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Vittorio Klostermann GMBH Zeitschrift Für Philosophische Forschung

In dem Artikel von Karl Löwith wird die Beziehung zwischen Martin Heidegger und Franz Rosenzweig thematisiert, insbesondere im Kontext von Heideggers Werk 'Sein und Zeit'. Löwith argumentiert, dass beide Philosophen trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze in der Philosophie des Daseins und der Zeitlichkeit eine gemeinsame Abkehr von der deutschen Idealismus-Metaphysik aufweisen. Der Text untersucht die philosophischen Parallelen und Unterschiede in ihren Denkansätzen, insbesondere in Bezug auf die menschliche Existenz und die Rolle der Ewigkeit.

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Vittorio Klostermann GMBH Zeitschrift Für Philosophische Forschung

In dem Artikel von Karl Löwith wird die Beziehung zwischen Martin Heidegger und Franz Rosenzweig thematisiert, insbesondere im Kontext von Heideggers Werk 'Sein und Zeit'. Löwith argumentiert, dass beide Philosophen trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze in der Philosophie des Daseins und der Zeitlichkeit eine gemeinsame Abkehr von der deutschen Idealismus-Metaphysik aufweisen. Der Text untersucht die philosophischen Parallelen und Unterschiede in ihren Denkansätzen, insbesondere in Bezug auf die menschliche Existenz und die Rolle der Ewigkeit.

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M. Heidegger und F. Rosenzweig ein Nachtrag zu "Sein und Zeit"


Author(s): Karl Löwith
Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 12, H. 2 (Apr. - Jun., 1958), pp. 161-187
Published by: Vittorio Klostermann GmbH
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20480979
Accessed: 16-10-2015 00:15 UTC

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M. HEIDEGGER UND F. ROSENZWEIG1)
EIN NACHTRAG ZU ,,SEIN UND ZEIT"'

Von Karl L ow i t h, Heidelberg

Einleitung

Wenn Heidegger je einen Zeitgenossen gehabt hat, der diese Be


zeichnung nicht nur im chronologischen Sinne verdient, dann war es
dieser deutsche Jude, dessen Hauptwerk sechs Jahre vor ,,Sein und
Zeit" erschien. Der zeitgeschichtliche Zusammenhang des ,,neuen Den
kens' von Heidegger mit dem von Rosenzweig ist nicht zur allge
meinen Kenntnis gekommen, wohl aber Rosenzweig selber aufge
fallen. Kritisch war ihre Zugehbrigkeit dadurch gekennzeichnet, daB
sich das Denken des einen wie des anderen von der BewuBtseinsmeta
physik des deutschen Idealismus abwandte, ohne dem Positivismus zu
verfallen, und positiv durch ihren gemeinsamen Ausgang von der
,,Faktizitdt' des menschlichen Daseins. Aus demselben Geiste der Zeit
sind die ersten Schriften von E. Rosenstock, M. Buber, H. und R. Ehren
berg, V. von Weizsdcker und F. Ebner hervorgegangen. Auch die An
fange der ,,dialektischen Theologie' gehbren in diesen geschichtlichen
Bereich der Jahre nach dem ersten Weltkrieg: der vorerst letzten
Epoche der deutschen Philosophie, in weldiher sie produktiv war und
ein bestimmtes Gesicht hatte, das nicht nur der Kopf von monologi
sierenden Einzelgangern war. Wir beschranken uns hier auf eine Kon
frontation des ,,Sterns der Erldsung" mit Heideggers ,,Sein und Zeit'
und damit auf die Frage nach der Ewigkeit im Unterschied zur Zeitlich
keit der Zeit.
In Rosenzweigs kleineren Schriften gibt es zwei Seiten, betitelt:
,,Vertauschte Frontenu. Sie entstanden als Anzeige der 2. Auflage von

1) Die Lebensdaten Rosenzweigs sind kurz folgende: geb. 1886, von 1905 ab f?nf Semester
Medizinstudium, von 1907/8 ab Studium der Geschichte und Philosophie in Freiburg bei
F. Meinecke und zuletzt in Berlin bei H. Cohen. 1912 promovierte R. mit einem Teil seiner
Arbeit .Hegel und der Staat". 1914 bis 1918 Soldat, 1917/8 im Felde den ?Stern der Er
l?sung" entworfen. Nach Kriegsende Ausarbeitung des Buches: ?Hegel und der Staat"
(1920) und des .Stern der Erl?sung" (1921). 1920 Gr?ndung eines j?dischen Lehrhauses in
Frankfurt a. M., 1922 ?bersetzung des j?dischen Dichters Jehuda Halevi, 1923 Einleitung zu
H. Cohens .J?dischen Schriften", 1924-29 Bibel?bersetzung in Gemeinschaft mit M. Bub^r
und dazu Abhandlungen zum Ubersetzungsproblem. Gestorben 1929. ? Der Stern der Er
l?sung wird nach der 2. Aufl. zitiert (Schocken-Verl. 1930); Briefe, ebenda, 1935; Kleinere
Schriften, ebd. 1937. Sie enthalten auch R.s Einleitung zu Cohens J?dischen Schriften.

11 Ztft. f. philosoph. Forsciung XII/2

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162 KARL LOWITH

Cohens ,,Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums"2),


und zwar unter dem Eindruck der im Friihjahr 1929 stattgefundenen
Hochschultagung in Davos, in deren Mittelpunkt die Auseinanderset
zung zwischen E. Cassirer und Heidegger gestanden hatte. Die daran
anknuipfenden Bemerkungen Rosenzweigs erschienen erst nach seinem
Tode in einer Zeitschrift. Ihr Inhalt ist folgender: Cohens Werk hat ein
merkwurdiges Schicksal gehabt: die Arbeiten seiner Gesellenzeit, die
er in der Werkstatt Kants anfertigte (Kants Theorie der Erfahrung,
Kants Begrundung der Ethik, Kants Begriindung der Asthetik), haben
die wissenschaftliche Philosophie ihrer Zeit revolutioniert und die
.Marburger Schuleu begrundet. Die Werke der Meisterzeit (Logik der
reinen Erkenntnis, Ethik des reinen Wollens, Asthetik des reinen Ge
fuhls) wurden auBerhalb der Schule kaum beachtet, sein eigenes Sy
stem blieb das abseitige Werk eines scheinbar zeitfremden Geistes.
Und schlieBlich entwarf der greise Cohen auf den Grundlagen seines
Systems einen An- und Neubau, die nReligion derVernunft' (1919 nach
Cohens Tod erschienen, 2. Aufl. 1929), der fast ganzlich unbekannt
blieb, obwohl gerade dieses Werk wie kein anderes durch den Grund
begriff der ,Korrelationu - zwischen Mensch und Gott, Mensch und
Mensch - die Grenzen des Idealismus gesprengt hat und in das neue
Denken', wie es Rosenzweig nennt3), vorauswies. Die ,Vertauschung
der Frontenu zwischen Heidegger und Cassirer bestand nach Rosen
zweig darin, daB Cassirer das ,alte Denken' des Marburger Kantianis
mus vertrat, wogegen Heidegger de facto das ,neue Denken' des
alten Cohen gegen dessen legitimen Schuler vertrat und insofern mit
Recht der Nachfolger auf Cohens Lehrstuhl war, so paradox dies auch
fur jeden alten ,Marburger' sein muBte.
Zur Begrfindung seiner These, daB Heideggers Denken sich in der
von Cohen eingeschlagenen Richtung bewegt, vergleicht Rosenzweig
Heideggers Ausgang vom endlichen Wesen des Menschen, dessen Da
sein bei aller Freiheit eine ,,geworfene Faktizitat' ist, mit einer AuuBe
rung Cohens4), worin dieser mit Leidenschaft das ,Individuum quand
memeu betont, gegeniuber dem ,,Gelehrten-Bourgeois-Gedanken', als
bestehe der eigentliche Wert des armen menschlichen Individuums in
dem ,intellektuellen Transport auf die Ewigkeit der Kulturu, wahrend
doch gerade das Vorubergehende der Stimmungen und Gesinnungen

2) ?hnlich wie Rosenzweigs ?Stern" blieb auch dieses eigent?mlichste Werk Cohens der deut
schen Gelehrtenwelt unbekannt. Es ist bezeichnend, da? Heidegger in seinem Bericht ?Zur
Geschichte des philosophischen Lehrstuhls der Marburger Universit?t" Cohens ?Religion
der Vernunft" ?berhaupt nicht unter dessen Werken erw?hnt.
3) Vgl. H. Herrigel, Das neue Denken, Berlin 1928 und E. Freund, Die Existenz
philosophie F. Rosenzweigs, 1933.
4) Brief an Stadler von 1890, anl??lich des Todes von G. Keller, jetzt abgedruckt in H. Cohen,
Briefe, Berlin, Schocken Vlg, 1939.

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EIN NACHTRAG ZU ,,SEIN UND ZEIT" 163

das Bestandig-Mensdhlidce sei. Und wenn Heidegger in seinem Vor


trag sagte, man musse den Menschen aus dem faulen GenuB der sog.
Kulturguter zuriickrufen in die Harte seines Schicksals, so entspricht
dem Cohens Ironie: man konne die nTriimmer einer ehemaligen Ver
nunft" und die ,Vogelscheuchen des Sittengesetzes' ihrem Schidksal
uberlassen. Die Vernunft, die Cohens Alterswerk hinter sich lieB, war
die ,erzeugende" Vernunft des Idealismus, die er durch die gott
geschaffene Vernunft der Kreatur ersetzte. Der Untersdciec zwischen
Heideggers und Cohens Ruckgang auf das nackte faktische Individuum
besteht jedoch darin, daB Cohen am Individuum quand meme, wie es
vor aller
idealistisdhen Erzeugung schlechterdings da ist, den religi
osen Idealismus betatigen wollte, daB er uberhaupt ,das Eitle des Ir
disdcen mit der Glorie des Ewigenu schmiicken wollte, wogegen Hei
degger von der Ewigkeit nidhts mehr wissen will und das Sein aus der
Zeit versteht.

Ein analoger Untersdcied zeigt sich beim Vergleich von Heidegger


mit Cohens Sdiiiler Rosenzweig. Ihr Ausgangspunkt ist derselbe: der
nackte Mensch in seiner endlidcen Existenz, wie er allem Kulturbe
stande vorausgeht. In ihrem Willen zum Riicdgang auf das Ursprung
lidce und Wesentlidce einer elementaren Erfahrung begegnen sidi
beide im selben Geiste der Zeit, jener scheidenden und entscieidenden,
die durch den ersten Weltkrieg bestimmt war und in der notgedrungen
alles Uberfliussige wegfiel. So versdcieden Heideggers begriffliche
Niichternheit von Rosenzweigs Spradhe ist, beide sind radikal und
pathetisch bewegt von einem leidensciaftlidcen Ernst. Statt des Vielen
wollten sie wieder das Eine, namlidh das ,Eine das not tut", in einer
Zeit, die auf Entsdheidungen drangte, weil die uberkommenen In
halte der modernen Kultur iiberhaupt nidct mehr feststanden. Beide
fragen zuerst und zuletzt nach der j,W a h r h e i t" der menschlichen
Existenz, beide handeln vom M en ls c h e n und von der W e 1t, vom
Lo g os als S p r a c h e und von der Z e i t. Ihr scharf geschliffener Intel
lekt entfaltet den Gedanken wesentlich aus der Sprache heraus, mit der
beide meisterhaft umgehen. Sie philosophieren entgegen ihrer akade
misdhen Mitwelt , in p h i l o s o p h o s ", wie das Motto des ersten

Bandes des Sterns' heiBt, und zugleich , in th e o I o g o s ', wie


uber dem zweiten steht, weil sie selber beides in einer Person sind.
Die Philosophie, sagt Rosenzweig, verlangt heute, daB Theologen phi
losophieren. Sie sind aufeinander angewiesen und erzeugen mitein
ander einen neuen Typus des theologisdcen Philosophen. ,,Die theolo
gisdcen Probleme wollen ins Mensdclidce ubersetzt werden und die

11*

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164 KARL LOWITH

mensdhlichen bis ins Theologische vorgetriebenT5) - eine Kennzeich


nung des ,,neuen Denkensu, die ebenso fur den jungen Heidegger wie
fur Rosenzweig gilt, wenngleich Heideggers Verhaltnis zum Christen
tum eine Abkehr und Rosenzweigs Verhaltnis zum Judentum eine
Riickkehr ist.

Ihr neues Denken hat zur Voraussetzung, daB es mit einem alten
vorbei ist. Dieses hat sich voll-endet, indem Hegel die ganze Geschichte
des europaischen Geistes in das System einbezog und die alte christ
liche Theologie mit der alten griechischen Philosophie dem Schein nach
versohnt hat. Hegel begreift das geschichtliche Ganze des Seins, in
dem er nichts weiter voraussetzt, als das eine und reine, sich selbst
genugende Denken6).

Genugt dieses alles begreifende Denken aber wirklich sich selbst,


und bedarf es nicht eines empirischen Faktums und Fundaments, um
- wie schon Schelling und die Linkshegelianer in ihrem Kampf gegen
Hegel behaupteten - uberhaupt beginnen zu konnen? Und was be
deutet der Aufstand gegen Hegels System und die idealistische Phi
losophie uberhaupt - bei Kierkegaard und Marx, bei Schopenhauer
und Nietzsche7) - anderes als eine Rehabilitierung des ,bedurftigen'
und am Sein ,interessiertenu Menschen, dem es, wie Heidegger sagt,
,,in seinem Sein um sich selbst geht'. Der wirkliche Anfang fulr die
Erkenntnis des All oder des Ganzen des Seienden ist nach Rosenzweig
nicht ein uberschwengliches Denken, sondern eine faktische Wirklich
keit: der Mensch ,,schlechtweg, der noch da ist', ein Begriff von reiner
,,TatsdchlichkeituS), der etwas Bestimmtes und Einzelnes meint, aber
keine ,,Idee" und kein allgemeines ,,Wesenu. ,Ich ganz gemeines Pri
vatsubjekt, Ich Vor- und Zuname, Ich Staub und Asche, Ich bin noch
da - und philosophiere'M9), auch in jener Philosophie, welche meint,
sie konne von der Faktizitat meines Daseins absehen. Die Verwandt
schaft mit Heideggers These, daB das eine und uniyersale Sein nur
zuganglich wird in der radikalen Vereinzelung auf das bestimmte und
ausgezeichnete Sein, welches jeweils ich selbst bin10), und daB deshalb
die universale Ontologie einer ,,fundamentalen' bedarf, d. i. einer
Analytik des faktischen Daseins, ist ohne weiteres einleuchtend. Beide
entwidceln ferner den Sinn des ,,i s t U im Gegensatz zum iiberliefer
ten Wesensbegriff11), denn die Frage nach dem Wa s alles ist, be

5) Stern II, 24; Kl. Schriften 389; vgl. H. Herrigel, Das neue Denken a. a. O.
6) Stern I, 11 ff.; II, 21 f; Briefe 264 und 645; Kl. Schriften 358 f., 370.
7) Stern I, 12 ff.
8) Kl. Schriften 363, 369.
9) Kl. Schriften 359.
10) Sein und Zeit, 3 und 38 f.
11) Sein und Zeit, ? 9.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 165

trifft nur die


denkbare Allgemeinheit des Seienden - mag diese
,,Wasseru (Thales) oder audh ,,Geist' (Hegel) sein, aber nicht die er
fahrbare Wirklidckeit und das besondere ,,Geschehnis", von dem ich
nur weiB, weil es an mir geschieht und meine Geschidctlichkeit aus
machtl2). Das Wesen, sagt Rosenzweig, will nichts von der Z e i t wis
sen, die Wirklichkeit ist jedoch nur im Zeitwort erfaBbar und das Ge
schehen geschieht nicht in der Zeit, sondern die Zeit selber gesdcieht13),
indem idh handle und leide. Das neue Denken versteht, daB es selbst,
und alles was ist, in jedem Augenblick zeitlich, schon da und noch nicht
da, gewesenes und zukunftiges ist, wogegen die alte Philosophie seit
den Griechen zeitloszu denken bestrebt war.
Diese dem wirklichen Sein
eingeborene Zeitlichkeit verlangt eine
neue Methode des Ausdrucs. Das Denken, sagt Rosenzweig, muB zum
,,Sprachdenken' werden, weil nur das Sprechen zeit-gemaB ist, wo
gegen das Denken als solches von der Zeit des Gesprachs - des Re
dens, Sdhweigens und Horens - der Absicht nach abstrahiert. Das
sprachlich geleitete Denken ist kein bloB logisches, sondern ein ,gram
matisdces' Denken, und nur dieses sprachlich gebundene Denken
nimmt die Zeit in den Formen des Logos ernst"4). Ein solches gramma
tisches Denken kennzeichnet Rosenzweigs ,Stern' und audc Heideg
gers ,Sein und Zeit", dessen revolutionare Neuerung vorzuglich darin
besteht, daB es die in der alltaglichen Rede eingeschlossenen Zeit
worte (allt&glich, jeweils, zunachst und zumeist, jetzt und dann, schon
immer, in voraus) zu philosophischen Termini auspragt. Was Rosen
zweig uber das ,schonu sagt, konnte auch in Heideggers Sein und
Zeit' stehen, wenn man zunachst davon absieht, daB Rosenzweig mit
der Analyse des ,schon' nicht auf die gottlose ,,Geworfenheit', son
dern auf die ,Geschopflichkeit' abzielt. Er entwickelt die ,Logik der
Schopfung', das nim Anfang" der Genesis, folgendermaBen15): die
Welt ist im voraus da, einfach schon da, das Sein der Welt ist ihr
Immer-sdhon-da-sein. Indem wir die Welt als ein solches Schondasein
verstehen, begreifen wir audh den Sinn von Geschaffensein und mit
ihm die Schopfungsmacht, welche macht, daB Mensch und Welt sind.
Nidht zufallig haben darum alle auf ein Erstes und Letztes zielenden
Worte die Form der V e r g a n g e n h e i t: Grund und Grund-lage,
Ur-sache und Ur-sprung, Voraus-setzung und Gesetz, d. i. im voraus
Gesetztes.
Durch diese Orientierung an der Faktizitat der erfahrbaren Wirk
lidikeit ist beider Philosophie eine ,erfahrende Philosophie' oder ein

12) Kl. Schriften 365 f., 377 f., 383-, Stern III 156, 167 f.
13) Kl. Schriften 384.
14) Stern II, 68 ff., Kl. Schriften 383 f., 385 f.
15) Stern II 56 f.

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166 KARLLOWITH

.absoluter Empirismusul16) und eine Philosophie der ,,Offenbarung",


beides in dem von Schelling gebrauchten Sinn: sie will die Wirklich
keit des Seienden offenbaren, seine npositive', im voraus gesetzte,
aber eben deshalb auch nidctige ,,Existenz". Wahrend aber Heidegger
den Begriff der Offenbarung seines theologischen Sinnes entleert, in
dem er ihn, gemaB seinem Begriff von der Wahrheit als a-letheia, zur
,Aufdeckung' von Verde&kungen formalisiertl7), interpretiert Rosen
zweig den biblisdcen Offenbarungsbegriff im Zusammenhang mit dem
von der Sdchpfung und von der Erl6sung18).

Diejenige Wirklidhkeit, die im voraus vorziiglidi siditbar macht,


daB ich ,noch da bin', ist fur beide der Tod als das bestimmte Nichts
unseres Daseins. Der Tod steht imMittelpunkt von Heideggers ,Sein
und Zeit" als die ,h6dhste Instanz' unsres Daseins und am Beginn des
,,Sterns der Erlosung'. Er bedeutet fur beide einen Affront gegen die
Philosophie des ,reinen' Ich und BewuBtseins, weldhes von diesem
empirischen Ende des Daseins nichts weiB3. Vom Tode, sagt Rosen
zweig, hebt alles Erkennen an. Aber die alte Philosophie verleugne
diese Angst des Irdischen, indem sie das Sterben auf den Korper be
sdcr&nkt und Seele und Geist davon frei halt, obwohl die wirkliche
Todesangst eine solche Sdieidung nicht kennt. Der Mensci kann, so
lange er lebt, die Angst des Irdischen nicht von sich abwerfen, er soll
es audh nicht, vielmehr muB er lernen, in der Angst des Todes zu
bleiben. Die Philosophie betrugt ihn um dieses Soll, indem sie den
blauen Dunst ihres Allgedankens um das Irdische webt. Denn freilich:
ein All wurde nidit sterben und im All stiirbe nichts. Sterben kann nur
das Einzelne und alles Sterblidce ist einsam'9).' Weil aber die Philo
sophie das ,ist' als allgemeines Wesen versteht und den Tod, diese
,dunkle Voraussetzung', leugnet, erweckt sie den Ansdhein der Vor
aussetzungslosigkeit. Im Gegensatz zu diesem todesfluichtigen Denken
setzt Rosenzweig bewuB3t mit einer fundamentalen Voraussetzung ein,
n&mlidh mit der, daB das Leben als soldhes dem Tode verfllt - nidct
anders wie Heidegger, der audc auf der Notwendigkeit von etwas im
voraus Gesetzten besteht, um das ist' iiberhaupt verstehen zu k6n
nen2O). Der wesentlidce Unterschied innerhalb dieser Gemeinsamkeit
besteht jedodc darin, daB Rosenzweig durdi den Anfang der Schop
fung, die Mitte der Offenbarung und das Ende der Erlosung einen
Weg ins ,ewige Leben' beschreitet, dem eine ,ewige Wahrheitu, der
,Stern', entspridct, wogegen Heidegger den Glauben an ewige Wahr

16) Kl. Schriften 379 und 398.


17) Sein und Zeit, ? 44.
18) Stern, II. Buch; Kl. Schriften 357.
19) Stern I, 8.
20) Sein und Zeit, 227 f., 310.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 167

heiten als einen ,nodh nicht radikal ausgetriebenen Rest der christ
lichen Theologie" bezeichnet und nur iexistenzialeu, d. i. zeitliche
Wahrheiten kennt. Denn ,von Gott", dem zeitlos Ewigen, hieB es in
einem Vortrag uber ,Das Wesen der Wahrheit', wissen wir nidcts
ein Satz, den audc Rosenzweig bestatigt, jedoch mit dem Zusatz, daB
dieses Nichtwissen ein solches v o n G o t t sei und als solches der
Anfang unseres Wissens von ihm21).
Als ein voraussetzungsvolles Denken auf dem faktischen Stand
punkt des irdischen Menschen ist beider Philosophie eine ,Stand
punktsphilosophie", eine ,Weltansciauung' und ,Lebensauffassung",
aber nidct in der Art des historischen Relativismus von Dilthey22),
sondern in einem absolut-gesdcicitlidhen Sinn. ,DaB die Philosophie,
wenn sie wahr sein soll, vom wirklichen Standpunkt des Philosophie
renden aus erphilosophiert sein muB, meine idi ja wirklidc. Es gibt da
keine andre Moglidckeit, objektiv zu sein, als daB man ehrlich von
seiner Subjektivitat ausgeht. Die Objektivit&tspflicht verlangt nur,
daB man wirklidc den ganzen Horizont besieht, nicht aber daB man
von einem andem Standpunkt aus sieht als auf dem man steht, oder
gar von gar keinem Standpunkt. Die eigenen Augen sind gewiB nur
die eigenen Augen; es ware aber schildburgerhaft zu glauben, daB
man sie sich ausreiBen muB, um ricitig zu sehen23)." Ist das aber noch
.Wissensdcaft' und Erkenntnis der Sache selbst', wenn man nur sieht
und anerkennt, was im begrenzten Horizont unseres zufalligen Ge
sidctskreises liegt? So fragen audc wir, und so fragt sidi mit Bestur
zung jeder, der in den philosophisdien Ersdieinungen der neueren
Zeit regelmaBig entweder das Philosophisdce oder das Wissensciaft
liche zu kurz kommen sah. So ist hier ein Beduirfnis der Philosophie
fuhlbar geworden, das sie offenbar aus sidi selbst heraus nidit befrie
digen kann. Soll sie ihren neuen Begriff nidit wieder preisgeben,
und wie konnte sie das, wo sie nur diesem Begriff ihr weiteres Fort
leben uber jenen kritisdien Punkt der Losung ihrer ursprunglichen
Aufgabe hinaus verdankt - so muB ihr, und zwar gerade ihrer Wis
sensdhaftlidikeit, Unterstutzung von anderswoher kommen. Sie muB
ihre neue Ausgangsstellung, das subjektive, ja extrem personlidie,
mehr als das, unvergleidibare, in sidi selbst versenkte Selbst und des
sen Standpunkt festhalten und dennodi die Objektivitfit der Wissen
sdiaft erreichen. Wo findet sidi diese verbindende Brucke zwisdien
extremster Subjektivitat, zwischen, man modite sagen, taubblinder
Selbsthaftigkeit und der liditen Klarheit unendlicher Objektivitat?"24)

21) Stern I, 33.


22) Siehe dazu Rosenzweigs Urteil ?ber Dilthey in ?Kl. Schriften" 511 f.
23) Briefe, 597.
24) Stern II, 23 f.

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168 KARL LOWITH

Rosenzweigs Antwort darauf ist: die Brucke zwischen dem Subjektiv


sten und dem Objektivsten schlagt ausschliel3lich der theologische
Offenbarungsbegriff, denn nur als Empfanger der Offenbarung hat der
Mensch beides in sich. Der Philosoph muB zugleich Theologe sein, um
die ewige Wahrheit an sich als eine Wahrheit fur uns erfahren zu
konnen25).

InHeideggers ,Sein und Zeit' ist die Frage nach der objektiven Wahr
heit seines Standpunkts dadurch eliminiert, daB er seine ,taubblinde
Selbsthaftigkeitu ontologisch formalisiert26), so daB der Anschein ent
steht, als sprdche hier nidct mehr ein wirklicher Mensch vom wirk
lichen Leben und Sterben, sondern ein pures ,Dasein imMenschen''27),
dessen ,Jemeinigkeit' nur so je meine ist wie das ,Diesu hier und
jetzt in Hegels Dialektik der sinnlichen GewiBheit ein allgemeines
Dies28) iuberhaupt fur jedermanns Meinen zu jederzeit ist. Trotzdem
hat auch Heidegger die Notwendigkeit empfunden, seine Vorausset
zung des ,je eigenen' Seins und seiner Existenzidee zu rechtfertigen.
Die Art und Weise, wie er es tut, fuhrt aber nicht, wie das Vernehmen
von Offenbarung, aus der Selbstheit heraus, sondern sie schlieBt sie
vielmehr radikal in sich ein, in einem ,Zirkelu, dem Heidegger das
Pradikat des vitiosus allzu leicht abnimmt. Denn es komme nicht dar
auf an, aus dem Zirkel alles Verstehens herauszuspringen, sondern in
ihn, in der rechten Weise, hineinzuspringen, namlich so, daB das im
voraus Gesetzte als solches thematisch wird. Die philosophische Aus
legung des Seins will gerade dieses ,Vorstrukturu alles verstehenden
Daseins sichernu, sich ihrer ,,Vorhabeu, ihrer ,Vor-sichtu und ihres
,,Vor-griffsu vergewissern29). Das heiBt mit groberen Worten gesagt:
das Dasein kann uberhaupt nichts anderes und Besseres tun als so
entschieden wie moglich ganz zu sein, was es jeweils seiner Herkunft
nach schon ist und sein-kann, oder mit Luther gesagt: ,,unus quisque
robustus sit in existentia suau. Die ontologische Formulierung dafuir
ist: ,Seiendes, dem es als In-der-Welt-Sein um sein Sein selbst geht,
hat eine ontologische Zirkelstruktur'. Das Dasein und sein Verstehen
von Sein muB sidc in einem Zirkel bewegen, weil es sich immer schon
selber ,vorweg" ist und nur so auch auf sidc selber zurudckommt. Die
existenziale Ontologie, heiBt es in der Einleitung von ,Sein und
Zeit'30), ,hat das Ende des Leitfadens alles philosophisdhen Fragens
dort festgemacht, woraus es entspringt und wohin es zurickschldgt',

25) Stern II, 24; vgl. Ill 172 f.


26) Siehe dazu G. Misch, Lebensphilosophie und Ph?nomenologie, 2. Aufl. 1931.
27) Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929, ? 41.
28) Siehe dazu Feuerbach, Grunds?tze der Philosophie der Zukunft, ? 28.
29) Sein und Zeit, 153 f., 314 ff.
30) Sein und Zeit, 38.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT' 169

d. h. das Dasein von ,,Sein und Zeit' ist, in all seinen zeitlichen nEk
stasenu, immer nur bei sich selbst3l); es ist - um Rosenzweigs Wort
zu gebrauchen - blind und taub fur jedes Licht, das nicht schon in
seinem Umkreis brennt und fiir jede Stimme, die nicht schon von ihm
selbst her ertont. Es ist und bleibt ein Hohlenbewohner, der weder die
platoniscie Sonne nodh die christliche Wiedergeburt, noch das judische
Harren bis zum Tag der Erlosung kennt. GemaB diesem Gegensatz,
nicht im Ausgang, aber im Ziel, und insofern freilidc audc schon in
dem, worauf beide prinzipiell ausgehen, untersdceiden sich Hei
deggers und Rosenzweigs Grundbegriffe.

II

Heidegger und Rosenzweig gehen beide von der nFaktizitAt' oder


von der ,Tatsdchlichkeit' des eigenen Immer-sdcon-daseins aus. Sie
verneinen damit den von Descartes begriindeten Ausgang von einem
Ich oder SelbstbewuBtsein, das seiner empirischen Realitat entleert ist.
Der Sinn und das Sein des ,Icdh binu ergibt sich nicit aus einem Idc
uiberhaupt, sondern aus dem Personalpronomen der ersten Person, die
immer nur je ich selbst bin. Dasein, sagt Heidegger, ist stets jemei
niges und ,das Aussprechen von Dasein muB gem&1 dem Charakter
der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mit
sagen: ,id bin', ,du bist"-32). Soweit stimmt Rosenzweig mit Heidegger
uberein. Die Wege trennen sich mit Bezug auf die zweite Person, wo
durch aber auch das Sein der ersten Person eine andere Bedeutung ge
winnt. Heideggers Analyse kennt die zweite Person nur in der nivel
lierten Form der a n d e r n Person, aber nicht als meinen Partner
oder als das Du eines Ich. Das je eigene Dasein wird zwar als ,,Mit
sein" mit Andern bestimmt33), aber das Sein dieser Andern ist auch
ein je eigenes und darum ein bloBes mit-sein mit mir. Es ist kein Mit
einandersein, worin sich der eine wie der andere wechselseitig gebend
und nehmend bestimmen. Die Mithaftigkeit andert nidhts an der fur
Heideggers Analytik des Daseins entscheidenden Tatsache, daB dieses
nur auch-mit-Dasein des Andern keine Gegenseitigkeit des Verhaltens
konstituiert. Es fehlt in Heideggers Analyse das Phanomen der wedh
selseitigen ,Anerkennung' (Hegel). Wenn das Verhaltnis zwiscien
zwei ersten Personen einseitig an meinem Verhalten zur zweiten als
einer andern festgemacht ist, dann ,,begegnet"34) das Dasein, trotz
seines Mitseins, immer nur wieder sich selbst. Diese ,Einseitigkeit'

31) Vgl. dazu A. Sternberger, Der verstandene Tod, Leipzig 1934.


32) Sein und Zeit, ? 9.
33) Sein und Zeit, ? 26.
34) Siehe dazu vom Verfasser: ?Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 1928, ?? 9-15.

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170 KARL LOWITH

von Heideggers Analyse ist nicht zu beseitigen, indem man sie etwa
mit der andern Seite erganzt, vielmehr gehort sie zur Eindeutigkeit
von Heideggers philosophisdcem Fundament. Sie kann nur durcibro
dcen werden durch die Erfahrung und Einsicht, daB der Andere als ein
.alter ego' oder ,secundus' ein nicht minder Eigener und dodc ganz
Anderer ist als idc selbst, aber audc anders als jeder alius, namlidc ein
.Du', in dem ida mich selbst erkenne35). Ein wirklidces Du ist keine
zweite Person unter andern, sondern derjenige Mitmensch, der mir
allererst offenbart, daB ich selber ein ,Ichd bin, das - in Rede und
Gegenrede, Sprechen und Horen - den Ansprudh des Andern ver
nimmt.
Die prinzipielle Bedeutung des rechten Begriffes vom Du besdcrdnkt
sich nidct auf das Verhaltnis des Mensdcen zum Mitmenschen und da
mit zur Mitwelt, sondern sie erweist sida erst recht in Hinblick auf
Gott. Indem Gott Adam anruft: ,Wo bist du?' ersdclieBt sida dem Men
sdaen von Gott her sein eigenes ,Hier bin ida'. Das Ida ist zunaidst
versdclossen und-stumm, es wartet auf einen Anruf und Ansprudh, der
unmittelbar von Gott her und mittelbar vom Ndahsten ertont. Das Ida
der andern Person ist gerade nidat im voraus als ,,Idh da, es bedarf
des Anspruchs einer zweiten Person, durch die es zur Rede gestellt
und .gesetzt' wird. Diese Beziehungen entwickelt Rosenzweig in einer
,,grammatisden' Auslegung der biblischen Sdaopfungsgesdaidate36),
wie iuberhaupt der ,,Stern' ein vorweggenommener Kommentar zu
Rosenzweigs Ubersetzung der Genesis ist37). In der Interpretation der
Sda6pfungsgesdaidate zeigt sida das ,,Sein', um dessen Verstandnis es
Rosenzweig geht, zuletzt und zuerst nidat als m e in, sondern als
Xsein Sein', d. h. als das Sein des ,,Ewigen', durda den alles Zeitlidce
da ist. Dagegen bewegt sich Heideggers Analyse, trotz ihres faktischen
Ausgangspunktes, noch innerhalb des idealistisdcen Ansatzes, ob
gleida er den idealistischexi Begriff der ,,Erzeugung', diese Sakulari
sierung des theologisdcen Sch6pfungsbegriffs38), eiistenzial und kon
kret auslegt. Das Dasein von ,Sein und Zeit", dem es immer nur num
sida selbst geht', ist heillos gesdclossen in der Entsdclossenheit zu sida
selbst. Auf die Frage nada dem Sinn seines Seins antwortet ihm weder
ein Gott noda ein Mitmensdc.
Indem Heidegger das existierende Dasein als ,je eigenes' be
stimmt, ist audi die Welt, in weldher es da ist, immer sdcon s e i n e

35) Vgl. zum Begriff des Mitmenschen als des N?chsten: H. Cohen, Der N?chste, 4. Abhandig.,
herausg. von M. Buber, Schocken Vlg. 1935; Rosenzweig, Stern II, 168 f., 190, 196 und
Kl. Schriften 364 und 388.
36) Stern II, 110-120.
37) Siehe Briefe 618 f.
38) Stern II, 60 ff.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT' 171

Welt oder ein ,Existenzial", d. h. ein Sein von derselben Art wie ich
selbst. Dasein i s t je eigenes In-der-Welt-sein. Der Mensch ist nicht
,,vorhanden' wie ein Stein und ,,zuhandenu wie ein Zeug; er lebt auch
nicht wie ein natiirliches Lebewesen in einer natiirlidhen Welt, son
dern Steine, Pflanzen und Tiere begegnen ihm sin' der Welt, weil sein
eigenes Sein a priori ein ,In-seinu ist, worin ihm etwas begegnen
kann. Die Welt ist eine ,,Seinsverfassungu und ein ,,Strukturmoment'
des Daseins. Das Dasein des Menschen und das der Welt ist darum ein
,,einheitliches Ph&nomenu39).

In dieser Kennzeichnung der Welt als eines Existenzials ist dreier


lei zu beachten: sie ridctet sich erstens auf die Unterscheidung des
innerweltlich vorhanden Seienden vom existierenden Sein der Welt
lichkeit selbst; sie richtet sich zweitens gegen die Auffassung des Da
seins (des Menschen wie seiner Welt) als eines innerweltlich ,Vor
handeneni, und sie richtet sich damit drittens gegen die Bestimmung
der Welt als Natur. Natur ist nur ein Grenzfall des Seins von inner
weltlichem Seienden'40). Faktisdc spielt die ganze Natur alles Seien
den in Heideggers Ontologie keine Rolle; sie verschwindet in dem
privativen Begriff des nur noch Vorhandenen, der alles Seiende deckt,
das nicht ,existiertu und ,zuhanden' ist. Ein selbstandiges Leben der
Natur gibt es in ,,Sein und Zeit' nicht. Die Unnaturlichkeit dieses exi
stenzialen Weltbegriffs ist zwar fur Heidegger kein Einwand, den er
nicht selbst widerlegen konnte; denn es sei dem Dasein nur allzu
natiirlich im Besorgen seiner Welt dem Vorhandenen und Zuhandenen
zu verfallen und sich von der Welt her ,uneigentlichu zu verstehen.
Diese Selbstrechtfertigung der Gewaltsamkeit der existenzial-ontolo
gischen Analyse andert jedoch nichts an der Tatsache, daB Heideggers
Begriff von der Welt dem natiirlichen BewuBtsein ins Gesicht schlagt.
Dieses naturlidie BewulBtsein spricht sich ebenso naiv wie groBartig
aus in der biblischen Schopfungsgeschichte, die erzahlt, wie der Mensch
in der sdion vor ihm geschaffenen und also ,,vorhandenen' Welt zu
sich selber erwacht, alles was ist mit einem Namen benennt und kraft
dieses Anspredienkonnens zum Herrn tiber die stummen Geschbpfe
der natiirlichen Welt wird. Die Widernaturlichkeit von Heideggers
Weltbegriff weist sich aber audh an ihm selber aus, weil das ,einheit
liche' Phanomen nur mit drei Bindestrichen (In-der-Welt-sein) zusam
mensetzbar ist. Wer der Sprache vertrautund aus ihr heraus denkt,
hatte gewahr werden mussen, daB es kein bloBer Zufall sein kann, daB
ihr ein gemeinsames Wort fuir das Dasein des Menschen und das Sein

39) Sein und Zeit, $ 12 und ? 28.


40) Sein und Zeit, 65; vgl. ?ber den Begriff des ?Lebens" ? 10, ? 49 und 240 f. Vgl. Vom Wesen
des Grundes, 1. Aufl., Anm. S. 95.

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172 KARL LOWITH

der Welt fehlt. Der Versuch, die Welt mit dem Menschen zu einer Ein
heit zusammenzubringen, wurde zu seinem Gelingen voraussetzen,
daB auch der Mensch von Natur aus da ist und eine menschliche Natur
hat, die sich nicht wesentlich von der Natur alles Seienden unterschei
det. Heideggers existenziale Ontologie ist weder imstande, die Natur
philosophie der Antike zuruick zu holen, noch kann sie auf die christ
liche Spaltung eines geborenen und wiedergeborenen Menschen, eines
,,eigentlidcen' und ,uneigentlichenu Daseins verzichten. Das Resultat
dieser zweifachen Unm6glichkeit ist Heideggers Begriff von der ,Welt
lichkeit' und der ,nWeltzeitu, der unausdrucklich vom christlichen
,,saeculumu zehrt und dieses vergebens verweltlicht.
Rosenzweig geht bewuBt davon aus, daB die plastische Einheit des
griechisdien Kosmos, ineins mit dem griechischen Mythos, seit dem
Eintritt des Juden- und Christentums in die Weltgesdiichte zerstort ist.
Der erste Band des Sterns enthalt eine Philosophie des Heidentums,
die zeigen will, daB die Wahrheit der heidnischen Welt zwar eine
bleibende Wahrheit ist, aber einer unoffenbaren. Nur als ,Elementu ist
sie ,,immerwahrend"41). An die Stelle der alten, kosmischen Ordnung
trat eine neue Schopfungsordnung, worin Mensch und Welt nur als
Sch6pfung Gottes zusammengehoren. Was beide zusammenhalt, ist
nidct mehr und nicht weniger als ein ,,u n d U, aber keine idealistische
Synthesis, die beansprucht, erzeugend zu sein42). Die Erfahrung ent
deckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder bloB
Menschliches, in der Welt Weltliches und in Gott Gottliches, und zwar
nur in Gott Gottliches, nur in der Welt Weltliches und nur im Men
schen Menschliches. Sie widerspricht der Eindeutung des Menschen
in das Leben der naturlichen Welt, der Welt in das geistige Leben des
Menschen, und Gottes in die Welt und den Menschen. Der erste Band
des Sterns will darum im Prinzip nichts anderes zeigen als die Un
moglichkeit, diese drei Grundbegriffe aufeinander zuruickzufuhren.
Gott, Mensch und Welt, sie stehen - der Eine von Ewigkeit zu Ewig
keit, und die andern seitdem sie geschaffen sind - durchaus auf sich
selbst und eine Verbindung haben sie nur, weil der eine und ewige
Gott um des Menschen willen Himmel und Erde schuf, sich seinem
Ebenbild offenbart hat und beide am Ende der Zeiten erlost43). Gott,.
Mensch und Welt, sie sind nidht ,eigentlichu etwas ganz anderes als
sie der unmittelbaren Erfahrung erscheinen44), sondern sie sind so und
nidht anders wie die Erfahrung zeigt: Gott u n d die Welt u n d der
Mensch, im Abstand miteinander vetbunden, aber nicht durch die

41) Kl. Schriften 381 f.


42) Stern I, 183.
43) Kl. Schriften 379.
44) Kl. Schriften 377 f., 395.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 173

Bindestriche des In-der-Welt-seins, ohne Anfang in einer Schopfung,


zu einer Einheit zusammengezwungen.
Entsprechend den Grundbegriffen von Gott, Mensch und Welt
unterscheiden sich auch alle ubrigen: dem ,,geworfenen Entwurf' in
,,Sein und Zeitu entspricht im ,Stern' die Schopfung und Erl6sung; der
,,Freiheit zum Tode' die GewiBheit des ewigen Lebens; dem ,Augen
blicklichsein fur seine Zeit' das allzeit Bereitsein fuir das Kommen des
Reiches am Ende der Zeiten; der These ,,ich selber bin die Zeita der
Satz, daB die Zeit Gottes von Ewigkeit zu Ewigkeit und also uberhaupt
ohne Zeit ist, und der ,,jeweiligen Wahrheit" der zeitlichen Existenz
entspricht die ewige Wahrheit45) des Sterns. Als ein entscheidendes
Unterscheidungsmerkmal sei Heideggers Begriff von der ,,Freiheit
zum Todeu dem vom ,ewigen Lebenu bei Rosenzweig gegenuberge
stellt. Beide betreffen die Wahrheit der menschlichen Existenz46).
Indem ,,Sein und 2eit' voraussetzt, daB der Tod die oberste In
stanz unseres eigensten Sein-konnens ist47), wird das Verhaltnis zu
ihm schlechthin entscheidend. Der ,Entwurf eines eigentlichen Seins
zum Tode'48) IaBt keinen Zweifel daruber, daB das Sein zum Tode als
der ,eigensten' und darum auch ,eigentlichsten' Moglichkeit unseres
Seins der Sdhlussel fur die Entdedkung der endlichen Wahrheit des
Daseins sein soll. Im Gegensatz zum ,man', das den Tod nur gelegent
lidc furchtet, aber nicht den ,,Mut zur Angst' vor ihm hat, befreit sich
das je eigene Selbst von den Illusionen, durch die man sich gemeinhin
den ungewissen und doch bestimmten Bevorstand des Todes verbirgt,
ungewiB in seinem Wann, bestimmt in seinem DaB. Der Tod soll als
eine Moglichkeit ausgehalten werden, denn die Wirklichkeit des Ab
lebens oder Sterbens sei keine Frage der Existenz, d. h. meines Sein
konnens. Der Mensch soll nicht abwarten, bis er eines Tages zu ster
ben hat, sondern standig und selbstandig ,,vorlaufen' in diese
,,&uBerste' Moglichkeit seines endlichen Sein-konnens. Das exi
stierende Dasein erschlieBt sich seine duBerste Moglichkeit, indem es
sich entschlossen auf den Tod hin entwirft und das immer noch aus
stehende Ende auf diese Weise vorwegnimmt. Als das auBerste Ende
ist der Tod eine ,,unUberholbare' M6glichkeit, das Vorlaufen zu ihm
uiberholt alle ,,Vorl&ufigkeiten' des an die Welt verlorenen Daseins.
Vor dem Tod geht es dem Dasein o f f e n b a r ,um sein Seina. Die
eigenste, eigentlichste, auBerste und unuberholbare Moglichkeit ist
zugleich eine ,unbezugliche", weil uns das Sein zum Tode von allen
Beziehungen des Besorgens von etwas und Fursorgens fur andere

45) Sein und Zeit, ? 44; Stern II, 212 ff,; III 155 ff.
46) Sein und Zeit, ? 54 ff.; Stern III, 172; Kl. Schriften 395 ff.
47) Sein und Zeit, 313.
48) Sein und Zeit, ? 53.

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174 KARL LOWITH

l6st, an denen wir sonst einen Halt haben. Das Sein-zum-Tode, und
noch konkreter die Todes-Angst, vereinzeln den Menschen ganz auf
sich selbst und sein eigens In-der-Welt-sein. Im eigentlichen Verhalten
zum Tode nimmt sich das Dasein als Ganzes zuruck und vorweg. In
ihm allein bezeugt sici sein ,Ganz-sein-konnen'.
Am Ende dieses ,Entwurfsu fragt sidi Heidegger selbst, ob diese
existenzial-ontologische Moglichkeit eines eigentlidcen Ganzseinkon
nens ontisch-existenziell nicht eine phantastische Zumu
tung bleibe, es sei denn, daB ihm ein ontisch-existenzielles, wirklidhes
Konnen entsprache, das aus dem Dasein selber ,,bezeugt' wird. Aber
wie bezeugt es sich? Der naive Leser dieses Hinweises auf eine Be
zeugung wird unwillkfirlich erwarten, daB die wirkliche Bezeugung
der faktischen ,Freiheit zum Todea, die Heidegger durch doppelten
Sperrdruck hervorhebt, nichts anderes sein kann als der freiwillige
Tod, der in der Tat als eine auBerste M6glidikeit menschlichen Da
seins bezeugt ist. Dieser Erwartung sdceint zu entspredcen, daB Hei
degger die duBerste M6glidikeit auch als ,,Selbstaufgabe' bezeich
net49) und im AnschluB daran einen Satz von Nietzsche zitiert, der sich
auf das Zarathustra-Kapitel ,,Vom freien Tode" bezieht, worin Nietz
sche verlangt, dab man ,zur reciten Zeit" aus freiem EntsdiluB zu
sterben verstehe. ,Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein
sager, wenn es nicht mehr Zeit ist zum Ja, also versteht er sidc auf
Leben und Tod.U So zu sterben, d. h. frei sein Leben voll-endend, sei
das Beste; das Zweitbeste sei, im Kampfe zu sterben und eine groBe
Seele zu versdiwenden50).
Die Erwartung, daB audc Heidegger mit der ,Freiheit zum Tode'
die Freiheit zur wirklichen Selbstaufgabe rechtfertigt, wird jedodc
griindlidc enttausdht. Die angesagte .Bezeugung' des eigentlidcen
Seins zum Tode macht aus der ,M6glichkeit' als welche der existen
zial verstandene Tod allein existiert oder da ist5"), durchaus keine
Wirklichkeit; es bleibt vielmehr bei der Moglichkeit und damit beim
In-der-Welt-sein. Die existenzielle Bezeugung soll die formale Struk
tur des ,GewissensU leisten52), das aber seinerseits wiederum existen
zial-ontologisch ausgelegt wird, obgleich andrerseits die Behauptung
bestehen bleibt, daB die Frage nadc dem Ganzseinkonnen eine jfak
tisdc-existenzielle' sei, weldie das Dasein dadurch beantworte, daB es
faktisch ,,entsdclossen' sei. Dieser Widerspruch ist jedoch nur ein
sdceinbarer, denn die vorlaufende Entsdclossenheit ist ohne ein be

49) Sein und Zeit, 264; vgl. dazu Sternberger, a. a. O.. S. 111 und 117.
50) Vgl. dazu Heideggers Vortrag ?Was ist Metaphysik?" (1929, S. 23), wo ebenfalls davon
gesprochen wird, da? das Dasein seine ?letzte Gr??e4 bewahre, indem es sich ?verschwende".
51) Sein und Zeit, 261.
52) Sein und Zeit, ? 54.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 175

stimmtes Wozu! Wozu sich ein Dasein faktisch entschliel3t, bleibt off en,
denn erst und nur im EntschluB bestimme sich die vorgangige und
notwendige Unbestimmtheit seines Wozu53). Der EntschluB bleibt
offen jfur die jeweils faktische M6glichkeitM der geschicitlichen Si
tuation54). Dieser ,Freigabe' des Wozu entspricht Heideggers Ableh
nung, einen ,Machtspruch' uiber existenzielle Moglichkeiten und Ver
bindlichkeiten ubernehmen zu wollen55). Die Entschlossenheit soll sidh
s t a n d i g fur das g a n z e Sein-konnen frei halten und dazu gehore
audh die mogliche Zurucknahme eines in einer bestimmten Situation
gefa3ten Entschlusses56). Die Entschlossenheit macht also nie SchluB,
sie ist ein Postulat und formal wie der kategorische Imperativ und in
ihrer Formalitat jedem beliebigen Inhalt offen. Der mogliche EntschluB
zur Selbstvernidhtung bleibt aber nicht einmal offen, sondern wird aus
driiklich abgewiesen57); denn er wurde ja die Moglichkeit eines stan
digen Vorlaufens ein fur allemal mit einer Wirklichkeit abschlieBen.
Weil im Dasein aber doch die wesenhafte Moglichkeit liegt, sich
selber aufzugeben, kann es eigentlich nur existieren, sofern es seine
Faktizitat bewuBt fiibernimmt'. Das entschlossene Dasein iibernimmt
mit seiner geworfenen Freiheit des Entwerfens den Inichtigen Grund
seiner Nichtigkeit', d. i. seine ,,Sdhuld"58), die ihm der Ruf des Ge
wissens erschlieBt. Das entschlossene Dasein ubernimmt das ,Nichts',
welches darin besteht, daB es sici n i c h t selber ins Dasein gebracht
hat, daB es den Grund seines Seins n i c h t selber gelegt hat. Es ulber
nimmt und uberantwortet' sein Dasein sich selbst. In diesem Sich
selbst-uibernehmen, Sich-selbst-uberantworten und Sich-selbst-flberlie
fern59) offenbart sich der gottlose Sinn von Heideggers Daseinsbegrif
fen, die eine Sch6pfung und Erlosung nicht kennen. Der Stein des An
stoBes fur diesen Willen zur Selbstbefreiung bleibt aber die ,,Fakti
zitit' oder, mit Nietzsche gesagt, das: ,es war", das factum brutum,
daB ich immer s c h o n da bin und also gerade nicht an mir selber
schuld bin60).
Aber weshalb muB denn das Dasein iiberhaupt s e i n und wieso
kann Heidegger sagen, daB es ist ,,und zu sein hat"61), zumal er doch
gleichzeitig feststellt, daB es wesentlidh eine ,Last' sei62). Warum,

53) Sein und Zeit, 298.


54) Sein und Zeit, 307 f.
55) Sein und Zeit, 248 f. und 312.
56) Sein und Zeit, 308, 391.
57) Sein und Zeit, 261 f.
58) Sein und Zeit, ?? 55-60. Heidegger gebraucht den Ausdruck .Schuld" in dem formalen Sinn
von an etwas Schuldsein, d. h. Grund sein f?r einen Mangel, ein .Nicht".
59) Sein und Zeit, 264, 305, 339; 42, 135; 383 ff.
60) Vgl. dazu in Nietzsches Zarathustra II das Kap. .Von der Erl?sung".
61) Sein und Zeit, 134, 276.
62) Sein und Zeit, 134, 284.

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176 KARL LOWITH

muB man fragen, soll es diese Last nicht freiwillig abwerfen konnen,
wie es die ganze heidnische Philosophie erlaubt und die Stoa als letzte
Weisheit gelehrt und auch praktiziert hat. Warum ist bei Heidegger
von dieser wirklich bezeugten Moglichkeit, seinem Dasein ein Ende
zu machen, nicht die Rede? Bleibt das ,Vorlaufenu nicht selber noch
etwas bloB Vorlkufiges und uberholbar durch den EntschluB, sich
selbst das Leben zu nehmen, das man sich selbst nicht gegeben hat?
Die Antwort auf diese Frage gibt uns nicht Heidegger selbst, son
dern nur die Geschichte seiner Existenzialien: sie stammen insgesamt
von der c h r i s t 1 i c h e n Uberlieferung ab, sosehr auch Tod, Ge
wissen, Schuld, Sorge, Angst und Verfallen ontologisch formalisiert
und zu Begriffen des Daseins neutralisiert sind. Die Herkunft der we
sentlichen Existenzbegriffe von der christlichen Theologie verhindert
Heidegger an einer freimutigen Anerkennung der wirklichen Freiheit
zum Tode, wie sie in der Konsequenz eines Daseins lage, das sich fak
tisch selbstandig macht und auBer dem eigenen Tod keine hohere In
stanz uber sich hat. So selbstverstandlich es fur einen glaubigen Chri
sten ist, daB er sich als Gottes Geschopf nicht selber toten darff3), so
natiirlich mfiBte es fur eine geworfene Existenz sein, daB sie die Last
des Da-seins selber abwerfen kann. Ware der Verfasser von ,,Sein und
Zeit" kein gottloser Theologe, dessen Fundamentalontologie der Theo
logie im doppelten Sinn ,,entsprangu, so ware nicht einzusehen, was
ihn verhindern konnte, aus der Freiheit zum Nichts wie zum Sein sto
ische Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen nimmt er eine grundsitz
lidh doppelsinnige Stellung zur christlichen Theologie ein64): er stellt
es ihr anheim, in der existenzialen Analyse, z. B. der ,,Schuld", die
,,ontologische Bedingung' der faktischen Moglichkeit des status cor
ruptionis zu finden65). Ein protestantischer Theologe (R.Bultmann) hat
dieses zweischneidige Angebot eines ,,philosophischen Vorverstand
nissesu gutglaubig akzeptiert, was ihm aber nur moglich war, weil
Heidegger schon selbst der Theologie auf halbem Wege mit einem
theologischen Vorverstandnis entgegenkam. Seine Verwurzelung von
Tod, Schuld und Gewissen in einem sich selbst iiberantworteten Da
sein ist zwar eine Entwurzelung dieser Begriffe aus ihrem christlichen
Herkunftsbereich, aber eben dadurch auf diesen angewiesen.
Nur an einer Stelle kommt der grundsatzlich antichristliche Sinn
des Sichselbstiibernehmens offen zum Vorschein, namlich dort, wo

63) So noch abgeschw?cht bei Kant in dessen Ethik-Vorlesung, herausg. von Menzer, Berlin
1924, 183 ff.; vgl. Grundl. der Metaphysik der Sitten, Reel. Ausg., 56 und 65 ff.
64) Siehe dazu vom Verfasser: Grundz?ge der Entwicklung der Ph?nomenologie zur Philo
sophie und ihr Verh?ltnis zur protestantischen Theologie, Theolog. Rundschau 1930, H. 5
und: Ph?nomenologische Ontologie und protestantische Theologie, Zeitschriff t?r Theologie
und Kirche, 1930, H. 5.
65) Sein und Zeit, 306 und 180.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 177

Heidegger von der Moglichkeit eines ,,Skeptikers" spricht, dex Ernst


macht mit der Erkenntnis, daB an sich gar nicht einzusehen ist, warum
Wahrheit und Dasein uberhaupt sein muB. Ist doch kein menschliches
Dasein jemals gefragt worden, ob es uberhaupt sein will66). Gerade
weil es ungefragt ist, kann es diese fundamentale Voraus-setzung
seines Daseins negieren, namlich in der ,,Verzweiflung des Selbst
mords', der ineins mit dem Dasein auch Wahrheit und Unwahrheit
ausloscht. ,,So wenig erwiesen ist, daB es ewige Wahrheiten' gibt, so
wenig ist es erwiesen, daB es nie - was die Widerlegungen des Skep
tizismus trotz ihres Unternehmens im Grundp glauben - einen ,wirk
lichen' Skeptiker ,gegeben' hat. Vielleicht ofter als die Harmlosigkeit
der formal-dialektischen Uberrumpelungsversudce gegenuber dem
,Skeptizismus' wahr haben m6chte67).u Der ,,Skeptikeru hat also prin
zipiell recht, weil sich die Notwendigkeit eines faktischen Zu-falls,
wie es das Dasein als solches ist, niemals erweisen laBt. Das Dasein
kann zwar sein ,Da' durch das Zuruickkommen vom Vorlaufen ein
holen, aber es ,muB" sidh nur selbst ubernehmen, solang und sofern
es sich selber als seiend voraussetzt. Die Behauptung, daB es ,zu sein'
habe, bedeutet also gar kein Sein-muissen, sondern ein Sein-konnen.
Es kann sein wie auch nicht sein, weil es schon immer da ist, ob es will
oder nicht. Das Zuseinhaben schliel3t also nicht aus, sondern ein, daB
ein wirklicher Skeptiker in der Tat ,,sich selbst widerlegen' kann. Der
Heidegger von ,Sein und Zeitu ist aber kein Skeptiker, sondern ein
gottloser ,,christlidher Theologeu und der Selbstmord ist darum fur ihn
weder Sunde noch Freiheit, sondern eine Tat der ,Verzweiflung" und
kein Sterben zur rechten Zeit, wie es Nietzsche nach klassischem Vor
bild, wenngleich im Stil einer anti-christlichen Predigt, gelehrt hat.

Im Gegensatz zu dieser existenziellen Zweideutigkeit im existen


zialen Begriff von der Freiheit zum Tode, die den Selbstmord weder
entschieden bejaht nodc verneint, unterscheidet Rosenzweig im ,,Stern
der Erlosung" die Angst vor dem wirklidhen Sterben klar von der Tat
des Selbstmords, unter Verzicht auf die hochst fragwurdige Abtren
nung des Seins-zum-Ende vom naturlichen Sterben. Der Selbstmord ist
fur Rosenzweig scilechthin widernatiirlich, weil es der Natur des Le
bens zuwider ist, sich selber zu toten, wogegen der Tod als Sterben
zum Leben gehort. ,Die grauenhafte Fahigkeit zum Selbstmord unter
scheidet den Menschen von allen Wesen, die wir kennen und die wir
nidct kennen. Sie bezeichnet geradezu diesen Heraustritt aus allem
Natfirlichen. Es ist wohlnotig, daB der Mensch einmal in seinem Leben
heraustrete; er muB einmal... eine Nadit lang Aug in Auge mit dem

66) Sein und Zeit, 228 f., 284.


67) Sein und Zeit, 229.

12 Ztf t. f. philosoph. Forsciung XII/2

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178 KARL LOWITH

Nichts gestanden sein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf den
braunen Saft in jener Nacht nicht austrinken. Ihm ist ein andrer Aus
weg aus dem EngpaB des Nichts bestimmt, als dieser Sturz in das
Gahnen des Abgrunds68).u Der wahre Ausweg aus dem EngpaB des
Nichts ist fur Rosenzweig aber nicht die nadcte Entschlossenheit zur
eigenen Ubernahme des faktischen Daseins, sondern die Anerkennung
seiner Geschopflichkeit durch ein Sichoffnen fur Offenbarung und fur
die VerheiBung der Ewigkeit. Diese bezieht sich zunadchst auf das ju
dische Volk als des auserwahlten Volks Gottes, dessen Name nder
Ewige' ist69). Der ,ewige Jude' ist keine Erfindung der christlidcen
und antisemitischen Mitwelt, sondern ein weltgeschichtliches Phano
men, dem alle sonstige Erfahrung von der Macht der Zeit widerspricht.
Indem sich das jiidische Volk, wie Gott ihm befahl und verhieB, durch
naturliche Zeugung in der Aufeinanderfolge der Geschlechter ver
ewigt, um in den Nachkommen den Glauben seiner Vorfahren zu be
zeugen, kann der echte Jude in der Tat von sich sagen ,wiru, und fort
fahrien: ,,sind ewigTM70).Der Glaube an die eigene Ewigkeit ist beim
Juden identisch mit dem an seinen Gott, weil er sich als Gottesvolk
weiB. Sein Glaube ist nicht, wie der christliche, Inhalt eines uberliefer
ten Zeugnisses, sondern ,,Erzeugnis einer Zeugung'. ,Der als Jude
Gezeugte bezeugt seinen Glauben, indem er das ewige Volk fortzeugt.
Er glaubt nicht an etwas, er ist selber Glaube und er ist es in einer
Unmittelbarkeit, die kein glaubiger Christ je erschwingen kann7l).
Daher kann man Jude - in der Gemeinschaft des Volkes - nur s e i n
oder nicht sein; Christ muB man dagegen - als Einzelner - w e r -
d e n. ,,Das Christ-Sein ist ihnen, vordem sie geboren wurden, abge
nommen durch die Geburt Christi; so wie umgekehrt der Jude sein
Judesein in sich selbst von seiner eigenen Geburt her besitzt und mit
sich tragt, indem ihm das Judewerden abgenommen wurde in der Vor
zeit und Offenbarungsgeschichte des Volkes72)." Der Christ ist von
Hause aus, oder doch von Geburt wegen, Heide, der Jude aber Jude.
Der Weg des Christen ist daher der einer fortschreitenden Selbstent
auBerung von seiner v6lkischen Gebundenheit, das Leben des Juden
fiihrt ihn immer tiefer in seine angestammte Art hinein. Dem ent
spricht, daB das Christentum wesentlich missionieren73) und sich aus
breiten muB, um in der Welt bestehen zu konnen, wogegen das Juden
tum immer nur von einem ,Rest"74) lebt und sein Selbst durch

68) Stem I, 8.
69) Siehe dazu Rosenzweigs Abhandlung in Kl. Schriften, 182 ff.
70) Stern II, 212 f.? III, 48 f.; Kl. Schriften 348; Briefe, 682.
71) Stern III, 105.
72) Stern III, 176.
73) Stern III, 104.
74) Stern III, 192 f.; Briefe 200.

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EIN NACHTRAG ZU ,,SEIN UND ZEIT" 179

AbschluB von den andern Volkern erhalt. In dieser glaubigen Ge


meinsdhaft des Blutes hat der Jude schon in jedem Augenblick seiner
geschidctlichen Note die Gewahr, sdcon in der Gegenwart ,ewig'
zu sein.

.Jede andre, jede nicht blutmMBig sich fortpflanzende Gemeinschaft


kann, wenn sie ihrWir fur die Ewigkeit fortsetzen will, es nur so tun,
daB sie ihm einen Platz in der Zukunft sidhert; alle blutlose Ewigkeit
griindet sich auf, den Willen und die Hoffnung. Die Blutgemeinschaft
allein spurt die Gewahr ihrer Ewigkeit schon heute . . . durdh die
Adern rollen. Ihr allein ist die Zeit kein zu b&ndigender Feind, uber
den sie vielleicht, vielleicht auch nicht ... obsiegen wird, sondern Kind
und Kindeskind. Was andern Gemeinschaften Zukunft. .. ist, - ihr
allein ist es schon Gegenwart; ihr allein ist das Zukiinftige nicits
Fremdes, sondern ein Eigens, etwas was sie in ihrem SchoBe tragt,
und jeden Tag kann sie es gebaren. Wahrend jede andere Gemein
sdiaft, die auf Ewigkeit Anspruch macht, Anstalten treff en muB, um die
Fackel der Gegenwart an die Zukunft weiterzugeben, bedarf die Bluts
gemeinsciaft allein soldher Anstalten der Uberlieferung nicht; sie
braucit den Geist nicit zu bemiihen; in der naturlichen Fortpflanzung
des Leibes hat sie die Gewahr ihrer Ewigkeit75).u

Das ,Blut' von dem hier Rosenzweig spricht, ist aber nicit das
einer volkischen Ideologie, sondern der ,Same Abrahams', dem Gott
die Zukunft verhieB; es ist ein Blut, das von Anfang an durch den
Glauben bestimmt ist.

,Die Volker der Welt konnen sidi nicht geniigen lassen an der Ge
meinschaft des Bluts; sie treiben ihre Wurzeln in die Nacht der...
Erde und nehmen von ihrer Dauer Gewahr der eigenen Dauer. Am
Boden und an seiner Herrschaft, dem Gebiet, klammert sich ihrWille
zur Ewigkeit fest. Um die Erde der Heimat flief3t das Blut der Sohne;
denn sie trauen nicht der lebendigen Gemeinschaft des Bluts, die nicht
verankert ware in dem festen Grund der Erde. Wir allein vertrauten
dem Blut und liel3en das Land... Deshalb beginnt die Stammessage
des ewigen Volks, anders als die der Volker der Welt, nicht mit der
Autodcthonie. Erdentsprossen ist, und selbst er nur dem Leibe nach,
bloB der Vater der Mensciheit; der Stammvater Israels aber ist zu
gewandert; mit dem g6ttlichen Befehl, herauszugehen aus dem Lande
seiner Geburt und hinzugehen in ein Land, das Gott ihm zeigen wird,
hebt seine Gesciidcte, wie sie die heiligen Bucher erzahlen, an. Und
zum Volke wird das Volk, so im Morgendammer seiner Urzeit wie
nachher wieder im hellen Lidct der Geschidcte, in seinem Exil, dem

75) Stern III, 49.

12*

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180 KARL LOWITH

agyptischen wie nachher dem in Babel. Und die Heimat, in die sich
das Leben eines Weltvolks einwohnt und einpfluigt, bis es beinahe ver
gessen hat, daB Volk-sein noch etwas andres heiBt als im Lande sitzen,
dem ewigen Volk wird sie nie in solchem Sinn eigen... Das Land ist
ihm im tiefsten Sinn eigen eben nur als Land seiner Sehnsucht, als hei
liges Land. Und darum wird ihm sogar wenn es daheim ist, wiederum
anders als allen Volkern der Erde, dies volle Eigentum der Heimat be
stritten: es selbst ist nur ein Fremdling und BeisaB in seinem Lande;
,mein ist das Land', sagt ihm Gott; die Heiligkeit des Landes entruiit
das Land seinem unbefangenen Zugriff, solange es zugreifen konnte;
sie steigert seine Sehnsucht nach dem verlorenen ins Unendlidie und
laBt es hinfiirder in keinem andern Land mehr ganz heimisch werden;
sie zwingt es, die volle Wucht des Willens zum Volk in dem einen
Punkt zu sammeln, der bei den Volkern der Welt nur einer unter an
dern ist, dem eigentlichen und reinen Lebenspunkt, der Blutsgemein
schaft; der Wille zum Volk darf sich hier an kein totes Mittel klam
mern; es darf sidi verwirklichen allein durch das Volk selber76)."
In derselben Weise wie das Leben dieses einen und ausgezeidi
neten Volkes erhalt sici audc seine Spradie als ewig gleiche, ohne den
lebendigen Wandel der andern Volkssprachen. Das jiidische Volk
spricht in der ganzen Welt die Spradien der andern Volker, bei denen
es zu Gast ist. Seine eigentiimliche Sprache ist seit lingster Zeit nidht
mehr die Sprache seines tfiglichen Lebens und dennoch nidht tot, son
dern bestandig als die heilige Sprache, die aber nur im Gebet und im
Kultus gebraucit wird. Der Jude spridit mit Gott eine andere Sprache
als mit seinen Mitmensdhen. Desgleidhen wandeln sidc nidit das hei
lige Gesetz (Thora) und die Sitten; auch sie bleiben ewig dieselben
und haben den Juden aus der Zeit und Gesdiidite aller uibrigen Vol
ker der Welt herausgestellt.
,,Gesetzgeber, die das Gesetz im lebendigen Laufe der Zeit er
neuerten, gibt es hier nicht; selbst was vielleidit der Sache nach Neu
erung ist, muB sich doch stets so geben, als stiinde es sdion in dem
ewigen Gesetz und ware in seiner Offenbarung mitoffenbart. Zeit
redinung des Volkes kann also hier nicht die Rechnung der eigenen
Zeit sein; denn es ist zeitlos, es hat keine Zeit. Sondern es muB die
Jahre zahlen nach den Jahren der Welt. Und abermals ... sehen wir
hier am Verhaltnis zur eignen Geschichte wie vorher am Verhaltnis
zur Spradie und zum Land, wie dem Volk das zeitlidhe Leben versagt
ist um des ewigen Lebens willen; wieder kann es das geschiditlidie
Leben der Weltvolker nidht voll und schopferisdi mitleben, es steht
immer irgendwie zwischen einem Weltlichen und Heiligen, von beiden

76) Stern III, 49 ff.; vgl. Briefe 326, 335 f., 686.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT' 181

durch das jeweils andre getrennt und so letzthin lebendig nicht wie die
Volker der Welt in einem sichtbar in die Welt gestellten volks
maBigen Leben, in einer tonend seine Seele aus-sprechenden volks
tuimlichen Sprache, in einem fest auf der Erde begrenzten und gegrun
deten volkseigenen Gebiet, sondern einzig und allein in dem, was den
Bestand des Volks uber die Zeit, die Unverganglichkeit seines Lebens
sichert: im Schopfen der eigenen Ewigkeit aus den dunklen Quellen
des Bluts. Darum aber, weil es nur auf die selbstgeschaffene Ewigkeit
vertraut und auf sonst nichts in der Welt, glaubt dies Volk auch wirk
lich an seine Ewigkeit, wahrend die Volker der Welt im Grunde alle
ahnlich wie der einzelne Mensch mit ihrem eigenen Tode fur irgend
einen, sei es noch so fernen Zeitpunkt, rechnen. Ja ihre Liebe zum
eignen Volkstum ist . . . schwer von diesem Vorgefuihl des Todes. Nur
zum Sterblichen ist die Liebe ganz s5B, nur in der Herbigkeit des
Todes ist das Geheimnis dieser letzten SuiBe beschlossen. So sehen die
V6lker der Welt einmal eine Zeit voraus, wo ihr Land mit seinen
Bergen und Flussen wohl noch unterm Himmel liegt wie heute, aber
andre Menschen wohnen darin; ihre Sprache ist in Biichern bestattet
und ihre Sitten und Gesetze haben die lebendige Macht verloren. Wir
allein konnen uns solche Zeit nicht vorstellen; denn alles, worin die
Volker der Welt ihr Leben verankerten, uns ist es scion vorlangst
geraubt; Land, Sprache, Sitte und Gesetz ist uns schon lang aus dem
Kreise des Lebendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu Hei
ligem erhoben; wir aber leben noch immer und leben ewig; mit nichts
AuBerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns selbst schlugen wir
Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wanderer darum, doch tief ver
wurzelt in uns selbst, in unserm eigenen Leib und Blut. Und diese Ver
wurzelung in uns selbst und allein in uns selbst verbuirgt uns unsre
Ewigkeit77)."

Die Zeitlichkeit des


irdischen Daseins bedeutet fur das jddische
Volk keinenKampf auf Leben und Tod mit dem geschichtlichen Schick
sal der Welt, sondern ein Wandern und Harren, wobei es in jedem
Augenblick die Vollendung vorwegnimmt; ein eigentliches Wachsen
und Vergehen kennt es nicht. Die ganze Welt-, Staaten-, Kriegs- und
Revolutionsgeschichte verliert fur den Juden den Ernst und das Ge
wicht, das sie fulr die andern Volker besitzt, denn dem ,,Gottesvolk'
ist die Ewigkeit jederzeit gegenwartig, wogegen die andern Volker
den Staat, sein Recht und seine Gewalt, benotigen, um die Zeit fur
einige Zeit zum Stehen zu bringen und sich eine relative Dauer zu si
?
77) Stern III, 56 f.; vgl. Briefe 270. Hegel hat in den Theologischen Jugendschriften (S. 243 ff.)
dieselben Eigent?mlichkeiten des Judentums am Ma?stab des Griechentums interpretiert und
demgem?? anders bewertet.

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182 KARL LOWITH

chern78). Das Volk Israel blickt starr uber Welt und Geschichte hinweg
auf sein ewiges Ziel, das so fern wie prasent iSt79).

,,Gegen die Stunden der Ewigkeit, die der Staat in den Epochen
der Weltgesdcichte mit scharfem Sdhwert einkerbt in die Rinde des
wachsenden Baums der Zeit, setzt das ewige Volk unbekiimmert und
unberuihrt Jahr um Jahr Ring um Ring um den Stamm seines ewigen
Lebens. An diesem stillen, ganz seitenblicklosen Leben bricht sich die
Macht der Weltgeschichte. Mag sie doch immer aufs neue ihre neueste
Ewigkeit fur die wahre behaupten, wir setzen gegen alle solche Be
hauptungen immer wieder das ruhige, stumme Bild unsres Daseins,
das dem, der sehen will, wie dem, der nicht will, immer wieder die
Erkenntnis aufzwingt, daB die Ewigkeit nichts Neuestes ist. Der Arm
der Gewalt mag das Neueste mit dem Letzten zusammenzwingen zu
einer allerneuesten Ewigkeit. Aber das ist nicht die Versohnung des
spatesten Enkels mit dem altesten Ahn. Und diese wahre Ewigkeit des
Lebens, diese Bekehrung des Herzens der Vater zu den Kindern, wird
immer wieder durch unser Dasein den Volkern der Welt vor die
Augen geruickt, auf daB sie stumm die weltlich-allzuweltliche Schein
ewigkeit ihrer zu Staaten verfaBten weltgeschichtlichen Augenblicke
Liigen strafe. Der Gang der Weltgeschichte versbhnt, solange das
Reich Gottes noch erst kommt, immer nur die Schopfung in sich selbst,
immer nur ihren nachsten Augenblick dem vorigen. Die Schopfung
selber als Ganzes aber wird mit der Erl6sung in alle Zeit, solange die
Erlosung noch im Kommen ist, zusammengehalten nur durch das aus
aller Welt-Geschichte herausgestellte Ewige Volk8O')."

Eine Art Ersatz fur die Ewigkeit ist in Heideggers ,Sein und Zeit"
der Tod als das unbedingte Ende unseres eigenen Sein-Konnens8l). Er
ist das einzig im voraus Gewisse, absolut Feststehende und gleidhsam
Ewige, ein ,,nunc stans' an dem die Zeitlichkeit strandet und die Sorge
und alles Besorgen aufhort. Zugleich ist die Voraussicht des Todes
aber auch der verborgene Beweggrund aller G e s c h i c h t 1i c h -
k e i t, die zur Substanz des Existierens gehort. Durdc das ,Sein zum
Todeu bekommt die Existenz die eigentiimliche Energie und Entschlos
senheit, weliche sie handeln, sich fur etwas einsetzen und sich ihrem
Schicksal aussetzen laBt. Diese Begriindung der Geschichtlichkeit aus
der Endlichkeit trifft mit Rosenzweigs Bemerkung zusammen, daB die
eigentlich gesdcichtlichen V6lker der Welt wesentlich mit dem Tode

78) Stern III, 91 ff.


79) Vgl. dazu Briefe 73 und 123, sowie 209, wo Rosenzweig erkl?rt, warum 1914 f?r ihn nicht
.Epoche" gemacht hat.
80) Stern III, 95
81) Siehe dazu A. Sternberger, Der verstandene Tod, a. a. O.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT" 183

rechnen und sich im Vorgefuihl ihres Endes um so fester im irdischen


Dasein verwurzeln.
Die Kuhnheit mit der Heidegger den Fundierungszusammen
hang des ,Seins zum Tode' mit dem eigentlichen Geschehen des zeit
lichen Daseins, mit seinem Schicksal und dem Geschick im Hinblick
auf einen entscheidenden ,,Augenblick' konstruiert hat82) soll in kon
kreter Weise zugleich mit der Zeitlichkeit des je eigenen Daseins den
Weltaugenblick der Weltgeschichte und unseres Zeitalters erhellen.

Gesdichtlich, heiBt es in ,,Sein und Zeitu, ist nicht das Vergangene


als ein nidct mehr Vorhandenes, sondern vergangen ist an den noch
vorhandenen Altertumern die gewesene Welt eines dagewesenen Da
seins. Dieses existiert a priori geschidctlich, sofern es im Grunde
seines Seins ein zeitliches, auf das Ende hin existierendes ist. Als eine
ins zeitliche Dasein geworfene Existenz uibernimmt diese zugleich mit
der Faktizitat audh ihr faktisches Erbe, und je entschlossener der
Mensdi existiert, desto entsdciedener wahle und uberliefere er sich die
uberkommenen M6glidhkeiten seines geschichtlichen Erbes. Indem d-as
Dasein, frei fur den Tod, selbst eine uiberlieferte, aber gleichwohl ge
wahlte M6glidikeit ubernimmt, bringt es sich in die Einfachheit seines
eigenen Sdhidcsals, das zugleich ein allgemeines Geschick ist, weil das
Dasein als In-der-Welt-Sein und Mitsein mit andern in der gemein
sdhaftlichen Welt eines Volkes existiert. Das Dasein ist ,welt"-ge
sdciidtlich, weil es sich zunadchst von der offentlich-gemeinsamen Welt
her versteht. Sein faktisdcesi Erbe sich ausdrucklich uberliefernd ist das
Dasein, wenn es die M6glidikeiten seiner existenten Vergangenheit
in der vorlaufenden Entschlossenheit selbst wiederholt. Diese Wieder
holung bringt nicht Vergangenes unverwandelt wieder, sondern sie
erwidert die Moglichkeit dagewesener Existenz fur den gegenwar
tigen Augenblick, indem sie zugleich das von der Vergangenheit bloB
zehrende ,Heute' am MaBstab des kulnftig Moglichen der Kritik
unterstellt. Bestimmend fur die eigentliche Geschichtlichkeit ist aber
weder der kritische Hinblick auf die Gegenwart noch der bewahrende
Ruickblick auf die Vergangenheit und audc nicht ein Ausblick auf Mog
lichkeiten des Fortgangs, sondern diese duBerlidhen Beziige zu den
Erstredcungen der Zeit werden erst sciicksalhaft-existenziell, wenn
das zum Tode vorlaufende Sidhuiberliefern gewesener Moglichkeiten
in das ,,Da des Augenblicksa oder in die jeweils geschichtliche Situa
tionf"83) bringt. Eine gesciicitlidce Situation gibt es, im Untersdiied
zu einer auBern Lage, nur fur den Entscilossenen und diesem fallen
die ,Zufalle' wie Notwendiges zu. Der Entscilossene stellt sich die

82) Sein und Zeit, ?? 72-75.


83) Sein und Zeit, 299 ff.

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184 KARL LOWITH

Situation nicht bloB vor, sondern er stellt sich in sie hinein. ,,Augen
blicklich-sein far ,seine Zeit"' oder der ,,Entschlul in die welt-ge
schichtliche Situation"84) ist das letzte Wort der Analyse der Zeitlich
keit und Geschichtlichkeit85).
Entschlossener als der Verfasser von ,Sein und Zeit" kann man die
endliche Zeitlichkeit und mit ihr die Geschichtlichkeit nicht bejahen
und damit die Ewigkeit preisgeben86). Auch die Anfiihrungsstriche, in
die ,,seine Zeit" gesetzt ist, um anzudeuten, daB damit nicht das ,,vul
gare" Heute gemeint sei, bedeutet keine Einschrankung der vollen Be
reitschaft zur zeit-geschichtlichen Existenz, wie sie fur Heidegger zu
fallig durch Europa und Deutschland bestimmt ist.
Als 1933 in Deutschland ein entscheidender ,,Augenblick" da war,
hat sich Heidegger entschlossen in die weltgeschichtliche Situation ge
stellt, indem er die Fuhrung der Freiburger Universitat ubernahm und
das ,,Dasein" von ,,Sein und Zeit' mit dem ,,deutschen" Dasein gleich
setzte. Dieser politische ,,Einsatz" fuir das faktische Geschehen der Zeit,
dem neuerdings die bestandige Bezugnahme auf das ,,Atomzeitalter"
entspricht, war nicht, wie Harmlose meinten, ein Abweg von ,,Sein
und Zeit", sondern eine Konsequenz aus dem Begriff des menschlichen
Daseins als einer zeitlichen und geschichtlichen Existenz, die nur zeit
liche Wahrheiten kennt, relativ auf das je eigene Dasein und dessen
Sein-konnen. Durch diese radikale Verzeitlichung der Wahrheit und
Existenz hat der Verfasser von ,,Sein und Zeit" das ungewollte Ver
dienst, daB er die Frage seines jiidischen Zeitgenossen nach einem
ewigen Sein - dem ewigen Gott, oder auch einer anfangs- und end
losen, immerseienden Welt - erneut in ihrem vollen Gewicht zu Ge
hor bringt. Doch ist in der armlichen Auseinandersetzung mit Hei
deggers Werk die Frage nach der Zeit alsbald iiberhort worden, als
handle es sich nur um die ontologische Differenz von Seiendem und
Sein, und nicht um ,,Sein und Zeit".

SchluB

Heidegger hat die bis zu Hegel wirksam gewesene griechisch


christliche Uberlieferung, fir die das wahre Sein das Immerseiende
und Immerwahrende ist, bis zu dem Punkt destruiert, wo sich als
,,Sinn" des Seins die endliche Zeit und die Ewigkeit als Illusion er
weist. Im Gegensatz zu ihm war Rosenzweig durch sein faktisches
Erbe, sein Judentum und die bewuBte Ruckkehr zu ihm, in der glick
lichen Lage, den Davidstern der ewigen Wahrheit inmitten der Zeit

84) Sein und Zeit, 385; vgl. 299 f., 383 f., 391,
85) Vgl. vom Verf.: Heidegger, Denker in d?rftiger Zeit, 1953. II. Kap.
86) Siehe dazu: Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O. ?? 39-45.

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EIN NACHTRAG ZU ,SEIN UND ZEIT 185

behaupten zu konnen. Der Got', der als Schopfer und Erloser am An


fang und Ende seiner Analysen der Zeit steht, ist weder ,tot" noch
,,lebendig", sondern ,Wahrheit" und ,,Licht'.
,,Gott ist die Wahrheit. Wahrheit ist sein Siegel, daran er erkannt
wird, auch wenn einst alles, woran er in der Zeit seine Ewigkeit zu
erkennen gab, alles ewige Leben, aller ewige Weg, sein Ende fand,
dort wo auch Ewiges sein Ende findet: in der Ewigkeit. Denn nicht
bloB der Weg endet hier, auch das Leben. Ewiges Leben wahrt ja nur
solange, als uberhaupt Leben wahrt. Nur im Gegensatz zum stets nur
zeitlichen Leben der Bahner des ewigen Wegs gibt es ewiges Leben.
Das Verlangen nach Ewigkeit, wie es aus den Schachten dieser Zeit
lichkeit stohnt, nimmt wohl die Gestalt einer Sehnsucht nach ewigem
Leben an, aber nur weil es selber zeitliches Leben ist. InWahrheit, in
der Wahrheit, schwindet auch das Leben. Es wird nicht zum Wahn,.. .
aber es geht auf in Licht. Es verwandelt sich: wenn es sich aber ver
wandelt hat, so ist das Verwandelte nicht mehr. Das Leben stieg ins
Licht." _87)
Vom Schauen dieses uberirdischen Lichts spricht Rosenzweig am
Ende des Buches von der Erl6sung88), worin er die Bucher uber die
Schopfung, als den ,immerw&hrenden Grund der Dinge", und die Of
fenbarung, als die ,,allzeit erneuerte Geburt der Seeleu, mit der
,,ewigen Zukunft des Reichs" beschlieBt.
In der Umkehrung des biblischen Satzes, daB nur die Wahrheit uns
frei mach&89), hat Heidegger in einem Vortrag von 1931 uber das We
sen der Wahrheit behauptet, daB nur die Freiheit uns wahr mache. Mit
einer ,ewigen Wahrheit" von der Art, daB zwei plus zwei vier, oder
,,Werteu ewig giiltig sind, laBt sich dem nicht entgegen. Erwidern
lieBe sich der Herausforderung Heideggers nur, wenn auch fur uns,
wie fur Rosenzweig, eindeutig feststunde, daB es nach wie vor nur drei
mogliche Antworten auf die Frage: wer bist du? gibt, ndmlich: Heide,
oder Jude, oder Christ90). Eine solche Alternative setzt jedoch voraus,
daB der Mensch eine wesentlich geschichtliche Existenz ist. Der Heide
ist nur ,,Heide' und also eine vor-christliche Moglichkeit geschicht
licher Existenz, wenn er vom Judentum und vom Christentum her ver
standen wird, und Jude und Christ sind das, wofur sie sich selber neh
men, nur dann, wenn man von der gemeinschaftlichen Natur der Men
schen absieht. Ewige Wahrheiten uber die Welt und den Menschen
kann es nur geben, wenn es eine immergleiche Natur alles Seienden

87) Stern III, 155.


88) Stern II, 213.
89) Er steht wieder in goldenen Lettern ?ber dem Eingang der Freiburger Universit?t, nachdem
er w?hrend des Dritten Reichs durch eine v?lkische Devise ersetzt worden war.
90) Kl. Schriften, 475; vgl. E. Peterson, Die Kirche aus Juden und Heiden, 1933.

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186 KARL LOWITH

gibt, z. B. ein immer wiederkehrendes Entstehen und Vergehen: Fur die,


welche weder glaubige Juden, noch fromme Heiden, und auch Christen
nur so sind, wie ,man' Deutscher oder Franzose ist, bleibt Rosen
zweigs Frage nadc dem nEwigenu oder Immerseienden als eine Frage
bestehen. Wo aber innerhalb der Modernitat im Ernst der Versuch ge
macht wurde, die Ewigkeit - sei es des physischen Kosmos oder des
biblisdien Gottes - in das Leben des Mensdcen zuruckzuholen, ist er
zum Scheitern verurteilt gewesen: Kierkegaards ,ewiger Augenblick"
und seine religiose Rede fiber die ,Unveranderlichkeit Gottes"91) so
wie Nietzscdes antidcristliches Paradox von der ewigen Wiederkehr
des Gleichen' sind zwar beide der Einsicht entsprungen, daB wir Ewig
keit brauchen, um in der Zeit bestehen zu konnen92), aber iiberzeugend
ist unmittelbar nidct die Ewigkeit, auf welche sie abzielen, sondern
die Zeitkritik, von der sie ausgehen. Etwas so Altes und immer Neues
wie es die Ewigkeit ist, lMIt sich nicht mit modernsten Mitteln wieder
beleben.
Heidegger und Rosenzweig fesseln beide durch den Ernst, mit dem
sie auf radikale Fragen extreme Antworten geben. Ein Ernst der fes
selt, ist aber nicht mehr philosophisdh und frei. Und wer sagt uns denn,
daB die Fragen unserer zeit-geschichtlichen Existenz uberhaupt - re
ligios oder audc irreligios - muBten beantwortet werden konnen?
Nur fur solcie, die zu schwach sind, um apodiktischen Aussagen wider
stehen zu konnen, ist die Anwort, die Heidegger und Rosenzweig auf
die Frage nadh Zeit und Ewigkeit geben, ein Entweder-Oder zwischen
dem man zu wahlen hat, um sich entscheiden zu konnen. InWirklich
keit stehen beide unter dem Drudc einer Zeit, die Extreme hervor
treibt, die sdcon als solche den untersudienden Geist befehden. Unter
suchend ist aber der Geist nur sofern und solange er sich skeptisch
in den Grenzen des WiBbaren halt. Der Skeptizismus' ist die philoso
phische Haltung, die statt extreme Fragen zu stellen, die notwendig
auf dogmatisdhe L6sungen zielen, die Probleme als solche klar stellt
und aufrecht erhalt - unter Verzicht auf vorschnelle Losungen. Der
Skeptiker ist der einzige Intellektuelle, d. h. wortlich Einsichtige und
genau Nachsehende (skeptomai), der noch daran glaubt, daB man

91) Ges. Werke V, 78 ff.; VII, 48 und: ??ber die Geduld und die Erwartung des Ewigen",
Re?g. Reden, ?bersetzt von Th. H a ecke r, Leipzig 1938.
92) Im Vorwort zum Begriff des ?Einzelnen" hat Kierkegaard diese Notwendigkeit so kurz wie
klar formuliert. Er beginnt mit der Feststellung: ?In diesen Zeiten" (1848) ?ist alles Politik",
und er endet: ?was die Zeit fordert", d. h. soziale Reformen und eine neue politische Ord
nung, ?ist das Gegenteil von dem, was ihr not tut, n?mlich etwas unbedingt Feststehen
des". Das Ungl?ck der Zeit sei, da? sie sich auf das Zeitliche festgesetzt habe und der Ewig
keit meint entraten zu k?nnen. Desgleichen begr?ndet Nietzsche seinen Willen zur Ewigkeit
aus der Umkehrung des Nihilismus, der besagt, da? alles ?umsonst" ist. Siehe dazu vom
Verfasser: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart, 1956.

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EIN NACHTRAG -ZU ,SEIN UND ZEIT" 187

etwas wissen - und auch nicht-wissen konne. Was der Mensch wissen
kann, ist nicht, daB es in Bezug auf die Welt, zu der auch der Mensch
gehort, zeitlose Wahrheiten gibt, sondern, daB es - im Unterschied
zu der jeweiligen geschichtlichen Situation einer bestimmten Zeit
Immerwahrendes gibt, das sich zu allen Zeiten bewahrt, weil es das
Wahre ist. Was immer ist, ist nicht zeitlos; was sich immer gleich
bleibt, ist nicht zeitlich.

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