ALEXANDRU BOBOC, Zeit Und Zeitbewusstsein Bei Edmund Husserl
ALEXANDRU BOBOC, Zeit Und Zeitbewusstsein Bei Edmund Husserl
war in einer «Wende zum Objektiven», zur Gesamtwirklickeit, die Suche nach
Unmittelbarkeit, nach Nähe gemeinsam. Die Wirklichkeit sollte nicht indirekt, im Bild,
im Symbol ... in der Formel, im abgeleiteten Begriff, in der Konvenzionen erscheinen,
sondern als sie selbst faßbar ist”3.
Die „reine Phänomenologie”, „die wir als Grundwissenschaft der Philosophie
nachweisen wollen, – schrieb Husseri – ist eine wesentlich neue, vermöge ihrer
prizipiellen Eigentümlichkeit dem natürlichen Denken fernliegende und dahrer erst
in unseren Tagen nach Entwicklung drängende Wissenschaft. Sie nennt sich eine
Wissenschaft von «Phänomenen». Auf Phänomene gehen auch andere, längt
bekannte Wissenschaften ... Wie verschieden in solchen Reden der Sinn des Wortes
Phänomen sein und welche Bedeutungen es irgend noch haben mag, es ist sicher, daß
auch die Phänomenologie auf all diese «Phänomene» und gemäß allen Bedeutungen
bezogen ist: aber in einer ganz anderen Einstellung, durch welche sich jeder Sinn von
Phänomen, der uns in den altvertrauten Wissenschaften entgegentritt, in bestimmer
Weise modifiziert”4.
Die phänomenologische Stellungsnahme und Erfassung ist für jedermann und
jederzeit das Hauptmittel seines Weltbezugs. Im Rahmen der phänomenologischen
Annäherung an die Wirklichkeit stellt sich eine Erfahrungsmodellierung dar, die für
jeden Form der Erfahrung eigen ist. Mit einen solchen Verfahren kündigt sich an,
eine neue Epoche der wissenschaftlichen Erneuerung.
2. Die phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins. Husserl hat
sowohl dem Problem der Zeit wie auch dem des Zeitbewußtseins eine Reihe
eingehenden Untersuchungen gewidmet: „Die Analyse des Zeitbewußtseins –
unterstrich Husserl – ist ein uralter Kreuz der deskriptiven Psychologie und der
Erkenntnistheorie. Der erste, der die gewaltigen Schwierigkeiten, die hier liegen, tief
empfunden und sich daran fast bis zur Verzweiflung abgemüht hat, war Augustinus.
Die Kapitel 14-28 des XI. Buches der Confessiones muß auch heute noch jedermann
gründlich studieren, der sich mit dem Zeitproblem beschäftigt. Denn herrlich weit
gebracht und erheblich weiter gebracht als dieser große und ernst ringende Denker hat
es die wissensstolze Neuzeit in diesen Dingen nicht. Noch heute mag man mit
Augustinus sagen: si nemo a me quaerat, scio, si quaerenti explicare velim nescio...”5.
Unter dem Titel: „Die phänomenologische Zeit und das Zeitbewußtsein” hat
Husserl schon früher (1901, 1913) wichtige Untersuchungen untergebracht. Die
Hauptidee lautet: „die phänomenologische Zeit als allgemeine Eigentümlichkeit
aller Erlebnisse”; wohl zu beachten ist der Unterschied „dieser einheitlichen Form
3
H. Reiner Sepps, Annäherung an die Wirklichkeit. Phänomenologie und Malerei um 1900,
in: Edmund Husseri und die phänomenologische Bewegung. K. Alber, 1988, S. 80.
4
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie,
Erstes Buch (1913, neu hrsg. von K.Schuhmaim), in: Husserliana, Bd. III/1, Kluwer, 1995, S. 3.
5
E. Husserl, Die Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905. in: Zur
Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (hrsg. von R. Boehm), in: Husserliana, Bd.
X, M. Nijhoff, Haag, 1966, S.3.
3 Zeit und Zeitbewusstsein bei Edmund Husserl 23
aller Erlebnisse”, „in einem Erlebnisstrome (dem eines reinen Ich) aber, und der
«objektiven», d.i. der kosmischen Zeit”6.
Durch die „phänomenologische Reduktion”7 findet die Einordnung der
„phänomenologischen Zeit” in „die kosmische Zeit”statt: „Die kosmische Zeit
verhält sich zur phänomenologischen Zeit in gewisser Weise analog, wie sich die
zum immanenten Wesen eines konkreten Empfindungsinhaltes (etwa eines visuelen
im Felde der visuellen Empfmdungsdaten) gehörige «Ausbreitung» zur objektiven
räumlichen «Ausdehung» verhält, nämlich der des erscheinenden und sich in diesen
Empfindungsdatum visuell «abschattenden» physisches Objektes”8.
Von großer Bedeutung ist die folgende Erklärung: „So wie es widersinning
wäre, ein Empfindungsmoment, wie Farbe oder Ausbeitung mit dem sich dadurch
abgeschattenden dinglichen Moment, wie Dingfarbe und dingliche Ausdehung, unter
diesselbe Wesensgatung zu bringen: so auch hinsichtlich des phänomenologischen
Zeitlichen und des Weltlichen. Im Erlebnis und seinen Erlebismomenten kann sich
transzendente Zeit erscheinungsmäßig darstellen; aber prinzipall hat es hier wie sonst
keinen Sinn, zwischen Darstellung und Dargestelltem bildliche Ähnlichkeit zu
supponieren, die als Ähnlichkeit Wesenseinigkeit voraussetzen würde”9.
Die phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins drückt auch die
obenumrissenen Denkrichtung aus: „Darin liegt, wie bei jeder solchen Analyse, der
völlige Ausschluß jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in betreff
der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierenden)”10.
Die Analyse betrifft nicht so „die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer
dinglichen Dauer u.dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche.
Diese aber sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre”11.
Genauer: „Mit Wirklichkeit haben wir es nur zu tun, insofern sie gemeinte,
vorgestellte, angeschaute, begrifflich gedachte Wirklichkeit ist. Bezüglich des
Zeitproblems heißt das: die Zeiterlebnisse interessieren uns. Daß sie selbst objektiv
zeitlich bestimmt sind, daß sie in der Welt der Dinge und psychisches Subjekte
6
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie ..., S. 180-181.
7
In: Ebenda, S. 106: „Anstatt die zum naturkonstituierenden Bewusstsein gehörigen Akte
mit ihren transzendenten Thesen in naiver Weise zu vollziehen ... setzen wir all diese
Thesen «außer Aktion», wir machen sie nicht mit; unseren erfassenden und theoretisch
forschenden Blick richten wir auf das reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein”.
Anders gesagt, eine „reflexive” Stellungsnahme, die phänomenologische Einstellung” im
Unterschied zur „natürlichen Einstellung”. Was bleibt ist so das reine Bewußtsein als Feld
phänomenologischer Erfahrung.
8
Ebenda, S. 181.
9
Ebenda, „Diejenige Zeit, die wesensmäßig zum Erlebnis als solchem, mit ihren
Gegebenheitsmodis des Jetzt, Vorher, Nachher, des durch sie modal bestimmten Zugleich,
Nacheinander usw., ist durch keinen Sonnenstand, durch keine Uhr, durch keine physische
Mittel zu messen und überhaupt nicht zu messen” (Ebenda).
10
E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 4.
11
Ebenda, S. 5. Sondann - nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht
die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufes” (Ebenda).
24 Alexandru Boboc 4
hineigehören und in dieser, ihre Stelle, ihr Wirksamkeit, ihr empirisches Sein und
Entstehen haben, das geht uns nichts an, davon wissen wir nichts. Dagegen
interesessiert uns, daß in diesem Erlbenis «objektiv zeitliche» Daten gemeint sind. Es
gehört zum Bereich der Phänomenologie eben diese Beschreibung, daß die
betreffenden Akte dieses oder jenes «Objektive» meinen”12.
3. Phänomenologische Erfahrung und «phänomenologische Zeit». Diese
Betrachtungsweise hat ihre Stärke im Begriff der Intentionalität: „Der Problemtitel,
der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt Intentionalität. Er drückt eben die
Grundeigenschaft des Bewußtseins aus, alle phänomenologischen Probleme, selbst
die hyletischen, ordnen sich ihm ein. So beginnt die Phänomenologie mit Problem
der Intentionalität; aber zunächst im Allgemeinheit und ohne die Fragen des Wirklich
– (Wahrhaft) – seins des im Bewusstsein Bewussten in ihren Kreis zu ziehen. Das
positionales Bewusstsein mit seinem thetischen Charakteren im allgemeinesten Sinn
als ein «Vermeinten» bezeichnet werden kann und als solches notwending unter dem
Vernunftgegensatze der Gültigkeit und Ungültigkeit steht, bleibt ausser Betracht”13.
In einer gutbegründeten Kritik hat Husserl die Schwierigkeiten der traditionellen
Theorien der Erfahrung hervorgehoben. Er sprach von der «Verwirung», welche durch
die Unterscheidung von äußeren und inneren Erfahrung entstanden ist. Das ist ein
Dualismus, das nur durch die phänomenologischen Analyse der Erfahrung behoben
werden könnte.
Weiter erfordert er die Notwendigkeit einer neuen Methode, eigentlich einer
neuen Art der Annäherung an die Wirklichkeit. Mit seiner Kritik des «Abbildbewusst-
seins» wendet er sich gegen die Wirklichkeitssicht des Naturalismus und setzt die
Gründe eines eigentlichen Zugang zur Wirklichkeit ein. In einer Hauptstellung von
«Ideen» hat Husserl die Grundlinien seiner Methode dargestellt: „Wir werden vom
natürlichen Standpunkt ausgehen, von der Welt, wie sie uns gegenüber steht, von dem
Bewußtsein, wie es sich in der psychologischen Erfahrung darbietet, und die ihm
wesentlichen Voraussetzungen bloßlegen. Wir werden dann eine Methode
«phänomenologischer Reduktionen» ausbilden, der gemäß wir die zum Wesen aller
natürlichen Forschungsweise gehörigen Erkenntnisschranken beseitigen, die einseitige
Blickrichtung, die ihr eigen ist, zur Ablenkung bringen können, bis wir schließlich den
freien Horizont der «transzendental» gereinigten Phänomene gewonnen haben und
damit das Feld der Phänomenologie in unserem eigentlichen Sinne”14.
12
Ebenda, S. 9-10.
13
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 337-338.
14
Ebenda, S. 5. „Knüpfen wir an Beispiele an”, schrieb Husserl: „Vor mir liegt im Halbdunkel
dieses weißes Papier. Ich sehe es, betaste es. Dieses wahrgenommene Sehen und Betasten des
Papiers, als das volle konkrete Erlebnis von dem hier liegenden Papier, und zwar von dem genau
in diesen Qualitäten gegebenen, genau in dieser relativen Unklarheit, in dieses unvollkommenen
Bestimmtheit, in dieser Orientierung zu mir erscheinenden - ist eine cogitatio. ein
Bewusstseinserlebnis. Das Papier selbst mit seinen objektiven Beschafenheiten, seiner Ausdehung
im Raume, seiner objektiven Lage zu den Raumdinge, das mein Leib heißt, ist nicht cogitatio,
sondern cogitatum, nicht Wahmehmungserlebnis, sondern Wahrgenommenes” (Ebenda, S. 71.).
5 Zeit und Zeitbewusstsein bei Edmund Husserl 25
In einer knappen Form: Das Wesen des Bewußtseins als Thema, oder,
deutlicher, Bewußtseinserlebnis als Standpunkt der Erörterung.
In diesen Sinne erwies sich al wichtige die folgende Leitidee: „Jedes Erlebnis ist in
sich ein Fluß des Werdens, es ist was es ist, in einer ursprünglicher Erzeugung von einem
unwandelbaren Wesentypus; ein beständiger Fluß von Retentionen und Protentionen
vermittelt durch eine selbst fließende Phase der Originarität, in der das lebendige Jetzt
des Erlebnisses gegenüber seinen «Vorhin» und «Nachher» bewußt wird. Anderseits hat
jedes Erlebnis seine Parallelen in verschiedenen Formen der Reproduktion, die wie
ideelle «operative» Umformungen des ursprünglichen Erlebnisses angesehen werden
können: jedes hat sein «genau entsprechendes» und doch durch und durch modifiziertes
Gegenstück in einer Wiedererinnerung, ebenso in einer Vorerinnerung, in einer
möglichen bloßen Phantasie und wieder in den Iterationen solcher Abwandlungen”15.
Phänomenologisch betrachtet, ist jedes wirkliche Erlebnis „ein dauerndes, und
mit dieser Dauer ordnet es sich einen endlosen Kontinuum von Daueren ein - einem
erfüllten Kontinuum. Es hat notwendig einen allseitig unendlichen erfüllten Zeit-
horizont. Das sagt zugleich: es gehört einem unendlichen «Erlebnisstrom» an”16.
Eigentlich, kann jedes einzelne Erlebnis „wie anfagen, so enden und damit
seine Dauer abschließen, z.B. ein Erlebnis der Freude. Aber der Erlebnisstrom kann
nicht anfagen und enden. Jedes Erlebnis, als zeitliches Sein, ist Erlebnis seines reinen
Ich. Notwendig gehört dazu die Möglichkeit (die, wir wissen, keine leere logische
Möglichkeit ist), daß das Ich auf dieses Erlebnis seinen reinen Ichblick richtet und es
erfaßt als wirklich seiend, bzw. als dauernd in der phänomenologischen Zeit”17.
Von großer Bedeutung erwies sich die Beschreibung der Gestaltung dieser
phänomenologischen Zeit: es gehört zum Wesen der Sachage „die Möglichkeit, daß
das Ich den Blick auf die temporale Gegebenheitsweise richtet und mit Evidenz
erkennt ..., daß kein dauerndes Erlebnis möglich ist, es sei denn, daß es sich in einem
kontinuierlichen Fluß von Gegebenheitsmodis als Einheitliches des Vorganges, bzw.
der Dauer konstituiert; ferner daß diese Gegebenheitsweise von dem zeitlichen
Erlebnis selbst wieder ein Erlebnis ist, obschon von neuer Art und Dimension”18.
Von dem beschreibenen Beispiel geht es eine leitende Idee hervor: „Das
aktuelle Jetzt ist notwendig und verbleibt ein Punktuelles, eine verharrende Form
für immer neue Materie. Ebenso verhält es sich mit der Kontinuität der «Soeben»;
es ist eine Kontinuität von Formen immer neuen Inhalts”19.
15
Ebenda, S. 167.
16
Ebenda, S. 182.
17
Ebenda.
18
Ebenda, S. 183. z.B. die Freude, die anfängt und endet und inzwischen dauert, kann ich zum
selbst im reinen Blick haben, ich gehe mit ihren zeitlichen Phasen mit. Ich kann aber auch auf
ihre Gegebenheistsweise achten: auf den jeweiligen Modus des «Jetzt» und darauf, daß an
dieses Jetzt, und prizipiell an jedes, in notwendiger Kontinuität sich ein neues und stetig neues
anschließt, daß in eins damit jedes aktuelle Jetzt sich wandelt in ein Soeben, das Soeben
abermals und kontinuierlich in immer neue Soeben von Soeben usw. So für jedes neu
angeschloßene Jetzt.
19
Ebenda, Das sagt zugleich: das dauernde Erlebnis der Freude ist «bewußtmäßig»
gegeben in einem Bewußtseinskontinuum der konstanten Form.
26 Alexandru Boboc 6
Die Form erhält immer neuen Inhalt, „also kontinuierlich «fugt sich» an jede
Impression, in der das Erlebnis-Jetzt gegeben ist, eine neue, einem kontinuierlich neuen
Punkte der Dauer entsprechende an; kontinuierlich wandeltes sich die Impression in
Retention, diese kontinuerlich in modifizierte Retention usw ... Dazu kommt aber die
Gegenrichtung der kontinuierlich Wandlungen: dem Vorher entspricht das Nachher,
dem Kontinuum der Retentationen ein solches der Protentionen”20.
Ein logischer Schluß davon lautet: durch diese Beschreilung „haben wir das
ganze phänomenologische Zeitfeld des reinen Ich, das es von einem beliebigen
«seiner» Erlebuisse nach den drei Dimensionen des Vorher, Nachher, Geichzeitig
durchgemessen kann ... Ein reines Ich – ein nach allen drei Dimensionen erfüllter, in
dieser Erfüllung wesentlich zusammenhängender, sich in seiner inhaltlicher
Kontinuität fordernder Erbelnisstrom: sind notwendig Korrelate”21.
4. «Erlebnisstrom» und Zeitobjekte. Husserls Vorlesungen über das innere
Zeitbewusstseins beginnen mit einigen wichtigen Überlegungen betreffs der
„Ausschaltung der objektiven Zeit” und mit einer entscheidenden Begrenzung des
phänomenologischen Feldes: „Phänomenologische Data sind die Zeitauffassungen, die
Erlebnisse, in denen Zeitliches im objektiven Sinne erscheint. Wieder sind phänome-
nologisch gegeben die Erlebnismomente, welche Zeitauffassung als solche speziell
fündieren ... Durch phänomenologische Analyse kann man nicht das mindeste von
objektiven Zeit vorfinden”22.
Die Frage, wie Zeitbewusstsein möglich und zu verstehen ist, bleibt das
Hauptziel einer phänomenologischen Analyse des Zeitbewußtseins.
Die weitere Erörterung folgt die Linien einer Analyse der Wahrnehmung: „Es
ist ja evident, daß die Wahrnehmung eines zeitlichen Objektes selbst Zeitlichkeit hat,
daß Wahrnehmung der Dauer selbst Dauer der Wahrnehmung voraussetzt, daß die
Wahrnehmung einer beliebigen Zeitgestalt selbst ihre Zeitgestalt hat. Und sehen wir
von allen Transzendenzen ab, so verbleibt der Wahrnehmung nach allen ihren phäno-
20
Ebenda, Für die Zeitanalyse sind diese Begriffe (Retention und Protention) von großer
Bedeutung: Retention gehört zur „absolute starren Gesetzmäßigkeit”, mit der ein
momentaner Eindruck noch in „frischer” Erinnerung gehalten wird, so wenn
beispiclerweise ein Ton, der soeben verklungen ist noch als derselbe im Bewußtsein
festgehalten wird. Protenton ist der Titel für erwartungsartige Intentionen des Kommenden,
die nicht mit der Leerintention der Erinnerung zu verwechseln sind (Wörterbuch der
phänomenologischen Begriffe, F. Meiner, Hamburg, 2004, S. 438, 464).
21
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 185.
22
E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, S. 6. Z.B., schrieb Husserl, „eine
Qualität im eigentlichen Sinne, d.h. eine Beschafenheit des erscheinenden Dinges, ist nicht das
empfundene, sondern das wahrgenommene Rot. Das empfundene Rot heißt nur äquivok Rot, denn
Rot ist Name einer realen Qualität” (Ebenda). Im gleichen Sinne haben wir auch „ein
«empfundenes Zeitliches» und ein wahrgenommenes Zeitliches zu unterscheiden. Das letztere
meint die objektive Zeit. Das erstere aber nicht selbst objektive Zeit (oder Stelle in der objektiven
Zeit), sondern das phänomenologische Datum, durch dessen empirische Apperzeption die
Beziehung auf objektive Zeit sich konstituiert ... Die «empfundenen» Temporaldaten sind nicht
bloß empfunden, sie sind auch mit Auffasungscharakteren «behaftet»” ... (Ebenda, S. 7).
7 Zeit und Zeitbewusstsein bei Edmund Husserl 27
23
Ebenda, S. 22.
24
Ebenda, S. 23. Dasselbe gilt für eine Melodie, für jedwede Veränderung, aber auch jedes
Verharren als solches betrachtet: „Nehmen wir – schrieb Husserl – das Beispiel einer Melodie
oder eines zusammenhängenden Stückes einer Melodie. Die Sache scheint zunächst sehr
einfach: wir hören die Melodie, d.h. wir nehmen sie wahr, denn hören ist ja Wahmehmen.
Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der Zweite, dann der dritte usw. Mußen wir nicht
sagen: wenn der Zweite erklingt, so höre ich ihn aber ich höre den ersten nicht mehr usw ? Ich
höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das
abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich - so wird man geneigt
sein zu sagen - der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton ankommen, nicht
voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwartung ... Jeder Ton hat selbst
eine zeitliche Extension, beim Anschlägen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein
immer neuer Jetzt, und das jeweilig vorangehende wandelt sich in ein Vergangen. Also höre ich
jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones
konstituiert sich in einem Aktkontinuums, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten,
punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einer weiteren Teil Erwartung ist” (Ebenda).
25
Ebenda, S. 25.
28 Alexandru Boboc 8
nicht etwas dasselbe, nur verschieden interpretiert, aufgefaßt: ebenso ist primär
anschaulich erinnerter Ton prinzipiell etwas anderes als wahrgenomener bzw. primär
Erinnerung (Retention) von Ton etwas anderes als Empfindung von Ton”26.
Für eine nähere Erklärung sprach Husserl von der „Reproduktion» von
Zeitobjekten (sekundäre Erinnerung)”: „Wir bezeichneten die primäre Erinnerung oder
Retention als Kometenschweif, der sich an die jeweiliche Wahrnehmung anschließt.
Durchaus davon zu scheiden ist die sekundäre Erinnerung, die Wiedereriunerung ... die
aktuelle Wahrnehmung konstituiert sich aufgrund von Empfindungen als Präsentation,
die primäre Erinnerung aufgmud von Phantasien als Repräsentation, als Vergegen-
wärtigung. Ebensogut nun, wie sich unmittelbar Vergegenwärtgungen an Wahr-
nehmungen anschließen, können auch ohne Anschuß an Wahrnehmungen selbständig
Vergegenwärtigungen sich einstellen, und das sind die sekundäre Erinnerungen”27.
Wahrnehnug ist Gegenwärtigung, selbsttändiger Akt, „Selbstgebung der Gegen-
wart, die ihr Korrelat hat im gegebenen Vergangenen”; „in der Wiedererinnerung
«erscheint» uns ein Jetzt, aber er «erscheint» in einem ganz anderen Sinne, als indem
das Jetzt der Wahrnehmung erscheint. Dieses Jetzt ist nicht «wahrgenommen», d.h.
sebst gegeben, sondern vergegenwärtigt”28.
5. Zeietform als «Form der Erscheinung»: Gegenwärtigung und
Vergegenwärtigung. Hier steht also ein ganz anderer Wahrnehunungsbegriff in Frage:
„Wahrnehmung ist hier der Akt, der etwas als es selbst vor Augen stellt, der Akt der
das Objekt ursprünglich konstituiert. Das Gegenteil ist Vergegenwärtigung, Re-
Präsentation als der Akt, der ein Objekt nicht selbst vor Augen stellt, sondern eben
vergegenwärtigt, gleichsam im Bilde vor Augen stellt, wenn auch nicht gerade in der
Weise eines eigentlichen Bildbewußtseins”29.
Die Vergegenwärtigungen haben eine zweite, andersartige Intentionalität, die
ihren allein und nicht allen Ergebnisse eigen ist: „Diese neue Intentionalität hat nun aber
die Eigentümlichkeit, daß sie der Form nach ein Gegenbild der zeitkonstituierenden
26
Ebenda, S. 32.
27
Ebenda, S. 35. Betrachten wir einen Fall sekundäre Erinnerung: „Wir erinnern uns etwa einer
Melodie, die wir jüngst in einem Konzert gehört haben. Das ist es offenbar, daß das ganze
Erinnerungsphänomen mutatis mutandis genau dieselbe Konstitution hat wie die Wahmehnung
der Melodie. Sie hat wie der Wahmehung einen bevorzugten Punkt dem Jetztpunkt der
Wahrhehung entspricht ein Jetztpunkt der Erinnerung. Wir durchlaufen die Melodie in der
Phantasie, wir hören «gleichsam» zuerst den ersten, dann den zweiten Ton usw. Jeweils ist
immer ein Ton (bzw. eine Tonphase) im Jetztpunkt Die vorgegangen sind aber nicht aus dem
Bewußtsein ausgelöscht. Mit der Auffassung des jetzt erscheinenden, gleichsam jetzt gehörten
Tones verschmilzt die primäre Erinnerung an die soeben gleichsam gehörten Töne und die
Erwartung (Protention) der ausstehenden. Der Jetztpunkt hat für das Bewußstein wieder einen
Zeithof, der sich in einer Kontinuität von Erinnerungsauffassungen vollzieht, und die gesamte
Erinnerung der Melodie besteht in einem Kontinuum von solchen Zeithofkontinnuen, bzw. von
Auffassungkontinnuen der beschriebenen Art” (Ebenda, S. 35-36).
28
Ebenda, S. 40-41.
29
Ebenda, S. 41.
9 Zeit und Zeitbewusstsein bei Edmund Husserl 29
Intentionalität ist und wie sie in jedem Elemente ein Moment eines Gegenwärtigung-
sflußes und im Ganzen einen ganzen Gegenwärtigeungsfluß reproduziert, so stellt sie ein
reproduktives Bewußtsein von einem vergegen-wärtigen immanent Objekt her”30.
Die ausführliche Erörterung der Erinnerung verdeutlicht den Wirkungskreis
von Retentionen und Protentionen. Denn jede Erinnerung enthält Erwartungs-
intentionen, deren Erfüllung zur Gegenwart führt, und die Wiederinnerung hat
„einen auf die Zukunft, und zwar auf die Zukunft des Wiedererinnerten gerichteten
Horizont”, der im Fortschreiten des wiedererinnenden Prozeßes „immer neu
eröffnet und lebendiger, reicher” wird”31.
Es ist also in jeder Vergegenwärtigung zu unterscheiden die Reproduktion
des Bewußtseins, „in dem das vergangene Objekt gegeben, d.h. wahrgenommen
oder überhaupt ursprünglich konstituiert war, und das was dieser Reproduktion als
konstitutiv für das Bewußtsein «vergangen» oder «gegenwärtig» (mit dem
aktuellen Jetzt gleichzeitig) oder «zukünftig» anhängt”32.
Phänomenologisch kann jedes «Vergangen» reproduktiv in ein reproduktives
«Jetzt» verwandelt werden, das selbst wieder ein Vergangen hat. Und das ist das
phänomenologische Fundament aller Zeitgesetze ... Es ist eine Evidenz, daß kein
Zeitpunkt der erste ist. Heißt das bloß, daß zu jedem Jetzt der idealen Möglichkeit nach
ein früheres solches gehören kann ? Aber dann könnte de facto eine leere Zeit sein”33.
Diese Sachlage erfordet eine nähere Bestimmung von Wirkung der «doppelten»
Intentionalität der Bewußtseinflüsse: „Das immanente zeitliche Objekt, dieser
immanente Ton-Inhalt da, ist, was er ist, nur insofern, als er während seiner
«aktuellen» Dauer verweist auf ein Künftiges und zurückweist auf ein Vergangenes.
Der Ton, der jetzt bewußt ist, ist es «in» einer Weise, tut es in einem zu
konstituierenden Phänomen so, daß dieses die ideale Möglichkeit zuläßt, den
vergangenen Verlauf eben dieses Tones neu zu vergegenwärtigen, ihn der Weise der
Vergegenwärtigung wieder zu konstituieren. Und ebenso geht eine beständige
«Intention» in die Zukunft: das aktuell gegenwärtige Stück der Dauer setzt immer
wieder ein neues Jetzt an, und eine Protention haftet an den Tonkonstituierenden
«Erscheinung», eine Protention, die sich erfüllt, solange der Ton eben dauert, als
Protention auf diesen Ton, und die sich aufhebt und verändert, wenn stattdessen etwas
Neues anfängt”34.
Anders (und deutlicher) aufgeffasst, alles das, was gibt, gibt es in einer
bestimmten Weise und nur durch Identifizierung, eigentlich durch eine
Wechselwirkung von Anwesenheit und Abwessenheit: Dinge sind in der objektiven
Zeit und erscheinen in der immanenten Zeit; die in der immanenten Zeit
erscheinenden, werden im absoluten Bewußtsein gegeben. Wichtig ist immer ein
Jetztbewußtsein.
30
Ebenda, S. 52.
31
Ebenda, S. 52, 53.
32
Ebenda, S. 54.
33
Ebenda, S. 198.
34
Ebenda, S. 297.
30 Alexandru Boboc 10
Die Zeitform als solche ist „keine Form des absoluten Seins”, sondern nur „eine
Form der Erscheinung”; die Zeit als solche ist nichts, das dauert oder sich verändert ...
Aber jedes sich durch die Zeit hindurch Erstreckende ist real, real ist der Zeitinhalt, der
«stetig» Zeit erfüllt, und indem es tut, in dieser Stetigkeit Identität begründet. Das
Identische ist das Reale”, das „dauert oder verändert sich, und «bestimmt sich» als so
und so geartet”35.
In diesem Kontext kann auch das Zusammenhalten von Gegenwärtigung und
Vergegenwärtifung näher bestimmt werden: „Gegenwätigend ist die Gegenwärtigung
in bezug auf ein sich in ihr konstituieren des Objektes. Vergegenwärtigend ist ein
Erlebnis aber in doppeltem Sinne, sofern es Vergegenwärtigung (Reproduktion) einer
entsprechenden Gegenwärtigung ist und insofern sie im Kontinuum des
Vergegenwärtigungsflußes analog wie Gegenwärtigung ein immanentes Objekt
gegenwärtige so das immanente Objekt vergegenwärtigt”36.
Das ist wesentlich die notwendige Folge der prinzipiellen Rolle des
Bewußtseins, oftmals „der größte aller philosophischen Rätsel” gennant. Von hier
aus, sind zwei Niveaus der Ordnung zu unterschieden: diejenige des Bewußtseins,
die zum Wesen des Bewußtseins überhaupt und zum Wesen aller Erleinisse gehört;
und die Zeitordnung, die den Erlebnisse objektiv zukommt.
6. Gegenwärtigung und Zeitigung: «lebendige Gegenwart». Zu Beginn
der dreißiger Jahre stellte sich Husserl die Aufgabe, die Zeitproblematik mit den
Mittels seiner Konstitutionstheorie aufzuklären. Im Vordergrund tritt so eine neue
Problemestellung auf, und das am erstens in Verbindung mit dem Verständnis aller
Intentionalität als Gegenwärtigung und Zeitigung: „Gehen wir nun – schreib
Husserl – zu den Verstandesgegenständichkeiten über. Sicher haben sie wie alle
Gegenstände ihre Gegebenheitszeit. Sie sind ebenso wie ihre formlosen Substrate
in der immanenten Zeit in einem Werdensprozeß konstituiert”37.
Phänomenologisch können wir die zeitliche Modalitäten auch «Existenz» -
modalitäten nennen, nämlich wenn man unter Existenz eben «Dasein» versteht.
Dann sind zeitliche Modalitäten, gegenwärtig, vergangen, zukünfstig, „Modi des
Da-seindes, des individuell Seienden als zeitlich seienden”38.
Ursprünglich gegeben ist das individuell Seiendes in der ursprünglicher Präsenz,
und zwar in der Wandlung dieser Zeitmodalitäten. Phänomenologisch gibt es nur
«Welt für mich» und «mich» nur in «intentionaler Weltbezogenheit. „Ist doch ein
erstes der Explikation meines eigenwesentlichen Seinshorizonte, – schrieb Husserl –
daß ich auf meine immanente Zeitlichkeit und damit auf mein Sein in Form einer
offenen Unendlichkeit eines Erlebnisstromes stoße und aller meiner darm irgendwie
beschlosenen Eigenheiten, zu denen mein Explizieren mitgehört. In lebendiger Gegen-
35
Ebenda, S. 296, 244.
36
Ebenda, S. 299.
37
E. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 309.
38
Ebenda, S. 470.
11 Zeit und Zeitbewusstsein bei Edmund Husserl 31
39
E. Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, (1930),
F. Meiner, Hamburg, 1969, S. 104.
40
Ebenda, S. 137.
41
K. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des Transzendentalen
Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, M. Nijhoff, Den
Haag (Phaenomenologica 23), 1966, S. VIII-IX.
42
E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubiektivität, Texte aus dem Nachlaß, Dritter
Teil: 1929-1935, in: Husserliana, Bd. XV, 1973, S. 362.
43
Ebenda, S. 348.
32 Alexandru Boboc 12
andere fehlen könnte. Die Zukunft ist nicht etwas, in das wir gelegentlich hinein-
blicken, die Vergagenheit nicht das, was ab und zu vor Augen geführt wird, währemd
wir sonst nur in der Gegenwart leben”44.
Husserl selbst schrieb: „Es zeigt sich dann, daß das Bewußtsein einer konkreter
Gegenwart ein Bewußtsein einer retentionelen Vergangenheitsstrecke in sich schließt,
und daß, wenn die konkrete Gegenwart zu Ende ist, eine konkrete, strömende reten-
tionale Vergangenheit sich anschließen muß. Ebenso gilt hinsichtlich des Kommenden,
daß zu jedem im Erlebnisfluß auftretenden Erlebnis ein Horizont ursprünglicher, wenn
auch ganz leerer Erwartung gehört, einer zunächst passiven Erwartung (Protention).
Zum Bewußtsein einer konkreten Gegenwart gehört also nicht nur die retentionale
Vergangenheitsstrecke, sondern ebenso die protentionale, wenn auch leere Zukunft”45.
Hier ist „der geniale Begriff von Retention und Protention zu nennen; denn
handelt es sich „um ein qualitativen und nicht um einen quantitativen Unterschiend.
Das retentional Behaltene, so wie das protentional Erwartete, gehören genauso
notwendig zum Gegebenheit des gegenwärtig Erfahrenden”46.
Trotzdem, im Gesagten liegt schon eine Schwierigkeit: Das betrifft am
erstens „das Jetzt – das nun stans, die lebendige Gegenwart... bei aller Neuigkeit
dieser Theorie bleibt aber der Vorrang der Gegenwart erhalten”47.
Der Einwand wäre, meinen wir, nur partiell berechtigt. Denn Husserl (wie
andere zeitgenösischen Denker) versuchte eine Aufhebung der traditionallen Idee
des Vorrangs der Gegenwart. Am Anfang seiner Zeitanalysen findet sich der
Gedanke einer einheitlichen Struktur der Zeitdimensionen: „Zum Bewußtsein einer
konkreten Gegenwart gehört also nicht nur die retentionale Vergangenheitsstrecke,
sondern ebenso die protentionale, wenn auch gänzlich leere Zukunft”48.
Ist es aber notwendig, an die Stelle der Gegenwart eine andere Zeitdimension
zu schieben? Es fragt sich aber, ob damit die Vorrangsfrage erledigt ist. Können wir
aber keineswegs sagen, daß diese Frage falsch gestellt ist. Wahrscheinlich bleibt die
Gegenwart sehr wichtig unter einer Zentrierungsfunktion, oder als Perspektive, „die
untrennbar zur Zeitlichkeit gehört”, nämlich die Funktion eines Zugangs, „unseres
Zugang zur Zeitlichkeit” (D. Carr). Die Zeitmodi bilden eine Einheit in ihren
Anwesenheit als Zeit.
44
D. Carr, Künftige Vergangenheit. Zur Vorrang der Zeitdimensionen bei Husserl, Dilthey
und Heidigger, in: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, hrsg. von E.W. Orth, Alber
Verlag, 1985, S. 419. 420.
45
E. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 122.
46
D. Carr, Künftige Vergangenheit, S. 419. Es ist zu beachten auch eine Meinung über den
Begriff von Retention/Protention: „Die genaue Bestimmung des Wesen dieser protentionalen
und retentionalen Modifikation der urimpressionalen Gegebenheit ist das Kernstück von
Husserls Zeitanalyse” (R. Bernet, Die Ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und
Abwesenheit in Husserls Analyse des Zeitbewußtseins, in: Phänomenologische Forschungen,
Bd. 14, Alber Verlag, 1983, S. 36.
47
D. Carr, Künftige Vergangenheit, S. 421.
48
E. Husserl, Erfahrung und Unteil, S. 122.
13 Zeit und Zeitbewusstsein bei Edmund Husserl 33
8. Husserl und Proust: zwei Wege zum geheimnisvollen Wirken der Zeit.
Mit wiederholtem Bezug auf Beispiele wollte der Begründer der Phänomenologie der
Zugang zum wahren Sinn seiner Lehren erleichtern lassen. Betreffs des Verständnisses
der gegenseitigen Bestimmung der Zeitdimensionen hat Husserl, z.B. das Hören einer
Melodie gegeben. Wichtigste für ihn bleibt aber immer die Macht des Beweises. Der
Vorrang der Gegenwart tritt so unvermutet ein, aber immer im bestimmten Kontext,
genauer: in einem Zeitigen, und betrifft derart das Gegenwärtigen, und keineswegs die
Gegenwart (als Modus der Zeit als Zeitigung). Auf diesem Ebene, und „gegen-
wärtigend”, hat die «lebendige Gegenwart» eine wirkliche Funktion und eine weitere
Bedeutung im Rahmen der Konstitutionstheorie von Husserl. Das wird deutlicher
durch eine Bezugsnahme auf den Roman von Marcel Proust „A la recherche du temps
perdu”, in dessen Entfaltung die Zeit als „Hauptperson” gilt.
Am ersten ist zu unterstreichen eine unerwartete Ähnlichkeit zwischen der
Romanstruktur und der Husserlsche „Zeitigung-Zeitlichkeit”. Mit Bezug au den Text
von Proust: „... car le style pour l’écrivain, aussi bien que la couleur pour le peintre, est
une question non de technique mais de vision” (vol. III, Pleiade, Paris, p. 895 - ...„denn
der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der
Technik, sondern eine Art zu sehen”) wurde die folgende Erklärung geliefert: „Der
Verschiedenartigkeit des möglichen Erscheinens der Welt wird erst dann deutlich,
wenn wir verstanden haben, wie die Welt sich im Bewußtsein konstituiert. Es ist ein
merkwürdiges Zusammentreffen, daß gleichzeitig dieses Problems in der Philosophie
Husserls im Mittelpunkt steht und daß in unabhängiger Parallelität Proust von ihm
eingenommen wird, ja sogar auch von Idealismus spricht, in ähnlicher Weise wie
Husserl”49.
Was das Werk von Proust gerade ausgezeichnet und ihm eine einmalige
Stellung einräumt in unserer Zeit, ist „die Hauptperson des Romans. Denn die
eigentliche Hauptperson ist nicht das erinnernde Ich oder das erinnerte Ich sondern die
ZEIT. Im Roman geschieht eine Gewichtsverlagerung von den zahlreichen Personen,
deren Leben in wahrhaft polyphoner Weise dargestellt wurde, zu der unsichtbaren und
doch allgemeinwärtigen «Person»: die Zeit”50.
In einem weiteren Sinne, Proust sowie Husserl, versuchten, verschidenerweise
aber, einen Zugang zum geheimnisvollen Wirken der Zeit zu finden. Beide wollten
über die Geschehnisse und Ereignisse zurückweisen auf die Voraussetzung, die sie
allerest ermöglicht, eine Voraussetzung, die nicht vom uns gesetzt wird, sondern
unseren Sein vorausgesetzt ist.
49
W. Biemel, Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart. Den Haag, 1968
(Phanomenologica 28), S. 169.
50
Ebenda, S. 185. Bei Proust auch wie bei Husserl gibt es nichts Bleibendes im ständigen
Vorgehen: „Was gilt, ist allein das Jetzt. Aber dieses Jetzt ist seiner Natur nach auch ein
ständige Wechselndes. Jedes Jetzt, wenn wir «Jetzt» sagen, ist selbst nicht mehr, ein
anderes Jetzt ist an seine Stelle getreten. Die Jetztheit, das was jegliches Jetzt zu einem Jetzt
macht, kann nur erkannt werden, indem der Strom zum Stehen gebracht, indem das
Identische des Jetzt herauasgehoben wird” (Ebenda, S. 177).
34 Alexandru Boboc 14
Die Zeit erscheint so nicht nur als ein theoretisches Problem, dem wir uns
zuwenden können oder nicht, sondern als die Macht, der wir in unserer Tätigkeit
immer schon ausgeliefert sind. „Nous ne pourrions pas raconter nos rapports avec
une être que nous avons même peu connu, sans faire se succeder les sites les plus
differents de notre vie” (Bd. III, 1031: „Wir könnten unser Beziehung sogar zu einem
Wesen, das wir nur wenig gekannt haben, nicht schildern, ohne nacheinander die
verschiedensten Landschaften unseres Lebens aufzuzeigen”). Husserls Antrieb zu
«Klaren Beispiele» sagt nicht anders.