Die Chroniken Von Narnia-05-Die Reise Auf Der M
Die Chroniken Von Narnia-05-Die Reise Auf Der M
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Der Autor:
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Clive S. Lewis
Ein Schiff
aus Narnia
Ein phantastisches Abenteuer
Mit Illustrationen von Rolf Rettich
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Aus dem Englischen von Ulla Neckenauer
Titel der Originalausgabe: ›The Voyage of the Dawn Treader‹,
erschienen in den Verlagen Geoffrey Bles (1952) und William Collins
(London 1974)
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Inhalt
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Das Bild im Schlafzimmer
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Edmund und Lucy hatten überhaupt keine Lust, bei
Onkel Harold und Tante Alberta zu bleiben. Aber es gab
wirklich keine andere Möglichkeit. Vater hatte für diesen
Sommer eine viermonatige Lehrtätigkeit in Amerika über-
nommen, und Mutter wollte ihn begleiten, weil sie seit
zehn Jahren keinen richtigen Urlaub mehr gemacht hatte.
Peter bereitete sich gerade sehr intensiv auf ein Examen
vor und sollte dabei in den Ferien von dem alten Professor
Kirke unterstützt werden, in dessen Haus die vier Kinder
vor langer Zeit, während der Kriegsjahre, wunderschöne
Abenteuer erlebt hatten. Wenn der Professor noch immer
in diesem Haus gelebt hätte, dann würde er alle miteinan-
der eingeladen haben. Aber er war inzwischen verarmt und
wohnte in einem kleinen Haus, in dem nur ein einziges
zusätzliches Zimmer zur Verfügung stand. Es hätte zuviel
Geld gekostet, die drei Kinder nach Amerika mitzuneh-
men, deshalb war nur Suse mitgekommen. Die Erwach-
senen hielten sie für die hübscheste der Familie, und sie
war nicht gut in der Schule (obwohl sie sonst für ihr Alter
schon recht erwachsen war), und Mutter sagte, sie hätte
sehr viel mehr von einer Reise nach Amerika als ihre jün-
geren Geschwister. Edmund und Lucy bemühten sich, Suse
um ihr Glück nicht zu beneiden, doch es war schrecklich
für sie, daß sie die Sommerferien bei ihrer Tante verbrin-
gen mußten. »Aber für mich ist es viel schlimmer«, sagte
Edmund, »weil du wenigstens ein eigenes Zimmer hast,
während ich meines mit diesem Oberstinker Eustachius
teilen muß.«
Die Geschichte beginnt an einem Nachmittag, an dem
Edmund und Lucy ein paar kostbare Minuten allein
verbrachten. Und natürlich redeten sie über Narnia. So hieß
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nämlich ihr ureigenstes, privates und geheimes Land. Ich
nehme an, daß wir fast alle ein geheimes Land haben, aber
für die meisten von uns existiert es nur in der Vorstellung.
Edmund und Lucy hatten in dieser Hinsicht mehr Glück als
andere. Ihr geheimes Land gab es wirklich. Sie waren
schon zweimal dort gewesen, nicht im Spiel oder im
Traum, sondern richtig. Natürlich waren sie durch Zauberei
hingelangt, denn das ist die einzige Möglichkeit, Narnia zu
erreichen. Und in Narnia war ihnen versprochen worden –
oder zumindest fast –, daß sie eines Tages zurückkommen
würden. Ihr könnt euch vorstellen, daß sie oft darüber
redeten, wenn sie Gelegenheit dazu hatten.
Sie waren in Lucys Zimmer, saßen auf dem Rand ihres
Bettes und schauten auf ein Bild an der gegenüberliegen-
den Wand. Es war das einzige Bild im Haus, das ihnen
gefiel. Tante Alberta gefiel es überhaupt nicht (deshalb
hing es hier in dem kleinen Hinterzimmer im oberen
Stock), aber sie konnte es nicht wegwerfen, weil es ein
Hochzeitsgeschenk von jemand gewesen war, den sie nicht
verletzen wollte.
Es war das Bild eines Schiffes – und wenn man vor dem
Bild stand, dann segelte das Schiff fast kerzengerade auf
einen zu. Der Bug war vergoldet, und er war geformt wie
ein Drachenkopf mit weitoffenem Maul. Das Schiff hatte
nur einen Mast und ein großes, viereckiges Segel in kräfti-
gem Lila. Die Bordwände des Schiffes – das, was man
hinter den vergoldeten Flügeln des Drachen davon sehen
konnte – waren grün. Es schwebte gerade ganz oben auf
dem Kamm einer herrlichen blauen Welle. Offensichtlich
segelte es rasch vor einem kräftigen Wind, und es war ein
wenig nach backbord geneigt. (Übrigens – wenn ihr diese
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Geschichte lesen wollt und falls ihr es noch nicht wißt,
dann merkt euch am besten gleich, daß die linke Seite des
Schiffes, wenn man nach vorne schaut, Backbord genannt
wird und die rechte Seite Steuerbord.) Von dort fiel auch
die Sonne auf das Schiff, und das Wasser auf dieser Seite
war voll mit grünen und lilafarbenen Flecken. Auf der
anderen Seite war es vom Schatten des Schiffes dunkel-
blau.
»Die Frage ist«, sagte Edmund, »ob es die Sache nicht
noch schlimmer macht, wenn man ein Schiff aus Narnia
anschaut und es nicht erreichen kann.«
»Anschauen ist besser als gar nichts«, sagte Lucy. »Und
es ist wirklich ausgesprochen narnianisch.«
»Spielt ihr noch immer euer altes Spiel?« fragte
Eustachius, der draußen vor der Tür gelauscht hatte und
jetzt grinsend hereinkam. Als er Peter, Suse, Edmund und
Lucy im vorigen Jahr besucht hatte, hatte er mit angehört,
wie sie von Narnia geredet hatten, und es machte ihm
großen Spaß, sie damit zu necken. Er dachte natürlich, sie
hätten sich alles nur ausgedacht; und weil er selbst viel zu
dumm war, sich etwas auszudenken, gefiel ihm das
überhaupt nicht.
»Du bist unerwünscht hier«, sagte Edmund kurz.
»Ich versuche gerade, mir einen Reim auszudenken«,
sagte Eustachius.
»Etwa so:
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»Also zuallererst einmal reimen sich ›Narnia‹ und
›alberner‹ nicht«, sagte Lucy.
»Es ist eine Assonanz«, sagte Eustachius.
»Frag ihn bloß nicht, was eine Asso-Dingsbums ist«,
sagte Edmund. »Er wartet nur darauf, gefragt zu werden.
Sag nichts, dann geht er vielleicht wieder.«
Fast jeder Junge wäre bei einem derartigen Empfang
wieder gegangen, oder er hätte sich aufgeregt. Aber Eusta-
chius tat keins von beiden. Er ging herum und grinste, und
dann sagte er: »Gefällt euch das Bild?«
»Gib ihm um Himmels willen keine Gelegenheit, über
Kunst und all das zu reden«, sagte Edmund rasch, aber
Lucy, die sehr ehrlich war, hatte schon gesagt: »Ja. Es
gefällt mir gut.«
»Es ist ein abscheuliches Bild«, sagte Eustachius.
»Wenn du hinausgehst, siehst du es nicht mehr«, sagte
Edmund.
»Warum gefällt es dir?« sagte Eustachius zu Lucy.
»Also, zuerst einmal«, antwortete Lucy, »gefällt es mir,
weil es so aussieht, als würde sich das Schiff tatsächlich
bewegen. Und das Wasser sieht so aus, als wäre es tatsäch-
lich naß. Und die Wellen sehen so aus, als gingen sie
tatsächlich auf und nieder.«
Natürlich hatte Eustachius viele Antworten parat, aber er
sagte nichts. Denn genau in diesem Moment schaute er die
Wellen an und sah, daß es tatsächlich so aussah, als
bewegten sie sich auf und nieder. Er war erst einmal auf
einem Schiff gefahren (und nur bis zur Insel Wight), und
damals war er schrecklich seekrank geworden. Und jetzt,
wo er die Wellen anschaute, wurde ihm wieder schlecht. Er
wurde etwas grün im Gesicht, doch dann riskierte er noch
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einen Blick. Und dann starrten alle drei Kinder das Bild
mit offenem Mund an.
Was sie sahen, klingt ziemlich unwahrscheinlich, wenn
man es liest, aber es war fast genauso unwahrscheinlich,
wenn man es tatsächlich vor sich sah. Die Gegenstände auf
dem Bild bewegten sich. Es sah auch überhaupt nicht so
aus wie ein Film; dafür waren die Farben zu wirklich, zu
klar und zu natürlich. Der Bug tauchte in die Welle, und
riesige Wassermassen schäumten empor. Dann hob sich die
Welle hinter dem Schiff, und zum ersten Mal waren Heck
und Deck zu sehen. Doch beides verschwand wieder, als
das Schiff auf die nächste Welle traf und der Bug sich
wieder hob. Im gleichen Moment begannen die Blätter
eines Schulhefts, das neben Edmund auf dem Bett lag, wild
zu flattern. Es erhob sich in die Luft und segelte zu der
Wand hinter ihm. Lucy spürte, wie ihre Haare durchge-
wirbelt wurden, so wie an einem windigen Tag. Und dies
war ein windiger Tag; aber der Wind blies aus dem Bild
heraus auf sie zu. Und mit dem Wind kamen plötzlich auch
die Geräusche – das Plätschern der Wellen, das Klatschen
des Wassers gegen die Bordwände des Schiffes, das
Knarren und das alles übertönende Brausen von Wind und
Wasser. Aber es war der Geruch, der wilde, salzige
Geruch, der Lucy überzeugte, daß sie nicht träumte.
»Hört auf!« rief Eustachius mit einer Stimme, die vor
Angst und Wut quiekte. »Es ist ein blöder Streich, den ihr
zwei mir da spielt. Hört auf! Ich sage es Alberta – huch!«
Die anderen beiden waren viel eher an Abenteuer
gewöhnt, aber im gleichen Augenblick, als Eustachius
»Huch!« rief, riefen sie beide ebenfalls »Huch!«. Denn ein
kräftiger kalter Wasserstrahl hatte sich aus dem Bilder-
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rahmen heraus über sie ergossen, und sie waren von der
Wucht des Aufpralls völlig außer Atem. Außerdem waren
sie durch und durch naß.
»Ich schlag' das blöde Ding kaputt!« rief Eustachius;
und dann geschahen mehrere Dinge zur gleichen Zeit.
Eustachius stürzte auf das Bild zu. Edmund, der von
Zauberei etwas verstand, stürzte hinterher und rief, er solle
aufpassen und keine Dummheiten machen. Lucy packte ihn
von der anderen Seite und wurde mitgezerrt. Und
inzwischen waren entweder sie viel kleiner, oder aber das
Bild war viel größer geworden. Eustachius sprang hoch,
um es von der Wand zu reißen, und stand plötzlich auf dem
Bilderrahmen. Unter ihm war kein Glas, sondern ein
richtiges Meer, und der Wind und die Wellen schlugen
gegen den Bilderrahmen, so wie sonst gegen einen Felsen.
Eustachius verlor den Kopf und klammerte sich an den
beiden fest, die neben ihm hochgesprungen waren. Eine
Sekunde lang standen sie schwankend da und schrien
durcheinander, und gerade als sie dachten, sie hätten das
Gleichgewicht wiedergefunden, erhob sich eine große
blaue Welle, riß ihnen die Beine unter dem Leib weg und
spülte sie hinunter ins Meer. Der verzweifelte Aufschrei
von Eustachius brach plötzlich ab, als ihm das Wasser in
den Mund schlug.
Lucy dankte dem Himmel, daß sie im letzten Sommer so
eifrig schwimmen gelernt hatte. Es ist zwar richtig, daß sie
viel besser vorwärts gekommen wäre, wenn sie nicht so
hektisch geschwommen wäre, und daß das Wasser auch
viel kälter war, als es auf dem Bild ausgesehen hatte. Aber
immerhin war sie so vernünftig, ihre Schuhe abzustreifen,
so, wie das jeder tun sollte, der angezogen ins tiefe Wasser
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fällt. Sie ließ sogar den Mund zu und behielt die Augen
offen. Sie waren noch immer recht nahe bei dem Schiff;
Lucy sah die hochaufragende grüne Bordwand und
entdeckte, daß die Leute vom Deck aus zu ihnen herunter-
schauten. Dann – wie es zu erwarten war – klammerte sich
Eustachius in seiner Panik an sie, und sie gingen beide
unter.
Als sie wieder hochkamen, sah Lucy, wie eine weiße
Gestalt ins Wasser sprang. Edmund war inzwischen neben
ihr, trat Wasser und hielt den heulenden Eustachius an den
Armen fest. Dann schob jemand anders, dessen Gesicht ihr
entfernt bekannt vorkam, von der anderen Seite den Arm
unter sie. Vom Schiff her erklang Geschrei, über der
Bordwand drängten sich die Köpfe dicht zusammen, und
dann wurden Taue zu ihnen heruntergeworfen. Edmund
und der Fremde befestigten eines davon an ihr. Danach
mußte sie lange warten (oder zumindest kam es ihr so vor),
ihr Gesicht wurde ganz blau, und ihre Zähne klapperten. In
Wirklichkeit war es gar nicht so lange; man wartete nur ab,
bis man sie an Bord ziehen konnte, ohne daß sie gegen die
Bordwand geworfen wurde. Trotz all dieser Bemühungen
hatte sie ein aufgeschlagenes Knie, als sie schließlich
tropfend und zitternd an Deck stand. Nach ihr wurde
Edmund hochgezogen und dann der unglückliche Eusta-
chius.
Zuletzt kam der Fremde – ein Junge mit goldenen
Haaren, der ein paar Jahre älter war als sie selbst.
»Ka-Ka-Kaspian!« keuchte Lucy, sobald sie wieder zu
Atem gekommen war. Denn es war tatsächlich Kaspian;
Kaspian, der jugendliche König von Narnia, dem sie bei
ihrem letzten Besuch zum Thron verholfen hatten. Sofort
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erkannte auch Edmund ihn. Alle drei schüttelten sich die
Hände und klopften sich voller Entzücken gegenseitig auf
den Rücken.
»Aber wer ist denn euer Freund dort?« fragte Kaspian
dann und wandte sich freundlich lächelnd zu Eustachius.
Aber der weinte viel lauter, als ein Junge in seinem Alter
eigentlich weinen darf, wenn er lediglich naß geworden ist.
Er rief: »Laßt mich gehen! Ich will zurück! Es gefällt mir
nicht!«
»Dich gehen lassen?« fragte Kaspian. »Aber wohin?«
Eustachius rannte zur Bordwand des Schiffes, als
erwartete er, den Bilderrahmen über dem Meer hängen zu
sehen und vielleicht einen Schimmer von Lucys Zimmer zu
erhaschen. Aber er sah nur blaue Wellen mit Schaum-
kronen und den hellblauen Himmel, und beides erstreckte
sich endlos bis zum Horizont. Man kann ihm kaum einen
Vorwurf machen, daß ihm das Herz in die Hosentasche
fiel. Und sofort wurde ihm schlecht.
»He! Rynelf!« sagte Kaspian zu einem der Matrosen.
»Bring Glühwein für Ihre Majestäten. Ihr braucht etwas
zum Aufwärmen nach eurem Bad.«
Er nannte Edmund und Lucy »Ihre Majestäten«, weil sie
und Peter und Suse lange vor seiner Zeit Könige und Köni-
ginnen von Narnia gewesen waren. In Narnia läuft die Zeit
anders als bei uns. Wenn man hundert Jahre in Narnia
verbringt, so kommt man dennoch zur gleichen Stunde des
gleichen Tages, an dem man weggegangen ist, in unsere
Welt zurück. Und wenn man dann nach Narnia zurück-
kehrt, nachdem man eine Woche hier verbracht hat, sind
dort vielleicht tausend Jahre vergangen oder vielleicht nur
ein Tag oder vielleicht kein einziger. Das weiß man nie,
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bevor man hinkommt. Als die Kinder das letzte Mal zu
ihrem zweiten Besuch nach Narnia gekommen waren, war
es (für die Narnianen) so, als käme König Arthur heute
nach England zurück, so, wie manche Leute das prophe-
zeien. Und ich meine – je schneller dies geschieht, desto
besser.
Rynelf brachte den in einem Krug dampfenden
Glühwein und vier silberne Becher. Es war genau das
richtige, und während Lucy und Edmund den heißen Wein
schlürften, spürten sie, wie sich die Wärme bis in ihre
Zehenspitzen ausbreitete. Aber Eustachius verzog das
Gesicht, würgte und spuckte ihn aus; er übergab sich,
begann wieder zu weinen und fragte, ob sie nicht Meyers
vitaminisierte Nervennahrung hätten und ob man sie mit
destilliertem Wasser zubereiten könne, und sowieso
bestand er darauf, an der nächsten Haltestelle an Land
gebracht zu werden.
»Das ist aber ein lustiger Schiffsmaat, den du uns da
gebracht hast, Bruder«, flüsterte Kaspian Edmund lachend
zu; aber bevor er weiterreden konnte, legte Eustachius
schon wieder los.
»Oh! Igittigitt! Was in aller Welt ist das? Bringt es weg,
das entsetzliche Ding!«
Diesmal war es wirklich begreiflich, daß er ein wenig
überrascht war. Etwas sehr Eigenartiges war aus der
Kabine im Heck hervorgekommen. Man könnte es eine
Maus nennen – und das war es auch. Aber diese Maus ging
auf den Hinterbeinen, und sie war im Stehen etwa einen
halben Meter groß. Sie trug einen dünnen Goldreif um den
Kopf, der auf einer Seite unter dem Ohr und auf der
anderen Seite über dem Ohr entlangführte, und unter
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diesem Goldreif steckte eine lange, blutrote Feder. (Da das
Fell der Maus sehr dunkel, ja fast schwarz war, sah dies
sehr verwegen und sehr eindrucksvoll aus.) Ihre linke Pfote
ruhte auf dem Heft eines Schwertes, das fast so lang war
wie ihr Schwanz. Sie hielt sich auf dem schwankenden
Deck perfekt im Gleichgewicht, und sie hatte höfische
Manieren. Lucy und Edmund erkannten sie sofort –
Riepischiep, die Große Maus, das heldenhafteste Tier unter
den Sprechenden Tieren von Narnia. Im zweiten Kampf
von Beruna hatte Riepischiep unsterblichen Ruhm erlangt.
So wie schon immer, hätte Lucy ihn furchtbar gern auf den
Arm genommen und gedrückt. Aber das war, wie sie sehr
wohl wußte, ein Vergnügen, das sie sich für immer versa-
gen mußte; es hätte ihn zutiefst gekränkt. Statt dessen
kniete sie sich nieder und sprach mit ihm.
Riepischiep stellte das linke Bein vor, zog das rechte an,
verbeugte sich, küßte Lucys Hand, richtete sich auf, zwir-
belte seinen Schnurrbart und sagte mit schriller, piepsender
Stimme:
»Meine bescheidenen Dienste stehen Eurer Majestät zur
Verfügung. Und auch Euch, König Edmund.« (Hier ver-
neigte er sich noch einmal.) »Nichts als die Anwesenheit
Eurer Majestäten hat bei diesem herrlichen Abenteuer noch
gefehlt.«
»Igitt, nehmt es weg!« heulte Eustachius. »Ich hasse
Mäuse! Und Tiere, die reden und irgendwelche Rollen
spielen, konnte ich noch nie ertragen. Sie sind albern und
vulgär und – und kitschig.«
»Soll ich daraus schließen«, sagte Riepischiep zu Lucy,
nachdem er Eustachius lange angestarrt hatte, »daß diese
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außergewöhnlich unhöfliche Person unter dem Schutz
Eurer Majestät steht? Denn, falls nicht…«
In diesem Augenblick mußten Lucy und Edmund niesen.
»Wie dumm von mir, euch in euren nassen Sachen hier
stehen zu lassen«, sagte Kaspian. »Kommt mit nach unten
und zieht euch um. Ich überlasse dir natürlich meine
Kajüte, Lucy, aber leider haben wir keine Frauenkleidung
an Bord. Du wirst dich mit meinen Sachen begnügen
müssen. Sei so gut, Riepischiep, und geh voraus!«
»Die Annehmlichkeiten einer Dame haben selbst
gegenüber einer Ehrensache Vorrang – zumindest für den
Augenblick …« Und hier warf er Eustachius einen
scharfen Blick zu. Aber Kaspian drängte sie weiter, und
schon nach ein paar Minuten trat Lucy durch die Tür der
Kajüte im Heck. Sie verliebte sich sofort – in die drei
viereckigen Fenster, die auf das blaue, wirbelnde Wasser
hinter dem Schiff hinausschauten, in die niedrigen gepols-
terten Bänke, die an drei Seiten um den Tisch herum-
führten, in die schwankende silberne Lampe über ihrem
Kopf (die, das erkannte sie sofort an der erlesenen Feinheit,
von den Zwergen gemacht sein mußte) und in das goldene
Abbild von Aslan dem Löwen an der vorderen Wand über
der Tür. All das nahm sie mit einem Blick wahr, denn
Kaspian öffnete sofort eine Tür an der Steuerbordseite und
sagte: »Das ist dein Zimmer, Lucy. Ich suche dir nur ein
paar trockene Sachen heraus« – während er redete, wühlte
er in einer der Truhen –, »und dann lasse ich dich allein,
damit du dich umziehen kannst. Wenn du deine nassen
Sachen vor die Tür legst, lasse ich sie zum Trocknen in die
Kombüse bringen.«
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Lucy fühlte sich in Kaspians Kajüte so zu Hause, als
wäre sie schon seit Wochen hier. Die Bewegung des
Schiffes beunruhigte sie nicht, denn in den alten Tagen, als
sie Königin von Narnia gewesen war, hatte sie viele Reisen
unternommen. Die Kajüte war winzig, aber sie war hell; da
waren Paneelen, die mit Vögeln und anderen Tieren,
tiefroten Drachen und mit Ranken bemalt waren, und alles
war blitzsauber. Kaspians Kleider waren ihr zu groß, aber
das war kein Problem. Seine Schuhe, seine Sandalen und
seine Stiefel waren allerdings so groß, daß es hoffnungslos
war, aber auf einem Schiff machte es ihr nichts aus, barfuß
zu gehen. Als sie fertig angezogen war, schaute sie aus
dem Fenster auf das vorbeiströmende Wasser und atmete
tief ein. Sie war sicher, daß sie eine herrliche Zeit vor sich
hatten.
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An Bord der »Morgenröte«
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als Regenten eingesetzt, solange ich weg bin – Trumpkin,
den Zwerg. Erinnert ihr euch an ihn?«
»Der liebe alte Trumpkin«, sagte Lucy. »Natürlich
erinnere ich mich. Du hättest keine bessere Wahl treffen
können.«
»So treu wie ein Dachs, meine Liebe, und tollkühn wie
ein – wie eine Maus«, sagte Drinian. Er wollte eigentlich
sagen »… wie ein Löwe«, aber er hatte gesehen, daß
Riepischieps Augen auf ihn gerichtet waren.
»Und wohin geht unsere Reise?« fragte Edmund.
»Tja«, sagte Kaspian. »Das ist eine ziemlich lange
Geschichte. Vielleicht erinnerst du dich daran: Als ich
noch ein Kind war, entledigte sich mein Onkel Miraz, der
Usurpator, sieben getreuer Freunde meines Vaters (die
meinen Platz hätten einnehmen können), indem er sie
aussandte, um die unbekannten östlichen Meere hinter den
Einsamen Inseln zu erforschen.«
»Ja«, sagte Lucy. »Und keiner von ihnen kam jemals
zurück.«
»Richtig. Am Tag meiner Krönung habe ich mit Aslans
Zustimmung einen Eid abgelegt, daß ich – sobald ich für
Frieden in Narnia gesorgt hätte – selbst für ein Jahr und
einen Tag nach Osten segeln würde, um meines Vaters
Freunde zu finden oder ihren Tod zu erforschen und sie,
sofern möglich, zu rächen. Ihre Namen waren Lord
Revilian, Lord Bern, Lord Argoz, Lord Mavramorn, Lord
Octesian, Lord Restimar und – oh, das ist der, den ich mir
so schlecht merken kann.«
»Lord Rhoop, Herr«, sagte Drinian.
»Rhoop, Rhoop, natürlich«, sagte Kaspian. »Das ist
mein wichtigstes Vorhaben. Aber Riepischiep hat noch
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eine beflügeltere Hoffnung.« Alle Augen wandten sich der
Maus zu.
»So beflügelt wie meine Stimmung«, sagte sie. »Aber
vielleicht auch so klein wie meine Gestalt. Warum sollten
wir nicht das östliche Ende der Welt erreichen? Und was
fände man da wohl? Ich erwarte, dort das Land Aslans zu
finden! Der große Löwe kommt immer von Osten her zu
uns, übers Meer.«
»Das ist tatsächlich ein großartiger Gedanke«, sagte
Edmund mit ehrfürchtiger Stimme.
»Aber glaubst du«, sagte Lucy, »daß Aslans Land eine
Art Land ist – ich meine so ein Land, zu dem man segeln
kann?«
»Ich weiß nicht, Herrin«, sagte Riepischiep. »Aber es ist
so: Als ich noch in der Wiege lag, sagte mir eine Waldfrau,
eine Dryade, diesen Vers vor:
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»Das ist unsere Position«, sagte er und deutete mit dem
Finger auf die Karte. »Oder zumindest war sie es heute
mittag. Von Feeneden aus hatten wir guten Wind und
wandten uns ein wenig nördlich auf Galma zu, das wir am
nächsten Tag erreichten. Wir lagen eine Woche im Hafen,
denn der Herzog von Galma veranstaltete ein großes
Turnier für den König, der dort viele Ritter vom Pferd
warf…«
»Und der selbst ein paar böse Stürze einsteckte, Drinian.
Ein paar Blutergüsse habe ich immer noch«, warf Kaspian
ein.
»Und der viele Ritter vom Pferd warf«, wiederholte
Drinian grinsend. »Der Herzog hätte sich vermutlich
gefreut, wenn Seine Majestät der König seine Tochter
geheiratet hätte, aber daraus wurde nichts …«
»Sie schielt, und sie hat Sommersprossen«, sagte
Kaspian.
»Oh, das arme Mädchen«, meinte Lucy.
»Wir segelten von Galma«, fuhr Drinian fort, »und
gerieten in eine Flaute, die gut zwei Tage lang anhielt, und
mußten rudern. Dann kam wieder Wind auf, und wir
erreichten Terebinthia erst am vierten Tag nach unserer
Abfahrt aus Galma. Und dort sandte der König eine
Warnung an uns aus, nicht an Land zu gehen, weil in
Terebinthia eine Seuche ausgebrochen war, doch wir
umsegelten das Kap und ankerten in einer kleinen Bucht
weit von der Stadt und faßten Wasser. Dann mußten wir
drei Tage lang abwarten, bis ein südöstlicher Wind aufkam
und wir auf die Sieben Inseln zuhalten konnten. Am dritten
Tag passierte uns ein Piratenschiff (von Terebinthia, aus
der Flagge zu schließen), aber als man sah, daß wir gut
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bewaffnet waren – und nach einem kurzen Pfeilwechsel –,
hielt es Abstand …«
»Wir hätten das Schiff verfolgen, es entern und die
Halunken aufhängen sollen«, sagte Riepischip.
»… und nach weiteren fünf Tagen sichteten wir Mull,
die westlichste der Sieben Inseln, wie ihr wißt. Dann
ruderten wir durch die Meerengen und erreichten bei
Sonnenuntergang Rothafen auf der Insel Brenn, wo wir
stürmisch gefeiert wurden und Lebensmittel und Wasser
bekamen, soviel wir wollten. Wir verließen Rothafen vor
sechs Tagen und sind phantastisch vorwärts gekommen.
Ich hoffe, daß wir die Einsamen Inseln übermorgen sichten
werden. Alles in allem sind wir jetzt fast dreißig Tage auf
See und sind seit Narnia mehr als vierhundert Meilen
gesegelt.«
»Und hinter den Einsamen Inseln?« fragte Lucy.
»Das weiß keiner, Eure Majestät«, antwortete Drinian.
»Außer wenn es uns die Bewohner der Einsamen Inseln
sagen können.«
»Damals in unseren Tagen konnten sie das nicht«, sagte
Edmund.
»Dann beginnt unser eigentliches Abenteuer also hinter
den Einsamen Inseln«, sagte Riepischiep.
Kaspian schlug vor, sie vor dem Essen durchs Schiff zu
führen, aber Lucy hatte Gewissensbisse und sagte: »Ich
glaube, ich muß nach Eustachius schauen. Es ist schreck-
lich, seekrank zu sein. Wenn ich mein Heilmittel dabei
hätte, könnte ich ihm helfen.«
»Es ist hier«, sagte Kaspian. »Das habe ich ganz
vergessen. Als du es zurückgelassen hast, kam mir der
Gedanke, es könne zu den königlichen Schätzen gehören,
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und deshalb habe ich es mitgebracht – wenn du meinst,
man solle es für eine Sache wie die Seekrankheit ver-
schwenden.«
»Ein Tropfen genügt«, sagte Lucy.
Kaspian öffnete eine der Truhen unter der Bank und
holte die wunderschöne kleine Diamantflasche hervor, an
die Lucy sich so gut erinnerte. »Nimm dein Eigentum
wieder an dich, Königin«, sagte er. Dann verließen sie die
Kajüte und traten hinaus in den Sonnenschein.
Im Deck waren zwei große, lange Luken eingelassen,
eine vor und eine hinter dem Mast. Beide standen offen –
wie immer bei gutem Wetter –, um Licht und Luft in den
Bauch des Schiffes zu lassen. Kaspian führte sie durch die
hintere Luke und eine Treppe hinunter. Hier fanden sie sich
in einem Raum, wo Ruderbänke von der einen Seite zur
anderen führten. Durch die Öffnungen für die Ruder fiel
Licht herein und tanzte an der Decke. Natürlich war
Kaspians Schiff keine von diesen schrecklichen Galeeren,
die von Sklaven gerudert wurden. Die Ruder wurden nur
benutzt, wenn es windstill war oder um in einen Hafen
hinein- oder herauszufahren, und alle (außer Riepischiep,
dessen Beine zu kurz waren) hatten schon oft an den
Rudern Dienst getan. An den beiden Seitenwänden war
unter den Bänken Platz für die Füße der Ruderer, aber in
der Mitte des Raumes verlief über die ganze Länge eine
Art Mulde, die bis zum Kiel hinunterreichte und die mit
den unterschiedlichsten Dingen angefüllt war – mit Mehl-
säcken, Wasserfässern, Bierfässern, mit Tonnen von
Schweinefleisch, Honigtöpfen und Lederflaschen voller
Wein, mit Äpfeln, Nüssen, Käse, Keksen, Rüben und mit
Speckseiten. Von der Decke – das heißt von der Unterseite
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des Decks – hingen Schinken und auf Schnüre aufgezogene
Zwiebeln sowie die wachfreien Männer in ihren Hänge-
matten.
Kaspian führte die kleine Gruppe nach hinten. Er machte
jeweils einen Schritt von Bank zu Bank – zumindest war es
für ihn ein Schritt: für Lucy war es ein Zwischending
zwischen einem Schritt und einem Satz, und für
Riepischiep war es ein sehr großer Satz. Auf diese Art
kamen sie zu einer Zwischenwand mit einer Tür. Kaspian
öffnete sie und führte seine Freunde in eine Kajüte, die im
Achterschiff unter den Heckkajüten lag.
Diese Kajüte war natürlich nicht so hübsch. Sie war sehr
niedrig, und die Seitenwände liefen nach unten immer
weiter zusammen, so daß es fast keinen Fußboden gab.
Und obwohl hier Fenster aus dickem Glas eingelassen
waren, konnte man sie doch nicht öffnen, weil sie unter
Wasser lagen. Tatsächlich waren sie in diesem Augenblick
durch das Schwanken des Schiffes abwechselnd golden
vom Sonnenlicht und dämmrig grün vom Wasser.
»Edmund, du mußt mit mir zusammen hier schlafen«,
sagte Kaspian. »Wir überlassen die Koje deinem Ver-
wandten und hängen für uns Hängematten auf.«
»Ich ersuche Eure Majestät…« begann Drinian.
»Nein, nein, mein Freund«, sagte Kaspian. »Das haben
wir schon besprochen. Ihr und Rhince« (Rhince war der
Maat), »ihr segelt das Schiff, und ihr werdet viele Nächte
lang Sorgen und Mühen auf euch nehmen müssen,
während wir Lieder singen und Geschichten erzählen,
deshalb müßt ihr beiden in der Backbordkajüte schlafen.
König Edmund und ich werden es hier unten sehr gemüt-
lich haben. Aber wie geht es dem Fremden?«
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Eustachius, der sehr grün um die Nase war, machte ein
finsteres Gesicht und wollte wissen, ob der Sturm nach-
ließe. Doch Kaspian fragte: »Welcher Sturm?«, und
Drinian begann zu lachen.
»Sturm, junger Herr?« rief er. »Das Wetter ist so schön,
wie man es sich nur wünschen kann.«
»Wer ist das?« fragte Eustachius ärgerlich. »Schickt ihn
weg! Seine Stimme tut mir in den Ohren weh.«
»Ich habe dir etwas gebracht, was dir helfen wird«, sagte
Lucy.
»Ach, geht weg, und laßt mich allein!« murrte Eusta-
chius. Aber er nahm einen Tropfen aus ihrer Flasche, und
obwohl er sagte, es sei ein abscheuliches Zeug (in der
Kajüte verbreitete sich ein köstlicher Duft, als Lucy die
Flasche öffnete), steht fest, daß sein Gesicht ein paar
Sekunden später seine normale Farbe annahm. Und er
mußte sich auch besser fühlen, denn anstatt über den Sturm
und über seinen Kopf zu jammern, verlangte er, an Land
gebracht zu werden, und sagte, er werde im ersten Hafen
beim britischen Konsul gegen sie alle eine »Disposition«
einreichen. Aber als Riepischiep fragte, was eine Dispo-
sition sei und wie man sie einreiche (Riepischiep dachte, es
wäre eine neue Art, einen Zweikampf auszutragen), konnte
Eustachius nur antworten: »Das weiß doch jeder!« Schließ-
lich gelang es ihnen, Eustachius zu überzeugen, daß sie
schon so schnell wie möglich auf das nächste ihnen
bekannte Land zusegelten und daß es genausowenig in
ihrer Macht lag, ihn nach Cambridge zurückzubringen –
dort lebte nämlich Onkel Harold –, wie ihn zum Mond zu
schicken. Daraufhin willigte er mürrisch ein, die frischen
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Kleider anzuziehen, die man für ihn bereitgelegt hatte, und
an Deck zu kommen.
Jetzt zeigte ihnen Kaspian das Schiff, obwohl sie das
meiste ja schon gesehen hatten. Sie stiegen auf das
Vorderdeck und sahen den Wachtposten, der auf einem
kleinen Absatz im Hals des vergoldeten Drachen stand und
durch dessen offenes Maul Ausschau hielt. Im Vorderdeck
waren die Kombüse (oder Schiffsküche) und die Quartiere
für Leute wie den Bootsmann, den Zimmermann, den Koch
und den Obersten Bogenschützen. Wenn es euch komisch
vorkommt, daß die Kombüse im Bug war, und ihr meint,
daß der Rauch dann über das Schiff hinwegzog, so geht ihr
von einem Dampfer aus, auf dem immer Gegenwind
herrscht. Auf einem Segelschiff kommt der Wind von
hinten, und all das, was übel riecht, wird so weit wie
möglich nach vorn gelegt.
Dann wurden sie nach oben zur Kampfplattform geführt.
Zuerst war es sehr beängstigend, dort hin und her zu
schwanken und auf das weit darunterliegende und sehr
kleine Deck hinunterzuschauen. Allen war klar, daß man
im Fall eines Sturzes nicht unbedingt auf das Deck,
sondern viel eher ins Wasser fallen würde. Anschließend
wurden sie zum Achterdeck geleitet, wo Rhince mit einem
anderen Mann zusammen an der großen Ruderpinne seinen
Dienst versah. Dahinter erhob sich der vergoldete Schwanz
des Drachens, in dem eine kleine Bank entlangführte. Das
Schiff hieß »Morgenröte«. Es war winzig, verglichen mit
einem von unseren Schiffen oder den Koggen, den
Schnellseglern, den Handelsschiffen und den Galeonen, die
Narnia besessen hatte, als Lucy und Edmund dort unter
König Peter dem Prächtigen geherrscht hatten. Denn unter
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der Herrschaft von Kaspians Vorfahren war die Schiffahrt
fast vollkommen erlahmt. Als sein Onkel, Miraz der Usur-
pator, die sieben Lords zur See geschickt hatte, mußten sie
ein galmanisches Schiff kaufen und es mit bezahlten
galmanischen Matrosen bemannen. Aber inzwischen hatte
Kaspian begonnen, die Narnianen wieder mit der Seefahrt
vertraut zu machen, und die »Morgenröte« war das
schönste Schiff, das er bis jetzt hatte bauen lassen. Es war
so klein, daß vor dem Mast zwischen der mittleren Luke
und dem Boot auf der einen Seite und dem Hühnerstall auf
der anderen (Lucy fütterte die Hühner) kaum Platz war.
Aber die »Morgenröte« war unter ihresgleichen eine
Schönheit, eine »richtige Dame«, wie die Matrosen sagten.
Ihre Linien waren vollkommen, ihre Farben rein, und jeder
Sparren, jedes Tau und jeder Bolzen war liebevoll ange-
fertigt worden.
Eustachius war natürlich mit nichts zufrieden und gab
dauernd mit Passagierdampfern, Motorbooten, Flugzeugen
und Unterseebooten an (»Als ob er etwas davon verstün-
de«, brummte Edmund), aber die anderen beiden waren
von der »Morgenröte« begeistert. Und als sie dann nach
hinten zum Essen gingen und sahen, daß im Westen der
Himmel von einem tiefroten Sonnenuntergang erleuchtet
wurde, und als sie das Beben des Schiffes spürten und das
Salz auf den Lippen fühlten und an die unbekannten
Länder am östlichen Rand der Welt dachten, da hatte Lucy
das Gefühl, sie sei zu glücklich, um etwas zu sagen.
Was Eustachius dachte, soll am besten in seinen eigenen
Worten erzählt werden, denn als sie alle am nächsten
Morgen ihre Kleider getrocknet zurückbekamen, holte er
ein kleines schwarzes Notizbuch hervor und begann,
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Tagebuch zu führen. Dieses Notizbuch hatte er immer bei
sich und schrieb sich seine Zensuren auf, denn obwohl ihn
keines der Schulfächer von der Sache her interessierte, so
interessierte er sich doch sehr für seine Zensuren. Er
pflegte sogar zu den anderen Kindern hinzugehen und zu
sagen: »Ich habe diese oder jene Zensur bekommen. Und
was hast du?« Aber da es nicht so aussah, als würde er auf
der »Morgenröte« viele Zensuren erhalten, fing er jetzt an,
Tagebuch zu führen. Dies war die erste Eintragung:
7. August. Wenn ich nicht träume, dann bin ich jetzt seit
24 Stunden auf diesem entsetzlichen Boot. Ununterbrochen
wütet ein schrecklicher Sturm (glücklicherweise bin ich
nicht seekrank). Riesige Wellen schlagen von vorne über
das Schiff, und ich habe gesehen, daß es unzählige Male
fast untergegangen wäre. Alle anderen tun so, als merkten
sie nichts. Entweder wollen sie angeben, oder vielleicht ist
es so, wie Harold sagt, daß nämlich die größte Feigheit der
normalen Leute darin besteht, daß sie die Augen vor den
Tatsachen verschließen. Es ist Wahnsinn, in so einem mie-
sen kleinen Ding wie dem hier aufs Meer hinauszufahren.
Es ist kaum größer als ein Rettungsboot. Und natürlich ist
es von der Ausstattung her äußerst primitiv. Es gibt keinen
ordentlichen Salon, kein Radio, kein Bad, und an Deck
sind keine Liegestühle. Gestern abend wurde ich durch das
ganze Schiff geschleppt, und davon, wie Kaspian mit
seinem komischen kleinen Spielzeugboot angibt, als wäre
es die »Queen Mary«, könnte es einem geradezu schlecht
werden. Ich versuchte, ihm zu erklären, wie ein richtiges
Schiff aussieht, aber er ist zu beschränkt. E. und L. haben
mich natürlich nicht unterstützt. Ich nehme an, ein Kind
wie L. ist sich der Gefahr nicht bewußt, und E. will diesem
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K. schöntun, wie alle anderen hier. Sie nennen ihn König.
Ich habe ihm gesagt, ich sei Republikaner, aber er hat
natürlich gefragt, was das sei. Er scheint überhaupt nichts
zu wissen. Selbstverständlich hat man mich in die
schlimmste Kajüte auf dem ganzen Schiff gesteckt. Es ist
ein richtiger Kerker, und Lucy hat allein ein ganzes
Zimmer im Oberdeck erhalten – recht hübsch, verglichen
mit dem Rest hier. K. sagt, das sei deshalb, weil sie ein
Mädchen ist. Ich habe versucht, ihm zu erklären, was
Alberta sagt, daß nämlich all diese Sachen die Mädchen
nur herabsetzen. Aber er ist zu beschränkt. Immerhin
konnte er begreifen, daß ich krank werde, wenn ich noch
länger in diesem Loch bleiben muß. E. sagt, wir dürften
uns nicht beklagen, weil K. selbst auch hier wohnt, um
Platz zu machen für L. Als ob es dadurch nicht noch enger
und noch schlimmer würde! Habe fast vergessen, daß es
hier noch so eine Art Mäuseding gibt, das zu allen schreck-
lich frech ist. Die anderen können sich das ja gefallen
lassen, wenn sie Lust haben, aber ich werde es demnächst
am Schwanz ziehen, wenn es das mit mir versucht. Das
Essen ist auch miserabel.
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Auf jeden Fall, als er den langen Schwanz herunter-
hängen sah – und vielleicht war dies ja auch sehr
verlockend –, dachte er, es wäre gar keine schlechte Idee,
den Schwanz zu packen, Riepischiep ein- oder zweimal mit
dem Kopf nach unten im Kreis herumzuschleudern und
dann wegzulaufen und zu lachen.
Zuerst schien der Plan phantastisch zu funktionieren.
Riepischiep war nicht viel schwerer als eine sehr große
Katze. Schon Sekunden später flog er durch die Luft, und
er sah sehr komisch aus (zumindest war Eustachius dieser
Ansicht). Er streckte alle viere von sich, und sein Mund
stand offen. Aber unglücklicherweise verlor Riepischiep,
der schon oft um sein Leben gekämpft hatte, keine Sekun-
de lang den Kopf. Und auch nicht seine Geschicklichkeit.
Es ist nicht einfach, das Schwert zu ziehen, wenn man am
Schwanz durch die Luft gewirbelt wird, aber er tat es.
Gleich darauf spürte Eustachius zwei schmerzhafte Stiche
in der Hand und ließ den Schwanz los. Und dann sprang
die Maus auf die Beine wie ein vom Deck abgeprallter
Ball, stand ihm gegenüber, und ein schrecklich langes,
funkelndes scharfes Ding, das aussah wie ein Fleischspieß,
wurde zwei Zentimeter vor seinem Bauch hin und her
geschwenkt. (Für die Mäuse in Narnia zählt das nicht als
»unter der Gürtellinie«, denn man kann kaum von ihnen
erwarten, höher zu reichen.)
»Hör auf!« stotterte Eustachius. »Geh weg! Nimm das
Ding weg! Es ist gefährlich! Hör auf, sage ich! Ich erzähle
es Kaspian! Ich lasse dich fesseln und dir einen Maulkorb
anlegen!«
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»Warum ziehst du nicht dein Schwert, Feigling?«
piepste die Maus. »Zieh es und kämpfe, oder ich prügle
dich mit der Breitseite meines Schwertes grün und blau!«
»Ich habe kein Schwert«, sagte Eustachius. »Ich bin
Pazifist. Ich halte nichts vom Kämpfen.«
»Soll das heißen«, sagte Riepischiep mit strenger
Stimme und nahm sein Schwert einen Augenblick lang
zurück, »daß du nicht vorhast, mir Genugtuung zu geben?«
»Ich weiß nicht, was du willst«, sagte Eustachius und
hielt sich die Hand. »Wenn du keinen Spaß verstehst, dann
kann ich auch nichts dafür!«
»Dann nimm das!« sagte Riepischiep. »Und das – das
wird dir Manieren beibringen – und den Respekt, der
einem Ritter gebührt – und einer Maus – und einem
Mäuseschwanz –«, und bei jedem Wort versetzte er
Eustachius einen Schlag mit der Breitseite seines
Schwertes, das aus dünnem, feinem und von den Zwergen
gehärtetem Stahl bestand und so biegsam und wirkungsvoll
war wie eine Rute aus Birkenholz. Eustachius war
(natürlich) in einer Schule, wo es keine körperliche Züchti-
gung gab, und so war diese Erfahrung für ihn recht neu.
Deshalb – und obwohl er den Seemannsgang noch nicht
beherrschte –brauchte er weniger als eine Minute, um vom
Vorderdeck herunterzurennen, das ganze Deck zu über-
queren und in die Kajüte zu stürzen – immer noch heiß
verfolgt von Riepischiep. Tatsächlich schien es Eustachius,
als wäre nicht nur die Verfolgung heiß, sondern auch das
Schwert. Daraus zu schließen, wie es sich anfühlte, war es
sogar glühend heiß.
Als Eustachius erst einmal begriffen hatte, daß alle die
Idee von einem Duell durchaus ernst nahmen, und als er
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hörte, daß Kaspian das Angebot machte, ihm ein Schwert
zu leihen, und Drinian und Edmund darüber diskutierten,
ob man ihm zum Ausgleich dafür, daß er soviel größer war
als Riepischiep, ein Handikap auferlegen solle, war es nicht
mehr allzu schwierig, die Angelegenheit zu bereinigen.
Eustachius entschuldigte sich mißmutig und ging mit Lucy
weg, um sich die Hand verbinden zu lassen. Dann kroch er
in seine Koje. Dort legte er sich vorsichtig auf die Seite.
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Die Einsamen Inseln
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»Ich glaube nicht, daß es viel einbringt, auf Felimath
anzulegen«, sagte Edmund. »In unseren Tagen war es fast
unbewohnt, und es sieht so aus, als hätte sich das nicht
geändert. Die meisten Leute lebten auf Doorn und ein paar
auf Avra – das ist die dritte Insel, aber man kann sie noch
nicht sehen. Auf Felimath werden nur Schafe gehalten.«
»Dann sollten wir vermutlich dieses Kap umschiffen und
auf Doorn landen«, sagte Drinian. »Das bedeutet, daß wir
rudern müssen.«
»Schade, daß wir nicht auf Felimath an Land gehen
können«, sagte Lucy. »Dort hätte ich gerne einen Spazier-
gang gemacht. Es war so einsam – eine hübsche Art der
Einsamkeit, und überall war Gras und Klee und laue
Meeresluft.«
»Ich hätte mir auch gerne die Beine vertreten«, sagte
Kaspian. »Ich mache euch einen Vorschlag. Wir könnten
doch im Boot an Land rudern, es zurückschicken und zu
Fuß Felimath überqueren. Die ›Morgenröte‹ könnte uns
dann auf der anderen Seite wieder an Bord nehmen.«
Wenn Kaspian zu diesem Zeitpunkt schon soviel Erfah-
rung gehabt hätte wie später auf der Reise, dann hätte er
diesen Vorschlag nicht gemacht; doch im Moment schien
es eine ausgezeichnete Idee zu sein. »O ja, laßt uns das
tun!« rief Lucy.
»Du kommst doch auch mit?« fragte Kaspian, zu
Eustachius gewandt, der mit verbundener Hand an Deck
gekommen war.
»Mir ist alles recht, wenn ich nur von diesem ver-
dammten Boot herunterkomme!« antwortete Eustachius.
»Verdammtes Boot?« fragte Drinian. »Wie meinst du
das?«
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»In einem zivilisierten Land wie dem, wo ich her-
komme«, sagte Eustachius, »sind die Schiffe so groß, daß
man im Innern des Schiffes überhaupt nicht merkt, daß
man auf dem Meer ist.«
»Dann kann man ja genausogut gleich an Land bleiben«,
antwortete Kaspian. »Gebt Befehl, das Boot auszusetzen,
Drinian!«
Der König, die Maus, die beiden Geschwister und
Eustachius stiegen ins Boot und wurden zur Küste von
Felimath gerudert. Als das Boot sie dort zurückließ und
wieder ablegte, wandten sie sich alle um und blickten
zurück. Sie waren überrascht, wie klein die »Morgenröte«
aussah.
Lucy war natürlich barfuß, weil sie beim Schwimmen
die Schuhe abgestreift hatte, aber das ist nicht so schlimm,
wenn man auf weichem Rasen läuft. Es war herrlich,
wieder an Land zu sein und die Erde und das Gras zu
riechen, selbst wenn anfangs der Boden wie ein Schiff auf
und ab zu schwanken schien, wie er das normalerweise ein
Weilchen tut, wenn man vorher auf See war. Hier war es
viel wärmer als an Bord, und Lucy gefiel es, den Sand
zwischen den Zehen zu spüren. Irgendwo sang eine Lerche.
Sie wandten sich der Inselmitte zu und kletterten einen
steilen, doch ziemlich niedrigen Hügel hinauf. Oben ange-
langt, schauten sie zurück. Unter ihnen fuhr die »Morgen-
röte«. Sie schillerte wie ein großes Insekt und kroch, von
den Rudern bewegt, langsam Richtung Nordwesten. Dann
überquerten die Kinder die Kuppe, und die »Morgenröte«
war nicht mehr zu sehen.
Jetzt lag Doorn vor ihnen. Von Felimath war es nur
durch einen etwa eine Meile breiten Kanal getrennt;
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dahinter lag zur Linken Avra. Der kleine, weiße Ort
Enghafen auf Doorn kam in Sicht.
»Hoppla! Was ist denn das?« sagte Edmund plötzlich.
In dem grünen Tal, zu dem sie gerade hinunterstiegen,
saßen unter einem Baum sechs oder sieben wild aussehen-
de und bewaffnete Männer.
»Sagt ihnen nicht, wer wir sind!« befahl Kaspian.
»Und warum nicht, Eure Majestät?« fragte Riepischiep,
der eingewilligt hatte, auf Lucys Schultern zu reiten.
»Mir kam gerade der Gedanke«, entgegnete Kaspian,
»daß man hier vermutlich lange Zeit nichts von Narnia
gehört hat. Es wäre möglich, daß sie unsere Oberherrschaft
nicht mehr anerkennen. Und in diesem Fall könnte es
gefährlich werden, als ihr König aufzutreten.«
»Wir haben unsere Schwerter, Herr«, wandte
Riepischiep ein.
»Ja, Riep, das weiß ich«, sagte Kaspian. »Aber wenn wir
die drei Inseln zurückerobern müssen, dann würde ich
lieber mit einer etwas größeren Streitkraft wiederkom-
men.«
Inzwischen hatten sie sich den Fremden genähert. Einer
von ihnen – ein kräftiger, schwarzhaariger Kerl – rief ihnen
zu: »Seid gegrüßt!«
»Seid ebenfalls gegrüßt«, sagte Kaspian. »Gibt es auf
den Einsamen Inseln noch immer einen Gouverneur?«
»Sicherlich«, antwortete der Mann. »Gouverneur
Gumpas. Seine Hinlänglichkeit residiert in Enghafen. Aber
bleibt ein Weilchen, und trinkt ein Glas mit uns.«
Kaspian dankte ihm, obwohl ihm diese Gesellen nicht
sehr gefielen. Sie setzten sich. Aber kaum hatten sie ihren
Becher zu den Lippen gehoben, als der schwarzhaarige
- 40 -
Mann seinen Begleitern zunickte, und in Sekundenschnelle
fanden sich die fünf Gefährten von festen Armen
umschlossen. Sie versuchten, sich zur Wehr zu setzen, aber
die anderen waren ihnen überlegen, und schon bald waren
sie alle entwaffnet und ihre Hände auf dem Rücken
gefesselt – nur die Riepischieps nicht, der sich in den
Armen seines Überwältigers wand und wütend Bisse
austeilte.
»Sei vorsichtig mit dem Biest, Tucks«, sagte der
Anführer. »Du darfst es nicht verletzen. Ich würde mich
nicht wundern, wenn es von allen den besten Preis
erzielte.«
»Feigling! Memme!« quiekte Riepischiep. »Gib mir
mein Schwert und laß mich los, wenn du es wagst!«
»Oh!« rief der Sklavenhändler (denn das war sein
Gewerbe) und stieß einen Pfiff aus. »Es kann reden! Meine
Güte! So etwas! Ich will verdammt sein, wenn ich ihn
unter zweihundert Kreszent verkaufe!« Der kalormenische
Kreszent, die am häufigsten benutzte Münze in dieser
Gegend, ist etwa ein Drittel von einem englischen Pfund
wert.
»So, das seid ihr also«, sagte Kaspian. »Entführer und
Sklavenhändler. Hoffentlich seid ihr stolz darauf!«
»Werdet bloß nicht frech«, sagte der Sklavenhändler.
»Je eher ihr euch fügt, desto besser für alle Beteiligten. Ich
mache das nicht zum Spaß. Ich muß meinen Lebens-
unterhalt verdienen, wie jeder andere auch.«
»Wohin bringt ihr uns?« fragte Lucy, die vor Angst
kaum reden konnte.
»Hinüber nach Enghafen«, entgegnete der Sklaven-
händler. »Zum Markttag morgen.«
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»Gibt es dort einen britischen Konsul?« fragte Eusta-
chius.
»Gibt es dort was?« fragte der Mann.
Aber lange bevor Eustachius mit seiner Erklärung fertig
war, sagte der Mann einfach: »Also ich habe genug von
diesem Geschwafel. Die Maus ist ja schon schlimm genug,
aber der da redet einem ein Loch in den Bauch. Los geht's,
Kameraden!«
Dann wurden die vier menschlichen Gefangenen
aneinandergefesselt – nicht grausam, aber doch so, daß es
kein Entrinnen gab. Riepischiep wurde getragen. Nachdem
man ihm angedroht hatte, man würde ihm den Mund
zubinden, hatte er aufgehört zu beißen, aber er hatte noch
eine Menge zu sagen. Lucy fragte sich, wie ein Mann es
ertragen konnte, sich all die Dinge anzuhören, die die Maus
zu dem Sklavenhändler sagte. Aber dieser machte keinerlei
Einwände, sondern sagte jedesmal, wenn Riepischiep
anhielt, um Atem zu holen: »Mach weiter!« Manchmal
fügte er hinzu: »Das ist wie im Theater« oder »So was,
man könnte fast meinen, das Vieh wüßte, was es da sagt!«
oder »Habt ihr ihm das beigebracht?« Das machte Riepi-
schiep so wütend, daß er an all den Dingen, die er sagen
wollte, fast erstickte. So schwieg er schließlich.
Als sie zu der Küste hinunterkamen, von wo man nach
Doorn hinübersehen konnte, fanden sie dort ein kleines
Dorf vor. Am Strand lag eine Barkasse und etwas weiter
draußen ein schmutziges, ungepflegtes Schiff.
»So, meine Kinder«, sagte der Sklavenhändler. »Verhal-
tet euch ruhig, dann habt ihr nichts zu befürchten. Alle an
Bord!«
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In diesem Augenblick trat ein edel aussehender, bärtiger
Mann aus einem Haus (einem Gasthaus, glaube ich) und
sagte: »Wie ich sehe, Pug, hast du mal wieder eine neue
Lieferung deiner üblichen Ware.«
Der Sklavenhändler, der offensichtlich Pug hieß,
verbeugte sich tief und sagte mit schmeichlerischer
Stimme: »Ja, sehr wohl, Eure Lordschaft.«
»Wieviel willst du für diesen Jungen?« fragte der Mann
und deutete auf Kaspian.
»Ah«, sagte Pug. »Ich wußte, daß Eure Lordschaft den
Besten herauspicken würde. Eure Lordschaft begnügt sich
nicht mit zweitklassiger Ware. Auf diesen Jungen hatte ich
selbst ein Auge geworfen. Ich habe ihn schon fast liebge-
wonnen. Ich bin so weichherzig, daß ich diesen Beruf nie
hätte ergreifen sollen. Doch einem Kunden wie Eurer
Lordschaft …«
»Sag mir deinen Preis, Aasgeier!« forderte der Lord
streng. »Glaubst du, ich will mir dieses Geschwätz über
deinen schmutzigen Handel anhören?«
»Dreihundert Kreszent, mein Lord, für Eure Ehrenwerte
Lordschaft, aber für jeden anderen …«
»Ich gebe dir hundertfünfzig.«
»Oh, bitte, bitte!« unterbrach Lucy. »Was immer Ihr tun
mögt – Ihr dürft uns nicht trennen! Ihr wißt nicht…« Aber
dann hielt sie inne, denn sie sah, daß Kaspian selbst jetzt
noch nicht wollte, daß man erfuhr, wer er war.
»Hundertfünfzig also«, sagte der Lord. »Was dich
betrifft, mein Mädchen, so tut es mir leid, daß ich euch
nicht alle kaufen kann. Nimm dem Jungen die Fesseln ab,
Pug. Und behandle die anderen gut, während sie in deinen
Händen sind, sonst bekommst du es mit mir zu tun!«
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»Also so was!« sagte Pug. »Wer hätte je von einem
Herrn meines Berufsstandes gehört, der seine Ware besser
behandelt hätte als ich? Nun? Ich behandle sie wie meine
eigenen Kinder.«
»Das ist sehr wahrscheinlich«, sagte der andere Mann
grimmig.
Jetzt war der schreckliche Moment gekommen. Kaspian
wurde losgebunden, und sein neuer Herr sagte: »Hier
entlang, mein Junge.« Lucy brach in Tränen aus, und
Edmund machte ein steinernes Gesicht. Aber Kaspian
schaute über die Schulter zurück und sagte: »Kopf hoch.
Ich bin sicher, daß alles gut werden wird. Bis bald!«
»Reg dich nur nicht so auf, Fräuleinchen, und verdirb dir
nicht das Gesicht für den Markt morgen«, sagte Pug. »Sei
ein braves Mädchen, dann gibt es nichts, worüber du
heulen müßtest, verstehst du?«
Dann wurden sie zum Sklavenschiff hinausgerudert und
nach unten in einen langen, ziemlich dunklen und nicht
allzu sauberen Raum gebracht, wo sie viele andere
unglückliche Gefangene vorfanden. Denn Pug war
natürlich ein Pirat und war gerade von einer Kreuzfahrt
zwischen den Inseln zurückgekommen, wo er eingefangen
hatte, was zu kriegen war. Die Kinder trafen jedoch keinen,
den sie kannten; die Gefangenen waren hauptsächlich
Galmaner und Terebinthianer. Sie saßen im Stroh und
überlegten, was wohl mit Kaspian geschehen würde, und
sie versuchten, Eustachius zum Schweigen zu bringen, der
so redete, als wären alle außer ihm für diese Sache
verantwortlich.
Kaspian verbrachte inzwischen eine wesentlich interes-
santere Zeit. Der Mann, der ihn gekauft hatte, führte ihn
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einen kleinen Weg zwischen zwei Häusern des Dorfes
hinab und zu einer freien Fläche hinter dem Dorf. Dann
drehte er sich um und blickte Kaspian an.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Junge«,
sagte er. »Ich werde dich gut behandeln. Ich habe dich
wegen deines Gesichts gekauft. Du erinnerst mich an
jemand.«
»Darf ich fragen an wen?« sagte Kaspian.
»Du erinnerst mich an meinen Herrscher, König Kaspian
von Narnia.«
Kaspian entschloß sich, alles auf eine Karte zu setzen.
»Mein Lord«, sagte er. »Ich bin Euer Herrscher. Ich bin
Kaspian, König von Narnia.«
»Du nimmst dir sehr viel heraus!« sagte der andere.
»Woher soll ich wissen, daß du die Wahrheit sprichst?«
»Zuerst einmal seht Ihr es an meinem Gesicht«,
erwiderte Kaspian. »Zweitens werde ich sechsmal raten,
wer Ihr seid. Ihr seid einer der sieben Lords von Narnia,
die mein Onkel Miraz zur See geschickt hat und auf deren
Suche ich bin –Lord Argoz, Lord Bern, Lord Octesian,
Lord Restimar, Lord Mavramorn oder … oder … den
letzten habe ich vergessen. Und schließlich – wenn mir
Eure Lordschaft ein Schwert gibt – werde ich in einem
sauberen Zweikampf beweisen, daß ich Kaspian, Sohn des
Kaspian bin, rechtmäßiger König von Narnia, Herr von
Feeneden und Kaiser der Einsamen Inseln.«
»Gütiger Himmel!« rief der Mann aus. »Es ist die
Stimme und die Redeweise seines Vaters. Mein Herr –
Eure Majestät …« Und dann kniete er sich auf dem Feld
nieder und küßte die Hand des Königs.
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»Das Geld, das Eure Lordschaft für mich ausgegeben
hat, wird Euch aus unseren Schätzen ersetzt werden«, sagte
Kaspian.
»Es ist noch nicht in Pugs Geldbörse«, sagte Lord Bern,
denn das war er. »Und dort wird es auch nicht hingelangen.
Ich habe Seine Hinlänglichkeit, den Gouverneur, Hunderte
Male ersucht, dieses schmutzige Geschäft mit Menschen zu
verbieten.«
»Mein Lord Bern«, sagte Kaspian, »wir müssen uns über
die Lage auf diesen Inseln unterhalten. Aber zuerst würde
ich gerne Eure Geschichte hören.«
»Sie ist recht kurz, mein Herr«, sagte Bern. »Ich kam
mit meinen sechs Begleitern hierher, verliebte mich in ein
Mädchen von den Inseln und hatte das Gefühl, ich hätte
vom Meer genug. Es gab auch keinen Grund, nach Narnia
zurückzukehren, solange der Onkel Eurer Majestät an der
Macht war. So habe ich geheiratet und habe seitdem hier
gelebt.«
»Und wie ist der Gouverneur, dieser Gumpas? Erkennt
er den König von Narnia noch als seinen Herrscher an?«
»In Worten ja. Alles geschieht im Namen des Königs.
Aber es wäre ihm gar nicht recht, wenn der König von
Narnia in Fleisch und Blut vor ihm stünde. Und wenn Eure
Majestät unbewaffnet zu ihm ginge – dann würde er seine
Königstreue nicht abstreiten, sondern er würde so tun, als
zweifle er an Eurer Glaubhaftigkeit. Das Leben Eurer
Gnaden wäre in Gefahr. Welche Gefolgschaft habt Ihr in
diesen Gewässern?«
»Dort hinter der Landzunge liegt mein Schiff«, sagte
Kaspian. »Wir bemannen dreißig Schwerter, wenn es zum
Kampf kommt. Soll ich nicht mein Schiff hereinrufen, Pug
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überwältigen und meine gefangenen Freunde befreien
lassen?«
»Das würde ich Euch nicht raten«, sagte Bern. »Sobald
es zum Kampf käme, würden zwei oder drei Schiffe von
Enghafen auslaufen, um Pug zu helfen. Ihr müßt Euch
durch die Demonstration einer Streitkraft, die größer aus-
sieht, als sie tatsächlich ist, und durch die Macht des könig-
lichen Namens durchsetzen. Es darf nicht zum offenen
Kampf kommen. Gumpas ist ein Angsthase und ist leicht
zu beeindrucken.«
Sie unterhielten sich noch ein wenig und gingen dann
westlich vom Dorf hinunter zur Küste. Dort blies Kaspian
sein Horn. (Es war nicht das mächtige Zauberhorn von
Narnia, Königin Suses Horn: das hatte Kaspian zu Hause
gelassen für seinen Regenten Trumpkin, falls während der
Abwesenheit des Königs das Land von großer Not befallen
werden sollte.) Drinian, der mit Augen und Ohren nach
einem Signal Ausschau hielt, erkannte das königliche Horn
sofort, und die »Morgenröte« begann, sich der Küste zuzu-
wenden. Dann wurde das Boot wieder entsandt, und ein
paar Augenblicke später gingen Kaspian und Lord Bern an
Bord und schilderten Drinian die Lage. Wie Kaspian wollte
auch er sofort mit der »Morgenröte« am Sklavenschiff
anlegen und es entern, aber Bern wiederholte seine
Einwände.
»Steuert direkt durch diesen Kanal, Kapitän«, sagte
Bern, »und dann hinüber, nach Avra, wo meine
Besitztümer liegen. Aber laßt zuerst die Flagge des Königs
aufziehen, alle Schilde hinaushängen, und schickt so viele
Männer wie nur möglich auf die Kampfplattform. Und
etwa fünf Pfeilschüsse von hier, wenn Ihr mit dem
- 47 -
Backbordbug das offene Meer erreicht habt, müßt Ihr ein
paar Signale geben.«
»Signale? An wen?« fragte Drinian.
»An all die anderen Schiffe, die wir nicht haben, aber
von denen es gut wäre, wenn Gumpas dächte, wir hätten
sie.«
»Oh, ich verstehe«, meinte Drinian und rieb sich die
Hände. »Und die anderen werden unsere Signale entschlüs-
seln. Was sollen wir signalisieren? Die ganze Flotte
umrundet Avra im Süden und versammelt sich vor…«
»Bernhof«, sagte Lord Bern. »Das wäre ausgezeichnet.
Die ganze Fahrt – sofern es die Schiffe gäbe – verliefe
außerhalb der Sichtweite von Enghafen.«
Kaspian hatte Mitleid mit den anderen, die als
Gefangene auf Pugs Schiff schmachteten, aber er konnte
nicht umhin, den Rest des Tages zu genießen. Später am
Nachmittag (denn sie mußten die ganze Strecke rudern),
nachdem sie hinter dem nordöstlichen Zipfel von Doorn
nach steuerbord gedreht hatten und dann hinter der Spitze
von Avra wieder nach backbord, fuhren sie an der
südlichen Küste von Avra, wo Berns schöne Ländereien
sich bis zum Rand des Wassers hinabsenkten, in einen
guten Hafen ein. Berns Leute, von denen sie viele auf den
Feldern arbeiten sahen, waren alle freie Männer, es war ein
glückliches und reiches Lehnsgut.
Hier gingen sie alle an Land. In einem niedrigen, mit
Säulen geschmückten Haus, das die Bucht überblickte,
wurden sie königlich bewirtet. Bern, seine anmutige Frau
und seine fröhlichen Töchter bereiteten ihnen eine muntere
Zeit. Aber nach Einbruch der Dunkelheit sandte Bern einen
Mann im Boot nach Doorn, der dort einige Vorbereitungen
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für den nächsten Tag treffen sollte. Genaueres wollte Bern
darüber nicht verraten.
- 49 -
Was Kaspian dort tat
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Zuerst jubelten nur die Leute, die der Bote Lord Berns
informiert hatte und die wußten, was da geschah, und die
damit einverstanden waren. Doch dann gesellten sich alle
Kinder dazu, die noch nicht zur Schule gingen, denn ihnen
gefielen Umzüge, und sie hatten bisher nur wenige gese-
hen. Und dann gesellten sich alle Schulkinder dazu, denn
ihnen gefielen Umzüge ebenfalls, und je mehr Lärm und
Aufruhr es gab, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit,
daß sie an diesem Morgen zur Schule gehen mußten. Und
dann streckten alle alten Frauen den Kopf zu den Türen
und den Fenstern heraus und begannen zu klatschen und zu
jubeln, weil es ein König war – und was ist schon ein
Gouverneur, verglichen mit einem König? Und aus dem
gleichen Grund fielen alle jungen Frauen mit ein und auch
deshalb, weil Kaspian und Drinian und die anderen so gut
aussahen. Und dann kamen alle jungen Männer, um zu
sehen, was die jungen Frauen sich da anschauten, und als
Kaspian am Schloßtor angekommen war, jubelte fast die
ganze Stadt; und Gumpas, der im Schloß saß und in seinen
Abrechnungen, Formularen und Gesetzen herumwühlte
und herumpfuschte, hörte den Lärm.
Am Schloßtor blies Kaspians Trompeter einen Tusch
und rief: »Öffnet dem König von Narnia, der gekommen
ist, seinen zuverlässigen und geschätzten Diener, den
Gouverneur der Einsamen Inseln, zu besuchen.« Zu dieser
Zeit wurde auf den Inseln alles auf eine nachlässige und
schlampige Art und Weise erledigt. Nur die kleine
Seitentür wurde geöffnet, und heraus kam ein zerzauster
Kerl, der statt eines Helms einen schmutzigen alten Hut
aufhatte. In der Hand trug er einen rostigen alten Spieß. Er
blinzelte, als er die funkelnden Gestalten vor sich sah.
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»Sanlänglichkeit – snich – zprech –«, murmelte er (das war
seine Art zu sagen: »Seine Hinlänglichkeit ist nicht zu
sprechen«). »Keine Audienz ohne Voranmeldung, außer
zwischen neun und zehn jeden zweiten Samstag des
Monats.«
»Zieh den Hut vor dem König von Narnia, du Hund!«
donnerte Lord Bern und versetzte ihm einen Schlag mit
seiner behandschuhten Hand, der den Hut des Mannes zu
Boden beförderte.
»Eh? Was'n los?« begann der Torwächter, aber niemand
schenkte ihm Beachtung. Zwei von Kaspians Männern
traten durch die Seitentür und rissen nach einem kurzen
Kampf mit Schlössern und Riegeln (denn alles war rostig)
das Tor weit auf. Dann marschierte der König mit seinem
Gefolge auf den Schloßhof. Dort standen einige Wach-
posten des Gouverneurs herum, und ein paar weitere (die
sich gerade den Mund abwischten) kamen aus verschie-
denen Türen gestolpert. Obwohl ihre Rüstungen in einem
jämmerlichen Zustand waren, so waren doch sie es, die
gekämpft hätten, wenn man ihnen das befohlen haben
würde oder wenn sie gewußt hätten, was da los war.
Deshalb war dies ein gefährlicher Moment.
Kaspian gab ihnen keine Zeit zum Nachdenken. »Wo ist
der Hauptmann?« fragte er.
»Das bin mehr oder weniger ich, wenn Ihr wißt, was ich
meine«, sagte ein träger und geckenhafter junger Mann
ohne Rüstung.
»Wir wünschen«, sagte Kaspian, »daß unser königlicher
Besuch im Reich der Einsamen Inseln für die Untertanen
des Königs ein Anlaß zur Freude und nicht zur Angst sein
soll. Wäre es anders, so hätte ich über den Zustand der
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Rüstungen und Waffen Eurer Männer einiges zu sagen.
Doch so, wie es ist, gewähre ich Euch Vergebung. Gebt
Befehl, ein Faß Wein zu öffnen, damit Eure Männer auf
unsere Gesundheit trinken können. Aber morgen um
Mittag sollen sie sich hier im Schloßhof versammeln, und
ich wünsche, daß sie dann wie Soldaten aussehen und nicht
wie Vagabunden! Tragt dafür Sorge – oder es wird Euch
sehr leid tun!«
Der Hauptmann stand mit offenem Mund da, doch Bern
rief sofort: »Drei Hochrufe für den König!«, und die
Soldaten, die zumindest das mit dem Faß Wein verstanden
hatten, auch wenn sie sonst nichts begriffen, fielen mit ein.
Dann befahl Kaspian der Mehrzahl seiner Männer, im
Schloßhof zu bleiben. Er selbst, Bern, Drinian und vier
andere betraten das Schloß.
Hinter einem Tisch am anderen Ende des Saals,
umgeben von mehreren Sekretären, saß seine Hinläng-
lichkeit, der Gouverneur der Einsamen Inseln. Gumpas war
ein mißlaunig aussehender Mann. Sein Haar war einstens
rot gewesen, doch jetzt war es fast vollkommen grau. Er
blickte auf, als die Fremden hereinkamen, doch dann
senkte er den Blick wieder auf seine Papiere und sagte
automatisch: »Keine Audienz ohne Voranmeldung, außer
zwischen neun und zehn Uhr jeden zweiten Samstag des
Monats.«
Kaspian nickte Bern zu und trat zur Seite. Bern und
Drinian machten einen Schritt nach vorn, und jeder ergriff
ein Ende des Tisches. Sie hoben ihn hoch und warfen ihn
durch die Halle. Er kippte um, und ein wildes Durcheinan-
der von Briefen, Dossiers, Tintenfässern, Federn, Siegel-
wachs und Dokumenten regnete zu Boden. Dann – nicht
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grob, aber so fest, als wären ihre Hände stählerne Zangen –
hoben sie Gumpas aus seinem Stuhl und stellten ihn einen
Meter vor dem Tisch ab. Kaspian setzte sich auf den Stuhl
und legte sein blankes Schwert über die Knie.
»Mein Herr«, sagte er und richtete den Blick auf
Gumpas. »Ihr habt uns nicht den Empfang bereitet, den wir
erwartet hätten. Ich bin der König von Narnia.«
»Davon stand nichts in der Korrespondenz«, sagte der
Gouverneur. »Und nichts im Protokoll. Wir wurden über
nichts Derartiges informiert. Völlig regelwidrig. Ich werde
aber gerne jegliches Gesuch …«
»Und wir sind gekommen, um uns über die Amtsaus-
übung Eurer Hinlänglichkeit zu informieren«, fuhr Kaspian
fort. »Ich verlange vor allem in zwei Punkten eine Erklä-
rung. Als erstes finde ich keinerlei Unterlagen darüber, daß
in den letzten hundertfünfzig Jahren der Tribut, welcher
der Krone von Narnia von diesen Inseln gebührt, bezahlt
worden ist.«
»Das wäre ein Punkt, der nächsten Monat im Rat
besprochen werden müßte«, erwiderte Gumpas. »Wenn
jemand beantragt, daß eine Untersuchungskommission
gebildet wird, die bei der ersten Sitzung nächstes Jahr
einen Bericht über die finanzielle Geschichte der Inseln
abgibt, dann …«
»Es steht auch ganz eindeutig in unseren Gesetzen«, fuhr
Kaspian fort, »daß die volle Schuld vom Gouverneur der
Einsamen Inseln aus eigener Tasche beglichen werden
muß, wenn dieser Tribut nicht bezahlt wird.«
Jetzt wurde Gumpas aufmerksam. »Oh, das ist völlig
ausgeschlossen!« sagte er. »Das ist eine finanzielle
Unmöglichkeit – eh –, Eure Majestät muß scherzen!«
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Im geheimen fragte er sich, ob es wohl eine Möglichkeit
gab, diese unliebsamen Gäste loszuwerden. Hätte er
gewußt, daß Kaspian nur über ein Schiff und eine Schiffs-
mannschaft verfügte, so hätte er ihn jetzt mit süßen Worten
besänftigt, in der Hoffnung, seine Gäste während der Nacht
überwältigen und töten lassen zu können. Aber er hatte tags
zuvor ein Kriegsschiff durch die Meerenge segeln sehen,
das Signale ausgesandt hatte, die, wie er vermutete, an
dessen Geleitschiffe gerichtet waren. Zu diesem Zeitpunkt
hatte er nicht gewußt, daß es das Schiff des Königs war,
denn der Wind war zu schwach gewesen, um die Flagge
aufzublähen und den goldenen Löwen sichtbar werden zu
lassen, und deshalb hatte er die weitere Entwicklung abge-
wartet. Jetzt war er der Meinung, Kaspian müsse eine
ganze Flotte bei Bernhof liegen haben. Gumpas wäre nie
der Gedanke gekommen, daß jemand Enghafen betreten
könne, um die Insel mit weniger als fünfzig Mann einzu-
nehmen. Auf jeden Fall war es ganz und gar nicht das, was
er selbst in einem solchen Fall getan hätte.
»Zweitens«, sagte Kaspian, »möchte ich wissen, warum
Ihr diesen abscheulichen und widernatürlichen Sklaven-
handel hier habt entstehen lassen, der im Widerspruch zu
den alten Gebräuchen und Gepflogenheiten unserer
Herrschaftsgebiete steht!«
»Notwendig, unvermeidlich«, sagte seine Hinläng-
lichkeit. »Ein wesentlicher Bestandteil der wirtschaftlichen
Entwicklung unserer Inseln – das versichere ich Euch.
Unser gegenwärtiger finanzieller Aufschwung hängt davon
ab.«
»Wofür braucht Ihr Sklaven?«
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»Für den Export, Eure Majestät. Wir verkaufen sie
hauptsächlich nach Kalormen; und wir haben auch andere
Märkte. Wir sind ein bedeutendes Handelszentrum.«
»In anderen Worten«, sagte Kaspian, »Ihr braucht sie
also nicht. Sagt mir, welchem Zweck sie dienen, außer um
die Taschen von Leuten wie Pug zu füllen?«
»Das jugendliche Alter Eurer Majestät«, sagte Gumpas
mit einem Lächeln, das väterlich sein sollte, »macht es
Euch fast unmöglich, die damit verbundenen wirtschaft-
lichen Probleme zu begreifen. Ich habe Statistiken, ich
habe Schaubilder, ich habe …«
»So jugendlich mein Alter auch sein mag«, sagte
Kaspian, »so glaube ich doch, daß ich den Sklavenhandel
genausogut begreife, wie Eure Hinlänglichkeit dies tut.
Und ich kann nichts davon sehen, daß er den Inseln Fleisch
oder Brot oder Bier oder Wein oder Holz oder Kohl oder
Bücher oder Musikinstrumente oder Pferde oder Waffen
oder sonst irgend etwas Nützliches bringt. Aber wie dem
auch sei – er muß aufhören!«
»Ich kann für derartige Maßnahmen keine Verantwor-
tung übernehmen«, sagte Gumpas.
»Gut«, antwortete Kaspian. »Wir entledigen Euch
hiermit Eures Amtes. Lord Bern, kommt hierher.« Und
bevor Gumpas richtig begriffen hatte, was da geschah,
kniete Bern am Boden und legte einen Eid ab, die
Einsamen Inseln unter Einhaltung der alten Gebräuche,
Rechte, Gepflogenheiten und Gesetze Narnias zu regieren.
Und Kaspian sagte: »Ich glaube, von Gouverneuren haben
wir genug«, und er machte Bern zum Herzog der Einsamen
Inseln.
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»Und was Euch betrifft, mein Herr«, sagte er zu
Gumpas, »so erlasse ich Euch die Schuld des Tributs. Aber
vor morgen mittag zwölf Uhr müßt Ihr und die Euren
dieses Schloß verlassen haben, das jetzt die Residenz des
Herzogs ist.«
»Schaut her – das ist ja alles schön und gut«, sagte einer
von Gumpas Sekretären. »Aber wie wäre es denn, wenn
die Herren dieses Spiel jetzt aufgäben und zur Sache
kämen? Die eigentliche Frage, die sich uns stellt, ist doch
…«
»Die Frage ist«, sagte der Herzog, »ob Ihr und das rest-
liche Gesindel ohne Prügel oder mit Prügeln von hier
verschwindet! Ihr könnt wählen, was Euch lieber ist!«
Als all dies zur Zufriedenheit geregelt war, orderte
Kaspian Pferde, von denen es ein paar im Schloß gab,
wenn sie auch sehr schlecht gepflegt waren. Dann ritt er
mit Bern und Drinian und ein paar anderen hinaus in die
Stadt und wandte sich dort zum Sklavenmarkt. Es war ein
sehr langes, niedriges Gebäude nahe am Hafen. Drinnen
lief alles so ab wie bei anderen Versteigerungen. Viele
Leute waren da, und Pug, der auf einem Podest stand,
schrie mit heiserer Stimme: »Jetzt folgt Nummer dreiund-
zwanzig, meine Herren! Ein guter terebinthianischer
Landarbeiter, verwendbar für Bergwerke oder Galeeren.
Unter fünfundzwanzig. Keinen einzigen schlechten Zahn
im Mund. Ein gutmütiger, muskulöser Kerl. Nimm ihm das
Hemd ab, Tucks, damit es die Herren sehen können! Das
sind Muskeln! Schaut Euch seine Brust an! Zehn Kreszent
von dem Herrn in der Ecke! Das soll wohl ein Witz sein,
mein Herr? Fünfzehn! Achtzehn! Achtzehn sind geboten
für Nummer dreiundzwanzig. Geht jemand höher? Einund-
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zwanzig. Vielen Dank, mein Herr. Einundzwanzig sind
geboten …«
Pug hielt mit offenem Mund inne, als er die gepanzerten
Gestalten erblickte, die sich klirrend dem Podest näherten.
»Jeder Mann auf die Knie vor dem König von Narnia!«
rief der Herzog. Alle hörten von draußen das Klirren von
Pferdegeschirr und das Stampfen von Pferden, und viele
hatten Gerüchte von der Landung und den Geschehnissen
im Schloß gehört. Fast alle gehorchten. Diejenigen, die es
nicht taten, wurden von ihren Nachbarn heruntergezogen.
Ein paar jubelten.
»Du hast dein Leben verwirkt, Pug, weil du gestern
Hand an die Person des Königs gelegt hast«, sagte
Kaspian. »Aber deine Unwissenheit sei dir verziehen. Vor
einer Viertelstunde wurde der Sklavenhandel in all unseren
Gebieten verboten. Ich erkläre hiermit alle Sklaven auf
diesem Markt für frei.«
Er hob die Hand, um dem Jubel der Sklaven Einhalt zu
gebieten, und fuhr fort: »Wo sind meine Freunde?«
»Das liebe kleine Mädchen hier und der nette junge
Herr?« sagte Pug mit liebenswürdigem Lächeln. »Sie wur-
den mir sofort aus der Hand gerissen …«
»Hier sind wir, hier sind wir, Kaspian«, riefen Lucy und
Edmund wie aus einem Mund, und »Zu Euren Diensten,
mein König!« piepste Riepischiep aus einer anderen Ecke.
Sie waren schon alle verkauft worden, aber die Männer, die
sie erworben hatten, waren hiergeblieben, um weitere
Sklaven zu ersteigern, und so waren sie noch nicht wegge-
bracht worden. Die Menge teilte sich, um die drei durch-
zulassen, und dann folgte eine freudige Begrüßung. Sofort
näherten sich zwei Händler aus Kalormen. Die Kalormenen
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haben dunkle Gesichter und lange Barte. Sie tragen flie-
ßende Gewänder und orangefarbene Turbane, und sie sind
ein weises, reiches, höfliches, grausames und altes Volk.
Sie verbeugten sich sehr höflich vor Kaspian und machten
ihm viele Komplimente. Sie sprachen von den Quellen des
Reichtums, welche die Gärten der Vorsicht und der Tugend
bewässern – und von ähnlichen Dingen –, aber natürlich
wollten sie nur das Geld zurück, das sie bezahlt hatten.
»Das ist nur gerecht, meine Herren«, sagte Kaspian.
»Jeder, der heute einen Sklaven gekauft hat, wird sein Geld
zurückerhalten. Pug, bring deine Einnahmen bis auf den
letzten Minim!« (Ein Minim ist der vierzigste Teil von
einem Kreszent.)
»Will mich Eure Majestät zum Bettler machen?« heulte
Pug.
»Du hast dein ganzes Leben lang von gebrochenen
Herzen gelebt«, antwortete Kaspian. »Und wenn du tat-
sächlich zum Bettler wirst, so ist das immer noch besser,
als ein Sklave zu sein. Aber wo ist mein anderer Freund?«
»Ach der?« sagte Pug. »Nehmt ihn nur, und werdet
glücklich mit ihm. Ich bin froh, wenn ich ihn los bin. Mein
ganzes Leben lang habe ich noch keinen derartigen Laden-
hüter auf dem Markt gesehen. Ich habe ihn schließlich für
fünf Kreszent feilgehalten, und trotzdem wollte ihn keiner
haben. Dann habe ich ihn beim Kauf eines anderen Sklaven
als Zugabe angeboten, und noch immer wollte ihn keiner
nehmen. Niemand wollte ihn anfassen. Tucks, bring den
Miesepeter her!«
Und so wurde Eustachius herbeigebracht. Er sah tatsäch-
lich ausgesprochen miesepetrig aus, denn obwohl niemand
als Sklave verkauft werden will, so ist es doch vielleicht
- 59 -
noch schlimmer, als eine Art Gelegenheitssklave
angeboten zu werden, den keiner haben will. Er ging zu
Kaspian hin und sagte: »Ich verstehe. Es ist wie immer. Ihr
habt euch irgendwo vergnügt, während wir in der
Gefangenschaft schmachten mußten. Ich nehme an, daß ihr
euch nicht einmal nach dem britischen Konsul erkundigt
habt. Natürlich nicht.«
In dieser Nacht hielten sie ein großes Fest im Schloß von
Enghafen ab. »Morgen beginnt unser eigentliches
Abenteuer«, sagte Riepischiep, nachdem er sich vor allen
verbeugt hatte, um schlafen zu gehen. Aber natürlich
begann dieses Abenteuer noch nicht am nächsten Tag,
sondern erst sehr viel später. Denn jetzt mußten sie
jegliches bekannte Land und jegliches bekannte Meer
hinter sich lassen, und so waren ausgiebige Vorbereitungen
zu treffen. Die »Morgenröte« wurde leergeräumt, von acht
Pferden über Rollen an Land gezogen, und jedes einzelne
Teil des Schiffes wurde von den erfahrensten Schiffs-
bauern überprüft. Dann wurde es wieder zu Wasser
gelassen und mit so vielen Lebensmitteln und soviel
Wasser beladen, wie es nur tragen konnte – das bedeutete,
daß sie Vorräte für achtundzwanzig Tage an Bord nahmen.
Während all dies erledigt wurde, ließ Kaspian sich keine
Gelegenheit entgehen, die ältesten Kapitäne zu befragen,
die er in Enghafen finden konnte, um zu erfahren, ob sie
etwas über ein Land weiter im Osten wußten oder irgend-
welche Gerüchte darüber gehört hatten. Er schenkte für
viele vom Wetter gegerbte Männer mit kurzen grauen
Barten und klaren blauen Augen viele Krüge des Schloß-
bieres aus, und zum Dank wurde viel Seemannsgarn für ihn
gesponnen. Aber die vertrauenswürdigsten Männer wußten
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nichts von einem Land hinter den Einsamen Inseln. Viele
glaubten, daß man – wenn man zu weit östlich segelte – in
den Sog eines Meeres ohne jegliches Land geriet, das
ständig um den Rand der Welt wirbelt – »Und das ist
vermutlich die Stelle, wo die Freunde Eurer Majestät
ertrunken sind.« Die anderen erzählten nur wilde
Geschichten von Inseln mit Menschen ohne Kopf, von
dahintreibenden Inseln, von Wasserhosen und von einem
Feuer, das am Wasser entlang brannte. Nur einer sagte zu
Riepischieps Entzücken: »Und dahinter liegt das Land
Aslans. Doch das liegt hinter dem Ende der Welt und ist
unerreichbar.« Aber als man ihn befragte, erklärte er ledig-
lich, er hätte dies von seinem Vater gehört.
Bern konnte ihnen nur sagen, daß er seine Freunde nach
Osten hatte segeln sehen und daß man nie mehr etwas von
ihnen gehört hatte. Dies sagte er, als er und Kaspian auf
dem höchsten Punkt von Avra standen und auf das Meer
im Osten hinabblickten. »Ich habe manchen Morgen hier
gestanden«, sagte der Herzog, »und die Sonne aus dem
Meer aufsteigen sehen, und manchmal sah es so aus, als
wäre es nur ein paar Meilen von hier. Und ich habe mich
gefragt, was aus meinen Freunden geworden ist und was
wohl in Wirklichkeit hinter diesem Horizont liegt. Nichts,
vermutlich, und doch bin ich immer ein wenig beschämt,
weil ich zurückgeblieben bin. Aber ich wollte, Eure
Majestät würde dableiben. Es wäre möglich, daß wir hier
Eure Hilfe brauchen. Das Schließen des Sklavenmarktes
eröffnet vielleicht neue Welten; aber ich befürchte einen
Krieg mit Kalormen. Mein Herrscher, überdenkt es noch
einmal!«
- 61 -
»Ich habe einen Eid geschworen, mein Herzog«, sagte
Kaspian. »Und außerdem – wie sollte ich es wohl Riepi-
schiep erklären?«
- 62 -
Der Sturm und seine Folgen
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Wenn wir könnten, wäre es natürlich das einfachste,
sofort nach Westen zu drehen und auf die Einsamen Inseln
zuzuhalten. Aber es hat achtzehn Tage gedauert, bis wir an
der Stelle waren, wo wir jetzt sind, und mit dem Sturm
hinter uns waren wir wahnsinnig schnell. Selbst wenn wir
Ostwind bekämen, würden wir zurück vermutlich viel
länger brauchen. Und im Moment gibt es keinerlei
Anzeichen für Ostwind – tatsächlich weht überhaupt kein
Wind. Und was das Zurückrudern betrifft, so würde es viel
zu lange dauern, und Kaspian sagt, die Männer könnten
nicht mit einem viertel Liter Wasser pro Tag rudern. Ich
bin jedoch fast sicher, daß dies nicht stimmt. Ich versuchte
ihm zu erklären, daß der Mensch sich durch das Schwitzen
abkühlt und daß die Männer deshalb weniger Wasser
brauchen, wenn sie arbeiten. Aber er ist nicht darauf einge-
gangen. So macht er es immer, wenn ihm keine Antwort
einfällt. Die anderen haben alle dafür gestimmt, weiter-
zusegeln, in der Hoffnung darauf, daß man Land findet. Ich
hielt es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß wir
nicht wissen, ob vor uns Land liegt, und ich habe versucht,
ihnen die Gefährlichkeit derartiger Illusionen vor Augen zu
führen. Statt einen besseren Plan vorzulegen, hatten sie den
Nerv, mich zu fragen, welchen Vorschlag ich denn hätte.
Daraufhin habe ich ihnen kühl und ruhig erklärt, ich sei
entführt und ohne meine Einwilligung auf diese idiotische
Reise mitgenommen worden, deshalb wäre es wohl kaum
meine Sache, ihnen aus der Patsche zu helfen.
4. September. Noch immer windstill. Zum Essen gab es
sehr kleine Rationen, und ich bekam noch weniger als die
anderen. Kaspian ist sehr geschickt beim Verteilen und
denkt, ich würde es nicht merken. Aus irgendeinem Grund
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wollte Lucy mir dafür einen Teil ihrer Portion geben, aber
dieser Besserwisser Edmund, der sich in alles einmischt,
hat es nicht zugelassen. Die Sonne ist ziemlich heiß. Hatte
den ganzen Abend furchtbaren Durst.
5. September. Noch immer windstill und sehr heiß. Habe
mich den ganzen Tag über sehr schlecht gefühlt und bin
sicher, daß ich Fieber habe. Natürlich haben sie nicht
genug Verstand, um ein Thermometer an Bord zu haben.
6. September. Ein entsetzlicher Tag. Ich wachte nachts
auf, und mir wurde klar, daß ich Fieber hatte und dringend
etwas Wasser trinken mußte. Das hätte jeder Arzt auch
gesagt. Der Himmel weiß, daß ich der Allerletzte bin, der
sich einen ungerechten Vorteil verschaffen will, aber ich
hätte mir nie träumen lassen, daß diese Wasserrationierung
auch für Kranke gilt. Ich hätte ja auch die anderen aufge-
weckt und um ein wenig Wasser gebeten, aber ich war der
Meinung, es wäre egoistisch, sie aufzuwecken. Deshalb
stand ich auf, nahm meine Tasse und verließ auf Zehen-
spitzen das schwarze Loch, in dem wir schlafen. Ich war
sehr vorsichtig, um Kaspian und Edmund nicht zu stören,
denn sie schlafen schlecht, seit es so heiß ist und das
Wasser rationiert wird. Ich versuche immer, an andere zu
denken, ob sie nun nett zu mir sind oder nicht. Ich habe es
bis zu dem großen Raum geschafft, wenn man es einen
Raum nennen kann, wo die Ruderbänke und die Ladung
sind. Das Ding mit dem Wasser stand an meinem Ende.
Alles lief prächtig, aber bevor ich mir eine Tasse voll
abgezapft hatte, mußte mich ausgerechnet dieser kleine
Schnüffler Riepischiep erwischen. Ich versuchte zu
erklären, ich wolle an Deck und frische Luft schnappen
(die Sache mit dem Wasser hatte ja mit ihm nichts zu tun),
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und er fragte mich, warum ich dann eine Tasse bei mir
hätte. Er machte so ein Theater, daß das ganze Schiff
aufwachte. Sie haben mich skandalös behandelt. Ich fragte,
so, wie das vermutlich jeder getan hätte, warum Riepi-
schiep mitten in der Nacht um das Wasserfaß herum-
schleicht. Er sagte, da er zu klein sei, um an Deck zu
helfen, halte er jede Nacht beim Wasser Wache, damit
dafür ein weiterer Mann schlafen könne. Und jetzt kommt
die verdammte Ungerechtigkeit: sie haben alle ihm
geglaubt! Das ist das Letzte!
Ich mußte mich entschuldigen, sonst wäre das
gefährliche kleine Biest mit dem Schwert auf mich
losgegangen. Und dann hat Kaspian sein wahres Gesicht
als brutaler Tyrann gezeigt und hat so laut, daß es alle
hören konnten, gesagt, daß jeder, der beim Wasserstehlen
ertappt würde, in Zukunft »zwei Dutzend« bekäme. Ich
wußte nicht, was er damit meinte, bis Edmund es mir
erklärte. Solche Sachen stehen in den Büchern, die diese
Kinder lesen.
Nach dieser feigen Drohung schlug Kaspian einen ande-
ren Ton an und begann, herablassend zu werden. Er sagte,
ich täte ihm leid und alle anderen würden sich genauso
fiebrig fühlen wie ich, und wir müßten alle das Beste
daraus machen und so weiter. Ekelhafter, eingebildeter
Besserwisser. Bin heute den ganzen Tag im Bett geblieben.
7. September. Heute kam ein wenig Wind auf, aber noch
immer von Westen. Haben ein paar Meilen Richtung Osten
zurückgelegt mit einem Teil des Segels auf dem
»Geschworenenmast«, wie Drinian ihn nennt. Das heißt,
daß der Bugspriet aufgerichtet und am Stumpf des
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richtigen Masts angebunden wurde (sie nennen das
»festzurren«). Noch immer schrecklich durstig.
8. September. Wir segeln weiter nach Osten. Ich bleibe
jetzt den ganzen Tag in meiner Koje und sehe niemand
außer Lucy, bis die beiden Ungeheuer zu Bett gehen. Lucy
gibt mir ein wenig von ihrer Wasserration ab. Sie sagt,
Mädchen würden nicht so durstig werden wie Jungen. Ich
habe das schon öfters gedacht, aber es müßte auf See noch
besser bekannt werden.
9. September. Land in Sicht; ein sehr hoher Berg weit
vor uns im Südosten.
10. September. Der Berg ist inzwischen größer und
klarer, aber noch immer sehr weit weg. Heute tauchten
zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder Möwen auf.
11. September. Haben ein paar Fische gefangen und
gegessen. Haben gegen sieben Uhr abends in drei Faden
tiefem Wasser in einer Bucht dieser bergigen Insel Anker
geworfen. Kaspian, dieser Idiot, ließ uns nicht an Land,
weil es schon dunkel wurde und er Angst hatte vor den
Wilden und den Tieren. Zusätzliche Wasserration heute
abend.
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Kurz darauf trat er aus dem Wald heraus. Vor ihm lag
ein steiler Hang. Das Gras war trocken und glatt, aber
wenn er Hände und Füße benutzte, war es zu schaffen, und
obwohl er außer Atem war und sich häufig die Stirn
abwischte, stolperte er stetig vorwärts.
Das zeigte übrigens, obwohl er selbst das nie vermutet
hätte, daß sein neuer Lebensstil ihm gutgetan hatte; der alte
Eustachius, Haralds und Albertas Eustachius, hätte diese
Kletterei schon nach zehn Minuten aufgegeben.
Langsam und mit vielen Verschnaufpausen erreichte er
den Bergkamm. Er hatte erwartet, von hier aus bis ins Herz
der Insel sehen zu können, aber die Wolken hingen inzwi-
schen tiefer, und eine Nebelwand schob sich auf ihn zu. Er
setzte sich hin und schaute zurück. Er war jetzt so hoch
oben, daß die Bucht unter ihm ganz winzig aussah und man
weit aufs Meer hinausschauen konnte. Dann umschloß ihn
undurchdringlich und doch nicht kalt von allen Seiten der
Nebel von den Bergen, und er legte sich hin und wälzte
sich herum, um eine bequeme Lage zu finden, in der er
sich wohlfühlte.
Aber er fühlte sich nicht wohl, oder zumindest nicht sehr
lange. Zum ersten Mal in seinem Leben begann er, sich
einsam zu fühlen. Dieses Gefühl entstand nur sehr allmäh-
lich. Und dann fing er an, sich über alles mögliche Sorgen
zu machen. Nicht der geringste Laut war zu hören. Plötz-
lich kam ihm der Gedanke, er könne schon stundenlang
hier gelegen haben. Vielleicht waren die anderen schon
weg! Vielleicht hatten sie ihn absichtlich weggehen lassen,
um ihn hier zurückzulassen! In panischer Angst sprang er
auf und begann den Abstieg.
- 74 -
Zuerst war er zu ungeduldig, glitt auf der steil abfallen-
den Grasfläche aus und rutschte ein paar Meter hinunter.
Dann dachte er, er sei dadurch zu weit nach links geraten –
und dort hatte er beim Aufstieg einige Kliffe gesehen.
Deshalb krabbelte er wieder so nah wie möglich zu der
Stelle zurück, von der er – wie er meinte – aufgebrochen
war, und begann den Abstieg von neuem. Diesmal hielt er
sich nach rechts. Nun schienen die Dinge besser zu
verlaufen. Er ging sehr vorsichtig, denn er konnte nur einen
Meter weit sehen, und um ihn herum herrschte noch immer
Totenstille. Es ist sehr unangenehm, vorsichtig gehen zu
müssen, wenn einem eine innere Stimme ständig sagt:
schnell, schnell, schnell! Jede Sekunde wurde der Gedanke,
zurückgelassen zu werden, bedrohlicher. Wenn er Kaspian
und die Kinder auch nur ein wenig verstanden hätte, dann
hätte er natürlich gewußt, daß sie so etwas niemals tun
würden.
»Endlich!« sagte Eustachius, als er einen Abhang mit
losen Steinen heruntergeschlittert kam (das nennt man
Geröllhalde) und auf ebener Erde stand. »Und jetzt – wo
sind die Bäume? Da vorne ist etwas Dunkles. Oh, ich
glaube, der Nebel lichtet sich.«
Das stimmte. Das Licht wurde immer heller und zwang
ihn zum Blinzeln. Der Nebel hob sich. Er befand sich in
einem völlig unbekannten Tal, und das Meer war
nirgendwo zu sehen.
- 75 -
Eustachius' Abenteuer
- 82 -
Niemand wird es Eustachius übelnahmen, daß er in
diesem Augenblick zu weinen begann. Er war überrascht
von der Größe seiner Tränen, als er sie auf den Schatz vor
sich tropfen sah. Sie schienen auch eigenartig heiß zu sein
– sie dampften!
Aber das Weinen nützte nichts. Er mußte versuchen,
zwischen den beiden Drachen hervorzukriechen. Er
begann, seinen rechten Arm auszustrecken. Das Vorder-
bein und die Klaue zu seiner Rechten vollführten genau
dieselbe Bewegung. Dann versuchte er es mit dem linken
Arm. Das Drachenbein auf dieser Seite bewegte sich
ebenfalls.
Zwei Drachen, einer auf jeder Seite, die alles nach-
machten, was er tat! Er verlor die Nerven und stürzte
einfach los.
Während er aus der Höhle rannte, erklang ein derartiges
Klappern und Reiben und Klirren von Goldstücken und ein
Mahlen von Steinen, daß er dachte, beide Drachen wären
hinter ihm her. Er wagte es nicht, zurückzuschauen. Er
rannte zum Teich. Die verkrümmte Gestalt des toten
Drachen hätte jedermann zu Tode erschreckt, aber jetzt
bemerkte er sie kaum. Er hatte vor, sich ins Wasser zu
werfen.
Aber als er am Rand des Teiches ankam, geschahen
zwei Dinge. Erstens fiel ihm schlagartig ein, daß er auf
allen vieren gerannt war – und warum, in aller Welt, hatte
er das getan? Und als er sich über das Wasser beugte, kam
es ihm einen Augenblick lang so vor, als hätte ihn aus dem
Teich ein zweiter Drache angestarrt. Aber schon einen
Augenblick später dämmerte ihm die Wahrheit. Das
Drachengesicht im Teich war sein eigenes Spiegelbild. Es
- 83 -
gab keinen Zweifel: es bewegte sich, wenn er sich
bewegte; es öffnete und schloß den Mund, wenn er seinen
öffnete und schloß.
Er hatte sich im Schlaf in einen Drachen verwandelt. Er
hatte auf einem Drachenschatz geschlafen, mit gierigen,
drachenartigen Gedanken im Herzen, und so hatte er sich
selbst in einen Drachen verwandelt.
Das erklärte alles. Neben ihm in der Höhle hatten keine
Drachen gelegen. Die Klaue zu seiner Rechten und zu
seiner Linken waren seine eigenen Klauen gewesen. Die
beiden Rauchsäulen waren aus seinen Nasenlöchern
gekommen. Und was den Schmerz in seinem linken Arm
betraf (oder dem, was einstens sein linker Arm gewesen
war), so konnte er jetzt sehen, was da geschehen war, wenn
er mit seinem linken Auge zur Seite schielte. Der Armreif,
der sehr gut auf den Oberarm eines Jungen gepaßt hatte,
war viel zu klein für das dicke, plumpe Vorderbein eines
Drachen. Er schnitt tief in das schuppige Fleisch ein, und
zu beiden Seiten war er dick geschwollen und pochte. Er
zerrte mit seinen Drachenzähnen daran, doch der Armreif
ließ sich nicht lösen.
Trotz seiner Schmerzen war das erste Gefühl, welches
ihn überkam, das der Erleichterung. Jetzt gab es nichts
mehr, wovor er Angst haben mußte. Jetzt war er selbst eine
furchterregende Gestalt, und nur noch ein Ritter (und
auch nicht jeder) würde es wagen, ihn anzugreifen. Jetzt
konnte er Kaspian und Edmund alles heimzahlen …
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- 85 -
Aber im gleichen Augenblick, wo er das dachte, wurde
ihm klar, daß er das gar nicht wollte. Er wollte ihr Freund
sein. Er wollte zu den Menschen zurück, mit ihnen reden
und lachen und alles gemeinsam mit ihnen erleben. Er
begriff, daß er ein Ungeheuer war, das keinen Zugang zur
menschlichen Gesellschaft hatte. Eine furchtbare Einsam-
keit überfiel ihn. Er begann zu verstehen, daß die anderen
in Wirklichkeit gar keine Scheusale gewesen waren. Er
begann sich zu überlegen, ob er selbst der nette Mensch
gewesen war, für den er sich immer gehalten hatte. Er
sehnte sich nach ihren Stimmen. Jetzt wäre er sogar für ein
freundliches Wort von Riepischiep dankbar gewesen.
Nach all diesen Gedanken erhob der arme Drache, der
einst Eustachius gewesen war, die Stimme und weinte. Ein
mächtiger Drache, der sich unter dem Mond in einem
verlassenen Tal die Augen ausweint, ist ein Anblick für
sich, und das Geräusch kann man sich kaum vorstellen.
Schließlich entschloß er sich, einen Versuch zu machen,
den Weg zurück zur Küste zu finden. Jetzt war ihm klar,
daß Kaspian niemals wegsegeln und ihn hier zurücklassen
würde. Und er war sicher, daß es ihm irgendwie gelingen
würde, den anderen begreiflich zu machen, wer er war.
Er drehte sich um und wollte aus dem Tal klettern. Er
begann seine Kletterei mit einem Satz, und mitten im
Sprung stellte er fest, daß er flog. Er hatte seine Flügel
ganz vergessen und war äußerst überrascht – dies war seit
langem die erste angenehme Überraschung. Er erhob sich
hoch in die Luft und sah unter sich im Mondlicht unzählige
Bergspitzen. Er entdeckte auch die Bucht, die aussah wie
eine Silberplatte, die vor Anker liegende »Morgenröte«
und die Lagerfeuer, die in den Wäldern neben der Bucht
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flackerten. Von großer Höhe ließ er sich im Gleitflug
hinunterfallen.
Lucy war in tiefem Schlaf versunken, denn sie war bis
zur Rückkehr der Suchmannschaft wach geblieben.
Kaspian hatte die Suchmannschaft angeführt, und alle
waren sehr spät und sehr erschöpft zurückgekommen. Ihre
Berichte waren beunruhigend. Sie hatten keine Spur von
Eustachius gefunden, aber in einem Tal hatten sie einen
toten Drachen gesehen. Sie versuchten, das Beste daraus zu
machen, und jeder versicherte jedem, daß es unwahr-
scheinlich sei, daß es noch weitere Drachen gäbe, und daß
ein Drache, der um drei Uhr an diesem Nachmittag tot
gewesen war (denn um diese Zeit hatten sie ihn entdeckt),
wohl kaum ein paar Stunden vorher einen Menschen
umgebracht haben konnte.
»Höchstens er hat dieses kleine Scheusal aufgefressen
und ist daran gestorben: an dem würde sich jeder vergif-
ten«, sagte Rhince. Aber das sagte er ganz leise, und keiner
hörte es.
Spät in dieser Nacht wurde Lucy wach und sah, daß alle
eng beieinander standen und sich flüsternd unterhielten.
»Was ist los?« fragte Lucy.
»Wir dürfen nicht die Nerven verlieren!« sagte Kaspian
gerade. »Eben kam ein Drache über die Baumspitzen ange-
flogen und ist am Strand gelandet. Ja, er liegt unglück-
licherweise zwischen uns und dem Schiff. Und Pfeile
nützen gar nichts gegen Drachen. Und auch vor Feuer
haben sie überhaupt keine Angst.«
»Wenn Eure Majestät es gestattet…« begann Riepi-
schiep.
- 87 -
»Nein, Riepischiep«, sagte der König fest. »Du wirst
keinen Zweikampf mit ihm versuchen! Und wenn du nicht
versprichst, mir in dieser Angelegenheit zu gehorchen,
dann lasse ich dich anbinden! Wir müssen Wache halten,
und sobald es hell wird, gehen wir zum Strand hinunter
und greifen an. Ich werde den Kampf führen, mit König
Edmund zu meiner Rechten und Lord Drinian zu meiner
Linken. Weitere Vorbereitungen sind nicht zu treffen. In
ein paar Stunden wird es hell. In einer Stunde soll ein Mahl
und der Rest des Weines serviert werden! Und achtet
darauf, daß alles geräuschlos erledigt wird.«
»Vielleicht geht er wieder weg«, sagte Lucy.
»Das wäre noch schlimmer«, sagte Edmund, »denn dann
wissen wir nicht, wo er ist. Wenn sich eine Wespe im
Zimmer befindet, möchte ich sie sehen können.«
Der Rest der Nacht war schrecklich. Als das Mahl
serviert wurde, stellten viele fest, daß sie keinen Appetit
hatten. Endlose Stunden schienen zu verrinnen, bevor die
Dunkelheit wich und die Vögel zu zwitschern begannen
und die Welt noch kälter und nasser wurde als während der
Nacht. Schließlich sagte Kaspian: »Auf, Freunde!«
Sie erhoben sich mit gezogenen Schwertern und
formierten sich zu einer geschlossenen Gruppe. Lucy, die
Riepischiep auf den Schultern trug, ging in der Mitte. Dies
war besser als die endlose Warterei, und alle fühlten sich
einander näher als zu gewöhnlichen Zeiten. Dann setzten
sie sich in Bewegung. Als sie am Waldrand anlangten,
wurde es heller. Und dort auf dem Sand – wie eine riesige
Eidechse oder wie ein gelenkiges Krokodil oder wie eine
Schlange mit Beinen – lag riesig und schrecklich und
bucklig der Drache.
- 88 -
Aber anstatt sich zu erheben und Feuer und Rauch
auszuspucken, zog sich der Drache ins seichte Wasser der
Bucht zurück. Fast hätte man sagen können, er sei
gewatschelt.
»Warum wackelt er so mit dem Kopf?« sagte Edmund.
»Und jetzt nickt er«, sagte Kaspian.
»Und aus seinen Augen tropft etwas«, sagte Drinian.
»Seht ihr es denn nicht?« fragte Lucy. »Er weint. Das
sind Tränen.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen, Herrin«,
entgegnete Drinian. »Das machen auch die Krokodile,
damit man unvorsichtig wird.«
»Er hat den Kopf geschüttelt, als Ihr das gesagt habt«,
bemerkte Edmund. »Gerade so, als wollte er ›Nein‹
sagen.«
»Meinst du, er versteht, was wir sagen?« fragte Lucy.
Der Drache nickte wild.
Riepischiep schlüpfte von Lucys Schultern und trat vor.
»Drache!« rief er mit seiner schrillen Stimme. »Kannst
du unsere Sprache verstehen?«
Der Drache nickte.
»Kannst du sprechen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann ist es nutzlos, dich zu fragen, was du hier willst.
Aber wenn du schwörst, uns freundlich gesinnt zu sein, so
hebe dein linkes Vorderbein über den Kopf.«
Das tat der Drache, obwohl er sich ungeschickt anstellte,
weil das Bein von dem goldenen Armreif geschwollen war
und schmerzte.
»Schaut!« sagte Lucy. »Mit seinem Bein ist etwas nicht
in Ordnung. Der Arme – deshalb hat er wahrscheinlich
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geweint. Vielleicht kam er zu uns, um geheilt zu werden,
wie in der Geschichte von Androklus und dem Löwen.«
»Sei vorsichtig, Lucy«, sagte Kaspian. »Es ist ein sehr
kluger Drache, aber vielleicht ist er ein Lügner.«
Doch gefolgt von Riepischiep, der so schnell rannte, wie
es seine kleinen Beinchen erlaubten, war Lucy schon vor-
wärts gestürzt, und dann folgten natürlich auch die Jungen
und Drinian.
»Zeig mir dein armes Bein«, sagte Lucy. »Vielleicht
kann ich es heilen.«
Der Drache, der Eustachius gewesen war, streckte froh
sein Bein aus, denn er erinnerte sich daran, wie Lucys
Heilmittel ihn von der Seekrankheit befreit hatte, als er
noch kein Drache gewesen war. Aber er wurde enttäuscht.
Zwar ging von der Zauberflüssigkeit die Schwellung
zurück, und der Schmerz ließ etwas nach, aber es gelang
ihr nicht, das Gold aufzulösen.
Alle hatten sich inzwischen um den Drachen versammelt
und sahen zu. Plötzlich rief Kaspian: »Schaut!« Er starrte
den Armreif an.
- 90 -
Wie das Abenteuer endete
- 91 -
Und Eustachius nickte mit seinem schrecklichen
Drachenkopf und schlug mit dem Schwanz auf das Wasser,
und alle wichen zurück (und einige der Seeleute benutzten
Ausdrücke, die ich lieber nicht aufschreiben will), um den
riesigen, kochendheißen Tränen auszuweichen, die aus den
Augen des Drachen flossen.
Lucy versuchte ihr Bestes, um ihn zu trösten, sie nahm
sogar ihren ganzen Mut zusammen, um sein schuppiges
Gesicht zu küssen, und fast alle sagten »So ein Pech!«, und
einige versicherten Eustachius, sie würden alle zu ihm
halten, und viele sagten, es gäbe sicher einen Weg, ihn zu
entzaubern, und in ein oder zwei Tagen sei bestimmt
wieder alles in Ordnung. Natürlich hätten sie alle gern
seine Geschichte gehört, aber er konnte nicht reden. In den
folgenden Tagen versuchte er es mehr als einmal, diese
Geschichte für sie in den Sand zu schreiben. Aber es
gelang ihm nie. Erstens einmal hatte Eustachius (der nie
die richtigen Bücher gelesen hatte) keine Ahnung, wie man
eine Geschichte erzählt. Und außerdem hatten die Muskeln
und die Nerven der Drachenklauen, die er benutzen mußte,
nie schreiben gelernt, und sowieso waren sie dafür nicht
gebaut. Deshalb schaffte er es nie bis zum Ende, bevor die
Flut kam und alles – außer den Buchstaben, auf die er
ohnehin schon vorher getreten war oder die er aus Ver-
sehen mit seinem Schwanz ausgewischt hatte – fortspülte.
Und das, was die anderen lasen, sah etwa so aus – die
Punkte stehen für die Buchstaben, die er verwischt hatte:
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ICH BIN SCHLAF… ADR DARCH ICH MEINE
DRARCHEN HOLE WEIL ER TOT WAR UND
RENETE SO STAR … WACHE AUF UND KON …
VON MEIN ARM OH WEH …
Es war jedoch allen klar, daß Eustachius einen viel
besseren Charakter hatte, seit er ein Drache war. Er war
begierig, ihnen zu helfen. Er flog über die ganze Insel und
stellte fest, daß alles bergig war und daß nur wilde Ziegen
und Herden von wilden Schweinen hier lebten. Er brachte
ihnen viele tote Tiere als Proviant für das Schiff. Er war
auch ein sehr humaner Jäger, denn er konnte ein Tier mit
einem Schlag seines Schwanzes töten, so daß es nicht
wußte, daß es getötet worden war. Er aß natürlich auch
selbst ein paar, aber er aß immer allein, denn jetzt, wo er
ein Drache war, aß er seine Nahrung gerne roh, und er
wollte nicht, daß ihn die anderen bei seinen unappetitlichen
Mahlzeiten sahen. Und eines Tages kam er sehr müde, aber
überglücklich angeflogen und brachte eine riesig große
Kiefer ins Lager, die er in einem weit entfernten Tal mit
den Wurzeln ausgerissen hatte und aus der man einen
ausgezeichneten Mast zimmern konnte. Und wenn es am
Abend kühl wurde, wie das manchmal nach den starken
Regenfällen geschah, dann war er für alle eine große Hilfe,
denn sie kamen zu ihm, lehnten sich mit dem Rücken
gegen seinen heißen Körper und ließen sich aufwärmen
und trocknen; und ein Stoß seines feurigen Atems setzte
auch den widerspenstigen Holzstoß in Brand. Manchmal
nahm er eine ausgewählte Gruppe auf seinem Rücken mit
auf einen Flug, und sie sahen unter sich die grünen Hänge
vorbeifliegen, die felsigen Höhen, die engen, rinnenartigen
Täler und weit draußen über dem Meer im Osten einen
- 93 -
dunkelblauen Fleck am blauen Horizont, der vielleicht
Land war.
Die für ihn ganz neue Erfahrung, von den anderen
gemocht zu werden – und, was noch wichtiger war, andere
zu mögen –, hielt Eustachius davon ab, zu verzweifeln.
Denn es war trostlos, ein Drache zu sein. Jedesmal, wenn
er über einen Bergsee flog und sein eigenes Spiegelbild
sah, schüttelte es ihn. Er haßte die riesigen, fledermaus-
artigen Flügel, den gezackten Kamm auf seinem Rücken
und die grausamen, gekrümmten Klauen. Fast hatte er
Angst, wenn er mit sich allein war, doch wenn er mit den
anderen zusammen war, dann schämte er sich. An den
Abenden, an denen er nicht als Wärmeflasche benutzt
wurde, schlich er sich vom Lager fort und lag zusammen-
gerollt zwischen dem Wald und dem Wasser. Zu seiner
großen Überraschung war Riepischiep bei dieser Gelegen-
heit sein beständigster Trostspender. Die edle Maus kroch
von dem fröhlichen Kreis um das Lagerfeuer fort und
setzte sich (gegen den Wind, um nicht von dem rauchigen
Atem getroffen zu werden) neben dem Drachenkopf
nieder. Dann erklärte Riepischiep, daß das, was mit Eusta-
chius passiert war, ein gutes Beispiel dafür sei, wie sich das
Glücksrad dreht, und daß er Eustachius in seinem Haus in
Narnia mehr als hundert Beispiele von Kaisern, Königen,
Herzogen, Rittern, Poeten, Liebhabern, Astronomen, Philo-
sophen und Zauberern zeigen könnte, die zuerst wohlha-
bend gewesen und dann in größte Not geraten waren und
von denen sich viele wieder erholt und den Rest ihres
Lebens in Glück und Zufriedenheit verbracht hatten. (Das
Haus, von dem Riepischiep gesprochen hatte, war aller-
dings kein Haus, sondern ein Loch, und der Drachenkopf,
- 94 -
und erst recht der Drachenkörper, hätte niemals hinein-
gepaßt.) Dies war zu jenem Zeitpunkt vielleicht kein allzu
großer Trost, aber es war gut gemeint, und Eustachius
vergaß es ihm nie.
Aber was natürlich über allen wie eine Wolke hing, war
das Problem, was sie mit ihrem Drachen tun sollten, wenn
sie bereit waren, weiterzusegeln. Sie bemühten sich, in
seinem Beisein nicht darüber zu reden, aber er konnte nicht
umhin, Bemerkungen mit anzuhören wie: »Würde er der
Länge nach auf eine Seite des Verdecks passen? Wir
müßten dann die Vorräte unten auf die andere Seite
räumen, um sein Gewicht auszugleichen« oder: »Könnte
man ihn hinterherziehen?« oder: »Könnte er es wohl
schaffen, im Flug mitzuhalten?« und (das war die häufigste
Bemerkung): »Aber wie werden wir ihn füttern?« Dem
armen Eustachius wurde immer klarer, daß er seit dem
Tag, an dem er an Bord gekommen war, eine große Last
gewesen war – und jetzt war es sogar noch schlimmer. Und
das fraß sich in sein Herz, so, wie der Armreif sich in sein
Vorderbein fraß. Er wußte, daß es nur noch schlimmer
wurde, wenn er mit seinen großen Zähnen daran riß, aber
ab und zu konnte er sich nicht beherrschen, vor allem in
heißen Nächten.
- 100 -
»Tja, daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Aber
irgendwie hat er mich angezogen, mit neuen Kleidern – mit
denen, die ich jetzt anhabe. Und dann war ich plötzlich
wieder hier. Deshalb habe ich gedacht, es müsse ein Traum
gewesen sein.«
»Nein. Es war kein Traum«, sagte Edmund.
»Warum nicht?«
»Also zuerst sind da die Kleider. Und zweitens wurdest
du zurückverwandelt.«
»Was meinst du denn, was es war?« fragte Eustachius.
»Ich glaube, du hast Aslan gesehen«, sagte Edmund.
»Aslan!« sagte Eustachius. »Ich habe den Namen schon
mehrmals gehört, seit wir auf der ›Morgenröte‹ sind. Und
ich hatte das Gefühl – ich weiß nicht –, ihn zu hassen. Aber
damals habe ich ja alles gehaßt. Übrigens möchte ich mich
entschuldigen. Ich fürchte, ich war sehr unangenehm.«
»Schon gut«, sagte Edmund. »Im Vertrauen: Du warst
nicht so schlimm wie ich auf meiner ersten Reise nach
Narnia. Du warst nur ein Scheusal, aber ich war ein
Verräter.«
»Erzähle mir lieber nichts darüber«, sagte Eustachius.
»Aber wer ist Aslan? Kennst du ihn?«
»Nun – er kennt mich«, antwortete Edmund. »Er ist der
große Löwe, der Sohn des Herrschers über die Meere, der
mich und Narnia gerettet hat. Wir alle haben ihn schon
gesehen. Lucy sieht ihn am häufigsten. Und vielleicht ist es
Aslans Land, zu dem wir segeln.«
Eine Weile sagte keiner etwas. Der letzte helle Stern war
verschwunden, und obwohl sie wegen der Berge zu ihrer
Rechten den Sonnenaufgang nicht sehen konnten, wußten
sie doch, daß die Sonne gerade aufging, denn der Himmel
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über ihnen und die Bucht vor ihnen wurden blutrot. Dann
schrie hinter ihnen im Wald ein papageienartiger Vogel,
zwischen den Bäumen erklangen Geräusche, und schließ-
lich wurde Kaspians Horn geblasen. Das Lager erwachte.
Groß war die Freude, als Edmund und der zurück-
verwandelte Eustachius in den Kreis derer traten, die um
das Lagerfeuer saßen und frühstückten. Und jetzt erfuhr
natürlich jeder die Geschichte von Anfang an. Man über-
legte sich, ob der andere Drache wohl vor einigen Jahren
Lord Octesian umgebracht hatte oder ob Lord Octesian
selbst der alte Drache gewesen war. Die Juwelen, die
Eustachius in der Höhle in seine Taschen gestopft hatte,
waren zusammen mit den Kleidern verschwunden, die er
getragen hatte. Aber niemand, und am allerwenigsten
Eustachius selbst, fühlte den Wunsch, wegen dieses
Schatzes zurück in das Tal zu gehen.
Schon ein paar Tage später war die »Morgenröte« mit
einem neuen Mast, frisch bemalt und schwer beladen –
bereit zur Abfahrt. Aber zuvor befahl Kaspian, auf einen
glatten, der Bucht zugewandten Felsen die folgenden
Worte einzugravieren:
DRACHENINSEL
ENTDECKT VON KASPIAN X, KÖNIG VON NARNIA USW.
IM VIERTEN JAHR SEINER HERRSCHAFT.
HIER, SO WIRD VERMUTET,
EREILTE LORD OCTESIAN DER TOD.
- 103 -
Zweimal knapp entronnen
- 111 -
dem anderen Bach zu rudern. Dort gibt es Bäume, und wir
können uns unterstellen.«
»Ja, das sollten wir tun«, sagte Eustachius. »Wir
brauchen nicht nasser zu werden als unbedingt nötig.«
Doch Drinian steuerte unentwegt nach steuerbord, so
wie starrköpfige Autofahrer, die mit sechzig Stundenkilo-
metern weiterfahren, während man ihnen erklärt, daß sie
falsch gefahren sind.
»Mein Freund hat recht, Drinian«, sagte Kaspian.
»Warum wendet Ihr nicht und haltet auf den westlichen
Bach zu?«
»Wie Eure Majestät wünscht«, entgegnete Drinian kurz
angebunden. Von Landratten ließ er sich nicht gerne Rat-
schläge erteilen. Aber er änderte den Kurs, und später
stellte sich heraus, daß er damit gut beraten gewesen war.
Ehe sie mit dem Wasserfassen fertig waren, hatte der
Regen aufgehört, und Kaspian, Eustachius, Edmund, Lucy
und Riepischiep faßten den Entschluß, zur Bergspitze
hochzusteigen und sich umzuschauen. Es war eine anstren-
gende Kletterei durch grobes Gras und Heidekraut. Sie
sahen keine Menschenseele und auch keine Tiere, abge-
sehen von ein paar Seemöwen. Als sie die Spitze
erreichten, stellten sie fest, daß es nur eine kleine Insel war,
die sich höchstens über zwanzig Morgen erstreckte. Von
dieser Höhe sah das Meer größer und verlassener aus als
vom Deck und selbst von der Kampfplattform der
»Morgenröte« aus.
»Es ist verrückt«, sagte Eustachius leise zu Lucy und
blickte zum östlichen Horizont. »Wir segeln und segeln
weiter und haben keine Ahnung, wohin uns das führt.«
- 112 -
Aber er sagte das nur aus einer alten Gewohnheit heraus,
und er meinte es nicht so böse wie noch vor einiger Zeit.
Es war zu kalt, um lange auf dem Bergkamm zu bleiben,
denn der Wind blies noch immer kräftig von Norden.
»Laßt uns auf einem anderen Weg zurücklaufen«, sagte
Lucy, als sie sich zum Gehen wandten. »Laßt uns noch ein
Stück weitergehen und zu dem anderen Bach hinunter-
klettern, zu dem Drinian rudern wollte.«
Alle waren einverstanden, und nach etwa fünfzehn
Minuten erreichten sie den Ursprung des anderen Baches.
Es war eine interessantere Gegend, als sie erwartet hatten.
Sie befanden sich an einem tiefen kleinen Bergsee, der –
bis auf einen schmalen Durchlaß an der dem Meer zuge-
wandten Seite, durch den das Wasser abfloß – ringsum von
Felsen eingerahmt war. Hier war es endlich windstill, und
so setzten sie sich ins Heidekraut, um sich auszuruhen.
Alle setzten sich, und nur einer (es war Edmund) sprang
rasch wieder auf.
»Scharfkantige Steine gibt es hier auf der Insel!« rief er
und suchte im Heidekraut herum. »Wo ist denn das blöde
Ding?… Ach, da ist es … Hoppla! Es ist gar kein Stein –es
ist eine Schwertschneide. Nein, ach du liebe Güte, es ist ein
ganzes Schwert oder zumindest das, was der Rost übrig-
gelassen hat! Es muß schon ewig hier liegen!«
»Und ist sogar narnianisch, so, wie es aussieht«, sagte
Kaspian, als sie es alle umstanden.
»Ich sitze auch auf etwas«, sagte Lucy. »Auf etwas
Hartem.« Es entpuppte sich als die Überreste eines
Harnischs. Inzwischen krochen alle auf Händen und Füßen
herum und tasteten in allen Richtungen das dichte Heide-
kraut ab. Nach und nach kam folgendes zum Vorschein:
- 113 -
ein Helm, ein Dolch und ein paar Münzen – keine
kalormenischen Kreszents, sondern original narnianische
»Löwen« und »Bäume«, wie man sie jeden Tag auf dem
Marktplatz von Biberdamm oder Beruna sieht.
»Scheint so, als wäre das alles, was von einem unserer
sieben Lords übriggeblieben ist«, sagte Edmund.
»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagte Kaspian.
»Welcher von ihnen es wohl gewesen sein mag? Auf dem
Dolch ist nichts, woran man es erkennen könnte. Ich frage
mich, wie er wohl gestorben ist.«
»Und wie wir ihn rächen können«, fügte Riepischiep
hinzu.
Edmund, der einzige der Gruppe, der schon mehrere
Kriminalromane gelesen hatte, hatte in der Zwischenzeit
nachgedacht.
»Schaut mal!« sagte er. »Irgend etwas an dieser Sache
ist sehr eigenartig. Er kann nicht im Kampf gestorben
sein.«
»Warum nicht?« fragte Kaspian.
»Keine Knochen«, sagte Edmund. »Ein Feind würde
vielleicht die Rüstung mitnehmen und den Körper liegen
lassen. Aber hat schon irgend jemand etwas davon gehört,
daß der Sieger in einem Kampf den Körper wegträgt und
die Rüstung liegen läßt?«
»Vielleicht ist er von einem wilden Tier getötet
worden?« schlug Lucy vor.
»Das müßte aber ein kluges Tier sein«, sagte Edmund,
»wenn es einem Mann erst den Harnisch auszieht.«
»Vielleicht war es ein Drache?« schlug Kaspian vor.
»Unmöglich«, entgegnete Eustachius. »Ein Drache kann
das nicht. Ich muß es ja schließlich wissen.«
- 114 -
»Laßt uns auf jeden Fall von hier weggehen«, meinte
Lucy. Seit Edmund die Sache mit den Knochen ange-
sprochen hatte, war ihr die Lust vergangen, sich hinzu-
setzen.
»Wenn du meinst«, sagte Kaspian und stand auf. »Ich
glaube nicht, daß es sich lohnt, von diesen Sachen etwas
mitzunehmen.«
Sie kletterten hinab zu dem kleinen Durchlaß, wo der
Bach aus dem Teich trat, und schauten auf das tiefe,
rundum von Felsen eingerahmte Wasser. Wenn es heiß
gewesen wäre, dann wären einige bestimmt in Versuchung
geraten, ein Bad zu nehmen, und alle hätten getrunken.
Eustachius wollte sich gerade hinabbeugen und ein wenig
Wasser mit den Händen herausschöpfen, als Riepischiep
und Lucy im gleichen Moment riefen: »Schaut!« So vergaß
er das Trinken und schaute.
Der Grund des Sees bestand aus großen graublauen
Steinen, und das Wasser war vollkommen klar. Auf dem
Grund lag eine lebensgroße Männergestalt, die offen-
sichtlich aus Gold war. Sie lag mit dem Gesicht nach unten
und hatte die Arme über den Kopf gestreckt. Und gerade
als sie ihn anschauten, teilten sich die Wolken, die Sonne
trat hervor und erleuchtete die goldene Figur in ihrer
ganzen Länge. Es war die schönste Statue, die Lucy jemals
gesehen hatte.
»Meine Güte!« Kaspian stieß einen Pfiff aus. »Der weite
Weg hat sich doch gelohnt! Ob wir sie wohl heraus-
bekommen?«
»Wir können danach tauchen, Herr«, sagte Riepischiep.
»Das geht nicht«, wandte Edmund ein. »Zumindest
nicht, wenn es tatsächlich Gold – massives Gold – ist.
- 115 -
Dann ist es viel zu schwer. Und dieser Teich ist mindestens
vier oder fünf Meter tief. Aber Moment mal! Gut, daß ich
einen Jagdspeer mitgenommen habe. Laßt sehen, wie tief
es hier wirklich ist. Halte meine Hand fest, Kaspian,
während ich mich vorbeuge.«
Kaspian nahm seine Hand, und Edmund lehnte sich vor
und begann, seinen Spieß ins Wasser hinabzulassen.
Bevor er noch zur Hälfte verschwunden war, sagte Lucy:
»Ich glaube nicht, daß die Statue aus Gold ist. Es ist nur
das Licht. Dein Speer hat genau die gleiche Farbe.«
»Was ist los?« fragten mehrere Stimmen auf einmal,
denn Edmund hatte den Speer ganz plötzlich losgelassen.
»Ich konnte ihn nicht mehr halten«, keuchte Edmund.
»Er schien plötzlich so schwer zu sein.«
»Da liegt er jetzt auf dem Grund«, sagte Kaspian. »Und
Lucy hat recht. Er hat genau die gleiche Farbe wie die
Statue.«
Edmund, der offensichtlich mit seinen Stiefeln Schwie-
rigkeiten hatte – er bückte sich gerade und untersuchte sie
–, richtete sich plötzlich auf und rief mit scharfer Stimme:
»Zurück! Weg vom Wasser! Alle! Sofort!«
Sie gehorchten und starrten ihn an.
»Seht her!« sagte Edmund. »Schaut euch die Spitzen
meiner Stiefel an!«
»Sie sehen ein bißchen gelblich aus«, begann Eusta-
chius.
»Sie sind ganz und gar golden!« unterbrach Edmund.
»Schaut sie euch an! Befühlt sie! Das Leder hat sich
schon abgelöst. Und sie sind so schwer wie Blei.«
»Bei Aslan!« rief Kaspian. »Du willst doch wohl nicht
sagen …«
- 116 -
»Doch, das will ich«, sagte Edmund. »Das Wasser
verwandelt die Dinge in Gold. Es hat den Speer in Gold
verwandelt, deshalb wurde er so schwer. Es ist lediglich
gegen meine Füße geschwappt (glücklicherweise war ich
nicht barfuß!), und schon haben sich die Stiefelspitzen in
Gold verwandelt. Und dieser arme Kerl am Grund – na ja,
ihr könnt euch ja vorstellen, was mit ihm geschehen ist.«
»Also ist es gar keine Statue«, sagte Lucy leise.
»Nein. Jetzt ist alles klar. Er war an einem heißen Tag
hier. Er hat sich oben auf den Felsen ausgezogen – dort, wo
wir gesessen haben. Die Kleider sind zerfallen, oder die
Vögel haben sie mitgenommen, um ihr Nest damit auszu-
polstern; die Rüstung ist noch da. Dann ist er ins Wasser
gesprungen und …«
»Hör auf!« sagte Lucy. »Wie schrecklich!«
»Um ein Haar hätte es uns auch erwischt«, sagte
Edmund.
»Sehr richtig«, meinte Riepischiep. »Jedermanns Finger,
jedermanns Schnurrbart oder jedermanns Schwanz hätte
jederzeit mit dem Wasser in Berührung kommen können.«
»Wir können es trotzdem einmal nachprüfen«, schlug
Kaspian vor. Er bückte sich und riß ein Büschel Heidekraut
aus. Dann kniete er sich sehr vorsichtig an den Teich und
tauchte es ein. Das Heidekraut, das er herauszog, war aus
reinstem Gold und so schwer und so weich wie Blei.
»Der König, dem diese Insel gehörte, wäre schon bald
der reichste König dieser Welt«, sagte Kaspian langsam,
und sein Gesicht wurde ganz rot, während er sprach. »Ich
erkläre diese Insel hiermit als zu Narnia gehörig. Sie soll
den Namen Goldwasserinsel erhalten. Ich verlange abso-
lutes Stillschweigen von euch. Keiner darf davon wissen.
- 117 -
Nicht einmal Drinian – jede Zuwiderhandlung wird mit
dem Tode bestraft!«
»Wem sagst du das eigentlich?« fragte Edmund. »Ich
bin keiner deiner Untertanen. Eher ist es umgekehrt. Ich
bin einer der vier Könige von Narnia, und du stehst unter
dem Eid meines Bruders, des höchsten Königs.«
»So weit ist es also gekommen, König Edmund!« sagte
Kaspian und legte die Hand auf den Griff seines Schwertes.
»Oh, hört auf, alle beide!« rief Lucy. »Das ist das
Schlimmste, wenn man mit Jungen etwas unternimmt. Ihr
seid angeberische und brutale Idioten – oooh! …« Ihre
Stimme verwandelte sich in ein Keuchen. Und alle anderen
sahen ebenfalls, was sie sah.
Über dem grauen Berg vor ihnen – er war grau, weil das
Heidekraut noch nicht blühte –, geräuschlos und ohne sie
anzusehen und so strahlend, als wäre er in leuchtendes
Sonnenlicht gebadet, obwohl die Sonne untergegangen
war, ging langsam der größte Löwe entlang, den je ein
menschliches Auge erblickt hat. Später sagte Lucy: »Er
war so groß wie ein Elefant«, und ein anderes Mal sagte sie
nur: »So groß wie ein Kutschergaul.« Aber auf die Größe
kam es nicht an. Niemand wagte zu fragen, wer das
gewesen sein mochte. Sie wußten, daß es Aslan gewesen
war.
Keiner von ihnen sah, wohin er ging. Sie blickten einan-
der an wie Leute, die eben aus tiefem Schlaf erwachen.
»Worüber haben wir geredet?« fragte Kaspian. »Habe
ich mich furchtbar schlecht benommen?«
»Herr«, sagte Riepischiep. »Dies ist ein Ort, auf dem ein
Fluch liegt. Laßt uns sofort an Bord zurückkehren. Und
- 118 -
wenn mir die Ehre zukäme, dieser Insel einen Namen zu
geben, dann würde ich sie Todeswasserinsel nennen.«
»Das scheint mir ein sehr guter Name zu sein, Riep«,
sagte Kaspian. »Obwohl ich nicht weiß, warum, wenn ich
mir's recht überlege. Aber das Wetter scheint sich zu
beruhigen, und ich nehme an, daß Drinian gerne auf-
brechen würde. Wir werden ihm eine Menge zu erzählen
haben!«
Aber in Wirklichkeit hatten sie nicht viel zu erzählen,
denn ihre Erinnerung an die letzte halbe Stunde war ganz
verschwommen.
»Ihre Majestäten schienen alle ein wenig behext zu sein,
als sie an Bord kamen«, sagte Drinian ein paar Stunden
später zu Rhince, als die »Morgenröte« wieder unter Segel
stand und die Todeswasserinsel hinter dem Horizont ver-
schwunden war. »Irgend etwas ist ihnen dort zugestoßen.
Das einzige, was ich begriffen habe, ist, daß sie den Körper
von einem dieser Lords gefunden haben, die wir suchen.«
»Was Ihr nicht sagt, Kapitän«, antwortete Rhince. »Das
macht also drei. Jetzt sind es nur noch vier. Wenn wir mit
dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann wäre es
möglich, daß wir schon bald nach Neujahr zu Hause sind.
Und das trifft sich gut. Mein Tabak wird langsam ein
wenig knapp! Gute Nacht, Herr.«
- 119 -
Die Insel der Stimmen
- 122 -
Lucy wußte, daß sie keine Zeit hatte, sitzen zu bleiben
und zu überlegen, was dies wohl für unsichtbare Geschöpfe
sein mochten. Sobald das Stampfen verklungen war, stand
sie auf und rannte den Pfad entlang ihren Freunden
hinterher, so schnell ihre Beine sie trugen. Sie mußten
gewarnt werden, koste es, was es wolle.
In der Zwischenzeit hatten die anderen das Haus
erreicht. Es war ein niedriges, einstöckiges Gebäude aus
Steinen, in einer schönen sanften Farbe. Es war teilweise
mit Efeu bewachsen, und es hatte viele Fenster. Alles war
so still, daß Eustachius sagte: »Ich glaube, es steht leer.«
Doch Kaspian deutete wortlos auf die Rauchsäule, die aus
dem Kamin aufstieg.
Sie fanden ein breites, offenstehendes Tor und gingen
hindurch in den gepflasterten Hof. Und hier sahen sie das
erste Anzeichen dafür, daß auf dieser Insel etwas Eigen-
artiges vor sich ging. Mitten im Hof stand eine Pumpe, und
darunter stand ein Eimer. Doch das war es nicht, was so
eigenartig war. Der Pumpenschwengel ging auf und ab,
obwohl niemand ihn zu bewegen schien!
»Hier ist Zauberei am Werk«, sagte Kaspian.
»Maschinen«, meinte Eustachius. »Ich glaube, wir sind
endlich in einem zivilisierten Land angekommen.«
In diesem Augenblick kam Lucy erhitzt und atemlos in
den Hof gerannt. Mit leiser Stimme versuchte sie ihnen
klarzumachen, was sie mit angehört hatte. Und als sie es
mehr oder weniger verstanden hatten, sah auch der
Mutigste unter ihnen nicht mehr sehr glücklich aus.
»Unsichtbare Feinde«, brummte Kaspian. »Und sie
wollen uns den Weg zum Schiff abschneiden. Das ist eine
schlimme Geschichte.«
- 123 -
»Du hast keine Ahnung, was für eine Art Geschöpfe es
sind, Lu?« fragte Edmund.
»Woher soll ich das wissen, Ed, wo ich sie doch nicht
sehen konnte?«
»Haben sich ihre Schritte wie die von Menschen
angehört?«
»Ich habe keine Schritte gehört, nur Stimmen und dieses
schreckliche Dröhnen und Stampfen – wie von Schlegeln!«
»Ich frage mich«, sagte Riepischiep, »ob sie sichtbar
werden, wenn man sie mit einem Schwert durchbohrt?«
»Es sieht so aus, als würden wir das bald erfahren«,
entgegnete Kaspian. »Aber wir sollten besser hinausgehen!
Dort an der Pumpe steht einer von diesem Pack, und er hört
jedes Wort, das wir sagen.«
Sie gingen hinaus und auf den Pfad zurück, wo sie durch
die Bäume vielleicht ein wenig geschützt waren. »Nicht,
daß uns das viel nützt«, sagte Eustachius, »wenn man sich
vor Leuten versteckt, die man nicht sehen kann. Vielleicht
sind sie überall um uns herum.«
»Nun, Drinian«, sagte Kaspian. »Wie wäre es denn,
wenn wir das Boot aufgeben, an eine andere Stelle der
Bucht gehen und der ›Morgenröte‹ signalisieren würden,
uns dort an Bord zu nehmen?«
»Die Bucht ist zu flach für die ›Morgenröte‹ Herr«,
wandte Drinian ein.
»Wir könnten schwimmen«, schlug Lucy vor.
»Eure Majestäten«, sagte Riepischiep. »Hört zu! Es ist
eine Torheit, anzunehmen, man könne einem unsichtbaren
Feind aus dem Weg gehen, indem man herumschleicht und
sich versteckt. Wenn uns diese Geschöpfe in einen Kampf
verwickeln wollen, gelingt ihnen das auch. Und was immer
- 124 -
auch passieren mag – ich trete ihnen lieber von Angesicht
zu Angesicht gegenüber, als daß ich mich von hinten
überraschen lasse.«
»Ich glaube, diesmal hat Riep wirklich recht«, sagte
Edmund.
»Wenn Rhince und die anderen von der ›Morgenröte‹
aus sehen, daß wir an Land kämpfen, dann können sie doch
sicher irgend etwas unternehmen!« wandte Lucy ein.
»Aber sie werden uns nicht kämpfen sehen, wenn sie
den Feind nicht sehen können«, sagte Eustachius unglück-
lich. »Sie werden denken, wir fuchteln nur so zum Spaß
mit den Schwertern herum.«
Alle schwiegen betroffen.
»Nun«, meinte Kaspian schließlich. »Laßt uns beginnen!
Wir müssen ihnen gegenübertreten. Schüttelt euch die
Hände, leg den Pfeil an, Lucy, und die anderen ziehen das
Schwert – und dann los! Vielleicht können wir mit ihnen
verhandeln.«
Es war eigenartig, auf dem Marsch zum Strand die
friedlich daliegenden Bäume und Rasenflächen zu sehen.
Und als sie am Ufer ankamen und das große Boot sahen,
das noch immer dort lag, wo sie es zurückgelassen hatten,
und den glatten, völlig menschenleeren Sand, da fragten sie
sich, ob sich Lucy nicht alles nur eingebildet hatte. Aber
noch bevor sie den Sand betraten, erklang eine Stimme.
»Nicht weiter, meine Herren, nicht weiter«, sagte die
Stimme. »Wir müssen erst mit euch reden. Wir sind über
fünfzig Mann, und wir haben alle eine Waffe in der Hand.«
»Hört, hört!« erklang ein Chor von Stimmen. »Das ist
unser Boß! Man kann sich darauf verlassen, was er sagt. Er
sagt die Wahrheit, jawohl, das tut er!«
- 125 -
»Ich sehe keine fünfzig Krieger«, bemerkte Riepischiep.
»Das ist richtig, das ist richtig«, sagte die Anführer-
stimme. »Ihr seht uns nicht. Und warum nicht? Weil wir
unsichtbar sind.«
»Weiter so, Boß, weiter so!« ertönten die anderen
Stimmen. »Du sprichst wie ein Buch. Sie hätten keine
andere Antwort erwarten können.«
»Ruhig, Riep«, flüsterte Kaspian und fügte dann etwas
lauter hinzu: »Was wollt ihr von uns, ihr unsichtbaren
Leute? Und was haben wir getan, daß ihr uns als Feinde
gegenübertretet?«
»Wir wollen, daß euer kleines Mädchen etwas für uns
tut«, entgegnete die Anführerstimme. (Die anderen erklär-
ten, daß dies genau das war, was sie hatten sagen wollen.)
»Kleines Mädchen?« fragte Riepischiep. »Die Dame ist
eine Königin.«
»Von Königinnen verstehen wir nichts«, antwortete die
Anführerstimme. (»Nein, überhaupt nichts, nein, überhaupt
nichts«, fielen die anderen ein.) »Aber sie muß etwas für
uns tun.«
»Und was?« fragte Lucy.
»Wenn es etwas ist, was gegen die Ehre oder gegen die
Sicherheit Ihrer Majestät gerichtet ist«, fügte Riepischiep
hinzu, »dann werdet ihr euch wundern, wie viele von euch
wir erledigen, bevor wir selber sterben.«
»Nun«, sagte die Anführerstimme. »Es ist eine lange
Geschichte. Ich schlage vor, daß wir uns alle hinsetzen.«
Die anderen Stimmen stimmten diesem Vorschlag
begeistert zu, doch die Narnianen blieben stehen.
»Nun«, sagte die Anführerstimme. »Es ist so. Diese
Insel ist seit ewigen Zeiten im Besitz eines großen Zaube-
- 126 -
rers. Und wir alle sind – oder vielleicht sollte ich sagen
waren – seine Diener. Nun, um es kurz zu machen, dieser
Zauberer, von dem ich sprach, befahl uns, etwas zu tun,
was wir nicht tun wollten. Da wurde der Zauberer furchtbar
wütend, denn ihm gehörte die Insel, und er war nicht an
Widerspruch gewöhnt. Er fackelte nicht lange, ging hinauf
(ihr müßt wissen, daß er all seine Zaubersachen dort oben
aufbewahrte, und wir wohnten unten), also er ging hinauf
und legte einen Fluch auf uns. Einen Fluch, der uns häßlich
gemacht hat. Wenn ihr uns jetzt sehen könntet – meiner
Meinung nach solltet ihr Gott danken, daß ihr das nicht
könnt –, dann würdet ihr nicht glauben, wie wir vorher
ausgesehen haben. Plötzlich waren wir so häßlich, daß wir
uns gegenseitig nicht mehr anschauen mochten. Also was
taten wir dann? Nun, ich sage euch, was wir taten. Wir
warteten bis zum Nachmittag, bis dieser Zauberer einge-
schlafen war, dann schlichen wir todesmutig nach oben zu
seinen Zauberbüchern, um herauszufinden, ob wir gegen
unsere Häßlichkeit etwas tun könnten. Wir haben alle vor
Angst geschlottert, das will ich nicht leugnen. Aber ihr
könnt es glauben oder nicht – ich versichere euch, daß wir
keinen Zauberspruch fanden, der unsere Häßlichkeit
beseitigt hätte. Und da es immer später wurde und wir
Angst hatten, der alte Herr könne jede Minute aufwachen –
also, kurz und gut, zuletzt fanden wir einen Zauberspruch,
der unsichtbar macht, und wir dachten, wir wollten lieber
unsichtbar sein, als weiterhin so häßlich zu bleiben. Also
sagt mein kleines Mädchen, das etwa genauso alt ist wie
euer kleines Mädchen und das ein süßes Kind war, bevor
es so häßlich wurde – aber je weniger man darüber spricht,
desto besser –, also mein kleines Mädchen sagt den
- 127 -
Zauberspruch, denn es muß ein kleines Mädchen sein oder
der Zauberer selbst, wenn ihr versteht, was ich meine, denn
sonst funktioniert es nicht. Also sagt meine Clipsie den
Zauberspruch, und plötzlich waren wir alle so unsichtbar,
wie man es sich nur wünschen kann. Und ich versichere
euch, daß es eine Erleichterung war, unsere Gesichter nicht
mehr sehen zu müssen. Zumindest zuerst. Aber kurz und
gut – wir haben mehr als genug davon, unsichtbar zu sein.
Und da ist noch etwas. Wir hätten nie gedacht, daß der
Zauberer, von dem ich euch vorher erzählt habe, auch
unsichtbar werden würde. Aber wir haben ihn seither nicht
mehr gesehen. Deshalb wissen wir nicht, ob er tot ist oder
ob er droben sitzt und einfach unsichtbar ist, oder ob er
herunterkommt und auch da unsichtbar ist. Und glaubt mir,
es nutzt nichts, zu lauschen, denn er ist schon immer auf
bloßen Füßen herumgelaufen und hat nicht mehr Geräu-
sche gemacht als eine große Katze. Und ich sage euch
klipp und klar – das ist mehr, als unsere Nerven ertragen
können.«
Das war die Geschichte der Anführerstimme. Allerdings
habe ich sie stark gekürzt und all das, was die anderen
Stimmen sagten, weggelassen. In Wirklichkeit bekam der
Anführer nie mehr als sechs oder sieben Worte heraus,
bevor die anderen ihn mit zustimmenden und ermutigenden
Worten unterbrachen, was die Narnianen vor Ungeduld fast
zur Verzweiflung trieb. Als er geendet hatte, herrschte sehr
lange Stille.
»Aber«, sagte Lucy schließlich. »Was hat all das mit uns
zu tun? Ich verstehe nicht.«
»Oh, meine Güte, ich habe doch wohl nicht das
Wichtigste weggelassen?« sagte die Anführerstimme.
- 128 -
»Doch, das hast du, doch, das hast du!« riefen die
anderen Stimmen voller Begeisterung. »Niemand hätte es
klarer und deutlicher weglassen können. Weiter so, Boß,
weiter so!«
»Nun, ich brauche wohl nicht noch einmal die ganze
Geschichte zu erzählen«, begann die Anführerstimme.
»Nein, natürlich nicht«, sagten Kaspian und Edmund.
»Also, um es in drei Worten zu sagen«, fuhr die Stimme
fort. »Wir haben schon ewig auf ein nettes kleines Mäd-
chen aus der Fremde gewartet – so wie Ihr, Fräuleinchen –,
das hinaufgeht zum Zauberbuch und das den Zauberspruch
gegen die Unsichtbarkeit findet und ihn dann sagt. Und wir
haben alle geschworen, daß wir die ersten Fremden, die auf
der Insel landen (wenn sie ein nettes kleines Mädchen
dabeihaben, meine ich, denn wenn nicht, dann wäre es
wieder etwas anderes), also daß wir sie nicht mehr lebend
weglassen würden, außer sie tun das Notwendige für uns.
Und deshalb, meine Herren, wenn euer kleines Mädchen
nicht tut, was wir verlangen, dann ist es unsere schmerz-
liche Pflicht, all eure Kehlen zu durchschneiden. Nur weil
die Umstände es erfordern, könnte man sagen, und ich
hoffe, daß ihr uns das nicht übelnehmt.«
»Ich sehe eure Waffen nicht«, rief Riepischiep. »Sind sie
auch unsichtbar?«
Er hatte die Frage kaum beendet, als sie ein Schwirren
hörten, und im nächsten Augenblick steckte ein zitternder
Speer hinter ihnen in einem der Bäume.
»Das ist ein Speer …« erklärte die Anführerstimme.
»Das ist richtig, Boß, das ist richtig«, stimmten die ande-
ren zu. »Du hättest es nicht besser ausdrücken können.«
- 129 -
»Und er kam aus meiner Hand«, fuhr die Anführer-
stimme fort. »Unsere Waffen werden sichtbar, sobald sie
unsere Hand verlassen.«
»Aber warum wollt ihr denn, daß ich es mache?« fragte
Lucy. »Warum macht es nicht einer von euch? Gibt es
unter euch keine Mädchen?«
»Wir nicht, wir nicht«, erklangen alle Stimmen. »Wir
gehen nicht mehr hinauf.«
»Mit anderen Worten«, sagte Kaspian, »verlangt ihr von
einer Dame, eine Gefahr auf sich zu nehmen, die ihr euren
eigenen Schwestern und Töchtern nicht zumuten wollt?«
»Das stimmt, das stimmt!« sagten alle Stimmen munter.
»Du hättest es nicht besser ausdrücken können.«
»Also, das ist doch die Höhe …« begann Edmund, aber
Lucy unterbrach ihn.
»Müßte ich nachts hinaufgehen, oder ginge es auch
tagsüber?«
»Oh, tagsüber, tagsüber natürlich«, sagte die Anführer-
stimme. »Nicht nachts. Das würde keiner von dir verlan-
gen. Im Dunkeln nach oben gehen? Igittigitt!«
»Also gut, ich mache es«, sagte Lucy. »Nein«, fuhr sie,
zu den anderen gewandt, fort. »Versucht nicht, mich
zurückzuhalten. Seht ihr nicht, daß es keinen Zweck hat?
Es sind Dutzende. Wir können nicht gegen sie kämpfen.
Und wenn ich es tue, dann haben wir eine Chance.«
»Aber der Zauberer!« wandte Kaspian ein.
»Ich weiß«, sagte Lucy. »Aber vielleicht ist er nicht so
schlimm, wie sie sagen. Habt ihr nicht auch das Gefühl,
daß diese Leute nicht allzu mutig sind?«
»Auf jeden Fall sind sie nicht allzu klug«, meinte
Eustachius.
- 130 -
»Schau mal, Lu«, sagte Edmund. »Wir können es wirk-
lich nicht zulassen, daß du so etwas tust. Frag mal Riep, ich
bin sicher, daß er dasselbe sagen wird.«
»Aber ich tue es, um mein Leben und euer Leben zu
retten«, sagte Lucy. »Ich will genausowenig wie ihr von
unsichtbaren Schwertern durchbohrt werden.«
»Ihre Majestät hat recht«, sagte Riepischiep. »Wenn wir
die Gewißheit hätten, daß wir ihr das durch einen Kampf
ersparen könnten, dann wäre es ganz klar, was unsere
Pflicht ist. Aber mir scheint, daß wir keinerlei Gewißheit
haben. Und das, was von Ihrer Majestät verlangt wird, steht
nicht im Widerspruch zu ihrer Ehre, sondern ist eine edle
und heroische Tat. Wenn die Königin es mit dem Zauberer
aufnehmen möchte, dann will ich nicht dagegen sprechen.«
Da alle wußten, daß Riepischiep vor nichts Angst hatte,
konnte er dies sagen, ohne sich im geringsten komisch
vorzukommen. Die Jungen dagegen, die alle recht oft
Angst hatten, wurden rot. Aber da Riepischieps Vorschlag
offensichtlich sehr vernünftig war, mußten sie nachgeben.
Als sie ihre Entscheidung bekanntgaben, brachen laute
Hurrarufe aus, und die Anführerstimme (kräftig unterstützt
von allen anderen) lud die Narnianen zum Abendessen und
zum Übernachten ein. Eustachius wollte die Einladung
nicht annehmen, aber Lucy sagte: »Ich bin sicher, daß sie
nicht hinterhältig sind. Ganz gewiß nicht.« Die anderen
stimmten zu. Und so gingen sie zurück zum Haus, begleitet
von lautem Stampfen, das noch lauter wurde, als sie den
gepflasterten und hallenden Hof erreichten.
- 131 -
Das Buch des Zauberers
- 140 -
kann mich dazu bringen, euch den Spruch zu verraten).
Dann wartete sie darauf, daß etwas passierte.
Da nichts geschah, begann sie, die Bilder zu betrachten.
Und sofort sah sie etwas, was sie zuallerletzt erwartet hätte
– ein Bild eines Dritte-Klasse-Abteils im Zug, in dem zwei
Schulmädchen saßen. Sie erkannte sie sofort. Es waren ihre
Schulfreundinnen Marjorie und Anne. Nur war es jetzt viel
mehr als nur ein Bild. Es lebte. Sie konnte sehen, wie die
Telegrafenmasten vor dem Fenster vorbeiflogen. Sie sah,
daß die beiden Mädchen lachten und redeten. Nach und
nach (wie bei einem Radio, das warmläuft) konnte sie
hören, was sie sagten.
»Werde ich dich in diesem Schuljahr ab und zu sehen?«
fragte Anne. »Oder bist du noch immer so begeistert von
dieser Lucy?«
»Ich weiß nicht, was du mit begeistert meinst«,
antwortete Marjorie.
»O doch, das weißt du«, sagte Anne. »Im letzten Schul-
jahr warst du ganz verrückt nach ihr.«
»Nein, das war ich nicht«, protestierte Marjorie. »So
blöde bin ich nicht! Sie ist ja auf ihre Art ganz nett. Aber
gegen Ende des Jahres hatte ich ziemlich genug von ihr.«
»Dazu werde ich dir keine Gelegenheit mehr geben!«
rief Lucy. »Du falsches Biest!« Aber der Klang ihrer
eigenen Stimme erinnerte sie lediglich daran, daß sie mit
einem Bild sprach und daß die richtige Marjorie weit weg
in einer anderen Welt war.
Also, dachte Lucy, das hätte ich nicht von ihr erwartet!
Und ich habe so viel für sie getan im letzten Schuljahr und
habe zu ihr gehalten, wie das nicht viele von den anderen
Mädchen getan hätten. Und das weiß sie auch! Und jetzt
- 141 -
sagt sie so etwas – ausgerechnet zu Anne! Ich frage mich,
ob alle meine Freundinnen so sind. Da sind noch viele
andere Bilder. Nein, ich werde nicht mehr hinschauen.
Nein, nein – und mit großer Anstrengung blätterte sie um,
aber vorher war noch eine riesige Zornesträne auf die Seite
getropft.
Auf der nächsten Seite kam sie zu einem Zauberspruch
Zur Belebung des Geistes. Hier gab es weniger Bilder zu
sehen, aber die wenigen waren einfach wunderschön. Und
das, was Lucy las, war eher wie eine Geschichte als wie ein
Zauberspruch. Die Geschichte erstreckte sich über drei
Seiten, und bevor sie am Ende der Seite angelangt war,
hatte sie vergessen, daß sie las. Sie erlebte die Geschichte,
als geschähe sie in Wirklichkeit, und all die Bilder waren
ebenfalls wirklich. Als sie auf der dritten Seite angelangt
war und zu Ende gelesen hatte, dachte sie: Das ist die
schönste Geschichte, die ich jemals gelesen habe, oder die
ich jemals lesen werde. Oh, ich wollte, ich hätte zehn Jahre
lang weiterlesen können. Zumindest will ich sie noch
einmal lesen.
Aber hier begann die Zauberkraft des Buches zu wirken.
Man konnte nicht zurückblättern. Die rechten Seiten
konnte man umblättern; aber die linken Seiten nicht.
O wie schade! dachte Lucy. Ich hätte sie so gerne noch
einmal gelesen. Na ja, jedenfalls will ich sie mir merken.
Sie handelte von … von … o je, es verblaßt alles! Und
selbst der Teil auf dieser letzten Seite verschwindet! Das
ist ein sehr seltsames Buch. Wie kann es nur sein, daß ich
die Geschichte vergessen habe? Sie handelte von einem
Becher und einem Schwert und einem Baum und einem
- 142 -
grünen Berg, soviel weiß ich noch. Aber an den Rest kann
ich mich nicht mehr erinnern. Was soll ich bloß machen?
Aber es fiel ihr nie mehr ein. Seit jenem Tag empfand
Lucy jedesmal ein Glücksgefühl, wenn sie etwas erlebte,
was sie an diese vergessene Geschichte im Buch des
Zauberers erinnerte.
Sie blätterte um, und zu ihrer Überraschung waren auf
dieser Seite überhaupt keine Bilder. Doch die ersten Worte
lauteten: Ein Zauberspruch, um unsichtbare Dinge sichtbar
zu machen. Sie las ihn durch, um sich mit den schwierigen
Wörtern vertraut zu machen, dann sagte sie ihn laut vor
sich hin. Sie wußte sofort, daß er wirkte, denn während sie
sprach, wurden die Großbuchstaben oben auf der Seite
farbig, und am Rand tauchten die Bilder auf. Es war, wie
wenn etwas, was mit unsichtbarer Tinte geschrieben
wurde, nach und nach sichtbar wird. Aber statt die Farbe
von Zitronensaft anzunehmen (das ist die einfachste
unsichtbare Tinte), wurde hier alles golden und blau und
dunkelrot. Es waren eigenartige Bilder, und sie enthielten
viele Gestalten, die Lucy nicht allzusehr gefielen. Und
dann dachte sie: Ich glaube, ich habe alles sichtbar
gemacht, nicht nur die Stampfer. An einem Ort wie hier
gibt es ja vielleicht noch viele andere unsichtbare Dinge.
Ich bin nicht sicher, daß ich sie alle sehen will.
In diesem Augenblick hörte sie sanfte, schwere Schritte
auf dem Korridor hinter sich; und natürlich erinnerte sie
sich daran, daß man ihr gesagt hatte, der Zauberer liefe
immer auf bloßen Füßen herum und mache nicht mehr
Geräusche als eine Katze. Es ist immer besser, sich umzu-
drehen, statt sich von hinten anschleichen zu lassen, und
das tat Lucy. Dann leuchtete ihr Gesicht auf, und einen
- 143 -
Moment lang (aber das wußte sie natürlich nicht) sah sie
fast so schön aus wie die andere Lucy auf dem Bild, und
mit einem kleinen Aufschrei des Entzückens und mit
ausgestreckten Armen rannte sie vorwärts. Denn dort in der
Tür stand Aslan selbst, der Löwe, der höchste aller Könige.
Und er war fest und wirklich und warm, und er ließ es zu,
daß Lucy ihn küßte und sich in seiner schimmernden
Mähne vergrub. Und an dem leisen erdbebenartigen
Geräusch, das aus seinem Innern kam, meinte Lucy sogar
zu spüren, daß er schnurrte.
»O Aslan«, sagte sie. »Es ist lieb von dir, daß du
gekommen bist.«
»Ich war die ganze Zeit hier«, antwortete er. »Aber du
hast mich eben erst sichtbar gemacht.«
»Aslan!« meinte Lucy fast ein wenig vorwurfsvoll.
»Treibe keine Scherze mit mir. Als ob ich dich sichtbar
machen könnte!«
»Doch, das tatest du«, sagte Aslan. »Glaubst du denn
nicht, daß ich meinen eigenen Regeln gehorche?«
Nach einer kleinen Pause redete er weiter. »Kind«, sagte
er. »Ich glaube, du hast gelauscht.«
»Gelauscht?«
»Du hast gehört, was deine beiden Schulfreundinnen
über dich gesagt haben.«
»Oh, das meinst du? Ich hätte nie gedacht, daß das
Lauschen war, Aslan. War das nicht Zauberei?«
»Wenn man anderen Leuten durch Zauberei nach-
spioniert, ist das genauso, wie wenn man ihnen sonstwie
nachspioniert. Und du hast deine Freundin falsch einge-
schätzt. Sie ist schwach, aber sie liebt dich. Sie hatte Angst
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vor dem älteren Mädchen und hat deshalb etwas gesagt,
was gar nicht stimmt.«
»Ich glaube nicht, daß ich jemals vergessen werde, was
sie über mich gesagt hat.«
»Nein, das wirst du nicht.«
»O je«, sagte Lucy. »Habe ich jetzt alles verdorben?
Meinst du, wir wären weiterhin Freundinnen geblieben,
wenn das nicht passiert wäre – wirklich gute Freundinnen,
vielleicht fürs ganze Leben –, und daß es jetzt nicht mehr
möglich ist?«
»Kind«, sagte Aslan. »Habe ich dir nicht schon einmal
erklärt, daß niemand jemals erfährt, was passiert wäre!«
»Doch, Aslan, das hast du«, sagte Lucy. »Es tut mir leid.
Aber bitte …«
»Rede weiter, mein liebes Herz!«
»Werde ich jemals die Geschichte noch einmal lesen
dürfen, die, an welche ich mich nicht mehr erinnern kann?
Wirst du sie mir erzählen, Aslan? O bitte, bitte, bitte.«
»Ja, natürlich, ich werde sie dir noch jahrelang erzählen.
Aber jetzt komm. Wir müssen den Herrn des Hauses
begrüßen.«
- 145 -
Die Tölpelbeiner sind wieder glücklich
Lucy folgte dem großen Löwen hinaus auf den Flur, und
dort sah sie, daß ihnen ein alter Mann entgegenkam. Er war
barfuß und mit einer roten Robe bekleidet. Sein weißes
Haar war von einem Kranz aus Eichenblättern gekrönt,
sein Bart fiel bis auf den Gürtel, und er stützte sich auf
einen seltsam geschnitzten Stab. Als er Aslan sah,
verbeugte er sich tief und sagte: »Sei willkommen,
Herrscher, im bescheidensten Eurer Häuser.«
»Wirst du müde, Koriakin, über diese törichten
Geschöpfe zu herrschen, die ich dir überlassen habe?«
»Nein«, antwortete der Zauberer. »Sie sind sehr dumm,
aber sie tun nichts Böses. Ich fange an, diese Geschöpfe
liebzugewinnen. Manchmal bin ich vielleicht ein wenig
ungeduldig und sehne den Tag herbei, an dem man mit
Weisheit statt mit Zauberei über sie regieren kann.«
»Alles zu seiner Zeit, Koriakin«, sagte Aslan.
»Ja, alles zu seiner Zeit, Herrscher«, war die Antwort.
»Habt Ihr vor, Euch den Geschöpfen zu zeigen?«
»Nein«, sagte der Löwe mit einem leisen Brummen, das
(nach Lucys Meinung) so etwas wie ein Lachen war. »Ich
würde sie zu Tode erschrecken. Und heute vor Sonnen-
untergang muß ich Trumpkin, den Zwerg, besuchen, der im
Schloß von Feeneden sitzt und die Tage zählt, bis sein
König, Kaspian, heimkehrt. Ich werde ihm deine
Geschichte erzählen, Lucy. Mach kein so trauriges Gesicht.
Wir werden uns bald wiedersehen.«
»Bitte, Aslan«, sagte Lucy. »Was nennst du bald!«
- 146 -
»Ich nenne jegliche Zeit bald«, sagte Aslan. Im selben
Augenblick verschwand er, und Lucy blieb mit dem
Zauberer allein zurück.
»Weg!« sagte der. »Und wir beide sind ganz nieder-
geschlagen. So ist es immer – man kann ihn nicht halten.
Er ist eben kein zahmer Löwe. Und wie hat dir mein Buch
gefallen?«
»Teilweise sehr, sehr gut«, sagte Lucy. »Wußtest du die
ganze Zeit über, daß ich da war?«
»Nun, als ich zuließ, daß die Tölpel sich unsichtbar
machten, wußte ich natürlich, daß du bald kommen und
den Zauber aufheben würdest. Aber ich wußte nicht genau,
an welchem Tag das sein würde. Und heute morgen habe
ich nicht richtig aufgepaßt. Weißt du, sie hatten mich ja
auch unsichtbar gemacht, und wenn ich unsichtbar bin,
dann werde ich immer müde. Uuu-ah – da gähne ich schon
wieder. Hast du Hunger?«
»Na ja, vielleicht ein bißchen«, sagte Lucy. »Ich habe
keine Ahnung, wie spät es ist.«
»Komm«, sagte der Zauberer. »Für Aslan mag ja jegli-
che Zeit egal sein; aber in meinem Haus sind die hungrigen
Zeiten immer Essenszeiten.«
Er führte sie ein Stück den Gang hinunter und öffnete
eine Tür. Lucy trat ein und befand sich in einem schönen
Zimmer voller Sonnenlicht und Blumen. Als sie herein-
kam, war der Tisch leer. Aber auf ein Wort des Zauberers
hin erschienen ein Tischtuch, Besteck, Teller, Gläser und
Speisen.
»Ich hoffe, daß dir das schmeckt«, sagte der Zauberer.
»Ich habe versucht, dir Speisen zu servieren, die dem, was
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du zu Hause ißt, ähnlicher sind als das, was du in letzter
Zeit bekommen hast.«
»Es ist herrlich«, sagte Lucy. Und das war es auch. Da
gab es ein Omelette, noch ganz heiß, kaltes Lammfleisch
und grüne Erbsen und zum Nachtisch Stachelbeereis. Zu
trinken gab es Limonade und hinterher eine Tasse Schoko-
lade. Der Zauberer selbst trank nur Wein und aß nur Brot.
Nichts Beunruhigendes war an ihm, und schon bald unter-
hielten er und Lucy sich wie alte Freunde.
»Wann wird der Zauberspruch wirken?« fragte Lucy.
»Werden die Tölpel sofort wieder sichtbar werden?«
»O ja, sie sind schon jetzt wieder sichtbar. Aber vermut-
lich schlafen sie noch; sie halten immer Mittagsschlaf.«
»Wirst du sie jetzt auch von ihrer Häßlichkeit befreien,
jetzt, wo sie wieder sichtbar sind? Wirst du sie wieder in
das verwandeln, was sie vorher waren?«
»Nun, das ist eine schwierige Frage«, sagte der
Zauberer.
»Weißt du, nur sie selbst glauben, sie wären vorher so
hübsch gewesen. Sie sagen, man hätte sie häßlich gemacht,
aber ich nenne es nicht so. Viele Leute wären vielleicht der
Meinung, sie hätten sich zum Guten verwandelt.«
»Sind sie sehr eingebildet?«
»Ja, das sind sie. Oder zumindest der Obertölpel, und er
hat es all den anderen beigebracht. Sie glauben jedes Wort,
das er sagt.«
»Das haben wir gemerkt«, bestätigte Lucy.
»Ja – in gewisser Weise ging es ohne ihn besser. Natür-
lich könnte ich ihn in etwas anderes verwandeln, oder ich
könnte einen Zauber über ihn verhängen, daß sie ihm kein
einziges Wort mehr glauben. Aber das will ich nicht tun.
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Es ist besser für sie, ihn zu bewundern, als wenn sie gar
nichts bewundern.«
»Bewundern sie dich denn nicht?« fragte Lucy.
»Nein, mich doch nicht«, sagte der Zauberer. »Mich
würden sie nicht bewundern.«
»Warum hast du sie häßlich gemacht – ich meine, was
sie häßlich gemacht nennen?«
»Nun, sie wollten nicht tun, was ihnen befohlen wurde.
Es ist ihre Aufgabe, sich um den Garten zu kümmern und
Lebensmittel anzubauen – nicht für mich, wie sie anneh-
men, sondern für sich selbst. Sie würden es überhaupt nicht
tun, wenn ich es ihnen nicht befehlen würde. Und natürlich
braucht man für einen Garten Wasser. Eine halbe Meile
von hier am Berg ist eine herrliche Quelle. Und aus dieser
Quelle entspringt ein Bach, der direkt am Garten vorbei-
fließt. Ich habe ihnen lediglich befohlen, das Wasser aus
dem Bach zu holen, statt zweimal oder dreimal am Tag mit
Eimern zur Quelle hochzuklettern und auf dem Rückweg
die Hälfte des Wassers zu verschütten. Aber sie haben es
nicht begriffen. Zum Schluß weigerten sie sich einfach.«
»Sind sie denn so dumm?« fragte Lucy.
Der Zauberer seufzte. »Du kannst dir nicht vorstellen,
welche Schwierigkeiten ich schon mit ihnen hatte. Vor ein
paar Monaten waren sie alle dafür, die Teller und das
Besteck vor dem Essen abzuwaschen. Sie sagten, dadurch
würde man hinterher Zeit sparen. Ich habe sie dabei
erwischt, wie sie gekochte Kartoffeln in die Erde steckten,
um sich nach der Ernte das Kochen zu sparen. Eines Tages
schlich sich die Katze in die Milchkammer, und zwanzig
von ihnen machten sich an die Arbeit, die ganze Milch
hinauszuschaffen; keiner kam auf die Idee, die Katze
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wegzubringen. Aber ich sehe, daß du fertig bist. Komm,
wir schauen uns die Tölpel an, jetzt, wo man sie wieder
sehen kann.«
Sie gingen in ein anderes Zimmer, das schwer verständ-
liche Instrumente enthielt – wie Astrolaber, Orrerien,
Chronoskope, Poesiemeter, Choriambusen und Theolinden
–, und da, als sie am Fenster angelangt waren, sagte der
Zauberer: »Dort! Dort sind deine Tölpel!«
»Ich sehe niemand«, sagte Lucy. »Aber was sind denn
das für Pilzdinger?«
Die Dinger, auf die sie deutete, waren auf der ganzen
Rasenfläche verteilt. Sie sahen ohne Zweifel ganz so aus
wie Pilze, aber sie waren viel zu groß – der Stiel war etwa
einen Meter lang, und der Schirm hatte einen Durchmesser
der gleichen Länge. Als sie genau hinschaute, sah sie auch,
daß der Stiel nicht in der Mitte, sondern an der Seite des
Schirms angewachsen war, wodurch es so aussah, als wäre
das Gleichgewicht ein wenig gestört. Und am Fuß des
Stiels lag etwas – ein kleines Bündel – auf dem Gras. Je
länger sie die Dinger anstarrte, desto weniger schienen sie
Pilzen zu gleichen. Der Schirmteil war nicht richtig rund,
wie sie zuerst angenommen hatte. Er war länger als breit,
und an einem Ende war er etwas breiter als am anderen.
Mindestens fünfzig dieser Dinger lagen herum.
Die Uhr schlug drei.
Sofort passierte etwas sehr Eigenartiges. Jeder »Pilz«
drehte sich plötzlich um. Die kleinen Bündel, die am Fuß
des Stiels gelegen hatten, waren Kopf und Körper. Die
Stiele waren die Beine. Aber es waren nicht jeweils zwei
Beine, sondern zu jedem Körper gehörte nur ein einziges
Bein. Dieses eine Bein war nicht an einer Seite ange-
- 150 -
wachsen wie bei einem Menschen, der nur ein Bein hat,
sondern es schloß direkt an den Körper an. Am Ende des
Beines befand sich ein einziger, riesiger Fuß – ein
breitzehiger Fuß. Die Zehen wölbten sich ein wenig nach
oben, wodurch der Fuß fast so aussah wie ein kleines
Kanu. Sofort wurde Lucy klar, warum sie wie Pilze
ausgesehen hatten. Sie hatten platt auf dem Rücken
gelegen, das Bein senkrecht in die Höhe gestreckt und den
riesigen Fuß darüber ausgebreitet. Später erfuhr Lucy, daß
dies ihre normale Ruhestellung war; denn der Fuß hielt
sowohl den Regen als auch die Sonne ab, und für einen
Einbeiner war es unter seinem eigenen Fuß fast genauso
gemütlich wie für andere in einem Zelt.
»Oh, wie lustig sie aussehen, wie lustig!« rief Lucy und
brach in Gelächter aus. »Hast du sie so gemacht?«
»Ja, ja, ich habe die Tölpel in Einbeiner verwandelt«,
sagte der Zauberer. Auch er lachte, bis ihm die Tränen
herunterliefen. »Aber schau mal zu!« fügte er hinzu.
Es lohnte sich zuzuschauen. Natürlich konnten diese
kleinen einfüßigen Männchen nicht so gehen oder rennen
wie wir. Sie bewegten sich hüpfend, wie Flöhe oder
Frösche. Und was für Sprünge sie machten! So, als
bestünden diese riesigen Füße aus einem Satz Sprung-
federn. Und mit was für einem Schwung sie wieder auf
dem Boden landeten! Das war das Stampfgeräusch, das
Lucy so verwirrt hatte. Jetzt hüpften sie nach allen Seiten
und riefen einander zu: »He, Kameraden! Wir sind wieder
sichtbar!«
»Das sind wir«, sagte einer, der eine rote Mütze mit
vielen Troddeln trug und der offensichtlich der Anführer
- 151 -
der Einbeiner war. »Und ich sage euch – wenn die Leute
sichtbar sind, dann kann man sie sehen.«
»Ja, so ist es, so ist es, Boß«, riefen alle anderen. »Ganz
recht. Keiner kann klarer denken als du. Du hättest es nicht
besser ausdrücken können.«
»Das kleine Mädchen hat es geschafft, während der alte
Herr seinen Mittagsschlaf hielt«, verkündete der Anführer.
»Diesmal ist es uns gelungen, ihn zu überrumpeln!«
»Genau das wollten wir eben auch sagen«, stimmte der
Chor zu. »Du bist heute noch besser als je zuvor. Weiter
so, weiter so.«
»Wie können sie es wagen, so über dich zu sprechen?«
fragte Lucy. »Gestern schienen sie noch Angst vor dir zu
haben. Ob sie wohl nicht auf die Idee kommen, du könntest
ihnen zuhören?«
»Das ist eine von den komischen Eigenschaften der
Tölpel«, sagte der Zauberer. »Manchmal reden sie so, als
würde ich alles bestimmen, alles mithören und als wäre ich
sehr gefährlich. Und im nächsten Moment sind sie der
Ansicht, sie könnten mich mit Tricks hereinlegen, die jedes
kleine Kind durchschaut.«
»Muß man sie wieder in ihre normale Gestalt zurück-
verwandeln?« fragte Lucy. »Macht es ihnen wirklich so
viel aus, daß sie so sind, wie sie sind? Sie scheinen recht
zufrieden zu sein. Da – schau dir diesen Sprung an! Wie
haben sie denn vorher ausgesehen?«
»Es waren ganz gewöhnliche kleine Zwerge«, sagte der
Zauberer. »Längst nicht so hübsch wie die Zwerge von
Narnia.«
»Es wäre wirklich ein Jammer, wenn man sie zurück-
verwandeln würde«, sagte Lucy. »Sie sind so komisch –
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und sie sind sehr süß. Meinst du, es nützt etwas, wenn ich
ihnen das sage?«
»Ganz bestimmt – sofern du es ihnen begreiflich machen
kannst.«
»Kommst du mit und hilfst mir dabei?«
»Nein, nein. Allein schaffst du es bestimmt viel besser.«
»Vielen Dank für das Essen«, sagte Lucy und wandte
sich schnell ab. Sie rannte die Treppe hinunter, die sie am
Morgen so ängstlich bestiegen hatte. Am Fuß der Treppe
prallte sie mit Edmund zusammen. Alle anderen waren
auch da und warteten, und Lucy bekam ein schlechtes
Gewissen, als sie ihre besorgten Gesichter sah und ihr klar
wurde, wie lange sie weggeblieben war und ihre Freunde
vergessen hatte.
»Alles in Ordnung!« rief sie. »Alles klar! Der Zauberer
ist ganz phantastisch – und Aslan habe ich auch gesehen.«
Dann rannte sie wie der Blitz hinaus in den Garten. Dort
bebte die Erde von den Sprüngen der Einbeiner, und die
Luft vibrierte von ihren Rufen. Und beides verstärkte sich
noch, als sie Lucy sahen.
»Da kommt sie, da kommt sie«, riefen sie. »Ein drei-
faches Hurra für das kleine Mädchen! Ah! Sie hat es dem
alten Herrn gezeigt! Ja, das hat sie!«
»Es tut uns außerordentlich leid«, sagte der Oberein-
beiner, »daß du uns nicht so sehen kannst, wie wir
ausgesehen haben, bevor wir häßlich gemacht wurden. Du
würdest nicht glauben, wie wir damals ausgesehen haben,
ganz bestimmt nicht, denn es läßt sich nicht leugnen, daß
wir jetzt furchtbar häßlich sind.«
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»Ja, das sind wir, Boß, das sind wir!« fielen die anderen
mit ein und hüpften auf und ab wie Spielzeugballons. »Du
sagst es, du sagst es!«
»Aber das finde ich überhaupt nicht!« rief Lucy laut,
damit alle sie hören konnten. »Ich finde, ihr seht sehr
hübsch aus.«
»Hört, hört!« sagten die Einbeiner. »Das stimmt,
Fräuleinchen. Wir sehen sehr hübsch aus. Ein hübscheres
Völkchen gibt es nicht.« Das sagten sie ohne jegliche
Überraschung, und es schien ihnen nicht aufzufallen, daß
sie vorher genau das Gegenteil behauptet hatten.
Doch bevor sie an diesem Abend zu Bett gingen,
geschah noch etwas. Und danach waren die Einbeiner mit
ihrem einen Bein noch zufriedener. Kaspian und die
anderen gingen so schnell wie möglich zum Strand
hinunter, um Rhince und den anderen an Bord, die
inzwischen sehr in Sorge waren, Bescheid zu sagen. Und
natürlich gingen die Einbeiner mit. Sie hüpften auf und ab
wie Fußbälle und stimmten sich gegenseitig lautstark zu,
bis Eustachius sagte: »Ich wollte, der Zauberer würde sie
statt unsichtbar unhörbar machen.«
Als sie bei der Bucht ankamen, hatte Riepischiep eine
ausgezeichnete Idee. Er ließ sein kleines Weidenboot zu
Wasser und paddelte herum, bis die Einbeiner aufmerksam
wurden. Dann stellte er sich in seinem Boot auf und sagte:
»Ehrenwerte und kluge Einbeiner! Ihr braucht keine Boote!
Jeder von euch hat einen Fuß, den er statt dessen benutzen
kann. Ihr müßt so leichtfüßig wie möglich auf dem Wasser
hüpfen, dann werdet ihr sehen, was geschieht.«
Der Obereinbeiner zögerte und warnte die anderen, daß
das Wasser sehr naß sei. Aber einer oder zwei der jüngeren
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versuchte es sofort, und dann folgten ein paar weitere
ihrem Beispiel, und schließlich beteiligten sich alle. Es
klappte ausgezeichnet. Der riesige Fuß der Einbeiner diente
als natürliches Floß oder Boot, und nachdem Riepischiep
ihnen beigebracht hatte, wie man ein einfaches Paddel
schnitzt, paddelten sie alle in der Bucht und um die
»Morgenröte« herum und sahen aus wie eine Flotte kleiner
Kanus, in deren Heck dicke Zwerge standen. Sie paddelten
um die Wette, vom Schiff wurden Weinflaschen als Preise
für sie herabgelassen, und die Matrosen lehnten sich über
die Reling und lachten, bis ihnen alles weh tat.
Auch über ihren neuen Namen »Einbeiner« waren die
Tölpel sehr glücklich. Sie fanden ihn phantastisch – nur
sagten sie ihn immer falsch. »Das sind wir!« riefen sie.
»Eimerbeine, Beinheimer, Heimerbeiner. Genau dieser
Name lag uns selbst schon auf der Zunge.« Aber schon
bald brachten sie ihn mit ihrem alten Namen – Tölpel –
durcheinander, und schließlich nannten sie sich Tölpel-
beiner. Und so werden sie vermutlich für alle Zeiten
genannt.
Am Abend speisten alle Narnianen oben beim Zauberer.
Lucy fiel auf, wie anders das obere Stockwerk plötzlich
aussah, jetzt, wo sie keine Angst mehr hatte. Die geheim-
nisvollen Zeichen an den Türen waren noch immer
geheimnisvoll, aber jetzt schienen sie eine freundliche und
heitere Bedeutung zu haben, und selbst der bärtige Spiegel
sah jetzt eher lustig als furchterregend aus. Beim Abend-
essen bekam jeder durch Zauberei das zu essen und zu
trinken, was er am liebsten mochte. Und nach dem Essen
veranstaltete der Zauberer eine sehr praktische und schöne
Zauberei. Er legte zwei leere Bogen Pergament auf den
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Tisch und bat Drinian, ihm einen genauen Bericht ihrer
Reise zu geben; und während Drinian sprach, erschien all
das, was er beschrieb, in feinen und klaren Linien auf dem
Pergament, bis die Blätter schließlich zu phantastischen
Karten geworden waren. Sie zeigten die östlichen Meere
mit Galma, Terebinthia, den Sieben Inseln, den Einsamen
Inseln, der Dracheninsel, der Verbrannten Insel, der Todes-
wasserinsel und dem Land der Tölpel, und alles hatte
genau die richtige Größe und war an der richtigen Stelle
eingezeichnet. Dies waren die allerersten Karten von
diesen Meeren, und sie waren besser als all die Karten, die
inzwischen ohne Zauberei gemacht wurden. Denn die
Städte und die Berge auf diesen Karten sahen zwar so aus
wie auf einer normalen Karte, aber nachdem der Zauberer
seinen Gästen ein Vergrößerungsglas geliehen hatte, sahen
sie, daß es perfekte kleine Abbilder der Wirklichkeit
waren; so konnte man zum Beispiel das Schloß und den
Sklavenmarkt und die Straßen von Enghafen erkennen, und
alles war ganz klar und doch weit weg, so, wie die Dinge
durch das falsche Ende eines Teleskops aussehen. Der
einzige Nachteil war, daß die Küsten der meisten Inseln
unvollständig waren, denn die Karte zeigte nur das, was
Drinian mit eigenen Augen gesehen hatte. Als die beiden
Karten fertig waren, behielt der Zauberer eine für sich und
gab die andere Kaspian. Diese Karte hängt noch immer in
seinem Instrumentenzimmer in Feeneden. Aber von
Meeren oder Ländern weiter im Osten konnte ihnen der
Zauberer nichts sagen. Er sagte ihnen jedoch, daß vor
sieben Jahren ein narnianisches Schiff in seinen Gewässern
angelegt habe und daß sich die Lords Revilian, Argoz,
Mavramorn und Rhoop an Bord befunden hätten. Daraus
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schlossen sie, daß der goldene Mann, den sie im Todes-
wasser gesehen hatten, Lord Restimar gewesen sein mußte.
Am nächsten Tag reparierte der Zauberer durch Zauberei
das von der Seeschlange beschädigte Heck der »Morgen-
röte« und belud das Schiff mit praktischen Geschenken.
Sie verabschiedeten sich sehr freundschaftlich, und als die
»Morgenröte« zwei Stunden nach Mittag ablegte, paddel-
ten alle Tölpelbeiner bis zur Mündung der Bucht mit und
jubelten, bis sie außer Hörweite waren.
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Die dunkle Insel
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»Stellt euch bereit, Männer, und zieht ihn herauf!«
befahl Kaspian.
»Ay, ay, Majestät«, sagten die Matrosen. Einige
drängten sich mit Tauen an Backbord, und einer lehnte sich
weit über die Bordwand und hielt die Fackel. Ein wildes,
weißes Gesicht erschien in der Schwärze des Wassers, und
nach einigem Strampeln und Ziehen hatten ein Dutzend
hilfreiche Hände den Fremden an Bord gehievt.
Edmund hatte noch nie einen derart wild aussehenden
Mann gesehen. Obwohl er sonst eigentlich nicht sehr alt
wirkte, war doch sein zerzaustes Haar schneeweiß, sein
Gesicht schmal und eingefallen, und als Kleidung trug er
nur ein paar nasse Lumpen am Leib. Aber was am meisten
auffiel, waren seine Augen. Sie waren so weit aufgerissen,
daß es aussah, als hätte er überhaupt keine Augenlider, und
er starrte sie an, als stünde er Todesängste aus. Im selben
Augenblick, als er auf Deck stand, rief er: »Fliegt! Fliegt!
Wendet euer Schiff und fliegt! Rudert! Rudert um euer
Leben, und verlaßt dieses verfluchte Gestade!«
»Beruhigt Euch!« antwortete Riepischiep. »Und sagt
uns, welche Gefahr uns hier droht! Wir sind nicht gewohnt,
zu fliegen.«
Der Fremde fuhr zusammen, als er die Stimme der Maus
hörte, die er bis dahin nicht gesehen hatte.
»Trotzdem müßt ihr von hier wegfliegen!« keuchte er.
»Dies ist die Insel, wo die Träume wahr werden.«
»Nach dieser Insel habe ich schon lange gesucht!« sagte
einer der Matrosen. »Vielleicht stelle ich fest, daß ich mit
Nancy verheiratet bin, wenn wir hier an Land gehen.«
»Und ich stelle fest, daß Tom wieder am Leben ist«,
sagte ein anderer.
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»Narren!« rief der Mann und stampfte vor Zorn mit dem
Fuß auf. »Diese Art Geschwätz hat mich hierhergebracht,
und ich wäre besser ertrunken oder nie geboren worden.
Hört ihr, was ich sage? Hier werden Träume wahr und
erwachen zum Leben – Alpträume, versteht ihr? Nicht
Tagträume: Alpträume!«
Etwa eine halbe Minute lang herrschte Schweigen, dann
stolperten alle Männer mit klirrender Rüstung und so
schnell sie konnten die Hauptluke hinunter, warfen sich an
die Ruder und ruderten, wie sie noch nie gerudert hatten.
Drinian warf das Steuer herum, und der Bootsmann gab
den schnellsten Ruderschlag an, der je auf See gehört
worden ist. Denn es hatte genau diese halbe Minute
gedauert, bis sich jeder an gewisse Träume erinnerte, die er
einmal gehabt hatte – Alpträume, die einem Angst machen,
wieder einzuschlafen – und bis jedem klargeworden war,
was es bedeutete, ein Land zu betreten, wo Träume wahr
werden.
Nur Riepischiep blieb gelassen. »Eure Majestät«, sagte
er. »Wollt Ihr diese Meuterei, diese Feigheit dulden? Dies
ist ehrlose Flucht!«
»Rudert, rudert!« bellte Kaspian. »Rudert um euer
Leben! Steht das Schiff richtig, Driniart? Sag, was du
willst, Riepischiep! Es gibt Dinge, die kein Mensch
ertragen kann!«
»Dann ist es mein Glück, daß ich kein Mensch bin«,
erwiderte Riepischiep mit einer steifen Verbeugung.
Lucy hatte von oben alles mit angehört. Augenblicklich
kam einer ihrer Träume zurück, den sie unbedingt hatte
vergessen wollen, und er war so wirklich, als wäre sie eben
erst aufgewacht. Also das war es, was hinter ihnen auf der
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Insel und in der Dunkelheit lag! Eine Sekunde lang wollte
sie zum Deck hinuntersteigen, um bei Edmund und
Kaspian zu sein. Aber wozu? Wenn die Träume wahr
wurden, dann verwandelten sich Edmund und Kaspian
vielleicht genau in dem Moment, wo sie die beiden
erreichte, in etwas Furchtbares. Sie packte das Geländer
der Kampfplattform und versuchte sich zu beherrschen. Sie
ruderten so schnell wie möglich zum Licht zurück: in ein
paar Minuten würde alles in Ordnung sein. Wenn es nur
schon so weit wäre!
Obwohl das Rudern ziemlichen Krach machte, über-
deckte es doch nicht die totale Stille, die das Schiff umgab.
Jedermann wußte, daß es besser war, nicht nach einem
Geräusch aus der Dunkelheit zu lauschen. Trotzdem kam
keiner dagegen an, doch zu lauschen. Und schon bald hörte
jeder von ihnen Geräusche. Und jeder hörte etwas anderes.
»Hörst du das? Es klingt… wie eine riesige Schere, die
auf- und zuklappt… dort drüben?« fragte Eustachius, zu
Rynelf gewandt.
»Pst!« sagte Rynelf. »Ich höre, wie sie an den Schiffs-
wänden emporkrabbeln.«
»Es läßt sich gerade auf dem Mast nieder«, sagte
Kaspian.
»Ohhh!« sagte ein Matrose. »Jetzt beginnt der Gong zu
schlagen. Ich wußte, daß das geschehen würde!«
Kaspian versuchte, nirgendwohin zu blicken (und vor
allem nicht nach hinten), und ging nach achtern zu Drinian
»Drinian«, sagte er mit sehr leiser Stimme. »Wie lange
haben wir gebraucht, um hineinzurudern – ich meine bis
dorthin, wo wir den Fremden an Bord genommen haben?«
»Vielleicht fünf Minuten«, flüsterte Drinian. »Warum?«
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»Weil wir schon länger dabei sind, wieder hinauszu-
rudern.«
Drinians Hand auf der Ruderpinne zitterte, und der kalte
Schweiß rann ihm über das Gesicht. Allen anderen an Bord
war schon derselbe Gedanke gekommen. »Wir werden nie
hinausgelangen, nie!« stöhnten die Ruderer. »Er steuert uns
in die falsche Richtung! Wir fahren im Kreis herum!« Der
Fremde, der zusammengekauert an Deck gelegen hatte,
setzte sich auf und brach in schreckliches, kreischendes
Gelächter aus.
»Nie!« schrie er. »Das ist es! Natürlich! Wir werden nie
hinausgelangen! Welcher Narr ich war, anzunehmen, sie
würden mich so einfach ziehen lassen! Nein, nein, wir
werden nie hinauskommen!«
Lucy lehnte den Kopf gegen das Geländer der Kampf-
plattform und flüsterte: »Aslan, wenn du uns je geliebt
hast, dann schick uns Hilfe!« Die Dunkelheit ließ nicht
nach, aber Lucy begann, sich ein wenig – ein klitzekleines
bißchen – besser zu fühlen. Immerhin ist uns bis jetzt
eigentlich nichts passiert, dachte sie.
»Seht!« erklang die heisere Stimme Rynelfs vom Bug.
Vor ihnen lag ein winziger Lichtfleck, und während sie
darauf starrten, fiel ein breiter Lichtstrahl auf das Schiff.
Die umliegende Dunkelheit veränderte sich nicht, aber das
ganze Schiff war wie von einem Suchlicht erhellt. Kaspian
blinzelte, blickte um sich und sah die wilden, unbeweg-
lichen Gesichter der anderen. Alle sahen in die gleiche
Richtung; hinter jedem lag ein schwarzer, scharf umran-
deter Schatten.
Lucy schaute in die Richtung des Lichtstrahls, und
plötzlich entdeckte sie dort etwas. Zuerst sah es aus wie ein
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Kreuz, dann wie ein Flugzeug, dann wie ein Drachen, und
zuletzt – mit einem Flügelflattern – war es genau über ihr.
Es war ein Albatros. Er umflog dreimal den Mast, dann
hockte er einen Moment lang auf der Spitze des
vergoldeten Drachen am Bug. Mit einer kräftigen und
wohlklingenden Stimme rief er etwas. Es klang so, als
wären es Worte, doch niemand verstand es. Dann breitete
er die Schwingen aus, erhob sich und begann langsam
vorauszufliegen. Er hielt leicht nach steuerbord. Drinian,
der nicht daran zweifelte, daß der Vogel sie führen wollte,
steuerte ihm nach. Nur Lucy wußte, daß er ihr zugeflüstert
hatte: »Mut, mein liebes Herz!«, als er den Mast umflog,
und die Stimme, da war sie ganz sicher, war die Stimme
Aslans gewesen.
In Sekundenschnelle verwandelte sich die Dunkelheit
vor ihnen in Dämmerlicht, und dann, bevor sie es wagten,
Hoffnung zu schöpfen, schossen sie ins Sonnenlicht hinaus
und fanden sich wieder in einer warmen, blauen Welt. Fast
sofort wurde allen klar, daß es nichts gab, wovor man sich
fürchten mußte, und daß es auch nie etwas gegeben hatte.
Sie blinzelten und sahen sich um. Die Helligkeit des
Schiffes verwunderte sie: halb hatten sie erwartet, die
Dunkelheit würde an dem Weiß, dem Grün und dem Gold
in Form von Schmutz oder Schaum klebenbleiben. Dann
begann einer zu lachen und dann noch einer.
»Ich glaube, wir haben uns aufgeführt wie die Narren«,
sagte Rynelf.
Lucy verlor keine Zeit und kam rasch auf das Deck
herunter, wo sie die anderen um den Fremden versammelt
fand. Dieser war lange Zeit zu glücklich, um zu reden. Er
starrte das Meer und die Sonne an und tastete die Seiten-
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wände und die Taue ab, als wolle er sicherstellen, daß er
nicht träumte. Tränen rannen über seine Wangen hinab.
»Danke«, sagte er schließlich. »Ihr habt mich gerettet
aus … aber ich will nicht darüber reden. Und nun sagt mir,
wer ihr seid! Ich bin ein Telmarer aus Narnia, und einst, als
ich noch etwas darstellte, nannte man mich Lord Rhoop.«
»Und ich«, sagte Kaspian, »ich bin Kaspian, König von
Narnia, und ich bin unterwegs, um Euch und Eure Gefähr-
ten zu finden, die Ihr die Freunde meines Vaters wart.«
Lord Rhoop fiel auf die Knie und küßte die Hand des
Königs. »Herr«, sagte er, »Ihr seid der Mann, den ich mir
am meisten zu sehen gewünscht habe. Gewährt mir einen
Wunsch!«
»Und welchen?« fragte Kaspian.
»Mich nie mehr dorthin zurückzubringen«, antwortete
der Mann. Er deutete nach hinten. Alle Augen folgten ihm.
Aber sie sahen nur das klare blaue Meer und klaren blauen
Himmel. Die dunkle Insel und die Dunkelheit waren für
immer verschwunden.
»Wie!« rief Lord Rhoop. »Ihr habt es zerstört!«
»Ich glaube nicht, daß wir es waren«, entgegnete Lucy.
»Herr«, sagte Drinian, »der Wind weht Richtung Süd-
osten. Soll ich die armen Männer an den Rudern erlösen
und das Segel setzen lassen? Und dann sollte sich jeder,
der nicht unbedingt gebraucht wird, in seine Hängematte
legen.«
»Ja«, sagte Kaspian. »Und jeder soll Grog erhalten.
Uuu-ah, ich habe das Gefühl, ich könnte selbst einmal rund
um die Uhr schlafen.«
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Und so segelten sie frohgemut den ganzen Nachmittag
bei gutem Wind nach Südosten. Niemand hatte bemerkt,
wann der Albatros verschwunden war.
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Die drei Schläfer
Der Wind legte sich nicht, aber er wurde von Tag zu Tag
sanfter, bis die Wellen schließlich fast verschwunden
waren und das Wasser sich nur noch leicht kräuselte.
Stunde um Stunde glitt das Schiff dahin, als segelten sie
auf einem See. Und jede Nacht sahen sie, daß im Osten
neue Sternbilder aufzogen, die keiner in Narnia je gesehen
hatte und die, wie Lucy in einer Mischung aus Freude und
Furcht dachte, vielleicht überhaupt noch kein menschliches
Auge erblickt hatte. Diese neuen Sterne waren groß und
hell, und die Nächte waren warm. Die meisten der Männer
schliefen an Deck und redeten bis tief in die Nacht, oder sie
beugten sich über die Reling und beobachteten den wilden
Tanz des vom Bug aufgeworfenen Schaums.
An einem unsagbar schönen Abend, als hinter ihnen die
Sonne so blutrot und breit gefächert unterging, daß es
schien, als wäre der Himmel selbst größer geworden,
sichteten sie vor sich in Richtung Steuerbord Land. Es kam
langsam näher, und durch den Widerschein der Sonne sah
es so aus, als stünden all die Hügel und die Landzungen
dieses neuen Landes in Flammen. Schon bald segelten sie
an den Küsten entlang, und das westliche Kap ragte hinter
ihnen auf und hob sich so schwarz und mit so klaren Linien
vor dem roten Himmel ab, als wäre es aus Pappe
geschnitten. Jetzt konnten sie besser erkennen, wie dieses
neue Land aussah. Es gab keine hohen Berge, sondern
viele sanfte Hügel mit kissenartigen Hängen. Dieses Land
verströmte einen angenehmen Geruch – Lucy nannte ihn
einen »dunklen purpurnen Geruch«, was, wie Edmund
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sagte (und Rhince dachte), Quatsch war, doch Kaspian
sagte: »Ich weiß, was du damit meinst, Lucy.«
Sie segelten ein gutes Stück weiter, an einer Landzunge
nach der anderen vorbei, in der Hoffnung, einen schönen
und tiefen Hafen zu finden, doch schließlich mußten sie
sich mit einer breiten und flachen Bucht zufriedengeben.
Zwar war das Wasser draußen auf dem Meer ruhig
gewesen, doch hier brach es sich natürlich auf dem Sand,
und so konnten sie die »Morgenröte« nicht so weit herein-
bringen, wie ihnen lieb gewesen wäre. Sie warfen ein gutes
Stück vor der Küste Anker und landeten schließlich naß
und unsanft mit ihrem Boot. Lord Rhoop blieb an Bord. Er
wollte keine Inseln mehr sehen. Während der ganzen Zeit
auf der Insel hatten sie den Klang der langgezogenen
Brecher in den Ohren.
Zwei Männer wurden zurückgelassen, um das Boot zu
bewachen, und Kaspian führte die anderen landeinwärts.
Doch sie gingen nicht weit, denn es war zu spät, um die
Gegend zu erkunden, und bald würde es dunkel werden.
Aber sie mußten nicht weit gehen, um auf das erste
Abenteuer zu stoßen. In dem flachen, an die Bucht
angrenzenden Tal war weder eine Straße noch ein anderes
menschliches Zeichen zu sehen. Der Boden war mit
feinem, federndem Gras bewachsen, durchzogen von
einzelnen Flecken niedriger buschiger Gewächse, die
Edmund und Lucy für Heidekraut hielten. Eustachius, der
in Biologie wirklich ganz gut war, sagte allerdings, es sei
kein Heidekraut, und vermutlich hatte er recht; aber auf
jeden Fall war es etwas sehr Ähnliches.
Kaum einen Pfeilschuß von der Küste entfernt, rief
Drinian: »Schaut! Was ist das?«, und alle hielten an.
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»Sind das große Bäume?« fragte Kaspian.
»Es sind Türme, glaube ich«, sagte Eustachius.
»Es könnten Riesen sein«, sagte Edmund leise.
»Am schnellsten finden wir das heraus, wenn wir hin-
gehen«, sagte Riepischiep. Er zog das Schwert und stapfte
allen anderen voran.
»Ich glaube, es ist eine Ruine«, sagte Lucy, als sie ein
gutes Stück näher waren, und ihre Vermutung war bisher
die treffendste. Jetzt sahen sie einen breiten, rechteckigen,
mit glatten Steinen ausgelegten Platz. Um den Platz herum
standen Säulen, doch er war nicht überdacht. Und über die
ganze Länge des Platzes stand ein langer Tisch, auf dem
ein blutrotes Tuch lag, das fast bis auf die Steinplatten
hinabhing. Auf beiden Seiten des Tisches standen viele
reichverzierte steinerne Stühle mit seidenen Kissen auf
dem Sitz. Und auf dem Tisch selbst stand ein Mahl, wie es
noch nie gesehen ward, nicht einmal damals, als Peter der
Prächtige in Feeneden Hof hielt. Es gab Truthähne, Gänse
und Pfauen, Köpfe von Wildschweinen und riesige Wild-
bretbraten, es gab Pasteten, die aussahen wie Schiffe mit
gesetzten Segeln, wie Drachen und wie Elefanten, es gab
Eiscreme, leuchtenden Hummer und schimmernden Lachs,
es gab Nüsse und Trauben, Ananas und Pfirsiche, Granat-
äpfel, Melonen und Tomaten. Da waren goldene und
silberne Krüge und eigenartig geformte Gläser; und der
Duft von Früchten und von Wein wehte ihnen entgegen
wie ein Versprechen vollkommener Glückseligkeit.
»Meine Güte!« sagte Lucy.
»Aber wo sind die Gäste?« fragte Eustachius.
»Die können wir liefern, Herr«, sagte Rhince.
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»Schaut!« sagte Edmund scharf. Sie waren inzwischen
an den Säulen vorbeigegangen und standen auf dem mit
Platten ausgelegten Platz. Alle schauten in die Richtung, in
die Edmund gedeutet hatte. Nicht alle Stühle waren leer.
Am Kopf des Tisches und auf den beiden Plätzen daneben
war etwas – oder vielleicht war es ein dreifaches Etwas.
»Was ist das denn?« flüsterte Lucy. »Es sieht so aus, als
säßen drei Dachse am Tisch.«
»Oder vielleicht ist es ein riesiges Vogelnest?« schlug
Edmund vor.
»Ich finde, es sieht eher so aus wie ein Ballen Heu«,
sagte Kaspian.
Riepischiep rannte vor, sprang auf einen Stuhl und von
dort auf den Tisch. Dann balancierte er so elegant wie ein
Tänzer zwischen juwelenbesetzten Bechern, Obstpyra-
miden und Salzfäßchen aus Elfenbein. Er lief geradewegs
zu der geheimnisvollen grauen Masse am Ende des
Tisches, betrachtete sie, berührte sie und rief dann: »Ich
glaube, die werden nicht kämpfen.«
Jetzt kamen alle näher und sahen, daß es Männer waren,
die auf diesen drei Stühlen saßen, obwohl man sie nur als
Männer erkennen konnte, wenn man ganz genau hin-
schaute. Ihr Haar war grau, und es war ihnen über die
Augen gewachsen, bis es fast das Gesicht verdeckte. Und
ihre Barte waren auf den Tisch heruntergewachsen und
umschlangen Teller und Kelche, so, wie Dornengestrüpp
einen Zaun umschlingt, und von dort aus hing alles zu
einer dichten Matte verwachsen über den Rand des Tisches
und bis auf den Boden. Das Haar hing von ihrem Hinter-
kopf über die Stuhllehne und verdeckte diese vollständig.
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Tatsächlich schienen die drei Männer fast nur aus Haar zu
bestehen.
»Sind sie tot?« fragte Kaspian.
»Ich glaube nicht, Herr«, antwortete Riepischiep und
hob mit den Pfoten eine Hand aus dem Gewirr von Haaren.
»Diese Hand hier ist warm, und der Puls schlägt.«
»Und diese auch, und jene ebenfalls«, sagte Drinian.
»Meine Güte, sie schlafen nur«, sagte Eustachius.
»Aber es muß schon ein langer Schlaf sein«, sagte
Edmund, »wenn ihr Haar so gewachsen ist.«
»Es muß ein Zauberschlaf sein«, sagte Lucy. »Schon als
wir auf der Insel landeten, habe ich gespürt, daß sie voller
Zauber ist. Oh! Glaubt ihr, wir sind gekommen, um sie aus
diesem Schlaf aufzuwecken?«
»Wir können es versuchen«, sagte Kaspian und begann,
den Schläfer zu schütteln, der ihm am nächsten saß. Einen
Augenblick lang dachten alle, er könne Erfolg haben, denn
der Mann machte einen tiefen Atemzug und murmelte:
»Ich fahre nicht weiter nach Osten. Ruder klar für Narnia!«
Aber er fiel sofort wieder in Schlaf. Sein schwerer Kopf
sank noch ein paar Zentimeter tiefer auf den Tisch herab,
und alle Anstrengungen, ihn wieder aufzuwecken, waren
ohne Erfolg. Beim zweiten geschah mehr oder weniger
dasselbe. »Wir wurden nicht geboren, um zu leben wie die
Tiere. Fahrt nach Osten, solange ihr noch könnt – Länder
hinter der Sonne«, murmelte er, und damit sank sein Kopf
auf den Tisch. Und der dritte sagte nur: »Senf bitte« und
schlief fest ein.
»Ruder klar für Narnia, hm?« sagte Drinian.
»Ja«, sagte Kaspian. »Ihr habt recht, Drinian. Ich glaube,
unsere Suche hat ein Ende. Laßt uns die Ringe anschauen!
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Ja, das sind sie. Das ist Lord Revilian. Das ist Lord Argoz;
und dies ist Lord Mavramorn.«
»Aber wir können sie nicht aufwecken«, sagte Lucy.
»Was sollen wir tun?«
»Mit der Erlaubnis Eurer Majestäten«, sagte Rhince,
»aber warum greifen wir nicht zu, während wir das bespre-
chen? Eine solche Mahlzeit wird uns nicht jeden Tag
geboten.«
»Nicht um alles in der Welt«, sagte Drinian.
»Ganz richtig, ganz richtig«, sagten einige der Matrosen.
»Es gibt hier zuviel Zauberei. Je früher wir zurück an Bord
kommen, desto besser.«
»Ihr könnt sicher sein, daß die drei Lords in einen
siebenjährigen Schlaf versunken sind, weil sie von diesen
Sachen hier gegessen haben«, sagte Riepischiep.
»Ich würde nichts davon anrühren, selbst wenn mein
Leben davon abhinge«, sagte Drinian.
»Es wird ungewöhnlich rasch dunkel«, sagte Rynelf.
»Zurück an Bord«, murrten die Männer.
»Ich glaube wirklich, daß sie recht haben«, sagte Ed-
mund. »Wir können morgen entscheiden, was wir mit den
Schläfern tun sollen. Wir dürfen es nicht wagen, etwas von
den Dingen hier zu essen, und es ist sinnlos, über Nacht
hierzubleiben. Der ganze Ort riecht nach Zauberei – und
nach Gefahr.«
»Ich bin genau derselben Meinung wie König Edmund«,
sagte Riepischiep, »was die allgemeine Schiffsmannschaft
betrifft. Aber ich für meine Person werde hier am Tisch
sitzen bleiben bis zum Sonnenaufgang.«
»Warum, um alles in der Welt?« fragte Eustachius.
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»Weil dies ein so bedeutendes Abenteuer ist und weil
keine Gefahr so groß ist, daß ich nach Narnia zurückkehren
will, indem ich aus Furcht ein Geheimnis ungelöst hinter
mir lasse.«
»Ich werde bei dir bleiben, Riep«, meinte Edmund.
»Und ich auch«, sagte Kaspian.
»Und ich auch«, sagte Lucy. Und auch Eustachius mel-
dete sich freiwillig.
»Ich flehe Eure Majestät an …« begann Drinian.
»Nein, Drinian«, entgegnete Kaspian. »Euer Platz ist auf
Eurem Schiff, und Ihr habt einen Tag voller Arbeit hinter
Euch, während wir gefaulenzt haben.« Eine längere
Diskussion folgte, aber schließlich konnte Kaspian sich
durchsetzen. Während die Mannschaft in der Dämmerung
zur Küste zurückmarschierte, konnte sich keiner der fünf
Gefährten eines komischen Gefühls in der Magengrube
erwehren.
Sie ließen sich Zeit, an dem unheilvollen Tisch einen
Platz auszusuchen. Vermutlich hatten sie dafür alle den
gleichen Grund, nur sprach ihn keiner aus. Denn die Wahl
war wirklich sehr schwierig. Es war kaum auszuhalten,
eine Nacht lang neben einem dieser haarigen Objekte zu
verbringen, die, wenn auch nicht tot, so doch nicht im
herkömmlichen Sinn lebendig waren. Sich andererseits an
das Ende des Tisches zu setzen, so daß man im Laufe des
Abends weniger und weniger von ihnen sehen und nicht
wissen würde, ob sie sich bewegten, und sie schließlich gar
nicht mehr sehen würde – nein, daran war auch nicht zu
denken. So gingen sie ein ums andere Mal um den Tisch
herum und sagten: »Wie wäre es denn hier?« und »Oder
vielleicht noch ein Stück weiter« oder »Warum nicht auf
- 178 -
dieser Seite?«, bis sie sich zuletzt etwa in der Mitte nieder-
ließen, aber ein wenig näher zu den Schläfern als zum
anderen Ende hin. Inzwischen war es etwa zehn Uhr und
fast dunkel. Im Osten strahlten diese eigenartigen neuen
Sternbilder. Lucy wäre es lieber gewesen, sie hätte den
Leoparden, das Schiff oder andere alte Freunde vom
Himmel Narnias gesehen.
Sie wickelten sich in ihre Schiffsumhänge, saßen still
und warteten. Zuerst machten sie einen Versuch, sich zu
unterhalten, aber es kam nicht viel dabei heraus. Und die
ganze Zeit über hörten sie, wie sich die Wellen am Strand
brachen.
Nach einigen Stunden, die ihnen wie eine Ewigkeit
erschienen, kam ein Augenblick, wo alle wußten, daß sie
ein paar Sekunden zuvor noch gedöst hatten. Aber jetzt
waren sie plötzlich hellwach. Die Sterne standen inzwi-
schen alle an anderer Stelle. Der Himmel war schwarz, und
nur im Osten war schwaches Grau zu sehen. Sie froren,
waren ganz steif und hatten Durst. Keiner von ihnen redete,
denn jetzt endlich geschah etwas.
Vor ihnen, jenseits der Säulen, lag der Abhang eines
niedrigen Hügels. Nun öffnete sich dort im Hügel eine Tür,
die Türöffnung wurde hell, eine Gestalt trat hervor, und die
Tür schloß sich wieder hinter ihr. Die Gestalt trug ein
Licht, und dieses Licht war alles, was sie genau erkennen
konnten. Es kam langsam näher, bis es genau ihnen
gegenüber vor dem Tisch stand. Jetzt konnten sie sehen,
daß es ein hochgewachsenes Mädchen war, bekleidet mit
einem langen blauen Gewand, das die Arme frei ließ. Es
war barhäuptig, und das blonde Haar hing über seinen
- 179 -
Rücken. Als sie das Mädchen anschauten, war ihnen klar,
daß sie nie zuvor gewußt hatten, was Schönheit war.
Das Licht, das es getragen hatte, war eine hohe Kerze in
einem silbernen Halter, den es jetzt auf den Tisch stellte.
Sofern am Abend vom Meer her der Wind geweht hatte, so
hatte er sich inzwischen gelegt, denn die Kerzenflamme
brannte so gerade und so ruhig, als wären sie in einem
Raum mit geschlossenen Fenstern. Gold und Silber
schimmerten auf dem Tisch im Kerzenlicht.
Jetzt bemerkte Lucy etwas, was der Länge nach auf dem
Tisch lag und ihrer Aufmerksamkeit bisher entgangen war.
Es war ein steinernes Messer, scharf wie Stahl, ein grau-
sam und altertümlich aussehendes Ding.
Keiner hatte bisher ein Wort gesprochen. Dann standen
sie alle auf – Riepischiep machte den Anfang, und Kaspian
folgte –, denn sie spürten, daß dies eine bedeutende Dame
war.
»Reisende, die ihr von weit her zu Aslans Tisch gekom-
men seid«, fragte das Mädchen, »warum eßt und trinkt ihr
nicht?«
»Meine Dame«, sagte Kaspian. »Wir fürchteten diese
Speisen, denn wir dachten, sie hätten unsere Freunde in
einen Zauberschlaf versetzt.«
»Sie haben niemals davon gekostet«, entgegnete das
Mädchen.
»Bitte«, sagte Lucy. »Was ist mit ihnen geschehen?«
»Vor sieben Jahren«, begann das Mädchen, »kamen sie
in einem Schiff hierher, dessen Segel nur noch aus Lumpen
bestanden und dessen Planken kurz davor waren, auseinan-
derzufallen. Sie hatten noch ein paar Begleiter – Matrosen
–, und als sie zu diesem Tisch kamen, sagte einer der drei.
- 180 -
›Hier ist ein guter Ort. Wir wollen nicht länger Segel
setzen, Segel reffen und rudern, sondern wir wollen Platz
nehmen und unsere Tage in Frieden beenden!‹ Und der
zweite sagte: ›Nein, wir wollen aufbrechen und Richtung
Westen, nach Narnia, segeln. Vielleicht ist dieser Miraz
tot.‹ Aber der dritte, ein sehr gebieterischer Mann, sprang
auf und sagte: ›Nein! Wir sind Männer und Telmarer und
keine Weichlinge. Unser Schicksal ist es, ein Abenteuer
nach dem anderen zu suchen. Wir haben sowieso nicht
mehr lange zu leben. Laßt uns in der Zeit, die uns noch
verbleibt, die unbewohnten Welten hinter Sonnenaufgang
erforschen!‹ Und während sie sich stritten, packte er das
Steinmesser, das hier auf dem Tisch liegt, und wollte mit
seinen Gefährten kämpfen. Aber dieses Messer war nicht
für seine Hand bestimmt. Als sich seine Finger um den
Griff schlossen, überfiel ein tiefer Schlaf die drei Männer.
Und sie werden nicht aufwachen, bevor der Zauber gebro-
chen ist.«
»Was hat es mit diesem Steinmesser auf sich?« fragte
Eustachius.
»Weiß es keiner von euch?« wollte das Mädchen wissen.
»Ich – ich glaube«, sagte Lucy, »daß ich so etwas
Ähnliches schon einmal gesehen habe. Es war ein Messer
wie dieses, das die Weiße Hexe benutzte, als sie vor langer
Zeit am Steintisch Aslan tötete.«
»Es war dieses Messer«, sagte das Mädchen. »Es wurde
hierhergebracht, um bis zum Ende der Welt in Ehren
gehalten zu werden.«
Edmund, der in den letzten Minuten immer unruhiger
geworden war, ergriff das Wort.
- 181 -
»Ich hoffe, ich bin kein Feigling, ich meine, was diese
Speisen betrifft – und ich will ganz bestimmt auch nicht
unhöflich sein. Aber wir haben auf dieser Reise eine
Menge seltsamer Abenteuer erlebt, und die Dinge sind
nicht immer das, was sie scheinen. Wenn ich Euch ins
Gesicht sehe, dann kann ich nicht anders, als Euch zu
glauben: aber genau das könnte auch bei einer Hexe der
Fall sein. Woher sollen wir wissen, daß Ihr uns wohlge-
sinnt seid?«
»Das könnt ihr nicht wissen«, sagte das Mädchen. »Ihr
könnt es nur glauben – oder nicht.«
Nach einem Augenblick der Stille erklang die leise
Stimme Riepischieps. »Herr«, sagte er zu Kaspian. »Wäret
Ihr wohl so gut, mir meinen Becher mit Wein aus diesem
Krug zu füllen? Er ist zu groß für mich, und ich kann ihn
nicht heben. Ich werde auf das Wohl dieser Dame trinken.«
Kaspian kam diesem Wunsch nach, und auf dem Tisch
stehend, hob die Maus zwischen ihren winzigen Pfoten
einen goldenen Becher und sagte: »Meine Dame, ich trinke
auf Euer Wohl.« Dann aß er von dem kalten Pfauenbraten,
und schon nach einem kurzen Augenblick folgten alle
seinem Beispiel. Alle waren sehr hungrig, und obwohl das
Mahl sich nicht unbedingt zu einem sehr frühen Frühstück
eignete, war es als sehr spätes Nachtessen doch ganz aus-
gezeichnet.
»Warum wird dies hier Aslans Tisch genannt?« fragte
Lucy.
»Er wird hier auf sein Geheiß gedeckt für die, die von
weit her kommen«, sagte das Mädchen. »Manche nennen
diese Insel das Ende der Welt, denn obwohl man noch
- 182 -
weiter segeln kann, so ist hier doch der Anfang vom
Ende.«
»Aber wie kommt es, daß diese Speisen nicht verder-
ben?« fragte der praktische Eustachius.
»Sie werden jeden Tag aufgegessen und wieder erneu-
ert«, erklärte das Mädchen. »Ihr werdet es noch sehen.«
»Und was machen wir mit den Schläfern?« fragte
Kaspian. »In der Welt, aus der meine Freunde kommen«
(er nickte in die Richtung von Eustachius, Edmund und
Lucy), »gibt es ein Märchen von einem Prinzen oder einem
König, der zu einem Schloß kommt, wo alle in einen
Zauberschlaf versunken sind. In dieser Geschichte konnte
der Prinz den Zauber brechen, indem er die Prinzessin
küßte.«
»Hier ist es anders«, sagte das Mädchen. »Hier kann er
die Prinzessin erst küssen, wenn der Zauber gebrochen ist.«
»Dann zeigt mir im Namen Aslans, wie ich mich sofort
an diese Aufgabe machen kann«, bat Kaspian.
»Mein Vater wird es Euch zeigen«, sagte das Mädchen.
»Euer Vater?« fragten alle. »Wer ist er? Und wo ist er?«
»Schaut!« sagte das Mädchen, wandte sich um und
deutete auf die Tür im Hügel. Jetzt konnten sie diese Tür
besser sehen, denn während sie sich unterhalten hatten,
waren die Sterne immer schwächer geworden, und im Grau
des östlichen Himmels erschienen große, weiße Licht-
flecke.
- 183 -
Der Anfang vom Ende der Welt
Langsam öffnete sich die Tür, und heraus kam eine Gestalt,
genauso groß und aufrecht wie die des Mädchens, nur war
sie nicht so schlank. Sie trug kein Licht, sondern schien
selbst Licht auszustrahlen. Als die Gestalt näher kam, sah
Lucy, daß es ein alter Mann war. Sein silberner Bart reichte
bis auf seine bloßen Füße, sein silbernes Haar fiel bis auf
seine Fersen, und sein Gewand schien aus der Wolle
silberner Schafe gewebt zu sein. Er sah so mild und so
ernst aus, daß sich die Reisenden wieder erhoben und still
stehen blieben.
Der alte Mann kam heran, ohne an die Reisenden das
Wort zu richten. Er blieb auf der anderen Seite des Tisches
gegenüber seiner Tochter stehen. Dann hoben beide die
Arme und wandten sich nach Osten. In dieser Haltung
begannen sie zu singen. Ich wollte, ich könnte das Lied
aufschreiben, aber keiner der Anwesenden konnte sich
später daran erinnern. Lucy sagte hinterher, es sei hoch,
fast schrill, aber wunderschön gewesen. »Eine Art kaltes
Lied, ein Lied für den frühen Morgen.« Und während sie
sangen, verschwanden die grauen Wolken am östlichen
Himmel, und die weißen Flecke wurden größer und größer,
bis alles weiß war und das Meer wie Silber zu leuchten
begann. Und viel später (aber die beiden sangen die ganze
Zeit über) färbte sich der Osten rot, und schließlich tauchte
die Sonne aus dem Meer auf, und ihre langen, flachen
Strahlen fielen über den Tisch auf das Gold, das Silber und
auf das Steinmesser.
- 184 -
Ein- oder zweimal hatten sich die Narnianen schon
gefragt, ob die aufgehende Sonne hier nicht größer war als
zu Hause. Jetzt waren sie sicher. Es gab keinen Zweifel.
Und die Helligkeit ihrer Strahlen auf dem Tau und auf dem
Tisch war weit stärker als jede morgendliche Helligkeit,
die sie je gesehen hatten. Es war so, wie Edmund später
sagte: »Obwohl auf dieser Reise viele Dinge geschahen,
die sich viel aufregender anhören, so war dies doch der
aufregendste Augenblick.« Denn jetzt wußten sie, daß sie
wirklich den Anfang vom Ende der Welt erreicht hatten.
Dann schien mitten aus der Sonne etwas auf sie
zuzufliegen – aber natürlich konnte man nicht direkt in
diese Richtung schauen, um sich zu vergewissern. Doch
plötzlich war die Luft voller Stimmen – Stimmen, die das
gleiche Lied anstimmten, welches das Mädchen und ihr
Vater sangen, nur in viel wilderen Tönen und in einer
Sprache, die keiner verstand. Und schon bald danach
konnte man die Besitzer dieser Stimmen sehen. Es waren
große weiße Vögel, und sie kamen zu Hunderten und zu
Tausenden. Sie ließen sich überall nieder: auf dem Gras,
den Steinplatten, dem Tisch, auf den Schultern, den
Händen und den Köpfen, bis es aussah, als wäre alles von
weißem Schnee bedeckt. Alle Konturen verschwammen
und wurden sanfter. Lucy, die zwischen den Flügeln der
auf ihr sitzenden Vögel hinauslugte, sah, wie ein Vogel zu
dem alten Mann hinflog. Er hatte etwas im Schnabel, was
wie eine kleine Frucht aussah, oder vielleicht war es auch
ein kleines Stück glühender Kohle, denn es leuchtete so
hell, daß man nicht hinschauen konnte. Und der Vogel
legte es in den Mund des alten Mannes.
- 185 -
Dann hörten die Vögel auf zu singen und machten sich
auf dem Tisch zu schaffen. Als sie wieder aufflogen, war
alles Eßbare und Trinkbare vom Tisch verschwunden. Die
Vögel, die sich zu Hunderten und Tausenden von ihrem
Mahl erhoben, trugen alles weg, was man nicht essen oder
trinken konnte, so wie Knochen, Krusten und Schalen. Sie
flogen wieder zurück zur aufgehenden Sonne. Aber jetzt,
wo sie nicht mehr sangen, schien ihr Flügelschlag die
ganze Luft zum Erzittern zu bringen. Der Tisch war völlig
leergepickt, und die drei Lords aus Narnia schliefen noch
immer fest.
Jetzt wandte sich der alte Mann endlich zu den
Reisenden und hieß sie willkommen.
»Herr«, sagte Kaspian. »Bitte sagt uns, wie wir den
Zauber brechen können, der auf diesen drei narnianischen
Lords liegt!«
»Das will ich dir gerne sagen, mein Sohn«, sagte der alte
Mann. »Um diesen Zauber zu brechen, müßt ihr zum Ende
der Welt segeln, oder wenigstens so nahe heran wie
möglich, und ehe ihr zurückkehrt, müßt ihr mindestens ein
Mitglied eurer Gruppe zurücklassen.«
»Und was passiert mit diesem Zurückgelassenen?«
fragte Riepischiep.
»Er muß zum äußersten Osten weiterziehen und wird nie
mehr in diese Welt zurückkehren.«
»Das wünsche ich mir aus ganzem Herzen«, sagte
Riepischiep.
»Sind wir schon in der Nähe vom Ende der Welt, Herr?«
fragte Kaspian. »Kennt Ihr die Meere und die Länder, die
noch östlicher liegen?«
- 186 -
»Ich habe sie vor langer Zeit gesehen«, sagte der alte
Mann. »Von hoch oben. Die Dinge, die ein Seefahrer
wissen muß, kann ich euch nicht sagen.«
»Meint Ihr damit, daß Ihr in der Luft geflogen seid?«
stieß Eustachius hervor.
»Ich bin weit über der Luft geflogen«, entgegnete der
alte Mann. »Ich bin Ramandu. Aber ich sehe, daß ihr euch
Blicke zuwerft und diesen Namen nicht kennt. Das ist nicht
verwunderlich, denn die Tage, wo ich ein Stern war, waren
schon längst vergangen, bevor einer von euch das Licht
dieser Welt erblickt hat, und alle Sternbilder haben sich
inzwischen geändert.«
»Meine Güte«, murmelte Edmund vor sich hin. »Er ist
ein Stern im Ruhestand.«
»Seid Ihr jetzt kein Stern mehr?« fragte Lucy.
»Ich bin ein Stern, der sich ausruht, meine Tochter«,
antwortete Ramandu. »Als ich das letzte Mal, unvorstellbar
alt und gebrechlich, aufstieg, wurde ich zu dieser Insel
getragen. Jetzt bin ich nicht mehr so alt wie damals. Jeden
Morgen bringt mir ein Vogel aus den Tälern der Sonne
eine Feuerbeere, und jede Feuerbeere nimmt ein wenig von
meinem Alter weg. Und wenn ich endlich so jung bin wie
ein Kind, das gestern geboren wurde, dann werde ich
wieder aufsteigen (denn wir sind hier am östlichen Rand
der Welt), und dann werde ich den großen Tanz von neuem
beginnen.«
»In unserer Welt«, sagte Eustachius, »ist ein Stern ein
riesiger Ball aus Materie oder brennendem Gas.«
»Selbst in eurer Welt, mein Sohn, ist das nicht das, was
ein Stern ist, sondern das, woraus er besteht. Und ihr habt
- 187 -
in dieser Welt schon einmal einen Stern getroffen: denn ich
glaube, ihr seid bei Koriakin gewesen.«
»Ist er auch ein Stern im Ruhestand?« fragte Lucy.
»Nun, nicht ganz«, sagte Ramandu. »Er wurde nicht nur
zu seiner Erholung beauftragt, die Tölpel zu regieren. Man
könnte sagen, daß es eine Bestrafung war. Wenn alles
gutgegangen wäre, dann hätte er noch Jahrtausende am
südlichen Winterhimmel scheinen können.«
»Was hat er getan?« fragte Kaspian.
»Mein Sohn«, sagte Ramandu. »Du, als Sohn Adams,
hast kein Recht, zu erfahren, welche Fehler ein Stern
begehen kann. Aber kommt, wir verschwenden mit dieser
Rederei unsere Zeit. Seid ihr entschlossen? Wollt ihr nach
Osten segeln, einen aus eurer Gruppe für immer dort
zurücklassen und dann wiederkehren, um den Zauber zu
brechen? Oder wollt ihr nach Westen segeln?«
»Da besteht doch wohl keinerlei Zweifel, Herr«, sagte
Riepischiep. »Es ist ganz offensichtlich ein Teil unserer
Aufgabe, diese drei Lords aus dem Zauberschlaf aufzu-
wecken.«
»Ich bin derselben Ansicht, Riepischiep«, antwortete
Kaspian. »Und selbst wenn es nicht so wäre, so bräche es
mir das Herz, dem Ende der Welt nicht so nahe zu
kommen, wie die ›Morgenröte‹ es uns gestattet. Aber ich
denke an meine Männer. Sie haben angeheuert, um die
sieben Lords zu suchen, und nicht, um das Ende der Welt
zu erreichen. Es sind mutige Männer, aber ich sehe, daß
einige von ihnen des Reisens müde sind und sich danach
sehnen, daß sich unser Bug wieder Narnia zuwendet. Ich
glaube nicht, daß ich sie ohne ihr Wissen und ohne ihre
Einwilligung noch weiter nach Osten segeln lassen sollte.
- 188 -
Und dann ist da noch der arme Lord Rhoop. Er ist ein
gebrochener Mann.«
»Mein Sohn«, sagte der Stern. »Selbst wenn Ihr das
wolltet, so war es doch zwecklos, mit unwilligen Männern
oder mit Männern, die im Unklaren gelassen wurden, zum
Ende der Welt zu segeln. Auf diese Weise kann man keine
großen Entzauberungen zustande bringen. Sie müssen
wissen, wohin sie fahren und warum. Aber wer ist der
gebrochene Mann, von dem Ihr sprecht?«
Kaspian erzählte Ramandu die Geschichte von Lord
Rhoop.
»Ich kann ihm geben, was er am meisten braucht«, sagte
Ramandu. »Auf dieser Insel gibt es Schlaf ohne Einschrän-
kung und ohne Maß. Und dieser Schlaf wurde noch nie
auch nur durch den Schatten eines Traumes gestört. Laßt
ihn neben den anderen drei Männern sitzen und Vergessen
trinken, bis ihr zurückkehrt!«
»Oh, Kaspian, das wollen wir tun!« rief Lucy. »Ich bin
sicher, daß es genau das ist, was er will.«
In diesem Augenblick wurden sie vom Klang vieler
Schritte und Stimmen unterbrochen: Drinian und der Rest
der Schiffsmannschaft näherten sich. Sie hielten überrascht
an, als die Ramandu und dessen Tochter sahen. Dann ent-
blößten die Männer das Haupt, da die beiden offensichtlich
mächtige Personen waren. Einige Matrosen beäugten voller
Bedauern die leeren Schüsseln und die leeren Krüge auf
dem Tisch.
»Mein Lord«, sagte der König zu Drinian, »bitte schickt
zwei Männer zurück zur ›Morgenröte‹ mit einer Nachricht
für Lord Rhoop. Laßt ihm sagen, daß die letzten seiner
alten Schiffsgenossen hier sitzen und in einem traumlosen
- 189 -
Schlaf versunken sind und daß er diesen Schlaf mit ihnen
teilen kann.«
Als dies geschehen war, befahl Kaspian den anderen,
sich hinzusetzen. Dann erläuterte er ihnen die Situation.
Als er geendet hatte, herrschte lange Stille. Ein paar der
Männer flüsterten, und schließlich erhob sich der oberste
Bogenschütze und sagte: »Was einige von uns schon lange
fragen wollten, Eure Majestät, ist, wie wir jemals wieder
nach Hause kommen, wenn wir umkehren – ob wir nun
hier beidrehen oder anderswo. Auf der ganzen Strecke
haben westliche oder nordwestliche Winde geweht, abge-
sehen von gelegentlichen Flauten. Und wenn das so bleibt,
dann wüßte ich gerne, welche Hoffnung uns bleibt, Narnia
jemals wiederzusehen. Die Chancen sind gering, daß unse-
re Vorräte ausreichen, wenn wir die ganze Strecke rudern
müssen.«
»Das sind die Worte einer Landratte«, sagte Drinian. »In
diesen Meeren herrschen bis zum Spätsommer haupt-
sächlich westliche Winde, aber nach Neujahr schlagen sie
immer um. Wir werden genug Wind haben, um nach
Westen zu segeln – mehr, als uns lieb sein wird.«
»Das stimmt, Herr«, sagte ein alter Seemann, der von
galmanischer Abstammung war. »Im Januar und Februar
kommt viel schlechtes Wetter vom Osten her. Und wenn
Ihr es gestattet, Herr – wenn ich über das Schiff zu
befehlen hätte, so würde ich vorschlagen, hier zu über-
wintern und die Heimreise im März anzutreten.«
»Wovon würden wir leben, wenn wir hier überwintern?«
fragte Eustachius.
»Auf diesem Tisch«, sagte Ramandu, »wird jeden Tag
bei Sonnenuntergang ein königliches Mahl serviert sein.«
- 190 -
»Das hört sich gut an«, meinten ein paar der Matrosen.
»Eure Majestäten, meine Damen und Herren«, begann
Rynelf. »Da ist nur eine Sache, die ich noch sagen wollte.
Kein einziger von uns wurde zu dieser Reise gezwungen.
Wir sind Freiwillige. Und es sind einige unter uns, die an
jenem Tag, als wir von Feeneden segelten, lauthals von
Abenteuern redeten und die schworen, sie würden nicht
heimkehren, bevor wir das Ende der Welt gefunden hätten.
Und am Kai standen Männer, die alles dafür gegeben
hätten, mit uns zu kommen. Damals war es ehrenvoller in
einer Mannschaftskajüte an Bord der ›Morgenröte‹ zu
logieren, als einen Rittergürtel zu tragen. Ich weiß nicht, ob
ihr versteht, was ich damit sagen will. Aber ich glaube, daß
wir uns so lächerlich wie – wie diese Tölpelbeiner machen,
wenn wir heimkommen und berichten, daß wir am Anfang
vom Ende der Welt waren und nicht das Herz hatten,
weiterzusegeln.«
Einige der Matrosen stimmten begeistert zu, aber andere
meinten, das sei ja alles schön und gut.
»Es wird verflixt schwierig werden«, flüsterte Edmund
Kaspian zu. »Was machen wir, wenn die Hälfte der
Männer hierbleibt?«
»Warte«, flüsterte Kaspian zurück. »Ich habe noch eine
Trumpfkarte in der Hand.«
»Hast du nichts zu sagen, Riep?« flüsterte Lucy.
»Nein. Was erwartet Ihr von mir, Eure Majestät?« ant-
wortete Riepischiep so laut, daß es fast alle hörten. »Meine
Pläne sind gemacht. Ich segle mit der ›Morgenröte‹ so weit
wie möglich nach Osten. Wenn die ›Morgenröte‹ nicht
mehr weiterkann, werde ich in meinem Weidenboot nach
Osten weiterpaddeln. Sollte dieses Boot sinken, so werde
- 191 -
ich mit meinen Pfoten nach Osten weiterschwimmen. Und
wenn ich nicht mehr schwimmen kann und Aslans Land
noch nicht erreicht habe und noch nicht in einem riesigen
Wasserfall über den Rand der Welt gestürzt bin, dann
werde ich mit der Nase in Richtung des Sonnenaufgangs
untergehen, und Pierischiep wird der Herrscher der Spre-
chenden Mäuse von Narnia werden.«
»Hört, hört!« sagte ein Matrose. »Ich sage dasselbe,
abgesehen von der Sache mit dem Weidenboot, das zu
klein ist, um mich zu tragen.« Etwas leiser fügte er hinzu:
»Ich lasse mich doch nicht von einer Maus ausstechen!«
An diesem Punkt sprang Kaspian auf. »Freunde!« sagte
er. »Ich glaube, ihr habt unser Vorhaben nicht ganz
verstanden. Ihr redet, als kämen wir auf den Knien zu euch
und würden um Matrosen betteln. So ist es ganz und gar
nicht. Wir – Unser königlicher Bruder, Unsere königliche
Schwester, deren Freund, Riepischiep der tapfere Ritter
und Lord Drinian – haben die Aufgabe, zum Rand der Welt
zu segeln. Es wird uns ein Vergnügen sein, von denen
unter euch, die willig sind, diejenigen auszuwählen, die wir
für würdig erachten, an einem so wichtigen Unternehmen
teilzuhaben. Wir haben nicht gesagt, daß jeder mitkommen
kann, der dies will. Deshalb werden wir jetzt Lord Drinian
und Meister Rhince den Auftrag erteilen, sorgfältig zu
erwägen, welche unter euch die ausdauerndsten Kämpfer,
die besten Seeleute, die Treuesten und die Ehrenwertesten
sind, und uns eine Liste dieser Namen zu erstellen.« Er
schwieg und sprach dann rascher weiter. »Bei Aslans
Mähne!« rief er. »Glaubt ihr, das Vorrecht, die letzten
Dinge der Welt zu sehen, könne man für ein Butterbrot
kaufen? Jeder Mann, der mit uns kommt, wird den Titel
- 192 -
›Morgenröte‹ an seine Nachkommen weitervererben, und
wenn wir nach Feeneden zurückkehren, wird er genug
Gold oder Land erhalten, um für den Rest seines Lebens
reich zu sein. Nun – verteilt euch über die Insel. In einer
halben Stunde werde ich die Namen entgegennehmen, die
mir Lord Drinian vorlegt.«
Keiner sagte etwas. Dann verbeugten sich die Männer,
gingen in kleinen Gruppen in verschiedenen Richtungen
davon und unterredeten sich.
»Und nun zu Lord Rhoop«, sagte Kaspian.
Aber als er sich zum Kopfende des Tisches wandte, sah
er, daß Rhoop schon dort saß. Er hatte sich während der
Diskussion unbemerkt genähert und sich neben Lord Argoz
gesetzt. Die Tochter Ramandus stand neben ihm, als hätte
sie ihm gerade auf den Stuhl geholfen; Ramandu stand
hinter ihm und legte beide Hände auf Rhoops graues
Haupt. Selbst jetzt bei Tageslicht strahlten die Hände des
Sterns schwaches Licht aus. Auf Rhoops hagerem Gesicht
lag ein Lächeln. Er reichte eine Hand Lucy und die andere
Kaspian. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er
etwas sagen. Dann wurde sein Lächeln breiter, als fühle er,
wie etwas Köstliches mit ihm geschah, und ein tiefer
Seufzer der Zufriedenheit kam von seinen Lippen. Sein
Kopf fiel nach vorne, und er schlief.
»Armer Rhoop«, sagte Lucy. »Ich bin froh. Er muß
schreckliche Zeiten hinter sich haben!«
»Wir wollen nicht daran denken«, sagte Eustachius.
In der Zwischenzeit hatte Kaspians Rede, vielleicht
unterstützt von einer Zauberkraft der Insel, genau den
gewünschten Erfolg. Noch bevor die halbe Stunde zur
Hälfte um war, versuchten schon einige der Männer sich
- 193 -
mit Drinian und mit Rhince »anzubiedern« (so wurde das
zumindest in meiner Schule genannt), um gut abzuschnei-
den. Und schon bald waren nur noch drei übrig, die nicht
mitwollten, und diese drei versuchten verzweifelt, andere
zu überreden, mit ihnen dazubleiben. Und kurz darauf war
nur noch einer übrig. Und schließlich bekam er Angst,
ganz allein zurückgelassen zu werden, und änderte seine
Meinung.
Als die halbe Stunde verstrichen war, kamen sie alle zu
Aslans Tisch zurück und stellten sich an einem Ende auf,
während Drinian und Rhince sich zu Kaspian setzten und
ihren Bericht abgaben. Kaspian nahm alle Männer an mit
Ausnahme des einen, der sich erst im letzten Augenblick
entschlossen hatte. Sein Name war Pittenkrem, und er blieb
auf der Insel des Sterns, während die anderen das Ende der
Welt suchten, und er wünschte sich später sehr, er wäre mit
ihnen gefahren. Und als die anderen zurückkehrten, war er
so durcheinander, daß er auf der Heimreise bei den
Einsamen Inseln desertierte und von da an in Kalormen
lebte, wo er herrliche Geschichten über seine Abenteuer
am Ende der Welt erzählte, bis er sie schließlich selbst
glaubte.
In dieser Nacht aßen und tranken sie gemeinsam an dem
riesigen Tisch zwischen den Säulen, wo sich das Festmahl
auf geheimnisvolle Art und Weise erneuert hatte. Und am
nächsten Morgen, nachdem die großen Vögel gekommen
und wieder weggeflogen waren, wurde auf der ›Morgen-
röte‹ das Segel gesetzt.
»Meine Dame«, sagte Kaspian. »Ich hoffe, Euch wieder-
zusehen, wenn ich den Zauber gebrochen habe.« Und
Ramandus Tochter blickte ihn an und lächelte.
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Die Wunder des letzten Meeres
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Bänder hingen von ihren Schultern und bewegten sich in
der Strömung. Dann …
Oh, zum Teufel mit diesen Fischen! dachte Lucy, denn
ein ganzer Schwärm kleiner, fetter Fische, die dicht unter
der Oberfläche schwammen, verdeckte ihr die Sicht auf die
Meermenschen. Plötzlich schoß ein grimmiger kleiner
Fisch, der völlig fremdartig aussah, von unten herauf,
schnappte und sank dann mit einem der fetten Fische im
Maul rasch wieder nach unten. Die Meermenschen saßen
auf ihren Pferden und beobachteten, was da geschah. Sie
schienen alle zu reden und zu lachen. Und noch bevor der
jagende Fisch mit seiner Beute bei ihnen angelangt war,
kam ein zweiter von diesen eigenartigen Fischen nach
oben. Lucy war fast sicher, daß ihn einer der Meer-
menschen, der inmitten der Gruppe auf seinem Seepferd
saß, heraufgeschickt hatte, und es sah so aus, als hätte er
ihn bis dahin festgehalten.
Meine Güte! dachte Lucy. Es ist eine Jagdpartie! Oder
eher so etwas wie eine Falkenjagd. Ja, das ist es. Sie reiten
mit diesen grimmigen kleinen Fischen am Handgelenk aus,
genau wie wir mit den Falken am Handgelenk ausritten, als
wir vor langer Zeit Könige und Königinnen in Feeneden
waren. Und dann lassen sie sie fliegen – oder eigentlich
müßte man sagen schwimmen –, um andere Fische anzu-
greifen. Wie …
Plötzlich hielt sie in ihren Gedanken inne, weil die
Szene wechselte. Die Meermenschen hatten die »Morgen-
röte« bemerkt. Der Fischschwarm hatte sich nach allen
Richtungen zerstreut, und die Meerleute kamen nach oben,
um herauszufinden, was dieses große schwarze Ding zu
bedeuten hatte, das sich zwischen sie und die Sonne
- 199 -
geschoben hatte. Und jetzt waren sie so dicht unter der
Oberfläche, daß Lucy mit ihnen hätte sprechen können,
wenn sie an der Luft und nicht im Wasser gewesen wären.
Es waren Frauen und Männer. Alle trugen eine Art Krone,
und viele hatten Perlenketten um den Hals. Abgesehen
davon trugen sie keine Kleider. Ihr Körper hatte die Farbe
von vergilbtem Elfenbein, und ihr Haar war dunkelrot. Der
König in der Mitte der Gruppe (er war ohne Zweifel der
König) blickte Lucy stolz und grimmig ins Gesicht und
drohte mit dem Speer in seiner Hand. Seine Ritter taten
dasselbe. Auf dem Gesicht der Frauen lag Erstaunen. Lucy
war sicher, daß sie noch nie ein Schiff oder einen
Menschen gesehen hatten.
»Was starrst du denn da an, Lu?« sagte eine Stimme
neben ihr.
Lucy war in das, was sie sah, so versunken, daß sie beim
Klang der Stimme zusammenfuhr. Und als sie sich
umdrehte, merkte sie, daß ihr Arm von dem langen,
unbeweglichen Aufstützen auf der Reling eingeschlafen
war. Drinian und Edmund standen neben ihr.
»Seht!« rief sie.
Sie schauten beide, und sogleich sagte Drinian mit leiser
Stimme: »Dreht Euch um, Majestäten – ja, mit dem
Rücken zum Meer. Und laßt Euch nicht anmerken, daß wir
über etwas Wichtiges reden!«
»Warum, was ist los?« fragte Lucy, während sie
gehorchte.
»Die Matrosen dürfen all dies niemals sehen«, erklärte
Drinian. »Sonst verlieben sich die Männer in eine Meerfrau
oder in das Unterwasserland und springen über Bord. Ich
habe schon davon gehört, daß auf seltsamen Meeren
- 200 -
derartige Dinge passiert sind. Es bringt immer Unglück,
diese Leute zu sehen.«
»Aber wir haben sie doch früher gekannt!« protestierte
Lucy. »Damals in Feeneden, als mein Bruder Peter König
war. Bei der Krönung kamen sie an die Oberfläche und
sangen.«
»Ich glaube, das muß eine andere Art gewesen sein,
Lu«, sagte Edmund. »Sie konnten sowohl an der Luft als
auch unter Wasser leben. Ich meine fast, daß diese hier das
nicht können. Sonst wären sie sicher schon aufgetaucht und
hätten uns angegriffen. Sie sehen sehr grimmig aus.«
»Wie dem auch sei«, begann Drinian, doch in diesem
Augenblick ertönten zwei Geräusche. Das erste war ein
lautes Platschen. Das zweite war eine Stimme von der
Kampfplattform, die rief: »Mann über Bord!« Sofort setzte
fieberhafte Aktivität ein. Einige der Matrosen kletterten
rasch nach oben, um das Segel einzuholen. Andere rannten
nach unten an die Ruder, und Rhince, der auf dem
Achterdeck Dienst tat, warf das Ruder herum, um zu
wenden und zu dem Mann zurückzukehren, der über Bord
gegangen war. Aber inzwischen wußten alle, daß es eigent-
lich kein Mann war, sondern Riepischiep.
»Diese Maus soll verdammt sein!« rief Drinian. »Sie
macht mehr Schwierigkeiten als der ganze Rest der Mann-
schaft zusammen. Wenn es irgendein Schlamassel gibt, in
das man sich stürzen kann, dann ist Riepischiep der erste!
Man sollte ihn in Ketten legen – und am Kiel mitziehen –
und ihn aussetzen – und seinen Schnurrbart abschneiden!
Kann irgend jemand das kleine Ekel sehen?«
All das bedeutete nicht, daß Drinian Riepischiep nicht
mochte. Im Gegenteil – er mochte ihn sehr gerne und hatte
- 201 -
deshalb Angst um ihn, und wenn er Angst hatte, bekam er
immer schlechte Laune. Natürlich fürchtete keiner, Riepi-
schiep könnte ertrinken, denn er war ein ausgezeichneter
Schwimmer. Aber die drei, die wußten, was sich unter der
Wasseroberfläche abspielte, hatten Angst vor diesen lan-
gen, grausamen Speeren in den Händen der Meermen-
schen.
Ein paar Minuten später hatte die »Morgenröte«
gewendet, und alle sahen den dunklen Fleck im Wasser.
Das war Riepischiep. Er plapperte voller Aufregung, doch
weil er dauernd Wasser in den Mund bekam, verstand
keiner, was er sagte.
»Er wird alles ausplaudern, wenn wir ihn nicht zum
Schweigen bringen!« rief Drinian. Deshalb rannte er selbst
zur Bordwand, ließ ein Tau hinunter und rief den Matrosen
zu: »Alles in Ordnung, alles in Ordnung! Zurück auf eure
Plätze! Ich hoffe doch, daß ich ohne Hilfe eine Maus an
Bord ziehen kann!« Als Riepischiep begann, am Seil hoch-
zuklettern – nicht sehr behende, denn das Wasser in seinem
Fell machte ihn schwer –, lehnte sich Drinian vor und
flüsterte ihm zu: »Sag nichts! Kein Wort!«
Doch als die tropfende Maus auf Deck angelangt war,
stellte sich heraus, daß sie an den Meermenschen ganz und
gar nicht interessiert war.
»Süß!« piepste sie. »Süß! Süß!«
»Wovon redest du?« fragte Drinian ärgerlich. »Und du
brauchst dich auch nicht direkt vor mir auszuschütteln!«
»Ich sage, daß das Wasser süß ist«, sagte die Maus. »Es
ist Süßwasser, kein Salzwasser.«
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Einen Moment lang wurde keinem richtig klar, was das
bedeutete. Doch dann wiederholte Riepischiep noch einmal
die alte Prophezeiung:
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»Das ist das Beste, was ich je gekostet habe«, sagte sie.
»Aber – es ist stark! Jetzt brauchen wir nichts mehr zu
essen.«
Dann tranken nacheinander alle anderen. Lange Zeit
verharrten sie schweigend. Sie fühlten sich so gut und so
stark, daß sie es kaum ertragen konnten, und plötzlich
merkten sie auch noch etwas anderes. Wie ich vorher schon
sagte, war es die ganze Zeit über, seit sie die Insel
Ramandus verlassen hatten, viel zu hell gewesen – die
Sonne war zu groß (aber nicht zu heiß), das Meer zu klar,
die Luft zu grell gewesen. Jetzt war es nicht weniger hell –
wenn möglich, so wurde es noch heller –, aber jetzt
konnten sie diese Helligkeit ertragen. Sie konnten ohne zu
blinzeln nach oben zur Sonne schauen. Sie sahen mehr
Licht als jemals zuvor. Das Deck und das Segel und ihre
eigenen Gesichter und Körper wurden heller und heller,
und alle Taue an Bord strahlten. Und am nächsten Morgen,
als die Sonne aufging (die inzwischen fünf- oder sechsmal
so groß war wie normalerweise), starrten sie direkt in sie
hinein und sahen sogar die Federn der Vögel, die von dort
angeflogen kamen.
Den ganzen Tag über wurde an Bord kaum ein Wort
gesprochen, und erst zur Abendessenszeit (allerdings
wollte keiner etwas essen, denn das Wasser reichte ihnen
völlig), sagte Drinian: »Ich verstehe das nicht. Kein Wind-
hauch ist zu spüren. Das Segel hängt regungslos da. Die
See ist so glatt wie ein Teich. Und trotzdem bewegen wir
uns so schnell vorwärts, als hätten wir einen Sturm im
Rücken.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht«, entgegnete
Kaspian. »Hier muß eine starke Strömung herrschen.«
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»Hm«, meinte Edmund. »Wenn die Welt tatsächlich eine
Kante hat und wir uns dieser Kante nähern, dann ist das gar
kein so schöner Gedanke!«
»Meinst du, daß wir vielleicht – daß wir über die Kante
gespült werden?« fragte Kaspian.
»Ja, ja!« rief Riepischiep und klatschte in die Pfötchen.
»So habe ich es mir immer vorgestellt – daß die Welt
aussieht wie ein großer runder Tisch und daß das Wasser
von allen Meeren endlos über die Kante abfließt. Das
Schiff wird nach vorne kippen, auf dem Bug stehen, einen
Augenblick lang werden wir über die Kante sehen können
– und dann abwärts, abwärts – rasend schnell…«
»Und was wird uns deiner Meinung nach am Grund
erwarten, hm?« fragte Drinian.
»Vielleicht das Land Aslans«, sagte die Maus mit fun-
kelnden Augen. »Oder vielleicht gibt es keinen Grund.
Vielleicht geht es für alle Ewigkeiten abwärts. Aber wie es
auch immer sein mag – wird es nicht dadurch aufgewogen,
daß wir einen Augenblick lang über den Rand der Welt
schauen dürfen?«
»Aber sieh mal«, sagte Eustachius. »Das ist doch alles
Unsinn. Die Welt ist rund – ich meine rund wie ein Ball
und nicht rund wie ein Tisch.«
»Das trifft für unsere Welt zu«, sagte Edmund. »Aber ob
es für diese hier auch zutrifft?«
»Wollt ihr damit sagen«, entgegnete Drinian, »daß ihr
drei aus einer Welt kommt, die so rund ist wie ein Ball, und
daß ihr mir das nie gesagt habt? Das ist wirklich nicht
schön von euch! Denn bei uns gibt es Märchen, in denen
von runden Welten berichtet wird, und die habe ich immer
geliebt. Ich habe nie geglaubt, daß es sie wirklich gibt.
- 205 -
Aber ich habe mir immer gewünscht, daß es sie gäbe, und
ich habe mich immer danach gesehnt, in einer solchen Welt
zu leben. Oh, ich würde alles dafür geben – ich frage mich,
warum ihr in unsere Welt kommen könnt und wir nicht in
die eure? Wenn ich das nur könnte! Es muß aufregend sein,
auf einem Ding zu leben, das aussieht wie ein Ball. Seid ihr
jemals in den Gegenden gewesen, wo die Leute mit dem
Kopf nach unten laufen?«
Edmund schüttelte den Kopf. »Und so ist es auch nicht«,
fügte er hinzu. »So eine runde Welt ist gar nicht besonders
aufregend, wenn man dort lebt.«
- 206 -
Das äußerste Ende der Welt
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»Herr«, antwortete Drinian. »Ich sehe etwas Weißes. Es
reicht über den ganzen Horizont, von Norden nach Süden,
so weit meine Augen reichen.«
»Das gleiche sehe auch ich«, sagte Kaspian. »Und ich
kann mir nicht vorstellen, was das sein könnte.«
»Wenn wir uns in nördlicheren Breiten befänden, Eure
Majestät«, sagte Drinian, »dann würde ich sagen, es sei
Eis. Aber das kann es nicht sein; nicht hier. Trotzdem
sollten wir Männer an die Ruder schicken, die das Schiff
gegen die Strömung anhalten. Was immer das Zeug ist, wir
wollen nicht mit dieser Geschwindigkeit hineinfahren!«
Dies geschah, und das Schiff wurde immer langsamer.
Das weiße Etwas enthüllte auch beim Näherkommen sein
Geheimnis nicht. Wenn es Land war, so mußte es ein sehr
seltsames Land sein, denn es schien genauso glatt zu sein
wie das Wasser, und es schien auf der gleichen Ebene zu
liegen. Als sie ganz nahe herangekommen waren, warf
Drinian das Steuer herum und drehte die »Morgenröte«
nach Süden, so daß sie der Breite nach im Strom lag. Dann
ließ er ein Stück am Rand der weißen Masse entlangrudern.
Dabei machten sie eine wichtige Entdeckung: die
Strömung war nur etwa zwölf Meter breit, und der Rest des
Meeres lag so ruhig wie ein Teich da. Das war eine gute
Neuigkeit für die Mannschaft, die schon befürchtet hatte,
die Rückfahrt zum Lande Ramandus könne sich als recht
unangenehm erweisen, wenn man die ganze Strecke gegen
die Strömung rudern mußte.
Und noch immer konnte keiner herausfinden, was diese
weiße Masse war. Dann wurde das Boot hinuntergelassen
und ausgeschickt, um Nachforschungen anzustellen.
Diejenigen, die auf der »Morgenröte« geblieben waren,
- 209 -
konnten sehen, daß sich das Boot genau in die weiße
Masse hineinschob. Sie hörten über das stille Wasser ganz
klar die schrillen und überraschten Stimmen der Gruppe im
Boot. Dann herrschte Stille, während Rynelf am Bug eine
Tiefenlotung vornahm; und als das Boot danach wieder
zurückkam, schien eine Menge von der weißen Masse
darin zu liegen. Alle versammelten sich an der Reling, um
zu hören, was es zu berichten gab.
»Es sind Lilien, Eure Majestät!« rief Rynelf, der im Bug
des Bootes stand.
»Was hast du gesagt?« fragte Kaspian.
»Es sind blühende Wasserlilien, Eure Majestät«, sagte
Rynelf. »So wie in einem Gartenteich zu Hause.«
»Schaut!« rief Lucy, die im Heck des Bootes saß. Sie
hielt ihre nassen Arme hoch, die voll waren mit weißen
Blütenblättern und breiten, glatten Blättern.
»Wie tief ist es, Rynelf?« fragte Drinian.
»Das ist das eigenartige daran, Kapitän«, sagte Rynelf.
»Es ist immer noch tief. Dreieinhalb Faden.«
»Dann können es keine richtigen Wasserlilien sein – auf
jeden Fall nicht das, was wir so nennen«, sagte Eustachius.
Vermutlich stimmte das auch, aber sie sahen ganz
ähnlich aus. Und als die »Morgenröte« nach einigen
Diskussionen in die Strömung zurückdrehte und begann,
nach Osten durch das Lilienmeer oder das Silbermeer zu
gleiten (sie versuchten es mit beiden Namen, aber
schließlich blieb der Name Silbermeer hängen, und der
steht jetzt auf Kaspians Karte), begann der seltsamste Teil
ihrer Reise. Schon bald war das offene Meer hinter ihnen
nur noch ein schmaler blauer Streifen am westlichen
Horizont. Das Weiß mit einem schwachen goldenen
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Schimmer erstreckte sich nach allen Seiten, und nur hinter
dem Schiff, dort, wo es die Wasserlilien auseinander-
geschoben hatte, lag ein offener, wie dunkelgrünes Gras
schimmernder Weg. Dieses Meer hier sah ganz ähnlich aus
wie die Arktis; und wenn ihre Augen nicht inzwischen so
stark geworden wären wie die eines Adlers, dann wäre die
Sonne auf all dem Weiß unerträglich gewesen – besonders
am frühen Morgen, wo die Sonne am größten war. Am
Abend hatte das Weiß zur Folge, daß es länger hell blieb.
Die Lilien schienen kein Ende zu nehmen. Tag für Tag
entströmte diesem endlosen Blumenteppich ein Geruch,
den Lucy kaum beschreiben konnte – er war süß, ja, aber
keinesfalls betäubend, es war ein frischer, wilder, einsamer
Duft, der ins Gehirn einzudringen schien, so daß man
meinte, man könne im Laufschritt Berge besteigen oder mit
einem Elefanten einen Ringkampf austragen. Lucy und
Kaspian sagten zueinander: »Ich habe das Gefühl, ich kann
es nicht mehr lange aushalten, aber ich will auch nicht, daß
es aufhört.«
Sie loteten oft die Tiefe, aber erst ein paar Tage später
begann das Wasser, allmählich immer flacher zu werden.
Schließlich kam ein Tag, an dem sie aus der Strömung
herausrudern und sich im Schneckentempo vorwärtstasten
mußten. Und schon bald war klar, daß sie mit der
»Morgenröte« nicht weiter nach Osten segeln konnten.
Tatsächlich schafften sie es nur durch sehr geschicktes
Manövrieren, nicht auf Grund zu laufen.
»Setzt das Boot aus!« rief Kaspian. »Und ruft die
Männer nach hinten! Ich muß mit ihnen reden.«
»Was hat er vor?« flüsterte Eustachius Edmund zu. »Er
hat einen eigenartigen Ausdruck in den Augen.«
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»Ich vermute, daß wir alle gleich aussehen«, sagte
Edmund.
Sie gesellten sich zu Kaspian auf das Achterdeck, und
schon bald hatten sich alle Männer am Fuß der Leiter
versammelt, um zu hören, was ihr König ihnen zu sagen
hatte.
»Freunde«, sagte Kaspian. »Wir haben jetzt die Aufgabe
erfüllt, zu der wir aufgebrochen sind. Das Verbleiben der
sieben Lords ist aufgeklärt, und da Sir Riepischiep
geschworen hat, nicht mehr zurückzukehren, werden Lord
Revilian, Lord Argoz und Lord Mavramorn sicher erwacht
sein, wenn ihr zum Lande Ramandus zurückkehrt. Ich
vertraue Euch, Lord Drinian, dieses Schiff an und bitte
Euch, so schnell wie möglich nach Narnia zurückzusegeln
– und vor allem nicht an der Todeswasserinsel zu landen.
Und bittet meinen Regenten, den Zwerg Trumpkin, all
meinen Schiffsgenossen das zu geben, was ich ihnen ver-
sprochen habe. Sie haben es redlich verdient. Und wenn
ich nicht zurückkehre, so ist es mein Wille, daß Trumpkin,
Meister Cornelius, der Dachs Trüffeljäger und Lord
Drinian den König von Narnia wählen, mit der Einwilli-
gung …«
»Aber Herr!« unterbrach Drinian. »Wollt Ihr abdan-
ken?«
»Ich gehe mit Riepischiep, um das Ende der Welt zu
sehen«, antwortete Kaspian.
Ein entsetztes Murmeln lief durch die Reihen der
Matrosen.
»Wir werden das Boot nehmen«, sagte Kaspian. »Ihr
werdet es in diesen ruhigen Meeren nicht brauchen, und
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auf der Insel Ramandus könnt ihr ein neues bauen. Und
jetzt…«
»Kaspian!« unterbrach Edmund plötzlich mit strenger
Stimme. »Das kannst du nicht tun!«
»Ganz gewiß kann Seine Majestät das nicht!« bestätigte
Riepischiep.
»Nein, auf keinen Fall«, sagte Drinian.
»Ich kann nicht?« fragte Kaspian scharf und sah einen
Moment lang seinem Onkel Miraz recht ähnlich.
»Ich bitte Eure Majestät um Verzeihung«, rief Rynelf,
der unten an Deck stand, »aber wenn das einer von uns
täte, dann würde man es ›desertieren‹ nennen!«
»Du nimmst dir auf Grund deiner langen Dienstzeit zu
viel heraus, Rynelf!« sagte Kaspian.
»Nein, Herr! Er hat vollkommen recht!« sagte Drinian.
»Bei der Mähne Aslans«, erwiderte Kaspian. »Ich habe
gedacht, ihr alle wärt meine Untertanen und nicht meine
Schulmeister.«
»Ich bin nicht dein Untertan«, widersprach Edmund,
»und ich sage, daß du das nicht tun kannst!«
»Ich kann nicht?« fragte Kaspian. »Was meinst du
damit?«
»Wenn es Eurer Majestät beliebt, so meinen wir, Ihr
dürft nicht!« sagte Riepischiep mit einer tiefen Verbeu-
gung. »Ihr seid der König von Narnia, Ihr verscherzt das
Vertrauen Eurer Untertanen und vor allem das von
Trumpkin, wenn Ihr nicht zurückkehrt. Ihr dürft Euch nicht
mit Abenteuern vergnügen, als wäret Ihr nur eine Privat-
person. Und wenn Ihr keine Vernunft annehmt, dann
verlangt die Treue, daß mir jeder Mann an Bord dabei hilft,
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Euch zu entwaffnen und zu fesseln, bis Ihr wieder bei
Sinnen seid.«
»Ganz richtig«, sagte Edmund. »Wie man es mit Odys-
seus machte, als er zu den Sirenen wollte.«
Kaspians Hand lag auf dem Griff seines Schwertes, als
Lucy sagte: »Und du hast der Tochter Ramandus fest ver-
sprochen, zurückzukehren.«
Kaspian schwieg. »Nun ja. Das mag sein«, sagte er
schließlich. Er stand einen Moment lang unentschlossen
da, dann rief er allen zu: »Nun, wie ihr wollt. Unsere
Mission ist beendet. Wir kehren alle zurück. Holt das Boot
wieder ein!«
»Herr«, sagte Riepischiep, »wir kehren nicht alle
zurück. Ich werde, wie ich zuvor erklärt habe …«
»Ruhe!« donnerte Kaspian. »Ich habe mich belehren
lassen, aber ich lasse mich nicht noch länger plagen! Kann
niemand diese Maus zum Schweigen bringen?«
»Eure Majestät hat versprochen«, sagte Riepischiep,
»den Sprechenden Tieren von Narnia ein guter Herr zu
sein.«
»Für die Sprechenden Tiere trifft das zu«, entgegnete
Kaspian. »Aber über Tiere, die nie aufhören zu reden, habe
ich nichts gesagt!« Wutentbrannt stürzte er die Treppe
hinunter, ging in die Kabine und schlug die Tür zu.
Aber als die anderen sich ein Weilchen später zu ihm
gesellten, war er völlig verändert. Er war ganz weiß im
Gesicht und hatte Tränen in den Augen.
»Das war nicht gut«, sagte er, »wie ich mich vorhin
benommen habe. Mein Zorn und meine Prahlerei haben zu
nichts geführt. Aslan hat zu mir gesprochen. Nein – ich
meine damit nicht, daß er wirklich hier war. Er würde ja
- 214 -
gar nicht in die Kabine passen. Aber dieser goldene
Löwenkopf an der Wand ist zum Leben erwacht und
sprach zu mir. Es war schrecklich – seine Augen! Nicht,
daß er böse zu mir gewesen wäre – nur am Anfang ein
wenig streng. Trotzdem war es schrecklich. Und er sagte
… er sagte … oh, ich kann es nicht ertragen. Das
Schlimmste, was er sagen konnte. Ihr müßt weiterrudern –
Riep und Edmund und Lucy und Eustachius; und ich muß
zurück. Allein. Und sofort. Wozu soll das bloß gut sein?«
»Kaspian, mein Lieber«, sagte Lucy. »Du wußtest doch,
daß wir früher oder später in unsere Welt zurückmüssen!«
»Ja«, sagte Kaspian. »Aber dies ist früher!«
»Du wirst dich besser fühlen, wenn du zum Lande
Ramandus zurückkehrst«, sagte Lucy.
Ein Weilchen später wurde er wieder etwas fröhlicher,
aber auf beiden Seiten war es ein kummervoller Abschied,
und ich will nicht viel darüber sagen. Gut ausgerüstet mit
Lebensmitteln und Wasser (obwohl sie der Ansicht waren,
sie brauchten weder zu essen noch zu trinken) und mit
Riepischieps Weidenboot an Bord, legte das Boot etwa um
zwei Uhr nachmittags von der »Morgenröte« ab, um durch
den endlosen Lilienteppich zu rudern. Als letzten Gruß
zeigte die »Morgenröte« all ihre Flaggen, und die Schilde
der Männer wurden hinausgehängt. Von ihrem kleinen
Boot aus, umgeben von all den Lilien, erschien ihnen die
»Morgenröte« hoch und breit und heimelig. Sie waren
noch recht nah, als sie sahen, wie das Schiff wendete und
langsam nach Westen gerudert wurde. Aber obwohl Lucy
ein paar Tränen vergoß, war sie noch nicht so traurig, wie
man vielleicht erwartet hätte. Das Licht, die Stille, der
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prickelnde Duft des Silbermeeres und (eigenartigerweise)
sogar die Einsamkeit selbst war zu aufregend.
Sie mußten nicht rudern, denn die Strömung trieb sie
stetig nach Osten. Keiner von ihnen aß oder schlief. Die
ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag über bewegten
sie sich in Richtung Osten, und als der dritte Tag anbrach –
mit einer Helligkeit, die weder ihr noch ich ertragen
könnten, selbst wenn wir eine dunkle Brille aufhätten –,
sahen sie vor sich ein Wunder. Es war, als stünde eine
Mauer zwischen ihnen und dem Himmel, eine grüngraue,
zitternde, schimmernde Wand. Dann stieg die Sonne auf,
und schon beim ersten Auftauchen sahen die vier sie durch
die Wand hindurch, und die Wand leuchtete in herrlichen
Regenbogenfarben auf. Da wußten sie, daß die Wand in
Wirklichkeit eine lange und hohe Welle war – eine Welle,
die für immer an einer Stelle steht, so, wie man es oft an
der Kante eines Wasserfalls sieht. Sie schien etwa zehn
Meter hoch zu sein, und Edmund, Lucy, Eustachius und
Riepischiep wurden von der Strömung rasch darauf
zugetrieben. Man sollte meinen, sie dächten daran, wie
gefährlich das werden konnte. Aber das taten sie nicht. Ich
glaube nicht, daß dies irgend jemand in ihrer Lage getan
hätte. Denn nicht nur hinter der Welle, sondern auch hinter
der Sonne sahen sie jetzt etwas. Wenn das Wasser des
letzten Meeres nicht ihre Augen gestärkt hätte, dann hätten
sie nicht einmal die Sonne gesehen. Aber jetzt konnten sie
die aufgehende Sonne betrachten, und gleichzeitig die
Dinge dahinter erkennen. Was sie erblickten – im Osten,
hinter der Sonne –, war ein Bergzug. Er war so hoch, daß
sie seinen Gipfel entweder nie gesehen haben oder es
später vergaßen. Keiner von ihnen erinnerte sich, darüber
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den Himmel gesehen zu haben. Und die Berge müssen
wirklich außerhalb dieser Welt gewesen sein. Denn jeder
Berg, der auch nur ein Viertel oder ein Zwanzigstel dieser
Höhe hat, müßte eigentlich von Schnee und Eis bedeckt
sein. Aber diese Berge waren warm und grün und bedeckt
mit Wäldern und Wasserfällen, wie hoch man auch
schauen mochte. Und plötzlich kam ein Wind von Osten,
verwarf die Kante der Wand vor ihnen zu schaumigen
Formen und wirbelte das ruhige Wasser um sie herum auf.
Er dauerte nur eine Sekunde oder so, aber was der Wind in
dieser Sekunde mit sich gebracht hatte, das vergaß keines
der drei Kinder. Er brachte einen Duft und einen Klang –
eine Musik. Edmund und Lucy sprachen später nie darüber.
Lucy sagte nur: »Es brach einem das Herz.« – »Warum?«
fragte ich. »War es so traurig?« – »Traurig? Nein!!« sagte
Lucy.
Niemand im Boot bezweifelte, daß sie über das Ende der
Welt hinaus in das Land Aslans schauten.
In diesem Augenblick fuhr das Boot knirschend auf
Grund. Das Wasser war jetzt selbst für ihr Boot zu flach.
»Von hier aus«, sagte Riepischiep, »gehe ich allein
weiter.«
Sie versuchten nicht, ihn aufzuhalten, denn jetzt schien
es so, als sei alles vom Schicksal bestimmt oder schon
einmal geschehen. Sie halfen ihm, sein kleines Weidenboot
zu Wasser zu lassen. Dann nahm er sein Schwert ab (»Ich
werde es nicht mehr brauchen«, sagte er) und warf es weit
hinaus auf das Lilienmeer. Dort, wo es herunterfiel, blieb
es mit dem Griff nach oben stecken. Dann sagte er
Lebewohl. Um ihretwillen versuchte er, traurig zu sein,
aber er bebte vor Glück. Zum ersten und zum letzten Mal
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tat Lucy das, was sie immer hatte tun wollen – sie nahm
ihn in die Arme und streichelte ihn. Dann stieg er hastig in
sein Weidenboot und nahm das Paddel. Die Strömung
ergriff ihn und trug ihn mit sich, und er hob sich dunkel
von den Lilien ab. Doch auf der Wellenwand wuchsen
keine Lilien; sie erhob sich glatt und grün. Das Weidenboot
wurde schnell und schneller, und es sah wunderschön aus,
wie es die Wellenwand emporschoß. Für den Bruchteil
einer Sekunde sahen sie das Boot und Riepischiep hoch
oben auf dem Kamm der Welle. Dann verschwand er, und
seit dieser Zeit hat keiner mehr Riepischiep, die Große
Maus, gesehen. Aber ich glaube, daß er sicher das Land
Aslans erreicht hat und daß er dort noch immer lebt.
Während die Sonne emporstieg, verblaßten die außer-
halb dieser Welt liegenden Berge. Die Wellenwand blieb,
doch dahinter erstreckte sich nur noch blauer Himmel.
Die Kinder stiegen aus dem Boot und wateten – nicht
auf die Welle zu, sondern nach Süden, mit der Wasserwand
zu ihrer Linken. Sie hätten nicht sagen können, warum sie
das taten – es war vom Schicksal bestimmt. Und obwohl
sie sich auf der »Morgenröte« sehr erwachsen gefühlt
hatten und dies auch tatsächlich gewesen waren, empfan-
den sie jetzt genau das Gegenteil und hielten sich an der
Hand, während sie durch die Lilien wateten. Sie spürten
keine Müdigkeit. Das Wasser war warm, und es wurde
immer flacher. Schließlich gingen sie auf trockenem Sand
und dann auf Gras – auf einer mit sehr feinem, kurzem
Gras bedeckten Fläche, die fast auf gleicher Höhe mit dem
Silbermeer lag und die sich ohne die geringste Erhebung
nach allen Richtungen erstreckte.
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Und wie immer, wenn alles flach und baumlos ist, sah es
so aus, als käme der Himmel vor ihnen herab und berührte
das Gras. Aber während sie weitergingen, kam es ihnen
eigenartigerweise so vor, als neige sich hier der Himmel
wirklich herab und träfe mit der Erde zusammen – eine
blaue, sehr helle Wand, aber fest und wirklich. Am ehesten
hätte man sie mit einer Glaswand vergleichen können. Und
bald darauf waren sie ganz sicher. Die Wand war schon
ganz nah.
Aber zwischen ihnen und dem Fuß der Himmelswand
befand sich auf dem grünen Gras etwas, was so weiß war,
daß sie selbst mit ihren Adleraugen kaum hinsehen
konnten. Sie gingen weiter und sahen, daß es ein Lamm
war.
»Kommt und frühstückt!« sagte das Lamm mit sanfter
Stimme.
Erst jetzt bemerkten sie, daß auf dem Gras ein Feuer
flackerte, über dem Fische brieten. Sie setzten sich und
aßen den Fisch. Zum ersten Male seit vielen Tagen waren
sie hungrig. Und es war die beste Mahlzeit, die sie jemals
gegessen hatten.
»Bitte, Lamm«, sagte Lucy. »Ist dies der Weg zum Land
Aslans?«
»Nicht für euch«, antwortete das Lamm. »Für euch liegt
die Tür zum Land Aslans in eurer eigenen Welt.«
»Was!« sagte Edmund. »Gibt es von unserer Welt auch
einen Weg zum Land Aslans?«
»Aus allen Welten führt ein Weg zu meinem Land«,
sagte das Lamm.
Doch während es sprach, verwandelte sich das schnee-
weiße Fell des Lammes in gelbbraunes Gold. Das Lamm
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wurde größer und größer, und es war Aslan selbst, der über
ihnen thronte und aus dessen Mähne Licht fiel.
»O Aslan«, sagte Lucy. »Wirst du uns sagen, wie wir
aus unserer Welt in dein Land gelangen können?«
»Ich werde es euch immer wieder sagen«, sagte Aslan.
»Aber ich werde euch nicht sagen, wie lang oder wie kurz
der Weg sein wird; nur, daß er jenseits eines Flusses liegt!
Aber habt keine Angst, denn ich bin der große Brücken-
bauer. Und jetzt kommt; ich werde die Tür im Himmel
öffnen und euch in eure eigene Welt schicken.«
»Bitte, Aslan«, sagte Lucy. »Wirst du uns vorher sagen,
wann wir wieder nach Narnia zurückkommen dürfen?
Bitte. Und bitte, bitte, laß es bald sein.«
»Meine Liebste«, sagte Aslan sehr sanft. »Du und dein
Bruder, ihr werdet nie mehr nach Narnia zurückkehren.«
»Oh, Aslan!« sagten beide ganz entsetzt.
»Ihr seid zu alt, Kinder«, sagte Aslan, »und ihr müßt
anfangen, eurer eigenen Welt näherzukommen.«
»Es ist nicht Narnia, weißt du!« schluchzte Lucy. »Du
bist es! Wir werden dich nicht mehr sehen! Und wie
können wir leben, wenn wir dich nicht mehr sehen?«
»Aber ihr werdet mich sehen, meine Liebe«, sagte
Aslan.
»Bist – bist du auch dort?« fragte Edmund.
»Ja«, antwortete Aslan. »Aber dort trage ich einen
anderen Namen. Ihr müßt lernen, mich unter diesem
Namen zu erkennen. Und dies ist der Grund, warum ihr
nach Narnia gelangt seid – da ihr mich in Narnia ein wenig
kennengelernt habt, lernt ihr mich vielleicht in eurer Welt
noch besser kennen.«
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»Und kommt Eustachius auch nie mehr hierher zurück?«
fragte Lucy.
»Kind«, sagte Aslan. »Mußt du das wirklich wissen?
Kommt, ich öffne die Tür.«
Dann – in einem einzigen Augenblick – erschien ein Riß
in der blauen Mauer (wie wenn man einen Vorhang
zerreißt), ein schreckliches weißes Licht von jenseits des
Himmels leuchtete auf, sie fühlten Aslans Mähne und
spürten einen Löwenkuß auf der Stirn, und dann – dann
waren sie wieder im Hinterzimmer von Tante Albertas
Haus in Cambridge.
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