Löwith - Gott, Mensch Und Welt, Vico, Paul Valéry
Löwith - Gott, Mensch Und Welt, Vico, Paul Valéry
Samtliche Schriften 9
Gott, Mensch und Welt
in der Philosophie der Neuzeit -
G. B. Vico - Paul Valery
KarlLöwith
Sämtliche Schriften
~ J.B.METZLER
KarlLöwith
Gott, Mensch und Welt
in der Philosophie der Neuzeit -
G. B. Vico - Paul Valery
Kartonierte Sonderausgabe
~ J.B.METZLER
Sämtliche Schriften von Karl Löwith
J.B. Metzler
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Ursprünglich erschienen beiJ.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und C.E. Poeschel Verlag GmbH
in Stuttgart 1986
Inhalt
Seite
1 Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik
von Descartes bis zu Nietzsche
195 Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur.
Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen
229 Paul Valery. Grundzüge seines philosophischen Denkens
401 Anhang
Gott, Mensch und Welt
in der Metaphysik
von Descartes bis zu Nietzsche
1967
Seite
3 Vorwort
4 Einleitung
16 I. Descartes
29 II. Die Aneignung der Cartesischen Reflexion auf sich
selbst durch Husserl und Heidegger, Valery und Sartre
51 III. Kant
66 IV. Fichte
75 V. Schelling
87 VI. Hegel
105 VII. Feuerbach, Marx und Stimer
117 VIII. Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt
148 IX. Spinoza. Deus sive natura
Vorwort
Der Verfasser hat erstmals im letzten Kapitel seines Buches Von Hegel
zu Nietzsche die Problematik des Christentums in der Philosophie nach
Hegel zum Thema gemacht und dann, in Weltgeschichte und Heilsge-
schehen, die theologischen Voraussetzungen der Philosophie der Ge-
schichte - in der kritischen Absicht, die Moglichkeit einer eigenstandi-
gen Geschichtsphilosophie in Frage zu stellen; in ihren bisherigen For-
men war sie von einem verweltlichten Glauben an ein kiinftiges Heil
und die Erfiillung eines Sinnes getragen. Die hier folgende Darstellung
der Geschichte der Philosophie von Descartes bis zu Nietzsche hat die
kritische Absicht, die theologischen Implikationen der gesamten nach-
christlichen Metaphysik herauszustellen, um zu zeigen, da8 und wes-
halb sich die Metaphysik, die bislang das dreieinige Verhaltnis von
Gott, Mensch und Welt betraf, auf den Bezug von Mensch und Welt
reduziert hat. Das sachlich fiihrende Problem, um das es dieser histori-
schen Darstellung geht, ist in dem Wegfall Gottes und in dem Wort
»Atheismus« beschlossen. Indem sich die christliche Botschaft vom
Reich Gottes von der Kosmotheologie der Griechen und der moderne,
emanzipierte Mensch von der biblischen Anthropotheologie befreit
hat, in welcher Mensch und Gott eine Partnerschaft bilden, erhebt sich
Nietzsches Frage: »Wozu iiberhaupt Mensch?«
Der historisch unzeitgema8e AbschluB mit einem Kapitel iiber Spi-
noza soil darauf hinweisen, daB die Geschichte der Philosophie kein
kontinuierlicher Fortschritt im Bewu8tsein der Freiheit ist, wenn das,
worauf es ankommt, die wahre Erkenntnis der einen und immer glei-
chen Natur alles Seienden ist. Der in Wahrheit »fortgeschrittenste«
Gedanke kann ein historisch weit zuriickliegender sein, aber gerade
deshalb noch eine Zukunft haben, wogegen es mit der metaphysischen
Theologie von Descartes bis zu Hegel und ihren Gottesbeweisen vorbei
ist. Unsere Darstellung der Geschichte der nachchristlichen Metaphysik
mag insofern eine Einfiihrung in die Philosophie sein, welche aus ihrer
theologisch belasteten Tradition ins Freie hinaus fiihrt.
Einleitung
Der Titel der metaphysischen Trinitiit: Gott, Mensch und Welt stammt
in seiner lehrhaften Formulierung aus Chr. Wolffs rationaler Philo-
sophie oder Logik. Im 3. Kapitel (§ 55 und § 56) unterscheidet er drei
Teile der Philosophie. Der erste handelt von Gott, der zweite von der
menschlichen Seele, der dritte von den korperlichen Dingen der Welt.
Gott ist der autor rerum; die Seele ist das, was in uns seiner selbst
bewuPt ist; die korperlichen Dinge sind au{Jer uns. Im Unterschied zu
Gott sind Seele und Korper keine entia a se, sondern geschaffene Dinge.
Nur von diesen Dreien gibt es Erkenntnis und die Philosophie kann
deshalb nicht mehr als drei Teile haben 1. Sie ist die Metaphysica specia-
lis. Wir verfolgen hier nicht die weit verzweigte historische Herkunft
dieser Dreiteilung; wir fragen statt <lessen nach dem sachlichen Zusam-
menhang dieser drei iiberlieferten Grundfragen der nachchristlichen
Philosophie, und nach den Gott losgewordenen Konsequenzen der uns
geliiufig gewordenen Reduktion von Gott, Mensch und Welt auf:
Mensch und Welt. Theismus, Deism us und Atheismus sind die Etappen
au£ dem Weg zu einer gottlosen Welt und damit zu einem verweltlichten
Menschen.
Mit einer Formel gesagt, die uns als Leitfaden dienen kann: der Weg
der Geschichte der Philosophie fiihrt von der griechischen Kosmo-
theologie2 iiber die christliche Anthropo-theologie zur Emanzipation
des Menschen. Die Philosophie wird im selben Maise anthropologisch,
• Um den Hintersinn des zum Motto gewahlten Spruchs von Goethe auszu-
schi:ipfen, vergleiche Ps. 90,10 und 1.Kor. 21.
1 »Die Titel Kosmologie, Psychologie und Theologie - oder die Dreiheit
Natur, Mensch, Gott - umschreiben den Bereich, darin alles abendlandische
Vorstellen sich bewegt, wenn es das Seiende im Ganzen nach der Weise der
Metaphysik denkt.« M. Heidegger, Nietzsche II, 1961, S. 59.
2 »Kosmotheologie« bedeutet hier nicht, wie bei Kant, eine Theologie, welche
die Existenz Gottes von einer Erfahrung iiberhaupt ableitet, im Unterschied zur
»Ontotheologie«, welche Gottes Dasein ohne jede Erfahrung erdenkt, sondern
Einleitung 5
wie sich der Mensch von dem gottlichen Kosmos der Griechen und dem
iiberweltlichen Gott der Bibel emanzipiert und schliefslich die Erschaf-
fung der Menschenwelt selbst iibernimmt. Am Endpunkt dieser Befrei-
ung von allem, was binden konnte, steht Nietzsches einzigartiger Ver-
such, die Welt vor dem Christentum wieder zu wollen, <lurch seine
Lehre vom Obermenschen, der sich zugleich mit dem Niedergang Got-
tes erhebt und dann die ewige Wiederkehr einer sich selber wollenden
Welt lehrt, der er - unter dem Titel »dionysisch« - Gottlichkeit zu-
schreibt. Wie immer es sich mit der Welt verhiilt: ob urspriinglich
gottlich, ob eines iiberweltlichen Gottes Schopfung, ob gottlos gewor-
den und wieder vergottlicht, sie ist nicht isoliert zu begreifen, sondern
nur im Zusammenhang mit Gott und Mensch.
Gott, Welt und Mensch sind weder gleichwertig noch im Verhiiltnis
zueinander gleich giiltig. Wer Gottes schopferischen Willen zur Schaf-
fung der Welt um des Menschen willen zum Ausgang nimmt, der kann
vom Menschen und von der Welt nicht ebenso denken wie die Vorso-
kratiker, die mit dem selbstiindigen Kosmos beginnen, an ihm auch das
Gottliche erblicken und im Menschen den Sterblichen sehen. Und Grie-
chen wie Christen denken von Gott und der Welt anders als der emanzi-
pierte, in seine Freiheit losgelassene Mensch, der den Ausgangspunkt
von sich selber nimmt und fiir den die Welt ein verbrauchbares »Eigen-
tum « (Stimer) oder eine <lurch Arbeit zu produzierende Menschenwelt
(Marx) ist. Wer von Gott redet, sagt damit etwas iiber die Welt und den
Menschen, z. B. dais sie beide, im Unterschied zu Gott, nicht a se,
sondern entia creata sind; wer von der Welt redet, sagt damit etwas
iiber Gott und den Menschen, z. B. dais Gott in dieser Welt nicht zu
finden ist und der Mensch anders in der Welt existiert als ein Tier; wer
vom Menschen redet, sagt damit etwas iiber Welt und Gott, z.B. dais
auch der Mensch ein Erzeugnis der Welt der Naturist und nicht ein
Ebenbild Gottes.
3 Siehe dazu W. Jaeger, Die Theologie der fruhen griechischen Denker, 1953,
S. 28 ff. und 196 ff. Bezeichnend fiir die christliche Apologetik ist die Umdeutung
des 30. Fragments von Heraklit <lurch Klemens von Alexandria (Die Teppiche,
iibersetzt von F. Overbeck, 1936, S. 478 f.). Er mi:ichte in den griechischen
Kosmogonien die biblische Unterscheidung des einen, ewigen Schi:ipfergottes
von der vergiinglichen Welt wiedererkennen, indem er die mosaische Schi:ip-
fungsgeschichte mit neuplatonischen Begriffen auslegt und behauptet, daB die
griechischen Philosophen das Aire Testament bestohlen haben. Heraklits Rede
vom ewigen Logosfeuer, das nach festen Ma Ben erli:ischt und sich wieder entziin-
det, wird in das schi:ipferische Wort Gottes umgedeutet, welches am An fang war,
und der Wechsel vom Entstehen zum Vergehen in den endzeitlichen Untergang
der geschaffenen Welt.
4 Siehe zum Folgenden die dankenswerte Monographie von W. Kranz, Kos-
mos, Archiv fiir Begriffsgeschichte II, 1 und 2, 1955 und 1957.
5 Platon, Timaios 29 a und 92 c.
Einleitung 7
Noch ein Werk aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. - die Naturge-
schichte von Plinius 7 - sagt von der Welt mit hymnischer Priignanz:
»mundus sacer est, aeternus, immensus; totus in toto, immo vero ipse
totum; infinitus et finito similis; omnium rerum certus et similis incerto;
extra, intra, cuncta complexus in se; idemque rerum naturae opus et
rerum ipsa natura.« Au£ deutsch: Die Welt ist heilig, ewig, unermeB-
lich; alles in allem und das eine Ganze selbst; unbegrenzt und doch
iihnlich dem Begrenzten; zuverliissig in alien Dingen und doch dem
Ungewissen iihnlich; sie faBt alles in sich, das nach auBen Hervortreten-
de und das inwendig Verborgene; sie ist zugleich ein Werk der Natur
der Dinge und die eine Natur der Dinge selbst. Dieser romisch gefaBte
mundus ist noch derselbe wie der griechische Kosmos: das gottliche und
ewige Ganze des von Natur aus Bestehenden und Bestiindigen, id quod
substat.
Der Mensch bemiBt sich, wenn er sich recht versteht, nicht an ihm
selbst, sondern an diesem iibermenschlichen, gottlichen Ganzen 8 • Als
ein irdisch gezeugtes Lebewesen gehort er zu der von N atur aus lebendi-
gen Welt. Nachweisen zu wollen, daB es Natur gibt, ware sinnlos, denn
sie zeigt sich uns standig in allem, was aus sich selber hervor- und in sich
selber zuriickgeht9 • Und weil zur Erzeugung eines Menschen immer
schon ein Mensch da sein muB, nahm Aristoteles verniinftigerweise,
obgleich irrtiimlich an, daB es auch den Menschen schon immer gege-
ben haben miisse 10• Er ist innerhalb der von den Pflanzen zu den Tieren
aufsteigenden Rangordnung der irdischen Lebewesen das relativ voll-
kommenste, aber im Unterschied zu der ewig kreisenden Gestirnwelt ist
er ein Sterblicher, der es nicht vermag, das Ende an den Anfang zu
kniipfen. Im Verhiiltnis zu den Gestirnen der obersten Himmelssphiire
ist die Rangordnung im Abnehmen. Die Gestirne iibertreffen an gottli-
chem Rang alles irdische Entstehen und Vergehen. Darum konnen auch
Politik und Ethik, diese Wissenschaften vom Menschen, nicht die
hochsten sein, denn das wiirde voraussetzen, daB der Mensch das
hochste Wesen im Ganzen der Welt wiire 11 •
12 Siehe L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Kap. 9, 11, 12, 17.
10 Gott, Mensch und Welt
der Selbstbezug auf das se ipsum: die GewiBheit, selbst da zu sein und zu
leben 14• Dieses scio me vivere schlieBt in sich die dem menschlichen
Selbstsein eingeborene appetitio nach dem gliicklichen Leben und das
wahrhaft gliickliche Leben ist nur erreichbar, wenn der Mensch Gott
sucht und ihn findet. Im Verhaltnis zu diesem je eigenen, zu Gott
transzendierenden Dasein ist das Sein der allgemeinen, fiir alles gemein-
samen Welt keine iibermenschliche, ewige Weltordnung, sondern eine
AuBenwelt, etwas AuBerliches. Und eine AuBenwelt ist die Welt bis
heute, trotz aller angeblichen Oberwindung der Spaltung von Subjekt
und Objekt, fiir unser allgemeines Bewufstsein geblieben, vermutlich
deshalb, weil wir noch immer Christen sind, wenn auch nur so, wie man
Deutscher oder Franzose ist, ohne an Gott zu glauben und an das Heil
der Seele zu denken. Nichts, meint Augustin und meinen auch wir, fiihle
der Mensch tam intime als sich selbst. Dieses intime Selbst, das meta-
physisch gedacht in Descartes' cogito me cogitare, in Kants transzen-
dentalem Ich, in Husserls reinem Ego, in Heideggers Begriff vom Da-
sein, dem es in seinem Sein um es selbst geht, und in Jaspers Rede von
Existenz wieder erscheint, ist nach Augustin zugleich dasjenige, durch
das wir auch »alles Obrige« - etiam caetera - empfinden 15 • In der
Sprache der Reflexionsphilosophie gesagt: die Welt ist durch unser
Bewufstsein von ihr und unser Verhalten zu ihr »konstituiert«. Sie lebt
nicht aus sich selbst und noch weniger ist der Mensch eine Hervorbrin-
gung des Lebens der Welt. Die Wurzel dieser »Kopernikanischen Revo-
14 »Jeder weiB also, daB, was Einsicht hat, Sein und Leben hat, nicht wie der
Leichnam Sein, aber kein Leben hat, nicht wie die Seele des Tieres Sein, aber
keine Einsicht hat, sondern au£ eine eigene und eben deshalb iiberragende
Weise« (De trinitate X).
15 Wenn Husserl, Heidegger undJaspers von der Welt sprechen, handelt es sich
nicht um die Welt der Natur an ihr selbst, sondern um den • Totalhorizont«
unseres intentionalen BewuBtseins und seiner »Leistungen«, um unser je eigenes
»ln-der-Welt-Sein«, um »Weltorientierung« im Hinblick au£ die Erhellung der
eigenen Existenz. Sie alle bewegen sich, trotz ihrer Kritik an Descartes, noch wie
dieser innerhalb der christlichen Oberlieferung. Jaspers lehnt die !dee einer alles
umfassenden, ewig-selbstandigen Welt grundsatzlich ab, um statt <lessen den
biblischen Schopfergott als ein Gleichnis fur den iiberweltlichen Ursprung der
menschlichen Existenz auszulegen. »Denn <las gehort zu unserem Wesen: statt
uns aus der Welt zu verstehen, ist etwas in uns, <las sich allem Weltsein gegen-
iiberstellen kann. Sofern wir in der Welt von anderswoher sind« Uaspers sagt
uns nicht von woher), »haben wir in der Welt eine Aufgabe iiber die Welt
hinaus« (K. Jaspers, Der Weltschi:ipfungsgedanke, Merkur 1952, Heft 5).
12 Gott, Mensch und Welt
lution«, die philosophisch schon mit Descartes beginnt, ist die alles
veriindernde christliche Selbsterfahrung, fiir welche die Welt ein » Ubri-
ges« ist, auBerhalb unseres Ichselbst, und nicht umgekehrt der sterbli-
che Mensch eine Erscheinung im Ganzen der Welt, die zu betrachten
und zu erforschen er ausgezeichnet ist16• Die Voraussetzung dieser
Umkehr von der Welt zu sich selbst ist das Nichtbeisichselbstsein des
christlich gepriigten Menschen im Ganzen der Welt und folglich der
Wille, sich nicht von der Welt her zu verstehen, sondem in und durch
sich selbst, se ipsum per se ipse videre. Der von der Welt auf sich
zuriickgeworfene Mensch empfindet sich selbst als das groBte Wunder
und Riitsel. Das Erstaunlichste ist fiir Augustin nicht die Welt, sondem
er selbst. Die Menschen gehen aber achtlos an diesem grande profund-
um voriiber und fragen statt <lessen neugierig nach den sichtbaren
Dingen der Welt, deren Bilder in unserem Gediichtnis sind, wiihrend sie
selbst in ihrer Ausdehnung auBer uns ist 17•
Mit diesem Einstieg in die Innerlichkeit, der ein Heraustreten aus
der den Menschen umfassenden Ordnung der Welt entspricht, ge-
schieht zweierlei: der Mensch wird ortlos und heimatlos im Ganzen der
Welt, eine kontingente und schlieBlich absurde, man weiB nicht wie und
von woher in sie hineingeworfene Eksistenz, und er wird sich gerade
durch diese, dem Ganzen des Seienden entfremdete Sonderstellung in
ganz besonderer Weise wichtig. Wie verschieden auch immer das se
ipsum in der nachchristlichen Philosophie von Descartes bis zu Heideg-
ger ausgelegt wird, die Konsequenz fiir das Weltverstiindnis bleibt
dieselbe: die Welt ist nicht mehr das Erste und Letzte, alles Umfassende
und unbedingt Selbstiindige, sondern iiber Gott auf den Menschen
bezogen, zuerst als Krone der Schopfung, und sodann als selbstbewuB-
tes Subjekt. Mit der von Augustin erstmals durchdachten Erfahrung des
20 Galilei beschreibt die Welt durch Konstruktion von »Gesetzen« und sein
Fortschritt iiber Aristoteles' gesunden Menschenverstand besteht darin, dais er
die Welt so beschreibt, wie wir sic nicht erfahren! Er widerlegt die Aristotelische
Physik <lurch Mathematik. Siehe F. v. Weizsacker, Die Tragweite der Wissen-
schaft, 1964, und F. Wagner, Die Wissenschaft und die gefahrdete Welt, 1964,
s. 29 ff.
21 Die Disproportion zwischen dem neuen kopernikanischen Weltsystem und
dem Menschen versuchte Kepler mit dem Argument zu entscharfen, dais man
von der unendlichen Griilse des Weltalls nicht au£ cine verminderte Bedeutung
des Menschen schlielsen kiinne. Im Vergleich zum System der Welt sei der
Mensch zwar ein winziges Staubchen, - aber ein solches, das Gottes Bild in sich
tragt, wodurch er der ganzen Welt iiberlegen ist, analog der absoluten Oberle-
genheit Gottes iiber seine Schiipfung. Siehe dazu H. Blumenberg, Die kopernika-
nische Wende, 1965, S. 122££.
Einleitung 15
22 Das Naturbild der heutigen Physik, S. 17 ff. und 111. Siehe dazu die Kritik
von Th. Litt, Studium Generale 1956, S. 351 ff.
I. Descartes 1
1 Zitiert wird, soweit nicht anders angegeben, nach den Ausgaben der Philo-
sophischen Bibliothek.
2 Siehe dazu: H. Blumenberg« Kosmos und System, aus der Genesis der
kopernikanischen Welt, in: Studium Generale 1957, Heft 2, und: Kopernikus im
Selbstverstiindnis der Neuzeit, Akademie der Wissenschaften und Literatur,
Mainz 1964, Nr. 5.
3 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Vorrede.
Descartes 17
und Heidegger, sofern sie alle das Wesen des Menschen nicht aus seiner
Natur und dem Ganzen der Welt, sondern im Hinblick auf eine Trans-
zendenz bestimmen 11• Der letzte geschichtliche Grund fur diese Ver-
wandtschaft von Gott und Mensch liegt in der biblischen Schopfungs-
lehre beschlossen, wonach nur der Mensch, aber nicht Himmel und
Erde, ein Ebenbild Gottes ist. Gott und Mensch gehoren aber nicht nur
deshalb zueinander, weil es Gott um das Heil des Menschen geht,
sondern auch deshalb, weil sie uns beide, im Unterschied zu den Dingen
der aulseren Welt, ohne Vermittlung der Sinne unmittelbar zuganglich
sind, namlich in der Riickwendung des Ich auf sich selbst. So sehr aber
die Reflexion auf sich selbst Descartes' methodischen Ausgangspunkt
bildet, der Endpunkt seiner Meditationen iiber die Grundlagen der
Metaphysik, auf den hin er von vornherein abzielt, ist nicht die eigenste
Subjektivitat, sondern Gott. Wer Descartes' Gottesbeweis nicht so
wichtig nimmt wie er selbst, verkennt auch den Sinn und die Absicht
seiner christlich bedingten Reflexion auf sich selbst und der auf den
Gottesbeweis gegriindeten mathematischen Rekonstruktion der physi-
schen Welt. Schelling, der die innere Zusammengehorigkeit der Ausbil-
dung der mechanischen Physik, dieser »Annihilation der Natur«, mit
dem Ausgangspunkt von einer weltfreien Subjektivitat durchschaut
hat, weil er sich der christlichen Umkehrung des ganzen Verhaltnisses
von Natur und Geschichte bewulst war, war sogar der Ansicht, dais in
Descartes' Gottesbeweis der »Rest echter Philosophie« vorliege 12, was
wohl so zu verstehen ist, dais nur der Gottesbeweis ein Hinweis darauf
ist, dais sich Descartes' Denken, trotz seiner Unterscheidung von res
extensa und cogitans, doch noch im absoluten Ganzen bewegt.
Descartes tut im ersten Schritt genau das Entgegengesetzte von dem,
was man im alltaglichen Leben verniinftigerweise tun muls, namlich
sich an das Hergebrachte, Ungewisse und blols Wahrscheinliche halten,
nach den Regeln einer provisorischen Moral. Er weist versuchsweise
alles als falsch zuriick, woran man our im mindesten zweifeln kann, um
zu sehen, ob etwas absolut Unbezweifelbares als unerschiitterliches
Fundament fiir den Neubau der Wissenschaft iibrigbleibt. Er bezweifelt
sogar, ob es ein sicheres Unterscheidungsmerkmal zwischen Wachsein
11 Siehe dazu vom Ver£.: Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtli-
chen Existenz, 1961, S. 179££. [Siimtl. Schriften 1, S. 259££.]
12 Vorlesungen uber die Methode des akademischen Studiums, 1803, S. 174
und 138£.
Descartes 21
und Traumen gibt. Aber auch wenn ich etwas blols traumend vorstelle
und begehre, es ist doch ganz unmoglich, dap ich, der ich etwas vorstelle
und begehre, iiberhaupt einen Akt des Bewulstseins vollziehe, wahrend
ich es tue, nicht als Denkender bin. » Je pense done je suis. « Dieser erste
grundlegende Satz weist zuriick auf Augustin 13• Die christliche Her-
kunft und T ragweite des Cartesischen Grundsatzes zeigt sich am besten
in der Abhebung an der Aristotelischen Bestimmung des Menschen als
eines mit logos begabten Lebewesens. Dieses ist kein selbstbewulstes
Ich, sondern ein leibhaftiger Mensch der Polis und des Kosmos. Das
» Ich bin« von Augustin und Descartes hat sich dagegen von der natiirli-
chen Welt und der menschlichen Gemeinschaft auf sich selbst zuriickge-
zogen, auf seine unbedingte Innerlichkeit, die in sich und fiir sich Gott
zu finden hofft14•
Der zweite Schritt, den Descartes auf dem Weg zur Grundlegung der
philosophischen Wissenschaft macht, ist in der dritten Meditation der
Oberschrift von der Selbstgewilsheit der eigenen, denkenden Existenz
zu der Gewilsheit von Gott 15• Die Denkschritte sind kurz folgende: ich
habe vor der Reflexion auf mich selbst, d. h. auf meine Akte des Be-
wulstseins rein als solche, gemeint, der Erde, des Himmels und seiner
Gestirne, sowie alle iibrigen, vermoge der mich mit der Weltverbinden-
den Sinne gewils zu sein. Ich habe sodann, in der Reflexion auf mein Ich
entdeckt, dais nur meine BewuBtseinsweisen 16 von etwas auBer mir klar
und deutlich sind. Damit scheint auch schon alles genannt zu sein,
wovon ich GewiBheit habe; namlich nicht von den Dingen selbst,
sondern nur von den Ideen oder BewuBtseinsweisen solcher Dinge.
Wenn ich diese Ideen blols als Weisen meines BewuBtseins betrachtete
und sie nicht auf etwas auBer ihnen bezoge, konnte es keinen Irrtum
geben. 1st das aber wirklich schon alles, dessen ich gewils sein kann?
Gibt es vielleicht nicht doch noch etwas anderes in mir selbst, das
13 De libero arbitrio II, 7; De trinitate X, 10; De Civitate Dei XI, 26; siehe dazu
B. Pascal, Pensees et Opuscules, ed. Brunschvicg, S. 193 f. Vgl. H. Scholz,
Augustin und Descartes, in: Blatter fur deutsche Philosophic, 1932; E. Gilson,
The Unity of Philosophical Experience, 1956, S. 155££.; A. N. Whitehead,
Wissenschaft und moderne Welt, 1949, S. 181.
14 Siehe dazu G. Kruger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewuf'gtseins,
in: Logos XXll/3, 1933.
15 Vgl. W. Rod, Descartes, 1964, S. 107 ff.
16 Meditation Ill, S. 27; Principia philosophiae I§ 9.
22 Gott, Mensch und Welt
ebenso deutlich und klar und mi thin wahr und gewiB ist? Um darauf zu
antworten, bedarf es einer Unterscheidung meiner Ideen im Hinblick
auf ihre verschiedene Herkunft. Ideen von den sinnlichen Dingen kom-
men uns allem Anschein nach durch die Sinne von auBen, ohne unseren
Willen, unwillkiirlich zu. Andere Ideen, wie die von einem gefliigelten
Pierd, sind von mir selbst kombiniert und einige, wie die Ideen von
mathematischen Dingen, kommen mir weder sinnlich von auBen zu,
noch sind sie willkiirlich ausgedacht, sondern mir eingeboren. Unter
diesen Ideen findet sich auch die eines absolut vollkommenen Wesens.
lch kann mir zweifellos ein solches Wesen denken. Von auBen kann mir
eine solche Idee nicht zugekommen sein, denn nichts ist in der Welt
ersichtlich, was absolut vollkommen ware. Von mir selbst erdacht kann
sie auch nicht sein; denn wie sollte ein so unvollkommenes Wesen, wie
es der Mensch ist, der immer noch etwas begehrt und will, sich tauscht
und zweifelt, eine solche Idee aus sich hervorbringen konnen? Etwa
durch allmahliche Steigerung des Unvollkommenen zum immer mehr
Vollkommenen? Absolute Vollkommenheit, z. B. der Erkenntnis, ist
aber unvergleichlich und nicht der bloBe Superlativ eines Komparativs.
Etwas, das sich immer noch mehr vervollkommnen Iii.1st, beweist gerade
damit seine Unvollkommenheit. Wir miissen also umgekehrt anneh-
men, daB wir die Idee von etwas absolut Vollkommenem schon in uns
haben miissen, um unsere eigene Unvollkommenheit als solche erken-
nen zu konnen. Die Idee des Vollkommenen muls uns eingeboren sein.
Aber wer soil sie uns eingegeben haben, wenn nicht das einzige Wesen,
das vollkommen ist, also Gott? Aber woher wissen wir, ob ein solches
denkbar vollkommenes Wesen auch existiert? Es muB notwendig17
existieren, weil die Gottesidee als bloBe Idee ohne Existenz nicht voll-
kommen ware, und in Gott, aber auch nur in ihm, Wesen und Existenz
zusammengehoren.
Descartes' Gottesbeweis ist, im Verhaltnis zum Ausgangspunkt
vom » Ich bin« indem ich denke, eine Umkehrung des Gedankengangs:
das scheinbar ganz auf sich gestellte, selbstbewufste Ich, dessen Zweifel
so radikal war, daB es erwog, ob Gott nicht ein Betriiger sein konnte,
18 Das AuBerste, was mit Bezug auf diesen radikalen Zweifel theologisch
gesagt werden kann, ist, dal5 Descartes »temporiir« Atheist war. Siehe dazu
F. W. ]. Schelling, W erke V, S. 75. Vgl. dagegen W. Schulz, Der Gott der
neuzeitlichen Metaphysik, 1957, S. 33 ff.
19 Meditation Ill, S. 42£.
24 Gott, Mensch und Welt
20 Brief an Mersenne 15. 4. 1630: »Or j'estime que tous ceux a qui Dieu a
donne !'usage de cette raison, sont obliges de !'employer principalement pour
tacher a le connaitre, et a se connaitre euxmemes. C'est par la que j'ai tache de
commencer mes etudes; et je vous dirai que je n'eusse jamais su trouver les
fondements de la physique, si je ne les eusse cherches par cette voie.«
21 So heiBt es z. B. in der 5. Meditation: » Wenn ich die Idee des Korpers priife,
so nehme ich keine Kraft in ihr wahr, <lurch die er sich selbst hervorbringt oder
erhiilt.«
22 Meditation VI, S. 69.
23 Vgl. F. Bacon, The Philosophical Works, London 1905, S. 91 (Of the
Advancement of Learning II). »And therefore therein the heathen opinion
differeth from the sacred truth; for they supposed the world to be the image of
God, and man to be an extract or compendious image of the world; but the
Scriptures never vouchsafe to attribute to the world that honour, as to be the
image of God, but only the works of his hands, neither do they speak of any other
image of God, but man.«
24 Brief an Mersenne, 6. 5. 1630: »II ne faut done pas dire que si Deus non
esset, nihi/ominus istae veritates essent verae; Car !'existence de Dieu est la
premiere et la plus eternelle de toutes les verites qui peuvent etre, et la seule d'ou
procedent toutes les autres. Mais ce qui fait qu'il est aise en ceci de se meprendre,
c'est que la plupart des hommes ne considerent pas Dieu comme un etre infini et
incomprehensible, et qui est le seul auteur duquel toutes choses dependent; mais
ils s'arretent aux syllabes de son nom, et pensent que c'est assez le connaitre, si on
sait que Dieu veut dire le meme que ce qui s'appelle Deus en latin, et qui est adore
par les hommes. Ceux qui n'ont point de plus hautes pensees que cela, peuvent
Descartes 25
27 Discours, SchluR des V. Teils. Siehe dazu E. Gilson, Kommentar zum Dis-
cours, 1947, S. 435 f.
28 Vgl. Hugo St. Victor, wonach Gott den Menschen als possessorem et domin-
um mundi geschaffen hat, »Si enim omnia Deus fecit propter hominem, causa
omnium homo est.« (P. L. 176, 205 B). Der Mensch kann zwar nicht die
verursachende Ursache der Welt sein, aber wenn die Welt ihre causa finalis in der
Schopfung des Menschen <lurch Gott hat, kann sich der Mensch als ein Deus
creatus selbst schopferisch vorkommen, auch wenn ihm Gott nicht mehr glaub-
wiirdig ist, aber die <lurch die Bibel vorgezeichnete Idee vom Menschen, d. i. die
Analogie von gottlicher und menschlicher Schopferkraft, dennoch weiter be-
steht.
Descartes 27
29 Meditation VI, S. 74. Siehe auch Brief Marz 1638: »De cela seul qu'on
con~oit clairement et distinctement les deux natures de l'ame et du corps comme
diverses, on connait que veritablement elles sont diverses, et par consequent que
l'ame peut penser sans le corps, nonobstant que, lorsqu'elle lui est jointe, elle
puisse etre troublee en ses operations par la mauvaise disposition des organes.«
28 Gott, Mensch und Welt
Dais ich, der ich denke, immer als absolutes Subjekt gelten muls,
bedeutet nicht, dais ich als Objekt ein fiir mich selbst bestehendes
Wesen oder Substanz bin und Dasein habe, wie es Descartes' cogito
ergo sum formuliert, indem er synthetische und analytische Satze, sowie
logische und metaphysische Bestimmungen verwechselt. Auch weils ich
keineswegs, ob ein Bewulstsein meiner selbst ohne Dinge aulser mir
moglich ist und ich also blols als denkendes Wesen (ohne Mensch zu
sein) existieren konne. Wenn das Ich nur das Bewulstsein meines Den-
kens ist, dann fehlt auch die Moglichkeit, den Begriff der Substanz, d. h.
eines fiir sich bestehenden Subjekts, darauf anzuwenden. In Wahrheit
ist aber der Cartesische Satz gar nicht au£ innerer Erfahrung allein
beruhend, sondern ein empirisch bestimmter Satz, der auch au/sere
Erfahrung voraussetzt. Denn schon »das blolse, aber empirisch be-
stimmte Bewulstsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der
Gegenstande im Raum aulser mir«.
Der Idealismus Descartes' entspringe zwar einer griindlichen Den-
kungsart, weil er die Moglichkeit erwage, dais unsere vermeintlichen
Erfahrungen auch Einbildungen sein konnten; wenn man aber das
cogito als substantia cogitans fasse, dann bewege man sich innerhalb
einer empirisch bestimmten und niche einer transzendentalen Fragestel-
lung. lnnerhalb eines empirisch bestimmten Bewulstseins meines eige-
nen Daseins la/st sich aber zeigen, dais es durch au/sere Erfahrung
vermittelt ist und diese die eigentlich unmittelbare, weil nur vermittelst
ihrer zwar nicht das Bewulstsein unserer eigenen Existenz, aber doch die
Bestimmung derselben in der Zeit, d. i. innere Erfahrung moglich ist.
»Freilich ist die Vorstellung: ich bin, die das Bewulstsein ausdriickt,
welches alles Denken begleiten kann, das, was unmittelbar die Existenz
eines Subjekts in sich schlielst, aber noch keine Erkenntnis desselben,
mithin auch nicht die empirische, d.i. Erfahrung; denn dazu gehort,
aulser dem Gedanken von etwas Existierendem, noch Anschauung und
hier innere, in Ansehung deren, d. i. der Zeit, das Subjekt bestimmt
werden muls, wozu durchaus au/sere Gegenstande erforderlich sind, so
dais folglich innere Erfahrung selbst nur mittelbar und nur durch au/sere
moglich ist.« 2 Ob aber diese oder jene vermeinte Erfahrung nicht blols
eine Einbildung ist, das miisse au£ Grund der Kriterien aller wirklichen
Erfahrungen von Fall zu Fall ausgemittelt werden. Mit dieser Kritik hat
Kant den wesentlichen Einwand auch schon von Husserl vorwegge-
nommen.
2 Kritik der reinen Vernunfr, a.a.O., S. 190ff.; S. 23 ff.
Die Aneignung der Cartesischen Reflexion 31
3 »Man muB erst die Welt durch epoche verlieren, um sie in universaler
Selbstbesinnung wiederzugewinnen. Noli foras ire, sagt Augustin, in te redi in
interiore homine habitat veritas.« (Cartesian. Meditationen, S. 183). Ebenso
S. 39 zum BeschluB der Pariser Vortrage.
32 Gott, Mensch und Welt
fung auf Augustin - nicht die christliche Selbstbesinnung auf das Ver-
haltnis der menschlichen Seele zu Gott, sondern die konsequenteste
Durchfiihrung der Idee der Selbsterkenntnis als »Urquelle aller echten
Erkenntnis« und im Hinblick auf eine »radikal begriindete Wissen-
schaftslehre«4. Der reditus in se ipsum ist zur transzendental phanome-
nologischen Reduktion geworden und die Innerlichkeit der Seele zur
»Selbstbesinnung des Wissenschaftlers«. Der methodische Riickgang
auf das »reine Ego« soil die anonyme »Leistung« der intentionalen
Bewufstseinsakte in der Konstitution einer Welt enthiillen, und die
Aufdeckung dieser Leistung gibt uns die »Herrschaft« iiber alle erdenk-
lichen konstitutiven Moglichkeiten und damit wissenschaftliche
»Selbstverantwortung«. »Mit anderen Worten: der notwendige Weg
zu einer im hochsten Sinne letztbegriindeten Erkenntnis oder, was
einerlei ist, einer philosophischen, ist der einer radikalen Selbsterkennt-
nis, zunachst einer monadischen und dann intermonadischen. Wir
konnen auch sagen: eine radikale und universale Fortfiihrung Cartesia-
nischer Meditationen oder, was dasselbe, einer universalen Selbster-
kenntnis ist Philosophie selbst und umspannt alle selbstverantwortliche
echte Wissenschaft.« 5 Die Selbsterkenntnis zielt von Anfang an, ent-
sprechend dem Herrschafts- und Leistungscharakter der die Welt kon-
stituierenden Akte des reinen Bewufstseins, auf Selbstverantwortung,
das heifst, sie lafst sich nichts geben, sie stellt vielmehr alles im voraus
Gegebene des naiven Weltglaubens, der unreflektiert oder »weltverlo-
ren« in die Welt nur hineinlebt, in Frage, um es selbst begriinden und
verantworten zu konnen. Die Reduktion soil zeigen, dafs der Mensch
als transzendentale Subjektivitat der »letzte Geltungstrager« der Welt
und fiir sie intellektuell wie moralisch verantwortlich ist, weil sie ihren
Grund und Boden, ihre letzte Begriindung, nicht in sich selbst, sondern
in uns und in unserer Vernunft hat6 •
Der urspriinglich religiose Sinn der Forderung: »erkenne dich
selbst«, die fiir griechisches Denken bedeutet: er}cenne, dafs du im
nichts wesendich Neues gesagt. Es ist jedoch aus der Datierung der Manuskripte
offensichdich, daB Husserl mindestens ebensosehr von Heideggers Sein und Zeit
und dessen Wirkung beeindruckt war, wie andererseits Heidegger von seinem
Lehrer gelernt hat.
7 Cartesian. Meditationen, S. 9 f.
8 A.a.O., S. 189.
34 Gott, Mensch und Welt
gen Menschen, der ein animalischer Automat ist, von dem Ich der
blolsen Bewulstseinsakte radikal unterscheidet und ihre kontingente
Verbindung in einem Teil des Gehirns, der Zirbeldriise, lokalisiert, so
weils er doch fiir ihren Unterschied einen Grund anzugeben, namlich
die, wie er glaubt, demonstrierbare Immaterialitat und folglich Un-
sterblichkeit der Seele, der er mens und intellectus gleichsetzt9 • Mit dem
Verzicht auf eine solche Begriindung der Eigenart des reinen Ich aus der
korperlosen Reinheit der Seele wird die Differenz sowie die Verbindung
von reinem ego und leibhaftiger Mensch zum unauflosbaren Ratsel. Es
lost sich bei Husserl scheinbar dadurch auf, dais er zwei »Einstellun-
gen « ausfiihrt, eine natiirliche oder gerade und eine transzendentale
oder reflektierte, so dais sich das Ich, je nach der gewahlten Einstellung,
als psychophysischer Mensch oder als transzendentales Ich darstellt.
Wie sol! aber eine verschiedene Einstellung die sachliche Verbindung
und Einheit des einen und andern erweisen und eine »Ichspaltung«
zwischen einem »naiv interessierten lch « und einem phanomenologisch
»uninteressierten Zuschauer« die Konstitution von jenem durch diesen
ermoglichen? Wie sol! das reine transzendentale Ich das physisch und
psychisch reale konstituieren konnen, wenn es ganz anders als das
konstituierte ist 10 ? Was heilst dann noch »Konstitution«? Dieselbe
Schwierigkeit wie beziiglich des zweifachen Ich zeigt sich in bezug auf
die Konstitution der Welt, wenn diese nicht nur ihrem Seinssinn und
ihrer »Geltung« nach durch die Leistungen des Bewulstseins konstitu-
iert ist, sondern auch als »diese wirklich seiende« Welt 11 ?
Husserls Einwand gegen den kritischen Idealismus Kants fallt auf
ihn selber zuriick. »Es bleibt bei Kant und alien seinen Nachfolgern
ganz unverstiindlich, was das Ich der transzendentalen Funktion eigent-
lich ist und wie es zu dem empirischen lch, dem des realen Menschen
eigentlich steht, diesem Ich, das die Psychologie als Seele zum Thema
hat. Warum sollen die transzendentalen Akte und Vermogen verschie-
den von denen sein, die ich, der alltagliche Mensch in meinem Weltle-
ben vollziehe? Ich bin doch ein einziges Ich. Aber welche Ungeheuer-
lichkeit dann zu sagen: Mein Verstand schreibt der Natur das Gesetz
vor, in meiner Seele konstituiert sich die weltliche Objektivitat, also
9 Siebe dazu E. Gilson, Kommentar zum Discours, 1947, S. 303 und 307£.
10 Siebe dazu R. Ingarden, Kritische Bemerkungen zu Husserl, Cartesian.
Meditationen, S. 213 f. Vgl. G. Brand, a.a.O., S. 30 und 44£.
11 Cartesian. Meditationen, S. 97.
Die Aneignung der Cartesischen Reflexion 35
12 A.a.O., S. 31.
13 A.a.O., S. 32£.
36 Gott, Mensch und Welt
14 Siehe dazu vom Verfasser: Gesammelte Abhand/ungen zur Kritik der ge-
schichtlichen Existenz, 1961, S. 237ff. [Siimtl. Schriften 1, S. 308££.].
Die Aneignung der Cartesischen Reflexion 37
des menschlichen Daseins ist, sondern weil ihre gewaltige Macht und
Grofse das Dasein von Menschen unendlich iibertrifft. Innerhalb einer
transzendental-phanomenologischen oder auch existenzial-ontologi-
schen Perspektive kann nicht gesehen werden, dais die natiirliche Welt
sich standig selber bildet oder konstituiert, weil die Natur alles Seienden
das unbedingt Selbstandige, von sich selbst her Bestehende und Bestan-
dige ist. Die drei Bindestriche des ln-der-Welt-Seins beantworten nur
scheinbar die Frage nach der Zugehorigkeit von Mensch und Welt,
denn die Welt der Naturist nicht reduzierbar au£ die vom Menschen
und fiir ihn vermenschlichte Umwelt.
Die Grundformel der »Analytik des Daseins«: Dasein = In-der-
Welt-Sein ist vielfach rezipiert worden, vor allem von der medizinischen
Anthropologie, die in ihr einen philosophisch fundierten Rahmen fiir
klinische Erfahrungen £and und eine Befreiung von der Cartesischen
Dichotomie und deren Einfluis auf die naturwissenschaftliche Medizin.
Die auisergewohnliche Wirkung von Sein und Zeit beruht aber nicht
nur darauf, dais Heidegger durch seine zentralen und konkreten Analy-
sen der »condition humaine« aus der Sterilitat neukantischer Erkennt-
nistheorie herausfiihrte, sondern vor allem darauf, dais er erstmals die
Endlichkeit des menschlichen Daseins als In-der-Welt-Sein zum Funda-
ment alles philosophischen Fragens erhob. Die von Platon bis zu Nietz-
sche giiltige Frage nach dem Immerseienden oder Ewigen, dem Unbe-
dingten und Unendlichen, schien mit einem Schlag beseitigt. Man
brauchte nicht mehr nach »ewigen Wahrheiten« zu fragen, wenn Zeit-
lichkeit, Geschichtlichkeit und Jeweiligkeit das Sein des endlichen Da-
seins kennzeichnen. Die weitverbreitete Grundstimmung zeitgenossi-
schen Daseins, seiner nackten Faktizitat ohne Woher und Wohin, fiihlte
sich durch Heideggers Destruktion der gesamten iiberlieferten Meta-
physik oder Ontotheologie bestatigt. Man atmete auf, wenn einem so
entschieden wie streng explizierend gesagt wurde: Dasein ist gar nichts
anderes als »In-der-Welt-Sein « und zeitgeschichtliches »Existieren «.
Dais diese Welt von Sein und Zeit eine Welt ohne Natur und eine Welt
ohne Gott ist, blieb zumeist unbeachtet, weil der »Prothesengott«, wie
Freud den Menschen des technischen Zeitalters nennt, an beidem desin-
teressiert ist. Heideggers Analyse des »natiirlichen« Weltbegriffs ist so
unnatiirlich wie die existenziale Begriindung des Sterbens aus dem
vorlaufenden »Sein-zum-Ende« und so gottlos wie die Obernahme der
Faktizitat des je eigenen Daseins durch dieses selbst. Gemais dem Fehlen
Gottes und der Gleichgiiltigkeit gegeniiber einer unsterblichen Seele
38 Gott, Mensch und Welt
15 §§ 19-21 von Sein und Zeit betreffen thernatisch zwar nur die Welt als res
extensa, wogegen die »Destruktion« des »cogito sum« dern nicht erschienenen
zweiten Teil von Sein und Zeit vorbehalten war. Weil aber Dasein = In-der-
Welt-Sein ist, irnpliziert die Kritik des Cartesischen Weltbegriffs auch schon eine
solche des Ich-selbst-Seins.
16 Siehe dazu vorn Verfasser: Gesammelte Vortri:ige und Abhand/ungen zur
Kritik der christlichen Oberlieferung, 1966, Kap. 14 [Si:imtl. Schriften 1,
s. 418ff.].
17 Phii.nornen »irn ausgezeichneten Sinn« ist fur Heidegger (Sein und Zeit,
§ 7 C) nicht das, was erscheint, sondern gerade das, was sich nicht zeigt, nii.rnlich
das »Sein« irn Unterschied zu allern Seienden. Das besagt hinsichtlich der Welt
der Natur: das Welt-Phii.nornen ist die Weltlichkeit der Welt, irn Unterschied zu
allern innerweltlich Seienden, u. a. der Naturdinge. Die Natur der Naturdinge ist
fur Heidegger kein rni:iglicher Ausgangspunkt und kein prirnii.res Therna fur die
ontologische Frage nach der Welt.
Die Aneignung der Cartesischen Reflexion 39
schaftliche Erkenntnis, da8 er die Welt der Natur verkannt habe und sie
nicht vielmehr in ihrer Mathematisierbarkeit erhellt hat 18 ? Die unverof-
fentlichte Schrift Le Monde, die zum Tei! in den Principia verarbeitet
ist, will ja nicht zeigen, wie die Welt »zunachst und zumeist« fiir unser
alltagliches Dasein - Descartes wiirde sagen: »moralisch « betrachtet -
da ist, sondern wie sie fiir die theoretische Erkenntnis, d. h. objektiv
oder an ihr selbst verfa8t ist. Descartes will nicht »verstehen« und
»auslegen«, sondern wissen, wie etwas ist. Als die Grundbestimmung
aller weltlich korperhaften Dinge erkennt er die extensio - fiir die
heutige Physik ist es ein Quantum von Energie -, deren modi Teilbar-
keit, Gestalt und Bewegung sind. »Nempe extensio in longum, la tum,
profundum substantiae corporeae naturam constituit.« Heidegger
iibersetzt sich naturam mit dem »Sein« der korperlichen Substanz und
fiigt hinzu: »die wir ,Welt, nennen«. Fiir Descartes, den Metaphysiker,
ist die Welt aber keine sogenannte Welt in Anfiihrungstrichen, sondern
die eine und ganze Welt der Natur, d.i. aller korperlichen Dinge und
physischen Phiinomene. Es interessieren ihn Erscheinungen wie Bewe-
gung und Ruhe; die Entfernung von Sonne, Erde und Mond; das Licht
des Mondes; die Materie der Sonne und ihre Leuchtkraft; die Erschei-
nung der Farben; die Ursache der Kometen und alle wahren Ursachen
der irdischen Vorgiinge: Ebbe und Flut, vulkanische Erscheinungen, die
Natur des Magneten, die Verschiedenheit der Sinnesempfindungen usf.
Das wissenschaftlich ErfaBbare und bestandig Bleibende - id quod
substat- ist aber bei alien Veranderungen der sinnlichen Qualitaten im
einen Fall die extensio und im anderen die cogitatio. Die Substanzialitiit
dieser beiden Substanzen ist fiir Descartes das, was Heidegger in kriti-
scher Absicht und mit Riicksicht auf die mit Sein und Zeit beabsichtigte
Destruktion der griechischen Ontologie (Sein = immer seiende Vorhan-
denheit) »standigen Verbleib« nennt. Fiir das existenziale und ge-
schichtlich-temporale Denken von Sein und Zeit gibt es aber Immersei-
endes sowenig wie ewige Wahrheiten, am allerwenigsten eine ewige
Wahrheit der Natur. Denn Natur sei nur ein »Grenzfall« des Seins von
innerweltlich Vo.rhandenem (§ 14) und nicht das, »was immer ist, was
es ist«, und alles aus sich hervorbringt, auch den Menschen, sofern er
nicht (wie fiir Descartes) von Gott geschaffen ist. Indem Descartes die
Welt der Natur als extensio und diese als das bestiindig Bleibende
denkt, diktiere er der Welt ihr eigentliches Sein zu. »Descartes vollzieht
so philosophisch ausdriicklich die Umschaltung der Auswirkung der
traditionellen Ontologie au£ die neuzeitliche mathematische Physik.«
Wer diktiert jedoch der Welt mehr zu? Descartes, fiir den, wie noch
fiir Kant, die Physik die »Weltwissenschaft« schlechthin ist, oder Hei-
degger, dessen Weltanalyse sich am innerweltlich zuhandenen Ge-
brauchsding orientiert und fiir den es eine vom Menschen unabhiingige,
substanziell-subsistierende Welt der Natur gar nicht gibt, sowenig wie
einen Weltraum, der nicht vom existierenden In-der-Welt-Sein des
menschlichen Daseins eingeriiumt und eine abgeleitete Modifikation
von umweltlichen Gegenden und Platzen ist. Wer iiberspringt hier die
Welt? Der Naturwissenschaftler Descartes oder der Ex-Theologe Hei-
degger, der nur denjenigen Aspekt der Welt gelten la8t, der sich auf
unser Befinden, die Angst und die Sorge beziehen laBt? Wer von beiden
»entweltlicht« die Welt? Descartes, der als Naturforscher von dem
Bestand einer bestiindigen, obwohl geschaffenen Welt ausgeht, oder
Heidegger, der die Naturwelt aus dem Verlust des Umhaften unserer
Umwelt verstiindlich machen mochte (§ 24)? Angenommen, der
»Grenzfall des innerweltlich vorhanden Seienden, die »Natur«, ware
nicht die iirmste und unterste Kategorie im Verhiiltnis zum zuhandenen
Zeug und zu den Existenzialien, dann ware das unvordenkliche Vor-
handensein der Welt der Natur die oberste und reichste, und fundamen-
tal fiir jede Besinnung au£ das Ganze des Seienden. Denn ohne den
Bestand einer lebendigen Welt wiirde es auch keinen existierenden und
um sich selber und sein je eigenes »Ganzsein« besorgten Menschen
geben konnen.
Valerys Essai iiber Descartes wurde 1937 zur 300-Jahrfeier des
Discours verfaBt, »ce Discours qui est apeu pres incorruptible, comme
tout ce qui est ecrit exactement. Un langage fier et familier, ou l'orgueil
ni la modestie ne manquent [... ] « Der Essai hat den bescheidenen Titel:
Une vue de Descartes, denn er will nur eine sehr personliche Ansicht
bieten, ohne au£ die gelehrte Diskussion der Cartesischen Metaphysik
einzugehen, die nur noch historisches lnteresse habe und, ohne etwas in
der Sache zu entscheiden, einen »effort de simulation« mache, um nach
drei Jahrhunderten ein zeitbedingtes System von Oberlegungen und
Formulierungen zu rekonstruieren. Im Gegensatz zu einer solchen
kiinstlichen Wiederbelebung, aber auch zu dem, was schon Descartes
selber trotz seines radikalen Entschlusses, mit allem Oberlieferten und
bloB Angelernten tabula rasa zu machen, aus der theologischen und
Die Aneignung der Cartesischen Reflexion 41
19 »Ce qui attire mon regard, a partir de la charmante narration de sa vie et des
circonstances initial es de sa recherche, c' est la presence de lui-meme dans ce
prelude d'une philosophic. C'est, si l'on veut, l'emploi du]e et du Moi dans un
ouvrage de cet espece, et le son de la voix humaine; et c'est cela, peut'etre, qui
s'oppose le plus nettement a !'architecture scholastique. Le Je et le Mai devant
nous introduire a des manieres de penser d'une entiere generalite, voila mon
Descartes.«
Die Aneignung der Cartesischen Reflexion 43
iiber sich selbst wird, wird er zugleich zum Bezugssystem der physikali-
schen und animalischen Welt und ihrer Beherrschung durch die Wissen-
schaft der mathematischen Konstruktion. »II invente alors un Univers
et un Animal en s'imaginant qu'il les explique. Quelles que soient ses
illusions dans cette voie, ses efforts ont ete de la plus grande consequen-
ce [... ]. Si l'univers cartesien a eu le sort de tousles univers con\us et
concevables, le monde dans lequel vit notre ,civilisation, porte encore la
marque de la volonte et de la maniere de penser dont j'ai parle. Ce
monde est penetre des applications de la mesure. Notre vie est de plus en
plus ordonnee selon des determinations numeriques, et tout ce qui
echappe a la representation par les nombres, toute connaissance non
mesurable est frappee d'un jugement de depreciation. Le nom de ,Scien-
ce, se refuse de plus en plus a tout savoir intraduisible en chiffres.«
Wer wie Descartes cogito ergo sum sagt, ist wie ein Traumender im
Augenblick des Erwachens zu sich selbst 20 • Weil uns aber Descartes'
Grundposition !angst zur Gewohnheit wurde, indem wir die Welt nicht
mehr in ihrem natiirlichem Bestande schauen, sondern mit einer Frei-
heit des Denkens konstruieren, die ihren letzten geschichtlichen Ur-
sprung nicht schon in der Neuzeit hat, sondern in der Weltfreiheit der
christlichen BewuBtseinsstellung, verspiiren wir in Descartes' Haltung
nicht mehr »!'effort et !'unite de puissance volontaire qu'il fallut pour la
concevoir dans toute sa nettete et pour la prendre une premiere fois. La
brusque abolition de tous les privileges de l'autorite, la declaration de
nullite de tout l'enseignement traditionnel, l'institution du nouveau
pouvoir interieur fonde sur !'evidence, le doute, le ,bon sens,, l'observa-
26 Siehe M. Heidegger, Ober den Humanismus, 1947, S. 73. Zur Kritik von
Sartres Position siehe G. Marcel, Homo Viator, 1944, S. 233 ff. und M. R.
Lenoble, Liberte Cartesienne et Liberte Sartrienne, in: Descartes, Cahiers de
Royaumont, 1957.
48 Gott, Mensch und Welt
Vorgiinger las (dies versteht sich von selbst}, sondern weil er trotz seiner
Vorgiinger etwas in der Sache entdeckte, was bisher noch keiner gese-
hen hat. Ebendas ist die Grolse und Vorbildlichkeit von Descartes: sein
Entschluls, sich von den Biichern weg und zu den Sachen hin zu wenden,
um sich und die Welt aus erster Hand kennenzulernen, oder, mit
Riicksicht auf unser historisches Bewulstsein gesagt: sein unhistorischer
Sinn fiir die Sache selbst. Nur so konnte er auch sich selbst wie eine
erstaunliche »res cogitans« entdecken. In unserer Situation eines alles
verstehenden Historismus und einer aus ihm und gegen ihn entsprunge-
nen Aneignung der Oberlieferung2 9, muls man sich fragen: gibt es
daraus einen Ausweg ins Freie, oder ist die Alternative zwischen einer
illegitimen Aneignung und einer unverbindlichen Doxographie endgiil-
tig? Wir stimmen Valery zu, wenn er die blols historische Rekonstruk-
tion eines philosophischen Systems der Vergangenheit einen inaktuel-
len und kiinstlichen »effort de simulation« nennt, ohne jedoch unserer-
seits mit der Darstellung der nachchristlichen Metaphysik von Descar-
tes bis zu Nietzsche auf Aktualitiit abzuzielen. Ein Gedanke kann
aktuell und doch falsch sein und wahr aber inaktuell. Die neutrale
Wiedergabe der onto-theologischen Systeme im Hinblick au£ das Ver-
hiiltnis von Gott, Mensch und Welt will weder iibergehen, was fiir die
Verfasser im Mittelpunkt stand und das Schwergewicht hatte, noch die
Sache, um die es uns geht, umgehen, d. i. die Frage: was bedeutet es, dais
von der metaphysischen Trinitiit nur Mensch und Welt iibrigblieben.
Die Folge davon ist die Verweltlichung des Menschen, ineins mit der
Vermenschlichung der Welt. Auf dem Weg einer neutralen Darstellung
der metaphysischen Tradition und doch geleitet von einem Problem
kann sich allererst zeigen, wie fremd und nicht mehr anzueignen die
Fragen geworden sind, die uns in der gesamten Geschichte der nach-
christlichen Metaphysik als die wesentlichen begegnen - so fremd und
ferngeriickt, dais sie uns iiberhaupt nicht mehr unmittelbar ansprechen
und angehen. Selbst eine kunstvolle »Verfremdung« konnte sie nicht
wieder zum Leben erwecken. Es geniigt, sich historisch klar zu machen,
dais Gottes Existenz und die Unsterblichkeit der Seele noch bis zu Kant
ein wesentliches Problem waren, um einzusehen, dais sie es nicht mehr
29 An sich ist diese unsere Situation nicht neu; sie war bereits vor hundert
Jahren das Thema von Nietzsches zweiter UnzeitgemiiBer Betrachtung iiber die
Historie, deren ~antiquarische« Form <lurch eine »kritische« und »monu-
mentale« geheilt werden sollte.
50 Gott, Mensch und Welt
Kant hat 1755 die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Him-
mels veroffentlicht. Er war und blieb auch als kritischer Meta-physiker
Physiker 2 • Schon die Vorrede zur allgemeinen Naturgeschichte bedenkt
jedoch das Verhaltnis von Gott und Welt; sie verwahrt sich dagegen,
daB der Versuch einer rein mechanischen Erklarung des Weltgebaudes
zu einer »unheiligen Weltwissenschaft« fiihren und als »Schutzrede des
Gotteslaugners« aufgefafst werden konnte. Den Oberschritt zu einer
Welt ohne Gott machte Laplace, der aufNapoleons Frage, welche Rolle
in diesem Weltsystem Gott spiele, geantwortet hat, dafs die Hypothese
eines Gottes nicht mehr notig sei, wogegen Kant am Ende seiner Schrift
die Stellung der menschlichen Seele und ihr Verhaltnis zu Gott inner-
halb dieses unermefslichen Universums erwog. Denn der Mensch konne
sich mit der Betrachtung des unaufhorlichen Entstehens und Vergehens
von Welten iiber Welten nicht zufriedengeben, weil er dazu bestimmt
sei, in Gemeinschaft mit Gott alle Verganglichkeit der irdischen Dinge
zu iiberwinden. Als Naturwesen macht der Mensch keine Ausnahme
vom allgemeinen Schicksal der Lebewesen; als eine denkende Natur
setzt er sich selber Zwecke und ist er der Endzweck der ganzen Schop-
fung; als eine zur Hoffnung auf Kiinftiges berechtigte, unsterbliche
Seele, ist er Gott zugeordnet. Es ist fur Kants Frage nach dem Verhaltnis
von Gott, Mensch und Welt bezeichnend, dafs seine acht Jahre spater
erschienene Schrift Ober den einzig moglichen Beweisgrund zu einer
Demonstration des Daseins Gottes (1763) im zweiten T eil einen Aus-
zug aus der allgemeinen Naturgeschichte enthalt, so wie in der Kritik
der reinen Vernunft der Erorterung der kosmologischen Ideen eine
solche der Gottesbeweise fol gt. Eine Welt ohne Gott schien ihm so
1 Zitiert wird nach Band und Seitenzahl der Berliner Akademie-Ausgabe. Das
Opus postumum nach Band I u. II.
2 Siehe dazu H. Heimsoeth, Astronomisches und Theologisches in Kants
Weltverstiindnis, Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften
und der Literatur 1963, Nr. 9, und Kant-Studien 1966, S. 206££.
52 Gott, Mensch und Welt
3 Ober den einzig moglichen Beweisgrund, a.a.O., S. 261 f.; vgl. Kritik der
Urteilskraft, a.a.O. V, S. 473.
Kant 53
5 Der Ausdruck »Antinomie« bezog sich urspriinglich nicht au£ einen bloBen
Gegensatz, sondern au£ die verschiedene Gesetzlichkeit des alttestamentlichen
Gesetzes und des neutestamentlichen Gnadengesetzes. In diesem theologischen
Sinn schrieb Luther eine Schrift Wider die Antinomer. In die Philosophie wurde
der Begriff durch Kant eingefiihrt.
56 Gott, Mensch und Welt
6 Hegel, Werke XV, 1844, S. 523 ff.; Schelling, Werke, ed. Schroter, V,
s. 372££.
Kant 57
genstand unter anderen ist, auf uns selbst zu reflektieren und statt der
letzten Grenze der Dinge, wo sie ins Unbedingte iibergehen sollen, die
Grenze unseres Erkenntnisvermogens kritisch einzusehen. Denn der
ldee eines unbedingten Ganzen, wie es das Weltall ist, entspricht keine
einzige gegenstiindliche Erfahrung und auch nicht die Summe aller
Erfahrungen. Die Welt ist als das Ganze des Seienden kein sinnlich
erfahrbarer Gegenstand unter anderen. Der sinnliche Verstand meint
mit seinen Erfahrungsbegriffen, die Welt wie ein abgeschlossenes Gan-
zes begreifen zu konnen, weil er nicht kritisch-unterscheidend begreift,
dag die Welt im Grogen und Ganzen kein an sich bestehendes Dingist.
Die Vernunft dagegen durchschaut in der Reflexion auf die Grenzen des
sinnlichen Verstandes, dag dieses Ganze nur eine Idee unserer regelge-
benden Vernunft ist, der nichts in der Realitiit entspricht und entspre-
chen kann und dag folglich alle Behauptungen des Verstandes beziig-
lich des Ganzen der Welt, ob sie z.B. einen Anfang hat oder anfanglos
ist, ins Leere fallen.
Die Frage, die sich durch Kants Beantwortung des dialektischen
Widerstreits ergibt, ist mit Bezug auf die erste Antinomie: ob diese
kritische Auflosung der »dogmatischen« Behauptung und Gegenbe-
hauptung das Problem des Anfangs bzw. der Anfangslosigkeit der Welt
wirklich als ein Scheinproblem erwiesen hat. Die Rede vom »Anfang«
beriihrt dabei nicht die Frage, ob etwas aus Nichts hervorgehen konne,
sondern ob etwas Bedingtes und in Raum und Zeit schon Bestehendes
an einer Grenze seiner Bedingtheit ins Unbedingte iibergehen kann.
Wenn Kant mit seiner Darstellung und Auflosung des Widerstreits
unwiderleglich bewiesen hiitte, was er beweisen wollte, dann ware der
griechische Anblick des Kosmos als eines anfangs- und endlosen, im-
merwiihrenden Ganzen einmal fiir immer erledigt und ebenso Nietz-
sches Versuch, nach Kant den heraklitischen Anblick der Welt zu
erneuern. Kant erweist das Problem des zeitlichen Anfangs als ein
Scheinproblem nur unter der Voraussetzung, dag man seine kritische
Unterscheidung von unbedingtem »Ding an sich« und bedingter »Er-
scheinung«, von phiinomenaler und intelligibler Welt, von rezeptiver
Sinnlichkeit, formgebendem Verstand und einer sie ergiinzenden Ver-
nunft kritiklos iibernimmt und unter »Welt« die »totale Synthesis ihrer
Erscheinungen« im Gegensatz zum »Ding an sich« versteht, wobei die
einheitliche Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Er-
scheinungen eine Leistung des menschlichen Verstandes sein soil. Die
transzendentale Weltanalyse, sei es von Kant oder auch von Husserl
58 Gott, Mensch und Welt
und Heidegger, setzt in jedem Fall voraus, daB es keine in der Natur
begriindete Ordnung des Kosmos selber gibt, der der Mensch von
Natur aus zugeordnet ist, so wie das sinnliche Sehen von etwas dem
sichtbaren Licht. Soweit bei Kant iiberhaupt noch von einer Weltord-
nung und nicht nur von einer gesetzten Gesetzlichkeit die Rede ist, weist
sie zuriick auf einen gottlichen und menschlichen Verstand, der der
Natur ihre Gesetze »vorschreibt« und in der Nachfolge Gottes, wie ein
Deus creatus, Welt »entwirft«. Die Welt ist aber, urspriinglich erfahren,
weder ein mathematisches Ganzes, das teilbar ist, noch eine chaotische
Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten, zu denen ein Ordnungsprinzip des
Verstandes hinzutritt. Sie ist auch keine bloBe Sukzession von endlos
bedingten Erscheinungen, die sich erfahrungsgemiiB niemals vollenden
liifst. DaB sich die Welt als das eine in sich vollendete und jeweils
vollkommene Ganze alles von Natur aus Seienden nicht ebenso wie eine
einzelne Welt- und Naturerscheinung dinghaft erfahren liifst, bedeutet
nicht, daB sie eine bloB regulative Idee unserer Vernunft ist, der keine
Realitiit entspricht. Die Realitiit der Welt iibersteigt zwar jede einzelne
res, die Welt ist aber auch nicht deren bloBer Inbegriff. Sie ist als das
Ganze aller bedingten Erscheinungen auch nicht nur negativ ein Unbe-
dingtes, das vom Bedingten her nicht erreichbar ist, sondern sie ist als
das Eine und Ganze des von N atur aus Seienden, wie alle physis, positiv
selbstandig. Wir brauchen daher auch gar nicht den unvollendbaren
regressus vom Bedingten zum Unbedingten ideell zu vollziehen, um die
Welt in ihrer unbedingten, selbstiindigen Totalitiit denken zu konnen.
Erfahren wir doch alltiiglich und vor aller mathematischen Naturwis-
senschaft immer schon das Ganze der Welt, ohne all ihre Teile zu
kennen und sukzessiv durchzugehen. Sie ist nicht das letzte Ende einer
ideellen Vollendung, sondern das Erste, Vorgiingige und immer schon
Vollendete.
T atsiichlich spricht Kant, wenn er das Fiir und Wider der Anfangs-
losigkeit durchdenkt, auch gar nicht von der »Ewigkeit« der Welt,
sondern von einer »unendlichen Zeitreihe« und einer unabsehbaren
»Grenze«, um am Begriff der zeitlichen Grenze den Widerstreit von
Thesis und Antithesis als ein Scheinproblem zu enthiillen. Kant hat
zweifellos recht, wenn er sagt, daB sich das Durchmessen und Durch-
ziihlen einer zeitlichen Sukzessionsreihe niemals zu einer totalen Syn-
thesis vollenden lasse. Aber was besagt diese Unvollendbarkeit einer
endlosen Sukzession gegen die Ewigkeit der Welt im Sinne von sempi-
ternitas, und also nicht von Zeitlosigkeit, sondern von Immerwiihren?
Kant 59
heit steht aber an erster Stelle, weil sie »das Verband des Obergangs« (I,
S. 46) macht, d.h. die Verbindung von Gott und Welt mit uns her-
stellt15.
Der anthropo-theologische Grundzug der nachchristlichen Meta-
physik, wie wir ihn an Descartes und Kant dargestellt haben, la/5t sich
weiter an Fichte, Schelling und Hegel aufzeigen. Der entscheidende
Wendepunkt gegen die gesamte biblische Tradition der Meta-physik
oder »Hinterwelt« ist erst mit Nietzsche erfolgt und lange vorher in
Spinozas fragwiirdiger Gleichung von Deus sive Natura zur Sprache
gekommen.
Kants kritische Frage nach dem Verhaltnis von Gott, Mensch und Welt
verkiirzt sich fiir Fichtes dogmatischen Idealismus auf die eine Frage
nach dem [ch als dem Absoluten oder unbedingt Selbstiindigen. Die
wesentliche Bestimmung des von aller sinnlichen Erfahrung unabhan-
gig sein-sollenden Ich ist, dals es eine rein aus ihm selbst begriindete,
durch nichts anderes bedingte Tathandlung ist. »Ich finde mich frei von
allem Einflusse der Sinnenwelt, absolut tiitig in mir selbst und durch
mich selbst, sonach als eine iiber alles Sinnliche erhabene Macht. Diese
Freiheit aber ist nicht unbestimmt; sie hat ihren Zweck: nur erhalt sie
denselben nicht von aulsen her, sondem sie setzt sich ihn durch sich
selbst. Ich selbst und mein notwendiger Zweck sind das Obersinnliche.
An dieser Freiheit und dieser Bestimmung derselben kann ich nicht
zweifeln, ohne mich selbst aufzugeben.« 1 Das Insgesamt der sinnlich
erfahrbaren Welt ist demgemaB nur negativ bestimmbar als das, was
kein Ich, »Nicht-Ich« ist. Aber nicht nur die Welt, auch Gott hat in
Fichtes System kein eigenes Gewicht und das absolute Ich kann daher in
der zweiten Wissenschaftslehre bruchlos in Gott iibergehen, weil im
Handeln des gottergebenen Menschen eigentlich nicht der Mensch,
sondem Gott selbst handelt2 • Der Fichtesche Gott reduziert sich au£ die
Forderung einer »moralischen Weltordnung«, im Unterschied und im
Gegensatz zur Naturordnung. Der Ort des religiosen Glaubens ist die
moralische Gesinnung der freien Tathandlung und aller Glaube an Gott
und Gottliches soll sich daraus entwickelt haben. Jeder Glaube an ein
Gottliches, der mehr enthalt als den Begriff der von uns Menschen
geforderten moralischen Ordnung ist Aberglaube. »Dals der Mensch,
der die Wiirde seiner Vemunft behauptet, auf den Glauben an diese
Ordnung einer moralischen Welt, dieses Obersinnliche, iiber alles Ver-
gangliche unendlich erhabene Gottliche, sich stiitze, jede seiner Pflich-
ten betrachte als eine Verfiigung jener Ordnung [...], ist absolut not-
wendig und das Wesentliche der Religion. Dals er die verschiedenen
Beziehungen jener Ordnung auf sich und sein Handeln, wenn er mit
5 A.a.O.,S. 294£.
6 Als sich Fichte gezwungen sah, seine Professur in Jena wegen des Atheismus-
streits aufzugeben und nach Berlin ging, bedurfte er einer Aufenthaltsgenehmi-
gung, die ihm Friedrich Wilhelm Ill. mit folgender Begriindung gab: »1st Fichte
ein so ruhiger Burger, als aus allem hervorgeht, und so entfernt von gefahrlichen
Verbindungen, so kann ihm der Aufenthalt in meinen Staaten ruhig gestattet
werden. lst es wahr, da~ er mit dem lichen Gott in Feindseligkeiten begriffen ist,
so mag dies der liebe Gott mit ihm abmachen, mir tut das nichts. «
7 A.a.O.,S. 131.
Fichte 69
»Ich bin nicht durch mich selbst entstanden. Es ware die hochste
Ungereimtheit, anzunehmen, dafs ich gewesen sei, ehe ich war, um
mich selbst zum Dasein zu bringen. Ich bin durch eine andere Kraft
aufser mir wirklich geworden. Und durch welche wohl, als durch die
allgemeine Naturkraft, da ich ja ein Teil der Natur bin? Die Zeit
meines Entstehens, und die Eigenschaften, mit denen ich entstand,
waren durch diese allgemeine Naturkraft bestimmt; und alle die
Gestalten, unter denen sich diese mir angeborenen Grundeigen-
schaften seitdem geaufsert haben und aulsern werden, so lange ich
sein werde, sind durch dieselbe Naturkraft bestimmt. Es war un-
moglich, dais statt meiner ein Anderer entstiinde; es ist unmoglich,
dais dieser nunmehr Entstandene in irgendeinem Momente seines
Daseins anders sei, als er ist und sein wird. «
»lch bin, der ich bin, weil in diesem Zusammenhange des Natur-
ganzen nur ein solcher und schlechthin kein anderer moglich war;
und ein Geist, der das Innere der Natur vollkommen iibersahe,
wiirde aus der Erkenntnis eines einzigen Menschen bestimmt ange-
ben konnen, welche Menschen von jeher gewesen, und welche zu
jeder Zeit sein wiirden; in einer Person wiirde er a/le wirklichen
Personen erkennen. Dieser mein Zusammenhang mit dem Natur-
ganzen ist es denn, der da bestimmt, alles was ich war, was ich bin
und was ich sein werde: und derselbe Geist wiirde aus jedem mogli-
chen Momente meines Daseins unfehlbar folgern konnen, was ich
vor demselben gewesen sei, und was ich nach demselben sein werde.
Alles was ich je bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin
notwendig, und es ist unmoglich, dais ich etwas anders sei.«
meiner selbst als eines selbstiindig auf sich gestellten Wesens bewuBt,
welches »Ich« zu sich sagen kann. Der Mensch kann sich mit selbstbe-
wuBtem Eigenwillen zu diesem oder jenem entschlieBen, er kann sogar
sein eignes Dasein in der Tat des Selbstmords beschlieBen. Und unmit-
telbar geht mein BewuBtsein iiberhaupt nicht iiber mich hinaus, denn
kh bin nicht die menschen-bildende Naturkraft selbst, sondern nur eine
ihrer AuBerungen, derer ich mir als meines Selbst bewuBt bin. Dadurch
erscheine ich mir als frei, und als beschriinkt in meiner freien Selbstiin-
digkeit, wenn ich durch »auBere Umstiinde« nicht kann, was ich will.
Der Mensch scheint also zweierlei zu sein: an sich eine naturnotwendige
AuBerung der allgemeinen Naturkraft und fiir sich selbst ein freies Sein-
Konnen. Und »da nichts in der Natur sich widerspricht, ist nur der
Mensch ein sich widersprechendes Wesen? « Dieser Widerspruch ist auf
dem Boden der ersten Betrachtung nicht auflosbar. Es folgt die zweite,
vom umgekehrten Ende her. Ich selber will fiir und durch mich selbst
etwas sein, Grund meiner eigenen Selbstbestimmung und selber den
Rang der urspriinglichen Naturkraft einnehmen. Dazu miiBte der
Mensch aber frei sein von dem Schon-immer-von-Natur-aus-Be-
stimmtsein. Das zum freien Wollen gehorige Bewulstsein diirfte keine
bloBe Naturbestimmtheit des Menschen sein. Und in der Zeit zeigt sich,
daB die ganze Welt immer schon eine solche fur das BewuBtsein des
Menschen ist, daB sie nicht unmittelbar, sondern durch uns vermittelt
da ist, z. B. als Sinnenwelt unsrer Sinne. Die Subjektivitiit ist selber
schon immer bestimmend fiir die natiirliche AuBenwelt. Unmittelbar
gewiB ist nur: ]ch bin mir meines Sehens und Fiihlens, von etwas,
bewuBt. Alles, was »ist«, ist moglicher Gegenstand meines BewuBt-
seins, denn der Gegenstand ist nur ein Gegenstand, sofern er mir
gegeniibersteht.
Dieses BewuBtsein vom Gegenstand ist begleitet vom SelbstbewuBt-
sein. Ich kann jederzeit von meinem Sehen von Etwas zuriickkommen
auf mein Sehen als solches. Die Frage ist also nicht mehr die zuerst
gestellte: wie nimmt sich der Mensch innerhalb des Universums aus,
sondern die umgekehrte: wie komme ich jemals aus dem Umkreis
meines Selbst- und WeltbewuBtseins zu den wirklichen Dingen hinaus?
Welches »Band« verkniipft mich mit ihnen? Diese Frage findet aber in
Hinsicht meiner nicht statt; denn das um sich selber wissende Ich ist sich
schon selbst Subjekt und Objekt zugleich, eine einfache Identitiit von
beiden, und das Ding scheint ein bloBes Produkt meines vorstellenden
BewuBtseins zu sein. Verfliichtigt sich aber nicht mit dem Unselbstiin-
Fichte 73
digwerden der au8er mir seienden Welt auch das selbstiindig geworde-
ne Ich zu einem Phantom?
»Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich selbst zuriick-
laufende Zirkel, jenes unaufhorlich sich wiederholende Spiel, jenes
Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebaren,
wie es schon war: es ist vor meinem Blicke vergeistigt, und tragt das
eigne Geprage des Geistes; stets Fortschreiten zum Vollkommene-
ren in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht.«
»Es verschwindet vor meinem Blicke und versinkt die Welt, die
ich noch soeben bewunderte. In aller Fiille des Lebens, der Ord-
nung, und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur
der Vorhang, durch die eine unendlich vollkommenere mir verdeckt
wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soil. Mein
Glaube tritt hinter diesen Vorhang, und erwarmt und belebt diesen
Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber er erwartet mehr als er
hinieden £assen kann und je in der Zeit wird £assen konnen.«
Man kann sich nur noch schwer vergegenwartigen, welche Macht
Fichte kraft seines rhetorischen und moralischen Pathos und seiner
abstrakten Radikalitat au£ die Gemiiter der Zeitgenossen ausgeiibt hat.
lmmermann, dem diese Zeit noch prasent war, bemerkt in seinen
Memorabilien den christlichen Hintergrund von Fichtes revolutionarer
Entschiedenheit und daB er nur zur Halfte als Denker, zur andern und
»vielleicht groBeren Halfte« als opponierender Charakter gewirkt habe.
Auch Schelling und Hegel standen im Bann der Wissenschaftslehre,
bevor sie sich vom Idealismus der Subjektivitat befreiten; der allgemei-
ne Titel »deutscher Idealismus« verdeckt ihre entschiedene Wendung
gegen die Subjektivitat als absolutes Prinzip. Das wahrhaft Absolute,
Eine und Ganze war fiir Schelling eine au£ die Natur Gottes bezogene
erste »Natur« und fiir Hegel der »Geist«, der als absoluter dasselbe wie
Gott ist, indem er sich selbst denkt und weiK
V. Schelling
Natur denkt, wie sollte sie auch vor ihm selber zu Worte kommen?
Wollte sie eine Spur von Lebensiiu8erung von sich geben, gleich
wiirde er sie niederschreien und mit seiner Weisheit giinzlich zu
Grunde reden [... ]; er hat aller Natur in ihm selbst vorliingst den
Kopf zertreten; <loch bleibt es, wenn man ihn hort, zweifelhaft, wer
von beiden dem andern das meiste Obel zufiigt. « 1
2 Werke V, S. 163.
78 Gott, Mensch und Welt
»eigentlichen ldealismus« zu gelangen; denn auch fiir Platon sei der aus
dem Chaos geformte Kosmos unverganglich und ewig jung, ein sichtba-
rer Gott, und das sei iiberhaupt »antike Denkart«. Der »Idealismus«
dagegen gehore ganz der »neuen Welt«. Mit »neu« meint Schelling
nicht die Neuzeit, sondern die Erneuerung der geschichtlichen Welt
durch das Christentum im Verhaltnis zur alt gewordenen Welt des van
ihm iiberwundenen Heidentums und seiner Mythologie. Die zuvor
verschlossene P£orte zum wahren ldealismus habe erst das Christentum
aufgetan, obschon es der Neuzeit bedurfte, um den lmpuls Augustini-
scher Selbst- und Welterfahrung gegen die Aristotelische Schulphiloso-
phie philosophisch zur Geltung zu bringen. Wie ware es sonst zu
begreifen, daR Aristoteles trotz seiner Lehre vom zweifachen Nus die
Grenze in ein Jenseits von dieser ganzen physischen Welt nicht iiber-
schritten hat8 ? Erst das Christentum hat den Menschen von dieser Welt
befreit und Erlosung von ihr moglich gemacht. Seit dem Christentum ist
die Welt nicht mehr ein Sein, sondern nur noch ein Zustand, der
wechseln kann; die derzeit herrschende Weltgestalt ist, in neutesta-
mentlicher Sprache, ein »Schema« (l.Kor. 7,31). Die Welt geht mit
ihrer Begierde voriiber, ihr ganzes Wesen ist geradezu blinder Trieb, ein
bestandiger Umtrieb des Entstehens und Vergehens, des Schaffens und
Vernichtens, des Sichoffenbarens und Verbergens, »ein unaufhorlich
sich selbst gebarendes und wieder verzehrendes Leben, das der Mensch
nicht ohne Schrecken als das in allem Verborgene ahnden mu8, ob es
gleich jetzt zugedeckt ist und nach Au8en ruhige Eigenschaften ange-
nommen hat«. Durch jenes stete Zuriickgehen auf den Anfang und das
ewige Wiederbeginnen macht es sich zur Substanz (id quod substat),
zum immer Bleibenden, Unvertilgbaren und Zugrundeliegenden. Es ist
das bestandige innere Trieb- und Uhrwerk, »die ewig beginnende, ewig
werdende, immer sich selbst verschlingende und immer sich selbst
wieder gebarende Zeit«.
Der entscheidende Unterschied zu Nietzsches Metaphysik des sich
immer wieder wollenden, schaffend-zerstorenden Lebens liegt darin,
da8 Schelling diesen bestandigen Umtrieb der ersten Natur nicht mit
der »Welt« und noch weniger mit einem gottlichen Sein ineins setzt.
Bliebe die Natur bei ihrer ersten Natur stehen, so ware nichts als ein
ewiges Aus- und Einatmen, ein bestandiger Wechsel von Entstehen und
Vergehen, van Sichausbreiten und lnsichzuriickziehen, ein ewiger Trieb
8 A.a.O. V, S. 632££.
Schelling 81
aus der Erde, so ist er [... ] <loch nicht ausschlieB!ich fiir sie, er ist fiir alle
Sterne, denn er ist fiir das Weltall, als Endzweck des Ganzen er-
schaffen.« 10
Das dunkle Prinzip ist zwar auch im Menschen der kreatiirliche
Eigenwille, d. h. die blolse Sucht und Begierde sich zu erhalten; aber im
Menschen erhebt sich das tiefste Zentrum ins Licht des Geistes und der
bewulsten Geschichte. Er ist nicht der blolse Umtrieb der Natur, er ist
auch nicht Gott, wohl aber <lessen Ebenbild und nur in ihm hat Gott die
Welt geliebt. Er ist urspriinglich derjenige, »der im Anfang bei Gott
war«, und »Gott muls Mensch werden, damit der Mensch wieder zu
Gott komme«. »Nur der Mensch ist in Gott und eben <lurch dieses in-
Gott-Sein der Freiheit fahig. Er allein ist ein Zentralwesen [...].In ihm
sind alle Dinge erschaffen, so wie Gott nur <lurch den Menschen auch
die Natur annimmt und mit sich verbindet.« 11
Die universale Bedeutung des Menschen werde auch nicht dadurch
verringert oder aufgehoben, dais seine Erscheinung vermutlich auf die
Erde beschrankt ist. Andererseits wiirde der Mensch aber auch nicht an
universaler Bedeutung gewinnen, wenn er noch auf andern Weltkor-
pern vorkiime - eine Moglichkeit, die Kant durchaus fiir beden-
kenswert hielt. Schelling kritisiert in diesem Zusammenhang Kants
bekannte Zusammenstellung des gestirnten Himmels iiber uns und des
moralischen Gesetzes in uns. Dieser Satz sei vie! bewundert worden,
»vielleicht nicht am wenigsten wegen des falsch Erhabenen, das darin
aus seiner Theorie des Himmels anklingt« . So ferne Gegenstande, die
sich in ihrer Gesamtheit weder der Berechnung unterwerfen noch von
sich etwas anderes erkennen !assen, als eben nur, dais sie da sind,
sprechen zwar das Gefiihl der Erhabenheit an; aber die erste und wahre
Empfindung gegeniiber einer so fremden und fernen Welt sei etwas
ganz anderes, namlich das dunkle Bewulstsein von unserer, obzwar
vergessenen, zentralen Stellung im Ganzen der Welt. Das wahre Ver-
haltnis des Menschen zu diesem unabsehbaren Ganzen sei im Neuen
Testament bezeichnet, namlich als Erwartung eines neuen Himmels
und einer neuen Erde 12• - Welcher Philosoph vor dem Christentum,
von Demokrit bis Lucrez, hatte je auf den Gedanken verfallen konnen,
10 A.a.O. V, S. 429£.
11 A.a.O. IV, S. 255,269,272,303.
12 Schelling verweist auf Phil. 3,20; Hehr. 10,34; 2.Petr. 3,13.
Schelling 83
13 •Die Zeit des bloB historischen Glaubens ist vorbei, wenn die Moglichkeit
unmittelbarer Erkenntnis gegeben ist. Wir haben eine altere Offenbarung als
jede geschriebene, die Natur. Diese enthalt Vorbilder, die noch kein Mensch
gedeutet hat, wahrend diese geschriebenen ihre Erfiillung und Auslegung !angst
erhalten haben. «
14 A.a.O. IV, S. 7.
84 Gott, Mensch und Welt
und das namliche sagen will, sich iiber sie, wie unser Gottesgelehrter,
ins Nichtwissen zuriickzuziehen. Vom Theismus zum Naturalismus
geht kein Weg; so vie! ist klar. Es war Zeit, umgekehrt Naturalismus,
d.i. die Lehre, daB eine Natur in Gott sei, zur Unterlage [... ] des
Theismus zu machen.«
Aus demselben Grund wendet sich Schelling gegen ein Christentum
ohne heidnische, naturhafte Grundlage. Die Mythologie ist fiir ihn
nicht nur eine primitive Vorstufe, genannt »Naturreligion«, sondern
eine notwendige Voraussetzung der christlichen Offenbarung. Der ge-
genwartige Zustand unseres BewuBtseins ist zwar ganz und gar durch
das Christentum bestimmt, wenngleich die Zahl der Bekenner mythi-
scher Religionen die der christlichen weit iibertrifft; aber auch das
Christentum ist eine geschichtliche Erscheinung, die geschichtlich er-
klart werden muB und das Erklarungsbediirftige ist: wieso das Chri-
stentum iiber die mythische Religion der Heiden Herr werden konnte.
»Wie will man[ ... ] jene erstaunenswerte, gleichsam plotzliche Umkeh-
rung der Welt begreifen, die sich ereignete, als bei der bloBen Erschei-
nung des Christentums das Heidentum zu erblassen, in sich unkraftig
zu werden anfing, als vor dem verachteten Kreuz die stolze Macht des
Heidentums sich beugte, ihre Tempel umgestiirzt wurden, ihre Orakel
verstummten, wie will man diese groBte aller Revolutionen begreifen,
wenn man nicht in der Natur des Heidentums, also der Mythologie
selbst die Ursache entdeckt hat, die es jener Einwirkung des Christen-
turns zuganglich und daher dieser inneren Auflosung und Zerstorung
fahig machte?-Die erste, offenbarste und unmittelbarste Wirkung des
Christentums, die Wirkung, die es sich selbst vorzugsweise zuschreibt,
war eben die Befreiung der Menschheit von jener Macht der Finsternis,
die im Heidentum ihre Herrschaft iiber die Welt erstreckte. Schon
daraus folgt aber, daB die Realitat des Christentums (und darum ist es
zu tun, denn eine gewisse ideale Bedeutung schreibt ihm jeder, auch der
Beschrankteste zu, fiir die gibt man heutzutage nichts mehr), dais, sage
ich, die Realitat des Christentums nicht griindlich erkannt werden
kann, ohne dais zuvor auch die Realitiit des Heidentums auf gewisse
Weise erkannt ist. Denn, wie ich schon friiher sagte, die Realitat einer
Befreiung richtet oder bestimmt sich nach der Realitat dessen, wovon
sie befreit, und darum ist ein wahres Begreifen des Christentums (und
was hilft es fiir oder gegen das Christentum zu reden, solange es nicht
begriffen?) gar nicht moglich ohne vorausgehende Philosophie der
Mythologie. Man konnte hier bemerken, dies gehe also blols die Theo-
86 Gott, Mensch und Welt
logen an. Aber keineswegs. Das Christentum gehort nicht bloB diesen,
es gehort ebenso wohl dem echten Geschichtsforscher an.«
Das Christentum ist vor allem ein geschichtliches Faktum, etwas
<las geschehen ist und noch fiir uns seine unausweichlichen Folgen hat.
»Wir konnen mit alien Kiinsten <las Christentum nicht aus der Welt
schaffen. Wir konnen weder es selbst ungeschehen machen, noch was in
Folge des Christentums sich ereignet hat, jene groBte und tiefste Veran-
derung, von welcher die Welt jemals Zeuge gewesen. Wir miissen <las
Christentum anerkennen als seiend, so gut wir jede Formation der
Natur bestehen !assen miissen. Wir konnen es so wenig aus der Reihe
der Dinge ausstoBen, als wir eine der zahlreichen Pflanzenfamilien
ausstreichen konnen, obgleich es mehrere gibt, die wir fiir unsere Per-
son nicht eben vermissen wiirden, und deren Abwesenheit vielleicht
nicht einmal unserem Verstand als eine Liicke auffallen wiirde.«
Fiir den Verstand war, ist und bleibt <las Christentum eine Torheit.
Eine gottliche Torheit kann man schon darin sehen, daB Gott sich
iiberhaupt mit einer Welt eingelassen hat. Eine Torheit kann man
insbesondere in »Gottes Schwache fiir den Menschen« erkennen. Aber
gerade in dieser Schwache, meint Schelling, sei Gott starker als der
Mensch 1 7 • - Auf dieser Schwache des biblischen Gottes fiir den Men-
schen -er verbiindet sich mit ihm, er bestraft und liebt ihn und will selbst
von dem Geliebten wieder geliebt werden - beruht <las ganze anthropo-
theologische Schema christlichen Denkens mit all seinen metaphysi-
schen Konsequenzen und in seinen verweltlichten, sozialen und humani-
taren Formen, die schlieB!ich der Angriffspunkt fiir Kierkegaards Kritik
der »Christenheit« und fiir Nietzsches Antichristentum wurden. Die
Schwache Gottes fiir den Menschen ist aber auch <las positive Zentrum
von Hegels Religionsphilosophie: Mensch und Gott gehoren als endli-
cher und unendlicher Geist zueinander, im Unterschied zur auBer-
menschlichen Natur, die kein eigenes Verhalmis zum Absoluten habe,
weil sie nicht, wie der auf sich selber bezogene Geist, von sich wisse.
17 VI, S. 418; vgl. V, S. 318£.: Ein Franzose habe sich unterstanden zu sagen,
was man deutsch nicht nachsagen diirfe: Dieu est fou de l'homme. Weil die
Gottheit nur im Menschen ihr Ziel finde, darum sei ihr so vie! am Menschen
gelegen, daB der Mensch Gott nie vollig los werden konne. Andererseits konne
Gott nicht vom Menschen !assen und es sci in diesem Sinn ganz richtig, daB Gott
als solcher nur im Menschen existiere und nicht in der ganzen Welt. Zufolge
dieser Partnerschaft von Gott und Mensch sei dieser kein lokales und partielles
Wesen, sondern ein universales, und alle Potenzen des Universums waren dazu
bestimmt, im Menschen als ihrer letzten Einheit zusammenzugehen.
VI. Hegel
Hegel hat in seiner ersten Veroffentlichung von 1801 Die Differenz des
Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie zum Thema
gemacht und sich, ein Jahr hernach, mit Kant, Fichte und Jacobi ausein-
andergesetzt, um die »Reflexionsphilosophie der Subjektivitat« zu
iiberwinden und den durch die Aufkliirung zur Herrschaft gekomme-
nen Gegensatz von »Wissen und Glauben«, und damit den Zwiespalt
von Gott und Welt, aufzuheben. Eine Fortsetzung des Cartesischen
Dualismus von Welt (res extensa) und Mensch (res cogitans) schien ihm
ebenso unmoglich wie Schelling 1, der spiiter Hegel vorwarf, er habe den
Verstand der Aufkliirung durch bloBe Vernunft iibertreffen wollen,
anstatt sich wieder mit dem Alten und Altesten: der Natur und der
Urgeschichte des Mythos in Verbindung zu setzen. In einer friihen
Schrift von 1802 2 aus der Zeit der Zusammenarbeit mit Schelling hat
Hegel mit radikaler Entschiedenheit seine Gegenstellung zu Descartes
und zur ganzen nachcartesischen Bildung zusammengefaBt: »Gegen die
cartesische Philosophie [...], welche den allgemein um sich greifenden
Dualismus in der Kultur der neueren Geschichte unserer nordwestli-
chen Welt, - einen Dualismus, von welchem, als dem Untergange alles
alten Lebens, die stillere Umanderung des offentlichen Lebens der
Menschen, so wie die lautern politischen und religiosen Revolutionen
iiberhaupt nur verschiedenfarbige AuBenseiten sind, - in philo-
sophischer Form ausgesprochen hat, - muBte, wie gegen die allgemeine
Kultur, die sie ausdriickt, jede Seite der lebendigen Natur, so auch die
Philosophie, Rettungsmittel suchen; was von der Philosophie in dieser
Riicksicht getan worden ist, ist, wo es rein und offen war, mit Wut
behandelt worden, wo es verdeckter und verwirrter geschah, hat sich
der Verstand desselben um so leichter bemachtigt, und es in das vorige
dualistische Wesen umgeschaffen; auf diesen Tod haben sich alle Wis-
senschaften gegriindet, und was noch wissenschaftlich, also wenigstens
subjektiv lebendig an ihnen war, hat die Zeit vollends getotet; so daB,
wenn es nicht unmittelbar der Geist der Philosophie selbst ware, der in
dieses weite Meer untergetaucht und zusammengeengt die Kraft seiner
wachsenden Schwingen um so starker fiihlt, auch die Langeweile der
Wissenschaften - dieser Gebaude eines von der Vernunft verlassenen
Verstandes, der, was das Argste ist, mit dem geborgten Namen entwe-
der einer aufklarenden oder der moralischen Vernunft am Ende auch
die Theologie ruiniert hat - die ganze flache Expansion unertraglich
machen, und wenigstens eine Sehnsucht des Reichtums nach einem
Tropfen Feuers, nach einer Konzentration lebendigen Anschauens, und
nachdem das Tote lange genug erkannt worden ist, nach einer Erkennt-
nis des Lebendigen, die allein durch Vernunft moglich ist, erregen
miiBte.« Dem widerspricht nur scheinbar Hegels positive Beurteilung
von Descartes in den spateren Vorlesungen zur Geschichte der Philo-
sophie; denn die Bedeutung des von Descartes begriindeten Prinzips der
selbstbewuBten Subjektivitat besteht fiir Hegel nicht darin, daB die
»Substanz« nur »Subjekt« ist, sondern daB sie es »auch« ist: substan-
zielle Subjektivitat, die sich als Geist zu einer Welt des Geistes und der
Freiheit hervorbringt.
Einig waren Hegel und Schelling auch in ihrer kritischen Stellung
zur protestantischen Theologie, deren Begriffe damals durch Kant und
Fichte bestimmt waren3 • Das Obersetzen der religiosen »Vorstellun-
gen« in den »Begriff« der Philosophie und das philosophische Begreifen
der christlichen Dogmen war fiir Hegel um so mehr geboten, als die
meisten Theologen schon selber nicht mehr an die Hauptlehren des
Christentums (Schopfung und Siindenfall, Menschwerdung Gottes, Er-
losung und Verdammnis) glaubten. »Wenn ein groBer T eil des gebilde-
ten Publikums, ja viele Theologen, die Hand aufs Herz, sagen sollten,
ob sie jene Glaubenslehren fiir unumganglich notig zur ewigen Seligkeit
halten oder ob das Nichtglauben derselben ewige Verdammnis zur
Folge habe, so kann man wohl nicht zweifeln, was die Antwort sein
wird. Selbst ewige Verdammnis und ewige Seligkeit sind Worte, die in
guter Gesellschaft nicht gebraucht werden diirfen; solche Ausdriicke
gelten fiir d.QQT}'ta. Wenn man sie auch nicht leugnet, so ware man doch
geniert, sich dariiber zu erklaren. Und wenn man in Dogmatiken,
Erbauungsbiichern und dergleichen aus unserer Zeit gelesen hat, in
denen die Grundlehren des Christentums sollen dargelegt oder doch
3 Siehe Hegels Brief an Schelling von Ende Januar 1795 und Schellings Ant-
wort vom 4. 2. 1795.
Hegel 89
zugrunde gelegt sein, und man sollte urteilen, ob nun darin jene Lehren
ohne Zweideutigkeit und ohne Hintertiiren ausgesprochen sind, so darf
man auch nicht fragen, wie zu antworten sei. Wenn nun die Theologie
auf diese Lehren keine solche Wichtigkeit mehr legt oder sie doch in
solche Nebel gestellt sind, so fide damit das eine Hindernis fiir das
philosophische Begreifen der Dogmen weg. Die Philosophie kann sich,
wenn die Kirchenlehren so sehr in ihrem Interesse gesunken sind, in
Hinsicht au£ sie unbefangen verhalten. « Im iibrigen bediirfe es gar nicht
mehr der Zerstorung der christlichen Dogmen durch die Philosophie,
denn dieses Geschiift habe bereits die kritisch-historische Exegese be-
sorgt. Als kirchliche Theologie und als weltgeschichtliche Gestalt ist das
iiberlieferte Christentum an sein Ende gekommen. Hegel war schon um
1802 iiberzeugt, dais die Zeit »erfiillt« war, niimlich im umgekehrten
Sinne wie im Neuen Testament, d.h. in dem Sinn, dais der christliche
Glaube nicht mehr in einem urspriinglich religiosen Bewulstsein lebt,
seitdem er die Bibelkritik der Aufkliirung in sich aufgenommen hat und
nun der Rechtfertigung durch das verniinftige Denken der Philosophie
bedarf. »Das Salz ist dumm geworden«, und man kann sich fragen, was
denn noch von dem iiberlieferten Inhalt des christlichen Glaubens
wirklich fiir wahr gehalten und nicht nur aus Starrsinn weiter behauptet
wird.
Der Sache nach geht es in Hegels Religionsphilosophie vor allem um
ein Begreifen der Lehre von der Menschwerdung Gottes, denn dieses
Dogma beriihrt sich unmittelbar mit Hegels Metaphysik des endlichen
und unendlichen Geistes. Gott ist Geist und seine Wahrheit kann nur im
Geist begriffen werden; der Mensch ist seinem Wesen nach ebenfalls
Geist und hat daher einen wesentlichen Bezug au£ Gott. Mensch und
Gott gehoren zusammen, wogegen die Natur kein eigenes Verhaltnis
zum Geist als dem Absoluten hat. »Geist« ist keine bestiindige Sub-
stanz, sondern Selbstbewegung, eigene Tiitigkeit, die sich iiulsert oder
manifestiert, indem sie aus sich heraustritt und sich entzweit. Zu dieser
Einsicht in den Geist als »Spitze« der Subjektivitiit, zu dieser Zuspit-
zung des allgemeinen und unendlichen, gottlichen Geistes in einem
einzelnen Subjekt ist aber erst das Christentum gekommen. » Die Grolse
des Standpunktes der modernen Welt ist diese Vertiefung des Subjekts
in sich, dais sich das Endliche selbst als Unendliches weils und mit dem
Gegensatz behaftet ist, den es getrieben ist, aufzulosen. Die Frage ist
nun, wie er aufzulosen ist. Der Gegensatz ist: ich bin Subjekt, frei, bin
Person fiir mich; darum entlasse ich auch das Andere frei, das driiben ist
90 Gott, Mensch und Welt
und so das Andere bleibt. Die Alten4 sind zu diesem Gegensatz nicht
gekommen, nicht zu dieser Entzweiung, die nur der Geist ertragen
kann. Es ist die hochste Kraft, zu diesem Gegensatze zu kommen, und
Geist ist nur dies, selbst im Gegensatz unendlich sich zu erfassen.«
Die revolutioniire »Umkehrung«, die das Christentum bewirkt hat,
besteht darin, daB der Mensch nicht mehr als ein im Kosmos inbegriffe-
nes Wesen gilt, das im Unterschied zu den unsterblichen Gottem ein
Sterblicher ist, sondem gerade das Gottliche wird auf die Spitze des
SelbstbewuBtseins gestellt und Gott selbst wird vermenschlicht. Mit der
Menschwerdung Gottes tritt an die Stelle griechischer Kosmotheologie
christliche Anthropotheologie. »Die Griechen hatten Anthropomor-
phismus, ihre Gotter waren menschlich gebildet; ihr Mangel ist aber,
daB sie nicht anthropomorphistisch genug waren. Oder vielmehr die
griechische Religion ist einerseits zu vie!, andererseits zu wenig anthro-
pomorphistisch: zu vie!, indem unmittelbare Eigenschaften, Gestalten,
Handlungen ins Gottliche aufgenommen sind: zu wenig, indem der
Mensch nicht als Mensch gottlich ist, nur als jenseitige Gestaltung,
nicht als Diener und subjektiver Mensch.« Indem sich Gott in einem
einzelnen geschichtlichen Menschen geoffenbart hat, ist das ungeheure
Paradox ausgesprochen, daB nicht nur Jesus Christus, sondem der
Mensch iiberhaupt von gottlicher Naturist, daB gottliche und mensch-
liche Natur ihrem Wesen nach gleichartig sind: eine dialektische Identi-
tiit, in der Gott sein SelbstbewuBtsein im Menschen hat.
Indem sich Hegel die religiosen Vorstellungen in den Begriff iiber-
setzt, ist er so wenig »Atheist« wie es Kant, Fichte und Schellingwaren,
bzw. er ist es wie diese, weil er nicht an Gott glaubt, sondern ihn denkt.
Der Gott der Philosophen kann kein Gott der Frommigkeit und des
bloBen Glaubens sein. Hegel will »das logische Wesen Gottes« begrei-
fen, d. i. begreifen in welchem Sinn das Absolute Geist oder Logos ist. Er
kann deshalb sogleich im ersten Paragraphen der Encyclopiidie sagen,
daB die Philosophic ihren hochsten Gegenstand gemeinsam mit der
Religion habe, weil Gott und er allein die Wahrheit sei, welche frei
mache, so wie die Freiheit ihn wahr mache 5 • Die wahre Philosophic ist
selber schon Gottesdienst. »Soll niimlich Gott nicht erkannt werden, so
4 Die Unterscheidungder »modernen Welt« von den »Alten« betrifft hier, wie
meistens, den Unterschied von vor- und nachchristlich. Siebe auch Weltge-
schichte und Heilsgeschehen, S. 61£. [Siimtliche Schriften 2, S. 69].
5 Encyclopiidie der philosophischen Wissenschaften, § 382, Zus.; vgl. § 24,
Zus. 2.
Hegel 91
bleibt dem Geist als etwas, das ihn interessieren konnte, nur das Ungott-
liche, Beschriinkte, Endliche iibrig.« Eine Philosophie, die nur das
Endliche kennt, ist aber keine Philosophie, sondern bestenfalls Welt-
und Menschenkenntnis, festgefahren auf der »Sandbank des Zeitli-
chen« und seiner wechselnden Sorgen und Note. Doch bedarf es, um
sich zum Gottlichen zu erheben, keiner biblischen Geschichten, kirchli-
chen Dogmen und religiosen Gebriiuche, iiberhaupt keiner fremden
Autoritiit. Unmittelbar wendet sich Hegels spekulative Gotteserkennt-
nis aber nicht gegen die kirchliche Dogmatik, sondern gegen inhaltlose
Frommigkeit und die Verstandesphilosophie der Aufkliirung. Zwar
wiihnt sich die erstere der letzteren entgegengesetzt, sie ist aber nur
deren Kehrseite.
Die Erhebung zu Gott ist fiir Hegel schon mit dem Faktum des
Denkens gegeben. Tiere haben keine Religion, weil sie nicht denken
konnen 6 • Denken kann nur, wer zu den sinnlichen Dingen der Welt
einen Abstand hat und aus solcher Entfernung von dem unmittelbar
Gegebenen absehen oder abstrahieren kann. Wer denkt, erhebt sich
iiber das zufiillig Vorgegebene und geht iiber das hier und jetzt sinnfiillig
Vorliegende hinaus. Wer denkt, macht den Sprung ins Ober-sinnliche,
Abstrakte, Allgemeine, Geistige, das allem Einzelnen und Besonderen
zugrunde liegt. Tiere machen diesen Oberschritt nicht, sie verbleiben
innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung und Beobachtung ihrer niich-
sten Umwelt; sie denken weder Gott noch Welt, denn sie konnen sich
selbst nicht denken. Der Oberschritt vom sinnfiilligen Ausgangspunkt
zum iibersinnlichen Endpunkt ist aber kein logisches Schliefsen von
jenem auf diesen, als liefse sich Gottes Existenz aus der sichtbaren Welt
erschliefsen. Schon das Erdenken der Welt als Welt verlangt ein Ober-
schreiten aller empirischen Einzelheiten zu etwas abstrakt Allgemei-
nem. Das erste und letzte, absolut Allgemeine ist aber fur Hegel als
christlichen Denker nicht schon die alien gemeinsame Welt, sondern
Gott als der Geist der Welt. Die Rede vom Geist der Welt ist zweideutig:
sie kann bedeuten, dais Gott der Herr der Welt ist; sie kann aber auch
bedeuten, dais er dasselbe wie der Weltgeist ist, der sich in der Geschich-
te der Welt, d. h. in der »Weltgeschichte«, vollstiindig manifestiert und
expliziert. Obwohl Hegel zumeist das letztere meint, sind aber Gott und
Welt im Prinzip doch unterschieden. Er verwahrt sich deshalb gegen
den Vorwurf des Pantheismus. Denn wie sollte eine Philosophie, die
6 A.a.O. S50.
92 Gott, Mensch und Welt
behauptet, daB nur das Absolute oder Gott wahrhaft ist, pan- oder gar
a-theistisch sein? Die Welt der Naturist fur Hegels Philosophie des
absoluten Geistes geistlos, etwas »Zufallendes, Fallendes«, an und fiir
sich »Nichtiges«, ein »Aggregat von Endlichkeit« 7 • Angenommen, der
Erdkreis wiirde in einer groBen Katastrophe zugrunde gehen, so wiirde
auch das nicht den weltiiberlegenen, freien Geist des christlichen Men-
schen erschiittern diirfen 8 • Denn die Welt hat an ihr selbst kein wahr-
haftes, ewiges Sein9 • »Die Nichtigkeit der Welt« ist geradezu »dasBand
der Erhebung zu Gott«. Das Unbedingte ist aber vom Bedingten aus
nicht durch einen allmiihlichen Aufstieg zu erreichen, sondern nur
durch einen Schritt hiniiber, einen Sprung. Hegels absolute Philosophie
des Absoluten hat diesen Sprung von Anfang an gemacht und mit ihm
den Anfang der Philosophie gemacht. Zwar meine man gemeinhin, es
sei leichter, das Absolute oder Gott zu leugnen, als die Welt wegzuden-
ken, aber Gott, sagt Hegel, ist mehr als die ganze Welt der Natur, auch
mehr als bloB lebendig oder eine Weltseele, niimlich tiitiger Geist und
zwar unbedingter, absoluter, der »in allem, was im Himmel und auf
Erden ist«, nur danach strebt, sich selbst zu erkennen 10• Mit dieser
fundamentalen Voraussetzung, daB wahres Sein nur ein sich wissendes
ist, steht Hegel nicht nur in der Tradition der Cartesischen Philosophie
und der ihr folgenden idealistischen Ontologie des BewuBt-Seins, son-
dern innerhalb des christlichen Vorurteils, daB nur der von Gott und
sich selber wissende Mensch Gottes Ebenbild ist und Gott selbst weder
Welt noch Natur, sondern diese sein Werk: natura ars Dei. Indem sich
Hegel die Schopfungsgeschichte philosophisch zurechtlegt, wird die
Welt der Natur zum iiuBerlichen und endlichen Anderssein der absolu-
ten !dee und des unendlichen Geistes. Die Welt ist fiir Hegel als christli-
chen Denker nicht mehr ein ewiger griechischer Kosmos, der an ihm
selbst einen Logos hat, sondern wesentlich geistlos, weil sie nicht, wie
Gott und der Mensch, von sich weiK Dem entspricht auch, daB er die
im 18. Jahrhundert gebriiuchlich gewordene Beziehung der Philosophie
als » Weltweisheit« nicht anerkennt, sondern ihren Gegensatz zur Got-
13 Rechtsphilosophie, § 5, Zus.
Hegel 95
und der Geschichte hervor. Der Geist nimmt den Dingen die AuBerlich-
keit der Natur und versetzt sie in den Raum seiner Innerlichkeit, um
dann aus diesem, sich auBernd, hervorzugehen. Als philosophisches
BewuBtsein vollendet sich dieser dem Menschen natiirliche Geist zum
absoluten. Wissen, fur das es iiberhaupt nichts durchaus Anderes und
Fremdes, ihm auBerlich Entgegenstehendes gibt, weil es in allem, was
ist, das Geistige und somit sich selber weiK Dieser Glau be an die Macht
des Geistes, heiBt es am SchluB der Berliner Antrittsvorlesung, ist die
erste Bedingung des philosophischen Studiums. »Von der GroBe und
Macht des Geistes kann er nicht groB genug denken. Das verschlossene
Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, wekhe dem Mut des
Erkennens Widerstand leisten konnte, es muB sich vor ihm auftun und
seinen Reich tum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genus-
se bringen. «
Der Geist, dem sich alles erschlieBen muB und dem nichts widerste-
hen kann, ist nicht eine theoretische Eigenschaft des Menschen unter
andern, sondern sein Wesen und dieses ist nicht dasselbe wie die seit der
Aufklarung zur Herrschaft gekommene Vorstellung vom allgemein
Menschlichen. Hegel hat sich als letzter philosophischer Theologe mit
aller Scharfe gegen die Tendenz zur bloBen Vermenschlichung des
Menschen gewandt. Die »allmachtige Zeit und ihre Kultur« habe zwar
dazu gefiihrt, daB man darauf verzichte, Gott oder das Absolute zu
erkennen; ihr absoluter Standpunkt ist vielmehr »der Mensch und die
Menschheit«. Die Philosophie konne aber bei der gehaltlosen Idealitat
dieser empirischen Menschheit nicht stehenbleiben und »um der belieb-
ten Menschheit willen« auf das Absolute verzichten. Was man gemein-
hin den Menschen nennt, sei nur eine »fixierte Endlichkeit«, aber nicht
der »geistige Focus des Universums«. Das empirische und das absolute
lch sollen zwar iibereinstimmen, aber sie konnen es nicht, solange die
Philosophie des aufgeklarten Verstandes die spekulative Idee der Ver-
nunft in eine humane Form umgieBt. Das »perennierende Angedenken
an den Menschen« bewirke nur, daB das Wort Humanitat die Bedeu-
tung von dem bekomme, »was iiberhaupt platt ist«. Hegels Kritik an
der bloB humanen Bestimmung des Menschen hat zur positiven Vor-
aussetzung, daB erst die chrisdiche Religion als die absolute Religion
auch die absolute, d.i. geistige Bestimmung des Menschen hervorge-
bracht hat, namlich <lurch ihre Lehre von der Menschwerdung Gottes.
Und weil Christus als »Gottessohn« und zugleich »Menschensohn«
dem Menschengeschlecht iiberhaupt angehort und » keinem besonde-
96 Gott, Mensch und Welt
ren Stamm«, gibt es seitdem auch den allgemeinen und wahren, den
geistigen Begriff vom Menschen. »Die sonst so hochgebildeten Grie-
chen haben weder Gott in seiner wahren Allgemeinheit gewuBt, noch
auch den Menschen; die Gotter der Griechen waren nur die besonderen
Miichte des Geistes und der allgemeine Gott[...] war fiir die Athener
noch der verborgene Gott. So bestand denn auch fiir die Griechen
zwischen ihnen selbst und den Barbaren eine absolute Kluft, und der
Mensch als solcher war noch nicht anerkannt in seinem unendlichen
Werte und seiner unendlichen Berechtigung. [...] Die christliche Reli-
gionist die Religion der absoluten Freiheit und nur fiir den Christen gilt
der Mensch als solcher in seiner Unendlichkeit und Allgemeinheit. « So
ergibt sich aus Hegels Bestimmung des Menschen, daB ihm der endliche
Mensch noch keineswegs ein Problem war, weil die oberste lnstanz
seiner absoluten Philosophie des Absoluten eine mehr als bloB endliche
und menschliche war: erst »bei dem Namen des Unendlichen geht dem
Geiste sein Licht auf«. Er nahm noch in Anspruch, mit absoluter
GewiBheit zu wissen, was den Menschen zum Menschen macht, weil in
seinem Begriff vom absoluten Geist der christliche Gott, welcher Geist
ist, auf spekulative Weise inbegriffen war. Hegel beschlidst die eigent-
lich metaphysischen Bestimmungen des Menschen, die ihn noch auf
dem Standpunkt von etwas Unbedingten bestimmen, und nicht, wie
von Feuerbach an, anthropologisch auf dem bedingten Standpunkt des
endlichen Menschen. Erst mit diesem auf sich selber gestellten Men-
schen entsteht die moderne Problematik der Humanitiit.
Wenn aber der Mensch seinem allgemeinen Wesen nach gottlicher
Geist ist, welche Bedeutung kann dann fiir Hegel die gewohnliche,
humanitiire Vorstellung haben, wonach er nichts als ein Mensch ist?
Hegel verweist auf sie im § 190 der Rechtsphilosophie im Zusammen-
hang mit der Analyse des Geistes der biirgerlichen Gesellschaft. »Im
Recht ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das
Subjekt, in der Familie das Familienmitglied, in der biirgerlichen Gesell-
schaft iiberhaupt der Burger (als bourgeois)-hier auf dem Standpunkte
der Bediirfnisse ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch
nennt; es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in
diesem Sinn die Rede.« Mensch im menschlichen Sinn ist also nur der
Bourgeois, das Subjekt der Bediirfnisse, diese bloBe Besonderheit im
Vergleich zu seiner inneren Allgemeinheit. Vom Menschen im Sinne der
nachfolgenden Philosophie - van Feuerbach, Ruge, Marx, Stirner- ist
bei Hegel nur auf dem Standpunkt der burgerlichen Gesellschaft die
Hegel 97
Rede! Zwar hat Hegel den Begriff »Mensch iiberhaupt« und »als
sokher« auch auf dem Gebiete des Rechts und der Gesellschaft nicht
schlechtweg negiert, aber eigentlich anerkannt doch nur mit Riicksicht
auf den Menschen von biirgerlicher Berechtigung, und gerade darin
zeigt sich sein eminent realistischer Blick. Er sagt, es sei zwar jeder
Mensch zuallererst Mensch, wenn auch von verschiedener Rasse, Na-
tionalitiit, Glauben, Stand, Beruf, und dieses sein bloBes Menschsein sei
keineswegs eine flache, abstrakte Qualitiit. Das eigentlich Gehaltvolle
dieser Qualitiit bestehe aber darin, »daB durch die zugestandenen biir-
gerlichen Rechte [... ] das Selbstgefiihl, als rechtliche Personen in der
burgerlichen Gesellschaft zu gelten«, zustande komme, und auch die
»verlangte Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung«. Er ver-
wahrt sich jedoch ausdriicklich gegen eine Verabsolutierung dieser
Bestimmung, wekhe den Menschen als Menschen betrifft. Denn wenn
auch ein jeder dem andern gleichstehe, sofern er nur iiberhaupt als
»Mensch« gilt (und nicht nur als ltaliener oder Deutscher, als Katholik
oder Protestant), so werde doch dieses SelbstbewuBtsein »mangelhaft«,
wenn es sich - »etwa als Kosmopolitismus« - fixiere und dem offentli-
chen staatlichen Leben wie etwas Selbstiindiges und Grundlegendes
gegeniibertrete. Die allgemeine Wesensbestimmung des Menschen ist
und bleibt in Hegels philosophischer Theologie, daB er christlich ver-
standener Geist (Logos) ist und nicht bloB irdisch bediirftiger Mensch.
Dieser im christlichen Sinne onto-»logischen« Bestimmung des Men-
schen, die sein »Begriff« ist, wird untergeordnet, daB er als biirgerlich-
berechtigtes Subjekt von irdischen Bediirfnissen der »Vorstellung«
nach »Mensch« ist.
Die Unterschiede in der Bestimmung Gottes und des Menschen
betreffen von Descartes bis zu Hegel innermetaphysische Varianten
desselben christlichen Prinzips, d. i. einer anthropo-theologischen
Grundstellung. Gott und Mensch gehoren zueinander und stehen sich
prinzipiell niiher als Welt und Mensch. Die Welt der Naturist eine res
extensa (Descartes), ein physikalischer Mechanismus (Kant), ein sinn-
und zweckloser Umtrieb des Entstehens und Vergehens (Fichte), ein
ewiger Trieb zu sein, <lessen Umtrieb nicht aus und nicht ein weiB
(Schelling), ein Aggregat von Endlichkeit (Hegel), das nichts von sich
weiB. Die Welt der Naturist fiir Descartes wie fiir Hegel auBer uns, eine
AuBerlichkeit, niimlich im Verhiiltnis zur Innerlichkeit, des scio me
vivere, des cogito me cogitare, der moralischen Person, des sich selber
setzenden Ich, des fiir sich seienden Geistes. Und weil der Geist in
98 Gott, Mensch und Welt
Hegels System nicht au£ die endliche Subjektivitiit beschriinkt ist, son-
dern alles zwischen Himmel und Erde bestimmt, ist die Natur nur
begreifbar als EntauBerung und Selbstentfremdung der absoluten Idee
bzw. des universalen Geistes.
Der Geist hat zwar »fiir uns« die Natur zu seiner Voraussetzung,
deren Wahrheit und absolut Erstes ist aber der Geist14 • Fiir uns, d. h. fiir
unser unmittelbares und darum selber noch iiuBerliches BewuBtsein,
aber nicht seinem eigenen Begriff nach. In Wahrheit ist nicht die Natur
die Voraussetzung des Geistes, sondern das im voraus Gesetzte, weil
sich selbst Setzende, ist der ewig gegenwiirtige Geist alles Seienden, der
Logos der Ontologie, »vor der Erschaffung der Welt«. Nur zu seiner
»niichsten« Voraussetzung hat der Geist die Natur; zu seiner »ersten«,
urspriinglichen hat er sich selbst. Er ist die Wahrheit der Welt der
Natur, worin deren scheinbare Unmittelbarkeit, Selbstiindigkeit und
unermeBliche GroBe verschwindet. Die Encyclopiidie der philo-
sophischen Wissenschaften beginnt daher mit der Logik, um mit der
Philosophic des Geistes zu enden, zu der die Philosophie der Natur nur
den Obergang bildet. Der letzte Paragraph der Logik (Encyclopadie,
§ 244) handelt vom Obergang der logischen Idee zur Natur. Er ist ein
»EntschluB« im Sinn von SichaufschlieBen. Indem sich die Idee zur
Natur entschlieBt, bestimmt sie sich selbst zu etwas Anderem. Die
Naturist etwas Anderes als die Idee und sie ist anders, aber auch diese
Andersartigkeit ihres Seins ist ihr nicht selber zu eigen, sondern dem
EntschluB der Idee zuzuschreiben: sie ist deren Anderssein. Und die Idee
ist ihrerseits kein bloBes Ideal, das sein soil, aber nicht ist, sondern das
Allerwirklichste des Wirklichen, das in allem was ist Wirkende, es
Hervorbringende. Sofern aber die Idee nicht bewuBtlos produziert,
sondern sich selber weiB, ist sie »Geist«.
Es ist schon zu Hegels Lebzeiten herumgeriitselt worden, wie man
sich den EntschluB der Idee zur Natur denken soil. Schelling hat gespot-
tet, daB sich Hegels Idee aus Langeweile zu etwas Anderem entschlie-
Be15. Aber auch er hat die Natur aus einem »Prinzip« konstruiert, das
nicht in ihr selbst liegt und das Wort EntschluB im gleichen Sinn wie
Hegel gebraucht. Die Losung des Riitsels ist aber nicht weit zu suchen,
von sich entfernt und sich frei von ihr. Der einzelne Geist ist nur
insoweit grofs und frei als seine Naturverachtung grofs ist. « 16 Im glei-
chen Sinn sagt Hegel in der Einleitung zu der Vorlesung iiber Asthetik,
dafs das Kunstschone prinzipiell hoher stehe als die Schonheit der
Natur, weil diese nicht aus dem Geist geboren ist.
Hegel hat sich zwar die Positivitat der Schopfungsgeschichte in die
Idealitat des spekulativen Begriffs iibersetzt, aber ihre Konsequenzen
konnten nicht ausbleiben. Zu den entfernten Folgen der biblischen
Oberlieferung gehort aber nicht nur die Depotenzierung der Natur,
sondern auch die Potenzierung des Menschen, der als das einzige Eben-
bild Gottes eine absolute Sonderstellung im Ganzen des von Natur aus
lebendigen Seins erhalt. Die anthropologische Konsequenz der Philo-
sophie des absoluten Geistes ist die prinzipielle Verneinung des Gedan-
kens der Evolution, der erst durch Darwin seine wissenschaftliche
Begriindung erhielt, wahrend ihn Hegel nur durch Lamarck kannte. Im
Anschlufs an die Erorterung von Kants Kritik des teleologischen Gottes-
beweises stellt er sich die Frage: wie pafst die organische Natur zur
unorganischen, die eine vorgegebene Bedingung des Lebens zu sein
scheint17•
» Die Pflanzen, die Tiere, die Mensch en kommen erst von auBen
hinzu. Die Erde konnte bestehen ohne Vegetation, das Pflanzen-
reich ohne Tiere, das Tierreich ohne die Menschen; diese Seiten
erscheinen so als selbstandig fiir sich. Man will dies auch in der
Erfahrung aufzeigen. Es gibt Gebirge ohne alle Vegetation, Tiere
und Menschen; der Mond hat keine Atmosphare. Es ist auf ihm kein
meteorologischer Prozefs vorhanden, welcher die Bedingung fiir die
Vegetation ist; er besteht also ohne alle vegetative Natur u.dgl.m.
Solches Unorganische erscheint als selbstandig; der Mensch kommt
aufserlich hinzu. Man hat also die Vorstellung, daB die Natur in sich
so eine produzierende Kraft ist, die blind erzeuge, aus der die
Vegetation hervorgehe; aus dieser trete dann das Animalische.« 18
Die Existenz des Menschen ware dann etwas Hinzukommendes,
akzidentell, zufallig. Der Mensch konnte im Weltall auch fehlen, ohne
dais der Welt etwas abginge und die Existenz von zweckmiilsig einge-
richteten Lebewesen ware dann selbst ein Spiel des Zufalls, <lessen
Weiterbestand oder Aufhoren von den natiirlichen Lebensbedingungen
abhiingt. Hegel stellt demgegeniiber die Frage, ob es eine wahre »Be-
griffsbestimmung« sei, dais das Lebendige und der Mensch ein Beding-
tes und Abhiingiges ist, und verneint es. Die wahre Bestimmung aus
dem Begriff konne zwar nicht mehr der Erfahrung entnommen werden,
denn diese zeige sowohl in der Natur wie in der Geschichte ebenso viele
Hervorbringungen wie Untergiinge und unvollendete Zwecke; den-
noch sei es aber dem Menschen gewils, dais er sich zur »andern« Natur
als deren Zweck verhalte und diese nur die Bestimmung habe, Mittel fiir
ihn zu sein, so wie auch das Unorganische im Verhiiltnis zum Organi-
schen. Der Mensch sei kein Akzidenz im Ganzen der natiirlichen Welt
und die Wahrheit der organischen und unorganischen Natur und ihre
Beziehung sei ein »Drittes«, welches Geist ist und das man gewohnlich
Gott nenne. Hegel mulste infolge seines Ausgangs vom sich selber
setzenden Geist die Natur unterbestimmen, obwohl er auch schon im
organischen Lebewesen Kategorien des »Geistes« entdeckte: Selbster-
zeugung, Selbsterhaltung, Selbstgestaltung, Selbstunterscheidung.
Trotz dieser Einsicht in die selbstbeziigliche Struktur des Organischen
bleibt aber die Natur fiir Hegel <loch das »Andere« im Verhiiltnis zum
fiir sich seienden Geist. So heilst es schon in den Jenenser Entwiirfen zur
»Logik, Metaphysik und Naturphilosophie« (S. 189): »Die Natur, be-
stimmt als das Andere, hat ihr Leben an einem anderen als am Leben
selbst.« 19
Hegel hat den Gedanken der Evolution im voraus entschieden
abgewiesen, weil er mit der Voraussetzung des anthropo-theologischen
Schemas unvereinbar ist. Es schien ihm, ebenso wie Kant, Fichte und
Schelling, gewils, dais sich der Mensch zur »andern Natur« als deren
Zweck verhalte, weil er im Unterschied zu alien anderen Lebewesen
gottlichen Wesens sei. Die Frage, woher Hegel diese Gewilsheit hatte,
19 Vgl. Logik, ed. Lasson I, S. 105: »Solches seiner Bestimmung nach Andere
ist die physische Natur; sie ist das Andere des Geistes; diese ihre Bestimmung ist
so zuniichst eine bloBe Relativitiit, wodurch nicht eine Qualitiit der Natur selbst,
sondern nur eine ihr iiuBerliche Beziehung ausgedriickt wird. Aber indem der
Geist das wahrhafte Etwas, und die Natur daher an ihr selbst nur das ist, was sie
gegen den Geist ist, so ist, insofern sie fur sich genommen wird, ihre Qualitiit
eben dies, das Andere an ihr selbst, das AuPer-sich-Seiende (in den Besrimmun-
gen des Raumes, der Zeit, der Materie) zu sein.« Vgl. Encyclopiidie, S249.
102 Gott, Mensch und Welt
laBt sich nur mit Riicksicht au£ die biblische Tradition beantworten, die
uns seit zwei Jahrtausenden eingepragt hat, daB Gott die Welt um des
Menschen willen geschaffen habe und den Menschen als sein Ebenbild.
Wenn aber der christliche Gott, welcher Geist ist, als der maBgeben-
de Bezugspunkt fiir die Bestimmung von Welt und Mensch ausfallt und
nur noch in den Begriffen einer iiberlebten Meta-physik weiter geistert,
dann riickt an die Stelle Gottes wieder die Welt der Natur und eserhebt
sich von neuem die alte Frage nach der Natur des Menschen und damit
nach dem Zusammenhang und Unterschied von Tier, bzw. Lebewesen,
und Mensch - nun aber nicht mehr innerhalb eines gottlichen Kosmos,
sondern in einer gottlos gewordenen, nachchristlichen Welt. Der Ent-
wicklungsgedanke, der im neunzehnten Jahrhundert durch Darwin das
gesamte bisherige Denken iiber den Menschen revolutioniert hat, gibt
zwar keine eindeutige Antwort au£ die Frage nach Herkunft und Wesen
des Menschen, aber er hat den wissenschaftlich erprobten Boden berei-
tet, au£ dem wir nun alle- auch christliche Meta-physiker- stehen. Wer
heute denkt, kann von Darwin sowenig wie von Marx, Freud und
Einstein absehen.
Darwin hat seinem 1859 erschienenen Werk On the origin of
species by means of natural selection drei Leitspriiche vorangesetzt. Der
erste (aus Whewell) besagt, daB man im Hinblick au£ die natiirliche
Welt mindestens so weit gehen konne, »that events are brought about
not by insulated interpositions of Divine power, exerted in each parti-
cular case, but by the establishment of general laws«. Der zweite (aus S.
Butler) besagte, daB die einzig bestimmte Bedeutung von »natiirlich«
die von »stated, fixed, or settled« sei, wogegen das Obernatiirliche oder
Wunderbare nicht kontinuierlich, sondern je einmalig wirke. Der dritte
stammt aus F. Bacons Advancement of Learning: » To conclude, there-
fore, let no man out of a weak conceit of sobriety, or an ill-applied
moderation, think or maintain, that a man can search too far or be too
well studied in the book of God's word, or in the book of God's works;
divinity or philosophy; but rather let man endeavour an endless pro-
gress or proficience in both.«
Seine wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit veranlaBte Darwin im-
mer wieder zu zogern, die Ergebnisse seiner Lebensarbeit zusammenzu-
fassen und aus ihnen die letzten Folgerungen fiir dasSerstandnis der
Herkunft des Menschen zu ziehen, solange er sich nicht gegen alle nur
denkbaren kritischen Einwande sichern konnte. Als ihm die Verander-
lichkeit der Arten allmahlich zur GewiBheit wurde, war ihm zumute, als
Hegel 103
habe er einen »Mord« begangen. Dag der Mensch von den allgemein
wirkenden Gesetzen der Natur nicht ausgenommen sein kann, war ihm
zwar als Naturforscher schon immer klar gewesen, aber er wollte die
offentliche Behandlung dieser Frage vermeiden, weil ihm »dieses
hochste und interessanteste Problem« zu sehr von religiosen Vorurtei-
len umgeben schien. In seiner Autobiographie schreibt er: »Sobald ich
im J ahre 183 7 oder 3 8 iiberzeugt war, dag Arten veriinderliche Produk-
te seien, konnte ich den Glauben nicht vermeiden, dag der Mensch
denselben Gesetzen unterworfen sei. Entsprechend sammelte ich Noti-
zen iiber die Frage zu meiner eigenen Befriedigung und lange Zeit nicht
mit der Absicht, sie zu veroffentlichen. Obgleich in der Entstehung der
Arten die Herleitung einer besonderen Art nirgends diskutiert wird,
hielt ich es doch fiir das beste, damit kein ehrlicher Mensch mich
beschuldigen konne, ich verheirnlichte rneine Ansichten, dem Werk
beizufiigen, dag Licht auf den Ursprung des Menschen und auf seine
Geschichte fallen wiirde. « In einem Brief schreibt er: »In Bezug auf den
Menschen bin ich sehr weit entfernt, jemand meine Ansicht aufzudriin-
gen, aber ich halte es fiir unehrenhaft, meine Meinung vollig zu verber-
gen. « Auf den Menschen beziigliche Stellen wurden im ersten Entwurf
zur Entstehung der Arten gestrichen und es blieb nur der Satz, dag von
hier aus auch auf die Geschichte des Menschen Licht fallen wiirde- und
auch dieser Satz wurde vom deutschen Obersetzer weggelassen! Erst
1868 begann Darwin mit der Niederschrift des Werkes iiber die Ab-
stammung des Menschen, nachdem er zuvor vergeblich versucht hatte,
sein reiches Material von andern Gelehrten bearbeiten zu lassen. Das
Werk erschien schliegJich 1871, als Darwin fiinfundsiebzig Jahre alt
war. In Deutschland, und weit dariiber hinaus, hat der heute zu Unrecht
wegen seiner W eltriitsellosung beliichelte Ernst Haeckel am meisten zur
Verbreitung von Darwins Ideen und Entdeckungen beigetragen.
Die revolutioniire Bedeutung von Darwins ungewohnlich vielseiti-
gen Forschungen und Entdeckungen auf fast alien Gebieten der Natur
ist unter dem popular gewordenen Schlagwort »Darwinismus« dem
offentlichen Bewugtsein entschwunden, zumal sich auch die Theologen
alsbald bereit fanden, den biblischen Glauben an die Schopfung des
Menschen nach dem Ebenbild Gottes mit der Deszendenztheorie fiir
vereinbar zu halten. »Hundert Jahre Evolutionsforschung« 20 haben
Mensch und Welt keine von Gott geschaffenen Kreaturen sind und die
Idee der Schopfung dennoch weiter besteht, dann wird der Mensch sich
selbst und seine Welt durch schopferische Arbeit hervorbringen wollen.
»Indem aber fur den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte
Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des Menschen
durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur fiir den Men-
schen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von
seiner Geburt: durch sich selbst«. Die Frage nach einem schopferischen
Wesen vor der Welt der Natur und uber dem Menschen wiirde deren
Unwesentlichkeit implizieren und »ist praktisch unmoglich gewor-
den «. »Die generatio aequivoca ist die einzige praktische Widerlegung
der Schopfungstheorie«. 1 Weshalb wird aber die Frage nach dem Wo-
her von Welt und Mensch trotzdem noch immer theoretisch gestellt?
Weil die Selbstiindigkeit des Menschen nur dann radikal ware, wenn er
sich selbst auch sein Dasein verdankte, und einem solchen »Durchsich-
selbstsein « widersprechen die handgreiflichsten Erfahrungen, wie z. B.
die, daB jeder Mensch durch andere Menschen erzeugt wird und diese
wieder durch andere. Die »Schopfung« ist deshalb eine sehr schwer aus
dem populiiren BewuBtsein zu verdriingende Vorstellung, obwohl die
Schopfung der Erde durch die Geognosie, und die Erschaffung des
Menschen durch die Evolutionstheorie einen gewaltigen Stofs erlitten
haben. Zu fragen, wie es iiberhaupt zur Welt der Natur und zum
Menschen kam, impliziert eine Abstraktion von ihrer faktischen Exi-
stenz, d. h. man muB sie fiktiv als nichtseiend denken, um sie sodann als
seiend beweisen zu konnen. »Gib deine Abstraktion auf, so gibst du
auch deine Frage auf, oder willst du an deiner Abstraktion festhalten, so
sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als nichtsei-
end denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du doch auch Natur
und Mensch bist. Denke nicht, £rage mich nicht, denn sobald du denkst
und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des
Menschen keinen Sinn« -es sei denn, man wolle wie Max Stimer alles
in Nichts zuriickverwandeln, um sich einzig selber als schopferisches
Ich zu behaupten.
Im Gegensatz zur philosophischen Theologie, deren Prinzip das
Unendliche war, fordert Feuerbach fiir die Philosophie der Zukunft die
»wahre Position« der Endlichkeit. Der Anfang der wahren Philosophie
sei darum nicht mehr Gott oder das Absolute, sondern der endliche,
sterbliche Mensch. »Alie Spekulation iiber das Recht, den Willen, die
Freiheit, die Personlichkeit ohne den Menschen, auBer dem oder gar
iiber dem Menschen ist eine Spekulation ohne Einheit, ohne Notwen-
digkeit, ohne Substanz, ohne Grund, ohne Realitiit. Der Mensch ist die
Existenz der Freiheit, die Existenz der Personlichkeit, die Existenz des
Rechts. Nur der Mensch ist der Grund und Boden des Fichteschen Ichs,
der Grund und Boden der Leibnizschen Monade, der Grund und Boden
des Absoluten.« Der Name »Mensch« bedeutet zwar insgemein nur den
Menschen mit seinen Bediirfnissen, Empfindungen und Gesinnungen,
den Menschen als Person im Unterschied von seinem Geist, und man
unterscheidet daher, was jemand »als Mensch« ist, von dem, was er
z.B. als Denker, Kiinstler, Richter und dergleichen, iiberhaupt seinen
offentlichen Qualitiiten nach ist. Indem aber Hegel diese Absonderung
der Eigenschaften des Menschen vom Menschsein als solchem theore-
tisch fixierte, hat er abstrakte Qualitiiten verabsolutiert. Der funda-
mentalen Bedeutung des Menschseins entsprechend kritisiert Feuer-
bach Hegels partikulare Bestimmung des Menschen. Er greift die vor-
hin zitierte Definition aus der Rechtsphilosophie auf und an der Stelle,
wo Hegel sagt, es sei eigentlich erst innerhalb der biirgerlichen Gesell-
schaft vom Menschen »in diesem Sinn« die Rede, fiihrt er polemisch
fort: also handle es sich auch dort, wo die Rede ist von der rechtlichen
»Person«, vom moralischen »Subjekt« und vom »Familienglied«, in
Wahrheit immer um ein und denselben Menschen, nur in einem jeweils
veriinderten Sinn. Denn es sei doch eine wesentliche Eigenschaft des
Menschen, daB er als dieser und jener bestimmt sein kann. Das Subjekt
aller nur moglichen Priidikate ist und bleibt der Mensch, wie er leibt
und lebt.
Was aber diesen Menschen zum Menschen macht, was den Gehalt
der emanzipierten und verselbstiindigten Humanitiit eigentlich aus-
macht, das vermochte Feuerbach mit seinem abstrakten Prinzip vom
konkreten Menschen iiber sentimentale Redensarten hinaus nicht zu
entwickeln. Mit Recht hat Friedrich Engels in seiner Schrift iiber Feuer-
bach die Bemerkung gemacht: »Derselbe Feuerbach, der auf jeder Seite
[...] Versenkung ins Konkrete [... ] predigt, er wird durch und durch
abstrakt, sowie er auf einen weiteren als den bloB geschlechtlichen
Verkehr zwischen den Menschen zu sprechen kommt. Dieser Verkehr
bietet ihm nur eine Seite: die Moral. Und hier frappiert uns wieder die
erstaunliche Armut Feuerbachs verglichen mit Hegel. Dessen Ethik
oder Lehre von der Sittlichkeit ist die Rechtsphilosophie und umfaBt:
108 Gott, Mensch und Welt
Art, die den Menschen gemeinhin zum Menschen macht, wenn sein
allgemeines Wesen nur noch darin besteht, daB er ein »Subjekt der
Bediirfnisse« ist, das sich seine Welt durch Arbeit hervorzubringen hat.
Gegeniiber dieser ganzen, biirgerlich-proletarischen Welt hat Stirners
verzweifelter Leichtsinn »sein' Sach' auf Nichts gestellt«, um den sich
noch immer wesenhaft vorkommenden Menschen durch sein blankes
kh zu ersetzen.
Stimer will grundsatzlich zeigen, daB die Erhebung des Menschen
zum hochsten Wesen auch nur eine letzte Verkleidung des christlichen
Glaubens an ein Gottmenschentum ist. »Der Mensch ist dem Menschen
das hochste Wesen - sagt Feuerbach. Der Mensch ist nun erst gefunden
- sagt Bruno Bauer. Sehen wir uns dieses hochste Wesen und diesen
neuen Fund genauer an«, heiBt das Motto zum ersten Abschnitt: »Der
Mensch«, wahrend der zweite vom »Ich« handelt.
Zwar hat sich der christliche Gott, welcher Geist ist, allmahlich
verfliichtigt, niimlich zum »Geist der Menschheit«. In Wirklichkeit
kehrt aber in diesem vollig vermenschlichten Christentum sein ur-
spriinglicher Anfang wieder, namlich der Mensch schlechthin, welcher
als Christus der iibermenschliche Anfang und das Ziel der Geschichte
war. Je mehr sich aber der Anspruch auf ein hochstes Wesen in den
Menschen als solchen verlegt, desto mehr muB »Ich« entdecken, daB
mir dieser absolute Mensch ebenso fremd bleibt wie einst der absolute
Gott, welcher Geist ist.
Was tut aber das kh, seitdem auch der Mensch gestorben ist? Sein
Tun ist nichts anderes als ein jeweiliges »Vertun« und Verwerten seiner
selbst und der ihm zu eigenen Welt. Denn »meine« Aufgabe ist nicht,
<las Allgemein-Menschliche zu realisieren, sondern mir selbst zu genii-
gen. Als kh hat der Mensch iiberhaupt keinen »Beruf« und keine
»Bestimmung« mehr, sondern er »ist«, was er jeweils sein kann, nicht
weniger und nicht mehr. Im Einzigen kehrt der Eigner in sein »schopfe-
risches Nichts« zuriick, aus welchem er geboren wird. »Stell' ich auf
mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem verganglichen
[... ] Schopfer seiner, der sich selbst verzehrt«.
Feuerbach, Bauer und Marx haben den Menschen herstellen wollen
und den wirklichen ignoriert- denn wirklich ist nur der Mensch, wie er
leibt und lebt, hier und jetzt, als dieser und jener. Sie alle glaubten noch
wie die Pfaffen der franzosischen Revolution an die Wahrheit des
Menschen und handelten daher nach dem Grundsatz, den Menschen
die Kopfe abzuschneiden, um dem Menschen als solchem zu dienen.
112 Gott, Mensch und Welt
Der Geist, von dem diese Kritiker des Geistes besessen sind, ist zwar
kein absoluter und heiliger mehr, sondem der Geist der Humanitiit,
aber diese hochst allgemeine Humanitiit ist vom wirklichen Ich so
verschieden wie die allgemeine Idee von der einzelnen, nichtigen Exi-
stenz, die ich je selbst bin.
Dieses nihilistische Ich muB zwar den Vertretem des allgemeinen
Menschen als ein egoistischer »Un-mensch« erscheinen, in Wahrheitist
aber gerade der je eigene Egoist auch jedermann, weil jeder sich selbst
iiber alles geht. Stimer »triiumt« nicht mehr von der Freiheit und
Emanzipation, er »entschlieBt« sich zur Eigenheit. Als je eigenes Ich lebt
es weder im biirgerlichen Staat noch in der kommunistischen Gesell-
schaft, sondem im »Verein« der Egoisten. Nur sie sind, gerade durch
ihre Unvergleichlichkeit, seinesgleichen. Das »Ich « ist das nichtige Ende
der christlichen Humanitiit, deren letzter Mensch ein »Unmensch « ist,
so wie ihr erster ein »Dbermensch« war2 • Das Ich »lebt sich aus«,
unbesorgt um die »fixe Idee« von Gott und der Menschheit.
Die Emanzipation des Menschen zum Menschen, wie sie Feuerbach
und Marx und, sich iiberschlagend, Stimer entworfen haben, beinhaltet
negativ die Befreiung von Gott und dem Gottmenschen, die bis zu Hegel
unter dem Titel endlicher und unendlicher Geist die christliche Idee
vom Menschen bestimmt haben 3 • Marx glaubte mit seinem Entwurf
einer kommunistischen Weltgesellschaft den Atheismus als Negation
Gottes hinter sich gebracht zu haben. Er iibemahm von Feuerbach
dessen Religionskritik als ein fertiges Resultat, denn der wissenschaftli-
che Sozialismus bediirfe nicht mehr einer Vermittlung der Position des
Menschen durch die Negation Gottes. »Er ist positives, nicht mehr
durch die Aufhebung der Religion vermitteltes SelbstbewuBtsein.« Der
Gott losgewordene Mensch der kommunistischen Gesellschaft ist als
Negation der Negation die wahre Position und fiir die niichste ge-
schichtliche Entwicklung der Menschheit ein notwendiges Moment der
Emanzipation des Menschen zum Menschen. Eigentlich handelt es sich
dabei schon nicht mehr um einen Akt der Emanzipation (von etwas
anderem), sondem um die Wiedergewinnung des sich entfremdeten
noch ein »frommer«, der nur das »Subjekt«, d. i. Gott, beseitigt, <lessen
Priidikate aber in ihrer menschlichen Bedeutung beibehiilt. »Ein wahrer
Atheist«, sagt Feuerbach, »d.h. ein Atheist im gewohnlichen Sinne, ist
daher auch nur Der, welchem die Priidikate des gottlichen Wesens, wie
z. B. die Liebe, die Weisheit, die Gerechtigkeit Nichts sind, aber nicht
Der, welchem nur das Subjekt dieser Priidikate Nichts ist. Und keines-
wegs ist die Verneinung des Subjekts auch notwendig zugleich die
Verneinung der Priidikate an sich selbst.« Feuerbach war also kein
»gewohnlicher« Atheist, bzw. er war es, niimlich sofern der Atheismus
fur gewohnlich gerade das ist, als was ihn Feuerbach ausgibt: ein
Bestehenlassen der christlichen Wertpriidikate, unter Abstraktion von
ihrem Subjekt. Erst Nietzsche hat es gewagt, die Moralitiit der gelten-
den Moral und den Wert unserer bisherigen, christlichen Werte und
also auch die» Priidikate« in Frage zu stellen. Er war so konsequent, mit
dem Tod des christlichen Gottes auch den Untergang der zu ihm gehori-
gen Moral zu verkiinden und die weltlichen Metamorphosen des »Ia-
tenten « Christentums zu bekiimpfen, um jenseits von Gut und Bose zu
denken. »Die Heraufkunft des christlichen Gottes [... ] hat [... ] das
Maximum des Schuldgefiihls auf Erden zur Erscheinung gebracht.
Angenommen, daB wir nachgerade in die umgekehrte Bewegung einge-
treten sind, so diirfte man [...] aus dem unaufhaltsamen Niedergang
des Glaubens an den christlichen Gott ableiten, daB es jetzt bereits auch
schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen SchuldbewuBts-
eins giibe; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, daB der vollkommene
und endgiiltige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen
Gefiihl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, losen
diirfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehoren zueinan-
der. «6 Das »Hochste«, an dem sich der Mensch bemiBt, ist nicht mehr
Gott, sondern der »Dbermensch«, der »von dem Erloser erlosen« will,
indem er die ewige Wiederkehr einer sich immer wieder wollenden Welt
lehrt. Es ist - bei allem Unterschied des geistigen Ranges, des philo-
sophischen Horizonts und der Intensitiit - dasselbe epochale BewuBt-
sein, das Nietzsches und Feuerbachs Kritik des Christentums bestimmt.
Feuerbach erkliirt 1842: Das Christentum ist negiert, selbst von denen,
die noch an ihm festhalten und sich zugleich dariiber hinwegtiiuschen,
daB weder die Bibel noch die symbolischen Bucher und Kirchenviiter
mehr als das MaB des Christlichen gelten. Es ist negiert im Leben und in
der Wissenschaft, in der Kunst und Industrie, »weil die Menschen sich
das Menschliche angeeignet haben, so dais dem Christentum alle Oppo-
sitionskraft genommen ist«. Wenn aber praktisch der Mensch und die
Arbeit an die Stelle des Christen und des Gebetes getreten ist, dann muls
auch theoretisch das menschliche Wesen an die Stelle des gottlichen
treten. Das Christentum ist aus dem alltiiglichen Leben der Menschen,
reduziert au£ den Sonntag, verschwunden, weil es nichts weiter mehr als
»eine fixe Idee« ist, »welche mit unsern Feuer- und Lebensversiche-
rungsanstalten, unsern Eisenbahnen und Dampfwagen, unsern Pinako-
theken und Glypotheken, unsern Kriegs- und Gewerbeschulen, unsern
Theatern und Naturalienkabinetten im schreiendsten Widerspruch
steht« 7 • Nietzsche schreibt 1888: »Wohin kam das letzte Gefiihl von
Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsere Staatsmiinner sogar
[...] sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehen? [... ]
Wen verneint denn das Christentum? was heilst es ,Welt'? Dais man
Soldat, dais man Richter, dais man Patriot ist; dais man sich wehrt; dais
man auf seine Ehre halt; dais man seinen Vorteil will; dais man stolz ist
[... ]. Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur Tat wer-
dende Wertschiitzung ist heute antichristlich: was fiir eine Mi/Jgeburt
von Falschheit muls der moderne Mensch sein, dais er sich trotzdem
nicht schamt, Christ noch zu heilsen!« 8
Nietzsche und Feuerbach waren sich auch in der Oberzeugung einig,
dais sich die Epochen der Menschheit vor allem durch religi6se Veran-
derungen unterscheiden und dais sich die eindeutige Tendenz unserer
Epoche im Fortschritt zum »wissenschaftlichen Atheismus« als der
einzig redlichen Denkweise bekunde. Feuerbach beginnt seine Auf-
zeichnung iiber »Die Notwendigkeit einer Veriinderung« mit dem Satz,
dais das »Herz« der Menschheit die Religion sei. Es £rage sich also, ob
wir bereits in dieser Beziehung eine Revolution erlebt haben. Er antwor-
tet: »Ja! Wir haben kein Herz, keine Religion mehr.« Es gibt kein
Christentum mehr, wenngleich man die Negationen des Christentums
noch fiir Christentum ausgibt. Hegels Religionsphilosophie ist der
letzte grolse Versuch, der gemacht wurde, um den Gegensatz von Chri-
stentum und Heidentum, von christlicher Theologie und griechischer
Philosophic doppelsinnig aufzuheben. In Hegel kulminiert die Zwei-
deutigkeit der neueren Zeit, welche die Negation des Christentums mit
sondern »ganze Teile der Erde« konnten sich »dem bewulsten Experi-
mentieren weihen «. Geschichtlich schwebten ihm dabei die grolsen
Entdecker und Experimentatoren der Renaissance vor, wagende und
versuchende Geister wie Leonardo da Vinci und Kolumbus, mit dem er
sich oftmals selber verglich. Im selben Sinne nennt Nietzsche auch die
neuen Philosophen »Versuchende«, die sich aufs Ungewisse hin erpro-
ben, »um zu sehen, wie weit man damit kommt. Gleich dem Schiffer au£
unbekanntem Meere«. »Eine neue Gartung von Philosophen kommt
herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefahrlichen Namen zu
taufen. So wie ich sie errate [... ] mochten diese Philosophen der Zu-
kunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher
bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch,
und, wenn man will, eine Versuchung. « Als ein Versuchender ist Nietz-
sche-Zarathustra stets unterwegs, ein »Wanderer«, der verschiedene
Wege versucht und begeht, um zur Wahrheit zu kommen. »Auf vielerlei
Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit [...]. Und ungern nur £rage
ich stets nach Wegen [...]. Lieber fragte und versuchte ich die Wege
selber. Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen.« Versuchsweise
nimmt Nietzsches Experimentalphilosophie die Moglichkeit des grund-
siitzlichen Nihilismus vorweg - um zum Umgekehrten, dem ewigen
Kreislauf des Seins, hindurchzukommen.
»Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt
versuchsweise selbst die Moglichkeiten des grundsiitzlichen Nihilism us
vorweg: ohne dais damit gesagt ware, dais sie bei einer Negation, beim
Nein, bei einem Willen zum Nein stehenbliebe. Sie will vielmehr bis
zum Umgekehrten hindurch - bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur
Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl -, sie will den
ewigen Kreislauf: dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der
Verknotung. Hochster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann:
dionysisch zum Dasein stehn -: meine Formel dafiir ist amor fati. «
Diesen Experimentalcharakter seiner Philosophie hat Nietzsche
von seinen ersten »Versuchsjahren« an bis zur Lehre von der ewigen
Wiederkehr festgehalten; auch sie ist noch ein »letzter Versuch mit der
Wahrheit« und Dionysos philosophos selbst ein »Versucher-Gort«.
Dieser Gott, in dessen Namen Nietzsche in seinen letzten Schriften
spricht, bezeichnet scheinbar die Epiphanie eines griechischen Gortes,
in Wirklichkeit kennzeichnet er die wiedergewonnene Welt als eine
gortlich-vollkommene, »dionysische Welt«, wie sie vor dem Christen-
tum war: nicht von einem aulserweltlichen Gort um des Menschen
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 119
willen erschaffen, sondern ewig von ihr selbst her bestehend, bestandig
immer wieder entstehend und vergehend.
Nietzsche hat sich schon vor einem Jahrhundert (1863), mit neun-
zehnJahren in einer autobiographischen Skizze die entscheidende Frage
nach dem alles Umfassenden gestellt: ist es Gott oder die Welt? »Mein
Leben« beginnt mit dem denkwiirdigen Satz: »lch bin als Pflanze nahe
dem Gottesacker, als Mensch in einem Pfarrhaus geboren.« Es endet
mit der Feststellung, dais es Zeit werde, sich nicht mehr von den
Ereignissen leiten zu !assen, sondern selbst die Ziigel zu ergreifen und in
das Leben hinauszutreten. »Und so entwachst der Mensch allem, was
ihn einst umschlang; er braucht nicht die Fesseln zu sprengen, sondern
unvermutet [... ]fallen sie ab; und wo ist der Ring, der ihn endlich noch
umfalst? Istes die Welt? lstes Gott?« Nietzsche entschied sich gegen den
biblischen Gott und fiir den »grolsen Ring« der Welt, der auch den
Menschen mitumfalst, und er entschied sich damit zugleich gegen die
christlich-platonische Meta-physik oder »Hinterwelt« .
Schon als Schuler hatte Nietzsche das Problem seines Lebens und
Denkens im Sinn, !angst ehe er den Antichrist mit dem Datum abschlols:
»Gegeben am Tage des Heils, am ersten Tag des Jahres Eins (am
30. September 1888 der falschen Zeitrechnung)«. Er war zu der Uber-
zeugung gekommen, dais die christliche Zeitrechnung mit einem »Ver-
hangnis «, einem »dies nefastus« beginnt und dais man heute, nach
seinem letzten Tag, neu beginnen miisse, um sich wieder ins Rechte zu
denken und die Wahrheit von Welt und Mensch zuriickzugewinnen.
Die zwei Schiileraufsatze des Achtzehnjahrigen iiber »Fatum und Ge-
schichte« und »Willensfreiheit und Fatum« eroffnen den Weg, auf dem
Nietzsche zu seinem Ziel ging. Beide enthalten das Wort »Fatum«; das
eine Mal auf Geschichte bezogen, das andere Mal auf die Freiheit des
Wollens, weil es Geschichte nur gibt, wo Menschen handeln und etwas
wollen. Das Fatum verweist, im Unterschied zur Freiheit der Willkiir,
auf ein naturnotwendiges So-und-nicht-anders-Sein, welches den Wil-
len notigt. Als eine den Willen notigende Notwendigkeit bezieht sich
das Fatum auf die Geschichte menschlichen Wollens; an und fiir sich ist
es aber dem Zugriff des Menschen entzogen. Das Fatum gehort in den
Bereich der Natur, die so ist, wie sie ist und nicht anders sein kann. Das
in dem verbindenden »und« der beiden Titel beschlossene Problem
betrifft also das fragliche Verhaltnis der Geschichte menschlichen Wol-
lens zur naturnotwendigen Fatalitat im Ganzen der physischen Welt,
innerhalb derer es Mensch, Wille, Geschichte gibt. Was Nietzsche, der
120 Gott, Mensch und Welt
spricht. Der gehorsame Geist, der nicht seinen Eigenwillen, sondern den
Willen Gottes will, verehrt das Fremde und ertriigt geduldig das
Schwerste. Zurn Schwersten gehort es sich zu erniedrigen, um seinem
Hochmut wehe zu tun und seine T orheit leuchten zu !assen, um seiner
Weisheit zu spotten. So beladen eilt das Kamel in die Wiiste, wo der
Geist zum Lowen wird, der alle Ehrfurcht vor Gott und einem fremden
Herrn verzehrt, um sich in seiner eigenen Wiiste die Freiheit zu sich
selbst zu erbeuten. Er verwandelt das fremde »Du sollst« des verehren-
den Glaubens in ein eigenes »Ich will« und wird Herr seiner selbst,
indem er sich selbst befiehlt, was er will. Aber neue Werte schaffen, das
vermag auch der Lowe nicht. Er kann sich nur Freiheit schaffen zu
neuem Schaffen, durch sein Nein zu Gott und zur Pflicht, die ihm
sagten: »Du sollst«. Die letzte und schwerste Verwandlung vom Ich will
zum Ich bin des Weltenkindes ist ein »Neubeginnen «, eine »erste Bewe-
gung« ohne Anfang und Ziel, ein »aus sich rollendes Rad« 4 und im
Verhiiltnis zum Wollen, das sich Zwecke vorsetzt, ein »Spiel«, zu dem
der zum Kinde Erwachte sein »heiliges Ja« sagt, wogegen der bloBe
Wille in seiner Wiiste ein »heiliges Nein« war. Wollen befreit, aber es
befreit von allem zum Nichts, »denn lieber will noch der Mensch das
Nichts wollen, als nicht wollen «, heiBt es im letzten Satz der Genealogie
der Moral. Das Kind will eigentlich nichts; es hat weder einen Willen
noch Widerwillen; es lebt in der Freiheit zum »Spiele des Schaffens«.
»DaB der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu
muB er auch die Gebarerin sein wollen und der Schmerz der Gebare-
rin « (VI, S. 125). Als ein solchermaBen Wiedergeborener hat sich »der
Weltverlorene« seine Welt wiedergewonnen. Das »Kind« der letzten
Verwandlung hat einen polemischen Bezug zur christlichen Botschaft
vom Gottesreich, in das nur diejenigen kommen, die vertrauend und
glaubig wie Kinder sind, und einen positiven Bezug zu dem Welten-
Kind Heraklits, das schaffend-zerstorend am Meeresstrand unschuldig
spielt. Es ist ein »Vergessen«, weil es in jedem Augenblick ganz in der
Gegenwart lebt, ohne zu erinnern und zu bereuen was unwiederbring-
lich schon war, noch zu erwarten und zu erhoffen was kiinftig sein wird.
Es ist einfach, ungeteilt oder ganz wieder da, in der kosmischen Un-
schuld des bestiindig werdenden Seins.
Weil alles »Du sollst« der moralischen Imperative sich bemiBt an
dem christlichen Gott, der dem Menschen befahl, was er soil, ist der
Tod Gottes zugleich das Prinzip des Willens, der sich im Menschen
selber will. In der »Wiiste seiner Freiheit« will der Mensch lieber noch
das Nichts wollen als nicht wollen; denn er ist nur »Mensch« - ohne
Gott-, sofern er sich »will«. Der Tod Gottes bedeutet die Auferstehung
des sich selbst iiberantworteten und sich selber befehlenden Menschen,
der seine iiufserste Freiheit in der »Freiheit zum Tode« hat. Auf der
Spitze dieser Freiheit verkehrt sich jedoch der Wille zum Nichts in das
Wollen der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der tote christliche Gott,
der Mensch vor dem Nichts und der Wille zur ewigen Wiederkehr, der
willig das Fatum will, kennzeichnen Nietzsches System im Ganzen als
eine Bewegung: zuerst vom »Du sollst« zur Geburt des »Ich will« und
dann zur Wiedergeburt des »Ich bin« als der »ersten Bewegung« eines
ewig wiederkehrenden Daseins inmitten der naturhaften Welt alles
Seienden. Ein »doppelter Wille«, der sich von seiner errungenen Frei-
heit zum Nichts zum amor fati befreit, kehrt den extremen Nihilismus
eines zum Nichts entschlossenen Daseins um in das notwendige Wollen
der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Drei Figuren kennzeichnen diesen Weg vom negativen freigeworde-
nen Geist zum Lehrer der ewigen Wiederkehr. Der von seinem Schatten
begleitete Wanderer versinnlicht den Fortschritt bis an die Grenze des
Nichts. Der Wanderer begleitet den iibermenschlichen Zarathustra, der
auch noch wandert, als dessen Schatten, und an Zarathustras Stelle tritt
schlielslich der Gott Dionysos, als dessen letzten Jiinger sich Nietzsche
am Ende weiK In der dionysischen Stellung zum Dasein, die zum
Ganzen des Seins und der Zeit ein fiir allemal Ja sagt, ist eine letzte und
»hochste« Stellung zum Dasein erreicht, jenseits von Gut und Bose,
aber nicht jenseits von Gut und Schlecht. Dieser dionysischen Weltaus-
legung entspricht in Dionysos philosophos selbst die »hochste Art des
Seins«. Im amor fati vereinigt sich so die Selbstbejahung des ewig
wiederkehrenden Seins mit einem ewigen Ja des eigenen Daseins zum
Ganzen des Seins.
Die »Ewigkeit«, von der Nietzsche spricht und mit deren Andenken
das »Ja-und-Amenlied« am Ende des dritten Zarathustrateils schlieBt,
um am Ende des vierten wiederholt zu werden, ist nicht die zeidose
Ewigkeit (aeternitas) des biblischen Gottes vor der Erschaffung der
Welt, sondern eine ewige Zeit (sempiternitas), die immerwiihrende
Weltzeit, der ewige Kreislauf des Entstehens und Vergehens, worin die
Bestiindigkeit des »Seins« und der Wechsel des »Werdens« ein und
dasselbe sind. Was »immer« ist, ist nicht zeidos und was sich immer
gleich bleibt, ist nicht zeitlich im Sinn einer fortlaufenden Veriinderung.
Unter dem Schild der hochsten Notwendigkeit ist der »Zufall« des
exzentrisch gewordenen menschlichen Daseins wieder zuhause im Gan-
zen des lebendigen Seins, welches die Welt ist. Nietzsches Versuch zur
»Wiederanverlobung« der Welt wiederholt, auf der Spitze der Moder-
nitiit, die antike GewiBheit der Welt.
Dem entspricht ein charakteristischer Unterschied zwischen der
ersten Rede Zarathustras und den ersten Siitzen der Principia des
Descartes5 , der die GewiBheit der sinnlich erfahrbaren Welt in so
radikaler Weise bezweifelt hat, daB er eines Gottesbeweises bedurfte,
um ihre Existenz sicherzustellen. »Da wir als Kinder auf die Welt
kamen und iiber sinnliche Gegenstiinde vielerlei Urteile fiillten, ehe wir
den vollkommenen Gebrauch unserer Vernunft erlangt haben, sower-
den wir durch viele Vorurteile an der Kenntnis des Wahren gehindert.
Davon scheinen wir uns nicht anders befreien zu konnen, als wenn wir
uns einmal im Leben entschlieBen, an Allem zu zweifeln, worin wir
auch nur den geringsten Verdacht einer UngewiBheit antreffen.« Nietz-
sche bezweifelt diesen Weg zur GewiBheit und griindete seine eigene,
neue GewiBheit gerade darauf, daB Zarathustra au£ seinem Weg zur
Wahrheit zuletzt zum Welten-Kinde »erwacht«, welches »Vergessen«
ist und ein »Neubeginnen «, aber nicht »einmal « fur immer und mit dem
Zweifel, sondern immer wieder mit dem Spiel des Schaffens. Zurn
Kinde erwacht ist Zarathustra befreit, nicht nur von der Autoritiit des
»Du sollst« -von der schon Descartes befreit -, sondern auch von dem
» Ich will« an allem zweifeln, was mich bisher gebunden hat.
Diese neue GewiBheit im Verhiiltnis zur Welt, die Zarathustra
erlaubt, sich »mit Lust in den Zufall zu stiirzen« (VI, S. 304), gewinnt
Nietzsche dadurch, daB er - auf der Spitze der Modernitiit, wo nichts
5 Vgl. den Beginn der 1. Meditation und Abhandlung iiber die Methode,
2. Tei!.
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 125
Mensch und Welt, das aber fiir Nietzsche nicht mehr au£ eine transzen-
dente Losung in Gott hinweist, sondern in eine unauflosbare Aporie
fiihrt, weil es vom auBer-moralischen, d.i. kosmischen Sinn von Wahr-
heit keine Verbindung zu einem menschlich-moralischen gibt. »In ir-
gendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flim-
mernd ausgegossenen Weltails gab es einmal ein Gestirn, au£ dem kluge
Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmiitigste und verlogenste
Minute der ,Weltgeschichte<: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen
Atemziigen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere muB-
ten sterben. - So konnte jemand eine Fabel erfinden und wiirde doch
nicht geniigend illustriert haben, wie kliiglich, wie schattenhaft und
fliichtig, wie lwecklos und beliebig sich der menschliche lntellekt inner-
halb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war;
wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.
Denn es gibt fur jenen Intellekt keine weitere Mission, die iiber das
Menschenleben hina usfiihrte. «
Die natiirliche Welt ist »an sich«, der Mensch ist in ihr nur »fur
sich «, und die Wahrheit im Ganzen scheint dem Einblick des in die Welt
geworfenen Menschen von Grund aus verstellt zu sein. Man versteht
nicht: »Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation, der Trieb zur
Wahrheit!« Der Mensch lebt eingeschlossen in seinem »Bewulst-
seinszimmer« und zugleich hineingeworfen in die Welt der Natur, aber
»die Natur warf den Schlussel weg«, mit dem sich der Zugang zu ihr
erschlielsen konnte, und »wehe der verhiingnisvollen Neubegier, die
<lurch eine Spalte einmal aus dem Bewulstseinszimmer hinaus und
hinab zu sehen vermochte« und dann ahnt, dais der Mensch gleichwie
au£ dem »Rucken eines Tigers« in »Triiumen« hiingt. Zurn Ersatz fiir
diese ihm verstellte Wahrheit macht sich der Mensch die Welt zurecht,
fixiert er konventionelle und lebenerhaltende Wahrheiten, die in Wahr-
heit Illusionen sind, von denen man nicht weils, daB sie es sind.
Nietzsche bezeichnet die Aporie, die sich aus diesem Zwiespalt fiir
das Problem der Wahrheit ergibt, folgendermalsen: die verbotene
Wahrheit wird durch eine erlaubte Luge verhullt, und die verbotene
Luge tritt ein, wo die'erlaubte Wahrheit ihren Bereich hat. Entweder
muls das Individuum, das die verbotene Wahrheit wahrhaben will, sich
selbst op fern - oder es muB die Welt opfern.
Wirklich vernichtet werden kann der Irrtum, das heilst der dem
menschlichen Willen zur Wahrheit innewohnende Antrieb zu ihrer
Verhiillung, nur mit dem Leben des Erkennenden selbst, weil die
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 127
»Es diimmert der Gegensatz der Welt, die wir verehren, und der
Welt, die wir leben, die wir sind. Es bleibt iibrig, entweder unsre
Verehrungen abzuschaffen oder uns selbst. Letzteres ist der Nihilis-
mus [...)«
5. Die ,wahre, Welt - eine Idee, die zu nichts mehr niitz ist,
nicht einmal mehr verpflichtend, - eine [...] iiberfliissig gewordene
Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (Heller Tag;
[...] Riickkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamrote Platos;
T eufelslarm aller freien Geister.)
6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb
iibrig? die scheinbare vielleicht? [... ] Aber nein! mit der wahren
Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augen-
blick des kiirzesten Schattens; Ende des langsten Irrtums; Hohe-
punkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)«
Welt vor Platon wiederentdeckt. Ich will gar nichts anderes als diese
ewig wiederkehrende und mir nicht mehr entfremdete Welt, welche
ineins mein Ego und Fatum ist; denn ich will selber mich ewig wieder,
als einen Ring im groBen Ring der sich-selber-wollenden Welt.
Wenn der »Hohepunkt der Menschheit«, ihr »Mittag«, der ein
Augenblick der Ewigkeit ist (»Mittag und Ewigkeit« war einmal als
Titel des Zarathustra geplant) mit der Abschaffung der wahren und
scheinbaren Welt zusammenfiillt, dann folgt daraus, dais der Mensch,
der sich iiberwunden hat, d.i. der Obermensch, im Wesen identisch ist
mit dem Wesen der Welt. Von dieser alles umfassenden Welt, die nicht
nur diesseits von wahr und scheinbar, sondern auch jenseits von Gut
und Bose ist, handelt ein Fragment des Willens zur Macht, zu dem
der Zarathustra die »Vorhalle« ist. Er ist der unumgiingliche Zugang
zum unvollendeten Willen zur Macht, weil bereits der gottlose Ober-
mensch keine extreme Subjektivitiit ist, sondern »die hochste Art des
Seins« iiberhaupt, so dais in seiner Seele »alle Dinge ihr Stromen und
Widerstromen, ihre Ebbe und Flut« haben (VI, S. 304). Der Wille zur
Macht ist der Versuch einer neuen »Weltauslegung«, als solche eine
»Auslegung alles Geschehens«, und als Auslegung alles Geschehens ist
er zugleich eine solche des Menschenwesens-unter dem Titel Wille zur
Macht, der die Lebendigkeit alles Lebens nennt. Die lebendige Welt und
der leibhaftige Mensch zeigen beide die eine Natur alles Lebensgesche-
hens. Diese alles umfassende Welt der Natur, der »Ring der Ringe«, ist
weder von einem Gott noch vom Menschen gemacht. Sie ist einfach da,
ein unvordenkliches Faktum. »Die Welt besteht; sie ist Nichts was
wird, Nichts was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie
hat nie angefangen zu werden und nie aufgehort zu vergehen, - sie
erhalt sich in Beidem [... ]. Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind
ihre Nahrung.« 8 Als eine immerwiihrend bestehende, d.i. entstehend-
vergehende Welt, hat ihr Bestand keinen Zweck und kein Ziel iiber und
aulser ihr und also auch kein Wozu in der Bedeutung von »Sinn«. 1hr
iiltester Adel ist, dais sie »von Ohngefiihr« ist, aber ein Zufall, der so
umfassend ist, dais sich der Zufall »Mensch« darin aufhebt.
Nietzsches »neue Weltkonzeption« liegt in zwei verschiedenen
Schlulsfassungen vor, von denen die eine das Sein der Welt als Wille zur
Macht akzentuiert und die andere als ewige Wiederkunft.
Und wiBt ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie euch in
meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne
Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne GroBe von Kraft, welche nicht
groBer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur
verwandelt, als Ganzes unveriinderlich groB, ein Haushalt ohne Ausga-
ben und EinbuBen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom
»Nichts« umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmen-
des, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als be-
stimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem
Raume, der irgendwo »leer« ware, vielmehr als Kraft iiberall, als Spiel
von Kriiften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich hiiufend
und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stiirmender
und flutender Kriifte, ewig sich wandelnd, ewig zuriicklaufend, mit
ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner
Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfiiltigsten hinaustreibend,
aus dem Stillsten, Starrsten, Kiiltesten hinaus in das Gliihendste, Wilde-
ste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fiille
heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widerspriiche zuriick
bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleich-
heit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als Das, was ewig
wiederkommen muls, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen
Uberdruls, keine Miidigkeit kennt -: diese meine dionysische Welt des
Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstorens, diese Ge-
heimnis-Welt der doppelten Wolliiste, dies mein »Jenseits von Gut und
Bose«, ohne Ziel, wenn nicht im Gliick des Kreises ein Ziel liegt, ohne
Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, - wollt ihr
einen Namen fiir diese Welt? Eine Losung fiir alleihre Riitsel? EinLicht
auch fiir euch, ihr Verborgensten, Stiirksten, Unerschrockensten, Mit-
terniichtlichsten? - Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts
auPerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht- und nichts
aulserdem! (XVI, S. 401 f.)
»Wenn nicht ein Ring guten Willens ist, auf eigner alter Bahn sich
immer um sich und nur um sich zu drehen: diese meine Welt, -wer ist
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 131
hell genug dazu, sie zu schauen, ohne sich Blindheit zu wiinschen? Stark
genug, diesem Spiegel seine Seele entgegen zu halten? Seinen eignen
Spiegel dem Dionysos-Spiegel? Seine eigne Losung dem Dionysos-Riits-
el? Und wer das vermochte, miiBte er dann nicht noch mehr tun? Dem
»Ring der Ringe« sich selber anverloben? Mit dem Gelobnis der eignen
Wiederkunft? Mit dem Ringe der ewigen Selbst-Segnung, Selbst-Beja-
hung? Mit dem Willen zum Wieder-und-noch-ein-Mal-Wollen? Zurn
Zuriick-Wollen aller Dinge, die je gewesen sind? Zurn Hinaus-Wollen
zu Allem, was je sein muB? WiBt ihr nun, was mir die Weltist? Undwas
ich will, wenn ich diese Welt- ,will<--« (VI, S. 515)
Nichts will als nicht will, fiir die Kennzeichnung der ziellos kreisenden
Weltbewegung zeigt sich schon darin, daB Nietzsche selbst die Benen-
nung der Weltbewegung mit dem Wort »Wille« in beiden Fassungen
mit einem »Wenn nicht [...]« halbwegs zuriicknimmt, weil man nur
uneigentlich sagen kann, daB eine Kreisbewegung ein »Ziel« habe und
ein Ring den guten »Willen« zu sich selbst. Das Wort vom Willen laBt
sich nicht sinnvoll gebrauchen, wenn man von der Ziel- und Zweckge-
richtetheit menschlichen Wollens auf ein kiinftiges Ende hin absieht.
Das maBgebende Vorbild fiir die gesamte Metaphysik des Wollens
ist aber die christliche Theologie und ihre Eschatologie, die der Welt
einen schopferischen Willen voraussetzt, der sie um des Menschen
willen zu einem Endziel geschaffen hat. Entscheidend fiir alles biblische
Denken ist nicht das Verhaltnis des Menschen zu einer immer schon
seienden Welt, sondern das Willensverhaltnis von Gott und Mensch.
Der Mensch ist dazu da, den Willen Gottes zu tun, und seine Siinde der
Eigenwille. Der Wille ist, wie die appetitio nach dem gliicklichen Leben
und die natiirliche Liebe zum Leben, die Grundbestimmung des
Menschseins. Auch der Glaube ist ein Glaubenwollen. Nemo creditnisi
volens und voluntas est quippe in omnibus motibus. In Augustins
Bestimmung des Menschen gehoren appetitio, velle, amare dreieinig
zusammen. Im Verlangen nach Gliick, im Wollen und Lieben besteht
das eigentlich Menschliche, das »Herz« des Menschen. Tota vita Chri-
stiana sanctum desiderium est. Das irdische Leben des Menschen ist
keine in den Anfang zuriickgehende Kreisbewegung; sein Prinzip ist die
Hoffnung auf ein »Nochnicht«, die dem Glauben verwandt ist, ein
pervenire ad id quod nondum est 10•
Die Theologie des verlangend-liebenden Wollens halt sich in ge-
wandelter Form durch bis zur Willensmetaphysik von Schelling, Scho-
penhauer und Nietzsche, der zwar in einer Gott losgewordenen Welt
experimentiert, aber an der Bestimmung von Mensch und Welt durch
den Willen festhalt, obgleich er dem mundanen Willen Zweck- und
Zielgerichtetheit abspricht, um den sich selbst geniigenden Kreislauf
der Welt behaupten zu konnen. Auch Nietzsche vermag die Frage nach
der Welt nicht mehr griechisch, d. i. ohne Re-flexion auf sich selbst, rein
vom Anblick der Welt her zu stellen. Welche der vielen griechischen
Schriften »Ober die Welt« hatte je anti-christlich gefragt: »WiBt ihr
auch, was mir ,die Welt<ist«, um sich die Welt als die »seine« wiederzu-
von Christus sagt, er habe die Welt van ihr selbst befreit 11 • »Atheism us
und eine Art zweiter Unschuld gehoren zueinander« (VIII, S. 388; Zur
Genealogie der Moral II, § 20). Mit Nietzsche vollendet sich der
a-Theismus des 19. Jahrhunderts zur Wiederanerkennung der Welt als
Welt. Er hort damit auf Theismus zu sein.
11 Gotzendammerung: Die vier groBen lrrtiimer Nr. 8; vgl. SIV, S. 219; XVI,
S. 201 und 409.
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 135
des christlichen Glaubens, ist zwar das eigene »Ich will«, aber dieser
scheinbare Rest ist auch schon sein Kern. Der Wille ist das »Prinzip«
schon des Glaubens, weil der glaubige Mensch nicht sich selber will.
Der europaische Nihilismus, <lessen Problem es ist, »ob er will«, kam
zwar herauf mit dem Entschwinden des christlichen Glaubens, aber der
christliche Glaube war in der Spatantike selbst schon heraufgekommen
mit einer Erkrankung des Willens. Wer nicht aushalt im eigenen Herr-
schen und Wollen, sucht Anhalt und Riickhalt im fremden Glauben,
daB schon ein anderer Wille da sei, der ihm sagt, was er soil.
»Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten
notig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls,
das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das
heiBt, je weniger einer zu befehlen weiB, um so dringlicher begehrt er
nach einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fiirsten, [... ]
Arzt, Beichtvater, Dogma, Parteigewissen. Woraus vielleicht abzuneh-
men ware, daB die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das
Christentum, ihren Entstehungsgrund, ihr plotzliches Umsichgreifen
zumal, in einer ungeheuren Erkrankung des Willens gehabt haben
mochten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide Religionen fanden
ein <lurch Willenserkrankung ins Unsinnige aufgetiirmtes, bis zur Ver-
zweiflung gehendes Verlangen nach einem ,du sollst, vor, beide Religio-
nen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willenserschlaf-
fung und boten damit Unzahligen einen Halt, eine neue Moglichkeit zu
wollen, einen GenuB am Wollen. Der Fanatismus ist namlich die einzige
,Willensstarke,, zu der auch die Schwachen und Unsichern gebracht
werden konnen [...]. Wo ein Mensch zu der Grundiiberzeugung
kommt, daB ihm befohlen werden mu/5, wird er ,glaubig,; umgekehrt
ware eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des
Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach
GewiBheit den Abschied gibt, geiibt, wie er ist, auf leichten Seilen und
Moglichkeiten sich halten zu konnen und selbst an Abgriinden noch zu
tanzen. Ein solcher Geist ware der freie Geist par excellence« (Die
frohliche Wissenschaft, § 347; Zur Genealogie der Moral II,§ 22).
Der gekreuzigte Gott des Christentums, <lessen Tod und Auferste-
hung Hegel am Ende der christlichen Tradition noch einmal philo-
sophisch begriff, hat sich fiir Nietzsche, der in Hegel den letzten Verzo-
gerer des aufrichtigen Atheismus erkannte, »historisch widerlegt«. »Es
geht mit dem Christentum jetzt zu Ende.« Das Christentum ist reif
geworden fiir die Sektion <lurch kritische Historie. »Alie Moglichkeiten
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 137
des christlichen Lebens, die ernstesten und lassigsten, die harm- und
gedankenlosesten und die reflektiertesten sind durchprobiert, es ist Zeit
zur Erfindung von Etwas Neuem oder man muB immer wieder in den
alten Kreislauf geraten: freilich ist es schwer, aus dem Wirbel herauszu-
kommen, nachdem er uns ein paar Jahrtausende herumgedreht hat.
Selbst der Spott, der Zynismus, die Feindschaft gegen das Christentum
ist abgespielt; man sieht eine Eisflache bei erwarmtem Wetter, iiberall
ist das Eis zerrissen, schmutzig, ohne Glanz, mit Wasserpfiitzen, gefahr-
lich « (X, S. 289). Was von Gott umgeht ist nur noch sein Schatten, und
die Kirchen sind zu Grabmalern Gottes geworden.
Das groBe Ereignis, daB Gott tot ist, bedeutet, daB der ganze Hori-
zont weggewischt ist, auf den hin sich der europaische Mensch seit zwei
Jahrtausenden sein Dasein ausgelegt hat, als ob alles zum Heil der Seele
geschickt ware. Weil aber dieser christliche Glaube bislang das Zen-
trum und Schwergewicht der menschlichen Existenz war, muB es zu-
nachst so scheinen, als ob mit dem Tode Gottes alles Schwergewicht aus
den Dingen weg sei. Und weil fiir Nietzsche »das neue Schwergewicht«
auf dem nun fliichtig und zwecklos gewordenen Dasein der Gedanke
der ewigen Wiederkunft ist, ergibt sich ein eindeutiger Zusammenhang
zwischen dem Tod Gottes, dem daraus hervorgegangenen Nihilismus
und dessen Selbstiiberwindung zur unbedingten Bejahung eines ewig
wiederkehrenden Daseins, das selbst nur ein »Ring« im groBen Ring
der Welt ist.
Der Tod Gottes ist aber gerade als Ursprung des Nihilism us auch ein
AnlaB zur philosophischen Heiterkeit; denn man kann sich trotz der
Verdiisterung, die er zunachst im Gefolge hat, erleichtert fiihlen, wenn
kein »Du sollst« mehr auf dem Willen des Menschen lastet, nachdem
Gottes Tod den Menschen von dem BewuBtsein der Schuld und der
Verpflichtung zum Dasein entlastet und ihm die »Freiheit zum Tode«
zuriickgibt. Davon handelt der erste Aphorismus des fiinften Buchs der
Frohlichen Wissenschaft (» Wir Furchtlosen«), unter der Oberschrift:
»Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat.« »Das groBte neuere
Ereignis - daB ,Gott tot ist,, daB der Glaube an den christlichen Gott
unglaubwiirdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten
iiber Europa zu werfen. Fiir die Wenigen wenigstens, deren Augen,
deren Argwohn in den Augen stark und fein genug fiir dies Schauspiel
ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes
Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muB unsre alte Welt taglich
abendlicher, miBtrauischer, fremder, ,alter, scheinen. In der Hauptsa-
138 Gott, Mensch und Welt
che aber darf man sagen: das Ereignis selber ist vie! zu gro/5, zu fern, zu
abseits vom Fassungsvermogen Vieler, als da/5 auch nur seine Kunde
schon angelangt heiBen diirfte: geschweige denn, daB Viele bereits
wiiBten, was eigentlich sich damit begeben hat - und was alles, nach-
dem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muB, weil es auf
ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: z. B. unsre
ganze europiiische Moral. Diese lange Fiille und Falge von Abbruch,
Zerstorung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute
schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkiinder dieser unge-
heuren Logik von Schrecken abgeben zu miissen, den Propheten einer
Verdiisterung und Sonnenfinsternis, deren Gleichen es wahrscheinlich
noch nicht auf Erden gegeben hat? [...] Selbst wir [... ] Erstlinge und
Friihgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die
Schatten, welche Europa alsbald einwickeln miissen, jetzt schon zu
Gesicht gekommen sein sol/ten: woran liegt es doch, daB selbst wir
ohne Teilnahme fiir diese Verdiisterung, vor allem ohne Sorge und
Furcht fiir uns, ihrem Heraufkommen entgegensehn? Stehen wir viel-
leicht zu sehr noch unter den niichsten Folgen dieses Ereignisses - und
diese niichsten Folgen, seine Folgen fiir uns sind, umgekehrt als man
vielleicht erwarten konnte, durchaus nicht [...] verdiisternd, vielmehr
wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Gluck, Erleichte-
rung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenrote [... ].In der Tat, wir Philo-
sophen und ,freien Geister, fiihlen uns bei der Nachricht, daB der ,alte
Gott tot, ist, wie von einer neuen Morgenrote angestrahlt; unser Herz
stromt dabei iiber von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung,
- endlich scheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, da/5 er
nicht hell ist, endlich diirfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede
Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt,
das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch
niemals ein so ,offnes Meer,.« Das offene Meer, das Nietzsche als einen
neuen Columbus zu neuen Entdeckungsfahrten verlockt, ist dasselbe
Meer, nach dem der Wahrsager (VI, S. 197) gefragt wird, dessen Wahr-
sagung den heraufkommenden Nihilismus betrifft, welcher besagt, daB
jetzt alles umsonst, gleich und leer ist. » Wohl haben wir geerntet: aber
warum wurden alle Friichte uns faul und braun? Umsonst war alle
Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, baser Blick sengte unsre Felder
und Herzen gelb. Trocken wurden wir Alie; und fallt Feuer auf uns, so
stauben wir der Asche gleich. Alie Brunnen versiegten uns, auch das
Meer wich zuriick. Aller Grund will reiBen, aber die Tiefe will nicht
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 139
schlingen ! ,Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken konnte<: so
klingt unsre Klage - hinweg iiber flache Siimpfe.« Spater, nachdem
Zarathustra sich selbst und seinen Nihilismus iiberwunden hat, wird
aus dem versiegten Brunnen der »Brunnen der Ewigkeit«, an dem alle
Dinge getauft sind und aus dem Meer, in dem Zarathustra ertrinken
mochte, wird das Meer der in sich selber flutenden Krafte der dionysi-
schen Welt, die das letzte Fragment des Willens zur Macht beschreibt
und in der sich die Seele Zarathustras spiegelt. Der Tod Gottes eroffnet,
uber den Nihilismus, den Weg zur Wiederentdeckung der Welt.
Die Parabel vom tollen Menschen (Die frohliche Wissenschaft III,
§ 125), der den Tod Gottes verkiindigt, hat sokhe, die selber einmal
glaubig waren und ihren Glauben verloren haben, aber <loch religios
sein mochten, veranlalst, in dieser grotesk-pathetischen Parabel ihre
eigene Stimmung wiederzufinden: Abwesen von Gott und Gottern,
»Weltnacht« und »Irre«, »Seinsverlassenheit« und »-vergessenheit«.
Heidegger meint, Nietzsche habe hier selbst de profundis nach Gott
geschrien, denn er sei kein »ordinarer Atheist« gewesen, sondern »der
einzig Glaubige des neunzehnten Jahrhunderts«. An wen oder was er
geglaubt haben soil wird nicht gesagt. Wahr ist daran nur soviel, dais fiir
Nietzsche der Atheismus noch keine Selbstverstandlichkeit war, son-
dern ein Problem. Er hat im Ecce homo die Beurteilung seiner Schriften
<lurch einen Schiller Franz von Baaders akzeptiert, dais er mit ihnen
»eine Art Krisis und hochste Entscheidung im Problem des Atheismus«
habe herbeifiihren wollen. Die Frage ist: Entscheidung wofiir? Fiir
einen neuen Gott? oder fiir die alte, griechische Gottlichkeit der Welt?
oder fiir eine entschieden gottlose Welt? Die Frage lalst sich nicht
eindeutig beantworten, denn auch das Schlulswort von Ecce homo:
»Dionysos gegen den Gekreuzigten« ist weit entfernt von der Eindeu-
tigkeit der Parole Voltaires: »Ecrasez l'infame«, die Nietzsche an dieser
Stelle aufnimmt. Der Atheismus Nietzsches ist die Gottlosigkeit eines
Menschen, der am Anfang und am Ende seiner Laufbahn einen »unbe-
kannten Gott« anrief. Diese Zweideutigkeit ist auch nicht mit der
Erklarung Nietzsches im Ecce homo zu beseitigen, dais er »eigentliche
religiose Schwierigkeiten« aus Erfahrung nicht kenne under den gan-
zen Gegensatz einer religiosen Natur absichtlich ausgelebt habe (XII,
S. 330). Und in den Schriften, die dem Zarathustra folgen und ihn
kommentieren, wird nicht nur das christliche, sondern alles religiose
Wesen moralpsychologisch demaskiert. Bedenkt man ferner, dais
Nietzsche in der Gewilsheit eines »Glaubens« und einer » Dberzeu-
140 Gott, Mensch und Welt
gung« kein Argument fur die Wahrheit, wohl aber gegen sie sah, so
wird seine eigene, sich steigernde Oberzeugtheit von sich selber und von
seiner Aufgabe vollends zweifelhaft. Die Moglichkeit liegt nahe, dais
sein »Antichrist« kein religioses Skandalon ist, sondern nur die auiser-
ste Verscharfung einer Kritik der christlichen Moral, die schon in den
ersten Schriften einsetzt. Dais Nietzsche in seinem letzten Angriff so vie!
beteiligter und radikaler ist, konnte darauf beruhen, dais er sich in
seiner Vereinsamung, und im Gefiihl, von niemand gehort zu werden,
iiberschrie und sich in eine Rolle hineinspielte, bei der er sich iibernahm
und »zum Schauspieler seines eigenen Ideals wurde«. Es ist bezeich-
nend, dais Overbeck, dieser nachste und besonnenste Zeuge von Nietz-
sches Exaltationen und Maskierungen, sich fur Augenblicke nicht der
grauenvollen Vorstellung erwehren konnte, dais Nietzsches Wahnsinn
simuliert sein konnte, ehe ihm die Erfahrung in Turin alle Mutmaisun-
gen niederschlug. Wie ungewiis es aber auch immer bleiben mag, ob
Nietzsche eine echte religiose Erfahrung hatte, so gewiis ist es, dais er
nur Eines suchte: »einen Echten, Rechten, Einfachen, Eindeutigen,
einen Menschen aller Redlichkeit« (VI, S. 3 73); darum hat er den Bruch
mit Richard Wagner auf sich genommen. Zarathustra selbst, heilst es im
Nachlals (XVI, S. 381), ist freilich blots ein alter Atheist: »der glaubt
weder an alte, noch neue Gotter. Zarathustra sagt, er wurde -; aber
Zarathustra wird nicht [... ]. Man verstehe ihn recht. « Um seine Gottlo-
sigkeit recht zu verstehen, ist viererlei zu bedenken: 1) dais in Nietzsche
selber »der religiose, das heilst gottbildende Instinkt mitunter zur Un-
zeit lebendig wird« (XVI, S. 380); 2) dais aus der uns bekannten Welt
der humanitare Gott des Christentums nicht nachweisbar ist; 3) dais
Nietzsche den au£ den Menschen bezogenen, moralisch richtenden Gott
des Alten Testaments und den gekreuzigten und erlosenden Gottmen-
schen des Neuen Testaments entschieden verwarf und im »Eselsfest«
des Zarathustra mit einer uniiberbietbaren Blasphemie von ihm sprach,
und 4) dais der einzige Gott, in dessen Namen Nietzsche sprach, der
griechische Gott Dionysos ist, weil er ihm ein Symbol »der hochsten
bisher auf Erden erreichbaren Welt-Bejahung und Daseins-Verkla-
rung« bedeutet (Wille zur Macht,§ 1051), wogegen ihm derchristliche
Gott» der groiste Einwandgegen das Dasein« ist. »Der Gott am Kreuz
ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig sich von ihm zu erlosen; der in
Stucke zerschnittene Dionysos ist eine Verheiisung des Lebens: es wird
ewig wiedergeboren und aus der Zerstorung heimkommen (Wille zur
Macht, § 1052). Die dioysischen Mysterien feiern im geschlechtlichen
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 141
bisher am meisten verehrten Dinge Nihilismus ist 12• Diese hier offenge-
bliebene Frage hat Nietzsche in der Gotzendammerung beantwortet,
indem er die ,wahre< Welt der Ideale, Ideen und Idole zur Fabel werden
liefs und damit zugleich die bloBe Scheinbarkeit der scheinbaren Welt.
Weil Nietzsche nicht nur gegen den christlichen Erlosergott, die
christliche Moral und die sakularisierten Ideale des »latenten« Chri-
stentums ist, sondern fur die amoralische Welt, mit deren Wiederher-
stellung sich der Atheismus beendet, konnte er sich mit dem »alteren
Ausdruck«: Gottlose, Unglaubige, Immoralisten »noch lange nicht«
bezeichnet finden. »Atheist« ist in der Tat zu einem Anachronismus
geworden; denn welcher Denkende glaubt noch wirklich an den Gott
des Alten und Neuen Testaments, oder auch nur an eine Religion der
praktischen Vernunft? Wer glaubt aber andererseits, wie es Nietzsche
mochte, noch an die Gottlichkeit der griechisch verstandenen Welt?
Das ist die Frage, vor die uns Nietzsches »Atheismus« stellt. Die Athei-
sten des 17. und 18. Jahrhunderts, die »libres penseurs«, gegen die
Bossuet kampfte, haben sich noch mit Leidenschaft gegen einen herr-
schenden kirchlichen Glauben behaupten und von ihm befreien miissen
und aus ihrem Unglauben ein Bekenntnis gemacht. Fiir die Religions-
kritiker des 19. Jahrhunderts war diese Ablosung vom kirchlichen
Christentum bereits leicht geworden, wenn auch sozial und politisch
mit weltlichen Nachteilen verbunden, wie das Schicksal von Bruno
Bauer, David Friedrich StrauB und Feuerbach zeigt. Im allgemeinen ist
jedoch der Atheismus im 19. Jahrhundert zur selbstverstandlichen Vor-
aussetzung des wissenschaftlichen Denkens geworden. Er ist, mit Nietz-
sche gesagt, »ein gesamteuropaisches Ereignis« und <las Ergebnis der
popularisierten wissenschaftlichen Denkweise. Nietzsche spricht des-
halb vom Sieg des »wissenschaftlichen Atheismus«. Er ist <las Lebens-
element alles redlichen Denkens. »Oberall, wo der Geist heute streng,
machtig und ohne Falschmiinzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt
iiberhaupt des Ideals - der populare Ausdruck fiir diese Abstinenz ist
,Atheismus, -: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille
aber, dieser Rest von Ideal, ist [...] jenes Ideal selbst in seiner strengsten,
geistigsten Formulierung, esoterisch ganz und gar, alles Au€enwerks
entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingt
13 Siehe z. B. Wille zur Macht, § 702: • Was der Mensch will, was jeder kleinste
Tei! eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus van Macht. Im Streben
danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraus sucht er nach
Widerstand, braucht er Etwas, das sich entgegenstellt [...]
Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Erniihrung: <las Proto-
plasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach Etwas zu suchen, <las ihm
widersteht,- nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es
den Versuch, dasselbe zu iiberwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben:
- Das, was man Erniihrung nennt, ist blo8 eine Folge-Erscheinung, eine Nutzan-
wendung jenes urspriinglichen Willens, starker zu werden. «
Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt 145
Aber auch die Erfahrung des Leibes ist uns verstellt, seitdem die
Philosophie nach dem Christentum das eigentlich Menschliche in das
scio me vivere (Augustin), das cogito me cogitare (Descartes), das
»lch«, welches alle meine Vorstellungen begleitet (Kant), das »Selbstbe-
wuPtsein« des fiir sich seienden Geistes (Hegel), die »fiir sich« seiende
Existenz (Sartre) und das »Dasein«, dem es in seinem Sein um es selbst
geht (Heidegger), d.i. in die Re-flexion von der Welt au£ uns selbst
gesetzt und es der Natur als dem Andern, aulser uns Seienden, Aulserli-
chen entgegengesetzt hat, weil die Natur nicht, wie der Mensch, selbst-
bewulst ist. Es liegt darum in der Konsequenz von Nietzsches Versuch,
den Menschen in die Natur zuriickzuiibersetzen oder, mit Schelling
gesagt, ihn zu »depotenzieren«, dais er das selbstbewulste »Ich« vom
leiblichen »Selbst« unterscheidet und die Frage nach Herkunft und
Wesen des Bewulstseins stellt. Im Selbst ist als dem Urspriinglicheren
inwiefern wir seiner entraten konnten: und an diesen Anfang des Be-
greifens stellt uns jetzt Physiologie und Tiergeschichte (welche also zwei
Jahrhunderte notig gehabt haben, um den vorausfliegenden Argwohn
Leibnizens einzuholen). Wir konnten namlich denken, fiihlen, wollen,
uns erinnern, wir konnten ebenfalls ,handeln< in jedem Sinne des Wor-
tes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns ,ins Bewulstsein zu
treten< [... ].Das ganze Leben ware moglich, ohne dais es sich gleichsam
im Spiegel siihe: wie ja tatsiichlich auch jetzt noch bei uns der bei
Weitem i.iberwiegende Tei! dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung
abspielt - und zwar auch unsres denkenden, fi.ihlenden, wollenden
Lebens« (Die frohliche Wissenscha~, § 354; Wille zur Macht, § 707).
Nietzsches Hinweis auf Leibniz lielse sich durch Spinoza bekriiftigen,
dessen Lehre von der Natur des Menschen und von der freien Notwen-
digkeit seines Handelns auf der Unterscheidung der bewuBten Absich-
ten von den nichtbewulsten Antrieben beruht. Um aber den Menschen
in die Welt der Natur zuri.ickzui.ibersetzen, mulste Spinoza vor allem das
theologische Vorurteil entkriiften, dais die Welt von Gott um des Men-
schen willen geschaffen sei, und seinerseits Gottes Macht in die Macht
der Natur i.ibersetzen.
IX. Spinoza. Deus sive natura
Nietzsche schrieb, als er im Ausgang vom Tode Gottes die neue, iiber-
menschliche Weltauslegung konzipierte, am 30. Juli 1881 an Franz
Overbeck: »lch bin ganz erstaunt, ganz entziickt! lch habe einen Vor-
giinger und was fur einen! Ich kannte Spinoza fast nicht 1 : dais mich jetzt
nach ihm verlangte, war eine ,Instinkthandlung<! Nicht nur dais seine
Gesamttendenz gleich der meinen ist - die Erkenntnis zum miichtigsten
Affekt zu machen - in fiinf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich
wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen
Dingen am niichsten: er leugnet die Willensfreiheit -; die Zwecke -; die
sittliche Weltordnung-; das Unegoistische -; das Bose-; wenn freilich
auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem
Unterschied der Zeit, der Kultur, der Wissenschaft. In Summa meine
Einsamkeit [... ] ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. - Wunderlich!«
Im gleichen Sinn heitst es in Zur Genealogie der Moral (II, § 15),
Spinoza babe, indem er Gut und Bose unter die allzumenschlichen
Perspektiven verwies und sich dagegen verwahrte, dais Gott alles um
des Guten willen bewirke, der Welt wieder jene »Unschuld« zuriickge-
geben, in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens, der Schuld
und der Siinde lag. Die Frage sei jedoch, ob es Sinn habe, sich einen Gott
jenseits von Gut und Bose zu denken. »Wiire ein Pantheismus in diesem
Sinne moglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse
weg und bejahen wir trotzdem den Prozels? - Das wiire der Fall, wenn
Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht
wiirde - und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende
Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und
er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkt iiber eine solche
Weltbeschaffenheit. «2
Dais sich Spinoza zur Anerkennung einer zweckfreien Welt der
Natur jenseits von Gut und Bose befreit hat, ist fiir Nietzsche das
AuBerordentliche, wodurch er sich aus dem ganzen Umkreis des bibli-
1 Aus den von Nietzsche zitierten Texten laBt sich enmehmen, daB er Spinoza
nur in der Vermittlung durch Kuno Fischers Darstellung gekannt hat.
2 xv,s. 183.
Spinoza. Deus sive natura 149
gottlichen Dingen, worin behauptet wird, daB sich Gott in der Natur
verberge. Spinoza lesend, frisch, mit eigenen Augen und Sinnen, hatte
Goethe die Empfindung, daB er das Ganze der Welt noch niemals so
deutlich erblickt habe. » Nachdem ich mich namlich in aller Welt um ein
Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hat-
te, geriet ich endlich an die Ethik dieses Mannes. Was ich mir aus dem
Werk mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben,
davon wiiBte ich keine Rechenschaft zu geben, genug ich fand hier eine
Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine groBe und
freie Aussicht iiber die sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Was mich
besonders an ihm fesselte, war die grenzenlose Uneigenniitzigkeit, die
aus jedem Satze hervorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: ,Wer Gott
recht liebt, muB nicht verlangen, daB Gott ihn wieder liebe,, mit alien
den Vordersatzen, worauf es ruht, mit alien den Folgen, die daraus
entspringen, erfiillte mein ganzes Nachdenken, [...]so daB jenes freche
spatere Wort: ,Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?, mir recht aus
dem Herzen gesprochen ist.«6 Es ist das die Uneigenniitzigkeit, die sich
von selber ergibt, wenn man die Dinge philosophisch »sub quadam
specie aeternitatis «, d. h. im Ganzen und Immerseienden beurteilt, ohne
Riicksicht auf die Art und Weise, wie wir Menschen nach MaBgabe
unserer Vorurteile und Absichten, Sympathien und Antipathien jeweils
durch sie affiziert werden.
Die ausfiihrlichste AuBerung iiber Spinoza steht im 16. Buch des
IV. Teils von Dichtung und W ahrheit. » Ich hatte lange nicht an Spinoza
gedacht und nun ward ich durch Widerrede zu ihm getrieben. In unserer
Bibliothek fand ich ein Biichlein 7, dessen Autor gegen jenen eigenen
Denker heftig kampfte, und um dabei recht wirksam zu Werke zu
gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegeniiber gesetzt hatte, mit der
Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, daB er namlich das
Zeichen der Verwerfung und Verworfenheit im Angesicht trage [... ] «
Goethe las auch Bayles Artikel iiber Spinoza im Dictionnaire historique
et critique, der in ihm Unbehagen und MiBtrauen erregte. Und da iiber
diesen Gegenstand so vie! gestritten worden war, wiinschte er nicht
miBverstanden zu werden und entschloB sich, in Dichtung und Wahr-
5. Mai 1786: » Wenn Du sagst, man konne an Gott nur glauben, so sage ich Dir,
ich halte vie! aufs Schauen.«
6 A.a.O., Bd. 26, S. 290£.
7 Die Spinoza-Biographie von J. Colerus (ed. C. Gebhardt, 1952).
Spinoza. Deus sive natura 151
»Hiermit habe ich alles, was ich von der Macht der Seele iiber
die Affekte und von der Freiheit der Seele zeigen wollte, vollstandig
dargelegt. Es erhellt daraus, wie vie! der Weise vermag und wie sehr
er dem Toren iiberlegen ist, der allein vom Geliist getrieben wird.
Denn abgesehen davon, daB der Tor von auBeren Ursachen auf
vielerlei Arten hin und her bewegt wird und sich niemals im Besitz
der wahren Zufriedenheit des Gemiits befindet, lebt er iiberdies wie
unbewuBt seiner selbst und Gottes und der Dinge, und sobald er zu
leiden aufhort, hort er zugleich auch au£ zu sein; der Weise dagegen
[... ] wird kaum in seinem Gemiit bewegt, sondern seiner selbst und
Gottes und der Dinge nach einer gewissen, ewigen Notwendigkeit
bewuBt, hort er niemals au£ zu sein, sondern ist immer im Besitz der
wahren Zufriedenheit des Gemiits. Wenn nun der Weg, der, wie ich
gezeigt habe, hierhin fiihrt, auBerst schwierig zu sein scheint, so laBt
er sich doch finden. Und freilich schwierig muB sein, was so selten
gefunden wird. Denn wie ware es moglich, wenn das Heil leicht
zuganglich ware, und ohne groBe Miihe gefunden werden konnte,
daB fast alle es unbeachtet !assen? Aber alles Erhabene ist ebenso
schwer wie selten. «
»lch freue mich, daB die Leute Ihres Kreises als Philosophen
leben [... ). Wenn jener beriihmte Spotter (Demokrit) zu unserer
Zeit lebte, er wiirde sicherlich sterben vor Lachen. Mich bewegen
diese Wirren weder zum Lachen noch auch zum Weinen, sondern
154 Gott, Mensch und Welt
den Beifall der Ihnen bekannten Christen finden wird, das werden Sie
besser beurteilen konnen. «14
Die ausgesprochene Absicht des Theologisch-politischen Traktats 15
ist die Trennung der Philosophie von der Theologie des Glaubens. »Ich
verfasse eben eine Abhandlung iiber meine Auffassung von der Schrift.
Dazu bestimmen mich: 1) die Vorurteile der Theologen; diese Vorurtei-
le hindern ja, wie ich weifs, am meisten die Menschen, ihren Geist der
Philosophie zuzuwenden; darum widme ich mich der Aufgabe, sie
aufzudecken und sie aus dem Sinne der Kliigeren zu entfernen; 2) die
Meinung, die das Volk von mir hat, das mich unaufhorlich des Atheis-
mus beschuldigt: ich sehe mich gezwungen, diese Meinung womoglich
von mir abzuwehren; 3) die Freiheit zu philosophieren und zu sagen,
was man denkt; diese Freiheit mochte ich auf alle Weise verteidigen, da
sie hier bei dem allzu grofsen Ansehen und der Frechheit der Prediger
auf alle mogliche Weise unterdriickt wird.« 16 In diesem Kampf gegen
die Vorurteile der Theologen ist Spinoza der erste grofse moderne
Aufklarer, der die Freiheit zur Philosophie durch Kritik der Religion
begriindet, die sich nur dann mit jener vertragen kann, wenn sie ein-
sieht, dais die heilige Schrift iiberhaupt nicht beansprucht, eine philo-
sophische Lehre zu geben, sondern ausschliefslich Frommigkeit und
Gehorsam fordert und darum fiir alle heilsam ist und nicht, wie die
Philosophie, nur fiir wenige. »Denn was vermogen wir von Dingen, die
iiber die Grenze unseres Verstandes hinausgehen, auszusagen, aufser
eben das, was uns von den Propheten selbst miindlich oder schriftlich
mitgeteilt wird? Da wir nun heute, soviel ich weifs, keine Propheten
haben, so bleibt uns nichts iibrig, als die heiligen Bucher aufzuschlagen,
die uns die Propheten hinterlassen haben. Dabei miissen wir uns hiiten,
in diesen Dingen etwas zu behaupten oder den Propheten selbst zuzu-
schreiben, was sie nicht selber klar ausgesprochen haben. «17 Das allge-
meine Ergebnis von Spinozas kritischer Untersuchung biblischer T exte
ist, »dafs die Lehre der Schrift nicht erhabene Spekulationen noch
iiberhaupt philosophische Gedanken enthalt, sondern blofs die einfach-
18 Vgl. Th. Hobbes, Leviathan I, 8. Siehe auch Vom Burger, ed. Gawlick,
Meiner 1966, S. 286f., 289ff., 316. Hobbes, der bekanntlich Atheist war, aber
klug genug, um Gottesleugnung fiir »unklug« zu halten - spreche <loch auch in
der Bibel der » Torichte« in seinem Herzen, es sei kein Gott - iiugerte sich iiber
<las Migverhiiltnis von natiirlicher Vernunft und Glauben noch drastischer als
Spinoza: Christus sei nicht in die Welt gekommen, um Logik zu lehren, und die
Pille des Glaubens sei our wirksam, wenn man sie unzerkaut hinunterschlucke.
19 Briefwechsel, S. 242; zum selben Resultat kam zwei Jahrhunderte spiiter F.
Overbeck in seiner Streitschrift Ober die Christlichkeit der heutigen Theologie
(1873).
20 F. Overbeck, Christentum und Kultur, 1919, S. 126££.
21 Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Gluck, ed. C.
Gebhardt, 1959, S. 119 f. Vgl. Theologisch-politischer Traktat, S. 258.
158 Gott, Mensch und Welt
che Sprache des Theologen sprechen, der Gott als einen vollkommenen
Menschen denkt. Die Gedanken Gottes verhalten sich zu unsern
menschlichen Vorstellungen von Gott wie »das Gestirn am Himmel,
das man den Hund nennt, zu einem irdischen Hund«. Es kommt
deshalb darauf an, die der populiiren Fassungskraft angepalsten Vor-
stellungen der Bibel zu entmenschlichen, um sie philosophisch begreif-
lich zu machen. »In der Philosophie aber erkennt man klar, dais man
jene Attribute, die den Menschen vollkommen machen, Gott so wenig
zuschreiben und andichten kann, als man das, was den Elefanten und
den Esel vollkommen macht, den Menschen zuschreiben wollte; hier
haben diese und iihnliche Worte keine Stelle und konnen nicht ohne die
vollste Verwirrung unserer Begriffe gebraucht werden. Um daher philo-
sophisch zu sprechen, darf man nicht sagen, dais Gott von jemandem
etwas verlangt und ebensowenig, dais ihm etwas milsfiillig oder ange-
nehm ist. Das sind alles menschliche Attribute, die bei Gott nicht Platz
haben. «22
Descartes wie Spinoza lebten in dem Bewulstsein, dais sie mit der
philosophischen Theologie der Scholastik gebrochen und eine gefiihrli-
che Neuerung eingefiihrt hatten 23 • Spinoza schreibt zum Beschlufs der
kurzen Abhandlung: »Um nun mit allem zu Ende zu kommen, bleibt
mir nur noch iibrig, den Freunden, for die ich dieses schreibe, zu sagen:
Verwundert euch nicht iiber diese Neuheiten, denn es ist euch sehr wohl
bekannt, dais eine Sache darum nicht aufhort, Wahrheit zu sein, weil sie
nicht von vielen angenommen ist. Und weil euch auch die Beschaffen-
heit des Zeitalters, in dem wir leben, nicht unbekannt ist, will ich euch
hochlichst gebeten haben, dais ihr hinsichtlich der Mitteilung dieser
Dinge an andere wohl Sorge tragt. « Noch entschiedener heilst es im
Anhang zum ersten Teil der Ethik, man miisse, um iiber die Natur und
das Gottliche nicht in Unwissenheit zu verharren, jenes »ganze Gebiiu-
de niederreiBen und ein neues erdenken« -ein Satz, der aus Descartes'
Discours entlehnt sein konnte. Descartes' neue Philosophie hatte schon
sehr bald eine auBerordentliche Wirkung gehabt und bei den Zeitgenos-
sen enthusiastische Anhanger wie auch erbitterte Gegner unter den
Theologen gefunden. 1642 verbot der Senat der Universitat von Ut-
recht, 1648 das Kuratorium der Universitiit Leiden und 1656 ein Edikt
der Staaten Hollands den Unterricht der Cartesischen Philosophie, die
als Feind der Religion und des Staates verdiichtigt wurde, obwohl
Descartes selber niemals im Zweifel lieB, daB er ein gliiubiger Katholik
war und jedem Umsturz abgeneigt, der Staat und Religion hiitte betref-
fen konnen. Um so mehr muBte sich der exkommunizierte Jude Spino-
za, dessen Siegel das Wort caute trug, innerhalb seiner christlichen
Umwelt zur klugen Vorsicht veranlaBt fiihlen und zwischen dem, was er
offentlich kundgab und privat fiir sich behielt, unterscheiden. »Philo-
sophieren« war im 17. Jahrhundert noch kein von staatlichen Universi-
tiiten honorierter Beruf, sondern eine gefahrliche Unternehmung, wie es
immer der Fall ist, wenn offentlich anerkannte Zwangsgewalten die
allgemeine Denkweise der Menschen bestimmen. Die Akkomodatio-
nen eines Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibniz waren um so mehr
geboten, als die Philosophen selber noch bibelkundige Theologen und
die Metaphysik nicht nur Physik, sondern auch christliche Theologie
war und an erster Stelle die Frage nach dem Wesen und der Existenz
Gottes stellte24•
Die zeitgenossischen Angriffe auf Descartes betrafen vor allem seine
Ausschaltung des Offenbarungsglaubens aus der Wissenschaft der Me-
taphysik, d. h. die rein philosophische Behandlung theologischer Pro-
bleme. Ein direkter Angriff au£ die biblische Oberlieferung geschah erst
mit Spinozas Theologisch-politischem Traktat und mit der nie ganz
zum Austrag gekommenen Gleichung von Deus sive natura, von Gott
und Welt der Natur, sowie von Karper und Seele als zwei verschiedenen
modi der einen und einzigen Substanz, zu der als erkennbare Attribute
nicht nur das unendliche Denken, sondern auch die unendliche Ausdeh-
nung gehoren und die er bald Gott und gottliche Natur, aber auch
einfach Natur nennt25 • Fiir Descartes war au£ Grund des Schopfungs-
glaubens die Welt der Natur noch dasselbe, was sie fiir die Scholastik
war, niimlich »die Kunst Gottes«. Als christlicher Denker verstand er
unter Natur nicht die aristotelische Physis, die, im Unterschied zu allem
mit Kunst Hervorgebrachtem, aus sich selber hervorgeht, sondern »die
von Gott eingerichtete Gesamtordnung der geschaffenen Dinge« oder
»Gott selbst« 26, weil die Welt der Natur ein Werk Gottes ist. Man
wiirde dieser Formulierung Gewalt antun, wollte man sie als Natura
sive Deus betonen, und nicht als Deus sive natura. Mit Spinozas Formel
wird dagegen das Verhiiltnis von Gott und Natur, bzw. Welt, zutiefst
zweideutig, und zwar nicht nur fiir seine Zeitgenossen, sondern auch
bei ihm selbst. Er antwortet Oldenburg27: »Was das erste angeht, so
habe ich iiber Gott und Natur eine ganz andere Meinung als jene, die
von den modernen Christen gewohnlich vertreten wird. lch fasse niim-
lich Gott als die immanente und nicht als die iiuBere Ursache aller
Dinge. Ich behaupte eben, daB alles in Gott lebt und webt, geradeso wie
Paulus und vielleicht auch alle antiken Philosophen 28 , wenn auch in
anderer Weise, und ich darf wohl auch sagen, wie alle alten Hebriier,
soweit man aus manchen freilich vielfach verfiilschten Traditionen
schlieBen darf. Wenn es aber Leute gibt, die meinen, der Theologisch-
politische Traktat gehe davon aus, daB Gott und die Natur (worunter
sie eine Masse und eine korperliche Materie verstehen) eines und dassel-
be seien, so sind sie ganz und gar im Irrtum.« Die Zweideutigkeit von
Spinozas Antwort auf Oldenburgs Frage besteht darin, daB er den
neutestamentlichen Glauben, wonach diejenigen, welche an den ge-
kreuzigten und auferstandenen Christus glauben, »in Gott« sind, in die
ganz andere Ansicht iibergehen liiBt, welche die antiken Philosophen
vertreten, wonach alles, was ist, von Natur aus so ist wie es ist, und
nicht anders sein kann, daB die Physis das Sein von Kosmos wie Polis
bestimmt und der Kosmos an ihm selbst etwas Gottliches ist. Spinozas
Vorbehalt beziiglich der Gleichstellung von Gott und Natur betrifft
nicht die natura naturans, sondern die Verwechslung der durch sich
selber seienden und alles bewirkenden Naturkraft mit der korperlichen
Materie.
Die Hauptquelle fiir eine Kliirung der zentralen Frage nach dem
Verhiiltnis von Gott und Naturist, auBer einigen Briefen, die erste und
die endgiiltige Fassung der Ethik. Die urspriingliche Fassung hat den
Titel: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Gluck.
Wenn man diese Abhandlung nur im Hinblick auf ihren Titel liest, dann
kann es - ebenso wie in der Ethik - so scheinen, als habe Spinoza im
Ausgang von Descartes' Affektenlehre nur eine endgiiltige Moral zur
Erlangung der Gliickseligkeit begriinden wollen. DaB dem nicht so ist,
zeigt jedoch der Zusammenhang, in welchem die Lehre vom Menschen
und seinem Gliick mit dem unbedingten, weil aus sich selber bestehen-
den Ganzen steht, das Spinoza Gott oder auch Natur nennt, die beide
causa sui sind; denn auch »die Natur, die aus keiner Ursache hervorgeht
und von der wir dennoch wohl wissen, daB sie ist«, ist so notwendig
28 Der Spinozaartikel von P. Bayle weist darauf hin, daB die antike, insbesonde-
re stoische Lehre von der Weltseele (Seneca, Quaestiones naturales II, 45) im
Grunde auch die des Spinoza sei.
162 Gott, Mensch und Welt
existierend und vollkommen wie Gott29 • »DaB von der Natur alles in
allem ausgesagt wird und daB also die Natur (als natura naturans) aus
unendlichen Attributen besteht, deren jedes in seiner Gattung vollkom-
men ist, - das stimmt durchaus iiberein mit der Definition, die man von
Gott gibt.« 30 Wenn wir die Natur begrenzen wollen, miiBten wir sie
durch ein Nichts begrenzen miissen. »Dieser Ungereimtheit entgehen
wir, wenn wir annehmen, daB sie Eine ewige Einheit ist, durch sich
selbst seiend, unendlich, allmiichtig, usw. « Der Mensch aber ist nur ein
endlicher und also nicht notwendig existierender Tei! der Natur, nicht
von Ewigkeit her gewesen und folglich keine Substanz, zu deren Wesen
es gehort, daB sie weder Anfang noch Ende hat, notwendig existiert und
vollkommen ist. Als ein blof3er und besonderer Tei/ der Natur oder als
ein modus der gottlichen Attribute, kann der Mensch auch nichts »aus
sich selbst« zu seinem Heil und Gluck tun. Die Endabsicht der Ethik ist
also nicht ethisch begriindbar, sondern nur metaphysisch, d. h. aus dem
Gesamtcharakter des Seins alles Seienden: aus Gott oder der naturen-
den Natur. Im darauf folgenden Text spricht Spinoza statt von der
Natur in ihrer urspriinglichen Gesamtheit von Gott, um seine in ihren
Folgerungen so »anstomge« Lehre niiher zu erliiutern.
»Denn die Regeln, die Gott in der Natur gegeben hat, nach
denen alle Dinge entstehen und dauern [...], sind von einer Art, daB
sie niemals iibertreten werden konnen; als da ist, daB der Schwache-
re vor dem Starkeren weichen muB, daB keine Ursache mehr hervor-
bringen kann, als sie in sich hat und dergleichen Gesetze, die von
solcher Art sind, daB sie sich niemals verandern, niemals anfangen,
sondern daB all es unter sie gestellt und geordnet ist. Um in der Kiirze
hieriiber etwas zu sagen: alle Gesetze, die nicht iibertreten werden
konnen, sind gottliche Gesetze [...]. Alie Gesetze, die iibertreten
werden konnen, sind menschliche Gesetze [... ]34 • Da die Gesetze
der Natur machtiger sind, werden die Gesetze der Menschen ver-
nichtet (... ].Denn obgleich die Menschen zu ihrem eigenen Gliick
Gesetze machen und keinen anderen Zweck im Auge haben als ihr
eigenes Gliick dabei zu fordern, so kann doch dieser ihr Zweck
(untergeordnet, wie er ist unter andere Zwecke, die ein anderer im
Auge hat, der iiber ihnen steht und der sie als Teile der Natur in
dieser Weise wirken laBt) auch dazu dienen, mit den ewigen Geset-
zen [... ] zusammen zu gehen und so mit allem andren alles bewir-
ken zu helfen. Obschon z. B. die Bienen mit all dieser Arbeit und
festen Ordnung, die sie untereinander halten, keinen anderen
Zweck im Auge haben, als sich fiir den Winter mit einem bestimm-
ten Vorrat zu versorgen, so hat doch der Mensch, der iiber ihnen
steht, wenn er sie unterhalt und pflegt, einen ganz anderen Zweck,
namlich fiir sich Honig zu bekommen. So hat auch der Mensch,
insofern er ein besonderes Ding ist, sein Augenmerk nicht weiter als
Liebe Gottes zum Menschen und des Menschen Liebe zu Gott •ein und dassel-
be« sei, so bedeutet das nicht, wie bei Hegel, eine dialektische ldentitat des
menschlichen GottesbewuStseins mit Gottes SelbstbewuStsein. Denn Gott kann
auch den Menschen nur lieben, »sofern er sich selbst liebt«, d. h. die Selbstbeja-
hung des einen und ganzen Seins ist die eindeutig undialektische Grundlage jeder
partiellen Bejahung und des universalen Triebs alles Seienden zur Selbsterhal-
tung.
34 • Denn das Gesetz haben die Menschen sich selbst auferlegt, ohne zu wissen,
iiber was sie Gesetze gaben; aber die Natur haben alle Gotter geordnet. Was nun
die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag recht oder unrecht
sein; was aber die Gotter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht.«
0- W. v.Goethe, Werke, Cotta 1829, XXlll, S. 242)
Spinoza. Deus sive natura 165
seine begrenzte Wesenheit reichen kann. Sofern er aber auch ein Tei!
und Werkzeug der gesamten Natur ist, kann dieser Zweck des
Menschen nicht der letzte Zweck der Natur sein, weil sie unendlich
ist und ihn unter alien andren zugleich als eines ihrer Werkzeuge
gebrauchen muB.« 35
Schon aus diesen wenigen Texten, in denen einmal von Gott als
einer Person und ein andermal neutral als Natur die Rede ist, geht
hervor, daB es ein vergebliches Bemiihen ware, Spinozas Begriff von
Gott bruchlos in den von der Natur zu iibersetzen oder diesen in jenen.
Die Formel Deus sive Natura liiBt sowohl eine Interpretation mit dem
Schwergewicht au£ dem einen wie auf dem andern zu, und insofern ist
Spinozas metaphysische Theologie prinzipiell zweideutig. Eindeutig ist
sie jedoch darin, daB dieser philosophische Gott iiber alles bloB
Menschliche hinaus ist. Spinozas Gott-Naturist frei von dem biblischen
Vorurteil, wonach Gott und Mensch eine Partnerschaft bilden, im
Verhiiltnis zu der die Natur etwas aufser uns ist, eine Aufserlichkeit, wie
im deutschen Idealismus 36• Spinozas Gegner konnten ihm mit Recht
vorwerfen, dais er Gott mit der Natur confundiere, aber nicht minder
Recht hat Spinoza, wenn er den christlichen Theologen und Philo-
sophen vorwirft, dais sie Gott mit dem Menschen confundieren, indem
sie ihm allzumenschliche Priidikate zusprechen 37•
Es ist die Zuriickfiihrung der besonderen Natur des Menschen auf
die allgemeine Natur in ihrer Gesamtheit und deren Gleichsetzung mit
Gott, welche Spinozas Ethik kennzeichnet und sie in die Metaphysik als
Physik einbezieht38• lnnerhalb dieses physischen und gottlichen Ganzen
ist aber alles in gleicher Weise vollkommen, obgleich der Mensch als ein
besonderer Tei! dieses Ganzen es nicht unterlassen kann, vergleichend
zu unterscheiden und von mehr oder minder vollkommenen Dingen zu
reden.
42 Siebe in der Biographic von J. Colerus, ed. C. Gebhardt, 1952, S. 47. »Er
pflegte zu seiner Ergiitzlichkeit zuweilen eine Pfeife Tabak zu rauchen, oder
auch, wenn er ein wenig !anger sein Gemiit ergiitzen wollte, so suchte er Spinnen
und lieB sokhe miteinander streiten, oder Fliegen und wad sie in die Spinnenge-
webe und sah alsdann diesem Streit mit solchem Vergniigen zu, daB er zuweilen
dariiber laut zu lachen anfing. «
43 Ethik III, Lehrs. 57, Anm.
168 Gott, Mensch und Welt
Einbildung nach Zwecke vorsetzt, wenn sie etwa Menschen oder Spin-
nen erzeugt, wiihrend sie selbst mit innerer Notwendigkeit und hochst-
er Vollkommenheit unendlich vieles, namlich alles, hervorbringt, wo-
von jedes in seiner Art vollkommen ist.
Im Anhang zum ersten Teil der Ethik erortert Spinoza eine Reihe
von Vorurteilen, die uns hindern, die strenge Verkettung aller Dinge zu
erfassen. Das hauptsiichlichste Vorurteil aber, von dem alle andern
abhiingen, sei, »dais die Menschen gemeiniglich annehmen, alle Dinge
in der Natur handelten, wie sie selber, um eines Zweckes willen« und
dais Gott alles um des Menschen willen gemacht habe, den Menschen
aber, damit dieser ihn verehre. Der Grund fiir diese Verkehrung, welche
»die Natur auf den Kopf stellt«, ist, dais die Menschen zumeist keine
Kenntnis von den verborgenen Ursachen der Dinge haben, wohl aber
den Trieb, ihren eigenen Nutzen zu suchen. Und weil sich die Menschen
dieses Triebes bewulst sind, aber unwissend, warum oder aus welchen
Ursachen sie etwas erstreben und wollen, begniigen sie sich mit dem
oberfliichlichen Bewulstsein der Zwecke ihres Tuns und mit dem Wis-
sen der Zweckursachen. Wenn sie aber in der Natur die gesuchten
Zwecke nicht finden, dann beurteilen sie die natiirlichen Dinge nach
ihrer eigenen Sinnesweise, d. h. als blolses Mittel zum Zweck des
menschlichen Nutzens: die Sonne zum Leuchten, <las Auge zum Sehen,
die Pflanzen und Tiere zur Nahrung usw.
»Und weil sie wissen, dais diese Mittel von ihnen selbst nur
vorgefunden und nicht hergerichtet sind, nahmen sie hieraus Veran-
lassung zu glauben, es sei irgend jemand anderes, der diese Mittel zu
ihrem Nutzen hergerichtet habe. Denn nachdem sie einmal die
Dinge als Mittel betrachteten, konnten sie nicht glauben, dais diese
sich selbst gemacht hiitten, sondern aus den Mitteln, die sie selber
fiir sich herzurichten pflegen, mulsten sie schlielsen, dais es einen
oder mehrere mit menschlicher Freiheit begabte Lenker der Natur
gebe, die alles fiir sie besorgt und alles zu ihrem Nutzen gemacht
hatten [... ]. Aber indem sie zu zeigen suchten, dais die N atur nichts
vergebens tue (das heilst nichts, was nicht zum Nutzen der Men-
schen diente), haben sie, wie mir scheint, damit blols gezeigt, dais die
Natur und die Gotter ebenso wahnsinnig sind wie die Menschen. « 44
Die Lehre vom Zweck verkennt, daB in der Natur alles mit einer
immer gleichen Notwendigkeit und Vollkommenheit vor sich geht und
daB unsere Einschatzung der Dinge (nach niitzlich und schadlich, gut
und schlecht, schon und haBlich, vollkommen und unvollkommen) auf
einer allzu menschlichen Perspektive beruht, welche die Natur der
Dinge selbst mit unsern affektiven Zustanden und Vorstellungen ver-
wechselt. »Aber [... ] die Vollkommenheit der Dinge ist allein nach
ihrer Natur und Kraft abzuschatzen und darum sind die Dinge deswe-
gen nicht mehr oder minder vollkommen, weil sie die Sinne der Men-
schen ergotzen oder beleidigen oder weil sie der menschlichen Natur
zusagen oder ihr widerstreiten.« 45 Der letzte Grund des Vorurteils, daB
die Natur nach Zwecken handle, liegt in dem theologischen Vorurteil,
daB Gott die ganze Welt um des Menschen willen geschaffen habe und
daB sie folglich nichts an ihr selber sei und noch weniger das Eine,
Ganze und Vollkommene.
Ein Zweifel an der Einsichtigkeit des biblischen Glaubenssatzes,
daB die Welt von Gott um des Menschen willen geschaffen wurde,
findet sich schon bei Descartes und, nach Spinoza, bei Leibniz, aber
ohne bei jenem Vorganger und diesem Nachfolger dieselben Konse-
quenzen wie bei Spinoza zu haben. Eingeholt wurde Spinozas radikale
Kritik der Zweckvorstellung erst zweiJahrhunderte spater <lurch Nietz-
sche46.
untersuchen, die Gott sich bei der Schaffung der Welt gesetzt hat
und wollen die Untersuchung der Zweckursachen giinzlich aus
unserer Philosophie verbannen. Denn wir konnen uns nicht anma-
Ben, Gottes Absichten dabei zu wissen, sondern wir werden ihn nur
als die wirkende Ursache aller Dinge betrachten.« 47 Sodann miisse
man sich, um iiber die Gesamteinrichtung der sichtbaren Welt
richtig zu philosophieren, davor hiiten, dais wir uns nicht selbst
iiberschiitzen. » Dies wiirde nicht blots dann geschehen, wenn wir
der Welt Schranken setzen wollten; [...] sondern auch vorziiglich
dann, wenn wir anniihmen, alle Dinge seien blots unsertwegen [...]
geschaffen, oder wenn wir glauben wiirden, den Zweck bei Erschaf-
fung der Welt <lurch die Kraft unserer Einsicht begreifen zu konnen.
Denn wenn es auch im Sittlichen fromm ist, zu sagen, dais alles von
Gott unsertwegen geschehen ist, um dadurch zu grolserem Dank
und Liebe zu ihm veranlafst zu werden, und wenn dies in gewissem
Sinne auch richtig ist, da wir von allen Dingen fur uns irgend einen
Gebrauch machen konnen, ware es auch nur, um unseren Verstand
ist als ,intelligible Freiheit< von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt
worden). Niemand ist dafur verantwortlich, dais er iiberhaupt da ist, dais er so
und so beschaffen ist, dais er unter diesen Umstiinden, in dieser Umgebung ist.
Die Fatalitiit seines Wesens ist nicht herauszulosen aus der Fatalitiit alles <lessen,
was war und was sein wird. Er ist nicht die Folge einer eignen Absicht, eines
Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der Versuch gemacht, ein ,Ideal von
Mensch, oder ein ,Ideal von Gliick, oder ein ,Ideal von Moralitiit, zu erreichen-
es ist absurd, sein Wesen in irgendeinen Zweck hin abwalzen zu wollen. Wir
haben den Begriff ,Zweck, erfunden: in der Realitiit fehlt der Zweck [... ].Man
ist notwendig, man ist ein Stiick Verhiingnis, man gehiirt zum Ganzen, man ist
im Ganzen, - es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verur-
teilen kiinnte, denn das hielse, <las Ganze richten, messen, vergleichen, verurtei-
len [... ].Aber es gibt nichts auf3er dem Ganzen! - Dais niemand mehr verant-
wortlich gemacht wird, dais die Art des Seins nicht au£ eine causa prima zuriick-
gefiihrt werden darf, dais die Welt weder ein Sensorium, noch als ,Geist< eine
Einheit ist, dies erst ist die groBe Befreiung - damit erst ist die Unschuld des
Werdens wieder hergestellt (. . .].Der Begriff ,Gott< war bisher der griilste Ein-
wand gegen <las Dasein [. ..]. Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlich-
keit in Gott: damit erst erlosen wir die Welt.« Vgl. auch Jenseits von Gut und
Bose, § 32, gegen die Interpretation der Herkunft einer Handlung aus ihrer
Absicht.
47 Principia I, S. 10.
Spinoza. Deus sive natura 171
51 » Was mich angeht, so kann ich nicht zugeben, daR Siinde und Boses etwas
Positives sind, geschweige denn, daR etwas gegen den Willen Gottes sei oder
geschehe. Im Gegenteil, ich bestreite nicht nur, daR die Siinde etwas Positives ist,
sondem ich behaupte sogar, daB wir nur uneigentlich, nach menschlicher Rede-
weise sagen konnen, wir siindigen gegen Gott, genau so wie wenn wir sagen, die
Menschen beleidigen Gott [...]. Ich nehme beispielsweise den EntschluR oder
den bestimmten Willen des Adams, von der verbotenen Frucht zu essen. Dieser
BeschluR oder dieser bestimmte Wille fiir sich allein betrachtet, schlieRt so vie!
Vollkommenheit in sich, wie er Realitiit ausdriickt. Das kann man daraus
erkennen, daR wir bei den Dingen nur dann Unvollkommenheiten wahmehmen
konnen, wenn wir andre Dinge ins Auge fassen, die mehr Realitat haben.
Deshalb konnen wir in dem EntschluR Adams, so lange wir ihn an sich betrach-
ten und ihn nicht mit etwas Vollkommenerem, einen vollkommeneren Zustand
Zeigenden vergleichen, keine Unvollkommenheit finden; ja man kann ihn sogar
mit unendlich vielen andren Dingen vergleichen, die im Hinblick au£ ihn weit
unvollkommener sind, wie Steine, Baumstamme usw. Das gibt tatsachlich auch
jeder zu, denn man betrachtet alles mogliche, was man bei den Menschen
verabscheut und mit Widerwillen sieht, bei den Tieren mit Bewunderung, wie
beispielsweise die Kriege der Bienen oder die Eifersucht der Tauben usw., die
man bei den Menschen verachtet, und trotzdem halt man die Tiere deshalb fiir
vollkommener. Da dem so ist, so folgt klar daraus, daR die Siinden, da sie nur
Unvollkommenheit anzeigen, nicht in etwas bestehen konnen, was eine Realitat
ausdriickt, wie Adams EntschluR und seine Ausfiihrung.« Briefwechsel, S. 79 f.
(Nr. 19).
174 Gott, Mensch und Welt
gut oder schlecht, niitzlich oder unniitz ist.« 52 Der wesentliche Unter-
schied zwischen den verschiedenen Existenzen liegt in dem MaBe der
Kraft, mit der sie existieren. Die Kraft jeder faktischen Existenz recht-
fertigt diese in ihrer Art je schon selbst, und weil <las hochste Recht der
Natur ihre Macht ist, kann Spinoza ohne Vorbehalt <las Naturgesetz
anerkennen, daB <las Schwachere dem Starkeren unterliegt. Dasein oder
Existieren ist geradezu die Macht des Seins; nicht existieren ist Ohn-
macht53. Diese Macht ist am starksten und vollkommensten in der
Substanz alles Seienden, d.h. in Gott oder der Naturals natura natur-
ans. Gott oder die Naturist als causa sui diejenige lebendige Kraft, die
alles bewirkt. Sie erscheint im korperlichen Sein als Bewegung und im
denkenden als Begierde54• Das Leben der einzelnen Dinge ist die je
verschiedene Kraft, <lurch die sie in ihrem Dasein beharren. Weil aber
jedes einzelne Ding nur in der Verkettung mit alien andern ist, was es ist,
so verweist alles, was ist, au£ die eine urspriingliche Urkraft oder
Allmacht.
Desgleichen versteht Spinoza »Tugend« im klassischen Sinn als
virtus und fortitudo und ihre vorziigliche Quelle ist das natiirliche
Streben nach dem Niitzlichen. » Wir nennen [... ]gut oder schlecht das,
was der Erhaltung unseres Seins niitzt oder zuwider ist, d. h. <las, was
unsere Wirkungskraft vermehrt oder vermindert, fordert oder hemmt.
Sofern wir daher [...] wahrnehmen, dag etwas uns in Freude oder
Trauer versetzt, nennen wir es gut oder schlecht« 55 • Und weil die
Vernunft nicht fordert, was wider unsere Natur ist, so fordert sie
demnach, daB jeder seinen Nutzen sucht und sich selbst im Dasein
erhalt und es liebt. »Da sodann Tugend [... ] nichts anderes ist als nach
den Gesetzen der eigenen Natur handeln und jedermann [. .. ] sein Sein
nur nach den Gesetzen seiner eigenen Natur zu erhalten strebt, so folgt
daraus [... ], daB die Grundlage der Tugend eben das Streben nach
Erhaltung des eigenen Seins ist, und da/5 das Gluck darin besteht, da/5
der Mensch sein Sein zu erhalten vermag.« 56 Das Hochste was der
Mensch erwarten kann, ist die Zufriedenheit mit sich selbst57•
Mit dieser der Natur des Menschen gemii.15en Ethik hat sich Spinoza
so weit als nur denkbar von dem christlichen Ethos der Demut, der
Selbstverleugnung, des Mitleidens 58 und der Aufopferung entfernt.
Demut ist keine Tugend (virtus), sondern der Tugend der Selbstzufrie-
denheit entgegengesetzt. Sie ist eine Schwii.che der Wirkungskraft, wo-
gegen Eigenliebe oder Zufriedenheit mit sich selbst Freude am eigenen
Dasein erzeugt. »Und da diese Freude sich so oft wiederholt, als der
Mensch seine Tugenden oder seine Wirkungskraft betrachtet, so
kommt es auch daher, da/5 jeder sich danach drii.ngt, von seinen Taten
zu erzii.hlen und die Krii.fte seines Korpers und seines Geistes zur Gel-
tung zu bringen und da/5 die Menschen sich einander aus dieser Ursache
lii.stig fallen.« 59 Am meisten iiber sich selbst erfreut ist der Mensch aber
dann, wenn er etwas besitzt, was andere nicht haben. Der Mensch ist
von Natur aus zu Neid und HaB geneigt. »Dbrigens sind diese Affekte,
ich meine Demut und Kleinmut, ii.u/5erst selten. Denn die menschliche
Natur, an sich betrachtet, stemmt sich ihnen, soviel sie kann, entgegen
[...]. Und daher sind die, die in dem Rufe stehen, ganz besonders
kleinmiitig und demiitig zu sein, meistenteils nur ganz besonders ehrgei-
zig und neidisch. «60
Die »Seele« ist iiberhaupt nur Seele, sofern sie durch den Korper
affiziert wird und ihre korperlichen Affektionen vorstellt: »da [...] das
erste, was die Wesenheit der Seele ausmacht, die Idee des wirklich
existierenden Korpers ist, so ist [... ] das erste und hauptsii.chlichste an
unserer Seele das Streben, die Existenz unseres Korpers zu bejahen.« 61
Korper und Seele sind ein und dasselbe Ding, das wir bald unter dem
Attribut des Denkens, bald unter dem Attribut der Ausdehnung begrei-
fen, wenngleich sich das Korperliche und das Seelische nicht gegenseitig
bestimmen konnen. Zwar meinen wir gemeinhin, daB der Korper auf
den blofsen Wink der Seele bald sich bewege, bald ruhe, und viele
Handlungen verrichte, die allein von dem Willen der Seele und ihrer
Kunst, sich etwas auszudenken, abhiingen. Aber:
62 »Nun werden sie aber sagen, aus den bloBen Gesetzen der Natur, sofern sie
nur als kiirperliche angesehen wird, sei es doch unmiiglich, die Ursachen von
Gebiiuden, Gemiilden, und anderen Dingen dieser Art, die bloB <lurch menschli-
che Kunst verfertigt werden, herzuleiten, und der menschliche Kiirper wiire doch
nimmermehr imstande, ohne Bestimmung und Leitung von seiten der Seele eine
Kirche zu bauen. Allein ich habe bereits darauf hingewiesen, daB sie gar nicht
wissen, was der Korper vermag, oder was aus der bloBen Betrachtung seiner
Natur hergeleitet werden kann, ja, daB sie selbst vieles nach den bloBen Gesetzen
der Natur geschehen sehen, wovon sie sonst nie geglaubt hiitten, daB es ohne die
Leitung der Seele geschehen konnte; wie etwa das, was die Nachtwandler im
Schlafe tun, woriiber sie sich im wachen Zustand selbst wundern. Ich will hier
noch hinzufiigen, daB der Bau des menschlichen Kiirpers selbst an Kiinstlichkeit
alles weit iibertrifft, was menschliche Kunst je gebaut hat, um fur jetzt davon zu
schweigen, was ich oben erwiesen habe, daB aus der Natur unendlich vieles folgt,
unter wekhem Attribut man sie auch betrachten mag.« Ethik Ill, Lehrs. 2.
Spinoza. Deus sive natura 177
und handelt, was allein aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert
und handelt und nicht von etwas anderem, auBer ihm, gezwungen wird.
Wenn ich z. B. beschlieBe, einen Brief zu schreiben und meine Hand
nicht gelahmt ist, so daB ich sie in Bewegung setzen kann, dann ist das
eine Handlung, von der ich das BewuBtsein habe, daB ich sie sowohl
ausfiihren wie auch unterlassen kann. In Wirklichkeit fasse ich aber den
EntschluB zum Schreiben nicht mit unbedingter Willkiir, sondern weil
vordem ein anderer an mich geschrieben hat und Antwort erwartet, so
daB mein BeschluB, ihm zu schreiben, d. i. zu antworten, wenn auch
nicht zwingend verursacht ist, so doch bestimmte Griinde hat. DaB
niemand uns zwingen kann, etwas gegen unsern Willen zu tun, bedeutet
aber nicht, daB wir nicht notwendig frei handeln, indem der Anreiz und
Antrieb zum Schreiben unser Schreibenwollen bestimmt. Der bewuBte
Vorsatz deckt sich nicht mit dem unbekannten Antrieb. Spinoza veran-
schaulicht seinen Gedanken an der Bewegung eines geworfenen Steins.
Er muB sich fortbewegen, solange der Anstofs fortwirkt.
»Denken Sie sich nun, bitte, der Stein denke, indem er fortfahrt,
sich zu bewegen, und er wisse, daB er nach Moglichkeit in der
Bewegung zu verharren strebt. Dieser Stein wird sicherlich, da er
sich doch nur seines Strebens bewuBt und durchaus nicht indifferent
ist, der Meinung sein, er sei vollkommen frei und verharre nur
darum in seiner Bewegung, weil er es so wolle. Und das ist jene
menschliche Freiheit, auf deren Besitz alle so stolz sind und die doch
nur darin besteht, daB die Menschen sich ihres Begehrens bewuBt
sind, aber die Ursachen, von denen sie bestimmt werden, nicht
kennen. So halt sich das Kind fiir frei, wenn es nach Milch begehrt.
Der Knabe, wenn er im Zorne die Rache, der Furchtsame, wenn er
die Flucht will. Auch der Betrunkene glaubt, er rede aus freiem
EntschluB seines Geistes, wenn er Dinge sagt, die er spater im
niichternen Zustande lieber verschwiegen haben wollte. So glauben
die Leute im Fieberwahn, die Schwatzer und andere von der Sorte,
sie handelten nach freiem EntschluB ihres Geistes, und sie glauben
nicht, daB sie von einem AnstoB getrieben werden. Und da dieses
Vorurteil allen Menschen eingeboren ist, machen sie sich nicht
leicht davon Jos. Denn die Erfahrung lehrt uns zwar genug und
iibergenug, daB die Menschen zu nichts so wenig imstande sind als
dazu, ihre Begierden zu mafsigen, und daB sie oft, eine Beute wider-
strebender Affekte, das Bessere sehen und dem Schlechteren folgen,
178 Gott, Mensch und Welt
und doch glauben sie frei zu sein, und zwar deshalb, weil sie man-
ches nur oberflachlich begehren [...]« 63
63 Briefwechsel, S. 236£. (Nr. 58); vgl. Ethik III, Lehrs. 2: »So lehrt also die
Erfahrung ebenso klar als die Vernunft, daB die Menschen sich allein aus der
Ursache fiir frei halten, weil sie sich ihrer Handlungen bewuBt und der Ursachen,
von denen sie bestimmt werden, unkundig sind; und auBerdem lehrt sie, daB die
Beschliisse der Seele nichts weiter sind als die Triebe selbst, weswegen sie je nach
der verschiedenen Beschaffenheit des Korpers verschieden sind. Denn jeder tut
alles auf Grund seines Affekts; und wer von entgegengesetzten Affekten be-
drangt wird, der weiB nicht, was er will; wer aber gar keinen Affekt hat, liiBt sich
treiben. Dies alles zeigt in der Tat klar, daB der BeschluB der Seele, sowie ihr
Trieb, und die Bestimmung des Korpers der Natur nach zugleich oder vielmehr
ein und dieselbe Sache sind, die wir BeschluB nennen, wenn sie unter dem
Attribut des Denkens betrachtet und dadurch erklart wird, und die wir Bestim-
mung heiBen, wenn sie unter dem Attribut der Ausdehnung betrachtet und aus
den Gesetzen der Ruhe und Bewegung hergeleitet wird. « - Hobbes veranschau-
licht in einer Kontroverse iiber Liberty, Necessity and Chance (Werke V, ed.
Molesworth, 1841, S. 51ff. u. 260; vgl. Leviathan II, 21) in ganz ahnlicher
Weise das Paradox der freien Notwendigkeit. Ein Kreisel, der von einem Knaben
gepeitscht wird und hin und her lauft, wiirde, wenn er sich seiner Bewegung
bewuBt ware, meinen, daB sie von seinem eigenen Willen ausgehe, es sei denn, er
wiiBte, wer ihn peitscht. »Und ist ein Mensch etwa weiser, der seinen Geschaften
nachgeht oder Biicher schreibt, wenn er meint, er tue es ohne andere Ursache als
seinen eigenen Willen?« Desgleichen sagt Leibniz gegen Descartes' Auffassung
von der Freiheit und im scheinbaren Einverstandnis mit Spinoza, daB wir durch-
aus nicht immer die Ursachen bemerken, von denen unsere freie Entscheidung
abhangt. »Das ist, als ob man sagen wiirde, die Magnemadel finde ein Vergnii-
gen daran, sich nach Norden zu drehen; sie glaubt sich unabhangig von jeder
auBeren Ursache zu drehen, und bemerkt nicht die unmerklichen Bewegungen
der magnetischen Materie.« (Theodicee I, § 50 und die Betrachtungen zu der
Schrift von Hobbes.) Jacobi, der diese Stelle zitiert, warder Oberzeugung, daB
Leibniz iiberhaupt vie! mehr Spinozist war, als er es selber wahrhaben wollte und
daBnur ein » Blendwerk « seine Theorie der Freiheit von der Spinozas unterschei-
de. Vgl. A. Lovejoy, The Great Chain of Being, 1933 (Nachdruck 1957), c. V,
s. 170ff.
Spinoza. Deus sive natura 179
Untersucht man jedoch genauer, was vor sich geht, wenn wir reden,
so zeigt sich, dafs wir ohne Gediichtnis weder handeln noch reden
konnten; wir miissen die Worte, die wir sagen wollen, erinnern; sich
eines Dinges erinnern oder es vergessen, steht aber nicht in der Macht
der Seele und ihres Willens. Andrerseits konnen wir auch im Zustand
des Traumes reden, wobei sich die Sprechorgane des Korpers unwill-
kiirlich von selbst bewegen, und ferner konnen wir ebenso wie wir im
Wachen nicht immer alles sagen, was wir denken, auch triiumen, dafs
wir etwas verschweigen. Aus alldem geht hervor, dafs wer glaubt, er
rede oder schweige oder tue sonst etwas ausschlielslich infolge eines
freien Beschlusses der Seele, mit offnen Augen triiumt und nicht weifs
was er sagt.
Der Mensch, der sich als Tei! der Natur begreift, verzichtet verniinf-
tigerweise beziiglich des Ganzen auf Zwecke. Als ein besonderer Tei!
der Natur kann er zwar nicht umhin, sich abzusondern und nach
eigenen Zwecken zu handeln und sich einzubilden, dafs er so handle,
wie er wolle; aber er sollte wissen, dafs in allem freigewollten und
zweckgerichteten Handeln verborgene Ursachen wirksam sind, die be-
wirken, dafs er so und nicht anders wiihlt, entscheidet und handelt.
Spinozas Lehre von der freien Notwendigkeit des Handelns relativiert
unser bewufstes Konnen und Wollen zum unwillkiirlichen Miissen, um
in dem besonderen Teil, der wir sind, das allgemeine und absolute
Ganze und <lessen unendliche Macht und Kraft als causa immanens und
sui zu Gesicht zu bringen.
Die Frage, wie man das Verhaltnis des absoluten Ganzen der einen
unendlichen Substanz zu ihren endlichen Teilen verstehen soil oder was
die »Immanenz« des Ganzen in seinen Teilen bedeutet, wenn sie die
Differenz in der Identitat der Alleinheit nicht beseitigen soil, ist nicht
erst bei Mendelssohn und Jacobi, Schelling und Hegel zum Thema der
Auseinandersetzung mit Spinoza geworden; das Verhaltnis des Ganzen
zu seinen Teilen oder des Unendlichen zum Endlichen gait schon fiir
Spinozas Zeitgenossen als erklarungsbediirftig, und der Spinozaartikel
von Bayle hat vorziiglich das Verhaltnis der einen Substanz zu den
vielen Modifikationen zum Gegenstand der Kritik gemacht, weil der
Theismus nicht zulassen kann, da/3 auch der Mensch nur eine Modifika-
tion des We/tails ist. Leibniz hat sich sein Leben lang immer wieder mit
Spinozas Lehre von der Substanz auseinandergesetzt, um schlieBlich in
der Monadologie einen Standpunkt zu finden, der ihm gegen die Konse-
quenzen des Spinozismus gesichert schien. Er bekennt in den Nouveaux
Essais:
» Ich war etwas zu weit gegangen und hatte angefangen, mich
auf die Seite der Spinozisten zu neigen, welche Gott nur eine unend-
liche Macht zuschreiben, ihm Weisheit und andere Vollkommen-
heit absprechen, die Lehre von den Endursachen verachten und alles
aus einer absichtslosen Notwendigkeit herleiten. Hiervon hat das
System der Harmonie mich geheilt und ich lege mir seitdem zuwei-
len den Namen Theophilus bei.«
Als man ihm vorhielt, daB auch sein neues System den Geist des
Spinozismus enthalte, erwiderte er:
»"!ch sehe nicht, wie Sie hier Spinozismus herausbringen wollen.
Im Gegenteil, gerade <lurch die Monaden wird der Spinozismus
umgestoBen. Denn soviel Monaden, soviel wirkliche Substanzen
oder unzerstorbare, gleichsam lebendige Spiegel des Universi, oder
konzentrierte Welten sind vorhanden; da es hingegen nach Spinoza
nur eine einzige Substanz geben kann. Wiiren keine Monaden, so
hiitte Spinoza Recht, und alles, auBer Gott, wiirde voriibergehend
sein und als zufallige Beschaffenheit oder Modifikation verschwin-
den, weil den Dingen ein eigener Grund des Bestehens, die Substanz
fehlte, welcher <lurch die Monaden gegeben wird.« {Brief an Bour-
guet vom Dez. 1714)
Wenn es jedoch das substanzielle Ganze our in den Spiegelungen
Spinoza. Deus sive natura 181
von individuellen Monaden gibt und nicht als die eine Kraft, die alles
zur Existenz bringt, was nicht durch sich selbst existiert, dann verfliich-
tigt sich das physische Ganze in ein es geistig vorstellendes System der
prastabilierten Harmonie des Vielen 65 •
Spinoza hat sich iiber <las Verhaltnis der einen und einzigen Sub-
stanz zu all ihren vielen Teilen am ausfiihrlichsten in einem Brief
erklart, ohne jedoch zu beanspruchen, daB er wisse, wie jeder Tei! im
einzelnen Fall mit den iibrigen Teilen und mit dem Ganzen zusammen-
stimme.
»Beziiglich des Ganzen und seiner Teile betrachte ich die Dinge
insofern als Teile eines Ganzen, als ihre Natur sich wechselseitig so
einander anpaBt, daB sie so weit als moglich untereinander iiberein-
stimmen; sofern sie aber voneinander verschieden sind, insofern
bildet jeder in unsrem Geiste eine von den anderen verschiedene
Idee und wird darum als ein Ganzes, nicht als ein Tei! betrachtet
[. . .]. Nehmen wir etwa einmal an, im Blute lebe ein Wiirmchen, das
mit Sehkraft begabt ware, um die Teilchen des Blutes, der Lymphe
usw. zu unterscheiden, und mit Vernunft begabt, um zu beobach-
ten, wie jedes Teilchen im ZusammenstoB mit einem anderen ent-
weder zuriickprallt oder diesem einen Tei! von seiner eignen Bewe-
gung mitteilt usw. Dieses Wiirmchen wiirde immer im Blut leben,
wie wir in diesem Teile des Universums, und es wiirde jedes Blutteil-
chen als ein Ganzes, aber nicht als einen Tei! betrachten und nicht
wissen konnen, wie alle Teile von der allgemeinen Natur des Blutes
beherrscht werden und gezwungen, sich so wie die allgemeine Na-
tur des Blutes erfordert, einander anzupassen, um in gewisser Weise
miteinander iibereinzustimmen [... ].
Und da ja die Natur des Universums nicht wie die Natur des
Blutes begrenzt [... ] ist, so werden infolge dieser Natur derunendli-
chen Moglichkeit die Teile des Universums in unendlichen Modis
modifiziert und miissen unendliche Veranderungen erleiden [... ].
Sie sehen also [... ] warum ich den menschlichen Korper als
einen Teil der Natur betrachte. Was aber den menschlichen Geist
angeht, so halte ich ihn ebenfalls fiir einen Teil der Natur. Ich nehme
namlich an, daB es in der Natur auch eine unendliche Moglichkeit
des Denkens gibt, die, insofern sie unendlich ist, die ganze Natur
objektiv in sich enthii.lt und deren Gedanken in derselben Weise
erfolgen wie die Naturals ihr Vorgestelltes.« 66
Die kiihne Neuerung, welche fiir Spinozas Zeitgenossen in dieser
Immanenz des Ganzen in seinen T eilen lag und dazu fiihrte, sein System
als Pan-theismus oder auch A-theismus 67 zu bezeichnen, weil es keine
der Welt transzendente und personliche Gottheit kennt, sondern Gottes
Macht und die Macht der Natur gleichstellt, ist uns heute nicht mehr in
ihrer herausfordernden AnstoBigkeit prii.sent, weil wir nicht mehr im
Rahmen der biblischen Schopfungslehre denken, wonach die Welt der
Natur nur dadurch zu Gott ein Verhii.ltnis hat, daB sie von ihm aus dem
Nichts geschaffen ist. Indem Spinoza dieses ungleichartige Verhii.ltnis
eines iibernatiirlichen und auBerweltlichen Gottes zu einer natiirlichen
Welt in das gleichartige Verhaltnis von natura naturans und naturata
umdenkt68 und die vielen Teile der natura naturata als Erzeugnisse des
einen und urspriinglichen Ganzen der natura naturans versteht, hat er
die creatio ex nihilo liquidiert und Gott durch das Attribut der Ausdeh-
nung naturalisiert. Denn wie sollte ein Gott, der immaterieller Wille
und Geist ist, eine korperliche Welt hervorbringen konnen - es sei denn
aus Nichts, was aber vollig unbegreiflich ist, denn aus Nichts wird
nichts 69 •
70 Ethik III, Lehrs. 6; vgl. Kurze Abhandlung, S. 124: »Alles Leiden[...] muB
von einem auBerlich Tatigen, nicht von einem innerlich Tatigen entstehen; denn
kein Ding, an sich betrachtet, hat in sich cine Ursache, um sich vernichten zu
konnen, wenn es ist, oder sich hervorbringen zu konnen, wenn es nicht ist.«
71 Ethik Ill, Lehrs. 7 und 8 und IV, SchluB der Vorrede; vgl. IV, Lehrs. 4:
»Ferner, wenn es moglich ware, daB der Mensch bloB solche Veranderungen
erleiden konnte, die <lurch seine eigene Natur allein eingesehen werden konnen,
so wiirde daraus [... ] folgen, daB er nicht vergehen konnte, sondern daB er
notwendigerweise immer existierte. Nun miiBte dies aus einer Ursache folgen,
deren Kraft entweder endlich oder unendlich ist: namlich entweder aus der Kraft
des Menschen allein, der dann vermogend ware, alle iibrigen Veranderungen,
die <lurch auBere Ursachen entstehen konnen, von sich fernzuhalten, oder aus
der unendlichen Macht der Natur, von der dann alles einzelne dergestalt geleitet
werden wiirde, daB der Mensch bloB solche Veranderungen erleiden konnte, die
zu seiner Erhaltung dienen. Nun ist aber das Erste[...] ungereimt. Wenn es also
moglich ware, daB der Mensch bloB solche Veranderungen erlitte, die <lurch
seine eigene Natur allein eingesehen werden konnen, und daB er folglich [...]
184 Gott, Mensch und Welt
Korper derart affizieren, daB dieser eine andere der friiheren entge-
gengesetzte Natur annimmt, von deres in der Seele [... ] keine Idee
geben kann. DaB aber der Mensch infolge der Notwendigkeit seiner
Natur danach streben sollte, nicht zu existieren [... ], ist ebenso
unmoglich, als daB aus Nichts Etwas werde, wie jeder bei einigem
N achdenken sehen kann. «72
Noch drastischer driickt sich Spinoza in der Antwort auf einen Brief
an Blyenbergh aus, der ihn gefragt hatte, nach welcher Regel er iiber-
haupt noch zwischen Laster und Tugend unterscheiden konne, wenn
Tugend einfach virtus ist und diese eine Kraft zur Selbsterhaltung, mag
sich ein Mensch auf diese oder jene Weise zu erhalten streben. Spinoza
antwortet:
»Es ist gerade so, als wollte mich jemand fragen: wenn es zu
jemandes Natur besser paBte, daB er sich aufhinge, ob es da Griinde
fiir ihn gebe, sich nicht aufzuhiingen? Aber gesetzt, es ware moglich,
daB es eine derartige Natur giibe, dann sage ich (ganz gleich, ob ich
die Willensfreiheit zugebe oder nicht): wenn jemand findet, daB er
am Galgen besser leben kann als an seiner Tafel, dann wiirde er sehr
dumm handeln, wenn er nicht hinginge sich aufzuhiingen. Wer klar
einsiihe, daB er auf dem Wege des Verbrechens in Wahrheit voll-
kommener und besser sein Leben und Wesen genieBen konnte, als
auf dem Wege der Tugend, der ware auch ein Tor, wenn er es nicht
tiite. Denn die Verbrechen waren Tugend in Beziehung auf eine so
verkehrte menschliche Natur.« 73
Die Natur, wie sie Spinoza begriff, inbegriffen die »verkehrte«, ist,
im Riickblick auf Nietzsche gesagt, ein »ewiges Jades Seins«, weil die
natura naturans als das Sein alles <lessen, was ist, die Macht und die
Wahrheit alles Seienden, rein sofern es iiberhaupt ist, evidentermaBen
bezeugt. Die essentia Gottes oder der Natur schlieBt in dem Faktum
ihrer existentia deren wesentliche potentia ein. Diesem ewigen »Jades
Seins« wollte Nietzsche mit einem »ewig bin ich dein Ja« entsprechen;
Spinoza hiitte darauf erwidert: ein solches Jades eigenen Willens eriib-
rige sich, denn sofern ich iiberhaupt da bin, bejahe ich schon notwen-
dig, von Natur aus, meine und alle Existenz.
So notwendig es aber ist, daG der Zufall des Seienden im Ganzen
iiberhaupt ist- denn wie sollte die Welt auch nicht sein konnen, es sei
denn, man niihme an, sie sei eine Schopfung aus Nichts, -so fragwiirdig
ist es doch, ob der besondere T eil dieses Ganzen, welchen wir Mensch
nennen, der Selbstbejahung des Seins im Ganzen entsprechen muls und
es nicht nur kann, niimlich sofern er es will. Zwar kann man auch das
Seiende im Ganzen als nichtig denken, doch setzt man damit unver-
meidlich voraus, dais deres nichtig Denkende ist und dam it zugleich das
Ganze der Welt, in dem er und durch das er iiberhaupt da ist. Sich selbst
kann der Mensch aber nicht nur aus der Welt wegdenken, sondern
tatsiichlich vernichten, oder, theologisch gesagt: er kann, wie Kiriloffin
Dostojewskis Damonen, Gott »die Eintrittskarte zuriickgeben «74• In-
dem sich Kiriloff ohne jeden besonderen Grund totet, will er sich selbst
beweisen, daB Gott keine Macht iiber ihn hat, wohl aber der Mensch
seiner selbst miichtig ist, obwohl er nicht durch sich selber da, causa sui
ist.
Spinoza hatte sich zeitlebens gegen den Vorwurf des Atheismus zu
wehren. GewiG war er sich der Kiihnheit seiner Gedanken bewulst,
doch lag ihm, sowenig wie Descartes, die Attitude des Aufstiindischen,
und zum Martyrer seiner Lehre fiihlte er sich als ein Mensch, dem es
ausschlielslich um die Erkenntnis ging, die nicht fiir jedermann, sondern
fiir wenige ist, nicht berufen. Der Wahlspruch seines Siegels war caute
und dazu gehort die Klugheit, welche den Vorurteilen und der Fas-
sungskraft der Menge und auch der Leser und Korrespondenten Rech-
nung tragt. Man kann sich heute, nach zwei Jahrhunderten eingeiibter
religioser Toleranz, und schlielslich Indifferenz, nur noch schwer vor-
stellen, was es im 17. Jahrhundert bedeutete, ein libertin zu sein. Und
wenn Leibniz seine Beziehung zu Spinoza als vie! oberflachlicher hin-
stellte, als sie in Wahrheit gewesen ist, so spielt auch dabei eine Rolle,
dal5 der Atheismus wie eine ansteckende Seuche gefiirchtet und mit
alien Mitteln bekiimpft wurde. Wenn freilich »Atheismus«, wie ihn
Spinoza einmal definiert, nur bedeuten wiirde, »nach Ehren und Reich-
74 Die Damonen II (1906), S. 415 £.; I, S. 158£. Vgl. Tagebuch eines Scbri~stel-
lers III (1922), S. 20ff. und 128££.
Spinoza. Deus sive natura 18 7
thiimern streben« 75, dann war Spinoza zweifellos kein Atheist. Wenn
Atheistsein aber soviel bedeutet wie an keinen personlichen, richtenden
und erlosenden Gott jenseits der irdischen Welt glauben, dann war er es
zweifellos. Der viel zitierte »amor intellectualis Dei« betrifft kaum noch
den Gott der Philosophen, geschweige der Bibel, sondern einen Gott,
den Spinoza der Natur und dem Weltall gleichstellt. Die Rede von einer
»gottlichen Natur« 76 kann daher einmal Gottes Natur oder Wesen
bedeuten und ein andermal die Gottlichkeit der Naturals solcher. Einen
so zweideutigen »Gott« kann man nicht wahrhaft »lieben «. Was Spino-
za in der kurzen Abhandlung Liebe nennt und auf Gott bezieht, wird
spiiter vorziiglich als Liebe zum Sein verstanden, d. i. als das allem von
Natur aus Seienden zugrunde liegenden Streben nach Selbstliebe im
Sinn von Selbsterhaltung.
Der Brief von L. van Velthuysen an J. Ostens, worin er diesem
Spinozas Hauptlehren aus dem Theologisch-politischen Traktat er-
kliirt, diirfte nicht nur die opinio communis wiedergeben, die iiber
Spinoza im Umlauf war, sondern in der Hauptsache zutreffen: Spinoza
habe all seinen Scharfsinn darauf verwandt, sich selbst und seine Mit-
menschen von jedem Aberglauben und allen Vorurteilen zu befreien, sei
aber darin so weit gegangen, daB er alle Religion aufgehoben habe.
»Auf jeden Fall kommt er nicht iiber die Religion der Deisten
hinaus, deren es[ ...] iiberall eine sehr groBe Zahl gibt und nament-
lich in Frankreich, wo gegen sie Mersenne eine Abhandlung verof-
fentlichte [...]. lch glaube aber, keiner hatwohl von alien Deisten so
boswillig und so schlau und verschlagen jene abscheuliche Sache
befiirwortet als der Verfasser dieser Abhandlung. AuBerdem halt
sich dieser Mensch, wenn mich meine Auffassung nicht tiiuscht, gar
nicht in den Grenzen der Deisten, und Iii.Gt den Menschen nicht
einmal den geringsten Rest von Gottesdienst. «77
Spinoza anerkenne zwar dem Worte nach Gott, aber die natiirliche
Weltordnung sei so notwendig wie die Natur Gottes. Eine solche Denk-
weise lasse keinen Raum fiir moralische Vorschriften und religiose
Gebote, fiir Gebet und Gottesverehrung. Und in der Tat: welchen
philosophischen Sinn sollten fiir Spinoza solche allzumenschlichen An-
sichten haben, wonach Gott wie ein Konig richtet, bestraft und belohnt,
je nach Befolgung oder MiBachtung seiner Befehle.
»Das stimmt mit seinen Prinzipien iiberein; denn wie kann die
Rede sein von einem jiingsten Gericht oder wie die Aussicht auf
Belohnung und Strafe, wenn man alles dem Fatum zuschreibt und
alles mit unausweichlicher Notwendigkeit von Gott ausgehen laBt,
oder vielmehr, wenn man behauptet, dieses gesamte Weltall sei
Gott? Denn ich fiirchte, unser Autor ist von dieser Meinung nicht
sehr weit entfernt. Au£ jeden Fall ist kein groBer Unterschied zwi-
schen der Behauptung, daB alles notwendig aus Gottes Natur her-
vorgehe und jener, daB das Weltall Gott selber sei.« 78
»Das kann man wenigstens aus der Schrift des Autors sehen,
daB <lurch seine Begriindung und Argumentation die Autoritat der
ganzen Heiligen Schrift zerstort wird, und er ihrer nur der Form
wegen Erwahnung tut, gerade so wie aus seinen Aufstellungen sich
ergibt, daB er den Koran mit dem Worte Gottes gleichstellt. Es
bleibt dem Autor auch nicht ein Beweisgrund, um darzutun, daB
Muhammed lcein wahrer Prophet gewesen ist, weil die Tiirken auch
nach der Vorschrift ihres Propheten die moralischen Tugenden,
iiber die alle Volker einig sind, pflegen, und es ja nach der Lehre des
Autors bei Gott nicht selten vorkommt, daB er auch Heiden, denen
er die den Juden und Christen gespendeten Orakel nicht mitgeteilt
hat, durch andere Offenbarungen au£ die Bahn der Vernunft und
der Tugend fiihrt. Ich glaube also, mich nicht sehr von der Wahrheit
entfernt zu haben, und dem Autor kein Unrecht zu tun, wenn ich ihn
beschuldige, daB er in verdeckten und geschminkten Argumenten
den reinen Atheismus lehrt. «79
Spinoza erwiderte dem Ubermittler dieses Briefes, der Verfasser
habe seine Gesinnung vollig miBdeutet, und was Herr Velthuysen unter
Religion und Aberglaube verstehe, wisse er nicht. Denn wie konne man
ihm, Spinoza, alle Religion absprechen, der doch ausdriicklich gelehrt
habe, daB Gott das hochste Gut und mit freiem Sinn zu lieben sei. Der
Verfasser verstehe auch nicht, was doch jeder leicht begreifen konne,
daB Gott vollkommen frei und doch notwendig handle und also nicht
durch ein Fatum gezwungen sei. Die entscheidende Frage wird jedoch in
Spinozas Antwort umgangen:
»Ich will hier nicht die Frage aufwerfen, warum es dasselbe ist
oder nicht sehr voneinander verschieden, zu behaupten, alles gehe
notwendig aus der Natur Gottes hervor oder das Universum sei
Gott.« 80
Und was schlieB!ich die Gleichsetzung des Korans mit der Bibel
betrifft, so konne man von ihm nicht verlangen zu beweisen, daB
Muhammed ein falscher Prophet gewesen sei, vielmehr hatten die Pro-
pheten zu beweisen, daB sie wahre seien. »Was aberdie Tiirken unddie
iibrigen Heiden angeht, so haben sie, wie ich glaube, den Geist Christi,
wenn sie Gott durch Gerechtigkeitspflege und Nachstenliebe verehren,
und sie sind selig, was immer sie auch in ihrer Unwissenheit iiber
Muhammed und die Orakel denken mogen. «
Am Ende des Briefs kommt Spinoza nochmals auf den Vorwurf
eines verdeckten Atheismus zuriick, der ihn offenbar schwer getroffen
hat81• Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daB sich Spinoza selbst
alien Ernstes fiir keinen Atheisten hielt. Das besagt aber nicht, daB er
den Glauben fiir sich beansprucht und, statt zu philosophieren, From-
migkeit und Gehorsam gepredigt hatte, sondern nur, daB er einen
philosophischen Gottesbegriff fiir unentbehrlich hielt und ihn nicht
kurzerhand durch den Begriff »Natur« ersetzte. Die Auseinanderset-
zung mit dem Gottesbegriff der scholastischen, arabisch-aristotelischen
und jiidischen Tradition ist gar nicht zu iibersehen und ohne den Bezug
auf die theologische Oberlieferung sind die zwei ersten Teile der Ethik
nicht zu verstehen. Was soil man aber unter einem Theismus verstehen,
der Gott und Natur gleichstellt, oder doch »nicht sehr voneinander
verschieden« denkt? Mulste der Theologisch-politische Traktat nicht
notwendig bei Juden wie Christen als ein »liber pestilentissimus« gel-
ten, das den Offenbarungsglauben untergriibt und das Tor zum Atheis-
mus offnet? In diesem Sinn wird Spinoza von Bayle eingefiihrt: »II a ete
un Athee de Systeme et d'une methode toute nouvelle, quoique le fond
de sa doctrine lui fut commun avec plusieurs autres philosophes anciens
et modernes, Europeens et Orientaux. « Der Theologisch-politische
Traktat insbesondere sei ein verabscheuungswiirdiges Buch, das den
Samen der Gottesleugnung ausstreue, weswegen von iiberall her »!es
esprits forts«, d.h. die Freigeister, zu Spinoza gekommen seien. Doch
kann der Verfasser des Spinozaartikels ehrlicherweise nicht umhin zu
bemerken, dais Spinoza nach dem Zeugnis aller, die ihn kannten, ein
Mensch »d'un bon commerce, affable, honnete, officieux et fort regle
clans ses mreurs« gewesen sei. Dies sei sonderbar. Aber im Grunde diirfe
man sich nicht mehr dariiber verwundern, als wenn man Leute sehe,
welche sehr gottlos leben, obwohl sic ans Evangelium glauben. Leib-
niz82 hat Spinozas Traktat »eine bis zur Unertriiglichkeit freche Schrift«
ergibt sich mit metaphysischer und moralischer Notwendigkeit aus ihrem eige-
nen, iibernatiirlichen Wesen. •Die Idee der Unsterblichkeit ist uns so tief einge-
priigt und so wesentlich, daB wir ohne dieselbe uns selbst ein ganz unlosbares
Riitsel, ein Wesen voller Widerspriiche wiiren. « Bei Spinoza ist umgekehrt nichts
so widerspruchsvoll wie seine Bemiihung, die traditionelle Lehre von der Un-
sterblichkeit der Seele trotz ihres wesentlichen Bezugs au£ den Karper wenigstens
teilweise retten zu wollen. Siehe Ethik III, Lehrs. 11, Anm.; V, Lehrs. 39; Kurze
Abhandlung, S. 116 und 123.
83 Schriften zum Pantheismusstreit, S. 344£.
84 Zu dem Gespriich Jacobis mit Lessing iiber Spinoza, <lessen Veroffentli-
chung den Pantheismusstreit ausloste, siehe auch Schelling IV, 420££., wo dieser
die Frage aufwirft, wer von beiden den andern ausgeholt habe, •niimlich wirk-
lich «. Die auBerordentliche Bedeurung der Schriften Jaco bis zum Pantheismus-
streit besteht darin, daB in ihnen noch innerhalb der Goethezeit die Frage des
philosophischen Atheismus als ein entscheidendes Problem aufgeworfen wird,
das erst zwei Jahrhunderte spiiter <lurch Nietzsche zum Austrag kam. Im Unter-
schied zu Schelling und Hegel hatte Jacobi begriffen, daB es einen spekulativen
Weg zu einer wirklichen GottesgewiBheit nicht gibt, sondern nur einen »salto
192 Gott, Mensch und Welt
Aber vielleicht hat Spinoza nicht nur nicht alles gesagt, was er
dachte, sondem auch gar nicht alles denken konnen, was fiir uns, die
Erben der durch ihn eroffneten Religionskritik, kaum noch des Den-
kens und Sagens wert ist: da{J uberhaupt kein Gott ist - weder ein
glaubwurdiger, noch ein denkwurdiger, weder ein anwesender noch ein
abwesender. Wir sind in der Tat weder Theisten noch Atheisten, weil
wir uns kaum noch vorstellen konnen, weshalb die Metaphysik iiber-
haupt so lange und so beharrlich metaphysische Theologie war und
meinte, Gott unbedingt denken zu miissen und nicht nur das Ganze der
Welt, deren Gottlosigkeit fiir uns evident ist. Wir konnen auch Goethes
mortale«, den Lessing seinen »alten Beineit« und seinem »schweren Kopf« nicht
mehr zumuten wollte, obwohl er Jacobi zugestand, daB »ein Mann von Kopf«
einen solchen Kopfsprung machen konne, um von der Stelle zu kommen (F. H.
Jacobi, Werke IV/1, 1819, S. 59 und 74). Jacobi bestand darauf, daB der
Spinozismus als cine in sich vollig konsequente und unwiderlegliche Philosophic
notwendig zum Atheismus fiihre. »Solches ward mir klar, und daB darum
Spinozismus Atheismus sei. Ungeachtet des Hasses mancher zur Klasse der
Philosophen gezahlten Leute gegen dieses Wort, welches sie aus der Sprache zu
verbannen wiinschen und wogegen sie unter andern erinnern: ein Atheist sei am
ersten derjenige, welcher an Atheismus glaube - kann es seine Bedeutung nicht
verlieren. Gesetzt auch, man andert den Namen und spricht von Cosmotheis-
mus, so bleibt dennoch die Sache, was sie gewesen. Meine Bride iiber die Lehre
des Spinoza wurden deshalb nicht geschrieben, um ein System <lurch das andere
zu verdrangen, sondern um die Uniiberwindlichkeit des Spinozismus von seiten
des logischen Verstandesgebrauches darzutun, und wie man ganz folgerecht
verfahre, wenn man bei dem Ziele dieser Wissenschaft, daB kein Gott sei,
anlange« (a.a.O., S. XXXVI.2£.). Jacobi hatte ein sicheres Gefiihl fiir die Zwei-
deutigkeit eines wie immer gemilderten und verklarten Spinozismus, der mit
Berufung au£ einzelne Stellen der Ethik und des Theologisch-politischen Trak-
tats die gottliche Vorsehung, Gottes RatschluB und Beistand unter dem Titel
einer blinden Naturgesetzlichkeit retten mochte, wahrend Spinoza in seinem
Kampf gegen die geoffenbarte Religion die religiosen Redensarten von Vorse-
hung, RatschluB usw. fiir etwas ganz anderes verwendete. Der Scharfblick fur
die atheistischen Konsequenzen des Spinozismus hinderteJacobi aber nicht, den
»unendlich frommeren Atheismus« Spinozas dem gehaltlosen Theismus vorzu-
ziehen. Er hat gegeniiber Spinozas Entmenschlichung Gottes auch klar erkannt,
daB der christliche Glaube wesentlich anthropomorphistisch ist, weil christliche
Theologie iiberhaupt nur als Anthropo-Theologie denkbar ist, wogegen alles
Heidentum »cosmotheistisch« ist (IV/1, S. 216£. Anm. und XLIX). Seine Uber-
legenheit gegeniiber der Spinozakritik von Bayle und Leibniz hinsichtlich des
Atheismus besteht, mit seinen eigenen Worten gesagt, darin, daB er Spinoza
nicht nur wie Bayle und Leibniz »nicht miBverstanden«, sondern verstanden
habe, weil er ihn weit genug »zuriickverstand«, d.h. bis zu den Wurzeln, aus
denen folgerichtig der Atheismus hervorgehen muB.
Spinoza. Deus sive natura 193
the spiritual life after stating it in the hardest, sharpest, most cruel
terms. Let us nerve ourselves today to imitate his example, not by
simply accepting his solution[ . .. ], but by exercising his courage in the
face of a somewhat different world, in which it may be even more
difficult for us than it was for him to find a sure foothold and a sublime
companionship.« 86
Vicos Grundsatz: verum et factum
convertuntur. Seine theologische
Pramisse und deren sakulare
Konsequenzen
1968
1 Wir zitieren nach der 4. Ausg. von Nicolini, La Scien:z:a Nuova Seconda,
(S. N.) Bari 1953.
2 S. N. § 331 (vgl. § 349): ~Doch in solch dichter Nacht der Finstemis, womit
das erste von uns so weit entfernte Altertum bedeckt ist, erscheint dies ewige
Licht, welches nie untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel
196 Vicos Grundsatz
gezogen werden kann: dap diese zivile Welt sicherlich durch die Menschen
gemacht warden ist, weshalb man ihre Prinzipien finden kann, weil man sie
finden mug, in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes. Was
einen jeden, der dariiber nachdenkt, Wunder nehmen mug, ist, wie alle Philo-
sophen sich im vollen Ernst bemiihten, die Wissenschaft von der Welt der Natur
zu erlangen, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein auch Wissenschaft hat;
und sich nicht bekiimmerten nachzusinnen iiber die Welt der Nationen oder die
zivile Welt, von welcher, weil sie die Menschen gemacht hatten, die Menschen
auch ihre Wissenschaft erlangen konnten. « Siehe dazu E. Auerbach, Sprachliche
Beitriige zur Erkliirung der S. N. von Vico, in: Archivum Romanicum XXI, 2-3,
1937.
3 E. Auerbach, a.a.O., S. 181.
Verum et factum convertuntur 197
richtet. Die unzeitgemiiBe Kiihnheit von Vicos These liegt darin, daB,
wenn die Menschenwelt die einzige ist, die wir in Wahrheit verstehen
konnen, weil wir sie selber geschaffen haben, es von der Natur keine
wahre Wissenschaft gibt. Die Frage ist: was bedeutet bei Vico und fiir
ihn selbst der Grundsatz, daB das Wahrsein von etwas auf dem von uns
selber Gemachtsein beruht?
4 Vgl. dazu De Sanctis, Storia de/la Letteratura Italiana, Bd. II, <las Kapitel
»La Nuova Scienza«, worin auch Vico und die formale Abhangigkeit seines
Prinzips von der Zweifelsbetrachtung des Descartes behandelt wird.
5 Da8 die mathematischen Ideen vom Menschen frei gemachte sind, ware den
Begriindern der Mathematik undenkbar gewesen. Fiir griechisches Denken be-
ruht die ausgezeichnete Vorbildlichkeit mathematischer Sachverhalte gerade
darauf, daB sie keine vom Menschen erdachten Konstruktionen oder ficta sind,
sondern in sich selbst bestehende und beruhende Verhaltnisse, in denen sich cine
iibermenschliche, kosmische Ordnung ausweist. Die Dinge sind nicht meBbar
und zahlbar, weil wir sie messen und zahlen, sondern sie !assen sich messen und
zahlen, weil unverbriichliche MaB- und Zahlverhaltnisse der Natur der Dinge
zugrundeliegen und ihr unsichtbares Wesen bestimmen. Nicht nur Musik, son-
dern »der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl«. » In der Tat hat alles, was man
erkennen kann, Zahl. Denn es ist nicht moglich, irgendetwas mit dem Gedanken
zu erfassen oder zu erkennen ohne diese (...]. Ohne sie ist alles grenzenlos und
undeutlich und unklar. Nichts von den Dingen ware irgendeinem klar, weder in
ihrem Verhaltnis zu sich noch zueinander, wenn die Zahl nicht ware und ihr
Wesen [...]. Lug aber nimmt die Natur der Zahl und die Harmonie gar nicht in
sich auf [...]. Die Wahrheit aber ist etwas dem Geschlechte der Zahl Eigenes und
Angeborenes.« Diese pythagoreisch-platonische Ansicht von der Mathematik
wurde zwar von Aristoteles (Met. I 1053 b) der Kritik unterzogen, aber auch
seine eigene Erklarung des Mathematischen <lurch Abstraktion oder Wegneh-
men (aphairesis) bedeutet nicht, daB die von den konkreten physischen Dingen
abgezogenen MaB- und Zahlbegriffe bloBe ficta waren, die willkiirlich von uns
selbst erzeugt sind. (Siehe 0. Becker, Grof?e und Grenze mathematischer Denk-
198 Vicos Grundsatz
geringere Realitiit als die »faccende degli uomini«, die das Thema der
Neuen Wissenschaft sind. Die Wissenschaft von den <lurch den Men-
schen hervorgebrachten Dingen, zu denen urspriinglich vor allem reli-
giose Gebriiuche und Kulte gehoren, ist, im Unterschied zur Physik, eine
fast »gottliche« Wissenschaft6, weil in ihr, wie in Gott, obgleich auf
endliche Weise, conoscere und fare ein und dasselbe sind.
An und fi.ir sich ist dies freilich kein neues Prinzip, sondern ein
Topos der scholastischen Theologie. Er impliziert in dieser jedoch keine
Umkehrbarkeit im Verhiiltnis von Erkennen und Machen, sondern das
Machen setzt Gones Erkennen voraus.
»Scientia Dei est causa rerum« (Thomas, S. Th. I, 14, 8 und 12).
Thomas wiederholt damit seinerseits einen Satz von Augustin (De Trin.
XV, 13): » Universas creaturas et spirituales et corporales non quia sunt
ideo novit Deus, sed ideo sunt quia novit. « Desgleichen heiBt es in den
Konfessionen (XIII, 38): »Nos itaque ista quae fecisti videmus, quia
sunt, tu autem, quia vides ea, sunt.« Thomas und Augustin haben
offenbar den Prolog zum Johannesevangelium im Sinn, wonach am
Anfang von allem der gonliche Logos oder das Verbum ist, das alles
Seiende geschaffen hat. In der Wahrheit, welche Gott selber ist, sind »et
nosse et fecisse« ein und dasselbe, heiBt es im selben Sinn auch bei Vico.
Weil das gottliche Wort ein schopferisches Befehlswort ist und zwi-
schen Gottes Wissen und Wollen kein Unterschied besteht, Iii.St sich von
Gottes Wort in ausgezeichneter Weise sagen, daB in ihm »et factum et
verum cum verbo convertuntur« 7 • Und zwar erzeuge das gottliche Wort
mit »tanta facilitate« was es will, daB die Dinge wie von selbst da zu sein
scheinen. Dem entspreche die heidnische, altlateinische Weisheit des
Ausspruchs: »dictum factum«, gesagt wie getan 8 • Wenn aber schon die
alten Lateiner, deren Philosophen irrtiimlich meinten, daB die Welt
ohne Anfang und Ende sei, das verum mit dem factum konvertierten,
um so mehr gelte es fiir die Weisheit der wahren Religion, die uns lehrt,
dais die Welt durch Gottes Wissen und Wollen aus Nichts geschaffen
wurde. - Dais es ein Logos ist, welcher schafft, ist zwar griechisch von
Gott gesagt, dais dieser Logos aber in absoluter Weise schopferisch ist,
das ist spezifisch biblisch gedacht und insofern konnte Goethe das
anfiingliche »Wort« mit »Tat« iibersetzen. Diese neutestamentliche
Tradition bestimmt auch noch die Glaubenslehre Schleiermachers.
Wiihrend beim endlichen Menschen der grolste T eil des Sehens und
Erkennens das Sein des Gesehenen und Erkannten voraussetzt und nur
Weniges auf unser Hervorbringen im Sein sich bezieht, ist Gottes Sehen
und Wissen nicht durch einen im voraus gegebenen Gegenstand be-
stimmt, sondern von vornherein ein Wissen um das Gewollte und
Hervorgebrachte. Das gottliche Denken ist ganz dasselbe mit dem
gottlichen Wollen, Allmacht und Allwissenheit sind in Gott eins.
»Eben dieses wird auch, da in Gott kein Zwiespalt zwischen
Wort und Gedanken stattfindet, ja der Ausdruck Wort selbst nur
die Wirksamkeit des Gedankens nach aulsen hin bedeuten kann, in
alien Formeln ausgesagt, welche das gottliche Wort als das schaf-
fende und erhaltende darstellen; und es ist vollkommen richtig, was
auch vielfaltig ist gesagt worden, dais alles ist dadurch, dais Gott es
spricht oder denkt. «9
Wie immer der Unterschied zwischen gottlichem Schaffen und
menschlichem Machen von Vico gefalst wird, es ist ein Unterschied
innerhalb der Analogie, weil der Mensch nach dem Schopfungsbericht
Gottes Ebenbild ist. Im Horizont der christlichen Tradition, aber im
Unterschied zu ihrer scholastischen Formulierung, betont Vico jedoch
nicht das Erkennen als Bedingung des Machens, sondern umgekehrt
das Machenkonnen als Bedingung wahrer Erkenntnis. »Veri criterium
est id ipsum fecisse«, »ac proinde in Deo esse primum verum, quia Deus
primus Factor« 10• Der Unterschied und zugleich die Ahnlichkeit zwi-
schen gottlichem und menschlichem Erkennen und Machen besteht
darin, dais menschliches Erkennen eine die zerstreuten Elemente zusam-
menfassende (colligare) cogitatio (andare raccogliendo) ist, wogegen
Gones Erkennen intelligentia (im Sinne von perfecte legere) ist. Demge-
miils ist auch der schopferische Charakter von Gott und Mensch ver-
11 » E, facendo servire questa sapienza de' gentili alla cristiana, pruovo che,
perche i filosofi della cicca gentilita stimarono ii mondo eterno ed Iddio sempre
operante ad extra, essi convertivano assolutamente ii vero col fatto. Ma, perche
noi ii credemo creato in tempo, dobbiamo prenderlo con questa distinzione: che
in Dio ii vero si converta ad intra col generato, ad extra col fatto.« Prima
Risposta, ed. Gentile e Nicolini, a.a.O., 1914, S. 208.
12 A.a.O., S. 137.
Verum et factum convertuntur 201
»Etenim habes verare et facere idem esse: atque inde Deum scire
physica, hominem scire mathemata, et ita neque dogmaticos omnia;
necque scepticos nihil scire. «13
Der Grundsatz bezieht sich also in ausgezeichneter Weise auf Gott,
der mit Wissen und Wollen Himmel und Erde, d.i. die Welt der Natur,
in absoluter Weise aus Nichts erschuf, und sodann, in Analogie zu Gott,
auf den Menschen, sofem er »ad Dei instar«, d. h. ohne jedes materielle
Substrat, mathematische ficta wie aus dem Nichts denkend erschafft
und sie nach freiem Belieben benennt und definiert, was in der Physik
nicht moglich ist, wenn man die Natur eines Dinges bestimmen will.
»Porro, quia physicus non potest res ex vero definire, hoc est
rebus suam cuique naturam addicere, et ex vero facere; id enim fas
Dei est, nefas homini; nomina ipsa definit, et ad Dei instar et nulla re
substrata, tamquam ex nihilo res veluti creat, punctum, lineam,
superficiem. «14
»Definieren « ist hier gleichbedeutend mit Demonstrieren und dieses
mit Machen oder Bewirken, weil »probare per causas« ein efficere ist,
so dais Vico auch sagen kann: »et idem factum et verum, nempe
effectus« 15• Die Wahrheiten der Mathematik !assen sich wahrhaft, d. i.
aus ihren Ursachen, demonstrieren, weil sie vom menschlichen Geist
verursacht oder hervorgebracht sind, so dais ihre »demonstratio« eine
»operatio« ist. Aus eben diesem Grund !assen sich aber die physischen
Sachverhalte nicht operativ als wahr demonstrieren, denn dazu miilsten
wir ihre Ursache sein und diese nicht nur hypothetisch annehmen. In
der Physik Iii/st sich nichts mit Gewilsheit beweisen, weil die Elemente
der Natur nicht in uns, sondem aulser uns, in der Macht Gottes liegen
und gleichsam dessen Gedanken sind. Die Natur aulser uns Iii/st sich so
wenig auf mathematische ficta reduzieren wie die soziale Natur des
Menschen auf das seiner selbst bewulste Cartesische kh, dessen con-
scientia noch keine scientia ist.
»Scire enim est tenere genus seu formam, quo res fiat: conscien-
tia autem est eorum, quorum genus seu formam demonstrare non
possumus.« 16
17 A.a.O., S. 150.
18 A.a.O., S. 176.
19 A.a.O., S. 136.
Verum et factum convertuntur 203
20 A.a.O., S. 35 f.
21 A.a.O., S. 274£., vgl. S. 158.
204 Vicos Grundsatz
»natura« nicht einmal fiir immer als dieselbe gegeben ist, sondern
»nascendo« wird, was sie ist, im typischen corso und ricorso der
geschichtlichen Bewegung. Auf diesem Weg einer Kritik von Descartes'
Vernachlassigung alles blofs Wahrscheinlichen kommt Vico schlie{slich
dazu, die sichere W ahrheit dort zu suchen und zu finden, wo nach
Mafsgabe der Cartesischen Methode nur Wahrscheinliches erreichbar
ist. Dem Wahrscheinlichen entspricht der sensus communis: es ist
meistens wahr und selten ganz falsch, so dafs Descartes' Alternative
zwischen absolut gewisser Wahrheit und blofser Wahrscheinlichkeit,
bzw. Falschheit, nicht anwendbar ist. Wenn man die allgemeinen Prin-
zipien des Cartesianismus auf die besonderen Falle anwenden und also
klug und weise sein will, mufs man sich an die Wahrheit des hochst
Wahrscheinlichen halten. Das verum lafst sich mit Gewifsheit gerade
dort einsehen, woes sich nicht um den »mondo naturale«, sondern um
den »mondo civile« handelt, wenn das Kriterium des Wahren das
ipsum facere ist.
Croce hat Vicos Hermeneutik der altesten Oberlieferung als eine
Philosophie der Geschichte ausgelegt und diese im Sinn des deutschen
Idealismus verstanden, als sei Vico bereits auf dem Weg zu der Einsicht
gewesen, dafs die Welt des Geistes ein freies Erzeugnis menschlicher
Tatigkeit ist und die »verita genuina« ausschliefslich »nel processo del
suo farsi« bestehe. Dem entgegen haben katholische Philosophen nach-
zuweisen versucht, dafs Vicos Rede vom facere nur eine »costruzione
mentale« bedeute und sich noch durchaus innerhalb der thomistischen
Tradition bewege22• Beides ist abwegig, denn weder lafst sich bestreiten,
dafs Vico die Begriffe der Scholastik, auch wo er sie gebraucht, in einem
andern, unorthodoxen Sinn verwendet und Neues entdeckt, dessen
umstiirzende Konsequenzen schon einige seiner Zeitgenossen empfan-
den; noch lafst sich andererseits iibersehen, dafs fiir Vico der Gang der
gesamten Geschichte nicht einfach durch das Tun der Menschen be-
wirkt, sondern durch gottliche Vorsehung gelenkt wird, weshalb er die
Neue Wissenschaft eine »teologia civile ragionata della provvedenza
divina « nennt. Infolge dieser gottlichen Lenkung und Vorsehung ist das
Ergebnis einer geschichtlichen Bewegung immer etwas ganz anderes als
das, was von den Menschen beabsichtigt wird. »A Jove Principium
Musae« ist das Motto der Neuen Wissenschaft, welche zum SchluB
bekennt, daB ihr neues Wissen nicht zu trennen ist von der Gottes-
furcht.
Die fundamentale Bedeutung der gottlichen Vorsehung, ohne wel-
che die Geschehnisse der Geschichte ein blindes Schicksal wiiren, dessen
Aspekte Zufall, Fatum und Willkiir sind, ergibt sich sogleich aus der
Einleitung zu Vicos Werk, worin die Idee der Neuen Wissenschaft
anhand einer allegorischen Darstellung erliiutert wird. Das Bild zeigt
oben links das Auge Gottes, von dem alles Licht der Vorsehung aus-
strahlt. Ein Strahl geht zum Herzen der Figur, welche die Metaphysik
ist, die auf der Weltkugel oder dem »mondo della natura« steht und,
»sopra l'ordine delle cose naturali«, in denen die Philosophen bisher
Gottes Vorsehung zu erkennen vermeinten, zum Auge Gottes hinblickt.
An dem konvexen Edelstein an der Brust der Metaphysik bricht sich der
gottliche Strahl, um sich in einem zweiten, schriig nach unten, auf eine
Figur zu rich ten, die Homer bedeutet, d. i. die erste Autoritiit des
frommen Heidentums und seiner theologischen Weisheit. Die Ablen-
kung des gottlichen Strahls von der Brust der Metaphysik auf Homer
bedeutet,
»daB die Gotteserkenntnis nicht bei der Metaphysik endet, so
daB sie nur fiir sich von den geisrigen Dingen erleuchtet wiirde und
nur ihre eigenen sittlichen Angelegenheiten danach regelte, wie es
bisher die Philosophen getan haben, das ware mit einem glatten
Edelstein angedeutet worden. Er ist aber konvex, so daB der Strahl
sich bricht und nach auBen geht, weil die Metaphysik Gottes Vorse-
hung in den offentlichen sittlichen Dingen erkennt, d. i. in den
zivilen Gebriiuchen, mit welchen die Volker in der Welt entstanden
sind und sich erhalten.« 23
Der Globus, »ii mondo fisico«, auf dem die Metaphysik steht, wird
nur auf einer Seite von einem Altar getragen, der die iiltesten Opferkulte
versinnlicht:
»denn bis jetzt haben die Philosophen, indem sie die Vorsehung
nur in bezug auf die Ordnung der Natur betrachteten, bloB einen
Tei! von ihr gezeigt [...] ; noch aber haben sie sie nicht von der Seite
23 S. N., S. 8.
206 Vicos Grundsatz
betrachtet, die doch die eigentiimliche der Menschen ist und deren
Wesen die Haupteigenschaft hat: gesellig zu sein.« 24
Und weil der Mensch Gott zu gehorchen hat, ist auch seine Freiheit
zum facere keine Willkiir und nicht autonom, sondern gebunden an den
gottlichen Willen, der fiir den Menschen sorgt. Die Wahrheit der von
uns selber gemachten Welt ist dialektisch durch die gottliche Vorsehung
bestimmt. Der Satz von der Umkehrbarkeit des Wahren in das selber
Gemachte fiihrt deshalb bei Vico nicht zu dem SchluB, daB der Mensch
der Gott der Geschichte ist, der sich durch freie Tiitigkeit seine Welt
erschafft und folglich auch weiB, was er tut und tat. Croce 26, for den die
Geschichte eine »Geschichte der Freiheit« und nicht der Vorsehung ist,
legt Vico in diesem Sinn aus und ist daher genotigt, Vicos Vorsehungs-
begriff aus seinen angeblich »wirklichen Tendenzen« auszuscheiden.
Nach Croces Interpretation ist das menschliche Wissen um die mensch-
lichen Angelegenheiten in der Tat mit einem gottlichen, d.i. vollkom-
menen Wissen identisch. Denn der Mensch erschaffe die geschichtliche
24 S. N., S. 5 f.
25 S. N., Ed. F. Flora, 1957, S. 1010.
26 Die Philosophie G. Vicos, 1957, S. 28 und 97££.
Verum et factum convertuntur 207
Welt <lurch seine freien Taten, und indem er sie denke, erschaffe er seine
eigene Schopfung wieder und kenne sie vollig. »Hier ist eine wirkliche
Welt und in ihr ist der Mensch in Wahrheit wie Gott.« Unter dieser
Voraussetzung ist die Vorsehung fiir Croce ebenso iiberfliissig und
storend wie der Zufall und das Schicksal, denn alle drei trennen das
schopferische Individuum von seinem Produkt, indem sie hinter seinem
Riicken tiitig sind. Anstatt dieses launenhafte Element aus der Ge-
schichte zu entfernen, bekriiftigte es der Glaube an Schicksal und Zufall
oder auch an die Vorsehung. Weil aber die christliche Auffassung von
der Geschichte als dem Werk Gottes der Lehre vom Zufall und Schick-
sal insofern iiberlegen ist, als sie iiberhaupt in der schopferischen Tiitig-
keit die letzte Quelle des Geschichtsverlaufs sieht, ist es nach Croce nur
natiirlich, dais man »aus Dankbarkeit gegen diese tiefere Ansicht dazu
kam, der Rationalitiit der Geschichte den Namen Gottes und der gottli-
chen Vorsehung zu geben«. Jeder mit historischem Sinn Begabte muls,
nach Croce, diesen Standpunkt einnehmen und die Frage, was Ge-
schichte ist, aus ihr selbst beantworten, ohne zu Schicksal und Zufall
oder zu Gott und Vorsehung seine Zuflucht zu nehmen.
Es ist jedoch klar, dais dies nicht Vicos Standpunkt war. Er begriff
den Lauf der Geschichte sehr vie! sachgemiilser, niimlich als eine vom
Menschen geschaffene Welt, die aber zugleich iiberspielt wird <lurch
etwas, das der Notwendigkeit des Schicksals niiher ist als der freien
Entscheidung und Wahl. Die Geschichte ist nicht nur ein eigenes Tun,
sondern auch und vor all em Ereignis und Geschehen und darum prinzi-
piell zweideutig! Vicos Darstellung dieser Dialektik von Freiheit und
Notwendigkeit im Geschehen stimmt vie! besser zu der allgemeinen
Erfahrung und dem unvoreingenommenen Sinn fiir geschichtliche Er-
eignisse als Croces philosophischer Liberalismus. Die Menschen beab-
sichtigen und tun fast immer etwas ganz anderes, als ihnen frommt;
aber sie werden auf ihren verkehrten und widerspenstigen Wegen <lurch
ihre natiirlichen Bediirfnisse dahin gebracht, mit Gerechtigkeit zu leben
und sich in Gesellschaft zu halten. Die gottliche Vorsehung schafft aus
Wildheit, Habgier und Ehrgeiz die Starke, die Reichtiimer und die
Weisheit der Gemeinwesen. Gegen Ende seines Werkes, wo Vico das
Prinzip seiner Wissenschaft wiederholt, fiihrt er aus - und auch dies ist
fiir ihn unbestreitbar -, dais diese Welt einem Geist entspringt
27 S. N. § 1108.
Verum et factum convertuntur 209
Marx in der These, daB nicht das BewuBtsein das Sein, sondem das
soziale Interesse und das okonomische Sein auch das BewuBtsein be-
stimmt. In jedem Fall sind die bewuBten Absichten der geschichtlich
handelnden Menschen nicht identisch mit dem, was im Grunde ge-
schieht und als Ergebnis herauskommt 28 •
II
Auch Vicos eigene Absicht hat in der Geschichte des Denkens ganz
andere, siikulare Folgen gezeitigt, als er selber im Sinn hatte, d. i. die
Menschen zuriickzufiihren zur Furcht und Verehrung Gottes:
heiBt der Jetzte Satz der Neuen Wissenschaft. Ohne Riicksicht au£
Vicos fromme Wissenschaft und die theologische Priimisse seines Prin-
zips wurde der Grundsatz von der Reziprozitiit des Wahren und des
Gemachten in der Folge immer mehr in einer Weise betont und zur
Geltung gebracht, die den Menschen als homo faber zum Herm der
Natur und damit zugleich der Geschichte macht; denn die Herrschaft
iiber die natiirliche Umwelt befahigt ihn, auch seine Mitwelt anders zu
machen. Der »mondo civile« ist so wenig von dem »mondo naturale«
getrennt, wie dieser von der modemen Naturwissenschaft, deren tech-
nische Fortschritte nicht zuletzt die Welt des Menschen verandem.
Dieser Fortgang von Vicos natiirlicher Theologie der Vorsehung zum
Vertrauen au£ menschliches Machenkonnen durch wissenschaftliche
Voraussicht liiBt sich an F. Bacon und Th. Hobbes, an Kant und Hegel,
sowie an Marx und Dilthey aufzeigen und durch Schelers Soziologie des
Wissens erhellen.
28 Siehe dazu vom Verf., Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 58, 97, 118 ff.,
133 f. [Siimtliche Schri~en 2, S. 66, 113, 137ff., 155 f.] und Schelling II,
S. 594ff. Vgl. dazu die Diskussion zwischen J. Hyppolite und A. Schaff in den
vom Institut Internationale de Philosophic herausgegebenen Entretiens d'Ober-
hofen 1961, S. 211 ff.: Liberte et Necessite dans /'existence historique.
210 Vicos Grundsatz
aut possit.« 30 Nosse und posse, bzw. intelligere und facere bedingen
sich gegenseitig. Die klassische Unterscheidung von physis und techne
ist fiir Bacons neue Wissenschaft iiberholt, weil der Bestand der Natur
als solcher keine Sanktion mehr hat, seitdem der Mensch die Natur
nicht nur mittels technischer Kunst nachahmend ergiinzt, sondern sie
frei konstruierend entwirft und sie nach seinen Absichten umschafft31•
Der Mensch ist so wenig ein »minister« oder »servant of nature«, wie
Bacon mit einem Zitat aus Hippokrates sagt, daB er sie vielmehr zwingt,
dem Menschen zu dienen. Denn die Natur offenbare sich nicht schon
dadurch, daB man sie beschauend erforscht und so laBt, wie sie ist,
sondern »under the trials and vexations of art« zum Offenbarwerden
zwingt. Die neue Wissenschaft ist operativ und instrumental.
»Neither the naked hand nor the understanding left to itself can
effect much. It is by instruments and helps that the work is done,
which are as much wanted for the understanding as for the hand.
And as the instruments of the hand either give motion or guide it, so
the instruments of the mind supply either suggestions for the under-
standing or cautions.«
34 Siehe dazu De Sanctis, a.a.O., iiber Vicos Unverstiindnis fur Galilei: »Che
diveniva Vico con la sua erudizione ecol suo dritto romano? Reagi, e cerco la
fisica non con le macchine e con gli sperimenti, ma ne' suoi srudi di erudito. Le
scienze positive entravano appena nel gran quadro della sua colrura, e di
matematiche sapeva non oltre di Euclide [. . .].Cereo dunque la fisica fuori delle
matematiche e fuori delle scienze sperimentali: la cerco fra i tesori della sua
erudizione, e la trovo nei numeri di Pitagora, ne' punti di Zenone, nelle idee
divine di Platone, nell, antichissima sapienza italica.« Vgl. R. Mondolfo, » Ver-
um ipsum factum « da/1' antichita a Galileo e Vico, Rivista II Ponte vom 30. 4.
1966, s. 500ff.
35 Vgl. dazu E. Betti, I Principi di Scienza Nuova di Vico e la teoria de/la
interpretazione storica, Pisa 1957.
36 Le fonti de/la gnoseologia Vichiana 1912; siehe dazu A. Child, Making and
knowing in Hobbes, Vico and Dewey, Univers. of California, Pub!. in Philos.,
Vol. XVI, S. 271 ff.
Verum et factum convertuntur 213
»Die grolste Bedeutung der Philosophie liegt darin, dais wir die
vorausgesehenen Wirkungen zu unserm Vorteil nutzen und au£
Grund unserer Erkenntnis nach Malsgabe unserer Kriifte absicht-
lich zur Forderung des menschlichen Lebens herbeifiihren konnen
[...]. Wissenschaft client nur der Macht[... ] und alle Spekulation
geht am Ende au£ eine Handlung oder Leistung aus. Wie grols aber
der Nutzen der Philosophie, besonders der Naturphilosophie und
der Geometrie ist, wird am besten eingesehen, wenn man sich die
mogliche Forderung des menschlichen Geschlechts durch sie verge-
genwiirtigt und die Lebensweise derer, die sich ihrer erfreuen mit
andern vergleicht, die sie entbehren.« 37
Am allerwichtigsten und niitzlichsten ware es aber, dieselbe exakte
Methode auch in den moralischen und politischen Wissenschaften
durchzufiihren, um auf diese Weise Kriege, insbesondere Biirgerkriege,
zu verhindern, die nur moglich sind, weil man nicht wei~, wodurch sie
entstehen oder verursacht sind. Die Philosophie hat also zwei Haupttei-
le entsprechend den zwei verschiedenen Arten von Korpern.
»Die eine umfafst die Dinge, die, weil Werk der Natur selbst, als
natiirlich bezeichnet werden; die andere Dinge, die durch menschli-
chen Willen, durch Abkommen und Vertriige der Menschen zustan-
de gekommen sind und Gesellschaft und Staat genannt werden.«
In beiden Bereichen ist die Grundlage die Erkenntnis der Wirkungen
aus den sie erzeugenden Ursachen, oder umgekehrt der erzeugenden
Ursachen aus den bekannten Wirkungen. Auszuschlielsen ist aus der so
verstandenen Philosophie die Geschichte, sowohl der Natur als auch
der Politik, weil historisches Wissen nur au£ Erfahrung und Uberliefe-
37 De corpore, c. I.
214 Vicos Grundsatz
Der Unterschied zwischen Hobbes und Vico betrifft nicht das leiten-
de Prinzip des »verum ipsum factum« als solches, sondern die direkte
Ubertragung seiner Geltung von der Mathematik auf die Politik.
»The civil philosopher must make the first causes of the com-
monwealth in some way analogous to the drawing and description
of the geometer.«
»The creation of a body politic by arbitrary institution of many
men assembled together [...] is like a creation out of nothing by
human will.« 40
Wenn es aber erst Galilei gelang, die Naturwissenschaft au£ sichere
Grundlagen zu stellen, so sei es nicht zu verwundern, wenn die Staats-
philosophie noch vie! jiinger ist und erst mit »De cive« begriindet
wurde! Nur Hobbes, aber nicht Vico, begriindet die demonstrative
Wahrheit des mondo civile damit, da8 wir seine Gesetze selber machen,
wiihrend sie fiir Vico zwar in der sozialen Natur des Menschen griin-
den, aber nicht in rationaler Willkiir und unter Abstraktion von religio-
sen Traditionen, sondern auf Grund der iiltesten Uberlieferung und
gelenkt durch eine iibermenschliche Vorsehung.
»Der Kern der Kantischen Philosophie ist die[ ... ] zur vollkom-
mensten Evidenz gebrachte Wahrheit: daB wir einen Gegenstand
nur insoweit begreifen, als wir ihn [. ..] im Verstande zu erschaffen
vermogen. Nun vermogen wir auf keine Weise, so wenig in Gedan-
ken als wirklich auBer uns, Substanzen zu erschaffen; [...] Woraus
denn folgt, daB es nur zwei Wissenschaften im eigentlichen und
strengen Verstande: Mathematik und allgemeine Logik geben
kann, und daB alle andern Erkenntnisse nur in dem MaBe wissen-
schaftliche Eigenschaften erwerben, als sich ihre Gegenstiinde
durch eine Art von Transsubstantiation in mathematische und logi-
sche Wesen verwandeln !assen. Offenbar laBt eine solche Verwand-
lung sich nicht vollbringen mit den eigentlichen Gegenstiinden der
Metaphysik: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Diese drei Ideen
liegen ganz auBerhalb dem Kreise jener zwei Wissenschaften und
konnen aus ihren Mitteln schlechterdings nicht realisiert werden;
d.h.: es laBt sich, daB diesen drei Ideen Wirklichkeit entspreche,
[...] ebensowenig dartun, als sich diese Wirklichkeit unmittelbar
[... ] mit den Sinnen auBerlich erfahren laBt. Die Wissenschaft bleibt
also in Absicht dieser Ideen vollkommen neutral und hat sich zu
bescheiden, dal5 sie ebensowenig sich anmaBen darf, ihre Realitiit
widerlegen als sie beweisen zu konnen. Mit Grund rechnet Kant es
sich zum grol5ten Verdienst an, durch eine scheinbare Einschriin-
kung des Vernunftgebrauchs diesen in der Tat erweitert und durch
Aufhebung des Wissens im Felde des Ubersinnlichen, einem dem
Dogmatismus der Metaphysik unantastbaren Glauben Platz ge-
macht zu haben. - Lange vor Kant [... ] schrieb Vico zu Neapel;
Geometrica ideo demonstramus, quia facimus; Physica, si demon-
strare possemus, faceremus.« 41
41 W. (1816) Bd. Ill, S. 351 ff. Goethe hatte in Italien ein Exemplar der Scienza
Nuova erworben und es spiiter Jacobi gegeben. Im September 1787 notierte er
wiihrend des zweiten riimischen Aufenthalts: »Lebhaft vordringende Geister
Verum et factum convertuntur 217
»Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fliiche mit einer von ihm
selbst gewiihlten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein
Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wasser-
siiule gleich gedacht hatte, tragen liefs[ ... ], so ging alien Naturfor-
schern ein Licht au£. Sie begriffen, dais die Vernunft nur das einsieht,
was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, dais sie [... ] die
Natur notigen miisse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich
von ihr allein gleichsam am Leitbande giingeln !assen miisse [... ].
Die Vernunft muls mit ihren Prinzipien [... ]in einer Hand, und mit
dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an
die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in
der Qualitiit eines Schiilers, der sich alles vorsagen Iii/st, was der
Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen no-
tigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat
sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich
dem Einfall zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in
die Natur hineinlegt, gemiils, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr
anzudichten), was sie von dieser lernen muls und wovon sie fiir sich
selbst nichts wissen wiirde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft
allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht warden,
da sie so vie! Jahrhunderte durch nichts weiter als ein blolses
Herumtappen gewesen war.«
begniigen sich nicht mit dem Genusse, sie verlangen Kenntnis. Diese treibt sie zur
Selbsttiitigkeit, und wie es ihr nun auch gelingen moge, so fiihlt man zuletzt, daR
man nichts richtig beurteilt, als was man selbst hervorbringen kann.«
218 Vicos Grundsatz
Der Metaphysik, fiihrt Kant fort, sei das Schicksal bisher nicht so
giinstig gewesen und es sei deshalb nachzusinnen, ob nicht auch in ihr
eine iihnliche Revolution der Denkungsart versucht werden konne, wie
sie Galilei in der mathematischen Naturwissenschaft so vorteilhaft
bewirkt habe.
kann, ist nicht die Welt der Gestirne, sondern die von uns selbst hervor-
gebrachte Welt, »das Tagewerk des Geistes«, die Weltgeschichte, wo-
gegen die Welt der Natur geschichtslos und geistlos ist.
Als Bestimmungen des alles belebenden und beherrschenden Gei-
stes bedingen sich Wahrheit und Freiheit wechselseitig. Hegel beruft
sich au£ das Wort des Neuen Testaments: »Die Wahrheit wird euch frei
machen« Ooh. Evang. 8,33). Er ergiinzt den Satz durch den dialekti-
schen Gegensatz: »Die Freiheit wird euch wahr machen.« 46 Bei Johan-
nes betrifft die Rede von der »Wahrheit« den wahren, personlichen
Gott, der den Menschen durch Christus erlost, und die »Freiheit« die
Befreiung von der Knechtschaft unter der Siinde, aber nicht eine Frei-
heit, die so zum allgemeinen Wesen des Geistes gehort wie die Schwer-
kraft zum Wesen der Korper. Der neutestamentliche Satz liiBt sich
nicht, wie bei Hegel, umkehren; denn die Freiheit ist eine Gnade Gottes
und von der Sunde befreit wird man zum »Knechte Gottes« und somit
wahrhaft frei. Wenn man jedoch das Verhiiltnis von Wahrheit und
Freiheit nicht dialektisch faBt und auch nicht neutestamentlich, son-
dern die freie Tiitigkeit zur Bedingung der Wahrheit macht, dann
verwandelt sich der Satz in den Grundsatz, der sich seit Bacon immer
mehr durchgesetzt hat: daB die Wahrheit nur wahr ist, wenn sie opera-
tiv mit Freiheit von uns selber hervorgebracht wird und also etwas
Selbstgemachtes ist. Fiir Hegel ist die Wahrheit noch »an und fiir sich«
und nicht nur Wahrheit fiir uns und durch uns. Sie steht zwar nicht ein
fiir alle Male fest, sie hat die »Tendenz«, sich in der Geschichte des
Geistes zu »entwickeln«, aber wenngleich diese Entwicklung der Wahr-
heit in die Zeit der Geschichte fiillt, wird sie doch damit nicht selber
46 Enc., § 382 Zus. Der Satz aus dem Johannesevangelium stand in groBen
Lettern uber dem Eingang der Freiburger Universitat. Er wurde 1933 entfernt
und <lurch »Dem deutschen Volke« ersetzt und nach 1945 wieder hergestellt.
Vermutlich mit Bezug au£ ihn hat Heidegger 1931 in einem Marburger Vortrag
uber <las Wesen der Wahrheit sie umgekehrt aus der Freiheit bestimmt und in der
1943 veroffentlichten Abhandlung Vom Wesen der Wahrheit (3. Aufl., S. 12££.)
die Wahrheit als Freisein zum Offenbaren eines Offenen bezeichnet. »Die Offen-
standigkeit des Verhaltens [...] grilndet in der Freiheit. Das Wesen der Wahrheit
ist die Freiheit.« Freiheit aber niche verstanden als Freiheit zur Selbstbestim-
mung, sondern als Freiheit zum Seinlassen von Seiendem, d. i. zum Sicheinlassen
au£ <las Seiende, d.i. au£ <las »Offene« (ta alethea) und <lessen Offenheit, in die
jegliches Seiende hereinsteht, <las jene gleichsam mit sich bringt. »Das Sein-
lassen, d. h. die Freiheit, ist in sich aus-setzend, ek-sistent. Das au£ <las Wesen der
Wahrheit hin erblickte Wesen der Freiheit zeigt sich als die Aus-setzung in die
Entborgenheit (a-letheia) des Seienden.«
Verum et factum convertuntur 221
veranderlich und auf die Zeit relativ. Erst mit Hegels linksradikalen
Schiilern wird die Wahrheit als solche zu einer Bestimmung d~r Men-
schengeschichte. Der Geist wird zum »Zeitgeist«. Die These von Ruge47
und Marxist, daB der Mensch kraft seiner Freiheit die Welt als die seine
selber hervorbringt und nur so in der Wahrheit ist. Auch die Natur
kommt nur dadurch zur Wahrheit, daB sie vom Menschen angeeignet,
verandert und bearbeitet wird.
Marx hat nach Hegels Vorgang sein lnteresse ausschlieBlich dem
»mondo civile« zugewandt und das Reich des Geistes, unter Abzugvon
Hegels metaphysischer Theologie, zum Reich des Menschen verwelt-
licht. An die Stelle des tatig hervorbringenden Geistes tritt die produzie-
rende Arbeit, deren Universalitat nicht das Wesen der Welt betrifft,
sondern nur noch unsere Um- und Mitwelt. Wo immer Marx von
»Welt« spricht, meint er nicht das Universum, sondern ausschlieBlich
die von uns selber gemachte Welt. In einer Anmerkung des Kapitals 48
verweist er auf Vico, weil dieser festgestellt habe, daB die Welt der
Geschichte, im Unterschied zur Welt der Natur, eine vom Menschen
selber gemachte sei. Wenn aber die Welt vom Menschen selber hervor-
gebracht ist, dann kann er sie auch verandern und anders machen, als
sie bisher gewesen ist. Die These von Marx, es komme darauf an, die
Welt zu verandern und sie nicht nur anders zu interpretieren, ist nicht so
neu und revolutionar wie sie klingt, sondern eine Konsequenz der durch
Bacon und Hobbes begriindeten Lehre vom Erkennen als »operation«,
»production« und »generation«.
Der erste Satz der Deutschen Ideologie heiBt: »Wir kennen nur eine
einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. « Sie ist fiir
Marx die einzige, weil sie die alles umfassende Offenbarung des Men-
schenwesens ist; sie ist auch »die wahre Naturgeschichte des Men-
schen «, weil die Natur als solche nicht den Menschen als soziales
Gattungswesen bestimmt. »Die in der menschlichen Geschichte wer-
dende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen.« Marx verwirft
nicht nur den Glauben an eine Vorsehung und Offenbarung Gottes in
der Geschichte, er schaltet auch die Geschichte der Natur ausdriicklich
aus, denn sie ist nur eine untergeordnete Vorbedingung menschenge-
schichtlicher Tiitigkeit. Einen Vorrang der Natur vor der Geschichte
50 Diltheys Schriften, Bd. VII, S. 278, 259; 148,291; iiber Vico, V, S. 307 f.
51 Die Wissensformen und die Gesellscha~, Leipzig 1926.
224 Vicos Grundsatz
52 »Der Pragmatismus hat sicher nicht unrecht, wenn er den Antrieben des
Handelns, der praktischen Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt die
groPte Bedeutung fiir die wahrnehmende Erkenntnis und ihre Ausbildung zu-
weist [...]. Erst im Verlaufe der Arbeit in der Welt lernt der Mensch die
Bilderwelt der Phantasie und ihre Gesetze kennen; erst indem diese Bilder ihm in
der Wahrnehmung Symbole werden fiir die Angriffspunkte seines Handelns und
seines Herrschens, sucht er mit ihnen selbst rege Fiihlung und lernt den Inhalt
seiner Trieb- und Wunschtriiume langsam vergessen. In diesem Sinn ist die
Arbeit und nicht die contemplatio in der Tat die wesentlichste Wurzel aller
positiven Wissenschaft, aller Induktion, alles Experiments.« A.a.O., S. 459£.
Verum et factum convertuntur 225
weils, dais sie ihrem Wesen nach ein solcher ist, sondern weil sie nur
unter diesem Gesichtspunkt durch den Menschen gedanklich be-
herrschbar und praktisch lenkbar ist.
»Sie sucht einen Bauplan gleichsam fiir alle moglichen Maschi-
nen und sie nennt eine Naturerscheinung erkannt [... ], wenn sie
einen Plan angeben kann, nach dem sie [... ] hergestellt werden oder
<loch hergestellt gedacht werden kann [... ]. Zu einem bewulsten
Programm [...] wissenschaftlich-kiinstlicher Weltbetrachtung
kann die mechanische Weltbetrachtung aber nur da werden, wo die
bewulste und geistig gewollte [... ) Herrschaft iiber die Natur, wo
das Prinzip technischer Zielsetzung <las Auswahlprinzip bildet fiir
die Gegenstiinde [...],die[... ] erkannt werden sollen.« 53
Die Kehrseite der mechanischen Weltbetrachtung ist die konstrukti-
ve Arbeit, die auch die Erkenntnisform der wissenschaftlichen Techno-
Iogie bestimmt. Unsere ganze moderne Zivilisation beruht auf diesem
inneren Zusammenhang von Arbeit und Erkenntnis, von Wahrsein und
Gemachtsein. Dieses Pathos und Ethos der Arbeit war der Antike
fremd 54• Es ist ein Produkt der wesentlich arbeitenden biirgerlichen und
industriellen Gesellschaft und es gipfelt in dem Satz F. Engels', dais die
Arbeit »die einzige Schopferin aller Kultur und Bildung« sei 55• Engels
folgert daraus, dais die deutsche Arbeiterbewegung der vierziger Jahre
der rechtmaBige Erbe der deutschen Philosophic sei. Aber auch Hegel
spricht bereits von der »Arbeit des Begriffs«, und wer wiirde heute nicht
seine geistigen lnteressen damit sozial rechtfertigen, dais er es »arbei-
ten « nennt, wenn er nachdenkt, schreibt und liest.
Die Anschauungsweise und Denkform, mit der die moderne Wis-
senschaft an die Gegebenheit der Natur herantritt, ihre Methode und
ihr Erkenntnisziel, sind <lurch das Arbeitsethos der Leistung und den
Willen zur Macht bestimmt, was aber nicht bedeutet, dais der einzelne
Forscher bewuBter- und gewolltermalsen sein Bemiihen um Erkenntnis
Seite
233 Einfiihrung
235 I. Valerys Cartesianismus
255 II. Gedanken zur Sprache
297 III. Besinnung auf das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt
337 IV. Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung
367 V. Menschenwerk und Naturgebilde
389 Anhang I: Chirurgie, manuopera, manoeuvre, Hand-Werk
393 Anhang II: Eine MutmaBung
397 Anhang III: Parabel
Wir zitieren Valerys Werke nach Band I und II der Ausgabe der Bibliotheque de
la Pleiade, 1957/60; die Cahiers mit arabischer Band- und Seitenzahl; <las 1962
in der Inselbiicherei doppelsprachig erschienene Cahier B 1910 (II, 571 ff.) mit
B 1910; die im Inselverlag 1954 erschienenen Briefe mit Br.; die von uns revi-
dierten deutschen Obersetzungen einzelner Schriften werden folgendermaBen
abgekiirzt: Herr Teste, 1947: Teste; Leonardo, 1960: Leonardo; Mein Faust,
1957: Faust; Eupalinos oder der Architekt, 1962: Eupalinos; Schlimme Gedan-
ken, 1963: S. G.; Die Krise des Geistes, 1956: Krise; Die fixe !dee, 1965: F. I.;
Tanz, Zeichnung und Degas, 1962: Degas; Ober Kunst, 1959: Kunst; Windstri-
che, 1959: W.; Die Politik des Geistes, 1937: P.; Eine methodische Eroberung,
1946: M. E.
Der Abdruck der Texte Valerys erfolgt mit freundlicher Genehmigung des
Inselverlages, Frankfurt/M. - Bisher uniibersetzte Texte wurden teils vom Ver-
fasser und teils von R. Stabel und H. Krapoth ins Deutsche iibertragen.
Robert Oboussier
zum Gedachtnis
Vorwort
Ich verdanke es einem Freund meiner Jugend, dem diese Studien gewid-
met sind, daB ich auf Valery aufmerksam wurde. Er hatte 1929 in der
Neuen Schweizer Rundschau Valerys Gedicht Narziss II ins Deutsche
iibersetzt. Dieser erste Hinweis blieb damals fiir mich ohne Folgen. Auf
einem Kolloquium iiber Nietzsche, das 1964 in Royaumont stattfand,
gab mir E. Gaede sein Buch iiber Nietzsche et Valery. Es veranlaBte
mich, mir die zwei Bande der franzosischen Ausgabe von Valerys
Werken zu besorgen. Ihre Lektiire bewog mich einige Jahre spater, auch
die Cahiers zu erwerben. Vorziiglich aus ihnen wurde mir klar, daB der
Dichter und Schriftsteller Valery ein Denker ist, und zwar der freieste,
von alien eingewurzelten und zu Konventionen gewordenen Traditio-
nen unabhangigste. Er erkannte, dag sie vor einer kritischen Analyse
und einer unermiidlichen Nachforschung oder Skepsis nicht mehr
standhalten. Die leidenschaftliche Ambition seines imaginativen und
radikalen Geistes war: das AuBerste an moglichem Bewugtsein von
dem, »was ist«, zu erreichen. Dies fiihrte ihn zu der Erfahrung und
Erkenntnis der undurchschaubaren und uniiberschreitbaren Macht des
nicht bewuBten und an ihm selbst bedeutungslosen Seins und zur
prinzipiellen Unterscheidung dessen, was wir sind und von uns und den
Dingen wissen. Auf diesem Weg von einer auBersten Reflexion zu dem,
was allem reflektierenden Denken voraus und zugrunde liegt, kam er an
die Grenze des Menschlichen und zu einer Art intellektueller Selbstver-
nichtung. Indem er sich ein Leben lang trainiert hatte, auf jede Leicht-
fertigkeit unseres sprachgebundenen Denkens zu verzichten, erreichte
er den positiven Nullpunkt einer »Reinheit« von allem Vagen und
Vermischten, bloB Vermeinten und Geglaubten. Er wollte nicht weni-
ger und nicht mehr als die iibermenschliche Aufgabe vollbringen, »zu
sein, der man ist«. »Le plus grand effort qui se puisse demander a un
homme est d'etre ce qu'il est. S'ille fait, c'est un etre inhumain« (5, 139).
Der Weg, den Valerys Gedanke von Monsieur Teste bis zu Mon Faust
232 Paul Valery
durchschritt und der ihn alles, nicht zuletzt sich selbst, in Frage stellen
lieR, macht ihn zu einem ebenso zeitgemiiRen wie unzeitgemiiRen
Denker.
1 »Dieu crea l'homme, et ne le trouvant pas assez seul, ii lui donne une
compagne pour lui faire mieux sentir sa solitude« (II, 541). Vgl. »Je me sais
infiniment sociable et je me sens incroyablement seul« (10, 749). Siehe auch
Anmerkung 20, Kap. II.
I Valerys Cartesianismus
Als Valery einige Jahre nach seiner Rede iiber Descartes zur dreihun-
dertsten Jahresfeier (1937) des Discours de la Methode aufgefordert
wurde, eine Auswahl von Descartes-Texten herauszugeben, einzuleiten
und zu kommentieren1, notierte er in den Cahiers (23, 823): »Vor die
Aufgabe gestellt, ein Descartes-Buch zu schreiben - ich, der ich nicht an
die Moglichkeit dieses philosophie-historischen Genres noch an Ge-
schichte und Philosophie glaube. « Um der Aufgabe dennoch gerecht zu
werden, miisse er einen Punkt des lnteresses finden und die Imagination
bemiihen, um nicht sich selbst und die anderen zu langweilen. Dieser
Ankniipfungspunkt des eigenen lnteresses ist fiir Valery Descartes'
»Egotismus«: die prinzipielle Reflexion oder der Riickbezug der Welt
auf das wollend-denkende lch, das mittels mathematischer Ideen die
Welt der Sinne rekonstruiert und sie damit zum Nutzen des Menschen
beherrschen lemt. Diesem Vorhaben Descartes', das im 6. Kapitel des
Discours zu seinem deutlichsten Ausdruck kommt, entspricht Valerys
Feststellung, daB alles modeme wissenschaftliche Wissen als savoir-
faire ein Wille zur Macht ist und daB sich die Wahrheit wissenschaftli-
cher Aussagen nur dadurch bewahrt, daB sie sich anwenden und prak-
tisch verifizieren laBt. Weil aber Descartes' Gedanke vom sich selber
denkenden kh und den im Raum ausgebreiteten Korpem nicht ohne
Sprache denkbar ist, bezeichnet Valery seinen eigenen Cartesianismus
als einen solchen, der im sprachlichen Raum zu Hause ist.
Auf das Ganze von Descartes' Unternehmen hin gesehen weiB sich
Valery mit ihm in dreifacher Hinsicht verwandt. Erstens in bezug au£
den Egotismus des ego cogito, des sich »denkenden Denkens« oder des
»bewuBten BewuBtseins«. Zweitens in bezug au£ dessen Widerpart:
den Automatismus der Lebewesen. Drittens in bezug au£ die anti-
philosophische Implikation von Descartes' Metaphysik. Eine innere
Verwandtschaft betrifft nicht zuletzt die personliche Krise, die beide au£
ihren Weg brachte, den sie dann zeitlebens einhielten. Valery unter-
scheidet Descartes' Erleuchtung von einer religiosen, denn diese konne
jederzeit geschehen, jene intellektuelle aber nur im Alter zwischen 19
und 23 Jahren. Beide faBten in der Tat mit 23 bzw. 21 Jahren den
EntschluB:
»[... ] sich selbst als die Instanz fiir Giiltigkeit in Sachen der
Erkenntnis und deren Ursprung setzen. Diese Haltung ist uns so
vertraut geworden, daB wir kaum mehr die Anstrengung und ver-
einte Willenskraft empfinden, deren es bedurfte, um den Gedanken
an sie in aller Entschiedenheit zu £assen und sie zum erstenmal zu
verwirklichen. Die briiske Aufhebung aller Privilegien, welche die
Autoritiit besaB, das Fiir-nichtig-Erkliiren aller iiberkommenen
Lehre, die Einsetzung der neuen inneren Macht, die sich auf die
Evidenz, den Zweifel, den hon sens, die Beobachtung der Tatsa-
chen, die Strenge der Beweisfiihrung griindete, damals, im Jahre
1619, stellte diese unerbittliche Reinigung des Tisches im Laborato-
rium des Geistes ein System auBerordentlicher MaBnahmen dar, die
ein Jungling von 23 Jahren in seiner Einsamkeit ergriff und verord-
nete, im Vertrauen auf sein Denken und in der GewiBheit von
dessen Kraft, der er die gleiche Intensitiit verlieh und die er mit
Valerys Cartesianismus 237
»Das, was mich an ihm bezaubert und ihn mir lebendig macht,
ist das BewuBtsein seiner selbst, seines ganzen Wesens in der Einheit
seines Geistes; das scharfe BewuBtsein der Operationen seines Den-
kens; ein so genaues und so sehr dem Willen unterworfenes BewuBt-
sein, daB er aus seinem Ich ein Instrument macht, dessen Unfehlbar-
keit nur von dem Grad dieses Bewu8tseins abhangt« (I, 805).
Beim Klang dieser zwei Worte: »ich bin« vergehen alle Entitaten,
und an ihre Stelle tritt ein Wille zu sich selbst. Descartes ist fiir Valery
vor allem ein Wille. Im Ausgang von der Erfahrung, die er als Mathema-
tiker gemacht hat, glaubt er an die Macht des reinen Gedankens und des
gedanklichen Konstruierenkonnens. Indem sein bewuBter Wille zu sich
selbst zum Zentrum der Herrschaft iiber sich selber wird, wird er
zugleich zum Bezugssystem der physikalischen und animalischen Welt
und ihrer Beherrschbarkeit durch die Wissenschaft der mathematischen
Konstruktion.
»So denkt er sich ein Universum und ein Lebewesen aus und
stellt sich vor, daB er sie zu erklaren vermag. Welcher Illusion er auf
diesem Wege auch anheimgefallen sein mag, sein Versuch hatte
weitreichende Folgen [...] Wenn auch das cartesische Universum
das Schicksal aller gedachten oder denkbaren Vorstellungen vom
Valerys Cartesianismus 241
Universum erlitten hat, die Welt unserer »Kultur« tragt noch das
Zeichen des Willens und der Denkweise, von denen ich gesprochen
habe. Diese Welt ist durchdrungen von der Anwendung des Mes-
sens. Unser Leben wird mehr und mehr nach numerischen Bestim-
mungen geordnet, und alles, was sich der Darstellung durch Zahlen
entzieht, jede nicht quantifizierbare Erkenntnis erfahrt eine ab-
schiitzende Beurteilung. Der Name »Wissenschaft« wird mehr und
mehr allem Wissen abgesprochen, das sich nicht in Zahlen iiberset-
zen liiBt« (I, 843; 821).
»zu zeigen, oder vorzufiihren, was ein Ich vermag. Was tut
dieses Ich Descartes'? Da es in keiner Weise seine Grenzen empfin-
det, will es alles machen oder alles von neuem machen. Zuerst aber
macht es tabula rasa. Alles, was nicht aus dem Ich stammt, [... ] das
sind nur Worte. Alles, was sich in nichts als Worte auflost, die sich
selbst wiederum nur in Meinungen, Zweifel, Kontroversen oder
einfache Wahrscheinlichkeiten auflosen, all dies halt vor diesem lch
nicht stand und besitzt keine ihm vergleichbare Kraft. Und wenn es
erforderlich ist, kommt dieses lch ganz allein zu seinem Gott; es gibt
ihn sich, und es ist ein so klar umschriebener und erwiesener Gott,
wie es ein Gott sein muB, um der Gott Descartes' zu sein « (I, 808 f.).
Das Moi pur des Descartes, dieses reine SelbstbewuBtsein, das von
seinem Korper unabhiingig ist, erdenkt sich auch, nach MaBgabe der
Vollkommenheit, in evidenter Weise Gott, so daB Descartes seinen
Gottesbeweis der theologischen Fakultiit von Paris gerade deshalb emp-
fehlen konnte, weil er keines vorgiingigen Glaubens an Offenbarung
bediirfe, sondern auch Ungliiubige rein rational iiberzeugen miisse.
Descartes' Unterscheidung von Korper und Seele bzw. Geist be-
stimmt auch Valerys »System«, <lessen Formel CEM ist, d.i. Corps,
Esprit, Monde. Das Wort Welt oder Universum hat jedoch fiir ihn
seinen Sinn verloren, weil es wissenschaftlich nicht definierbar ist, es sei
denn als Alles, was kein Ich selbst ist. Sein cartesischer Ausgang vom
»Denken des Denkens« und vom »bewuBten BewuBtsein« fiihrte ihn
aber mehr und mehr zu der Einsicht, daB auch alles Geistige, Denken
und Sprechen, eine Funktion von etwas anderem ist, das wir nicht
durchschauen und <lessen wir uns zuniichst und zumeist nicht bewuBt
242 Paul Valery
Auf diesem Weg, der von Valerys jugendschrift Monsieur Teste bis
zu seinem Alterswerk Mon Faust fiihrt, kehrt sich die Fragestellung
nach dem Verhaltnis von Mensch und Welt bzw. Geist und Korper um.
Hier beriihrt sich Valery mit Nietzsches Kritik an Descartes' Aus-
gangspunkt vom Bewufstsein und positiv mit W ahrheit und Luge im
aufsermoralischen Sinn 4 • Doch hatte Valery im Vergleich zu Nietzsche
ein vie! gerechteres Urteil iiber die Leistung Descartes', weil er sich
dariiber klar war, dafs wir in der von ihm und Galilei begriindeten Welt
des Mefsbaren und Berechenbaren leben und dafs seitdem »le machinis-
me« die wahrhaft herrschende Macht unserer Epoche ist (I, 1045); in
einer Zeit,
4 Siehe dazu vom Verf.: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des
Gleichen, 1956, S. 99££. und 142££. [vorgesehen fiir Bd. 6 der Siimtl. Schriften].
Valerys Cartesianismus 245
Aufs Ganze gesehen ergibt sich daraus die Frage: Wieviel oder wie
wenig ist noch von dem lebendig, was wir noch immer als »abendlan-
disch-europaische« Tradition konservieren? Mit Bezug au£ Descartes,
dessen kiihner EntschluB zum Zweifel die Neuzeit eroffnet hat, ware
mit Valery zu fragen: Womit wurde er heute tabula rasa machen?
Vielleicht mit der gesamten wissenschaftlich-technischen Zivilisation,
deren philosophische Grundlagen er mit gelegt hat - vielleicht aber
auch mit den sentimentalen Widerstanden, die sich dem universalen
Fortschritt der Rationalisierung entgegenstellen.
Gleichzeitig mit der Arbeit an Mon Faust hat Valery einen Entwurf
veroffentlicht, der das Verhalmis von Korper und Geist betrifft (I, 923).
Die Fragwiirdigkeit dieses Verhaltnisses ist in dem Possessivpronomen
»mein« angezeigt: lnwiefern ist der lebendige Korper des Menschen der
seine? Inwiefern gehort er mir und andererseits ich zu ihm? Diese Frage
wird zwar erst in den spateren Schriften explizit erortert, angelegt ist sie
aber bereits in dem Cahier von 1914.
»Wer die Worte: mein Korper zu iibersetzen wiiBte, hatte den
Schlussel ... Er ist der wesentliche Gegenstand. Dieses Bewegliche, das
ein Unbewegliches in sich enthalt« (5, 324), namlich den zeitlosen
Gedanken, der auch vom Korper und seinen Impulsen weifs, dais er der
seine und nicht der seine ist.
»Man betrachte seine Hand auf dem Tisch, und was dabei
herauskommt ist immer ein philosophisches Erstaunen. lch bin in
dieser Hand, und ich bin nicht darin. Sie ist !ch und Nicht-Ich. Und
tatsachlich treibt diese Anwesenheit einen Widerspruch hervor;
mein Korper ist Widerspruch, ruft Widerspruch wach, drangt ihn
auf: und eben diese Eigenart ware grundlegend in einer Theorie des
Lebewesens, wenn man es verstiinde, sie in prazisen Begriffen dar-
zulegen. Und ebenso steht es mit einem Gedanken, mit jedem Ge-
danken. Sie sind Ich und Nicht-Ich« (II, 519).
Eine Analyse des Korpers setzt voraus eine Vorstellung vom Leben-
digen iiberhaupt. Wir beschlieBen deshalb die Erorterung von Valerys
246 Paul Valery
1. Wie man ein Lebewesen ausloscht, indem man ihm umsonst und
in der besten Beschaffenheit das gibt, was sein Organismus und seine
Tiitigkeit ihm in seiner Umwelt liefern.
2. Ich betrachte das Lebendige: Was ich sehe und was mir zuerst in
die Augen springt, ist diese Masse aus einem einzigen GuB, die sich
bewegt, sich biegt, liiuft, springt, fliegt oder schwimmt, die schreit,
spricht, singt und die ihre Tiitigkeiten und Erscheinungsformen, ihre
Verwiistungen, ihre Anstrengungen und sich selbst in einer Umwelt
vervielfacht, die dieses Wesen aufnimmt und der man es nicht entziehen
kann.
Dieses Etwas, seine stoBweise Betriebsamkeit, sein plotzliches Auf-
flammen aus einem Zustand der Triigheit, in den es immer wieder
zuriickkehrt, sind seltsam ausgeriiftelt: man bemerkt, daB die offen-
sichtlichen Fortbewegungseinrichtungen - Beine, Pfoten, Fliigel - einen
ziemlich ansehnlichen Tei! der gesamten Korpermasse des Lebewesens
ausmachen, und man entdeckt spiiter, daB das iibrige Korpervolumen
Organe jenes verborgenen Wirkens einnehmen, von dessen iiuBeren
Folgen wir einige gesehen haben. Man gelangt zu der Vorstellung, daB
die ganze Dauer dieses Lebewesens das Ergebnis jenes Wirkens ist und
daB sein ganzes - sichtbares oder nicht sichtbares - Produzieren sich
darin erschopft, einen unersiittlichen Verbraucher zu unterhalten, eben
dieses Wesen selbst.
3. Aber ich weiB auch: was da so fortwiihrend gesucht oder entwik-
kelt wird von jenem System von Mitteln, das fast das ganze Lebewesen
ausmacht, konnte ihm auch mit Hilfe anderer als seiner eigenen Mittel
geliefert werden. Wenn sein Blut die Substanzen einfach fertig zuge-
fiihrt bekiime, deren Entwicklung das Zusammenspiel so vielfaltiger
Betriebsamkeit und einen solchen Lenkungsapparat erfordert, wiirde
sich begreiflicherweise, nachdem dieser Mechanismus und sein Funk-
tionieren unniitz geworden und aufgegeben worden ware, das Leben
selbst erhalten und sogar in vollkommenerer und zuverliissigerer Weise
Valerys Cartesianismus 247
Nun, hierfiir gibt es ein Beispiel: dieses auf das Leben reduzierte
Leben ist das des Embryos, ein solches bifkhen am Anfang seines Weges
und dieses bifkhen hervorgegangen aus diesem beinahe nichts: einem
Keim.
11. Schliefslich eine letzte Oberlegung, die sich als Problem erweist:
worin besteht die absolute Unentbehrlichkeit der spezifischen Tiitigkeit
des Geistes fiir die Erhaltung des Lebens unter Gegebenheiten, die dem
Lebewesen eine Handlungsmoglichkeit belassen? Ich meine, es ware
interessant, dies zu priizisieren. Man wiirde zweifellos zu einer Defini-
tion des Geistes als »Umwandlungsvermogen« seiner Vorstellungen
gelangen, welches, angewandt auf eine nicht durch Automatismus oder
einfache Reflexe losbare und die Ausiibung dieses Vermogens veranlas-
sende Situation, sich darin versucht, mit ihr die Idee und die Handlungs-
impulse in Einklang zu bringen, mittels derer der Organismus schlieB-
lich wieder in einen Zustand der Verfiigungsgewalt iiber seine Mittel
versetzt wiirde - welchen Zustand man »Freiheit« nennen konnte.
Welches auch immer die stattgefundenen Kombinationen, Neuschop-
fungen und inneren Abiinderungen seien - dieser ganze ProzeB wird
schlieBlich immer das System wieder in einen Zustand gleicher Mog-
lichkeiten zuriickversetzen.
mogens, und wir konnten mit gleicher Evidenz behaupten, die Welt
beruhe au£ ihm und habe in ihm ihren Bezugspunkt; wie auch, er sei
selbst nur so etwas wie ein unendlich nichtiges und unbestandiges
Ereignis dieser Welt.
Aber weder die Bezeichnung »Objekt«, die ich eben gebrauchte,
noch die Bezeichnung »Ereignis« sind hier eigentlich passend. Es gibt
keine Bezeichnung fiir unser Gefiihl von einer Substanz unserer Anwe-
senheit, unserer Handlungen und seelischen Regungen, und zwar nicht
nur der tatsachlichen, sondem der bevorstehenden oder verzogerten
oder rein moglichen - etwas Verborgenes und dennoch weniger lntimes
als unsere Hintergedanken: Wir entdecken uns als fast genau so vielfal-
tig wandlungsfahig wie die uns umgebenden Verhaltnisse. Das ge-
horcht oder gehorcht nicht, fiihrt unsere Plane aus oder ist ihnen ein
Hemmnis; es fliefsen uns aus ihm iiberraschende Starken und Schwa-
chen zu, die das Ganze oder Teile jener mehr oder minder empfindsa-
men Masse betreffen, welche sich das eine Mal plotzlich mit Energieim-
pulsen aufliidt, um es kraft irgendeines inneren geheimnisvollen Vor-
gangs »wirken « zu !assen, und das andere Mal in sich selbst die nieder-
driickendste und unverriickbarste Schwernis zu werden scheint ...
Diese Masse selbst ist unformig: vom Sehen kennen wir nur einige
bewegliche Teile davon, die in das iiberschaubare Gebiet des Raumes
jenes Mein Karper vorstofsen konnen, eines seltsamen, asymmetrischen
Raumes, in dem Entfernungsbeziehungen Ausnahmen bilden. lch habe
keine Vorstellung von den raumlichen Beziehungen zwischen »Meine
Stirn« und »Mein Fuls«, zwischen »Mein Knie« und »Mein Riik-
ken « ... Das fiihrt zu seltsamen Entdeckungen. Meine rechte Hand
weifs im allgemeinen nichts von meiner linken. Die eine in die andere
nehmen bedeutet: Ein Nicht-lch nehmen. Diese Absonderlichkeiten
miissen eine Rolle unter dem Schlaf spielen und, falls es einen Traum
gibt, ihm unendliche Kombinationen vorschreiben.
Dieses so sehr mir eigene Ding, und doch auf so geheimnisvolle
Weise, und manchmal, und letzten Endes immer, unser furchtbarster
Widersacher, ist das bedriingendste, bestandigste und veranderlichste,
das es gibt: denn jede Bestandigkeit und jede Veranderung gehoren ihm.
Nichts bewegt sich vor uns, wenn nicht durch so etwas wie eine entspre-
chende von diesem Ding entworfene Modifikation, die der wahrge-
nommenen Bewegung folgt oder sie nachahmt; und nichts halt inne,
wenn dieses Ding nicht in irgendeinem Teile sich verfestigt.
Es hat keine Vergangenheit. Dieses Wort hat keinen Sinn fiir es, ist
Valerys Cartesianismus 251
sige, manchmal sehr zahe Fliissigkeiten ab. Man holt aus ihm Massen
verschiedener Groisen heraus, die fiir ein recht exaktes Ineinandergrei-
fen ausgeformt sind: Schwamme, Gefaise, Tuben, Fasern, Gelenkschie-
nen . . . In sehr diinne Scheibchen zerschnitten oder in Form feiner
Tropfchen zeigt das Ganze unter dem Mikroskop Korpuskelstruktu-
ren, die mit nichts eine Ahnlichkeit aufweisen. Man versucht, diese
histologische Geheimschrift zu entziffern. Man fragt sich: Wie erzeugt
diese Faser Antriebskraft? Und was fiir einen Zusammenhang konnten
diese kleinen Sternbilder mit ihren feinen Wurzelkeimlingen mit Emp-
findung und Denken haben? Aber was wiirden ein Descartes, ein New-
ton tun, wenn man ihnen, ahnungslos, wie sie waren, von unserem
Elektromagnetismus, von der Induktion und von allem, was nach ihnen
entdeckt wurde, ohne Erklarung einen Dynamo zur Priifung vorlegte
und sie nur iiber seine Wirkung informierte? Sie wiirden dasselbe tun,
was wir mit einem Gehirn tun: sie wiirden den Apparat auseinander-
nehmen, wiirden die Spulen aufrollen, wiirden festhalten, dais sie hier
Kupfer, da Kohlen, dort Stahl finden und wiirden sich schlielslich
geschlagen geben, unfahig, hinter das Funktionieren dieser Maschine
zu kommen, deren uns bekannte Umwandlungsleistungen sie doch
erfahren haben.
Zwischen diesen drei Karpern, die ich uns nun verliehen habe,
bestehen notwendigerweise zahlreiche Verbindungen, die zu erhellen
zu versuchen sehr interessant, wenn auch ziemlich miihselig ware. lch
mochte im Augenblick lieber au£ eine gewisse Phantasievorstellung zu
sprechen kommen.
lch behaupte, dais es fiir jeden von uns einen vierten Karper gibt,
den ich unterschiedslos realer Karper oder auch imaginiirer Karper
nennen kann.
Ich betrachte ihn als untrennbar von der unbekannten und uner-
kennbaren Umwelt, die uns die Physiker erahnen !assen, wenn sie die
Sinnenwelt strapazieren und iiber den Umweg von Ketten von Relais
Phanomene zum Vorschein bringen, deren Herkunft sie weit jenseits
oder weit diesseits unserer Sinne, unserer Einbildungskraft und schlieis-
lich unseres Denkvermogens selbst ansetzen. Von dieser unfaisbaren
Umwelt unterscheidet sich mein vierter Karper nicht mehr und nicht
weniger, als ein Strudel sich von der Fliissigkeit unterscheidet, in der er
sich formt. (Es ist mir doch verstattet, iiber das Unfaisbare so zu
verfiigen, wie ich will.)
Er ist keiner der drei anderen Karper, denn er ist nicht der mein
Valerys Cartesianismus 253
Karper noch der Jritte, welcher derjenige der Gelehrten ist; denn er
besteht aus dem, wovon sie nichts wissen ... Und ich fiige hinzu, daB
die geistige Erkenntnis eine Produktion dessen ist, was dieser vierte
Karper nicht ist. Alles, was ist, verbirgt notwendig und unwiderruflich
- von unserem Standpunkt her gesehen -, etwas, Jas ist . . . Aber
warum fiihre ich hier diese so vollig nichtige Vorstellung ein? Deshalb,
weil eine sogar ganz absurde Idee niemals vollig wertlos ist und weil
eine leere Formel, ein leeres Zeichen dem Geist jedesmal irgendeinen
Stachel versetzen. Woher kam mir denn dieses Wort vom vierten
Karper?
Da ich iiber den Begriff Korper im allgemeinen und iiber meine Jrei
Karper von eben nachsann, haben sich die illustren Probleme, die diese
Themen aufgeriihrt haben, verschwommen im Dammerschatten mei-
nes Denkens formuliert. Ich gestehe, daB ich sie gewohnlich aus dem
empfindsamsten und drangendsten Bereich meiner Aufmerksamkeit
fernhalte. lch frage mich kaum, welches der Ursprung des Lebens und
der der Arten ist; ob der Tod ein einfacher Wechsel des Klimas, der
Kleidung und der Gepflogenheiten ist, ob der Geist ein Nebenprodukt
des Organismus ist oder nicht; ob unsere Handlungen manchmal das
sein konnen, was man frei nennt (ohne daB je einer hatte sagen konnen,
was man genau darunter versteht) usw. Auf diesem Hintergrund abge-
droschener Probleme zeichnete sich meine absurde und lichtvolle Idee
ab: »lch nenne vierten Karper, sagte ich mir, den unerkennbaren Ge-
genstand, Jessen Erkenntnis mit einem Schlag all Jiese Probleme losen
wurJe, Jenn sie beinhalten ihn. «
Und da ein Widerspruch in mir laut wurde, fiigte die Stimme des
Absurden hinzu: »Denk gut daran: wo willst Du denn Antworten
herholen auf diese philosophischen Fragen? Deine Bilder, Deine Ab-
straktionen riihren nur von den Eigenarten und Erfahrungen Deiner
Jrei Karper her. Aber der erste bietet Dir nur Momente; der zweite
einige Visionen; und der dritte, auf Kosten abscheulicher Handlungen
und verwickelter Vorbereitungen, eine Menge Figuren, die noch weni-
ger zu entziffern sind als etruskische Texte. Das Ganze zerreibt Dein
Geist mit seiner Sprache, setzt es zusammen und bringt Ordnung hin-
ein; mag er dabei ruhig, seinen gewohnten Fragekatalog miBbrau-
chend, diese beriihmten Probleme herausziehen; aber er kann ihnen nur
dann einen Schatten von Sinn verleihen, wenn er, ohne es sich einzuge-
stehen, irgendeine Nicht-Existenz annimmt, von der mein vierter Kor-
per eine Art Inkarnation ist.«
254 Paul Valery
In einem Essay von 1933 iiber Stephane Mallarme hat sich Valery
Rechenschaft iiber die geistige Situation gegeben, in welcher er heran-
wuchs und als Zwanzigjiihriger die Konsequenzen aus einer Krise zog,
die ihn veranlalste, von der Literatur Abschied zu nehmen. Ober diesen
entscheidenden Wendepunkt seines Lebens hat er sich nur einmal frag-
mentarisch in den Notizheften, den Cahiers, geiiulsert, die er von 1894
an bis zu seinem Lebensende, also 50 Jahre hindurch, friihmorgens fiir
sich niederschrieb. Sie enthalten keine autobiographischen Aufzeich-
nungen, und die vielen Stellen mit der Oberschrift »Ego« und »Memoi-
res du Moi « betreffen nicht sein personliches Leben, sondern das Pro-
blem der Konstitution des Selbstbewulstseins. Diese 257 Hefte wurden
nach seinem Tod in 29 Biinden faksimiliert herausgegeben. Sie enthal-
ten die Summe oder das »System« seines Denkens iiber Mensch und
Welt oder, wie er im AnschluB an Descartes einmal sagt, seinen frag-
mentarisch gebliebenen Traite de /'homme et du monde. In der Haupt-
sache enthalten die Cahiers hochst abstrakte und oft in mathematische
Form gekleidete Reflexionen iiber das »Funktionieren« des Geistes im
Verhiiltnis zum Automatismus der vitalen Funktionen, zur sensibilite
und zum Korper.
Die Notiz iiber die Krise von 1892 lautet:
daB der neue Mensch den friiheren absorbiert und zunichte macht«
(II, 1434; I, 854) 1.
Etwas spiiter faBte er das Entscheidende dieser Krise in dem Satz
zusammen: »je m'etais fait un regard« 2 - ein Wort, das bei Valery
immer wiederkehrt und ein besonderes Gewicht hat. Regard unter-
scheidet sich vom bloBen Sehen, weshalb er sagen kann: »regard: ce que
tout le monde voit.« Der regard ist, im Unterschied zu einem bloB
rezeptiven Sehen, das in Wirklichkeit aber auch schon ein komplexer
Vorgang des sich adaptierenden und die Sinnesempfindung verarbei-
tenden Auges ist, eine aktive Funktion des Objektivierens. Ein solcher
gewollter, aufmerksamer regard ergibt sich wie von selbst, wenn man
das Gesehene nachzeichnet, wobei man bemerkt, daB man das Offen-
sichtliche zuvor gar nicht gesehen hatte. Zwar gehen schon von jedem
gewohnlichen Sehen auch Antriebe zum Sichbewegen, Denken und
Sprechen aus, mit dem Ergebnis, daB das Sehen als solches aus dem
BewuBtsein zuriicktritt. Aber das gewollte Sehen eines Maiers, der das
Gesehene zeichnet, erteilt dem Blick eine andere Richtung und verwan-
delt die Wahrnehmung als solche: man entdeckt, daB das scheinbar
Wahrgenommene ganz anders aussieht und unbekannt war. Zugleich
mit dieser durch Zeichnen gesteigerten Aufmerksamkeit des Sehens
befreit sich die zeichnende Hand von ihrer Gebundenheit an die norma-
le Funktion des Ergreifens und Hantierens3 • Regard meint aber nicht
1 Vgl. I, 396: HOMO QUASI NOVUS. Qui es-tu? Je suis ce que ie puis. Vgl.
23, 757££.;26,417£.
2 Vgl. 25,455: Jeme sentais, jeme voulais doncun certain regard, etje ne suis
guere que cela [...] Je voyais le possible du reel. Et c'est tout Moi.
3 Degas 62 ff., 66, 79; die Cahiers enthalten zahlreiche Zeichnungen Valerys
von seinen Hiinden, weil er in der hantierenden, zeigenden und schreibenden,
geballten oder entfalteten menschlichen Hand die »Seele« des Leibes priisent
sah. Siehe dazu Anhang I iiber das Handwerk des Chirurgen (I, 918££.).
Er vergleicht einmal die Hand geradezu mit der Sprache: »Le langage est une
main, dont ii faut exercer l'independance des doigts, la promptitude, !es emplois
simultanees etc. Mais ii ya 6000 doigts a cette main« (7, 907). Das Handwerk
kann sich Geist erzeugen, manchmal aber auch umgekehrt: »Tu £eras plus
facilement d'un ma<;on un architecte, et d'un matelot un amiral que le contraire-
car ii arrivera plus souvent que les mains se £assent de !'esprit que !'esprit des
mains [. . . ]. Cependant, chez des etres rares, la pensee peut aller si avant dans
!'exigence de se faire reel, et la conscience-de-soi s'avancer si fort dans !'imagina-
tion des actes et leur quasi-execution abase mentale [. . .) que certains miracles de
perfection d'accomplissement sont possibles, qui montrent des mains etre en-
gendrees par !'esprit et son desir.« »Le langage est une action interne externe,
Gedanken zur Sprache 257
acquise, greffee sur un fond nature! de ,gestes< des mains, de la face et de la voix,
qui sont des expressions communicatives, par imitation ou designations« (23, 9,
388,807; I, 1083).
Um sich eine zutreffende Vorstellung von der Sprache zu machen, gebe es nur
ein Mine!: die durch Stimme und Gesichtsausdruck unterstiitzte Geste, die
auBer dem Bezeichneten einen Empfanger der Mineilung voraussetzt, so wie die
Rede einen Zuhorenden und Antwortenden. Man versuche also eine vollstiindi-
ge Aussage mit Gesten wiederzugeben und sich andererseits klarzumachen, daB
auch die Sprache der exakten Wissenschaft anzeigende Zeichen gibt.
258 Paul Valery
Valery war ein Mensch der reflektierten attention und des regard
und insofem ein Mensch des Geistes.
Um die Krise zu verstehen, die Valery zu seinem Entschlug brachte,
sich von der Literatur abzuwenden und den exakten Wissenschaften
zuzuwenden, mug man sich mit ihm die letzten Jahrzehnte des neun-
zehnten Jahrhunderts vergegenwartigen.
»Vor ungefahr vierzig Jahren waren wir an einem kritischen
Punkt der literarischen Entwicklung angelangt. Die Zeit war reif fiir
den Einflug Mallarmes. Die jungen Leute meiner Generation lehn-
ten fast alles ab, was ihnen der intellektuelle Horizont der Epoche
darbot [...] Sie such ten [...] nicht allein [...] eine Orientierung ihrer
Kunst auf eine neue Vollkommenheit, sondern mehr, eine wirkliche
Fiihrung, die ich nicht moralisch zu nennen wage, denn es handelte
Gedanken zur Sprache 259
Und doch war ~s etwas anderes und mehr als die ldee einer »poesie
pure«, welche Mallarme zum Meister einer Jugend machte, die sich von
allem biirgerlichen Realismus und Naturalismus abgewandt hatte. Ge-
wiB war es keine moralische Forderung im gewohnlichen Sinn, welche
diese Jugend ansprach und anzog, aber - iihnlich wie im Kreis um
Stefan George - ein religioser Unterton, welcher der radikalen Weige-
rung, sich mit dem Bestehenden gemein zu machen, ihre positive Ten-
denz gab.
» ••• daB es bereits recht viele Meisterwerke gab und daB die
Zahl genialer Schopfungen nicht gar so klein war, so daB man
dringend hatte wiinschen miissen, sie zu vergroBern. Ich dachte mir
ferner, und mit etwas groBerer Genauigkeit, daB ein Werk, das man
mit Entschiedenheit gewollt, Schritt fiir Schritt und mit Hilfe einer
hartnackigen Analyse genau umgrenzter und im voraus festgelegter
Bedingungen in den Zufallen des Geistes aufgespiirt hatte, gleich-
giiltig, welchen auBeren Wert es, einmal geschaffen, auch haben
mochte, seinen Schopfer unfehlbar innerlich verandert und gezwun-
gen haben miiBte, sich selbst zu erkennen und gewissermaBen zu.
reorganisieren. Ich sagte mir, daB nicht das einmal hervorgebrachte
Menschen von hochster Intelligenz, welche die Moglichkeit des Glaubens aus-
schloB und eine tiefe Melancholie in sich barg - eines wesendich destruktiven
Geistes, zu intelligent, urn ein Philosoph irn herkornrnlichen Sinn zu sein, d. h.
Konstrukteur eines Systems, dern ein Glaube zugrunde liegt, <lessen ernotionale
Quellen ihrn selbst rneist unbekannt sind. Vgl. Ch. du Bos, Approximations
s.
1922, 10£.
8 W. 55; I, 630£.; Br. 80: »Die Literatur, ad libitum, ist alles - alles oder
nichts. Dernnach ist sie nichts oder ein Nichts. Wie dieses Nichts nun ein ganzes
Leben ausfiillen, das Wirkliche oder <las Wirkende werden kann oder zu werden
versuchen kann, wird man vielleicht, bei Ihnen, in bezug auf Mallarrne erken-
nen. Es ware wesentlich. Was rnich angeht, so habe ich zwischen diesern: ,Alles,
und diesern ,Nichts, geschwankt. Ich lernte Mallarrne kennen, nachdem ich
seinen ungewohnlichen EinfluB erduldet hatte, und in dern Augenblick gerade,
als ich die Literatur in rnir abtotete. Ich habe diesen auBerordentlichen Men-
schen sogar zu der Zeit verehrt, als ich in ihrn den einzigen Kopf erblickte [... ],
den es nur abzuschlagen gegolten hatte, urn ganz Rom zu enthaupten.« Vgl. 25,
83 f. und 153.
262 Paul Valery
»lch gelangte dahin [... ], dem Akt des Schreibens nur mehr den
Wert eines reinen Exercitium beizumessen: denn dieses Spiel, das
auf den zu diesem Zweck neu definierten und genau verallgemeiner-
ten Eigenschaften der Sprache griindet, sollte darauf abzielen, uns in
ihrem Gebrauch sehr frei und sicher zu machen und uns von den
Illusionen zu losen, die eben dieser Gebrauch erzeugt und von denen
die Literatur lebt-wie auch die Menschen« (I, 643).
Wie sollte sich aber dieses gleichsam sportliche Ethos des Dichtens
noch mit der urspriinglich orphei"schen Bezauberung vereinbaren !as-
sen, die Valery in Mallarmes Gedichten erfuhr, der einmal geiiufsert hat,
dafs der Abweg und lrrweg bereits mit Homer begann.
9 Br. 217 f.: » Zuniichst muB ich Ihnen sagen, daB ich nicht im geringsten
Philosoph bin, vielleicht sogar etwas wie ein Anti-Philosoph, worauf ich mir
264 Paul Valery
nichts einbilde, was aber gewiG die Folge davon ist, daG ich die Sprache au£
besondere Art betrachte [...]. Auf zwei Stellen Ihres Briefes eingehend, gestehe
ich Ihnen, daG mich mit Platon wenig verbindet, denn die Dialektik langweilt
mich, und was Hegel anlangt - ich habe ihn nie gelesen, das kommt vielleicht
noch, aber es ist recht spat dafiir. «
10 Teste 55; II, 699; I, 1080£.
Gedanken zur Sprache 265
Hatten die Philosophen verstanden, dais sich ihr Geschaft ganz und
gar in der Sprache bewegt und von bestimmten sprachlichen Formen
gepragt ist, dann wiirden sie wie die Dichter kunstvoll mit der Sprache
spielen, anstatt von ihr mitgespielt zu werden (23, 642). Unter dem Ti tel
»Philosophie et langage« notiert Valery die Maxime: »Ne jamais
oublier que !es mots ne sont que des moyens de transformations- et non
des choses« (9, 103). Das mit Worten Benannte und Gesagte ist kein
Ausdruck oder Bild der Sache selbst, sondern ein vermittelndes Zeichen
fiir etwas anderes, Nichtsprachliches. Ein Wort ist ein »appel«; aber
das Wort appeler kann ganz Verschiedenes bezeichnen, z. B. in »j'appel-
le a!'aide« und »j'appelle ceci un triangle« (9,404). Kein Wort hat an
ihm selbst eine eigene Bedeutung, die von seinem jeweiligen Gebrauch
und Zusammenhang trennbar ware. Wir verleihen der menschlichen
Sprache eine iibermenschliche Bedeutung, wenn wir den Sprechenden
als einen »porte parole« betrachten, anstatt seinen Mund und sein
Gesicht beim Sprechen zu beobachten (23, 240). Die Sprache ist we-
sentlich eine Funktion.
»Jeder Sprachgebrauch ist Funktionsbedingungen unterworfen,
die man, mehr oder weniger deutlich gekennzeichnet, in den explizi-
ten Konventionen vorfindet« (23,319).
den; zu glauben, daB sie es denken, wahrend sie es sich nur vorsa-
gen« (22, 173).
Das gleiche gilt fiir die Philosophie, deren Sprache es erlaubt, einen
nichtexistierenden Gedanken zu simulieren.
Weil man aber den Akt des Denkens zumeist mit der Sprache
verwechselt, bleibt die Riickwirkung der Sprache auf den Gedanken
unbeachtet. Wir sind mit den Worten und dem Satzbau unserer beson-
deren Sprache so unmittelbar von Kind auf verwachsen, daB sie jede
geistige Produktion von vornherein einschriinkt und den Gedanken
nach MaBgabe des scheinbar klarsten und sprechendsten Ausdrucks
formt.
Die Rolle der Sprache ist wesentlich, aber transitorisch und konver-
tibel in Bilder und geistige Akre, die im Fall der Mathematik so kiihn
sind, die Sprache durch Konvention schopferisch zu machen. Nur die
Sprache der Mathematik kann es sich erlauben, sich innerhalb ihrer
selbst aufzuhalten, und wenn die Philosophen damit einverstanden
wiiren, daB auch ihre Sprachkombinationen Produkt der Konvention
sind, dann konnte man ihre Metaphysik akzeptieren, niimlich als eine
Art abstrakte Dichtkunst.
» Wenn die Philosophen bereit wiiren, sich mit dieser Lage abzu-
finden und ihre WortmiBbriiuche und Worterfindungen nur als
Produkt der Konventionen anzusehen, dann konnte man ihre Meta-
physik akzeptieren. Was darauf hinausliiuft, ihr Handwerk als eine
Kunst oder als poetische Fiktion anzusehen -eine Kombination von
Abstraktionen« (29, 58).
Hat man einmal eingesehen, daB Sprache eine Kombination von
Worten ist, die rein fiir sich genommen, d.h. ohne Bezug auf ihre
transitorische Funktion, nichts lernen kann, dann folgt daraus, daB sie
sich nur retten liiBt, sofern sie sich, wie in der mathematischen Physik,
durch VeriiuBerung ihrer Operationen verifizieren liiBt - oder, wie in
der Dichtkunst, durch iisthetische, auf sinnliche Empfindung bezogene
Bewiihrung ihrer verbalen Kombinationen (29,425 und 537).
Desgleichen lieBe sich auch die Philosophie nur auf die Weise retten,
daB man ihren an sich rein verbalen Systemen, die sich in keine wirkli-
chen Akte konvertieren !assen, wenn sie ein Wissen ohne Macht und
kein savoir-faire sein wollen 13, einen formal-iisthetischen Wert zu-
spricht.
»All das geht aus der Verkennung der wahren Natur der Spra-
che hervor, die uns absolut nichts lehrt, wenn sie auf sich selbst
reduziert ist. Sie hat ihre Geltung nur durch den zuverlassigen
Austausch ihrer Kombinationen mit Erfahrungen oder nicht verba-
len Feststellungen. Alie Philosophie geht vom Klaren zum Obsku-
ren, vom Eindeutigen zum Zweideutigen, wenn sie die Worte von
den realen Bediirfnissen und von dem augenblicklichen Gebrauchs-
zweck trennt. Man darf sich nie bei einem Wort aufhalten, das,
seine wirkliche Rolle vollkommen erfiillend, weiter nichts zu tun
hat und nichts anderes beibringt als das, was ihm der unmittelbare
und voriibergehende Gebrauch erteilt« (23, 793; 29, 58 £.).
Es gilt also vom Geist oder dem Denken dasselbe wie von der
Sprache: dais sie, rein auf sich selbst verwiesen, nichts lehren konnen.
»Keine Arbeit des Geistes in bezug auf sich selbst, keine »Medi-
tation«, keine Logik, keine Imagination hatte und hat so wichtige
Tatsachen entdecken konnen wie die Umdrehung der Erde oder die
Existenz der Elektrizitat« (29,659; vgl. 593).
Wir sollten wissen, dais, was immer uns der Geist und die Sprache
lehren konnen, nur durch den Bezug au£ das, was nicht Sprache und
Geist ist, zustande kommt. Das wahre Element einer Philosophie, wel-
che wissen will, was und wie etwas ist, kann nur die prazise Beobach-
tung sein, aber kein blolses Denken, welches ebenso sehr eine eigene
Aktivitat wie ein anonymes und blindes Funktionieren ist (9,427).
Diese grundsatzlichen Thesen zum Verhaltnis von Sprache, Gedan-
ke und Sache sind iiber samtliche Cahiers verstreut. Ihre erste Formulie-
rung enthalten bereits Valerys Jugendschriften Monsieur Teste und
Leonardo. Er lernte schon als Monsieur Teste alien Worten milstrauen,
den gesprochenen wie geschriebenen, gegen die Widerstand zu leisten
Pflicht sei. »Diese Pflicht erfordert, dais man das Wort[. .. ] als Wort
betrachtet. «
»Ich bin, !eider, so weit gekommen, die Worte, auf denen man
so unbekiimmert die Weite eines Gedankens iiberquert, leichten
esthetique [.. .]. En resume: pour le philosophe l'reuvre de langage est une fin.
Ayant parle, ii se repose; ayant parle a soi et content de s'etre entendu et accorde
avec soi par question et reponse, ii est heureux et son effort est acheve (23, 10;
vgl. 55).
Gedanken zur Sprache 269
14 Teste 66.
15 3, 736; vgl. II, 1489: »II m'est difficile de concevoir sous la figure d'un livre
ce qui fut ma vie de volonte intellectuelle, et ma resistance personelle aux actions
de dissipation, d'abrutissement, d'amollisement et d'insenseisme exercees sur le
moderne par la vie qu'il faut mener, par l'universite, le journal, les modes, le
chique, les extremistes, Jes opportunistes, !es clerges, !es artistes, et generalement
par tout ceux qui font croire, ou par ceux qui croient. J'ai essaye de penser ce que
je pensais, et je l'ai fait avec une nai"vete obstinee. On me dit subtil et c'est
absurde. Je suis plutot brutal, mais j'ai, ou j'ai eu, la folie de la precision.«
270 Paul Valery
16 Degas 151£.
Gedanken zur Sprache 271
WeiB man es nicht, so bleibt alles verbal und ohne die Moglichkeit
der Bewahrung. Man muB die Worter so behandeln, wie sie es verdie-
nen: »<las heiBt: ihren Gebrauchswert fiir dichte Geistesarbeit erken-
nen. Viele von ihnen sind kontraindiziert. Wir haben sie gelernt, wir
wiederholen sie, glauben, sie hatten einen verwendbaren Sinn; aber sie
sind Geschopfe der Statistik und daher Elemente, die jedes Bauwerk
und jede exakte Verrichtung des Geistes vergeblich oder illusorisch
machen, wenn man sie dort ungepriift einfiihrt. «17
Im gleichen Sinn heiBt es in den Cahiers:
»Ein Schriftsteller ist tie(, wenn seine Rede, aus der Sprache in
ganz unzweideutiges Denken ubersetzt, mich zu einer liinger anhal-
tenden Reflexion notigt, die niitzlich und sinnvoll ist. Aber diese
Bedingung ist wesentlich. Ein gewandter Fabrikant, wie es deren
viele gibt [... ], vermag jederzeit Tiefe vorzuspiegeln <lurch eine
triigerische Anordnung [... ] von Worten. Er laBt sich mehr heraus-
geben, als er gegeben hat. Er laBt eine gewisse Verwirrung, die er
hervorgerufen hat, mit der Schwierigkeit, ihm zu folgen, verwech-
seln. Die eigentlichste Tiefe ist aber vollig durchsichtig. Diejenige,
die nicht an dem oder jenem Wort hiingt - wie etwa Tod, Gott,
Leben, Liebe, sondern sich all dieser Fanfaren enthalt.« 18
Und der Dichter sollte der letzte sein, der sich mit Worten zufrieden
geben darf. Valerys Kritik der Sprache beruht auf dem Unterschied
zwischen Sprache und Gedanke und bemiBt sich an dem, was der
Mensch kraft seines Wissens und Wollens kann. »Que peut un hom-
me?«, diese Grundfrage des Monsieur Teste, die Valery noch in den
letzten Cahiers als den Schlussel zu seinem Gedanken wiederholt, ent-
halt im Kern schon seine ganze » Philosophie«. Er definiert <las Sein des
Menschen geradezu <lurch sein Konnen: Qui es-tu? Je suis ce que jepuis
(I, 396,366; 29, 765).
Sein Milstrauen gegen die Sprache lebt von einem Vertrauen in die
Macht des sich wissenden und wollenden Intellekts, <lessen grolste
Leistung es aber ist, seine eigene prinzipielle Bedingtheit oder Endlich-
keit zu durchschauen. Valerys friih gefalster Entschlufs gegen alle litera-
rischen Parasiten, Liigen, Illusionen, Konventionen und Idole liifst <las
Idol des reinen Intellekts bestehen. »Ich bekenne, aus meinem Geist ein
17 F. I. 75; 10,557.
18 B 1910, 59f.
272 Paul Valery
Idol gemacht zu haben, aber ich habe kein anderes gefunden.« 19 Der
erste Satz von Monsieur Teste lautet dementsprechend: »Dummheit ist
nicht meine Starke.« Und gegen Ende wird nicht etwa das Kap einer
guten Hoffnung vorgestellt, deren Valery giinzlich ledig war - »Es gibt
kein Kornchen Hoffnung im ganzen Wesen von Herrn Teste; und das
ist der Grund, weshalb ich ein gewisses Milstrauen bei dieser Ausiibung
seines Konnens empfinde«, schreibt Frau Teste iiber ihren Mann-,
sondern das Kap des am weitesten vorgeschobenen Gedankens, um an
diesem hochsten Punkt des Ausblicks die Augen aufzusperren, »sei es
auf die Grenzen der Dinge oder des Sehens«. Ebenso heilst es noch
fiinfzehn Jahre spiiter: »Mich interessieren die Dinge dieser Welt nur
vom Intellekt aus [...].Bacon wiirde sagen, dieser Intellekt sei ein Idol.
Zugegeben, aber ich kenne kein besseres.« Den Vorwurf aber, dais eine
rein intellektuelle Position zum »Nihilismus« fiihre, beantwortet Vale-
ry damit, dais eine solche betise wie dieser Einwand sich darauf reduzie-
re, dais man sich des Geistes (soweit man einen hat) nicht bedienen solle.
Man miilste ihm eigentlich vorwerfen, dais er sich seiner Freiheit bedie-
ne. Aber wer konnte dem menschlichen Geist, der bis ans Ende geht,
sagen:
»Du so/1st nicht weitergehen [... ],es sei denn, man ware Gott
selbst? Aber Gott selbst ware genau dieser Ansicht« (II, 1512).
Valery liebte den rein en, nackten Gedanken, so wie Degas, in dessen
Charakterisierung er sich selbst portratiert20 und dem er Monsieur
Teste zu widmen wiinschte, sein Leben lang nackte Korper zeichnete.
Dagegen erinnerte ihn das Wort stets und sogleich daran, dais es ein
Wort und zwar irgendeiner Person ist.
19 Vgl. II, 1511; Krise 15. Spiiter (23, 219) hat Valery sein Idol des Geistes
entschieden in Frage gestellt, indem er ihn als eine Funktion erfaBte und sich
iiberhaupt die Bedingungen menschlicher Existenz bewuBt machte. Wie sehr
jedoch Valery dank seiner Sensibilitiit von Anfang an auch das scheinbar rein
Geistige mit dem Physischen zusammendachte, zeigt schon die Aufzeichnung
iiber die Krise von 1892: »Peut-etre effet de cette tension de !'air et de !'esprit.«
20 »Einen groBen und strengen Kiinstler, der, im Tiefsten eigenwillig und von
seltenem, wachem, scharfem und rasdosem Verstande, hinter der [.. .] Strenge
seiner Urteile einen unerkliirlichen Zweifel an sich selber, eine durch nichts zu
befriedigende Ungeniigsamkeit verbarg [. .. ].Kunst, darunter verstand er Pro-
bleme einer gewissen Mathematik, die noch subtiler ist als die gewohnliche [...].
Er gebrauchte gem den Ausdruck ,gelehrte Kunst<; er pflegte zu sagen, ein
Gedanken zur Sprache 273
» Wir bedenken nie, daB, was wir denken, uns verbirgt, was wir
sind. Ich hoffe fest [...], daB wir mehr wert sind als all unsere
Gedanken und daB es vor Gott unser groBtes Verdienst sein wird,
versucht zu haben, bei etwas Soliderem zu verweilen als bei den
Gemiilde sei das Ergebnis einer Reihe rechnerischer Operationen [.. .]. Degas
wies jede Leichtigkeit von sich, wie er alles von sich wies, was nicht den einzigen
Inhalt seines Denkens betraf. Im Grund war ihm nur daran gelegen, vor sich
selber zu bestehen, und das hiel~ freilich den anspruchsvollsten und unbestech-
lichsten Richter befriedigen [...]. Gewisse Bestrebungen, die unbeschrankte
Anforderungen stellen, isolieren denjenigen, der sich ihnen hingibt. Diese Isolie-
rung mag unmerklich sein: aber ein Mensch, der sich ernstlich zu vertiefen
begehrt, kann Jang mit andern Menschen verkehren, plaudern, disputieren - er
wird ihnen vorenthalten, was seiner Ansicht nach seinem eigensten Wesen
angehort, und nur das preisgeben, wovon er fiihlt, daB er es zu seinem groBen
Vorhaben nicht benotigt. Ein Tei! seines Geistes mag sich dazu hergeben, den
andern Antwort zu stehen, ja sogar vor ihnen zu glanzen; aber weit entfernt
davon darin aufzugehen, sondert er sich vie) mehr ab, und zwar gerade aufgrund
jenes Austausches, der ihm seine Abseitigkeit deutlicher vor Augen fiihrt und ihn
zwingt, sich bei jeder Beriihrung noch intensiver in sich selbst und mit sich selbst
zuriickzuziehen. So schafft er sich [.. .]cine zweite Einsamkeit, die er irgendwie
braucht, um sich seine [...) eifersiichtig gehiitete Unvergleichlichkeit zu sichern.
Mehr noch, er wird [. . .] diese Verschanzung so weit treiben, daB er sich selber
ausnimmt von seinem bisherigen Sein und Tun: kein Werk seiner Hande kann er
wiedersehen ohne den Wunsch, es zu zerstoren oder sich erneut damit abzuge-
ben (Degas 7 ff. und 163 f.).
274 Paul Valery
Unser Geist verbirgt uns uns selbst, weil wir iiberhaupt »aus vielen
Dingen bestehen, die uns nicht kennen«, und: »Was ich mir selbst
Unbekanntes in mir trage, das macht mich erst aus.« 21
Diese prinzipielle Undurchschaubarkeit der Bedingungen unseres
Daseins hat ihren letzten Grund in dem Faktum, da8 Monsieur Teste,
wie jedermann, eine Geburt des Zufalls ist und iiberhaupt nur da ist,
weil er durch das zufallige Zusammentreffen einer miinnlichen mit
einer weiblichen Zelle erzeugt worden ist, »et tout l'esprit qu'il a ou
qu'il eut Jui vient de ce fait« 22 • Wenn Valery auf den physischen,
physiologischen und neurophysiologischen »Bedingungen« alles geisti-
gen Tuns insistiert, so bedeutet dies weder eine bloB summarische
Anerkennung der Endlichkeit mensch lichen Seins und Verstehens, noch
das billige Zugestiindnis, daB wir zwar vielfach bedingt sind, aber als
Geist, BewuBtsein, Fiirsichsein und Dasein kein Ding unter anderen
Dingen sind. Bedingtsein besagt fur Valery, daB der Mensch immerund
jeweils seiner Substanz nach eine Funktion ist und als solche auf etwas
anderes und Fremdes verweist, wovon er aber zunachst und zumeist
nichts weiK Das Wissen ist dem Sein des Menschen wie fremd. Er kennt
sich nicht; er fragt nur und verschafft sich Antworten, die seinen Fragen
entsprechen.
»Alie Fragen, auf die der Mensch nicht zu antworten fiihig ist,
bedeuten ihm in Wirklichkeit nichts; sie erhalten nur solche Ant-
worten, welche eine Modifikation der Frage sind. Eine Kritik der
Metaphysik ist die Kritik ihres Fragebogens« (28, 10).
Die »reine Wirklichkeit« an ihr selbst ist aber weder Frage noch
Antwort, sondern, diesseits von Sprache und Denken, einfach was sie
21 »Plus d'un reproche qui m'a ete fait se reduit a me remontrer que j'ai pris
garde a des conditions d'existence [... ], et ensuite l'habitude de rendre aussi
,consciente< que possible !'operation demon esprit.«
»Si !'esprit ignore la vie, dont ii est un produit d'autant plus heureusement
reussi qu'il ne revele pas cette activite aveugle de laquelle ii procede. Ce que nous
savons et pouvons savoir doit masquer necessairement ce que nous sommes, sans
quoi ii n'y aurait que nous[ ... ]. Mais penser et conna,tre, c'est meconna,tre la
condition au profit du ,phenomene«< (23,219 und 168).
22 II, 63 ff.
Gedanken zur Sprache 275
ist und mithin ohne Bedeutung, die es nur im Bezug auf den Menschen
gibt. Die eigentlichen Akteure sind aber nicht die Menschen. »Die
wahren (. . .] Autoren haben kein menschliches Gesicht. Alles spielt sich
zwischen Wesen ab, die man sich nicht vorstellen kann. Vielleicht ist der
Mensch also nicht das, worauf es ankommt« (7,241). »La vie n'estpas
une propriete de l'individu, mais l'individu est un element de la vie, qui
n'est pas isolable en realite (9, 885). Der Mensch ist nur an seiner
Oberfliiche Mensch.
Es gibt aber eine Liige und Verstellung, die der normale und ver-
niinftige Zustand ist.
»Das soziale Milieu iibt eine Art Druck auf unsere unmittelba-
ren Reaktionen aus, zwingt uns, eine mit sich selbst identische
Person zu sein ..., auf die man rechnen kann [...].Aber schon ein
Gedanken zur Sprache 277
Im Verfolg dieser Absicht auf das »Denken des Denkens« und die
durchdachte Sprache zeigt sich Valerys unvoreingenommenem Scharf-
blick das Unausdenkliche und Sprachlose in seinem ganzen Gewicht
und seiner verborgenen Bedeutung fiir die wesentliche Begrenztheit
alles Wissenkonnens. In einem Gespriich mit Teilhard de Chardin sagte
er diesem, daB, wenn er zwischen den beiden nichtssagenden Ismen des
Spiritualismus und Materialismus zu wiihlen hiitte, er den letzteren
vorziehen wiirde, »car le spirituel est la doctrine qui demande le moins
d'esprit:,.
Die leitende Idee der Reinheit und Priizision bezog sich zuniichst auf
Mallarmes Dichtkunst, aber ihr allgemeines Vorbild war die Priizision
der reinen mathematischen Wissenschaft, mit deren Methode des Kom-
binierens und T ransformierens er Mallarmes Sprachkunst verglich. Der
Ursprung europiiischer Wissenschaft und Mathematik ist aber eine
Erfindung der Griechen. Drei Miichte haben den europiiischen Geist
gepriigt: das romische Weltreich und seine rechtlichen lnstitutionen,
sodann das Christentum, dessen Ausbreitung mit dem romischen
24 S. G. 105 f.
25 S.G.12.
278 Paul Valery
26 Krise 41 ff.
27 Siehe J. Robinson, L'analyse de /'esprit dans /es Cahiers de Valery, Paris
1963, Kap. II und III.
Gedanken zur Sprache 279
fur ihn ein gro8es Ereignis, das ihn in seinem Perspektivismus bestiitigte
- »mon point de vue philosophique est la diversite des points de vue«.
Die Cahiers sind voll von mathematischen Formeln, Gleichungen und
Definitionen. Wie weit freilich diese Masse von abstrakten Reflexionen
in Valerys dichterisches Werk, etwa La Jeune Parque, wenigstens mit-
telbar einging, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist nur, da8 sie ihm als
eine Art Exerzitium fiir priizises Denken und Dichten dienten. Auf die
Vereinbarkeit von mathematischer und dichterischer Strenge zielt auch
seine polemische AuBerung iiber Pascals Unterscheidung eines »esprit
de finesse« und »esprit de geometrie«, eine Antithese, die eine beachtli-
che Karriere gemacht habe, aber nur von einem Mann aufgestellt
werden konnte, der in den Kiinsten mit Blindheit geschlagen war und
sich nicht vorstellen konnte, da8 zwischen dem Sinn fiir ein wohlgefiig-
tes Sprachgebilde und der geometrischen Anschauung ein natiirlicher
Zusammenhang bestehen konne. In der Philosophie vermi8te Valery
sowohl die formale Durchsichtigkeit mathematischer Deduktionen wie
die durchsichtige Tiefe eines vollkommen durchkonstruierten Sprach-
werks.
Er spricht an zahllosen Stellen der Cahiers von den Philosophen in
Anfiihrungszeichen, um sich von ihnen zu unterscheiden. Er war in der
Tat kein Philosoph im traditionellen, akademischen Sinn. Die Philo-
sophie seines »confrere« Bergson war ihm fremd, dagegen verfolgre er
mit groBtem lnteresse die mathematisch-physikalischen Arbeiten von
H. Poincare. Von den grolsen Metaphysikern hat ihm nur Descartes
einen nachhaltigen Eindruck gemacht, wie sein Vortrag zum Descartes-
Jubiliium von 1937 bezeugt. Als Philosoph war er Autodidakt, d.h. er
wollte nur die Probleme untersuchen, die sich ihm aus eigener Erfah-
rung und Beobachtung aufdriingten, im Unterschied zu jenen, die der
Philosophieunterricht, der Lehrplan hervorbringt.
»Da lernen sie Probleme, die sie niemals ersonnen hiitten und die
sie nicht mitempfinden. Und sie lernen sie a/le! Die echten Probleme
der echten Philosophen sind jene, die das Leben bedriingen [... ].
Was nicht besagen will, da8 sie nicht absurd seien. Aber sie werden
wenigstens vom Leben hervorgebracht und sind echt wie Empfin-
dungen. «28
»So hat sich denn eine Menge Notizen angesammelt, von denen
ein T eil - bei vie! Fleils und Willen, alles zusammenzuordnen - das
System meines Geistes bilden oder darstellen konnte. Ich bin nicht
so anmalsend, dais ich dieses mogliche System etwa als »Philo-
sophie« behandelt sehen wollte; im iibrigen ware dies ungenau.
Eine Philosophie lalst sich fast nur durch eine Gesamtheit von
Problemen festlegen, die ,klassisch< sind und als bestehend meist-
hin zugelassen. Aber ich behaupte im stillen, dais diese Probleme im
allgemeinen sich gar nicht stellen, wenigstens nicht in der Form, in
der gewohnlich von ihnen die Rede ist [...]. Ich betrachte meine
Doktrin stillschweigend als etwas ganz Personliches, von mir und
fiir mich entwickelt und nie vollendet. Sie ist so vie! wert, wie ich
selbst wert bin, weiter nichts. Keine Verallgemeinerung, kein Ver-
langen, sie mochte Anwendung finden - das sprache meiner Ansicht
nach eher gegen sie.
Eines Tages, wenn die Kraft, die Lust und die Zeit es mir
erlauben, wenn der Larm, den man mit mir macht, und die damit
verbundenen Milshelligkeiten und Ungelegenheiten mich nicht
mehr belastigen, werde ich vielleicht gewisse Teile dieser Sammlung
von Gedanken zu Papier bringen. lch habe zum Beispiel ziemlich
lange iiber die Sprache nachgedacht; ich habe beobachtet, dais die
Philosophen sich dariiber hinwegsetzten, vorauseilten und dieses
wesentliche Instrument mit erstaunlichem Vertrauen und erstaunli-
cher Naivitat verwendeten. Hier kann der Mann des Denkens, der
einmal das Metier des Dichters ausgeiibt hat, mit der Sorgfalt, der
Freiheit und der Kunst, die man einst daran gewendet [... ] sich
erinnern, kann ihm dies zustatten kommen. - Andererseits aber
formt sich die exakte Wissenschaft, die von der gewohnlichen Spra-
che ausgeht, fortschreitend eine Sprache, die fiir ihre Zwecke taugli-
cher ist, und indem sie sie [...] vorsichtig und erfinderisch formt,
gibt sie uns ein Begriffsmuster an die Hand, das unendlich machti-
ger und kraftvoller ist, als es die gewohnliche Sprache aufweist. Das
ware, auf einen ziemlich genauen Nenner gebracht, ein Beispiel fiir
Nur so, meint Valery, wii.ren die Noumena noch zu retten. Wenn die
Metaphysik aber nicht » mit einem Bein« aufserhalb der gesamten Wirk-
lichkeit steht, dann ist es mit ihr vorbei. Tatsiichlich wird die Geschichte
der Philosophie schon liingst nur noch als eine mogliche ldeenkomposi-
tion unter andern moglichen verstanden: niemand erwartet sich von ihr
noch eine allgemein verbindliche Wahrheit, die sich verifizieren liilk
36 Leonardo 191 f.
37 Leonardo 194: »Das hat mich auf den Gedanken gebracht, daB ich als
Philosoph danach trachten miiBte, mein philosophisches Denken unabhiingig zu
machen von siimtlichen Erkenntnissen, die eine neue Erfahrung moglicherweise
iiber den Haufen wirft. «
38 Leonardo 193ff.
286 Paul Valery
Wenn es zutrifft, dais die iiberlieferte Metaphysik ganz und gar von
der Sprache lebt, dann ist vorauszusehen, dais sie die Verringerung von
deren Bedeutung nicht iiberleben wird.
» Halten wir einfach Umschau, und sehen wir zu, wie sich die
Bedeutung der Sprache auf alien Gebieten verringert, auf denen sich
gleichzeitig eine Zunahme an Genauigkeit bemerkbar macht. Zwei-
fellos wird die gemeinverstandliche Sprache stets die Rolle eines
einfiihrenden und allgemeinen Instruments im Leben der inneren
und iiulseren Beziehungen spielen; sie wird stets die Lehrmeisterin
der andern bewulst geschaffenen Sprachen sein. Doch nimmt sie im
Gegensatz zu ihnen allmiihlich den Charakter einer ersten Anniihe-
rung an. Ihre Rolle schrumpft angesichts der Ausbildung von No-
tationssystemen, die in jedem Fall reiner und einer einzigen Verwen-
dung angepalst sind. Dariiber hinaus aber entspricht jedem Grad
dieser Einschniirung eine Einengung des ehemaligen Horizonts der
Philosophie. Alles, was in einer Welt, die es auf Prazision angelegt
hat, an Scharfe gewinnt, la/st sich mit ihren primitiven Ausdrucks-
mitteln nicht mehr fassen. - In gewissen sehr bemerkenswerten
Fallen geschieht es schon heute, dais an die Stelle des in unterschei-
dende und willkiirliche Zeichen iibersetzten Ausdrucks die Spur der
Dinge selber tritt oder die Aufzeichnungen, die unmittelbar von ihr
herstammen. Die grolse Erfindung, Gesetze augenfiillig und for den
Gesichtssinn gewissermalsen lesbar zu machen, ist in die Erkenntnis
eingegangen und verdoppelt sozusagen die Erfahrungswelt um eine
sichtbare Welt von Kurven, Oberfliichen, Diagrammen, in der sich
die Eigenschaften in Figuren niederschlagen, bei deren Anblick wir
das Gefiihl der Schwankungen einer Grolse haben. Die graphische
Darstellung ist eines Inhalts miichtig, vor dem das Wort ohnmiichtig
ist; sie iibertrifft es an Evidenz und an Genauigkeit. Gewils wird sie
vom Worte ins Dasein gerufen; das Wort verleiht ihr einen Sinn und
interpretiert sie; aber es ist nicht mehr das Wort, in dem sich der Akt
geistiger Besitzergreifung vollzieht.«
Zwar will sich der Philosoph nicht als Dichter verstehen und mit
klangvollen Worten bezaubern; er fragt vielmehr alien Ernstes nach
dem Wesen der Dinge, als wiirde er nichts von dem metaphorischen und
sozialen Ursprung unserer Wone wissen.
»Fiir ihn endigt seine Frage nicht damit, daB er der baren Ge-
schichte des Wones [. . .] nachgeht und im einzelnen die MiBver-
stiindnisse, die bildlichen Verwendungen, die Sonderbedeutungen
an sich vorbeiziehen liiBt, deren Vielzahl und Zusammenhanglosig-
keit bewirkt, daB ein armseliges Wort so umfassend und geheimnis-
voll wird wie ein lebendiges Wesen [... ] Dieses Wort, dieses Nichts,
dieses Zufallsmittel eines namenlosen Schopfers hat sich durch die
Besinnung und die Dialektik einiger weniger in ein auBerordentli-
ches Werkzeug verwandelt, dazu geschaffen, den Gesamtverband
aller Gedankengruppen zu durchwirken, gleichsam ein Schliissel,
der alle Federn eines denkfiihigen Kopfes aufzuziehen [... ]
vermag.«
zerts 39• So wenig aber die Sprache der Poesie mit der wortlosen Sprache
der Musik an Reinheit, d. i. Losgelostheit oder Absolutheit, konkurrie-
ren kann, so sehr unterscheidet sie sich doch von jeder prosaischen
Rede, die - im Gegensatz zum Gedicht - resiimierbar und wesentlich
iibersetzbar ist.
»Zu behaupten, jedem Gedicht entspreche ein wahrer, alleiniger
und irgendeinem Gedanken des Autors entsprechender oder mit
ihm identischer Sinn, ist ein lrrtum, der sich am Wesen der Poesie
verginge und ihr sogar todlich ware. Eine Falge dieses Irrtums ist die
Erfindung jener absurden Schuliibung, die darin besteht, Verse in
Prosa iibertragen zu lassen. Genau damit wird die fiir die Poesie
fatalste Vorstellung eingetrichtert, namlich die Lehre, daB es mog-
lich sei, ihr Wesen in Teile zu spalten, die getrennt fortbestehen
konnen. Das heiBt zu glauben, die Poesie sei ein Akzidens der
Substanz Prosa. Aber die Poesie existiert nur fur die, in deren Augen
diese Operation unmoglich ist und welche die Poesie an dieser
Unmoglichkeit erkennen. Was die andern angeht, so nennen sie
» Poesie verstehen « eine andere Sprache an ihre Stelle setzen, der sie
die Bedingung auferlegen, nicht poetisch zu sein. Ziel der Poesie ist
es nicht im geringsten, irgend jemandem irgendeinen festumrisse-
nen Begriff mitzuteilen - welchem Ziel die Prosa geniigen muK
Man beobachte nur das Schicksal der Prosa, wie sie ihr Leben
aushaucht eben durch das Verstandenwerden - d.h. daB sie in
einem aufmerksamen Geist ganz und gar ersetzt wird durch eine
Idee oder eine fertige Gestalt. 1st diese Idee, deren notwendige und
hinreichende Bedingungen die Prosa gerade erregt hat, erst einmal
entstanden, dann losen sich sogleich die Mittel auf, die Sprache
erlischt vor der !dee. Es ist dies eine stiindig auftretende Erschei-
nung, iiber die man sich in zweifacher Hinsicht Rechenschaft able-
gen kann: unser Gediichtnis wiederholt uns eine Rede, die wir nicht
verstanden haben. Die Wiederholung ist die Antwort auf das Nicht-
verstehen. Sie zeigt uns an, da(5 der Sprachakt sich nicht vollenden
konnte. Andererseits aber, und gleichsam symmetrisch entgegenge-
setzt, sind wir, wenn wir verstanden haben, in der Lage, in anderen
Ausdrucksformen die Idee wiederzugeben, welche die Rede in uns
hatte entstehen !assen. Der vollendete Sprachakt hat uns zum Herrn
39 I, 1326£.
Gedanken zur Sprache 289
des zentralen Punktes gemacht, der die Vielfalt der moglichen Aus-
drucksformen einer einmal erworbenen Idee bestimmt. Kurz, der
Sinn, der das Streben nach einer einformigen, einmaligen, einlosen-
den geistigen Substitution ist, ist Gegenstand, Gesetz, Grenze der
reinen Prosa« (I, 1509).
Das Insgesamt der uns bekannten und geliiufigen Worte veriindert
sich im Gedicht mit einer andern Funktion unserer sensibilite.
» [ ••• ] die Poesie ist eine Sprachkunst; bestimmte Wortkombina-
tionen konnen eine Emotion hervorrufen, die andere nicht erzeugen
und die wir poetisch nennen. Welcherart ist diese Emotion? kh
erkenne sie in mir daran, dais alle moglichen Objekte der Alltags-
welt, der inneren und der auBeren, Menschen, Ereignisse, Gefiihle
und Handlungen in ihrer Erscheinungsform unveriindert bleiben
und doch plotzlich in einer unerkliirlichen, aber auf wunderbare
Weise stimmigen Relation zu den Modalitiiten unseres allgemeinen
Empfindungsvermogens stehen. Das heiBt, diese bekannten Dinge
und Wesen - oder vielmehr die Ideen, durch die sie repriisentiert
werden - veriindern sich irgendwie in ihrem Wert. Sie rufen sich
gegenseitig herbei, sie verbinden sich ganz anders als nach den
iiblichen Regeln; sie werden gleichsam [...] in Musik umgesetzt,
bringen sich gegenseitig zum Klingen, befinden sich in harmoni-
scher Entsprechung« (I, 1320f.; vgl. W 164f.).
Die dichterische Rede in Versen, die auf so ungewohnliche Weise
wohlgefiigt sein kann wie bei Mallarme, antwortet nicht wie die ge-
wohnliche Rede einem bestimmten Bediirfnis - »si ce n'est au besoin
qu'ils doivent creer eux-memes«.
»[... ] seltsame Reden, die nicht von dem, der sie ausspricht,
sondern von einem andern geformt zu sein, sich an einen andern zu
wenden scheinen als den, der ihnen zuhort. Es ist, kurz gesagt, eine
Sprache in einer Sprache. «
Die Umgangssprache ist dagegen eine Schopfung der Praxis, und die
Sicherheit ihres Gebrauchs beruht auf der Verifizierbarkeit ihrer Aus-
sagen.
»Ich bitte Sie um Feuer, Sie geben mir Feuer: Sie haben mich
verstanden. Indessen, mit der Bitte um Feuer konnten Sie diese
wenigen bedeutungslosen Worte aussprechen, in einem bestimmten
Ton, einem bestimmten Timbre- mit einer bestimmten Modulation
290 Paul Valery
Die sinnliche Klangfiille der Sprache als solcher erhiilt sich nicht, sie
iiberlebt nicht <las Verstandenhaben des Gesagten.
Im Unterschied zum Reich der Musik ist aber <las der Poesie den
phonetischen und semantischen Fluktuationen der allgemeinen Spra-
che unterworfen. Wenn sie trotzdem zwei so disparate Phiinomene wie
son und sens in untrennbarer Weise verbindet und ihrer Einheit eine Art
von Selbstiindigkeit verleiht, so ergibt sich ein poetisches Gebilde, <las
so erstaunlich ist wie die Konstruktion eines Vogelnestes aus den ver-
schiedensten Stoffen, die so wenig miteinander zu tun haben wie Rhyth-
mus und Klang mit Sinn und Verstand.
» Eine Rede kann logisch sein, sie kann sinnvoll sein und doch
ohne Rhythmus und ohne jedes MaB. Sie kann dem Ohr angenehm
sein und vollkommen absurd oder bedeutungslos; sie kann klar und
Gedanken zur Sprache 291
»Das Gehen ist wie die Prosa auf ein ganz bestimmtes Objekt
ausgerichtet. Es ist ein Akt, der die Erreichung eines Ziels erstrebt.
Die Gangart ist durch die augenblicklichen Umstiinde - das Bediirf-
nis nach einem Objekt, den lmpuls meines Begehrens, meinen kor-
perlichen Zustand, meine Sicht, das Geliinde usw. - bedingt, durch
die Richtung und Geschwindigkeit des Gehens bestimmt werden
und die ihm einen Endpunkt setzen. Alie Charakteristika des Ge-
hens leiten sich aus diesen augenblicksbestimmten Bedingungen ab.
Ortsveriinderungen durch das Gehen sind lediglich Akte spezifi-
scher Anpassung, die, wenn das Ziel erreicht ist, sogleich annulliert,
gleichsam durch die Vollendung aufgesogen werden. - Der Tanz ist
etwas ganz anderes. Er ist ein System von Akten, die aber ihren
Zweck in sich selbst haben. Er fiihrt nirgends hin. Denn wenn er ein
Ziel erstrebt, dann nur ein ideelles, einen Zustand, eine Verziik-
kung, eine Traumblume, [...] ein Liicheln-das sich schlieB!ich auf
dem Gesicht dessen abzeichnet, deres dem leeren Raum abforderte.
[...] Mag aber dieser Tanz sich noch so sehr vom Gehen und den
zweckbestimmten Bewegungen unterscheiden, so beachte man
doch diese unendlich einfache Feststellung, dag er sich der gleichen
Organe, der gleichen Knochen, der gleichen Muskeln wie jenes
292 Paul Valery
Das gleiche gilt fiir das Sprechen: es ist dieselbe Leibesoffnung, der
Mund, mit dem wir sprechen, essen, kiissen.
Es ist fiir Valerys Beobachtungskraft und Fahigkeit zur Analyse
bezeichnend, dais er nicht nur iiber die Moglichkeit menschlicher Tanz-
kunst nachdachte, sondern eine Art Tanz auch in den Bewegungsfor-
men einer Meduse erblickte und in beiden eine urspriingliche Poesie.
» Den unbeschwertesten, geschmeidigsten, wolliistigsten aller
Tanze sah ich auf einer Leinwand, auf der grolse Medusen gezeigt
wurden: Wesen aus einem unvergleichlichen, durchscheinenden
und empfindlichen Stoff, irrsinnig reizbare Leiber aus Glas, Kup-
peln flielsender Seide, diaphane Kronen, lange lebendige Peitschen-
schniire, von standigen raschen Wellen durchstromt, wogende
Fransen und Riischen, die sie falteln und wieder entfalten, wahrend
sie sich wenden, wandeln, entziehen, selber nicht minder fliissig als
die massive Fliissigkeit, die sie umdrangt, sich mit ihnen vermahlt,
sie allenthalben stiitzt, jeder noch so leisen Biegung ihrer Gestalten
nachgibt, ihre Form ersetzt. Hier, in der nicht zusammenprelsbaren
Fiille des Wassers, die ihnen nicht den mindesten Widerstand zu
bieten scheint, verfiigen diese Geschopfe iiber ein HochstmaB an
Beweglichkeit, losen und straffen abwechselnd ihre strahlende Sym-
metrie. Nirgends ein Boden, nichts Festes fiir diese absoluten Tanze-
rinnen; keine Dielen, sondern eine Umgebung, in der man sich
lauter Stiitzpunkten iiberlalst, die nach jeder beliebigen Richtung
hin ausweichen. Ebensowenig Festes in ihren Leibern aus elasti-
schem Kristal!, keine Knochen, keine Gelenke noch sonst irgend-
welche unveranderlichen Verbindungen, keine Einzelteile, die man
zahlen konnte. Nie hat eine menschliche Tanzerin, berauscht von
Bewegung [. ..]die gebieterische Hingabe des Geschlechts und den
mimischen Appell des Bediirfnisses nach Prostitution so hinreil5end
auszudriicken vermocht wie jene groBe Meduse, die mit stoBweisen,
gleitenden Bewegungen ihrer flutenden, iippig gesaumten Rocke,
die sie seltsam herausfordernd [.. .] immer wieder hochnimmt, zum
Traum aus den Reichen des Eros sich wandelt; um plotzlich all die
flatternden Falbeln, ihre Gewander aus zerschnittenen Lippen weit
zuriickschlagend, umzustiirzen und sich zur Schau zu stellen, fiirch-
terlich offen. - Aber alsbald nimmt sie sich zusammen, erzittert,
Gedanken zur Sprache 293
»Reinigt die Erde von den Eiden, den Einfiiltigen, den Kleinmii-
tigen und Schwachkopfen; rottet die Leichtgliiubigen, die Angstli-
chen, die Massenseelen aus; unterdriickt die Heuchler; richtet die
Brutalen zugrunde, und jede Gesellschaft wird unmoglich. Damit
eine Ordnung herrsche, sind viele fiir offentliche Ehrungen und
Auszeichnungen sehr empfiingliche Menschen unerliiBlich; Men-
schen, die anfiillig sind fiir die Worte, die sie nicht verstehen, fiir den
Ton und die sprachliche Gewalt, die Versprechungen, die ver-
schwommenen und unfertigen Bilder, fiir den Trug und die Gotzen
der Rede. Vonnoten ist auch ein gewisser Anteil von Individuen, die
grausam genug sind, um der Ordnung das Quantum Unmenschlich-
keit zu verleihen, dessen sie bedarf; es werden auch solche ge-
40 Degas 29 ff.
41 I, 562: • Tout etre fort et purse sent autre chose qu'un homme et refuse et
redoute nai"vement de reconnaitre en soi l'un des exemplaires indefiniment
nombreux d'une espece ou d'un type qui se repete. Dans toute personne profon-
de, quelque vertu cachee engendre incessamment un solitaire.« Vgl. I, 1466 und
1485: »Jene savais pourquoi on loue un auteur d'etre humain, quand toutce qui
releve l'homme est inhumain ou surhumain, et qu'on ne peut, d'ailleurs, avancer
dans quelque connaissance ou acquerir quelque puissance, sans se defaire d'a-
bord [...] de la vision moyenne et melee des choses, de la sagesse expediente - en
un mot-de tout ce qui resulte de notre relation statistique avec nos semblables et
de notre commerce obligatoire et obligatoirement impur avec le desordre mono-
tone de la vie exterieure. «
42 Siebe dazu die ausgezeichnete Studie von E. Gaede, Nietzsche et Valery,
Paris 1962 und I, 1759 ff.; 25, 767.
294 Paul Valery
»Die Moral fallt vor der Klarheit wie das Kleid in einem sonni-
gen Land. Es gibt psychologische Kleidungsstiicke. Der ,Herr< ist
nur nebenbei ein Mensch. Der Mensch verbirgt in Stoffen alles, was
hinderlich ist, ein ,Herr< zu sein. Es gibt keinen Richter, keinen
Priester, keinen Gelehrten, keinen Hausbesitzer, der ganz nackt ist.
Gedanken zur Sprache 295
Es giibe keine Ehe. Ein gewisses Geheimnis und eine gewisse Dop-
pelheit im Bewugtsein sind notwendig, damit die Moral existiert.
kh meine nicht die Moral fiir die andern; ihrer Rechtfertigung
geniigte schon die einfachste Analyse. lch meine die Moral sich
selbst gegeniiber. Zwischen dem Herrn und dem Menschen gibt es
Gradunterschiede: der schlechtgekleidete Mensch; der halbbeklei-
dete Mensch; im Hemd; in Lumpen; in der Badehose. Aber iiber
dem ,Herrn, stehen die Trager der Toga, der Simarra, des Chor-
rocks, der Orden und Federn. Jeder dieser Rangstufen entsprechen
eine Sprache, Wendungen, Reaktionen, Befugnisse und Verbote -
Antriebe - und sogar ein Mut und eine Angstlichkeit - und sogar
eine physiologische Aufnahmebereitschaft und ein psychischer Wi-
derstand [... ]«(II, 758£.).
Man mag diese oder jene Sitte und Gewohnheit haben, sie gehoren
zur sozialen Existenz der Menschen, und es ist nichts dagegen einzu-
wenden.
»Aber man mache sich einen Beruf daraus und einen Namen
damit, zu moralisieren oder zu immoralisieren, den Niichsten in
Ketten legen oder ihn befreien zu wollen, ihn zum Genug oder zum
Verzicht aufzurufen - ich kann es nicht ausstehen. kh will nicht
iibertreiben: es verursacht mir eher ein Achselzucken. Es dringt
nicht vor zu diesem Grund des Menschen, der nicht mehr Mensch
ist« (23, 27).
»L'homme ne vaut que par l'inhumain« 43, denn die elementaren
Bedingungen und Voraussetzungen des Menschseins sind nicht
menschlich. Diese Voraussetzungen werden durch die Forschung im-
mer mehr entdeckt, und die Wissenschaft hat das gute Gewissen zum
sens commun und zum hon sens zerstort. Diese behalten ihre Glaub-
wiirdigkeit nur noch im Bereich des Vagen, der Umgangssprache und
der naiven Bildersprache. Was die Wissenschaft feststellt, ist fiir sie
unertriiglich, denn ihre Aussagen sind fiir die gewohnte Form der
Sprache und des Denkens extravagant und unmenschlich. Fiir den bon
sens gibt es nur menschliche Magstiibe; aber die Macht der wissen-
schafdichen Analyse und Berechnung entfernt sich immer mehr von
allem blog Menschlichen.
»Die Physik ist das Ende der Welt. Finis imaginum. Alie physi-
kalischen Prinzipien sind gegen die unmittelbare Beobachtung ge-
funden worden. Die Physik entfernt sich von ihr mehr und mehr. Sie
entwickelt sich durch Ketten von Um- und Zwischenschaltungen
(relais) (29, 118). - Es bedurfte eines Newton, um wahrzunehmen,
dag der Mond fiillt, wiihrend doch jedermann sieht, dag er nicht
fallt« (14,280; 20, 726).
»So bereitet sich denn eine schreckliche Zukunft vor, denn all
diese schlimmen Tugenden [...] werden wachsen und in der Welt
immer mehr herrschen - aber nicht in menschlicher Form. Die
Maschine, und was sie verlangt, wird die Gewichtlosesten und
Ungenauesten in ihre Disziplin zwingen. Sie registriert, sie sieht
voraus. Sie priizisiert und sie verhiirtet; sie iibertreibt die dem Le-
benden eigene Moglichkeit zu bewahren und vorauszusehen, und
sie strebt danach, das launische Leben der Menschen, ihre vagen
Erinnerungen, die diimmrige Zukunft, das ungewisse Morgen in
eine Art sich selbst gleicher Gegenwart zu verwandeln, vergleichbar
dem stationiiren Gang eines Motors, der seine Normalgeschwindig-
keit erreicht hat« (II, 514 u. 620£.; vgl. I, 1045) 44 •
Valery war ein Dichter, der auch als Dichtender dachte; nicht nebenbei,
sondern wesentlich. Unter Abstraktion von allem Nebensiichlichen
besann er sich auf das Ganze dessen, was ist. Zu einer solchen Besin-
nung auf das Ganze gehort die universale Funktion der Sprache, in der
gedacht und gedichtet wird und in der wir zuniichst und zumeist befan-
gen sind. »Meine einzige ,Konstante<, mein einziger bestiindiger ln-
stinkt war [. . .], mir immer klarer mein geistiges ,Funktionieren< zu
vergegenwiirtigen und so oft wie moglich meine Freiheit zu behaupten
[...] gegen die Illusionen und die ,Parasiten,, die uns der unvermeidliche
Sprachgebrauch auferlegt« (Br. 220). Ich werde im folgenden den Dich-
ter beiseite !assen und nur den Grundrils seines philosophischen Den-
kens herauszustellen versuchen. Diese Beschriinkung bedeutet einen
Verzicht auf den kunstvollen Reichtum der sinnlichen Bilderwelt von
Valerys Dichtung, die sich an Auge und Ohr wendet, an den Verstand
nur indirekt. »Im Dichter spricht das Ohr, hort der Mund, zeugen und
triiumen Verstand und Wachen« (W. 162). Der gedankliche Grundrils,
um den es geht, ist bloB das Skelett eines lebendigen Korpers, seiner
Sinne und ihrer Sensibilitiit. Dieses Skelett des Gedankens ist in den
Versen verborgen wie die Niihrkraft in der schmackhaften Frucht
(W.163).
Valery hat sich wiederholt als »Anti-Philosophen« erklart und von
den Philosophen stets polemisch und kritisch in Anfiihrungszeichen
gesprochen, weil er in den grolsen Systemen der Metaphysik eine kriti-
sche Reflexion auf die Sprache vermilste und sich mit verbalen Erklii-
rungen von Gott, Mensch und Welt nicht zufriedengab. Wenn es trotz
seiner Geringschiitzung der Philosophie, von der er als Autodidakt nur
eine beiliiufige und geringe Kenntnis hatte, erlaubt ist, von einem philo-
sophischen Grundrils seines Denkens zu sprechen, so deshalb, weil es
ihm um die ersten und letzten Dinge ging. Anfang und Ende, Erzeugung
und Tod gehoren, wie Einschlafen und Erwachen, zu den spezifisch
»kritischen Zustiinden« (3, 624), in denen sich etwas entscheidet und
durch Unterscheidung scheidet. Wer kritisch denkt, muls »mit dem
Anfang beginnen« (23,454) und »bis ans Ende gehen« (1, 202).
298 Paul Valery
»Niemand geht bis zum Ende, bis zum au8ersten Norden des
Menschen - bis zur Grenze des Einsichtigen - Vorstellbaren - bis zu
einer gewissen Mauer - und zur Gewi8heit, da8 dort wirklich die
Unwegsamkeit beginnt« (1, 809 u. 202).
»Einige glaubten, dieses Ende konne der Tod sein. Aber der Tod
ist ganz selten etwas anderes als ein endgiiltiges Abbrechen - viel-
leicht ist er dies immer. Indessen sind Falle denkbar, in denen er
»natiirlich « ware, das heifst bedingt durch eine (relative) Ausschop-
fung der Kombinationsmoglichkeiten eines Lebens« (29, 765).
und erhaltender Gott. Es ist auch nicht der von Natur aus bestehende
Kosmos, sondern der Zusammenhang und Unterschied, <las Verhiiltnis
und Mifsverhiiltnis von CORPS, ESPRIT und MONDE, die er in den
Cahiers formelhaft mit CEM bezeichnet und sein Ganzes nennt (29,
603). Ein vollkommenes Gleichgewicht dieser drei Aspekte des Ganzen
wiire ein perfekter Schlaf.
Weshalb ist aber <las Ganze fiir Valery nicht <las Universum? Er
antwortet darauf in dem Essay iiber E. A. Poe's Eureka, einer Art
pseudowissenschaftlicher Kosmogonie (I, 854ff.). Kosmogonien sind
Mythen, die sich zwar oft mit naturwissenschaftlichen Einsichten ver-
mischen, aber nicht verifizieren lassen. 1hr Tiefsinn, sagt Valery, ware
wiirdiger eines Gegenstands, der »weniger unbedeutend« ist als <las
Universum!
Wir konnen zwar die Idee eines Ganzen, <las wir Universum nennen,
nicht entbehren, denken es aber wie eine Sache und nennen es trotzdem
<las Ganze.
»Wir schaffen ein Idol der Totalitiit und ein Idol ihres Ursprungs
und konnen nicht umhin, die Realitiit eines gewissen Naturkorpers
zu postulieren, <lessen Einheit der unsrigen, deren wir sicher sind,
entspricht.
Das ist die primitive (und gleichsam kindliche) Form unserer
Vorstellung vom Universum.
Man mufs sie niiher betrachten und sich fragen, ob diese sehr
natiirliche, d.h. sehr unreine Vorstellung in eine stichhaltige Be-
weisfiihrung aufgenommen werden kann« (I, 864).
Diese Kritik der Idee des Universums von 1921 steigert sich schliefs-
lich zu den »Verfluchungen des Universums«, in einer Psalmparodie,
<lurch den Solitaire in Mon Faust von 1940.
Die Milliarden von Stemen imponieren ihm nicht, sind sie <loch
blofs »ein wenig menschliches Verwundern, Sand in den Augen«.
300 Paul Valery
keine bestimmte Vorstellung haben (29, 24; 123, 835), sondern nur
eine Imagination.
»Das Ich (Le moi) ist ein Aberglaube, der sich auf meinen Hut,
meinen Spazierstock, meine Frau erstreckt und ihnen den durch das
Possessivpronomen gekennzeichneten Charakter des Geheiligten
verleiht [... ]. Dieses lch beriihrt alles, mischt sich in alles ein. Wer
vermi:ichte sich von diesem Wort zu befreien? Es gibt jedoch Toren,
die klug genug sind, von sich selbst in der dritten Person zu spre-
chen ! Alie andern sind besessen, von einem bi:isen Geist, dervorgibt,
ich (moi) zu heilsen« (25,584; vgl. 29,518,573).
Das Universum ist vor allem schon deshalb auf den Menschen
bezogen und individuiert, weil es sprachlich verfalst ist. Der wahre
Philosoph wird sich nicht an die leichte Aufgabe verlieren, das Univer-
sum zu erklaren, sondern statt dessen versuchen, bestimmte partikulare
Erfahrungen und Beobachtungen in einer homogenen Sprache zu for-
mulieren, und diese sprachliche Fassung ist selbst schon das wahre
Ganze, welches wir Universum nennen (23, 485). Die Kosmologie ist,
wie iiberhaupt die Philosophie, im Unterschied zu dem verifizierbaren
Wissen der Wissenschaft, eine Sache der sprachlichen Form und der
Trieb zum Verstehen derselbe wie der, etwas mi:iglichst vollstandig zum
Ausdruck zu bringen. Die sprachliche Form des Ausdrucks ist aber so
universell wie individuell auf einen in einer bestimmten Sprache Spre-
chenden und Denkenden bezogen. Wenn immer man von einer Sache
spricht, ist der Sprechende mit dabei und ein Possessivpronomen vor-
ausgesetzt.
Dieselbe Sache, von der man mon, ma und mes sagt, ki:innte aber
auch einen anderen Eigentiimer haben und folglich auch son, sa, ses
oder ton, ta, tes sein. An ihr selbst ist sie niemands Sache. Aus dieser
Relativitat der Besitzverhaltnisse folgert Valery, dais dasjenige was
wahrhaft und im reinen Sinn Ich oder Moi ist, das Possessivpronomen
und jedes Attribut ausschliefst. »Mon Moi« ware eine ungemalse Be-
zeichnung (29,573).
Aber was ist dieses Mai pur, das kein Je oder persi:inliches lch ist und
um das es Valery ging?
»Ich habe mich niemals auf etwas anderes berufen als au£ mein
reines Ich, worunter ich das absolute Bewulstsein verstehe, welches
das einzige und immer gleiche Mittel ist, sich automatisch vom
Ganzen zu li:isen, und in diesem Ganzen spielt unsere Person ihre
Rolle, mit ihrer Geschichte, ihren Eigentiimlichkeiten [...] und
ihren Selbstgefalligkeiten. Gem vergleiche ich dieses reine Ich mit
Besinnung auf das Ganze des Seienden: Karper, Geist, Welt 303
Die rechte Zeit fiir eine solche Reinheit des Selbstseins und eine
dementsprechend reine Erfahrung der Dinge sind die friihen Morgen-
stunden vor T agesanbruch, in denen Valery seine Cahiers schrieb.
»Voller, weiser, kalter Mond des Morgens [... ] der Stunde, in der
mein Geist seine Tiitigkeit wieder aufnimmt, des friihen Tages, der
noch rein und unberiihrt ist, weil die Dinge dieser Welt, die Ereignis-
se, meine Affiiren, sich noch nicht mit mir vermengen. Aber was gibt
es »Pathetischeres« for mich als jene seltsame Zerrissenheit, die eine
ganz personliche, eigentiimliche Empfindsamkeit mich verspiiren
lafst, wenn es wieder heifst, an der Besonderheit der Existenz eines
Individuums teilzunehmen, der und der zu sein und zu tun, als ware
ich der, der ich bin, ein Soundso. Was fiir ein OberdruB! Dieses
Gefiihl, es nicht zu konnen, nicht zu wollen und mich nicht einmal
darauf zu verstehen, dieser Mensch zu sein, ist seit jeher so miichtig
in mir, daB ich es nicht einmal ertragen kann, die ziemlich beriihmte
Personlichkeitzu sein, die ich darstelle« (29, 8; vgl.I, 351 u. Br.219).
Das reine Ich, welches Valery auf seine Weise for sich entdeckt, ist
keine empirische Person, die sich P. Valery nennt oder sich for Napole-
on halt und iiberhaupt ein anderer werden und sich verandern, aber
niemals for ein non-moi halten kann. Das nicht-Ich ist, mathematisch
gesagt, gleich 1; <las reine lch spielt mit Bezug au£ <las Ganze des
Seienden die Rolle der Null, und dieses Nichts ist in jeder Relation auf
etwas Seiendes mitverstanden.
1 Vgl. in den Notizen zu Leonardo (1919): »Fiir eine geistige Priisenz, die
derart mit Selbstempfindung begabt ist und sich auf dem Umweg iiber das
,Universum, in sich selber einschlieBt, sind alle Begebenheiten, welcher Art
auch immer, das Leben sowohl wie der Tod, aber auch die Gedanken, lediglich
untergeordnete Figuren. So wie alles Sichtbare im Verhiiltnis zu dem hinschau-
enden Etwas von anderer Art unentbehrlich und zugleich ihm unterlegen ist, so
verblaBt die Bedeutung dieser Figuren, wie groB sie auch in jedem Augenblick
erscheinen mag, vor der Reflexion als solcher, vor der reinen Beharrungskraft
der Aufmerksamkeit selber. Alles tritt zuriick vor dieser reinen Universalitiit,
dieser uniibersteigbaren Allgemeinheit, als welche sich das BewuBtsein empfin-
det« (I, 1217£., 1226ff.; vgl. 25, 6).
Besinnung au£ das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 305
nahmslosigkeit, weil sie ihm zeigen, dais er wie jedermann der Gefange-
ne eines unreinen Selbst, seiner Zu- und Abneigungen, seiner Lust und
Unlust ist - » Le desir et le degout sont Jes deux colonnes du temple de
Vivre« - »a cote de mon fragment pur«. Ein Engel, dessen Wesen
fehlerlose Intelligenz ist, ist so rein, wie andererseits ein Tier in seiner
Art vollkommen ist; der eine wie das andere ist kein Mensch, »cette
chose impure« (25,802; I, 198 ff.) 2 • Nur fragmentarisch kann auch der
Mensch jene Reinheit erreichen, die ihn von allem wirklich Vorhande-
nen, Dberlieferten, Gewohnten, Vertrauten und Bekannten bis zu des-
sen totaler Befremdlichkeit ablost und die Dinge erstmals so erblicken
liilst, wie sie sind, wenn man von allem Zufiilligen abstrahiert.
»Damit ich Ich bin [... ], dazu bedarf es eines seltsamen oder
befremdlichen Blicks, den ich zuweilen habe.
Unsere Geschichte, unser Korper, unsere Hoffnungen und Ang-
ste, unsere Hiinde, unsere Gedanken - alles ist uns fremd. Alles
befindet sich aufserhalb [... ] irgendeines Wesens, das !ch (moi) ist-
und ein Mythos ist; denn es gibt keine Eigenschaft, keine Empfin-
dung, keine Leidenschaft und keine Erinnerung, von der es sich
nicht unabhiingig fiihlte, auch wenn sein Leben davon abhinge.
Denn sein Leben selbst ist ihm - fremd. Es gibt nichts, das ich nicht
wie eine fremde Sache erblicken konnte. Es ist das geradezu die
Definition von »regarder« (9, 13,232,275,544; 5, 9) 3 •
Ein solcher entfremdender und verfremdender Blick von unge-
wohnlicher Aufmerksamkeit ist »une stupeur philosophique« und der
Ursprung philosophischer Besinnung. Mit Bezug auf Descartes' Aufent-
halt in Amsterdam heilst es:
2 Siehe dazu Anhang III die Parabel vom Menschen, der weder Engel noch
Tier ist.
3 Vgl. 23,572: »II ya en moi un etranger a toutes choses humaines, toujours
pret a ne rien comprendre ace qu'il voit, et a tout regarder comme particularite,
curiosite, formation locale et arbitraire; et qu'il s'agisse de ma nation, de ma
langue, de ma vie, de ma pensee, demon physique, demon histoire, ii n'est rien
que je ne trouve, cent fois par jour, accidentel, fragmentaire, extrait d'une
infinite de possibles - comme un echantillon.« - »Comment est possible cette
maniere de recul qui fait sentir l'etrangete, la particularite, l'arbitraire de ce qui
est ordinaire, familier [... ). Comme s'il y eiit en nous une reserve de terre lib re et
vierge - non labouree par les jours anterieurs et les connaissances ou le langage
acquis. Tout a coup, l'habituel devient solennel, le vivant parait mort ou mecani-
que, ce qui etait clair devient enigme« (23, 751; vgl. 3, 81).
306 Paul Valery
4 »Un homme n'est qu'un paste d'observation perdu dans l'etrangete. Tout a
coup, ii s'avise d'etre plonge dans le non-sens, dans !'incommensurable, dans
l'irrationel; et toute chose Jui apparait infiniment etrangere, arbitraire, inassimi-
lable. Sa main devant lui Jui semble monstrueuse. - On devrait dire: l'Etrange,
comme on dit l'Espace, le Temps, etc. C'est que je considere cet etat proche de la
stupeur comme un point singulier et initial de la connaissance. II est le zero
absolu de la Reconnaissance« (II, 721). Vgl. Degas 80: »Wieder Denker sich zur
Wehr zu setzen versucht gegen die Worter und abgestempelten Ausdriicke, die
das praktische Leben iiberhaupt erst moglich machen, die Geister aber ihrer
Pflicht entheben, iiber alles und jedes in Erstaunen zu geraten -: so kann auch
der Kiinstler <lurch ein Studium der ungestalten Dinge [...] seine urspriingliche
Grundverfassung zuriickgewinnen, darin Auge und Hand [... ] miteinander
einiggehen. «
Besinnung au£ das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 307
1333). Das Tiersorgt sich nicht, noch bedauertes [... ].Angst hates nur
in Gegenwart der Gefahr; und wir in ihrer Abwesenheit. Der Mensch
hat die Macht des Abwesenden erfunden - wodurch er sich »miichtig
und elend« gemacht hat; aber schliefslich ist er Mensch nur kraft des
Abwesenden (II, 542; vgl. I, 1489). Das reine Ich-selbst, <las alles so-
Genannte und schon Bekannte- es sei ein Baum oder eine Muschel, eine
Briicke in London oder <las Meer, Vogel oder auch die eigene Person-
wie zum erstenmal erblickt und nicht bloB wiedererkennt, ist eine
Funktion der auBersten Wachheit. Ein solches reines Ich-selbst, <las die
Dinge der Welt und sich selbst, so wie sie sind, rein erfahrt, ist mensch-
lich gesagt, un- oder iibermenschlich und beinahe gottlich.
»Neuer Sinn, den ich dem Wort Rein verliehen habe. Dieses
Wort liebe ich unter alien [... ]. Man muB dazu gelangen, sein
Wesen aufzusuchen, bis man schlieB!ich den Gott mit dem Gott
beriihrt« (9,304; vgl. 25,617; 29,626; II, 90).
Kraft seiner Reinheit ist moi pur wie <las pure Licht farblos.
Valerys Ganzes ist auf <las Nichts bezogen, welches die bestiindige
Moglichkeit der Reflexion oder des Zuriickkommens auf ein reines,
absolutes, d. h. vom Ganzen abgelostes Bewulstsein ist. Sich von allem
was jeweils ist, jederzeit ablosen konnen, um sich selbst und alle Phano-
mene der Welt in ihrer urspriinglichen Befremdlichkeit wie zum ersten-
mal zu erblicken, diirfte das eigentlich philosophische, Descartes ver-
pflichtete Motiv von Valerys System sein. Es liegt in dieser Entfremdung
eine eigentiimliche »Kraft zur Verneinung« umwillen einer Reinheit,
308 Paul Valery
die es in Wirklichkeit nicht gibt. Man hat Valery mit Berufung au£ einen
Satz des Monsieur Teste und im Hinblick auf dieses Obersteigen der
Wirklichkeit als etwas Unreinen, Ungenauen und Vermischten einen
»gottlosen Mystiker« genannt5 • Er ist dies so wenig wie R. Musil. Sein
ganzes lnteresse gilt dem, was der Mensch kann, und den Bedingungen
und Grenzen dieses Konnens. Denn die Kraft des menschlichen Geistes
bemiBt sich an der Erkenntnis seiner Unzuliinglichkeit, Unstabilitiit und
Hinfiilligkeit. Die Moglichkeit, sich vom Ganzen abzulosen, impliziert
kein Transzendieren zu irgendeiner Transzendenz, sondern ist im We-
sen des Menschen begriindet, und, religios beurteilt, un- wenn nicht
anti-religios.
Valerys CEM ist ein gottloses Ganzes, fiir welches Voltaire Pate
steht.
» Er ist eine ungemein wichtige Personlichkeit. Er hat die Stirn,
an nichts zu glauben oder zu glauben, daB er an nichts glaubt- und
er zwingt dem Publikum diese Haltung au£. Von da an hat die
Freiheit des Denkens ein ,groBes Publikum,. Sie ist kein Privileg
mehr [.. .]. Alles in allem bedeutet V. einen Einschnitt in der Ent-
wicklung des europiiischen Denkens. Nach ihm wird alles religiose
Denken Sonderfall, Paradox, Voreingenommenheit« (29, 722).
Valery vermiBt im Alten wie im Neuen Testament jeden Sinn fiir den
Geist der Wissenschaften und Kiinste. Nur fiir die Griechen hat der
Geist eine religiose und politische Bedeutung gehabt.
»Dies ist einmalig. Kein anderes Volk hat sich eine Pallas, einen
Apollo und Musen gegeben oder einen Orpheus, einen Amphion als
Halbgotter zu seinen Vorfahren geziihlt« (25,441).
»Du muBt zugeben, daB ich getan habe, was ich konnte. DaB ich
dem Skeptizismus vertraute, mit meiner Devise Handeln ohne
Glauben oder zuerst Analyse! Sich alien intellektuellen Liigen zu
versagen und sich niemals damit zu begniigen, ein reales Vermogen
durch ein Wort zu ersetzen. Meine Natur hat einen Abscheu vor
dem Vagen .. . « (I, 43; 10,307 u. 310) 6 •
Soweit sich Valery iiberhaupt unter Gott und dem Glauben an ihn
etwas denken konnte, so gewiB nicht einen Gott der Liebe.
6 Vgl. 7,495: »L'action devient enfin plus aisee aux sceptiques de grand style.
D'ailleurs elle meme conduit a un scepticisme, car elle forme !'esprit a la seule
experience et celle-ci deprime toutes theories, ne retient, ne tolere que des
preceptes tres simples. On peut done agir sans croire, et d'autant mieux agir que
l'on croit moins. Nettete du but est capitale; cette nettete n'est obtenue que par
une destruction formidable.«
310 Paul Valery
»X spricht und verhalt sich nicht so, wie ich es mir von einem
Gott vorgestellt hatte. Fiir einen Gott liebt er uns zu sehr« (7, 207;
vgl. I, 72 u. II, 434£.).
Und was die Liebe von Mensch zu Mensch betrifft, so hat sie Valery
in ihrer vitalen, sexuellen Form ebenso illusionslos beurteilt wie ihre
mogliche Substitution und Inflation (10, 437; 11, 15 u. 82). Er aner-
kennt sie im Faust als eine »convulsion grossiere«, aber nicht minder als
eine nichts begehrende »tendresse«, beides in dem BewuBtsein, daB
»diesen Spielen des Fleisches oder des Herzens« Kalte und HaB jederzeit
ein Ende setzen konnen (vgl. 1, 76£.; 23, 19; II, 433, 752). Das Problem
der Liebe reduziert sich auf das des Andern: »Que peut-on faire d'un
AUTRE? Que peut-on faire avec un AUTRE?« (II, 434; 29, 875).
Eigenliebe lag ihm fern - es sei denn, man verwechsle mit ihr das Motiv
des NarziB -, nicht aber der verhaltene Stolz. Ein Gleichnis wie das vom
Splitter im fremden und dem Balken im eigenen Auge schien ihm so
popular wie vulgar.
»Fiir mich sind Oberlegungen dieser Art fast unwiderlegbare
Argumente gegen die Evangelien. Es ist eine »allzumenschliche«
Methode, anzugreifen um zu rechtfertigen. Eine machtvolle Metho-
de, aber wesentlich fiir offentliche Versammlungen« (7,605).
Die erste Bitte laute faktisch bei jedermann:
»Yater unser im Himmel, MEIN Wille geschehe - und es gibt
kein diimmeres und kein wahrhaftigeres Gebet« (7,390).
Nur einem Spruch des Neuen Testaments (Luk. 23,34) hat er zuge-
stimmt: »Sie wissen nicht, was sie tun.« Denn es gibt kein Tun, es sei
noch so gut gemeint, geplant und ausgefiihrt, das nicht durch blinde
Zwischenschaltungen (relais) Konsequenzen hat, die sich nicht voraus-
sehen lassen und alle »Verantwortung« in Frage stellen. »Der Mensch
weiB, was er tut- in dem hochst beschrankten MaB, in dem er feststel-
len kann, daB das Getane das Gewollte realisiert hat oder nicht. Aber er
weiB weder, wie er das Getane getan hat, noch was es ausgerichtet hat
oder ausrichten wird.« 7 Wenn wir wirklich wiiBten, was wir tun1
7 S. G. 102££.; I, 530; 25,98: »La notion capitale ence qu'on appelle l'Histoire
et en ce qu'on nomme Politique se trouve dans l'Evangile. C'est un trait de
lumiere eblouissante. Ils ne savent ce qu'ils font. Si on prend ce mot ala lettre et a
propos de n'importe quel acte, on voit qu'il sont la formule de toute action car le
Besinnung auf <las Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 311
wiirden wir nichts tun (29,366). Und die Freiheit unseres Handelns, die
vorausgesetzt wird, wenn man von Verantwortung spricht, ist nur in
der Weise evident, wie die alltiigliche Erfahrung, daB die Erde, auf der
wir uns bewegen, allem Anschein nach nicht rotiert, sondern ruht (7,
644; 29, 689). » Wenn man beim Mikroskop das VergroBerungsobjek-
tiv I verwendet: ,Der Mensch ist frei, - Wenn man das Objektiv II
verwendet: ,Der Mensch ist nicht frei, - aber vielleicht ist es dann nicht
mehr der Mensch, den man sieht?« (S. G., 103)
Mit der Destruktion des Kosmos reduziert sich das Ganze faktisch
auf C und E, deren Verhiiltnis ein unstabiles Gleichgewicht und fiir den
selbstbewuBten Geist ein MiBverhiiltnis ist. Der alltiigliche Beweis da-
fiir ist, daB die geringste korperliche Storung ohne vitale Bedeutung,
etwa ein Zahnschmerz, eine Reaktion hervorrufen kann, die zu ihrem
AnlaB in gar keinem Verhiiltnis steht, und daB sich andrerseits eine
todliche Krankheit ganz unbemerkt und schmerzlos entwickeln kann
(9, 653; II, 776). Der seiner selbst bewuBte Geist herrscht zwar, aber er
regiert nicht. Und wenn wir wahrhaft einmal wufsten, was wir sind,
dann wiirden wir nicht mehr sprechen und denken. Wenn sich der Geist
als »conscience consciente« zu Ende denkt, dann stofst er auf das
Korperliche mit seinen Mechanismen und Automatismen, <lurch die er
sich in seiner Umwelt erhiilt, so wie sich umgekehrt, am Ende der
Funktion der Selbsterhaltung, der Geist als eine transformierende und
destruierende Tiitigkeit zeigt, die Mogliches entwirft. Seinem eigensten
Sinne nach ist der Geist waches Bewulstsein; seinem leiblichen Aspekt
nach eine Art Ausscheidung (23, 602 u. 812; 29,888), vergleichbar der
einer Spinne, die - ohne Wille, Geist und BewuBtsein - ihrer Natur
gemiiB einen Faden aus sich entliilst, sich an ihrem Netz aufhiingt und
darin Fliegen fiingt (1, 700, 809; 23,387). Ein philosophisches System,
in dem der menschliche Korper keine fundamentale Rolle spielt, ist
unbrauchbar und ungeeignet, zu sehen, was ist (7, 769; II, 99 f.; 428 f.).
Derselbe Valery, der seinen Gedanken, gemiils dem Idol des reinen
lntellekts, erstmals in Monsieur Teste entwickelt hat und <lessen Ambi-
tion es war, bis an das iiufserste Ende der Reflexion, des bewuBten
BewuBtseins, zu gehen, hat eben darum auch den Widerpart des selbst-
savoir ne s'applique et n'a le sens que, quanta l'acte meme, mais du tout a ses
effets, ni a ses origines, nia son mecanisme. D'ailleurs, on ne peut agir que si l'on
est reduit ace qui est suffisantpour agir. Sans quoi point d'action. L'action exige
reduction de la ,liberte< a 1 degre seul. «
312 Paul Valery
bewuBten Geistes und Wollens aufs stiirkste empfunden und sich die
Animalitat des Menschenwesens zum BewuBtsein gebracht. Unser be-
wufstes Sein gleicht einem Zimmer, das in unserer Abwesenheit einge-
richtet wurde (9, 170 u. 804 f.). Was den Menschen auszeichnet, ist aber
nicht nur das Verhaltnis und MiBverhaltnis seines »fragment pur« zu
sich als individueller Person und deren Lebensgeschichte. Es umfaBt das
ganze Verhiiltnis von Selbstsein und Welt der Natur.
»lnsofern als jeder in der Natur und zugleich relatives Zentrum
ist und versteht, was ihn enthiilt und umfafst, handelt es sich darum,
diesen fundamentalen Widerspruch herauszustellen. Das Ganze ist
nur ein Sonderfall meines Begreifens; mein Vermogen zu begreifen,
ist an einen Teil eines Ganzen gebunden. Dieses Problem: Erkennt-
nis in der Welt - Welt in der Erkenntnis treibt die Philosophen zum
Wahnsinn. Es handelt sich darum, den Knotenpunkt dieser Antino-
mie zu finden [.. .]. 1st jede der beiden Positionen a in b, b in a genau
definiert? Und ist ihr Vergleich wirklich gedacht? Das lch, das darin
enthalten ist und das (damit sich das Problem stellt) zugleich sowohl
der Welt fahig als auch von ihr abhangig sein mufs« (9,393 u. 401;
29,453; vgl. 5, 199 u. 338).
»Natur« ist fiir Valery nur das urspriinglich »Gegebene«, alles
Anfangliche und als solches die dauernde Grundlage auch jeder geisti-
gen Tatigkeit. Aber auch die Natur ist nichts unmittelbar Gegebenes,
sondern in jedem Phanomen, es sei ein Kristall, ein Gewachs oder ein
Tier, etwas sich von selber Herstellendes.
»Es gibt keine Natur. Oder vielmehr: was man fiir vorgegeben
halt, geht immer schon auf einen friiher oder spiiter erfolgten Her-
stellungsprozefs zuriick. Es liegt etwas Aufreizendes in dem Gedan-
ken, zuriick zum Jungfraulichen zu gelangen. Man stellt sich vor, es
gebe derart Jungfrauliches. Aber das Meer, die Baume, die Sonne -
und vor allem das menschliche Auge-, all dies ist Kunstlichkeit« (II,
618 u. 706; B 1910, 6).
Die unmittelbar erblickte, beobachtete und empfundene Natur der
vorwissenschaftlichen Erfahrung kommt vor allem in Gedichten (Au
Platane) und Betrachtungen z.B. iiber Vogelflug, Medusen, Muscheln,
Wasser, Meer, Sonnenuntergang (II, 664) zu einer ebenso exakten wie
dichterischen Sprache. Was aber die denkende Natur des Menschen
kennzeichnet und sie der auBermenschlichen entgegensetzt, ist, daB der
Besinnung auf das Ganze des Seienden: Karper, Geist, Welt 313
eigentlichste und einzige Gegenstand des Denkens das ist, »was nicht
existiert«.
»Das, was nicht vor mir ist; das, was war; das was sein wird;
das, was moglich ist; das, was unmoglich ist. Bisweilen zeigt dieses
Denken die Neigung das, was nicht ist, zu realisieren, zum Wahren
zu erheben, und bisweilen das, was ist, zu verfiilschen (S. G. 6).
Aber der Ruhm des Menschen besteht darin, sich ins Leere
verausgaben zu konnen; und darin besteht nicht nur sein Ruhm.
Unsinnige Forschungen sind verwandt mit ungeahnten Entdeckun-
gen. Das Nichtwirkliche spielt eine wirkliche Rolle; die Funktion
des Imaginiiren ist real« (I, 862).
Die Natur ist zwar unendlich miichtiger als der Mensch, und ein
Zyklon vermag im Nu eine Stadt wegzufegen, er kann aber nicht einmal
den Knoten einer Schnur losen. Der Mensch vermag es mit ein wenig
Wille und Verstand. Die Negativitiit des Geistes gegen alles Gegebene
macht ihn zu einem Monstrum (23, 387). »Durch seine Zerstorungs-
kraft ist er Konig der Schopfung. Nur au£ Kosten der Schopfung kann
der Mensch Schopfer sein« (S. G. 148). Valery verwahrte sich zwar
gegen den Vorwurf, dais er die Natur verachte, vielmehr liebe er sie-
»unter dem Vorbehalt, sie niemals zu nennen. Und dann will ich sie
iiberall sehen oder nirgends, nicht immer auf den Feldem, aber bis in die
Sprache des Aristoteles hinein, wenn nicht gar in die des Lagrange«
(Br. 49).
Was den Menschen vom Tier und iiberhaupt von der Welt der
Natur unterscheidet und gewohnlich Geist genannt wird und ihn befii-
higt, seine Umwelt radikal zu veriindem, ist »une puissance de transfor-
mation«, wogegen sich das tierische Lebewesen nur selbst erhiilt, so wie
sich der Leib des Menschen bestiindig von selbst erneuert.
»Jeder Pulsschlag, jede Sekretion, jeder Schlaf nehmen blind das
Werk wieder in Angriff. Die Erhaltung ist der eigentliche Gewinn« (II,
768).
an[...] und setzen sich so mit ihrer Umwelt ins Gleichgewicht [... ].
Aber der Mensch hat etwas in sich, das ihn befiihigt, fortwiihrend
das Gleichgewicht mit seiner Umwelt zu storen und das ihn notwen-
dig mit dem unzufrieden macht, was ihn eben noch befriedigte. Er
ist in jedem Augenblick ein anderer als er ist [... ]. Er setzt die
Vergangenheit der Gegenwart entgegen, die Zukunft der Vergan-
genheit, das Mogliche dem Wirklichen [...].Alles was wir Zivilisa-
tion, Fortschritt, Wissen, Kunst, Kultur nennen, bezieht sich auf
dieses merkwiirdige Traumgebilde, hiingt geradezu von ihm ab.
Man kann sagen, diese Triiume stellen alle gegebenen Bedingungen
unseres Daseins in Frage. Wir sind eine zoologische Art, die von sich
aus strebt, ihren Daseinsbereich zu variieren« (I, 1001 £.).
Diesem spezifisch europiiischen Geist entspricht es, daB Valerys
dichterisches Werk stets die Moglichkeiten der Variation der Sprache
im Sinn hatte under ein Gedicht in Form von Variationen plante (9, 49).
Trotz dieses Unterschieds zwischen Mensch und Lebewesen, den Vale-
ry au£ die Formel von Transformieren und sich Erhalten bringt, ist auch
der Mensch eine Art Tier, das mit sich selber spricht und also denkt. Die
Illusion, kein Tier zu sein, beruht auf der seiner Autonomie (7, 571).
Man muB »la condition animale« akzeptieren, denn der menschliche
Verstand ist zwar »le caractere eminent, mais particulier« (9, 35). Er
konnte sich sehr wohl wie andere Eigenheiten ausgestorbener Tierarten
bis zur Absurditiit entwickeln und den Menschen lebensunfahig ma-
chen. Man kann sich ein hochdifferenziertes Lebewesen au£ ein Mini-
mum von bloBer Lebendigkeit reduziert denken, fur welches Geist,
Sprache und BewuBtsein vollig iiberfliissig sind.
»Mit dem, was ihm Gelegenheit verschafft, in Erscheinung zu
treten, mit der UngewiBheit und Verschiedenartigkeit der Umstiin-
de, wiirde auch der Geist verschwinden. Diese Oberlegung macht
deutlich, daB das eigentlich Wesentliche der Wunder des Lebens au£
die Beilaufigkeiten dieses selben Lebens zuriickfiihrbar ist [... ].Die
groBe Vielfalt der Arten, die Absonderlichkeit der Formen und
Mittel einer jeden, ihre Verwandtschaft, ihre Verschiedenheiten
legen den Gedanken nahe, daB BewuBtsein und Empfindungsfahig-
keit auch nicht hiitten sein konnen oder daB ganz andere Eigen-
schaften sie ersetzen konnten« (9, 567£.).
Besinnung auf <las Ganze des Seienden: Karper, Geist, Welt 315
etwa das Werk eines Lebewesens, das sich blindlings selbst erbaut und
seine Organe mit einer Schale umgibt? Aber auch dies ware nicht
ausgeschlossen, dais die Arbeit der Meereswellen im Laufe der Jahrtau-
sende einem Stiickchen Marmor ein so kunstvolles Aussehen hatte
geben konnen. Sokrates betrachtet das Ding von alien Seiten und fragt
es aus, ohne sich bei einer Antwort aufzuhalten. »Ob dieses eigentiimli-
che Ding das Werk des Lebens sei oder das Werk der Kunst oder eines
der Zeit und ein Spiel der Natur, ich konnte es nicht entscheiden.«
»Denn die innere Abhiingigkeit dieser drei Dinge und ihre tiefere
Verbindung konnte nur das Werk der natura naturans selber sein.
Der Handwerker kann sein Werk nicht schaffen, ohne irgendeine
Ordnung zu verletzen oder zu storen, durch die Kriifte, die er an den
Stoff wendet, um ihn der Idee, der er folgen will, anzupassen, und
dem Gebrauch, den er vorsieht. Er wird also unvermeidlich gezwun-
gen, Gegenstiinde hervorzubringen, deren Ganzheit weniger kom-
pliziert ist als ihre Teile. Wenn er einen Tisch baut, so ist dieses
Mobel eine Anordnung von Teilen, die vie! weniger kompliziert ist
als die Anordnung der Fasern im Holz. Er fiigt in grober Weise, in
einer fremdartigen Ordnung Stucke eines groBen Baumes zusam-
men, die sich in ganz andern Zusammenhiingen gebildet und ent-
wickelt hatten« (II, 124).
Das gleiche gilt fiir die Herstellung und Verrichtung als solche: sie
sind nur durch den Endzweck bestimmt.
»Will er einen Nagel einschlagen, so schliigt er ihn mit einem
Stein oder einem Hammer, der aus Eisen oder Bronze ist, oder aus
sehr hartem Holz. Und er schliigt ihn mit kleinen Schliigen ein oder
mit einem einzigen stiirkeren [.. .].Das Ergebnis ist das gleiche [...].
Aber wenn man nicht darauf sieht, dem Faden der Handlung nach-
zugehen, wenn man die einzelnen Umstiinde betrachtet, so erschei-
nen diese Vorgiinge als vollig verschiedene und als Erscheinungen,
die untereinander nicht zu vergleichen sind. «
Es gibt also drei mogliche Weisen des Hervorgehens: 1) durch
Zufall, wie man es nennt, d. i. durch iiuBere Umstiinde bewirkt;
2) durch sicheres, blindes Wachstum; 3) durch zielgerichtete Akte, die
in gewisser Weise durch die Natur und den Zufall hindurchgehen, sich
ihrer bedienen und sie mit Wille und Verstand zu ihrer Absicht verge-
waltigen. In der Natur liiBt sich das Bewirkende und das Bewirkte, der
Plan von der Ausfiihrung und der Tei! vom Ganzen nicht trennen.
Wenn der Mensch etwas entwirft und herstellt oder macht, ist der Plan
von der ausfiihrenden Handlung und beide vom Ergebnis unabhiingig
und nicht von Natur aus aufeinander angewiesen.
»Die Natur [... ] unterscheidet nicht die Einzelheiten von der
Gesamtheit, sondern treibt zugleich von alien Teilen her voran und
verkniipft sich dabei mit sich selbst, ohne Riickwege, ohne Vorbil-
der, ohne eine besondere Absicht; bei ihr ist der Plan nicht getrennt
318 Paul Valery
von der Ausfiihrung [... ]. Als ob das alles aus ein und demselben
Stoff ware. Wenn ein Mensch seinen Arm bewegt, so kann man
diesen Arm von seiner Gebarde unterscheiden, und zwischen der
Gebarde und dem Arm begreift man die Beziehung einer blolsen
Moglichkeit. Auf Seiten der Naturist es unmoglich, die Gebarde des
Arms von dem Arm selbst zu trennen« (II, 127 f.; vgl. 396).
Die Abhandlung Mensch und Muschel unterscheidet sich von dieser
ersten Fassung nicht prinzipiell, wohl aber in der Genauigkeit der
Analyse des Muschelgebildes und in der Verscharfung der Frage nach
seinem Unterschied von einem kiinstlichen. Wir geben sie im letzten
Kapitel wieder.
Ihre Bemerkung (siehe im Folg. S. 386) iiber die <lurch keine Kunst
erreichbare Vollkommenheit der Naturgebilde konnte dazu verleiten,
anzunehmen, dais Valery das Verhaltnis von Kunst und Natur im Sinne
des klassischen Topos als Nachahmung der Natur verstand, wonach
menschliche Werke das Werk der Natur nie iibertreffen, sondern es
hochstens nachahmen konnen 8 • Nichts ware verkehrter als eine solche
Annahme. Denn wenn irgendwer das nicht-Natiirliche, rein Kiinstliche
einer moglichen Kombination und Konstruktion zum formalen Ma8-
stab kiinstlerischer Qualitat erhob, dann ist es, in der Nachfolge Mal-
larmes, Valery gewesen, indem er die These vertrat, da8 die Vollkom-
menheit einer Dichtung, die Strenge ihres Aufbaus, der Zusammen-
klang von sens und son auf der variierenden und transformierenden
Kraft sprachlichen Machenkonnens beruht und nicht auf irgend etwas
im voraus Gegebenen. »Imitation« hat bei Valery stets den Nebensinn
von »Simulation«. Der Kiinstler macht Dinge, die in der Wirklichkeit,
d. i. ihrer Unreinheit, Vermischtheit, Zufalligkeit und Unordnung nicht
vorkommen konnen. Doch hat Valery selbst die Verwandtschaft seiner
8 Siehe z.B. Galilei, Dialog iiber die beiden wichtigsten Weltsysteme: »Die
Kunst, in einem Marmorblock eine herrliche Statue zu entdecken, hat das Genie
Buonarottis hoch iiber die gemeinen Geister gestellt. Und <loch ist ein solches
Werk nichts anderes als eine oberflachliche N achahmung einer einzigen Kiirper-
haltung und Gliederstellung eines unbewegten Menschen, wie ihn die Natur
geschaffen, an dem so viele augere und innere Organe sich befinden, eine solche
Menge von Muskeln, Sehnen, Nerven, Knochen, welche so viele mannigfaltige
Bewegungen ermoglichen. Und nun gar die Sinne und endlich der Verstand.
Kiinnen wir nicht mit Recht sagen, die Anfertigung einer Statue stehe unendlich
weit zuriick hinter der Gestaltung eines lebendigen Menschen, ja des verachtet-
sten Wurmes?«
Besinnung au£ das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 319
Theorie der Kunst mit den neuen Bestrebungen nicht bemerkt9 und der
zeitgenossischen Malerei der Kubisten und Surrealisten vorgeworfen,
dais sie von der Absicht auf Neues um des Neuen willen vergiftet seien,
und das fiir alle groise Kunst unerliifsliche Ideal der Vollkommenheit
preisgeben.
»Der Damon der Veriinderung um der Veriinderung will en [... ]
hetzt uns vom Schonen zum Wahren, vom Wahren zum Reinen,
vom Reinen zum Absurden und vom Absurden ins Platte[ ... ]. Er
fiingt an, den ,Impressionismus< gegen den ,Realismus, auszu-
spielen. Er will glauben machen, es bestiinden keine Objekte, und
man diirfe nichts anderes wiedergeben als die Eindriicke der Netz·
haut [...]. Und schon beginnt alles zu vibrieren. Aber kaum ist man
auf den Bildern dem Licht miihsam gerecht geworden, beklagt er
sich dariiber, dais es alle Formen aufzehre [...]. Alsdann zieht er aus
irgendeinem verborgenen Behiilter, der so tief ist, dais der iilteste
T rode!, den man ihm entnimmt, bei Licht beinahe schon wieder wie
eine Neuheit wirkt, eine Kugel, einen Kegel und eine Walze hervor,
und zu guter Letzt einen Wiirfel, den er sich fiir den Nachtisch
aufsparte. Er macht sich anheischig, mit diesen festen Korpern, will
sagen: diesem mathematischen Kinderspielzeug, alles und jedes zu
konstruieren. Das Universum des Maiers geht auf in Vielfliichnern
und runden Korpern, Briiste, Schenkel, Wangen, Pferde, Kiihe -
nichts, was man sich aus diesen ungefiigen Elementen nicht zurecht-
zimmern konnte!« (Degas, 139f.; vgl. Kunst 151 ff.)
Und doch ist auch fiir Valery die Kunst wesentlich ein Machen-und
Konstruierenkonnen und alles Menschenwerk auf die Veriinderung
und Destruktion des Gegebenen abzielend. Wie kann dann aber die
Kunst beanspruchen, etwas »Notwendiges« hervorzubringen, und sei
es auch nur die innere Notwendigkeit im Aufbau eines Gedichts? Vale-
rys Antwort ist: weil eine strenge Folgerichtigkeit im Aufbau eines
menschlichen Machwerks nur durch Wille und Willkiir erreichbar ist.
Wir besiegen die Natur, indem wir ihr nicht gehorchen (7,278).
9 Siehe dazu Chr. Krauss, Der Begriffdes Hazard bei Valery, Heidelberger Diss.
1969, s. 225££.
320 Paul Valery
»Jedes Leben beginnt und endet mit einer Art Zufall. In seinem
Verlauf wird es durch Zufiille gezeichnet und gestaltet. Freunde,
Ehegatte, was einer liest und glaubt, verdankt jedes Leben vor allem
dem Zufall. Aber dieser Zufall macht sich vergessen; und wir den-
ken uns unsere personliche Geschichte als eine folgerichtige Ent-
wicklung, die die ,Zeit, kontinuierlich zur Existenz fiihrt [... ]. kh
weiB nicht, ob jemals der Versuch unternommen wurde, eine Bio-
graphie zu schreiben, bei der der Betreffende in jedem Augenblick
Besinnung auf das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 321
iiber den folgenden ebenso wenig wufste wie der Held eines Werkes
im entsprechenden Augenblick seines Lebenslaufs. Kurz gesagt, den
Zufall in jedem Augenblick wieder in seine Rechte einsetzen, anstatt
eine Folgerichtigkeit zurechtzuzimmern, die sich resumieren, eine
Kausalitat, die sich in einer Formel zusammenfassen /a{Jt« (II,
776f.; Degas, 10).
Und wiihrend der Dauer des Lebens empfinden wir die bestiindige
Abhiingigkeit von wahrnehmbaren, imaginierten und verborgenen
Vorgiingen in unserm Korper, in unserm Geist, in unserer Welt; den
Druck von Bediirfnissen, von Schmerzen, von Pflichten, von andern
Menschen und von uns selbst. »Per absurdum, in absurdo sumus,
vivimus et movemur« (29,395).
Wir sind, nicht zuletzt in der Sprache, in einem Ausmafs von blofsen
Assoziationen erfiillt, durch die sich die Dinge und Ereignisse in zusam-
menhangloser Weise verbinden und deren Autor der Zufall ist, so dais
unser Leben in der Regel nichts anderes ist als eine »scintillation desor-
donnee« (9,848). Wer unbefangen beobachtet, kann die Bedeutung des
Zufalligen, Arbitriiren und Akzidentellen, auch im Denken und Spre-
chen, kaum iiberschiitzen.
Valery lebte in dem BewuBtsein, daB er auch ein ganz anderer hatte
werden und ganz andere Dinge hatte unternehmen konnen. »Wenn ein
Mensch nicht ein ganz anderes Leben fiihren konnte als sein eigenes,
konnte er sein eigenes nicht leben. Denn sein eigenes besteht nur aus
einer Unzahl von Zufallen, von denen jeder einem anderen Leben
angehoren kann« (W. 143; vgl. Br., 221).
Zu den ersten und letzten zufiilligen Dingen, die das Ganze durch
Anfang und Ende bestimmen, gehort fiir den Menschen mit der Geburt
der Tod. Kaum herangewachsen, hiingt der Mensch am Leben; er
richtet mit einer Art Instinkt oder Tropismus all seine Krafte auf die
Erhaltung des Lebens, so schal das Leben auch sein mag. »In dieser
Kraft steckt etwas von einer absurden Neugierde. Morgen ist fiir uns
vielleicht das, was die Faszination des leuchtenden Feuers fiir das Insekt
ist.« Wer fiir morgen nichts mehr vorhat, ist reif zum Sterben. Eine der
letzten Eintragungen der Cahiers lautet:
»Ich habe das Gefiihl, als sei mein Leben zu Ende, d. h., ich sehe
zur Zeit nichts, was nach einem morgen verlangt. Was mir zu leben
iibrigbleibt, kann jetzt nur noch vergeudete Zeit sein« (29,908).
Man fiirchtet sich vor dem Sterben, aber nicht vor dem Leben. »Was
am Tode erschreckt, ist ein bestimmtes Leben, von dem man sich
vorstellt, daB es ihn begleite, mitempfinde und ermesse. « Was am Tode
schrecklich sein kann, ist nicht, von ihm besiegt zu werden, sondern der
Todeskampf des Lebenden.
»Der Tod als solcher ist ein Faktum ohne eigene und tiefere
Bedeutung im Hinblick auf das Leben, fiir das er ein normales
Ereignis und eine Nebensache ist. Er gewinnt seine bekannte Bewer-
tung nur mittels der naiven Wirkungen, die er bei den Zeugen eines
Todes hervorruft« (7,267; vgl. II, 774 u. 842).
Er ist, unter einem bestimmten Aspekt gesehen, erschreckend unzu-
giinglich, und man tut alles, um ihm zu entgehen; unter einem anderen
Blickwinkel ist er jedoch vollig faB!ich und klar, das Ende aller Miihen
und Leiden, so daB man unwillkiirlich daran denkt, sich selbst zu toten,
um nicht zu sterben (4, 919£.; 7,648). Der Gedanke an den bevorste-
henden Tod ist eigentlich gar kein Gedanke, sondern eine Sache der
Einbildungskraft und eine Art Bewertung. An ihm selbst kann er nur
dazu fiihren, sich zu toten, sei es direkt oder <lurch Exzesse (23, 56).
Uber dieses Ende des Daseins haben sich die Menschen zwar seit
Besinnung auf das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 323
10 Vgl. II, 508: »Que d'enfants, si le regard pouvait feconder! Que de morts s'il
pouvait tuer! Les rues seraient pleines de cadavres et de femmes grosses.«
324 Paul Valery
» Das Leben hat kein Ziel, keinen Sinn. Es muBte ihm einer
angedichtet werden, als sich der Geist eingemischt hat [... ]. Man
muB am Leben festhalten und alles tun, um darin zu verweilen,
obwohl man weifs, dais man immer unterliegen wird. ,Man mufs,
ist eine der Eigenheiten dieses Lebens. Instinkt. ,Man mufs, es auch
reproduzieren« (23,658).
326 Paul Valery
Man mu8 sein Dasein rein als Faktum akzeptieren, um als Mensch
iiberhaupt leben zu konnen. Und zwar mu8 man sich ohne Abzug als
den akzeptieren, der man ist, als »tel quel«. Gegen Ende seines Lebens
erinnert Valery seine Anfange, als er sich im Kampf mit sich selbst in
seiner Einsamkeit befestigte, »c.a.d., l'art de s'accepter tel quel« (29,
159). Was hei8t aber, sich so, wie man ist, akzeptieren? Es gehtindirekt
daraus hervor, da8 Valery Pascal vorwirft 11, er habe sich nicht als den,
der er war, akzeptiert, sondern ein anderer sein wollen. Die wenigsten
Menschen akzeptieren sich so, wie sie sind.
»Das Gefiihl, das die bedeutendste Rolle gespielt hat, ist das, ein
anderer zu sein, als man ist. Der Mensch akzeptiert sich nicht. Dem
Glauben an das, was nicht existiert, geht das Nicht-glauben an das,
was ist, voraus und liefert ihm die Grundlage« (9,641).
Valery, der - vielleicht mehr, als ihm bewu8t war - mit Pascal die
Verachtung seiner selbst und alles blo8 Menschlichen teilte, notiert im
letzten Cahier:
»So wie ich bin. Wer ist beherzt genug auszudenken, was dieser
Wahlspruch beinhaltet: Ich akzeptiere mich? Ich verkleide mich
nicht, in jeder Einzelheit erkenne ich mich wieder, ich habe den
Mut, mein Leben Augenblick fiir Augenblick zu wiederholen [...).
lch akzeptiere mich. lch akzeptiere es, nur Ich zu sein, ohne Retu-
schen. Aber mit der Empfindung, nur ein Sonderfall meiner selbst
gewesen zu sein, und mit dem Stolz, mich zu einem »Sonderfall«
gemacht zu haben, denn ich bin Reaktion auf das, was ich bin. Jeder
Gedanke ist geringer als das Denken selbst, wie jeder Anblick
geringer ist als das Sehen. »Was ich bin« ist das, was dem erscheint,
der »was ich bin« sein wird« (29, 362) 12•
Indem Ich-mich akzeptiere, ist der Zwiespalt und die Zwiefalt von
je und moi pur vorausgesetzt, die Valerys Denken iiber das Ego, von
Monsieur Teste bis zu Mon Faust, bestimmt. Nachdem er aber erfahren
und erkannt hat, da8 Geist und Bewu8tsein nicht alles sind (23,219),
sehe nur die Macht zum Tun. Diese kann moglicherweise eine
derartige Steigerung erfahren, daB sie schlieB!ich das organische
Leben und den Menschen selbst verwandelt« (23,270).
In jedem Fall ist das bewuBte Wissen untrennbar von seinem MiB-
brauch. Dieser ist aber die einzige Rechtfertigung der Existenz des
Menschen.
»Wenner nicht ware, dann ware das BewuBtsein nichts weiter
als eine der Routine des Seins ebenso untergeordnete Funktion wie
die andern« (7,278).
Aus der Perspektive der Natur gesehen ist der Geist als BewuBtsein
iiberfliissig und dem Lebewesen eher schadlich als niitzlich.
»Wer keinen Geist hat, sagt der Solitaire zu Faust, ist nicht
dumm. Das Vollkommene ist geistlos. Wenn das Herz Geist hatte,
wiiren wir tot. Kaum daB es so etwas wie Geist spiirt, leidet das
Herz; es krampft sich zusammen oder beschleunigt sein Pochen; es
muB sich wehren, gegen wen? Gegen den Geist. Wenn die Natur,
diese Niirrin, genotigt war, uns etwas Geist zu erfinden, so nur
darum, weil sie nicht imstande war, den Korper derart auszuriisten,
daB er sich in jeder Lage ganz allein aus der Klemme ziehen konnte,
ohne inneres Geschwiitz und Nachsinnen« (Faust 152££.).
Faust stimmt zu und sagt, das sei klar; und wenn die Natur sehr viel
mehr Geist besessen hiitte, sie sich das Wenige hiitte sparen konnen, was
328 Paul Valery
sie uns mitgegeben hat. Darauf erwidert der Einsame: »Man sollte fast
glauben, du £ingest an zu begreifen. « Under bekennt von sich, daB auch
er dem Idol des Geistes einmal gehuldigt habe.
»Aber ich habe die Beobachtung gemacht, daB mir der meinige
nur sehr geringe Dienste leistete; in meinem Leben selbst war er fast
nicht zu gebrauchen. Alie meine Kenntnisse [...] spielten nur eine
entweder nichtige oder jiimmerliche Rolle bei den Entscheidungen,
die mir am wichtigsten waren [...].Das Denken verdirbt das Ver-
gniigen und treibt den Schmerz zur Verzweiflung. Hochst bedenk-
lich, daB der Schmerz uns mitunter Geist verleiht [...] Denken?
Nein, weder Liebe noch Nahrungsaufnahme werden dadurch er-
leichtert oder angenehmer. Was ist das fiir eine Intelligenz, die zu
diesen hohen Verrichtungen nicht beitriigt? [... ] Auch ich war
einmal sehr klug, kliiger als ni:itig, um das Idol Geist anzubeten. Der
meinige (der immerhin ansehnlich war) bot mir nichts weiter als die
ermiidende Giirung seiner schiidlichen Tiitigkeit. Der stiindige Um-
trieb dessen, was erfindend, zerlegend, sich selber widersprechend
in den engen Schranken jedes Augenblicks rastlos tiitig ist, erzeugt
nur unsinnige Wiinsche, eitle Hypothesen, absurde Probleme, un-
niitze Reue, eingebildete Forcht[ ...]. Schau nur ma! da hinauf! Der
schone Himmel, der beriihmte gestirnte Himmel iiber uns ! Bedenke,
was dieser [... ]Staub fiir Dummheiten in die Gehirne gesiit hat; zu
welchen Phantastereien, welchen hochtrabenden Phrasen, welchen
Vermutungen, welchen Gesiingen und Berechnungen er unser
menschliches Geschlecht bewogen hat [...] der Himmel und der
Tod haben die denkenden Menschen diimmer gemacht als meine
Schweine.«
Faust ist erstaunt, daB der Einsame Schweine haben soil. Dieser
erkliirt ihm, es seien das keine gewi:ihnlichen, sondern verzauberte
Schweine, von den besten Stiicken aus den Kohen der Zauberin Circe
abstammend, und die anderen - die kommen von den beriichtigten
Siiuen her, die von bosen Geistern besessen waren und sich ins Meer
stiirzten. »Was einmal mein eigener Geist war, steckt in einem dieser
Schweine.« Faust fragt, ob er ihm die Liebe lasse. Antwon: zweifellos,
da es doch ein Geist ist und dessen Prinzip die Prostitution.
»Er halt sich feil, er bietet sich an, er spiegelt sich, stellt sich zur
Schau; und mitunter legt er sein Verdienst in die Nacktheit seiner
Besinnung au£ das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 329
Faust setzt sich, wenn auch etwas eingeschiichtert, fiir die grolsen
Schopfungen des Geistes und der Sprache ein, muls sich aber sagen
lassen, dais jedes Werk des Geistes nur eine Art Ausscheidung sei, durch
die sich der Geist seiner Neugier und Begehrlichkeit, seiner Langeweile
und seiner Eitelkeit au£ die Tugenden der Reinheit, der Strenge und der
Selbstbeherrschung entledige. Was sich in Worten sagen lasse, sei nie
die reine Wirklichkeit. Selbst die scheinbare Ordnung in der Bewegung
der Himmelskorper, woriiber die Menschen so erstaunen, sei doch nur
der Akt desjenigen, der ihre Elemente vorzeichnet und ausarbeitet, ein
Handel zwischen dem, der sieht und will, und dem Gesehenen. Faust
entgegnet, dais dieser Handel immerhin so vortrefflich vor sich gehe,
dais man die Bewegung der Himmelskorper genau vorausberechnen
konne, worauf ihm der Einsame erwidert:
»Die Voraussicht ist die Obereinstimmung zwischen einer Vor-
stellung, einer Erwartung und einem Ereignis, das schon einverstan-
dig oder voller Bereitwilligkeit ist [... ].Du siehst wohl mit einem
Blick eine Menge Dinge voraus, dais dieser Sprung dich iiber jenen
Graben tragen wird und dais diese Bewegung dein Glas an deinen
Mund bringen wird. Alie Lebenden vollbringen solche Wunder
[... ].Das Leben ist in bestandiger Voraussicht.«
»Nicht die Hohe verwirrt mich, noch die saugende Macht der
jiihen Tiefe und ihrer Leere. Nein, eine ganz andere Leere wirkt hier
auf mich ein und in ganz anderem Sinne. Die wesenhafte Einsam-
keit, die iiulserste Ode und das Fehlen lebender Wesen [...]. Hier
bleiben nur Fels und Schnee, ein wenig Luft, die Seele und die
Gestirne. Vier bis fiinfWorte reichen hin, um alles [. . .] auszusagen.
Dais dieses Wenige alles sagt, ist wahrscheinlich ein Zeichen des
Weltalls. Es ist so ungeheuer vie! des Nichts im All. Der Rest? Eine
Prise hingesiiter Staub. Und das Leben? Eine unmerkliche Spur auf
einem Kornchen dieses Staubes. Doch selbst diese Spur ist zu mals-
los fiir das, was sie an Geist enthiilt. Warum bin ich bis zu diesem
gefiihrlichen Punkte aufgestiegen? [...)«(II, 381 f.).
Faust richtet sich auf, betastet seinen zerschundenen Leib und fragt
sich, ob er zum Leben Nein oder Ja sagen, ob er sein Dasein akzeptieren
solle. Die Feen ermuntern ihn mit einem dreifachen Ja. Was ihn dazu
verfiihren konnte, ist der Schmerz, denn dieser ist ein gutes Anzeichen
fiir ein sich wissendes Leben - wenn Leben ein Gut ist. Allmiihlich
kommt Faust wieder zu sich und besinnt sich auf seinen Namen, d.h.
darauf, dais er der ist, der er ist. Er wird in seinem Selbstbewulstsein
bestiitigt, indem ihn auch andere - die Feen - Faust nennen und ihn
damit an seine Vergangenheit erinnern, deren Erinnerung er jedoch
loswerden muls, um neu beginnen zu konnen.
Faust kann sich nicht dazu aufschwingen, von neuem auf die Biihne
des Lebens zu treten und an der Welt Gefallen zu finden. Er fiihlt sich
aller Hoffnung ledig.
Die Feen, die dem Reiche der Natur gebieten, sind jedoch horig
geheimnisvollen Worten, und wer sie besitzt, befehligt ihren Spielen.
»Das Wort hat iiber alle Wandlungen Gewalt.« Faust: »Weils ich denn
eines dieser Worte?« Die erste Fee: »Dein erstes Wort war NEIN.« Die
zweite Fee: »Und wird das letzte sein« (vgl. 29, 833).
Glaube, Liebe, Hoffnung, sie fehlten Valerys Monsieur Teste und
dem Solitaire und ihm selbst so griindlich, dais er die Skepsis zu seinem
Glaubensbekenntnis erhob. Wer aber ohne Hoffnung (esperance) lebt,
der kann auch nicht verzweifeln (desesperer).
»Man hat mich oft einen Verzweifelten genannt. Ich weils nicht,
warum. Dieses Wort hat einen romantischen und mystischen Nach-
klang, der mir nicht ansteht. Zu Pascal palst es gut. Um verzweifelt
zu sein, muB man gehofft und, in jenem Sinne grenzenloser Not, au£
das Unmogliche gehofft haben. Ich habe mir immer nur ganz be-
stimmte Giiter erhofft, nicht nur reale, sondern auch sehr einfache
Dinge, wie sie vielen Leuten zufallig oder au£ Grund ihrer Tatigkeit
auch zuteil werden« (25,814).
In einem Brief an eine Nonne zur Feier ihrer Einkleidung schreibt er:
Wenn man von den zahlreichen Notizen der Cahiers absieht, die
kritisch und polemisch vom Glauben handeln, der nichts aufzuweisen
habe, um sich der Vemunft empfehlen zu konnen, so bleibt doch auch
fiir Valery trotz aller Skepsis das Problem des Glaubens und seiner
Verkiinder bestehen. In einem Essay iiber Stendhal (I, 576£.) heilst es:
»Le probleme existe«, niimlich fiir den Ungliiubigen oder religios Indif-
ferenten, und zwar einfach deshalb, weil es Gliiubige und Priester,
»croyants professionnels« gibt, denen man nicht absprechen kann, dag
sie intelligent und hochgebildet sind. Man fragt sich: wie ist das aufrich-
tigerweise moglich? Wie konnten z.B. Newton, Faraday, Pasteur den
christlichen Glauben mit ihrem wissenschaftlichen Gewissen vereinba-
ren? »Die intellektuelle Redlichkeit des Gliiubigen wird in den Augen
eines Ungliiubigen stets zweifelhaft sein - und manchmal trifft auch das
Umgekehrte zu.« Worauf beruht die Macht religioser Tradition iiber
die Gemiiter so vieler Menschen, wenn nicht au£ Schwiiche, Ansteckung
und Imitation? Und wie sollte zumal der christliche Glaube einen
vemiinftigen Skeptiker iiberzeugen konnen, wenn sich die Substanz des
Glaubens au£ Dinge bezieht, die sich nicht sehen und einsehen, sondem
nur erhoffen !assen?
Das Erstaunliche und Bewundemswerte an Valery ist, dais er trotz
seiner entschiedenen Ablehnung jedes Glaubens sowie der sich als
Oberzeugung gebenden Meinungen (II, 748) kraft einer nie erlahmen-
den Skepsis gegeniiber undurchdachten Sprachkonventionen den Wil-
len zum Wissenwollen bewahrte, obwohl er auch sein eigenes und
einziges Idol des sich selber wissenden Geistes als ein Idol durchschaute.
Er hat von seinem zwanzigsten Jahr an bis zu seinem Tode die Maxime
Besinnung auf das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 333
Nur eine Grenze hat auch Valerys skeptischer Geist nie iiberschrit-
ten, namlich die seines zufalligen Europaertums. Seine Skepsis gegen
Sprache und Erkennmis bleibt an das gebunden, was sie in Frage stellt:
an Sprache und Denken. Sein Gedanke ging zwar in der Tat »bis ans
Ende«, wenn er in allem, was ist und was wir selber sind, das » Befremd-
liche« entdeckte und damit das » Erstaunliche« in den Blick brachte, das
im Gewohnten und Bekannten verborgen ist; aber er hat daraus nicht
die ostliche Weisheit gewonnen, welche nicht sagesse im Sinne von
savoir ist, sondern als Versenkung in das Ganze des Seins oder Nichts
die Sprache und das Denken hinter sich laBt. Die gesamte europaische
Philosophie und Antiphilosophie hat es nie weiter gebracht als bis zum
»Streben« oder dem Unterwegssein nach Weisheit, wenn nicht zur
rationalen Skepsis.
Valerys Ideal der »Reinheit« von aller zufalligen Wirklichkeit, ihrer
Unordnung und Vermischtheit, nahert sich zwar manchmal dem reinen
Nichts orientalischer Meditation 17• Aber als ein europaischer Geist und
homme de lettres, der wesentlich denken und das Gedachte ausspre-
chen will, vermag er sich nur »zur Halfte« und »mit einem Bein« 18
aulserhalb <lessen zu stellen, was die unverwandelte Wirklichkeit der
Welt und seiner selbst ist- und noch weniger, sich in das Ganze <lessen,
was so ist, wie es ist, einzulassen und es sein zu lassen, unter Preisgabe
alles Wissenwollens und Wissenkonnens, welches Wissen, Wollen und
Konnen »die Hilfszeitworter des fundamentalen Verbums faire « sind
(29, 662; vgl. 23,354 und 561).
Valerys Idol des Geistes oder der reinen Einsicht wird schlieBlich in
einem kurz vor dem Tode (Mai 1945) verfaBten Prosagedicht zu einem
»Engel« 19 mit Menschengesicht.
beweisen als eine grolse ebelicbe Liebe, der wobl ein Opfer gebracbt werden
kann; ein Opfer, das, alles in allem, gar nicbt so wicbtig ist, wenn es vom ganzen
Werk dementiert wird.« (3. Sept. 1948)
17 Siebe I, 378: »Le >noir pur, couleur puissante de la solitude totale; plenitude
du rien, perfection du neant.« » Merk auf dieses feine unaufhorliche Geriiuscb; es
ist die Stille. Horch auf das, was man bort, wenn man nichts vernimmt« (W. 76).
18 B. 1910, 62.
19 Siebe dazu 10, 901; 25, 802 und Louis Percbe, Les Limites de /'humain,
s.
1965, 156££.
Besinnung auf das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt 335
»Was ich an Reinem bin«, sagte er, »eine miihelos jedes erschaffene
Ding verzehrende lntelligenz, ohne daB irgend etwas sie ihrerseits affi-
ziert oder veriindert, das kann sich in diesem triinenvollen Antlitz gar
nicht wiedererkennen, in diesen Augen, deren Licht, welches sie bildet,
wie erweicht ist durch die feuchte Drohung ihrer Triinen.«
»Und wie ist es moglich, daB er so sehr leidet, dieser Schone, in
Triinen Aufgeloste, der mir zugehort und von mir herkommt, da ich
doch schlieBlich alles sehe, was er ist, denn ich bin die Erkenntnis aller
Dinge, und da man doch nur an einem Nichtwissen leiden kann?«
»Oh, mein Erstaunen«, sagte er, »reizender und trauriger Kopf, so
gibt es denn etwas anderes als das Licht?«
Under prufte sich im Universum seiner wunderbar reinen geistigen
Substanz, worin alle Ideen in gleichem Abstand voneinander wie von
ihm selbst und in einer solchen Vollkommenheit ihrer Harmonie und
Behendigkeit ihres Entsprechens lebten, dap man hiitte sagen konnen:
er konnte vergehen, und doch wurde das System aufgrund ihrer gegen-
seitigen Notwendigkeit, glitzernd wie ein Diadem, von sich aus weiter
in seiner erhabenen Fu/le bestehen konnen.
Und wiihrend einer Ewigkeit horte er nicht auf zu erkennen und
nicht zu begreifen (vgl. I, 332,339; 10, 901).
Ein andermal hat Valery einen Engel erdacht, den das Lachen der
Menschen erstaunte.
»Man erkliirte ihm, so gut man konnte, was das war. Da fragte
er, warum die Menschen nicht iiber al/es lachten und in jedem
Augenblick; oder warum sie nicht ganz aufs Lachen verzichteten.
»Denn«, sagte er, »wenn ich recht verstanden habe, muB man iiber
alles lachen oder darf iiber gar nichts lachen« (I, 399; II, 484£.; 5,
32, 123,126,573,817).
IV Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung
Valery war zur Kritik der Historie in besonderer Weise geeignet, weil er
schon auf die Bewahrung seiner eigenen, personlichen Geschichte, etwa
in Form von Tagebuch und Memoiren - nicht den geringsten Wert
legte.
» kh finde keinerlei Gefallen daran, mich im Geiste in friihere
Zustiinde meines Lebens zuriickzuversetzen. kh wiirde mich nicht
auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben!« (II, 1506).
rung, denn meistens sei sie unertraglich, und zwar gerade auch dann,
wenn sie nicht Verfehltes und VerpaBtes zuriickruft, sondern die besten
Augenblicke unseres Lebens. »Nos plus chers souvenirs mordent nos
creurs clans l'ombre ... «
»AuBerdem [... ] schatze ich das Gedachtnis nicht, das oft
ebenso triigerisch in der Treue wie im Verrat sein kann, denn das,
was man wirklich erlebt hat, ist [...] unverwendbar - oder uner-
traglich.
Ich weifs, daB ich einen bestimmten Zeitabschnitt erlebt habe.
Aber fast nichts fallt mir wieder ein. Es ist mir unmoglich, mich an
den Ablauf eines Tages zu erinnern. Mein Geist existiert nur fiir das
Entgegengesetzte. Die Vergangenheit entspricht ihm ganz und gar
nicht. Was ich im hochsten MaBe an ihr empfinde, ist ihre Nichtig-
keit . ..
Von der Vergangenheit diirften nur die wirklichen Reichtiimer
iibrigbleiben, der der Zeit entrissene Gewinn, der unser Vermogen
zu handeln wachsen laBt und dabei zugleich notwendigerweise die
Bindung an seinen Ursprung verliert. Die Sprache bietet ein gutes
Beispiel [...]. Wie konnten wir denken, sprechen, wenn jedes Wort
uns an die Umstande erinnerte, unter denen wir es gelernt haben?
Seine Geschichte wiirde es an die Vergangenheit fesseln, und diese
bedeutet Ohnmacht« (II, 1506 ff.).
Was aber die Geschichtsschreibung auch der groBten Historiker
betrifft, so hat sie fiir den, der dariiber nachdenkt und ihren Bericht au£
seine Voraussetzungen hin analysiert, keinen geringeren oder groBeren
Wert als die Lektiire eines Romans. Man kann aus Balzacs Comedie
humaine mehr iiber die Menschen einer bestimmten Zeit und Gesell-
schaft erfahren als aus den gleichzeitigen Historikern.
»Bei Erzahlungen und bei der Historie passiert es mir, daB ich
mich gefangennehmen lasse und sie bewundere als erregende Lektii-
re, als Zeitvertreib und als Kunstwerke. Wenn sie aber Anspruch
au£ Wahrheit erheben und darauf rechnen, ernstgenommen zu wer-
den, dann offenbaren sich sogleich die Willkiir und die unbewuBten
Verfahrensregeln, und ich werde von der lasterhaften Manie mogli-
cher Substitutionen ergriffen « (I, 1467; 11, 153, 800).
Die komischen und tragischen Geschichten der Romane und Histo-
rien simulieren ein Leben, das nicht das unsre ist, und erregen eine
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 339
Teilnahme, die einen subjektiven Wert haben mag, aber keinen Sinn
ergibt (4,364).
Die Lebendigkeit der erziihlten Geschichten beruht ganz und gar auf
dem, was wir ihnen aus unserer eigenen Erfahrung geben, sei es daB wir
sie als fremd oder als verwandt empfinden.
»Mein Vorwurf gegeniiber der Geschichte liiBt sich in drei Wor-
te zusammenfassen. Der geschichtliche Stoff halt vor der Reflexion
nicht stand. Er wird zu Handlungsentwiirfen von Kasperlestiicken.
Alles, was uns an der sogenannten Vergangenheit interessieren
kann, geht von der Gegenwart aus« (25,577) .
Die Beurteilung vergangener Ereignisse kann nicht anders als sub-
jektiv sein, weil es unmoglich ist, ihre Bedeutung oder Wichtigkeit, nach
deren MaBgabe der Historiker einige wenige Personen und Ereignisse
unter unziihligen andern als bemerkenswert auswiihlt, ohne Bezug auf
unsee lnteresse festzustellen. Sind sie doch schon von den Zeitgenossen,
auf deren Berichte der Historiker angewiesen ist, nach bestimmten,
meist nicht bewuBten Gesichtspunkten als bemerkenswert ausgewiihlt
worden.
»Wir lassen unsere Sympathien und Antipathien in sie eingehen.
Wir konstruieren Systeme von Ereignissen und geben nach unserer
Willkiir eine Art Existenz und Substanz den Personen, Institutionen
oder Ereignissen, fiir welche die manchmal hochst summarischen,
wenn nicht auBerst fragmentarischen Quellen nur einen Beweis-
grund aus Worten liefern. Vielleicht kennen wir aus der Geschichte
nur vollkommen belanglose Fakten und wissen nichts von unend-
lich bedeutenderen« (II, 1545).
Zur Veranschaulichung der prinzipiellen Relativitiit historischer
Aussagen berichtet Valery eine Geschichte, die ihm Degas erziihlt hat:
er wurde als Knabe von seiner Mutter zu einem Besuch von Frau Le Bas
mitgenommen, der Witwe eines Konventmitgliedes, der ein Freund von
Robespierre gewesen war und mit Selbstmord endete. Beim Abschied
340 Paul Valery
ist belanglos, wenn wir nicht meinen wiirden, uns seinen Charakter und
seine Handlungen imaginativ vergegenwartigen zu konnen. Sobald
aber der Historiker die blolse Existenz eines unbekannten Menschen
der Vergangenheit etwas genauer charakterisieren will, desto mehr
verrat er sich selbst, und je konkreter seine Art Wissenschaft berichtet,
desto mehr Erfindung kommt ins Spiel. Die Naturwissenschaft kann die
genauen Einzelheiten ihres Gegenstandes nicht erfinden; sie zwingen
sich ihr auf, und die Richtigkeit oder Unrichtigkeit ihrer Feststellungen
lalst sich jederzeit iiberpriifen und verifizieren (25, 215). Die » Wahr-
heit« der Geschichtsschreibung, die nicht nur nackte Tatsachen feststel-
len will, lebt auf Kosten des Historikers und lalst sich nicht kompen-
s1eren.
Alexander, sagt Mephistopheles in Valerys Faust, ist nicht weniger
imaginar als Theseus, und Napoleon gilt so viel wie Herkules. »Beide
sind nur noch geschwarztes Papier und dessen Wirkungen auf mensch-
liche Gehirne, wo das, was war, und das, was nicht war, das gleiche
einfaltige Spiel treiben.« Die Masse des bedruckten Papiers ist aber so
grols geworden, dais den Schuler des Faust angesichts von dessen Biblio-
thek das Grauen erfalst. »Das ewige Schweigen dieser unzahligen Bande
erfiillt mich mit Entsetzen « - eine ironische Anspielung auf Pascals
Rede von dem »ewigen Schweigen der unendlichen Raume«, die Valery
einer vernichtenden Kritik unterwarf (I, 458 ff.). Sie sagen nichts mehr,
weil mit den Jahrhunderten »das kolossalische Denkmal des Unlesba-
ren wachst«. Die bloBe Dauer der Zeit geniigt, daB all diese grolsen
Ereignisse der Geschichte und ihre Heiden oder Unholde unmerklich
saftlos, sinnlos und unverstandlich werden.
»Die Geschichtsschreibung kann fast nur ,Ereignisse, verzeich-
nen. Reduzierte man aber das Leben eines Menschen auf die hervor-
stechendsten und am leichtesten zu bestimmenden Fakten - seine
Geburt, seine wenigen aulserordentlichen Erlebnisse, seinen Tod - ,
man wiirde die Textur seines Lebens aus dem Blick verlieren. Ein
Leben auf ein ,Resiimee, reduzieren! Nur das Gegenteil konnte
einen Wert haben« (II, 1508).
»Texture« bedeutet fiir Valery kein festes Geriist, sondern wie
etwas funktioniert, und die Funktion, die etwas in einem weiteren
Zusammenhang hat, lalst sich nicht an den Ereignissen ablesen.
»Ich bemerke noch einmal, dais mich die mensch lichen Dinge
um so weniger interessieren, je mehr sie sich von dem, was das
342 Paul Valery
»Liebe Bruder, habt die innere Kraft, iiulsere Ereignisse mit der
stiirksten Wirkung au£ die Menschen als Nebensachlichkeiten anzu-
sehen und als vertan die Zeit, die man sich denkend damit beschaf-
tigt. Erkennt die ganze Nutzlosigkeit der Lekture von Geschichts-
werken, die ihren Wert nur durch das haben, was ihr in sie hinein-
legt« (23, 21; vgl. 756 u. 9, 735).
Sie ist aber nicht nur nutzlos, sondern auch gefahrlich, weil sie die
Nationen und ihre Fuhrer mit trugerischen Reminiszenzen und Ideolo-
gien indoktriniert (II, 935). Und wenn Europa uberhaupt noch lebens-
fahig ist, dann muls es seine Geschichte vergessen.
»Nur au£ Kosten seiner »Geschichte« wird ein Europa jemals
sein. Deshalb mussen der unabwendbare Bankrott dieser »Ge-
schichte« und ihre Verwandlung durch die Tatsachen in das, was sie
wirklich ist, im Geist vorweggenommen werden. Denn man darf
unter diesem Begriff (Geschichte) keinesfalls die Vergangenheitver-
stehen, da diese unerkennbar und ungeformt ist, sondern eine Mas-
se von Vorstellungen mit einer Menge von Schriften, die ihnen
aktuelle Bedeutung geben« (23, 756).
Wer wie Valery wulste, was er wollte, und als Einzelganger bis ans
Ende ging - »denn es ist unmoglich, in Gesellschaft bis ans Ende des
Gedankens zu gehen« -, mulste in der gesamten politischen Geschichte
die Wahrheit des Satzes bestatigt finden, dais die Menschen nicht wis-
sen, was sie tun, und es auch gar nicht wissen konnen und nur kraft
solchen Unwissens zu handeln fahig sind (I, 530; 5, 72 u. 836; 7, 644;
25, 98; 29, 366, 689). Das positive Motiv fiir seine Milsachtung der
Historie und Geschichte ist die Einsicht, daB aus ihr nichts zu lernen ist,
344 Paul Valery
was dem Denken Nahrung bieten konnte, wenn Denken mehr ist als
vergangene Ereignisse - seien es auch solche aus der Geschichte der
Philosophie-im Lichte der jeweiligen Gegenwart imaginativ zu rekon-
struieren, ihre Ableitbarkeit und Folgerichtigkeit zu simulieren und
ihnen demgemiiB einen »Sinn« zuzuschreiben. »Die Geschichte recht-
fertigt, was immer man will. Sie lehrt, strenggenommen, nichts, denn sie
enthiilt alles und gibt fiir alles Beispiele her« (I, 1255; II, 935).
Dennoch hat auch Valerys MiBachtung der Geschichte ein innerge-
schichtliches Motiv, niimlich die erst in unserer Zeit moglich geworde-
ne Einsicht, daB der wissenschaftlich-technische Fortschritt alle bisheri-
ge Dberlieferung und deren vermeintliche Kontinuitiit fortschreitend
entwertet und gerade dadurch eine neue »Epoche des Provisorischen«
begriindet. Angenommen, daB diese durch den Fortschritt der wissen-
schaftlichen Technik bedingte Entwertung der Vergangenheit weiter-
geht - und wie sollte sie nicht? -, dann werden kiinftige Generationen
iiberhaupt nicht mehr mit der historisch gewordenen Uberlieferung
verbunden und von ihr belastet sein.
»Die Geschichtsbiicher werden ihnen Berichte zur Verfiigung
stellen, die ihnen fremd, ja unverstandlich vorkommen werden,
denn fiir kein Ding ihrer Zeit wird die Vergangenheit ein Musterbild
gestellt haben, und nichts aus der Vergangenheit wird in ihre Gegen-
wart hinein iiberleben. Alles, was am Menschen nicht bloBe Physio-
logie ist, wird anders geworden sein, sind doch unsere Politik,
unsere Kriege, unsere Sitten, unsere Kiinste nunmehr einem Regi-
ment sehr rasch wechselnder Verschiebungen ihrer Substrate unter-
worfen. Immer mehr riicken sie in immer engere Abhiingigkeit von
den Naturwissenschaften und darum in immer groBere Ferne von
der Geschichte. Das Neue vom Tage fiingt an, die ganze Fiille der
Wichtigkeit an sich zu reiBen, die bis zum heutigen Tag der Uberlie-
ferung eigen war« (K. 123).
1 »Prodamer les droites de l'homme c'est-a-dire une creance sans cause et sans
contre-partie - est parfaitement identifiable a l'acte d'enrichir l'entiere popula-
346 Paul Valery
tion au moyen d'une presse lithographique et d'un rouleau de papier« (5, 708).
»En democratie, regime de la parole ou des effets de la parole - tout devient
,politique<. Tout est relatif aux impressions d'un public. Ce sont les lois du
theatre qui s'appliquent. Simplification, illusion perpetuelle sous peine de rire et
de mort. Tout pour l'effet. Tout dans le moment. Des roles tranches. Ce qui est
difficile a exprimer, n'existe pas. Ce qui demande de longs preparatifs, une
attention prolongee, une memoire exacte, !'indifference au temps et al'eclairage
se fait impossible. Un mot echappe tue un homme du premier ordre« (4, 674).
Zur Frage der Diktatur siehe II, 970 ff.
2 Vgl. Augustin: De utilitate credendi, wo umgekehrt die Notwendigkeit und
Niitzlichkeit des christlichen Glaubens gerade daraus abgeleitet wird, daB auch
schon alle weltlichen Verhaltnisse einen Glauben voraussetzen. Siehe dazu vom
Verf.: Wissen, Glaube und Skepsis, S. 18ff. [Samtl. Schriften 3, S. 211 ff.]
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 347
Auch jede faktische Macht eines Herrschers, er sei ein Konig oder
ein Parteisekretiir, beruht darauf, daB man ihr Glauben schenkt4 • Und
worauf beruht dieses ganze System des Glaubenschenkens? Valerys
Antwort ist: auf Gelesenem und Gesprochenem, auf Versprechungen,
wirksamen Einbildungen, Gewohnheiten, Nachahmung und befolgten
Konventionen, die sich ihrerseits auf Oberlieferung stiitzen. Wenn ein-
mal mit unendlicher Miihe ein solches soziales System geschichtlich
etabliert ist und das Menschentier geziihmt, dann vergessen sich seine
verbalen und fiktiven Priimissen und die Freiheit des Geistes, d. h. die
Moglichkeit, sich fiir Augenblicke von allem, was ist und so genannt
wird, abzulosen und ihm kritisch gegeniiberzutreten, wird fast unmog-
lich, oder doch nur so moglich, daB man ein anderes soziales System
entwirft, welches die Mangel und Widerspriiche des vorhergehenden
beseitigen soil. Irgendeinmal wird aber die iiberlieferte Konvention des
ganzen Systems doch in Frage gestellt und eine radikale Kritik aller
bestehenden Verhiiltnisse bricht sich Bahn. Das Ergebnis ist dann eine
neue Barbarei der Zivilisation. Manche glauben zwar, daB die Erobe-
rung der Dinge durch exakte Wissenschaft uns nicht minder zu einer
Barbarei zuriickfiihre, einer unvergleichlich miichtigeren und gleichfor-
migeren, als es die urtiimliche war. Der Unterschied ist aber, daB der
Gesellschaftsbau aller Zeiten auf Fiktionen beruht und die wissen-
schaftlich-technische Zivilisation auf iiberpriifbaren Tatsachen. Die
Frage ist jedoch, ob eine Gesamtordnung, die nicht auf vagen Vorstel-
lungen und Fiktionen beruht, sondern auf dem, was in hohem Grad
berechenbar ist und verifiziert werden kann, iiberhaupt bestehen kann
(1,511).
Die menschliche Natur sucht in dem Dilemma zwischen einer kal-
kulierten Zwangsordnung und einer nicht minder unertriiglichen
Unordnung, zwischen Festhalten an der Oberlieferung und Vorantrei-
ben des sie zerstorenden Fortschritts der Rationalisierung, nach einem
Ausweg, wo das Individuum ebenso frei wie geschiitzt sein soil. Ein
solcher Zustand des relativen Gleichgewichts zwischen Zwang und
Freiheit kennzeichnet den »Beginn des Endes eines sozialen Systems«
und eine solche Epoche war, in Valerys Ansicht, die von Montesquieu.
»Die Institutionen haben noch Bestand [... ]. Aber ohne daB sich
irgend etwas Sichtbares an ihnen veriindert hiitte, besitzen sie kaum
mehr als nur diese Gegenwiirtigkeit. Ihre inneren Kriifte sind alle
hervorgetreten; ihre Zukunft ist auf verborgene Weise erschopft.
1hr Wesen wird nicht mehr geheiligt oder wird nur noch geheiligt.
Kritik und Verachtung schwiichen sie und entleeren sie jeden Wer-
tes fiir die weitere Entwicklung. Der soziale Korper verliert unmerk-
lich seine Zukunft. Es ist die Zeit des Genusses und des allgemeinen
Konsums [... ].
Europa war damals die beste der moglichen Welten. Autoritiit
und Leichtsinn trafen zusammen. Die Wahrheit bewahrte eine ge-
wisse Zuriickhaltung. Materie und Energie herrschten nicht unmit-
telbar. Die Wissenschaft stand schon in Blute, und die Kiinste waren
hochst verfeinert. Es war noch etwas von Religion vorhanden. Es
gab das Kapriziose zur Geniige und ausreichend Strenge[ ...]. Man
schimpfte auf die Regierung. Man glaubte, daB es besser gemacht
werden konnte. Aber die Unruhe war keineswegs maBlos« (I,
512f.).
In unserer Epoche sind die Forderungen der Gesellschaft maB!os
geworden und extrem.
»Unsere moderne » Zivilisation « erkennt man an dem OberdruB
des Extremen. Die Billigkeit des Enormen - die Monotonie der
Oberraschung, der Eke! am Wunderbaren [...]Was ist vulgarer als
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 349
solche Folgen des Erstaunens? Man darf sich nur iiber die gewohnli-
chen Dinge verwundern und muR sich eine ziemlich subtile Emp-
findlichkeit verschaffen, um zu widerstehen« (29,630).
Was unsere Epoche auszeichnet, ist erstens die rapide Beschleuni-
gung in den Prozessen der Veranderung und damit das prinzipiell
Provisorische in allem Planen und Tun, und zweitens die Vorherrschaft
der immer gewaltiger werdenden Mittel im Verhaltnis zum Zweck, dem
sie dienen sollen. Im Discours sur l'histoire (1932) hat Valery den
Schiilern eines Lyzeums in wenigen, aber einschneidenden Worten
dargelegt, welches die fundamentalen Pramissen der Geschichtsschrei-
bung sind, und geschildert, was sich schon innerhalb der sechs Jahr-
zehnte seines Lebens in vollig unvorhersehbarer Weise so radikal veran-
dert hat, daR man von den noch bestehenden Resten der alteren Oberlie-
ferung kaum noch einen Gebrauch machen kann, wenn man sich in der
Gegenwart orientieren will. Diese Veranderungen sind zum grofsten
Teil Folgen der wissenschaftlichen Entdeckungen des 19. und 20. Jahr-
hunderts. Und weil die auf uns weiterhin zukommenden Oberraschun-
gen unvorhersehbar sind, »schreiten wir der Zukunft im Krebsgang
entgegen «, mit dem Riicken zu ihr. Was aber die Vergangenheit von nur
ein paar Jahrhunderten betrifft, so fragt sich der heute Lebende naiver-
weise: wie konnte man in einer sokhen Zeit iiberhaupt leben? Ohne
hygienische Einrichtungen, ohne Fernsprecher, ohne Taschenuhren,
ohne Eisenbahnen und Flugverkehr, ohne Elektrizitat und all die Erfin-
dungen der Pharmazie zur Bekampfung von Krankheiten usw.? Wir
nehmen auch ohne weiteres an, daR es ein unbestreitbarer Fortschritt
11nd ein Gliick ist, daR alle Menschen Lesen und Schreiben lernen,
seitdem es den allgemeinen Schulzwang gibt-als ob man nicht mensch-
lich leben konnte, wenn man sprechen und denken kann. Die Folge der
Fortschritte, es sei in der Physik und Chemie oder auch in der Chirurgie,
ist so rapid, dais es sinnlos wird, noch irgend etwas Dauerhaftes schaf-
fen zu wollen und ihm eine viele Jahre kostende Vollendung angedeihen
zu lassen.
»Der Verzicht auf Dauerndes kennzeichnet eine Weltepoche.
Werke, die unmefsbare Zeit beanspruchen, und Werke fiir dieJahr-
hunderte werden heutzutage kaum noch unternommen. Das Zeital-
ter des Vorlaufigen ist eroffnet [... ].Die Dauer einer Oberraschung
ist unsere gegenwartige Zeiteinheit« (I, 652).
»Die Chemie des Kunstwerks hat es aufgegeben, die langwieri-
350 Paul Valery
Technik zur Verfiigung stellt, sind so enorm geworden, daB sie selber
zum Zweck der Herstellung werden.
»Unsere moderne Welt istganz damit beschaftigt, dienatiirlichen
Energiequellen immer wirksamer, immer ausgiebiger zu nutzen. Sie
sucht und verwendet sie nicht nur zur Befriedigung der elementaren
Lebensbediirfnisse, sondern treibt sie zu einer derartigen Ver-
schwendung, daB sie vollstandig neue Bediirfnisse erzeugt, ausge-
hend von den Mitteln, diese Bediirfnisse, die vorher nicht existier-
ten, zu befriedigen. Bei dem Stand unserer industriellen Zivilisation
spielt sich alles so ab, als ob, nachdem man irgendeinen Stoff
gefunden hat, gemaB seinen Eigenschaften eine Krankheit erdacht
wird, die er heilen sol!, ein Durst, den er loschen, ein Schmerz, den er
stillen soil. Man versieht uns also zum Zwecke der Bereicherung mit
Neigungen und Begierden, die keine Wurzeln in der Tiefe unseres
physiologischen Lebens haben, sondern aus absichtlich auferlegten
psychischen Reizungen [... ] hervorgehen. Der moderne Mensch
berauscht sich an Zerstreuung. MiBbrauch mit Geschwindigkeit,
Licht, Stimulantien, Betaubungs-, Erregungsmitteln [... ] MiB-
brauch mit der Haufigkeit der Eindriicke, der Abwechslung, der
Schallverstarkung, MiBbrauch mit den unbeschrankten Moglich-
keiten, dem Wunderbaren, mit jenen erstaunlichen Auslosemecha-
nismen, durch die ungeheure Wirkungen in die Hand eines Kindes
gegeben werden. Leben in dieser Zeit ist untrennbar mit solchem
MiBbrauch verbunden. Unser mehr und mehr immer neuen mecha-
nischen, physiologischen und chemischen Experimenten ausgesetz-
ter Organismus verhalt sich gegeniiber diesen Kraften und Rhyth-
men, die man ihm aufzwingt, etwa so wie gegeniiber einer heimtuk-
kischen Vergiftung. Er gewohnt sich an das Gift, verlangt es schlieB-
lich alsbald. Mit jedem Tag findet er die Dosis unzureichender« (I,
1067).
Auch die moderne Kunst hat sich der Schockwirkung und Betau-
bung ausgeliefert. Der Ursprung unserer okonomischen und politischen
»Krisen « ist der »Kapitalismus der Ideen und Kenntnisse und der
Arbeitswut«. Sie erzeugen enorme Ereignisse ohne Riicksicht auf die
menschliche Natur und deren langsame Anpassung an die Umgebung.
»Man kann sagen, daB al/es, was wir wissen, d.h. a/les, was wir
konnen, sich schlieBlich dem entgegensetzt, was wir sind« (I, 1064,
1139, 1433). Auch die »Freizeit« ist nichtmehr, wassiesein sollte und
einmal war.
352 Paul Valery
»Freier Raum und freie Zeit sind nur noch Erinnerungen. Die
freie Zeit, um die es sich handelt, ist nicht die Muise, wie man sie
gewohnlich versteht. Aulserlich gibt es noch die Muise, und als
solche wird sie sogar geschiitzt und allgemein gemacht durch gesetz-
liche Malsnahmen [...].Die Zahl der Arbeitstage und Stunden wird
durch Gesetz geregelt. Aber ich behaupte, dais die innere Muise
verlorengeht, die etwas ganz anderes ist als die zeitlich bemessene
Freizeit. Wir verlieren jene notwendige Ruhe [... ], jenes [... ] Abwe-
sendsein, wahrenddessen die Lebenselemente neue Kraft gewinnen,
wahrenddessen der Mensch sich in gewisser Weise von der Vergan-
genheit und Zukunft, vom gegenwartigen Bewulstsein, den aufge-
schobenen Verpflichtungen und versteckten Erwartungen frei
macht« (I, 1068 f.).
Ohne die Herrschaft der Mittel iiber den Zweck ist auch der moder-
ne Krieg nicht verstandlich. Ihre Anhaufung, Verschwendung und Ver-
geudung ist zu einer offentlichen und dauernden Notwendigkeit ge-
worden.
» Vielleicht kame ein geniigend entfernter Beobachter beim Blick
auf den Stand unserer Gesittung auf den Gedanken, der grolse Krieg
sei nichts anderes gewesen als eine verhangnisvolle, jedoch unmit-
telbare und unausweichliche Falge der Entwicklung unserer Tech-
nik. Die Ausdehnung, die Dauer, das alles Durchdringende, auch
das Entsetzliche dieses Krieges entsprachen der Grolsenordnung
unseres Vermogens, Krafte zu entbinden. Die Hilfsquellen und die
Industrien, die wir im Frieden erschlossen hatten, gaben ihm sein
Mais, und <lurch seine Grolsenordnungen war er von den Kriegen
friiherer Zeiten genau so verschieden, wie unsere technischen Mit-
tel, unsere materiellen Hilfsquellen, unser Oberfluls es erheischten.
Doch lag der Unterschied nicht nur im Quantitativen: in der stoffli-
chen Welt kann man ein Ding nicht vergrolsern, ohne dais nicht sehr
bald Quantitat in Qualitat umschliige [...].Der letzte Krieg kann
nicht als blolse Steigerung der Ausmalse der Zusammenstolse von
einst angesehen werden. Diese Kriege vergangener Zeiten gingen
schon lange vor der wirklichen Erschopfung der streitenden Volker
zu Ende. So etwa geben die guten Schachspieler auf den Verlust
einer einzigen Figur hin eine Partie auf. Das Drama wurde auf
Grund einer Art von Spielregeln zu Ende gefiihrt, und das Ereignis,
das die Ungleichheit der eingesetzten Krafte an den Tag brachte,
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 353
Die Einbildung, wir konnten alles, was wir aus freiem Entschlusse
wollen, auch tun, trifft nur solange zu, als wir nichts wollen (II, 954).
»Seit 92 habe ich meinem ,geistigen Leben< eine Orientierung
gegeben, indem ich mir die Fragen stellte: ,Was will ich?,, ,Was
354 Paul Valery
kann ich wollen?, und: ,Was vermag ich?, (diese Fragen bilden
zusammengenommen das Fundament MEINER Weisheit)« (23,
221).
Kann Freiheit iiberhaupt ohne Bezug au£ einen Zwang als Freiheit
empfunden werden? Und wie ist es moglich, sich selbst zu etwas zu
zwingen, worin die Moralitiit aller Moral besteht: nicht zu tun, was
einem gefallt und zu tun, was einem nicht gefiillt? (9, 711; II, 511,
958£.).
Und die politische Freiheit?
»Freiheit, eine Empfindung, die jeder auf seine Weise sucht. Der
eine im Alkohol, der andere in der Revolte, in einer »Philosophie«
der eine, ein anderer in der Selbstentmannung wie Origenes. In der
Askese, <lurch Opium, in der Wiiste, im Aufbruch allein mit einem
Segelboot, in einer Scheidung, im Kloster, <lurch Selbstmord, in der
Fremdenlegion, in Maskeraden, in der Liige [...]
Und wenn man wirklich am freiesten ist, d. h., wenn Bediirfnis
und Begierden sich mit dem, was man vermag, im Gleichgewicht
befinden, ist das Gefohl der Freiheit aufgehoben« (II, 960).
»Man nennt ein Land frei, in dem das, was das Gesetz auferlegt,
als das im lnteresse der grof5ten Zahl Liegende angenommen wird
[...]
So hart es sein mag, wenn es nur von der grof5ten Zahl ausgeht
oder diese glaubt, daf5 es von ihr ausgehe, die Voraussetzung ist
erfiillt: dieses Land ist ein freies Land. Es ist bemerkenswert, daf5
diese politische Freiheit aus dem Drang entstanden ist, die Freiheit
des Individuums in einem natiirlichen Recht begriindet sein zu
!assen, das jedem Menschen in dieser Welt zukommt.
Man wollte diesen der Willkiir eines einzelnen oder einiger
weniger entziehen, und es gab keine andere Losung, als ihn der
Willkiir der grof5en Zahl zu unterwerfen.
Ich kann daraus nur schlief5en, daf5 die politische Freiheit das
sicherste Mittel ist, die Menschen zu Sklaven zu machen, denn es
wird angenommen, daf5 der auferlegte Zwang dem Willen aller
entspricht, dem man kaum widersprechen kann, und diese Art von
Lasten und Oberforderungen <lurch eine anonyme, ganz abstrakte
und unpersonliche Autoritiit wirkt mit der kalten und unabwendba-
ren Macht eines mechanischen Vorgangs, der jedes individuelle
Leben von der Geburt bis zum T ode in ein nicht zu unterscheidendes
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 355
»( ... ]es gibt keinerlei Fortschritt, der sich nicht als vollkomme-
nere Abhiingigkeit auswirkt. Der Komfort legt uns in Fesseln. Die
Freiheit der Presse und die Macht der Mittel, iiber die sie verfiigt,
lassen uns untergehen im Liirm des Gedruckten, uns durchbohrt
werden von sensationellen Neuigkeiten. Die Reklame, eins der
groBten Obel dieser Zeit, beleidigt unseren Blick, verfiilscht alle
Benennungen, schiidigt die Landschaft, verdirbt alle Qualitiit und
jede Kritik ... und vermengt au£ den Seiten, die die Maschinen
ausspeien, alles, den Marder, das Opfer, den Helden, das hundert-
jiihrige Jubiliium und das leidende Kind.
Da ist noch die Tyrannei der Fahrpliine.
Das alles sieht es ab au£ das, was wir als denkende Wesen sind.
Bald werden streng abgeschlossene Kloster gebaut werden miissen,
in denen es weder Radio noch Zeitungen gibt und die das Nichtwis-
sen von aller Politik bewahren und pflegen. Geschwindigkeit, groBe
Zahl, Massenwirkungen, Oberraschungs-, Kontrast-, Wiederho-
lungseffekte, die Wirkung des Neuen und die Folgen der Leichtgliiu-
bigkeit fallen hier der Verachtung anheim. An bestimmten Tagen
wird man dorthin gehen, um durch das Gitter einige Exemplare von
freien Menschen zu betrachten« (II, 968 f.).
gen sind daher ausschlieBlich Regards sur le monde actuel, wie die
Sammlung dieser Essays heiBt. Sie sind zu erganzen durch die Essais
quasi Politiques (I, 971 ff.), deren friihester von 1897 unter dem Titel
,Une Conquete methodique,5 Deutschlands Aufstieg zu einer Welt-
macht analysiert und die weiterhin moglichen Konsequenzen der Ex-
pansionspolitik des deutschen Kaiserreichs vor Augen fiihrt. Was Vale-
ry daran vorziiglich interessierte, war die methodische Disziplin, die
diesen Aufstieg ermoglicht hat.
»Zuerst ist PreuBen methodisch geschaffen worden. Dann hat es
das heutige Deutschland geschaffen. Das System war zuerst poli-
tisch und militarisch. Nachdem es seinen Zweck erfiillt hatte, wurde
es ohne Schwierigkeit wirtschaftlich, rein durch Anwendung seiner
selbst. Das moderne Deutschland bewahrt und vertieft dieses Sy-
stem, dem es die Entstehung verdankt [...].Die Organisation des
militarischen Obergewichts ist das Werk des GroBen Generalstabs.
In der Schopfung dieses beriihmten Biiros enthiillt sich das glanz-
vollste Beispiel der Methodik. Sie sind eigentlich Siegesfabriken.
Dort findet man: die rationellste geistige Arbeitsteilung; die Auf-
merksamkeit von Spezialisten bestiindig auf die Veriinderung der
geringsten nutzbaren Umstiinde gerichtet; die Ausdehnung dieser
Forschung auf Gebiete, die den technischen Fachern zunachst
scheinbar fern liegen; die Ausweitung der Militarwissenschaft bis
zur groBen Politik und zur Wirtschaft - denn der Krieg wird auf
alien Gebieten gefiihrt« (I, 976 ff.).
In der Fortsetzung dieser Skizze heiBt es nach dem Ersten W eltkrieg:
»Die groBen Vorziige der Deutschen haben mehr Ungliick verschuldet
als je der MiiBiggang Laster gezeugt hat. Wir haben mit eigenen Augen
gesehen, wie die gewissenhafteste Arbeit, die griindlichste Bildung, die
ernsteste Zucht grauenvollen Zwecken dienen muBten. Sovie! Schreck-
liches ware nicht moglich gewesen ohne so vorziigliche Eigenschaften «
(I, 989).
Der Verachter der Historie wird selbst zum Geschichtskundigen,
wenn es um die Analyse der eigenen Welt und ihrer Tendenzen geht.
Dem Essay iiber Deutschland ist vielleicht nur noch Dostojewskijs
5 Eine deutsche Obersetzung erschien erstmals 1946 in der Schweiz. Vgl. auch
Valerys Souvenir actuel von 1938, II, 882, und Br. 88.
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 357
Die Frage, die sich seit dem ersten Weltkrieg fiir Valery stellt, ist:
wird Europa das werden, was es geographisch ist, ein kleines Vorgebir-
ge des asiatischen Kontinents; oder wird es bleiben, was es scheinbar
war, das Gehirn einer Welt?
»Trotz seiner geringen Ausdehnung, und obgleich der Reichtum
seines Bodens kein auBergewohnlicher ist, beherrscht es das Ge-
samtbild. Durch welches Wunder? Man lege in die eine Waagschale
Indien, in die andere England. Und siehe: die Schale mit dem kleine-
ren Gewicht sinkt! Welch erstaunliche Storung des Gleichgewichts!
Aber die weiteren Folgen sind noch erstaunlicher: sie /assen uns
Die moderne Wissenschaft und T echnik ist zwar aus der griechi-
schen Mathematik und Physik hervorgegangen, aber zu etwas ganz
anderem geworden, seitdem sie entdeckt hat, daB Wissen gleich Macht
ist.
»Das Wissen, das ein Eigenwert war, wird zum Tauschwert. Die
Niitzlichkeit des Wissens macht es zur EBware, die nicht mehr fiir
einige auserwiihlte Liebhaber, sondern fiir jedermann begehrens-
wert ist. Diese Ware[...] findet immer zahlreichere Abnehmer; sie
wird ein Handelsobjekt, kurz, etwas, das sich so ziemlich iiberall
nachahmen und erzeugen liilk Das Ergebnis: die Ungleichheit, die
zwischen den Gebieten der Erde in bezug auf mechanische Kiinste,
angewandte Wissenschaften, wissenschaftliche Mittel, fiir Krieg
oder Frieden bestanden hat - eine Ungleichheit, auf der Europas
Vorherrschaft beruhte -, wird nach und nach immer geringer.
Demnach veriindert sich die Rangordnung der bewohnten Gebiete
insofern, als van jetzt ab die statistischen Elemente, die zahlenmii{si-
gen W erte - Bevolkerung, Oberfliiche, Rohstoffe - schlie{slich al-
lein ausschlaggebend werden fur jene Einteilung der W eltzonen.
Ferner: Die Waage, die sich, obwohl wir scheinbar leichter wogen,
auf unsere Seite neigte, beginnt mit uns unmerklich zu steigen, als
hiitten wir torichterweise das geheimnisvolle Mehrgewicht, das bei
uns lag, in die andere Schale hiniibergleiten !assen. Durch unsere
Unbesonnenheit sind die Kriifte den Massen proportional gewor-
den« (I, 998).
Wenn sich Valery trotz seiner klaren Einsicht in den Verfall des
alten Europa als Europaer fiihlte und wuBte, so tat er es nicht zufolge
einer Anhanglichkeit an eine nationale und literarische Tradition, son-
dern auf Grund seiner angeborenen Zugehorigkeit zur mediterranen
Welt. Wir beschlielsen deshalb seine Kritik der Geschichte mit der
Dbersetzung eines Abschnitts der Inspirations Mediteraneennes
(1, 1091 ff.).
»Ganz gewils hat nichts mich mehr gebildet, mehr durchdrun-
gen [.. .] als jene den Studien entzogenen, dem Anschein nach
zerstreuten Stunden, die aber im Grunde dem unbewulsten Kult von
drei oder vier unbestreitbaren Gottheiten geweiht waren: dem
Meer, dem Himmel, der Sonne[ ...]. Ich sehe nicht, welches Buch,
welcher Autor solchen Zustanden der [.. .] Kontemplation und der
Kommunion, wie ich sie in meinen ersten Jahren erlebt habe, an
Wert gleichkommen [... ]. Wenn wir ohne einen bestimmten [... ]
Gedanken die reinen Elemente des Tages, die groBten und einfach-
sten Gegenstande, die in unsrer Existenzsphare an Einfachheit und
Empfindsamkeit machtigsten, anblicken und bei ihnen verweilen,
wenn wir mit der durch sie auferlegten Gewohnheit unbewulst jedes
Ereignis, jedes Wesen, jeden Ausdruck, jede Einzelheit auf die aller-
grolsten und bestandigsten sichtbaren Dinge beziehen, so formt uns,
[. . .] und fiihrt uns all dies besser als jede Lektiire, als die Dichter, als
die Philosophen dahin, dais wir ohne Miihe [... ]die wahre Propor-
tion unsrer Natur fiihlen, daB wir in uns ohne Schwierigkeit den
Kritik der Geschichte und der Geschichtsschreibung 361
das Augenlicht verlieren. Aber, im Ernst, haben Sie jemals iiber die
unmittelbare Bedeutung der Sonne nachgedacht? Ich rede hier nicht
von der Sonne der Astrophysik, von der der Astronomen, von der
Sonne als der wesentlichen wirkenden Kraft fiir das Leben auf dem
Planeten, sondem einfach als Sinneseindruck, als allem uberlegenes
Phiinomen, und von ihrer Wirkung auf die Bildung unserer Ideen.
Wir denken nie an die Wirkungen dieses ganz besonderen Himmels-
korpers [... ]Man stelle sich vor, welchen Eindruck die Gegenwart
dieses Gestims auf primitive Seelen ausiiben mu8te. Was wir sehen,
ist durch die Sonne zusammengefugt, und unter Gefuge verstehe ich
eine Ordnung sichtbarer Dinge und die langsame Transformation
dieser Ordnung, die den ganzen Tagesablauf ins Leben ruft: die
Sonne mu8te ja, als Herr der Schatten, zugleich Tei! und Moment,
als blendender Tei! und immer beherrschendes Moment der Him-
melssphiire den ersten Reflexionen der Menschheit das Modell
einer transzendenten Macht [. .. ] auferlegen. Obrigens hat dieser
Gegenstand ohne Gleichen, der sich in seinem unertriiglichen Glanz
verbirgt, in den Grundideen der Wissenschaft in gleicher Weise eine
evidente und fiihrende Rolle gespielt. Die Betrachtung der durch sie
projizierten Schatten hat einer ganzen Geometrie, der sogenannten
projektiven, zur wichtigsten Beobachtung dienen miissen. Zweifel-
los ware man unter einem dauemd verhiingten Himmel nicht darauf
verfallen; ebensowenig wie man die Zeitmessung hiitte erfinden
konnen, die ebenfalls eine urspriingliche Eroberung war und zuerst
durch die Verschiebung des Schattens eines Griffels praktiziert wur-
de. Und es gibt kein altertiimlicheres und ehrwiirdigeres physikali-
sches Instrument als die Pyramide oder den Obelisken, riesenhafte
Sonnenuhren, Monumente von zugleich religiosem, wissenschaftli-
chem und sozialem Charakter.
Die Sonne bringt also die Idee einer allesbeherrschenden All-
macht, einer Ordnung und allgemeinen Einheit der Natur hervor.
Wir sehen, wie die Reinheit des Himmels, die klare Linie des
Horizonts, die vomehme Anordnung der Kiisten, nicht blo8 allge-
meine Bedingungen fiir die Anziehung des Lebens und die Entwick-
lung der Zivilisation sein konnen, sie sind auch die elementaren
Erreger jener besonderen intellektuellen Sensibilitiit, die sich kaum
vom Denken unterscheidet.
Ich komme nunmehr zu meiner Hauptidee, die alles, was ich
gesagt habe, zusammenfassen soil und fiir mich selber die Schlu8fol-
364 Paul Valery
spriingen, hier hat die Literatur sich klar differenziert [... ] und hier
hat schliemich die Philosophie nahezu alle moglichen Wege ver-
sucht, um das Universum und sich selber zu betrachten.«
V Menschenwerk und Naturgebilde
Und schlieB!ich fragt sich Valery in Mon Faust, ob es nur zwei Arten
der Herstellung bzw. des Hervorbringens gebe: von Natur aus, oder
durch menschliche Kunst.
[Wir legen die Obersetzung von E. Hardt zugrunde, die 193 7 in der
Europaischen Revue, H. 13, und dann nochmals im Merkur, 1947,
H. 2, erschienen ist. Sie wurde von uns anhand des franzosischen
Textes revidiert].
Gabe es eine Dichtkunst iiber die Wunder des Verstandes und seine
Erschiitterungen (ich habe mein Lebtag dariiber nachgesonnen), so
konnte kein Vorwurf sie mit reizvolleren Verheilsungen locken und
entziicken als die Schilderung eines Geistes, welcher bis in seine Tiefen
vom Anblick irgendeiner jener absonderlichen Naturformen erregt
wurde, die man hie und da zwischen den vielen uns umgebenden
Dingen von gleichgiiltiger Zufallsgestalt beobachten kann (oder die
vielmehr erzwingen, dais man sie beobachtet).
Wie von Gerauschen ein reiner Ton oder ein melodisches Gefiige
reiner Tone, ganz so sondert sich von den gewohnlich ohne Regel
gefiigten Gestalten der wahrnehmbaren Dinge rings um uns ein Kristall
ab, eine Blume oder eine Muschel. Verglichen mit all jenen anderen
Gegenstanden, welche unser Auge nur undeutlich begreift, scheinen sie
Menschenwerk und Naturgebilde 369
uns bevorzugt zu sein: verstandlicher fiir das Sehen, wenn auch geheim-
nisvoller fiir das Denken. Sie rufen in uns, seltsam verbunden, die
Vorstellungen von Ordnung und Willkiir wach, von Erfindung und
Notwendigkeit, von Gesetz und Ausnahme, und zugleich erspiiren wir
in ihren Gestalten den Anschein einer Absicht und den Anschein eines
Tuns, die sie geformt haben konnten, ungefahr wie Menschen es ver-
mochten; nichtsdestoweniger entdecken wir in ihnen aber auch die
Gewigheit von Verfahren, die uns versagt sind, und die wir nicht zu
entratseln vermogen. Wir konnten diese absonderlichen Formen nach-
machen, unsere Hande konnen ein Prisma schneiden, eine kiinstliche
Blume kleben, eine Muschel formen oder drehen, wir konnen sogar
durch eine Formel die Eigenschaften ihres Gleichmages ausdriicken
oder sie ziemlich genau durch eine geometrische Konstruktion darstel-
len. Bis dahin konnen wir der »Natur« borgen, ihr Absichten, eine
Mathematik, einen Geschmack, eine Einbildungskraft unterschieben,
die nicht unendlich verschieden von den unseren sind; aber, siehe da,
nachdem wir ihr alles Menschliche zugestanden haben, <lessen es be-
darf, um dem Mensch en verstandlich zu sein, offebart sie uns ihrerseits,
was es an Nichtmenschlichem bedarf, um uns zu verwirren. Wir begrei-
fen den Aufbau dieser Gegenstande, und dadurch reizen und fesseln sie
uns; wir begreifen nicht ihre Ausbi/dung, und dadurch treiben sie uns in
die Enge. Obwohl wir selbst au£ dem Wege unmerklichen Wachstums
gemacht oder gebildet sind, vermogen wir auf diesem Wege nichts
hervorzubringen.
Dies Muschelgehause, das ich in meinen Fingern halte und drehe,
zeigt mir eine aus den einfachen Themen der Schraubenwindung und
der Spirale zusammengesetzte Formentwicklung, zugleich aber drangt
es mich in ein groges Staunen und Aufmerken; beide bewirken, was sie
konnen: ganz augerJiche Wahrnehmungen und Feststellungen, kindli-
che Fragen, »dichterische« Vergleiche und Ansatze zu torichten Theo-
rien. Aber ich spiire schon, wie mein Geist den ganzen, noch verborge-
nen Schatz der Antworten verschwommen vorausahnt, die - vor einem
Dinge, das mich gefangennimmt und befragt - tief in mir aufzudam-
mern beginnen.
Ich versuche mich zuniichst darin, mir dieses Ding zu beschreiben.
Sein Anblick suggeriert mir die Bewegung, die wir beim Drehen einer
Papiertiite machen. Wir bringen auf diese Art einen Kegel zustande, auf
dem der eine Papierrand eine Erhohung bildet, welche, der Spitze des
Kegels zustrebend, dort nach einigen Windungen erlischt. Die minerali-
370 Paul Valery
sche Muscheltiite jedoch ist nicht aus einem einfachen Blatt, sondern
aus einer Rohre gebildet. Mit einer solchen, an dem einen ihrer beiden
Enden geschlossenen und als weich angenommenen Rohre kann ich
nicht nur ziemlich gut das Wesentliche der Form eines Muschelgehiiu-
ses nachmachen, sondern dariiber hinaus noch deren eine Menge ande-
rer darstellen, von denen die einen, gleich dem von mir untersuchten
Gehiiuse, in einer Kegelform einbeschrieben sein werden, wiihrend die
anderen entstehen, indem ich den Gewindegang des Kegels einenge, so
daB das Gehiiuse sich schliemich zusammenrollt und wie eine Uhrfeder
lagern wird.
Zu einer Art ersten Anniiherung an die betrachtete Form geniigen
also die Vorstellungen einerseits einer Rohre und andererseits einer
Drehung.
Diese Einfachheit hat jedoch nur etwas Grundsiitzliches. Wenn ich
eine ganze Muschelsammlung durchsehe, stoBe ich auf eine wunderba-
re Mannigfaltigkeit. Die Kegelform streckt sich oder flacht sich ab,
schniirt sich zusammen oder dehnt sich aus, die Spiralen schwellen oder
schmelzen, die bisweilen ziemlich lang sind und wie Strahlen schieBen.
Manchmal quillt die Oberflache oder blast gereihte Knotchen empor;
zwischen ihnen wogen Einschniirungen oder Buchtungen, auf welchen
die Gleise der Windungen nahe aneinander riicken. In den harten Stoff
gegraben, ziehen die Rillen, Falten und Streifen dahin und behaupten
sich, wiihrend, auf die Mutterfliichen gereiht, die Vorspriinge, Dornen
und Buckel sich stufen, einander Windung fur Windung entsprechen
und die umlaufenden Rampen in gleichen Abstiinden zerteilen. Der
Wechsel dieser » Verzierungen« verwischt nicht den steten Ablauf der
Hauptwendung der Form, sondern zeichnet ihn aus. Die wechselnde
Anmut verdirbt nicht, sondern bereichert das Grundmotiv der sich
voranschraubenden Spirale.
Immer sich selber gehorchend, immer tiefer sich in ihrem einzigen
Gesetz bestiitigend, beutet diese !dee des periodischen Vorandriingens
die ganze abstrakte Fruchtbarkeit jenes niemals von ihr geiinderten
Grundmotivs aus und zeigt seine sinnliche Verfiihrungskraft. Sie iiber-
wiiltigt den Blick und reiBt ihn in einen seltsam geregelten Taumel.
Ohne Zweifel wiirde ein Mathematiker dieses System aus » linksgewun-
denen « Linien und Fliichen leicht lesen und mit wenigen Zeichen durch
irgendwelche Beziehungen irgendwelcher GroBen ausdriicken konnen,
denn es ist das Eigentiimliche des Verstandes, mit dem Unendlichen ein
Ende zu machen und eine Wiederholung auszuschalten. Aber die ge-
Menschenwerk und Naturgebilde 371
gen sie, die ganze Schale, Scherbe fiir Scherbe, im Geiste wieder zu
erschaffen; sie fordern ein Ganzes ...
Alie diese Beobachtungen tragen dazu bei, mich zu dem Gedanken
zu verleiten, daB die Anfertigung einer Muschel moglich sein muB, und
daB sie sich in nichts von der derjenigen Gegenstiinde unterscheiden
wiirde, die ich mit meinen Hiinden zu schaffen vermag, wenn ich in
irgendeinem geeigneten Stoff durch ihr Tun einem in meinem Geiste
fertig vorhandenen Plan folge und ihn hintereinander, Tei! fiir Tei!,
ausfiihre. Die Einheit und Vollstiindigkeit der Muschelform zwingt mir
die Vorstellung einer leitenden Idee auf, die vollig vom Werke selbst
getrennt ist, sich unversehrt bewahrt, dariiber wacht und herrscht,
wiihrend sie sich andererseits durch meine nacheinander angewandten
Handgriffe verwirklicht. Ich teile mich, um zu schaffen.
Irgend jemand hat diesen Gegenstand also gemacht. Aber woraus
undwarum?
Wenn ich mich aber nun darauf einlasse, einen gleichen Gegenstand
modellieren oder meiBeln zu wollen, so bin ich zuniichst gezwungen,
nach einem geeigneten Stoff Umschau zu halten, der sich behauen oder
durch Druck formen liiBt. Und schon habe ich die »Qual der Wahl«! Ich
kann an Erz denken, an Ton, an Stein, das Endergebnis meiner Arbeit
wird, was die Form angeht, vom gewiihlten Stoffe unabhiingig sein. Ich
verlange von diesem Stoff nur »ausreichende«, nicht unbedingt »not-
wendige« Eigenschaften. Ja, nach der gewiihlten Materie werden meine
Arbeitsweisen ohne Zweifel verschieden sein miissen, aber schlieB!ich
werden sie, trotz ihrer Verschiedenheit, welchem auch immer gewiihl-
ten Stoffe die gleiche gewollte Gestalt abgewinnen: durch die Materie
bieten sich mir also verschiedene Wege, von meiner Idee zu ihrem
Abbild zu gelangen.
Obrigens vermag ich mir eine Materie weder mit solcher Genauig-
keit vorzustellen, noch die von ihr verlangten Eigenschaften so genau zu
beschreiben, daB ich im allgemeinen durch bloBes Inbetrachtziehen der
Form in meiner Wahl vollig bestimmt werden konnte.
Mehr noch: da ich beziiglich der Materie zogern kann, kann ich es
auch iiber die meinem Werke zu gebenden AusmaBe. Ich erkenne
zwischen der Form und ihrer GroBe keine notwendige Abhiingigkeit.
lch vermag keine Form zu erdenken, die ich mir nicht auch groBer oder
kleiner vorstellen konnte, so als ob die !dee einer bestimmten Gestalt
von meinem Geist eine unbekannte Fu/le ahnlicher Gestalten forderte.
Ich habe also die Form vom Stoff und beide von der GroBe trennen
376 Paul Valery
unternimmt, ins Gleichgewicht setzen und ihn selber aus einem Zustan-
de, in dem er noch frei und fur jeglichen Plan verfiigbar war, eigens fiir
ein besonderes und ausschlielsliches Tun befiihigen. Zurn Tun gereizt,
mindert sich jene Freiheit und verleugnet sich selbst, und der Mensch
begibt sich fiir eine Weile unter einen Zwang, um dessen Preis er den
Stempel der in seinem Geiste entstandenen Formbegierde irgendeiner
»Wirklichkeit« aufpriigen kann.
Alles in allem genommen vollzieht sich jedes wirklich menschliche
und dem Menschen vorbehalterte Hervorbringen durch aufeinander
folgende, deutlich getrennte, in sich geschlossene und aufziihlbare Ar-
beitsgriffe. Aber bis zu diesem Punktiihneln uns viele Ti ere, welche W aben
oder Nester bauen. Das allein dem Menschen eigentiimliche Werk wird
kenntlich, wenn jene unterschiedlichen und unabhiingigen Verrichtun-
gen unbedingt seine denkende Gegenwiirtigkeit erfordern, damit ihre
Mannigfaltigkeit hervorgebracht und dem Ziele untergeordnet werde.
Der Mensch niihrt in sich die Dauer des Vorbildes und die Dauer des
Willens. Wir wissen nur allzu gut, wie schwankend und miihselig diese
Gegenwiirtigkeit ist, wie schnell die Dauer absinkt, wie leicht unsere
Spannung sich lockert und welch vollig anderer Natur das ist, was die
Kriifte unserer unwillkiirlichen Funktionen anstachelt, zusammenhiilt,
erfrischt und wiederbelebt: deshalb scheinen unsere uberlegten Vorsiitze
und unsere gewollten Bau ten oder Erzeugnisse recht wenig mit unserer
inneren organischen Tiitigkeit zu tun zu haben (I, 895 f.).
kh konnte also eine der betrachteten ziemlich iihnliche Muschel, so
wie der unmittelbare Augenschein sie mir zeigt, anfertigen, und zwar
konnte ich sie nur durch jenes von mir beschriebene, zusammengesetzte
und durchgehaltene Verfahren zustande bringen. kh konnte den Stoff
und den Augenblick des Beginns wiihlen. lch konnte mir Zeit !assen, die
Arbeit unterbrechen und sie wieder aufnehmen, denn nichts driingt
mich: mein Leben ist von dem Ergebnis nicht abhiingig, es Iii/st sich auf
das Ganze gewissermalsen nur nebenbei und unter steter Aufgabebe-
reitschaft ein, ja, wenn es sich iiberhaupt an einen seinen eigenen
Notwendigkeiten so fernliegenden Gegenstand verschwenden kann, so
doch nur, weil ihm freisteht, es auch zu unterlassen. Fiir meine Arbeit ist
mein Leben unentbehrlich, nicht aber diese fur mein Leben.
Alles in allem: in den von mir aufgezeigten Grenzen habe ich den
Gegenstand begriffen. kh habe ihn mir durch die Zusammengesetztheit
eines Tuns erkliirt, das mein ist, und dergestalt habe ich mein Problem
erschopft: jeder Versuch, dariiber hinauszugehen, wiirde das Problem
378 Paul Valery
wesentlich andern und mich verleiten, von der Erkliirung der Muschel
in eine Erkliirung meiner selbst hiniiberzugleiten.
Folglich kann ich bis jetzt noch immer annehmen, da/5 diese Mu-
schel das Werk eines Menschen ist.
Gleichwohl fehlt mir ein Element, das jeglichem Menschenwerk
eigen ist. Ich vermag den Nutzen dieses Gegenstandes nicht zu erken-
nen: er ruft in mir keine Vorstellung irgendeines Bediirfnisses wach,
dem er Geniige tiite. Er hat meine Neugierde erweckt, er ergotzt mein
Auge und meine Finger, ich verliere mich in seinem Anblick, wie ich
einer Melodie lauschen wiirde, aber, mir selber unbewuBt, ist er den-
noch dem Vergessen geweiht, denn was uns zu nichts niitze ist, verlieren
wir zerstreut aus unseren Gedanken (... ]. Auf die in meinem Geiste
auftauchende Frage: W arum wurde dieser Gegenstand gemacht? finde
ich nur eine einzige Antwort. lch sage mir niimlich, wozu ist denn das
niitze, was Kiinstler hervorbringen? Was sie erschaffen, ist von beson-
derer Art: nichts erfordert es, nichts Lebenswichtiges schreibt es vor. Es
entspringt keinerlei Notwendigkeit, die es sonst voll und ganz bestim-
men wiirde, abernoch weniger kann man es dem »Zufall« zuschreiben.
Bis hierher habe ich die wirkliche Entstehung der Muscheln nicht
kennen wollen und habe bei dem Versuch, mich eng an dieses kiinstli-
che Nichtwissen zu klammern, allerlei Sinn oder allerlei Unsinn hervor-
gebracht.
Das hieB, den Philosophen nachahmen und sich abmiihen, iiber den
wohlbekannten Ursprung einer ausgezeichnet erkliirten Sache ebenso-
wenig zu wissen, wie vom Ursprung der »Welt« oder von der Entste-
hung des »Lebens«. Besteht schlie81ich nicht alle Philosophie darin: so
zu tun, als ob sie das nicht wisse, was man bestimmt weiB, hingegen
aber genau das wisse, was man bestimmt nicht weiB? Sie zweifelt am
Dasein, redet aber ganz ernsthaft vom »Universum« (. ..}.
Wenn ich mich nur allzu lange beim Tun eines Menschen aufgehal-
ten habe, der sich unterfangen wollte, eine Muschel zu machen, so tat
ich es, weil man meiner Meinung nach niemals eine sich bietende
Gelegenheit voriibergehen !assen sollte, mit einiger Genauigkeit unsere
Art des Herstellens mit der Arbeit dessen zu vergleichen, was man
Natur nennt. Natur, das hei{.k die Zeugende oder die Hervorbringen-
de. 1hr iiberlassen wir hervorzubringen, was wir selbst nicht zu machen
verstehen, was uns aber dennoch gemacht erscheint. Es gibt indessen
gewisse besondere Fiille, in denen wir mit ihr in Wettbewerb treten und
auf den uns eigentiimlichen Wegen erreichen konnen, was sie auf ihre
Menschenwerk und Naturgebilde 379
Weise erreicht. Wir verstehen es, schwere Korper zum Fliegen oder zum
Schwimmen zu bringen, und einige »organische« Molekiile aufzu-
bauen.
Alles iibrige, alles, was wir weder dem denkenden Menschen, noch
jener zeugenden Kraft zuweisen konnen, schreiben wir dem »Zufall« zu
- welcher eine vortreffliche Worterfindung ist. Es ist in der Tat sehr
bequem, iiber einen Namen zu verfiigen, der auszudriicken erlaubt, da8
ein (durch sich selbst oder durch seine unmittelbaren Wirkungen) auf-
falliges Ding genau wie jedes andere herbeigefiihrt wurde, das nicht
auffallt. Aber behaupten, ein Ding sei auffallig, hei8t einen Menschen
einfiihren, einen Jemand, der dafiir besonders empfindlich ist; er allein
triigt denn auch alles Auffallige in unsere Angelegenheit. Wenn ich kein
Lotterielos habe, was macht es mir dann aus, da8 diese oder jene
Gewinnummer aus dem Rade gezogen wird? kh bin auf dieses Ereignis
»gefiihlsmii8ig« nicht eingestellt. Fiir mich gibt es keinen Zufall in der
Ziehung, keinen Gegensatz zwischen dem einformigen Modus des Her-
ausziehens der Lose und der Ungleichheit der Folgen. Denkt man den
Menschen und seine Erwartung fort, so stromt alles unterschiedslos
herbei, Muschel oder Kiesel; der Zufall aber schafft nichts auf der Welt,
au8er da8 er sich bemerkbar macht [... ].
Aber es wird Zeit, da8 ich die Verstellungskiinste aufgebe und zur
Gewi8heit zuriickkehre, das heiBt: auf den Boden der allgemeinen
Erfahrung.
Eine Muschel scheidet aus einer Molluske aus. Ausscheiden scheint
mir der einzige der Wahrheit ziemlich nahe kommende Ausdruck zu
sein, denn er bedeutet genau: aussickern /assen. Eine Grotte scheidet
ihre Stalaktiten aus, eine Molluske ihre Muschel. Ober den elementaren
Vorgang dieses Ausscheidens erziihlen uns die Gelehrten eine Menge
Dinge, die sie im Mikroskop beobachtet haben. Sie fiigen ihnen eine
Menge anderer hinzu, von denen ich aber nicht glaube, da8 sie sie
gesehen haben: unfaBlich die einen, obwohl sich ausgezeichnet iiber sie
reden lii8t, andere wiirden zu ihrer Beobachtung einige hundert Millio-
nen Jahre erfordern, denn mit weniger kommt man nicht aus, um, was
man will, in was man will umzuschaffen. Wieder andere mii8ten schon
einer Reihe iiu8erst gliicklicher Umstiinde begegnet sein [...].
Das ist, was der Wissenschaft zufolge das Wdichtier braucht, um
den reizvollen, mich fesselnden Gegenstand so kunstvoll zu drehen.
Man sagt, da8 dieses Weichtier, der Gestalter der Muschel, von den
Keimzellen an eine sonderbare Beschriinkung in seiner Entwicklung
380 Paul Valery
erfahren hat: eine ganze Hiilfte seines Organismus ist verkiimmert. Bei
den meisten wurde die rechte Hiilfte (bei den iibrigen die linke) aufgege-
ben. Wiihrend die linksseitige innere Masse (bei den iibrigen die rechte)
sich zum Halbkreis gekriimmt und dann gedreht hat, hat das Nervenge-
flecht, dessen urspriingliche Absicht es gewesen, sich zu zwei parallel
verlaufenden Netzen zu entwickeln, sich seltsam gekreuzt und seine
Hauptnervenknoten vertauscht. Nach den Aul5enfliichen hin wird die
Muschel ausgesintert und festigt sich [... ].
Man hat mehr als eine Mutmal5ung dariiber aufgestellt, was die
einen Mollusken dazu treibt (aber nicht bestimmte andere, die ihnen
sehr iihnlich sind), diese absonderliche Vorliebe fiir die eine Seite ihres
Organismus zu entwickeln, und - wie bei Vermutungen eben unver-
meidlich - ist das, was man vermutet, aus dem gefolgert, was man gern
vermuten mochte: die Frage ist menschlich, die Antwort allzu mensch-
lich. Darin beruht die ganze Triebkraft unseres beriihmten Kausalitiits-
prinzips. Es verleitet uns, zu erfinden, das heil5t, in unsere Lucken
unsere Kombinationen zu schieben. Aber die grol5ten und wertvollsten
Entdeckungen brechen meist ganz unerwartet herein: sie zertriimmern
weit ofter unsere liebsten Gedankenschopfungen, als dais sie sie bestiiti-
gen, sie bestehen in noch vollig unmenschlichen Tatsachen, welche
keine Einbildungskraft hiitte vorausahnen konnen.
Was mich selbst anbetrifft, so gebe ich gern zu, das nicht zu wissen,
was ich nicht weiB, und daB alles wahre Wissen im Sehen und Konnen
beschlossen ist. 1st eine Hypothese verlockend und eine Theorie schon,
so freue ich mich an ihnen, ohne dabei an die W ahrheit zu denken.
Wenn man also die bisweilen kindlichen und oft nur in Worten
bestehenden Erfindungen unseres Verstandes hintan setzt, so sind wir
gezwungen, anzuerkennen, daB unsere Kenntnis des Lebens gegeniiber
unserer Kenntnis der anorganischen Welt unbedeutend ist. Das heil5t
eingestehen, dal5 unsere Macht iiber diese unvergleichlich viel groBer ist
als iiber jenes, denn ich sehe kein anderes Mal5 fiir eine Kenntnis als die
wirkliche Macht, die sie verleiht. Ich verstehe nur, was ich zu machen
verstehe. Andererseits ist es sonderbar und einiger Beachtung wert, daB
wir, ungeachtet so vieler Arbeiten und Mittel von ganz wunderbarer
Scharfsinnigkeit, noch wenig iiber die lebende Natur vermogen, welche
doch unsere eigene Natur ist. Bei niiherem Zusehen wird man ohne
Zweifel entdecken, dal5 alles, was auf Erden geboren wird, sich ver-
mehrt und stirbt, deshalb unserem Geiste Trotz bietet, weil er in seiner
Vorstellung der Dinge schroff durch das Bewul5tsein begrenzt ist, das er
Menschenwerk und Naturgebilde 381
von seinen Mitteln zu einem Wirken nach auf!en besitzt, und von der
Art, in der dieses Wirken von ihm ausgeht, ohne daf! er dessen Mecha-
nismus zu kennen brauchte.
Die Grundform dieses Wickens ist, meinem Gefiihl nach, das einzige
Vorbild, das wir iiberhaupt besitzen, um eine Erscheinung in vermeint-
liche und willkiirliche Vorgiinge zu zerlegen, die es uns schlieBlich
moglich machen, irgendwelches Endergebnis nach unserem Gefallen
entweder wieder hervorzubringen oder anniihemd richtig vorauszube-
rechnen. Alles, was sich von dieser Grundform allzu sehr entfemt,
weigert sich unserem Verstand (was sich recht gut an der jiingsten
Physik erkennen liiBt). Sobald wir die Schranken mit Gewalt zu nehmen
versuchen, vervielfachen sich sofort die Widerspriiche, die Illusion der
Sprache und die gefiihlsmiiBigen Fiilschungen, und es kommt vor, daB
solche mythischen Erzeugnisse die Geister lange beschiiftigen und sogar
bezaubem.
Das kleine Muschelproblem geniigt vollkommen, alles dieses recht
gut zu erliiutem und unsere Grenzen zu beleuchten. Da der Mensch
nicht der Urheber dieses Dinges ist und der Zufall nicht dafiir verant-
wortlich gemacht werden kann, gilt es etwas zu erfinden, was wir die
lebende Natur genannt haben. Wir konnen sie kaum anders als durch
den Unterschied von ihrer Arbeit mit der unseren erkliiren. Damm babe
ich diese etwas genauer beschreiben miissen. Ich babe gesagt, daB wir
unsere Werke, von verschiedenen Freiheiten ausgehend, beginnen: wir
sind mehr oder weniger frei in der Wahl des Stoffes, frei in der Wahl der
Gestalt, und frei, was die Zeit angeht, lauter Dinge, die dem Weichtier
verwehrt zu sein scheinen - einem Wesen, das nichts als seine Aufgabe
kennt, mit welcher sein Dasein sogar verschmilzt. Sein Werk, das keine
Sinnesiinderungen, keine Vorbehalte, keine Uberarbeitungen kennt, ist,
so eigenwillig phantastisch es uns auch erscheinen mag (derart, daB wir
ihm sogar einige Motive unserer Omamente entlehnen), eine unbe-
grenzt oft wiederholte Phantastik: es bleibt uns sogar unfaBlich, daB
einige Eigenbrotler unter den BauchfiiBlem links herum nehmen, was
die anderen rechts herum tun. Noch weniger begreifen wir, was bei
manchen diese wunderlichen Verschlingungen zu bedeuten haben oder
die Dornen und Farbflecke. Ihnen schreiben wir von ungefiihr irgendei-
ne uns bekannte Niitzlichkeit zu, ohne dabei zu bedenken, daB unsere
Vorstellung vom Nutzlichen auf!erhalb des Menschen und seiner klei-
nen Verstandessphare uberhaupt keinen Sinn hat. Alie diese Absonder-
lichkeiten steigern unsere Verlegenheit, denn eine Maschine macht
382 Paul Valery
hielse. Wir konnen uns niimlich kein Fortschreiten vorstellen, das lang-
sam genug ware, um ein wahrnehmbares Ergebnis einer stets unwahr-
nehmbaren Veriinderung herbeizufuhren - wir, die wir nicht einmal
unser eigenes Wachstum bemerken. Wir konnen uns vom Prozels des
Lebens eine Vorstellung nur bilden, indem wir ihn in ein Verhalten
kleiden, das von uns abgenommen ist, aber rein gar nichts mit dem zu
tun hat, was in dem beobachteten Geschopf vor sich geht.
Es ist im Gegenteil sehr wahrscheinlich, dais sich mit dem fortschrei-
tenden Wachstum des Weichtiers und seiner Muschel, gemiils dem
unwiderstehlichen Thema der geschraubten Spirale, alle jene Bestand-
teile einheitlich und untrennbar zusammenfiigen, welche die nicht we-
niger unwiderstehliche Form des menschlichen Wickens uns voneinan-
der geschieden zu betrachten und zu erkliiren gelehrt hat: die Kriifte, die
Zeit, den Stoff, die Zusammenhiinge und die verschiedenen »Grolsen-
ordnungen«, zwischen denen zu unterscheiden unsere Sinne uns aufer-
legen. Das Leben flutet zwischen dem Molekiil und der Zelle und
zwischen der Zelle und der wahrnehmbaren Masse hin und her, ohne
au£ die Einteilungen unserer Wissenschaften Riicksicht zu nehmen -
das heilst, auf die Mittel und Wege unseres Wirkens.
Das Leben schafft sich ohne jede Anstrengung ein recht ausreichend
»verallgemeinertes « Bezugssystem.
Es trennt seine Geometrie nicht von seiner Physik und gibt jeder Art
die fiir sie notwendigen Axiome und mehr oder weniger »differentiellen
lnvarianten« mit auf den Weg, um in jedem Einzelwesen einen gerade
ausreichenden Einklang zu unterhalten: zwischen dem, was es selber ist
und dem, was es sonst gibt ...
Es ist offenbar, dais die ziemlich verborgene, au£ Asymmetrie und
Drehung eingeschworene Personlichkeit, welche sich eine Muschel
schafft, seit langem den abgottischen Postulaten Euklids untreu gewor-
den ist. Euklid glaubte, dais sein Stock unter alien Umstiinden seine
Liinge behielte, dais man ihn bis an den Mond werfen oder um seine
Mitte wirbeln konne, ohne dais die Entfernung, die Bewegung oder der
Wechsel seiner Lage im Raum je sein gutes Gewissen einer stets fehlerlo-
sen Malsgleichheit sroren konnte. Euklid arbeitete auf einem Papyros,
auf den er Figuren zeichnen konnte, die ihm gleich schienen, und er
erfalste fiir das Grolserwerden seiner Dreiecke kein anderes Hindernis,
als die Ausdehnung seines Blattes. Er war weit davon entfernt (um
zwanzig Lichtjahrhunderte), sich vorzustellen, dais eines schonen Tages
ein gewisser Herr Einstein einen Tintenfisch entwerfen wiirde, zum
Menschenwerk und Naturgebilde 385
Werken, und nur einer besonderen, vom Ganzen ihres Wesens trennba-
ren Anwendung ihres Geistes verdanken sie das Vorbild der erstrebten
Form. Vielleicht ist das, was wir Vollkommenheit in der Kunst nennen
(nach der nicht alle trachten und die manch einer miBachtet), nichts
an deres als das Gefuhl, in einem menschlichen Werk jene Sicherheit der
Ausfuhrung, jene Notwendigkeit inneren Ursprungs und jene gegensei-
tige unlosliche Verbundenheit zwischen Gestalt und Stoff ersehnt oder
gefunden zu haben, welche uns die geringste Muschel vor Augen fiihrt
(I, 904; 29, 875).
Aber unser Weichtier beschrankt sich nicht nur darauf, seine herrli-
che Schale nach MaB hervorzusintern. Es gilt den Mantel, der aufbaut,
was dauert, mit Kraft und mit stets erneuerten Mineralen zu versorgen,
also aus den auBeren Quellen zu schopfen, was in Zukunft vielleicht
einmal Tei! der Grundlage eines Kontinentes werden konnte. Das Tier
muB daher bisweilen seine geheime, kunstreiche Ausscheidung verlas-
sen und sich in den fremden Raum hinauswagen, seine Wohnung,
seinen Schlupfwinkel, seine Festung, sein Meisterwerk wie seine Tiara
oder wie einen gewaltigen Turban iiber sich tragend. Im gleichen Au-
genblick ist es einer vollig anderen Ordnung von Umstanden ausgesetzt.
In dieser Beziehung fiihlen wir uns wohl versucht, ihm ein Genie ersten
Ranges zuzuschreiben, denn je nachdem, ob es sich mit sich selber
einschlieBt und in zusammengefaBter, emsiger Abwesenheit sich der
Koordination der Tatigkeiten seines Mantels weiht, oder ob es, in die
weite Welt sich hinauswagend, sie mit tastenden Augen und priifenden
Tastern erforscht, wahrend sein zum Fundament ausgebildeter FuP au£
seinem breiten zahen Sattel die Heimstatt und das Schicksal des maje-
statischen Wanderers im Gleichgewicht halt und tragt - das Tier ist
zwei vollig verschiedenen Arten von Feststellungen ausgesetzt. Wie soil
man au£ ein und derselben Tafel die Prinzipien und Gesetze, die zwei
BewuBtseinsformen, die zwei Raumformen, die zwei Zeiten, die zwei
Geometrien und die zwei Mechaniken einzeichnen, welche jene beiden
Daseins- und Erfahrungswelten der Wahrnehmung des Tieres abwech-
selnd aufdrangen. Wenn es ganz bei sich ist, kann es seinen Spiralbogen
gem fur seine »Gerade« nehmen, ebenso natiirlich iibrigens wie wir fur
die unsere einen kleinen Meridianbogen oder irgendeinen Lichtstrahl
wahlen, wobei wir unbeachtet !assen, daB seine Bahn relativ ist. Und
vielleicht miBt das Weichtier seine besondere Zeit durch den Reiz des
Ausscheidens und Einfugens eines kleinen Kalkprismas. Aber, von
seinem Lager aufgebrochen und in sein auBeres Leben sich wagend,
Menschenwerk und Naturgebilde 387
Jeder Mensch bedient sich seiner Hiinde. Es ist aber nicht bedeutungs-
voll, daB seit dem 12. Jahrhundert der Terminus Handwerk in dem
MaBe spezialisiert ist, daB er nur noch die Arbeit einer urns Heilen
bemiihten Hand bezeichnet?
Was tut die Hand aber nicht alles? Als ich im Hinblick auf den
gegenwiirtigen AnlaB ein wenig iiber die Chirurgie nachdenken muBte,
habe ich mich liinger beim Nachsinnen iiber dieses auBerordentliche
Organ aufgehalten, in dem fast alle Macht der Menschheit liegt und
durch welches sich diese so merkwiirdig der Natur, von der sie doch
herriihrt, entgegenstellt. Hiinde sind vonnoten, um bald hier bald da
dem Lauf der Dinge entgegenzuwirken, um die Korper zu veriindern,
um sie zu zwingen, sich unsern hochst willkiirlichen Absichten anzu-
passen. Hiinde sind vonnoten, nicht nur um auch nur die einfachste
intuitiv gewonnene Erfindung zu verwirklichen, sondern um sie iiber-
haupt zu konzipieren. Zu denken, daB in der ganzen Reihe der animali-
schen Lebewesen der Mensch vielleicht als einziger fiihig ist, einen
Knoten in einen Faden zu machen; und andererseits ist zu beachten, daB
diese banale Handlung, in all ihrer Banalitiit und Leichtigkeit, der
intellektuellen Analyse solche Schwierigkeiten bietet, daB die Hilfsmit-
tel der raffiniertesten Geometrie aufgeboten werden miissen, um die
von ihr angeregten Probleme auch nur einigermaBen zu losen. Hiinde
sind auch notig, um eine Sprache zu stiften, um mit dem Finger auf den
Gegenstand, dessen Namen man ausspricht, zu zeigen, um die Hand-
lung anzudeuten, die das Verbum nennt, umd die Rede mit Hervorhe-
bungen zu bereichern. kh gehe aber noch weiter. Ich behaupte, daB eine
der wichtigsten Wechselbeziehungen bestehen muB zwischen dem Ge-
danken und jener wunderbaren Verbindung von immer priisenten be-
sonderen Eigenschaften, welche die Hand uns mitbringt. Der Sklave
bereichert seinen Herrn, under beschrankt sich nicht darauf, ihm zu
gehorchen. Um diese Wechselseitigkeit von Diensten deutlich zu ma-
chen, braucht man sich nur zu iiberlegen, daB unser abstraktestes
Vokabular bevolkert ist mit fiir die lntelligenz unentbehrlichen Aus-
driicken, die ihr aber nur dur~h die einfachsten Handlungen und Funk-
390 Paul Valery
seinem Eingriff etwas wie Abstraktion verleiht. So wie die Hand den
Menschen von den andern Lebewesen unterscheidet, so unterscheidet
Abstraktheit das Vorgehen der Intelligenz von Transformationsweisen
der Natur. [... ]
Ich stelle mir das grenzenlose Erstaunen, die Bestiirzung des von
Ihnen verletzten Organismus vor, dessen zuckende Schatze Sie plotzlich
freilegen, wenn Sie plotzlich bis in die verborgensten Tiefen Luft, Licht,
die Krafte und das Eisen eindringen lassen, wobei Sie dieser unbegreifli-
chen lebendigen Substanz, die uns an ihr selbst so fremd ist und aus der
wir doch bestehen, den Schock der AuBenwelt versetzen [... ]Welch ein
Schlag, welch unerhorte Begegnung!
1st dies aber nicht zugleich ein Sonderfall und ein Abbild dessen, was
sich in alien Teilen der heutigen Welt begibt? Alles zeigt die umstiirzen-
den Wirkungen, die das Handeln mit den vom Menschen geschaffenen
Mitteln auf den Menschen hat. Welch ein Schock! und was wird aus
diesem ganzen Organismus von Relationen, Konventionen, Vorstellun-
gen, der sich so langsam im Lau£ der Zeit geformt und entwickelt hat
und jetzt, seit einigen Jahrzehnten, der Erprobung durch die von ihm
selber beschworenen iibermenschlichen und unmenschlichen Krafte
ausgesetzt ist oder vielmehr sich selbst ihnen aussetzt? Soeben noch hat
uns unser verehrter Prasident hochst beredt die rapiden Veranderungen
in der Therapeutik vor Augen gefiihrt, wobei er uns, um verstandlich zu
sein, erst den besonders bedeutsamen Stand der physikalischen Wissen-
schaft im allgemeinen darlegen muBte. Mir scheint, dieser Stand der
Wissenschaft laBt sich so zusammenfassen: Wir haben ein indirektes,
durch Zwischenschaltungen verfahrendes Wissen erlangt, welches uns
wie durch Signale mitteilt, was sich begibt in Gr6Benordnungen, die so
weit entfernt sind von denen, die noch Bezug zu unsern Sinnen haben,
daB samtliche Vorstellungen, gemaB denen wir uns die Welt dachten,
nicht mehr zutreffen. Der Bankrott der wissenschaftlichen Bilderwelt
ist erklart. Auf dieser Stufe vertauschen sich die Vorstellungen von
Korpern, Lagen, Dauer, Materie und Energie irgendwie untereinander;
selbst das Wort Phanomen hat keine Bedeutung mehr, und vielleicht
kann sogar die Sprache, einerlei welche man spricht, mit ihren Haupt-
und Zeitwortern nur noch lrrtum in unsern Geist hineintragen. Was die
Zahl betrifft, so ist gerade ihre Genauigkeit ihr Verhangnis. Ihre neue
Verwendung wird sein, eine Wahrscheinlichkeit an die Stelle einer
bestimmten und identifizierbaren Pluralitat zu setzen.
Unsere unmittelbare Vorstellung von den Dingen wird im ganzen
392 Paul Valery
Eine Mutma{Iung
Von nun an wird, wenn an irgendeinem Ort der Welt eine Schlacht
stattfindet, nichts einfacher sein als deren Geschiitze auf der ganzen
Erde horen zu lassen. Die Einschlage von Verdun wiirden bei den
Antipoden empfangen werden.
Man wird sogar etwas von den Kampfen und den Menschen wahr-
nehmen konnen, die 6000 Meilen von einem selbst entfernt fallen, ½oo
Sekunden nach dem SchuK
Aber zweifellos werden eines T ages ein wenig machtigere, ein wenig
subtilere Mittel erlauben, aus der Entfernung nicht nur auf die Sinne der
Lebenden einzuwirken, sondern auch auf die verborgenen Elemente der
psychischen Person. Ein unbekannter, entfernter Operateur wird, in-
dem er die Quellen selbst und die Systeme des geistigen und affektiven
Lebens aufreizt, den Menschen Illusionen, Triebe, Wiinsche, kiinstliche
Abirrungen auferlegen. Wir betrachteten bisher unsere Gedanken und
unsere bewulsten Krii.fte als von einem einfachen und bestandigen Ur-
sprung hervorgegangen, und wir stellten uns darunter etwas Unteilba-
res vor, bis zum Tode mit jedem Organismus verbunden: autonom,
unvergleichbar, und fiir einige, ewig. Es schien, dais unsere tiefste
Substanz eine absolute Aktivitiit ware, und dais in jedem von uns, ich
weils nicht welche anfangliche Kraft, welches Quantum an rein er Unab-
hangigkeit wohnte. Aber wir leben in einer erstaunlichen Epoche, wo
die am meisten beglaubigten Ideen, die am unbestreitbarsten schienen,
sich angegriffen, widersprochen, durch die Tatsachen iiberrascht und
zersetzt sehen, so sehr dais wir gegenwartig einer Art Bankrott der
Einbildungskraft beiwohnen und einem Wegfall des Verstandnisses,
unfahig wie wir sind, uns eine homogene Vorstellung der Welt zu
bilden, die alle ehemaligen und neuen Gegebenheiten der Erfahrung
einbegreift.
Dieser Zustand erlaubt mir die Konzeption zu wagen, dais man von
aulsen her direkt modifizieren konne, was die Seele und der Geist des
Menschen bisher waren.
394 Paul Valery
Vielleicht ist unsere geheime Substanz nur geheim for gewisse Ak-
tionen von auisen und nur teilweise geschiitzt gegen die iiuiseren Einwir-
kungen. Das Holz ist undurchsichtig fiir das Licht, das unsere Augen
sehen; es ist es nicht for durchdringendere Strahlen. Da diese Strahlen
nun entdeckt sind, ist unsere Idee der Durchschaubarkeit giinzlich
veriindert. Es gibt so zahlreiche Beispiele dieser Umwandlungen unserer
Ideen und unserer Erwartungen, dais ich es wage dieses zu denken: man
wird eines Tages der Ansicht sein, dais der Ausdruck »inneres Leben«
nur relativ war im Bezug auf die klassischen, wenn man will, naturli-
chen Mittel von Produktion und Rezeption.
Unser ICH, ist es etwa, von der Umwelt abgesondert, davor be-
wahrt, Alles oder ganz gleich was zu sein, beinahe wie es in meiner
Uhrtasche das Triebwerk meiner Uhr ist? -
Ich vermute - ich glaube, dais sie die Zeit bewahrt, trotz meines
Kommens und Gehens, meiner Haltungen, meiner Schnelligkeit und
der zahllosen und unempfindbaren Umstiinde, die mich umgeben. Aber
diese Gleichgiiltigkeit betreffs aller iibrigen Dinge, diese Gleichformig-
keit ihres Funktionierens, besteht nur fiir eine Beobachtung, die alle
diese iibrigen Dinge nicht bemerkt, welche also partikuliir und ober-
flachlich ist. Wer weifs, ob es nicht dasselbe mit unserer Identitiit ist?
Wir rufen vergeblich unsere Erinnerung an, sie gibt uns viel mehr
Beweise fiir unsere Veriinderung als fiir unsere Bestiindigkeit. Aber wir
konnen in jedem Augenblick nur uns wiedererkennen und nur die
unmittelbaren Produktionen des geistigen Lebens als die unsrigen. Uns-
riges ist, was uns von einer gewissen Art kommt, von der es geniigen
wiirde, zu wissen, wie sie zu reproduzieren oder zu entleihen oder durch
irgendeinen Kunstgriff zu erregen ware, um uns den Wechsel auf uns
selbst zu geben und uns Gefiihle, Gedanken und Willensakte einzuge-
ben, die von den unseren nicht zu unterscheiden waren; die, durch die
Art ihrer Einfiihrung, vom gleichen Grad der Intimitat, von der gleichen
Spontaneitat, von gleicher Unwiderlegbarkeit, Natiirlichkeit und Per-
sonlichkeit wie unsere normalen Affekte sein wiirden, und die dennoch
ganz fremden Ursprungs sein wiirden. Wieder Chronometer, der in ein
magnetisches Feld gestellt oder einer schnellen Ortsveranderung unter-
worfen ist, die Gangart iindert, ohne dais der Beobachter, der nur ihn
sieht, <lessen gewahr werden konnte, so wiirden Storungen oder irgend
welche Modifikationen dem bewufstesten Bewuistsein auferlegtwerden
konnen, durch Interventionen aus der Ferne, die unmoglich nachzuwei-
sen wiiren.
Anhang II: Eine MutmaBung 395
deren Mehrzahl unausdriicklich ist? Wir wiirden viele Miihe haben, sie
explizit zu machen und zu erklaren. Die Gesellschaft, die Sprachen, die
Gesetze, die Sitten, die Kiinste, die Politik, alles, was darauf beruht, daB
man ihm in der Welt Glauben schenkt, jede ihrer Wirkung ungleiche
Ursache, verlangt Konventionen d. h. Umschaltungen (relais) - auf
deren Umweg sich eine zweite Wirklichkeit installiert, sich mit der
sensiblen und augenblicklichen Wirklichkeit kombiniert, sie verdeckt,
beherrscht - manchmal Risse bekommt, um die erschreckende Simpli-
zitat des elementaren Lebens erscheinen zu !assen. In unseren Wiin-
schen, unserem Bedauern, in unsern Nachforschungen, in unsern Emo-
tionen und Passionen und bis zu der Anstrengung, die wir machen, um
uns zu kennen, sind wir das Spielzeug abwesender Dinge - die nicht
einmal notig haben zu existieren, um zu agieren.
Anhang III (I, 198 f.; vgl. 294 u. 1024 f.; II, 543 f.)
Parabel
ALS es nur erst den Engel und das Tier in diesem Garten gab
Und GOTT allenthalben spiirbar;
In der Luft alles Fliegende,
Auf der Erde alles Kriechende,
Und im schweigenden Abgrund alles Entschwindende und
Erschauemde
Und als Gott und die Dinge und die Engel und die Tiere
Und das Licht, das Erzengel ist,
Alles waren, was war,
WAR DIES DAS ALTER DER REINHEIT.
Rein war der Lowe und rein die Ameise,
Rein der Stier und rein die Natter;
Rein der Drache und rein die Tugenden
Und die Throne und die sehr hohen Rangordnungen;
Rein die Erde und rein das Licht,
Rein sie alle,
Da ein jedes war, was es war,
Da ein jedes tat, ohne Fehl und vollkommen,
Wozu es geformt war:
Ein jedes die Frucht eines Gedankens des Lebens,
Ganz genau in sich verwandelt,
Ohne Oberrest.
Ohne Fehl,
ldeenlos,
Siehe: Da kam eine Gestalt zwischen den Bliittern hervor.
Eine Gestalt kam zum Licht,
Ins Licht,
Und er schaute um sich allenthalben,
nicht der Kosmos das alles Umfassende ist, sondern ein iiberweltli-
cher Gott, der um des Menschen willen Himmel und Erde schuf,
und schlielslich der weltkonstruierende Wille des Menschen. Auch
Heideggers These, daB schon der griechisch verstandene Kosmos
relativ au£ das Dasein des Menschen sei und der primiire Charakter
der Welt ein »Umwillen«, diirfte eine entfernte Folge des anthropo-
theologischen Weltbegriffs der christlichen Tradition sein 2 •
Handgreiflicher als in der gegenwiirtigen Metaphysik und Phy-
sik ist die Abhiingigkeit des neuzeitlichen Weltbegriffs von der
christlichen Oberlieferung bei den Begriindern des modernen Welt-
bildes. Kopernikus und Kepler, Galilei und Descartes, Newton,
Leibniz und Kant waren nicht nur fiir ihre Person gliiubige oder
doch vernunftgliiubige Christen, sondern auch in ihrem wissen-
schaftlichen Denken von der Voraussetzung beherrscht, daB die
immanente Gesetzlichkeit der Welt einen transzendenten Ursprung
in einem iiber- und auBerweltlichen Schopfergott habe. Nur als das
Werk eines iiberweltlichen Schopfers ist die Welt fiir Kopernikus
wie fiir Leibniz und Newton eine fabrica und machina mit optimus
ordo, in der alles mit einfachsten Mitteln zustande kommt. Die
neuzeitlichen Welt-»Systeme«3, wie es seit Galileis Dialog »sopra i
due massimi sistemi del mondo« heiBt, unterscheiden sich dadurch
prinzipiell von der Kosmologie der Griechen, in der das Gottliche
kein personlicher Schopfergott, sondern ein anonymes Priidikat des
Kosmos war, der deshalb auch nicht entheiligt werden konnte. Das
gottlos gewordene Universum der modernen Naturwissenschaft,
von der Kant bereits ahnte, daB sie eine »unheilige Weltweisheit«
werden konnte4, setzt voraus, daB einst ein auBerweltlicher Gott
sein iiberweltlicher Schopfer war.
• Vgl. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Kap. 9, 11, 12, 17.
Nachweise und Anmerkungen 407
als Christ nicht gebunden, er ist frei von ihr. Christus hat die Welt
von sich selbst befreit: mundum de mundo liberavit. Nur au£ dem
Boden dieser christlichen Anthropo-theologie, die noch Leibniz
sagen liifst, der Mensch sei ein deus creatus, bekommt auch der
nachchristliche Mensch jene »Sonderstellung« im Kosmos, die ihn
traditionellerweise auszeichnet, unter verschiedenen Titeln, die je-
doch alle dasselbe meinen: cogito me cogitare, Selbstbewufstsein,
Freiheit zur Selbstbestimmung, Fiirsichsein, Existieren. Das ur-
spriingliche Vorbild fiir die Riickwendung von der Welt als Aufsen-
welt zu sich selbst ist Augustins reditus in se ipsum.
Mit der von Augustin zum ersten Mal durchdachten Erfahrung
seines Selbstseins im Verhiiltnis zu Gott und dem Gottmenschen
veriindern sich alle Grundbegriffe der nachchristlichen Philosophie,
die erst in Nietzsche ihren Wendepunkt hat. Gott ist dann nicht
mehr ein vieldeutiges to theion, das den Kosmos als das Ganze und
Vollkommene bezeichnet; die Welt ist dann nicht mehr ein ewiger
und iibermenschlicher Kosmos, von keinem Gott und von keinem
Menschen gemacht, und der Mensch ist dann nicht mehr ein zoon
logon echon innerhalb der Rangordnung der irdischen Lebewesen,
sondern ein selbstbeziigliches Selbst, das sich als einziges Ebenbild
Gottes urspriinglich auf diesen bezog und sich dann emanzipiert
und verselbstiindigt hat, um die Vermenschlichung der Welt selbst-
schopferisch vorzunehmen. Je nach dem Ansatzpunkt: bei der grie-
chisch verstandenen Welt, oder dem biblischen Schopfergott, oder
dem modernen selbstbewufsten Menschen, modifiziert sich auch
der Sinn der beiden anderen Begriffe. Gott, Welt und Mensch sind
weder gleichwertig noch zueinander gleichgiiltig. Wer Gottes
schopferischen Willen zur Schaffung der Welt um des Menschen
willen zum Ausgangspunkt nimmt, der kann vom Menschen und
von der Welt nicht ebenso denken wie die Vorsokratiker, die mit
dem selbstiindigen Kosmos beginnen, an ihm auch das Gottliche
erblicken und im Menschen den Sterblichen sehen. Und Griechen
wie Christen denken von Gott und der Welt anders als der emanzi-
pierte, in seine Freiheit losgelassene Mensch, der seinen Ausgangs-
punkt von sich selber nimmt und fiir den die Welt ein verbrauchba-
res »Eigentum« (Stimer) oder eine durch Arbeit zu produzierende
Menschenwelt (Marx) ist.
Das Kapitel »Gott, Welt und Mensch in der Metaphysik von Des-
408 Anhang
der Analogie, weil der Mensch Gottes Ebenbild ist. Im Horizont der
christlichen Tradition, aber im Unterschied zu ihrer scholastischen
Formulierung, betont Vico jedoch nicht das Erkennen als Bedin-
gung des Machens, sondem das Machenkonnen als Bedingung
wahrer Erkenntnis. Ohne diese christlich-theologische Pramisse,
dais in Gott Erkennen und Machen dasselbe sind, weil das gottliche
Wort schon als solches schopferisch ist und der Mensch Gott ahn-
lich, ware Vicos Grundsatz der Konvertibilitat des Wahren und des
Gemachten ohne metaphysisches Fundament. Das eigentliche Prin-
zip der Neuen Wissenschaft ist nicht schon die Konvertibilitat des
verum und factum, d.i. die Wahrheit der vom Menschen geschaffe-
nen Welt, sondem die gottliche Vorsehung, der allein es zu verdan-
ken ist, wenn sich das Menschengeschlecht nicht selber zugrunde
richtet, sondem erhalt. Vico begriff den Lauf der Geschichte als eine
vom Menschen geschaffene Welt, die aber zugleich iiberspielt und
gelenkt wird durch etwas, das der Notwendigkeit des Schicksals
naher ist als der freien Entscheidung und Wahl. Ohne diese Diffe-
renz von Tun und Geschehen oder von Handlung und Ereignis
bliebe es unerklarlich, wieso in der Geschichte immer etwas ganz
anderes erfolgt als von den Menschen beabsichtigt wird.
Auch Vicos eigene Absicht hat in der Geschichte des Denkens
ganz andere, sakulare Folgen gezeitigt, als er selber im Sinn hatte,
d.i. die Menschen zuriickzufiihren zur Furcht und Verehrung Got-
tes. Ohne die Riicksicht auf die theologische Pramisse von Vicos
Prinzip wurde der Grundsatz von der Reziprozitat des Wahren und
Gemachten in der Folge immer mehr in einer Weise betont und zur
Geltung gebracht, die den Menschen als homo faber zum Herren
der Natur und damit zugleich der Geschichte macht. Denn der
mondo civile ist so wenig vom mondo naturale getrennt, wie dieser
von der modemen Naturwissenschaft, deren technische Fortschrit-
te nicht zuletzt die Welt des Menschen verandern. Dieser Fortgang
von Vicos natiirlicher Theologie der Vorsehung zum Vertrauen auf
menschliches Machenkonnen durch wissenschaftliche Voraussicht
la/st sich an F. Bacon und Th. Hobbes, an Kant und Hegel sowie an
Marx und Dilthey aufzeigen und durch Schelers Soziologie des
Wissens erhellen. Es ist von dem zur Herrschaft gekommenen homo
faber und seinem Leistungswissen nur noch ein Schritt in derselben
Richtung, wenn die neuesten Wissenschaften, Kybernetik und expe-
rimentelle Genetik, nicht nur die Welt aulser uns durch wissen-
416 Anhang
Das Buch erschien zuerst 1971 als Bd. 329 S der Kleinen Vandenhoeck-
Reihe im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Gottingen.
Ein Vorabdruck der Einfiihrung und des III. Kapitels (»Besinnung
auf das Ganze des Seienden: Korper, Geist, Welt«) (S. 7-8, 57-86)
erschien in: Neue Rundschau 81 (1970), S. 545-563, unter dem Titel
Paul Valery. Grundri/s seines philosophischen Denkens.
Das Ka pi tel »Gedanken zur Sprache« ist eine stellenweise veriinder-
te Fassung des unter dem Titel Paul Valery. Reflexionen zur Sprache
erschienenen Beitrages zur Gadamer-Festschrift Hermeneutik und Dia-
lektik, hrsg. von Riidiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl, Bd. II,
s. 115-144.
Zu diesem Band
da sei nicht nur die Moglichkeit von Kritik oder Stellungnahme ausge-
schlossen: vor allem werde die Diskontinuitiit wahrer Einsicht ver-
kannt. Im AnschluB an die Descartes-Deutungen von Husserl, Heideg-
ger, Valery und Sartre betont Lowith in Gott, Mensch und Welt, daB
diesen Formen der Aneignung die GroBe und Vorbildlichkeit eines
Philosophen wie Descartes entgehen miisse, weil sie seinen » EntschluB,
sich von den Biichern weg und zu den Sachen hin zu wenden, um sich
und die Welt aus erster Hand kennenzulernen«, nicht ernst nehmen
konne.
Wenn man von einer Spiitphilosophie Karl Lowiths sprechen kann,
so gibt sie sich vielleicht am ehesten darin zu erkennen, daB er inner-
halb der Disziplin der historischen Darstellung und Kliirung von Vor-
aussetzungen und Folgen des Denkens auf jene Augenblicke der Philo-
sophiegeschichte die Aufmerksamkeit lenkt, in denen eine freie Zuwen-
dung zu den Sachen, das heiBt zur Welt, die Verrechnung von Voraus-
setzungen und Folgen durchkreuzt und die Moglichkeit authentischer
Philosophie aufscheinen liiBt.
Henning Ritter