Lehrwerkforschung Zwischen Werkanalyse, Rezeption Und Unterrichtspraxis: Ein Empirisches Plädoyer Für Eine Neue Reflexionskultur
Lehrwerkforschung Zwischen Werkanalyse, Rezeption Und Unterrichtspraxis: Ein Empirisches Plädoyer Für Eine Neue Reflexionskultur
1 Einleitung
Unterricht ist eine hochkomplexe und dynamische Situation im Spannungsfeld
von didaktischen Entscheidungen zu Lehr-/Lernzielen, Unterrichtsinhalten
und zur (Lernprozess-)Evaluation. Ebenso sind zahlreiche methodische Ent-
scheidungen bezüglich Aktivitäten zur Förderung einzelner Teilkompetenzen
und Fertigkeiten, zur Gestaltung des Unterrichtsgeschehens über verschiedene
Sozial- und Arbeitsformen sowie zu weiteren Stellschrauben zu treffen. Unter
Berücksichtigung methodisch-didaktischer Prinzipien (Kniffka & Riemer, 2022)
planen, gestalten, begleiten und evaluieren Lehrende individuelle Lernwege.
Zugleich findet Unterricht vielerorts unter Bedingungen statt, die es Lehrkräf-
ten kaum erlauben, den damit verbundenen komplexen Aufgaben im ge-
wünschten Maße gerecht zu werden – seien es begrenzte Angebote zur metho-
disch-didaktischen Ausbildung, institutionelle Rahmenbedingungen oder pre-
käre Arbeitsverhältnisse. Nachvollziehbar ist vor diesem Hintergrund, dass
immer wieder nach Wegen gesucht wird, um Lehrkräfte in ihren komplexen
Entscheidungsprozessen zu unterstützen. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf
den Lehr-/Lernmedien, die im Unterricht Anwendung finden. Technischer
Fortschritt, Individualisierung von Lernwegen über die Berücksichtigung von
Motiven, individueller Mehrsprachigkeit und gebrochenen (Sprach-)
Lernbiografien oder dergleichen haben dabei nicht zu der immer wieder disku-
tierten Überwindung des Lehrwerks mit seiner grundsätzlich begrenzt flexiblen
Beschaffenheit geführt. Vielmehr zeichnet sich eine Tendenz ab, die zentrale
Silvia Demmig et al., Band 4: Beiträge zur Methodik und Didaktik Deutsch als 105
Fremd*Zweitsprache, © 2023, Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin.
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und der Wahrnehmung von Lehrenden und Lernenden erlaubt. Um dieses Ziel
zu erreichen, werden zunächst aktuelle Tendenzen in den Diskussionen um
Lehrwerke zusammengefasst (Abschnitt 2). Anschließend wird der Versuch
unternommen, Ansätze in der Lehrwerkforschung zu systematisieren (Ab-
schnitt 3), um hierauf aufbauend ein Design für eine Studie vorzustellen, die es
erlaubt, Potenziale und Grenzen der jeweiligen Ansätze zur Lehrwerkforschung
offenzulegen (Abschnitt 4). Auf der Basis exemplarischer Ergebnisse werden
dann zentrale Überlegungen zu den Methoden und ihrer sinnvollen Triangula-
tion formuliert (Abschnitt 5), um den Beitrag mit einigen Ausblicken auf die
sich hieraus ergebenden Forschungsbedarfe abzuschließen.
1 Wobei dies nicht über die mangelnde Qualität vieler Angebote in didakti-
scher/methodischer Hinsicht hinwegtäuschen darf.
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seits und nach der Rolle, die Lehrwerke im Lehr-/Lernprozess spielen, anderer-
seits.
Bezüglich der Diskussionen um die Konzeption von Lehrwerken lässt sich fest-
stellen: Als Medienverbund, der im Kern aus Kurs- und Arbeitsbüchern sowie
vielfältigen Ergänzungsangeboten besteht, liegt Lehrwerken üblicherweise ein
durchdachtes und damit mehr oder weniger geschlossenes Konzept zugrunde,
das nur begrenzt an regionale wie individuelle Bedürfnisse von Lehrenden und
Lernenden angepasst werden kann. Rösler (2010, S. 1207) sprach daher bereits
vor mehr als zehn Jahren von der Vision eines Lehrwerks on demand, das
„durch das Zusammenspiel von zentraler und peripherer Materialproduktion
eine größere Zielgruppen- und Lernzielgenauigkeit von Lehrwerken erreicht“.
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2 Nur angedeutet werden soll hier, dass auch der Bedarf nach einer stärkeren
methodologischen Diskussion sichtbar wird. Allzu häufig bleiben Lehrwerkana-
lysen mit ihren Analysekategorien deutlich hinter dem aktuellen Fachdiskurs
zum gewählten Schwerpunkt zurück. Methodologische Diskussionen könnten
aber auch zu saubereren Forschungsdesigns führen, in denen Forschungsfragen,
methodische Entscheidungen zur Erhebung und Analyse der Daten, aber auch
die Ergebnisse klar aufeinander bezogen werden.
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(Würffel, 2021, S. 294) – und das, obwohl das Material letztlich „seine Wirkung
immer erst in der Interaktion mit Lernenden und Lehrenden entfaltet“ (Würf-
fel, 2021, S. 298). So sagt die Qualität eines Lehrwerks nicht zwangsläufig etwas
darüber aus, ob mit seiner Hilfe „guter“ Unterricht realisiert wird.
Im Hinblick auf konkrete Ansätze für die empirische Lehrwerkforschung „wid-
met sich die empirische Rezeptionsforschung der Wahrnehmung der Lehr- und
Lernmaterialien aus Sicht der betroffenen Akteure, d. h. der Lehrpersonen und
Lernenden“ (Schramm, 2021, S. 219). Dabei geht es auf der einen Seite darum,
welche Erwartungen Lehrende/Lernende an Lehrwerke herantragen, inwiefern
diese den Erwartungen gerecht werden und welche Entscheidungen in der
Arbeit mit bestimmten Lehrwerken aus welchen Gründen getroffen werden
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(Fäcke, 2016, S. 41). Auf der anderen Seite handelt es sich bei der Wirkungsfor-
schung um die Begleitforschung im Sinne „einer systematischen Erprobung
[…] im Rahmen der Entwicklung“ und eine Wirkungsforschung, „die die Nut-
zung der Lehrwerke durch Lehrende und Lernende und ihre Wirkung […]
untersucht“ (Krumm, 2010, S. 1219).
Für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache zeigen Marques-Schäfer et al. (2016),
wie wichtig es ist, bei der Betrachtung von Stereotypisierungen über eine Lehr-
werkanalyse (Zhang, 2019) hinauszugehen und auch Unterrichts- und Befra-
gungsdaten einzubeziehen – obgleich auch in dieser Studie eine sauberere
methodische Darstellung der Untersuchung wünschenswert wäre. Und auch
Guerrattaz und Johnston (2013) zeigen – wenn auch für den Bereich Englisch
als Fremdsprache – die Relevanz einer Betrachtung der Verwendung von analy-
sierten Materialien im Unterricht.
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reitung des Materials wurden beide Aufnahmen zunächst geschnitten und mit-
einander synchronisiert. In einer ersten Sichtung wurden Sequenzen identifi-
ziert, die für die o. g. Schwerpunkte und damit für die Untersuchung relevant
sind. Diese Sequenzen wurden zur Weiterarbeit (aufgrund der Dateigröße des
vollständigen Mitschnitts) als separate Videodateien gespeichert und mithilfe
von MAXQDA in Anlehnung an die bei Dresing und Pehl (2018, S. 20–26)
vorgeschlagenen Konventionen transkribiert.
Im Anschluss an den Unterricht erfolgte ein Interview mit der Kursleiterin, das
aus terminlichen Gründen am Tag nach dem videografierten Unterricht durch-
geführt wurde. Der Leitfaden für das Interview umfasste neben allgemeinen
Fragen zum Erhebungskontext sowie zum Umgang mit Lehrwerken insbeson-
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dere Fragen, die auf die o. g. Schwerpunkte Bezug nehmen. Das Interview um-
fasste 38ʹ. Ergänzend wurden mit einem Abstand von zwei Tagen Interviews
mit zwei Kursteilnehmenden geführt, denen ein ähnlicher Leitfaden zugrunde
lag, in dem die Fragen jedoch an die Perspektive der Lernenden angepasst
wurden. Die Interviews umfassen 21ʹ bzw. 22ʹ. Alle Interviews wurden ebenfalls
den genannten Konventionen entsprechend transkribiert.6
4.3 Datenanalyse
Die Analyse der Daten erfolgte in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse
(Kuckartz, 2016). Dabei wurden zunächst die Handbuch-/Einführungsbeiträge
(Hantschel, 2013; utjeharms, 010) in der Form analysiert, dass zentrale Aussa-
gen zur Didaktik/Methodik im Zusammenhang mit dem jeweiligen Schwer-
punkt induktiv in Kategorien überführt wurden. Hieraus ergaben sich als Ober-
kategorie etwa „Rezeptionsvorbereitende Aktivitäten“ mit den Unterkategorien
„Vorwissen aktivieren“, „lexikalische/inhaltliche Vorentlastung“, „Kontextuali-
sierung“, „Textsortenwissen“, „Affektive Aspekte“, die Zielsetzungen rezeptions-
vorbereitender Aktivitäten abbildeten. Ein weiteres Beispiel für eine Oberkate-
gorie stellt „Lesestile“ dar, wobei als Unterkategorien „orientierendes Lesen“,
„suchendes Lesen“, „kursorisches Lesen“, „totales Lesen“ und „argumentatives
Lesen“ zugeordnet wurden. Weitere Kategorien bezogen sich etwa auf rezep-
tionsbegleitende/verstehensprüfende Aktivitäten, Anschlussaktivitäten und
Lesestrategien.
In der Bearbeitung der Transkripte aus Unterrichtsmitschnitten und Interviews
wurden die bestehenden Kategorien an das Material angelegt und neue Katego-
rien, die in der wissenschaftlichen Literatur keine explizite Erwähnung fanden,
ergänzt. Bei letzteren handelte es sich vor allem um Unterkategorien.
6 Bei der Durchführung der Interviews wurde die Spracheingabe von GoogleDocs
genutzt, was zu einer Zeitersparnis von ca. 50 % bei der Erstellung der
Transkripte führte. Hingewiesen werden soll hier jedoch auch auf die Möglich-
keit einer automatischen Transkription mit f4x (https://www.audiotranskription.
de/f4x/).
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4.4 Ergebnisse
Nachfolgend werden die Ergebnisse am Beispiel der Aufgabe A3 (Hueber,
2020a, S. 120) vorgestellt, in deren Zentrum eine Rezeptionsaufgabe zu einem
Forenaustausch zum Thema „Benehmen und Umgangsformen im Alltag“ steht.
Diese Aufgabe besteht aus drei Teilaufgaben. In Teilaufgabe a sind den vier
präsentierten Foreneinträgen Themen zuzuordnen. Bei diesen handelt es sich
um „besondere Schwierigkeiten für Mütter“, „fehlende Rücksicht gegenüber
anderen“, „Essen in öffentlichen Verkehrsmitteln“ und „laute Telefongespräche
in der Öffentlichkeit“ (ueber, 2020a, S. 120). In Teilaufgabe b wird eine vertie-
fende Auseinandersetzung mit den Inhalten des Texts und der Transfer auf die
Lebenswelt der Kursteilnehmenden angeregt („Haben Sie ähnliche Situationen
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erlebt? Wie gehen Sie damit um? Sprechen Sie.“). Mit Teilaufgabe c wird der
inhaltliche Fokus um einen grammatischen ergänzt, wobei eine erneute Aus-
einandersetzung mit dem Text erfolgt und die Polysemie der Konjunktion da
aufgegriffen wird („Markieren Sie in a alle da. Durch welches Wort kann man da
ersetzen? Umkreisen Sie.“). Um nun der Frage nachzugehen, welche Erkennt-
nisse sich durch die verschiedenen Ansätze der Lehrwerkforschung bieten,
sollen zunächst die zentralen Ergebnisse einer Analyse der jeweiligen Daten
dargestellt werden.
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groben thematischen Bezug zum Lesetext, greifen jedoch nicht die eigentlichen
Themen auf. Eine sprachliche Vorentlastung bleibt aus und auch textsortenspe-
zifisches Musterwissen wird nicht zum Gegenstand der Aufgabensequenz ge-
macht. Ebenso wird kein Bezug zu Lesestrategien hergestellt. Auch der Unter-
richtsplan stellt mit seinen Vorschlägen nicht sicher, dass die Brücke zu den
eigentlichen Themen, um die es gehen wird, geschlagen wird:
Die Bücher sind geschlossen. Teilen Sie den Kurs in Gruppen nach Herkunfts-
ländern ein, wenn es die Kurszusammensetzung zulässt. Die TN sammeln in
ihren Gruppen, was sie als höflich / gutes Benehmen bzw. unhöflich / schlech-
tes Benehmen empfinden. Gehen Sie herum und helfen Sie ggf. mit Beispielen
aus A2, um den TN Anregungen zu geben. Die Gruppen machen sich Notizen.
(Hueber, 2020b, S. 2)
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Das Lektüreziel ergibt sich aus der Aufgabenstellung. Dabei sind die Lernenden
zunächst aufgefordert, den Text (bzw. die Foreneinträge als Einzeltexte) im
Sinne des orientierenden Lesens zu erfassen, um die Zuordnung zu den Themen
vorzunehmen. Eine weiterführende Textarbeit erfolgt im Zusammenhang mit
Teilaufgabe c, im Rahmen derer die Konjunktion da im Sinne des suchenden
Lesens aufzufinden ist; mit der Entscheidung für mögliche Synonyme (dass,
obwohl, weil) wird allerdings ein detailliertes Textverstehen notwendig.
Transferaktivitäten werden mit den Teilaufgaben b und c umgesetzt, wobei der
Text zunächst als Impuls für eine Anschlusskommunikation der Teilnehmen-
den zu ihren persönlichen Erfahrungen mit den Themen genutzt wird. Der Text
fungiert anschließend als den Teilnehmenden durch die Lektüre bereits be-
kanntes Sprachmaterial zur Reflexion über ein grammatisches/lexikalisches
Thema.
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fordert die Lehrkraft die Teilnehmenden auf, die vier Themen oberhalb des
Texts zu lesen und Fragen zu unklarem Wortschatz zu stellen.
Nachdem es hierzu keine Rückfragen gibt, fordert die Lehrkraft die Lernenden
dazu auf, den Text zu lesen und die Themen zuzuordnen. Auch wenn Lesestra-
tegien nicht explizit thematisiert werden, so erfolgt über den Hinweis, dass die
Teilnehmenden nicht jedes Wort verstehen müssen, ein immerhin nieder-
schwelliger Verweis darauf, dass zur Bearbeitung der Aufgabe kein detailliertes
Textverstehen notwendig ist und die Lernenden damit kein vollständiges Ver-
stehen sicherstellen müssen. Im Plenum werden anschließend die Zuordnun-
gen besprochen, wobei sich zeigt, dass die Zuordnung von „besonderen Schwie-
rigkeiten für Mütter“ und „fehlende Rücksichtnahme gegenüber anderen“ auf-
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Die Lehrkraft zeigt damit, dass sie sich einer Lücke im Lehrwerk bewusst ist und
dies gezielt in ihre Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung einfließen lässt.
Dies spiegelt sich auch im beobachteten Unterricht wider, in dem die Lehrkraft
explizit zu einer Reflexion des zu lesenden Textes im Hinblick auf seine Be-
schaffenheit aufforderte – auch wenn hier letztlich nicht die eigentliche Text-
sorte (Forum), aber zumindest die diskursive Frage-Antwort-Struktur allen
Lernenden präsent gemacht wurde.
Auch den Rezeptionsprozess macht die Lehrkraft explizit zum Gegenstand des
Interviews und nimmt auf die Vermittlung von Lesestrategien Bezug:
„Aber, dass das klar ist, dass das was Wichtiges ist, weil teilweise Menschen
eben diesen Kontext mitbringen, dass sie NICHT mit Texten/ mit dem Lesen
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überhaupt vertraut sind. […] Zu der Gruppe, mit der ICH jetzt arbeite, muss
man dazu sagen, dass wir die ersten vier Module im virtuellen Klassenzim-
mer7 waren, also ich sie NICHT greifen konnte. Und eigentlich findet ja in den
ersten Modulen diese Strategievermittlung statt. ,Also du MUSST jetzt nicht
jedes Wort dieses Textes verstehen. Es geht um Globalverstehen, was ist das
Thema?ʻ Und DA habe ich das Gefühl, dass ich sie teilweise nicht greifen
konnte. Also das liegt dann auch wieder daran, was ist der Bildungshinter-
grund? Sind sie überhaupt mit Strategien vertraut?“ (Interview Lehrkraft)
Sie weist damit auf eine widersprüchliche Situation hin: Einerseits ist der Kurs
an einem so fortgeschrittenen Punkt angekommen, dass die explizite Vermitt-
lung von Lesestrategien nach Aussage der Lehrkraft bereits abgeschlossen wäre.
Andererseits weist sie auf pandemiebedingte Umstände hin, die diesen
Strategieerwerb in der konkreten Gruppe beeinträchtigt haben. An anderer
Stelle verweist sie auf die begrenzten literalen Kompetenzen eines spezifischen
Teilnehmenden. Und auch die interviewten Teilnehmenden weisen auf Heraus-
forderungen hin, die sie mit dem Lesen in Probeprüfungen immer wieder
erleben, und haben den Eindruck, durch die Arbeit mit dem Lehrwerk nicht
ausreichend vorbereitet zu werden.
7 Die Lehrkraft verweist hier auf die virtuelle Realisierung des Unterrichts im
Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie.
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Auf einen zweiten Blick scheint ein kritisches Pauschalurteil wenig angebracht.
Die Lehrkraft weist zu Recht auf die Begleitmaterialien zur Unterrichtsvorberei-
tung hin und zeigt im Interview, dass eine gut ausgebildete Lehrperson Lücken
im Lehrwerk erkennen kann. Der Unterrichtsmitschnitt zeigt, dass sie hieraus
Implikationen für ihr unterrichtliches Handeln ableitet. Deutlich wird aller-
dings auch, dass die Klärung der Textsorte nicht zu Ende geführt wird und die
rezeptionsvorbereitenden Aktivitäten noch zielführender auf die bevorste-
hende Lektüreaufgabe hätten bezogen werden können (indem die Lernenden
z. B. zu einem Austausch über ihre Erfahrungen mit den zuzuordnenden The-
men angeregt worden wären). Und auch das Fehlen von Hinweisen auf den
Einsatz von Lesestrategien im Lehrwerk scheint auf den zweiten Blick nicht
unbedingt zu einem kritischen Urteil über das Lehrwerk führen zu müssen. Die
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Lehrperson weist auf deren Bedeutung in den ersten Modulen hin, sodass
Kompetenzen zu deren Einsatz mutmaßlich zu dieser späten Kursphase typi-
scherweise erworben und automatisiert wären, sodass diese – analog zu Testsi-
tuationen und außerunterrichtlichem Sprachhandeln – nicht explizit gemacht
werden müssen. Dass die explizite Thematisierung von Lesestrategien (im vor-
liegenden Fall z. B. das Markieren von Schlüsselwörtern und ein zweites Lesen
zur Prüfung der Zuordnung) sinnvoll gewesen wäre, zeigt die Auswertung der
Ergebnisse mit den Teilnehmenden im Unterricht, aber auch das Bewusstsein
der Lehrkraft dafür, dass es entsprechende Herausforderungen in der konkre-
ten Gruppe gibt.
Das Gesamtbild, das durch die Triangulation der verschiedenen Ansätze zur
Lehrwerkforschung entsteht, macht deutlich, wie jeder einzelne Ansatz für sich
allein genommen zu kurz greifen würde, da ein Lehrwerk letztlich immer an die
konkreten Rahmenbedingungen (etwa pandemiebedingte Verzögerungen)
und Lernenden mit ihren Entwicklungsbedarfen angepasst werden muss. Es
liegt damit nahe, dass Lehrwerkforschung auch zukünftig verstärkt darum be-
müht sein muss, diese Potenziale mit einander in Beziehung zu setzen. Ein
mögliches Vorgehen hierfür wird in Abb. 2 skizziert.
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6 Fazit
Die Daten zeigen, dass unterrichtliches Handeln aus einem komplexen Zu-
sammenspiel unterschiedlicher Faktoren besteht und es letztlich die Lehrkraft
ist, die entscheiden muss, wie wichtig eine inhaltliche/lexikalische Vorentlas-
tung im Unterricht ist, wie konkret textsortenspezifisches Wissen aufge-
baut/aktiviert werden muss und wie wichtig es in der konkreten Situation ist,
bestimmte Strategien zu wiederholen/zu vermitteln. Daher kann auch aus
einer kritischen Perspektive auf den Unterricht die Forderung nicht lauten,
Aufgabensequenzen in Lehrwerken noch kleinschrittiger zu gestalten, um
Lehrkräfte zu entlasten – an dieser Aufgabe können die Materialien nur schei-
tern, auch wenn es zur Realität des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitspra-
che gehört, dass eine Vielzahl an Lehrkräften weltweit keinen ausreichenden
Zugang zu didaktisch-methodischen Aus- und Weiterbildungsangeboten hat
und die Arbeitsbedingungen selbst im Falle hochqualifizierter Lehrkräfte häu-
fig nur begrenzte zeitliche Ressourcen für die Unterrichtsvorbereitung bieten.
Ein Lösungsansatz könnte in einer anders gedachten Gestaltung von Handrei-
chungen liegen, die etwa im Falle von Aufgaben zum Lesen dazu anregen, im
Hinblick auf die konkrete Lernendengruppe zu reflektieren, inwiefern die
Wiederholung/Thematisierung von textsortenspezifischen Aspekten oder Le-
sestrategien angebracht ist. Vielleicht ist zunächst aber auch erst einmal anzu-
erkennen, dass sich die Lehrwerkforschung Fragen stellen muss, denen sie sich
bisher nicht in ausreichendem Maße gestellt hat. Dazu würde es gehören, weg
von kriteriengeleiteten Lehrwerkanalysen zu kommen, die in aller Regel zu
wenig konstruktiven Pauschalverurteilungen oder unreflektierten Lobpreisun-
gen kommen. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang die Triangulation mit
Unterrichts- und Interviewdaten zu sein, um den Fragen nachzugehen, wie mit
Lehr-/Lernmaterialien gearbeitet wurde und warum Lehrkräfte sich für/gegen
ein bestimmtes Vorgehen bei der Arbeit mit diesen in ihrem Unterricht ent-
scheiden. Hiermit verbunden bedarf es weiterer Projekte, die eine methodologi-
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