergwege mit einem Autobus erreichen;
aber elektrischen Strom, Telefon und Tageszeitung gab es nicht. Das Leben
zeigte sich hier noch in uralten Formen; Jünger traf einen Hirten, der in der
»kapuzenförmigen« Höhlung eines Felsblocks wohnte:
Auf dem Boden dieser halboffenen Höhlung hatte der Hirte
sein Lager errichtet, eine Schicht von Binsen, die kaum den
nackten Stein verbarg. In einer kleinen Mulde der Felswand
war eine Handvoll groben, aus dem Meere gewonnenen
Salzes verwahrt. Vor der offenen Seite war eine Feuerstelle,
daneben lagen einige in der Asche geröstete Bohnen und ein
kleiner Brennvorrat. Das war die Einrichtung. (6, 268f.)
Diese Höhlenwohnung hätte Jünger im folgenden Jahr noch unverändert
antreffen können; aber ansonsten hatte er allenthalben den Einzug der
Moderne zu beobachten und zu bewundern: im Albergo den Kühlschrank,
aus dem nun immer frischer Fisch zu haben war; im Gastzimmer, in dem
man im Jahr zuvor bei Kerzenlicht saß, die Neonröhre, die nun alles taghell
erleuchtete. Es versteht sich von selbst, daß Jünger, der im Jahr zuvor das
vormoderne Leben genossen hatte, davon nicht begeistert war; die
Schilderung dieser Modernisierungserfahrung im Kleinen gerät zum
zivilisationskritischen Lamento:
Im harten Licht erkannte ich den Raum kaum wieder, als
hätte ihn ein Magier mit einem Entzauberungsstab berührt.
Ich sah die Risse in den Wänden und in den Gesichtern die
niedere Struktur. Diese Entmythisierung der Welt, die wir
verbreiten, als ob wir mit dem Gorgonenschilde ausgerüstet
wären, ist beängstigend. Sie wird auch durch
Raumbeherrschung, die Möglichkeit, Entferntes schnell zu
erreichen, nicht wettgemacht. Wir bringen die Auslöschung
göttlichen Lichtes mit. Wenn wir den Mond erreichen, was
bevorzustehen scheint, so löschen wir damit ein Geheimnis,
das währte, solange irdische Menschen das Gestirn
betrachteten. Wir wandeln Selenes schimmernde Paläste in
Minenfelder und Abraumhalden für Atomschutt um. Wir
wagen diese großen Fahrten auf Kosten unserer inneren
Herrlichkeit. (6, 366)
Manches von dem war hellsichtig und wirkt heute bedrückend, manches
eher nostalgisch und romantisch. Letzteres ließ Jünger bei manchen
Zeitgenossen als Exponenten der Restauration erscheinen. In Wahrheit war
er der erste »Waldgänger« einer in vielem verfehlten, unintelligenten,
inhumanen, ausbeuterischen und nachhaltig destruktiven Modernisierung.
Und ein Vorläufer der ökologischen Bewegung.

Gläserne Bienen: Technikmelancholie

Auch der Protagonist der 1957 erschienenen Erzählung Gläserne Bienen (15,
421 – 559) hat das Gefühl, daß sich die Moderne auf eine ausweglose Weise
verfahren habe und nicht zur Verbesserung führe, sondern weiterer
Verschlimmerung ausgeliefert sei. Dieses Gefühl resultiert aus einem
Geschichtsbewußtsein, das – wie die Erfahrung des Autors Jünger – bis in
die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreicht und um eine unbestimmte Frist
einer weiteren Perfektionierung der Technik in die Zukunft hinein verlängert
ist. Der Protagonist, Richard mit Familiennamen, ist ein ehemaliger
Rittmeister der Leichten Reiter, der nach der waffentechnisch bedingten
Auflösung der Kavallerie bei der Panzertruppe tätig war. Er hat die
Mechanisierung des zivilen Lebens und des Krieges sozusagen hautnah
erlebt und als vielfache Verkümmerung erfahren: als entwürdigende und
abstumpfende Anbindung des Menschen an ein »Gestänge«, als
Brutalisierung des Kampfes und als Abbau soldatischer Ethik, als »Zug«
also nicht nur »zu einem blasseren und flacheren Leben«, sondern auch zu
einem gemeineren, in dem frühere Vorstellungen von Freiheit, Würde und
Fairneß immer weniger zur Geltung kommen (462f. und 469ff.).
Natürlich wird dies nicht auf die Technik allein zurückgeführt, sondern –
am Beispiel der Kameraden Fillmor und Hanebut (486ff. und 527ff.) – auch
auf entsprechende menschliche Dispositionen; aber die Technik erscheint
doch als wichtiger Faktor der Verdüsterung der Welt (501), und diejenigen,
die dies erkennen, empfinden die Situation bald als so heillos, daß sie zu
radikalen Mitteln der Gegenwehr greifen oder resignieren. Dies entwickelt
der Protagonist und Erzähler der Gläsernen Bienen an der Geschichte seines
Kameraden Lorenz, eines Bauernsohns, der in der Zwischenkriegszeit gegen
die Rationalisierungen in der Landwirtschaft rebellierte und, um seinen
Kameraden ein Beispiel für die nötige Unerschrockenheit zu geben, aus der
Mansarde eines hochgeschossigen Berliner Mietshauses in die Tiefe sprang.
Zwar gelang es dem vorzüglichen Turner, auf den Beinen zu landen, doch
war der Aufprall so stark, daß die Knochen den Körper auf eine tödliche
Weise durchstießen. Für Richard wurde dieses schreckliche Ende zum Indiz
dafür, daß bestimmte Dinge »nicht zu leisten sind«; er sieht im tödlichen
Sprung seines Kameraden ein Beispiel jener »Ausweglosigkeit« der
modernen Lebensbeschränkungen, die zwar zu heroischen Aktionen
drängen, aber dadurch nicht aufgebrochen werden (463ff.). Dies bekräftigt
Richards »defaitistische Neigungen«, die ihm ein hellsichtiger Vorgesetzter
im Führungszeugnis bescheinigt hatte (476), macht ihn zum »Defaitisten der
Moderne« (Peter Koslowski), und zwar in einem doppelten Sinn: Weder
rebelliert er auf unsinnige Weise gegen die fragwürdige Moderne, noch
verschreibt er sich ihr ohne Skrupel.
Zu letzterem bekommt Rittmeister Richard in der nicht genauer datierten
Gegenwart der technisch weit fortgeschrittenen Nachkriegszeit Gelegenheit,
und er wird durch seine Lebensumstände dazu gedrängt. In einer Situation,
in der Richard völlig »abgebrannt« ist, wird ihm eine Stelle bei dem
weltberühmten Automatenhersteller Zapparoni angeboten. Zapparonis
Spezialität sind intelligente Liliputroboter und lebensecht wirkende
Menschenpuppen, die ihre natürlichen Vorbilder nicht nur erreichen, sondern
verblassen lassen (426, 448, 480 und 511). Seine künstlichen Bienen sind bei
der Honigsuche schneller und saugen die Blüten so gründlich aus, daß für
andere Bienen kein noch so kleiner Rest übrig bleibt (504ff.), und seine
Figurinen, die er für die Produktion von Filmen einsetzt, überbieten die
Schönheit und Kunstfertigkeit menschlicher Schauspieler um einiges und
geben damit »dem Menschen ein neues Maß« (512 und 543). Dies ist auch
das eigentliche Ziel von Zapparoni, der von Richard nicht umsonst einmal
als »Übermensch« bezeichnet wird (523). Während des Vorstellungsbesuchs
bei Zapparoni, zu dem auch die Beobachtung der künstlichen Bienen und ein
Gespräch über die Nachbildung von Menschen gehören, wird für Richard
deutlich, daß es diesem nicht nur darum geht, die Natur perfekt
nachzuahmen, sondern darum, »die Natur [zu] übertreffen« (480) und »ihre
Unvollkommenheiten zu verbessern« (505). Im Fall der Bienen geschieht
dies durch eine »Reihe von Vereinfachungen, Abkürzungen und
Normungen«, aus denen z. B. eine größere Fluggeschwindigkeit und
Saugkraft resultieren (506f.); im Fall der künstlichen Schauspieler z. B.
durch eine ästhetisch vollkommene und mimisch nutzbare Gestaltung der
Ohren, die zum »wunderbaren Eindruck« dieser »lebensgroßen
Marionetten« entscheidend beitragen (550f.).
Zapparonis Künste wirken jedoch auf den Rittmeister Richard eher
abschreckend als faszinierend. Bei der Beobachtung der Bienen bemerkt er
bald, daß alles, was bei den natürlichen Bienen mit Wabenbau und
Brutpflege zu tun hat, »ausgespart« – man könnte auch sagen:
wegrationalisiert – ist und der ganze »Betrieb« in einem zwar »perfekten,
aber völlig unerotischen Glanz« strahlt (507). Zapparonis Maschinen-Bienen
sind das Gegenteil der Liebes-Bienen, die Pater Foelix in Heliopolis
beschrieben hat (16, 209). Nach diesem Defekt an den Bienen entdeckt
Richard in einem Sumpfloch in Zapparonis Garten eine größere Anzahl
abgeschnittener Ohren, die sich zwar bald als künstliche Ohren erweisen,
aber trotzdem für ein bleibendes Unbehagen sorgen (519ff.). Richard
versteht nun den Sinn dieser teils faszinierenden, teils schockierenden
Demonstrationen: Sie sollen ihm deutlich machen, daß er im Begriff war,
sich einem Unternehmen zu verschreiben, das durch die ökonomisch und
ästhetisch überlegene und zugleich trieb- und schmerzfreie Simulation der
Natur in der Lage ist, dem Leben eine andere Qualität zu geben (544f.). Dies
kann aber, wie Richard aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrung spürt, nur
auf Kosten des Menschen gehen -: Vermittels der neuen Technik wird der
Mensch auf eine zwar subtilere, aber noch wirksamere Weise als durch das
grobe »Gestänge« der Mechanisierung in ein neues Maß gezwängt und
seiner Freiheit und Unverrechenbarkeit beraubt (521 und 547). Durch die
Vorführung der so überaus ökonomisch arbeitenden Bienen und
insbesondere durch die »brutale Vorweisung abgeschnittener Gliedmaßen«
sollte getestet werden, ob Richard der »sezierende[n] Denkart« dieses
Unternehmens und seiner Rücksichtslosigkeit gewachsen ist (520f. und 547).
Richards Reaktion, die mehr vom Herzen als vom Kopf bestimmt wird (548
und 552 sowie 496), verrät dem beobachtenden Zapparoni, daß dies nicht
der Fall ist; Richard kann seinen »Defaitismus« nicht überwinden (544).
Trotzdem wird Richard von Zapparoni engagiert. Denn dieser benötigt
auch jemanden, der zwischen seinen »Arbeitern«, die ebenso mimosenhaft
wie genial sind und deswegen ständig auf geschäftsschädigende Weise
miteinander hadern, vermittelt. Und dafür scheint ihm der skrupulöse
Rittmeister mit seinem »Sinn für Parität« und seinen »altertümlich«
wirkenden Begriffen gerade der rechte Mann zu sein (552f.). Nur dieser
»Defaitist der Moderne« scheint in der Lage, die menschlich befriedigende
Gerechtigkeit herbeizuführen, welche die Avantgarde der technischen
Moderne nicht schaffen kann, aber auch nicht entbehren will. Dies ist zwar
ein erfreulicher Ausgang der Geschichte für Richard, zugleich aber auch ein
Indiz für die Verfahrenheit der Moderne, die, wie der Erzähler der Gläsernen
Bienen im abschließenden Kapitel sagt, den Glauben an ein »happy end«
nicht mehr erlaubt (553). Und dies bekräftigt der Herausgeber von Richards
Ausführungen in seinem »Epilog«. Er sieht noch deutlicher als dieser, daß
alle Bemühungen der technischen und politischen Weltverbesserer in
Ansätzen steckenbleiben, und formuliert ein deprimierendes Fazit:
»Unvollkommene Gebilde unvollkommener Wesen – das ist der Eindruck,
den dieses Werden und Vergehen hinterläßt.« Zwar »bleibt die tröstliche
Vermutung, daß in und über der Geschichte ein Sinn obwaltet«, aber der ist
»mit unseren Mitteln nicht zu errechnen« und wird sich erst im
»Totengericht« offenbaren (558f.). Bis dahin aber bewegen sich die
Menschen in einem Labyrinth.

Die sechziger und siebziger Jahre

Jubiläum und Verlust


Die fünfziger Jahre waren für Jünger ein interessantes, produktives und
erfolgreiches Jahrzehnt. Er konnte ausgiebige Reisen unternehmen. Er legte
eine Reihe beachtlicher Essays vor und fand mit den Gläsernen Bienen einen
neuen, entspannten und zugleich elastischen Erzählton. Er war auf dem
Buchmarkt mit einer Fülle von neueren wie älteren Titeln präsent. Er wurde
seltener als früher angegriffen und erhielt am 31. Januar 1959 das Große
Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Trotzdem war Jünger nicht nur glücklich. 1957 verfiel er in jene Depression,
die über ein Jahr anhielt und auch durch Reisen nicht gemildert oder
aufgehoben werden konnte. Als sich sein Zustand Ende 1958 besserte, zeigte
sich bei Gretha Jünger eine Krebserkrankung; sie mußte über längere Zeiten
liegen und bedurfte der Pflege auch durch ihren Mann.
Unter diesen betrüblichen Umständen war der fünfundsechzigste
Geburtstag zu begehen. Es gab einen Festakt, bei welchem Jünger die
»Ehrenbürgerwürde der Gemeinde Wilflingen« verliehen wurde. Wie sehr
man ihn hier tatsächlich als zugehörig betrachtete, zeigte sich daran, daß
Ernstels Name »in das Denkmal der Wilflinger Gefallenen« eingraviert
wurde. Jünger hielt eine kurze Ansprache, in der er für beide Formen der
»Eingemeindung« dankte (22, 395). Aus Anlaß seines Geburtstags wurde
ihm zudem die »Ehrengabe des Kulturkreises im Bundesverband der
deutschen Industrie« angetragen, und so groß war sein »Waldgängertum«
dann doch nicht, daß er diese Ehrung ausgeschlagen hätte. Ebenfalls aus
Anlaß des fünfundsechzigsten Geburtstags erschienen mehrere
Publikationen von Jünger selbst: im Klett-Verlag die Sgraffiti, aphoristische
Aufzeichnungen, die seit den frühen Nachkriegsjahren entstanden waren und
ursprünglich als »dritte Stufe« des Abenteuerlichen Herzens gedacht waren;
als schmuckes Bändchen der »Vereinigung Oltner Bücherfreunde« der
Reisebericht Ein Vormittag in Antibes; zudem bei Klett zwei Bände der
ersten, zehnbändigen Werkausgabe, die Reisetagebücher und die
Betrachtungen zur Zeit, vom Kampf als inneres Erlebnis bis zum Weltstaat.
Und schließlich legte Hans Peter des Coudres in der Zeitschrift Philobiblon
seine erste Bibliographie von Jüngers Werken vor. Des Coudres, Direktor
der Bibliothek des Hamburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und
internationales Privatrecht, hatte mit Jünger seit 1947 brieflichen Kontakt. Er
wurde zum passionierten Sammler und machte mehrere Publikationen
ausfindig, die Jünger vergessen hatte, so vor allem die Kriegserzählung
Sturm, die im April 1923 im Hannoverschen Kurier in sechzehn Folgen
erschienen war und nun 1963 erstmals in Buchform publiziert werden
konnte.

Gretha und Ernst Jünger, fünfziger Jahre


Nach Jüngers Geburtstag verschlimmerte sich Grethas Zustand. Ende
April/Anfang Mai war sie zu Untersuchungen in München, und die Befunde
fielen sehr ungünstig aus. Es begannen Monate des Leidens und des
unaufhaltsamen Sterbens. Am 27. September 1960 schrieb Jünger an
Gerhard Nebel, der sich zu Beginn des Jahres nach einem fast zehnjährigen
Schweigen wieder an Jünger gewandt hatte und, selber krank, auf die
Nachrichten über Grethas Zustand mit großer Empathie reagierte:
Lieber Gerhard Nebel,
Sie schrieben vor genau zwei Monaten, daß sie lange nichts
aus Wilflingen gehört hätten. Günstiges haben wir auch nicht
zu vermelden, abgesehen von der Geistesgegenwart und dem
ungebrochenen Mut meiner Hausfrau; ich sah sie noch nie so
stark. Sie nimmt an allem Anteil und bat mich, Ihnen für
Ihren Brief zu danken; alles erfreut sie, was von Freunden
kommt. Aber ich sehe mit Schrecken, daß sie uns trotz aller
Mühe, die wir uns geben, allein lassen will. […]
Die letzten Wochen müssen qualvoll gewesen sein. Banine schreibt in ihrem
Portrait d’Ernst Jünger, daß Gretha Jünger permanent Betreuung brauchte.
Jünger wich in diesen letzten Wochen kaum von ihrer Seite und schlief
nachts auf einem Feldbett bei ihr. Gretha Jünger starb am 20. November
1960 und wurde am 23. November auf dem Wilflinger Friedhof im
Familiengrab an Ernstels Seite bestattet. An ihrem Todestag pflegte Jünger
das Grab zu besuchen, um es mit einem Kranz zu schmücken. Zu seinem
siebzigsten Geburtstag publizierte er 1965 ein kleines Heftchen mit
Traumnotaten, die unter dem Titel In Totenhäusern stehen. Zwei der darin
festgehaltenen Träume stellten sich in der Nacht nach einem dieser Besuche
ein. Erschütternd der zweite:
Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgestoßen, und zwei
vitale Burschen traten ein. Sie boten mir Schnitten an, die mit
rotem Kaviar belegt waren.
Dann ging ich ins Bad. Dort stand einer der Zuber, in
denen Wäsche eingeweicht wird. Zu meinem Entsetzen sah
ich Gretha darin liegen; das Wasser reichte ihr über den
Mund. Ich riß sie heraus, behandelte sie wie eine Ertrunkene,
umarmte sie. Sie begann zu meiner unendlichen Freude zu
atmen; ich sagte:
»Ich will dich wärmen, komm ins Bett.«
Sie antwortete:
»Komm du zu mir. Dort ist auch der Sohn.« (13, 368)
Neunzehn Jahre später, am 18. November 1984, gab der bevorstehende
Todestag noch einmal Anlaß zu einer längeren Tagebuchnotiz, von der die
ersten Abschnitte zitiert seien:
Auf dem Friedhof. Übermorgen jährt sich Grethas Todestag.
Es ist fast ein Vierteljahrhundert verflossen seither. Da ich auf
dem Flug nach Paris sein werde, kann ich den Kranz nicht auf
das Grab legen. Ich werde auch am Totensonntag abwesend
sein. Es trifft sich, daß ich auf der Suche nach Papieren auf
Notizen stieß, die ich damals gemacht habe.
Als sie schon nicht mehr sprechen konnte, hat sie mich
noch einmal getröstet in der wortlosen Bejahung der
gemeinsamen Schicksalsfigur.
Vorher hatte sie Resle Wohnung und Haushalt übergeben –
Resle sollte im Frühjahr streichen lassen und die Gardinen
auswechseln. Gretha konnte in der Nacht nicht schlafen, weil
sie dachte, Resle würde nicht fertig werden damit. (20, 460)

Eine neue »Hausfrau« und Ausbau des Werks

Ernst und Liselotte Jünger, sechziger Jahre


Anderthalb Jahre blieb Jünger allein in der Oberförsterei. Länger mochte er
das Leben ohne »Hausfrau« nicht ertragen. Am 3. März 1962 heiratete er im
»Münster« von Heiligkreuztal bei Wilflingen die 1917 in Heilbronn
geborene Liselotte Lohrer, eine promovierte Germanistin, die das Cotta-
Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach leitete und mit den Brüdern
Jünger seit Ende der vierziger Jahre bekannt war. Für Jünger, der zu dieser
Zeit seine erste Werkausgabe zu bewältigen hatte, war sie allein aufgund
ihrer philologischen und archivalischen Erfahrungen eine ideale
Lebenspartnerin. An der Konzeption und Realisierung der zehnbändigen
Werkausgabe, die mit ihrer Auswahl und ihren Bearbeitungen eine eigene
Akzentuierung von Jüngers Werk darstellt, war sie maßgeblich beteiligt.
Banine charakterisiert sie in ihrem Portrait d’Ernst Jünger als »Muster einer
modernen Frau«: »effizient in allem, mit einem breiten Register von
Fähigkeiten, ohne indessen ihre Weiblichkeit zu verlieren«. Vom frühen
Morgen bis spät in die Nacht war sie als Hausfrau und Gärtnerin, Lektorin
und Archivarin, Sekretärin und Gastgeberin tätig. Jünger schrieb an Banine,
der »Effendi«, wie Banine ihn nannte, habe für diese Doktorin »die beste
Verwendung« gefunden. Banine kommentierte: »Die beste ohne Zweifel,
aber wie hartherzig! Der Effendi hat wirklich die ideale Ehefrau gefunden.«
Jünger pflegte sie in seinen Journalen als »Stierlein« zu bezeichnen, weil sie
im Sternzeichen des Stiers geboren wurde, und zweifellos glaubte er, damit
auch das Wesen seiner tatkräftigen neuen Gattin zu treffen.
Zu den familiären Veränderungen der sechziger Jahre zählt auch das
Fortkommen von Jüngers zweitem Sohn Carl Alexander. Briefliche
Äußerungen seiner Eltern aus den frühen fünfziger Jahren lassen darauf
schließen, daß er ein sensibler Junge war und unter der Unruhe der
Nachkriegsjahre beträchtlich litt. Aber er bewältigte das Gymnasium, legte
1955 das Abitur ab, studierte Medizin und wurde 1963 aufgrund einer
Dissertation über die »Häufigkeit der verschiedenen Formen der weiblichen
Genitalkarzinome« sowie die Probleme ihrer Erkennung und Behandlung
promoviert.
Über Jüngers Einkünfte aus der literarischen Arbeit ist wenig bekannt; sie
können aber in den fünfziger und sechziger Jahren nicht groß gewesen sein.
Vom Absatz der Bücher allein konnte Jünger nicht leben; er war auf
Honorare aus Artikeln und auf mäzenatische Zuwendungen angewiesen. Ab
Mitte der sechziger Jahre soll er auch eine Art Pension vom Land Baden-
Württemberg erhalten haben. Erst mit dem Erscheinen der Sämtlichen Werke
ab 1978 lohnte sich der Vertrieb von Jüngers Büchern für den Verlag, und
zugleich erhielt Jünger Honorare, die es ihm ermöglichten, etwas
großzügiger zu leben. Ein reicher oder auch nur wohlhabender Mann wie
Erich Maria Remarque oder Heinrich Böll war Jünger nie. Das war ihm aber
auch egal. Außer für Bücher und Reisen brauchte er nicht viel Geld. Einige
der größeren Reisen wurden ihm von einem Hamburger Freund, dem
Reedereidirektor Werner Traber, gestiftet (4, 37).
Die Reisen, die Jünger in den sechziger Jahren – nun zumeist von seiner
Frau begleitet – unternahm, führten mehrfach in den mediterranen Raum,
nach Griechenland, Spanien, Korsika und Marokko, dann aber auch nach
Spitzbergen, Angola und 1965 – auf einer viermonatigen Schiffsreise – nach
Ostasien. Stationen dieser Reise, die am 13. Juni in Hamburg begann und am
7. Oktober in Bremerhaven endete, waren Genua, Port Said, Dschibuti, dann
Malaysia, Sumatra, Singapur, Hongkong, Japan (Tokio und Kobe), Formosa
und Ceylon, auf der Rückreise Marseille und Rotterdam. Route und Takt
wurden dadurch bestimmt, daß die »Hamburg« ein Frachtschiff war, die
Aufenthalte in den Hafenstädten also von der Ladezeit abhingen und relativ
kurz ausfielen. Anders als bei den Inselreisen, die Jünger so schätzte, konnte
es bei dieser Reise also weniger darum gehen, Einsamkeit und
Zivilisationsferne zu suchen, als vielmehr Einblicke in fremde Kulturen zu
gewinnen, genauer: in die maritimen »Mischkessel« (4, 103) verschiedener
Kulturen.
Seine Eindrücke hat Jünger in einer Vielzahl von teilweise ausführlichen
Notizen festgehalten, die im ersten Band von Siebzig verweht
einhundertsiebzig Seiten ausmachen. Sie halten sich an das, was Jünger
unmittelbar zu sehen bekam: das Treiben der Menschen in den
Hafenbezirken und auf Märkten; Tempel und Friedhöfe; Paläste und
Museen; botanische Gärten und gelegentlich ein Stück Natur außerhalb der
Stadt; Wohn- und Eßkultur. Die politischen und sozialen Verhältnisse in den
besuchten Ländern werden nur berührt, wo sie unmittelbar sichtbar werden;
Nachrichtenwissen und angelesene Gesamteinschätzungen gibt es nicht.
Allerdings ist der Blick auf diese Welt literarisch präformiert. Immer wieder
wird deutlich, daß Jünger als Leser reiste: »Von allem, was sich darbot«,
heißt es anläßlich eines Besuchs in einem Mangrovenwald, »hatte ich bereits
in Reisebeschreibungen und botanischen Werken gelesen, in Kollegs und
Vorträgen gehört. Nun wurden in dieses Gerüst die Dinge gestellt; der blasse
Traum verwandelte sich in ein farbiges Bild« (4, 83). Dies galt allerdings nur
für die Natur, nicht für die städtische Zivilisation. Hier fand Jünger längst
nicht mehr, was er bei Joseph Conrad und anderen Roman- und
Reiseschriftstellern gelesen hatte, sondern mußte feststellen, daß sich die
»aus der Literatur geläufigen Dinge dem Auge im Verfall darbieten« (103)
und daß »der Glanz der Bilder, die dem Fremden seit seiner Kindheit wie auf
Seide gemalte Miniaturen vorschwebten«, »verblaßt« ist (134). Jüngers
Orient war, wie Thomas Pekar in einer gründlichen Studie gezeigt hat,
»erlesen« (im doppelten Sinn dieses Worts) – underlitt nun die
unvermeidliche »Entzauberung« (4, 202).
Überall war die »Ablösung der überkommenen Unterschiede« zu
beobachten (133), die Angleichung der Städte an Europa (89), das
Umsichgreifen des »Weltstils« (96), die Herausbildung der planetarischen
»Werkstättenlandschaft« (195). Jünger sieht dies mit dem faszinierten
Interesse des Zivilisationstheoretikers, der sich in seinen Prognosen bestätigt
fühlt, vor allem aber mit Bedauern und im Bewußtsein, daß die Geschichte
der modernen Zivilisation eine Geschichte der Enttäuschungen ist. Im
Anschluß an die eben zitierte Stelle von den verblassenden Bildern heißt es:
Das berührt Glanz und Elend des modernen Reisenden. Er
durchfliegt die Welt als siamesischer Zwilling: als homo faber
und als homo ludens, als planend geschichtsloser und als
musischer, nach Bildern hungriger Mensch, bald stolz auf
seinen Titanismus, bald trauernd über die Zerstörung, die ihm
folgt. Je stärker, je mächtiger ihm die Flügel wachsen, desto
seltener wird er finden, wonach sein Herz begehrt. (4, 134;
vgl. auch 179)
Insgesamt gestalteten sich die sechziger Jahre für Jünger nicht weniger
produktiv als die fünfziger. Am siebzigsten Geburtstag im Jahr 1965 lag die
zehnbändige Werkausgabe komplett vor. Daneben erschienen eine Reihe von
Sonderausgaben älterer Werke und zahlreiche neuere Schriften,
Reiseberichte, Essayistisches, Aphorismen. Einen Tag nach seinem
siebzigsten Geburtstag begann Jünger mit einem Journal, das nun zum
Kernstück seines Schaffens werden sollte und von 1980 bis 1997 in fünf
voluminösen Bänden unter dem Titel Siebzig verweht I -V erschien. Zugleich
entstanden aber auch größere biographisch angelegte Werke, die sich auf
zwei wichtige Lebensbereiche konzentrierten: 1967 erschienen die Subtilen
Jagden, 1970 die Annäherungen.
Subtile Jagden ist ein Buch über die Entfaltung einer Leidenschaft: der
Entomologie oder, wie Jünger auch sagte, der Entomophilie, der
Insektenkunde oder Insektenliebhaberei, die bei Jünger bekanntlich den
Koleopteren galt, den Käfern. Das schon 1938 begonnene Buch (10, 279ff.)
ist chronologisch angelegt, führt von den Rehburger Anfängen über die
Berliner Zeit und die Goslarer »Lehrjahre« beim Rektor Jacobs bis zu den
europäischen und außereuropäischen Streifzügen der fünfziger und sechziger
Jahre. Allerdings wird die Chronologie vielfach durchbrochen, um der
Systematik zu genügen oder zwei oder drei zeitlich weit auseinander
liegende Begegnungen mit einer bestimmten Käferart zu schildern, so zum
Beispiel mit dem Typhoeus (53ff.), einem Skarabeiden oder Koprophagen,
Mistkäfer oder Kotfresser, den Jünger im Winter 1909/10 zum ersten Mal
fand, dann wieder im Winter 1939/40 und ein drittes Mal im März 1965.
Dem Bericht über die Jagd und den Fund folgt eine Beschreibung, die nicht
selten in Rühmung übergeht. Die Schönheit eines ersten erbeuteten
Sandlaufkäfers war für den Schuljungen »bestürzend«; er konnte sich »nicht
satt an ihm sehen« (72).
Die Faszination durch die Schönheit der Käfer, die ja im Vergleich mit
den Schmetterlingen eher bescheiden ist (34), war freilich nur ein Motiv für
die Entfaltung von Jüngers Passion. Das andere bestand in der Teilhabe an
der Erkundung der Welt in ihrer Vielfalt wie in ihrer Ordnung. Nachdem die
Schönheit eines Fangs gewürdigt ist, folgen die Bestimmung der Familie
und die Suche nach dem Namen oder, wenn das betreffende Exemplar noch
nicht registriert ist, die Benennung; die Kunst der »subtilen« Unterscheidung
(340) wie der Einordnung ist gefragt. Wer das Glück hat, ein noch nicht
bekanntes Insekt zu entdecken, schreibt sich damit in ein Werk ein, an dem
Generationen gearbeitet haben (355). Zu Jüngers Freude wurden mehrfach
Insekten nach ihm benannt: 1967 ein persischer Schmetterling (Pyralis
juengeri), 1968 ein pakistanischer Nachtfalter (Trachydora juengeri), 1970
ein türkischer Laufkäfer (Carabus saphyrinus ssp. juengeri), 1973 ein
angolanischer Sandläufer (Cicindela juengeri juengerorum), 1976 ein
korfiotischer Blattkäfer (Colaspidea metallica juengeri), 1984 ein
philippinischer Kurzflügler (Stenus ernstjuengeri), 1988 ein sumatranischer
Nachtfalter (Earias juengeriana). Im übrigen freute sich Jünger darüber,
einem international tätigen »Orden« anzugehören. Als 1958 der siebzigste
Geburtstag des Überlinger Käferexperten Adolf Horion gefeiert wurde,
rühmte Jünger die Entomologie nicht zuletzt dafür, daß sie Menschen aus
»vielen Ländern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges« in Kontakt
miteinander brachte (355). Die Subtilen Jagden reden von all dem – von der
Schönheit der Käfer, von den »Finessen der Jagd«, von den Schwierigkeiten
der Bestimmung, von der Kommunikation unter den Entomophilen – im Ton
der liebevollen Zuwendung, des Staunens und der Freude. Zu Recht wurde
das Werk im Dezember 1967 von der Jury der »Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung« in Darmstadt zum Buch des Monats gewählt.
Annäherungen ist ein Buch über Drogenerfahrungen. Wie Subtile Jagden
ist es biographisch angelegt und rekapituliert Jüngers Drogen- und
Rauscherlebnisse von den »frühen«, in der Wandervogel-Zeit liegenden
»Einstiegen« mit Bier über die Kokain-Phase während der Reichswehrzeit
um 1922 bis zu den Meskalin- und LSD-Experimenten zwischen 1950 und
1970. Diese Rekapitulation hat zugleich einen systematischen Zug, indem
sie in drei großen Abschnitten zunächst die in Europa, dann die im Orient
und schließlich die in Mexiko gebräuchlichen Drogen behandelt: Bier und
Wein, Tee und Kaffee, Äther und Chloroform, Tabak und Kokain; dann
Opium und Haschisch; schließlich Meskalin, Psilozybin und das von Albert
Hofmann entdeckte LSD. Und überdies erweist sich Jüngers
Erfahrungsbericht als kleine Kulturgeschichte der Drogen und des Rausches,
indem er fortwährend auch andere Autoren zitiert, die mit Drogen arbeiteten
und darüber Auskunft gaben: de Quincey, Baudelaire, Rimbaud,
Maupassant, Huxley, Cocteau, um nur die wichtigsten zu nennen. Vergleicht
man Subtile Jagden und Annäherungen, so fällt auf, daß der Ton im
Drogenbuch viel weniger enthusiasmiert oder schwärmerisch ist. Von den
Käfern war Jünger begeistert; sein Käferbuch wirkt wie ein einziger
Versuch, diese Begeisterung zu vermitteln und den Lesern die Schönheit der
Insekten bewußtzumachen. In den Drogen sah er eine Möglichkeit, das
»Spielfeld« zu erweitern (11, 11) und in »geistige Abenteuer« (13)
einzutauchen. Das Drogenbuch ist nicht das werbende Bekenntnis eines
regelmäßigen Konsumenten, sondern der Erfahrungsbericht eines
»Drogenforschers«, wie der Orientalist und Drogenkundler Rudolf Gelpke
Antonio Peri aus Heliopolis prägte (362). Die Verführungskraft von
Annäherungen dürfte, wenn es sie überhaupt gibt, weit geringer sein, als
jener Frankfurter CDU-Abgeordnete befürchtete, der im August 1982 wegen
des Drogenbuchs gegen die Vergabe des Goethepreises an Jünger stimmte
(20, 211). Von der Wirkung der Drogen wird nicht schwärmerisch geredet,
sondern erstaunlich karg und nüchtern. Wer grandiose Visionen erwartet,
wird durch geradezu banale Protokolle enttäuscht (11, 390ff. und 401f.).
Auch wird deutlich, daß der künstlerische Ertrag eher gering gewesen sein
dürfte. Als Jünger während der Reichswehrzeit in Hannover Kokain nahm,
tat er dies auch in der Absicht, sein Schreiben zu stimulieren. Der Erfolg war
aber gering:
Ich nahm die Feder und wollte die Blätter schildern, die ich
beim Gang über den Wall auf den Steinplatten gesehen hatte.
Sie standen mir noch frisch vor Augen in ihrem metallischen
Grün, »auf dem sich der bunte Rost des Herbstes
niederschlug«. Ein guter Satz gelang mir, der sich irgendwo
erhalten haben muß. Ihm folgten ein paar Impressionen,
schon unter Spannung, und dann in seismographischer Flucht
unleserliche Schriftzüge.
Bald hörte ich damit auf; es wurde unwichtig. Ich fühlte,
wie meine darstellende Kraft wuchs und wie sie im gleichen
Maß zur Darstellung unfähig wurde, in dem sie sich steigerte.
(11, 202)
Neben den größeren Essays und den Büchern, die in den fünfziger und
sechziger Jahren entstanden, verzeichnet die von Peter des Coudres 1960
begründete und von Horst Mühleisen fortgeführte Bibliographie der Werke
Ernst Jüngers eine Fülle von Artikeln, die in den verschiedensten
Zeitschriften und Sammelwerken erschienen und Jünger in Kontakt oder
Kooperation mit vielen Publizisten, Schriftstellerkollegen und anderen
Künstlern brachten. Das kann hier nicht im einzelnen aufgeführt werden,
doch soll eine dieser Kooperationen eigens erwähnt sein: die mit dem
Photographen Albert Renger-Patzsch, der als einer der führenden Vertreter
der »neusachlichen« Photographie gilt. Diese Bezeichnung ist insofern
gerechtfertigt, als Renger-Patzsch die Objekte – Pflanzen, Tiere, Werkzeuge,
Produkte aller Art, Industrieanlagen – für sich selbst sprechen ließ, das heißt:
isolierte und so ins Licht stellte, daß ihre Materialität und ihre Geformtheit
in einer äußersten und den Blick fesselnden Schärfe in Erscheinung traten. In
den sechziger Jahren schuf Renger-Patzsch für das Ingelheimer Pharma-
Unternehmen Boehringer zwei großformatige Bildbände, Bäume (1962) und
Gestein (1966), und für diese beiden Werke schrieb Jünger die einleitenden
Essays Der Baum und Steine (12, 289 – 328). Man darf dies als eine ideale
Konstellation bezeichnen, denn zwischen der Jüngerschen und der Renger-
Patzschen Ästhetik besteht eine starke Affinität: Geht es doch beiden darum,
an den dargestellten bzw. abgebildeten Phänomenen »Tiefe und Oberfläche
zugleich« zu zeigen. Jünger hat dies in der zweiten Fassung des
Abenteuerlichen Herzens unter der Überschrift »Zur Kristallographie«
ausdrücklich als Ziel seiner »stereoskopischen« Poetik bezeichnet (9, 182),
und in der Beschreibung der »Tigerlilie«, die das Abenteuerliche Herz
eröffnet, hat er ein eindrucksvolles Beispiel gegeben. Renger-Patzsch hat in
seinen Briefen an Jünger auf derartige Formulierungen Bezug genommen
und sie gleichsam für seine Ästhetik reklamiert. Er wollte so
photographieren, wie Jünger schrieb; und dieser wollte so schreiben, wie
Renger-Patzsch photographierte. Die beiden Bände von 1962 und 1966 sind
verspätete Dokumente einer intermedialen Kongruenz, die noch
augenfälliger wird, wenn man die früheren Bildbände Renger-Patzschs
neben Jüngers Schriften aus den dreißiger Jahren legt.
NEUNTER TEIL

Späte Kontroversen und späte Schriften

Auf Käferjagd, Montpellier 1990


Ernst Jünger mit Staatspräsi- Jünger mochte sich in seiner
dent François Mitterrand und Vorstellung, daß der Krieg die
Bundeskanzler Kohl bei der Völker letztlich zusammendeutsch
-französischen Versöh- führen würde, bestätigt sehen.
nungsfeier im September 1984
in Verdun.
Blickverschärfung um 1968
Obwohl Jünger sich in den sechziger Jahren als etablierter und angesehener
Autor fühlen durfte, war er um seinen Ruf immerzu besorgt und wurde
sofort aufmerksam, wenn er irgendwo Töne vernahm, die seinem Ansehen
auch nur im entferntesten schaden konnten. Dies war zum Beispiel der Fall,
als der Tübinger Rhetorik-Professor und Schriftsteller Walter Jens um die
Jahreswende 1965/66 an Kurt Tucholskys Diktum erinnerte, daß Soldaten
Mörder seien; in einem Brief vom 12. Januar 1966 an Nebel reagierte Jünger
darauf mit einer Heftigkeit (»Da kommen Gangster zu Wort«), die völlig
überzogen war und zeigt, daß er sich immer noch extrem angreifbar fühlte.
Etwas gelassener, aber doch auch besorgt – und im übrigen effektiv –
reagierte er, als gegen Ende des Jahres 1965 die ersten Bände von Kindlers
Literatur-Lexikon erschienen und kritische, aber nicht ganz ungerechte oder
gar herabsetzende Artikel über den Arbeiter, das Abenteuerliche Herz, die
Afrikanischen Spiele, die Marmorklippen sowie Blätter und Steine enthielt.
Ihr Verfasser war der 1920 in Prag geborene und in London lehrende
Germanist Joseph Peter Stern, der mit glänzenden Arbeiten hervorgetreten
war, 1953 auch mit einer aufschlußreich kritischen Studie über Jünger. Über
all dies wurde Jünger durch Korrespondenten unterrichtet, und in einer
maschinenschriftlichen Notiz, die er seinen Briefen beilegte, informierte er
seine Freunde über den Vorgang, bezweifelte Sterns Unvoreingenommenheit
und machte auf andere Literaturwissenschaftler aufmerksam, die seiner
Meinung nach angemessenere Artikel hätten schreiben können. Dies blieb,
wie Ulrich Fröschle und Michael Neumann in ihrem Kommentar zum
Briefwechsel zwischen Jünger und Nebel zeigen, nicht folgenlos: Ein
vermutlich von Hans Peter des Coudres verfaßtes Protestschreiben an die
Redaktion des Literatur-Lexikons führte dazu, daß sich das Unternehmen
von Stern trennte und bei des Coudres anfragte, ob er für die weiteren
Artikel kundige Autoren nennen könne. Es sei schwierig, solche zu finden;
wie bei Stefan George gebe es nur Enthusiasten oder Gegner.
Diese Situation wurde durch die Tribunalisierung der »Täter-Väter-
Generation« in den Jahren um 1968 noch verschärft. Auch Jünger wurde
erneut gemustert. Im September 1968 widmete ihm die satirisch
aufgemachte Streit-Zeit-Schrift über siebzig Seiten, auf denen
dreiundzwanzig Stellungnahmen zu Jünger und der Comic Antaia: Ernst
Jüngers Muse präsentiert wurden. Nicht alle diese Stellungnahmen sind
verurteilend oder abwertend. Aber auffällig ist, daß sich frühere Adepten
und Verehrer wie Nicolaus Sombart und Helmut Heißenbüttel nun gegen
Jünger stellten. Heißenbüttel übte zeitgemäß »Selbstkritik in Sachen
Jünger«, weil er während des Kriegs das Abenteuerliche Herz und die
Marmorklippen wie ein Brevier gelesen und 1959 die Zeitmauer im
Rundfunk als bemerkenswerten Essay und als Dokument des Wandels
gewürdigt hatte. Sombart, der dem Kreis um Carl Schmitt angehört und
1947 ein durchaus an Jünger gemahnendes Capriccio vorgelegt hatte, gab
seinem Beitrag den Titel Jünger in uns, der an Max Picards 1945/46
erschienenes Buch Hitler in uns selbst erinnerte – und erinnern wollte:
Jünger sollte wieder in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt werden,
und Sombart betrieb dies mit Andeutungen infamer Art. Der erste Satz
seines Essays lautet: »Das Erstaunlichste an Ernst Jünger, wie an Adolf
Hitler, ist sein Erfolg.« Und mit Blick auf Jüngers linke französische Leser,
die Sombart als etwas dümmlich erscheinen läßt, heißt es: »Wenn sie
wüßten, daß der Ästhetizismus Jüngers dem Perfektionismus Eichmanns
näher steht, als der Artistik Cocteaus, würden sie ihn meiden, wie einen
räudigen Hund.«
Vielleicht wollte Sombart seines Vaters klischeehaftes Händler und
Helden-Buch von 1915 übertreffen; vielleicht wollte er auch einen
mehrfachen Vätermord begehen und endlich aus dem Bannkreis der Sombart
sen., Schmitt und Jünger heraustreten -: Es war jedenfalls eine dreiste
Attacke, die Jünger unversehens traf, ratlos machte und lange beschäftigte.
Drei Jahre nach dem Erscheinen der Streit-Zeit-Schrift, am 31. Juli 1970,
schrieb er an Carl Schmitt, mit dem er nach Jahren des Schweigens wieder
brieflichen Kontakt aufgenommen hatte:
Ein psychologisches Rätsel beschäftigt mich. Vielleicht
können Sie es lösen. Sombarts [Werner und Corina Sombart]
habe ich seinerzeit [in den Berliner Jahren] durch Sie
kennengelernt. Später bin ich einige Male mit der Witwe
[Corina Sombart] zusammengetroffen, dann auch mit dem
Sohn, Nikolaus – wir waren immer freundlich zueinander –
ich möchte sagen, freundschaftlich.
Wie ist es möglich, daß er vor etlicher Zeit und ganz »ohne
Vorwarnung« in übler Gesellschaft zu einem Angriff gegen
mich überging, der an denunziatorischem Schmutz nichts zu
wünschen übrig ließ? Sollte er sich ganz einfach an die
Maxime von Friedrich Sieburg gehalten haben, der einmal
schrieb: »Der Fußtritt gegen Ernst Jünger öffnet Türen.«?
Oder hatte er es nötig als Alibi? Wollte er den Namen
Sombart in ein zeitgemäßes Licht bringen?
In einem weiteren Brief an Schmitt meinte Jünger dann, daß es in solchen
Fällen wohl das Beste sei, zu schweigen, und daß er sich auch nicht mit
solch ephemeren Dingen belasten wolle. Aber er war aufgeschreckt,
bemerkte, daß die Gefahr der moralischen oder ideologischen Ächtung
immer noch bestand, und blieb in Verteidigungsstellung. 1980/81 schrieb er
in Autor und Autorschaft, daß man »auf der Hut sein und sich absichern«
müsse »gegen: Oben und Unten /Rechts und Links/Vorn und
Hinten/Vergangenes, Kommendes und Gegenwärtiges /Väter und Söhne
[…]« (13, 425). Unterstützt wurde er bei dieser manchmal ermüdenden
Sicherungsarbeit durch seine in allem beharrliche zweite Frau. Unter dem
Datum des 27. Juni 1984 vermerkt das Tagebuch:
Beim Frühstück Gespräch über biographische und
bibliographische Anfragen, die uns immer mehr Zeit rauben.
»Schließlich bin ich nicht mein eigener Buchhalter und
führe kein Auskunftsbüro. Außerdem liefere ich meinen
Verfolgern nur gratis Stoff. Wir haben Besseres zu tun.«
Dazu das Stierlein: »Ich erinnere dich an ein von dir
geschätztes Zitat: ›Der Krieg ist eine zu wichtige Sache, als
daß man ihn den Militärs anvertrauen darf.‹« (20, 378)
1968 kam Jünger glimpflich davon und blieb unbehelligt; der SDS
demonstrierte nicht in Wilflingen vor der Oberförsterei, sondern in der
fränkischen Pulvermühle vor der dort versammelten Gruppe 47. Aber die
kritische Wendung gegen Jünger, die sich in der Streit-Zeit-Schrift zeigte,
wurde allgemeiner und intensiver. In den siebziger und achtziger Jahren
konnte im akademischen Bereich über Jünger nur »kritisch« gesprochen
werden; eine Beschäftigung mit seinem Werk bedurfte der Legitimation, und
eine Publikation über ihn mußte mit salvierenden Erklärungen beginnen.
Dies begann sich nach dem Erscheinen von Karl Heinz Bohrers
Habilitationsschrift Die Ästhetik des Schreckens: die pessimistische
Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk (1978) langsam zu ändern –
allerdings um den Preis einer (letztlich nicht möglichen) Trennung zwischen
dem ästhetischen und dem ethischen Jünger und einer Abwertung des
ethisch ausgerichteten Spätwerks (ab den Marmorklippen) zugunsten des
ästhetizistisch akzentuierten Frühwerks (bis zur zweiten Fassung des
Abenteuerlichen Herzen). Daß man sich in der DDR nur »kritisch«, also
verurteilend über Jünger äußern konnte, ist nach den Weichenstellungen in
der Jünger-Debatte der Jahre 1946/47 nicht verwunderlich. Der DDR-
Germanist Wolfgang Brekle, der seit 1970 verschiedene Studien über
»Schriftsteller im antifaschistischen Widerstand 1933 – 1945« vorgelegt
hatte, fügte diesen 1994 ein Kapitel über »das Unbehagen Ernst Jüngers an
der Nazi-Herrschaft« hinzu und stellte seinen Ausführungen die Erklärung
voran: »Obwohl Widerstand von mir nicht nur als organisierter Widerstand,
sondern auch als geistiges Widerstehen aufgefaßt wurde, konnte dieses
Kapitel, das Jünger in seiner oppositionellen Haltung gegenüber dem NS-
Staat versucht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht veröffentlicht
werden, weil Jünger als faschistischer Ideologe in dem Kontext über
Antifaschismus außerhalb der Betrachtung bleiben mußte.« Daß dieser
Jünger nicht in die DDR reisen durfte, obwohl er gerne das Grab seiner
Eltern in Leisnig besucht hätte (20, 544), versteht sich von selbst.
Jünger selbst hielt sich in den achtundsechziger Jahren mit politischen, ja
mit öffentlichen Äußerungen überhaupt zurück. Auch in seinem Journal
werden politische Vorgänge und die »Studentenrevolte« kaum kommentiert.
Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizeibeamten
am 2. Juni 1967 findet in den Aufzeichnungen jener Tage, die sich ganz auf
den Garten konzentrieren, keine Berücksichtigung. Zur Zeit des
Mordanschlags auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 hielt Jünger sich als
Ehrengast der »Deutschen Akademie Villa Massimo« in Rom auf und war
von Nachrichten etwas abgeschnitten. Immerhin findet sich unter dem
Datum des 16. Juni 1968 eine Erwähnung des Anschlags und eine fast
besorgt klingende grundsätzliche Überlegung zu den möglichen Folgen:
»Das Attentat unterbricht den normalen Lauf der Geschichte; der Täter ist
meist ein schlecht Weggekommener oder ein Wahnsinniger, doch kann er
einen Kurzschluß erzeugen, durch den weithin das Licht verlöscht« (4, 434).
Es gibt noch die eine oder andere Notiz zu diesen Vorgängen, etwa am 15.
Mai 1968 nach einem Mittagessen, bei dem Gustav René Hocke vom Tod
eines durch Studenten gedemütigten Turiner Ordinarius berichtete; aber
insgesamt ist zu sehen, daß Jünger in anderen Zusammenhängen als
tagespolitischen dachte. Dies zeigt sich auch in den Schriften jener Zeit. Ihre
Hauptgegenstände sind die Erfahrung der Natur und fremder Kulturen,
Mythologie und Geschichtsphilosophie, Zivilisationskritik und die eigene
Geschichtserfahrung. Neben den Subtilen Jagden und den Annäherungen,
die hierfür einschlägig sind, entstanden Erinnerungsstücke wie Zwei
Besuche: in memoriam Jean Schlumberger (1969) und Ausgehend vom
Brümmerhof: Alfred Toepfer zum 80. Geburtstag (1974), zudem die große
Erzählung Die Zwille. Sie wurde vom 4. Januar bis zum 20. März 1973 in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorab gedruckt und zeigte vielen
Lesern einen erstaunlich unsoldatischen, sensiblen und nostalgischen Jünger.
Die Kritik war – wie immer – gespalten. Joachim Kaiser rühmte in Welt
und Wort Jüngers »Aufmerksamkeit für den, der sich nicht wehren mag«,
und sah in der Zwille ein »Alterswerk« mit einigen bekannten Schwächen,
aber auch »einigen ergreifenden neuen Stärken«: »Ein Erinnerungsbuch, das
den Zerfall aller menschlichen Einrichtungen ahnt und eben deshalb die
Majestät gewisser als unveränderbar erkannter humaner Strukturen preist:
weniger weil diese Strukturen gut, als eben weil sie unveränderbar sind.«
Helmut Heißenbüttel hingegen befand in Christ und Welt, die Zwille enthalte
Jüngers »Traumbild einer intakten Gesellschaft«, und entdeckte darin böse
Dinge: »Wörtlich genommen erscheint es als korrekte Schilderung des
Keimbodens restaurativfaschistischer Gesinnung. […] Was Jünger
rekapituliert, das sind Vorstellungen und Parolen, wie sie auch unter der NS-
Herrschaft grassierten (Teo, der Amoralist, ist der zukünftige SS-Führer) und
wie wir sie endgültig mit dem Ende dieser Herrschaft zu begraben hofften.«
Das wähnte sich gewiß zeitgemäß scharfsichtig, übersah aber geflissentlich,
daß Teo zwar Herrschaft ausüben will, aber die Schwachen – wie den
ängstlichen Clamor und das hilflose, von einem sadistischen Lehrer in den
Tod getriebene Paulchen Maibohm – gegen die Brutalitäten der wirklichen
Machthaber zu schützen versucht.

Das Spätwerk

Bald nach dem Erscheinen der Zwille machte sich Jünger an ein neues
größeres Werk, das die beiden letzten Erzählungen – bei aller
Eigenständigkeit – auf eine spezifische Weise ergänzen sollte. Mit der
Zwille, die primär eine Schulgeschichte ist und deswegen zu Beginn dieser
Biographie erörtert wurde, war Jünger in die Anfangszeit der Moderne
zurückgekehrt. Mit den Gläsernen Bienen hatte er zuvor einen Blick auf die
technisch durch Liliputroboter naturnah perfektionierte Moderne geworfen.
Mit dem neuen Roman Eumeswil, der von Mitte Juli 1974 bis Ende
September 1976 entstand und 1977 publiziert wurde, entwarf Jünger ein Bild
der Zukunft jenseits der gegenwärtigen Welt.

Eumeswil: am Ende der Geschichte?

Jüngers Eumeswil ist eine mediterrane Residenzstadt, die ihren Namen von
Eumenes von Kardia hat (17, 86), einem General Alexanders des Großen,
der nach dessen Tod versuchte, die Einheit des Alexander-Reichs zu wahren,
dabei aber scheiterte und hingerichtet wurde. Hinsichtlich der Topographie
und des Lebensstils wirkte eine 1969 absolvierte Agadir-Reise anregend;
zwei weitere Reisen dorthin unternahm Jünger 1974 und 1975 eigens, um
sich weitere Inspirationen zu holen. Das Territorium von Eumeswil grenzt
im Norden ans Meer; nach Süden geht es in eine Wüste über, der Steppen
und Urwälder folgen. In ihnen sollen, wie man in Eumeswil gerüchtweise
hört, Wesen völlig neuer Art hausen: Mutanten, die nach einem der großen
atomaren »Feuerschläge« der vorausgegangenen Zeit entstanden (46f.).
Auch die Stadt selbst liegt am Meer und wird von einer etwas entfernt
gelegenen »Hochburg«, der »Kasbah«, beherrscht. Sie ist der Sitz des
»Condors«, eines Diktators, der vor geraumer Zeit das untaugliche Regiment
der städtischen »Tribunen« beendet hat und nun eine stabile Herrschaft
ausübt (10). Das Volk hat nicht viel zu sagen; aber es lebt in rechtlichen
Verhältnissen und im Wohlstand. Der Condor ist kein »Despot«, der
willkürlich herrscht und die Menschen terrorisieren und demütigen will; er
ist ein »Tyrann«, der Ruhe und Ordnung gewährleistet (94 und 152).
Geschildert werden diese Verhältnisse von einem nicht ganz dreißigjährigen
Mann namens Martin Venator, genannt »Manuel«. Er ist von Beruf
Historiker und hat eine Assistentenstelle an der Universität, arbeitet aber auf
Anraten seines Lehrers auch als Nachtsteward in der Bar der Kasbah, um
Einblicke in die Sphäre der Macht zu gewinnen. Venator macht seinem
Familiennamen – Jäger, Forscher, Lauerer – alle Ehre, insofern er ein
eifriger Sammler von zeitdiagnostischen Erkenntnissen ist, ein
unermüdlicher Lauscher an der Bar, in welcher der Machthaber von
Eumeswil und seine engsten Berater verkehren, und ein umsichtiger
Forscher am »Luminar«, einem Gerät, an dem man sich die Weltgeschichte
detailliert und plastisch vor Augen führen lassen kann (306). Venator
begreift sich freilich nicht als gewöhnlicher zeitgenössischer – und damit
auch zeitverhafteter – Historiker; er versteht sich als »Metahistoriker«, der
den »Geschichtsraum«, dem die anderen noch angehören, verlassen hat, nur
noch an Grundmustern der Geschichte interessiert ist und deswegen das
Zeitgeschehen von einer höheren Warte aus wahrnimmt und beurteilt (52
und 70).
Es ist die Sichtweise des alten Jünger, die Venator einnimmt. Er will nicht
mehr »Dampf hinter die Erscheinungen setzen«, wie der Verfasser des
Abenteuerlichen Herzens um 1930 (9, 80), fühlt sich auch nicht mehr als
Mobilisierungstheoretiker, sondern als distanzierter Beobachter, der sich
jeder ideologischen Parteinahme und vor allem jeder Aktion enthält (was
man, als das Buch im RAF-Jahr 1977 erschien, aufmerksam registriert hat).
Dieses Desengagement zeigt sich inhaltlich und stilistisch: In Eumeswil
passiert nicht viel. Der Condor herrscht unangefochten; die Lage ist stabil;
Venator tut seinen Dienst als Nachtsteward und arbeitet nebenbei im
Luminar; bisweilen nimmt er an einer paramilitärischen Exkursion teil;
regelmäßig holt er sich seine Doktorandin Ingrid für eine Stunde aufs
Zimmer. Eumeswil, das keinen Untertitel und keine Gattungsbezeichnung
hat, besteht weitgehend aus tagebuchartigen Schilderungen und
Überlegungen mit einer starken Tendenz zum Anekdotischen und
Aphoristischen. Die Kritik hat deswegen nach dem Erscheinen von einem
Alterswerk gesprochen und hat eine gewisse Spannung zwischen dem relativ
geringen Alter des Protagonisten-Erzählers Venator und dem abgeklärten
und lebensweisheitlichen Stil der Erzählung bemängelt. Auch wurde kritisch
angemerkt, daß es sich bei Eumeswil eher um einen erzählerisch
aufgezogenen Essay als um einen Roman handle. Die Form des Romans ist
allerdings seit jeher flexibel und kennt schon seit Goethes Zeiten eine
lockere episodische Reihung und ein Überwiegen reflektierender Passagen.
Jünger war sich des Problems im übrigen bewußt; zweimal wird in Eumeswil
die ›Abschweifungstechnik‹ thematisiert und legitimiert (48 und 68).
Der Roman Eumeswil handelt von einer noch ferneren Zukunft als der
utopische Roman Heliopolis. Nicht nur die großen »Feuerschläge« und der
folgende erste Weltstaat sind längst vorbei; die ganze Epoche der
christlichen Zeitrechnung und sogar Heliopolis gehören einer weit
zurückliegenden Vergangenheit an (46, 84, 112, 178, 231 und 307).
Gegenüber der heliopolitanischen Zeit sind die kognitiven Möglichkeiten
und technischen Instrumentarien noch um einiges verfeinert (307); es gibt
eine Art von »Metatechnik«, die den Populationen (das Wort ist mit Bedacht
gewählt), die über sie verfügen, ein komfortables Leben ermöglicht. Auch
hat man, wie schon angedeutet, die Utopie und das Experiment des
Weltstaats hinter sich und weiß, daß auch dieser nicht von unbegrenzter
Dauer ist, sondern eines Tages »kulminiert und über Nacht zerfällt« (84 und
374f.). Dem entspricht, daß sich der Protagonist von Eumeswil nicht mehr –
wie noch der Held von Heliopolis - in einer Welt weiß, die noch einer
technologischen und politischen Optimierung fähig wäre; er fühlt sich in
einer ausgesprochenen »Spätzeit« (73), der keine weitere Entwicklung mehr
zu gelingen scheint. So ist verständlich, daß man Eumeswil als
»posthistorischen Roman« (Lutz Niethammer) und als »Roman der
posthistoire« bzw. »des Posthistoire« (Martin Meyer bzw. Peter Koslowski)
bezeichnet hat -: als einen »Kommentar zum und eine Philosophie des
posthistoire« in einem (Martin Meyer).
In der Tat hat der damals mehr als achtzigjährige Jünger, einige Jahre
bevor die entsprechenden Bücher französischer Theoretiker in Umlauf
kamen, das Bild einer nach heutigen Begriffen postmodern und
posthistorisch wirkenden Gesellschaft entworfen – und dieses allerdings
auch negativ akzentuiert:
Eumeswil hat zwar seinen Namen von dem rühmenswerten Alexander-
Nachfolger Eumenes, doch ist, wie Venator bissig anmerkt, »jede weitere
Berufung auf ihn eine fellachoide Anmaßung« (86). Mit dem mehrfach
gebrauchten und herabsetzenden Epitheton »fellachoid«, das an Oswald
Spenglers Kennzeichnung von abgestorbenen Kulturen oder nachkulturellen
Zuständen als »Fellachentum« anklingt, wird deutlich, daß Eumeswil, auch
wenn es über metatechnische Einrichtungen verfügt, seine politisch vitale
und kulturell produktive Zeit seit langem hinter sich hat. Diesen
»fellachoiden Zustand« beschreibt Venator einmal folgendermaßen:
Die großen Ideen, für die sich Millionen töten ließen, sind
verbraucht. Die Unterschiede sind weithin geschwunden;
Beschnittene und Unbeschnittene, Weiße, Gelbe und Neger,
Reiche und Arme nehmen sich in ihren Qualitäten nicht mehr
so ernst. Auf die Straße gehen sie höchstens, wenn die Kasse
nicht mehr stimmt, oder im Karneval. Im großen und ganzen
kann man hier tun und lassen, was man will. (17, 75)
Es herrschen also umfassender Pluralismus und weitgehende Liberalität,
begünstigt durch den Verfall der »Substanz« (17, 60 und 107) und den
mehrfach erwähnten Ausfall formierender und motivierender Werte und
Ideen oder »Götter« (50, 71, 73 und 96). Venator ist weit davon entfernt,
diesen Pluralismus und diese Liberalität als positiv zu bewerten; sie sind für
ihn Zeichen von »Siechtum« (70), das zu nichts mehr führt und auch nicht
zu kurieren ist. Eumeswil erscheint ihm als ein »steriles« und »vom
Nihilismus ausgeglühtes« Refugium von Menschen ohne geschichtsbildende
Ideen (333); die »Evolution hat sich totgelaufen« (337), und von einer
Steigerung des Menschen zu einem wie auch immer gearteten
»Übermenschen« ist nichts zu sehen, eher das Gegenteil: In der Bar der
Residenz berichtet einer der Berater des Herrschers, er sei bei seinen
Erkundungsfahrten – »nicht weit entfernt« von Eumeswil – zu einer
»Großen Deponie« gekommen, in der »Schwindlinge« in »ausgescharrten
Höhlen« hausten, nach Wurzeln gruben und kleinen Tieren nachstellten,
bestenfalls handgerechte Steine oder alte Maschinenteile als
Schlagwerkzeuge benutzten und »kaum zu leben, eher traumhaft zu
dämmern« schienen. Hier endet die Moderne in der »Großen Deponie«, und
als »Erbe des Letzten Menschen« erscheint weder »der Übermensch« noch
»der Primitive«, sondern »das Gespenst« (371f.).
Eine stärkere Desillusionierung und eine größere Distanzierung von
Jüngers früheren Vorstellungen über die Entwicklung der Moderne ist kaum
denkbar. Auch keine erschreckendere Vision von ihrem Ende. Neben Inseln
oder Zitadellen der Hochtechnologie und des Wohlstands gibt es weite
Regionen, in denen Leben nur noch in Schwundstufen vorkommt. Die
moderne Gesellschaft erweist sich als eine »Gesellschaft des
Verschwindens«, wie der Soziologe Stefan Breuer 1992 mit einem Buch
über die »Selbstzerstörung der technischen Zivilisation« gezeigt hat. Das
konnte man wissen, seit Ludwig Klages 1913 beim Ersten Freideutschen
Jugendtag auf dem Hohen Meißner aufgezählt hatte, was an Pflanzen- und
Tierarten wie an »Naturvölkern« aufgrund der modernen »Wut der
Vertilgung« bereits »dahingeschwunden« war. Und man konnte es in
Friedrich Georg Jüngers hellsichtiger Perfektion der Technik lesen. Aber die
Rede von Klages war längst verhallt, und das Buch von Friedrich Georg
Jünger wurde kaum gelesen. Bei Ernst Jünger trat zur Kenntnis dieser frühen
ökologischen Literatur der Anschauungsunterricht von Reisen, die immer
wieder in Gebiete führten, in denen Schwund und Verödung sichtbar
wurden. Daraus resultierte Jüngers Befund, daß die moderne Welt durch
»Schwund« gekennzeichnet sei, und das Bild der »Großen Deponie« als
Endstufe der modernen Zivilisation. Mit beidem war Jünger seiner Zeit
voraus; aber wenige Jahre nach Erscheinen von Eumeswil finden sich diese
Vorstellungen auch bei anderen Autoren. 1980 veröffentlichte Hans Magnus
Enzensberger einen Gedichtband unter dem (von Hegel entlehnten) Titel Die
Furie des Verschwindens, und zum Jahreswechsel 1999/2000, der ja auch ein
neues Jahrhundert und ein neues Jahrtausend eröffnete, erschienen in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung gleich zwei unabhängig voneinander
entstandene Gedichte, die das ausgehende Jahrhundert der forcierten
Moderne und zugleich das Jahrtausend der Neuzeit auf Deponien oder
Müllhalden enden sehen. Das eine von Volker Braun erinnert dabei an die
prominenten Parolen des Jahrhunderts der Mobilisierung; das andere von
Hans Magnus Enzensberger liest vom Kilometerzähler eines Autos ab, was
die Stunde geschlagen hat:
Volker Braun

Da habt Ihr das Jahrhundert

Elektrischer Beginn. Gußeisenpranken


Auf Boulevards, von Leben überschwemmt.
Was führte sie, sinds Menschen, sinds Mutanten
In diesen Blutsturz … Überlebensfremd.

O Wirklichwerden, Donnerwort, vermessen


»In festem Schritt und Tritt« … »der Sieg der Lohn!«
Gedacht vertan, die Hoffnungen gegessen.
Uns nährt ein Brei von Zimt und Illusion.

Lager und Strände: Welt entwundert


Das Grauen wird ein Spaß, ists meine Schuld?
Da habt ihr eure Ode. Das Jahrhundert
Verkürzt ein Jahr, am Ende der Geduld

Wir auf den Deponien ausgesetzt


(Im Alptraum wach … Ewiges Wiederkehren) –
Mit Amokläufern, Viren, virtuellen Heeren
Vorm Lichtdom, der die Siegessäule metzt.
Hans Magnus Enzensberger
Auch ein Millennium

Zwischen Möbelparadiesen und Müllhalden,


hier, an der Ausfallstraße,
wo es weiß Gott nichts zu feiern gibt,
zeigt der Zähler am Tacho mit einem Mal
alle Neune, und als er beim nächsten Tick
springt, jubeln über die vielen Nullen
die Kinder. Nur du, mein Alter,
verstehst nicht warum,
worauf sie sich freuen. Fahr weiter,
grüble nicht! Die ewige Zwei
und die unergründliche Null,
von allen Geheimnissen zeigen sie dir
das allergewöhnlichste.
Der Protagonist und Erzähler von Eumeswil ist indessen ein unentwegter
Grübler metaphysischer Ausrichtung. Mit ökologischen und politischen
Überlegungen, wie der »Fellachisierung« von Welt und Mensch zu begegnen
sei, hält er sich nicht mehr auf. Aus der Reflexion des geschichtlichen
Prozesses, der trotz kühner Aufschwünge und vieler Erneuerungsversuche
nur zum »Siechtum« von Eumeswil und zum Vegetieren in der »Großen
Deponie« geführt hat, erwächst ihm der Verdacht, daß in der Schöpfung
»von Anfang an etwas verfehlt sein muß« (169), daß das Wort »Ursprung«
tatsächlich auf einen Sprung oder »Riß im Universum« hindeutet (207) und
daß daraus eine »Unvollkommenheit« der Welt resultiert, die nicht
»reparabel« ist, nicht einmal durch die Realisierung utopisch wirkender
Weltverbesserungspläne (10 und 309f.). Zwar muß es Vollkommenheit
gegeben haben und geben -: »die Unruhe des historischen Menschen, seine
unermüdliche Arbeit mit unvollkommenen Mitteln in einer vergänglichen
Welt«, ist anders nicht erklärbar (25). Auch gibt es Fossilien, die von einer
Fähigkeit zur harmonisch vollendeten Gestaltung zeugen und künden:
Wenn ich ein Fossil, etwa einen Trilobiten, auf die Hand
nehme – man findet hier in den Steinbrüchen am Fuß der
Kasbah vorzüglich erhaltene Exemplare – dann bannt mich
der Eindruck mathematischer Harmonie. Zweck und
Schönheit sind, frisch wie am ersten Tage, in einer von
Meisterhand gestochenen Medaille noch lückenlos vereint.
[…]
Vor wieviel Millionen Jahren mag dieses Wesen ein Meer
belebt haben, das nicht mehr besteht? Ich halte seinen
Abdruck, ein Siegel unvergänglicher Schönheit, in der Hand.
Auch dieses Siegel wird einmal verwittern oder in künftigen
Weltbränden verglühen. Der Prägstock, der es formte, bleibt
im Gesetz verborgen und aus ihm wirksam, von Tod und
Feuer unberührt. (17, 32)
Von der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Periode erwartet der Protagonist
und Erzähler von Eumeswil allerdings keinen eingreifenden und wirklich
steigernden Neuansatz mehr -: »die Evolution hat sich totgelaufen«, »die
Geschichte ist tot« (337 und 338), und zwar in der ganzen Welt. Trotzdem ist
die Lage nicht ganz deprimierend. Im Anschluß an die eben zitierten
Befunde heißt es: »Andererseits kann nicht gestorben sein, was die
Geschichte mit Inhalt füllte und in Gang setzte. Es muß sich aus der
Erscheinung in die Reserve verlagert haben – auf die Nachtseite. Wir hausen
auf fossilem Grunde, der unvermutet Feuer speien kann« (338). So hofft
Venator auf den »Einbruch des Absoluten in die Zeit« (73), und er sieht das
Schiff Naglfar, das in der nordgermanischen Mythologie den Untergang der
Welt ankündet, schon in eine »berechenbare Position« rücken (98). Das ist
erschreckend, aber nach Venator wohl der einzige Weg, der zur erneuerten
»Präsenz« der »Götter« oder Werte führen kann, die für eine sinnvolle
Gestaltung der Geschichte nötig zu sein scheinen (206). Dies bedeutet: Die
von den Brüdern Jünger wie zuvor von Max Weber konstatierte
»Entzauberung« der Welt, die kein technologisches Paradies mit
vergeistigten Übermenschen entstehen ließ, sondern zu einer Schwundstufe
menschlichen Lebens in einer einzigen großen und entkultivierten Deponie
zu führen droht, kann nicht durch eine geschichtliche Leistung korrigiert und
rückgängig gemacht werden. Die neuen Werte, Ideen oder »Götter« müssen
in einem wohl katastrophal wirkenden Akt der Erneuerung oder
Neuschöpfung konstituiert werden. Daß sich die Erde »periodisch« reinige,
glaubt wie der Autor Jünger auch der Protagonist und Erzähler von
Eumeswil.
Wie verhält sich nun Venator in dieser Situation der völligen Entwertung,
die zugleich eine Situation der Erwartung ist? In der Terminologie von
Eumeswil gesagt: als »Metahistoriker« und »Anarch«. Was damit gemeint
ist, wird in einer fast unerschöpflichen Folge von ebenso irritierenden wie
differenzierenden Selbstaussagen dargelegt. Manches wirkt nicht nur
schillernd, sondern widersprüchlich, ist aber, da sich der Erzähler dieses
Umstands sehr wohl bewußt ist, nicht als unbedachte Inkonsequenz zu
betrachten, sondern als Ausdruck der in dieser Zeit unvermeidlichen
Ambivalenzen. Die folgende Rekapitulation kann dies nicht in alle
Verästelungen und Verflechtungen hinein verfolgen; es muß bei
orientierenden Hinweisen bleiben. Da die Zeit der geschichtsbildenden Ideen
oder Werte entbehrt, hat sie keine evolutionär bedeutende Wirklichkeit;
»Wirklichkeit« ist unter metahistorischem Aspekt nur »simuliert« (50). Dies
erlaubt und rechtfertigt, daß Venator das Leben wie ein Spiel betrachtet: mit
der Neugier des Forschers, aber ohne sich für eine der verbrauchten oder
abgeschliffenen Ideen (einschließlich der Staatsformen) ernsthaft zu
engagieren und ohne für irgend etwas Partei zu ergreifen (91 und 111f.).
Seine Devise lautet: Neutralität (35f., 39, 99, 124, 171 und 188). Er ist zwar
kein »Teilnahmsloser«, sondern versteht und empfindet mit, was die
Menschen umtreibt und schmerzt; aber unbedingt will er ein
»Teilnahmsfreier« sein (93) -: zum einen, weil sich das Eintreten für eine der
überholten Ideen nicht mehr lohnt (73 und 278); zum andern, weil er seinen
um Wertfreiheit bemühten Blick keiner »Gesinnung« opfern will (130, 161
und 242). In dieser Hinsicht fallen die Eigenschaften des Metahistorikers
und des Anarchen zusammen (245 und 273). – Daß der Jüngersche
»Anarch« in Eumeswil skandalöserweise »Mitläufer einer Diktatur« ist und
seiner Zeit als »Bildungsbürger und soldatischer Mann« in einer »spezifisch
bürgerlich-elitären Weise« begegnet, betonte Lutz Niethammer im bissigen
Jünger-Kapitel seines Posthistoire-Buches.
In vieler Hinsicht ähnelt die Figur des Anarchen der des Waldgängers aus
Jüngers Essay Der Waldgang. Ein Unterschied besteht jedoch darin, daß der
Waldgänger »aus der Gesellschaft herausgedrängt« wird, während der
Anarch »die Gesellschaft aus sich verdrängt«; der Protagonist von Eumeswil
bereitet den Waldgang nur für den Fall einer lebensbedrohenden Revolte vor
(137 und 147f.). Und keinesfalls will der Anarch als »Deserteur« betrachtet
werden, sondern – analog zu einer Dramenfigur Gustav Sacks – als
»Refraktär« (201), als »Widerspenstiger«, der sich den Zumutungen und
Ansprüchen der Gesellschaft entzieht, um »einsam und rein«, wie die
programmatische Formel bei Sack lautet, eine von der Gesellschaft nicht
beeinträchtigte und korrumpierte Existenz zu wagen. Der Anarch sucht die
Freiheit und das Heil in sich, nicht im Kollektiv (301, 307 und 321); dem
»Erkenne dich selbst« fügt er hinzu »Beglücke dich selbst« (191 und 290).
Seine geistigen Väter oder »Heiligen« heißen Antonius, Franziskus und Max
Stirner, dessen Werk Der Einzige und sein Eigentum (1845) von Jünger
immer wieder als wichtiger Bezugspunkt beschworen wurde und das nun,
gegen Ende von Eumeswil, ausführlich erörtert wird (321f.). Über die
Bedeutung der drei Genannten heißt es abschließend: »Antonius hat die
Macht des Einsamen, Franziskus die des Armen, Stirner die des Einzigen [d.
h. des ganz auf sich selbst Zurückgeworfenen] erkannt«, und dies ist – nach
Venator /Jünger – von allgemeiner und fundamentaler Bedeutung, denn
letzten Endes »ist jeder einsam, arm und einzig auf der Welt« (322). Mit
diesem Bekenntnis zu Stirner und seiner Figur des einzigen wird die
Orientierung an der von Nietzsche postulierten Figur des Übermenschen, die
für Jünger auf seinem Weg durch die Moderne immer fragwürdiger
geworden ist, nun vollends verabschiedet. In einigen skizzenhaft wirkenden
Absätzen wird ein Vergleich zwischen dem Übermenschen und dem
Einzigen angestellt: »Der Übermensch erkennt die Welt als den Willen zur
Macht; […]. Selbst die Kunst ist Machtwille. Der Übermensch nimmt an den
Wettläufen teil, während der Einzige sich mit dem Schauspiel begnügt«
(331).
Damit ist die Verfassung des Anarchen und Metahistorikers hinreichend
beschrieben. Er ist ein rein Betrachtender, der sich aus der Welt des
Handelns verabschiedet hat, die Geschichte als unkorrigierbare
Unheilsgeschichte betrachtet, in der Natur aber Zeugnisse des
Vollkommenen entdeckt und sich diesem nicht nur in »rationaler«, sondern
auch in »numinoser« Weise nähern will, also fühlend, anschauend, staunend
und letztlich betend (33f., 177f., 206 und 208).
Für all dies bietet, wie der Protagonist und Erzähler von Eumeswil sehr
wohl bemerkt, der nihilistisch »ausgeglühte« und »fellachoide« Zustand
jener Spätzeit die besten, ja wohl unabdingbaren Voraussetzungen (280 und
333), und dies stimmt ihn gegenüber seiner Zeit und seiner Umgebung
versöhnlich. Der Anarch ist kein Anarchist, der die Gesellschaft haßt und
bekriegen will (41f.). Ebensowenig ist er ein destruktiv wirkender
Gesellschaftskritiker oder Satiriker. Seine Haltung und seine
Äußerungsformen gegenüber der Gesellschaft sind ironisch (314). Das
schlägt auf den ganzen Roman durch und bewirkt, daß Eumeswil ein weithin
ironischer Roman ist – viel ironischer als etwa die späten Romane Thomas
Manns, die viel mehr von Humor als von Ironie bestimmt sind. Dies führte
in der Auseinandersetzung mit Eumeswil - zuletzt im Posthistoire-Buch von
Niethammer – zu Fehlwahrnehmungen und Fehlurteilen, insofern Ironie als
eine Äußerungsform von »Herrenmenschentum« verstanden wird – obwohl
der Roman überdeutlich spüren läßt und ausdrücklich sagt, daß Ironie »die
klassische Waffe« oder Denk- und Ausdrucksform »des Unterlegenen« ist
(90 und 365; vgl. auch 18, 336). Gegenüber einem geschichtlichen Prozeß,
der alle zu Unterlegenen macht, ist Ironie eine Form, den Schmerz erträglich
zu halten und die Trauer nicht allzu stark und laut werden zu lassen. Trauer
aber ist, wie mehrfach betont wird und durch das ganze Werk hindurch zu
spüren ist, die »Grundstimmung« und »Qual« des Metahistorikers -: Trauer
ob der Unvollkommenheit der Welt (20), Schmerz, wenn er das »Schicksal
der Weltverbesserer bedenkt« (312). Bei seiner Arbeit, »dem Vergangenen
Leben [zu] verleihen«, hält ihn allein die Hoffnung, »daß ein Gott uns
beatmen wird« (82), und das heißt: daß das, was dem geschichtlichen
Bewußtsein oder der kulturellen Erinnerung aufbewahrenswert schien, bei
der Konstitution neuer Werte und Ziele eine Rolle spielen könne. Trauer
also, durch Ironie gemildert und überspielt, ist die »Grundstimmung« am
Ende von Jüngers Reflexion der Moderne. Im übrigen quält ihn in
zunehmendem Maß das Bewußtsein, in einem »Labyrinth« gefangen zu sein
und keinen Ausweg zu finden (336 und 342; vgl. auch 5, 426). Dies ist dann
auch das Thema der Erzählung Aladins Problem, die der
achtundachtzigjährige Autor 1983 als ein letztes dichterisches Werk
vorlegte; doch endet diese letzte Erzählung anders.

Aladins Problem: »grundlos heiter – aufgeräumt«

Der Held von Aladins Problem (18, 271 – 369), Friedrich Baroh, ist Sproß
eines schlesischen Adelsgeschlechts, leistet zunächst Dienst in der
polnischen Volksarmee, macht Karriere, setzt sich dann aber aus einer
naturwüchsigen Opposition gegen das uniformierende System in den Westen
ab. Dort studiert und heiratet er, tritt – mangels besserer Chancen – in das
Bestattungsunternehmen seines Onkels ein und arbeitet sich zum
Geschäftsführer dieser »Pietas« genannten Firma empor. Es gilt, Geld zu
verdienen, aber es kommt auch anderes ins Spiel. Im Bestattungsgewerbe
wird der Nihilismus der dynamisierten Moderne vollends manifest, insofern
zu sehen ist, daß die Friedhöfe, diese Orte der Dauer und der Berührung mit
der Transzendenz, an Würde und Bedeutung verlieren: Die Gräber werden
schon nach kurzer Zeit wieder ausgeräumt und neu belegt; sie sind keine
Fixpunkte des Lebens mehr. Diese Beobachtung bringt Baroh und einen
befreundeten jüdischen Bankier auf die Idee, als »Gegenzug« zur
»motorischen« und geschichtslosen Welt (332 und 338) eine planetarische
Nekropole zu gründen. Als Ort werden die kappadokischen
Ausgrabungsstätten in Anatolien gewählt, und alsbald ist »Terrestra« ein
riesiges, weltweit operierendes und florierendes Unternehmen mit eigenen
Finanzierungsagenturen, Reisebüros, Fluglinien und Hotels. Gleichwohl ist
Baroh nicht glücklich; vielmehr nimmt seine nihilistische Schwermut zu, je
mehr die »Sekundärgeschäfte« (351) um die Nekropole blühen, und Baroh
erkennt nun auch ihren Grund: Er krankt an der Gesellschaft, in der alles
zum Geschäft wird und durch Technik und Organisation bewältigt werden
soll. Wie diesem Zug der Geschichte zu entkommen ist, weiß Baroh nicht,
doch ist er davon überzeugt, daß der nihilistische »Abbruch bis auf den
Grund gehen« muß, bevor ein neuer Ansatz erfolgen kann (365). Die
nihilistische Ausbeutung der Welt und des Lebens wird also weitergehen;
eine gesellschaftliche oder allgemeine Änderung ist nicht in Sicht. Dennoch
ist die Situation nicht heillos. In seiner Depression, die als Finalstadium
seiner Sehnsucht nach dem Jenseits der »Zeitmauer« (364) oder des
Nihilismus zu verstehen ist, wird Baroh von Stimmen und Visionen
heimgesucht, in denen sich die erlösende Erkenntnis ankündigt. Sie nähert
sich dann in der Gestalt eines geheimnisvollen Stellenbewerbers, der – wie
der Gesandte des Regenten in Heliopolis – »Phares« heißt und Baroh
hellhörig werden läßt:
»Phares sagte« – doch sprach er überhaupt? Ich sah ihn den
Mund bewegen, verstand ihn auf große Entfernung, beim
Gewitter und natürlich auch in den Träumen, mit dem inneren
Ohr. Also weiß ich weder, ob ich ihn hörte, noch, ob er
sprach. Ich habe lange darüber nachgesonnen und vermute,
daß er den Urtext kennt, von dem alle menschlichen Sprachen
wie auch die der Tiere nur Übersetzungen oder Ausgießungen
sind. So auch das Rauschen der Wälder und das Murmeln der
Quellen; die Seele der Pflanzen ist noch am nächsten der
göttlichen Welt. Sie überzeugen als Gleichnisse. (18, 366)
Das heißt nichts anderes, als daß der sinnhafte »Urtext« der Welt in der
Natur und im Menschen verborgen ist und in gewissen Momenten
wahrnehmbar wird; wer ein Ohr dafür hat, ist nicht von ihm abgeschnitten.
Die Überwindung des Nihilismus beginnt nicht an einem bestimmten
Zeitpunkt mit einem allgemeinen Umschlag und gesellschaftlichen
Aufbruch; sie beginnt hic et nunc im Bewußtsein des einzelnen. Für Baroh
wird die Welt nach der Begegnung mit Phares wieder bedeutungsvoll; sogar
die Tätigkeit bei der durchaus profitorientierten Bestattungsfirma
»Terrestra« erscheint ihm wieder »als würdige Aufgabe« (367). Nihilistisch
ist nicht die Welt, sondern die Optik, mit der sie wahrgenommen wird. Mit
seinem neuen Blick auf die Welt macht sich Baroh auf den Weg zu Phares,
dem Boten der sinnhaften Welt, »grundlos heiter – aufgeräumt«, wie er mit
den letzten Worten seiner Erzählung sagt (369).
Damit ist auch »Aladins Problem« gelöst. Dessen Name taucht in Jüngers
Werk mehrfach auf. Im Spätwerk erscheint er gleichsam als Präfiguration
des »Arbeiters« oder des »titanischen« Menschen -: hat er doch eine
Wunderlampe, die ihm eine unheimliche Macht verleiht. Martin Meyer hat
darauf aufmerksam gemacht, daß Jünger in der Ausgabe der Sämtlichen
Werke in das achtundsiebzigste Kapitel von Aladins Problem eine kurze
Passage eingefügt hat, die eben dies verdeutlicht (362). Aladins Problem
besteht darin, daß er den Nihilismus durch die technische Aufrüstung und
Ausbeutung der Welt überwinden will und – als Baroh – zu ahnen beginnt,
daß dies der falsche Weg ist. Baroh läßt Aladin hinter sich.

Ehrungen und Streit


Carl Alexander Jünger (1934 – 1993)
Die siebziger Jahre gestalteten sich für Jünger insgesamt positiv. Der Sohn
Carl Alexander hatte eine Ärztin geheiratet und in Berlin eine Praxis als
Internist eröffnet. 1971 wurde die Tochter Irina geboren, 1974 der Sohn
Martin: Großvaterfreuden für Jünger. Mit dem »compère« Schmitt kam es
zur Versöhnung und zu einer von da an spannungsfreien und vielfach
anregenden Korrespondenz. In Wilflingen lebte Jünger in schönem
Einverständnis mit der Nachbarschaft; man schätzte es, wenn er zu den
Jubiläen des Schützen- wie des Musikvereins ein Grußwort sprach (21, 116
und 183f., sowie 22, 395ff.). Von auswärts kamen zahlreiche internationale
Ehrungen. Sie können hier nicht alle aufgeführt werden, doch seien die
wichtigsten genannt: Im März 1972 wurde Jünger nach Laon eingeladen,
weil er 1940 während des deutschen Vormarschs nach Paris die wertvolle
Bibliothek der Abtei Saint-Martin gesichert hatte (2, 165ff, und 14, 187).
Anfang Juni 1973 veranstaltete der schweizerische Schriftsteller Dino Larese
in seiner Amriswiler Akademie, in der auch Thomas Mann, Carl Orff und
andere renommierte Künstler zu Gast gewesen waren, eine ehrende Feier für
Ernst Jünger, bei der Alfred Andersch eine Laudatio hielt (22, 405f.). Am
10. November 1974 konnte Jünger in Stuttgart den Schillerpreis des Landes
Baden-Württemberg entgegennehmen (14, 188 – 193), im Oktober 1977 in
Paris den von der Stadt Nizza vergebenen »Aigle d’Or« (5, 350f.); aus
diesem Anlaß brachte das Magazin littéraire ein Ernst Jünger-Heft mit
Beiträgen renommierter französischer Autoren. Im November 1979 wurde
Jünger die »Médaille de la Paix« der Stadt Verdun zugesprochen. Anfang
April 1981 erhielt er auf Schloß Mainau die Goldene Medaille der
Humboldt-Gesellschaft (20, 57f.), im Herbst desselben Jahres zwei
französische Literaturpreise (20, 85ff.). Dann kam ein großer deutscher
Preis, gefolgt von einem aus historischen Gründen anscheinend
unvermeidlichen deutschen Krach. Im Mai 1982 beschloß das Kuratorium
zur Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main, diesen am
28. August an Ernst Jünger zu vergeben. Der mit fünfzigtausend Mark
dotierte Preis wird alle drei Jahre einer Persönlichkeit zugesprochen, die
»mit ihrem Schaffen bereits zur Geltung gelangt und deren schöpferisches
Wirken einer dem Andenken Goethes gewidmeten Ehrung würdig« sein soll.
Zu den Preisträgern gehören Stefan George (1927), Sigmund Freud (1930),
Carl Zuckmayer (1956), zuletzt Georg Lukács (1970), Arno Schmidt (1973),
Ingmar Bergman (1976) und Raymond Aron (1979). Die Entscheidung für
Jünger war einhellig, und die Mitteilung an die Öffentlichkeit löste zunächst
keine besonderen Reaktionen aus. Erst Anfang August kam es zu Protesten
gegen die Entscheidung, und nun meldeten sich auch »Die Grünen im
Römer«, dem Frankfurter Stadtparlament, zu Wort und verlangten, daß die
Entscheidung zurückgenommen werde. In einem entsprechenden Antrag
vom 4. August heißt es:
Uns ist es relativ gleichgültig, ob Ernst Jünger ein guter oder
schlechter Schriftsteller ist. In einem Land wie der
Bundesrepublik, das einen zum Teil noch immer
unbewältigten Faschismus hinter sich hat, können Literatur-
und andere Preise nicht ohne Ansicht der politischen Moral
einer Person verliehen werden. […] Er war unstrittig ein
ideologischer Wegbereiter des Faschismus und ein Träger des
Nationalsozialismus von Kopf bis Fuß. Ein
Kriegsverherrlicher und erklärter Feind der Demokratie. Kein
Nazi im Sinne von Parteimitgliedschaft, sondern einer, der
die Nazis von einer elitären Position des »besseren
Faschisten« aus kritisierte, dem die Nazis zu »flach«,
»stillos« und nicht energisch und wirksam genug waren. Bis
heute gibt es keine Aufarbeitung des Faschismus, keinen
Bruch, eher einen Rückzug in scheinbar unpolitische
Themen, in die Innerlichkeit bei gleichzeitiger ungebrochener
Kontinuität zu seiner faschistischen Vergangenheit. […] Er
war und ist ein durch und durch a-moralischer Mensch.
Dem Antrag war eine umfangreiche Zitatsammlung beigefügt, mit der
Jüngers »Kriegsverherrlichung«, seine »Menschen- und Lebensverachtung«,
sein »Sozialdarwinismus«, sein »Rassismus« und sein »Haß auf die
Demokratie« belegt werden sollten. Daß die Vordenker und Vorkämpfer der
Grünen sich derweilen, wie man von dem nachmaligen Außenminister
Joseph Fischer weiß, an den Schriften von Jünger und Schmitt als
großstädtische »Waldgänger« und »Partisanen« erbauten, mußte man nicht
wissen. Vom Stadtparlament wurde der Kuratoriumsbeschluß Mitte August
nach einer langen Debatte mit der Stimmenmehrheit der CDU gebilligt, aber
die öffentliche Kontroverse ging weiter und führte wieder zu heftigen
Angriffen auf Jünger und zu herabsetzenden oder entwertenden Artikeln. In
der Zeit schrieb der damalige Feuilleton-Chef Fritz J. Raddatz einen Tag vor
der Preisverleihung unter der Überschrift »Kälte und Kitsch/Vom erotischen
Vergnügen an Gewalt und Tod: die Herrenreiterprosa eines deutschen
Dichters«: »Ernst Jünger ist im Kriege vielmals verwundet worden; seine
Sprache ist wundenlos. Die zersplitterten Himmel des Louis-Ferdinand
Céline, nun wahrlich ein Faschist, der dem modernen Französisch
vollkommen neue Dimensionen öffnete; die abgesunkenen Höllen des Ezra
Pound, die Kloaken voll Blut, Verbrechen und Qual des Jean Genet: alles
Kunstleistungen, die die Literatur des 20. Jahrhunderts prägten, ja:
ausmachen. Nichts davon findet sich im Œuvre Ernst Jüngers. Es findet sich
gar kein Œuvre.« Jetzt rächte es sich, daß Jünger die »four-letter-words« so
peinlich vermieden hatte: Die Literaturkritik hatte für andere Vokabeln des
Schmerzes und der Empörung kein Gehör mehr, nahm anderes nicht mehr
ernst! Im übrigen ist bemerkenswert, daß in Frankreich ein großer Dichter
gerne auch ein großer Faschist sein durfte, während in Deutschland als
Dichter nicht leicht gewürdigt werden durfte, wer sich einmal in der Nähe
des Faschismus bewegt hatte.
Es gab allerdings auch Intellekuelle, die Jünger und die Entscheidung des
Goethepreis-Kuratoriums verteidigten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
brachte am 24. August einen Artikel Golo Manns, der selber von dem FAZ-
HERAUSGEBER Joachim Fest für den Goethepreis vorgeschlagen worden
sein soll. Mann räumte ein, daß »der Ernst Jünger der zwanziger Jahre
historische Schuld auf sich lud«, wenn auch nicht mit seinen Kriegsbüchern,
sondern als »Metapolitiker« und »Geschichtsphilosoph«, »der sich etwas
anmaßte, wofür der Literat nicht reif war, nicht der Denker«. Dann aber ging
Mann zur Verteidigung und Rühmung über:
Er hat sein Buch »Der Arbeiter« nie zurückgenommen; so
wie Thomas Mann nie seine »Betrachtungen eines
Unpolitischen« zurücknahm. Beide haben an diesen ihren
frühen, interessanten, wenig glücklichen Werken später
herumgebastelt, eben weil sie sie nicht preisgeben wollten.
Starke und produktive Identitäten können das nicht, und
wenig Sinn hätte es, zu fragen, ob es schöner wäre, wenn sie
es könnten. Was in ihrem Leben einmal war, das kann nicht
ausgestrichen, nicht als Irrtum widerrufen werden. Da gibt es
keine Verwandlung, so, daß heute wäre, was gestern nicht war
oder umgekehrt. Alles muß zu seiner Zeit gültig gewesen
sein. »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt« – das ist
etwas anderes.
Welche Entwicklung hat Ernst Jünger genommen, nämlich
in seinem langen Leben sich erarbeitet; ein treuer Begleiter
unseres Jahrhunderts. Wieviel menschenfreundlicher ist er
geworden. Wie hat der alte Hochmut seinen Stachel verloren;
in der Jugend gegen seine zivile Umgebung gerichtet, diente
er später nur noch dem Schutz des eigenen Wesens und
Wirkens. Ein Einzelgänger, ja; aber einer, der es gar nicht
hindern kann, sich mitverantwortlich zu fühlen für die
Zukunft unserer Erde und ihrer Bewohner. Nicht bloß der
Menschen, der Tiere und Bäume auch und ganz besonders.
Ein »Aussteiger« war er und ebenso ein »Grüner«, Jahrzehnte
bevor unsere Begriffsfabrikanten diese Begriffe zu verkaufen
begannen.
Meine verehrten Grünen in der Stadt Frankfurt: Wer von
Ihnen besitzt denn wohl kein Auto? Ernst Jünger hat sein
Leben lang keines besessen. Dafür baute er, der nie viel Geld
hatte, sich im Laufe der Jahrzehnte die herrlichste Bibliothek
auf. Und, meine verehrten Grünen: Wer von Ihnen kann die
Bäume, die Pflanzen, die Vögel, die Fische, die
Schmetterlinge, ja und dann die Käfer so beschreiben, wie er
es kann, aus lebendiger und tätiger Erfahrung? Und, zum
dritten Mal, meine verehrten Grünen: Wer von Ihnen wacht
über Seele, Geist und Körper so wie er, der um 15 bis 20
Jahre jünger aussieht, als er ist, der hoch in den Siebzigern
ein Buch von der Sinnlichkeit, der Dichte der Atmosphäre
schreiben konnte, wie der Roman »Die Zwille« eines ist? Bei
»mens sana in corpore sano« sollte die Liebe zur Natur
eigentlich beginnen: reichlicher Schlaf, Arbeit im Garten,
Gänge im Wald und wenn Lektüren, dann nichts anderes als
gute. Daran hat Jünger sich gehalten.
Den Verdacht habe ich: Seine lauten Feinde haben auch
nicht eine Zeile von ihm gelesen. Sie gaben irgendeinem
Kulturbeamten im Nebenberuf den Auftrag, in Schriften der
Frühzeit zu kramen. Der, mit herzlichem Vergnügen,
entdeckte ein paar Dinge, die, aus dem Zusammenhang
gerissen, notfalls verstümmelt, sich zum Zitieren eignen, und
schon haben wir die große, hocherwünschte Aufregung. – Ist
da ein wahres Wort daran? […]
Was ich, nicht ohne Neid, am meisten an ihm bewundere:
die Unabhängigkeit, mit der er sein Leben vollbrachte und
noch vollbringt, die Disziplinierung des Tages und des Jahres.
[…] Nur wenn man so lebte, wie Ernst Jünger, konnte ein
Œuvre entstehen wie das seine. Ein weitgeschwungenes,
buntes Lebenswerk: Bücher, die den Krieg kennen, und
Bücher, die um den Frieden werben; »Subtile Jagden« auf
Käfer, Fische und Gedanken; eigentliche Romane wie »Die
Zwille« und Romane, aus denen man die vielen
staunenswerten Aphorismen sammeln und besonders drucken
sollte, wie »Eumeswil«, Biographien und Träume,
Landschaften und Drogenerfahrungen, philosophische
Entwürfe für das späte 20. Jahrhundert und Raritätenkabinette
aus dem 18. Viel Bildung auch, aus freier Wahl, ohne Lehrer.
Immer nur, was der Autor tun mußte oder wollte; nie ein
Schielen nach dem Publikum.
Bei der Preisverleihung am 28. August 1982 sprachen der damalige
Oberbürgermeister Wallmann und der Laudator Wolf Jobst Siedler
differenziert und apologetisch, aber auch entschieden. Jünger erinnerte in
seiner Dankrede daran, daß er mit Goethe »aufgezogen« worden sei und die
Beschäftigung mit Goethe in seinem eigenen Leben eine große Rolle
gespielt habe: »Es verging kein Tag, ohne daß die Mutter ihren
Lieblingsdichter zitierte, und kaum ein Jahr, in dem sie nicht die Stätten
seines Lebens in Weimar aufsuchte. Bald nahm sie uns mit, um ihre Freude
mit uns zu teilen. ›Voilà un homme‹: ›Hier ist ein Mensch‹ – meine Liebe zu
ihm und meine Beschäftigung mit ihm sind von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
inniger geworden – meine Leser wissen es« (22, 411). Auf die Querelen um
die Preisverleihung ging Jünger nur knapp ein und nahm sie zum Anlaß,
einige seiner Notizen über »Autor und Autorschaft« vorzutragen. Politische
»Hochprominenz« war – anders als sonst – nicht erschienen (20, 217); die
Presse sprach nachher von »schweigendem Wegbleiben«. Am Rand der
Veranstaltung fand eine Anti-Jünger-Demonstration statt.
In der Debatte um die Verleihung des Goethepreises an Jünger und ebenso
bei späteren Anlässen wie dem neunzigsten und schließlich dem hundertsten
Geburtstag zeigte sich eine gewisse Frontstellung unter den Feuilletons der
großen Zeitungen. In der Zeit wurde über Jünger in der Regel sehr kritisch
geschrieben; die oben zitierten Sätze des Feuilletonchefs Raddatz sind
symptomatisch. Der Spiegel begegnete Jünger mit Interesse und
Aufmerksamkeit; zu Gesprächen mit Jünger reiste der Herausgeber Augstein
persönlich an. Gut wurde Jünger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
behandelt. Der Chef des Literaturblatts, Marcel Reich-Ranicki, äußerte sich
selten und nur sehr zurückhaltend über Jünger; er war, was man verstehen
kann, nicht sein Fall. Aufgeschlossener stand ihm der Chef des Feuilletons,
Joachim Fest, gegenüber, ebenso sein Nachfolger, Frank Schirrmacher. Sie
betrieben keine Hofberichterstattung, doch ist es ihnen zu verdanken, daß in
bestimmten Augenblicken die um sich greifende Verwerfung Jüngers durch
sachliche Artikel konterkariert wurde und in der Öffentlichkeit statt eines
polemisch vereinseitigten ein differenziertes Jünger-Bild entstand.
Dem Goethepreis folgten weitere Auszeichnungen, von denen die
wichtigeren aufgeführt seien: Am 22. Juli 1983 wurde Jünger zum
Ehrenbürger der Stadt Montpellier ernannt, der französischen Partnerstadt
seines Geburtsorts Heidelberg (20, 298f.). Im September desselben Jahres
wurde ihm der Preis der »Vereinigung für Italienisch-Deutsche
Freundschaft« verliehen (20, 302f.). Zu seinem neunzigsten Geburtstag
erhielt er das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des
Verdienstordens der Bundesrepublik. Anderthalb Jahre später wurde ihm im
Oktober 1986 in Palermo der »Premio Mediterraneo« des »Centro di Cultura
Mediterranea« überreicht (21, 123ff.), im Dezember in München der
Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst, im Mai des
folgenden Jahrs 1987 der »Premio Internazionale Dante Alighieri« der
Accademia Casentinese und im Oktober in Rom der »Premio Internazionale
Tevere« mit einem Empfang durch den Staatspräsidenten. 1989 erhielt
Jünger die Ehrendoktorwürde der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der
Universität Bilbao, im Juni 1993 bei der Kunst-Biennale in Venedig den
»Gran Premio Punti Cardinali dell’Arte«, 1995 die Ehrendoktorwürde der
Philosophischen Fakultät der Universität Madrid-Alcalá. Auch erwiesen
Autoren von Weltrang Jünger die Ehre eines Besuchs: Am 27. Oktober kam
der fast erblindete Jorge Luis Borges für ein paar Stunden nach Wilflingen,
weil er den Autor der Stahlgewitter, aber auch späterer Werke kennenlernen
wollte (20, 191f.). Am 25. März 1983 kam Alberto Moravia, um mit Jünger
ein Gespräch über das Problem der atomaren Rüstung zu führen (20, 273 –
282). Am 18. Januar 1986 traf Jünger im Hotel »Kleber-Post« in Saulgau mit
Ionesco zusammen (21, 17). Und 1988 kam Heiner Müller nach Wilflingen,
um einen Autor kennenzulernen, von dem er vor 1945 und kurz danach zwei
Bücher gelesen hatte, Auf den Marmor-Klippen und Blätter und Steine, und
den es dann in der DDR nicht mehr gab. Müller hat über seinen Besuch bei
Jünger nach dem Ende der DDR sowohl in seiner Autobiographie Krieg
ohne Schlacht: Leben in zwei Diktaturen als auch in seinen Gesprächen mit
Alexander Kluge berichtet, und man kann aus seinen Ausführungen ersehen,
daß es zwischen der offiziellen Verdrängung Jüngers in der DDR und dem
Bewußtsein einiger Autoren einen Unterschied gab. Jüngers Bedeutung für
Müller läßt sich genauer benennen: Im Gespräch mit Kluge sagte Müller
wörtlich, die Lektüre der Essaysammlung Blätter und Steine sei für ihn »eine
Injektion von Aristokratismus gegen die Nivellierungstendenzen der ersten
Jahre« in der SBZ und DDR gewesen. Mit Aristokratismus ist aber keine
soziale Überlegenheit gemeint, sondern ein Nonkonformismus, der auf dem
Gefühl basiert, die Geschichte und das gegenwärtige Leben besser zu
verstehen oder zumindest schärfer zu sehen als die anderen. Wie Jünger hat
Müller einen »kalten« Blick für die Gewaltgeschichte der modernen
Zivilisation entwickelt, und wie dieser hat er versucht, sie mit Hilfe
archaischer Figuren auf schmerzliche Weise darzustellen. Müllers Visite in
Wilflingen war kein Besuch bei einer skandalumwitterten
literaturgeschichtlichen Sehenswürdigkeit, sondern bei einem unorthodoxen
Lehrer.
Macht und Geist

Bald nach der Verleihung des Goethepreises wurde Jünger auch von der
Politik entdeckt. Am 1. Oktober 1982 löste der CDU-Vorsitzende Helmut
Kohl den amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) durch ein
konstruktives Mißtrauensvotum im Kanzleramt ab. Jünger notierte an
diesem Tag in seinem Journal: »Drei Uhr nachmittags: Habemus papam –
ein Helmut geht, ein Helmut kommt« (20, 179). Das entsprach seiner
Ansicht, daß Regierungswechsel in Demokratien aufgrund der
wechselseitigen Angleichung der um dieselben Wähler werbenden Parteien
in der Regel keine besonderen Einschnitte darstellen, sondern Spielarten von
Kontinuität. In diesem Fall war es wenigstens in einem Punkt anders: Der
neue Helmut, ein promovierter Historiker, war ein Jünger-Leser – und
scheute sich nicht, dem von so vielen kämpferischen Demokraten
geschmähten Demokratieverächter seine Aufwartung zu machen. Zudem
hatte Kohl mehr Sinn für symbolische Politik als die meisten seiner Kritiker.
Und dafür konnte er Jünger brauchen. Als im September 1984 in Erinnerung
an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine deutsch-französische
Versöhnungsfeier in Verdun anstand, lud Kohl Jünger zur Teilnahme ein, und
so kam es, daß Jünger am 22. September 1984 als »Veteran zweier Kriege«
neben dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand und dem deutschen
Bundeskanzler über den monatelang verlustreich umkämpften Douaumont
bei Verdun schritt (20, 432). Die Begegnung mit Jünger muß auf den
Literaturfreund Mitterrand großen Eindruck gemacht haben. Im Oktober
kam eine Einladung nach Paris; am 21. November war Jünger zum
Frühstück bei Mitterrand im Élysée, und am 26. November überreichte er
während einer Versöhnungsfeier im Senat einem »französischen
Frontkämpfer« die Medaille »Robert Schuman Fraternité Combattante« der
von Alfred Toepfer gegründeten Stiftung F. V. S. (Freiherr von Stein) (20,
461 und 468). Zu Jüngers neunzigstem Geburtstag am 29. März 1985 kam
Kohl nach Wilflingen, am 28. Mai folgte Mitterrand. Am 22. Januar 1988
reiste Jünger mit dem Bundeskanzler nach Paris, um am Jubiläum des
fünfundzwanzig Jahre zuvor unterzeichneten Freundschaftsvertrags
zwischen Deutschland und Frankreich teilzunehmen (21, 262f.). Am 21.
März 1990 begleitete der Bundeskanzler den spanischen Ministerpräsidenten
González nach Wilflingen. Anfang April 1993 war Jünger für ein paar Tage
in Paris und wurde von Mitterrand wiederum zu einem Gespräch
empfangen, bei dem er zum ersten Mal darauf hingewiesen wurde, daß es
einen berühmten Autor gab, der ein noch höheres Alter als er bis dato
erreicht hatte: der umfassend tätige Schriftsteller und Aufklärer Bernard le
Bovier de Fontenelle, der von 1657 bis 1757 lebte und einen Monat vor
seinem hundertsten Geburtstag starb. Jünger bemerkte dazu in seinem
Tagebuch: »Er war allerdings fast vierzig Jahre lang Sekretär der Académie
des Sciences – das ist ein Posten, auf dem man sich ausruhen kann,
besonders in stabiler Zeit« (22, 124). Und noch einmal, am 20. Juli 1993,
kamen Kohl und Mitterrand zu Besuch nach Wilflingen.
Als Jünger im Oktober 1984 die Einladung zur Versöhnungsfeier im
französischen Senat erhielt, notierte er in seinem Journal: »Oft frage ich
mich, was ich mit dem allen zu tun habe« (20, 450). Das haben auch andere
gefragt und ihm zugleich vorgeworfen, er lasse sich aus Eitelkeit von einem
kulturell – angeblich – banausenhaften Politiker mißbrauchen und verrate
damit in schändlicher Weise sein Dichtertum wie sein »Waldgänger«- oder
»Anarchentum«. Dabei wurden allerdings zwei Momente übersehen: Zum
einen gab es bei dem historisch ungemein bewanderten Bundeskanzler Kohl
– wie bei dem Präsidenten Mitterrand – ein keineswegs nur utilitaristisches
Interesse an Jünger; beide waren offenbar fasziniert von der Person des
greisen Autors, der die großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts
durchlebt und auf authentische Weise in Literatur übersetzt hatte. Und zum
andern betraf Jüngers ›Kollaboration‹ mit der Politik ein Segment, bei dem
er sich zur Mitwirkung berufen fühlen konnte, ja mußte, wenn er seine
Friedensschrift ernst nahm: die deutsch-französische Versöhnung über dem
Schlachtfeld von Verdun.

Vordenker der »konservativen Wende«?

Jüngers Auftritte mit dem Bundeskanzler ließen bei manchen Beobachtern


den Eindruck entstehen, er sei der Vordenker jener »konservativen Wende«,
die Kohl bei seinem Amtsantritt im Herbst 1982 herbeizuführen versprach.
Bald darauf wurde auch der Vorwurf erhoben, daß Jünger – neben Carl
Schmitt – der maßgebliche Ideenlieferant der »neuen Rechten« sei, also etwa
der Jungen Freiheit, der seit 1986 erscheinenden »konservativen
Wochenzeitung für Politik und Kultur«. Vielfach konnte man von ›rechten‹
Netzwerken lesen, in deren Zentrum Jünger gesehen wurde. Indessen sollte
man nüchtern bleiben: Kräfte, die den Konservativismus in Deutschland
extremistisch verschärfen und organisatorisch formieren wollten, konnten
sich auf Jünger weder berufen noch von ihm Unterstützung erwarten. Armin
Mohler etwa hat Jünger bereits vor 1960 dafür kritisiert, daß er sich von
seinen früheren Positionen entfernt habe, und nach dem Erscheinen der
ersten Werkausgabe hat Mohler gar den Vorwurf erhoben, daß beim Abdruck
der Schriften aus den zwanziger und dreißiger Jahren vieles »ad usum
democratorum frisiert« worden sei. Der 1968 wieder aufgenommene
Briefwechsel zwischen Jünger und Carl Schmitt enthält nicht den geringsten
Hinweis darauf, daß es ein konservatives Netzwerk gegeben hätte, in dem
Jünger und Schmitt gezielt wirksam gewesen wären. Die Junge Freiheit, die
im Frühjahr 1996 um Spenden bat, erhielt, wie Elliot Y. Neaman ausfindig
gemacht hat, im Herbst 1996 aus Wilflingen ganze 200 Mark überwiesen.
Die Namen der Rechtsintellektuellen, die – laut Neaman und Horst Seferens
– in Jüngers Geist die Republik nach rechts drängen sollen, spielen im
öffentlichen Bewußtsein allenfalls eine marginale Rolle.
Auszunehmen ist hiervon der Historiker Ernst Nolte, der im Zentrum des
»Historikerstreits« der Jahre 1986/87 stand, weil er in Form unterstellender
Fragen insinuiert hatte, daß die Nationalsozialisten zur »›asiatischen‹ Tat«
der Massenvernichtung im Osten durch die Furcht gedrängt worden seien,
selber Opfer einer »»asiatischen« Tat« zu werden, und daß »der
›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des
›Rassenmords‹ der Nationalsozialisten« gewesen sei. Folgt man der
Dissertation von Seferens, die 1998 unter dem Titel »Leute von übermorgen
und von vorgestern«: Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und
die deutsche Rechte nach 1945 erschien, so sind Noltes »revisionistische«
Thesen allesamt nur Amplifikationen und Zuspitzungen dessen, was man in
Jüngers Friedensschrift, in den Strahlungen und im Gordischen Knoten
lesen konnte. Dagegen ist einzuwenden, daß Nolte sich bei seinen
inkriminierten Thesen keineswegs auf Jünger beruft, sondern andere
Anregungen anführt, und daß der hier ganz unverdächtige Jan Philipp
Reemtsma in einem ebenfalls 1998 erschienenen Buch Mord am Strand:
Allianzen von Zivilisation und Barbarei festgestellt hat: »Jünger weigert sich
[in seinen Kaukasischen Aufzeichnungen], die Massaker der Deutschen als
reflexhaft wiederholte asiatische Tat zu verstehen.« Wenn Nolte also seine
These von Jünger bezogen haben sollte, so hätte er ihn so ungenau gelesen
und ebenso mißverstanden, wie ihn Seferens mißdeutet. Für Seferens ist
Jünger der Großmeister der Gegenaufklärung in Deutschland, faszinierend
und hochgefährlich nicht nur durch seine anziehenden Ideologeme, sondern
auch durch seine Kunst der Camouflage. Über den »ornithologischen
Exkurs« des »Nachtbar«-Kapitels von Eumeswil schreibt Seferens: »Der
Exkurs zeigt Jünger auf dem Höhepunkt seiner literarischen Meisterschaft
im Spätwerk, die darin besteht, in erstaunlicher Dichte komplexe
Bedeutungsfülle und tiefste Verschlüsselung zu kombinieren,
gegenaufklärerische Ideologie zu transportieren und sich gleichzeitig gegen
Ideologiekritik zu immunisieren, wobei theoretische und programmatische
Erwägungen, Selbstreflexion und Selbstironie, kulturkämpferische Attacke
und hintergründig-satirischer Witz sich fast unentwirrbar mischen.« Dazu
kann man nur sagen: Endlich hat Jüngers literarisches Vermögen seine
angemessene Würdigung gefunden! Freilich stellt sich damit auch die Frage,
wie ein Leser aus dieser »chamäleonischen Kunst« klug werden und die
rechte Botschaft aus ihr herauslesen soll. Glücklicherweise gibt es eine
Ideologiekritik, die die Kunst, den »rechten« Jünger dingfest zu machen,
nicht weniger meisterhaft beherrscht als dieser die Kunst der Camouflage,
und zudem gibt es Zeitgenossen, die auch ohne Lektüre um Jüngers
Gefährlichkeit wissen und Warnpfiffe ertönen lassen, sobald jemand Jünger
ins Spiel zu bringen sucht.
Seit 1986 korrespondierte Jünger mit dem 1953 geborenen italienischen
Komponisten Giorgio Battistelli, der an einer Marmorklippen-Oper
arbeitete. Battistelli und der Librettist Giorgio van Straten begriffen die
Marmorklippen als »Modell eines Konflikts, der die Kultur von der
Barbarei« trennt, und überführten den Text in ein »Destillat« von neun
Szenen, die den Charakter akustisch-bildlicher Visionen haben; mit großer
stilistischer Freiheit und sinnfälligen Rückgriffen auf »historische Ton-
Ikonographien« (Gerhard R. Koch) gelang es Battistelli, die symbolische
›Architektur‹ der Marmorklippen auf eindrucksvolle Weise zu verdeutlichen.
– Einem Schreiben Battistellis, das Jünger in Siebzig verweht IV unter dem
Datum des 25. Dezember 1986 zitiert, ist zu entnehmen, daß Battistellis
Plan, die Oper 1988 in Frankfurt zur Uraufführung zu bringen, auf
Widerstand stieß und daß es zu Einschüchterungsversuchen kam (21, 131).
Es dauerte dann auch noch sehr lange, bis die Oper – am 8. März 2002 – im
Mannheimer Nationaltheater erstmals aufgeführt wurde, und zwar unter
Mitwirkung der akrobatisch agierenden katalanischen Theatertruppe »La
fura dels baus«. Der Rezensent des Spiegel konnte in der Oper nur eine
anödende patchworkartige Umsetzung von »Jüngers schwiemeliger Poesie«
sehen. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Gerhard R.
Koch, beschrieb und würdigte hingegen das Zusammenwirken von Text und
Musik auf eine differenzierte Weise und sprach – sehr zu Recht – von einer
insgesamt spektakulären Aufführung.
Nicht nur Battistelli mußte die Erfahrung machen, daß man sich
Schwierigkeiten einhandelte, wenn man mit Jünger aufwarten wollte.
Anfang 1993 passierte dies dem Chefredakteur der Berliner Zeitschrift Sinn
und Form, Sebastian Kleinschmidt. Sinn und Form, von Johannes R. Becher
sowie Paul Wiegler begründet und von der Ost-Berliner Akademie der
Künste herausgegeben, war die feinste Literaturzeitschrift der DDR. Jünger
kam dort selbstverständlich nicht zu Wort, bis Kleinschmidt im ersten Heft
des Jahres 1993 nahezu dreißig Seiten mit Auszügen aus Jüngers Tagebuch
des Jahres 1992 erscheinen ließ. Dies rief den Präsidenten der West-Berliner
Akademie, Walter Jens, auf den Plan. Jens, dessen versehentliche oder
jugendlich-opportunistische NSDAP-ZUGEHÖRIGKEIT damals noch nicht
bekannt war, kritisierte die Präsentation der Jünger-Texte in Sinn und Form
scharf und kündigte an, sie werde nach der bevorstehenden Vereinigung der
beiden Akademien Folgen haben; die »Kumpanei« von Sinn und Form mit
dem »dezidierten Militaristen« Ernst Jünger, der zudem durch »extrem
antisemitische Äußerungen« aufgefallen sei, könne nicht akzeptiert werden.
Kleinschmidt hätte seinen Posten wahrscheinlich verlassen müssen, wenn
nicht Heiner Müller, der zu dieser Zeit Präsident der Ost-Berliner Akademie
war, die Aufnahme der Jünger-Texte verteidigt hätte. Müller ließ damals
wissen: »Einen siebenundneunzigjährigen Schriftsteller auf die Äußerungen
seiner Jugendzeit festzulegen und mit dieser Begründung einer Leserschaft
fernzuhalten, die gerade erst anderen Bevormundungen entrückt ist, wäre ein
Verfahren, das sich mit dem Geist einer unabhängigen Literaturzeitschrift
weder bei Ernst Jünger noch in irgendeinem anderen Fall verträgt.« Die
Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte am 11. Februar 1993, es gehe
Jens »offenbar nicht um das, was Jünger schreibt, sondern um das, wofür er
einem gängigen Klischee nach zu stehen scheint«. Dies traf auch für andere
Fälle zu, in denen Jünger perhorresziert wurde.
ZEHNTER TEIL

Die letzten Jahre

Ernst Jünger mit dem Orden »Pour le mérite«


Blick aus dem Park des StauffenbergschenSchlosses auf die Oberförsterei,
die nach Jüngers Tod in eine Gedenkstätte umgewandeltwurde. Möblierung,
Bibliothek und Käfersammlung wurden belassen, wie sie zu
JüngersLebzeiten waren. Ein Raum dient der Erinnerung an FriedrichGeorg
Jünger.
Kalte Bäder
Bis zu seinem hundertsten Geburtstag verlief Jüngers Leben in dem
Rhythmus, der sich in den Jahrzehnten davor eingestellt hatte: Reisen,
vorzugsweise im Frühjahr und im Herbst, wechselten mit langen
Aufenthalten in Wilflingen. Das Reiseziel war zumeist das Mittelmeer: »Ein
Heimweh wie nach einer vorzeitlichen Wiege zieht mich in jedem Jahre zu
ihm zurück«, notierte Jünger, als er am 20. Mai 1984 Abschied von Santorin
nahm (20, 358). Aber es gab auch andere Ziele. Die größeren jährlichen
Reisen, die Jünger von 1971 bis 1990 unternahm, führten nach Kreta,
Tunesien, Ceylon, Agadir, Liberia, Sizilien, Malta, Mykene, Griechenland,
Ostasien und Rhodos, Dalmatien, Portugal und Rom, Santorin, Zypern,
Malaysia und Sumatra, Samos, Seychellen, Mauritius, Kreta (1990), dann
jährlich nach dem entomologisch interessanten Magadino im Tessin. Oft
nahm Jünger an den Treffen der oberschwäbischen Bibliophilen teil, die
gemeinsam Fahrten zu schönen Bibliotheken etwa auf Schloß Bodman am
Bodensee oder nach Warthausen machten (20, 437ff. und 447ff.).
Regelmäßig besuchte er die jährlichen Entomologen-Treffen, ebenso die
Festsitzungen des Bayerischen Maximiliansordens in München und die
Zusammenkünfte der Kriegsklasse des Ordens »Pour le mérite«, deren –
letzter – Kanzler Jünger ab 1975 war. Die Zahl der Mitglieder schrumpfte
freilich, und als im Mai 1984 Oberst Otto Hans Jürgen von der Linde im
Alter von zweiundneunzig Jahren »zur großen Armee gerufen« worden war,
notierte Jünger auf dem Flug zur Beerdigung: »Seit der Stiftung des Ordens,
seit Ewald von Kleist und Kollin, war wohl mindestens einer dabei, der den
›Blauen Max‹ trug, wenn ein Ordensbruder gefallen oder im Bett gestorben
war. Von der Linde wird der Letzte gewesen sein, dem es zuteil wurde« (20,
360f.). Naturgemäß verlor Jünger in den letzten zwanzig Jahren seines
Lebens neben seinen Geschwistern auch die meisten seiner Weggefährten:
1975 seinen Bruder Wolfgang, 1976 seinen Bruder Hans Otto und Martin
Heidegger, 1977 seinen Bruder Friedrich Georg und Hans Peter des Coudres,
1984 seine Schwester Hanna und Hans Speidel, 1985 Carl Schmitt, 1988
Martin von Katte, 1992 Banine, 1993 Alfred Toepfer. Am 22. April 1993
nahm sich Jüngers zweiter Sohn, Carl Alexander, der seit Jahren an einer
schweren Krankheit gelitten hatte, das Leben; am 5. Mai wurde er in
Wilflingen im Familiengrab beerdigt.
Ein Porträt Jüngers aus diesen Jahren findet sich in einem Aufsatz, den
Klaus Weiler nach einem Besuch in Wilfingen aus Anlaß des 90.
Geburtstags 1995 in den Neuen Deutschen Heften publizierte:
Wer einmal in den letzten Jahren Ernst Jünger in seinem
Wilflinger Heim gegenüber gesessen hat, der konnte sich
nicht genug wundern über die jugendliche Ausstrahlung, die
geistige und körperliche Elastizität dieses doch immerhin sehr
alten Mannes. Immer noch schlank und aufrecht, ohne
sichtbare Beeinträchtigung durch die Jahre, Offizier und
Künstler in einem, sehr souverän und zusammengefaßt im
Gespräch, in Wort und Gestik, ein wenig zurückhaltend
anfangs, doch dann sehr herzlich, die hellen Augen blicken
den Besucher durchdringend und nicht ohne Wohlwollen an,
hin und wieder gleitet ein Lächeln über seine Züge oder er
schaut nachdenklich ins Weite oder zu Boden, der
interessante Kopf mit dem weißen Haar nun weit fesselnder
noch als früher – nein, das biblische Alter hat ihn nicht
verändert; er ist derselbe geblieben, der er immer war und
immer sein wird: ein Mensch, dem Leben in seinen
tausendfältigen Erscheinungsformen mit Liebe und
Anteilnahme zugewandt.
Daß Jünger bis in die letzten Jahre seines langen Lebens hinein rüstig blieb,
reisen und arbeiten konnte, verdankt er zweifellos seinem außergewöhnlich
guten Naturell, ebenso aber seiner positiven Grundeinstellung zum Leben,
seiner Überzeugung, in einer sinnvollen Welt aufgehoben zu sein, und seiner
disziplinierten Lebensführung. Der Tag in Wilflingen begann – wie seit
Jahrzehnten – mit einem kalten Wannenbad, das auch dann nicht ausgesetzt
wurde, wenn die Wassertemperatur im Winter auf zehn und schließlich auf
vier Grad Celsius sank (20, 308 und 315). Dem folgten Seilspringen und ein
ausgiebiges Frühstück, dann Arbeit im Haus, dann ein »kleiner Waldgang«
von etwa zwei Stunden Dauer mit Rast auf dem Friedhof und an
verschiedenen Punkten, an denen es etwas zu beobachten gab, seien es
Pflanzen, Vögel oder Ameisenhaufen (20, 506). Mittagessen gab es nicht.
Bei der Arbeit folgte Jünger seit jeher dem Lustprinzip, wechselte zwischen
Büchern und Käferkästen, Schreibtisch und Garten. Die Käfersammlung, die
mehr als hundert Kästen umfaßte und annähernd dreißigtausend Käfer aus
aller Welt enthielt, war für Jünger eine Quelle der Freude, verlangte aber
auch Pflege. Mit neunzig Jahren hackte Jünger noch Holz (20, 512) und
bestellte den Garten. Bis zum Tod von Carl Alexander rauchte er nur hin und
wieder einmal, genoß aber gerne Wein und Sekt (21, 68f.). Er liebte den
Umgang mit Katzen, mochte es, wenn ihm Peri oder nach deren Tod der
Kater Idris beim Schreiben auf dem Schoß lag. Zuweilen legte Jünger eine
Patience, fasziniert von dem gelegentlichen Ahnungsvermögen beim
Aufdecken der Karten (20, 474f.). Nach wie vor hatte er eine große
Korrespondenz (20, 557), bei deren Bewältigung Schreibkräfte und
Bekannte halfen. Fast täglich sprach ein »Leser« oder »Besucher vom
Dienst« vor und wurde, wenn es die Zeit erlaubte, zu einem kurzen Gespräch
empfangen (20, 366 sowie 512 und 544). Es gab ein Fernsehgerät, und es
wird berichtet, daß Jünger gerne die Krimi-Serie Columbo sah. Ein großer
Teil des Tages gehörte der Lektüre, beginnend mit der Bibel und dem
Kirchenjahr folgend (20, 511). Ein größeres Werk hat Jünger nach der 1983
erschienenen Erzählung Aladins Problem nicht mehr geschrieben; die 1985
publizierte Kriminalerzählung Eine gefährliche Begegnung, die bei der
Kritik große Anerkennung fand, entstand kapitelweise seit Beginn der
fünfziger Jahre. Die letzten Buchpublikationen, Autor und Autorschaft
(1984), Zwei Mal Halley (1987), Die Schere (1990), Siebzig verweht III
(1993), Siebzig verweht IV (1995) und Siebzig verweht V (1997), sind,
soweit es sich nicht um Tagebücher handelt, Sammlungen von Aphorismen,
die sich über Jahre hinweg eingestellt haben. Sie zusammenfasend zu
würdigen, ist angesichts der Vielfalt der Themen kaum möglich. Aber soviel
kann gesagt werden:
Jünger hatte einen emphatischen Begriff von Autorschaft; er verstand das
Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung und nahm es ernst. Er beharrte
darauf, daß »Autor« von »auctor« kommt und dies von »augere«:
»vermehren«, »vergrößern«, »fördern«, »wachsen lassen«. »Autor« ist nicht,
wer ein Buch geschrieben, sondern wer der bestehenden Einsicht in Welt
und Zeit etwas von Belang hinzugefügt hat. Der Autor betreibt sozusagen
»Grundlagenforschung« (19, 63). »Autorschaft. Wie soll der Begriff gefaßt
werden? Ganz allgemein als Äußerung schöpferischer Kraft. […] Literarisch
genommen, muß der Begriff den Dichter ein- und darf den Schriftsteller
nicht ausschließen.« (50) Treffend hat Günter Figal Jüngers Autorschaft
beschrieben: Sie ist »die Wahrnehmung einer Deutungssituation, und dies im
doppelten Sinne: als deren Erfahren und als ihr Ergreifen – unwillkürlich,
intuitiv und ebenso planvoll, erkundend, gestaltend«.
Die Schere bietet gleichsam das aphoristisch gefaßte Koordinatensystem
von Jüngers Welt- und Geschichtsauffassung. Welt war ihm immer mehr als
das sinnlich Wahrnehmbare und rational Erklärbare. Jünger postulierte eine
Art »Ultraphysik«: »eine Fortsetzung des Wirklichen nach beiden Seiten –
ähnlich der des Spektrums über die Bandbreite der sichtbaren Welt« (19,
508). Die geschichtliche Welt sah Jünger in ein völlig neues Stadium
eintreten, insofern das Zeitalter der ökonomisch motivierten
»Weltrevolution« durch eine möglicherweise ökologisch bedingte
»Erdrevolution« abgelöst werde (544f.). Pessimistisch war Jünger deswegen
nicht; vom Zeitalter des Wassermanns erwartete er eine Vergeistigung (473
und 538ff.). Im übrigen war er sich dessen bewußt, daß die Frage nach dem
Gang der Geschichte nur gestellt, aber nicht beantwortet werden kann: »Zur
Antwort reicht unser Wissen nicht aus. Damit beruht der Hauptteil unserer
Existenz auf Erwartung – aber war es nicht immer so?« (545)
Die letzten drei Bände von Siebzig verweht bestehen aus Aufzeichnungen
aus den Jahren 1981 bis 1995 (im Supplementband bis 1996). Wie die
vorausgehenden Bände spiegeln sie Jüngers äußere und innere Welt: das
Leben in Wilflingen mit seinen Lektüren, Spaziergängern, Besuchern;
kleinere und größere Reisen; zeitgeschichtliche Ereignisse; Auszüge aus der
Korrespondenz mit Weggefährten und Lesern; Träume und Erinnerungen.
Auffällig ist die Zunahme von Aufzeichnungen, die der eigenen Rolle im
»Dritten Reich« gelten, so zum Beispiel die Auszüge aus der Korrespondenz
mit dem ehemaligen NS-FUNKTIONÄR Werner Best (20, 231ff. und
552ff.) oder aus den Pariser Aufzeichnungen von Max Hattingen (20,
269ff.); sie lassen den Eindruck entstehen, daß Jünger in den achtziger
Jahren noch mehr als in den beiden vorausgehenden Jahrzehnten versuchte,
seine eigene Geschichte zu objektivieren und zu dokumentieren. Bisweilen
wird der Journal-Charakter preisgegeben, drängt die Tagebuchnotiz in
Richtung Dossier oder Essay. Generell aber bleibt es bei der kaleidoskopisch
bunten Wiedergabe von Beobachtungen und Überlegungen, die
zufallsbedingt und disparat wirken, zugleich aber auf eine vielfältige und
kaum auslotbare Weise miteinander korrespondieren. Jüngers Blick ist nicht
nur phänomenologisch genau; er ist auch immer auf der Suche nach
Beziehungen zwischen den Dingen und nach Mustern des Seins. Der Ton der
Darlegungen ist allerdings entspannter als früher. Nach dem Erscheinen von
Siebzig verweht III schrieb Heinrich Detering in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung: »Das Neue, das sich hier abzeichnet, ist die Form, in
der die alten Themen behandelt werden: der Sieg des Spiels über den
Tiefsinn. Und damit auch Eigenschaften, die man von einem Buch Ernst
Jüngers am wenigsten erwarten würde: Lässigkeit und Witz.« Im übrigen ist
die Welt für Jünger immer noch voller Überraschungen. Zwar werden
weiterhin die Anzeichen der »Entzauberung«, Auszehrung und Verwüstung
der Welt und ihrer Kulturen registriert; aber immer noch gibt es viel zu
genießen und zu bewundern. Insgesamt ist Siebzig verweht nicht ein Werk
der Klage, sondern des Staunens und der Dankbarkeit. Diese gilt der Natur
und dem Leben, aber auch den Weggefährten und den vielen Autoren, durch
deren Werke Jünger sich bereichert und beglückt fühlte.

Seifenblasen

Am 29. März 1995 konnte Jünger seinen hundertsten Geburtstag feiern.


Politische Prominenz reiste an: Bundespräsident Roman Herzog,
Bundeskanzler Helmut Kohl, Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin
Teufel. Nach der Gratulation in Wilflingen gab es im Hotel »Kleber-Post« in
Saulgau ein festliches Mittagessen, zu dem etwa einhundertsechzig Gäste
geladen waren. Der Bundespräsident und der baden-württembergische
Ministerpräsident würdigten Jünger für die authentische Darstellung seiner
Zeit und für seine mutige Haltung im »Dritten Reich«; Jünger hielt eine
kurze Ansprache, die im Journal nicht mehr als eineinviertel Druckseiten
füllt, aber doch einige der prägenden Momente seines Lebens benennt: den
Hintergrund des 19. Jahrhunderts; die Ambivalenz des Fortschritts; die
Reibung konservativer und demokratischer Kräfte; die beiden Weltkriege;
den mächtigen Einfluß der Lektüre, welche zu Erwartungen an das Leben
führte, die dann durch die Realität meist enttäuscht wurden. Jünger schloß
mit den Worten: »Dank meinen Freunden, und meinen Gegnern auch. Beide
gehören zum Karma – ohne sie kein Profil« (22, 174f.).
Im Vorfeld des Geburtstags hatte es an zwei Stätten Kontroversen um
Jünger gegeben: In Hannover, wo Jünger lange gelebt hatte, beschlossen die
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Ernst Jünger eine
Eintragung ins Goldene Buch der Stadt zu verwehren, weil er – so der
Fraktionsvorsitzende der Grünen – ein »Kollaborateur« gewesen sei. In
Heidelberg, wo Jünger 1895 geboren worden war, kam es wegen eines
Festakts, den Universität und Stadt an Jüngers Geburtstag gemeinsam
ausrichten wollten, zu einer den ganzen März durchziehenden
publizistischen Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern
der Ehrung. Die Argumente der Gegner waren dieselben wie dreizehn Jahre
zuvor bei der Verleihung des Goethepreises. Die Feier fand in der
vollbesetzten großen Aula der Ruprecht-Karls-Universität statt. Da militante
Störaktionen angekündigt worden waren, wurde der Universitätsplatz von
der Polizei abgeriegelt. Es gab scharfe Eingangskontrollen, und in einem
Hörsaal hinter der Aula hielt sich ein größerer Polizeitrupp in Bereitschaft.
Zwar zogen Demonstranten auf, doch verlief der Festakt ruhig, wenn auch in
bedrückender Atmosphäre. Jünger öffentlich zu ehren, ohne daß es zu
giftigen Auseinandersetzungen kam, war nicht möglich.
Nach seinem hundertsten Geburtstag lebte Jünger noch zurückgezogener
als zuvor. Fernreisen unternahm er nicht mehr. Im Oktober 1995 sagte er im
zweiten Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco Volpi:
Jetzt, da ich hundert Jahre alt geworden bin, werde ich in der
Zeit, die mir noch bleibt, keine Abenteuer dieser Art mehr
unternehmen. Ich setze indes meine Reisen im Reich der
Literatur fort und in dem kleinen Universum, das mein Garten
vorstellt. An sonnigen Tagen erheitere ich mich manchmal
durch Seifenblasen, die der Wind zwischen Pflanzen und
Blumen trägt. Es ist für mich ein symbolisches Bild der
Flüchtigkeit und ihrer ungreifbaren Schönheit.

Letzte Dinge

Ein Jahr über seinen hundertsten Geburtstag hinaus führte Jünger sein
Tagebuch weiter, aber schon unter dem Datum des 5. August findet sich eine
Notiz, die auf einen gesundheitlich strapaziösen Vorfall hinweist: »Die
Borreliose ist eine durch Zeckenbiß verursachte Krankheit […]. Ich
absolvierte die klassischen Symptome von der Fazialislähmung bis zu den
Herzanfällen; es hätte beinah gereicht« (22, 188). Für ein weiteres
Dreivierteljahr blieb alles beim alten: Lektüre, Garten, Autofahrten nach
Sigmaringen oder Überlingen, auch noch nach Stuttgart in die Wilhelma,
Notizen im Journal, wenn auch seltener und kürzer werdend. Die letzte in
der erweiterten Fassung von Siebzig verweht V, die im zweiundzwanzigsten
Band der Sämtlichen Werke enthalten ist, trägt das Datum des 17. März
1996. Dann soll Jünger den Füller zugeschraubt und den Schreibtisch
abgeräumt haben. Die Kraft zur schriftlichen Reflexion des Lebens ließ
nach. Zudem trat er in ein neues geistliches Leben ein: Jünger hatte sich
entschlossen, den katholischen Glauben seiner Mutter anzunehmen. Er trat
ins Katechumenat und erhielt Taufunterricht. Er soll die Beichte abgelegt
haben und wurde am 26. September 1996 getauft. Nur einmal konnte er,
gesundheitlich geschwächt, einer Messe beiwohnen, und zwar im Chorraum,
seitlich am Altar, um die liturgische Handlung genau wahrnehmen zu
können. Zu Bekannten soll Jünger gelegentlich gesagt haben, er sei
konvertiert, weil er so bestattet werden wolle »wie alle hier«, also
katholisch, und manche Beobachter meinten deswegen, daß Jüngers
Konversion nur ein gesellschaftlicher Akt gewesen sei: eine Reverenz an die
Gemeinde, deren Ehrenbürger er war, und die Sicherung der ortsüblichen
Zeremonien. Dem ist eine gewisse Triftigkeit nicht abzusprechen, doch
sollte man darin nicht nur etwas Taktisches sehen. Man weiß, wie wichtig
dem »Anarchen« Gemeinschaft und Heimat waren, und man weiß auch, daß
er Zeremonien nicht nur als Äußerlichkeiten betrachtete. Zudem ist bekannt,
daß er schon früher an eine Konversion gedacht hatte und daß es in seinem
Werk viele Momente gibt, die auf eine gewisse Affinität zum Katholizismus
hindeuten: man denke nur an die Gestalt des Pater Lampros in den
Marmorklippen und an die Gestalt des Pater Foelix in Heliopolis. Es scheint,
daß Jünger im Katholizismus jenes Heils- und Ordnungswissen vermutete,
nach dem er selber suchte. Zudem dürfte ihn – wie so viele andere Künstler
seit der Romantik – die katholische Verbindung von Religion und Ästhetik
fasziniert haben. Jedenfalls erscheint Jüngers Konversion zum
Katholizismus eher konsequent als befremdlich, und vor allem nicht etwa
nur launenhaft. Sie war der vielleicht nicht zwingende, aber immerhin
plausible Abschluß eines langen Annäherungsprozesses.
Ende Januar 1998 mußte Jünger mit einem grippalen Infekt und einem
Magenleiden ins Kreiskrankenhaus Riedlingen eingeliefert werden. Mit
Infusionen war nicht mehr zu helfen; eine Operation hat er ausgeschlagen.
Am Dienstag, dem 17. Februar, starb er, frühmorgens, im Beisein seiner
Frau.
Die Beerdigung fand am Samstag, dem 21. Februar, nachmittags um zwei
Uhr statt und zog sich bis gegen fünf Uhr hin. Sein Sarg wurde auf einer
Geschützlafette von der Oberförsterei zum Friedhof gefahren. Einer der
Kränze trug eine Schleife mit der Aufschrift »Pour le mérite«. Jünger selbst
soll sie haben anfertigen lassen, als er 1984 die Schleife für den vorletzten
Träger des »Kriegsmérite« bestellte. Politische »Hochprominenz« fehlte fast
ganz. Nur der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel hatte es sich
nicht nehmen lassen, an der Beisetzung teilzunehmen; die Bundesregierung
wurde durch den Staatssekretär im Kanzleramt Anton Pfeifer vertreten. Der
Beerdigung ging ein Trauergottesdienst in der Ortskirche St. Johannes
Nepomuk voraus. Der Freiherr von Stauffenberg, der Ministerpräsident und
der Verleger Michael Klett würdigten den Verstorbenen mit Ansprachen. Das
Requiem wurde vom katholischen Ortspfarrer und einem Rottenburger
Domkapitular zelebriert. Jünger wurde bestattet »wie alle hier«, nur ein
bißchen feierlicher.
Über seine weitere Existenz gibt ein Traumnotat Auskunft, das zu Jüngers
neunundneunzigstem Geburtstag am 29. März 1994 in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung erschien:
Wilflingen, 30. September 1988
Traum, juste milieu. Ich war für fünf Uhr nach Steglitz
eingeladen und hatte noch einige Stunden Zeit, während
deren ich am Rande von Parks und öffentlichen Gärten
spazierenging. In einem davon war eine Wirtschaft
eingerichtet; es standen Tische im Grünen, an denen bedient
wurde. Früher mußte hier ein Friedhof gewesen sein. Die
meisten Gräber waren eingeebnet, doch standen vereinzelt
noch Säulen und Urnen aus der Biedermeierzeit.
Immerhin hatte soeben eine Beerdigung stattgefunden; das
war wohl eine Ausnahme. Sie stand zu der fröhlichen
Gesellschaft, die hier tafelte, in seltsamem Kontrast. Wie
sollte ich ihn mir erklären? Ich nahm an, daß sich das
Ahnengrab einer alten Familie erhalten hatte, in dem einer
ihrer Letzten bestattet worden war; wahrscheinlich hatte er es
in seinem Testament verfügt. Diese Vermutung schien mir
auch der Uniformen wegen begründet, die ich am Grab
erkannte – die Trauergemeinde hatte sich noch nicht zerstreut.
Zu meiner Überraschung sah ich nun den König, um den sie
einen Halbkreis bildete.
Es traf sich, daß ich meines Besuches wegen schon mit
Zylinder unterwegs war – ich nahm ihn ab und bezeugte am
Grabe dem, der dort ruhte, meine Reverenz. Der König
erwies mir die Ehre, mich anzusprechen; er fragte mich, ob
ich den Toten gekannt hätte.
»Nein, aber da ich Eure Majestät an seinem Grabe sehe,
muß er ein guter Untertan gewesen sein, und in diesem Sinne
bin ich ihm verwandt.«
Die Antwort schien dem Monarchen zu gefallen; wir
kamen ins Gespräch.
Die Gesellschaft ging dann zu einer Tafel, die für sie
vorbereitet war. Sie war mit dem Silber der Familie gedeckt.
Der König lud mich zum Sitzen ein.
»Majestät – mein Platz dürfte eher hinter als auf einem
dieser Sessel sein.«
Auch das kam gut an. Der König sprach mit einem
Adjutanten, der mich an einen der Nebentische führte, die für
die Beamten und die Begleitung bestimmt waren. Damit
begann ein neuer Abschnitt meines Lebens; ich machte bei
Hofe Fortune. Mit einem Begräbnis fing es an. Es war mein
eigenes.
ANHANG

Bibliographie

Zitierweise und Siglen


Jüngers Schriften werden prinzipiell nach der von 1978 bis 1983 bzw. 2003
im Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, erschienenen Ausgabe der Sämtlichen
Werke in 18 Bänden und 4 Supplementbänden zitiert, und zwar mit
Bandzahl (1-22) und Seitenzahl, also etwa 1, 35 oder 1, 35 und 47.
Ausgenommen davon ist die Politische Publizistik, die 2001 in einem
separaten Band erschien. Die Briefe von und an Jünger werden nach den
unten aufgeführten Editionen der Briefwechsel zitiert; sofern sie nicht ediert
sind, werden sie nach den Originalen zitiert, die sich im Nachlaß von Ernst
Jünger und Friedrich Georg Jünger im Deutschen Literaturarchiv Marbach
finden und dort mit Hilfe der Marbacher Verzeichnisse leicht zu ermitteln
sind.
Bei den Schriften bis zu den sechziger Jahren, die Jünger zum Teil
mehrfach überarbeitet hat, wurde für die Darstellung auf die Erstausgaben
zurückgegriffen. Zitiert wird in der Regel nach der Erstausgabe, wo es von
Bedeutung ist auch nach einer weiteren Ausgabe, aber immer mit
angefügtem Verweis auf die Ausgabe der Sämtlichen Werke, also etwa KiE
1, 45 = KiE 2, 46 = 7, 48 (Der Kampf als inneres Erlebnis, 1. Ausgabe von
1922, S. 45 = zweite, überarbeitete Ausgabe von 1926, S. 46 = erneut
überarbeitete Ausgabe der Sämtlichen Werke, Band 7, S. 48).
Jüngers Werke (mit Siglen)
An der Zeitmauer. Stuttgart: Klett, 1959 (= ZM).
Auf den Marmor-Klippen. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1939 (=
MK 1).
Auf den Marmorklippen. Tübingen: Reichl, 1949 (= MK 2).
Blätter und Steine. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1934 (= BuS).
Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten.
Herausgegeben von Ernst Jünger. Mit etwa 200 photographischen
Aufnahmen auf Tafeln, Kartenanhang sowie einer chronologischen
Kriegsgeschichte in Tabellen. Berlin: Neufeld & Henius, 1930.
Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918. Berlin:
Mittler, 1925 (= W).
Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin: Mittler, 1922 (= KiE 1).
Der Kampf als inneres Erlebnis. Zweite, neu bearbeitete Auflage. Berlin:
Mittler, 1926 (= KiE 2).
Die Geiselfrage: Ernst Jünger und die Geiseln. Die Denkschrift von Ernst
Jünger über die Geiselerschießungen in Frankreich 1941/42. Hrsg. von Sven
Olaf Berggötz. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 405 –
472.
Die Schleife: Dokumente zum Weg von Ernst Jünger. Zusammengestellt von
Armin Mohler. Zürich: Arche, 1955 (= DS).
Die totale Mobilmachung. In: Krieg und Krieger (s. u.), S. 9 – 30 (= TM).
Die Unvergessenen. Hrsg. von Ernst Jünger. Berlin und Leipzig:
Andermann, 1928 (= UV).
Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht.
Magdeburg: Stahlhelm-Verlag, 1925 (= FuB).
Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940. Berlin:
Mittler, 1942 (= GuS).
Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt. Tübingen: Heliopolis-Verlag, 1949 (=
H).
In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Leisnig:
Verlag Robert Meier, 1920 (= SG I).
In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Zweite
Auflage. Berlin: Mittler, 1922 (= SG II).
In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Fünfte, völlig
neubearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Mittler, 1924 (= SG III).
In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch. Vierzehnte Auflage. Berlin: Mittler,
1934 (= SG IV).
Jahre der Okkupation. Stuttgart: Klett, 1958 (=JdO).
Krieg und Krieger. Hrsg. von Ernst Jünger. Berlin: Junker und Dünnhaupt,
1930 (= KuK).
Myrdun. Briefe aus Norwegen. Einmalige Feldausgabe für die Soldaten im
Bereich des Wehrmachtsbefehlshabers in Norwegen. Hamburg:
Hanseatische Verlagsanstalt, 1943 (= Myr).
Politische Publizistik. Herausgegeben, kommentiert und mit einem
Nachwort von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart: Klett-Cotta, 2001 (= PP).
Strahlungen. Tübingen: Heliopolis-Verlag, 1949 (= Str).

Briefwechsel
Ernst Jünger: Briefe an die Freunde. Hrsg. von Piet Tommissen. In: Etappe
15 (Oktober 2000), S. 137 – 153 [Zirkularbriefe vom 15. Juli, 8. August und
1. September 1946; auch in Jünger/Nebel, Briefe (s. u.), S. 83 – 92 und 96 –
99].
Ernst Jünger/Stefan Andres: Briefe 1937-1970. Herausgegeben, kommentiert
und mit einem Nachwort von Günther Nicolin. Stuttgart: Klett-Cotta, 2007.
Ernst Jünger/Alfred Kubin: Eine Begegnung [Briefwechsel und Essays].
Frankfurt am Main usw.: Ullstein/Propyläen, 1975 (= BW Kubin).
Ernst Jünger/Gerhard Nebel: Briefe 1938 – 1974. Herausgegeben,
kommentiert und mit einem Nachwort von Ulrich Fröschle und Michael
Neumann. Stuttgart: Klett-Cotta, 2003.
Ernst Jünger/Rudolf Schlichter: Briefe 1935 – 1955. Herausgegeben,
kommentiert und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer. Stuttgart: Klett-
Cotta, 1997 (= BW Schlichter).
Ernst Jünger/Carl Schmitt: Briefe 1930 – 1983. Herausgegeben,
kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Stuttgart: Klett-
Cotta, 1999 (= BW Schmitt).
Gottfried Benn/Ernst Jünger: Briefwechsel 1949 – 1956. Herausgegeben,
kommentiert und mit einem Nachwort von Holger Hof. Stuttgart: Klett-
Cotta, 2006 (= BW Benn).
Nickel, Gunther: Der Briefwechsel zwischen Carl Zuckmayer und Ernst
Jünger. In: Les Carnets 2 (1997), S. 139 – 165, und – in ergänzter Form – in:
Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999), S. 515 – 547.
Wulfen, Barbara von: Korrespondenz als Remedium. In: Sinn und Form 58
(2006), S. 32 – 59 [42 – 59: Briefe von Heidegger sowie E. und F. G. Jünger
an Sophie Dorothee und Clemens Podewils].

Bücher von Gretha von Jeinsen (= Gretha Jünger)


Die Palette. Tagebuchblätter und Briefe. Hamburg: Dulk, 1949.
Silhouetten. Eigenwillige Betrachtungen. Pfullingen: Neske, 1955.

Erinnerungsbücher und Briefwechsel von


Friedrich Georg Jünger
Grüne Zweige. Ein Erinnerungsbuch. München: Hanser, 1951.
Spiegel der Jahre. Erinnerungen. München: Hanser, 1958.
»Inmitten dieser Welt der Zerstörung«: Briefwechsel mit Rudolf Schlichter,
Ernst Niekisch und Gerhard Nebel. Mit Einleitungen und Kommentaren
herausgegeben von Ulrich Fröschle und Volker Haase. Stuttgart: Klett-Cotta,
2001.
Bilddokumentation
Ernst Jünger: Leben und Werk in Bildern und Texten. Herausgegeben von
Heimo Schwilk. Stuttgart: Klett-Cotta, 1988.

Archivalien
Jüngers Schriften und Briefwechsel werden nach den o. g. Ausgaben zitiert.
Was in ihnen nicht enthalten ist, ist in Jüngers Nachlaß im Deutschen
Literaturarchiv Marbach am Neckar zu finden. Dies gilt insbesondere für
Jüngers unedierte Briefe an seinen Bruder Friedrich Georg und an einige
andere Briefpartner (z. B. Paul Weinreich, Alexander Mitscherlich, Gershom
Scholem u. a.), ebenso für deren Briefe an Jünger. Auch die Tagebücher aus
dem Ersten Weltkrieg und die Notizbüchlein aus der Pariser Zeit finden sich
im Marbacher Nachlaß. Ebenfalls in Marbach finden sich die gelegentlich
zitierten Tagebücher Friedrich Georg Jüngers, die von 1916 bis 1977
reichen.

Interview
Ernst Jünger mit Antonio Gnoli und Franco Volpi: Die kommenden Titanen:
Gespräche. Wien und Leipzig: Karolinger, 2002.

Bibliographien
Fröschle, Ulrich: Friedrich Georg Jünger (1898 – 1977): kommentiertes
Verzeichnis seiner Schriften. Marbach am Neckar: Deutsche
Schillergesellschaft, 1998.
Mühleisen, Horst: Bibliographie der Werke Ernst Jüngers. Begründet von
Hans Peter des Coudres. Stuttgart: Klett-Cotta, 1996.
Riedel, Nicolai: Ernst Jünger-Bibliographie: wissenschaftliche und
essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928 – 2002). Stuttgart und Weimar:
Metzler, 2003.

Lebens- und Werkskizze sowie Literaturbericht


Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001.

Gesamtdarstellungen und grundsätzlich wichtige


Studien
Hier werden nur Bücher und Aufsätze genannt, die den ganzen Jünger oder
einen durchgängig wichtigen Aspekt seines Lebens und Schaffens betreffen.
Studien zu einzelnen Phasen und speziellen Aspekten werden in den
chronologischen Abschnitten der Bibliographie aufgeführt.

Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens: die pessimistische


Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München und Wien: Hanser, 1978.
Bräuninger, Werner: Staub von den Flügeln des Schmetterlings:
Betrachtungen über Ernst Jünger. In: Bräuninger: »Ich wollte nicht daneben
stehen …«: Lebensentwürfe von Alfred Baeumler bis Ernst Jünger. Essays.
Graz: Ares, 2006, S. 199-246.
Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie: die Rezeption der modernen
Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren
(1920-1975). Berlin und New York: de Gruyter, 1995 [S. 134-147: Ernst
Jünger].
Figal, Günter: Flugträume und höhere Trigonometrie: Ernst Jüngers
Schreiben als Autorschaft. In: Les Carnets 4 (1999), S. 175-187.
Gruenter, Rainer: Formen des Dandysmus: eine problemgeschichtliche
Studie über Ernst Jünger. In: Euphorion 46 (1952), S. 170-201.
Kaempfer, Wolfgang: Ernst Jünger. Stuttgart: Metzler, 1981.
Kiesel, Helmuth: Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der
Moderne: Max Weber und Ernst Jünger. Heidelberg: Manutius, 1994.
Konitzer, Martin: Ernst Jünger. Frankfurt am Main und New York: Campus,
1993.
Koslowski, Peter: Der Mythos der Moderne: die dichterische Philosophie
Ernst Jüngers. München: Fink, 1991.
-: Die verborgenen Türen des Palastes: Motive der Gnosis bei Ernst Jünger.
In: Etudes Germaniques 51 (1996), S. 693-716.
Kranz, Gisbert: Ernst Jüngers symbolische Weltschau. Düsseldorf: Schwann,
1968.
Krockow, Christian Graf von: Die Entscheidung: eine Untersuchung über
Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart: Enke, 1958.
Kron, Jürgen: Seismograph der Moderne: Modernität und Postmodernität in
Ernst Jüngers Schriften von »In Stahlgewittern« bis »Eumeswil«. Frankfurt
am Main usw.: Lang, 1998.
Löffler, Thomas: Anverwandlung als gegenwartsdiagnostische
Sinnkonstruktion: Ernst Jünger und die hermetische Tradition. In: Antike
Weisheit und kulturelle Praxis: Hermetismus in der frühen Neuzeit. Hrsg.
von Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 2001, S. 449-465.
-: Zauberhafte Wirklichkeit und Wirklichkeit des Zaubers: Apokalyptische,
esoterisch-hermetische und gnostische Traditionen im Werk Ernst Jüngers.
Diss. Heidelberg, 1998 (ungedruckt).
Loose, Gerhard: Ernst Jünger: Gestalt und Werk. Frankfurt am Main:
Klostermann, 1957.
Martin, Alfred von: Der heroische Nihilismus und seine Überwindung: Ernst
Jüngers Weg durch die Krise. Krefeld: Scherpe, 1948.
Meyer, Martin: Ernst Jünger. München und Wien: Hanser, 1990.
Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit: konservatives Denken bei
Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960.
Göttingen: Wallstein, 2007.
Neaman, Elliot Y.: A dubious past: Ernst Jünger and the politics of literature
after Nazism. University of California Press: Berkeley and Los
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Nebel, Gerhard: Ernst Jünger: Abenteuer des Geistes. Wuppertal: Marées,
1949.
Noack, Paul: Ernst Jünger: eine Biographie. Berlin: Fest, 1998.
Paetel, Karl O.: Ernst Jünger: Weg und Wirkung. Eine Einführung. Stuttgart:
Klett, 1949.
Pekar, Thomas: Ernst Jünger und der Orient: Mythos – Lektüre – Reise.
Würzburg: Ergon, 1999.
Prill, Ulrich: »mir war Alles Spiel«: Ernst jünger als homo ludens.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002.
Rink, Annette: Plutarch des Naturreichs: Ernst Jünger und die Antike.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001.
Schwarz, Hans-Peter: Der konservative Anarchist: Politik und Zeitkritik
Ernst Jüngers. Freiburg im Breisgau: Rombach, 1962.
Seferens, Horst: »Leute von übermorgen und von vorgestern«: Ernst Jüngers
Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945.
Bodenheim: Philo, 1998.
Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus: Anthropologie und
Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950.
Habilitationsschrift Berlin, 2007 (noch ungedruckt) [Kap. 3: Ernst Jünger].
Treher, Wolfgang: Transzendenz und Katastrophe: Ernst Jünger im Spiegel
der Hegelschen Philosophie. Eine psychopathologische Studie.
Emmendingen: Oknos, 1993.
Volpi, Franco: Il Nichilismo. Bari: Laterza & Figli, 1996.
Weiler, Klaus: Der Blick auf das Ganze: Ernst Jünger. In: Neue Deutsche
Hefte 186 (1985), S. 227-262.
Wilczek, Reinhard: Nihilistische Lektüre des Zeitalters: Ernst Jüngers
Nietzsche-Rezeption. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 1999.

Jünger-Periodikum
Les Carnets Ernst Jünger: Revue de Centre de Recherche et de
Documentation Ernst Jünger 1 (1996) usw. [Directrice de la publication:
Danièle Beltran-Vidal].

Wichtige Aufsatzbände
Arbogast, Hubert (Hrsg.): Über Ernst Jünger. Stuttgart: Klett-Cotta, 1995.
Beltran-Vidal, Danièle (Hrsg.): Images d’Ernst Jünger: actes du colloque (30
et 31 mars 1995). Bern usw.: Lang, 1996.
Hagestedt, Lutz (Hrsg.): Ernst Jünger: Politik – Mythos – Kunst. Berlin und
New York: de Gruyter, 2004.
Koslowski, Peter: Die großen Jagden des Mythos: Ernst Jünger in
Frankreich. München: Fink, 1996.
Müller, Hans-Harald/Segeberg, Harro (Hrsg.): Ernst Jünger im 20.
Jahrhundert. München: Fink, 1995.
Schwilk, Heimo (Hrsg.): Ernst Jünger zu Ehren. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990.
Strack, Friedrich (Hrsg.): Titan Technik: Ernst und Friedrich Georg Jünger
über das technische Zeitalter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
Wimbauer, Thomas (Hrsg.): Anarch im Widerspruch: neue Beiträge zum
Werk und Leben der Gebrüder Jünger. Schnellroda: Antaios, 2004 (= Das
Luminar: Schriften zur Ernst und Friedrich Georg Jünger, Bd. 3).

Zur Einleitung
Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion: deutsche Kontroversen
um die kulturelle Moderne 1880 – 1945. Frankfurt am Main: Fischer, 1999.
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik,
Dichtung im 20. Jahrhundert. München: Beck, 2004.
Martens, Gunter: Vitalismus und Expressionismus: ein Beitrag zur Genese
und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart usw.:
Kohlhammer, 1971.
Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen
Bismarck und Hitler. München und Wien: Hanser, 1998.
Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von
der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges
1849 – 1914. München: Beck, 1995.

Zum Kapitel Kindheit und Jugend


Brunotte, Ulrike: Zwischen Eros und Krieg: Männerbund und Ritual in der
Moderne. Berlin: Wagenbach, 2004.
Johann, Klaus: Der Einzelne im »Haus der Regeln«: zur deutschsprachigen
Internatsliteratur. Heidelberg: Winter, 2003.
Lotz, Christoph: Ernst Jüngers Lektüre bis zum Ende des Ersten
Weltkrieges: Autoren – Bücher – Wirkung auf sein Werk. Marburg: Tectum,
2002.
Luserke, Matthias: Schule erzählt: literarische Spiegelbilder im 19. und 20.
Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999.
Mergenthaler, Volker: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion: zur
Ästhetik der Transgression (1897-1936). Tübingen: Niemeyer, 2005.
-: Von Bord der »Fremdenlegion« gehen: mythologisch-metaphorische ich-
Bildung in Ernst Jüngers Afrikanischen Spielen. In: Hagestedt (Hrsg.), Ernst
Jünger (s. Aufsatzbände), S. 271 – 287.
Noob, Joachim: Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die
Jahrhundertwende. Heidelberg: Winter, 1998.

Zum Kapitel Erster Weltkrieg


Anz, Thomas/Vogl, Joseph (Hrsg.): Krieg: die Dichter und der Krieg.
Deutsche Lyrik 1914 – 1918. München und Wien: Hanser, 1982.
Beßlich, Barbara: Wege in den »Kulturkrieg«: Zivilisationskritik in
Deutschland 1890-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
2000.
Böhme, Klaus (Hrsg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten
Weltkrieg. Stuttgart: Reclam, 1975.
Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion: deutsche Kontroversen
um die kulturelle Moderne 1880 – 1945. Frankfurt am Main: Fischer, 1999.
Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat: die »Ideen von 1914«
und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie,
2003.
Burgdorff, Stephan/Wiegrefe, Klaus (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg: die
Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 2004.
Buschmann, Nikolaus/Carl, Horst (Hrsg.): Die Erfahrung des Krieges:
Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution
bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn u.s.w.: Schöningh, 2001.
Eckart, Wolfgang U.: Kriegsgewalt und Psychotrauma im Ersten Weltkrieg.
In: Seidler /Eckart (Hrsg.), Verletzte Seelen (s. u.), S. 85 – 105.
Eksteins, Modris: Tanz über Gräben: die Geburt der Moderne und der Erste
Weltkrieg. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt, 1990.
Falk, Walter: Der kollektive Traum vom Krieg: epochale Strukturen der
deutschen Literatur zwischen »Naturalismus« und »Expressionismus«.
Heidelberg: Winter, 1977.
Ferro, Marc: Der große Krieg 1914 – 1918. Aus dem Französischen von
Michael Jeismann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.
Flasch, Kurt: Die geistige Mobilmachung: die deutschen Intellektuellen und
der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Fest, 2000.
Fries, Helmut: Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und
Gelehrter. 2 Bde. Konstanz: Hockraben, 1994 und 1995.
Fromkin, David: Europas letzter Sommer: die scheinbar friedlichen Wochen
vor dem Ersten Weltkrieg. München: Blessing, 2005.
Geiss, Imanuel: Der lange Weg in die Katastrophe: die Vorgeschichte des
Ersten Weltkriegs 1815-1914. München und Zürich: Piper, 1990.
Hirschfeld, Gerhard (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn
u.s.w.: Schöningh, 2003.
-/Krumeich, Gerd (Hrsg.): Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …:
Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen: Klartext-Verlag, 1993.
Hüppauf, Bernd: Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen
Menschen«. In: Hirschfeld/Krumeich (Hrsg.), Keiner fühlt sich hier mehr als
Mensch … (s. o.), S. 43 – 84.
Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen
Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-
1918. Stuttgart: Klett-Cotta, 1992.
Keegan, John: Der Erste Weltkrieg: eine europäische Tragödie. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt, (3) 2004.
King, John: »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?« Writing and Rewriting
the First World War. Schnellroda: Antaios, 2003.
Kruse, Wolfgang (Hrsg.): Eine Welt von Feinden: der Große Krieg 1914-
1918. Frankfurt am Main: Fischer, 1997.
-: Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn. In: Kruse
(Hrsg.), Eine Welt von Feinden (s. o.), S. 159-195.
Marquardt, Wilhelm: Als Gefechtsläufer bei Ernst Jünger im Sommer 1918.
In: Wimbauer (Hrsg.), Anarch im Widerspruch (s. Aufsatzbände), S. 171 –
193.
Meyer-Arndt, Lüder: Die Julikrise 1914: wie Deutschland in den Ersten
Weltkrieg stolperte. Köln: Böhlau, 2006.
Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg: Wirkung, Wahrnehmung,
Analyse. München und Zürich: Piper, 1994.
Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen
Bismarck und Hitler. München und Wien: Hanser, 1998.
Rohkrämer, Thomas: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und
Technik in Deutschland 1880-1933. Paderborn usw.: Schöningh, 1999.
Schneider, Uwe/Schumann, Andreas (Hrsg.): »Krieg der Geister«: Erster
Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann,
2000.
Schumann, Dirk: Der brüchige Frieden: Kriegserinnerungen,
Kriegsszenarien und Kriegsbereitschaft. In: Das Neue Jahrhundert:
europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Hrsg. von Ute
Frevert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 113-145.
Schulin, Ernst: Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. In:
Michalka, Der Erste Weltkrieg (s. o.), S. 3-27.
Schwaabe, Christian: Die deutsche Modernitätskrise: politische Kultur und
Mentalität von der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung. München:
Fink, 2005.
Spilker, Rolf/Ulrich, Bernd (Hrsg.): Der Tod als Maschinist: der
industrialisierte Krieg 1914 – 1918. Eine Ausstellung des Museums
Industriekultur Osnabrück. Bramsche: Rasch, 1998.
Stevenson, David: 1914-1918: der Erste Weltkrieg. Aus dem Englischen von
Harald Ehrhardt und Ursula Vones-Liebenstein. Düsseldorf: Artemis &
Winkler, 2006.
Ulrich, Bernd/Ziemann, Benjamin: Das soldatische Kriegserlebnis. In: Kruse
(Hrsg.), Eine Welt von Feinden (s. o.), S. 127 – 159.
Verhey, Jeffrey: Der »Geist von 1914« und die Erfindung der
Volksgemeinschaft. Aus dem Englischen von Jürgen Bauer und Edith Nerke.
Hamburg: Hamburger Edition, 2000.
Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag, 1988.
Wehler, Hans-Ulrich: Der zweite Dreißigjährige Krieg: der Erste Weltkrieg
als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg. In: Burgdorff/Wiegrefe
(Hrsg.), Der Erste Weltkrieg (s. o.), S. 23-35.
-: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten
Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949.
München: Beck, 2003.
Wette, Wolfram (Hrsg.): Der Krieg des Kleinen Mannes: eine
Militärgeschichte von unten. München und Zürich: Piper, 1992.
Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Erster Band:
Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der
Weimarer Republik. München: Beck, 2000.

Zum Kapitel Kriegsschriften und Fassungen


Arnold, Heinz Ludwig: Zerstört oder gestählt: über eine Differenz zwischen
Erich Maria Remarque und Ernst Jünger. In: H. L. Arnold: Von
Unvollendeten: literarische Porträts. Göttingen: Wallstein, 2005, S. 52-65.
Böhme, Ulrich: Fassungen bei Ernst Jünger. Meisenheim am Glan: Hain,
1972.
Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens (s. Gesamtdarstellungen).
Brenneke, Reinhard: Militanter Modernismus: vergleichende Studien zum
Frühwerk Ernst Jüngers. Stuttgart: M & P, Verlag für Wissenschaft und
Forschung, 1992.
Dempewolf, Eva: Blut und Tinte: eine Interpretation der verschiedenen
Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem politischen
Hintergrund der Jahre 1920 bis 1980. Würzburg: Königshausen & Neumann,
1992.
Emig, Rainer: Krieg als Metapher im 20. Jahrhundert. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001.
Encke, Julia: Augenblicke der Gefahr: der Krieg und die Sinne. 1914 –
1934. München: Fink, 2006.
Erll, Astrid: Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als
Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er
Jahren. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2003.
Gauger, Klaus: Krieger, Arbeiter, Waldgänger, Anarch: das kriegerische
Frühwerk Ernst Jüngers. Frankfurt am Main usw.: Lang, 1997.
Gnädinger, Michael: Zwischen Traum und Trauma: Ernst Jüngers Frühwerk.
Frankfurt am Main usw.: Lang, 2003.
Honold, Alexander: Die Kunst, unter der Taucherglocke zu hören: Ernst
Jüngers soldatische Avantgarde. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S.
43 – 64.
King, John: »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?« Writing and Rewriting
the First World War. Schnellroda: Antaios, 2003.
Kittsteiner, Heinz D./Lethen, Helmut: »Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen
Mantel aus«: Überlegungen zur »Ästhetik des Schreckens«. In: Berliner
Hefte 1979, H. 11, S. 20 bis 50.
Knebel, Hermann: »Fassungen«: zu Überlieferungsgeschichte und
Werkgenese von Ernst Jüngers In Stahlgewittern. In: Segeberg (Hrsg.), Vom
Wert der Arbeit (s. u.), S. 379 – 408.
Koch, Lars: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne: zu den
Werken von Walter Flex und Ernst Jünger. Würzburg: Königshausen &
Neumann, 2006.
Konitzer, Martin/Freudenberg, Nahid: Leutnant »Sturm« und »Krieg ohne
Schlacht«: Bildraum und Psychodynamik des deutschen Kriegers. In:
Beltran-Vidal (Hrsg.), Images d’Ernst Jünger (s. Aufsatzbände), S. 163 –
176.
Köppen, Manuel: Das Entsetzen des Beobachters: Krieg und Medien im 19.
und 20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter, 2005.
Korte, Hermann: Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus: Studien zur
Evolution eines literarischen Themas. Bonn: Bouvier, 1981.
Kunicki, Wojciech: Projektionen des Geschichtlichen: Ernst Jüngers Arbeit
an den Fassungen von »In Stahlgewittern«. Frankfurt am Main usw.: Lang,
1993.
Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den
Kriegen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.
Liebchen, Gerda: Ernst Jünger: seine literarischen Arbeiten in den zwanziger
Jahren. Eine Untersuchung zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur.
Bonn: Bouvier, 1977.
Martus, Steffen: Der Krieg der Poesie: Ernst Jüngers »Manie der
Bearbeitungen und Fassungen« im Kontext der »totalen Mobilmachung«. In:
Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 212-234.
Mergenthaler, Volker: »Versuch, ein Dekameron des Unterstandes zu
schreiben«: zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen
Prosatexten Ernst Jüngers. Heidelberg: Winter, 2001.
Müller, Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller: der Kriegsroman der
Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler, 1986.
Öhlschläger, Claudia: »Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern
auch die männliche Form der Zeugung«: Ernst Jünger und das »radikale
Geschlecht« des Kriegers. In: Christian Begemann/David E. Wellbery
(Hrsg.), Kunst – Zeugung – Geburt: Theorien und Metaphern ästhetischer
Produktion in der Neuzeit. Freiburg im Breisgau: Rombach, 2002, S. 325 –
352.
Nitzgen, Dieter: Erwartungsangst und Schmerzgewissheit: Traumatische
Aspekte im Werk von E. Jünger. In: Seidler/Eckart (Hrsg.), Verletzte Seelen
(s. u.), S. 107-124.
Rink, Annette: Plutarch des Naturreichs (s. Gesamtdarstellungen).
Schilling, René: »Kriegshelden«: Deutungsmuster heroischer Männlichkeit
in Deutschland 1813 – 1945. Paderborn usw.: Schöningh, 2002.
Schneider, Thomas F. (Hrsg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung: das
Bild des »modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film.
Osnabrück: Rasch, 1999.
-/Wagener, Hans (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque: deutschsprachige
Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam und New York: Rodopi, 2003, S. 261 –
298.
Schulz, Petra Maria: Ästhetisierung von Gewalt in der Weimarer Republik.
Münster: Westfälisches Dampfboot, 2004 [S. 125-134: »Vitalismus und
Abenteuer: Ernst Jüngers Kampf als inneres Erlebnis«].
Segeberg, Harro: Regressive Modernisierung: Kriegserlebnis und Moderne-
Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In: Segeberg, Harro: Vom Wert der Arbeit:
zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes »Arbeit« in der deutschen
Literatur (1770 bis 1930). Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 337-378.
Seidler, Günter H./Eckart, Wolfgang U.: Verletzte Seelen: Möglichkeiten
und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen:
Psychosozial-Verlag, 2005.
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918:
von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München:
Beck, 2004.
Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper,
Geschichte. Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des Weißen Terrors.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980.
Verboven, Hans: Die Metapher als Ideologie: eine kognitiv-semantische
Analyse der Kriegsmetaphorik im Frühwerk Ernst Jüngers. Heidelberg:
Winter, 2003.
Volmert, Johannes: Ernst Jünger: »In Stahlgewittern«. München: Fink, 1985.
Weisbrod, Bernd: In Stahlgewittern. In: Querlektüren: Weltliteratur zwischen
den Disziplinen. Hrsg. von Wilfried Barner. Göttingen: Wallstein, 1997, S.
168-186.

Zu den Kapiteln über Jünger in der Weimarer


Republik: Reichswehrzeit, Studium und politische
Publizistik, Berliner Jahre und Ende der Republik
Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft: Literatur und Traum in der
Kulturgeschichte der Neuzeit. München: Beck, 2002.
Ansel, Michael: Der verfemte und der unbehelligte Solitär: Gottfried Benns
und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933. In: Hagestedt
(Hrsg.), Ernst Jünger (s. Aufsatzbände), S. 1-23.
Arend, Stefanie: Ernst Jüngers Frühwerk im Fluchtpunkt von Maurice
Barrès’ Konzeption des Nationalismus. In: Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger
(s. Aufsatzbände), S. 25-34.
Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen: Karriere eines Kults.
Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Stuttgart und Weimar: Metzler,
1996.
Aspetsberger, Friedbert: Arnolt Bronnen: Biographie. Wien usw.: Böhlau,
1995.
Bahn, Peter: Friedrich Hielscher (1902 – 1990): Einführung in Leben und
Werk. Schnellbach: Bublies, 2004.
Beltran-Vidal, Danièle: Le »nouveau« nationalisme des frères Jünger en
1926. In: Les Carnets Ernst Jünger 6 (2001), S. 107 – 126.
Berggötz, Sven Olaf: Ernst Jünger und die Politik. In: Ernst Jünger:
Politische Publizistik 1919 – 1933. Hrsg. von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart:
Klett-Cotta, 2001, S. 834 bis 869.
-: Zwei Wege: Ernst Jüngers politischer Diskurs mit Ludwig Alwens. In: Les
Carnets 6 (2001), S. 147 – 165.
Berghahn, Volker R.: Der Stahlhelm: Bund der Frontsoldaten 1918 – 1935.
Düsseldorf: Droste, 1966.
Bessel, Richard: Militarismus im innenpolitischen Leben der Weimarer
Republik: von den Freikorps zur SA. In: Müller/Opitz (Hrsg.), Militär und
Militarismus (s. u.), S. 193 – 222.
Bialas, Wolfgang/Iggers, Georg G. (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer
Republik. Frankfurt am Main usw.: Lang, (2) 1997.
Bluhm, Lothar: »ein geistiger Wegbereiter und eiskalter Wollüstling der
Barbarei«: Thomas Mann über Ernst Jünger – eine Studie zu Manns
politisch-literarischer Urteilsbildung. In: Wirkendes Wort 46 (1996), S. 424-
445.
Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer
Extremismus zwischen den Weltkriegen. München: Fink, (2) 1991.
Bracher, Karl Dietrich: Zeit der Ideologien: eine Geschichte des politischen
Denkens im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1982.
Brenneke, Reinhard: Militanter Modernismus: vergleichende Studien zum
Frühwerk Ernst Jüngers. Stuttgart: M & P, Verlag für Wissenschaft und
Forschung, 1992.
Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993.
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diskord, 1999.
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Vergleich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005.
Bullock, Marcus Paul: The violent eye: Ernst Jünger’s visions and revisions
on the European right. Detroit, Mi.: Wane State University Press, 1992.
Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München: Fink,
2001.
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ästhetischen und literarischen Verwandtschaft. Diss. Heidelberg, 2007 (noch
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Göttingen: Wallstein, 2007 [S. 35 – 86: Alexander Mitscherlich in der
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Augenzeugenberichten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974.
Diesener, Gerald/Kunicki, Wojciech: Johannes R. Becher und Ernst Jünger –
eine glücklose Liaison? In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994),
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Dupeux, Louis: Der »Neue Nationalismus« Ernst Jüngers 1925-1932: vom
heroischen Soldatentum zur politisch-metaphysischen Totalität. In:
Koslowski (Hrsg.), Die großen Jagden des Mythos (s. u.), S. 15 – 40.
-: »Nationalbolschewismus« in Deutschland 1919 – 1933: kommunistische
Strategie und konservative Dynamik. München: Beck, 1985.
Dupeux, Louis (Hrsg.): La »Révolution Conservatrice« Allemande sous la
République de Weimar. Paris: Éditions Kimé, 1992.
Ehrlich, Lothar/John, Jürgen (Hrsg.): Weimar 1930: Politik und Kultur im
Vorfeld der NS-Diktatur. Köln usw.: Böhlau, 1998.
Encke, Julia: Augenblicke der Gefahr: der Krieg und die Sinne. 1914-1934.
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-: Wahrnehmungspolitik: Ernst Jünger und das Lichtbild. In: Die Medien der
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München: Fink, 2003, S. 191-209.
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zwischen Deutschland und Frankreich im Spannungsfeld nationaler und
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Fest, Joachim C.: Hitler: eine Biographie. Frankfurt am Main und Berlin:
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Faber, Richard: Ästhetik des Schreckens – Schrecken der Patriotik: keine
Hommage an das Abenteuerliche Herz. In: Meuter/Otten (Hrsg.), Der
Aufstand gegen den Bürger (s. u.), S. 233 – 260.
Felken, Detlef: Oswald Spengler: konservativer Denker zwischen
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Figal, Günter: Ernst Jünger, Baudelaire und die Modernität. In: Revue de
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-: Verwandtschaften: Jünger-Studien 2. Tübingen: Attempto, 2003.
Fröschle, Ulrich: Die »Front der Unzerstörten« und der »Pazifismus«: die
politischen Wendungen des Weltkriegserlebnisses beim »Pazifisten« und
beim »Frontschriftsteller« Ernst Jünger. In: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999),
S. 307 – 360.
-: »Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln«? Franz Schauwecker:
Aufbruch der Nation (1929). In: Schneider, Thomas F./Wagener, Hans
(Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque: deutschsprachige Prosa zum I.
Weltkrieg. Amsterdam und New York: Rodopi, 2003, S. 261-298.
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Zu den Kapiteln Zweiter Weltkrieg und frühe


Nachkriegsjahre,
Strahlungen und Heliopolis

Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann: Bausteine einer Biographie –


Kritische Bestandsaufnahme. Hrsg. von Georg Kreis, Gerd Krumeich, Henri
Ménudier, Hans Mommsen und Arnold Sywottek. Hamburg: Christians,
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2004, S. 97-119. Wieder in: Hannes Heer: Vom Verschwinden der Täter: der
Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin: Aufbau
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Heller, Gerhard: In einem besetzten Land: NS-Kulturpolitik in Frankreich.
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Herbert, Ulrich: Best: biographische Studien über Radikalismus,
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»Historikerstreit«: die Dokumentation der Kontroverse um die
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Michels, Eckard: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944: ein Beitrag zu
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»Burgunderszene«].
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Schirrmacher, Frank: »der Führer wünscht sofortige Vorlage«: Roland
Freislers Brief an Martin Bormann zum Verfahren gegen Ernst Jünger ist
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Seferens, Horst: »Leute von übermorgen und von vorgestern« (s.
Gesamtdarstellungen).
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»Vergangenheitsbewältigung«. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte
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Speidel, Hans: Briefe aus Paris und aus dem Kaukasus. In: Freundschaftliche
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Main: Klostermann, S. 181-195.
Taureck, Margot: Friedrich Sieburg in Frankreich: seine literarisch-
publizistischen Stellungnahmen zwischen den Weltkriegen in Vergleich mit
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Tielke, Martin: Der Schmerz als Währung unserer Zeit: Ernst Jünger in
Wilhelmshaven. In: Tota Frisia in Teilansichten: Hajo van Lengen zum 65.
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Tielke. Aurich: Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und
Vertriebsgesellschaft, 2005, S. 409-446 [detailliert über Ernstels Haft und
Tod].
-: Der stille Bürgerkrieg: Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich.
Berlin: Landt, 2007 [Erweiterung des o. g. Aufsatzes um ein Kapitel über
Carl Schmitt, wiederum sehr umsichtig und detailliert].
Tommissen, Piet: Ernst Jüngers Friedensschrift: Versuch einer
Rekonstruktion ihrer Geschichte und ihres Schicksals. In: Wimbauer (Hrsg.),
Anarch im Widerspruch (s. Aufsatzbände), S. 243-292.
Wimbauer, Thomas: Kelche sind Körper: der Hintergrund der »Erdbeeren in
Burgunder«-Szene. In: Wimbauer (Hrsg.), Anarch im Widerspruch (s.
Aufsatzbände), S. 23-69.

Zu den Kapiteln über die Zeit nach 1950


Andersch, Alfred: Achtzig und Jünger. In: Arbogast (Hrsg.), Über Ernst
Jünger (s. unter Aufsatzbände), S. 119-136.
-: Amriswiler Rede auf Ernst Jünger. In: Arbogast (Hrsg.), Über Ernst
Jünger, S. 93 bis 106.
Baron, Ulrich: Jüngers Erzählung »Besuch auf Godenholm« (1952):
»Annäherungen« an »Drogen und Rausch« (1970). In: Müller/Segeberg
(Hrsg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert (s. Aufsatzbände), S. 199 – 216.
-: Ordnung der Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang: zur Lebenskunst Ernst
Jüngers. In: Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger (s. Aufsatzbände), S. 35-45.
Battistelli, Giorgio: Auf den Marmorklippen: musikalische Visionen nach
dem Roman von Ernst Jünger. Mannheim: Nationaltheater, 2001
(Programmheft Nr. 136).
Bollack, Jean: Celans Maskenspiel: sein Brief an Jünger betont das
Trennende. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 11 vom 14. Januar 2005,
S. 31.
Bräuninger, Werner: »Ich wurde mißtrauisch«: Extempore über Hans Peter
des Coudres. In: Bräuninger, Werner: »Ich wollte nicht daneben stehen …«:
Lebensentwürfe von Alfred Baeumler bis Ernst Jünger. Essays. Graz: Ares,
2006, S. 124 bis 132.
Brekle, Wolfgang: Das Unbehagen Ernst Jüngers an der Nazi-Herrschaft. In:
Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 335 – 350.
Burkhardt, Alexander: Die Innenseite der Macht: zum Partisanischen bei
Ernst Jünger. In: Herfried Münkler (Hrsg.): Der Partisan: Theorie, Strategie,
Gestalt. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990, S. 247 – 259.
Busche, Jürgen: Kohl bei Ernst Jünger. In: Frankfurter Hefte 10 (1992), S.
914 – 917.
Dietka, Norbert: Ernst Jünger nach 1945: das Jünger-Bild der
bundesdeutschen Kritik (1945 bis 1985). Frankfurt am Main usw.: Lang,
1987.
Figal, Günter: Erörterung des Nihilismus: Ernst Jünger und Martin
Heidegger. In: Études Germaniques 51 (1996), 717 – 725.
Fiorentino, Francesco: Ernst Jünger und Heiner Müller: für eine nicht nur
menschliche Kultur. In: Figal/Knapp (Hrsg.), Verwandtschaften (s.
Aufsatzbände), S. 186-219.
Großheim, Michael: Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in
der Moderne. Berlin: Duncker & Humblot, 1995.
Hagestedt, Lutz: Ambivalenz des Ruhmes: Ernst Jüngers Autorschaft im
Zeichen des Goethepreises. In: Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger (s.
Aufsatzbände), S. 167 – 179).
Hervier, Julien: Situation d’Eumeswil. In: Les Carnets 1 (1996), S. 135 –
153.
Herzinger, Richard: Masken der Lebensrevolution: vitalistische
Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München:
Fink, 1992.
Hofmann, Albert: Drogen und Rausch im Leben und Werk von Ernst Jünger:
In: Figal /Knapp (Hrsg.), Prognosen (s. Aufsatzbände), S. 8-20.
Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe: eine Geschichte des
geteilten Deutschland. Berlin: Siedler, 2000.
Kiesel, Helmuth: Die Restauration des Restaurationsbegriffs im
Intellektuellendiskurs der frühen Bundesrepublik. In: Herausforderungen der
Begriffsgeschichte. Hrsg. von Carsten Dutt. Heidelberg: Winter, 2003, S.
173 – 193.
-: Ernst Jünger 1895-1995: Festakt aus Anlaß des 100. Geburtstages.
Heidelberg: Müller, 1995 (= Heidelberger Universitätsreden 10).
-: »Fruktifizierung des eigenen Briefwechsels«: zu einem Vorwurf Carl
Schmitts an Ernst Jünger. In: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und
Ruhmbildung. Hrsg. von Detlev Schöttker. München: Fink, 2008.
Koch, Gerhard R.: Und ihr wißt, ich singe von bestimmten Dingen: »Auf
den Marmorklippen«: die Uraufführung von Giorgio Battistellis Jünger-Oper
mit La Fura dels Baus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 59 vom 11.
März 2002, S. 45.
Kock, Erich: Wer mehr erfahren will, muß den Tod wagen – Ernst Jünger.
In: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 27 (1998), S. 272-282.
Kron, Jürgen: Seismograph der Moderne (s. Gesamtdarstellungen).
Lethen, Helmut: Drei Männer im Schutt: Gottfried Benn, Ernst Jünger und
Carl Schmitt. Eine Episode aus der Nachkriegszeit. In: LiteraturMagazin 39
(1977), S. 142 – 157.
Linder, Gisela (Hrsg.): Ernst Jünger: die Jahrzehnte in Oberschwaben.
Hamburg usw.: Mittler, 2002.
Mohler, Armin: Ravensburger Tagebuch: meine Zeit bei Ernst Jünger
1949/50. Mit einem Nachtrag In Wilflingen 1950 – 1953 von Edith Mohler.
Wien und Leipzig: Karolinger, 1999.
Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit (s. Gesamtdarstellungen).
Neaman, Elliot Y.: A dubious past (s. Gesamtdarstellungen).
Niethammer, Lutz: Posthistoire: ist die Geschichte zu Ende? Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt, 1989.
Osterkamp, Ernst: »So sieht ein Gott die Welt«: Albert Renger-Patzsch, die
Fotografie der Neuen Sachlichkeit und Ernst Jünger. (Vortrag im Rahmen
der Freiburger Tagung »Intermedialität«, März 2007; noch nicht publiziert).
Pschera, Alexander: Heilige Tiefe und geistiger Überblick: die Zeitschrift
Antaios (1959-1971). In: Sezession 5 (2007) H. 16, S. 18 – 23.
Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau:
die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn: Dietz, 1993 (=
Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung/Reihe: Politik und
Gesellschaftsgeschichte, Bd. 33).
Schirnding, Albert von: Clemens und Sophie Dorothee Podewils: eine
Freundschaft mit Ernst und Friedrich Georg Jünger. In: Figal/Knapp (Hrsg.),
Verwandtschaften (s. Aufsatzbände), S. 232-248.
Schröter, Olaf: Von den »Titanen« zur »Titanic«: der Titanenmythos bei
Friedrich Georg und Ernst Jünger. In: Strack (Hrsg.), Titan Technik (s.
Aufsatzbände), S. 243 bis 254.
Seferens, Horst: »Leute von übermorgen und von vorgestern« (s.
Gesamtdarstellungen).
Segeberg, Harro: Ernst Jüngers »Gläserne Bienen« als »Frage nach der
Technik«. In: Strack (Hrsg.), Titan Technik (s. Aufsatzbände), S. 211-224.
-: Schreiben an der »Zeitmauer«: der Autor und sein Mythos. In: Les Carnets
1 (1996), S. 189-207.
Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde: Opposition gegen Technik und
Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Beck, 1984.
van Laak, Dirk: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens: Carl Schmitt in
der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin:
Akademie Verlag, 1993.
Villwock, Jörg: Rückblick in die Zukunft: zum Verständnis von Historie in
Ernst Jüngers »Eumeswil«. In: Unter Argusaugen: zu einer Ästhetik des
Unsichtbaren. Hrsg. von Gerd Held, Carola Hilmes und Dietrich Mathy.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997, S. 134-148.
Vondung, Klaus: Ernst Jüngers »Der Arbeiter« – nach fünfzig Jahren:
faschistisches Weltbild oder gültige Zeitdiagnose. In: Frankfurter Hefte 37
(1982), S. 11 – 14.
Weilmeier, Christian: »Eumeswil«: Ernst Jüngers Philosophie der
institutionellen Ordnung. Diss. München, Hochschule für Philosophie SJ,
2004 (noch ungedruckt).
Wimbauer, Thomas: In Dankbarkeit und Verehrung. Hilfe kommt aus
Wilflingen: ein Brief von Paul Celan an Ernst Jünger wurde im Marbacher
Literaturarchiv entdeckt. In: Frankfurter Allgemeine Nr. 6 vom 8. Januar
2005, S. 33.
Wulfen, Barbara von: Korrespondenz als Remedium. In: Sinn und Form 58
(2006), S. 32-59 [42 – 59: Briefe von Heidegger sowie E. und F. G. Jünger
an Sophie Dorothee und Clemens Podewils].
Personenregister

(Kursive Zahlen verweisen auf Bildlegenden.)

Adams, Paul
Adenauer, Konrad
Adorno, Theodor W.
Alexander der Große
Allemann, Fritz René
Alwens, Ludwig
Andersch, Alfred
Andreae, Johann Valentin
Andres, Stefan
Angell, Norman.
Antonius, hl.
Aragon, Louis
Ariost
Arnold, Heinz Ludwig
Aron, Raymond
Assadoulaeff, Umm-el Banine
Augstein, Rudolf
Bab, Julius
Baberowski, Jörg
Bachmann, Ingeborg
Bacon, Francis
Baeck, Leo
Baeumler, Alfred
Bähr, H. Walter
Ball, Hugo
Balzac, Honoré de
Banine s. Assadoulaeff
Bargatzky, Walter.
Barrès, Maurice
Barth, Hans
Battistelli, Giorgio
Baudelaire, Charles
Bauer, Bruno
Bauman, Zygmunt.
Bavaj, Riccardo
Becher S.J., Hubert
Becher, Johannes R.
Beck, Ludwig
Behrendt, Richard
Benda, Julien
Benjamin, Walter
Benn, Gottfried
Benoist-Mèchin, Jacques
Bense, Max
Bergengruen, Werner
Bergman, Ingemar
Bernanos, Georges
Bernhard von Clairvaux
Bernhardi, Friedrich von
Best, Werner
Beumelburg, Werner
Bismarck, Otto von
Blanc de Saint-Bonnet, Antoine
Blersch, Margret
Bloch, Ernst
Bloch, Iwan
Bloem, Walter
Bloy, Léon
Blüher, Hans
Bluhm, Lothar
Boehm, Max Hildebert
Böhme, Jacob
Böhme, Ulrich
Bohrer, Karl Heinz
Böll, Heinrich
Bollack, Jean
Bolz, Norbert
Borchardt, Rudolf
Borges, Jorge Luis
Bormann, Martin
Bosch, Hieronymus
Braque, Georges
Braun, Lily
Braun,Volker
Brecht, Bertolt
Breitbach, Joseph
Brekle, Wolfgang
Breton, André
Breuer, Hans
Breuer, Stefan
Briand, Aristide
Brinon, Fernand de
Broch, Hermann
Brokoff, Jürgen
Bronnen, Arnolt
Bronner, Ferdinand
Broszat, Martin
Brüning, Heinrich
Bullock, Marcus Paul
Buselmeier, Michael
Busse, Hermann von
Byron, Lord George Gordon
Campanella, Tommaso
Carus, Karl Gustav
Cäsar (Gaius Iulius Caesar)
Catull (Gaius Valerius Catullus)
Cavell, Edith
Celan, Paul.
Céline, Louis-Ferdinand
Cellini, Benvenuto
Cervantes, Miguel de
Chamisso, Adelbert von
Chung, Wonseok
Clemenceau, Georges
Cocteau, Jean
Colli, Giorgio
Comte, Auguste
Conrad, Joseph
Cooper, James Fenimore.
Cortés, Donoso
Coßmann, Paul Nicolaus
Coudres, Hans Peter des
Crick, Fancis
Curie, Marie
Dante Alighieri
Darwin, Charles
David, Claude
Defoe, Daniel.
Dehmel, Richard
Dempewolf, Eva
Demus, Klaus
Descartes, René
Detering, Heinrich
Dirks, Walter
Dix, Otto
Döblin, Alfred
Doderer, Heimito von
Doering-Manteuffel, Anselm
Dohrn, Anton
Domeier
Dönitz, Karl
Dornheim, Liane
Dostojewski, Fjodor M.
Driesch, Hans.
Drieu La Rochelle, Pierre
Droste-Hülshoff, Annette von
Dschingiskhan
Duesterberg, Theodor
Dufner, Wolfram
Dumas, Alexandre
Dutschke, Rudi
Ebert, Friedrich
Eckehart, genannt Meister Eckart
Edward VII.
Ehrenstein, Albert
Ehrhardt, Hermann
Eich, Günter
Eichmann, Adolf
Einstein, Albert
Eliade, Mircea
Elser, Johann Georg
Emig, Rainer
Enzensberger, Hans Magnus.
Erzberger, Matthias
Eucken, Rudolf
Eulenburg-Hertefeld, Philipp Fürst zu
Eumenes von Kardia
Fabre-Luce, Alfred
Fest, Joachim
Figal, Günter
Fischer, Hugo
Fischer, Joseph
Flasch, Kurt
Flaubert, Gustave
Flavius Josephus
Fleig, Hans
Flex, Walter
Fock, Gorch (eigentl. Hans Kinau).
Fontenelle, Bernard le Bovier de
Frank, Leonhard
Frank, Ludwig
Franke, Helmut
Franz Ferdinand, Erzherzog
Franziskus, hl.
Frederking, Walter
Freisler, Roland
Freud, Ernst
Freud, Martin
Freud, Oliver
Freud, Sigmund
Frey, Georg
Friedmann
Friedrich., der Große
Friedrich Wilhelm.
Fritsch, Werner von
Fröschle, Ulrich
Fussenegger, Gertrud
Gädtke
Galilei, Galileo
Gallimard, Gaston
Gambetta, Léon
Gautier, Theophile
Gelpke, Rudolf
Genet, Jean
George, Stefan
Georgi.
Gerstäcker, Friedrich
Gerstenberger, Karl
Gestrich, Gerda.
Gestrich, Wolfram.
Gide, André
Gnoli, Antonio
Goebbels, Joseph
Goethe, Johann Wolfgang von
Goncourt, Edmond Huot de
Goncourt, Jules Huot de
González, Felipe
Göring, Hermann
Gould, Florence
Graf, Oskar Maria
Granier de Cassagnac, Adolphe
Grass, Günter
Grazian (eigentl. Gracian), Balthasar
Green, Julien
Gregory, Caspar René.
Grillparzer, Franz
Grimm, Hans
Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von.
Grimpe, Georg
Großmann, Stephan
Grosz, George
Gruber, Heinz
Gruenter, Rainer
Grünberg, Karl
Grüninger, Horst.
Guardini, Romano
Guitry, Sacha.
Günther, Albrecht Erich
Günther, Gerhard
Günther, Johann Christian
Gutmann, Helmut J.
Hackländer, Friedrich Wilhelm von
Haeckel, Ernst
Haffner, Sebastian
Halley, Edmund
Hamann, Johann Georg
Hannibal
Harich, Wolfgang
Hattingen, Max
Hauptmann, Gerhart
Heartfield, John
Hebbel, Friedrich.
Heer, Hannes
Hegel, Georg Wilhem Friedrich
Heidegger, Martin
Heisenberg, Werner.
Heißenbüttel, Helmut
Heller, Gerhard
Hellingrath, Norbert von
Heraklit
Herbert, Ulrich
Herder, Johann Gottfried.
Hermann, Cheruskerfürst
Herodot
Herta (Freundin)
Hervier, Julien.
Herzog, Roman
Heß, Rudolf
Hesse, Hermann
Hesse, Max René
Heuser, Kurt
Heuss, Theodor
Heydrich, Reinhard
Heym, Georg
Heymann, Walther
Heymel, Alfred Walter von
Hielscher, Friedrich
Hilberg, Raul
Hildebrandt, Fred
Himmler, Heinrich
Hindenburg, Paul von
Hitler, Adolf
Hobbes, Thomas
Hobsbawm, Eric
Hocke, Gustav René
Hoddis, Jakob van
Hofacker, Caesar von.
Hoffmann, E. T. A.
Hofmann, Albert
Hofmannsthal, Hugo von
Hölderlin, Friedrich
Höll, Werner
Homer
Honold, Alexander
Horaz
Horion, Adolf
Hrdlicka, Alfred
Hufeland, Christoph Wilhelm
Hugenberg, Alfred
Hugo, Victor
Humboldt, Alexander von
Hürsch, Erhard
Hüttmann
Huxley, Aldous
Huysmans, Joris-Karl
Ibsen, Henrik
Ignatius von Loyola
Ionescu, Eugène
Jäckel, Eberhard
Jacobs, Wilhelm
Jaspers, Karl
Jean Paul (eigentl. Johann Paul Friedrich Richter).
Jeanne (frz. Bekannte)
Jeinsen, Toni Margarte Anni (Gretha) von, s. Gretha Jünger
Jens, Walter
Jesaja
Jirgal, Ernst
Johanna von Orléans
Johannsen, Wilhelm
Johst, Hanns
Jonas, Hans
Jouhandeau, Marcel
Joyce, James
Jung, Franz
Jung-Stilling, Johann Heinrich
Jünger, Carl Alexander (Sohn von E.J.)
Jünger, Christian Jakob Friedrich Clamor (Fritz, Großvater von E.J.) .
Jünger, Citta, geb. Weickhardt (Schwägerin von E.J.)
Jünger, Ernst (Ernstel, Sohn von E.J.)
Jünger, Ernst Georg (Vater von E.J.)
Jünger, Felix (Bruder von E.J.)
Jünger, Friedrich Georg (Bruder von E.J.)
Jünger, Georg Christian (Urgroßvater von E.J.)
Jünger, Gertrud Wilhemine, geb. Niemann (Urgroßmutter von E.J.)
Jünger, Gretha, geb. von Jeinsen (erste Frau von E.J.)
Jünger, Hans Otto (Bruder von E.J.)
Jünger, Hermann (Bruder von E.J.)
Jünger, Hermine, geb. Wolters (Großmutter von E.J.)
Jünger, Irina (Enkelin von E.J.)
Jünger, Johanna Hermine (Hanna, Schwester von E.J.)
Jünger, Karoline, geb. Lampl (Mutter von E.J.)
Jünger, Liselotte, geb. Bäuerle (zweite Frau von E.J.)
Jünger, Martin (Enkel von E.J.)
Jünger, Wolfgang (Bruder von E.J.)
Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis)
Kafka, Franz
Kaiser, Georg
Kaiser, Joachim
Kant, Immanuel
Kapp, Wolfgang
Karneades von Kyrene
Kästner, Erich
Katte, Martin von
Katzmann, Ewald
Kellog, Frank B.
Kennan, George F.
Kerényi, Karl
Kershaw, Ian
Ketelsen, Uwe-K.
Key, Ellen
Kienitz
King, John
Kirchner, Ernst Ludwig
Kittsteiner, Heinz
Kjellén, Rudolf
Kläber, Kurt
Klages, Ludwig
Kleinschmidt, Sebastian
Kleist, Ewald von
Kleist, Heinrich von
Klemm, Gustav Friedrich
Klett, Ernst
Klett, Michael
Klostermann, Vittorio
Kluge, Alexander
Knebel, Hermann
Koch, Gerhard R.
Kogon, Eugen
Kohl, Helmut
Kolb, Annette
Kopernikus, Nikolaus
Koslowski, Peter
Kracauer, Siegfried
Kraus, Karl
Krömer, Felix Johannes.
Krupp, Friedrich
Kubin, Alfred
Kuby, Erich
Kunicki, Wojciech
Lacan, Jacques
Laemmle, Carl
Larese, Dino
Léautaud, Paul Firmin Valentin
Leibl, Wilhelm
Lenin, Wladimir I.
Lesage, Alain
Lessing, Gotthold Ephraim
Lethen, Helmut
Levi, Paul
Lewis, Sinclair
Lichtenberg, Georg Christoph
Lichtenstein, Alfred
Liebchen, Gerda.
Liebknecht, Karl
Linde, Otto Hans Jürgen von der
Lindemann, Friedrich
Lißmann, Friedrich
Litzmann, Ursula
Loehning, Paul
Loerke, Oskar
Loewe, Heinrich
Lohrer, Liselotte, s. Liselotte Jünger
Lokatis, Siegfried
Löns, Hermann
Lotz, Ernst Wilhelm
Louis Philippe, König der Franzosen
Louise (Hausmädchen)
Löwith, Karl
Ludendorff, Erich.
Ludwig XV.
Lukács, Georg
Luther, Martin
Macke, August
Mann, Golo
Mann, Heinrich
Mann, Katia
Mann, Klaus.
Mann, Thomas
Manthey, Jürgen
Manzù, Giacomo
Marc, Franz
Marchwitza, Hans
Marcu, Valeriu
Marinetti, Filippo Tommaso
Marquardt, Wilhelm
Martial (Marcus Valerius Martialis)
Martin, Alfred von
Martus, Steffen
Marx, Karl
Maupassant, Guy de
Max von Baden
May, Karl
Meier, Robert
Melville, Herman
Mendelssohn, Peter de
Mengs, Raphael
Mergenthaler, Volker
Merkenschlager, Friedrich
Meyer, Agnes E.
Meyer, Martin
Meyer, Victor
Mirbeau, Octave.
Mitscherlich, Alexander
Mitscherlich, Margarete.
Mitterrand, François
Moeller van den Bruck, Arthur
Mohammed
Mohler, Armin
Mohler, Edith.
Moltke, Helmuth von.
Montherlant, Henry Millon de
Montinari, Mazzino
Morand, Paul
Morat, Daniel
Moravia, Alberto
Mozart, Wolfgang Amadeus
Muckermann, Friedrich.
Mühleisen, Horst
Mühsam, Erich
Müller, Hans-Harald
Müller, Heiner
Müller, Wulf Dieter
Munch, Edvard
Musil, Robert
Mussolini, Benito
Napoleon
Naumann, Max
Neaman, Elliot Y.
Nebel, Gerhard
Neske, Günther
Neumann, Michael
Newton, Isaac
Nicolai, Georg Friedrich
Niekisch, Ernst
Niethammer, Lutz
Nietzsche, Friedrich
Nikolaus.
Nolte, Ernst
Nordau, Max
Nossack, Hans Erich
Novalis (eigentl. Friedrich Freiherr von Hardenberg)
Oelze, F. W..
Ohnesorg, Benno
Oppen, von
Orff, Carl
Ossietzky, Carl von
Ovid
Paetel, Karl Otto
Pankhurst, Emmeline
Paracelsus (eigentl. Theophrastus Bombast von Hohenheim)
Parow, Johann Heinrich
Pascal, Blaise
Paulhan, Jean
Paulicke
Pekar, Thomas
Petrenz, Adolf
Peukert, Detlev J.K.
Pfaffendorf, Hermann
Pfeifer, Anton
Pfemfert, Franz
Philippe Égalité, Herzog von Orléans
Picard, Max
Picasso, Pablo
Pinthus, Kurt
Plaas, Hartmut
Platen, August von
Platon
Plenge, Johann
Plinius der Ältere
Plutarch
Podewils, Clemens Graf von
Poe, Edgar Allan
Popp
Pound, Ezra
Preetorius, Emil
Preuß, Hugo
Prill, Ulrich
Proust, Marcel
Prümm, Karl
Pschera, Alexander
Raddatz, Fritz J.
Radek, Karl
Radkau, Joachim
Ranke, Leopold von
Rathenau, Walther .
Rauschning, Hermann
Ravoux, Paul
Ravoux, Sophie
Reemtsma, Jan Philipp
Reich-Ranicki, Marcel
Remarque, Erich Maria
Renard, Pierre Jules
Renger-Patzsch, Albert
Resle (Haushälterin)
Reventlow, Franziska von
Ribbentrop, Joachim von
Richter, Hans Werner
Richthofen, Manfred von
Rickert, Karl
Riezler, Walter
Riley, James
Rilke, Rainer Maria
Rilla, Paul
Rimbaud, Arthur
Rivarol, Antoine de
Röhm, Ernst.
Rolland, Romain
Rommel, Erwin
Röntgen, Wilhelm
Roosevelt, Theodore
Rosenberg, Alfred
Rosenhaupt, Franz
Roßbach, Gerhard
Roßkopf, Veit
Rotermund, Erwin
Rotermund, Heidrun
Roth, Joseph
Rothe, Arnold
Rousseau, Jean Jacques
Rowohlt, Ernst
Rubiner, Ludwig
Sack, Gustav
Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de
Salinger, Hans Dieter
Salomon, Ernst von
Schaer, Ernst
Scharnhorst, Gerhard von
Schauwecker, Franz
Scheerbart, Paul
Scheidemann, Philipp
Schelsky, Helmut
Schickele, René
Schieb, Roswitha
Schiller, Friedrich
Schirnding, Albert von
Schirrmacher, Frank
Schkarena, Olga
Schlageter, Albert Leo.
Schlegel, Friedrich
Schleich, Carl Ludwig
Schlichter, Rudolf
Schlichter, Speedy
Schlumberger, Jean
Schmalenbach, Herman
Schmid, Carlo
Schmidt, Arno
Schmidt, Helmut
Schmidt, Ina
Schmitt, Carl
Schmitt, Duska
Scholem, Gershom
Schopenhauer, Arthur
Schramm, Wilhelm
Schranz, Franz
Schreyer, Lothar
Schulin, Ernst
Schultz, Edmund
Schwab, Gustav
Schwarz, Manfred
Schwarzschild, Leopold
Schwitters, Kurt
Scipio Africanus minor
Sealsfield, Charles
Sée, Georges
Seeckt, Hans von
Seferens, Horst
Seldte, Franz
Seligmann, Walter Eduard
Serner, Walter
Seyerlen, Egmont
Shakespeare, William
Sieburg, Friedrich
Siedler, Wolf Jobst
Silberberg
Sloterdijk, Peter
Sokrates
Sombart, Corina
Sombart, Nicolaus
Sombart, Werner
Sontheimer, Kurt
Sorge, Reinhard Johannes
Speidel, Hans
Spencer, Herbert
Spengler, Oswald
Stadler, Ernst
Stapel, Wilhelm
Stahl, Friedrich Julius
Stanley, Henry Morton
Stauffenberg, Claus Schenk Graf von
Stauffenberg, Franz Wilhelm Schenk Freiherr von.
Stauffenberg, Friedrich Schenk Freiherr von
Stauffenberg, Johann Franz Schenk von
Steegemann, Paul
Stegemann, Hermann
Stendhal (eigentl. Marie-Henri Beyle)
Stern, Fritz
Stern, Joseph Peter
Sternberger, Dolf
Sterne, Laurence
Sternheim (Hausarzt)
Sternheim, Carl
Stevenson, David
Stirner, Max
Stokes
Stramm, August
Strasser, Gregor
Strasser, Otto
Straten, Giorgio van
Strauß, Emil
Stresemann, Gustav
Stülpnagel, Carl-Heinrich von
Stülpnagel, Otto von.
Stülpnagel, Joachim von.
Sudermann, Hermann
Sue, Eugène
Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus)
Suhrkamp, Annemarie
Suhrkamp, Peter
Sulla (Lucius Cornelius Sulla)
Suttner, Bertha von
Swedenborg, Emanuel
Swift, Jonathan
Tacitus (Publius Cornelius Tacitus)
Taysen, Friedrich von
Teufel, Erwin
Theweleit, Klaus
Thiers, Adolphe
Thomas a Kempis
Thylmann, Karl
Tippelskirch, Kurt von
Tocqueville, Alexis de
Toepfer, Alfred
Toller, Ernst
Tommissen, Piet
Trakl, Georg
Trauthig, Wilhelm
Troeltsch, Ernst
Trotha, Thilo von
Trott zu Solz, Adam von
Trott zu Solz, Heinrich von.
Trotzki, Leo
Tucholsky, Kurt
Turgenjew, Iwan
Twain, Marc
Tycho Brahe
Uhland, Ludwig
Valentiner, Claus.
Valentiner, Max
Verboven, Hans
Vergil
Verlaine, Paul
Verne, Jules
Vesper, Will
Vico, Giovanii Battista
Volpi, Franco
Vondung, Klaus
Wagner, Richard
Walden, Herwarth
Wallmann, Walter
Watson, James
Weber, Alfred
Weber A(ndreas) Paul.
Weber, Max
Wedekind, Frank
Wehler, Hans-Ulrich
Weickhardt, Citta, s. Citta Jünger
Weiler, Klaus
Weininger, Otto
Weinreich, Paul
Weisgerber, Albert
Werckshagen, Carl
Werfel, Franz
Westernhagen
Whitman, Walt
Wiechert, Ernst
Wiegler, Paul
Wieman, Mathias
Wilczek, Reinhard
Wilde, Oscar
Wilhelm I.
Wilhelm II.
Wilson, Woodrow
Wimbauer, Tobias
Wittfogel, Karl-August
Wolf, Christa
Wolf, Erik
Wolf, Friedrich
Wörishöffer, Sophie
Wulf, Josef
Xenophon
Zeppelin, Ferdinand Graf von
Ziegler, Benno
Ziegler, Leopold
Zöberlein, Hans
Zola, Émile
Zosimos von Panopolis
Zuckmayer, Carl
Zweig, Arnold.
Zweig, Stefan
Bildnachweis

AKG-images, Berlin 135 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2007), 403 (© VG Bild-


Kunst, Bonn 2007), 594 (Foto Gert Schuetz)
A. Paul Weber-Museum, Ratzeburg 402 (Foto Dr. Horst Otto Müller, © VG
Bild-Kunst, Bonn 2007)
Bayerische Staatsbibliothek, München 264/265 (Fotoarchiv Hoffmann), 575
(Fotoarchiv Timpe)
Deutsches Literaturarchiv Marbach 19, 20/21, 33, 38, 75, 76/77, 136/137,
167, 401, 483, 484/485, 505, 527, 531, 532/533, 576/577 (Foto Max Seidel,
Mittenwald), 618, 620, 627 (Foto Henri Florence), 628/629, 646, 659
Interfoto, München 660/661
ullstein bild, Berlin 263
Verlagsgruppe Random House

Erste Auflage

Copyright © 2007 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Matthias Weichelt, Berlin


Reproduktionen: Mega-Satz-Service, Berlin
eISBN : 978-3-641-02348-5

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