Liebe in Zeiten Des Hasses Chronik Eines Gefuhls 1929-1939
Liebe in Zeiten Des Hasses Chronik Eines Gefuhls 1929-1939
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Inhalt
Davor
Davor, Fortsetzung
1933
Danach
Bibliographie
Allgemeine Literatur zum Zeitraum 1929–1939
Literaturauswahl zu den Hauptfiguren des Buches
Dank
Personenregister
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Davor
Als der junge Jean-Paul Sartre im Frühling 1929 in der École Normale in
Paris erstmals Simone de Beauvoir in die Augen blickt, da verliert er das
einzige Mal in seinem Leben den Verstand. Nachdem er es ein paar
Wochen später, Anfang Juni, endlich geschafft hat, sich mit ihr allein zu
verabreden, erscheint sie einfach nicht. Sartre sitzt in einer Teestube in
der Rue de Médicis und wartet vergeblich. Es ist wonnig warm in Paris
an diesem Tag, weiße Wolken balgen sich oben am tiefblauen Himmel, er
hat extra keine Krawatte umgebunden, denn er will mit ihr nach dem Tee
in den nahen Jardin du Luxembourg gehen und kleine Boote fahren
lassen, er hat gelesen, dass man das so macht. Als er seinen Tee schon
halb ausgetrunken, fünfzehnmal auf die Uhr geguckt und seine Pfeife
langwierig gestopft und angezündet hat, kommt eine junge blonde Frau
auf ihn zugestürmt. Sie sei die Schwester von Simone, sagt sie, Hélène de
Beauvoir, ihre Schwester könne heute leider nicht kommen, sie bedaure.
Da fragt Sartre: Aber wie haben Sie mich so schnell gefunden, inmitten
all dieser Menschen hier? »Simone«, erklärt sie, »hat mir gesagt, Sie
seien klein, trügen Brille und seien sehr hässlich.« So beginnt also eine
der seltsamsten Liebesgeschichten des zwanzigsten Jahrhunderts.
Niemand hofft 1929 noch auf die Zukunft. Und niemand will an die
Vergangenheit erinnert werden. Darum sind alle so hemmungslos der
Gegenwart verfallen.
»Wer würde schon riskieren, einen Mann aus Liebe zu heiraten? Ich
nicht.« Sagt Marlene Dietrich voller Überzeugung in jenem Frühjahr
1929 – und zwar auf der Bühne der Komödie am Kurfürstendamm in
George Bernard Shaws Stück Eltern und Kinder. Sie zieht dazu
genüsslich an ihrer Zigarette, lässt die Augenlider etwas hängen und
zeigt, was das ist: träge Eleganz.
Danach fährt sie nach Hause zu dem Mann, den sie nicht aus Liebe
geheiratet hat, zu Rudolf Sieber. Mit ihm führt sie täglich das Stück
Eltern und Kinder zu Hause auf. Sie nennt ihn »Papi«, er sie »Mutti«.
Ihre Tochter Maria ist fünf. Das Kindermädchen Tamara schläft
inzwischen im Ehebett neben Rudolf Sieber – und das erleichtert
Marlene Dietrich sehr. Endlich kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie
Nacht für Nacht um die Häuser zieht, durch die Bars und durch
unbekanntes weibliches und männliches Gelände. Nach ihren Auftritten
auf der Bühne oder nach den Dreharbeiten bei der UFA in Babelsberg
kommt sie oft erst spätabends nach Hause, macht eine kurze
Hafenrundfahrt, richtet im Entrée die Blumen in der Vase, küsst der
schlafenden Maria die Stirn, zieht sich um, trinkt ein Glas Wasser, legt
noch einen frischen Hauch Parfüm auf – und dann verlässt sie das Haus
auf hohen Schuhen mit dem ersten warmen Wind der Nacht.
Klaus Mann treibt haltlos durch die zwanziger Jahre. Er ist, obwohl erst
23 Jahre alt, also ganz am Anfang, oft schon ganz am Ende. Er will
geliebt werden. Doch sein Vater, der emotional hüftsteife Thomas Mann,
der ihm nicht verzeihen kann, dass er seine Homosexualität so munter
auslebt, während er selbst sie zeitlebens so kunstvoll unterdrücken muss,
lässt seinen Sohn am ausgestreckten Arm verhungern. Einmal, 1920, da
schrieb er noch, er sei »verliebt« in Klaus. Doch das lässt er diesen fortan
nicht mehr merken, verordnet ihm stattdessen ein Leben im Schatten. In
Unordnung und frühes Leid hat Thomas Mann seinen Sohn porträtiert,
als »Söhnchen und Windbeutel«. Furchtbar. Manchmal ist das Leben eine
reine Entziehungskur. Klaus schreibt danach einen Brief an den Vater,
klagt über seine »Verwundung« angesichts des Spotts, aber ihm fehlt der
Mut, den Brief abzusenden. Sein Vatermord geschieht nur literarisch: In
seiner Kindernovelle schildert er unverkennbar das Leben der Familie
Mann in Bad Tölz – all seine Geschwister kommen vor – nur der Vater,
der ist in seinem Buch leider bereits frühzeitig verschieden. Aber
literarischer Mord ist natürlich auch keine Lösung für vorenthaltene
Liebe. In seiner Autobiographie schreibt Klaus über Thomas Mann: »Mir
war natürlich am Beifall keines Menschen wie an seinem gelegen.« Doch
Thomas Mann klatscht nicht, er räuspert sich nur.
Die zwanziger Jahre waren ein schreckliches Jahrzehnt für ihn. Alles war
zu laut in Berlin, zu schnell, zu vergnügungssüchtig für diesen Liebhaber
des Halbschattens. Er ist in die lieblosen Räume seiner Praxis in der
Belle-Alliance-Straße 12 gezogen, erster Stock rechts, sein »Altersheim«,
wie er es nennt. Da ist Gottfried Benn gerade einmal 43 Jahre alt. Hier
kümmert er sich von acht bis achtzehn Uhr um Haut- und
Geschlechtskrankheiten, aber kaum eine Patientin verirrt sich noch zu
ihm, »selten unterbricht die Klingel«, so schreibt er einer Geliebten,
»meine sehr erwünschte Dämmerung«.
Abends trinkt er ein Bier und isst ein Kasseler im Reichskanzler um
die Ecke und versucht manchmal, ein Gedicht zu schreiben. Aber so
richtig gelingt es ihm nicht mehr, die Strophen haben zwar immer acht
Zeilen, aber die Worte bleiben unerlöst, und kein Verlag will sie mehr
drucken. Er stellt sich nachts ans Schlafzimmerfenster, löscht das Licht
und hofft auf die Rückkehr der Inspiration. Er lauscht den schnulzigen
Melodien aus dem Musikcafé, das hinten im Hof Stühle hat, er hört Paare
von unten zu laut und zu grundlos lachen, weil sie unbedingt wollen, dass
dieser Abend nicht so trist endet wie der letzte. Benn versucht, Kaffee bis
zum Koffeinrausch zu trinken, schläft zwei, drei Tage nicht, nimmt
Kokain, alles nur, um wieder die Urkräfte der Poesie in sich zu wecken.
Doch sie bleiben versteckt. Seine Frau ist gestorben, seine Tochter hat er
zu einer kinderlosen Liebschaft nach Dänemark verfrachtet, seine riesige
Wohnung in der Passauer Straße musste er aufgeben, sein Bruder wurde
wegen Beteiligung an einem Fememord zum Tode verurteilt. Das waren
seine »Goldenen« Zwanziger. Affären hatte er immer wieder, meist mit
Schauspielerinnen oder Sängerinnen, gerne Witwen, aber seine
stocksteife Haltung, seine Veilchensträuße, seine militärische
Vornehmheit und seine fistelige Stimme waren nicht gerade das, was die
modernen Frauen im Romanischen Café oder in den Bars in Schöneberg
oder am Kurfürstendamm in Ohnmacht fallen ließ. Er machte
Verbeugungen beim Hineingehen und beim Hinausgehen, er konnte nicht
anders. Es waren immer eher Stürzende, Suchende, die sich von dem
Dichter im Arztkittel und seiner unerschütterlichen Melancholie ein klein
wenig Trost erhofften – in Form von körperlichen und chemischen
Betäubungsmitteln – und eigentlich also nur Verständnis suchten für die
schilfumstandenen Tümpel der eigenen Verlorenheit. Ja, er hat vor dem
Krieg für Furore gesorgt mit seinen expressionistischen Gedichten aus
der Pathologie und aus der »Krebsbaracke«, aber das ist fünfzehn Jahre
her. Jetzt redet jeder auf der Straße so beiläufig über den Tod und den
Sex wie er 1913. Im Jahre 1929 also ist Dr. med. Gottfried Benn nur noch
ein Mann mit Vergangenheit und hängenden Augenlidern, ein
»Vorgänger«.
Als am 1. Februar in seiner Praxis das Telefon klingelt, ist Lili Breda
am Apparat, seine aktuelle Geliebte, eine arbeitslose Schauspielerin, eine
Stürzende auch sie, 41 Jahre alt, sterbensmüde von all ihren unerfüllten
Hoffnungen an Benn und an das Leben. Sie sagt ihm, dass sie sich jetzt
umbringen werde, dann schluchzt sie, leise erst, dann immer lauter, von
ganz tief. Sie legt auf. Benn rennt aus der Praxis, jagt mit einem Taxi zu
ihrer Wohnung, doch als er ankommt, liegt Lili Breda schon
zerschmettert auf der Straße. Sie ist aus dem Schlafzimmerfenster im
fünften Stock gesprungen. Die Feuerwehr legt gerade gnädig eine Decke
über ihren toten Leib, den Benn noch kurz zuvor liebkost hat. Benn setzt
eine Anzeige in der BZ auf. Organisiert die Beerdigung. Keiner der
zwanzig Trauergäste sagt etwas, als sie in Stahnsdorf bei Potsdam in die
kalte Erde gesenkt wird. Es ist erst halb vier, aber es dämmert schon.
Benn richtet ein tröstendes Wort an Elinor Büller, Lilis beste Freundin.
Dann setzt er seinen dunklen Hut auf, schlägt den Mantelkragen hoch
und geht mit bleischweren Schritten durch den leichten Schnee. Er ist
viel zu früh am Bahnhof, erst in einer Stunde geht der nächste Zug.
Abends, allein in der leeren Praxis in Berlin, in der es nach Formaldehyd
riecht und nach Aussichtslosigkeit, merkt Benn, dass er vergessen hat,
wie man weint. »Natürlich«, so schreibt er an seine Vertraute Sophia
Wasmuth, »natürlich starb sie an oder durch mich, wie man sagt.« Das
Schluchzen am Telefon war das Letzte, was er von ihr hörte.
Am 27. März 1929 stellt Cole Porter erstmals die große Frage: »What is
this thing called love?«
Dietrich Bonhoeffer liebt erst einmal nur Gott – und sich selbst. Als der
junge, rastlose Theologiestudent aus gutem Grunewalder Hause seine
erste Auslandsstelle in der evangelischen Gemeinde in Barcelona
antreten soll, schreibt er vorher an den dortigen Pastor Fritz Olbricht,
einen knorrigen Bayern, um zu fragen, wie er sich am besten vorbereiten
könne. Und Bonhoeffer meint damit: seine Garderobe. Er habe gehört,
dass das Wetter in Barcelona zwar heiß, aber wechselhaft sei. Deshalb
frage er sich, welchen Anzugtyp Olbricht empfehle und welche Stoffart.
Brauche er auch eine spezielle Sportkleidung für die Clubs? Und welche
Anzüge und Krawatten trage man bei den abendlichen Dinners? Pastor
Olbricht braucht vier Wochen, bis seine Wut über den eitlen jungen
Theologen im fernen Berlin verraucht ist. Dann antwortet er Dietrich
Bonhoeffer, er könne zu seinen Kleidungsproblemen leider nichts
beitragen, aber es wäre auf jeden Fall hilfreich, wenn er als Pfarrer einen
Talar in den Koffer packen würde.
*
Was für ein Frühjahr für Bertolt Brecht. Am Ostersamstag hat das Stück
Pioniere in Ingolstadt seiner früheren Geliebten Marieluise Fleißer
Premiere im Theater am Schiffbauerdamm. Ins Programm schreibt er:
»Man kann an dem Stück gewisse atavistische und prähistorische
Gefühlswelten studieren.« Zum Beispiel die prähistorischen
Gefühlswelten des Bertolt Brecht. Im Stück nämlich erfährt das
Dienstmädchen Berta, dass ihr Geliebter Korl nicht nur andere Frauen
neben ihr hat, sondern darüber hinaus verheiratet ist und sogar Vater.
Genau diesen Schock hat Marieluise Fleißer einst durch Brecht erfahren.
Und so lässt sie ihre Berta klagen: »Wir haben was ausgelassen, was
wichtig ist. Die Liebe haben wir ausgelassen.« Brecht jedoch schreitet
kurz nach der Premiere zur nächsten Tat, da er außer der Liebe in seinem
Leben eigentlich auch sonst nichts auslassen möchte. Er heiratet am
10. April 1929 Helene Weigel, mit der er bereits einen kleinen Sohn hat.
Sie sei, so sagt er, »gutartig, schroff, mutig und unbeliebt«. Man könnte
also sagen: in allem das genaue Gegenteil des Gatten. Denn was macht
der unmittelbar nach dem Jawort auf dem Standesamt in Charlottenburg?
Er fährt zum Bahnhof, um dort die Geliebte abzuholen. Dumm nur, dass
Bertolt Brecht noch immer den Strauß von der Trauung in der Hand hat,
müde Osterglocken. Als er Carola Neher am Gleis am Bahnhof Zoo
gesteht, dass er vor einer halben Stunde Helene Weigel geheiratet habe,
was »unvermeidlich«, aber eigentlich »unbedeutend« sei, da knallt sie
ihm den welken Strauß vor die Füße und rauscht wütend ab. Sie war den
ganzen weiten Weg aus Davos, wo sie ihren moribunden Mann, den
Dichter Klabund, gepflegt hat, bis nach Berlin gefahren, nur um zu
erfahren, dass Brecht wieder geheiratet hat und schon wieder nicht sie.
Und noch größer der Schock bei Elisabeth Hauptmann, Brechts engster
Mitarbeiterin und engster Geliebten jenes Frühjahrs 1929: Als sie die
Nachricht von der überraschenden Hochzeit hört, versucht sie, sich in
ihrer Wohnung das Leben zu nehmen. Aber keine Sorge. Kaum ist sie
wieder bei Gesundheit und Verstand, beginnt sie sechs Tage später ein
neues Theaterstück zu schreiben und nennt es, ohne Witz: Happy End.
Ob Brecht bitte die Songs dafür schreiben könne, fragt sie ihn, er
bekomme auch ein Drittel der Honorare. Doch dafür braucht er Hilfe von
Kurt Weill, er doktert lieber gleich am Stück selbst mit herum, zusammen
mit Elisabeth Hauptmann im Arbeitsurlaub in Oberbayern. Als im Juli die
Proben für Happy End beginnen, zeigt Brecht, was er persönlich unter
einem glücklichen Ende versteht: Im Stück der einen Geliebten
übernimmt die andere Geliebte, Carola Neher, die Hauptrolle, da sie ja
ohnehin gerade in Berlin ist, und seine Ehefrau die Nebenrolle mit der
bezeichnenden Charakterisierung »Die Graue Frau«. Die männliche
Hauptrolle spielt Theo Lingen, der neue Partner von Brechts Ex-Frau
Marianne Zoff und Stiefvater seiner Tochter Hanne (ja, es ist nicht immer
einfach, hier den Überblick zu behalten). Brechts sadistische Lust, all
seine Frauen gleichzeitig leiden zu sehen, ist bühnenreif. Was er über die
Frage der Eifersucht denke, fragt ihn die Zeitschrift Uhu ausgerechnet in
diesen Tagen. Darauf Brecht breitbeinig: »Spießer sind heute die letzten
Träger dieser einst tragischen Eigenschaft.« Schreibt es – und blickt
selbstzufrieden auf den Gipsabguss des eigenen Gesichtes, den er auf
seinem Schreibtisch postiert hat. Wer so um sich selbst kreist, dem droht
eigentlich ein Schleudertrauma. Doch bei Brecht bedroht es nur all die
anderen, die ihn beim beständigen Kreiseln zu stören wagen.
*
Die gemeinsamen Nächte mit Asja Lācis, der radikalen Kommunistin aus
dem fernen Lettland, die er in Capri kennengelernt hat, enden für Walter
Benjamin sehr unbefriedigend. Er will ihr, mit halb geöffneten Augen,
noch halb im Schlummer, in der Morgendämmerung von seinen Träumen
erzählen. Doch Asja Lācis »hörte sie ungern und unterbrach ihn, aber er
erzählte sie doch«. Sie bittet ihn stattdessen, sich doch endlich scheiden
zu lassen von Dora, seiner Frau. Das sei ihr einziger Traum. Dann gibt es
Frühstück, die Stimmung ist wie eine müde Scheibe Roggenbrot.
Manchmal muss Picasso noch Olga malen, seine Frau. Er hat sie in den
Jahren zuvor fast ständig gemalt, ihren grazilen Ballerinakörper, doch
nun ist Marie-Thérèse Walter zu seinem wichtigsten Modell geworden.
»Wie schrecklich, dass eine Frau meinen Bildern genau ansehen kann,
wenn sie ausgetauscht wurde«, sagt Picasso. Und Olga macht dieses
Gefühl, ausgetauscht worden zu sein, fast wahnsinnig. Sie schreit, sie
tobt, sie wütet, bevor sie wieder für Wochen in Depressionen versinkt
und sich selbst einliefert in Kliniken an fernen stillen Seen. Ihre Wut aber
zündet in Picasso die kreativen Kräfte, die angetrieben werden von
Schuld und Trotz.
So willigt Picasso am 5. Mai 1929 doch noch einmal ein, Olga zu
malen. Und ist das Porträtsitzen früher ein Spiel zwischen beiden
gewesen, ein Fingerhakeln, eine erotische Machtprobe, so ist es jetzt zu
einem kalten Krieg geworden. Keiner sagt ein Wort. Picasso starrt sie an
und malt. Sie fühlt sich nicht bewundert, sondern entblößt in ihrer
Nacktheit, sie friert in ihrem Sessel. In ihr gären der Selbsthass und der
Hass auf den Mann, den sie so geliebt hat und der sie nun betrügt.
Stoisch malt Picasso weiter. Irgendwann bricht er ab und setzt seine
Signatur unter das Bild, dessen Öl noch feucht ist. Als Olga sich einen
Kimono umgelegt hat und hinter ihren Mann tritt, um das Bild
anzuschauen, sacken ihr vor Schock die Beine weg. Das Bild zeigt keine
Frau, sondern ein Monster, mit schreckverzerrtem Gesicht und
verbogenen Gliedmaßen. Sie sagt kein Wort, zieht sich an und geht.
Picasso stellt sich ans Fenster und raucht und denkt an Marie-Thérèse,
die später noch zu Besuch kommen will. Wenn Picasso im Jahre 1929
Olga malt, sind das keine Porträtsitzungen mehr, sondern
Teufelsaustreibungen. Picasso will sie sich von der Seele malen. Was das
für sie bedeutet, ist ihm egal. Er nennt das Bild Großer Akt im roten
Sessel. Es ist ein erster Schlussakt eines langen Dramas.
Erich Mühsam vergisst oft, dass er verheiratet ist. Nicht, dass er seine
Zenzl nicht liebt, nein, das nicht. Er liebt sie schon. Also: vor allem ihren
Charakter.
Aber es gibt eben so viel anderes zu tun: Mühsam, der große, ewig
rastlose Sozialrevolutionär mit mächtigem Bart, der kommunistische
Warner und Propagandist der »Lebenswildheit« und eines humaneren
Deutschland, ist auch nach fünf Jahren Festungshaft für seine Arbeit in
der Münchner Räterepublik fast jeden Abend unterwegs, um junge
Arbeiter für den Anarchismus zu gewinnen und für den Freiheitskampf.
Er ist auch sehr oft im Theater, trinkt für sein Leben gern in den
Bohemekneipen in Berlin und München, er spielt Schach, flirtet, schreibt
für die KPD-Zeitung Die rote Fahne, reist durchs Land, hetzt von
Vortrag zu Vortrag. Wenn er sich gerade wieder besonders begeistert hat
für junge Revolutionärinnen und Revolutionäre, bringt er schon mal fünf,
sechs von ihnen mit nach Hause nach Berlin-Britz in Bruno Tauts
revolutionäre Hufeisensiedlung und erklärt der Zenzl, dass sie jetzt erst
einmal alle bei ihnen einziehen. Anarchismus dürfe doch nicht an der
Türschwelle enden, sagt er ihr. Und sie geht mürrisch an den Herd und
kocht für sieben oder acht statt für zwei. Sie weiß, dass er in der Regel
schon mit mindestens einer der jungen Revolutionärinnen im Bett war.
Wenn sie darüber weint, dann schaut er sie ratlos an: Er habe ihr doch
immer gesagt, dass er nur eine »freiheitliche Ehe« führen könne. Keiner
dürfe dem anderen Vorhaltungen machen. Ob sie sich daran erinnere,
dass sie dem zugestimmt habe? Ja, das habe sie, sagt Zenzl dann, aber sie
stimme dem eben jetzt nicht mehr zu. Dann wird sie wütend, weint,
schreit, und Erich Mühsam flieht, für ein paar Tage und manchmal auch
für ein paar Wochen. Es ist kein Spaß, mit einem Anarchisten verheiratet
zu sein. Am 1. Mai 1929, dem Tag der Arbeit, ist er unterwegs auf der
Straße, ohne Zenzl, die ihn gewarnt hat. Er zieht mit den Kommunisten
in Treptow durch die Häuserblocks, hält flammende Reden, es gibt erste
kleine Scharmützel mit der Polizei, am nächsten Tag geht es weiter nach
Neukölln, wo die Arbeiter Barrikaden errichtet haben und sich
Straßenschlachten liefern mit der Polizei. Es ist ein Gemetzel am
Schluss, der Berliner »Blutmai«, danach wird die Kampforganisation der
KPD, der Rote Frontkämpferbund, verboten (Bertolt Brecht übrigens
beobachtet die Straßenschlacht vom Fenster seines Freundes Fritz
Sternberg, und wird dadurch wohl zu einem noch fanatischeren
Kommunisten). Am 6. Mai aber, alle sind noch in Aufruhr über 33 Tote
und 250 Verletzte, geht Erich Mühsam, dieser ewige Romantiker, zur
»Anarchistischen Jugend« in der Weinmeisterstraße direkt am
Alexanderplatz und hält einen Vortrag. Thema: »Über die Freiheit in der
Liebe«. Ob er danach heim zu seiner Zenzl geht oder andernorts mühsam
die freie Liebe pflegt, ist nicht überliefert.
*
Der einzige Brief, den Vladimir Nabokov, der später so große und damals
noch unbekannte Schriftsteller, seiner Frau im Jahre 1929 schreibt, hat
nur zwei Worte und ein Ausrufezeichen: »Thais gefangen!«. Vielleicht
legt er ihn ihr aufs Bett, als sie noch schläft, in dem sonnendurchfluteten
Zimmer in Le Boulou in den Pyrenäen, wo sie in einem kleinen Hotel
ihren ersten richtigen Urlaub verbringen. Das, was er da gefangen hat, ist
ein Schmetterling, ein seltenes spanisches Exemplar der Gattung der
Ritterfalter, und Véra lächelt, als sie den Zettel sieht, denn sie weiß, dass
ihr Mann nichts so liebt wie frühmorgens, wenn die Schuhe noch nass
werden vom Tau der Nacht, durch die Wiesen zu streifen, um im weißen
Netz Schmetterlinge zu fangen.
Véra selbst hatte Vladimir Nabokov ein paar Jahre zuvor mit Worten
eingefangen, die er ihr über die russische Emigrantenzeitung Rul durch
ein Gedicht zukommen ließ, das er »Die Begegnung. Im Banne dieser
seltsamen Nähe« nannte. Darin die Verse, die nur sie zu deuten verstand:
»Mein Herz muss noch wandern / Doch wenn du mein Schicksal bist …«
Sehr kurz darauf war die Wanderung seines abenteuerlichen Herzens
abgeschlossen, und er erkannte, dass Véra sein Schicksal war. Vladimir
Nabokov also schrieb: »Eines muss ich dir sagen: Vielleicht habe ich es
dir schon einmal gesagt, aber für alle Fälle sage ich es ein weiteres Mal,
Kätzchen, es ist sehr wichtig – bitte pass auf: Es gibt viele wichtige
Dinge im Leben, wie z.B. Tennis, die Sonne, Literatur – aber diese Sache
ist mit alldem gar nicht zu vergleichen, sie ist so viel wichtiger, tiefer,
breiter, erhabener. Diese Sache – übrigens bedarf es gar keiner so langen
Vorrede; ich sage dir ganz einfach, worum es geht. Also: Ich liebe dich.«
Da wusste Véra, dieser wunderschön und nobel funkelnde
Schmetterling, dass sie nicht mehr weiterflattern musste. Sie heirateten
und schlugen sich durch im seltsamen Berlin der zwanziger Jahre. Die
meisten Russen, die vor der Oktoberrevolution nach Deutschland
geflüchtet waren, sind längst weitergezogen nach Paris. Aber Véra
übersetzt und arbeitet in einer Anwaltskanzlei und Vladimir gibt
Tennisunterricht, spielt als Komparse in UFA-Filmen mit, unterrichtet
aufgeweckte Jungen aus dem Grunewald in Schach und ältere Damen in
Russisch. Vor allem aber schreibt er natürlich. Und dass sie jetzt im
Frühling des Jahres 1929 diesen herrlichen Urlaub im Süden machen
können, das verdanken sie dem Ullstein Verlag, der doch tatsächlich sein
neues Buch Bube, Dame, König vorabdruckt und später als Roman
veröffentlicht und ihm die für ihn ungeheure Summe von 7500 Mark
dafür zahlt. Nabokov hat sein Glück mit Véra in dieses Buch
hineingeschmuggelt. Er lässt sie beide hineintanzen als ein Paar, das alle
Blicke auf sich zieht: »Franz war dieses Paar schon lange aufgefallen.
Manchmal trug der Mann ein Schmetterlingsnetz bei sich. Das Mädchen
hatte einen zart geschminkten Mund und zärtliche graublaue Augen, und
ihr Verlobter oder Gatte, schlank, elegant kahl werdend, voller
Verachtung für alles auf der Welt außer ihr, blickte sie stolz an, und Franz
beneidete dieses glückliche Paar.«
Véra und Vladimir Nabokov sind ein sehr ungewöhnliches Paar, denn
sie sind glücklich miteinander und sie werden es bleiben.
*
Als die Nackttänzerin Josephine Baker und der italienische Graf
Giuseppe Pepito Abatino in Paris heiraten wollen, geben sie einfach eine
Pressekonferenz im Hotel Ritz. Die ganze Welt schreibt darüber und sieht
die Fotos des glücklichen, kichernden Paares, und fortan gelten sie als
Mann und Frau. Es ist die Geschichte vom Aschenputtel, geboren in den
Slums von St. Louis, das das Herz eines smarten europäischen Grafen
erobert. Und das sollte reichen. Denn zum Standesamt will der
Bräutigam lieber nicht gehen, dann wäre aufgeflogen, dass er kein
italienischer Graf aus jahrhundertealter Linie ist und auch kein
ruhmreicher Leutnant der Kavallerie, sondern ein sizilianischer
Steinmetz.
Josephine Baker aber ist tatsächlich Josephine Baker, ein 21-jähriges
ausgelassenes afroamerikanisches Mädchen, das zwar keine
Schulbildung hat, keine falsche Scham und kein Zeitgefühl, aber ein
untrügliches Gespür für Rhythmus und ein unnachahmliches Talent für
Tanz. Erst der Steinmetz Pepito jedoch formt ihren Körper zur
vollkommenen modernen Skulptur. Und bereits in den zwanziger Jahren
heißt das: Er macht ihn zu einer Marke. Er zelebriert ihr Können,
kultiviert ihre Marotten und filetiert ihre Gegner. Aus Josephine Baker
wird »Josephine Baker« – sie kann sehr schnell nicht nur ihren Namen
tanzen, sondern auch ihre Anführungszeichen, denn die wippen davor
und dahinter so schön auf und ab wie ihr Markenzeichen, das
Bananenröckchen.
Als noch Georges Simenon ihr Manager und Liebhaber gewesen ist,
der große, ach was, der größte Krimi-Autor aller Zeiten, da ordnete er nur
Josephines Papiere, sorgte dafür, dass alle paar Wochen die Rechnungen
für die Seidenwäsche bezahlt wurden und dass sie wenigstens zweimal
die Woche pünktlich in ihrer Revue ankam. Aber Pepito reicht das nicht,
er will nicht Ordnung schaffen, sondern Vermögen. Und Josephine Baker
lässt ihn gewähren. Dass das erste Mal ein weißer Mann mit ihr nicht nur
ins Bett will, sondern sie sogar heiratet (also das zumindest behauptet),
gibt ihr jenen emotionalen Halt, der ihr zuvor immer gefehlt hat. Und
Pepito schenkt ihr nicht nur Stabilität, sondern entwirft auch einen
Karriereplan. Auf den Werbeplakaten, die zu Josephines Revue im Folies
Bergère einladen, steht jetzt: »Mit Joséphine Baker, Gräfin Pepito
Abatino«. Er verleiht ihr also nicht nur einen Titel, sondern auch noch
einen Accent aigu.
Pepito hat dafür gesorgt, dass die Frauen für ihre Töchter kleine
Josephine-Baker-Barbie-Puppen kaufen können und für sich selbst die
Hautpflegeprodukte, die er »Bakerfix« genannt hat, Sonnenöl nämlich,
eine Körperlotion und die berühmte Pomade, mit der sich die
Namensgeberin und ihr Manager so gerne die Haare zurückgelen. Und
die Männer? Die dürfen auch nach dem Besuch in der Revue noch von
der Schönheit und Ungezwungenheit der schwarzen Tänzerin träumen.
»Un vent de folie«, eine Brise Leichtsinn, nennt Pepito Josephine Bakers
Show. Er weiß, wie man es macht, es ist genau die Brise, nach der sich
ganz Paris sehnt in den späten zwanziger Jahren. Doch Pepito merkt, dass
der Effekt langsam nachlässt. Als Erstes lässt er Josephine Baker deshalb
mit Anfang zwanzig allen Ernstes ihre Autobiographie veröffentlichen,
arglos, naiv, exzentrisch, es geht um Kosmetik und es geht um ihre Tiere,
es geht um ihren rosa Morgenmantel und es geht um Paris. Dann planen
sie, sich mitten in der Stadt ein Haus von Adolf Loos bauen zu lassen –
dem großen Wiener Modernisten. Es wäre eine Sensation geworden, ein
Symbolbau, draußen mit Streifen von schwarzem und weißem Marmor
und innen eine einzige Bühne für Josephine Baker, den ersten
afroamerikanischen Superstar Europas, im Zentrum des Hauses ein Pool,
Josephine als schwimmende Venus. Leider kommt es nicht dazu, denn
Josephines Stern in Paris beginnt zu sinken. Und so organisiert Pepito für
sie eine großangelegte Europatournee. Sie wird zu einer merkwürdigen
Reise zwischen Triumph und Rassismus.
Bevor Josephine Baker losfährt, muss sie sich von ihren Tieren
verabschieden. Schweren Herzens lässt sie ihre Sittiche, ihre Kaninchen,
ihre Katzen, ihr Ferkel zurück in Paris. Nur ihre beiden Pekinesen Fifi
und Baby Girl dürfen mit in den Zug. Dazu kommen fünfzehn
Schrankkoffer, gefüllt mit 196 Paar Schuhen, 137 Kostümen und Pelzen.
Man versteht, warum Pepitos Mutter an ihre Freundin schreibt, dass ihr
Josephine ruhig mal ein paar mehr Kleider und Schuhe überlassen könne.
Was die Ausfuhrliste außerdem vermerkt, sind 64 Kilogramm
Gesichtspuder. Auf die Vermarktung dieses Puders hat ihr geschickter
Manager Pepito in weiser Voraussicht verzichtet – denn hätte alle Welt
gewusst, dass sich Josephine Baker vor ihren Bühnenauftritten im
Gesicht pudert, um weißer zu erscheinen, wäre sie wohl bei allen
Schwarzen unten durch gewesen. Bei den Weißen des östlicheren
Europas ist es jedoch so, dass die 64 Kilogramm Puder nicht ausreichen.
Während sie in Wien und in Budapest in den Nächten auf der Bühne
gefeiert wird als die große Tanzsensation aus Paris, wird tagsüber
schweres Geschütz gegen sie aufgefahren. Überall formieren sich die
konservativen und kirchlichen Kreise. Als sie in Wien mit dem Zug
einfährt und am Gleis von einer begeisterten Menge empfangen wird,
läuten gleichzeitig – zur Anprangerung von so viel Fleischeslust und
getanzter Sünde – die Glocken der Paulanerkirche, um vor dem
»schwarzen Teufel« zu warnen. Die Priester sonntagmorgens im
Gottesdienst weisen so eindringlich und bilderreich auf die Gefahren der
verwerflichen Tänze hin, die Baker am Abend aufführen wird, dass sich
viele Besucher direkt nach dem Vaterunser eine Karte besorgen.
Josephine Baker wird für Wochen im Johann-Strauß-Theater vor
ausverkauftem Haus auftreten.
Und so geht es dann weiter durch Europa mit den fünfzehn
Schrankkoffern, den beiden Hunden und dem einen Ehemann. Nach
Budapest, nach Prag, nach Zagreb, nach Amsterdam. Sogar in Basel darf
sie auftreten, nur in München nicht, der Freistaat ist schon 1929 kein Ort
für die Freikörperkultur gewesen. Am heftigsten jedoch werden die
Proteste in Berlin – in jenem Berlin, wo sie noch 1926 die größten
Triumphe erlebt hat, verführt von Ruth Landshoff, verehrt von Harry
Graf Kessler, der ein Ballett für sie geschrieben hat … Eigentlich war sie
gekommen, um mindestens ein halbes Jahr zu bleiben, vielleicht sogar,
um hier einen Ableger ihres französischen Clubs Chez Joséphine zu
gründen, so gut hat sie die Stadt in Erinnerung, das Flirren, die Rasanz,
die Toleranz. Aber die Brise Leichtsinn ist verflogen. Als sie mit einer
blonden deutschen Tänzerin auftritt, empört sich ein Kritiker am nächsten
Tag: »Wie können sie es wagen, unsere wunderschöne blonde Lea Seidl
mit einer Negerin auftreten zu lassen?« Der Völkische Beobachter nennt
sie einen »Halbaffen«. Und die Zeitungen, die nicht rassistisch schreiben,
schreiben antisemitisch. Denn die Organisatoren der Tanzrevue sind
Juden, und die Kombination aus schwarzer nackter Tänzerin und
jüdischen Veranstaltern – das ist zu viel für die nationalsozialistische
Presse. Als ein Störtrupp der SA bei einer Aufführung Stinkbomben
wirft, packt Josephine Baker mitten im Programm ihre Siebensachen und
verschwindet. Die Show muss abgesetzt werden, Josephine Baker und
Pepito kehren im Frühsommer 1929 Hals über Kopf nach Paris zurück.
*
Als Anaïs Nin und ihr Mann Hugo Guiler in den zwanziger Jahren nach
Paris in die Rue Schoelcher 11 ziehen, direkt neben den Friedhof von
Montparnasse, da ist weder zu ahnen, dass dies ein zentrales Ereignis für
die Geschichte der Stadt der Liebe sein könnte, noch dass dreißig Jahre
später ausgerechnet Simone de Beauvoir in genau diese Wohnung
einziehen sollte. Anaïs Nin jedenfalls notiert in ihr Tagebuch, ernüchtert
von der jungen Ehe und von Paris: »Ich wünschte, ich wäre nie
gekommen. Man muss Paris romantisch sehen können, sonst ist es ein
totaler Reinfall.« Ihr Mann, der Bankier Hugo, schenkt ihr immer neue
Ausgaben des Kamasutra, die er an den Buchläden der Quays kauft, doch
Anaïs schreibt in ihr Tagebuch: »Ich liebe die Reinheit.« Ansonsten liebt
sie nur ihre Tagebücher, ja, sie sind ihr eigentliches Lebenselixier. Sie
versieht sie jeweils mit einem kleinen Schloss und trägt den Schlüssel an
einer Goldkette um den Hals. Sie nimmt den Schlüssel nur kurz ab, wenn
sie Bauchtanz lernt, aber die Lehrerin hält sie für zu unbegabt. Sie muss
sich was Neues überlegen. Anaïs Nin verlässt oft tagelang ihr Bett nicht,
schreibt Tagebuch über ihren Dämmerzustand, weiß nicht so recht, wie
man liebt und verschlingt deshalb D.H. Lawrence’ Roman Liebende
Frauen. Sie ist hingerissen von der Art, wie sich Lawrence ins Chaos
stürzt, so schreibt sie in ihr Tagebuch, »da die Vertiefung ins Chaos ein
Kennzeichen unserer Epoche ist«. Sie wurde bald auch ein Kennzeichen
ihres Lebens.
Gleichzeitig liegt Henry Miller in New York auf seinem Bett in der
kleinen Wohnung in der Clinton Avenue in Brooklyn und liest ebenso
D.H. Lawrence’ Liebende Frauen. Er fühlt sich von diesem Teil der
Menschheit aber gerade in hohem Maße ungeliebt. Henry Miller kann
nicht verwinden, dass seine Frau June ihre Geliebte Mara Andrews
einfach in die eheliche Wohnung eingeladen hat – und er, der Ehemann,
seine Kissen zusammenpacken und aufs Sofa ziehen musste. Nacht für
Nacht ziehen die beiden Frauen trinkend durch die Bars, eines Abends
hängt Miller in seiner Verzweiflung die Heiratsurkunde an den
Flurspiegel, damit sie das Erste ist, was die beiden sehen, wenn sie
torkelnd und kichernd die Treppe hinaufgefallen sind. Aber sie laufen
daran vorbei und gehen ins Ehebett.
Ruth Landshoff küsst nur mit offenen Augen. Sie weiß gerne, wem sie da
gerade an den Lippen hängt. Wie ein aufgeregter Vogel fliegt sie in
diesen späten zwanziger Jahren in Berlin umher, immer zwitschernd,
herumhüpfend zwischen Josephine Baker und Mopsa Sternheim und
Klaus Mann und Karl Vollmoeller, zwischen Cafés und Salons und
Varietés, zwischen high and low und zwischen den Geschlechtern, man
erschrickt fast, wenn sie einmal ruhig dasitzt oder gar schweigt. Sobald
sie lächelt, fließt das Gold. Wenn sie nicht lächelt, wirkt es, als weine sie.
Heute holt sie Charlie Chaplin vom Flughafen ab. Sie soll ihm Berlin
zeigen. Aber sie wird ihm vor allem sich selbst zeigen.
Die fünfzigjährige Alma Mahler heiratet am 6. Juli 1929 endlich den elf
Jahre jüngeren Schriftsteller Franz Werfel, ihr »Mannkind«, und wird zu
Alma Mahler-Werfel. Sie haben da bereits zehn Jahre in wilder Ehe
zusammengelebt, und Werfel ist sehr dankbar, sich schon unmittelbar
nach der Heirat wieder in Almas Haus in Breitenstein am Semmering
zurückziehen zu dürfen. Sie heiraten also an dem Punkt, an dem sie
eigentlich kurz vor der Trennung stehen. Alma will, dass Werfel
»Weltliteratur« produziert – und er ist froh, so oft wie möglich seine
Ruhe zu haben. Denn Alma will eigentlich immer nur über Sex tratschen,
also wer mit wem gerade ein Verhältnis hat. Wenn sie so in Wallung
kommt und dazu noch ein Glas ihres Lieblingslikörs Benediktiner nach
dem anderen gierig herunterkippt, sehnsüchtig nach der »starken
Empfindung«, packt der geschwächte Franz seine Koffer und seinen Hut
und zieht rasch hinauf in die Ruhe der Berge. Der jüdische Werfel hat
inzwischen regelrecht Angst vor den antisemitischen Wutattacken seiner
Frau. So ist er sehr froh, dass sie meist auf Reisen ist. Kaum ist sie nach
der Hochzeit nach Venedig abgerauscht, tritt Werfel heimlich wieder dem
Judentum bei – für die Hochzeit hat Alma vier Wochen zuvor seinen
Austritt verlangt (und seine jüdischen Eltern wollte sie auf der
Hochzeitsfeier auch partout nicht sehen). Sie schreibt benebelt in ihr
Tagebuch: »Ich trinke, um glücklich sein zu können.« Und er schreibt ein
Buch nach dem anderen, um nicht unglücklich zu werden.
Er war schon vollkommen erschöpft, als er 1874 auf die Welt kam.
»Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / kann ich nicht abtun von
meinen Lidern«, so dichtete Hugo von Hofmannsthal als
achtzehnjähriges Wunderkind. Da wurde Wien aber überhaupt erst wach,
und der Weltgeist weckte die wilden kreativen Energien bei Egon Schiele
und Georg Trakl, bei Ludwig Wittgenstein und Sigmund Freud, bei
Arthur Schnitzler und Karl Kraus und all den anderen. Hugo von
Hofmannsthal stand da nur daneben, hilflos den Modernisierungsschüben
um sich ausgeliefert, er ist mit 25 Jahren bereits eine Legende gewesen
und jetzt, mit 55, ein gutgekleidetes Fossil, ein Aristokrat des Geistes, ein
unerträglicher Snob und ein gelegentlicher Libretto-Lieferant für Richard
Strauss. Und zwischendurch etwas Prosa, so fein gezwirbelt wie die
Enden seines Schnurrbartes. Er hatte verkündet, dass die »konservative
Revolution« die große Vision der zwanziger Jahre sein müsse. Und dazu
gehört für ihn eine permanente Verteidigung der Ehe. Ja, all seine
Lustspiele und Libretti sind in Wahrheit dröhnende Verherrlichungen der
Ehe, alles, so schreibt er an seinen Freund Carl Burckhardt, was er
darüber denke, sei in seinen Stücken versteckt. So gut versteckt offenbar,
dass seine eigene Frau Gerty sehr lange danach suchen muss. Denn der
große Theoretiker der Ehe ist als Praktiker nicht sonderlich aktiv. Seine
Haupttugend als Ehemann scheint Verständnis zu sein. So findet er es
völlig richtig, dass sich seine Frau nicht für die Themen interessiert, die
er mit seinen Freunden bespricht. Und dass sie aus dem Zimmer geht,
wenn er etwas vorlesen möchte: »Eine Ehe«, so sagt er, »besteht nicht
darin, dass man alles teilt.«
In seinen Büchern drückt er es etwas komplizierter aus. Die Ehe, so
schreibt er in Ad me ipsum, löse die »zwei Antinomien des Daseins, die
der vergehenden Zeit und Dauer – und die der Einsamkeit und der
Gemeinschaft«. Leben ohne Bindung führe deshalb zu einem Leben ohne
Bestimmung, wer nicht heirate, vegetiere vor sich hin in einer Art
»Präexistenz«. Es ist relativ naheliegend, dass sich Hugo von
Hofmannsthal mit diesen Theorien in den Goldenen Zwanzigern in
Berlin und Paris eher nicht durchsetzen kann. In Rodaun aber, dem
vornehmen Vorort Wiens, in den er sich zurückgezogen hat, und in
Salzburg, bei den Festspielen, da nehmen die Ehepaare seine gesungenen
Thesen mit einem dankbaren Lächeln auf und halten sich ein paar
Sekunden fest an der Hand.
Und wie oft hält wohl Hugo von Hofmannsthal selbst seine Gerty an
der Hand? Das ist sehr schwer zu sagen. In seiner gesamten Prosa und
seinen Briefen kommen zwei Personen eigentlich überhaupt nicht vor:
Gerty und er selbst, ja sogar seinen Freunden gilt er als der größte Ich-
Verschweiger, sowohl was sein Innenleben als auch was seine jüdische
Herkunft betrifft. Und das soll auch so bleiben, schon in den zwanziger
Jahren warnt er alle panisch davor, über ihn eine Biographie schreiben zu
wollen, das sei »läppisch«, er werde Weisungen hinterlassen, um »dieses
verwässernde Geschwätz zu unterdrücken«.
Seine innersten, gefährdetsten Zonen verschließt er also fest, das
Körperliche, das Erotische hat seine übersensible Seele unter einen Bann
gestellt. Ehe ist für ihn eine Sache des Kopfes – einfach, so kann man
sagen, ein vollkommen überzeugendes Konzept. Ob er selbst merkt, dass
es bei diesem wie bei so vielen guten Konzepten ein Umsetzungsproblem
gibt? Drei Kinder bekommt seine Frau Gerty von ihm, 1902 Christiane,
1903 Franz und 1906 Raimund, aber Hugo von Hofmannsthal richtet es
so ein, dass er zu den jeweiligen Geburtsterminen gerade auf
ausgedehnten Vortragsreisen im Ausland unterwegs ist. Und er hat es
auch nicht eilig zurückzukommen. Ja, er ist lebenslang ein Virtuose in
der Kunst, sich zu entziehen. Freunden, Pflichten, Kindern, der Arbeit.
Und den Frauen? Wir wissen es nicht. Stefan George hat er als junger
Mann zwar abgewiesen, aber er pflegt enge Freundschaften mit vielen
Homosexuellen, mit Leopold von Andrian, mit Rudolf Alexander
Schröder, mit Harry Graf Kessler. Und dieser Graf Kessler notiert in
seiner Hellsicht früh: Wenn Hofmannsthal mit Frauen rede, habe das
»etwas von einem Diplomaten, von einem Achtzigjährigen«. Da ist
Hofmannsthal gerade dreißig.
Als er Gerty Schlesinger, seine künftige Frau, kennengelernt hat,
schreibt er ihrem Bruder, warum er sie zur Gattin erwählt: »Dem Leben
steht sie mit Vertrauen und ganz ohne Sehnsucht gegenüber.« Das scheint
ihn zu entspannen. Gerty habe »einen glücklichen Mangel an Schwere«.
Oder anders und sehr viel unschöner gesagt: Sie habe eine wunderbare
Art, »alles, was ihr geistig nicht gemäß ist, einfach damit abzuwehren,
dass sie eine gewisse Beschränktheit ihres Verstandes mit freundlichem
Gleichmut als ein Gegebenes ansieht«. Damit sei sie völlig zufrieden, so
dass es keinen Sinn habe, »sie durch Bücher oder Gespräche über irgend
etwas aufzuklären«. So also stellt sich Hugo von Hofmannsthal eine
ideale Ehefrau vor.
Ja, wenn Hofmannsthal davon spricht, dass er »das Leben nicht ohne
Ehe denken kann«, dann hat das in seiner Lautstärke und Bestimmtheit
immer auch einen Hauch von Abwehrzauber. Ehe in seinem Fall also
eher als ein Modell formvollendeter Einsamkeit. Ein lebenslanger
Versuch, die eigenen homophilen Neigungen wortreich zu untergraben.
Als habe der Verfasser des Librettos für den Rosenkavalier in der
Öffentlichkeit ein besonders leuchtendes Bild der Gattung »Ehemann«
erschaffen wollen, um sich so vor sich selbst zu schützen. Es scheint fast,
als habe er seine wahren Neigungen durch permanente Verschönerung
der Fassade und die lyrischen Panzer der Kunst auch vor sich selbst
perfekt versteckt. Es gibt keinen Gustav von Aschenbach in seinem
Werk, der jungen Männern am Lido sehnsuchtsvoll nachblickt, keinen
adretten Kellner, der durch die Tagebücher stolziert wie bei Thomas
Mann. Es ist mit der Ehe bei Hugo von Hofmannsthal ein wenig so wie
mit dem Heldenmut: Während des Ersten Weltkrieges rühmt er allüberall
den kühnen Siegeswillen und die männliche Opferbereitschaft der
Soldaten, er selbst aber setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um von
der lebensgefährlichen Front schnellstmöglich in die warme Schreibstube
versetzt zu werden.
Seiner schlimmsten Schlacht jedoch kann er nicht entfliehen. Im
Sommer 1929 wird aus dem Waffenstillstand zwischen ihm und seinem
Sohn Franz ein zermürbender Stellungskrieg. Der vom Leben
gezeichnete Sohn zieht mit 26 Jahren zurück zu den Eltern ins Haus nach
Rodaun. Franz kämpft darum, aus dem Schatten des mächtigen Vaters
treten zu dürfen, dichtet, verliebt sich unglücklich, wettert gegen den
Übervater, der seine Schwester bevorzugt. Aber immer wieder stockt ihm
die Stimme, schweigt er in seiner Wut, als könne er nicht wirklich sagen,
was seine Seele martert. Dann plötzlich, eines Nachts, am 13. Juli ein
Schuss im Zimmer des Sohnes. Hugo von Hofmannsthal und seine Frau
Gerty schrecken in ihren jeweiligen Schlafzimmern auf. Franz hat sich
erschossen. Hugo von Hofmannsthal sitzt nur noch apathisch im Sessel.
Als er sich am 15. Juli daraus erheben will, um zur Beerdigung seines
Sohnes aufzubrechen, stirbt er an einem Schlaganfall. Nein: an
gebrochenem Herzen. »Wer den Sohn hat, der hat das Leben, wer den
Sohn nicht hat, der hat das Leben nicht.« (1. Johannes, 5,12) Hugo von
Hofmannsthal wird zwei Tage später auf dem Kalksburger Friedhof
neben dem frischen Grab Franz von Hofmannsthals beigesetzt. Da er sich
dem Orden der Franziskaner eng verbunden fühlte, wird er seinem letzten
Willen gemäß im Gewand eines Franziskaners beerdigt. So endet das
Leben dieses großen Theoretikers der Ehe als keuscher Mönch.
*
Es gibt einen Sohn, der diesen verzweifelten Sohn versteht: Klaus Mann.
Er schreibt einen Nachruf auf Hugo von Hofmannsthal, der eigentlich
mehr ein Nachruf auf Franz von Hofmannsthal ist. Voller Verständnis
dafür, dass man aus dem Leben scheiden muss, wenn man nicht genug
geliebt wird. Wenn man erdrückt wird vom Ruhm des Vaters: »Er starb
als einer von uns, als unser Bruder. Wo er scheiterte, hätten auch wir
scheitern können, sicher waren wir kaum stärker als er. Da wir
weiterleben, werden wir für seinen Tod mitverantwortlich; also auch für
den des Vaters, der folgte.« Was für ungeheuerliche Worte sendet da der
eine Sohn dem anderen – inklusive seiner Selbstentblößung, dass er
längst weiß, wie sehr er mit seiner offensiven Homosexualität seinen
Vater Thomas Mann tagtäglich in die Bredouille bringt. Es gibt kaum
Fotos von Thomas und Klaus Mann zusammen – und auf den paar, die es
gibt, ist Klaus, der sonst die dandyhaften Posen liebt, eine einzige
Verkrampfung, unsicher lächelnd. Und bald schon in diesem Jahr 1929
wird es für Klaus Mann noch bedrückender – sein Vater bekommt den
Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Es ist in den Tagen nach der
Verkündigung, dass Klaus Mann damit beginnt, neben Kokain auch
Morphium zu nehmen, um sich zu betäuben. Er fährt nicht zur
Verleihung des Nobelpreises nach Stockholm. Sein Vater hat ihn nicht
eingeladen.
Es gibt einen unglaublichen Kult um das Kühle, das Coole, man will den
anderen, wenn ihm die Tränen kommen, immerzu glauben machen, das
Herz sei nur ein Muskel. Und Romantik eine Stilrichtung des
neunzehnten Jahrhunderts. »Wir waren alle recht normale Kinder des
Kalten Friedens, wir waren alle kaltschnäuzig kalt, die meisten wussten,
dass es irgendwie bald wieder schief gehen würde«, so sagt es Lisa
Matthias, Kurt Tucholskys leidgeprüftes »Lottchen«. Die Traumata des
Krieges, die Schrecken des Eises und der Finsternis, sorgen dafür, dass
sich vor allem die Männer panzern gegen Gefühlsaufwallungen jeglicher
Art. Walter Gropius in seinen steifen Anzügen und mit seinem starren
Blick im Bauhaus in Weimar und Dessau, Max Beckmann
im Selbstbildnis im Smoking, das Autorenporträt mit Pelzkragen von
Ernst Jünger in den Stahlgewittern. Ein kalter Snobismus, sich selbst und
allen anderen gegenüber, von den Künstlern der Neuen Sachlichkeit auf
die Spitze getrieben. Gegen das vergangene expressionistische Ideal der
»Authentizität« stellt man nun das Gebot der Künstlichkeit, die Maler
schauen auf ihre Modelle wie ein Arzt: Machen Sie sich bitte frei, aber
gewähren Sie mir keine Einblicke.
Der Nietzsche-Leser Otto Dix porträtiert sich als Nordpolfahrer, und
George Grosz rühmt sich seines »Packeis-Charakters«. Bertolt Brecht
erteilt in steifer Lederjacke Versteinerungsansagen in seinem Lesebuch
für Städtebewohner: »Lobet die Kälte!«, Ernst Jünger fordert eine
»Literatur unter null«. Und wie geht das am besten? Curt Moreck rät in
seinem Führer durch das lasterhafte Berlin zu den neuen Bars am
Kurfürstendamm: »Inmitten der blitzenden Sauberkeit aus Glas und
Nickel kann man sich in fabelhaft gemischten amerikanischen Eisdrinks
das Innere auskühlen.«
Im Jahre 1929 wird die Ehe von Gustaf Gründgens und Erika Mann
geschieden. Nach Sichtung der Akten- und Gefühlslage scheint das eine
vernünftigere Entscheidung zu sein als die Heirat ein paar Jahre zuvor.
Und die kam so: Die offenkundig lesbische Tochter von Thomas
Mann, die Autorin und Schauspielerin Erika Mann, hat den
homosexuellen Schauspieler Gustaf Gründgens im Zuge der Proben für
das Vierpersonenstück Anja und Esther in Hamburg kennengelernt. Die
beiden anderen Darsteller sind Klaus Mann und Pamela Wedekind.
Anfänglich weiß Gründgens offenbar genauso wenig wie Erika Mann, ob
sie sich nicht doch lieber jeweils für Pamela entscheiden sollen, aber
dann kommen sie doch zusammen, und wenig später verloben sich dann,
aus Frust, aus Langeweile oder aus Übermut, auch Klaus und Pamela.
Eigentlich lebt Gründgens zu jener Zeit recht glücklich mit dem Maler
Jan Kurzke zusammen: »Jan ist nun mal mein alter Ego«, schreibt
Gründgens kurz vor der Hochzeit an die besorgten Eltern, »mit ihm muss
ich in Harmonie leben, um schaffen zu können.« Aber dann begrüßt er
Klaus Mann mit diesen fulminanten Zeilen auf der Hamburger Bühne:
»Die jüngere Generation hat in Klaus Mann ihren Dichter gefunden …
Mit unerbittlicher Liebe zeigt er seine Generation in all ihrer wissenden
Unwissenheit, ihrer gehemmten Hemmungslosigkeit, ihrer reinen
Verworfenheit. Man muss sie lieben, diese Menschen, die so viel Liebe in
sich haben und mit wissender Schmerzlichkeit ihre Irrwege. Lieben muss
man vor allem den Dichter dieser Menschen.« Aber warum auch immer:
Gründgens hält sich nicht an sein eigenes Gebot und liebt statt des
Dichters dessen Schwester. Die Hochzeit im Hause Thomas Mann
entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie – denn der Trauzeuge ist Klaus
Pringsheim, der Bruder von Katia Mann, und der flirtet beim
Hochzeitsessen relativ hemmungslos mit dem Bräutigam. Die Braut
wiederum, also Erika, schlägt für die Flitterwochen jenes Zimmer im
Kurgartenhotel in Friedrichshafen vor, in welchem sie selbst noch vier
Wochen zuvor mit Pamela Wedekind gewesen ist, und sie schreibt von
dort auch sofort einen sehnsuchtsvollen Brief an die »geliebte Pamela,
die ich über die Maßen liebe«. So kommen dann zur Rettung des Paares,
das mit sich nichts Rechtes anzufangen weiß, bald Klaus Mann und
Pamela Wedekind ins Hotel. Außerdem bitten sie noch einen gut
aussehenden Leichtathleten dazu, der vor dem Hotel seine einsamen
Runden zieht, Hermann Kleinhuber mit Namen. Noch 1930 wird
Gründgens dann mit dieser vorbeijoggenden Zufallsbekanntschaft allein
die Ferien am Lago Maggiore verbringen (Pamela wird dann schon mit
Carl Sternheim zusammen sein und Klaus und Erika nur noch mit sich).
Katia Manns Mutter Hedwig Pringsheim fasst die Lage in ihrer
stoischen Weisheit präzise zusammen: »Es ist eine komische moderne
Ehe, dass sich schon geradezu der Heilige Geist bemühen müsste, um mir
Urgroßmutterfreuden zu verschaffen.« Nach dem Wiedersehen des
Quartetts in Friedrichshafen ziehen Erika Mann und Gründgens in
Hamburg in eine Wohnung in der Oberstraße 125 – und damit sie die
beiden anderen nicht vergessen, nennen sie ihre Katzen wie im
Theaterstück »Anja« und »Esther«.
Passenderweise zieht dann auch bald Klaus Mann dazu, um in der
neuen Wohnung des Paares das Stück Revue zu Vieren zu schreiben. Der
Trauzeuge Klaus Pringsheim darf dafür die Bühnenmusik komponieren
und die Freundin Mopsa Sternheim macht die Ausstattung. Und die
Hauptrollen übernehmen allen Ernstes wieder: Gründgens, Erika Mann,
Klaus Mann, Pamela Wedekind. »Wiederholungszwang« hätte Sigmund
Freud das genannt. Das Stück wird der absolute Reinfall. Gründgens lässt
sich schon bald nach der Premiere von einem anderen Schauspieler
ersetzen, die geplante Tournee durch Deutschland wird ein Desaster, und
das Ende der gemeinsamen Bühnenkarriere ist eigentlich auch das Ende
des Theaterstücks Ehe, das Erika Mann und Gründgens aufführen
wollten.
Gründgens wechselt als Schauspieler nach Berlin, wohnt erst in der
Atelierwohnung seines Hamburger Freundes Jan Kurzke, um dann in die
Arme von Francesco von Mendelssohn zu fallen – dem wahrscheinlich
schrillsten Paradiesvogel des in den späten zwanziger Jahren an schrillen
Paradiesvögeln nicht armen Menschenzoos Berlin. Mendelssohn,
Nachfahre des großen Philosophen und Sohn des reichen Bankiers, ist ein
Cellist von Gnaden und ein Exzentriker vor dem Herrn. Die Sitze seines
Cabrios sind mit Hermelin bezogen, und auf den Bällen der feinen
Gesellschaft lässt er gerne den Pelzmantel fallen, um der begeisterten
Menge seinen nackten Körper darunter zu präsentieren. Mit ihm zieht
Gründgens Abend für Abend durch Schönebergs Bars, süchtig nach dem
nächsten Kick. Davor steht er auf der Bühne, umjubelt. Immer öfter
spielt er die Rollen der seelenlosen Intriganten mit eleganter
Verworfenheit. Das kann er besonders gut.
Nachdem er sich im Theater frisch gemacht hat, tauchen Gründgens
und Francesco von Mendelssohn ein in die homosexuelle Berliner
Subkultur – und Gründgens lebt erstmals seinen Narzissmus und seine
Lust in vollen Zügen aus. Es gibt, wie auch Christopher Isherwood
rühmt, um 1929 in Berlin für jede Geschmacksrichtung den richtigen Ort:
Die zentrale Adresse bleibt das Eldorado mit seinen muskulösen
Schamgürteltänzern, wo sich auch die heterosexuelle Berliner Boheme
gerne trifft zu einem ersten oder letzten Cocktail, ebenso gibt es den
Schnurrbarttempel für die Familienväter und die permanenten
Matrosenbälle im Florida, im Mikado schließlich tanzen
Travestiekünstler zu Tangomusik. Seit Friedrich dem Großen ist eben das
moralische Prinzip Preußens: Jeder soll nach seiner Façon selig werden.
Gründgens und Mendelssohn gehen am liebsten in die schon damals
legendäre Jockey-Bar in der Lutherstraße und in die Silhouette in der
Geisbergstraße, ein enges, qualmiges Tanzlokal, wo an der Bar die
Jünglinge in Frauenkleidern sitzen, in deren flachen Dekolletés falsche
Perlenketten baumeln.
Je größer Gründgens’ Erfolge auf der Bühne werden, um so
exzentrischer lebt er: Beim Modehaus Hermann Hoffmann kauft er ein
Reitsakko, einen Burberry-Mantel und einen Smoking, beim Wiener
Schneider Knize einen Frack, einen Seidenanzug und einen Morgenrock
und beim Autohaus Dello & Co (was für ein schöner Name für ein
Autohaus) einen unverdellten brandneuen Opel, ein Cabrio, in
kreischendem Rot lackiert und mit Extra-Polsterung aus rotem Leder. Da
er das Bestellte zwar abholt, aber meist nicht bezahlt, klagen die
Verkäufer regelmäßig, und so landen all die Rechnungen vor Gericht und
damit zu unserer Freude auch in den Geschichtsbüchern.
1929 also wird die Ehe von Erika Mann und dem Fahrer des einzigen
roten Opels in Berlin, Gustaf Gründgens, aus recht guten Gründen
geschieden. Und weil das Leben selbst ohnehin die besten Pointen
schreibt, bekommt Gustaf Gründgens in diesem Frühjahr seinen ersten
Filmvertrag bei der UFA, er spielt die Hauptrolle in dem Sängerfilm Ich
glaub nie mehr an eine Frau. Als kurz nach der Filmpremiere endlich die
Scheidungsunterlagen vom Amtsgericht eintreffen, öffnen Gustaf
Gründgens und sein Freund Francesco von Mendelssohn eine Flasche
Champagner und machen sich fein für den Abend in den Travestiebars in
Schöneberg.
Die Frauen brauchen die Männer nicht mehr. Das ist die für die Männer
verstörende Botschaft der späten zwanziger Jahre. Sie brauchen sie nicht
mehr, um ihr Leben zu finanzieren – denn das machen sie inzwischen
selbst, zumindest in Berlin und den anderen Großstädten, sie arbeiten in
den Büros. »Zwischen neun und fünf heißen sie Fräulein. Nach
Feierabend gibt es auch einen Vornamen«, wie Mascha Kaléko schreibt.
Sie brauchen die Männer auch nicht mehr, um von A nach B zu kommen,
denn sie fahren ihre Autos selbst und posieren auf den Kühlerhauben und
genießen den Fahrtwind besonders, wenn nur ein kleines Hündchen
neben ihnen sitzt. Und die Frauen brauchen die Männer nicht mehr für
Sex, denn Erfüllung finden sie auch bei ihren Freundinnen (oder sich
selbst). Aber wenn sie sich doch mit einem Mann einlassen, dann weiß
der, dass ihn die Frau genauso erwählt hat wie er sie – und dass sie es
genauso schnell beenden kann wie er. »Mit ihm schlafen, ja, aber keine
Intimitäten«, wie Kurt Tucholsky, der Kenner dieser Frauen, es
zusammenfasst. Seinen Geliebten gibt er meist männliche Kosenamen,
bei Erich Maria Remarque dasselbe, auch Erich Kästner macht es so, die
Männer versuchen also, das Spiel um die Verwirrung der Geschlechter
mitzuspielen, aber sie haben natürlich keine Chance. Die weiblichen
Dandys sitzen in den Bars am Berliner Kurfürstendamm, bei
Schwannecke und bei Schlichter, sie rauchen, sie gehen tanzen, sie tragen
sehr gerne Herrenanzug und Krawatte wie Marlene Dietrich und: sie
schreiben. Artikel und kleine Feuilletons, federleicht und bissig, für den
Uhu, für die Dame, für den Querschnitt und all die anderen großen
Zeitungen der Weimarer Republik. Vor allem aber schreiben die Frauen
der neuen Generation auch Bücher, die ungreifbar flirren, es geht nicht
mehr um Moral oder um Utopien, sondern um Erfahrungshunger – der
Mann ist für die weiblichen Heldinnen der weiblichen Autorinnen meist
nicht mehr als eine Sättigungsbeilage. Charlotte Wolff erzählt, wie sie
mit Dora Benjamin, Walter Benjamins erster Frau, in die Verona Diele in
Schöneberg ging: »Es war üblich, dass die Männer die lesbischen Frauen
zu ihrem Tummelplatz begleiteten. Doch kaum waren sie im Innern des
Clubs, wurden sie zu Schattenfiguren, zu Mauerblümchen, die an kleinen
Tischen sitzend das Geschehen verfolgen.« Ja, von kleinen Tischen aus
das Geschehen verfolgen – das war die neue ungewohnte Nebenrolle für
den modernen Mann. Dasselbe in der Literatur. Eine neue Generation
von Autorinnen schafft eine neue Generation von Heldinnen: Egal ob in
Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen, Mascha Kalékos Lyrisches
Stenogrammheft, Vicki Baums Menschen im Hotel, Ruth Landshoffs Die
Vielen und der Eine oder Gabriele Tergits Käsebier erobert den
Kurfürstendamm. Das Gleiche geschieht in den Fotoateliers rund um den
Kurfürstendamm, eine neue Bildsprache etabliert sich: Frauen, dem
Zugriff des männlichen Begehrens entzogen, wie man sie auf den
Schwarz-Weiß-Fotografien von Marianne Breslauer findet, auf denen von
Annemarie Schwarzenbach, Frieda Riess und Lotte Jacobi. Und auf den
Gemälden einer Lotte Laserstein, die den Körper ihrer Freundin Traute
Rose aus immer neuen Winkeln und mit immer neuem, unbefangenen
Blick erforscht und erwandert. Frauen, beschrieben und gesehen von
Frauen. Eine ästhetische Revolution, getragen von Kühnheit und
Weiblichkeit. Alles Überflüssige wird zur Marscherleichterung
abgeworfen, so wie sich Ruth Landshoff des nicht notwendigen
Buchstabens »h« entledigt und sich als Buchautorin zur Rut verschlankt.
Zu Symbolfiguren dieses neuen Denkens werden Marlene Dietrich und
Margo Lion, die das Rettende der Frauenliebe besingen in der Revue Es
liegt was in der Luft. Darin kaufen die beiden Frauen gemeinsam
Dessous und singen: »Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin.«
Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin, dann brauchen sie die
Männer nicht mehr.
Das geht ja gut los: Als die junge Lee Miller in New York über die Straße
geht, wird sie fast von einem Lastwagen überfahren, doch ein adretter
Mann reißt sie im letzten Moment auf den Bürgersteig. Der Mann heißt
Condé Montrose Nast, er ist der Herausgeber der VOGUE und der
mächtigste Mann der Modewelt. Ein paar Wochen später ist Lee Miller
seine Geliebte. Ein paar Monate später ist sie auf dem Cover der
VOGUE zu sehen, fotografiert vom großen Edward Steichen. Aber sie
möchte nicht den ganzen Tag fotografiert werden. Das hat schon ihr Vater
getan, seit sie auf der Welt war, meist nackt, und er hat damit nicht
aufgehört, als sie ein Mädchen wurde, und auch nicht, als sie zur Frau
geworden war. Jetzt, in diesem warmen New Yorker Sommer des Jahres
1929, will Lee Miller nicht länger nur Objekt sein, sie will Subjekt
werden, also: Fotografin. Edward Steichen gibt ihr ein
Empfehlungsschreiben für den Starfotografen Man Ray in Paris. Zwei
Tage später besteigt sie das Schiff.
Als sie in Paris ankommt, mit dem Zug aus Le Havre, da lässt sie sich
sofort nach Montparnasse fahren und klingelt an der Tür von Man Rays
Atelier in der Rue Campagne-Première 31. Doch die Concierge sagt ihr,
da könne sie lange klingeln, Man Ray sei für den Sommer verreist.
Deprimiert nimmt Lee Miller ihre Koffer und läuft über den Boulevard
Raspail, die Sonne drückt, sie geht in ein kleines Café gegenüber. Unten
ist es ihr zu laut und voll, sie steigt die kleinen Stufen nach oben, bestellt
sich einen Kaffee und blickt ernüchtert auf das sommerliche Treiben auf
der Straße. Da kommt plötzlich Man Ray die Treppe herauf und setzt sich
an einen anderen Tisch. Lee Miller traut ihren Augen kaum. Auch er hat
seine Koffer dabei, offenbar nimmt er einen letzten Café vor der Fahrt in
den Sommerurlaub. Da tritt Lee Miller an seinen Tisch. »Ich bin Ihre
neue Schülerin«, sagt sie zu ihm. Er blickt irritiert unter seinen mächtigen
Augenbrauen hinauf zu der kühnen, großen Schönheit, die da vor ihm
steht. Er starrt auf ihre Lippen, die wie mit einem feinen Pinsel in Hellrot
gemalt zu sein scheinen. Als er sich wieder berappelt hat, sagt er: »Nein,
das ist nicht möglich, ich habe keine Schüler. Außerdem bin ich im
Begriff, in den Sommerurlaub nach Biarritz zu fahren.« Darauf Lee
Miller, ohne mit der Wimper zu zucken: »Ja, ich weiß. Und ich fahre mit
Ihnen.«
Als sie am Gare du Nord in den Zug steigen, ist sie seine Schülerin,
als sie im Abteil sitzen, wird sie sein Modell, als sie in Biarritz
ankommen, seine Geliebte.
Nur einer der großen deutschen Expressionisten hat den Krieg überlebt.
Franz Marc und August Macke sind gefallen, Ernst Ludwig Kirchner
aber überlebte, wenn auch für den Rest seines Lebens gezeichnet, fernab
der Moritzburger Seen und fernab des Potsdamer Platzes, wo er seine
berühmten Frauenfiguren gemalt hatte. Kirchner verkriecht sich in den
Schweizer Alpen, gemeinsam mit Erna Schilling, seiner Berliner
Gefährtin aus der expressionistischen Höhlenwohnung in Wilmersdorf.
Nach all den Granateinschüssen in den Schützengräben kann er keinen
Lärm mehr ertragen, höchstens Kuhglocken, den Bergwind, der unruhig
ums Haus streicht, und das ferne Rufen der Adler, die um die Gipfel
kreisen. Hier, etwas unterhalb der Staffelalm, oberhalb von Davos, hat er
ein karges Bauernhaus bezogen, schwere Balken umhüllen die dunklen
Räume, hier malt er ganz anders als früher, elegischer in der Form und
merkwürdiger in den Farben, Frauen und Ziegen in verbotenem Rosa, in
jähem Grün, in schrillem Lila. Das Tagewerk der Bauern um ihn herum
beruhigt ihn, das Mähen, das Hämmern, das Muhen der Kühe. Manchmal
fährt er mit dem Bus runter nach Davos, setzt sich ins Café wie einst in
Berlin, aber es ist nicht mehr wie früher, er trinkt seinen Kaffee, schaut
einmal in die Zeitung und fährt schnell wieder zurück auf seine Alm. Er
ist ein Überlebender. Er ist aus der Zeit gefallen. Das Werkverzeichnis
seiner Druckgraphik entsteht, große Ausstellungen zeigen seine
expressionistischen Bilder. Für seine neuen Werke interessiert sich
niemand, nur Erna, seine treue Gefährtin. Manchmal, wenn sie unterwegs
sind, trägt er sie als »Frau Kirchner« ein, da lächelt sie still. Sie ist viel
krank, leidet, die Ärzte versuchen vergeblich, ihr zu helfen, sie geht auf
Kur und kommt zurück, kein bisschen gesünder.
Ernst Ludwig Kirchner muss in jeder Phase seines Lebens malen, was
er um sich hat. Und so malt er jetzt eben die Berge, die Bauern, überall
Tannen, manchmal malt er auch Erna und sich, eng umschlungen, wie
Yin und Yang. Seine Weltflucht hat ihn in die Resignation getrieben.
Oder umgekehrt. Er hat ein eher traditionelles Bild von Mann und Frau:
»Das Weib«, so sagt er, werde »seelisch von jedem Mann geformt, der es
sexuell besaß, jeder hinterlässt seinen Schatten auf ihr.« Von Licht ist
nicht die Rede.
Erna, im Wesentlichen also geformt durch den langen Schatten, den
Kirchner auf sie wirft, nennt er seine »treue Kameradin«. Er findet ihre
Form des Zusammenlebens erfasst in dem Buch Kameradschaftsehe des
Amerikaners Ben B. Lindsey, das 1929 in Deutschland erscheint: ein
Plädoyer für die Ehe ohne Kinder, für ein einvernehmliches
Zusammensein ohne zu viele Ansprüche, aber mit Verantwortung
füreinander. Das ist so ziemlich das, was auch Ernst Ludwig Kirchner
noch möglich erscheint, hier oben auf der Alm, innerlich zerschossen
vom Krieg, die Seele gemartert von zu vielen Jahren im
Morphiumrausch. Zwei Sätze in dem Buch von Lindsey hat er fett
unterstrichen: »In Wirklichkeit ist die Phantasie in Verbindung mit dem
Geschlechtstrieb einer der großen Hebel gewesen, die das
Menschengeschlecht über die Tiere hinausgehoben haben. Solch
schöpferische Künste wie Musik, Malerei, Poesie, Tanz, Liebe und sogar
Religion sind aus dieser Vereinigung von Geschlechtstrieb und Phantasie
entstanden.« Als er das Buch ausgelesen hat, schenkt Kirchner es weiter
an ein junges Ehepaar aus Davos.
*
Der Kölner Fotograf August Sander, der mit Akribie und kaltem Blick die
späten zwanziger Jahre schwarz auf weiß zu dem stilisiert hat, was in
unserem Bildgedächtnis abgespeichert ist, möchte im Herbst 1929 den
Dadaisten Raoul Hausmann in seinen realen Liebesumständen
fotografieren. Also: Mit Frau und mit Geliebter. Und so zieht Hausmann
sein Hemd aus und seine Schuhe, er zeigt stolz seinen braun gebrannten
Oberkörper und legt den rechten Arm um seine glattgebügelte Gattin
Hedwig im knielangen Rock. Sie schaut in die Kamera, als sei sie froh,
der ehelichen Pflichten ledig zu sein. Den linken Arm legt ihr Gatte
Hausmann genüsslich um Vera Broido, seine Geliebte, ihr Rock ist die
entscheidenden zehn Zentimeter kürzer. Ihr Blick die entscheidenden
zehn Prozent entspannter. August Sander drückt auf den Auslöser. Er
nennt seine Fotografie Die Künstlerehe. Die Trios scheinen in jenen
Jahren eine längere Halbwertszeit zu haben als die klassischen Duette.
Dieses hier überlebt immerhin bis 1934.
Franz Hessel, der als Lektor und Übersetzer für den Rowohlt Verlag in
Berlin arbeitet, Casanova und Balzac übersetzt hat und gemeinsam mit
Walter Benjamin Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, dieser Franz
Hessel hat eine Frau gefunden, die genauso transitorisch ist wie seine
Gedanken: Doris von Schönthan, ein flackerndes Zentralgestirn der
Berliner Boheme, in den Bars und Cafés des Westens nur »Jorinde«
genannt, aber eigentlich, man glaubt es nicht, eine geborene Frau
Ehemann. Wahrscheinlich kann sie allein deshalb nie heiraten. Auch das
entspannt Franz, denn er ist bereits Helen Hessels Ehemann. »Jorinde«
ist Journalistin, sie führt in der Dame die neueste Hutmode vor, sie
fotografiert, sie flattert durchs Leben. Hessel fliegt ihr hinterher, seinen
ersten Text über sie nennt er »Leichtes Berliner Frühlingsfieber«. Schon
der nächste Text heißt: »Doris im Regen«. Hessel schreibt über Doris in
ihrem Zimmer, Doris am Seeufer, Doris auf der Straße. Es sind vielleicht
seine größten Texte. Durch die angebetete Gestalt wird Berlin plötzlich
erfahrbar, Doris wird zu einer magischen Rückenfigur, die seit Caspar
David Friedrich die deutschen romantischen Phantasien beflügelt, er sieht
meist nur ihren Rücken, so schreibt er, so schnell spaziert sie, und unser
Flaneur Franz Hessel nimmt Tempo auf. Solchermaßen angetrieben
entsteht sein wichtigstes Buch: Spazieren in Berlin.
Im August 1929 macht Erich Kästner Urlaub mit seiner Mutter an der
Ostsee. Danach bittet er seine Freundin Margot, also Pony Hütchen aus
Emil und die Detektive, ihm eine neue Wohnung zu suchen – seinem
»lieben Muttchen« schreibt er: »Pony wird ein bisschen zu rennen haben,
aber die tut es ja gerne, der kleine Matz.« Sie findet eine hübsche
Dreizimmerwohnung in der Berliner Roscherstraße 16, vierter Stock,
Gartenhaus mit Blick auf eine Kastanie, in der die dicken Früchte ihre
grellgrünen Stacheln in den Himmel recken. Die Mutter kommt zum
Einzug am 1. Oktober von Dresden nach Berlin gefahren und bringt dem
Sohnemann Kissen und Löffel mit. Pony besorgt ihm danach noch Dinge
aus ihrer elterlichen Wohnung, dazu Mülleimer und Servierbrett. Kästner
an seine Mutter: »Sie kam sich nützlich vor und freute sich.« Sie macht
ihm auch immer wieder das Abendbrot und bewirtet seine ersten Gäste.
Manchmal darf sie sogar bei Kästner übernachten. Einmal erzählt sie ihm
morgens, noch schlaftrunken, ihren Traum. Sie findet ihn schon ein paar
Tage später in der Weltbühne wieder in dem Gedicht »Ein gutes Mädchen
träumt«. Kästner verwertet die Frauen. Er liebt sie nicht. Er dichtet: »Sie
lief wie durch eine Ewigkeit. Sie weinte. Und er lachte.« Der in puncto
Verwertung und Gefühl durchaus ähnlich gelagerte Kurt Tucholsky wird
»Ein gutes Mädchen träumt« zu seinen Lieblingsgedichten zählen. Aber
er erkennt auch genau, was dahintersteckt: »Sehr bezeichnend für
Kästner, dass mit keiner Silbe etwas für jenes träumende Mädchen gesagt
wird. Ich glaube: Kästner hat Angst vor dem Gefühl. Er ist nicht
gefühllos, er hat Angst vor dem Gefühl, weil er es so oft in der Form der
schmierigsten Sentimentalität gesehen hat.«
*
Wir müssen jetzt einmal kurz Luft holen. Denn nun reisen wir ans
Mittelmeer, nach Spanien, und dort wird es gleich sehr unübersichtlich
und, logisch, sehr heiß. Es bläst zwar der Tramuntana in schmetternden
Stößen vom Gebirge her, aber er bringt keine Abkühlung, sondern nur ein
noch größeres Durcheinander in den Köpfen und Herzen. Und zwar in
denen von Paul Éluard, seiner Frau Gala, von René Magritte, seiner Frau
Georgette, von Luis Buñuel und natürlich von Salvador Dalí.
Éluard hätte nun wirklich gewarnt sein müssen, dass es seiner Ehe
nicht förderlich sei, wenn er gemeinsam mit seiner Frau aufstrebende
Surrealisten im Ausland besucht. Denn nachdem sie Anfang der
zwanziger Jahre Max Ernst in Köln kennengelernt hatten, malte Ernst
Gala schon wenig später mit entblößten Brüsten, und eine offene
Dreiecksbeziehung begann, die zunächst die eher kleinmütige Ehefrau
von Max Ernst zermürbte und dann auch den eher großmütigen Éluard.
Der floh nach Asien, doch dahin reisten ihm Max Ernst und Gala
gemeinsam nach, inzwischen erschöpft vom mehrjährigen Liebesrausch,
und holten ihn zurück in heimatliche Gefilde und in die Ehe. Im Kreis
der Surrealisten in Paris ist Gala eine dauernde Provokation – André
Breton spricht von Gala nur als der Frau, »auf deren Brüsten der Hagel
eines gewissen Traumes von Verdammung schmilzt«. Immer wieder
preist Éluard gegenüber den surrealistischen Künstlern die erotischen
Vorzüge seiner Frau und macht sie zu einem exzentrischen Kultobjekt,
doch nachdem er ein Jahr in Arosa war, um ein Lungenleiden zu
kurieren, genießen sowohl er wie sie so viele Affären, dass sich das
Ganze etwas abgeschliffen hat. Aber Gala gegenüber bleibt er dennoch
der Troubadour: »Es gibt kein Leben, es gibt nur Liebe. Ohne Liebe ist
alles für immer verloren, verloren, verloren.«
Es gibt übrigens eine gemeinsame Tochter Cécile, aber die ist von
Gala früh bei den Großeltern deponiert worden, für sie sei
Kindererziehung nichts, erklärt sie dem verblüfften Gatten und der
akzeptiert es. Nun also, im Sommer 1929, nach Paul Éluards Gesundung,
wollen sie es noch einmal versuchen, Éluard kauft sogar eine neue
Wohnung für sie beide in Paris und richtet sie ein mit teuren Möbeln und
Teppichen. Dann reisen sie einen Tag lang mit zahllosen Koffern und
guten Mutes ins gottverlassene Cadaqués, wo der Sage nach der kauzige
Salvador Dalí sein malerisches Unwesen treibt. Er hat mit Luis Buñuel
Ein andalusischer Hund gedreht und das Selbstporträt Der Große
Masturbator gezeigt, nun wollen ihn alle kennenlernen und der Galerist
Goemans will mit ihm über eine große Ausstellung reden, im Herbst, in
Paris. Doch noch ist Sommer. Die Sonne brennt vom Himmel, der Wind
treibt die Wellen krachend an die Ufer, meterhoch fliegt die Gischt.
Irritiert schauen die Fischer im Ort auf die mondäne Reisegruppe aus
Paris und flicken weiter ihre Netze. Sie hören nichts und sehen nichts,
wunderbare Unwissenheit, wie dunkler Seetang im tiefen Meer.
Schon beim ersten gemeinsamen Essen am Abend bricht Dalí immer
wieder in hysterische Lachanfälle aus, unkontrolliert, laut, schrill, er steht
stolpernd auf, geht vor die Tür und kommt nach ein paar Minuten wieder,
als sei nichts gewesen. Er hat sich die Achseln rasiert und eine Geranie
ins Haar gesteckt. Die Surrealisten aus Paris und Dalís eventueller
künftiger Galerist, eigentlich durchaus den Absonderlichkeiten der
Spezies Mensch zugetan, konzentrieren sich lieber ganz auf das Zerlegen
der köstlichen Hummer und schauen einander verstohlen an. Ob der
junge Maler da am Kopfende eventuell nicht ganz dicht ist?
Allein Gala ist anderer Meinung. Auf der Stelle verfällt sie diesem
sonderbaren Mann mit dem braun gebrannten Oberkörper und dem
schwarzen Flaum über den Lippen. Sie erkennt ihn in seinem Wesen auf
den ersten Blick. Sie erkennt seine Obsessionen, sie spürt seine Angst vor
der Sexualität, die ihn wie ein Monstrum beherrscht. Und nimmt ihn
einfach an die Hand. Es gibt ein Foto von diesen Tagen, leicht unscharf,
Dalí und Gala liegen nebeneinander am steinigen Strand, ihre Hände auf
seiner Brust eng ineinander verschränkt, beide haben die Augen
geschlossen, ihr Gesicht trägt ein Lächeln voller Seligkeit. Der Mann, der
sie fotografiert, ist Paul Éluard, Galas Ehemann. Als er dieses Lächeln
sieht, drückt er erst ab und packt dann seine Koffer.
Auch Luis Buñuel spürt diese neue Energie. Bis gestern hat er mit
Dalí noch seinen neuen Film L’age d’or gedreht, doch plötzlich ist der
Maler nicht mehr erreichbar, sitzt still neben Gala und hält ergriffen ihre
Hand. Da dreht Buñuel irgendwann durch, wirft sich auf Gala, würgt sie,
bis Dalí ihn anfleht abzulassen. Am nächsten Tag verlässt auch Luis
Buñuel Cadaqués.
Es bleiben nur: Gala und Dalí. »Gala wurde das Salz meines Lebens,
das Härtebad meiner Persönlichkeit, mein Leuchtfeuer, meine
Doppelgängerin – ICH«, frohlockt Dalí. Nur einmal werden sie
miteinander schlafen, denn eigentlich hat er panische Angst vor dem
weiblichen Geschlecht, als Gala ihn kennenlernt, ist er mit 25 Jahren
noch Jungfrau. Nur dem Gesäß kann er sich gefahrlos zuwenden, hier ist
er der Betrachter und muss keinen Anblick fürchten, der das Monstrum
der Sexualität in ihm geweckt hätte. Gala versteht das alles und streicht
ihm verständnisvoll über seine schwarzen Haare. Seit er seinen Wahn in
ihren Händen weiß, muss er nicht mehr hysterisch und grundlos lachen.
Sie ziehen, nachdem die anderen samt Galas Mann nach Paris
zurückgefahren sind, schnell in eine winzige Hütte direkt am Wasser, in
der nächsten Bucht, fernab von allem, nur ein paar Fischer sind in der
Nähe, mit den hübschesten fährt sie manchmal raus aufs Meer, wenn ihre
sexuellen Bedürfnisse zu groß werden. Dalí ist immer sehr erleichtert,
wenn sie mit einem Fischer in See sticht, er will, dass es ihr gut geht, und
er setzt sich an seine Staffelei, um seine Phantasie zu betreten und um
ihren Hintern zu malen. Hoch steht die Sonne, die Zeit zerfließt. Wenn
Gala zurückkommt, gibt es fangfrischen Hummer. Und Dalí sagt: »Die
Schönheit wird essbar sein oder es wird keine Schönheit sein.« Guten
Appetit.
Das Bauhaus will einen neuen Menschen mit idealisiertem Körper und
Geist erschaffen. Nur an einem Punkt bleibt man sehr traditionell: Die
»Meister«, die tatsächlich so heißen, das sind Männer, also Wassily
Kandinsky, Marcel Breuer, Lyonel Feininger, Oskar Schlemmer und
Josef Albers. Und über ihnen thront als Patriarch Walter Gropius. Die
Frauen sind nur als Studentinnen vorgesehen – allein Gunta Stölzl macht
eine Ausnahme. Sieben Jahre, nachdem sie in Weimar als Schülerin
begonnen hat, darf sie sich in Dessau »Meisterin« nennen, in der
Webwerkstatt, aber im Grunde ist das keine echte Veränderung, denn die
männlichen Meister haben das Gefühl, dass das Weben zu den
klassischen weiblichen Haushaltstätigkeiten gehört.
Gunta Stölzl ist von der ersten Sekunde dabei, erst im Banne des
Farbenzauberers Johannes Itten, dann in dem Paul Klees, schließlich
Meisterschülerin Oskar Schlemmers. Auf dessen berühmtestem Gemälde,
der Bauhaustreppe, heute im New Yorker MoMA, läuft sie als abstrakte
Figur mit ihren Schülerinnen die Stufen hinauf. Doch dieser Weg ist
steinig. Alles, was sie von den großen Malern gelernt hat, fließt ein in
ihre Webarbeiten, abstrakte Kunstwerke von einer so weichen wie
fließenden Poesie. Aber auch das wäre für Gunta Stölzl ein Gedanke
gewesen, der noch zu sehr in Klischees über weibliche Ästhetik verhaftet
ist. Nein, was ihr gelingt, ist viel kühner: Unter ihrer Leitung wird die
Textilabteilung des Bauhauses in Dessau zu einem Entwicklungslabor für
professionelles Industriedesign, sie webt mit Cellophan und sie
entwickelt den Eisengarnstoff der Stahlrohrmöbel in ihrer Weberei. Sie
sieht ihre Werkstatt als einen Thinktank: »weben ist aufbauen.
Konstruieren von geordneten gebilden aus ungeordneten fäden.« Und
Gunta Stölzl findet, dass dies auch für die Liebe gilt. Sie konstruiert ein
geordnetes Gebilde aus ihren ungeordneten Lebensfäden und heiratet
1929 den Architekturstudenten Arieh Sharon aus Palästina – kurz vor der
Geburt der gemeinsamen Tochter Yael am 8. Oktober. Sie hat ihren
Bruder Erwin noch gefragt, ob er juristische Bedenken habe gegen die
palästinensische Staatsangehörigkeit, die sie sich durch die Heirat
erwerbe, aber er sagte, das sei doch kein Problem.
Doch plötzlich lernt Gunta Stölzl – als neue Mutter und neue
Palästinenserin – die Grenzen des fortschrittlichen Bauhauses kennen. Es
ist ein Ort der freien Liebe. Aber für Kinder ist eigentlich kein Platz. Als
sie mit wunderbarem Trotz versucht, ihre Führungsrolle in der Weberei
mit ihrer Mutterschaft in Einklang zu bringen, und ihr Baby im Bauhaus
stillt, wird irritiert getuschelt, von den Männern wie den Frauen. Muss
das sein? Das fordert sie zunächst nur heraus, weiter ihren Weg zu gehen.
Auch ihr Mann Arieh Sharon, ein Zionist der ersten Stunde, der von
seinem Kibbuz aufs Bauhaus geschickt worden ist, bestärkt sie in ihrem
Wunsch, auch die Rolle der berufstätigen Mutter am Bauhaus neu zu
prägen. Für Sharon jedoch werden die Zeiten selbst zusehends
ungemütlicher. Er hat die Bauleitung der großen Gewerkschaftsschule in
Bernau übernommen und erlebt dort, wie in Dessau, immer wieder
irritierte Nachfragen zu seiner Staatsangehörigkeit.
Alle glücklichen Paare ähneln einander. Aber alle unglücklichen sind auf
ganz eigene Weise unglücklich.
Ruth Landshoff rast durch die zwanziger Jahre wie in einem Rausch, mit
wechselnden Bekanntschaften, wechselnden Automobilen, wechselnden
Schoßhunden – aber mit gleichbleibendem Charme. Als Nichte des
großen Verlegers Samuel Fischer übt sie Krocket mit Thomas Mann, als
Schülerin spielt sie mit in Murnaus Nosferatu und als Erwachsene dann
also mit Charlie Chaplin und Arturo Toscanini, mit Oskar Kokoschka und
Greta Garbo, mit Josephine Baker und Mopsa Sternheim. Tja, und mit
Marlene Dietrich hat sie vor kurzem neue Bademoden vorgeführt,
weshalb sie an diesem schönen Sommertag des Jahres 1929 im Palazzo
Vendramine zu Venedig, mit dem kalten Martini in der Hand und dem
Canal Grande vor den Augen, zu Karl Vollmoeller, ihrem schillernden
Lebensabschnittsgefährten, sagt: »Nimm die Dietrich, sie hat Beine, an
denen möchte man immerzu mit den Fingern entlangfahren.«
Vollmoeller sitzt seit Tagen mit Carl Zuckmayer und Ruth in seinem
Palazzo und grübelt über dem Drehbuch und der Besetzungsliste für den
Blauen Engel. Es hat Jahre gedauert, bis er Heinrich Mann dazu gebracht
hat, die Filmrechte an seinem Roman Professor Unrat zu verkaufen. Und
nun braucht es eine Hauptdarstellerin, nein: die Hauptdarstellerin, den
Blauen Engel, die Lola Lola. »Die Dietrich?«, fragt Vollmoeller
entgeistert. Wie könnte er Josef von Sternberg, den Regisseur, und Emil
Jannings, den Hauptdarsteller, davon überzeugen, dass eine unbekannte
Varietétänzerin die Hauptrolle in diesem sündhaft teuren UFA-Film
spielen sollte? »Das kriegen wir schon hin«, sagt Ruth Landshoff und
lacht. Und sie kriegten es natürlich hin.
Sie raucht Kette, das stört ihn ein wenig, es sind bis zu drei Päckchen am
Tag. Aber ansonsten ist nichts auszusetzen an Nina Freifrau von
Lerchenfeld. »Ich möchte«, sagt Claus Schenk Graf von Stauffenberg im
Oktober 1929 auf einem fränkischen Adelsball und blickt der
neunzehnjährigen Freifrau tief in die Augen, »ich möchte, dass Sie die
Mutter meiner Kinder werden.« Sie atmet kurz durch. Sie ahnt, dass das
wohl die innigste Liebeserklärung ist, zu der er je in der Lage sein wird.
Es war eine behütete, unbeschwerte Kindheit auf dem Rücken der Pferde
und in den Zimmerfluchten der adligen Trutzburgen, inmitten der
saftigen Wiesen jenes grünen, verwunschenen Teils von Niedersachsen,
der sich bei Hildesheim hinein in die dunklen Wälder zieht. In den
Dorfteichen gibt es Krebse, in den Garagen Automobile, auf den
Terrassen Erdbeerbowle, und auf den Feldern steht das Korn. Der jungen,
wilden Baroness Lisa von Dobeneck, geboren im Januar 1912, liegen alle
zu Füßen, schon mit fünfzehn Jahren sah man sie auf dem Titel der
Eleganten Welt, mit siebzehn dann, im Sommer 1929, spielt sie mit dem
jungen Gottfried von Cramm Tennis auf dessen Plätzen – und spielt sich
mit ihrer Vorhand in sein Herz. Als er ihr, zwischen zwei Tennisturnieren,
brieflich seine Liebe schwört, da antwortet sie im Oktober 1929: »Über
deine Liebe freue ich mich, und es scheint mir beinah so, als ob ich sie
erwiderte.«
Als der Sängerin und Kabarettistin Trude Hesterberg klarwird, dass nicht
sie die Hauptrolle im Blauen Engel, der Verfilmung von Professor Unrat,
dem Roman ihres kurzfristigen Lebensgefährten Heinrich Mann
bekommen wird, sondern die verdammte Marlene Dietrich, da verlässt
sie ihn.
Es gibt manchmal diesen Moment, in dem ein Leben kippt. All die
Jahrzehnte danach läuft man weiter auf dieser schiefen Ebene, versucht
hochzuklettern und rutscht doch wieder ab. Alfred Döblins Leben kippte,
als sein Vater Max die Familie verließ und ihn mit vier Geschwistern und
der Mutter in tiefster Armut alleinließ. Vater und Geliebte flohen von
Bremerhaven aus nach Amerika. Alfred Döblin war zehn Jahre alt, noch
am Tag vor seinem Verschwinden ließ sich der Senior von ihm die
Schnürsenkel zubinden, weil er nicht so weit runterkam mit seinem
mächtigen Bauch. Und sein ganzes Leben wird Döblin versuchen, nicht
in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Immer wieder will er seine Frau Erna verlassen, die ihn mit ihrer
Eifersucht tyrannisiert, tagelang anschweigt, doch am Ende bleibt er doch
oder kehrt zurück, weil gerade eines der vier Kinder zehn Jahre alt
geworden ist – und er ihm ersparen will, was er selbst erlebt hat mit zehn
(die Söhne werden dann später einmal sagen, das Schlimmste für sie sei
gewesen, dass sich ihr Vater nie von ihrer Mutter getrennt habe). Der
Nervenarzt Dr. med. Alfred Döblin, der 1913, vor dem Kriege schon, mit
Ernst Ludwig Kirchner verkehrte, mit dem Sturm-Kreis um Herwarth
Walden und dem ganzen expressionistischen Berlin, hat sich nun in den
zwanziger Jahren im Osten niedergelassen, in der Frankfurter Allee 340.
Dort, im dunklen Parterre, hat er seine Praxis für Kassenpatienten,
Sprechzeiten nachmittags von vier bis sechs Uhr, und dort lebt er auch
mit seiner Familie, dort steht die alte Schreibmaschine, mit der seine Frau
Erna abends fein säuberlich abtippt, was ihr Gemahl tagsüber mit seiner
für alle anderen unleserlichen Handschrift für seinen Roman Berlin
Alexanderplatz aufgeschrieben hat. Fast jeden Tag spaziert er von der
Wohnung zu dem Platz, der ihn magisch anzieht, und vertieft sich in die
Straßen und Schicksale um ihn herum, will, wie er sagt, »die Peripherie
dieses mächtigen Wesens abtasten«. Und fast jeden Tag liest er dann in
der Konditorei Unter den Linden der zwanzig Jahre jüngeren Fotografin
Yolla Niclas vor, was er abgetastet hat. Charlotte Niclas heißt sie
eigentlich, jüdisch wie er, aber er hat sie sogleich umgetauft, als sie sich
auf einem Ball kennenlernten und er in der ersten Sekunde wusste, dass
er auf sie gewartet hat. Sie nahm den Namen so ergeben an, wie sie alles
annimmt, was von Döblin kommt. Schon am ersten Abend ist ihr, als
hätte ein Engel ihre Hand genommen. Sie fliegt mit ihm durch die
zwanziger Jahre, versteckt auf seinem Rücken. Wenn er ihr vorliest aus
Berlin Alexanderplatz, kommen ihr jedes Mal die Tränen. Dann steigt sie
wieder in die Trambahn 78 und fährt eine Stunde zurück in die
Schlüterstraße in Charlottenburg, wo sie noch bei ihren Eltern wohnt.
Bald wird sie sogar regelmäßiger Gast bei den Döblins zu Hause, sie
wird den Söhnen als »Tante Yolla« vorgestellt, aber von der Hausherrin
Erna argwöhnisch beäugt. Und sie fängt an, den Schriftsteller, der immer
berühmter wird, zu fotografieren, allein, schelmisch hinter seinen dicken
Brillengläsern hervorlugend oder im Spiel mit seinen Söhnen. Die
Berliner Zeitschriften drucken das begierig, und so prägt die Geliebte mit
ihren Fotografien in der Frankfurter Zeitung, im Querschnitt, in der
Dame, im Magazin und im Uhu Döblins Bild in der Öffentlichkeit.
Er ist Yolla Niclas natürlich genau in dem Alter begegnet, in welchem
einst sein Vater seine Geliebte kennengelernt hatte. Und immer wieder
versucht er, mit ihr den Ausbruch aus der Ehehölle zu wagen. Er rasiert
sich erst einmal seinen Spitzbart ab, wie sich das für eine normale
Midlife-Crisis gehört, er zieht sogar vorübergehend in eine Pension in
Zehlendorf. Doch seine Frau schreibt ihm dorthin, dass sie sich umbringt,
wenn er nicht zurückkommt. Wenn er Yolla Niclas trifft, die all das
Sanfte, Elegische, Romantische hat, was er so liebt, nimmt er als Erstes
seine Brille ab. Seine Frau, die all das Harte, Praktische, das
Pragmatische hat, was er so hasst, sagte einmal bei einer
Tischgesellschaft, sie habe ihren Mann noch nie ohne Brille gesehen, was
die Anwesenden dann doch etwas verwunderte. Yolla ist für Alfred
Döblin vom ersten Moment an das spirituelle Naturwesen, der Körper
und die Seele, nach der er sich gesehnt hat. Aber er schafft es dennoch
nicht, für sie alles stehen und liegen zu lassen. Nein, er bittet sie, ihn zu
zwingen, sich zwischen seiner Frau und ihr zu entscheiden. Er selbst
könne das leider nicht tun. Doch das überfordert die junge Yolla, sie will
den Angebeteten nicht erpressen, sie liebt ihn dafür zu sehr. »Wir gehen
den Weg, den uns der Himmel bestimmt hat, geliebte Seele.« Und er? Er
geht den Weg, den Erna ihm bestimmt hat. Er zieht aus dem
Pensionszimmer wieder aus, kauft seiner Ehefrau Blumen, um seine
Reue zu unterstreichen, und zieht wieder zu Hause ein. Eine Woche muss
er auf die Couch, dann darf er zurück ins Ehebett. Und dann tippt Erna
abends, wenn die Söhne schlafen, wieder all jene Seiten über Franz
Biberkopf, den Helden aus Berlin Alexanderplatz, ins Reine, die ihr
Mann morgens seiner Geliebten vorgelesen hat und die von den
Zerrissenheiten zwischen Bleiben und Gehen handeln, vom Verlassen
und vom Opfern und von der Ermattung, die einen befällt angesichts zu
viel ertrunkener Hoffnung.
Alfred Döblin nennt die Geliebte in den Briefen nun immer öfter
»Schwesterlein«, sie revanchiert sich mit »Brüderlein«, sie fliehen aus
der Realität in die erlaubte Trutzburg des Geschwisterlichen. Und Erna?
Erna fängt an, manisch Kakteen zu sammeln. Am Ende stehen alle
Fensterbretter voll damit, und wenn ihn Yolla während seiner
Sprechstunden besucht, kommt Erna ins Zimmer, um die Kakteen zu
gießen.
1929 erscheint Berlin Alexanderplatz. Alfred Döblin wird
weltberühmt. Und bleibt todunglücklich. Er schreibt wenig später ein
neues Stück und nennt es: Die Ehe. Er kennt sich darin erwiesenermaßen
so gut aus wie auf dem Alexanderplatz. Zur Premiere nach Leipzig fährt
er im Schnellzug gemeinsam mit seiner Ehefrau Erna und seiner
Geliebten Yolla. Als seine Frau kurz auf die Toilette muss, sagt er Yolla,
wie enttäuscht er sei, dass sie ihn nie aus seiner Ehe befreit habe.
Lisa Matthias weiß, dass es für Tucholsky neben der Ehefrau Mary in
Paris, von der er sich gar nicht mehr scheiden lassen will, auch ein paar
weitere Damen gibt in Berlin, Witwen oft oder alte Schulfreundinnen.
Nachdem Tucholsky nach der Rückkehr von Schloß Gripsholm im
Oktober des Jahres 1929 bei ihr eingezogen ist, versucht sie einfach, sich
so breitzumachen in seinem Leben, dass für andere in seinem Bett kein
Platz mehr bleibt. Tucholsky sagt ihr ständig, er habe »wichtige
Besprechungen«. Dummerweise lässt er eines Tages sein Notizbuch offen
liegen, und so weiß Lisa Matthias, dass die »wichtige Besprechung« am
6. November Musch hieß, am 7. November Hedi, am 8. November Grete,
am 10. November Emmy, am 11. November wieder Musch und am
12. November Charlottchen.
Als sie ihn und seine beachtliche Betrugsfrequenz entlarvt hat, bittet
er auf Knien um Verzeihung und schenkt ihr einhundert rote Rosen. Lisa
Matthias schreibt einer Freundin über Tucholsky, »den armen Irren,
dessen Sexualität anfängt, Erotomanie zu werden«. Sie merkt, dass es
keinen Sinn hat, sich eine Ehe mit diesem Mann zu erträumen. Seiner
Frau schreibt Tucholsky daraufhin, Matthias ist schlafen gegangen,
einfühlsam nach Paris und legt einen üppigen Scheck bei. Und dann setzt
er sich an die Schreibmaschine und dichtet sein »Ideal und Wirklichkeit«,
das am 19. November, also direkt nach den polyamoren Tagen und
tränenreicher Versöhnung, in der Weltbühne erscheint:
In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Einen Vers schreibt Gottfried Benn in diesen zwanziger Jahren, der ihn
und das Jahrzehnt überdauern wird: »Leben ist Brückenschlagen über
Ströme, die vergehn.« Vielleicht hat er diese Worte am 17. Dezember
1929 das erste Mal auf einen Bierdeckel geschrieben. An diesem Tag
nämlich heiratet Mopsa Sternheim den verwirrten Morphinisten Rudolph
von Ripper. Anwesend auf dem Standesamt sind die Eltern, also der in
seiner Syphilis um sich schlagende Carl Sternheim sowie Thea
Sternheim – und Gottfried Benn. Benn, in den Mopsa eigentlich immer
noch bis zum Wahnsinn verliebt ist und der ihr drei Jahre zuvor –
nachdem er sie verlassen hatte – nach ihrem Selbstmordversuch mit
Veronal den Magen ausgepumpt hat, dieser Benn ist nun tatsächlich ihr
Trauzeuge. Als Mopsa auf dem Standesamt, von Drogen vollkommen
benebelt, »Ja« sagt zu Rudolph von Ripper, zuckt er kurz. Thea
Sternheim, ihrer Mutter, stehen die Tränen in den Augen. Schon zehn
Tage später wird Mopsa, vollkommen derangiert, in eine Entzugsklinik
eingeliefert. Was die Menschen der zwanziger Jahre dringend gebraucht
hätten, war Liebe (oder wenigstens Therapeuten). Was sie bekamen,
waren Aufputschmittel.
Es gibt Ehen, so sagt Thomas Mann, deren Entstehung sich auch die
belletristisch geübteste Phantasie nicht vorstellen kann.
Das war so nicht vorgesehen. Walter Gropius, der ehemalige Direktor des
Bauhauses in Dessau, bestimmt eigentlich immer selbst das Geschehen –
und die Liebschaften. Nach seiner Ehe mit Alma Mahler, die er Oskar
Kokoschka ausgespannt hatte, ging es ihm mit seiner zweiten Frau Ise
ziemlich gut, sie half ihm, das Bauhaus zu organisieren und sein Leben.
Als sie in Köln Konrad Adenauer fast davon überzeugt hatte, das
Bauhaus ins Rheinland zu holen, da schrieb ihr Gropius mit geschwellter
Brust: »Meine süße Frau Bauhaus, du bist ein Tausendsassa und kannst
dich vor Stolz blähen. Wir sind alle hier voll tiefem Respekt vor deinen
Leistungen. Ich bin tief gerührt von dir, du mein guter Stern, und ich
liebe dich immer mehr.«
Doch dann, ein paar Jahre und ein paar Bauhausquerelen später,
begibt sich der gute Stern plötzlich auf eine andere Umlaufbahn. Dabei
haben sie es so gut in der neu gebauten Direktorenvilla in Dessau – es
gibt einen Toaster, ein Bügeleisen, einen Haartrockner, einen Staubsauger
und einen elektrischen Gänserupfer, das Programm der Moderne also.
Doch Walter Gropius hat genug. Er verlässt das Bauhaus. Man kann
das Midlife-Crisis nennen. Oder Selbstverwirklichung. Er will einfach
wieder Architekt sein. Und so beziehen Ise und Walter Gropius eine
große Wohnung in der Potsdamer Straße 121a in Berlin. Ise Gropius wird
porträtiert unter der Überschrift »Künstlerehen unserer Architekten« in
der Zeitschrift Sie und er, Ise sei, so heißt es, »der Typus der neuen
sportlichen Frau mit selbstbewusster Jugendlichkeit«. Graf Kessler nennt
sie eine »sehr hübsche junge Frau«. Im Juni 1930 fährt sie mit Gropius
nach Ascona in den Urlaub, im Schatten des Monte Verità. Sie mieten die
Casa Hauser, gemeinsam mit den alten Bauhaus-Gefährten Marcel
Breuer und Herbert Bayer, sie sitzen stundenlang auf der Terrasse in der
Sonne, sie spielen Boccia, Gropius im steifen Anzug und Bayer mit braun
gebranntem Oberkörper und weißer Leinenhose.
Als Gropius frühzeitig nach Berlin zurückmuss, beginnt im Juli die
Affäre von Frau Bauhaus und dem Bauhausmeister Herbert Bayer. Man
kann auch das Midlife-Crisis nennen. Oder Selbstverwirklichung. Ise
Gropius will einfach wieder Frau sein. Gropius schreibt ihr aus Berlin an
den Lago Maggiore, weil er spürt, dass seine Frau auf Distanz geht:
»Liebe mich, auch wenn ich jetzt so grau gefärbt und abgerissen bin«. Da
haben wir September. Sie antwortet nicht. Er schreibt, er wolle sich
künftig wieder viel mehr um sie kümmern, er habe sie vernachlässigt.
Doch Ise Gropius antwortet nicht. Er ruft an und schreibt erneut: »Was ist
los mit dir? Du benahmst dich so kalt und steif am Telefon? Warum ist
deine Stimmung so umnebelt?« Da haben wir schon Oktober. Ise genießt
den Liebesrausch in Ascona, verlängert den Mietvertrag für das Haus
immer wieder. Sie ahnt, auch ihr Geliebter wird bald von den Wolken des
Alltags eingeholt werden, manchmal wandern sie schon über seine Stirn,
schließlich ist auch er verheiratet. Ehrlicherweise, so sagt er ihr einmal,
falle es ihm schwer, dass er ausgerechnet die Frau seines Mentors und
väterlichen Freundes lieben müsse.
*
Als Leni Riefenstahl im Berlin der zwanziger Jahre als Tänzerin auftrat,
da schrieb Fred Hildebrandt im Berliner Tageblatt, dass ihr leider die
zentrale Fähigkeit einer Tänzerin fehle: »Gefühle auszudrücken.« Sie sei
nur eine »Attrappe, in deren Armen kein Blut fließt«. Nein, da fließt nur
Adrenalin. Und leider ziemlich viel Morphium, immer wieder bricht sie
zusammen und muss in Entzugskliniken. Sie sei, so sagt ihr Geliebter
und Verlobter, der Regisseur Harry R. Sokal, süchtig nach
»Erfolgsberauschtheit«. Und offenbar auch nach der Kraft der Fiktion –
bis heute ist unklar, welche Geschichten ihrer Memoiren wahr sind und
welche erfunden. Auf jeden Fall gab es viele Männer.
Ihre große Liebe hat sie verloren: Hans Schneeberger, er war ein
idealer Partner, er liebte die Kameratechnik, er liebte die Berge und er
liebte das Skilaufen. Doch als er sie wegen einer anderen verlässt, dreht
sie durch. Sie stößt in ihrem Zimmer einen minutenlangen Schrei aus, sie
läuft weinend durch ihre Wohnung und setzt sich mit dem Brieföffner
überall Stiche in ihren Körper. Sie muss ihre Liebe regelrecht abtöten.
Dann beginnt sie ein neues Leben. Es zieht sie vom Tanz in die
Traumfabrik des Films. Sokal macht sie mit Luis Trenker bekannt, der
wiederum mit dem Regisseur Arnold Fanck. Als Sokal merkt, dass
Riefenstahl, um an die lukrative Filmrolle in Der heilige Berg zu
kommen, sowohl ein Verhältnis mit Trenker als auch mit Fanck hat, löst
er die Verlobung. Später werden vor allem die Kameramänner ihre
Geliebten, Hans Ertl etwa, der S.O.S. Eisberg mit ihr dreht, und Walter
Riml, der schon Das blaue Licht als Kameramann begleitet hat. Doch
Riml warnt Ertl: »Lass dich von diesem Vamp nicht einwickeln, sonst
geht’s dir so wie mir. Ich möchte dich vor dieser Frau warnen, für die wir
nur Konfekt bedeuten, von dem man nascht, solange es Spaß macht.«
Sokal, der Regisseur, ehemalige Geliebte und in der Hindenburgstraße 97
in Wilmersdorf ihr neuer Nachbar, hat es einmal so ausgedrückt: »Ihre
Partner waren stets die Besten in ihrem Fach, ihre Nymphomanie hatte
elitäre Züge.« Einen dieser Männer verehrt Leni Riefenstahl rein
platonisch. Sie hat in ihrer Wohnung einen kleinen Altar für Adolf Hitler
errichtet, mit zahllosen Fotografien in Goldrahmen. Und als sie ihn das
erste Mal trifft, an einem versteckten Ort an der Nordsee, da bemüht sie
ein orgiastisches Bild aus der Natur: »Mir war, als ob sich die
Erdoberfläche vor mir ausbreitete, wie eine Halbkugel, die sich plötzlich
in der Mitte spaltet und aus der ein ungeheurer Wasserstrahl
herausgeschleudert wurde, so gewaltig, dass er den Himmel berührte und
die Erde erschütterte.«
Einsam geht er seiner Wege, läuft leicht gebückt über den Kies im
kleinen Park vom Haus Doorn. Vor den Buchsbaumhecken hat seine Frau
letztes Jahr eine Marmorbüste errichten lassen, sie hatte es nett gemeint,
schon klar. Aber er kann den Anblick kaum ertragen. Denn die Büste
zeigt ihn selbst – in Amt und Würden, stolz, die Schnurrbartspitzen
hochgezwirbelt, behängt mit Orden. Die Büste ist eine tägliche
Demütigung für ihn. Denn jetzt trägt Kaiser Wilhelm II. zivil, im hellen
Sommeranzug macht er seinen Nachmittagsspaziergang, von Ferne hört
er eine Sirene, ein Fuhrwerk, ein paar Autos, dann Stille. Ein Monarch im
Ruhestand. Gut, dass wenigstens der Kies etwas knirscht, denkt er, als er
weiter seine Bahnen zieht durch den Park in seinem niederländischen
Exil. Und so wie jeden Nachmittag fragt er sich auch heute, ob es richtig
war, sich damals, im trüben November 1918, einfach so aus dem Staub
zu machen. Er wurde ja gar nicht gestürzt. Und so fehlt bis heute nicht
nur seinen politischen Gegnern das Erlebnis eines aktiven Umsturzes,
einer Revolution. Sondern auch ihm selbst. Es fühlt sich immer an, als sei
er nur auf Reisen. Als warte in Berlin noch der Thron auf ihn. So hackt er
nun unermüdlich Holz mit seinem gesunden rechten Arm, den linken
verstaut er wie immer in einer Jackentasche. Das Holzhacken hilft ihm,
sich ein wenig männlich zu fühlen, er genießt es, wenn die Scheite, vom
Beil getroffen, auseinanderbersten. Zack. Und zack. Und zack.
Irgendwann ist dann endlich Zeit für den Tee.
Er hat sich einen Bart stehen lassen, gleich am ersten Tag, als er nach
Holland kam, Stoppeln erst, doch schon Weihnachten 1918 war es ein
ausgewachsener weißer Spitzbart. Den trägt er nun trotzig vor sich her,
die legendären Schnurrbartspitzen schlohweiß, auch sie hängen müde
herab an diesem niederländischen Spätsommertag. Er sieht nicht, wie im
ersten Stock im Haus Doorn, im Damenzimmer mit all den Möbeln aus
dem Berliner Stadtschloss, der umgenähte Vorhang aus dem Schloss
Bellevue leicht zur Seite geschoben wird und Hermine, seine zweite
Frau, zu ihm herüberblickt auf seinem einsamen Spaziergang. Sie,
gebürtig aus dem Hause Reuß, ältere Linie, träumt inmitten des Hausrats
aus den aufgegebenen preußischen Schlössern noch immer von seiner
triumphalen Rückkehr zu den Linientreuen nach Berlin. Sie hatte schon
ein großes Foto von ihm auf ihrem Klavier stehen, als sie noch
verheiratet war mit dem Prinzen von Schoenaich-Carolath. Und nach
dessen Tod wurden es immer mehr, die ganze Wohnung stellte sie damit
voll in glühender Verehrung. Dann, als auch die Kaiserin Auguste
Viktoria in Doorn gestorben war, schrieb sie ihrem Idol einen so
herzzerreißenden Beileidsbrief, dass er irgendwie nicht anders konnte, als
sich mit ihr, der dreißig Jahre Jüngeren, zu verloben. Hermine sorgte vom
ersten Tag an dafür, dass die Hausangestellten ihren Gatten wieder mit
»Ihre Majestät« anredeten – genau wie sie. Sie reist immer wieder nach
Deutschland, um Bündnisse zu schmieden, damit sie vielleicht doch noch
irgendwie Kaiserin werden kann, sie fragt Göring und sie fragt Papen und
sie fragt Hitler. Wilhelm lässt sie gewähren, genießt die Huldigung
durchaus, auch wenn sie ihn manchmal doch erschöpft, wenn sie zum
Beispiel mal wieder eine Gruppenreise aus Berlin organisiert und ihm
hundert fremde Touristen im Park bewundernd »Majestät« zurufen.
Wilhelm weiß, dass er nicht mehr Kaiser ist, er hackt stundenlang Holz,
geht spazieren, raucht Zigaretten, ein Lockdown in Unendlichkeit. Laut
des Abkommens mit der holländischen Regierung darf sich Wilhelm II.
nur in einem Radius von fünfzehn Kilometern rund um sein Haus Doorn
bewegen. Man versucht also die Monarchie ähnlich zu bekämpfen wie
später einmal die Corona-Pandemie.
Und gibt es auch bei den Malern einen Kriegsgewinnler? Nein. Der
vergeistigte Franz Marc ist ausgerechnet auf dem Rücken eines jener
Pferde erschossen worden, die er in seiner Malerei in eine höhere
Geistigkeit emporgehoben hat. Und auch August Macke, dieser
fröhlichste der deutschen Expressionisten, ist auf den unendlichen
Schlachtfeldern Flanderns einen grausamen Tod gestorben. Ernst Ludwig
Kirchner hat zwar überlebt, ist aber schwer traumatisiert in die Berge
gezogen, abhängig vom Morphium und jeden Tag voller Schrecken, dass
wieder eine Bombe neben ihm niedergeht. Allein Otto Dix schafft es,
sich die Grauen des Krieges in Bildern von der Seele zu malen, die an die
Qualität seiner Vorkriegskunst heranreichen. Mit den gleichen weit
aufgerissenen Augen, mit denen er die zerfetzten Leiber sah, schaut er
nun auf die Schlachtfelder des Sexus in Berlin, auf die Huren und die
Bonzen, die leeren Posen und die toten Körper, die noch weiterzutanzen
versuchen und auf deren Zügen sich doch schon das Lächeln der
Totenmasken zeigt wie auf seinem Triptychon Die Großstadt. Die
Unterschiede zwischen schön und hässlich sind auch in der Malerei nur
noch eine theoretische Frage. Als Professor an der Akademie in Dresden
lehrt er stattdessen die Praxis – den schonungslosen Blick auf das
Tatsächliche, eine permanente Vermischung von Gewalt, Tod und Eros.
Das ist seine neue Unsachlichkeit. »Man muss«, sagt er, »den Menschen
in diesem entfesselten Zustand des Krieges gesehen haben, um etwas
über den Menschen zu wissen.« Jeder Krieg, so sagt Dix, würde im
Grunde nur wegen einer Vulva geführt. Und genauso kalt schaut er auf
die Körper, als der Krieg vorüber ist, ein Kopfjäger mehr als ein
Porträtist. Nicht nur auf die Tänzerin Anita Berber in ihrem roten Kleid
richtet er seine großen, stierenden Augen, die Königin des Berliner
Nachtlebens, die er als todessüchtige Ikone der zwanziger Jahre gemalt
und dann 1928 gemeinsam mit seiner Ehefrau Martha tatsächlich zu
Grabe getragen hat. Sondern auch auf all die anderen Menschen, die er
porträtiert, als müsse er einen Steckbrief anfertigen. Und so unerbittlich
schaut er eben, besonders verstörend, auch auf seine eigenen Kinder – er
hat Ursus und Nelly als Neugeborene gemalt, wie noch nie Kinder
gemalt worden sind, voller Falten und Schrumpeln, zerknautscht vom
Geburtsvorgang, die Augen geweitet vor Schreck darüber, in die Welt
geworfen zu sein.
*
Während der Dreharbeiten für Der blaue Engel kann sich Josef von
Sternberg noch nicht entscheiden. Er dreht tagsüber mit Marlene Dietrich
und verfällt ihrer leichten Schwere, ihrer ordinären Noblesse, ihrem
sinnlichen Phlegma. Dann zeigt er der eiskalten und geheimnisvollen
Leni Riefenstahl die Filmaufnahmen, aber sie verzeiht ihm nicht, dass er
nicht sie, sondern die Dietrich zur »Lola Lola« gemacht hat. Dietrich
wiederum kann Riefenstahl nicht ausstehen, faucht wie eine Katze, wenn
sie in den UFA-Studios in Babelsberg am Set erscheint. Sternberg
verliebt sich von Drehtag zu Drehtag mehr in seine Hauptdarstellerin.
Ihre Verführungskünste gelten längst nicht mehr dem pompösen Emil
Jannings, der den Professor Unrat spielt. Sondern dem Regisseur hinter
der Kamera. Und Dietrich spürt die »göttliche und dämonische Macht«
dieses strengen Mannes, der so qualitätsversessen und phantasiebegabt
ist, dass sie beginnt, unter seinem Schutz jene Frau zu werden, die sie
sein will. Ja, sie wird später sagen, dass er sie mit seiner Kamera
überhaupt erst erschaffen habe, »es ist eine Mischung aus technischen
und psychologischen Kenntnissen und aus reiner Liebe«.
Sternberg besucht Dietrich in ihrer Berliner Wohnung in der
Kaiserallee. Dort kocht sie für den berühmten Regisseur Tee, unter den
Augen der neugierigen Tochter Maria und denen des Ehemannes. Sie
wissen nicht, dass Leni Riefenstahl von ihrer Dachterrasse aus in die
Fenster der hinteren Räume von Marlene Dietrichs Wohnung schauen
kann. Und wir wissen nicht, ob es stimmt, dass im Januar 1930, wie
Riefenstahl schreibt, es »noch nicht sicher war, ob Marlene oder ich
Sternberg nach Hollywood folgen würden«.
*
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Erika Mann verliebt sich in Therese Giehse. Und diese Liebe hat eine
besonders schöne Grundlage: das gemeinsame Lachen. Sie lernen sich
bei Karl Valentin und Liesl Karlstadt im Kabarett in München kennen,
sitzen glucksend nebeneinander und berauschen sich aneinander und am
gemeinsamen Humor. Doch anders als die Ehe mit Gründgens ist diese
Beziehung kein Witz. Nein, es ist nach Pamela Wedekind Erikas zweite
große Liebe – diesmal indes treffen sich die zwei Frauen nicht als
Selbsthilfegruppe, also nicht als leidende Töchter übergroßer Väter,
sondern als zwei junge, kantige Solitäre, die sich gegenseitig
bewundern – für ihr Anderssein. Auf der einen Seite Therese, in sich
gekehrt, ernst, die Worte aus der Stille herausmeißelnd, nur auf der
Bühne des Theaters aus sich herausgehend und noch immer bei Mutter
und Schwester wohnend. Und auf der anderen Seite Erika Mann: fidel,
beweglich, halb Europa mit ihrem Automobil bereisend, immer
putzmunter und schlagfertig, egal ob am heimischen Hofe Thomas
Manns I. oder in den Künstlerlokalen in Berlin, München, Paris und New
York. Aber genau dieses Ungleichgewicht der Kräfte erweist sich als sehr
stabilisierend, auch weil sie sich gemeinsam lustig machen können über
die Sperenzchen der jeweils anderen.
Josef von Sternberg verlässt für Marlene Dietrich seine Frau Riza. Ende
Januar 1930 ist Der blaue Engel abgedreht. Mitte Februar fährt Sternberg
allein mit dem Schiff zurück nach Hollywood. In seiner Kabine an Bord
der Bremen findet Sternberg einen Proviantkorb von Marlene Dietrich.
Zwei Tage nach Sternbergs Abreise melden die Berliner Zeitungen, dass
Marlene Dietrich ihm wohl bald nach Hollywood folgen wird.
Es waren keine goldenen Zeiten für die große Liebe. Es waren die Zeiten
für eine »Sachliche Romanze«, wie Erich Kästner sein Gedicht der
Epoche nannte, erst teilen sie das Bett miteinander, »dann kam ihnen die
Liebe abhanden, wie anderen ein Stock oder Hut«. Im Laufe des Winters
ist ihm die Liebe zu Margot Schönlank alias Pony Hütchen
abhandengekommen. Sie weint bitterlich, und er tröstet sie. So sei er
eben, da könne man nichts machen. Er zieht weiter zu einer neuen
Geliebten, »Moritz« nennt er sie in den Briefen, bis heute weiß man
nicht, wer sie war. Er reist mit ihr an den geliebten Lago Maggiore, aber,
gesteht er seiner Mutter: »Moritz wollte erst nicht mitfahren, weil sie
mich liebt und ich sie nicht liebe.« Dann kommt sie aber doch mit, und er
schreibt ans »liebe Muttchen« am 10. März 1930: »Man sollte sich eben
doch alles abhacken, was mit Mann zu tun hat. Sonst hört dieses
Schlamassel ja doch nicht auf.« Die Selbstkastration als Utopie im Brief
an die Mutter – was für ein Fest für jeden Freudianer. Aber natürlich lässt
Kästner das mit dem Abhacken bleiben. Und stürzt weiter die Frauen ins
Unglück, während er selbst immer kälter wird (und um ihn herum fröstelt
es erst recht). Er schreibt sein Gedicht »Ein Mann gibt Auskunft« und
bekennt verstörend ehrlich:
Ich riet dir manchmal, dich von mir zu trennen,
und danke dir, dass du bis heute bliebst.
Du kanntest mich und lerntest mich nicht kennen.
Ich hatte Angst vor dir, weil du mich liebst.
Heinrich Mann ist klar, dass seine Affäre mit Trude Hesterberg eher
etwas Verzweifeltes hat. Er will sich wohl irgendwie befreien aus der
zermürbenden Ehe mit seiner Frau Mimi. Die kämpft in den späten
zwanziger Jahren für diese Ehe – und auf Kuren in Marienbad und
Franzensbad gegen ihr Körpergewicht. Harry Graf Kessler sieht das mit
den Augen der Kunst viel wohlwollender: Mimi Mann sei »recht
appetitlich, ein etwas üppiger Renoir«. Aber die Affäre mit Trude
Hesterberg gibt der Ehe von Mimi und Heinrich Mann den Rest, sie wird
im Frühling 1930 gerichtlich geschieden. Wie so häufig ist da der
offizielle Scheidungsgrund, also Trude Hesterberg, ebenfalls bereits
überwunden. Heinrich Mann zieht nach Berlin, Mimi Mann bleibt mit
der Tochter Leonie in München und schreibt ihrem Ex-Mann, nachdem
die Rauchwolken des Scheidungskriegs verzogen sind: »Für mich bist du
der Einzige, um den es sich zu leiden lohnt.« Doch da tröstet sich der 59-
jährige Heinrich Mann bereits in Nizza mit Nelly Kröger, einer 32-
jährigen Animierdame aus der Bar Bajadere in der Berliner Kleiststraße,
mit der er im Frühjahr 1930 kurzerhand nach Südfrankreich gefahren ist
(er fährt seit 1913 eigentlich immer mit seinen jeweiligen Frauen im
Frühjahr nach Nizza, immer ins Hôtel de Nice, dasselbe Zimmer, ein
Wiederholungszwang).
Heinrich Mann hat seit jeher einen fast sentimentalen Hang zum
horizontalen Gewerbe, stets argwöhnisch kommentiert vom
sittenstrengen Bruder Thomas. Er hatte Nelly Kröger im
Trennungswirrwarr des Winters an einem Abend, als er besonders traurig
war und die Enden seines dunkelblonden Spitzbartes besonders müde
nach unten hingen, in der Bajadere kennengelernt. Und als sich die
beiden anderen Damen aus seinem Leben verabschiedet hatten, da hat er
ebendieses Verhältnis, wie er es nannte, »intensiviert«. In seinem Fall
heißt das: Er kauft ihr Dessous, er zeichnet sie nackt, das liebt er schon
immer. Aber irgendetwas ist diesmal anders. Nelly Kröger ist die erste
Lebedame, mit der er wirklich leben will.
Mit Nelly Kröger also sieht er sich am 23. März 1930 in einem Kino
an der Promenade des Anglais den Blauen Engel an. Eine Woche vor der
offiziellen Premiere, der UFA-Produzent Erich Pommer war extra zum
berühmten Autor gefahren, um ihm eine Spezialvorführung unter Palmen
zu kredenzen. Heinrich Mann genießt den Aufwand, der seinetwegen
betrieben wird. Heinrich Mann genießt auch die Brillanz des Films, denn
auch er hat jetzt seine anrüchige »Lola Lola« gefunden – aber eben eine,
die ihn nicht in den Wahnsinn treibt, sondern ihm die Hand hält und ihn
bewundert. Es tut ihm so gut.
Am Abend des 31. März 1930 feiert Der blaue Engel im Gloria-
Filmpalast in Berlin Premiere. Er zeigt den Triumph der Dekadenz über
die letzten Reste der männlichen Würde. Marlene Dietrich zerstört als
laszive Lola den redlichen Mann. Das Publikum tobt vor Begeisterung.
Es ist also auch ein Triumph der Dietrich über die letzten Reste des
Stummfilms. Die Zukunft beginnt und sie hat sie als Erste besungen.
Noch in derselben Nacht besteigt Marlene Dietrich kaum zweihundert
Meter weiter im Bahnhof Zoo den Nachtzug zur Küste. Sie wird sich in
Bremerhaven nach Amerika einschiffen, sie will nach Hollywood. Nur
ihr ausrangierter Geliebter Willi Forst bringt sie zur Bahn. Ihr redlicher
Mann ist beruflich in München. Und er hat ihre Tochter und deren
Kindermädchen mitgenommen. Zum Abschied ruft sie ihn noch einmal
an, aus dem Bahnhofsrestaurant, sie versteht ihn kaum, so laut quietschen
die einfahrenden Züge. Sie haucht noch »Adieu«, dann eilt sie zu ihrem
Zug. Willi Forst trägt ihre Koffer, sie trägt das Lächeln einer Frau, die
gewonnen hat. Am Bahnsteig erwartet sie ihre Berliner Haushälterin, die
mit auf die lange Reise geht. Als Marlene Dietrich zaghaft aus dem
Zugfenster winkt, hält sie noch die Rosen in der Hand, die sie gerade auf
der Bühne des Gloria-Palastes überreicht bekommen hat. Auf die
Passagierliste in Bremerhaven wird sie sich am nächsten Morgen so
eintragen: »Marie (Marlene) Siebert-Dietrich, verheiratet, Schauspielerin
aus Berlin«. Wenn sie in ihrer Kabine die Augen schließt und die Wellen
gegen den Bug schlagen, dann hört sie in ihrem Innern die tosende
Begeisterung der Menschen, die den Blauen Engel feiern. Im Traum
fliegt sie los – zu Josef von Sternberg.
Als Victor Klemperer den Blauen Engel im Kino sieht, ist er hingerissen.
»Dass der Inhalt ein melodramatischer Kitsch ist – claro. Aber Wirkung
hat er. Marlene Dietrich fast noch besser als Jannings. Diese
selbstverständliche Tönung, nicht gemein, nicht schlecht, nicht
sentimental – unbewusst menschlich und verkommen: ›Es is lange her,
dass man sich um mich jeprüjelt hat‹ – dieser eine Satz, ganz
unpathetisch und doch ein bisschen dankbar. Darüber könnte ich Seiten
schreiben.« Klemperer scheint zu ahnen, dass Dietrich mit diesem Satz
im Film etwas ausspricht, was für ihr gesamtes weiteres Leben gelten
wird: dass sich die Männer um sie prügeln. Für Klemperer selbst
hingegen ist der Gang ins Kino mit seiner Frau Eva seltene Ausflucht und
einziger Schutzraum. Von außen bedrohen sie die ersten antisemitischen
Agitationen, von innen Evas Depressionen. »Die Tage schleppen sich
hin, bisweilen ganz traurig, immer gedrückt. Ich habe Angst.« Nicht nur
dokumentiert Klemperer in seinen Tagebüchern auf einzigartige Weise
sein Leben als jüdischer Protestant, der als Romanist an der Dresdner
Universität deshalb immer stärker unter Druck gerät. Er erzählt darin
auch, Tag für Tag, Woche für Woche, von seiner großen Liebe zu Eva,
seiner Frau, und den Dämonen, die sie beschleichen. Und von seiner
Hilflosigkeit: »Das Schlimmste sind die kleinen Spaziergänge. Völlig
verdüstert, jedes Gespräch stockt oder nimmt eine Wendung ins
Trostlose. Ich komme nicht mehr an Eva heran. Und alles Tröstenwollen
wird von ihr nur mit Bitterkeit aufgenommen und logisch zerpflückt.«
*
Walter Benjamin treibt die Scheidung von seiner Frau Dora voran, um
seine Freundin Asja Lācis zu heiraten. Nie hat er, so gesteht er seinem
Freund Gershom Scholem, die verwandelnde Kraft der Liebe so gespürt
wie bei ihr, »so dass ich vieles in mir erstmals entdeckte«. Als die Ehe
mit Dora am 27. März 1930 nach einem quälenden Rosenkrieg
tatsächlich offiziell geschieden wird, muss Benjamin leider realisieren,
dass Asja Lācis bereits nach Moskau zurückgekehrt ist. Sie hat es wohl
nicht ganz so ernst gemeint. Und trennt sich von dem Mann, der nach der
Scheidung gar kein Vermögen mehr hat, weil alles, was seine Frau
eingebracht hatte, auch an sie zurückgeht. So muss also Walter Benjamin
erneut einen neuen Mann in sich entdecken: den Verlassenen.
Noch einmal fährt Lisa Matthias mit Kurt Tucholsky nach Schweden.
Doch diesmal ist aller Zauber verflogen, der sie vor einem Jahr in den
Norden trieb. Sie ist ernüchtert von seinen ständigen Affären, erschöpft
von seiner nicht enden wollenden Ehe mit Mary in Paris. Doch sie hat
versprochen, ihm noch einmal ein Haus einzurichten. Sie finden eines zur
Miete in Hindås, es ist blau, es ist schön, und neun Kiefern stehen traut
um es herum und scheinen es zu behüten. Sie kaufen Möbel in Göteborg,
sie richtet es ihm ein wenig ein, aber sie denkt nicht daran, es ihm so
heimelig zu machen, wie sie es könnte. Die Atmosphäre zwischen beiden
ist so kühl wie der schwedische März. Nur sehr gelegentliche
Aufheiterungen. Da legt ihr Kurt Tucholsky ein neues Gedicht von Erich
Kästner auf den neuen Tisch aus Göteborg, es heißt »Familiäre Stanzen«,
es ist ganz frisch:
Wenn sich Leute, die sich lieben, hassen,
tun sie das auf unerhörte Art.
Noch in allem, was sie unterlassen,
bleibt ihr Hass aufs sorglichste gewahrt.
…
Lisa Matthias aber lässt sich nicht noch einmal erweichen, die Liebe nach
solchen Stunden als angenehm zu empfinden. Sie fährt zurück – in den
Süden, in ihr geliebtes Lugano, und schreibt an ihre Freundin Käthe:
»Mit Tucho sieht die Sache dünn aus. Ich halte nicht durch.
Seemannsweib geht mit mir nicht.« Als sie gefahren ist, beginnt
Tucholsky, Schwedisch zu lernen mit Gertrude Meyer, der Tochter einer
Schwedin aus dem nächsten Dorf. Schon im Mai fährt er mit ihr und
nicht mit Lisa Matthias nach England in den Urlaub.
Sehr kompliziert ist für Ludwig Wittgenstein eigentlich nur die Liebe.
Alles andere versteht er. Aber Marguerite Respinger, eine junge,
lebensfrohe Studentin der Wiener Kunstakademie und Freundin seiner
Schwester Margarethe, bringt ihn um den Verstand. Er ist verliebt, will
sie küssen, aber hat panische Angst davor, sich durch seine aufkommende
Erregung innerlich zu verschmutzen. Er modelliert eine Büste von ihr
und schenkt sie seinen Eltern. Fast täglich schreibt er ihr. Nachdem er
zum Geburtstag Taschentücher von ihr bekommen hat, schreibt
Wittgenstein am 26. April 1930 in sein Tagebuch in Cambridge: »Von
allen Menschen, die jetzt leben, würde mich ihr Verlust am schwersten
treffen, das will ich nicht frivol sagen, denn ich liebe sie oder hoffe, dass
ich sie liebe.« Leider ist Wittgenstein besessen davon, ein Ideal der
Reinheit zu erhalten. Die Ehe, die er sich vorstellt, solle ohne Sexualität
sein, erklärt er ihr, auf jeden Fall ohne Kinder, denn sie sei ein Heiligtum.
Marguerite schaut ihn ratlos an. Und auch er selbst hadert mit seinem
großen Ideal. So notiert er am 2. Mai: »Wäre ich anständiger, so wäre
auch meine Liebe zu ihr anständiger.« Am 9. Mai schreibt er auf, dass er
ganz offenbar verliebt sei, wenngleich die Lage leider »hoffnungslos
sei«. Er ist hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach ihren
Küssen und der Angst vor der ihn bedrohenden geschlechtlichen
Sinnlichkeit, die dann jedes Mal in ihm aufsteigt, ohne dass er es
verhindern kann. Er überlegt, wie man eine Ehe leben könnte, die das
Gebot der Keuschheit befolgt. Aber das bleibt ein logisches Problem, das
selbst Wittgenstein nicht lösen kann.
Die Liebe wird, wie jede Utopie, immer größer, je länger man auf sie
wartet.
Und wie reagiert Paul Éluard, der gehörnte Ehemann Galas, auf ihre
Obsession mit Salvador Dalí? Durchaus ungewöhnlich. Er lässt seine
Gattin und ihren Gefährten sogar in der Wohnung in Montmartre leben,
die er eigentlich für sich und Gala eingerichtet und gekauft hat. Und
manchmal geht Gala auch noch mit Paul Éluard ins Bett, um nicht ganz
an der verqueren Sexualität Dalís zu verhungern. Éluard schreibt ihr nach
Cadaqués in ihr kleines Steinhaus am Wasser: »Liebe mich, wenn du
Lust darauf hast, nutze deine Freiheit aus.« Und als er nach und nach
merkt, dass er seine Angebetete tatsächlich an Dalí verloren hat, da
schreibt er ihr, dass er sich nachts, wenn er einsam sei, mit großer Lust
ihre Aktfotos anschaue. Er müsse ja nun wohl, so sagt er, das »Leben
eines Besiegten« führen.
*
Am 17. April heiratet Pamela Wedekind also Carl Sternheim. Der ist
guter Dinge, denn sein Schnurrbart ist wieder komplett nachgewachsen
und erstrahlt noch in dunkelbrauner Pracht, der Blick ist ein wenig irr,
aber er kann im richtigen Moment »ja« sagen. Die Trauung muss
unbedingt im Standesamt in Berlin-Moabit stattfinden, das war Pamelas
Wunsch, schließlich hatten genau hier im Jahre 1906 ihr geliebter Vater
Frank und ihre Mutter geheiratet. Nach der Trauung trifft man sich im
Restaurant des Hotels Eden – also dort, wo Billy Wilder als Eintänzer
aktiv war, auf der Dachterrasse Marlene Dietrich Golf spielt und an der
Bar Josephine Baker vor ihren Auftritten Kartoffelsalat isst. Es ist eine
kleine Runde, die sich zu dieser seltsamen Hochzeitsfeier eines geistig
verwirrten Dramatikers (was für ein passender Beruf!) und seiner jungen
Frau versammelt hat. Gottfried Benn hat unterdessen sein Amt als
behandelnder Arzt von Carl niedergelegt, weder er noch Pamela
Wedekind seien »noch ganz zurechnungsfähig. Man kann nichts anderes
tun, als die beiden ihrem Schicksal zu überlassen.« So in etwa denkt auch
Klaus Mann, Pamelas früherer Verlobter. Er kommt nicht zur Heirat –
und schickt stattdessen via Literarische Welt seine »Nicht gehaltene Rede
beim Hochzeitsessen einer Freundin«. Noch immer hat er nicht
verwunden, dass sie ihn verschmäht hat. Seine ungehaltene Rede ist ein
ganz besonderer Versuch, die Lage der Liebe um 1930 in Worte zu
fassen: »Dieses Heiraten ist ja wie eine Epidemie unter uns. Die Ehe ist
unser pathetischer Versuch, eine Einsamkeit zu überwinden, von der wir
wissen, dass sie endgültig ist. All diese Ehen haben weder mit dem Geld
noch mit dem Sexus zu tun. Ich muss aussprechen, dass es Liebesehen
sind. Liebe ist der Versuch des Menschen, seine unüberwindliche
Einsamkeit zu überwinden. Der Versuch, auf den du dich einlässt, ist
ernst und schön – einen besseren Glückwunsch finde ich nicht. Ich mag
dir nicht prophezeien, dass er gut ausgehen wird. Ich könnte auf deiner
nächsten Hochzeit keine anderen Worte finden als heute – sogar dann
nicht, wenn es unsere Hochzeit sein sollte.« Klaus Mann und Pamela
Wedekind werden nicht nur nie heiraten, nein, sie werden sich auch
niemals wiedersehen nach diesem Gruß.
Tilly Wedekind, die Brautmutter, hat während ihres Leidens an den
Heiratsplänen ihrer Tochter mit Gottfried Benn zu telefonieren begonnen,
weil sie wusste, dass er ihren künftigen Schwiegersohn ärztlich behandelt
hat. Und schon beim ersten Mal hat sie, als sie seine Stimme hört, das
Gefühl, sie würde »gestreichelt und hypnotisiert«. Wenige Tage nach der
Hochzeit soll das in die Tat umgesetzt werden. Wedekind und Benn,
beide geboren im warmen Frühling des Jahres 1886, treffen sich also das
erste Mal allein. Tilly Wedekind zieht ein schwarzes Nachmittagskleid
mit Mantel an – dass das Modell »Lustige Witwe« heißt, amüsiert sie
sehr. Um Punkt acht Uhr hört sie das Klingeln und das Rascheln des
Blumenpapiers, das Benn umständlich zusammenknüllt. Dann steht er in
der Tür, den Nelkenstrauß in der Hand. Die medizinische Betreuung des
Schwiegersohnes hat er niedergelegt. Nun will er sich um das körperliche
Befinden der Brautmutter kümmern.
Sie öffnet die Tür und sieht: »Ein fast weicher Mund und traurige
Augen. Er hat einen seltsamen Blick, so weit weg, so tief, so traurig.« Sie
lässt ihn ein, und die beiden setzen sich. Benn erzählt von Lili Breda,
seiner Freundin, die sich umgebracht hat – was für ein geschmackvolles
Entrée für den ersten Abend mit der Frau, die einen begehrt.
Abwehrzauber. Doch Tilly Wedekind kannte Lili Breda tatsächlich, und
zwar en detail – sie war es, die bei der Münchner Uraufführung des
Stückes Franziska ihres Gatten Frank Wedekind einst nackt aus einem
Brunnen gestiegen war. So also schließt sich nun der Kreis. Da ruft
Pamela an und fragt ihre Mutter, ob sie heute Abend bei ihr übernachten
dürfe, Carl sei etwas außer sich. »Gerne, mein Kind«, sagt Tilly, und
Gottfried Benn packt schnell seine Sachen und geht.
Aber Benn lädt Tilly Wedekind dann am 24. April 1930 ins Theater
und anschließend zu sich nach Hause ein, in die Praxiswohnung in der
Belle-Alliance-Straße. Und statt sich auszuziehen, zieht er sich an: Sie
habe, so sagt Benn, doch sicher nichts dagegen, wenn er den Arztkittel
überziehe, das sei er so gewöhnt und er fühle sich darin wohler. Darauf
Tilly Wedekind: »Ich dachte mir, so, nun wird er mich schlachten.« Er
hat seine pathologischen Erfahrungen ja genüsslich besungen in seinen
Gedichten der Morgue, und sie hat es mit wohligem Schauer gelesen,
damals, vor dem großen Krieg. Aber diesmal hat er Appetit auf
lebendiges Fleisch. Dr. med. Gottfried Benn fragt, in die Sicherheit des
Arztkittels gehüllt und während er einen Teller mit belegten Brötchen
und zwei Gläser Sekt hineinträgt, ob ihre Haare im Nacken rasiert seien –
dann fährt er sanft mit seiner Hand darüber.
Damit ist das Personal beisammen für Benns seltsamstes
Theaterstück. Der Regisseur Benn inszeniert eine robuste Ménage-à-
trois – denn parallel zu Tilly Wedekind pflegt er weiterhin eine
ausgiebige Beziehung zu Elinor Büller, der engsten Freundin seiner
ehemaligen Geliebten Lili Breda. Es beginnt ein neunjähriges
Doppelleben, ohne dass die beiden Frauen je voneinander erfahren. Sie
sind seine »himmlische« (Elinor) und seine »irdische Liebe« (Tilly), zwei
ehemalige Schauspielerinnen, fast gleich alt, immer korrekt gekleidet, die
Seele stets entflammbar durch neue zarte Verse von seiner Hand. Und
falls ihn einmal doch beide Frauen gleichzeitig besuchen wollen, dann
kann er immer der einen der beiden sagen, dass er als Dichter einfach
manchmal dringend seine Einsamkeit brauche, sonst versiege seine
schöpferische Kraft. Das würde sie doch sicherlich verstehen.
Henry Miller ist inzwischen in Paris angekommen aus New York, ohne
seine Frau June, die dort geblieben ist, er ist völlig verarmt, er versucht
tagsüber ein paar Francs zu verdienen, aber nachts muss er sich einen
Schlafplatz erschnorren und morgens einen Kaffee. Er hat beschlossen,
hier, genau an diesem Ort, ein berühmter Schriftsteller zu werden, er
hackt und hackt immer neue Buchstaben in seine Maschine, aber es wird
einfach kein Text daraus, der ihn befriedigt. Noch sitzt der Schmerz zu
tief, als dass sein Buch über den Schriftsteller, dessen Frau ihn mit einer
anderen Frau betrügt, wirklich Literatur werden könnte, noch ist es nur
Traumabewältigung. Er merkt, dass ihn alles erdrückt, die Stadt, die
Hitze, seine eigenen Erwartungen: »Montparnasse«, so schreibt er, »ist
ein trauriger Ort. Trotz der Geilheit und der Trunkenheit sind diese
Menschen in Wahrheit unglücklich.« Er treibt umher, bringt jeden Franc,
den er ergattern kann, direkt zu den Huren, hängt im Café du Dôme
herum, in der Rotonde, immer auf einen amerikanischen Bekannten
wartend, der ihm die Drinks bezahlen kann. Er nimmt jede Frau, jede
Flasche, jedes Bett, das er bekommt. Henry Miller ist vierzig Jahre alt
und eigentlich am Ende. Irgendwann hat er auch seinen Roman fertig, am
24. August 1931. Als seine Frau June, die aus New York angereist ist, das
Manuskript liest, ist sie entsetzt: »Du siehst die Dinge nur auf deine enge
männliche Art, du machst aus allem eine Frage des Sex. Und darum geht
es überhaupt nicht, es geht um etwas Seltenes und Schönes.«
Auch der Autor selbst erscheint June unschön nach seinen Monaten
der Verwahrlosung. Abgemagert, fast kahl, ohne jedes Feuer. Sie hätte
ihn gerne, so sagt sie, »spritziger, jünger, romantischer«.
Am 25. August 1931 beginnt Henry Miller daraufhin ein neues
spritziges, junges, romantisches Buch. Er spannt das erste Blatt Papier
ein, zieht an seiner Zigarette und tippt: »Wendekreis des Krebses. Von
Henry Miller«. Was das nun wieder sein soll, so fragt ihn June. Darauf
Henry Miller: »Das Buch über Paris: in der ersten Person, unzensiert,
formlos – zum Teufel mit allem!«
Unten der weiche Sand, oben die hohen Kronen der Kiefern, in der Nase
der reife Geruch der Blaubeeren und im Ohr die Wellen, die an den
Strand schlagen, wieder und wieder, wieder und wieder. Der warme Wind
kommt von Westen. Später einmal werden alle in dieser so großen wie
merkwürdigen Familie Mann sagen, dass sie glücklich waren in diesem
Sommer des Jahres 1930 ganz oben am nordöstlichsten Zipfel des
deutschen Reiches, in Nidden, an der Kurischen Nehrung, wo sich der
Schriftsteller mit dem Geld des frischen Nobelpreises ein Haus in den
hellen Sand gebaut hat. Es thront auf einer hohen Düne zwischen dem
preußischblauen Wasser des Haffs und dem klirrenden Grün der Ostsee,
darüber spannen sich ungeheure Himmel mit Wolkengebirgen, das Licht
tobt sich hier aus, an dieser fließenden Passage zwischen Festland und
Brandung, zwischen Zivilisation und Natur.
Abends geht die ganze Familie hinauf auf den höchsten Punkt der
Düne, um der Sonne beim Untergehen zuzuschauen. »Da kann man ja
eigentlich nur Hosianna rufen«, bemerkt dann Katia Mann, auch sie hat,
als ordentliches Mitglied der Familie Mann, gelernt, ihre Gefühle hinter
Ironie zu verstecken.
Und auch »Urlaub« wird in Anführungszeichen gesetzt. Thomas
Mann hat seiner Frau früh erklärt, dass er sich auf »beschäftigungslose
Erholung nicht verstehe«. Und das hat sie akzeptiert. Im Freien kann er
nicht arbeiten, sagt er, er brauche ein Dach über dem Kopf, »damit der
Gedanke nicht träumerisch evaporiert«. Ja, so redet Thomas Mann
wirklich. Selbst bei dreißig Grad im Schatten. Er sagt also zur Wahl
Niddens: Dort sollen künftig die »Sommerferien unserer
Schulpflichtigen« verbracht werden, als »Gegengewicht gleichsam zu
unserer süddeutschen Ansässigkeit«. Süddeutsche Ansässigkeit! Noch
nicht einmal der stürmische Wind kann Thomas Mann also die
Nominalkonstruktionen aus dem Kopf blasen.
Die Manns sind im vorigen Jahr zum ersten Mal hier oben im Urlaub
gewesen und haben dieses Grundstück gefunden auf der Anhöhe mit
Blick auf das Haff und unter den hohen Kiefern des Nordens. Ein Jahr
Bauzeit, dann stand es empfangsbereit da, jenes »Sommerhaus Thomas
Mann«, wie es auf den Plänen heißt. Nidden war natürlich nicht praktisch
bei süddeutscher Ansässigkeit, eintausend Kilometer und zwei
Tagesreisen entfernt, erst ewig mit dem Nachtzug nach Berlin, in der
nächsten Nacht dann weiter nach Königsberg, dann Umsteigen in die
Eisenbahn, schließlich mit dem Dampfer nach Nidden übers Haff. Ein
irrsinniger Trip mit all den Kindern und all den Koffern. Am 16. Juli
kommen sie an, sie sind direkt nach Ferienbeginn der beiden Jüngsten,
der elfjährigen Elisabeth und dem zwölfjährigen Michael, zum Bahnhof
gegangen. Das ganze Dorf steht am Anleger des Dampfers, um die
prominenten neuen Bewohner zu begrüßen. Thomas Mann im hellen
beigen Mantel über dem Dreiteiler findet das etwas anstrengend, Katia,
seine Frau, hingegen durchaus angemessen. Das Ehebett der Manns ist
außerhalb der Zeugungen der sechs Kinder eine verkehrsberuhigte Zone,
deshalb freut sie sich über aushäusige Aufmerksamkeiten umso mehr.
Und seien es winkende Niddener Fischersfrauen. Aber auch Katia Mann
zeigt kaum eine Regung, als sie an Land gehen. Alle waren sich in der
Familie Mann, ohne es je auszusprechen, darüber einig, dass der kleinste
Gefühlsausdruck stets der beste sei.
Als Erich Maria Remarque einst die blendend schöne Ilse Jutta Zambona
heiratete, musste er erst einmal nachrechnen. Ergebnis: Sie ist ein Viertel
deutsch, ein Viertel italienisch, ein Viertel exzentrisch und ein Viertel
melancholisch. Sie hat sich für ihn von einem Tabakfabrikanten scheiden
lassen, und nun beziehen die beiden eine gemeinsame Wohnung auf dem
Hohenzollerndamm in Berlin. Von Liebe spricht er nicht, als er seiner
Schwester von seiner Heirat berichtet. Sondern: »Ich will einen
Menschen glücklich zu machen versuchen – einen andern, da ich es
selbst nicht werden kann.« Wir Heutigen, psychologisch geschult,
würden spätestens hier wissen, dass das Ganze nichts werden kann. Das
Paar will keine Kinder, nur Hunde. Sie kaufen sich Billy, einen Irish
Setter. Der taugt allerdings weder als Wachhund noch um die Schäfchen
zusammenzuhalten, denn bald schon ziehen Erich Maria Remarque und
Jutta Zambona getrennt durch die Cafés und Nachtclubs der Stadt auf der
Suche nach neuen Eroberungen. Er mit Hut und elegantem Spazierstock,
sie in Kostüm und hochhackigen Schuhen, der Kleidung einer Sphinx.
Jutta beginnt eine Affäre mit dem Drehbuchautor Franz Schulz, der
gerade an Die Drei von der Tankstelle schreibt. Diese Ménage-à-trois ist
allerdings wesentlich erfolgreicher als die zwischen Jutta Zambona,
Remarque und Franz Schulz. Durchs geöffnete Schlafzimmerfenster
überfällt Remarque Jutta und Franz einmal nachts in dessen Wohnung
und verprügelt den Nebenbuhler so fürchterlich, dass der eine Woche mit
blauem Auge und ausgekugelter Schulter zur UFA fahren muss – Billy
Wilder hat es uns detailgenau überliefert.
Aber Remarque selbst beginnt daraufhin, gedemütigt durch Juttas
Amouren und nach dem unbeschreiblichen Erfolg von Im Westen nichts
Neues eher öffentlichkeitsscheu geworden, eine Affäre mit seiner Agentin
und Managerin Brigitte Neuner. Die regelt den Zugang der Öffentlichkeit
zu ihrem Mandanten – und ihren eigenen zu seinem Schlafgemach. Sie
ist selbst in den letzten Zügen einer Ehe, und dank dieses Gleichgewichts
der Kräfte funktioniert das zwischen den beiden als gelegentliche
Liebschaft hervorragend, also kreislaufbelebend, magenschonend und
diskret. Am 4. Januar 1930 dann wird die Ehe zwischen Erich Maria
Remarque und Jutta Zambona im gegenseitigen Einverständnis wieder
geschieden. Aber eigentlich geht es danach recht fröhlich weiter. Nach
der offiziellen Scheidung fahren die beiden erst mal zusammen nach
Davos zum Skifahren. Remarque reist anschließend allein weiter durch
Europa, auf der Flucht vor dem Ruhm und vor sich selbst. Immer weiter
an seinem Manuskript schreibend, das ja passenderweise den Titel Der
Weg zurück tragen soll. Bald meldet er aus dem Seebad Heringsdorf an
seine Agentin Brigitte, dass achtzig Seiten des neuen Buches fertig seien
und: »Du fehlst mir – komisch, was? Ziemlich sehr sogar.« So unvertraut
ist er mit seinen Gefühlen, so misstraut er der Sehnsucht, dass er sie nur
formulieren kann, wenn er von der Komik erzählt, die sie in ihm
hervorruft. Brigitte Neuner findet das schon bald weniger komisch. Denn
sie wird abgelöst als erste Kurtisane am Hofe Erich Maria Remarques. Er
hat nach der Rückkehr von seiner Reise im Salon von Betty Stern eine
neue Herzensdame kennengelernt, Ruth Albu. Und die nunmehr
geschiedene Gattin Jutta will von Remarque auch immer noch nicht
lassen. Sie hofft: Es gibt immer einen Weg zurück. Ja, seit sie von Erich
Maria Remarque geschieden ist, beginnt Jutta Zambona eigentlich erst so
richtig, ihn zu lieben.
Das schöne Grünheide in der Mark Brandenburg war, schon lange bevor
sich hier Tesla niederließ, ein bevorzugter Ort der abgasfreien
Fortbewegung. Gerhart Hauptmann hat hier seinen Bahnwärter Thiel
angesiedelt. Ernst Rowohlt ist mit dem Rad um den See gefahren, wenn
es ihm mit seinen Autoren wieder zu bunt wurde. Und der große
Komponist Kurt Weill und die große Sängerin und Schauspielerin Lotte
Lenya haben sich hier auf einem kleinen Ruderboot kennengelernt.
Lenya ist nach reichlich verworrener Jugend in Wien vor den
Alkoholattacken und Missbräuchen ihres Vaters über Zürich nach Berlin
geflohen und hat Unterschlupf beim Dramatiker Georg Kaiser und seiner
Familie gefunden. Der bittet sie nun eines schönen Tages, den
Komponisten Kurt Weill vom Bahnhof abzuholen – und weil die Sonne
so knallig scheint und sie darauf hofft, dass er zurückrudern würde,
nimmt sie das Boot, um über den Peetzsee zur winzigen Station
Fangschleuse zu fahren. Sie erkennt ihn sofort – er sieht wie ein
Professor aus, Nickelbrille, leicht zerzaustes, dünnes Haar, Bauchansatz,
sehr freundlich und etwas orientierungslos. Die patente Lotte Lenya
packt ihn ins Ruderboot – und merkt schnell, dass sie selbst rudern muss,
falls sie vor Einbruch der Dämmerung am anderen Ende sein wollen.
Denn Kurt Weill hört einfach nicht auf zu reden, von seinen
Kompositionen, der Schönheit der Natur, dem Reiz der Stille. Lotte
Lenya schaut ihn die ganze Zeit an – und als sie am anderen Ufer
ankommen, ist es um beide geschehen. Es ist eigentlich schon am
Bahnsteig klar gewesen, bei diesem allerersten Blick, der die eine
Hundertstelsekunde zu lange in der Luft hängt – und die Augen verbindet
wie ein kurzer, glühender Strahl. Dass man sich in sie verlieben muss, ist
kein Wunder – dieses herrliche Gebiss mit der vorwitzigen Zahnlücke,
diese pure Sinnlichkeit und vor allem: diese unerhörte Stimme, eine
Oktave unter der Kehlkopfentzündung, die den Komponisten Kurt Weill
sofort dahinschmelzen lässt. »Wenn ich mich nach dir sehne«, so schreibt
er ihr schon bald, »so denke ich am meisten an den Klang deiner Stimme,
den ich wie eine Naturkraft liebe.« Er fängt sofort an, Lieder für Lotte
Lenya zu komponieren und wenig später ziehen sie in Berlin zusammen,
heiraten, triumphieren dann gemeinsam in der Dreigroschenoper.
Spätestens mit deren Verfilmung im Jahre 1930 wird auch Lotte Lenya
ein umjubelter Star – bei der Uraufführung im Theater hat man noch
ihren Namen auf dem Ankündigungsplakat vergessen, sehr zum Ärger
des Gatten. Doch schon bald wird die Dreigroschenoper unauflöslich
verbunden mit ihr, Lotte Lenya, der »Seeräuber-Jenny«. Abends auf der
Bühne singt sie ihre verruchten Lieder, danach kuschelt sie sich eng an
ihren Komponisten in der neuen gemeinsamen Wohnung in der
Bayernallee und schnurrt wie ein Kätzchen, das endlich seinen Platz am
Ofen gefunden hat. Aber bald zieht sie auch schon wieder los, lässt sich
durch die Nächte treiben, früh merkt Weill, dass er sie laufen lassen
muss, damit sie wieder zu ihm zurückkommen kann.
Benn geht schweren Schrittes durch die Straßen. Obwohl für ihn die
größten Katastrophen erst bevorstehen, läuft er schon jetzt, als trage er
sie auf seinen Schultern, »trauerüberladen, untergangssicher«, so nennt er
es selbst. Benn sagt von Rilke, den er den »unerreichbaren deutschen
Meister« nennt, er habe den Vers geschrieben, den seine Generation nie
vergessen wird: »Wer spricht von Siegen – Überstehn ist alles.«
Charlotte Wolff schwamm früh in der Liebe. Der kleine Fluss vor den
Mauern des Städtchens Riesenburg mit dem poetischen Namen war kalt,
die Badeanzüge unbequem, doch wann immer die Sonne schien in den
kurzen Sommern hier am Rande des großen Reiches, stieg sie hinein mit
ihren Freundinnen. Wenn in ihrer Kindzeit am Anfang des Jahrhunderts
der Kaiser vorbeikam, um in der Nähe beim Grafen Finck von
Finckenstein zu jagen, dann fuhr die ganze Familie im Landauer hinüber
durch die ewigen Wälder, sog ihren modrigen Geruch am nebligen
Morgen ein, eingehüllt in warme Decken, um dann einen kurzen,
kostbaren Blick zu werfen auf Wilhelm II. in vollem Ornat. Er hob die
Hand und nahm die Neugier und die Rufe seiner Untertanen durch das
Gitter am Jagdschloss huldvoll entgegen. Sein Schnurrbart war damals
noch schwarz. In Danzig dann, mit dreizehn, verliebte Charlotte sich in
Ida, eine geheimnisvolle sechzehnjährige russische Jüdin, sie fuhr mit
deren Familie nach Zoppot, nachts, als die Eltern schliefen, liebten sie
sich das erste Mal, die Füße noch voller Sand, durchs geöffnete Fenster
hörten sie das Rauschen des Meers. Beide hatten noch nie von
Homosexualität gehört, sie hatten keine Vorbilder, sie fingen einfach an.
Und die Eltern sagten nichts, lächelten morgens beim Kaffee, vielleicht
aus Weisheit, vielleicht aus Naivität. Dann zeigte ihr Ida eines Tages ein
Foto ihrer besten Freundin aus Odessa, Lisa, die jetzt in Berlin lebe, und
Charlotte verliebte sich in das Foto, weil sie glaubte, Lisa sei die
leibhaftige Verkörperung von Dostojewskis Nastassia Filippowna. Jeden
Nachmittag, nach den Hausaufgaben, träumte sie sich aus ihrem
Danziger Mädchenzimmer hinein in das Herz der unbekannten Lisa in
Berlin. Irgendwann besuchte sie sie tatsächlich, mitten im tobenden
Ersten Weltkrieg, eine elend lange Zugfahrt, unter dem Vorwand eines
Arztbesuches. In einer Pension in Charlottenburg verliebten sie sich
ineinander, die Gedanken hatten eine Wirklichkeit erschaffen. Ein paar
Jahre später dann, Charlotte war längst Studentin in Berlin, nach ihren
Jahren bei Heidegger in Freiburg, besuchte wiederum die geheimnisvolle
Lisa, längst in der Weite Russlands unglücklich verheiratet, Charlotte in
Charlottenburg. Die Rollen haben sich gewandelt, die Liebe aber, die ist
geblieben. Charlotte hält Lisas Hand. Ein wenig Glück. Viele Tränen.
Dostojewski.
Doch: Es gibt ein Leben nach Dostojewski. Und eines nach Lisa.
Nach ihrem Medizinstudium wird Charlotte Wolff Ärztin bei der
Allgemeinen Krankenkasse und kümmert sich um Frauen in den armen
Vierteln des Berliner Nordens, also Schwangerschaftsbetreuung, Fragen
der Verhütung, bald schon: vor allem seelische Betreuung. Sie lebt mit
Katherine zusammen, einer großen, schönen blonden Physiotherapeutin,
in einer behaglichen bürgerlichen Wohnung in einem Neubau am
Südwestkorso in Wilmersdorf. Nachmittags, nach Dienstschluss, schreibt
Charlotte Wolff dort Gedichte voll subversiver Tiefe, die noch oft von
ihrer Sehnsucht nach der mythischen Lisa handeln, Katherine steht im
Nebenzimmer an der Staffelei und malt, wonach sich ihre Seele sehnt.
Und abends, abends gehen sie dann gemeinsam aus. »Mich erregte
Berlins erotisches Klima«, so schreibt Charlotte Wolff, »es gab mir das
Gefühl, mit jeder Faser meines Körpers zu leben.« Doch gerade die
Sexualisierung des gesamten Lebens im Berlin um 1930 findet Charlotte
Wolff eher verstörend. Sie liebt die Lesbenbars und sie liebt die Frauen,
aber sie will der Körperlichkeit den »angemessenen Stellenwert
innerhalb der Skala sinnlicher Gefühle« zurückgeben. Wenn man an die
Gedichte von Bertolt Brecht oder Georg Trakl oder Alfred Lichtenstein
denke, dann sehe man, »dass Sex an sich für Vorstellungskraft und
Emotionen ein Todesurteil darstellt, während Erotik sie immer wieder
neu entstehen lässt«. Ja, so sagt sie, es gehe darum, das Gehirn zu
überschwemmen mit erotischen Bildern, das würde die Liebe anregen,
das Verlangen und die Sehnsucht, die auch die wahren Substanzen der
Poesie sind.
*
Noch ein Wort zu Charlotte Wolff, dieser jungen Ärztin und alten und
weisen Seele. Sie hat etwas sehr Zartes und Wahres gesagt über die
Liebe – und darüber, was mit Menschen geschieht, denen sie versagt
bleibt. »Die Enttäuschung«, so schreibt sie, »bewirkt eine Verletzbarkeit,
die sich auswirkt wie die Nacht auf bestimmte Pflanzen: Sie schließen
ihre Blüten.«
Im Dezember 1930 besucht Lisa Matthias ein letztes Mal Kurt Tucholsky
in seinem schwedischen Haus in Hindås. Er hat die Zeit in Schweden
genutzt, um den rauschhaften ersten Sommer mit seinem »Lottchen« zu
Literatur zu machen. Am Anfang hat Tucholsky einen scherzhaften
Briefwechsel mit seinem Verleger Ernst Rowohlt eingebaut – der
Verleger regt bei Tucholsky wieder eine »kleine sommerliche
Liebesgeschichte« an wie Rheinsberg, doch der Autor antwortet ihm: »In
der heutigen Zeit Liebe? Lieben Sie? Wer liebt denn heute noch?«
Als Lisa Matthias das liest auf dem roten Sofa in dem blauen Haus in
Hindås, in jenem Schweden, wo sie ein Jahr zuvor noch geglaubt hat,
ihre große Liebe gefunden zu haben, da muss sie schwer schlucken.
Matthias ist ohnehin in keiner guten Stimmung. Sie hat gerade ihre
Verliebtheit in Peter Suhrkamp in Berlin begraben, der eine andere
geheiratet hat. Und sie hat überall in Tucholskys Haus Haarnadeln von
Gertrude Meyer, seiner Sprachlehrerin gefunden. Es fällt ihr also schwer,
sich auf diesen Roman über sich selbst zu konzentrieren. Doch was sie zu
lesen bekommt, entsetzt sie: »Das also war das Buch unserer Liebe – eine
Eiseskälte wehte mir entgegen. Hier war kein Quäntchen wirkliches
Gefühl, keine Spur von Zärtlichkeit, keine Liebe. Es war mir, als ob ich
in einen Abgrund stürzte.« Sie reist zwei Tage später ab. Auch ihre Liebe
hat also die Literarisierung nicht überlebt. »In der heutigen Zeit Liebe?
Wer liebt denn heute noch?« – immer und immer wieder gehen ihr diese
Worte Tucholskys aus dem Buch durch den Kopf auf der unendlich
langen Autofahrt von Hindås heim nach Berlin, vorbei an Birken, an
unendlichen Feldern, vorbei an Seen, an roten kleinen Häusern, vorbei
am Meer, an Tannen, Lisa Matthias fährt und fährt, setzt dann über mit
dem Schiff nach Travemünde, fährt weiter und weiter, durch die sanften
Hügel Mecklenburgs zurück nach Berlin, leise weinend.
»Nackt will ich die Dinge sehen, klar«, sagt Otto Dix. Und sehr häufig
sieht er tagsüber in seinem Dresdner Atelier sein Modell Käthe König
nackt und beginnt eine Affäre mit ihr. Zu Hause in der wohlsituierten
Wohnung in der Bayreuther Straße 32 in der Dresdner Südvorstadt bei
seiner herben Ehefrau Martha gibt es Feinkost. In ihrem Elternhaus
wurde Chopin gespielt. Doch Dix, der Proletariersohn mit den Händen
eines Metzgers, liebt das Derbe genauso sehr. Er lässt sich von Martha
nicht zum Gentleman umbauen, auch als ordentlicher Professor nicht.
Und so beginnt er früh zwischen den beiden Sphären zu pendeln,
zwischen dem heimischen, sexuell wohltemperierten Familienglück und
der heißen Leidenschaft mit Käthe und ihrem breiten Sächsisch im
Atelier. Fortsetzung folgt.
*
Elisabeth von Hennings trennt sich im Jahre 1931 endgültig von Bogislav
von Schleicher, lässt sich am 4. Mai 1931 von ihm scheiden, um am
28. Juli 1931 seinen Vetter zu heiraten: Kurt von Schleicher. Diese
Scheidung soll später eine fatale Folge haben. Lange traut Paul von
Hindenburg den Ratschlägen Schleichers, der ihn täglich davor warnt,
der NSDAP die Tür zur Macht zu öffnen. Doch dann brechen die Nazis
in eine Anwaltskanzlei in Charlottenburg ein, entwenden alle Dokumente
über die Scheidung von Schleichers Frau und spielen die pikanten Details
Hindenburg zu. Der ist von der Heiligkeit der Ehe überzeugt – und die
Zweifel an der Redlichkeit Elisabeth von Schleichers lassen auch ihren
neuen Mann in einem ungünstigeren Licht erscheinen.
Nach der Eröffnung des Pan-Palais bricht Magnus Hirschfeld, Leiter des
Berliner Instituts für Sexualwissenschaft, auf zu seiner Vortragsreise um
die Welt, er will die Menschen aufklären über Homosexualität und
»sexuelle Zwischenstufen«, wie er es nennt. Er spricht und forscht in
Russland, in Amerika und in Asien. In Shanghai lernt er im Jahre 1931
den 23-jährigen Medizinstudenten Li Shiu Tong kennen – und verliebt
sich in den blendend aussehenden Chinesen mit ausgezeichneten
Manieren. Li Shiu Tong wird ab diesem Moment keinen Tag mehr von
Hirschfelds Seite weichen. Hirschfeld selbst, schon seit den zwanziger
Jahren ein Hassobjekt der Nationalsozialisten, wird von dieser
Vortragsreise nie mehr nach Deutschland zurückkehren.
Erich Maria Remarque liebt 1931 vor allem Ruth Albu, eine
Schauspielerin, bildschön, belesen, neunzehn Jahre jung und gerade noch
die Ehefrau von Arthur Schnitzlers Sohn. Doch sie läuft mit fliegenden
Fahnen zu Remarque über, er »war die Liebe meines Lebens«, wird sie
später sagen, »ich glaubte, nie wieder jemand anderen lieben zu können.«
Für Remarque hat diese Liebe sehr weitreichende Folgen – sie führt ihn
zur Kunst. Und sie führt ihn nach Ascona. Also zu seinen beiden
nächsten großen Leidenschaften. Ruth Albu macht ihn mit dem
Kunsthändler Walter Feilchenfeldt bekannt, über den er in kürzester Zeit
eine bedeutende Sammlung französischer Kunst kauft: Gemälde von
Degas, Cézanne, Toulouse-Lautrec und Renoir, Kunstwerke von den
größten Künstlern des Erbfeindes, finanziert ausgerechnet mit den
Erlösen des Romans, der die verheerenden Folgen des Krieges gegen die
Franzosen beschreibt. Für Ruth Albu ist es zunächst nicht leicht gewesen,
an Remarque heranzukommen, denn der gigantische Erfolg des Buches
hat ihn zu einem scheuen Eremiten gemacht. Er ist nach der Scheidung
von Jutta Zambona 1930 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und
hat eine Suite im Hotel Majestic bezogen, hüllt sich aber, wie Albu
schreibt, »in seine Einsamkeit wie in seine eleganten Kaschmirpullover«.
Und leider hat er immer mehr getrunken, auch wenn er in seine
Heimatstadt Osnabrück zum Schreiben fuhr, nur seinen Hund Billy an
der Seite. Doch Ruth Albu gelingt es, Remarque aus seiner Depression
und seinem Snobismus zu befreien. Durch ihre Unbekümmertheit. Und
durch eine Reise ins Tessin im späten, warmen, leuchtenden August des
Jahres 1931. Durch das Verbot von Im Westen nichts Neues und die
Randale der SA in den Filmtheatern aufgeschreckt, sucht Remarque nach
einer Möglichkeit, sich auf elegante Weise aus Deutschland
zurückzuziehen. In Porto Ronco, nur wenige Kilometer entfernt von
Ascona am Lago Maggiore im Tessin, also im südlichsten Zipfel der
Schweiz, finden Remarque und Albu auf Anhieb die Traumvilla Casa
Monte Tabor. Sie sind mit dem Lancia an einem strahlenden Sommertag
von der großen Autostraße, die nach Italien führt, hinunter zum See
gefahren. Und dann haben sie zunächst den Monte Verità gesehen, diesen
legendären Hügel des freien Tanzes und des freien Denkens, und dann
dieses eine Haus, dessen Fenster verriegelt waren, verwunschen, direkt
am See. Sie fragen an der Piazza, fragen den Barbier und dann wissen
sie, wer es verkauft. Sie fahren hin – und am selben Abend schon geben
sich Remarque und der Schweizer Makler die Hand. Himmlische Regie.
Die Villa hat zuvor dem Maler Arnold Böcklin gehört – ihn hat der Blick
von hier, hinunter zu den zwei Inseln, den Isole di Brissago, zu seinem
legendären Gemälde Die Toteninsel inspiriert. Und genau hier also will
Erich Maria Remarque für 80000 Franken brutto ab sofort das Leben
genießen. Er bittet seine beiden Frauen, seine geschiedene Ex-Frau Jutta
Zambona und seine neue Geliebte Ruth Albu, das leere Haus schnell
bezugsfähig zu machen, und sie kaufen Wäsche und Möbel, während
Remarque nach Berlin fährt und zur Bank geht. Im Herbst 1931 kann
man noch relativ problemlos sein gesamtes Vermögen von einem
deutschen auf ein Schweizer Bankkonto transferieren – ihm hilft dabei
die Dritte im Bunde, seine Managerin und ehemalige Geliebte Brigitte
Neuner. Erfreulich zu sehen, dass offenbar alle Frauen auf diesen Mann
ziemlich lange gut zu sprechen waren.
Im Jahre 1931 erscheint die Fortsetzung von Im Westen nichts Neues von
Erich Maria Remarque. Er erzählt von den Bitternissen der Heimkehr
nach dem Krieg – alles schien unzerstört in der deutschen Heimat, und
doch war alles anders geworden. Remarque behauptet, dass nur die
Frauen die psychische Gesundheit der Männer hätten wiederherstellen
können – das aber nicht wollten. Weil sie spürten, dass die Geschichte
noch andere Aufgaben für sie bereithielt. Und weil sie es satthatten, sich
aufzuopfern oder die Männer als »Helden« zu verehren, obwohl sie die
für Narzissten hielten oder für Schlappschwänze. Und weil sie merkten,
dass sie auch alleine ganz gut zurechtkämen. In Der Weg zurück
beschreibt Remarque also, dass es nach einem Ereignis wie diesem Krieg
keinen Weg zurück mehr gibt.
Aus dieser Verstörung versuchten sich viele in die Heirat zu flüchten,
der Ehering als Rettungsring. Margaret Goldsmith schreibt 1931 in ihrem
Buch Patience geht vorüber über die vom Krieg innerlich zerstörten
Männer, ausgehungert und übersättigt, die in den zwanziger Jahren in
Berlin schon nach dem ersten Tanz, oben auf der Tanzfläche, während die
Musik noch spielte, die Frauen fragten, ob sie sie heiraten wollen,
obwohl sie sich gerade erst nach ihrem Namen erkundigt hatten. Die
Verlorenheit erzeugte eine ungeheure Dringlichkeit, auch die Ahnung,
dass der eine Krieg zwar vorbei ist, der nächste aber sofort kommen
kann, gab allen das Gefühl, dass keine Zeit zu verlieren sei. Erich Maria
Remarque beschreibt es in Der Weg zurück: »Und heiraten wollte er, weil
er sich nach dem Kriege nicht wieder zurechtfand, weil er Angst vor sich
selbst und seinen Erinnerungen bekam und einen Halt suchte.«
*
Auch Kurt Wolff, der vor dem Ersten Weltkrieg der Verleger Kafkas und
Trakls gewesen ist und der nun, 1931, noch immer davon zehrt, schätzt
es, sich nicht festlegen zu müssen. Er ist mit den Jahren beruflich
weniger ehrgeizig geworden, sein Verlag existiert fast nur noch auf dem
Papier, sein aufwendiges Münchner Gesellschaftsleben finanziert er vor
allem aus dem Erbe seiner Frau. Ein Bonvivant also, wie er im Buche
steht. Aber eben auch einer, der etwas aus der Form geraten ist, die
Anzüge klemmen, die Weste geht nicht mehr zu, er stürzt sich, seit die
Autoren ihn nicht mehr suchen, in zu viel Betriebsamkeit und Alkohol.
Doch als die temperamentvolle und aufmüpfige Helene Mosel, 1906 im
Sternzeichen des Löwen in Skopje geboren, im Jahre 1929 als
Praktikantin in seinen Verlag kommt, da bringt ihn das erheblich
durcheinander. Sie liebt Bücher fast mehr als ihn – das provoziert ihn
(aber genau das wird sie später zu einer genauso großen Verlegerin
machen wie ihn). Helene, die in kärglichen Verhältnissen mit Mutter und
Schwestern in einem kleinen Dachgeschoss in München zusammenlebt,
hat etwas Stolzes, Edles, etwas, was sich nicht einfangen lässt, schon gar
nicht mit Einladungen zum Champagner. Aber Kurt Wolff versucht es.
Seit 1930 gibt es zwischen Helene und ihm ein ständiges Hin und Her
zwischen Ja und Nein, zwischen Paris und München, wo Wolff langsam
seine Verlagsgeschäfte auflöst – und seine Ehe. Seine Frau Elisabeth hat
sich in ihren Gynäkologen verliebt, und nun bereitet man die
einvernehmliche Scheidung vor. Die zwanzig Jahre jüngere Helene
Mosel ist also privat zu einem günstigen Zeitpunkt in Kurt Wolffs Leben
getreten, als Sekretärin und unermüdliche Übersetzerin zunächst, aber
später dann auch als Mädchen für alles beim Verlag Pantheon in Paris,
dem paneuropäischen Verlagsprojekt Wolffs. Wirtschaftlich freilich sind
sie sich an heiklem Punkt begegnet, denn es geht mit dem Kurt Wolff
Verlag dramatisch bergab, er hetzt durch die Tage nach dem Börsencrash,
um irgendwelche Finanzierungen neuer Buchprojekte werbend. Er
schreibt an Helene in Paris: »Ich weiß, du hast Geduld, verlier sie nicht.«
Er wolle, so versprach er noch im April 1930, weniger trinken und
weniger essen. Denn dann könne er sie vielleicht endlich »besser, stärker,
richtiger lieben«. Wie oft hat man das schon gehört (und gesagt). Wie
wenig glaubt man diesen Worten. Doch dann geschieht das Unglaubliche:
Kurt Wolff reduziert sich wirklich von 83 Kilogramm, die er wog, als sie
sich kennengelernt haben, wieder auf jene 68 Kilogramm, die er ab
diesem Zeitpunkt bis zum Ende seines Lebens behalten sollte. Er trinkt
weniger, er schreibt ihr immer zärtlichere Briefe. Das imponiert Helene,
sie beginnt, sich seiner Liebe sicherer zu fühlen, sie sieht, dass er zu einer
wirklichen Veränderung bereit ist. Sie schreibt beseelt an ihren Bruder
Georg: »Man muss nicht das Geliebte besitzen wollen, man muss es
richtig lieben, um einander wissen, unzerstörbar aus der Kraft des
Gefühls verbunden sein.«
Doch als sie im April 1931 tatsächlich beschließt, die Unzerstörbarkeit
des Gefühls zu testen und für zwei Monate zu Kurt an die Riviera zu
ziehen, da erlebt sie eine bittere Enttäuschung. Kurt ist zwar schlank
geworden und viel öfter nüchtern, aber leider ist er auch in ein anderes
altes Muster gefallen: Er hat sich neben Helene noch eine zweite Geliebte
zugelegt für den Sommer und die Empfänge zwischen Le Lavandou und
Juan-les-Pins: die sehr große und sehr elegante und sehr blonde Manon
Neven DuMont. Kurt bietet Helene an, doch für eine Weile mit Manon
und ihm in einer Ménage-à-trois zusammenzuleben, sie wagt es nicht zu
widersprechen, er findet schnell eine schöne Villa in St. Tropez am
Strand für sie zu dritt. Und ja: Die Grillen zirpen, das Meer rauscht, die
Feigen werden langsam lila – Südfrankreich wie aus dem Bilderbuch,
und doch ist es für sie die Hölle auf Erden. Helene weint viel, merkt, dass
sie zwar für die Arbeit und auch für die Liebe, nicht aber für die Sitten
der Boheme geschaffen ist, und beginnt ein trotziges Theaterstück zu
schreiben. Helene Mosel nennt ihr Stück Trio, die Hauptfiguren sind ein
44-jähriger ER, eine 34-jährige SIE und ein 24-jähriges ES, eine
»Garçonne«. Es ist also Realität und kein Theater. Helene Mosel hält
beides nicht aus. Eines Tages, als Manon und Kurt unterwegs sind,
schreibt sie ihm einen Zettel: »Geliebter, deine Welt ist nicht meine
Welt« – und zieht aus. Verlässt Luxus und Bequemlichkeit und die
schiefen Töne eines Trios, dessen Instrumente nicht zueinanderfinden.
Der wilde Mistral zerrt an den flatternden Vorhängen und an ihren
Nerven. Sie sucht sich eine eigene Hütte, ihr »cabanon« – bescheiden,
karg, herrlich, ein paar hundert Meter entfernt, am Rande eines
Weinberges, wo die Trauben Meerblick haben.
In dieser Hütte mit rotem, verwittertem Ziegeldach, kalkweißen
Mauern voll Kletterrosen und grünen Fensterläden beginnt im Sommer
1931 ihr neues Leben, ihr erstes Einpersonenstück. Als sie einzieht, ist
der Wind verstummt, wolkenloser Himmel, 24 Grad, reifende Zitronen
an einem großen Baum vor dem Fenster, von der Ferne das leise Läuten
der Kirche von St. Tropez, die Bergketten sind greifbar nah. Sie schreibt
schnell ihr Theaterstück Trio zu Ende – und dann, durch die Niederschrift
bereits halb therapiert, schickt sie ihrem Bruder Georg den
wunderschönen Satz: »Ich liebe Kurt so, dass ich weggehen konnte.« Als
Nächstes notiert sie sich eine Einkaufsliste für den Markt von St. Tropez.
Helene hat den ganzen Winter gearbeitet, jede Nacht und jeden Sonntag
übersetzt, sie hat Franc um Franc gespart für diesen Augenblick, für diese
Einkaufsliste: Sie braucht dringend einen Liegestuhl mit Streifenmuster,
sie braucht einen grünen Holztisch für den Garten und einen
Spirituskocher, sie braucht Fayencen, sie braucht Vorhänge und sie
braucht einfach alles, was man so benötigt, wenn man ein wenig normal
leben will an einem der schönsten Flecken dieser Erde. Diese
Einkaufsliste ist ihre Unabhängigkeitserklärung. Und abends bringen ihr
die Vermieter, dieses alte, verhutzelte Weinbauernpaar, eine kleine Katze
als Hausgenossin, ein warmes graues Knäuel, sie würde sie am liebsten
direkt in ihre Bluse stecken, so hingerissen ist sie.
Ihrem Bruder schreibt sie ganz gelassen, er müsse sich keine Sorgen
machen, sie wisse, dass Kurt bald zu ihr zurückkehre, die Beziehung
zwischen ihm und der eleganten Manon werde an »gegenseitiger
Erschöpfung« zugrunde gehen, denn: »Manon gehört zu den Frauen, die
man heiratet, und Kurt zu den Männern, die man nicht heiratet, das hält
Manon auf die Dauer nicht aus.« Ob sie sich wirklich so sicher ist? Auf
jeden Fall wächst sie hinein in ihre Unabhängigkeit mit jedem Morgen,
an dem sie voller Glück die Fensterläden öffnet in ihrem kleinen Haus
und das Licht hineinströmt wie gestautes Wasser. Dann beginnt sie zu
schreiben – und sie nennt ihr Buch Hintergrund für Liebe. Es wird einer
der bezauberndsten Romane, der je über Südfrankreich geschrieben
wurde. Und darüber, wie man sich einem Patriarchen entzieht. Und ihn
wieder anlockt durch die eigene Unabhängigkeit.
Als sie sich auf dem Fischerball in St. Tropez wiedersehen, packt Kurt
am nächsten Morgen seine Sachen, in dem Haus, das er für Manon und
sich und Helene gemietet hat – und zieht ein in Helenes kleines Cabanon.
Sie findet es zunächst fast ein bisschen anstrengend, wieder mit einem
Mann das Bett teilen zu müssen. Mit einer Katze war es einfacher. Aber
dann spürt sie: Sie selbst ist groß genug geworden, um teilen zu können,
sie ist die Hälfte eines Paares geworden, genau die Hälfte. Deshalb
passen Kurt Wolff und Helene Mosel im August des Jahres 1931 endlich
zusammen.
Kurt Wolff selbst taucht vollkommen ein in dieses karge Leben, es
wirkt im Nachhinein, als hätten sie hier unbewusst für ihre spätere
leidvolle Emigration geprobt.
Abends, wenn Kurt und Helene allein auf ihrer Terrasse sitzen, die
Beine auf den grünen Tisch legen und still werden mit der langsam
verdämmernden Natur, da erklärt Helene ihm: Dies alles, also das ferne,
glitzernde Meer, die Feigenbäume mit ihrem biblischen Duft, die Berge
mit ihren kühlen Häuptern, die Zitronenbäume mit ihren blendenden
Früchten, das Gras, das sich im sanften Abendwind biegt, dies alles, so
erklärt sie Kurt, sei eigentlich nur der »Hintergrund«. Aber für was?,
fragt Kurt. »Für Liebe«, antwortet Helene.
Am 19. September 1931 verlassen Zelda und F. Scott Fitzgerald das alte
Europa. Sie besteigen in Southampton die Aquitania mit Kurs auf New
York. Es ist genau dasselbe Schiff, mit dem sie 1921 das erste Mal nach
Europa gekommen sind.
Auf ein Foto von Zelda aus diesen Septembertagen voller Hoffnung
schreibt Fitzgerald stolz: »recovered«, also: genesen. Beide hatten
Hoffnung, große sogar. Die Therapie in der Klinik in Nyon scheint zu
wirken, Zelda hat ihr schizophrenes Lächeln verloren, aber ihren
Lebensmut wiedergefunden und ihren eigenen Stil: »Ich liebe dich so
sehr und du hast mich angerufen, ich bin zwei Stunden auf diesen
Telefonleitungen balanciert, nachdem ich deine Liebe wie einen
Sonnenschirm in die Hand genommen hatte, um mich im Gleichgewicht
zu halten.« So balanciert sie langsam zurück ins Leben. Er schreibt in
sein Tagebuch: »Ein Jahr Warten. Von der Dunkelheit zur Hoffnung.«
Sie fahren, kaum in New York angekommen, gleich weiter in Zeldas
Heimatstadt, nach Montgomery. Sie mieten sich ein Haus und kaufen
sich zwei Tiere, eine Perserkatze, die sie »Chopin« nennen, und einen
Dackel. Ihn taufen sie allen Ernstes auf den Namen »Trouble«.
Im September 1931 ist Ludwig Wittgenstein auf eine einsame Hütte bei
Skjolden in Norwegen geflohen, um herauszufinden, ob er Marguerite
Respinger wirklich liebt. Er lädt sie ein – und sie kommt durch halb
Europa zu ihm gefahren, und er lässt sie in einem Bauernhof in der Nähe
unterbringen. Sie will mit Wittgenstein sprechen, doch der ist nicht
auffindbar. Sie findet nur in ihrem Zimmer beim Bauern eine Bibel, die
Wittgenstein dort für sie hingelegt hat. Im Hohelied der Liebe, bei
1. Korinther 13, hat er einen Brief für sie hineingesteckt: »Die Liebe ist
langmütig, die Liebe ist gütig. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles,
hält allem stand.« Doch das ist für Marguerite zu viel Anspruch an eine
Beziehung, die noch gar nicht begonnen hat. Und das mit einem Partner,
der sich vor ihr versteckt. Sie legt die Bibel zur Seite und wandert und
schwimmt im Fjord. In den langen hellen Nächten liegt sie wach auf dem
Bett. Wartet, dass Wittgenstein von seiner Hütte zu ihr hinaufgestiegen
käme. Aber er kommt nicht. Er hält sich bereits für »ein Schwein«, wie er
in sein Tagebuch schreibt, weil er über ihren nackten Körper nur
nachdenkt. Daraufhin reist sie unverrichteter Dinge ab. Auch eine Liebe
kann verdorren.
*
Gunta Stölzl führt am Bauhaus in Dessau nicht nur die Werkstatt für
Weberei, sondern in den Pausen auch einen Kinderwagen durch den
kleinen Park davor. Ihr Mann Arieh Sharon ist weiterhin auf der
Baustelle der neuen Gewerkschaftsschule in Bernau, und sie berichtet
ihrem Bruder Erwin im Frühjahr 1930 von ersten
Stimmungseintrübungen: »Sharon ist immer noch in Bernau, wir führen
immer noch die weekend-ehe, das ist vielleicht für die Arbeit nicht
schlecht, aber sonst so lala.« Das Klima in der Werkstatt wird
unterdessen ungemütlicher, es wird eine Intrige gegen Gunta Stölzl
gesponnen, sie soll aus ihrem Amt geekelt werden. Der neue
Bauhausdirektor Mies van der Rohe steht unter Druck der
rechtsgerichteten Dessauer Stadtregierung. Eine Studentin aus der
Weberei, mit der Gunta Stölzl im Streit ist, beschwert sich bei der Stadt
Dessau und greift sie »auf sexuellem Gebiet« an. Ob es sich um eine
lesbische oder eine außereheliche Affäre handeln soll oder ob es um ihre
Ehe mit einem Palästinenser geht, bleibt unklar, aber Stölzl kündigt
voller Wut und verlässt das Bauhaus. Allein ihre Tochter lenkt sie ab von
ihren Ängsten und ihrem Zorn. Ihr Mann jedoch bricht nach Palästina
auf, sein Pass ist abgelaufen, er hat kein neues Visum und er fährt los, um
es dort erneuern zu lassen. Gunta Stölzl, die bayrische Katholikin, ist
durch ihre Heirat mit Sharon auch keine deutsche Staatsangehörige mehr.
Sie ahnt, dass das ein Problem werden könnte, der Dessauer Stadtrat wird
zunehmend von der NSDAP dominiert, das Bauhaus ist ihnen ein Dorn
im Auge. Im Sommer 1931 versucht Stölzl in Dessau ihre deutsche
Staatsangehörigkeit zurückzugewinnen, aber es gelingt ihr nicht. Schon
im November 1931 emigriert Gunta Stölzl mit ihrer zweijährigen Tochter
in die Schweiz. Ihr Mann Arieh schreibt ihr in einem langen Brief, dass
er auf der Reise nach Palästina jemanden kennengelernt habe. Er wisse
noch nicht, wann er zurückkehren werde.
Lee Miller wird an der Hand von Man Ray in Paris zur Verkörperung der
»Garçonne«. Ihre kurzen blonden Haare trägt sie unter einem Barett,
dazu schlichte, eng anliegende Kleidung über einem muskulösen Körper,
sie ist die moderne Frau, die nicht zufällig ihren berühmten Geliebten um
zwei Köpfe überragt. Am Anfang ist sie wirklich seine gelehrige
Schülerin, doch sehr bald beginnt sie selbst zu fotografieren und sich zu
emanzipieren. Aus der Muse und dem Modell wird eine Künstlerin, die
die Tricks des Meisters kennt, die weiß, wie er diese einmaligen
Heiligenscheine in seine Fotografien schummelt und wie er mit dem
Licht arbeitet, als sei es ein Pinsel. Ja, man kann bei manchen
Fotografien der Jahre um 1930 nicht mehr sagen, wer da genau den
Auslöser der Kamera betätigt hat, der Meister oder die Schülerin – und
ob die nicht längst selbst zu einer Meisterin geworden ist. Aber eigentlich
will Man Ray nur sie fotografieren, ihren Hals, ihren unendlichen Hals,
ihre Augen, diese träge Eleganz ihrer Augenlider, ihre Brüste, klein, aber
wie aus Marmor geformt, und dann immer und immer wieder: ihre
Lippen. Diese Lippen machen ihn wahnsinnig. Schon wenn sie
ungeschminkt sind. Aber wenn sie sie noch ein wenig roter malt, dann ist
es nicht nur um ihn geschehen, sondern um alle, die ihr begegnen. Man
Ray macht Lee Miller zur Ikone, so wie es ihm zuvor mit Kiki vom
Montparnasse gelungen ist. Diesmal findet er auch den passenden Titel
für sie: La femme surrealiste, wie er eine Fotografie von 1930 nennt, also
»Die surrealistische Frau«.
Nachdem Man Ray und Lee Miller tagsüber gearbeitet haben, ziehen
sie Abend für Abend durch die Straßen, sie gehen auf einen Drink in die
Jockey-Bar, grüßen freundlich in Richtung James Joyce und Hemingway,
ziehen weiter zu Jean Cocteaus Jazz-Club in der Nähe der Rue du
Faubourg St. Honoré oder ins legendäre Bricktop’s, den amerikanischen
Nachtclub, wo sie beide zwischen zwei, drei Gläsern Rémy Martin
zusammen zu Cole-Porter-Liedern tanzen. Wenn Man Ray Lee Miller im
Arm hat und mit ihr, leicht betrunken, tanzt, dann kann er manchmal sein
Glück kaum fassen. Sie hat ihm geholfen, Kiki völlig zu vergessen, seine
erste große Muse.
Miller emanzipiert sich aber langsam von ihm. Es beginnt damit, dass
ihr Vater Theodore sie in Paris besucht und Man Ray kopfschüttelnd mit
ansehen muss, dass der Vater die Tochter tagelang nackt fotografieren
darf, in den wildesten Posen. Nach dessen Rückreise nach Amerika
fotografiert Miller dann Charlie Chaplin in ihrem Pariser Studio. Und
beginnt eine Affäre mit ihm. Selten sei eine Frau so lustig gewesen wie
sie, so hat Chaplin später gesagt, und das darf man ja wirklich als
Kompliment auffassen. Chaplin nimmt sie im Dezember 1931 mit nach
St. Moritz, wo sie die berühmte Nimet Eloui Bey fotografiert. Diese
Dame wiederum genießt einen unwiderstehlichen Ruhm, da für sie
Rainer Maria Rilke im Jahre 1926 im Garten von Duino jene Rose
gepflückt hat, deren Dornen ihn so verletzten, dass er an der
Blutvergiftung starb. In St. Moritz also posiert sie vor Lee Millers
Kamera – und ahnt nicht, dass durch die Linse ihre größte Rivalin schaut.
Denn ihr Gatte, der berühmte ägyptische Geschäftsmann Aziz Eloui Bey,
hat sich Hals über Kopf in Lee Miller verliebt. Und Lee Miller mit ihrem
Vaterkomplex hat ein weites Herz für ältere Männer mit guten Manieren
und dreiteiligen Anzügen.
*
Am 6. Januar 1932 trifft Anaïs Nin erstmals June Miller alleine. Sie ist
wie von Sinnen, da sie durch Henry von Junes lesbischen Affären weiß.
Sie trifft June erneut am 11., am 12., am 14. und am 18. Januar, sie
kaufen Kleider in Paris, sie gehen in Cafés, sie küssen sich ein wenig,
wenn niemand schaut. Anaïs bittet June, ihr zu erzählen, wie Frauen
miteinander schlafen. Da June fast genauso pleite ist wie Henry, ist sie
dankbar, dass ihre Verehrerin Anaïs anfängt, ihr Unterwäsche zu kaufen.
Am 19. Januar verlässt June mit Koffern voll neuer Dessous Hals über
Kopf Paris. Hugo Guiler, Anaïs’ Mann, der schon glaubte, seine Frau an
eine andere Frau verloren zu haben, ist kurzzeitig erleichtert – doch
schon am 20. Januar bricht die Welt vollständig für ihn zusammen, denn
Anaïs lädt Henry ein, über Nacht bei ihnen zu bleiben. Darauf schreibt
Hugo abends in sein Tagebuch, das er überhaupt nur führt, weil Anaïs ihn
dazu zwingt: »Dieses Leben scheint mir die Hölle zu sein.« Für seine
Ehefrau hingegen geht der Himmel auf. Nach Junes Abreise konzentriert
sie sich im Laufe des Frühjahrs ganz auf Henry – und er sich auf sie.
*
Was für ein Frühlingstraum – oben die Kette der schneebedeckten Berge,
unten der See mit seinem tiefen Blau, an den Promenaden die Palmen,
deren Blätter im Wind das ewige Lied vom Süden singen. Im April 1932
ist Erich Maria Remarque endgültig in Porto Ronco eingezogen. Das
Frühjahr beginnt früher hier und der Herbst endet später, alles ist eine
Spur weicher als im fernen, nördlichen Berlin, auch die Luft. Und in den
engen Straßen und auf der Piazza benehmen sich alle eine Spur eleganter.
Erich Maria Remarque, dem Dandy unter den großen Schriftstellern der
Weimarer Republik, gefällt es auch deshalb besonders gut hier, er liebt
diese Grandezza, mit der man in Ascona an der Bar steht und die Wolken
über den See fliegen. Hier will er bleiben. Hier fühlt er sich das erste Mal
ein klein wenig behütet. Vom Schreibtisch aus blickt er hinunter auf den
See, dessen Wasser in Sekundenschnelle von einem tiefen Türkis in ein
jähes Blau wechseln kann, er sieht die Palmen, die üppigen
Rhododendren, deren Wurzeln sich in den langen Regenwochen im
Herbst voll Wasser saugen, um diese Kraft im nächsten Frühling in einem
rosaroten Blütenmeer zu verschwenden. Zwei Spaziergänge macht
Remarque jeden Tag, morgens, für den ersten Espresso einen zum Café
Verbano, nachdem er sich beim Barbier hat rasieren lassen, den zweiten
abends, für den letzten Drink in der Bar des Hotels Schiff. Er läuft dann
nach Hause durch die Wärme, die sich zwischen den Bergen staut.
Auch das Jahr 1932 verbringen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre
vor allem getrennt. Er hat eine Lehrerstelle in Le Havre bekommen, sie
in Marseille, sie sind also achthundert Kilometer voneinander entfernt,
Frankreich ist groß. Simone de Beauvoir verlebt sehr unglückliche
Monate, sie versucht, sich den Frust mit ständigen Wanderungen durch
die Berge an der Küste zu vertreiben. Sie weiß, dass sie mit Sartre einen
Pakt geschlossen hat, der auf Aufrichtigkeit, nicht auf Leidenschaft
beruht. Aber sie hat schwer daran zu knabbern. Selbst Sartre fängt an zu
bemerken, dass nicht nur Simone ihn braucht, sondern auch er sie. Wenn
er mittwochs Schulschluss hat, dann rennt er in die Garderobe, um
Mantel und Tasche zu holen und den frühen Zug nach Marseille zu
erwischen, Donnerstag war immer frei. Und wenn dann die Sonne
scheint über dem Mittelmeer und sie einen Abend lang in einer
Hafenkneipe sitzen und Wein trinken und Austern essen und
philosophieren, dann haben beide das Gefühl, dass es vielleicht doch
etwas werden könnte mit ihrem besonderen Pakt. Nur wenn Sartre
anfangen will, von seinen aktuellen Affären zu erzählen, dann muss
Simone de Beauvoir Haltung bewahren, vor allem auch, weil sie da
bislang nichts Nennenswertes vorzuweisen hat.
Unsere Probleme reisen mit uns, auch wenn wir zurückkehren in die alte
Heimat. In Montgomery, in der Nähe ihres Elternhauses, bricht bei Zelda
Fitzgerald die Schizophrenie wieder auf, Scott, ihr Mann, ist inzwischen
in Hollywood, wo er versucht, als Drehbuchschreiber Geld zu verdienen.
Sie kommt erneut in eine Klinik, lächelt erneut ihr sinnloses Lächeln,
schreit, tobt, versucht sich umzubringen – und schreibt dann ein Buch,
um sich selbst zu beruhigen: Schenk mir den Walzer, so sein fast
rührender Titel für die Schilderungen ihrer Leidenszeit in Paris und der
Schweizer Klinik. Doch ihr Mann F. Scott Fitzgerald verliert die
Fassung, als er das Buch liest. Er kann nicht glauben, dass Zelda es wagt,
diese Erinnerungen zu literarisieren. Das sei allein seine Aufgabe, so
schreibt er ihr, er sei »der professionelle Romancier«. Sie habe Unrecht
getan, denn: »Du hast die Krümel aufgesammelt, die ich vom
Mittagstisch habe fallen lassen und sie in Bücher gesteckt …« Aber:
»Alles, was wir gemacht haben, gehört mir.« Es sind brutale Briefe,
Tobsuchtsanfälle, Scott Fitzgerald verteidigt sein Revier und verletzt
seine Frau dabei tödlich. Bestimmte Themen müssten für ihr Schreiben
absolut tabu sein, nämlich: die Krankheit, die Sanatorien, die Côte
d’Azur, die Schweiz, die Psychiatrie. Denn, so F. Scott Fitzgerald: »All
dieses Material gehört mir. Nichts davon ist dein Material.« Unfassbar.
Einer Kranken wird die Deutungshoheit über die eigene Krankheit
entzogen. Und noch unfassbarer: Aus dieser entzogenen Deutungshoheit
über die Krankheit, aus diesem »Material«, also den Sanatorien, der Côte
d’Azur, der Schweiz und der Psychiatrie, wird F. Scott Fitzgerald mit
Zärtlich ist die Nacht einen Jahrhundertroman zaubern.
*
Anaïs Nin mietet für Henry Miller und seinen Freund Alfred Perlès im
Sommer 1932 eine Wohnung im Arbeiterviertel von Clichy. Sie kauft ihm
Teller, Besteck, Möbel und Schallplatten von Johann Sebastian Bach,
weil er den so liebt. Für Miller beginnt eine Zeit »wie im Paradies«. Fast
täglich kommt seine Eva zu ihm, reicht ihm den Apfel, und sie genießen
die Sünde. Stille Tage in Clichy wird Miller das Buch über seine Zeit vor
der Vertreibung aus dem Paradies später nennen.
Was ist der unwahrscheinlichste Ort, an dem man sich Walter Benjamin
vorstellen kann, diesen städtischen Intellektuellen, diesen jüdischen
Geistmenschen, Autor des Buches Ursprung des deutschen Trauerspiels
und der avantgardistischen Großstadttexte der Einbahnstraße, dessen
dunkle Augen hinter zentimeterdicken Brillengläser hervorblitzen? Und
was ist zudem der Ort, an den man sich eher nicht begeben sollte, wenn
man von seiner Drogensucht loskommen will und gerne vor dem
kleinsten Sonnenstrahl in das schützende Kühl des Arbeitszimmers
flüchtet? Richtig: Ibiza. Genau dorthin aber reist Walter Benjamin im
April 1932. Es wird einerseits natürlich eine Fortsetzung seines
deutschen Trauerspiels – und seiner Einbahnstraße. Aber andererseits ist
das Leben, wie wir wissen, nicht unbedingt logisch. Und so beginnt
Walter Benjamin, verarmt, verzweifelt und verloren, viele tausend
Kilometer entfernt von seinem geliebten Berlin, genau dort, also inmitten
der seinerzeit noch völlig vergessenen, primitiven, vor sich hin
dämmernden Mittelmeerinsel, mit der Arbeit am Manuskript seines
großen Buches Berliner Kindheit um 1900. Als ihm sein Berliner Freund
Felix Noeggerath von seinem Haus auf der Insel erzählt, packt Benjamin
seine Sachen, bittet Freunde um Reisegeld und fährt einfach los, wenig
im Gepäck außer seinem Manuskript für die Berliner Chronik und
einigen Krimis von Georges Simenon, die er auf Deck liest, nachdem er
am 7. April in Hamburg den Frachter Catania Richtung Valencia
bestiegen hat. Als er zwölf Tage später, am 19. April 1932, einem
Dienstag voll hellster Sonne, im Hafen von Ibiza-Stadt an Land geht, hat
er keine Ahnung, wohin er geflohen ist – er weiß nur, wovor. Vor den
inneren Dämonen nämlich, die ihn zum Selbstmord verführen wollen,
seinen unsicheren Berufsaussichten, seinem verpatzten Liebesleben, dem
Antisemitismus, der wie die ersten Windböen kurz vor dem Sturm durch
die Berliner Straßen zieht. Mit Hilfe der Noeggeraths findet er ein
schlichtes Haus, Ses Casetes, in San Antonio, aus seinem Arbeitszimmer
hat er einen herrlichen Blick auf das blau leuchtende Meer. Benjamin ist
hingerissen von der archaischen Architektur, dem gemächlichen Gang
des bäuerlichen Lebens, das seit Jahrhunderten unverändert scheint, er
bewundert die Insel und ihre Bewohner für »ihre Gelassenheit und
Schönheit«. Plötzlich steht Benjamin, der in Berlin und Paris wegen
seiner Depressionen nie aus dem Bett gekommen ist, jeden Tag um
sieben Uhr auf – und geht die paar Schritte hinunter zum Strand, um zu
baden, dann lehnt er sich mit einem Buch in den Händen an eine Pinie
am Strand. Wenn es am späten Vormittag zu warm wird, geht er ins Haus,
liest und schreibt dort, wie er Margarete Karplus berichtet, seiner
Herzensfreundin, die sich leider gerade entscheidet, seinen Freund
Adorno zu heiraten. Es gibt auf Ibiza zwar kein elektrisches Licht und
keine Zeitungen, aber dafür plötzlich Zeit und Freiheit, und Benjamin
versteht es zunächst, das zu genießen. Ganz erheblich trägt dazu eine
junge Deutschrussin bei, Olga Parem, die in San Antonio eingetroffen ist
und die er im Jahr zuvor bei seinem Freund Franz Hessel kennengelernt
hat. Sie berichtet etwas, das man mit Benjamin nicht verbindet – was
aber doch zeigt, was Liebe anrichten kann: Er lacht. Und er lacht die
ganze Zeit, wenn sie zusammen sind. »Sein Lachen«, so erzählt Olga
Parem, »war zauberhaft; wenn er lachte, ging eine ganze Welt auf.« Auch
Benjamin muss von dem eigenen Lachen, diesem unverhofften Glück am
Strand von Ibiza, so überwältigt gewesen sein, dass er sich heftig
verliebt. Sie küssen sich, sie überreden einen Fischer, dass er sie mit
seinem Boot mit hinausnimmt auf hohe See, allabendlich besteigen sie
daraufhin den kleinen Segler und fahren an der Küste entlang, in den
endlosen Sonnenuntergang hinein. Walter Benjamin glaubt, seine Rettung
gefunden zu haben. Doch je mehr Olga bewusst wird, dass sie hier einen
Stürzenden in Armen hält, umso mehr entzieht sie sich, und Benjamin
vergeht bald das Lachen. In einem wahnwitzigen Versuch fragt er Olga
Parem nach vier Wochen, ob sie ihn auf Ibiza heiraten wolle, doch sie
lehnt ab. Erst halb, dann ganz.
Und je höher die Sonne steigt über der kleinen vergessenen Insel im
Mittelmeer, umso dunkler wird es in Benjamins Seele. Immer panischer
blickt er nach dem abgelehnten Heiratsantrag auf den herannahenden
15. Juli – seinen vierzigsten Geburtstag. Er hat große Angst, Bilanz zu
ziehen – und so wenig auf der Habenseite verbuchen zu können. Er
versucht noch einmal, Olga auf dem Segler von seiner ewigen Liebe zu
überzeugen. Vergeblich. Benjamin stürzt in die Verzweiflung und
schreibt an seinen Freund Gershom Scholem, er wolle seinen vierzigsten
Geburtstag in Nizza feiern, und zwar mit einem »skurrilen Burschen«.
Offenbar meint er damit den Gevatter Tod. Doch zu seinem Geburtstag
will sie noch einmal kommen. Deshalb raucht er am 13., 14. und 15. Juli
mit Jean Setz, den er flüchtig kennt, solche Mengen an Haschisch, dass er
den Jubeltag im völlig vernebelten Zustand erlebt – und damit also auch
überlebt. Am 17. Juli dann besteigt er um Mitternacht die Fähre nach
Mallorca und fährt von dort nach Nizza. Die Nacht ist heiß, kein Hauch
weht vom Meer heran, der Himmel wolkenverhangen, unbeweglich,
aussichtslos. Walter Benjamin verlässt Ibiza in der Absicht, sein Leben zu
beenden. In Nizza, im Hôtel du Petit Parc, macht er dann tatsächlich sein
Testament. Er sitzt in seinem ärmlichen Pensionszimmer, die Hitze steht
im Raum, er kann nicht schlafen, die Nacht leckt an den dreckigen
Wänden. Wenn es dunkel wird, nimmt die Klugheit zu, das weiß er. Aber
die Unklugheit auch. So bleibt sich alles gleich. Nur dunkler wird es.
Benjamin setzt sich wieder an den Tisch und feilt an seinem Testament.
Er vermacht Elisabeth Hauptmann, der Mitarbeiterin und Geliebten
Brechts, einen silbernen Dolch. Sonst hat er wenig zu vererben. Nur den
Angelus Novus, das Aquarell von Paul Klee, das er später zum »Engel der
Geschichte« umdeuten wird, den vermacht er seinem Freund Gershom
Scholem. Dann schreibt er Abschiedsbriefe, darunter an seine erste große
Liebe, Jula Cohn: »Du weißt, dass ich dich einmal sehr geliebt habe. Und
selbst im Begriffe zu sterben verfügt das Leben nicht über größere
Gaben, als die Augenblicke des Leidens um dich ihm verliehen haben.«
Wir wissen nicht, wie es Walter Benjamin gelingt, nach dem Testament,
nach den Abschiedsbriefen, nach diesen Augenblicken des Leidens in
seinem trüben, heruntergekommenen Hotelzimmer am drückend
schwülen und wolkenverhangenen 27. Juli 1932 in Nizza wieder neuen
Lebensmut zu fassen. Aber er fasst ihn. Der Angelus Novus, sein
Schutzengel, kann ihn noch einmal retten vor sich selbst.
Für den Liebesfilm Stürme der Leidenschaft, der Anfang 1932 in die
deutschen Kinos kommt, schreibt Friedrich Hollaender das Lied: »Ich
weiß nicht, zu wem ich gehöre«. Die Menschen pfeifen es, wenn sie nach
dem Film auf die Straße treten. Es ist die Hymne einer inneren
Unentschiedenheit, dem immer größer werdenden äußeren Zwang zur
Entschiedenheit zum Trotz. Hollaender selbst hat sich 1932 endlich
entschieden: Er wählt Hedi Schoop, Sängerin und Tänzerin in seinem
Berliner Tingel-Tangel-Theater zur Frau. Die zwei letzten Revuen, die
Hollaender und Schoop im Tingel-Tangel auf die Bühne bringen, tragen
die bezeichnenden Titel Höchste Eisenbahn und, kurz vor der
Schließung, Es war einmal.
Noch einmal fährt die Familie Mann im Sommer 1932 nach Nidden auf
die Kurische Nehrung, um das neue Ferienhaus zu genießen. Aus seinem
Arbeitszimmer blickt Thomas Mann weit hinaus übers Haff, der Wind
kräuselt die Wellen, die Haubentaucher unten am Ufer spielen ihr ewiges
Auf und Ab. Aber könnte – so denkt er beim Blick auf die
Haubentaucher – auch einmal etwas untergehen, ohne an anderer Stelle
wieder aufzutauchen? Er schreibt an einem Essay über die aktuelle
politische Situation. Selbst hier oben, im nordöstlichsten Zipfel des
Reiches, hat sich das Klima radikal verschoben. Bei der Reichstagswahl
in Königsberg hat der Mob der SA die politischen Gegner gejagt und
ermordet. Thomas Mann schreibt an seiner Anklageschrift »Was wir
verlangen müssen«. Ihm wird das zunehmend klarer, seit er kurz nach
seiner Ankunft an der See in seinem Briefkasten in Nidden ein seltsames
Paket entdeckt hat. Es war ein verbranntes Exemplar seines Buches
Buddenbrooks, ihm anonym übersandt als »Strafe« dafür, dass er
öffentlich vor dem heraufziehenden Nazi-Regime gewarnt hat.
Auch Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta sind in diesem August
nach Ostpreußen gekommen, hier zu den kühnen, unendlichen Dünen der
Nehrung. Einmal sehen sich die beiden Paare am Strand, doch Katia
Mann habe bewusst weggeguckt, wie Lion Feuchtwanger abends
beleidigt in seinem Tagebuch notiert. Sie sind unerwünscht am Hofe der
Manns (ein Jahr später, an einem anderen Meer, wird sich die Begegnung
nicht mehr vermeiden lassen). Die Feuchtwangers reisen daraufhin am
nächsten Tag zurück nach Berlin, der faule Gatte lobt seine Frau, die die
ganze Strecke ohne Pause bravourös zurückgebrettert ist. Er konnte
neben ihr dösen. So etwas imponiert ihm.
Anfang September müssen auch die Manns zurück nach München, für
die beiden Jüngsten beginnt die Schule. Am letzten Abend, als sie alle die
Sonne bestaunen, die wie eine schäumende goldene Kopfschmerztablette
sprudelnd im Meer versinkt, haben sie schon wieder einen Schal an. Am
nächsten Morgen besteigen sie die Fähre nach Crantz, sie blicken sich
noch einmal um, sehen ihr blaues Haus oben auf der Düne, winken dem
Personal am Steg zu, den Dorfbewohnern, die ihren berühmtesten Gast
und seine Familie verabschieden, diesmal hebt sogar Thomas Mann kurz
die Hand zum Gruß, verunsichert fast, als ob er ahnt, dass er sein eigenes
Haus in Nidden an der Kurischen Nehrung nie wiedersehen wird in
seinem Leben.
Nur ein Mensch kann Josef Stalin in die Flucht schlagen: Nadja, seine
Frau. Wenn sie zornig wird, auf seine Affären, auf seine Allüren oder
weil sie nicht fassen kann, dass er Millionen Menschen in der Ukraine
verhungern lässt, dann schließt er sich im Badezimmer in ihrem
Sommerhaus in Sotschi ein. Setzt sich auf den Rand der Badewanne und
lässt sie draußen Zeter und Mordio schreien: »Du quälst deine Frau,
deinen Sohn und das ganze russische Volk.« Da dreht er lieber noch
einmal den Schlüssel um. Einer der größten Massenmörder der
Menschheit verbarrikadiert sich in seinem Badezimmer, aus Angst vor
seiner wütenden Frau.
Als sie drei Jahre alt war, da hat er sie aus dem Schwarzen Meer
gerettet, in das sie gefallen war. Als sie dann sechzehn wurde, verliebte
sie sich in ihren Retter, der gerade abgemagert aus der sibirischen
Verbannung zurückgekehrt war. Aber als ehemaliger Chorknabe konnte
er ihr Arien aus dem Rigoletto vorsingen, das faszinierte sie. Manchmal
schrieb er ihr auch später: »Liebe Tatka, ich vermisse dich so schrecklich.
Tatotschka, ich bin so einsam, bleib nicht so lange fort.« Aber das legt
sich. 1920 wird ihr Sohn Wassili geboren, 1926 ihre Tochter Swetlana,
zehn weitere Schwangerschaften muss sie auf Stalins Wunsch abtreiben.
Ihre Krankenakte wird so in den Goldenen Zwanzigern immer dicker,
ständige Unterleibsschmerzen, fürchterliche Migräne, schwere
Depressionen, Angstzustände. Die Ärzte versuchen, sie mit
Koffeintabletten zu beruhigen, sie bewirken das Gegenteil. Man darf
ihren Zustand im Jahre 1932 also per historischer Ferndiagnose als
manisch-depressiv bezeichnen. Ein inneres Schwarzes Meer.
Es hilft dabei sicher wenig, dass Stalin von Geburt an genauso
impulsiv und dünnhäutig und stolz ist wie seine Frau. Doch zwischen
allen Wutausbrüchen und Dramen geloben sie einander immer wieder
ewige Liebe. Ein unmögliches Paar also, beide egozentrisch, von
herablassender Kühle und voll innerer Glut. Einander vielleicht zu
ähnlich, um dauerhaft miteinander Glück erleben zu können. Aber wo
Stalin grausam werden kann und wird, da verliert sich Nadja im Dunkel
der Depression.
Was für ihn die Hölle sei, fragt ihn Simone de Beauvoir kurz vor dem
Einschlafen, die Zähne sind schon geputzt. Da richtet sich Sartre noch
einmal im Bett auf und sagt: »Die Hölle – das sind andere Leute, bevor
man seinen ersten Kaffee getrunken hat.« Als sie leicht säuerlich schaut,
ergänzt er: »Ich habe von anderen Leuten gesprochen, nicht von dir,
Simone. Bonne nuit.«
*
Nicht einmal Céline, das kälteste Herz und der größte Antisemit der
französischen Literatur, kann den ganzen Tag über hassen.
Zwischendurch liebt er kurz, oder er tut zumindest so. Louis-Ferdinand
Destouches, wie er mit vollem, eigentlich viel zu melodiösem Namen
heißt, ist der Sohn eines prügelnden, irrlichternden Finanzbuchhalters
und einer emotionslosen, verstörten, von Reinlichkeit besessenen
Kurzwarenhändlerin, ist also das Ergebnis des Dramas einer gnadenlosen
Kindheit in prekärsten Verhältnissen. »Du hast ja gar kein Herz«, sagt
seine Mutter zu ihm, als er es traumatisiert verschlossen hat. Da weiß
Céline: »Der wahre Hass kommt von ganz tief unten, er kommt aus der
Jugend, der wehrlos beim Schuften verlorenen, aber der ist dann so, dass
man daran krepiert.« Das Sanfte und Weiche in ihm sind also schon
gestorben, bevor zwei verirrte Kugeln des Ersten Weltkrieges in seiner
Seele und seinem Kopf neue Wunden hinterlassen haben, aus denen ein
Leben lang Blut und Eiter quillt. Und in seinem Ohr ein Tinnitus, auch er
lebenslang, seit eine Granate direkt neben ihm im Schützengraben
explodiert ist. Seine Augen, die schon als Kind zu viel gesehen haben,
ließen ihn Arzt werden und dann, in den vermeintlich Goldenen
Zwanzigern, jene Reise ans Ende der Nacht erkennen, die ihn berühmt
machen sollte. Eine einzige Apokalypse, voll Seuchen, fauligen Wunden
der Sprache der Gosse, ein Debütroman voll hämmernder Wut und einer
schwindelerregenden Prosa, deren Sätze manchmal in sich
zusammenbrechen, als seien sie in einen Kugelhagel geraten.
Heldentum wird hier als blanke Gewalt geschildert und Feigheit als
letztes Rückzugsgebiet des Humanen. Als Céline, der als Armenarzt in
Clichy arbeitet, seinen großen Antikriegsroman im Frühjahr und Sommer
1932 gerade abschließt, versucht er, sich vom Schmutz und dem
Abschaum des Buches durch das Pflegen von Affären notdürftig zu
reinigen. Widmen wollte er sein Buch eigentlich der amerikanischen
Tänzerin Elizabeth Craig, mit der der hagere Kauz seit einiger Zeit liiert
ist, doch als er die Druckfahnen korrigiert, überlegt er, ob er es nicht
doch lieber den gerade neu hinzugekommenen Damen widmen soll. Ein
Scheusal auf der Pirsch, einer, der mit jeder Frau, die er »nett« findet,
auch schlafen will.
Angst ist das Thema seines Romans, blanke, panische, herzrasende
Angst. In seinen Liebesbriefen, die er parallel schreibt, spielt er den
Unerschrockenen, versucht es zumindest. Die Tonlage darin ist immer
die gleiche: Ektase über den jeweiligen »Popo«, dazu wüste
Beschimpfungen des Jüdischen und des Kommunistischen,
herrschsüchtige Befehle, schmeichlerische Komplimente, dazwischen
Hygienehinweise. Sie sollten, so rät er den Geliebten, sich unbedingt
jeden Mann krallen, den sie kriegen können, und ihn ausnehmen,
»sinnlich und finanziell«. Und am Schluss der Briefe dann jedes Mal ein
»Ich liebe dich sehr«. Was bei ihm in etwa so viel bedeutet wie: »MfG«.
Wenn er seiner jungen deutschen Freundin Erika nach Breslau schreibt,
mit der er im Frühjahr 1932 einige Wochen in seiner Wohnung in der Rue
Lepic 92 zusammengewohnt hat, manchmal noch abschließend ergänzt
um »Heil Hitler« oder »Heil Göring«. Er findet das witzig.
Etwas unübersichtlich wird es im September 1932. Elizabeth Craig ist
noch unterwegs, das große Buch, das ihn so gequält hat, ist fertig, und
jetzt ist ihm langweilig, so lädt er Erika Irrgang, die leidenschaftliche
Geliebte des Frühjahrs, wieder nach Paris ein, schickt ihr sogar
250 Francs per Postanweisung, damit sie sich die Reise zu ihm leisten
kann. Er könne einfach nicht mehr leben ohne ihren Popo, so schreibt er
ihr, »wir werden versuchen, uns also ein kleines bisschen zu amüsieren in
Paris«. Sie will gerade aufbrechen, da erhält sie ein Telegramm, sie
könne doch nicht kommen, er müsse dringend nach Genf. Doch da muss
er gar nicht hin, er muss nur dringend ins Bett – aber mit einer anderen.
Fünf Tage, bevor Erika nach Paris kommen soll, hat er am späten
Nachmittag des 4. September 1932 im Café de la Paix die 27-jährige
Wiener Gymnastiklehrerin Cillie Pam kennengelernt. Er nimmt sie vom
Café mit zu einem Spaziergang, sie reden in einem Mischmasch aus
Französisch, Deutsch und Englisch. Am nächsten Abend gehen sie ins La
Coupole am Montparnasse. Ab diesem Moment verbringen sie zwei
Wochen lang die Abende und Nächte miteinander, gehen spazieren,
gehen ins Kino, gehen ins Moulin Rouge, gehen ins Bett. Sie gesteht ihm,
dass sie verheiratet ist und Jüdin und dass sie einen Sohn hat. Céline
frohlockt, denn so ist seine Freiheit nicht in Gefahr, und er kocht ihr
Nudeln. 1932 endet Célines Antisemitismus immerhin noch an der
Schlafzimmertür. Dann muss Cillie zurück nach Wien. Sie weint, als sie
sich am Bahnhof verabschieden. Er nicht.
Sie schreibt ihm sofort aus dem Zug einen ersten flammenden Brief.
Und er schreibt ihr zurück: »Sie besitzen einen so superben wie
unvergesslichen Popo.« Cillie Palm wird später sagen, dass Céline beim
Essen im Restaurant wie beim Sex mit ihr immer alles sehr lange studiert
habe, das Entrecôte so genau wie ihre Schenkel. Aber am eigentlichen
Akt des Essens wie dem der Liebe habe er kaum Freude gehabt.
Lee Miller wird immer bekannter – als Fotografin. Ihre Zeit als Modell
ist vorüber und auch die als Muse von Man Ray. Sie hat sich von Charlie
Chaplin verführen lassen – und hat danach Aziz Eloui Bey verführt, den
ägyptischen Millionär. Und im Sommer 1932 auch noch Julien Levy,
ihren smarten New Yorker Galeristen, der sie mit seinen Ausstellungen
groß zu machen beginnt in ihrer alten Heimat. Und so verlässt Lee Miller
am 11. Oktober 1932 Paris, sie steigt in der Station St. Lazare in den Zug
nach Cherbourg. Vor allem aber verlässt Lee Miller am 11. Oktober Man
Ray, den großen Fotografen, ihren Lehrmeister – und nun ihren
Konkurrenten. Sie sei die Liebe seines Lebens, schreibt er ihr: »Ich
werde immer auf dich warten.« Er macht ein Selbstporträt von sich – mit
dem Strick um den Hals und der Pistole am Kopf. Da besteigt Lee gerade
das Schiff in Cherbourg und reist nach New York. Das nächste Foto, auf
dem sie zu sehen ist, macht ihr Vater mit Selbstauslöser: »Familie Miller
am Thanksgiving Day«. So endet ein verwirrendes Jahr mit vielen
berühmten Liebhabern für die inzwischen selbst ziemlich berühmte Lee
Miller – beim Truthahnessen daheim, Seit’ an Seit’ mit ihrem geliebten
Herrn Papa.
Und Man Ray, der Verlassene? Der beginnt mit der Arbeit an seinem
berühmtesten Gemälde, Die Liebenden. Er will riesige Lippen malen, die
durch den Himmel schweben. Und um Lee Miller zu vergessen, erinnert
er sich an die roten Lippen ihrer Vorgängerin: Kiki vom Montparnasse.
Einst hatte die ihm, ohne dass er es merkte, auf einer Party der
Surrealisten die frisch geschminkten Lippen auf den Kragen seines
weißen Hemdes gedrückt. Als er sich dann spätabends das Hemd auszog,
entdeckte er den Abdruck. Und fotografierte ihn. Diese Fotos zieht er nun
aus den Schubladen, als Lee Miller ihn verlassen hat. »Eine dieser
Vergrößerungen eines Lippenpaares verfolgte mich wie ein im
Gedächtnis gebliebener Traum«, sagt er. Er bringt direkt über seinem
Bett eine riesige Leinwand an – zweieinhalb Meter breit. Und jeden
Morgen, bevor er von dort ins Atelier geht, malt er im Pyjama auf dem
Bett stehend, in dem er noch bis vor kurzem mit Lee Miller gelegen hat,
an den Lippen von Kiki vom Montparnasse. Eine Art Teufelsaustreibung.
Doch das Bild will einfach nicht gelingen.
Im Herbst des Jahres 1932 gerät die Ehe von Bertolt Brecht und Helene
Weigel in ihre schlimmste Krise. Brecht hat mal wieder mit dem Feuer
gespielt: Für die Premiere seines neuen Stückes Die Mutter hat er die
Rolle der Mutter Helene Weigel übertragen, das Dienstmädchen aber
spielt Margarete Steffin, eine 24-jährige Kommunistin aus der
brandenburgischen Provinz, die ganz aus dem Holz geschnitzt ist, das
Brecht liebt – ein Arbeiterkind, das für den Klassenkampf lebt, fleißig,
unbeugsam, ergeben, ergriffen vom Ethos der Bescheidenheit, zwei
Zöpfe, aber nur eine Mission. Und das rund um die Uhr, obwohl sie an
einer Tuberkulose leidet und alles, also die Proben, die Auftritte, die
gemeinsamen Treffen, um ihre Krankenhausaufenthalte und Kuren
herumgestrickt werden muss. Damit sie in ihrer ersten Theaterrolle
trotzdem brilliert, verordnet ihr der praktizierende Sadist Brecht
Sprechunterricht bei seiner Frau, bei Helene Weigel. So haben sich die
Damen also schon einmal auf sprechende Weise kennengelernt. Doch der
Krieg zwischen ihnen wird dann das ganze Jahr 1932 über eher
schweigend ausgetragen. Und dann ist da ja noch, nicht zu vergessen,
Elisabeth Hauptmann, Brechts engste Mitarbeiterin, Sekretärin,
Inspiratorin. Sie hat jedes Mal verzichtet, wenn der Meister ihr sagte,
dass er für seine Familie da sein müsse, doch nun muss sie mit ansehen,
dass die jüngere Rivalin an ihr vorbei und in Brechts Bett zieht. Aber
Brecht hat keine Zeit, sich um diese Baustelle seines komplexen
Frauensystems zu kümmern – und sie fügt sich, wie immer. Brecht muss
nämlich gerade Helene Weigel und die Kinder zweimal zu Umzügen
zwingen, weil er die fortwährend hustende Steffin in seinen Wohnungen
unterbringen will – und Weigel ihre Familie zu schützen versucht vor der
Infektion. Helene Weigel weiß auch, dass Steffin für die Herzgegend
ihres Gatten eine absolute Risikobegegnung darstellt. Ja, seit er diese
während ihres Kuraufenthaltes in Russland, wohin es die flammende
Kommunistin gezogen hat, im Mai das erste Mal verführt hat, ist es um
seine Beherrschung geschehen. Der Flieder hat so schön geblüht, das
raubt ihm immer den Verstand und der sehnsüchtige Blick der jungen
Margarete ebenso. Er nimmt fortan Steffin überallhin mit, auch nach
Utting am Ammersee, wo er im späten Sommer das erste Mal in seinem
Leben ein Haus mit Garten kauft und versucht, das komplizierte
Beziehungsgeflecht aus Familie und kranker Geliebter dauerhaft zu
etablieren. Doch das misslingt, Helene Weigel und die Kinder reisen
frühzeitig ab – zuerst leben Brecht und Steffin erstmals ungestört ihren
Liebesrausch aus in der schönen kleinen Hütte, draußen der weiche See,
am Haus die Birnen, die langsam reifen, darüber die Wolken, ungeheuer
weit oben. Dieses Liebesverhältnis, im Mai in Russland, im August in
Oberbayern, scheint das körperlichste zu sein, das Brecht je hat. Er
dichtet, voll Testosteron und etwas erschöpft: »Das noch mal zu tun, was
wir schon oft getan, das ist es, was uns so zusammentreibt.« Und an
Hanns Eisler schreibt er einen kleinen Gruß, lädt ihn ein zu kommen:
»Wollen Sie nicht einen Blick in Gretes blaue Augen tun?« Doch Hanns
Eisler kommt nicht. Und dann wird Margarete Steffin schwanger. Brecht
will sie wegen ihrer Krankheit und ihrer privaten Situation zu einer
Abtreibung zwingen, außerdem habe sie doch viel zu wenig Geld, um für
das Kind zu sorgen. Das ist natürlich alles gelogen, er hat schlicht und
ergreifend Angst, dass sich Helene Weigel scheiden lässt. Und dass er
seine »soldatische Gefährtin« verlieren würde, die sich nur ihm widmet,
seiner Lust und seinen politischen Kämpfen, ein Kind würde alles viel
komplizierter machen. Brecht redet stundenlang auf Steffin ein, sie weint,
er ist unerbittlich.
Steffin ist traumatisiert, denn schon 1928 und 1930 hat sie
abgetrieben, das erste Mal sogar Zwillinge, weil sie das Gefühl hatte,
dass es die falschen Väter waren. Doch diesmal ist sie sicher. Brecht
indes überzeugt sie, dass es für die Liebe zwischen ihnen besser sei,
wenn sie das gemeinsame Kind abtreibe. Und Margarete Steffin folgt
dieser männlichen Logik, unter Tränen, wie man ihren Gedichtzeilen aus
diesen Tagen entnehmen kann: »Auch die größte Liebe weiß uns / Bei
der Sorge um Brot keinen Rat. / Wer keine Stellung hat, muss sorgen /
Dass er keine Kinder hat.«
Brecht sorgt auf seine Weise. Er schreibt ellenlange Briefe an Helene
Weigel, dass sie nicht alles so kompliziert machen solle, dass er sie
immer lieben werde und so weiter. Außerdem habe er gerade beruflich
sehr viel zu tun und »fürchte Privatkonflikte«. Seine Frau also versorgt er
mit den klassischen männlichen Konfliktvermeidungsstrategien. Und
seine Geliebte nach der Abtreibung zur Belohnung mit einem
Operationstermin bei dem berühmten Professor Sauerbruch an der
Charité für ihre von der Tuberkulose zerfressenen Lungen. So geht sie
kinderlos und mit ein wenig neuem Atem hinein in die Jahre der
Dunkelheit. Und Brecht bleibt seinem Motto treu: »Bei Sturm
abtauchen.«
Charlotte Wolff verkörpert für die Nazis die Dreifaltigkeit allen Übels:
Nicht nur als jüdische, sondern auch als sozialistische und dazu lesbische
Ärztin muss sie ihren Posten bei der Schwangerschaftsverhütung für die
Allgemeinen Krankenkassen in Berlin räumen. Der Chef teilt ihr mit
großem Bedauern mit, dass ihre Besetzung angesichts der politischen
Lage nicht mehr vertretbar sei. Sie versucht sich daraufhin in Neukölln in
einem elektrophysikalischen Institut durchzuschlagen. Doch bald schon
steht sie schockiert am Fenster und sieht, wie im Herbst 1932 Horden
von jungen Männern mit Nazi-Uniform vor ihrem Institut die Straße
entlangziehen und Spruchbänder mit sich führen, meterlang, auf denen
unmissverständlich steht: »Tod den Juden«. Sicher fühlt sich Charlotte,
die von sich weiß, dass sie ein »unübersehbar jüdisches Aussehen« hat,
von da an nur noch in geschlossenen Räumen und an der Seite ihrer
Partnerin Katherine, die groß und blond und deutsch ist. Aber sie gehen
nie Hand in Hand, so weit ist die Toleranz der Berliner vielleicht in den
späten zwanziger Jahren gewesen, aber nun, 1932, wäre das eine
unkalkulierbare Provokation. Gemeinsam besuchen sie einen Kurs in
Handlesekunst, sie lernen, während sich draußen vor der Tür ihre Heimat
immer mehr verwandelt, dass jeder Mensch in seinen Händen eine
Landschaft mit sich trägt, deren Linien sich nie wandeln. Ob Charlotte in
der Hand von Katherine schon lesen kann, dass die Zeichen auf Abschied
stehen? Katherines Vater drängt sie, die jüdische Geliebte dringend zu
verlassen, um sich selbst zu schützen. Und sie tut es. Charlotte Wolff
taumelt daraufhin wie betäubt durch die letzten Wochen des Jahres 1932.
Robert Musil notiert in sein Tagebuch: »Ich bin der Mann ohne
Eigenschaften, man merkt es mir bloß nicht an. Ich habe alle guten
konventionellen Gefühle, weiß mich natürlich auch zu benehmen, aber
die innere Identifikation fehlt.« Seine Frau Martha versucht es mit
positiver Psychologie, sobald er mit griesgrämigem Gesicht am
Essenstisch sitzt, ruft sie »Mundwinkel hoch«. Aber die Lachmuskeln
sind die einzigen Muskeln, die Robert Musil nie trainiert hat, wenngleich
er ein prachtvoller Ironiker ist. Und doch, trotz aller Unlust am Leben,
trotz allen Schreibhemmungen und Verzweiflungen und ungelebten
Gefühlen, im Herbst 1930 schickt er die ersten sechshundert Seiten des
ersten Teiles seines Manns ohne Eigenschaften an den Rowohlt Verlag
nach Berlin. Als er von der Post zurückkommt, sieht Martha eine Art
Lächeln auf seinem Gesicht.
Ein Jahr später ziehen die Musils von Wien nach Berlin, der weise
Musil ahnt, dass er die Unruhe des Jahres 1913, die er in seinem Mann
ohne Eigenschaften schildert, im Berlin des Jahres 1932 wiederfinden
könnte. Gemeinsam mit Martha lebt er in der Pension Stern am
Kurfürstendamm. Was man so leben nennt: Sie haben kein Geld. Sie
versucht etwas zu kochen, und er sitzt am Schreibtisch und raucht,
inzwischen nikotinfreie Zigaretten. Martha ist wie in Wien häuslich,
warm und still. Und er ist wie in Wien depressiv, kalt und zornig. Sie
macht ihn befangen und hemmt ihn. Und sie schützt zugleich seine
sensiblen Nerven vor den Zumutungen der Welt. Er liebt sie. Im
Dämmerlicht der Berliner Pension, wenn Martha bereits schläft, schenkt
Musil seinem Helden Ulrich eine neue Form der Liebe, seine Schwester
Agathe tritt auf. Manchmal, so gesteht Musil in diesen Tagen dem
Psychologen René Spitz, habe seine Liebe zu Martha geschwisterliche
Züge. Im Dezember des Jahres 1932 erscheint der zweite Band, oder
genauer: der erste Teil des zweiten Bandes des Mann ohne
Eigenschaften. In der Ankündigung des Verlages heißt es über Ulrich,
den Helden des Romans: »Die Frage nach dem rechten Weg schickt ihn
ins tausendjährige Reich der Liebe – und hier schafft der Dichter in den
Erlebnissen der Geschwister Ulrich und Agathe den Mythos der
verbotenen Liebe, das Urbild aller Mystik, neu.« Und wie er das schafft!
Ulrich erklärt seiner Schwester, die Weltgeschichte sei »mindestens zur
Hälfte eine Liebesgeschichte«. Darauf sie: Und unsere Geschichte, mein
lieber Bruder, ist ȟberhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben
kann. Wir werden wohl eine Art letzte Mohikaner der Liebe sein.«
Der November des Jahres 1932 in Berlin. Schneeregen, Wind, Kälte, die
politischen Nachrichten werden immer verhängnisvoller, die SA-
Truppen marschieren durch die Straßen, die jüdischen Intellektuellen
sprechen offen von Emigration: »Abstoßende Verworrenheit der
Situation. Hitler immer noch große Schnauze«, so notiert Klaus Mann am
7. November in seinem muffigen, dunklen Zimmer in der Pension
Fasaneneck in Charlottenburg. Er ist in fataler Stimmung, er treibt durch
die Bars und Bordelle, ernährt sich von kalten Würstchen aus dem Glas,
trifft alte, vergangene Liebschaften und ist auf manischer Suche nach
frischem Koks. Als er eines Nachts zum Sechstagerennen geht, sieht er
dort seinen alten großen Schwarm Gustaf Gründgens, doch er schaut
weg, bevor der ihn erkennen kann. Aber das hilft nichts, nachts träumt er
»zärtlich« von ihm, dem wahren Mephisto. Tags darauf kommen seine
Schwester Erika und Annemarie Schwarzenbach, die ihr so hoffnungslos
und aussichtslos verfallen ist, gemeinsam gehen sie ins Kempinski, um
Austern zu essen und Boheme zu spielen gegen den Albdruck der
Zukunft, der sich wie eine tiefschwarze Gewitterfront langsam über
Berlin aufbaut. Zuvor sind sie, im Sommer, in Venedig gewesen, im
vornehmen Hotel des Bains, sie mussten gemeinsam den Schock über
den Selbstmord ihres geliebten Freundes Ricki Hallgarten verkraften, sie
rauchten, sie tranken, sie badeten, aber Klaus und Annemarie bekamen
ihre Traurigkeit nicht in den Griff, genauso wenig wie hier, in dieser
sinkenden Stadt. Klaus Mann hat dort am 11. Juli 1932 über Ricki
Hallgarten einen ergreifenden Text geschrieben, Titel: »Radikalismus des
Herzens«. Es ist eigentlich ein Selbstporträt: »Er aber meinte, dass schon
das Leben selbst ein Fluch sei, den er keinesfalls mehr aushalten könnte.
Gleichzeitig aber liebte er noch das Leben. Er versuchte mit allen seinen
Kräften zu erzwingen, dass diese Liebe siegte statt dieser Dunkelheit.«
Ausgerechnet im dunklen November versuchen ihrerseits Klaus Mann
und Annemarie Schwarzenbach in Berlin, dass das Leben und die Liebe
siegen. Das ist nicht so einfach. Und so lernt Annemarie Schwarzenbach,
dieser untröstliche Engel, dank der Geschwister Mann nach dem Kokain
nun in diesen schneidend kalten Berliner Tagen auch das Morphium
kennen, »Großes Nehmen bei E.«, bemerkt Klaus immer wieder nach
Besuchen bei Erika. Es schweißt die drei noch enger zusammen, Erika,
die Starke, stets in der Mitte, Klaus und Annemarie, die beiden
Fallenden, zu ihren Seiten, so nehmen sie scheinbar leicht gemeinsam am
Abend die Drogen, doch das Leben am Morgen danach, das nehmen sie
sehr unterschiedlich schwer.
Im Sommer 1932 hatten Ise Gropius und ihr Geliebter Herbert Bayer
ihrem Mann Walter von ihrer Affäre erzählt. Aber mit dem
ausdrücklichen Wunsch, diese fortzusetzen. Und Gropius, der alte
Bauhaus-Meister, liefert in der Moderation dieser Affäre sein emotionales
Meisterstück. Er zeigt allen gegenüber große Nachsicht und vollstes
Verständnis. Seiner Frau gegenüber. Seinem Nebenbuhler und engen
Freund gegenüber. Dessen Frau gegenüber, die ihrem Mann aus Wut das
dreijährige Kind entziehen will. Seiner untreuen Frau gegenüber wird er
nicht müde zu bedauern, in welch schwieriger Lage ihr Geliebter stecke,
dass er sowohl seine Frau als auch seinen Mentor betrüge. Im Dezember
1932 fährt Gropius mit Ise nach Arosa in den Schnee. Ihr gefällt es dort
so gut, dass sie ihren Mann fragt, ob sie noch vier Wochen mit Herbert
Bayer dranhängen könne. Gerne, sagt da Walter Gropius, aber vielleicht
nur vierzehn Tage? Das Eheleben ist eine Frage der richtigen
Kompromisse. Und wenn man, wie Walter Gropius, einmal mit Alma
Mahler verheiratet gewesen ist, ist man kampferprobt.
June Miller kommt Ende 1932 noch einmal nach Paris – um ihre Ehe zu
retten oder um sie endgültig zu zerstören, es ist nicht so genau zu sagen.
Sie zieht zu Henry nach Clichy, der vorher alle seine Tagebücher und
Manuskripte zu seiner Freundin Anaïs Nin gebracht hat, damit seine Frau
sie nicht lesen kann. Henry und June streiten sich rund um die Uhr, bis
morgens um sechs, einmal kommt Anaïs dazu, liegt auf dem Bett,
angezogen, und schaut zu, wie das Ehepaar sich immer weiter betrinkt
und beschimpft. Da zieht June Miller endgültig den Schlussstrich –
während er seinen Rausch ausschläft, schreibt sie auf ein Stück
Toilettenpapier: »Reiche bitte so bald wie möglich die Scheidung ein.«
Das klebt er in sein Notizbuch – neben die Quittung für die
Schiffspassage nach New York für 799 Francs, die er ihr bezahlt hat – mit
dem Geld seiner Geliebten Anaïs. Als June sein Notizbuch sieht und
seine Abschiedscollage, nimmt sie ihre Koffer, geht zur Tür und sagt
spöttisch: »Jetzt hast du endlich das letzte Kapitel für dein neues Buch.«
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1933
Am Abend des 1. Januar feiert das Kabarett von Erika Mann, Die
Pfeffermühle genannt, in der Bonbonniere am Hofbräuhaus in München
Premiere. Das ganze Programm spottet über die Nationalsozialisten und
deren Kleinbürgerlichkeit. Zu Gast: die Eltern Thomas und Katia und der
Bruder Klaus. Auf der Bühne brillieren Erika und ihre Freundin Therese
Giehse. Aber Klaus Mann notiert: »Drei blöde Nazis in einer Ecke.« Die
schreiben alles mit.
Helene Weigel hat in diesem Januar weniger Angst vor dem Ende der
Weimarer Republik als vor dem Ende ihrer inzwischen etwa
tausendtägigen Ehe. Sie spürt, dass es ihrem Mann Bertolt Brecht ernst
ist mit Margarete Steffin. Der aber schreibt ihr und lügt wie gedruckt –
und antwortet auf die Frage, warum er seine Geliebte ausgerechnet in der
direkten Nähe ihrer Wohnung in der Hardenbergstraße einquartiert hat:
»Wie ich dir sagte und wie ich es auch meinte, war die Unterbringung der
Grete eine rein praktische Frage. Es handelte sich keinen Augenblick
darum, sie in der Nähe zu haben.« Doch das scheint Helene Weigel nicht
wirklich zu überzeugen. Darum legt Brecht einen Tag später nach,
offenbar tuschelt das gesamte Theatermilieu bereits über die anzüglichen
Sonette, die zwischen Steffin und Brecht hin und her gehen, und wohl
auch über ihre Schwangerschaft. Dazu Brecht: »Liebe Helli, du solltest
daraus keine große Sache machen. Ich habe einen großen Widerwillen
dagegen, mich von Klatsch und Rücksicht auf die Phantasie einiger
Spießer beeinflussen zu lassen, das weißt du.« Sie weiß nach vier Jahren
Ehe vor allem, dass ihr Gatte großen Widerwillen hat, sich von
irgendjemandem beeinflussen zu lassen außer von sich selbst.
Der erste Emigrant des Jahres 1933 ist George Grosz. In seinen
Zeichnungen, seinen Gemälden hat er die Weimarer Republik verewigt:
die dicken Bäuche, die Zylinder, die nackten Tänzerinnen, den Wahnsinn,
die Armut. Aber wer so genau hinschaut, weiß eben auch, wann etwas zu
Ende ist. Als er kurz vor Weihnachten letzten Jahres von einem kurzen
Lehrauftrag in New York als Dozent an der »Art Students League« nach
Deutschland zurückkehrt, sagt er seiner Frau Eva schon am
Schiffsanleger in Bremerhaven, fünf Minuten nach der Ankunft, er sei
nur gekommen, um sehr bald endgültig abzufahren. Die Kunsthochschule
habe ihm eine dauerhafte Stelle angeboten – 150 Dollar im Monat! Eva
Grosz hat in den letzten Monaten gespürt, dass die Luft für ihre Familie
dünner wird. Als sie im Zug sitzen und George ihr glühend von ihrer
Zukunft in New York erzählt, umarmt sie ihn und sagt: »Ja, lass uns
gehen.« Kaum in Berlin angekommen, beginnen sie ihre große Wohnung
in der Trautenaustraße und sein Atelier in der Nassauischen Straße
aufzulösen. Sie packen alles Wichtige in Container, die nach Übersee
verschifft werden sollen, alles andere verschenken sie, die Uhr tickt. »Es
war wie vor der Premiere eines großen Dramas oder wie vor dem Beginn
einer Schlacht«, sagt George Grosz: »Man räusperte sich überall und sah
immer nervös nach der Uhr, denn in den Zeitungen stand täglich, es sei
nun ganz kurz vor zwölf. Was dann kommen würde, nach zwölf, war
immer nur angedeutet, aber es war nichts Erhebendes, nichts
Freundliches für mich und meine Freunde.« Fieberhaft beenden Eva und
George Grosz ihr Berliner Leben. Am 11. Januar bringen sie ihre Kinder,
den dreijährigen Martin und den fünfjährigen Peter, zu Evas Tante, damit
sie im Sommer nachgeholt werden können. Und dann besteigen sie am
12. Januar in Bremerhaven den Norddeutschen Lloyd Dampfer Stuttgart
und fahren nach Amerika. Auf Nimmerwiedersehen. Das ahnen sie, als
die Motoren laufen und die Gischt sich hinter ihnen im Meer zu Gebirgen
türmt, als das flache norddeutsche Land zu einem Strich in der
Landschaft wird, bevor es verschwindet.
*
Nachdem Josef von Sternberg zu einer Europareise aufgebrochen ist und
Marlene Dietrich sich in Hollywood vernachlässigt fühlt, hat sie im
Winter eine Affäre mit der erfolgreichen Tänzerin und nicht so
erfolgreichen Drehbuchautorin Mercedes de Acosta angefangen. In
eingeweihten Kreisen in Hollywood ist diese vor allem als lesbische
Freundin von Greta Garbo bekannt. Und offenbar reizt genau dies die
Dietrich: der vermeintlich noch berühmteren Schauspielerin einmal
deutlich dazwischenzufunken. Mit ihren Herrenanzügen und ihrer
Herrenunterwäsche spielt sie ganz bewusst mit den sexuellen Identitäten
und Orientierungen – und Mercedes de Acosta ist dafür sehr
empfänglich, seit Greta Garbo zu einer langen Reise in ihre alte Heimat
Schweden aufgebrochen ist. Marlene Dietrich kocht für Mercedes (sie
macht immer gerne Bratkartoffeln für ihre neuen Affären, nur für ihre
Tochter Maria, für die kochte sie nie), und sie schickt ihr fast täglich
weiße Blumen ins Haus. Tulpen seien ihr zu phallisch, sagt Mercedes da,
und so steigt Marlene auf Rosen um. Dazu sendet sie ihr Morgenmäntel,
Dessous, Haarsalben, Seifen und Kuchen. Marlene Dietrich als Delivery
Hero. Am 16. Januar sind, wie Mercedes de Acosta ihr schreibt, schon
drei Monate vergangen »seit jener heiligen und leidenschaftlichen Nacht,
in der du dich mir hingegeben hast«.
Doch die heiligen Wochen enden mit der Rückkehr der Garbo aus
Schweden. Mercedes de Acosta fühlt sich wieder zu ihr hingezogen und
versucht sich der Dietrich gegenüber zu erklären: Die Garbo sei »ein
schwedisches Dienstmädchen mit einem Gesicht, das vom Glanz Gottes
berührt worden ist, das nur an Geld interessiert ist, an ihrer Gesundheit,
Sex, Essen und Schlafen«. Aber sie habe sich ein göttliches Bild von
dieser Frau gemacht und »ich liebe nur diese Person, die ich geschaffen
habe, und nicht die wirkliche Person«. Das kommt Marlene Dietrich
bekannt vor. Es klingt bedenklich nach einer Deutung der Gefühle Josef
von Sternbergs für sie. Der ist ebenfalls aus Europa zurück und verstärkt
sein Werben.
Als die Dietrich überdies erfährt, dass ihre Geliebte all jene Details
von den Dreharbeiten mit Sternberg rumerzählt, die sie ihr im Schutze
der Nacht anvertraut hat, reißt ihr der Geduldsfaden. Mit einer
humorlosen Karte beendet sie ihren lesbischen Kurzfilm in Hollywood.
Mercedes de Acosta jedoch, die Frau, die sowohl Greta Garbo als
auch Marlene Dietrich verführt hat, kann sich ab sofort vor Verehrerinnen
und Verehrern nicht mehr retten. (Nach dem Krieg wird es Truman
Capote sein, der besonders fasziniert ist von ihrem ausschweifendem
Sexualleben. Er denkt sich ein Spiel aus, das er »Internationaler Reigen«
nennt und bei dem so wenige Betten wie möglich gebraucht werden, um
bestimmte Menschen miteinander in Beziehung zu setzen. Mercedes de
Acosta wird darin »die Trumpfkarte, sie ist mit jedem kombinierbar, von
Papst Johannes XXIII. bis zu John F. Kennedy«.)
Als Joseph Roth am 25. Januar mit dem Nachtzug Berlin Richtung Paris
verlässt, ist es ein Abschied für immer. Doch anders als all die, die bald
erstmals in Frankreich landen, kennt Roth das Leben zwischen den
Stühlen und Nationen, in billigen Pensionszimmern in Paris, weiß, wie es
ist, sich tagelang nur von Baguette und billigem Rotwein zu ernähren.
Wenn er ein bisschen Geld mit Artikeln oder Büchern verdient, dann
schickt er, was er nicht vertrinkt, entweder nach Wien, wo seine Frau
Friedl in die Nervenheilanstalt Am Steinhof eingewiesen worden ist, oder
nach Berlin, wo Andrea Manga Bell, seine Geliebte, mit ihren beiden
Kindern lebt. Sie ist zwar keine Jüdin, aber ihr Vater ist Kubaner, und
schwarz zu sein macht das Leben in Berlin für sie und ihre Kinder auch
schwer erträglich. Sie reist Roth erst nach Frankreich und dann in die
Schweiz nach, in Zürich treffen sie den durchreisenden Klaus Mann, wie
der in seinem Tagebuch vermerkt: »Joseph Roth (sehr besoffen,
monarchistisch und spinnig) mit der lieben Negerin.«
*
Erich Maria Remarques Antikriegsbuch Im Westen nichts Neues ist den
Nazis ein Dorn im Auge. Und dessen Autor ganz besonders. Genau einen
Tag vor Hitlers Machtergreifung, also am 29. Januar 1933, steigt
Remarque, der sich im Jahr zuvor ein Haus im Tessin gekauft hat, mit
gepackten Koffern in seinen Lancia und fährt ohne Halt von Berlin durch
bis zur Schweizer Grenze. Dort schneit es, er zeigt den Beamten seinen
Pass, sie schauen argwöhnisch (aber vielleicht kommt es ihm auch nur so
vor), dann lassen sie ihn passieren, der Schneefall wird heftiger, aber
Remarque spürt, wie eine große Last von seinen Schultern fällt. Am
ersten Schweizer Parkplatz fährt er rechts ran und steckt sich eine
Zigarette an. Der Rauch mischt sich zwischen die Schneeflocken. Er
weiß nicht genau, was jetzt kommen wird. Nur das weiß er: endlich
etwas Neues.
Als am 30. Januar 1933 der Untergang beginnt, spricht der junge
Privatdozent Dr. habil. Dietrich Bonhoeffer im Vorlesungssaal der
Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden über den Anfang, also
über die Erschaffung der Welt. Genau auf halber Strecke zwischen den
Schicksalsorten Reichskanzlei und Reichstag spricht er, man mag es
kaum glauben, über Schöpfung und Fall. Als er bei Kain angekommen
ist, der seinen Bruder erschlägt und der »erste Zerstörer«, wie Bonhoeffer
es nennt, werden wird, wird Adolf Hitler von Hindenburg gerade zum
neuen Reichskanzler ernannt.
Bonhoeffer spricht zwischen den Zeilen über den Anfang des
Tausendjährigen Reiches. Die »Prahlerei, wir seien Herren eines neuen
Anfangs, kann nur in der Lüge erreicht werden«, sagt er. Der Mensch
müsse die Demütigung ertragen, dass er eben nicht alles neu anfangen,
nicht neu schöpfen könne. Auch das sei eine Lehre aus dem Sündenfall
von Adam und Eva. Bonhoeffer appelliert an eine Nation an der Schwelle
zu ihrem Verhängnis, er wettert von seinem Lehrstuhl aus gegen den
Glauben, der Mensch könne einen neuen Menschen erschaffen. Als der
Gong ertönt und Bonhoeffer und seine Studenten vor die Tür treten, da
stoßen sie auf die Fackelumzüge der SA, die triumphierend aufs
Brandenburger Tor zu ziehen, um diesen Tag zu feiern. Den Tag, an dem
sie glauben, einen neuen Menschen erschaffen zu können. Mit blankem
Entsetzen und weit aufgerissenen Augen schaut Bonhoeffer auf die
uniformierten Massen mit ihren berauschten Gesichtern und ihren
Fackeln, die sich durch die Straße wälzen wie ein Lavastrom.
Der Sündenfall kommt kurz auf die Erde zurück. Und zwar zufällig. Oder
durch göttliche Vorsehung, je nach Geschmack. Im Pariser Atelier von
Tamara de Lempicka steht ihr gerade eine besonders schöne Frau Modell,
die nach einer Weile so erschöpft ist, dass sie fragt, ob sie sich einen
Apfel aus der Schüssel in der Küche nehmen dürfe. Das Modell läuft
splitternackt zu dem Apfel, nimmt ihn und will hineinbeißen, als Tamara
de Lempicka »Stopp!« ruft: »Nicht mehr bewegen. Sie sehen gerade
genau aus wie Eva. Jetzt brauchen wir nur einen Adam.« Der Künstlerin
fällt ein, dass an der Straßenkreuzung vor ihrem Atelier ein gut
aussehender französischer Polizist den Verkehr regelt. Sie läuft in ihrem
Malerkittel auf die Straße und überzeugt ihn mit dem Hinweis auf die
Schönheit der Eva, die er gleich umarmen dürfe. Er kommt mit,
entkleidet sich, legt den Revolver auf die abgelegte Uniform, umarmt
seine Eva und lässt sich zwei Stunden lang malen. Adam und Eva wird
Tamara de Lempickas schönstes Bild, kalt und warm zugleich. Und wir
wissen: Neben diesem Paar liegt ein geladener Revolver. Also ein ganz
moderner Sündenfall. Hinter den beiden Nackten, dem ersten Liebespaar
der Welt, recken sich die Wolkenkratzer der Gegenwart in den Himmel,
sie werfen, wie die Künstlerin sagt, »unselige Schatten auf diesen
göttlichen, paradiesischen Moment und drohen ihn zu verschlingen, ohne
ihn indes gänzlich zerstören zu können«.
Klaus Mann schreibt am späten Abend des 30. Januar in sein Tagebuch:
»Hitler Reichskanzler. Schreck. Es nie für möglich gehalten. Das Land
der unbegrenzten Möglichkeiten.«
In New York ist der Maler George Grosz nach seiner Emigration mit
seiner Frau Eva im kleinen Hotel Cambridge untergekommen. Abends
fragen sie sich manchmal, ob das alles so richtig und nötig war, diese
überstürzte Abfahrt in ein unbekanntes Land. Das Gehalt als Dozent
reicht kaum fürs Hotel, sie vermissen ihre Söhne, Illustrationsaufträge für
die amerikanischen Zeitungen bleiben erst einmal aus. Doch als er Ende
Januar Briefe von seinen Berliner Nachbarn erhält, die berichten, wie
Polizei und SA in seiner leergeräumten Wohnung nach ihm gesucht und
sein Atelier verwüstet hätten, weiß er, wie richtig alles war: »Heimlich
dankte ich meinem Gott, dass er mich so fürsorglich beschützt und
geführt hatte.« Schon wenige Wochen später wird George Grosz offiziell
aus Deutschland ausgebürgert – auch in diesem Fall ist er der Erste, die
anderen 553 Personen des öffentlichen Lebens, die keine Deutschen mehr
sein sollen, werden ihm bald folgen.
Thomas Mann bricht mit seiner Frau Katia zu einer Vortragsreise nach
Amsterdam, Brüssel und Paris auf, wo er zum fünfzigsten Todestag von
Richard Wagner spricht. Er weiß noch nicht, dass es der Beginn ihres
Exils ist. Aber vielleicht ahnt er es, da er kurz zuvor im Völkischen
Beobachter dies über sich gelesen hat: »Thomas Mann ist ein
frankophiler, erfüllungsbegeisterter, marxistischer, dazu mit dem
Zentrum liebäugelnder, überdies pazifistischer und jüdisch versippter
Kopf.«
Als Heinrich Mann aus seinem Amt als Leiter der Sektion Literatur in der
Berliner Akademie gedrängt wird, ist ihm klar, dass er bald gehen muss,
doch als er bei einem Abendessen am 19. Februar von einem ehemaligen
preußischen Staatssekretär gewarnt wird, sein Name stehe auf den
Todeslisten der Nazis, da weiß er, dass keine Zeit mehr zu verlieren ist.
Am darauffolgenden Tag bereitet er seine Flucht vor. Und entwirft mit
Nelly Kröger, seiner neuen Partnerin, einen genauen Plan. Am nächsten
Morgen ist es so weit. Er nimmt nur seinen Regenschirm als Spazierstock
in die Hand und geht ohne weiteres Gepäck zum Anhalter Bahnhof.
Seine Fahrkarte gilt nur bis Frankfurt. Doch er hat seine Freundin Nelly
zuvor gebeten, den wartenden Zug zu besteigen, um im Gepäckfach
seinen Koffer zu verstauen. Danach steigt sie schnell aus dem Zug und
wartet, bis Heinrich Mann am Gleis eintrifft. Sie läuft zu ihm und raunt
ihm ins Ohr, dass alles über seinem reservierten Platz verstaut sei. Dann
versagt ihr die Stimme und sie muss schluchzen. Heinrich Mann
streichelt ihr kurz über die Wange und dann, als der Schaffner gerufen
hat, besteigt er den Zug. Erleichtert setzt er sich unter sein Gepäck. In
Frankfurt bleibt er eine Nacht, alles soll nach einer Inlandsreise aussehen,
am nächsten Morgen fährt er über Baden weiter nach Kehl, wo er
aussteigt. Er nimmt seinen Koffer und seinen Regenschirm und geht am
22. Februar zu Fuß über die Grenze. »Übergang Pont du Rhin«, so der
Stempel in seinem Reisepass. Zu verzollen hat er nichts. Die
Grenzbeamten wissen nicht, wen sie da gerade ziehen lassen. Sie sagen
»Heil Hitler« und lassen ihn kopfschüttelnd ins Land des Erbfeindes
hinüberspazieren. Als er dann im französischen Zug sitzt, der ihn nach
Toulon bringen soll, trägt Heinrich Mann in seinen Kalender am Tag
seiner Emigration nur ein lapidares Wort ein: »abgereist«. Als der
Völkische Beobachter von seiner Flucht Wind bekommt, da kommentiert
er: »Spurlos verschwunden ist zum Beispiel der ehemalige
Stabstrompeter der Novemberakademie.« Im Tagebuch seines Freundes
Wilhelm Herzog, der ihn in Toulon vom Zug abholt, steht: »Toulon.
Heinrich Mann. Glücklich entronnen dem 3. Reich. Lacht, freut sich wie
ein Kind.« Nie wieder wird Heinrich Mann nach Deutschland
zurückkehren.
Am Abend des Rosenmontags des Jahres 1933, dem 27. Februar, feiern
die Münchner Kammerspiele ihren Faschingsball im Regina-Palast-
Hotel. Alle sind verkleidet und tragen Masken, es hat etwas
Unheimliches und Entlastendes, nicht zu wissen, mit wem man tanzt. Ein
lächelnder Clown bittet Erika Mann zum Tango, sie wirbeln über das
Parkett, als er ihr plötzlich ins Ohr haucht: »Der Reichstag brennt.« Sie
antwortet spontan: »Lass ihn brennen.« Doch dann, ein paar Sekunden
später, fragt sie den mysteriösen Clown: »Wieso brennt er?« Da schreien
plötzlich überall auf der Tanzfläche die Clowns, die Harlekine, die
venezianischen Damen und die Piraten: »Der Reichstag brennt!« Erika
Mann wird nie erfahren, wer der Clown war, der ihr am Rosenmontag
1933 als Erster die Wahrheit sagt.
Als Alfred Döblin hört, dass der Reichstag brennt, packt er einen kleinen
Koffer. Am frühen Morgen des 28. Februar fährt er mit dem Zug nach
Süddeutschland, immer weiter, bis es nicht mehr geht. Dann steigt er aus
und läuft los. Geht durch das letzte deutsche Dorf und schlendert dann
mit pochendem Herzen über eine Wiese hinüber in die Schweiz. Bald
kommt seine Frau Erna nach, später auch die Kinder. Sie alle emigrieren
weiter nach Paris.
Dorthin folgt ihm Yolla Niclas, seine jüdische Geliebte der zwanziger
Jahre, der Erna Döblin zuletzt in Berlin Hausverbot erteilt hat. Sie
arbeitet als Fotografin in Paris und erfährt von anderen Emigranten
Döblins Telefonnummer. Sie ruft ihn an, Alfred Döblin ist so beglückt
wie verstört. Er bittet Yolla, nicht noch einmal anzurufen, die Hölle, die
er danach von Erna würde ertragen müssen, könne er nicht aushalten. In
diesem Moment weiß Yolla Niclas, dass auch die Emigration nichts an
den Bedingungen ändert, unter denen eine Liebe wachsen kann – oder
verkümmern muss.
*
Kurt Wolff und Helene Mosel, noch berauscht von ihrem Sommer an der
Küste des Mittelmeeres, erleben einen turbulenten Winter in Berlin. Sie
wohnen zunächst bei der Schwester von Kurts Ex-Frau. Und er trifft sich
mit allen ehemaligen Berliner Bekannten und Geliebten und stürzt sich
nach den einsamen Monaten in Südfrankreich in ein aufwendiges
Gesellschaftsleben, hofft auf einen Posten als Rundfunkintendant. Helene
bleibt meist zu Hause und schreibt – sowohl der Rowohlt als auch der
Ullstein Verlag interessieren sich für ihr Buch Hintergrund für Liebe, das
sie im vergangenen Sommer am grünen Gartentisch in Saint-Tropez
verfasst hat. Aber die Wolken hängen immer tiefer über Berlin. Helene
schreibt an ihren Bruder Georg: »Was ich hier höre, sehe, fühle, ist
Massenrausch, Massenwahnsinn, Massenpsychose, eine Stimmung, die
an 1914 erinnert.« Das schreibt sie am 26. Februar. Gleich in der
nächsten Nacht, in der der Reichstag brennt, beginnen sie ihre Koffer zu
packen. Verabschieden sich am 1. März von all ihren Freunden. Und
besteigen abends den Nachtzug nach Paris, wo sie am 2. März
ankommen. Auch Kurt Wolff, der Verleger Kafkas und Trakls, ist nun zur
Emigration gezwungen. Und Helene, seine jüdische Gefährtin, umso
mehr.
Ende März heiraten sie in London. Helene Mosel wird zu Helen
Wolff.
Der Romanist Victor Klemperer, der minütlich auf die Entlassung aus
dem Universitätsdienst wartet, der auf den Straßen Dresdens von den
alten Bekannten gemieden wird, weil er Jude ist, hat nur noch eine letzte
Zuflucht: den Film, diesmal im Capitol-Kino, Menschen im Hotel nach
Vicki Baum – und mit Greta Garbo. »Ich bin so gern im Kino, es entrückt
mich«, schreibt er am 12. März. Aber seine Frau will sich so selten mit
ihm gemeinsam entrücken lassen: »Eva ist so schwer zum Besuch zu
bewegen. Und wenn es ihr dann nicht zusagt und sie elend dort sitzt,
habe ich doch keinen Genuss.«
Vicki Baum selbst hat Deutschland mit ihrem Mann, dem Dirigenten
Richard Lert, und ihren beiden Söhnen bereits 1932 verlassen. Sie sind in
Amerika zu Menschen im Hotel geworden. Aber als Victor Klemperer
den Film nach ihrem Buch sieht, da ist sie ganz in Hollywood
angekommen, lebt in einem weißen Haus in den Hügeln über Santa
Monica. Bald schon werden all ihre Bücher aus deutschen Bibliotheken
und Buchhandlungen verbannt, sie sei, so schreibt der »Kampfbund
Deutsche Kultur«, die »Jüdin Vicky Baum-Levy« und zudem eine
»Asphaltschriftstellerin, die im Ausland gegen das nationale Deutschland
hetzt«. Gleichzeitig erscheint eine Homestory in der Vanity Fair über
ihren neuen Wohnsitz im Amalfi Drive 1461 in den Hollywood Hills –
dort heißt es, dies sei »das deutsche Haus einer deutschen Familie«.
Am 13. März verlassen Erika und Klaus Mann am selben Tag, aber in
unterschiedlichen Richtungen, ihre Heimat. Erika Manns Kabarett Die
Pfeffermühle haben die Nationalsozialisten sofort nach der
Machtübernahme verboten, die Nazi-Presse wütet gegen sie. Sie ist noch
einmal ganz kurz nach München in die Villa ihrer Eltern in der
Poschingerstraße gefahren, um die wichtigsten Dokumente des Vaters zu
sichern – und so packt Erika als Erstes das angefangene Manuskript zu
Joseph und seine Brüder ein. Dann fährt sie mit ihrem Auto in Richtung
Arosa. Ihre Freundin Therese Giehse flieht mitten aus einer Probe aus
den Kammerspielen zunächst nach Österreich – und von dort weiter zu
Erika in Arosa. Als Erika ins Auto gestiegen ist, packt auch Klaus Mann
seine Koffer, verbringt noch eine zärtliche Stunde mit seinem
zeitweiligen Geliebten Herbert Franz im leeren Familienhaus in der
Poschingerstraße und besteigt abends den Nachtzug nach Paris. Als er am
14. März dort ankommt und im Hôtel Jacob für einen Monat ein Zimmer
im vierten Stock mietet, nimmt er sein Tagebuch aus dem Koffer, zieht
eine Linie unter alles Vorige und schreibt mit fester, trotziger Hand quer
über die Seite: »Beginn der Emigration«. Sein erster Gedanke und sein
erster Traum im Exil: Erika, seine Schwester. »Einsamkeitsgefühl doch
immer nur, wenn sie nicht da ist.« Das muss wohl Liebe sein.
*
Am 17. März lässt die nationalsozialistische Stadtregierung von Dessau
eine Durchsuchung im Meisterhaus von Bauhaus-Lehrer Paul Klee und
seiner Frau Lily durchführen. Zahlreiche Zeichnungen und Dokumente
werden beschlagnahmt. Das Atelier durchwühlt. Klee sei, so heißt es, in
Wahrheit vermutlich ein galizischer Jude. Er zieht daraufhin
unverzüglich mit seiner Frau nach Düsseldorf um, wo er eine Professur
für Malerei hat. Doch am 21. April wird auch diese Professur mit
sofortiger Wirkung gekündigt.
Am 23. März besucht Klaus Mann Käthe von Porada in ihrer Pariser
Wohnung. Sie gibt einen kleinen Empfang anlässlich des Besuches des
Malers Max Beckmann, der ihr Geliebter ist. Kaum ist dieser zurück in
Frankfurt bei seiner Frau Quappi, wird er vom Städel, wo er als Professor
Malerei lehrt, entlassen. Er beginnt, an seinem monumentalen Triptychon
Abfahrt zu arbeiten – in eine mythologische Welt verlagert, erzählt er hier
von den Schmerzen des Abschieds. Er selbst wird aber noch ein paar
Jahre ausharren, bevor er Deutschland endgültig verlässt.
In die Riege der berühmten Männer von Alma Mahler-Werfel, also neben
Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, Walter Gropius und Franz Werfel, darf
man auch einen fünften Herrn zählen, der sich durch zwei Eigenschaften
besonders auszeichnet: Erstens ist er Priester und zweitens ist er 1933
Österreichs größter Experte für Ehenichtigkeitsprozesse. Das muss einen
ungeheuren Reiz auf Alma Mahler-Werfel ausgeübt haben. Und als im
März Franz Werfel zum Schreiben nach Italien fährt, da macht die 54-
jährige Gattin ebenjenen 38-jährigen Johannes Hollnsteiner zu ihrem
Beichtvater. Alma Mahler-Werfel gewinnt Freude an der Sündenschaukel
des Katholizismus, aus dem beruhigenden Wechselspiel aus Sünde und
Vergebung, und offenbar scheint dieser junge Augustiner, Chorherr des
Stifts St. Florian, die ideale Person, um beides quasi gleichzeitig zu
erledigen.
Ja, Alma Mahler-Werfel, die täglich leidet an dem, was sie an ihrem
Gatten als jüdisch erkennt, verliebt sich sehr leidenschaftlich in ihren
geistlichen Intimus. Sie schreibt in ihr Tagebuch: »Die unbegreiflich
lange Nacht dieses Winters ist einem föhnigen Frühlingsahnen gewichen.
Es ist kaum zum Aushalten!« Sie bricht sogar einen Aufenthalt bei
Werfel, der in Italien an Die vierzig Tage des Musa Dagh arbeitet,
frühzeitig ab, um zurück nach Wien zu reisen. Am 5. März vermeldet sie
voller Stolz: »J.H. ist 38 Jahre alt und ist der FRAU bis jetzt nicht
begegnet. Mich sieht er anders, und ich segne mich dafür. Er sagte:
Niemals war ich einer Frau so nah. Du bist die Erste und wirst die Letzte
sein.«
Das bleibt nicht unbemerkt. Hollnsteiners Auto parkt fast täglich vor
dem Werfel’schen Haus auf der Hohen Warte, und wann immer Alma
kann, besucht sie die Messen, die Hollnsteiner liest. Dankbar vermerkt
Alma, dass ihr Beichtvater ganz im Hier und Jetzt lebe und viel
Verständnis habe für ihr »sündiges Vorleben«. Aber der Priester mit dem
Bubengesicht und der Nickelbrille scheint auch ansonsten eine eher freie
Auslegung der katholischen Sexualmoral zu favorisieren. Er erklärt
Alma, das Keuschheitsgebot gelte streng genommen nur, solange man
den Talar anhabe. Und sie glaubt ihm das gerne: »Nie hat er noch das
Wort Sünde ausgesprochen – und ich, muss ich päpstlicher sein als der
Papst? Beide sind wir gebunden. Er an die Kirche, ich an Werfel.« Ein
Gleichgewicht der Kräfte also. Sie schreibt ihm: »Ich liebe dich – ich
liebe dein Wirken in der Welt und auf mich. Ich sehne mich nach dir.«
Wieder einmal wird Alma Mahler-Werfel zu der Frau, die ihr Gegenüber
in ihr sehen will. Wie schon bei Mahler, bei Gropius, bei Kokoschka und
Werfel, so macht sie jetzt Johannes Hollnsteiner glauben, sie sei das,
wonach er sich immer gesehnt hat. Und weil es auf Erden so schön ist,
bittet Alma ihn, ihre Hand zu halten, wenn sie einst in den Himmel
aufsteige. Denkt sie wohl auch darüber nach, ob ihr Geliebter ihre eigene
Ehe für nichtig erklären könnte?
*
Die Sieben, so schreibt Lotte Lenya an Kurt Weill, sei ihre Glückszahl.
Sie lässt sich in diesem Glauben keineswegs dadurch beirren, dass sie
beim Roulette in Monte Carlo auch dann nichts gewinnt, wenn sie auf
ebenjene Sieben setzt. Nein, es sei ein gutes Omen, dass Weill ihr ein
Haus in der Wissmannstraße 7 gekauft hat. Und außerdem sei 1933 ja das
siebte Jahr ihrer Ehe. So frohgemut also schreibt sie ihm vom
Mittelmeer, wo sie gerade mit ihrem Geliebten Otto Pasetti nach
angeblich todsicheren Methoden das Geld von Kurt Weill in den Casinos
verspielt. Kurt Weill bekommt derweil in der Wissmannstraße 7 in
Kleinmachnow bei Berlin, wo er entsprechend alleine ohne die Gattin
wohnt, noch andere Post: »Juden wie Sie sind bei uns nicht erwünscht«,
steht da. Und vieles, was er aus Höflichkeit nicht wörtlich zitiert. Als die
Aufführung seines neuen Stückes Silbersee in Magdeburg von
prügelnden SA-Männern verhindert worden ist, zieht Weill
Konsequenzen. Er übernachtet in Berliner Hotels oder bei seinen
Freunden Caspar und Erika Neher. Seit Caspar sich als homosexuell
geoutet hat, kümmert sich dessen Gattin in allen Belangen um den
verlassenen Weill. Am 22. März fahren alle drei in Berlin mit dem Wagen
los – Richtung französische Grenze. Um sich nicht verdächtig zu
machen, muss Weill alles zurücklassen, selbst seinen geliebten
Schäferhund Harras. Das Haus übrigens wird im Laufe des Jahres
verkauft und der Erlös von Lotte Lenyas Geliebtem Pasetti komplett in
den Casinos von Monte Carlo und Nizza verspielt. Weill hatte ihm eine
Vollmacht ausgestellt, da er als Jude das Haus nicht selbst verkaufen
konnte.
*
Ende März gehen in Ibiza drei Personen an Land, die in Deutschland eine
gewisse Berühmtheit erlangt haben: der Dada-Künstler Raoul Hausmann,
seine Ehefrau Hedwig Mankiewitz und seine Muse und Geliebte Vera
Broido. August Sander hat das robuste Trio in der Fotografie Die
Künstlerehe verewigt. Das erregt in Berlin jedoch inzwischen zu großes
Aufsehen. Am 9. März sind sie geflohen. Nun wollen sie ihre
revolutionäre Lebensform auf Ibiza erproben. Sie finden in einem
herrlich abgeschiedenen Tal das alte Bauernhaus Can Palerm und richten
sich dort ein. Hedwig Mankiewitz kümmert sich um den Haushalt, ihr
Gatte und seine Muse kümmern sich um die Kunst.
Man Ray schert sich nicht um die Politik. Er interessiert sich nur für die
Liebe. Weiterhin malt er jeden Morgen an den riesigen Lippen über
seinem Bett. Im Herbst hat er eine zweieinhalb Meter breite Leinwand
aufgehängt, um Die Liebenden zu malen, zwei fliegende Lippen, dem
Kussmund seiner einstigen Geliebten Kiki nachempfunden. Doch in
diesem Frühjahr merkt Man Ray: Es klappt nicht. Sie hat zu
gleichmäßige Lippen. Er beginnt daran herumzudoktern. Danach sehen
die Lippen fürchterlich aus. Irgendwann reißt er die Leinwand wütend
vom Keilrahmen, da fällt sein Blick plötzlich auf ein Foto seiner letzten
Freundin Lee Miller, seiner größten Liebe, die ihn im Winter verlassen
hat. Er sieht ihre Lippen. Diese schmalen, zauberhaften Lippen. Und da
weiß er, dass sie es sind, die er eigentlich immer malen wollte. Er beginnt
ein neues Bild. Lee Millers Lippen, zwei Meter lang, aber ein wenig
schräg, so wie sie den Kopf gerne gehalten hat, so sollen sie über den
Himmel schweben. Morgen für Morgen malt er nun, bevor er ins Atelier
geht, an diesen neuen Lippen auf der riesigen Leinwand über seinem
Bett, in dem er sie zum ersten und zum letzten Mal geküsst hat.
Voll Schrecken erleben die jungen Sozialisten Willy Brandt und seine
Freundin Gertrude Meyer am 1. April in Lübeck den Boykott jüdischer
Geschäfte, das Anspucken von Juden auf offener Straße, die brachiale
Gewalt der neuen nationalsozialistischen Macht. Am nächsten Abend
umarmen sich der neunzehnjährige Willy Brandt und die zwanzigjährige
Gertrude Meyer noch einmal lange, dann bricht er nach Travemünde auf,
wo ihn ein Fischerboot im Schutz der Nacht mit in den Norden, nach
Rødbyhavn nehmen will. Von dort reist er über Kopenhagen weiter mit
dem Passagierschiff Dronning Maud nach Oslo in sein norwegisches
Exil. Er hat nicht viel dabei, einhundert Reichsmark von Großmutter,
einen Band des Kapital von Karl Marx und einen Treueschwur von
Gertrude. Schnell wird er in Oslo Teil der norwegischen Arbeiterpartei,
schreibt für ihre Zeitung über Deutschland und kann Ende Juni die neue
Sprache so gut, dass er keine Dolmetscherin mehr braucht. Am 9. Juli
kommt Gertrude Meyer aus Lübeck zu ihm in sein Exil. Sie ist im Mai
nach der Verbreitung antifaschistischer Flugblätter inhaftiert worden.
Sofort nach Ablauf der Gefängnisstrafe bricht auch sie als »Touristin« auf
in die Emigration. Willy Brandt und Gertrude Meyer leben ab Juli 1933
für einige Jahre zusammen in Oslo – aber als er 1972 dort den
Friedensnobelpreis erhält, lädt er sie nicht ein, was sie maßlos
enttäuschen wird.
*
Else Lasker-Schüler, die ihre Zunge immer noch mit Salbei pflegen
muss, nachdem sie von Nazi-Schergen in Berlin auf offener Straße
zusammengeschlagen worden ist, packt am Abend des 18. April ihre
Habseligkeiten und Kleider in Koffer und Schachteln, beschriftet sie und
bittet das Hotel Sachsenhof, sie bis auf weiteres unterzustellen. Sie weiß,
dass sie als Jüdin dieses Land so schnell wie möglich verlassen muss. In
ihrer Heimatstadt Wuppertal ist eine Lesung abgesagt worden, weil man
Angst um ihr Leben hatte. So steigt sie am Morgen des 19. April in den
Zug nach Zürich. Sie hat sich kreidebleich von ihren verbliebenen
Freunden zum Bahnhof eskortieren lassen und hält dann im Abteil für
viele lange Stunden panisch ihre Handtasche fest umklammert. Wagt
keinen Gang zur Toilette. In Zürich taumelt sie aus dem Zug, fast
besinnungslos. Sie kann sich nicht verzeihen, nicht noch einmal die
Gräber ihrer Vorfahren in Wuppertal besucht zu haben. Sie zieht durch
das abendliche, kalte Zürich, mit drei Taschen behängt, sie hat nichts zu
essen, sie bettelt, und sie schläft die ersten Nächte unter einem Baum am
See, von ihrem Mantel nur notdürftig bedeckt. Die größte Dichterin des
deutschen Expressionismus ist am Ende.
Nur die Bäume können Konrad Adenauer noch trösten. Er flüchtet aus
der Politik, die er täglich in den Zeitungen verfolgt, in die strengen
Abläufe des Klosterlebens in Maria Laach. Wann immer es geht, schlüpft
er durch die Pforte und geht hinaus in die Natur: Ȇber Nacht ist der
ganze Buchenwald grün, ich habe noch nie so schöne Vergissmeinnicht
gesehen wie hier in den Wäldern«, so schreibt er an seine vertraute
Freundin Dora Pferdmenges in Köln. Und: »Ich bin ganz bewegt und
erschüttert von der ungeheuren Kraft, welche die Natur in diesen sechs
Wochen entfaltet hat; sie schafft wirklich Ungeheures in dieser Zeit.«
Doch es ist leider nichts gegen das Ungeheure, was die Politik schafft in
diesen sechs Wochen, als im Jahre 1933 der Frühling in Deutschland
beginnt.
Es wird langsam leer in Berlin, wie Max Schmeling mit steigender Angst
vermerkt: »Vom Frühjahr 1933 an vermissten wir im Roxy, bei Änne
Maenz, im Romanischen Café jede Woche einen anderen aus unserer
Runde. Moldauer war der Erste gewesen, bald suchten wir vergeblich
Fritz Kortner, irgendwann fehlte auch Ernst Deutsch, und eines Tages
war Ernst Josef Aufricht gegangen. Dann war die Bergner weg, dann
Richard Tauber, schließlich Albert Bassermann. Man hörte, dass auch
Bertolt Brecht und Kurt Weill emigriert seien.«
In den frühen Morgenstunden des 11. April 1933 legt Walter Benjamin,
der über Paris nach Barcelona weitergereist ist, mit der Ciutad de Malaga
am Hafen von Ibiza-Stadt an. Es ist 6.15 Uhr in der Frühe. Ein
strahlender Frühlingstag beginnt. Benjamin erinnert sich an Ibiza im
vergangenen Jahr. Das kurze Glück mit Olga hier am Strand und im
Boot – die darauf folgenden Dunkelheiten kann er gerade verdrängen, die
Sonne scheint dafür zu stark. Er atmet auf, endlich eine Zeit ohne Angst
vor Verfolgung durch die Nazi-Schergen, die ihn in Berlin panisch und
schlaflos gemacht hat. Ibiza im April 1933 bedeutet für ihn: So weit wie
irgendwie möglich weg von Berlin. Aber eben noch im alten Europa,
seinem angestammten Terrain. Und er braucht einen Ort, an dem das
Leben so wenig kostet, dass er es mit dem wenigen, was ihm bleibt,
bezahlen kann. Außerdem will er seine Ruhe haben. So wird Ibiza, das
ein Jahr zuvor noch sein Flucht- und Urlaubsort gewesen ist, nun zum
ersten Ort seiner endgültigen Emigration. Diesmal ist alles beschwerlich.
Plötzlich sind überall Touristen aus Spanien und Deutschland, vor denen
Benjamin flüchtet. Es gibt keine richtige Unterbringung für ihn, er wohnt
in einem halb fertigen Neubau der Noeggeraths, an dem der Wind zerrt,
wie er an Gretel Karplus, Adornos Verlobte, in Berlin schreibt. Er fühlt
sich maximal unwohl. Morgens um sechs steht er auf und geht zu seinem
am Hang versteckten Liegestuhl, um in der milden Morgensonne zu
lesen. Um acht Uhr öffnet er seine Thermosflasche mit Kaffee und isst
ein Brot. Und arbeitet im Halbschatten weiter bis ein Uhr. Aber jeden
Nachmittag kommt ein heftiger, böiger Wind. Der bläst ein ums andere
Mal die beschrifteten Blätter in die Höhe und in den Pinienwald, und ein
vernünftiges Arbeiten ist unmöglich. So zieht er dann immer öfter ins
Dorf San Antonio: »Manchmal braucht man doch den Anblick eines
Glases Kaffee vor sich als Stellvertreter einer Zivilisation, von der man
sonst hinreichend distanziert ist«, schreibt er. Immerhin hat Walter
Benjamin mehr zu tun, als er gedacht hat. Er kann in den nächsten
Monaten oft Rezensionen für deutsche Zeitungen von Ibiza aus
schreiben – nicht mehr unter seinem Namen zwar, aber als »Detlef
Holz«, »Hans Fellner« und »Karl Gumlich«, was offenbar ausreichend
arisch klingt und gedruckt wird. Aber Benjamin hat große Angst um
seinen fünfzehnjährigen Sohn Stefan Rafael, der noch in Berlin lebt, der
nicht nur Jude, sondern inzwischen auch aktiver Kommunist ist. Dessen
Mutter Dora, Benjamins Ex-Frau, hat ihre Arbeitsstelle verloren, und
Benjamins Bruder Georg ist inhaftiert. Benjamin schreibt ein Gedicht:
»Das Herz klopft lauter und lauter und lauter, das Meer wird stiller und
stiller und stiller. Bis auf den Grund.«
Marlene Dietrich sitzt in Hollywood und weiß nicht, was sie tun soll. Sie
will zurück nach Berlin, ihr geliebtes Berlin, sie sehnt sich nach dem
Lachen, das sie manchmal überfiel, wenn sie im Cabrio über den
Kurfürstendamm gefahren ist. Doch ihre Mutter Josephine, die dort noch
lebt, warnt sie und ebenso Josef von Sternberg, ihr Geliebter und ihr
Regisseur, der ausgerechnet in Berlin ist, als dort der Reichstag brennt.
Er schickt ihr ein Telegramm, dass sie auf keinen Fall in dieses Land
reisen soll, das in Auflösung begriffen sei. Doch Marlene Dietrich will
mit ihrer Tochter Maria unbedingt nach Europa. Dann eben nach Paris,
wo ihr Mann Rudi Sieber inzwischen lebt, mit seiner Freundin, Marias
ehemaligem Kindermädchen. Aber leider lebt in Paris auch die Ehefrau
von Maurice Chevalier, jenem französischen Schauspieler, mit dem die
Dietrich aus Langeweile gerade eine halbgare Affäre angefangen hat.
Vielleicht also doch lieber nach Berlin, in die vertraute Heimat? Rudi
Sieber wird am 8. Mai deutlich in seinem Telegramm: »SITUATION
BERLIN SCHRECKLICH – ALLE ABRATEN – SELBST EDI
DER NAZI FÜRCHTET ANPÖBELUNGEN – BARS
GRÖSSTENTEILS GESCHLOSSEN – THEATER KINO
UNMÖGLICH – STRASSEN LEER – ALLE JUDEN UNSERER
BRANCHE IN PARIS WIEN PRAG – ERWARTE DICH MIT
MUTTI CHERBOURG SPÄTER SCHWEIZ ODER TIROL.« Die
Antwort darauf ist sehr überraschend, es wirkt, als habe Marlene Dietrich
unversehens Sehnsucht nach ihrem Ehemann: »WILL NICHT TIROL
HASSE EINSAMKEIT WILL MIT DIR FRANZÖSISCHES BAD
KÜSSE SEHNSÜCHTIG MUTTIKATER.« Als sie dann wirklich
ankommt in Paris, spielt sie wieder die Rolle als Weltstar: Sie trägt einen
hellen Herrenanzug, darüber einen leichten dunklen Sommermantel, eine
Sonnenbrille und ihr undurchschaubares Lächeln, neben ihr am Bahnhof
und fortan an ihrer Seite: Rudi. Wissend, dass nun von ihm erneut, wie
vor einem Jahr in Hollywood, die Rolle des treuen Ehemanns gefragt ist,
lässt er sich bereitwillig fotografieren. Statt nach Tirol ziehen sie in eine
Suite im Hôtel Georges V, danach fahren sie tatsächlich an die Riviera.
Jeden Tag treffen nun aus Hollywood Telegramme von Josef von
Sternberg ein, manchmal drei am Tag: »GELIEBTE GÖTTIN ALLES
IST SO LEER« oder »ICH VERMISSE DICH MIT JEDEM
GEDANKEN« oder »DU UNVERGLEICHLICHES WEIB UND
SCHÖNSTE DER SCHÖPFUNG«. Ganz allmählich fängt die
Schwärmerei an, ihr auf die Nerven zu gehen.
Marlene Dietrich verbringt also den Sommer in Paris und an den
Badeorten des Mittelmeers, so wie viele andere Deutsche in diesem
Jahr – aber eben nicht als angsterfüllte Emigrantin, sondern als mondäne
und gelangweilte Touristin.
Christopher Isherwood erlebt in dieser Zeit in Berlin all das, was später
durch die Verfilmung seiner Bücher in Cabaret mit Liza Minelli
weltberühmt werden wird. Er wohnt in der Pension von Fräulein Thurau
in der Nollendorfstraße, unterrichtet »Natalia Landauer« in Englisch und
trifft auf jene Jean Ross alias »Sally Bowles«, die ihm klarmacht, dass sie
»nur dann eine große Schauspielerin sein kann, wenn sie ein paar
Liebschaften hinter sich hat«. Er erlebt, wie Nazis und Kommunisten
sich auf den Straßen prügeln und wie die Angst Einzug hält in Berlin.
Wie sein geliebtes Cosy Corner, die kleine, mit Arbeiterjungs gefüllte
Schwulenbar in der Zossener Straße 7 mit Ausstrahlung bis nach London
und New York, zu einem immer ungemütlicheren Ort wird. Isherwood
verbringt Momente der Liebe mit seinem jugendlichen deutschen Freund
Heinz Neddermeyer, der für ihn ständig Schnitzel und Buletten brät. Und
er schreibt an Stephen Spender, seinen Freund, er müsse noch eine Weile
in Berlin bleiben: »Der Schlussteil meines Romans erfordert noch viele
Recherchen.« Doch im Frühjahr 1933 sind seine Feldstudien
abgeschlossen. Seine Berlin Stories enden mit einem Tagebucheintrag
aus dem Winter zwischen 1932 und 1933. »Es lag tiefe Angst in der
Berliner Luft«, so schreibt er. Seine jüdischen Freunde sind emigriert,
seine homosexuellen Freunde werden verhört und gejagt, ihre Bars
geschlossen. Als am 6. Mai das Institut von Magnus Hirschfeld
geplündert wird, mit dem Isherwood so eng verbunden ist, weiß er, dass
es an der Zeit ist zu gehen. Er sieht, wie die Schriften aus dem Institut für
Sexualwissenschaft mit anderen Büchern von Tucholsky, Carl von
Ossietzky und Erich Maria Remarque am 10. Mai verbrannt werden.
Daraufhin fängt er an, sich zu verabschieden, seine Habseligkeiten zu
verschenken und den Rest in zwei Koffer zu packen. Er nimmt wenig
mit, aber auf jeden Fall Heinz, seine große deutsche Liebe, für den er
einen Reisepass organisiert hat. Am 14. Mai ist es so weit: »Nun ist der
Tag gekommen, der zu schön ist, zu schlimm, um wahr zu sein, der Tag,
an dem ich Deutschland verlassen soll.« Heinz holt Christopher
Isherwood um sechs Uhr morgens ab. Der verabschiedet sich von seiner
Pensionswirtin, Fräulein Thurau. Schweigend geht es mit dem Taxi zum
Anhalter Bahnhof. Von dort fahren sie nach Prag. Im Reiseantrag seines
homosexuellen Freundes Heinz hat Isherwood als Beruf »Hausdiener«
eingetragen. So lassen sie die deutschen Grenzbeamten passieren. Die
beiden wissen noch nicht, dass für sie eine vierjährige Wanderschaft
durch ganz Europa und Afrika begonnen hat.
Magnus Hirschfeld ist schon ins Exil gegangen, bevor die modernen
Zeiten der Nationalsozialisten begonnen haben. Der legendäre
Sexualforscher weiß, dass er die Verkörperung all dessen ist, was die
Nazis hassen: Er ist Jude, schwul und Sozialist, er hat das Berliner
Institut für Sexualwissenschaft aufgebaut, und sein Museum genießt
unter Homosexuellen weltweit einen legendären Ruf. Von seiner
Vortragsreise durch Amerika, Asien und Russland kehrt er zunächst nach
Ascona zurück, an die friedlichen Gestade des Lago Maggiore, doch
zieht es ihn von dort bald weiter nach Paris. An seiner Seite: seine neue
große Liebe, der 25-jährige Chinese Li Shiu Tong, der Hirschfeld dank
seines Vermögens auch finanziert, und sein langjähriger Berliner
Geliebter, Karl Giese. Die drei leben erst in der Schweiz und dann in
Frankreich eine innige, aber nicht unkomplizierte Ménage-à-trois. Im
Mai 1933 müssen sie in einem Pariser Kino in einer Wochenschau mit
ansehen, wie plündernde Nazi-Horden ihr Institut für Sexualwissenschaft
dem Erdboden gleichmachen und die gesamte Bibliothek, die Büste
Hirschfelds, 30000 Fotografien und die wichtigsten Dokumente bei der
großen Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz ins Feuer werfen. Was
für ein Albtraum – die Zerstörung der eigenen, jahrzehntelangen
Forschung im Kinosessel als ohnmächtiger Zuschauer miterleben zu
müssen. Giese und Li Shiu Tong müssen ihren 65-jährigen Freund
stützen, als sie das Kino verlassen und in die Pfützen einer verregneten
Pariser Nacht hinaustreten. Er ist jetzt endgültig ein gebrochener Mann.
Am 16. Mai emigriert der Komponist Arnold Schönberg mit seiner Frau
und der einjährigen Tochter Nuria aus Berlin nach Paris, nachdem sein
Schwager Rudolf Kolisch die Familie in einem Telegramm gewarnt hat;
bereits im März 1933 hat die Akademie der Künste in Berlin Schönberg
mitgeteilt, dass er in ihrem Kreis unerwünscht sei. Daraufhin schließt er
sich in Paris, mit dem Maler Marc Chagall als Zeugen, wieder dem
jüdischen Glauben an, den er 1898 aufgegeben hat. Er schreibt an Anton
Webern: »Ich war seit vierzehn Jahren vorbereitet auf das, was jetzt
gekommen ist. Ich habe mich in dieser langen Zeit gründlich darauf
vorbereiten können und mich, wenn auch schwer und mit vielen
Schwankungen, schließlich definitiv von dem gelöst, was mich an den
Okzident gebunden hat. Ich bin seit langem entschlossen, Jude zu sein.«
Mit seiner Familie fährt Schönberg im Oktober 1933 weiter an Bord
der Île de France von Le Havre nach New York.
Lion Feuchtwanger ist mit seiner Frau im südfranzösischen Exil, sie sind
in dem heiteren Badeort Bandol gelandet. Sofort beordert er auch seine
Berliner Sekretärin Lola Sernau nach Frankreich. Am 20. Mai beginnt er
mit der Arbeit an seinem Roman Familie Oppermann und vermeldet im
Tagebuch außerdem, dass er nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit
seiner Sekretärin geschlafen habe. Doch als er tags darauf einen steifen
Hals hat, wird seine Frau Marta argwöhnisch und sagt, das sei vermutlich
Syphilis. Darauf Feuchtwanger: »Sie hat immer die Tendenz, hinter allen
unangenehmen Vorkommnissen eine ›Schuld‹ zu wittern.« Und das wird
nicht besser in den nächsten Tagen – »Ärger mit Marta, man hat es
schwer mit ihr«, vermerkt er. Sie führt ein strenges Regiment. Erst wenn
Lion morgens zehn Runden um das neue Haus gejoggt ist, bekommt er
zum Frühstück Eier. Aber Disziplinarmaßnahmen helfen nicht gegen
Eifersucht. So berichtet Feuchtwanger in seinem Tagebuch: Das
Verhältnis zwischen Marta und Lola Sernau, seiner Geliebten und
Sekretärin, sei »unerquicklich«. Zudem: »Ärger über das Scheißauto, das
Marta gekauft hat.« Und so geht das nun den ganzen schönen Sommer
lang. Erst am 30. Juli wendet sich das Blatt: »Marta gevögelt. Lola
immerzu schlecht gelaunt.« Da kann man nur sagen: So genau haben wir
es gar nicht wissen wollen. Und auch Marta selbst nicht. Als sie später
das Tagebuch ihres Ehemannes, des Erotomanen Feuchtwanger, findet
und darin liest, ist sie geschockt: »Ich würde viel zärtlicher schreiben,
kann aber das Tagebuch immer noch nicht verwinden. Es hat mir viel
Kummer verursacht und es war die einzige Enttäuschung, die ich hatte,
denn ich habe mir über niemand sonst Illusionen gemacht.«
Ganz andere Sorgen haben Thomas und Katia Mann in Bandol, wo auch
sie sich nach ihren ruhelosen und ziellosen ersten Monaten des Exils
vorübergehend im Grand Hôtel niedergelassen haben. Es geht ihnen
nicht gut in der drückenden Hitze, aber sie sollen sich gemäß dem Rat
ihrer Kinder eigentlich irgendwo hier an der Mittelmeerküste ansiedeln.
Doch sie können abends nicht einschlafen, außer mit starken
Schlafmitteln. Sie leiden an der stechenden Sonne. An fiebriger
Erkältung. An den lästigen Mücken. Am böigen Mistral, der an den
Nerven zerrt. Sie leiden an den Menschenmengen, mit denen man
zusammen essen und zusammen im Aufzug stehen muss. Sie leiden ganz
grundsätzlich am Zustand des Exils. Thomas und Katia Mann sind
ungeeignet als Menschen im Hotel. Sie brauchen einen festen Grund. Sie
spüren hier zu sehr, welch unterschiedliche Temperamente sie haben.
Und natürlich leidet, wie immer, Thomas Mann deutlich mehr als seine
Frau. »Gefühl erschütterter Gesundheit«, notiert Thomas Mann. »Die
Nerven schwach, der Leib nicht in Ordnung.« Katia versucht ihn zu
beruhigen und schlägt die kühlere Normandie oder Bretagne als Exilort
vor. Aber dafür, so sagt er, »scheint es mir zu spät«. Am 6. Juni dann,
Manns 58. Geburtstag, »nahm die melancholische Depression ein wenig
überhand«, wie er abends im Tagebuch selbst diagnostiziert. Mit
zärtlicher Genauigkeit sieht er, wie auch Katias Züge immer ernster und
sorgenvoller werden. Klaus und Erika Mann kommen aus Sanary-sur-
Mer herüber, ergebnislos besprechen sie die »Frage des Hierbleibens
oder Weggehens«. Aus Toulon, vom nahen Militärhafen, dröhnen immer
wieder die Kanonenschläge übers Meer. Thomas Mann bilanziert: »Die
Rückkehr ist ausgeschlossen, unmöglich, absurd, unsinnig und voll
wüster Gefahren für Freiheit und Leben.« So entscheiden sich die Manns,
im Nachbardorf Sanary-sur-Mer die Villa La Tranquille zu mieten, bis sie
sich über die Zukunft im Klaren sind.
Am 28. Mai 1933 kommt es zwischen Zelda und F. Scott Fitzgerald zum
großen Showdown. Im Zimmer des Psychiaters Dr. Thomas Rennie in
Baltimore wird die Bilanz einer Ehe gezogen, die einst in Amerika so
aufregend begonnen hatte und die dann in Europa in Alkohol und Tränen
versank. Die beiden Duellanten haben neben dem Arzt seine Helferin
dazugebeten, die das gesamte Gespräch stenographiert, es werden am
Ende 114 engbeschriebene Seiten sein. F. Scott Fitzgerald wird von
Dr. Rennie in dem Versuch unterstützt, Zelda ihr Recht auf eigene Bücher
auszureden. Sie kann das alles nicht fassen, bleibt vorerst ruhig. Ja,
Zelda, die offiziell für verrückt erklärt worden ist, scheint die Einzige zu
sein, die bei Verstand ist. Fitzgerald ist wütend, dass seine Frau es gewagt
hat, über ihre Jahre in Europa und die Nervenkliniken zu schreiben,
damit hat sie eine Grenze überschritten: »Du bist eine drittklassige
Schriftstellerin. Ich bin der bestbezahlte Story-Schreiber der Welt.« Sie
reagiert mit Ironie: »Warum hast du es überhaupt nötig, dich mit einem
drittrangigen Talent anzulegen, warum zum Teufel bist du derartig
eifersüchtig?« Fitzgerald tobt weiter. Darauf Zelda: »Wenn das hier so
weitergeht, will ich wieder in die Nervenklinik, da ist es entspannter.«
Daraufhin wiederum ihr Gatte: Er halte das nicht mehr aus mit Zelda,
solange er mit ihr zusammenlebe, sei er quasi gezwungen, sich
permanent zu betrinken, da sie ihm die Schuld an ihrem Leiden gebe.
Stundenlang geht es hin und her. Im Mittelpunkt immer wieder
Fitzgeralds Macho-Haltung, wonach er allein berechtigt sei, über die
gemeinsame Vergangenheit und die Klinikaufenthalte Zeldas zu
schreiben. Leider ist aber das Buch, das F. Scott Fitzgerald im Sommer
1933 über ihre gemeinsame Vergangenheit schreibt, literarisch tatsächlich
um Längen besser als ihr Schenk mir den Walzer. In Zärtlich ist die
Nacht, das 1934 erscheint, beutet er ihre Geschichte schamlos und ohne
Rücksicht auf Verluste aus. Aber es ist Weltliteratur.
Der Sommer 1933 steht für die deutsche Hochkultur im Zeichen der
Todsünde. An zwei Orten wird eine zeitgenössische Form dafür gesucht,
in Dresden und in Paris. Und zwar jeweils von bereits aus ihren Ämtern
und Leben Vertriebenen: in Paris von Kurt Weill und Bertolt Brecht auf
der Bühne und in Dresden von Otto Dix auf seiner Leinwand. All das
übrigens mit unmittelbaren Auswirkungen auf die jeweiligen
Liebesverhältnisse. Aber der Reihe nach: Otto Dix wird unmittelbar nach
der Machtübernahme der Nazis aus seinem Amt als Professor der
Kunstakademie entlassen. Dix ist zwar weder Jude noch Kommunist,
aber seine Malerei wird als »Schmutz« gegeißelt und als
»jugendgefährdend«. Gerade dass er die Schrecken des Krieges so
schonungslos darstellt, das wird nun sein Verhängnis in einer Zeit, die ein
neues Heldentum ausrufen will. Schon im April wird Dix in Dresden in
einer städtischen Ausstellung als »Entartete Kunst« geführt, und die
Kritikerin Bettina Feistel-Rohmeder wütet: »Professor Dix bezeugt sich
selbst durch diese Schülerschau als ein Verderber deutscher Jugend, und
es wäre wohl Aufgabe deutscher Frauenverbände, immer wieder
öffentlich Widerspruch dagegen zu erheben. Ein Wälzen im Schlamm
und Schmutz – und kein Jugendamt greift ein!« Otto Dix lässt sich von
diesen Anfeindungen nicht aus der Ruhe bringen, er flüchtet malend in
die gute Vergangenheit der deutschen Kunst, hin zu Lucas Cranach,
Dürer, Hans Baldung Grien und Matthias Grünewald. Er sucht einen
Weg, jenes Regime bloßzustellen, das sich an der Malerei und an ihm
versündigt. Und so malt er dann auf einer 180 Zentimeter großen
Holztafel in altmeisterlicher Manier eine Allegorie auf Die sieben
Todsünden. Es gibt den Geiz, den Zorn, den Neid, den Hochmut, die
Trägheit, die Wollust und die Fresssucht, und alle werden durch entstellte
Menschen verkörpert. Für den Neid steht ein kleines zorniges Männchen
mit Hitlerbart. In der Mitte des Bildes tanzt der Tod, wenn man genau
hinsieht, merkt man, dass aus den Tanzbewegungen des Gerippes ein
Hakenkreuz gebildet wird. Widerstand in Öl auf Leinwand. Ein Bild als
Anklage also – und als Prophezeiung.
Die Wollust im Bild übrigens, die üppige Frau mit lockigem Haar,
trägt im Gesicht die Züge von Dix’ Dresdner Geliebten, Käthe König
(über mögliche weitere Übereinstimmungen zwischen Abbild und
Wirklichkeit hat die Kunstgeschichte keine Kenntnis). Dix weiß, dass er
– neben allen zeitpolitischen Anklagen gegen die großen Nazi-Sünder –
hier auf der Leinwand auch eine kleine private Todsünde begeht: den
dauernden Betrug an seiner treuen Ehefrau. Aber er hofft auf ihre
Vergebung.
Seine »kaiserliche Hoheit«, also der ehemalige Wilhelm II., wie er vom
Personal noch ehrfürchtig genannt wird, ist im holländischen Exil wütend
auf seine zweite Frau Hermine, die weiter um die Nationalsozialisten
herumscharwenzelt. Eine große Probe für die späte Liebe des alten,
müden Monarchen: »Sie ist in einem Zustand, der ganz unerträglich ist!
Politisch meint sie es ja gut, es kann ihr nicht schnell genug gehen, dass
ich auf meinen Thron zurückkomme, aber auf ihrem Wege erreichen wir
es nicht. Sie läuft den Nazis nach und macht alle möglichen Dinge in
Berlin und von hier aus schriftlich, die eher schaden als nutzen. Ich
werde mich hüten, diesen Leuten nachzulaufen.« Stattdessen geht er
lieber in den Wald und hackt Holz. Weil im eigenen Bestand nach
zwölfjähriger Rodungsarbeit durch den abgedankten Kaiser kaum noch
Bäume stehen, ist er mit seiner Axt inzwischen auf die Wälder des
Nachbarn ausgewichen, eines Herrn Blijdenstein, der sehr dankbar ist,
kostenlos einen kompetenten, emsigen Forstgehilfen gefunden zu haben.
Als der amerikanische Jude Max Baer am 8. Juni 1933 in New York
gegen den deutschen Max Schmeling in den Boxring steigt, da näht er
sich vorher einen Davidstern an seine Hose. Er will damit gegen die
Machtergreifung der Nazis Flagge zeigen. Und er besiegt den eigentlich
überlegenen Schmeling durch technischen Knock-out in der zehnten
Runde. Schmeling hat keine Chance.
Im Grunde hat Schmeling großes Glück: Baer hatte kurz zuvor einen
Gegner mit einem Schlaghagel in der fünften Runde ebenfalls durch
technischen Knock-out besiegt. Und der war im Ring gestorben.
Als Max Schmeling am Morgen nach dem Kampf in seinem New
Yorker Hotel erwacht und sich aus geschwollenen Augen im Spiegel
betrachtet, überlegt er, für immer mit dem Boxen aufzuhören. Diese
Niederlage ist demütigend. Er beschließt, sofort in Berlin anzurufen. Er
sagt seiner Freundin, der Schauspielerin Anny Ondra, die in Alfred
Hitchcocks erstem Tonfilm mitgespielt hat, er habe sich entschieden, sie
dürfe nun beim Standesamt das Aufgebot bestellen. Sie sagt so etwas wie
»Wirklich, Max??«, dann wird die Verbindung unterbrochen. Die
eheliche Verbindung zwischen Max Schmeling und Anny Ondra aber
wird am 8. Juli tatsächlich geschlossen. Offenbar inspiriert von
Schmeling fährt Baer, der nicht nur für seine starke Rechte, sondern auch
für seinen Humor bekannt ist, nach dem Kampf direkt weiter nach
Hollywood und spielt dort sich selbst in dem Film The Boxer and the
Lady. Aber auch hier zieht Max Schmeling nach: Er spielt sich in dem
Boxerfilm Knockout ebenfalls selbst – und dreht den Film mit einer
attraktiven blonden Boxerbraut, die passenderweise seine eigene ist,
nämlich Anny Ondra.
Niemand weiß, wie sich Nelly Kröger, Heinrich Manns Freundin, und ihr
Freund Rudi Carius von Dänemark bis nach Südfrankreich
durchgeschlagen haben. Aber sie schaffen es. Bebend vor Glück
empfängt Heinrich Mann Nelly in seinem Hotelzimmer in Bandol.
Wieder sind sie vereint unter der tröstlichen Sonne des Südens. Zwar
nicht wie vor drei Jahren, als sie die erste Fassung des Blauen Engels
gesehen haben. Sondern weil hier die Jahre ihrer gemeinsamen
Emigration beginnen. Nelly greift nicht nur immer öfter zum Alkohol,
sondern auch zu Tabletten. Und dazwischen gerne auch zu Rudi Carius.
Heinrich Mann weiß schon in Berlin von ihm. Aber dass Nelly ihren
jugendlichen Liebhaber und vorwitzigen Kommunisten nun sogar ans
Mittelmeer mitgebracht hat, irritiert ihn doch. Es gibt eine Zeichnung aus
diesen Tagen vom 62-jährigen Heinrich Mann – er steht darauf,
angezogen und etwas verstört, im Türrahmen seines Hotelzimmers. Und
in seinem Bett liegt nackt seine Freundin Nelly Kröger mit dem 26-
jährigen Rudi Carius.
*
Im Juni also ziehen Thomas und Katia Mann mit ihren Kindern aus
Bandol in den kleinen Nachbarort Sanary-sur-Mer, wo ihre Kinder Klaus
und Erika schon im Mai gelandet sind und die Feuchtwangers ebenfalls.
Aber erst als das Nobelpreisträgerehepaar Mann dort, hoch über der
rauschenden Bucht, unter Pinien und Zypressen die Villa La Tranquille
bezieht, beginnen die drei vielleicht hellsten Monate der deutschen
Exilgeschichte. Ein paar hundert Meter weiter hat Aldous Huxley im Jahr
zuvor sein Buch über die Brave New World vollendet. Und dessen
jugendliche Freundin Sybille Bedford wiederum ist es, die für die Manns
diese Villa gefunden hat – und die ein funkelnder Fixstern dieser
Gesellschaft von Sanary bleibt, deren einzigartige Chronistin sie einmal
werden wird. Hier entsteht einen warmen Sommer lang die Illusion einer
wirklich Schönen neuen Welt.
Das Emigrantenleben in Sanary spielt sich im Freien ab, im
Wesentlichen an den Tischen der drei Cafés an der kleinen
Strandpromenade: dem Café du Lyon – der Bar der Einheimischen –,
dem La Marine und der Bar Chez Schwob. Dort treffen sich die großen
und die kleinen Exilanten aus Deutschland zum morgendlichen Café und
zum frühabendlichen Aperitif. Hier werden mit Gruseln Zeitungen aus
Deutschland gelesen, während die Frauen Fische am Hafen kaufen. Und
hier verabredet man sich für den Abend – in der traumhaften Villa der
Feuchtwangers direkt über den Klippen, zur Lesung bei Thomas Mann,
zum Sommerfest bei René Schickele, von dessen Haus auf der Höhe man
einen malerischen Blick auf die ganze Bucht und ihre Sonnenuntergänge
hat: »Der Hafen lächelte mit seinen hellen Booten, und auf das ›Heilige
Land‹ jenseits der Bucht sank der Abend und vertiefte das Felsengebirge
mit seinen Schatten«, so schreibt Schickele. Und sein Fazit: »Il faisait
bon vivre.« Der Duft der Mimosen liege im Frühsommer über Sanary
»wie ein Götterhauch«. Die deutschen Schriftsteller, Maler und
Philosophen sind über den ganzen Ort verstreut, mieten Häuser und
Wohnungen, nur Klaus und Erika Mann ziehen immer das Hôtel de La
Tour im Hafen vor – es bietet ihnen jene fünfzehn Minuten Fußweg
Sicherheitsabstand zu ihren Eltern in der Villa La Tranquille, die sie
dringend brauchen.
Die ist allerdings wirklich ein herrliches Haus, ganz am Ende des
langen Weges, der unten vom Hafen auf die Felsenspitze hinaufführt. Von
beiden Seiten bricht sich das Meer am Ufer, und Thomas Mann kann sich
aussuchen, auf welcher Seite er schwimmen gehen will. Und tatsächlich,
er macht es, jeden Tag, mit Katia und mit den Kindern Elisabeth und
Michael, vor dem Frühstück nehmen sie den Korb und steigen unten ins
warme Meer, trocknen sich wieder ab und steigen hinauf in ihren
Sommersitz. Und schon nach einer Woche beginnt der Hausherr, wieder
seinen Arbeitsrhythmus aufzunehmen – nach dem Baden setzt er sich an
seinen Schreibtisch und arbeitet weiter an seinem Roman Joseph und
seine Brüder. Am 13. Juli gibt es eine Lesung, der Abend ist lau und die
Zikaden entfalten ihren grotesken Lärm in den Kronen der Pinien, als
Thomas Mann zu lesen beginnt aus seinem neuen Manuskript. Seine
Stimme dringt kaum durch gegen den Sirenenton der Tiere. Auf der
Rückseite der Mann’schen Villa wird ein kleines Podest aufgebaut, dort
sitzt er auf einem Stuhl, hinter ihm seine Frau, und Erika, seine Tochter,
reicht ihm ehrfürchtig Blatt für Blatt. Im Garten lauscht ergriffen die
ganze deutsche Exilgemeinde samt Aldous Huxley und Frau. Und sein
Bruder Heinrich mit jener Nelly Kröger, die Thomas Mann in seinem
Tagebuch als »besonders ordinär« bezeichnet, aber es ist Familie, was
will man machen. Weil er sich für ihre gedankliche Schlichtheit schämt,
erklärt Heinrich seinem Bruder, das komme alles von dem Sturz auf den
Kopf kurz vor ihrer Flucht in Berlin. Vorher sei es ganz anders gewesen.
Der scheint es sogar zu glauben (oder er tut seinem Bruder den Gefallen).
Als sich Nelly Kröger zum fünften Mal von der Bowle nimmt und zu
torkeln beginnt, schlägt Heinrich Mann vor, doch langsam nach Hause zu
gehen.
Sieht man vom sich auf ewig verschriebenen Ehepaar Katia und
Thomas Mann ab, ist die Liebessituation in diesem schwülen Sommer in
Sanary vielschichtig – und sicher wissen wir noch längst nicht alles. Da
ist zuallererst Lion Feuchtwanger, der in seinem Schreiben wie in seinem
Sexualverkehr von einer ungeheuren Produktivität getrieben wird, wie
seine verstörenden Tagebücher belegen. Neben seiner Gattin Marta gibt
es seine Sekretärin Lola Sernau, die ihm aus Deutschland nachgereist ist
und mit der er ein intensives Verhältnis pflegt. Aber er unterhält auch
Affären mit Liesl Frank, der Gattin Bruno Franks, die gegenüber von
Thomas Mann wohnt, ebenso mit Sascha Marcuse, der Frau Ludwig
Marcuses. Später kommt noch Eva Herrmann dazu – und diverse junge
Damen aus Sanary und den umliegenden Dörfern.
Daneben gibt es den lesbischen Liebesreigen, in dem Sybille Bedford
eine Hauptrolle spielt, die mit ebenjener Eva Herrmann zusammenlebt,
dazu kommen Erika Mann, Annemarie Schwarzenbach und Aldous
Huxleys Ehefrau Maria. Auch Helen Hessel und die Berliner Ärztin
Charlotte Wolff kommen für den Sommer aus Paris hinüber nach Sanary.
Für die größten Skandale sorgt der amerikanische Reiseschriftsteller
William Seabrook, der in seiner riesigen Villa, direkt gegenüber den
Huxleys, seinen sadomasochistischen Neigungen nachgeht und dessen
Freundin dafür gefesselt von der Decke hängen muss (Golo Mann war
bei ihnen Logiergast und amüsiert). Und dann sind da noch die
Kurzzeitbesucher dieses Sommers: Heinrich Mann und Nelly Kröger,
Ernst Toller und Christiane Grautoff, Arnold Zweig mit Lily Offenstadt,
Bert Brecht und Margarete Steffin. Und so weiter und so weiter. Nur für
Klaus Mann ist niemand dabei. Darum fährt er am späten Abend immer
wieder, wie er seinem Tagebuch anvertraut, in die Hafenkneipen von
Toulon, auf der Suche nach einem schnittigen Matrosen. Schmerz eines
Sommers heißt seine Erzählung über diese Zeit in Sanary. Ja, alle spüren
diesen Schmerz. Diesen seltsamen Zustand, in einem Paradies gelandet
zu sein, in welches man vertrieben worden ist. Wenn die Gäste gegangen
und alle Kinder im Bett sind, dann setzt sich Thomas Mann in seinen
Korbstuhl auf der kleinen Terrasse und blickt in den Himmel. Die
Zikaden sind verstummt. Von unten hört man das letzte Brausen der
Gischt. Über ihm die Sterne. Thomas Mann kann einfach nicht begreifen,
was ihn, den Sohn Lübecks und den Ehrenbürger Münchens, an diesen
kleinen Ort am Mittelmeer getrieben hat. Die Worte Gottfried Benns an
seinen Sohn Klaus klingen ihm in den Ohren: »Meinen Sie, Geschichte
sei in französischen Badeorten besonders tätig?« Er schaut hinauf ins
Firmament und ist sich nicht so sicher. Am 25. August erfahren sie, dass
SA-Leute ihre Villa in der Poschingerstraße besetzt haben und alles
verwüstet ist. Sie wissen nun, dass sie definitiv eine neue Heimat
brauchen. Als Thomas und Katia Mann Sanary im September verlassen,
um sich dauerhaft in Zürich anzusiedeln, da endet bereits die schönste
Zeit dieses wärmsten, sonnigsten und kühnsten
Gemeinschaftsemigrationsprojektes der deutschen Literaturgeschichte.
Man kann es als Triumph sehen, wenn man den Nazis noch entkommen
ist. Oder als das Gegenteil: »Je mehr Emigranten ich kennenlerne, desto
besser begreife ich unsere Niederlage«, schreibt Golo Mann in sein
Tagebuch. Er fühlt sich in diesen Sommertagen sehr zu seinem Onkel
Heinrich hingezogen, denn der ertrage sein Schicksal »mit viel Würde«.
Dagegen stellt der Sohn die Haltung seines Vaters Thomas Mann – ihn
empfindet er »damenhaft in seinen Schmerzen, von aller Welt beleidigt«.
»Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über
UNS – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.« Was für weise
Worte von Klaus Mann – genauer gesagt: von Klaus Heinrich Thomas
Mann, denn sowohl der Name seines Vaters als auch der seines Onkels
blitzen ihm immer entgegen, wenn er in seinem Pass seine drei Vornamen
liest. Er trägt die Namen der beiden Heroen in seinem eigenen. Er ist ein
echter Mann. Es ist eigentlich ein Wunder, dass er diese drückende
Bedeutungslast überhaupt so lange aushält. Und dass er diese beiden, die
ihn so herausfordern in ihrem Ruhm und ihrer Schwerfälligkeit, dennoch
so leidenschaftlich lieben kann.
Am Abend des 16. Juni geht Viktor Arlosoroff mit seiner Frau Sima auf
der Strandpromenade in Tel Aviv spazieren. Es ist ein herrlicher
Frühsommertag gewesen. Vom Meer her weht immer noch ein leichter
pfirsichfarbener Wind, und von den Terrassen der Restaurants am Meer
dringen die Gespräche und das Klappern des Bestecks herüber durch die
Dämmerung. Plötzlich treten zwei Männer hinter einer wuchtigen Palme
hervor – einer leuchtet Arlosoroff mit einer Taschenlampe ins Gesicht,
der andere fragt harsch: »Sind Sie Dr. Arlosoroff?« Als er bejaht, eröffnet
einer der Männer aus einem Revolver das Feuer. Viktor Arlosoroff liegt
blutüberströmt auf dem Pflaster, wenig später stirbt er. Seine Frau Sima
schreit in wilder Verzweiflung, die beiden Männer flüchten unerkannt.
Arlosoroff ist zu jenem Zeitpunkt der inoffizielle Außenminister der
Jewish Agency, er vertritt die nach Palästina ausgewanderten Juden,
solange es den Staat Israel noch nicht gibt. Aber Arlosoroff hat auch eine
bedeutende Vergangenheit: Er ist viele Jahre lang der Geliebte von
Magda Quandt gewesen, die nun, als Ehefrau von Joseph Goebbels und
Vertraute Adolf Hitlers, so etwas wie die First Lady des Dritten Reiches
ist. Wir wissen nicht, ob es Joseph Goebbels war, der seinen Vorgänger
an diesem lauen Sommerabend in Tel Aviv ermorden lässt. Wir wissen
nur, dass es ihn wahnsinnig macht, dass seine Ehefrau einst diesen Juden
nicht nur geliebt hat, sondern sogar mit dem Gedanken gespielt hat, mit
ihm nach Palästina auszuwandern. Und wir wissen, dass Arlosoroff im
Auftrag von David Ben-Gurion im Mai 1933 in Berlin gewesen ist. Als er
in einem Schaufenster das rosenbekränzte Foto von Magda und Joseph
Goebbels sieht, versucht er, direkten Kontakt mit ihr aufzunehmen. Er
schreibt ihr einen Brief. Daraufhin erhält er in seinem Hotel eine
verschlüsselte Nachricht, in der Magda ihm mitteilen lässt, es sei für sie
zu gefährlich, mit ihm zu reden. Wenn ihm sein Leben lieb sei, solle er
sofort nach Palästina zurückkehren. Das tut er. Doch es scheint jemanden
zu geben, der es beruhigender findet, wenn es für die einstige jüdische
Leidenschaft von Magda Goebbels keine lebenden Zeugen mehr gibt.
Zwei Tage nach seiner Rückkehr wird Arlosoroff in Tel Aviv erschossen.
*
Josephine Baker, die Revuetänzerin mit dem großen Herzen und den
großen Augen, die sie so lange verdrehen kann, bis die Pupillen
verschwinden, ist 1933 die reichste Afroamerikanerin der Welt. Nach den
rassistischen Schmähungen auf ihrer Europatournee hat sie sich ganz auf
ihren Landsitz bei Paris zurückgezogen. Ihr Mann Pepito hat dafür
gesorgt, dass die riesige Villa Le Beau Chêne wie ein Tempel für seine
Frau wirkt. Im ersten und zweiten Stock hängen unzählige Fotografien
von Bakers Bühnenauftritten. Im Foyer stehen, warum auch immer,
zahllose Rüstungen aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Das Bett, in dem
Josephine Baker schläft und liebt, hat angeblich einmal Marie-Antoinette
gehört. Aber anders als ihre Vorgängerin wird sie darin zu ihrem großen
Kummer nicht schwanger. So bevölkert sie ihr Haus mit immer mehr
Getier: Es gibt Käfige für Papageien und für die drei Affen und kleine
Hundehäuschen für die inzwischen dreizehn Hunde aus aller Herren
Länder. Sie dürfen überall hin, nur nicht ins Badezimmer. Denn das ist
das Badezimmer einer Königin: komplett verspiegelt und mit einer
Badewanne aus Silber, die Wasserhähne sind tatsächlich golden, nur das
Wasser, das herausströmt, ist gewöhnlich. Wenn es warm ist, nimmt sie
ihr tägliches Bad draußen im Park, und zwar im riesigen Marmorpool, in
dem Seerosen dösen und Goldfische schwimmen. Josephine Baker hat
sich ihr kleines Paradies geschaffen. Sie weigert sich, Zeitungen zu lesen.
Sie will nicht aus ihren Träumen vertrieben werden.
Die frisch Verheirateten, Kurt und Helen Wolff, wollen sich nach ihrer
Flucht aus Berlin eigentlich im Tessin niederlassen, in der Nähe von
Hermann Hesse. Aber sie fühlen sich dort nicht willkommen, abgestoßen
gar, und so ziehen sie wieder nach Südfrankreich, in jenes herrliche
kleine Cabanon, das Helene seit zwei Sommern gemietet hat. Dort also,
wo sie ihre Liebe in aller Freiheit entdeckt haben, finden sie sich nun, im
Sommer 1933, als Exilanten wieder. Einmal kommen Katia und Thomas
Mann aus Sanary zu Besuch – und der schildert das auf seine Weise:
»Tee bei Wolff und seinen Damen im Garten seiner primitiven
Häuslichkeit, dem Altenteil eines Bauern.« So kann man das sehen, aus
der Grand-Hotel-Perspektive. Aber für die Gastgeber bleibt das kleine
Häuschen der Ausnahmeort, kein Altenteil, sondern ein Jungbrunnen. Für
Helen Wolff wiederum ist es der Glücksort, als den sie ihn in ihrem
Roman Hintergrund für Liebe verewigt hat. Sie wird schwanger in diesen
Junitagen, und dieses Glück erfüllt sie und auch Kurt Wolff trotz all der
bedrängenden Gegenwart um sie herum mit zaghaft hoffnungsvollen
Gedanken an die Zukunft.
Die Liebesgeschichte von Anaïs Nin und Henry Miller ist längst
Legende, durch ihre Intimen Tagebücher und durch Millers Stille Tage in
Clichy. Doch leider wird ihre Amour fou im Sommer des Jahres 1933
unterbrochen, weil ein anderer Mann ins Leben von Anaïs Nin
zurückgekehrt ist: ihr Vater. Sie hat all ihren Therapeuten und all ihren
Liebhabern immer erzählt, wie sehr sie täglich darunter leide, dass ihr
Vater, der stolze Musiker Joaquín, einst ihre Mutter und sie verlassen
hatte. Und im Juni 1933 nun bietet sich die Chance, diese ewig klaffende
Wunde zu schließen. Sie, gerade dreißig Jahre alt geworden, fährt zu
ihrem 54-jährigen Vater nach Valescure, der dort ohne seine neue Ehefrau
den Sommerurlaub verbringen will. Zum Auftakt erzählt Joaquín Nin
seiner Tochter, wie wild und leidenschaftlich einst seine erste Frau, also
ihre Mutter, gewesen ist. Daraufhin schildert Anaïs ihrem Vater, wie sie
Männer zu verführen pflegt. Das imponiert ihm und er sagt ihr, er mache
es eigentlich genauso. Und dann fängt er auch gleich damit an. Er sagt zu
seiner Tochter: »Du bist die Synthese aller Frauen, die ich je geliebt
habe.« Daraufhin erlaubt sie ihm, ihren Fuß zu streicheln. Er erzählt ihr,
er habe geträumt, dass sie ihn geküsst habe »wie eine Geliebte«.
Nach einem weiteren Tag sagt er zu ihr: »Meine Gefühle für dich sind
nicht die eines Vaters.« Daraufhin Anaïs Nin: »Meine Gefühle für dich
sind nicht die einer Tochter.« Am 23. Juni 1933 haben sie das erste Mal
Sex miteinander. Dies sei nun für alle Zeiten der Tag ihrer Hochzeit, sagt
ihr Vater.
Anaïs Nin beginnt ein neues Tagebuch, sie nennt es Inzest. Darin
stehen all diese Zitate. Sehr viele sexuelle Details. Und dann, was ihr
größtes Glück ist: Dass es ihr gelungen ist, die Geschichte umzudrehen.
Endlich hat nicht mehr sie, sondern ihr Vater Angst davor, dass sie ihn
verlässt.
Sie kehrt nach zwei Wochen nach Paris zurück, voller Hormone und
mit vollen Tagebüchern, aber ohne Schuldgefühle. Ihr Mann Hugo freut
sich, dass sie so rosige Wangen hat, und schreibt: »Anaïs ist strahlend
zurückgekommen, denn sie hat ihren Vater wiedergefunden. Sie hat
schon immer von ihrem Vater geträumt.« Ihr Mann erstellt ein Horoskop
von Anaïs Nin und ihrem Vater, aber er kann es nicht richtig deuten, das
kann nur seine Frau. Sie erkennt: »Vaters Mond steht in meiner Sonne,
die stärkste Anziehung, die es gibt zwischen Mann und Frau. Als Hugo
mir das zeigte, schwand mein letzter Funke Schuldgefühl.«
Dora Benjamin, frisch geschieden von Walter Benjamin, kann mit ihrem
Sohn Stefan aus Berlin fliehen. Sie gründen in Sanremo eine kleine
Pension, die Villa Verde. Walter Benjamin verarmt währenddessen auf
Ibiza, das Geld ist ihm endgültig ausgegangen und die Honorare der
Rezensionen erreichen ihn nicht. Er sieht immer verlotterter aus, streift
durch San Antonio und liest, um sich abzulenken, einen Simenon-Krimi
nach dem anderen. Er zerstreitet sich mit den Noeggeraths und zieht um
in einen halbfertigen Neubau ohne Fenster und Licht. Unruhig wandert er
den ganzen Tag umher, legt sich nachts auf den Boden und schläft auf
einer einfachen Decke, wäscht sich im Meer. Im Dorf bekommt er den
Spitznamen »el miserable«, also »der Elende«. Benjamin entwirft seinen
Essay Erfahrung und Armut; Benjamin schreibt an seinen Freund
Gershom Scholem, dass er sehr ernsthaft überlege, nach Palästina
auszuwandern.
*
Pablo Picasso malt das ganze Jahr hindurch immer wieder sein
Lieblingsmodell, seine Muse Marie-Thérèse Walter. Seine Frau Olga
malt er nicht mehr. Als er mit ihr und dem gemeinsamen Sohn seine
Familie in Barcelona besucht, schreibt Picasso gleich am ersten Tag nach
Paris: »Meine angebetete Geliebte, ich komme zurück, bald werde ich
wieder in Paris sein, ich bin so glücklich, meine Liebe zu sehen, auf ewig
der Deine, P.«
Céline, in Frankreich gefeiert wegen seines Buches Reise ans Ende der
Nacht, schreibt seiner deutschen Freundin Erika am 27. Juni nach Berlin:
»Nachdem die Juden aus Deutschland gejagt worden sind, muss es dort
einige Stellen für die anderen Intellektuellen geben! Heil Hitler!
Profitieren Sie davon.« An seine jüdische Freundin, die
Gymnastiklehrerin Cillie Pam, mit der er im September zwei
leidenschaftliche Wochen erlebt hat, schreibt er wenig später: »Die Juden
sind etwas bedroht, aber nur sehr wenig, und ich glaube nicht, dass es
jemals ernst werden wird.« Es gäbe viel Wichtigeres: »Wie geht es
Ihnen? Machen Sie Kinder oder Revolution? Und was macht ihr alle mit
eurer Libido?«
1933 ist für Meret Oppenheim das Jahr, in dem sie Kunstgeschichte
schreibt: Sie wird zur Muse von zwei großen Künstlern – doch zuerst
kaut sie einem anderen das Ohr ab. Nein, eigentlich zeichnet sie sein Ohr,
immer und immer wieder. Sie macht Skulpturen daraus. Und zwar, weil
sie sein Herz nicht erweichen kann. Also ist Meret Oppenheim auf einen
anderen Körperteil von Alberto Giacometti ausgewichen. Er erwidert ihre
brennende Liebe nicht und stellt sie stattdessen Man Ray vor, der sich
noch immer im Liebeskummer um Lee Miller suhlt, die nach New York
zurückgekehrt ist. Er überredet Meret Oppenheim, ihm an einer alten
Druckerpresse nackt Modell zu stehen. Für das Foto bemalt er ihren
Oberkörper mit schwarzer Farbe. Als er es innerhalb seines Zyklus
Érotique Voilée in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure
veröffentlicht, ist Meret Oppenheim über Nacht berühmt. Wenig später
trifft sie den Surrealisten Max Ernst und verliebt sich auf der Stelle in
ihn. Sie ist zwanzig Jahre jung, er gerade 42 geworden, und er lebt mit
seiner zweiten Frau Marie-Berthe Aurenche zusammen, die argwöhnisch
über ihn wacht. Max Ernst aber entbrennt in wilder Liebe zu Meret
Oppenheim. Er schreibt: »Liebes Meretli, ich kann dir sagen, ganz
unsurrealistisch und unplatonisch, dass ich kaum lebe, seitdem du
plötzlich weg bist.« Am nächsten Tag dann: »Sag mir, dass du mich
liebst« und »du bist schön, sehr sehr schön in meinem Gedächtnis.« Es
wird, man ahnt es, ein ziemlich glücklicher Herbst für diese beiden
Liebenden in Paris, ganz unsurrealistisch.
Immer wieder fährt Gussie Adenauer mit dem Zug aus Köln nach
Andernach und dann mit dem Postbus weiter nach Maria Laach. Im Juli
bleibt der zehnjährige Sohn Paul ein paar Wochen bei Adenauer im
Kloster. Es hilft ihm, wenn ihn jemand ablenkt von seiner Verzweiflung.
In seinen Briefen nennt er Maria Laach den Ort seiner »Verbannung« und
einmal sogar: »mein Exil«.
Käthe von Porada wird von ihrem Pariser Freundeskreis nach Berlin
geschickt, um dort herauszufinden, was in Gottfried Benn gefahren ist.
Warum er, dieser Mann des Geistes und der Zwischentöne, den neuen
brutalen Machthabern das Wort redet. Käthe von Porada soll Benn also
sagen, wie entsetzt die Deutschen im Ausland von ihm sind, wie
enttäuscht. Doch sie erfüllt ihren Auftrag nicht. Sie verliebt sich
dummerweise in den Mann, den sie verhören soll. Zum ersten Mal treffen
sie sich Anfang Juli in Benns Praxiswohnung, gleich nach seiner
Sprechstunde. Zunächst geht es darum, Benn mit Max Beckmann, Käthes
Freund und Geliebtem, zusammenzubringen. Der Dichter und der Maler,
die sich in ihrer Physiognomie ebenso ähneln wie in ihrem Hang zur
Antike und zum großen Ganzen, sind sich in Berlin zuvor noch nie
begegnet. Doch auch diesen Auftrag kann Käthe von Porada nicht
erfüllen. Benn und Beckmann schieben den Termin immer und immer
wieder auf, am Ende sagt Benn kurz vorher ab, er habe leider Schnupfen.
Käthe von Poradas Fazit: »Ich habe nie wieder versucht, Heroen einander
zuzuführen.«
Zwischen Gottfried Benn und Käthe von Porada selbst läuft es sehr
viel geschmeidiger. Sie ist adrett, fünf Jahre jünger als er, gebildet und
geschieden – und Benn ist, trotz seiner Arztpraxis und trotz der Affären
mit Tilly Wedekind und Elinor Büller, abends immer noch nicht
ausgelastet. Benn und Käthe gehen nach dem zweiten Treffen zusammen
ins Kino. Danach schreibt Benn ihr, er wisse gar nicht mehr, um was es
in dem Film gegangen sei: »Sonst weiß ich alles von dem reizenden
Geschöpf, das ich so verehre und von dem ich sicher bin, dass es die
zarteste und kultivierteste Lady ist am Tyrrhenischen Meer. Und der ich
mich zu Füßen lege als ihr treuer Bernhardiner G.B.« Die zarte und
kultivierte Lady bleibt zwei Wochen in Berlin, und sie beginnen eine
Affäre. Er bittet sie dringend, den Freunden, die sie aus Paris geschickt
haben, um zu sehen, ob Gottfried Benn noch ganz bei Trost sei, nichts zu
sagen: »Wollen Sie bitte ganz allgemein niemanden aufklären über mich?
Mir liegt so absolut nichts dran. Lassen Sie mich Ihre private Beziehung
sein.«
Benn widmet seiner privaten Beziehung das Gedicht »Durch jede
Stunde«: »Durch jedes Wort / blutet die Wunde / der Schöpfung fort« –
»Gedicht für Kati – 14.8.33«. Am selben Tag erreicht Benn in seinem
Briefkasten nun wiederum der Gruß einer anderen Frau – von Tilly
Wedekind, Witwe des Dramatikers und eine seiner beiden aktuellen
Geliebten. Sie schreibt: »Ich liebe dich, Benn! Mit Kopf und Herz, mit
Leib und Seele, mit meinem ganzen Sein – bin ich dein! Tilly«.
Und damit er es auch glaubt, steht sie am nächsten Tag, es ist
Samstag, mit ihrem Opel in der Belle-Alliance-Straße vor der Nummer
12, hupt – und Benn kommt herunter. Dann fahren sie raus an einen See,
an den Schwielowsee oder den Teupitzer See, baden, liegen in der Sonne,
essen ein Eis.
Und Käthe von Porada? Die hat das Problem, dass sie gleich nach
ihrer Rückkehr in Paris ausgerechnet auf Klaus Mann trifft, jenen
aufrechtesten Kämpfer und lautesten Ankläger gegen die Benn’schen
Verirrungen des Frühjahrs 1933, der sie zum Essen ausführt. Sie muss
sich den ganzen Abend auf die Zunge beißen, um sich nicht zu verraten.
Käthe kann sich inzwischen selbst kaum noch erklären, wieso sie, statt in
Berlin ihren Auftrag zu erfüllen, mit dem Angeklagten das Bett geteilt
hat.
Im September fährt Bertolt Brecht von Dänemark nach Paris – und von
dort, gemeinsam mit Margarete Steffin, weiter nach Sanary-sur-Mer, um
Lion und Marta Feuchtwanger zu besuchen. Marta kommt ins
Krankenhaus, weil sie vergessen hat, die Handbremse anzuziehen und ihr
rollender Wagen sie an der steilen Klippe überrollt. Brecht aber erlebt
fünf Wochen lang einen Liebesrausch mit Margarete und schreibt dann,
wenn sie schläft, an Helene in Thurø: »Hier am Mittelmeer ist es
langweilig.«
Kurt Tucholsky verbringt das Jahr 1933 in der Schweiz. Er lebt mit der
Ärztin Hedwig Müller im Tessin und in Zürich in der Florhofgasse 1. Im
März ist in Deutschland die Weltbühne eingestellt worden, im Mai haben
seine Bücher gebrannt, im Juni hat man ihn ausgebürgert. Kurt Tucholsky
ist ein unglücklicher Mann, der verrückt wird über der Unmöglichkeit,
seine Gedanken zu publizieren. Und vor allem über das, was in seiner
Heimat geschieht. Er schreibt an Walter Hasenclever nach Südfrankreich:
»Dass unsere Welt in Deutschland zu existieren aufgehört hat, brauche
ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Und daher: werde ich erst mal das Maul
halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an.«
Außerdem kann Tucholsky überhaupt nicht mehr pfeifen, selbst wenn
er es wollte – seine Nebenhöhlen sind so vereitert, dass er sich in Zürich
mehreren Operationen unterziehen muss. Besser geht es ihm danach
dennoch nicht. Er leidet wie ein Hund. Sein Freund Carl von Ossietzky
wird in einem KZ gefangen gehalten. Alle wesentlichen Weggefährten
sind nach Paris emigriert. Die Sängerinnen, für die er seine Lieder
geschrieben hat, dürfen nicht mehr singen und die Zeitungen, für die er
so gerne seine Texte geschrieben hat, dürfen ihn nicht mehr drucken. So
schreibt er Briefe. Jeden Tag. Dutzende. Noch immer voller Witz. Aber er
wird immer dunkler. Es ist, als zögen sich von Monat zu Monat die
Wolken in seinem Innern weiter zu. Auch, weil er sich von der Frau
scheiden lassen muss, die er wirklich liebt: Mary. Er weiß, er muss sie
schützen, sie darf nicht mit einem ausgebürgerten Pazifisten und
linksgerichteten jüdischen Publizisten verheiratet sein, das könnte auch
ihr Todesurteil bedeuten. Am 21. August wird die Ehe rechtskräftig
geschieden. Wie hatte er in Rheinsberg gedichtet: »Es gibt keine Schuld.
Es gibt nur den Ablauf der Zeit. Solche Straßen schneiden sich in der
Unendlichkeit. Jedes trägt den andern mit sich herum. Etwas bleibt
immer zurück«. Schon Lisa Matthias, seine Geliebte aus Schloß
Gripsholm, ahnte, dass er nie ganz von Mary würde lassen können: »Du
willst gar nicht Madame ihre Freiheit gönnen. Wenn du weg bist, selbst
wenn du bei mir bist, dann bist du unruhig über ›was sie wohl treibt‹.
Also liebst du sie noch – folgere ich.« Sie hat sehr richtig gefolgert. Nach
der Scheidung bricht Tucholsky aus der Schweiz wieder in Richtung
Schweden auf.
Am 29. September wird Die Pfeffermühle von Erika Mann und Therese
Giehse ein zweites Mal gegründet. Und wieder nehmen Thomas und
Katia und Liesl und Bruno Frank bei der Premiere im Zuschauerraum
Platz – genau wie am 1. Januar. Nur sind diesmal alle in der Schweiz,
vertrieben aus dem Land, dessen menschenverachtende Politik die
Pfeffermühle mit ihrem kabarettistischen Programm bloßzustellen
versucht.
*
Ganz anders Heinrich Mann. Er ist ein sehr sensibler Mann. Und darum
heißt das Buch, das er im ersten Sommer seines Exils in Frankreich
geschrieben hat und das nun im Herbst 1933 im Querido Verlag in
Amsterdam erscheint: Der Haß. Ihm reicht, was er in Berlin im Februar
in der Akademie erlebt und was er in den Gesichtern der Menschen und
in den Zeitungen gelesen hat, um zu wissen, was kommen wird.
Fünfzehn Jahre später wird Lion Feuchtwanger über dieses Buch, das
vom Erwachen des Hasses erzählt, sagen: »Heinrich Mann hat das
Deutschland des letzten Jahrzehnts früher und schärfer vorausgesehen als
wir alle. Er hat es dargestellt von seinen Anfängen her, lange bevor es
Wirklichkeit wurde.«
Victor Klemperer füllt Tag um Tag sein Lexikon über die Sprache des
Dritten Reiches. Aber er glaubt nicht mehr daran, dass er es je wird
veröffentlichen können. Am 9. Oktober, seinem Geburtstag, notiert er
Wünsche in sein Tagebuch: »Noch einmal Eva gesund sehen, im eigenen
Haus, am Harmonium. Nicht jeden Morgen und Abend zittern müssen
vor einem Weinkrampf – das Ende der Tyrannei und ihren blutigen
Untergang erleben. Keine Seitenschmerzen und keinen Todesgedanken.
Ich glaube nicht, dass sich mir auch nur einer dieser Wünsche erfüllen
wird.«
Otto Dix flieht mit seiner Frau und den Kindern vor den zunehmenden
Anfeindungen in Dresden nach Süddeutschland, ins kleine Schloss
Randegg inmitten des Hegau. Ein Schlupfwinkel im fernsten Zipfel des
großen Reiches. Wenn man aus den Fenstern des Schlosses blickt, sieht
man überall die Vulkankegel, die so schöne Namen tragen wie
Hohenkrähen, Hohentwiel, Hohenstoffeln und Hohenhewen. Das mag
einem Erniedrigten wie Otto Dix etwas geholfen haben. Als er ankommt,
malt er als Erstes den alten Judenfriedhof von Randegg, ein Bild als
Anklage und Mahnung. Hinter dem Friedhof, an den hohen,
schweigsamen Tannen, beginnt schon die Schweiz.
Randegg wird zum Zufluchtsort der Familie Dix. Es gehört dem
ersten Mann von Martha Dix, Hans Koch. Der hat nach der Scheidung
von Martha deren Schwester geheiratet, und so ziehen nun also Martha
und Otto Dix mit den Kindern Nelly, Ursus und Jan ins Schloss der
Schwester. Der holzgetäfelte Rittersaal des altehrwürdigen Schlosses
wird zum Abenteuerspielplatz der Dix’schen Kinder. Im Südturm von
Randegg wohnen sie, nebenan ist ein riesiger Raum, den Dix als Atelier
nutzt, drinnen die Staffelei, draußen die Weite der lieblichen
Hügellandschaft des Hegau. Otto Dix malt nun keinen Krieg mehr. Keine
Todsünden. Keine Menschen. Er malt verwunschene Täler und sanfte
Berge, im Herbst, im Winter und im Frühling. Otto Dix emigriert in die
Landschaft.
Nachdem Anaïs Nin in diesem Sommer eine Affäre mit ihrem eigenen
Vater erlebt hat, aktiviert sie in Paris wieder ihre bisherigen Liaisons:
Zum einen mit ihrem Mann, zweitens mit ihrem Analytiker und zu guter
Letzt mit Henry Miller. Mit dem Banker Hugo Guiler, ihrem Mann, ist es
im Moment etwas kompliziert, da der sich ganz der Astrologie
hingegeben und dabei herausgefunden hat, dass er als Wassermann viel
schlechter zu Anaïs mit dem Sternzeichen Fisch passt als der Steinbock
Henry Miller. Miller wiederum lebt weiterhin vom Geld, das Anaïs Nin
ihm gibt – und genießt den Sex. Ihr Analytiker René Allendy schließlich
bekommt auch beides von ihr, zahlt dafür aber, anders als Miller, mit
einem schlechten Gewissen.
Henry Miller versucht es auch mit Astrologie und kommt zu dem
Ergebnis, dass er 1933 vermutlich sterben wird. Daraufhin macht er ein
Testament und setzt Anaïs Nin als Alleinerbin ein – was in diesem Fall
bedeutet, dass er sie bittet, seine Schulden in Höhe von 3600 Dollar bei
diversen Gläubigern zu begleichen. Vor allem aber verarbeitet er die
verworrene Liebesgeschichte um Anaïs und seine Frau June zu seinem
Buch Wendekreis des Krebses. Seine Geliebte hat ihm freundlicherweise
in Clichy eine Wohnung gemietet, in der Rue Anatole France Nr. 4, hier
wohnt er mit seinem Freund Alfred Perlès. Und hier spielen auch die
Szenen zu seinem Sex und Paris beschwörenden Buch Stille Tage in
Clichy. Miller raucht den ganzen Tag Gauloises, hört Musik und spielt
Schriftsteller, die Flasche Wein neben der Schreibmaschine, er selbst im
Unterhemd. So sitzt er da und freut sich, wenn Anaïs vorbeikommt, um
den beiden Herren die Küche aufzuräumen. Er erzählt ihr nicht, wie oft
er an June denkt, seine Frau, die sich Ende des Jahres nach ewigen
Streitereien endgültig nach New York verabschiedet hat. Er nutzt die
aufflammenden Erinnerungen nur, um weiter am Wendekreis des Krebses
zu schreiben. Die große Politik, Hitler, die deutschen Emigranten in den
Straßen von Paris – all das bekümmert Henry Miller nicht.
Vladimir und Véra Nabokov harren noch immer in Berlin aus. Sie sind
aus Geldnot in die Wohnung von Véras Cousine Anna Feigin in der
Nestorstraße gezogen. Manchmal gibt Vladimir hier auf dem
benachbarten Platz noch Jungen aus der Umgebung Tennisunterricht. Vor
allem aber schreibt er in einem zweiwöchigen Rausch den Roman
Einladung zur Enthauptung nieder. Das zunehmend gewalttätige Milieu
in Berlin verstört ihn. Véra verliert ihre Arbeit, da die jüdische
Anwaltskanzlei enteignet wurde, in der sie das Geld für die Miete
verdiente. Als die Nabokovs später gefragt werden, warum sie als
russische Juden 1933 nicht direkt emigriert seien, antwortet der
Schriftsteller auf rührende Weise: »Wir waren immer träge. Auf eine
nette Art träge im Falle meiner Frau, schrecklich träge in meinem Fall.«
Aber Nabokov sieht, was um ihn herum geschieht: Er schreibt am Ufer
des Grunewaldsees die Erzählung Der neue Nachbar. Zwei Berliner
Arbeiter belästigen darin erst ihren neuen Nachbarn, den Herrn
Romantowski mit dem stark slawischen Akzent, dann quälen sie ihn,
schließlich ermorden sie ihn. Ganz ohne Grund. Der neue Nachbar
erzählt von der Angst Nabokovs, die ihn lähmt. »Auf Deutschland lag zu
jener Zeit, als ich mir jene beiden Schlägertypen und meinen armen
Romantowski ausdachte, Hitlers grotesker und böser Schatten.« In dieser
bedrückenden Stimmung geschieht in der Nestorstraße in Berlin etwas
Unwahrscheinliches: Véra verkündet Vladimir in diesem Herbst mit
einem fast unwirklichen Lächeln, dass sie schwanger ist. Ihr Sohn Dmitri
wird im Mai 1934 geboren werden.
Nun hat auch Marlene Dietrich begriffen, dass sich von Deutschland aus
die Gefahr über ganz Europa auszudehnen beginnt. Sie schreibt am
7. November einen Brief an ihren Gatten in Paris, der einen Blick hinter
die coole Fassade erlaubt. Sie bittet ihn um eine neue Pflegecreme für die
Nacht. Begründung: »Werde eben alt.« Und dann, in einer plötzlichen
Anwandlung von Familiensinn, Fürsorge und Angst: »Tue mir die Liebe
und kaufe morgen sofort große Koffer, in die du alles hineinschmeißen
kannst und abhauen. Du weißt, dass es immer an Koffern fehlt im letzten
Moment.« Und dann – ein plötzlicher Wechsel im Brief, sie fleht Rudis
Geliebte an, Marias früheres Kindermädchen: »Bitte, Tami, hilf mir, dass
er alles so vorbereitet hat, dass er in ein paar Stunden, wenn möglich,
Paris verlassen kann – Schiffe findet man ja immer.« Und damit die
Absurdität am Ende noch einen Triumph feiern darf, beschließt die
Dietrich den Brief an ihren Mann UND dessen Geliebte mit diesen
schönen Abschiedsworten: »Du bist doch der Beste und Treueste. Ich
liebe dich, Deine Mutti.«
1933 endet eine ganz besondere Liebe – die zwischen Nancy Cunard, der
exzentrischen Engländerin aus besten Kreisen, und dem
afroamerikanischen Jazz-Pianisten Henry Crowder. Wenn sie in Paris
durch die Straßen ziehen, sie mit klirrenden Elfenbein-Armreifen und
glitzernden Gewändern, er im tadellosen Dreiteiler, wie aus dem Ei
gepellt, dann raunen die Menschen, an denen sie vorbeigehen. Nancy
Cunard schreibt einen flammenden Essay: Black Man and White
Ladyship – eine Schande, wie ihre Mutter befindet, die sie dafür bei der
Polizei anzeigt. Es scheint, als wolle Nancy Cunard, diese energische und
herbe Frau, mit allen Standesgrenzen und rassistischen Vorurteilen ihres
Heimatlandes brechen. Sie betreibt in Paris The Hours Press für
avantgardistische Literatur und veröffentlicht als Erste James Joyce und
Ezra Pounds Cantos. Aber ihre Liebe zu Henry Crowder zerbricht – und
offenbar, genau wissen wir es nicht, an einer überraschenden
Sollbruchstelle. Cunard ist, wie Picasso, eine besessene Sammlerin
afrikanischer Stammeskunst, ihre ganze Wohnung in Paris ist mit
Skulpturen und Masken und Waffen aus Afrika vollgestellt. Sie arbeitet
an einem groß angelegten Buch über die schwarze Kultur, um deren
Gleichwertigkeit gegenüber der weißen zu belegen. Aber Cunard will
trotz all ihrer Intelligenz einfach nicht begreifen, dass Henry, ihr Gatte,
zwar schwarz ist, sich aber eben nicht so sehr mit seinen afrikanischen
Urvätern identifiziert wie mit seinen Eltern aus New Orleans, mit dem
neuen afroamerikanischen Amerika, mit Jazz. Ihn beschleicht das Gefühl,
Nancy Cunard liebe ihn gar nicht als Mensch, sondern als Symbol.
Daraufhin reist er zurück nach Amerika. 1934, als er sie bereits verlassen
hat, wird ihre unglaubliche Negro Anthology erscheinen. Ein Buch wie
ein Kontinent, voll Literatur, Musik, Kultur, Geschichte. Ein
tausendseitiges Buch der Liebe – und gegen den Hass. Nancy Cunard
widmet es Henry Crowder, ihrer größten Liebe.
Ernst Jünger und seine Frau Gretha wollen weg aus Berlin. Nachdem ihr
Freund Erich Mühsam ins KZ gekommen ist, wurde ihre Wohnung von
der Gestapo durchsucht, um verdächtige Verbindungslinien zu dem in
Verruf geratenen Kommunisten zu finden. Ihre Nähe zu dem
sadomasochistischen Maler Rudolf Schlichter und dessen als »Hetäre«
arbeitender Ehefrau Speedy bringt sie ebenfalls ins Gerede. Deshalb
verbrennt Jünger seine Tagebücher der letzten fünfzehn Jahre, die
Gedichte, Briefe und politischen Aufzeichnungen; eine Aufnahme in die
neubesetzte Deutsche Akademie der Dichtung lehnt er ab, das sei nichts
für ihn. Die Jüngers wollen Berlin hinter sich lassen, zumal Gretha
wieder schwanger ist und sie ihren Kinderwagen nicht durch SA-
Aufmärsche und Straßenschlachten schieben möchte. Auch der werdende
Vater braucht dringend eine Luftveränderung: »Diese Boheme-Gesichter
ekeln mich an.« So ziehen die Jüngers also im Dezember 1933 nach
Goslar, an den Rande des Harzes, in der Hoffnung auf »ein ruhiges
Leben, jenseits des verwirrenden und betäubenden Rhythmus, der Berlin
erfüllt hat«. Sie hoffen, in eine innere Emigration entfliehen zu können.
Ruth Landshoff, immer auf dem Sprung, verliert auf der Fahrt nach Paris
in der Zugtoilette ihren Ehering. Sie weiß, dass dies kein Zufall ist. Sie
liebt längst den englischen Baron Bryan Guinness mehr als den Grafen
Yorck von Wartenburg, mit dem sie verheiratet ist. Der Baron hat ihr ein
Zwergtaubenpärchen geschenkt, das sie im Käfig überallhin mitnimmt.
Sie schickt ihm dafür aus Paris ihre Emigrantennovelle, doch es gelingt
ihm weder Harper’s Bazaar noch einen Literaturagenten dafür zu
gewinnen. Sie bleibt ungedruckt. Und doch hat Ruth Landshoff mit der
Verzweiflung des namenlosen Emigranten als erste Worte gefunden für
das schamhafte Schweigen jenseits der Heimat: »Er hasste es zu
sprechen, er hasste zu blicken, weil es ihn störte, sehnsüchtig zu leben.
Der Emigrant liebte sein Land sehr. Niemand hatte ihm verboten, sein
Land zu lieben. Aber es war ihm verboten, sein Land zu bewohnen. Qual
und Sehnsucht sind, was ich forttrug aus meinem Land.«
*
Am 12. Dezember verlässt Aby Warburgs größte Liebe vier Jahre nach
seinem Tod Deutschland. Auf dem Frachtschiff Hermia reisen sowohl die
legendäre und gigantische kulturwissenschaftliche Bibliothek des
jüdischen Kunsthistorikers als auch seine Fotosammlung und sein
Bilderatlas mit ihr von Hamburg nach London. Mit dieser Emigration
kommt einer der größten geistigen Schätze der zehner und zwanziger
Jahre seiner unmittelbar bevorstehenden Zerstörung zuvor. Wenig später
stirbt Warburgs Witwe Mary in Hamburg.
An seinem 54. Geburtstag, dem 18. Dezember, erhalten der Maler Paul
Klee und seine Frau Lily eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für
seine Heimatstadt Bern und damit die legale Möglichkeit, Deutschland
zu verlassen. Zwei Drittel ihrer Bücher und Möbel lassen sie in
Düsseldorf zurück. Beim Packen reißt sich Paul Klee eine Wunde in die
rechte Hand, die zu einer Blutvergiftung führt. Was für eine symbolische
letzte Krankheit auf deutschem Boden. Am 23. Dezember verlässt das
Ehepaar Klee samt Katze Bimbo Deutschland für immer. Lily Klee
schreibt an ihren Sohn Felix: »So fahre ich nun hinaus in die Welt und
zum 1. Mal heimatlos. Das war ein böses Jahr. Mit Grausen denk ich
daran zurück.«
Der abstrakte Maler Wassily Kandinsky und seine Frau Nina geben ihre
Wohnung in Berlin auf und emigrieren am 19. Dezember nach Paris.
Am Morgen des 24. Dezember steigt Gussie Adenauer mit ihren Kindern
in Köln in den Zug, um nach Maria Laach zu fahren. Es liegt Schnee,
gleich hinter der Pforte schließt sie Konrad Adenauer dankbar in die
Arme. Sie nehmen ein leichtes Mahl im Essensraum ein und singen
danach in seiner Zelle ein paar Weihnachtslieder. Die Kinder haben für
ihren Vater kleine Geschenke mitgebracht. Später gehen alle zusammen
zur Messe. Umringt von seiner Familie und umsorgt von gregorianischen
Chorälen, laufen Konrad Adenauer die Tränen über die Wangen.
Bertolt Brecht hat das zweite Mal ein Haus gekauft, nach jenem am
Ammersee nun eines an der dänischen Ostsee, Skovsbostrand Nr. 8 in
Svendborg, finanziert durch die Honorare für seinen Dreigroschenroman
und von Helene Weigels Vater. Neben Weigel ist auch die noch immer
stark lungen- und liebeskranke Margarete Steffin in Dänemark, die aus
Paris gekommen ist, und Brecht hat seine künftige Geliebte Ruth Berlau
gebeten, die gerade noch aktuelle Geliebte Steffin doch bitte bei sich in
Kopenhagen zwischenzuparken, damit Helene Weigel nicht wütend wird.
Die fünf Autostunden Abstand zu Svendborg beruhigen die Gattin
tatsächlich etwas. Nur Steffin heult sich bei Berlau aus und leidet wie ein
Hund, weil Brecht anfängt, sie auf Abstand zu halten. Sie ahnt da noch
nicht, dass der wahre Grund dafür neben ihr sitzt. Wie bitter ist das alles?
Nur Elisabeth Hauptmann zieht sich aus dem zerstörerischen Spiel
Brechts zurück – nachdem sie monatelang in Berlin alles dafür getan hat,
seine Manuskripte zu sichern und dafür sogar ins Gefängnis ging, wirft
Brecht ihr Faulheit und Ungeschicklichkeit vor. Daraufhin schreibt sie
ihm: Glücklich könne sie nur werden »bei gänzlicher Trennung von
Ihnen«. Und: »Vielleicht sehen wir uns dann später mal wieder.« Und
Brecht? Er steckt das bestens weg. Wie hat er in seinem siebten Sonett an
Margarete Steffin geschrieben? »Der Männer Wollust ist es – nicht zu
leiden.« Fröhliche Weihnachten.
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Danach
Mit den Frauen ist es wie mit den Städten, denkt Ernest Hemingway, als
er wieder in Paris ist. Erst liebt man sie für genau das, was man ihnen
später vorhält. Im Januar 1934 erstellt er für das amerikanische
Herrenmagazin Esquire eine kurze Bestandsaufnahme der aktuellen Lage
in der französischen Hauptstadt. Und wie ist die Lage?
Niederschmetternd. »Was einen deprimiert, ist die vollkommene Ruhe,
mit der hier alle vom nächsten Krieg reden, als handelte es sich um eine
ausgemachte Sache, die man hinnehmen müsse.« Und dann, an seine
amerikanischen Landsleute gerichtet: »Schön, Europa hatte immer seine
Kriege, aber wir sollten uns aus dem, der kommt, heraushalten. Wenn
jemand Krieg will, weil er wissen will, wie es im Krieg zugeht, oder aus
Liebe zu irgendeinem Land, soll er allein gehen.« Und nachdem er das
gesagt hat, erzählt er von seiner Liebe zu Paris – und er erkennt, dass
lediglich er sich gewandelt hat, nicht die Stadt: »Paris ist sehr schön, jetzt
im Herbst. Es war schön, hier ziemlich jung zu sein, und eine gute
Schule, die man nicht schwänzen durfte. Wir alle haben Paris einmal
geliebt, und wer es anders sagt, lügt. Aber die Stadt ist wie eine Geliebte,
die nicht alt wird, und sie hat jetzt andre Liebhaber. Für den Anfang, als
wir sie noch nicht kannten, war sie ziemlich alt. Wir dachten, sie wäre
einfach älter als wir; das zog uns zu ihr hin. Aber als wir sie nicht mehr
liebten, hielten wir es ihr vor. Das war falsch. Paris ist immer gleich alt
und hat immer neue Liebhaber.« Und dann, ganz herbstlich und ehrlich:
»Was mich angeht, ich liebe jetzt etwas anderes.« Was das ist, verrät er
nicht.
Nur zwei Jahre eheliches Glück sind dem Ehepaar des ehemaligen
Generals und Reichskanzlers Kurt von Schleicher und seiner Elisabeth
beschieden. Am 30. Juni dringen mitten in der Nacht fünf Männer in das
Haus in Neu-Babelsberg ein und erschießen beide. Der General stirbt
sofort, seine Frau wenig später im Krankenhaus Nowawes. Beide
Leichen werden von der Gestapo beschlagnahmt, um Spekulationen und
Nachforschungen zu unterbinden, die »Beerdigung« auf dem
Parkfriedhof Lichterfelde findet also in Abwesenheit der Toten statt. Dass
die SS diesen Doppelmord ausgeführt hat, ist klar – bis heute bleibt
umstritten, ob Hermann Göring, Heinrich Himmler oder Adolf Hitler
selbst den Auftrag gegeben haben. Nach dem nächtlichen Mord erscheint
übrigens am 1. Juli nachmittags erneut ein Stoßtrupp von Männern mit
Pistolen im Schleicher’schen Haus, sie finden aber bloß Angehörige, die
um den ehemaligen Reichskanzler trauern. In seinem Tagebuch notiert
Joseph Goebbels: »In Berlin programmgemäß. Keine Panne als die, dass
Elisabeth Schleicher mitfiel. Schade, aber nicht zu ändern.« Eine
unschuldige Tote zu viel? »Schade.« Das ist die Sprache des Dritten
Reiches, die Victor Klemperer so schonungslos analysieren wird. Das
sind Goebbels’ Worte zu jener Mordserie, die als »Nacht der langen
Messer« in die Geschichte eingegangen ist – auch die Anführer des von
den Nazis so genannten Röhm-Putsches sind ermordet worden, also
praktisch die Führungsriege der SA. Ein Ereignis übrigens, das Curzio
Malaparte in seinem Buch Technik des Staatsstreichs 1932 genau so
vorhergesagt hat. Als Kaiser Wilhelm II. am nächsten Morgen in seinem
niederländischen Exil von der Ermordung Kurt von Schleichers hört,
stirbt in ihm jede Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Monarchie;
stattdessen macht sich Entsetzen breit über die Barbarei des neuen
Regimes.
*
Plötzlich, am heißen 14. Juli des Jahres 1934, segelt noch ein neues Paar
in dieses Buch hinein. Es ist schon früher Abend am Wannsee, die Sonne
versinkt langsam und die erste kühlere Brise weht aus Nord/Nordwest.
Die zwanzigjährige Libertas steht im Bikini und in weiten roten Hosen
am Bug des Segelschiffes Haizuru ihres Freundes Richard von Raffay,
als plötzlich ein Ruderboot aus dem Schilf auf sie zukommt. Bedächtig
und doch wie von einem Magneten angezogen lenkt es ein junger Mann
mit wehendem Haar durch die weißen Wasserrosen direkt auf sie zu. Er
sei Harro Schulze-Boysen, so sagt er zur Begrüßung, Adjutant im
Reichsluftfahrtministerium. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Ihr alter
Freund Richard spürt genau, was da Magisches vor sich geht. Er springt
am Steg des Segelclubs Blau-Rot dezent von seinem eigenen Boot und
überlässt es den beiden Verliebten. »Die warme Julinacht brach an / es
war so voller Zärtlichkeiten«, schreibt Libertas über den schicksalhaften
Tag ihrer Begegnung. Doch als sie Harro sein Hemd auszieht und ihn
anschaut, schaudert es ihr, sie sieht überall Striemen und Narben, ihm
fehlt ein halbes Ohr, auf dem Oberschenkel eingebrannte Hakenkreuze.
Ein Jahr zuvor, so gesteht er ihr, war er in den Folterkellern der Gestapo,
sie haben ihm, dem glühenden Herausgeber der Zeitschrift Gegner, mit
Peitschen und Eisenschrauben klargemacht, wie der neue Staat mit jenen
umgeht, die sich für eine Gegnerschaft entscheiden. Vor seinen Augen
haben sie seinen jüdischen Kollegen und Freund Henry Erlanger brutal
ermordet. All das werde er rächen, sagt er mit ruhiger und fester Stimme.
Als sie seine Narben sieht und deren Geschichte hört, wacht Libertas auf
aus ihren naiven Jungmädchenträumen, bei ihr fängt das Denken an in
diesem Moment, wie Norman Ohler schreibt, und bei Harro die Heilung.
Es läuft ihr kalt den Rücken runter, als sie begreift, dass in genau jenen
Räumen in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin, in denen sie als Kind
Verstecken spielte, als es noch das Kunstgewerbemuseum war, dessen
Modeabteilung ihr Vater leitete, der Mann, den sie hier in Armen hält,
von der Gestapo verhört wurde, nachdem sie ihn zuvor viele Tage und
Nächte gefoltert hatten.
In jenem Sommer 1934 beginnt also nicht nur eine große Liebe
zwischen Libertas, der Enkelin jenes Grafen von Eulenburg, der als Teil
der berüchtigten »Kamarilla« mit Kaiser Wilhelm II. homoerotisch
verbunden war, und Harro, dem Großneffen des berühmten Admirals von
Tirpitz. Sondern es bildet sich auch der Kern jener Widerstandsgruppe,
die die Gestapo später »Die rote Kapelle« taufen wird. Doch zunächst
stürzen sich Harro und Libertas ins Leben – und ziehen zusammen in die
Wohnung von Richard von Raffay, auf dessen Segelboot sie sich
kennengelernt haben. Libertas arbeitet als Pressereferentin für die
amerikanische Filmfirma Metro-Goldwyn-Mayer und schleppt Harro
abends nach seinem Dienst im Reichsluftfahrtministerium in die neuesten
Filme von Greta Garbo und John Wayne. Danach tanzen sie in der
Jockey-Bar – und wenn es zu heiß ist fürs Kino, dann dürfen sie mit
Richards Jolle wieder raus auf den Wannsee segeln und träumen. Bald
kauft sich das junge Paar einen Opel, sie taufen ihn auf den Namen
»Spengler«, nach dem Verfasser vom Untergang des Abendlandes.
*
1934 heiraten endlich Salvador Dalí und Gala. Und deren Ex-Mann Paul
Éluard feiert gleich darauf Hochzeit mit seiner Geliebten, der 28-jährigen
Schauspielerin Maria Benz, genannt Nusch. Lee Miller wiederum kehrt
aus Amerika zurück und heiratet den Ägypter Aziz Eloui Bey, in dessen
Auftrag sie zwei Jahre zuvor noch seine damalige Gattin porträtierte.
Kurzzeitig also halbwegs geordnete Verhältnisse an der surrealistischen
Front.
*
Auch unsere schönste Fee, die ewig Verlorene und ewig Suchende
Annemarie Schwarzenbach, versucht zu heiraten: Sie verlobt sich mit
Claude Clarac, einem bis in die Zehenspitzen eleganten Franzosen, der
Botschafter in Teheran ist. Clarac schenkt der Autofanatikerin einen
neuen Sportwagen, und sie zieht 1935 zu ihm in seine Villa außerhalb
von Teheran, die so luxuriös ist, dass es selbst der Schweizer
Industriellentochter imponiert: Ein riesiger Park, ein Badeteich und
unzählige Bedienstete, die den ganzen Tag um Annemarie
Schwarzenbach herumschwirren und ihr jeden Wunsch von den Augen
ablesen. Na ja, jeden natürlich nicht. Denn immer, wenn sich die Sonne
senkt über Teheran und ein glühend roter Ball wird, dann wächst in ihr
die Sehnsucht nach den Drogen, nach dem Morphium, dem Veronal.
Aber sie findet auch hier Mittel und Wege, und so lebt sie bald ihr Leben
im Dämmerzustand weiter, diesmal im orientalischen Luxus. Ihren Mann
sieht sie kaum, was ihr sehr entgegenkommt. Als Homosexueller hat er
dringend eine Gattin gebraucht, um in dem muslimischen Land akzeptiert
zu werden. Annemarie Schwarzenbach verkriecht sich in diesen
verborgenen Winkel der Welt und legt die Ohren an: »Ich habe Angst vor
der Rückkehr«, schreibt sie, denn »ich glaube an nichts und niemanden,
und ich zweifle an meinem Leben. Deswegen fühle ich mich versucht
hierzubleiben, fern der Welt.« Die brutale Erika Mann, für die Annemarie
Schwarzenbach ein Leben lang, obwohl sie unerwidert bleiben,
romantische Gefühle hat, schreibt über sie an ihren Bruder Klaus: »Es ist
ein Sonderbares mit dem Kinde. Und leider wird wohl nie etwas dabei
herauskommen, weder menschlich noch produktiv. Auch ihre Skepsis
sich selber gegenüber hat etwas Schlappes.« Wie gut, dass Annemarie
Schwarzenbach diese Stilkritik ihrer Verzweiflung nie lesen musste. Es
reicht, dass wir Nachgeborenen sie kennen. Aber da wir nun auch ihre
Produktivität kennen, ihre Bücher und ihre Fotografien vor allem, wissen
wir, dass viel mehr dabei herausgekommen ist, als Erika Mann es sich
vorstellen konnte.
Und wie ist die Lage bei Erich Maria Remarque? Im Herzen nichts
Neues.
Er hat Angst vor den Frauen, wenn sie ihm zu nahe kommen – und
wenn sie weg sind, vermisst er sie. Und Jutta Zambona, von der er
endlich geschieden ist, sitzt seitdem in seinem herrlichen Haus in Porto
Ronco die ganze Zeit auf seinem Schoß. Draußen schlagen die sanften
Wellen an die Ufermauer, die Palmen recken sich im warmen Wind,
drinnen dämmert ein gut gebräuntes Exilantenpaar in größtem Wohlstand
und auf kleinster Flamme traurig vor sich hin.
Nach dem Selbstmord von Josef Stalins Frau Nadja wird sein Verhältnis
zu ihrem Bruder Pawel und dessen Frau Zhenia ebenso wie das zu ihrer
Schwester Anna und deren Mann Stanislas immer enger. Den
mächtigsten Mann der Sowjetunion, der niemandem vertrauen kann,
tröstet es manchmal, wenn er mit ihnen über seinen Schmerz sprechen
kann, der ihn seit dem Hinscheiden seiner geliebten Frau plagt; sie
kümmern sich in den weiten Fluren des Kreml auch rührend um die
beiden gemeinsamen Kinder.
Im Sommer 1934 dann putzt sich Zhenia, Stalins Schwippschwägerin,
immer mehr heraus, sie trägt die Kleider von Nadja und manchmal, wenn
Stalin mit der Familie zu Abend isst und das Licht von links kommt,
dann sieht sie, so scheint es ihm, ein klein wenig aus wie Nadja. Als
einzige Person in seinem Umfeld hat Zhenia keine Angst vor Stalin –
ihrem Mann hingegen wird Stalin nie verzeihen, dass er Nadja jenen
Revolver aus Berlin mitgebracht hat, mit dem sie sich erschoss. Und ihrer
Schwester verzeiht er nicht, dass sie Nadja so herausgeputzt hat an jenem
verhängnisvollen Abend. Auf jeden Fall beginnt Stalin ein Verhältnis mit
Zhenia, aus nostalgischen Gründen eher, und damit er nicht immer
alleine schlafen muss. Es geht eine Weile gut. Erst 1938 werden dann alle
von Stalins Schergen ermordet, also seine Geliebte Zhenia, ihr Mann
Pawel, Nadjas Schwester Anna und deren Ehemann Stanislas.
Im Frühjahr 1934 ist Henry Miller aus Clichy, wo er die Stillen Tage in
Clichy mit Anaïs Nin erlebt hat, weiter ins Zentrum von Paris, in die Villa
Seurat Nr. 18 im 14. Arrondissement, gezogen, eine herrliche
Atelierwohnung, die zuvor kurzzeitig Antonin Artaud bewohnt hat, der
auch kurzzeitig ein Liebhaber von Anaïs Nin gewesen ist. Am Tag seines
Einzuges bekommt Miller mit der Post das erste druckfrische Exemplar
seines neuen Buches Wendekreis des Krebses geschickt. Es ist der
Wendepunkt in Millers Leben: Er ist, sichtbar für alle, ein Schriftsteller.
Und er hat nach Jahren des Vagabundierens und Schmarotzens endlich
eine feste Wohnung. Zwar wird die wieder von Anaïs Nin bezahlt,
beziehungsweise von deren treuem Gatten Hugo, aber wir wollen es nicht
zu genau nehmen. Als dazu die Scheidungsunterlagen aus New York
eintreffen, und seine Frau June also endlich bereit ist, einen Schlussstrich
zu ziehen unter ihre turbulente Ehe voll Verletzungen und unerfülltem
Begehren, da schreibt Henry Miller in sein Tagebuch nur ein Wort:
»Hurra«.
Nun, da June ihn nicht mehr weiter bedrohen kann in seiner
Unabhängigkeit, ist er in der Lage, sich ihr literarisch zu nähern. Er
beginnt sein neues Buch Wendekreis des Steinbocks, und er erzählt die
Geschichte ihrer Ehe. Während er im Unterhemd an seiner
Schreibmaschine sitzt, vom Grammophon mit Bach und Jazz beschallt,
liegt Anaïs Nin auf seinem Sofa und vergöttert ihn. Doch als er seiner
Muse dann irgendwann später das Manuskript zu lesen gibt, ist sie
empört: Er reduziere Frauen auf Sexualobjekte, »du vereinfachst die
Welt«, sagt sie ihm, und seine Einstellung zur lesbischen Liebe sei
»einfach nur primitiv«. Henry Miller hört sich das ungerührt an und
ändert kein Wort. Er sagt ihr: »Ich will das Monster werden, das ich bin.«
Der schelmische Surrealist Max Ernst aus Brühl bei Köln ist ganz
offenbar der am meisten unterschätzte Herzensbrecher der frühen
dreißiger Jahre. Das Jahr 1934 beginnt für ihn mit einer
leidenschaftlichen, glühenden Liebe zu Meret Oppenheim, der jungen
Schweizer Künstlerin, die zuvor Alberto Giacometti und Man Ray die
Köpfe verdreht hat, und der sich nur Ernst gewachsen fühlt. Fast täglich
schreibt er ihr: »Meretli, Meretli, Meretli, ich liebe, küsse dich, dein
Max.« Oder, zwei Tage später: »Ich bin unrasiert, ich kratze, wenn du das
in Kauf nehmen willst, so küsse ich dich, überall.« Und als Nächstes:
»Meretli, ich muss ununterbrochen an dich denken. Solltest du mich
nicht vergessen haben, so sag’s mir. Ich bin immer wieder überrascht von
deiner Schönheit.« Meret Oppenheim fühlt sich das erste Mal in ihrem
Leben mit Haut und Haaren geliebt. Max Ernst schreibt ihr in
aufreizender Flapsigkeit: »Ich bin dir treu, im besten Sinne des Wortes:
Die Maus von Milo kann mich nicht reizen, geschweige denn die Venus
von Montmartre. Nur dich liebe und begehre ich. Sollte es Krieg geben,
so komm schleunigst vorher nach hier, damit wir in dasselbe
Konzentrationslager kommen, nicht nur zum Schachspielen.« So geht das
einen Winter und einen Frühling und einen Sommer lang.
Doch dann im späten Sommer, an einem drückend heißen Tag in
Paris, da sagt sie ihm im Café Rhumerie Martiniquaise, aus heiterstem
Himmel: »Ich will dich nicht mehr sehen.« Max Ernst ist völlig
erschüttert. Es ist für ihn, so schreibt er, wie das »Hereinbrechen einer
Naturkatastrophe« (er wird sie überleben).
Meret Oppenheim aber hat das sichere Gefühl, sich nicht länger in die
Liebe zu diesem Mann verstricken zu dürfen, wenn sie eine Künstlerin
werden will, die nicht in seinem Schatten steht. Sie opfert diese
Leidenschaft auf dem Altar ihrer Kreativität. Sie will nicht Muse sein,
sondern Künstlerin. Sie glaubt, an der Seite von Max Ernst keine werden
zu können. Vermutlich hat sie recht. Bald schon schafft sie die
pelzbesetzte Suppentasse, eines der wichtigsten Werke des Surrealismus
überhaupt. Und so wie diese Tasse auf widersinnige Weise das flüssige
Heiß mit dem Pelz zu schützen versucht, so hat sie ihr dampfendes Herz
in die Kälte des Abschieds gehüllt. Max Ernst dichtet: »Wer überzieht die
Suppenlöffel mit rostbraunem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns über
den Kopf gewachsen? Das Meretlein.«
Sie weiß, dass Frauen nach der Vertreibung aus dem Paradies selbst
dafür sorgen müssen, den Männern über den Kopf zu wachsen, auch
wenn ihnen das schon die Bibel nicht zugetraut hat. Meret Oppenheim
schreibt: »Nur der Mann sündigt nach der patriarchalischen Auffassung.
Nämlich indem er vom Apfel isst. Die Sünde besteht also in der
Fähigkeit, seine Handlungen bewusst beurteilen zu können. Adam
gesteht diese Fähigkeit Eva nicht zu, obwohl sie zuerst vom Apfel aß.«
Der verstörte Max Ernst sucht nach dem Verlust dieser apfelessenden
Eva einen Ersatz, denn es erscheint ihm unmöglich, nach den Monaten
des verspielten Glücks mit dieser geistig so aufgeweckten jungen Frau zu
seiner Gattin und dem Kind ins traute Heim zurückzukehren. Da trifft es
sich bestens, dass er bei einer Arbeit für das Schauspielhaus in Zürich
Lotte Lenya kennenlernt. Die ist gerade nicht mehr verliebt in ihren
Tenor Otto Pasetti, dessen Glücksversprechen sowohl in den Casinos als
auch im Leben immer seltener aufzugehen scheinen. Und noch nicht zum
zweiten Mal in ihren ersten Ehemann Kurt Weill. In diesem
Schwebezustand begegnet ihr Max Ernst, und sie schenken sich Monate
des fröhlichen Verliebtseins, der erotischen Briefe, der Wochenendtrips
quer durch Südeuropa. »Einen Unsinn mit so viel Ernst«, wie sie es
glucksend nennt. Sie genießt in vollen Zügen, dass Max Ernst seine
schreiberischen Künste, die er schon an Gala erprobt hat, bevor sie Dalí
kennenlernte, und bis vor kurzem an Meret Oppenheim, nun in
phantasievollen Briefen an sie auslebt. Sie badet in seiner
Aufmerksamkeit, fühlt sich begehrt durch seine Worte und geliebt und
geneckt. Kurt Weill wird von Lenya brav davon unterrichtet, dass nun ein
neuer Galan am Firmament erschienen ist. Und was nun macht dieser
Kurt Weill, der das Lotterleben seiner Lotte an der Riviera mit ihrem
windigen Liebhaber seit Jahren finanziert? Er finanziert auch das Leben
ihres nächsten Geliebten und macht in Paris Himmel und Hölle heiß, auf
dass man Gemälde des Surrealisten Max Ernst kaufen möge. Ist das noch
Wahnsinn oder schon Liebe? Er schreibt an Lotte: »Nun lebe, Kleene.
Viele Bussi dein Knuti.«
Das Jahr 1934 ist das Jahr der offenen Worte von Ernest Hemingway an
F. Scott Fitzgerald. Als der ihm ein ums andere Mal geschrieben hat,
warum er nicht zum Schreiben komme und wie sehr er unter seiner Frau
Zelda und ihren schizophrenen Schüben leide, da schreibt ihm sein guter
alter Freund, der Haudegen Hemingway: »Von allen Leuten auf der Welt
warst du derjenige, der bei der Arbeit Disziplin gebraucht hätte, und
stattdessen heiratest du jemand, der auf deine Arbeit eifersüchtig ist, sich
mit dir messen will und dich kaputtmacht. So einfach ist das alles freilich
nicht; ich habe Zelda, als ich sie kennenlernte, für verrückt gehalten, und
du hast alles nur noch mehr kompliziert, weil du sie liebtest und –
natürlich bist du ein Säufer. Du bist ein noch größerer Säufer als Joyce.«
Diese Wahrheiten also muss F. Scott Fitzgerald über sich lesen, als
sein Roman Zärtlich ist die Nacht erscheint, in welchem er seiner Liebe
zu Zelda, ihren Jahren in der Psychiatrie und seiner Liebe zum Alkohol
ein literarisches Denkmal setzt.
Zelda Fitzgerald hingegen verbringt das komplette Jahr 1934 in der
Psychiatrie: Vom 2. Januar bis zum 12. Februar im Sheppard Pratt
Hospital bei Baltimore, vom 12. Februar bis 8. März in der Henry Phipps
Psychiatric Clinic an der Johns Hopkins Universität, vom 8. März bis
zum 19. Mai in der Psychiatric Clinic Craig House in Beacon und vom
19. Mai bis zum Jahresende wieder im Sheppard Pratt Hospital. Sie
unternimmt mehrere Selbstmordversuche.
In den Psychiatrien, zwischen ihren depressiven Schüben, schreibt sie
an einem Text, der »Zeigen Sie Mr. und Mrs. Fitzgerald bitte ihr
Zimmer« heißt. Er erscheint in der Juniausgabe des Magazins Esquire.
Der Text besteht aus einer Liste und Beschreibung aller Hotelzimmer, in
denen die Fitzgeralds seit ihrer Überfahrt nach Europa im Jahr 1921
gewohnt haben. Es ist ein Gruß an die gemeinsamen Wanderjahre und
eine Bilanz von erschreckender und faszinierender Genauigkeit. Nur in
einer Psychiatrie im amerikanischen Nirgendwo, stundenlang ans Bett
gefesselt, kann man sich so präzise an den Geruch der Bettwäsche in den
Hotels in Juan-les-Pins erinnern und daran, wodurch er sich von dem der
Kissen in Monte Carlo unterschieden hat. Sie weiß genauso gut wie ihr
Mann: Die dreißiger Jahre müssen den Preis für die zwanziger Jahre
zahlen, im Allgemeinen, aber auch besonders im Falle von Zelda und
F. Scott Fitzgerald.
Die Landschaft sei im Grunde nur der Hintergrund für Liebe, so hat
Helen Wolff es 1932 in ihrem Roman formuliert. Und an dieses Gebot
halten sie und ihr Mann Kurt sich. Von Nizza aus, wo ihr Sohn geboren
wird, ziehen sie weiter in die Nähe von Florenz und betreiben dort in den
Bergen eine kleine Pension, versorgen sich selbst mit Eiern und Gemüse
und Feigen, kochen für die Gäste. Von dort müssen sie dann aufbrechen,
als in Italien unter Mussolini keine deutschsprachigen Juden mehr
erwünscht sind. Sie ziehen weiter nach Paris und träumen davon, nach
Amerika zu emigrieren. Irgendwann haben sie Pässe und Visa und es
gelingt ihnen die Flucht und sie werden in New York ab 1941 das
Verlegerpaar sein, das viele Jahrzehnte lang den amerikanischen Lesern
mit den Pantheon Books die beste Literatur des alten Europas vermittelt.
Uwe Johnson etwa wird Helen Wolff seine Jahrestage widmen und
Günter Grass ihren Tod betrauern. Aber dafür müssen auch sie und Kurt
Wolff sich erst einmal durch die bedrückenden und endlosen dreißiger
Jahre hindurchquälen.
Für Klaus Mann beginnen die unruhigen Jahre des Exils, dabei ist er
schon immer sehr viel Zeit gereist, um seinen inneren Dämonen zu
entfliehen. Er wird außer dem Haus der Eltern in der Poschingerstraße
nie in seinem Leben eine feste Wohnung haben. Legendär ist sein
Gedicht »Gruß an das zwölfhundertste Hotelzimmer«, aber bei der Zahl
war er schon 1931 angekommen, mit gerade einmal 24 Jahren. Jetzt, drei
Jahre später, ist sein Leben zu einer einzigen Flucht geworden, befeuert
von seiner Wut auf die Nazis, fast täglichen Drogenspritzen mit Veronal
und der gehetzten Jagd auf flüchtige Eroberungen in Hafenspelunken.
»Er saß eigentlich nie«, beobachtet Elias Canetti, »er rutschte hin und
her, sprang auf, lief davon, wandte sich bald diesem, bald jenem zu, sah
an ihm vorbei und sprach zu einem anderen, den er auch nicht sah, er
schien niemanden sehen zu wollen, so viel sah er.«
Meist ist Klaus Mann in Amsterdam, wo seine Exilzeitschrift Die
Sammlung erscheint, er reist regelmäßig für längere Zeit nach Paris und
besucht die Eltern in Zürich, ist aber auch mal in London, in Moskau (wo
sie alle hinreisen in diesen dreißiger Jahren, Heinrich Mann,
Feuchtwanger, Brecht, mit einer irrigen Erlösungssehnsucht, aber das
wäre ein eigenes Buch), er ist in Prag und in New York. Dazwischen
Erholung an den Stränden des Mittelmeeres, von wo man, wie ihm
Gottfried Benn vorgeworfen hat, die Lage im inneren Deutschland
angeblich sehr schlecht beurteilen kann. Aber Klaus Mann beweist ihm
das Gegenteil. Egal ob in Paris, in Amsterdam oder an der Riviera: Er
erkennt messerscharf, wo das Dritte Reich Verrat begeht am deutschen
Geist. Und wer die jeweiligen Mitverräter sind. Als er einen Vortrag in
Brünn hält, da kündigt ihn die Volkshochschule mit diesen schönen
Worten an: »Klaus Mann – Sohn des Nobelpreisträgers Thomas, Neffe
Heinrichs, aber im Schatten der Titanen selbst schon zur machtvollen
literarischen Persönlichkeit gereift, zum kampffrohen Zukunftsführer der
›auslandsdeutschen‹ Jugend emporgewachsen.«
Dieser kampffrohe Zukunftsführer muss erleben, dass in diesen Jahren
nicht nur große Autoren wie Robert Musil und Stefan Zweig, sondern
selbst sein Vater Thomas davon absehen, für seine Zeitschrift Die
Sammlung zu schreiben, denn sie alle wissen, dass dies gleichbedeutend
wäre mit dem kompletten Verbot ihrer Bücher in Deutschland. So kämpft
Klaus Mann einen immer verzweifelteren Kampf für Wahrheit und
Freiheit – und muss erkennen, dass viele, die er bewundert und einer, den
er sogar liebt, andere Prioritäten setzen. Aber er gewinnt eine neue, tiefe
Freundschaft hinzu: die zu Fritz Landshoff, dem hellen Kopf hinter dem
Exilverlag Querido (und Cousin von Ruth Landshoff), mit dem er in
Amsterdam jeden Abend verbringt, redend, trinkend, arbeitend.
In Amsterdam residieren die beiden Exilverlage Querido und Albert
de Lange, bei letzterem sind Hermann Kesten und Walter Landauer für
das deutsche Programm verantwortlich. »In gemeinsamen
Abendsitzungen machten wir das Verlagsprogramm für beide Verlage«,
schreibt Fritz Landshoff, »während tagsüber mit Mühe der Anschein der
Konkurrenz gewahrt wurde.« In beiden Verlagen erscheinen in den
dreißiger Jahren die Bücher der Emigranten, also etwa von Heinrich
Mann und Lion Feuchtwanger, von Anna Seghers, Joseph Roth, Ernst
Toller und Vicki Baum, von Alfred Döblin, von Erich Maria Remarque
und Irmgard Keun. Die deutsche Literatur war emigriert.
In Nizza, 121 Promenade des Anglais, hat sich im Sommer 1934 eine
ganz besondere Hausgemeinschaft der Exilliteratur für sechs Monate
zusammengefunden: Im dritten Stock des schmalen Hauses mit
Meerblick wohnen Heinrich Mann und Nelly Kröger, darunter Joseph
Roth und Andrea Manga Bell, und in der Beletage Hermann Kesten mit
seiner Ehefrau Toni. Und sobald sie alle zusammensitzen oder auf einem
der Balkone aufs tröstende Meer schauen, geht es nur um das eine, wie
sich Kesten erinnert: »Joseph Roth erzählt eine Liebesgeschichte aus
Podolien, Heinrich Mann eine Liebesgeschichte aus Palestrina und Frau
Nelly Kröger Geschichten aus ihrer Mädchenzeit am Kurfürstendamm –
berlinerisch ausgezogene, sozusagen splitternackte Geschichten, die
mehr nach rotem Wein schmeckten als nach Nachtigallenzungen. Sie
erzählte, wie sie zu zweien oder allein mit irgendeinem hergewehten
Jüngling tanzen gingen. Geschichten voll Kichern, Kosen, Küssen.« So
also versuchen die drei Paare in Nizza durch Gedanken an Liebende in
Podolien, Palestrina und Berlin-Charlottenburg ihr leidvolles Leben in
der Emigration zu vergessen. Aber es fällt allen drei Paaren von Monat
zu Monat schwerer. Ihre Beziehungen leiden unter der Angst, der
Existenznot und den ständigen Umzügen – und unter dem Alkohol, mit
dem sie dagegen antrinken.
Die Jahre nach seiner Rückkehr aus Berlin sind für Jean-Paul Sartre die
düstersten seines Lebens. Er ist in Berlin dick geworden, fühlt sich wie
ein kleiner Buddha und hasst es, aus der Weltstadt nun nach Le Havre in
die französische Provinz zu müssen, um Pubertierenden die großen
Fragen der abendländischen Philosophie nahezubringen. Und auch sonst
muss sein Selbstbewusstsein einige harte Schläge einstecken. Zunächst
einmal der Schock, als er feststellt, dass ihm die Haare ausgehen, dass er
kahl wird, dass also das Alter erstmals und unwiderruflich nach ihm
greift. Dann die Demütigung, dass Gallimard, der Verlag seiner Träume,
sein Buch Der Ekel für unzureichend befindet und ablehnt, nachdem er
vier Jahre lang daran gearbeitet hat. Und schließlich: seine Misserfolge
als Don Juan. Seine Berliner Geliebte Marie Ville ist mit ihrem Ehemann
nach Paris gereist und will fortan nichts mehr von ihm wissen. Noch
enttäuschender ist sein vergebliches Bemühen um die junge Russin Olga,
eine ehemalige Schülerin und nunmehrige Geliebte seiner ewigen Gattin
Simone de Beauvoir. Tag um Tag umschwärmt er sie, versucht, ihr zu
gefallen, doch es nützt nichts. So steckt also Jean-Paul Sartre anno 1935
in einer veritablen Männlichkeitskrise. Und Simone de Beauvoir kann
ihm da nicht weiterhelfen, denn ihrer Liebe ist er sich sicher, sein Ego
und sein Testosteronspiegel brauchen einen neuen Schub aus einer
anderen Richtung. Er probiert es mit einer Meskalin-Injektion, doch sie
führt nur zu Halluzinationen, monatelang erscheinen ihm plötzlich
Hummer vor Augen oder die Häuser schwanken wie im Fiebertraum. Die
Drogen, erkennt er, werden ihm das Leben nicht erleichtern. An einem
dieser trüben Tage besucht Simone ihren Gatten in Le Havre, sie sitzen
auf der Terrasse ihres Lieblingscafés Les Mouettes und schauen
griesgrämig auf das Meer und die Möwen und rühren in ihrem kalten
Café au Lait. Nein, sagt Sartre, heute bitte keinen Hummer. Dann klagt er
über die Monotonie ihres Lebens. Sie seien, so sagt er zu de Beauvoir,
Gefangene der bürgerlichen Welt, gezwungen zum Schulunterricht und
zur Verantwortung. Sie seien fast dreißig, aber schon am Ende. Das
nächste größere Ereignis sei der Eintritt in die Rente. Bei allem, was er
fühle, wisse er, noch bevor er es fühle, dass er es fühlen würde. Und dann
fühle er es leider nur noch halb, vollauf damit beschäftigt, es zu
definieren und zu denken. Er wirke zwar wie ein Gefühlsmensch, aber in
Wahrheit sei er eine Wüste.
So redet er und redet, die Möwen verziehen sich, das Meer wird
immer dunkler, und irgendwann hat Simone de Beauvoir Tränen in den
Augen und schweigt.
»Stell dir vor: es kommen alle Frauen / Die du einmal hattest, an dein
Bett«, so beginnt das Sonett, das Margarete Steffin voll Verzweiflung an
Bertolt Brecht geschrieben hat, ihren höchst polygamen Geliebten. Aber
der kann gut verdrängen und stellt es sich lieber nicht vor. Max
Beckmann hingegen tut es: Er sitzt 1935 in seinem Berliner Atelier, aus
seinem Amt als Professor für Malerei in Frankfurt vertrieben, als Jude in
einem dauernden Zustand der Angst. So zieht er sich malend zurück in
die Antike, schafft große mythologische Triptychen, in denen er die
Zumutungen der Gegenwart als antike Götterdramen erzählt und so zwar
von seinen Freunden, aber nicht von den Nazis verstanden wird. Doch in
ihm steigen nicht nur die alten mythologischen Bilder auf, sondern auch
die der eigenen Versuchung. Wenn er die Augen schließt, dann sind es
fünf Frauen, die ihm erscheinen, fünf Frauen, die sein Leben nachhaltig
bestimmen – und so setzt er sich also an die Staffelei und beginnt sein
größtes autobiographisches Bild. Er nennt es Fünf Frauen. Sie sind alle
im höchsten Maße unterschiedlich, in ihrem Aussehen ebenso wie in
ihrem Charakter und in ihrer Funktion für den Künstler. Selten hat ein
Maler sein komplexes Liebesleben so offenbart wie Max Beckmann. Es
ist das fehlende Puzzlestück zu den unzähligen Selbstbildnissen, die er
zeitlebens geschaffen hat. Links sieht man Lilly von Schnitzler,
Beckmanns potente und mutige Frankfurter Mäzenatin, die
großgewachsene Frau des Chefs der IG-Farben und mondäne
Gesellschaftsdame, die sogar Joseph Goebbels zum Tee eingeladen hat,
um ihn von der Qualität des angeblich entarteten Künstlers Beckmann zu
überzeugen. Neben sie platziert Beckmann die vornehme Käthe von
Porada, seine und Gottfried Benns Geliebte, auf der anderen Seite dann
Hildegard Melms, genannt »Naïla«, seine frühere leidenschaftliche
Liebhaberin, wichtigste Muse und das Modell unzähliger Werke. Auch
seine erste Frau, Minna Beckmann-Tube, eine edle Stille, die er nie
vergessen kann, hockt vorn im Bild. In der Mitte schließlich thront
selbstbewusst mit Fächer Quappi als sinnliche Verführerin, also die
aktuelle Ehefrau des Jahres 1935 – das ist der Gatte Beckmann ihr
schuldig.
Die Schauspielerin Brigitte Helm beendet ihre Karriere genauso, wie sie
begonnen hat: spektakulär. Sie erlebt als siebzehnjährige Jungfrau und
Pensionatsschülerin ihren frühen Triumph als Maria in Fritz Langs
Metropolis. Ihre Rolle als »Maschinenmensch« in golden schimmernder
Rüstung ist neben der in Dessous und Zylinder auf einem Fass sitzenden
Marlene Dietrich im Blauen Engel das zweite ikonische Bild des frühen
deutschen Films. Doch während die Dietrich ein Leben lang an ihrem
Status als Ikone arbeitet, wählt Brigitte Helm nach einem ebenso
fulminanten Karrierestart in der späten Weimarer Republik einen ganz
anderen, radikalen Weg. Sie ist der Vamp des deutschen Films, in ihr
vereinen sich, wie Fritz Lang sagt, »Jungfrau und Hetäre, Wildes und
Keusches«. Aber die UFA-Studios setzen ausschließlich auf die wilde
Hetäre in vibrierender Schönheit und mit goldenem Haar – in der
Tradition von Wedekinds Lulu. Und so wird sie fortan nur als die
»sündige, teuflische, glatte Schlange« gezeigt, wie die Fachzeitschrift
Der Film bilanziert. Doch der frühe Ruhm von Metropolis lastet auf ihr
wie ein Fluch, in ihren 28 Filmen versuchen sage und schreibe 24
verschiedene Regisseure für sie das zu werden, was Josef von Sternberg
für die Dietrich geworden ist.
Dann gibt sie selbst ein außergewöhnliches Interview, wehrt sich
gegen die Rollenzuschreibungen und sieht sich auf eine Frau mit »Sex-
Appeal« reduziert: »Mein Wunsch ist, dass sich 1935 daran erinnert, dass
ich vielleicht doch ein bisschen mehr kann als nur leichtsinnige,
verantwortungslose Dämchen darzustellen. Eine wirklich mütterliche
Frau spielen, das ist mein größter Wunsch.« Doch da hat Brigitte Helm
noch nicht begriffen, dass es in der Filmindustrie nicht darum geht, die
Wünsche der Hauptdarstellerinnen zu erfüllen, sondern die der
Zuschauer.
So muss sie das mit dem Glück eben selbst in die Hand nehmen. Ihr
letzter Film trägt bezeichnenderweise den Titel Ein idealer Gatte – und
die Ironie des Schicksals will es, dass passend zu den Dreharbeiten
endlich die Ehe mit ihrem offenbar nicht idealen ersten Gatten Rudolf
Weißbach geschieden wird, der die vergangenen Jahre dazu genutzt hat,
die Filmgagen seiner Frau an der Riviera und der Ostsee durchzubringen,
und zwar an der Seite von Damen, mit denen er nicht verheiratet war.
Im Frühling 1935 heiratet Brigitte Helm ein zweites Mal: den
Industriellen Dr. Hugo Eduard Kunheim, einen der begehrtesten
Junggesellen von Berlin. Sie beziehen eine gigantische Villa, Am Großen
Wannsee 2–4. Am 28. August verkündet Die Filmwoche ihren
überraschten Lesern: »Brigitte Helm wird in Der ideale Gatte vorläufig
das letzte Mal auf der Leinwand zu sehen sein. Sie erklärt, nur noch ihren
Pflichten als Ehe- und Hausfrau nachkommen zu wollen. Nous
verrons …« Doch was keiner glauben kann, geschieht: So abrupt wie ihre
Filmlaufbahn begonnen hat, so endet sie. Während ihrer ganzen Karriere
fühlt sie sich so eingeengt, als hätte sie das Stahlkorsett aus Metropolis
nie abgelegt. Nun befreit sie sich aus dem Rampenlicht in die
Konvention. Brigitte Helm hört von einem auf den anderen Tag auf, ein
Star zu sein. Die Journalisten können das einfach nicht glauben. Doch
dann erklärt sie: »Ich kehre dem Film ohne Bedauern den Rücken, trotz
der Freuden, die er mir geschenkt hat, weil ich an all das Glück denke,
das ich in meinem Privatleben finden werde.« Und das Unglaubliche ist:
Sie findet es wirklich. Ihr Mann liebt sie und sie ihn. Und sofort nach der
Hochzeit wird sie schwanger mit ihrem ersten Kind, 1936 wird Pieter
geboren, im Jahr darauf Viktoria, dann Matthias und schließlich
Christoph. Sie leben ein großbürgerliches Familienleben im
Windschatten des Dritten Reiches, ziehen sich dann in die Schweiz
zurück, weil ihr Mann jüdischer Abstammung ist. Pieter, ihr Sohn, wird
über seine Mutter, die für ihn immer nur Brigitte Kunheim gewesen ist,
später sagen: Brigitte Helm haben wir nicht gekannt.
Man kommt kaum hinterher bei Bertolt Brecht. Seine Jahre des Exils
sind Jahre der Rastlosigkeit. Aber es gibt eine Konstante: Wo immer er
landet und ein Stück inszeniert, da wartet eine seiner ihm treu ergebenen
Frauen auf ihn. Egal ob in Dänemark, wo seine Ehefrau Helene Weigel
ihm zur Seite steht, obwohl er ihr seit einem Jahrzehnt untreu ist, oder in
Amerika, wo Elisabeth Hauptmann ihn mit offenen Armen empfängt,
obwohl er sie monatelang noch nicht einmal eines Briefes für würdig
befunden hat. Ja, wohin auch immer er reist, ob nach Paris, Moskau,
Kopenhagen oder Santa Monica, es ist eine seiner Frauen da und umhegt
ihn, betreut ihn und lässt ihn zu sich ins Bett. Diese Frauen machen es
ihm überall heimisch, dem Mann auf der ewigen Flucht. »In mir habt ihr
einen, auf den könnt ihr nicht bauen« – das hat er allen ins Poesiealbum
geschrieben. Aber jede Einzelne von ihnen, egal ob sie Margarete Steffin
heißt oder Elisabeth Hauptmann oder Helene Weigel oder Ruth Berlau,
glaubt, dass sie irgendwann doch diejenige sein wird, die ihn aus seinem
ruhelosen Schicksal erlöst. Und wenn er bei der einen ist, dann schreibt
er den anderen, wie sehr er sich langweilt und nach ihnen sehnt. Und die
fernen Geliebten glauben es oder wollen es glauben, in den Zeiten des
Exils ist das oft einerlei. Für Margarete Steffin sind die dreißiger Jahre
eine einzige Tortur: Vor ihren Augen hat Brecht ihre Liebe gegen die von
Ruth Berlau eingetauscht, nun wird sie in Dänemark nur noch selten zum
Meister vorgelassen und die Tuberkulose zerfrisst ihren Gehörgang, ihren
Darm, ihre Lunge. Sie bewegt sich nur zwischen Krankenhäusern und
Sanatorien hin und her, immer hoffend, dass Brecht ihr ein paar Zeilen
des Trostes schicken würde. Doch der hat keine Zeit dafür.
Im Sommer 1935 holt Frau Dr. Kluge aus Halberstadt das schicke weiße
Mercedes Zweisitzer-Cabrio persönlich in Stuttgart-Untertürkheim ab.
Ein Auto für die Ewigkeit. Ein wenig Geld ist noch übrig. Und so bringt
sie am Armaturenbrett ein Gedenktäfelchen an, fünf mal sieben
Zentimeter groß, mit einem Passfoto von ihr und den eingeriffelten
Worten: »Denk an mich, fahr vorsichtig.« Aber ihr Mann ist auch schon
vorher sehr vorsichtig gefahren. Ihr bereits damals wunderbar
unvorsichtiger dreijähriger Sohn Alexander wird später die erste Chronik
der Gefühle schreiben.
Es ist ein Jahr der Extreme für Pablo Picasso. Er wird für seine
Radierungen zum Minotaurus gefeiert, vor allem für die
Minotauromachie – seine anspruchsvollste Graphik überhaupt, ein
überzeitliches Werk über einen alten Gott und seine Freude an den jungen
Göttinnen, ein Bild über die Vergänglichkeit, die Versuchung und die
Unfähigkeit des Menschen, sich aus den Verstrickungen der antiken
Drohungen zu befreien. Es ist natürlich ein Selbstbildnis. Denn Picasso
sieht sich nicht nur mit den Memoiren seiner früheren Freundin Fernande
Olivier konfrontiert, die für Aufruhr sorgen, nein, zu allem Überfluss ist
auch Marie-Thérèse, seine geliebte Muse, schwanger von ihm. Als Olga
den runden Bauch bei einem Atelierbesuch sieht, kommt es zum Eklat,
sie zieht mit ihrem Sohn ins Hotel. Picasso ist zerrissen, es ist, wie er
sagt, »die schlimmste Zeit meines Lebens«. Er mietet dann ganz in der
Nähe seines Ateliers, in der Rue de la Boétie, eine Wohnung für Marie-
Thérèse und die Tochter Maya, die im September geboren wird. Es
scheinen alle Grundlagen für ein neues Leben geschaffen. Die
biologischen Fakten sind es, die seine Frau Olga endlich realisieren
lassen, dass ihre Ehe mit Picasso am Ende ist. Sie beginnt einen
Scheidungskrieg, und Picasso verriegelt sein Atelier und stellt das Malen
ein, um in ihrer unselig gewordenen »Zugewinngemeinschaft« nicht noch
mehr Wertgegenstände zu schaffen. Emotional ist er gar nicht mehr dazu
in der Lage; er wird bis zum neuen Jahr kein einziges Bild malen können.
Auch die neugeborene Maya kann ihn nur für Minuten aufwecken aus
seiner Midlife-Crisis, die durch das Kind der Geliebten und den Auszug
der Frau nun für ganz Paris offenliegt.
Am 4. September gehen Kurt Weill und Lotte Lenya, seit zwei Jahren
geschieden, gemeinsam in Cherbourg an Bord der SS Majestic, um nach
Amerika zu fahren. Lenyas langjährige Liebschaft mit Otto Pasetti ist an
ein Ende gekommen, als sie gemerkt hat, dass selbst die Gelder aus dem
Verkauf des Berliner Hauses, die der naive Gatte Kurt ihm anvertraut hat,
in den Schlünden der Spielbanken von Monte Carlo und Nizza
verschwunden sind. Noch ein wenig ungläubig fasst Weill in der ersten
Nacht in der gemeinsamen Schiffskabine neben sich – aber da liegt
wirklich seine Lotte, frisch geschieden von ihm und offenbar wieder
frisch verliebt in ihn. Dass sie beide nach Amerika fahren, um Franz
Werfels Stück mit dem schönen Titel Der Weg der Verheißung
gemeinsam mit Max Reinhardt zur Aufführung zu bringen, nimmt er als
gutes Omen. Es ist ein gigantisches Stück über den Siegeszug des
jüdischen Volkes und dessen existenzielle Bedrohungen.
Nun liegen sie gemeinsam in einer Doppelkabine, Kurt Weill und
Lotte Lenya, und das erste Mal nach einem Jahrzehnt des Reisens, der
Enttäuschungen, der Emigration und der Hoffnung, nach der
Dreigroschenoper und nach den Sieben Todsünden, nach Otto Pasetti und
nach Max Ernst, haben die beiden Zeit. Und die empfinden sie nicht als
Last, sondern als Geschenk. In den sechs Tagen auf dem Atlantik arbeiten
sie ihre Vergangenheit auf, ihre Höhen und Tiefen. Beim gleichmäßigen
Brummen der Schiffsmotoren wird viel geweint. Aber dann, von Tag zu
Tag mehr, wird auch wieder gestreichelt. Und geküsst. Und geliebt. Die
Unzertrennbarkeit gespürt. Als sie am 10. September 1935 in New York
von Bord gehen, sind die geschiedenen Eheleute wieder ein Paar. »Um
von Liebe sprechen zu können, braucht es schon eine Weile«, wird Lotte
Lenya später einmal sagen.
*
Kurt Tucholsky hat sein Lebenselixier verloren: das Schreiben. Denn er
will und kann nur schreiben, wenn er weiß, dass es sofort gedruckt wird.
Doch all die Zeitungen, für die er geschrieben hat, gibt es nicht mehr.
Und die Herausgeber, die ihn gedruckt haben, sitzen im Gefängnis. Er
spricht von sich nur noch als »aufgehörtem Schriftsteller«. Selbst die
Frauen reizen ihn nicht mehr wirklich. Sein Leben verdüstert sich
zunehmend, er versinkt in Depressionen und Tatenlosigkeit, liest,
schreibt Briefe und geht in Schweden langsam vor die Hunde. Am Abend
des 21. Dezember 1935 nimmt sich Kurt Tucholsky mit einer Überdosis
Veronal das Leben. In seinem Portemonnaie findet sich kein Geld mehr,
nur der berührende Abschiedsbrief, den ihm seine Frau Mary einst zur
Trennung vor sieben Jahren geschrieben hat: »Kommt, wenn braucht und
ruft – ist der rote Faden. Seine Meli.« Auf dem Tisch im verwaisten Haus
in Hindås liegt auch ein Abschiedsbrief an Mary, seinen »roten Faden«
im Leben. Aber Gertrude Meyer, die ihn findet, liest auch den
schriftlichen Auftrag, dass der Brief Mary nur auszuhändigen sei, wenn
»sie nicht verheiratet oder ernsthaft gebunden« ist.
Dieser Brief ist seine größte Liebeserklärung. Er kann sie
bezeichnenderweise erst machen, als er die maximale Distanz erreicht
hat – ja, tragischerweise erst, als er entschieden hat, diese Erde freiwillig
zu verlassen. »Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach
Rechenpfennigen gebückt; hat nicht verstanden und hat Dummheiten
gemacht, hat zwar nicht verraten, aber betrogen, und hat nicht
verstanden.« Er dankt ihr für ihre »liebevolle Geduld, diesen Wahnwitz
damals mitzumachen, die Unruhe; die Geduld, neben einem Menschen zu
leben, der wie ewig gejagt war, der immerzu Furcht, nein, Angst gehabt
hat.« Und dann, zum Schluss, er muss immer »er« zu ihr sagen, damit
noch irgendeine Distanz bleibt: »Wenn Liebe das ist, was einen ganz und
gar umkehrt, was jede Faser verrückt macht, so kann man das hier und da
empfinden. Wenn aber zur echten Liebe dazukommen muss, dass sie
währt, dass sie immer wieder kommt, immer und immer wieder –: dann
hat man nur ein Mal in seinem Leben geliebt. Ihn.«
Im Januar 1936 wird das Testament von Kurt Tucholsky eröffnet. Ein
einziges Mal kommen alle Frauen seines Lebens zusammen – auf sieben
Seiten Papier. Hedwig Müller, seine Schweizer Geliebte, erhält seinen
Ring mit dem eingravierten »Et après«. Gertrude Meyer, die die
Grabstätte auf dem Friedhof in Mariefred im Schatten von Schloss
Gripsholm ausgesucht hat, wo er das erste Mal, allerdings mit Lisa
Matthias, den schwedischen Boden geliebt hat, darf sich ihre
Lieblingsbücher aus seiner Bibliothek im Haus in Hindås aussuchen. Als
Universalerbin aber hat er Mary Gerold eingesetzt, von der er sich hat
scheiden lassen, damit sie nicht unter den Repressalien des Nazi-Regimes
zu leiden hätte. Sie nennt sich nach diesem Testament dann auch wieder
Gerold-Tucholsky und wird sich bis 1987 um nichts anderes kümmern
als um den zweiten Teil ihres Doppelnamens. Tucholskys Mutter
bekommt zähneknirschend ihren Pflichtteil, aber ihr Sohn hat
hinzugefügt, er hoffe, sie würde aus Anstand darauf verzichten. Das
Verhältnis ist zerrüttet, darum muss er zeitlebens seine Geliebten »Mutti«
nennen und sie ihn »Daddy«. Lisa Matthias, Tucholskys »Lottchen«,
wird im Testament nicht erwähnt – sie hat ja schon die Widmung in
Schloß Gripsholm, das muss offenbar reichen.
*
Am 21. Dezember, als Tucholsky im schwedischen Exil nach einer
Überdosis Veronal aus dem Leben scheidet, nimmt im Haus der Eltern in
Küsnacht bei Zürich auch Klaus Mann Veronal, »aber irgendwie ungern,
nur, weil gerade etwas im Zimmer war. Ich will es eigentlich nicht
mehr«.
Und Else Weil, die »Claire« aus Rheinsberg. Bilderbuch für Verliebte und
Kurt Tucholskys erste Ehefrau? Sie arbeitet bis 1933 als Ärztin in Berlin.
Mit Hitlers Machtergreifung wird sie, wie alle anderen jüdischen Ärzte in
Berlin, abgesetzt oder, wie so etwas im Kernland der Bürokratie geregelt
wird: Man entzieht ihr die Kassenzulassung. Sie muss auch die feudale
Wohnung in der Wielandstraße 33 verlassen, sie verdingt sich als
Kindermädchen in Grunewald bei einer Familie, die den Namen
Hoffnung trägt. Doch die trügt. Sie muss über Holland nach Frankreich
fliehen, die schon gebuchte Kabine für die rettende Überfahrt im Schiff
von Marseille nach Amerika verfällt, weil ihr Visum nicht rechtzeitig
eintrifft. Wenig später wird sie im KZ Auschwitz ermordet.
Heinrich Blücher ist wie Hannah Arendt aus Berlin über Prag nach Paris
geflohen, doch erst dort lernen sie sich kennen, in den Emigrantenzirkeln
in Montparnasse im Frühjahr des Jahres 1936. Er ist überzeugter
Kommunist und trainierter spartakistischer Straßenkämpfer aus Berlin,
tarnt sich in der Emigration aber mit Dreiteiler, Hut und Spazierstock als
großbürgerlicher Tourist. Blücher und Arendt begegnen sich mit aller
Leidenschaft – und dies meint in ihrem Falle neben der körperlichen auch
die geistige Passion: Das junge Paar verbindet sich in Paris in einem
heißblütigen Austausch über Ideen, Bücher und das große Ganze. Viel zu
bescheiden wird Hannah Arendt später sagen: »Ich habe dank meines
Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt.« Auf jeden Fall
aber, so darf man hinzufügen, hat sie dank ihm ihren Liebesbegriff
erweitert – über den bei Augustinus und den von Heidegger hinaus zu
dem wundervollen Paradox der Gleichzeitigkeit der »Liebe zur Welt«
und der Weltlosigkeit der Liebe.
*
Erich Maria Remarque eilt sein Ruf als Kunstkenner voraus. Er tröstet
sich seit Jahren über seine Depressionen und die vergebliche Suche nach
der großen Liebe hinweg, indem er französische Impressionisten kauft. In
seiner Villa am Lago Maggiore kommt mit jeder neuen
Tantiemenüberweisung für Im Westen nichts Neues auch ein neuer
Cézanne oder Monet dazu. Als er mit seiner Geliebten Margot von Opel
im Mai 1936 eine Reise nach Budapest unternimmt, darf er als einer der
ersten Menschen überhaupt eines der wichtigsten Kunstwerke des
neunzehnten Jahrhunderts sehen. Gemeinsam mit dem Schriftsteller
Sándor Márai besuchen Remarque und von Opel einen kleinen Empfang
beim Baron Ferenc von Hatvany. Als die Damen im Salon abgelenkt
sind, bittet der Baron den prominenten Gast in ein Hinterzimmer. Dort
schließt er einen mit mehreren Schlössern gesicherten Schrank auf und
entnimmt ihm ein Bild, stolz und verlegen zugleich zeigt er es Remarque.
Es ist Courbets Ursprung der Welt, dieser ungeheuerlichste
Modernitätssprung in der französischen Körpermalerei – der direkte
Blick auf die Scham der Frau. Kennerhaft notiert Remarque abends in
sein Tagebuch: »Ein etwas schweinischer, aber guter Courbet«.
Als sie zu den Damen zurückgehen, versucht Hatvany, Margot von
Opel hinter einem Vorhang zu küssen. Dann muss ihr Remarque
gestehen, dass er am Tag zuvor auf ihrer gemeinsamen Liebesreise doch
kurz mit einer hübschen Dänin fremdgegangen ist. Margot weint.
Remarque schämt sich. Der Ursprung der Welt bleibt für ihn auch der
Ursprung des Sehnens und des Leidens.
*
Mit ihrer zweiten Ehe und ihrem Wissen, finanziell ausgesorgt zu haben,
versiegen tragischerweise die kreativen Quellen in Tamara de Lempicka.
Sie hat zehn Jahre lang die Protagonisten einer ganzen Epoche in Paris
als Ikonen des Art déco gemalt – aber jetzt ist sie nicht mehr im Atelier,
sondern nur noch in Sanatorien, in der Schweiz meist, wo sie sich durch
Diäten und Kuren vergeblich von ihren Depressionen zu heilen versucht.
Die Dämonen ihrer verworrenen Kindheit und Jugend in Russland
werden übermächtig. Sie kann die glamouröse Fassade nicht mehr
aufrechterhalten. Sie malt in Paris zwei verhärmte und verängstigte
Emigranten und nennt das Bild Die Flüchtlinge irgendwo in Europa.
Doch diese Begegnung mit der Wirklichkeit zieht sie noch tiefer in ihre
Depressionen. Sie reist darauf verzweifelt in ein italienisches Kloster
nahe Parma und bittet um Einlass. Sie will ihr wildes bisexuelles Leben
hinter sich lassen und Nonne werden. Als sie die Schwester Oberin sieht,
ist sie so fasziniert von deren Gesicht, dass sie lieber doch Malerin
bleiben will, aber es wird das letzte Bild ihrer großen Epoche werden.
Die Tränen, die sie der ehrwürdigen Nonne auf die Wangen malt, sind
ihre eigenen. In Europa hat sie das Bildnis begonnen – aber sie vollendet
es in New York im Hotel Ritz. Es ist ihr gelungen, ihren Mann, den
Zuckerrübenbaron Kuffner, zum Verkauf seiner ungarischen Güter zu
drängen und dazu mit ihr nach Amerika zu emigrieren. Erst nach
Manhattan, dann nach Beverly Hills. So können sie zwar ihr Leben
retten. Aber ihr Glück werden sie nicht finden in den kahlen Hügeln der
Hollywood Hills.
*
Hannah Arendt und Walter Benjamin spielen im Pariser Exil stundenlang
gegeneinander Schach. Meist setzt die Dame von Arendt den König von
Benjamin schachmatt. Zu Hause bei Hannah Arendt aber herrschen
andere Verhältnisse. Freunde beschreiben ihr Zusammenleben mit
Heinrich Blücher als »Doppelmonarchie«. Zwei stolze, selbstbewusste
Denker, unabhängig voneinander – und doch in einem tiefen Grund
miteinander verbunden. Ja, diese beiden Philosophen erarbeiten sich eine
Form der Liebe im Paris der dreißiger Jahre, die so viel humaner wirkt
als der berühmte taktische »Pakt« zwischen Jean-Paul Sartre und Simone
de Beauvoir ein paar Arrondissements weiter. Arendt und Blücher
brauchen keine erotischen Freiheiten außerhalb ihrer Ehe, wie Sartre das
als Bedingung sieht, nein, sie bewegen sich in ihren Briefen und in ihren
Gesprächen auf eine wundersame Weise ganz langsam aufeinander zu,
wissend, dass Umwege die Ortskenntnis erhöhen. Beseelt von der
»unverschämten Hoffnung«, wie Arendt es in einem ihrer ersten Briefe
nennt, ihm »alles zumuten zu können«, also: »dich so behandeln, wie
man sich selbst behandelt«. Und darauf Blücher: »Liebste, ich kann
wieder atmen, tief in mich hinein und mich füllen mit deiner Liebe.«
Und, ganz zaghaft: »Nun, da du meine Frau bist, darf ich wohl so weich
sein, dir zu sagen, dass ich mich nach dir sehne?« Er unterschreibt nur
noch mit »Dein Mann«, aber er weiß, dass sie noch mit Günther Stern
verheiratet ist. Und am 24. August 1936 schickt sie ihm ihr
Liebesbekenntnis – und ihre Zweifel: »Dass ich dich liebe – das hast du
schon in Paris gewusst, wie ich es wusste. Wenn ich es nicht sagte, so
weil ich Angst hatte vor den Konsequenzen. Und was ich heute dazu
sagen kann, ist nur: Wir wollen es versuchen – um unserer Liebe willen.
Ob ich deine Frau sein kann, sein werde, weiß ich nicht. Meine Zweifel
sind nicht weggepustet. Auch nicht die Tatsache, dass ich verheiratet bin
(Entschuldige, Geliebtester, so viel brutale Direktheit – wenn du
kannst).« Und er kann das entschuldigen. Sie gesteht ihm bald, wie arg es
um ihre Ehe steht: »Ich habe nicht viel von der Hölle, die das Zuhause
war, gemerkt. Denn ich arbeitete wie ein Pferd. Meine passive Resilienz
hielt ich ebenso aufrecht wie der andere die Vorstellung, mit mir
verheiratet zu sein.«
Es sind berührende Briefe, die da zwischen Arendt und Blücher hin-
und hergehen am Anfang ihrer großen Liebe, meist, wenn sie unterwegs
ist in der Schweiz, die beiden trotzen all den äußeren Widerständen des
Exils, den schrecklichen Nachrichten aus der Heimat und der
Judenverfolgung, und sie finden gemeinsam eine Sprache für ihre
Gefühle, tastend erst, dann immer entschiedener. All das ist ohne Pathos,
aber mit viel tiefem Ernst – und immer wieder voll befreiendem Witz.
Bald schon weiß Hannah Arendt, dass sie sich für Heinrich Blücher aus
ihrer Ehe lösen will. Dass sie »seine Frau« werden muss. Denn sie ist es
längst geworden. Auch Blücher muss noch eine frühere Verbindung
formal lösen. Auf seinen französischen Scheidungsunterlagen lässt der
ständig der Spionage verdächtigte Heinrich Blücher als Beruf übrigens
»Drahtzieher« eintragen. Ein bisschen Spaß muss sein.
Als alle – und wohl auch er selbst – denken, dass sein Leben nun endlich
die entscheidende Wendung genommen hat, kommt plötzlich die nächste
Kurve – mit wiederum offenem Ausgang. Nachdem nämlich Pablo
Picasso offiziell der Partner von Marie-Thérèse Walter ist, seiner
Geliebten seit fünf Jahren, und sie ihre gemeinsame Tochter im
Kinderwagen durch Montparnasse schieben, tritt eine neue Person in sein
Leben: Dora Maar. Er sieht sie an einem Tisch in seinem Lieblingscafé
Les Deux Magots in Saint-Germain-des-Prés in Paris: »Sie trug schwarze
Handschuhe mit kleinen aufgenähten rosa Blumen. Sie zog die
Handschuhe aus und nahm ein langes, spitzes Messer, das sie in den
Tisch zwischen ihre ausgestreckten Finger rammte, um zu sehen, wie
nahe sie jedem Finger kommen könnte, ohne sich wirklich zu schneiden.
Von Zeit zu Zeit verfehlte sie ihn um den Bruchteil von wenigen
Zentimetern, und bevor sie das Spiel mit dem Messer beendet hatte, war
ihre Hand mit Blut bedeckt.« Picasso starrt sie mit aufgerissenen Augen
an. Dann geht er zu ihrem Tisch und bittet sie um ihre Handschuhe. Sie
wirft sie ihm zu. Er wird sie in einer Vitrine wie ein Heiligtum verehren.
Wenige Tage später wird Dora Maar Picassos Geliebte. Es gelingt
ihm, seine Frau Olga und den Sohn Paolo schon bald in sein Schloss
Boisgeloup in der Normandie auszuquartieren, um in Paris freie Bahn zu
haben – und er wird ihnen das Schloss im Rahmen der Scheidung ganz
überlassen.
Und Marie-Thérèse bezieht mit der kleinen Maya ein Haus vierzig
Kilometer außerhalb von Paris in Le Tremblay-sur-Mauldre. Er selbst
sucht sich ein neues Atelier, in dem ihn nichts mehr an seine
Vergangenheit, zerrissen zwischen zwei Frauen, erinnern soll. Er findet
helle Räume in der Rue des Grands-Augustins in Paris. Und Dora Maar,
die neue Frau seines Herzens, zieht in eine Wohnung direkt nebenan. Es
kommt zu unglaublichen Eifersuchtsszenen zwischen der blonden,
natürlichen Marie-Thérèse und der theatralischen, schneidenden
spanischen Schönheit Dora. Und Picasso, dieser starke Maler und so
schwache Mann? Er sagt: »Ich hatte kein Interesse daran, eine
Entscheidung zu treffen … Ich sagte ihnen, sie sollten es unter sich
ausmachen.« Und das taten sie. Dora Maar, die seelisch muskulöse
Kommunistin, geht als Siegerin aus diesem Kampf hervor. Als er später,
im Sommer 1937, sein spektakulärstes Gemälde malt, Guernica, benannt
nach der gerade von den Deutschen bombardierten spanischen Stadt, da
malt er in der Mitte des Bildes wieder eine mythische »Lichtträgerin« mit
der Fackel. In der Minotauromachie, zwei Jahre zuvor, hat sie noch die
Züge von Marie-Thérèse getragen. Nun aber, im Sommer 1937, hat sie
schwarze Haare und die markante Nase von Dora Maar. Picasso nimmt
seine Frauen mit durstigen Zügen in sich auf. Wer seinen Körper und sein
Sehnen bestimmt, der bestimmt auch seine Kunst und sein Sehen.
Mit Gustaf Gründgens verbindet Klaus Mann eine Hassliebe, seit sich die
beiden in den zwanziger Jahren nahegekommen sind, wie nahe, weiß
man nicht, aber wir wissen, wie sehr es Klaus geschmerzt hat, dass seine
Schwester Erika ausgerechnet Gründgens zum Ehemann erwählte. Schon
1932, in seinem Roman Treffpunkt im Unendlichen, hat sich Klaus Mann
an Gründgens abgearbeitet – und er tut es ein Leben lang. In seinem
Tagebuch befragt er sich selbst: »Warum denke ich so viel und mit so
bewegter Antipathie an ihn?« Immer wieder erscheint Gründgens ihm in
seinem Pariser und Amsterdamer Exil im Traum. Er sieht dessen
kometenhaften Aufstieg zum Intendanten des Berliner Staatstheaters.
Und macht dann einen Roman daraus. Er heißt so wie die größte
Theaterfigur, die Gründgens je gespielt haben wird: Mephisto.
Allein dadurch ist klar, um wen es sich bei »Hendrik Höfgen« handelt,
dessen Gefallsucht und Ranschmeißerei Klaus Mann im Roman auf
dreihundert Seiten schildert. Sein Buch, so gesteht er seiner Mutter,
verspreche, von »einer gewissen hassvollen Beschwingtheit« zu sein.
Einziges Problem: Wie die Zeit von Gründgens und seiner geliebten
Schwester Erika literarisieren, »weil sie nicht Erika werden soll, und
natürlich doch Erika ist«? Am Ende ist diese »Barbara«, mit der er Erika
tarnen will, das vielleicht zärtlichste Porträt seiner Schwester, das Klaus
je gezeichnet hat: »Sie war erfahren im Schmerz der anderen; seit früher
Jugend aber hatte sie sich versagt, eigene Schmerzen, eigene Ratlosigkeit
gar zu ernst zu nehmen oder mitzuteilen.« Und dann, in einer
faszinierenden Wendung ein Gruß an den Vater, um dessen Liebe er
immer so kämpft: Nur einen gebe es auf der Welt, der um die »Labilität
ihres inneren Zustandes« wisse – der Vater »kannte sein Kind, das er
liebte«.
Als Mephisto im Sommer 1936 zuerst im Pariser Tagblatt der
Emigranten und dann in Amsterdam als Buch erscheint, sind die
Reaktionen sehr gemischt. Der unbarmherzige Vater, Thomas Mann,
kennt nicht nur seinen Sohn, den er vermutlich auch auf irgendeine
verquere Weise liebt, sondern auch dessen literarische Schwachpunkte.
Mephisto sei immer dann schwierig, wenn es Fiktion zu werden
versuche, weil »ein so sehr an die Wirklichkeit gebundenes Werk am
gefährdetsten ist und gewissermaßen ratlos wird, wo es frei von ihr
abweichen und sie verleugnen möchte«. Er hat leider recht.
Aber immerhin sorgt die himmlische Regie dafür, dass Gründgens
ausgerechnet an dem Tag, an dem der Vorabdruck des Buches beginnt,
heiratet. Die Gerüchte über seine Homosexualität sind so laut geworden
in Berlin, dass er seine Position als Intendant des Staatstheaters am
Gendarmenmarkt nur halten kann, wenn er aus formalen Gründen eine
Ehe eingeht. Er tut dies mit Marianne Hoppe, einer 27-jährigen
Schauspielerin, die selbst gleichfalls sehr viel mehr am eigenen
Geschlecht interessiert ist. Die beiden beziehen 1936 ein kleines Landgut
in Zeesen, das geflüchteten Juden entwendet worden ist. Gründgens’
Mutter hat es für ihn besichtigt und für gut befunden. Nach der
standesamtlichen Trauung fährt das junge Paar in sein neues Haus,
Marianne geht baden, Gründgens macht einen Mittagsschlaf. Abends
kommen ein paar Gäste, doch Gründgens muss nach Berlin, auf die
Bühne. Als er danach zurückkommt nach Zeesen, sind die Gäste
gegangen und Marianne schläft. So kommt Gustaf Gründgens auch in
seiner zweiten Hochzeitsnacht ungeschoren davon. Der Berliner
Volksmund findet diese schönen Verse: »Hoppe Hoppe Gründgens, die
kriegen keine Kindgens; und wenn die Hoppe Kindgens kriegt, dann sind
sie nicht von Gründgens.«
Das Jahr 1936 ist wegweisend für Libertas und Harro Schulze-Boysen.
Sie heiraten und ziehen um in eine neue Wohnung in der Waitzstraße 2 in
Berlin-Charlottenburg, die rasch zum geheimen Treffpunkt ihrer elitären
Widerstandsgruppe aus Ärzten, Künstlern und Professoren wird. Und
damit Harro im Luftfahrtministerium endlich zum Leutnant ernannt wird
und an entscheidende Informationen kommt, sorgt seine Gattin für seine
Beförderung. Als Hermann Göring für ein Wochenende zur Damwildjagd
in ihrem heimischen Schloss Liebenberg einkehrt, fährt Libertas
kurzentschlossen ebenfalls dorthin. Göring will sich, befriedigt vom
Abschuss zweier kapitaler Hirsche, gerade auf sein Zimmer begeben, da
verwickelt ihn die charmante Tochter des Hauses in ein langes Gespräch.
Sie erzählt ihm, dass ihr Gatte wegen seiner journalistischen
Jugendsünden leider keine verantwortliche Position im Ministerium
erhalte, trotz tadelloser Haltung. Göring verspricht, sich darum kümmern
zu wollen. Er tut es. Und er ahnt nicht, dass er mit dem sich perfekt als
schneidigen Nazi tarnenden Harro Schulze-Boysen höchstpersönlich
einen Widerstandskämpfer zum Offizier befördert. Und auch die kühne
Libertas spielt ihre Rolle perfekt – sie gibt sogar ihr NSDAP-Parteibuch
zurück in diesem Jahr. »Als Frau«, so heuchelt sie gegenüber der Partei,
müsse sie sich ganz ihrem Mann und dem Hausstand widmen: »Die
Vorbedingungen für meinen politischen Einsatz sind mit meiner
Verheiratung entfallen.« Die Nazis können nicht anders, als diese
Konsequenz zu akzeptieren. Und dabei ist ihr Verhalten »als Frau« in
Wahrheit so, dass es sowohl ihre Mutter als auch ihre Schwiegermutter
erzürnt. Die 22-Jährige denkt überhaupt nicht daran, ihren Gatten brav zu
bekochen, nein, sie will Journalistin und Schriftstellerin sein und ein
selbstbestimmtes Leben an seiner Seite führen, als wären wir noch in den
Goldenen Zwanzigern. Als Libertas alleine mit ihrer Zieharmonika, ihrer
Leica und ihrem Notizblock mit einem rostigen Frachter von St. Pauli in
Richtung Schwarzes Meer aufbricht, muss Harro seiner Mutter einiges
erklären: »Es handelt sich einfach darum, dass ich gewollt habe, dass
Libs fortfuhr, gerade weil ich wünsche, dass meine Frau sich daran
gewöhnt, auch im Getrenntsein von mir als eigene Persönlichkeit zu
bestehen.« Doch das beruhigt die Frau Mama in Mülheim an der Ruhr
kein bisschen. Sie schreibt dem Sohn, so könne man doch keine Ehe
führen. Das sieht Harro ganz anders: »Was weißt du eigentlich von den
feinen, unendlich feinen Gesetzen, nach denen sich eine glückliche Ehe
aufbauen kann? Ich bin auch heute noch Manns genug, immer wieder das
Bedürfnis zu haben, die Frau mir zu erkämpfen und die Liebe gegen
Widerstände durchzusetzen. Und da ich kein sexueller Freibeuter bin und
meine eigene Frau nun mal unendlich lieb habe, werde ich das Abenteuer
und die Hindernisse nicht aus meiner Ehe herausverlegen, sondern in
meine Ehe hinein.« Was für große Worte. Auch, weil Harro weiß, dass
die Nazis ihm auf alle Zeiten ein Hindernis in seine Ehe hineingelegt
haben, das kaum zu überwinden ist: Durch die Folterungen im Sommer
1933 sind seine Nieren so zerstört, dass er, wie er seinem Bruder schreibt,
dem, was man ehelichen Pflichten nennt, nicht so nachkommen kann,
wie er es gerne würde. Aber Libertas schreibt ihm von ihrer Seereise ans
Schwarze Meer, umringt von Matrosen: »Was das Treubleiben betrifft,
Junglein, so hast du nichts mehr zu fürchten.« Was für große Worte also
auch von ihr.
*
Zwischen ihren Häusern liegt eine herrliche Bucht – und zwischen ihren
Herzen steht eine Frau: Im August 1936 buhlen in Sanary-sur-Mer Lion
Feuchtwanger, der deutsche Emigrant, und Aldous Huxley, der britische
Autor von Brave New World, um Eva Herrmann, die bildschöne Malerin,
die am Rande des Ortes mit Sybille Bedford zusammenlebt, ihrer
lesbischen Freundin. Eva Herrmann löst das Problem auf ihre Weise: Sie
schläft erst mit Feuchtwanger, dann mit Huxley und dann wieder mit
Sybille Bedford. Daraufhin notiert Feuchtwanger in sein Tagebuch:
»Ziemlich verstimmt wegen Eva.« Er will mit den anderen spielen – und
hasst es, wenn er das Gefühl hat, dass jemand mit ihm spielt. Doch
Feuchtwanger weiß, wie man verletzt: Und so geht er abends plötzlich
mit Sybille Bedford über die Hafenpromenade von Sanary. Doch sie
bleibt hartnäckig dem eigenen Geschlecht zugetan. So versucht es Lion
Feuchtwanger bei Sascha, der etwas gelangweilten Gattin des
Philosophen Ludwig Marcuse. Und siehe da: Als Eva davon erfährt,
kommt sie schnurstracks wieder zu ihm und in sein Bett. Diesmal wird
sie schwanger und muss nach Paris reisen, um das Kind abzutreiben.
Noch also sind es diese Erschütterungen der Seele und des Körpers,
Eifersucht, Sehnsucht und Liebeswahn, die das Leben in Sanary in
Schach halten. Noch scheint es, als sei der Nazi-Terror weit entfernt und
man ihm glücklich entronnen.
Mit ihrer einzigartigen Mischung aus Wärme und Witz hat Mascha
Kaléko so vielen Leserinnen und Lesern aus dem Herzen gesprochen. So
viele Varianten der Liebe und des Lebens beschwören ihre Gedichte,
Flüchtigkeit, Betrug und den trotzigen Glauben ans Glück: »Wie oft sind
unsrer Sehnsucht Außenstände / mit einem D-Zug schon davongeweht
…« Doch Mascha Kaléko hat aus einem Gefühl der Sicherheit heraus
über die Unsicherheit geschrieben: aus der Liebe mit Saul, ihrem Mann,
der ihr in blinder Treue ergeben ist. Ein paarmal hat sie ihn betrogen, das
schon, dennoch: »Die Andren … das ist Wellenspiel, / Du aber bist der
Hafen.« Als es anfängt zu kriseln, tun sie das, was Paare tun, um ihr
heruntergebranntes Feuer neu zu entfachen: Sie suchen sich eine andere
Wohnung. Kaum sind sie eingezogen in die herrliche Altbauwohnung in
der Bleibtreustraße in Charlottenburg, spürt Mascha Kaléko, dass sie
schwanger ist. Und sie weiß, dass der Vater dieses Kindes nicht Saul
Kaléko heißt, sondern Chemjo Vinaver. Ihr Mann hat ihr da, in gewisser
Vorahnung, schon geschrieben: »Sei untreu mir, soviel du willst / Doch –
lass es mich nicht wissen.« Aber mit jeder Woche, in der ihr Bauch
wächst, lässt sich das Geheimnis schwerer verbergen. Und auch ihre
Liebe zu Chemjo nicht, jenem oft geistesabwesenden jüdischen
Komponisten, der sie von der ersten Sekunde an in seinen Bann gezogen
hat. Sie haben im Romanischen Café zufällig an zwei benachbarten
Tischen gesessen, als er zu ihr trat und ihr einen Zettel zuschob:
»Mascha, ich muss ein Kind mit dir haben.«
Das nennt man dann wohl – vom betrogenen Ehemann wie vom
künftigen Vater – doppelte Vorsehung. Am 28. Dezember 1936 wird
Avitar Alexander geboren. Die Mutter traut sich nicht, ihrem Ehemann
die Wahrheit zu sagen, und so beginnt für sie ein Jahr des Leidens. Sie
liebt ihren Sohn – und erkennt doch in seinem Lächeln nur die Züge ihres
Geliebten. Ihr Mann aber bemerkt voll Stolz, wie sehr ihm sein Junge
ähnelt.
Mascha Kaléko fühlt sich vollkommen zerrissen. Irgendwann, 1937,
an einer Verkehrsampel, als links der Mann läuft, dessen Ring sie trägt
und rechts der, dem ihr Herz gehört, gesteht sie es. Im Kinderwagen
schreit Avitar Alexander.
Chemjo Vinaver zieht zu seiner Geliebten und dem gemeinsamen
Sohn in die Bleibtreustraße. Und Saul Kaléko in eine Pension. Er ist der
Autor des Buches Hebräisch für Jedermann für Fortgeschrittene. Im
Alleinsein jedoch ist er blutiger Anfänger. Am 22. Januar 1938 werden er
und seine Frau geschieden. Am 28. Januar heiratet Mascha Kaléko
Chemjo Vinaver. In unzähligen Gedichten hat sie beschrieben, dass
Vorsicht geboten ist, wenn Wünsche in Erfüllung gehen. Nun ist sie
selbst an der Reihe: Vier Tage nach der Hochzeit schreibt sie verstört in
ihr Tagebuch: »Er ist so aufbrausend, und wenn er schreit, denke ich:
Und das ist die ›große Liebe‹, um die uns alle Welt beneidet. Ich habe
einen ungeliebten Mann verlassen, um dem geliebten Mann zu folgen.
Und um mein und meines Kindes Frieden bei ihm zu finden.« Aber schon
ein paar Wochen später schreibt Mascha Kaléko voll Rührung: »Für mich
ist er der Liebste der Welt. Ich weiß, dass er mich sehr, sehr, sehr liebt,
ich glaube ihm auch, wenn er sagt, dass ich die Frau in seinem Leben bin,
die für ihn Heimat und Liebe zugleich sein kann.« Und so ist es. Schon
im Oktober emigrieren die beiden mit ihrem geliebten Sohn in die USA,
New York, 378/385 Central Park West, wird ihre neue Heimat. Und ihre
Liebe zueinander, die bleibt die alte. Und ihre Sehnsucht nach Berlin
auch. Sie dichtet: »Gewiss, ich bin sehr happy / Doch glücklich bin ich
nicht.«
*
New York ist nach Berlin und Paris die dritte Weltstadt, in der Kurt Weill
und Lotte Lenya innerhalb von nur fünf Jahren ihre Zelte aufschlagen.
Sie sind mit leichtem Gepäck in die endgültige Emigration gereist: ein
paar Koffer mit Kleidern, Noten, Notizbüchern, dem letzten Rest des
Geldes aus der Dreigroschenoper. That’s it. Nun müssen sie neu
anfangen, wie all die anderen, die hier stranden, erleichtert erst und dann
voll Zukunftsangst. Doch sie wollen sich nicht einlullen lassen von der
Nostalgie und der Sentimentalität der deutschen Emigranten im Hotel
Bedford. Sie wollen arbeiten, sie wollen nicht mit Tränen in den Augen
von der »guten alten Zeit« reden. Sie wollen Karriere machen in der
Neuen Welt. Sie pauken Englisch. Mit Erfolg in ihren jeweiligen
Spezialdisziplinen: Schon ein Jahr nach seiner Ankunft in Amerika läuft
Weills erste große Show am Broadway. Und Lotte Lenya hat ihren ersten
amerikanischen Liebhaber, den Dramatiker Paul Green. Es ist alles wie
immer. Und so können sich die beiden am 19. Januar 1937 auf dem
Standesamt in New York ein zweites Mal das Jawort geben. Der Prozess
der Aussöhnung ist abgeschlossen. Und Weill weiß, dass diese Ehe
immer ein paar Nebendarsteller haben wird. »Doppelt hält besser«, sagt
Lotte Lenya, als sie ihren Freunden von ihrer neuen Hochzeit erzählt.
Und Kurt Weill kommt, nachdem er für einige Monate nach Hollywood
gezogen ist, zu diesem Fazit: »Ich glaube, wir sind das einzige Ehepaar
ohne Probleme.« Herzlichen Glückwunsch. Beziehungsweise, wie Rilke
es formuliert hat: »Die Liebe, mein Gott, die Liebe.«
Das muss Liebe sein: Am 21. Februar 1937 sagt Leni Riefenstahl dem
amerikanischen Reporter Padraic King, was sie fühlt, wenn sie an Adolf
Hitler denkt: »Für mich ist Hitler der größte Mann, der je gelebt hat. Er
ist wirklich tadellos, so einfach und außerdem so erfüllt von männlicher
Kraft. Strahlen gehen von ihm aus. All die großen Männer Deutschlands,
Friedrich der Große, Nietzsche, Bismarck – hatten Fehler. Auch Hitlers
Mitläufer sind nicht makellos. Nur er ist rein.«
Leni Riefenstahl weiß, was sie zu tun hat. Denn Hitler persönlich hat
sie gerettet. Goebbels hatte öffentlich gemunkelt, dass Riefenstahl wohl
eine jüdische Großmutter habe. Da hat ihn Hitler zur Raison gerufen –
auch wenn die Sache mit der Großmutter in der Tat nicht so ganz
eindeutig ist. Aber Goebbels muss sich öffentlich entschuldigen, am
30. Juni zur Housewarmingparty bei Riefenstahl antanzen und seinen
Diener machen. In Berlin-Dahlem bezieht Hitlers Lieblingsregisseurin
ein neues Haus, erbaut auf dem arisierten Grundstück der emigrierten
Familie Wertheim. Es ist ein kleiner Kreis, der da auf dem frisch
gemähten Rasen Bowle trinkt: Hitler, Goebbels, Riefenstahls Bruder
Heinz mit Frau, ihre Mutter und die Hausherrin – und dann noch eine
Dame, genauso gekleidet wie sie, weiße Bluse, knielanger Rock, die sich
etwas scheu im Hintergrund hält und die Riefenstahl den Herren als Frau
Dr. Ebersberg vorstellt. Da Heinrich Hoffmann mitgekommen ist, Hitlers
Freund und Hoffotograf, gibt es zahlreiche Bilder von jenem lauen
Sommerabend, bei dem Riefenstahl aufs neue vom Tausendjährigen
Reich ins Herz geschlossen wird.
Jene Annetta Ebersberg taucht übrigens zwar an diesem Abend, aber
nicht in Riefenstahls neunhundert Seiten dicker Autobiographie auf. Seit
Mitte der dreißiger Jahre ist sie jedoch Riefenstahls engste Vertraute.
Hitler fragt nicht nach, auch Goebbels nicht, man hält die »Frau Doktor«
wohl für die Ärztin. Und nachdem man Riefenstahl gerade von dem
Ruch befreit hat, eine jüdische Großmutter zu haben, verschließen Hitler
und Goebbels scheinbar lieber beide Augen vor einer möglichen
Bisexualität der Hausherrin. Man muss ja nicht immer gleich das
Schlimmste befürchten. Leni Riefenstahl jedenfalls packt ihre Koffer,
nachdem die hohen Herren gegangen sind, und trinkt dann noch ein
Gläschen mit Annetta, ihrem Bruder und ihrer Mutter. Am nächsten
Morgen muss sie früh raus, ihr Film Triumph des Willens feiert in Paris
Premiere.
Und Hermann Hesse? Der kniet weiter in seinem üppigen Garten hoch
über dem Luganer See und jätet Unkraut. Es ist für ihn auch die
Möglichkeit, der Nähe seiner Frau Ninon zu entfliehen: »Ich teile meine
Tage zwischen Studio und Gartenarbeit, Letztere gilt der Meditation und
der geistigen Verdauung und wird darum meist einsam betrieben.«
Danach sehnt er sich in dieser Ehe inzwischen am meisten: Einsamkeit.
Und Ninon, seiner Frau, geht es ganz ähnlich. Zwei traurige Partner in
einem riesigen, durchorganisierten Haus, beide mit zu großer
Vergangenheit und zu kleinen Träumen. An ihrem Gartenzaun hängt das
Schild: »Keine Besucher bitte«. Von unten aus dem Tal dringt das Läuten
der Kirchturmglocken aus den kleinen Dörfern am See hinauf in den
Garten der Casa Rossa.
Spätestens 1937 wissen Vladimir Nabokov und seine Frau Véra, dass es
an der Zeit ist, Berlin mit ihrem kleinen Sohn Dmitri zu verlassen: Die
Mörder von Vladimirs Vater kommen zurück in die Stadt, diesmal als
Leiter der für die Überwachung der russischen Emigranten zuständigen
»Vertrauensstelle«, die, um es noch vertrauenerweckender zu machen,
der Gestapo direkt unterstellt ist. So stehen sie nicht nur als Juden,
sondern auch als Russen unter peinigender Beobachtung. Véra drängt
ihren Mann, in Paris Möglichkeiten für eine baldige Emigration zu
suchen. Doch er wird etwas abgelenkt, weil er sich auf der Reise in Irina
Guadagnini verliebt. Ihr Beruf klingt, als hätte ihn sich der inzwischen
bedenklich kahl gewordene Romancier Vladimir Nabokov ausgedacht:
Sie ist Hundefriseurin. So groß ist Nabokovs Schuldgefühl gegenüber
seiner Frau, die voller Angst in Berlin ausharrt, in doppelter Angst nun,
vor der Gestapo und vor der russischen »Vertrauensstelle«, dass er schon
nach den ersten Liebesnächten mit der Hundefriseurin von einer
Schuppenflechte enormen Ausmaßes bedeckt ist. Er versucht, Véra
brieflich nach Paris zu locken, doch sie weigert sich, solange er noch
keine finanzielle Grundlage für die ganze Familie im Exil gefunden hat.
Ihre Briefe, die in den Jahren zuvor solch einen Zauber verbreiten, so
getränkt sind von Wärme, Witz und rührender Liebe, bekommen eine
verstörende Note, werden zu einem »atonalen Duett«, wie es Stacy Schiff
nennt. Vladimir tut, als sei nichts gewesen und schreibt: »Muschilein, ist
es Zeit, dass du dich bereit machst, zu mir zu kommen?« Doch Véra hat
von Vladimirs Affäre erfahren, und er ist zu feige, sie ihr zu gestehen.
Entsprechend sind die Briefe um den künftigen Emigrationsort geprägt
von Misstrauen, von Zweifeln, von Angst. Am 30. März schreibt er ihr:
»Meine Liebste, was ist los, ich habe seit vier Tagen keinen Brief
bekommen?« Er ahnt da natürlich bereits, was los ist. Hinzu kommt für
Véra die kaum zu bewältigende Aufgabe, in Berlin an Visa für sich und
den kleinen Dmitri zu kommen. Sie schlägt England als Exil vor, dann
Belgien. Lauter Übersprungshandlungen, weil durch Vladimirs Affäre
mit der Hundefriseurin für Véra ganz Frankreich vergiftet ist. Am
6. April schreibt er nach Berlin: »Was ist denn eigentlich los?
Wahrscheinlich wirst du mir im nächsten Brief schreiben, dass du
seelenruhig in Deutschland bleibst, in einem bayrischen Kurort.«
Schließlich konfrontiert Véra ihn mit der Wahrheit – nämlich, dass sie
gehört habe, er betrüge sie. Am 20. April, Hitlers 48. Geburtstag, lügt er
dann wie gedruckt: »Die gleichen Gerüchte sind auch zu mir
durchgedrungen: Denen, die sie verbreiten, werde ich die schmierigen
Visagen polieren. Letzten Endes sind mir die Abscheulichkeiten, die man
sich mit Genuss über mich erzählt, völlig gleichgültig und ich denke,
auch dir sollten sie gleichgültig sein.« Und am 27. April dann, nach
zahllosen weiteren Briefen, schreibt er Véra nach Berlin: »Ich habe nicht
die Kraft, diese Partie Fernschach fortzuführen. Ich gebe auf.«
Irgendwie schaffen es die Dame und der König, so vertrackt die
Positionen auch sein mögen, dann aber doch, sich am 22. Mai in Prag zu
treffen. Vladimir kommt aus Paris mit dem Zug, Véra und Dmitri vom
Anhalter Bahnhof in Berlin. Nachdem Vladimir die Affäre gestanden und
für beendet erklärt hat, willigt Véra ein, mit ihm nach Cannes an die
französische Mittelmeerküste zu ziehen. Aber es dauert noch lange, bis
das Gift dieses Misstrauens und die Schmerzen des Verrats
verschwunden sind. Irgendwann schreibt er ihr: »Ich liebe dich, ich bin
glücklich, alles ist in Ordnung.« Und so wird es bleiben. Ihre Ehe wird
52 Jahre halten, der Makel mit der Hundefriseurin ist aus ihnen
irgendwann herausgewachsen wie falsches Blond.
*
Wird doch noch alles gut? Das Jahr 1937 ist für Klaus Mann das hellste
in diesem Jahrzehnt der Dunkelheit. Ihm steht ein Buch über die Jahre im
Exil vor Augen: »Mein nächster Roman. Große Komposition aus
Emigranten-Schicksalen. Die Verfolgten oder so. Laufen nebeneinander
her, jedoch durch irgendeine Klammer miteinander verbunden. […] Pass-
Schwierigkeiten. Geldnot. Sexualnot. Der Hass. Die Hoffnung. Das
Heimweh. Kriegsangst (und Hoffnung).« Selten hat man Schicksale auf
so engem Raum beschrieben gesehen wie in dieser Ideenskizze. Sie wird
später zu Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Aber Klaus Mann spürt,
was ihn immer wieder daran hindert, zu schreiben und zu hoffen – die
Drogen. Er ist so abhängig, dass er inzwischen täglich im Tagebuch
vermeldet: »genommen«. Seinen Eltern und Erika gelingt es schließlich,
ihn davon zu überzeugen, sich in eine Entziehungskur zu begeben.
Immerhin trägt das Sanatorium in Budapest, in dem Mann ab dem
27. Mai versucht, sich zu entgiften, den verheißungsvollen Namen Siesta.
Und als Arzt praktiziert dort jener Dr. Robert Klopstock, »in dessen
Armen Franz Kafka gestorben ist«, wie Klaus Mann in seinem Tagebuch
vermerkt. Ihm wiederum gelingt es, an dessen Hand noch einmal ins
Leben zurückzukehren. Er schreibt nach zwei Monaten qualvollen
Entzugs an seine besorgte Mutter in Zürich: »In absehbarer Zeit fange ich
bestimmt nicht wieder an – vielleicht sehr viel später einmal.« Dass
Klaus Mann sich in Budapest ins drogenfreie Leben zurückkämpfen will,
hat auch einen ganz bestimmten Grund: Und der heißt Thomas Quinn
Curtiss, von ihm zärtlich »Tomski« genannt, und besucht ihn täglich in
der Klinik.
Curtiss ist 22, Amerikaner mit sinnlichen Lippen, wehendem Haar
und enggeschnittenen Anzügen, und er hat bei Sergej Eisenstein in
Moskau studiert. In sein Tagebuch notiert Klaus Mann nach einem
Jahrzehnt zahlloser kurzer und langer Affären: »Ich bin ganz entschieden
für ihn. Ein größeres Maß an Erfüllung als diese Beziehung mir bringt,
dürfte mir ›von der hohen Instanz‹ nicht bestimmt sein.« Der Sommer
1937, als die schlimmsten Qualen des Entzugs vorüber sind und er in
Budapest das Glück der jungen Liebe mit Tomski genießt, ist vielleicht
der schönste im Leben von Klaus Mann. Plötzlich ist er der Ältere, zu
dem der Jüngere verehrend aufblickt, er zeigt ihm in kurzer Zeit alle
Stationen seines europäischen Lebens, er fährt mit ihm nach Zürich zu
den Eltern, er besucht mit Tomski seine Schwester Erika und Therese
Giehse, die gerade mit Annemarie Schwarzenbach in Graubünden Urlaub
machen, er zeigt ihm die Grachten von Amsterdam, wo er die Sammlung
redigiert, und er fährt mit ihm nach Sanary-sur-Mer, Ort der Hoffnung
und der Träume eines anderen, längst vergangenen Sommers. Klaus
Mann schreibt rückblickend auf diese Wochen drei für ihn ungeheure
Worte: »Ich war glücklich.«
Dem Schriftsteller Ernst Jünger gelingt es, sich erst im Harz und dann ab
1936 in Überlingen am Bodensee zu verstecken, vor den Nazis und vor
sich selbst. Er träumt sich in die Antike fort und in die Welt der Insekten.
Tag für Tag streift er durch die Wälder und sammelt Käfer, spießt sie
abends fein säuberlich auf, beschriftet sie, ergötzt sich an ihren Panzern
und an ihren lateinischen Namen. Und seine so besondere Frau Gretha
leidet an seiner Seite. Er verlangt allen Ernstes, dass sie ihn »Gebieter«
nennt – und sie tut es. Sie sucht zeitlebens nach ihrer Bestimmung, geht
nicht auf in der Rolle der Mutter für die beiden Jungen, die sie
gemeinsam mit Jünger hat. Sie beginnt zu schreiben, zu reisen,
argwöhnisch beäugt von ihrem Gebieter. Der wiederum hat schon in
Berlin zahlreiche Affären und hört auch in der inneren Emigration damit
nicht auf. Die Schuld dafür aber gibt Gretha nicht ihm, sondern den
Frauen, die ihn verführen. Dennoch behandelt er seine Gattin mit jener
Unterkühlung, die er seit seinem Debüt In Stahlgewittern zu seinem
emotionalen Ideal erhoben hat, und Gretha ächzt unter seiner
»neusachlichen« Behandlung, wie sie es, halb ironisch, halb leidend
nennt. Sie klagt gegenüber einem Vertrauten: »Ich ermüde, es ist ein
entsetzlicher und unhaltbarer Zustand für mich geworden, denn langsam
fühle ich mich in seinen Kreis der Bedrückung, der Depressionen und der
absoluten Verneinung des Lebens miteinbezogen, wie ein lichtfrohes
Insekt dem Spinnennetz nicht mehr zu entrinnen vermag.« Ja, Gretha
Jünger war dem Insektenforscher Ernst Jünger ins Netz gegangen, und er
betrachtet sie ab und an wie einen sonderbaren kleinen Käfer, der zufällig
mit ihm im selben Hause lebt. Er selbst beantwortet die Frage für sich
mit den Mitteln der Astrologie: »In unserem Lebenslaufe begegnen wir
stets der einen, die uns aus unseren vorgeschriebenen Bahnen wirft und
zur Begleitung zwingt, ob wir nun wollen oder nicht.« Und dann, in einer
kühnen Verteidigung seiner eigenen Affären und der eigenen
Unverantwortlichkeit dafür: »Daher liegt auch die Treue im Grunde
außer unserem Willen; in ihrem Wesen wirkt mehr an Schwerkraft als an
Tugend auf uns ein.«
*
Was für eine Verkehrung der Verhältnisse: denn Erika Mann ist 1937 das
erste Mal in ihrem Leben richtig unglücklich. Sie erlebt in jenem Herbst
ihre vielleicht schwerste Zerreißprobe. Gemeinsam mit ihrer Partnerin
Therese Giehse versucht sie – nachdem beide einen britischen Ehemann
und damit einen britischen Pass bekommen haben –, ihr Kabarett Die
Pfeffermühle auch in Amerika heimisch zu machen. Aber es gelingt nicht,
hier gibt es keine Tradition für das politische Kabarett, und es fehlt ein
Bewusstsein dafür, dass die politische Situation einen Schmerz auslösen
kann, der das befreiende Lachen sucht. Gleichzeitig lebt sie sich mit
Therese Giehse auseinander, obwohl sie so viele Jahre des Exils
zusammen erlebt und durchlitten haben, verbunden durch ihren
gemeinsamen Humor. Doch hier, in der Neuen Welt, werden sie sich
fremd. Erika wandelt sicher über das internationale Parkett, aber Giehse,
die deutsche Schauspielerin, quält sich mit der fremden Sprache und den
fremden Bühnen. Sie streiten sich. Therese ist entsetzt, dass sich Erika im
oberflächlichen »American Way of Life« wohlfühlt und nicht mehr dafür
tut, dass die Pfeffermühle ein Publikum findet. Erika wirft Therese
wiederum vor, sich aus Sturheit nicht genug darum zu kümmern,
Englisch zu lernen.
In ihrer Wut und Verunsicherung ist Therese so lange auf Erika Manns
Flirts in Amerika eifersüchtig, bis diese sich tatsächlich ein bisschen
verliebt, fast aus Trotz, wie es scheint. Und zwar in einen Mann.
Nachdem sie zweimal verheiratet gewesen ist, einmal mit Gustaf
Gründgens und einmal mit W.H. Auden, aber alle wussten, dass es bei
diesen Verbindungen mit zwei Homosexuellen vermutlich nicht um
Erotik ging, entwickelt sie im Bedford Hotel in New York Gefühle für
den im Exil lebenden jüdischen Schriftsteller und Arzt Martin Gumpert.
Er ist »ein sehr ruhiger Mann mit runder Buddha-Miene, kleinem Mund
und dunklen, starken Augen. Im Blick verrät sich eine Leidenschaft, von
der die stoische Fassade sonst nichts merken ließ«, urteilt Klaus Mann.
Und offenbar richtet sich seine Leidenschaft ganz auf Erika Mann, die
zur selben Zeit auch von Klaus’ Amsterdamer Freund Fritz Landshoff
umschwärmt wird. Gumpert gelingt es, Erika zu verführen. Sie ist ihm
scheinbar in Dankbarkeit ergeben, weil er als Mediziner versucht, ihren
geliebten Bruder Klaus mit neuen Medikamenten von der Drogensucht
zu befreien. Auf jeden Fall schlafen sie miteinander – und Erika Mann
wird schwanger. Gumpert träumt von einer Ehe und einer gemeinsamen
Familie. Doch Erika Mann gerät in Panik, sie fühlt sich bedroht von dem
Überschwang der Gefühle und der Rolle als Ehefrau und Mutter. Sie
verteidigt ihre Unabhängigkeit, ihre »turbulente Einsamkeit« und ihre
Ungebundenheit – und lässt das Kind sofort abtreiben.
Ausgerechnet in diesen Wochen des Gefühlschaos kommt Erikas alte
Freundin Annemarie Schwarzenbach nach New York und versucht, in
dem Wirrwarr zu moderieren. Durch Zuhören, Nicken, Nachfragen und
gute Ratschläge bei allen beteiligten deutschen Emigranten im Bedford
Hotel. Erika Mann dreht durch und beklagt sich bei ihrer Mutter, dass
ausgerechnet »die zarte Irrenhausgestalt« hier die Wogen glätten wolle
mit ihren »Landerziehungsheimmanieren«. Wir sehen: Die Nerven liegen
blank. Wenig später packt Therese Giehse ihre Koffer und fährt mit dem
Schiff zurück nach Europa, und Annemarie Schwarzenbach schließt sich
ihr an. Sie haben dann viele Tage Zeit, an Deck und in ihrer Kabine in
immer neuen Anläufen ihre geliebte Erika zu enträtseln. Erika tröstet sich
indes etwas im riesigen Schatten ihrer Eltern. Genau dieser Schatten, der
ihren Bruder Klaus immer zu verschlucken scheint, ist es, der ihr
Geborgenheit bietet und Schutz. Sind wir Menschen nicht sonderbar, vor
allem in unserer Rolle als Kinder?
*
1938 ist das schwerste Jahr im Leben des Tennisbarons Gottfried von
Cramm. Er hat in der späten Weimarer Republik ein unbeschwertes
bisexuelles Leben in Berlin gelebt, im Rausch, aber voller Eleganz. Und
er ist in seinen weißen Tennishosen und engen Poloshirts in den frühen
dreißiger Jahren der weltweit gefeierte Repräsentant des ehrenvollen
guten Deutschland geworden, der selbst eine Niederlage beim Finale in
Wimbledon in Kauf nimmt, wenn er das Gefühl hat, der Schiedsrichter
habe sich zu seinen Gunsten geirrt.
»Jedes Jahr, in dem von Cramm den Centre Court von Wimbledon
betritt«, so 1937 der BBC-Journalist Alistair Cooke, »setzen sich einige
hundert junge Damen in ihren Sitzen etwas aufrechter hin und vergessen
ihre Begleitungen.« Seine eigene Begleitung jedoch vergisst Gottfried
von Cramm nie, trotz aller Affären. Seine Liebe gehört immer Lisa,
seiner androgynen Frau, Freundin der Fotografin Marianne Breslauer,
von Annemarie Schwarzenbach und von Ruth Landshoff, die wie ihr
Gatte die großen, grundsätzlichen Gefühle sehr viel wichtiger findet als
die eheliche Treue. 1938 lassen sie sich scheiden – bei aller Liebe.
Lisa ist in den Scheidungsurteilen der »allein schuldige Teil« – zum
einen wegen ihres frühen Verhältnisses mit einem französischen
Tennisspieler, zum anderen wegen ihrer aktuellen Liebschaft mit Gustav
Jaenecke, dem Doppelpartner ihres Gatten in Wimbledon, dessen
Doppelpartnerin im Bett sie geworden ist. Aber im Grunde wissen beide,
dass die Scheidung nur eine Formalie ist, denn sie haben sich immer
geliebt, auch wenn Lisa sehr darunter gelitten hat, dass ihr Mann Männer
noch mehr liebt als Frauen. Als sie die Scheidung einreicht, schreibt sie
ihm: »Ich will dir nicht sagen, dass ich traurig bin, und dir auch keinen
Liebesbrief schreiben. Nur danken will ich dir, für alles, was du für mich
getan hast. Besonders in letzter Zeit. Du warst wieder so wahnsinnig
anständig und rührend zu mir. Petit, du glaubst es mir ja sicher nicht, aber
ich werde dir das nie vergessen. Ich könnte mich ermorden für jede
Gemeinheit, die ich dir gegenüber begangen habe.« Doch im Jahr 1938
übernimmt es die Gestapo, Gottfried von Cramm zu quälen. Sie nimmt
ihn am 5. März wegen seiner Homosexualität in Gestapo-Haft und schert
sich nicht darum, dass sie damit den weltbekannten Tennisspieler und
Repräsentanten eines besseren Deutschland hinter Gitter setzt. Es geht
ums Prinzip. Er ist ein bisexueller, regimekritischer Judenfreund, da ist es
einerlei, dass es sich bei ihm auch um den zweitbesten Tennisspieler der
Welt handelt. Aber Gottfried von Cramm irritiert die Gestapo – er gesteht
zwar seine homosexuellen Beziehungen zu Herbert Manasse bis 1936,
aber er versichert den Beamten, er habe selbstverständlich regelmäßigen
Geschlechtsverkehr mit seiner noch immer geliebten, inzwischen
geschiedenen Ehefrau Lisa gehabt. Was er nicht erzählt: Seit 1937 hat er
eine Affäre mit einer ganz anderen, mit Barbara Hutton, der reichsten
Frau der Welt, die er in Ägypten auf einem Tennisturnier kennengelernt
hat. Sie ist nach der Scheidung von dem später tödlich verunglückten
Alexis Mdivani nun mit dem deutschen Adligen Kurt Graf Haugwitz-
Reventlow verheiratet, will aber schon am ersten Abend im Gezira
Sporting Club in Kairo zu Gottfried von Cramm überwechseln.
Zwei Wochen lang wird Gottfried von Cramm im März 1938 in der
Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin verhört. Seiner
Mutter Jutta von Cramm, die aus dem Stammsitz Bodenburg nach Berlin
gereist ist, um ihren Sohn zu unterstützen, gelingt es, ihn in seiner Zelle
zu besuchen. Sie findet ihn in völliger Verzweiflung. Er droht mit
Selbstmord und hat, wie sie schreibt, »nur eine Sorge, dass die Familie
ihm vergeben möchte«. Doch genau dies ist die einzige Sorge, die er
nicht haben muss. Seine Mutter hält zu ihm, seine Brüder, seine Ex-Frau
Lisa, sie alle besuchen ihn im Gefängnis und halten seine Hand. Und am
15. April kommt tatsächlich auch Barbara Hutton mit ihrem Ehemann
nach Berlin und quartiert sich im Adlon ein. Gleich am nächsten Tag
bekommt sie Besuch von der gerührten Mutter, die Hutton Rosen von
Gottfried überreicht. Einen Monat später wird von Cramm im Gericht in
Moabit wegen des Verstoßes gegen den Paragraphen 175 zu einem Jahr
Gefängnis verurteilt. In der Urteilsbegründung stellt der Richter fest, dass
von Cramm »ein charakterschwacher, haltloser Mensch« sei. Dies folgert
der Nazi-Richter aus dem Umstand, »dass er zunächst seiner Ehefrau
gegenüber nicht den Mut fand, ihr energisch gegenüberzutreten und ihren
ihm bekannten Liebhaber zurückzuweisen«. Es fehle ihm also ganz
offenbar an einer ausreichenden »männlichen Einstellung«. Barbara
Hutton sieht das offenbar ganz anders. Gottfried von Cramm schreibt an
seine Mutter: »Je mehr ich über Barbara nachdenke, umso gerührter bin
ich, etwas geschmeichelt auch. Man stelle es sich vor, sie ist verheiratet,
nimmt ihren Mann mit, um einem anderen in solcher Situation evtl.
helfen zu können! Es ist ein kleines Wunder.« Vielleicht wegen der
zahlreichen Petitionen aus dem In- und Ausland, vielleicht wegen »guter
Führung« – auf jeden Fall wird Gottfried von Cramm am 16. Oktober
frühzeitig aus der Haft entlassen.
Er versucht, sein früheres Leben wieder aufzunehmen, doch er wird
immer wieder von schweren Melancholieschüben und Schuldgefühlen
übermannt. Dann muss er erleben, dass er als wegen eines
Sittlichkeitsverbrechens Verurteilter plötzlich von den Tennisturnieren in
Wimbledon und dem US Open in New York ausgeschlossen wird.
Stattdessen soll er ein Jahr später gegen diese Alliierten, deren Turniere
und deren Boheme er so liebt, in den Krieg ziehen; der
Sittlichkeitsverbrecher und edle Mensch Gottfried von Cramm erhält
seinen Einberufungsbefehl für das Luftwaffenregiment General Göring.
Der Anschluss Österreichs zerstört das labile Trio aus Alma Mahler-
Werfel, Franz Werfel und Johannes Hollnsteiner. Während Alma und
Werfel zunächst nach Italien, dann nach England, schließlich nach
Frankreich flüchten, wird Hollnsteiner von der Gestapo aus seinem
Augustiner Chorherrenstift St. Florian gezerrt und der Kooperation mit
der Regierung Schuschnigg verdächtigt. Wie der Kanzler selbst wird
auch sein theologischer Berater sofort von der Gestapo verhaftet. Nach
acht Wochen voller Verhöre und Misshandlungen wird er ohne
Gerichtsverfahren ins KZ Dachau überstellt, wo der Geistliche in
sengender Hitze in einer Kiesgrube arbeiten muss, bis er vor Erschöpfung
zusammenbricht (erst im Frühjahr 1939 wird er wieder freigelassen und
in sein Kloster St. Florian zurückkehren).
Alma und Franz Werfel, deren Ehe vor der Emigration in Auflösung
begriffen war und vor allem aus gegenseitigen Attacken bestand, sind in
der alarmierenden politischen Situation plötzlich zur Gemeinsamkeit
verpflichtet. Bevor sie losziehen ins Exil, schreibt Alma in ihr Tagebuch:
»Meine Ehe ist schon lange keine Ehe mehr. Ich lebe unglücklich neben
Werfel her.« Und der wiederum wird aufgrund der antisemitischen
Angriffe seiner Frau gegen ihn, den Juden, immer fassungsloser. Ihn
entsetzen ihre offenen Sympathiebekundungen für die Nazis. Dass nun
ihr geliebter Hollnsteiner von der Gestapo ins KZ gesteckt worden und
ihr jüdischer Ehemann auf freiem Fuß ist, verwirrt sie zusätzlich. Sie
bekommt einen, wie sie es nennt, »veritablen nervous breakdown«. Und
er einen leichten Herzinfarkt.
Zur Ruhe kommen die beiden erst, als sie in Sanary-sur-Mer landen,
jenem kleinen Hafenstädtchen im Niemandsland zwischen St. Tropez und
Marseille, das fünf Jahre zuvor schon so beruhigende Wirkung auf
Thomas Mann und die Seinen gehabt hat. Und das selbst Bertolt Brecht
dazu brachte, manchmal nachts kurz innezuhalten und hinauf zu den
Sternen zu schauen.
Alma und Franz Werfel finden einen alten Wachturm der Sarazenen,
der an der Klippe steht, direkt am schmalen Fußweg, der vom Ortskern
hinauf zur Villa von Thomas Mann führt. Im zweiten Stock des
Rundbaus stellt Werfel seinen Schreibtisch auf, vielleicht hat er nie in
seinem Leben einen schöneren Blick gehabt. Aus zwölf Fenstern sieht er
nun hinaus aufs weite Meer und die südliche Hügellandschaft, die hinter
dem kleinen Städtchen beginnt. Im ersten Stock sitzt Alma im Gegenzug
in einem fensterlosen Raum und notiert beim fahlen Licht der Stehlampe
in ihr Tagebuch: »Gott im Himmel. Man kann doch nicht so hoffnungslos
weiterleben. Ich bin am Ende.« Sie ist voller Zorn, dass sie wegen ihres
jüdischen Mannes ihr geliebtes Wien hat verlassen müssen und nun mit
59 Jahren plötzlich in einem gottverlassenen Städtchen am Mittelmeer
Baguette und seltsames Obst kaufen gehen soll, ganz ohne Zugehfrau
und ohne dass sie jemand auf den Straßen erkennen und einen Knicks
machen würde. Ihr ist zu heiß, es gibt zu viele Mücken und zu wenige
Empfänge. Und egal, ob sie unten auf der Strandpromenade ins Café
Schwob geht oder in die Bar Nautique – alle, die hier Deutsch sprechen,
sind entweder jüdisch oder kommunistisch. Ein Horror für sie. Alma
Mahler fühlt sich wie in einem falschen Film. Sie, eine Emigrantin? Und
zwar bloß, weil sie es nicht rechtzeitig geschafft hat, ihren Mann zu
verlassen. Während der oben in seiner Schreibkammer verängstigt durch
die Überwachungen der Nazi-Spitzel an seinen Manuskripten schreibt,
verhandelt Alma unten im Turm parallel mit dem Propagandaministerium
in Berlin über den Verkauf von Bruckner-Partituren aus Gustav Mahlers
Besitz.
Nein, die Ehe zwischen Franz Werfel und Alma Mahler ist so
zerrüttet, dass die Ausnahmesituation des Exils die losen Enden nicht
mehr zusammenschweißen kann. Selbst als die Feuchtwangers, also das
Königspaar von Sanary, zum Abendessen vorbeikommen, streiten die
Werfels wie die Kesselflicker, und Alma schreit Franz immer wieder an:
»Vergiss nicht, dass ich keine Jüdin bin!« Aber darum muss sie sich keine
Sorgen machen, das würde er nie vergessen.
Der letzte Teil des Dramas um den Maler Ernst Ludwig Kirchner beginnt
am 6. Mai 1938, als ihn zu seinem 58. Geburtstag hoch oben auf der
Staffelalp über Davos kein Geburtstagsbrief erreicht. Den ganzen
Morgen wartet er mit Erna, seiner ihm treu ergebenen Kameradin, die
seit Jahren auf eine Ehe mit ihm hofft, auf den Briefträger, aber der
kommt nicht.
Er hat ertragen müssen, dass er seit der Schandausstellung »Entartete
Kunst« in Deutschland als Inbegriff des Verkommenen gilt, dass in der
Kunsthalle Basel eine große Schau von ihm zu Ende geht, ohne dass ein
einziges Bild verkauft wird. Und dass 639 seiner Gemälde, Skulpturen
und Zeichnungen aus deutschen Museen entfernt worden sind und dass
ihn die Preußische Akademie der Künste in Berlin zum Austritt
aufgefordert hat.
Nun ist nach dem Anschluss Österreichs auch noch die deutsche
Wehrmacht ganz in seine Nähe gerückt, sie steht kaum 25 Kilometer von
Davos entfernt am Schlappiner Joch. Der nächste Krieg steht
augenscheinlich vor der Tür, und dabei leidet seine Seele noch täglich
unter dem letzten. »Hier hat sich«, so wird Erna Schilling später
schreiben, »seit Monaten eine Tragödie im Stillen abgespielt.«
In dieser desolaten Gesamtlage beginnt Ernst Ludwig Kirchner, Werke
von sich zu zerstören und nach Jahren der Enthaltsamkeit wieder
Morphium in großen Mengen zu sich zu nehmen. Er spritzt sich Eukodal;
leere Ampullen werden sich später zu Dutzenden vergraben in den
Wiesen rund um das Wildbodenhaus finden.
Warum er am 10. Mai zum Rathaus in Davos fährt, um das Aufgebot
für Erna Schilling und sich zu bestellen, wissen wir nicht, vielleicht um
ihr einen Rechtsanspruch auf sein Erbe zu sichern, vielleicht auch, um
ihr, die ihr Leben seinem Leiden verschrieben hat, einen Herzenswunsch
zu erfüllen. Wenn dem so ist, bleibt genauso rätselhaft, warum der
gebrochene Künstler am 12. Juni aufs neue mit dem Bus zum Rathaus in
Davos fährt, um dort den Antrag auf Heirat wieder zurückzunehmen.
Der 15. Juni ist ein ungewöhnlich kalter Tag, dicker Nebel hängt in
der Luft, es herrscht Schneetreiben. Ernst Ludwig Kirchner spritzt sich
Eukodal und versinkt in Verzweiflung. Erna Schilling verlässt gegen
9.30 Uhr das Wildbodenhaus, um mit dem Telefon der nächsten
Nachbarn, die ein paar hundert Meter weiter auf dem Weidboden
wohnen, den Arzt Dr. Bauer herbeizurufen. Da packt Kirchner alles in die
Taschen seines Mantels, was ihm wichtig ist: 8740 Franken in bar, seinen
Pass, seine dreißig Jahre alte Dresdner Urkunde mit der Ernennung zum
Diplom-Ingenieur, eine Morphiumspritze, drei volle Dosen Eukodal.
Dann rennt er raus in den dichten Nebel, will Erna hinterherlaufen, er
schreit und erschießt sich dann mit seiner alten Browning, zwei Schüsse
gehen direkt ins Herz. So kann der herbeitelefonierte Dr. Frédéric Bauer,
als er mit dem Taxi hinauf auf den Berg kommt, nur noch den Tod seines
berühmtesten und verzweifeltsten Patienten feststellen.
Drei Tage später wird er beerdigt. Der Winter und der Nebel sind
verflogen, es ist ein herrlicher Frühsommertag, die Bergblumen blühen,
und der Himmel ist blau. Von einer Waldwiese schauen zwei Rehe herab
auf den Trauerzug, der sich von der kleinen Frauenkirche hinauf zum
Friedhof quält. Erna Schilling erhält das Recht, sich Erna Kirchner zu
nennen. Sie bleibt im Haus auf dem Wildboden, bis der Krieg vorüber ist.
Dann stirbt auch sie.
Als Margot von Opel die Liebe zu dem melancholischen Erich Maria
Remarque überwinden muss, da dieser hoffnungslos in Marlene Dietrich
vernarrt ist, verliebt sie sich zum Trotz in die noch melancholischere
Annemarie Schwarzenbach, die auch als Gattin des französischen
Botschafters in Teheran keine Ruhe gefunden hat. Den Sommer verbringt
Schwarzenbach allerdings in einer Entziehungskur in Samedan. Und
Margot von Opel mit Leni Riefenstahl am Strand von Sylt. Danach reisen
Schwarzenbach und von Opel nach Amerika, um ihr Glück zu suchen.
Nur so viel sei schon verraten: Sie finden es nicht.
Bertolt Brecht verbringt ein paar schöne Wochen mit seiner Freundin
Ruth Berlau in Schweden. Sie schreibt ein Buch in diesem Sommer 1938,
es wird Jedes Tier kann es heißen, es geht um die körperliche Liebe –
und um das, was die Menschen verlernt haben, als sie im Bett ihren Kopf
einschalteten. Mit viel Humor erzählt Berlau davon, warum Frauen im
Lauf der Jahrhunderte die animalische Lust verloren haben: weil die
Männer so oft versagen. Brecht notiert in sein Tagebuch, was Berlau
recherchiert hat: »Siebzig Prozent aller Frauen sollen frigid sein. Der
Orgasmus als Glücksfall.« Doch als Berlau darüber nachdenkt, ihr Buch
auch in Amerika anzubieten, wird Brecht skeptisch: Das sei kein Buch
für Männer, schreibt er ihr. »Jedes Tier kann es geht als Frauenbuch oder
gar nicht, glaub mir.« Und natürlich glaubt sie ihm, die treue Jüngerin.
Manchmal kommen Rudi und Speedy Schlichter, das skurrile Paar aus
den späten Berliner Bohemejahren, einander weiterhin heftigst in
sadomasochistischer Liebe zugetan, bei ihren alten Freunden Ernst und
Gretha Jünger vorbei. Schon einmal hat Schlichter Jünger gemalt, damals
in den zwanziger Jahren, wie eine Ikone seiner selbst. Doch nun gibt es
ein neueres Porträt aus der Überlinger Zeit, ein Bruststück mit nacktem
Oberkörper, sehr heroisch, das sich in Schlichters Atelier befindet. Als
sich die politische Situation in Deutschland weiter verdüstert, und selbst
Gottfried von Cramm wegen homosexueller Handlungen für Monate ins
Gefängnis muss, bekommt es der heroische Ernst Jünger mit der blanken
Angst zu tun. Er schreibt an Schlichter, ihm sei bewusst geworden, dass
»in diesem Lande ein solches Porträt schlecht möglich ist«. Deshalb
bittet Jünger höflich um Zensurmaßnahmen: »Ich würde es daher sehr
begrüßen, wenn Sie mich mit einem Mäntelchen bekleiden würden.« Und
zwar, so seine Idee, mit genau jenem Mäntelchen, das dem in seinem
neuen Buch erwähnten entspricht, denn dann könne man das Bild auch
Auf den Marmorklippen nennen, so wie das Buch, an dem er gerade
arbeite. Selten kann man die nackte Angst Ernst Jüngers vor den
Restriktionen des Nazi-Regimes so genau spüren wie in dieser
verzweifelten Sehnsucht nach einem unanstößigen Mäntelchen.
Am 27. März schreibt Klaus Mann, nachdem ihn seine große Liebe
Thomas Quinn Curtiss wegen seiner Drogensucht verlassen hat, in sein
Tagebuch: »Ich kann und will nicht sehr lange leben. Irgendwann werde
ich den Tod doch wieder auf dem holden, schaurigen Umweg über
Drogen suchen … Dies wird nicht Schwäche sein. Ich werde es wollen.«
Es gibt im Werk der großen Meister selten einen Moment, in welchem sie
das Fenster zu ihrer Seele wirklich öffnen, zu groß ist die Angst, dass ein
Windhauch von außen das innere Feuer löschen könnte. Bei Max
Beckmann, der sein Hemd immer bis oben zuknöpft und den Mantel bis
zum Kinn hochschlägt, sind diese Momente besonders rar. Aber einer
davon ist das Bildnis eines jungen Mädchens, entstanden 1939 – es ist
von einer merkwürdigen Unschuld, eine blonde Frau sitzt auf dem
kleinen Balkon ihres Hotelzimmers an der Riviera, unter ihr sieht man
die Wipfel der Palmen, sie hält die Hand versonnen am Kopf, die Beine
hat sie hochgezogen auf ihren Sonnenstuhl. Es ist ziemlich klar, dass sie
über die Liebe nachdenkt, eventuell sogar über das Leben.
Das heitere Bild entsteht in einer für Beckmann bedrückenden Zeit:
Nachdem er aus Deutschland ins holländische Exil geflüchtet ist, sitzt er
nun erneut fest, weil die Deutschen sein Exilland besetzt haben. Die
Reisen an die französische Riviera, die in den frühen dreißiger Jahren für
ihn zu einer wärmenden Bildquelle geworden sind, muss er abrupt
einstellen. Er malt ein Bild seiner Sehnsucht – denn nach Frankreich hat
er schon 1937 emigrieren wollen und nun, 1939, will er es wieder. Doch
erneut gelingt es ihm nicht. Umso stärker leuchten in den dunklen,
kalten, holländischen Wintertagen nun die südlichen Erinnerungen in
seiner Phantasie. Schon in den zwanziger Jahren in Frankfurt hat dieser
harte Hund und unverbesserliche Romantiker sich abends ins
Bahnhofsrestaurant unter eine Zimmerpalme gesetzt, um wehmütig die
Züge zu verabschieden, die nach Nizza und Marseille gefahren sind.
Es ist also eine ganz alte Sehnsucht, die Beckmann da 1939 zum Bild
werden lässt, das Mädchen am Sommerabend, die Palmenblätter, die
durch das Balkongitter blitzen. Und natürlich ist es auch eine ganz junge
Sehnsucht, denn die junge Frau ist ganz gewiss eine sehr konkrete Frau,
doch Beckmann wird nie verraten, wer sie ist. In den dreißiger Jahren
wacht Quappi, seine Frau, achtsam über ihn und ist der erotischen
Eskapaden ihres Gatten langsam müde. Was also malt Beckmann hier?
Warum hat das Mädchen einen Brief in der Hand? Träumt sich
Beckmann eine Frau herbei, die von ihm träumt? Wir wissen es nicht.
Der jüdische Schriftsteller Ernst Toller, eine der zentralen Figuren der
deutschen Emigration, der mit seiner jungen Frau Christiane Grautoff
nach Amerika geflohen ist, erhängt sich am 22. Mai in seinem New
Yorker Hotel. Sein Freund Joseph Roth bricht in Paris zusammen, als er
von Tollers Selbstmord hört, und stirbt zwei Tage später. Er ist erst
45 Jahre alt, doch hat er nach Jahren des Trinkens kaum noch Zähne im
Mund, seine Leber ist zerfressen und sein Gesicht aschfahl. »S ist Krieg,
s ist leider Krieg. Die Kameraden fallen«, notiert Klaus Mann in sein
Tagebuch, als er von diesen beiden Toten liest. Und Stefan Zweig, dessen
Frau Friderike in Paris das Sterben von Roth begleitet hat, schreibt an
Romain Rolland: »Wir werden nicht alt, wir Exilierten. Ich habe ihn wie
einen Bruder geliebt.«
*
Am 13. Juli 1939 verbringt Henry Miller seine letzte Nacht in
Frankreich, bevor er über Griechenland nach Amerika zurückkehrt. Er
schläft in einem kleinen Hotel in Aix-en-Provence, und Anaïs Nin erweist
ihm die Ehre und kommt ein letztes Mal zu ihm ins Bett. Es hat fast
etwas Rührendes: Keiner von den beiden, die sich ansonsten jahrelang an
Indiskretion zu übertreffen versuchten, hat über diese letzte Nacht ein
Wort verloren. Als sie sich am Morgen trennen und er weiterfährt zum
Schiffsableger nach Marseille, weiß Miller nicht, ob er lachen oder
weinen soll. Deshalb liest er Nostradamus und erstellt Horoskope für sich
und Hitler. Als er daraus schließt, dass Hitler ihn überleben wird, beendet
er seine Beschäftigung mit der Astrologie. Und überlebt den nur zwei
Jahre älteren Hitler um 35 Jahre.
Gala und Dalí haben sich ans Meer zurückgezogen im Sommer 1939, die
Zeitungen melden den Einmarsch der Deutschen in Polen, die Angst vor
dem Krieg ist mit Händen zu greifen. Dalís Nervenenden glühen. Er
tigert durchs Haus, nur das Malen beruhigt ihn. Er malt sich selbst an der
Staffelei, dahinter wie ein Geist Gala, rundherum die ewigen Weiten des
amerikanischen Westens, Goldgräber, verstörte Figuren, Felsen. Er nennt
es Impressions of America. Sie sind nicht am Mittelmeer diesmal,
sondern am Atlantik, in dem kleinen Badeort Arcachon, am äußersten
Rand des alten Europa. Sie wollen die Gewissheit haben, abends
Richtung Amerika schauen und träumen zu können. Das Mekka, nach
dem sie ihr Bett ausrichten, heißt New York.
Noch einmal treffen sie Marcel Duchamp in diesem Sommer und auch
Coco Chanel. Aber eigentlich will Dalí nur malen, wie besessen füllt er
Leinwand um Leinwand, Gala muss ihm währenddessen vorlesen,
Bücher über Alchemie und Metaphysik, manchmal krault sie ihm auch
die Füße, und er fängt an zu schnurren wie eine Katze. Nach dem
Abendessen genießt es Dalí, wenn Gala ihm zärtlich die Zähne putzt,
dann fühlt er sich rein. Vor dem Schlafengehen legt Gala die Tarotkarten,
Abend für Abend. Doch sie verzweifelt, wie sehr sie die Karten auch
mischt, immer liegen dieselben oben: der Henker, der gehörnte Teufel,
der Tod als Knochenmann. Es ist der August des Jahres 1939.
*
Gottfried Benn verkriecht sich. Tagsüber in sein Aktenstudium als
Militärarzt im Bendlerblock, in den Zimmerfluchten des
Oberkommandos der Streitkräfte in Berlin. Danach in seine dunkle
Erdgeschosswohnung in der Bozener Straße und in seine Ehe mit der
jungen, müden Hertha von Wedemeyer, die um acht Uhr schlafen geht.
Er dichtet: »Wer sich begrenzt, vollendet seine Spur.« Benn öffnet eine
Flasche Pils und starrt stundenlang auf die Wäsche, die im Hinterhof der
Wohnung trocknet. Es ist der 13. August. Er nimmt seinen Füller und
schreibt an seinen Freund Oelze nach Bremen, im Zimmer steht die
Hitze: »Ein Bewusstsein, sommers, in einer Stadt, fünfzigjährig, ohne
Resultate, realisiert die Geranienkästen. Abfinden sich damit, mit diesem
Abschluss ganz in sich allein, mit diesem einsamen späten Traum. Das ist
das individuelle Bewusstsein. Nun wird es versinken. Das ist der Herbst,
aber er bricht uns nicht das Herz, uns brach das Bewusstsein – und das ist
mehr.«
*
Es passt, dass in diesem Sommer 1939 in Ungarn ein Buch geschrieben
wird, das Apropos Casanova heißt. Miklós Szentkuthy hat eine
einzigartige Mischung aus Liebestheorie und Biographie des großen
venezianischen Causeurs verfasst, in der er schwer beeindruckt bekennt,
dass wohl Casanova als Erster das wahre Wesen der Liebe erkannt habe.
Ihre Grundlage sei: »das Weiterziehen«. Nur so könne sie immer neu
entstehen. Ja, an Casanovas Streifzügen durch die verschiedenen Stände,
verschiedenen Städte, verschiedenen Betten demonstriert er, dass »das
verantwortungslose Jonglieren mit den Milieus das Wesen der Liebe ist«.
Und Casanova tauge genau deshalb als role model, weil er katholisch sei,
einem Protestanten wäre das nie geglückt. Nur der Katholik kenne den
Zauber der Beichte nach der Sünde. Und wir Nachgeborenen seien bei
Casanova Profiteure dieser Beichten, die sich bei ihm Bücher nennen. Ja,
seine Leistung liege darin, dass er das, »woran andere romantisch
zugrunde gehen, in die größte Freude verwandelt«.
Klaus Mann ist in der Neuen Welt gelandet. Doch auch in Santa Monica
und in Beverly Hills träumt er nur vom Alten Europa. Und er ist dabei
nicht allein. Gemeinsam mit Aldous Huxley und Ludwig Marcuse
erinnert er sich bei kühlen Cocktails an den heißen Sommer 1933 in
Sanary-sur-Mer. Am Pool von Vicki Baum, auf dem Sofa von Ruth
Landshoff oder nachmittags am Strand mit Christopher Isherwood und
abends in der Bar mit Billy Wilder und Fritz Lang redet er stundenlang
und glühend über die zwanziger Jahre in Berlin, die aus kalifornischer
Perspektive langsam sehr golden zu werden beginnnen. Wenn Klaus
Mann dann aber wieder allein ist in seinem Zimmer und das Neonlicht
leuchtet und die Drogen locken, dann packt ihn die Tristesse: »Wieder
dieses furchtbare Weinen, Tränen der Erschöpfung, der
Hoffnungslosigkeit. Ach, sie trösten nicht.« Klaus Mann leidet unter dem
Nazi-Regime und seinem Exil, und er leidet unter dem Ende der
Beziehung zu Thomas Quinn Curtiss, manchmal flackert auch bei diesem
noch die alte Liebe auf, doch in diesem August zieht er endgültig weiter,
um sich selbst zu retten. Klaus Mann tröstet sich mit naiven Lustknaben,
die ihn aber sehr schnell langweilen, und er hat eine Heidenangst, ein
ganzes langes Wochenende mit ihnen verbringen zu müssen. Er träumt
sich stattdessen wieder zurück in die gute alte Zeit, liest in der Bibliothek
von Rolf Nürnberg stundenlang in der Fackel, dem Querschnitt, der
Dame, der Weltbühne. Er entdeckt einen alten Artikel von sich selbst:
»Sexualpathologie und Nationalsozialismus« aus dem November 1932.
Seine eigene Prophetie tröstet ein wenig, auch dass sein Vater, der
»Zauberer«, ihm schreibt, dass er seinen neuen Roman, Der Vulkan, für
gelungen hält. Aber schon ganz bald verbrennt die sengende Sonne
Kaliforniens all seine guten Energien. Als er vom Selbstmord eines
verzweifelten Freundes im Exil hört, kommen Klaus Mann all die Toten
der letzten Jahre in den Sinn, Joseph Roth, Ernst Toller, Ödön von
Horváth, Ricki Hallgarten, und er fragt sich, ob Annemarie
Schwarzenbach wohl noch lebt. »Erinnerungen, unendlich«, schreibt er
am 21. August 1939. Und dann, bodenlos: »Das schaurige Ende, das es
mit ihnen allen nimmt. Ahnungen des eigenen Untergangs. Möge es
Ereignis werden, ehe ich alle hingehen sehe, die ich gekannt – und
geliebt habe.«
*
Durs Grünbein hat über den 23. August 1939 ein Gedicht geschrieben. Es
endet so:
Denk an den Tag, einen Sommertag,
als in den Städten Europas die Menschen
zum letzten Mal unüberwacht, scheinbar arglos
in ihren Cafés saßen, lachten und diskutierten
mit den hektischen Gesten, den scheuen Blicken
der Leute im Zeitraffer von Archivfilmaufnahmen,
im blauen Dunst ihrer Zigaretten überm Trottoir.
Denk an das Picknick der Surrealisten,
die Erwachsenenspiele an den Ufern der Côte d’Azur,
diesen ultimativen Sommer der Avantgarden,
das große, das retardierende Moment
bevor der letzte der Humanisten
an der spanischen Grenze
in einem trockenen Flußbett elend verreckte.
Der letzte der Humanisten, also Walter Benjamin, wird wenige Tage
später, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen, wie alle
anderen deutschen Emigranten aus Sanary-sur-Mer und Paris in ein
französisches Internierungslager verlegt. Erst in die riesige Pariser
Fußballarena Stade de Colombes, dann ins Château de Vernuche; alle, die
ihn dort sehen oder sprechen, sind verstört über seine unheimliche Ruhe.
Die Laken sind nachts kalt vor Angst. Aber Benjamin träumt sich zurück
und schreibt zauberhafte Briefe an Hélène Léger, eine Pariser
Prostituierte, die sein Herz erobert hat. Er schreibt ihr, wie intensiv er an
die gemeinsamen Stunden denke: »Wodurch könnte man solche
Erinnerungen ersetzen, die häufig das sind, was im Leben am meisten
zählt?« Wenig später schreibt der letzte Humanist seinen Aufsatz Über
den Begriff der Geschichte, den er Hannah Arendt und Heinrich Blücher
anvertrauen wird. Darin Benjamins Nachdenken über ein Bild von Paul
Klee, das ihm seit den zwanziger Jahren gehört: »Es gibt ein Bild von
Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der
aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er
starrt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der
Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer
auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« Das ist die
ganze Tragik der Geschichte der dreißiger Jahre. Die Walter Benjamins.
Und aller jüdischen Emigranten.
Als Übersetzer von Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit hat
Benjamin gelernt, dass das moderne Denken naiverweise nur nach vorn
gerichtet ist, Erlösung jedoch eigentlich nur in der Vergangenheit zu
finden ist. Erinnerung ist wichtiger als aktuelle Wahrnehmung oder
Utopien, das ist Prousts großes Vermächtnis und seine tröstende
Verheißung. Und Benjamin setzt sie um mit seinen hinreißenden
Erinnerungen an eine Berliner Kindheit um 1900. Und mit seinem
Lobpreis des Engels der Geschichte, der ihm im Jahre 1939 ein letztes
Mal ein achtsamer Schutzengel zu sein versucht. Aber der Engel sieht,
wie Benjamin weiß, bereits die Zukunft als Katastrophe vor sich.
Immer, wenn er spürt, dass ein Weltkrieg naht, will Heinrich Mann
heiraten. Und immer wartet er zu lange. Denn dann gibt es Probleme mit
der Bürokratie, und so werden es seltsam unfeierliche Nottrauungen nach
Kriegsbeginn. Das war so mit Mimi, seiner ersten Frau, vor 25 Jahren.
Und das ist jetzt genauso mit Nelly Kröger. Sie hat sich im Exil immer
mehr den Drogen und dem Alkohol hingegeben – es war ihre Form, aus
der Realität zu fliehen, weg von den intellektuellen Gesprächen der
Exilanten, weg von der snobistischen Mann-Familie, die sie allesamt
verachteten. Als Thea Sternheim das Paar in Nizza besuchte, nannte sie
Nelly eine »gleichzeitig appetitlich und fett aussehende Thusnelda«.
Allein Heinrich Mann bringt das Kunststück fertig, bei Nelly, wie er ihr
in jedem seiner Briefe schreibt, nur an ihren »schönen Körper zu denken.
Bei dem Gedanken bleibe ich niemals ruhig«. Als Nelly im Sommer zum
wiederholten Mal aus der Entziehungsklinik Villa Constance
zurückkehrt, hofft der 68-jährige Schriftsteller nun also, diese körperliche
Unruhe zu institutionalisieren und seine Geliebte und Gefährtin zu
heiraten. Am 9. September, acht Tage nach Kriegsbeginn und kurz bevor
alle Deutschen in Frankreich in die Internierungslager gebracht werden,
vollzieht ein Standesbeamter in Nizza die offizielle Trauung. Nelly
Krögers französischer Nervenarzt, Dr. Barnathan, ist Trauzeuge. Da
Heinrich Mann seit seiner Ausbürgerung aus Deutschland einen
tschechischen Pass besitzt, wird nun auch seine norddeutsche Frau in
Nizza zur Tschechin. Heinrich schenkt ihr zur Hochzeit eine französische
Ausgabe seines Buches Der Haß mit der Widmung »als Zeugnis über
zehn gemeinsame Jahre, reich an Leiden und an Glück«. Am nächsten
Tag beginnt die neue Tschechin Nelly Mann warme Unterwäsche für die
in Frankreich stationierten tschechischen Soldaten zu stricken. Und am
übernächsten Tag beginnt sie, wieder maßlos französischen Wein zu
trinken.
Otto Dix, der Maler des Krieges und der Maler der Großstadt, hat sich in
den letzten Zipfel des Reiches verzogen. Erst nach Randegg, ins Schloss
der Familie seiner Schwägerin, und nun nach Hemmenhofen am
Bodensee; hier malt er Tag um Tag Landschaften in altmeisterlicher
Manier. Statt Huren und Soldaten tauchen darauf höchstens einmal Maria
und Josef auf. Otto Dix ist in die Landschaft emigriert und auch in die
Religion und die Geschichte. Aus dem Rückgriff auf die Tradition
erwachsen in ihm Bilder voll Prophetie – er malt Lot und seine Töchter,
und im Hintergrund sieht man Dresden, das auf der Leinwand schon so
brennt, wie es erst fünf Jahre später nach dem Bombenhagel brennen
wird.
Auch nach seiner Entlassung aus der Akademie fährt er regelmäßig
mit dem Zug den weiten Weg nach Dresden, um Käthe König zu sehen,
seine Geliebte. Seiner Frau Martha bleibt nichts anderes übrig, als diese
Fernbeziehung zu dulden, die gemeinsamen Kinder bekommen davon
nichts mit. Im Sommer 1939 jedoch lässt sich das Doppelleben nicht
mehr verheimlichen, denn Käthe König und Otto Dix sind Eltern
geworden.
Auch davon abgesehen scheint sein Leben aus den Fugen zu geraten.
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Münchner
Bürgerbräukeller kommt die Kriminalpolizei nach Hemmenhofen und
klopft an die Tür. Dix wird für zwei Wochen inhaftiert. Er wird der
Mitwisserschaft verdächtigt. Es ist dann ausgerechnet Käthe König, die
in Dresden in einem Amt kompromittierende Akten über Dix
verschwinden lässt, so dass die Gestapo ihn laufen lassen muss und er zu
Gattin Martha zurückkehren kann.
*
Simone de Beauvoir erklärt ihrem Geliebten Bost, der der Verlobte von
Sartres Sehnsuchtsobjekt Olga ist, ihr Liebesleben: »Ich habe nur ein
sinnliches Leben, nämlich mit Ihnen.« Herrlich, dieses Siezen in den
intimen Nachrichten … Aber der Brief geht weiter. Sie müsse, auch wenn
es sie verlegen mache, noch etwas klarstellen, schreibt de Beauvoir:
»Auch mit Sartre habe ich eine körperliche Beziehung, aber sie ist nicht
sehr bedeutend. Es ist im wesentlichen Zärtlichkeit, und – ich weiß nicht
recht, wie ich es sagen soll – ich fühle mich nicht involviert, weil er es
auch nicht ist.« Nach diesem Bekenntnis verbringen dann Sartre, de
Beauvoir und Bost ein paar entspannte Sommertage zusammen in
Marseille. Doch als sie allein sind, bittet Bost seine Geliebte, seine Briefe
an sie zu verbrennen. Er werde das mit ihren genauso tun. Er wolle seine
Verlobte Olga vielleicht doch heiraten. Simone de Beauvoir muss
weinen. Sie sucht Trost bei ihrem Gatten, doch Sartre möchte ihr nur en
detail erzählen, wie es ihm gelungen sei, Olgas Schwester Wanda zu
verführen. Dann müssen Bost und Sartre packen. Sie werden beide
eingezogen und müssen am 31. August ihren Militärdienst antreten. Als
Simone de Beauvoir Sartre zum Bahnhof bringt, zerreißt es ihr fast das
Herz. Sartre hingegen notiert in sein Notizbuch: »Jeder will, dass der
andere ihn liebt, ohne sich darüber klarzuwerden, dass lieben geliebt
werden wollen heißt – und dass er also, wenn er will, dass der andere ihn
lieben soll, nur will, dass der andere will, dass er ihn liebt: daher die
ständige Unsicherheit der Liebenden.« Und Simone de Beauvoir? Die
ständig unsicher Liebende zieht, da ihre beiden Männer in den Krieg
gezogen sind, mit den Schwestern Olga und Wanda zusammen ins Hôtel
du Danemark in der Rue Vavin, also mit der Geliebten ihres Mannes und
der Verlobten ihres Geliebten.
*
Am Abend des 31. August, als Jean-Paul Sartre eingezogen wird, steigt
Harro Schulze-Boysen am Wannsee auf sein Segelboot Haizuru, auf dem
er vor fünf Jahren seine Frau Libertas kennengelernt hat. Er hat seinen
alten Freund und Nebenbuhler Günther Weisenborn zu einem
vertraulichen Gespräch auf dem Wasser gebeten. Seit über einem Jahr hat
Weisenborn eine leidenschaftliche Affäre mit Libertas. Harro überzeugt
ihn in dieser Nacht und auf diesem Boot, auf dem ihre große Liebe
begann, dass diese Liaison nun ein Ende haben müsse. Leider werde am
nächsten Morgen etwas ganz anderes beginnen, sagt Harro da zu
Günther: der Krieg, und »es wird der größte Krieg der Weltgeschichte
werden«. Und Günther schreibt nachts in sein Tagebuch über Harro
Schulze-Boysen: »Schlank, schön und sauber schnitt sein Profil in den
Abendhimmel am Wannsee. Ein Deutscher, ein Mann wie eine Flamme,
ein Freund am Abend vor dem Krieg.« Weisenborn verspricht, nicht mehr
um Libertas zu kämpfen. Auch er hat gespürt, dass deren Liebe zu Harro,
Erotik hin oder her, doch viel größer ist als die zu ihm. (Am
22. Dezember 1942 werden Libertas und Harro Schulze-Boysen in
Plötzensee hingerichtet werden, weil ihre Widerstandsgruppe »Rote
Kapelle« enttarnt wurde, sie schreibt ihm ein paar Minuten vor ihrem
gemeinsamen Tod: »Wir brauchen uns nie mehr zu trennen, wie ist das
groß und schön.«)
Claus Graf von Stauffenberg, der 1934 für ein Denkmal als Idealbild
eines deutschen Soldaten posiert hat, überfällt in den ersten
Septembertagen 1939 mit seiner 9935 Mann starken »1. Leichten
Division« Polen. Vor dem Abmarsch in Wuppertal hat er sich bei seinem
Buchhändler noch ein paar philosophische Klassiker für unterwegs
gekauft. An der polnischen Front erreichen ihn zwei ängstliche Briefe
seiner Frau Nina. Er schreibt ihr nach Bamberg zurück, sie müsse sich
keine Sorgen machen, aber die Kämpfe seien tatsächlich »verlustreicher,
als diese Sache erfordern müsse«. Seine Offizierskollegen seien leider
sehr unerfahren und die Polen sehr tapfer. Das Land, das er mit seinen
Panzern überrollt, behagt ihm gar nicht, es sei, so schreibt er eiskalt, voll
»unendlicher Armut und Verschlamptheit«. Als er mit der deutschen
Wehrmacht das getan hat, was er wohl unter Aufräumen verstand, was in
wenigen Tagen unzählige Menschenleben kostete und Leid und
Verwüstung über das ganze Land brachte, kehrt er siegestrunken in seine
deutsche Kaserne zurück. Im September 1939 ist Claus Graf von
Stauffenberg noch ein seinem Führer ergebener deutscher Soldat und ein
intellektueller Snob. Es ärgere ihn nur, so schreibt er an seine Frau Nina,
dass ihm beim Polenfeldzug sein schöner, stabiler Gummimantel
abhandengekommen sei. Ach, und in manchem geplünderten Schloss, so
schreibt er weiter, hätte es sehr hübsche Empiremöbel gegeben.
Als Hitler die Wehrmacht Polen angreifen lässt, ruft er Leni Riefenstahl
an und fragt, ob sie nicht Lust hätte, ein paar schöne Filmaufnahmen von
der Front zu machen. Sie sagt sofort zu. Geht zu einem Schneider am
Kurfürstendamm, der ihr in Windeseile eine khakigrüne
Phantasieuniform näht, mit Abzeichen und Schulterklappen. Dann packt
sie ihren aktuellen Geliebten, den Tontechniker Hermann Storr, und zwei
weitere Filmtechniker ein und fährt an die Front, vom Stettiner Bahnhof
in Berlin aus in Richtung Nordost. Der »Sonderfilmtrupp Riefenstahl«
steht unter dem besonderen Schutz des Führers, den Soldaten an der
Front ist die filmende, exzentrische Frau ein Ärgernis. Als sie dann in
ihre Phantasieuniform auch noch eine Pistole links in den Gürtel steckt
und ein Messer in den Stiefelschaft, ist es für die Soldaten schwer,
Haltung zu bewahren. Mitten im Krieg betritt eine Freizeitamazone die
Front. Und das auch noch im Auftrag des Führers. Als sie jedoch in
Końskie erleben muss, wie 22 Juden erschossen werden, »verlässt unsere
Besucherin erschüttert das Feld«, wie General von Manstein vermeldet,
der Befehlshaber der Heeresgruppe Süd. Es gibt Fotografien, die Leni
Riefenstahl in Końskie nach der Bluttat zeigen, das Entsetzen steht in
ihren Zügen. Sie weiß nun, wohin der Sieg des Glaubens über die
Vernunft und der Triumph des Willens über die Moral führen. In den Tod.
Aber als sie zurück in Berlin ist, hat sie es bereits vergessen.
*
Auch Heinrich Blücher, Hannah Arendts Mann, wird, wie alle
männlichen deutschen Emigranten in Frankreich, im Pariser
Olympiastadion Colombes interniert, als der Krieg beginnt. Er stellt sich
tapfer seiner Lage, liest Kant und Descartes und schreibt an Hannah
Arendt eine eher philosophische Liebeserklärung: »Mein Liebling, ich
bin glücklich, wenn ich daran denke, dass du die Meine bist. Und ich
denke viel.« Aber dann überkommen auch ihn die Gefühle, und die
rechte Gehirnhälfte übernimmt die Regie: »Meine Schöne, mein
Glücksgeschenk ist, ein Gefühl zu haben, von dem man so stark fühlt,
dass es ein ganzes Leben lang hält und sich nicht ändern wird, es sei
denn, dass es noch zunimmt.« Und Heinrich Blücher wird recht behalten.
Seine Briefe an Hannah Arendt sind übrigens die einzigen Texte des
Philosophen, die uns erhalten sind.
*
Die achtzehnjährige Sophie Scholl liebt den 22-jährigen
Offiziersanwärter Fritz Hartnagel, den sie vor zwei Jahren auf einem
Tanzabend kennengelernt hat. Er trägt die kurzgeschorenen Haare des
Soldaten, sie einen wilden Bubikopf mit zwei widerspenstigen Strähnen,
die sie sich immer aus dem Gesicht pustet. Sie könnten unterschiedlicher
nicht sein, aber sie sind beide gläubig. Einmal fragt sie ihn: »Glaubst du
nicht, das Geschlecht könnte vom Geiste überwunden werden?« Aber sie
taugen beide nicht fürs Kloster. Im Sommer 1939 verbringen sie ihren
ersten gemeinsamen Urlaub in Norddeutschland – und schlafen
miteinander, obwohl Sophie damit hadert, denn ihre christliche
Sexualmoral erlaubt ihr das eigentlich erst in der Ehe. Sie hält Fritz auf
Distanz und dann lockt sie ihn wieder, es ist ein ewiges Hin und Her.
Doch schon bald kauft sie billige Ringe, und die beiden quartieren sich in
den Hotels im Norden als Ehepaar ein – sie ist zu lebenshungrig für die
Askese, die sie von sich verlangt. Sophie Scholl ist eine junge deutsche
Frau, zerrissen zwischen ihren Ansprüchen und ihren Sehnsüchten, sie
liebt den Wein und das Autofahren und ist doch voller Zorn. Sie ist
BDM-Führerin und hasst die Nazis. Fritz Hartnagel spricht viel von
Liebe und genauso viel vom Vaterland.
Sophie Scholl und Fritz Hartnagel machen also Urlaub in diesem
letzten Friedenssommer, sie fahren erst nach Heiligenhafen an der
Nordsee, dann durch die Moore rund um Worpswede und legen sich ins
Gras, es ist heiß im Vaterland und schön, und sie träumen ein wenig von
ihrer Zukunft. Doch dann wird Fritz einberufen. Sophie Scholl schreibt
ihm unmittelbar nach dem Kriegsbeginn: »Ich kann es nicht begreifen,
dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von
anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und finde es entsetzlich.«
Hartnagel antwortet ihr: »Du bringst mich in einen großen Konflikt,
wenn du mich nach dem Sinn des ganzen Blutvergießens fragst …«
Sophie Scholl wird sich für den aktiven Widerstand entscheiden, sie wird
Flugblätter verteilen, auf denen steht: »Zerreißt den Mantel der
Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt!« Und der, dessen Herz sie
geöffnet hat, also Fritz Hartnagel? Der wird dem NS-Regime als Offizier
treu dienen. Ihrer beider Haltung könnte also unterschiedlicher nicht sein.
Aber sie lieben sich. Er wird in Stalingrad schwer verwundet, sie geht in
den Widerstand und wird dafür 1943 zum Tode verurteilt. Danach stellt
sich auch Fritz Hartnagel als Offizier gegen das Regime, begibt sich
freiwillig in amerikanische Gefangenschaft. Nach dem Krieg wird er
Richter, kämpft gegen die Wiederbewaffnung und für die
Friedensbewegung. Und er heiratet Sophies Schwester Elisabeth. So
blieb er seiner großen Liebe Sophie Scholl auch nach ihrem Tode nah.
Bruno Balz wird auf Erlass von Joseph Goebbels für 24 Stunden aus dem
Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße 8 entlassen. Balz hat
wegen seiner Homosexualität eingesessen, ist tagelang gefoltert worden,
aber die UFA hat Goebbels signalisiert, dass der neue Film von Zarah
Leander nicht ohne Lieder von Balz zu Ende gedreht werden könne. Der
Film soll Die große Liebe heißen. Balz wird im Morgengrauen nach
Babelsberg gefahren. Unter den Augen der Gestapo komponiert er dort in
nur 24 Stunden zwei seiner größten Songs: Ich weiß, es wird einmal ein
Wunder geschehen und Davon geht die Welt nicht unter. Beides erweist
sich als unzutreffend.
OceanofPDF.com
Bibliographie
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Führer an. Unity Mitford, eine Biographie. München 2018.
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OceanofPDF.com
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Kettelhake, Silke: »Erzähl allen, allen von mir!« Das schöne kurze
Leben der Libertas Schulze-Boysen. München 2008.
Ohler, Norman: Harro & Libertas. Eine Geschichte von Liebe und
Widerstand. Köln 2019.
OceanofPDF.com
Dank
Für die kritische und intensive Lektüre des Manuskripts danke ich
besonders vier Personen: Erhard Schütz, der schon 1913 als
professioneller Erstleser unterstützte, Michael Maar, Eva Menasse und
Uwe Naumann.
OceanofPDF.com
Personenregister
Canetti, Elias
Capote, Truman
Carius, Rudi
Carstairs, Joe
Casati, Luisa
Céline, Louis-Ferdinand
Chagall, Marc
Chanel, Coco
Chaplin, Charlie
Clarac, Claude
Cohn, Ernst
Cohn, Jula
Cooke, Alistair
Courbet, Gustave
Craig, Elizabeth
Cramm, Gottfried von
Cramm, Jutta von
Cramm, Lisa von
Crevel, René
Crowder, Henry
Cunard, Nancy
Curtiss, Thomas Quinn
Czernin-Chudenitz, Vera Gräfin von
D’Annunzio, Gabriele
Dalí, Salvador
Destouches, Louis-Ferdinand siehe Louis-Ferdinand Céline
Dietrich, Josephine
Dietrich, Marlene
Dix, Martha
Dix, Nelly
Dix, Otto
Dix, Ursus
Dobeneck, Lisa von
Döblin, Alfred
Döblin, Erna
Dobriansky, Anatol
Dolbin, Alfred
Dolbin, Ninon siehe Ninon Hesse
Dos Passos, John
Duchamp, Marcel
DuMont, Manon Neven
Ebersberg, Annetta
Edward VIII., König
Egorova, Lobov
Einstein, Albert
Eisler, Hanns
Éluard Dalí, Gala
Éluard, Paul
Erlanger, Henry
Ernst, Max
Ertl, Hans
Eulenberg, Tora von
Fallada, Hans
Fanck, Arnold
Feigin, Anna
Feilchenfeldt, Walter
Feininger, Lyonel
Feistel-Rohmeder, Bettina
Feuchtwanger, Lion
Feuchtwanger, Marta
Fischer, Samuel
Fitzgerald, F. Scott
Fitzgerald, Scottie
Fitzgerald, Zelda
Fleißer, Marieluise
Forcht, Carl
Forel, Oscar
Forst, Willi
Franco, Francisco
Frank, Bruno
Frank, Liesl
Franz, Herbert
Freud, Sigmund
Garbo, Greta
George, Stefan
Gerdts-Rupp, Elisabeth
Gerold-Tucholsky, Mary
Giacometti, Alberto
Giehse, Therese
Giese, Karl
Gilbert, Colette
Goddard, Paulette
Goebbels, Joseph
Goebbels, Magda
Goldsmith, Margaret
Göring, Hermann
Grautoff, Christiane
Green, Paul
Gropius, Ise
Gropius, Walter
Grosz, Eva
Grosz, George
Gruhn, Margarethe
Grünbein, Durs
Gründgens, Gustaf
Guadagnini, Irina
Guiler, Hugo
Guinness, Bryan
Gumpert, Martin
Gyl, Cara
Hallgarten, Ricki
Hampson, John
Hartnagel, Fritz
Hartung, Hella
Hatvany, Ferenc von
Hauptmann, Elisabeth
Hauptmann, Gerhart
Hausmann, Raoul
Hecht, Gurti
Helm, Brigitte
Hemingway, Ernest
Heidegger, Martin
Heinsheimer, Hans
Hennings, Elisabeth von
Henschke, Alfred siehe Klabund
Herbst, Manasse
Hermine, Kaiserin
Herrera, Nana de
Herrmann, Eva
Herwegen, Ildefons
Herz, Ellen
Herzog, Wilhelm
Hesse, Hermann
Hesse, Ninon
Hessel, Franz
Hessel, Helen
Hesterberg, Trude
Hildebrandt, Fred
Himmler, Heinrich
Hindenburg, Paul von
Hiob, Hanne
Hirschfeld, Magnus
Hitler, Adolf
Hoffmann, Heinrich
Hofmannsthal, Franz von
Hofmannsthal, Gerty von
Hofmannsthal, Hugo von
Hollaender, Friedrich
Hollaender, Heidi
Hollnsteiner, Johannes
Hoppe, Marianne
Horkheimer, Max
Husserl, Edmund
Hutton, Barbara
Huxley, Aldous
Huxley, Maria
Irrgang, Erika
Isherwood, Christopher
Itten, Johannes
Jacobi, Lotte
Jacobsohn, Siegfried
Jaenecke, Gustav
Jaenecke, Lisa siehe Lisa von Cramm
James, Edward
Jannings, Emil
Jegorowa, Galia
Jollivet, Simone
Joyce, James
Juliana, Kronprinzessin der Niederlande
Jünger, Ernst
Jünger, Gretha
Kaiser, Georg
Kaléko, Mascha
Kaléko, Saul
Kandinsky, Nina
Kandinsky, Wassily
Kanová-Mann, Marie »Mimi«
Kantorowicz, Alfred
Karlstadt, Liesl
Karplus, Margarete siehe Gretel Adorno
Kästner, Erich
Kästner, Ida
Kennedy, Joe
Kennedy, John F.
Kerr, Alfred
Kerr, Judith
Kerr, Julia
Kessler, Harry Graf
Kesten, Hermann
Kesten, Toni
Keun, Irmgard
King, Padraic
Kirchner, Ernst Ludwig
Kirchner, Herta
Kisch, Egon Erwin
Klabund
Klee, Lily
Klee, Paul
Kleinhuber, Hermann
Kleist-Retzow, Ruth von
Klemperer, Eva
Klemperer, Victor
Klopstock, Robert
Kluge, Alexander
Kluge, Alice
Koch, Hans
Koeppen, Wolfgang
Kokoschka, Oskar
Kolb, Annette
Kolisch, Rudolf
König, Käthe
Kosakiewicz, Olga
Kosakiewicz, Wanda
Kracauer, Siegfried
Kraus, Karl
Kröger, Nelly
Kuffner, Raoul
Kunheim, Hugo Eduard
Kunheim, Pieter
Kurzke, Jan
Lang, Josef
Lācis, Asja
Landauer, Walter
Landshoff, Fritz
Landshoff, Ruth
Lang, Fritz
Lartigue, Jacques-Henri
Laserstein, Lotte
Lasker-Schüler, Else
Lawrence, D.H.
Le Corbusier
Lempicka, Tamara de
Lenya, Lotte
Lerchenfeld, Nina Freifrau von
Lert, Richard
Levy, Julien
Levy, Ruth siehe Ruth Landshoff
Li Shiu Tong
Lindsey, Ben B.
Lingen, Theo
Lion, Margo
Lippe-Biesterfeld, Bernhard zur
Loos, Adolf
Lorre, Cilly
Lorre, Peter
Losch, Tilly
Lossow, Hildegard von
Maar, Dora
Macke, August
Magritte, Georgette
Magritte, René
Maheu, René
Mahler-Werfel, Alma
Malaparte, Curzio
Man Ray
Manasse, Herbert
Manga Bell, Andrea
Mankiewitz, Hedwig
Mann, Erika
Mann, Golo
Mann, Heinrich
Mann, Katia
Mann, Klaus
Mann, Thomas
Mannstein, Erich von
Márai, Sándor
Marc, Franz
Marcuse, Ludwig
Marcuse, Sascha
Matthias, Lisa »Lottchen«
Matul, Tamara
Mehnert, Frank
Mehring, Elfriede
Melms, Hildegard
Mendelssohn, Francesco von
Meyer, Gertrude
Miller, Henry
Miller, June
Miller, Lee
Moholy-Nagy, László
Molotow, Wjatscheslaw
Montparnasse, Kiki vom
Moré, Gonzalo
Moreck, Curt
Morgen, Ruth von
Mosel, Helene
Mühsam, Erich
Mühsam, Zenzl
Müller, Hedwig »Nuuna«
Murphy, Gerald
Murphy, Sara
Musil, Martha
Musil, Robert
Nabokov, Véra
Nabokov, Vladimir
Neddermeyer, Heinz
Neher, Carola
Neher, Caspar
Neher, Erika
Neuner, Brigitte
Niclas, Charlotte siehe Yolla Niclas
Niclas, Yolla
Nin, Anaïs
Nin, Joaquín
Noailles, Marie-Laure de
Noeggerath, Felix
Pam, Cillie
Papen, Franz von
Parem, Olga
Perle, Reneé
Perlès, Alfred
Pasetti, Karoline von siehe Lotte Lenya
Pasetti, Otto von
Pett, Selma
Picasso, Olga
Picasso, Pablo
Picasso, Paolo
Pissarro, Camille
Pommer, Erich
Porada, Käthe von
Porter, Cole
Pringsheim, Hedwig
Pringsheim, Klaus
Proust, Marcel
Ullrich, Luise
Umbehr, Otto Maximilian siehe Umbo
Umbo
Valentin, Karl
Varnhagen, August
Varnhagen von Ense, Rahel
Ville, Marie
Vinaver, Chamjo
Vollmoeller, Karl
Walden, Herwarth
Walter, Marie-Thérèse
Warburg, Aby
Warburg, Mary
Warhol, Andy
Wartenburg, Friedrich Graf Yorck von
Wartenburg, Hans Ludwig von
Wartenburg, Ruth Gräfin Yorck von siehe Ruth Landshoff
Wasmuth, Sophia
Wedekind, Pamela
Wedekind, Tilly
Wedel, Jürgen Ernst von
Wedemeyer, Herta von
Wedemeyer, Maria von
Weigel, Helene
Weil, Else
Weill, Kurt
Weißbach, Rudolf
Weisenborn, Günther
Werfel, Franz
Wilder, Billy
Wiegand, Heinrich
Wilhelm II., Kaiser
Wissing, Egon
Wittgenstein, Ludwig
Wolff, Charlotte
Wolff, Helen siehe Helene Mosel
Wolff, Elisabeth
Wolff, Kurt
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Über Florian Illies
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
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ISBN 978-3-10-491361-2
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