Neun Tage Latein
Neun Tage Latein
1HXQ7DJH/DWHLQ3ODXGHUHLHQ
*|WWLQJHQ
XUQQEQGHEYEEVE
7KH3'))LOHFDQEHHOHFWURQLFDOO\VHDUFKHG
\QA. / I ^ M
B r u n o Snell
Plaudereien
4. Auflage
(A9^
V A N D E N H O E C K & RUPRECHT . G Ö T T I N G E N
kioÜlrJ\MZ*l
Bruno Snell,
4/0 *b
Kleine Vandenboeck- Reihe 10
16.—20. Tausend
3
denn das wußte man nachgerade, daß es keine Hexen
und keine Zauberer gab, aber doch in einer goldenen
Ferne. Und dieser Glanz verlor sich nicht, auch wenn dann
Caesar in Eilmärschen die Gallier mit Krieg überzog und
ihnen einen Hinterhalt bereitete.
Freilich kam dann der Tag, daß wir über dieses Lesebuch-
Deutsch schnödelten und mit Vergnügen Sätze auf-
stöberten wie den folgenden: „Wenn wir die Löwen be-
trachten, die sich freundlicher gegen ihre Wächter ver-
halten als die Menschen, die sich undankbar gegen ihre
Wohltäter erweisen, so erkennen wir, wieviel Erziehung
und Bildung vermag", — oder: „Die Alten betrachteten
den Staat nicht als einen Strom, aus dem möglichst viel
Wasser zu schöpfen sich jeder zum Verdienst anrechnete,
sondern vielmehr als einen Bach, in den jeder sein eigenes
Wasser hineinzuleiten bestrebt war", — oder gar: „Wenn
euch, o Jünglinge, die Greise sich nähern, erhebt euch
von den Sitzen."
Das Schnödein über solche Sätze führte uns aber gottlob
einen Schritt weiter, und wir hatten in den oberen Klassen
Lehrer, die uns dabei halfen und anleiteten. Solche Sätze,
die das Übertragen ins Lateinische leicht machen sollten,
zeigten, daß die römische Welt wohl nicht nur deswegen
fremd war, weil dort Töchter von Landleuten Altäre
schmückten, sondern daß die Sprache selbst die Dinge
anders faßte oder anders wandte, daß der Stil und das
Denken von dem uns Geläufigen verschieden war. So
ging uns auf, wenn auch leider nur in seltenen Augen-
blicken, was das Übersetzen bedeutet, zumal das Über-
setzen aus einer Sprache, die uns ferner ist als das Fran-
zösische und Englische unserer Tage. Im alltäglichen
Schulbetrieb freilich ging das Übersetzen seinen uner-
quicklichen Schlendrian. Da standen wir etwa vor der
Lateinstunde zusammen in den Anlagen vor dem Johan-
neum in Lüneburg, die den oberen Klassen während der
Pause zur Verfügung standen, jeder mit seinem Livius-
4
text in der Hand, und einer, der präpariert hatte, mußte
übersetzen, — dafür half man ihm dann in der Mathe-
matikstunde, — und alle anderen versuchten notdürftig
in dem lateinischen Text die deutschen Wörter wieder-
zufinden, um einigermaßen vorbereitet zu sein auf den
schrecklichen Augenblick, da es vom Katheder tönte:
„Jetzt übersetzt weiter — — " und bauz! sauste das
Fallbeil, gottlob diesmal noch, auf den Nachbarn, oder,
— entsetzlich — auf einen selbst, und man erhob sich
langsam und todesmutig, auf Hilfe von seitwärts und
rückwärts und von Gott hoffend, um irgendetwas wie
eine Übersetzung zusammenzustöckern.
Aber es kam doch vor, daß einen die Faszination des
Ubersetzens packte. Ich erinnere mich, daß ich auf der
Prima einmal, weil es sich wieder herausgestellt hatte,
daß ich unpräpariert in die Stunde gekommen war, als
Strafarbeit eine horazische Ode schriftlich zu übersetzen
hatte. Abends, an meinem Pult, merkte ich, daß das, was
Horaz sagte, nicht herauskam, wenn ich es in langweilige
Prosa brachte, und so versuchte ich, die lateinischen
Metren nachzubilden, und tat noch ein übriges und
zwängte die Verse in Reime; wie geschmacklos das war,
merkte ich nicht, — ich fand es ein aufregendes und er-
götzliches Geschäft und war über das Resultat so be-
glückt, daß ich es tief in der Nacht noch in das schwarze
Wachstuchheft eintrug, in dem ich meine Original-
Poesien heimlich verwahrte. Am nächsten Morgen lieferte
ich, etwas übernächtig und mit einigem Herzklopfen,
mein Büß-Stück ab.
Ich hatte die Vers-Zeilen beim Abschreiben so gestreckt,
daß sie immer bis zum rechten Rand liefen und wie Prosa
aussahen; denn wie peinlich wäre es gewesen, wenn
„Fritze" (so nannten wir unseren Lehrer) gleich auf
Anhieb, vor der Klasse, gesehen hätte, daß die Strafarbeit
ein Gedicht war. Er warf denn auch nur einen flüchtigen
Blick auf den Zettel und steckte ihn dann gleich zwischen
5
seine Papiere. Ich wartete einige Tage, hoffend und angstt-
voll, was er sagen würde, aber offenbar hat er das Opuis
nie gelesen. Doch ich hatte Wichtiges gelernt.
Ein andermal bekamen wir als schriftliche Hausarbeit eitn
Stück aus der Zeitung zu übersetzen, einen Abschnitt
aus einer Reichstagsrede Bethmann-Hollwegs. Auch dabei
fing ich Feuer. Es war ein unbändiges Vergnügen, das
Aktuelle, kaum im Druck trocken Gewordene, um zwei-
tausend Jahre zurückzuversetzen und in möglichst schöne
ciceronianische Perioden umzukneten. Wieviel reizvoller
war das, als sich mit den für das Übersetzen eigens
zurechtgemachten Übungsstücken unseres Latein-Buches
abzurackern.
Solche Übungen, aus dem Deutschen ins Lateinische zu
übersetzen, sind inzwischen aus der Mode gekommen.
Ich will hier nicht darüber streiten, ob das gut oder
schlecht ist. N u r ein Argument, das man gegen das Latein-
Schreiben vorbringt, mag ich nicht gern hören. Man sagt:
das Latein ist eine tote Sprache; man spricht es nicht mehr;
man muß es vielleicht lesen und verstehen können, aber
es zu schreiben erfüllt keinen ernsten Zweck mehr, das
ist Spielerei.
Selbstverständlich ist es Spielerei. Selbstverständlich
haben wir es als Spielerei aufgefaßt, daß wir Bethmann-
Hollweg zu einem Cicero machten. Eben deswegen hat
es uns ja Spaß gemacht. Eben deswegen hat solche Übung
aber auch ihren Wert; denn etwas Wesentliches des
Geistes kommt in solchem Spiele zum Vorschein. Das
Übersetzen ist schon deswegen immer ein Spiel, weil es
niemals aufgeht; denn wie kann man jemals alles, was
an Sinn und Klang in einem Satze liegt, in eine andere
Sprache übertragen? Und doch reizt es immer wieder,
sich etwa dessen, was man in einer anderen Sprache
versteht, ganz zu versichern, indem man es auf Deutsch
zu sagen sucht. Diese Spannung zwischen dem Möglichen
und dem Erreichbaren, die um so größer ist, je voll-
6
kommener und fremder das Original erscheint, ist für
die Bildung des Geistes überaus fruchtbar. Denn wenn
der sich entfaltende Geist lernen soll, sich von dem
Gegebenen und Vorhandenen zu lösen, wenn er nicht
eingesperrt bleiben soll in den einfach hingenommenen
Traditionen und Konventionen, muß er um andere
Möglichkeiten wissen. Und um den rechten Auftrieb zu
bekommen, muß er um Möglichkeiten wissen, die ihm
nicht gleich bequem zufallen, um die er sich — wenn
auch nur spielend —bemühen muß. Es gehört zum Wesen
des freien und überlegenen Menschen, daß er so mit
Möglichkeiten spielen kann, und es scheint mir, daß es
unserem Gymnasium nur gut tun könnte, wenn es diesen
Spielcharakter des Lateinlernens etwas mehr hervor-
kehrte. Nebenbei würde die dadurch hervorgerufene
Freude auch das Lernen erleichtern, und außerdem ge-
hören Heiterkeit und Witz wesentlich zu der humanisti-
schen Tradition, die das Gymnasium pflegen soll.
Denn Cicero, der Begründer des römischen Humanismus,
war einer der witzigsten Menschen Roms, — nur merkt
man das weniger an den Reden und an den philosophischen
Abhandlungen, die auf der Schule gelesen werden, und
man sollte ruhig auch seine Briefe mit heranziehen. Und
die Schriften des Erasmus, der den Humanismus in unsere
nördlichen Regionen verpflanzt hat, zumal seine Collo-
quien und sein Lob der Torheit, stecken voll der ur-
bansten Ironie. Und wenn sich unsere Schulen auf diese
ihre Vorläufer berufen, so sollten sie auch alles Grämliche,
Pedantische und Trocken-Feierliche möglichst zum Teufel
jagen. Schillers Satz: „ D e r Mensch ist nur da ganz Mensch,
w o er spielt", ist jedenfalls ein eminent humanistischer
Satz, und Schillers Name wird dem Mißverständnis vor-
beugen, als ob der Sinn für das Große und für das Wesent-
liche einem Läppisch-Spielerischen aufgeopfert werden
sollte. Bleiben wir bei dem Übersetzen ins Lateinische:
das ist schon deswegen ein würdiges Spiel, weil das
7
Lateinische eine große feste Form der Rede ausgebildet
und ein klassisches Muster des Sprechens entwickelt hait.
An dieser Sprache läßt sich, wie an keiner anderen,
lernen, was es heißt, seine Gedanken zu ordnen, die Rede
zu einem übersichtlichen Bau zusammenzufügen und der
Sprache Anmut oder Würde zu geben. Man tut bei uns
gern dergleichen mit dem abschätzigen Urteil ab, das s>ei
bloß formale Bildung, und man liebt den Aberglauben,
es sei Tiefsinn, im Ungeformten und Wolkigen herurn-
zuwuscheln. Dazu im Augenblick nur so viel: auch die
Algebra und die Geometrie ist solch ein nur formales
Spiel, — aber da pflegt man diesen Vorwurf nicht w.u
erheben, — und so sollte man das auch nicht gegen das
Spiel des Lateinlernens tun. Aber darüber wird in der
Folge noch einiges zu sagen sein. Dieses Spiel hat sich,
wenn es fruchtbar sein soll, auf einer schmalen Grenze
zwischen zu großem Ernst und zu großem Unernst zu
halten.
Natürlich hat dies Spiel seine Gefahren, und es ist nicht
zu leugnen, daß der Lateinunterricht die Schüler in
mancherlei Fallgruben gelockt hat, als da sind: Pedanterie,
Weltfremdheit, Rhetoreneitelkeit, Bildungsstolz und so
fort.
Wir werden auf diese Bedenklichkeiten noch zu sprechen
kommen in unseren weiteren acht Unterhaltungen über
das Lateinische. Aber fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen
systematisch kommen werde. Ich will Ihnen nur von
eigenen Erfahrungen erzählen, guten und schlimmen, die
ich mit dem Latein gemacht habe und vielleicht springt
dann doch dabei heraus, daß es nicht notwendig vertane
Zeit ist, die man über der lateinischen Grammatik und
über den römischen Autoren geseufzt hat.
Und ich möchte Sie außerdem noch mit einigen latei-
nischen Gedichten unterhalten, an denen man vielleicht
einige Freude haben kann.
8
II
9
Freilich, das Pauken-Müssen und eigentlich nicht Pauken-
Können hat mir während der Schuljahre — ja, noch auf
der Universität — immer ein Unbehagen, fast etwas wie
ein schlechtes Gewissen gegeben, womit ich nach meinen
Kräften und mit einigem Leichtsinn ferügzuwerden hatte,
— im Grunde ist es sogar heute noch so.
Mein Vater versuchte es redlich, mich zum häuslichen
Arbeiten anzuhalten. Er hatte als Psychiater eine freund-
liche Art, dem kindlichen Gemüt das Lernen zu erleich-
tern. Beim Vokabelabhören erfand er allerlei Hilfen u n d
Brücken, und wenn etwa das Wort „autoritas" nicht in
den Kopf wollte, so hob er, wenn er nach „Ansehen,
Würde" fragte, den rechten Zeigefinger und kniff mir mit
der linken Hand leise in den Arm, — und au — torius
war leicht gelernt, allerdings mit dem Erfolg, daß d.is
Autoritäre seitdem immer mit einem Schmerzgefühl ver-
bunden geblieben ist. Diese liebevolle väterliche Hilfe
dauerte allerdings nur bis in die Zeit, als wir anfingen,
Griechisch zu lernen. Denn in der ersten griechischen
Hausarbeit, die wir zu machen hatten, korrigierte mir
mein Vater die Akzente und Lesezeichen mit dem Erfolg,
daß ich die schlechteste Zensur bekam.
Da zog er sich endgültig davon zurück, mir bei den
Schularbeiten helfen zu wollen, — worüber ich gar nicht
traurig war. Die Folge war allerdings, daß ich auf das
Vokabel-Lernen und Grammatik-Pauken weiterhin ziem-
lich verzichtete. Viele Jahre später, als ich gerade Privat-
dozent für Griechisch geworden war, traf ich zufällig
einmal meinen ersten Griechisch-Lehrer wieder. Ich er-
zählte ihm, daß ich mich schließlich doch noch auf sein
Gewerbe eingelassen hätte, obwohl ich (ob er das wohl
noch wüßte?) in meiner ersten griechischen Arbeit eine 5
bekommen hätte. Da sagte er mit ernstem Gesicht: „Die
Lücken werden Sie hoffentlich inzwischen ausgeglichen
haben." So komisch schulmeisterlich das klang, — seine
Besorgnis war nur zu berechtigt, — denn da ich das
10
richtige Pauken nie fertiggebracht habe und als Junge
die Zeit, in der ich wohl noch am ehesten dazu imstande
gewesen wäre, so schmählich verpaßt habe, muß ich
ehrlich gestehen, daß ich diese Lücken wirklich niemals
ganz ausgeglichen habe.
Nur bei einer Gelegenheit, soweit ich mich erinnere, bin
ich mit Begeisterung dabei gewesen, lateinische Formen
zu pauken. Da veranstaltete unser Latein-Lehrer in den
letzten Stunden vor den Ferien sogenannte Formen-
Schlachten: die Klasse wurde aufgeteilt in zwei Lager
von annähernd gleich starken Lateinern, und es wurde
ein großer Kampf inszeniert: immer gab einer von der
einen Seite einem von der anderen eine Form auf, etwa:
2. Person Pluralis Conjunctivi Activi Perfecti von iacio,
— der Lehrer zählte bis drei, und war bis dahin nicht die
richtige Antwort da, war der Gefragte tot und hatte aus-
zuscheiden. Da wäre es ehrenrührig gewesen, nicht seinen
Mann zu stehen, weil man doch nicht zu denen gehörte,
mit denen als Schafsköpfen von vornherein nicht zu
rechnen war. So mußte man sich also mit kräftigen
Geschossen waffnen, dem ausgefallensten Futurum ex-
actum und Imperativ des Passivs von den seltensten und
unregelmäßigsten Verben.
Derselbe Lehrer hatte noch einen anderen simplen Trick,
uns in einen wahren Lerneifer zu stürzen, indem er später
bei der Odyssee-Lektüre nicht etwa sagte: „Ihr müßt zum
nächsten Mal so und so viele Homer-Verse auswendig
lernen", sondern, ,,Ihr dürft einige Verse lernen, und wer
welche auswendig weiß, darf sie am Anfang der Stunde
vortragen." Das stachelte unsern Ehrgeiz gewaltig, und
ich zehre heute noch dankbar davon, daß ich mir damals
viele, viele Hexameter eingeprägt habe. Wie muß der
Gute geschmunzelt haben, wenn er uns so überlistete, —
aber wir stürzten uns mit Sporteifer und Wettkampfgeist
auf den alten Homer. Nur schade, daß wir auf diese Weise
nicht sehr viel mehr an lateinischer und griechischer
n
Dichtung gelernt haben; denn ein guter Vorrat an Aus-
wendiggelerntem ist ein unvergleichlich solides Funda-
ment für die Beherrschung einer Sprache, wie z.B.
Schliemann seine stupenden Sprachkenntnisse dadurch
erworben hat, daß er sich zunächst einmal, wenn er sich
eine neue Sprache aneignen wollte, eine Übersetzung v o n
Paul et Virginie besorgte und sie auswendig lernte.
Schade auch, daß uns niemand recht anleitete, die Schön-
heit der Verse zu empfinden, die wir auswendig lernten.
Das Lesen von lateinischen Gedichten begann zwar
munter genug: In dem Buch, das den unverständlichen
aber schönklingenden Namen „Tirocinium poeticum" hatte,
standen Verse, die schon dem iojährigen Freude machen
konnten wie der von Ennius über das Trompetensignul:
oder noch schöner, der Satz aus Ovid über die in Frösche
verwandelten lykischen Bauern:
Quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant.
12
so kratischer Methode aus ihnen Dinge herauszufragen,
die etwas abseits vom Programm des Schuljahres lagen,
die ihm aber vielleicht noch wichtiger schienen als das
vorgeschriebene Pensum. Diesmal warf er die Frage auf,
in welchem Verhältnis Sätze zueinander stehen könnten.
An dem Beispiel „es regnet, es wird n a ß " probierten wir
die verschiedenen Formen der Koordination und Sub-
ordination durch: „Es regnet, also wird es naß", „es
wird naß, denn es regnet", „es regnet, so daß es naß
wird", „es wird naß, weil es regnet", „wenn es regnet,
wird es naß", „obwohl es regnet, wird es doch nicht naß".
Wir mußten herausfinden, wodurch sich all diese Sätze
voneinander unterschieden, und wir lernten zu unserem
großen Staunen, daß all diesen Fügungen ein und das-
selbe Prinzip zugrunde lag, daß nämlich zwischen dem
Regen und der Nässe das Verhältnis von Ursache und
Wirkung anzusetzen war. Wir ahnten noch nicht, wie
sehr alles wissenschaftliche Denken darauf beruht, in
verschiedenen Erscheinungen das Gleiche und Identische
zu entdecken, — hier waren wir auf beinahe spielerische
Art dazu geführt, das selber herauszufinden, und auf
zauberhafte Weise enthüllte sich etwas, das der Gram-
matik einen neuen Sinn gab, und etwas Wesentliches an
der Sprache und am Denken wurde offenbar. Aber es
ging noch weiter. Es blieb der Final-Satz: „Es regnet,
damit es naß wird." War das ein sinnvoller Satz? War es
erlaubt, so zu reden? Der Physiklehrer würde uns das
ja wohl nicht durchgehen lassen. Höchstens in der
Religionsstunde dürften wir so reden. Und nun wurde
durchprobiert, wo man harmlos und mit gutem Gewissen
Final-Sätze gebrauchen durfte: Ich nehme ein Messer,
damit ich das Brot schneide; ich lerne Lateinisch, damit
ich mein Abiturienten-Examen bestehe. Und so kamen
wir an den Satz: Ich pflanze eine Kastanie, damit ein
Kastanienbaum in meinem Garten wächst. O b man sich
denn ebenso darauf verlassen könne, daß aus der Kastanie
J
3
auch ein Kastanienbaum würde, wie darauf, daß es naß
würde, wenn es regnete? Wo denn aber die Ursache
dafür sei, daß aus der Kastanie auch der Baum würde?
Die gäbe es doch offenbar nicht. Doch in der Kastanie
sei zweifellos etwas, das notwendig zu dem voll ent-
wickelten Baum führte, eine Zielstrebigkeit, oder wie
man das nennen wolle, — die jedenfalls mit der Kau-
salität nichts zu tun hätte. Die Naturwissenschaftler seien
heute freilich meistens zu dumm, um das einzusehen, und
zu ungebildet; denn sie hätten Aristoteles nicht gelesen;
sonst würden sie wissen, daß man das Lebendige nicht
verstehen könne, ohne eine Entelechie, etwas Teleolo-
gisches anzunehmen.
So wußte er uns auf kindlich-drastische Art die Augen
zu öffnen für ernsthafte philosophische Probleme, und
in einer Stunde konnte er uns etwas vermitteln, das uns
für unser ganzes Leben die Gedanken ordnen konnte.
Wir waren durch einen gründlichen Unterricht in latei-
nischer Grammatik vorbereitet auf solche Erörterungen.
Mit Kausal-Sätzen und Konditional-Sätzen zu hantieren,
machte uns keine Mühe. Man mag auch das, — wie das
Übersetzen, von dem wir das vorige Mal sprachen, —
formale Bildung nennen. Ich habe jedenfalls in dieser
einen Stunde mehr an Logik gelernt als jemals später.
Und da ich so die logischen Probleme nicht von den
formal-logischen Schemata, sondern v o n der lebendigen
Sprache aus zuerst kennengelernt habe, ist mit immer
ein Stachel in der Seele geblieben, ob mit diesem Lo-
gischen nur etwas Formales gegeben, oder ob nicht doch
etwas Sachliches getroffen ist. Aber das ist ein weites
Feld, und wir wollen hier abbrechen. Die nächsten Male
wollen wir uns mit lateinischen Versen beschäftigen, mit
Catull, mit Vergil und Ovid und dabei stellt sich vielleicht
auch heraus, daß es auch sonst allzu simpel ist, solch
scharfen Trennungsstrich zu ziehen zwischen dem For-
malen und dem Sachlichen.
14
III
IJ
Das Distichon Catulls lautet (c. 85):
Odi et amo, quare id faciam, forfasse requiris.
nescio, sed fieri sentio et excrudor.
16
muß ich". Das hat aber den Nachteil, daß er statt i1/»
Versfuß J V I nötig hat, — und damit ist der prägnante
programmatische Anfang zerdehnt und um seine lapidare
Wirkung gebracht. Es kommt hinzu, daß durch das „muß
ich" vorweggenommen wird, was sich bei Catull erst im
Lauf der ersten i1/« Verse entwickelt: denn in der Frage:
quare id faciam, wird zunächst die Möglichkeit offenge-
halten, daß Catull dieses zwiespältige Gefühl als eigene
Tätigkeit hervorbrächte, und erst in dem fieri sentio kommt
heraus, daß er unter einem Zwang steht: daß er fühlt, wie
dies mit ihm gemacht wird, daß es ihm geschieht. Die
wesentlichste Änderung Mörikes aber ist, daß er den ge-
dachten Gesprächspartner Catulls ausgeschaltet hat. Catull
sagt: Quare idfaciam, fortasse requiris, „Wie ich das anfange,
magst du wohl fragen", — während bei Mörike der
Dichter sich selbst den Einwand macht: „Wie das?" —
und gleich antwortet „Wenn ich's nur wüßte." N u n ist
es sicher, daß dieser Satz: quare id faciam, fortasse requiris,
das schwächste Stück in dem Gedicht ist, weil diese An-
rede nicht nur etwas trivial-prosaisch ist, — absichtlich-
prosaisch vielleicht, aber dann ohne das Herausfordernde,
das solch eine nüchterne Frage haben müßte, — sondern
auch, weil der Angeredete in dieser Situation nicht deutlich
wird.
Aber es kommt auch ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen der antiken und der modernen Lyrik durch dieses
Abweichen Mörikes heraus: Die antike Lyrik ist nicht
ein Selbstgespräch des einsamen Herzens, sondern richtet
sich immer an ein Gegenüber, sei es die Gottheit, sei
es der Kreis derer, in deren Gesellschaft der Dichter sich
befindet, sei es ein Einzelner, der Freund, die Geliebte,
der Feind usf.
Hier bei Catull sind wir gewissermaßen an der Grenze
der antiken Form: die Anrede ist noch beibehalten, aber
eigentlich ist dies Gedicht schon ein einsamer Herzens-
ausbruch. Gerade deswegen ist diese Anrede auch so
n
schwächlich geraten, — und so werden wir es Mörike
nicht verübeln, daß er hier geändert hat. Allerdings hat
er das Gedicht dadurch wesentlich modernisiert.
Aus dem nüchtern-konstatierenden „nescio" macht Mörike
den Seufzer: „Wenn ich's nur wüßte!" Und auch der
Schluß, so schön er ist, sentimentalisiert ein wenig:
statt „ich werde zermartert", heißt es: „das Herz möchte
zerreißen in mir". Catull spricht nicht vom Herzen und
nicht davon, daß es etwas möchte, sondern stellt hart
nur die Tatsache fest, daß er zu Tode gequält wird.
Auch in der metrischen Form ist dieses Gedicht härter
als Mörikes Übertragung erkennen läßt, ja es ist geradezu
anstößig mit seinen vielen etwas gewaltsamen Elisionen.
Aber auch das hängt mit dem Inhalt zusammen.
Um den Inhalt dieses Distichons zu verstehen, müssen
wir uns etwas mit dem Leben des Dichters bekannt
machen.
Catull war ein recht liederlicher Jüngling, und zwar in
des Wortes eigentlicher Bedeutung, dem seine Lieder
wichtiger waren als die soliden Grundsätze eines römischen
Bürgers, und der, wie es manchem anderen Dichter seit
Anakreon über Villon bis Verlaine auch ergangen ist, bei
Wein und Liebe die Erregungen und Stimmungen fand,
die sich ihm zu Versen formten. Er gehörte zu einer
Gruppe junger Schriftsteller, die, so kann man sagen,
in Rom zum ersten Mal der Faszination des Literarischen
verfielen. Es gab vor ihnen schon mancherlei Literatur
in lateinischer Sprache, Tragödien und Komödien, ge-
schichtliche Epen wie das des Ennius und die Satiren
des Lucilius, aber in den Augen dieser jungen Gruppe,
wie sie sich nannten, war all das recht provinzielles, halb-
barbarisches Zeug. Denn sie entdeckten für die Römer
die ästhetischen Reize der hellenistischen Dichtung, das
geistreiche und formvollendete Spiel des Kallimachos
und seiner Zeit, und versuchten, diese Poesie ins Latei-
nische einzuführen und fortzuentwickeln. Mondän, leicht,
18
heiter, witzig zu sein, war ihr vornehmlicher Ehrgeiz, —
und für die Römer war das zu jener Zeit ein höchst an-
rüchiges Geschäft; denn wenn es schon keinen Platz in
der bürgerlichen Gesellschaft gab für Künstler, Dichter,
Schauspieler, Tänzer usw., so brachte diese Sorte von
Poesie die jungen Literaten vollends in ein zweifelhaftes
Milieu. Diese ihrerseits reagierten, wie sie es seitdem in
der europäischen Literatur immer wieder in solchen
Situationen getan haben, damit, daß sie nun erst recht
darauf insistierten, daß ein guter Vers bedeutsamer sei
als die Eroberung Galliens durch Caesar, und ein geist-
reicher Witz wichtiger als alle Römer-Tugend. Ein echtes
epater le bourgeois hat denn Catull auch des öfteren die
Feder geführt und es ist nicht immer erquicklich, was
dabei herausgekommen ist: Manches ist wirklich nur
Bürgerschreck und Zote.
Aber das erste, wodurch seine guten Gedichte bedeutsam
geworden sind, und worin auch heute noch ihr Zauber
liegt, ist, daß er die lateinische Sprache geschmeidig ge-
macht hat, den Stimmungen des Augenblicks nachzu-
gehen und daß er es als erster vermochte, mit den von den
Griechen überkommenen Formen frei zu spielen. Treff-
sicherer Ausdruck, Grazie, Wohlklang, durchgefeilte
Form, — all das findet sich hier zum ersten Mal auf Latei-
nisch zusammen. Das sind im wesentlichen formale
Qualitäten, — denn was Catull sachlich zu sagen hat,
ist zunächst nicht allzu bedeutsam, — am bedeutsamsten
ist noch, daß überhaupt so etwas wie ein literarischer
Bereich geschaffen wurde, der außerhalb der von den
Römern gebilligten und anerkannten männlichen Be-
schäftigung wie Politik, Militär, Ackerbau, Handel usw.
stand. Da das Spiel dem Römer nur zur Entspannung
und Erholung diente und da das Spielen des Geistes ihm
unbekannt war, so siedelten sich die Dichter in den
Kaschemmen Roms an. Aber das Spiel des Literaten
Catull nahm eine überraschende Wendung, als er sich in
•
19
die schöne Clodia verliebte. Sie war die Schwester des
berüchtigten Clodius, eines der Hauptgegner Ciceros
während der catilinarischen Verschwörung. Und sie war
kaum weniger übel als ihr Bruder. Daß sie ein lockeres
Leben führte, wird sie zunächst der jungen Boheme nur
empfohlen haben. Für Catull, der aus Verona in dieses
großstädtische Leben hineingekommen war, änderte sich
plötzlich alles dadurch, daß aus seinem frivolen Spiel
eine ernsthafte Liebe wurde.
Clodia spielte mit ihm, betrog ihn, lockte ihn wieder an
sich und führte ihn offenbar quälend an der Nase herum.
Da tat sich plötzlich ein grausamer Widerspruch zwischen
der Wirklichkeit auf und der Theorie, die alles nur als
Spiel und Witz nahm. Das hat Catull zu einer Besinnung
auf sich selbst geführt, deren Resultat z.B. auch das
Distichon ist, das wir besprochen haben. Und das, was
Catull da an sich entdeckte, hatte vorher kein Mensch
an sich selber gesehen, weder ein Grieche noch ein Römer.
Was ihm selbst bis dahin ein einheitliches Gefühl der
Liebe gewesen war, zerbrach in zwei Stücke. Er erfuhr,
als seine Geliebte ihm verächtlich wurde, daß seine Liebe
doch weiter ging, daß er zugleich haßte und liebte; —
odi et amo — er besann sich darauf, daß seine glückliche
Liebe nicht nur ein amare gewesen war, nicht nur die
sinnliche Leidenschaft, die jetzt noch fortbestand, sondern
noch etwas anderes, das jetzt in Haß umgeschlagen war.
Catull fällt es schwer, dieses andere Gefühl deutlich zu
machen. Er nennt es bene velle, „Wohlwollen", und sagt
(c. 72,3), um dieses Gefühl zu beschreiben, für das es
noch kein bezeichnendes Wort gibt: „Damals hatte ich
dich gern, nicht wie man gewöhnlich seine Freundin gern
hat, sondern wie ein Vater seine Söhne und seine
Schwiegersöhne gern hat." Auf recht absonderliche
Weise kommt Catull, den sein Vater sicher als recht ver-
lorenen Sohn angesehen hat, dazu, sich auf die Gefühle
des römischen pater familias zu besinnen, der den Söhnen
20
und Schwiegersöhnen sein Haus mit fürsorgender Liebe
instand hält.
Aber für die Liebe, die nicht ihren eigenen Gewinn sucht,
sondern für den Geliebten da sein möchte, ist das offenbar
das nächstliegende Beispiel, — etwas tapsig und unbe-
holfen sagt Catull, der sonst so virtuos mit den Versen
gespielt hatte, etwas Neues, denn „amare" hatte damals
noch nicht diesen Klang, daß eine innere herzliche Liebe
zu einer Geliebten damit bezeichnet werden konnte.
In dem bene velle klingt aber noch etwas anderes zum
ersten Mal auf: daß der gute Wille, die herzliche Gesinnung
das eigentlich Wertvolle, das moralisch Relevante sei.
Auch das gibt es im Griechischen noch nicht. Die Grie-
chen fassen das Gute als das Ziel des Erkennens, aber nicht
des Willens auf. Es gilt, das Gute als solches einzusehen
— dann ist es selbstverständlich, daß man es tut —, man
muß sich nur hüten, daß die Leidenschaften oder Be-
gierden nicht stärker werden als die Erkenntnis.
Erst bei Seneca wird der Wille, die voluntas, das Funda-
ment für die Ethik, und über Augustin hat das dann
seine tiefe Wirkung auf die christliche Moral geübt.
Der erste Anfang dieser Vorstellung steckt aber bei
Catull. Catull ist dazu gekommen, dieses Neue an sich
und an den Menschen zu sehen, weil er in einer wüsten,
sinnlosen, aus den Fugen gegangenen Zeit sich doch ein
natürliches gesundes Empfinden bewahrt hatte. Durch
bittere Erfahrungen hat er zu diesem Einfachen und
Schlichten zurückgefunden. Wir werden das nächste
Mal sehen, wie Vergil an solche Gedanken Catulls an-
knüpft.
21
IV
22
Und zieht als freier Musensohn
I n die Poetendimension,
und als schönster Lohn seines Dichtens winkt ihm, daß
die Geliebte ihm entgegenfliegt:
„Göttlicher Mensch, ich schätze Dich!
Und daß Du so mein Herz gewannst,
Macht bloß, daß Du so dichten kannst!!"
23
Und so liebe denn auch, du göttlicher Sänger der Herden,
Trieb doch Adonis selbst, der Reizende, Lämmer zum Fluß hin.
24
menschlichen Gesellschaft. Zwar läßt sich schon in der
griechischen Literatur verfolgen, daß die Gesellschaft
sich verengt, in der die Dichter sich heimisch und aner-
kannt fühlen, und zumal die hellenistischen Dichter
wenden sich nicht mehr an die ganze Bürgerschaft, wie es
noch die klassische Tragödie und Komödie tat, sondern an
einen exklusiven Kreis von Gebildeten, die das gelehrte
und kunstvolle Spiel ihres Dichtens goutieren können.
Aber selbst die Hirtengedichte Theokrits, von denen
Vergil in seinen Bucolica so stark abhängig ist, kennen
noch nicht dieses sentimentale Gefühl des Verlorenseins
und das dadurch bedingte Selbstgefühl dessen, der in ein
schöneres Reich der Poesie flieht. Für Vergil ist Arkadien
das Land der Dichtung, der Liebe und des eigentlichen,
zarten Menschentums.
Wenn wir von hier aus noch einmal zurückblicken auf
Catull, von dem wir das letzte Mal gesprochen haben,
so wird klar, daß vieles, was bei Vergil hervortritt, sich
bei ihm schon vorbereitet.
Zunächst haben wir bei Catull die gleichen soziologischen
Voraussetzungen gefunden wie bei Vergil: daß der
Dichter in einer Welt steht, die eigentlich keinen Platz
für ihn hat, daß er dadurch zugleich sich fremd fühlt und
doch lebendig von seiner geistigen Überlegenheit weiß.
So wie Vergil sich nach Arkadien flüchtet, war Catull
in die Boheme gegangen. Daß Catull das lockere Milieu
der Tavernen und noch zweifelhafterer Lokale als einen
Platz des dichterischen Spielens und der geistigen Be-
weglichkeit ansah, hat er in einem Gedicht ausgesprochen,
in dem er die beschimpft, die ihn wegen seiner unzüchtigen
Gedichte getadelt hatten (c. 16), die aus seinen Versen
geschlossen hatten, daß er selbst ein lasterhaftes Leben
führte. Denen antwortete er:
25
„Der fromme Dichter, d.h. der den Musen dient, soll
selber keusch sein, aber daß es auch seine Verse sind,
ist nicht nötig." — Solch einen Trennungsstrich zwischen
Kunst und Leben hat, soviel ich weiß, ein griechischer
Dichter nie gezogen. (Wohl aber haben spätere Römer
sich des öfteren auf diesen Satz Catulls berufen.)
Ob Catull sich in seinem Privatleben wirklich streng
nach dieser Maxime gerichtet hat, wage ich nicht zu ent-
scheiden, jedenfalls zeigt der Vers, daß Catull sich auch
schon einen Bereich der Kunst geschaffen hat, der zu
dem geordneten und nüchternen Leben des römischen
Bürgers im Gegensatz stand. So verschieden die Boheme
Catulls und das Arkadien Vergils auch sind, — denn in
Vergils Arkadien geht es durchaus dezent zu — so sind
doch die verwandten Züge nicht zu verkennen. Und für
die abendländische Dichtung sind beide Formen, sich
eine Freistatt des Dichtens außerhalb der bürgerlichen
Welt zu schaffen, exemplarisch geblieben.
Das Vergilsche Arkadien hat bis in das Rokoko hinein
die Dichter zu seinen Herden gelockt, — und nachdem
dann die Schäferpoesie ihre Kraft verloren hatte, das
poetische Spiel in die gesellige Unterhaltung der Ge-
bildeten einzufügen, wanderten die Dichter desto ent-
schiedener in die Boheme aus.
Bei den Römern ist aber noch ein dritter poetischer
Schauplatz entdeckt, auf dem sich das ungebundene
Dichten tummeln konnte, — und davon werden wir
morgen noch etwas sprechen, das ist der Olymp, die
heitere Welt der griechischen Götter, die Ovid in seinen
Metamorphosen gestaltet hat und die durch ihn in der
Renaissance und im Barock auch für die abendländische
Dichtung, vor allem aber auch für Plastik und Malerei,
eine Poeten-Dimension und Kunst-Wirklichkeit neben
der banalen Realität geworden sind.
Wir in Deutschland sind sehr geneigt, den Einfluß der
Römer auf die abendländische Kultur zu unterschätzen,
26
und gewiß reicht das, was die Griechen für Europa ge-
leistet haben, noch sehr viel tiefer. Seit Winckelmann
und Herder uns das griechische Erbe wieder vor Augen
gestellt haben, spielt man gern die Griechen gegen die
Römer aus.
Deswegen ist es bei uns besonders nützlich, sich darauf
zu besinnen, daß das Griechische zum guten Teil in
römischer Metamorphose auf das Abendland gewirkt hat.
Dafür ist Arkadien ein gutes Beispiel. Arkadien ist eine
griechische Landschaft, aber was Arkadien für die Römer
und für die spätere Zeit war, konnte es nie für die Griechen
sein: ein fernes Land, die Heimat der Poesie, zu der die
sehnsüchtig hinübersahen, bei denen Dichtung und
höheres geistiges Leben nicht ursprünglich gewachsen,
sondern zunächst als etwas Fremdes übernommen ist.
So stehen seit den Römern alle westlichen Völker zu den
Griechen, und deswegen haben sich die von den Römern
entwickelten Vorstellungen von einem dichterischen, dem
Alltag fremden Bereich immer wieder eingestellt. Ja, das
Paradoxe ist, daß selbst seit der Wiederentdeckung der
Griechen in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Griechen
zum guten Teil sehr römisch von uns gesehen sind. Denn
wenn nun die Griechen plötzlich in einem idealen Licht
dastanden, die griechische Dichtung und die griechische
Kunst als Vorbild erschien, so wurde gewissermaßen das
ganze Griechenland zu einem Arkadien, zu einem pro-
fanen Olymp.
Aber bis zu der Entthronung der Römer durch die Grie-
chen haben die lateinischen Dichter gerade durch die Züge
gewirkt, die wir heute und gestern als typisch römisch
kennengelernt haben.
Die Griechen wurden wiederentdeckt unter dem Stich-
wort des Natürlichen, des Schönen. Die Römer sind
immer geneigt gewesen, dieses Schlichte und Einfache
ein wenig zu überhöhen, so daß auf der einen Seite
Würde, auf der anderen Anmut als das Charakteristische
27
des von den Griechen Geschaffenen erschien. Muster für
die Würde war dann in den späteren Zeiten Vergils
Äneis.
Wir können hier nicht verfolgen, wie diese Würde aus
der Arkadien-Vorstellung des jungen Vergil hervorwächst.
Muster für die Anmut waren Ovids Metamorphosen,
von denen wir morgen sprechen werden. Und daß an
dieser Anmut die Boheme Catulls nicht unbeteiligt war,
wird sich dabei zeigen.
28
V
Heute soll uns ein Stück aus dem i. Buch von Ovids
Metamorphosen beschäftigen, die berühmte und oft in
Malerei und Plastik dargestellte Geschichte, wie Daphne,
von Apollo in Liebe verfolgt, ihren Vater, den Flußgott
Peneios, bittet, sie in einen Lorbeerbaum zu verwandeln.
Ovid knüpft seine Erzählung an die Sage von dem
Drachen Python, der einst in Delphi hauste, und den
Apollo mit Pfeil und Bogen tötete, um dort sein Heilig-
tum und seine Orakelstätte zu gründen.
Um die beiden Geschichten zu verbinden, erfindet Ovid,
daß Apollo den Gott der Liebe, Amor oder Cupido, da-
durch beleidigt, daß er sich verächtlich über das Bogen-
schießen dieses mutwilligen Knaben äußert.
Wenn ich Ihnen nun neben dem lateinischen Text eine
Übersetzung von etwas mehr als ioo Ovidversen mitteile,
so erinnern Sie sich bitte an das, was wir neulich schon
gesehen haben, daß das Übersetzen nie aufgeht, daß es
immer ein spielerischer Notbehelf bleibt. Ich gebe die
Übersetzung nur deswegen, weil ich annehme, daß die
Verständigung über das Stofflich-Sachliche doch leichter
ist, wenn ich Ihnen den Ovid auch auf Deutsch ser-
viere und nicht nur auf Lateinisch, — (aber an dem
Urtext können Sie sich leicht überzeugen, daß die Form
ebenso elegant und graziös ist wie die bezaubernde Ge-
schichte) :
29
Primus amor Phoebi Daphne Peneta, quem non
fors ignara dedit, sed saeva Cupidinis ira.
Delius hunc, nuper victa serpente superbus,
viderat adducto flectentem cornua nervo
'quid* que 'tibi, lascive puer, cum fortibus armisV
dixerat, 'ista decent umeros gestamina nostros,
qui dare certa ferae, dare vulnera possumus hosti,
qui modo pestifero tot iugera venire prementem
stravimus innumeris tumidum Pythona sagittis.
tu face nescio quos esto contentus amores
inritdre tua, nee laudes adsere nostras.'
30 <
Erste Liebe Apolls war Daphne, das Kind des Peneius,
Liebe, die törichter Zufall nicht gab, nein, der Zorn des Cupido.
Phoebus hatte, noch stolz auf den eben-getöteten Drachen,
Ihn seinen Bogen, die Sehne zu festigen, biegen gesehen
Und ihm gesagt: „Was scheren denn dich, du lockerer Knabe,
Mächtige Waffen? Laß solcherlei Last für unsere Schultern,
Die wir das Wild mit sicherem Schuß und den Gegner
verwunden!
Just hab ich ihn, der mit giftigem Leib viele Hufen von Land
deckt,
Mit unzähligen Pfeilen erlegt, den gedunsenen Pytho.
Du aber sei es zufrieden, mit deiner Fackel etwelche
Lieben zu zünden, doch strebe du nicht nach unseren Taten."
31
saepe pater dixit 'generum mihi, filia, debes',
saepe pater dixit 'debes mihi, nata, nepotes'.
illa, velut crimen taedas exosa iugales,
pulchra verecundo suffuderat ora rubore,
inque patris blandis haerens cervice lacertis
'da mihi perpetua, genitor carissime', dixit
'virginitate frui: dedit hoc pater ante Dianae.'
ille quidem obsequitur, sed te decor iste quod optas
esse vetat, votoque tuo tua forma repugnat:
Phoebus amat visaeque cupit conubia Daphnes,
quodque cupit, sperat, suaque illum oracula fallunt.
utque leves stipulae demptis adolentur aristis,
ut facibus saepes ardent, quas forte viator
vel nimis admovit vel iam sub luce reliquit,
sie deus in flammas abiit, sie pectore toto
uritur et sterilem sperando nutrit amorem.
spectat inornatos collo pendere capillos,
et 'quid, si comantur?' ait. videt igne micantes
sideribus similes oculos, videt oscula, quae non
est vidisse satis; laudat digitosque manusque
bracchiaque et nudos media plus parte lacertos.
siqua latent, meliora putat. fugit ocior aura
illa levi neque ad haec revocantis verba resistit:
32
Oft hat der Vater gesagt: „Für den Schwiegersohn, Töchter-
chen, sorg mir",
Oft hat der Vater gesagt: „Sorge mir, mein Kind, für
die Enkel."
Aber wie Sünde verhaßt war ihr die Fackel der Hochzeit,
Und, Übergossen das schöne Gesicht von schamhafter Röte,
Hängte sie sich mit schmeichelndem Arm an den Hals
ihres Vaters.
„Gib mir, o teurer Erzeuger, daß ich meiner Jungfernschaft
ewig
Mich erfreue. Der Vater gab dies dereinst der Diana."
Jener gewährte das wohl. Doch dir versagt deine Schönheit
Das zu sein, was du wünschst, und dein Reiz widerstreitet
der Bitte.
Phoebus liebt; da er Daphne gesehn, begehrt er ihr Lager.
Was er begehrt, hofft er; doch er, der Prophet, muß sich irren.
Und wie die lichten Stoppeln in Rauch aufgehn nach der Ernte,
Wie eine Hecke verbrennt von der Fackel, die etwa ein Wandrer
Allzu nahe ihr trug oder wegwarf beim Grauen des Tages,
So ging Phoebus in Flammen auf, so stand ihm sein Busen
Ganz in Brand und mit Hoffnung speist er vergebliche Liebe;
Blickt auf das Haar, das locker und wild im Nacken ihr flattert,
Und „liegt das erst in Flechten!" sagt er; sieht funkeln
vor Feuer
Sternen gleich ihre Augen, sieht, — ach, ihm genügt nicht
das Sehen —
Ihren Mund. Und er ist entzückt von den Fingern, den Händen,
Von den Armen und ihren zum Teil noch sichtbaren Schultern,
Und was verhüllt ist, dünkt ihm noch reizender. Flüchtig,
ein Windhauch
Eilt sie von hinnen und hält auch nicht ein, als Apollo ihr
zuruft:
33
ho stes quaeque suos: amor est mihi causa sequendi.
me miserum! ne prona cadas indignave laedi
crura notent sentes et sim tibi causa doloris!
aspera, qua properas, loca sunt, moderatius, oro,
curre fugamque inhibe; moderatius insequar ipse.
cui placeas, inquire tarnen, non incola montis,
non ego sum pastor, non hie armenta gregesque
horridus observo. nescis, temeraria, nescis,
quem fugias, ideoque fugis. mihi Delphica tellus
et Claros et Tenedos Patareaque regia servit,
Iuppiter est genitor, per me quod eritque fuitque
estque patet, per me concordant carmina nervis.
certa quidem nostra est, nostra tarnen una sagitta
certior, in vacuo quae vulnera pectora fecit.
inventum mediana meum est, opiferque per orbem
dicor, et herbarum subieeta potentia nobis:
ei mihi, quod nullis amor est sanabilis herbis,
nee prosunt domino, quae prosunt omnibus, artes!'
34
Jegliches vor seinem Feind! Daß ich dich verfolge, ist Liebe!
Elender ich! Gib acht, du fällst! Empörend, die Dornen
Ritzen die Schenkel dir! Meine Schuld ist's, daß du dir
weh tust!
Rauh ist, wo du dahineilst, der Grund. Oh, langsamer, bitte,
Lauf und hemme die Flucht. Langsamer will ich dich ver-
folgen.
Frage doch nur, wer dich liebt! Ich bin kein Bauer vom Berge,
Bin kein Hirt, bin keiner, der hier in Lumpen die Kühe
Oder die Schafe bewacht. Du weißt nicht, o Törichte,
weißt nicht,
Wem du enteilst, — darum nur enteilst du mir: Mein ist ja
Delphi;
Clarus dient mir, Tenedus auch und Pataras Burgfels.
Jupiter ist mein Erzeuger; was war, was ist und was sein wird,
Ist durch mich offenbar, durch mich stimmt das Lied zu
der Leier.
Sicher trifft mein Pfeil, doch trifft ein anderer Pfeil noch
Sichrer, der eben das Herz mir, das unerprobte, verwundet.
Ich bin Erfinder der Heilkunst, der Retter werd' auf dem
Erdrund
Rings ich genannt, und der Kräuter Kraft steht mir zu Gebote.
Weh mir, daß nur die Liebe durch keinerlei Kräuter zu heilen,
Daß die für alle so nützliche Kunst nur dem Herren nicht
nützlich!"
35
ut canis in vacuo leporem cum Gallicus arvo
vidit, et hie praedam pedibus petit, ille salutem
(alter inhaesuro similis iam iamque tenere
sperat et extento stringit vestigia rostro,
alter in ambiguo est, an sit conprensus, et ipsis
morsibus eripitur tangentiaque ora relinquit):
sie deus et virgo est hie spe celer, illa timore.
qui tarnen insequitur, pennis adiutus Amoris
ocior est requiemque negat tergoque fugacis
inminet et crinem sparsum cervieibus adfiat.
viribus absumptis expalluit illa, citaeque
vieta labore fugae, speetans Peneidas undas,
fer, pater' inquit 'opem, si fiumina numen habetis!
qua nimium placui, mutando perde figuram!'
36
Wie wenn ein gallischer Hund auf offenem Feld einen Hasen
Sieht und ihn hurtig hetzt — und der Hase läuft um
sein Leben —
(Schon sieht es aus, als hätt' er ihn fest, schon meint er,
er packt ihn;
Vorwärts gestreckt seinen Kopf liegt er ihm hart auf der Fährte.
Schon ist der Hase in Angst, ob er nicht erwischt sei, entreißt
sich
Grad' noch den Zähnen und löst sich von der ihn schon
streifenden Schnauze),
So auch der Gott und das Mädchen: e r schnell durch Hoffnung,
durch Furcht sie.
Der Verfolger jedoch, unterstützt durch die Fittiche Amors,
Ist geschwinder und gibt keine Ruh, — an der Fliehenden
Rücken
Trifft er schon mit dem Hauch die im Nacken ihr flatternden
Haare.
Ihr entschwindet die Kraft, sie erbleicht, von all ihrer Mühsal
Eiligen Fliehens erschöpft erblickt sie die Flut des Peneius, —
„Vater", so ruft sie, „hilf! Und wenn denn ihr Flüsse die Kraft
habt,
Wandle, durch den zu sehr ich gefiel, zerstör meinen Körper!"
Kaum ist die Bitte gesagt, faßt schwere Lähmung die Glieder.
Rings umschnürt ihr ein feiner Bast den Busen, den weichen,
Und zu Laub wächst ihr Haar, zu Zweigen wachsen die Arme,
Und ihre Füße, noch eben so flink, verhaften in Wurzeln.
Ihr Gesicht wird zum Wipfel; das Einz'ge, das bleibt, ist
die Schönheit.
So noch liebt sie Apoll; er legt an den Stamm seine Rechte,
Fühlt noch zittern die Brust durch die eben gewordene Rinde,
Und er umfaßt mit dem Arm das Gezweig, als wären es Glieder,
Küsse gibt er dem Holz, doch das Holz entzieht sich den Küssen.
57
Die leichte Anmut dieser Geschichte ist das Erbe des
griechischen Mythos. Aber doch ist hier manches anders
als bei den Griechen, und das hängt zunächst einmal an
den gesellschaftlichen Verhältnissen Roms, von denen
wir schon bei Catull und Vergil gesprochen haben.
Da dem Dichter kein natürlicher Platz im täglichen Leben
Roms oder auch bei festlichen Gelegenheiten zur Ver-
fügung stand, war Catull in die Boheme gegangen und
Vergil hatte sich sein eigenes Land der Dichtung, Arkadien,
geschaffen.
In Ovids Metamorphosen wird die Welt der griechischen
Götter so etwas wie eine Boheme und ein Arkadien zu
gleicher Zeit: ein Land des freien Spiels und der poetischen
Schönheit.
Gewiß haben auch die hellenistischen Dichter, zumal der
Größte unter ihnen, Kallimachos, mit den alten Göttern
und Sagengestalten ihr geistreiches Spiel getrieben, aber
erst bei Ovid bekommt der Mythos den sentimentalischen
Charakter, daß er sich als eine idealische Welt über den
sinnlos gewordenen Alltag erhebt. Die Idealisierung der
mythischen Figuren vollzieht er nun freilich nach dem
Geschmack einer großstädtischen Gesellschaft, die sich
nicht mehr in irgendwelchen ernsten Interessen engagiert.
Wie in eine Erlösung, aber in eine sehr weltliche Er-
lösung, und wie in einen jenseitigen Trost, wobei aber
das Jenseits sehr mondän ist, flieht Ovid in diese alte
vollkommene Welt. So sind die olympischen Götter in
den Metamorphosen schon durchaus heidnisch in dem
Sinn, daß ihre Freiheit und Vitalität sich nicht mehr un-
befangen und harmlosen Herzens gibt. An Stelle des
Sinnenkräftigen und Burlesken tritt bei Ovid das An-
zügliche und Frivole, die Schönheit wird zur Eleganz,
die Weisheit zum Witz. Wie Apoll, immer im Lauf-
schritt, der spröden Daphne seine schmachtende Liebe
vorträgt, wie er ihre Hände, ihre Arme, ihre Schultern
bewundert — und das Weitere ahnt, wie er die Paradoxie,
38
daß er als Seher und Bogen-Schütze seine göttliche Macht
nicht erfolgreich anwenden kann, in Antithesen formu-
liert, — vollends, wie er beim Anblick der wild flatternden
Haare sagt: „wenn die nun erst noch frisiert wären", —
all das ist auf das geistreichste und wirkungsvollste durch-
geführt, aber von einem bewußten Raffinement.
Ich will noch eine Geschichte aus den Metamorphosen
erwähnen, um zu zeigen, auf was man bei Ovid gefaßt
sein muß. Er hat von Orpheus erzählt, der so traurig die
Eurydike im Hades hat zurücklassen müssen. Daraufhin,
so berichtet er weiter, erfand Orpheus die Knabenliebe,
sei es nun deswegen, weil er so schlechte Erfahrungen
mit den Frauen gemacht hatte, — oder aber, weil er seiner
Frau die Treue halten wollte.
Aber trotz solcher schnöden Frivolitäten schlägt bei Ovid
doch immer wieder eine zarte Empfindsamkeit durch.
Die Schluß-Szene der Daphne-Geschichte, wie Apoll das
zum Lorbeer verwandelte Mädchen liebkost, ist nur ein
Beispiel für das Gefühl, das sich in der römischen Literatur
seit Catull und Vergil durchgesetzt hat.
Die Renaissance hat vornehmlich an Ovid die strahlende
Welt der griechischen Götter und Helden kennengelernt,
und es ist verständlich, daß die Mischung von Frivolem,
Geistreichem und Sentimentalem vor der Folie des welt-
flüchtigen Christentums besonders stark wirken mußte,
als eine neue städtische Gesellschaft sich wieder auf die
Schönheit und Größe der diesseitigen Welt besann, und
als man an der Antike diese Weltfreudigkeit zu lernen
begann.
Freilich hat es auch zwischen dem ausgehenden Altertum
und der Humanisten-Zeit eine große lateinische IJteratur
gegeben, die allerdings ganz andere Züge aufweist. Dar-
über wollen wir uns das nächste Mal unterhalten.
39
VI
40
Da klingen sie hinein als göttlich-unverbrüchliche Stimme;
das, was das Latein im Kultus der Kirche war und bis
auf den heutigen Tag ist, kommt dadurch großartig zur
Geltung: das Heilige ist dem Profanen so fern, daß es
seine eigene Sprache spricht, und diesen hieratischen
Klang haben die mittelalterlichen Hymnen wie kaum eine
andere religiöse Dichtung des Abendlandes.
Goethe hat diese mittelalterlichen lateinischen Rhythmen
mit den oft dreifachen oder noch häufigeren Reimen auch
sonst im Faust verwandt, wenn er das Übermenschlich-
Gültige zu Worte kommen lassen wollte. So im Chor
der Engel, die, als Faust den Gift-Trank an die Lippen
setzen will, den Ostersonntag begrüßen.
Christ ist erstanden:
Freude dem Sterblichen,
den die verderblichen,
schleichenden, erblichen
Mängel umwanden.
Das klingt geradezu, als ob es die Übersetzung eines
mittelalterlichen Hymnus wäre, — ist es aber nicht.
Und vollends durch die letzte Szene des 2. Teils klingen
diese feierlichen Weisen, von dem Anfang:
Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammem an,
Stamm dicht an Stamm hinan,
bis zu dem Chorus Mysticus:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis,
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis . . .
Neben dieser erhabenen kirchlichen Poesie hat es aber
auch eine reiche weltliche Dichtung im Mittelalter ge-
41
geben, deren bekanntestes Lied, das Gaudeamus igitur, in
seinen ältesten Teilen bis ins 13. Jahrhundert zurück-
reicht, — also in die Zeit, aus der auch das Dies irae
stammt. Das Lied hat allerdings mancherlei Wandlungen
durchgemacht: Aus dem 18. Jahrhundert ist z.B. eine
halb lateinische, halb deutsche Fassung bekannt, die recht
obszön ist, — und erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts
hat es die etwas triviale Gestalt gefunden, die in die
Kommersbücher eingegangen ist.
Dies Gaudeamus gehört zu der reichen Vaganten- oder
Goliarden-Poesie des Mittelalters, zu den Liedern der
fahrenden Scholaren, von denen uns einige durch eine
Handschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts aus dem
Kloster Benediktbeuren, die sogenannten Carmina Burana,
erhalten sind. Es ist zwar mehr als zweifelhaft, ob diese
Gedichte wirklich alle aus der mittelalterlichen Boheme
der gescheiterten Studenten stammen, — selbst bei den
derbsten Freß-, Sauf- und Venusliedem bleibt die Mög-
lichkeit offen, daß sie von sonst ganz ehrbaren Leuten
stammen. Die große Mehrzahl ist anonym, und wir
kennen nur ganz wenige Verfasser, wie den Archipoeta,
den Erzdichter, der der Schützling Rainalds von Dassel,
des Erzbischofs von Köln, um die Mitte des 12. Jahr-
hunderts war. In seinen Gedichten gibt er sich als Trinker,
Spieler und lockerer Vogel.
Es ist kurios, daß das Lateinische eine volkstümliche
Poesie erst hervorgebracht hat, als es nicht mehr Volks-
sprache, sondern nur noch Sprache der Gebildeten war.
Denn die alte römische Poesie, jedenfalls soweit sie auf
uns gekommen ist, hat viel mehr literarisch-gebildeten
Charakter als das, was wir aus dem Mittelalter an latei-
nischen Gedichten besitzen, also aus einer Zeit, als das
Latein eine Sondersprache der Schriftkundigen war.
Freilich sind diese Verse nicht mehr im antiken Versmaß
gehalten, sondern es wird der Reim verwandt, wie er uns
auch vertraut ist. Auch die Sprache entspricht nicht mehr
42
den Regeln der klassischen Grammatik, und so ist denn
die große Fülle bedeutender Gedichte aus vielen Jahr-
hunderten von den Humanisten nicht mehr ernst ge-
nommen und auch in unseren Schulen haben sie keinen
rechten Eingang gewonnen, obwohl man die klassizisti-
schen Vorurteile in der Theorie längst abgetan hat und
obwohl man keine Angst mehr zu haben braucht, daß
das Küchenlatein den guten Stil lateinischer Haus-
arbeiten verdirbt.
Ich sollte meinen, daß es unserem Latein-Unterricht auf
der Schule nur zugute käme, wenn man diese mittel-
alterliche Poesie mehr heranzöge, nicht nur, weil sich
Latein daran so leicht lernen läßt, sondern auch deswegen,
weil schon wenige Proben den Blick für eine Welt öffnen,
die uns auf der Schule unbekannt geblieben ist.
In den Carmina Burana finden sich so bezaubernde Stücke
wie das Frühlingslied, das mit zu denen gehört, die Orff
vertont hat:
43
die die Romantik von Volksliedern hatte, gründlich revi-
dieren. Wer so auf lateinisch dichten konnte, muß ein
Gebildeter, ja, ein Gelehrter gewesen sein, — nur durfte
er sich durch sein Bücherstudium nicht den gesunden und
frischen Sinn für das verdorben haben, was die von ihm
gelernten Vokabeln bedeuteten. Ja, es zeigt sich, wenn
man sich diese Vaganten-Poesie genauer ansieht, daß sie
überall auf die römischen Dichter, zumal auf Vergil und
Ovid anspielt, und daß die Dichter, die zu singen scheinen,
wie der Vogel singt, zu ihrer unbefangenen Natürlichkeit
gerade dadurch gekommen sind, daß sie geprägte Formen,
über die Liebe, über die Freundschaft, über die Natur zu
sprechen, bei den klassischen Autoren vorfanden, was
aber selbstverständlich nicht ausschloß, daß ein durchaus
unantikes und modernes Empfinden in sie einfloß. Das
mag ein scherzhaftes Gedicht auf den armen Hasen zeigen,
das zwar erst aus dem Jahr 15 74 stammt, aber im Motiv
zurückgeht auf ein mittelalterliches Gedicht vom ge-
bratenen Schwan. Wenn hier, obwohl ironisch, das Mit-
leid mit dem jammervollen Los des für die Küche be-
stimmten Geschöpfes spricht, so ist das völlig unantik, —
das setzt christliches Fühlen voraus.
44
Wenn die Knechte mich entdecken,
„Hase" Schrein sie, mich zu schrecken.
Wohne tief im dunklen Wald
Und mein Bett ist hart und kalt.
Steige ich den Berg hinan,
Keine Hunde furcht ich dann.
K o m m ich an den Hof zum König,
Freut sich d e r , — doch i c h mich wenig.
Könige, die mich verspeist,
Trinken Wein auf mich zumeist.
Bin ich aufgespeist von ihnen,
Tun sie mich in die Latrinen."
45
Dum in aulam venio
Gaudet rex — et non ego.
Quando reges comedunt me,
Vinum bibunt super me.
Quando comederunt me,
Ad latrinam portant me.
46
feror ego veluti Wie ein meisterloses Schiff
sine nauta navis, fahr' ich fern d e m Strande,
ut per vias aeris wie der Vogel durch die Luft
vagafertur avis, streif ich durch die Lande.
non me tenent vincula, Hüten mag kein Schlüssel mich,
non me tenet clavis, halten keine Bande,
quaero mei similes mit Gesellen geh' ich um —
et adiungor pravis. oh, 's ist eine Schande!
47
iuvenes non possumus wie soll auch der Jugendmut
legem sequi duram Regel halten können
leviumque corporum und dem leicht erregten Blut
«o« habere curam . . . seinen Wunsch mißgönnen? . . .
(Übertragen von L. Laistner)
48
quae Minschos fere omnes, Mannos, Weibras, Jungfras
etc. behüppere et spitzibus suis snafflis steckere et bitere
solent, Auetore Griphaldo Knickknackio ex Flolandia.
Aber wir wollen schließen. Es ist schon spät und, wie
es in einem Maccaronischen Hexameter heißt:
„Nachtwächteri veniunt cum spiessibus atque laternis."
49
VII
50
halb scheint uns das Französische wie ein gleichartiger
Strom ohne rechten Rhythmus dahinzufließen:
„C'est bien la pire peine — de ne savoir pourquoi . . . " und
im Griechischen war das noch viel stärker der Fall.
Die griechische Sprache hat nämlich eine ganz andere
Art der Betonung, worauf schon das Wort Akzent, der
accantus, hinweist, — das ist eigentlich das Hinzugesungene
und ist Übersetzung des griechischen Wortes Prosodia:
die Betonung im Griechischen war eher durch die Ton-
höhe als durch die Lautstärke bestimmt; die betonten
Silben wurden um eine Quint höher gesprochen als die
unbetonten, und dem gegenüber fiel ein Stärkeunter-
schied der gesprochenen Silben nicht auf. Deswegen ließ
sich der exspiratorische Akzent, wie wir diesen Stärketon
nennen, für die Rhythmisierung der dichterischen Sprache
nicht verwerten. Der musikalische Akzent aber, das heißt,
die unterschiedliche Tonhöhe, ließ sich nicht für den
poetischen Rhythmus auswerten. Nun unterscheidet das
Griechische aber sehr deutlich zwischen langen und
kurzen Silben, und das bot eine bequeme Handhabe zur
Rhythmisierung. Ja, der Unterschied zwischen langen und
kurzen Silben ist im Griechischen viel klarer ausgeprägt
als der Unterschied zwischen laut und leise gesprochenen
Silben im Deutschen, denn die Betonung einer Silbe kann
bei uns sehr stark wechseln je nach Sinn und Zusammen-
hang, während es im Griechischen gewöhnlich objektiv fest-
steht, ob eine Silbe lang oder kurz ist. So konnte denn das
Griechische zu einer sehr klar und fest entwickelten Metrik
kommen, und diese Metrik war so kunstvoll ausgestaltet
und enthielt so hohen ästhetischen Reiz, daß die Römer
diese Formen übernahmen und daß diese von dort aus auch
auf die abendländische Poesie stark eingewirkt haben.
Für große poetische Form ist das Griechische so immer
die Schule des Geschmacks geblieben.
Vielleicht lohnt es sich, ein so kostbares Stück von Gold-
schmiedearbeit, wie es ein wohlgebauter Hexameter ist,
5i
etwas von Nahem zu betrachten, wenn wir es auch heute
nicht mehr leicht fertigbringen, uns besinnlich in etwas
Schönes zu vertiefen. Hoffentlich schwindet bei dieser
kleinen Mühe bald die Vorstellung, daß dieses von
den Griechen entwickelte Versmaß etwas Steifes und
Starres an sich hätte. Tatsächlich leben die Hexameter
ja auch bei uns bis in die Gegenwart hinein, bis zu
Gerhart Hauptmanns »Till Eulenspiegel' und Thomas
Manns ,Gesang vom Kindchen', — von vielen weiteren
ganz zu schweigen.
Der Hexameter besteht, wie Sie wissen, aus sechs Dak-
tylen, wobei jeder Daktylus eine betonte und zwei un-
betonte Silben hat, oder bei den Griechen eine Länge
und zwei Kürzen hatte. Der letzte Daktylus ist gekürzt
um die letzte Silbe; und statt der zwei unbetonten Silben
kann in jedem der ersten fünf Daktylen auch eine un-
betonte eintreten, — oder bei den Griechen statt der zwei
Kürzen eine Länge —, so daß der Daktylus nicht drei-
silbig, sondern zwei-silbig wird. Wobei die guten Dichter
im Deutschen nur darauf achten, daß eine unbetonte Silbe,
die für zwei unbetonte steht, nicht gar zu unbetont ist,
etwa nur aus einem kurzen Schluß-e besteht. Goethe und
Schiller haben sich über diese Schwierigkeit des deut-
schen Hexameters ausführlich besprochen.
Die erste Möglichkeit, den Hexameter lebendig zu ge-
stalten ist nun, diese Variationen von zweisilbigen und
dreisilbigen Daktylen auszunutzen. Dreisilbige Daktylen
haben im allgemeinen einen schnelleren Gang als zwei-
silbige, und Joh. Heinr. Voß übersetzt dementsprechend
den Ilias-Vers, der das Herabstürzen des Sisyphos-
Felsens malt, in dreisilbigen Daktylen:
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Felsblock...
Ähnlich wirken die schon neulich zitierten Verse:
At tuba terribili sonitu taratantara dixit,
Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum.
52
Zweisilbige Daktylen dagegen wirken ruhig, sanft, lang-
sam, feierlich. Das kann nun zu sehr kunstvoller Wirkung
gebracht werden. Bei Vergil z.B. beginnt Aeneas seine
Erzählung vor Dido mit den Worten:
infandum regina iubes renovare dolorem:
unsäglichen Schmerz befiehlst du, Königin, zu erneuern.
Der Vers beginnt mit zweisilbigen Daktylen: Infan —
dum re — und dann kommen dreisilbige: gina iu — bes
reno — vare do — lorem. Darin malt sich schön, wie
Aeneas nur langsam zum Sprechen zu bringen ist und
erst allmählich in den Fluß der Rede kommt. Dergleichen
ließe sich noch viel, zumal bei Vergil und Ovid, auf-
weisen.
Aber ich möchte mit Ihnen ein zweites Mittel, den Hexa-
meter lebendig zu gestalten, besprechen, — das sind die
Zäsuren, die Wortenden, durch die ein guter Hexameter
gegliedert ist.
Sowohl im Lateinischen wie im Griechischen muß der
Hexameter so durch Wortende geteilt sein, daß er in zwei
oder drei Teile zerfällt, die rhythmisch verschieden sein
müssen. Eine schlechte Teilung z.B. wäre, wenn man in
dem angeführten Vers aus der Ilias-Übersetzung „rollte"
statt „entrollte" schreiben würde, denn dann entständen
zwei gleichwertige Glieder:
Hurtig mit Donnergepolter
rollte der tückische Felsblock.
Das klappert und ist häßlich.
Für die Teilung der Hexameter durch die Zäsuren gilt
nun weiterhin, daß sie nach dem sogenannten Gesetz der
wachsenden Glieder erfolgen muß. Wir empfinden merk-
würdigerweise eine sprachliche Einheit als schön geteilt,
wenn der zweite Teil etwas länger ist als der erste. Wir
sagen daher Land und Leute und nicht Leute und Land;
Wind und Wetter und nicht Wetter und Wind. (— und
53
so in zahllosen Wendungen mit einer erstaunlichen Regel-
mäßigkeit.) Dementsprechend sind die streng-gebauten
Sprechverse in der Antike, also vor allem die jambischen
Trimeter und die daktylischen Hexameter, in der Regel
so durch Zäsuren geteilt, daß die Teile innerhalb eines
Verses immer länger werden. Die Art der Teilung ist
im Lateinischen allerdings oft anders als im Griechischen.
Das Lateinische liebt nämlich eine Dreiteilung des Hexa-
meters, wie wir sie in den Versen:
odi et amo / quare id faciam j fortasse requiris //
und in
infandum / regina, iubes / renovare dolorem //
kennengelernt haben.
Hier liegt der erste Einschnitt nach i1/» Daktylen:
infandum j . Das zweite Stück regina iubes besteht aus einem
halben Daktylus re, aus einem ganzen Daktylus gina iu —
und wieder aus einem halben — bes, also im Ganzen aus
zwei Daktylen. Das letzte Stück renovare dolorem hat einen
halben Daktylus: reno und dann zwei volle Daktylen:
— vare dolorem.
Die Zäsuren zerlegen also die sechs Daktylen in i1/»
plus 2 plus 2V2, — und ein empfindliches Ohr wird sich
der Schönheit dieser Gliederung freuen: infandum j regina,
iubes j renovare dolorem // genau so: Odi et amo, quare id
faciam, fortasse requiris.
Im Griechischen ist der Hexameter dagegen gemeinhin
in zwei Teile geteilt. Da diese Teilung nicht genau in der
Mitte hegen darf, (denn sonst klappert der Vers), und
da man gern den zweiten Teil etwas länger hat als den
ersten, hegen die Zäsuren entweder nach der ersten Kürze
des dritten Daktylus oder nach der Länge des dritten
Daktylus. Wir können uns das Gröbste auch an deutschen
Hexametern klarmachen. Eine Zäsur der ersten Art hat
der erste Vers aus Hermann und Dorothea:
54
Hab ich den Markt und die Straße
doch nie so einsam gesehen . . .
(Ähnlich: Hurtig mit Donnergepoltcr . . .)
Hier besteht der erste Teil aus z3U Daktylen und der
zweite aus 3 V«. Sehr häufig ist im Griechischen etwa auch
die Teilung, die wir in dem ersten Vers von Schillers
Distichon auf das Distichon finden: Im Hexameter steigt /
des Springquells flüssige Säule . . . Hier haben wir 2 7t
plus 3V2 Daktylen, und diese Teilung ist auch im Latei-
nischen als schön empfunden. Für empfindliche grie-
chische Ohren ist diese Teilung nur gerade in dem Zu-
sammenhang, wo der Hexameter hier bei Schiller er-
scheint, nicht das Allerfeinste, denn es folgt ein Penta-
meter, bei dem Wortende an eben der Stelle vorgeschrie-
ben ist, wo in dem zitierten Hexameter die Zäsur liegt,
so daß also derselbe Rhythmus in den zwei aufeinander-
folgenden Versen wiederkehrt und man womöglich ver-
muten könnte, der erste Vers würde auch ein Pentameter:
Im Hexameter steigt / des Springquells flüssige Säule
Im Pentameter drauf / fällt sie melodisch herab.
55
suren entstandenen Teile: denn hier folgt auf das längere
Stück jeweils ein kürzeres.
Auch dieses rhythmische Prinzip ist weit verbreitet, wir
finden es aber in ganz anderen Bezirken, und daher ist
auch seine Bedeutung ganz anders. Die Zäsuren und das
Gesetz der steigenden Glieder finden sich nur in der ge-
sprochenen Rede und in der rezitierten Poesie, aber nicht
in der gesungenen Dichtung. Tatsächlich sind denn auch
die Distichen eine Versgattung, die in der gesungenen
Poesie, in den Elegien, ausgebildet ist. Wir kennen die
Kürzung des zweiten Kolons, die sogenannte Klausel,
auch aus unseren Liedern:
O Tannebaum, o Tannebaum,
Wie grün sind deine Blätter . . .
oder:
Ich hatt' einen Kameraden,
einen bessern findst du nit . . .
Ich sagte schon, daß die griechischen Metren künstlich
aus dem Griechischen in das Lateinische übertragen sind.
Aber immerhin war das Lateinische eine Sprache, die
auch zwischen kurzen und langen Silben unterschied und
das durch den geregelten Wechsel von Lang und Kurz
einen dichterischen Rhythmus erzielen konnte.
Trotzdem scheint das Lateinische ganz andere Akzent-
verhältnisse gehabt zu haben als das Griechische. Das
ist aber ein hitzig umstrittenes philologisches Problem.
Wie immer jedoch die Betonung des klassischen Latein
gewesen sein mag, wir wissen sicher, daß sowohl das vor-
wie das nachklassische Latein einen expiratorischen Akzent
gehabt hat, und das ist — womit wir unsere heutige
Unterhaltung abschließen wollen — nicht gleichgültig
gewesen für die frühlateinische und für die mittelalter-
liche Dichtung.
Das frühe Latein muß, wie sich aus der Entwicklung der
Vokale außerhalb der Anfangssilben ergibt, die Wort-
56
anfange laut hervorgehoben haben. Darauf geht wohl
auch zurück, daß das Alt-Latein die Alliteration, den
Stabreim, sehr liebte. Und mit dem expiratorischen Akzent
wird man sich auch den altrömischen Vers, den Saturnier,
rhythmisch geformt vorstellen:
Virum mihi, Camena, insece versutum.
Das ist ein in vielfachen Varianten vorkommender Vers,
bei dem immer die 2. Hälfte als Klausel zur ersten auftritt,
— also ein etwas kurzschnaufiger, wohl ursprünglich mit
einem musikalischen Vortrag verbundener Vers.
(Die Nibelungen-Strophe läßt sich vergleichen: Uns ist in
alten Mären Wunders viel geseit . . .)
Dann haben sich aber die Betonungsverhältnisse im Latein
gründlich verändert, und zwar in einer Zeit, als die Römer
schon mit den Griechen in Verbindung gekommen waren,
denn die ältesten griechischen Lehnwörter haben noch
die Folgen der Anfangsbetonung zu spüren bekommen,
— und im Spätlatein finden wir dann einen expiratorischen
Akzent auf der vorletzten oder drittletzten Silbe.
Und das ist der Grund, daß uns die mittelalterlichen
lateinischen Gedichte vor allem so vertraut vorkommen:
Die Betonung ist nicht gar so verschieden von der uns
geläufigen und vor allem taucht hier ein poetisches Binde-
mittel auf, das gerade bei dieser Art der Intonation sich
einstellt, der Reim. Natürlich ist der Reim zu uns aus
dieser spätlateinischen Poesie gekommen, er ist also genau
so bei uns Import aus den klassischen Sprachen wie die
künstlichen Gebilde des Hexameters oder Trimeters.
Aber wir haben ein Recht, ihn als heimatlich zu emp-
finden, nicht nur, weil er schon sehr viel früher zu uns
gekommen ist, sondern auch, weil er dem deutschen
Betonimgssystem sehr viel eher entspricht.
Damit wollen wir dann von der lateinischen Poesie Ab-
schied nehmen. Die nächsten beiden Male soll es pro-
saisch werden.
57
vin
58
so daß der syntaktische Zusammenhang ohne Mühe ein-
gängig ist? Neuerdings wird das immer häufiger auch bei
uns als Stilmuster angepriesen. Zumal Ausländer emp-
fehlen uns, kurze, klare Sätze zu bauen, und schieben das
wolkige verschwommene Denken, das bei uns grassiert,
zum guten Teil auf die Monstersätze unserer Schrift-
sprache.
Schön und gut. Zweifellos sind kurze Sätze besser als
undurchsichtige Perioden. Aber undurchsichtige Perioden
sind mißglückte Perioden. Jedenfalls haben Ciceros
Perioden nichts Verschwommenes an sich. Im Gegenteil,
sie zeugen von einem scharfen und klaren Denken. In
einer guten Periode kommt alles an den ihm angemessenen
Platz, die Hauptsache in den Hauptsatz, die Nebensache
in den Nebensatz, und die Relation der Nebensache zur
Hauptsache tritt klar durch die Art des Nebensatzes her-
vor, und der Nebensatz wird dort angehängt oder ein-
gefügt, wohin er dem Sinn nach gehört. Das wird aller-
dings erst beim lauten Vortrag, bei sinngemäßer und
kunstgerechter Deklamation offenbar.
Gewiß läßt sich eine klare Gliederung auch durch kurze
Sätze erzielen, — und die lateinische Sprache hat, wie
jede andere Sprache auch, mit kurzen Sätzen angefangen,
die den modernen englischen Konstruktionen gar nicht
so unähnlich sind. Die langen Perioden des Latein haben
sich sichtlich unter dem Einfluß des Griechischen ent-
wickelt. Aber warum haben die Griechen, warum hat
Cicero, der doch zweifellos ein Mann von Geschmack
war, und der, wie seine Briefe zeigen, sich auch anmutig
und klar in kurzen Sätzen ausdrücken konnte, diese ge-
fährliche Perioden-Akrobatik riskiert?
Gerade das, was bei stümperhaftem Übersetzen solche
Not macht, ist für den, der Latein einigermaßen ohne
Mühe lesen kann, der Genuß: Das Verb, das der Autor
so listig fürs Ende aufzubewahren bestrebt ist, bringt erst
den Satz zum Abschluß. Jeder anständige Satz braucht
59
ein Verb, ja, das Verb zeigt erst eigentlich, worauf er
hinauswill, denn das Prädikat sagt erst etwas über den
Gegenstand aus, den man im Auge hat und von dem man
ausgeht.
Wenn der Sprechende dem Hörer das Verbum vorenthält
und hinauszögert, so bringt man ihn in erwartende Span-
nung und zwingt ihn, seine Gedanken wachzuhalten
für einen größeren Komplex und damit weit und groß
zu denken.
Solche Klarheit und Weite des Denkens, der lange Atem
großer Gedanken ist zunächst offenbar etwas rein For-
males; denn ein weitgespannter Gedanke braucht nicht
notwendig einen großen Inhalt zu haben, — es gibt auch
leeres Geschwätz, das in großen Tiraden dahinrauscht.
Immerhin soll man den Aufruf zu großen Gedanken, der
in der großen rhetorischen Form steckt, nicht überhören
und nicht für ganz gleichgültig halten.
Aber etwas anderes ist noch bedeutsamer: Die Rhetorik
hat von ihren Anfängen bei den griechischen Sophisten
an notwendig auch sachliche Probleme ins Auge fassen
müssen, und Grammatik, Jurisprudenz, Logik, um nur
diese zu nennen, sind dem rhetorischen Unterricht ent-
wachsen. Denn die Logik entwickelt sich aus der Dialektik,
die sich zunächst bemüht, dem Diskussions-Partner die
Fehler oder Doppeldeutigkeiten seiner Argumentation
nachzuweisen. Die juristischen Begriffsbestimmungen
entwickeln sich aus den rhetorischen Anweisungen für
den, der vor Gericht reden will, etwa in der Form: wenn
dein Klient des Mordes angeklagt ist, so mußt du sagen,
das war kein Mord, sondern nur Totschlag oder nur fahr-
lässige Tötung, und du mußt auseinandersetzen können,
welche Unterschiede hier vorliegen; oder du mußt plau-
sibel machen können, daß der Angeklagte nur seine be-
rechtigten Interessen gewahrt hat und so fort. Ebenso
sind die grammatischen Studien wesentlich durch die
Rhetorik gefördert.
60
Denn wenn die Grammatik auch ursprünglich, wie ihr
Name sagt, nur die Kunst des Schreibens war, und zwar
in dem primitiven Sinn des Buchstaben-Schreibens, so
wuchs sie doch schnell hinein in zwei andere Bezirke:
das eine war die Philologie, die sie benötigte zur Er-
klärung der Dichter, zumal Homers, das andere die
Rhetorik, die der Kunst des Schreibens einen weiteren und
tieferen Sinn gab und die Fähigkeit, die Sprache korrekt und
wirkungsvoll zu handhaben, einbezog, vor allem aber das
gesprochene Wort pflegte und sich auf die Sprachregeln
und Normen besann, wobei dann nicht auszukommen war
ohne das, was wir noch heute Grammatik nennen.
Selbst Piaton, der erste und größte Feind der Rhetorik,
geht von ihr aus, und gerade daran zeigt sich, daß der
Gegensatz zwischen formaler Bildung und sachücher
Unterrichtung, zwischen Rhetorik und Wissenschaft in
der Praxis gar nicht so genau festzulegen ist, wie es nach
der Theorie aussieht.
Uns ist die Rhetorik sehr viel verdächtiger als etwa den
romanischen Völkern, und wir pflegen mit etwas be-
lustigtem Erstaunen darauf zu reagieren, wenn wir etwa
in einer römischen Kirche oder in einem Pariser Hörsaal
das unmittelbare Nachwirken antiker Redekunst erleben.
Aber bei der Bedeutung, die die Rede bei uns in der
Politik wieder gewonnen hat, wäre eine rhetorische
Schulung auf Grund der antiken Lehren, •— denn die
Antike ist auf diesem Gebiet, wenn man es denn gelten
lassen will, genau so klassisch wie etwa in der Dichtung,
•— vielleicht kein so absurder Gedanke, wie es etwa unseren
Vätern und Großvätern vorgekommen wäre; solche rhe-
torische Bildung könnte dann vielleicht zudem davor
schützen, daß man auf bloße Rhetorik, auf Mittel und
Mätzchen hereinfällt.
Und wenn jetzt selbst ein Philologe gelegentlich in Ver-
suchung kommt, durchs Mikrophon zu sprechen, und
sich nicht durch das, was er drucken läßt, sondern durch
61
das gesprochene Wort an einen größeren, wenn ihm auch
leider unsichtbaren Kreis wendet, da fällt ihm ein, daß
die antiken Redner ein ganzes System ihrer Kunst ent-
wickelt und auf Grund ihrer weiten Erfahrung die prak-
tischsten Ratschläge ausgebildet haben, um durch die
lebendige Rede zu wirken und ihre Hörer nicht zu
irritieren oder gar zu langweilen.
In einem Punkt freilich haben die antiken Rhetoren in
modernen Zeiten kaum Nachfolger gefunden, und werden
wohl auch nicht viele finden, das ist die Forderung, die
Rede bis zu einem gewissen Maße zu rhythmisieren. Das
ist nun wirklich etwas rein Formales, ein äußerlicher
Schmuck. Aber die antike Lehre fordert ihn nur für die
Satz-Schlüsse, die Klauseln; und sie verbietet streng, daß
hier Versteile der Poesie erscheinen: die Klausel-Rhyth-
men dürfen nie den Eindruck erwecken, als ob sie Hexa-
meter- oder Trimeter-Enden wären. In ihren Anfängen
hatte die Rhetorik zwar noch mit poetischen Mitteln zu
wirken gesucht, aber der entwickelte gute Geschmack
war sehr empfindlich gegen eine Vermischung der ver-
schiedenen Sprach-Stile.
Bei uns freihch kommt es vor, daß jemand es offenbar
als besondere stilistische Delikatesse empfindet, wenn er
seine Prosa durchrhythmisiert, so daß sie in Versen dahin-
schaukelt. Für die Alten wäre das einfach eine Stillosigkeit.
Es ist dabei ein besonderer Spaß, daß offenbar die grim-
migsten Entlarver des bürgerlichen Scheinwesens im
Gefolge Nietzsches eine besondere Schwäche für solche
Poetisierung der Prosa haben.
Im Übrigen haben aber schon die alten Redelehrer ge-
wußt, daß die Rhetorik mit den lehrbaren Formalien nicht
auskommt, und gerade die besten haben als ihrer Weisheit
letzten Schluß gelehrt: rem tene, verba sequentur — „Halte
die Sache fest, da werden die Worte folgen", oder, um
es mit den Worten Fausts zu sagen, als er mit dem Famu-
lus Wagner die Kunst des Deklamierens diskutiert:
62
„Such Er den redlichen Gewinn 1
Sei Er kein schellenlauter Tor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor;
Und wenn's euch Ernst ist, was zu sagen,
Ist's nötig, Worten nachzujagen?
Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
Sind unerquicklich wie der Nebelwind,
Der herbstüch durch die dürren Blätter säuselt."
Damit genug für heute über die Kunst der Prosa und der
Rede. Morgen, bei unserem letzten Gespräch über das
Lateinische, wollen wir uns fragen, ob es nicht doch noch
Stellen gibt, wo diese tote Sprache auch heute noch ganz
munter fortlebt.
63
IX
64
Das ist überhaupt eine Not bei der internationalen Ver-
ständigung im Latein, die im gedruckten Buch an vielen
Stellen der Wissenschaft noch üblich ist, daß die Aus-
sprache in den verschiedenen Völkern so verschieden ist.
Nicht nur, daß die Artikulation und Intonation der
Muttersprache ohne weiteres auf das Lateinische über-
tragen wird, — meistens werden die geschriebenen Buch-
staben auch einfach so ausgesprochen, wie man es aus dem
eigenen Idiom gewohnt ist. Als Student hörte ich in Oxford
Vorlesungen über römisches Recht. Ich war bald so weit,
daß ich das Englische des alten Professor Gowdy einiger-
maßen verstehen konnte. Aber mit dem^Latein kam ich gar
nicht zurecht. Was z.B. die „Indjüriässainicölpedäta" wäre,
war mir schleierhaft, bis ich schließlich herausbekam, daß
es die Fahrlässigkeit war, die iniuria sine culpa data.
Inzwischen ist man allerdings in England von diesem
Anglo-Latein abgekommen, — aber selbstverständlich ist
es nicht zu erreichen, daß ein Engländer das Latein so
ausspricht wie ein Deutscher und ein Deutscher wie ein
Engländer. Und vollends die romanischen Völker werden
nie davon abgehen, das Lateinisch so auszusprechen, wie
sie es auf Grund einer 2000 jährigen Tradition und Ent-
wicklung tun, und die Franzosen werden also immer
singen: Godeamüs igitür . . .
Bei uns in Deutschland hört man oft: „Wir sprechen das
Latein doch richtig aus, — denn wir sprechen es so,
wie es geschrieben ist." Daß das seinen Haken hat, zeigt
schon der Streit darüber, ob man Zizero oder Kikero
sagen soll, — ein Streit, der niemals geschlichtet werden
kann, weil die Verfechter der beiden Meinungen von
ganz verschiedenen Voraussetzungen ausgehen. Wer
„Kikero" sagt, will historisch richtig aussprechen. Aber
was ist historisch richtig bei einer Sprache, die dauernd
im Wandel begriffen ist?
Man sagt: wir wollen so aussprechen, wie es Kikero und
Kaesar etwa selbst getan haben, als der Name Ciceros ins
65
Griechische mit zwei Kas transskribiert wurde, und als
Cäsars Name als Kaiser ins Deutsche kam. Aber dann
dürfte man nicht Käsar sagen, sondern Kaesar, und da
finge schon eine törichte Zungenakrobatik an. Aber wenn
wir das lateinsche C einfach als K aussprechen, und
Käsar, Kikero und Kornelius sagen, machen wir es sicher
auch noch nicht richtig, denn die Palatalisierung des K vor I
und E, die im Italienischen zu tschi, tsche, im Franzö-
sischen zu ssi, sse, im Spanischen zu pi, pe führt, hat
sicher nicht erst im Vulgärlateinischen, sondern schon
in vorklassischer Zeit begonnen, denn das frühe Latein
unterscheidet drei K-Laute: vor O und U schrieb man Q,
vor A K, und vor E und IC, — und das hätte man sicher
nicht getan, wenn die drei Laute vollkommen gleich ge-
klungen hätten. Eine historisch vollkommen richtige
Aussprache ist überhaupt nicht zu erreichen. Das ist
Wasser auf die Mühle derer, die Zizero sagen. Und sie
argumentieren weiter: Diese Aussprache hat sich durch
die Jahrtausende entwickelt, ist in unsere deutsche
Sprache eingegangen, denn wir werden, wenn wir
deutsch reden, immer nur Zizero und nicht Kikero
sagen, und warum sollten wir von unserer Tradition
abgehen? Wie Goethe Latein ausgesprochen hat, dürfen
wir es wohl auch. Das ist ein Argument, das wir
einem Engländer, der Ssisar und Wördjil für Caesar
und Virgil sagt, nicht leicht abnehmen würden. Und
es zeigt sich, daß sich der Streit nicht lösen läßt.
Beide Seiten haben gute Argumente, beide Seiten ver-
treten zugleich aber auch einen Unsinn, — und ich
weiß selbst nicht ganz genau, wofür ich mich ent-
scheiden soll.
Nur eines weiß ich bestimmt, daß man nicht alle paar
Jahre mit der Aussprache wechseln soll, denn jetzt ist
ein schreckliches Durcheinander entstanden, — mir selber
gehen die beiden Aussprachen auch durcheinander, und
das ist alles andere als schön.
66
Selbst wir klassische Philologen schreiben unsere Bücher
nicht mehr auf Latein. Davon gibt es nur eine Ausnahme:
In den kritischen Ausgaben von griechischen oder latei-
nischen Texten sind Vorrede, Anmerkungen, Nachwort
und was es sonst so neben dem Text noch gibt, meist
auf Lateinisch verfaßt. Auch für Glückwunschadressen
zu irgendwelchen Jubiläen von Universitäten und der-
gleichen habe ich wohl noch lateinisch geschrieben.
Während meines Studiums sollten wir im lateinischen
Seminar noch gelegentlich lateinisch sprechen, — das lief
aber immer schnell auf den Satz hinaus: ut vernacula lingua
utar, — um es auf deutsch zu sagen. Mein spaßigstes
Erlebnis mit dem Latein hatte ich vor über 30 Jahren in
Moskau, als ich mit einer Gruppe deutscher Studenten
dort war. Kommunistische Studenten, die uns eingeladen
hatten, sangen uns die Internationale vor und forderten
uns auf, wir sollten auch etwas Internationales singen.
Da sangen wir „Gaudeamus igitur . . ." Aber damit waren
sie gar nicht zufrieden.
Die Tradition der lateinischen Rede ist in England
lebendiger als bei uns. In Oxford gibt es noch den orator
publicus, zu dessen Pflichten es gehört, lateinische Adressen
abzufassen. Aber eine richtige hauptamtliche Arbeit ist
das auch nicht mehr. Der Professor für Poetik pflegte
eine lateinische Antrittsvorlesung zu halten, — aber der
jetzige Inhaber des Lehrstuhls hat sich kürzlich mit einer
englischen Rede eingeführt. Verfall, Verfall . . .
In unserem Alltag lebt das Latein zum mindesten in allerlei
Inschriften fort. Jede Sprache kann bestimmte Dinge so
gut leisten wie keine andere. Für Epigramme, — und
das heißt eigentlich für Inschriften, — die epigrammatische
Kürze fordern, ist das Latein besonders geeignet. Das
Lapidare — und das heißt, was man in Stein einmeißeln
kann, liegt ihr besonders.
Ich schloß meine vorige Sendung mit dem Satz: rem
tene, verba sequentur. Um diese vier Wörter ins Deutsche
67
zu übersetzen, brauchte ich neun, statt acht Silben vier-
zehn: Halte die Sache fest, da werden die Worte folgen.
Dafür ließen sich Hunderte von Beispielen anführen.
Aber es ist zuweilen nicht nur die Kürze, die für das
Lateinische spricht.
Über unserem Johanneum in Lüneburg stand: Doctrinae,
Virtuti, Humanitati. Ich habe es, — man verzeihe es mir, —
immer als eine Art von Nachahmung empfunden, daß
über dem Tor unserer Universität in Hamburg steht:
Der Forschung, der Lehre, der Bildung. Und eigentlich
gefällt mir das Original sehr viel besser, denn doctrina faßt
in schöner Weise Forschung und Lehre zusammen; virtus
und humanitas dagegen setzen anstelle des etwas ver-
waschenen Begriffs Bildung zwei prägnantere, in Span-
nung zueinander stehende Begriffe: die Tugend, das Ab-
solute, Rigorose, philosophisch als richtig Erkannte und
daneben die Humanität, das Gesellschaftlich-Politische,
das das freie und tolerante Zusammenleben möglich
macht.
Das Erhabene und das Lächerliche hegen nahe beieinander,
und so kann es mit würdigen lateinischen Inschriften be-
sonders leicht einmal schief gehen.
In meiner Geburtsstadt Hildesheim hing über dem Tor
des Gymnasiums Josephinum an einer Stange der Heilige
Geist in Gestalt einer Taube, und darunter stand der
schöne fromme Spruch: Ille vos docebit omnia, „der wird
euch alles lehren". Mit der Zeit riß die Kette, an der das
Sinnbild des Heiligen Geistes aufgehängt war, die Taube
fiel herab und verschwand, und manches Jahr ragte nur
noch der Stock über dem Eingang der Schule mit den
Worten: hie vos omnia docebit.
Seiner lapidaren Kürze wegen lebt das Lateinische fort
in Wahlsprüchen, Motti und dergleichen: suum cuique, per
aspera ad astra, festina lente und so fort.
Dergleichen läßt sich aber auch neu bilden. Eins der
schönsten Beispiele ist durch Schopenhauer berühmt
68
geworden: Der mußte der Näherin Karoline Marquet
wegen Körperverletzung eine lebenslängliche Rente be-
zahlen. Als sie schließlich starb, notierte er zu der be-
treffenden Akte: Obit anus, abit onus, — „Das alte Weib
ist tot, — die Last bin ich los." — Obit anus, abit onus.
Und damit verabschiede ich mich denn von Ihnen, meine
verehrten Hörerinnen und Hörer.
Nachwort
69
_ Jcraöchc
'•-i-'- bliothal
.XOXCHSH
Anmerkungen
S. 16: Zu den Übersetzungen des Catull-Gedichts vgl. O. Weinreich,
Die Distichen des Catull, Tübingen 1926.
S. 22: Über das von Vergil geprägte, bis zur Neuzeit nachwirkende
Bild vom Dichter vgl. jetzt Fr. Klingner, Entreticns de la
Fondation Hardt 2, 1956, 135 ff.
S. 40: Goethe hat den 3. Vers: 'Testis David cum Sibylla' ausgelassen,
es sei denn, daß der 'Orgelton' ihn übertönt.
S. 42: Zur Geschichte des 'Gaudeamus igitur' vgl. Carl Enders,
Euphorion 1904.
S. 43: Eine neue Übertragung dieses Gedichtes bei Ernst Buschor,
Carmina Burana. Inselbücherei Nr, 626 S. 29.
S. 45 : Zu dem Hasen-Gedicht ist eine ältere Fassung in dem Wien-
häuser Liederbuch von 1470 aufgetaucht, wie mir der Ent-
decker und Herausgeber Dr. Paul Alpers in Celle freundlich
mitteilt.
S. 46: Neue Übersetzung: Buschor a.a.O. S. 69.
S. 68: Über den Prozeß Schopenhauers mit Karoline Marquet vgl.
Arthur Hübscher, Arthur Schopenhauer, Leipzig 1938, 71 f.
u. 75 f.
S. 69: Schopenhauer kannte das Anagramm aus Sulzer, Theorie der
Schönen Künste s. v. Anagramm, der berichtet, der ungarische
Prediger Tobianus hätte nach einer Erbschaft mit seinen
Freunden die folgenden Anagramme auf den Namen des Erben
gemacht: obit anus, / abit onus. / tua nobis / sunto; -abi, /
ubi sonat / tuba Sion. / ita bonus / (optavit) Tobianus. Vgl.
Franz Mockrauer, 2. Jahrb. d. Schopenhauer-Gesellschaft, Kiel
1913, i54f. — Die Hinweise auf diese Schopenhauriana ver-
danke ich Günter Ralfs.
DIE K L E I N E VANDEN H O E C K - R E I HE
Jeder Band in der gleichen Geschenkausstattung 2,40 DM, Doppelband 3,60 DM
Sonderband 4,80 DM
S T U D I E N H E F T E ZUR ALTERTUMSWISSENSCHAFT
Herausgegeben v o n B r u n o Snell u n d H a r t m u t Erbse