GEORG LUKACS
SCHICKSALSWEN DE
GEORG LUKACS
SCHICKSALSWENDE
BEITRÄGE
ZU EINER NEUEN DEUTSCHEN
IDEOLOGIE
D
AUFBAU-VERLAG BERLIN
1956
Zweite, verbesserte Auflage
Copyright 1955 by Aufbau-Verlag, Berlin WS
Alle Rechte vorbe.halten · Prjnted in Germany···Liz~nz:..t:Jr. JOI. u.o/;or/56
Gesamtherstellung C. G. Rüder, Leipzig Ill/18/z
VORWORT
Die Neuauflage dieses Buches ist kein einfacher Nachdruck der ersten
Ausgabe von 1947; vor allem sind aus ihm einige Aufsätze, überwiegend
literaturtheoretischen Inhalts („Erzählen oder Beschreiben", „Größe und
Verfall des Expressionismus"), entfernt worden; sie erhielten ihren rich-
tigen Platz im Zusammenhang der „Probleme des Realismus". Dafür
kommen als Ergänzung der Schicksalsfragen der faschistischen Periode
einige kleinere Aufsätze zur Erstveröffentlichung, die seinerzeit in ver-
schiedenen Zeitschriften erschienen sind. Obwohl diese unmittelbar an
Tagesfragen anknüpfen und keine innere Möglichkeit haben, ihre Probleme
erschöpfend zu behandeln, habe ich mich doch zu ihrer Einreihung in
dieses Buch entschlossen, weil sie bestimmte Fragenkomplexe, die in den
ausführlicheren Essays unbehandelt blieben, wenigstens zu streifen ver-
suchen.
Das würde am Grundcharakter des Buches noch nichts ändern. Wichtiger
ist, daß seit dem Sturz des Hitlerfaschismus ein Jahrzehnt vergangen ist-,
und die Schicksalswende dieses Zusammenbruchs hat sich in ganz anderen
Formen vollzogen, als es während des Kampfes gegen Hitler voraus-
gesehen werden konnte. Heute sind der Friede, die Freiheit, die Wieder-
geburt des einheitlichen demokratischen Deutschland gegen andere, neue
Feinde zu verteidigen. Der Verfasser dieser Zeilen hat diese Fragen in
anderen Zusammenhängen ausführlicher behandelt; so zuletzt im Nach-
wort zu seinem Werk „Die Zerstörung der Vernunft". Hier werden nun
einige Studien zu dieser Thematik dem Buch einverleibt, um die neue
Lage, die neuen Aufgaben, die sich aus ihr ergeben, wenigstens anzu-
deuten. Ich muß dazu noch bemerken, daß sowohl das Nachwort zum
Zweig-Essay wie der Aufsatz über Bechers Poesie wenigstens teilweise
auch in diesen Problemkreis gehören. Die neue Auflage ist also bestrebt,
über das vielfach historisch Gewordene ihrer ursprünglichen Fassung
hinauszugehen und in das für unsere Tage spezifische ideologische Ringen
6 Vorwort
ebenfalls einzugreifen. Der Verfasser hofft, daß gerade dadurch die alten
Studien in eine neue Beleuchtung rücken: der Kampf gegen die geistigen
und moralischen, politischen und kulturellen Überreste des Hitlerismus ist
ja auch heute noch nicht abgeschlossen. Und den neuen Gegner verbinden
ideologisch vielfache Fäden mit dem alten. In diesem Sinne hofft der
Verfasser, seinen Lesern ein neues und aktuelles Buch zu überreichen.
Budapest, März 1956
DER DEUTSCHE FASCHISMUS UND NIETZSCHE
Nietzsche ist der führende Philosoph der Reaktion für die ganze imperia-
listische Periode, und zwar nicht nur in Deutschland. Wie der Einfluß
seines Lehrers Schopenhauer geht auch die Wirkung Nietzsches allent-
halben über den engen Kreis der Universitätsphilosophie hinaus, erstreckt
sich auf viele Schichten der Intelligenz und durch deren Vermittlung auf
weite Kreise des Volkes in vielen Ländern. Von Mereschkowskij und Gide
bis Spengler, Baeumler und Rosenberg gibt es keine reaktionäre Strömung
in der imperialistischen Periode, die nicht einiges Wichtige aus der Lehre
Nietzsches aufgenommen hätte. Und die Gefährlichkeit dieser Wirkung
- auch hier ist eine Parallele mit Schopenhauer gegeben - zeigt sich darin,
daß es nicht wenige Ideologen der imperialistischen Periode gibt, die sich
zwar im wesentlichen auf fortschrittlicher Linie bewegen, aber doch in
ihrer weltanschaulichen Entwicklung durch Nietzsche zeitweilig auf Irr-
wege geführt werden. (Ich weise nur auf Thomas Mann und Bernard Shaw
hin.)
Eine Parallelität Schopenhauers und Nietzsches besteht auch in der Art
ihrer Tätigkeit und ihrer Wirksamkeit. Beide sind in der Zeit ihres eigent-
lichen Schaffens sogenannte „verkannte Genies". Wie Schopenhauer erst
nach der Niederlage der Revolution von 1848 zu Ansehen kam, so wurde
auch Nietzsche erst in der imperialistischen Periode anerkannt. Beide haben
im Kampf mit den fortschrittlichen oder zaghaft reaktionären Bestrebungen
ihrer Zeit Gedankenrichtungen ausgearbeitet, die erst durch die entwickel-
tere Reaktion einer späteren Periode in den Mittelpunkt der ideologischen
Kämpfe gerückt wurden. Darum sind beide zuerst unbeachtet geblieben
und erst später weltberühmt geworden.
Die Weltwirkung Nietzsches beruht darauf, daß er für die entscheidenden
reaktionären Strömungen in der Innen- und Außenpolitik der imperiali-
stischen Periode eine passende Psychologie, Ethik und .Ästhetik gefunden
hat, daß er auf diesem Umweg breite Kreise der Intelligenz ins Lager der
Reaktion führte, die einer groben und direkten Propaganda nicht erlegen
wären. Diese Wirkung steigerte sich immer mehr mit der Entfaltung der
Unmenschlichkeit unserer Zeit. Sie erreichte ihren Gipfel unter der Hitler-
8 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
herrschaft, die Nietzsche offiziell zum Klassiker, zum Ahnen der faschisti-
schen Ideologie ernennt. In seiner Polemik gegen die „Mitläufer", die ver-
schiedene andere Stammbäume der faschistischen Ideologie aufstellen,
betont Rosenberg, daß die Nazis nur Nietzsche, Lagarde und Chamberlain
in der Vergangenheit als „ihre Philosophen" anerkennen
Die Ereignisse der Jahre 1870/71 spielten gewiß nicht zufällig eine ent-
scheidende Rolle in der Herausbildung der reaktionären Bestrebungen bei
Nietzsche. Als junger Professor meldet sich Nietzsche im Deutsch-Fran-
zösischen Krieg freiwillig und nimmt als Sanitäter am Krieg teil. Er er-
krankt allerdings ziemlich bald und kehrt nach Basel zurück, aber die Ein-
drücke des Krieges bedeuten doch einen entscheidenden Abschnitt in
seiner philosophischen Entwicklung, den ersten Schritt zu seiner Weiter-
bildung der Schopenhauerschen Willensphilosophie. Seine Schwester und
Biographin, Elisabeth Förster-Nietzsche, beschreibt, sicher nach münd-
lichen Angaben von Nietzsche selbst, seine Eindrücke von Regimentern,
die in die Schlacht ziehen: „Damals hatte er zuerst aufs tiefste empfunden,
daß der stärkste und höchste Wille zum Leben nicht in einem kümmer-
lichen Ringen ums Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als Wille zum
Kampf, als Wille zur Macht und Übermacht."
Die Begeisterung des jungen Nietzsche für den Krieg 1870/71 bestimmt
aber nicht nur die allgemeine metaphysische Grundlage seiner Philosophie.
Seine unmittelbaren Kriegseindrücke, die Hoffnungen, die er an die Bis-
marcksche Reichsgründung knüpft, haben auch einen allgemeineren In-
halt, eine konkrete politisch-soziale Linie, die für seine ganze spätere Arbeit
den Ausschlag gibt. Es handelt sich um den Kampf, den er während seines
ganzen Lebens gegen die liberale und demokratische Ideologie seiner Zeit
geführt hat. Aus dem Nachlaß wurde zu dem Erstlingswerk „Die Geburt
der Tragödie" ein Vorwort veröffentlicht, das Nietzsche im Kriegswinter
1870/71 entwarf; dort spricht er klar aus, warum er sich für die Reichs-
gründung begeistert: „ ... weil an jener Macht (am neuen Deutschen
Reich. G.L.) etwas zugrunde gehen wird, das wir als den eigentlichen
Gegner jeder tieferen Philosophie und Kunstbetrachtung hassen, ein Krank-
heitszustand, an dem das deutsche Wesen vornehmlich seit der Großen
Französischen Revolution zu leiden hat ... , ganz zu schweigen von der
großen Masse, bei der man jenes Leiden ... ,Liberalismus' nennt". Daß
Bismarck in dieser Hinsicht nicht die Erwartungen Nietzsches erfüllte, da
er ununterbrochen mit der nationalliberalen deutschen Bourgeoisie pak-
Der deutsche Faschismus und Nietzsche 9
tierte und die pseudodemokratischen Formen des Deutschen Reichs nicht
sprengte, ist die Ursache für die spätere ununterbrochene und immer hefti-
ger werdende Polemik Nietzsches gegen das Bismarck-Regime.
Der Kampf gegen die demokratische und liberale Ideologie würde aus
Nietzsche noch keinen originellen Denker machen. Dieser Kampf ist ja
das allgemeine Kennzeichen jeder romantischen Kritik des Kapitalismus.
Auch die immer stärker hervortretenden reaktionären Züge dieser Kritik
haben noch nichts wesentlich Neues zum Inhalt. Wir sehen sie auch etwa
bei Carlyle nach der Achtundvierziger Revolution ausgeprägt. Nietzsches
Kritik der liberalen Ideologie ist aber in reaktionärer Richtung weiter ent-
wickelt als die von Carlyle. Nietzsche wirkt einerseits in einem kapitalistisch
rückständigeren Land, andererseits hatte der Klassenkampf schon eine viel
höhere Stufe als zu Carlyles Zeit erreicht. Das bestimmt den besonderen
Charakter von Nietzsches romantischer Kulturkritik. Er hatte nie Sym-
pathie gefunden für eine Revolte der Volksmassen gegen den Kapitalismus,
wie das bei Carlyle in den dreißiger, vierziger Jahren der Fall war. Was
also nach 1848 einen Bruch in der Entwicklungslinie Carlyles bedeutet,
entwickelt sich bei Nietzsche organisch. Der Eindruck der Pariser Kom-
mune auf Nietzsche verstärkt nur seine reaktionären Anschauungen,
während die Achtundvierziger Revolution bei Carlyle eine Wendung her-
beiführt. Nietzsche schreibt unter dem unmittelbaren Eindruck der Kom-
mune an einen Freund: „Über den Kampf der Nationen hinaus hat uns
jener internationale Hydrakopf erschreckt, der plötzlich so furchtbar zum
Vorschein kam als Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe."
Die Verschiedenheit des Orts und der Zeit ihrer Wirksamkeit bestimmt
den Unterschied zwischen der romantischen Kritik der kapitalistischen
Kultur bei Carlyle und bei Nietzsche. Beide kritisieren den Kapitalismus
ihrer Zeit als Zerstörer der wirklichen Kultur. Carlyle verherrlicht ihm
gegenüber das Mittelalter in seiner Frühentwicklung als eine Periode der
wirtschaftlichen Ordnung im Gegensatz zur kapitalistischen Anarchie,
als ein soziales System, das die Arbeitenden versorgt, vor materiellem und
moralischem Elend bewahrt hat, wieder im Gegensatz zur freien Kon-
kurrenz seiner Zeit. Nietzsche dagegen ist ein Verherrlicher der Antike.
Aber die von ihm als Ideal aufgestellte Antike steht in krassem Gegensatz
zu dem Ideal des klassischen Humanismus. Während dieser die Sklaverei
als historisch notwendiges Übel der Antike zur Kenntnis nahm, wird sie
bei Nietzsche zum Angelpunkt der Idealisierung. In später veröffentlichten
Fragmenten zu dem geplanten zweiten Teil seines Erstlingswerkes schreibt
er: „Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen, als grausam klingende
Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre:
eine Wahrheit freilich, die über den absoluten Wert des Daseins keinen
10 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
Zweifel übrigläßt." Der letzte Satz enthält schon im Keim die spätere
Philosophie Nietzsches. Die Verknüpfung dieser Feststellung mit dem
Schopenhauerschen Pessimismus ist sowohl formell wie inhaltlich bezeich-
nend für die noch unentfaltete Entwicklung Nietzsches.
Wie Schopenhauer von diesem Pessimismus selbst zu äußerst reaktio-
nären Auffassungen geführt wurde, so erscheint diese Tendenz - freilich
verschärfter und bewußter - auch beim jungen Nietzsche. ·In denselben
Betrachtungen, aus denen wir eben zitiert haben, führt er aus: „ ... und
wenn es wahr sein sollte, daß die Griechen an ihrem Sklaventum zugrunde
gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des
Sklaventums zugrunde gehen werden ... " Und hier bezeichnet der junge
Nietzsche auch den Grund seiner leidenschaftlichen Ablehnung der moder-
nen Kultur, vor allem der modernen Demokratie. „In der neueren Zeit
bestimmt nicht der kunstbedürftige Mensch, sondern der Sklave die all-
gemeinen Vorstellungen ... Solche Phantome, wie die Würde des Men-
schen, die Würde der Arbeit, sind die dürftigeren Erzeugnisse des sich vor
sich selbst versteckenden Sklaventums." Erst von hier aus werden die Be-
sonderheit und der innere Zusammenhang der Jugendwerke Nietzsches
verständlich: die Gegenüberstellung von antiker Kultur und moderner
Kulturlosigkeit, der Kampf gegen Sokrates als ersten Ideologen der Demo-
kratie und des Plebejischen, der leidenschaftliche Angriff gegen den altern-
den David Friedrich Strauß als Typus des liberalen „Bildungsphilisters",
die Verherrlichung Schopenhauers und Richard Wagners als Vertreter der
philosophischen und künstlerischen Genialität, die der Geschichte der
Menschheit erst einen Sinn gibt.
Hier sieht man überall im Keime - freilich erst im Keime - eine neue
Etappe der reaktionären Philosophie, eine Weiterführung der Lehre
Schopenhauers, die Anpassung seiner im reaktionären Sinn höherentwickel-
ten Philosophie an die Bedingungen des heraufziehenden neuen Zeitalters,
des Monopolkapitalismus.
Zur Weltwirkung Nietzsches hat seine romantische Kritik der kapitali-
stischen Kultur entscheidend beigetragen. Verteidiger des kapitalistischen
Systems, auch in seiner preußischen antidemokratischen und militaristi-
schen Form, gab es jederzeit in Hülle und Fülle. Die Besonderheit Nietzsches
bestand aber gerade in seiner Wirkung auf eine unzufriedene, gegen die
Kulturlosigkeit der Zeit spontan und verworren rebellierende Intelligenz.
Er leitet diese Rebellion wieder in reaktionäre Bahnen zurück, und zwar
so, daß die Intellektuellen darin etwas Revolutionäres, ja eine Steigerung
ihres Rebellentums gegen die Kulturlosigkeit der Gegenwart erblicken und
somit also gewissermaßen die imperialistische Ideologie als eine Über-
windung der Kulturlosigkeit, ja des kapitalistischen Charakters der Gegen-
Der deutsche Faschismus und Nietzsche II
wart auffassen. Wie stark Nietzsche in dieser Richtung gewirkt hat, ist
daraus ersichtlich, daß sogar ein Marxist vom Range Franz Mehrings in
dessen Lehre einen „Durchgangspunkt zum Sozialismus" erblicken konnte,
daß er - freilich nur für kurze Zeit - der Meinung war, von Nietzsche aus
führe kein Weg mehr zurück zur vulgärliberalen Ideologie der Eu gen
Richter und Konsorten.
Der Irrtum Mehrings ist für die Wirkung Nietzsches außerordentlich
bezeichnend. Er beruht im wesentlichen darauf, daß seit Lass alle in gewissen
sozialistischen Kreisen eine Tradition vorhanden war, die herrschende
Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft ausschließlich in dem immer vul-
gärer werdenden Liberalismus zu sehen, ohne zu erkennen, daß der Weg
von Nietzsche aus zu einer neuen Form des reaktionären Denkens führt.
Schopenhauer hatte seinerzeit mit seinem Agnostizismus die objektive
Dialektik, mit seinem Pessimismus und Antihistorismus den Glauben an
den menschlichen Fortschritt in der deutschen Intelligenz der fünfziger
Jahre zerstört. Er half jene politische Passivität und Apathie hervorrufen,
die Bismarcks innenpolitische Siege wesentlich erleichtert haben.
Mit 1870/71 entstand aber eine neue Lage. Ihr Übergangscharakter ist
sehr rasch fühlbar geworden: teils in den immer schärfer werdenden Klas-
senkämpfen (man denke nicht nur an das „Sozialistengesetz", sondern auch
an den „Kulturkampf", an die ganze Umstellung der deutschen Wirtschafts-
politik von Freihandel auf Schutzzoll), teils in der allgemeinen Enttäuschung
jener Hoffnungen auf einen kulturellen Aufschwung Deutschlands, die
breiteste Kreise des deutschen Bürgertums und seiner Intelligenz an die
Reichsgründung knüpften. Deutschland, das sich am spätesten entwickelnde
kapitalistische Land Westeuropas, erlebt in dieser Zeit seinen wirtschaft-
lichen „Sturm und Drang" der raschen Durchkapitalisierung der ganzen
Gesellschaft, in dem es in einigen Jahrzehnten den Weg bis zum entwickel-
ten Monopolkapitalismus zurücklegte. Die Bismarcksche Reichsgründung
setzte den mißlungenen demokratischen Bestrebungen um die Einheit der
deutschen Nation ein Ende: sie ist ihre reaktionäre Erfüllung. Sie ist aber
nur in Bismarcks Illusionen der Anfang einer langen Periode der „Kon-
solidierung" eines „saturierten" Deutschland. Bismarck herrschte allerdings
zwei Jahrzehnte, wurde aber dann beiseite geschoben von Wilhelm II.,
der bereits den im besonderen Maße angriffslustigen deutschen Imperialis-
mus repräsentierte.
Es ist bezeichnend, daß Nietzsche, der nur den Anfang des Regime-
wechsels in Deutschland verfolgen konnte, entschieden mit dem neuen
Kaiser sympathisierte. Er schreibt gelegentlich an seine Schwester: „Unser
neuer Kaiser gefällt mir immer mehr. Der Wille zur Macht als Prinzip
wäre ihm schon verständlich." Es kommt natürlich gar nicht darauf an,
12 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
ob Wilhelm II. persönlich unter dem Einfluß der Nietzscheschen Theorie
des Willens zur Macht gestanden hat; seine Außenpolitik entspricht ihr
auf alle Fälle. Wichtig ist die Wendung in der deutschen Politik, die Nietz-
sche sehr bald zum führenden Ideologen der imperialistischen Periode er-
hoben hat.
Wichtig ist ferner, daß der Sieg der Philosophie Nietzsches die Art und
den Inhalt seines Kampfes gegen das Bismarcksche Deutschland und dessen
Kultur noch klarer beleuchtet. Im Gegensatz zur Auffassung vieler her-
vorragender Intellektuellen, die in diesem Kampfe Nietzsches ein Zeichen
seiner revolutionären Auffassung erblicken, ein Argument dafür, daß die
Ausnutzung Nietzsches durch den Faschismus eine Verfälschung seiner
Grundabsicht sei, ist hieraus ersichtlich, daß Nietzsche das Bismarcksche
Reich von rechts her kritisierte, im Namen und in der Vorahnung des
heranwachsenden Monopolkapitalismus, formell wie inhaltlich in einer
Philosophie der entschiedenen Reaktion, für deren Forderungen Bismarck
nicht eindeutig genug aufgetreten ist. Es ist aber zugleich wichtig, daß diese
Fortbildung der reaktionären Ideologie sich „revolutionär" gebärdet,
als eine „Umwertung aller Werte", als ein radikales Zerstören der veralteten
und dekadenten Seiten der bürgerlichen Kultur.
Die Vereinigung von pseudorevolutionärer Form und tief reaktionärem
Inhalt gibt der Philosophie Nietzsches vom Jahre 1890 an die Bedeutung,
die die Schopenhauersche Philosophie in den fünfziger Jahren des neun~
zehnten Jahrhunderts hatte: eine Ideologie der äußersten Reaktion, die sich
den Anschein einer unerschrocken revolutionären Auffassung gibt. Schopen-
hauer und nach ihm in gesteigerter Weise Nietzsche führen damit eine
neue Etappe in der Verteidigung des reaktionären Kapitalismus herauf.
Die bisherige normale und gewöhnliche Apologetik war bestrebt, nach-
zuweisen, daß die immer schärfer hervortretenden wirtschaftlichen und
politischen, sozialen und kulturellen Widersprüche des kapitalistischen
Systems in Wirklichkeit nicht existierten, daß dieses System letzten Endes
doch eine gesellschaftliche „Harmonie" verbürge. Diese Grundbehauptung
der liberalen Apologetik der bürgerlichen Gesellschaft ist durch die Ent-
wicklung der kapitalistischen Wirtschaft in steigendem Maße widerlegt
worden und konnte daher den geweckteren und gebildeteren Teil der
Intellektuellen immer weniger beeinflussen. Die Entwicklung der Gesell-
schaft beginnt den Menschen die Dialektik der gesellschaftlichen Wider-
sprüche einzupauken. Es ist kein Zufall, daß gerade die Periode, in der
Nietzsche wirksam geworden ist, für Deutschland eine ideologische Krisen-
periode bedeutet, in der ein auffallend großer Teil der jungen bürgerlichen
Intelligenz - wenn auch nur vorübergehend - mit dem Sozialismus zu
sympathisieren beginnt.
Der deutsche Faschismus und Nietzsche
Zur wirksamen Verteidigung des Kapitalismus in dieser Etappe bedarf
es also einer Philosophie, die den disharmonischen Charakter der bürger-
lichen Gesellschaft nicht nur nicht leugnet, sondern im Gegenteil von ihm
ausgeht, dieser Disharmonie jedoch eine Auslegung gibt, die zur Bejahung
der kapitalistischen Welt in ihrer reaktionärsten Form führt. Während also
die Selbstverteidigung des alten liberalen Typus die „schlechten Seiten"
des Kapitalismus zu vertuschen sucht, geht Nietzsche bei seiner Verteidi-
gung des Systems gerade von den „schlechten Seiten" aus, erkennt sie in
vollem Umfange an, legt sie jedoch, wie wir später ausführlich zeigen werden,
in einer Weise aus, daß der Monopolkapitalismus als zwingende Folge er-
scheint und bedingungslos bejaht wird. War also die liberale Verteidigung
des Kapitalismus eine direkte, so entsteht bei Nietzsche (und schon vorher bei
Schopenhauer) eine indirekte: die Schlechtigkeit, die Disharmonie der Welt
(das heißt des Kapitalismus), die Grundlage des Pessimismus als der not-
wendigen Philosophie ,,fortgeschrittener" und ,,vornehmer" Menschen,
„freier Geister", ist gerade das Sprungbrett dazu, daß man diese Welt
(die Welt des Monopolkapitalismus) leidenschaftlich bejahen und für sie
wirken soll. Daß hier eine paradoxe neue Form des „Credo guia absurdum
est" (Ich glaube, weil es absurd ist) entsteht, v~rleiht dieser Philosophie
in den Augen der bürgerlichen Intellektuellen der Krisenzeit sogar etwas
Anziehendes.
Auf einer primitiveren Stufe der Entwicklung des deutschen Kapitalis-
mus wurde Schopenhauers Wirken nur als Aufruf zur Passivität emp-
funden und hatte eine Abkehr der deutschen Intelligenz vom Wege der
demokratischen Revolution zur Folge. Nietzsche führte bereits zur aktiven
Unterstützung des entstehenden Monopolkapitalismus. Wir sehen also, wie
sehr sich Mehring in bezug auf die Wirkung Nietzsches geirrt hat. Für die
junge bürgerliche Intelligenz der Jahrhundertwende bedeutet Nietzsche
keineswegs eine Übergangsstufe zum Sozialismus, sondern umgekehrt:
der Einfluß Nietzsches verkürzte die Zeitspanne, in der die bürgerliche
Intelligenz zum Sozialismus neigte; er hat die junge Generation des begabten
intellektuellen Nachwuchses ins Lager der imperialistischen Reaktion und
Dekadenz geführt - und zwar gerade deshalb, weil die Struktur der Nietz-
scheschen Philosophie es ihr gestattete, die reaktionäre Schwenkung mit
der Illusion zu vollziehen, daß sie damit ihre Rebellion gegen die Gesell-
schaft, deren Kultur sie kritisierte, radikal steigere.
Ein ausführliches Studium der wichtigsten Persönlichkeiten des literari-
schen Umschwungs um 1890 - von Gerhart Hauptmann über Bahr,
Hartleben, Harden, Holz, Schlaf bis zu Paul Ernst - würde die Richtigkeit
dieser Feststellung schlagend erweisen. Dabei ist besonders hervorzuheben,
daß der Weg von der ehrlichen Revolte zur innerlich verlogenen Geste des
14 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
Pseudorevolutionärtums etwa Paul Ernst direkt ins Lager Hitlers geführt
hat. Und dieses Umkippen der linken Revolte auf die Seite der äußersten
Rechten wiederholt sich stets auf höherer Stufe bei jeder späteren Krise des
deutschen öffentlichen Lebens. Und in steigendem Maße ist Nietzsche in
solchen Krisen der Musaget der extremen Reaktion. Seine Wirkung auf
die deutsche Intelligenz rechtfertigt völlig die eingangs zitierte Anerken-
nung seiner Verdienste um den Faschismus durch Rosenberg.
II
Aus dieser historischen Lage erklärt sich Nietzsches Stellung in der
deutschen (und in der internationalen) Geschichte der Philosophie: er ist
ein zeitgemäßer, dem Monopolkapitalismus entsprechender Erneuerer der
Schopenhauerschen Lehre und zugleich der grundlegende Denker für die
herrschende philosophische Strömung der imperialistischen Periode, für
die „Lebensphilosophie".
Der Schopenhauersche Pessimismus, seine Willensphilosophie, sein
Irrationalismus ist, wie wir gesehen haben, die herrschende Philosophie
der reaktionären Bourgeoisie Deutschlands nach der Niederlage der Acht-
undvierziger Revolution. Die militärischen und politischen Siege des
Bismarcksystems (ab 1864) erzwingen eine zeitgemäße Weiterbildung.
Infolge der historischen Notwendigkeit einer indirekten Verteidigung des
kapitalistischen Systems bleibt der allgemein pessimistische Charakter
der Weltanschauung bewahrt. Es entsteht aber das Bedürfnis einerseits
nach einer Aktivierung der Moral im Interesse der positiven und wirk-
samen Unterstützung des reaktionärer werdenden Deutschland, andererseits
nach einer „Historisierung" der Willensphilosophie. Schopenhauer he.t der
reaktionären Entwicklung der Ideologie des 19.Jahrhunderts geholfen,
den historischen Fortschrittsbegriff, besonders in seiner entwickeltesten
Form, in der Hegelschen Philosophie, zu entthronen. Diese antihistorische
Negativität reicht jedoch für die Bedürfnisse der Reaktion in der neuen
Periode nicht aus; es ist eine historische Begründung der neuen Wendung
in der deutschen Geschichte nötig, der Perspektiven der neuen Entwicklung,
der neuen Periode des Kapitalismus (nicht nur für Deutschland).
Diese ideologischen Bedürfnisse sind in den sechziger Jahren, in der
Zeit, in der sich Nietzsches Weltanschauung bildete, außerordentlich stark.
Ihre Kraft zeigt sich auch darin, daß Nietzsche keineswegs der einzige Den-
ker war, der in dieser Übergangszeit an einer zeitgemäßen Umformung
der reaktionären Philosophie arbeitete; er ist nur auf die Dauer der wirk-
samste unter all seinen Mitstrebenden gewesen.
Der deutsche Faschismus und Nietzsche 15
Wir weisen nur auf einige Beispiele hin: 1868 ist Eduard von Hartmann
mit seiner „Philosophie des Unbewußten" aufgetreten, die ebenfalls eine
zeitgemäße Erneuerung der Schopenhauerschen Willensphilosophie und
des Pessimismus war. Die Hartmannsche Form war für die Bismarcksche
Periode des Übergangs zum Imperialismus sogar die zeitgemäßere. Darum
überstrahlte lange Zeit Hartmann den Ruhm Nietzsches, und erst in der
imperialistischen Periode wurde das anders. Hartmann ist jedoch keines-
wegs der einzige, er ist nur der berühmteste aus dieser reaktionären Gruppe.
Wir führen nur Lagarde an, den später der Faschismus ebenfalls zu
seinem Ahnherrn erkoren hat, und Constantin Frantz.
Nietzsche unterscheidet sich von seinen reaktionären Mitstrebenden vor
allem durch den Radikalismus seiner neu-reaktionären Erkenntnisse, durch
die paradoxe Spannung zwischen pseudorevolutionärer Form und reaktio-
närem Inhalt, durch das entschiedene Weglassen des alten, unbrauchbaren
ideologischen Ballastes aus der vorachtundvierziger Periode und durch das
Hineinarbeiten moderner Elemente in die neue reaktionäre Philosophie.
Dies führt in negativer Richtung zum Verwerfen der Auffassungen des
späten Schelling, den z.B. Frantz und auch Hartmann fortsetzen. Vor allem
kommt dabei die vollständige Abkehr vom Christentum und der christ-
lichen Mystik zustande. Im positiven Sinne handelt es sich um das Hinein-
arbeiten von bestimmten herrschenden aktuellen Bestrebungen der Natur-
und Gesellschaftswissenschaften, um den (zur Phrase gemachten) Dar-
winismus, um den Psychologismus und Soziologismus der französischen
Positivisten (vor allem Taines).
Seit Schelling und Schopenhauer dient die Willensphilosophie vor allem
dem Zweck, die Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit zu leugnen,
indem diese als etwas radikal Vernunftwidriges, radikal Irrationales auf-
gefaßt wird. Daraus folgt das Ersetzen der verstandes- oder vernunft-
gemäßen Erkenntnis durch verschiedene Formen der „Intuition", die für
diese Weltanschauung das allein geeignete Organ ist, dem irrationalen
Wesen der Wirklichkeit nahezukommen. Der späte Schelling hat diesen
Irrationalismus noch mit der christlichen Offenbarung verbunden. Dies
ist einer der Gründe, weshalb seine Philosophie nach 1848 von der
Schopenhauers verdrängt wurde, der die irrationale Willensmystik aus der
Schellingschen Philosophie übernahm und weiterbildete. Mit der in dieser
Periode einsetzenden rascheren Kapitalisierung Deutschlands wenden sich
immer größere und entscheidendere Schichten der Intelligenz vom Christen-
tum ab; es ist keineswegs zufällig, daß die Periode der philosophischen
Herrschaft Schopenhauers zugleich die der Wirksamkeit der deutschen
Vulgärmaterialisten, der Büchner, Vogt und Moleschott war. (Gleichzeitig
wurde allerdings die Feuerbachsche Philosophie in den Hintergrund ge-
16 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
drängt.) Die buddhistische Mystik Schopenhauers ist atheistisch, sie ist
mit diesen neuen Bestrebungen viel leichter vereinbar als die christliche
Mystik Schellings.
Nietzsche geht hier noch einen Schritt weiter: er mystifiziert nicht mehr
irgendeine alte Religion, auch nicht in der wenig verbindlichen Weise
Schopenhauers. Bei ihm tritt der Atheismus, die Anpassung der irratio-
nalistischen Mystik an die Bedürfnisse einer modernen Weltanschauung
klarer und entschiedener hervor. Selbstverständlich ist auch bei ihm die
irrationalistische Mystik entscheidend, der der Atheismus nur eine be-
sondere „zeitgemäße" Form gibt. Nietzsches Gottesleugnung ist ebenso
wie die Schopenhauers ein „religiöser Atheismus". In seinem poetischen
Hauptwerk „Also sprach Zarathustra" erklärt Nietzsche: „Gott ist tot."
Er meint also nicht, wie die materialistischen Atheisten, daß aus der ver-
nunftgemäßen, wissenschaftlichen Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit
notwendig eine Verneinung Gottes folge, daß für die Philosophie nur das
soziale und psychologische Problem gestellt sei, wie die Gottesvorstellung
entstanden sei und sich im Laufe der Geschichte weiterentwickelt habe. Bei
Nietzsche haben wir es mit einer pseudohistorischen Mystik zu tun: es gab
nach ihm eine Periode, in welcher es einen Gott (verschiedene Götter) ge-
geben hat; jetzt ist die Menschheit in die Periode getreten, in der es nun-
mehr keinen Gott gibt, in der Gott gestorben ist.
Schon hier sind die neuen Züge der Philosophie Nietzsches sichtbar. Der
radikale Antihistorismus Schopenhauers wird durch einen pseudohistori-
schen Mythos abgelöst. Dieser hat aber auch einen viel moderneren Cha-
rakter als der seiner Vorgänger. Der späte Schelling mutete dem Leser noch
einen Glauben an die christliche Offenbarung zu. Nietzsches Mythos ist
ebenso irrationalistisch, schillert aber zwischen positivistischem Unglauben,
(angeblichem) Zerstören von Geschichtsmythen und dem Erdichten von
neuen, auf zeitgemäßerer, auf „biologischer" Grundlage ruhenden Mythen.
Zwischen Nietzsche und seinen Vorgängern liegt nicht nur die Reichs-
gründung und das Erstarken der revolutionären Arbeiterbewegung (Kom-
mune), sondern auch die Weltwirkung Darwins. Nietzsches Umbau der
alten, irrationalistischen Willensphilosophie in eine Philosophie des Lebens
ist erst auf dieser Grundlage möglich geworden. Freilich muß gleich be-
tont werden, daß es sich hier niemals um den wirklichen Darwin, sondern
um den zur Phrase, zur Mythe gewordenen Darwinismus handelt. Die
Mythisierung des Darwinismus ist aber ebenfalls eine allgemeine Zeit-
erscheinung und keineswegs ein besonderer Zug Nietzsches. Ungefähr zur
Entstehungszeit des Erstlingswerks Nietzsches schreibt Marx über
F. A. Lange folgendes an Kugelmann: „Herr Lange hat nämlich eine große
Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges
Der deutsche Faschismus und Nietzsche
großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase - der
Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase - ,struggle
for life', ,Kampf ums Dasein'... Statt also den struggle for life, wie er sich
geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt,
zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die
Phrase ,struggle for life' ... umzusetzen. Man muß zugeben, daß dies eine
sehr eindringliche Methode - für gespreizte, wissenschaftlich tuende hoch-
trabende Unwissenheit und Denkfaulheit ist."
Diese Kritik gilt in gesteigertem Maße für die sogenannte Beziehung der
Philosophie Nietzsches zu Darwin. Es ist unter diesen Umständen ver-
ständlich, daß die Anhängerschaft Nietzsches darüber streitet, ob Darwin
auf ihn einen wesentlichen Einfluß ausgeübt hat oder nicht. (Simmel unter-
streicht z. B. diesen Einfluß, Elisabeth Förster-Nietzsche bestreitet ihn.)
Beide haben recht und unrecht. Richtig ist, daß sich Nietzsche schon in
seiner Studentenzeit mit der Lektüre Darwins und seiner Anhänger befaßt
hat. Es handelt sich freilich stets um ein Verständnis und eine Anwendung
im Stile Langes. Andererseits sehen wir im Laufe der Entwicklung Nietzsches
eine ständig heftiger werdende Polemik gegen sein Darwinphantom, weil
dieses nur als Ausgangspunkt, als Anlaß für seinen Mythos brauchbar ist,
nicht aber als realer Inhalt, auch nicht in einer völlig mystifizierten Form.
Immerhin trennt diese pseudoentwicklungsgeschichtliche Modernisierung
die Philosophie Nietzsches von den Lehren seiner Vorgänger, besonders
von Schopenhauer. Schopenhauer hat den Willen zum Leben in den
Mittelpunkt seiner Mythen gestellt. Bei Nietzsche wird daraus ein Wille
zur Macht. Diese Fassung ist freilich das Ergebnis der ganzen philosophi-
schen Entwicklung Nietzsches. Er beginnt seine Laufbahn als ziemlich
orthodoxer Anhänger Schopenhauers, obwohl bereits seine ersten V er-
suche der Darstellung der antiken Kultur und ihrer Aktualität für die
Erneuerung der modernen Kultur einen Schritt über den radikalen
Antihistorismus Schopenhauers hinausgehen. Dementsprechend ist die
Weiterbildung, die Modernisierung des mystifizierten Willensbegriffs über
Schopenhauer hinaus in dieser Periode noch weitestgehend spontan, die
oft wichtigen Abweichungen von der Philosophie seines Meisters sind
Nietzsche selbst zumeist noch unbewußt.
Der Beginn der bewußten Abkehr von der orthodoxen Nachfolge der
Schopenhauerschen Lehre, die mit der Enttäuschung über Wagner und
Bismarck aufs engste zusammenhängt, ist mit einer Annäherung an die
positivistisch-skeptischen Strömungen der Zeit verknüpft. Es ist für die
damaligen Bestrebungen Nietzsches bezeichnend, daß er das erste Haupt-
werk dieser Periode, „Menschliches, Allzumenschliches" (1878), dem An-
denken Voltaires widmete. Es scheint, als hätte Nietzsche damit eine radi-
18 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
---------------------------- --·-----
kale Wendung vollzogen, als hätte sich der romantische Kritiker der
modernen Kultur in einen positivistischen Aufklärer verwandelt, als wäre
der leidenschaftliche Angreifer des Sokrates mit einer jähen Wendung ein
Anhänger von Voltaire geworden.
Das ist aber nur scheinbar so. Voltaire ist für Nietzsche nur ein Vorwand
zur verschärften Fortsetzung des Kampfes gegen die Ideologie der Demo-
kratie und des Liberalismus. Der Kampf gegen das Plebejische bei Sokrates
geht weiter, nur daß jetzt Rousseau und die Ideologie der Französischen
Revolution einen ebenso wichtigen Platz in der Polemik einnehmen, wie
jener in seinen Jugendwerken. Voltaire ist nur ein Vorwand, um im Namen
eines reaktionärenAristokratismus die Demokratie zu bekämpfen. Nietzsche
schreibt: „Nicht Voltaires maßvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen
zugeneigte Natur, sondern Rousseaus leidenschaftliche Torheiten und Halb-
lügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen
den ich rufe: ,Ecrasez !'infame!'"
Der Schopenhauersche Kampf gegen den Fortschrittsgedanken - seine
Kompromittierung durch die Bezeichnung „ruchloser Optimismus" - be-
kommt bei Nietzsche einen entwickelteren, klarer gegenrevolutionären
Sinn als bei seinem Meister: der Optimismus ist plebejisch und revolutionär
und darum verächtlich und verwerflich; der Pessimismus bedeutet eine
modern wissenschaftliche, skeptische, psychologisierende, historische Hal-
tung, er ist vornehm. Einige Jahre später formuliert Nietzsche noch
schärfer, was bei ihm die „Wiederaufnahme" der Aufklärung im Gegen-
satz zur alten bedeutet. „Die neue Aufklärung - die alte war im Sinne der
demokratischen Herde: Gleichmachung aller. Die neue will den herrschen-
den Naturen den Weg zeigen; inwiefern ihnen (wie dem Staate) alles er-
laubt ist, was dem Herdenwesen nicht freisteht."
Dementsprechend vollzieht sich bei Nietzsche auch erkenntnistheoretisch
keine wirkliche Wendung, wir sehen nur eine Weiterführung dessen, was
bei Schopenhauer schon im Keime vorhanden war. Nietzsche hat stets die
berkeleyanische, agnostizistische und solipsistische Erkenntnistheorie
Schopenhauers vorausgesetzt, die jetzt bloß in eine Terminologie um-
gegossen wird, die dem modernen Positivismus außerordentlich nahesteht.
Auch hier muß man auf wichtige Parallelerscheinungen hinweisen. In den
Jahren, in denen sich die Lehre Nietzsches entwickelt, entsteht allgemein
diese typische Erkenntnistheorie des imperialistischen Zeitalters. Parallel
mit der positivistischen „Wendung" Nietzsches arbeitet der Kantianer
Vaihinger an seiner „Philosophie des Als ob"; zur gleichen Zeit bilden
sich die Erkenntnistheorien von Mach und Avenarius. Und wir finden tat-
sächlich bei Nietzsche alles, was später für den Machismus bezeichnend
wurde: vor allem den Kampf gegen die Anerkennung der objektiven
Der deutsche Faschismus und Nietzsche
Wirklichkeit der Außenwelt, ferner die Auffassung der Erkenntnis als
eines bloßen Ordnens der Erlebnisse, den reinen Fiktionscharakter aller
Kategorien, die Theorie der Introjektion. (Dies letztere wird von Nietzsche
besonders energisch hervorgehoben: „Der Mensch findet zuletzt in den
Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: - Das
Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken - Kunst, Religion,
Liebe, Stolz.") Diese Verwandtschaft des Machismus mit Nietzsche wird
im Laufe der Entwicklung in steigendem Maße anerkannt. Und ganz wie
im Machismus tritt der extreme subjektive Idealismus Nietzsches, dieses
radikale Leugnen der objektiven Wirklichkeit, also der erkenntnistheoreti-
sche Kampf gegen den Materialismus, mit dem Anspruch auf, sich über den
Gegensatz von Idealismus und Materialismus erhoben zu haben; ja,
Nietzsche gebärdet sich zumeist so, als führe er den Hauptkampf gegen den
Idealismus.
Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage baut nun Nietzsche seine
Lebensphilosophie auf; hier wird die Beziehung zu dem zum Mythos ge-
machten Darwinismus für sein Denken wichtig. Der vollständige Relativis-
mus, der bei Nietzsche erkenntnistheoretisch entsteht, kennt nur ein einziges
Wahrheitskriterium: wie eine Theorie, eine Moral, eine Kunst auf das
„Leben" wirkt, das heißt, wieweit sie lebensfördernd oder lebenshemmend
ist. Jede Neigung, der Wahrheit eine objektive Bedeutung zuzusprechen
(das heißt eine Neigung zur objektiven wissenschaftlichen Erforschung der
Wirklichkeit), verurteilt Nietzsche als „krankhaft", als „dekadent", als
„idealistisch".
III
Der Lebensbegriff Nietzsches und dementsprechend sein Verhältnis zu
dem mythisierten Darwinismus kann nur aus seiner Sozialphilosophie und
Moral verstanden werden, obwohl Nietzsche sich selbst den Anschein gibt,
als leitete er alle Folgerungen aus der Biologie ab: Nietzsches sogenannte
Biologie ist nur ein, zumeist kindlicher, mythischer Aufputz seiner gesell-
schaftlichen Zielsetzungen.
Denken wir an die Anfänge Nietzsches. Er begrüßt die Bismarcksche
Reichsgründung als Ende der bürgerlich-liberalen Kulturlosigkeit und ist
zugleich erschrocken über die „Hydra" der proletarischen Revolution, über
die Pariser Kommune. Er geht von der damals pessimistisch gewerteten
Annahme aus, daß keine Kultur ohne Sklaverei möglich sei. Von hier aus
stellt er die Frage nach einer modernen Kultur, von hier geht seine politi-
sche Enttäuschung über Bismarck aus und seine künstlerische Enttäuschung
über Richard Wagner. Die Antworten, die er nun für die Zukunft der
20 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
modernen Kultur findet, machen ihn zum führenden reaktionären Philo-
sophen der imperialistischen Periode.
Diese Sozialphilosophie Nietzsches ist von großer Einfachheit und
Banalität. Uneingestandenerweise steht in ihrem Mittelpunkt der leiden-
schaftliche Kampf gegen die sozialistische Arbeiterbewegung. Mehring hat
richtig nachgewiesen, daß Nietzsche in seiner Argumentation gegen den
Sozialismus auch nicht auf die geringste Originalität Anspruch erheben
kann, sondern fast alles aus Werken früherer Reaktionäre wie Leo und
Treitschke abschreibt. Trotzdem halten wir es für wichtig, wenigstens
einen solchen Ausfall Nietzsches im einzelnen anzuführen, damit für jeden
Leser der Verbindungsweg sichtbar werde, der von hier zur faschistischen
Barbarei führt. In seiner mittleren Periode schreibt Nietzsche:
„ Vom Mangel der vornehmen Form. - Soldaten und Führer haben immer
noch ein viel höheres Verhalten zueinander als Arbeiter und Arbeitgeber.
Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete Kultur noch hoch
über aller sogenannten industriellen Kultur: letztere in ihrer jetzigen Ge-
stalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat.
Hier wirkt einfach das Gesetz der Not, man will leben und muß sich ver-
kaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich die Arbeit
kauft. Es ist seltsam, daß die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende,
ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei weitem nicht
so peinlich empfunden wird als diese Unterwerfung unter unbekannte und
uninteressante Personen, wie es alle Größen der Industrie sind; in dem
Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugen-
den, auf alle Not spekulierenden Hund von Menschen, dessen Name, Ge-
stalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabrikanten und Groß-
unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene
Formen und Abzeichen der hö"heren Rasse, welche erst die Personen inter-
essant werden lassen. Hätten sie die Vornehmheit des Geburtsadels im
Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der
Massen. Denn diese sind im Grund bereit zur Sklaverei jeder Art, voraus-
gesetzt, daß der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Be-
fehlen geboren legitimiert - durch die vornehme Form! Der gemeinste
Mann fühlt, daß die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und daß er in
ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat, - aber die Abwesenheit der
höheren Form und die berüchtigtste Fabrikantenvulgarität mit roten feisten
Händen bringen ihn auf den Gedanken, daß nur Zufall und Glück hier den
einen über den anderen erhoben habe: wohlan, so schließt er bei sich, ver-
suchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die
Würfel! - und der Sozialismus beginnt."
Diese Stellung Nietzsches zum Emanzipationskampf des Proletariats, die
Der deutsche Faschismus und Nietzsche 21
von der gewöhnlichen preußischen Reaktion Treitschkes zum Imperialis-
mus und zum Faschismus überleitet, ist der Schlüssel zu seinem Kampf
gegen die Demokratie, der wiederum den für seine Wirkung entscheiden-
den Teil seiner Philosophie bildet.
Nietzsches Entwicklung zeigt eine ständige Verschärfung seiner Polemik
gegen das Christentum. Auch hier scheint sein Auftreten äußerst radikal
zu sein. Nietzsche empfindet sich in steigendem Maße als Todfeind der
Religion und des Christentums. Ein von ihm literarisch nicht vollendeter
Teil des Hauptwerks trägt den Titel „Der Antichrist". Weil er die ganze
Kultur seiner Zeit - von der Politik Bismarcks bis zur Kunst Richard
Wagners - geistreich kritisiert, weil er als „sehr freier Geist", als „guter
Europäer" das Christentum und die Religion überhaupt leidenschaftlich
angreift, entsteht die Täuschung, Nietzsche sei ein äußerst radikaler
Kämpfer gegen alles Rückständige in seiner Zeit und ein radikaler „Um-
wertet aller Werte" gewesen. Einer der ersten begeisterten Verehrer
Nietzsches, der liberale Literarhistoriker Georg Brandes, nannte seine Philo-
sophie einen „aristokratischen Radikalismus". Und es ist für den Mause-
rungsprozeß in der entwickeltsten bürgerlichen Intelligenz zur Zeit des
Übergangs zur imperialistischen Periode sehr bezeichnend, daß der liberale
Brandes, ein Vorkämpfer aller modernen Bestrebungen, in diesem aristo-
kratischen Radikalismus einen Vorzug der Philosophie Nietzsches sah und
große Sympathien für Nietzsches „tiefen Unwillen gegen demokratische
Mittelmäßigkeit" empfand. Die Enttäuschung über die bürgerliche Demo-
kratie und die Kulturlosigkeit der Zeit ist das Anzeichen einer allgemeinen
Krise in der bürgerlichen Intelligenz. Diese Krise hat manchen ihrer hervor-
ragenden Vertreter zur Demokratie, ja auch zum Sozialismus geführt.
Nietzsche sah seine Sendung darin, diesen Klärungsprozeß zu verwirren
und die von der Krise erfaßte bürgerliche Intelligenz ins Lager der impe-
rialistischen Reaktion zurückzuführen. Der Grundgedanke der Kulturkritik
Nietzsches, die auf ganze Generationen der Intelligenz faszinierend wirkte,
war, daß für alle Kulturlosigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft nicht
deren ökonomische Struktur, sondern die Demokratie verantwortlich sei,
daß ein Zerbrechen der Demokratie, das Zerstören der demokratischen Ideo-
logie der einzige Weg sei, aus der kulturellen Dekadenz herauszukommen.
Aus eben diesem Grunde richtet sich die Polemik Nietzsches vor allem gegen
die Forderung der Gleichheit. In ihr sieht er das böse Prinzip, das Prinzip
der Naturwidrigkeit und Lebensfeindlichkeit.
Erst wenn wir diesen Zentralpunkt der Philosophie Nietzsches klar er-
blicken, können wir auch die „biologische" Begründung seiner Lebens-
philosophie richtig bewerten. Diese geht nämlich vom „aristokratischen"
Charakter der Natur aus und will die Klassenschichtung der Gesellschaft
22 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
als ewige „biologische" Gesetzmäßigkeit der Natur darlegen. Dabei kommt
es zu ganz kindlichen Analogieschlüssen, für die wir nur einige bezeich-
nende Beispiele anführen. So sagt Nietzsche, indem er die antike Fabel des
Menenius Agrippa, die auch in Shakespeares „Coriolanus" benutzt wird,
in moderner Terminologie unbewußt parodiert: „Der Leib als Herrschafts-
gebilde. Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf
der Zellen und Gewebe). Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere
Typus nur möglich durch Herunterdriickung eines niederen auf eine Funk-
tion." Dieses „biologische Gesetz" glaubt nun Nietzsche auf die Ge-
sellschaft anwenden zu können, ohne zu bemerken, daß er eine plump
reaktionäre Gesellschaftsauffassung naiv und unwissenschaftlich als biolo-
gisches Gesetz ausgesprochen hat. Darum fährt er so fort: „Schluß auf die
Entwicklung der Menschheit: Die Vervollkommnung besteht in der Her-
vorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte
Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes
Werkzeug)."
Bei einer solchen sozialen Weltanschauung Nietzsches wird es uns nicht
überraschen, daß er auch die Ausbeutung als Prinzip des „Lebens", des
Willens zur Macht in der Natur, in der Biologie vorzufinden meint und
glaubt, daß ihre Unvermeidlichkeit in der Gesellschaft ebenfalls auf einer
solchen „biologischen Gesetzmäßigkeit" beruhe. Er schreibt: „Leben selbst
ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und
Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwingung eigener Formen, Ein-
verleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung ... Die ,Ausbeutung'
gehört nicht einer verderbten oder unvollkommenen und primitiven Gesell-
schaft an: sie gehört ins Wesen des Lebendigen, als organische Grund-
funktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben
Wille des Lebens ist." Es ist wohl jedem ohne Kommentar klar, daß
Nietzsche auch hier dieselbe naive und brutale Umkehrung vollzieht, auf
die wir oben hingewiesen haben.
Auf der Grundlage einer solchen „ biologischen Gesetzmäßigkeit"
kämpft Nietzsche gegen Christentum und Demokratie, die beide Ver-
letzungen dieses Grundprinzips der „Natur" des „Lebens" darstellen. Da-
mit enthüllt sich das wahre Wesen von Nietzsches „Freidenkertum". Sein
Kampf gegen das Christentum beruht darauf, daß er in ihm den Ahnen der
modernen Demokratie erblickt. Die Gleichheit der Seelen vor Gott im
Christentum ist der Anfang der demokratischen Entartung. Nietzsche sagt:
„Man hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit erst religiös stammeln
gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus gemacht: was Wunder, daß
der Mensch damit endet, ihn ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen!
will sagen: politisch, demokratisch, sozialistisch ... "
Der deutsche Faschismus und Nietzsche 23
Das ist die Hauptanklage, die Nietzsche gegen das Christentum erhebt.
Das Christentum begünstige das Herdentier, es sei aus der „Unterwelt" der
Antike emporgestiegen, es gehe gegen alle moralischen Instinkte der
herrschenden Klassen: sein Begründer Jesus ist ein „politischer Ver-
brecher" gewesen.
Das ganze Auftreten Nietzsches als „Antichrist" ist aber nur eine Ein-
leitung zum Kampf gegen die moderne Demokratie. „Fortsetzung des
Christentums durch die Franzßsische Revolution. Der Verführer ist Rousseau ...
Dann kommt ... , daß das ,Glück aller' ein erstrebenswertes Ziel sei (d. h.
das Himmelreich Christi). Wir sind auf dem besten Wege: Das Himmel-
reich der Armen des Geistes hat begonnen. - Zwischenstufen: der
Bourgeois (infolge des Geldes Parvenü) und der Arbeiter (infolge der
Maschine)." Und an anderer Stelle gibt er die Ahnentafel für „den Gegen-
satz-Typus des starken, des freigewordenen Geistes", nämlich: „Savonarola,
Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon".
Indem das Christentum und die aus ihm entstandene Demokratie das
„biologische Grundgesetz" des Lebens verletzen, sind sie verantwortlich
für die moderne Dekadenz. Die Demokratie respräsentiert in Nietzsches
Augen nicht nur den „Verfall des Staates", sondern auch und vor allem die
„Verdummung Europas und Verkleinerung des europäischen Menschen".
Die Demokratie führt die ganze Menschheit in die Sackgasse der Dekadenz;
mit der Vernichtung der Ungleichheit verschwindet alles Hohe und Große
aus der Menschheit, es entsteht die tiefe und allgemeine Gleichgültigkeit
allen Werten gegenüber. Die Demokratie produziert nach den Worten des
„Zarathustra" den völlig verächtlichen Typus des „letzten Menschen",
des negativen Gegenbildes zu Nietzsches Ideal vom „Übermenschen".
Der faschistische Philosoph Alfred Baeumler bezeichnet jenen ganz im
Sinne Nietzsches als „Funktionär der demokratisch-sozialistischen Gesell-
schaft." In dieser Herrschaft der Demokratie ist jede Rangordnung zer-
stört, es entsteht eine allgemeine Herrschaft des Pöbels. „Pöbel oben,
Pöbel unten", wie es im „Zarathustra" heißt.
Indem nun Nietzsche gezwungen ist, anzuerkennen, daß in der Gesell-
schaft seiner Zeit tatsächlich die Demokratie herrscht, muß er nun seine
Stellung zum Darwinismus ändern. Wir haben seinen „biologischen"
Aristokratismus bereits kennengelernt und die darin enthaltene wüste
Mythologisierung einzelner Brocken aus dem vulgären Darwinismus. Der
Übermensch, das neue Ideal seiner letzten Periode, stammt aus demselben
biologischen Mythos. Solange Nietzsche auf eine Wendung der Geschichte
zum Sieg der „höheren Rasse" hoffen konnte, war seine Stellung zum Dar-
winismus nicht ausgesprochen feindlich. Die erzwungene Einsicht von
der Herrschaft der Demokratie (die er freilich immer für eine vorüber-
24 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
gehende hält) verschärft seine Stellung zum „Kampf ums Dasein". Denn
dieser hat ja gesellschaftlich mit dem Sieg der „Schwachen", des Pöbels
geendet - wie könnte dann diese Lehre richtig sein?
Um seine Ablehnung zu begründen, gibt Nietzsche eine oberflächliche,
von Wissen nicht sehr beschwerte Kritik des Darwinismus, z. B. der Nütz-
lichkeit der einzelnen Organe, des Hungers als Motiv usw. An ihre Stelle
tritt in steigendem Maße der Mythos vom Willen zur Macht. „Die Physio-
logen sollten sich besinnen, den ,Erhaltungstrieb' als kardinalen Trieb
eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges
seine Kraft auslassen: die ,Erhaltung' ist nur eine der Konsequenzen davon."
Und diese kindliche Analogiesucherei geht so weit, daß er sogar die Atom-
lehre durch einen Willen zur Macht der physikalischen Körper zu ersetzen
versucht. Diese „Kritik des Darwinismus" gipfelt darin, daß Nietzsche
wiederum sein gesellschaftliches Ideal in die Natur hineinprojiziert und die
Herrschaft einer Minderheit über die große Masse als Naturgesetz dar-
stellt. „Die Steigerung des Typus verhängnisvoll für die Erhaltung der Art."
Dieser biologische Mythos ist nun die Grundlage seiner Kritik der ge-
genwärtigen Kultur als Dekadenz und zugleich seiner Zukunftsperspek-
tive des Übermenschen, der Umwertung aller Werte.
Wichtig ist die Doppelseitigkeit in der Kritik, die Nietzsche an der Deka-
denz übt. Darin kommen seine Stellung zur romantischen Kritik des Kapi-
talismus, sowohl seine Verbundenheit mit dieser wie seine Verschiedenheit
von ihr, und besonders die Punkte, an denen er in reaktionärer Richtung
über sie hinausgeht, zum Ausdruck. Nietzsche bekämpft die bürgerliche
Kultur seiner Gegenwart als dekadent, ebenso wie die früheren roman-
tischen Kritiker des Kapitalismus. Er stellt ihr jedoch nicht die patriar-
chalische Kultur des Mittelalters, des Zeitalters vor dem allgemeinen Waren-
verkehr, als positives Ideal gegenüber, wie diese, sondern die Utopie von
einer entwickelteren, aristokratischeren Form des Kapitalismus selbst, eine
Utopie, die sich sehr bald im imperialistischen Monopolkapitalismus ver-
wirklicht hat.
Die Entwicklung Nietzsches zeigt eine allmähliche, aber immer stärkere
Trennung von der Romantik, mit der sein Denken anfangs eine große Ver-
wandtschaft zeigt. Das Prinzip des Dionysischen, der tragende Pfeiler der
Interpretation der Antike in seinen Jugendwerken, ist aus der romantischen
Forschung entnommen und von Nietzsche nur außerordentlich und unbe-
rechtigt verallgemeinert worden. (Auch hier ist Nietzsche weit weniger
originell, als er sich selbst einbildet und als seine Verehrer meinen.) Dieser
anfangs romantische Begriff bildet sich aber bei Nietzsche immer stärker
um und wird für ihn später geradezu zum Gegenpol der Romantik: eben als
Ausdruck für die früher hervorgehobene Verschiedenheit ihrer sozialen
Der deutsche Faschismus und Nietzsche 25
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~--~~~
Ideale. Im Prinzip des Dionysischen soll die Bejahung des Lebens, der ent-
stehenden neuen Zeit enthalten sein, im Gegensatz zur Romantik im eigent-
lichen Sinne, die von Rousseau abstammt und vielfach mit der Demokratie
in Berührung steht. (Nietzsche weist wiederholt auf Victor Hugo, George
Sand, Michelet u. a. hin.)
Obwohl die Romantik als Dekadenz, als Nihilismus verurteilt wird,
kommt es nie zu einem vollkommenen Bruch. Nietzsche weiß selbst sehr
genau, wie tief er mit der Dekadenz verbunden ist. In seiner autobiographi-
schen Schrift „Ecce homo" sagt er: „Abgerechnet nämlich, daß ich ein
decadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz." Als scharfsinniger Kritiker
der modernen Kultur, die er in vielen einzelnen psychologischen und ästhe-
tischen Symptomen kennt, sieht Nietzsche klar, daß diese beiden Tendenzen
ununterbrochen ineinander übergehen. Er unterscheidet und bewertet das
Unterschiedene auch nicht nach einzelnen Symptomen, sondern danach,
ob die Dekadenz und der Nihilismus aus Stärke oder aus Schwäche stam-
men, das heißt danach, ob die betreffende Erscheinung oder Tendenz zur
Bejahung oder Verneinung der kommenden imperialistischen Periode führt.
In der Gegenwart sieht also Nietzsche eine Mischung der beiden ver-
wandten und doch gegensätzlichen Tendenzen. Alle bedeutenden, ungewöhn-
lichen Menschen dieser Zeit müssen nach ihm an der Herrschaft der Demo-
kratie „erkranken". Der so entstehende, bis zur Krankheit gesteigerte Ekel
an der Demokratie (Pessimismus, Nihilismus, Dekadenz) kann nach Nietz-
sche etwas Positives sein, einen Weg in die Zukunft weisen, wenn die von
ihm erfaßten Menschen alle plebejischen Einflüsse der Zeit überwinden,
sich entschlossen zum Kampf gegen die Demokratie, zur Umwertung aller
Werte entschließen. (Im vierten Teil des „Zarathustra" gibt Nietzsche ein
ausführliches Bild der verschiedenen Typen der Dekadenz und läßt zu-
gleich wissen, innerhalb welcher Grenzen er sie als seine Bundesgenossen
anerkennt.)
Worin besteht nun die von Nietzsche geforderte Umwandlung der
Menschen? Vor allem in einem neuen Bild der Zukunft. Nietzsche meint,
daß die Welt über den engen Nationalismus und Provinzialismus seiner
Gegenwart hinauswachse, daß das Zeitalter der großen Politik und der
großen Kriege beginne, ein Zeitalter, zu dessen Führung er Bismarck für
ungeeignet hält. In sozialer Hinsicht entwickelt er folgendes Bild der
kommenden „Herren der Erde": „Der Anblick des jetzigen Europäers
gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende
Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Herdenmasse." Die Aufgabe
der Philosophie ist nun, eine Moral zu schaffen, „mit der Absicht, eine
regierende Kaste zu züchten - die zukünftigen Herren der Erde ..." Um
diesen Zustand herbeizuführen, bedarf es „eines neuen Terrorismus".
z6 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
Betrachten wir nun jene Moral, die nach Nietzsche zum Heranzüchten
einer solchen Herrenrasse notwendig ist. Am Anfang steht eine erneute
Barbarisierung der Instinkte: „Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus
furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind
die Barbaren des zwanzigsten J ahrhun,derts? Offenbar werden sie erst nach
ungeheuren sozialen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren ... "
Hier ist Nietzsche deutlich ein Prophet des Hitlerismus.
Das Ideal der Barbarisierung der menschlichen Instinkte geht als Leit-
faden durch die ganze Entwicklung Nietzsches. Wir können es bereits
in seinen Jugendwerken sehen, als angeblich originellen Kampf um ein
tieferes Verständnis der Antike. Der in Einzelheiten berechtigte Kampf
gegen die akademischen Konventionen in der Auffassung der Antike bildet
den Köder für die unzufriedene Intelligenz; der wesentliche Inhalt ist die
Entdeckung des Barbarismus als des wirklichen Leitprinzips der Antike.
Diese „Geschichtsphilosophie" dehnt Nietzsche später auf die Renaissance,
auf das Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts aus. Überall sieht er Vor-
bilder für den ersehnten, kommenden Barbarentypus der Zukunft.
Barbarei steht nach Nietzsche amAnfang einer jeden Kultur, und Barbarei
ist nach seinem Ideal der Abschluß, die Krönung der Kulturentwicklung.
In seinem abschließenden Hauptwerk bestimmt er das Ideal des Über-
menschen so: „Der Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch
ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem
Wachstum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das
Tiefe und Furchtbare: man soll das eine nicht wollen, ohne das andere -
oder vielmehr: je gründlicher man das eine will, um so gründlicher erreicht
man gerade das andere."
Zu alledem ist vor allem eine Überwindung des (christlich-demokrati-
schen) Gewissens notwendig. Das Gewissen ist nach Nietzsche die nach
innen gekehrte Grausamkeit der ursprünglichen Barbaren, eine Verkehrung,
die das zerstörende Werk von Christentum und Demokratie ist. Die Auf-
gabe der neuen Moral besteht vor allem darin, den Menschen in dieser Hin-
sicht freizumachen, ihn vom Gewissen zu befreien, zu erreichen, daß seine
ursprüngliche Grausamkeit sich wieder nach außen wende. Da Nietzsche
in Unterdrückung und Ausbeutung, wie wir gesehen haben, „biologische"
Grundtatsachen sieht, will seine Moral alles beseitigen, was das Ausleben
der „gesunden Naturinstinkte" des Menschen hindert. „Ich bekämpfe den
Gedanken, daß der Egoismus schädlich und verwerflich ist: ich will dem
Egoismus das gute Gewissen schaffen." Der „Pessimismus der Stärke",
die Überwindung der Dekadenz von innen heraus ist deshalb eine Bejahung
des Animalischen im Menschen: „Die Animalität erregt jetzt nicht mehr
Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermut zugunsten des Tiers
Der deutsche Faschismus und Nietzsche
im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste Form der Geistig-
keit."
Hat man einmal diese Grundprinzipien der Nietzscheschen Moral und So-
zialphilosophie klar erblickt, so findet man es selbstverständlich, daß er zum
begeisterten Propheten des Militarismus der imperialistischen Periode ge-
worden ist. Wir haben bereits zur Kenntnis genommen, daß er die Mili-
tarisierung des Arbeitsverhältnisses als Ideal betrachtet. Es ist nur konse-
quent, daß er den Militarismus selbst begeistert bejaht. „Ich freue mich der
militärischen Entwicklung Europas ... Der Barbar ist in jedem von uns
bejaht, auch das wilde Tier." Und in völliger Übereinstimmung mit seinen
Grundanschauungen verherrlicht deshalb Nietzsche den imperialistischen
Militärstaat, das Hinüberwachsen des militaristischen Preußen in die von
ihm erträumte kommende Zeit der „Herren der Erde": „Die Aufrecht-
erhaltung des Militä"rstaats ist das allerletzte Mittel, die große Tradition, sei
es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch,
des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz
der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen (z. B.
Nationalismus, Schutzzoll)." Nietzsche, der im allgemeinen, wie wir ge-
sehen haben, ein Verächter von Provinzialismus und Nationalismus ge-
wesen ist, findet letzteren bejahenswert, sofern er nur zum Organ des im-
perialistischen Militarismus, der imperialistischen Kämpfe um die Welt-
herrschaft, der imperialistischen Kriege wird.
Es sind keine ausführlichen Kommentare notwendig, um den Zusammen-
hang dieser Gedanken mit allen reaktionären Ideologien der imperialisti-
schen Periode bis zum Faschismus klarzulegen.Freilich wird der Zusammen-
hang von vielen Verehrern Nietzsches verdunkelt, und der schillernde,
unsystematische, aphoristische Stil seiner Philosophie trägt auch viel zur
Möglichkeit einer Verdunkelung bei. Denn es gibt bei Nietzsche eine breite,
auf weiten Strecken geistreiche und treffende Kulturkritik des kapitalisti-
schen Zeitalters, bei der nicht in jedem Aphorismus die barbarisch-reaktio-
nären Grundgedanken offen auftreten (wenn sie auch die weltanschauliche
Basis der Kulturkritik bilden). Diese Kulturkritik hat auf die Weltintelligenz
der imperialistischen Periode eine ungeheure Wirkung ausgeübt, und es
gibt sehr viele Darstellungen der Lehre Nietzsches, die sich ausdrücklich
auf sie beschränken und das von uns hervorgehobene tragende Skelett der
Philosophie Nietzsches völlig unbeachtet lassen. Trotz dieser - bewußten
oder unbewußten - Verdunkelungen ist in der Wirkung Nietzsches das
reaktionäre Wesen seiner Philosophie, ihr Wille zur Barbarisierung der
Menschheit immer klarer hervorgetreten. Zuletzt hat, wie wir gezeigt haben,
der Faschist Rosenberg dieses Verdienst Nietzsches dankbar quittiert und
ihm im Pantheon des Nazismus als Ahnen Hitlers einen Ehrenplatz gesichert.
28 Der deutsche Faschismus und Nietzsche
Selbstverständlich ist Nietzsches Lehre mit der offiziellen Ideologie des
Hitlerismus nicht identisch. Sie kann es schon deshalb nicht sein, weil
Nietzsche am Vorabend des Imperialismus zu denken aufhörte: bei ihm
ist also das Zeitalter der imperialistischen Barbarei noch ein Zukunftstraum,
während die faschistische Ideologie als widerwärtiges Fäulnisprodukt des
entfalteten Imperialismus entstanden ist. Dieser Unterschied der Perioden
bestimmt auch den Unterschied des gedanklichen und ästhetischen Niveaus.
Nietzsche ist ein Mensch von breiter und vielseitiger Bildung, im Gegen-
satz zur Unwissenheit von Hitler oder Göring, zur protzenhaften Halb-
bildung eines Rosenberg oder Goebbels; er ist bei aller Manier ein geist-
reicher und bedeutender Stilist, der - wenn auch oft problematisch - doch
sprachschöpferisch gewirkt hat, im Gegensatz zur Barbarisierung und Ver-
gewaltigung der deutschen Sprache unter der Tyrannei Hitlers. Daneben
könnte man auch noch auf viele einzelne Abweichungen hinweisen. So hat
Nietzsche den Antisemitismus immer verachtet.
Trotz all dieser gedanklichen, ästhetischen und moralischen Unterschiede
hat Rosenberg Nietzsche mit Recht zum Ahnen des deutschen Faschismus
ernannt. Denn Nietzsche hat in die deutsche Philosophie die Verherrli-
chung der Barbarei getragen, und je gerechter man seine geistigen Fähig-
keiten, seine kulturkritische Arbeit einschätzt, um so klarer muß man sehen,
daß die von ihm vollzogene Wendung die Grundlage zu jener reaktionären
Entwicklung der deutschen Ideologie geschaffen hat, aus der dann der
Faschismus sein geistiges Rüstzeug bezog.
1943
DER DEUTSCHE FASCHISMUS UND HEGEL
Im Grunde genommen ist die Beziehung der Hitlerfaschisten zur Hegel-
schen Philosophie recht einfach: sie lehnen sie entschieden ab. Alfred
Rosenberg erblickt in der Verbindung zwischen Hegel und Marx geradezu
einen Hauptgrund, die Hegelsche Philosophie als eine dem „National-
sozialismus" feindliche, von ihm radikal bekämpfte Richtung darzustellen.
Natürlich ist das nicht das einzige Motiv für die feindliche Einstellung.
Die Ablehnung Hegels konzentriert sich bei den Nazis, wie wir später
ausführlich zeigen werden, auf die Probleme der Vernünftigkeit der Welt,
auf die Lehre von der Entwicklung, vor allem aber auf die Staatstheorie.
Diese Ablehnung der Hegelschen Philosophie wird - mit wenigen, nicht
entscheidenden Ausnahmen - auf den ganzen klassischen deutschen Idea-
lismus ausgedehnt.
Alfred Baeumler, der gleich nach der Machtergreifung Hitlers zum
Professor der politischen Pädagogik an der Berliner Universität ernannt
wurde, spricht in seiner Antrittsrede dieses Programm klar aus: „Die
systematische Kritik an der idealistischen Überlieferung gehört zu unserer
künftigen Arbeit." Sie ist, wie Baeumler ausführt, eine Polemik gegen die
Weltanschauung der „vergangenen" Welt des Bürgers, gegen die Welt
der „Sekurität" des neunzehnten Jahrhunderts, den Liberalismus usw.
In seinem früher erschienenen Buch über Nietzsche gibt Baeumler eine aus-
führliche Deutung dieses Programms. Er spricht über den Kampf des
jungen Nietzsche gegen D. F. Strauß, den er als einen Kampf gegen Hegel
auffaßt. „Wenn aber Nietzsche die ,Apotheose' des Staates verhöhnt, so
denkt er ... mit richtigem Instinkt an den Hegelschen Totalstaat als Kul-
turstaat ... Es ist der zum Staat konkretisierte Geist von Weimar, den Nietz-
sche bekämpft. Hegel ist der Denker der Klassik ... " Hegel ist weiter nach
Baeumlers Auffassung der ideologische Begründet des Nationalliberalismus,
einer „Synthese von Aufklärung und Romantik", die die Bismarcksche
und Wilhelminische Periode geistig beherrscht, um im Weltkrieg zusam-
menzubrechen, um jene Krise hervorzurufen, deren prophetischer Künder
Der deutsche Faschismus und Hegel
nach Baeumlers Auffassung Nietzsche gewesen, die positiv zu lösen der
„Nationalsozialismus" berufen sei.
Zu diesem Zweck führt Baeumler eine systematische Kampagne zur Er-
neuerung aller reaktionären Erscheinungen der deutschen Romantik,
vom „Turnvater" Jahn bis zu Görres. Und er meint ganz folgerichtig,
daß man für diese Gestalten in der Geschichte keinen Raum schaffen kann,
„ohne die Überlieferung des neunzehnten Jahrhunderts von der über-
ragenden Bedeutung des klassizistischen Weimar und der Freundschaft
Goethes und Schillers zu zerstören. Wir können unsere Weltanschauung
nicht philosophisch ausdrücken, ohne die Gedankenentwicklung, die von
Kant zu Nietzsche führt, kritisch zu beherrschen. Mit den Formeln Fichtes
und Hegels, auch wenn sie noch so tief verstanden werden, ist unsere Welt
nicht mehr zu fassen. Und doch ist nichts häufiger als der Versuch, z. B.
Fichtes Gedankenwelt mit der nationalsozialistischen gleichzusetzen.
Es würde sich nichts ändern, wenn an die Stelle der Fichte-Kentauern
der Hegel-Kentauer träte. Wir müssen mit den Augen des zwanzigsten
Jahrhunderts sehen lernen - das ist die Aufgabe."
Hier ist ein Programm zum Neuschreiben der Geschichte der Philo-
sophie des neunzehnten Jahrhunderts im Geiste des Hitlerfaschismus ent-
worfen. Diese programmatischen Winke der offiziellen Philosophie wurden
nun in verschiedenen Werken der Naziphilosophen befolgt. Einer der
wichtigsten V ersuche, die Geschichte der neueren Philosophie in diesem
Sinne umzuarbeiten und dabei vor allem Hegel zu entthronen und zu ent-
larven, ist das Buch Franz Boehms „Anticartesianismus". Bezeichnender-
weise führt es den Untertitel: „Deutsche Philosophie im Widerstand".
Es handelt sich darum, den Kampf der „westeuropäischen" und der deut-
schen Linie der Philosophie darzustellen. Dabei ist die geschichtliche Dar-
legung eingestandenerweise nur ein Vorwand für das praktisch-politische
Ziel des Verfassers, den „Bruch mit dem Baugeist des Abendlandes". Der
Geist, der hier bekämpft wird, ist die von Descartes begründete Wissen-
schaftlichkeit der Philosophie: „Mit Descartes tritt an die Stelle des abend-
ländisch gebundenen Menschen in seiner Einheit von volkhafter Verwur-
zelung und universalem Ausgreifen der europäische Mensch - die Schöp-
fung einer unwirklichen und geschichtslosen Rationalität." Die Herrschaft
Descartes' über die Philosophie des achtzehnten und neunzehnten Jahr-
hunderts bedeutet nach Boehm „die Dominanz des wissenschaftlichen
Bewußtseins über allen ursprünglichen und unreflektierten Wirklichkeits-
besitz". Damit verschwinden „alle Kennzeichen gelebter Wirklichkeit".
An sich ist diese Polemik gegen Descartes keine Entdeckung der Nazis.
Sie beginnt schon beim späten Schelling und wird von Eduard von Hart-
mann und seinen Schülern weitergeführt. Neu bei Boehm ist nur die ent-
Der deutsche Faschismus und Hegel
schieden lebensphilosophische Begründung dieses Kampfes, und vor allem,
daß seine Spitze entschiedener gegen Hegel gerichtet wird. Boehm sieht in
Hegel den Gipfel aller gefährlichen Bestrebungen des lebenstötenden
Rationalismus, den Gipfel einer undeutschen Philosophie: „Hegel vollendet
das philosophiegeschichtliche Bewußtsein des Abendlandes in einer un-
überholten Weise ... Es ist namentlich das Geschichtsbild Hegels, durch
das der Cartesianismus seine nachhaltende Rechtfertigung erfahren hat,
nachdem durch Jahrhunderte hindurch der Kampf gegen den Cartesianis-
mus mit den besten Kräften deutscher Philosophie geführt worden war.
Wie umgekehrt die Motive deutscher Weltanschauungsgeschichte durch
Hegels universalistische Konzeption in die abendländische Philosophie
eingeebnet und zum Teil für ein Jahrhundert verschüttet wurden."
Man sieht, wie energisch hier der Lagardesche Gedanke vom undeutschen
Charakter der Hegelschen Philosophie weitergeführt wurde. Hegel ist nach
dieser Darstellung nicht nur undeutsch, seine Wirksamkeit wird auch als
ein böser und gefährlicher Wendepunkt für das deutsche Denken bezeich-
net, durch ihn siegt zeitweilig der feindliche Geist des Abendlandes. Das
Ausgraben der wirklichen deutschen Weltanschauung wird für die Fa-
schisten nur dadurch möglich, daß sie die Hegelsche Philosophie mit allen
ihren Grundlagen und Folgen radikal verwerfen, daß sie mit der Wissen-
schaftlichkeit der Philosophie, mit dem Gedanken der dialektischen Ent- ·
wicklung der Geschichte vollständig aufräumen.
Diese unversöhnliche Feindschaft gegen die Wissenschaftlichkeit der
Philosophie kann man vielleicht noch deutlicher als an den polemischen
Stellen dort sehen, wo Boehm das Wesen dessen auseinandersetzt, was er
unter deutscher Weltanschauung versteht. Seine Zentralkategorie ist dabei
das Unerforschliche: „Das Unerforschliche ist für das deutsche Denken
nicht eine Grenzbestimmung, sondern eine durchaus positive Bestimmung ...
(Man sieht, wie hier die Existentialphilosophie vom Typus Kierkegaards
an die Stelle des Kantschen Agnostizismus tritt. G. L.) Es durchgreift
unsere ganze Wirklichkeit und waltet im Kleinsten und im Größten ... Das
Unerforschliche als unauflösbarer Einschlag unserer Wirklichkeit istwesent-
lich unzugänglich, aber durchaus nicht - unbekannt. Wir kennen es, wenn
es sich auch nicht sagen läßt, es handelt in unserem Leben, es bestimmt
unsere Entscheidungen, es verfügt über uns." Diese Hingabe an das Un-
erforschliche bildet die „Tiefe" der deutschen Weltanschauung im Gegen-
satz zur flach-rationalistischen, wissenschaftlichen Philosophie der Linie
Descartes-Hegel. „Was Tiefe ist, läßt sich nicht sagen, aber es läßt sich
zeigen an Menschen, in denen es da ist."
Der eigentliche Urheber der Gedankenrichtung, deren philosophie-
geschichtliche Folgerungen Boehm gezogen hat, ist Ernst Krieck. Hitler
32 Der deutsche Faschismus und Hegel
------ - - - - - - - - -
und Rosenberg haben schon jede Wissenschaftlichkeit bekämpft, um an ihre
Stelle den Mythos zu setzen. Krieck will für diese Zentralfrage der natio-
nalsozialistischen Weltanschauung eine philosophische Begründung finden.
Er geht dabei sehr radikal vor: an die Stelle der bisherigen philosophischen
Grundwissenschaften, der Logik und Erkenntnistheorie, wird von ihm
eine Biologie, eine Anthropologie gestellt: „Die im Entstehen begriffene
rassisch-völkisch-politische Anthropologie ... tritt an die Stelle der in-
zwischen verstorbenen ,Philosophie'."
Die Basierung eines lebensphilosophischen Aufbaus der Weltanschau-
ung auf die Biologie ist in der imperialistischen Periode an sich nichtsNeues.
Neu ist bloß der Zynismus, mit dem Krieck auch die biologische Wissen-
schaft verwirft - im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die immer wieder
den Versuch machen, durch Uminterpretation wenigstens den Schein der
Wissenschaftlichkeit aufrechtzuerhalten-, sowie seine neue „biologisch be-
gründete" Weltanschauung, die in Wirklichkeit auf dem Nichts „lebens-
philosophischer" Intuitionen gründet. Er spricht sich über diese „Be-
gründung" der neuen Weltanschauung ganz klar aus: „ ,Biologische Welt-
anschauung' meint aber etwas wesenhaft anderes als Grundlegung der
Weltanschauung durch die vorgefundene Fachwissenschaft ,Biologie'. Der
weltanschauliche Begriff ,Leben' geht aufs Ganze, der biologisch fach-
wissenschaftliche Begriff Leben ist höchstens an einem Ganzen teilhaft,
wenn nicht gar aus einer allheitlichen Mechanik abgeleitet." Krieck erklärt
nun weiter, wie diese neue Grundwissenschaft vom Leben beschaffen ist:
„Niemals kann Leben aus mechanistischem Prinzip ,erklärt' werden, so
wenig wie das Ganze aus dem Teil. Aber Zeugung, Geburt und Tod sind
zugänglich im Erleben: als Stationen des eigenen und fremden Lebens-
vorganges werden sie gegenständlich im Erleben und damit zugänglich in
der Anschauung. Und vom Erleben aus weitet sich Anschauung und Ver-
stehen zurück und hinauf zum Weltall." Die philosophische „Leistung"
Kriecks besteht also ganz einfach darin, daß er das längst trivial gewordene
erlebnishafte V erhalten des modernen Irrationalismus zur biologischen
Grundwissenschaft ernennt und dabei anderseits noch ungenierter als seine
Vorgänger seine „Erlebnisse" als Kategorien der objektiven Wirklichkeit
ausgibt. Nachdem er nun auf diesem Wege, auf dem Wege des „verstehen-
den Erlebens" von Zeugung, Geburt und Tod, das Wesen des Weltalls er-
faßt hat, kann er von hier aus ableiten, was er will. Mittel der biologischen
Erkenntnis ist natürlich die Anschauung, die Intuition. „Der ,Sinn' ist stets
verstehbar, aber nie erklärbar ... Wer sich vermißt, auf das ,Wozu' und
,Warum' eine Antwort zu geben, der täuscht vor, im Rate der Schöpfung
gesessen zu haben." (Die letzten Worte sind eine ironische Anspielung auf
die Einleitung zu Hegels „Wissenschaft der Logik". G. L.)
Der deutsche Faschismus und Hegel
Kriecks biologische Grundwissenschaft unterscheidet sich von der all·
gemeinen Lebensphilosophie nicht nur durch die größere Unverfrorenheit,
mit der er apodiktische Folgerungen aus nicht vorhandenen Voraus·
setzungen zieht, sondern auch darin, daß an die Stelle, die durch die an-
gebliche Vernichtung von Verstand und Vernunft, von Rationalität und
Wissenschaft frei geworden ist, nicht ein ausgesprochen subjektives Welt-
bild, vielmehr die in philosophische Termini umgesetzte und weltan-
schaulich verklärte Nazipropaganda tritt. Das erkennt man vor allem darin,
wie er das Subjekt seiner biologischen Intuition bestimmt. Erkennend ist
nach ihm nicht das individuelle Ich, „sondern jeder Erkenntnisvorgang
trägt - als Teilerscheinung des Lebensvorganges - zugleich die gemein-
schaftliche, völkische, rassische, geschichtliche Struktur als Bedingung, als
bestimmendes Element der Erkenntnisweise und des Erkenntnisergebnisses,
der ,Wahrheit' in sich. Darin liegt ganzheitliche Erkenntnis begründet."
Das Kriterium für die Richtigkeit der Intuition ist also für Krieck die Über-
einstimmung mit dem nationalsozialistischen Parteiprogramm, mit seiner
jeweiligen Auslegung durch den „Führer". Denn das Wesen der Intuition
besteht darin, ein Bild vom Menschen zu entwerfen, das den rassisch-
völkischen Anforderungen entspricht. „Im Bild des Menschen von sich
selbst vollendet sich die universelle Biologie. Das Bild wird umschrieben
durch eine rassisch-völkisch-politische Anthropologie. Diese Anthropolo-
gie tritt an die Stelle der verbrauchten Philosophie."
Diese neue Lehre soll aber nicht bloß die Philosophie, sondern auch die
Religion ersetzen. Hitler hat in „Mein Kampf" noch notgedrungen zurück-
haltend-diplomatisch über die Religionen gesprochen und demagogisch
eine allgemeine Religionsfreiheit versprochen. Krieck spricht nach der
Machtergreifung Hitlers schon viel offener davon, daß die national-
sozialistische Weltanschauung an die Stelle der alten Religionen treten soll.
„Gott spricht ... unmittelbar zu uns im völkischen Aufbruch." Die Grund-
lage dieser Offenbarung ist selbstverständlich die Rasse. Aber auch in dieser
angeblich biologisch begründeten Weltanschauung bleibt die Rasse eine
einfache demagogische Phrase. Krieck sagt selbst, daß die Rasse kein Ding,
nichts Materielles sei, „sondern Richtungs- und Bildungsgesetz, Entelechie,
Formprinzip. ,Blut' ist dafür ein bildhaft symbolischer Ausdruck."
Diese lebensphilosophisch-irrationalistische Verflüchtigung gerade der
demagogischen Grundbegriffe der nationalsozialistischen Propaganda, von
Rasse und Blut, die, wie wir sehen, bei Krieck schon überhaupt keinen
einigermaßen faßbaren Inhalt haben, dient gerade dazu, das „national-
sozialistische" Programm als Inhalt der neuen anthropologischen Grund-
wissenschaft zu dekretieren: „Jedes Volk besitzt notwendig als Rückgrat
eine führende Rasse, deren Lebensmark, Lebensrichtung und Lebensgesetz
34 Der deutsche Faschismus und Hegel
bestimmend und maßgebend für das Volksganze, sein Werden und seinen
Weg ist." Was hier geschieht, entscheidet der „Führer": „Die Persönlich-
keit des berufenen Führers ist der Schauplatz, auf dem das Schicksal des
Ganzen sich entscheidet." Die lebensphilosophische Phraseologie der
neuen Anthropologie hatte also nur den Zweck, eine angeblich philosophi-
sche Begründung dafür zu finden, daß in Deutschland Hitler eine un-
beschränkte und willkürliche Diktatur über das ganze Leben des deutschen
Volkes auszuüben hat. Es bedürfen diese wenigen Auszüge aus dem
Geschreibsel führender „Denker" des Dritten Reiches wohl keines
Kommentars.Jetzt wird klar, warum für sie die wissenschaftliche Dialektik
Hegels untragbar geworden ist, warum diese Weltanschauung in ihr
- fast mit den Worten des alten, reaktionär gewordenen Friedrich Schlegel -
ein satanisches Prinzip, das Prinzip des Bösen, des Anti-Deutschen, Anti-
Rassischen erblickt. Die Neuhegelianer haben alles Mögliche getan, um
die Vernünftigkeit und Fortschrittlichkeit des Hegelianismus abzu-
schwächen, um die Hegelsche Philosophie an die reaktionären Bedürfnisse
der imperialistischen Periode anzupassen. Vergebens. Für den deutschen
Faschismus konnte diese Anpassung nicht ausreichen. Er ist, wie seinerzeit
Dimitroff richtig gesagt hat, nicht einfach die Ersetzung einer bürgerlichen
Regierung durch die andere, sondern eben die Ablösung der bisherigen
Herrschaftsformen der Bourgeoisie durch die offene terroristische Dikta-
tur. Für diese Diktatur braucht der Hitlerfaschismus eine geistige Atmo-
sphäre, in der theoretisch jedes Gefühl für Wissenschaft und wissenschaft-
liche Kontrolle der Tatsachen und ihrer Gesetzmäßigkeiten vernichtet ist,
in der moralisch jede Spur der einst hohen humanistischen Gesinnung des
deutschen Volkes in Vergessenheit geraten ist, in der die absolute Willkür
der von Hitler geführten Bande von Abenteurern und Verbrechern
schrankenlos herrschen kann. Da nur in einer solchen Atmosphäre die
innen- und außenpolitischen Pläne des Hitlerismus durchführbar waren,
mußte notwendigerweise auch eine entsprechende Philosophie entstehen:
eine Philosophie, die sich mit der Hegelschen in keiner einzigen Frage auch
nur zum Schein versöhnen konnte.
II
Die Herrschaft der Vernunft in der Hegelschen Philosophie bezieht sich
nicht nur auf den logisch-kategoriellen Zusammenhang, sondern vor allem
auf die Erkenntnis der Entwicklung, der Geschichte. Das erste Drittel des
neunzehnten Jahrhunderts ist die Entstehungszeit eines fortschrittlichen
Historismus. Wir sprechen gar nicht von den tiefen geschichtlichen Ein-
Der deutsche Faschismus und Hegel 35
sichten der großen Utopisten, wir erinnern bloß an Walter Scott, an die
französischen Historiker der Restaurationszeit, an Goethe und Hegel. In-
dem Goethe im Menschen ein höherentwickeltes Tier sah, ist er einer der
Vorläufer der Entwicklungslehre geworden. In seiner „Farbenlehre" hat
er ein großes Bild der internationalen Weltgeschichte der Naturwissen-
schaften entworfen, und mit der programmatischen Verkündung der neuen
Periode der Weltliteratur hat er den Ausgangspunkt zu einer universal-
historischen Betrachtung aller ästhetischen Phänomene gegeben. Der
Historismus Hegels greift noch weiter. Die Philosophie der Geschichte
bildet nur einen kleinen Teil seiner historischen Konzeption; auch die
Ästhetik, die Geschichte der Philosophie, die Religionsphilosophie, die
Phänomenologie geben die Einheit der geschichtlichen Entwicklung auf
allen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens. Sie geben die Ver-
knüpftheit, die Gesetzmäßigkeit, die Vernünftigkeit, die Erkennbarkeit
dieser historischen Entwicklung.
Alle diese Gedanken sind in der reaktionären Philosophie seit 1848 und
insbesondere im imperialistischen Zeitalter teils abgeschwächt und ver-
zerrt, teils direkt bekämpft worden. In der imperialistischen Zeit entsteht
ein reaktionärer Pseudohistorismus aus dem Gemisch eines kriecherischen
Empirismus und einer subjektivistischen Mystik.
Obwohl die nationalsozialistische Weltanschauung alle Ergebnisse der
reaktionären Zersetzung des Historismus ausbeutet, genügt ihr die voran-
gegangene Zerstörung des echten Historismus nicht. Die Nazis betrachten
diese Frage als so wesentlich, daß hier Rosenberg selbst wiederholt ein-
greift und deutlich die Unvereinbarkeit einer noch so sehr reaktionär ab-
geschwächten Konzeption der Weltgeschichte und der hitlerfaschistischen
Weltanschauung verkündet: „Wir glauben, daß es in diesem Sinne der
Rassen- und Seelenkunde keine wirkliche Weltgeschichte gibt, das heißt
keine Geschichte, wonach alle Völker und alle Rassen gleichsam zu einer
einzigen planvollen Auflösung hergeführt werden. Danach sollte ein Plan
in der Christianisierung aller Rassen bestehen, später sollte alles dem Zweck
der Humanisierung der sogenannten Menschheit dienen. Wir glauben da-
gegen, daß die Geschichte jedes Volkes einen Lebenskreis für sich dar-
stellt." Oder an anderer Stelle: „Wir glauben heute, daß es im eigentlichen
Sinne gar keine Weltgeschichte gibt, sondern nur die Geschichte ver-
schiedener Rassen und Völker."
Diese Konzeption ist bedingt durch die barbarisch-imperialistische Welt-
herrschaftsidee der Faschisten. Auch der alte deutsche Nationalismus ver-
trat die Auffassung, die Deutschen seien das auserwählte Volk, die zur
Weltherrschaft bestimmte Nation. Aber die Weltherrschaftsidee bewegte
sich einerseits innerhalb bestimmter politischer Grenzen, war der Plan
Der deutsche Faschismus und Hegel
einer neuen, für die deutschen Imperialisten günstigeren Aufteilung der
Welt; sie war also nur die Idee einer relativen, nicht einer absoluten Welt-
herrschaft wie die der Nazis. Andererseits betrachtete diese Auffassung
die Deutschen zwar als ein auserwähltes Volk, aber doch als ein Volk un-
ter anderen Völkern. Darum erschien philosophisch die Auserwähltheit
des deutschen Volkes für den alten Nationalismus als eine Folgerung,
als der Gipfel seiner tief reaktionären Konzeption einer Weltgeschichte.
Für den Hitlerfaschismus reicht aber diese Vorstellung weder quantitativ
noch qualitativ aus. Die Hitlersche „Neue Ordnung" will sich ganz Europa
(und mit dessen Hilfe die ganze Welt) bedingungslos unterwerfen, sie will
die anderen Völker nicht bloß in wirtschaftliche oder politische Abhängig-
keit bringen, sondern will sie entweder vollständig versklaven oder gar
physisch vernichten. Hitler selbst weist auf diesen Unterschied zum alten
Nationalismus offen hin. Er polemisiert gegen dessen Bestrebung, fremd-
sprachige Völker zu assimilieren, zu germanisieren. Die alten Nationalisten
hätten nach Hitler nicht verstanden, daß Germanisierung nur am Boden
vorgenommen werden könne und niemals an Menschen. Die anderen Völker
sind also für die Faschisten nicht relativ untergeordnete Nationen, die man
unterwerfen oder assimilieren kann, sondern eine „niedere Rasse", die sich
von der zur Herrschaft bestimmten „nordischen" oder „arisch-germa-
nischen" Rasse qualitativ unterscheidet und die nur bedingt zur Menschen-
rasse gezählt werden kann, also der höheren Rasse gegenüber überhaupt
keine Existenzberechtigung hat.
Es ist deshalb nur folgerichtig, daß Hitler oder Rosenberg das Wort
Menschheit immer in ironische Anführungszeichen setzen und damit auch
die Konzeption einer einheitlichen Weltgeschichte überhaupt verwerfen.
Soweit Geschichte für die Hitlerfaschisten überhaupt existiert, ist sie bloß
die der Entwicklung der „höheren Rasse". Alle anderen Völker sind nur
Ton in des Töpfers Hand, sie werden als Arbeitstiere betrachtet oder
kommen höchstens als Auslöser der Zersetzung der höheren Rasse in der
Geschichte vor; soweit sie eventuell eine Geschichte, eine eigene Kultur
haben, geht dies die Deutschen und die Nazi-Geschichtsauffassung nichts
an. Sie interessiert sich nur für den gegebenenfalls feindlich zersetzenden
fremden Rasseneinfluß, der vertilgt, ausgerottet werden muß. So sagt Rosen-
berg: „Denn was immer auch an spätrömischen, christlichen, ägyptischen
oder jüdischen Vorstellungen oder Werten in die Seele der germanischen
Menschen eingedrungen sein mag, ja stellenweise diese sogar vernichtet
hat: soll überhaupt geschichtliche Charakterdeutung sein, Darstellung eines
Wesens im Ringen um die Ausgestaltung seines eigensten Ichs, so werden
wir eben die germanischen Werte von allen anderen scheiden müssen, wenn
wir uns selbst nicht wegwerfen wollen. Das Beschämendste aber ist, daß
Der deutsche Faschismus und Hegel 37
im Gefolge einerseits einer nur allchristlichen, dann einer späthumanisti-
schen Einstellung diese Aufgabe der Geschichte immer mehr in den Hinter-
grund, das Dogma einer angeblich allgemeinen Entwicklung der Mensch-
heit aber in den Vordergrund gerückt wurde." Rosenberg erwähnt hier
nicht den Namen Hegel, seine Betrachtungen sind an dieser Stelle gegen
die Bachofensche Geschichtsphilosophie gerichtet. Es ist aber - schon aus
der Lagarde-Chamberlainschen Überlieferung - klar, daß die verworfene
Konzeption der humanistisch-einheitlichen Weltgeschichte eben die der
Hegelschen Geschichtsphilosophie ist.
Darum gibt es für die „Nationalsozialisten" auch keine allgemeinen
Perioden der Menschheitsgeschichte. In seiner Polemik gegen Bachofen
hebt Rosenberg scharf hervor, daß die Germanen nie eine Periode des
Mutterrechts gehabt hätten. Bachofens Auslegung der Orestie sei darum
grundfalsch; es handle sich nicht um den Kampf zweier Perioden, des
Mutterrechts und des Vaterrechts in einem und demselben Volke, sondern
um den Kampf der Rassenseelen, der arisch-griechischen Rassenseele gegen
die orientalisch-syrisch-jüdische. Der germanische Staat ist nach Rosenberg
nicht aus Urkommunismus und Mutterrecht, sondern aus „Männerbünden"
entstanden.
Aber der Gegensatz zur fortschrittlich-klassischen Konzeption der Ge-
schichte vom Typus Hegels geht noch weiter. Nicht nur der Gedanke von
einer Einheit der Menschheitsentwicklung wird geleugnet (dies geschieht
bereits in der „Kulturkreis"-Theorie Spenglers, die, bei allen Gegensätzen,
die faschistische Auffassung der Geschichte tief beeinflußt hat), sondern
auch die Entwicklung selbst. Spengler kennt noch ein „naturhaftes"
Wachsen und V erblühen innerhalb der einzelnen Kulturkreise, deren Ent-
wicklungen aber untereinander schon keinen Zusammenhang zeigen. Die
Faschisten können aber mit dieser einseitig fatalistischen Anschauung
wenig anfangen. Für ihre Propaganda der innen- und außenpolitisch un-
beschränkten Herrschaft der arisch-germanischen Rasse brauchen sie beides:
sowohl einen unbeschränkten Fatalismus wie einen ebenso unbeschränkten
Voluntarismus.
Unbeschränkt fatalistisch werden die Eigenschaften der Rasse aufgefaßt.
Rasse, Blut usw. haben eine fatalistische Stabilität, kennen überhaupt keine
Entwicklung. Die Rasse ist da, ewig und notwendig, unwandelbar; nur
ihre Verkörperungen können wechseln, ohne daß sich am Wesen der Rasse
etwas Entscheidendes ändern würde. Rosenberg formuliert diese Auf-
fassung folgendermaßen: „Die erste große mythische Höchstleistung wird
im Wesentlichen nicht mehr ,vervollkommnet', sondern nimmt bloß
andere Formen an. Der einem Gott oder Helden eingehauchte Wert ist das
Ewige im Guten wie im Bösen .. „ eine Form Odins ist gestorben .. „
Der deutsche Faschismus und Hegel
aber Odin als das ewige Spiegelbild der Urkräfte des nordischen Menschen
lebt heute noch wie vor 5000 Jahren ... Das letzte mögliche ,Wissen' einer
Rasse liegt schon in ihrem ersten religiö"sen Mythos eingeschlossen. Und die An-
erkennung dieser Tatsache ist die letzte eigentliche Weisheit der Menschen."
Innerhalb der Rasse gibt es also keine historische Entwicklung. Rosenberg
formuliert dieses Grunddogma des Nationalsozialismus an anderer Stelle
mit einer noch deutlicheren Wendung gegen den Hegelschen Entwicklungs-
begriff: „Das Leben einer Rasse, eines Volkes ist keine sich logisch ent-
wickelnde Philosophie, auch kein sich naturgesetzlich abwickelnder Vor-
gang, sondern die Ausbildung einer mystischen Synthese, eine Seelen-
betätigung, die weder durch V ernunftschlüsse erklärt, noch durch Dar-
stellung von Ursache und Wirkung begreiflich gemacht werden kann." Es
gibt nur Perioden der Degeneration und Zersetzung (infolge von Rassen-
mischungen) und Perioden der Regeneration, der integralen Wieder-
herstellung der ursprünglichen und unwandelbaren Rasseeigenschaften
durch die Tat „genialer Führer", in denen sich die ureigene Rassenseele
angemessen verkörpert.
Mit diesen letzteren Gedanken sind wir bereits beim Gegenpol, beim
extremen, willkürlichen Voluntarismus angelangt. Während das „ welt-
historische Individuum" bei Hegel nur ein durchführendes Organ der
historischen Notwendigkeit ist, wird bei den „Nationalsozialisten" vom
Führer aus jede historische, wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit auf-
gehoben. Handelt er aus der Entelechie der wahren Rassenseele heraus, ist
er also ein „berufener Führer", appelliert er an diese Rassenentelechie, so
kann er in seinem Regenerationswerk machen, was er will. Und es folgt
aus dem Wesen des nationalsozialistischen Abenteurertums, aus dem Wesen
der sozialen Demagogie, daß insbesondere jede Art von wirtschaftlicher
Notwendigkeit, jede Art von wirtschaftlicher Beschränkung des Regenera-
tionswerks des „Führers" energisch geleugnet wird. So sagt Rosenberg:
„Es ist nicht wahr, daß Aktiengesellschaften, Kartelle in zwei, drei Städten
vereinigt sein ,müssen', daß in Berlin immer neue Fabriken entstehen
,müssen', daß Angebot und Nachfrage allein das Leben regieren ,müssen'."
Und Hitler selbst hat unmittelbar nach der Machtergreifung sich in bezug
auf die Wirtschaftskrise in demselben Geiste ausgesprochen: „Wenn auf
der einen Seite Millionen arbeitswilliger Menschen vorhanden sind und auf
der anderen Seite Bodenschätze und Arbeitsmöglichkeit und der Schrei
nach Konsum und Bedarf an Produktion im deutschen Volk vorhanden
sind, dann würde es traurig sein, wenn es einem eisernen Willen nicht ge-
länge, sich durchzusetzen."
Die sogenannte wissenschaftliche Philosophie der Nazis hat nichts weiter
zu leisten, als diese „neue Konzeption", diese rohe und gedankenlose
Der deutsche Faschismus und Hegel 39
Nebeneinanderstellung von geschichtsloser Fatalität der Rasse und
schrankenloser Willkür des „genialen Führers" auf allen Gebieten der Ge-
schichte durchzuführen. Dabei setzt sie naturgemäß die reaktionären philo-
sophischen Bestrebungen der imperialistischen Periode fort, indem sie einen
ununterbrochenen und heftigen Kampf gegen die Kausalität in der Ge-
schichte, gegen die Erforschung der Ursachen der historischen Ereignisse
führt. Die Verwandlung der Geschichte in einen irrational-antihistorischen
Mythos erreicht hier ihren Höhepunkt nach einer fast hundertjährigen
reaktionären Vorbereitung. Ihr Ergebnis ist, daß jede historische Kausal-
forschung als flach-rationalistisch, liberalistisch, als nicht „arteigen" ver-
ächtlich gemacht wird. Baeumler führt diesen Gedanken so aus: „Das Volk
im romantischen Sinne ist eine ebenso natürliche wie mystische Einheit.
Diese Mystik des ,Volkstums' ist der Romantik oft zum Vorwurf gemacht
worden. Unter geschichtsphilosophischem Gesichtspunkt zeigt sich jedoch,
daß diese Mystik einer empirischen Grundlage nicht entbehrt und die Ant-
wort auf ein echtes Problem enthält. Auf die Frage nach dem Woher der
Menschheit hat die Wissenschaft keine Antwort." Die faschistische Pseudo-
philosophie der Geschichte hat also nur die Aufgabe, die Mythen der Ver-
gangenheit als identisch mit der rassenmäßigen Gegenwart hinzustellen und
in beiden die jeweiligen Propagandanotwendigkeiten des Hitlerismus als
notwendige Erscheinungsweisen der Rassenentelechie zu dekretieren.
Um die vollständige Vernichtung des Entwicklungsgedankens durch-
zuführen, gibt Krieck eine „Kritik" der Entwicklungslehre in der organi-
schen Natur, des Darwinismus. Was er sagt, ist nichts als eine langweilige
Wiederholung des alten reaktionär-obskurantistischen Kampfes gegen
Darwin. Er behauptet, daß im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert,
infolge der falschen rationalistischen Philosophie, „ein vorgefundenes
Nebeneinander der organischen Arten ... in eine zeitliche Ablaufsreihe
umgesetzt" worden sei. Wenn der Mensch als Spitze der tierischen Ent-
wicklung aufgefaßt werde, so sei dies einfach Anthropomorphismus und
keine Feststellung objektiver Tatsachen. Der Darwinsche Stammbaum der
Arten komme aus „Bedürfnissen der Konstruktion, nicht aus Erfahrung".
Es versteht sich von selbst, daß Krieck sowohl die Mutation wie die
Erblichkeit erworbener Eigenschaften bestreitet. All dies geht nirgends
über das Niveau eines seit Jahrzehnten bekannten obskurantistischen Ge-
schwätzes hinaus; es mußte nur kurz angeführt werden, um zu zeigen, daß
der Entwicklungsgedanke in der sogenannten nationalsozialistischen Philo-
sophie auch in bezug auf die Natur zerstört wurde.
Der Weisheit letzter Schluß ist also die Ewigkeit, das überhistorische
Wesen der Rasse, deren Schicksal jeweils im „berufenen Führer" ver-
körpert wird. Wer nach Ursachen forscht, ist ein „artfremdes" Element
Der deutsche Faschismus und Hegel
und gehört ins Konzentrationslager. Krieck spricht sich über diese letzte
Folgerung mit einer kaum mißzuverstehenden Drohung an seine „Ge-
lehrtenkollegen" aus: „Wer Antwort ,erklügeln' will, dem ist allerdings
nicht Zlil helfen, der wird als unnützer Beschwer vom schicksalhaften Gang
der Dinge beiseite geschoben und auf den Mist geworfen."
III
Wir haben bei allen bisher behandelten Fragen gesehen, daß die prak-
tischen Bedürfnisse der Hitlerpolitik und ihrer Propaganda die entscheiden-
den Momente für die Lösung aller philosophischen Probleme gewesen sind.
Hitler selbst hat sich über diese Fragen in Privatgesprächen mit einem
schwerlich zu überbietenden Zynismus ausgesprochen. So erklärt er in
einem Gespräch mit Rauschning: „Die ,Nation' ist ein politischer Ausdruck
der Demokratie und des Liberalismus. Wir müssen diese falsche Konzep-
tion loswerden und an ihre Stelle die Konzeption der Rasse setzen, die
politisch noch nicht verbraucht ist ... Ich weiß ganz genau .. „ daß in
wissenschaftlichem Sinne nichts Derartiges wie Rasse existiert .•. Ich als
Politiker brauche eine Konzeption, die es möglich macht, die bisherigen
historischen Grundlagen zu vernichten und an ihre Stelle eine vollständig
neue und antihistorische Ordnung zu setzen und dieser eine intellektuelle
Basis zu geben." Die Aufgabe ist die Zerstörung der nationalen Grenzen.
„Mit der Rassenkonzeption kann der Nationalsozialismus seine Revolution
durchführen und die Welt umstülpen." Und in einem anderen Gespräch
erklärt er den genauen imperialistisch-barbarischen Sinn dieser seiner zyni-
schen Verkündung einer Rassentheorie, an die er selbst keine Minute
glaubt: „Aber Deutschland, so wie es heute ist, ist keine biologische Ein-
heit. Es wird nur ein Deutschland geben, wenn es gleichzeitig Europa ist.
Ohne Herrschaft über Europa müssen wir zugrunde gehen." Diese zynische
Bemerkung ist keineswegs zufällig, kein falscher Zungenschlag Hitlers,
sondern die allgemeine Einstellung der faschistischen Führerschicht zu der
eigenen, leidenschaftlich und terroristisch vertretenen Theorie. Rauschning
erzählt ein Gespräch mit dem Gestapoführer Himmler über das V erbot
prähistorischer Vorlesungen eines deutschen Gelehrten in Danzig. Himmler,
der dieses V erbot erlassen hatte, erklärte Rauschning gegenüber folgendes:
„Es ist uns ganz Wurst, ob dies oder etwas anderes die wirkliche Wahrheit
über die Vorgeschichte der germanischen Stämme ist. Die Wissenschaft
schreitet von einer Hypothese zur anderen, die alle paar Jahre wechseln.
So ist kein wirklicher Grund vorhanden, warum die Partei nicht eine beson-
dere Hypothese als Ausgangspunkt fixieren sollte, auch wenn sie den herr-
Der deutsche Faschismus und Hegel 41
sehenden wissenschaftlichen Anschauungen widerspricht. Die einzige Tat-
sache, die wichtig ist, und dafür werden diese Leute (die Professoren, G. L.)
vom Staat bezahlt, solche Gedanken über Geschichte zu haben, die unser
Volk in seinem notwendigen Nationalstolz bestärken."
Dieser schrankenlose Zynismus erklärt die Unbekümmertheit der Nazi-
propaganda um die schreiendsten Widersprüche in ihren Anschauungen.
Der „arteigenen" Wissenschaft und Philosophie wird eben die Aufgabe ge-
stellt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der dieser ganze widerspruchsvolle
Unsinn ohne weiteres geglaubt werden kann. Im Notfall tritt natürlich
nicht nur die Drohung mit der Gestapo, sondern auch die Gestapo selbst
auf. Philosophie und Wissenschaft haben die Aufgabe, die Arbeit der
Gestapo „geistig" zu erleichtern, in bestimmten Fällen überflüssig zu
machen, indem sie die Unterwerfung, die „Gleichschaltung" mit sozusagen
wissenschaftlichen Überzeugungsmitteln durchführen.
Die zynische Unbekümmertheit um Methode und Wahrheitsgehalt ist
aber mit einer großen - freilich abenteuerhaften - Zielstrebigkeit in Macht-
fragen und Propagandabedürfnissen gepaart. Die Doppelseite der national-
sozialistischen Weltanschauung kommt insbesondere in der Staatstheorie
deutlich zum Ausdruck.
Bei der zentralen Bedeutung der Staatsfrage, sowohl für die faschistische
Agitation zur Mobilisierung der Massen vor der Machtergreifung wie für
den Aufbau des faschistischen Staates selbst nach der Machtergreifung, ist
es nicht überraschend, daß die Grundlinien der nationalsozialistischen Staats-
theorie vom „Führer" selbst in seinem für die Bewegung kanonischen
Werk „Mein Kampf" ausführlich dargelegt worden sind. Wir werden
sehen, daß dieser Teil des Naziprogramms zu den wenigen Dingen gehört,
die Hitler nach der Machtergreifung wirklich durchgeführt hat, worin er
die Massen nicht mit direkten Lügen irreführte, wie etwa in seinem Wirt-
schaftsprogramm. Natürlich liegt auch hier ein demagogischer Betrug vor,
der aber im Falle der Staatstheorie viel raffinierter ist. Der faschistische
Staat, wie ihn Hitler in „Mein Kampf" programmatisch forderte und wie
er dann nach der Machtergreifung auch aufgebaut wurde, ist nichts anderes
als eine schamlos offene und schamlos willkürliche Form der terroristischen
Diktatur einer Bande von Verbrechern - deren Diktatur allerdings die Er-
füllung aller Wünsche des reaktionärsten Teils des deutschen Monopol-
kapitalismus zum sozialen Inhalt hat.
Die Form dieser Diktatur ist nun die Schrankenlosigkeit, die „Willkür
des Führers" und der von ihm diktatorisch geleiteten Partei, eine
Schrankenlosigkeit und Willkür, die für die Bewegung notwendig war, um
einerseits mit allen Gegnern ihres Systems in bestialischer Weise abrechnen
zu können, um in dem von revolutionären Krisen geschüttelten Deutsch-
42. Der deutsche Faschismus und Hegel
land die „Ruhe und Ordnung" eines Zuchthauses herzustellen, andererseits,
um Deutschland in ein Heerlager und ein Waffenarsenal für den lange
vorbereiteten Krieg zur Unterjochung der ganzen Welt zu verwandeln. Der
raffinierte Zynismus Hitlers zeigt sich nun darin, daß in seiner Agitation
dieser Charakter des kommenden „nationalsozialistischen" Staates voll-
kommen offen programmatisch ausgesprochen wurde; dabei knüpfte man
aber sehr geschickt an die Enttäuschung und Verzweiflung breitester
Massen an und stellte die grausame und willkürliche Diktatur als eine Be-
freiung, als eine Revolution dar, als die Schaffung eines Staates, in dem die
von den Massen lebhaft empfundene Staatsentfremdung aufgehoben wird.
Wie überall in der nazifaschistischen Agitation knüpft Hitler an die Ent-
täuschung und Verzweiflung der breiten Massen, besonders der Kleinbürger
in Stadt und Land an. Schon der Wilhelminische Staat hatte sich vom Leben
der Massen sehr weit entfernt und wurde deshalb nach der Niederlage im
ersten Weltkrieg widerstandslos im Stich gelassen. Die Weimarer Republik,
an die sich in den ersten Jahren die Hoffnungen der breiten Masse knüpften,
hat die Masse in steigendem Maße enttäuscht und verschlechterte deren
wirtschaftliche und soziale Lage immer mehr. Zwischen Volk und Staat
hatte sich im Bewußtsein der Massen ein breiter Abgrund aufgetan.
Von dieser Lage gehen die Ausführungen Hitlers in „Mein Kampf" aus.
Sie haben deshalb einen aufrührerischen, zur Rebellion aufpeitschenden
Ton. Sie sind vor allem gegen die Überschätzung der Bedeutung des
Staates, gegen die Absolutheit des Staates gerichtet. (Wir erinnern an die
eingangs zitierten Ausführungen Rosenbergs, in denen dieser Gedanke in
ausdrücklicher Polemik gegen Hegel dargelegt wird; wir erinnern weiter
an die Auffassung Baeumlers, der in Hegel den Philosophen des National-
liberalismus, das heißt des Staates der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-
hunderts erblickt.) Der Kampf gegen die Absolutheit des Staates stellt in
Hitlers demagogischen Darlegungen das Volk, dessen wirkliche, „ewige"
Interessen höher als den Staat. Wenn diese Interessen mit dem Staat in
Widerspruch geraten, proklamiert Hitler das Recht und die Pflicht zur
Revolution. „Staatsautorität als Selbstzweck kann es nicht geben, da in
diesem Falle jede Tyrannei auf dieser Welt unangreifbar und geheiligt wäre.
Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem
Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden An-
gehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht ... Im
allgemeinen aber soll nie vergessen werden, daß nicht die Erhaltung eines
Staates ... höchster Zweck des Daseins der Menschen ist, sondern die Be-
wahrung ihrer Art ... Menschenrecht bricht Staatsrecht."
Man sieht, mit welch raffiniertem Geschick Hitler an die damals in den
Massen vorhandenen unklaren revolutionären Instinkte appellierte, wie er
Der deutsche Faschismus und Hegel 4;
ihnen einen Staat vorzeichnete, der angeblich nicht über dem Volk und
seinen Interessen thronte, sondern dessen Ausdruck und Organ selbst sein
sollte. Die soziale Demagogie Hitlers verkündete auch einen „deutschen
Sozialismus". Hitler grenzt aber gleichzeitig seinen Staat von seinen wirt-
schaftlichen Versprechungen geschickt ab. Teils, um diese demagogischen
Versprechungen nicht allzu konkret festlegen zu müssen, teils wiederum,
um die rebellischen Instinkte rückständiger Massen aufzurufen. Denn in
breiten Kreisen der durch die Krise aufgescheuchten Masse war die Wut
gegen das kapitalistische System nicht mit dem klaren Wunsch nach einem
~nderen Wirtschaftssystem, nach dem Sozialismus, verbunden; was siebe-
wegte, war eine verworrene Sehnsucht nach einem Zustand ohne einen
-derartigen wirtschaftlichen Druck; bei den Ideologen dieser Stimmungen
erscheint dies als die Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne Wirtschaft.
Darum kann nun Hitler sein Staatsideal folgendermaßen formulieren und
dabei sicher sein, daß ihm breite kleinbürgerliche Massen entgegenkommen
werden: „Der Staat hat aber mit einer bestimmten Wirtschaftsauffassung
oder Wirtschaftsentwicklung gar nichts zu tun. Er ist nicht eine Zusammen-
fassung wirtschaftlicher Kontrahenten in einem bestimmt umgrenzten
Lebensraum zur Erfüllung wirtschaftlicher Aufgaben, sondern die Organi-
sation einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleicher Lebewesen zur
besseren Ermöglichung der Forterhaltung ihrer Art, sowie der Erreichung
des dieser von der Vorsehung vorgezeichneten Zieles ihres Daseins." Also
ist die Erhaltung der Rasse das wirkliche Ziel des Staates. Der Staat selbst
und erst recht die Wirtschaft sind nur Organe und Hilfsmittel zur Ver-
wirklichung dieses Zieles.
Hiervon ausgehend, grenzt nun Hitler seine Staatstheorie von den
anderen ab. Er verwirft sowohl die Auffassungen, die im Wohl der Unter-
tanen den Zweck des Staates sehen, wie jene, die die Selbstherrlichkeit des
normalen „Machtstaates" verkünden, bei denen er sogar einen Weg sieht,
<ler angeblich zum Marxismus führt. Der Staat ist also etwas Relatives, dem
Volkstum, den Interessen der Rasse Untergeordnetes; nur in diesem Fall
ist er wertvoll und nützlich, an sich ist er nichts.
Man sieht: bei der Entfremdung breitester Massen vom bestehenden
Staat bietet hier die soziale Demagogie des Hitlerfaschismus auch in ihrer
Staatstheorie eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten. Und die Ent-
täuschung der Massen in Deutschland über die Weimarer Demokratie
war so groß, ihre demokratische Erfahrung und Erziehung so gering,
daß diese von Hitler klar und zynisch ausgesprochenen Perspektiven die
Wirksamkeit der Demagogie nicht zu verhindern vermochten.
Wenn wir uns nun den einzelnen grundsätzlichen Folgen der Hitlerschen
Staatsauffassung zuwenden, so sehen wir als erstes Prinzip das Leugnen
44 Der deutsche Faschismus und Hegel
der Rechtsgleichheit. Hitler verkündet schon in „Mein Kampf", daß im
nationalsozialistischen Staat es einen Unterschied zwischen Staatsbürgern
und bloßen (rechtlosen) Staatsangehörigen geben müsse. Im Jahre 1932,
im Zusammenhang mit dem Potempa-Prozeß, mit dem Todesurteil gegen
einige viehische Mörder aus der Nazibewegung, formuliert Rosenberg den
grundsätzlichen Unterschied zwischen der faschistischen und der bis-
herigen Rechtsauffassung: „Damit ist der abgrundtiefe Unterschied ge-
offenbart, der unser Denken, unser Rechtsgefühl von dem Liberalismus
und der Reaktion für immer scheidet. Für das heute herrschende, alle ge-
sunden Selbsterhaltungsinstinkte des Volkes überkrustende ,Recht' ist es
bezeichnend, daß Mensch gleich Mensch sein soll." (Von uns hervorgehoben.
G. L.) Nach der Machtergreifung formuliert der Staatssekretär für Reichs-
justiz Stuckart dieses Prinzip so: „Der Nationalsozialismus bedeutet eine
Abkehr von dem liberalistischen Grundsatz von der Gleichheit alles dessen>
was Menschenantlitz trägt."
Das ist in Wirklichkeit selbstverständlich nicht ein Bruch mit dem
Liberalismus allein, sondern mit allen Grundsätzen des Fortschritts und der
Gesittung, die die europäischen Völker in den schweren Klassenkämpfen
seit dem Ausgang des Mittelalters sich allmählich erobert haben. Mag die
formale Rechtsgleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft noch so proble-
matisch sein, sie ist doch eine der wichtigsten Errungenschaften der bürger-
lichen Revolutionen, ein wesentlicher Schritt vorwärts im Vergleich zur
mittelalterlichen, zur ständischen Gesellschaft. Der deutsche Faschismus
nutzt die Unzufriedenheit der Massen mit der materiellen Rechtsungleich-
heit, mit dem Klassencharakter des bürgerlichen Rechts, der notwendig mit
der formalen Rechtsgleichheit verknüpft ist, aus, um die bisherige Ent-
wicklung rückwärts zu schrauben. Er stellt sich aber dabei nicht nur feind-
lich gegen den Liberalismus, sondern gegen den Rechtsfortschritt der
letzten Jahrhunderte überhaupt.
Die Hegelsche Rechtsphilosophie ist dem Liberalismus keineswegs
freundlich gesinnt; jedoch als gedankliche Zusammenfassung der bürger-
lichen Gesellschaft, wie sie aus der Französischen Revolution hervorging,
hält sie unerschütterlich an dem Prinzip der Rechtsgleichheit fest. Hegel
sagt: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik,
Protestant, Deutscher, Italiener und so fort ist. Dies Bewußtsein, dem der
Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit ... "
Von diesen Grundsätzen gibt es keine Brücke zu Hitler und Rosenberg.
Und die nationalsozialistischen Ideologen fühlen die Unvereinbarkeit viel
klarer als die Neuhegelianer, die an Hegel festhalten und sich doch bei dem
neuen Regime anschmieren wollen. Auch die zeitweilige Rezeption Hegels
durch den italienischen Faschismus ändert nichts an diesem Tatbestand.
Der deutsche Faschismus und Hegel 45
Die Hitlerianer haben insgeheim die italienischen Faschisten nie als wirk-
lich ebenbürtig und kompetent anerkannt. Hitler spricht sich darüber in ei-
nem Gespräch mit Rauschning offen aus: „Die Italiener können nie zu einem
wirklichen Kriegervolk erzogen werden, noch hat der Faschismus je den
wirklichen Sinn des großen Aufschwungs unserer Zeit begriffen. Natürlich
können wir temporäre Bündnisse mit Italien abschließen; aber letzten
Endes stehen wir Nationalsozialisten allein, als die einzigen, die das Ge-
heimnis dieser gigantischen Wandlungen kennen und deshalb als jene, die
berufen sind, dem kommenden Zeitalter das Siegel aufzudrücken." Auch
Krieck fühlt sich veranlaßt, gelegentlich gerade gegen die italienisch-
faschistische Auffassung vom „Aufgehen des Volkes im Staat" sehr
despektierlich zu sprechen.
Die Basis der von den Nationalsozialisten rechtlich statuierten Ungleich-
heit ist selbstverständlich die Rassentheorie. Krieck führt ihre Prinzipien,
sich überall fast wörtlich an Hitler anlehnend, so aus: „Niemals deckt sich
ein Volksstamm mit einer Rasse." Darum soll „die herrschende und maß-
gebende nordische Rasse so ausgelesen und hochgezüchtet werden, daß
sie zum tragenden Rückgrat der ganzen Volksgemeinschaft wird". Sie
setzt „Ziel für Zucht, Erziehung und Bildung aller Volksgenossen". Voll-
rassige werden „einer politisch führenden, den Staat tragenden Auslese-
schicht zugerechnet". Für die barbarische Willkür der Hitlerschen Diktatur
ist es nun bezeichnend, daß es für diese Auslese überhaupt keine objektiven
und greifbaren Grundsätze gibt, daß es ausschließlich vom „Führer", von
der „völkischen Elite" abhängt, wer zu dieser rassisch reinen herrschenden
Schicht gezählt wird. Wir erinnern daran, daß Krieck in seiner „Anthro-
pologie" Rasse, Blut usw. rein subjektivistisch willkürlich bestimmt hat.
Jetzt wird Sinn und Zweck dieses lebensphilosophischen Nebels verständ-
lich. Denn ganz folgerichtig schließt Krieck seine oben angeführten Aus-
führungen so: „Rasse wird gemessen an Art und Grad der Leistungsfähig-
keit für das rassisch-völkische Lebensganze." Und in völliger Überein-
stimmung mit dieser Statuierung einer schrankenlosen Willkür spricht
Stuckart davon, daß die Verleihung des Staatsbürgerrechts bei jedem
einzelnen „nach individueller Prüfung seiner Würdigkeit" erfolgt, jedoch
„wer als Angehöriger artverwandten Blutes anzusehen ist, ist in den Ge-
setzen nicht ausdrücklich gesagt". Die willkürliche Auslieferung aller
Menschen an die herrschende Schicht ist also ein Prinzip des „neuen
Rechts", das heißt jener despotischen Willkürherrschaft, die Vorrechte nur
denen verleiht, die als willenlose Werkzeuge auch für die barbarischsten
Verbrechen des Regimes anzusehen sind.
Wie wir gesehen haben, wird das als Bruch mit der liberalen Ideologie
begründet und dargestellt. Wieder knüpft hier die Nazidemagogie daran
Der deutsche Faschismus und Hegel
an, daß die Massen mit dem bürgerlichen Klassenstaat unzufrieden sind,
und stellt dem formellen Recht demagogisch ein materielles Recht gegen-
über. Roland Freisler, der oberste Mörder des Nazi-Volksgerichtshofs,
bezeichnet den Bruch mit der „Neutralität" und „Objektivität" des früheren
Staates als Wesen des nationalsozialistischen Staates. Der Staat, führt er
aus, „macht sich bewußt zum Soldaten der nationalsozialistischen Welt-
anschauung im deutschen Volke . . . Ausgangs- und Zielpunkt allen
Handelns ist nicht nur der einzelne, sondern das Volk in seiner ewigen
Geschlechterfolge." Von diesen Grundsätzen aus wird dem formellen Recht
der bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip des „materiellen Rechts" und des
„materiellen Unrechts" gegenübergestellt. „Das neue Reich", sagt Stuckart,
„ist nicht mehr ein Rechtsstaat ... , sondern es ist der auf deutscher Sittlich-
keit beruhende Weltanschauungsstaat." Stuckart führt nun an Hand der
Rechtsentwicklung im Hitlerstaat aus, daß alle alten Rechtskategorien,
darunter auch die der Verfassung, hier gegenstandslos geworden sind. „Der
formelle Verfassungsbegriff hat . . . für das Deutsche Reich seine Be-
deutung verloren."
Wieder knüpft der Faschismus daran an, daß die Massen mit den Klassen-
schranken des formellen Rechts unzufrieden sind, um dann alle Rechts-
begriffe zum Ziele eines Regimes der schrankenlosen Tyrannei zurück-
zudrehen. Dabei muß wiederum energisch hervorgehoben werden, daß
gerade die Formalität des Rechts den Staatsangehörigen einen bestimmten
Schutz gegen die Willkür der Obrigkeit gewährt. Darum war die re-
volutionäre Durchsetzung des formellen Rechts durch die bürgerlichen
Revolutionen - bei allen seinen sonstigen Schranken - ein großer Fort-
schritt gegenüber der absolutistischen Periode. Hegel, dessen Rechts-
philosophie alles andere als formalistisch ist, er, der das formale Recht nur
als erste und aufzuhebende Erscheinungsweise der dialektischen Rechts-
und Staatsentwicklung anerkennt, hält selbstverständlich an der Wichtig-
keit dieses Moments unerschütterlich fest. Er spricht darüber, daß viele eine
Abneigung gegen den Formalismus des Rechts haben. „Man kann nun
gegen solche Förmlichkeiten einen Widerwillen haben .. „ aber das Wesent-
liche der Form ist, daß das, was an sich Recht ist, auch als solches gesetzt
wird ... Hier muß nun meine Subjektivität und die des anderen hinweg-
fallen, und der Wille muß eine Sicherheit, Festigkeit und Objektivität er-
langen, welche er nur durch die Form erhalten kann." Wir sehen also
wieder den unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Hegelschen Rechts-
philosophie und der zur Theorie erhobenen, tyrannischen Willkür des
Hitlerstaates.
Den bisher behandelten Grundsätzen entsprechend, kennt der Hitler-
faschismus keinerlei Rechtsgarantien für das Individuum. „Die national-
Der deutsche Faschismus und Hegel 47
sozialistische Volksordnung", sagt Stuckart, „ergreift das irdische Dasein
des deutschen Menschen in umfassender Weise." Das heißt: der Staat hat
das Recht, in sämtliche Lebensäußerungen des einzelnen Menschen nach
Belieben einzugreifen. Und hier gibt es für die Hitlerfaschisten grundsätz-
lich keinerlei Schutz für die Rechte der Individuen, keinerlei Rechts-
garantien. Das wäre wieder Liberalismus. „Die liberale Staatsauffassung",
fährt Stuckart fort, „stellte das Individuum und die Gesellschaft in einen
Gegensatz zum Staat, indem sie ... Vorsorge treffen zu müssen glaubte,
den Staatsbürger von den Fesseln einer übermächtigen Staatsgewalt zu be-
freien und seine persönliche Rechtssphäre gegen staatliche Eingriffe zu
schützen." Diese Auffassung des Rechts ist durch den Nationalsozialismus
überwunden: „Der einzelne ist seinem Volkstum schicksalhaft ver-
bunden"; das heißt: „Für den Nationalsozialismus gibt es keine ab-
gekapselte gemeinschaftsfreie Individualsphäre mehr, die peinlich vor
jedem Eindringen des Staates zu bewahren wäre." Das Individuum ist also
jedem staatlichen Eingriff restlos ausgeliefert; es gibt keinerlei Garantie für
die individuelle Freiheit, auch nicht für das Privatleben des einzelnen.
Von der faschistischen Demagogie wird also der Schein erweckt, als ob
- im Gegensatz zu früheren Staatssystemen - das Volk höher stünde als der
Staat, woraus einzelne naive Anhänger der Nazis die voreilige Folgerung
gezogen haben, das Volk werde nunmehr einen größeren Einfluß erhalten
und eine größere Aktivität entfalten. Naive Menschen dieser Art endeten
auf dem Schafott oder in den Kellern der Gestapo. Die Hitlersche Staats-
praxis ist schrankenlose Willkür, durch nichts gehemmte barbarische
Tyrannei. Ihre Staatstheorie bemüht sich, die tatsächliche Vernichtung
eines jeden Volkseinflusses auf die staatlichen Entscheidungen als eine
neue Form der „germanischen Demokratie", als eine allgemeine Politisie-
rung des Volkes darzustellen.
Der Reichspressechef Otto Dietrich gibt ein klares Bild, wie diese
„germanische Demokratie", diese Politisierung des Volkes von den Nazis
gewünscht wurde. „Der Nationalsozialismus", sagt er, „verlangt nicht
vom einzelnen, daß er Politik treibt. Diese Kunst bleibt wenigen dazu Be-
rufenen und Auserwählten vorbehalten. Aber er verlangt von jedem
einzelnen im deutschen Volke, daß er politisch denkt und fühlt." Dieses
politische Denken „ist nicht kompliziert, nicht verwirrend und wissen-
schaftlich problematisch. Es ist einfach, klar und einheitlich." Und Dietrich
erklärt auch, warum dies so sei. Denn der „Führer" ist der „Vollstrecker
des Volkswillens", aber nicht durch Wahl, sondern infolge „jenes imma-
nenten Willens zur Selbstbejahung, die jedem Volk blutsmäßig innewohnt".
Nicht umsonst sprechen Baeumler und Krieck davon, daß jeder wirkliche
Deutsche ein „politischer Soldat" sein müsse. Dies bezieht sich nicht nur
Der deutsche Faschismus und Hegel
auf die allgemeine Vorbereitung des ganzen deutschen Volkes zum Krieg,
auf jene „ totale Mobilmachung" als Vorbereitung zu dem räuberischen
Überfall auf ganz Europa, den Hitler vom Tage seines Machtantritts an
organisierte, sondern auch auf die Friedenszeit, auf die Beziehung jedes
Deutschen zum faschistischen Staat. Jeder Deutsche ein „politischer
Soldat": das bedeutet, daß er in allen politischen Fragen vor seinen Vor-
gesetzten, vor den kleinen oder größeren lokalen „Führern" stramm-
zustehen und ihre Befehle widerspruchslos auszuführen hat. Dadurch be-
weist er, daß er zur höheren Rasse gehört, dadurch verwirklicht er die
„germanische Demokratie", deren Grundsatz Hitler selbst so ausgesprochen
hat: „Autorität nach unten, Verantwortung nach oben."
So wurde die ganze Staatsmacht in die Hand einer Verbrecherbande, der
sogenannten neuen Elite, gelegt. Und innerhalb dieser Elite herrscht nun
wieder die schrankenlose Willkür des „Führers". Die nationalsozialistische
„legale Revolution" hat auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten
Rechts mit allen Rechtsbestimmungen und Rechtsgarantien aufgeräumt.
Es gab in Deutschland keine beschließende Vertretungskörperschaft mehr,
alles wurde von der durch nichts beschränkten Zentralmacht bestimmt.
Es wäre falsch, diese tyrannische Willkürherrschaft mit irgendeinem
früheren Absolutismus, dieses willkürliche Kastensystem von Despoten
und Parias mit früheren Ständegesellschaften zu vergleichen. Das Mittel-
alter hat zwar die Rechtsgleichheit nicht gekannt, aber für jeden Stand
existierten immerhin bestimmte Rechtsgarantien, die die Grenzen der er-
laubten Unterdrückung und Ausbeutung bestimmten. Solche Grenzen
kennt der Hitlerfaschismus nicht. Er ist in dieser Hinsicht etwas wirklich
Neues: die Barbarei der überfaulen imperialistischen Periode. Ernst Krieck,
das theoretische enfant terrible der nationalsozialistischen Philosophie,
plaudert dieses Schulgeheimnis in einer manchmal allzu offenen Form aus.
Er sagt: „An Stelle von ,Staat' kommt langsam eine neue politische
Wirklichkeit herauf, deren Gestalt aber erst zu ahnen und für die noch
kein Name vorhanden ist." Und er spricht weiter das Wesen dieser Lage
offen aus: „Gegenwärtig ist die Bewegung der eigentliche Staat, weil sie
Trägerin des Schicksals der deutschen Sendung in der Geschichte ist. Der
logische Widersinn, die Bewegung ist der Staat ... , entspricht völlig der
gegenwärtigen Wirklichkeit: die Wirklichkeit steht jenseits aller so-
genannten Gesetze der Logik."
Diese offenherzige Erklärung bedarf keines Kommentars. Man sieht aus
ihr ganz klar, wozu die Faschisten ihren extremen Irrationalismus brauchen,
nämlich zur Schaffung einer geistigen Atmosphäre, in der die barbarische
Willkür als notwendige Erscheinungsweise einer neuen „revolutionären"
Wirklichkeit den Massen glaubhaft gemacht werden kann. Daß die wirk-
Der deutsche Faschismus und Hegel 49
liehen Drahtzieher selbst nicht an ihre Worte glauben, daß sie sich bei
ihren theoretischen Kundgebungen zynisch ins Fäustchen lachen, ist kein
Widerspruch, sondern die notwendige Kehrseite einer solchen „Philo-
sophie". Ebenso wie es kein Widerspruch ist, daß die „Kühnheit" der
nationalsozialistischen Ideologen, mit der sie den größten irrationali-
stischen Widersinn als neue Weisheit verkünden, mit einem widerwärtigen
Lakaientum ihren Vorgesetzten gegenüber verbunden ist. In der Ein-
führung des Sammelwerks, aus dem wir Ausführungen von Stuckart,
Freisler, Dietrich zitiert haben, steht folgendes: „Alle wirkliche Ent-
scheidung steht beim Führer", wenn er anders entscheidet, als in diesem
- offiziellen - Sammelwerk dargelegt wird, „dann hat nicht der National-
sozialismus seine Anschauung hierüber geändert, sondern der Verfasser hat
sich über die wahre Stellung des Nationalsozialismus zu diesem einzelnen
Problem geirrt."
Es ist klar, daß dieser neue Typus von Mensch, diese widerwärtige
:Mischung von barbarischen Henkern und rückgratlosen Lakaien, mit dem
Denken und Fühlen der klassischen deutschen Periode, mit der Tradition
Goethes und Hegels nichts gemein haben kann. Die klassische Periode der
deutschen Literatur und Philosophie war einer der Gipfelpunkte des
menschlichen Denkens, der menschlichen Gesittung, im wesentlichen ein
ideologischer Widerschein der Französischen Revolution, ihrer Vor-
bereitungen und Folgen, ein mächtiges Gedankenorgan des Fortschritts,
das auch heute noch - im Werk von Marx und Engels, von Lenin und
Stalin - durch die auf die Füße gestellte Dialektik lebendig wirksam ist.
Wie könnte der führende Denker dieser Periode, der größte Vollender
der dialektischen Methode vor Marx, Hegel, mit diesen zynischen Be-
trügern irgend etwas gemein haben? Allerdings vollbrachte die faschisti-
sche Demagogie, die faschistische Fälschungskunst nicht unbeträchtliche
Leistungen. So versuchte sie ununterbrochen, Goethe für ihre Zwecke aus-
zunutzen. Natürlich vergebens. Es ist aber für das Andenken Hegels ehren-
voll, daß, trotz aller reaktionären V erdrehungsversuche der Neuhegelianer,
Vernunft und Fortschritt in seinem System so unzweideutig zum Ausdruck
kommen, daß seine Lehre für das Banditentum der Hitlerleute in jeder Hin-
sicht untragbar ist.
1943
ÜBER PREUSSENTUM
Es ist verständlich, daß die Gefährdung der Weltzivilisation durch das
organisierte Banditentum Hitlers überall die Frage entstehen ließ, wie der
tiefe Verfall des deutschen Volkes zu erklären sei. Dabei stieß man natür-
lich auf das Problem der Verpreußung Deutschlands. Denn schon lange
vor Hitler empfanden die wirklich fortschrittsliebenden Geister Europas
(darunter nicht wenige Deutsche) das Preußentum, sein soziales und poli-
tisches, sein moralisches und kulturelles Wesen als einen gefährlichen
Fremdkörper in der modernen Zivilisation. Es lag also nahe, die akute
Vergiftung des deutschen Nationalgeistes aus dieser jahrhundertealten
chronischen Erkrankung direkt abzuleiten.
Bei näherer Betrachtung zeigt es sich aber auch hier, daß allzu direkte
Verbindungslinien in den seltensten Fällen mit den wirklich entscheidenden
Verbindungswegen zusammenfallen. Selbstverständlich hat der Faschismus
alles Schlechte, was die Verpreußung im deutschen Volke entwickelte,
geerbt und weitergebildet. Jedoch einerseits begegneten wir immer wieder
Beispielen, daß Vertreter einer altpreußischen Ideologie (zum Beispiel
Pastor Niemöller, Ernst Wiechert) zum Hitlertum in Opposition standen.
Andererseits hat die Zeit von 1918 bis 19;; deutlich gezeigt, daß die direkten
Vertreter des traditionellen Preußentums nicht fähig waren, in Deutsch-
land ein reaktionäres Regime zu errichten; daß dazu etwas Neues, die
spezifische Demagogie des Hitlertums treten mußte, in dem der preußische
Geist zwar ein wichtiges Moment, aber doch nur ein Moment bildet. Schon
dies weist darauf hin, daß die Fragestellung: preußischer Geist und Faschis-
mus einer ergänzenden Konkretisierung bedarf.
Worin soll diese Ergänzung bestehen? Wir glauben: vor allem in dem
Hinweis auf die Dynamik der deutschen Geschichte. Man sieht oft richtig
die Polarität von Preußentum und Demokratie, aber man sieht ebensooft
nur ungenügend die wellenmäßige Wechselwirkung beider Grundsätze
Über Preußentum 51
in der deutschen Geschichte: die wiederholten Versuche des deutschen
Volkes, sein Schicksal selbst demokratisch zu gestalten, das wiederholte
Scheitern dieser Versuche, die aus diesen Niederlagen des deutschen Volkes
herauswachsende - innerlich wie äußerlich wechselnde - Stärkung der
Macht des Preußentums über die Deutschen und gleichzeitig deren innere
Entartung. Erst die Geschichte der recht komplizierten Wechselwirkung
erklärt den wirklichen Zusammenhang zwischen deutschem und preußi-
schem Geist und zugleich die - untereinander sehr verschiedenen - Etap-
pen der Verpreußung Deutschlands. Es versteht sich von selbst, daß auch
wir hier nur einige Gesichtspunkte herausstellen können, denn selbst ein
skizzenhafter Abriß dieser Entwicklung ließe sich in unserem Rahmen
nicht geben.
Wir müssen also, wie das Epos, in der Mitte beginnen. Die wirkliche
Verpreußung Deutschlands beginnt mit den Siegen von 1866 und 187i..
Freilich war Deutschland durch die Niederlage der Achtundvierziger
Revolution auf dieses Schicksal vorbereitet. Diese Niederlage ist die größte
Wende des deutschen Volksschicksals seit dem Bauernkrieg von 15z5.
Damals wurde Deutschland aus seiner mittelalterlichen Problematik in
einen verrotteten Kleinstaatabsolutismus zurückgeworfen; es entstand
eine Karikatur jener Entwickhmg, die in den großen europäischen Staaten„
besonders in Frankreich, zur Vorbereitung der modernen gesellschaft-
lichen Formen unvermeidlich war. In der Achtundvierziger Revolution
wurde - zum erstenmal seit drei Jahrhunderten - der Versuch gemacht,
alles inzwischen Versäumte aufzuholen und Deutschland in die politische
Kulturgemeinschaft der europäischen freien Völker einzufügen.
Der Versuch mißlang. Die Niederlage war, objektiv gesehen, nicht end-
gültig; das deutsche Bürgertum besaß aber weder den Mut noch die Kraft,
die sich ihm bietenden günstigen Gelegenheiten zu nutzen. Da nun die
wirtschaftliche Vereinigung Deutschlands historisch notwendig geworden
war, wurde Preußen ihr reaktionärer Vollzieher. Auf dieser Grundlage
entstand ebenfalls eine - freilich ganz andersgeartete - politisch-soziale
Karikatur der modernen staatlich-gesellschaftlichen Struktur. Wie vor
dreihundert Jahren der kleinstaatliche Absolutismus, so ist auch die Ver-
preußung Deutschlands der organisatorisch-ideologische Ausdruck des
Irrweges, den wir in der deutschen Geschichte verfolgen können. Die
Kämpfer für die Demokratie haben die Gefahr klar gesehen und forderten
deshalb von Anfang an, daß Preußen in Deutschland aufgehen müsse. Aber
es gelang nicht, die Bismarcksche Verpreußung Deutschlands zu verhin-
dern. Nicht auf dem Wege zur Freiheit und zur Demokratie kam die deut-
sche Einheit zustande, im Gegenteil: die deutsche Einheit unter preußischer
Hegemonie wurde zum Hemmnis der Freiheit des deutschen Volkes.
Über Preußentum
Mit dieser Entscheidung ist eine neue Periode im Preußentum selbst
und insbesondere in seiner Wechselbeziehung zu Deutschland eingetreten.
Lange Zeit, fast bis zum Vorabend der Vereinigung Deutschlands, gingen
die Bestrebungen zur Zerreißung Deutschlands von Preußen aus. Preußen
war das wichtigste Hindernis für die nationale Einheit. Die vor allem von
Treitschke verbreitete Legende, Preußen habe von Anfang an die Ver-
einigung Deutschlands erstrebt, ist historisch vollständig unhaltbar. Selbst
als sich Preußen aus geographischen und wirtschaftlichen Gründen ge-
zwungen sah, im zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts den „Deut-
schen Zollverein" zu gründen, selbst als dieser schon weitgehend die wirt-
schaftliche Vereinigung Deutschlands vollzogen hatte, sträubten sich die
führenden preußischen Politiker noch gegen die historische Entwicklung,
die sie durch ihre wirtschaftlichen Maßnahmen selbst - wenn auch un-
bewußt - eingeleitet hatten. (Man denke an die Kämpfe Bismarcks mit
Wilhelm I.)
Das Preußen des achtzehnten Jahrhunderts ist als eines der deutschen
Territorialfürstentümer ebenso kurzsichtig, dynastisch-egoistisch und par~
tikularistisch regiert worden wie die anderen, war ebenso unfähig wie diese,
einen nationalen Gedanken auch nur zu begreifen, geschweige denn prak-
tisch-politisch zu fördern. Durch seine größere militärische Macht wird
Preußen nur ein wirkungsvolleres Hindernis der nationalen Einheit als
die anderen Fürstentümer, die meist ohnmächtige Kleinstaaten waren.
Der junge Hegel z. B. sieht darum mit Recht in Preußen einen der nicht-
deutschen Staaten, die die deutsche Einheit zerreißen; in seiner „Verfassung
Deutschlands" zählt er Preußen in einer Linie mit Außenmächten wie
Schweden und Dänemark auf. Eine ähnliche Einstellung haben fast alle
führenden Geister dieser Zeit; ich verweise bloß auf Lessing, Klopstock,
Winckelmann, Herder und Goethe.
Dieser Gegensatz spielt in der Kritik der Verpreußung Deutschlands,
besonders seit dem ersten Weltkrieg, eine große Rolle. Er erscheint zu-
meist in der Formulierung: Weimar versus Potsdam. Die Gegenüberstellung
ist im ersten Augenblick sehr bestechend. Sie bezeichnet tatsächlich die
beiden Pole des deutschen Wesens, sowohl den kulturellen Gipfel als auch
den Tiefpunkt der deutschen Entwicklung. In Wirklichkeit steht aber die
Sache doch ganz anders.Weimar und Potsdam waren beide nur verschieden-
artige und freilich auch verschiedenwertige politisch-kulturelle Ausdrucks-
formen der oben skizzierten politisch-sozialen Rückständigkeit und natio-
nalen Zerissenheit Deutschlands.
Vor allem sei nicht vergessen, daß das Weimar Goethes und Schillers
keineswegs typisch für das nichtpreußische deutsche Kleinfürstentum ge-
wesen ist. Wir wollen hier gar nicht davon sprechen, wie sehr die Legende
Über Preußentum
auch das Weimar Karl Augusts idealisiert hat (bei Herder, in Goethes und
Schillers Briefen findet man darüber sehr viel Material). Es ist aber unter
allen Umständen ein Ausnahmefall, daß die politische Ohnmacht eines
deutschen Kleinfürstentums bei aller Problematik zur Gründung eines
leuchtenden kulturellen Mittelpunkts geführt hat; es ist ein Ausnahmefall,
daß aus dieser Ohnmacht nicht eine lächerliche Versailleskopie, nicht klein-
liche politische Intrigen um die Erwerbung von Territorialfetzen, nicht eine
wüste Mätressenwirtschaft, nicht eine karikaturistische Soldatenspielerei
und ein unwürdiger Soldatenverkauf entstanden sind wie in den für diese
Entwicklungsstufe typischen deutschen Kleinstaaten. Worin unterscheidet
sich nun Preußen einerseits von den anderen deutschen Territorialfürsten-
tümern und andererseits von den anderen absoluten Monarchien des acht-
zehnten Jahrhunderts? Vor allem dadurch, daß es die ersteren an Größe
und Macht ebenso überragt, wie es etwa hinter Frankreich oder Österreich
quantitativ zurückbleibt. Diese Größe gestattet und erfordert zugleich eine
europäische Machtpolitik, zu der die anderen deutschen Kleinstaaten un-
fähig waren. Aber die relative Schwäche gegenüber den Großmächten
führt dazu, daß Preußen bei der Beschaffung der finanziellen, sozialen und
militärischen Mittel immer viel größere Schwierigkeiten hat als die stärke-
ren Monarchien. Dementsprechend sind auch die Methoden der mon-
archistisch-absolutistischen Machtpolitik subalterner als die der wirklichen
Großstaaten: sie sind dort, wo die Kraft ausreicht, brutaler, andererseits
kriecherisch-verräterisch in den Beziehungen zu den stärkeren Staaten
(anfangs zu Polen und Schweden, später zu Frankreich und Rußland).
Die innere soziale Struktur Preußens unterscheidet sich im allgemeinen
nicht sehr von der der anderen absolutistischen Staaten. Aber die wirt-
schaftliche Rückständigkeit Deutschlands ergibt hier ganz andere V erhält-
nisse, und die Verschiebung ist so stark, daß daraus etwas qualitativ anderes
entsteht. Kurz gesagt: im Kampf der absoluten Monarchie gegen den
Adel ist jene, schon weil das Bürgertum, ihr anfänglicher Verbündeter,
viel weniger entwickelt ist als in den westlichen Ländern, schwächer und
unentschiedener. Der Feudaladel ist darum viel weniger geschwächt und
geschlagen, viel weniger zum Hofadel gedrückt und zugleich zivilisiert
als in Frankreich; er behält viel mehr von seiner feudalen Waldursprüng-
lichkeit bei. Dieses eigenartige Verhältnis zwischen Hof- und Militäradel
einerseits und starken feudalen Überresten andererseits ergibt die Grundlage
für die Eigenart des preußischen Adels und für seine Beziehung zur Mon-
archie.
Die Rückständigkeit Deutschlands äußert sich auch in der Eigenart der
absolutistischen Bürokratie. Der Bürokratismus ist die erste, primitive,
noch mit feudalen Überresten belastete Form der Überwindung des Feuda-
Über Preußentum
lismus. Die Überreste sind naturgemäß in Preußen viel stärker als in den
westlichen Ländern. Und da es in der späteren Entwicklung nicht zu einem
revolutionären Zerschlagen des Feudalismus kommt, bleibt diese primitiv-
halbfeudale Organisationsform des einheitlichen modernen Staates auch
auf viel höheren wirtschaftlichen Stufen erhalten; zu einer Zeit, in der der
Feudalismus in den westlichen Ländern als Grundlage des Staates schon
längst von der Demokratie überwunden war.
Dieser Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Grundlage und staatlicher
Organisationsform ist die weitere soziale Bestimmung der preußischen
Eigenart. Auf verschiedenen Stufen der Entwicklung sind daraus ganz
verschiedene Folgerungen zu ziehen; je entwickelter die Gesellschaft ist,
desto reaktionärer, zersetzender, karikaturistischer treten die zurückgeblie-
benen Seiten dieser Organisationsform hervor. Als die Gesellschaft noch
weniger entwickelt war, herrschte die Redlichkeit des Beamtenbewußtseins,
während in der entwickelteren Gesellschaft der bürokratische Formalis-
mus - ursprünglich eine wichtige Waffe in der Überwindung des feudalen
Patriarchalismus, der mittelalterlichen Rechtsanarchie - immer mehr zu
einer ertötenden Leere erstarrte. Da sich aber Elemente der Beamten-
anständigkeit auch im entwickelten Kapitalismus noch verhältnismäßig
lange erhalten, ist hier gerade für Deutschland ein wichtiger Anknüpfungs-
punkt für die romantische Kritik des Kapitalismus gegeben. Die Ent-
rüstung über die moralische Verderbnis, über das niedrige intellektuelle
und moralische Niveau der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
nachdrücklich einsetzenden Kapitalisierung hebt unter den besonderen
deutschen Umständen oft die Ehrlichkeit, die ästhetisch und moralisch
leicht zu bevorzugende „Haltung" der Zivil- und Militärbürokratie als
Typus gegen den des Kapitalismus hervor.
Trotz dieser Gegensätze ist das ständize Ausspielen von Weimar gegen
Potsdam kein Zufall, es ist das falsche Dilemma der bisherigen deutschen
Entwicklung. Ein Land ohne wirkliches öffentliches Leben, ohne eine
wirksame und machtvolle öffentliche Meinung, ohne lebendige und aktive
politische Interessen, ohne nationalen Mittelpunkt muß entweder in den
verzerrtesten und entartetsten, ärmlichsten Formen der absolutistischen
Periode steckenbleiben, oder es wird die Ideen der Zeit ohne gesellschaft-
liche Kontrolle ihrer realen Anwendbarkeit (allerdings auch bei weniger
fühlbaren gesellschaftlichen Hemmungen in ihrem Zuendedenken) ge-
wissermaßen im luftleeren Raum zu Ende führen und die Geistesschlachten
in den Himmel der Ideen verlegen.
Letzteres bezeichnet die Größe der klassischen Periode der deutschen
Dichtung und Philosophie. Es ist darum bestechend, sie dem engen und
dürren Geist des Preußentums gegenüberzustellen. Wie sehr es sich aber
Über Preußentum
hier um die Polarität der nationalen Zerrissenheit, der undemokratischen
Existenz des deutschen Volkes handelt, zeigt sich darin, daß wir Weimar
und Potsdam in allen. Erscheinungen des deutschen Lebens immer wieder
wahrnehmen können. Einerseits als moralisch-ideologische Zersetzung im
Preußentum, in dem bei jedem wirtschaftlich-kulturellen Aufstieg eine Zer-
setzung entsteht, weil der preußische Staat, der preußische Geist keinen
Spielraum läßt für eine angemessene Aufnahme neuer kultureller Werte,
anderseits als bürokratische Schranke im humanistischen Individualismus,
die wir selbst bei solchen Giganten wie Goethe und Hegel immer wieder
feststellen müssen, obwohl ihre weltgeschichtliche Größe nicht zuletzt
darin besteht, daß sie in jeder Hinsicht gegen diesen Strom der deutschen
Entwicklung ankämpften. Weimar und Potsdam sind also die beiden Pole
der früheren deutschen Entwicklung. Wie bei einer entzweigeschnittenen
Magnetnadel erscheinen in jeder geistigen Erscheinung des damaligen
Deutschland beide aufs neue.
II
Man spricht sehr viel davon - besonders die westliche Publizistik kommt
immer wieder darauf zurück -, daß Preußentum etwas Geistiges, eine intel-
lektuell-moralische Einstellung sei. Das ist bis zu einem gewissen Grade
richtig. Es ist aber noch richtiger, auf die gesellschaftliche Grundlage zu-
rückzugehen und zu sehen, daß die Erhaltung des Preußentums ein Stehen-
bleiben auf der verhältnismäßig primitiven Stufe der absoluten Monarchie
bedeutet, ein Stehenbleiben bei der Bürokratie als der herrschenden Organi-
sationsform des modernen Staates, der neuen bürgerlichen Gesellschaft.
Oder negativ gesagt: daß keine demokratische Vergesellschaftung, keine
ständige Kontrolle des staatlichen Apparats durch das öffentliche Leben
erfolgt und die Individuen überhaupt außerhalb des Politischen stehen, im
Gegensatz zu den organisch entwickelten modernen Gesellschaften, in
denen alle Probleme des Lebens aus der Öffentlichkeit eine konkrete gesell-
schaftliche Richtschnur, die Gebote der Moral eine konkrete gesellschaftlich-
inhaltliche Erfüllung erhalten.
Der Bürokratismus dagegen ist immer formell. Die formelle Nivellierung
war eine seiner wichtigsten Aufgaben im Kampf gegen die anarchistische
Buntheit des mittelalterlichen Patriarchalismus. Auf der höchsten Stufe
der Vergeistigung, als Ethik, erscheint er in der Gestalt einer rein formellen
Pflichtethik, als Erfüllung der Pflicht um der Pflicht willen, als bedingungs-
lose Unterwerfung unter das moralische Gebot. Objektiv gesellschaftlich
gesehen ist freilich dieser Formalismus eine Illusion. Er bedeutet letzten
Endes, daß der Beamte seine „Ehre", wie Max Weber sagt, darin sieht,
~6 Über Preußentum
daß er seine Kritik, seine Bedenken zwar vorträgt, die ihm aufgetragene
Aufgabe aber auch gegen seine Überzeugung erfüllt, daß er seine Über-
zeugung der oberen Entscheidung unterordnet, wenn er mit ihr nicht
durchzudringen vermag.
Es handelt sich hier natürlich nicht nur um die zwangsläufig entstehende
gesellschaftlich-moralische Erniedrigung der Freiheit und Entschlußfähig-
keit, sondern auch um Politik, ja sogar um Strategie. Bismarck ist der ein-
zige Staatsmann größeren Stils, den das neuere Preußentum hervorgebracht
hat - aber wieviel untypische Züge sind auch ihm (teils wegen seiner halb-
bürgerlichen Abstammung) eigen. Dabei ist auch Bismarck nur in der Peri-
ode des reaktionären Vollzugs der deutschen Einheit ein Staatsmann großen
Stils gewesen. Stein, der überragende Staatsmann Preußens am Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts, war kein Preuße. Und Bismarck selbst hat be-
merkt, daß die wirklichen Strategen der preußischen Armee, Scharnhorst,
Gneisenau und Moltke, nicht aus der Schule des heimischen Militarismus
hervorgingen; dieser erzog nur gute, gewissenhafte untere Kommandanten
(das heißt Militärbürokraten, keine echten Heerführer).
Der bürokratische Geist, zur Weltanschauung erhoben, hat zur Folge,
daß alle individuellen Neigungen und Meinungen vor der Objektivität
des Gebots auf das Niveau einer bloßen Subjektivität gedrückt und auch
vom Subjekt nur so empfunden werden. Zwischen der subjektfremden
Allgemeinheit der objektiven Pflicht und der bloßen Subjektivität des realen
Individuums scheint ein unüberbrückbarer Abgrund zu klaffen. (Wenn das
Individuum dagegen anarchistisch, romantisch oder literatenhaft rebelliert
und dabei jede Objektivität der Pflicht bestreitet, so entsteht deutlich sicht-
bar bloß ein ergänzender Gegenpol zu dieser geistigen Struktur, keines-
wegs jedoch ihre wirkliche Überwindung.)
Ganz anders sind diese Probleme in einer freien und demokratischen
Gesellschaft gestellt. Das breiter entfaltete öffentliche Leben gestattet un.d
erfordert eine freie Verantwortung der Entschlüsse für jedes Individuum
in jeder entscheidenden Lage. Darum sind in ihm die Gebote inhaltlich,
ihr Inhalt wird bewußt angenommen oder verworfen, das heißt, er ist der
Gegenstand einer Wahl, einer Entscheidung, aber nicht zwischen formali-
stischem Pflichtgebot und subjektiver Gefühlsanarchie, sondern zwischen
zwei konkreten sozialen Inhalten.
Es geht für unsere Betrachtung nur um die scharfe Herausarbeitung des
Gegensatzes zwischen demokratischen und „autoritären" Entwicklungs-
linien. Jeder weiß, daß die Demokratien einerseits historisch und sozial
außerordentlich verschieden sind, daß alle Probleme des gesellschaftlichen
Lebens und demzufolge auch die Möglichkeiten des einzelnen Menschen in
der heroischen Glanzzeit der großen Französischen Revolution ganz anders
Über Preußentum
aussahen als etwa im Alltag der Vereinigten Staaten, daß die heldenhaft
um ihre Freiheit kämpfende spanische Republik eine andere Demokratie
vorgestellt hat als das Frankreich Daladiers. Und natürlich kommen die
bedeutenden und fortschrittlichen Seiten der Demokratie, ihr Gegensatz
zur preußisch-deutschen Entwicklung desto prägnanter zum Ausdruck, je
näher ihr wirkliches soziales Wesen (und nicht bloß ihre staatsrechtliche
Form) den Höhepunkten der Demokratien, den Perioden der Cromwell
oder Washington, Robespierre oder Lincoln steht.
Andererseits ist es ebenfalls bekannt, daß die Demokratie an sich kein All-
heilmittel gegen die sozialen Krankheiten des modernen gesellschaftlichen
Lebens sein kann. Korruption, Cliquenherrschaft, offene oder versteckte
Brechung des Rechts, Ausnützung der politischen Macht zur Benachteili-
gung der Armen sind in Demokratien ebenso möglich wie in undemo-
kratisch organisierten Staatswesen. Der Unterschied besteht „bloß" darin,
daß in den Demokratien die Waffe der öffentlichen Meinung gegen Miß-
stände zur Verfügung steht (wieder: je nach den oben ausgedrückten Ab-
stufungen innerhalb ihrer verschiedenen Typen), während es der Büro-
kratie der offen oder versteckt „autoritären" Staaten fast immer gelingt,
ihre Mißbräuche, ihre ungesetzlichen Maßnahmen unter der Flagge des
„Staatsinteresses" der Kritik der öffentlichen Meinung zu entziehen.
Dieser Zustand ist im verpreußten Deutschland einem großen Teil des
Volkes derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß die meisten das offene
Aufdecken der Mißstände in den Demokratien, die Mobilisierung der öffent-
lichen Meinung zu ihrer Ahndung und Wiedergutmachung als nachteilig
betrachten und daß oft - selbstbetrügerisch oder heuchlerisch - der Stand-
punkt vertreten wird, in Deutschland seien solche Stürme politisch-sozial
überflüssig, weil die „gesündere" deutsche Gesellschaft nicht so korrupt sei
wie die der westlichen Demokratien.
Aus dieser Einstellung folgt, daß der deutschen Intelligenz, mit ganz
wenigen Ausnahmen, nichts fremder ist als geistige Verhaltensarten wie
etwa die Zolas und Anatole Frances während und nach der Dreyfus-
Affäre. Zum großen Schaden der deutschen Literatur und der deutschen
Presse ist in ihnen das „ tertium datur" zwischen allzu großer Versöhnungs-
bereitschaft mit der staatlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und individuell-
anarchistischem Rebellentum von jeher selten und schwach vertreten. Auch
dies ist eine Folge davon, daß das deutsche Volk die wirkliche Freiheit des
demokratisch öffentlichen Lebens so gut wie nie gekannt hat. Das wirkt
sich in der sozialen Moral vor allem durch den Mangel an „Zivilcourage"
aus, der schon von Bismarck festgestellt wurde.
Die weitverbreitete Anschauung, daß unnachsichtige Härte des Pflicht-
gebots das Wesen des preußischen Geistes ausmache, ist also falsch. Eherne
Über Preußentum
Härte haben wir in der Geschichte der menschlichen Moral wiederholt
erlebt. In Rom, in der Erneuerung der antiken Moral bei den Jakobinern,
in der (freilich deutsch abgeschwächten und bürokratisierten) Ethik von
Kant und Fichte. Man denke nur an die Gestaltung des Brutuskonflikts bis
zu den Ausläufern der tragedie classique.
Ganz anders, geradezu gegensätzlich ist die unnachsichtige Härte der
preußischen Pflichtethik. Der geniale und zugleich tief preußische Dichter
Heinrich von Kleist hat diesen Gegensatz zur Antike außerordentlich
scharf empfunden. Als sein Prinz von Homburg nach der siegreichen
Schlacht wegen Nichterfüllung des erhaltenen Befehls verhaftet wird,
spricht er sich in einem Monolog über das Problem sehr deutlich, und zu-
gleich Kleists Anschauungen verdeutlichend, so aus:
„Mein Vetter Friedrich will den Brutus spielen ...
Bei Gott, in mir nicht findet er den Sohn,
Der, unterm Beil des Henkers, ihn bewundre.
Und wenn er mir, in diesem Augenblick,
Wie die Antike starr entgegenkömmt,
Tut er mir leid, und ich muß ihn bedauern!"
Kleists „Prinz Friedrich von Homburg" ist wirklich das Drama des preu-
ßischen Geistes. Nicht nur - wie allgemein angenommen wird - weil am
Ende dieser preußische Geist den vollen Triumph davonträgt, sondern weil,
vielleicht gegen die bewußten Absichten des Dichters, gerade hier die innere
Gegensätzlichkeit der preußischen Abart des deutschen Geistes am klarsten
und dichterisch bedeutendsten zum Ausdruck kommt. Friedrich Hebbel,
ein glühender Bewunderer dieses Dramas, kritisiert Anfang und Ende, weil
an beiden Stellen die Somnambulität des Prinzen gestaltet wird. Er setzt
jedoch, gewissermaßen entschuldigend, hinzu, das innere Drama sei auch
ohne diesen Anfang und dieses Ende möglich. Wir glauben, daß es sich
hier nicht um eine geniale poetische Lizenz Kleists handelt, sondern daß
gerade im Nachtwandel des Prinzen der irrationale, subjektiv-pathologische
Gegenpol der formalen und abstrakten Pflicht um der Pflicht willen poetisch
großartig zum Ausdruck kommt, wenn auch damit die Allgemeinheit des
Hauptkonflikts als ebenfalls abstrakte Partikularität entlarvt wird. Freilich
konnte der in überkommenen Vorstellungen befangene preußische
Junker Kleist seine eigene Vision gedanklich nicht bewältigen. Die beiden
Pole stehen unversöhnt, unverbunden gegeneinander, und die Versuche
des Dichters, eine gedankliche Versöhnung herbeizuführen, bleiben flach
und eklektisch.
Über Preußentum 59
„Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen,
Jedoch die lieblichen Gefühle auch."
So legt dieses genialste Drama des genialsten Preußendichters den Gegen-
satz bloß, der sich in den verschiedensten Formen, auf verschiedensten
Etappen in der preußisch-deutschen Geschichte zeigt. Es wurde wiederholt
richtig beobachtet, daß schon sehr früh der Pietismus als religiöse Ergän-
zung zur preußischen, militaristisch-bürokratischen Pflichtethik auftaucht,
-also gerade die am meisten subjektive und individuelle Form des Protestan-
tismus, die sich oft sogar bis zur Herrnhutischen Mystik steigert. In der
Zeit des ersten Weltkrieges, als Thomas Mann vom Preußentum begeistert
war, tauchte bei ihm als Gegenpol eine begeisterte Hymne auf den Eichen-
dorffschen „Taugenichts" auf.
Das ist kein Zufall. Der Formalismus der bürokratisch-preußischen
Pflichtethik läßt einerseits sich mit jedem Subjektivismus vereinbaren,
wenn dieser nur im äußeren Handeln des Menschen den reibungslosen
Lauf der hierarchischen Maschine nicht stört. Wie weit dadurch unerträgliche
Spannungen in den Menschen entstehen, wie weit dadurch der Formalismus
der Moral noch weiter ausgehöhlt wird, ist eine andere Frage. Andererseits
erfordert die Pflichtethik - bei Strafe der vollständigen menschlichen
Verödung - als Gegenpol einen solchen möglichst auf das rein Subjektive
beschränkten, die Kreise der bürokratischen Pflicht nicht störenden, also
möglichst ungesellschaftlichen Individualismus.
Wir sehen also, wie typisch die Gestaltung der extremen Gegensätze
bei Kleist ist. Kleist gibt, sehr gegen seine bewußten Überzeugungen, aus
genialer Anschauung eine Illustration des Ausspruches Mirabeaus über den
preußischen Staat vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts: eine Frucht,
die vor der Reife verfault. Das traf schon als Kritik am damaligen Preußen
zu, hat aber, etwas verbreiternd ausgelegt, den richtigen Sinn: da die histo-
risch fällige Ablösung dieses Systems nicht erfolgte, mußte jede wirtschaft-
liche und kulturelle Entwicklung des Volkes, jedes Hineinwachsen in
moderne Wirtschaft, Politik und Kultur gerade im Preußentum im steigen-
.den Maße Fäulniserscheinungen zeitigen.
Diesen Zusammenhang hat Kleist in seiner Verbindung von romanti-
scher Pathologie und preußischer Kriegsgesetzlichkeit genial geahnt, wenn
er auch ein „Erziehungsdrama" zumPreußentum zu schreiben beabsichtigte.
Man darf aber nicht vergessen, daß nicht nur die Anfangsszene des Dramas,
sondern auch der krönende Schluß den Prinzen als Nachtwandler zeigt.
Und wenn nach Kleists Absicht dieser Schluß mehr dekorativ-artistisch als
pathologisch sein soll, so ist der Rückgriff auf den krankhaften Ausgang
ein Zeichen dafür, daß er die Problematik dieser Zusammenhänge zumin-
-Oest empfunden hat.
60 Über Preußentum
III
Diese Problematik wird vom Leben ununterbrochen reproduziert, und
die großen Künstler Deutschlands haben sie oft gestaltet. Es wäre interes-
sant und lehrreich, die Polarität des preußisch-deutschen Wesens an ver-
schiedenen historischen Gestalten, an ihrer Psychologie und Moral auf-
zuzeigen. So sind wir überzeugt, daß alle psychologischen „Rätsel", die die
Biographen Bismarcks zu deuten versuchen, ihre Quellen in dieser gesell-
schaftlichen Struktur mit ihrer psychischen Polarität haben. Und die schein-
bar aus der Art schlagenden Gestalten preußischer Monarchen, wie Fried-
rich Wilhelm IV. und Wilhelm II„ erklären sich zwanglos als dekorativ-
karikaturistische Ausdrucksformen derselben Problematik. Sie wollen das
für ihre Periode „Zeitgemäße" mit dem preußischen Geist verbinden. Es
bleibt aber bei ihnen leer dekorativ und enthüllt die kulturelle Aussichts-
losigkeit dieser Mischung. Je mehr sich das moderne Leben entwickelt,
um so leerer, formaler und gewaltsamer erscheint die preußische Pflicht-
ethik. Andererseits können von hier aus die Probleme des modernen Lebens
nur in karikaturistischer Verzerrung erfaßt werden. Diese kulturelle Sack-
gasse, die der preußische Geist vorstellt, kann im Leben und in den Werken
gerade jener bedeutenden Realisten, die lebenslang oder zeitweise große
Verehrer des Preußentums gewesen sind, deutlich beobachtet werden. Wir
denken dabei in erster Linie an Theodor Fontane und Thomas Mann.
Theodor Fontane ist der Historiograph und der Balladendichter der
preußischen Größe und hat dadurch seinen ersten, freilich nicht seinen
bleibenden Ruhm erworben. Der alte Fontane beklagt sich auch in einem
resigniert-humoristischen Gedicht, daß sich an seinem siebzigsten Geburts-
tag der von ihm verherrlichte preußische Adel nicht einfand, daß ihn nur
die neue Intelligenz als Realisten verehre.
Das ist kein Zufall. Fontanes tiefe Sympathie für die preußischen Typen
ging aus seiner kritischen Stellung zum deutschen Bürgertum seiner Zeit
hervor. In der Gestaltung des ihm sympathischen Typus kommt er jedoch
viel weniger zu einer Verherrlichung als zu einer scharf realistisch gesehenen
Abwandlung der von uns skizzierten Fragwürdigkeit der preußischen
Pflichtethik. Fontane sieht bei seinen Helden eine gewissermaßen mechanisch
funktionierende Moral, die mit ihrem wirklichen Innenleben in gar keinem
Zusammenhang steht, an deren innere Verbindlichkeit sie selbst nicht ernst-
haft glauben, deren Geboten sie sich jedoch - allerdings nur noch mecha-
nisch-konventionell - ausnahmslos unterwerfen.
Fontane schildert also, wie die verschiedenen Typen des preußischen
Junkers sich modernisieren, wie sie Menschen der heutigen bürgerlichen
Gesellschaft werden. Aber alles, was sie an Gefühl und Erleben, was sie
Über Preußentum 61
sich an Kultur angeeignet haben, prallt an ihrer mechanisch-fatalistisch
funktionierenden preußischen „Haltung" ab. Mögen sie auch privatim,
in ihren Gefühlen Menschen, mitunter sogar warme und innerlich anständige,
feinfühlige Menschen sein, in ihren Handlungen bleibt die Unmenschlich-
keit der preußischen Moral bestehen und herrscht unbedingt, ohne daß die
Menschen imstande wären, zwischen ihren Gefühlen und ihren durch die
„Haltung" vorgeschriebenen Taten eine Brücke zu schlagen. So ersteht
hinter der zuweilen glänzenden, oft anständigen, immer strammen Fassade
eine Innenwelt der vollständigen Haltlosigkeit, der resignierten Verzweif-
lung, des sentimentalen oder kalt streberischen Zynismus. Die Lebenswerte
gehen zugrunde, echt gefühlte Liebesbande werden aufgelöst, Menschen
in Duellen erschossen, über Existenzen wird hinweggeschritten, ohne daß
eine wirkliche Überzeugung, weder im Guten noch im Bösen, vorhanden
wäre. Indem Fontane dies alles realistisch darstellt, wird aus dem Sänger der
Preußenglorie ein tiefer Skeptiker, ein humorvoll-sarkastischer Betrachter
der Zersetzung, des Vergehens.
Am klarsten kommt die skeptische Auffassung des Preußentums in
seinem kleinen historischen Meisterwerk „Schach von Wuthenow" zum
Ausdruck. Hier ist die Polarität von formeller Tadellosigkeit, preußischer
Strammheit in der Haltung und innerer Haltlosigkeit in allen Lebensfragen
auf die äußerste Spitze getrieben. Die Handlung ist einfach und fast bis
zur Trivialität privat, rein zufällig: aus einer Augenblicksstimmung ver-
führt der Held ein Mädchen aus der guten Gesellschaft, das er aus ästheti-
scher Eitelkeit nicht zu heiraten gewillt ist. Als die preußische Pflicht durch
die Intervention des Königs einsetzt, unterwirft er sich, heiratet sie, aber
nur, um sich sofort nach Abschluß der formalen Trauung zu erschießen.
Fontane versetzt diese scheinbar rein private und novellistisch zugespitzte
Episode in das Berlin der Zeit unmittelbar vor dem Jenaer Zusammenbruch
Preußens, in das Jahr 1806. Und die historische Genialität der Darstellung,
der gesellschaftliche Scharfblick Fontanes zeigt sich darin, daß in dieser
konventionellen Liebesgeschichte die Hohlheit jenes Preußen offenbar
wird, das kurz nachher von Napoleon vernichtend geschlagen wurde.
Das innere Verbindungsglied ist der formale, falsche Ehrbegriff der das
Leben beherrschenden Militärbürokratie. Ein räsonierender, unzufriedener
Junkeroffizier faßt unmittelbar vor der Schlacht von Jena die Erfahrungen
des Falles Schach so zusammen: „Er ist durchaus Zeiterscheinung, aber,
wohlverstanden, mit lokaler Begrenzung, ein in seinen Ursachen ganz ab-
normer Fall, der sich in dieser Art und Weise nur in Seiner Königlichen
Majestät von Preußens Haupt- und Residenzstadt oder, wenn über diese
hinaus, immer nur in den Reihen unserer nachgeborenen friderizianischen
Armee zutragen konnte, einer Armee, die statt der Ehre nur noch den
62 Über Preußentum
Dünkel und statt der Seele nur noch ein Uhrwerk hat - ein Uhrwerk, das
bald genug abgelaufen sein wird." Und er fügt in bezug auf den schon aus-
gebrochenen Krieg hinzu: „Wir werden an derselben Welt des Scheins
zugrunde gehen, an der Schach zugrunde gegangen ist."
Thomas Manns Schriften aus der Zeit des ersten imperialistischen Krieges
drücken seine Verehrung Preußens entschieden aus. Wenn jedoch bei ihrer
Betrachtung die große Vorkriegsnovelle „Tod in Venedig" fehlt, dann er-
scheint die Haltung Thomas Manns zum preußischen Problem nicht im
vollen Licht. Der Held dieser Novelle, der Schriftsteller Aschenbach, hat
ein Epos über Friedrich den Großen geschrieben. Sein schriftstellerisches
Wesen hat auch sehr viel mit Preußentum zu tun. Er überwindet die An-
archie des modernen Künstlertums durch eine am Preußentum geschulte
„Haltung", wodurch der preußische Geist bereits als ein ästhetisch-morali-
sches Prinzip, als ein ästhetisch-moralisches Gegengewicht gegen modern-
dekadente oder bürgerlich-sentimentale Bestrebungen, als ihr Gegenpol
erscheint.
Die von Thomas Mann außerordentlich fein geführte Handlung zeigt
aber die bloße Scheinbarkeit des überwindenden Prinzips, zeigt, daß es sich
auch hier um eine Polarität handelt. Die „Haltung" ist etwas rein Formelles
und bietet für die Lebensführung, wenn sich nur einigermaßen ernste
Abgründe auftun, nicht den geringsten Halt. Als der Held der Novelle vor
einem inneren Konflikt steht, genügt ein Traum, um seine ganze „Haltung",
seine ganze mühsam zurechtkonstruierte Lebensführung schmählich zu-
sammenbrechen, die mühsam gebändigte seelische Unterwelt der In-
stinkte vollständige Herrschaft über ihn gewinnen zu lassen. Thomas Mann
gestaltet hier mit tiefem psychologischem Einblick die gefährliche seelische
Hohlheit der preußischen „Haltung": gerade dadurch, daß jeder moralische
Wertakzent auf die „Haltung" fällt und die Subjektivität des Instinktlebens
bloß als zu bändigendes Material behandelt wird, ist in ruhigen Zeiten die
scheinbare Macht des formal geregelten Lebens eine grenzenlose; ihre wirk-
liche Durchdringung der Gesamtpsyche ist aber so geringfügig, daß sie
beim ersten Ansturm vollständig versagt. Die „Haltung" ist nicht stahlhart,
wie sie zu sein vorgibt, sie ist nur starr und bricht darum sofort, plötzlich
zusammen. Erst aus dieser Psychologie heraus wird Thomas Manns Fried-
rich der Große innerlich verständlich in seiner Mischung von zynisch-
grausamer Realpolitik und dekadenter Kränklichkeit.
Der alte Fontane und Thomas Mann haben sich in dieser Periode per-
sönlich als große Verehrer des Preußengeistes gefühlt und sich zu ihm - oft
ihren Ruhm gefährdend - öffentlich bekannt. Dennoch: was sie schrift-
stellerisch gestaltet haben, ihre schriftstellerische Kritik des preußischen
Lebens, ist nur eine moderne Variation des Ausspruchs von Mirabeau.
Über Preußentum
Betrachtet man Thomas Manns Bekenntnisschriften aus der Kriegszeit im
Lichte dieser Kritik, so erhält man ein richtigeres, komplizierteres Bild
seiner Beziehung zum Preußentum, als es allgemein entworfen wird. Frei-
lich wurde die unmittelbar politische Stellung Thomas Manns schon oft
richtig gesehen. Sein damaliger Standpunkt läßt sich kurz so umschreiben,
daß jede wirkliche Politik nur demokratisch sein könne, aber eben darum
tief undeutsch sei; das deutsche Volk sei ein unpolitisch konservatives
Volk, weshalb auch der sogenannte „Obrigkeitsstaat" die ihm gemäße
Regierungsform wäre. Wenn das richtig ist, was folgt daraus? Die Ewigkeit
(die ewige Deutschheit) des preußischen Zivil- und Militärbürokratismus.
Die politische Polemik Thomas Manns verbindet sich mit einer kultu-
rellen, deren Zentralfrage der Gegensatz von Kultur (Deutschtum) und
Zivilisation (westlicher Demokratismus) bildet. Hier wird die Geradlinig-
keit, die die Lebenstiefen vernachlässigende Art des Zivilisationsliteraten
dem .Ästheten, Moralisten und Künstler gegenübergestellt, der Schule
Rousseaus und der Französischen Revolution die Schule Schopenhauers und
Nietzsches. Aber auch dieser Gegensatz ist bei Thomas Mann keineswegs
vereinfacht. Im Zusammenhang mit Pfitzners „Palestrina" fällt das merk-
würdige, weithin leuchtende Wort von einer „Sympathie mit dem Tode",
und es wird der schon damals existierende Plan des Romans „Der Zauber-
berg" erwähnt. Ja, Thomas Mann geht hier noch weiter und spricht gerade-
zu von der „Faszination der Verwesung". Hier gipfelt die damals noch
unbewußte Gesellschafts- und Kulturkritik Thomas Manns, in dieser grau-
samen Charakteristik der eigenen politischen Stellung als einer zutiefst
dekadenten: hier wird verständlich, warum der zum „ Opfer" stilisierte
Friedrich der Große gerade in seiner oben bezeichneten Mischung von
Grausamkeit und Kränklichkeit der prädestinierte Herrscher für skep-
tisch-apolitische Individualisten ist, für Menschen, die sich die „Haltung"
des Preußentums aneignen, um nicht der vollständigen Auflösung und Zer-
setzung, der Anarchie nicht zu bändigender Instinkte zu verfallen.
Krankheit, Tod und Verwesung sind in diesem Zusammenhang keine
zufälligen Ausdrücke. Nach dem Krieg gestaltet Thomas Mann ihren
Kampf mit den Prinzipien des Lebens in dem großen Erziehungsroman
„Der Zauberberg". Darin ist die Zusammengehörigkeit von Leben und
Demokratie einerseits, von Krankheit, Tod und Verwesung mit dem roman-
tisch-autoritären Gegenpol der Demokratie auf der anderen Seite deutlich
sichtbar und erhält völlig andere Wertakzente als zur Zeit des Weltkrieges.
Freilich schreibt dieser große Schriftsteller nie einen einseitigen Tendenz-
roman, und Stärke und Schwäche beider Teile sind bei ihm wohl abge-
wogen. (Besonders scharf sieht er die Schwächen der alten Mentalität der
Demokratie den Angriffen des romantischen Antikapitalismus gegenüber.)
Über Preußentum
Demzufolge und infolge einer instinktiv-weisen Abschätzung der Kräfte-
verhältnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit endet der Roman mit einem
Remis.
Aber Thomas Manns Weg in der Abrechnung mit Krankheit, Tod und
Verwesung geht unaufhaltsam weiter. In der bedeutenden antifaschistischen
Novelle „Mario und der Zauberer" erscheinen die „unterirdischen" In-
stinktmächte nur noch karikaturistisch, bis es ihm in der Gestalt Goethes
gelingt, jenen vorbildlichen Deutschen zu zeichnen, der gerade im Kampf
gegen die „deutsche Misere" (deren entscheidender Teil Preußen und die
preußisch-dekadente Polarität von Bürokratie und Romantik sind) zur
welthistorischen Größe erwächst.
Ist es ein Zufall, daß dieser Weg des Gestalters Thomas Mann zugleich
der Weg des Denkers und des Politikers vom „Obrigkeitsstaat" zur Demo-
kratie gewesen ist? Daß die Überwindung von Krankheit, Tod und Ver-
wesung, vor allem die Überwindung der Sympathie mit ihnen, ihrer Faszi-
nation zugleich die Überwindung des preußischen Zwiespalts, des falschen
Zwiespalts der deutschen Entwicklung ausmacht? Wir glauben: der Ge-
sundungsweg Thomas Manns ist eine mikrokosmisch vorweggenommene
Abkürzung des Gesundungsweges, der dem deutschen Volk nötig ist.
IV
Die Entwicklung der Polarität im Geist des Preußentums in seiner Be-
ziehung zum deutschen Volk mußte schon darum wenigstens skizziert
werden, damit seine wirkliche Beziehung zum Faschismus sichtbar werde.
Denn aus dem einfachen preußischen Bürokratismus, selbst wenn wir seine
entartete Form im angriffslustigen Militarismus des Alldeutschtums nehmen,
kann man die besondere Mentalität und Moralität der Hitlerzeit unmöglich
direkt ableiten. Alles, was am Alldeutschtum für Freiheit, Kultur und Zivili-
sation gefahrdrohend war, ist freilich in den deutschen Faschismus über-
gegangen, doch dieser enthält jenem gegenüber einige neue Momente, die
nur aus der von uns analysierten Polarität verständlich werden, als höchste
Stufe des Mirabeauschen V erfaulungsvorgangs im Preußentum.
Das neue Moment ist die Mobilisierung jener „Unterwelt", deren un-
heimliche Anziehungskraft Thomas Mann psychologisch so großartig
dargestellt hat. Diese Mobilisierung erfolgte in der Zeit nach dem ersten Welt-
krieg auf allen Linien. Sie geht vor sich in jener Wissenschaft und Philo-
sophie, die den Faschismus unmittelbar oder mittelbar und bewußt oder
unbewußt vorbereitet. Sie besteht, kurz gefaßt, darin, daß der „Faszination
der Verwesung" gegenüber nicht nur kein Widerstand mehr versucht
Über Preußentum
wird, sondern auch kein Konflikt mehr zwischen ihrer ästhetisch-psycho-
logischen Anziehungskraft und den moralischen Schranken der forma-
listischen „Haltung" besteht, daß vielmehr, im Gegenteil, Krankheit, Tod
und Verwesung zu den obersten Werten erhoben werden.
Wie in fast allen moralischen Problemen der imperialistischen Periode
ist Friedrich Nietzsches Philosophie der entscheidende Wendepunkt. Bei
ihm findet die große „ Umwertung aller Werte" statt: in der Wertüberlegen-
heit des Dionysischen über das Apollinische, in der Herrschaft des Bio-
logismus über Vernunft und demokratische Gesittung.
Den sogenannten Theoretikern der Nachkriegsperiode, den Baeumler,
Klages u. a., ist aber Nietzsche in diesen Fragen lange nicht radikal genug. Sie
graben alle Tendenzen des Kampfes gegen die Vernunft, alle Bestrebungen
der Verherrlichung unterirdischer Instinkte aus der reaktionären Romantik
aus, führen eine Renaissance des willkürlich mißdeuteten Bachofen herauf,
um das Prinzip des rein Instinktiven, von aller Vernünftigkeit und gesell-
schaftlichen Moral „Gereinigten", Chthonischen als höchsten Wert zu
etablieren: das Prinzip des Dumpfen, Erdhaften, Urtümlichen. Vernunft
und soziale Gesittung sind nun nicht mehr nur fragwürdig, wie bei Nietz-
sche, sondern geradezu Verbrechen, Schändung des Lebens, absolut ver-
werflich. Krankheit, Tod und Verwesung werden in dieser neuen „Um-
wertung aller Werte" als absolute Herrscher auf den Thron erhoben.
Parallel damit mobilisiert Hitler selbst sozial und massenhaft alle In-
stinkte der „Unterwelt", die infolge der schweren Krisen der Nachkriegs-
zeit in den verzweifelten, hoffnungslosen Volksmassen durch die wirt-
schaftliche Krise wachgerufen und aufgelockert wurden. Der Theoretiker
des Nationalsozialismus, Alfred Rosenberg, knüpft bewußt an die Bachofen-
Renaissance an und kritisiert ihre Klagessche Form nur insofern, als er
sie zu weichlich, zu idyllisch, zu wenig aktiv findet. ·
Hier setzt nun die Hitlersche Verpreußung ein. Die Entfesselung der
unterirdischen Instinkte, das Zerbrechen jener intellektuellen und morali-
schen Dämme, die ein jahrtausendlanger Zivilisationsvorgang aufgerichtet
hat, sollen nach dem Willen der Hitler und Rosenberg nicht eine planlose
Überschwemmung werden, sondern ein reißender Strom, der dem raub-
gierigen deutschen Imperialismus zur Herrschaft über die ganze Welt
verhilft. Die Mobilisierung der Unterwelt zerstört jede Humanität, zersetzt
jede Moralität; alles, wodurch der Mensch im Laufe der Kultur zum Men-
schen wurde: sie macht aus ihm wieder ein bloß instinktives Halbtier.
Indem der Hitlerismus das Prinzip des Animalischen zu einem neuen
„kategorischen Imperativ" erhebt, indem er auf die Entfesselung der tieri-
schen Instinkte die formalistische Pflichtethik aufpfropft, verwandelt er
die Halbtierhaftigkeit ins bewußt Teuflische.
66 Über Preußentum
Krankheit, Tod und Verwesung, zu Inhalten des neuen Preußentums ge-
worden, schaffen die Grundlage für einen uniformierten, bürokratisch-
militaristisch geregelten bestialischen Blutrausch. Hunderttausende von
preußisch gedrillten, zur Blutgier aufgestachelten Bestien und Teufeln
ziehen nun im preußischen Stechschritt, in Braunhemd und Schwarzhemd
gegen die Menschheit los. Die Verpreußung der Unterwelt verwandelte
Deutschland in ein gigantisch vergrößertes Abbild der Danteschen Hölle.
Die formalistische Hohlheit der preußischen „Pflichtethik" wird bei den
führenden Nazis zu einem demagogischen Zynismus allen sozialen In-
halten gegenüber; sie macht es für sie möglich, jeden Inhalt auf dem Umweg
der Instinktentfesselung, verkoppelt mit diesem ganz seelenlos gewordenen
Militarismus, in den Dienst der reaktionären Weltherrschaft ihres Deutsch-
land zu stellen. Ein Hexensabbat, dirigiert vom preußischen Korporalstock
der Nazis zur Bedienung des reaktionären Imperialismus: das ist die letzte
Steigerung im Verfaulungsprozeß des Preußentums.
Es ist verständlich, daß überzeugte Altpreußen, in denen noch lebendige
Überreste vergangener Überlieferungen vorhanden sind, sich gegen eine
solche Wiedergeburt ihrer Ideale empören. Diese Rebellion ist wichtig und
symptomatisch, kann aber keine wirklichen Erfolge zeitigen. Der alt-
preußische Pietismus Wiecherts etwa konnte Hitler nur einen dumpfen
Widerstand entgegensetzen. Er war als Kampfgenossenschaft gegen die
Hitlersche Barbarei nicht ohne Wert, konnte jedoch von sich aus zu keiner
Erneuerung Deutschlands führen. Er ist letzten Endes noch ohnmächtiger,
als es die dumpfen und mißvergnügten Proteste jener guten Deutschenge-
wesen sind, die seit 1870 gegen die Verpreußung Deutschlands mit dem
Raabeschen
„Stramm, stramm, stramm,
Alles über einen Kamm"
protestiert haben, praktisch jedoch sich nur in ein individuelles Sonder-
lingstum flüchten konnten. Diese Flucht in die individuelle Exzentrizität
ist bei Wiechert (und bei anderen dumpf unzufriedenen Schriftstellern, z.B.
oft bei Fallada) der Hitlerschen entfesselten Hölle gegenüber notwendiger-
weise noch viel machtloser als die von Raabe vor einem halben Jahrhundert
gegenüber dem Bismarckschen Preußentum.
Es gibt keinen Weg zurück. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Grund-
lagen des preußischen Geistes und seines notwendigen historischen Ver-
faulungsvorgangs zeigt klar: nur ein demokratisches Deutschland kann hier
für das deutsche Volk die Gesundung bringen. Aber Kritiker, die vor allem
den preußischen Geist angreifen, sind doch auf dem richtigen Weg. Denn
zur Gesundung genügen die formalen Institutionen der Demokratie nicht;
auch der Geist der Demokratie muß gegen den Geist des Preußentums auf
Über Preußentum
allen Gebieten des menschlichen Lebens zur Wiederkehr der Humanität
in Deutschland mobilisiert werden. Es ist eine der wichtigsten Lehren der
Weimarer Republik, daß eine Republik ohne Republikaner in dieser Frage
keinen Ausweg zeigen kann.
Ebensowenig Hoffnung kann eine Wiedergeburt des alten Weimar
begründen. Wirtschaftlich und sozial und damit auch politisch und kulturell
ist Deutschland längst geradeso über den alt-weimarischen wie über den
preußischen Rahmen hinausgewachsen. Wir haben gezeigt, daß die Über-
reste des kleinstaatlich-partikularistischen Elements als magnetischer Südpol
des preußischen Nordpols während der ganzen Entwicklung vorhanden
waren; sie mußten deshalb den Verfaulungsprozeß des Preußentums mit-
machen. Man könnte mit einer gewissen notgedrungenen Übertreibung
sagen, daß keine solche Erneuerung des alten Deutschland notwendig ist,
denn sie war als anarchistische Romantik, als im Individuum lebende, ästhe-
tisch-moralische „Faszination der Verwesung" immer vorhanden. Nur trat
an die Stelle eines Amim oder Brentano - Hanns Heinz Ewers, an die von
Kleist- Wildenbruch, an die von Novalis oder Schelling - Spengler oder
Keyserling.
Freilich war das ein „Weimar" ohne Goethe und Hegel. Und das nicht
zufällig. Denn was an Weimar weltgeschichtlich bleibend war, entstand im
ständigen Kampf gegen das von uns skizzierte falsche Dilemma der deut-
schen Entwicklung. Viele große Vertreter dieses „tertium datur" mußten
mit Georg Forster und Georg Büchner, mit Heinrich Heine und Karl Marx
schon in viel älteren Zeiten aus der Emigration für die demokratische Er-
neuerung Deutschlands kämpfen. Das taten jüngst unter erschwerten
Bedingungen nach Ausmaß ihrer Kräfte die antifaschistischen deutschen
Schriftsteller.
Erst wenn es in Deutschland eine zeitgemäße demokratische Grundlage
des gesellschaftlichen Lebens gibt, erst wenn aus der eigenen Geschichte,
aus den eigenen - vorhandenen, jedoch begrabenen - Traditionen eine
deutsche demokratische Kultur herauswächst, kann wieder in einer für das
deutsche Volk fruchtbaren Weise an die ewig wertvollen Seiten Weimars
allgemein angeknüpft werden. Bis dahin bleibt dieses Erbe ein bloßes
Waffenarsenal der Kämpfer gegen die deutsche Misere in ihrer blutigsten
und schmutzigsten, barbarisch-diabolischen Form.
Das alte Preußen war ein Zersetzungselement des auch sonst zerfallenden
„Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation", Bismarcks Preußen ein
fauler Kompromiß zwischen wirtschaftlicher Modernisierung und politisch-
sozialem Rückschritt in der deutschen Entwicklung mit einer moderni-
sierten pseudodemokratischen und pseudoparlamentarischen Fassade.
Hitlers Preußen war die akute und ekelhafte, die ganze Welt verpestende
68 Über Preußentum
Eruption aller seit Jahrhunderten angesammelten Krankheitskeime der
deutschen Entwicklung. Soll dieser Infektionsherd nicht das deutsche Volk
endgültig vergiften, soll er nicht eine ständige Gefahr für die W eltzivili-
sation bedeuten, so ist eine Umkehr des deutschen Volkes im Sinne der
Überwindung des falschen Dilemmas, im Sinne des demokratischen,, tertium
datur" der einzig gangbare Weg.
1943
THOMAS MANN ÜBER DAS LITERARISCHE ERBEl
Der Kampf um das Erbe ist eine der wichtigsten ideologischen Aufgaben
des Antifaschismus in Deutschland. Der Nationalsozialismus benutzte die
staatliche Macht, die Monopolstellung der legalen Publikation dazu, die
ganze politische und kulturelle Vergangenheit Deutschlands in der rück-
sichtslosesten Weise umzufälschen. Von der Universität bis zur Volks-
schule, von dicken „gelehrten" Büchern bis zu kleinen populären, grob
demagogischen Broschüren ging dieses Werk der Verfälschung systema-
tisch und in großem Maßstabe vor sich. Die Demagogie der Massen-
propaganda macht ungeniert aus jeder großen Gestalt der Vergangenheit
einfach einen Vorläufer des Nationalsozialismus. Die schreiendste Un-
wissenheit, die niederträchtigste Lügenhaftigkeit charakterisieren diese Art
Literatur, als deren Schulbeispiel wir das Buch von Fabricius über Schiller
anführen können. Diese Literatur rechnet darauf, daß die breiten Massen
die großen Gestalten der Vergangenheit nicht kennen und so der offiziellen
faschistischen Propaganda unbesehen Folge leisten werden.
Mindestens ebenso gefährlich ist die „feinere", „wissenschaftliche" Art
der Verfälschung der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus hatte zu
diesem Zwecke die ganze Universitätswissenschaft und die gleichgeschaltete
„freie" Literatur mobilisiert. Diese Richtung fand dabei nicht wenige wirk-
lich freiwillige Führer, die eine solche den politischen Zwecken des
Faschismus entsprechende Umdeutung der Vergangenheit im reaktionären
Sinne schon vor dem Machtantritt Hitlers vollzogen haben. Es genügt,
wenn man an Schriftsteller wie Spengler, Klages, Baeumler erinnert, in deren
Nachfolge eine quantitativ beträchtliche Arbeit in der Richtung der raffi-
nierteren und verdeckteren Verfälschung der Vergangenheit vollzogen
wurde. Bei solchen Schriftstellern handelt es sich nicht um einen plötzlichen
Bruch mit den literarischen und literarhistorischen Traditionen der letzten
Jahrzehnte. Im Gegenteil. Es wird dabei bewußt an die bekannten Theore-
tiker der imperialistischen Periode, an Dilthey, an Gundolf u. a. an-
geknüpft. Die Verfälschung der deutschen Vergangenheit trägt die Maske
einer Ehrenrettung dieser Vergangenheit gegenüber ihrer früheren „ratio-
1 Thomas Mann: Leiden und Größe der Meister. Berlin 193s.
70 Thomas Mann über das literarische Erbe
nalistischen", „liberalen" Verkleinerung. Und die reaktionäre Tendenz
zeigt sich nur in bestimmten Fällen ganz offen als Verleumdung oder Tot-
schweigen; in Fällen, in denen es sich um so ausgesprochen revolutionäre
Gestalten handelt, daß sie unmöglich in reaktionärer Weise „interpretiert"
werden können (Heine). Dort, wo Zeitströmung, Sprache, individuelle
Eigentümlichkeit bestimmter revolutionärer Gestalten eine „Interpretation"
ins Gegenteilige nur einigermaßen zulassen, arbeitet die faschistische Lite-
raturgeschichte sehr energisch in der Richtung auf Eroberung solcher
Gestalten, auf ihre Eingliederung in die Ahnenreihe des Faschismus
(Thomas Münzer, Hölderlin, Georg Büchner). Unter diesen Umständen
besitzt das Buch von Thomas Mann, das in einer Reihe von Aufsätzen
Goethe, Richard Wagner, Cervantes, Platen und Storm behandelt, eine
außerordentliche Bedeutung. Um so mehr, als das Buch in Deutschland
selbst und nicht in der Emigration erschienen ist, so daß seiner Verbreitung
und Wirkung keine polizeilichen Hindernisse im Wege standen. Auch der
Stoff des Buches ist von höchster Aktualität. Sind doch insbesondere
Goethe und Wagner Gestalten, die im nationalsozialistischen Mythos der
deutschen Literatur zentrale Rollen spielen. Eine nichtfaschistische, eine
antifaschistische Analyse solcher Figuren, das Aufdecken ihres wahren
Charakters und ihrer wahren Bedeutung in der Geschichte der deutschen
Kultur hat eben deshalb eine Bedeutung, die weit über das bloß Literarische
hinausgeht.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Aufsätze Thomas Manns anti-
faschistisch sind. (Freilich sind sie mit Ausnahme des Cervantes-Essays, der
im Jahre 1934 entstand, noch vor dem Machtantritt Hitlers in den Jahren
1932 und 1933 geschrieben.) Die Grundbestrebung all dieser Aufsätze ist
antifaschistisch: Thomas Manns Hauptlinie ist auch in diesem Buch die
Verteidigung des Humanismus gegen die Barbarei. Die großen Gestalten
der Vergangenheit sind in den Augen Thomas Manns vornehmlich nicht
wegen ihrer formellen Meisterschaft groß, sondern wegen ihrer ent-
schlossenen und umfassenden Stellungnahme für die Aufrechterhaltung
und Weiterführung der humanistischen Tendenzen, wegen ihres Kampfes
gegen alle Versuche der Barbarisierung. Thomas Mann macht der herr-
schenden faschistischen Strömung, die das Dritte Reich zu einem nicht
mehr bürgerlichen Zeitalter umlügt, die in der Vergangenheit überall
solche Bestrebungen entdeckt, über die „Bürgerlichkeit" - im Sinne des
Faschismus - hinauszugehen, keinerlei Konzessionen. Er leitet insbeson-
dere den Humanismus Goethes aus seinem bürgerlichen Sein, aus seiner
bürgerlichen Lebensführung und Weltanschauung ab. Und auch in bezug
auf die bedeutenden Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, die er be-
handelt, kämpft er gegen die reaktionär-faschistische Verleumdung der
Thomas Mann über das literarische Erbe 71
bedeutenden künstlerischen Bestrebungen und künstlerischen Leistungen
des Bürgertums im neunzehnten Jahrhundert.
Dieser Kampf für den Humanismus, gegen die Barbarei ist zweifellos ein
ideologisches Zentralproblem des antifaschistischen Kampfes, und Thomas
Mann hat sich ein großes Verdienst dadurch erworben, daß er den Kampf
gerade an dieser Stelle aufnahm. Die Wirksamkeit und die Durchschlags-
kraft seines Kampfes um die Rettung des Humanismus werden jedoch durch
eine sehr tiefgehende Unklarheit seiner zentralen Stellung geschwächt.
Thomas Mann sieht nicht den unlösbaren Zusammenhang zwischen bür-
gerlichem Humanismus und bürgerlicher Revolution.
Der bürgerliche Humanismus ist in der heroischen Periode der Emanzi-
pation der bürgerlichen Klasse entstanden, und mit dem Verlöschen des
Feuers dieser revolutionären Begeisterung mußte auch der bürgerliche
Humanismus sein Leuchten und seine Wärme verlieren. Die große histori-
sche Bedeutung von Heines Prosaschriften, seiner Behandlung der Philo-
sophie und Religion in Deutschland liegt gerade darin, daß er diesen Zu-
sammenhang zwischen Humanismus und Revolution mit großer Klarheit
und Entschiedenheit in den Mittelpunkt gerückt hat.
Es wäre selbstverständlich eine Übertreibung und eine Ungerechtigkeit,
zu behaupten, daß Thomas Mann von diesem Zusammenhang nichts sähe.
Er begeht aber den verhängnisvollen und mit der Entwicklung der deut-
schen Ideologie aufs engste zusammenhängenden Fehler, diesen Zu-
sammenhang für Deutschland, für die deutsche Dichtung zu leugnen.
Thomas Mann sieht im revolutionären Humanismus Schillers etwas Franzö-
sisches, während er Goethes angeblich apolitischen Humanismus als typisch
deutsch auffaßt. Von diesem Standpunkt aus zieht nun Thomas Mann eine
Parallele zwischen Goethe und Schiller, die für seine Grundauffassung so
wichtig ist, daß wir sie ausführlich zitieren müssen. „Es ist der Charakter
des französischen literarischen Geistes, den er (Schiller. G. L.) mit knappen
Worten umschreibt, dieses eigentümliche Ineinander von humanitärem
Schwung, von generösem Menschheitsglauben und tiefstem, bitterstem, ja
höhnischstem Pessimismus, was den Menschen als Einzelwesen betrifft.
Er definiert die abstrakte, humanitäre Leidenschaft im Gegensatz zu dem
sinnlichen Realismus individueller Sympathie. Er ist der Menschheits-
patriot mit dem humanitär-revolutionären Geist ... " Man kann also
Goethe nach Thomas Mann einen „kemdeutschen Unpatrioten" nennen,
Schiller dagegen ist „ein internationaler Patriot. Er stellt die bürgerliche
Idee im politischen, demokratischen Sinne dar, während Goethe sie im
geistigen, kulturellen Sinne repräsentiert" (a. a. 0., S. zS/29).
Bei allen feinen Einzelbemerkungen, die diese Parallele enthält, zeigt sie
eine gefährliche Linie, die mit objektiver Notwendigkeit, oft gegen die
Thomas Mann über das literarische Erbe
Absicht Thomas Manns, zu einer falschen Beurteilung der kulturellen Ent-
wicklung in Deutschland führt. Denn Thomas Mann muß von diesen Vor-
aussetzungen aus zu einer geistigen Verherrlichung des Goetheschen Kon-
servativismus und darüber hinaus einer bestimmten Nuance des Kon-
servativismus überhaupt gelangen. „Goethe", führt Thomas Mann weiter
aus, „verteidigt die Gesellschaft in dem konservativen Sinne, der im Be-
griffe der Verteidigung liegt. Man kann nicht unpolitisch, man kann nur
antipolitisch sein, und das heißt konservativ, während der Geist der Politik
humanitär-revolutionär in sich selbst ist" (a. a. 0„ S. 30). In alledem liegt
einerseits eine Unterschätzung der fortschrittlichen Elemente von Goethes
Gesamtauffassung, die Thomas Mann sonst an anderen Stellen mit rühmens-
werter Inkonsequenz hervorhebt.Andererseits ist Thomas Mann gezwungen,
in dem späteren deutschen Konservativismus und Nationalismus einen „Aus-
wuchs" dieser an sich berechtigten „kerndeutschen" Tendenz, der Goethe-
schen Grundtendenz zu erblicken; er beraubt sich also selbst der Möglich-
keit, die reaktionären Tendenzen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-
hunderts, die er verhältnismäßig klar sieht, grundsätzlich und richtig zu
kritisieren.
Diese fehlerhafte Konzeption der deutschen Entwicklung des neun-
zehnten Jahrhunderts hat selbstverständlich ihre tiefgehenden gesellschaft-
lichen Wurzeln. Die große Blütezeit der deutschen Dichtung und Philo-
sophie ist eine Vorbereitungsperiode der bürgerlichen Revolution, und zwar
eine solche, in der die objektiven Bedingungen der Revolution noch nicht
gegeben waren. Der stürmisch ungeduldige, mitunter sogar dogmatisch-
blinde Subjektivismus einiger der großen Figuren dieser Periode ist also
keineswegs ein Import aus Frankreich, sondern, im Gegenteil, das not-
wendige Produkt dieser deutschen Verhältnisse. Und im ergänzenden
Gegensatz dazu sind die konservativen Bestrebungen anderer großer Ge-
stalten dieser Periode (in erster Linie Goethes und Hegels) stets V er-
suche, den gesellschaftlichen und kulturellen Inhalt der bürgerlichen Revo-
lution, den Humanismus dieser Periode auf nicht revolutionärem Wege
durchzusetzen. Wenn Thomas Mann Goethe einfach zum Konservativen
stempelt, so machte er eine inkonsequente und unzulässige Konzession an
die herrschenden Ideologien seiner Zeit.
Diese Ideologien fußen auf der Niederlage der Revolution von 1848,
verursacht durch den Klassenverrat der deutschen Bourgeoisie an ihrer
eigenen Revolution, und auf der reaktionären Lösung der zentralen Frage
der bürgerlichen Revolution in Deutschland, der Herstellung der natio-
nalen Einheit durch das Preußen Bismarcks. Die deutsche Bourgeoisie,
die die politische Entwicklung Deutschlands nach 1870 bejaht hat, mußte
dementsprechend sich eine Ideologie schaffen, die sich von dem revolutio-
Thomas Mann über das literarische Erbe 73
nären Humanismus der Periode vor 1848 immer stärker lossagte. Dadurch
entsteht ein tiefer Riß in der deutschen kulturellen Entwicklung, und die
entschlossensten Vertreter des revolutionären Humanismus versuchen in
den verschiedensten Formen daraus die Konsequenzen zu ziehen. Ich ver-
weise nur auf ein Beispiel, auf das Heinrich Manns, des Bruders von Thomas
Mann, der, seinem politischen und kulturellen Radikalismus entsprechend,
das aktuelle deutsche Erbe in der literarischen Entwicklung Frankreichs,
im Anschluß an die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Tradi-
tionen der Entwicklung von Voltaire bis Zola und Anatole France ge-
sucht hat.
Thomas Mann geht in seiner Kritik der herrschenden deutschen Ideologie
niemals so weit wie sein Bruder. Darum ist auch seine Stellung zu den zen-
tralen Fragen der geschichtlichen Entwicklung, die die Auswahl und die
Bewertung des entscheidenden Erbes bestimmen, schwankender und wider-
spruchsvoller als die Heinrich Manns. Dieser Widerspruch kommt gleich
darin zum Ausdruck, daß Thomas Mann die Bürgerlichkeit der großen
Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts als die Grundlage ihrer Eigen-
art betrachtet. Aber seine berechtigte und richtige Auffassung leidet dar-
unter, daß sein Begriff der Bürgerlichkeit ungemein widerspruchsvoll ist.
Es ist ein bedeutender Zug in Thomas Manns Humanismus, daß er die
Vorstellung hat, die bürgerliche Gesellschaft könne nicht die endgültige
Form der menschlichen Entwicklung sein. Er hat auch darin recht, daß er
beim späten Goethe Züge herausarbeitet, die sich mit gewissen Bestrebun-
gen der großen Utopisten berühren, und daß er Goethes Streben zur Welt-
literatur mit diesen gesellschaftlichen Bestrebungen in Zusammenhang
bringt. Wenn wir die Bedeutung dieser Anschauungen Thomas Manns her-
vorheben, so liegt der Akzent auf dieser Bestrebung, über den bürgerlichen
Horizont hinauszugehen, und nicht darauf, ob wir mit allen seinen Aus-
führungen inhaltlich und methodologisch einverstanden sein können. In
diesem Sinne sei eine wichtige Stelle aus seinem Buch zitiert. „Im technisch-
rationalen Utopismus geht das Bürgerliche in Weltgemeinschaftlichkeit, es
geht, wenn man das Wort allgemein genug und undogmatisch verstehen
will, ins Kommunistische über ... Der Bürger ist verloren und geht des
Anschlusses an die neu heraufkommende Welt verlustig, wenn er es nicht
über sich bringt, sich von den mörderischen Gemütlichkeiten und lebens-
widrigen Ideologien zu trennen, die ihn noch beherrschen, und sich tapfer
zur Zukunft zu bekennen. Die neue, die soziale Welt, die organisierte Ein-
heits- und Planwelt, in der die Menschheit von untermenschlichen, unnot-
wendigen, das Ehrgefühl der Vernunft verletzenden Leiden befreit sein wird,
diese Welt wird kommen . . . Sie wird kommen, denn eine äußere und
rationale Ordnung, die der erreichten Stufe des Menschengeistes gemäß ist,
74 Thomas Mann über das literarische Erbe
muß geschaffen sein oder sich schlimmen Falles durch gewaltsame Umwäl-
zung hergestellt haben, damit das Seelenhafte erst wieder Lebensrecht
und ein menschlich gutes Gewissen gewinnen könne" (a. a. 0„ S. 48/49).
In solchen Anschauungen vertritt Thomas Mann das beste Erbe des
deutschen Humanismus. Leider bleibt er diesen Anschauungen nicht über-
all treu. Seine Bewertung der Entwicklung nach l 848 und ihrer bedeutenden
Vertreter führt ihn zu einem ganz anderen Begriff der Bürgerlichkeit, zu
sehr bedenklichen Konzessionen an die reaktionäre Ideologie der imperia-
listischen Periode.
Mann sieht sehr klar viele bedenkliche Seiten der Figur Richard Wagners.
Er will aber nirgends die Haltung seines Helden nach l 848 rücksichtslos
kritisieren. Er sucht überall nicht nur Entschuldigungen, sondern sogar
Gründe zur Verklärung der Kapitulation Richard Wagners - der 1848 ein
Revolutionär war und auf den Dresdner Barrikaden mitkämpfte - vor dem
siegreichen Hohenzollemregime. „Wagner war Politiker genug, seine
Sache mit der des Bismarckschen Reiches zu verbinden: er sah einen Erfolg
ohnegleichen, er schloß den seinen daran, und die europäische Hegemonie
seiner Kunst ist das kulturelle Zubehör zur politischen Hegemonie Bis-
marcks geworden" (a. a. 0„ S. 155).
Das klingt vorläufig nur wie eine Feststellung von Tatsachen. Thomas
Mann findet aber leider eine Theorie dazu. Er sagt über Wagner: „Er ist
den Weg des deutschen Bürgertums gegangen; von der Revolution zur
Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten
Innerlichkeit" (a. a. 0„ S. l 53). Diese „machtgeschützte Innerlichkeit" ist der
Versuch, das kulturelle Erbe der Aufstiegsperiode der deutschen Bourgeoisie
mit dem Bismarckregime, mit der Kapitulation vor dem Bismarckregime
und seinen Nachfolgern in Einklang zu bringen. Mit dem Ausdruck „Macht"
wird einerseits stillschweigend anerkannt, daß die Bismarcksche Form der
Begründung des Deutschen Reiches weder politisch noch gesellschaftlich
den alten Idealen des deutschen Bürgertums entspricht, andererseits wird aber
eine nicht nur terminologische Verbeugung vor jener Ideologie gemacht,
die die neue Periode rückhaltlos bejaht. (Ideologie des „Machtstaates" bei
Treitschke, in der Schule Rankes usw.) Die Beschränkung des kulturellen
Erbes auf „Innerlichkeit" bezeichnet wiederum die Neigung, aus dem
Erbe der deutschen Klassik nur das zu behalten, was sich mit dem ver-
einzelten, von der Politik, vom gesellschaftlichen Handeln zurückgezogenen
Individuum, also mit der Kapitulation der Bourgeoisie vor dem Bismarck-
regime, mit dem Verrat der Bourgeoisie an ihrer eigenen bürgerlichen Revo-
lution in Einklang bringen läßt. Die Bejahung einer solchen „macht-
geschützten Innerlichkeit" ist die schwache Seite der ganzen kulturellen
Konzeption Thomas Manns und steht in schreiendem Widerspruch zu
Thomas Mann über das literarische Erbe 75
seiner früher analysierten weiten Perspektive der Zukunftsentwicklung.
Diese letztere Auffassung bietet nämlich die ideologische Handhabe zu
jedem Kompromiß mit der jeweils herrschenden Macht, zu jeder Kapi-
tulation vor ihr, zu einer gegenwärtigen Erneuerung der „deutschen Misere".
Selbstverständlich hat Thomas Mann ganz recht, wenn er die Entwick-
lung Richard Wagners nach 1848 nicht mit einigen höhnischen und ab-
sprechenden Worten erledigt sehen will, wie das manche Nietzschefanatiker
zu tun pflegen. Er geht aber methodologisch den unrichtigen Weg, wenn er
die Schwächen der Ideologie des späten Wagner, seine Kapitulation vor der
christlichen Religion und vor dem Hohenzollernschen Nationalismus da-
mit zu erklären versucht, daß religiöse und nationalistische Gedanken-
elemente sich bei Wagner auch vor 1848 nachweisen lassen. Es ist nämlich
ein grundlegender Unterschied, ob der politisch-radikale Feuerbach-
anhänger Wagner der Revolution von 1848 noch starke Elemente der reli-
giösen Ideologie unüberwunden in sich trug, oder aber, ob er gleichzeitig
mit der Kapitulation vor dem Bismarckregime auch die katholische Reli-
gion künstlerisch verherrlichte. Es ist ebenfalls etwas prinzipiell anderes, ob
der Revolutionär Wagner, wenn auch noch so unklar, vom Standpunkt
der zentralen Frage der bürgerlichen Revolution in Deutschland, der natio-
nalen Einheit, patriotische Töne anschlug oder ob dieser Patriotismus
nach 1870 sich in den Dienst der Hohenzollernmonarchie stellte. Diese Art
der Verteidigung einer bedeutenden, aber tragisch gebrochenen Gestalt
der Geschichte muß notwendig zu theoretisch falschen Einschätzungen
der gesamten historischen Entwicklung führen, wenn die Linie einer solchen
Verteidigung theoretisch vertieft und verallgemeinert wird, wie es Thomas
Mann leider tut. Er geht bei der Erklärung des späteren Wagner von der
historisch zweifellos richtigen Tatsache aus, daß Theater und Drama einen
religiösen Ursprung haben. Er verkehrt aber im Eifer der Verteidigung
Wagners die Entwicklungsrichtung ins Entgegengesetzte. Er sagt: „Ich
glaube, daß die heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der
Ritus ist, aus dem es bei Heiden und Christen hervorgegangen. Theater-
kunst, das ist in sich selbst schon Barock, Katholizismus, Kirche; und ein
Künstler, der wie Wagner gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und
Monstranzen emporzuheben, mußte sich schließlich als Bruder des Priesters,
ja selbst als Priester fühlen" (a. a. 0., S. 93).
Diese Linie der Entwicklung des Dramas trifft für Wagner persönlich
und für die Entwicklung Deutschlands nach 1848 im allgemeinen (Hebbel,
Hauptmann, Hofmannsthal, Paul Ernst) sicher zu. Aber die Aufgabe
Thomas Manns wäre gerade gewesen, die besonderen Gründe zu ent-
decken und herauszuarbeiten, die diese Entwicklung in Deutschland be-
stimmt haben. Die unkritische Verallgemeinerung dieser modernen deut-
Thomas Mann über das literarische Erbe
sehen Entwicklungslinie führt ihn zu historisch falschen Folgerungen,
denn gerade die beiden größten Epochen des Theaters - die griechische
und die Shakespearesche - gehen den entgegengesetzten Weg. Sie gehen
von religiösen, von ritualen Anfängen direkt ins Unreligiöse, ja bis zur
offenen dramatischen Bekämpfung der religiösen Weltanschauung. Und
diese Wendung ins Antireligiöse steht in diesen großen Zeiten keineswegs
bloß am Abschluß der Entwicklung, nein, schon der Anfang des wirk-
lichen Dramas enthält durchaus solche Tendenzen; man denke nur an den
„Prometheus" von Aischylos oder an Marlowe.
Solche kritischen Einwände gegen die Methode der Beurteilung und
gegen die Geschichtsauffassung Thomas Manns bedeuten nicht, daß seine
Absicht, so bedeutende Gestalten wie Richard Wagner verstehend zu würdi-
gen und nicht in Bausch und Bogen abzuurteilen, falsch wäre. Wir wieder-
holen, daß wir mit dieser Absicht Manns einverstanden sind, ja sie für sehr
fruchtbar für die Erforschung des Erbes halten. Um aber diese Absicht
in wirklich fruchtbarer Weise zu verwirklichen, ist eine Klarheit über jene
objektiv tragische Situation notwendig, in der sich die bedeutenden Dichter
Deutschlands, die als aufstrebende Männer die Revolution von 1848 er-
lebten, nach deren Niederlage, nach dem V errat der deutschen Bourgeoisie
an ihrer eigenen Revolution befanden. Die deutsche Literaturgeschichte
dieser Periode enthält eine ganze Reihe von erschütternden Tragödien,
Tragödien großer Dichter, die infolge dieser Entwicklung scheiterten und
infolge dieses Bruches niemals die Höhe erreichten, zu der sie ihrer Begabung
nach befähigt und berufen gewesen wären. Ich verweise neben Wagner
noch auf Hebbel, auf Otto Ludwig; bestimmte Modifikationen erleidet
auch der späte Heine, auch die Laufbahn Gottfried Kellers. Die Größe
dieser Gestalten würde erst dann in die richtige Beleuchtung rücken, wenn
die Literaturbetrachtung mit so feinem Verständnis und so innigem Ein-
gehen, wie Thomas Mann Wagners Niedergang verteidigt, diese Tragö-
dien herausarbeiten, sie aus den objektiven Umständen und den subjektiven
Besonderheiten der einzelnen Dichter erklären würde. Die Konzeption
der „machtgeschützten Innerlichkeit", die Auffassung, als ob auf der Grund-
lage des ideologischen Kompromisses mit der Hohenzollemmonarchie eine
große Dichtung (oder eine große Philosophie) möglich wäre, hindert
Thomas Mann daran, hier Entscheidendes zu sagen, obwohl er an einzelnen
Anzeichen die Niedergangstendenzen bei Wagner klar erkennt.
Besonders wichtig für die Einschätzung der Literatur selbst sind die
Folgen dieser Auffassung Thomas Manns für das Problem des Realismus.
Es ist wiederum eine richtige Absicht, wenn Thomas Mann Wagner stän-
dig mit den bedeutenden Realisten der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts, besonders mit Zola und Ibsen vergleicht. Er geht damit
Thomas Mann über das literarische Erbe 77
glücklich über eine vulgarisierend soziologische Vereinfachung des Pro-
blems des Realismus hinaus, die besonders für die Beurteilung der deut-
schen Literatur gefährlich wäre. Eine Auffassung, die, wo immer sie sich
geltend gemacht hat, bei allen Gestalten mit stark unrealistischen, ja anti-
realistischen Bestrebungen jeden Realismus leugnete. (Man denke vor allem
an die Parole „Nieder mit Schiller" sowohl im deutschen Naturalismus
als auch in einer Etappe der russischen theoretischen Entwicklung.)
Thomas Mann hat recht, wenn er die Unmöglichkeit betont, auch den
späten Wagner ohne Berücksichtigung dieser realistischen Elemente seiner
schöpferischen Methode künstlerisch zu würdigen. Nur wird die Durch-
führung dieser richtigen Bestrebung bei ihm in doppelter Hinsicht inkonse-
quent. Erstens geht er nicht auf die besonderen Bedingungen der Entwick-
lung Zolas und Ibsens ein und vernachlässigt daher das stärkere Vorherr-
schen der realistischen Tendenzen bei ihnen im Vergleich mit Wagner.
Und dieses stärkere Vorherrschen des Realismus ist selbstverständlich kein
bloß quantitatives Mehr, sondern bedeutet qualitativ andere schöpferische
Methoden. Zweitens setzt der Vergleich Thomas Manns bei den schwachen,
mystischen und symbolischen Neigungen der schöpferischen Methoden
Zolas und Ibsens ein. Da er Richard Wagner verteidigt und nicht als tragi-
sches Opfer der deutschen Verhältnisse analysiert, bieten ihm diese schwa-
chen und inkonsequenten Seiten etwa des Zolaschen Realismus im Augen-
blick wirksame Argumente, die aber die theoretische Grundlinie seiner Aus-
führungen noch me~r verwirren und ihn zu falschen Konsequenzen treiben.
Er vollzieht den Vergleich zwischen Zola und Wagner folgendermaßen:
„Es ist nicht nur der Ehrgeiz des Formates, der Kunstgeschmack am Gran-
diosen und Massenhaften, was sie verbindet, auch nicht nur, im Technischen,
das homerische Leitmotiv, es ist vor allem ein Naturalismus, der sich ins
Symbolische steigert und ins Mythische wächst; denn wer wollte in Zolas
Epik den Symbolismus und mythischen Hang verkennen, der seine Fi-
guren ins Überwirkliche hebt? Ist jene Astarte des Zweiten Kaiserreichs,
Nana genannt, nicht ein Symbol und ein Mythos? Woher hat sie ihren
Namen? Er ist ein Urlaut, ein frühes, sinnliches Lallen der Menschheit;
Nana, das war ein Beiname der babylonischen Ischtar. Hat Zola das ge-
wußt? Aber desto merkwürdiger und kennzeichnender, wenn er es nicht
gewußt hat" (a. a. 0., S. 91).
Diese Konzeption Thomas Manns ist nicht nur vom Standpunkt der
Methodologie der Literaturgeschichte, nicht nur vom Standpunkt der Be-
wertung Wagners und seiner Zeitgenossen sehr wichtig, sondern auch als
prinzipieller Gesichtspunkt der Stellung Thomas Manns zum ganzen Pro-
blem des zeitgenössischen Realismus. Mann zieht auch aus dieser Auffas-
sung alle Konsequenzen, indem er den Mythos, das Schaffen und Ge-
Thomas Mann über das literarische Erbe
stalten von zeitgenössischen Mythen für ein legitimes und aktuelles Prin-
zip des zeitgenössischen Realismus ansieht. Er bekämpft die Anschammg,
daß Mythos und Psychologie einander widersprechende Prinzipien der
realistischen Gestaltung seien, und führt damit - ohne es klar auszuspre-
chen, ja wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein - die Gestaltungs-
prinzipien des Realismus auf die Psychologie zurück. Damit macht er in
seiner Theorie kritiklos jene Verarmung des modernen Realismus mit, die
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zur herrschenden
Bestrebung wurde.
Die Neigung, Mythos und Psychologie zu vereinigen, führt ihn dazu,
durch die Verteidigung der Wagnerschen Synthese den heute herrschenden
pseudorealistischen Richtungen weitgehende Konzessionen zu machen. Er
sagt über die Vereinigung von Psychologie und Mythos: „Man will ihre
Vereinbarung leugnen. Psychologie erscheint als etwas zu Rationales, als daß
man sich entschließen könnte, etwa kein unüberwindliches Hindernis auf
dem Wege ins mythische Land darin zu erblicken. Sie gilt als Widerspruch
zum Mythischen, wie sie als Widerspruch zum Musikalischen gilt, obgleich
eben dieser Komplex von Psychologie, Mythos und Musik uns gleich in
zwei großen Fällen, in Nietzsche und Wagner, als organische Wirklichkeit
vor Augen steht" (a. a. 0., S. 95).
Daß diese Anschauung Manns keine zufällige .Äußerung ist, kann man an
seinen Betrachtungen zum neuen mythischen Romanzyklus „Joseph und
seine Brüder" ebenso klar wie an seiner kritischen Tätigkeit erkennen.
Auch bei der Beurteilung bedeutender Zeitgenossen erliegt er der Schwäche,
die wir bei seiner Einschätzung Wagners feststellen mußten. In seinem Be-
grüßungsartikel zum 70. Geburtstag Gerhart Hauptmanns erkennt Mann
ganz klar, daß Hauptmann sich von der gesellschaftskritischen Linie
seiner Jugend immer mehr entfernt hat. Aber Mann stellt diese Tatsache
nicht nur fest, sondern verherrlicht sie zugleich. Er spricht vom „tief und
gesetzmäßig Deutsch-Dichterischen" in Hauptmanns Wesen, „das bei
allem erklärten Republikanertum und trotz dem naturalistischen Sozialis-
mus der ,Weber' und der ,Ratten' mehr im Unendlich-Kosmischen zu Hause
ist als in der Welt der Gesellschaft ... " Daher komme es, daß die soziale
Kritik, wie sie in den lateinischen Ländern Schriftsteller vom Range Haupt-
manns üben, bei diesem mit „sanft schwimmendem Blick ins Metaphysische,
Mystische ausweicht". „Aber", fragt Thomas Mann, „Metaphysisches
Deutschtum und soziales Bekenntnis - schließt sich das etwa aus? Und be-
sonders bei Hauptmann?" (Neue Rundschau 1932, November).
Nun hat sich aber deutlich gezeigt, wohin dieses „sanfte metaphysische
Ausweichen" geführt hat. Jedoch nicht der Irrtum Manns im Falle Haupt-
manns ist hier ausschlaggebend, sondern seine - leider folgerichtige - An-
Thomas Mann über das literarische Erbe 79
wendung jener Geschichtsauffassung, die bereits in dem politischen Frei-
heitspathos Schillers eine „französische", eine nicht wurzelhaft deutsche
Bestrebung erblickt und die deutsche Entwicklung seit 1848, die Mythifi-
zierung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Probleme, ohne wirkliche
Kritik bejaht hat.
Damit gerät aber Thomas Mann in der Verteidigung der großen Tradi-
tionen der humanistischen Weltanschauung und des literarischen Realis-
mus gegen die faschistische Barbarei, gegen den demagogischen Pseudorea-
lismus und Antirealismus der Nationalsozialisten in eine schwierige, ja zu-
weilen außerordentlich schwache Position. Denn der Mythos, besonders in
der Fassung, die er bei Wagner und Nietzsche erhält, ist gerade einer der
Zentralpunkte der „theoretischen" Begründung des Mythos durch die deut-
schen Faschisten. So sehr also auch Thomas Mann die Falschheit und Ver-
logenheit, die dekadente Barbarei des deutschen Faschismus haßt und ver-
achtet, er kann von diesen theoretischen Gesichtspunkten aus unmöglich
die zentralen Punkte der faschistischen Kulturbarbarei wirksam bekämpfen.
Er steht in allen wesentlichen politischen, kulturellen und literarischen
Fragen in einem scharfen Gegensatz zum Faschismus; aber seine Geschichts-
auffassung mit ihren Folgen für seine Auffassung der realistischen schöpfe-
rischen Methode schwächt die Wucht der Polemik außerordentlich ab.
Das fand deutlichen Ausdruck in den Diskussionen über den mythisch
genannten Joseph-Roman Thomas Manns. Die faschistische Kritik witterte
mit richtigem Instinkt die inhaltlichen Gegensätze und versuchte das neue
Werk Thomas Manns nach Möglichkeit herabzusetzen. Die Verteidiger
Manns mußten aber trotzdem in eine theoretisch schiefe Position geraten,
denn sie waren gezwungen, den Mannschen „Mythos" den faschistischen
Mythen gegenüberzustellen, statt die Verlogenheit der ganzen Mythen-
konzeption des Faschismus rücksichtslos zu entlarven. So betont einer
dieser Kritiker, E. H. Gast, daß die Kritiken der Faschisten zeigen, „wie
sehr die Begegnung mit dem alten Mythos die Macher des neuen, des Mythos
des ,zwanzigsten Jahrhunderts' stört". Und er sagt in dem Vergleich zwi-
schen dem Mythos Manns und dem der Faschisten abschließend, „daß sie
sich genau so zueinander verhalten, wie Mentalität oder ,Einstellung' zu
Inspiration, wie Gemachtes zu Geschaffenem" (Die Sammlung, Amster-
dam, Januar 1934). Gast stellt also in einer sehr eklektischen Weise dem
„guten" Mythos Manns den „schlechten" Mythos Rosenbergs gegenüber.
An dieser theoretisch schwachen Position seiner Verteidiger ist Thomas
Mann selbst nicht ganz unschuldig. Die Entwicklungslinie der deutschen
Literatur, die er in diesem Buch zeichnet, geht von Goethe über Schopen-
hauer zu Wagner und Nietzsche. Und Nietzsche wird damit für Thomas
Mann - trotz der Kritik im einzelnen - zur theoretischen Zentralgestalt der
So Thomas Mann über das literarische Erbe
neuesten Entwicklung. Soweit es sich dabei um eine Feststellung der Ent-
wicklungstatsachen der bürgerlichen Literatur und Philosophie in Deutsch-
land handelt, hat Thomas Mann recht: Nietzsche ist tatsächlich der ein-
flußreichste Denker und Schriftsteller der letzten Jahrzehnte in Deutsch-
land. Es fragt sich nur, in welcher Richtung sich die Wirkung Nietzsches
zeigt, wer die konsequenten und legitimen Fortsetzer seines Lebenswerkes
sind. Es handelt sich dabei nicht um die Frage des geistigen Niveaus oder
der stilistischen Fähigkeiten Nietzsches. Daß Nietzsche nicht mit einer Hand-
bewegung oder ein paar Phrasen abzutun ist, habe ich selbst zu zeigen ver-
sucht (Nietzsche als Vorläufer der faschistischen.Ästhetik, Beiträge zur Ge-
schichte der .Ästhetik, Aufbau-Verlag). Aber ich habe auch gezeigt, daß der
Kernpunkt der Nietzscheschen Philosophie die philosophische Begründung
jener Barbarisierung ist, die im Faschismus zur schrecklichen politischen
und kulturellen Wirklichkeit wurde. Der Besitz des klassischen Erbes bei
Nietzsche diente für ihn nur dazu, dieses Erbe mit bedeutenden geistigen
Mitteln zu barbarisieren, die Brücken zwischen der revolutionären Humani-
tät der klassischen Periode der Menschheitsentwicklung und der imperia-
listischen Ideologie radikal niederzureißen. Wenn also Thomas Mann in
Nietzsche eine theoretische Stütze für seine humanistischen Bestrebungen,
für seine Bekämpfung der faschistischen Barbarei sucht, so wendet er sich
an eine Quelle, an der er für seine Zwecke nichts Wirksames zu finden ver-
mag. Thomas Mann steht an Geist, Kultur, Talent, Einsicht und Ehrlich-
keit turmhoch über jedem faschistischen Ideologen - aus Nietzsche aber
werden sich stets folgerichtiger faschistische als antifaschistische Konse-
quenzen ziehen lassen.
Es ist eine bedeutsame und interessante persönliche Eigenart Thomas
Manns, daß sich seine Entwicklung ohne Sprünge in der Form eines orga-
nischen Wachstums vollzieht. Dieser Eigentümlichkeit verdanken wir seine
bedeutenden realistischen Leistungen. Diese Eigenart hat ihn aber ideolo-
gisch bereits einmal in eine gefährliche Situation gebracht, als zur Zeit des
Weltkrieges dieses langsame organische Wachsen mit der stürmischen Ent-
wicklung der Geschichte nicht Schritt halten konnte und Thomas Mann
erst verspätet den Anschluß an die demokratischen Strömungen seiner
Gegenwart erreichte. Es scheint uns, daß die Entwicklung Thomas Manns
auch heute von einer solchen Gefahr bedroht ist. Die Überwindung jener
Erlebnis- und Erkenntniselemente in ihm selbst, die aus der weiter zurück-
liegenden Vergangenheit stammen, vollzieht sich bei ihm sehr langsam,
mitunter allzu organisch pflanzenhaft. Er zieht auf weltanschaulichem und
kritischem Gebiet viel langsamer die Konsequenzen der neuen Weltlage als
politisch und auch schöpferisch. Anzeichen einer solchen Wandlung, eines
solchen Umbaus sind freilich auch in diesem Buch enthalten. Wir haben
Thomas Mann über das literarische Erbe 81
früher die interessante Stelle über das Hinauswachsen des bürgerlichen
Humanismus über die Bürgerlichkeit angeführt. Und in seinem nach dem
Machtantritt Hitlers geschriebenen Cervantes-Essay findet sich bereits eine
Andeutung, daß Thomas Mann anfängt, sich insbesondere zu Nietzsche
kritischer zu stellen, als er es bisher getan hat. Am Schluß des Essays ver-
gleicht er Nietzsche mit Don Quichotte, und dieser Vergleich könnte unter
Umständen Thomas Mann dazu führen, seine ganze Stellung zu Nietzsche
und, im Zusammenhang damit, zu den Problemen der deutschen Entwick-
lung des neunzehnten Jahrhunderts einer Revision zu unterwerfen. Im
Essay selbst ist dieser Vergleich nur ein Aper<;u. Aber gerade die organische
Entwicklung Thomas Manns kann dem Leser die Hoffnung geben, daß es
nicht bei diesem Aper<;u bleiben wird.
Es ist verständlich, ja fast unvermeidlich, daß der antifaschistische Kampf
der bedeutenden bürgerlichen Humanisten zuerst fast immer bloß ein An-
griff auf die unmittelbare politische Tätigkeit der Nationalsozialisten ge-
wesen ist. Die Barbarei des Hitlerismus war so unerhört, daß im Vergleich
zu ihr jede vergangene Etappe der deutschen Entwicklung ein Zeitalter
der Kultur gewesen zu sein schien; daß man im Faschismus den radikalen
Bruch mit jeder deutschen Vergangenheit erblicken zu können meinte.
Aber die bedeutenden Vertreter der antifaschistischen Bewegung kommen,
mehr oder weniger rasch, über dieses Stehenbleiben bei der unmittelbaren
Oberfläche der Erscheinungsformen des Faschismus hinaus. Ist doch diese
Konzeption nur eine kulturelle Wendung für jene Auffassung, die im Drit-
ten Reich die Herrschaft einer wildgewordenen, barbarischen und brutalen
Kleinbürgerschicht über Bürgertum und Arbeiterschaft sieht. Enthüllt sich
aber den ehrlichen und klarblickenden Antifaschisten der monopolkapi-
talistische Charakter des Nationalsozialismus, so wird auch für sie auf
kulturellem Gebiet der Weg frei, sich über den Zusammenhang zwischen
dem Faschismus und den reaktionären Bestrebungen der Vergangenheit
klarzuwerden.
Dieser Vorgang hat in den letzten Jahren eingesetzt. Die große inter-
nationale antifaschistische Bewegung beginnt deshalb zur Kritik der
kapitalistischen Kultur überhaupt, namentlich der imperialistischen Periode,
überzugehen. Dabei wird bereits stellenweise kritischer Stellung genom-
men auch zu jenen Denkern, die man früher blind verehrt hat, in denen
man aber jetzt die reaktionären, zum Faschismus führenden Tenden-
zen zu erblicken beginnt. Diesen schwierigen und komplizierten Vorgang
der Revision des eigenen ideologischen Gepäcks vollziehen jetzt die bedeu-
tendsten Vertreter der antifaschistischen Front. Unter ihnen Thomas Mann.
Daß auch bei ihm die entschiedene Stellungnahme zu unmittelbar politi-
schen Fragen vorauseilt im Vergleich zur Revision der Vergangenheit in
82 Thomas Mann über das literarische Erbe
weltanschaulicher und geschichtlicher Hinsicht, darf also nicht überraschen.
Man muß, im Gegenteil, darin eine gesunde Möglichkeit der Entwicklung
erblicken. Denn erst die richtige schöpferische Stellung zur Gegenwart
kann auch die Zusammenhänge der Vergangenheit richtig erschließen.
Die hief besprochenen Aufsätze Thomas Manns müssen ebenfalls als
Produkte eines solchen Übergangs betrachtet werden. Wenn wir ihre
Methode und ihre Ergebnisse an einzelnen, viel weiter fortgeschrittenen
politischen .Äußerungen ihres Verfassers messen, so vergessen wir dabei
nicht, daß der größte Teil dieser Aufsätze vor der Machtergreifung Hitlers
geschrieben wurde und daß Thomas Mann seitdem einen weiten Weg
zurückgelegt hat. Wir wünschen nur - im Interesse der Durchschlags-
kraft des antifaschistischen Kampfes, im Interesse der deutschen Kultur -,
daß auch Thomas Mann dieser Abstand immer mehr bewußt werden, daß
der bei ihm so schöne organische Zusammenhang aller Anschauungen
auf der Linie seiner am weitesten vorauseilenden Gesichtspunkte vollzogen
werden möge.
AKTUALITÄT UND FLUCHT
Jeder Krieg treibt die politischen und sozialen Probleme der beteiligten
Länder auf die Spitze; sonst verborgene Widersprüche werden offenbar,
und scheinbar verharschte Wunden brechen auf. Der moderne, der „totale"
Krieg bedeutet nicht nur die militärische und wirtschaftliche, sondern auch
die ideologische Mobilmachung des ganzen Volk.es.
In der zweiten Frage scheint jedoch in der kapitalistischen Welt kein
restloser Erfolg der sonst allmächtigen Staatsapparate vorzuherrschen. Aus
verschiedenen Ländern, vor allem aus Deutschland, vernahmen wir Klagen
und Anklagen, daß die Literatur sich nicht mit voller Kraft für die ent-
scheidende aktuelle Aufgabe, für den Sieg, einsetze, daß viele, oft nicht
unbeträchtliche Schriftsteller abseits stehen, daß sie sich auf der Flucht
vor dem großen aktuellen Thema befinden.
Diese Frage haben die faschistischen Länder in der Form direkter staatlicher
Aufrufe an die Schriftsteller aufgeworfen. Soweit es sich um wirkliche, aus
innerem Bedürfnis schaffende Schriftsteller der bürgerlichen Welt han-
delte, war jedoch die Wirkung nicht beträchtlich. Mehr Erfolg versprechen
die indirekten Methoden. Die Literaten stellen selbst die Frage der Aktu-
alität als schriftstellerisches Problem, als zentrales Problem eines wirklich
großen Schrifttums.
Im allgemeinen mit vollem Recht. Denn es hat noch nie eine wirklich
große Literatur gegeben, die an den großen, historisch und sozial ent-
scheidenden Fragen ihrer Zeit achtlos vorbeigegangen wäre. Haben Schrift-
steller, die noch so begabt gewesen sein mögen, den Aufruf der Epoche zu
ignorieren versucht, der - wie wir später sehen werden - mit den Auf-
rufen der Regierungen und mit den Propagandalosungen der offiziellen
Literatur insbesondere in reaktionären Ländern keineswegs ohne weiteres
identisch ist, so haben sie selbst im voraus das Todesurteil über ihre ent-
stehenden Werke gesprochen. Die Aktualität der wirklich bedeutenden
Literatur scheint also, allgemein gesprochen, eine Selbstverständlichkeit,
ja ein Gemeinplatz zu sein.
Aber nur allgemein gesprochen. Konkret nimmt die Frage in den ver-
schiedenen Ländern, in den verschiedenen Entwicklungsperioden sehr
Aktualität und Flucht
unterschiedliche Gestalt an. Das in seiner Allgemeinheit selbstverständlich
Erscheinende wird unter bestimmten Umständen höchst problematisch.
Und diese Problematik enthüllt dann, auf dem Umweg über die fragwürdige
Beziehung der Literatur zur Gegenwart, die innerste Problematik eines
ganzen gesellschaftlichen Systems.
In den aktuellen Debatten in Deutschland wurde tatsächlich die Frage
zuweilen so gestellt. Es wird darauf hingewiesen, daß die öffentliche geistige
Aussprache über gewisse Gegenstände oft andeute, Werte und An-
schauungen, die mit diesen Gegenständen in irgendeiner Verbindung oder
in irgendeinem Zusammenhang stehen, seien fragwürdig geworden. Die
Schriftsteller stellen die Frage vom Standpunkt der qualitativ hochwertigen
Literatur, besser gesagt, des Fehlens einer solchen Literatur. Gehen sie
jedoch bis zum Grunde, so kommt zumindest das Gefühl, wenn auch nicht
die begriffliche Anschauung auf, daß etwas fehle, etwas nicht in Ordnung
sei. Ein Schriftsteller vergleicht die Literatur nicht unrichtig mit einer Uhr,
die die Weltstunde anzeige. Und er fügt mit einer gewissen Melancholie
hinzu, sie sei zu Goethes Zeiten ein Wunderwerk gewesen. Wer mag es zer-
stört haben?
Dieses Unbehagen kann durch eine reiche und vielfältige aktuelle Tages-
literatur nicht behoben werden. Eine solche gab es und gibt es immer.
Besonders in den Anfangszeiten eines Krieges. Begeisterte Gedichte, hym-
nische Reportagen, sachliche und gefühlsbetonte Fronterlebnisberichte
über interessante Abenteuer, über Bewährung der Kameradschaft usw. ent-
stehen massenhaft. Aber die Erfahrungen des ersten imperialistischen
Weltkrieges zeigen, daß diese Stimmungen und ihr literarischer Ausdruck,
die nicht bis zur Quelle, bis zu den wirklichen Kriegszielen und ihrem wirk-
lichen Zusammenhang mit den echten Interessen der Nation hinunterreichen,
keine dauerhafte Wirkung auszuüben imstande sind. Insbesondere müssen
sie versagen, wenn der Krieg seinen Höhepunkt überschritten hat und wenn
die soziale Problematik, die ihm zugrunde liegt, offen zutage tritt.
Das Unbehagen an den gesellschaftlichen Zuständen ist in der kapitali-
stischen Welt schon lange eine allgemeine Erscheinung. Freilich wird es
zeitweilig von rauschartigen Hoffnungen über eine innere Erneuerung ab-
gelöst. Solange jedoch das wirkliche Fundament, die kapitalistische Wirt-
schaftsordnung, nicht verschwindet, muß selbst die höchstgespannte Er-
wartung unerfüllt bleiben und zu Enttäuschungen führen. Man hat den
Eindruck, daß diese Enttäuschung schon vor dem Ausbruch des zweiten
imperialistischen Krieges weite Kreise erfaßt hatte, natürlich ohne daß den
Enttäuschten die wirklichen sozialen Gründe klargeworden wären. Haben
doch auch die Wünsche und Hoffnungen, die rauschartigen Begeisterungen
einen verworren messianischen Charakter an sich gehabt. Die Enttäuschung
Aktualität und Flucht
drückt sich also schriftstellerisch darin aus, daß das Ideal einer so tiefen
Sehnsucht in seiner Verwirklichung ganz anders aussieht als in den
Träumen, daß man aus der poetischen Hoffnung einer erneuerten Welt in
der alten Prosa des Kapitalismus erwacht.
Diese Enttäuschung kann deshalb schriftstellerisch eindrucksvolle und
angemessene Verkörperungen erhalten, auch dort, wo die Autoren bewußt
nicht einmal ahnen, was sie mit dieser Gestaltung wirklich zutage fördern.
So hat ein italienischer Dramatiker, Cesare Meano, das uralte romantische
Thema vom Troubadour Geoffroy Rudel und Melisande von Tripolis
dramatisch bearbeitet. In der Sage und in ihren bisherigen Bearbeitungen
(Uhland, Heine, Rostand) entsteht ein Hohelied der Sehnsuchtserfüllung.
Der Troubadour hat sich in die unbekannte Prinzessin verliebt, setzt sein
Leben ein, um sie zu sehen, erreicht nach langen Irrfahrten todkrank das
ersehnte Ziel und stirbt im Augenblick des Findens in den Armen Meli-
sandes. Der dichterische Sinn der Legende ist klar: es hat sich gelohnt, für
eine solche Sehnsucht sein ganzes Leben einzusetzen, selbst wenn die Er-
füllung nur im Augenblick des Todes, nur für die Minuten des Sterbens
gegeben ist. Meano gibt nun der Sage eine sehr eigenartige, neue und be-
zeichnende Wendung. Die letzten Worte seines Helden im Augenblick der
Erfüllung seiner Lebenssehnsucht sind: Es war der Mühe nicht wert.
Man könnte die Enttäuschung allerdings auf das bloß Private, bloß
Erotische beschränken. Es ist aber für die wirkliche Dichtung bezeichnend,
daß ihr Symbolgehalt - gewollt oder ungewollt - über den auslösenden An-
laß hinausgeht, und sei dieser noch so lebenswichtig und an sich hinreißend.
Die triumphierende Hymnik der Liebe Romeos und Julias ist zugleich
der Fanfarenton des Sieges der neuen Welt über den zusammenbrechenden
Feudalismus. Die enttäuschte Melancholie in der Liebe Frederic Moreaus
zu Madame Arnoux in Flauberts „L'Education sentimentale" ist zugleich
eine vernichtend desillusionierende Kritik des Bürgerkönigtums und des
Zweiten Kaiserreichs in Frankreich. So scheint uns, daß auch Meanos
Desillusionspointe - gewollt oder ungewollt - über das bloß Erotische
hinausgeht; daß das Sich-nicht-Lohnen eine Zusammenfassung der ver-
schiedenartigsten Formen der Sehnsucht ist, die in der Nachkriegszeit große
Massen der europäischen Völker erfaßt haben.
Solche Stimmungen der Enttäuschung und des Unbehagens sind in der
kapitalistischen Welt weit verbreitet, aus ihnen entsteht literarisch die
Flucht vieler Schriftsteller vor den Problemen der Gegenwart, vor dem
aktuellen Stoff. Es ist kein Zufall, daß aus solchen Stimmungen eine
Wendung vieler Schriftsteller zur Geschichte entstanden ist, obwohl die
große Rolle der historischen Dichtung, des historischen Romans und
Dramas, in den letzten Jahren keineswegs ausschließlich, wahrscheinlich
86 Aktualität und Flucht
nicht einmal vorwiegend diese Grundlage hat; vor allem nicht in der Lite-
ratur der antifaschistischen Emigration. Es ist aber verständlich, daß gerade
im zweiten Jahr des letzten Weltkrieges, zu der Zeit, da seine Langwierig-
keit und Schwere immer stärker ins allgemeine Bewußtsein drang, die
Frage der Aktualität der literarischen Themen wieder auftaucht und Dis-
kussionen über den historischen Roman hervorruft.
Ist die Wendung der Schriftsteller zur Geschichte notwendig eine Flucht
vor der Gegenwart, vor der Aktualität? Dies ist der teils offen ausge-
sprochene, teils latente Inhalt der Diskussionen in der deutschen Literatur.
Eine eindeutige Antwort ist hier nicht möglich; das wissen auch die meisten
Diskussionsteilnehmer. Insbesondere wenn, was häufig vorkam, der histo-
rische Stoff eine spontane Antwort von Schriftstellern und Publikum in
der kapitalistischen Welt auf ein bestelltes aktuelles Thema, auf bestellte
Bekenntnisse gewesen ist, wenn infolgedessen das Publikum über eine
solche Aktualität „mit den Füßen abgestimmt" hat, wenn die Schriftsteller
vor den erzwungenen Bekenntnissen in ferne Zeiten geflohen sind. Insofern
die Mode des historischen Romans in einigen Ländern, vor allem in
Deutschland, solche Grundlagen hat, bedeutet sie ohne Frage eine Flucht.
Auf dieser Grundlage gedeihen aber notwendigerweise nur Werke von
ebenso schlechter Qualität wie jene, vor deren Stoff man die Flucht ergriff.
Darum steht verständlicherweise im Mittelpunkt der Diskussionen die
Frage der literarischen Qualität. Verständlicherweise, aber keineswegs mit
der erwünschten Lösung. Von autoritativer Seite erhielt das Dringen auf
Qualität zeitweilig große Aufmunterungen. Es wird z. B. gesagt, daß jedes
gute Buch ein politisches Buch sei. Allgemein ästhetisch gesprochen ist das
zweifellos wahr. Es wird aber damit noch nichts über den politischen
Inhalt ausgesagt. Wenn etwa im kriegführenden Deutschland ein hoch-
wertiger Roman gegen den imperialistischen Krieg entstünde, so wäre hier
die Verbindung zwischen literarischer Qualität und Politik zweifellos vor-
handen. Es ist aber mehr als fraglich, ob irgendein Politiker des krieg-
führenden Deutschland an einem solchen Werk seine ästhetische Freude
haben könnte.
Natürlich brauchte sich dieses hypothetisch angenommene Werk nicht
unbedingt direkt mit dem Stoff des imperialistischen Krieges zu beschäf-
tigen. Es könnte sehr wohl ausschließlich Begebenheiten des privaten
Lebens, eventuell räumlich oder zeitlich sehr weit entfernte Ereignisse
schildern und dennoch klar den imperialistischen Krieg bekämpfen. Auch
in diesem Fall könnte man - formell gesehen - von Flucht sprechen. Diese
Flucht wäre jedoch dem Wesen nach etwas ganz anderes. Sie wäre Aus-
druck einer klar durchdachten oder wenigstens deutlich empfundenen Un-
zufriedenheit mit der aktuellen Wirklichkeit; nicht mehr bloß Unbehagen.
Aktualität und Flucht
Die Literaturgeschichte kennt viele Beispiele einer solchen Flucht. Das be-
rühmteste ist wohl Goethes „Westöstlicher Divan", der ausgesprochener-
maßen auf der Flucht aus der Wirklichkeit, aus der entstehenden „Heiligen
Allianz", aus der sehr bewußten Unzufriedenheit mit dem Ausgang der
Befreiungskriege entstanden ist.
Man sieht also: die Frage der Flucht ist keineswegs einfach. Ihre richtige
Beantwortung setzt die einiger Vorfragen voraus, nämlich der Fragen, wo-
vor der Schriftsteller flieht und wohin er flieht.
Erst von hier aus lassen sich die Probleme der Diskussion über den
historischen Roman richtig bewerten. Es wird z. B. als Motiv seiner Ver-
breitung und Popularität angeführt, daß in der geschichtlichen Feme
Schriftsteller und Publikum das finden können, was ihnen in der Gegen-
wart fehlt. Die Gegenwart erscheine ihnen prosaisch, gebunden, hoffnungs-
los, eingeengt; in der fernen Vergangenheit erlebe man dagegen Gefahr,
Abenteurertum, entscheidende Wendung durch Zufall, unverhofftes Glück,
Heldentum.
Auch die hier aufgezählten Motive der Wendung zur Geschichte sind
literarhistorisch nicht neu; bezeichnend ist nur, daß sie auch heute in
Deutschland als Motive einer breiten Bewegung im Schrifttum und in der
Leserschaft auftauchen. Ihre literarhistorische Analyse, zu der wir in er-
wünschter Ausführlichkeit hier natürlich keinen Raum haben, wäre ge-
eignet, den Begriff der Flucht etwas zu klären. Es ist z. B. eine bekannte
Tatsache, daß Flaubert seine „Salammbö" aus Opposition gegen die bürger-
liche Gesellschaft seiner Zeit geschrieben hat, subjektiv als dichterische Er-
holung von der eingehenden Beschäftigung mit dieser in „Madame Bovary".
Die exotische Farbenpracht, das ungewohnte Milieu, die fremde Psycho-
logie der Gestalten - all dies ist Flucht vor der bürgerlichen Wirklichkeit
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und zugleich eine leidenschaftliche
Anklage gegen sie.
Noch deutlicher erkennt man die Verschlingung der Motive in der Ge-
schichte des deutschen Dramas. Von „Emilia Galotti" über „Götz" und
„Egmont", über „Fiesco" und „Don Carlos", „Wallenstein" und
„Wilhelm Tell" bis zu Kleists „Hermannsschlacht" „fliehen" die großen
deutschen Dramatiker in eine raum-zeitliche Feme vor der Aktualität des
Tages. Was ist aber der dichterische und zugleich politische Sinn dieser
„Flucht"? Bei aller Verschiedenheit der politischen Ziele, der dichterischen
Gestaltungsmethoden ist es zuletzt doch derselbe: die „Flucht" ist nur ein
weiter Anlauf zum Sprung in den Mittelpunkt der Gegenwartspolitik.
Die Wendung der Schriftsteller zur Geschichte entsteht also aus einer
komplizierten Vereinigung der gemeinsamen und gegensätzlichen Momente
von Vergangenheit und Gegenwart. Und das Hervorheben sowohl des
88 Aktualität und Flucht
Gemeinsamen wie des Entgegengesetzten kann - je nachdem - eine Be-
jahung oder eine Verneinung der Gegenwart zum Inhalt haben.
Beide Blickpunkte ergeben, wenn man von ihnen aus die Frage näher
und konkreter betrachtet, sehr komplizierte Zusammenhänge. Die Flucht
vor dem Gegenwartsthema kann, wie wir eben gesehen haben, einen
Zentralangriff auf die Gegenwartsproblematik enthalten. Und andererseits
kann gerade das Ausweichen vor den Mittelpunktsproblemen des gegen-
wärtigen Tages eine außerordentlich betonte, subjektiv von größter Be-
geisterung getragene aktuelle Stoffwahl hervorbringen, die aber - objektiv
betrachtet - dennoch eine Flucht darstellt, da sie sich nur an oberflächliche
Erscheinungsformen des Tages klammert, um durch deren Betonung den
zentralen Inhalt der Zeit zu umgehen.
In solchen Zusammenhängen kann das Unbehagen an der gegenwärtig
herrschenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Deutsch-
land zur Unterstützung des herrschenden Systems und seiner Ziele aus-
schlagen, wobei jedoch die oben angedeutete Dialektik in der Tiefe und
Dauer der Wirkung einer solchen literarischen Fragestellung zwangsläufig
zum Ausdruck kommt. Die Kriegsliteratur des ersten wie des zweiten
imperialistischen Krieges gibt dafür mannigfache Beispiele.
Viele Schriftsteller beschrieben den Seelenzustand der Jugend in der
Armee und an der Front. Sie hoben hervor, daß man das Leben dort trotz
Dienst und Gefahr als ein wunderbar freies, räubermäßig naturnahes Da-
sein empfände; man fände darin unmittelbare Erlebnisse, wie sie sonst nur
vom Bauer, vom Jäger, vom Seemann erfahren würden; man erlebe den
Krieg als den großen Vernatürlicher, der so manche zivilisatorische Ver-
künstelung auslösche. Alle Gefühle der Kindheits- und J ünglingsopposition
von Cooper bis Karl May, von der Seeräuberromantik bis zur Idealisierung
des freien Lebens der Reisläufer und Landsknechte erleben hier ihre Wieder-
geburt. Diese Art von Literatur hat, besonders in den ersten Tagen des
Krieges, naturgemäß einen starken Anklang bei der Jugend gefunden,
denn gerade ihr Unbehagen gegenüber der Eingeengtheit und Ausblick-
losigkeit des Lebens im kapitalistischen System und gegenüber dessen ge-
sellschaftlicher Arbeitsteilung löst solche selten bewußt gemachten Protest-
gefühle, Sehnsucht nach freiem Aufatmen, nach Ellenbogenfreiheit, nach der
Möglichkeit, sich an irgendeiner Sache mit der ganzen Persönlichkeit zu
beteiligen, die ganze Persönlichkeit einzusetzen und nicht nur ein Rädchen
in der Maschine der Arbeitsteilung zu sein, schon lange vor dem Krieg
aus. Die Kriegspropaganda handelt also vernünftig, wenn sie ein so breit
vorhandenes Massengefühl für ihre Zwecke zu benützen versucht.
Scheinbar befinden wir uns inmitten der literarischen Aktualität. Die
Stoffwahl ist gegenwartsnah; sie hat eine Grundlage in lebendig vorhande-
Aktualität und Flucht
neo Massenstimmungen. Trotzdem handelt es sich gerade hier um Flucht.
Denn nicht eine latent vorhandene Begeisterung für das bestehende gesell-
schaftliche System wird hier zur Flamme angefacht, sondern es kann, im
Gegenteil, ein starkes, wenn auch unausgesprochenes Unbehagen gegen-
über dem System auf diese Weise in eine Begeisterung umgeleitet werden.
Der Krieg wird hier bejaht, gewissermaßen als der „große Urlaub" von
den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten des gesell-
schaftlichen Systems. Und die Jugend wird dazu angehalten, in diesem
„Urlaub" sich auszuleben und ihr Leben einzusetzen, damit jene Gesell-
schaftsordnung, der gegenüber sie ein Unbehagen empfand, sich erhalte
und verstärke, damit sie nach dem „Urlaub" wieder in denselben verhaßten
Alltag zurückkehre.
Die Problematik dieser Art Literatur wird jedoch auch schon während
des Krieges fühlbar. Die tiefe Wahrheit des Clausewitzschen Ausspruchs,
daß der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, bewährt
sich auch in allen technischen und organisatorischen Einzelheiten der
Kriegführung. Das heißt: der Krieg, den ein kapitalistischer Staat führt,
muß zwangsläufig einen kapitalistischen Kriegsapparat hervorbringen.
Nicht nur alle Bestimmungen der kapitalistischen Arbeitsteilung mit ihrer
Einengung der Persönlichkeit, mit ihrer Verwandlung des Menschen in ein
Rädchen der komplizierten Maschinerie, erscheinen wieder, sondern auch
die Klassenschichtung und Klassenhierarchie der kapitalistischen Gesell-
schaft.
Das Aufatmen der Jugend, von diesem Zwang befreit zu sein, sich auf
„Urlaub" zu befinden, kann also unmöglich von Dauer sein. Je mehr der
Krieg sich stabilisiert, erstarrt, zur Routine wird (wie im Stellungskampf
des ersten imperialistischen Krieges), desto energischer hebt sich sein
„Urlaubscharakter" auf, desto entschiedener zerstieben die Wunschträume
vom Landsknecht, Seeräuber oder Reisläufer. Natürlich hat das für die
verschiedenen Menschen ein verschiedenes Tempo; je höher sie menschlich
stehen, desto rascher spielt sich im allgemeinen dieser Vorgang ab. Denn
man darf nicht vergessen, daß der „Urlaub" auch darin besteht, daß man
von den Entscheidungen, von der verantwortlichen Stellung zu den großen
und kleinen Problemen der Gesellschaft durch den Krieg dispensiert er-
scheint, was für den willensschwachen und entscheidungsscheuen Durch-
schnitt für lange Zeit ein angenehmes Gefühl ist.
Trotz alledem muß sich die Clausewitzsche Wahrheit auf die Dauer durch-
setzen. Arnold Zweig beschreibt in seinem Kriegsroman „Erziehung vor
Verdun" anschaulich diesen Desillusionierungsvorgang. Sein Held, ein jun-
ger Intellektueller, ringt vielfach mit Problemen, wie sie oben beschrieben
wurden, wenn auch - er ist Schriftsteller - auf intellektuell höherem Ni-
Aktualität und Flucht
veau. Darum sehnt er sich aus seinem Schipperdasein, wohin er anfänglich,
auch mit Begeisterung, geraten ist, in die bewegte, menschliche Freiheit
bringende Zone der Front. Seine Sehnsucht wird auch erfüllt, dann aber
erlebt er „gähnend vor jäher :Müdigkeit: daß auch hier nur Dienst getan
wurde - nichts anderes".
Die hier aufgezeigte Dialektik zwischen äußerem und innerem Thema,
zwischen wirklicher Aktualität und objektiver Flucht, bringt - allgemein
gesprochen - das Ergebnis hervor, daß ein Gesellschaftssystem, auch im
Krieg, ja insbesondere im Krieg, literarisch nur dann mit dauernder Wirk-
samkeit verteidigt werden kann, wenn der Schriftsteller in der Lage ist,
die wirkliche soziale Struktur dieses Systems begeistert zu bejahen, daß
dagegen die Umleitung notwendig entstehender Unzufriedenheitsgefühle
in augenblickliches Aufatmen und Begeistertsein unmöglich dauernd wir-
ken kann. Die Schriftsteller werden also von der Sache selbst gezwungen,
zu den Zentralfragen der Gesellschaftsordnung, in der sie leben, Stellung
zu nehmen.
Die Gesellschaftsordnung aber ist außerhalb der Sowjetunion kapi-
talistisch. Natürlich sind die Erscheinungsformen des Kapitalismus in den
verschiedenen Ländern sehr verschieden, je nach der wirtschaftlichen Ent-
wicklungshöhe und auch entsprechend dem verschiedenen historischen
Schicksal der Völker. Noch verschiedener sind die Weltanschauungen, die
auf dem Boden des Kapitalismus zwischen den beiden imperialistischen
Kriegen entstanden sind. Diese sind vielfach durch die Tatsachen bestimmt,
daß erstens aus dem ersten imperialistischen Krieg die siegreiche soziali-
stische Revolution in Rußland hervorgegangen ist und zweitens in der
Zwischenzeit die Krise des kapitalistischen Systems, dessen Gegensatz zu
den elementarsten Lebensbedürfnissen des Volkes ständig zugenommen hat.
Auf dieser Grundlage sind vor allem in Deutschland die verschiedenartig-
sten Ideologien von Planwirtschaften entstanden, deren Grundabsicht
darin ausgesprochen werden könnte, daß der gegenwärtige Zustand des
kapitalistischen Systems, die bisher höchstentwickelte Stufe des Imperialis-
mus, letztlich nicht mehr kapitalistisch sei. In Aufrufen oder politischen
Reden kann ein solcher Gegensatz durch geschickte Rhetorik leicht über-
brückt werden. Handelt es sich aber um eine Gestaltung des Lebens, so
tritt der unversöhnbare Widerspruch zwischen Bezeichnung und Wirk-
lichkeit notwendig hervor, und zwar um so energischer, je umfassender und
tiefer, je realistischer diese Gestaltung ist.
Obwohl die offizielle Ideologie des kriegführenden Deutschland diesen
Gegensatz nicht diskutiert, taucht er, von der Dialektik der Sache selbst
getrieben, in den verschiedensten Formen immer wieder zwangsläufig auf.
In der Debatte über den historischen Roman erscheint diese Frage in
Aktualität und Flucht
einem literarhistorischen Aspekt. Schriftsteller, die über den Roman und
seine Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft tiefer nachdenken, kommen
zu dem Ergebnis, daß der grundsätzliche Unterschied zwischen historischem
Roman und Gesellschaftsroman gar nicht so wesentlich ist, wie es Be-
trachter, die in der äußerlichen Stoffwahl befangen bleiben, zumeist meinen.
Man erkennt im Roman eine schriftstellerische Ausdrucksform der grund-
legenden Problematik der kapitalistischen Gesellschaft. Und diese Fest-
stellung bezieht sich dann sowohl auf Walter Scott wie auf Stendhal und
Balzac, ja auch auf Gottfried Keller. Paul Ernst hat schon vor etwa dreißig
Jahren diese Überzeugung ästhetisch am energischsten vertreten mit seiner
Theorie, daß der Roman infolge seiner sozialen Herkunft, infolge der dar-
aus entstandenen Formproblematik notwendig eine bloße „Halbkunst" sei.
Paul Ernsts Auffassung des Romans, des historischen wie des gesell-
schaftlichen, führt zu der Folge, daß man ihn einerseits als „gottlos" ver-
wirft, andererseits anerkennt, daß seine Form der Zeit (der Epoche des Kapi-
talismus) und ihrer Weltanschauung durchaus angemessen sei. Die An-
klage, die hier gegen den ganzen Roman des neunzehnten Jahrhunderts
von Walter Scott bis Gottfried Keller erhoben wurde, konzentrierte sich
darauf, daß Geschichte, Gegenwart, Gesellschaft mit dem Stereoskop des
historischen Bewußtseins gesehen würden. Darum sei es für den Roman
bezeichnend, daß ihm überwältigende Götter und große Helden fehlten.
Die Feststellung dieser Tatsache enthält nichts Neues. Schon die Ästhetik
Hegels sah den Unterschied zwischen Epos und Roman weniger in den
äußerlichen formalen Merkmalen als im Unterschied der Zeiten, deren not-
wendige Produkte sie sind. Die von Göttern erfüllte, in jeder Zeile spon-
tanen Heroismus und menschliche Freiheit offenbarende Atmosphäre der
Gedichte Homers ist also nicht so sehr der Ausdruck einer übernatürlichen
dichterischen Phantasie als vielmehr der realistische Ausdruck einer
„Heroenzeit" (die Begriffsbestimmung stammt noch von Vico), die die
moderne Wirtschaft, den modernen Staat, die Prosa der Arbeitsteilung, der
Ausbeutung noch nicht gekannt hat. Und andererseits entstammt der un-
heroische Charakter des modernen Romans ebenso notwendig dem Vor-
herrschen dieser gesellschaftlichen Bestimmungen in der kapitalistisch
entwickelten bürgerlichen Gesellschaft.
Natürlich gibt es zwischen Homer und - sagen wir - Flaubert die ver-
schiedensten gesellschaftlichen und ästhetischen Übergänge. Nach dem
Ende des Zeitalters der Heroen - das nach Vicos und auch Hegels Auf-
fassung im Lauf der Geschichte einigemale eine Wiederkunft (ricorso)
erlebt hat - haben verständlicherweise weder Dichter noch Leser auf die
Gestaltung von Heroen verzichtet. Man braucht aber nur die Geschichte
des sogenannten Kunstepos zu betrachten, um die Vergeblichkeit von Be-
92 Aktualität und Flucht
strebungen einzusehen, Dichtungsformen ästhetisch und weltanschaulich
zu erneuern, die nicht mit Notwendigkeit aus der sozialen Struktur der
Gegenwart erwachsen.
Man braucht nicht an das tragikomische Scheitern solcher V ersuche wie
der „Henriade" Voltaires denken, wo die erscheinenden Götter bereits zu
einer höchst prosaischen, undichterischen Maschinerie geworden sind und
wo sogar die in ihrer wirklichen historischen Realität hervorragenden Züge
Henris IV. durch die erzwungene Heroisierung jede Individualität und
Überzeugungskraft verlieren. Aber selbst ein so hervorragendes Werk
wie die „Aeneis" Vergils ist gerade dort, wo sie mitder „heroischen Periode"
Homers wetteifern will, wo sie den ästhetischen Ausdruck dieser Periode
in einer ganz andern Gesellschaftsordnung zu erneuern bestrebt ist, nur
rhetorisch, blaß und ohne hinreißende Kraft. Sie bleibt nur dort lebendig,
wo sie sich - paradoxerweise - spontan, unbewußt dem modernen Roman
nähert. Flaubert hat nicht mit Unrecht den Liebesroman der Dido Vergils
mit der Liebestragödie der Julia Shakespeares verglichen.
Es ist kein Zufall, daß der Stil eines jeden Kunstepos rhetorisch behaup-
tend und nicht realistisch gestaltend ist. Denn der unmittelbare Einfluß der
Götter auf das Menschengeschehen, die heldische Erhabenheit der Haupt-
gestalten, der mythisch-heroische Charakter ihrer Taten kann nur durch
übersteigerte Lyrik ausgesagt, aber nicht aus dem gesellschaftlichen Grund
der Handlungen und ihrer wirklichen Motive gestaltend entwickelt werden.
Rhetorik als Ausdrucksform der Dichtung, als lyrischer Ersatz für Ge-
staltung nimmt immer die Bezeichnung, und zwar die objektiv-historisch,
objektiv-gesellschaftlich falsche Bezeichnung für die Sache selbst, will
- in den besten Fällen mit tiefem und überzeugtem Pathos - den Leser
davon überzeugen, daß die Bezeichnung mit der Sache übereinstimme.
Die Untersuchung solcher Stilprobleme ist auch für die Gegenwart höchst
lehrreich. Denn man kann zur Prosa des Kapitalismus zweierlei Stellung
einnehmen. Entweder anerkennt man sie mit realistischer Unerbittlichkeit
als notwendige Form der Gegenwart, die so lange vorherrschen wird, bis der
Kapitalismus selbst in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vom Sozialismus
gestürzt wird, bis die private Aneignung des Mehrwerts aus der gesellschaft-
lichen Wirklichkeit verschwindet, bis es der siegreichen sozialistischen Revo-
lution gelingt, die Klassenschichtung der Gesellschaft und ihre ideologischen
Ausdrucksformen aus der Welt zu schaffen. Wird in der kapitalistischen
Gesellschaft diese ihre eigene Wirklichkeit als vorhanden anerkannt und
gemäß ihrem Wesen kritisiert, so entsteht jener große Roman von Walter
Scott bis Tolstoi, den man, wenn man will, als „Halbkunst" bezeichnen
mag, der aber gerade in seiner Problematik der angemessene dichterische
Ausdruck des kapitalistischen Systems und seiner Kritik war und auch heute
Aktualität und Flucht 93
ist. Oder der Schriftsteller gibt sich - bewußt oder unbewußt vor der
sozialen Demagogie des Faschismus kapitulierend - der Illusion hin, die
heutige Gesellschaft sei nicht mehr kapitalistisch, und geht in seiner Dar-
stellung von der neuen Bezeichnung, nicht aber von der zwar vielfach ver-
wandelten, aber in ihrem Kern doch kapitalistisch gebliebenen Wirklich-
keit aus. In diesem Fall ist er zur Rhetorik gezwungen: er muß aus subjek-
tiver Phantasie heraus Menschen, menschlichen Beziehungen, gesellschaft-
lichen Verhältnissen einen „Heroismus", eine „Göttlichkeit" verleihen, die
diese nur in der Bezeichnung und Behauptung, aber nicht in der sozialen
Wirklichkeit besitzen.
Die scheinbare Annäherung an die Dichtung der „Heroenzeit" ist also
in Wirklichkeit die äußerste Entfernung von ihr. Die gespenstisch objektive
gesellschaftliche Macht des Kapitalismus, das notwendige menschliche
Unbehagen, das er in allen menschlich Fühlenden hervorrufen muß, das
Erlebnis der Unfreiheit, der Unterdrückung und Ausbeutung, des Zer-
stückeltseins durch die Arbeitsteilung stehen im grellen Widerspruch
zu den - wenn auch noch so ehrlich empfundenen - Behauptungen der
heroisierenden Rhetorik. Die unnachahmliche Poesie der Gedichte Homers
beruht darauf, daß sie Menschen gestalten konnten, die ihre gesellschaftliche
Wirklichkeit als selbstgeschaffen und ununterbrochen bejaht erleben, die
sich in ihrer Wirklichkeit heimisch und behaglich fühlen. Ein ferner Ab-
glanz davon liegt etwa noch in der Beziehung Gottfried Kellers zur Schwei-
zer Demokratie, ein Abglanz jedoch, der mit der Entwicklung des Kapi-
talismus in der Schweiz immer mehr verblaßt und zuletzt vollständig ver-
schwindet. Man vergleiche nur „Martin Salander" mit dem „Grünen Hein-
rich". Aber schon bei Raabe klingt der Satz: „Wahrlich, es ist eine Lust,
sich noch lebendig zu fühlen in seiner Haut und in seiner Nation" wie der
Ausdruck einer Sehnsucht, die dieser ehrliche und volksverbundene Realist
in steigendem Maß als unerfüllbar, als unvereinbar mit dem gesellschaft-
lichen Aufbau seiner Gegenwart empfunden hat.
Die Auffassung der Gegenwart als heroischer Periode ist also im Kapi-
talismus eine unbewußte Flucht vor dem Realismus ins Rhetorische. Sie
wäre es nur dann nicht, wenn der Schriftsteller imstande wäre, die gesell-
schaftliche Wirklichkeit des Kapitalismus als eine selbstgewollte, heimat-
liche, Behagen und Menschlichkeit ausströmende Wirklichkeit zu ge-
stalten, die der Mensch deshalb aus tiefstem Innern begeistert bejahen kann,
in der darum jedes scheinbar entlegene Erlebnis mit dem Zentralproblem
der gesellschaftlichen Struktur verbunden, und zwar positiv wertbetont
verbunden ist.
Nur auf solcher gesellschaftlicher Grundlage entsteht eine „heroische"
Dichtung. Und es ist klar, daß eine solche nicht immer möglich ist, daß ihr
94 Aktualität und Flucht
Entstehen und Blühen nicht von der Begabung der Schriftsteller und erst
recht nicht von ihren Absichten abhängt. Denn nur das Bejahenswerte
kann wirklich dichterisch bejaht werden. Eine wirkliche Dichtung kann
nie lügen - was immer die bewußte Absicht des Schriftstellers sei. Man-
cher Schriftsteller zog aus zum Segnen und hat gestaltend geflucht; man-
cher wollte fluchen und hat gestaltend gesegnet. (Man denke nur an die
Darstellung der russischen Revolutionäre in Dwingers „Weiß und Rot".)
Damit entsteht eine tiefere Schicht der Beziehung von Aktualität und
Flucht. Auch die nicht bewußte Gegnerschaft, die in einer Flucht steckt,
kann sich gestaltend zur wirklichen Gegnerschaft erheben. Es kann etwa
die Absicht des Schriftstellers nur sein, eine menschenwürdige Existenz
(oder ihre Vernichtung) zu gestalten; er mag an sein Thema historisch,
geographisch, sozial noch so sehr als an etwas Abseitiges herantreten - wenn
er gestaltend wirklich bis ans Ende geht, wenn er seinen Fall wirklich reali-
stisch und nicht von rhetorischen Nebeln umgeben gestaltet, kann das
Faktum der Abseitigkeit als hochgradige Aktualität, kann es als eine tief-
greifende Kritik am gesellschaftlichen System erscheinen, in dem eine solche
Abseitigkeit notwendig ist. Mit Recht hat Schiller gesagt, daß die Schrift-
steller nicht nur die Wiederhersteller, sondern, wenn notwendig, auch die
Rächer der Wirklichkeit sind.
Wir sehen: alle diese Folgerungen befinden sich keineswegs in genauer
Übereinstimmung mit den bewußten Absichten, mit der bewußten Welt-
anschauung der Schriftsteller. Diese suchen ihren Weg der Gestaltung und
können hier leicht etwas ganz anderes, Neues finden, das dem, was sie ge-
sucht haben, entgegengesetzt ist. Ja, selbst der Vorgang des Suchens, auch
wenn er, weltanschaulich angesehen, ergebnislos verläuft, kann dichterisch
das Auffinden eines bedeutenden Neuen zum Inhalt haben. Gerade an ehr-
lichen Schriftstellern, an rücksichtslos realistischen Gestaltern pflegt sich
in verschiedenster Weise das Wilhelm-Meister-Schicksal zu erfüllen.
Daran nehmen manche Kritiker im heutigen Deutschland Anstoß.
Dichter sind Sucher, schrieb unlängst ein Novellist, und die Kritik be-
mängelt diesen an sich höchst unschuldigen Ausdruck. Sie fand, daß in
dem Suchen an sich etwas Verzweifeltes liege, daß es richtiger wäre, wenn
die Schriftsteller sich als Finder betrachteten, wenn wenigstens ein stärkerer
Akzent auf dem Finden als auf dem Suchen läge. Kann aber so etwas den
Schriftstellern vorgeschrieben werden? Hängt es von den Schriftstellern
als Individuen und nicht vielmehr von der Gesellschaft ab, in der sie leben,
ob sie vorwiegend Sucher oder Finder werden? Und wer garantiert, daß
das Gefundene gerade das sein wird, was dem kapitalistischen System
gemäß ist? Höchstens dann, wenn das Finden wirklich kein Ergebnis,
sondern ein Apriori ist, und zwar ein Apriori, das formell und inhaltlich
Aktualität und Flucht 95
mit den Forderungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und ihrer
gegenwärtigen deutschen Form identisch ist. In diesem Fall befindet sich
jedoch gerade der „Finder" notwendig auf der Flucht: vor der Erkenntnis
der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist.
Damit haben wir den konkreten Umkreis unserer Probleme umrissen.
Wir befinden uns inmitten der Krise des kapitalistischen Systems. Gerade
die Tatsache des letzten imperialistischen Krieges beweist anschaulich die
Tiefe dieser Krise, die Unüberbrückbarkeit der inneren Widersprüche der
kapitalistischen Welt. Soviel war auch 1914 bis 1918 sichtbar. Das Neue
der heutigen Lage ist, daß am Horizont, ja in der Nachbarschaft des Kapi-
talismus die sozialistische Gesellschaft bereits eine deutliche Gestalt er-
rungen hat. Und ihre Existenz spricht gerade heute eine unzweideutig
vernehmbare Sprache: Sozialismus ist Frieden, Imperialismus ist Krieg.
All dies steht für den bewußten Sozialisten einfach und klar da und
ergibt überall genaue Scheidungen. Für den ehrlich Suchenden im kapita-
listischen System entstehen jedoch aus dieser Weltlage schwer lösbare
Probleme. Scheinbar unzertrennlich verschlingen einander nationale Ver-
teidigung und imperialistische Eroberung. Man denke etwa an die fran-
zösischen Revolutionskriege. Sie waren ursprünglich eine Selbstverteidi-
gung des französischen Volkes, das in seiner Revolution erst eigentlich
zur Nation wurde. Unmerklich gingen sie in Eroberungskriege über,
gegen die überall in Europa - in Spanien, in Rußland, in Deutschland -
notwendige und historisch berechtigte Gegenschläge entstanden. Aber
diese großartigen Volksbewegungen zur Selbstbefreiung unterdrückter
Völker schlugen wiederum in die Befestigung eines Systems der reaktionären
Unterdrückung, in die „Heilige Allianz" um, in die weitere Fortsetzung der
Zerstückelung großer, sich nach nationaler Einheit sehnender und für sie
kämpfender Völker, der Deutschen und der Italiener.
Wo liegen hier die Grenzen? Sie sind objektiv, sozial und historisch für
Vergangenheit und Gegenwart unschwer feststellbar, aber inmitten des
Getümmels - und der schaffende Schriftsteller befindet sich zumeist ge-
rade hier - ist die Feststellung mitunter sehr schwer. Wann ging die Ver-
teidigung der Französischen Revolution in Eroberung über? Wann ver-
lor der Befreiungskrieg der Völker gegen Napoleon seinen freiheitlichen
Charakter? Diese Fragen waren für die meisten Zeitgenossen schwer lös-
bar, fast unlösbar. Goethe stand mit seiner Weisheit auf einsamem Posten.
Wenn er dem Historiker Luden in seiner vorsichtig abwägenden Art
sagte: „ Und was ist denn errungen oder gewonnen worden? Sie sagen, die
Freiheit; vielleicht aber würden wir es richtiger Befreiung nennen; näm-
lich Befreiung nicht vom Joche der Fremden, sondern von einem fremden
Joche", so wurde er hierin von den meisten seiner Zeitgenossen, ja auch
Aktualität und Flucht
von einem beträchtlichen Teil der Nachwelt verkannt. (Der „Westöstliche
Divan" wird erst aus solchen Zusammenhängen wirklich verständlich.)
Wer sich im Wirbel solcher Probleme beruhigt und immer meint, alles
bereits „gefunden" zu haben, nimmt zumeist die Aufschrift für die Sache
selbst und flieht vor der großen Aktualität der Gegenwart - der Aktualität
der V erwirklichbarkeit, der Verwirklichung der Demokratie, des Sozia-
lismus - gerade dort, wo er meint, etwas ganz Sicheres gefunden, die „For-
derung des Tages" wirklich erfüllt zu haben. Und andererseits kann gerade
in solchen Lagen der verzweifelt Suchende, ja scheinbar Verirrte auf dem
Höhepunkt seiner Verzweiflung, wenn sich vor seinen Augen alle sozialen
Maskierungen des imperialistischen Kapitalismus entlarven, wenn sich die
nationale Verteidigung als brutale Unterdrückung fremder Völker ent-
hüllt, wenn die verkündeten (und bisher geglaubten) Ideale und die end-
lich erkannte Wirklichkeit am schroffsten auseinanderklaffen, dem wirk-
lichen Finden am nächsten sein: der so offenkundigen und doch so ver-
borgenen Wahrheit, daß nur die wirtschaftlich-soziale Befreiung des werk-
tätigen Volkes auch den Geist frei macht, daß kein Volk, das ein anderes
unterdrückt, frei sein kann.
Nur die ehrlich Suchenden können finden; nur die richtig Flüchtenden
werden ihre wirkliche Heimat erreichen.
1941
ZWEI ROMANE AUS HITLERDEUTSCHLAND
Die faschistische Propaganda tritt ununterbrochen mit dem Anspruch
auf, das deutsche Volk zu repräsentieren, Stimme des deutschen Volkes
zu sein. Jeder weiß, daß dies eine der vielen Lügen der Goebbels und Kon-
sorten ist. Es ist jedoch - unter den Bedingungen des faschistischen Terrors,
verschärft durch den „totalen Krieg" - schwer, die Gegenstimmen zu
vernehmen. Nur äußerst selten verdichtet sich die Unzufriedenheit mit
dem Hitlersystem, der Unglaube an die Möglichkeit seines Sieges, die Em-
pörung über seine Methoden zu einer Tat, ja auch nur zu einer deutlich
wahrnehmbaren Äußerung.
Dadurch gewinnen indirekte Aussagen viel an Bedeutung.
Vor mir liegen zwei Romane ungleichen Charakters und ungleichen
Wertes: Ernst Wiechert: „Die Majorin" und Karl Benno vonMechow: „Vor-
sommer" (beide im Verlag Albert Langen/Georg Müller, München). Wann
diese beiden Bücher geschrieben wurden, ist nicht ersichtlich. Jedenfalls
sind beide während des Krieges, allerdings vor dem räuberischen Überfall
auf die Sowjetunion, in der für den Export bestimmten Serie Deutsche
Dichter der Gegenwart herausgegeben worden. Diese Tatsache berechtigt
uns, in den vorliegenden Büchern etwas zu erblicken, was für die heutige
deutsche Literatur wenigstens als symptomatisch betrachtet wird.
Künstlerisch und ideologisch sind die beiden Bücher ungleich. Die Er-
zählung Wiecherts, trotz eines stellenweise unangenehmen Symbolismus,
ist das wertvollere Werk von beiden. Seine Figuren sind viel schärfer und
sicherer umrissen, mit echterer Psychologie gestaltet als die in Mechows
„Vorsommer". Hinzu kommt, daß bei Wiechert immer wieder eine plebe-
jische Gesinnung durchbricht, die die Typen der deutschen Oberklasse
als minderwertige oder halbkomische Figuren erscheinen läßt und nur Aus-
nahmeerscheinungen unter ihnen, wie die Titelheldin, anerkennt. Mechows
Darstellungsweise dagegen bewegt sich an der Grenze der bloßen Unter-
haltungsliteratur und geht zuweilen sogar in eine sentimentale Kitschigkeit
über. Die künstlerische und ideologische Hauptschwäche beider Bücher liegt
im Idyllisieren des Landlebens. Darin kommt die konservative Gesinnung
beider Autoren spontan zum Ausdruck.
Zwei Romane aus Hitlerdeutschland
Durch die plebejischen Momente erhält dieser Konservativismus bei
Wiechert einen bäuerlichen Nebenakzent, während bei Mechow die Land-
arbeiter nur vom Gutsbesitzerstandpunkt aus gesehen und bewertet wer-
den. Dieser Konservativismus beider Autoren, diese ihre halbmystische
Anhänglichkeit an den Boden, diese ihre Auffassung, daß nur das Landleben
ein wirklich menschliches Leben sei, ist eine wenigstens sich im Negativen
äußernde Verwandtschaft beider Autoren mit der faschistischen Ideologie.
Freilich muß hier gleich hervorgehoben werden, daß die andere, spezi-
fischere Komponente dieser Ideologie, „das Blut", die Rassentheorie, in
beiden Büchern nicht einmal andeutungsweise vorkommt.
Überhaupt ist bei beiden Büchern das Auffallendste das, was in ihnen
fehlt: die Darstellung eines Stückes der deutschen Wirklichkeit in einem
bestimmten Zeitpunkt der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung.
Beide Bücher geben ein detailliert realistisches Bild von einem kleinen
Ausschnitt aus dem deutschen Leben; beide schildern dieses Milieu völlig
„zeitlos". Das heißt, aus der Darstellung beider Autoren ist wohl klar er-
sichtlich, daß ihre Erzählungen sich im Nachkriegsdeutschland abspielen,
ob aber das Deutschland der Weimarer Republik oder das des Hitlerismus
gemeint ist, kann auch durch die sorgfältigste Untersuchung der leisen
Andeutungen nicht geklärt werden. Es gibt keine gegen das Weimarer
System gerichtete Polemik oder Kritik, ebensowenig eine Anspielung auf
die faschistische Bewegung oder gar auf das faschistische System. Nur eine
Anspielung Wiecherts (der aus der französischen Gefangenschaft des impe-
rialistischen Krieges heimkehrende Held war zwanzig Jahre von der Heimat
entfernt) könnte darauf schließen lassen, daß die Erzählung bereits unter
Hitler spielt. Bei Mechow fehlt selbst ein solcher Hinweis.
Dies könnte als eine „rein künstlerische" Absicht aufgefaßt werden;
als eine derartige menschliche Verallgemeinerung moralischer Konflikte,
daß von dieser Höhe aus kein Unterschied zwischen Weimarer Demokratie
und Faschismus sichtbar werden kann. Wenn aber dies auch wirklich bloß
eine „rein künstlerische" Tendenz wäre, so widerspräche sie diametral
allen Anforderungen der faschistischen Literaturpolitik. Ein solcher künst-
lerischer Wille ist unter allen Umständen zumindest eine Flucht: ein Aus-
weichen beider Schriftsteller vor der vom Faschismus geforderten Politi-
sierung der Literatur.
Diese Flucht vor den Forderungen des faschistischen Regimes der Lite-
ratur gegenüber erscheint bei diesen beiden Romanen in einer um so grel-
leren Beleuchtung, als ihre Thematik ein Zentralproblem der faschistischen
Ideologie berührt und darauf eine künstlerische Antwort gibt, die ganz
und gar nicht den faschistischen Vorschriften entspricht. Es handelt sich
um die menschlich-moralischen Auswirkungen des imperialistischen Krie-
Zwei Romane aus Hitlerdeutschland 99
ges 1914 bis 1918. Die faschistische Ideologie spricht hier vom „Fronterleb-
nis", das heißt von der Erneuerung des deutschen Menschen durch den Welt-
krieg. Franz Schauwecker zum Beispiel, ein Schriftsteller und kein ordinärer
Propagandist des Hitlerismus, formuliert dieses „Fronterlebnis" folgender-
maßen: „Hinter uns blieb das Chaos des Endes ohne Fruchtbarkeit; vor
uns stieg das Chaos des Beginns neuen Wachstums herauf ... In diesem
Augenblick, der entscheidend über unser ganzes Leben war, wurde der
deutsche Mensch wiedergefunden ... "
Sowohl Wiechert wie Mechow stellen Menschen, die den Weltkrieg
durchlebt haben, in den Mittelpunkt ihrer Handlung. Ihr Thema ist also
ebenfalls das „Fronterlebnis". Bei beiden jedoch - und bei Wiechert in
einer viel ernsthafteren Weise als bei Mechow - bedeutet die Kriegsteil-
nahme für die Menschen keine Erneuerung, sondern, im Gegenteil, eine
Verwirrung, eine moralische Desorientierung bis zu auswegloser Verzweif-
lung. Ihre Menschen erkennen keinen neuen Weg infolge des Krieges,
sondern müssen, im Gegenteil, schwer kämpfen, um nach dem Krieg, seine
moralische Konsequenz überwindend, äußerlich wie innerlich in das alte
Leben zurückfinden zu können.
Bei Mechow handelt es sich nur um die Überwindung einer pessimisti-
schen Grundstimmung, einer allgemeinen Verwirrung der Gefühle und
der menschlichen Maßstäbe des Empfindens und des Handelns. Wiechert
gibt eine reichere und tiefere Variation der menschlichen Folgen des Krie-
ges. Der alte Bauer Fahrenholz, der seine Söhne im Krieg verloren hat,
flüchtet in den Wahnsinn: der Knecht Jonas, dessen kleiner Bruder er-
mordet wurde, findet sein Gleichgewicht ebenfalls in einer Form der Wun-
derlichkeit; die Majorin, deren Mann gefallen und deren Sohn in der Nach-
kriegszeit moralisch verkommen ist, schafft sich eine Weltanschauung der
tätigen Resignation. Michael, der eigentliche Held des Romans, kehrt aus
Krieg und Kriegsgefangenschaft völlig verstört heim. Er selbst erkennt,
„daß im Menschenherzen Böses steht, wie Unkraut in einem Feld. Und
wenn das Unkraut zwanzig Jahre lang nicht gejätet wird, dann ist das
Feld verloren." Sein Kriegserlebnis ist dementsprechend die moralische
Erfahrung, daß es leicht ist, „das Böse zu tun, und schwer, das Gute zu
tun". Der Erziehungsroman, den er durchlebt, konzentriert sich als.o darauf,
jenes Gleichgewicht des Guten und des Bösen wiederzufinden, das er im
Krieg und in der Kriegsgefangenschaft verloren hat.
Der Leser sieht: die künstlerische Fragestellung ist ein Gegenpol der
faschistischen Auffassung über die Folgen des vergangenen Weltkrieges.
Und es ist deshalb nicht überraschend, wenn die künstlerische Beantwor-
tung des Problems ebenfalls entgegengesetzte Wege geht, als die Ideologie
des Faschismus vorschreibt. Diese betrachtet die faschistische Bewegung
100 Zwei Romane aus Hitlerdeutschland
als zusammenfassende Kulmination dieses seelisch-moralischen Auf-
schwungs durch das „Fronterlebnis". Wir geben diese Auffassung wieder
in der Formulierung eines Schriftstellers, nicht in der der offiziellen Nazi-
propaganda. Rudolf G. Binding schreibt in einer Kriegsermahnung an
seinen Sohn: „Die Gemeinschaft aber haben dein Vater und deiner Volks-
genossen Väter erstmals auf den Schlachtfeldern des großen Krieges ge-
schaut und erkämpft, haben sie dann wieder verloren sehen müssen, bis
sie einer jener Kämpfer nach schweren Jahren der Ohnmacht und der Nieder-
haltung zu einem übermächtigen Erwachen brachte, in dem sich euer Volk
neu erhob."
Wiechert und Mechow, bei denen, wie wir gesehen haben, das „Front-
erlebnis" eine negative Rolle spielt, kennen weder den Niedergang durch
die Weimarer Demokratie noch den „Aufschwung" durch Hitler und den
Faschismus. Bei ihnen handelt es sich darum, daß jene individuelle morali-
sche Verlorenheit, die die Teilnahme am Weltkrieg in ihren Helden aus-
gelöst hat, individuell, durch Wechselbeziehung mit einzelnen Menschen in
einem moralisch-positiven Sinne gelöst wird. Von einer Gemeinschaft im
Sinne des Faschismus ist nicht einmal andeutungsweise die Rede.
Bei Wiechert soll das Gleichgewicht dadurch erreicht werden, daß sein
Held sein „reines Herz" wiederfindet; bei Mechow soll die Ungeduld
eines ziellos-fahrigen Pessimismus, eines nihilistischen Unglaubens an
Welt und Menschen überwunden werden. Bei beiden wird dieses Er-
ziehungswerk zur Ordnung, zur Einfügung in die gegebene Nachkriegs-
wirklichkeit (der, wie nochmals hervorgehoben werden muß, jeder faschi-
stische Zug fehlt) durch den menschlichen Einfluß einer Frau vollbracht.
Mechow gibt eine stellenweise banale und sentimental-überspannte Liebes-
geschichte. Wiechert stellt die Erziehungsfrage komplizierter, als ein
dramatisches Auf und Ab in der inneren Beziehung einer Reihe von Men-
schen, wobei die Majorin, die die Erziehung des Helden vollendet, selbst
schwere innere Krisen zu überwinden hat.
Dadurch, daß beide Autoren an der faschistischen Fragestellung und der
faschistischen Antwort auf sie vorbeigehen, entsteht bei beiden mit künst-
lerischer Notwendigkeit jenes „zeitlose" Milieu, von welchem wir bereits
gesprochen haben. Ihre moralische Polemik gegen den Faschismus ist also
keine direkte, kein Versuch einer Widerlegung, einer Entlarvung der
faschistischen Gemeinschaftsdemagogie, sondern ein Ignorieren der ganzen
faschistischen Bewegung.
Ohne Frage ist dies eine Flucht aus der faschistischen Wirklichkeit und
- literarisch betrachtet - eine Flucht aus dem faschistischen Zeitroman, aus
der faschistischen Forderung der Aktualisierung der Literatur zur Verherr-
lichung des Hitlersystems. Ist dies aber auch eine Opposition gegen den
Zwei Romane aus Hitlerdeutschland 101
Faschismus? Eine solche Frage erfordert besonders in bezug auf Bewußt-
heit, Entschiedenheit und Stärke der Opposition große Vorsicht und
Skepsis. Obwohl nicht vergessen werden darf, daß Goebbels und die von
ihm geleitete Presse sich schon seit langem immer wieder darüber beklagen,
daß die deutschen Schriftsteller nicht gewillt sind, jene aktuelle Literatur
zu liefern, die der Faschismus so notwendig braucht. Der oppositionelle
Charakter dieser Bücher muß also sehr vorsichtig bewertet werden, ob-
wohl Wiechert, bei dem diese Tendenzen ernsthafter hervortreten, bereits
eine Zeitlang in einem faschistischen Konzentrationslager gesessen hat.
Die Übergänge zwischen Flucht und Opposition sind in Krisenzeiten
immer fließend. (Wir können solche Übergänge auch bei anderen Schrift-
stellern, z.B. bei Fallada, beobachten.) Es handelt sich hier um die Flucht
in die individuelle Ethik zur Lösung aller Lebensprobleme des Menschen.
Diese Flucht beinhaltet nun, daß die Schriftsteller und die von ihnen ge-
stalteten Menschen die herrschende soziale Moral nicht als bindend an-
erkennen, nicht als Lösung ihrer Probleme ansehen. Darin drückt sich
ohne Frage eine tiefe menschliche Unzufriedenheit mit dem herrschenden
System aus, zugleich jedoch eine soziale Schwäche und Ziellosigkeit dieser
Unzufriedenheit.
Eine solche Flucht in die individuelle Ethik haben wir in der deutschen
Literatur nach der Niederlage der Achtundvierziger Revolution und auch
nach der Enttäuschung über die Reichsgründung 1871 erlebt. Allerdings
muß festgestellt werden, daß bei dieser Flucht in die individuelle Lösung,
deren größter literarischer Repräsentant seiner Zeit Wilhelm Raabe war,
das Mißbehagen an der Gegenwart gesellschaftlich und geschichtlich viel
deutlicher und unmißverständlicher ausgedrückt wurde, als es heute der
Fall ist.
An der Unklarheit der heutigen deutschen Schriftsteller hat nun ohne
Frage der faschistische Terror einen großen Anteil. Es wäre jedoch unrich-
tig, die Unklarheit hundertprozentig auf das Konto von Terror und Zensur
zu schreiben. Es ist für einen Schriftsteller immer sehr schwer, seine wirk-
liche Meinung vollständig zu verbergen. Bei Mechow wie bei Wiechert
kommt auch tatsächlich ihr ländlicher Konservativismus sehr energisch
zum Ausdruck. Sie sind kaum unter die nur einigermaßen bewußten Anti-
faschisten zu zählen.
Immerhin darf nicht übersehen werden, daß hier im Gegensatz zur bar-
barischen Mißachtung des Menschen durch den Faschismus Mensch und
Menschlichkeit im Mittelpunkt stehen; daß, im Gegensatz zur Verherr-
lichung gerade der barbarischen Seiten der imperialistischen Kriege durch
den Faschismus, der Krieg als Unglück, als Auslöser moralischer Verwir-
rungen gestaltet wird; daß, im Gegensatz zur faschistischen Forderung der
102 Zwei Romane aus Hitlerdeutschland
Lüge und Immoralität, eine Tendenz auf Wahrhaftigkeit im Mittelpunkt
steht.
Es wäre falsch, aus den in Flucht versteckten Oppositionsstimmungen
solcher Bücher weitgehende Konsequenzen zu ziehen. Es wäre aber eben-
falls unrichtig, die Tatsache zu ignorieren, daß ein sicher nicht unbeträcht-
licher Teil der mehr oder weniger begabten deutschen Schriftsteller zu-
mindest Unbehagen dem Faschismus gegenüber verspürt, daß er dessen
Ideologie, dessen Propaganda literarisch nicht zur Kenntnis nimmt, daß er
auf eigenen Wegen Lösungen der menschlichen Probleme der Zeit sucht.
All dies scheint um so wichtiger, als beide Romane vor dem Krieg mit
der Sowjetunion geschrieben und gedruckt wurden. Die zaghafte Opposi-
tionsstimmung solcher Bücher gegen die Verherrlichung des „Front-
erlebnisses", gegen den faschistischen Aufruf zur Bestialität im Kriege,
wurde zwar sicherlich in den breiten Massen durch den künstlich erregten
Rausch der ersten Kriegswochen hinweggeschwemmt. Als jedoch die
blutigen Niederlagen der Faschisten, die Entbehrungen des Winters und
die Unsicherheit des Lebens auch in der Etappe tiefe und wachsende Er-
schütterungen in der deutschen Armee und im deutschen Volk hervor-
riefen, gewann wohl auch die Wirkung solcher Oppositionsstimmungen
im Namen der Menschlichkeit an Bedeutung. Wichtig ist auch die Tatsache
des Konservativismus der hier besprochenen Autoren, ihrer Befangenheit
in ländlich-beschränkten Anschauungen - die ihre direkte Opposition
gegen den Faschismus hemmte. Es erweist sich, daß es von jeder Welt-
anschauung aus, die die Menschlichkeit anerkennt, notwendig früher oder
später zu einem Widerspruch zum Faschismus, zu einem Konflikt kommen
muß. Denn die in diesen Romanen gestaltete moralische Verwirrung durch
die Teilnahme am imperialistischen Krieg (die Ablehnung der Legende vom
„F ronterlebnis") ist eine harmonische Idylle im Vergleich zu jener De-
struktion einer jeden Sittlichkeit, die die faschistische Kriegführung als
Verwirklichung der Legende vom „Fronterlebnis" allen Soldaten auferlegt.
Wiechert und Mechow haben darauf - wenn auch zaghaft und indirekt,
so doch im voraus - verneinend reagiert.
DIE VERBANNTE POESIE
Deutschland, das einst mit Recht das Land der Dichter und Denker ge-
nannt wurde, ist zum Land des Raubes und des Mordes, der Verwüstung
und der Vergewaltigung geworden. Einst rühmte es sich, die eigenartig-
sten, vielseitigsten Individualitäten in Kunst und Wissenschaft zu besit-
zen, jetzt wurde es die Heimat des seelenlosesten Uniformismus - ein
grauenhaft karikiertes Überpreußen. Amoral und Barbarei wurden zur
Pflicht des Soldaten - und zur Zeit des faschistischen „totalen" Krieges,
der „totalen" Mobilmachung der ganzen Nation wurde jeder Deutsche
Soldat.
Wie kann in einem solchen Land Poesie entstehen und gedeihen? Es ist
klar, daß jede Poesie aus den Grenzen dieses Deutschland verbannt bleiben
mußte. Die sozialen Ursachen dieser Tatsachen lassen sich leicht feststellen.
Die Unterdrückung jeder freien Meinungsäußerung gehört zum Wesen der
faschistischen Politik. Der Anfang der faschistischen Herrschaft in Deutsch-
land ist ja die „Gleichschaltung" jeder Ideologie gewesen. Aber diese
wichtigen und offenkundigen Tatsachen erklären doch nicht die ganze
geistige Erniedrigung Deutschlands. Die Geschichte kennt viele Formen
der Unterdrückung der Völker, aber sehr oft erscheinen inmitten der
schrecklichsten Unterdrückung aufrechte oppositionelle Äußerungen, frei-
lich „unterirdisch" versteckt, jedoch eine wirklich unversöhnliche und
tapfere Opposition versteht immer, zwischen den Zeilen den Inhalt
wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen.
Allerdings ist auch im heutigen Deutschland nicht jeder mit der faschi-
stischen Herrschaft einverstanden. Liest man einzelne Literaturwe1·ke, ver-
folgt man, was die faschistischen Machthaber über die Aufgaben der Lite-
ratur und die Versäumnisse der Schriftsteller verkünden, so sieht man den
Rahmen dieser Unzufriedenheit verhältnismäßig klar. Goebbels rügte
wiederholt die Flucht der deutschen Schriftsteller aus der aktuellen Stoff-
wahl; es gab zum Beispiel eine große Diskussion über den historischen
Roman mit der Zentralfrage, ob der historische Stoff nicht eine Flucht aus
der Gegenwart bedeute. Und in der Tat: wenn man deutsche Romane liest,
die in der Gegenwart spielen, fällt es einem oft auf, wie tief sie sich über
104 Die verbannte Poesie
den politisch-sozialen Zustand ihres Landes, ihrer Gegenwart ausschweigen,
wie geflissentlich sie, auch bei Problemen oder Situationen, die sich mit der
faschistischen Ideologie berühren, es vermeiden, auf diese direkt oder in-
direkt Bezug zu nehmen.
Das Ignorieren geht zuweilen so weit, daß eine Art „zeitloser" Literatu'r
entsteht, das heißt Bücher, die offenbar die Gegenwart behandeln, aus
deren Fabeln und Gestalten jedoch nirgends sichtbar ist, wann und wo
sie spielen, wie die politisch-soziale Umwelt ihrer rein privat gehaltenen
Handlung beschaffen ist.
Aber dieses Ignorieren ist rein negativ, es fehlt in ihm auch die Spur
eines bewußt polemischen Verschweigens, obwohl bei dem häufigen Vor-
kommen dieses Typus der Literatur man unmöglich von bloßem Zufall
oder rein individueller Eigenart einzelner Schriftsteller sprechen darf. So
sind solche Literaturwerke im besten Fall zaghafte Scharmützel. Auch
„unterirdisch" gab es in der Literatur Deutschlands keinen wirklichen
Protest gegen die faschistische Barbarei.
Will man dieses Phänomen begreifen, so reicht eine Erklärung durch die
Furcht vor Gewaltmaßnahmen, vor der Zensur usw. nicht aus. Man muß
vielmehr eine gewisse allgemeine Ansteckung von der faschistischen Ideo-
logie feststellen. Freilich handelt es sich hier in den meisten Fällen nicht
um die offizielle faschistische Ideologie, um die Verkündigungen der Hitler,
Rosenberg und Goebbels. Diese werden von allen einigermaßen Denkenden
stillschweigend abgelehnt, oft sogar verachtet. Aber die faschistische Ideo-
logie ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie hat in Deutschland eine lange
Vorgeschichte, eine geistige Vorbereitungsperiode gehabt, in der viele
Werke auftreten, die auf das geistige Deutschland einen tiefgehenden Ein-
fluß ausüben. In diesen waren Elemente und Motive vorhanden, die um
sich eine Atmosphäre ausgebreitet haben, die voll war von geistigen
Kräften, geeignet, Intelligenz und Moral zu vernebeln. Das langsam um
sich greifende Gift ist nicht nur zur unmittelbaren geistigen Quelle der
offiziellen faschistischen Ideologie geworden - die Rosenberg oder
Goebbels sind ja nichts weiter als eklektische Sammler, Plagiatoren, Propa-
gandisten und demagogische Vergröberer der vorangegangenen reaktio-
nären Ideologien -, es ist auch tief ins Denken und Empfinden der deutschen
Intelligenz eingedrungen und hat sie gegen die faschistische Propaganda
geistig und moralisch wehrlos gemacht. Daher die ideologische Schwäche
auch der unzufriedenen Schriftsteller in Deutschland. Darum erhebt sich
auch ihre abgelegene, an sich keineswegs verbotene Stoffwahl nicht zu
wirklichen Kunstwerken, zu wirklicher Poesie.
Eine allgemeine und tiefgehende geistig-moralische Vergiftung cha-
rakterisiert die heutige Literatur in Deutschland. Henrik Ibsen faßte
Die verbannte Poesie
einmal die Probleme seines eigenen Schaffens m folgendem Epigramm
zusammen:
„Leben heißt: dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich,
Dichten: Gerichtstag halten
Über sein eigenes Ich."
In dieser schönen und tiefen Feststellung ist für die Poesie beides wichtig,
sowohl der „Kampf mit dunklen Gewalten" wie der „Gerichtstag". Beim
ersten nützt ideologisch auch der klügste Kompromiß nichts. Ibsen selbst
hat in der Gestalt seines Peer Gynt gezeigt, daß der Versuch, den letzten
Folgerungen auszuweichen, seinen Helden aus dem erstrebten und ein-
gebildeten Vollmenschen in einen Halbmenschen, in einen Troll ver-
wandelt hat, in etwas Wesenloses, das - wie eine schöne Szene der Dichtung
zeigt - wie eine Zwiebel nur aus ablösbaren Häuten besteht, ohne einen
Kern zu besitzen. Eine solche Wesenlosigkeit hat große Teile der deutschen
Intelligenz, infolge ihres Peer-Gyntschen Paktierens mit den reaktionären
Mächten, mit der sich immer breiter machenden reaktionären Ideologie,
schon vor Hitler ergriffen. Darum konnten auch subjektiv ehrlich V er-
zweifelte, Wegsuchende sich der Demagogie, dem als Mythos verkleideten
Betrug hingeben. Darum fehlt ihnen, auch wenn sie heute schon von der
demagogischen Lüge enttäuscht sind, die ideologische W ehrhaftigkeit,
eben weil sie den rücksichtslosen Kampf mit den finsteren Gewalten früh-
zeitig aufgegeben haben oder ihm ausgewichen sind. Darum können sie
heute nicht als Menschen, nicht als Schriftsteller in ihren Werken einen
lbsenschen Gerichtstag über sich selbst halten.
Man kann den Begriff dieses Gerichtstages nicht breit und tief genug
auffassen, um zu den Quellen der wahren Poesie vorzudringen. Vor mehr
als hundert Jahren haben Goethe und Hegel denkerisch und dichterisch
- im „Faust" und in der „Phänomenologie des Geistes" - gezeigt, wie
eng auch beim Menschen Individuum und Gattung zusammenhängen.
Goethe und Hegel haben die uralte Praxis der Poesie bewußt gemacht, in-
dem sie zeigten, daß im Mikrokosmos des individuellen Schicksals, wenn
richtig erfaßt, der Makrokosmos des Gattungslebens, des historischen
Schicksals des Volkes in verkürzter, symbolischer Form enthalten ist.
Dieses unlösbare Zusammen von Individuum und Gattung, von Einzel-
schicksal und Volksschicksal ist die Quelle der wahren Poesie.
Die hohe Aufgabe der Poesie hat zur subjektiven Voraussetzung, zur
Grundlage der echten Poesie die Liebe zur Wahrheit im großen Sinne, zur
Wahrheit der wesenhaften Zusammenhänge, wie sie sich im Leben der
Individuen, in ihren Wechselbeziehungen zur Gesellschaft, zur Nation
106 Die verbannte Poesie
äußern. „Schreibt die Wahrheit!" riefMaxim Gorki seinerzeit den Sowjet-
schriftstellern als Hauptlosung der Literatur zu.
„Schreibt die Lüge!" befahlen dagegen die Goebbels, Hitler und Rosen-
berg den Schriftstellern. Wenn Hitlers Buch „:Mein Kampf" in irgendeiner
Form als Dokument unserer Zeit weiterleben wird, so nur als die infamste
Anweisung zum systematischen Lügen und Betrügen, die die bisherige
Literaturgeschichte kennt. Solange dieser hitlerische „Geist" das deutsche
Leben beherrscht, kann es in Deutschland keine Poesie, keine Literatur
oder Wissenschaft geben. Wir haben freilich gesehen, daß nicht alle Schrift-
steller mit Hitler im vollen Sinne einverstanden waren. Aber der faschi-
stische Terror hat ihr Rückgrat gebrochen; das Gift der reaktionären
Propaganda ist in ihre Ideologie, in ihre Gefühle und ihren Verstand ein-
gedrungen. Darum ist die Poesie aus Deutschland verbannt.
Nehmen wir ein sehr bezeichnendes Beispiel. Vor der Machtergreifung
Hitlers gehörte Hans Fallada zu den vielversprechendsten Schriftstellern
der jüngeren Generation. Sein Roman „Kleiner Mann - was nun?" barg
in seinen gelungenen Partien wirklich eine Poesie der Wahrheit. In der
Hitlerzeit hat Fallada teilweise bedenkliche Bücher geschrieben, aber auch
dort, wo er offensichtlich alle seine Kräfte zusammennahm (zum Beispiel
„Wolf unter Wölfen", „Kleiner Mann, großer Mann - alles verkehrt"),
erkennt man zwar in Einzelheiten die alte poetische Kraft seiner Wirklich-
keitsauffassung, im Ganzen entsteht jedoch durch das zaghafte Ab-
stumpfen der Gegensätze, die im Stoff liegen, eine unangenehme, manch-
mal süßliche, manchmal possenhaft-humoristische Verniedlichung ernst-
hafter Konflikte, die Klebrigkeit einer verlogenen Idylle. Das ist sicher
nicht bloß auf die Zensur zurückzuführen, denn der erstgenannte Roman
spielt in der Inflationszeit, und das Hitlerregime hätte an und für sich nichts
dagegen gehabt, wenn die „Weimarer Zeit" noch schärfer kritisiert worden
wäre. Wenn jedoch Fallada jenen bloß spontanen, aber subjektiv-echten
Antikapitalismus, der seine ersten Romane mit Wahrheit durchdringt,
auch heute noch freigelassen hätte, so wäre sein Roman im faschistischen
Deutschland unmöglich gewesen. Der Faschismus benutzte vor seiner
Machtergreifung demagogisch den Gegensatz zwischen reich und arm, die
Verzweiflung der Armen über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Aber das
faschistische Regierungssystem verlangte gebieterisch eine Literatur, in der
den Armen eingeredet wird, daß sie Brüder der Reichen seien, daß ihre
Gegensätze vom Nationalsozialismus aufgehoben wurden, daß der Arme
als Armer an seinem richtigen Platze ist, ja, wenn ehrlich und bescheiden,
sogar besser daran ist als der Reiche.
Die faschistische Verfälschung des wahren Tatbestandes in Gegenwart
und Geschichte: ist ein unerbittlicher Zerstörer der wahren Poesie. Denn
Die verbannte Poesie
echt poetische und echt historische Auffassung des Lebens fallen letzten
Endes zusammen. Die echte Poesie ist immer individuell, sowohl im Vor-
wurf wie in der Formgebung, sie gibt aber immer gleichzeitig einen
Moment, eine Etappe des nationalen Volksschicksals. Diese Aufgabe kann
nur bei echter und unerbittlicher Wahrheitsliebe, bei wirklicher Achtung
der Vernunft, bei tiefem Haß auf die drohenden finsteren Gewalten erfüllt
werden. Sonst entsteht auf der einen Seite etwas Kleinlich-Individuelles,
auf der anderen Seite eine abstrakte, für das einzelne Sein nichts besagende
Allgemeinheit. Und es bedarf keiner ausführlichen Erörterung, daß der
faschistische Mythos die leerste und nichtssagendste, die verlogenste All-
gemeinheit ist, die die Menschheitsgeschichte bisher verzeichnet. Eine
Literatur, deren Ziel das Verschmieren der wirklichen Konflikte des Lebens
ist, die - in günstigsten Fällen - zaghaft und feige an diesen Konflikten,
an den Problemen des Volksschicksals vorbeischleicht, kann unmöglich
diese Wahrheit der Poesie, diese poetische Wahrheit besitzen. Denn die
wirkliche Poesie ist ein Organ der Selbsterkenntnis, der Selbstkritik eines
Volkes, seine Erzieherin zu einem auf Wahrheit fundierten Selbstbewußt-
sein.
Der Faschismus vernichtet die geistigen und seelischen, moralischen und
ästhetischen Grundlagen der Poesie (wie er auch - parallel damit - die der
Wissenschaft vernichtet). Mit dem freien Gedanken, mit der Liebe zum
Licht und zur Wahrheit, mit Gewissen und Ehrlichkeit wurde auch die
Poesie aus Deutschland verbannt.
Diese Verbannung ist aber auch eine physische: die jener Dichter, die
vor der faschistischen Barbarei nicht kapitulierten. In einem großen Volk,
wie es das deutsche ist, leben immer Dichter, die an den großen Traditionen
der glorreichen Vergangenheit des Volkes festhalten, die über dem Ge-
wissen und dem Selbstbewußtsein ihres Volkes wachen, sie immer zu ent-
wickeln bestrebt sind. Aber gerade weil sie die finsteren Gewalten schon
damals bekämpften, als diese erst Moral und Denken zu umnebeln be-
gannen und noch nicht zu herrschenden politischen Faktoren geworden
waren, weil sie vor den zur Herrschaft gelangten finsteren Gewalten nicht
das Knie beugten, ja, den Kampf gegen sie verschärft und vertieft auf-
nahmen (vertieft, da manche Tendenz der nationalen Entwicklung erst
nach Beginn der Hitlerherrschaft in ihrer vollendeten Verworfenheit be-
griffen wurde); weil die Dichter, obwohl sie vieles prophetisch vor-
wegnahmen, erst dann entsetzt sahen und verkündeten, welchen Weg
das von ihnen geliebte deutsche Volk ging: deswegen wurden sie - und
mit ihnen die Poesie - aus dem nationalsozialistischen Deutschland ver-
bannt.
Das deutsche Volk taumelte, von Demagogie berauscht, von der Terror-
108 Die verbannte Poesie
peitsche getrieben, mit vertierten Instinkten in sein Verderben. An
Warnern hat es, lange vor der Hitlerzeit, nicht gefehlt. Wir führen nur die
größten Beispiele an.
Heinrich Manns Roman „Der Untertan" zeigt prophetisch die ersten,
später zum Faschismus führenden Züge am deutschen Kleinbürger. Er
zeigt die Verwirrung aller moralischen Instinkte, die sich nach innen aus
mangelnder Freiheit, fehlender Demokratie, verkommenem Bürgersinn
entwickelten und die sich nach außen als großsprecherische, leer chauvini-
stische, rücksichtslos streberhafte Machtgier äußern. Ein vor den Macht-
habern kriechender, allen niedriger Stehenden gegenüber brutal-gewissen-
loser Tyrann, ein widriges Gemisch aus Unintelligenz, Kulturlosigkeit,
kleinlicher Schlauheit und - wenn keine Gefahr im Verzuge ist - skrupel-
loser Brutalität: das ist der mit unerbittlicher Satire beleuchtete „Held"
Heinrich Manns. In seiner Gestalt wurden, die Entwicklung vorweg-
nehmend, jene Elemente der politischen und moralischen Zersetzung
Deutschlands zusammengefaßt, die später, weiter verkommen, das
Menschenmaterial des Faschismus ergaben.
Thomas Manns Roman „Der Zauberberg" ist das große zeitgenössische
epische Lehrgedicht vom Kampf zwischen Licht und Finsternis, Krankheit
und Gesundheit, Leben und Tod. Thomas Mann erkennt, wie unter den
Bedingungen der damaligen deutschen Entwicklung auch auf moralisch
fein angelegte Bürger Krankheit, Finsternis, Tod eine fast magische An-
ziehungskraft ausüben mußten. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen bloß
privaten Leben, mit der bloß auf wirtschaftliche Ziele gerichteten Existenz,
die moralische Abneigung gegen die brutalen und barbarischen Seiten
dieses Lebens, ohne Bewußtsein darüber, daß es sich hier um menschliche
Konsequenzen der Freiheitslosigkeit Deutschlands, eines Daseins ohne
öffentliche Interessen handelt, lassen bei diesen Menschen eine Wehrlosig-
keit gegen die Mächte der Finsternis entstehen. So wird bei ihnen Tür und
Tor der Demagogie eines „Sozialismus" geöffnet, der nichts weiter ist als
eine mythisch-demagogisch maskierte allgemeine Versklavung.
Die Wehrlosigkeit gegen die Mächte der Finsternis hat Thomas Mann
schon früher erkannt und im „Tod in Venedig" ergreifend ironisch ge-
schildert.
Wenige Jahre vor der Machtergreifung Hitlers nimmt Thomas Mann
das Thema wieder auf und gibt ihm eine hinweisende allgemeine Fassung in
der Novelle „Mario und der Zauberer". Wir können hier aus dem großen
Reichtum dieser Erzählung nur eine besonders bezeichnete Stelle hervor-
heben. Es wird ein Hypnotiseur vorgeführt, der im Laufe seiner Vor-
führung alle Zuschauer, ob sie wollen oder nicht, zum Tanzen bringt. Ein
Herr aus Rom widersetzt sich, und der Erzähler hat die vollste Sympathie
Die verbannte Poesie
mit dem männlichen und menschlichen Versuch, sich einer Massenhypnose
zu entziehen. Er sieht aber zugleich, daß dieser Widerstand von vornherein
zur Niederlage verurteilt ist, und zwar - und dies ist wichtig, tief und
prophetisch - weil der Widerstand ein rein negativer, inhaltsloser,
richtungsloser ist. Der Herr aus Rom setzt der Hypnose nur ein abstraktes
und leeres „Ich will nicht" entgegen - und diese Leere kann unmöglich
in ihm die zum Widerstand notwendigen Kräfte mobilisieren. Die Er-
zählung Thomas Manns ist, äußerlich angesehen, ganz unpolitisch. Sie gibt
aber in solchen Momenten die wesentliche, vorweggenommene, innere
Geschichte dessen, weshalb breite Schichten einer sonst kultivierten und
subjektiv ehrlichen Intelligenz so widerstandslos einer geistig wie moralisch
niedrigstehenden brutalen Demagogie erlegen sind.
Johannes R. Bechers Roman „Abschied" nimmt das Thema vom inneren
Kampf mit den finsteren Gewalten auf und analysiert die Widerstandsfähig-
keit, beziehungsweise -unfähigkeit bereits auf der Grundlage der bitteren
Erfahrungen der Hitlerherrschaft. Obwohl dieser Roman thematisch, eben-
so wie der „Zauberberg", vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg
spielt, ist er bereits eine bezeichnende Erscheinung des Kampfes gegen den
zur Herrschaft gelangten Faschismus. Auch hier wird die junge Generation
der bürgerlichen Intelligenz vor dem ersten Weltkrieg geschildert. Hier
aber jene, die erst bei Ausbruch des Krieges aus Kindern zu Jünglingen
wurde. Becher gestaltet alle Schrecken der Instinktentfesselung und
moralischen Pervertierung durch ein bürgerliches Familienleben, durch die
Schule, in der „mit Zuckerbrot und Peitsche" die guten Bestrebungen des
jungen Menschen unterdrückt werden, in der sie schlecht gemacht, ver-
wirrt, zur Lüge, zur Brutalität, zur Heuchelei erzogen werden, in der aus
diesem Leben selbst sich kein Ausblick zu etwas Besserem eröffnet. Die
Gefahr der vollständigen Barbarisierung des Menschen bedroht jeden
Schritt dieser Entwicklung, zugleich aber - und das ist das Neue an der
bewußt-antifaschistischen Kampfliteratur nach Hitlers Machtergreifung -
zeigen sich jene neuen sozialen Inhalte, die den Menschen aus dem tiefsten
Schlamm der moralischen Verkommenheit einen Weg zum Menschwerden
weisen können.
Arnold Zweigs Kriegszyklus zeichnet die Schwierigkeiten einer ganzen
Generation in der Auseinandersetzung mit dem ersten imperialistischen
Weltkrieg. Er gibt damit die historische Fortsetzung der bisher betrachteten
großen Romane. Auch an diesem Werk können wir das Neue an der anti-
faschistischen Literatur seit Hitlers Machtergreifung beobachten. Man
braucht nur den „Streit um den Sergeanten Grischa", der vor dieser Zeit
geschrieben wurde, mit der „Erziehung vor Verdun" zu vergleichen. Poli-
tisch betrachtet, äußert sich diese Wendung bei Zweig in der Festigung und
IIO Die verbannte Poesie
Radikalisierung seiner demokratischen Überzeugung, dichterisch in einer
viel schärferen Kritik und Selbstkritik, die er am Typ eines Menschen,
der ihm sehr nahe steht, übt. Er zeigt an den besten Vertretern der da-
maligen deutschen Intelligenz eine haarsträubende politische und soziale
Unerfahrenheit und Naivität, bei - abstrakt angesehen - hoher Intelligenz
und Kultur, eine Geneigtheit, die „Tatsachen" des politischen und sozialen
Lebens (das heißt die Taten und Untaten der Machthaber) unbesehen zu
akzeptieren, sie sogar mit pseudo-tiefsinnigen moralisch-metaphysischen
Theorien zu rechtfertigen. Diese theoretische Naivität in allen gesellschaft-
lichen Fragen äußert sich praktisch als vollkommene Hilflosigkeit gegen-
über den Problemen des öffentlichen Lebens.
Betrachtet man die Bücher von Becher und Zweig vom Standpunkt der
politisch-ideologischen Entfaltung des antifaschistischen Kampfes, vom
Standpunkt der historischen Darstellung der Vorgeschichte von Deutsch-
lands tiefster Erniedrigung, so kann man in beiden breite, konkrete Varia-
tionen des genialen Motivs vom „Herrn aus Rom" in Thomas Manns Er-
zählung erblicken. Die Konkretisierung bezieht sich vor allem auf das
Motiv der Hilflosigkeit des rein negativen Widerstandes, in welchem der
bösen Zielsetzung kein wirkungsvolles, zu verwirklichendes positives Ideal
gegenübergestellt wird. Der beabsichtigte Widerstand ist bei Becher und
Zweig sehr differenziert, hat, geistig und moralisch betrachtet, an sich hoch-
wertige Inhalte, aber dadurch, daß diese Inhalte keinen politisch-sozialen,
keinen demokratischen oder sozialistischen Charakter haben, wirken sie
sich ebenso aus wie das bloße „Ich will nicht" des Herrn aus Rom, nämlich
als leere und ohnmächtige Negation.
Wir haben hier nur einige besonders bezeichnende Werke angeführt und
können es weder als unsere Aufgabe betrachten, alles Wertvolle aus der
antifaschistischen Literatur auch nur anzuführen, noch die kurz erwähnten
Werke ästhetisch zu bewerten. Hier kann es sich nur um eine historisch-
soziale Wertung wichtiger Literaturerscheinungen handeln, um das Skiz-
zieren der ideologischen Entwicklungslinie der Auflehnung jener besten
Deutschen, in denen das Gewissen des deutschen Volkes lebendig geblieben
ist, gegen die faschistische Barbarei.
Von diesem Standpunkt aus zeigen die Literaturwerke nach Hitlers
Machtergreifung, auch wenn sie stofflich auf die Vorgeschichte zurück-
greifen, zwei wesentlich neue Züge. Erstens wird - worauf wir oben schon
kurz hingewiesen haben - der Begriff des leeren Widerstandes gegen das
Böse, gegen die Finsternis nicht nur menschlich, sondern auch politisch
und sozial differenziert. Und dadurch, daß das - abstrakt - Inhalts-
volle praktisch, vom Leben erprobt, sich als leer erweist, entsteht eine
wichtige und tiefgreifende Kritik des vorfaschistischen Kampfes gegen
Die verbannte Poesie III
die Reaktion, entsteht eine bohrende Selbstkritik der besten antifaschi-
stischen Intelligenz, eine historische Kritik der Entwicklung Deutsch-
lands.
Zweitens konkretisiert sich das Suchen nach dem Ausweg. Thomas
Manns „Zauberberg" konnte noch rein ideologisch gehalten sein, der
Geisteskampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Fortschritt und
Reaktion konnte noch im Himmel der reinen Ideologie ausgefochten
werden. Von diesem Standpunkt aus gelang es der Genialität Thomas
Manns, eine einzigartige Größe seines Werkes zu gewinnen, eine tief abge-
wogene Gerechtigkeit in der Darstellung und Beurteilung der miteinander
kämpfenden ideologischen Bestrebungen. Thomas Mann zeigt einerseits
das Verführerische - auch im geistig-moralischen Sinne - des demagogisch-
reaktionär entarteten romantischen Antikapitalismus, andererseits die rich-
tigen Momente seiner Kritik am gegenwärtigen gesellschaftlichen Leben.
Das macht es verständlich, wie und warum eine seelische Infektion von
dieser Seite aus auch auf geistig und moralisch hochstehende Menschen
möglich geworden ist.
Diese Darstellung wird ergänzt durch eine ebenso feine wie gerechte
Gestaltung der Grenzen der zeitgenössischen bürgerlich-demokratischen
Ideologie. Es wird aufgezeigt, warum sie nicht die Kraft hat, die besten
Elemente der Zeit so mit sich zu reißen, wie es den revolutionären Demo-
kratien seinerzeit gelungen ist.
In den Romanen der Periode nach Hitlers Machtergreifung sehen wir
dagegen die anderen Seiten des demokratischen und sozialistischen Wider-
standes, das ehrliche, wenn auch vergebliche Tasten und Suchen nach dem
richtigen Ausweg, in einer Zeit, die, wie auch das Land, für die Entfaltung
einer wirklich demokratischen Ideologie recht ungünstig war. Darum hat
das, was Becher oder Zweig hier an Positivem aufzeigen, einen großen
poetischen und historischen Wert. Insbesondere, weil sie andererseits wieder
sowohl historisch als auch poetisch richtig darstellen, wie langsam und wider-
spruchsvoll, wie von Rückfällen gesättigt diese Sehnsucht nach mensch-
licher Freiheit die besten Teile der deutschen Intelligenz zu durchdringen
vermag. Diese kämpferische Gerechtigkeit ist die Poesie der historischen
Wahrheit. Die bedeutenden Werke der modernen fortschrittlichen deut-
schen Literatur geben ein breites und richtiges Bild der Vorgeschichte der
deutschen Tragödie.
In der Poesie der historischen Wahrheit - und dies unterscheidet die
wirkliche Poesie von der bloßen Tagesliteratur, den echten und tiefen
ideologischen Kampf gegen die Reaktion vom Vulgär-Antifaschismus -
wird erst sichtbar, daß der Faschismus kein Zufall, kein zufälliges Übel ist,
das das deutsche Volk irgendwie getroffen hat, freilich auch keine fata-
112 Die verbannte Poesie
listische Notwendigkeit, vor der es von vornherein kein Entrinnen geben
konnte. Der Faschismus ist vielmehr das Ergebnis jahrzehntelang mitein-
ander ringender historischer und politischer, geistiger und moralischer
Tendenzen und Gegentendenzen; er ist die krisenhafte Entladung einer
sich lange und langsam vorbereitenden ideologischen Vergiftung des deut-
schen Volkes, gegen die es sich lange, aber zu langsam und kraftlos gewehrt
hat. Indem die bedeutendsten deutschen Dichter diesen Vorgang schildern,
halten sie Gerichtstag nicht bloß über ihr eigenes Ich, sondern gestalten
den Gerichtstag ihrer eigenen Nation. So ist der wirkliche Antifaschismus
im breitesten und tiefsten Sinne des Wortes ein Kampf mit den finsteren
Gewalten; so ist seine Poesie die Geschichte des nationalen Schicksals, des
Volksschicksals.
Es ist eine auffallende und oft als auffallend verzeichnete Tatsache, daß
in der besten antifaschistischen deutschen Literatur die Gestaltung der
Geschichte eine außerordentlich große Rolle spielt. Aus unseren bisherigen
Betrachtungen ist es klar ersichtlich, daß hier weder ein Zufall noch eine
Schwäche, ein Ausweichen vor den Problemen der Gegenwart, ja des gegen-
wärtigen Tages vorliegt, sondern, im Gegenteil, die Aufnahme des Kampfes
mit der reaktionären Dunkelmännerei auf der breitesten Front, ihre ideo-
logische Verfolgung bis in die letzten Schlupfwinkel.
Darum ist es keineswegs zufällig, daß die beiden großen historischen
Werke der antifaschistischen Literatur Kampfbücher in diesem tiefen und
echten Sinne der ideologischen Vernichtung des Faschismus sind.
Heinrich Manns „Heinrich IV." entfernt sich stofflich scheinbar von der
deutschen Vergangenheit. Aber nur scheinbar. In Wirklichkeit gibt dieses
Buch ein wirkungsvolles und historisch-echtes politisches Gegenbild zur
deutschen Entwicklung. Friedrich Engels hat seinerzeit gezeigt, daß die
Entwicklung Frankreichs vom Mittelalter zur Neuzeit ein genaues Gegen-
stück zu der Deutschlands bildet: dort wurden die Entscheidungsschlachten
der Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates
bis aufs letzte ausgefochten, während hier alles in einer Kleinlichkeit, in
Rückfällen und Verspätungen entartete und zur Grundlage der noch immer
nicht überwundenen „deutschen Misere" geworden ist. Indem nun Hein-
rich Mann eine bedeutende Epoche der Entstehung der französischen
Nation historisch gestaltet, beleuchtet er politisch den Zukunftsweg der
eigenen Heimat, jene Wege, die seine Heimat einzuschlagen hat, wenn sie
in die Kulturgemeinschaft der freien Völker der Welt zurückkehren soll.
Dieser im Roman taktvoll unausgesprochene, politisch-soziale Gegensatz
ergibt die Basis für die Gestaltung des positiven Helden, des Freundes von
Montaigne, des ersten modernen politischen Führers und Helden im Kampf
mit der mittelalterlichen Finsternis und Barbarei.
Die verbannte Poesie 113
Thomas Manns „Lotte in Weimar" ist in einem viel unmittelbareren
Sinn ein aktuelles deutsches Buch. Die klassische Dichtung und Philo-
sophie blühte mitten in der „deutschen Misere" auf. Als ideologischer
Widerschein der Vorbereitungen und Folgen der großen Französischen
Revolution und vor allem der Revolution selbst entstand hier ein geistiger
Aufschwung, der diese Misere - freilich nur teilweise, freilich nur im
Wolkenland der Ideologie und nicht im praktischen Leben - überwand
und Deutschland für ein halbes Jahrhundert zum geistigen Zentrum des
europäischen Humanismus machte.
Darum ist die Gestalt Goethes das notwendige und gegebene Gegenbild
zu der geistig-moralischen Erniedrigung Deutschlands. Das Bild eines
genialen Menschen, der mit eiserner Energie und zugleich mit zartem Takt
die Mächte der Finsternis überwand, freilich sie nicht einfach verbannte,
sondern aus allen Elementen des Seelenlebens, in denen nur das geringste
Positive zu finden war, dieses ins Licht zog und zum Leuchten brachte. Die
Goethesche „Versöhnung mit der Wirklichkeit" ist der tiefste Realismus,
die Erkenntnis, daß der historische Prozeß vielseitiger und breiter ist als
der weiseste Mensch, zugleich aber ist sie auch ein Haß gegen alles Klein-
liche und Niedrige, gegen die drohenden Gefahren der Finsternis, der
Verfinsterung, die aus der „deutschen Misere" täglich und stündlich auf-
steigen und den Fortschritt bedrohen.
Auch der Goethe Thomas Manns erliegt zuweilen den Einflüssen der
„deutschen Misere". Thomas Mann dichtet keine Legende, sondern gräbt
aus der Wirklichkeit die Poesie der historischen Wahrheit hervor. Darum
ist sein Held, mit allen fein-ironisch betonten Schlacken und Schranken,
der wirkliche, echte deutsche Held im Kampfe des Lichtes mit der Fin-
sternis. Die bloße Darstellung seines Lebens und Denkens ist der ver-
nichtendste Gerichtstag, der über das gegenwärtige Deutschland gehalten
werden kann; sie gibt das Maß, durch das die Geschichte die Gegenwart
Deutschlands gewogen und zu leicht befunden und darum verworfen
hat.
Selbstverständlich sind diese Zusammenhänge sehr kompliziert. Denn die
Hitlerhorden wußten von dieser echt deutschen Gesinnung und Gesittung
nichts, wollten nichts davon wissen. Sie ist aber trotzdem da und ist trotz-
dem deutsch. Wie wird sie sich aber in der Wirklichkeit auswirken? In der
schönen biblischen Legende fleht Abraham Jehova an, dem sündigen
Sodom und Gomorrha zu verzeihen, wenn sich in ihm zehn Gerechte
finden, ja, wenn auch nur ein einziger Gerechter zu finden ist. Die wirkliche
Weltgeschichte ist aber keine religiöse Legende, sie ist nach Schiller das
Weltgericht, und zwar ein strenges, unerbittliches Weltgericht, das keine
stellvertretende Gnade kennt.
114 Die verbannte Poesie
Nur die restlose Zertrümmerung des ganzen Hitlerismus kann für
Deutschland einen Weg in die Zukunft eröffnen. Die aus Deutschland
verbannte Poesie hat in der Verbannung, mit Kräften, die sich in der Ver-
bannung vervielfachten, die Ehre des deutschen Volkes bewahrt, gerettet -
und gerächt. Sie ist die Brücke von der großen deutschen Vergangenheit zu
einer möglichen Zukunft des deutschen Volkes. Entsteht in Deutschland
ein Prozeß des Erwachens, der Gesundung, der Selbstbesinnung des Volkes,
so kann er nur hier, nur bei dieser in Zeiten der Finsternis aus Deutsch-
land verbannten Poesie anknüpfen.
DER RASSENWAHN
ALS FEIND DES MENSCHLICHEN FORTSCHRITTS
Die Rassentheorie bildet den Mittelpunkt der sogenannten „national-
sozialistischen Weltanschauung", sie ist die ideologische Grundlage all
der Greueltaten, welche die Nazis in Deutschland selbst und in der übri-
gen Welt, im Frieden wie im Kriege, begangen haben. Es kommt hier
durchaus nicht darauf an, ob alle deutschen Soldaten, ob die ganze deut-
sche Zivilbevölkerung wirklich von der Rassentheorie durchdrungen
waren, ja ob sie sie überhaupt kannten. Jedenfalls sind - wissend oder
nichtwissend - breite Schichten durch die Rassentheorie zu aktiven oder
passiven Mitschuldigen an den Greueltaten der Nazis geworden; mit
Hilfe der Rassentheorie ist der Anschein entstanden, als wäre ein so großes
Volk wie das deutsche, ein Volk mit einer so glorreichen Vergangenheit,
zu einer Bande von Henkern, Räubern, Mördern und Mordbrennern
erniedrigt worden.
Die nazistische Barbarei ist eine noch nie dagewesene Erscheinung in
der Geschichte der Menschheit. Selbstverständlich gab es im Laufe der
ungleichmäßigen und widerspruchsvollen Vorwärts bewegung der Gesell-
schaft verschiedentlich Perioden finsterer Reaktion. Die Menschheit hat
wiederholt düstere Zeiten grausamer Rückfälle erlebt, in denen mit aller
Kraft gegen den Fortschritt gewütet wurde. Man hat die Unterdrückung
und Verfolgung der einen Religion durch die andere, der einen Klasse
und ihrer Partei durch die andere erlebt. Alle diese traurigen und schänd-
lichen Tatsachen aber sind durch den Nazismus in den Schatten gestellt
worden. Er unterdrückte und verfolgte alles, was sich ihm nicht voll und
ganz unterwarf. Vom Kommunismus bis zum Katholizismus wurde in
Deutschland jede abweichende Meinungsäußerung mit Zuchthaus und
Konzentrationslager, mit Folterung und Hinrichtung bestraft.
Wir sehen, wie die quantitative Ausdehnung und Verbreitung des reak-
tionären Terrors eine neue Qualität hervorbringt. Ein reaktionäres Regime,
das in dieser Art alle sozialen und ideologischen Richtungen bedrückt,
das in dieser reaktionären Weise das ganze Leben uniform macht und
sich so „total" auf alle Lebensäußerungen des Menschen erstreckt, hat es
in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben.
u6 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
Aber das Umschlagen der quantitativen Grausamkeit der reaktionären
Macht in eine neue Qualität äußerte sich auch in ihrer Durchführungs-
technik. Die Organe des weißen Terrors in Zeiten früherer reaktionärer
Rückschläge waren im allgemeinen ein Söldnertum, eine bezahlte und
fanatisierte Soldateska, das Lumpenproletariat und die Lumpenbour-
geoisie. Die breiten Schichten des Volks waren beim Wüten der reaktio-
nären Restauration größtenteils entsetzte und verschüchterte Zuschauer.
Der Nazismus jedoch stützte sich bei seinen grausamen Unterdrückungs-
maßnahmen gegen jeden menschlichen Fortschritt auf eine mächtige,
Millionen Mitglieder zählende Massenpartei und auf zahlreiche Hilfs-
organisationen. Die Propaganda umfaßte Millionen, zog bei ihren Greuel-
taten Millionen als Mitschuldige in ihren Wirkungsbereich: sie fanati-
sierte und hypnotisierte mit ihrer nationalen und sozialen Demagogie
große Teile des Volkes und brachte sie dazu, sich aktiv am reaktionären
Terror zu beteiligen. Und große Teile jener Massen, die dieser Hypnose
nicht oder nur teilweise erlagen, wurden durch die Massensuggestion
derart eingeschüchtert und wehrlos gemacht, daß sie die Greueltaten
nicht nur ohne Protest geschehen ließen, sondern sich sogar an ihnen
beteiligten. Aus dieser einzigartigen Lage ist jene - trotz allem - falsche
Auffassung entstanden, die den Nazismus mit dem deutschen Volk gleich-
setzt.
Endlich: diese fürchterliche Massenmacht beruhte auf einer vollendeten
Willkür. Die „nationalsozialistische Revolution" hatte ein sehr bestimmtes
und reaktionäres Ziel: sie wollte die reaktionärsten Kreise der deutschen
Imperialisten zu unumschränkten Alleinherrschern in Deutschland und
dann mit Hilfe eines total militarisierten Deutschland zu Herrschern über
die ganze Welt machen und alle Völker in robotende Heloten der deutschen
Großgrundbesitzer und Wehrwirtschaftsführer verwandeln. Aber über
dieses konkrete Ziel wurde nirgendwo im Naziprogramm gesprochen.
Dieses für die Massen bestimmte und im Volk demagogisch verbreitete
Programm war im Grunde genommen eine Häufung, ein Nebeneinander
von Forderungen und Postulierungen, die sich in grotesker Weise wider-
sprachen. Die Propaganda versprach mit der gröbsten und marktschreie-
rischsten Demagogie jedem das, was er sich gerade wünschte, mit dem
zynischen Vorbehalt, daß die Nazimacht nirgends und nie an irgendeine
Programmverheißung gebunden sei. So versprach man vor der Macht-
ergreifung den Mietern eine Senkung, den Hausherren eine Erhöhung der
Mieten, den Arbeitern eine Lohnerhöhung, den Kapitalisten Lohnsen-
kung usw.; so versprach die deutsche Diplomatie den Ungarn ganz
Siebenbürgen, den Rumänen die Rückgabe der den Ungarn zugeteilten
Territorien Siebenbürgens usw.
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
Diese groben Widersprüche wurden von dem Volk nicht oder doch
nur sehr ungenügend entdeckt. Durch die schwere Krise nach 1929 zur
Verzweiflung und in einen Zustand der Ausweglosigkeit und Perspek-
tivenlosigkeit gebracht, wurden die Volksmassen durch die nationale und
soziale Demagogie der Nazis in einen Rausch, in eine Hypnose versetzt,
in der sie auf jede Kritik verzichteten und von der „nationalsozialistischen
Revolution" ein Wunder, das heißt ihre plötzliche und allseitige Erlösung
von allen Schwierigkeiten erhofften. Dieser Massenrausch wurde von der
Nazi-Führung mit dem größten Zynismus ausgenützt. Und das ideologi-
sche Mittel für diesen inhaltlich immer wechselnden, im Ziel und in der
Methode immer gleichen Massenbetrug war eben die Rassentheorie.
Die Rassentheorie diente den Nazis dazu, die Sehnsucht nach nationaler
und sozialer Wiedergeburt der deutschen Nation in eine demagogische
Lehre von der Herrschaft der Deutschen über die ganze Welt umzubiegen.
Nach der Rassentheorie sind die Arier, vor allem die Germanen, und unter
diesen vor allem die Deutschen die zur Weltherrschaft bestimmte Rasse,
die einzige wirklich hochwertige Rasse, die „naturgemäß" über die „min-
derwertigen schlechten Mischungen, Bastardisierungen" zu herrschen hat.
Allerdings hat sich das deutsche Volk im Laufe des neunzehnten Jahr-
hunderts, so predigten Hitler und Rosenberg, von dem rassenmäßigen Ent-
wicklungsweg entfernt. Seine Geschichte zeige - so sagten sie - Erschei-
nungen, sein Staat habe Institutionen, die dem rassenmäßigen Wesen des
Deutschtums nicht entsprächen, die nicht „arteigen" seien. (Dazu gehörten
vor allem Demokratie und Sozialismus.) DieAufgabe der „nationalsoziali-
stischen Revolution" sei es also, das deutsche Volk zur Rassenreinheit
zurückzuführen, ihm eine „arteigene" politische und soziale Struktur zu
geben und damit die deutsche Nation zur Weltherrschaft fähig zu machen.
Die Rassentheorie verkündet einerseits, daß alle sozialen Unterschiede,
Klassen usw. nichtige Oberflächenerscheinungen seien, Erfindungen ras-
senfremder Elemente (vor allem der Juden); sie verkündet ferner, daß alle
Deutschen, soweit sie reinrassig sind, eine einheitliche und ungeteilte
Nation bilden. Andererseits propagiert sie die Behauptung, es könne zwi-
schen den einzelnen Rassen keine Übereinkunft, keinerlei Kompromiß
geben. Jede Rassenmischung sei für die höhere Rasse verderblich. Die
Rassen könnten nicht friedlich nebeneinander leben; sie müßten einander
entweder vernichten oder sich total unterwerfen, es könne nur die Be-
ziehung von Herren und Sklaven geben.
Im Zeichen dieser Rassentheorie wurde in Deutschland jeder, der im
Widerspruch zum Nazismus nach einer wirklichen Erneuerung seines
Vaterlandes suchte, jeder, der auf seine Rechte nicht willenlos verzichtete,
zu einem „rassenfremden Untermenschen" erklärt, demgegenüber hem-
118 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
mungslose Grausamkeit, unbeschränkte tyrannische Unterdrückung das
einzig mögliche „arteigene" Mittel sei.
Im Zeichen der Rassentheorie wurden alle anderen Völker als Ausbeu-
tungsobjekte des deutschen Imperialismus betrachtet. Schon vor dem
Kriege wurden alle nichtgermanischen Völker zu „minderwertigen Rassen"
erklärt, deren „naturgemäße" Bestimmung nur darin bestehen könne,
Sklavenarbeit für die „Herrenrasse" zu verrichten. Die Praxis des Krieges
hat dann den Unterschied zwischen germanischen und nichtgermanischen
Völkern aufgehoben. Die Dänen, Holländer, Norweger wurden ebenso
rücksichtslos unterdrückt und ausgebeutet wie die „rassenfremden"
Serben, Tschechen, Griechen, Ukrainer, Polen usw. Naturgemäß setzten
sich die unterdrückten Völker dagegen auf verschiedene Weise zur Wehr.
Neben Unterdrückungsmaßregeln reagierte der deutsche Faschismus
darauf auch „rassentheoretisch". Ein von Alfred Rosenberg und Martin
Bormann unterschriebenes Zirkular erklärte, daß die nordischen Völker
keine vollwertigen Arier, sondern ein Völkergemisch, eine bastardisierte
Rasse mit finnisch-mongolischen, slawischen, kelto-gallischen usw. Ele-
menten seien. Folglich seien die Deutschen als die einzig wahren Vertreter
des gesunden arischen Kerns in der ganzen Welt anzusehen. Die Rassen-
theorie trat nunmehr offen und zynisch als Ideologie der V ersklavung
aller Völker, als die Ideologie der unumschränkten Alleinherrschaft der
Deutschen auf.
Man sieht schon aus diesem Beispiel, mit welcher Willkür diese „Theorie"
in die Praxis umgesetzt wurde. Die Willkür liegt im Wesen der Sache,
denn das entscheidende Moment in jedem Einzelfall war die mystische
Rassentheorie. Da nun die nicht-deutschen Völker von der „Natur", vom
„Gesetz" der Rasse dazu bestimmt sind, den Deutschen zu dienen, ist es
völlig gleichgültig, mit welchen Mitteln, ob mit Betrug oder mit roher
Gewalt, sie dieser „ewigen" Bestimmung zugeführt werden. Da die Er-
neuerung des deutschen Volkes die Rassenreinheit seiner Mitglieder, die
„Arteigenheit" seiner Institutionen voraussetzt, ist es wiederum völlig
gleichgültig, mit welchen Mitteln dieses Ziel durchgesetzt wird. Den rassen-
fremden Untermenschen gegenüber, die die „Reinheit und die Kraft der
germanischen Rasse vergiften", ist jedes Mittel gestattet; wer zum rasse-
reinen Volk gehört, dafür gibt es wiederum keine objektiven Kriterien.
Die Nazis selbst - vor allem ihr „Führer", in dessen „Erlösergestalt" sich
die Rassenreinheit verkörpert - entscheiden souverän darüber, wer als
rasserein zu betrachten war. Der Stimme der Rassereinheit gegenüber
hat jeder Einwurf der Vernunft, jede Kritik an den Handlungen des „Füh-
rers" zu verstummen: wer sich seinen Geboten nicht willenlos unterwirft,
entlarvt sich durch die bloße Tatsache, daß er kritisiert, als nicht rasse-
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
reines, bastardisiertes Element und kann darum „mit voller Berechtigung"
als Vogelfreier dem tyrannischsten Terror ausgeliefert werden.
So gipfelt die Rassentheorie mit der Logik der Unlogik in der Mystik
um die Person des „Führers", Hitlers. Die Rassentheorie blieb im wesent-
lichen ein Geheimnis, ein Mysterium, ein Mythos, wenngleich auch un-
unterbrochen versucht wurde, ihr eine dilettantische, pseudowissenschaft-
liche Begründung zu geben. Jede Entscheidung, sowohl in prinzipiellen
Fragen als auch in Einzelfällen, ist eine mystische Proklamation des „Füh-
rers". Vernunft und Verstand, soweit sie nicht im Dienst der rassentheo-
retischen Demagogie erniedrigt worden sind, werden verpönt und ver-
folgt. Das Machtwort eines minderwertigen Individuums wie Hitler (das
Machtwort des blutgierigen und habgierigen deutschen Imperialismus)
entscheidet, keinen Widerstand duldend, alle Fragen, gibt die Parolen für
jede barbarische Handlung.
So konzentrierte sich in der Rassentheorie das „theoretische" Fundament
der fürchterlichsten Barbarei, die die :Menschheitsgeschichte bisher kannte.
Für unsere Betrachtung ist es gleichgültig, daß diese Rassentheorie, wissen-
schaftlich betrachtet, eine lächerliche Karikatur ist. Es ist auch belanglos,
daß sie als demagogisch verbreiteter Glauben - als nazistischer Religions-
ersatz - namenlos albern ist. In einer Periode der tiefsten nationalen und
sozialen Krise des deutschen Volkes ist es geschickten Schwindlern ge-
lungen, die Verzweiflung breitester Massen demagogisch auszunutzen und
mit ihrer Hilfe zur Herrschaft zu gelangen. Wie blödsinnig der Inhalt, wie
nichtig die Grundlegung, wie zynisch die Anwendung, bleibt doch die
Tatsache bestehen, daß wir es hier mit der ideologischen Basis eines neuen
barbarischen Einbruchs in die Zivilisation zu tun haben, mit dem V ersuch,
die Menschheit von ihrem jahrtausendelang gegangenen Weg abzulenken,
die Ergebnisse eines jahrtausendelangen Ringens um Gesittung und Kultur
zugrunde zu richten. Nicht bloß von der barbarischen Praxis der Nazis ist
hier die Rede, sondern vor allem von der „Theorie" der Barbarei, von
der Erhebung der Barbarei zum Prinzip des menschlichen Handelns. Die
Rassentheorie ist vor allem deshalb ein Feind des menschlichen Fortschritts,
weil sie die prinzipielle Ungleichheit der :Menschen und Völker prokla-
miert, weil sie es unternimmt, die Gleichberechtigung der Menschen und
Völker grundsätzlich zu beseitigen und aus der Welt zu schaffen.
Der Kampf gegen den Nazismus ist deshalb ein Kampf um die Freiheit
und Gleichberechtigung der :Menschen und Völker. Denn durch die
Rassentheorie und ihre Umsetzung in die Praxis werden die wichtigsten
Errungenschaften, die sich die Menschheit in Jahrtausenden erkämpfte,
bedroht.
Niemand wird behaupten wollen, daß in den meisten der jetzt bestehen-
12.0 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
den Gesellschaften eine wirkliche und restlose Gleichberechtigung aller
Menschen bestehe. Aber wie immer man die Tatsachen der Gegenwart
beurteilen mag, über das Prinzip der Gleichberechtigung von Menschen
und Völkern gibt es in der zivilisierten Menschlichkeit keinen Streit mehr.
Streitigkeiten gab es und gibt es darüber, wie man dieses Prinzip auszu-
legen, was man darunter zu verstehen habe - und diese Meinungsver-
schiedenheiten gehören zu den wichtigsten geistig vorwärtstreibenden
Tendenzen der Gegenwart. Nur die Nazis wollten hier das Rad der Ent-
wicklung rückwärtsdrehen und eine grundsätzliche Ungleichheit, eine
prinzipielle Aufhebung der Gleichberechtigung unter Menschen und Völ-
kern zum obersten Gesetz erheben.
Selbstverständlich war dies nicht der erste V ersuch der Reaktion, sich
dem Fortschritt der Menschheit entgegenzustemmen. In der Geschichte
der gelungenen oder mißlungenen Restaurationsversuche wird man stets
einen gemeinsamen Zug entdecken. Immer dann, wenn die Menschheit
als Ergebnis großer Kämpfe eine neue, höhere Stufe der Gleichberechti-
gung von Menschen und Völkern erklomm, versuchte die Reaktion, diese
V orwärtsbewegung zu hemmen, sie rückgängig zu machen und die ver-
altete Ungleichheit wieder zur Herrschaft zu bringen. Man denke an
Ideologie und Praxis der Restauration nach der großen Französischen
Revolution. Ihr Bestreben ging dahin, die sozialen Grundlagen der moder-
nen bürgerlichen Gesellschaft - geschaffen von den Freiheitskämpfen
des englischen, amerikanischen und französischen Volkes im siebzehnten
und achtzehnten Jahrhundert - durch eine Wiederherstellung der feudalen
Standesschichtungen zu ersetzen. Wir wissen, daß diese Versuche, trotz zeit-
weiliger politischer Erfolge, an der wirtschaftlichen und sozialen Entwick-
lung kläglich gescheitert sind.
Es ist kein Zufall, daß dieses Aufflammen der Reaktion auf die große
Französische Revolution (und auf die Unabhängigkeitserklärung Ameri-
kas) folgte. Denn in diesen Revolutionen wurden die politischen und
juristischen Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der
modernen Kultur und Zivilisation gelegt: Gleichheit vor dem Gesetz,
Gleichheit der politischen Rechte und Pflichten, Gleichberechtigung der
Völker. Die Menschheit hat mit dieser Proklamierung der Menschen-
rechte einen entscheidenden Schritt vorwärts getan, der - in der Größe
wie in der Grenze, im Positiven wie im Negativen dieser Grundsätze -
den Charakter der ganzen kommenden Periode bestimmt hat.
So einschneidend diese Wendung in der Geschichte der Menschheit
auch gewesen ist, sie ist doch nur ein Gipfel jahrtausendalter gesell-
schaftlicher und ideologischer Tendenzen, jahrtausendalter Träume der
besten Vertreter der Menschheit. Es gibt kein Volk, in dem nicht in
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts 12.I
irgendeiner Form die Legende vom Goldenen Zeitalter lebendig geblieben
wäre; die Erinnerung der Menschheit an einen Zustand vollständiger
Gleichheit, die sie einstmals besaß, aber im Laufe der Entwicklung wieder
verloren hat. Seit den fundamentalen Forschungen Bachofens und Mor-
gans wissen wir, daß diese Legende ihre historischen Grundlagen hat.
Wir wissen aber auch, daß das V erlassen dieses Kindheitsparadieses der
Menschheit nicht ein mythischer Sündenfall war, wie es in den Legenden
dargestellt wird, sondern die eiserne Notwendigkeit der historischen
Höherentwicklung. Wir wissen, daß Zustände der schreiendsten Ungleich-
heit der Rechte unter den Menschen notwendige Etappen in der bisherigen
Menschheitsentwicklung gewesen sind.
Geschichtliche Notwendigkeit ist aber niemals blinder Fatalismus. Und
die besten und höchsten Geister haben stets ungestüm gegen die be-
stehende Ungleichheit ihres Zeitalters, mag sie ökonomisch und sozial
noch so zwangsläufig gewesen sein, im Namen der Zukunft der Mensch-
heit Widerspruch erhoben. Die Antike basiert mit ökonomischer Not-
wendigkeit auf der streng ungleichen Scheidung der Freien von den Sklaven;
zwischen Griechen und Barbaren, Römern und Barbaren erhoben sich
hohe Schranken. Aber bereits bei Herodot finden wir das ernste Be-
streben, die Eigenart der fremden Völker, der Barbaren, zu ergründen und
von ihnen zu lernen. Und von hier aus geht über die Tragiker bis zur
Stoa und zu Epikur, bis zu den Mysteriensekten der ausgehenden Antike
eine aufsteigende Linie: ein Ringen um die geistige Überwindung der sozi-
alen Schranken der eigenen Gesellschaft, um die Anerkennung des Sklaven
als innerlich gleichberechtigten Menschen, um das Verstehen der „ bar-
barischen" Völker, um das gedankliche Auslöschen der menschlichen
Ungleichheit.
Es ist hier nicht möglich, diesen wechselvollen Kampf zwischen Fort-
schritt und Reaktion, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen
Gleichberechtigung und Ungleichheit auch nur skizzenhaft darzustellen.
Die Geschichte der Menschheit, des menschlichen Denkens, die Ent-
wicklung der Kultur der Gefühle hat im wesentlichen diesen Kampf zu
ihrem Inhalt.
Die Begeisterung, mit welcher die fortschrittliche und zivilisierte
Menschheit im internationalen Maßstabe die große Französische Revo-
lution, die „herrliche Morgenröte", wie sie Hegel nannte, begrüßte, be-
ruhte zuinnerst auf dem Gefühl, daß der Humanismus gerade in dieser
Hinsicht hier eine seiner entscheidenden Schlachten gewonnen hatte. Die
Hegelsche Geschichtsphilosophie, entstanden aus diesem Erlebnis, er-
blickt hierin das Kriterium für den Fortschritt in der Menschheitsentwick-
lung. Der Sinn der Geschichte bedeutet einem Hegel die Erringung der
122 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
Freiheit für die Menschheit. Ihre Periodisierung gestaltet sich danach,
welche Etappen dieses Ringen erfochten hat: die orientalische Kultur
ist dementsprechend, nach Hegel, das Zeitalter, in welchem nur einer,
der orientalische Despot, frei ist; die Antike ist die Periode der Freiheit für
einige; die Neuzeit charakterisiert sich darin, daß in ihr, der Tendenz
nach, alle frei sind.
Für Hegel ist das Problem der Gleichberechtigung aller Menschen so
entscheidend, daß es in die abstraktesten Gedankengänge seiner Er-
kenntnistheorie und Logik hineinragt. Seine Kritik der Schellingschen
Philosophie, die nur wenigen Auserwählten, den philosophischen Genies,
die Methode der Erkenntnis der Wahrheit, die „intellektuelle Anschauung"
zuspricht, geht von diesem Gesichtspunkt aus. Hegel findet es empörend,
anzunehmen, daß die Erkenntnis der Wahrheit nicht jedem Menschen mög-
lich sein solle. Ob jeder imstande ist, sich konkret bis zu dieser Stufe der
gedanklichen Kultur hinaufzuarbeiten, hängt nach Hegel natürlich von
äußeren und inneren Umständen ab. Aber die Möglichkeit dazu besitzt
ein jeder, muß ein jeder besitzen. Und er illustriert seinen Gedankengang
mit dem charakteristischen Beispiel, daß nicht jeder Mensch Kaiser oder
Marschall sein kann, doch dürfe die Möglichkeit, Kaiser oder Marschall
zu werden, keinem Menschen abgesprochen werden.
Dieser Geist durchdringt die fortschrittliche Literatur, die unmittelbar
unter dem Eindruck der Französischen Revolution von 1789 entstanden ist.
Wir verweisen nur auf eine typische Seite, in welcher das tiefe Erlebnis
dieser Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen in poetischer
Form zum Ausdruck kam: auf die Darstellung großer plebejischer Ge-
stalten, die aus der Tiefe des Volkes aufsteigen, geistig und in ihrer
äußeren Kultur das Niveau ihrer Abstammung nicht verlassend, und sich als
menschlich und moralisch fühlende, überlegene vorbildliche Typen er-
weisen. Goethe hat bereits vor der Revolution in der Figur Klärchens
eine solche Gestalt geschaffen: den tapfersten und aufopferungsvollsten
Menschen in diesem Drama der niederländischen Revolution, eine Ge-
stalt, die mit organischer Notwendigkeit als Genius der Freiheit dem
sterbenden Egmont erscheinen konnte. Und in seiner Dorothea, in seiner
Philine (Wilhelm Meisters Lehrjahre) setzt Goethe unter dem Eindruck
der Französischen Revolution konsequent und kühn diese Entwicklungs-
linie fort. Walter Scott schafft einige Jahrzehnte später in seiner Jeanie
Deans (The Heart ofMidlothian) das bedeutendste Exemplar dieses Typus,
ein einfaches Landmädchen, das in seiner unerschütterlichen moralischen
Ehrlichkeit, in seiner menschlichen Echtheit und Tapferkeit die Über-
legenheit der plebejischen Volkskräfte über alle kulturell höherstehenden
Kreise der Gesellschaft siegreich erweist.
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts 123
Die Goethesche Konzeption der Weltliteratur ist ebenfalls ein Produkt
dieser Periode. Sie beruht auf dem Gefühl und auf der Erkenntnis, daß
die Poesie eines jeden Volkes, wenn sie nur echt ist, völlig gleichwertig
und gleichberechtigt sei, daß eine wirklich menschliche Kultur nur aus
dem wechselseitigen Kennenlernen der nationalen Poesie, der wechsel-
seitigen Durchdringung der Kultur der einzelnen Nationen, dem friedli-
chen kulturellen Wettbewerb unter den gleichberechtigten Völkern ent-
stehen könne. Die Weltliteratur Goethes umspannt deshalb die ganze
Welt, von Homer und Hafis bis Balzac und Stendhal, von der als poe-
tische Produktion angesehenen Bibel bis zu den serbischen und neugrie-
chischen Volksliedern und zu den Anfängen der tschechischen Literatur.
Die großen Schriftsteller dieser Zeit durchbrechen in ihrem Schaffen
die Vorurteile des engen Chauvinismus, der religiösen und rassenmäßigen
Voreingenommenheit, die zwischen Menschen und Völkern errichteten
Scheidewände. Es genügt, wenn wir hier auf den „Ivanhoe" von Walter
Scott hinweisen. Sein Inhalt ist nicht nur das Durchbrechen der trennen-
den Schranken zwischen Normannen und Sachsen in England, seine inter-
essanteste und hervorragendste Gestalt ist vielmehr die Jüdin Rebekka,
deren schlichter und standhafter Humanismus sich in der dunklen Welt
mittelalterlicher Vorurteile auch vor dem Scheiterhaufen bewährt und die
zur Verkünderin einer neuen Epoche der inneren Gleichberechtigung
aller Menschen und Völker emporwächst.
Es war eine „herrliche Morgenröte", aber der Tag darauf war von Mühe
und Kampf erfüllt. Die große Französische Revolution war die Erfüllung
einer Jahrhunderte alten Sehnsucht der besten Vertreter der Menschheit,
aber sie sah, wie jede Erfüllung im Laufe der bisherigen Geschichte, in der
Wirklichkeit anders aus als in der sehnsuchtsvollen Erwartung. Ihre un-
mittelbaren geistigen Wegbereiter, die Aufklärer, erhofften von ihr das
verwirklichte Reich der Vernunft. Aber es stellte sich heraus, „daß dies
Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bour-
geoisie" (Engels). Das Fallen der feudalen Schranken, das Wegfegen der
feudalen Ungleichheit, die Herstellung der bürgerlich-demokratischen
Gleichheit der Rechte und Pflichten, der Gleichheit und Gleichberechti-
gung der Menschen im Staate, vor dem Gesetz, enthüllen notwendiger-
weise die unaufgehobene Ungleichheit der Menschen in ihren ökonomi-
schen und sozialen Beziehungen. Ja, die von den großen Revolutionen
freigesetzten Produktivkräfte reproduzieren gerade diese Ungleichheit auf
einem höheren Niveau, unverhüllter, krasser, grausamer als in früheren
Gesellschaften.
Daher eine tiefgehende Enttäuschung bei den edelsten und besten Gei-
stern der Welt. Diese Enttäuschung konnte die Reaktion zu ihrem zeit-
124 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
weiligen Sieg, zu ihrer zeitweiligen Herrschaft ausnutzen. Aus dieser
Enttäuschung entsprangen jedoch auch die wichtigsten höherführenden
Tendenzen im Denken, in der Politik und in der Kunst des neunzehnten
Jahrhunderts. Diese Enttäuschung ist der erlebnismäßige und gedankliche
Ausgangspunkt der Systeme der großen Utopisten, der Saint-Simon, Fou-
rier und Owen. Diese Enttäuschung, das Ringen mit ihr, die Versuche ihrer
Überwindung bilden das säkulare zentrale Problem der großen Literatur
des neunzehnten Jahrhunderts. Das Werk Balzacs geht ebenso wie das
Schaffen von Dickens von diesen Fragen aus. Und noch ein halbes Jahr-
hundert später finden wir im Zentrum des Lebenswerks Tolstois das Ringen
um die Frage, wie auf jenen ökonomischen, politischen und kulturellen
Grundlagen, die für uns im wesentlichen die Französische Revolution
und ihre Folgen geschaffen haben, eine wirkliche Gleichheit, eine wirk-
liche Gleichberechtigung der Menschen entstehen könne.
Die tatsächliche Ungleichheit, die im Laufe der wirtschaftlichen Ent-
wicklung entstand, definierte der junge Disraeli mit großer Schärfe, wenn
er davon spricht, daß das englische Volk im Grunde genommen aus zwei
Nationen, aus der der Reichen und der der Armen, bestehe. Und Anatole
France gibt noch lange, bevor er Sozialist wird, seiner Enttäuschung und
Unzufriedenheit in dem bitteren Aphorismus Ausdruck, daß das Gesetz
der heutigen Gesellschaft Reichen wie Armen mit der gleichen Majestät
verbiete, unter Brücken zu schlafen.
Eine ähnliche Enttäuschung wurde in Hinsicht auf die Gleichberechtigung
der Völker erlebt. Der Deutsche Anacharsis Cloots begrüßte begeis.tert
die Französische Revolution als Beginn einer brüderlichen Vereinigung
aller Völker. Sehr bald jedoch begann der Umschlag der Revolutions-
kriege, die ursprünglich Verteidigungskämpfe des neuen Fortschritts
gegen die verbündete feudalabsolutistische Reaktion gewesen sind, in
Eroberungskriege. Diese Eroberungen, besonders in der Periode Napo-
leons, hatten ihrerseits das Erwachen der Völker zu einem modernen
nationalen Leben zur Folge, allerdings in heftigsten Kämpfen gegen die
Eroberer, wobei diese Kämpfe ihrerseits wieder in Eroberung und Unter-
drückung fremder Völker umschlugen. So entsteht in der Folge der großen
Französischen Revolution das neue nationale Leben in Europa, das
allmähliche Erwachen aller Völker zu einer nationalen Selbstbefreiung, zu
einem selbständigen nationalen Leben in jeder Hinsicht. Aber auch dieses
Erwachen bringt das enttäuschende Resultat mit sich, daß die Befreiung
des einen Volkes immer wieder in die Unterjochung und die Zerstückelung
eines anderen umschlägt (Annexion von Elsaß-Lothringen bei der Be-
gründung der nationalen Einheit Deutschlands 1871).
Alle diese Gegensätze führen zu einer Krise der Ideen von 1789. Dies
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts 125
um so mehr, als die ökonomische und soziale Aufhebung dieser Wider-
sprüche eine klare politische, soziale und ideelle Gestalt im Sozialismus
erhalten hat. Die Verteidiger der Ideen von 1789 müssen sich nunmehr
nicht nur gegen die Restaurationsversuche der alten vorkapitalistischen
Ungleichheit wenden, sie sind zugleich in eine Defensive geraten gegen-
über der neuen, der höheren Form der ökonomischen, sozialen und kultu-
rellen Gleichberechtigung der Menschen und Völker. Die Geschichte
dieser Kämpfe ist die Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahr-
hunderts.
Aus einer tiefen Krise sucht die Menschheit immer die verschieden-
artigsten Auswege. Die Auswege können aber sowohl vorwärts als auch
rückwärts führen. Und um jedes Mißverständnis zu vermeiden, muß hier
deutlich gesagt werden, daß der Weg nach vorwärts unseres Erachtens
nicht immer und unmittelbar der Weg zum Sozialismus sein muß. Auch
Versuche, die Ideen der Demokratie, der großen Französischen Revolution
weiter auszubauen, höher zu führen, zu vervollkommnen, führen nach
vorwärts und haben auch heute keineswegs ihre Aktualität verloren.
In den geistigen Kämpfen des neunzehnten Jahrhunderts stirbt die Ten-
denz zur Restauration der vorkapitalistischen Ungleichheit allmählich ab;
sie befindet sich in einem zu krassen Gegensatz zu den Tatsachen des gesell-
schaftlichen Lebens, um weiter wirksam zu bleiben. Aber auch die Ver-
suche, die Widersprüche und Gegensätze der Ökonomie, des sozialen
Aufbaus der kapitalistischen Gesellschaft gedanklich aus der Welt zu
schaffen, indem man aus der heute herrschenden Ökonomie ein harmo-
nisches System schafft, sind vergeblich, scheitern an der wirklich vor-
handenen Gegensätzlichkeit der Tatsachen. Der größte Theoretiker der
kapitalistischen Wirtschaft, David Ricardo, hat einen solchen Irrtum des
Harmonisierens, den er in der Debatte mit Sismondi beging, mit der rück-
sichtslosen Ehrlichkeit des großen Denkers unumwunden eingestanden.
Er behauptete ursprünglich, daß, wenn die Maschinen Arbeiter „frei-
setzten", der durch sie erzielte Aufschwung der Produktion diese zwangs-
läufig wieder in die Produktion zurückführen und so die Harmonie von
Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wiederherstellen würde.
Er sah ein, daß er sich geirrt hatte.
Die Gegensätze, die inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesell-
schaft sind also nicht zu verdecken. Aber die Kritik der realen Ungleich-
heit kann sehr leicht, auch wenn sie als Kritik zutreffend ist, in eine reaktio-
näre Tendenz umschlagen: wenn nämlich das Verwerfen der bestehenden
Ungleichheit nicht auf die Forderung einer höher gearteten Gleichheit
ausgeht, sondern zu einer Kritik der Gleichberechtigung überhaupt ent-
artet, wenn aus der kritischen Betrachtung der Problematik des Fortschritts,
126 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
der Humanisierung der Menschheit ihre Ablehnung überhaupt entsteht.
Denker solcher Art gehen vom Gefühl, vom Erlebnis aus, daß der gegen-
wärtige Zustand der Gesellschaft nicht der menschlichen Natur gemäß
ist (das heißt nicht den Forderungen entspricht, die aus diesem Gesell-
schaftszustand, aus seinen Errungenschaften, Grenzen und Widersprüchen
entspringen), und suchen nun eine „naturgemäße" Ungleichheit.
Jedes Denken dieser Art - und mag es noch so geistreich, ja geradezu
genial sein - ist in seinem tiefsten Kern reaktionär, denn es stemmt sich
gegen die vorwärtstreibende Logik der menschlichen Geschichte. So schlägt
die Carlylesche Kritik der kapitalistischen Gesellschaft in England in die
reaktionäre Tendenz einer eigenartigen Wiederherstellung des Mittelalters
um. So wird bei Sorel die Kritik der modernen Demokratie, der Zweifel an
den bisherigen, oft vulgarisierten Konzeptionen des Fortschritts zu einem
Vehikel reaktionärer Tendenzen. So ist Nietzsches Philosophie der höheren
und niederen Rasse, des Aristokratismus als „naturgemäßen" Zustandes,
der Überwindung der Dekadenz (das heißt bei Nietzsche: der modernen
Demokratie, des pöbelhaften Ressentiments), des Übermenschen als Sinn
der Menschheitsentwicklung usw. dem Wesen nach reaktionär.
Alle diese reaktionären Theorien haben viel Verwirrung, insbesondere
unter der Intelligenz, gestiftet, haben manchen in dem Bestreben, dem
Fortschritt zu dienen, auf Irrwege geleitet, haben vor allem sehr wertvolle
Teile der Intelligenz im Kampf gegen die Reaktion geistig wehrlos ge-
macht. Aber all dies hatte die Fortschrittsbewegung doch nicht aufhalten
können. Denn bis zu unseren Tagen traten die neumodischen reaktionären
Ideen doch meist im friedlichen Wettbewerb der Gedanken gegen die fort-
schrittlichen auf. Man denke nur an die sich über Jahrzehnte erstreckenden
mündlichen und schriftlichen Duelle zwischen Chesterton und Shaw. Und
wenn reaktionäre Tendenzen der Ungleichheit eine bestimmte organi-
satorische Form erhielten, so war dies doch ein anscheinend unschuldiges
Spiel kleiner isolierter Gruppen, wie etwa das aristokratische Sich-Ab-
schließen des George-Kreises. Auch die rassenmäßige Geschichts- und
Kulturauffassung bei den Schülern Nietzsches oder, unabhängig von ihm,
bei Gobineau, Chamberlain, Adolf Bartels usw. konnte unmittelbar nur in
verhältnismäßig kleinen Kreisen eine politisch wirksame reaktionäre Ver-
wirrung stiften.
Erst dem Nazismus war es vorbehalten, die konzentrierten Ideen der
Reaktion mit seiner barbarischen Praxis aus den Intellektuellensalons
auf die Straße zu führen, sie zur Grundlage der Herrschaftsform, der
Innen- und Außenpolitik eines mächtigen Staates zu machen. (Natürlich
hat er seine, freilich viel bescheideneren Vorläufer: die „Schwarzen
Hundert" im zaristischen Rußland, die antisemitische Bewegung Luegers
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts 127
im alten Österreich usw.) Alles, was die europäische Reaktion in der
großen säkulären Krise seit der Französischen Revolution zusammen-
getragen hat, alle verzweifelten, verwirrten Gedanken verirrter Menschen
wurden im Nazismus zur niedrigsten Demagogie eines straff organisierten
Barbarentums. Die modernste Technik, die höchsten Errungenschaften der
technischen Zivilisation, vom amerikanischen Reklamewesen bis zu Pan-
zern und Flugzeugen, wurden von ihm zur Vernichtung der Kultur und
der Zivilisation aufgeboten und in Gang gesetzt.
Der ideologische Mittelpunkt dieser auf der Grundlage der höchsten
Errungenschaften der modernen Technik organisierten Barbarei ist die
Rassentheorie. Sie leugnet alle wesentlichen Ergebnisse der bisherigen
kulturellen Entwicklung der Menschheit, vor allem die in jahrtausende-
langen Kämpfen errungene Gleichberechtigung der Menschen und Völker.
Nach der Rassentheorie hat nur der arisch-germanische Mensch ein Lebens-
recht (und wir wissen, daß die Willkür der Führerclique bestimmt, welcher
Mensch oder welches Volk als arisch vollwertig betrachtet werden kann).
Die Moral der Rassentheorie, das „Alles ist erlaubt" den Rassefremden
gegenüber, ist die Entfesselung, ja die Mobilisierung aller barbarischen
Instinkte, die noch in vielen Menschen schlummern, die aber während
der Herrschaft der Zivilisation unterdrückt, umerzogen, in zivilisierte Bahnen
gelenkt wurden. All dies wird nun vomN azismus freigesetzt und zur höchsten
Tugend erhoben. Er würde, wenn er gesiegt hätte, die Menschheit auf das
zivilisatorische Niveau des Kannibalismus zurückgeworfen haben - aller-
dings, was die Sache nicht besser gemacht hätte, eines Kannibalismus,
der sich der modernen V ernichtungstechnik bedient.
Der Nazismus vernichtet aber nicht nur die von ihm bekämpften Men-
schen und Völker, er ist ein ebenso gefährlicher Feind derjenigen, die ihm
freiwillig oder durch Terror gezwungen folgen. Die Moral der Rassen-
theorie, die Moral, daß dem Gegner gegenüber alles erlaubt sei, übte eine
tiefe moralische Zersetzung im deutschen Volk aus. Auch in der Antike
waren die Völker noch voneinander getrennt, aber der Zustand der Recht-
losigkeit, der unmenschlichen Willkür war bereits durch die Rechtsregel
des jus gentium überwunden. Auch das Mittelalter kannte eine grausame
Unterdrückung bestimmter Stände, aber auch dieser Unterdrückung waren
durch Gesetz und Herkommen bestimmte Schranken und Regeln gesetzt.
Sogar im Zusammenleben der strengstens voneinander geschiedenen orien-
talischen Kasten entstand durch Sitte, durch religiöse Vorschriften ein be-
stimmtes System von Rechten und Pflichten. Der Nazismus ist eine einzig-
artige Erscheinungsweise vollendeter Barbarei: auf der einen Seite
schrankenlose Rechte einer kleinen Gruppe von Herren, auf der anderen
Millionen und aber Millionen rechtloser Sklaven. Dabei - und dies ist die
128 Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts
paradoxere Erscheinung der Geschichte - schuf er aus dem deutschen
Volk, das im wesentlichen vollkommen versklavt und zum willenlosen
Werkzeug des Hitlerterrors erniedrigt wurde, eine Armee von Bütteln und
Henkern gegen andersdenkende Menschen in Deutschland selbst, gegen
die freiheitliebenden Völker außerhalb Deutschlands.
Es ist verständlich, daß sich gegen diese organisierte und systemati-
sche Barbarei die ganze zivilisierte Welt auflehnen mußte. Die Einheits-
front aller freiheitsliebenden Menschen und Völker gegen den Nazismus
ist deshalb eine tiefe historische Notwendigkeit zur Rettung der mensch-
lichen Zivilisation.
Man kann völlig irreligiös, ja ein kämpferischer Atheist sein, und man
kann trotzdem den heroischen Widerstand der deutschen Katholiken und be-
kennenden Christen gegen das barbarische Terrorregime Hitlers bewundern,
unterstützen, in ihm eine Verteidigung der menschlichen Kultur erblicken.
Wenn die Katholiken und protestantischen Bekenntnis-Christen im Namen
ihrer Religion gegen die Rassentheorie protestieren, wenn sie sich dazu be-
kennen, daß es vor Gott keine Rassenunterschiede gibt, daß vor Gott alle
menschlichen Seelen, einerlei, welcher Rasse sie zugehören, den gleichen
Wert haben, so ist dies die Stimme des Fortschritts gegen über dem Nazismus.
Der atheistische Kommunist und der gläubige Katholik oder Bekenntnis-
Christ können diesen aus tiefster Überzeugung gemeinsam bekämpfen. Sie
unterscheiden sich dadurch voneinander, daß sie verschiedene historische
Etappen der Vorwärtsbewegung der Menschheit gegen die Barbarei ver-
teidigen, daß ihnen verschiedene historische Stufen der Herausarbeitung der
Gleichberechtigung von Menschen und Völkern teuer sind - und das mag
in anderen Zusammenhängen sehr tiefgehende Gegensätze bedingen -,
als Gegner des Nazismus und seiner Rassentheorie kämpfen sie aber beide
für die Gleichberechtigung, gegen die prinzipielle Ungleichheit.
Der Nazismus mit seiner Rassentheorie bedeutet die Vernichtung jeder
menschlichen Zivilisation und Kultur. Er mußte vernichtet werden, denn
seine bloße Existenz bedrohte ununterbrochen alle freiheitliebenden
Menschen und Völker; mit seiner Vernichtung und nur durch seine Ver-
nichtung kann in die Welt wieder eine Gesittung einziehen, über deren
historischen Wert, über deren Entwicklungsmöglichkeit, über deren Ent-
wicklungsrichtungen nun erst, nach der Vernichtung, wieder diskutiert
werden kann und wird. Aber diese Vernichtung ist die Voraussetzung zu
allem: sie ist die Rettung der Zukunft, die Rettung der unterdrückten
Menschen und Völker; sie ist auch die Rettung des deutschen Volkes aus
seln.er tiefsten politischen und moralischen Erniedrigung.
1943
„DAS INNERE LICHT
IST DIE TRÜBSTE BELEUCHTUNGSART"
Diese geistvolle Wendung wurde von G. K. Chesterton polemisch gegen
die subjektivistische Moral gebraucht. Sie enthält eine deutliche und be-
redte Mahnung zur Verbindung jedes moralischen Problems mit der gesell-
schaftlichen Existenz des Menschen, eine Mahnung, die ethischen Fragen
nicht nur von innen, nicht bloß durch innere Erleuchtung des Subjekts
lösen zu wollen. Die Formulierung ist nicht nur geistreich, sondern auch
zutreffend, - auch wenn man sie in ganz anderem Sinne anzuwenden
sucht, als es seinerzeit Chesterton selbst tat.
Besonders wichtig ist diese Feststellung für die deutsche Intelligenz.
Diese hat im Sinne der technischen Ausbildung ein beträchtlich hohes
Niveau und zeigt dabei doch seit langer Zeit eine äußerste Hilflosigkeit
im gesellschaftlichen Leben, sobald soziale Konflikte an sie herantreten, vor
allem aber, wenn politische Entscheidungen von ihr verlangt werden.
Der äußerste Individualismus im subjektiven Leben, im Inneren, ist bei
der deutschen Intelligenz sehr oft mit einer bis zur Servilität gehenden
Folgsamkeit den politischen Autoritäten gegenüber verbunden. Diese
Intelligenz zeigt, bei allem V erstand, im gesellschaftlichen Leben einen
großen Mangel an Zivilcourage und bürgerlicher Entschlossenheit. Ihr
Verstand bewahrt sie nicht vor Leichtgläubigkeit und schützt sie nicht vor
suggestiven Beeinflussungen. Aus sogenannter sozialer Disziplin hat sie
sogar oft die Neigung, Befehle der Obrigkeit nicht nur zu befolgen,
sondern sich ihnen auch innerlich zu unterwerfen, sie als naturgegeben zu
akzeptieren, ja, sie sogar „weltanschaulich" zu rechtfertigen.
Alle diese inneren Probleme der deutschen Intelligenz werden grell be-
leuchtet durch das aufgefundene Tagebuch des an der russischen Front
gefallenen deutschen Soldaten Heinz Färber (513. Infanterieregiment). Das
Tagebuch vermittelt uns das Bild eines Intellektuellen von gut anständiger
Durchschnittlichkeit. Er ist kein schlechter Beobachter und ist imstande,
seine Beobachtungen richtig zu formulieren. Sein Denken scheint weiter
entwickelt und selbständiger zu sein als das vieler anderer seiner Gesell-
schaftsschicht. Wir finden in dem Tagebuch keine Nachklänge der offiziellen
nazistischen Kriegspropaganda; diese hat auf ihn offenbar überhaupt keinen
Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart
Eindruck gemacht. Aber auch die peripheren Schlagworte der deutschen
Kriegspropaganda, die Erweckung des rohen Abenteurersinns in der
Jugend, die Heroisierung des sogen_annten „Fronterlebnisses", die Ideo-
logie des deutschen Landsknechttums usw. haben augenscheinlich keinen
Einfluß auf ihn ausgeübt. Er sucht das Erlebnis seiner selbst und das der
Welt. Das nennt er - mit einem direkten oder indirekten Anklang von
Lesefrüchten aus Spengler und Gundolf - „den faustischen Imperativ".
An einer Stelle des Tagebuchs finden wir diese seine Haltung zum Kriege,
was er vom Kriege erwartet hat, sehr deutlich ausgedrückt: „Wenn der
Tagesdienst vorüber ist, beginnen die Erzählungen, Erzählungen ohne
Ende. In ihnen spiegeln sich die Erlebnisse der Kampftage in Rußland,
wieder ersteht Frankreich, Poitiers, Paris, man spricht über Serbien, über
Arabien und Rumänien, über Sofia und Belgrad - wie weit ist die Welt-
karte vor dieser Jugend ausgebreitet. Vor ihren Augen ist Europa vorüber-
gegangen, sie stellt Vergleiche an, die die ganze Welt umfassen. Wer kein
Spießer ist, der kann nicht leugnen, der muß zugeben: diese Jugend hat etwas
durchlebt, sie hat gelebt, wenn wir unter „leben" den faustischen Imperativ
verstehen: alles wissen wollen, alles durchleben, alles, was die kurze Zeit-
spanne unseres Seins uns darbietet, im Sinne des Großen, Schönen und
Scheußlichen, des Guten und Bösen."
Die Schwäche dieser reinen Innerlichkeit, die diesen fürchterlichen Krieg
als eine Art „sentimentaler Reise" betrachtet, die aus den Kriegserlebnissen
einen „Erziehungsroman" machen möchte, zeigt sich gleich darin, wie
wenig Heinz Färber imstande ist, sein hier entwickeltes Programm in
seinem Tagebuch zu konkretisieren. Denn das Tagebuch selbst enthält
sehr wenig „Faustisches". Seinen Hauptinhalt bildet die nackte Registrie-
rung von Tatsachen, wobei man allerdings nie wissen kann, wieviel ver-
schwiegene, verdrängte oder noch unbewußte moralische Probleme hinter
den trockenen Berichten über Tatsachen stecken. Zudem enthält das Tage-
buch selbstverständlich nicht nur Aufzeichnungen über Frontgeschehnisse,
sondern vor allem auch über Untaten der deutschen Armee an der Be-
völkerung in den eroberten Gebieten. Hier kommt nun die ideologische
Schwäche Heinz Färbers besonders kraß zum Vorschein. Er nimmt an
diesen Scheußlichkeiten nicht teil, er billigt sie nicht, er teilt nur die
fürchterlichen Tatsachen - ohne Kommentar - mit.
Dieses Verstummen jener Subjektivität, deren Ausbildung und Be-
reicherung, wie wir gesehen haben, das ausschließliche innere Ziel seiner
Kriegsteilnahme war, ist nur teilweise modische Manier. (Soldatenhafte
Wortkargheit, stilistische Tradition der in Deutschland lange herrschen-
den, auch heute nicht ausgestorbenen „neuen Sachlichkeit".) Teils steckt
hinter diesem Schweigen ein innerer sittlicher Kampf: die Unfähigkeit
Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart
Heinz Färbers, mit jenen moralischen Konflikten innerlich fertig zu
werden, vor die er durch seine Teilnahme am Krieg gestellt wurde.
Welcher Art diese Konflikte sind, wie tief Heinz Färber unter ihnen leidet,
wie wenig er sie für sich zu lösen imstande ist, zeigt eine andere wichtige
Stelle seines Tagebuches.
„Heute führten sie einen Russen ins Zimmer, einen friedlichen Bürger,
der entsetzlich schrie, und es schien, daß er protestieren wollte. Im Zimmer
stieß ihn die Wache, er wurde vom wachthabenden Kommandanten zu
Boden geworfen, vom Leutnant erhielt er den ersten Kopfschuß. Dieser
Schuß tötete ihn nicht. Nach dem zweiten Kopfschuß wälzte er sich auch
noch am Boden. Das Blut rann in einigen Strömen über Gesicht und
Haare. Aber der Mensch war noch immer nicht tot. Aus seinem Mund
floß bei jedem Atemzug blutiger Schaum. Die Blutlache um ihn herum
wurde immer größer. Er bewegte sich noch immer. Da wurde der letzte
Schuß abgegeben - in den Mund, die Kugel kam beim Genick heraus.
Aus dem Nacken sprang das Blut als Fontäne hervor. Jetzt schwamm der
ganze Körper in Blut. Er röchelte nicht mehr, noch einmal hob er den
Kopf, dann ließ er ihn zurücksinken - er war tot.
Was ist hier ein Mensch wert?
Und ich bin ein Schwein. Ich habe ihn gesehen und habe nachher zu
Mittag gegessen."
Man sieht hier die härtesten Selbstvorwürfe, eine ehrliche Selbstver-
urteilung, eine tief ins Innere gehende moralische Krise. Zugleich sieht
man jedoch, daß diese Krise vorläufig keinerlei Konsequenzen zeitigt. Wir
meinen dies nicht im Sinne einer sofortigen praktischen Tat, einer Hand-
lung; dazu gehört schon viel mehr, das ist bereits ein viel fortgeschritteneres
Stadium der Lösung einer Krise als das, in dem sich Heinz Färber befand.
Was uns hier auffällt, ist, daß die Krise nicht zu einer bewußten moralischen
Krise heranwächst, nicht zum fieberhaften Suchen nach einem wenigstens
inneren „Was tun?", sondern im Stadium der Spontaneität, der rein inner-
lichen Selbstzerfleischung verharrt. Und auch als im Laufe der späteren
Ereignisse die Verzweiflung des Tagebuchschreibers ununterbrochen
wächst, als ihn immer stärkere Todesahnungen übermannen, bleibt er
moralisch auf dieser Stufe der rein subjektiven Innerlichkeit, ohne Inhalt
und Ziel, ohne Richtung auf einen Ausweg.
Wie ist eine solche Schwäche bei einem intellektuell gut veranlagten
Menschen, wie Heinz Färber einer war, möglich? Das Tagebuch in seiner
fragmentarischen Wortkargheit gestattet keine Antwort auf diese Frage>
soweit es seinen Verfasser als Individuum betrifft. Um so deutlicher ent-
hüllt es dagegen den allgemeinen, sozialen Charakter jener Gruppe der
deutschen Intelligenz, zu der Heinz Färber gehörte.
Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart
Der hervorragende antifaschistische Schriftstell~r Arnold Zweig hat
diese Schwäche der intellektuellen deutschen Jugend schon vor einiger
Zeit erkannt und sie - bezogen auf die Zeit des ersten Weltkrieges - scharf
charakterisiert und kritisiert, indem er diese nur studierende deutsche
Jugend mit der revolutionär-aktiven Studentenschaft des zaristischen Ruß-
land verglich. Er schreibt über diese deutsche Jugend: „Sehr schön -
wenn ein Land politisch so stagniert wie das ehemalige deutsche Kaiser-
reich, in welchem alle wahrhaft politischen Entschlüsse von einem Schein-
parlament nur glossiert, nie in ihm aufflammend, durch Verfügung von
Behörden zustande kommen und in welchem außer den ,revolutionären'
Parteien das Volk diesen Zustand gutheißt, da es von Politik in seinen
Geschäften nur gestört würde, im übrigen sich aber mit flauer Partei-
zugehörigkeit begnügt und keinerlei Ideale des Gemeinwesens in seinem
Herzen zünden. In Deutschland wurde der Obrigkeitsstaat von seinem
Objekt, dem Volke, bejaht und ausgenützt, im russischen Reiche verneint
und bekämpft. Die Ideale der menschlichen Freiheit und Mitbestimmung
beherrschen die Schüler der höheren Schulen und sind die Probleme der
Studenten."
So charakterisiert Arnold Zweig die intellektuelle Jugend des ersten
Weltkrieges. Nachher ist die Lage für breite Schichten der jungen Intel-
ligenz eine noch schlechtere geworden. Große Teile dieser Jugend wurden
durch die nationalsozialistische Demagogie in einer barbarischen Weise
„politisiert". Diejenigen, die von dieser Demagogie nicht fasziniert oder
die im Laufe der Ereignisse von ihr enttäuscht wurden, sind wieder einer
tiefen politischen und sozialen Lethargie verfallen. Und im faschistischen
Deutschland, wo es, mit Ausnahme der offiziellen barbarisch-nazistischen
Karikatur einer Politik, gar kein öffentliches Leben gab, mußten sich Teile
der besten jungen Intelligenz in eine rein subjektive, egoistisch verkapselte,
schrullenhafte Innerlichkeit verkriechen. Wenn nun die Ereignisse mit
ihrer grausamen Tatsächlichkeit diese Hüllen des feigen Selbstschutzes zer-
rissen hatten, standen auch gute und kluge junge Menschen hilflos da. Sie
erwachten aus einem schweren Traum und wußten nicht - auch innerlich
nicht -, was sie tun sollten, welcher Weg sie ins Licht führen könnte.
Aber diese Schwäche wirkte auch auf die innere Kultur zurück. Der
große russische Kritiker des vorigen Jahrhunderts, Tschernyschewskij, hat
die verheerenden Folgen des Mangels an öffentlichem Leben, an Gemein-
sinn auch in bezug auf ein Arm- und Haltloswerden der rein individuellen
Moral scharfsinnig aufgedeckt. Er führt bezeichnenderweise Gestalten
E. Th. A. Hoffmanns zur Illustration seiner These an und zeigt, wie das
Fehlen öffentlicher Interessen die Individuen auch innerlich zu phanta-
stischen, grotesken Karikaturen verzerrt. Hoffmann selbst wird freilich
Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart 133
von dieser Kritik nicht getroffen: seine schriftstellerische Kraft erwächst
gerade aus der Empörung gegen diese Zustände seines Vaterlands.
Inzwischen hatte sich die „deutsche Misere" infolge des National-
sozialismus in einer unerhörten Weise neu reproduziert. Nunmehr genügte
der rein intellektuelle oder künstlerische Protest nicht mehr. Die Ein-
schnürung der Menschen, ihre moralische Vergewaltigung, ihre geistige
und seelische Entleerung und Barbarisierung waren so weit fortgeschritten,
daß ein jeder Deutsche zur Tat gezwungen wurde, wollte er nicht -
auch als Individuum - moralisch zugrunde gehen.
1943
SCHICKSALSWENDE
Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.
S•hiller
Peripetie ist seit Aristoteles ein Hauptbegriff der Dramaturgie. Er be-
zeichnet den Punkt des tragischen Umschlags, den Gipfelpunkt der drama-
tischen Handlung, der Taten des Helden, zugleich den Punkt, an dem Zu-
sammenhang und Widerspruch zwischen Zentralfigur und tragischem
Schicksal sinnfällig zum Ausdruck gelangen. Aristoteles verknüpft die
Peripetie mit der Erkennungsszene, in der sich der „Umschlag von der Un-
kenntnis zur Kenntnis" im Helden vollzieht. Einflußreiche Richtungen des
modernen Dramas, vor allem Ibsen, haben die dramatische Form ganz auf
die Peripetie konzentriert. Ihre Handlung ist im wesentlichen eine Analyse:
das Herausschälen des Wesens aus dem Trug und Betrug der Oberfläche
des Alltags. Was am Ende als Ergebnis erscheint, ist also in der objektiven
Wirklichkeit schon längst vorhanden. Die Handlung reißt nur die Hüllen
ab, die das Wesen verdecken. Diese Form hat man oft als künstlich be-
krittelt. Die Ereignisse des Lebens zeigen aber, daß sich in ihr eine tiefe
Wahrheit des geschichtlichen Ablaufs zum Symbol verdichtet.
In einem bestimmten Sinne haben wir immer gewußt, was Hitler vor-
stellt. Die Bestialität seiner politischen Methoden trat bereits vor seiner
Machtergreifung in den viehischen Arbeitermorden in Potempa und anders-
wo klar ans Tageslicht. Die Konzentrationslager, die Bücherverbrennungen,
die Gleichschaltung haben in der Regierungspraxis gezeigt, was die
Schriften von Hitler und Rosenberg im voraus programmatisch fest-
setzten. Aber heute sehen wir, daß unser Wissen um diese Dinge unvoll-
ständig war. Nicht nur im quantitativen Sinne, insofern, als wir nicht alle
Untaten kannten, sondern auch in bezug auf das Wesen des Hitlerismus:
auf die Tiefe der Vergiftung des deutschen Volkes, auf das allumfassend
Teuflische dieser Maschinerie.
Die Welttragödie dieses Krieges hat einen Ibsenschen Ablauf: jeder
Schritt, den Hitler machte, enthüllte auch das Wesen seiner Tätigkeit in der
Vergangenheit. Jeder Anfangserfolg, jede spätere Niederlage vervoll-
Schicksalswende 135
kommneten diesen Enthüllungsvorgang. Hitler hat sich während seiner
Herrschaft über Teile der Sowjetunion grausige Denkmäler aus Blut und
Schmutz errichtet.
Dennoch bedeuten die Vorgänge in Lublin, dem Vernichtungslager der
SS, eine Peripetie in diesem Geschehen. Nur scheinbar haben wir hier
eine quantitative Steigerung der Hitlerschen Untaten vor uns. Denn wir
wußten längst, wie viehisch die Nazis überall hausten. Unzählige Doku-
mente und Prozeßberichte geben dafür unwiderlegbare Zeugnisse. Trotz-
dem handelt es sich hier nicht nur um eine bloße Steigerung der Greuel,
sondern um etwas schreckhaft Neues: um das konzentrierte Bild des ge-
samten Systems. Der ganze Hitlerismus, seine Beziehung zur Welt, seine
Verbundenheit mit allen Schichten des deutschen Volkes erscheinen auf
einem Ort, in einem „Betrieb" zusammengefaßt. Es ist die grausige „Er-
kennungsszene" der Welt mit Hitler, mit Hitlerdeutschland.
Die Einzelheiten sind heute allgemein bekannt. Wir stehen vor den
größten Greueln der bisherigen Menschheitsgeschichte. Jeder, dem die
Zukunft der Menschheit am Herzen liegt, fragt erschüttert: wie ist so etwas
möglich?
II
Um diese Frage beantworten zu können, sei zunächst einmal untersucht,
wie Deutschland auf den Zusammenbruch seiner imperialistischen Träume
im ersten Weltkrieg reagiert hat. Es gab einige Besonnene, die die histori-
sche Notwendigkeit dieses Zusammenbruchs eingesehen haben. Im
Winter 1918 schrieb Max Weber, einer der führenden Ideologen des
liberalen Imperialismus, folgendes: „Zur Zeit ist unser Gesicht so zerstört,
wie das keines Volkes in ähnlicher Lage je gewesen ist. . . Wir fangen
noch einmal wie nach 1648 und 1807 von vom an. Das ist der einfache
Sachverhalt ... Natürlich gebietet die Selbstzucht der Wahrhaftigkeit uns
zu sagen: mit einer weltpolitischen Rolle Deutschlands ist es vorbei. .. "
Solche besonnenen Worte waren jedoch Ausnahmen. Deutschland hatte
sich von seiner militärischen Niederlage noch nicht erholt, als es von einer
neuen imperialistischen Ausdehnung zu träumen begann. Der Weimarer
Demokratie wird oft vorgeworfen, daß sie schwach war. Das stimmt, aber
in einem anderen Sinne, als es die deutschen Chauvinisten behaupten. Die
Weimarer Demokratie war viel zu schwach gegen die alten Mächte des
Wilhelminischen Deutschland, deren Herrschaftsapparat sie nicht zer-
schlug, sondern weiterfunktionieren ließ; die Urheber und Mitschuldigen
der ersten Katastrophe durften ungestraft und ungehindert neue Kata-
strophen vorbereiten.
Schicksalswende
Die Reklamemacher des Hitlerismus sprechen mit Vorliebe von der
„Unwiderstehlichkeit" der Nazi-Bewegung. Das ist insofern richtig, als
die Nazis am konsequentesten den reaktionären und abenteuerhaften
deutschen Imperialismus vertreten haben und darum stärker sein mußten
als jene, die dieselben Bestrebungen mit „realpolitischen" Bedenken und
Kompromissen durchsetzen wollten. Hitler lehnt von vornherein die
nationale Forderung breitester Massen, die Wiederherstellung der Vor-
kriegsgrenzen, als ungenügend ab: „Die Forderung nach Wiederherstellung
der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaßen und
Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen." Von diesem offenen und
zynischen Standpunkt des Angreifers aus kritisiert Hitler die imperialistische
Politik Vorkriegsdeutschlands als inkonsequent und ungenügend. Der
richtige Weg wäre nach Hitler gewesen: „Stärkung der Kontinentalmacht
durch Gewinnung neuen Bodens in Europa, wobei gerade dadurch eine
Ergänzung durch spätere koloniale Gebiete in das Bereich des natürlich
Möglichen gerückt erschien."
Man sieht: Hitler unterscheidet sich vom Imperialismus der Wilhel-
minischen Periode darin, daß er die kontinentalen Eroberungen in den
Mittelpunkt stellt, zur Hauptaufgabe erklärt. Das Ziel des Hitlerschen
Angriffs ist also vor allem Rußland. Hitler sagt: „Wenn wir aber heute in
Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur
an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken."
Es ist aber aus den angeführten Zitaten klar ersichtlich, daß Hitler
keineswegs auf ein überseeisches Kolonialreich verzichtet hat. Er wollte
nur die Reihenfolge umkehren. Zuerst mit Hilfe oder unter Duldung der
Westmächte das kontinentale Europa unterwerfen, um dann mit dessen
zusammengefaßter Kraft, wirksamer als es der Wilhelminische Imperialis-
mus vermochte, die Frage der Neuaufteilung der Welt wieder aufzuwerfen.
Diese „nordische List" des deutschen Faschismus ist gescheitert. Die frei-
heitsliebenden und zivilisierten Völker der Welt begannen allmählich ein-
zusehen, daß der Hitlersche Imperialismus die Existenz ihrer Staaten noch
gefährlicher bedrohte als seinerzeit das Deutschland der Hohenzollern.
So hat das imperialistische Abenteurertum Hitlers notwendig wieder eine
Weltkoalition gegen Deutschland zustande gebracht, an deren Kraft seine
die ganze bisherige Menschheitskultur gefährdenden Pläne scheitern
mußten.
Noch wichtiger als diese Steigerung und „Überwindung" der impe-
rialistischen Bestrebungen Hohenzollern-Deutschlands ist die Wendung
in den Methoden der kontinentalen Kolonisation. Hitler räumt hier mit
brutalem Zynismus alle Halbheiten der Wilhelminischen Periode aus dem
Wege. Das von Hitler geplante deutsche Weltreich beruht auf dem „Prinzip,
Schicksalswende 1 37
daß Germanisation nur am Boden vorgenommen werden kann und nie-
mals am Menschen". Das ist der zentrale Punkt des Hitlerschen impe-
rialistischen Programms.
Hitler tritt in dieser programmatischen Erklärung noch vor der Macht-
ergreifung, noch zu der Zeit, als seine Propaganda vor allem darauf ge-
richtet war, die nationale Erbitterung über den Versailler Frieden, über den
Verlust rein deutscher Gebiete für seine imperialistischen Zwecke auszu-
nützen und den beleidigten Patriotismus in einen angriffslustigen und be-
stialischen Chauvinismus umzuwandeln, bereits mit den Umrissen dieses
Weltvernichtungsprogramms auf. In diesem Zusammenhang wird es erst
verständlich, was die Rassentheorie politisch für Hitler bedeutet. Agita-
torisch wird sie als eine mystische Heilslehre vorgetragen. In einem inti-
men Privatgespräch mit Rauschning gibt jedoch Hitler einen offenen und
zynischen politischen Kommentar zu seiner Agitation: „Die ,Nation' ist
ein politischer Ausdruck der Demokratie und des Liberalismus. Wir
müssen diese falsche Konzeption loswerden und an ihre Stelle die Kon-
zeption der Rasse setzen, die politisch noch nicht verbraucht ist ... Ich
weiß genau ... , daß in wissenschaftlichem Sinne nichts Derartiges wie
Rasse existiert ... Ich als Politiker brauche eine Konzeption, die es möglich
macht, die bisherigen historischen Grundlagen zu vernichten und an ihre
Stelle eine vollständig neue antihistorische Ordnung zu setzen und dieser
eine intellektuelle Basis zu geben." Die Aufgabe sei die Zerstörung der
nationalen Grenzen. „Mit der Rassenkonzeption kann der Nationalsozialis-
mus seine Revolution durchführen und die Welt umstülpen." Und der
offizielle Rechtsphilosoph des Nationalsozialismus, Carl Schmitt, schafft auf
dieser Grundlage den Begriff der „Großraumordnung" des „Reiches":
„Reiche . . . sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische
Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Groß-
raum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließt."
So entsteht ein modernes, ein faschistisches „internationales Recht", dessen
wichtigste Maxime nach demselben Schmitt „Wehe den Neutralen" lautet.
Ist es aber Hitlers Ziel, aus dem europäischen Kontinent ein kompaktes
deutsches Herrschaftsgebiet zu schaffen, so ergibt sich daraus für ihn als
unvermeidliche Aufgabe die physische Ausrottung der Völker.
Nur in vorkapitalistischen Zeiten - und auch damals nur unter besonders
günstigen Umständen - ist eine vollständige Assimilation fremder Unter-
worfener möglich gewesen. Im allgemeinen hat selbst die feudale und früh-
kapitalistische Herrschaft die unterworfenen Völker konserviert. Die Ideo-
logen des deutschen Imperialismus rühmen sich der Aufsaugung (bezie-
hungsweise Vernichtung) der slawischen Bevölkerung im preußischen
Ordensland. Aber selbst sie müssen melancholisch feststellen, daß schon
Schicksalswende
im Baltikum die deutschen Grundbesitzer eine dünne und isolierte Ober-
schicht geblieben sind. Seit der Entfaltung des kapitalistischen Systems,
seit der Entstehung eines eigenen nationalen Bewußtseins, bestimmter
Anfänge einer eigenen nationalen Kultur in den bis dahin „geschichtslos"
dahinlebenden unterdrückten Völkern gibt es kein Beispiel mehr für eine
Volksassimilation.
Diese Lage hat aber ihre eigene Logik. Und diese sagt: wo verschiedene
Nationen in einem Reich vereinigt sind, dort ist entweder Freiheit, Gleich-
berechtigung und Brüderlichkeit der Völker der Weg, wie längst in der
Sowjetunion, oder es entbrennt ein ununterbrochener Kampf zwischen
unterdrückenden und unterdrückten Nationen, der letzten Endes not-
wendig mit der Auflösung solcher Kerker der Völker, mit der Befreiung
der Unterdrückten endet. (Die alte Türkei, die Habsburger Monarchie.)
Diesen Zwiespalt löst nun Hitler mit seinem bestialischen „tertium datur"
der systematischen Ausrottung der Völker. Freilich treten die äußersten
Konsequenzen seines Prinzips erst im Laufe der praktischen Verwirk-
lichung mit voller Klarheit hervor. Die deutschen Faschisten versuchten ja
verschiedene Quislingbewegungen in den stammverwandten Ländern auf-
zuziehen. „Nur" für die slawischen Völker lautete von vornherein das
Programm: vollständige Versklavung bei physischer Ausrottung der zur
nationalen und sozialen Führung geeigneten Elemente. Die Quislinge er-
wiesen sich jedoch überall als einflußlose Abenteurersekten, als Gangster-
banden, die von den Volksmassen isoliert waren. Die „stammverwandten"
Dänen und Norweger verteidigten ihre nationale Selbständigkeit nicht
minder erbittert, wenn auch vorerst minder erfolgreich, als die slawischen
„ Untermenschen".
So bringt der Krieg die innere Logik des Hitlerschen Imperialismus
ans Tageslicht: das Hitlersche „Dritte Reich" kann nur entstehen, wenn alle
freiheitlich und national empfindenden Menschen sämtlicher europäischer
Völker physisch ausgerottet werden und der Rest zu einem jeder Führung
und jeden Zusammenhaltes beraubten Arbeitsvieh der deutschen Herren-
schicht herabgedrückt wird. Das ist das Wesen des Hitlerschen Raub- und
Mordkrieges.
Dieses innere Wesen des Hitlerschen Imperialismus stellt das Lubliner
Lager in ein schauriges Bild sinnfällig konzentriert vor uns hin. Eine Sam-
melstätte der Märtyrer der Freiheit und der nationalen Selbständigkeit fast
aller Völker Europas; zugleich eine gedrängte Zusammenfassung dessen,
was der Hitlerismus in Wahrheit ist. Boris Gorbatow schreibt hierüber:
„Ein Mensch, der in das Lager von Maidanek kam, hörte auf, Mensch zu
sein; er wurde zum Objekt, das zu vernichten ist. Man nahm ihm seine
persönlichen Habseligkeiten, seine Wertsachen, Kleider. Man gab ihm eine
Schicksalswende 1 39
Blechnummer auf einem Draht, die er ständig am Hals tragen mußte,
und gestreifte Arrestantenlumpen. Auf die Jacke wurde mit Ölfarbe ein
rotes, schwarzes oder gelbes Dreieck und ein Buchstabe gemalt, der die
Nationalität des Verhafteten andeutete: P - Pole, F - Franzose. Der Mensch
konnte in diesem Lager seinen eigenen Namen vergessen, aber die Henker
erlaubten ihm nie zu vergessen, daß er ein ,russisches Schwein', ein ,pol-
nisches Vieh', ein ,Jude' sei."
Unheimlich ist es, Ordnung, Organisation und Technik im Dienst der-
artiger barbarischer Attentate auf Freiheit und Menschenwürde zu sehen.
Um so mehr, als hier Organisation und Technik in Politik umschlagen:
das Lubliner Lager erscheint als die notwendige, logische Konsequenz
des Hitlerschen „Dritten Reiches", der deutschen Welteroberung, der faschi-
stischen Kolonialpolitik. Darum ist die Enthüllung der Wahrheit über das
Lubliner Lager wirklich eine erschütternde Erkennungsszene: das Wesen des
Hitlerismus steht dramatisch plötzlich und doch durch eine notwendige
Entwicklung zwangsläufig vorbereitet vor uns. Lublin ist viel mehr als ein
schauriges, weithin leuchtendes Symbol der Hitlerherrschaft: es ist ihr an-
gemessenes Regierungsinstrument, ja die vollständige, restlos vollendete,
düstere Verkörperung ihres Wesens.
III
Wie jedes technisch auf der Höhe der Zeit stehende Industrieunternehmen
konnte das Todeskombinat von Lublin nur durch die Zusammenarbeit
von Menschen der verschiedensten Volksschichten Deutschlands ent-
stehen. Darum ist die Frage, die die „Prawda" aufwarf, vollkommen
gerechtfertigt: „Diese Missetaten überschreiten jedes denkbare Maß der
Vertierung. Tausende von Deutschen der verschiedensten Gesellschafts-
schichten: Architekten, Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler, Deutsche ver-
schiedensten Lebensalters, alte und junge, nehmen an der organisierten,
durchdachten Ausrottung von Millionen friedlicher europäischer Menschen
teil."
Viele sagen - und zwar mit einer gewissen Berechtigung - über ein Jahr-
zehnt der Hitlerherrschaft habe diese moralische Korruption des deutschen
Volkes zustande gebracht, und tatsächlich hat Hitler in Deutschland ein
gewaltiges „Erziehungswerk" vollzogen. Das ideologische Instrument dazu
war vor allem die Rassentheorie. Will man ihre verheerende Wirkung im
Denken und Fühlen des deutschen Volkes richtig abschätzen, so darf man
nicht davon ausgehen, daß man in den Briefen der Soldaten, in den Aus-
sagen der Kriegsgefangenen selten die Hitler-Rosenbergsche Rassen-
Schicksalswende
phraseologie findet; die offizielle Rassentheorie ist ihnen oft unbekannt,
wird sogar zuweilen (stillschweigend) abgelehnt.
Denn in der Hitlerschen „Erziehung" durch Rassentheorie handelt es
sich in erster Linie nicht so sehr um das Eintrichtern eines innerlich sinn-
losen und wissenschaftlich haltlosen biologischen Mythos, sondern um die
radikale Zerstörung des Gefühls und der Überzeugung von der Gleichheit
der Menschen. Das entscheidende Moment der Hitlerpropaganda richtet
sich von Anfang an darauf, eine Ungleichheit als „Naturgesetz" in die Men-
schen einzuhämmern, mit dem Ziel, daß jeder Deutsche, so versklavt er zu
Hause auch sei, sich den anderen Völkern gegenüber als Übermensch fühlt.
Mit Hilfe der Rassentheorie wurde ein chauvinistischer Größenwahn in
Deutschland gezüchtet. Aus der Unmasse der Erklärungen Hitlers und
seiner Ideologen sei nur eine angeführt, die sich gerade auf die Entwicklung
dieses Größenwahns auf der Grundlage der körperlichen Erziehung be-
zieht: „Dieses Selbstvertrauen aber muß schon von Kindheit auf dem jungen
Volksgenossen anerzogen werden. Seine gesamte Erziehung und Aus-
bildung muß darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben,
andern unbedingt überlegen zu sein. Er muß in seiner körperlichen Kraft
und Gewandtheit den Glauben an die Unbesiegbarkeit seines ganzen
Volkstums wiedergewinnen."
Damit ist das Hitlersche „Erziehungswerk" aber noch lange nicht voll-
endet. Chauvinistischen Größenwahn gab es auch früher schon in Deutsch-
land (und es gibt ihn auch in anderen Ländern); er hatte immer höchst
gefährliche Folgen, war aber weit entfernt von der besonderen Grausam-
keit des nationalsozialistischen Deutschland. Es mußte ein organisatorischer
Rahmen, ja eine Maschinerie der Organisation geschaffen werden, um die
düsteren und dumpfen Kräfte dieser Megalomanie des Germanentums
spontan und geordnet in die Bahnen der Hitlerschen Völkervernichtung
zu lenken.
Diese Maschinerie trägt die pompöse und trügerisch demagogische Auf-
schrift „Germanische Demokratie". Hitler gibt, gegen seine sonstigen Ge-
wohnheiten, hier eine präzise und unmißverständliche Definition: „Autori-
tät jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben." Auch
diese Erfindung Hitlers ist nichts radikal Neues in der deutschen Geschichte.
Sie ist nur - wie so oft im Hitlerismus - die Vollendung längst vorhandener
reaktionärer deutscher Institutionen, von Einrichtungen, die - bewußt
oder spontan - darauf angelegt waren, die „aus der Erniedrigung des Drei-
ßigjährigen Krieges in das nationale Bewußtsein gedrungene Bedienten-
haftigkeit" (Engels) höher zu züchten. Im zerrissenen Deutschland des
feudal-absolutistischen Kleinfürstentums bedeutete dies eine einfache Be-
dientenhaftigkeit: den kategorischen Imperativ des Sichbeugens vor jedem
Schicksalswende
Befehl, jedem Wunsch der Obrigkeit, die Ideologie, daß gerade hierin die
Erfüllung der gesellschaftlichen und moralischen, der nationalen und reli-
giösen Pflichten läge. Nach der verworrenen Übergangsperiode zwischen
1806 und 1870, zwischen Jena und Sedan, in welcher sich - unklar und zag-
haft - ein anderes Gefühl der gesellschaftlich-sittlichen Verantwortung
herauszubilden versuchte, jedoch von der Niederlage der Achtundvierziger
Revolution zerschmettert und vom Siegesrummel der Bismarckzeit be-
graben wurde, erhält diese Bedientenhaftigkeit, diese jahrhundertelange
Verzerrung der deutschen Moral durch die deutsche Misere ein neues,
aggressiv-aktives Antlitz. Wir können hier diese Geschichte unmöglich
skizzieren, wir müssen uns auf einige Hauptzüge beschränken. Der Funk-
tionswandel, der sich in den Entscheidungen und vor allem nach der Ent-
scheidung der Übergangskrisen durchsetzt, ist ein doppelter: einerseits
begnügt man sich bei der Vernichtung der :M;enschenwürde durch die
Autorität nach unten nicht mehr mit dem alten friderizianischen Grundsatz,
daß der deutsche Soldat seinen Unteroffizier mehr fürchten müsse als den
Feind. Es wird nun mit allen raffinierten Mitteln des gesellschaftlichen
Drucks, mit der Bismarckschen Zweiheit von „Zuckerbrot und Peitsche"
versucht, im Untergebenen einen masochistischen Begeisterungsrausch
für sein Unterdrücktsein zu erwecken.
Heinrich Mann gibt in seinem „Untertan" ein glänzendes satirisches
Bild dieser „Erziehungsmethode" des deutschen Menschen im Wilhelmini-
schen Deutschland. Elternhaus, Schule, Universität, Studentenverbindung,
Amt, Arbeit wirken alle, spontan oder bewußt, in dieser Richtung. Wir
führen nur eine kleine Beschreibung aus der Rekrutenzeit des Helden, des
Papierfabrikanten Diederich Heßling, an: „Beim Exerzieren im Kasernen-
hof, beim Gliederbilden, Sichzerstreuen und Platzwechseln ward weiter
nichts beabsichtigt, als die ,Kerls' umherzuhetzen. Ja, Diederich fühlte
wohl, daß alles hier, die Behandlung, die geläufigen Ausdrücke, die ganze
militärische Tätigkeit vor allem darauf hinzielte, die persiinliche Würde auf
ein Mindestmaß herabz.usetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend
er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie
selbstmörderische Begeisterung. Prinzip und Ideal war ersichtlich das gleiche
wie bei den Neuteutonen, nur ward es grausamer durchgeführt. Die Pausen
der Gemütlichkeit, in denen man sich seines Menschentums erinnern durfte,
fielen fort. Jäh und unabänderlich sank man zur Laus herab, zum Bestand-
teil, zum Rohstoff, an dem ein unermeßlicher Wille knetete. Wahnsinn und
Verderben wäre es gewesen, auch nur im geheimsten Herzen sich aufzu-
lehnen." (Hervorhebungen von mir, G. L.) Andererseits fügt sich diese hün-
disch begeisterte Unterwürfigkeit in die Hierarchie (mit Ausnahme der grauen
Masse) so ein, daß ein jeder zugleich Vorgesetzter und Subalterner, Sklaven-
Schicksalswende
halter und Sklave, Hetzer und Gehetzter ist. Und wer nun im öffentlichen
Leben keine Untergebenen hat, die er „schleifen" könnte, findet sie zu Hause
an Frau und Kindern. Man lese in den ersten Kapiteln von Falladas „Kleiner
Mann - was nun?" nach, wie dieser Herrschaftstrieb sonst Unterdrückter
sich sogar bei organisierten, klassenbewußten deutschen Arbeitern auslebt.
Die Explosion eines solchen Sadismus, der der künstlich gezüchtete
Gegenpol des Begeisterungsrausches der Unterwürfigkeit ist, äußert sich
im Wilhelminischen Deutschland noch oft bloß grotesk und zwecklos,
das heißt ohne sichtbaren Nutzen für die imperialistischen Ziele. Der typi-
sche wilhelminische Mensch erscheint, wenn er richtig nachgebildet wird,
als grauenvolle Karikatur. Man denke an das Verhältnis des Heinrich Mann-
schen Professor Unrat zu seinen Schülern, des Sternheimsehen Polizisten
Busekow zu der Prostituierten, die er zu seiner Geliebten macht. Man sage
nicht, daß ich satirische Karikaturen und nicht wirklichkeitstreue Abbilder
vorführe. Gerade für diese Zeit gilt der Ausspruch Juvenals, daß es schwer
sei, keine Satire zu schreiben; daß also das Leben selbst, seinem Stoff und
Rhythmus nach, bereits karikaturistisch geformt war. Und in der Tat,
die beste Karikatur des Wilhelminischen Zeitalters hat kein Künstler ge-
schaffen, sondern das Leben selbst: nämlich den Hauptmann von Köpenick,
die konzentrierte Verkörperung des Prinzips der unbedingten „Autorität
nach unten".
Die Mobilisierung des ganzen Volkes, die Eroberung von halb Europa
im ersten imperialistischen Weltkrieg gibt dieser Hierarchie eine neue
breitere Basis: die „verbündeten", die „befreiten" Völker sind jetzt bloßes
Material, ihre Länder sind „Lebensraum", in welchem die kleinlich-tyranni-
sche Kehrseite der Heßling-Busekowschen, der wilhelminischen Begeiste-
rung der Unterwerfung, der „Autorität und Verantwortung" sich hem-
mungslos austoben kann.
Diese Entwicklung hat noch eine andere Seite, und zwar eine moderne:
die kapitalistische Korruption. Korruption gab es immer; auch (und nicht
wenig) in der vielgerühmten altpreußischen Bürokratie. Aber das Ausmaß,
die Ausbreitung der Korruption ist mit der Entwicklung des Kapitalismus
viel größer geworden, um so mehr, als die obrigkeitliche, scheinkonsti-
tutionelle Struktur des Bismarckschen und Wilhelminischen Deutschland
die laufende Kontrolle der Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Bürokratie
ausschließt.
So bekommt das Prinzip der „autoritären Verantwortung" besonders im
Weltkrieg einen immer stärker egoistisch-korrupten Inhalt. Für Karriere
und Wohlleben werden unzählige V erbrechen begangen, die dann mit
Hilfe des Apparates, der deutschen Antidemokratie, des Fehlens jeder
Kontrolle vertuscht werden. So entstehen neue Typen von kleinlich-
Schicksalswende 14;
kleinbürgerlichen Ungeheuern, von gewissenlosen Mördern und Dieben,
die dabei korrekte Beamte sind und bleiben. Wie sieht so ein Verbrecher
innerlich aus? Arnold Zweig gibt in seinem Kriegsroman „Erziehung vor
Verdun" eine präzise Beschreibung. Der Etappenhauptmann Niggl hat
einen Unteroffizier in den Tod geschickt, damit der Betrug an der Ver-
pflegung der Mannschaft nicht aufgedeckt werde. Dabei ist er der normale
gemütliche Bayer, der stille und pünktliche Bürokrat geblieben. „Fanden
Sie nicht heraus", sagt über ihn der Bruder des Ermordeten zu einem
Geistlichen, der vermitteln will, „ wenn Sie seit zwei Jahren dabei sind, daß
Machtfülle vielen Leuten schlecht bekommt? Und daß der brave Durch-
schnitt durchschnittlichen Druck braucht, um seine Fasson zu behalten?
Das Herrentum der Kriegerkaste versetzt solche Leute in zu dünne Luft,
da quellen sie über die Ränder, die Niggl und Konsorten. Ein Wein-
reisender oder ein Rentamtmann von einiger Schlauheit leistet sich dann
ohne Gewissensbisse Großtaten wie König David ... "
So weit die Vorarbeiten, die das Wilhelminische Deutschland für Hitler
geleistet hat. Dessen „erzieherische" Tat besteht nun darin, das, was bis
dahin zumeist spontan aus dem System des deutschen Regiertwerdens ent-
sprang und nur streckenweise bewußt hervorgebracht wurde, in umfassendem
Maßstabe in ganz Deutschland zielsicher zu züchten. Brutalität und Kor-
ruption sind die großen Maximen Hitlers bei seiner „Erziehung". Alle
Schriften und Taten des Nazismus zeugen davon. Wir führen einige Be-
merkungen des „Führers" aus Privatgesprächen mit Rauschning an, weil
dort seine Absichten in voller zynischer Klarheit hervortreten. Er fördert
in seinem Herrschaftsapparat die Korruption, das „Bereichert euch". Aus
dieser systematischen moralischen Verderbnis erzielt er folgenden Vorteil:
wenn man die Verbrechen unzuverlässiger Funktionäre kennt, hält man sie
besser in der Hand. Es entsteht in der „Elite" eine gegenseitige Spionage
und Denunziation: „Jeder ist in der Macht eines jeden anderen und niemand
ist mehr sein eigener Herr. Das ist das erwünschte Resultat der Losung:
,Bereichert euch l' "
Während aber - wie wir sahen - nach innen und nach oben auf dem
Umweg der Korruption jedes Rückgrat gebrochen wird, wird von den-
selben Menschen nach außen und nach unten äußerste Brutalität gefordert
und erzielt. Hitler sagt über die Konzentrationslager der ersten Periode zu
Rauschning . . . „Brutalität wird respektiert . . . Der einfache Mensch
von der Straße respektiert nichts anderes als brutale Kraft und Gewissen-
losigkeit ... Das Volk braucht es, in heilsamer Furcht gehalten zu werden.
Es wünscht etwas zu fürchten ... Warum soll man über Brutalität schwat-
zen und sich über Torturen empören? Die Massen wünschen dies. Sie wün-
schen etwas, das ihnen Schauder des Entsetzens einjagt."
144 Schicksalswende
Die Regierungsmaschine der „germanischen Demokratie" ist nun darauf
eingestellt, daß jeder als Gestoßener und zugleich als Henker funktioniert.
So entfaltet sich hier alles Schlechte, was sich seit Jahrhunderten im deut-
schen Volk ansammelte, ins Gigantische der innerlich sklavenhaften und
subalternen brutalen Bestialität. Der Kasernenhof Diederich Heßlings um-
faßt jetzt das ganze deutsche Leben. Vom Blockwart bis zu Hitler erhebt
sich eine Pyramide von kleinen und großen Führern mit „Autorität nach
unten, Verantwortung nach oben" und züchtet systematisch und simultan
Masochismus und Sadismus als Umwandlungsprinzipien des deutschen
Typus, als Einführung der fürchterlichen Exzesse in den normalen Alltag
des „Dritten Reiches". Die seelische Volkserkrankung einer universalen
moral insanity - das ist die Quintessenz der „germanischen Demokratie".
Und wie sich diese Moral in der Praxis auswirkt, das lesen wir in der
Beschreibung des Schriftstellers Gorbatow über das Lubliner Lager. Er
schildert dort folgende Episode: „Der SS-Mann ging zu dem erstbesten
Verhafteten heran und sagte: ,Jetzt werde ich dich erschießen!' Der Ver-
haftete erbleichte, stellte sich aber gehorsam zum Erschießen hin. Der
SS-Mann zielte lange und genau. Er richtete den Lauf der Pistole bald
gegen die Stirn, bald gegen das Herz, er tat, als wählte er aus, wie er am
besten töten könne. Dann schrie er plötzlich: ,Feuer!' Der Verhaftete er-
zitterte und schloß die Augen. Ein Schuß ertönte. Auf den Kopf des Opfers
fiel etwas Schweres. Er verlor das Bewußtsein und fiel hin. Als er nach
einigen Minuten zu sich kam, sah er die über ihn gebeugten Gesichter der
Deutschen: das Gesicht dessen, der ihn ,erschossen' hatte, und das jenes
anderen, der ihm unbemerkt von rückwärts auf den Kopf geschlagen hatte.
Die SS-Männer lachten, daß ihnen die Tränen in die Augen traten. ,Du
bist gestorben!' riefen sie ihrem Opfer zu, ,und bist jetzt im Jenseits. Was?
Siehst du? Auch hier, in der anderen Welt sind wir. Die Deutschen.
Die SS.'"
IV
W a.r einer werden kann,
Das ist er schon, zum wenigsten vor Gott,
Und alles das, was in der Wurzel steckt,
Muß auch heraus und stirbt nur in der Frucht.
Friedrich Hebbel
Zum Glück für Deutschland ist dieser Gedankengang Hebbels zwar tief-
sinnig und geistvoll, aber doch nur eine Halbwahrheit. Es ist nicht wahr,
daß alles, was in einem Menschen oder Volk als Möglichkeit steckt, zur Wirk-
Schicksalswende
lichkeit werden muß, noch daß das einmal Verwirklichte die Verkörperung
aller Möglichkeiten ist. Für Deutschland ist dies mit allen schlechten Möglich-
keiten der alten Sklavenpsychologie geschehen, und wenn man den Weg
der Verwirklichung nachzeichnet, ergibt sich eine historisch folgerichtige
Entwicklung.
Aber in keinem Buch der Sibyllen war es aufgezeichnet, und weder
Hermann der Cherusker noch Friedrich Barbarossa trugen als unsichtbares
Kainszeichen auf der Stirn geschrieben, daß einst Hitler ihr Reich verwalten
und so verwalten werde. Die konkrete historische Notwendigkeit entsteht
immer aus einem Wechselspiel der Umstände, der Voraussetzungen und
Taten, wobei die Taten der Väter objektive Voraussetzungen für die Ent-
scheidungen der Söhne werden. Aber der Zusammenhang von Umstand,
Voraussetzung und Tat ist weder bei dem einzelnen noch gar bei einem
Volk eindeutig, fatalistisch im voraus bestimmt. Immer gibt es Knoten-
punkte der Entscheidung, aufweichen die Wegrichtung sich wandeln kann.
Und wenn es auch keineswegs zufällig ist, daß der deutsche Weg seit
einem Jahrhundert keine entschiedene Wendung zeigt, so ist damit doch
nicht die Tatsache aus der Welt geschafft, daß es an den Wendepunkten
einen, wenn auch schwachen, wenn auch unentschiedenen Widerstand
gab, dessen Erstarkung auch heute noch im Bereich der Möglichkeiten
(freilich bloß der Möglichkeiten) liegt. Diese Abgrenzung vom Fatalismus
darf aber nicht zur Unterschätzung der historischen Tatsachen und der in
ihnen offenbar werdenden Notwendigkeiten führen. Im Lubliner Lager
gipfeln Entwicklungstendenzen, die auch früher schon in Deutschland
herrschten. Das muß mit all seinen Konsequenzen begriffen werden, auch
wenn man den Hebbelschen metaphysischen Fatalismus ablehnt.
Es ist menschlich verständlich, daß mancher anständige Deutsche heute
bei einer Selbstprüfung die Züge in sich betont, die ihn intellektuell und
moralisch vom Hitlerismus trennen. Aber eine Selbstprüfung, die so voll-
zogen wird, geht nicht bis ans Ende, ist unhistorisch und darum für die
Zukunftsentwicklung Deutschlands gefährlich. Sicher gibt es Deutsche,
die vom Lubliner Lager nichts wußten und jetzt ehrlich empört sind und in
ihrer Empörung sich von Hitler entschieden lossagen. Wenn so etwas heute
geschieht, so ist das der erste Schritt zu einer Umkehr auf dem bisherigen
Weg, aber doch nur der erste Schritt. Denn es wäre eine höchst gefährliche
Utopie, zu glauben, daß die bloße Entfernung Hitlers und seiner Clique
zur Gesundung Deutschlands ausreichte, daß ein Herstellen des äußeren und
inneren status quo, wie er vor Hitlers Machtergreifung bestand, schon die
Garantien für die gesunde Zukunftsentwicklung Deutschlands enthielte.
Nein. Hitler ist ebenso das letzte Wort der deutschen Entwicklung seit
der Niederlage der Achtundvierziger Revolution, wie das Lubliner Todes-
Schicksalswende
kombinat das letzte Wort des Hitlerismus ist. Die Hitlerherrschaft ist für
Deutschland keine krankhafte Episode, die ohne weiteres überwunden und
vergessen werden könnte. Nur das Ausrotten aller ihrer Wurzeln ist die
einzig mögliche wirkliche Überwindung.
Deutschland ist ökonomisch ein modernes Land geworden, die Deutschen
wurden eine einheitliche Nation, ohne jedoch politisch ein modern-demo-
kratisches Volk zu sein, ohne eine noch so bescheidene demokratische
Freiheit errungen zu haben. An Warnern hat es an den Wendepunkten
nie gefehlt. Nach den Siegen über Österreich im Jahre l 866 konnte man von
dem großen deutschen Demokraten Johann Jacoby in der Adreßdebatte
folgenden Kassandraruf vernehmen: „Zwangseinheit, Einheit ohne Frei-
heit ist eine Sklaveneinheit, die weder Wert hat noch Bestand; am aller-
wenigsten darf man sie, wie es in der Adresse geschieht, als eine Vorstufe
zur Freiheit betrachten." Jacoby stand mit dieser tiefen Einsicht in die Ge-
fahren der Zukunftsentwicklung Deutschlands - abgesehen von der Vor-
hut der Arbeiterklasse - allein da. Der bonapartistische Betrug Bismarcks
an der deutschen Nation konnte reibungslos durchgesetzt werden. Es ent-
stand der trügerische Schein einer Demokratisierung (allgemeines Wahlrecht
für den Norddeutschen Bund, später für das Deutsche Reich) bei totaler
Machtlosigkeit dieser scheinbaren Demokratie (Bundesrat in Abhängigkeit
von Preußen, wo das Dreiklassenwahlrecht herrschte, unerschütterliches
Bestehenbleiben der Junkerbürokratie und des Hohenzollernschen „per-
sönlichen Regiments"). Bonapartistischen Betrug gab es auch bei anderen
Völkern; man denke nur an Bismarcks Vorbild, an Napoleon III. Aber
hier löste er revolutionäre und demokratische Perioden ab, und deshalb
beginnt gegen ihn bald ein prinzipieller Kampf, der bei der ersten günsti-
gen Gelegenheit zur Zerstörung des Bonapartismus führt. Das politische
und geistige Deutschland hat aber seine Ketten idealisiert, seine Unfreiheit
vor sich selbst verborgen und sie gar in eine „wahre Freiheit" umgelogen.
Dieser Selbstbetrug ist das durchgehende Motiv der politischen und gei-
stigen Entwicklung in Deutschland seit Bismarck. Treitschke verkündet
plump und grob, daß in Preußen größere Freiheit herrsche als in Frank-
reich oder England. Lagarde, Nietzsche, Dilthey und ihre Schüler vertreten
dieselbe Behauptung auf philosophischem und soziologischem Gebiet
feiner und raffinierter. Der Umschwung zu Beginn des ersten imperialisti-
schen Weltkrieges zeigte, wie leicht solche „Feinheiten" ins Grob-Dem-
agogische übergehen. Man denke daran, daß behauptet wurde, die Ideen
von 1914 seien denen von 1789 überlegen, man erinnere sich daran, wie
Tönnies der westlichen Gesellschaft die deutsche „Gemeinschaft", wie Som-
bart den englischen „Händlern" die deutschen „Helden" gegenüberstellte.
Die Augusttage 1914 sind sehr lehrreich; sie zeigen eben, wie solche raf-
Schicksalswende 147
finierten Gedankengespinste unvermittelt in eine grob-reaktionäre, chauvi-
nistische Propaganda umschlagen können (und unter Umständen müssen),
wenn ihre politisch-soziale, weltanschauliche Grundlage reaktionär ist.
Und das ist in Deutschland in steigendem Maße der Fall. Freilich beziehen
sich die falschen und rückwärtsgerichteten Gedankengänge und Antworten
auf ein reales Weltproblem. Dies ist die Problematik der modernen Kultur,
der bürgerlichen Demokratie. Die besten Denker und Dichter der west-
lichen Demokratien von Romain Rolland und Bemard Shaw bis zu
Theodore Dreiser haben diese Problematik tief empfunden und energisch
ausgesprochen. Bei ihnen handelt es sich jedoch um eine scharfe Selbst-
kritik auf freiheitlich-fortschrittlicher Grundlage, um ein energisches
Vorwärtsdrängen zur Überwindung der Problematik von heute. Treten
dagegen inhaltlich ähnliche Gedankengänge in Deutschland auf, so werden
sie von vornherein durch die - zumeist offen eingestandene, zuweilen still-
schweigende - Voraussetzung verzerrt, daß die politische Struktur des
Bismarckschen Deutschland, „verbessert" durch Wilhelm II., die Lösung
dieser Problematik auf einer höheren Stufe enthalte. Es sei - dies ist der
ausgesprochene oder unausgesprochene Refrain des damaligen Deutsch-
land - das Glück und die Überlegenheit des deutschen Volkes, daß es nicht
durch die Demokratie hindurchgehen mußte, um diese „höhere" Stufe zu
erlangen. (Natürlich gibt es auch in der deutschen Literatur richtige und
tiefe Kritiken des gesellschaftlichen Lebens. Aber diese sind - fast ausnahms-
los - gegen die politisch-soziale Weltanschauung der Schriftsteller ent-
standen, als sieghafte Durchbrüche der Wirklichkeit der dichterischen Kraft
und Ehrlichkeit gegen bewußte Vorurteile; so die deutsche realistische
Literatur von Raabe bis Thomas Mann.)
Es wäre echt deutsch (im Sinne der ideologischen Entwicklung des
letzten Jahrhunderts) und darum höchst gefährlich, die weltanschaulich-
moralische Bedeutung politischer Entscheidungen sowie das politische
Gewicht weltanschaulicher Standpunkte zu unterschätzen. Diese Verherr-
lichung der politischen Unfreiheit und Rückständigkeit Deutschlands ver-
krüppelt in jedem einzelnen Deutschen die demokratische Selbstachtung,
die auf öffentliche Meinung appellierende und mit ihr tief verbundene
persönliche Selbständigkeit, die eben deshalb oft tapfer gegen den Strom zu
schwimmen wagt (Zola und Anatole France in der Dreyfus-Affäre), die
echte Ehrfurcht vor der eigenen Persönlichkeit und dem eigenen Men-
schentum, vor der Persönlichkeit und dem Menschentum anderer, seien es
einzelne Menschen oder ganze Völker. Die Entwicklung bedeutender
Deutscher wie Thomas Mann zeigt deutlich, daß die demokratische
Freiheit auch auf dem Gebiet der Politik erfaßt werden muß, um zum
tiefwirkenden weltanschaulichen Faktor zu werden.
Schicksalswende
Achtung vor dem Menschentum in sich selbst, im Mitmenschen, im eige-
nen und fremden Volk fehlt der deutschen Geistigkeit, seit in den Schick-
salswenden des neunzehnten Jahrhunderts, als das deutsche Volk zur
Nation, zum Einheitsstaat geformt wurde, eine falsche, verzerrende Ent-
scheidung fiel. Die Geschichte dieser Vorgänge kann hier nicht einmal
angedeutet werden. Wir führen nur zwei Beispiele zur Gegenüberstellung
an. Heinrich Heine schrieb 1844 über Elsaß-Lothringen: „Elsaß und Loth-
ringen kann ich freilich dem Deutschen Reiche nicht so leicht ein-
verleiben, wie ihr es tut, denn die Leute in jenen Landen hängen fest
an Frankreich wegen der Rechte, die sie durch die französische Staats-
umwälzung gewannen ... " Es ist recht aufschlußreich, dem gegenüber-
zustellen, wie F. Th. Vischer sich 1848 zu der Frage der von Deutschland
unterdrückten Fremdvölker verhielt. In einer Rededisposition faßt er seine
Gedanken so zusammen: „Eine Nation muß zusammenhalten, was ihr von
Rechts wegen gehört. (Nämlich die von Österreich eroberten italienischen
und die von Preußen annektierten polnischen Provinzen. G.L.) Sich selbst
ehren und hochhalten, dieser großartige Egoismus ist die erste Tugend
einer Nation; erst in zweiter Linie kommt die Gerechtigkeit gegen andere
Nationen." Und er gibt in seiner Autobiographie die klare politisch-welt-
anschauliche Begründung für diese Stellung: „In der Tat war von den
zwei Prinzipien, um die es sich handelte, das der nationalen Einheit und
Macht im Grunde viel stärker in mir als das der Freiheit. Natürlich fehlte
viel, daß ich mir darüber klargeworden wäre, wie mich diese Gesinnung
eigentlich von der Demokratie trennte, welche, wie sie einmal ist, die
Freiheit auf Kosten der Einheit will."
Bei Vischer wird das Dilemma wenigstens noch offen ausgesprochen:
später wird es immer tiefer verhüllt, um zur verlogenen gedanklichen
Sklaverei der Unterstützung des reaktionär-agressiven Imperialismus zu
führen. Diese unbewußte, in „ wahre Freiheit" umstilisierte V ersklavtheit
und Bedientenhaftigkeit öffnet jeder reaktionären Ideologie des imperia-
listischen Zeitalters innerlich Tür und Tor.
Hat sich also doch die grausame metaphysische Prognose Hebbels be-
wahrheitet? Wir glauben: nein. Wir glauben, gerade unsere Auffassung
zeigt, wie ein solches „Schicksal" aus Taten und Entschlüssen der Menschen
sich allmählich aufrichtet und erst im Laufe seiner Entfaltung - wir wieder-
holen: die Taten von gestern sind die objektiven Voraussetzungen der
Entscheidung von heute - einen immer schicksalhafteren Charakter erhält.
Ebendeshalb ist jetzt für Deutschland, für alle Deutschen wirklich eine
Schicksalsfrage aufgeworfen. Denn es ist klar: die zivilisierte Welt kann
eine dritte Wiederholung des deutschen Angriffs auf die Welt, die Auf-
richtung technisch noch vollendeterer Todeskombinate für freie Völker nicht
Schicksalswende 149
dulden. Sie muß - bei Strafe des eigenen Untergangs, bei Gefährdung der
Weltkultur - institutionelle Garantien schaffen, damit keine objektive
Möglichkeit zu einem nochmaligen deutschen Eroberungskrieg vorhanden
sei. Diese Garantien müssen geschaffen werden; unabhängig davon, auf
Grundlage welcher Erwägungen und Entschlüsse die Deutschen ihre eigene
Zukunft aufzubauen bestrebt sind.
So ist für das deutsche Volk, für jeden Deutschen, der sein Volk liebt,
der seine eigene persönliche Zukunft nur in Verbundenheit mit dem Volks-
schicksal sich vorzustellen vermag, die Schicksalswende, die Stunde der
Peripetie eingetreten. Jeder Deutsche steht - echt dramatisch - am Kreuz-
weg der verhängnisvollsten Entscheidungen.
Wir haben diesen dramatischen Charakter des gegenwärtigen Augen-
blicks schon eingangs hervorgehoben. Es handelt sich hier um mehr als
um ein Gleichnis. Jede echt künstlerische Form, vor allem das Drama, ist
nichts weiter als eine Konzentration der tiefsten Erfahrungen der Mensch-
heitsgeschichte. Auch die Peripetie enthüllt Erkenntnisse dieser Art. Nicht
nur objektiv, worüber schon früher gesprochen wurde, als weithin sicht-
barer, sinnfälliger Gipfelpunkt von Entwicklungstendenzen, der das Wesen
der sich entwickelnden Menschen und ihrer Evolution zusammenfaßt
und enthüllt, sondern auch im subjektiven Sinn, für die handelnden Per-
sonen des Dramas.
Es ist weit mehr als eine richtige Erkenntnis der Technik des Dramas,
wenn Aristoteles Peripetie und Erkennungsszene in nahe Verbindung
zueinander bringt. Denn für das Subjekt ist das Erkennen seiner selbst und
seiner Mithandelnden - die Folge seiner Einsicht in die wahren Wesens-
zusammenhänge - der Augenblick der echten Schicksalswende. Und die
Praxis der großen Dramatiker zeigt in einer für alle Lebensgebiete beispiel-
haften Weise Inhalt und Methode solcher Schicksalswenden. Wenn in
Ibsens „Puppenheim" Nora im Augenblick der Erprobung des bange
erwarteten „Wunders" plötzlich die mit Brutalität gepaarte Feigheit und
Kleinlichkeit ihres Mannes durchschaut, so ist das eine innerlich gewordene
Erkennungsszene im echt antiken Sinn. Nora durchschaut jedoch die in der
Erkennungsszene zutage tretende Niedrigkeit ihres Gatten nicht als ver-
einzelte gräßliche Episode, sondern als das Zutagetreten der immer vor-
handen gewesenen, nur ihr bis dahin nicht offenbaren Niedrigkeit, als Ver-
logenheit ihrer auf Lüge gebauten Beziehung, als Enthüllung der Nichtig-
keit und Falschheit ihres ganzen bisherigen eigenen Lebens. Weil ihre
Einsicht so tief geht, weil die Konsequenzen, die sie aus ihr zieht, radikal
bis zum Bruch mit der ganzen falschen Vergangenheit gehen, ist die Szene
echt dramatisch, eine echte Peripetie.
Objektiv sind im Lubliner Lager alle Elemente der Peripetie für das
Schicksalswende
deutsche Volk, für jeden ehrliebenden, mit seinem Volk verbundenen
Deutschen vorhanden. Die heutige Entscheidung wird morgen schon eine
objektive Voraussetzung für das Leben des deutschen Volkes sein und,
wenn sie eine falsche ist, eine weitere Verschlechterung der inneren und
äußeren Lage des deutschen Volkes und eines jeden Deutschen mit sich
bringen, ebenso wie die bisher versäumten oder falsch gefällten Entschei-
dungen den Weg zu Hitler und seinem Todeskombinat ebneten.
Die Stunde der Schicksalswende hat geschlagen. Der große deutsche
Dramatiker Hebbel, der tiefer als alle anderen den dramatischen Charakter
des ganzen Lebens erkannt hat, hat die Bedeutung solcher Schicksals-
wenden tief charakterisiert. Er läßt seine Mariamne zu Herodes sagen:
„Du hast vielleicht
Gerade jetzt dein Schicksal in den Händen
Und kannst es wenden, wie es dir gefällt!
Für jeden Menschen kommt der Augenblick,
In dem der Lenker seines Sterns ihm selbst
Die Zügel übergibt."
1944
WOZU BRAUCHT DIE BOURGEOISIE DIE VERZWEIFLUNG?
Die traditionelle, gewöhnliche Verteidigungsideologie der Bourgeoisie
ist das Idealisieren: die krassen Gegensätze, die schreienden Greulichkeiten
der kapitalistischen Gesellschaft sollen in gedanklicher oder künstlerischer
Form zum Verschwinden gebracht werden. Dies tut, seit mehr als einem
Jahrhundert, angefangen bei der akademischen Philosophie, die ganze auf
Apologetik eingestellte Wissenschaft und Kunst. Ihre krasseste Form er-
reichte diese Richtung in den Hollywoodfilmen, aber oft ist auch die
Kathederphilosophie nichts anderes als Happy-End-Film, in begriffliche
Form gebracht.
Neben der schrecklichen Wirklichkeit der letzten Jahrzehnte erwies sich
jedoch das reine Idealisieren als zu schwach, als wirkungslos. Zumindest
für die denkenden Kreise der bürgerlichen Intelligenz; ihrem Blick die auf-
wühlenden Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens zu entziehen, sie mit
so einfachen Mitteln wegzuretuschieren, war unmöglich geworden.
Worin besteht nun unter solchen Umständen die Schwierigkeit für die
apologetische bürgerliche Ideologie? Es ist der Druck der Tatsachen auf
das Denken. Jene Welt, welche die gewöhnliche bürgerliche Ideologie als
ein harmonisches Ganzes darzustellen bestrebt ist, steht als schreckliches
und sinnloses Chaos vor den Menschen. Was man ihnen mundgerecht zu
machen wünscht, erweckt Mißbehagen in ihnen, ja, es befallen sie zuweilen
sogar Stimmungen des beginnenden Widerspruchs, der beginnenden
Revolte gegen die imperialistische Welt. Es droht die Gefahr, daß der
denkende Teil der Intelligenz sich dem Sozialismus anschließt.
Hier ist eine neue Verteidigungslinie notwendig geworden. Diese lieferte
Nietzsches Philosophie bereits am Anfang der neunziger Jahre, die Speng-
lers und seiner Genossen im ersten Weltkrieg, ebenso der moderne Exi-
stentialismus, die Semantik usw. nach dem zweiten Weltkrieg.
Es wäre oberflächlich, zu denken, daß es die Bourgeoisie selbst gewesen
sei, die diese Philosophie zu ihrem eigenen Schutz produziert habe. Nein.
Hier handelt es sich um eine spontan entstehende Weltanschauung, um ein
unmittelbares Spiegelbild der Lage, in welcher die Intelligenz im Zeitalter
des Imperialismus lebt. Betrachten wir diese Lage 1 Der Ausgangspunkt ist
Wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung?
die Unzufriedenheit mit der umgebenden Welt und das Mißbehagen, die
Empörung, Verzweiflung, der Nihilismus, die Perspektivenlosigkeit, die
aus dieser Unzufriedenheit entspringen. In dieser verzerrten Welt sucht
das verzweifelte Individuum einen individuellen Ausweg, findet ihn jedoch
nicht. Es kann ihn nicht finden, denn gesellschaftliche Fragen können
individuell nicht gelöst werden. In seinen Gedanken spiegelt sich infolge-
dessen eine leere, ziellose, unmenschliche und sinnlose Welt. Hieraus zieht
es - zynisch oder in ehrlicher Verzweiflung - seine Konsequenzen.
Diese Weltanschauungen scheinen daher auf den ersten Blick eine Revolte
auszudrücken oder zumindest die entschiedene Ablehnung der existieren-
den Welt. Was nützen also derartige Weltanschauungen der imperialisti-
schen Bourgeoisie? Wie kann sie sie zu ihren Zwecken ausnützen? Wie
kann sie sie beeinflussen?
Der Nutzen äußert sich vor allem darin, daß diese Empörung, solange
sie herumtappt und, sich im Kreise bewegend, den individuellen Ausweg
sucht, sich unmöglich auf die Veränderung der Gesellschaft richten kann.
Schon der erste Klassiker des Pessimismus, Schopenhauer, wies alle - in
seinen Augen minderwertigen - Bestrebungen im voraus zurück, die sich
auf die Veränderung der Gesellschaft richteten. Und im Schatten des
höchsten Prinzips der Heidegger-Sartreschen Philosophie: des Nichts,
neben der „Erhabenheit" des die ganze Welt umspannenden Nihilismus
schrumpft in den Augen der Jünger jede „kleinliche", „minderwertige"
gesellschaftliche Reform zu einer völligen Bedeutungslosigkeit zusammen.
Freilich, wer auf diese Weise revoltiert, ist im Leben ein passiver und
geduldiger Philister.
Auch dies ist für die imperialistische Bourgeoisie eine Errungenschaft.
Die Sache geht jedoch weiter. Der Pessimismus wird bald zur Selbst-
gefälligkeit. Pessimismus und Verzweiflung erscheinen als ein „vornehmes"
Verhalten dem „banalen" Optimismus gegenüber, ebenso das Beiseite-
stehen, das „Beleidigtsein" dem „oberflächlichen" Handeln gegenüber. In-
mitten der gesellschaftlichen Krise, am Rande des Abgrunds, der die
bürgerliche Gesellschaft zu verschlingen droht, setzt diese Intelligenz auf
der seelischen Grundlage des Pessimismus und der Verzweiflung selbst-
gefällig ihr Philisterleben fort. Und da der Imperialismus dieses „revolu-
tionäre" Verhalten duldet, ja unterstützt, entsteht eine scharfe Antipathie
der entstehenden demokratischen oder gar sozialistischen Gesellschaft
gegenüber, die von den Menschen eine aktive Teilnahme fordert. Es ent-
steht die Weltanschauung, daß für die „Kultur" - das heißt für das pessi-
mistische selbstgefällige Verhalten - diese sie unterstützende Gesellschaft
günstiger sei als .die fortschrittliche, die eine aktive Teilnahme an der
Arbeit der Menschheit fordert.
Wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung?
Auch dies ist jedoch nur ein Durchgangspunkt. Der Nihilismus, der
Mangel an Perspektive will und kann nicht dem menschlichen Handeln
ein konkretes Maß, eine entschiedene Richtung geben. Die Weltanschau-
ung, die das individuelle Verhalten aus den Zusammenhängen der Gesell-
schaft reißt, betrachtet die individuellen Entscheidungen entweder als voll-
kommen unbegründbar oder sucht die Zusammenhänge auf falscher
Fährte, auf Abwegen, dort, wo sie nicht zu finden sind. Das Suchen der
„kosmischen" Zusammenhänge ist natürlich ein Treibhaus der Leicht-
gläubigkeit und des Aberglaubens. So kommen die verschiedenen Sorten
des neuen Aberglaubens in Mode: die neue Mystik, Joga, Astrologie.
Und hier, in diese modernen weltanschaulichen Bestrebungen, schaltet sich
die imperialistische Politik aktiv ein. Am deutlichsten zeigte sich dies in
der Propaganda des Faschismus. Diese wandte sich an die im Wunder-
erwarten erstarrte Leichtgläubigkeit, an die zu allem bereite Verzweiflung.
Wenn die sogenannte nationalsozialistische Weltanschauung einen be-
deutenden Teil der Intelligenz gewinnen konnte, so nur deshalb, weil
Nietzsche und Spengler, Heidegger, Jaspers und Klages diesen Boden der
Leichtgläubigkeit in der Intelligenz vorbereitet hatten, auf dem diese
Ideologie, trotz ihrer Minderwertigkeit, unwiderstehlich wirksam sein
konnte, wo die verzweifelte Passivität in eine auf Leichtgläubigkeit fun-
dierte Aktivität umschlagen konnte, in einen blinden Gehorsam gegen-
über jedem Befehl des Führers.
Hitler wurde gestürzt. Aber die Versuche des aggressiven Imperialismus,
den Faschismus neu zu beleben, sind heute lebendiger als je. Deshalb ist
es nicht erstaunlich, daß seitens der Bourgeoisie nichts unternommen
wurde, um jene Weltanschauungen ideologisch zu liquidieren, die dem
Faschismus vorausgegangen waren, ihn vorbereitet hatten. Wir sehen, im
Gegenteil, daß diese Weltanschauungen sich im Weltmaßstabe ungestört ver-
breiten, daß sie die volle Unterstützung, man kann sagen, aller Nuancen
der Bourgeoisie genießen. Der Welterfolg des Existentialismus beweist,
daß in dieser Hinsicht in der bürgerlichen Gesellschaft keine wesentliche
Veränderung vor sich gegangen ist. Und die Politik des „dritten Weges",
die die Existentialisten de Gaulle gegenüber anfangs verfolgten, zeigt
deutlich, daß die gesellschaftliche Rolle, die man dem neuen Nihilismus
zuweist, sich nicht wesentlich von der des alten unterscheidet.
Gerade diese Situation fordert von uns, den schärfsten Kampf gegen
diese Weltanschauungen zu führen, selbst dann, wenn sie vorläufig ohne aus-
gesprochen reaktionäre Tendenzen auftreten. Denn in unseren Tagen ist
auch auf weltanschaulichem Gebiet eine entschiedene Wendung ein-
getreten. Die Politik des Imperialismus führt die Menschheit wieder und
wieder zu neuen Abgründen der Weltkriege. Es ist kein Zufall, daß die
154 Wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung?
unmittelbare, aber bei dem ersten Schritt stehenbleibende Reaktion der
denkenden Intelligenz auf diese Politik der Nihilismus, die Perspektiven-
losigkeit ist. Die Politik des werktätigen Volkes hingegen weist den
Völkern und Individuen gleichermaßen die Perspektive des Friedens, der
Arbeit und Befreiung. Die Konsequenz dieser Politik der so entstehenden
neuen gesellschaftlichen Ordnung muß selbstverständlich auch innerhalb
der Intelligenz die gesunde weltanschauliche Verbindung mit der Wirklich-
keit sein. Die Volksbewegung appelliert nicht an die Passivität, an die
Leichtgläubigkeit, an die Verzweiflung der Menschen, sondern wünscht,
im Gegenteil, daß sie sich nüchtern und bewußt über ihre eigene Lage,
ihre Ziele und Bestrebungen klarwerden und diese auf dem Wege des be-
wußten Handelns in Wirklichkeit umsetzen. Die Wirklichkeit ist also für
die Menschen nicht ein fremdes, feindliches Chaos, sondern ein zu er-
richtendes Heim.
Die beiden Weltanschauungen stehen in unversöhnlichem Gegensatz
einander gegenüber. So nützlich die Perspektivenlosigkeit, der Nihilismus,
die Verzweiflungsideologie der modernen Weltanschauungen für die impe-
rialistische Bourgeoisie sind, so schädlich wirken sie auf die Weltanschauung
der sich befreienden Völker. Es ist also eine dringende ideologische
Aufgabe, die Weltanschauungen der Bourgeoisie gedanklich radikal zu
liquidieren. Nicht nur deshalb, um die ideologische Reservearmee, die
Fünfte Kolonne des eventuell eintretenden Faschismus zu vernichten,
sondern auch deshalb, um die im Imperialismus irregegangene Intelligenz
dorthin zurückzuführen, wohin sie gehört: an die Seite der die neue Welt
aufbauenden Arbeiter- und Bauernschaft.
GESUNDE ODER KRANKE KUNST?
In einem Pariser Vortrag über die Ästhetik des Marxismus habe ich
dieses Thema kurz berührt. Infolge der dort notwendigen Flüchtigkeit der
Behandlung haben meine Ausführungen Mißverständnisse hervorgerufen.
Ich versuche hier, so kurz wie möglich, diese Mißverständnisse richtig-
zustellen.
Also vor allem: Krankheit oder Gesundheit sind hier nicht biologisch,
sondern in allererster Linie sozial-historisch gemeint. Von dieser Grund-
lage aus erweisen sie sich als wichtige Bestimmungen der allgemein ästhe-
tischen Prinzipien.
Über diesen historisch-relativen Charakter dessen, was als normal zu
betrachten ist, sprach Marx sehr klar in einem Brief, den Engels anführt.
Er zitiert aus Wagners Nibelungen: „War es je erhört, daß der Bruder die
Schwester bräutlich umfing." Engels fährt in seinem Auszug so fort:
„Diesen ihre Liebeshändel ganz in moderner Weise durch ein bißchen
Blutschande pikanter machenden ,Geilheitsgöttern' Wagners antwortet
Marx: ,In der Urzeit war die Schwester die Frau, und das war sittlich."'
Die Beziehungen zwischen den Menschen sind historisch veränderlich,
und es verändern sich dementsprechend auch die geistigen und emotionalen
Bewertungen dieser Beziehungen. Diese Erkenntnis beinhaltet jedoch keinen
Relativismus. In einer bestimmten Zeit bedeutet eine bestimmte mensch-
liche Beziehung den Fortschritt, eine andere die Reaktion.
So können wir den Begriff des sozial Gesunden finden, eben und zu-
gleich als Grundlage aller wirklich großen Kunst, weil dieses Gesunde zum
Bestandteil des historischen Selbstbewußtseins der Menschheit wird.
Hier muß noch ein eventuell mögliches Mißverständnis aufgeklärt
werden. Die Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen Sein ist dialek-
tisch, da in den Klassengesellschaften das gesellschaftliche Sein selbst Be-
wegung und Kampf in antagonistischen Gegensätzen und Widersprüchen
bedeutet. Entscheidend wird die, immer historisch gefaßte, Stellung der
Menschen in diesem Kampf. Marx sagt über die Lage von Bourgeoisie und
Proletariat folgendes: „Die besitzende Klasse und die Klasse des Proleta-
riats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste
Gesunde oder kranke Kunst?
Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die
Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Scheineinermensch-
lichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, er-
blickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen
Existenz."
Jedoch auch damit ist noch keine volle Klarheit geschaffen. Wenn es
auch wahr ist, daß, in großen Zügen betrachtet, Gesundheit auf der Seite
des Fortschritts, Krankheit auf der Seite der Reaktion steht, so bedeutet
doch keinesfalls die Darstellung der Krankheit, sogar als Mittelpunkt des
Kunstwerks, eine Krankhaftigkeit der Gestaltung. Im Gegenteil: ohne
diesen Kampf ist, besonders in der Kunst der Klassengesellschaften, eine
Darstellung des Gesunden, des Positiven unmöglich.
Gesunde Kunst bedeutet also: das Wissen dessen, was gesund und was
krank ist. Dieses klare und abgeklärte Wissen Shakespeares berührte den
jungen Schiller als Kälte. Ebenso ist die sogenannte Grausamkeit großer
Humoristen, wie Cervantes und Moliere, zu bewerten: unabhängig von
einzelnen sympathischen, rührenden Zügen, ja von edelsten Bestrebungen
wird bei ihnen mit den Mitteln der Komik das richtige historisch-soziale
Gleichgewicht hergestellt.
Zu diesem selben Zusammenhang gehört, daß der Fortschritt nicht vul-
gär aufgefaßt werden darf. Infolge der antagonistischen Widersprüche der
Entwicklung der Klassengesellschaften kann in bestimmten Phasen das
Untergehende in menschlicher Größe und Reinheit vor uns stehen (Anti-
gone).
Aus alledem werden schon bestimmte Umrisse des Normalen, des Ge-
sunden sichtbar. Die Formvollendung großer Kunstwerke bedeutet in
diesem Zusammenhang die Harmonie des menschlich-gesellschaftlich ver-
nünftigen Gehalts mit einer Form, die ihrerseits eine verallgemeinerte Wider-
spiegelung der dauernden Wahrheit menschlicher Verhältnisse, des Auf-
zubewahrenden in ihnen ist, ein Ausdruck ihres echtesten Wesens.
Darum führt die Abnormalität, die Krankhaftigkeit des künstlerischen
Gehalts notwendig eine Auflösung der Formen mit sich.
Was nun die Abnormalität selbst betrifft, so ist sie in den meisten Fällen
eine sterile, nicht in die Zukunft weisende Opposition gegen Struktur und
Entwicklungstendenz eines bestimmten Stadiums auf dem Wege der
Menschheit. Die Sterilität einer solchen Opposition ist ein Gegenpol zur
servilen Anpassung an das Unwürdige. Das Literaturleben unserer Tage
zeigt massenhaft Beispiele, wie diese Gegenpole praktisch zusammenfallen:
von Knut Hamsun bis Gide, von Sawinkow bis Malraux usw.
Der objektive Grund dieses Zusammenfallens liegt darin, daß beide
Gegenpole äußerste Enden des Philistertums vorstellen. Gottfried Keller
Gesunde oder kranke Kunst? 157
hat diese Lage mit dem Blick des bedeutenden Humoristen glücklich durch-
schaut und erklärt, „daß der liederliche Spießbürger um kein Haar geist~
reicher ist als der solide". Denn beide stellen eine psychisch-moralische
Entstellung des Menschen dar, der zur Gesellschaft, in welcher er lebt,
keine normale Beziehung hat. Goethes Götz von Berlichingen, der Ver-
teidiger des Untergehenden, ist ebenso normal wie die Kämpfer für die
Zukunft bei Gorki. Dagegen ist die rebellische Antigone Anouilhs ebenso
unnormal wie die „kosmisch" traditionsgebundenen Bauern Gionos.
Diese Abnormalität der gesellschaftlichen Beziehung des Künstlers ist
stets das Produkt einer niedergehenden Klassengesellschaft. (Darum wird
heute zum Beispiel in England die Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts er-
neuert.) Diese falsche Stellung des Künstlers zur Gesellschaft erfüllt ihn mit
Haß und Ekel gegen diese; sie isoliert ihn zugleich von den großen zukunfts-
schwangeren gesellschaftlichen Strömungen seiner Epoche. Die Isolierung
des Individuums bedeutet aber zugleich seine psychisch-moralische Ent-
stellung. Umsonst führen solche Künstler ein kurzes Gastspiel in den fort-
schrittlichen Bewegungen ihrer Zeit auf, es endet stets in erbitterter Feind-
schaft, wie bei Gide oder Malraux. So entsteht diese sterile Opposition
gegen Gesellschaftlichkeit im allgemeinen (nicht der revolutionäre Kampf
gegen eine bestimmte Gesellschaft), sie steigert sich zur Opposition gegen
die Idee der gesellschaftlichen Determiniertheit überhaupt, gegen jede
Bindung des Individuums.
Diese Verzerrung und mit ihr die Verarmung auch des Innenlebens, aus
welchem alle gesellschaftlichen, vor allem alle progressiven Bestimmungen
als unwesentlich amputiert werden, wirkt sich in der inneren Struktur des
Seelenlebens aus. Mit der Gesellschaftlichkeit verlieren die höheren Seelen-
kräfte, Verstand und Vernunft, ihre Bedeutung und weichen vor dem
Instinkt zurück; der Unterleib beherrscht immer mehr den Kopf.
Dieser Prozeß beginnt in der Literatur mit einem bloßen Psychologismus
im Gegensatz zur Darstellung des wirklichen und ganzen, das heißt des
gesellschaftlichen Menschen, verwandelt aber allmählich den Menschen in
ein formloses Bündel oder einen uferlosen Fluß von losen, unbeherrschten
Assoziationen, um ihm schließlich jede Determiniertheit, jede Richtung,
jede Stabilität der Psychologie und der Moral zu nehmen. Auf diesem
Boden ist der Gidesche Nihilismus erwachsen, die Moral der „Nourritures
terrestres": „Handeln, ohne zu urteilen, ob deine Tat gut oder schlecht sei;
lieben, ohne dich zu beunruhigen, ob du Gutes oder Schlechtes liebst."
So wird Liebe in bloße Erotik, Erotik in pure Sexualität verwandelt, um
schließlich sogar die Sexualität zum rein Phallischen zu erniedrigen. Diesen
Gipfelpunkt der modernen Dekadenz verdanken wir D. H. Lawrence; er
schreibt: „Jeder, der meinen Roman einen schmutzigen sexuellen Roman
Gesunde oder kranke Kunst?
nennt, ist ein Lügner. Er ist nicht einmal ein sexueller Roman: er ist ein
phallischer. Sexualität ist etwas, das im Kopfe existiert, ihre Reaktionen
sind zerebral, ihre Prozesse mental. Dagegen ist die phallische Realität
warm und spontan."
Diese Verzerrungen entstehen mit einer eisernen Notwendigkeit. Der
sich seelisch-moralisch amputierende Mensch der niedergehenden bürger-
lichen Gesellschaft muß in dieser seiner Krüppelhaftigkeit, in dieser ent-
menschten Selbstverzerrung nicht nur weiterleben und weiterwirken, er
muß sogar eine psychologisch-moralische, eine „kosmische" Rechtfertigung
für diesen seinen Zustand suchen. Und er findet sie auch, indem er in der
Auffassung der Welt nicht mehr davon ausgeht, wie diese objektiv be-
schaffen ist, wie sie sich als realer Gegenstand der wirklich-menschlichen,
der umwälzenden Praxis darbietet, sondern sie nach dem Modell der
eigenen Verzerrung zu einer adäquaten Umwelt dieser inneren Ver-
krüppelung umdichtet. Und derselbe Ausgleich geht selbstverständlicher-
weise auch im Inneren des Menschen vor sich. Friedrich Hebbel, der ebenso
wie Dostojewskij am Anfang der Wendung zur Dekadenz stand, jedoch
noch ein bedeutender Künstler mit starker Sehnsucht nach Gesundheit und
Normalität war, schreibt über diesen inneren Zustand:
„Denn das ewige Gesetz, das waltet,
Will die Harmonie noch im Verderben,
Und im Gleichmaß, wie es sich entfaltet,
Muß ein Wesen auch vergehn und sterben.
Alle Teile stimmen nach dem einen
Sich herunter, den der Tod beschlichen,
Und so kann es ganz gesund erscheinen,
Wenn das Leben ganz aus ihm gewichen."
Diese Übereinstimmung von Innen und Außen, diese „Harmonie"
zwischen Weltanschauung und Gestaltung ist aber erstens eine bloß formale.
Nicht im Wesen der objektiven Wirklichkeit, sondern in bestimmten peri-
pherischen, extravaganten, parasitär-individualistischen Neigungen und
Bedürfnissen ist sie begründet. Sie kann also auch nur eine formalistische,
keine aus der Seele des Gegenstandes stammende künstlerische Einheit be-
gründen. Alles, was wir heute Formalismus nennen, ist der Ausdruck des
derartigen Setzens eines peripherischen Punktes als Zentrum, eines sub-
jektivistischen Prinzips als Grundlage der Objektivität.
Zweitens entsteht hieraus eine Verkehrung aller Maßstäbe. Diese ist seit
Nietzsches „Umwertung aller Werte" allgemeine intellektuelle Mode ge-
worden. Nicht ohne gesellschaftlichen Grund. Die Heuchelei, die Flachheit
und die schreiende Ungerechtigkeit in allen Wertungen des Kapitalismus
Gesunde oder kranke Kunst? 1 59
produziert verständlicherweise eine Auflehnung in klugen Köpfen. Wenn
diese jedoch nicht auf die Änderung der Grundschäden des Kapitalismus
gerichtet ist, entsteht die eben geschilderte sterile Revolte: die gesellschaft-
lichen Grundlagen bleiben, auch gedanklich, unangetastet, während die
mehr oder weniger oberflächlichen Symptome vehement angegriffen
werden. Daraus wird das - ebenfalls früher berührte - politische Schicksal
solcher Gestalten verständlich, auch das jener, die - pseudosozial, pseudo-
politisch - einen „dritten Weg" zwischen den großen Gegensätzen der
Epoche ausklügeln.
Bei dieser Verkehrung der Maßstäbe ist das Wichtigste: das Kleine er-
scheint als groß, das Verzerrte als Harmonie, das Kranke als normal, das
Tödliche und Tötende als Prinzip des Lebens. Damit geht die wichtigste
geistig-moralische Grundlage der Kunst verloren: von jedem dargestellten
Gegenstand künstlerisch genau zu wissen, was er wirklich ist. Große
Künstler, wie Goya oder Daumier, haben die Verzerrung der Menschen
durch die Klassengesellschaft gestaltet. Künstlerisch-harmonisch: weil die
Verzerrung als Verzerrung, nicht aber als Maß einer angeblich neuen
künstlerischen Synthese erscheint.
Also nochmals: nicht in der Darstellung des Kranken, nicht einmal,
wenn sie Hauptthema ist, liegt das Ungesunde und Antikünstlerische der
Dekadenz, sondern ausschließlich in dieser Verkehrung der Maßstäbe.
Diese Verzerrung beschränkt sich selbstredend nicht auf die künstlerische
Praxis. Sie umfaßt die gesamte Auffassung über Kunst und Künstler. Das
abnormale Verhalten zum Leben wird auch durch die dekadente Ästhetik
kanonisiert. Während die Kunstphilosophie gesunder Zeiten im Künstler
einen normalen, ja beispielgebenden Menschen erblickt, gehört heute die
Krankheit in jedem Sinne zum Wesenszeichen der künstlerischen Produk-
tivität und Größe. Schopenhauer hat dies als erster ausgesprochen, wenn
er das Genie ein „monstrum per excessum" nannte, und von hier geht die
Linie bis in unsere Tage. Schon Tolstoi hat gegen diese Auffassung in
seinem Aufsatz über Maupassant protestiert, freilich mit einigen un-
gerechten Bemerkungen gegen diesen. Im wesentlichen war aber sein
Protest ästhetisch richtig, indem er sich dagegen richtete, daß der moderne
Künstler keinen Unterschied erkennen will zwischen dem, was sittlich und
unsittlich, was richtig und falsch ist. Diese Neutralität schlägt jedoch, wie
wir bei Gide gesehen, in ein kämpferisches Ablehnen solcher Unterschiede
um; es erreicht den bisherigen Gipfelpunkt in jener Verherrlichung von
Verbrechen und Wahnsinn, die wir in der modernen amerikanischen Bel-
letristik finden können. Nicht zufällig charakterisiert Thomas Mann die
moderne Dekadenz als eine Sympathie mit Krankheit, Verwesung und Tod.
Aus alledem folgt endlich die Unmenschlichkeit, die Antihumanität der
160 Gesunde oder kranke Kunst?
modernen dekadenten Kunst. Diese Tendenz wurde theoretisch oft offen
ausgesprochen, so bei Ortega y Gasset, Lawrence, Malraux usw., oft er-
scheint sie nur implizit als praktisches Prinzip der Gestaltung. Auch diese
Unmenschlichkeit ist nicht zufällig. Jede sterile, impotente Opposition
gegen das herrschende Gesellschaftssystem, besser gesagt: gegen bestimmte
kulturelle Symptome dieses Systems, muß das konkrete Problem der Un-
menschlichkeit des Kapitalismus in eine verschwommen-allgemeine „kos-
mische" Unmenschlichkeit aufbauschen und verzerren. Und da, wie gezeigt,
in jeder sterilen Opposition starke Elemente der Kapitulation enthalten
sind, wird gerade diese falsch verallgemeinerte, entgesellschaftlichte Un-
menschlichkeit zum Prinzip der künstlerischen Gestaltung gemacht. Ob
dies mit der Stimmung der Resignation, des Hasses oder der Begeisterung
geschieht, ist für das Resultat gleichgültig.
Damit entsteht auf künstlerischem Gebiet, oft mit den raffiniertesten,
handwerksmäßig virtuosesten technischen Mitteln, eine Revolte gegen das
Wesen der Kunst. Wenn wir die ganze Menschheitsentwicklung betrach-
ten, so erscheint die Kunst als eines der wichtigsten Vehikel für die Pro-
duktion und Reproduktion, für die Höherentwicklung und Kontinuität
des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins der Menschheit. Weil die große
und gesunde Kunst diese aufwärtsweisenden, das Selbstbewußtsein der
Menschheit steigernden und darum - bei aller konkreten Vergänglichkeit -
dauerhaften Momente unserer Entwicklung festhält, weil die vollendeten
Formen ihnen eine immer wiederkehrende Erlebbarkeit verleihen, bleiben
die großen und gesunden Werke der Kunst ein sich immer erneuernder
Besitz der Menschen.
Dies erleben wir heute in der immer reicheren Entfaltung in den besten
Werken der Sowjetkunst, des sozialistischen Realismus. Dieser setzt - wie
seinerzeit, freilich weit unvollkommener, undeutlicher, die Französische Re-
volution - die Tugend, das Positive, die aus dem Sozialismus, aus dem Kampf
um ihn herauswachsende neue Gesundung der werktätigen Menschheit auf
die Tagesordnung. Von Gorki und Majakowskij über Scholochow und Fa-
dejew führt dieser Weg zur Gestaltung der Helden des letzten Krieges, des
sozialistischen Aufbaus, zu den Helden Becks, Großmanns, Bubennows und
vieler anderer. In dieser Literatur, um hier nur das für uns jetzt Wichtigste
hervorzuheben, wird endlich der Mensch dadurch auch künstlerisch inter-
essant und bedeutend, daß er für die Gemeinschaft, für die Zukunft lebt
und stirbt, kämpft und arbeitet. Er wird auch künstlerisch interessant und
bedeutend durch das, was an ihm gesund und positiv ist, nicht durch neben-
sächliche, peripherisch-verschwindende, parasitär-pathologische, bloß sub-
jektive Eigentümlichkeiten. Die Kunst als Mitteilungsform, als Entwick-
lungsvehikel der Menschheit kommt hier zu neuen Ehren.
Gesunde oder kranke Kunst? 161
Es ist kein Zufall, daß die in die Verwesung verliebte Kunstbetrachtung
der Dekadenz ununterbrochen diese Kunst auch in ihren wirklich hervor-
ragenden Werken bemäkelt. Diese beiden Konzeptionen der Kunst stehen
wirklich, wie die Klassen, deren Ideologien sie ausdrücken, in unversöhn-
licher Feindschaft einander gegenüber. Gide sagt: „Nur was sich nirgend
anders findet als in dir, das halte fest ... "
Hier und in ähnlichen, wenn auch oft oberflächlich als entgegengesetzt
erscheinenden Tendenzen ist der Grund der raschen Vergänglichkeit aller
kranken Kunst ausgesprochen. Ihr Gegenstand ist bestenfalls das Sekun-
däre, das Periphere, das bloß Momentane und Zukunftslose. Ihre Form
ist, je ehrlicher der Künstler subjektiv ist, desto stärker: ein Fixieren des
zum Untergang Verurteilten. Und niemand, der die Entwicklung der
modernen Ideologie aufmerksam verfolgt, kann ihren raschen W ech.sel,
das rapide Verblühen ihrer Moden übersehen. Was sich gestern noch als
kühner Avantgardismus gebärdete, ist heute bereits langweiliges vieux jeu
geworden. Die ältere Generation entsinnt sich noch deutlich der vehe-
menten Wirkung der englischen Dekadenz, ihrer Religion des Bösen bei
Swinburne und seiner Schule, vor allem bei Oscar Wilde. Heute schreibt
der Führer der neueren Dekadenz, T. S. Eliot, daß diese nichts vom Bösen,
von der Sünde verstanden hätten.
Diese rasche Vergänglichkeit beschränkt sich nicht auf die Dekadenz
unserer Tage. Die Literatur- und Kunstgeschichte ist ein ausgedehnter
Massenfriedhof, wo viele künstlerisch Begabte in verdienter Vergessenheit
ruhen, weil ihr Talent keinen Anschluß an die vorwärtsweisenden Probleme
der Menschheit suchte und fand, weil sie im Lebenskampf der Menschheit
zwischen Gesundung und Verwesung sich nicht auf die richtige Seite ge-
stellt haben.
ARNOLD ZWEIGS ROMAN ZYKLUS
ÜBER DEN IMPERIALISTISCHEN KRIEG 1914-1918
Mit den bis jetzt veröffentlichten vier Romanen ist der ursprüngliche Plan von
Arnold Zweigs Romanzyklus verwirklicht. Frei/ich entnehmen wir dem Nachwort
des letzten Romans, daß Zweigs Plan sich inzwischen erweitert hat, daß noch ein
abschließender Teil ( „In eine bessere Zeit") nachfolgen soll und daß Zweig auch die
Absicht hat, den Kriegsanfang in z.wei Romanen ( „A1'fmarsch der Jugend" und
„ Wahrheit und Lüxe") z.u behandeln; jetzt fängt der Zyklus im Jahre I 9I J an
und nimmt im Spätsommer I9I8 sein &de. Trotz.dem erscheint es uns möglich,
Absicht und Ergebnisse des Werks schon jetzt z.u überblicken, und bei der großen
Bedeutung dieses Zyklus für die Literatur der Volksfront erscheint es uns angezeigt,
seine bisher vorliegenden Teile in ihrem gesellschaftlichen und literarischen Zusam-
menhang kritisch z.u betrachten.
Fangen wir mit der künstlerischen Frage an. Zweig bekennt sich, theo-
retisch wie praktisch, zur Erzählungskunst „alten Stils". Er steht den moder-
nen Experimenten der Montage von Dokumenten, dem surrealistischen
Durcheinander fern, wenn er auch seine Ablehnung solcher Experimente
mehr in seiner Praxis, in seinen positiven Bekenntnissen, als in einer offenen
Distanzierung oder Polemik ausdrückt. Aber der Gegensatz äußert sich
auch auf diese Weise deutlich genug.
Zweig schreibt stets wirkliche Erzählungen, erstrebt und erreicht span-
nende Fabeln im „herkömmlichen Sinne". Es sind eigenartige Individuali-
täten, die ihn interessieren. Nie gruppiert er gleichgültig-durchschnittliche
Begebenheiten um ein „Problem", ein „Milieu"; auch hier nicht, wo der
Weltkrieg, das militärische Milieu, die Fragen des Militarismus und der
verschiedenen Formen des Kampfes gegen den Krieg „ von selbst" in diese
Richtung zu weisen scheinen.
Jeder der vier Romane, in denen Zweig bis jetzt die wesentlichen Mo-
mente des vergangenen Weltkriegs dargestellt hat, ist energisch um eine
solche Fabel aufgebaut. Im ersten Roman des Zyklus handelt es sich um die
inneren Konflikte und äußeren Hindernisse der Ehe zwischen dem Schrift-
Zweigs Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 163
steller Werner Bertin und der Bankierstochter Lenore Wahl. Im zweiten
und dritten geht der Kampf um einen „Rechtsfall" - dort um das Gut-
machen einer geschehenen verbrecherischen Ungerechtigkeit, hier um das
Verhindern eines beabsichtigten Justizmordes. Der letzte endlich ist ein
„Erziehungsroman", die Geschichte des gesellschaftlich-menschlichen
Umschwungs in dem Hauptmann Winfried, der aus seiner ursprünglichen
Kriegsbegeisterung über ein durch Stabsroutine irregeführtes Offizierstum
zu seiner fortschrittlichen Bürgerlichkeit zurückfindet. Und diese „Er-
ziehung" vollziehen an ihm - ebenso wie vor Verdun an Bertin - Er-
eignisse, die in einer spannenden Fabel, im Spiel und Gegenspiel der Men-
schen zum Ausdruck kommen.
Man könnte alle diese Romane als Geschichten von „Erziehungen"
betrachten. (Zweig deutet diese seine Absicht im Titel des Verdunromans
selbst an.) Das Anderswerden einzelner Menschen, einer ganzen Gene-
ration, einer ganzen Gesellschaftsschicht, des besten Teils der deutschen
Intelligenz durch Erfahrungen am eigenen Leibe und an der eigenen Seele
im Krieg, durch den Krieg ist ja - abstrakt gesprochen - das Thema aller
dieser Romane, das geistig-künstlerische Band des Zyklus.
Aber eine solche Verallgemeinerung entsteht nur als Ergebnis des Ge-
samtprozesses aller Handlungen, die in diesen Romanen gestaltet sind,
keineswegs als abstrakter Ausgangspunkt, als abstrakte Grundlage der
einzelnen Teile. Die „Erziehung" als zentrales ideologisches Thema be-
deutet vor allem die künstlerische Einheit des Inneren und des Äußeren.
Das heißt, die Maschinerie des Krieges, deren umfassende, möglichst all-
seitige Darstellung ein Hauptziel Zweigs ist, erscheint nie als totes Milieu;
die ihre Unmenschlichkeit enthüllenden Tatsachen werden uns nie als bloße
Dokumente vorgelegt. Sie sind, im Gegenteil, durchweg organische Teile
von Begebenheiten, welche die Einzelschicksale bestimmter Menschen
positiv oder negativ bestimmen.
Nicht der Krieg an sich wird also dargestellt, dessen Wesen die in ihn
verwickelten Menschen veranschaulichen sollen, wie in den meisten Kriegs-
romanen der „Neuen Sachlichkeit" oder sogar in Zolas „Zusammenbruch",
sondern Menschen im Krieg. Das primäre Interesse richtet sich auf die Ent-
wicklung bestimmter Menschen, möge sie nun aufwärts oder abwärts
gehen, auf ihre Annäherung oder Entfernung von ihrem menschlichen
Wesen selbst, von dem Kern der Humanität, der in ihnen, in allen Menschen
steckt, dessen Ausreifen die Wechselwirkung mit anderen Menschen, das
Leben in der Gesellschaft fördert oder hemmt.
Da es aber in den Jahren 1914 bis 1918 keine einzige Frage der individu-
ellen Existenz gab, die nicht - direkt oder indirekt, erkannt oder unbe-
wußt - mit dem Ablauf des Krieges verknüpft wäre, kommt die gesellschaft-
Arnold Zweig
lieh universelle Bedeutung des Krieges gerade durch diese Darstellungsweise
am überzeugendsten zum Ausdruck. Folgerichtig gestaltet Zweig den
Krieg durch die Vermittlung von Einzelschicksalen, durch kompliziertes
Zusammenschlingen der Fäden, die die individuellen und die sich darin
äußernden Klasseninteressen einzelner mit den Kriegsinteressen verbinden,
mittels deren ihre edelsten wie niedrigsten persönlichen Leidenschaften in
das Kriegsschicksal des deutschen Volkes eingehen. Die universelle Be-
deutung dieses Krieges für das deutsche Volk äußert sich gerade darin,
daß wir dieses Einmünden jeder persönlichen Leidenschaft, jedes egoisti-
schen oder erhabenen Interesses in die soziale Totalität des Krieges mit-
erleben; daß Zweig nicht vom abstrakten Begriff des Krieges zu den Men-
schen hinabsteigt, sie ihm als Beispiele unterordnet, sondern aus der be-
wegten Ganzheit der Einzelleben - von unten herauf - das Gesamtbild
des Krieges allmählich in uns erstehen läßt.
Der wesentliche neue Zug der Kriegsdarstellung Zweigs, auf den ich in
einer früheren Besprechung des Romans „Erziehung vor Verdun" bereits
hingewiesen habe („Internationale Literatur", 1937, Nr. 3), daß er nämlich
die alte Wahrheit von Clausewitz, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik
mit anderen Mitteln, auf das individuelle und soziale Schicksal der einzelnen
Kriegsteilnehmer originell und erfolgreich anwendet, hängt aufs innigste
mit der Darstellung zusammen. Und gerade dadurch erscheint hier der
Krieg nicht - wie so oft in modernen Schriftwerken - als ein isoliertes
Ereignis, als eine Art gesellschaftlicher „Naturkatastrophe". Er wächst
vielmehr aus dem Friedensleben der Menschen organisch heraus, und je
weiter Zweig im Erzählen vorwärtsdringt, desto sichtbarer wird die Per-
spektive des Übergangs in den Frieden, der Auflehnung des deutschen Volks
gegen seine imperialistischen Tyrannen. Wir lernen also hier dank Zweigs
Darstellung den Krieg in seinem richtigen Zusammenhang mit der histo-
rischen Kontinuität des Volkslebens kennen: den Krieg vor seinem Aus-
bruch und nach seinem Abschluß.
Die „Erziehung", die Zweig gestaltet, ist die menschliche Entwicklung
von Kriegsteilnehmern. Alle Ereignisse, die ihren Lebenslauf bestimmen,
alle Begebenheiten, in die sie verwickelt werden, alle Abenteuer, in die sie
sich begeben, alle Menschen, die - mit Absicht oder unwillkürlich - ihre
Wege kreuzen und ihre Entwicklung beeinflussen, wirken in der Richtung
dieser „Erziehung", deren entscheidender Inhalt letztlich stets die Klärung
des Verhaltens zum Krieg ist. Und Zweig zeigt stets mit künstlerischem
Takt, wie der Kriegsinhalt und die Stellung der Menschen zu ihm mit den
Klasseninhalten zusammenhängen.
Da nun diese Beziehungen der Menschen zueinander immer Teile einer
individuellen Handlung bilden, da ihre Anschauungen und Gefühle immer
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg i914-1918 165
im Zusammenhang ihrer Entschlüsse und Taten dargestellt werden, ent-
hüllen sie nicht nur ihr Innerstes und offenbaren - im Guten wie im Bösen -
Eigenschaften, die sogar ihnen selbst unbekannt waren, bevor sie zum Han-
deln gezwungen wurden, sondern es gerät auch ihr innerster menschlicher
Kern in Bewegung. Sie kommen aus denBegebenheiten anders heraus, als
sie in sie eingetreten sind. Sie bewegen sich vorwärts oder rückwärts.
Sie werden „erzogen" durch das Leben, durch den Krieg - zutiefst: gegen
den Krieg.
Diese Beziehung des Kriegs zu den individuellen Fabeln, zu den individu-
ellen Leidenschaften, die in ihnen exponiert werden, ermöglicht einerseits
streng abgeschlossene Handlungen in den einzelnen Romanen und fügt
sie andererseits ohne Zwang und ohne Künstelei zu einem einheitlichen
Zyklus zusammen, dessen Hauptheld das unter dem Krieg leidende deutsche
Volk mit seinen Gegenspielern, dem Imperialismus und Militarismus der in
Deutschland herrschenden Klasse, ist. Die Gliederung des Ganzen muß
notwendig den wichtigsten historischen Etappen des Weltkrieges selbst
folgen; sonst könnte der Zyklus keine Totalität, Einheit und Wahrheit
haben. Dadurch jedoch, daß diese einzelnen Etappen von einem individu-
ellen Schicksal und dem davon abhängigen Personenkreis handlungsmäßig
erfüllt werden und die Eigenheit der jeweiligen Etappe sich erst in der
menschlichen Wechselwirkung dieser Aktionen und Gegenaktionen ent-
hüllt, verliert die historische Folge alles Steife und Mechanische: in der
seelischen Entwicklung konkreter Menschen zeigt sich dichterisch der
Gang der Geschichte.
Aber die sachlich-inhaltliche Komposition des Zyklus als Gesamt-
darstellung des imperialistischen Krieges wirft nicht nur diese Frage der
zeitlichen Gliederung auf, sondern auch die des Nebeneinanders, des
Ineinandergreifens der verschiedenen Momente von Kriegführung und
Kriegsorganisation. Zweig gibt uns auch in dieser Hinsicht eine wirkliche
Totalität vom Hinterland bis zu den Schützengräben, von den Stäben des
Oberkommandos bis zur Mannschaft und zur Zivilbevölkerung. Jedoch
auch diese Totalität wird uns nicht pedantisch-systematisch, nicht dokumen-
tarisch-enzyklopädisch vorgelegt. Jedes Moment erscheint dort, wo es aus
den persönlichen Schicksalen der handelnden Menschen organisch not-
wendig erwächst.
Arnold Zweig hat die Geduld des echten und guten Erzählers. Er kann
mit der Vollständigkeit warten, bis die Zeit für die einzelnen Momente
„von selbst" kommt, das heißt von der Notwendigkeit der individuellen
Handlung diktiert, bis ein Schauplatz des Krieges, eine Tatsache, eine Insti-
tution, ja ein simpler Gegenstand, etwa eine Akte, durch die Rolle, die ihr
im Schicksal der Menschen handlungsmäßig zukommt, dramatisches Ge-
166 Arnold Zweig
wicht, lebensbestimmende Bedeutung erhält. So wird im Verdunroman
das Fort Douaumont dargestellt. Es ist - vom objektiven Standpunkt des
Krieges - ein Knotenpunkt der Kampfhandlungen. Es ist aber im Roman
zugleich der Kampfplatz für den „Privatkrieg", den der Pionierleutnant
Eberhard Kroysing gegen den Schipperhauptmann Niggl führt. Kroysing
will nämlich den Mord seines Bruders, den Niggl mit Hilfe des Apparats
zwecks Verschmierung jener Mißstände, die der jüngere Kroysing auf-
decken wollte, begangen hat, entlarven und rächen. So erhalten die Ge-
richtsakten, ihr Hin- und Herschicken, ihre Bearbeitung durch die ver-
schiedenen Militärinstanzen im „Grischa" einen spannenden, dramatischen
Charakter. Denn nicht nur das Leben eines unschuldig Verurteilten hängt
von ihnen ab, sondern sie sind zugleich unmittelbare Objekte und Waffen
des Kampfes, den die Division Lychow gegen das Oberkommando der
Ostfront in dieser Angelegenheit führt, eines Kampfes, der von Intrigen
in den höchsten Kreisen bis zur empörten Stimmung in der Mannschaft
und der Bevölkerung alles um sich in eine Bewegung bringt, in der das
Für und Wider des Streits die wichtigsten persönlichen Charakterentwick-
lungen einer Reihe uns wirklich nahegebrachter Figuren offenbart.
Auf diese Weise wird jeder uns vorgeführte Kriegsgegenstand, jede uns
aufgezeigte Kriegshandlung zu einem Knotenpunkt interessanter und wich-
tiger Menschenschicksale. Die durch persönliche Geschicke erregte Span-
nung überträgt sich, für den Leser fast unmerklich, auf diese Gegenstände
der Außenwelt, auf die objektiven Erscheinungsformen des Krieges. Und
die epische Geduld Arnold Zweigs läßt solcherart eine umfassende Dar-
stellung des ganzen Krieges entstehen, indem Zweig kunstvoll, allmählich,
durch die innere Logik der individuellen Handlungen die Totalität vor uns
entstehen läßt und durch dieses Verbergen seiner Endabsicht eine Ab-
kühlung des Lesers, sein falsches „Objektivwerden" vermeidet.
So gibt die umfassende Vollständigkeit der objektiven Welt, verknüpft
mit persönlichen Schicksalen interessanter und interessierender Menschen,
ein ungewöhnlich treues und wahres Bild des Kriegsalltags. Aber die Wahr-
heit der Gestalten Zweigs erhebt sich über die Alltäglichkeit, macht das
Bild des Alltags wahrer, als der Alltag des Krieges selbst war. Denn was im
wirklichen Alltag nur unvollständig, abgebrochen, fragmentarisch er-
scheinen konnte, zeigt sich hier stets in der Vielseitigkeit sich kreuzender,
sich menschlich auswirkender, ihre sozialen Bestimmungen restlos offen-
barender Interessen, gibt in den dargestellten Stücken des Kriegsalltags
die Totalität jener Momente, die objektiv das Ganze der Kriegswirklichkeit
bewegt haben.
Sein Roma112yklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 167
II
Warum ist all das so wichtig? Handelt es sich nur um den „Genuß",
um das „Vergnügen" der Leser? Wir glauben: auch dies wäre nicht wenig -
eine so abgrundtiefe Verachtung für den Kunstgenuß bekannte Vertreter
der heutigen Literatur auch haben mögen. Und zwar ist es wichtig nicht nur
vom Standpunkt der Kunst aus. Die Kunst hört allerdings bei dem bloßen
Genuß nicht auf, aber sie muß bei ihm anfangen. Modisches Gerede hin,
modisches Gerede her: wo kein Kunstgenuß, dort ist auch keine Kunst
möglich, sowenig natürlich die tiefe Wirkung der Kunst im bloßen Genuß
aufgehen kann. Insbesondere hier, wo der „Genuß" der Leser in der Er-
schütterung durch den Krieg besteht. Es muß nämlich einmal modischen
Vorurteilen gegenüber offen ausgesprochen werden: in der Kunst bedeutet
der einzelne Fall, wenn er inhaltlich typisch erfaßt und hinreißend nach-
erlebbar gestaltet ist, mehr als eine noch so große abstrakte Summierung.
Der Schmerz der einzelnen um ihren gefallenen Sohn weinenden Mutter
kann eine wirkliche aufrüttelnde Erschütterung bewirken. Die bloße Tat-
sache, daß in einer Schlacht fünfundzwanzigtausend Soldaten gefallen
sind, bleibt für den durchschnittlichen Leser „Tagesbericht". Ihr mensch-
liches Gewicht kann von keinem Gefühl erfaßt werden, ihre politisch-
soziale Bedeutung löst nur in wenigen Menschen von sehr reifem Be-
wußtsein wirkliche Gefühle aus. Die übergroße, überspannt abstrakte
Anforderung an die Erlebnisfähigkeit der Leser hat ein vollständiges
Auslöschen jedes Erlebens, ein innerlich kühles Zur-Kenntnis-Nehmen
zur Folge.
Dies aber hat eine sehr wichtige gesellschaftliche Seite: die des Aktions-
radius der Kunst. Es ist ein heute noch lange nicht völlig überwundenes
Gebrechen unserer politischen, propagandistischen Belletristik, daß sie
- gemäß ihrem künstlerischen Wesen - einen beschränkten Wirkungskreis
hat: sie gewinnt für die Wahrheit, die sie verkündet, nur diejenigen, die
von ihr ohnehin schon ganz oder halb überzeugt sind. Da sie die propa-
gierte Wahrheit als fertiges Ergebnis darbietet und sie nicht aus Menschen-
schicksalen vor dem Leser entstehen läßt, packt sie den nicht von vorn-
herein überzeugten nirgends, ja sie stößt ihn oft geradezu ab; dem, der mit
ihrem Inhalt bekannt und einverstanden ist, bietet sie natürlich wenig
Neues oder Aufrüttelndes. Die ungeheure Wirkung, die von einer künst-
lerisch wie revolutionär echten Dichtkunst ausgeht - es genügt, an Gorkis
Leserschaft in allen Klassen und allen Ländern zu erinnern -, beruht einer-
seits darauf, daß gestaltetes Leben mit verschiedenartigsten individuellen
Lebenserfahrungen in eine unmittelbar zündende Berührung gerät und auf
diesem Weg im Leser den Zugang zu sonst unverstandenen oder gar
168 Arnold Zweig
abgelehnten Wahrheiten über das gesellschaftliche Leben eröffnet, anderer-
seits darauf, daß die Selbstaufhellung der Lebenszusammenhänge - und
dies ist der Kern jeder echten literarischen Gestaltung - klärend, eigene
Erfahrungen ordnend, Unbewußtes bewußt machend, Fremdes nahelegend
auf den Leser wirkt.
In der Literatur über den imperialistischen Krieg schlagen diese all-
gemeinen, formellen Merkmale jeder guten, gestalteten Literatur unmittel-
bar in eine konkrete politische Inhaltlichkeit um. Lenin verlangt vom
propagandistischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg die Schilde-
rung und die Analyse dessen, was während des Krieges wirklich geschehen
• ist, die Entlarvung jener, die behaupten, das zu wissen, oder die sich so
stellen, als ob sie es wüßten. Das Geheimnis des Kriegsausbruchs, die
Hilflosigkeit der Arbeiterorganisationen gegenüber seinem Ausbruch,
die Unfähigkeit der Mehrzahl der Einberufenen, die Fragen des Krieges
unvoreingenommen, mit klarem Kopf zu beurteilen, verlangen eine klare,
konkrete und nüchterne Aufrollung dessen, was die Wirklichkeit des
Krieges ausgemacht hat.
Hier hat die Literatur eine wichtige und große Aufgabe. Je tiefer sie in
den Alltag des vergangenen Krieges taucht, je mehr sie dessen vergessene
und verdrängte Erlebnisse für breite Massen der Leser mit schriftstelleri-
scher Suggestionskraft in gegenwärtige Wiedererlebbarkeit rückt, je viel-
seitigere, verschlungenere persönlich-gesellschaftliche Verbindungsfäden
sie durch das verblaßte Chaos der Kriegserinnerungen zieht, um aus ihnen
eine neue Ordnung, eine Richtung erlebnismäßig herauswachsen zu lassen,
deren emotionales Pathos das wirkliche Grauen des Krieges entlarvt,
desto mehr kann sie ein Wachwerden, eine Wachsamkeit gegenüber den
Gefahren des kommenden Krieges entfachen.
Arnold Zweigs Romane schaffen ein solches Gesamtbild. Wir erleben
mit den Gestalten dieser Romane die ursprüngliche Begeisterung der deut-
schen Volksmassen für den Krieg, wir erleben aber auch - und zwar mit
wachsender Intensität - die Kehrseite, die notwendige Enttäuschung, die
auf sie folgte. Der Krieg, wie er wirklich war, wird hier den Empfindungen
und Vorstellungen über ihn ununterbrochen entgegengestellt. Zweigs
Erzählungskunst führt eine systematische und vielseitige, eine allmähliche,
nicht gradlinige und eben darum überzeugende Entlarvung herbei. Einer-
seits, indem Zweig uns den Alltag des Krieges handlungsmäßig vorführt: den
Empfindungen und Vorstellungen seiner Figuren entspringen unmittelbar
Entschlüsse und Taten; und diese bewirken dann durch die krasse Nicht-
übereinstimmung von Erwartung und Wirklichkeit, durch die Logik der
Tatsachen selbst, ohne offen-propagandistische Zutat des Autors, die Ent-
täuschung und die Entlarvung.
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 169
Andererseits legt Zweig, mit Recht, großes Gewicht darauf, die Welt-
anschauung seiner Gestalten darzustellen. Gerade hier zeigt es sich, welch
verzweigtes und vielmaschiges Netz die bürgerliche Ideologie über die
Gehirne der Menschen wirft, wie notwendig diese Ideologie, auch wenn sie
scheinbar nichts Direktes mit Imperialismus und Krieg zu tun hat, die ihr
Folgenden in den Dienst des Krieges spannt. Und diese Ideologie hat auch
gegenüber den enttäuschenden Tatsachen bedeutende Widerstandskraft.
Teils entwickelt sie sich unter dem Einfluß der Enttäuschungen in der
Richtung eines nihilistischen Skeptizismus, in dessen Beleuchtung der
Krieg zu einer fürchterlichen, aber mit dem „Wesen" des Menschen und
der Welt „ewig" zusammenhängenden Erscheinung wird. Teils kämpft
- inmitten der Kriegsgreuel, inmitten der tiefen Erschütterung der „Frie-
dens"-Weltanschauung - .insbesondere der Intellektuelle, auch der ehr-
lichste, um die Bewahrung seines Weltbilds, in dem er die Grundlage
seiner ganzen geistigen und menschlichen Existenz zu besitzen meint.
Ich führe einige Beispiele an. Im ersten Roman kommt es zu einer Dis-
kussion unter Intellektuellen über die Beschießung der Kathedrale von
Reims. Der Schriftsteller Werner Bertin, damals noch Zivilist, verteidigt
sie auf Grund einer „tragischen Weltanschauung": „Notwendigkeit
knüpfte beide Seiten in einen tragischen Knoten", sagt er, und auf die Frage,
ob er an einer solchen Beschießung teilnehmen würde, erwidert er: „Ich
würde meine Last auf mich nehmen."
Zweig zeigt hier sehr fein, wie die Weltanschauung der Vorkriegs-
intelligenz infolge ihrer abstrakten „Tiefe", infolge ihrer Neigung, alles
Gesellschaftlich-Geschichtliche überspringend, die einzelnen Phänomene
des Lebens in einen „kosmisch" verallgemeinerten abstrakten Zusammen-
hang einzufügen, aus der Intelligenz fügsame Diener der Kriegführung
gemacht hat. Denn Bertin überspringt mit seiner „tragischen" Frage-
stellung nicht nur die Tatsachenfrage, ob die Franzosen die Kathedrale
wirklich zur Artilleriebeobachtung ausgenutzt haben, sondern alle wirk-
lichen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme des imperia-
listischen Krieges, die mit diesem konkreten Fall objektiv zusammenhängen.
Drei Jahre später taucht dieselbe Weltanschauungsfrage unter sehr ver-
änderten Bedingungen wieder auf. Der Hauptmann Winfried ist Opfer
einer politischen Rache geworden, die seiner Braut das Leben gekostet
und ihn selbst an den Rand des Untergangs gebracht hat. In seiner tiefen
Verzweiflung nimmt aun Winfried seine ideologische Zuflucht zu einem
,,kosmischen Pessimismus". Er will sich freiwillig zur Westfront melden,
um dort zu fallen. Hier aber lehnt sich schon seine und seiner Braut nahe
Freundin, die Krankenschwester Sophie von Gorse, gegen diese Auffas-
sung auf. Sie ist empört darüber, daß „Winfried den Weltgrund anklagt
170 Arnold Zweig
und ins Gefüge der Schöpfung blickt, statt an die Herren zu denken, die
ihn verhaften ließen, oder an die, denen der Krieg nicht lange genug dauern
konnte ... " „Immer nur Weltgrund und angeklagte Schöpfung", erwidert
sie auf den Einwand des Kriegsgerichtsrats und Rechtsanwalts Dr. Pos-
nanski, sei ein Ausweichen vor den Aufgaben, die hier jedem einzelnen ge-
stellt sind. Das höhere Niveau der Kritik an diesen Anschauungen - ver-
ursacht durch drei dazwischenliegende Kriegsjahre - kommt nicht nur in
den heftigen Einwänden Sophies, sondern auch in der psychologischen
Einschätzung des Verhaltens Winfrieds bei ihr und Posnanski zum Aus-
druck. Dieser sagt: „Er schwelgt ein bißchen im Gefühl seines Unglücks,
wie? Hat sich sehr liebgewonnen, der junge Herr?" Und Sophie erwidert:
„Er ist ganz in sich hineingekrochen. Er wickelt sich in das Gefühl seines
Unglücks wie ein Säugling in seine Windeln." Leonore Wahl empfand
noch nach Bertins Auftreten in der Diskussion über die Kathedrale von
Reims: „Geliebter Junge, geliebtes Herz."
Gerade dank diesen menschlichen Seiten treten auch die praktisch-
politischen Folgen der durch den Krieg entfachten Weltanschauungskrise
deutlich hervor, und der letzte Roman schildert, wie Winfried nach ihrer
Überwindung tatsächlich von der Seite der Militaristen auf die des werk-
tätigen Volkes hinüberwechselt. Zweig schildert aber sehr eingehend und
eindringlich die Hemmungen, die sich gerade in den ehrlichsten Intellek-
tuellen des Vorkriegs-Deutschland gegenüber jener Entwicklung erheben.
So hat Werner Bertin im Fort Douaumont ein Gespräch mit dem Leut-
nant Kroysing und seinem Unteroffizier Süßmann über den Charakter des
Krieges, über Lüge und Betrug im Zusammenhang mit ihm. „Mensch",
schreit ihn Kroysing nach einer naiv-gutgläubigen Äußerung an, „wissen
Sie noch immer nicht, daß alles Schwindel ist, Schwindel hinten und Schwin-
del vom, Schwindel bei uns und Schwindel bei denen drüben? Wir bluffen,
und die bluffen, und nur die Toten bluffen nicht und sind die einzig An-
ständigen bei dem Theater ... "
Freilich ist die Weltanschauung des tief enttäuschten einstigen
Maschinenbauingenieurs und jetzigen Pionierleutnants ebenfalls ein „kos-
mischer Pessimismus". Er zieht daraus allerdings nicht resignierte Folge-
rungen wie der gewesene Student der Kunstgeschichte Winfried, sondern
die der Wiederkehr eines neuen Heidentums, der Entlarvung aller christ-
lichen Lügen um den Krieg - den Krieg um des Krieges willen, könnte
man sagen. „Aber wo steckt der Fehler", fragt Bertin, als Kroysing über
die „Konstruktionsfehler" der Welt spricht. „Irgendwo klafft da was, das
behoben werden muß, damit unser Weltbild nicht in die Brüche gehe."
„ ,Ja, warum sollte es denn nicht in die Brüche gehen?' fragte Unteroffizier
Süßmann verwundert, ,das kostbare Weltbildchen? Ist Ihres nicht in die
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 171
Brüche gegangen?' - den gekrümmten Zeigefinger auf Kroysing rich-
tend """", ,ist meines nicht in die Brüche gegangen? ... nur das Ihre ist zu
schade, nicht wahr, das der Herren Schriftsteller und Propheten ... •"
Solche Krisenmomente der Weltanschauung durchziehen alle Romane.
Ihre Bedeutung wird dem Leser schon aus diesen wenigen Beispielen er-
sichtlich sein: allerdings sind es die Tatsachen des Krieges, seine Klassen-
grundlage, der Klassencharakter seiner Führung, die die Menschen aus dem
Begeisterungstaumel des Sommers 1914 erwachen lassen, die den Zusam-
menbruch des ganzen Wilhelminischen Regimes vorbereiten. Und Tat-
sachen sind, wie Engels aus dem Englischen zu zitieren liebte, harte Sachen.
Jedoch um eine die Menschen umstülpende Wirkung auszuüben, müssen
sie den Weg durch die Köpfe der Menschen gehen, ihr Denken und Emp-
finden ummodeln. Zweig ist der erste moderne Kriegsschilderer, bei dem
wir nicht nur ein vielseitiges Bild dessen erhalten, was am Kriegsanfang
in den Köpfen der Deutschen war, sondern auch jene Dynamik an der Ar-
beit sehen, mit der die Veränderung vor sich ging; die Ursachen, warum
diese so langsam, so widerspruchsvoll, so voller Rückfälle zustande kam.
Die Tatsachen, die uns vorgeführt werden, umfassen den ganzen Alltag
des Krieges; die seelisch-geistigen Reaktionen auf sie vernehmen wir aus
allen Klassen des deutschen Volkes. Darum muß aus dem Ganzen der
grundlegende Gegensatz der Herrschenden zu den Beherrschten hervor-
treten. Die Physiognomie des deutschen Krieges: Junker und Schwer-
industrie - mit allen Nuancen ihrer inneren Fraktionsstreitigkeiten - auf
der einen Seite, das werktätige deutsche Volk, Arbeiter, Bauern, Kleinbürger,
Intellektuelle auf der anderen.
Im Kriege verkörpert sich - im allgemeinen - dieser Gegensatz als der
zwischen Offizieren und Mannschaft. Aber nur im allgemeinen. Die Armee
des imperialistischen Deutschland ist keine friderizianische Söldnerarmee
mehr, in der das „Gesindel", das Kanonenfutter ausschließlich von den
Herren Junkern kommandiert werden könnte, mag auch der „frideriziani-
sche Geist" im Offizierskorps noch immer stark vorherrschend sein. Nicht
nur die - geadelten oder noch nicht geadelten - Söhne der Bank- und
Industriemagnaten befinden sich unter den Kommandierenden, sondern
auch die des „ordinären" Bürgertums und seiner Intelligenz. Ja, die für den
Zusammenhalt, für die Disziplin noch unentbehrlicheren unteren Chargen
stammen größtenteils aus dem Volk. Die Aufgabe ist: diese an sich frem-
den, ja feindlichen Elemente in fügsame Instrumente des Militarismus zu
verwandeln; nicht nur alle Klassengegensätze mit dem Militärmantel
zuzudecken, sondern auch eine Gewöhnung zu schaffen, die innerhalb
der Armee das Herrentum und den sklavischen Gehorsam, den Unter-
schied des Lebens oben und unten als notwendig empfinden läßt.
Arnold Zweig
Wie funktioniert dieser deutsche Militärapparat? Die Antwort ist einer
der wichtigsten Inhalte von Zweigs Romanzyklus. Die Beziehung der
Beherrschten zu ihren Herrschern wird hier dargestellt, und zwar um-
fassend sowohl im Nebeneinander wie im Nacheinander. In allen Lebens-
lagen erleben wir diese Beziehungen, indem wir Zeugen jener Kämpfe
werden, die von der Front bis zum Hinterland der Apparat zur Durchset-
zung des herrschenden Willens (das heißt der Interessen der herrschenden
Klassen und der Privatinteressen ihrer einzelnen Mitglieder) mit den Unter-
gebenen führt, die in den Stürmen des Weltkriegs ihr Leben, wenn möglich
ein verhältnismäßig „behagliches" Leben, etwas bessere Kost, etwas unge-
fährlicheren Dienst für sich herausschlagen wollen.
Es entsteht dabei oben eine Gesamtheit aus Brutalität, Verbrechen,
Leichtsinn, Strebertum, Hochnäsigkeit, Schlauheit, Korruption und Kom-
promissen, deren Grundlinie dahin zusammengefaßt werden kann, daß sie
die Potenz aller volksfeindlichen Gebrechen des Wilhelminischen Friedens-
regimes ist. Der Krieg selbst ist der alte Gamaschendienst, der alte Kadaver-
gehorsam, nur mit regelmäßigen „tödlichen Unfällen". Als Bertin, voll von
romantisch hochgespannten Vorstellungen, sich zum erstenmal im vor-
dersten Schützengraben unter feindlichem Feuer befindet, „stellt er,
gähnend vor Müdigkeit, fest: daß auch hier nur Dienst getan wurde -
nichts anderes." Für diesen Dienst, für entsprechendes Befehlen und blindes
Gehorchen muß man „erzogen" werden. Diese „Erziehung", die Bis-
marcksche Methode von „Zuckerbrot und Peitsche" (in jeweils ver-
schiedenen, aber immer streng klassenmäßig erwogenen Dosierungen)
sorgt dafür, daß jeder die ihm zugewiesene Rolle erfülle. Oben soll eine
Schicht von großen und kleinen Tyrannen entstehen: Selbstherrscher nach
unten, Speichellecker nach oben, mit einem Spielraum von Durchstecherei
unter sich, die geduldet wird - wenn sie nicht herauskommt. Ein richtiges
Offizierskorps verdaut und uniformiert die verschiedenartigsten Elemente;
das bekennen die klügeren, „liberalen" Kommandeure, die sogar vor
Parvenüs keine Angst haben.
So wird der Typus dieser widerwärtigen, zugleich sklavischen und un-
fehlbaren kleinen Despoten gezüchtet. Der bayrische Hauptmann Niggl,
der den jüngeren Kroysing in den Tod geschickt hat, weil er dessen An-
zeige über die Unterschlagungen bei der Verpflegung der Mannschaft
fürchtete, wird - mitten im „Privatkrieg", im Rachefeldzug, den der ältere
Bruder gegen ihn führt - von diesem Gegner und Todfeind so charakteri-
siert: „Das Herrentum der Kriegerkaste versetzt solche Leute in zu dünne
Luft, da quellen sie über die Ränder, die Niggl und Konsorten. Ein Wein-
reisender oder ein Rentamtmann von einiger Schlauheit leistet sich dann
ohne Gewissensbisse Großtaten wie König David, nur daß er sich schleu-
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 173
nigst hinter fremder Leute Rücken duckt, wenn er die Faust des Rächers
über seinem Nacken fühlt."
Die Unteren sollen zu blindem Gehorsam „erzogen" werden. Es gibt
keine Lebensäußerung des deutschen Soldaten, die von den Vorgesetzten
nicht zur Demütigung, zum Zerstampfen jeder Selbständigkeit und Men-
schenwürde ausgenützt würde, um aus ihm ein zu allem brauchbares Werk-
zeug zu machen. Nicht nur der Mut an der Front wird nach dem altpreußi-
schen Prinzip gezüchtet, daß der Soldat seine Vorgesetzten mehr zu fürch-
ten habe als den Feind, sondern vor allem wird erstrebt, daß die unifor-
mierten Werktätigen jederzeit gegen ihre nichtuniformierten Brüder als
stumm gehorchende Gewalt eingesetzt werden können, wenn diese es wagen,
ihre eigenen Lebensinteressen zu verteidigen. Darum ist dieser Heroismus der
Front kein Heldentum mehr, sondern bloß „Dienst". Darum ist dieser
„Dienst" in der Etappe, im Hinterland noch um einige Grad strammer,
„militärischer" als an der Front selbst.
Der Fall des Sergeanten Grischa verdeutlicht diese Lage sowohl im Gan-
zen wie auch in allen Details der Erzählung. Schon daß der General Schief-
fenzahn (ein Porträt Ludendorffs) nach restloser Aufklärung der wirklichen
Sachlage einen Unschuldigen hinrichten läßt, um gegenüber der „bolsche-
wistischen Verseuchung" der Ostfront, zur Verhinderung der Verbrüde-
rung deutscher und russischer Soldaten ein Exempel zu statuieren, zeigt
diesen Tatbestand ganz klar. Der Kampf der Division Lychow für die
Gerechtigkeit in diesem Einzelfall muß darum letzten Endes vergeblich
sein. Winfried, damals Adjutant seines Onkels, des Generals von Lychow,
versucht mit Hilfe eines Divisionsbefehls den zur Hinrichtung bestimmten
Grischa aus der Ortskommandantur zu entführen. Der zur Bewachung
des Verurteilten bestimmte Gefreite Sacht, ein anständiger, menschlich
empfindender Soldat, der dazu noch während der Zeit des Zusammenseins
eine warme Sympathie für seinen Gefangenen gewinnt, widersetzt sich mit
Androhung von Waffengewalt.
Auf die Versicherung Winfrieds, daß er die Verantwortung für alles auf
sich nähme, erwidert er:
„Das kenne man mit der Verantwortung und den Folgen, die der Herr
Oberleutnant trage 1 Da kriege Herr Oberleutnant schlimmstenfalls ein
kleines Kommando, eine Kompanie im Graben, für einige Zeit, im stillsten
Winkel - auf ihn aber, auf Mannschaft, falle es wie ein Hammer. Er
könne sich dann bestenfalls als Kerl zweiter Klasse quälen lassen, schinden,
abhungern, abrackern wie'n Luder, jahrelang, bis er verrecke, wenn er nicht
kurzweg, Heldentod, in die Binsen gehe, Kopfschuß, aus 1Nein, Herr Ober-
leutnant! Er habe seine Dienstanweisung, und weiche er von ihr, so solle ihn
der Teufel holen. ,Uns Mannschaft', schrie er beinah, ,geht's immer gleich
174 Arnold Zweig
an die Nieren. Mit uns wird nicht gefackelt und gespart. Der Russe bleibt
hier und wird morgen mittag umgelegt, oder die Kommandantur bestätigt
Ihren Wisch.' Das sei ihm in die Knochen gequetscht, jedem einzelnen
Mann im Heer: jeder sei sich selbst der Nächste, jeder macht seins. Und dann,
in der Auflösung aller irdischen Formen, sprang er auf Grischa zu, Gewehr
in der Linken, griff seine Hand mit der Rechten - Grischa stand längst
drei Schritte entfernt und hörte, was er nicht verstand, und verstand alles,
was er sah: der Kamerad solle ihm vergeben! Er, Hermann Sacht, habe ihm
sein Lebtag das Beste gegönnt, aber hier gäbe es bei Frau und Kind gar
keine andere Parole; und bevor er seine Hand fahren ließ, sagte er leise:
,Gott verzeih's denen, die uns anständige Kerle in der Presse stampfen,
bis wir vor Angst nichts mehr als Schweinerei zu tun wissen', und dann
wandte er sich, stülpte den Helm auf, schritt zur Tür, stellte sich mit dem
Rücken dagegen und hielt das Gewehr zum Anschlag bereit in beiden
Händen, die Mündung schräg gesenkt, den Finger am Stecher."
Wir haben diese Szene darum so ausführlich gebracht, weil sie die innere
Dynamik der Gegensätze kraß illustriert. Die Gegensätze sind immer und
überall wirksam. Alle Ritzen und Lücken des „Dienstes", alle Schwächen
des Militärapparates, ja selbst der Formalismus seiner Bürokratie werden
von der Mannschaft ausgenutzt, um in diesem System der Verleugnung der
Menschenwürde das Minimum einer menschlichen Existenz zu retten. Es
geht also innerhalb der strammstehenden Fronten ein ununterbrochener
Guerillakrieg zwischen Oben und Unten vor sich. Und Arnold Zweigs
Verdienst besteht hier darin, daß er diese Kleinkämpfe des militarisierten
Alltags nicht nur in der Vielseitigkeit ihres Nebeneinander gestaltet, son-
dern auch die Wandlungen ihres Charakters scharfäugig wahrnimmt und
in bezeichnenden Begebenheiten darstellt.
Denn solange der Militärapparat trotz seiner klassenmäßig notwendigen
Widermenschlichkeit das ausführende Organ der irregeführten und irre-
gegangenen Volksbegeisterung des Kriegsanfangs war, ist der Inhalt dieses
Guerillakampfes nur die Erleichterung des alltäglichen Lebens (Kost,
Urlaub usw.). Die Enttäuschungen des Volkes im Laufe des Krieges bringen
rings um den Apparat eine immer stärker fühlbare Atmosphäre der Iso-
lierung hervor. Die Verteidigung der menschlichen Existenz und der
Menschenwürde gegen die Vorgesetzten erhält immer deutlicher einen
Antikriegsakzent. Freilich in einer sehr ungleichmäßigen, sehr verwickelten
Weise. Die unmittelbare Macht des Apparats bleibt bis zum Zusammen-
bruch stets größer als die Macht der sich in Einzelheiten des Alltags äußern-
den Volksstimmung. Nach außen funktioniert der Apparat bis ans Ende
tadellos. Aber Zweig zeigt die kapillarischen Bewegungen, die unter dieser
scheinbar unveränderten Oberfläche vor sich gehen. Er gibt damit eine
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 175
dichterische Vorgeschichte des hier noch nicht gestalteten Zusammen-
bruchs der deutschen Fronten.
Die Darstellung solcher Widerstände gehört zu den wichtigsten und
neuesten Zügen an Zweigs Romanzyklus. Er gibt, wie wir bereits an-
gedeutet haben, vor allem ein Bild der „Erziehung" typischer Intellektueller
der Vorkriegszeit durch den Krieg zum Widerstand gegen den Krieg. Er
nimmt, mit künstlerischem Takt und lebendiger Erfindungsgabe, seine
Gestalten aus den verschiedensten Schichten der Intelligenz, läßt sie in
sehr verschiedenem Alter und mit sehr verschiedener geistiger und morali-
scher Reife den „Erziehungs"weg antreten. Demgemäß sind die Ergebnisse
außerordentlich abgestuft und widersprechend, aber gerade durch die
Variation werden sie interessant, lehrreich und wichtig, ergeben sie ein
typisches Gesamtbild.
Die realistische Ehrlichkeit Zweigs erweist sich vor allem darin, wie er
- ein überzeugter und erbitterter Feind des imperialistischen Krieges -
die Langsamkeit darstellt, mit der solche Entwicklungen bis zu einem wirk-
lichen Widerstand heranreifen, wenn sie überhaupt je diese Stufe erreichen.
Hier hat Zweig einen schweren Kampf gegen seine eigenen Wünsche und
Träume führen müssen, und daß er in sich die verständliche Sehnsucht,
den Widerstand gegen den Krieg beschleunigt zu sehen, so erfolgreich be-
kämpft hat und nur die Wirklichkeit selbst in ihrer harten und oft des-
illusionierenden Sprache zu Wort kommen ließ, ist in dieser Art auch ein
„Sieg des Realismus". Hier freilich ein bewußt erkämpfter.
Die Langsamkeit der Entwicklung bezieht sich auf den Widerstand. Die
Enttäuschung am Krieg, das Verfl.attem der Kriegsbegeisterung erfolgt
mitunter sehr rasch. Aber von hier bis zu einer einigermaßen deutlichen
Bewußtheit ist ein langer und schwerer Weg.
Wir haben die allgemeine Meinung des Pionierleutnants Kroysing über
den Schwindel des Krieges bereits gehört. Wir wissen auch, daß er einen
„Privatkrieg" im Krieg führt, einen Rachefeldzug gegen die Gauner, die
mit Hilfe der Vorschriften und des Apparats seinen Bruder ermordet haben.
Kroysing ist ein Mensch von ungewöhnlicher „intellektueller Recht-
schaffenheit". Auch vom Kastenhochmut des durchschnittlichen deutschen
Offiziers ist er ganz frei; wir sehen wiederholt Beispiele seiner guten,
kameradschaftlichen Beziehung zu seinen Untergebenen, seiner auf-
richtigen Sorge um ihr Wohlergehen. Und auch sein an Michael Kohlhaas
gemahnender „Privatkrieg" macht ihn gegenüber den allgemeinen Zu-
sammenhängen nicht blind. Er stilisiert, wir wir ebenfalls gesehen haben,
Arnold Zweig
den kaltblütigen und feigen Mörder Niggl keineswegs zu einem roman-
tischen Schurken in düsteren Farben; er sieht vielmehr klar, daß dieser
- gerade als feiger Mörder - ein Produkt des preußischen Militarismus
im Kriege ·ist.
Aber was folgt aus alledem? Welche allgemeinen Folgerungen zieht
Kroysing aus diesen Erlebnissen? Man könnte sagen: gar keine. Sein nihili-
stisches „Heidentum" ist für das herrschende System völlig ungefährlich,
ja trägt noch dazu bei, aus ihm einen hervorragenden Frontoffizier zu
machen. Es ist gar nicht unmöglich, daß er sich, hätte er den Frieden erlebt,
zu einem scharfmacherischen Betriebsingenieur (sogar zu einem militanten
Reaktionär) entwickelt hätte, der sein „Heidentum" nunmehr nicht an den
Franzosen, sondern an den Arbeitern austoben ließe.
Der linkssozialistische Berliner Setzer Pahl, der in demselben Spital wie
Kroysing gepflegt wird und durch Bertin mit ihm in persönliche Beziehung
kommt, charakterisiert seinen Fall so: „Und der Ingenieur Kroysing, sein
Bruder, ein gescheiter Mensch, der das Leben kannte: was für Folgerungen
zog er aus dem Ereignis? Erhob er sich über die poplige persönliche Be-
dingtheit? Vermochte er, an diesem einen Fall die Struktur der Gesellschaft
abzulesen, der er diente? Nicht die Bohne! Er beehrte mit seiner Feind-
schaft, kräftig und gut gewachsen und wahrhaft zu was Besserem brauch-
bar, einen kümmerlichen bayrischen Rentamtmann, ein paar seiner Unter-
gebenen; nicht im Traum fiel ihm ein, zu fragen, ob dieser Hauptmann
Niggl nicht einfach einen Auftrag der Gesellschaft ausgeführt hatte, als er
den kleinen Kroysing mitleidlos in der Chambrettes-Ferme festnagelte -
einen ungeschriebenen Auftrag, Streikbrecher zu beseitigen, ihre etwa auf-
tauchenden Nachfolger abzuschrecken, die Klasse von Verrätern zu säubern,
das Staatsinteresse über die sogenannte Menschlichkeit zu erheben."
Den tödlichen Charakter des kosmischen Nihilismus als einer abstrakten
und falschen Verallgemeinerung der Enttäuschung durch die Unmensch-
lichkeit des imperialistischen Krieges erblicken wir noch unmittelbarer an
der feinen und ergreifenden Gestalt des Professor Mertens. Er ist Kriegs-
gerichtsrat in Montmedy, und in seine Kompetenz gehört der Fall des
jüngeren Kroysing. Sobald er innere Klarheit über den Fall gewonnen hat,
ist er sofort bereit, dem Bruder im Kampf um die Gerechtigkeit beizu-
stehen, und ist ehrlich entschlossen, dabei alle Konsequenzen zu ziehen.
Die Aufrollung dieses Falles trifft ihn bereits in einem vom Krieg des-
illusionierten Zustand, aber auf einer Stufe der Enttäuschung, auf der er
noch die Neigung hat, bei gewissenhafter Erfüllung seiner Amtspflichten
in der Betrachtung moderner französischer Maler, im Anhören und Spielen
klassischer Musik eine Zuflucht, eine isolierte selige Insel zu finden.
Er wird durch den Fall Kroysing aufgeschreckt. Seine Augen sind nun-
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 177
mehr weit offen. Und was er sieht - „Fälle" in seiner Praxis, Behandlung
der belgischen Gefangenen, der Bevölkerung der besetzten Gebiete - ist
nichts als eine durch militaristische „Ordnung" schlecht verhüllte, durch
„ vaterländische" Phrasen prostituierte Bestialität. Der ehrliche, feinfühlige,
wahrheitsliebende Professor Mertens nimmt, je mehr ihn die Wahrnehmung
der Kriegswirklichkeit aus seinem Fluchtparadies vertreibt, mit um so
größerem Entsetzen seine eigene Ohnmacht vor diesen Erscheinungen
wahr.
Hier erfolgt nun bei ihm der „weltanschauliche Sprung". Das Entsetzen
über die militaristische Bestialität verallgemeinert sich zu einem Menschen-
haß. Er kann die Menschen, diese Swiftschen Yahoos (sich selbst mit in-
begriffen) kaum mehr physisch ertragen. Mit Lebewesen, die so handeln,
kann und will er keine Gemeinschaft haben.
Und gemäß diesem Gedankengang der abstrakten Verallgemeinerung
verflüchtigt sich der Gegensatz zwischen seiner persönlichen Ohnmacht
und der brutalen Allgewalt des preußischen Militärapparats zu dem Gegen-
satz zwischen moralisch verantwortlichem Individuum und blind ge-
horchender Masse: „Jetzt war es so weit, daß er gewisse Worte nicht mehr
hören konnte, ohne husten zu müssen und Brechreiz zu spüren: vor allem
das Wort Volk. Es gab keine Menschen mehr, nur noch Volk gab es.
Sprach man das Wort Volk mehrmals hintereinander vor sich hin: Volk,
volk, folg, folg, so blieb nichts anderes übrig als die Herde. Du sollst und
mußt folgen, gleichgültig wem."
Bei einer solchen Weltanschauung, bei einem derart tief zerrütteten
Lebensgefühl bleibt natürlich der Selbstmord der einzige konsequente Aus-
weg. Mertens vergiftet sich. Durch diese Folgerichtigkeit zeigt er, wie
hoch er moralisch über dem Durchschnitt steht. Denn es ist klar, daß der
Gedanke, mit dem der verzweifelte Winfried spielt, sich freiwillig an die
Westfront zu melden, nur eine inkonsequente eklektische Variation des
Mertensschen Zusammenbruchs ist. Daß Mertens gedanklich und gefühls-
mäßig zu diesen Folgerungen getrieben wird, zeigt die Klassenschranken
auf, vor denen seine Ehrlichkeit machtlos bleibt.
Bertin und Winfried freilich werden durch den Krieg tatsächlich „er-
zogen". Aber wie schwer, wie widerspruchsvoll ist ihr Weg, wie reich an
Rückfällen: wie oft hängen seine Wendungen von glücklichen oder un-
glücklichen Zufällen ab. Die beiden Fälle sind allerdings voneinander sehr
verschieden, fast einander entgegengesetzt.
Bertin ist ein Schriftsteller, für den die weltanschauliche Vertiefung jeder
Frage ein ernstes Lebensbedürfnis ist. Und es ist wiederum ein schönes
Zeugnis für die realistische Unerbittlichkeit Zweigs, daß er diesen Typus,
der ihm persönlich sehr nahe stehen muß, der sicherlich manchen intimen
Arnold Zweig
Zug vom Verfasser selbst erhielt, so gerecht kritisch und abgewogen objek-
tiv darstellt, und zwar gerade in den Fragen der Weltanschauung. Die ge-
dankliche und menschliche Vertiefung nämlich, die hier bei Bertin zum
Ausdruck kommt, hat, wie wir bereits gesehen haben, die Neigung, die
konkretesten, wichtigsten, sozial ausschlaggebendsten Vermittlungen zu
überspringen, den Einzelfall, den er menschlich-moralisch immer feinfühlig
und oft richtig beurteilt, unmittelbar mit einem sehr luftigen metaphysischen
Prinzip zu verknüpfen. Dadurch entschlüpfen ihm die wichtigsten Kon-
sequenzen.
So kann es geschehen, daß Bertin während dreier Kriegsjahre die ver-
schiedenartigsten Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten am eigenen
Leibe erlebt, daß er an dem Kampf gegen zwei Justizmorde (im Fall
Kroysing und im Fall des Sergeanten Grischa Paprotkin) intim beteiligt
wird, ohne imstande zu sein, diese reichhaltigen eigenen Erfahrungen in
richtiger Weise zu verallgemeinern. Die düsteren Lehren beider Fälle „ver-
allgemeinern" sich in ihm zu einem Haß gegen die Gewalt überhaupt, ja
im Fall Grischa entstehen in ihm sogar zuweilen Illusionen, als würde die
bloße und reine Macht des Moralischen zu einem solchen Kampfe aus-
reichen.
Die Kritik, die Zweig hier mit den echt künstlerischen Mitteln der Er-
zählung - das heißt mit der lebendigen Gegenüberstellung von Welt-
anschauung, aus ihr entspringenden Gefühlen, Handlungen und den Tat-
sachen in ihrer inneren Logik - an der Weltanschauung der Vorkriegs-
intelligenz übt, ist vielseitig, tief und von weittragender Bedeutung. Er
beschränkt sich nämlich nicht nur darauf, dieses Überspringen der kon-
kreten sozialen Vermittlungen in allen seinen theoretischen und praktischen
Folgen aufzudecken (wofür wir bereits einige Beispiele angeführt haben).
Er zeigt darüber hinaus auch, wie diese Weltanschauung, die aus der
sozialen und geistigen Lage der Intellektuellen im Vorkriegsdeutschland
spontan herauswächst, das friedliche Nebeneinander der schroffsten Wider-
sprüche im Kopf der Menschen zuläßt, ja begünstigt und die Intellektuellen
damit - bei aller subjektiven Redlichkeit, bei allem Anschein einer Tiefe
der Weltanschauung, einer Rücksichtslosigkeit im Zuendedenken der Pro-
bleme - gerade von der wirklichen, echten Folgerichtigkeit ablenkt.
Bei Bertin ist das besonders klar sichtbar. Er tappt mit naiver Be-
geisterung in den Krieg hinein; seine Theorie des Tragischen haben wir
ja bereits vernommen. Natürlich ist er bald enttäuscht und ernüchtert. Er
zeigt seine veränderte Stimmung mit einer sehr ehrlichen und sehr un-
vorsichtigen Offenheit, als er - vor den Augen von Vorgesetzten, die es
verbieten - durstenden französischen Kriegsgefangenen zu trinken gibt.
Er erlebt die sinnlose und verbrecherische Vergeblichkeit der Verdun-
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 179
offensive, begrüßt aber trotzdem begeistert den unbeschränkten U-Boot-
Krieg als ein Mittel zur Beschleunigung des Friedensschlusses.
Die Kritik Zweigs geht aber tiefer als bloß bis zum Aufzeigen solcher
unlösbaren Widersprüche im Denken seiner anständigen Helden. Er analy-
siert auch die Methode des Entstehens solcher Irrtümer. Vom über-
springen der sozialen Vermittlungen war schon die Rede. Diese negative
Kritik wird durch eine positive ergänzt, indem gezeigt wird, daß die - für
die Denkweise der Intellektuellen nächstliegende - psychologisch-morali-
sche Analyse der Handlungen einzelner Menschen, um die individuelle
Verantwortung an ihnen festzustellen, notwendig ergebnislos verläuft.
Wird sie gewissenhaft und möglichst vielseitig durchgeführt, so entsteht
als ihr Ergebnis teils ein Regreß ins Unendliche, teils ein unentwirrbarer
Knäuel von persönlichen Verantwortlichkeiten, aus dem kein Weg zu einer
Entscheidung in den wichtigen Problemen des gesellschaftlichen Lebens
sichtbar wird.
Zur Zeit des „Privatkrieges", den der Leutnant Kroysing gegen den
Hauptmann Niggl im Fort Douaumont führt - er läßt das Bataillon seines
feigen Gegners an diesen Posten kommandieren, um dessen Panik zu einem
Geständnis seiner Schuld auszunutzen -, wird diese Frage von Kroysing
und Bertin sehr interessant erörtert. Der Schriftsteller macht dem Leutnant
Vorwürfe, daß er wegen seiner Privatrache die unschuldigen Schipper des
Bataillons Niggl der Verwundung und dem Tod aussetzt. Kroysing ver-
teidigt sich zuerst mit schnoddrigen Grobheiten, dann, ernst geworden,
kehrt er den Spieß um. Er zeigt, daß an alledem Bertin mitschuldig ist.
Denn gerade Bertin habe ihm den Fall seines Bruders aufgedeckt, und er
habe dies doch offenkundig in der Absicht getan, daß das Verbrechen ge-
sühnt werde. Darauf Bertin: „Das habe ich noch nie bedacht ... , etwas
ist gewiß daran. Das Gewirr von Ursachen und Folgen ist schwer zu über-
sehen •.. Etwas Schreckliches war geschehen, die Welt war aus den Fugen,
aber daß sie nun noch mehr aus den Fugen gerät, weil man versucht, sie
einzurenken, das ist eine tolle Sache."
Man sieht, wie aus einer solchen Denkmethode sowohl Bertins „tragi-
sche" Weltanschauung als auch Kroysings nihilistisches „Heidentum"
herauswachsen und wie keine derartige moralisch-kosmische Theorie die
wirk.liehen Fragen einer wirklichen Lösung auch nur einen Schritt näher-
bringen kann.
Wie sehr solche Weltanschauungsfragen aus dem gesellschaftlichen Sein
herauswachsen, erkennen wir in diesem Roman daraus, daß sie bei
Menschen von sehr verschiedener Temperamentsart, Erziehung, Reife,
Mentalität in Augenblicken der geistigen Krise naturwüchsig entstehen.
Der Hauptmann Winfried ist seinem Charakter nach ein Gegenpol zu
180 Arnold Zweig
Bertin: seine zuweilen studentisch wirkende Sorglosigkeit bildet einen
scharfen Gegensatz zu dessen Überbedenklichkeit. Auch ihr Kriegsschicksal
ist sehr verschieden: Bertin erlebt den Krieg unten, unter den widrigsten
Umständen, zuerst jahrelang als Schippet, dann als Schreiber in ver-
schiedenen Büros, während Winfried nach einer - allerdings gefahrvollen -
Offizierszeit an der Westfront erst Adjutant seines Onkels, des Generals
von Lychow, wird, später intimer Mitarbeiter in den höchsten Sphären von
„Ober-Ost" und Günstling der entscheidenden Drahtzieher dieser Sphären,
des Generals Claus und des Hauptmanns von Ellendt. Demgemäß ist der
handlungsmäßige Rahmen seines Schicksals ein ganz anderer als bei Bertin;
die psychologischen Anlässe zu den Konflikten sind geradezu entgegen-
gesetzt. Um so auffallender - und richtiger - ist es, daß die geistigen Re-
aktionen auf die Ereignisse eine tiefe Verwandtschaft, freilich nur letzten
Endes, aufweisen.
Winfried gerät in Konflikte durch ein forsches, temperamentvolles
Draufgängertum. Als der Sergeant Paprotkin hingerichtet werden soll,
will er ihn einfach entführen. (Er hat besonderes Glück, daß nicht schon
daraus eine Katastrophe entsteht.) Als Hauptmann in „Ober-Ost" plät-
schert er zuerst vergnügt im Strom des Stabslebens, handelt zwar in
einzelnen Fällen aus spontanem Anständigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl,
ist aber weit davon entfernt, des deutschen Generalstabs despotisches
Herumwirtschaften mit dem Schicksal der Völker zu durchschauen und zu
verurteilen. Ja sogar als seine Braut, die Krankenschwester Bärbe Osann,
deren aus dem Elternhaus, aus dem Tübinger Professorenmilieu mit-
gebrachte liberale Traditionen durch Kriegserfahru~gen in schärfere oppo-
sitionelle Bahnen gelenkt wurden, ihn für eine - dem ·politischen Inhalt
nach sehr zahme - Aktion gewinnt, die allerdings in den Augen des
Generalstabs ein schweres Verbrechen ist, tappt er leichtfertig in dieses
Abenteuer, ohne sich über dessen Tragweite, auch für sich selbst, im
klaren zu sein. Und die persönlich wie politisch faszinierende Wirkung, die
der General Claus auf ihn ausübt, bleibt bei Winfried, auch während er
wider dessen Ziele handelt, unverändert. Wie bei Bertin leben die einander
widersprechendsten Anschauungen und Gefühle in seiner Seele friedlich
nebeneinander.
Auch nachdem die Katastrophe geschehen ist, wird - ebenso wie bei
Bertin - der „Weltgrund" angeklagt. Auch der nächste Schritt ist sehr
ähnlich: das „tragische" Verstehen der verwickelten gegenseitigen morali-
schen Verantwortungen. Und erst als ihm brutal klargemacht wird, welche
Rolle sein angebeteter General Claus in dieser ganzen widerwärtigen,
mesquinen und grausamen Intrige mit tödlichem Ausgang gespielt hat,
erst als im Gespräch mit Claus dieser sein Wesen so kraß enthüllt, daß
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 181
hinter der Fassade des hinreißend-unmittelbaren „Genies" eine wenngleich
begabte Abart des schlechtesten deutschen Militarismus mit einer auch für
Winfried hinreichenden Deutlichkeit ans Tageslicht tritt - erst jetzt ent-
steht „plötzlich" der Umschwung in Winfried, erst jetzt geht er resolüt
auf die Seite des Volkes über.
IV
Das bedeutet natürlich nicht, daß diese Erlebnisse und selbst das falsche
Nachdenken über sie vergeblich sein müssen. Die „Erziehung" auch der
einzelnen Menschen wird von Zweig in der Form kapillarischer Vorgänge
gestaltet. Sie werden erlebt, sie wirken, sie wirken sich jedoch lange Zeit
als falsche Theorien aus, bis einmal „plötzlich", scheinbar aus ganz gering-
fügigem Anlaß, ein Umschwung erfolgt.
Bei Bertin wird dieser Umschwung noch offensichtlicher als bei Winfried
von einem scheinbar zufälligen Anlaß ausgelöst. Er erzählt seine „Be-
kehrung" seinem alten Verdunkameraden, dem klugen sozialistischen
Berliner Gastwirt Lebehde (der später in den Spartakuskämpfen in Berlin
fallen wird). Er sah einen hochgewachsenen deutschen Gardeoffizier in
Friedensparadeuniform mit nachschleppendem Säbel, die Hände in einem
kostbaren Pelzmuff, durch die Straßen von Kowno stolzieren. Was Jahre
bitterer Erfahrung nicht vermochten, tat „auf einmal" dieser Anblick.
„Siehst du, Lebehde, da gab es in meinem Kopfe einen Knacks. Dafür
schufteten wir jetzt all die Jahre, hatten unsere Arbeit verlassen, unsere
Zukunft, unsere Ausbildung, unser geistiges Leben und unsere Frauen, da-
mit das hier so umherstolzieren konnte wie ein Storch in der Kleewiese.
Dazu und zu nichts anderem haben so viele dagelegen, die wir doch neben
uns hatten, als sie noch lebendige Leute waren. Mensch, das war ein Vor-
mittag, eigentlich nur eine halbe Stunde, am 21. Dezember 1917, zwischen
neun und halb zehn."
Lebehde benutzt die Gelegenheit, seinen Freund an die einstige U-Boot-
Begeisterung und an die Abfuhr zu erinnern, die Bertin damals durch den
Gasarbeiter August Halezinsky erlitt. „ ,Warum', fragte Bertin, ,brauchte
unsereiner noch zehn Monate und ein leibhaftiges Gespenst, um ebenso
klug zu werden wie ein Gasarbeiter?"'
Hier sieht man, wie klug, gerecht und dichterisch Arnold Zweig die
Frage der „Erzi~hung" stellt. Er läßt seine Menschen ihre intellektuell-
moralischen Probleme vollständig, in ihrer verwickelten inneren Dialektik,
mit allen ihren Feinheiten durchleben. Da er jedoch zugleich zeigt, daß
diese Anschauungen dem Sein solcher Gestalten notwendig, gesetzmäßig
entspringen, und da er sie handlungsmäßig an der gesamten äußeren Wirk-
IBz Arnold Zweig
lichkeit sich erproben läßt, kommt ihre Stelle und Bedeutung im Prozeß
des Ganzen klar und abgetönt zum Ausdruck. Gerade die „herkömmliche"
Gestaltungsweise gestattet es Zweig, die soziale Hauptlinie vollständig zur
Geltung zu bringen, ohne einer mechanischen Geradlinigkeit, die in der
modischen, allzu direkten Darstellungsweise unvermeidlich ist, die in be-
sagten Anschauungen enthaltenen gedanklichen Nuancen und mensch-
lichen Eigenheiten aufzuopfern, durch welche die Figuren ihre besondere
individuelle Physiognomie erhalten.
Das wichtigste „erzieherische" Moment im Zusammenstoß dieser
Gedankenrichtungen mit der objektiven Wirklichkeit ist die revolutio-
näre Arbeiterklasse. Das Beispiel Mertens' zeigt am augenfälligsten, daß der
vollständige Rückzug des Individuums in sich selbst nach dem Zusammen-
prall mit der brutalen Außenwelt, wenn alle Konsequenzen gezogen wer-
den, zu seiner Selbstauflösung, zu seiner Selbstaufhebung führt. Erst
durch die befruchtenden Beziehungen zu der bewußten Trägerin der Zu-
kunft, zu den lebendigen gesellschaftlichen Kräften des neuen Auswegs
entsteht im Individuum die Möglichkeit, auch für sich selbst eine Lösung
zu finden.
Bei Bertin ist das am deutlichsten. Zweig beweist aber diese Wahrheiten
durch Mittel der Kunst und nicht durch Mittel der abstrakten Argumen-
tation. Darum sind Mertens oder Kroysing negative Bestätigungen derselben
Sachlage. Dieses Geführtwerden des ehrlichen Intellektuellen durch die
geistige Kraft der Arbeiterklasse bedeutet nicht unter allen Umständen
seine offene oder vollständige Bekehrung zum Sozialismus. Selbst im Fall
Bertin nicht. Die Absichten Zweigs sind freilich in diesem Fall noch nicht
klar zutage getreten. Im letzten Roman, aus welchem wir die zuletzt zitierte
Zwiesprache zwischen Lebehde und Bertin angeführt haben, spielt dieser
eine episodische Rolle; wir müssen abwarten, wohin ihn das Ganze führen
wird. Soweit das aus den - die Friedenszeit vorwegnehmenden - Schluß-
szenen des V erdunromans zu entnehmen ist, nicht bis zum Sozialismus.
Aber das ist auch nicht entscheidend. Zweig gestaltet das Erwachen des
demokratischen Geistes in den besten Vertretern der deutschen Intelligenz:
das brutale Zerschlagen ihrer isolierten, vom Graben des geistigen Hoch-
muts umgebenen „Elfenbeintürme" der Friedenszeit; das Erwachen des
Bedürfnisses nach Verbundenheit mit dem Leben des Volkes, das Er-
wachen der Bereitschaft, von dem Volke zu lernen. Um einen solchen demo-
kratischen Geist zu besitzen, muß der Intellektuelle nicht unbedingt
Sozialist werden. Wohl aber muß er die bourgeoisen Vorurteile gegen den
Sozialismus, gegen die Arbeiterklasse ablegen, in sich überwinden. Denn
wer das Proletariat als „kulturfeindliche Masse" fürchtet und mit Miß-
trauen betrachtet - mag sein sonstiges Streben subjektiv noch so ehrlich
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 183
auf Demokratie gerichtet sein-, kann unmöglich ein wirklicher Demokrat
unserer Zeit werden. Diese Erziehung zur wirklichen zeitgenössischen
Demokratie gibt Zweig - in positiven oder in negativen Entwicklungs-
linien - seinen Helden.
Die Gestalten der revolutionären Arbeiter sind demgemäß Nebenfiguren.
Ihre Funktion in der Komposition des Ganzen gibt aber, wie wir gesehen
haben, den Ausschlag. Auch hier ist der schriftstellerische Takt hervorzu-
heben, mit dem Arnold Zweig der realen historischen Rolle der klassen-
bewußten Arbeiter im imperialistischen Weltkrieg gerecht wird. Die
Tatsachen des Kriegsablaufs und des Zusammenbruchs zeigen, daß diese
eine kleine, wenngleich ständig wachsende Minorität auch in der Arbeiter-
klasse gebildet haben. Zweig geht als Realist von den Tatsachen aus. Er
schildert die wachsende spontane Unzufriedenheit und Empörung unter
den uniformierten Proleten. Eine bewußte, revolutionäre Gestalt erhält
diese rebellische Ablehnung des Krieges nur in wenigen Figuren, wie in
Lebehde oder in Pahl.
Diese treten wegen ihrer Isoliertheit sehr vorsichtig auf. Ihr Einfluß auf
die Masse kommt nur vereinzelt, zumeist vorsichtig-indirekt, zum Aus-
druck. Oft verschwinden sie in der noch nicht genügend aufgewühlten
Masse. Sie bereiten klug - noch im Rahmen ihrer beschränkten Möglich-
keiten - die Zukunft vor.
Diesem richtigen Bild von der wirklichen Entwicklung entspricht die
Komposition Zweigs. Sie ist in dieser Hinsicht (ich weiß nicht, wieweit
bewußt) eine Wiederaufnahme, eine epische Variation der Stellung und
Funktion der Volksszenen in „Dantons Toq" von Georg Büchner. Die
Volksmassen bilden dort, wie ich einmal nachgewiesen habe (Deutsche
Realisten des 19. Jahrhunderts, Aufbau-Verlag), einen Chor zu den Hand-
lungen der Protagonisten, der, oft ohne auf die Geschehnisse im Vorder-
grund direkt Bezug zu nehmen, die wirkliche soziale Grundlage, den wirk-
lichen gesellschaftlichen Ausgang aufzeigt. Arnold Zweig nimmt diese
Kompositionsweise auf. Die Rolle der Arbeiter in diesem großen
Erziehungswerk beschränkt sich nicht auf bewußtes Gegenüberstehen,
auf bewußte Versuche der Beeinflussung, wofür wir bereits Beispiele
angeführt haben. Ihre Existenz, ihr Denken und Handeln begleitet viel-
mehr ununterbrochen den „Erziehungs"weg der Protagonisten. Sie geben
- wie in dem letzten Roman - „das Grundwasser" für die ganze, sich
zumeist „oben" abspielende Handlung ab. Sie zeigen - wie in dem „Ab-
gesang", der die Grischa-Erzählung abschließt - , auf welche Art der Einzel-
fall in den Strom des Allgemeinen, des Volksschicksals mündet, in welcher
Weise die im Roman gestalteten kapillarischen Ereignisse mit der Weiter-
bewegung der Volksströmungen zusammenhängen.
Arnold Zweig
Erst dieser Hintergrund gibt den richtigen Akzent für die Schicksale
der Vordergrundfiguren. Erst in diesem Zusammenhang erscheint die
politische Bedeutung der Langsamkeit ihrer Entwicklung im richtigen
Licht. Zweig bezeichnet einmal diese Romane als historische. Mit Recht,
insofern sie eine abgeschlossene, völlig übersehbare Periode behandeln;
mit Recht, insofern in ihrem Aufbau und in ihrer Führung ein echt histo-
rischer Geist waltet. Mit Unrecht jedoch, indem er sie in einer Bemerkung
der Aktualität, der Gegenwart entgegensetzt. Er sagt in seinen Schluß-
bemerkungen zu dem letzten Roman, als er seinen endgültigen Plan des
Zyklus auseinandersetzt: ,,Aber vielleicht erlaubt die Gegenwart nicht, daß
man sich so viele Jahre rückwärts wendet."
Ich glaube, Zweig würde sehr unrecht tun, wollte er seinem Bedenken
nachgeben. Gerade als Geschichte des vergangenen imperialistischen Krieges
hat sein Romanzyklus eine außergewöhnliche politische Aktualität. Wir
haben bereits auf Lenins Bemerkungen hingewiesen, die das Aufdecken
dessen, was der letzte Krieg wirklich war, als einen wichtigen Bestandteil
der Enthüllung des Geheimnisses bezeichnen, das die Vorbereitung des
nächsten Krieges umgibt.
Das bezieht sich auf alle guten Schriftwerke über den imperialistischen
Krieg. Zweigs Romane haben aber noch eine Besonderheit, der wir unsere
letzten Betrachtungen gewidmet haben: Richtung und Tempo der Entwick-
lung der besten Intellektuellen gegenüber dem Kriege. Hier liegt eine der
wichtigsten, der aktuellsten Fragen der deutschen Volksfront. Diese Kroy-
sing und Mertens, diese Bertin und Winfried, Sophie von Gorse und Bärbe
Osann repräsentieren das Beste an Verstand und Moral in der deutschen
Intelligenz. Die Tatsache, daß große Teile von ihr auch heute, nach den
Erfahrungen des Krieges, der Revolution, ja der faschistischen Barbarei
noch immer nicht in den Reihen des Volkes für Freiheit und Kultur kämp-
fen, ja, nicht selten sogar vom Faschismus verführt wurden, bestätigt
nicht nur die Richtigkeit des Bildes, das Zweig hier von der Langsamkeit,
von dem widersprüchlichen Charakter ihrer Entwicklung gibt, sondern
konkretisiert auch beträchtlich die hier vorliegenden Aufgaben. Nur ein der-
art gründliches Studium der individuellen und typischen Entwicklungs-
hemmungen, wie wir es bei Zweig erhalten, macht es möglich, sie
in der Wirklichkeit zu überwinden. Ihre Wichtigkeit ist gleich groß für
diejenigen, denen sie den Spiegel vorhalten, wie für diejenigen, die aus
ihnen die richtigen Wege der konkreten, bis ins Persönliche gehenden
Beeinflussung erlernen. Werden einmal alle Kroysings und Mertens, alle
Bertins und Winfrieds als aktive Kämpfer in der Front des Volkes stehen,
so dürfen dabei die direkten wie die indirekten Verdienste der Romane
Arnold Zweigs nicht vergessen werden.
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 185
Einerlei, ob man Zweigs Zyklus als historisch auffaßt oder nicht - der
Verfasser dieser Zeilen hat die Selbständigkeit des historischen Romans als
eigener Gattung stets bestritten -, seine enge Beziehung zur Gegenwart
ist unbezweifelbar. Das sieht man an dem Wachstum des Verfassers selbst.
Zwei der bisher veröffentlichten Romane („Grischa" und „Junge Frau")
sind vor der Überflutung Deutschlands durch die faschistische Barbarei
entstanden. Sie stehen sowohl ideell wie künstlerisch nicht auf der Höhe
der späteren, bei denen die Erfahrungen des Kampfes gegen den Faschis-
mus die Weltanschauung und die Gestaltungskraft Arnold Zweigs wesent-
lich entwickelt haben.
Bei jedem ernsten Künstler üben die Konkretheit und die Weite seines
Zukunftsbildes einen bestimmenden Einfluß auf die Tiefe und Richtigkeit
seiner Gegenwartsgestaltung aus. Weil Zweig nach 1933 die Problematik
der Weimarer Periode vertieft sieht, weil er manche Selbsttäuschungen
dieser Zeit abgelegt hat, vor allem, weil seine demokratischen Überzeugun-
gen entschiedener, geklärter, mit dem werktätigen Volk verbundener, von
liberalistischen Vorurteilen freier geworden sind, ist seine Gestaltung der
Menschen im Kriege umfassender, reichhaltiger, tiefer und historischer
geworden.
Man vergleiche die Figur Bertins in „Erziehung vor Verdun" und im
„Streit um den Sergeanten Grischa". Der zweite Roman ist erzählerisch die
unmittelbare FortsetzUng des ersten, ist aber schriftstellerisch acht Jahre
früher entstanden. Eine Reihe kleiner Züge, die freilich bei einem so sorg-
fältigen Stilisten wie Zweig nicht unwesentlich sind, zeigen schon ver-
änderte Absichten (zum Beispiel wird die Geschichte, wie Bertin vom
Schipperbataillon ins Büro des Kriegsgerichtes der Lychow-Division
kommt, ganz verschieden erzählt, sogar der schriftstellerische Charakter
Bertins vor seinem Einrücken ist nicht identisch). Wichtiger ist, daß Zweig
Bertins „Erziehung" an der Verduner Front viel weiter, auf eine viel höhere
Stufe der Bewußtheit führt, als jene ist, auf der wir ihn im Roman über
Grischa kennenlernen. Und sehr vieles, was er dort tut und empfindet,
erscheint als bedenklicher Rückfall, wenn man diesen Roman als Zyklus-
fortsetzung von jenem auffaßt und nicht berücksichtigt, daß er früher ent-
standen ist.
Durch solche Zwiespältigkeiten wird natürlich die Einheit und Konti-
nuität des Zyklus gestört. In einzelnen Fällen gelingt Zweig eine nach-
trägliche Korrektur. So ist z.B. im „Grischa" der subjektiv ehrliche
preußische Junker, der Gentleman von Lychow, etwas idealisiert aufgefaßt
und dargestellt. Der letzte Roman des Zyklus, „Einsetzung eines Königs",
186 Arnold Zweig
bringt hier wesentliche Konkretisierungen und eine kritische Beleuchtung
von anderen Seiten. Es handelt sich dabei weniger um die grundlegenden,
individuellen und sozialen Charakterzüge Bertins oder Lychows als um
die ganze Atmosphäre, die sie umgibt. Diese Luft ist in den zuletzt ent-
standenen Romanen reiner und schärfer geworden. Es ist eine echte epische
Härte und Objektivität gegenüber Lieblingsfiguren, Lieblingsgedanken und
Lieblingsempfindungen in Zweig emporgewachsen. Und die Gestalten
sind dadurch abgerundeter, lebendiger, reicher an bewegten und bewegen-
den Widersprüchen geworden.
Die Einheitlichkeit des Zyklus ist also im einzelnen gestört, aber diese
Fehler nehmen wir gern in Kauf dafür, daß Zweig in den Jahren nach 1933
ideell und künstlerisch gewachsen ist.
Dieses Wachstum läßt sich am besten in der Charakterzeichnung stu-
dieren. Es ist eine bedauerliche Neigung der Literatur der Gegenwart,
daß die soziale und ideelle V orwärtsbewegung bei manchen Schriftstellern
einen künstlerischen Rückschritt mit sich bringt. Es gibt Schriftsteller,
die auf einer bestimmten, oft extrem individuellen Weltanschauungs-
grundlage bis zu einem gewissen Grade imstande waren, interessante und
lebendige Gestalten zu schaffen. Bei wachsendem Verständnis für gesell-
schaftliche Zusammenhänge sind sie aber immer abstrakter, unlebendiger
geworden. Allerdings ist in solchen Fällen zumeist gerade das Erfassen des
Sozialen abstrakt und unlebendig geblieben. Die künstlerische Folge bleibt
aber das innere Verarmen, Austrocknen der Gestalten, ihre Verwandlung
in Schemen, die, anstatt zu leben, bloß Ansichten verkünden.
Arnold Zweigs Entwicklung geht gerade den entgegengesetzten Weg:
das Gesellschaftliche ist bei ihm stets wirklich erlebt, wirklich innerlich
verarbeitet (einerlei, auf welcher Stufe er jeweils objektiv stehen mag),
darum wirkt es sich bei ihm förderlich für das Schaffen lebendiger Ge-
stalten aus. Das haben wir innerhalb des Kriegszyklus beobac:P,ten können;
es bewahrheitet sich aber in Zweigs ganzem schriftstellerischem Schaffen.
Und in dieser Hinsicht bedeutet der ganze Zyklus einen Wendepunkt in
seiner literarischen Laufbahn.
Wir haben uns hier nicht die Aufgabe gestellt, diesen Entwicklungs-
gang auch nur skizzenhaft darzustellen. Es wird trotzdem vielleicht nicht
uninteressant sein, ihn durch ein kurzes Beispiel zu beleuchten. Eines der
wichtigsten früheren Werke Arnold Zweigs, die Erzählungsreihe „N ovellen
um Claudia", berührt sich stofflich, sowohl in gewissen Charakterzügen der
Hauptfiguren als auch in den einzelnen Momenten der Handlung und der
Hauptsituationen,mitdemRoman„JungeFrauvon1914";auchderVersuch,
den Typus der neuen Frau, die neuen menschlichen Beziehungen zwischen
Mann und Frau in der deutschen Intelligenz darzustellen, ist beiden gemein-
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 187
sam. Es ist sicherlich keinem aufmerksamen Leser entgangen, wie sehr
zuweilen die Gestalten Claudia und Lenore, Walter Rohme und Werner
Bertin einander ähneln. Trotzdem sind die Welten beider Werke zutiefst
voneinander unterschieden. Den Abgrund zwischen ihnen hat selbstver-
ständlich der Krieg gelegt. Während die Novellen sich auf den wohlgeschütz-
ten, vom rauhen Leben weit entfernten „seelischen Höhen" der Vorkriegs-
intelligenz, des verfeinerten Bürgertums abspielen, schreibt in dem Roman
die harte Wirklichkeit des Krieges die konkreten Lebenssituationen vor,
in denen gehandelt werden muß. Aber auch die Absichten Zweigs haben
sich tiefstgehend geändert. In den Novellen vereinfacht er das gesellschaft-
liche Milieu nach Möglichkeit, um eine Atmosphäre für rein seelische Pro-
bleme zu schaffen. Aus der Ehe des reichen Mädchens mit dem armen
Privatdozenten wird alles Materielle und Äußerliche tunlichst ausgeschaltet:
Claudia hat keinen Vater, und ihre Mutter kennt keine bürgerlichen Vor-
urteile, keine Voreingenommenheit des Reichen gegen den Armen. Der
soziale Unterschied wird überall rein ins Psychologisch-Moralische hin-
übergespielt. Im Roman dagegen werden Vater und Mutter Lenores, wird das
ganze Potsdamer Bankiersmilieu gestaltet. Die sozial ungleiche Ehe kann nur
nach schweren Widerständen, mit Hilfe von Glück, Schlauheit und Stand-
haftigkeit erkämpft werden. Darüber hinaus ist die Claudia der Novellen
eine ängstlich geschützte Treibhauspflanze, die in Wahrheit mit dem Ehe-
schluß den ersten Schritt ins wirkliche Leben tut, und auch die Wirk-
lichkeit dieses Lebens ist höchst fragwürdig. Die Lenore des Romans hat
dagegen mit ihrem Geliebten schon längst als Studentin zusammen gelebt;
sie muß nach seiner Einziehung zum Militär einen Abortus durchsetzen
und an sich vollziehen lassen; sie kämpft - vergebens-, um Bertin aus den
Gefahren des Krieges zu retten; sie ist es, die seinen Heiratsurlaub durch-
setzt; sie schafft sich nach seinem Einrücken eine selbständige geistige
Existenz und Beschäftigung.
Diese Verwandlungen der Fabel, an denen die Änderung der sozialen
Weltanschauung des Verfassers unverkennbar ist, haben aus Lenore eine
Gestalt gemacht, die an wirklicher Menschlichkeit, an wirklicher edler
Frauenhaftigkeit, an echter Durchseeltheit und Moralität turmhoch über
der Claudia. der Novellen steht. Dort haben die Feinheiten des Moralisch-
Seelischen zuweilen einen fatalen salonartigen Unterton gehabt. Diese
Einschätzung bezieht sich nicht auf die Äußerlichkeiten: moralische Zer-
gliederungen von Empfindungen, ja auch Salongespräche können selbst-
verständlich unter Umständen sehr reale gesellschaftlich-moralische Pro-
bleme behandeln (man denke nur an Balzac oder Stendhal). Es kommt auf
den menschlichen Gehalt, auf den sozialen Inhalt an, darauf, ob dieser Ge-
halt, unabhängig von seinen unmittelbaren Erscheinungsformen, die Mög-
188 Arnold Zweig
lichkeit in sich birgt, Grundlage einer gesellschaftlich-moralisch wesent-
lichen Handlung zu werden, oder nur dazu ausreicht, die unfruchtbare
Selbstbespiegelung jener „Elite" zum Ausdruck zu bringen, die durch das
Leben im Kapitalismus isoliert und vollständig auf sich selbst zurück-
geworfen wird.
Thomas Manns Jugendnovellen wie „Tonio Kröger" zeigen am deut-
lichsten, wie die innere Problematik des Intellektuellen-Seins im imperia-
listischen Kapitalismus gesellschaftlich-menschlich bis zu einem tiefen und
weitreichenden Humanismus verallgemeinert werden kann. An der Pariser
und Wiener psychologistischen Novellistik sehen wir das Entgegengesetzte:
unfruchtbar gewordene und die Unfruchtbarkeit tragisch, ironisch, senti-
mental verherrlichende Selbstgefälligkeit.
Die Jugendentwicklung Arnold Zweigs verläuft in der Richtung Thomas
Manns, bewegt sich aber mitunter hart an der gefährlichen Grenze der
bloßen Salonfeinheiten. Darum bringen die Kriegsromane auch in dieser
Hinsicht eine energische Wendung. Das Gegenüberstellen der in sich blei-
benden Intellektuellen-Reflexion und des Volkslebens ist gerade aus dem
Gegensatz dieser Entwicklung heraus schroffer, direkter politisch und sozial
geworden, als es seinerzeit bei Thomas Mann gewesen ist.
Auch bei Zweig wird das Volk zum Richter über die Realität moralischer
Subtilitäten gemacht, aber das Volk wird nunmehr vom klassenbewußten
Arbeiter repräsentiert. Wenn Lebehde über bestimmte Empfindungen
Bertins sich so äußert: „Solche Empfindungen schätze er sehr daneben ...
Empfindungen sind für die feinen Leute; manchmal denke ich mir, alle
unsere Empfindungen haben sie für ihren Gebrauch genormt", - was
würde er erst über viele „Probleme" Walters und Claudias sagen?
Dies ist kein äußerlicher und vergröbernder Maßstab. Arnold Zweig hat
ja selbst den Lebehde zum Richter über Bertins Probleme eingesetzt.
Und das scheidende Prinzip dafür, was in der seelischen Verfeinerung
unserer Kultur wirkliches Erbe und was ein müßiger seelisch-moralischer
Alexandrinismus ist, muß darin liegen, ob ihr wirklicher Gehalt ins
werktätige Volk hinein verallgemeinert werden kann. Wir wiederholen: Es
handelt sich um die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung, nicht
um die besondere Erscheinungsform und die Wege dieser Verallgemeine-
rung. Dieses Übergehen in den Besitz des Volkes ist sicher sehr kompliziert
und verschlungen. Aber - nehmt alles nur in allem - Lenore und Bertin
würden, als ganze Persönlichkeiten genommen, eine solche Prüfung be-
stehen; Claudia, W.alter und ihre Probleme kaum.
Die wesentliche Frage bleibt: Ist durch diese Entwicklung Arnold Zweigs
ein Gewinn oder ein Verlust entstanden? Moralisch bedeutet sie ohne Zwei-
fel einen großen Schritt vorwärts. Aber auch künstlerisch. Gerade weil die
Sein Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-1918 189
Gestalten Zweigs jetzt viel realere und kompliziertere moralische Probleme
bewältigen, weil sie auf Fragen antworten, die wirklich das Leben - und
nicht ein künstlich isoliertes Eckchen des Lebens - aufwirft, sind sie
auch in künstlerischer Hinsicht weit über sein früher Erreichtes hinaus-
gewachsen. Indem sie gesellschaftlich typischer geworden sind, haben sie
auch an individuell-menschlicher Fülle gewonnen.
Diese Gegenüberstellung soll uns zu keiner Ungerechtigkeit gegenüber
der Jugendentwicklung Arnold Zweigs verleiten. Seine früheren Werke
behalten ihren Wert, weil sie den seelischen Zustand der Intelligenz der
Vorkriegszeit lebenswahr gestaltet haben; weil ihre Schranken zum Teil
mehr aus dem damaligen Leben der Intelligenz selbst als aus individuellen
Schwächen Zweigs entstanden sind. Aber bei ihrer gerechten Beurteilung
darf nicht verschwiegen werden, daß sie sich auf einer gefährlichen Grenze
bewegt haben, an der die echte Literatur sehr leicht in psychologisierende
Belletristik umschlägt. Gerade weil Arnold Zweig diese Gefahren über-
winden konnte, weil er imstande war, gesellschaftlich und weltanschaulich
so zu lernen, daß er dabei künstlerisch, Gestalten und Fabeln schaffend,
immer tiefer, umfassender und lebenerweckender wurde, weil er auf diesem
Weg in die vorderste Reihe des fortschrittlichen deutschen Schrifttums
- das mit der heutigen lebendigen deutschen Literatur identisch ist -
rückte, war es nicht unnütz, an diesen zurückgelegten Weg, an diese über-
standenen Gefahren zu erinnern. Diese Erinnerung kann vielleicht man-
chem der jüngeren, mit sich kämpfenden Schriftsteller helfen.
1939
Nachwort IgJ2
Gruß an Arnold Zweig
Lieber Arnold Zweig! Wenn ich Ihnen jetzt zu Ihrem 65. Geburtstag
Grüße und Glückwünsche sende, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen vor allem
meinen Dank ausspreche für eine der größten Freuden, die ein kritischer
Betrachter und Liebhaber der Literatur erleben kann. Ich denke dabei in
erster Linie nicht daran, welche seelische und künstlerische Bereicherung
mir Ihre Bücher gegeben haben. Es kommt zwar nicht so häufig vor, wie
wir es wünschen, wirklich guten Schriften zu begegnen. Es kommt aber
noch weniger oft vor, daß es uns gegeben ist, eine aufwärtssteigende Schrift-
stellerlaufbahn verfolgen zu können; zu beobachten, daß die Erwartungen,
die ein Werk erweckt, von dem darauffolgenden nicht verraten werden;
daß ein Mensch, ein Schriftsteller, klar, seiner selbst sicher, klug, mit
steigender Bewußtheit immer mehr Welt aufnehmend und gestaltend, den
Arnold Zweig
Weg nach oben unbeirrt einhält. Das ist ein seltenes, ein erhebendes Er-
lebnis, und daß Sie mir dieses Erlebnis gegeben, dafür muß ich Ihnen vor
allem danken.
Woraus entspringt eine solche Zähigkeit und Festigkeit? - Begabung?
Richtig. Es muß in unseren Tagen immer wieder ausgesprochen werden:
ohne Talent keine Literatur, keine Kunst. Es sei aber sofort hinzugefügt:
so selten echte Begabungen auch sein mögen - es gibt unendlich viel
mehr Menschen von schriftstellerischen Fähigkeiten als solche, die auf
Grundlage ihres Lebenswerkes den Namen Schriftsteller wirklich ver-
dienen. Dazu ist viel mehr nötig als die bloße Eignung, Beobachtetes oder
Erlebtes richtig in Worte umzusetzen. Die Wirklichkeit verändert sich
ununterbrochen - die unsere in einem äußerst vehementen Tempo -, und
die Änderungen, die sie erfährt und hervorbringt, sind voneinander quali-
tativ derart verschieden, daß ein Schriftsteller, der sie in adäquater Weise
verfolgen will, nicht nur die Gabe besitzen muß, neue Inhalte in sich aufzu-
nehmen, er muß in ihnen vielmehr jene oft sehr verborgenen Momente als
ausschlaggebende erleben und gestalten, in welchen - für die Zeitgenossen
zumeist unsichtbar - die zukünftig wirksamen Tendenzen sinnfällig werden.
Vollständig können dies nur äußerst wenige Menschen vollbringen,
und es gibt in der ganzen Weltliteratur wohl keinen Schriftsteller, dem
das restlos und immer gelungen wäre. Dieses - in seiner abstrakten Über-
spannung - unfruchtbare Ideal würde also sehr wenig für unsere Lebens-
und Kunstbetrachtung bedeuten, wenn nicht auch hier das Gesetz der An-
näherung, das moralische und künstlerische Streben nach seiner Verwirk-
lichung eine entscheidende Rolle spielen würde. Nur scheinbar wird aber
durch eine solche Relativierung die Aufgabe des Menschen und des Schrift-
stellers leichter gemacht. Im Gegenteil. Eine ununterbrochene und immer
unerbittlichere Selbstkritik entspringt aus dieser Konstellation: die Forde-
rung der Wirklichkeit an den Schriftsteller, seine Gestalten und Probleme,
seine Fabel und das Wie der von ihm gestalteten Schicksale immer erneut
an der wesentlichen Entwicklung der Wirklichkeit selbst zu messen; un-
nachsichtig, unbekümmert um persönliche und artistische Sympathien die
entsprechende Revision an den Grundlagen, am Gehalt und an der Form-
gebung durchzuführen.
Dazu sind - selbst unter den wirklich Begabten - nur sehr wenige
fähig. Gewohnheit, Routine, Selbstliebe, Eitelkeit und noch manches
mehr wirken in der Richtung, das einmal Errungene zu stabilisieren, es
erstarren zu lassen. Es handelt sich aber nicht nur um psychologische, um
künstlerische oder individuell-moralische Hemmungen. Die großen Wen-
dungen unserer Zeit erzwingen ebenfalls - bei Strafe des künstlerischen
Untergangs - innere Umstellungen radikaler Art. So war schon der erste
Zu seinem 65. Geburtstag
Weltkrieg eine Wasserscheide auch für die Schriftsteller. Man lebte bis
dahin - freilich nur scheinbar - in einer Welt der „Sekurität". Die Schrift-
steller und ihre Leser aus der Intelligenz betrachteten die rein innerlichen,
die rein seelischen (abstrakt-individualistisch moralischen) Probleme als
allein ausschlaggebend im menschlichen Leben. Sie sahen in ihrer Mehr-
zahl nicht, daß sie damit eine objektiv unzulässige Abstraktion vollzogen
hatten: sie entfernten künstlich eine ganze Reihe der entscheidenden Be-
stimmungen aus dem Verhalten, aus der Handlungs- und Gefühlsweise
ihrer Gestalten; sie machten - gerade durch diese Verinnerlichung - ihre
Fabel, ihre Konflikte, ihre Psychologie ärmer und dünner als die Wirk-
lichkeit; sie verzerrten oft wirkliche Probleme in eine falsche Scheinhaftig-
keit durch das artistische Entfernen der real wirkenden bewegenden
Kräfte.
So mußte der erste Weltkrieg, sein Ausbruch, sein Ablauf und seine
Folgen, eine tiefgehende Krise im Schrifttum auslösen. Sie, lieber Freund
Zweig, gehören zu jenen wenigen der Vorkriegsgeneration, die aus dieser
Erschütterung der Grundlagen fruchtbar gelernt haben. Ich spreche hier
nicht von der gewaltigen neuen Thematik, dem Weltkrieg selbst; ich habe
an anderer Stelle versucht, meine Anschauungen über dieses Ihr Werk zu
formulieren. Aber die Entwicklung eines echten Schriftstellers ist immer
auch eine Kontinuität im Diskontinuierlichen; alle Sprünge, Risse, Wen-
dungen sind in eine Aufbewahrung des bleibend Persönlichen eingebettet.
Freilich ist die Spannung dieser divergierenden Tendenzen eines der wich-
tigsten, rangbestimmenden Momente; freilich führt das Bewahrenwollen
der Kontinuität nur allzu häufig zu einem Steckenbleiben in Manier; frei-
lich muß diese Kontinuität unzählige Male vom Schriftsteller aufgekündigt
werden, damit sie - quasi gegen seinen Willen - als letztes Ordnungsprin-
zip fruchtbar wiederkehre.
So bringen Ihre Kriegsromane vielfach auch eine Wiederkehr Ihrer
Jugendthematik, ein „Was sollen wir denn tun?" der Intelligenz in der
imperialistischen Periode. Und es ist eines der echtesten und besten Motive
Ihrer Kriegsromane, daß diese Frage: „Was sollen wir denn tun?" in ihnen
einen so vielseitig abgestuften Ausdruck erhält. Es zeigt sich aber dabei
gleichzeitig - und damit befinden wir uns im Zentrum meines heutigen
Themas -, daß die extensive Ausbreitung und vertiefte Erfassung jener
gesellschaftlichen treibenden Kräfte, die ähnliche Menschen in einer gründ-
lich aufgewühlten Wirklichkeit auf neue Scheidewege des Schicksals stel-
len, die seelischen und moralischen Probleme eines jeden einzelnen Intellek-
tuellen nicht verflachen, sondern, im Gegenteil, reicher und abgestufter
machen; daß die bewußter gewordene Gesellschaftlichkeit die Menschen
und ihre Geschicke nicht nivelliert, sondern, im Gegenteil, weitaus feiner und
Arnold Zweig
gründlicher differenziert, als es in der Periode der „machtgeschützten
Innerlichkeit" dichterisch möglich war. Und dies bezieht sich nicht bloß·
auf die - vom Krieg aufgezwungene - intensivere, wenn auch noch selten
wirklich bewußte Beschäftigung mit dem öffentlichen Leben, es strahlt
vielmehr, gerade von dem hier Erlebten ausgelöst, auf sämtliche Fragen
des privaten, des individuellen Lebens aus.
Das Erleben des eigenen Selbst und seiner Umwelt als eines gesell-
schaftlichen Geschehens ändert aber noch in einer anderen Hinsicht alle
Inhalte, Ziele und :Mittel der schriftstellerischen Gestaltung. Die seelisch-
geistige Enge der reinen Innerlichkeit äußert sich auch darin, daß die
Entwicklung des Ichs nur die eingebildete, subjektiv erlebte Zeit des eige-
nen Wachstums kennt; die umgebende Wirklichkeit scheint ihm stabil,
statisch zu bleiben, höchstens spielen sich parallellaufende, ähnliche, welt-
lose Entwicklungen in anderen einsamen Individualitäten ab. Von hier aus
entsteht eines der einflußreichsten und verlogensten Theoreme der imperia-
listischen Periode: die Lehre von der alleinigen Echtheit und Wahr-
heit der subjektiv erlebtm Zeit, im Gegensatz zur „Raumartigkeit", zum
scheinhaft Sekundären und Irrealen der wirklichen, der objektiven Zeit
in Natur und Geschichte. Und diese Auffassung ist für den Imperialismus
keineswegs bloß eine Kathederweisheit. Sie entspringt - den Beteiligten
vielfach unbewußt - aus dem parasitären gesellschaftlichen Sein der Intelli-
genz und bestimmt die berühmtesten, als kanonisch gepriesenen schrift-
stellerischen Leistungen der ganzen Periode. Es genügt wohl, wenn ich
auf Proust verweise.
Das Erkennen der Gesellschaftlichkeit auch der intimsten persönlichen
Regungen macht dagegen aus der Entwicklung des Individuums ein reales
Vorwärts- oder Rückwärtsschreiten innerhalb einer sich bewegenden Welt.
Die innere Welt des Individuums wird reicher, weil seine Beziehungen zu
seinen :Mitmenschen sich innerhalb einer weitaus größeren Skala bewegen;
sie wird tiefer, weil Wirkungen, Wechselbeziehungen, denen sich die Lite-
ratur der „Sekurität" prinzipiell verschloß, sich nunmehr in ihrer die Wur-
zeln der Persönlichkeit verwandelnden Wucht offenbaren können.
Aus solchen gegenseitigen Einwirkungen von gesellschaftlicher Thematik
und höchst individuellem künstlerischem Verhalten entsteht erst die Fähig-
keit des Schriftstellers, in einer solchen Weise „Gericht über sich selbst zu
halten" (an und für sich hatte er dies immer getan), daß aus dem Selbst-
gericht, ohne Verflachung oder Verzerrung, ein Gericht über die Zeit,
über die gesellschaftliche Entwicklung wird. Dies haben Sie in Ihren Kriegs-
romanen vollbracht. Das Aufstoßen der Fenster, das Hereinströmen von
Licht und Luft in die früher dämmerig-dumpfe Kammer hat zur Folge,
daß Sie nicht nur eine breite und tiefe, eine umfassende Kritik des ersten
Zu seinem 6s. Geburtstag
imperialistischen Weltkriegs - zusammen mit einer Vorgeschichte der
seelisch-moralischen Verhaltensweisen in ihm, zu ihm - gaben, sondern
auch äußerst wichtige Hinweise auf die Perspektiven der Nachkriegsent-
wicklung: auf Stärke und Schwäche der veränderten deutschen Intelligenz
in der Weimarer Periode. Daß etwa - um mich hier mit einem wichtigen
Beispiel zu begnügen - ein Eberhard Kroysing vom Krieg zwar zu einer
Opposition der Tat erweckt wird, sein Erwachen jedoch gleicherweise
und noch ungeschieden die Möglichkeit einer aktiven Kritik von links wie
von rechts in sich einschließt. Hier wird eine der wichtigsten Wurzeln der
Wehrlosigkeit der deutschen Intelligenz der nationalsozialistischen Dem-
agogie gegenüber schriftstellerisch ausgegraben: es wird eine weitver-
breitete seelisch-moralische Verhaltensweise gezeigt, die anständige, ehr-
liche, Gerechtigkeit wollende Intellektuelle zu Opfern der Hitlerschen
Propaganda gemacht hat.
Dies ist nur ein Beispiel aus der Fülle der Perspektivengestaltungen,
an denen Ihr Kriegszyklus so reich ist. Und die befruchtende Wirkung
der Gegenwart, der Zukunftsperspektive auf die Gestaltung der Ver-
gangenheit ist leichter ablesbar, wenn man Geist und Atmosphäre der später
entstandenen Romane mit den früheren vergleicht: die Machtergreifung
Hitlers hat für Sie den ersten Weltkrieg, die Weimarer Periode in grund-
legender Weise neu erhellt. Auch hier geht eine ununterbrochene Kritik
und Selbstkritik im Schriftsteller vor sich. Es ist in meinen Augen einer der
größten Vorzüge des Zyklus: Sie sind in dieser Kritik und Selbstkritik
so rücksichtslos vorgegangen, daß Sie dabei keine Konzessionen an Wahr-
haftigkeit gemacht haben, um die literarische Einheitlichkeit der Gestalten,
um die Kontinuität mit dem früher Gestalteten um jeden Preis aufrecht-
zuerhalten. Es möge wieder nur ein Beispiel genügen: der General von
Lychow im „Grischa" und in „Einsetzung eines Königs".
Diese Selbstkritik erreicht ihren Gipfelpunkt in der für jeden Kenner
Ihres Lebenswerks überwältigend ironischen Szene, als Walter und Claudia
Rohme (die gehätschelten Hauptgestalten aus „Novellen um Claudia")
im „Beil von Wandsbek" - freilich aus einer gesicherten schweizerischen,
beziehungsweise amerikanischen Entfernung, freilich gestützt auf ein
ins Ausland hinübergerettetes Vermögen - als Anhänger und Verehrer
Hitlers auftreten. Damit wird für einen Teil der deutschen Intelligenz
jene Kritik, die wir in der ersten großen Kriegskrise bei Bertin oder Win-
fried erlebt haben, wirksam vertieft fortgesetzt. Die Kritik an den eigent-
lichen Bertin und Winfried der Hitlerzeit, die Kritik jener oft tragi-
komischen, oft bloß komischen Donquichotterie, deren Grundlage die
- äußerst relative - „Sekurität" der Elite der Intelligenz (wenn sie nicht
bereits früher exponiert fortschrittlich oder jüdischer Abstammung war)
Arnold Zweig
auch im Hitlerregime ist; die aus dieser Lage entspringende Unfähigkeit,
die wirklichen Grundlagen zu erkennen und darum gegen den wirklichen
Feind und nicht gegen ideologische, persönliche Phantome zu kämpfen,
ist ebenfalls richtig beobachtet, in den Tatsachen fein gezeichnet. Ihre Be-
wertung befindet sich heute jedoch nur erst auf dem Niveau der ersten
Kriegsromane. Der entsprechende Schritt zu der Höhe von „Erziehung
vor Verdun" ist noch zu tun.
Dies bezieht sich in erster Linie auf die Intellektuellengruppe um Kolde-
wey, auf ihre Abkehr vom Faschismus, auf ihre Vorbereitung eines An-
schlags gegen Hitler. An sich sind alle diese Gestalten sehr reichhaltig
gesehen, sehr fein charakterisiert. Man wäre ungerecht, wenn man ihnen
gegenüber den Vorwurf einer idealisierenden Stilisierung erheben würde,
wie man es beim General von Lychow im Grischa-Roman mit einigem
Recht tun könnte. Was fehlt, läßt sich von der Seite des gesellschaftlichen
Gehalts leicht aussprechen: die Bewegung, die zum Attentat gegen Hitler
führt, hat innerlich nichts mit einer Befreiung Deutschlands von der
faschistischen Reaktion zu tun. Ihre eigene Dialektik hätte, auch im Falle
eines - innerlich unmöglichen - Gelingens, höchstens zu einer „ verbesser-
ten" Form des aggressiven deutschen Imperialismus geführt. (Die Ver-
herrlichung solcher Helden durch das Adenauer-Regime zeigt ihre im-
manente Richtung deutlich auf.)
Die objektiv-geschichtliche Nichtigkeit der Koldewey-Gruppe im Roman
steht in scharfem und - der Möglichkeit nach - fruchtbarem Widerspruch
zur persönlichen Lauterkeit wenigstens einiger Hauptgestalten dieses
Kreises. Ein solcher Widerspruch kann deshalb gestalterisch nur durch
Ironie für die Totalität des Werks fruchtbar werden. Das braucht man
Ihnen, lieber Arnold Zweig, dem Meister dieser Ironie in Gestalten wie
Bertin oder Winfried, nicht zu sagen. An sich ist diese Ironie selbstredend da.
Angefangen vom auslösenden Anlaß dieses Widerstandes gegen Hitler,
von der Entdeckung der Analogie zwischen diesem und dem wahnsinnigen
Senatspräsidenten Schreber durch Käthe Neumann, später Frau Koldewey,
bis zum konkreten Plan des Attentats selbst. Aber aus diesem Ansieh des.
Ideengehalts wird kein konsequentes Füruns der schriftstellerischen
Gestaltung oder wenigstens nur an einzelnen Stellen, nicht als Atmosphäre·
des Ganzen.
Das liegt, so glaube ich, vor allem daran, daß der kontrastierende Gegen-
spieler fehlt, besser gesagt: nicht jene Überlegenheit des richtigen Standpunkts
besitzt, die Lebehde und Pahl in den letzten beiden Kriegsromanen positio-
nell und persönlich besitzen. Ich weiß: da ist der junge Tom Barfey. Eine
schön erdachte und richtig durchgeführte Gestalt. Sie hat aber doch nicht
das genügende Gewicht, um das Schaukelspiel einer ironischen Balance
Zu seinem 6s. Geburtstag
der Komposition herzustellen. Persönlich nicht, weil er unmöglich jene
geistige, falsche Gedanken und Gefühle entlarvende Überlegenheit auf-
bringen kann, die in Pahl und Lebehde wirksam waren. (Ich verweise nur.
auf die Zigarettenspende des Kronprinzen in „Erziehung vor Verdun",
auf Lebehdes Reaktion, auf den Schock, die sie in Bertin auslöst.) Das ist
aber mehr als ein bloßer Mangel an Durchschlagskraft in Toms Persön-
lichkeit. So schwach der Spartakusbund im ersten Weltkrieg auch gewesen
ist, hinter ihm stand, in ihm weste das weltgeschichtliche Recht, die objek-
tive Perspektive der Rettung Deutschlands aus der Sackgasse einer zu Tode
verurteilten imperialistischen Aggression. Das Bekenntnis-Christentum
- wieder: unbeschadet der persönlichen Lauterkeit seiner Führer und so
vieler in seiner Anhängerschaft - konnte ein derart ausstrahlendes Pathos,
eine das Falsche so wuchtig rektifizierende Ironie nicht entfachen. Nicht
weil Sie es nicht gestalten konnten, sondern weil dieses Pathos und diese
Ironie in der Bewegung selbst nicht enthalten waren. Und Sie sind als Dich-
ter auch hier dem geschichtlichen Gehalt so treu, holen - mit tiefem Recht -
aus ihm dichterisch nur das heraus, was in ihm wirklich enthalten war,
daß Tom Barfey, so anziehend er als Einzelgestalt auch sein mag, unmöglich
eine solche kompositionelle Funktion tragen konnte. Aber das Fehlen der
aus der Dialektik der Geschichte spontan herauswachsenden Ironie ver-
hindert die letzthinnige dichterische Vollendung der Menschen in Kolde-
wey und Käthe.
Ich weiß: die objektiven Schwierigkeiten waren außerordentlich groß.
Denn so schwach der Spartakusbund auch gewesen sein mag, es gab doch
die heroischen Januarkämpfe, den Heldentod Liebknechts und Luxem-
burgs, und eine Nebenbemerkung in „Einsetzung eines Königs" genügt,
damit um Lebehdes Haupt der Glorienschein dieser großen Tage erscheine.
Die Hitlerzeit endete jedoch mit einem Zerschlagen dieses Regimes von
außen durch die Rote Armee. War aber diese objektive Schwierigkeit eine
von vornherein unüberwindliche? Ich glaube: nein. Ich kann mich natür-
lich nicht auf ein - die fehlende Ironie betreffendes - Gegenbeispiel be-
rufen: die spezifische Größe Ihres Entwurfs ist eben, daß er keine Analogie
in der Literatur der Gegenwart gehabt hat. Daß aber trotz der praktischen
Ohnmacht der Kommunisten unter Hitler eine solche Kontrastgestalt nur
hier möglich ist, hat - freilich in der Atmosphäre des Tragischen - Anna
Seghers in „Die Toten bleiben jung" dichterisch erwiesen. Denken Sie
daran, als gegen den Schluß des Romans die Wentzlow-Gruppe von den
Russen umzingelt wird und der junge Kommunist Hans, der Sohn jenes
Spartakisten, den Wentzlow 1918 erschossen hat, wegen einer Verschwö-
rung ebenfalls erschossen wird. Wentzlow führt die Hinrichtung, und als
er danach allein bleibt - mit der durchgeführten Absicht, Selbstmord zu
Arnold Zweig
begehen -, taucht vor ihm diese Ähnlichkeit visionär auf, er sieht in dem
erschossenen Soldaten dessen Vater und muß feststellen: „Er war jung
geblieben" - bei allem, was der Faschismus gegen ihn an Gewalt und Ver-
führung unternahm. Diese Episode umfaßt nur einige Seiten, gibt aber
allem, was in dem großen Roman geschieht, eine neue Beleuchtung. Ein
solcher Farbenßeck fehlt mir im „Beil von Wandsbek".
Die Frage selbst ist aber von höchster Wichtigkeit. Denn Sie haben in
Ihrem letzten Roman eines der zentralsten Probleme der zweiten großen
Kriegskrise Deutschlands mit großer Kühnheit und Tiefe aufgeworfen.
Ich meine die spezifische Geschicklichkeit des Nazisystems, an sich nicht
zum Bösen, ja oft sogar zum Guten veranlagte Menschen zu aktiven Mit-
schuldigm seiner fürchterlichen Taten zu machen. Greuel wie Auschwitz
wären ohne eine solche „Technik" nicht vollbringbar gewesen. Und in
unserer Zeit des Atom- und Bakterienkrieges, der Massenbewegung der
Friedenskämpfer ist das Ringen um diese gesellschaftlich noch unentschie-
denen Seelen ein Kampf von zentraler Bedeutung. (Das Problem eines an
sich wohlmeinenden westlichen Gelehrten, der wissenschaftlich die
Förderung des Atomkrieges betreibt, ist - mutatis mutandis - das Problem
des Henkers aus Ihrem letzten Roman.) Daß Sie also das Schicksal dieses
weder ausgesprochen guten noch ausgesprochen bösen Schlächtermeisters
Teetjens in den Mittelpunkt Ihrer Gestaltung des Dritten Reichs gestellt
haben, ist ein gewaltiger Schritt in der Richtung, die innere soziale und
menschliche Mechanik dieser Krisenzeit zu erhellen; ein pionierhafter
Beitrag dazu, uns allen unsere heutigen Aufgaben klar, lösbar zu machen.
Es handelt sich hier um ein historisches Phänomen, das zwar an sich nicht
völlig neu ist, jedoch in seinem spezifisch heutigen Sosein grundlegend
erstmalige Züge zeigt. Die erste Kriegskrise hat zwar auch Menschen
vom Typus des Hauptmanns Niggl zu Verbrechern geformt. Die kleineren
Leute jedoch, wie jener Gefreite, der Grischa für seine Henker aufbewahren
mußte, empören sich noch moralisch über die Rolle, die ihnen der deutsche
Militarismus aufzwingt. Hitler verfügte aber sowohl ideologisch wie macht-
mäßig über weitaus wirksamere Mittel als das Wilhelminische System, und
solche Mittel sind auch heute in der Propaganda für die „westliche Frei-
heit", für die „amerikanische Lebensform" im großen Maßstabe eingesetzt.
Tat und Untergang Ihres Teetjens (und insbesondere seiner unvergeß-
lichen Lebensgefährtin, Stine, einer der schönsten Gestalten, die Sie ge-
schaffen haben, einer der echtesten und tiefsten, persönlkhsten und typisch-
sten in der ganzen heutigen Literatur) gehören also zum Aufhellendsten
und für den Weg der Deutschen Aktuellsten, das heute gestaltet werden
kann.
Geschichte und aus ihr entsteigende Zukunftsperspektive - im Guten
Zu seinem 65. Geburtstag 197
wie im Bösen - gehören zu den wichtigsten Instrumenten, das gegenwärtige
„Was sollen wir denn tun?" zu beleuchten. Als Meister einer solchen Er-
hellung unserer Pfade sind Sie, lieber Arnold Zweig, aus einem begabten
Schriftsteller zu einem Lehrer des Volkes, zu einem Vorkämpfer des Frie-
dens aufgestiegen. Ihr Lebenswerk ist aus dem Befreiungswerk des deut-
schen Volkes nicht mehr wegzudenken.
Unsere echte Erkenntnis der für uns ausschlaggebenden, zum Weg-
weisen unerläßlichen Geschichte erwächst aus den Kämpfen der Gegen-
wart, aus ihren realen Perspektiven. Und auch hier geht Ihr Weg steil
aufwärts. Sie haben sich schon in der Weimarer Zeit zu einem der her-
vorragendsten antifaschistischen Schriftsteller entwickelt. Heute jedoch
stehen Sie aktiv in den vordersten Reihen der deutschen und der inter-
nationalen Bewegung zum Schutz des Friedens, zur Abwehr des Krieges.
Sie haben also menschlich-gesellschaftlich wieder einen ähnlichen Schritt
vorwärts getan, wie es seinerzeit jener war, der „Erziehung vor Verdun"
ideologisch und schriftstellerisch über die ersten beiden Kriegsromane
emporhob. So wie damals erst die Erfahrungen des zur Macht gelangten
Hitlerismus den ersten Weltkrieg in die richtige historische Beleuchtung
rückten, so wird jetzt der Kampf gegen die W.egbereiter des dritten Welt-
krieges die Hitlerzeit und den Hitlerkrieg in allen ihren gesellschaftlich-
menschlichen Bestimmungen, in ihrer ganzen Dynamik und Dialektik
schriftstellerisch vollendet gestalten lassen. Geschichte - auch Geschichte
des privaten Lebens in einer Periode - läßt sich eben nur aus den Kämp-
fen der Gegenwart, aus ihren Erfahrungen und Perspektiven wirklich
adäquat erfassen.
Sie sehen, lieber Arnold Zweig, dieser kursorische Rückblick hat sich
unversehens in einen Vorausblick verwandelt. Mein Gruß an Sie zum
fünfundsechzigsten Geburtstag richtet sich weniger an den verdienstvollen
Verfasser bedeutender Werke als an den hoffnungsvollen Schriftsteller,
von dem das um seine Einheit, Freiheit und Unabhängigkeit, das um sein
Nationwerden ringende Deutschtum (und mit ihm die Freiheitsliebenden,
die Friedensfreunde der ganzen Welt) Großes, wirklich Entscheidendes
erwartet. Mag dies, wie ich mit vielen Ihrer Leser hoffe, die Vollendung
des Romanzyklus über den ersten Weltkrieg werden, mag es die Gcstalnmg
unserer unmittelbaren Vergangenheit oder Gegenwart sein: jedenfalls
wissen wir alle, daß wir von Ihnen Werke erwarten und fordern dürfen, die
unseren Kampfweg erhellen, die zugleich das Wesen unserer Zeit, ihres
Entstehens und ihrer Weiterentwicklung dichterisch bleibend festhalten,
nacherlebbar machen; beides ist nur simultan zu verwirklichen.
Wir sind so lange jung, wie die Zukunft die Vergangenheit und die
Gegenwart beleuchtet, erklärt, gestaltbar macht; das Altern äußert sich vor
Arnold Zweig
allem im ausschließlichen ideologischen und dichterischen Bestimmtsein
der Gegenwartsfragen aus den Fragen einer oft weit zurückliegenden Ver-
gangenheit. Weil Sie sich längst zum Jungbleiben entschlossen haben und
dies mit großer moralischer Energie und glücklicher schriftstellerischer
Gestaltung durchführten und durchführen, erlauben Sie mir, Sie heute als
jungen Schriftsteller zu begrüßen; erlauben Sie mir, daß mein Gruß weniger
Anerkennung für Gestaltetes als Forderung des noch zu Leistenden in
sich schließe.
Ihr
Georg Lukacs
JOHANNES R. BECHERS „ABSCHIED"
Die Geschichte eines jungen Menschen im Wilhelminischen Zeitalter -
das ist der Inhalt des Bechersehen Romans.
Das Kind steht auf dem Balkon des Elternhauses in der Neujahrsnacht,
die das zwanzigste Jahrhundert einläutet. Die Philistergespräche der
Eltern und ihrer Hausfreunde drehen sich um den Beginn einer neuen
Ära. Und das lebhafte, phantasiebegabte, weiche und haltlose Kind ist mit-
gerissen von dieser Stimmung. Auch das Kind fühlt, daß das Leben, so
wie es bis jetzt war, nicht in Ordnung ist: alles soll „anders" werden.
Der Kampf um dieses „Anderswerden" ist der ideelle, gesellschaftliche
und menschliche Inhalt des Romans. Freilich steckt schon in dem Wort
selbst ein Doppelsinn. Einerseits sind die Menschen mit ihrer äußeren
und inneren Lebensgestaltung unzufrieden; es soll etwas anderes, Bes-
seres kommen. Andererseits wird - bewußt und unbewußt - ein un-
unterbrochener Kampf darum geführt, was der eigentliche soziale In-
halt dieses „Anderen" sei. Dieser Doppelkampf ergibt die Handlung
des Romans.
Auch an seinem Ende klingen die Glocken, wehen die Fahnen: der erste
imperialistische Weltkrieg ist ausgebrochen, die Deutschen haben bereits
Lüttich eingenommen. Hans Gastl, der Held des Romans, hat sich ge-
weigert, als Kriegsfreiwilliger in die Armee einzutreten, und mußte darum
das Elternhaus verlassen. Der latente Gegensatz, der im „Anderswerden"
von Anfang an steckte, ist nunmehr offenbar geworden. Seine beiden ent-
gegengesetzten Bedeutungen sind zu deutlich sichtbaren Gestalten, zu
feindlichen Lagern geworden.
Der Traum der alldeutschen Imperialisten hat sich erfüllt: der Krieg ist
ausgebrochen. Und der nationalistische Einheitsrausch hat fast die ganze
Bevölkerung vom Kaiser bis zur Sozialdemokratie erfaßt. Nur wenige
Versprengte sind „dagegen". Darunter der Staatsanwaltssohn Hans Gastl.
Er hat jetzt seine erste wirkliche Schlacht um das „Anderswerden" ge-
schlagen.
200 Johannes R. Becher
II
Wir wissen sehr wenig über den deutschen Menschen der letzten Jahr-
zehnte. Das ist ein Zeichen dafür, daß die deutsche Literatur ihre historische
Sendung nicht völlig erfüllt hat. Nicht die Tatsachen fehlen zu einer solchen
Kenntnis, auch nicht ihre soziale Analyse. Das allgemeine Bild der deut-
schen Entwicklung, wenn sie historisch auch noch nicht restlos und zu-
friedenstellend erforscht ist, der Weg, den das deutsche Volk etwa von
1870 bis heute zurückgelegt hat, steht in seinen Grundzügen klar vor
uns. Aber die innere Entwicklung des deutschen Menschen sehen wir
nur in äußerst verschwommenen Umrissen. Was Balzac und Stendhal
für das Frankreich der Restauration und des Julikönigtums, was Tolstoi,
Schtschedrin, Tschechow und Gorki für das Rußland von der Bauern-
befreiung bis zur Revolution geleistet haben, fehlt in der deutschen Lite-
ratur.
Damit fehlt die Geschichte der kapillarischen Bewegungen unterhalb der
sichtbaren Oberfläche der historischen Veränderungen, die die „plötz-
lichen" Wendungen in der Geschichte nicht nur objektiv-ökonomisch,
sondern auch subjektiv-menschlich verständlich macht, die uns das psycho-
logische Wesen, die intellektuelle und moralische Physiognomie des
heutigen Deutschen klarwerden läßt. Und zwar in seiner Bewegung, nicht
nur einfach, wie er ist und erscheint. Ohne das ergibt sich fast immer
eine metaphysische Starrheit, entsteht der Eindruck eines toten Ergeb-
nisses. Die kapillarische Bewegung hingegen zeigt, wie er das geworden
ist, was er ist; sie ist also die dichterische Erklärung des Gerade-so-
seins seiner Gesamtphysiognomie in der verwickelten Dialektik, wie
aus Tugenden Wirrsale, Verirrungen, ja verbrecherische Taten entstehen,
wie Untugenden zu Trägem historisch bedeutsamer Wendungen werden
können.
Heinrich Manns Heßling aus dem „Untertan" ist ein solches Porträt
eines Vorkriegsdeutschen, das die Zukunft enthüllt. Bei Bertin, Winfried,
Kroysing aus Arnold Zweigs Kriegsromanen stellen die kapillarischen Vor-
gänge die Verwandlung der deutschen Intelligenz im eisten imperialisti-
schen Krieg dar. In diese wichtige und leider sehr schüttere Reihe stellt
Becher nun seinen Hans Gast! und die Gestalten, die dessen Jugendweg
positiv oder negativ bestimmen. Es ist ein wichtiger und seltener Beitrag
zur Erhellung des Dunkels, das die Entwicklungsgeschichte des deutschen
Menschen der Gegenwart noch immer umgibt.
Sein Roman ,,Abschied" ZOI
m
Indem Becher das „Anderswerden" in den Mittelpunkt seines Romans
stellt, vollzieht er einen Bruch mit der weit verbreiteten Legende vom Vor-
kriegsparadies. Heinrich Manns Roman hat bereits mit grausamer Satire
dieses Trugbild zerfetzt. Aber die - satirisch berechtigte - Geradlinigkeit
seiner Destruktion bedurfte einer dichterischen Ergänzung. Die Sommer-
tage des Jahres 1914 waren historisch notwendig, aber nicht einfach fatali-
stisch notwendige Folgen der wilhelminischen Entwicklung, sondern zu-
gleich auch Explosionen ihrer sehr komplizierten inneren Widersprüche.
Einerseits sind ganz große Massen aus einem Traumzustand erwacht; dabei
ist es für unsere .jetzigen Betrachtungen nicht ausschlaggebend, wie weit
es sich hier um ein idyllisches Träumen oder um einen Alpdruck gehandelt
hat. Andererseits entstand eine kopflose Flucht in die rauschartig aufleuch-
tende Illusion von der Einheit des Volkes, vom Untertauchen in den Wellen
dieser Gemeinsamkeit, vom Verlassendürfen der egoistischen Kleinlichkeit
des Alltags, der abgekapselten Einsamkeit und selbstherrlichen Innerlich-
keit. Arnold Zweigs Kriegsromanzyklus hat den eigentlichen Kriegs-
ausbruch noch nicht gestaltet. Aber seine Darstellung des langsamen, qual-
vollen, widerspruchsreichen, zumeist sehr partiellen Erwachens aus diesem
Rausch zeigt, wo dies Problem und seine Lösung zu suchen sind.
Das „Anderswerden" bei Becher gibt nun dem Problem eine neue,
originelle, ergänzende, Lichter aufsetzende Wendung. In seinem Roman
ist jeder Mensch mit seinem inneren und äußeren Zustand unzufrieden.
Aber da der Roman in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen spielt
und die Arbeiterbewegung nur am Horizont steht, betleutet dies vorerst
und zumeist nur ein dumpfes, wenig bewußtes Unbehagen. Zum Beispiel
ein instinktives, gefühlsmäßiges, aber praktisch ohnmächtiges Sträuben der
Mutter Hans Gastls, die in den entscheidenden Momenten der heraus-
platzenden bürgerlichen Gemeinheit immer „dagegen" ist, aber dennoch
alles geschehen lassen muß. So lehnt die Großmutter, aufgewachsen und
erzogen in der Periode des Absterbens des klassischen Humanismus, die
ordinär-bürgerliche Gegenwart ab, kommt aber natürlich zu keiner offenen
Opposition, nur zu leisen, nur mit feinen Ohren hörbaren Ausdrucks-
nuancen des Protestes. Diese sind allerdings für die Entwicklung des sehr
empfänglichen, allen Einflüssen offenen Jungen sehr wichtig. Die äußerste
Protestgeste, die sie sich leisten kann, ist, daß sie testamentarisch bestimmt,
nicht christlich begraben, sondern verbrannt zu werden. Ja, auch der Vater,
der Staatsanwalt„ die düster negative, oft grotesk drohende Macht im
Jugendleben Hans Gastls, ist ein Unzufriedener, ein innerlich Zwiespältiger,
dessen Tyrannei in der Familie, dessen unbeherrschte Explosionen eben-
2.02. Johannes R. Becher
falls aus dem inneren wie äußeren Unbefriedigtsein mit dem eigenen Leben
stammen. Und diese Linie führt Becher reich variiert bei allen seinen bürger-
lichen Figuren durch. In der plebejischen und proletarischen Welt, die das
bürgerliche Heim des Helden umgibt, ist verständlicherweise die Sehn-
sucht nach dem inneren und äußeren „Anderswerden" noch viel stärker.
Hier aber hat diese Sehnsucht und die Unzufriedenheit mit dem Seienden
einen ganz entgegengesetzten Inhalt und eine objektiv rebellische Absicht,
die sich freilich bei sehr vielen Figuren (Dienstboten usw.) reichlich un-
bewußt äußert. Aber auch die ganz unbewußten, ganz unklaren .Äuße-
rungen dieser Unzufriedenheit finden in der Seele des Kindes und des Jüng- ·
lings starken Widerhall.
Die Sehnsucht dieses Kindes und später des Jünglings zum „Anders-
werden", eine andersgeartete, neue Welt zu erleben - der innere Gehalt
des Romans -, ist also nur die Hauptstimme eines Chorals, in dem alle
Beteiligten in ihrer Weise mitsingen.
IV
Wir sahen bereits: diese allgemeine Sehnsucht zum „Anderswerden" be-
steht aus zwei einander feindlichen Bestrebungen. Für die eine ist - letzten
Endes - das Wilhelminische Deutschland nicht reaktionär und imperiali-
stisch genug; die andere sucht den Weg der Befreiung des Menschen vom
Kapitalismus, die Befreiung von ökonomischer und moralischer, politischer
und kultureller Knechtung. Aber diese haarscharfe Scheidung der feind-
lichen Lager ist - !um Glück für den Roman - nur in den wirklich drama-
tischen Momenten der Handlung augenfällig. Sonst bildet sie nur eine
(stets unsichtbar gegenwärtige) Grundlage aller Geschehnisse: man sieht
einen chaotischen und vielfältig verwickelten Kampf einander kreuzender
innerer und äußerer Bestrebungen und Konflikte, deren verworrenes Ge-
webe - freilich zusammen mit dem immer gegenwärtigen unsichtbaren
Hintergrund des fundamentalen Gegensatzes - ein treues Bild des Wilhel-
minischen Deutschland ergibt.
Wenn wir diese Verworrenheit einen Vorzug nannten, so taten wir es,
weil in ihr die Totalität des Problems zum Ausdruck kommt. Becher ge-
hört nicht zu jener Masse der heutigen Schriftsteller, die, wenn sie gegen
eine politische Reaktion kämpfen, den Kapitalismus „vergessen", oder
wenn sie die Ausbeutung im Betrieb entlarven, vom Privatleben der
Arbeiter „absehen". Bechers Roman hat im Kriegsaus}:>ruch nicht bloß
seinen Gipfelpunkt: das Kriegsmotiv durchzieht vielmehr die ganze Jugend-
entwicklung des Helden, beeinflußt sie entscheidend. Und die Kulmination
Sein Roman „Abschied" zo;
ist symphonisch: selbständige, ja bis dahin heterogen scheinende Motive
vereinigen sich nunmehr; es erweist sich, daß alle Richtungen der kapita-
listischen Widersprüche zusammenlaufen in die Stellung für und gegen den
imperialistischen Krieg.
Aber die Kompliziertheit und Verworrenheit geht noch tiefer. „Der
Mensch: ein Schlachtfeld" wird irgendwo in dem Roman, sein Wesen
richtig beleuchtend, gesagt. Der Kampf der beiden Richtungen wird bei
Becher in die Seele des Menschen selbst verlegt. Ihre menschliche und
kompositionelle Bedeutung wächst, je tiefer diese Gegensätze in ihr inner-
lich kämpfen, sie zerreißen. Dies ergibt die Berechtigung Hans Gastls als
Zentralfigur.
Damit sind wir bei dem ideellen und künstlerischen Hauptproblem des
Romans angelangt. Für Becher gibt es nicht ohne weiteres einen Bürger-
sohn mit einer so oder so sozial bedingten Klassenideologie. Er gestaltet
im Gegenteil, wie die bürgerliche Umgebung ihre Angehörigen zu Bour-
geois formt, wie ein Bürgersohn von seiner Klasse zum Bourgeois ge-
macht werden soll. Er zeigt, welche Gegenkräfte sich in ihm und in seiner
Umwelt regen, welche moralischen und psychologischen Konflikte aus dem
Kampf dieser Kräfte entspringen. Becher sieht und gestaltet also die
Mantsche Wahrheit, daß die - allgemein gesellschaftliche - Notwendig-
keit, einer bestimmten Klasse zuzugehören, beim Individuum der kapita-
listischen Gesellschaft notwendig eine Komponente des Zufälligen, einen
Spielraum der inneren Kämpfe in sich begreift und daß die Entscheidung
bei den einzelnen Individuen nicht von vornherein fatalistisch feststeht.
Bei Becher wird also zu einem aufregenden Problem, zum Gehalt einer
spannenden Handlung gerade das, was für die Mehrzahl der heutigen sozial
orientierten Schriftsteller ein selbstverständlicher, schematisch langweiliger
Ausgangspunkt und zugleich ein totes Ergebnis ist: die Klassenzugehörig-
keit eines Individuums.
Diese gesellschaftlich~ideell richtige Fragestellung hat eine künstlerisch
äußerst wichtige Folge. Bei Becher finden wir keine Spur jener fetischisti-
schen Erstarrung gesellschaftlicher Mächte, die gerade die radikale, nach
Gesellschaftlichkeit strebende Literatur unserer Zeit verunstaltet. Alles
Soziale ist bei Becher ins Individuelle, ins Psychologische und Moralische
umgesetzt.
Und andererseits: es taucht im ganzen Roman kein einziges psychologisches
oder moralisches Problem auf, dessen innere Dynamik nicht auf den einen
oder andern politisch-sozialen Pol gerichtet wäre. Und gerade weil dies
Bezogensein zumeist immanent, unbewußt, unausgesprochen ist, erhalten
die konfliktreichen Begebenheiten eine mitreißende Unmittelbarkeit; und
weil dies Bezogensein, der soziale Kern, trotzdem fühlbar, ja notwendig
Johannes R. Becher
erlebt ist, wird alles aus der kleinlichen Enge des bloß Privaten, aus der
leeren Spitzfindigkeit des bloß Psychologischen herausgehoben.
Das bürgerliche Leben wirkt spontan in der Richtung der Verbürger-
lichung der Menschen; die bürgerlichen Eltern, Erzieher usw. bemühen
sich zugleich bewußt, schon aus dem Kind einen Bourgeois zu machen.
Es ist nicht einfach Belohnung und Strafe, die hier wirksam werden. Es han-
delt sich vielmehr um einen sehr komplizierten Mechanismus, um ein bewußt-
unbewußtes Ineinandergreifen menschlicher Handlungen, die schon dem
Kind einen Abgrund zeigen, wenn es sich instinktiv über die Klassen-
grenzen hinauswagt; dieser Mechanismus läßt es, über dem Abgrund in
Todesangst hängend, eine Weile zappeln, um es dann, aufs tiefste erniedrigt
und für seine guten Instinkte beschämt, ja diffamiert, für Feigheit, Gemein-
heit und Kapitulation gerühmt, am Ende doch zu „retten".
Becher schreckt dabei auch vor der Darstellung der krassesten Fälle nicht
zurück. Der kleine Volksschüler Gastl hat seiner Großmutter zehn Mark
gestohlen; er schwänzt mit seinem proletarischen Schulfreund Hartinger,
den Hans' Familie als „Verführer" zu allem Schlechten (das heißt Nicht-
Standesgemäßen) haßt und verleumdet, den Unterricht. Beides wird ent-
deckt, und nun wird in der Schule - Hartinger bestraft. Der Lehrer zieht
ihm die Hose herunter, drei Schüler, unter ihnen Hans, müssen ihn
halten, und so bekommt er fünfundzwanzig Rutenhiebe. Hans hat die gute
.Aufwallung, seinen Freund zu retten, einzugestehen, daß er den Har-
tinger zum Schwänzen verführt hat, daß er den Diebstahl von sich aus
beging. Aber der Lehrer „weiß es besser", und Hans muß bei der Strafe
assistieren.
Beiläufig bemerkt, zeigt schon eine solche Episode den Abstand Bechers
von der Mittellinie der heutigen Literatur. Einerseits beschränkt er sich
nicht auf den grauen Durchschnitt des alltäglich Gewohnten, sondern be-
vorzugt im Gegenteil krasse, extreme Situationen, in denen oft eine raffi-
nierte und tiefe Grausamkeit zum Ausdruck kommt, aber andererseits ist
diese Kraßheit bei ihm nicht Selbstzweck, sondern nur Anlaß, eine morali-
sche Krise sinnfällig einprägsam zu gestalten. Er mildert also darstellerisch
nichts an den grausamen Zügen seiner Situationen, sie rücken jedoch durch
das Übergewicht des moralischen Konflikts „von selbst" in den „zweiten
Plan".
Eben diese Gestaltungsart macht es möglich, daß solche Szenen un-
gezwungen in der Komposition ihre Stellung als Knotenpunkte der Ent-
Sein Roman „Abschied" 2.05
wicklung des Helden erhalten. Denn die Wirkung einer solchen Szene wie
der oben angedeuteten ist nicht einmalig, sondern - mehr oder weniger -
dauernd. Gerade Kind und Jüngling sind zu weiche, zu unselbständige
Wesen, um gegenüber der öffentlichen Meinung ihrer Umgebung allein
bestehen zu können. In solchen Fällen erhalten sie einen seelischen Schock
für eine ganze Entwicklungsetappe; einige sogar fürs ganze Leben. Ihre
Instinkte kehren sich um; ihr Drang nach Mut, nach Schönheit, nach
Geltung, nach Geliebtsein wirkt sich zeitweilig in einer völlig verkehrten
Richtung aus. Nach dieser Szene schließt sich Hans Gastl den schlechtesten
Bourgeoisjungen in der Klasse an und verfolgt Hartinger mit einer viel
raffinierteren Grausamkeit, als es die durchschnittlichen und problem-
loseren Bürgerkinder tun.
Die Gegenkräfte können für das bürgerliche Kind nicht organisiert in
Erscheinung treten. Aber gerade ein Kind kann von der plebejischen Seite
des Lebens nicht hermetisch abgeschlossen werden; es ist neugierig, lüstern
auf Abenteuer, auf Ungewohntes, Nicht-Alltägliches. Zudem gibt es Dienst-
boten, gibt es Nachbarn, gibt es die Volksschule, die von dem Kind zu-
nächst besucht wird. Hier wirkt sich nun die größere menschliche Echtheit
der plebejischen Naturen als Anziehungskraft, als Erweckerin der guten
Instinkte aus. Die Gestaltung der Anhänglichkeit des kleinen Hans Gastl
an das alte Dienstmädchen Christine, an den Offiziersburschen Xaver ge-
hört zu den schönsten Teilen dieses reichen Buches. Andererseits bleiben
auch bei der Berührung mit diesen Teilen seiner Umgebung die Klassen-
schichtung, der Klassenhochmut der Bourgeoisie, die Ungleichheit und
Ungerechtigkeit dem Kind nicht verborgen. Als etwa der zum Jüngling
gewordene Hans von einem Schulkameraden, dem Bankierssohn Löwen-
stein, zum ersten Male etwas über Sozialismus hört, fragt er ihn, wie er
eigentlich auf diese Fragen gestoßen sei. Löwenstein antwortet: „Es war
ein Wurstzipfel. Die Mutter schnitt ihn ab beim Abendessen. Legte ihn
auf den Teller und stellte den Teller beiseite: ,Den Wurstzipfel ißt man
nicht, der könnte verdorben sein, den kriegt die Ursel. Die hat einen
besseren Magen.' Ursel war das Dienstmädchen, aber sie hieß gar nicht
Ursel. Sie wurde nur Ursel gerufen. Jedes Dienstmädchen, das die Mutter
anstellt, wird Ursel gerufen ... So erfuhr ich vom Klassenkampf.''
Gegen die Einflüsse von „unten" führen Elternhaus und Schule einen
ununterbrochenen, schlauen, teils offenen, teils versteckten Kleinkrieg.
Und in den meisten Fällen, so auch bei Hans, gelingt es ihnen, einen
Standesdünkel zu erwecken, der diesem Verkehr ein Ende macht. Der Aus-
tritt aus der Volksschule, der Beginn der Gymnasialzeit wirkt automatisch
in dieser Richtung, denn er schaltet die plebejisch-proletarischen Elemente
aus der Reihe der Schulkameraden aus.
206 Johannes R. Becher
So ist der heranwachsende Jüngling viel einsamer, auf sich selbst mehr
angewiesen, als das Kind es war. Und die spontanen Verführungsmittel,
die Wege zur Flucht vor sich selbst treten gesellschaftlich spontan viel
massenhafter, fast unwiderstehlich auf. In typischer und überzeugender
Weise gestaltet Becher diese Flucht als einen Rausch des Sports, als ein
Vergessen aller äußeren und inneren Konflikte im leidenschaftlichen Be-
streben seines Helden, Champion im Kurzstreckenschwimmen zu werden.
Aber bei einigermaßen tüchtigen Naturen kann diese Übertäubung nicht
andauern. Indem der Druck der Umgebung immer größer, die begangenen
bourgeoisen Gemeinheiten immer krasser werden, wird allmählich bei dem
noch immer nicht „angepaßten" Helden eine geistigere, bewußtere Wider-
standskraft geweckt. Er beginnt seine Verbündeten, seine menschlichen
und moralischen Stützen bewußter zu suchen; er beginnt um eine welt-
anschauliche Klärung zu ringen. Freilich wieder auf verschlungenen
Wegen: aus schüchternen Anläufen zum Guten entsteht mitunter ganz
Böses; Versuche der Opposition führen oft zur schmählichen Kapitulation
und Heuchelei. Andererseits ist zuweilen die „Hilfe" des Elternhauses und
der Behörden so aufreizend klassenmäßig, daß gerade durch sie ein Wider-
stand geweckt wird. Dieses komplizierte Auf und Ab schildert Becher mit
großer Erfindungskraft in einleuchtenden, typischen und dabei inter-
essanten Situationen. Er zeigt zugleich überzeugend, daß dieses Auf und
.Ab kein bloßes Schwanken, sondern eine spiralenartige Aufwärtsbewegung
ist, die mit innerer Notwendigkeit zum Bruch mit dem Elternhaus führt,
zum Scheitern des Versuchs der Umgebung, aus Hans Gastleinen Bourgeois
zu machen.
Freilich ist der Bruch mit der bürgerlichen Welt dadurch noch lange
nicht endgültig vollzogen. Und das ist richtig und wahr. Becher gibt in
diesem Roman - folgerichtig - nur das Vorspiel zur weiteren Entwicklung
seines Helden, zur weiteren Erhellung der Psyche des deutschen Menschen
von der Jahrhundertwende bis heute.
VI
Wenn man will, ist dies nur eine Alltagsgeschichte: ein bürgerlicher
Jüngling löst sich von seiner Familie und Klasse. Was ist viel dabei? Und
doch fühlt der Leser dieses Buches: es ist hier ein historisches Schicksal
gestaltet, das Schicksal einer ganzen Generation, einer ganzen Klasse.
Denn so zugespitzt individuell die Geschehnisse, die seelischen Reak-
tionen auf sie auch sein mögen: diesen Problemkomplex erlebt jeder heran-
wachsende Bürger oder Kleinbürger, bevor seine Persönlichkeit eine klare
Sein Roman ,,Abschied"
Klassenphysiognomie erhält. Mutatis mutandis wird hier die Entstehungs-
geschichte der Klassenphysiognomie gestaltet.
Eine Alltagsgeschichte also, aber trotzdem interessant und spannend.
Kein Mensch, keine Begebenheit, kein Gedanke ragt über das Mittelmaß
hinaus, und doch wird das hier gestaltete Schicksal, jede hier gefällte Ent-
scheidung atemlos miterlebt. In der Tatsache, eine Spannung dieser Art
auslösen zu können, zeigt sich das echte Dichtertum Bechers. Es gilt von
seinem Buch, was in ihm, gegen Ende, der Schriftsteller Sack zu dem
jungen Hans Gastl sagt: „Merken Sie sich noch: es gibt keine uninter-
essanten, langweiligen Menschen. Die uninteressanten, langweiligen Men-
schen sind lediglich die Erfindung uninteressanter, langweiliger Schrift-
steller, die als Menschen ebenfalls nicht langweilig wären, nur ihre Un-
begabtheit läßt sie als solche erscheinen ... "
In dieser Fragestellung zeigt sich die dichterische, sozialkritische und
erzieherische Klugheit Bechers. Gerade indem er einen sehr verschlungenen
Weg zum Bruch mit der bürgerlichen Gesefüchaft zeigt, ist er in der Lage,
ein reiches Bild von den Gefahren und Hemmungen zu geben, die diesen
Weg so oft zu einem vergeblichen machen. Gerade indem er seinen Helden
weich, beeindruckbar, oft feig, grausam und heuchlerisch schildert, gibt
er uns ein wahres Bild jener Notwendigkeit, die in besser angelegten
Naturen zu diesem Bruch drängt, und zugleich ein Bild der Fülle jener
glücklichen oder unglücklichen Zufälle, die beim Individuum ein Gelingen
oder Mißlingen verursachen.
Und schließlich bedeutet das energische Hervorheben so vieler nega-
tiver Züge seines Helden einen sehr gesunden Bruch mit der schematischen
Tradition vieler fortschrittlicher Schriftsteller. Denn so richtig es, histo-
risch gesehen, ist, daß gerade die besten Elemente der herrschenden Klasse
zum revolutionären Proletariat übergehen, so gefährlich wäre es, alles
menschliche und moralische Licht auf jene fallen zu lassen, denen dies
gelingt, jene andern hingegen, die in ihrer Klasse bleiben, einfach als dunkle
Schurken oder nichtswürdige Schwächlinge darzustellen. Und dies ist
leider nur allzu oft das Schema der fortschrittlichen Schriftsteller. Dieses
Schema widerspricht nicht nur der komplizierten Wahrheit des Lebens,
sondern ist auch politisch und erzieherisch falsch. Denn die Möglichkeit,
sich aus dem Netz der bürgerlichen Vorurteile herauszuarbeiten, kann kei-
nem einigermaßen anständig fühlenden Menschen von vornherein ab-
gesprochen werden. Die Tatsache, daß Becher einen mit vielen negativen
Eigenschaften belasteten Menschen sich zur Klarheit durchringen läßt,
enthält einen realistisch tiefen und echten. dichterisch wahren Optimismus.
208 Johannes R. Becher
VII
Der eigenartige, widerspruchsvolle Inhalt dieser Entwicklung erhält
bei Becher eine eigenartige, widerspruchsvolle Form. Auf den ersten Blick
ist die Form die allermodernste: Becher erzählt nicht die Begebenheiten
selbst, sondern gibt nur den Fluß der seelischen Reaktionen auf sie. Sein
Buch ist ein Ich-Roman in einem äußerst radikalen Sinn: im Grunde ge-
nommen wird nur der Erlebnisstrom des jungen Gast! - allerdings mit
weiser Auswahl - an uns vorbeigeführt. Menschen, Dinge, Ereignisse
kommen überhaupt nur so weit vor, als sie sich in diesem Erlebnisstrom
spiegeln. Abstrakt gesehen, ist das der Stil der modernsten Erzählungs-
kunst, etwa seit der starken Einwirkung von Joyce. Dieser Stil ist in
.der bürgerlichen Welt, wie Ernst Bloch richtig sagt, ein Ausdruck dafür,
daß „wichtige Dichter in den Stoffennichtmehrunmittelbarunterkommen".
Wenn zwei das gleiche tun, ist es aber nicht immer das gleiche. Bei Joyce
handelt es sich um eine zerfallende Welt, gesehen mit den Augen eines in-
neren Zerfalls. Dieser Subjektivismus ist ein bloßes Hindurchgleiten durch
Begebenheiten, mit denen der wurzellose Mensch, infolge seiner allgemei-
nen Lebensunfähigkeit, nichts anzufangen vermag.
Aber auch dort, wo im modernen Roman versucht wurde, in diesen Stil
etwas von der Härte der gesellschaftlichen Notwendigkeit hereinzubringen
und den formlosen Erlebnismassen Rückgrat zu verleihen, sind die Versuche
gescheitert. Bei Dos Passos etwa mischt sich völlig unorganisch eine äußer-
lich bleibende, trockene oder farbige Montage der Umwelt in den immer
wieder formlos losbrechenden Joyceschen Erlebnisstrom. Subjekt und
Objekt kommen hier nicht zueinander; die Montage vermag für diese
Erlebnisströme kein Strombett zu graben.
Im Gegensatz dazu ist der innere Stil des Romans von Becher künst-
lerisch wirklich originell, Neuland erschließend. Der Subjektivismus, die
Verinnerlichung ist bei Becher nämlich immer gesellschaftlich-moralisch.
Er gestaltet Ereignisse, besser gesagt: Erlebnisse von Ereignissen nur inso-
fern, als sie für die gesellschaftlich-moralische Entwicklung seines Helden
von Bedeutung sind, nur insofern, als sie diesen Vorgang vorwärts treiben,
hemmen oder verhindern. Und die Auswahl erfolgt mit größter Strenge
von dem Prinzip aus, nichts zu schildern, was nicht auf das Zentralproblem
bezogen wäre.
Darum ist die Spontaneität des Erlebnisstroms, als Ganzes gesehen, nur
scheinbar. Er strömt und flutet, wo eine solche Entscheidung gefällt wird,
a.ber die Verknüpfung der Ereignisse, die dieses Strömen hervorrufen, ist
mit eiserner Notwendigkeit festgehalten, und diese Notwendigkeit ent-
:Stammt der Sphäre des objektiven gesellschaftlich-geschichtlichen Schick-
Sein Roman „Abschied"
sals des ganzen Zeitabschnitts. Für jedes einzelne Ereignis und für die sub-
jektive Reaktion darauf gilt also die Spontaneität auch als Stil der Dar-
stellung in vollem Maß, aber die Gesamtkomposition wird keinen Augen-
blick von dieser Spontaneität bestimmt. Ihre Notwendigkeit ist gesell-
schaftlich-objektiv. Und da es Becher, wie wir gesehen haben, gelungen ist,
jeder psychologischen .Äußerung seines Helden die gesellschaftlichen Be-
stimmungen, die sozial bedingten moralischen Kategorien innewohnen ZU
lassen, ist diese objektive Notwendigkeit dem Subjekt, dem Ich-Erzähler
des Erlebnisstroms nicht fremd; es ist vielmehr sein ihm unbekanntes Wesen,
seine ihm unbekannte Wahrheit, die sich aus dem Erlebnisstrom allmählich
zum Licht durcharbeitet.
Damit sind wir aber bei einer sehr paradoxen Folgerung angelangt.
Scheinbar ist Bechers Stil loser, lockerer, zerfallender als der der alten
Erzähler, ganz nahe der modernen Auflösung des Romans. In Wirklichkeit
komponiert Becher viel einliniger, gerader, als viele streng epische Werke
der Vergangenheit komponiert sind. Diese Bändigung des Erlebnisstroms,
der äußersten Subjektivität zur epischen Gestaltung der objektiven Wirk-
lichkeit ist echtes Neuland. Sie hat aber, wie jede solche Neuerung, auch
ihre Gefahren, die wir soeben mit dem Ausdruck Einlinigkeit angedeutet
haben. Denn jede Einlinigkeit widerspricht der Handlungsführung der
großen Epik, also auch der des Romans. Und gerade Bechers grundlegende
Konzeption von der Entwicklung seines Helden, von der unübersehbaren
Fülle der Hemmungen, die dessen schließlichem Aufstieg vorangehen, ist
zutiefst episch. Aber die Einlinigkeit des Kompositionsschemas macht es
ihm oft außerordentlich schwer, die unterirdische Vorbereitung eines dra-
matischen Umschwungs künstlerisch überzeugend darzustellen. Denn jeder
Umschwung wird in der Wirklichkeit - und darum auch in ihrer Beche.r-
schen Spiegelung - durch die Ereignisse der objektiven Außenwelt zustande
gebracht, und das sogenannte Unbewußte in der Psychologie des Helden
ist nur ein Ausdruck für diese komplizierte Wechselwirkung bei realem
(und darum episch künstlerischem) Übergewich tder objektiven Wirklichkeit.
Da nun bei Becher nur jene Begebenheiten geschildert werden können, die
das Bewußtsein des Helden beleuchten, da die Darstellung dieses Bewußt-
seins nicht, wie bei vielen modernen Schriftstellern, ein uferloser Strom
ist, in dessen trüben Fluten das Wichtige als verschwindendes Moment
untertaucht, sondern durch eine strenge psychologisch-moralische Auswahl
das konfliktvoll Wesentliche energisch hervorgehoben wird, kommt einige
Male die künstlerische Vorbereitung wichtiger Wendungen zu kurz.
In bestimmtem Sinn ist dies ein allgemeines Problem aller Ich-Romane,
es taucht aber in deren moderner Form mit besonderer Schärfe auf. Und
die originelle Umschaffung dieser Form durch Becher bringt neben neuen
210 Johannes R. Becher
Schönheiten auch neue Schwierigkeiten mit sich. Es handelt sich um die
Darstellung der Objektivität eines Weltzustands im Spiegel des Ich-
Bewußtseins. Künstlerisch wird nur dieses unmittelbar gegeben, aber der
Leser muß stets das richtige Gewicht, die richtige Proportion der objektiven
Wirklichkeit miterleben. Das ist Becher im allgemeinen gelungen, besonders
bei der Darstellung der Kindheit. Nur gegen Schluß des Romans, wo die
sozialen Gegensätze, verschärft und bewußter geworden, hervorzutreten
beginnen, ist stellenweise eine die richtige Linienführung störende Über-
deutlichkeit vorhanden: ein stellenweises Hineintragen der heutigen Wer-
tungen Bechers in die damalige Zeit. Dabei kommen nun diese Bewertun-
gen nicht als der objektiven Wirklichkeit innewohnende richtige Propor-
tionen und Gewichte zum Ausdruck, sondern erhalten einen überdeutlichen
und darum falschen bewußtseinsmäßigen Ausdruck. Schon die bürgerlich
klassenbewußte Ansprache des - sonst glänzend gezeichneten - Schul-
kollegen Feck an den Helden nach jener ersten entscheidenden Auflehnung
ist überdeutlich und psychologisch nicht überzeugend. Noch mehr gilt
das für die expressionistische Entwicklungsphase des Helden, die von der
Familie als harmlos, nicht als Rebellion (was sie subjektiv zweifellos ist)
aufgenommen und von Feck geradezu als richtiges Abrücken vom klassen-
feindlichen Standpunkt gelobt wird. Es ist vielleicht überflüssig, hervorzu-
heben, daß die einzelnen Gestalten und Situationen dieser Episode lebens-
wahr gezeichnet sind, daß der Umfall einer Reihe von Revoluzzern bei
Kriegsausbruch sehr gut dargestellt wurde - aber das Ganze als Entwick-
lungsstufe bleibt doch überdeutlich und ist deshalb nicht überzeugend.
Es gilt hier, was Goethe aus Hamann zu zitieren liebte: „Deutlichkeit
ist eine gehörige Verteilung von Licht und Schatten." Diese Verteilung
ist hier aus den angedeuteten Gründen mißglückt.
Die zweite große Schwierigkeit der Objektivität jedes Ich-Romans, die
Plastik jener Gestalten, die uns nur reflektiert durch das Bewußtsein des
Ich-Helden bekannt werden, löst Becher in hervorragender Weise. Nicht
nur die Familie selbst und ihre engere Umgebung, auch die Schulkameraden>
die Lehrer u. a. werden zu abgerundeten und vielseitigen Figuren. Indem
Becher zwar alles streng auf die moralischen Konflikte seines Helden be-
zieht, diese aber in einem sehr bewegten Auf und Ab sich vor uns abspielen
läßt, entsteht die Beleuchtung der Figuren von sehr verschiedenen Gesichts-
punkten: wir sehen die stets affektbetonten Attraktionen und Repulsionen>
Annäherungen und Entfernungen in den Beziehungen des Helden zu seinen
Mitspielern, und durch die Gesamtheit dieser bewegten und stets veränderten
Relationen werden auch die andern Gestalten vielseitig und bewegt model-
liert, erhalten sie eine vom erzählenden Ich-Helden sich scharf abhebende
selbständige Existenz, selbständige Bewegungsgesetze ihres eigenen Daseins.
Sein Roman „Abschied" 211
So ist der Roman Bechers trotz der Berührung mit modernen, in ihrer
Originalform antirealistischen Bestrebungen zutiefst realistisch. Ja, das
Originelle und Neuland Erschließende an diesem Roman liegt gerade darin,
daß Becher die ins Realistische umkehrbaren Elemente in der modernen
Literatur erkannt, sie sich zu eigen gemacht und verwendet hat. Dieser
Verwandlungsvorgang ließe sich in allen Einzelheiten der Erzählungsweise
aufzeigen. Wir greifen nur ein wichtiges Beispiel heraus: das Symbol. Die
Symbole, mit denen Becher (und zwar sehr ausgiebig) arbeitet, entstehen,
als Symbole, aus dem Leben selbst. Der Ich-Held des Romans hält nämlich
an den vielen Wendepunkten seiner Entwicklung Einkehr in sich, Überschau
der eigenen Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunftsaussichten. Bei
solchen Gelegenheiten verdichtet sich in ihm naturgemäß das eigene Ich
auf einem früheren - günstigen oder ungünstigen - Wendepunkt zu einer
selbständigen Gestalt, deren symbolhafte Bezeichnung und Erscheinungs-
weise das Positive oder Negative jener Phase konzentriert ausdrückt.
Diese organischen Elemente der ununterbrochenen Selbstkritik des Helden
sind also die Symbole dieses Romans; ihre Entstehung ist psychologisch
überzeugend, ihre Gestalten sind gesellschaftlich-moralisch richtig, und
darum kann ihre künstlerische Form realistisch sein. Und es liegt im Wesen
der Sache, daß die Gestaltenreihe in einer solchen Selbstprüfung mit dem
.Älterwerden und der wachsenden Erfahrung des Helden reicher wird.
Auch hier führt Becher die Entwicklungslinie mit künstlerischem Takt
und realistisch durch. Für mein Gefühl hat er nur in der letzten Szene, in
welcher der Held die Treppen des Elternhauses hinuntergeht und dabei
alle positiven und negativen Kräfte seines Lebens zum letztenmal um seine
Seele kämpfen, aus artistischer Freude an dem farbenprächtigen Gewoge
des Guten ein bißchen zuviel getan.
Betrachtet man Bechers Roman als Ganzes, so kann man ruhig jenen
Ausspruch Goethes, den wir soeben zur Kritik einer Stelle zitiert haben, als
lobende Charakteristik des ganzen Werks anwenden: er hat sowohl gesell-
schaftlich-moralisch wie künstlerisch „Licht und Schatten gehörig verteilt"
und darum die richtige, interessante, ja mitreißende Deutlichkeit der Ge-
schehnisse erzielt.
Wir haben den Lyriker Becher seit langem geliebt und geschätzt. Der
fünfzigjährige Becher überrascht uns nun mit einem epischen Werk, das
ihn mit einem Schlag den ersten deutschen Erzählern der Gegenwart zu-
gesellt. Er hat wirklich etwas Neues gebracht; er hat unsern Begriff von
dem Dichter Becher erweitert; er hat unsere Erwartungen seiner Zukunfts-
entwicklung noch gesteigert.
1941
BECHERS LYRIK
Unsere Zeit - neu in jeder Hinsicht - hat sich in den stürmischen Jahr-
zehnten zweier Weltkriege auch politische Dichter eines neuen Typus er-
zogen. Vergleicht man die bedeutenden Sowjetdichter, die Franzosen
Eluard und Aragon, den Südamerikaner Neruda, den Türken Nazim
Hikmet, die Deutschen Becher und Brecht, Ungarns großen Poeten J6zsef
Attila mit Dichtern früherer Umwälzungsperioden, so steht der Unter-
schied sofort klar vor uns. Die Feststellung dieser Neuheit und Zusammen-
gehörigkeit soll und wird die Persönlichkeitsdifferenzen, ja die Stilgegen-
sätze zwischen den hier erwähnten Dichtern keineswegs verwischen, nicht
einmal abschwächen. Es kommt hier nur auf die Feststellung dieses neuen
Typus überhaupt an.
Unsere Betrachtungen erheben keineswegs den Anspruch, diesen Typus
auch nur in seinen gröbsten Umrissen zu skizzieren. Diese allgemeine,
einleitende Bemerkung war aber nötig, um im vorhinein anzudeuten, daß
der äußerst individuelle, eigenartige, vielfach singuläre Entwicklungsweg
des Dichters Johannes R. Becher objektiv historisch gesehen keinen Einzel-
fall darstellt, sondern - auch in seinen persönlichst bedingten Wendungen -
ein notwendiges Produkt unserer Zeit war und ist.
Diese Fragestellung begrenzt unsere Betrachtungen in doppelter Rich-
tung: erstens erstreben wir keine umfassende Gesamtdarstellung der Dich-
tung Bechers, wir wollen nur seine mit unserem Problem innerlich ver-
bundenen Züge herausarbeiten, die wir freilich für die wesentlichen halten;
zweitens ist es nicht unsere Absicht, sein Lebenswerk kritisch nach mehr
oder weniger Gelungenem zu sichten. Die Auswahl der zitierten Gedichte
ist durch diese Gesichtspunkte bedingt.
Becher beginnt seine dichterische Laufbahn als Expressionist. Was diese
Stellungnahme menschlich und dichterisch für ihn bedeutet, hat er selbst,
nach Abschluß dieser Entwicklungsphase, jedoch noch vor dem Erlangen
Seine Lyrik
der künstlerischen Reife, im Vorwort eines Gedichtbandes unmißverständ-
lich zum Ausdruck gebracht:
„Wir trugen in uns das Bild eines vollkommenen Menschen, das zu ver-
wirklichen wir leidenschaftlich entschlossen waren. Der Krieg platzte in
unseren Menschheitstraum. Wir fragten: Was sollen wir tun? Wir griffen
ins Nichts, wir sahen das Leere. Grauen innen, Grauen außen. Fragezeichen
waren wir, glühende, flammende. Wir selbst: mehr als fragwürdig ... "
Becher schildert dort auch die menschlich-künstlerischen Motive des
Übergangs zu einer anderen Ausdrucksweise, verwandt mit den Stil-
tendenzen der „neuen Sachlichkeit". Der kurze Revolutionsaufschwung,
an dem der Expressionismus sich beteiligte, an dessen Hoffnungen sich
seine Pathetik entzündete, ging vorüber und ließ eine tiefe Enttäuschung
zurück. Es ist bekannt, daß die meisten führenden Expressionisten der
revolutionären Arbeiterbewegung, deren Gäste sie für eine kurze Spanne
waren, nach dieser Enttäuschung den Rücken kehrten, daß sie Eigen-
brötler wurden; viele von ihnen mauserten sich bis zum offenen Reaktio-
närtum, ja bis zum Faschismus durch.
Becher unterscheidet sich von den meisten Gefährten seiner Anfänge
auch dadurch, daß das Verschwinden der akut-revolutionären Situationen
seine Treue zur Arbeiterbewegung nur verstärkt und vertieft hat. Die Er-
schütterung und Enttäuschung, die viele von der Revolution entfernte,
bringt bei ihm eine Einkehr, ein Suchen nach dem, was wirklich not tut,
hervor. Darüber schreibt Becher in demselben Vorwort: „Wir sammeln
uns, heißt: wir scheiden das Wertlose und Zufällige aus, wfr stellen das
Wesentliche hervor, wir konzentrieren unsere Kräfte ... " Und er zeigt
sich hier nicht nur als Revolutionär, als Kommunist, sondern auch als
echter Dichter: er zieht aus dieser Lage alle Konsequenzen für sein eigenes
Schaffen. Die politische und mit ihr die menschliche Wandlung bringt
- in voller Bewußtheit - auch eine Wendung in allen Stilfragen, eine Ab..,
kehr von den ekstatischen Exzessen des Expressionismus hervor: „Man
mußte rücksichtslos vorgehen. Es galt: auszugraben, freizulegen, aus dem
Wust atemlos gekrampfter Wortreihen und sich überstürzender Gleich-
nisse das einfache, menschliche Wort zu retten ... "
Der Charakter dieses Entwicklungsganges grenzt Becher von seinen
Mitstrebenden auf beiden Etappen ab. Als Expressionist ist er viel extremer,
ekstatischer, zerrissener, übertriebener, darum mitunter auch geschmack-
loser als viele andere dieser Richtung; gerade weil sein Wegsuchen echter
war, gerade weil der Expressionismus für ihn nicht eine beliebige artisti-
sche Etappe im professionellen Herumexperimentieren mit Stilen eines
gleichbleibend individualistisch-anarchistischen Lebensverhaltens war, son-
dern der erste ·leidenschaftliche und zugleich tappende Schritt eines ehr-
214 Johannes R. Becher
liehen Intellektuellen, der sich von der gesamten bürgerlichen Kultur los-
lösen wollte und einem - ihm damals noch wenig bekannten - Sozialismus
zustrebte. Objektiv war der Sozialismus des damaligen Becher sicher nicht
viel klarer als der seiner Weggenossen. Subjektiv war er aber wirklich die
zentrale bewegende Kraft seines Lebens und Schaffens. Darum fehlt auch
seiner oft übersteigerten Pathetik die Selbstbespiegelung, die Selbstgefällig-
keit, das Spielerische. Verzweiflung an der alten Welt, utopisches Erhoffen
einer neuen sind echt in ihrer Verworrenheit, und aus dieser Echtheit
erwächst zuweilen eine instinktive, in die schöpferische Zukunft weisende
Selbstkritik:
„Ich lerne. Ich bereite vor. Ich übe mich.
Wie arbeite ich - ha, leidenschaftlichst! -
Gegen mein noch unplastisches Gesicht!"
Noch schärfer gezogen sind die Linien, die das Schaffen Bechers in der
zweiten Hälfte der zwanziger Jahre von den herrschenden Tendenzen der
„neuen Sachlichkeit" trennen. Man übersehe natürlich auch die Momente
der Stilähnlichkeit nicht. Ist doch die „neue Sachlichkeit" aus den Stim-
mungen der Ernüchterung nach dem Abflauen der revolutionären Welle
entstanden. Die Richtung auf Schlichtheit, die Ablehnung des Gefühls-
überschwangs, die absichtsvolle Beschränkung auf die nackte Tatsächlich-
keit in der Umwelt des Menschen hatte aber - zwar von denselben Ge-
schichtsereignissen hervorgerufen - ganz entgegengesetzte seelische
Gründe. Die Ideologen der Bourgeoisie (die Sozialdemokraten mit in-
begriffen) atmeten erleichtert auf, daß die „Stabilisierung" des Kapitalismus
dem Revolutionsrausch ein Ende bereitete. Die Abwendung von den Gefühls-
exzessen des Expressionismus hatte hier, je nach Temperament verschieden,
einen nihilistischen, einen zynischen Akzent, den einer freudigen Skepsis,
daß man nach bangen Jahren wieder an der Nähe der Revolution zweifeln
durfte.
Ganz entgegengesetzt ist „dieselbe" Wendung zur Nüchternheit aber
bei jenen gelagert, die dem Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse
treugeblieben sind. Mit zusammengebissenen Zähnen fügten sie sich der
Logik der Tatsachen, sie taten sich asketisch Gewalt an, um den Traum
vom freien Heute nicht weiterzuträumen. Für jene Jugend, zu der auch
Becher gehörte, bedeutete diese erzwungene asketische Nüchternheit auch
ein Lernen: sie kamen von weit her, sie haben aus der Feme den unbekann-
ten Messias der Welterlösung aus Krieg und Knechtschaft, das Proletariat,
hymnisch besungen. Erst jetzt haben sie, allmählich, sein Leben, seine
Kämpfe, seinen Weg zur Befreiung wirklich kennengelernt. Erst jetzt
konnte das bisher nur subjektiv echte Pathos des Revolutionärtums auch
einen objektiven revolutionären Gehalt erlangen.
Seine Lyrik
Vorerst aber einen engen und beschränkten, einen asketisch verzerrten.
Der Verzicht auf alles Bunte und Schillernde entstand nicht nur infolge der
gewandelten Zeitstimmungen, sondern vor allem infolge der Einsicht
in den bürgerlichen Charakter der früheren Wort- und Bilderpracht, in-
folge des erst jetzt wirklich ernstgemeinten Bruchs mit der bürgerlichen
Ideologie. Die stilistischen Berührungen des damaligen Bechersehen Schrift-
tums mit der „neuen Sachlichkeit" sind also reichlich zwiespältig; einer-
seits das heiße Bestreben, eine Dichtung zu schaffen, die sich von den
ästhetenhaften, spielerischen Traditionen der dekadenten Bourgeoisie
loslöst (wobei die aus solchen Umständen verständliche Verwirrung ent-
steht: die bürgerliche Dekadenz mit den historischen Überlieferungen der
Kunst überhaupt gleichzusetzen), und eine Dichtung zu schaffen, die an das
Leben des werktätigen Volks anknüpft. Nach Bechers Worten: „Wir
glauben wieder an eine Kunst, an eine Volkskunst, an das Werden und
Wachsen eines gewaltigen Lieds, das von Millionen gelesen, gesungen und
aufgeführt werden wird, das der Kampf- und der Arbeitsrhythmus aller
schaffenden Menschen der Welt sein wird." Andererseits jedoch, und mit
diesem Bestreben untrennbar verbunden, eine Dichtung, die an der un-
mittelbar sichtbaren Oberfläche des proletarischen Lebens, des Klassen-
kampfes haftenbleibt, die ebendeshalb auch jenes allzusehr vereinfacht
und durch die abstrahierende, einseitige Vereinfachung verzerrt wider-
spiegelt. Man denke an das Bild des Arbeiters. Seine Unterdrücker und Aus-
beuter werden mit grellen, echt pamphletischen Zügen geschildert. Sein
Leben, sein Dasein, seine Lebensart enthalten aber nur die Wesenszeichen
des Elends, der ihm vom Kapitalismus aufgezwungenen Unmenschlichkeit;
seine die Gesellschaft, die Welt erneuernde Kraft kann jedoch nicht zum
Ausdruck kommen:
„Sind es noch Menschen, die aus Gruben, Schächten
Jetzt steigen und im Dunkel sich verlieren?
Wie totgehetzte Tiere sind sie, lechzen.
Die Arme hängen lang. Sie gehen wie auf vieren."
Und die durch diese subjektiv ehrliche Askese aufgezwungene Verarmung
und Verzerrung durchdringt das ganze Weltbild, das ganze Weltgefühl.
Das berechtigte Mißtrauen Bechers gegen die Kunst, die Kultur der Deka-
denz dehnt sich auf deren gesamte historische Totalität aus. Ich führe wie-
der nur ein charakteristisches Beispiel an, ein Gedicht über die Musik:
„Ja, voll und rein klingt solch ein Instrument -
Doch lügt es frech, lügt frech euch ins Gesicht.
Weh euch, wenn einmal es sich frei bekennt!
Denn was ich bin - das singt der Flügel nicht."
u6 Johannes R. Becher
Diese Beispiele haben nur die Absicht zu zeigen: wie schwer der Weg war,
den Becher gehen mußte, um zum neuen Dichter einer unerhört groß-
artigen und neuartigen Epoche zu werden. Als er seinen neuen dichteri-
schen Standpunkt erlangte, beurteilte er die eigene Vergangenheit durch-
aus im selben Geiste, wie es diese Zeilen tun:
„Ich ließ mich oft auf falsche Fährten zwingen,
Und meine Stimme klang wie abgeschnürt,
Der Klang der Welt begann mir abzuklingen,
Was ich auch schrieb, es ließ euch unberührt ... "
II
In dieser Skizze ist es unmöglich, die Entwicklung Bechers zur wahren
dichterischen Reife in ihren verschiedenen Etappen zu untersuchen, noch
weniger die Vielfalt seiner Produktion innerhalb dieses Reifens. Wir
müssen uns hier auf einige wenige Fragen, die wir freilich für die zentralen
halten; konzentrieren: auf die Weltkrise, die Bechers bis dahin mehr oder
weniger latente Kräfte zur Entfaltung brachte, auf die besondere - und
zugleich für die ganze Periode typische - Art seiner menschlich-dichteri-
schen Reaktionen, mit denen er die neuen umwälzenden Erlebnisse be-
wältigte, auf einige der neuen ästhetischen Probleme, die für die soziali-
stische Kampfdichtung unter diesen veränderten Bedingungen entstehen.
Es ist allgemein bekannt, daß die Machtergreifung des deutschen Faschis-
mus eine Wendung in der revolutionären Arbeiterbewegung außerhalb der
Sowjetunion hervorrief, deren erste große Daten der Leipziger Reichstags-
brandprozeß und der VII. Weltkongreß der Komintern waren. Die histori-
sche Notwendigkeit dieser Wendung wurde objektiv von den veränderten
Kampfbedingungen gegen das Hitlertum bestimmt; daß sie jedoch für die
revolutionäre Bewegung außerhalb der Sowjetunion so „plötzlich", scharf
und entscheidend wirksam werden mußte, beruht auf der vorausgegangenen
Entwicklung des subjektiven Faktors, auf seiner relativen Zurückgeblieben-
heit im Vergleich zu dem, was die bolschewistische Partei bereits vor der
Oktoberrevolution erreicht hatte. Kurz gefaßt könnte man sagen: Der
Klassenkampf wurde von den Bolschewiken vor, während und nach dem
Großen Oktober universalistisch geführt, das heißt als ein Kampf, der
objektiv alle Erscheinungen und Gebiete des Lebens, subjektiv den ganzen
Menschen erfaßt. Dagegen wurde er in West- und Mitteleuropa - infolge
der falschen sozialdemokratischen oder syndikalistischen Traditionen -
nur allzu häufig ins Ouvrieristische, Sektiererische usw. verengt und ver-
zerrt. Erst die Tatsache, daß der in seiner Existenz bedrohte Monopol-
Seine Lyrik 217
kapitalismus, um sich zu retten, eine totalitäre Reaktion, den Faschismus
in seinen verschiedenen Abarten, ins Leben rief und vorübergehend zum
Übergewicht brachte, veranlaßte eine Bewegung, die äußerlich wie inner-
lich auf das Ganze des Menschen und der Gesellschaft gerichtet war, die
dem lügenhaften und todbringenden faschistischen Totalitarismus die
wahre Ganzheit des echten menschlichen Lebens gegenüberstellte.
Diese Wendung hat Becher zu sich selbst geführt, sie hat seine mensch-
lichen Energien freigesetzt und mobilisiert und den in ihm stets latenten
Harmonietrieb aus der so lange aufgezwungenen Zerrissenheit des kapita-
listischen Lebens herausgeführt. Sie hat ihm die wahren bewegenden
Widersprüche des Lebens aufgedeckt und ihm den Weg zu ihrer Auf-
hebung gezeigt. Mag die Änderung in seinem dichterischen Schaffen noch
so sehr die äußerlichen Merkmale einer ästhetischen Stilwandlung an sich
tragen, die wirklichen motorischen Kräfte dieses fruchtbaren Anders-
werdens liegen im Menschlichen, im Politischen: im echten und tiefen Er-
leben dieser entscheidenden politischen Wandlung. Darum war es eine von
Grund auf falsche, aus dem Abgelebten stammende Kritik, wenn einige
das Kämpferische in der neuen Poesie Bechers vermißten, indem sie diese
mit seiner alten Darstellungsart oder mit der einzelner Zeitgenossen ver-
glichen. Genau das Gegenteil ist die Wahrheit. Die neue Poesie Bechers
ist politischer, kämpferischer geworden, als sie je früher war; aber sie
wurde dies in einem neuen Sinn. Sie konnte ruhig auf alles Plakatmäßige
verzichten, denn sie führte das ganze, echte, wirklich menschliche Leben
gegen den marktschreierischen, als Vitalität maskierten Totentanz der
Faschisten ins Feld.
Becher begriff mit Vernunft, Verstand und Gefühl die Notwendigkeit,
die Menschheit vor dem Abgrund des Nichts, den die kriegerische Ge-
schäftigkeit des Hitlerregimes als seelischen Inhalt in sich und als schicksal-
haftes Ende vor sich hatte, zu retten. Aber Vernunft und Verstand erfaßten
den ganzen Menschen mit allen seinen Empfindungen und Erlebnissen in
allen Nervenfasern der Weltempfänglichkeit: es galt, die Totalität des
Menschenlebens, die Totalität seiner Objekte, die Totalität seiner Innerlich-
keit dem Rachen dieses nihilistischen Ungeheuers zu entreißen und für die
Gesundung der Menschheit fruchtbar zu machen:
„Nicht einen Klang geb ich euch ab, nicht eine
Der Farben wird freiwillig überlassen,
Das Sensendengeln nicht und nicht das Läuten
Der Kühe von den Almen, nichts dergleichen
Gehört euch. Auch die Abendröte nicht,
Kein Stern, kein Sturm, kein Stillesein. Das Zirpen
218 Johannes R. Becher
Der Grillen nicht, nicht eines bunten Falters
Anblick, wenn er an Blüten saugt, den Feldweg
Muß man euch streitig machen, jeden Halm
Und jedes Käferchen, selbst den Geschmack
Der Speisen. Unser Wein ist's, den ihr trinkt,
Und 11nser Brot ist's, das euch labt. Noch vorerst.
Das alles fordern wir zurück und noch
Viel mehr: die Luft, die euch beglückt beim Atmen."
Biographisch ist diese Wandlung durch das Vertriebensein aus Deutsch-
land ausgelöst worden. Becher wurde Emigrant. Sein Dasein als Exilierter
hat jedoch einen doppelten Charakter: einerseits die Trennung von der
Heimat, andererseits und zugleich einen jahrelangen Aufenthalt im Lande
des Sozialismus, in der Sowjetunion. Die Erlebnisreihen, die aus dieser
Gedoppeltheit entspringen, sind unzertrennbar miteinander verflochten,
sie können nur abstraktiv voneinander losgelöst werden.
Das Vertriebensein aus der Heimat rückt erst Deutschland und das
eigene Deutschtum in den Mittelpunkt von Bechers Erlebniswelt. Natür-
lich war Becher von Anfang an nicht nur ein deutscher Dichter, sondern
einer mit stark betonten Deutschlandakzenten. (Diese sind in seinem
früheren Lebenswerk, wenn wir es vom heutigen Standpunkt aus be-
trachten, deutlicher wahrnehmbar als zur Zeit ihrer Entstehung, sie
schimmern heute sichtbarer hinter der Kruste von Expressionismus und
„neuer Sachlichkeit" hervor als damals, da man solche „Ismen" für das
Ausschlaggebende hielt.) Aber erst der Schmerz der Trennung, die - vor-
läufige, aber lang anhaltende und zuweilen als unabänderlich erscheinende -
Unmöglichkeit einer direkten Berührung mit der Heimat, hat deren Bild
in Bechers Dichtung wirklich gestaltet, es wesensvoll, gehaltreich und
gegenständlich gemacht.
Aus alledem hätte aber eine wenn auch noch so ergreifende, so doch
bloß elegische Dichtung entstehen können. Was Becher im Exil geschaffen
hat, ist aber viel mehr, wenn auch seiner Poesie die Töne der Elegie nicht
fehlen. Das Ganze geht weit darüber hinaus. Und um dies zu begreifen,
muß man mit ihm wissen und empfinden: das Emigrantendasein im Lande
des Sozialismus ist kein Exil. Es ist zwar nicht Heimat im Sinne der
tiefsten Unmittelbarkeit, der Kindheitserlebnisse, der Verbundenheit mit
einer Kultur, die zu einer innerlichen zweiten Natur geworden war. Es ist
aber Heimat im Sinne der letzten, der entscheidenden menschlichen Inhalte:
das Land der befreiten Menschheit, aus welchem Befreiung auf die ganze
Welt ausstrahlt. Becher hat diese Gefühle, mit betontem Dank an die
Freunde in der Sowjetunion, schön und klar ausgesprochen:
Seine Lyrik
„ •.. Dunkle Mächte rangen
Mich damals nieder. Z~angen sie mich nicht,
Verdank ich's euch. Und mehr noch habe ich
Euch zu verdanken ... "
Und weiter:
„Wofür euch aber tiefster Dank gebühr:
Niemals hat falscher Stolz mir abverlangt,
Daß ich nicht leiden dürfe, was ich litt."
Aus dieser Wechselwirkung erwächst die immanente Selbstaufhebung
des Elegischen. Die Trauer wegen der Feme von der Heimat verbreitert
und vertieft sich zur Trauer um Deutschland. Bechers Exil ist ja, so tief
persönlich es auch von ihm erlebt wurde, keine bloß persönliche Angelegen-
heit: es ist das allgemeine Schicksal vieler der besten Deutschen unter dem
Faschismus; es ist Folge und Symptom dessen, was Hitler und die Seinen
aus Deutschland gemacht haben; es ist Anlaß und Mittel zu einem un-
erbittlichen, nie erlahmenden Kampf gegen diese schändlichste Erniedri-
gung des Vaterlandes. Wird das Exil so erlebt, so bedeutet es eine innige
Verbundenheit, ein Bündnis auf Leben und Tod mit jenen Helden, die den
Faschismus unter den fürchterlichen Bedingungen des Hitlerregimes in der
schwersten Illegalität bekämpften; es bedeutet ein Ringen ohne Unterlaß
um die Seelen jener, die von der nationalen und sozialen Demagogie des
Faschismus verführt wurden; es bedeutet ein leidenschaftliches Entlarven
jener, die Deutschland, die Deutsche zu Henkern des eigenen Volks er-
niedrigten, die die Zivilisation und Kultur, die Freiheit der ganzen Welt
tödlich bedrohten.
Wird aber der Hitlerfaschismus als Verzerrung des deutschen Wesens
erlebt und erfaßt, so muß ein Maßstab dafür gefunden werden, was Deutsch-
tum sei:
„Und waren Deutschland sie, die unternahmen
Ein blutiges Geschäft in Deutschlands Namen
Und hielten es für deutsche Ehrenpflicht,
Daß sie mit Galgen fremdes Land bebauten?
Dort lag nicht Deutschland, wird die Antwort lauten.
Die Antwort heißt: Sie waren Deutschland nicht!
Und dort lag Deutschland: hinter jener Mauer,
Wo der Gefangene, die Todesschauer
Verachtend, schritt zum Richtblock, stolz wie nie 1
Und dort lag Deutschland: in der Mütter Trauer,
In ihnen lag ein Deutschland ewiger Dauer.
Die Antwort lautet: Deutschland waren sie!"
2.2.0_ Johannes R. Becher
Der Maßstab dessen, was deutsch ist, der in Bechers Poesie, farbenreich
variiert, aber immer wieder mit gleicher Wucht zum Ausdruck gelangt,
hat deshalb ebenfalls eine doppelte Begründung. Einerseits zeigen der Auf-
bau des Sozialismus, die Entstehung eines neuen Humanismus, die immer
konkretere Entfaltung des bis in seine Seelentiefe vom neuen Humanismus
durchdrungenen neuen Menschen Weg und Ziel für die Gegenwart und
ergeben dadurch das Maß, wonach der heutige Mensch gemessen werden
muß. Diese Perspektive nimmt der Darstellung der vielen berühmten oder
namenlosen Helden im Kampf wider den Faschismus in Deutschland jeden
pessimistischen Charakter. Andererseits erscheint aus dieser Perspektive
die ganze deutsche Vergangenheit in einer anderen, neuen Beleuchtung:
sie ist ein niemals unterbrochener Kampf zwischen Fortschritt und Re-
aktion, zwischen Humanismus und Gegenmenschlichkeit.
Es ist dies, um Bechers Ausdruck zu gebrauchen, der Kampf um das
Bild des Menschen. Ein Kampf, der mit dem Menschwerden des Menschen
einsetzt und der erst mit der Selbstvollendung des Humanismus in der
sozialistischen Gesellschaft abschließt, indem dort mit der Vernichtung der
antagonistischen Gegensätze der Klassengesellschaft auch der antagonisti-
sche Charakter der Widersprüche im Menschen selbst sich aufhebt. Hier>
wo wir über Bechers Stellung zum Erbe sprechen wollen, ist es nützlich,
darauf hinzuweisen, daß er als Höhepunkt, als Entscheidungsschlacht den
heldenhaften Widerstand der Antifaschisten, der Kommunisten betrachtet:
„Bild des Menschen: seht die Trümmerstätten,
Ob davor des Menschen Bild besteht?
Ist ein Rest noch aus dem Schutt zu retten?
Wurde es nicht auch von Panzerketten
In den Schlamm gewalzt und hingemäht?
Bild des Menschen! Du, in Bombennächten
Leergebrannt und unter Schutt erstickt!
Wurdest du nicht von den Henkersknechten
Ausgetilgt, und hast du nicht dem Schlechten
Dich ergeben und dein ,Ja' genickt? ...
. . . Und es treten vor die Unbeugsamen,
Und sie haben für das Bild gezeugt,
Als sie in des Menschenbildes Namen
Heimlich allerorts zusammenkamen,
Und sie haben sich nur ihm gebeugt -"
Becher hat im Exil nicht nur die deutsche Landschaft - Deutschlands
Städte und Dörfer -, nicht nur den deutschen Menschen jener Zeit
Seine Lyrik ZZI
-----------
- Faschisten und Freiheitskämpfer, gleichgültig Abgestumpfte und Irre-
gegangene - entdeckt und gestaltet, sondern auch das ganze deutsche (und
mit ihm das internationale) Geistesleben, die aktuelle Rolle; die humani-
stische Kampfbedeutung von Goethe und Hölderlin, von Riemenschneider
und Gottfried Keller, von Bach und Beethoven, von Dante und Cervantes,
von Tolstoi und Gorki.
Hier ist die Wendung in Bechers Poesie vielleicht noch handgreiflicher
faßbar als auf anderen Gebieten der Thematik. Hier ist aber zugleich das
Neue an ihr klar sichtbar. Denn manche Dichter unserer Periode haben
vor Becher die Großen der Vergangenheit besungen; so zum Beispiel
Stefan George. Bei diesem war aber dieser Gesang eine Abkehr von der
Häßlichkeit der Gegenwart, so wie es auch (mutatis mutandis) die Ab-
lehnung der Musik in der früheren Poesie Bechers war. Jetzt sind aber
diese großen Gestalten nicht nur Beispielgeber und Wegweiser zu einer
humanen Zukunft aus der vorübergehend herrschenden unmenschlichen
Hölle des Hitlertums; sie werden jetzt von Becher gerade als Kämpfer für
die Erneuerung der Menschheit - jeder in seiner Weise, jeder mit seinen
besonderen Mitteln, jeder in seiner Epoche, jeder in seiner Persönlichkeit -
aufgefaßt und dargestellt. Die Wendung zur Vergangenheit nimmt hier
Richtung auf die Zukunft. Ich zitiere, fast aufs Geratewohl, einige Strophen
des Michelangelo-Sonetts :
„Wenn selbst der Stein, der harte, sich muß fügen -
Ich meißle ihm des Menschen Größe ein,
Es lebt der Stein, er lebt mit Menschenzügen,
Und auf den Menschen blickt sein Bild aus Stein -
Der Stein ist echt, es kann der Stein nicht lügen -
Es wächst der Stein, könnt ich ihm Kraft verleihn - :
Wenn selbst der Stein nachgibt - welch Ungenügen!
Wie sollte da der Mensch nicht bildsam sein ... "
Das Gestalten der Großen, der Größe ist zugleich ein Bildungsmittel des
Künstlers und damit des Kämpfers Becher. Er lernt Härte, Konturgeben,
Abgrenzen, Ausschneiden, Maß; er lernt für endgültige Inhalte endgültige
Worte finden. Wenn er jetzt den Feind tödlich treffen will, hat seine Sprache
jene Kraft des hellseherischen Hasses erworben, die, nach Heines Worten,
Höllen schafft und „aus ihrer Haft unmöglich jede Befreiung". Bei Heine
selbst war sein Witz, seine Ironie und Satire diese tödlich treffende Kraft;
bei Becher erwächst sie aus der reinen Gestaltung der - freilich hell-
seherisch hassend gesehenen und ausgewählten - dichterischen Gegen-
ständlichkeit selbst. Der äußerlich ruhig schildernde Ton ist hier ein
:u.2 Johannes R. Becher
mächtiges Vehikel für eine derartige verdammende Verewigung des gegen-
menschlich Abscheulichen. Man denke an das, mit Recht, berühmt ge-
wordene Gedicht über den General der spanischen Gegenrevolution Mola:
„Wenn er so dasaß, ohne aufzuschauen,
Ein Urteil nach dem andern unterschrieb:
Nichts Menschliches saß da - ein hagres Grauen,
Daran allein der Rock noch menschlich blieb.
Als könnte er auch weinen oder lachen,
So menschlich war der Rock, aus feinem Tuch,
Von Menschenhand gemacht, wie der Versuch,
Ein Menschenbild aus einem Rock zu machen ...
Als eines Tags ein Flugzeug unbekannt
Abstürzte im Gebirge und verbrannte,
Aus nichts war eine Herkunft ablesbar:
Bis man ein Stück von einem Rocke fand,
Woran man ihn, den General, erkannte -
Das einzige, was menschlich an ihm war."
Mit alledem ist aber nur erst der, man könnte sagen, äußere Umriß der
neuen Deutschlanddichtung Bechers umschrieben. Sein entscheidendes,
sein zentrales Problem liegt tiefer, ist innerlicher. Es handelt sich für ihn
nicht bloß um eine Anklage der bösen Mächte, die das Antlitz des Deutsch-
tums verunstaltet haben, nicht nur um das Erwecken jener zurückgedräng-
ten, in die Verborgenheit gezwungenen Kräfte des echten, guten deutschen
Wesens, mit deren Hilfe das faschistische Übel bekämpft werden kann. Es
handelt sich vielmehr darum, daß dieser Kampf ein innerlicher ist, daß
Fortschritt und Reaktion, Humanismus und Gegenmenschlichkeit, das
Gute und das Böse in der Seele eines jeden einzelnen Deutschen ihre Fehde
geführt haben und in der Gegenwart mit erneuter Heftigkeit führen.
Becher sagt in einem Aufsatz nach der Heimkehr: Denn „auch der ,gute
Deutsche' ist keineswegs frei ..;.on den Eigenschaften, die wir als das Ver-
hängnisvolle im deutschen Charakter kennengelernt haben. Auch im guten
Deutschen ist das Schlechte enthalten und umgekehrt. Was allerdings nicht
bedeutet, daß alle Deutschen einander gleich seien und von demselben un-
durchdringlichen Grau, aber auch in dem Besten findet ein Ringen statt,
und immer wieder ist der Sieg des guten Prinzips in Frage gestellt und
bedroht durch die Nachbarschaft des Verhängnisvollen, und das Gute muß
zu einer steten Abwehr bereit sein." Und er stellt, mit richtiger Einsicht
in die Zusammenhänge, ohne damit dem spezifischen deutschen Problem
Seine Lyrik
seine schicksalhafte Schwere zu nehmen, fest, daß es sich hier um ein all-
gemeines Problem der in der letzten und gräßlichsten Klassengesellschaft
lebenden, sich aus ihr schwer herausringenden Menschheit handelt: „Bei
diesem Punkte angelangt, ergibt sich mit Recht die Frage: Ist dieser ,Zwei-
seelenkampf' spezifisch deutsch? Nein! Es handelt sich ,nur' um eine spezi-
fisch deutsche geschichtlich bedingte Form eines allgemeinen Menschheits-
problems, aber dieses ,nur' der spezifisch deutschen Form ist ein besonders
tragisches."
Es bedarf keiner eingehenden Analyse, um zu sehen, daß wir erst hier
das Zentrum von Bechers schöpferischem Wesen erreicht haben. Wer den
in seinen innerlich bedeutsamsten Zügen autobiographischen Roman
Bechers, den „Abschied" kennt, weiß, daß der oben theoretisch ge-
schilderte Kampf der entscheidende Lebenskampf von Becher selbst war.
Damit aber erhält auch der lyrische Angriff gegen das faschistisch ent-
stellte Deutschtum einen vollständig neuen Akzent. Vor allem erscheint
der Dichter, auch der unerbittliche Ankläger, nicht als ein unfehlbarer Ver-
künder unfehlbarer, von ihm restlos im Leben verwirklichter Wahrheiten,
sondern als ein Mitschuldiger, der seine Anklagen ebenso gegen sich selbst
richtet. In diesem Sinne findet Becher seine Lyrik, wie auch seinen Roman,
sein Leben beispielhaft für seine Mitbürger:
„ ... Und Höllen waren, und er fand in ihnen
Einlaß und ist in allen eingekehrt,
Und hat vernichtet und sich selbst verheert
Und riß sein Leben nieder zu Ruinen."
Und gerade aus diesen Verirrungen, die in den äußerlich Betrachtenden
das Urteil der Hoffnungslosigkeit auslösten, erwächst im Leben Bechers
die Überwindung:
„Und aus Verlorensein und aus Verlust
Ergab sich Wandlung und ein Auferstehen."
Die Beispielhaftigkeit der eigenen Existenz bedeutet jedoch nur die Basis
für eine tiefere Verknüpfung von Schuld und Mitschuld an Deutschlands
Weg und Schicksal. Nicht nur davon ist die Rede, daß dieselben Mächte
in der Seele eines jeden Deutschen (eines jeden Menschen der Klassen-
gesellschaft) miteinander ringen, sondern zugleich und vor allem davon,
daß diese innere Gegensätzlichkeit sich bei jedem einzelnen in Taten um-
setzt, in ein Mitbestimmen - auch durch Passivität, durch Gleichgültigkeit,
durch Nichthandeln, durch Abseitsstehen - des deutschen Schicksalswegs.
In diesem tieferen Sinne sind in Bechers Poesie Schuld und Mitschuld eng
verkettet:
Johannes R. Becher
„Ich halte über meine Zeit Gericht.
Wobei mein ,Schuldig!' auch mich schuldig spricht,
Daß ich zu spät hab, Deutschland, dich erkannt,
Zu spät hab ich mich ganz dir zugewandt.
Zu spät hat sich mir deine, meine Art
Im Guten wie im Bösen offenbart.
Was ich als gut erkannt - zu schwach begehrt,
Zu schlecht bekämpft das, was verdammenswert.
Zu spät erst schied sich Sinn von Widersinn,
Und ich erkannte, wessen Sinns ich bin.
So beug ich mich und nehme Schuld auf mich.
Zu spät hab ich, Deutschland, gebangt um dich.
In der Verbannung erst, im Fernesein,
Ward ich der deine ganz - für immer dein."
Die Universalität der Bechersehen Lyrik zeigt sich erst hier in vollster
Entfaltung. Alles ist in Fluß geraten, alle Gegenstände sind Bewegung,
Entwicklung, Kampf geworden. Es entsteht aber kein einfaches herakliti-
sches Fließen, sondern der klar geordnete Kampf des Lebendigen, des
Leben Spendenden mit dem Verwesenden, Verwesung Bringenden. Dieser
Kampf erfüllt Vergangenheit und Gegenwart; in ihm erlangen die großen
Gestalten der bisherigen Kulturentwicklung ihre überragende Bedeutung;
durch sein Verständnis werden die deutschen Tragödien der Vergangenheit
(so in dem schönen Luthergedicht) durchleuchtet und zur wahren bleiben-
den Gestalt; durch ein so erfaßtes Prinzip der Bewegung verwandelt sieb
die sonst monologische Anklagerede in ein fruchtbares, wirkliche Früchte
bringendes Zwiegespräch Bechers mit dem irregegangenen deutschen Volk.
Dieses letztere Motiv weist am klarsten auf das Neue der Bechersehen
Kampfdichtung. Unsere kämpferische Poesie hatte, auch in Bechers
früheren Entwicklungsstadien, oft die Schranke, daß die schwer errungene
kommunistische Bewußtheit in ihren Inhalten und darum auch in ihren
Formen sich vor allem an jene wandte, die eine solche Bewußtheit bereits
mehr oder weniger besaßen. Fragestellung und Antwort, Problem und
Lösung, Gehalt und Form, Gestalt und Sprache waren, freilich oft ohne
klare Absicht, auf jene eingestellt, die für die verkündeten Ideen bereits
gewonnen waren. Daraus entstammt ihre Eintönigkeit, ihre Spannungs-
losigkeit, ihre Enge; darum verpufft ihr subjektiv aufrichtigstes Pathos,
ihr subjektiv leidenschaftlichster Kampfwille objektiv ins Leere. (Jener
Seine Lyrik
kommunistische Asketismus, den wir früher erwähnt haben, trägt dazu
entscheidend bei.)
Die reife Lyrik Bechers ist der bewußte Bruch mit dieser Art von Kampf-
poesie. Das menschliche Verhalten, in jede Anklage zugleich eine Selbst-
anklage, in jede Anprangerung einer Schuld die Feststellung einer Mit-
schuld einzubeziehen, erzwingt - auf der Grundlage des hier geschilderten
Universalismus des dichterischen Gehalts - den Kontakt des Gedichts mit
einer weitaus breiteren Schar der Angesprochenen. Beide Motive sind ent-
scheidend wichtig. Denn nur ihr Zusammenwirken ergibt, daß die ver-
anlassende Gelegenheit des Gedichts sich mit den wirklichen Problemen
der Menschen verbinden kann, ja den Sorgen, Ahnungen und Ängsten
auch jener entspringt, die für den Ideengehalt dieser Dichtung erst zu
gewinnen sind; daß das Gedicht - hier schlägt die richtig geführte Propa-
ganda von Ideen in künstlerische Gestaltung um - seinen Ideengehalt
dynamisch aufbaut, daß sein erstrebtes Ziel sein ragender Gipfel und nicht
sein Ausgangspunkt, keine Steigerung gestattend, sei.
Aus dieser menschlichen und dichterischen Entwicklung Bechers
folgt endlich, daß er, aus dem Exil heimgekehrt, bruchlos und organisch
dort fortsetzen konnte, wo er - noch ferne von der Heimat - aufgehört
hatte zu dichten. Es ist ja im allgemeinen die Tragik einer jeden Emi-
gration, daß sie manchen Schriftsteller in einen luftleeren Raum versetzt,
in dessen Atmosphärelosigkeit seine Fähigkeit, die Wirklichkeit richtig
perspektivisch, in den wahren Proportionen zu sehen, getrübt wird, sogar
verlorengehen kann. Die Wunsch- und Abscheubilder erstarren zu einer
subjektiv krampfhaft festgehaltenen Pseudorealität, der gegenüber die
echte Wirklichkeit der endlich wiedergefundenen Heimat schwer zur Gel-
tung gelangen kann.
Becher hat tiefer im Exil, unter dem Exil gelitten als die meisten Dichter-
emigranten; er hat sich über dessen mögliche Wirkungen auf den Dichter
in ihm selbst nichts vorgemacht. Aber gerade deshalb, weil das Entfernt-
sein von der Heimat zu einem zentralen, nach allen Richtungen leuchtenden,
Strahlen aus allen Richtungen aufsaugenden Erlebnis für ihn geworden ist,
weil den Verbannten so viele unsichtbare Fäden mit der wirklichen Heimat
verbanden, weil im V erbanntsein persönliches Geschick und deutsches
Schicksal, ja Weltschicksal untrennbar verbunden waren, führte die Heim-
kehr nicht die Notwendigkeit eines Bruchs mit falsch gewordenen Gedanken-
systemen und Gefühlseinstellungen mit sich, reihten sich die heimatlichen
Erlebnisse zwanglos und organisch in jene Entwicklungslinie ein, die
sich an Becher in der Emigration vollzogen hatte. Auch diese Lage soll
nicht subjektiviert werden, sie hängt aufs engste mit jenem Universalis-
mus zusammen, der bei Becher die ganze eigene Persönlichkeit an die histo-
226 Johannes R. Becher
rische Totalität des deutschen Volks, an dessen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft knüpft:
„Es kehren heim auch, die im Land verblieben.
Wer war aus seiner Heimat nicht vertrieben?
Zu Heimatlosen machte uns ein Wahn.
Wir kommen wieder in der Heimat an."
III
Betrachtet man die Stilgegensätze in der neuesten Literatur, so bewegt
sich ihre Untersuchung oft zwischen falschen Extremen, indem entweder
nur die - abstrakt genommenen - Klassenantinomien oder die - ebenso
abstrakt isolierten - ästhetisch einander (und oft sich selbst) widersprechen-
den künstlerischen Verhaltungsarten zu Gegenständen genommen werden.
Es wird dabei ein äußerst wichtiges Vermittlungsglied vernachlässigt: die
Weltanschauung des Dichters. Entsprungen aus seiner Klassenlage, ge-
prüft, gereift oder zerrüttet durch seine aktive oder passive Teilnahme
an den Klassenkämpfen, ist die Weltanschauung jenes Element, jene Atmo-
sphäre, in welcher sowohl der Stoff wie die Form des Dichters ihre der
Gestaltung vorangehende, für die Gestaltung ausschlaggebende, „ vor-
dichterische" Formung, Richtung und Gegenständlichkeit erlangen.
Diese Funktion der Weltanschauung kann sich spontan, ohne richtiges
Bewußtsein vollziehen; es ist freilich - Goethe ist Zeuge hierfür - für die
Dichtung, auch für ihre mit harter, bewußter Arbeit errungene Naivität
vorteilhaft, wenn der Schaffende eine klare Einsicht in die gesellschaftlichen,
persönlichen, weltanschaulichen und künstlerischen Voraussetzungen sei-
ner Produktion besitzt.
So ist es - wir können auch hier aus dem großen Problemkomplex nur
ein Moment herausgreifen - eine entscheidende Vorfrage für den ganzen
Aufbau, für die gesamte poetische Atmosphäre eines Gedichts: welche
Stellung die Schönheit gemäß der Weltanschauung des Dichters in der
Totalität des Lebens einnimmt, wie der Dichter auf das in ihm gespiegelte
Weltbild reagiert, ob er im Namen seiner Weltanschauung die so gewonnene
Idee der Schönheit bejaht oder verneint.
Von dieser Warte aus gesehen ergeben sich merkwürdige Übereinstim-
mungen und Gegensätze. Es ist bekannt, daß die bedeutendsten, ehrlichsten,
rebellischsten Dichter der niedergehenden Bourgeoisie - etwa Baudelaire -
von tiefem Mißtrauen gegen jede sogenannte Schönheit des kapitalistischen
Lebens erfüllt waren. Dies setzt sich aber bei ihnen weltanschaulich und
darum dichterisch so um, daß aus der Schönheit ein lebensfremdes, ja
Seine Lyrik
lebensfeindliches Prinzip wird. Was bei Baudelaire in oppositionellem
Hohn, in erbitterter Resignation zum Ausdruck kam, wird auf einer höhe-
ren Stufe der Dekadenz, in der imperialistischen Periode, Komfort und
Ausschmückung der parasitären Poesie eines parasitären Lebens; es fehlen
auch jetzt die tragischen Akzente nicht, sie haben aber ihre menschliche
Spannung und Gefährlichkeit verloren, sie geben bloß dem Komfort die
aristokratische Weihe des Auserwähltseins, einer geschmäcklerisch ge-
nossenen Trauer.
Die beginnende entschiedene dichterische Opposition - bürgerliche wie
proletarische - gegen diese Lebensentfremdung einer eingebildeten Elite
des Parasitentums merkte lange nicht, daß sie letzthin die dekadent bürger-
liche Weltanschauung akzeptierte, wenn sie diesen Gegensatz von Schön-
heit und Leben nicht kritisch auflöste. Sie zerfetzte, mit Recht, das para-
sitäre, vom Leben losgerissene Schönheitsideal der Künstler der Dekadenz.
Indem sie jedoch aus dieser richtigen Kritik heraus den dekadent bürger-
lichen Schönheitsbegriff mit der Schönheit selbst identifizierte und der
Schönheit überhaupt mißtraute, sie iin Namen einer revolutionären Ästhe-
tik ablehnte, statuierte dieses Mißtrauen teils einen unauflösbaren Wider-
spruch zwischen Schönheit und Kunst, teils dehnte es sich auf dieK unst selbst
aus und verwandte innerhalb der künstlerischen Produktion verarmte Mittel
zur Aufhebung der ästhetischen Prinzipien. So stellte diese Opposition sich,
ohne dessen gewahr zu werden, mit ihrem leidenschaftlich gehaßten Geg-
ner auf den gleichen Boden.
Becher lehnt ebenso wie diese Opposition die lebensfremd-parasitäre
Schönheit ab:
„ ... Verfaulter Schönheit gähnendes Behagen,
Im Mummenschanz geraffter Kostbarkeiten
Und darauf achtend, nur nicht abzugeben
Und daß sie nichts in ihrer Schönheit stört,
Sah ich sie ihre faule Schönheit pflegen,
Und ihr, die nur ganz wenigen gehört,
Erteilten alle Priester ihren Segen .•.
Solch eine Schönheit, die das Leid vermehrt,
Solch eine Schönheit müßte man erschlagen!"
Ablehnung und Bekämpfung der falschen Schönheitsidee ist aber beiBecher
gesellschaftlich-geschichtlich und darum politisch scharf konkretisiert.
Sie führen deshalb nicht zu einer Verwirrung des Verhältnisses von Schön-
heit und Leben, sondern, im Gegenteil, zu einer Klärung, zur Verwand-
lung der so erlangten Einsicht in eine Waffe des universalistisch geführten
Kampfes gegen die Mächte der Unmenschlichkeit. Der Faschismus, sagt
228 Johannes R. Becher
mit tiefem Recht Becher, hat auch die Natur verwandelt; „der schöne Tag
kann nicht mehr schön erscheinen". Der totalitäre Angriff des Faschismus
auf Humanität und Kultur zwingt uns, in allen Gegenständen nur das zu
sehen, worin sie diesen Angriff oder seine Abwehr begünstigen. Darum
die Anklage auch im Namen der Schönheit:
„Ihr habt die Schönheit mit sich selbst entzweit,
Und jedes schöne Bild habt ihr geschändet.
Und darum preise ich als schönste Zeit
Den schönen Tag, da euer Grauen endet."
Der eigentliche Kern der Bechersehen Ästhetik ist also: die Schönheit
aus dieser Selbstentfremdung, die schon lange früher durch die Herrschaft
der Ausbeutung vorbereitet war und die im Faschismus nur ihren Höhe-
punkt erreicht hat, zu retten. Dieser Weg zur Rettung der Schönheit kann
jedoch nur derselbe sein, den wir früher bei der Untersuchung von Bechers
Beziehungen zum Vaterland, zur Menschheit, zum Sozialismus gekenn-
zeichnet haben. Er führt deshalb auch hier aus der großen Vergangenheit
der Menschheit über die vielfach verdunkelte Gegenwart in eine lichtere
Zukunft, größer als jede Vergangenheit. In ihr kann die Schönheit echter
blühen als je zuvor, weil ihre Einheit mit allem, was gut ist und vorwärts-
weisend im Leben, unmittelbarer und inniger verbunden zum Durchbruch
kommen kann:
„Daß schön die Welt - erkannte ich beizeiten,
Ich fand die Schönheit wieder in dem Mut
Der Völker, die sich heldenhaft befreiten
Von der Tyrannen Wut. Und ,Schön und Gut'
War Hellas' Kampfspruch wider die Barbaren -
Ich fand die Schönheit wieder in dem Wahren
Und fand die Schönheit in der Liebe Glut.
. . . Daß schön die Welt - erkannte ich beizeiten.
Doch diese Schönheit galt es zu erstreiten,
Ein ,schönes Leben' ist nicht ein Geschenk,
Doch wer sein Schönstes, Bestes hat gegeben
Für solch ein Leben, seht: ein schönes Leben
Hat der gelebt, der Schönheit eingedenk ... "
In solchen Versen hat man, wenn man sie so benennen will, Bechers
ars poetica. Ihr Wesen ist, wie jeder dialektische Zusammenhang, ein
doppeltes: einerseits die Entdeckung der Schönheit in der gegenständ-
lichen Welt der Natur und des Menschen, das heißt die Auffassung der Schön-
heit als einer den Dingen, den Erscheinungen inhärenten Eigenschaft.
Seine Lyrik
Andererseits die Auffassung dieser Gegenständlichkeit als eines prozeß-
haften Kampfes zwischen der Schönheit und ihrem - sozialen - Gegen-
spieler. Diese unzertrennbare Doppelheit ist die Grundlage von Bechers
lyrischer Form, indem sie - in der Atmosphäre der Weltanschauung -
die dialektische Wechselbeziehung zwischen dem Subjekt des Dichters
und der objektiven Gegenständlichkeit von Natur und Menschenwelt
bestimmt.
In der theoretischen Durcharbeitung der marxistisch-leninistischen Wider-
spiegelungslehre ist bis jetzt die Lyrik sträflich vernachlässigt worden. Ja,
unter dem Einfluß des hochbegabten, geistvollen englischen Marxisten
Caudwell ist sogar eine bestimmte Neigung entstanden, die Theorie der
Widerspiegelung nur auf Epik und Dramatik anzuwenden, in der Lyrik
dagegen lediglich eine Selbstdarstellung der subjektiven Innerlichkeit zu
erblicken, deren Wurzeln auf primitive magische Einstellungen der Ur-
gesellschaft zurückgehen.
Ohne hier in der Lage zu sein, die so entstehenden Probleme auch nur
skizzenhaft aufzuwerfen oder gar zu lösen, müssen wir feststellen, daß die
Lyrik - im Sinne der allgemeinen marxistischen Ästhetik - ebenso eine
Widerspiegelung der von unserem Bewußtsein unabhängig existierenden
objektiven Wirklichkeit ist wie Epik und Dramatik. Diese allgemein ge-
faßte Identität hebt selbstverständlich die - theoretisch wie praktisch -
grundlegenden Differenzen nicht auf. Vor allem darf sie den Tatbestand
nicht verdunkeln, daß in der Lyrik der Prozeß der Widerspiegelung, die
subjektive Beschaffenheit des „Spiegels der Welt" (Heine über Goethe)
eine Bedeutung erlangt, die der Rolle dieses Moments gegenüber Epik und
Dramatik etwas qualitativ anderes darstellt.
Man darf natürlich nicht vergessen, daß solche Momente auch in der
Dramatik und insbesondere in der Epik nicht fehlen. Sogar im Drama, wo
die Gesetze der Form den Gestalter aus dem Werk selbst ausschalten, ist
die ganze Atmosphäre des Geschehens, sind sein Tempo, sein Rhythmus
- innerhalb der getreuen Widerspiegelung - von der dichterischen Sub-
jektivität durchdrungen; ebenso die Innenwelt und Umwelt einer jeden
Gestalt, das - wie die Maler sagen - Ambiente, in dem sie vor uns tritt,
das Gesetz, wonach sie angetreten ist. Und es ist allgemein bekannt, wie
stark die Subjektivität des Epikers als Subjekt des Erzählens eine jede
epische Gestaltung mitbestimmt. Es ist ein modernes Vorurteil - die Selbst-
täuschung Flauberts -, daß das Epische als Widerspiegelung der Wirk-
lichkeit desto wahrheitsgemäßer, desto treuer wird, je mehr diese Sub-
jektivität in den Hintergrund gedrängt wird, ja zum Verschwinden ge-
bracht zu werden scheint.
All dies ist und bleibt richtig. Auch wird niemand leugnen, daß diese
Johannes R. Becher
Tatbestände nicht nur manche Entwicklung genetisch verständlich machen,
sondern auch wichtige und selbständige Übergangsformen zwischen Epik
und Lyrik konstituieren (Elegie, Idylle). Trotzdem - und dem bisher An-
gedeuteten nicht widersprechend - bleibt die eigenartige genreschaffende
Bedeutung der dichterischen Subjektivität in der Lyrik bestehen. Vor allem
ist sie auch in der dem Anschein nach objektivsten Lyrik das unmittelbar
wahrnehmbare und darum sinnlich dichterisch gestaltete Zentrum des
Werks. Nicht das offene Hervortreten der gestaltenden Subjektivität, des
Spiegels der Widerspiegelung, konstituiert diese qualitative Differenz zu
den anderen Kunstgattungen, sondern ihre spezifische, sichtbar werdende
Aktivität, ihre spezifische Existenzweise, ihre dynamische Rolle in der
Werkform selbst. ·
Der Versuch, die dialektische Widerspruchslehre gedanklich präzis zu
fassen, ergibt hier nicht unbeträchtliche sprachliche Schwierigkeiten. Es
gibt nicht wenige Schriftsteller und Theoretiker, die in Erkenntnis dieser
Aktivität des schöpferischen Subjekts - deren klare Erkenntnis für die
ganze marxistisch-leninistische Ästhetik, nicht nur für deren Theorie der
Lyrik, unentbehrlich ist - gegen das Bild des Spiegels überhaupt Ein-
spruch erheben, da seine Funktion eine rein passive, mechanische zu sein
scheint.
Sie sind im Unrecht. Das Bild des Spiegels ist unentbehrlich, denn nur
mit seiner Hilfe ist die weltanschauliche Grundtatsache der Kunst, daß sie
eine eigenartige Widerspiegelung der von unserem Bewußtsein unabhängig
existierenden Wirklichkeit ist, zu erfassen. Das Festhalten dieser unabhän-
gigen Wirklichkeit und ihrer Widerspiegelung ist nicht nur erkenntnis-
theoretisch - als notwendiger Trennungsstrich zwischen Idealismus und
Materialismus -, sondern auch poetisch-praktisch ausschlaggebend. Wir
konnten in den letzten Jahrzehnten handgreiflich erleben, welch ein Chaos,
welch eine Zersetzung aller Formen entstehen mußte, wenn die Dichter
von dieser Gebundenheit an die unabhängig von ihnen existierende Wirk-
lichkeit sich zu befreien versuchten. Die so freigesetzte, scheinbar auf
sich selbst gestellte, exzessiv gewordene Subjektivität des Dichters greift
unweigerlich ins Leere, stürzt sich in den Abgrund des Nichts und löst
sich damit - auch als Subjektivität - auf.
· Wenn wir also daran festhalten, den Lyriker „Spiegel der Welt" zu nen-
nen, so nehmen wir diesen sprachlichen Widerspruch in Kauf, denn er ist
kein formallogischer Widerspruch, bei welchem ein Entweder-Oder von
Wahr oder Falsch gesetzt ist, sondern ein fruchtbarer bewegender Wider-
spruch des Lebens selbst: das Verhalten des Lyrikers ist - gleichzeitig,
unzertrennbar - aktiv und passiv, schaffend und widerspiegelnd. Denn der
Weg von der Erscheinung zum Wesen, von der Oberfläche zum Gesetz,
Seine Lyrik
kann nur aktiv gegangen werden. Aber diese Aktivität hebt den Grund-
charakter des ganzen Prozesses, als Widerspiegelung der objektiven Wirk-
lichkeit, keineswegs auf. Im Gegenteil. Sie ist ihre tiefere, echtere Form.
Freilich nur dann, wenn stets festgehalten wird, daß Wesen und Gesetz eben-
so objektive Wirklichkeit sind wie Erscheinung und Oberfläche: daß das
Ganze der Wirklichkeit von uns nur dann (annähernd) ergriffen werden
kann, wenn die objektive Dialektik von Erscheinung und Wesen und zu-
gleich die subjektive Dialektik unseres Vordringens zum Wesen als un-
zertrennbar miteinander verbunden erfaßt werden.
Innerhalb eines solchen allgemein-ästhetischen Zusammenhanges be-
steht nun - die Übergangsformen können wir hier vernachlässigen - das
Spezifische der lyrischen Form darin, daß in ihr dieser Prozeß auch künst-
lerisch als Prozeß in Erscheinung tritt; die gestaltete Wirklichkeit ent-
wickelt sich vor uns gewissermaßen in statu nascendi, während die Formen
der Epik und Dramatik - ebenfalls auf der Grundlage der Wirksamkeit
der subjektiven Dialektik - bloß die objektive Dialektik von Erscheinung
und Wesen in der dichterisch widerspiegelten Wirklichkeit darstellen. Was
in der Epik und der Dramatik als natura naturata in ihrer objektiv dialek-
lischen Bewegtheit entwickelt wird, gebiert sich in der Lyrik vor uns als
natura naturans.
IV
Dieser Exkurs ins allgemein .Ästhetische ist darum unvermeidlich ge-
wesen, weil jenes Neue, das Bechers Reife für die deutsche Lyrik bringt
(innerhalb jener internationalen Bewegung, von welcher wir eingangs
sprachen), gerade ein Zurückgreifen ist auf die echten Prinzipien der Kunst
und ihre Verwirklichung bei den Meistern der Vergangenhdt, die Ant-
wort und Widerlegung jener Menschen, Maße und Formen zersetzenden
nihilistischen Bewegung, die die Literatur der imperialistischen Periode
beherrschte. Aber ebenso, wie wir früher bei Betrachtung des Inhalts
sehen konnten, hat dieses Zurückgreifen auf die Traditionen gesünderer
Zeiten und künstlerisch vollendeter Lebenswerke nichts mit einer Flucht
in die Vergangenheit gemein. Soll die Kampflyrik wider die gegenmensch-
liche Sintflut des Faschismus wirksam werden, so muß in ihr stets und über-
all die vox humana erklingen. Nur wenn die Humanität als dichterische
Gestalt dem Nihilismus entgegentritt, kann auch ihre Polemik durch-
schlagend wirken. Diese Wahrheit gilt für die künstlerische Form ebenso
wie für den Gehalt der Werke; beides ist nicht voneinander trennbar.
Aber der Mensch kann ohne reiche Beziehungen zu den Dingen und den
Menschen unmöglich eine vox humana besitzen und erklingen lassen. Dar-
Johannes R. Becher
um ist jene universalistische Wiedereroberung der wesentlichen Gehalte,
von der wir früher sprachen, die unerläßliche Voraussetzung zu einer Er-
neuerung der Lyrik. Bei Becher geht, wie wir gesehen haben, dieser Weg
in der Richtung, daß alle Gegenstände von Natur und Gesellschaft durch
ihre Funktionen im Entscheidungskampf unseres Zeitalters eine für alle
verständliche und bedeutsame, sinnlich wie geistig einprägsame dichterische
Gegenständlichkeit gewinnen. Die oben analysierte doppelt bewegende
Dialektik des Gedichts, die die Einheit seiner Gestalt, seinen Zusammen-
halt als Kunstwerk bestimmt, ist bei Becher in der lyrisch sinnlichen Kraft
der Gegenständlichkeit begründet.
Wir betonen: bei Becher. Denn auch unsere allgemeinen ästhetischen
Betrachtungen hatten hier bloß den Zweck: Wesen und Eigenart der
Bechersehen Lyrik verständlich zu machen, nicht aber seine Art des Schaf-
fens zu einem allgemeingültigen, abstrakten Vorbild zu kanonisieren. Es
sei deshalb bloß kurz vermerkt, daß manche der bedeutendsten lyrischen
Schöpfungen unserer Zeit, die im Sinne der Weltliteratur dieselbe Grund-
tendenz der Erneuerung der Lyrik repräsentieren - es sei hier nur auf Ge-
dichte wie Eluards „Ode an die Freiheit", wie Nerudas „Liebesgedicht
an Stalingrad" hingewiesen -, von qualitativ anderen schöpferischen Vor-
aussetzungen ausgehen und mit qualitativ anderen Mitteln die Einheit der
lyrischen Gestalt des Gedichts wiederfinden.
Diese Gemeinsamkeit darf nicht vergessen werden. Denn das Verpuffen
ins Leere, das rasche In-Vergessenheit-Geraten so vieler Kampfgedichte
der jüngsten Vergangenheit beruht wesentlich darauf, daß durch die zer-
setzenden Einwirkungen der verfaulenden kapitalistischen Gesellschaft die
Lyrik mit der Universalität des Gehalts auch die Einheit der dichteri-
schen Gestalt verloren hat. Der Simultaneismus war ebenso ein bloßes
Ersatzmittel für die fehlende Universalität, wie die Einheit der dichterisch-
abstrakten politischen Gesinnung ein Ersatz für die künstlerische Einheit
der Gestalt des Gedichts war.
Innerhalb dieser Gemeinsamkeit gehen aber die bedeutenden Dichter von
heute sehr verschiedene Wege. Was bedeutet es nun, wenn wir bei Becher
als besonderen, für ihn charakteristischen Ausgangspunkt, als das dichteri-
sche Zentrum seiner Lyrik die gestaltete Gegenständlichkeit aufzufinden
meinen? Es ist bekannt, welche Freude und Förderung Goethe erlebte,
als sein Denken von einem seiner Kritiker als „gegenständlich" bezeichnet
wurde. Natürlich greifen Goethes Betrachtungen hierüber sofort auch auf
seine dichterische Produktion über, und es wird keinem Kenner Goethes
überraschend sein, daß er, von seiner „gegenständlichen Dichtung"
redend, sowohl auf seine Bearbeitung der großen Motive aus Sage und Ge-
schichte wie auf seine Neigung zu Gelegenheitsgedichten zu sprechen
Seine Lyrik
kommt. Für uns am interessantesten ist jedoch eine Bemerkung, die er
allerdings über seine wissenschaftliche Tätigkeit macht, die jedoch, wie
wir meinen, gerade die künstlerische Wesensart der „gegenständlichen
Dichtung" treffend beleuchtet. Goethe nennt hier sein eigenes wissen-
schaftliches Verfahren ein „Ableiten" und charakterisiert es wie folgt:
„Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles
ableiten läßt, oder vielmehr, der vieles freiwillig aus sich hervorbringt und
mir entgegenträgt, da ich denn im Bemühen und Empfangen vorsichtig und
treu zu Werke gehe."
Ich glaube: darauf kommt es in jeder „gegenständlichen Dichtung"
und so auch in der Bechers an. Denn worin besteht dieses Goethesche
„Ableiten"? Darin, daß der Dichter auf einen durch seine Erscheinungs-
weise sinnlich einprägsamen, durch seine Bezogenheit auf vielerlei Momente
seines wesentlichen Gehalts bedeutenden Gegenstand stößt. Seine künst-
lerische Arbeit konzentriert sich nun darauf, den Gegenstand sich ausleben
zu lassen, das heißt alle sinnlich-sittlichen Momente des das dichterische
Erlebnis auslösenden Gegenstandes aus ihm selbst in dialektischer Selbst-
bewegung herauszuentwickeln, „abzuleiten", und zwar so, daß ihre Ent-
faltung eine gleichzeitige Steigerung der sinnlichen Einprägsamkeit des
Gegenstandes selbst und eine stete Erhöhung und Vertiefung der von ihm
ausgelösten Gedanken und Gefühle des dichterischen Subjekts mit sich
führe. Die Subjektivität des Dichters, seine schöpferische Aktivität in der
Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit lebt sich völlig aus, es ent-
steht aber der Anschein, als ob der Gegenstand seinen latenten Reichtum
an Gehalt entfaltet hätte.
Um nicht allzusehr ins Detail gehen zu müssen, wähle ich ein verhältnis-
mäßig einfaches Beispiel. Ein Haus wurde von Bomben getroffen:
„Rauchgeschwärzt von dem Brand,
Mitten im steinernen Sterben,
Stand eine Wand. Ein Scherben
Hing an der rauchschwarzen Wand:
Spiegel, leer und blind,
Von der Wand getragen,
Und wie von Tränen beschlagen
In dem naßkalten Wind."
Dieser erste, sehr starke sinnfällige und moralische Eindruck steigert
sich nun durch die weitere Entwicklung der ursprünglichen Situation, wo-
bei es für diesen Stil Bechers charakteristisch ist, daß er nicht, wie andere
bedeutende Lyriker, in verschiedenen Gegenständen Ausdrucksmittel
Johannes R. Becher
für sein Erlebnis sucht und findet, sondern energisch das am Anfang ge-
zeichnete Bild fixiert und es dazu bringt, alle inneren Steigerungen aus sich
selbst zu entlassen. So führt das Bild „von selbst" zu dem innersten poli-
tisch-ideellen Gehalt des Gedichts:
„Wer in dem Spiegel je las,
Hat von dem Ende gelesen
Der gebrochenen Wesen
In dem brüchigen Glas.
Wer in den Spiegel je sah,
Sah die im Feuer Erstickten,
Die in den Spiegel noch blickten,
Kurz bevor es geschah.
Wer in den Spiegel geblickt,
Kann von dem Blick nicht mehr lassen,
Läßt ihn der Blick auch erblassen.
Wer in ihn blickt, der erschrickt
Vor dem sich spiegelnden Nichts
Einer Welt, die zersprungen ... "
So verwandeln sich die Scherben eines Spiegels zum „Spiegelbild unserer
Zeit". „Symbol" wird man sagen. Ja und nein. Ja, wenn das Wort Symbol
in seinem klassischen Sinn genommen wird, wie es von der Goethezeit
gebraucht wurde, als ein bedeutsamer Gegenstand (Verknüpfung, Situ-
ation usw.), der durch den Reichtum seiner Momente und ihrer Entfaltung
über sich selbst hinausweist, ohne seine sinnfällige Geschlossenheit auf-
zuheben. Nein: im Sinne des modernen Symbolismus, der zumeist die alte
Allegorie irrationalisiert und in leere Stimmungen zerflattern läßt; wo der
Gehalt, der Sinn nicht aus dem gestalteten Gegenstand entspringt, sondern
„bei Gelegenheit" dieses Gegenstandes durch eine - ihm wesensfremde -
Flucht von Assoziationen uferlos in die Welt strömt.
Der Gegenstand wird hier dem sinnlichen Schein nach aus sich selbst
bedeutsam, in Wirklichkeit wird er es durch die dialektische Wechsel-
beziehung mit seinem Wesen, durch jene menschlich, gesellschaftlich ge-
wichtigen und reichen Momente, die die lyrische Subjektivität des Dichters
aus ihm herausholt. Aber einerseits ist dieses Herausholen nur der Bezie-
hungsform nach subjektiv. In Wirklichkeit enthält der Gegenstand auch
objektiv - „vordichterisch" - diese Momente; nicht an sich in seiner iso-
liert unmittelbaren Erscheinungsweise, wohl aber als Kreuzungspunkt und
Objekt der verschiedensten menschlichen Beziehungen. Andererseits löst
sich dieses Suchen und Finden des Wesens nie vom Gegenstand: die dich-
Seine Lyrik
terische Aktivität spiegelt eben jenen Komplex von menschlichen Bezie-
hungen wider, die sich im Gegenstand treffen, und ist eben darauf gerichtet,
ihre Totalität energisch auf den Gegenstand zu konzentrieren, die Dialek-
tik von Erscheinung und Wesen über das gewöhnliche Leben hinaus· zu
steigern, das Wesen nur als Scheinen im Gegenstande selbst hervortreten
zu lassen.
So wendet sich dieses Kunstwollen sowohl gegen den Naturalismus,
der zwischen den Gegenständen keine Auswahl nach Bedeutungsschwere
finden kann, wie gegen den romantischen Formalismus im Suchen nach
„interessanten", „stimmungsvollen", exotischen usw. Gegenständen. Vom
Standpunkt des abstrakten An-Sich der objektiven Wirklichkeit könnte
also ein beliebiger Gegenstand diese Aktivität des Lyrikers auslösen. Diese
Willkür ist aber bloßer Schein. Denn die Konzentration wichtiger mensch-
licher Verhältnisse in den Gegenstand hebt jede Willkür auf und kann doch
das einfachste, prosaischste Ding dichterisch bedeutsam machen, während
beim Fehlen dieser Grundlage auch die großartigst pittoreske Landschaft
eine dichterische Leere ergibt.
Ich versuche, diesen Tatbestand wieder am einfachsten Beispiel klar-
zulegen. In einem Gedichtzyklus über die entscheidenden Wandlungen
seines Lebens ist der auslösende Anlaß der ersten Wandlung eine Butter-
semmel. Becher nahm als Junge täglich eine Buttersemmel mit in die
Schule; auf einmal sieht er, wie ein anderes Kind sein Essen mit gierigen,
hungrigen Blicken verfolgt - und plötzlich wird er des Gegensatzes von
reich und arm inne:
„Und in dem Blick, der auf den Mund mir sah,
Und, mich verklagend, schien er mitzuessen,
War es geschehn - o Wunder, das geschah! -
0 Blick des Hungernden mir unvergessen -
Die Welt sich schied. Welch ein Geschiedensein,
Darin ich haltlos stand - auf welcher Seite?
Und mit mir selber schien mich zu entzwein
Der Streit der Welt in seinem Widerstreite."
So wird die Buttersemmel - nicht zufällig, nicht willkürlich, aber auch
ohne irgendwelche romantisch-symbolistische Stilisierung - zu einem
poetischen Gegenstand. Sie ist, wie jeder echt poetische Gegenstand, die
sinnliche Kristallisation des dichterischen Gehalts einer bedeutenden
menschlichen Lage, einer gewichtigen menschlichen Entwicklung.
Wir haben um der Deutlichkeit willen stets die einfachsten Beispiele
gewählt. Es ließe sich aber unschwer zeigen, daß die unmittelbar Menschen
Johannes R. Becher
und menschliche Beziehungen darstellenden und darum komplizierteren
Gedichte Bechers, angefangen von der Dichtung über die Mutter im bren-
nenden Hause, von dem Mann, der unter den fürchterlichsten Foltern seine
Genossen nicht verriet, den drei von Hitlersoldaten ermordeten Kameraden,
deren keiner den anderen lebendig begraben wollte, endend bei den „Ro-
manen in Versen", den drei Münchner Studenten, die den Widerstand gegen
den Faschismus zu organisieren versuchten, oder den sieben Knaben, die
als Soldaten Hitlers aufgeopfert wurden, künstlerisch nach demselben
Prinzip der „gegenständlichen Dichtung" gestaltet sind. Und es ließe sich
ebenfalls zeigen, daß gerade die besondere Beschaffenheit einer solchen
Gegenständlichkeit, nämlich Inhalt und Art, Quantität und Qualität der in
ihr wie in einem Brennpunkt vereinten menschlichen Beziehungen, alle
formalen Elemente der Gedichte bestimmt, die ins Epische hinüberspielende
abwechslungs- und kontrastreiche Ausführlichkeit der Geschichte von den
sieben Knaben ebenso wie den lakonisch-balladesken Ton des Gedichts
von den drei Soldaten.
Es ist selbstverständlich, daß in den Gedichten Bechers, die unmittelbar
anklägerisch gegen den Faschismus gerichtet sind, dieselben Gesetze der
„gegenständlichen Dichtung" herrschen wie in den hier behandelten,
nur daß der andersgeartete Gehalt der dichterischen Gegenständlichkeit
eine diesem entsprechende Form hervorbringt; es genügt vielleicht, wenn
ich nochmals auf das oben in anderen Zusammenhängen bereits zitierte
Sonett über General :Mola hinweise. Die „gegenständliche Dichtung" ist
bei Becher kein Gegensatz zur kämpferischen, sie ist keine Abschwächung
des kämpferischen Geistes, im Gegenteil, wie wir es ebenfalls in anderen
Zusammenhängen bereits gezeigt haben, dessen Steigerung: denn nicht bloß
der subjektive Haß und die Abscheu des Dichters kommen in ihr zum Aus-
druck, sondern der Aufstand von allem, was menschlich ist, und diese Re-
volte reißt die mit den Menschen im oben geschilderten Zusammenhang
existierenden Gegenstände mit sich. Die Lyrik Bechers erweckt den dichte-
rischen Schein - hinter welchem ein tiefer und wirklicher welthistorischer
Gehalt verborgen liegt -, daß das ganze menschliche Universum mit seinen
Häusern und Einrichtungen, mit seinen Straßen und Landschaften sich
gegen die hitlerische Unmenschlichkeit auflehnt und in der Harmonie des
sozialistischen Humanismus seine Heimkehr zu sich selbst erlebt.
Aus dieser dichterisch so fruchtbaren Spannung zwischen Universalität
des Gehalts und sinnfälliger Gegenständlichkeit seiner Erscheinung er-
klingt die vox humana der Poesie Johannes R. Bechers. Sie ist hohe Kunst,
gerade weil sie in ihrer letzten Absicht mehr erstrebt als bloße formale
künstlerische Vollendung. Es ist kein Zufall, sondern die richtige Erkennt-
nis einer wirklichen Gefahr, die auch in unseren Tagen die Poesie bedroht,
Seine Lyrik
wenn Becher als Mahnung für sich und andere in seinen Prosaschriften
immer wieder diese Zeilen Hölderlins anführt:
„Nämlich sie wollten stiften
Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber
Das Vaterländische von ihnen
Versäumet und erbärmlich ging
Das Griechenland, das schönste, zugrunde ... "
(Es ist selbstverständlich, daß Becher Hölderlins Worte in jenem universali-
stischen Sinne versteht, wie wir das Problem seines Deutschtums behandelt
haben.)
Unsere Zeit ist die des größten, des entscheidendsten Kampfes, den die
Menschheit je ausgefochten hat. Nie war ihre Existenz so schwer bedroht.
Aber auch nie bisher ist die Bewußtheit der Selbstwehr so wach ge-
wesen. Die Dichter unserer Zeit haben den hohen Beruf, mit ihrer vox
humana das Menschliche in jedem, auch in dem vom Kapitalismus ent-
stellten und verzerrten Menschen wachzurufen, seine Vernunft und seine
Gefühle gegen das Gift der Gegenmenschlichkeit, die der Imperialismus
von Tag zu Tag massenhaft produziert, zu immunisieren. Es ist der hohe
Ruhm Bechers, daß er sich schon lange Zeit führend an diesem Kampf
beteiligt, daß die Formvollendung seiner Lyrik eine wirksame Waffe in
diesem Kampf, für diesen Kampf geworden ist.
I9JZ
VON DER VERANTWORTUNG DER INTELLEKTUELLEN
Während des zweiten Weltkrieges haben viele gehofft, daß die Ver-
nichtung des Hitlerregimes die Entwurzelung auch der faschistischen Ideo-
logie zur Folge haben werde. Was wir indessen nach dem Kriegsende in
Westdeutschland gesehen haben, zeigt, daß sogar die ökonomischen und
politischen Grundlagen der Erneuerung des Hitlerfaschismus von der
angelsächsischen Reaktion bewahrt und ausgebildet werden. Dies wirkt
sich auch auf ideologischem Gebiet aus. Deshalb ist die Ideologie des
Hitlerismus auch heute eine aktuelle und keine bloß historische Frage.
Wenn wir uns die Entstehung des Faschismus vergegenwärtigen, so
sehen wir, welche schwerwiegende Verantwortung die Intelligenz für das
Heranwachsen der faschistischen Ideologie trägt. Es gibt hier leider nur
sehr wenige rühmliche Ausnahmen.
Ich bitte die sogenannten Praktiker, die Weltanschauungsfragen nicht zu
unterschätzen. Ich führe nur ein Beispiel an. Wir wissen sehr genau, wie
die Politik Hitlers mit eiserner Notwendigkeit zu den Schrecken von Ausch-
witz und Maidanek geführt hat. Es darf aber auch nicht übersehen werden,
daß zu den Momenten, die diese Greuel ermöglichten, die systematische
Erschütterung der Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen gehört hat.
Die organisierte Bestialität des Faschismus gegenüber Millionen wäre viel
schwerer durchführbar gewesen, wenn es Hitler nicht gelungen wäre, in
breitesten deutschen Massen die Überzeugung zu verankern, daß jeder, der
nicht „rasserein" ist, „eigentlich" kein Mensch sei.
Dies war nur ein Beispiel unter vielen. Es sollte nur zeigen, daß es keine
tm.rchuldige reaktionäre Weltanschauung geben kann. Die ältere Generation
wird sich noch sehr gut an „ vornehme", akademische, essayistische Kritiken
des „vulgären" Glaubens an die Gleichheit der Menschen erinnern; auch
an ähnliche Kritiken des Fortschritts, der Vernunft, der Demokratie usw.
Die Majorität der Intelligenz hat an dieser Bewegung aktiv oder rezeptiv
teilgenommen. Anfangs erschienen über diese Themen ntir esoterische
Bücher, geistvolle Essays - daraus wurden aber Zeitungsfeuilletons, Bro-
schüren, Radiovorträge usw., die sich bereits an ein Publikum von Zehn-
tausenden wandten. Endlich entnahm aus alledem Hitler, was vom reaktio-
Von der Verantwortung der Intellektuellen
nären Inhalt dieser Salon- und Kaffeehausgespräche, Universitätsvorträge
und Essays für seine Straßendemagogie brauchbar war. Man findet bei
Hitler kein Wort, das nicht bereits bei Nietzsche oder Bergson, bei Spengler
oder Ortega y Gasset „auf hohem Niveau" ausgesprochen worden wäre.
Die sogenannte Opposition einzelner ist, historisch gesehen, irrelevant.
Was bedeutet ein lahmer und halber Protest Spenglers oder Georges gegen
einen Weltbrand, an dessen Entfachung seine eigene Zigarette mit·
schuldig war?
Es ist also unbedingt notwendig, und es ist eine große Aufgabe der pro-
gressiven Intelligenz, diese ganze Ideologie auch in ihren „vornehmsten"
Vertretern zu entlarven; zu zeigen, wie aus diesen Prämissen die faschisti-
sche Ideologie mit geschichtlicher Notwendigkeit herausgewachsen ist; zu
zeigen, daß von Nietzsche über Simmel, Spengler, Heidegger usw. ein
gerader Weg zu Hitler führt; daß aber die Bergson und Pareto, die Prag-
matisten und Semantiker, die Berdjajew und Ortega ebenfalls eine intellek-
tuelle Atmosphäre geschaffen haben, aus der die Faschisierung der Welt-
anschauung reichliche Nahrung ziehen konnte. Es ist nicht ihr Verdienst,
daß in Frankreich, England oder USA bis jetzt kein Faschismus ent-
standen ist.
Wir müssen also - auch ideologisch - die führende Rolle Deutschlands
in der bisherigen Entwicklung der reaktionären Ideologie hervorheben,
aber der entscheidende Kampf gegen die imperialistische Ideologie in
Deutschland darf nie zu einer Entschuldigung der Irrationalisten, der Fort-
schrittsfeinde, der Aristokraten der Weltanschauung in anderen Ländern
werden.
Es wäre jedoch falsch und gefährlich, sich heute auf diesen Kampf zu
beschränken. Wir wären borniert, wenn wir glaubten, die neue, die sich
jetzt entwickelnde Reaktion gehe ideologisch unbedingt denselben Weg
wie die alte, arbeite unbedingt mit denselben geistigen Mitteln.
Natürlich ist das allgemeine Wesen jeglicher Reaktion in unserer Periode,
in der Periode des Imperialismus, dasselbe: der Herrschaftsanspruch des
Monopolkapitals, die daraus entspringende ständige Gefahr der faschisti-
schen Diktaturen und der Weltkriege; natürlich werden beide - faschisti-
sche Diktatur und Krieg - zumindest mit derselben Brutalität der Unter-
drückung und Zerstörung durchgeführt wie unter Hitler.
Aber daraus folgt noch lange nicht, daß der neue Faschismus sich, be-
sonders ideologisch, unbedingt mit einer genauen Kopie der Hitlerschen
Methoden durchzusetzen versuchen wird. Ja, die heutige Lage zeigt bereits
auch ziemlich entgegengesetzte ideologische Züge. Die gestrige Aggression
kam von Imperialismen, die sich bei der Aufteilung der Welt als zu kurz
gekommen einschätzten. Heute droht die Aggression von einem mächtigen
Von der Verantwortung der Intellektuellen
Imperialismus, der aus seiner halben Weltherrschaft eine ganze machen
will. Er hat im Gefolge Imperialismen, die ihre alten Weltreiche problema-
tisch und bedroht wissen, die die USA in der - objektiv vergeblichen -
Hoffnung unterstützen, ihren bisherigen Besitz erhalten, ausbauen und
konsolidieren zu können.
Freilich bleiben die allgemeinen Züge des Imperialismus bestehen: seine
Bestrebungen stehen heute ebenfalls im Gegensatz zu den Interessen der
eigenen Massen und zu denen der ihre Freiheit verteidigenden Völker.
Und dieser Gegensatz, die Notwendigkeit, vor die sich die aggressiven
Imperialismen gestellt sehen, die eigenen und fremden Völker zu unter-
drücken und zugleich doch die eigenen Volksmassen - demagogisch -
für die neue Aufteilung der Welt, für den neuen Weltkrieg zu mobilisieren,
zeigt die innere Zwangsläufigkeit der faschistischen Innen- und Außen-
politik an, deren Umrisse heute schon deutlich sichtbar sind.
Diese neue Entwicklungsetappe des Imperialismus wird höchstwahr-
scheinlich nicht Faschismus heißen. Und hinter der neuen Nomenklatur
verbirgt sich ein neues ideologisches Problem: der „hungrige" Imperialis-
mus der Deutschen brachte einen nihilistischen Zynismus hervor, der mit
allen Traditionen der Humanität offen brach. Die heute heranwachsenden
faschistischen Tendenzen in den USA arbeiten mit der Methode einer
nihilistischen Hypokrisie: sie vernichten die innere und äußere Selbst-
bestimmung der Völker im Namen der Demokratie; sie vollbringen die
Unterdrückung und Ausbeutung der Massen im Namen der Humanität
und der Kultur.
Wiederum nur ein Beispiel. Hitler hatte es nötig, auf Gobineau und
Chamberlain gestützt, eine eigene Rassentheorie auszubauen, um seine
Massen zur Ausrottung von Demokratie und Fortschritt, von Humanismus
und Kultur demagogisch zu mobilisieren. Die Imperialisten der USA
haben es bequemer: sie brauchen nur ihre alte Praxis gegenüber den Negern
zu universalisieren und zu systematisieren. Und da diese Praxis auch bis jetzt
mit der Ideologie vereinbar war, die USA seien Vorkämpfer für Demo-
kratie und Humanismus, ist nicht einzusehen, warum hier nicht eine solche
Weltanschauung der nihilistischen Hypokrisie entstehen sollte, die mit
demagogischen Mitteln zur Herrschaft gelangen könnte. Daß dieses Uni-
versalisieren und Systematisieren rapide fortschreitet, kann jeder sehen, der
die Schicksale der besten fortschrittlichen Intelligenz in den USA, der
Gerhart Eisler oder Howard Fast verfolgt. Wie diese Methoden seit langer
Zeit allgemein werden, hat ein so gemäßigter Schriftsteller wie Sinclair
Lewis in „Elmer Gantry" vor langer Zeit treffend gezeigt.
Natürlich haben wir hier nur die abstrakt reine Form des neuen Faschis-
mus vor uns. Seine reale Entwicklung geht zuweilen kompliziertere Wege,
Von der Verantwortung der Intellektuellen
besonders in Frankreich und England, wo die innere Lage der imperialisti-
schen Reaktion viel schwieriger ist. Aber man betrachte nur - um wieder
auf ideologische Probleme zurückzukommen - den Existentialismus, und
man wird leicht sehen, daß der Versuch, den offenen Nihilismus des prä-
faschistischen Heidegger mit den Problemen von heute in Einklang zu
bringen, ein Abbiegen des Zynismus zur Heuchelei hervorbringt.
Oder man nehme Toynbee. Sein Buch ist der größte Erfolg der Ge-
schichtsphilosophie seit Spengler. Toynbee untersucht Wachstum und
Niedergang sämtlicher Kulturen und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß
weder die Beherrschung der Naturkräfte noch die der gesellschaftlichen
Umstände diesen Prozeß zu beeinflussen imstande sei; er will ebenfalls be-
weisen, daß alle Versuche, den Gang der Entwicklung mit Gewalt-
anwendung zu beeinflussen - also alle Revolutionen -, a priori zum
Scheitern verurteilt wären. Einundzwanzig Kulturen sind bereits zugrunde
gegangen. Eine einzige, die westeuropäische, ist bis jetzt gewachsen, weil
an ihrem Anfang Jesus diesen neuen gewaltlosen Weg der Erneuerung
fand. Und heute? Toynbee resümiert seine bisherigen sechs Bände dahin-
gehend, daß Gott - da dessen Natur ebenso konstant sei wie die der
Menschen - uns eine neue Rettung nicht versagen werde, wenn wir nur
demütig genug um sie bitten.
Ich glaube, der fanatischste Atomkriegsvorbereiter in den USA kann sich
nichts Besseres wünschen, als daß die fortschrittliche Intelligenz nichts tue,
als um eine solche Erhörung zu beten - während er selbst ungestört den
Atomkrieg organisieren kann.
Freilich: diese fatalistisch-passivistische Tendenz Toynbees zeigt, daß
wir uns erst in den Anfangsstadien der ideologischen Entwicklung des
neuen Faschismus befinden. (Man denke an Spenglers Fatalismus im Gegen-
satz zum nihilistisch-zynischen Aktivismus Hitlers.) Aber mit einer solchen
Feststellung wird die Aufgabe und die Verantwortlichkeit der Intelligenz
nicht kleiner, sondern größer: noch ist es Zeit, der ideologischen Ent-
wicklung der führenden Kulturvölker eine neue Wendung zu geben oder
zumindest zu versuchen, die jetzt heraufziehende reaktionäre Entwicklung
aufzuhalten.
Dazu ist aber auf ideologischem Gebiet vor allem Klarheit vonnöten.
Was bedeutet hier Klarheit? Keineswegs den formell klaren, stilistisch voll-
endeten Ausdruck der Gedanken (dieser ist in der Intelligenz reichlich vor-
handen), sondern das klare Wissen dessen: wo wir stehen, wohin der Weg
der Entwicklung geht, was wir tun können, um ihre Richtung zu beein-
flussen.
In dieser Hinsicht steht es sehr schlecht um die Intellektuellen der impe-
rialistischen Periode. Da es für die Intelligenz objektiv nie möglich ist, in
Von der Verantwortung der Intellektuellen
allen Gebieten der Wissenschaft gleichermaßen zu Hause zu sein, hebt jede
Epoche bestimmte Wissenschaften, bestimmte Wissenszweige, bestimmte
als klassisch betrachtete Autoren in den Vordergrund des Interesses. So
spielte die Newtonsche Physik im achtzehnten Jahrhundert eine große pro-
gressive Rolle bei der Befreiung der französischen Intelligenz von alten
theologischen Befangenheiten und von der - durch diese vermittelten -
monarchistisch-absolutistischen Ideologie; sie war im damaligen Frankreich
ein Motor der ideologischen Vorbereitung der großen Revolution.
Es wäre heute dringend notwendig, daß die politische Ökonomie diese
Stellung in der Intelligenz einnähme, die Ökonomie im Sinne von Marx
als Wissenschaft von den primären „Daseinsformen, Existenzbestim-
mungen" der Menschen; als Wissenschaft von den realen Beziehungen der
Menschen zueinander, der Entwicklungsgesetze und -tendenzen dieser Be-
ziehungen. Die Realität zeigt jedoch gerade entgegengesetzte Tendenzen.
Philosophie, Psychologie, Geschichte usw. der imperialistischen Periode
sind gleichermaßen bemüht, die ökonomischen Einsichten herabzusetzen,
sie als „untief", „unwesentlich", als einer „tieferen" Weltanschauung un-
würdig zu diffamieren.
Was ist die Folge? Die Intelligenz, da sie die objektiven Grundlagen
ihrer eigenen sozialen Existenz nicht durchschaut, wird in wachsendem
Maße zum Opfer der Fetischisierung der gesellschaftlichen Probleme und,
durch diese Fetischisierung vermittelt, zum hilflosen Opfer einer beliebigen
sozialen Demagogie.
Beispiele hierfür lassen sich leicht anführen. Ich spreche nur von einigen
der allerwesentlichsten. Da ist vor allem die Fetischisierung der Demokratie.
Das heißt, es wird nie untersucht: Demokratie für wen und unter wessen
Ausschluß? Es wird nie gefragt, was der reale soziale Inhalt einer kon-
kreten Demokratie ist, und dieses Nichtfragen ist eine der Hauptstützen
des sich jetzt vorbereitenden Neofaschismus. Weiter ist da die Fetischi-
sierung der Friedenssehnsucht der Völker, zumeist in der Form eines abstrakten
Pazifismus, wobei der Wunsch nach Frieden nicht nur zur Passivität ent-
artet, sondern sogar zur Parole der Amnestierung der faschistischen Kriegs-
verbrecher wird und so die Vorbereitung eines neuen Krieges erleichtert.
Ferner gibt es eine Fetischisierung der Nation. Hinter dieser Fassade ver-
schwinden die Unterschiede zwischen den berechtigten nationalen Lebens-
interessen eines Volks und den aggressiven Tendenzen des imperialistischen
Chauvinismus. Man kann sich genau erinnern, wie diese Fetischisierung
sich unmittelbar in der nationalen Demagogie Hitlers ausgewirkt hat. Auch
heute ist sie in ihrer unmittelbaren Form wirksam, es entsteht jedoch da-
neben eine nicht minder gefährliche indirekte Ausnutzung dieser Fetischi-
sierung: die Ideologie eines sogenannten Supranationalismus, einer über-
Von der Verantwortung der Intellektuellen
nationalen Weltregierung, besonders in den USA. So wie die Hitlersche
direkte Form eine pax germanica für die Welt angestrebt hat, so läuft die
indirekte Form in der Richtung einer pax americana. Beide würden, wenn
sie zustande kämen, die Vernichtung jeder nationalen Selbstbestimmung,
jedes gesellschaftlichen Fortschritts bedeuten.
Endlich ist die Feti.rchi.rierung der Kultur zu nennen. Seit Gobineau,
Nietzsche und Spengler ist es große Mode geworden, die Einheitlichkeit
der Kultur der Menschheit zu leugnen. Als ich nach der Befreiung von
Hitler zum ersten Male an einer internationalen Zusammenkunft teilnahm,
an den Rencontres Internationales in Genf 1946, traten dort Denis de
Rougemont und andere mit Ideen der Verteidigung der europäischen
Kultur auf, die zur Grundlage eine scharfe Trenn\ijlg der westeuropäischen
Kultrir von der russischen hatten. Die Verteidigung der westeuropäischen
Kultur bedeutete also eine Abwehr der russische.n (ähnlich auch Toynbee).
Daß diese Theorie objektiv völlig wertlos ist, daß die gegenwärtige west-
europäische Kultur tief durchtränkt ist von russischen ideologischen Ein-
flüssen, und zwar hauptsächlich in ihren Spitzenleistungen, verrät der ober-
flächlichste Blick auf die heutige Kulturlage. Wie kann man sich, um nur
wenige Namen zu nennen, die Literatur von Shaw bis Roger Martin
du Gard, von Romain Rolland bis Thomas Mann ohne Leo Tolstoi auch
nur vorstellen? Diese Theorien benutzen demagogisch die Tatsache, daß
die russische Kultur (und erst recht die Sowjetkultur) der westeuropäischen
Intelligenz unmittelbar, beim ersten Eindruck fremdartig vorkommt. Aber
jeder Literaturkenner muß bestätigen, daß die Rezeption Shakespeares in
Frankreich viel schwieriger war als die Tolstois - und doch errichten Herr
de Rougemont und seine Freunde keine chinesische Trennungsmauer der
Kulturen zwischen Frankreich und England.
Es ist aber noch wichtiger, klar zu sehen, was solche Theorien gesell-
schaftlich bedeuten. Die russische Kultureritwicklung - gipfelnd in der
Sowjetkultur - verkörpert heute ebenso die aus unserer Kultur heraus-
wachsende Zukunft, wie dies die englische Kultur im achtzehnten Jahr-
hundert für Frankreich, wie es das Jahr 1793 für alle fortschrittlichen
Europäer im neunzehnten Jahrhundert getan hat. Die Fetischisierung der
Kultur ist hier eine Maske für den Protest des Absterbenden gegen das
Zukunftsvolle - gerade in der eigenen Kultur. Die Rougemont und Toyn-
bee wollen mit ihren Theorien einen kulturellen „cordon sanitair" um
Rußland, um die Sowjetunion errichten und werden damit - gleichviel, ob
sie das bewußt wollen oder nicht - zu Helfershelfern der ideologischen
Kriegsvorbereitung.
Ich bin scheinbar von der Ökonomie weit abgeschweift. In Wirklichkeit
habe ich ununterbrochen und ausschließlich über Ökonomie gesprochen.
244 Von der Verantwortung der Intellektuellen
Denn was bedeutet hier Fetischisierung? Es bedeutet, daß irgendeine ge-
schichtliche Erscheinung von ihrem realen gesellschaftlichen und geschicht-
lichen Boden losgelöst, daß ihr abstrakter Begriff (zumeist nur einige Züge
dieses abstrakten Begriffs) zum angeblich selbständigen Sein, zur eigenen
Entität fetischisiert wird. Die große Leistung der echten Ökonomie besteht
gerade darin, diese Fetischisierung aufzulösen, konkret zu zeigen, was
irgendeine geschichtliche Erscheinung im Gesamtprozeß der Entwicklung
bedeutet, was ihre Vergangenheit, was ihre Zukunft ist.
Die reaktionäre Bourgeoisie weiß also sehr genau, warum sie durch ihre
Ideologen die echte Ökonomie zu diffamieren sucht, ebenso wie die kirch-
liche Reaktion des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts genau wußte,
warum sie die neue Physik bekämpfte. Heute ist es ein Lebensinteresse
der imperialistischen Bourgeoisie, die gesellschaftlich-geschichtliche Orientie-
rungsfähigkeit der Intelligenz. zu vernichten. Wenn schon ein beträchtlicher
Teil der Intelligenz nicht zu bedingungslosen Anhängern der imperiali-
stischen Reaktion gemacht werden kann, so soll er wenigstens hilflos, ohne
Orientierungsfähigkeit in einer unverstandenen Welt umherirren.
Gestehen wir es mit Scham ein: dieses Manöver ist der reaktionären
Bourgeoisie weitgehend gelungen. Sie hat große Teile der besten Intelligenz
verführt. Sehr viele gute Vertreter der heutigen Intelligenz haben sogar
- in unbewußter Unterstützung dieses Bestrebens der imperialistischen
Reaktion - eine Philosophie geschaffen, die den Nachweis erbringen will,
es sei philosophisch unmöglich, sich gesellschaftlich zu orientieren. Vom
sozialen Agnostizismus Max Webers läuft diese Linie bis zum Existentia-
lismus.
Ist aber dies nicht ein unwürdiger Zustand für die Intelligenz? Hat sie ihre
Fähigkeiten, ihr Wissen, ihre geistige und moralische Kultur nur deshalb
erworben, um in einer Weltwende, in der das Schicksal der Menschheit
entschieden wird, in der Freiheit und barbarische Unterdrückung ihren
entscheidenden Kampf ausfechten, mit Pilatus zu fragen: Was ist Wahrheit?
Und ist es nicht ihrer unwürdig, dieses Nichtwissen, dieses Nichtwissen-
wollen als besondere philosophische Tiefe auszugeben?
Wir haben unser Wissen erworben, unsere geistige Kultur entfaltet, um
die Welt besser zu verstehen als der Durchschnittsmensch. Die Wirklich-
keit zeigt aber ein gegenteiliges Bild. Arnold Zweig schildert sehr richtig
einen ehrlichen Intellektuellen, der jahrelang auf jede Demagogie des deut-
schen Imperialismus hereinfällt, um am Ende eingestehen zu müssen, daß
einfache Arbeiter Jahre vorher diese Tatbestände klar und richtig durch-
schaut haben.
Viele Intellektuelle fühlen bereits heute, von wo Freiheit und Kultur wirk-
lich bedroht werden. Viele wenden sich - sogar mit starkem moralischem
Von der Verantwortung der Intellektuellen
Pathos - gegen den Imperialismus, gegen die Kriegsvorbereitung. Aber
unsere Würde als Vertreter der Intelligenz fordert gerade von uns, aus
diesem Gefühl ein Wissen zu machen. Und dies kann nur durch die Wissen-
schaft der politischen Ökonomie, durch die Ökonomie des Marxismus er-
reicht werden.
Die Intelligenz steht am Scheidewege. Sollen wir, wie die Intelligenz
Frankreichs im achtzehnten, Rußlands im neunzehnten Jahrhundert, Vor-
bereiter und Vorkämpfer einer fortschrittlichen Weltwende werden - oder,
wie die deutsche Intelligenz der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts,
hilflose Opfer, willenlose Helfershelfer einer barbarischen Reaktion? Es
ist keine Frage, welches Verhalten dem Wesen, dem Wissen, der Kultur
der Intelligenz würdig, welches ihrer unwürdig ist.
NAMEN- UND TITELREGISTER
Die im vorliegenden Werk erwähnten Titel von Büchern sind beim Namen des
Verfassers eingerückt mitaufgeführt. Zahlen in Kmsiv verweisen auf ausführlichere
Darstellungen.
Adenauer, Konrad (geb. 1876) 194 Die drei 236
Aischylos (525-456 v. d. Z.) 37 76 Euch, die ihr heimkehrt 226
Orestie 37 General Mola 222 236
Der gefesselte Prometheus 76 G. L. 216
Anouilh, Jean (geb. 1910) 157 Heimkehr 224
Antigone l 57 Das Holzhaus 217-218
Aragon, Louis (geb. 1897) 212 Hymne an die Schönheit 227 zz8
Aristoteles (384-322 v. d. Z.) 134 149 Mein Leben zz3
Arnim,LudwigAchimvon (1781-1831) 67 Ein Lied von den sieben Knaben 236
Avenarius, Richard (1843-1896) 18 Luther 224
Der Mann, der schwieg 236
Bach, Johann Sebastian (1685-1750) 221 Michelangelo 221
Bachofen, Johann Jakob (1815-1887) 37 Deutsches Mutterbildnis 236
65 121 Romane in Versen 236
Baeumler, Alfred (geb. 1887) 7 23 29-30 Spiegelbild 233-234
39 42 47 65 69 Verwandlung der Natur 228
Nietzsche, der Philosoph und Politiker Vorbereitung 214
29 Der Wandlung heilige Dreifaltigkeit 23 5
Bahr, Hermann (1863-1934) 13 Beck, Alexander Alfredowitsch (geb. 1903)
Balzac, Honore de (1799-1850) 91 123 160
124 187 200 Beethoven, Ludwig van (1770-1827) 221
Bartels, Adolf (1862-1945) 126 Berdjajew, Nikolai (1874-1948) 239
Baudelaire, Pierre Charles (1821-1867) Bergson, Henri (1859-1941) 239
226 227 Berkeley, George (1685-1753) 18
Becher, Johannes R. (geb. 1891) 5 109 Binding, Rudolf G. (1867-1938) lOO
IIO III I9!J-2II 2I2-2J1 Bismarck, Otto von (1815-1898) 8 9 II
Abschied 109 IIO r99-2rr 223 12 14 15 17 19 21 25 29 51 52. 56 57
Ballade von den dreien 236 60 66 67 72. 74 75 141 142 146 147 172
Das Bild des Menschen 220 Bloch, Ernst (geb. 1885) zo8
Dank an die Freunde in der Sowjet- Boehm, Franz 30-31
union 219 Anticartesianismus 30
Wo Deutschland lag 219 Bormann, Martin (1900-1945) n8
Namen- und Titelregister
Brandes, Georg (1842-1927) 21 Eisler, Gerhart (geb. 1897) 240
Brecht, Bertolt (1898-1956) 212 Eliot, Thomas Steams (geb. 1888) 161
Brentano, Clemens (1778-1842) 67 Eluard, Paul (1895-1952) 212 232
Brutus, Marcus Junius (85-42 v. d. Z.) 58 Ode an die Freiheit 232
Bubennow, Michail Semjonowitsch (geb. Engels, Friedrich (1820-1895) 49 II2 123
1909) 160 140 155 171
Büchner, Georg (1813-1837) 67 70 183 Epikur (341-270 v. d. Z.) 121
Dantons Tod 183 Ernst, Paul (1866-1933) 13 14 75 91
Büchner, Ludwig (1824-1899) 15 Ewers, Hanns Heinz (1871-1943) 67
Carlyle, Thomas (1795-1881) 9 126 Fabricius, Hans 69
Caudwell, Christopher (1907-1937) 229 Schiller als Kampfgenosse Hitlers 69
Cervantes Saavedra, Miguel de (1547 bis Fadejew, Alexander (1901-1956) 160
1616) 70 81 156 221 Färber, Heinz 129-132
Don Quichotte 81 Fallada, Hans (1893-1947) 66 101 106 142
Chamberlain, Houston Stewart (1855 bis Kleiner Mann, großer Mann - alles ver-
1927) 8 37 126 240 kehrt 106
Chesterton, Gilbert Keith (1874-1936) Kleiner Mann - was nun 106 142
126 129 Wolf unter Wölfen 106
Clausewitz, Karl von (1780-1831) 89 164 Fast, Howard (geb. 1914) 240
Cloots, Anarcharsis (1755-1794) 124 Feuerbach, Ludwig (1804-1872) 15 75
Cooper, James Fenimore (1789-1851) 88 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814) 30
Cromwell, Oliver (1599-1658) 57 58
Flaubert, Gustave (1821-1880) 85 87 91
Daladier, Edouard (geb. 1884) 57 92 229
Dante Alighieri (1265-1321) 66 221 L'Education sentimentale (Erziehung
Darwin, Charles Robert (1809-1882) 15 der Gefühle) 85
16 17 19 23 24 39 Madame Bovary 87
Daumier, Honore (1810-1879) 159 SalammbO 87
Descartes, Rene (1596-1650) 30 31 Förster-Nietzsche, Elisabeth ( 1846-19 35)
Dickens, Charles (1812-1870) 124 8 II 17
Dietrich, Otto (geb. 1897) 47 49 Fontane, Theodor (1819-1898) 60-61 62
Dilthey, Wilhelm (1833-19I1) 69 146 Schach von Wuthenow 61-62
Dimitroff, Georgi (1882-1949) 34 Forster, Georg (1754-1794) 67
Disraeli, Benjamin (1804-1881) 124 Fourier, Charles (1772-1835) 124
Dos Passos, John (geb. 1896) 208 France, Anatole (1844-1924) 57 73 124
Dostojewskij, Fjodor (1821-1881) 158 147
Dreiser, Theodore (1871-1945) 147 Frantz, Constantin (1817-1891) 15
Dreyfus, Alfred (1859-1935) 57 147 Freisler, Roland (1893-1945) 46 49
Dwinger, Edwin Erich (geb. 1898) 94 Friedrich I., römisch-deutscher Kaiser
Zwischen Weiß und Rot 94 (Barbarossa) (I123-I190) 145
Friedrich II., König von Preußen (1712
Eichendorff, Joseph Freiherr von (1788 bis 1786) 62 63
bis 1857) 59 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen
Aus dem Leben eines Taugenichts 59 (1795-1861) 60
Namen- und Titelregister
Gast, E. H. 79 Hauptmann, Gerhart (I862-I946) 13 7S 78
Gaulle, Charles de (geb. I890) I53 Die Ratten 78
George, Stefan (I868-I933) 126 22I Die Weber 78
239 Hebbel, Friedrich (I8I3-I863) 58 7S 76
Gide, Andre (I869-I95I) 7 I56 157 159 I44 I45 I48 I50 I58
I6I Herodes und Mariamne I50
Giono, Jean (geb. I895) I57 Dem Schmerz sein Recht I58
Gneisenau, August Graf Neithardt von Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (I770 bis
(1760-I831) 56 I83 I) I4 29-49 52 H 67 72 9I 105
Gobineau, Joseph Arthur (I8I6-1882) 126 I2I-I22
240 243 Ästhetik 9I
Goebbels, Joseph (I897-I945) 28 97 IOI Phänomenologie des Geistes I05
I03 I04 I06 Verfassung Deutschlands 52
Göring, Hermann (I893-I946) 28 Wissenschaft der Logik, Einleitung
Görres, Joseph (I776-I848) 30 32
Goethe, Johann Wolfgang (I749-I832) Heidegger, Martin (geb. I889) I52 I53
30 35 49 52 53 55 64 67 70 71 72 73 79 239 24I
84 87 94 95 96 105 lI3 I22 I23 I57 Heine, Heinrich (I797-I856) 67 70 7I 76
2IO 21I 221 226 229 232-233 234 85 I48 221 229
Westöstlicher Divan 87 96 Henri IV., König von Frankreich (I533
Egmont 87 I22 bis I6Io) 92
Farbenlehre 35 Herder, Johann Gottfried (I744-I803)
Faust I05 52 53
Götz von Berlichingen 87 I57 Hermann der Cherusker (18 v. d. Z. -I9)
Hermann und Dorothea i22 I45
Wilhelm Meister 94 122 Herodot (500-424 v. d. Z.) I2I
Gorbatow, Boris Leontjewitsch (geb. 1908) Hikmet, Nazim (geb. I902) 212
I38-I39 I44 Himmler, Heinrich (I900-I945) 40-41
Gorki, Maxim (I868-I936) Io6 157 I6o Hitler, Adolf (I889-I945) 5 7 I4 26 27 28
I67 200 22I 29 30 3I 33 34 36 38 39 40 4I 42-44
Goya y Lucientes, Francisco Jose de 45 46 47 48 50 65 66 69 70 8I 82 97
(I746-I828) I59 98 IOO I04 I05 106 107 I08 109 110
Großmann, Wassilij Semjonowitsch (geb. III II3 II4 II7 II9 I28 I34 I35 I36
I905) I6o I37 I38 139 I40 I43 I44 145 150 153
Gundolf, Friedrich (I880-I931) 69 130 I93 I94 I95 196 I97 2I6 2I7 2I9 22I
236 238 239 240 24I 242 243
Hafis, Sehems ed-Din-Mohammed (I320 Mein Kampf 33 4I 42 43 44 Io6
bis I389) 123 Hölderlin, Friedrich (I770-I843) 70 221
Hamann, Johann Georg (I730-I788) 237
2IO ... meinest du, es solle gehen 237
Hamsun, Knut (I859-I952) I56 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776
Harden, Maximilian (I86I-I927) I3 bis I822) I32-I33
Hartleben, Otto Erich (I864-I905) I3 Hofmannsthal, Hugo von (I874-I929)
Hartmann, Eduard von (I842-1906) I5 30 7S
Philosophie des Unbewußten I5 Holz, Arno (I863-I929) I3
Namen- und Titelregister
Homer (v. d. Z.) 91 92 93 123 Lawrence, David Herbert (188s-1930)
Ilias 91 93 157-158 160
Odyssee 91 93 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870-1924) 49
Hugo, Victor (1802-1885) 2s 168 184
Leo, Heinrich (1799-1878) 20
Ibscn, Henrik (1828-1906) 76 77 104 bis Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781)
105 134 149 s2 87
Nora 149 Emilia Galotti 87
Peer Gynt 105 Lewis, Sinclair (1885-1951) 240
Elmer Gantry 240
Jacoby, Johann (18os-1877) 146 Liebknecht, Karl (1871-1919) 195
Jahn, Friedrich Ludwig (1778-1852) 30 Lincoln, Abraham (1809-1865) 57
Jaspers, Karl (geb. 1883) IS3 Luden, Heinrich (1780-1847) 95
Joyce, James (1882-1941) 208 Ludendorff, Erich (1865-1937) 173
J6zsef, Attila 212 Ludwig, Otto (1813-1865) 76
Juvenal (eigentl. Decimus Junius Juvena- Lueger, Karl (1844-1910) 126
lis) (60-140) 142 Lukacs, Georg (geb. 1885) 5 80 183 198
Beitriige zur Geschichte der Ästhetik
Kant, Immanuel (1724-1804) 30 31 58 80
Karl August, Großherzog von Sachsen- Erzählen oder Beschreiben 5
Weimar (1757-1828) H Größe undVerfall des Expressionismus 5
Keller, Gottfried (1819-1890) 76 91 93 Nietzsche als Vorläufer der faschisti-
156-157 221 schen Ästhetik So
Der grüne Heinrich 93 Probleme des Realismus 5
Martin Salander 93 Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts
Keyserling, Hermann Graf (1880-1946) 183
67 Die Zerstörung der Vernunft 5
Kierkegaard, Sören (1813-1855) 31 Luther, Martin (1483-1546) 23 224
Klages, Ludwig (1872-1956) 65 69 153 Luxemburg, Rosa (1870-1919) 19s
Kleist, Heinrich von (1777-181I) 58-59
67 87 Mach, Ernst (1838-1916) 18 19
Die Hermannsschlacht 87 Majakowskij, Wladimir (1893-1930) 160
Michael Kohlhaas 175 Malraux, Andre (geb. 1901) 156 157 160
Prinz Friedrich von Homburg 58-59 Mann, Heinrich (1871-1950) 73 108 1I2
K.lopstock, Friedrich Gottlieb (1724 bis 141 142 144 200 201
1803) 52 Die Jugend des Königs Henri Quatre
Krieck, Ernst (geb. 1882) 31 32-34 39 II2
bis 40 45 47 48 Professor Unrat 142
Kugelmann, Ludwig (1830-1902) 16 Der Untertan 108 141 142 144 200 201
Mann, Thomas (1875-1955) 7 59 60 62
Lagarde, Paul Anton de (1827-1891) 8 15 bis 64 6(1-82 108-109 IIO III II3 147
31 37 146 159 188 243
Lange, Friedrich Albert (1828-1875) 16 Betrachtungen eines Unpolitischen 62 63
bis 17 Friedrich und die große Koalition 62
Lassalle, Ferdinand (1825-1864) II Joseph und seine Brüder 78
Namen- und Titelregister
Leiden und Größe der Meister 69 70 72 Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 7-28 29
73-74 75 77 78 80 81 82 30 63 65 75 78 79 So 81 126 146 151
Lotte in Weimar 64 II3 153 158 239 243
Mario und der Zauberer 64 108-109 IIo Der Antichrist 21
Der Tod in Venedig 62 108 Ecce homo 25
Tonio Kröger 188 Die Geburt der Tragödie 16
Der Zauberberg 63 108 109 1 II Die Geburt der Tragödie (Vorwort) 8
Marlowe, Christopher (1564-1593) 76 Die Geburt der Tragödie (Fragmente
Martin du Gard, Roger (geb. 1881) 243 zum zweiten Teil) 9-10
Marx, Karl (1818-1883) 16 29 49 67 155 Menschliches, Allzumenschliches 17
bis 156 203 242 Also sprach Zarathustra 16 23 25
Brief an Kugelmann 16-17 Novalis (Pseudonym von Friedrich Frei-
Maupassant, Guy de (1850-1893) 159 herr von Hardenberg) (1772-1801) 67
May, Karl (1842-1912) 88
Meano, Cesare (geb. 1899) 85 Ortega y Gasset, Jose (1883-1955) 160
Mechow, Karl Benno von (geb. 1897) 97 239
98 99 100 101 102 Owen, Robert (1771-1858) 124
Vorsommer 97 98 99 100 101 102
Mehring, Franz (1846-1919) II 13 20 Pareto, Vilfredo (1848-1923) 239
Menenius Agrippa (503-493 v. d. Z.) 22 Pfitzner, Hans (1869-1949) 63
Mereschkowskij, Dmitrij Sergejewitsch Palestrina 63
(1865-1941) 7 Platen, August Graf von (1796-1835)
Michelangelo Buonarroti (1475-1564) 221 70
Michelet, Jules (1798-1874) 25 Proust, Marcel (1871-1922) 192
Mirabeau, Honore Gabriel Riquetti von
(1749-1791) 59 62 64 Raabe, Wilhelm (1831-1910) 66 93 101
Mola, Emilio (1887-1937) 222 236 147
Moleschott, Jakob (1822-1893) 15 Ranke, Leopold von (1795-1886) 74
Moliere, Jean Baptiste Poquelin (1622 bis Rauschning, Hermann (geb. 1887) 40 45
1673) 156 137 143
Moltke, Helmuth Karl Bernhard Graf von The Voice ofDestruction 40-41 45 137
(1800-1891) 56 143
Montaigne, Michel Eyquem de (1533 bis Ricardo, David (1772-1823) 125
1592) 112 Richter, Bugen (1838-1906) I I
Morgan, Lewis Henry (1818-1881) 121 Riemenschneider, Tilman (1460-1531) 221
Münzer, Thomas (1489-1525) 70 Robespierre, Maximilien Marie Isidor de
(1758-1794) 23 57
Napoleon I., Kaiser der Franzosen (1769 Rolland, Romain (1866-1944) 147 243
bis 1821) 61 95 124 Rosenberg, Alfred (1893-1946) 7 8 14
Napoleon III., Kaiser der Franzosen (1808 27 28 29 32 35 36-38 42 44 65 79 104
bis 1873) 146 106 117 118 134 139
Neruda, Pablo (geb. 1904) 212 Rostand, Edmond (1868-1920) 85
Liebesgedicht an Stalingrad 232 Rougemont, Denis de 243
Newton, Sir Isaac (1643-1727) 242 Rousseau, Jean-Jacques (1712-1778) 18
Niemöller, Martin (geb. 1892) 50 23 25 63
2.j 2. Namen- und Titelregister
Saint-Simon, Oaude Henri de Rouvroy, Sokrates (470-399 v. d. Z.) 10 18
Graf de (1760-1825) 23 124 Sombart, Werner (1863-1941) 146
Saltykow-Schtschedrin, Michail (1826 bis Sophokles (495-406 v. d. Z.) 156
1889) :zoo Antigone 156
Sand, George (1804-1876) 25 Sorel, Georges (1847-1922) 126
Sartre, Jean-Paul (geb. 1905) 152 Spengler, Oswald (1880-1936) 7 37 67 69
Savonarola, Girolamo (1452-1498) 23 130 151 153 239 241 243
Sawinkow, Boris Wiktorowitsch (1879 bis Stalin, Josef Wissarionowitsch (1879 bis
1925) 156 1953) 49
Schamhorst, Gerhard Johann David von Stein, Reichsfreiherr Karl vom und zum
(1755-1813) 56 (1757-1831) 56
Schauwecker, Franz (geb. 1890) 99 Stendhal (Pseudonym von Marie Henri
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775 Beyle) (1783-1842) 91 123 187 :zoo
bis 1854) 15 16 30 67 122 Sternheim, Carl (1878-1942) 142
Schiller, Friedrich (1759-1805) 30 52 53 Storm, Theodor (1817-1888) 70
69 71 77 79 87 94 Il3 134 156 Strauß, David Friedrich (1808-1874) 10 29
Don Carlos 87 Stuckart, Wilhelm (geb. 1902) 44 45 46
Die Verschwörung des Fiesco zu Genua 47 49
87 Swift, Jonathan (1667-1745) 177
Wallenstein 87 Swinburne, Algernon Charles (1837 bis
Wilhelm Tell 87 1909) 161
Schlaf, Johannes (1862-1941) 13
Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich (1772 Taine, Hippolyte (1828-1893) 15
bis 1829) 34 Tönnies, Ferdinand (1855-1936) 146
Schmitt, Carl (geb. 1888) 137 Tolstoi, Leo Nikolajewitsch (1828-1910)
Scholochow, Michail Alexandrowitsch 92 124 159 zoo 221 243
(geb. 1905) 160 Vorwort zu Maupassants Werken 159
Schopenha;uer, Arthur (1788-1860) 7 8 Toynbee, Arnold Joseph (geb. 1889) 241
10 I I 12 13 14 15 16 17 18 63 79 152 159 243
Scott, Walter (1771-1832) 35 91 92 122 A Study of History (Weltgeschichte) 241
123 Treitschke, Heinrich von (1834-1896) :zo
The Heart of Midlothian (Das Herz von 21 52 74 146
Midlothian) 122 Tschechow, Anton Pawlowitsch (1860 bis
Ivanhoe 123 1904) :zoo
Seghers, Anna (geb. 1900) 195-196 Tschernyschewskij, Nikolai Gawrilo-
Die Toten bleiben jung 195-196 witsch (1828-1889) 132
Shakespeare, William (1564-1616) :z:z 76
92 156 243 Uhland, Ludwig (1787-1862) 85
Coriolanus z:z
Romeo und Julia 85 92 Vaihinger, Hans (1852-1933) 18
Shaw, George Bernard (1856-1950) 7 126 Die Philosophie des Als ob 18
147 243 Vergil (eigentl. Publius Vergilius Maro)
Simmel, Georg (1858-1918) 17 239 (70-19 v. d. Z.) 92
Sismondi, Jean Charles Leonard Simonde Aeneis 92
de (1773-1842) 125 Vico, Giovanni Battista (1668-1744) 91
Namen- und Titelregister
Vischer, Friedrich Theodor (1807-1887) Zola, Emile (1840-19oz) 57 73 76 77 147
148 163
Vogt, Karl (1817-1895) 15 Nana77
Voltaire, Franc;ois Marie Arouet (1694 bis Zusammenbruch 163
1778) 17 18 73 9z Zweig, Arnold (geb. 1887) 5 89-90 109
La Ligue ou Henri le Grand (Die Hen- bis IIO III 13z 143 z62-z89 z89-z98
riade) 9z ZOO ZOI z44
Das Beil von Wandsbek 193 194-195
Wagner, Richard (1813-1883) xo 17 19 196
ZI 70 74-75 76 77 78 79 155 Erziehung vor Verdun 89-90 109 no
Der Ring des Nibelungen 155 143 163 164 166 170-171 17z-173
Washington, George (173z-1799) 57 175-177 178 179 18z 185 188 193
Weber, Max (1864-19zo) 55 135 z44 194 195 196 197 zoo
Wiechert, Ernst (1887-1950) 50 66 97 98 Einsetzung eines Königs 163 169-170
99 100 IOI IOZ 177 179-181 x8z 183 184 185-186
Die Majorin 97 98 99 100 101 xoz 193 195 zoo
Wilde, Oscar (1856-1900) 161 Junge Frau von 1914 16z-163 169 170
Wildenbruch, Ernst von (1845-1909) 67 185 186 187
Wilhelm I., deutscher Kaiser (1797-1888) Novellen um Oaudia 186 187 188 189
5z 193
Wilhelm II., deutscher Kaiser (1859-1941) Der Streit um den Sergeanten Grischa
II IZ Z9 60 147 109 IIO 163 166 173-174 178 179
Winckelmann, Johann Joachim (1717 bis bis 180 183 185 193 194 196
1768) 5z
INHALT
Vorwort ................................................... .
Der deutsche Faschismus und Nietzsche........................ 7
Der deutsche Faschismus und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Über Preußentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Thomas Mann über das literarische Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Aktualität und Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Zwei Romane aus Hitlerdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Die verbannte Poesie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Der Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts . . . . . . . . . l 15
„Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart". . . . . . . . . . . . . . . 1.2.9
Schicksalswende ............................................ 134
Wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung? ............... 151
Gesunde oder kranke Kunst? ........................ „ ....... 155
Arnold Zweigs Romanzyklus über den imperialistischen Krieg
1914-1918. Mit einem Nachwort 1952.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Johannes R. Bechers ,,Abschied" .............................. 199
Bechers Lyrik ............................................... 212
Von der Verantwortung der Intellektuellen ......•••••.....•... 238
Namen- und Titelregister. . . . . • • • • . • . • • • . . . . . . • . . . . . . . . . . • . • 247