Vittorio Klostermann GMBH Zeitschrift Für Philosophische Forschung
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M. HEIDEGGER UND F. ROSENZWEIG1)
EIN NACHTRAG ZU ,,SEIN UND ZEIT"'
Einleitung
1) Die Lebensdaten Rosenzweigs sind kurz folgende: geb. 1886, von 1905 ab f?nf Semester
Medizinstudium, von 1907/8 ab Studium der Geschichte und Philosophie in Freiburg bei
F. Meinecke und zuletzt in Berlin bei H. Cohen. 1912 promovierte R. mit einem Teil seiner
Arbeit .Hegel und der Staat". 1914 bis 1918 Soldat, 1917/8 im Felde den ?Stern der Er
l?sung" entworfen. Nach Kriegsende Ausarbeitung des Buches: ?Hegel und der Staat"
(1920) und des .Stern der Erl?sung" (1921). 1920 Gr?ndung eines j?dischen Lehrhauses in
Frankfurt a. M., 1922 ?bersetzung des j?dischen Dichters Jehuda Halevi, 1923 Einleitung zu
H. Cohens .J?dischen Schriften", 1924-29 Bibel?bersetzung in Gemeinschaft mit M. Bub^r
und dazu Abhandlungen zum Ubersetzungsproblem. Gestorben 1929. ? Der Stern der Er
l?sung wird nach der 2. Aufl. zitiert (Schocken-Verl. 1930); Briefe, ebenda, 1935; Kleinere
Schriften, ebd. 1937. Sie enthalten auch R.s Einleitung zu Cohens J?dischen Schriften.
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162 KARL LOWITH
2) ?hnlich wie Rosenzweigs ?Stern" blieb auch dieses eigent?mlichste Werk Cohens der deut
schen Gelehrtenwelt unbekannt. Es ist bezeichnend, da? Heidegger in seinem Bericht ?Zur
Geschichte des philosophischen Lehrstuhls der Marburger Universit?t" Cohens ?Religion
der Vernunft" ?berhaupt nicht unter dessen Werken erw?hnt.
3) Vgl. H. Herrigel, Das neue Denken, Berlin 1928 und E. Freund, Die Existenz
philosophie F. Rosenzweigs, 1933.
4) Brief an Stadler von 1890, anl??lich des Todes von G. Keller, jetzt abgedruckt in H. Cohen,
Briefe, Berlin, Schocken Vlg, 1939.
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164 KARL LOWITH
Ihr neues Denken hat zur Voraussetzung, daB es mit einem alten
vorbei ist. Dieses hat sich voll-endet, indem Hegel die ganze Geschichte
des europaischen Geistes in das System einbezog und die alte christ
liche Theologie mit der alten griechischen Philosophie dem Schein nach
versohnt hat. Hegel begreift das geschichtliche Ganze des Seins, in
dem er nichts weiter voraussetzt, als das eine und reine, sich selbst
genugende Denken6).
5) Stern II, 24; Kl. Schriften 389; vgl. H. Herrigel, Das neue Denken a. a. O.
6) Stern I, 11 ff.; II, 21 f; Briefe 264 und 645; Kl. Schriften 358 f., 370.
7) Stern I, 12 ff.
8) Kl. Schriften 363, 369.
9) Kl. Schriften 359.
10) Sein und Zeit, 3 und 38 f.
11) Sein und Zeit, ? 9.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 165
12) Kl. Schriften 365 f., 377 f., 383-, Stern III 156, 167 f.
13) Kl. Schriften 384.
14) Stern II, 68 ff., Kl. Schriften 383 f., 385 f.
15) Stern II 56 f.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 167
heiten als einen ,nodh nicht radikal ausgetriebenen Rest der christ
lichen Theologie" bezeichnet und nur iexistenzialeu, d. i. zeitliche
Wahrheiten kennt. Denn ,von Gott", dem zeitlos Ewigen, hieB es in
einem Vortrag uber ,Das Wesen der Wahrheit', wissen wir nidcts
ein Satz, den audc Rosenzweig bestatigt, jedoch mit dem Zusatz, daB
dieses Nichtwissen ein solches v o n G o t t sei und als solches der
Anfang unseres Wissens von ihm21).
Als ein voraussetzungsvolles Denken auf dem faktischen Stand
punkt des irdischen Menschen ist beider Philosophie eine ,Stand
punktsphilosophie", eine ,Weltansciauung' und ,Lebensauffassung",
aber nidct in der Art des historischen Relativismus von Dilthey22),
sondern in einem absolut-gesdcicitlidhen Sinn. ,DaB die Philosophie,
wenn sie wahr sein soll, vom wirklichen Standpunkt des Philosophie
renden aus erphilosophiert sein muB, meine idi ja wirklidc. Es gibt da
keine andre Moglidckeit, objektiv zu sein, als daB man ehrlich von
seiner Subjektivitat ausgeht. Die Objektivit&tspflicht verlangt nur,
daB man wirklidc den ganzen Horizont besieht, nicht aber daB man
von einem andem Standpunkt aus sieht als auf dem man steht, oder
gar von gar keinem Standpunkt. Die eigenen Augen sind gewiB nur
die eigenen Augen; es ware aber schildburgerhaft zu glauben, daB
man sie sich ausreiBen muB, um ricitig zu sehen23)." Ist das aber noch
.Wissensdcaft' und Erkenntnis der Sache selbst', wenn man nur sieht
und anerkennt, was im begrenzten Horizont unseres zufalligen Ge
sidctskreises liegt? So fragen audc wir, und so fragt sidi mit Bestur
zung jeder, der in den philosophisdien Ersdieinungen der neueren
Zeit regelmaBig entweder das Philosophisdce oder das Wissensciaft
liche zu kurz kommen sah. So ist hier ein Beduirfnis der Philosophie
fuhlbar geworden, das sie offenbar aus sidi selbst heraus nidit befrie
digen kann. Soll sie ihren neuen Begriff nidit wieder preisgeben,
und wie konnte sie das, wo sie nur diesem Begriff ihr weiteres Fort
leben uber jenen kritisdien Punkt der Losung ihrer ursprunglichen
Aufgabe hinaus verdankt - so muB ihr, und zwar gerade ihrer Wis
sensdhaftlidikeit, Unterstutzung von anderswoher kommen. Sie muB
ihre neue Ausgangsstellung, das subjektive, ja extrem personlidie,
mehr als das, unvergleidibare, in sidi selbst versenkte Selbst und des
sen Standpunkt festhalten und dennodi die Objektivitfit der Wissen
sdiaft erreichen. Wo findet sidi diese verbindende Brucke zwisdien
extremster Subjektivitat, zwischen, man modite sagen, taubblinder
Selbsthaftigkeit und der liditen Klarheit unendlicher Objektivitat?"24)
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168 KARL LOWITH
InHeideggers ,Sein und Zeit' ist die Frage nach der objektiven Wahr
heit seines Standpunkts dadurch eliminiert, daB er seine ,taubblinde
Selbsthaftigkeitu ontologisch formalisiert26), so daB der Anschein ent
steht, als sprdche hier nidct mehr ein wirklicher Mensch vom wirk
lichen Leben und Sterben, sondern ein pures ,Dasein imMenschen''27),
dessen ,Jemeinigkeit' nur so je meine ist wie das ,Diesu hier und
jetzt in Hegels Dialektik der sinnlichen GewiBheit ein allgemeines
Dies28) iuberhaupt fur jedermanns Meinen zu jederzeit ist. Trotzdem
hat auch Heidegger die Notwendigkeit empfunden, seine Vorausset
zung des ,je eigenen' Seins und seiner Existenzidee zu rechtfertigen.
Die Art und Weise, wie er es tut, fuhrt aber nicht, wie das Vernehmen
von Offenbarung, aus der Selbstheit heraus, sondern sie schlieBt sie
vielmehr radikal in sich ein, in einem ,Zirkelu, dem Heidegger das
Pradikat des vitiosus allzu leicht abnimmt. Denn es komme nicht dar
auf an, aus dem Zirkel alles Verstehens herauszuspringen, sondern in
ihn, in der rechten Weise, hineinzuspringen, namlich so, daB das im
voraus Gesetzte als solches thematisch wird. Die philosophische Aus
legung des Seins will gerade dieses ,Vorstrukturu alles verstehenden
Daseins sichernu, sich ihrer ,,Vorhabeu, ihrer ,Vor-sichtu und ihres
,,Vor-griffsu vergewissern29). Das heiBt mit groberen Worten gesagt:
das Dasein kann uberhaupt nichts anderes und Besseres tun als so
entschieden wie moglich ganz zu sein, was es jeweils seiner Herkunft
nach schon ist und sein-kann, oder mit Luther gesagt: ,,unus quisque
robustus sit in existentia suau. Die ontologische Formulierung dafuir
ist: ,Seiendes, dem es als In-der-Welt-Sein um sein Sein selbst geht,
hat eine ontologische Zirkelstruktur'. Das Dasein und sein Verstehen
von Sein muB sidc in einem Zirkel bewegen, weil es sich immer schon
selber ,vorweg" ist und nur so auch auf sidc selber zurudckommt. Die
existenziale Ontologie, heiBt es in der Einleitung von ,Sein und
Zeit'30), ,hat das Ende des Leitfadens alles philosophisdhen Fragens
dort festgemacht, woraus es entspringt und wohin es zurickschldgt',
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT' 169
d. h. das Dasein von ,,Sein und Zeit' ist, in all seinen zeitlichen nEk
stasenu, immer nur bei sich selbst3l); es ist - um Rosenzweigs Wort
zu gebrauchen - blind und taub fur jedes Licht, das nicht schon in
seinem Umkreis brennt und fiir jede Stimme, die nicht schon von ihm
selbst her ertont. Es ist und bleibt ein Hohlenbewohner, der weder die
platoniscie Sonne nodh die christliche Wiedergeburt, noch das judische
Harren bis zum Tag der Erlosung kennt. GemaB diesem Gegensatz,
nicht im Ausgang, aber im Ziel, und insofern freilidc audc schon in
dem, worauf beide prinzipiell ausgehen, untersdceiden sich Hei
deggers und Rosenzweigs Grundbegriffe.
II
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170 KARL LOWITH
von Heideggers Analyse ist nicht zu beseitigen, indem man sie etwa
mit der andern Seite erganzt, vielmehr gehort sie zur Eindeutigkeit
von Heideggers philosophisdcem Fundament. Sie kann nur durcibro
dcen werden durch die Erfahrung und Einsicht, daB der Andere als ein
.alter ego' oder ,secundus' ein nicht minder Eigener und dodc ganz
Anderer ist als idc selbst, aber audc anders als jeder alius, namlidc ein
.Du', in dem ida mich selbst erkenne35). Ein wirklidces Du ist keine
zweite Person unter andern, sondern derjenige Mitmensch, der mir
allererst offenbart, daB ich selber ein ,Ichd bin, das - in Rede und
Gegenrede, Sprechen und Horen - den Ansprudh des Andern ver
nimmt.
Die prinzipielle Bedeutung des rechten Begriffes vom Du besdcrdnkt
sich nidct auf das Verhaltnis des Mensdcen zum Mitmenschen und da
mit zur Mitwelt, sondern sie erweist sida erst recht in Hinblick auf
Gott. Indem Gott Adam anruft: ,Wo bist du?' ersdclieBt sida dem Men
sdaen von Gott her sein eigenes ,Hier bin ida'. Das Ida ist zunaidst
versdclossen und-stumm, es wartet auf einen Anruf und Ansprudh, der
unmittelbar von Gott her und mittelbar vom Ndahsten ertont. Das Ida
der andern Person ist gerade nidat im voraus als ,,Idh da, es bedarf
des Anspruchs einer zweiten Person, durch die es zur Rede gestellt
und .gesetzt' wird. Diese Beziehungen entwickelt Rosenzweig in einer
,,grammatisden' Auslegung der biblischen Sdaopfungsgesdaidate36),
wie iuberhaupt der ,,Stern' ein vorweggenommener Kommentar zu
Rosenzweigs Ubersetzung der Genesis ist37). In der Interpretation der
Sda6pfungsgesdaidate zeigt sida das ,,Sein', um dessen Verstandnis es
Rosenzweig geht, zuletzt und zuerst nidat als m e in, sondern als
Xsein Sein', d. h. als das Sein des ,,Ewigen', durda den alles Zeitlidce
da ist. Dagegen bewegt sich Heideggers Analyse, trotz ihres faktischen
Ausgangspunktes, noch innerhalb des idealistisdcen Ansatzes, ob
gleida er den idealistischexi Begriff der ,,Erzeugung', diese Sakulari
sierung des theologisdcen Sch6pfungsbegriffs38), eiistenzial und kon
kret auslegt. Das Dasein von ,Sein und Zeit", dem es immer nur num
sida selbst geht', ist heillos gesdclossen in der Entsdclossenheit zu sida
selbst. Auf die Frage nada dem Sinn seines Seins antwortet ihm weder
ein Gott noda ein Mitmensdc.
Indem Heidegger das existierende Dasein als ,je eigenes' be
stimmt, ist audi die Welt, in weldher es da ist, immer sdcon s e i n e
35) Vgl. zum Begriff des Mitmenschen als des N?chsten: H. Cohen, Der N?chste, 4. Abhandig.,
herausg. von M. Buber, Schocken Vlg. 1935; Rosenzweig, Stern II, 168 f., 190, 196 und
Kl. Schriften 364 und 388.
36) Stern II, 110-120.
37) Siehe Briefe 618 f.
38) Stern II, 60 ff.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT' 171
Welt oder ein ,Existenzial", d. h. ein Sein von derselben Art wie ich
selbst. Dasein i s t je eigenes In-der-Welt-sein. Der Mensch ist nicht
,,vorhanden' wie ein Stein und ,,zuhandenu wie ein Zeug; er lebt auch
nicht wie ein natiirliches Lebewesen in einer natiirlidhen Welt, son
dern Steine, Pflanzen und Tiere begegnen ihm sin' der Welt, weil sein
eigenes Sein a priori ein ,In-seinu ist, worin ihm etwas begegnen
kann. Die Welt ist eine ,,Seinsverfassungu und ein ,,Strukturmoment'
des Daseins. Das Dasein des Menschen und das der Welt ist darum ein
,,einheitliches Ph&nomenu39).
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172 KARL LOWITH
der Welt fehlt. Der Versuch, die Welt mit dem Menschen zu einer Ein
heit zusammenzubringen, wurde zu seinem Gelingen voraussetzen,
daB auch der Mensch von Natur aus da ist und eine menschliche Natur
hat, die sich nicht wesentlich von der Natur alles Seienden unterschei
det. Heideggers existenziale Ontologie ist weder imstande, die Natur
philosophie der Antike zuruick zu holen, noch kann sie auf die christ
liche Spaltung eines geborenen und wiedergeborenen Menschen, eines
,,eigentlidcen' und ,uneigentlichenu Daseins verzichten. Das Resultat
dieser zweifachen Unm6glichkeit ist Heideggers Begriff von der ,Welt
lichkeit' und der ,nWeltzeitu, der unausdrucklich vom christlichen
,,saeculumu zehrt und dieses vergebens verweltlicht.
Rosenzweig geht bewuBt davon aus, daB die plastische Einheit des
griechisdien Kosmos, ineins mit dem griechischen Mythos, seit dem
Eintritt des Juden- und Christentums in die Weltgesdiichte zerstort ist.
Der erste Band des Sterns enthalt eine Philosophie des Heidentums,
die zeigen will, daB die Wahrheit der heidnischen Welt zwar eine
bleibende Wahrheit ist, aber einer unoffenbaren. Nur als ,Elementu ist
sie ,,immerwahrend"41). An die Stelle der alten, kosmischen Ordnung
trat eine neue Schopfungsordnung, worin Mensch und Welt nur als
Sch6pfung Gottes zusammengehoren. Was beide zusammenhalt, ist
nidct mehr und nicht weniger als ein ,,u n d U, aber keine idealistische
Synthesis, die beansprucht, erzeugend zu sein42). Die Erfahrung ent
deckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder bloB
Menschliches, in der Welt Weltliches und in Gott Gottliches, und zwar
nur in Gott Gottliches, nur in der Welt Weltliches und nur im Men
schen Menschliches. Sie widerspricht der Eindeutung des Menschen
in das Leben der naturlichen Welt, der Welt in das geistige Leben des
Menschen, und Gottes in die Welt und den Menschen. Der erste Band
des Sterns will darum im Prinzip nichts anderes zeigen als die Un
moglichkeit, diese drei Grundbegriffe aufeinander zuruickzufuhren.
Gott, Mensch und Welt, sie stehen - der Eine von Ewigkeit zu Ewig
keit, und die andern seitdem sie geschaffen sind - durchaus auf sich
selbst und eine Verbindung haben sie nur, weil der eine und ewige
Gott um des Menschen willen Himmel und Erde schuf, sich seinem
Ebenbild offenbart hat und beide am Ende der Zeiten erlost43). Gott,.
Mensch und Welt, sie sind nidht ,eigentlichu etwas ganz anderes als
sie der unmittelbaren Erfahrung erscheinen44), sondern sie sind so und
nidht anders wie die Erfahrung zeigt: Gott u n d die Welt u n d der
Mensch, im Abstand miteinander vetbunden, aber nicht durch die
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 173
45) Sein und Zeit, ? 44; Stern II, 212 ff,; III 155 ff.
46) Sein und Zeit, ? 54 ff.; Stern III, 172; Kl. Schriften 395 ff.
47) Sein und Zeit, 313.
48) Sein und Zeit, ? 53.
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174 KARL LOWITH
l6st, an denen wir sonst einen Halt haben. Das Sein-zum-Tode, und
noch konkreter die Todes-Angst, vereinzeln den Menschen ganz auf
sich selbst und sein eigens In-der-Welt-sein. Im eigentlichen Verhalten
zum Tode nimmt sich das Dasein als Ganzes zuruck und vorweg. In
ihm allein bezeugt sici sein ,Ganz-sein-konnen'.
Am Ende dieses ,Entwurfsu fragt sidi Heidegger selbst, ob diese
existenzial-ontologische Moglichkeit eines eigentlidcen Ganzseinkon
nens ontisch-existenziell nicht eine phantastische Zumu
tung bleibe, es sei denn, daB ihm ein ontisch-existenzielles, wirklidhes
Konnen entsprache, das aus dem Dasein selber ,,bezeugt' wird. Aber
wie bezeugt es sich? Der naive Leser dieses Hinweises auf eine Be
zeugung wird unwillkfirlich erwarten, daB die wirkliche Bezeugung
der faktischen ,Freiheit zum Todea, die Heidegger durch doppelten
Sperrdruck hervorhebt, nichts anderes sein kann als der freiwillige
Tod, der in der Tat als eine auBerste M6glidikeit menschlichen Da
seins bezeugt ist. Dieser Erwartung sdceint zu entspredcen, daB Hei
degger die duBerste M6glidikeit auch als ,,Selbstaufgabe' bezeich
net49) und im AnschluB daran einen Satz von Nietzsche zitiert, der sich
auf das Zarathustra-Kapitel ,,Vom freien Tode" bezieht, worin Nietz
sche verlangt, dab man ,zur reciten Zeit" aus freiem EntsdiluB zu
sterben verstehe. ,Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein
sager, wenn es nicht mehr Zeit ist zum Ja, also versteht er sidc auf
Leben und Tod.U So zu sterben, d. h. frei sein Leben voll-endend, sei
das Beste; das Zweitbeste sei, im Kampfe zu sterben und eine groBe
Seele zu versdiwenden50).
Die Erwartung, daB audc Heidegger mit der ,Freiheit zum Tode'
die Freiheit zur wirklichen Selbstaufgabe rechtfertigt, wird jedodc
griindlidc enttausdht. Die angesagte .Bezeugung' des eigentlidcen
Seins zum Tode macht aus der ,M6glichkeit' als welche der existen
zial verstandene Tod allein existiert oder da ist5"), durchaus keine
Wirklichkeit; es bleibt vielmehr bei der Moglichkeit und damit beim
In-der-Welt-sein. Die existenzielle Bezeugung soll die formale Struk
tur des ,GewissensU leisten52), das aber seinerseits wiederum existen
zial-ontologisch ausgelegt wird, obgleich andrerseits die Behauptung
bestehen bleibt, daB die Frage nadc dem Ganzseinkonnen eine jfak
tisdc-existenzielle' sei, weldie das Dasein dadurch beantworte, daB es
faktisch ,,entsdclossen' sei. Dieser Widerspruch ist jedoch nur ein
sdceinbarer, denn die vorlaufende Entsdclossenheit ist ohne ein be
49) Sein und Zeit, 264; vgl. dazu Sternberger, a. a. O.. S. 111 und 117.
50) Vgl. dazu Heideggers Vortrag ?Was ist Metaphysik?" (1929, S. 23), wo ebenfalls davon
gesprochen wird, da? das Dasein seine ?letzte Gr??e4 bewahre, indem es sich ?verschwende".
51) Sein und Zeit, 261.
52) Sein und Zeit, ? 54.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 175
stimmtes Wozu! Wozu sich ein Dasein faktisch entschliel3t, bleibt off en,
denn erst und nur im EntschluB bestimme sich die vorgangige und
notwendige Unbestimmtheit seines Wozu53). Der EntschluB bleibt
offen jfur die jeweils faktische M6glichkeitM der geschicitlichen Si
tuation54). Dieser ,Freigabe' des Wozu entspricht Heideggers Ableh
nung, einen ,Machtspruch' uiber existenzielle Moglichkeiten und Ver
bindlichkeiten ubernehmen zu wollen55). Die Entschlossenheit soll sidh
s t a n d i g fur das g a n z e Sein-konnen frei halten und dazu gehore
audh die mogliche Zurucknahme eines in einer bestimmten Situation
gefa3ten Entschlusses56). Die Entschlossenheit macht also nie SchluB,
sie ist ein Postulat und formal wie der kategorische Imperativ und in
ihrer Formalitat jedem beliebigen Inhalt offen. Der mogliche EntschluB
zur Selbstvernidhtung bleibt aber nicht einmal offen, sondern wird aus
driiklich abgewiesen57); denn er wurde ja die Moglichkeit eines stan
digen Vorlaufens ein fur allemal mit einer Wirklichkeit abschlieBen.
Weil im Dasein aber doch die wesenhafte Moglichkeit liegt, sich
selber aufzugeben, kann es eigentlich nur existieren, sofern es seine
Faktizitat bewuBt fiibernimmt'. Das entschlossene Dasein iibernimmt
mit seiner geworfenen Freiheit des Entwerfens den Inichtigen Grund
seiner Nichtigkeit', d. i. seine ,,Sdhuld"58), die ihm der Ruf des Ge
wissens erschlieBt. Das entschlossene Dasein ubernimmt das ,Nichts',
welches darin besteht, daB es sici n i c h t selber ins Dasein gebracht
hat, daB es den Grund seines Seins n i c h t selber gelegt hat. Es ulber
nimmt und uberantwortet' sein Dasein sich selbst. In diesem Sich
selbst-uibernehmen, Sich-selbst-uberantworten und Sich-selbst-flberlie
fern59) offenbart sich der gottlose Sinn von Heideggers Daseinsbegrif
fen, die eine Sch6pfung und Erlosung nicht kennen. Der Stein des An
stoBes fur diesen Willen zur Selbstbefreiung bleibt aber die ,,Fakti
zitit' oder, mit Nietzsche gesagt, das: ,es war", das factum brutum,
daB ich immer s c h o n da bin und also gerade nicht an mir selber
schuld bin60).
Aber weshalb muB denn das Dasein iiberhaupt s e i n und wieso
kann Heidegger sagen, daB es ist ,,und zu sein hat"61), zumal er doch
gleichzeitig feststellt, daB es wesentlidh eine ,Last' sei62). Warum,
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176 KARL LOWITH
muB man fragen, soll es diese Last nicht freiwillig abwerfen konnen,
wie es die ganze heidnische Philosophie erlaubt und die Stoa als letzte
Weisheit gelehrt und auch praktiziert hat. Warum ist bei Heidegger
von dieser wirklich bezeugten Moglichkeit, seinem Dasein ein Ende
zu machen, nicht die Rede? Bleibt das ,Vorlaufenu nicht selber noch
etwas bloB Vorlkufiges und uberholbar durch den EntschluB, sich
selbst das Leben zu nehmen, das man sich selbst nicht gegeben hat?
Die Antwort auf diese Frage gibt uns nicht Heidegger selbst, son
dern nur die Geschichte seiner Existenzialien: sie stammen insgesamt
von der c h r i s t 1 i c h e n Uberlieferung ab, sosehr auch Tod, Ge
wissen, Schuld, Sorge, Angst und Verfallen ontologisch formalisiert
und zu Begriffen des Daseins neutralisiert sind. Die Herkunft der we
sentlichen Existenzbegriffe von der christlichen Theologie verhindert
Heidegger an einer freimutigen Anerkennung der wirklichen Freiheit
zum Tode, wie sie in der Konsequenz eines Daseins lage, das sich fak
tisch selbstandig macht und auBer dem eigenen Tod keine hohere In
stanz uber sich hat. So selbstverstandlich es fur einen glaubigen Chri
sten ist, daB er sich als Gottes Geschopf nicht selber toten darff3), so
natiirlich mfiBte es fur eine geworfene Existenz sein, daB sie die Last
des Da-seins selber abwerfen kann. Ware der Verfasser von ,,Sein und
Zeit" kein gottloser Theologe, dessen Fundamentalontologie der Theo
logie im doppelten Sinn ,,entsprangu, so ware nicht einzusehen, was
ihn verhindern konnte, aus der Freiheit zum Nichts wie zum Sein sto
ische Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen nimmt er eine grundsitz
lidh doppelsinnige Stellung zur christlichen Theologie ein64): er stellt
es ihr anheim, in der existenzialen Analyse, z. B. der ,,Schuld", die
,,ontologische Bedingung' der faktischen Moglichkeit des status cor
ruptionis zu finden65). Ein protestantischer Theologe (R.Bultmann) hat
dieses zweischneidige Angebot eines ,,philosophischen Vorverstand
nissesu gutglaubig akzeptiert, was ihm aber nur moglich war, weil
Heidegger schon selbst der Theologie auf halbem Wege mit einem
theologischen Vorverstandnis entgegenkam. Seine Verwurzelung von
Tod, Schuld und Gewissen in einem sich selbst iiberantworteten Da
sein ist zwar eine Entwurzelung dieser Begriffe aus ihrem christlichen
Herkunftsbereich, aber eben dadurch auf diesen angewiesen.
Nur an einer Stelle kommt der grundsatzlich antichristliche Sinn
des Sichselbstiibernehmens offen zum Vorschein, namlich dort, wo
63) So noch abgeschw?cht bei Kant in dessen Ethik-Vorlesung, herausg. von Menzer, Berlin
1924, 183 ff.; vgl. Grundl. der Metaphysik der Sitten, Reel. Ausg., 56 und 65 ff.
64) Siehe dazu vom Verfasser: Grundz?ge der Entwicklung der Ph?nomenologie zur Philo
sophie und ihr Verh?ltnis zur protestantischen Theologie, Theolog. Rundschau 1930, H. 5
und: Ph?nomenologische Ontologie und protestantische Theologie, Zeitschriff t?r Theologie
und Kirche, 1930, H. 5.
65) Sein und Zeit, 306 und 180.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 177
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178 KARL LOWITH
Nichts gestanden sein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf den
braunen Saft in jener Nacht nicht austrinken. Ihm ist ein andrer Aus
weg aus dem EngpaB des Nichts bestimmt, als dieser Sturz in das
Gahnen des Abgrunds68).u Der wahre Ausweg aus dem EngpaB des
Nichts ist fur Rosenzweig aber nicht die nadcte Entschlossenheit zur
eigenen Ubernahme des faktischen Daseins, sondern die Anerkennung
seiner Geschopflichkeit durch ein Sichoffnen fur Offenbarung und fur
die VerheiBung der Ewigkeit. Diese bezieht sich zunadchst auf das ju
dische Volk als des auserwahlten Volks Gottes, dessen Name nder
Ewige' ist69). Der ,ewige Jude' ist keine Erfindung der christlidcen
und antisemitischen Mitwelt, sondern ein weltgeschichtliches Phano
men, dem alle sonstige Erfahrung von der Macht der Zeit widerspricht.
Indem sich das jiidische Volk, wie Gott ihm befahl und verhieB, durch
naturliche Zeugung in der Aufeinanderfolge der Geschlechter ver
ewigt, um in den Nachkommen den Glauben seiner Vorfahren zu be
zeugen, kann der echte Jude in der Tat von sich sagen ,wiru, und fort
fahrien: ,,sind ewigTM70).Der Glaube an die eigene Ewigkeit ist beim
Juden identisch mit dem an seinen Gott, weil er sich als Gottesvolk
weiB. Sein Glaube ist nicht, wie der christliche, Inhalt eines uberliefer
ten Zeugnisses, sondern ,,Erzeugnis einer Zeugung'. ,Der als Jude
Gezeugte bezeugt seinen Glauben, indem er das ewige Volk fortzeugt.
Er glaubt nicht an etwas, er ist selber Glaube und er ist es in einer
Unmittelbarkeit, die kein glaubiger Christ je erschwingen kann7l).
Daher kann man Jude - in der Gemeinschaft des Volkes - nur s e i n
oder nicht sein; Christ muB man dagegen - als Einzelner - w e r -
d e n. ,,Das Christ-Sein ist ihnen, vordem sie geboren wurden, abge
nommen durch die Geburt Christi; so wie umgekehrt der Jude sein
Judesein in sich selbst von seiner eigenen Geburt her besitzt und mit
sich tragt, indem ihm das Judewerden abgenommen wurde in der Vor
zeit und Offenbarungsgeschichte des Volkes72)." Der Christ ist von
Hause aus, oder doch von Geburt wegen, Heide, der Jude aber Jude.
Der Weg des Christen ist daher der einer fortschreitenden Selbstent
auBerung von seiner v6lkischen Gebundenheit, das Leben des Juden
fiihrt ihn immer tiefer in seine angestammte Art hinein. Dem ent
spricht, daB das Christentum wesentlich missionieren73) und sich aus
breiten muB, um in der Welt bestehen zu konnen, wogegen das Juden
tum immer nur von einem ,Rest"74) lebt und sein Selbst durch
68) Stem I, 8.
69) Siehe dazu Rosenzweigs Abhandlung in Kl. Schriften, 182 ff.
70) Stern II, 212 f.? III, 48 f.; Kl. Schriften 348; Briefe, 682.
71) Stern III, 105.
72) Stern III, 176.
73) Stern III, 104.
74) Stern III, 192 f.; Briefe 200.
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EIN NACHTRAG ZU ,,SEIN UND ZEIT" 179
Das ,Blut' von dem hier Rosenzweig spricht, ist aber nicit das
einer volkischen Ideologie, sondern der ,Same Abrahams', dem Gott
die Zukunft verhieB; es ist ein Blut, das von Anfang an durch den
Glauben bestimmt ist.
,Die Volker der Welt konnen sidi nicht geniigen lassen an der Ge
meinschaft des Bluts; sie treiben ihre Wurzeln in die Nacht der...
Erde und nehmen von ihrer Dauer Gewahr der eigenen Dauer. Am
Boden und an seiner Herrschaft, dem Gebiet, klammert sich ihrWille
zur Ewigkeit fest. Um die Erde der Heimat flief3t das Blut der Sohne;
denn sie trauen nicht der lebendigen Gemeinschaft des Bluts, die nicht
verankert ware in dem festen Grund der Erde. Wir allein vertrauten
dem Blut und liel3en das Land... Deshalb beginnt die Stammessage
des ewigen Volks, anders als die der Volker der Welt, nicht mit der
Autodcthonie. Erdentsprossen ist, und selbst er nur dem Leibe nach,
bloB der Vater der Mensciheit; der Stammvater Israels aber ist zu
gewandert; mit dem g6ttlichen Befehl, herauszugehen aus dem Lande
seiner Geburt und hinzugehen in ein Land, das Gott ihm zeigen wird,
hebt seine Gesciidcte, wie sie die heiligen Bucher erzahlen, an. Und
zum Volke wird das Volk, so im Morgendammer seiner Urzeit wie
nachher wieder im hellen Lidct der Geschidcte, in seinem Exil, dem
12*
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180 KARL LOWITH
agyptischen wie nachher dem in Babel. Und die Heimat, in die sich
das Leben eines Weltvolks einwohnt und einpfluigt, bis es beinahe ver
gessen hat, daB Volk-sein noch etwas andres heiBt als im Lande sitzen,
dem ewigen Volk wird sie nie in solchem Sinn eigen... Das Land ist
ihm im tiefsten Sinn eigen eben nur als Land seiner Sehnsucht, als hei
liges Land. Und darum wird ihm sogar wenn es daheim ist, wiederum
anders als allen Volkern der Erde, dies volle Eigentum der Heimat be
stritten: es selbst ist nur ein Fremdling und BeisaB in seinem Lande;
,mein ist das Land', sagt ihm Gott; die Heiligkeit des Landes entruiit
das Land seinem unbefangenen Zugriff, solange es zugreifen konnte;
sie steigert seine Sehnsucht nach dem verlorenen ins Unendlidie und
laBt es hinfiirder in keinem andern Land mehr ganz heimisch werden;
sie zwingt es, die volle Wucht des Willens zum Volk in dem einen
Punkt zu sammeln, der bei den Volkern der Welt nur einer unter an
dern ist, dem eigentlichen und reinen Lebenspunkt, der Blutsgemein
schaft; der Wille zum Volk darf sich hier an kein totes Mittel klam
mern; es darf sidi verwirklichen allein durch das Volk selber76)."
In derselben Weise wie das Leben dieses einen und ausgezeidi
neten Volkes erhalt sici audc seine Spradie als ewig gleiche, ohne den
lebendigen Wandel der andern Volkssprachen. Das jiidische Volk
spricht in der ganzen Welt die Spradien der andern Volker, bei denen
es zu Gast ist. Seine eigentiimliche Sprache ist seit lingster Zeit nidht
mehr die Sprache seines tfiglichen Lebens und dennoch nidht tot, son
dern bestandig als die heilige Sprache, die aber nur im Gebet und im
Kultus gebraucit wird. Der Jude spridit mit Gott eine andere Sprache
als mit seinen Mitmensdhen. Desgleidhen wandeln sidc nidit das hei
lige Gesetz (Thora) und die Sitten; auch sie bleiben ewig dieselben
und haben den Juden aus der Zeit und Gesdiidite aller uibrigen Vol
ker der Welt herausgestellt.
,,Gesetzgeber, die das Gesetz im lebendigen Laufe der Zeit er
neuerten, gibt es hier nicht; selbst was vielleidit der Sache nach Neu
erung ist, muB sich doch stets so geben, als stiinde es sdion in dem
ewigen Gesetz und ware in seiner Offenbarung mitoffenbart. Zeit
redinung des Volkes kann also hier nicht die Rechnung der eigenen
Zeit sein; denn es ist zeitlos, es hat keine Zeit. Sondern es muB die
Jahre zahlen nach den Jahren der Welt. Und abermals ... sehen wir
hier am Verhaltnis zur eignen Geschichte wie vorher am Verhaltnis
zur Spradie und zum Land, wie dem Volk das zeitlidhe Leben versagt
ist um des ewigen Lebens willen; wieder kann es das geschiditlidie
Leben der Weltvolker nidht voll und schopferisdi mitleben, es steht
immer irgendwie zwischen einem Weltlichen und Heiligen, von beiden
76) Stern III, 49 ff.; vgl. Briefe 326, 335 f., 686.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT' 181
durch das jeweils andre getrennt und so letzthin lebendig nicht wie die
Volker der Welt in einem sichtbar in die Welt gestellten volks
maBigen Leben, in einer tonend seine Seele aus-sprechenden volks
tuimlichen Sprache, in einem fest auf der Erde begrenzten und gegrun
deten volkseigenen Gebiet, sondern einzig und allein in dem, was den
Bestand des Volks uber die Zeit, die Unverganglichkeit seines Lebens
sichert: im Schopfen der eigenen Ewigkeit aus den dunklen Quellen
des Bluts. Darum aber, weil es nur auf die selbstgeschaffene Ewigkeit
vertraut und auf sonst nichts in der Welt, glaubt dies Volk auch wirk
lich an seine Ewigkeit, wahrend die Volker der Welt im Grunde alle
ahnlich wie der einzelne Mensch mit ihrem eigenen Tode fur irgend
einen, sei es noch so fernen Zeitpunkt, rechnen. Ja ihre Liebe zum
eignen Volkstum ist . . . schwer von diesem Vorgefuihl des Todes. Nur
zum Sterblichen ist die Liebe ganz s5B, nur in der Herbigkeit des
Todes ist das Geheimnis dieser letzten SuiBe beschlossen. So sehen die
V6lker der Welt einmal eine Zeit voraus, wo ihr Land mit seinen
Bergen und Flussen wohl noch unterm Himmel liegt wie heute, aber
andre Menschen wohnen darin; ihre Sprache ist in Biichern bestattet
und ihre Sitten und Gesetze haben die lebendige Macht verloren. Wir
allein konnen uns solche Zeit nicht vorstellen; denn alles, worin die
Volker der Welt ihr Leben verankerten, uns ist es scion vorlangst
geraubt; Land, Sprache, Sitte und Gesetz ist uns schon lang aus dem
Kreise des Lebendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu Hei
ligem erhoben; wir aber leben noch immer und leben ewig; mit nichts
AuBerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns selbst schlugen wir
Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wanderer darum, doch tief ver
wurzelt in uns selbst, in unserm eigenen Leib und Blut. Und diese Ver
wurzelung in uns selbst und allein in uns selbst verbuirgt uns unsre
Ewigkeit77)."
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182 KARL LOWITH
chern78). Das Volk Israel blickt starr uber Welt und Geschichte hinweg
auf sein ewiges Ziel, das so fern wie prasent iSt79).
,,Gegen die Stunden der Ewigkeit, die der Staat in den Epochen
der Weltgesdcichte mit scharfem Sdhwert einkerbt in die Rinde des
wachsenden Baums der Zeit, setzt das ewige Volk unbekiimmert und
unberuihrt Jahr um Jahr Ring um Ring um den Stamm seines ewigen
Lebens. An diesem stillen, ganz seitenblicklosen Leben bricht sich die
Macht der Weltgeschichte. Mag sie doch immer aufs neue ihre neueste
Ewigkeit fur die wahre behaupten, wir setzen gegen alle solche Be
hauptungen immer wieder das ruhige, stumme Bild unsres Daseins,
das dem, der sehen will, wie dem, der nicht will, immer wieder die
Erkenntnis aufzwingt, daB die Ewigkeit nichts Neuestes ist. Der Arm
der Gewalt mag das Neueste mit dem Letzten zusammenzwingen zu
einer allerneuesten Ewigkeit. Aber das ist nicht die Versohnung des
spatesten Enkels mit dem altesten Ahn. Und diese wahre Ewigkeit des
Lebens, diese Bekehrung des Herzens der Vater zu den Kindern, wird
immer wieder durch unser Dasein den Volkern der Welt vor die
Augen geruickt, auf daB sie stumm die weltlich-allzuweltliche Schein
ewigkeit ihrer zu Staaten verfaBten weltgeschichtlichen Augenblicke
Liigen strafe. Der Gang der Weltgeschichte versbhnt, solange das
Reich Gottes noch erst kommt, immer nur die Schopfung in sich selbst,
immer nur ihren nachsten Augenblick dem vorigen. Die Schopfung
selber als Ganzes aber wird mit der Erl6sung in alle Zeit, solange die
Erlosung noch im Kommen ist, zusammengehalten nur durch das aus
aller Welt-Geschichte herausgestellte Ewige Volk8O')."
Eine Art Ersatz fur die Ewigkeit ist in Heideggers ,Sein und Zeit"
der Tod als das unbedingte Ende unseres eigenen Sein-Konnens8l). Er
ist das einzig im voraus Gewisse, absolut Feststehende und gleidhsam
Ewige, ein ,,nunc stans' an dem die Zeitlichkeit strandet und die Sorge
und alles Besorgen aufhort. Zugleich ist die Voraussicht des Todes
aber auch der verborgene Beweggrund aller G e s c h i c h t 1i c h -
k e i t, die zur Substanz des Existierens gehort. Durdc das ,Sein zum
Todeu bekommt die Existenz die eigentiimliche Energie und Entschlos
senheit, weliche sie handeln, sich fur etwas einsetzen und sich ihrem
Schicksal aussetzen laBt. Diese Begriindung der Geschichtlichkeit aus
der Endlichkeit trifft mit Rosenzweigs Bemerkung zusammen, daB die
eigentlich gesdcichtlichen V6lker der Welt wesentlich mit dem Tode
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 183
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184 KARL LOWITH
Situation nicht bloB vor, sondern er stellt sich in sie hinein. ,,Augen
blicklich-sein far ,seine Zeit"' oder der ,,Entschlul in die welt-ge
schichtliche Situation"84) ist das letzte Wort der Analyse der Zeitlich
keit und Geschichtlichkeit85).
Entschlossener als der Verfasser von ,Sein und Zeit" kann man die
endliche Zeitlichkeit und mit ihr die Geschichtlichkeit nicht bejahen
und damit die Ewigkeit preisgeben86). Auch die Anfiihrungsstriche, in
die ,,seine Zeit" gesetzt ist, um anzudeuten, daB damit nicht das ,,vul
gare" Heute gemeint sei, bedeutet keine Einschrankung der vollen Be
reitschaft zur zeit-geschichtlichen Existenz, wie sie fur Heidegger zu
fallig durch Europa und Deutschland bestimmt ist.
Als 1933 in Deutschland ein entscheidender ,,Augenblick" da war,
hat sich Heidegger entschlossen in die weltgeschichtliche Situation ge
stellt, indem er die Fuhrung der Freiburger Universitat ubernahm und
das ,,Dasein" von ,,Sein und Zeit' mit dem ,,deutschen" Dasein gleich
setzte. Dieser politische ,,Einsatz" fuir das faktische Geschehen der Zeit,
dem neuerdings die bestandige Bezugnahme auf das ,,Atomzeitalter"
entspricht, war nicht, wie Harmlose meinten, ein Abweg von ,,Sein
und Zeit", sondern eine Konsequenz aus dem Begriff des menschlichen
Daseins als einer zeitlichen und geschichtlichen Existenz, die nur zeit
liche Wahrheiten kennt, relativ auf das je eigene Dasein und dessen
Sein-konnen. Durch diese radikale Verzeitlichung der Wahrheit und
Existenz hat der Verfasser von ,,Sein und Zeit" das ungewollte Ver
dienst, daB er die Frage seines jiidischen Zeitgenossen nach einem
ewigen Sein - dem ewigen Gott, oder auch einer anfangs- und end
losen, immerseienden Welt - erneut in ihrem vollen Gewicht zu Ge
hor bringt. Doch ist in der armlichen Auseinandersetzung mit Hei
deggers Werk die Frage nach der Zeit alsbald iiberhort worden, als
handle es sich nur um die ontologische Differenz von Seiendem und
Sein, und nicht um ,,Sein und Zeit".
SchluB
84) Sein und Zeit, 385; vgl. 299 f., 383 f., 391,
85) Vgl. vom Verf.: Heidegger, Denker in d?rftiger Zeit, 1953. II. Kap.
86) Siehe dazu: Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O. ?? 39-45.
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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT 185
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186 KARL LOWITH
91) Ges. Werke V, 78 ff.; VII, 48 und: ??ber die Geduld und die Erwartung des Ewigen",
Re?g. Reden, ?bersetzt von Th. H a ecke r, Leipzig 1938.
92) Im Vorwort zum Begriff des ?Einzelnen" hat Kierkegaard diese Notwendigkeit so kurz wie
klar formuliert. Er beginnt mit der Feststellung: ?In diesen Zeiten" (1848) ?ist alles Politik",
und er endet: ?was die Zeit fordert", d. h. soziale Reformen und eine neue politische Ord
nung, ?ist das Gegenteil von dem, was ihr not tut, n?mlich etwas unbedingt Feststehen
des". Das Ungl?ck der Zeit sei, da? sie sich auf das Zeitliche festgesetzt habe und der Ewig
keit meint entraten zu k?nnen. Desgleichen begr?ndet Nietzsche seinen Willen zur Ewigkeit
aus der Umkehrung des Nihilismus, der besagt, da? alles ?umsonst" ist. Siehe dazu vom
Verfasser: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart, 1956.
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EIN NACHTRAG -ZU ,SEIN UND ZEIT" 187
etwas wissen - und auch nicht-wissen konne. Was der Mensch wissen
kann, ist nicht, daB es in Bezug auf die Welt, zu der auch der Mensch
gehort, zeitlose Wahrheiten gibt, sondern, daB es - im Unterschied
zu der jeweiligen geschichtlichen Situation einer bestimmten Zeit
Immerwahrendes gibt, das sich zu allen Zeiten bewahrt, weil es das
Wahre ist. Was immer ist, ist nicht zeitlos; was sich immer gleich
bleibt, ist nicht zeitlich.
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