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Jean Ziegler & Jean-Phillipe Rapp - Burkina Faso

Burkina Faso ist eines der ärmsten Länder der Welt, geprägt von einer hohen ländlichen Bevölkerung und einer geringen industriellen Basis. Der Text thematisiert die kolonialen Hinterlassenschaften und die anhaltende Abhängigkeit von ausländischer Hilfe, während Thomas Sankara als eine Schlüsselfigur hervorgehoben wird, die für die Befreiung und Entwicklung Afrikas kämpft. Das Buch bietet Einblicke in Sankaras politische Vision und die Herausforderungen, vor denen Burkina Faso steht.

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Jean Ziegler & Jean-Phillipe Rapp - Burkina Faso

Burkina Faso ist eines der ärmsten Länder der Welt, geprägt von einer hohen ländlichen Bevölkerung und einer geringen industriellen Basis. Der Text thematisiert die kolonialen Hinterlassenschaften und die anhaltende Abhängigkeit von ausländischer Hilfe, während Thomas Sankara als eine Schlüsselfigur hervorgehoben wird, die für die Befreiung und Entwicklung Afrikas kämpft. Das Buch bietet Einblicke in Sankaras politische Vision und die Herausforderungen, vor denen Burkina Faso steht.

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Jean Ziegler, Jean-Phillipe Rapp

Burkina Faso - Eine


Hoffnung für Afrika?
Gespräch mit Thomas Sankara

Zürich 1987
Daten zu Burkina Faso

Burkina Faso, eines der ärmsten Länder der Welt, besitzt weder ei-
ne nennenswerte Industrie, noch Plantagenwirtschaft. 90% der Be-
völkerung leben auf dem Land und versorgen sich selbst. Die ehema-
lige Kolonialmacht Frankreich hat nichts in dieses Land investiert,
sondern es als Arbeitskräftereservoir für die umliegenden Länder
benützt. Die unabhängig gewordenen Staaten haben die Kolonia l-
struktur geerbt. Noch heute leben fast zwei Millionen Voltaiques im
Ausland. Bis in die Sechziger Jahre war Ghana das wichtigste Emi-
grationsland, heute ist es die Elfenbeinküste. Deren Bedarf an Ar-
beitskräften ist mittlerweile gedeckt, aber immer noch versuchen
zahlreiche junge Männer, als Schwarzarbeiter über die Grenze zu
gelangen, in der Hoffnung in Abidjan Arbeit zu finden. Sie fehlen
dadurch als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft.

Fläche: 274 000 km2


Einwohner: 7,1 Mio
Hauptstadt: Ouagadougou, ca. 300 000 Einw.
Städtische Bevölkerung: 9%
Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft: 82%
Pro-Kopf-Einkommen: 110 $
Jahresbudget 1983: 135,3 Mio $ (davon 49 Mio $ französische Hilfe)
Jährliche Entwicklungshilfe: 400 Mio $
Importe: 358 Mio $ (v.a. aus Frankreich und aus der Elfenbeinküste)
Exporte: 90 Mio $ (Vieh, Baumwollsaat, Erdnüsse)
Analphabetismus: 95%
In Burkina Faso leben verschiedene Völker Sprach- und Religions-
gruppen. Die Mossi (50%) bilden die wichtigste Ethnie. Zum Islam
bekennen sich 20% der Bevölkerung.

2
Wenn die Unterdrückung zunimmt
Werden viele entmutigt
Aber sein Mut wächst
Er organisiert seinen Kampf
Um den Lohngroschen,
Um das Teewasser
Und um die Macht im Staat.
Er fragt das Eigentum: Woher kommst du?
Er fragt die Ansichten: Wem nützt ihr?

Wo immer geschwiegen wird


Dort wird er sprechen
Und wo Unterdrückung herrscht
Und von Schicksal die Rede ist
Wird er die Namen nennen.

Wohin sie ihn jagen,


Dorthin geht der Aufruhr,
Und wo er verjagt ist
Bleibt die Unruhe doch.

Bertold Brecht
Lob des Revolationärs
Werkausgabe, Gedichte 2

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Vorwort von Jean Ziegler

In unserem Europa des gleichgeschalteten Bewusst-


seins, des verworrenen Konsenses und der triumphieren-
den Staatsräson weist schon der Gedanke, mit der mörde-
rischen Weltordnung zu brechen, auf Wahnsinn hin. Ein
Revolutionär gilt bei uns bestenfalls als sympathisches
Original, als eine Art geistiger Clochard, als harmloser
Spinner oder pittoreske Randfigur, schlimmstenfalls aber
als beunruhigender Unruhestifter, Abnormer, als Geistes-
kranker. Die Realpolitik (dt. im Original) beherrscht den
Planeten. Ihre Legitimationsideologie: grosssprecheri-
scher Chauvinismus, die lügenhafte Menschenrechtsdok-
trin. Ich übertreibe? Die USA, Frankreich, die Schweiz,
England und viele andere westliche Staaten beherbergen
in ihren Grenzen wirkliche, lebendige Demokratien, die
die Freiheitsrechte und den Anspruch auf ein glückliches
Leben jedes Einzelnen respektieren. Aber in ihren neoko-
lonialistischen Reichen, gegenüber den peripheren Vö l-
kern, die sie beherrschen, praktizieren diese gleichen
westlichen Demokratien das, was Maurice Duverger den
„äusseren Faschismus“ nennt; in den Ländern der Dritten
Welt sind alle sozialen Indikatoren seit nahezu zwanzig
Jahren negativ (ausser die Rate des Bevölkerungswach-
stums). Die Unterernährung, das Elend, der Analphabe-
tismus, die chronische Arbeitslosigkeit, die endemischen
Krankheiten, die Zerstörung der familiären Strukturen
sind die direkten Folgen des ungleichen Tausches, der
Tyrannei der Schuldenlast. Die westlichen Demokratien
praktizieren Völkermord durch Indifferenz. Régis Debray
formuliert das so: „Die freien Menschen brauchen Skla-
ven.“ Den brüchigen Wohlstand des Westens gibt es nur
um diesen Preis.

4
Von Zeit zu Zeit erheben sich an der Peripherie Män-
ner, Frauen, weisen die bestehende Weltordnung zurück
und verlangen für sich, für ihre Völker, die Möglichkeit
zu leben.- Thomas Sankara ist einer dieser Männer. My-
sterium der menschlichen Freiheit: dieser Aufstand des
Geistes findet meistens in den bedürftigsten, am meisten
heimgesuchten Landstrichen statt. Burkina-Faso ist das
neuntärmste Land der Erde, gemessen am Pro-Kopf-
Einkommen; in der von der Weltbank veröffentlichten
Liste figuriert Burkina-Faso an 161. Stelle. Das Nah-
rungsmitteldefizit des Landes belief sich 1985 auf
200’000 Tonnen Getreide. Industrielle Infrastruktur? Ine-
xistent. Strassen- und Eisenbahnnetz? Rudimentär. Le-
benserwartung? Die Hälfte derjenigen Frankreichs. Das
Staatsbudget? Dauernd defizitär; jedes Jahr, ab Oktober
muss Burkina im Ausland um die nötigen Summen zur
Bezahlung seiner Staatsangestellten betteln, von denen es
zu viel gibt und die in weiten Bereichen parasitär sind.
Schliesslich das institutionelle Erbe: es entspricht den
Forderungen für die autozentrierte, beschleunigte Ent-
wicklung eines Landes, in welchem eine primitive Land-
wirtschaft vorherrscht und keine interne Akkumulations-
basis existiert überhaupt nicht.
Jeder Mensch ist das Produkt einer komplizierten Dia-
lektik von Allgemeinem und Besonderem, einer vielge-
staltigen, widersprüchlichen Sozialgeschichte und einem
persönlichen Willen, der selbst wieder von der Entwick-
lungsgeschichte der Familie oder des Clans abhängig ist.
Wie Jean-Paul Sartre sagt: „Es handelt sich nicht darum,
was wir aus unserer Freiheit machen wollen. Die Frage
ist: was wollen wir daraus machen, was man aus uns ge-
macht hat?“ Die Dialektik zu verstehen, die einen Sanka-

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ra hervorgebracht hat, ist das ehrgeizige Ziel dieses Bu-
ches.
Wie ist das zu machen? Am besten ist es wohl, das
Wort dem Gegenstand der Untersuchung, der handelnden
Person selbst zu geben.
In diesem Buch ist es deshalb vor allem Sankara selbst,
der zu Wort kommt. Jean-Philippe Rapp regt an und re-
gistriert das Gesagte.
Jean-Philippe Rapp ist ein renommierter Journalist vo n
internationalem Ruf. Ehemaliger Produzent der Sendung
„Temps présent“ beim Westschweizer Fernsehen, leitet er
heute die Mittagsausgabe der Fernsehtagesschau. Im wei-
tern hat er die Verantwortung für den Kurs über Kommu-
nikationsfragen am Institut für Entwicklungsstudien der
Universität Genf. Mit Sankara unterhält er privilegierte
Beziehungen; „Temps présent“ hat auf seine Anregung
hin sowie jener von Jean-Claude Chanel, Serge Théophile
Balima und Azod Sawadogo eine Sendereihe produziert,
in welcher die Spitäler von Genf und Ouagadougou ver-
gleichend analysiert werden. Aufgrund einer Sammlung
in der schweizerischen Öffentlichkeit, welche auf ihren
Appell geantwortet hatte, konnten sie in Zusammenarbeit
mit dem Gesundheitsminister Burkina-Fasos eine kinder-
ärztliche Klinik bauen. Aus dieser burkinabeisch-
schweizerischen Zusammenarbeit heraus entstand eine
Freundschaft; Rapp führte zu mehreren Malen lange Ge-
spräche mit Sankara. Das Resultat? Ein Portrait über
Sankara, das vom Westschweizer Fernsehen ausgestrahlt
wurde, sowie das vorliegende Buch. Handelt es sich beim
Dialog Sankara-Rapp um einen Dialog zwischen Leuten,
die unter der gleichen Decke stecken? Offensichtlich
nicht. Rapp hält wie auch ich nichts von der Verehrung
grosser Männer. Wie ich hat auch er eine n Horror vor

6
„Helden“. Das Buch enthält einen didaktischen Dialog:
Sankara versucht mit bemerkenswertem pädagogischem
Geschick, sein politisches Projekt und seine persönlichen
und ideologischen Wurzeln zu erläutern. Seine Offenheit
ist total. Er versucht nicht zu verführen (weder Rapp noch
ich hätten uns zu einer solchen Operation hergegeben ... ),
sondern zu sagen, was ist. Dank diesem Dialog öffnet
sich vor unseren Augen ein faszinierendes Stück afrikani-
scher Zeitgeschichte.
Warum bin ich auf dieses Buch-Projekt eingestiegen?
Nizza, im März 1986: Robert Charvin, Doyen der rechts-
und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universi-
tät Nizza, hat uns, das heisst einige Kollegen und mich, in
sein Büro eingeladen, das auf halber Höhe eines pracht-
vollen Pinienparkes über der Baie des Anges gelegen ist.
Thema der Diskussion: Die Themen für Doktorarbeiten.
Nizza hat ein ähnliches Problem wie Genf; zahlreiche
Doktoranden aus Afrika, Asien und Lateinamerika sind
auf der Suche nach einem Doktorvater... und vor allem
nach einem Thema, das mit ihren persönlichen Erfahrun-
gen, ihren intellektuellen Interessen, ihren Zukunftspro-
jekten im Einklang ist. Und was machen wir, die europäi-
schen Professoren? Wir stellen gelehrte Themenlisten
auf, die von der Analyse bewaffneter Befreiungsbewe-
gungen, über den Aufbau der Nationalstaaten an der Peri-
pherie, bis zur ideologischen Kulturaneignung der Avant-
garden reichen. Praktisch nie schlagen wir ein Thema
vor, das die einheimische Symbolproduktion problemati-
siert. Warum das? Ganz einfach, weil in der weitläufigen,
soziologischen und politologischen Bibliografie, die es
gibt, grundsätzliche Werke aus der Feder von Führern der
Befreiungsbewegungen selbst fast inexistent sind. Die
Werke Amilcar Cabrals, Kwameh N’Krumahs, Luiz-

7
Emilio Recabarrens, Jose-Maria Mariateguis oder Anibal
Ponces stellen seltene Ausnahmen dar. Es herrscht ein
grausamer Mangel an theoretischen Werken und Syste-
men der Selbstinterpretation, die von den afrikanischen
(lateinamerikanischen etc.) Kämpfern selbst ausgearbeitet
wurden. Am Tage nach dieser Diskussion, als ich aus
Nizza zurückgekehrt war, gab ich Jean-Louis Gouraud
und Pierre-Marcel Favre meine definitive Zustimmung zu
diesem Buchprojekt. Gouraud und Favre sind die Initia n-
ten des „Projektes Sankara“.
Was ist die Struktur dieses Buches? Es besteht aus drei
Teilen. Ich selbst bin für den ersten Teil verantwortlich.
Ich formuliere darin einige Hypothesen und intuitive Ge-
danken, welche die Genese des Denkens von Sankara und
die darin enthaltenen, offensichtliche n Widersprüche be-
treffen.
Dieser erste Teil enthält die Reinschrift meiner Notizen,
die ich während meines Aufenthaltes in Burkina gemacht
habe, sowie der zahlreichen Gespräche, die ich dort mit
Einheimischen, politischen Verantwortlichen oder einfa-
chen Ba uern, geführt habe. In diesem ersten Teil kommt
auch meine Interpretation bestimmter Schlüsselereignisse
in der jüngsten Geschichte dieses Landes zur Sprache.
Ich möchte folgendes unterstreichen: Ich lege hier keine
soziologische Analyse der politischen, ideologischen,
wirtschaftlichen und militärischen Umwälzungen vor,
welche die jungen Offiziere, Sieger der Machtprobe vom
4. August 1983, in ihrem Land bewerkstelligt haben, des-
sen Schicksal, Geisteshaltung und Strukturen sie verän-
dern wollen. „Ober-Volta“, dank Sankara Burkina-Faso,
„die Erde der freien Menschen“, geworden, gehört zu
jenen afrikanischen Ländern, deren Sozialgeschichte,
ethnischer Aufbau und vielschichtiges kulturelles Erbe

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am besten bekannt sind; es gibt in Ouagadougou eine
ausgezeichnete Universität; am IFAN von Dakar, am
ORSTOM von Abidjan, am CNRS in Paris und am Gen-
fer Institut Universitaire d’Etudes du Développement
(Universitätsinstitut für Entwicklungsstudien) gibt es
Spezialisten - Ökonomen, Linguisten, Politologen, An-
thropologen und andere -, die interessante Monographien
über die Völker von Burkina-Faso veröffentlicht haben.
Über die gegenwärtige Periode laufen Forschungen, die
eine reiche vielfältige Ernte versprechen und die in den
kommenden Jahren genaue Kenntnisse in den einzelnen
Bereichen bringen werden.
Ich selber bin kein Spezialist, weder des Mossi-Reiches
noch der gesellschaftlichen Formationen der Peuls, Be l-
lahs, Touaregs oder Minigues. Was die Geschichte der
kolonialen Eroberung des Mossi-Plateaus betrifft, welche
die Erinnerung und den Charakter der gegenwärtigen
Führung so tief beeinflusst, haben Yves Person und seine
Nachfolger Grundlagenwerke veröffentlicht. Ich wieder-
hole es: Ich mache hier nicht die Arbeit des Soziologen;
das machen Kollegen, Spezialisten dieser Region, und
was ich über die ethnische Zusammensetzung, die Klas-
senwidersprüche, die einheimischen Schöpfungsmythen
weiss, stammt aus Sekundärquellen, die ich am Schluss
des Buches als bibliographische Auswahl angeführt habe.
Der zweite Teil des Buches enthält Gespräche Sankaras
mit Jean-Philippe Rapp. Der dritte Teil ist ein dokume n-
tarischer Teil; er gibt eine Anzahl von grundlegenden
Texten wieder, die für das Verständnis der Ereignisse in
Burkina-Faso in der Periode 1983-86 unumgänglich sind.
Micheline Bonnet, Dokumentalistin an der soziologi-
schen Abteilung der Universität Genf, war so freundlich,
den ersten Teil des Buches druckfertig zu gestalten; Juan

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Gasparini, mein Assistent, hat die bibliographische Aus-
wahl zusammengestellt. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle
herzlich dafür danken.

Jean Ziegler, Genf, Ostern 1986

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Mit wem sässe der Rechtliche nicht zusammen
Dem Recht zu helfen?
Welche Medizin schmeckte zu schlecht
Dem Sterbenden?
Welche Niedrigkeit begingest da nicht, um
Die Niedrigkeit auszutilgen?
Könntest da die Welt endlich verändern, wofür
Wärest da dir zu gut?
Wer bist da?
Versinke in Schmutz
Umarme den Schlächter, aber
Ändere die Welt: sie braucht es!

Bertold Brecht
Ändere die Welt sie braucht es!
Die Massnahme

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Erster Teil
Eine neue Macht in Afrika
von Jean Ziegler

Die Lehrjahre

Die Persönlichkeit Sankaras kennzeichnet ein merk-


würdiges Paradoxon: fröhlich, extravertiert, debattier-
freudig, bis zum Extrem vom Willen zu überzeugen ge-
prägt, gerne lachend, musikliebend, festfreudig, Liebha-
ber endloser Abendunterhaltungen, gesellig; ist Sankara
gleichzeitig ein geheimnisvoller Mensch, einsam, ver-
schlossen fast.
Sankara spricht mit Leidenschaft vom kollektiven
Abenteuer, in das er seine Landsleute seit 1983 verwik-
kelt hat. Aber er gibt sich kaum preis, und die Selbstana-
lyse, die Erforschung seiner eigenen Sozialisationsbedin-
gungen, seiner familiären und persönlichen Geschichte
widerstrebt ihm. Die extreme Zurückhaltung, charakteri-
stisch für fast alle grossen afrikanischen Zivilisationen,
erklärt seine Bescheidenheit, sobald das Gespräch sich
der familiären, privaten Domäne nähert. Sankara ist von
seiner Mutter her Mossi, sein Vater ist Peul. Thomas kam
1948 im Dorf Yako, zwischen Kaya und Ouahigouya
gelegen, im Mossi-Königreich von Yatenga zur Welt. Ihr
ganzes Leben lang, bis heute, fristete seine Mutter die
mühselige Existenz einer Mossi- Bäuerin; in der Diskus-
sion mit Rapp ruft Sankara das aufreibende Tageswerk,
die ständige und erschöpfende Arbeit seiner Mutter in
Erinnerung. Er spricht davon mit Empörung, aber auch
mit Zuneigung. Die dominierende Figur seiner Kindheit,
seiner Jugendzeit ist ohne Zweifel der Vater. Von seiner
Herkunft her ist Sankara ein Slimi-Moagoa, Abkömmling

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einer unteren Klasse, verachtet von den Mossi-
Feudalherren. Das ist wichtig: weder „echter Mossi“ noch
„echter Peul“ ist Sankara schon sehr früh gezwungen,
sich selbst hinsichtlich seines eigenen Handelns und sei-
ner eigenen Überzeugung zu definieren. Eine eigene
Identität zu erlangen, war schon sehr früh eine schwierige
Aufgabe. Wenn die feudalen Mossi, Aristokraten in ih-
rem Königreich und Herren über das Land, diesen Sohn
eines Peul schief ansehen, so akzeptieren die Peuls ihn
nicht als einen der ihren.
Moussa Diallo, einer seiner engen Freunde, Kampfge-
nosse Sankaras, Kommandant des in Bobo-Dioulasso
stationierten Regiments, hat mir lachend folgenden Vor-
fall geschildert: Bei der Einweihungsfeier für einen Be-
wässerungsstaudamm in der Region von Dori ging San-
kara an der Spitze des Umzuges, gefolgt von Diallo. Am
Abend spricht in der Hütte von Diallo eine Delegation
von Peul- Häuptlingen vor. Diallo ist reinblütiger Mossi.
Die Häuptlinge machen ihm heftige Vorwürfe: „Moussa,
wie kannst du hinter diesem Typ her gehen, der nicht
einmal ein richtiger Peul ist?“
Wer ist Sankaras Vater? Als Schütze,
Kriegs“freiwilliger“ des französischen Reiches, hat der
Vater die klassische Karriere eines afrikanischen Solda-
ten im Dienste Frankreichs durchlaufen. Eine zutiefst
zweideutige Karriere: treu der Trikolore, überzeugt von
der Überlegenheit des weissen Mannes (oder er akzeptier-
te zumindest die Unterwerfung unter die weisse Gewalt
als unausweichliche Tatsache), diente dieser Vater Frank-
reich in Afrika, Europa und Asien; er unterdrückte seine
Brüder und stellte die Ordnung seines Herrn auf drei
Kontinenten wieder her. Nach Quittierung des Dienstes
wurde er zum „ancien combattant“, der in Bobo-

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Dioulasso, in Ouagadougou in den Häusern verkehrte, die
den ehemaligen Schützen vorbehalten sind, er erhielt eine
Pension und erfreute sich in der Masse der elenden Bau-
ern und städtischen Kleinbürgern der materiellen Privile-
gien und des symbolischen Prestiges, die ihm seine mage-
re Rente verschaffte. Thomas Sankara, umgeben von
zahlreichen Brüdern und Schwestern, wuchs im Schatten
dieses geliebten Vaters heran. Aufbegehren gegen den
Vater? Nein. Aber aufbegehren gegen das System, das
System, welches aus seinem aufrechten, ehrlichen und mit
seinen Nachbarn solidarischen Vater einen Komplizen
des Kolonialherrn machte.
Zwei Anekdoten, die mir Sankara selbst erzählt hat, il-
lustrieren meine These. Die erste: 1960, das Jahr der for-
mellen Unabhängigkeit des Landes. Der kleine Sankara
zählt gerade 12 Jahre. Aber er beweist schon Führungs-
qualitäten. Sankara wohnt zu diesem Zeitpunkt in Bobo-
Dioulasso, wo er das Gymnasium besucht. Eines schönen
Tages reissen die jungen Franzosen die Fahne ‘ Ober-
Voltas, die im Schulhof gehisst war, herunter und
verbrennen sie. Die schwarzen Schüler, angeführt von
Sankara, stürzen sich mit Stöcken bewaffnet auf sie. Wil-
de Schlägerei und Geschrei. Die Eltern der Weissen grei-
fen ein. Der Vater von Thomas wird für die „Missetaten“
seines Schlingels verantwortlich gemacht und wandert ins
Gefängnis.
Die zweite Anekdote: Thomas Sankara, zehnjährig, in
der Schule der Weissen. Der Direktor der Schule heisst
Vignon. Er hat einen Sohn namens Patrick. Dieser erhält
zu Weihnachten ein wunderschönes Fahrrad. Thomas
möchte sich fürs Leben gern daraufschwingen. Er
schmeichelt dem kleinen Patrick, macht alles, was dieser
will, trägt ihm seine Schultasche, versetzt ihm die Scha u-

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kel in Schwung. Aber nichts fruchtet. Patrick weigert
sich, ihm sein schönes Fahrrad auch nur für einen Au-
genblick auszuleihen. Schliesslich hat es Thomas satt,
nimmt ihm das Fahrrad weg und startet zu einer Runde
auf den rotstaubigen Pisten des Dorfes. Patrick heult, ruft
seinen Vater zu Hilfe. Dieser alarmiert die Polizei. Men-
schenjagd. Der kleine Sankara wird gefasst und verprü-
gelt. Sein Vater wird ins Gefängnis gesteckt.
Als mir Sankara diese Geschichte erzählte, schien es
mir, als wäre er mit der Tatsache, dass sein Vater am En-
de dieser Geschichten im Gefängnis endete, nicht so ganz
und gar unzufrieden. Lieber sah er seinen Vater von den
Weissen eingesperrt als im Dienst einer fremden Flagge.
Das einzigartige Abenteuer des Thomas Sankara und
seiner Waffenkameraden und Mitverschwörer gab in
Ouagadougou selbst und in der in Paris erscheinenden
afrikanischen Presse Anlass zu schmeichelhaften Inter-
pretationen: Die paar Offiziere, welche die Machtprobe
vom 4. August 1983 organisiert haben, seien seit ihrer
frühesten Jugend in einer Organisation namens ROC
(Rassemblement des Officiers Communistes - Vereini-
gung der kommunistischen Offiziere) vereinigt. Mit ande-
ren Worten: ihr Marsch an die Staatsmacht wäre identisch
mit dem Unternehmen Gamal Abdel Nassers, Abdel Ha-
kim Amers, Abdel Raoufs und der andern Freien Offizie-
re Ägyptens, nach deren Schwur von Mankabad im Jahre
1938. („Dohbat el Arab“, die „Hoffnung der Araber“ hat
nie aufgehört, die Einbildungskraft anzufeuern: Mua m-
mar Ghadafi, Jalloud, die Sieger des antifeudalen Staat-
streiches vom 1. September 1969 in Lybien, nehmen für
sich eine identische Laufbahn in Anspruch wie die Freien
Offiziere von Kairo).

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Aber das alles ist wenig wahrscheinliche Spekulation.
Nasser, Amer und Raouf haben die Organisation der
Freien Offiziere beim Abschluss an der Militärakademie
in Mankabad durch den berühmten Schwur von 1938
gegründet. Sie verbrachten 16 Jahre im Untergrund, erlit-
ten zahlreiche Niederlagen, knüpften wechselnde Verbin-
dungen, führten in der Zone des Suezkanals einen Gueril-
lakrieg gegen die Engländer und eroberten schliesslich
am 23. Juli 1952 durch einen klassischen Militärputsch
die Macht. Aber in den Augusttagen von 1983 sehen wir
in Pô, Bobo-Dioulasso oder Ouagadougou keine Militär-
aktion - oder keine ausschliessliche; eine tiefgreifende,
widersprüchliche und vielschichtige gesellschaftliche
Bewegung macht den Sturz der letzten neokolonialen
Regierung, deren Vorsitz Ouedraogo innehatte, möglich.
Und was die Lehrzeit im Untergrund betrifft, so war sie
für Sankara viel weniger lang als für Nasser und seine
Freunde. Im übrigen war es ein Untergrund spezieller
Art: Sankara hat in der Illegalität nie eine weit verästelte
Kampforganisation geleitet, vergleichbar mit derjenigen
der ägyptischen freien Offiziere oder auch der freien liby-
schen Offiziere.
Im politischen Bewusstwerdungsprozesse Sankaras gibt
es zwei wichtige Stationen. Zunächst Madagaskar: San-
kara durchlief eine erste Periode der militärischen Aus-
bildung an der Militärakademie von Antsirabé. Es ist eine
faszinierende Epoche: der Umschwung der 70er Jahre.
Das neokoloniale Regime von Tsirana, ein Kazike aus
den Reihen der SFIO und von der Metropole eingesetzt,
fällt in der Explosion eines Volksaufstandes. Überall re-
voltiert das Volk. Das vielschichtige, konfliktreiche Land,
Erbe einer tausendjährigen Geschichte, kocht. Damals
schon hält ein junger aus der Marineschule von Brest

16
hervorgegangener Offizier, der Schiffsleutnant Didier
Ratsiraka, auf dem Hauptplatz von Atanariva flammende
Reden. Sankara lebt die Ereignisse von Madagaskar lei-
denschaftlich mit.
Nachts diskutiert Sankara mit seinen Kameraden die
tagsüber beobachteten Ereignisse. Langsam bildet sich
ein politisches Bewusstsein heran. Intensive Lektüre be-
gleitet und begünstigt diesen Prozess.
Drei Jahre später werden Blaise Compaoré und Thomas
Sankara an die Militärschule von Rabat geschickt. Sanka-
ra dazu: „Hier habe ich das erbärmliche Elend des Volkes
erblickt, den beleidigenden Luxus der herrschenden Klas-
se, die Perversion des neokolonialen Regimes, die Le i-
den, die Verzweiflung, in welche die gewissenlosen
Statthalter die ärmsten ihrer Landsleute stürzen.“
Madagaskar ist der Ort, wo sich Sankara die Analysein-
strumente aneignet, die Begriffe, die ihm das Überdenken
der Geschichte seines eigenen La ndes ermöglichen. In
Rabat erwacht der Geist der Revolte, diese geheimnisvol-
le Kraft, die aus dem Innersten eines Wesens aufsteigt
und den Menschen zu dem in ihm schlummernden Rebel-
len macht.
Zurück in Ouagadougou beginnt die überlegte, metho-
dische Arbeit des Revolutionärs. Diskrete Kontaktauf-
nahme mit Dienstkameraden, die ähnliche persönliche
Erniedrigungen erlebten und deren politische Erfahrun-
gen den seinigen nahekommen. Dokumentierte Be-
standsaufnahme der Widersprüche, der Funktionsmängel
des politischen Systems und der wirtschaftlichen Struktur
des neokolonialen Staates. Immer wieder gescheiterte
Versuche, Bündnisse mit den kommunistischen oder re-
formistischen Oppositionsparteien und mit den mächtigen
Gewerkschaften in Ouagadougou zu knüpfen.

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Während dieser ganzen Zeit nimmt die institutionelle
Karriere von Sankara, Blaise und den andern ihren Fort-
gang: sie praktizieren „Entrismus“ im reinsten leninisti-
schen Stil. Sankara wird Staatssekretär im Informations-
ministerium. 1982: seine offensichtliche Intelligenz und
seine Popularität lassen die neokolonialen Führer einen
schicksalschweren Fehler begehen: Sankara wird zum
Premierminister ernannt. Kaum sein Amt angetreten,
bricht er nach Neu-Delhi auf, wo sich im Januar 1983 die
Staats- und Regierungschefs der blockfreien Länder ver-
sammeln.
In Delhi hinterlassen seine Rede vor der Plenarve r-
sammlung, seine Interventionen in den Kommissionssit-
zungen - bereits geprägt von jener explosiven Mischung
aus Volkspädagogik, afrikanischer Vortragsweise und
begrifflicher Ana lyse, welche auch heute noch das Ver-
führerische und seine Durchschlagskraft ausmachen -
sofort einen nachhaltigen Eindruck. Der amtierende Prä-
sident der Bewegung, Fidel Castro, lädt ihn eines Abends
in sein Haus ein. Die Begegnung bringt einen Wende-
punkt im Leben Sankaras, und zwar in mehrfacher Hin-
sicht: Sankara entdeckt das wirkliche Wesen der Forde-
rungen und Befreiungswünsche der Völker der Dritten
Welt. Er fühlt sich anerkannt, stark ermutigt durch einen
Revolutionär, der dank seiner bewundemswerten Geduld
mit der herrschenden Ordnung der Welt brechen konnte.
Ich erfuhr zwei Jahre später in Havanna, welch starken
Eindruck Sankara auf Fidel Castro in Neu-Delhi hinter-
lassen hatte... Es war Carlos Raffael Rodriguez, Erster
Vizepräsident des kubanischen Staatsrates und feiner Be-
obachter der Risse und Brüche in der imperialistischen
Welt, der mir über jene Nacht in Neu-Delhi berichtete.
Eine weitere Folge des Treffens von Neu-Delhi: die west-

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lichen Geheimdienste - namentlich der französische -
beginnen sich näher für den jungen Hauptmann zu inter-
essieren, der zu gebildet, zu intelligent, zu frei im Geist
ist.
Guy Penne, damals Berater in Sachen afrikanische
Neokolonien im Elyseé, macht einen Blitzbesuch in Oua-
gadougou. Ouedraogo, der seinem metropolitanen
Schutzherrn nichts verweigern konnte, versteht den Wink
sofort: am 17. Mai wird Sankara verhaftet.
Wie lässt sich das Denken Sankara charakterisieren?
Die Gespräche mit Jean-Philippe Rapp erlauben eine
Antwort auf diese Frage. Ich bin von der Mobilisierungs-
fähigkeit, von der befreienden Kraft und von der Aus-
strahlung dieses Denkens beeindruckt. Es besitzt eine
ausserordentliche kritische Schärfe und analytische Gabe.
Es beeinflusse zur Zeit das ganze westliche Afrika. Ohne
Zweifel gibt es zwischen seinem Wort sowie den ver-
schwommenen Hoffnungen, den Wünschen nach einem
würdigen Leben, der Ablehnung der Erniedrigung, wel-
che heute Millionen von jungen Afrikanern innewohnen,
eine breite Übereinstimmung.
Sankara ist ihr Held. Ich hasse dieses Wort. Ich erinnere
mich dabei an den Ausspruch des Galilei von Brecht:
„Unglück über die Völker, die Helden brauchen. „ Aber
die Tatsache ist nicht wegzudiskutieren: Im Zustand der
extremen Zerrüttung, in dem sich das schwarze Afrika
heute befindet, - ausgeplündert durch korrupte Statthalter
und blutrünstige Tyrannen, - suchen die afrikanischen
Völker in der Nacht ein Licht, das ihnen den Weg weisen
kann. Sankara ist dieses Licht. Er spricht über die Lage
Afrikas in einer klaren, informierten Art und Weise. Er
verkündet sein Projekt mit Klarheit und Intelligenz. Wie
jedes grosse Denken ist auch das seinige ein anregendes

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Denken, das heisst es ist in der Auseinandersetzung ent-
standen und ist in ständiger Bewegung. Sankara ist mehr
der Mann der Intuition als der Begriffe. Ich meine, die
subjektive Absicht Sankaras zu verstehen: er hat nicht
den Ehrgeiz, ein neues philosophisches System zu scha f-
fen wie der alternde N’Krumah oder Chikh Anta Diop in
seiner Jugend. Sein Ehrgeiz ist anders geartet, zugleich
bescheidener und anspruchsvoller: er versteht sich als die
Stimme der Menschen ohne Stimme. Die Sprache, die er
spricht, ist die Sprache des Volkes. Mao Zedong gestand
Malraux: „Wir müssen den Massen genau das lehren, was
wir von ihnen in verworrener Form aufnehmen.“ Wissend
sind die bescheidenen Menschen, die Bauern. Die Avant-
Garde - aus den unteren afrikanischen Mittelschichten
stammend, geschaffen durch die Besatzungsmacht, die
sich mit dem Volk zusammenschliessen will, kann, zu-
mindest in einem Anfangsstadium, nur die Sprache des
Volkes aktualisieren.
Das Denken Sankaras ist schliesslich kollektives Den-
ken. Wer ist Sankara? Ich leihe mir die Antwort bei Sar-
tre: „Ein ganzer Mensch, gemacht aus dem Zeug aller
Menschen, und der soviel wert ist wie sie alle und soviel
wert wie jedermann.“ Mit anderen Worten: Sankara trägt
in sich die nicht zu unterdrückenden Werte jedes ernied-
rigten Menschen, jedes Menschen, der seine Freiheit
sucht. Werte der Würde, der Toleranz, der sozialen Ge-
rechtigkeit, der Gleichberechtigung, der gegenseitigen
Ergänzung der Menschen. Werte, die jedem Befreiungs-
kampf zugrunde liegen. Sankara ist der Schöpfer eines
Traums einer neuen und mächtigen Berufung.

20
Das Gewicht der Geschichte

Was war die Vorgeschichte, was ist vielschichtige Be-


deutung jenes Ereignisses vom 4. August 1983, dass Bur-
kinabés jeglicher Herkunft die „nationaldemokratische
Volksrevolution“ nennen?
Ein Rückblick auf die jüngste Geschichte des Landes ist
zur Beantwortung dieser Frage unumgänglich. In Burki-
na-Faso - einem Land in der Sahelzone mit einer Fläche
von 270’000 km2 und sechs Millionen Einwohnern, das
auf völlig ungenügende Weise von den drei Volta-
Flüssen (dem schwarzen, dem roten und dem weissen)
mit Wasser versorgt wird - proklamierte die zahlenmässig
winzige Kompradorenbourgeoisie, welche ihre Entste-
hung der Kolonialmacht Frankreich verdankte, am 11.
Dezember 1958 die Erste Republik (in die Unabhängig-
keit entlassen wurde das Land dann am 5. August 1960).
Ihr erster und einziger Präsident war der äusserst korrupte
Maurice Yameogo; er wurde von den in Burkina-Faso
sehr mächtigen Gewerkschaften und dem unzufriedenen
Volk 1966 gestürzt. Präsident der Zweiten Republik wur-
de der allzu gutmütige alte General Lamizana, der seine
Karriere noch in der Kolonialarmee gemacht hatte. 1977
wird die Dritte Republik ausgerufen: Lamizana wird
durch relativ freie, allgemeine Wahlen als Präsident be-
stätigt. Aber seine Staatsführung ist katastrophal: die Le-
benskosten steigen, die Kaufkraft fällt sowohl in den
Städten als auch auf dem Land, Streiks brechen aus, Re-
pression und Korruption wüten. Am 25. November 1980
übernimmt Oberst Saye Zerbo mit Hilfe junger Offiziere
und Unteroffiziere die Macht, unterstützt von den Ge-
werkschaften, deren wichtigster Führer Soumané Touré
ist, sowie dem „Front progressiste Voltaique“ (FPV), der

21
vom international anerkannten Historiker Joseph Ki-
Zerbo geleitet wird. Aber schon rasch verstrickt sich das
neue Regime in Schwierigkeiten. Es kommt zum Bruch
mit den Gewerkschaften. In den Reihen der Armee bildet
sich ein unpersönlicherer und nationalistischerer Flügel
heraus: er wird angeführt vom jungen Staatssekretär für
Information, dem Hauptmann Thomas Sankara. Sankara,
ein Autodidakt von ausserordentlicher Intelligenz, ausge-
stattet mit charismatischen Fähigkeiten, wird rasch zur
Bezugsperson der fortschrittlichen Kräfte des Landes, vor
allem der Jugend. Sankara ist dennoch kein Caudillo. Er
tritt aus der Regierung von Saye Zerbo zurück.
Am 7. November 1982 wird Saye Zerbo gestürzt. Der
neue Präsident, ein farbloser Militärarzt namens Jean-
Baptiste Ouedraogo, beruft Sankara zu seinem Minister-
präsidenten. Sankara nimmt an: es ist der Beginn einer
Politik institutioneller Reformen, der Angleichung der
Löhne und der wirtschaftlichen Erholung - und vor allem
einer Neuorientierung der Aussenpolitik. Ich sagte es
schon: Sankara hinterlässt bei praktisch allen Staats- und
Regierungschefs der Dritten Welt einen nachhaltigen
Eindruck, als er an der Konferenz der blockfreien Länder
in Neu-Delhi mit ihnen zusammentrifft, namentlich bei
Fidel Castro, Haile Mengistu und Somora Machel. Im
April 1983 findet der Besuch Ghadhafis in Ouagadougou
statt. Frankreich, die traditionelle Schutzmacht aller Re-
gierungen Ober-Voltas, sieht mit Beunruhigung die wirk-
liche Befreiung des Landes heranreifen. Guy Penne
taucht Mitte Mai in Ouagadougou auf. Am 17. Mai lässt
Ouedraogo Sankara verhaften. Aber für Millionen von
Bürgern ist der junge Thomas Sankara - ob bewusst oder
noch verschwommen - mit seinen 35 Jahren schon zum
Symbol für nationale Würde und Stolz -geworden. In den

22
wichtigsten Städten des Landes folgt eine Demonstration
nach der andern. In Pô, nahe der Grenze zu Ghana, ver-
barrikadieren sich die Kommando-Truppen, die Elite-
Einheiten des Landes, unter dem Kommando von Blaise
Compaoré, einem Freund von Sankara (der selbst aus den
Reihen dieser Kommando-Truppen kommt). Eine andere
Garnison, die von Henri Zongo befehligt wird, verweigert
Ouedraogo den Gehorsam. Rasch verliert das Regime
von Ouedraogo die Kontrolle über die Lage. Aber die
Burkinabés sind friedfertige Leute. Ihre Revolten, Forde-
rungen, Streiks und Staatsstreiche verursachen nur sehr
selten Blutvergiessen. Tödlicher Hass ist nicht ihre Sache.
Man verhandelt also. Es herrscht Verwirrung. Nur Sanka-
ra weiss wirklich, was er will: In der Nacht des 4. August
1983 besetzen seine Freunde, aus Pô gekommen oder aus
dem städtischen Untergrund aufgetaucht, die wichtigsten
Gebäude der Hauptstadt und rufen die Bildung des Con-
seil National de la Révolution aus (CNR - Nationaler Re-
volutionsrat).
Wer hält in Burkina-Faso die Macht in Händen? Es gibt
so etwas wie konzentrische Kreise. Im Zentrum des
Dispositifs befinden sich vier Männer: Thomas Sankara,
der Staatschef; Blaise Compaoré, sein enger Freund,
Kommandant der Fallschirmspringer von Pô, Minister bei
der Präsidentscha ft; Henri Zongo, Minister für Wirt-
schaftsförderung, ein kompetenter Verwaltungsfach-
mann; Jean-Baptiste Lingani, Oberkommandierender der
Armee und Verteidigungsminister. Von den vier ist Lin-
gani mit 42 Jahren der älteste. Um diesen inneren Kern
gruppiert sich der Conseil National de la Révolution.
Wieviele Mitglieder dieser hat, ist Staatsgeheimnis. Die
Verschwörer vom 4. August gehören dazu, dann die
wichtigsten militärischen Führer und Chefs der Linkspar-

23
teien. Neben diesem Revolutionsrat gibt es die Regie-
rung, die sich zum grössten Teil aus Zivilisten zusam-
mensetzt, dann, mit unklarem Status, die Comitées de la
Défense der la Révolution (CDR Komitees zur Verteidi-
gung der Revolution), welche Aktivisten aus den Quartie-
ren, den Betrieben und den ländlichen Zentren in sich
vereinigen und sich der politischen Bildung, gemeinnüt-
zigen Aktivitäten, aber auch der militärischen Selbstver-
teidigung widmen. Es gibt eine Parallelstruktur: die Of-
fiziellen oder offiziösen Berater des Präsidenten. Sankara
konnte dank seiner aussergewöhnlichen Ausstrahlung das
Vertrauen und die Freundschaft zahlreicher bemerkens-
werter Männer und Frauen innerhalb und ausserhalb des
Landes gewinnen.

Worauf stützt sich die Macht Sankaras? Zunächst ist


gewiss die Armee von 6000 Mann zu nennen, die seit
dem August 1983 gesäubert worden ist und sich auf dem
Weg der politischen „Bewusstseinsbildung“ befindet.
Dann stützt sich Sankara auf die Linkskräfte. 1984 war
ich eingeladen, vier Vorträge mit anschliessender Diskus-
sion über mein Buch „Contre l’ordre du monde, les rébel-
les (Mouvements armes de liberation nationale du tiers
monde“ in Ouagadougou und Bobo-Dioulasso zu halten.
Jedesmal waren die Diskussionen von einem Reichtum
und einer Leidenschaft, wie man sie in Europa selten
trifft. Aber diese Diskussionen deckten auch die byzanti-
nischen Streitereien der Linken auf, die Spaltungen dieser
feinsinnigen Intelligenzia von Burkina-Faso, die Gege n-
sätze, die in einer erstaunlich demokratischen politischen
Praxis entstehen. Verglichen mit der Linken Burkina-
Fasos ist die Pariser Linke mit ihren Grüppchen, Sekten
und Zirkeln geradezu ein Modell von Transparenz. In

24
Burkina-Faso gibt es die LIPAD (eine starke extreme
Linke, die dem Trotzkismus nahesteht), die PCRV (Parti
communiste revolutionnaire voltaique, eine KP albani-
scher Ausrichtung), die ULC (Union des ligues commu-
nistes - eine Abspaltung von der PCRV), die FPV-
tendance Tiendrebéogo (eine Abspaltung vom Front pro-
gressiste voltaique von Joseph Ki Zerbo, der seinerseits
mit der gegenwärtigen Staatsmacht gebrochen hat). Aber
die wahre Machtbasis - einige sagen die einzige - von
Thomas Sankara ist seine ungeheure persönliche Popula-
rität, der fast verzweifelte Kredit, den er bei den Elende-
sten geniesst, die Mobilisierungskraft seines Wortes, sei-
ne Ehrlichkeit.

Lenin sagte: „Die Revolution ist ein Prozess“. Dies


trifft ganz besonders auf Burkina-Faso zu. Es ist aber ein
tumultuöser, widersprüchlicher und unendlich komplexen
Prozess. Zwei Widersprüche treten am deutlichsten her-
vor: Zum einen jener, der die neue Macht - die charisma-
tische Macht im Sinne von Max Weber - in Opposition zu
den sehr alten und verfestigten Strukturen der verschie-
denen traditionellen Gesellschaften bringt, namentlich der
Mossi-Gesellschaft, dann der verstecktere, schwieriger zu
umkreisende, der von Zeit zu Zeit bestimmte Fraktionen
der intellektuellen, städtischen oder gewerkschaftlichen
Linken gegen die militärische Gruppe, welche den Con-
seil National de la Révolution beherrscht, aufbegehren
lässt. Die Komitees zur Verteidigung der Revo lution
(CDR) bilden nach dem Willen Sankaras das bevorzugte
Instrument, um diesen doppelten Widerspruch zu lösen
zu versuchen. Ich sage es so, wie ich es sehe: Die CDR
sind ein wenig vertrauenserweckendes, zerbrechliches
und unsicheres Instrument. Ich möchte damit nicht den

25
strategischen Entscheid Sankaras kritisieren: von 1983 an
hatte er wahrscheinlich keine andere Wahl, als den tradi-
tionellen Mächten die Stirn zu bieten; er hatte auch keine
andere Wahl, als den Versuchen verschiedener Linkspar-
teien oder gewerkschaftlichen Organisationen, die Hege-
monie zu beanspruchen, Widerstand zu leisten. Aber die
Waffe, die er zur Unterstützung seiner Strategie ge-
schmiedet hat, scheint mir - ich wiederhole es - eine teil-
weise funktionsuntüchtige Waffe zu sein. Die CDR set-
zen sich vorwiegend aus jungen Leuten zusammen, die
Sankara aus Enthusiasmus und spontaner Begeisterung
verbunden sind. Sie bieten der Feudalmacht der traditio-
nellen Gesellschaften, besonders der Mossi-Gesellschaft,
Stirn. Dazu Sankara: „Der Mogo-Naba (der Herrscher)
der Mossi ist ein Bürger wie jeder andere“. Und indem er
Wort und Tat verband, unterbrach Sankara seit 1983 die
Elektrizitätszufuhr zum Palast des Mogo-Naba... Zuviele
unbezahlte Rechnungen, zuviel Arroganz dieses Herrn in
seiner Weigerung, sich den Gesetzen des Landes zu un-
terziehen!
Wie können die CDR kontrolliert werden? Die Über-
griffe der CDR sind zahlreich, ihre Organisation
schwach, die Kaderbildung rudimentär, die ideologische
Bildung oft nicht existent. Hinzu kommt, dass in den
Dörfern, wo die „Herren der Erde“ regieren (eine weitere
zentrale Institution der Mossi), die Alten herrschen... und
plötzlich finden sie sich unter der willkürlichen Herr-
schaft junger Leute! Ein Europäer kann nur schwer er-
messen, welche Umwälzung dieses neue Verhältnis zwi-
schen den Altersklassen in einer traditionellen afrikani-
schen Gesellschaft bedeutet.
Ich erinnere mich an einen glühend heissen Nachmittag
im Süden des Landes während der Trockenperiode des

26
Jahres 1984: das Mossi-Plateau, trocken, ohne Gras,
übersät mit isolierten Hütten, wo die Clans wohnen (die
Mossi kennen keine Dörfer), erstreckt sich, so weit das
Auge reicht. Die Erde ist grau. In diesem Jahr gab es kei-
ne Ernte. Unser Wagen fährt Richtung Süden auf der
Strasse, die von Ouagadougou nach Bobo-Dioulasso und
an die Grenze zur Elfenbeinküste führt. In Boromo, ei-
nem Marktflecken an der Grenze zwischen dem Mossi-
Gebiet und demjenigen der Malenké, blockiert eine riesi-
ge Menschenansammlung unser Auto. Es ist eine Kund-
gebung des lokalen Komitees zur Verteidigung der Revo-
lution. In der Mitte eines Zuschauerkreises besingt eine
Tanzgruppe von rund hundert jungen Männern und Frau-
en die Revolution und führt teuflische Tänze vor. Sie ha l-
ten in ihren ausgestreckten Armen die Hacken der Mossi,
um deutlich zu machen, dass sie zu Ehren der Bauern
singen. Am Mikrophon heizt einer in verwaschenen Blue-
Jeans die Stimmung an. Um ihn herum sitzen auf Lehn-
stühlen, die aus dem nahen Restaurant herangeschleppt
wurden, Offiziere mit ihren roten Berets, der Hochkom-
missar, die Verantwortlichen des CDR. Als der Tanz be-
endet ist, wird die Stimme am Mikrophon lauter, leiden-
schaftlicher, abgehackt, und schreit auf französisch: „A
bas l’impérialisme!“ (Nieder mit dem Imperialismus)
Die Menge: „L’impérialisme ä bas!“ Der Anheizer: „A
bas...“
le néocolonialisme! (Der Neokolonialismus)
les fantoches! (die Marionetten)
les bougeois! (die Bürgerlichen)
les valets locaux! (die lokalen Knechte) A bas...
Honneur au peuple! (Ehre dem Volk)
Tout le pouvoir au peuple (alle Macht dem Volk)

27
La patrie ou la mort (Vaterland oder Tod) nous vain-
crons“. (wir werden siegen)
Leierhafte Parolen, denen ihr missionarisches Erbe
leicht anzumerken ist. Gleichwohl ist die Stimmung ent-
spannt. Die Burkinabés lassen sich vom Dogmatismus
nicht hinreissen. Überall bricht der Humor durch.
Manchmal verspricht sich der Anheizer in seiner Litanei.
Er sagt: „A bas le peuple!“ (Nieder mit dem Volk). Alles
platzt heraus vor Lachen, einschliesslich der Verantwort-
lichen - die grössten Teils auch noch sehr jung sind. Nach
jedem Applaus ruft der Anheizer wie ein Pop-Star (ein
linker) aus: „Danke, Genossen“.
In einigem Abstand von der lärmigen Masse, die alten,
muslimischen Würdenträger - lange, hagere, aufgeschos-
sene Kerle mit ernsten Gesichtern - sie verfolgen die re-
volutionären Zeremonien aufmerksam. Mit leiser Stimme
tauschen sie ihre Meinungen aus, würdig auf ihre endlos
langen Hirtenstäbe gestützt. Noch weiter entfernt, um den
ganzen Platz herum, kauern die Frauen vor ihrem Gemü-
se, ihren Pfefferschoten, ihren Früchten, die sie den Käu-
fern auf schönen, am Boden ausgerollten Matten anbie-
ten. Diese Marktfrauen verhalten sich gegenüber dem
feurigen Ritual, das auf dem Platz zelebriert wird, völlig
indifferent! Sie sind sogar ziemlich erzürnt darüber, dass
man ihre Geschäfte stört. Im schattigen Restaurant am
Rande der grossen Strasse hat sich eine Hochzeitsgesell-
schaft niedergelassen: jedermann ist eingeladen, sogar
wir, die wir an diesem Tag nur zufällig vorbeigekommen
sind. Die wunderbare Gastfreundschaft der Burkinabé
ändert sich mit dem Wechsel des Regimes nicht. Die
Männer, die Frauen, die Kinder - die Bobos, die Djoulas,
die Peuls, die Senouffo, die Lobis, die Dafing - dieses
ganze buntgemischte und sympathische Volk, in welchem

28
sich - mit der gleichen menschlichen und mitteilsamen
Wärme - die Rassen, Religionen, Altersklassen und Beru-
fe vermischen, geht zwischen dem staubigen Marktplatz
und dem weiten Garten des Restaurants hin und her.
Diese Zeremonie von Boromo fasst die Widersprüche
perfekt zusammen, die ganze Zerbrechlichkeit, aber auch
die grosse Hoffnung des gegenwärtigen Regimes von
Burkina-Faso: die Revolution vom 4. August 1983 kann
sich der begeisterten Zustimmung der Jugend erfreuen.
Sie stösst aber bei den alten Würdenträgem der viel-
schichtigen und sehr reiche n traditionellen Gesellschaften
des Landes auf skeptische Distanz. Die bäuerlichen Mas-
sen warten ab: sie lieben Sankara, den jungen Helden aus
ihren eigenen Reihen, aber sie warten ab, um zu sehen
und bewahren angesichts der Initiativen, der Verspre-
chungen, eine gewisse Vorsicht, welche sie die Erfahrung
der Jahrhunderte gelehrt hat. Was an dieser Zeremonie
beeindruckt - wie am ganzen politischen Geschehen in
Burkina-Faso, das in einem verblüffenden Rhythmus nun
seit über drei Jahren vorwärtstreibt - ist die Fröhlichkeit,
der Lebensdurst, die menschliche Wärme, aber auch die
Zerbrechlichkeit.

Reformen und Hungersnot

Seit 1983 bis heute steht die neue Macht einem furcht-
baren Feind gegenüber: dem Hunger, der Unterernä h-
rung, dem Nahrungsmittelmangel. Ohne Sieg über diesen
Feind kann es weder nationale Souveränität, wirtschaftli-
che Unabhängigkeit, noch inneren Frieden oder eige n-
ständige Entwicklung geben. Der Kampf gegen den Hun-
ger und jener für die Reform der Gesellschaft Burkina-

29
Fasos sind deshalb eng miteina nder verbunden. Analysie-
ren wir sie, einen nach dem andern.
Auf ihrem Weg zu einer wirklichen nationalen Unab-
hängigkeit, einer Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln,
eigenständiger Entwicklung und einer Gesellschaft, wo
Gleichheit und Gerechtigkeit herrsche n, stösst die junge
Revolution Burkina-Fasos auf gewaltige Hindernisse.
Das Regime existiert erst etwas über drei Jahre. Dennoch
sind schon mehrere tiefgreifende soziale und wirtschaftli-
che Reformen verwirklicht oder auf dem Weg zur Ver-
wirklichung. Die erste: Jean Capron, ein französischer
Soziologe und einer der besten Kenner des Landes er hat
dort während 22 Jahren eine Lehrtätigkeit ausgeübt -
sagt: „In Afrika gibt es nur eine wirklich herrschende
Klasse: die Stadt!“ Eine der schwierigsten Prüfungen für
die neue Politik wird die Neuverteilung der Budgetmittel
sein, die Förderung der ländlichen Gebiete und die Ein-
dämmung der für die Städte bestimmten Ausgaben.
Sankara hat die Verwaltungskarte des Landes neu ge-
zeichnet: er möchte sie - was für Afrika eine vollständig
neue Sache ist! - mit den Grenzen der verschiedenen eth-
nischen Gebiete zusammentreffen lassen, um jeder Pro-
vinz ein Maximum an sozialem Zusammenhalt und kultu-
reller Identität zu geben, jedem Volk wirkliche Freiheits-
rechte und Ausdrucksmöglichkeiten zu gestatten. 25 Pro-
vinzen wurden geschaffen. Jede umfasst mehrere Depar-
temente (zwischen vier und neun je nach Grösse der Pro-
vinz). Der Hochkommissar und sein Rat - der die Provinz
leitet - sowie die Präfekten, welche gegenüber der Regie-
rung für die Departemente verantwortlich sind, werden
von den Einwohnern der jeweiligen Gebiete gewählt.

30
Der zweite: der Kampf gegen die Korruption und die
Bürokratie. Der Nationale Revolutionsrat hat das Budget
für das Jahr 1983 Kapitel um Kapitel genau unter die Lu-
pe genommen. Er hat es um mehr als 15% gekürzt, indem
er systematisch alle Pauschalausgaben eliminierte (von
den Dienstwagen... bis zu den Insektensprays.) Er hat
eine Anzahl korrupter Funktionäre „freigestellt“ - das
heisst rausgeschmissen. Revolutionäre Vo lksgerichte sind
tätig - ein martialischer Name für eine eigentlich ziemlich
bescheidene Institution! Diese Gerichte - in Tat und
Wahrheit Quartiersversammlungen - können keine
schweren Strafen erteilen (Zwangsarbeit oder gar Todes-
strafe). Sie entscheiden einfach über den Einzug un-
rechtmässig erworbener Güter und teilen sie dieser oder
jener Provinzverwaltung zu. Die Korruption ist in ganz
Westafrika ein endemisches Übel. Sie wütet in den natio-
nalen Verwaltungen wie in den regionalen oder interna-
tionalen Bürokratien. Ein besonders skandalöser Aspekt
dieser Raubzüge: gerade in den ärmsten Ländern, wo die
Bauern sich am härtesten abplagen müssen, gehen Beam-
te, Minister oder Spekulanten regelmässig mit der Staats-
kasse durch. Die Staatschefs pflegten bisher diese Skan-
dale zu decken, welche sich seit der formellen Unabhä n-
gigkeit in den sechziger Jahren in raschem Rhythmus
folgten. Sankara bildet da eine Ausnahme: am 3. April
1986 verurteilte das revolutionäre Volksgericht von Oua-
gadougou Mohamed Diawara, den ehema ligen Minister
der Elfenbeinküste, Moussa Diakité, Ex-Direktor des So-
lidaritätsfonds, und Moussa N’Gom, den ehemaligen Ge-
neralsekretär der CEAO (Communauté économique pour
l’Aftique occidentale - Westafrikanische Wirtschaftsge-
meinschaft) zu je 15 Jahren Haft und zur Wiedergutma-
chung des Schadens. Diese drei Menschenfreunde hatten

31
die bescheidene Summe von 6,5 Mia. Franc CFA (32,5
Mio. Schweizerfranken/40 Mio. DM) aus der Kasse der
Organisation gestohlen, um sie auf Privatkonten in der
Schweiz zu plazieren.
Eine weitere grundsätzliche Reform: die Operation
„vaccination-commando“ (Impfungskommando), organi-
siert vom Gesundheitsminister Salim Kalore. Innerhalb
von rund zwei Wochen wurden alle Kinder Burkina-
Fasos (sowie der Grenzregion) gegen alle hauptsächli-
chen Krankheiten geimpft.
Aber es kam auch zu Fehlschlägen. Zum Beispiel die
unglückliche Reform des Wohnungswesens. 1983 schaff-
te Sankara mit einer Proklamation alle Mieten für die
Dauer eines Jahres ab. Das führte zur Desorganisation
und Schlamperei auf dem Wohnungsmarkt. Ein weiteres
Beispiel: der Versuch, den CDR die Vermarktung einiger
Grundnahrungsmittel in den Quartieren und Dörfern zu
übertragen (Reis, Öl etc.) Dies zum Schaden der Klein-
händler. Hier buchstabierte Sankara sehr rasch zurück.

Ein ständiges, aber heikles und selten offen diskutiertes


Problem ist jenes der Sicherheit. Es stellt sich jedem re-
volutionären Regime mit Hartnäckigkeit. Burkina-Faso
bildet keine Ausnahme dieser Regel. Im gleichen Mass,
wie die qualitative Umwälzung der Gesellscha ft Fort-
schritte macht, die Beziehungen zwischen den antagoni-
stischen gesellschaftlichen Klassen sich ändern und sich
eine wirkliche nationale Unabhängigkeit und Souveräni-
tät herstellt, greifen die Feinde Sankaras und seiner
Freunde zu immer gewalttätigeren Widerstandsformen: In
Ouagadougou gehen Bomben hoch, Sabotagen jeglicher
Art kommen im ganzen Lande vor, Gerüchte werden in
Umlauf gesetzt. Das Leben Sankaras, seiner Familie und

32
der wichtigsten Führer des CNR ist ständig bedroht. Im
Dezember 1985 überraschte Burkina-Faso ein völlig un-
erwarteter Angriff der Bomber und Panzer Malis. Ge-
heimdienst und Gegenspionage sowie die Polizei sind in
Burkina-Faso rudimentär ausgebaut. Trotz der kubani-
schen Hilfe ist der Persönlichkeitsschutz der fahrenden
Leute ungenügend. 1984 hat das Regime zum ersten Mal
zurückgeschlagen: sieben Afrikaner, die des städtischen
Terrorismus überführt waren, sind durch Erschiessen hin-
gerichtet worden. Wegen der unglaublichen Inkompetenz
und Korruption der sich sukzessive ablösenden Regie-
rungen, welche von der alten Metropole überwacht und
kontrolliert wurden, ist Burkina-Faso heute von Wunden
übersät. Seine wirtschaftliche und soziale Lage ist kata-
strophal. Es ist, gemessen am Pro-Kopf- Einkommen, das
neuntärmste Land der Welt. Burkina-Faso besitzt prak-
tisch keine Industrie. Die bebaubaren Böden sind mit
Ausnahme jener im Süden des Landes zum grösssten Teil
ausgetrocknet, schwer zu bebauen und nicht sehr frucht-
bar; nur 25% des Kulturlandes werden wirklich angebaut.
Der Hektarertrag beim Getreide beläuft sich auf 540 kg:
die Vergleichszahl für Frankreich: 4’883 kg/ha! Die jähr-
liche Geburtenrate beträgt 4,8% (verglichen mit 1,4% in
Frankreich). Noch 1984 waren nur 20% der Kinder im
schulpflichtigen Alter eingeschult. Es gibt in Burkina-
Faso über 7000 Dörfer, aber nur 1300 Schulen. 1985 fehl-
ten 18’000 Lehrer und Professoren aller Stufen. In der
sechsten Klasse gab es 1983 3300 Plätze, während sie
theoretisch von 22’000 Kindern besucht werden sollte.
Die Aussenhandelsbilanz ist ständig defizitär. Der Zuk-
ker, der in der Ebene westlich von Bobo-Dioulasso ange-
baut wird, kommt 18 Mal so teuer zu stehen wie der im-
portierte Zucker. Burkina-Faso leidet, wie praktisch alle

33
Länder der Region, unter einer überdotierten Beamten-
schaft, oft nicht anders als parasitär zu bezeichnen;
28’000 Beamte verschlingen 70% des Staatsbudgets. Je-
des Jahr sind vom Oktober an die Staatskassen leer. Die
Regierung muss zu Überbrückungsmassnahmen greifen
und bei fremden Mächten um Almosen bitten. Bis 1983
war diese fremde Machte Frankreich. 1984 war es Alge-
rien.

In den Jahren 1982, 1983 und 1984 herrschte eine kata-


strophale Dürre. Die Lage hat sich 1986 verbessert. Aber
die Funktionsmängel der Wirtschaft bleiben tiefgreifend
und sind nach wie vor gefährlich. Um das Drama der
Dürrejahre zu erfassen, gebe ich hier meine Notizen wi-
der, die ich auf einer Reise 1984 im Norden des Landes
gemacht habe. Unter einem riesigen hundertjährigen und
von trockenen Lianen überzogenen Tamarindenbaum am
Ufer des brackigen Beli-Flusses, erzählt Frebi Ag-Bai,
Chef des Ti-n-Akof-Stammes, mit kaum hörbarer Stimme
vom Unglück seines Volkes. Die Bauern haben während
der ganzen Winterzeit keine Ernte einbringen können. In
den Lagern neigen sich die letzten Vorräte dem Ende zu,
die Tiere kommen vor Durst fast schon um.
Man kann sich den Arbeitsrhythmus eines Sahel- Bauern
nur sehr schwer vorstellen: während Wochen ein 24-
Stunden- Tag. Die trockene Erde vorbereiten, jäten, säen...
Männer, Frauen, Kinder ab sechs Jahren sind seit vier
Uhr morgens auf, gebeugt, erschöpft, um zehn Uhr
abends kaputt, sieben Tage pro Woche, Jahr für Jahr...
Und mit welchem Resultat? Die durchschnittliche Nie-
derschlagsmenge in der Sahelzone betrug 1983 20 Milli-
meter. Aber er wären 400 Millimeter nötig, um mehr als
ein paar verdorrte Stengel ernten zu können.

34
Der Chef der Tuareg, in seinem weiten blauen Kleid,
das Gesicht zur Hälfte vom Turban verdeckt, trägt wie
sein ganzes Gefolge den Degen an seiner Seite. Er spricht
auf Tamajeck mit einem jungen Peul, der zu seiner Seite
sitzt. Der Peul übersetzt auf Mossi. Und unser Dolmet-
scher, der uns ab Ouagadougou begleitete, gibt uns die
Worte des Tuareg auf Französisch wider. Der Tuareg-
Chef spricht schon seit über einer Stunde. Seine Söhne,
Enkel und Diener kauern in respektvollem Abstand um
ihn herum, den Degen in den Händen haltend, den Rük-
ken dem Fluss zugekehrt. Frebi Ag-Bai herrscht über eine
komplexe Gesellschaft von vielleicht 10’000 Seelen, die
in gewöhnlichen Zeiten als Nomaden diesem Nebenfluss
des Niger entlang ziehen, in einer weiten Sahel- Region,
die von Gorom-Gorom (Burkina-Faso) über Asongo (Ma-
li) bis nach Tera (Niger) reicht. Tausende von Zebus - der
Stolz der Tuaregs - sind schon tot. Andere wurden ge-
stohlen. Weitere sind mit ihren Bellah-Hirten - wahrha f-
ten Leibeigenen ihrer Tuareg-Herren - in den Süden ge-
zogen, in die Elfenbeinküste, nach Togo und Nigeria.
Frebi Ag-Bai hat keine Nachrichten über den Verbleib
seiner Herden, die schon im Oktober versuchten, die
Brunnen und Märkte des Südens zu erreichen. Am gleis-
senden Himmel wird die Sonne rot, der Abend naht. Frebi
Ag-Bai lässt uns ein Schaf bringen. Seine Köche schlach-
ten es unter dem Baum, zerteilen es in Stücke und braten
es. Ag-Bai und sein Gefolge entfernen sich. Das magere
Schaf vermag nicht alle Anwesenden satt zu mache n. Sie
weigern sich, mit uns zu essen. Eine eindrückliche Lekti-
on von Würde und ungebrochener Gastfreundschaft im
Herzen des Sahel von Burkina-Faso, wo ein ganzes Volk
langsam seinem Tod entgegengeht.

35
Der Sahel ist an diesem Jahresanfang 1984 eine ausge-
glühte Steppe. Der Himmel ist weiss vor Hitze. Eine fahle
Sonne verbrennt die Haut. Einige vertrocknete Gräser, ein
paar vereinzelte Bäume, dürr auch sie, Seen auf Tümpel
reduziert, kilometerweise unbefahrbare Pisten. Als unser
Helikopter in Dori niedergeht, strömen Männer, Frauen
und Kinder herbei. Hier, in der Hauptstadt der Provinz
Sahel - 8’000 Einwohner, 275 Kilometer von Ouagadou-
gou entfernt - hält die Verteilung von Hirse durch die
Regierung das zerbrechliche Nahrungsmittelgleichge-
wicht aufrecht. Es gib t wenig unterernährte Menschen.
Aber am nächsten Tag, als wir mit unserem Toyota in
Markei ankommen, entdecke ich die ersten bis auf die
Knochen abgemagerten Frauen, mit sterbenden Kindern
auf ihren Armen. Einige Kilometer vor Salmossi sehe ich
eine Familie einen Termitenhügel zerstören: die Kinder
durchsuchen den Haufen nach Larven, um diese zu essen.
Am Rande der Piste, Knochengerippe von Zebus. Ein
wenig weiter weg eine ausgehungerte Herde; die Kno-
chen ragen spitz unter dem Fell hervor. Das Vieh irrt von
einem ausgetrockneten Tümpel zum andern, von einem
trockenen Brunnen zum andern. Schleppenden Schrittes
bilden die Peul-Hirten den Schluss dieser Elendszüge.
Auf dem brackigen Wasser des Beli „ernten“ die Frauen
Seerosen, die sie in Stücke schneiden, um sie zu kochen.
Diese übel riechende Suppe ist die letzte Zuflucht für
Tausende von Familien. Der Sahel von Burkina-Faso
dehnt sich im Norden der Republik über 30’000 km2 aus.
Die Region zählt neun Departemente und ungefähr - noch
niemand kennt die genaue Za hl - 200’000 Einwohner.
Schon seit dem Oktober überqueren Tausende von Fami-
lien die Nordgrenze der Republik, von Niger oder Mali
herkommend, trostlose Gegenden, wo die Lage noch ka-

36
tastrophaler zu sein scheint. Sie zurückschicken, steht
nicht zur Debatte: die Tuaregs, die Peuls und die Bellahs
aus Mali oder Niger sind Verwandte der Hirten Burkina-
Fasos. Man muss sie also aufnehmen, versuchen, sie zu
ernähren. Der Hochkommissar der Republik in Dori,
Mahma Bonkoungou, ist ein ehemaliger Geographiele h-
rer vom Couhbaly-Gymnasium in Bobo-Dioulasso. Er
verkörpert den Typ des Regionalverantwortlichen, wie er
seit der Machtübernahme durch das revolutionäre Regime
am 4. August 1983 funktioniert - jung, dynamisch, intel-
lektuell, von der Herkunft ein Mossi, kompetent, ent-
schlossen. Er gibt auf unsere Fragen präzise Antworten:
für die nächsten drei Monate braucht es allein für den
Distrikt von Dori 6’000 Tonnen Hirse. Aber in diesem
Januar befinden sich nur 500 Tonnen im Lager. Der
Hochkommissar arbeitet mit den Bauernorga nisationen
der Region eng zusammen (namentlich mit Union des
villageois de 1’Oudalou - Vereinigung der Dorfbewohner
von Oudalou). Denn diese Organisationen garantieren die
Verteilung der Lebensmittel in den verschiedenen Dör-
fern und Handelszentren der Provinz.
Zur Hauptsache lässt sich die gegenwärtige Katastrophe
auf drei Gründe zurückführen. Der erste: zum letzten Mal
fiel in der Provinz am 17. August 1983 Regen. Im Juni
hatten die Bauern normal gesät. Doch die Septemberre-
gen blieben aus. Die Hirse vertrocknete deshalb vorzeitig.
Es konnte nichts geerntet werden. Die Familien sind ohne
Saatgut und ohne Vorräte.

Der zweite Grund: die Viehpreise sind im Dezember


zusammengebrochen. Seit August sind bereits 400’000
Stück Vieh Richtung Süden weggezogen. Aber die Zehn-
tausende, die jetzt noch auf die verschiedenen Märkte der

37
Region gelangen, finden keine Abnehmer mehr. Dies,
obwohl die Preise - 25’000 Francs CFA (125 Schweizer-
franken/160 DM) für eine Kuh auf dem Markt von Go-
rom-Gorom zum Beispiel - ausserordentlich günstig sind.
Vergeblich. Die Elfenbeinküste hat ihre Grenzen ge-
schlossen. Nigeria kauft nichts mehr. Für die Durchque-
rung von Niger oder Mali werden unerschwingliche Zölle
auf jede Kuh erhoben. Der dritte Grund: Leutnant Joseph
Toe, Gendarmerie-Kommandant der Region, und Haupt-
mann Moumouni Compaoré, Militärkommandant, erlä u-
tern ihn mir: die Regenfälle vom vergangenen August
haben die Pisten unterspült. Der Transport von Hilfsgü-
tern auf Militärlastwagen wird dadurch ausserordentlich
erschwert. Die Lastwagen mit gebrochenen Achsen oder
zusammengebrochenen Ladebrücken sind kaum mehr zu
zählen. Auch wenn Markoi, Salmossi, Gorom- Gorom und
einige andere Marktflecken im Norden des Landes über
die Pisten noch zugänglich sind, die Dörfer und die in der
unendliche n Steppe verstreuten Lager sind praktisch vom
Rest der Welt abgeschnitten.
Aber ich wiederhole es: die dauernde Hungersnot ist -
für den Augenblick wenigstens - überwunden. Die Re-
genfälle waren 1986 gut. Die Steppe grünte. Aber das
Gespenst des Hungers kann von neuem zuschlagen. Ir-
gendwann. Das Land, seine zerrüttete Wirtschaft, kann
sich dagegen nicht ausreichend verteidigen.

Zwei Freunde von Sankara

Im Leben und Denken von Thomas Sankara spielt die


Freundschaft eine herausragende Rolle: Sankara ist rede-
gewandt, diskussionsfreudig und stellt beständig alles
infrage. Zwei Männer haben seit der Machtübemahme im

38
Jahre 1983 einen besonderen Einfluss auf ihn ausgeübt:
Jerry Rawlings aus Ghana und Mohamed Maiga aus Ma-
li. Mit Rawlings trifft sich Sankara auch jetzt noch häu-
fig. Maiga hingegen starb 1984 im besten Alter. Rawlings
teilt mit Sankara die Sorgen eines Staatschefs eines bis
auf die Knochen ausgebluteten, ausgeraubten und ernied-
rigten Landes. Maiga war sein intellektueller Freund; der
Mann, mit dem zusammen Sankara Nächte lang seine
Träume entwerfen konnte.

Zunächst zu Jerry Rawlings: ich lernte Rawlings in Ni-


caragua kennen. Hier eine der Erinnerungen. Sie stammt
vom Juli 1984: die Nacht in Managua ist ruhig. Kaum
Licht in der Stadt; die mit Schweröl produzierte Elektrizi-
tät ist rar und teuer. Wir sind in einer Vorstadt-Villa unter
blühenden Bäumen zusammengekommen. Die Schäden
des Erdbebens von 1972 sind in diesem Teil der Stadt
noch sichtbar. Die Villa, einst im Besitz der Familie So-
moza, dient jetzt als Sitz des Planungsministeriums und
in gewissen Nächten auch als Versammlungsort der
Commandantes aus der nationalen Leitung der Sandini-
sten sowie ihrer ausländischen Gäste.
Gatesi Bouterse, der Staatschef von Surinam, ist anwe-
send. Thomas Borge, Bayardo Arce und Omar Cabezas
sind hier, und vor allem, alle andern um einen guten Kopf
überragend, beeindruckend in seiner abgewetzten Offi-
ziersjacke, Fliegerleutnant Jerry Rawlings, Chef des Pro-
visorischen Nationalen Verteidigungsrates von Ghana.
Seine Felduniform ist abgenutzt. Um ihn herum einige
seiner Minister: jener für Finanzen, mager und agil; jener
für Justiz, mit silbergrauen Haaren und lebhaften Augen;
und, bekleidet mit einer farbenprächtigen Ashanti-Toga,
der Botschafter Ghanas in Cuba.

39
Jerry Rawlings, Sohn eines schottischen Vaters und ei-
ner ghanesischen Mutter, strahlt Intelligenz und Frei-
heitswillen aus. Er stellt mit einer leicht gedehnten Stim-
me (auf englisch) Fragen an alle, die um den Tisch ver-
sammelt sind. Er erzählt uns die abenteuerliche Geschich-
te des zeitgenössischen Ghana.
Die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes, wel-
che Rawlings und seine Freunde 1982 von ihren Vorgä n-
gern geerbt haben, ist prekär; die Handelsbourgeoisie
Ghanas, die ihre eigenen Interessen geschickt zu verteidi-
gen versteht, hat - manipuliert von ausländischen Finanz-
gruppen, - die Wirtschaft ruiniert, die einst allen ein an-
ständiges Leben garantierte. Im Jahre 1983 liess sich eine
Abwertung der Landeswährung um 990% nicht mehr
abwenden. Die Währung hatte auf internatio naler Ebene
jede Kreditwürdigkeit verloren. Der Kakao-Preis ist zu-
sammegebrochen - Kakao aber ist das wichtigste Export-
produkt der Landwirtschaft Ghanas.
Was das Gold betrifft, die andere Quelle des einstigen
Reichtums Ghanas, gefördert in den Ashanti Gold Fields
und andern Minen, so wurde es oft auf Schmuggelpfaden
exportiert. Die Geldpolitik Reagans gab dem Land den
Rest.
Man kann nie genug hervorheben, welche Katastrophe
die US-amerikanische Strategie in der Währungspolitik
für die ärmsten Länder der Dritten Welt bedeutet. Sie
kommt in der Praxis der lautlosen Ermordung hunterttau-
sender, wenn nicht Millionen von Menschen gleich. So
funktioniert sie: namentlich wegen der Hochrüstungspoli-
tik erreichte das Budgetdefizit der USA 1984 mehr als
200 Milliarden Dollar. Dieses Defizit und die entspre-
chenden Ausgaben, verhalfen der US-Wirtschaft zu ei-
nem Aufschwung. Das Defizit wurde und wird, vor allem

40
durch den Zustrom ausländischer Gelder finanziert. Diese
Gelder fliessen in die USA, weil Reagan eine hohe Ver-
zinsung, hohe Zinssätze und dadurch eine Höherbewer-
tung des Dollars auf den internationalen Märkten einge-
führt hat. Was aber bewirkt der teure Dollar? Enorme
Profite für die Spekulanten und die Bourgeoisie der Drit-
ten Welt, welche ihre Kapitalien nach New York transfe-
rieren, und ein katastrophales Zahlungsbilanzdefizit für
die abhängigen Länder.
Für diesen höllischen Mechanismus ist Ghana beinahe
das perfekte Beispiel: die Handelsgrossbourgeoisie der
Ewe, der Fâ und der Gâ von der Küste, aber auch die As-
hanti-Bourgeoisie von Kumasi, entkapitalisieren heimlich
die Wirtschaft (in welche sie, wie sie überheblich sagen,
„das Vertrauen verloren“ hätten) und legen ihr Geld auf
US-Dollar- oder Schweizer-Franken-Konten im Ausland
an. Die Regierung Rawlings aber muss die Erdölrech-
nung in Dollars bezahlen. So stieg diese Rechnung für
eine gleichbleibende, nicht reduzierbare Menge Erdöl
allein wegen der Reaganschen Währungsmanipulation
ständig. 1984 verschlang sie mehr als 400 Millionen Do l-
lar, was mehr als der Hälfte aller Exporterlöse Ghanas
entspricht. Was kann die Regierung Rawlings dagegen
tun? Weil sie aus diesem Teufelskreis nicht ausbrechen
kann, muss sie eben mitspielen. Sie muss die Exporte
erhöhen. Sie tut dies, indem sie so stark wie möglich im
Minensektor, in der Landwirtschaft und im Transportwe-
sen investiert. Ein weiteres Problem: heute noch muss
dieses reiche Agrarland für mehr als 200 Millionen Do l-
lar Lebensmittel einfuhren (obgleich sich Ghana nicht in
der Sahelzone befindet und somit nicht der verheerenden
Erosion und dem Vordringen der Wüste Stirn bieten muss

41
wie Niger, Mali, Senegal oder Burkina-Faso). Aber in
Ghana werden nur 17% des bebaubaren Landes kultiviert.
Eine weitere Spirale dieses Teufelkreises: Ghana muss
sich, wie soviele abhängige Länder vor ihm, um Kredite
der Weltbank bewerben. Diese Kredite wurden teilweise
gewährt, nachdem sich Ghana einem sogenannten wirt-
schaftlichen Wiederaufbauprogramm des Internationalen
Währungsfonds unterworfen hatte. Das klassische Pro-
gramm: Herabsetzung der Subvent ionen im Sozialbe-
reich, Blockierung der Löhne, Freigabe der Preise (der
IMF spricht in seiner gewählten Sprache von der „Wahr-
heit“ der Preise)... Was sind die Folgen für das ghanesi-
sche Volk? 1984 stiegen die Konsumentenpreise um
750%. 533,5% Preissteigerung beim Mais, 353% beim
Reis, 253% beim Zucker etc. Und die Löhne? Sie stiegen
lediglich um 444% (vom April 1983 bis zum April 1984).
Geschlossene Fabriken, die im Tropenregen verrosten,
leere Gestelle in den Läden, Angst in den Familien, Fru-
stration... Die wichtigste Gewerkschaftszentrale Ghanas,
der Trade Union Congress (TUC), verlangte für 1984
eine mittlere Lohnerhöhung von l’200 Prozent, im priva-
ten Gespräch gesteht Rawlings zu, dass die Berechnun-
gen der Ökonomen des TUC gut fundiert sind.
In dieser Nacht von Managua wird mir mit einem
Schlag die Absurdität der gegenwärtigen Weltordnung
bewusst. Der Imperialismus legt zuerst seine Strategie
fest. Er macht dies aufgrund seiner eigenen wirtschaftli-
chen Bedürfnisse, der Wahlziele seines Präsidenten. Auf
der Ebene der nationalen Egoismen ist dagegen nichts
einzuwenden. Für Reagan zahlt sich die dargelegte Stra-
tegie bestimmt aus. Bestünde die Weit nur aus US-
Amerikanern, wäre sie sogar völlig gerechtfertigt. Doch
gleichzeitig krepieren die armen Länder langsam, wie in

42
unserem Fall Ghana. Aber das soll kein Hindernis sein!
Man gewährt ihnen Weltbank-Kredite und erhöht da-
durch ihre Abhängigkeit. Damit diese Kredite dann wirk-
lich ihr Ziel erreichen, das heisst in Afrika, Asien und
Lateinamerika die imperialistische Ordnung untermauern,
schickt man von oben die fähigen Experten des IMF: sie
sind es, die den lokalen Führern, ob sie zustimmen oder
nicht, die Weltordnung aufoktroyieren.

Jetzt die Erinnerung, die ich an Mohamed Maiga be-


wahre.
Im ganzen Prozess der bewaffneten Befreiungskriege
gibt es einen merkwürdigen und faszinierenden dialekti-
schen Zusammenhang zwischen den Männern der Tat
und ihren Kommentatoren, zwischen den Hauptdarstel-
lern des Dramas und ihren Kritikern. 1957 begegnete
Hubert Matthews von der „New York Times“ Fidel Ca-
stro und seinen Genossen in der Sierra Maestra. Seine
Artikel hatten Einfluss auf den Verlauf der kubanischen
Revolution. John Reed, ein amerikanischer Journalist,
erlebte die zehn entscheidenden Tage in nächster Nähe
Lenins... und er sprach davon. Die Artikel von Mohamed
Maiga in der Zeitschrift „Afrique-Asie“ beeinflussten die
Ereignisse in Burkina-Faso zutiefst und dies seit dem 17.
Mai 1983, seit der Verhaftung von Premierminister San-
kara durch ein schwaches neokoloniales Regime, auf sei-
nem verdammenswerten Weg getrieben von einer unver-
nünftigen französischen „Afrika“-Politik.
Dezember 1983: Ich komme kurz vor Weihnachten
nach Ouagadougou. Auf den Stufen des Hotels Slimande,
im ockerfarbigen Licht des Nachmittags, spricht mich ein
junger Mann an: es ist Mohamed Maiga. Er ist auf der
Abreise nach Ghana. Er wollte in ein paar Tagen wieder

43
zurück sein, nach einem kurzen Zwischenhalt in Abidjan.
Maiga strotzt vor Lebensfreude, vor Gesundheit und
Energie. Er sagt lachend: „Sie werden mich noch um-
bringen, was muss ich arbeiten!“ Ich fühlte, dass diese
Arbeit - die Arbeit, die Welt zu verstehen und durch die
Kenntnis zu ihrer Veränderung beizutragen - für ihn jen-
seits aller Worte eine Leidenschaft war.
Einige Tage später bin ich im Norden des Landes, in
der Provinz von Dori. Die Steppe ist grau, trocken, hart
wie Stein. Einige Büschel gelbes Gras, stachliges Busch-
werk. Der Morgen ist klar, durchsichtig. Ich trete aus dem
Militärlager von Gorom-Gorom ins Freie hinaus. Die
Bewohner eilen zu einem Felsplateau, unmittelbar vor
dem Lager: am Himmel ertönt der Lärm eines Heliko-
pters. Der Helikopter landet. Mohamed Maiga steigt aus,
in Begleitung eines andern Mannes, Kabud Buana aus
Kasai, Berater von Präsident Sankara. In Ti- n-Akof, in
Gorom, in Markoi lerne ich einen andern Mohamed Mai-
ga kennen: den 35-jährigen Malier Maiga, der mit allen
Fasern seines Körpers dieser Sahel- Erde verbunden ist.
Sein Vater, Beamter in Gao, hatte anfangs der sechziger
Jahre Streit mit seinen Vorgesetzten bekommen. Stolzer
Mann, der er war, begab er sich mit seiner ganzen Fami-
lie zum Clan seiner Frau. Dieser Clan besass Vieh. Der
kleine Mohamed nomadisiert von da an zusammen mit
seinem Bruder Alfa, seinen Schwestern und seinen Eltern
während mehrerer Jahre in den weiten Steppen des Niger-
Bogens. Und hier in Gorom-Gorom begriff ich plötzlich
die Kraft der Intelligenz, die Intuitionsgabe und die ana-
lytische Fähigkeit Maigas: er dachte immer mit seiner
Seele. Er liebte und kannte diese umherziehenden Ge-
meinschaften des Sahels, weil er von Geburt an Teil da-

44
von war; er kannte ihre bewundernswerte Hartnäckigkeit,
ihre glühenden Hoffnungen, ihre tiefe Weisheit.
Ein anderer Ort, eine andere Nacht: im Büro des be-
scheidenen Hauses von Präsident Sankara, in einem „En-
tente“ genannten Park gelegen, vergehen die Stunden.
Wir, das heisst Sankara, Maiga und ich, diskutieren seit
acht Uhr abends. Diese Diskussion werde ich nie verges-
sen. Sankara stellt Fragen und gibt Erläuterungen mit
einer Überzeugung, einer Offenheit und vor allem mit
einer klarsichtigen Schlichtheit, die wenigen Staatsmä n-
nern eigen sind. Ich habe diese Qualitäten im Verlauf der
letzten Jahre bei Thomas Borge, Fidel Castro, Ratsiraka
und Samora Machel angetroffen. Es wird spät. Es ist zwei
Uhr morgens: Maiga analysiert, erklärt, lässt nicht locker.
Zwischen dem Präsidenten und ihm, zwischen dem jun-
gen Hauptmann und dem Journalisten, fühle ich eine
dramatische Verschworenheit: der Journalist will, dass
der Präsident Erfolg hat, überlebt, seine kühne Wette ge-
winnt, hier im Herzen Afrikas eine demokratische, ge-
rechtere und freie Gesellschaft zu schaffen. Maiga ist
Afrikaner, er gehört zu jener Generation, die zuviel er-
hofft hat, zehnmal betrogen worden, wütend vor Schmerz
ist, und von der alten Kompradorenbourgeoisie, welche in
so vielen Ländern der Region an der Macht ist, erniedrigt
wurde. Maiga verlangt mit kaum verhüllten Worten und
mit unbeugsamer Entschiedenheit diesen Sieg. Sankara
seinerseits fordert Maiga ständig zur Stellungnahme her-
aus. Er duzt ihn mit Zuneigung. Er ist wie sein Bruder.
Die revolutionären Tribunale werden am 3. Januar zu
funktionieren beginnen. Sankara befürchtet Willkürmass-
nahmen. Er will weder Hass noch Rache, nur das Ende
der Korruption. Sankara ist aussergewöhnlich einsichts-
voll: er weiss um die bevorstehende Gefahr, dass die

45
westliche Presse sein Experiment diffamiert. „Du musst
hier bleiben“, sagt er zu Maiga. Maiga: „Ich kann nicht.
Ich muss zurückkehren.“ Resultat: Um drei Uhr morgens
telefoniert Sankara nach Paris, weckt Simon Malley, den
Direktor von „Afrique-Asie“. Maiga bleibt.
Einige Stunden später, in der gleichen Nacht noch, ruft
Arba Diallo, damals noch Aussenminister, aus New York
an. Ich benutze den Moment, wo der Hauptmann telefo-
niert, um Maiga zu ein paar Schritten im Freien zu bewe-
gen. Ich merke, dass er glücklich ist. Er wendet sich an
mich: „Nicht wahr, diese Leute sind grossartig?“ Er liebte
Sankara, Compaoré, Zongo, Lingani. Er war Afrikaner,
ein Mensch der Dritten Welt und er war stolz auf sie.
Am Neujahrstag, um acht Uhr morgens auf der Hotel-
terrasse: ich sitze mit Buana und Maiga zusammen. Wir
diskutieren über die Solidaritätsbotschaft, welche Sankara
zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Einmarsches von
Fidel Castro in die befreite Hauptstadt nach Havanna
schicken muss. Ich bin für eine „harte“ Fassung, die ohne
Zwischentöne die Zentralamerika- und Afrika-Politik der
Reagan-Administration angreift. Maiga ist vorsichtiger:
er sieht die unnötigen Schwierigkeiten, die allzu ent-
schiedene Worte dem jungen Regime Burkina-Fasos ma-
chen könnten. Um zehn Uhr bricht er zur Villa im „En-
tente“-Park auf. Mittags muss er bei seinen Cousins in
der Stadt essen. Um zwei Uhr ruft mich Sankara an: Mai-
ga ist tot, er war kopfvoran im Korridor der Wohnung
gestürzt. Doktor Pie Masumbuko, ein bewährter Freund,
Direktor der Weltgesundheitsorganisation für Westafrika,
wird gerufen: Pie Masumbuko macht zwanzig Minuten
lang Mund- zu-Mund-Beatmung. Aber er kann auch
nichts mehr ausrichten.

46
Der Tag geht zu Ende. Von überall her nähern sich
schweigend Männer und Frauen dem Militärlager am
Ausgang der Stadt, an der Strasse nach Bobo-Dioulasso.
Vor einem kleinen Betongebäude - dem Leichenscha u-
haus - haben Soldaten Bänke aufgestellt. Es ist kühl. Ein
Feuer wurde vor dem Gebäude angefacht. Am Himmel
glänzen Milliarden von Sternen. Die ungeheure Menge,
die sich in der Nacht wie ein unbewegliches Meer aus-
breitet, bleibt still. Alfa, der jüngere Bruder von Moha-
med ist da (die Frau von Mohamed und das ältere seiner
beiden Kinder werden am nächsten Tag kommen). Die
Familie ist hier, die Freunde, die Genossen... und hinter
ihnen, ein ganzes Volk. Der Freund von Sankara war
auch ihr Freund.

Die Hoffnung

Der revolutionäre Prozess Burkina-Fasos ist so kom-


plex, dass es praktisch unmöglich ist, ihn auf ein paar
Seiten zusammenfassend darzustellen. Es bestehen viele
Unsicherheiten: die Zukunft der CDR zum Beispiel, oder
auch die graduelle, aktive Zustimmung, welche die bäuer-
lichen Massen diesem Prozess geben oder nicht geben
werden. Die als Erbe der Vergangenheit übernommene
Verwaltung ist zu umfangreich. Die Handelsbilanz ist
beständig defizitär; nur 20% der Einfuhren werden durch
die Ausfuhren gedeckt. Aber eine Sache ist gewiss: die
Machtübernahme durch Thomas Sankara und seine
Freunde hat in allen Schichten der Bevölkerung eine un-
geheure Hoffnung entstehen lassen, ob eingestanden oder
nicht. Die in der Rede vom 2. Oktober 1983 - einer Art
Gründungscharta der Revolution - dargelegten Projekte,
die auf die Errichtung einer sozial gerechten Gesellschaft,

47
auf eine transethnische nationale Einheit, auf die Selbst-
versorgung mit Nahrungsmitteln, auf wirkliche staatliche
Unabhängigkeit und eine antiimperialistische Aussenpoli-
tik der Solidarität mit den kämpfenden Völkern abzielen,
gemessen die Zustimmung der grossen Mehrheit. Ich ha-
be die jungen nationalistischen Offiziere am Werk gese-
hen. Ihre Ausstrahlungskraft auf die Jugend der umlie-
genden Länder beunruhigt die Nachbarregierungen. Die
konservativen Regierungen Westafrikas sind bestrebt,
Burkina-Faso zu isolieren. In den internationale n Orga-
nismen - von grosser Bedeutung für die Lösung des Nah-
rungsmittelproblems - begegnet Burkina-Faso der Feind-
schaft der Vereinigten Staaten und dem Misstrauen
Frankreichs. Aber es ist offensichtlich: die freiheitslie-
benden Menschen der ganzen Welt haben jedes Interesse
daran, dass der Weg Burkina-Fasos erfolgreich sein wird;
er ist pluralistisch, demokratisch und national. Und vor
allem wird der revolutionäre Prozess von einer Führungs-
equipe geleitet, die aufrichtig und voll guten Willens alle
ihre Kräfte dem Ziel widmet, ein lange Zeit erniedrigtes
Volk aus der Arbeitslosigkeit, dem Elend und den immer
wiederkehrenden Hungersnöten herauszuführen. Bei
Sankara und seinen Weggefährten sehe ich menschliche
Qualitäten, die ich mehr als alle anderen schätze: die
Freiheit des Geistes, der leidenschaftliche Unabhängig-
keitswille, die Wahrhaftigkeit.

Mitten in der Hungersnot (1983) startete ein mit Fleisch


beladenes Flugzeug von Ouagadougou nach Angola. Da-
zu Sankara: „Wir haben Hunger, aber unsere angolani-
schen Genossen sind noch schlimmer dran... Sie sind von
den südafrikanischen Rassisten überfallen worden.“ Ok-
tober 1983: in seiner ersten grossen Erklärung zur Aus-

48
senpolitik nimmt Sankara Stellung für Nicaragua, für den
Befreiungskampf der Frente Farabundo Marti in EI Sal-
vador. Drei Tage vergehen. Dann ersucht Botschafter
Walker, Sondergesandter und ständiger Vertreter Präsi-
dent Reagans in Ouagadougou, um eine Audienz. Vor
dem Schreibtisch Sankaras stehend verliest er eine di-
plomatische Note: „Burkina-Faso versteht nichts von der
Lage in Zentralamerika. Es ist zu weit entfernt. Aber fährt
seine Regierung fort, sich in zentralamerikanische Ange-
legenheiten einzumischen, sähe sich die Regierung der
Vereinigten Staaten gezwungen, alle Zusammenarbeits-
verträge und Hilfsprogramme für dieses Land zu überprü-
fen.“ Schlicht und einfach eine Erpressung. Ausgeübt von
der militärisch, politisch und wirtschaftlich stärksten
Macht der Welt gegen das neuntärmste Land des Plane-
ten. Sankara hört zu, erhebt sich dann und sagt: „Ich habe
verstanden. Vielen Dank.“ Er öffnet die Türe. Walker
geht. Aufgrund eines merkwürdigen Zufalls des diploma-
tischen Kalenders musste Burkina-Faso drei Monate spä-
ter (am 1. Januar 1984) nicht-ständiges Mitglied des
UNO-Sicherheitsrates werden. Es behielt diesen Posten
reglementskonform während sechs Monaten. Während
dieser sechs Monate stimmte Burkina-Faso regelmässig
für Nicaragua und gegen die USA.

Starrköpfiger, wilder Unabhängigkeitswille. Zu wenig


„Realismus“ für ein kleines Land? Gewiss! Und dennoch
bewundernswert. Mit gleichem Elan verurteilt Sankara in
der Öffentlichkeit, was er die „skandalös ungenügende“
Hilfe der UdSSR an die Sahel-Länder nennt. Ismael Ka-
dare hat das Heldenepos über den Befreiungskampf der
Illyrer gegen die otomanische Hohe Pforte geschrieben,
der im 15. Jahrhundert an der Küste der Adria geführt

49
wurde. Über Skanderberg und dessen Gefährten sagte er:
„Sie ertragen die geringste Fremdherrschaft so schlecht,
dass sie sich wie die Tiger von den Wolken, die über ih-
ren Köpfen vorüberziehen, provozieren lassen und hoch-
springen, um sie zu zerreissen.“
Thomas Sankara und seine Genossen sind aus diesem
Holz geschnitzt.

50
Zweiter Teil
Gespräch zwischen Thomas Sankara und
Jean-Philippe Rapp

Jugenderinnerungen

Jean-Philippe Rapp: Staatschef werden - ist das eine


Entscheidung, die man in einer bestimmten Lage trifft?
Thomas Sankara: Es gibt Ereignisse, Gelegenheiten, bei
denen man sozusagen dem Volk begegnet. Man muss sie
tief in der Vergangenheit, im persönlichen Hintergrund
eines jeden suchen. Man beschliesst nicht, Staatschef zu
werden; man beschliesst, mit dieser oder jener Form von
Schikanen, von Kränkungen, mit einer Art von Ausbeu-
tung oder Herrschaft Schluss zu machen. Das ist alles.
Es ist etwa so, als ob jemand, der an einer ernsthaften
Krankheit wie zum Beispiel der Malaria gelitten hat, be-
schliesst, nun alle seine Energien der Entwicklung eines
Impfstoffes zu widmen, und wenn es ihm gelingt, ist er
der hervorragende, für ein Laboratorium verantwortliche
Wissenschaftler oder Chef eines spitzenmedizinischen
Teams geworden.
Ich auf jeden Fall bin mit einer festen Überzeugung
aufgebrochen: Man kann nur das gut bekämpfen, was
man gut kennt. Und einen Kampf kann man nur gewin-
nen, wenn man überzeugt ist, dass es ein gerechter Kampf
ist. Es ist nicht möglich, einen Kampf zu führen, den man
als Vorwand benutzt, als Hebel zur Macht. Denn im all-
gemeinen handelt es sich dabei um eine Schminke, die
rasch rissig wird. Man engagiert sich nicht an der Seite
der Volksmassen, um Staatschef zu werden. Man kämpft,
und dann bringt die Notwendigkeit, sich zu organisieren

51
es mit sich, dass jemand auf einem bestimmten Posten
gebraucht wird.

Aber weshalb gerade Sie?


Man muss sich davon überzeugen, dass man sich schla-
gen kann, dass man mutig genug ist, es für sich selbst zu
tun, aber vor allem, dass man genügend motiviert ist, es
für andere zu tun. Sie werden Menschen finden, die sich
entschlossen in einen Kampf stürzen und auch wissen,
wie man das anpackt. Aber sie machen das nur für sich
selbst und kommen deshalb nicht sehr weit.

Ist das für Sie eine Frage des Ansatzpunktes?


Ja. Da haben Sie politische Führer, die natürlich oder
künstlich geschaffene Ansatzpunkte halten - künstlich
sind sie, wenn sie in den Köpfen von Leuten entstehen,
die Trennmauern um sich errichtet haben. Diese Leute
sind auf jeden Fall von den Volksmassen abgeschnitten.
Sie mögen über eine gewisse Grosszügigkeit verfügen,
aber das macht aus ihnen noch keine Revolutionäre. Sie
können auf verschiedensten Ebenen Funktionären bege g-
nen, die sich unglücklich fühlen, weil man sie nicht ver-
steht, selbst wenn sie ihrer Sache offensichtlich ergeben
sind. Obwohl ihre Anstrengungen aufrichtig gemeint
sind, stösst ihr Tun auf kein Verständnis.
Gewisse Entwicklungshelfer aus Europa machen in et-
wa ähnliche Erfahrungen. Sie meinen es ebenfalls sehr
ehrlich, kennen aber Afrika nicht und begehen deswegen
Fehler, manchmal auch nur kleine Schnitzer, die aber
dennoch folgenreich sind. So kehren sie nach einem oft
mehrjährigen Aufenthalt nach Hause zurück und haben
die Nase voll von Afrika. Natürlich hat es ihnen keines-
wegs an Hochherzigkeit gefehlt, doch in ihrer Geistesha l-

52
tung haben sie etwas Herablassendes. Sie waren Schul-
meister, die Lektionen erteilen wollten.

Sie meinen also, dass man eine bestimmte Realität er-


lebt haben muss?
In der Tat gibt es andere führende Persönlichkeiten, die
das Glück haben, sich im Volk zu fühlen wie der Fisch
im Wasser. Daraus schöpfen sie die notwendigen Energi-
en. Sie wissen, dass sie mit dieser oder jener Entsche i-
dung dieses oder jenes Problem lösen, und dass diese
Lösung Tausenden, ja sogar Millionen von Leuten dient.
Sie kennen die Probleme sehr genau, ohne je an einer
soziologischen Fakultät studiert zu haben. Das verändert
die Wahrnehmung.

Aber aufgrund welcher konkreter persönlicher Erfahr-


ungen haben sie selbst diese Realitäten entdeckt?
Das waren verschiedene Erfahrungen. Zum Beispiel er-
innere ich mich an einen Mann, den ich gut gekannt habe.
Wir befanden uns mitten in der Dürreperiode. Um der
Hungersnot zu entgehen, legten me hrere Familien seines
Dorfes das wenige noch verbliebene Geld zusammen und
beauftragten den Mann, nach Ouagadougou zu gehen, um
ein wenig Nahrung zu kaufen. Er ist mit dem Fahrrad in
die Hauptstadt gefahren. Dort angekommen, musste er
mit der Stadt eine schmerzhafte und brutale Erfahrung
machen. Ohne Erfolg stand er Schlange, um zu erhalten,
was er wollte. Er sah, dass viele andere Personen vor ihm
dran kamen, um Hirse zu kaufen, nur weil sie französisch
redeten. Dann wurde ihm zu allem Unglück noch sein
Fahrrad und alles Geld gestohlen, das ihm die Leute vom
Dorf anvertraut hatten. Da hat er sich aus Verzweiflung
umgebracht. Aber das hat den Schlaf der Leute von Oua-

53
gadougou nicht gestört. Das war nur ein Toter mehr. Man
gräbt ein Loch, man schmeisst die Leiche hinein wie ein
unnützes Ding, das man los sein will.
Die Stadt hat munter weiter gelebt, in ihrer Gleichgül-
tigkeit, ja gar Unkenntnis dieses Dramas, während weit
weg Dutzende von Menschen, ganze Familien die glück-
liche Heimkehr des Mannes erwarteten, der ihrem Leben
zu neuem Schwung verhelfen sollte, jedoch nie mehr zu-
rückkehrte... Da fragt man sich: haben wir das Recht, sie
einfach im Stich zu lassen?

Das war ein Schock für Sie?


Ja, ich denke noch heute oft daran.

Aber haben Sie selbst solch ungleiche Verhältnisse er-


lebt oder haben sie so etwas nur bei anderen beobachtet?
Nein, ich habe das auch selbst erlebt. Als ich noch ganz
klein war, ging ich in Gaoa in die Volksschule. Der
Schuldirektor war ein Europäer und seine Kinder hatten
ein Fahrrad. Wir andern Kinder haben monatelang von
diesem Fahrrad geträumt. Beim Aufwachen hatten wir
dieses Fahrrad im Kopf, wir zeichneten es, wir versuc h-
ten, unser Bedürfnis zu verdrängen, aber es war immer
wieder da.
Wir machten alles, um das Fahrrad ausgesehen zu be-
kommen. Die Kinder des Direktors wollten Sand, um
eine Burg zu bauen, wir brachten ihn; wollten sie, dass
wir einen anderen Dienst erwiesen, rissen wir uns darum.
Und dies alles in der Hoffnung, einmal eine Runde dre-
hen zu dürfen. Wir waren gleich alt, aber nichts liess sich
machen.
Eines Tages wurde mir klar, dass alle unsere Bemühun-
gen vergebens waren; so habe ich mich des Fahrrads be-

54
mächtigt und mir gesagt: „Na ja, ich leiste mir jetzt ein-
mal das Vergnügen, komme was wolle...“

Mit welchen Folgen?


Sie haben meinen Vater verhaftet und ins Gefängnis
geworfen. Ich wurde aus der Schule rausgeworfen. Meine
Geschwister trauten sich nicht mehr, in die Schule zu
gehen. Es war ein totaler Terror. Wie sollen da nicht tief-
ste Gefühle der Ungerechtigkeit zwischen Kindern glei-
chen Alters entstehen?
Ein anderes Mal haben sie meinen Vater ins Gefängnis
geworfen, weil eine meiner Schwestern wilde Früchte
gepflückt hatte, indem sie Steine in den Baum warf. Eini-
ge fielen auf das Hausdach des Direktors und das störte
die Frau des Direktors bei der Siesta. Ich verstand schon,
dass sie nach einer guten, wohltuenden Mahlzeit ausru-
hen wollte und sich über eine solche Störung aufregte,
aber wir, wir wollten essen... Man hat sich aber nicht da-
mit begnügt, meinen Vater ins Gefängnis zu werfen, man
hat zudem einen Befehl erlassen, der, wem auch immer,
das Pflücken dieser Früchte verbot.

Wenn Sie heute Ihrem Vater begegnen, und er sieht,


was Sie geworden sind und was Sie unternehmen, was
meint er dazu?
Mein Vater ist ein ehemaliger Frontsoldat („ancien
combattant“). Er hat den Zweiten Weltkrieg mitgemacht
und ist von den Deutschen gefangengenommen worden.
Als ‘ancien combattant’ ist er natürlich der Meinung, wir
hätten noch nichts gesehen, das für sie alles schlimmer
gewesen sei. Sagen wir mal, dass unsere Gespräche eher
Zusammenstössen gleichen... (Gelächter)

55
Das bringt mich auf das Problem der Alten, die in den
traditionellen Gesellschaften eine grosse Rolle spielen
und denen es enorme Mühe bereiten muss, zu verstehen
und erst recht zu akzeptieren, was geschieht...
Diese Leute sind sehr zahlreich. Man muss ihnen immer
wieder ein paar kleine Aufmerksamkeiten widmen. Sie
sind überrascht, dass wir in bestimmten Botschaften von
ihnen sprechen.
Diese betagten Personen hatten das Gefühl, ausge-
schlossen zu werden, und das war für sie umso frustrie-
render, als sie in unserem Alter einen bewundernswerten
Mut an den Tag gelegt hatten. Heute ruhen sie auf ihren
Lorbeeren aus, aber es ist nur natürlich, dass wir ihnen
Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wir anerkennen ihre
Verdienste in der Vergangenheit, um auf die Dynamik
zählen zu können, die diese Personen mit einem einzigen
kleinen Wort in Gang setzen können.

Aber wie wollen Sie diese Leute integrieren?


Wir haben beschlossen, eine Struktur zu scha ffen, die
sich ihrer annehmen wird. Sie hat noch keinen Namen,
aber ihre Verantwortlichen sind jetzt schon bekannt. In
allen Provinzen entstehen provisorische Komitees, und
bald wird ein nationaler Kongress abgehalten, in dessen
Verlauf diese Alten ein nationales Büro auf die Beine
stellen werden. Strukturen und Weisungen werden die
Art der Beteiligung festlegen.

Ein Wille zur Öffnung?


Wir sind in Afrika, in einer Gesellschaft, wo die Feu-
dalherrschaft im weitesten Sinn des Wortes sehr stark ist.
Wenn der Alte, der Patriarch, gesprochen hat, gehorchen
alle. So sagen wir nun: „Ebenso wie die Jungen die jun-

56
gen Reaktionäre bekämpfen müssen, werden die alten
Reaktionäre von den alten Revolutionären bekämpft.“
Dies stösst sicher auf Grenzen ideologischer Natur, aber
wir gestehen ihnen diese Grenzen zu, sofern sie sich in
ihrem Gebiet gleichfalls um diejenigen kümmern, die sie
bekämpfen müssen.

Kommen wir auf Ihre Kindheit zurück, gibt es da ande-


re Erinnerungen, die ein Licht auf Ihre Persönlichkeit
werfen und Ihre Verhaltensweisen verständlich machen
können?
Ich ging ans Gymnasium von Bobo-Dioulasso. Der Rest
der Familie blieb in Gaoa. Als ich dort ankam, kannte ich
niemanden. Am Tag des Schulbeginns aber sagte man
uns, dass das Gymnasium aus administrativen Gründen
erst am nächsten Tag geöffnet würde. Da das Internat
ebenfalls noch geschlossen war, mussten wir selbst
schauen, wo wir unterkommen konnten. Mit dem Koffer
auf dem Kopf (ich war zu klein, um ihn auf andere Weise
tragen zu können) irrte ich in dieser Stadt umher, die für
mich einfach zu gross war. Ich wurde immer müder und
schliesslich stand ich vor einem bürgerlichen Haus. Im
Hof hatte es Autos und einen dicken Hund.
Ich klingelte. Der Herr kam heraus und musterte mich
von oben bis unten: „Sieh da, ein Kleiner, der einfach so
daher kommt; und weshalb, wenn man fragen darf?“ Ich
antwortete ihm: „Ich habe dieses Haus gesehen und ich
habe mir gesagt, hier übernachtest du.“ Er gab einen tie-
fen Seufzer von sich, besann sich aber nicht eines ande-
ren und gab sein Einverständnis. Er zeigte mir, wo ich
schlafen konnte, und gab mir zu essen; dann erklärte er
mir, er müsse noch weg, denn seine Frau sei in der Ge-

57
burtsklinik und stehe kurz vor der Entbindung. Am näch-
sten Tag packte ich meine Sachen, dankte ihm und ging.
Eines schönen Tages - ich war eben Minister geworden
- ernannte ich einen Generalsekretär für das Informati-
onsministerium. Da fragte ich ihn: „Kennen Sie mich
nicht?“ Er verneinte. Einen Monat später stellte ich ihm
die gleiche Frage und bekam die gleiche Antwort. Am
Tag, wo er seinen Posten aufgab, rief ich ihn an: „Sie
waren in der Radiostation von Bobo. Sie haben in diesem
und diesem Quartier gewohnt, sie hatten eine Ami 6 als
Auto. Sie haben mir die Türe geöffnet und zu essen gege-
ben. Ich war damals noch ziemlich klein, ich ging ins
Gymnasium.“ „Das waren also Sie?“ „Ja, das war ich.“
Er hiess Pierre Barry. Als ich damals sein Haus verliess,
sagte ich mir, dass ich diesem Mann früher oder später
einen Gefallen erweisen müsste, damit er wissen sollte,
dass seine Hilfsbereitschaft nicht nutzlos war. Ich habe
ihn gesucht und der Zufall hat das Seinige getan. Wir sind
uns wiederbegegnet. Heute ist er Rentner.

Grosszügigkeit, sicher; aber wahrscheinlich auch die


Entdeckung der eigenen Gewalttätigkeit?
Sehr früh schon habe ich mich gefragt, ob es die mut-
willige Bosheit gibt. Ich hatte seinerzeit einen Kamera-
den, der schwächer war als ich. Eines Tages nahm ich ihn
mit in den Busch und sagte zu ihm: „Jetzt werde ich dich
schlagen, einfach weil ich es beschlossen habe.“ Wir
zwei waren allein, er war mir ausgeliefert. Ich versichere
Ihnen, dass ich versucht habe, es zu tun. Ich wollte den
Mut finden, ihn zu schlagen. Dann begann ich zu weinen:
„Ich wollte dich töten, weil es doch einfach Gründe dafür
geben muss, dass ein Mensch den andern umbringt, da es
so viele machen.“ Die Handlung wurde nicht vollzogen.

58
Ich habe ihn nicht getötet. Heute lebt dieser Junge in Bo-
bo-Dioulasso. Aber ich bin mir bewusst, dass wir Men-
schen sehr böse sind. Nehmen Sie die Lüge, oder die Er-
niedrigung in all ihren Formen.

Aber kommt es vor, dass man die Notwendigkeit ver-


spürt, gewalttätig zu handeln?
Eine andere Erinnerung in diesem Zusammenhang. Ich
erlebte auf der Insel Réunion eine Szene mit, die mich
sehr traf und die mich heute noch verfolgt. Ich leistete zu
dieser Zeit dort Dienst als junger Offizier. Am 31. De-
zember wurde ein Ball organisiert. Ich ging hin, denn ich
amüsiere mich gern. Ich war mit einigen Hauptleuten an
einem Tisch. Zu meiner Rechten befand sich ein Major.
Man munkelte, dass seine Frau ihn mit einem Professor,
einem französischen Zivilisten, betrog. Tatsächlich tanzte
dieser Professor gerade zu jenem Zeitpunkt mit der Frau
des Majors, sie waren als einzige auf der Tanzfläche. Der
Offizier erhob sich, sehr würdig. Er sagte: „Genug“ und
trennte die beiden. Während der Professor das Lokal
fluchtartig verliess, beglückwünschte ich den Offizier und
erklärte ihm, dass er recht getan habe.
Dann sagte ich mir plötzlich, dass ich, anstatt den Major
zu beglückwünschen, dem Professor hätte eine Falle stel-
len müssen, weil diese Sorte Menschen von der Erde ver-
schwinden müssen. Er macht einen andern Mann todun-
glücklich, weil er dessen Frau verführt. Hätte sie ihn ver-
führt, dann hatte er zumindest nicht den Mut, Nein zu
sagen. Ich weiss, dass wir schliesslich gegen diese Art
Leute Entscheidungen treffen müssen. Man wird mir sa-
gen, das jener, der nie gesündigt hat, den ersten Stein
wirft. Nein! Auch wenn es uns nicht gelingen sollte, den
Ehebruch zu unterdrücken, werden wir Entscheidungen

59
treffen, nicht weil es einen Mann und eine Frau betrifft,
sondern weil ein Mann einen andern Mann betrogen hat.

Legen Sie grosses Gewicht auf Gesten?


Sehr viel. Als Präsident war General Lamizana wahr-
haft unzugänglich. Ich war damals ein junger Offizier,
stationiert in Pô. Zu dieser Zeit hatten wir kein Wasser.
Nicht zum Trinken und schon gar nicht, um unsere Kle i-
der zu waschen, die wir zu diesem Zweck nach Ouaga-
dougou schicken mussten. Ich tat alles, um diesem Zu-
stand abzuhelfen. Ich traf noch mit Priestern, mit Nicht-
Regierungsorganisationen, um Bohrungen zu veranlassen
und Brunnen zu graben. Aber nichts half. Ich sagte mir:
„Ich kann nicht verstehen, wie eine Regierung die Leute
in einem solchen Elend lassen kann.“ Eines Tages befahl
ich meinem Fahrer: „Machen Sie den Jeep fertig.“ Ich
rüstete mich aus und nahm meine Waffen. In dieser Zeit
in einem solchen Aufzug herumzureisen, war äusserst
auffällig und wurde rasch bemerkt. Im Kampfanzug
nahmen wir nun Kurs auf den Präsidentenpalast. In Oua-
gadougou angekommen, liess ich das Fahrzeug zunächst
vor dem CAMIVO anhalten, einem Geschäft für Ersatz-
teile und andere Artikel. Ich trat ein und sah sogleich eine
Motorpumpe. Ich begab mich zur Kasse.
„Ich will diese Pumpe kaufen.“ „Bezahlen sie sofort?“
„Nein, ich will eine Pro-Forma-Rechnung.“ „An welche
Adresse, bitte?“ „Schreiben Sie: Kommando, und fügen
sie in Klammern hinzu - Präsidentenpalast.“ „Was soll
das heissen?“ „Tun Sie es!“ „Einverstanden.“
Wir fuhren weg, der Fahrer und ich, in Richtung Präsi-
dentenpalast. Ich bat um Audienz.

60
War das ein alltäglicher Vorgang?
Damals war so etwas völlig unvorstellbar. Ein Besucher
wartete schon; wenn ich mich richtig erinnere, war es der
deutsche Botschafter. Als man mich bat, den Grund für
die gewünschte Audienz anzugeben, weigerte ich mich,
dies zu tun. Da wollte der Kabinettchef meine Bitte nicht
weiterleiten. Je mehr ich insistierte, umso standhafter
weigerte sich der. Schliesslich sagte ich zu ihm: „Wenn
Sie mich nicht vorlassen, müssen Sie die Verantwortung
dafür übernehmen, was geschieht.“ Ich war, vergessen
Sie das nicht, bewaffnet. Ich dachte, dass mein Verhalten
mich ins Gefängnis bringen würde, ich stellte mir sogar
vor, dass es zu einem Kampf käme. Die Verantwortlichen
benachrichtigten schliesslich den Präsidenten, der mir
mitteilen liess, ich solle warten. Ich habe in der Tat lange,
sehr lange gewartet, dann führte man mich hinein. Wohl
verstanden, ich war damals ein einfacher Leutnant. Der
Präsident war verblüfft. Ich sagte zu ihm: „Sie sind Gene-
ral, ich bin Leutnant, wir sind also beide Offiziere. Ich
habe Männer im Feld, die nichts zu trinken haben. Ich
will eine Motorpumpe, hier ist die Pro-Forma-
Rechnung.“ Er schaute mich lange schweigend an. Dann:
„Sind Sie nur deswegen gekommen?“ „Aus diesem und
keinem andern Grund.“ Er bohrte nach, dann unterschrieb
er den Check.
Ich grüsste, nahm meine Motorpumpe und ging
sogleich nach Pô zurück. „Versammelt die Männer, wir
haben gewonnen. Pumpt Wasser, lasst die Leute trinken.
Macht schon, damit wir diesem Elend ein Ende setzen.“

Überraschte Ihr Verhalten wirklich in einem System, wo


die persönlichen Beziehungen und die privaten Kontakte
eine so grosse Rolle spielen?

61
Wissen Sie, als General Lamizana seinen Check unter-
schrieb und mir übergab, las ich - oder ich glaubte es we-
nigstens - etwas in seinen Augen, was mich sehr berührte.
Tatsächlich handelte es sich für ihn bei dieser Summe
nicht um ein grosses Opfer. Damals verfügte der Präsi-
dent über eine schwarze Kasse, und was ich von ihm ver-
langte, stellte nur den dreihundertsten Teil dessen dar,
was er pro Trimester ausgeben konnte. (Die Motorpumpe
kostete 254’000 CFA [= SFr. l’270.-4 DM l’550.-1 Ich
erinnere mich sogar, dass er den Check irrtümlich auf
258’000 CFA ausstellte, und wir mit der Differenz Er-
satzteile kauften.)
Aber ich habe trotzdem begriffen, dass der Mann verär-
gert war. Ununterbrochen kamen Leute, die unter irgend-
einem Vorwand Geld verlangten. Vielleicht war er an
diesem Tag sogar froh, eine Geste machen zu können, die
nicht nur einer einzigen Person, sondern gleich mehreren
einen Dienst erwies. Und ich habe mir geschworen, ihm
das Geld wieder zurückzugeben.
Haben Sie mit ihm heute, da die Rollen vertauscht sind,
über diese Episode gesprochen?
Nein, ich habe nicht mit ihm darüber gesprochen, aber
er versteht nicht, weshalb ich ihm so grosse Aufmerk-
samkeit widme. Am 7. November 1982, als der Staats-
streich des CSP stattfand, hatte er schon zwei Jahre im
Gefängnis verbracht. Verschiedene Gruppen bekämpften
sich und Soldaten wollten die Dunkelheit ausnutzen, um
Leute zu eliminieren, namentlich ihn. Deshalb habe ich
persönlich interveniert, damit Sangoule Lamizana, Gérard
Kongo, Joseph Conombo und Toure Soumané ohne Ge-
fahr das Gefängnis verlassen konnten. Aber ich arrangier-
te es so, dass Sangoule Lamizana nichts zu wissen be-

62
kam, damit er sich mir gegenüber nicht zu Dank ver-
pflichtet fühlte.
Als Lamizana vor das TPR (Revolutionäres Volksge-
richt) kam, hatte ich einige Anklagepunkte gegen ihn. Es
hätte für eine Verurteilung gereicht. Er weiss nicht, war-
um ich nicht gegen ihn ausgesagt habe. Ich habe grossen
Respekt vor ihm und vor den andern, sogar vor Saye Zer-
bo, obwohl der im Gefängnis sitzt. Ich weiss, wohin die
Strafe rlasse des 4. August führen.

Beziehungen zum Ausland

Oberst Ghadhafi hat keine Mühe gescheut, Ihnen noch


vor der Machtübernahme seine Unterstützung zu geben.
Danach leistete er materielle Hilfe. Einige Leute halten
Sie für den Mann Libyens.
Ich war in Libyen und ich bewundere die Sozialpolitik
dieses Landes sehr. Offensichtlich ist das Erdöl der
Grund für den Bau so vieler Autobahnen, Spitäler, Uni-
versitäten und Sozialwohnungen. Aber Erdöl gab es lange
vor der Machtübemahme durch Oberst Ghadhafi, den-
noch befand sich dieses Land völlig am Rand.
Aus wirklicher Sorge um soziale Gerechtigkeit haben es
die jetzigen Führer geschafft, einer monarchischen, bür-
gerlichen und dem Grosskapital verschriebenen Minder-
heit die gesamten Reichtümer aus den Händen zu reissen,
um die grösstmögliche Zahl von Leuten davon profitieren
zu lassen.
Wir bewundern diese Haltung. Die Verteidigung einer
solchen Politik setzt Handlungsweisen voraus, deren
Kühnheit auf internationaler Ebene schockiert und An-
stoss erregt... Wie ein Stein, der in einen Teich der Ruhe
und Konventionen geworfen wird. Aber deswegen zu

63
behaupten, wir seien von Oberst Ghadhafi beeinflusst, ist
völlig falsch. Wir sind von Libyen nicht mehr beeinflusse
als vom Frankreich des Jahres 1789 zum Beispiel. Wir
sind den Amerikanern nicht enger verbunden als andern,
weil sie sagten: „Amerika den Amerikanern“, und wir
heute bekräftigen: „Afrika den Afrikanern.“ Wir stehen
zu den gerechten Anliegen, wo immer sie sein mögen.

Aber Sie verbergen nicht, dass Sie mit ihm Umgang ha-
ben?
Ich möchte Ihnen folgendes sagen: als jemand, der öf-
ters mit Oberst Ghadhafi zu tun hatte, kann ich Ihnen
versichern, dass man in Bezug auf die Haltung, die sie
einem gegenüber einnehmen, drei Kategorien von Staats-
chefs unterscheiden kann: einerseits gibt es jene, die sa-
gen, man solle nicht mit Ghadhafi verkehren, denn er sei
der Teufel in Person. Sie meiden ihn aus Überzeugung,
aber auf total hysterische Weise. In Tat und Wahrheit
handelt es sich bei ihnen um manipulierte Menschen,
unfähig, sich selbst ein Urteil zu bilden.
Die zweite Kategorie besteht aus denjenigen, die mit
Ghadhafi über Vermittlungspersonen in Kontakt stehen.
Wenn man eine Liste dieser Leute zusammenstellen
müsste, wäre sie lang. Alle diese Leute unterzeichnen
sehr lukrative Verträge mit ihm, machen aber gleichzeitig
gehässige Äusserungen und halten total engagierte Reden
gegen den gleichen Ghadhafi. Sie sind gezwungen, wahre
Weltreisen zu machen, um die Spuren zwischen ihnen
und Tripolis zu verwischen.
Drittens sind noch jene, die offen mit ihm verkehren.
Wir schämen uns nicht zu sagen, dass wir zu dieser drit-
ten Kategorie gehören. Nach unserer Ansicht ist es besser
zur Kategorie derjenigen zu gehören, die bereit sind, in

64
aller Öffentlichkeit zu verhandeln, denn so basiert alles
auf objektiveren Grundlagen. Ändern sich diese, werden
wir unsere Haltung ohne weiteres ändern.
Die andern hingegen müssen ständig auf der Hut sein,
wenn Oberst Ghadhafi Journalisten gegenüber sitzt. Wird
er über sie sprechen oder nicht? Sie befürchten, dass er
sie in der Öffentlichkeit denunziert. Wir haben keine sol-
chen Befürchtungen.

Burkina-Faso war Mitglied des UNO-Sicherheitsrates.


Sie selbst haben vor der Generalversammlung das Wort
ergriffen; welche Schlüsse ziehen Sie aus dieser Erfah-
rung?
Wäre ich nicht dorthin gegangen, hätte ich natürlich
nicht diese Erfahrung machen können; so ist auch ein
Unglück noch zu etwas nütze. Aber um die Wahrheit zu
sagen, man muss wirklich vermeiden, eine Ratte in diesen
Gängen zu werden, denn sehr rasch gerät man in die Falle
des internationalen Komplizentums, einer Art von Tole-
ranz, welche die Probleme der Leute in sterilen theoreti-
schen Wortgefechten zerredet.
Wenn Sie die Leute dort sehen, haben Sie den Ein-
druck, sie meinen es ernst, aber ich habe keinen so gros-
sen Spass daran, ihnen zu begegnen. Nur am Anfang habe
ich das Bedürfnis verspürt, mich dorthin zu begeben.
Jedenfalls waren wir tatsächlich Mitglied des
Sicherheitsrates. Wir dachten, dass, wenn schon unsere
Rolle in der UNO nicht die war, den Personalbestand zu
vervollständigen, wir den Mut haben sollten, im Namen
der Völker zu sprechen, die uns ihr Vertrauen geschenkt
hatten - Burkina-Faso erhielt die Stimme von 104
Ländern. Wir sollten ihre Interessen vertreten, speziell die
Interessen der blockfreien Länder. Denn ihre Interessen
wie auch jene der Völker, die sich gegen ihre Situation
65
auch jene der Völker, die sich gegen ihre Situation auf-
lehnen, müssen täglich mit Standhaftigkeit und Mut ver-
teidigt werden, wenn wir nicht wollen, dass die UNO
zum Resonanzkasten einer Handvoll mächtiger Trommler
wird.

Waren Sie deshalb Druckversuchen ausgesetzt? Der


Drohung, dass man Ihnen die Hilfe abschneidet?
Seinerzeit versuchte der Botschafter der USA zum Be i-
spiel, Druck auszuüben. Und zwar im Zusammenhang
mit Puerto Rico, Nicaragua, Grenada und einigen anderen
Fragen. Wir versicherten ihm unsere aufrichtige Freund-
schaft für das amerikanische Volk, sagten aber auch, dass
es nicht in dessen Interesse läge, Unglück über andere
Völker zu bringen. Wir fügten hinzu, unsere Freundschaft
sei so real, dass sie es uns verbiete, uns mit denjenigen zu
solidarisieren, welche die USA ohne Grund angreifen.
Ich muss noch aus intellektue ller Redlichkeit beifügen,
dass der amerikanische Botschafter im Anschluss an un-
sere Unterhaltung den Rückwärtsgang einlegte und seiner
Regierung unsere Haltung erläuterte.

Diese Druckversuche erfolgten, weil Sie dem UNO-


Sicherheitsrat angehört haben?
In der Tat, verschiedene Druckversuche in verschiede-
nen Formen, durch verschiedene Gruppen. Aber sollten
wir schweigen, wenn eine Grossmacht ein kleines Land
angreift, wenn ein Land ein anderes überfällt? Wir dach-
ten, dass wir im Namen all jener, die uns ihr Vertrauen
geschenkt haben, einen Kampf führen müssten, aber auch
im Namen derjenigen, die nicht für uns stimmten, weil sie
uns zuwenig gut kannten.

66
Und vom Resultat sind Sie befriedigt?
Wir haben die Positionen bezogen, die wir beziehen
mussten. Viele Leute haben uns so kennen gelernt.
Gleichzeitig hat es uns viele Feindschaften eingetragen.
Wir haben links wie rechts angegriffen, den Osten wie
den Westen. Jeder hat seinen Teil abbekommen. Hat es
etwas gebracht, wenn wir uns schon soviele Feinde
schafften? Mussten wir tatsächlich so viele Fronten eröff-
nen? Ich weiss es nicht.

In Ihrer Lage könnte Sie eine Grossmacht, welche die


Hilfeleistungen an Sie einstellt, in grosse Schwierigkeiten
bringen. Das trifft zum Beispiel für Frankreich, die USA,
die UdSSR und andere Länder zu, vor allem westliche...
Gerade deshalb sind wir gezwungen, gegen den Impe-
rialismus und seine Erscheinungsformen zu kämpfen. Für
den Imperialismus ist es wichtiger, uns kulturell zu domi-
nieren als militärisch. Die kulturelle Vorherrschaft ist die
geschmeidigste, wirkungsvollste und kostengünstigste.
Deshalb behaupten wir, dass es nicht nötig ist, bis an die
Zähne bewaffnete Söldner zu schicken, um das Regime in
Burkina-Faso zu stürzen; es genügt vollkommen, den
Import von Champagner, Lippenstiften und Nagellack zu
verbieten.

Das sind jedoch keine für die Burkinabés üblichen Pro-


dukte...
Einzig das Bürgertum ist heute davon überzeugt, dass
es ohne diese Produkte nicht auskommen kann. Wir müs-
sen daraufhin arbeiten, die Denkart der Leute zu entkolo-
nisieren, und für das Wohlergehen soweit Opfer zu brin-
gen, als es noch in unserem Rahmen liegt. Wir müssen
daran arbeiten, unserem Volk beizubringen, dass es sich

67
selbst, so wie es ist, akzeptiert, sich nicht der Realitäten
schämt, in denen es lebt, sich mit ihnen zufriedengibt und
sich ihrer sogar rühmt.
Man muss kohärent sein. Wir haben nicht gezögert, eine
Hilfeleistung der Sowjetunion abzulehnen, die, nach un-
serer Ansicht, nicht unserer Erwartung entsprach. Wir
haben uns mit den Sowjets ausgesprochen, und ich gla u-
be, wir haben uns verstanden. Aber man muss sich seine
Würde zu bewahren wissen.

Staatsbudget und Auslandschuld

Wenn man über ein Budget von 58 Milliarden Francs


CFA (29 Mio. SFr/136 Mio. DM) verfügt, wovon zwölf
Milliarden für den Schuldendienst bestimmt sind, ist es da
wirklich möglich, eine Planung und eine Strategie zu
entwerfen?
Ja, aber man stellt einfach und sehr brutal die Frage der
Wahl zwischen Champagner und Wasser.
Wir bemühen uns, um eine ungleiche Aufteilung he-
rumzukommen. Und was stellen wir fest? Ein Budget von
58 Milliarden; 30’000 Staatsangestellte, die davon 30
Milliarden monopolisieren, und nichts für die andern. Das
ist nicht normal. Wenn wir zuallererst Gerechtigkeit wo l-
len, muss jeder einsehen, wo unser Volk steht und welche
Opfer es bringen muss, damit sich die angestrebte Ge-
rechtigkeit verwirklichen lässt.
Wer sind nun diese 30’000 Staatsangestellten? Leute
wie ich. Nehmen Sie meinen Fall: von 1000 Kindern, die
im gleichen Jahr wie ich geboren wurden, ist die Hälfte in
den ersten drei Lebensmonaten gestorben. Ich hatte das
unverschämte Glück davonzukommen. Ich hatte auch das
Glück, in der Folge nicht Opfer einer jener Krankheiten

68
zu werden, die wir hier in Afrika kennen und die die
Menschen aus meinem Jahrgang weiter dezimiert haben.
Ich gehörte zu jenen 16 Kindern von 100, die zur Schu-
le gehen konnten. Das war eine weitere unerhörte Cha n-
ce. Ich gehörte zu jenen 18 von 100 Eingeschulten, die
bis zum Baccalauréat kamen und zu jenen 300 Jugendli-
chen im ganzen Land, die ins Ausland gehen, ihre Aus-
bildung vervollständigen und bei der Rückkehr sicher
sein konnten, einen Arbeitsplatz zu finden. Ich gehörte zu
den zwei auf 100 Soldaten, die in sozialer Hinsicht einen
stabilen und gut bezahlten Platz haben, weil ich Offizier
in einer Armee bin, wo dieser Grad etwas bedeutet.
Und nun machen Leute, die eine bestimmte Zahl ähnli-
cher Chancen hatten, diese 30’000 aus, in einem Land
von sieben Millionen Einwohnern? Und wir allein „pum-
pen“ mehr als 30 Milliarden aus der Staatskasse? Dieser
Zustand darf nicht mehr länger dauern.

Nicht zu reden von den andern Vorteilen!


Richtig, wir sind es, die in der Stadt leben, die den Ton
angeben, die der Weltöffentlichkeit erklären, was hier
geht, was nicht geht und wie man die Situation hier ein-
zuschätzen hat.
Wir sind es, die von Menschenrechten sprechen, von
der sinkenden Kaufkraft, vom Klima des Terrors. Wir
vergessen dabei, dass wir Tausende von Kindern zum
Tode verurteilt haben, weil wir nicht akzeptierten, dass
unsere Gehälter auch nur ein kleines bisschen gesenkt
werden sollten, um so eine kleine Gesundheitsstation zu
finanzieren. Und wir haben die Weltöffentlichkeit nicht
aufgerüttelt angesichts des Skandals, den diese Toten
darstellen. Wir tragen unsern Teil bei zur internationalen
Komplizenschaft des guten Gewissens. „Ich vergebe dir

69
deine Fehler, du vergibst mit die meinen. Ich schweige zu
deinen schmutzigen Geschäften. Du schweigst zu meinen
Untaten und wir beide gehören zu den sauberen Leuten.
Das ist wirklich das „gentlemen agreement“ des guten
Gewissens...“

Empörung ist eine Sache, aber wie kann man handeln?


Man muss wagen, der Realität ins Gesicht zu sehen,
dann muss man wagen, die über lange Jahre hinweg er-
worbenen Privilegien, auch wenn es schmerzt, beim Na-
men zu nennen; Privilegien, die schon so alt sind, dass sie
als natürlich erscheinen, als unanfechtbar. Bestimmt ge-
hen Sie so das Risiko ein, in der Presse heftig angegriffen
zu werden. Aber die sieben Millionen Bauern, die über
kein Sprachrohr verfügen, fragt man ja nie, ob sie mit
einer Strasse, einer kleinen Schule, einer Krankenstation
oder einem Brunnen zufrieden sind.

Aber was wollen Sie ohne internationale Hilfe und


Kredite machen, um die Struktur anzupassen?
Als wir 1983 an die Macht gelangten, waren die Staats-
kassen leer. Das Regime, welches wir stürzten, hatte mit
Frankreich einen Kredit zur Strukturanpassung in der
Höhe von ungefähr 3 Milliarden Francs CFA (15 Mio.
SFr./18,5 Mio. DM) ausgehandelt und erhalten. Nach
einigem Hin und Her hat man unseren Regime gegenüber
die Kreditzusage plötzlich wieder rückgängig gemacht.
Das war nicht leicht für uns, und ich kann Ihnen versi-
chern, dass seither niemand - weder Frankreich noch
sonst jemand - irgendeine Summe geliehen hätte. Wir
erhalten keinerlei Budgethilfe.

70
Wie können Sie unter diesen Umständen ein Budgetde-
fizit vermeiden?
Wir stopfen das Loch, indem wir vermeiden, dass es ein
Loch gibt... das heisst, wir verhindern, dass eine Diffe-
renz entsteht. Wir haben die Gehälter gesenkt. Die Kader
haben bis zu einem Monatslohn verloren. Die Staatsange-
stellten müssen auf einen Teil ihrer Entschädigungen ver-
zichten, was, wie Sie sich sicher vorstellen können, nir-
gends mit Beifall aufgenommen wird. Diese Opfer aufer-
legen wir auch den Regierungsmitgliedern, die wir dazu
anhalten, ein sehr bescheidenes Leben zu führen. Ein
Volksschullehrer, der Minister wird, erhält den Lohn ei-
nes Volksschullehrers, der Präsident im Range eines
Hauptmannes den Sold eines Hauptmannes, keinen Pfe n-
nig mehr.

Die Kraft des Beispiels also?


Ja. Stellen Sie sich vor, früher sprach man in diesem
Land davon, den 13., ja sogar den 14. Monatslohn einzu-
fahren.. Gleichzeitig starben Menschen, weil sie sich
nicht eine kleine Nivaquine-Tablette kaufen konnten...
Man sollte sich deshalb nicht darüber wundern, dass in
Frankreich eine Kampagne gegen die Negerkönige ent-
standen ist, die sich mit den Steuergeldern Autos kaufen
und Schlösser bauen lassen. Dies ist schlechtweg die Fol-
ge unserer eigenen Fehler, unserer eigenen Irrtümer.

Haben Sie gewusst, dass Burkinabes Entschädigungen


für Auslandaufenthalte erhielten (in ihrem eigenen Land),
oder Entschädigungen wegen Sonneneinstrahlung?
Andere bezogen als Gewerkschaftsfunktionäre Gehälter
in der Höhe von zwei- oder dreihunderttausend Francs
CFA (1’000--l’500 SFr./ 1’200-1’800 DM), und sie for-

71
derten gar noch Lohnerhöhungen, trotz der immensen
Summe, die sie ohnehin erhielten!
Wir mussten Opfer fordern; das heisst eine Gesin-
nungsänderung. Und wir haben noch nicht alles gemacht,
was möglich ist. Das war nur ein erster Schritt, andere
müssen folgen.

Aber können Sie in einer solchen Situation auch nur die


kleinsten Investitionen ins Auge fassen?
Durch die Lohnsenkungen, die Einschränkungen bei der
Lebenshaltung, aber auch, indem wir besser verwalten,
was wir haben, indem wir Unterschlagungen vermeiden,
ist es uns gelungen, einige Überschüsse zu erzielen, die
uns ein paar bescheidene Investitionen erlauben. Das aber
ist für uns schon ein Beweis, wie notwendig es ist, mit
diesen Anstrengungen fortzufahren. Wenn Sie wollen, ein
paar Zahlen: Unser Budget machen wir einmal pro Jahr,
aber alle vier Monate machen wir Kassensturz und stellen
Vergleiche an; so kann ich Ihnen sagen, wie sparsam wir
sind.
In den ersten vier Monaten des Jahres 1983 wies das
Budget (zu welchem wir schon im Rahmen des CSP et-
was sagen, jedoch nicht den Ton angeben konnten) ein
Defizit von 695 Millionen Francs CFA (3,5 Mio. SFr./4,3
Mio. DM) auf. In den ersten vier Monaten des Jahres
1984 betrug das Defizit nur noch eine Million CFA, aber
da hatten wir die Möglichkeit, es aufzustellen und auszu-
fahren.
In den ersten vier Monaten des Jahres 1985 hat es kein
Defizit mehr gegeben, sondern einen Überschuss von 1
Milliarde 985’000 Francs CFA (10 Mio. SFr./ 12,5 Mio.
DM), und wir machen in diesem Sinne weiter.

72
Aber was ist der Preis dafür?
Sich überall einschränken. Bei uns ist es zum Beispiel
verboten, nur auf eine Seite eines Blattes zu schreiben.
Unsere Minister reisen in der Economy-Klasse und sie
haben nur 15’000 Francs CFA (75 SFr./95 DM) Spesen
pro Tag. Für mich ist die Situation gleich, aber die Funk-
tion des Staatschefs bietet den Vorteil, dass man für mich
aufkommt, wenn ich im Ausland empfangen werde.
Unser Arbeitsminister begab sich vor einiger Zeit nach
Genf zu einer internationalen Konferenz. Sie wissen ja,
dass er mit 15’000 Francs CFA Spesengeld pro Tag dort
nicht übernachten konnte. Er musste sich deshalb im be-
nachbarten Frankreich eine bescheidene Wohnung mieten
und wohnte dort mit seinen Mitarbeitern. Das ist über-
haupt keine Schande. Vielleicht konnte er dank diesen
Bedingungen seine Mission sogar noch besser erfüllen,
als wenn er in einem Palast gewohnt hätte. Aber das ist
nur ein Beispiel unter vielen.

Vor einigen Monaten titelte SIDWAYA: „Wenn Lenin


gewusst hätte, was wir tun, hätte er uns geholfen“ Drückt
sich da nicht eine Enttäuschung über die Sowjetunion
und andere Länder aus?
Angesichts der Risiken, die wir eingehen - denn wir
führen hier eine wirkliche Revolution durch -, angesichts
auch dessen, was wir glauben, vielleicht auf unbesche i-
dene Weise, für Afrika darstellen zu können, begreifen
wir diese abwartende Haltung nicht, dieses Desinteresse,
diese mangelnde Bereitschaft, uns zu helfen, ausgerech-
net seitens derjenigen, die am meisten in Frage kämen, es
zu tun; denn von der ideologischen Ausrichtung her ge-
hören sie zum gleichen Lager wie wir.

73
Wir verstehen dies umso weniger, als man uns hier um
fünf Millionen Francs CFA (25’000 SFr./32’000 DM)
ersticken kann. Mehrere Male kamen wir nur knapp dar-
um herum, wichtige Dienstleistungsbetriebe schliessen
und die Leute arbeitslos machen zu müssen, weil uns ge-
rade diese Summe fehlte. Die Konsequenz wären Streiks
gewesen und Proteste und vielleicht auch - wenn dies von
ein paar schlauen Leuten ausgenutzt worden wäre - der
totale Sturz unserer Regierung.
Und dann, „ ein gebranntes Kind scheut das Feuer ... !“
wären Einschüchterungsmassnahmen ergriffen worden,
damit ein Regime wie unseres nicht mehr an die Macht
käme.

Es handelte sich also doch um eine Enttäuschung?


Der Artikel von SIDWAYA drückt dies bestimmt aus,
aber ich glaube handkehrum nicht, dass man von den an-
dern verlangen sollte, sich für uns zu opfern, ohne Rück-
sicht auf die eigenen Probleme, auch wenn diese nicht
vergleichbar sind. Die Betrübnis eines Menschen bei Ih-
nen, der in Ihrem Land entdeckt, dass der Wein nicht von
guter Qualität ist, ist genauso berechtigt wie diejenige
eines Menschen bei uns, der kein Wasser zu trinken hat.
Anderswo ist die Bevölkerung mit der Regierung unzu-
frieden, weil sie kein drittes, viertes oder fünfundzwan-
zigstes Fernsehprogramm geschaffen hat. Für uns ist das
kein Grund, von Ihnen zu verlangen, auf der Stelle zu
treten und auf uns zu warten, die wir höchstens eins ha-
ben...
Die andern Länder müssen mit ihren eigenen Proble-
men fertig werden. Und schliesslich - auch das muss ge-
sagt sein - machen wir unsere eigene Revolution. Also
umso besser oder schlechter für uns... Es liegt an uns, die

74
Verantwortung dafür zu tragen. Niemand hat von uns
verlangt, eine Revolution zu machen! Wir hätten auf un-
ser Land eine Hypothek aufnehmen können, wir hätten es
vermieten können. Irgendjemand hätte schon dafür be-
zahlt. Es war unser Entscheid, all diese Formen der Ent-
fremdung zurückzuweisen, also müssen wir auch den
Preis dafür bezahlen.

Also gilt es zu lernen, von der Mentalität eines Hilfe-


empfängers loszukommen?
Ja, man muss sich von dieser Mentalität lossagen. Wä-
ren wir nicht kolonisiert worden und hätten wir deshalb
keine Verbindungen zu Frankreich gehabt, mit welchem
Recht hätten wir von Frankreich etwas fordern dürfen?
Weshalb? In der Corréze, auf dem Larzac gibt es auch
Leute, die nicht glücklich sind...
Wir müssen also diese Mentalität verlieren, auch wenn
wir es im Namen irgendeines Internationalismus gerne
gesehen hätten, wenn die Hilfsgelder dorthin gingen, wo
sie nötig sind. Aber wir dür fen nicht vergessen, dass man
- ausser man sei Masochist oder Selbstmörder nicht sei-
nem Feind Hilfe leistet, ihm Waffen gibt, damit er über-
lebt, an Ausstrahlung gewinnt und seine Umgebung da-
von überzeugt, seinem Beispiel zu folgen. Jene, die Angst
davor haben, dass wir erfolgreich sind, sind sehr zahl-
reich. Sie stellen uns vor jede Art von Herausforderung.

Spielt die Zeit nicht gegen Sie?


Sie geben uns zum Beispiel weniger als ein Jahr, bis
unsere Kassen leer sind, wir die Staatsangestellten nicht
mehr bezahlen können und gezwungen sind, an den IMF
oder eine andere Organisation zu gelangen. Schritt für
Schritt, schlecht und recht, durchqueren wir dennoch die

75
Sturmperiode und kommen mit erhobenem Kopf heraus.
Sie geben uns dann einen weiteren Aufschub, in dessen
Verlauf es offensichtlich würde, dass wir scheitern müs-
sen. Mehr recht als schlecht können wir uns halten und
beweisen auf die Länge, in der Praxis, dass es auch ande-
re Schemas gibt, mit denen man die klassischen Formen
der Geldbeschaffung umgehen kann.

Aber was können denn die Burkinabés noch mehr tun?


Ein Übermass an Opfern beinhaltet die Gefahr, dass sie
sich gegen Sie wenden?
Nein, wenn Sie es verstehen, ein Beispiel zu geben. Wir
haben eine Kasse der revolutionären Solidarität gegrün-
det, in welche Tausende von Burkinabés einzahlen. Ihre
Spenden bedeuten eine bemerkenswerte Anstrengung,
damit unser Volk nicht um Nahrungsmittelhilfe betteln
muss. Diese Kasse hat es uns ermöglicht, die dringend-
sten Bedürfnisse zu decken, namentlich inbezug auf die
Überlebensprobleme der Bevölkerung der Sahelzone.

Die Nichtregierungsorganisationen und


die Auslandshilfe

Aber parallel dazu stellt sich die Frage der Ausland-


schulden. An der OAU-Konferenz von Addis-Abeba wa-
ren die Teilnehmer sehr gespalten in der Frage, welche
Haltung man gegenüber der Rückzahlung einnehmen
soll...
Was uns betrifft, so haben wir sehr klar gesagt, dass
man die Auslandschulden nicht zurückzahlen soll. Es
wäre nicht gerecht. Sie zu zahlen, hiesse einen Kriegstri-
but zweimal zu bezahlen. Woher kommt die Schuld über-
haupt? Man hat sie uns von aussen aufgezwungen. Haben

76
wir es nötig, Schlösser zu bauen, den Ärzten zu sagen, sie
müssten am Ende des Monats riesige Gehälter kassieren,
bei den Offizieren die Mentalität von überbezahlten Le u-
ten zu erzeugen?
Wir waren gezwungen, Verträge über sehr schwere
Schuldenlasten zu unterzeichnend, und die Produktions-
anlagen, die damit finanziert wurden, sind nicht immer
rund gelaufen. Wir haben wegen dieser Anlagen sehr
grosse finanzielle Verpflichtungen auf uns genommen,
obwohl sie manchmal von jenen, die uns das Geld gelie-
hen haben, selbst angeregt, vorgeschlagen, organisiert
und eingerichtet wurden.
Das ist ein ganzes System, inklusive Sturmabteilungen,
das ganz genau weiss, was man Ihnen vorschlagen muss.
Dann greift die schwere Artillerie ein, und wir müssen
immer mehr und mehr bezahlen. Das sind gute Kapitala n-
lagen für die Investoren. Sie plazieren ihr Geld nicht in
ihren eigenen Banken, das bringt ihnen nichts. Sie müs-
sen anderswo Bedürfnisse schaffen, damit die andern
bezahlen. Müssen wir diese oder jene Zigarette rauchen?
Man hat uns überzeugt, dass wir „dank dieser Marke die
stärksten Männer der Welt wären, die alle Frauen verfuh-
ren können“. Wir haben diese Zigaretten geraucht und
haben als Zugabe Krebs gekriegt. Und die mit den mei-
sten Privilegien sind nach Europa gereist, um sich heilen
zu lassen...

Aber hat die Weigerung, die Schulden zu bezahlen, ei-


nen Sinn, wenn dies nur ein oder zwei Staaten tun?
Tatsächlich ist es ja nicht ein einzelner wucherischer
Bankier, der uns zur Schuldenrückzahlung zwingen will,
sondern ein ganzes, gut organisiertes System. Für den
Fall, dass ihre Schulden nicht geregelt sind, besteht des-

77
halb die Möglichkeit, ihre Flugzeuge auf einem Flugha-
fen zu blockieren, oder sich zu weigern, ihnen ein absolut
notwendiges Ersatzteil zu schicken.
Die Schulden nicht zurückzuzahlen, erfordert also, dass
wir in einer Einheitsfront marschieren. Alle Staaten müs-
sen gemeinsam handeln, unter der Bedingung allerdings,
dass wir uns auf eine Selbstkritik einlassen, was die Ver-
waltung unserer eigenen Ressourcen betrifft. Wenn einige
riesige Schulden für persönliche Luxusaufwendungen
gemacht haben, verdienen sie es nicht, dass wir zu ihrer
Unterstützung mobilisieren.
Wir haben in unserer Botschaft an die OAU deutlich
gesagt: „Entweder wir organisieren einen kollektiven
Widerstand und weigern uns glatt, die Schulden zu be-
zahlen oder wir müssen sterben, jeder für sich, isoliert,
einer nach dem andern...“

Aber dieser Standpunkt wird nicht von allen einstimmig


geteilt?
Jeder von uns meint, der Schlauste, der Listigste zu
sein, obgleich er die Logik dieser gerechtfertigten Weige-
rung einsieht. Er umgeht sie, um den Geldgebern einen
Besuch abzustatten. Von da an wird man über sie sagen,
sie seien am besten organisiert, die modernsten, jene, die
ihren Verpflichtungen am besten nachkommen.
Man gibt ihnen weitere Kredite, um ihnen weitere Be-
dingungen zu diktieren. Wenn sich dann in den Strassen
Unmut breitmacht, schlägt man ihnen vor, Pöbel mit dem
Knüppel niederzuhalten...

78
Fürchten Sie angesichts der internen wirtschaftlichen
Massnahmen nicht eine gewalttätige Reaktion des Vol-
kes?
Die allgemeine Zustimmung zu unseren sicher wenig
populären Massnahmen zeigt das Wesen unserer Revolu-
tion auf - einer Revolution, die sich gegen kein Volk,
kein Land richtet, sondern zum Ziel hat, dem Volk von
Burkina-Faso seine Würde zurückzugeben und ihm - ge-
rade ihm - erlaubt, sein Glück nach von ihm bestimmten
Regeln zu machen. Wohlstand, Entwicklung werden an-
derswo in Form von Quoten gemessen; in Zentnern Stahl
pro Einwohner, in Tonnen Zement, in der Zahl von Tele-
fonanschlüssen.
Wir haben andere Werte. Wir haben keine Hemmungen
zu sagen, dass wir ein armes Land sind. Wenn wir vor
einer internationalen Organisation auftreten, haben wir
keine Angst, das Wort zu ergreifen und die Debatte zu
blockieren, weil wir den Beitrag der Mitgliedländer um
ein oder zwei Dollar ermässigen wollen. Wir wissen, dass
dies eine beträchtliche Zahl von andern Delegationen
imitiert, die in der Lage sind, Taus ende, ja Millionen von
Dollars aus dem Fenster zu werfen.
Und wenn wir einen Botschafter zur Entgegennahme
seines Beglaubigungsschreibens empfangen müssen, ma-
chen wir dies nicht mehr im Büro des Präsidenten, son-
dern wir führen ihn in den Busch, zu den Bauern. Er muss
chaotische Strassen benützen, er leidet unter Staub und
Durst. Dann empfangen wir ihn mit den Worten: „Eure
Exzellenz, Herr Botschafter, das ist Burkina-Faso, wie es
leibt und lebt, und mit ihm müssen Sie zurechtkommen,
nicht mit uns, die wir in den gepolsterten Büros sitzen.“
Wir haben ein Volk, das über seine eigene Weisheit,
seine eigenen Erfahrungen verfügt, ein Volk, dass selbst

79
seine Lebensweise bestimmen kann. Anderswo stirbt
man, weil man zuviel aufgetragen bekommt. Hier stirbt
man, weil man nicht genügend erhält. Dazwischen gibt es
eine Form des Lebens, die wir entdecken werden, wenn
jeder von uns einen Schritt nach dem andern macht.

Ein anderer Wirtschaftsfaktor, den man in Rechnung


stellen muss: die Entwicklung der Nichtregierungsorga-
nisationen (NRO). Man zählt in Burkina-Faso ungefähr
deren 600, davon allein 400 französische. Wie erklären
Sie sich diese Entwicklung?
Für mich haben die Nichtregierungsorganisationen po-
sitive und negative Seiten; vor allem aber widerspiegeln
sie das Sche itern der Beziehungen von Staat zu Staat wie
auch die Notwendigkeit für die Völker, andere Formen
des Kontakts und Dialogs zu suchen. Auch wenn es an-
derswo einen Minister für Zusammenarbeit, einen Mini-
ster für auswärtige Angelegenheiten oder einen Minister
für Aussenbeziehungen gibt, wird man andere Formen
suchen müssen; in politischer Hinsicht bedeutet dies
demnach, dass diese Minister unwirksam sind.
Sicher wissen wir, dass Nichtregierungsorganisationen
existieren, die Brutstätten für imperialistische Spionage
sind. Das Gegenteil zu behaupten, würde entweder von
einer völligen Naivität zeugen oder vom angestrengten
Bemühen, die Augen vor der Realität verschliessen zu
wollen. Aber es geht nicht nur darum. Bei vielen handelt
es sich um Organisationen, wo Männer und Frauen den
idealen Ort gefunden zu haben glauben, um sich auszu-
drücken, um etwas bringen zu können, weil sie von Lä n-
dern gehört haben, die leiden, während sie sich selbst
unter dem Gewicht der Kalorien und des Luxus in ihrer

80
Haut nicht wohl fühlen. Sie spüren das Bedürfnis, etwas
Gutes zu tun.

Riskiert man nicht eine gewisse Unordnung, die mit gu-


tem Willen allein nicht zu verbessern ist?
Hier haben wir uns gesagt: „Die NRO kommen, wir
müssen sie organisieren. „ Tun wir das nicht, kann die
Situation sehr gefährlich werden. Früher haben sich diese
Organisationen im Zusammenhang mit der wahlpoliti-
schen Einteilung des Landes eingerichtet. Hier befindet
sich die Hochburg eines wichtigen Politikers: Also wer-
den hier Brunnen gegraben, auch wenn man alle 25 cm
einen machen muss, während andernorts, wo ein wirkli-
ches Bedürfnis existiert, nichts geschieht, weil es im Dorf
keinen Sohn mit genügend Ansehen gibt.
Die NRO haben sich auch gezwungen gefühlt, je nach-
dem einen Brunnen auf englische, deutsche oder franzö-
sische Art zu machen, und dies für Wasser, das man nach
Art der Burkinabé trinkt. Sie weigerten sich, gegenseitig
die notwendigen Informationen auszutauschen und zogen
es vor, jeden wieder mit den gleichen Fehlern beginnen
zu lassen, bloss um dann sagen zu können: „Sehen Sie
nur, diese Leute haben keine Ahnung...“

Aber müssen die NRO nicht auch eine heikle und


schwierige Politik betreiben?
Sie haben oft Fehler bega ngen, gerade weil sie sich dies
nicht einzugestehen wagten und den lokalen Führern sag-
ten: „Hören Sie, meine Herren, wir sind aus diesem oder
jenem ganz präzisen Grund hierher gekommen. Wenn Sie
mit uns einverstanden sind, spielen wir mit. Wenn nicht,
packen wir zusammen und suchen anderswo Arbeit.“
Manchmal wurde ihr Entgegenkommen zur Komplizen-

81
schaft. Für einige war es das Wichtigste, eine gute Presse
zu haben, um in Europa sagen zu können: „Seht, gute
Leute, wir sind daran, ein paar Seelen zu retten. Gebt uns
eine kleine Spende, Gott wird es Euch vergelten...... wäh-
rend sie in Wirklichkeit das politische Spiel dieses Abge-
ordneten oder jenes Senatoren mitmachten, der damit
seine politische Ausstrahlung unter Beweis stellen konn-
te.

Nach Ihrer Ansicht haben die NRO also die Lokalpolitik


durcheinandergebracht?
Sie hatten vor allem nicht den Mut, diejenigen vor den
Kopf zu stossen, die schlecht handelten. Resultat: Sie
kamen hier an, man sagte ihnen: „Sie kommen aus Euro-
pa, sehr gut... Sie haben Geld und wollen dem Land he l-
fen, Bravo! Genau das muss man hier tun, denn die Leute
verhungern... Aber Sie brauchen bestimmt ein Büro, mie-
ten Sie meines... Sie brauchen einen einheimischen Di-
rektor, denn wir müssen die Ablösung sichern können,
ich habe da gerade einen Vetter, der darauf wartet... Als
Telefonistin habe ich eine Cousine, Adjutant wird mein
Neffe sein...“ Mit einem Wort, sie bringen ihr ganzes
Dorf mit. Sie selbst sind zufrieden, denn man spricht von
Ihrer Aktion in Frankreich oder in der Schweiz; er ist
zufrieden, denn er kann in sein Dorf gehen und sagen:
„Wenn ihr klug seid und für mich stimmt, kann ich euch
Pulvermilch bringen.“ Die Milch kommt, und jedermann
ist begeistert von der Leistung desjenigen, der solche
Wunder vollbringt.

82
Aber welche Vorkehrungen kann man gegen solche
Situationen treffen.
Auch das braucht einen Kampf. Deshalb haben wir ein
Büro „zur Begleitung der Nichtregierungsorganisationen“
geschaffen. Es geht nicht darum, sie am Leben, am nor-
malen Funktionieren zu hindern, denn sie brauchen eine
gewissen Geschmeidigkeit, schon wegen der Art ihrer
Mittelbeschaffung und ihres Arbeitsstiles. Aber sie müs-
sen alle von den Erfahrungen profitieren können, die jene
machten, welche zuerst da waren. Man muss ihnen ange-
ben können, wo ihr Einsatz am wirkungsvollsten, am
nützlichsten ist und wie das geschehen kann.

Unter welchen Bedingungen akzeptiert Ihre Regierung


internationale Hilfe?
Wir akzeptieren Hilfe, wenn sie unsere Unabhängigkeit
und unsere Würde respektiert. Wir lehnen Hilfe ab, die
uns unser Bewusstsein abkaufen will und nur den Führern
Vorteile verschafft. Wenn Sie uns Hilfe leisten, damit wir
Ihre Produkte leichter kaufen oder einige von uns ein
Bankkonto in Ihrem Land eröffnen können, lehnen wir
ab.

Landwirtschaft und Umwelt

In Ihrem Land stellt sich das Nahrungsmittelproblem


auf dramatische Art. Die Unterernährung betrifft zum
Beispiel mehr als 50% der Kinder und die durchschnittli-
che Ration pro Tag beträgt 1’875 Kalorien, was 79% der
aus Gesundheitsgründen empfohlenen Menge entspricht.
Was können Sie tun?
Der Hunger ist in der Tat seit vielen Jahren ein zyklisch
auftauchendes Problem in Burkina-Faso. Das widerspie-

83
gelt auch unsern Organisationsmangel und die geringe
Beachtung der ländlichen Welt. Das Problem entspringt
zudem einer ungenügenden Produktion als Folge der fort-
schreitenden Verschlechterung des Bodens, des Bevölke-
rungswachstums, aber auch des unregelmässigen und
seltenen Regens. Dazu kommt noch die Spekulation. Wir
stehen also einem Komplex von physischen und sozialpo-
litischen Problemen gegenüber, die man alle gleichzeitig
lösen muss. Wir gedenken, technische und politische
Massnahmen zu ergreifen, damit die Landwirtschaft nicht
mehr eine zufallsbedingte Erscheinung darstellt, sondern
zu einer Quelle des Reichtums wird. Wir wollen von der
Sicherung der Ernährung zur Selbstversorgung voran-
schreiten, um eines Tages eine Macht im Nahrungsmittel-
sektor zu werden.

Ein ehrgeiziges Programm; wie wollen Sie es realisie-


ren?
Zunächst handelt es sich darum, die ländliche Welt da-
für zu interessieren, sie für die Produktion zu organisie-
ren, indem wir sie auf technischer und organisatorischer
Ebene unterstützen. Ein Beispiel: die Getreidevermark-
tung war früher völlig anarchistisch, zur Freude der Spe-
kulanten und zum Unglück der Konsumenten. Wir ken-
nen Abertausende von Bauern, die in der schwierigen
Übergangszeit zwischen zwei Getreideernten ihre Felder
Wucherern und Kapitalisten jeglichen Kalibers überlas-
sen haben. Diese konnten so auf bessere Zeiten spekulie-
ren. Als Gegenmassnahme haben wir den Boden nationa-
lisiert.

84
Über 90% der Bevölkerung lebt auf dem Land. Die La-
ge ist ausserordentlich schwierig: schlechter Boden,
Mangel an Kulturland, zuwenig Wasserstellen. Wie sieht
Ihr Plan für die ländliche Entwicklung aus?
Die Entwicklung geht über die Lösung unterschiedli-
cher Probleme. Zuerst müssen wir das Wasser in den
Griff bekommen; wir bauen gegenwärtig zahlreiche klei-
ne Rückhaltebecken, kleine Dämme. Aber wir müssen
auch die Produktionsfaktoren beherrschen lernen, an-
spornende Absatzmöglichkeiten schaffen, eine Nah-
rungsmittelindustrie auf die Beine stellen, die fähig ist,
die Produktio n aufzunehmen und ihre Produkte zu kon-
servieren; die Verteilung vor Ort muss verbessert werden,
um saisonalen oder regionalen Mangel zu verhindern.
Schliesslich, warum auch nicht, wollen wir die Export-
möglichkeiten auf andere Märkte erweitern.
Wir bevorzugen nicht grosse industrielle Einheiten. Eu-
re Automatisierung beseitigt nur Arbeitsplätze und erfor-
dert die Mobilisierung grosser Kapitalien, über die wir
nicht verfügen. Schliesslich stellt sich auch das Problem
der Aufrechterhaltung dieser Technologie. Ein einziges
fehlendes Ersatzteil kann uns zwingen, ein Flugzeug nach
Europa zu schicken, weil es bei uns kein Ersatzteil gibt.

Sie beabsichtigen eine Erhöhung der Produktion von


Nährpflanzen?
Bei den Zitrusfrüchten, dem Gemüseanbau, der Vieh-
zucht bietet unser Land Möglichkeiten, die zusammen
mit dem Know-How der Leute, die sich anderswo schon
in solche Aktivitäten gestürzt haben, sehr schöne Resulta-
te zeitigen können. Wir sind nicht gegen das private Un-
ternehmertum, wenn es unsere Ehre, unsere Würde und
unsere Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt. Wir hätten

85
nichts einzuwenden, falls jemand von aussen sich mit
Burkinabés (im öffentlichen oder privaten Sektor) zu-
sammentäte, um sich an der Entwicklung des Landes zu
beteiligen.

In welchem Tempo wollen Sie dies alles anpacken?


In einem uns entsprechenden. Wir ziehen bei weitem
kleine Einheiten im Bereich von Industrie und Handwerk
vor: Manufakturen, Werkstätten, welche Arbeitskräfte
mit kurzer Ausbildungszeit beschäftigen. Wegen ihrer
geringen Grösse können sie sich näher bei den Anbauzo-
nen ansiedeln. Wir ziehen die „Töff- Töff“-Maschinen
den elektronischen vor.

Sie bauen Bohnen an; dies ist aber eine Exportkultur,


die stark von internationalen Zufälligkeiten abhängt..
Auch etwas Schlechtes hat seine guten Seiten. Die Bo h-
nen sind für uns in der Tat ein Problem, welches für sich
das Verdienst in Anspruch nehmen kann, die Realitäten
der kapitalistischen Welt blosszustellen, aber auch das
Bild, das man sich im Ausland von unserer Revolution
macht. Über diesen Umweg konnten wir die Pressure-
Groups entlarven, die Burkina-Faso um jeden Preis im
Schoss der Abhängigkeit halten wollen, die mit einem
bestimmten Typ von Exportwirtschaft verbunden ist.

Können Sie uns dazu konkrete Beispiele geben?


Die grünen Bohnen werden in der Gegend von Kougas-
si angebaut, und zwar seit langem. Es ist eine recht gute
Produktion, die in Europa, besonders in Frankreich, re-
gelmässig Absatz fand. Dies wohl gemerkt in Verbindung
mit Fluggesellschaften: UTA (Union de Transport adri-
en), eine französische Gesellschaft, Air Afrique, eine

86
multinationale afrikanische Gesellschaft, die aber im we-
sentlichen von Frankreich kontrolliert wird. 1984 stellten
wir fest, dass die Bohnenkulturen trotz mittelmässiger
Regenfälle zwar prächtig gediehen, aber die Fluggesell-
schaften sich weigerten, die Ernte zu übernehmen. Bo h-
nen sind verderblich. So kamen täglich um die dreissig
Tonnen Bohnen nach Ouagadougou, aber wir konnten
höchstens 20 Tonnen exportieren... Resultat: in weniger
als einer Woche fingen auf dem Flugha fen über 400 To n-
nen Bohnen an zu faulen, denn wir hatten keine Lokalität,
um sie zu lagern und zu konservieren. Die Fluggesell-
schaften behaupteten, dass sie wegen anderer Flüge aus-
gelastet gewesen seien. Wir meinen aber, dass, wenn es
eine Zusammenarbeit zwischen uns und den Fluggesell-
schaften (insbesondere der Air Afrique, an welcher wir
als souveräner Staat beteiligt sind) geben soll, diese im-
stande sein sollten, Opfer zu bringen: etwa bestimmte
Vergnügungsflüge ausfallen zu lassen, um die Einkom-
men jener armen Bauern zu sichern, die Blut und Wasser
geschwitzt haben, um die Bohnen zu pflanzen, die auch
bewiesen haben, dass sie etwas können.
Abgesehen davon werden unsere Bohnen in Europa so-
fort als Produkte zweiter Qualität klassiert. Doch wir wis-
sen sehr gut, dass diese Bohnen anschliessend aufbereitet
werden und unter einem andern Markennamen auf den
Markt kommen. Es handelt sich hier einfach um Erpres-
sung der primitivsten Art. Wir können die Bohnen ja
nicht mehr zurücktransportieren und müssen sie zu jedem
Preis verschleudern.

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Glauben Sie, dass diese Situation politische Hinter-
gründe hat?
Es gibt auch Gründe dieser Art. Ein systematischer
Boykott der Exporte aus Burkina-Faso ist organisiert
worden, um uns wirtschaftlich zu erdrosseln und uns
Schwierigkeiten mit den Bauern einzubringen.

Ist dies das einzige Beispiel?


Bestimmt nicht. Nehmen Sie zum Beispiel das Vieh.
Unser Land ist ein grosser Viehexporteur, jedoch haben
wir gegenwärtig auch hier Probleme. Man weigert sich,
uns das Vieh abzukaufen, oder man stellt so unakzeptable
Bedingungen, dass wir selbst den Export ablehnen müs-
sen.
Aber es finden auch Boykotte auf dem Importsektor
statt. Vor allem für Materialien, die wir dringend brau-
chen. Druck wurde ausgeübt, damit wir nicht Zement
einfuhren konnten, der für Arbeiten im Interesse der All-
gemeinheit benötigt wird. Man weiss genau, dass die
Weigerung diese Materialien zu liefern, unausweichlich
eine Menge von Arbeitern auf unsere Baustellen gegen
uns aufbringen wird, weil sie uns für Demagogen halten
werden. Wir haben sowohl bei den einen wie den andern
Informations- und Goodwill- Touren durchgeführt, um zu
erläutern, dass sich unsere Revolution gegen kein Volk
richtet und es keinen Grund gibt, uns anzugreifen. In Zu-
kunft sehen wir uns aber gezwungen, solch provokatori-
sche Verhaltensweisen als „casus belli“ zu betrachten.

Sind diese Blockaden nicht Ihrer internationalen Posi-


tionen wegen entstanden?
Sie haben recht. Unsere Positionen sind nicht überall
auf Beifall gestossen; aber wir sind hier in einem Dilem-

88
ma: entweder wir verschweigen unsere Positionen, die
wir für richtig halten, wir lügen also bewusst, um in die
Gunst jener zu gelangen, die uns helfen können, um unse-
re heiklen und mächtigen Partner zu befriedigen; oder wir
sagen die Wahrheit, in der tiefen Überzeugung, dass wir
so unserm Volk und andern dienen.
Wird in Europa gestreikt, sind nicht wir es, welche die
betroffenen Arbeiter angestachelt haben, in solcher Weise
gegen diesen oder jenen Industriellen vorzugehen. Nein.
Aber wir wissen, dass dabei die legitimen Interessen der
Arbeiter verteidigt werden. Man muss solidarisch sein
können, obwohl es in keinem direkten Zusammenhang
mit uns steht.

Ein drängendes Problem in Burkina-Faso ist die lang-


same, aber unausweichliche Umweltzerstörung. Was
können Sie tun, um das Übel an der Wurzel zu packen?
Die afrikanische Gesellschaften, die einen jähen Bruch
mit ihrer Kultur erleben, passen sich nur sehr schlecht
ihren neuen Verhältnissen an. Diese erforderten ganz an-
dere wirtschaftliche Massnahmen. Die Bevölkerung ist
gewachsen; die Bedürfnisse ebenfalls, und die natürliche
Welt, an die wir gewöhnt waren (Ausbreitung der Wäl-
der, Sammlerkultur, usw.), existiert immer weniger.
Wir sind zu grossen Raubbauern geworden. Ein Be i-
spiel: Der jährliche Verbrauch an Brennholz entspricht,
würde man es auf herkömmliche Transportkarren laden,
einem Konvoi, dessen Länge das 4,5-fache der Distanz
zwischen dem nördlichsten und dem südlichsten Punkt
von Afrika ausmacht. Kann man zulassen, dass die Leute
solche Verwüstungen anric hten? Aber kann man es ihnen
handkehrum verbieten, wenn man weiss, dass das Holz
hier die wichtigste Energiequelle darstellt? Wir stehen

89
vor neuen Bedürfnissen, vor einem neuartigen demogra-
phischen, soziologischen Druck, und wir haben die ric h-
tigen Mittel, um ihm zu begegnen, nicht gefunden.
Anderswo hat die Entwaldung auch zu Verwüstungen
geführt, aber es war möglich, wieder aufzuforsten und
vor allem Ersatzprodukte zu finden. Wir aber besitzen nur
diese einzige Energiequelle. Heute müssen wir ständig
jedem die Pflicht in Erinnerung rufen, die Natur sich re-
generieren zu lassen und sie zu pflegen. Der galoppieren-
de und katastrophale Vormarsch der Wüste, dessen Aus-
wirkungen die Bewohner nun zu spüren bekommen, hilft
uns bei der Beweisführung.

Die zu erklären, zu überzeugen versuchen, ist eine Sa-


che, aber welche praktischen Massnahmen sind zu er-
greifen?
Nachdem wir dieses Phänomen, seine Gründe und Er-
scheinungsformen, detailliert analysiert haben, sind wir
zum Schluss gekommen, dass es für uns nur eine Lösung
gibt: drakonische Massnahmen. Sie sind deswegen dra-
konisch, weil sie das betreffen, was die Leute für ihre
unmittelbare Freiheit halten, aber wir meinen, dass wir
damit auf längere Sicht die kollektive Freiheit sichern.
Wir haben daher eine Kampagne lancie rt, die wir „die
drei Kämpfe“ nennen...
Zunächst verbieten wir den wilden und anarchistischen
Kahlschlag. Der Holzschlag muss in einem von Speziali-
sten genau umschriebenen Umkreis vorgenommen wer-
den, und zwar derart, dass eine gewisse Regulierung
möglich ist. Sie können nicht einfach Holz schlagen, nur
weil es wenige Meter von ihnen weg wächst. Sie werden
sogar, falls nötig, fünf Kilometer gehen, weil sich dort
eine ausreichende Menge Holz befindet.

90
Um der Situation Herr zu werden, haben wir den Trans-
port von Holz untersucht, ausser für jene Fahrzeuge, die
eine spezielle und klare Kennzeichnung haben, so dass
sich die Zahl der Leute, welche Holzhandel betreiben,
begrenzen, kontrollieren und schliesslich auf technischer
Ebene leicht erfa ssen lässt.
Zweiter Kampf: wir haben die freie Weidehaltung der
Tiere untersagt, neben dem Menschen die andere wichti-
ge Ursache dieser anarchischen Zerstörung. Auch hier
haben wir sehr drakonische Entscheide fällen müssen, ich
gebe das zu, aber man kann nichts ausrichten, solange
man nicht mit rigorosen Schemas gegen die herkömmli-
che Mentalität vorgeht. Wir haben beschlossen, dass man
ohne weitere Umstände jedes Tier töten kann, das beim
Fressen von Pflanzungen erwischt wird. Damit wollen
wir die Viehzüchter zwingen, rationellere Methoden an-
zuwenden. Gegenwärtig ist unsere Form der Viehzucht
noch sehr beschaulich. Man ist zufrieden, 5’000 Tiere zu
haben, ohne sich über deren Ernährung den Kopf zu zer-
brechen, selbst um den Preis der Verwüstung von Feldern
anderer oder von Wäldern, wo die allerjüngsten Triebe
abgefressen werden. Jeder ist auf egoistische Weise stolz
auf seine grosse Anzahl Rinder. Diese Tiere bringen in
Wirklichkeit selbst in grosser Zahl keinen grossen Reic h-
tum, weder vom Gewicht, noch von der Milch oder Ar-
beitskraft her. Sie sind von kümmerlicher Gestalt.
Man muss die Züchter dazu bringen, sich die Frage zu
stellen: „Wieviel kostet mich meine Aufzucht und wel-
ches ist der optimale Viehbestand, um den grössten Er-
trag und den kleinsten Aufwand zu haben?“

91
Aber riskieren Sie mit solchen Mitteln nicht, einem
Missbrauch Vorschub zu leisten?
Es gab in der Tat, ich muss das eingestehen, schmerz-
hafte Beispiele von Viehzüchtern, die ins Unglück ge-
stürzt wurden, weil Pflanzer ihre Tiere getötet haben. Sie
haben den Eindruck, in eine Falle geraten zu sein, da
boshafte und hinterlistige Bauern ihre Pflanzungen mit
Absicht in der Nähe der Tiere anlegen und diesen dann
mit dem Knüppel in der Hand auflauern. Wir müssen
solche Dinge durchstehen. Ich weiss, dass ich nicht über
das Patentrezept verfüge, aber auch wenn meine Ent-
scheide nur zu 60% richtig sind, fälle ich sie. Und in die-
ser Frage hegen wir nach meiner Ansicht über diesem
Prozentsatz.

Verbote und Zwang, gibt es auch ein konstruktives Vor-


gehen?
Da ist die Wiederaufforstung, ein positiver Akt zur
Wiederbelebung der Natur. Wir haben verfügt, dass alle
Städte, alle Dörfer einen Waldbestand haben sollen. In
der afrikanischen Tradition gibt es eine Form von Natur-
schutz, ein sozio-ökologisches System: der heilige Wald.
Dort wurde eine bestimmte Zahl von Riten vollzogen,
vor allem Initiationsriten. Aus mythologischer und animi-
stischer Sicht hatten diese Wälder eine angebliche Macht,
welche sie beschützte. Aber zum gleichen Zeitpunkt, wo
diese Werte dem Modernismus weichen mussten, einer
Art Cartesianismus und selbst anderen Religionen, zur
gleichen Zeit versagte der Schutz und damit verschwan-
den diese Wälder. Der Schutzschild, den sie bildeten,
zerbrach, und der Vormarsch der Wüste fand natürlich
noch schneller statt.

92
Das ist einer der Gründe, weshalb wir solche Wälder
schaffen. Und obwohl es uns nicht gelingen wird, ihnen
ihren früheren religiösen Inhalt zu verleihen, versuchen
wir, ihnen einen gleichwertigen Gefühlswert zu geben. So
wird jedes glückliche Ereignis durch das Pflanzen eines
Baumes gekennzeichnet: eine Taufe, eine Hochzeit, eine
Zeremonie.
Am 3. August hat es eine Ordensverleihung gegeben.
Die Empfänger gingen, nachdem sie alle beglückwünscht
hatten, mit ihren Eltern und Freunden Bäume pflanzen.
So wird es nun jedes Jahr sein. Und wenn nur 15% dieser
Bäume überleben, wäre dies schon ein Ereignis.

Wären nicht auch bessere Herde ein Mittel, den Holz-


verbrauch zu senken?
In den vergangenen Jahren haben wir sehr viel von ve r-
besserten Herden gesprochen. Wir sind plötzlich von
Hunderten von Millionen, ja Milliarden unterstützt wor-
den, um die Popularisierung verbesserter Herde zu för-
dern. Zunächst die grundlegende Forschung, dann die
angewandte Forschung, dann die Popularisierung. Aber
wir erzielten erst Fortschritte, als das Ho lz bereits rar ge-
worden war. Als dringendstes brauchen wir Lösungen,
Mittel, um mit diesen wertvollen Ressourcen sparsam
umzugehen. Und endlich interessieren sich die Frauen
dafür. Man hat gesagt, die Entwicklung der Landwirt-
schaft in Burkina-Faso sei nur in einem glücklichen Zu-
sammenspiel von Viehzucht und Anbautechniken mö g-
lich, aber eine Integration der Viehzucht kann kaum ge-
lingen, wenn der Viehzüchter nicht selbst die Haltung des
Bauern übernimmt. Jetzt muss die Viehzucht rentabler
werden, die Viehzüchter müssen nicht nur die Milch, das
Fleisch, die Knochen und den Mist verkaufen, sondern

93
auch die Arbeitskraft der Tiere, welche während des ga n-
zen Jahres da sind. Aus reiner Notwendigkeit schaffen
wir einen positiven Produktionsrhythmus.

Sehr oft in Ihren Reden, auch in diesem Gespräch,


benützen Sie Symbole.
Diese pädagogische Form gehört zu unserer Welt. Wie
Sie sicher bemerkt haben, reden wir nicht nur sehr viel,
geben sehr lange Antworten, sondern wir neigen tatsäch-
lich zu Symbolen. Denn unsere Reden richten sich an
Zuhörer, die einer afrikanisch-oralen Zivilisation ent-
stammen, wo man sich seinem Gegenstand in vielen
Windungen annähert.
Ich, der am meisten vor Bauern sprechen muss, überlas-
se meinen Geist dieser Form des Dialogs, der Debatte
und des Meinungsaustauschs, und bewundere das Feuer
jener, die andere Formulierungen benützen. Sie antworten
kurz, prägnant und strukturiert, auch ohne schriftliche
Vorlage. Ihre Fähigkeit rührt von der Natur der Zuhörer-
schaft her, der sie im allgemeinen gegenüberstehen.
Wenn Sie zu Akademikern sprechen, sind Sie nicht ge-
zwungen, Ihre Sache während Stunden und Stunden zu
erörtern, wie wir es hier tun. Überspitzt gesagt, misstrau-
en wir in Afrika denjenigen, die journalistische Antwor-
ten geben; das sind Politprofis, nicht Leute des Volkes.

Die Zustimmung des Volkes

Offensichtlich ist heute die Schonzeit vorüber, welche


dem 4. August 1983 folgte; in welcher Phase befinden Sie
sich jetzt, nach Ihrer Meinung?
Merkwürdigerweise gibt es heute weniger Torheit, es ist
auf jeden Fall einfacher, zu überzeugen. Das Phänomen

94
hat seinen Neuigkeitswert verloren, und, von einem ge-
wissen Gesichtspunkt her, auch seinen Glanz („den be-
zaubernden Glanz“). Die Revolution ist unser normaler
Rhythmus geworden. Als wir uns im Mai 1984 begegne-
ten, teilte sich Ihnen meine Überzeugung mit, dass wir
nach der euphorischen Mobilisierung daran denken müs-
sen, das Bewusstsein der Massen zu mobilisieren. Jetzt
sind wir soweit.

Ohne Unruhen, ohne Übergansphase?


Es hat zwischen diesen beiden Phasen eine kurze Über-
gangsperiode gegeben, eine Zeit der Unschlüssigkeit, des
Zweifels, ja sogar der Verzweiflung. In diesem Auge n-
blick haben viele gesagt: „Nach den grossartigen und
demagogischen Reden erweisen sie sich als unfähig, die
Geschicke des Landes zu leiten.“ Alle Entscheide, die wir
treffen wollten, stiessen auf Feindseligkeit, ob organisiert
oder nicht, ob bewusst oder nicht. Aber zum Glück für
uns ging diese Periode sehr rasch vorbei und wir konnten
eine grosse Zahl von Beschlüssen, die zunächst kühn ge-
schienen haben, von Anfang bis Ende ausfahren.
Die Vorteile, die Errungenschaften wurden erkannt.
Jetzt herrscht nicht mehr Euphorie, diese scheinheilige
Euphorie vor, sondern ein bewusster Enthusiasmus, we-
niger überschwenglich, das aber ist die beste Unterstüt-
zung für uns und erlaubt uns, weitere Entscheidungen zu
fällen.
Ein Beispiel: wenn Sie die gesamte Funktionärsklasse
eines Landes auffordern, Sport zu treiben, und zudem
sagen, dass Sie sich persönlich vom Fortschritt jedes Ein-
zelnen überzeugen werden, ist dies ein Entscheid, der
Mut erfordert. Sie mögen ja von der wohltuenden Aus-
wirkung körperlicher Betätigung überzeugt sein, aber es

95
ist nicht einfach, dies jemandem beizubringen. Doch die
Leute haben es gemacht.

Alle?
Nein, sie werden hie und da Leute finden, die sich wei-
gern, oder die sagen: „Das wäre wirklich nicht nötig.“ Es
handelt sich vor allem um Kleinbürger, die Anstrengun-
gen fürchten. Aber die Gesamtheit akzeptiert es. Die Le u-
te haben keinen Streitpunkt daraus gemacht, sie sagen
sich, dass wir schon wissen, was wir machen. Heute ist
Volkssport wirklich zur Sitte geworden.

Manche sprechen dennoch von einem sinkenden Enthu-


siasmus, von einer Demobilisierung...
Wir besitzen nicht mehr diese Ungewöhnlichkeit, die
bezaubert und verführt. Die Ausrichtung ist schon be-
kannt, einige Geister mögen gar zum voraus erraten, was
gemacht oder gesagt wird, und zwar ziemlich genau. Die
Leute lieben die Revolution immer noch, aber der Bekeh-
rungseifer gehört der Vergangenheit an.
Unglücklicherweise haben einige schlecht unterrichtete
Beobachter behauptet, dies käme einem sinkenden Enthu-
siasmus, einer Demobilisierung etc. gleich. Aber das ist
nicht wahr.

Weiss Thomas Sankara noch, was im Lande vor sich


geht, kennt er das Verhalten dieses oder jenes Funktio-
närs’ der seine Macht missbraucht, weiss er von jenem
CDR, dessen Vorgehen ein Quartier terrorisiert?
Es ist jetzt 22 Uhr. Wenn wir dieses Gespräch beendet
haben, gegen Mitternacht, gehe ich bis fünf Uhr morgens
in ein Dorf. Man muss sich Zeit nehmen, um den Leuten
zuzuhören, sich bemühen, alle zu verstehen, sogar jene,

96
die nicht empfehlenswert sind. Man muss Beziehungen
jeder Art aufrechterhalten, zu den Jungen, zu den Alten,
den Sportlern, den Arbeitern, den grossen Intellektuellen,
den Analphabeten. So erhält man eine grosse Menge von
Informationen und Ideen. Deshalb meine ich, wenn einer
aus der Führung sich ans Publikum wendet, muss er es so
machen, dass sich jeder angesprochen fühlt. Wenn er gra-
tuliert, soll jeder das Gefühl haben, er sei persönlich ge-
meint. Wenn er kritisiert, muss jeder sich in dem, was
getadelt wird, wiedererkennen können, wissen, dass er
eine derartige Handlung vollbracht hat; jeder muss sich
so fühlen, als ob er ausgezogen worden sei, sich darüber
schämt und sich deshalb entschliesst, in Zuk unft die glei-
chen Fehler zu vermeiden. So können wir uns gemeinsam
unsere Irrtümer bewusst machen und nochmals von vorne
anfangen. Ich bin gezwungen, mich zu informieren, ich
bin gezwungen, das Protokoll zu verletzen und in gewis-
sen Augenblicken bin ich auch gezwungen zu sagen, dass
ich etwas gelernt habe und eine bestimmte Situation ver-
urteile. Das nimmt einen mit.
Ich bin selbstverständlich nicht über alles auf dem La u-
fenden, umso mehr als es Leute gibt, die zögern, zu mir
zu kommen, um zu reden, die mich für unzugänglich ha l-
ten. Wir müssen die Gesten, die uns gegenseitig näher-
bringen, vervielfachen.
Pro Woche antworte ich mindestens auf fünfzig
persönliche Briefe, in denen man mir die unglaublichsten
und unlösbarsten Fragen stellt, die ich mit vorstellen
kann; aber wir halten die Beziehungen aufrecht. Ich bin
sehr froh, wenn mir die Leute zu Problemen, die ich
aufgeworfen habe, Vorschläge machen. Auch wenn wir
ihre Lösung nicht immer berücksichtigen können.

97
Welche Mittel für ein systematischeres Vorgehen fassen
Sie ins Auge? Es scheint sehr schwer zu machen sein,
dass Sie nicht überfordert sind.
Wir richten nächstens eine Struktur des CNR ein, um
dem zu begegnen. Aber vor allem ist es nötig, jeden da-
von zu überzeugen, dass er klagen kann, dass seine Klage
vielleicht geschätzt, sicher aber mit gleichen Aufmerk-
samkeit studiert, mit der gleichen Wichtigkeit behandelt
wird, weiche Macht auch immer wir demjenigen überge-
ben haben, der den Kläger schikaniert hat.
Wir müssen also Exempel statuieren, selbst wenn es
sich um unsere eigenen Verwandten ha ndelt.

Beabsichtigen Sie im Lauf des Prozesses, den Sie einge-


leitet haben, die Schaffung zum Beispiel, einer Einheits-
partei, und wenn ja, in welchem Moment?
Die Zukunft führt uns in Richtung einer viel besser aus-
gearbeiteten Organisation als die gegenwärtige Massen-
mobilisierung, weiche notwendigerweise viel weniger
selektiv ist. In Zukunft könnte durchaus eine Partei das
Licht der Welt erblicken, aber wir wollen unser Denken
und Hauptinteresse nicht auf die Vorstellung der Partei
konzentrieren. Das könnte gefährlich sein. Man würde sie
schaffen, um dem revolutionären Kanon zu entsprechen
(„eine Revolution ohne Partei hat keine Zukunft...“), oder
um dieser oder jener Internationale anzugehören, deren
Beitrittsbedingungen sie als sine qua non verlangen...
Aber eine Partei zu schaffen, nur weil die Führer das
wollen, öffnet jeder Art von Opportunismus die Tür. Eine
Partei braucht Strukturen, eine Leitung, Verantwortliche.
Wen können Sie dafür nehmen, wenn nicht die, welche
zwar da, aber nicht unbedingt die kämpferischsten Revo-
lutionäre sind? Viele Leute würden sich auf die Partei

98
berufen, um sich eines Postens versichern zu können,
etwa so, wie wenn in einer Regierung die Ministerien
verteilt werden. Einige wollen diese oder jene Ämterver-
teilung welche für sie selbst auch einen Posten vorsehen
würde. Man muss die opportunistischen Versuchungen
einer massgeschneiderten Partei vermeiden, also ist es
heikel, nach der Machtübernahme eine Partei zu gründen.
Im übrigen hat eine Partei den Nachteil, dass sie zu re-
striktiv wird, zu selektiv im Hinblick auf eine Massen-
mobilisierung. Von dem Augenblick an, wo Sie sich nur
noch auf eine Minderheit stützen, sind die Massen vom
Kampf, den Sie führen, abgeschnitten.
Die Bedingung wäre, dass die Partei die Rolle der Füh-
rerin, der Wegweisern, des Aventgarde-Elementes spielt,
dass sie die ganze Revolution anführt, in den Massen ver-
ankert ist und sich deshalb aus seriösen Elementen zu-
sammensetzt, die Autorität besitzen und ohne Zweideu-
tigkeiten, nur durch ihr Verhalten überzeugen können.
Aber zuvor muss man die Leute ohne Partei kämpfen,
die Waffen ohne Partei führen lassen, sonst geraten wir in
die Nomenklatur.

Bald bricht das dritte Jahrtausend an. Meinen Sie, dass


wir eine Renaissance der kontinentalen Front erleben
werden? Werden wir uns in der gleichen Lage wie 1966
in Havanna befinden, und wird jeder revolutionäre Na-
tionalismus fortfahren, ohne Zusammenhalt mit andern
und ohne supranationale Einheit zu agieren?
Schwierig, dies vorauszusagen. Aber ich glaube, dass
wir uns immer mehr auf einen Zusammenhalt zubewe-
gen. Wir müssen optimistisch sein, denn es ist nur natür-
lich und menschlich, dass in einer Epoche, wo Staaten
und Unabhängigkeitserklärungen wie Pilze aus dem Bo-

99
den schiessen, jeder mehr darum bemüht ist, seine neue
Macht auszukosten, als die globale Entwicklung eines
Modells zu erfassen. „Jeder schreibt Bücher in allen Far-
ben...“ aber das wird sich ändern.
Sicher waren die Vorfahren mehr oder weniger ge-
zwungen, auf diese Weise zu handeln, um eine bestimmte
Richtung anzugeben, auch wenn sie manchmal dem Mes-
sianismus verfielen. Aber wie man mehr und mehr von
einer universellen Zivilisation spricht, wird man auch von
einer universellen Revolution sprechen. Denn lange Zeit
hat der Imperialismus weltweit eine Internationale der
Vorherrschaft und der Ausbeutung organisiert, aber es
gibt keine Internationale der Revolution, keine Interna-
tionale des Widerstandes gegen die Unterdrückung. Si-
cher, es gab Versuche, die drei Internationalen, und man
spricht sogar von der Vierten.
Die Führer als solche werden Schritt für Schritt den or-
ganisierten Massen Platz machen, besonders dank der
Kommunikationsmittel, die Schranken niederreissen und
Distanzen verkleinern; dank einer Nivellierung der Kultu-
ren auch, die bewirkt, dass wir die Dinge fast auf die
gleiche Weise empfinden. Die gegenwärtigen Führer
werden also den Massen den Vortritt überlassen.

Die Alphabetisierung, der Zivildienst

Wie wollen Sie das Problem der Alphabetisierung lö-


sen?
Wir denken, sowohl den Inhalt als auch das Gefäss der
Erziehung in Angriff zu nehmen. Als der Kolonisator
Schulen eröffnete, tat er dies nicht mit der Absicht eines
Mäzen oder Philanthropen, sondern seine Sorge war eher,
geeignete Angestellte zu fabrizieren, die in seinem Aus-

100
beutungssystem nützliche Posten einnehmen konnten. Für
uns geht es heute darum, der Schule eine neue Bedeutung
zu geben, damit sie neue Menschen formt, die Vorstel-
lungen kennenlernen, sie geistig verarbeiten, sich harmo-
nisch und mit Haut und Haaren in die Bewegung und
Dynamik ihres Volkes einfügen.

Aber besteht die Hauptsorge nicht darin, die Schule zu


demokratisieren?
Tatsächlich sind bisher nur Privilegierte zur Schule ge-
gangen. Die Schule zu demokratisieren heisst, überall
Klassen einzurichten. Gegenwärtig hat sich das Volk mo-
bilisiert, um diese Aufgabe zu erfüllen, und es macht dies
mit einem solchen Eifer, dass sogar die Kapazitäten der
Regierung bezüglich der technischen Ausstattung über-
fordert sind. Für unseren Geschmack geht es zu schnell,
aber wir haben nicht vor, sie auf einem solch guten Weg
zu behindern.

1984 sind l’500 Volksschullehrer, die der Gewerkschaft


SNEAHV (Syndicat national des enseignants africains de
Haute-Volta) gehören, entlassen worden. Kann man sich
den Luxus eines solchen Beschlusses leisten angesichts
einer Analphabetenrate von über 90% der Bevölkerung?
Sie sind entlassen worden, weil sie einen Streik führten,
der in Tat und Wahrheit eine subversive Bewegung gegen
Burkina-Faso darstellte. Wir haben ihnen damals sehr
klar gesagt: „Führt diesen Streik nicht durch, denn es ist
Teil eines Destabilisierungsplanes, der zugleich auf Gha-
na und unser Land abzielt.“ Das Datum dieser koordinier-
ten Aktion stand schon fest. In unserem Nachbarland soll-
te gleichzeitig ein Staatsstreich stattfinden und bei uns

101
eine Reihe von Streiks. Wir waren darüber informiert und
hatten unsere Vorkehrungen getroffen.
Wissen Sie, in Burkina-Faso waren es immer Streiks,
die ein Regime an die Macht brachten oder stürzten. Wir
haben der Öffentlichkeit eine Anzahl von Beweisen vor-
gelegt, aber nicht alle, aus Angst, bestimmte Informati-
onsquellen zu verraten; und wir haben die Lehrer
aufgefordert, ihre Bewegung aufzugeben. Parallel, an
diesem gleichen Tag, Freitag den 23. März, organisierte
eine französische Fernsehstation eine Sendung, die einem
Oppositionellen aus Burkina-Faso gewidmet war. Das
Manöver war einfach zu durchschauen. Es ging darum,
diesem Mann wieder auf die Beine zu helfen, ihm einen
gewissen Status zu verleihen. Also ein doppeltes
Manöver, diese Sorte Mensch wieder in den Sattel zu
hieven und im Innern des Landes zu destabilisieren.
Im Übrigen haben wir die wichtigsten Drahtzieher ve r-
haftet, welche 250’000 Dollar erhalten haben, um Wind
für die Unterstützung der Aktion zu machen. Im Verlauf
dieser Operation hatten die Sicherheitsagenten auch einen
Gewerkschafter verhaftet, der nach unseren Informatio-
nen nicht in die Sache verwickelt war. Wir liessen ihn
ganz einfach wieder frei, denn er hatte in guten Treuen
aus gewerkschaftlichen Gründen protestiert, ha tte aber
mit dem Komplott selbst nichts zu tun.

Aber warum haben Sie sich mit den Lehrern angelegt?


Wir sind nicht gegen die Lehrer, sondern gegen das
Komplott, das sich der Lehrer bedienen will. Denn die
Partei hinter dem Komplott besteht hauptsächlich aus
Volksschullehrern, Sekundarlehrern und selbst aus Uni-
versitätsprofessoren. Sie hat ihre Stosstrupps in den
Kampf gegen unser Regime geschickt, das sie seit dem 4.

102
August 1983, seit seiner Geburt, verurteilt. Wir haben
deshalb unsere Drohung wahr gemacht, weil es uns äus-
serst bedenklich erschien, dass diese Lehrer sich wie eine
Herde Schafe führen liessen; obwohl sie eine grosse Ver-
antwortung wahrzunehmen haben, waren sie unfähig,
sich selbst zu bestimmen.

Angesichts der Dringlichkeit der Aufgabe kann man nur


schlecht verstehen, dass Sie Ihre Haltung nicht nochmals
überprüfen.
Wir werden uns die Zeit nehmen, all die Fälle jener zu
prüfen, welche schriftlich Reue bekundet haben. Aber es
kommt nicht in Frage, dass wir die Ausbildung der Kin-
der Burkina-Fasos unverantwortlichen Leuten anvertrau-
en. Doch wir haben die Türe nicht zugeschlagen. Wir
stellen sie nach und nach wieder ein, je nachdem, wie wir
ihr Verhalten an Ort und Stelle wie auch ihren aufrichti-
gen Willen einschätzen, einen ihrer Verantwortung ge-
mässen Charakter zu entwickeln. Viele von ihnen werden
gerade wieder eingestellt oder sind auf dem Weg dazu.

Wer hat sie in der Zwischenzeit ersetzt?


Wir haben sie durch andere mit dem gleichen Bildungs-
niveau ersetzt. Leute, die wir gerufen haben und denen
wir ein Minimum an Schulung gaben (im besonderen auf
ideologischer Ebene). Es kommt nicht in Frage, dass auf
dem Buckel des Volkes eine Erpressung stattfindet. Man
hatte die Erziehung der Kinder Burkina-Fasos als Geisel
genommen, um uns zum Rücktritt zu zwingen.

103
Aber jetzt wendet man 16% des Budgets auf, damit 20%
der Kinder zur Schule gehen können; welche Massnah-
men müssen ergriffen werden, um bessere Resultate zu
erreichen?
Tatsächlich würden nicht einmal 100% des Budgets
ausreichen, um alle Kinder einzuschulen. Wir müssen
somit einen Aufruf für andere Unterrichtsformen machen,
die nichts mit den klassischen Schemen der Schulung zu
tun haben. Eine solche Kampagne wird bald gestartet.
Wer lesen kann, wird die Pflicht haben, einer bestimmten
Anzahl von Leuten das Lesen beizubringen, widrigenfalls
werden wir ihn dazu zwingen.

Aber wie? Mit einer Art Zivildienst?


Es wird auf nationaler Ebene eine grosse Kampagne
geben. Wir werden überall hingehen müssen. Im übrigen
bin ich davon überzeugt, dass alle Probleme zwischen
Menschen Kommunikationsprobleme sind. Wenn Sie
sprechen und man erfasst nicht genau, was Sie sagen wo l-
len, sind immer Fehler möglich. Wir brauchen Non-
Konformismus. Sie werden sehen.

Heisst das, allgemeiner gesprochen, dass Sie vorhaben,


einen Zivildienst zu schaffen?
Wir wollen in der Tat den ganzen Militärdienst neu ge-
stalten. Er ist gegenwärtig obligatorisch und dauert 18
Monate. Aber aufgrund unserer eingeschränkten Mittel
erreichen wir nur zwei Prozent der mobilisierungsfähigen
Jahrgänge. Hie r bildet die Armee einen Ausweg, eine
sichere Anstellung. An den Rekrutierungsstellen gibt es
ein derartiges Gedränge, dass wir verglichen mit Europa
gerade eine umgekehrte Situation kennen.

104
Ich erinnere mich, als ich mit französischen Offizieren
zusammen in der Ausbildung war, hatten wir Kurse, in
denen man uns mit den angemessenen Mitteln versah,
damit wir die jungen Leute dazu bringen konnten, das
militärische Leben zu akzeptieren. Doch für uns, in mei-
nem Land, handelt es sich darum zu wissen, wie wir den
grössten Teil zurückweisen können.

Aber was wollen Sie ändern und mit welchem Ziel?


Wir werden die Dienstzeit verlängern. Sie wird nicht
mehr 18 Monate, sondern zwei Jahre dauern. Im Verlauf
dieser Zeit muss selbstverständlich das Waffenhandwerk
gelernt werden, aber drei Viertel der Zeit werden der
Produktion gewidmet sein. Zunächst weil wir der Mei-
nung sind, dass die Verteidigung des Volkes Sache des
Volkes ist. Es muss fähig sein, sich zu mobilisieren und
es muss über die notwendigen Waffen verfügen, denn wir
haben zahlreiche Feinde.
Wir denken auch, dass es ausser Frage steht, die La n-
desverteidigung einer Minderheit anzuvertrauen, so spe-
zialisiert diese auch sein mag. Das Volk verteidigt sich
selbst. Das Volk entscheidet sich, Frieden zu schliessen,
wenn es den Krieg nicht weiterfahren kann oder will. Es
entsche idet ebenfalls, was die Armee sein soll.

Und konkret?
Wir wollen keine Kaste, die über den andern steht. Wir
wollen mit dieser Logik brechen und ein paar Dinge än-
dern. Unsere Dienstgrade zum Beispiel, wir wollen sie
ändern, damit die Armee im Volk gründet.

105
Und „in der Produktion arbeiten“, was bedeutet das?
Die in diesem Nationaldienst engagierten Leute werden
ganz sicher in der Landwirtschaft arbeiten. Andere wer-
den Unterricht erteilen oder medizinische Hilfe bringen.
Wir werden es, wohl verstanden, nicht mit Doktoren der
Medizin zu tun haben, sondern mit Männern, die ein Mi-
nimum an Kenntnissen der Hygiene und der Ersten Hilfe
haben, um ihrerseits die Reflexe, welche Leben retten,
weitervermitteln zu können. Eine einfache Überlegung.
Das wird sehr viel wertvoller sein, als die Zahl der Ärzte
zu verzehnfachen. In diesem Bereich gedenken wir nichts
Neues zu machen.
Wir träumen davon, uns die Mittel zur Verfügung zu
stellen, um verschiedene soziale Schichten in unter-
schiedlichen Altersstufen mobilisieren zu können, ein
wenig wie in der Schweiz.

Aber über welche Qualifikationen werden diese Leute


verfügen?
Das wird sehr heterogen sein. Doktoren der Medizin
müssen sich, bevor sie in den öffentlichen Dienst eintre-
ten, auf dem Land diesem Nationaldienst unterziehen. So
werden sie Gelegenheit haben, das Volk von Burkina-
Faso zu entdecken oder wiederzuentdecken. Wir werden
sowohl hochrangige Akademiker wie einfache Bauern
einberufen.
Für eine kleine Zahl wird es sogar möglich sein, wäh-
rend des Dienstes eine Lehre zu machen oder wenigstens
die Grundzüge eines Handwerks zu erlernen: Landwirt-
schaft, Viehzucht, Bau.

106
Und für die, die gegenwärtig Dienst leisten?
Auch hier sind wir der Ansicht, dass die Armee eine
Volksarmee ist, dass sie nicht in Ruhe und im Überfluss
leben kann, der mit dem chronischen Elend unseres Vo l-
kes nicht zusammenpasse. Folglich müssen unsere Mili-
tärs täglich fühlen, was das Volk verspürt.
Es ist zum Beispiel nicht in Ordnung, dass die Soldaten
regelmässig bezahlt werden, während die Zivilbevölke-
rung insgesamt diese Vergünstigung nicht kennt. Wir
haben auch beschlossen, dass sie zusätzlich zu ihren rein
militärischen, beruflichen und taktischen Aktivitäten am
wirtschaftlichen Leben teilnehmen müssen. Wir haben
die Losung ausgegeben, dass sie Geflügelfarmen bauen
und Viehzucht betreiben sollen.

War das ein Befehl?


So könnte eine Verbesserung ihrer Ernährung erzielt
werden, aber auch eine Entlastung des Geflügelmarktes
von der Schicht regelmässiger Lohnbezüger, was, not-
wendigerweise, die Preise für die Zivilisten sinken liesse.
Dann hat dies auch einen Antriebseffekt, denn wer sich
auf Befehl seines Chefs oder aus eigener Initiative ein
solches Verhalten zur Gewohnheit macht, wird auch zu-
hause damit fortfahren. So breitet sich die Bewegung aus.
Einige behaupten, dass sie das festgesetzte Ziel schon
übertroffen haben. Wir verlangen nur soviel, denn Revo-
lution bedeutet auch ein besseres Leben, besseres Leben
und Glück für alle.

107
Die Frauen in Burkina-Faso

Das Gewicht jahrhundertealter Traditionen hat der


Frau in Burkina-Faso die Stellung eines Lastesels zuge-
teilt. Das sind Ihre eigenen Worte in Ihrer Rede zur poli-
tischen Ausrichtung. Trotz dieser Erkenntnis ändert sich
die Situation nur sehr langsam.
Die Frauen in Burkina-Faso stellen uns vor ein schwer
zu lösendes Problem, denn ihre Befreiung ist keine leic h-
te Aufgabe. Sie werden von Männern unterdrückt, die
ihrerseits auch unterdrückt sind. Eine Art doppelter Un-
terdrückung also.
Die Frau steht um vier Uhr morgens auf und muss 15
Kilometer laufen, um verschmutztes Wasser zu holen, das
für sie und ihre Kinder gefährlich ist. Sie kümmert sich
dann um ihren Mann, der noch schläft, um die Küche,
weckt die Kinder auf, füttert sie, geht aufs Feld, um an
der Arbeit der Bauern teilzunehmen, bearbeitet zusätzlich
noch ihr persönliches Grundstück und wenn es Nacht
wird, räumt sie alles auf, treibt das Vieh heim. Sie trägt
die Verantwortung für alles. Eine solche Frau ist mit 30,
35 Jahren ausgelaugt, sie ist wahrhaft zu einem „Lum-
pen“ geworden.
Wir alle haben Mütter, Ehefrauen, Schwestern, die in
diesen Verhältnissen leben. Wir wissen, wovon wir spre-
chen.

Aber was tun?


Man muss ihnen die Verantwortung über ihr eigenes
Schicksal geben, indem man ihnen gestattet, sich zu be-
freien. Also ist eine ganze Geisteshaltung von Grund auf
zu überprüfen, und jeder Mann, der Sprechende selbst-
verständlich eingeschlossen, muss sich selbst infrage stel-

108
len und sich Rechenschaft ablegen über die Kluft zwi-
schen dem, was er verkündet, wovon er auch überzeugt
ist, und den Annehmlichkeiten, die ihm diese Unterdrük-
kung bietet. Manchmal überrascht man sich dabei, wie
man seinen Haushalt in eine Kaserne verwandelt und sich
plötzlich in der Rolle des Kompaniefeldweibels sieht. Ich
kämpfe gegen mich selbst, wie es alle Männer Burkina-
Fasos auch tun sollten. Die Frauen meines Landes gehen
mit sich ins Examen, ein wenig wie der Sklave, der so
stark an einen Herrn gebunden ist, dass er nicht weiss,
wie er es anstellen soll, seine Freiheit zu erlangen.

Dies ist den Frauen offensichtlich nicht eigen.


Das stimmt, aber man muss darauf achten, dass die
Freiheit der Frau nicht in Extravaganzen, billige Zur-
schaustellung und Antikonformismus ausartet. Zur
Hauptsache gilt es, ihr die Möglichkeit zu bieten, alles
mit den Männern zu teilen.

Aber man muss auch so schwierige Fragen wie die der


Klitorisbeschneidung angehen?
Ja, wir müssen unbedingt die sexuellen Verstümmelun-
gen angehen. Bei uns sind sie eine Form, um die Frau zu
erniedrigen, sie mit dem Siegel einer immerwährenden
Minderwertigkeit zu versehen. Weil du eine Frau bist,
wirst du ewig dieses Zeichen tragen... Die beschnittene
Frau kann nicht mehr die volle sexuelle Lust erfahren, sie
ist somit weniger leicht zu verfuhren... So die Begrün-
dung, aber warum diese Sitte. Weit der Mann, unfähig,
dieser Frau die nötige Zuneigung, die nötige Liebe zu
geben, damit sie bei ihm bleibt, sich genötigt sieht, sie
gewaltsam zurückzuhalten, zum Bleiben zu zwingen. Die

109
Beschneidung ist eine zeitgemässe Form des Keusch-
heitsgürtels. Wir nehmen dieses Problem in Angriff.

Im Bruch mit anderen uralten Gewohnheiten, im Bruch


auch mit allem, was sich sonst in der Welt tut, haben Sie
soeben für die Frauen einen existenzsichernden Lohn
eingeführt. Glauben Sie nicht auch, dass der Widerstand
dagegen so stark sein wird, dass es beim frommen
Wunsch bleibt?
Als wir, in kleinem Kreis, mit einigen Genossen diese
Massnahmen diskutierten, haben sie mich vor allem auf
die Anpassungsschwierigkeiten aufmerksam gemacht.
Ihrer Meinung nach wäre es besser gewesen, abzuwarten
und geeignete Lösungen zu finden, abzuwarten, bis die
Gemüter reif seien.
Aber die Gemüter sind nie reif. Sie werden es niemals
sein. Es gibt keine Entscheidungen in der Welt, die völlig
perfekt sind. Die Gemüter sind bereit, Sie können säen?...
Nein, man muss auf steinigem Boden säen, man muss der
Erde Gewalt antun, damit etwas wächst. Wir haben also
einen Beschluss gefasst, und ich habe ihn öffentlich ver-
kündet, damit er nicht rückgängig gemacht wird.
Und jetzt sage ich: „Geht, sucht Lösungen!“, denn es ist
moralisch unakzeptabel, die Frau in dieser absoluten Mit-
tellosigkeit zu lassen. Aber wie dies praktisch verwirk-
licht werden soll, weiss ich auch nicht genau. Es gibt
schon ein paar Lösungsskizzen, aber wir müssen sie noch
in diskreten Tests überprüfen, von denen die Leute keine
Kenntnis haben dürfen.

Führt dies nicht zu einer gefährlichen Improvisation?


Unsere Verleumder behaupten es. Aber in Wirklichkeit
- nein. Wir gehen diese Tests manchmal in vitro an, aber

110
da sie nichts darüber wissen, meinen sie, dass wir impro-
visieren. Gegenwärtig konkurrenzieren sich, grosse mo-
do, drei Formeln:
- den Frauen das lebensnotwendige Einkommen in Na-
turalien zu geben (Lebensmittel, Kleider etc.);
- es ihnen in Bargeld zu geben;
- es ihnen in Form eines Bankguthabens zu geben.
Jede dieser Formeln hat ihre Nachteile. Persönlich neige
ich einer bestimmten Variante zu, das ist klar, und ich
suche nach Lösungen, um die Nachteile zu verkleinern,
die sie beinhaltet.

Eine weitere, ziemlich erstaunliche Massnahme - die


Schliessung der Nachtclubs.
Handelte es sich da um eine prioritäre Aktion und wes-
halb? Wir wollten unser Kleinbürgertum mit voller
Wucht vor den Kopf stossen. Wir wollten ihm zeigen,
dass wir der Revolution Opfer bringen müssen, was die
Privilegien und die Annehmlichkeiten betrifft, zu denen
wir Zugang haben. Wir haben uns die Night-Clubs vor-
genommen, zunächst weil sie Schlupfwinkel einer klei-
nen Gruppe von Leuten sind, denen es gelungen ist, ande-
re durch Diskriminierung mittels Geld hinauszudrängen.
Eine Flasche Coca-Cola verkauft man dort zu einem vö l-
lig überrissenen Preis, der manchmal dem monatlichen
Einkommen eines Bauern entspricht.
Kommt noch hinzu, dass die Bourgeoisie, je höher sie
in der sozialen Leiter aufsteigt, sich desto mehr asozialen
Vergnügungen hingibt.
Wir sind nicht gegen Musik und Vergnügungen, denn
unsere Bewegung soll fröhlich sein; aber wir wollten
„Tagclubs“, wobei wir alles beseitigten, was diese Orte
zu Schlupfwinkeln machte. Anstelle der Nachtclubs gibt

111
es jetzt die „bals populaires“ (Volksfeste mit Tanz): ein
grosser Tanzboden, ein Orchester, Getränke, die zu einem
wirklich demokratischen Preis verkauft werden (50
Francs CFA pro Flasche Coca-Cola, während sie vorher
zwischen l’000 und 2’000 Francs CFA kosten konnte).
Alle Welt trifft sich dort, und wir sind sehr zufrieden da-
mit. Wegen dieses Themas bin ich häufig angegriffen
worden. Man sagte mir in der Tat, dies habe keine Priori-
tät. Das ist wahr. Aber vom ideologischen Standpunkt her
war es eben notwend ig, das Kleinbürgertum aufzurütteln
und ihm zu sagen: „Aufgepasst, die Revolution besteht
nicht nur aus Meetings, aus Unterstützungsmärschen...
Wir müssen unsere Sitten reinigen.“

Aber Sie hätten ja die Steuern auf Nachtclubs erhöhen


können?
Wir hätten damit das Gegenteil erreicht. Solche Steuern
hätten die Konsumationspreise vervielfacht und einer
immer kleineren Minderheit erlaubt, sich dort zu treffen,
also sich gehenzulassen und zu verkommen. Während
einige jedoch behaupteten, dies alles wäre zweitrangig,
haben mir die Burkinabé selbst Elemente für den Gege n-
beweis geliefert, indem sie mir in grosser Zahl ihre Miss-
billigung schriftlich mitteilten. Der Umfang dieses Brief-
wechsels liess mich noch besser verstehen, wie wichtig
diese Massnahme war.

112
Die Angst und die Gewalt

Sie sind nicht vor einer baldigen physischen Eliminie-


rung gefeit. Welches Bild von Ihrer Rolle, von Ihnen
selbst, möchten Sie zurücklassen, wenn Sie von der Bild-
fläche verschwinden würden?
Ich wünsche einfach, dass meine Hilfe dient, die
Ungläubigsten davon zu überzeugen, dass es eine Kraft
gibt, die sich das Volk nennt, dass man sich für dieses
und mit diesem Volk schlagen muss.
Ich möchte die Überzeugung hinterlassen, dass wir,
wenn wir eine bestimmte Zahl von Vorkehrungen treffen
und uns eine bestimmte Organisation geben, das Recht
auf den Sieg haben werden, einen sicheren und dauerha f-
ten Sieg.
Ich wünsche, dass diese Überzeugung die Sache aller
wird, damit, was heute als Opfer erscheint, morgen für sie
zu normalen und einfachen Handlungen wird.
Vielleicht erscheinen wir in unserer Zeit als Eroberer
des Unnützen, aber vielleicht haben wir auch einen Weg
aufgezeigt, auf den sich Morgen schon andere frisch stür-
zen werden, ohne sich gross Gedanken zu machen - ein
wenig wie beim Marschieren. Man setzt einen Fuss vor
den andern, ohne sich je Fragen zu stellen, obwohl alles
einer Reihe von komplexen Gesetzen gehorcht, die das
Körpergewicht, die Geschwindigkeit, den Rhythmus und
den Takt umfassen.
Und unser Trost, meiner Genossen und meiner, wird
wirklich sein, falls wir zu etwas nütze sein konnten, dass
wir Pioniere sein konnten. Unter der Bedingung natürlich,
dass wir dort, wo wir sein werden, diesen Trost noch er-
halten können...

113
Aber sind Sie, wenn man Ihre Ideen nicht teilt, bereit,
zur Gewalt, zum Zwang zu greifen und dabei auch in Wi-
derspruch zu den Vorstellungen zu geraten, die Sie ha-
ben?
Wenn ich zwischen zwei Lösungen wählen kann, bin
ich nicht bereit, zur Gewalt zu greifen, aber ich weiss
auch, dass es Logiken gibt, die Sie dazu zwingen, ohne
Möglichkeit, anders zu handeln. Das ist eine Entsche i-
dung, die Sie allein treffen. Sie ist mühselig, schmerzhaft,
ein Kummer. Am nächsten Tag treffen Sie mit Leuten
zusammen, gegen die Sie Gewaltmassnahmen anordnen
mussten, obwohl Sie insgeheim bis zur letzten Minute
gehofft hatten, dass es ein Mittel gäbe, um die Zuflucht
zu dieser Gewalt zu verhindern, ein Mittel, diese Men-
schen zu retten. Aber manchmal finden Sie keine Lösung.

Gegen wen mussten Sie zu dieser Gewalt greifen?


Da gibt es einmal jene, die naiverweise glauben, dass
sie alles versuchen können und immer durchkamen. Das
wiegt nicht zu schwer. Ihnen gegenüber können wir unse-
re Gewalt zurückhalten.
Dann haben wir die, welche sehr bewusst, in zynischer
und machiavellistischer Weise, bei uns einen Gewaltaus-
bruch provozieren, um zu ihren Zielen zu gelangen. Sie
schicken ihre Verschwörer. Sind wir ihnen gegenüber
schwach und haben sie Erfolg, würde alles, was wir un-
ternommen haben, der ganze Einsatz im Dienste der
Mehrheit, zunichte gemacht. Ihr Zynismus ist total. Sie
mokieren sich über das Leben der Verschwörer, die sie
befehlen. Wir können zehn, zwanzig, dreissig davon er-
wischen, sie vergiessen keine einzige Träne und werden
andere finden, die sie erneut auf uns loslassen. Doch stel-
len wir uns diesen Aktionen mit Gewalt entgegen, benüt-

114
zen sie sehr wirkungsvolle, sogar schreckenerregende
Mittel, um zu versuchen, uns ein schlechtes Gewissen
einzujagen: „Hier ist der Mann, dessen Hände blutver-
schmiert sind.“ Aber, vor allem, muss man die Mehrheit
opfern, um eine Minderheit zu schützen, die sich manc h-
mal auf ein einziges Individuum reduziert? Einer muss
entscheiden, allein.

Ein schwieriges Hinterfangen, das zu Willkür führen


kann?
Ausserordentlich schwierig im Hinblick auf sich selbst.
Nach aussen hin kann man sich weigern, zuzuhören und
alles zu verstehen, was so gesagt wird. In andern Teilen
der Welt haben einige im Blut gebadet und dabei keiner-
lei Scham gezeigt. Aber im Hinblick auf sich selbst erlebt
man, wenn man nur ein klein wenig vom Menschen über-
zeugt ist und an ihn glaubt, sehr tiefe innere Erschütte-
rungen.
Ich bin Soldat. Das Schicksal kann mich schon morgen
auf ein Schlachtfeld führen. Und auf dem Schlachtfeld
wünsche ich noch fähig zu sein, meinem Feind zu helfen,
um ihm unnötige Leiden zu ersparen, selbst wenn die
Logik des Krieges mir befiehlt, meine Waffe gegen ihn
zu richten und ihn möglichst rasch niederzuschiessen, um
nicht selbst erschossen zu werden.

Aber bis zu welchem Punkt nehmen Sie die Aktionen Ih-


rer politischen Gegner hin, bevor sie in irgendeiner Form
Gewalt ausüben?
Ich habe den Wunsch, meinem Gegner, ja selbst me i-
nem Feind, die Gelegenheit zu geben, mich zu durch-
schauen. Von diesem Moment an wird er eine grundsätz-
liche Gegebenheit verstehen: wir können zwar miteina n-

115
der über eine bestimmte Anzahl von Fragen uneins sein,
obwohl ich deswegen nicht gegen ihn bin. Ich möchte
edle Ziele erreichen. Meine Mittel sind schlecht, una n-
gemessen, denkt er? Wenn er sie so beurteilt, müssen wir
darüber sprechen.

Aber wenn seine Haltung radikaler ist?


Wir haben einige Gefangene freigelassen, darunter auch
jenen, der mich verraten hatte und einsperren liess.„
Wenn ich nicht tot bin, so nicht deswegen, weil er Mitleid
oder nicht im Sinn hatte, mich zu töten. Man hat auf mich
geschossen, ich bin nicht tot, das ist mein Glück.
Wir haben ihn also freigelassen. Für gewisse Leute ha-
ben wir aus Sentimentalität und aus Schwäche gehandelt.
Ich selbst aber meine, dieser Mann muss einsehen, dass er
uns ausgeliefert ist, dass er das immer war und dass wir
ihn auch heute noch zum Tode verurteilen, erschiessen
können; aber etwas, das noch vor der Abrechnung
kommt, hindert uns daran, ihm ein Leid anzutun.

Warum denn haben Sie es nicht getan?


Wir trachten ihm nicht nach dem Leben. Es ist wahr,
dass wir ihn am Tage, als wir die Macht übernahmen,
hätten exekutieren lassen können.

Aber vielleicht war ihre Haltung ganz einfach ein gutes


politisches Kalkül?
Er muss das wahrscheinlich denken und annehmen, mir
gehe es um ein gutes Image, weil ich mich heute für seine
Freilassung ausgesprochen habe. Vielleicht denkt er:
„Wir sind endgültig zu Feinden geworden, aber da er au-
genblicklich der Stärkere ist, stelle ich mich tot und räche
mich, sobald sich dafür eine Gelegenheit bietet.“

116
Ich weiss nicht, aber ich wäre sehr traurig, wenn er in
meiner Geste etwas anderes sähe als die tiefe Überze u-
gung, dass wir alle Menschen dazu bringen müssen, sich
zu verständigen und zusammenzuarbeiten. Das ist sehr
mühsam und langwierig.

Sie haben dennoch Exekutionen angeordnet. Waren das


Seelen, die man nicht mehr retten konnte?
Jede Seele kann gerettet werden, denn ich glaube, dass
das Beste des Menschen immer vor ihm liegt. Aber wir
befanden uns in einer sehr speziellen Lage, welche es mir
nicht gestattete, das Gnadengesuch der Verurteilten posi-
tiv zu beantworten. Die Gerechtigkeit musste ihren Lauf
nehmen.

Kennen Sie diese Angst, dass morgen vielleicht Schluss


ist?
Nein, diese Angst kenne ich nicht. Ich habe mir selbst
Rechenschaft abgelegt. Möglicherweise ende ich irgend-
wo als alter Mann, in einer Bibliothek Bücher lesend,
oder ich komme durch Gewalt um, denn wir haben viele
Feinde. Hat man dies einmal akzeptiert, ist es nur noch
eine Frage der Zeit. Das kommt heute oder morgen.

Kennen Sie vielleicht andere Formen der Angst?


Ja, die Angst zu scheitern, die Angst, nicht genug getan
zu haben... Man kann wegen Uneinigkeit scheitern, aber
nicht weil man zu faul war... Scheitern, weil man gemusst
hätte, die Mittel auch hatte und es trotzdem nicht tat...
Davor habe ich Angst und ich bin bereit, in jeder Art
und Weise dagegen anzukämpfen... Stellen Sie sich vor,
morgen würde man sagen, Sie hätten Geld gestohlen, und
es ist wahr, oder Sie hätten die Leute Hungers sterben

117
lassen, weil Sie nicht den Mut hatten, jenen zu bestrafen,
der verantwortlich war, ihnen zu essen zu bringen und der
es nicht getan hat... Dass Sie diesen Mann kennen und
dass die gegen ihn erhobenen Anklagen richtig sind... Ich
hätte es tun müssen, ich habe es nicht getan... Wenn ich
wegen einer solchen Haltung erschossen werde, ist das in
Ordnung... Doch tut man es nicht, heisst dies, dass ich
alle Tage dieses Kreuz tragen muss, das Kreuz meiner
Unfähigkeit, meiner Flucht vor der Verantwortung... Je-
den Tag... Gezwungen zu sein, sich vor dem Nächstbe-
sten rechtfertigen zu müssen, macht einen wahnsinnig.
Sie sind jetzt hier auf der Strasse, am Strassenrand... Ein
Mann, der für sich allein spricht und jedem zu erklären
versucht: „Ich bin unschuldig, verstehen Sie mich, retten
Sie mich“. Nein, unmöglich.

Aber gibt es in gewisser Hinsicht schon jetzt einen


Wahnsinn namens Sankara?
Gewiss, man führt nicht grundlegende Änderungen
durch, ohne ein Minimum an Wahnsinn. In diesem Fall
wird dies zu Nonkonformismus, zum Mut, den bekannten
Formeln den Rücken zu kehren, die Zukunft zu erfinden.
Vor allem brauchte es die Verrückten von gestern, damit
wir uns heute so ausserordentlich klarsichtig verhalten
können.. Ich möchte zu dieser Sorte von Verrückten ge-
hören.

Die Zukunft erfinden?


Ja. Man muss wagen, die Zukunft zu erfinden. In der
Rede, die ich anlässlich der Lancierung des Fünfjahres-
planes gehalten habe, sagte ich: „Alles, was der Vorstel-
lungskraft des Menschen entspringt, kann der Mensch
auch verwirklichen“. Davon bin ich überzeugt.

118
Macht es Ihnen Mühe, nicht alles erklären zu können?
Ja, schrecklich.

Kennen Sie Augenblicke, in denen Sie das Bedürfnis


verspüren, allem aus dem Weg zu gehen?
Bestimmt.

Was machen Sie da?


Ich schreibe... ich schreibe viel. Das bleiben aber per-
sönliche Notizen, vertrauliche Mitteilungen an mich
selbst.

119
Dritter Teil
Anhang

Rede vom Oktober 1983

Volk von Obervolta! Kampfgenossinnen und Kampfge-


nossen der Revolution!
Unser Land hat in diesem Jahr 1983 besonders ereig-
nisvolle Augenblicke erlebt, die vielen Mitbürgern noch
in frischester Erinnerung sind. Der Kampf des Volkes
von Obervolta hat in dieser Periode verschiedene Hochs
und Tiefs durchgemacht. Unser Volk hat die Prüfung
heldenhafter Kämpfe bestanden und ist in der inzwischen
historisch gewordenen Nacht vom 4. August 1983 als
Sieger hervorgegangen. Seit bald zwei Monaten schreitet
die Revolution in unserem Land unaufhaltsam voran. In
diesen zwei Monaten hat sich das kämpfende Volk Ober-
voltas geschlossen hinter den Nationalen Revolutionsrat
(NRR) gestellt, mit dem Ziel, eine neue, freie, unabhä n-
gige und blühende Gesellschaft zu errichten - eine neue
Gesellschaft ohne soziale Ungerechtigkeit, frei von den
jahrhundertealten Herrschaft und Ausbeutung durch den
internationalen Imperialismus.
Ich lade Euch ein, nach diesem kurzen Wegstück zu-
sammen mit mir einen Blick zurück zu werfen, um daraus
die notwendigen Lehren zu ziehen und die bevorstehe n-
den revolutionären Aufgaben zu bestimmen. Es ist eine
erwiesene Tatsache, dass die grosse Widerstandsbewe-
gung, welche nach der reaktionären Provokation proim-
perialistischer Kräfte entstanden ist, die günstigen Vor-
aussetzungen für das historische Ereignis vom 4. August
1983 geschaffen hat.

120
Tatsächlich hat die imperialistische Verschwörung vom
17. Mai 1983 den Zusammenschluss demokratischer und
revolutionären Kräfte und Organisationen beschleunigt,
die während dieser Zeit Vorstösse und Aktionen von bis-
her unbekannter Kühnheit unternommen haben.
Damals litt das reaktionäre Bündnissystem um das tod-
geweihte Regime unter seiner Unfähigkeit, den Durch-
bruch der revolutionären Kräfte zu stoppen, die immer
offener zum Sturm auf das volks- und demokratiefeindli-
che Machtzentrum ansetzten.
Die Massendemonstrationen vom 20., 21. und 22. Mai
stiessen vor allem wegen ihrer grossen politischen Bedeu-
tung auf ein breites nationales Echo, denn sie bewiesen
die offene Zustimmung eines ganzen Volkes und insbe-
sondere seiner Jugend zu den revolutionären Ideen, wel-
che hinterrücks ermordete Männer hochgehalten hatten.
Die Demonstrationen waren deshalb so wichtig, weil sie
die Entschlossenheit eines ganzen Volkes und seiner ga n-
zen Jugend zeigten, die Kräfte der Unterdrückung und der
imperialistischen Ausbeutung konkret anzugreifen. Sie
waren der offenkundige Beweis für die Wahrheit, wonach
ein Volk im Aufstand den Imperialismus und die mit ihm
verbündeten sozialen Kräfte erzittern lässt.
Geschichte und politischer Bewusstwerdungsprozess
der Volksmassen folgen einem dialektischen Weg, wel-
cher der Logik der Reaktionäre unverständlich bleibt.
Deshalb haben die Ereignisse des Mai 1983 stark zur Be-
schleunigung des politischen Gärungsprozesses in unse-
rem Land beigetragen, und zwar so weit, dass die Volks-
massen insgesamt einen wichtigen qualitativen Sprung in
der Kenntnis der Lage vollzogen haben. Die Ereignisse
vom 17. Mai haben mitgeholfen, dem Volk Obervoltas
die Augen zu öffnen. Der Imperialismus mit seinem
Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem ist ihnen
121
terdrückungs- und Ausbeutungssystem ist ihnen plötzlich
grausam und brutal erschienen.
Es gibt Tage, die reicher an Erfahrungen und Lehren
sind als ganze Jahrzehnte. Im Verlauf solcher Tage lernt
das Volk mit solch unerhörter Schnelligkeit und mit der-
art geistiger Tiefe, dass im Vergleich dazu tausend Tage
Studium nichts bedeuten.
Die Mai-Ereignisse haben dem Volk Obervoltas ermög-
licht, seine Feinde zu erkennen. Seither weiss in Obervo l-
ta jeder Mann und jede Frau:

Wer ist wer!


Wer ist mit wem und gegen Wen!
Wer macht was und warum!

Diese neue Situation war das Vorspiel zu grossen Um-


wälzungen und hat dazu beigetragen, dass die Ver-
schlimmerung der Klassenwidersprüche in unserer Ge-
sellschaft offen zutage getreten sind.
Die Augustrevolution bedeutete daher die Lösung der
gesellschaftlichen Widersprüche, welche nicht mehr in
Kompromissen erstickt werden konnten.
Die begeisterte Teilnahme der Volksmassen an der Au-
gustrevolution widerspiegelt die riesige Hoffnung des
Volkes, dass die Regierung des Nationalen Revolutions-
rates endlich seine Sehnsucht nach Demokratie, Freiheit
und Unabhängigkeit befriedigt, seine Sehnsucht nach
einem wirklichen Fortschritt, der Wiederherstellung der
Würde und Grösse unseres Vaterlandes, welches durch
dreiundzwanzig Jahre neokolonialer Herrschaft lächerlich
gemacht wurde.

122
Das Erbe von 23 Jahren Neokolonialismus

Der Regierungsantritt des Nationalen Revolutionsrates


am 4. August 1983 und die seither erfolgte Schaffung
revolutionären Machtstrukturen haben eine ruhmvolle
Seite in der Geschichte unseres Volkes und unseres La n-
des geöffnet.
Trotzdem lastet das Erbe der 23 Jahre Ausbeutung und
imperialistischer Herrschaft schwer auf uns. Unsere Auf-
gabe, eine neue Gesellschaft zu errichten, frei vo n all den
Übeln, welche unser Land bisher in Armut und wirt-
schaftlicher wie kultureller Rückständigkeit gehalten ha-
ben, wird schwer sein.
Als in den sechziger Jahren der allseits bedrängte fran-
zösische Imperialismus - (in Dien Bien Phu besiegt und
in Algerien in grossen Schwierigkeiten) - sich gezwungen
sah, aus seinen Niederlagen Lehren zu ziehen und unse-
rem Land seine nationale Selbständigkeit und territoriale
Unversehrtheit zuzugestehen, wurde dies von unserem
Volk freudig begrüsst, welches nicht untätig geblieben
war, sondern Widerstand geleistet hatte. Die Flucht des
französischen Kolonialismus nach vorne bedeutete für
das Volk den Sieg über die fremden Kräfte der Unter-
drückung und Ausbeutung. In den Augen der Volksmas-
sen war das eine demokratische Reform, in den Augen
des Imperialismus hingegen eine Operation im Rahmen
des bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungssystems.
Dieser Wechsel hat immerhin zur Neuformierung der
sozialen Klassen und Schichten geführt, neue Klassen
haben sich gebildet. Im Bündnis mit den rückwärts ge-
richteten Kräften der traditionellen Gesellschaft und in
völliger Verachtung der Massen, die ihm als Sprungbrett
zur Macht gedient hatten, ging das intellektuelle Klein-

123
bürgertum daran, die politischen und wirtschaftlichen
Grundsteine für eine neue Form der imperialistischen
Herrschaft und Ausbeutung zu legen.
Die Angst, der Kampf der Volksmassen könnte sich
radikalisieren und zu einer wahrhaft revolutionären
Lösung führen, bildete den Ausgangspunkt dazu, dass der
Imperialismus von nun an seine Herrschaft über unser
Land durch zwischengeschaltete, nationale Kräfte
ausüben liess. Diese wurden die Verbindungsglieder zur
ausländ ischen Herrschaft und Ausbeutung. Die ganze
Organisation der neokolonialen Gesellschaft beschränkt
sich auf ein Austauschen formaler Strukturen. In ihrem
Wesen unterscheiden sich die koloniale und die
neukoloniale Gesellschaft nicht voneinander. So wird die
koloniale Verwaltung durch eine identische ersetzt, die
koloniale Armee durch eine neukoloniale mit den
gleichen Merkmalen, den gleichen Funktionen und der
gleichen Rolle als Wächter des Imperialismus und seiner
lokalen Verbündeten. Die koloniale Schule wird durch
eine neokoloniale ausgetauscht, welche die gleichen Ziele
verfolgt, nämlich die Entfremdung der Kinder von
unserem Land sowie die Reproduktion einer Gesellschaft
im Dienste des Imperialismus und seiner lokalen
Knechte.
Mit der Unterstützung und dem Segen des Imperialis-
mus beginnen die nationalen Verbündeten, die systemati-
sche Ausplünderung unseres Landes zu organisieren. Die
Brosamen, die ihnen von diesen Plünderungen zufallen,
machen sie nach und nach zu einer wirklich parasitären
Bourgeoisie, die ihren gefrässigen Appetit nicht mehr zu
zügeln vermag. Von ihren egoistischen Interessen ange-
trieben, weichen sie vor den schlimmsten Mitteln bald
nicht mehr zurück, sondern entwickeln in grossem Mass-
stab die Korruption, die Veruntreuung von Geldern und

124
öffentlichen Gütern, die Bestechung, die Immobilienspe-
kulation, die Günstlingswirtschaft und den Nepotismus.
So erklären sich all die materiellen und finanziellen
Reichtümer, die sie auf Kosten des arbeitenden Volkes
anhäufen konnten. Und da sie nicht zufrieden sind mit
den märchenhaften Gewinnen aus dieser schamlosen
Ausbeutung, versuchen sie mit allen Mitteln, Pöstchen in
der Politik zu hamstern, um danach auch den Staatsappa-
rat für ihre Ausbeutung und ihre Betrügereien ausnutzen
zu können.
Mehr als einmal pro Jahr leisten sie sich teure Ferien im
Ausland. Ihre Kinder meiden die Schulen des Landes und
besuchen prestigeträchtige Schulen im Ausland. Bei der
kleinsten Krankheit werden alle Mittel des Staates in Be-
wegung gesetzt für eine teure Behandlung in den Luxus-
spitälern des Auslandes.
All das geschieht unter den Augen eines arbeitsamen,
mutigen und ehrbaren Volkes, das in tiefstem Elend
steckt. Während Obervolta für die Minderheit der Re i-
chen ein Paradies darstellt, ist es für die Mehrheit eine
kaum erträgliche Hölle.
Zu dieser Mehrheit gehören die Lohnabhängigen, die
trotz eines regelmässigen Einkommens Gefangene der
Konsumgesellschaft sind, denn ihr gesamter Lohn ist
verbraucht, bevor er angerührt wird. Und ein Ausweg aus
dem Teufelskreis ist nicht ersichtlich. Die Lohnabhängi-
gen kämpfen mit ihren Gewerkschaften für die Verbesse-
rung ihres Lebensstandards, und wegen des Ausmasses
dieser Kämpfe erreichen sie manchmal gewisse Zuge-
ständnisse von der lokalen neokolonialen Macht. Doch
was mit der einen Hand gegeben, wird mit der anderen
genommen. So kündigt man mit grossem Tamtam eine
Lohnerhöhung von zehn Prozent an, um unmittelbar da-

125
nach Steuermassnahmen zu beschliessen, welche die
wohltuenden Folgen der Lohnerhöhung zunichte machen.
Nach fünf, sechs, sieben Monaten stellen die Arbeiter
jeweils fest, dass sie betrogen worden sind und schliessen
sich zu neuen Kämpfen zusammen. Sieben Monate sind
mehr Zeit, als die regierenden Reaktionäre brauchen, um
wieder Atem zu holen und neue Strategien zu erfinden.
Aus diesen endlosen Kämpfen gehen die Arbeiter immer
als Verlierer hervor.
Zu dieser Mehrheit gehören auch die „Verdammten die-
ser Erde“, die Bauern, die man enteignet, beraubt, belä-
stigt, ins Gefängnis steckt, verhöhnt und jeden Tag er-
niedrigt, deren Arbeit aber gleichzeitig den Reichtum des
Landes schafft. Dank ihrer produktiven Tätigkeit kann
die zerbrechliche Wirtschaft des Landes überhaupt erst
funktionieren. Mit ihrer Arbeit schmücken sich auch jene
reichen Einheimischen, für die Obervolta ein Eldorado
ist.
Und trotzdem sind sie es, die am meisten unter dem all-
gemeinen Mangel an Strukturen, an Strassenverbindun-
gen, sanitären Einrichtungen, Schulen und Schulmateria-
lien für ihre Kinder leiden. Es sind ihre Kinder, die - nach
einem Blitzaufenthalt in den nur schlecht auf die Bedürf-
nisse des Landes abgestimmten Schulen - das Heer der
Arbeitslosen noch vergrössern helfen. Unter ihnen ist
auch der Prozentsatz der Analphabeten am grössten
(98%).
Obwohl sie es sind, denen im Hinblick auf eine Produk-
tivitätssteigerung das Wissen zugute kommen müsste,
profitieren gerade sie am wenigsten von den Investitionen
in den Bereichen Gesundhe it, Erziehung und Technolo-
gie.

126
Die Bauernjugend, die - wie die gesamte Jugend - emp-
findlicher auf soziale Ungerechtigkeit reagiert und dem
Fortschritt gegenüber positiv gestimmt ist, verlässt aus
einer Haltung der Revolte heraus das Land, wodurch es
seiner dynamischsten Kräfte beraubt wird. Zuerst gehen
sie in die grossen städtischen Zentren Ouagadougou oder
Bobo-Dioulasso. Dort hoffen sie, eine erträgliche Arbeit
zu finden und mehr von den Segnungen des Fortschritts
profitieren zu können. Die Arbeitsknappheit treibt sie
zum Müssiggang mit all seinen bekannten Lastern.
Um nicht im Gefängnis enden zu müssen, suchen sie ihr
Heil schliesslich im Ausland, wo die schändlichste Er-
niedrigung und Ausbeutung sie erwarten. Aber lässt ih-
nen die Gesellschaft Obervoltas eine andere Wahl?
Dies ist, kurz gesagt, die Situation in unserem Land
nach 23 Jahren Neokolonialismus. Ein Paradies für die
einen, eine Hölle für die andern.
Nach 23 Jahren imperialistischer Herrschaft und
Ausbeutung ist unser Land ein zurückgebliebenes
Agrarland, wo der landwirtschaftliche Sektor, der über
90% der aktiven Bevölkerung beschäftigt, nur 45% des
Bruttosozialprodukts erwirtschaftet, aber 95% aller
Exporte
Währendliefert.
in andern Ländern die Bauern weniger als
fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen und, nicht nur
sich, sondern die Bedürfnisse der ganzen Nation befriedi-
gen und erst noch grosse Mengen ihrer Landwirtschafts-
produkte exportieren können, kennen bei uns neunzig
Prozent des Volkes trotz grosser Anstrengungen Hun-
gersnöte und sind auf Nahrungsmittelimporte, wenn nicht
gar auf internationale Hilfsleistungen, angewiesen. Dieses
Ungleichgewicht zwischen Import und Export erhöht die
Auslandsabhängigkeit des Landes. Das Handelsdefizit
wächst im Verlauf der Jahre beträchtlich, und der Dek-

127
kungsgrad der Importe durch Exporte liegt bei etwa 25%.
Das heisst, wir kaufen im Ausland mehr ein, als wir dort-
hin verkaufen. Eine Wirtschaft, die auf dieser Grundlage
funktioniert, richtet sich immer mehr zugrunde und endet
in der Katastrophe.
Die privaten Investitionen ausländischer Gelder sind
nicht nur ungenügend, sondern wirken als wahre Blutegel
für die Wirtschaft des Landes und erhöhen daher ihre
Akkumulationsfähigkeit nicht. Ein wichtiger Teil des mit
Hilfe ausländischer Investitionen geschaffenen Reic h-
tums wird wieder ins Ausland abgezogen, statt zwecks
Steigerung der Produktionskapazität des Landes neu in-
vestiert. Man schätzt, dass zwischen 1973 und 1979 1,7
Milliarden Franc CFA aus Gewinnen ausländischer Inve-
stitionen ins Ausland geflossen sind, während die neuen
Investitionen durchschnittlich nur 1,3 Milliarden pro Jahr
betragen.
Die ungenügenden Investitionen im produktiven Be-
reich führen dazu, dass der Staat in der nationalen Öko-
nomie eine zentrale Rolle zu übernehmen hat. Er springt
für die privaten Investitionen ein. Daraus entsteht eine
schwierige Situation, wenn man bedenkt, dass die budge-
tierten Staatseinnahmen im wesentlichen aus Fiskalerträ-
gen bestehen, die 85% der Gesamteinnahmen ausmachen
und grossenteils von Importtaxen und Steuern herrühren.
Mit den Staatseinnahmen müssen ausser den nationalen
Investitionen auch die Staatsausgaben finanziert werden,
zu 70% für die Löhne der Beamten und das Funktionieren
des Verwaltungsapparates. Was bleibt da noch für soziale
und kulturelle Investitionen übrig?
Im Bereich der Erziehung gehört unser Land mit einer
Einschulungsquote von 16,4% und einem Analphabeten-
anteil von 92% zu den rückständigsten der Welt. Das

128
heisst, von hundert Einwohnern Obervoltas können höch-
stens acht lesen und schreiben - in welcher Sprache auch
immer.
Im Gesundheitswesen gehört die Erkrankungs- und
Sterblichkeitsrate der wuchernden Ansteckungskrankhe i-
ten und der mangelhaften Ernährung wegen zu den höch-
sten der Region. Wie soll man eine derart katastrophale
Lage vermeiden können, wenn man weiss, dass bei uns
ein Krankenhausbett auf 1200 Einwohner und ein Arzt
auf 48’000 Einwohner fällt?
Diese paar Angaben mögen genügen, um das Erbe zu
beschreiben, das uns 23 Jahre Neukolonialismus, 23 Jahre
Politik der nationalen Selbstaufgabe hinterlassen haben.
Eine solch unerträgliche Situation kann keinen Bewo h-
ner Obervoltas, der sein Land liebt, gleichgültig lassen.
Unser mutiges und arbeitsames Volk hat eine solche Lage
nie ertragen können. Weil es begriffen hat, dass es sich
dafür nicht um ein Schicksal handelt, sondern um ein
Gesellschaftssystem, das auf der Privilegierung einer
kleinen Minderheit basiert, hat es zu den verschiedensten
Kampfmitteln gegriffen und ständig versucht, Wege zu
finden, um mit dieser Situation Schluss zu machen. Des-
halb hat es auch die Machtübernahme durch den Revolu-
tionsrat und die Augustrevolution enthusiastisch begrüsst,
als Krönung seiner opferreichen Bemühungen, die alte
Ordnung zu stürzen, eine neue Ordnung zu schaffen, dem
Menschen wieder Würde und dem Land den gebührenden
Platz in der Gemeinschaft der freien und geachteten Lä n-
der zu geben.

129
Die Feinde der Revolution

Die parasitären Kreise, die sich gewöhnt sind, aus dem


kolonialen und neokolonialen Obervolta Nutzen zu zie-
hen, stehen den revolutionären Veränderunge n seit dem
4. August 1983 feindlich gegenüber. Sie sind und bleiben
durch eine Nabelschnur mit dem internationalen Imperia-
lismus verbunden. Sie sind und bleiben glühende Vertei-
diger ihrer dank des Bündnisses mit dem Imperialismus
erworbenen Privilegien. Was immer man tun und sagen
wird, sie werden sich stets treu bleiben und weiterhin
Komplotte schmieden, um ihr „verlorenes Königreich“
wieder zu erobern. Von diesen Nostalgikern darf man
keinen Sinneswandel und keine Haltungsänderung erwar-
ten. Sie sind nicht sehr einfühlsam und verstehen nur die
Sprache des Kampfes, des revolutionären Klassenkamp-
fes gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Unsere Revo-
lution wird für sie eine höchst autoritäre Angelegenheit
sein, damit wird ihnen das Volk seinen Willen aufzwin-
gen, wenn nötig mit Waffengewalt.
Wer sind diese Feinde des Volkes? Während den Ereig-
nissen des 17. Mai haben sie sich vor den Augen des
Volkes entlarvt. Im Feuer der revolutionären Aktion hat
das Volk seine Feinde identifizieren können. Es sind dies:

1. Die Bourgeoisie Obervoltas, die sich ihrerseits je


nach Stellung und Funktion in drei Gruppen untersche i-
det: die Staatsbourgeoisie, die Kompradorenbourgeoisie
und die mittlere Bourgeoisie.
Die Staatsbourgeoisie: Diese Fraktion kennt man auch
unter der Bezeichnung Politbürokratie, Durch ihre Mono-
polstellung hat sie sich skrupellos bereichert. Sie hat sich
des Staatsapparats bedient, wie es in der Industrie der

130
Kapitalist mit den Produktionsmitteln tut, um aus der
Arbeitskraft der Arbeiter den Mehrwert zu ziehen. Diese
Fraktion der Bourgeoisie wird niemals freiwillig auf ihre
Privilegien verzichten und den revolutionären Verände-
rungen tatenlos zusehen.
Die Handelsbourgeoisie: Diese Fraktion ist schon al-
lein durch ihre Handelstätigkeit in vielfältigen Banden
mit dem Imperialismus verknüpft. Die Beseitigung der
imperialistischen Herrschaft bedeutet für sie das Schlach-
ten des Huhns, das goldene Eier legt. Deshalb widersetzt
sie sich mit allen Kräften der gegenwärtigen Revolution.
Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise die unreellen
Geschäftsleute, die das Volk auszuhungern versuchen,
indem sie Lebensmittel zu Spekulations zwecken und aus
Sabotagegründen aus dem Verkehr ziehen.
Die mittlere Bourgeoisie: Diese Fraktion der Bour-
geoisie Obervoltas ist zwar auch mit dem Imperialismus
verbunden, rivalisiert aber gleichzeitig mit ihm um die
Kontrolle über den Markt. Aber da sie wirtschaftlich
schwächer ist, lässt sie sich vom Imperialismus verdrän-
gen. Sie hat also Gründe, gegen den Imperialismus zu
sein, aber sie hat Angst vor dem Volk. Diese führt sie
dazu, gemeinsame Sache mit dem Imperialismus zu ma-
chen. Da aber die imperialistische Herrschaft über unser
Land sie hindert, ihre Rolle als nationale Bourgeoisie
wirklich zu spielen, können einzelne Teile von ihr der
Revolution positiv gegenüberstehen. Trotzdem muss zwi-
schen diesen zur Revolution stossenden Teilen und dem
Volk ein revolutionäres Misstrauen geschaffen werden,
denn unter diesem Deckmantel werden sich Opportuni-
sten aller Art zur Revolution bekennen.

131
2. Die rückwärtsgerichteten Kräfte, deren Macht auf
den traditionellen feudalen Strukturen unserer Gesell-
schaft gründet. Die Kräfte hatten mehrheitlich dem fran-
zösischen Kolonialismus Widerstand geleistet, machen
aber seit Erlangen der nationalen Unabhängigkeit mit der
reaktionären Bourgeoisie gemeinsame Sache zur Unter-
drückung des Volkes. Diese Kräfte haben sich die bäuer-
lichen Massen als Reservearmee für ihre Wahlgeschäfte
gehalten.
Um ihre Interessen durchzusetzen, die sie mit dem Im-
perialismus gemein haben, die aber jenen des Volkes zu-
widerlaufen, greifen diese reaktionären Kräfte auf rück-
ständige Werte zurück, welche im ländlichen Milieu noch
stark verbreitet sind. Je mehr es der Revolution gelingen
wird, die sozialen Verhältnisse auf dem Lande zu demo-
kratisieren, den Bauern mehr Selbstverantwortung, mehr
Bildung und mehr Wissen für ihre kulturelle und wirt-
schaftliche Emanzipation zur Verfügung zu stellen, desto
stärkeren Widerstand werden diese rückwärtsgerichteten
Kräfte leisten.
Dies sind die Feinde des Volkes in der jetzigen Revolu-
tion. Das Volk konnte sie während den Mai- Ereignissen
selbst identifizieren. Sie bildeten die Mehrheit jener vom
Militär geschätzten Truppe von Einzelpersonen, die für
die todgeweihte, durch einen proimperialistischen Staats-
streich an die Macht gekommene Regierung demonstrier-
te.

Das Volk von Obervolta

Neben diesen reaktionären und antirevolutionären Klas-


sen und Schichten bildet das Volk Obervoltas die restli-
che Bevölkerung. Es hat die imperialistische Herrschaft

132
und Ausbeutung stets verabscheut und im täglichen
Kampf gegen die verschiedenen neokolonialen Regierun-
gen seine Ablehnung bewiesen. Das Volk setzt sich aus
folgenden Gliedern zusammen:

1. Die Arbeiterklasse Obervoltas: Sie ist zwar jung und


nicht sehr zahlreich, hat aber mit ihren unaufhörlichen
Kämpfen bewiesen, dass sie eine wirklich revolutionäre
Klasse ist. Sie hat mit der aktuellen Revolution nichts zu
verlieren und alles zu gewinnen . Sie besitzt keine Pro-
duktionsmittel, die sie verlieren könnte, sie hat im Ra h-
men der alten neokolonialen Gesellschaft kein Grund-
stück zu verteidigen. Sie ist davon überzeugt, dass die
Revolution ihre Sache ist und sie daraus gestärkt hervor-
gehen wird.

2. Das Kleinbürgertum, das sehr unbeständig ist und oft


zwischen der Sache der Volksmassen und jener des Impe-
rialismus schwankt. In seiner grossen Mehrheit schlägt es
sich am Ende auf die Seite der Volksmassen. Zu ihm ge-
hören die kleinen Händler, die kleinbürgerlichen Intellek-
tuellen (Beamte, Studenten, Schüler, Angestellte des pri-
vaten Sektors etc.) und die Handwerker.

3. Die Bauernmassen Obervoltas bestehen, seit die Auf-


lösung des Gemeineigentums durch Einführung der kapi-
talistischen Produktionsweise fortgeschritten ist, grossen-
teils aus Kleinbauern mit einem eigenen Stück Land. Die
Handelsbeziehungen lösen die alten gemeinsamen Bande
immer stärker, an ihre Stelle tritt das Privateigentum an
Produktionsmitteln. Das Vordringen des Kapitalismus auf
dem Lande liess eine Situation entstehen, in welcher der
mit der Kleinproduktion verbundene Bauer Obervo ltas

133
die bürgerlichen Produktionsbedingungen verkörpert. So
gesehen gehören die Bauern des Landes zum Kleinbür-
gertum. Mit ihrer Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen
Lage sind sie die Gesellschaftsschicht, die der imperiali-
stischen Herrschaft und Ausbeutung den höchsten Tribut
gezollt hat. Die wirtschaftlich und kulturell rückständige
Situation, in der sich unsere ländlichen Gegenden befin-
den, hat sie lange Zeit vom grossen Fortschritts- und Mo-
dernisierungsprozess ausgeschlossen und sie zu einem
Reservat reaktionären politischer Parteien gemacht.
Trotzdem sind die Bauern an der Revolution interessiert
und stellen zahlenmässig deren stärkste Kraft dar.

4. Das Lumpenproletariat: Diese deklassierten Elemente


neigen wegen ihrer Arbeitslosigkeit dazu, in den Sold der
reaktionären und konterrevolutionären Kräfte zu gela n-
gen, um deren Drecksgeschäfte auszuführen. Gelingt es
der Revolution, sie nützlich einzusetzen, können sie zu
ihren glühenden Verteidigern werden.

Charakter und Tragweite der Augustrevolution

Die Revolutionen, die auf der Welt geschehen, gleichen


sich kaum. Jede hat ihre Eigenart und unterscheidet sich
von der andern. So auch unsere Revolution, die August-
revolution. Sie berücksichtigt die Eigenheiten unseres
Landes, den Grad seiner Entwicklung und seiner Unter-
werfung unter das internationale System des Kapitalis-
mus.
Unsere Revolution ist eine Revolution, die sich in ei-
nem bäuerlichen und rückständigen Land abspielt, in dem
die Traditionen und eine auf der feudalen Gesellschafts-
ordnung basierende Ideologie schwer auf den Volksmas-

134
sen lasten. Es ist eine Revolution in einem Land, welches
von kolonialen Verhältnissen zu neokolonialen überge-
gangen ist.
Unsere Revolution spielt sich in einem Land ab, in dem
es keine Arbeiterklasse gibt, die sich ihrer historischen
Mission bewusst und entsprechend organisiert ist. Es ist
eine Revolution, die sich in einem kleinen Land des Kon-
tinents in einem Augenblick abwickelt, wo auf interna-
tionaler Ebene die revolutionäre Bewegung von Tag zu
Tag mehr zerbröckelt, ohne sichtbare Hoffnung auf die
Bildung eines homogenen Blocks, der die jungen revolu-
tionären Bewegungen ermutigen und unterstützen könnte.
Diese besonderen geschichtlichen, geographischen und
soziologischen Umstände geben unserer Revolution ein
eigenes Gepräge.
Die Augustrevolution ist eine Revolution mit Doppel-
charakter: sie ist eine demokratische und eine Volksrevo-
lution. Ihre vordringliche Aufgabe ist die Beendigung der
imperialistischen Vorherrschaft und Ausbeutung, die Er-
lösung der ländlichen Gebiete von allen sozialen, wirt-
schaftlichen und kulturellen Fesseln, die sie in der Rück-
ständigkeit zurückhalten. Von daher kommt ihr demokra-
tischer Charakter. Indem die Massen Obervoltas vollbe-
rechtigte Teilnehmer dieser Revolution sind und sich
konsequent um deren demokratische und revolutionäre
Parolen mobilisieren, welche im Gegensatz zu jenen der
reaktionären, mit dem Imperialismus verbündeten Klas-
sen ihre eigenen Interessen in die Tat umsetzen, erhält sie
den Charakter einer Volksrevolution.
Der Charakter einer Volk srevolution besteht bei der
Augustrevolution auch aus der Tatsache, dass sie an Stel-
le der alten Staatsmaschine eine neue aufbaut, welche den

135
Zweck verfolgt, die demokratische Machtausübung durch
das Volk und für das Volk zu garantieren.
Unsere dergestalt charakterisierte Revolution spielt sich
gerade als antiimperialistische Revolution noch im Ra h-
men und in den Grenzen des bürgerlichen, wirtschaftli-
chen und sozialen Regimes ab. Bei der Analyse der ge-
sellschaftlichen Klassen Obervoltas haben wir den Ge-
danken vertreten, dass die Bourgeoisie Obervoltas nicht
eine homogene, reaktionäre und antirevolutionäre Masse
ist.
Was die Bourgeoisie der unterentwickelten Länder mit
kapitalistischen Produktionsverhältnissen tatsächlich cha-
rakterisiert, ist die angebotene Unfähigkeit, die Gesell-
schaft nach dem Beispiel der europäischen Bourgeoisie
um 1780 zu revolutionieren, also jene Epoche, als diese
noch eine im Aufstieg begriffene Klasse darstellte. Dies
sind also die Charakterzüge und die Schranken der seit
dem 4. August 1983 stattfindenden Revolution Obervo l-
tas. Eine klare Sicht und genaue Definition ihres Inhaltes
sichert uns vor der Gefahr von Abweichungen und Ex-
zessen, die das siegreiche Vorankommen der Revolution
gefährden könnten. Alle, die Partei für die Augustrevo lu-
tion nehmen, mögen sich in die hier ausgebreitete Leitli-
nie vertiefen, um ihre Rolle als bewusste Revolutionäre
wahrnehmen zu können und als unerschütterliche und
unermüdliche Propagandisten diese Linie unter den Mas-
sen zu verbreiten. Es genügt nicht mehr, sich Revolutio-
när zu nennen, man muss sich vielmehr in die tiefere Be-
deutung der Revolution, die man leidenschaftlich vertei-
digt, vertiefen. Das ist das beste Mittel, sie gegen die An-
griffe und Verzerrungen der Konterrevolutionäre zu ver-
teidigen, welche bestimmt nicht ausbleiben werden. Ver-
stehen, wie man die revolutionäre Theorie mit der revolu-

136
tionären Praxis verbindet, wird von jetzt an das entsche i-
dende Kriterium sein, zwischen den konsequenten Revo-
lutionären und all jenen zu unterscheiden, die aus der
revolutionären Sache fremden Motivationen zur Revolu-
tion gestossen sind.

Von der Souveränität des Volkes bei der Ausübung


der revolutionären Macht

Eines der Unterscheidungsmerkmale der Augustrevo-


lution, welches ihr den Charakter einer Volksrevolution
verleiht, besteht darin, dass sie die Bewegung der über-
wiegenden Mehrheit zugunsten der überwiegenden
Mehrheit ist.
Es ist eine von den Massen Obervoltas selbst durchge-
führte Revolution, mit deren Parolen und Zielen. Das Ziel
besteht darin, die Macht durch das Volk ausüben zu las-
sen. Das war der Grund, weshalb der erste Akt der Revo-
lution nach deren Proklamation vom 4. August in einem
Appell an das Volk bestand, Komitees zur Verteidigung
der Revolution (Comités de défense de la révolution -
CDR) zu schaffen. Der CNR hat die Überzeugung, dass
diese Revolution, damit sie eine wirkliche Volksrevoluti-
on ist, zur Zerstörung der neokolonialen Staatsmaschine
schreiten und eine neue Staatsmaschine organisieren
muss, die fähig ist, die Souveränität des Volkes zu garan-
tieren. Die Frage, wie die Volksmacht ausgeübt werden
soll, wie sich diese Macht organisieren muss, ist eine we-
sentliche Frage für die Zukunft unserer Revolution.
Die Geschichte unseres Landes bis in die heutige Zeit
war wesentlich von den ausbeuterischen und konservati-
ven Klassen bestimmt, welche ihre antidemokratische
und volksfeindliche Diktatur ausübten, indem sie den

137
politischen Bereich, die Wirtschaft, die Ideologie, die
Kultur, die Verwaltung und die Justiz beschlagnahmten.
Die Revolution hat als erstes Ziel, die Macht aus den
Händen der mit dem Imperialismus verbündeten Bour-
geoisie Obervoltas, in die Hände des Bündnisses jener
Klassen übergehen zu lassen, die das Volk bilden. Das
heisst, das Volk an der Macht muss von jetzt an seine
demokratische Volksmacht der antidemokratischen und
volksfeindlichen Allianz der dem Imperialismus günstig
gesinnten Gesellschaftsklassen entgegenstellen.
Diese demokratische Volksmacht wird die Grundlage,
die feste Basis der revolutionären Macht Obervoltas bil-
den. Sie wird als vordringliche Aufgabe die vollständige
Umwandlung der gesamten Staatsmaschine mit ihren
Gesetzen, ihrer Verwaltung, ihren Gerichten, ihrer Poli-
zei, ihrer Armee haben, welche alle zum Dienst und zur
Verteidigung der egoistischen Interessen der reaktionären
Gesellschaftsklassen und -schichten geformt worden sind.
Diese Volksmacht hat die Aufgabe, den Kampf gegen die
konterrevolutionären Bestrebungen zu organisieren, wel-
che das „verlorene Paradies“ zurückzuerobern versuchen,
um den Widerstand der sich nach der Vergangenheit seh-
nenden Reaktionäre vollständig auszumerzen. Die Not-
wendigkeit und die Rolle der CDR besteht gerade darin,
als Stützpunkte der Volksmassen beim Sturm auf die re-
aktionären und konterrevolutionären Zitadellen zu die-
nen.

138
Für ein richtiges Verständnis des Wesens, der Rolle
und des Funktionierens der CDR

Der Aufbau des demokratischen Volksstaates, das ei-


gentliche Ziel der Augustrevolution, ist und wird nicht
das Werk eines einzigen Tages sein. Es ist eine schwieri-
ge Aufgabe, die von uns riesige Opfer fordert. Der demo-
kratische Charakter unserer Revolution verlangt von uns
eine Dezentralisierung und Entflechtung der Verwal-
tungsmacht, um die Verwaltung näher an das Volk heran-
zubringen, um die öffentlichen Angelegenheiten zu einer
Sache zu machen, die alle und jeden interessieren. Im
Rahmen dieses riesigen und langwierigen Werkes haben
wir die administrative Karte des Landes zwecks einer
grösseren Effizienz umgestaltet.
Wir haben ebenfalls die Leitung der Verwaltung in ei-
nem revolutionären Sinn umgestaltet.
Gleichzeitig haben wir Beamte und Militärs, die aus
verschiedenen Gründen mit unserer Revolution nicht
Schritt halten konnten, abgesetzt. Aber es bleibt noch viel
zu tun, wir sind uns dessen bewusst. Der Nationale Revo-
lutionsrat, der im revolutionären, seit 4. August in Gang
gesetzten Prozess, die Gestaltung, Leitung und Kontrolle
des nationalen Lebens im politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Bereich wahrnimmt, muss auf den verschie-
denen Gebieten des nationalen Lebens über lokale Instan-
zen verfügen. Und hier liegt der tiefe Sinn der Schaffung
der CDR, welche die Vertretungen der revolutionären
Macht in den Dörfern, den Stadtvierteln und am Arbeits-
platz sind.
Die CDR bilden die authentische Organisation des Vo l-
kes bei der Ausübung der revolutionären Macht. Sie sind
das Werkzeug, welches sich das Volk geschmiedet hat,

139
um sich zum wirklichen Herrn über sein Schicksal zu
machen, somit seine Kontrolle über alle Bereiche der
Gesellschaft auszudehnen.
Die Waffen des Volkes, die Macht des Volkes, die
Reichtümer des Volkes - über all das wird das Volk selbst
verfügen und es sind die CDR, die dazu da sind.
Was ihre verschiedenen Rollen betrifft, so sind sie rie-
sengross und vielfältig. Ihre erste Aufgabe ist die Organi-
sierung des gesamten Volkes von Obervolta, um es am
revolutionären Kampf zu beteiligen. Das in den CDR
organisierte Volk erhält nicht nur das Aufsichtsrecht über
die Probleme seiner Zukunft, sondern nimmt auch teil an
der Fassung von Beschlüssen und deren Ausführung.
Die Revolution als richt ige Theorie, um die alte Ord-
nung zu zerstören und an deren Stelle eine neue Gesell-
schaft aufzubauen, kann nur von denen durchgeführt
werden, die daran Interesse haben.
Die CDR sind somit die Sturmtruppen, die alle Wider-
standsnester angreifen. Sie sind die Erbauer des neuen
revolutionären Obervolta. Sie sind die revolutionäre He-
fe, und müssen die Revolution in alle Provinzen, in all
unsere Dörfer, alle öffentlichen und privaten Dienste, in
alle Familien, in alle Schichten tragen. Deshalb müssen
die engagierten Revolutionäre in den CDR einen leiden-
schaftlichen Wettbewerb zur Erfüllung folgender, vor-
dringlicher Aufgaben organisieren:

1. Die auf die Mitglieder des CDR ausgerichtete Akti-


on: Die engagierten Revolutionäre müssen die politische
Erziehung ihrer Genossen übernehmen. Die CDR müssen
Schulen der politischen Bildung sein.

140
2. Die auf die Massen gerichtete Aktion hat zum Ziel,
diese mittels einer kühnen, unablässigen Propaganda und
Agitation dazu zu bringen, massiv die Ziele des CNR zu
unterstützen. Die CDR müssen der lügenhaften Propa-
ganda und den Unterstellungen der Reaktion die eigene
Propaganda entgegenzusetzen verstehen, also angemes-
sene revolutionäre Erklärungen nach dem Prinzip, dass
nur die Wahrheit revolutionär ist.
Die CDR müssen ihr Ohr bei den Massen haben, um
sich über deren Geisteszustand, deren Bedürfnisse Re-
chenschaft ablegen zu können, um den CNR rechtzeitig
zu informieren und konkrete Vorschläge in diesen Ange-
legenheiten zu machen.
Die CDR sind aufgefordert, die Fragen betreffend Ver-
besserungen im Interesse des Volkes zu untersuchen, in-
dem sie Initiativen der Massen unterstützen.
Den direkten Kontakt mit den Volksmassen durch peri-
odische offene Versammlungen zu organisieren, wo die
interessierenden Fragen diskutiert werden, ist für die
CDR eine gebieterische Notwendigkeit, wenn sie helfen
wollen, die Direktiven des CNR korrekt anzuwenden. So
werden den Massen in der Propagandaaktion die Ent-
scheidungen des CNR erläutert. Ebenfalls erläutert wer-
den sollen alle Massnahmen, die zur Verbesserung der
Lebensbedingungen getroffen werden. Die CDR müssen,
zusammen mit den Volksmassen aus Stadt und Land,
gegen ihre Feinde und die Widerwärtigkeiten der Natur,
wie auch für eine Veränderung ihrer materiellen und mo-
ralischen Existenzbedingungen kämpfen.

3. Die CDR werden auf eine rationelle Art und Weise


arbeiten müssen, um so ein Kennzeichen unserer Revolu-
tion zu illustrieren: ihre unbeugsame Strenge. Daraus

141
folgt, dass sie sich mit ehrgeizigen, aufeinander abge-
stimmten Akionsplänen versehen müssen, die für alle
Mitglieder Gültigkeit haben.
Seit dem 4. August, einem Datum, das für unser Volk
schon zu einem historischen geworden ist, haben die Vo l-
taer, dem Aufruf des CNR folgend, Initiativen entwickelt,
um CDR zu bilden. So haben CDR in den Dörfern, in den
Stadtvierteln, bald auch an den Arbeitsplätzen, in den
Dienstleistungsbetrieben, in den Fabriken, in der Armee
das Licht der Welt erblickt. Das alles ist das Ergebnis der
spontanen Aktion der Massen. Jetzt aber kommt es darauf
an, auf einer klaren Grundlage an ihrer inneren Struktur
und ihrer Organisation auf nationaler Ebene zu arbeiten.
Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich gegenwärtig das na-
tionale Generalsekretariat der CDR.
Während wir darauf warten, dass die Gedankenarbeit,
welche jetzt auf der Basis der gesammelten Erfahrungen
gefestigt wird, definitive Ergebnisse zeitigt, begnügen wir
uns, den Aufbau und die allgemeinen Leitlinien für das
Funktionieren der CDR zu skizzieren.
Die erste Idee, die mit der Schaffung der CDR verfolgt
wurde, ist die Demokratisierung der Macht. Die CDR
werden zu den Organen, mittels derer das Volk jene
Macht auf lokaler Ebene ausübt, welche von der zentra-
len, dem CNR übertragenen Macht ausgeht.
Der CNR stellt, ausserhalb der Sitzungen des Nationa l-
kongresses, die höchste Gewalt im Staat dar. Er ist das
Leitorgan dieses ganzen Aufbaus, dessen Leitprinzip der
demokratische Zentralismus ist.
Der demokratische Zentralismus basiert einerseits auf
der Unterordnung der Organe auf der unteren Stufen der
Leiter unter die Organe auf den höheren. Deren höchste
ist der CNR, dem sich alle übrigen Organisationen unter-

142
ordnen. Andererseits bleibt dieser Zentralismus demokra-
tisch, denn das Prinzip der demokratischen Wahl gilt aus-
nahmslos auf allen Stufen und die Autonomie der lokalen
Organe für alle wichtigen, sie betreffenden Fragen wird
anerkannt, immer im Rahmen und unter Berücksichti-
gung der allgemeinen Richtlinien, die von der oberen
Instanz vorgegeben sind.

Von der revolutionären Moral der CDR

Die Revolution zielt auf die Umwandlung der Gesell-


schaft in all ihren Verhältnissen ab, wirtschaftlich, sozial
und kulturell. Sie zielt darauf ab, ein neues Obervolta zu
schaffen, mit einer beispielhaften Moral und einem ge-
sellschaftlichen Verhalten, weiche Bewunderung erregen
und das Vertrauen der Massen beflügeln. Die neokolonia-
le Beherrschung hat unsere Gesellschaft einem derartigen
Verfall preisgegeben, dass wir Jahre brauchen werden,
um sie zu reinigen.
Deshalb müssen sich alle Engagierten der CDR neues
Bewusstsein und ein neues Verhalten aneignen, um den
Volksmassen ein gutes Beispiel geben zu können. Wäh-
rend wir die Revolution machen, müssen wir auf unsere
eigene qualitative Veränderung achten. Denn ohne quali-
tative Veränderung jener, die dazu bestimmt sind, die
Urheber der Revolution zu sein, ist es praktisch unmö g-
lich, eine neue Gesellschaft zu schaffen, frei von Korrup-
tion, Diebstahl, Lüge und Individualismus in einem all-
gemeinen Sinn.
Wir müssen uns bemühen, unsere Worte und unsere Ta-
ten in Übereinstimmung zu bringen, unser gesellschaftli-
ches Verhalten im Auge zu behalten, damit wir den Kon-

143
terrevolutionären, keine Angriffsflächen bieten, die dar-
auf nur lauem.
Ständig daran zu denken, dass das Interesse der Volks-
massen Vorrang vor den persönlichen Interessen hat,
wird uns vor jeder Verirrung bewahren.
Die Betriebsamkeit einiger Militanter, die den Konter-
revolutionären Traum hegten, sie könnten sich über die
CDR Güter und Profite verschaffen, muss öffentlich auf-
gedeckt und bekämpft werden. Die Vordrängelei muss
ausgemerzt werden.
Je schneller solche Mängel bekämpft werden, desto bes-
ser für die Revolution.
Von unserem Standpunkt aus ist der Revolutionär der-
jenige, der es versteht, bescheiden zu sein und gleichzei-
tig die Aufgaben, die ihm übertragen werden, sehr ent-
schlossen anzupacken. Er erledigt seine Pflichten ohne
Grosstuerei und erwartet keinerlei Entschädigung.
In letzter Zeit stellten wir fest, dass einige Kreise, die an
der Revolution aktiv teilgenommen und deshalb erwartet
hatten, ihnen komme eine Vorzugsbehandlung, Ehren,
oder ein wichtiger Posten zu, sich aus Ärger einer Wühl-
arbeit hingaben, da sie aus der Sache keinen Gewinn ge-
zogen haben. Das ist der Beweis, dass sie sich an der Re-
volution beteiligt haben, ohne je deren wirkliche Ziele zu
begreifen. Man nimmt nicht an einer Revolution teil, um
sich einfach der Posten der alten, gestürzten Potentaten zu
bemächtigen. Nicht aus Rachsucht, geleitet vom Verla n-
gen nach einer vorteilhaften Position für sich selbst:
„Verschwinde von hier, damit ich mich einrichten kann.“
Diese Art von Motiv ist dem Ideal der Augustrevolution
fremd, und wer davon bewegt wird, legt nur Zeugnis von
seinem situationsbedingten kleinbürgerlichen Verhalten

144
ab, wenn es sich nicht gar um einen gefährlichen konter-
revolutionären Opportunismus handelt.
Das Bild des Revolutionärs, welches der CNR im Be-
wusstsein aller verankern will, ist das eines Aktivisten,
der Teil der Massen ist, der Vertrauen in sie hat und sie
respektiert. Er enthält sich jeglicher verächtlicher Einstel-
lung den Massen gegenüber. Er betrachtet sich nicht als
Herr und Meister, dem die Massen Gehorsam und Unter-
werfung schulden. Im Gegenteil, er lernt von den Massen,
hört ihnen aufmerksam zu gibt acht auf deren Meinungen.
Er enthält sich aller autoritären Methoden, welche nur
reaktionäres Bürokraten würdig sind.
Die Revolution unterscheidet sich von der zerstöreri-
schen Anarchie. Sie verlangt eine beispielhafte Disziplin
und ein beispielhaftes Betragen.
Vandalenakte und jede Art von abenteuerlichen Aktio-
nen schwächen die Unterstützung der Revolution durch
die Massen, statt sie zu stärken, und stösst unzählbare
Massen von ihr ab.
Deshalb müssen die Mitglieder der CDR den Sinn für
ihre Verantwortung vor dem Volk stärken und versuchen,
Respekt und Bewunderung hervorzurufen.
Die festgestellten Mängel sind in den meisten Fällen
Beweis für eine Unkenntnis des Charakters und der Ziele
der Revolution. Um uns demgegenüber vorzusehen, müs-
sen wir uns ins Studium der revolutionären Theorie ver-
tiefen. Das theoretische Studium hebt unser Verständnis
der verschiedenen Erscheinungen, hellt den Sinn für un-
sere Aktionen auf und bewahrt uns vor vielen Überheb-
lichkeiten.
Wir müssen von jetzt an diesem Aspekt der Frage be-
sondere Aufmerksamkeit widmen und uns bemühen, mit

145
dem Beispiel voranzugehen, das andere zu folgen an-
spornt.

Für eine Revolutionierung aller Bereiche der Gesell-


schaft Obervoltas.

Alle politischen Regimes, die einander bisher ablösten,


waren bestrebt, ein Bündel von Massnahmen zur besseren
Verwaltung der neukolonialen Gesellschaft zu ergreifen.
Die von den verschiedenen Regimes durchgeführten Ver-
änderungen begnügten sich mit der Zusammenstellung
einer neuen Mannschaft bei anhaltender neokolonialer
Macht. Keines dieser Regimes wollte oder konnte die
sozioökonomischen Grundlagen der Gesellschaft Ober-
voltas infrage stellen. Das is t auch der Grund, weshalb sie
alle scheiterten.
Die Augustrevolution zielt nicht darauf ab, ein Regime
mehr in Obervolta zu errichten. Sie stellt einen Bruch mit
allen bisherigen bekannten Regimes dar. Sie setzte sich
als Endziel die Errichtung einer neuen Gesellschaft in
Obervolta, in deren Rahmen der Bürger Obervoltas, be-
flügelt durch den revolutionären Geist, seines eigenen
Glückes Schmied sein wird, eines Glücks, auf der Höhe
der Anstrengungen, denen er selbst zugestimmt hat. Um
dies zu erreichen, muss diese Revolution zum Missver-
gnügen konservativer und rückwärtsgewandter Kräfte
eine vollständige und tiefgehende Umwälzung sein, die
keinen Bereich ausspart, keinen Sektor der wirtschaftli-
chen, sozialen oder kulturellen Aktivität.
Revolutionierung aller Be reiche, aller Tätigkeitsfelder
weist die Parole, die dem gegenwärtigen Augenblick ent-
spricht. Kraft der hier dargelegten Leitlinie muss jeder

146
Bürger, welche Stellung er auch einnimmt, daran gehen,
sein Tätigkeitsfeld zu revolutionieren.
Zuerst und jetzt betrifft die Philosophie der revolutionä-
ren Umwälzung folgende Sektoren:
Die nationale Armee
Die Frauenpolitik
Den wirtschaftlichen Aufbau

1. Die nationale Armee und ihr Platz in der demo-


kratischen Volksrevolution
Gemäss der Verteidigungsdoktrin des revolutionären
Obervolta darf ein bewusstes Volk die Verteidigung des
Vaterlandes nicht einer Gruppe von Männern anvertrau-
en, wie auch immer ihre Sachkunde sein mag. Die be-
wussten Völker kommen selbst für die Verteidigung ihres
Vaterlandes auf. In dieser Hinsicht sind unsere Streitkräf-
te nur eine spezialisiertere Abteilung als der Rest des
Volkes, wenn es um die Gewährleistung der inneren und
äusseren Sicherheit Obervoltas geht. In gleicher Weise
gibt es und wird es auch in Zukunft ein sozialisiertes Ge-
sundheitswesen geben, das seine Zeit den Fragen der
Volksgesundheit widmet, obwohl die Gesundheit der
Einwohner Obervoltas Angelegenheit des Volkes und
jedes einzelnen Einwohners selbst ist.
Die Revolution schreibt den bewaffneten Streitkräften
drei Aufgabenbereiche vor:

1. Imstande zu sein, jeden inneren und äusseren Feind


zu bekämpfen und an der militärischen Ausbildung des
übrigen Volkes teilzunehmen. Das bedingt eine erhöhte
Operationsfähigkeit, indem aus jedem Armeeangehörigen
ein fähiger Kämpfer gemacht wird ans telle der alten Ar-

147
mee, die nichts anderes war als eine Masse von Lohnbe-
zügern.

2. An der nationalen Produktion teilzunehmen. Tatsäch-


lich muss der neue Soldat an der Seite des Volkes, dem er
angehört, leben und leiden. Schluss mit der geldfressen-
den Armee. Von jetzt an wird sie neben der Beherrschung
des Waffenhandwerkes die Felder bestellen; sie wird
Vieh züchten, Rinder, Schafe und Geflügel. Sie wird
Schulen und Gesundheitszentren bauen, und deren Be-
trieb sichern, sie wird Strassen unterhalten und zwische n
den Regionen auf dem Luftweg die Post, die Kranken
und die Agrarprodukte transportieren.

3. Jeden Soldat in einen revolutionären Aktivisten ve r-


wandeln. Schluss mit der Zeit, in der man, im Gegensatz
zur Wirklichkeit, Neutralität und Apolitismus der Armee
vorschützte, und sie dadurch zum Bollwerk der Reaktion
sowie zum Garanten der imperialistischen Interessen
machte.
Schluss mit der Zeit, wo unsere nationale Armee sich
wie ein fremdes Söldnerkorps in einem erorberten Land
aufführte. Diese Zeit ist für immer vorbei. Versehen mit
politischer und ideologischer Bildung werden unsere im
revolutionären Prozess engagierten Soldaten, Unteroffi-
ziere und Offiziere aufhören, Kriminelle an der Macht zu
sein, um zu bewussten Revolutionären zu werden, die
sich unter dem Volk wie der Fisch im Wasser bewegt.
Als Armee im Dienste der Revolution, wird die nationa-
le Volksarmee keinem Soldaten Platz bieten, der sein
Volk verachtet, es knebelt und brutal behandelt. Eine
Volksarmee im Dienste des Volkes, das wird die neue
Armee sein, die wir an Stelle der neokolonialen aufbauen,

148
welche wahrhaft ein Unterdrückungsinstrument in den
Händen der reaktionären Bourgeoisie darstellte und von
dieser benutzt wurde, um das Volk zu beherrschen.
Eine solche Armee unterscheidet sich auch in ihrer in-
neren Organisation und in ihren Funktionsprinzipien
grundsätzlich von der alten Armee. Anstelle des blinden
Gehorsams der Soldaten gegenüber ihren Chefs, der Un-
tergebenen gegenüber ihren Vorgesetzten wird sich eine
gesunde Disziplin entwickeln, die trotz ihres strikten
Charakters auf der bewussten Zustimmung der Männer
und der Truppe aufbaut.
Im Gegensatz zu den Ansichten der reaktionären, vom
Kolonialgeist beeinflussten Offiziere bedeutet die Politi-
sierung der Armee, ihre Revolutionierung, nicht das Ende
der Disziplin.
Die Disziplin einer politisierten Armee wird einen ne u-
en Inhalt haben. Sie wird eine revolutionäre Disziplin
sein. Diese Disziplin schöpft ihre Stärke aus der Tatsa-
che, dass der Offizier und der Soldat, mit Rang und ohne
Rang, was die menschliche Würde betrifft, gleichwertig
sind und sich voneinander nur durch ihre konkreten Auf-
gaben und ihre jeweiligen Verantwortungsbereiche unter-
scheiden.
Kraft eines derartigen Verständnisses der Beziehungen
zwischen den Männern müssen die militärischen Kader
ihre Leute respektieren, sie lieben und sie gleichwertig
behandeln.
Auch hier haben die CDR eine grundsätzliche Rolle zu
spielen. Die Aktivisten der CDR im Rahmen der Armee
müssen unermüdliche Pioniere des Aufbaus der nationa-
len Volksarmee unseres demokratischen Volksstaates
sein.

149
Deren wesentliche Aufgaben werden sein:
1. Im Inneren: Die Verteidigung der Rechte und der In-
teressen des Volkes, Aufrechterhaltung der revolutionä-
ren Ordnung und Schutz der demokratischen Volksmacht.
2. Nach Aussen: Die Verteidigung der territorialen In-
tegrität.

2. Die Frau in Obervolta: ihre Rolle in der demokra-


tischen Volksrevolution
Das Gewicht der jahrhundertealten Traditionen in unse-
rer Gesellschaft schreibt der Frau den Rang eines Lasttie-
res zu. Alle Plagen der neokolonialen Gesellschaft muss
die Frau zweimal über sich ergehen lassen:
- zum einen kennt sie die gleichen Leiden wie der
Mann;
- zweitens aber erfährt sie von Seiten des Mannes
weiterhin Leid.

Unsere Revolution interessiert alle Unterdrückten, alle


jenen, die in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgebeutet
werden. Demzufolge interessiert sie die Frau, denn die
Grundlage ihrer Beherrschung durch den Mann befindet
sich im Organisationssystem des politischen und wirt-
schaftlichen Systems der Gesellschaft. Indem die Revolu-
tion die Sozialordnung ändert, welche die Frau unter-
drückt, schafft sie die Bedingungen für ihre wirkliche
Emanzipation.
Die Frauen und Männer unserer Gesellschaft sind alle
Opfer imperialistischer Unterdrückung und Vorherr-
schaft. Deshalb führen sie den gleichen Kampf. Die Re-
volution und die Befreiung der Frau gehen Hand in Hand.
Und es ist nicht einfach eine wohltätige Handlung oder
humanistischer Elan, von der Emanzipation der Frau zu

150
sprechen. Diese stellt eine grundlegende Notwendigkeit
für den Triumph der Revolution dar. Die Frauen tragen
auf ihren Schultern die andere Hälfte des Himmels.
Ein neues Bewusstsein der voltaischen Frau zu scha f-
fen, welches ihr erlaubt, an der Seite des Mannes das
Schicksal des Landes zu formen, ist eines der vordring-
lichsten Zielen der Revolution. Desgleichen braucht es
ein verändertes Verhalten des Mannes gegenüber der
Frau.
Bis jetzt war die Frau aus der Sphäre der Entscheidun-
gen ausgeschlossen. Indem die Revolution der Frau Ver-
antwortung übergibt, schafft sie die Bedingungen, um die
kämpferische Initiative der Frauen freizulegen. Der CNR
wird im Rahmen seiner revolutionären Politik an der Mo-
bilisierung, der Organisierung und dem Zusammen-
schluss aller lebendigen Kräfte der Nation arbeiten, und
die Frau kommt dabei nicht am Schluss. Sie wird in alle
Kämpfe einbezogen werden, die wir gegen die verschie-
denen Hemmnisse der neokolonialen Gesellschaft und für
den Aufbau einer neuen Gesellschaft führen müssen. Sie
wird auf allen Ebenen des Planungs-, Entscheidungspro-
zesses und der Ausführung einbezogen, in die Organisa-
tion des gesamten nationalen Lebens überhaupt.
Das Endziel dieses grandiosen Unternehmens ist der
Aufbau einer freien, prosperierenden Gesellschaft, in der
die Frau in allen Bereichen gleichberechtigt mit dem
Mann sein wird.
Wir brauchen jedoch ein richtiges Verständnis der Fra-
ge der Frauenbefreiung.
Emanzipation ist nicht eine mechanische Gleichheit
Mann und Frau. Den Frauen die bekannten Gewohnhe i-
ten der Männer zuzugestehen: Trinken, Rauchen, Hosen
tragen, das ist nicht die Befreiung der Frau. Auch nicht

151
die Erlangung von Diplomen macht die Frau dem Manne
gleich oder emanzipierter.
Das Diplon ist nicht ein Passe-partout für die Emanzi-
pation.
Die wirkliche Emanzipation der Frau besteht darin, dass
ihr Verantwortung übertragen wird, dass sie an den pro-
duktiven Tätigkeiten, an den Kämpfen teilnimmt, mit
denen das Volk konfrontiert ist. Die wirkliche Emanzipa-
tion der Frau ist jene, die den Respekt und die Rücksicht-
nahme der Männer erzwingt.
Die Emanzipation kann, gleich wie die Freiheit, nicht
auferlegt werden, sie muss erkämpft werden. Und es liegt
an den Frauen selbst, ihre Forderungen vorzutragen und
sich für deren Durchsetzung zu mobilisieren.
Die demokratische Volksrevolution wird die nötigen
Bedingungen schaffen, welche den Frauen Obervoltas
ermöglichen, sich voll und ganz zu verwirklichen. Denn
wäre es möglich, das Ausbeutungssystem abzuschaffen
und gleichzeitig die Ausbeutung der Frauen aufrechtzu-
erhalten, die ja mehr als die Hälfte unserer Gesellschaft
ausmachen?

3. Eine unabhängige nationale Wirtschaft, welche


die Selbstversorgung garantiert und im Dienste einer
demokratischen Gesellschaft geplant wird.
Der revolutionäre Änderungsprozess, der seit dem 4.
August läuft, setzt grosse demokratische Reformen für
das Volk auf die Tagesordnung.
So ist sich der Nationale Revolutionsrat bewusst, dass
der Aufbau einer unabhängigen, geplanten und der
Selbstve rsorgung genügenden nationalen Wirtschaft eine
radikale Umwälzung der gegenwärtigen Gesellschaft vor-

152
aussetzt, eine Umwälzung, die folgende grosse Reformen
voraussetzt:
- die Agrarreform
- die Verwaltungsreform
- die Schulreform;
- die Reform der Produktionsstrukturen und der Vertei-
lung im modernen Sektor

Die Agrarreform hat zum Ziel:


- die Arbeitsproduktivität zu erhöhen mittels einer bes-
seren Organisation der Bauern und der Einführung mo-
derner Agrartechniken in die ländliche Welt;
- eine vielfältige Landwirtschaft zu entwickeln, gleich-
zeitig mit einer regionalen Spezialisierung;
- alle Hindernisse zu beseitigen, die Teil der traditione l-
len sozioökonomischen Strukturen sind, welche die Ba u-
ern unterdrücken;
- schliesslich aus der Landwirtschaft die Stütze der in-
dustriellen Entwicklung zu machen.

Dies ist möglich, wenn wir dem Slogan der Selbstve r-


sorgung mit Nahrungsmitteln seinen richtigen Sinn ge-
ben: er ist allzu sehr abgenutzt, weil er ohne Überze u-
gung verkündet wurde. Das bedeutet zunächst den offe-
nen Kampf gegen die Natur, die im übrigen bei uns nicht
unfruchtbarer ist als bei anderen Völkern, welche sie auf
landwirtschaftlichem Gebiet auf wunderbare Weise be-
siegt haben. Der Nationale Revolutionsrat wiegt sich
nicht in Illusionen von gigantischen und ausgeklügelten
Projekten. Es werden im Gegenteil zahlreiche kleine
Verbesserungen im landwirtschaftlichen System sein, die
es erlauben, aus unserem Territorium ein grosses Feld zu
machen, eine ununterbrochene Folge von Gehöften. Im

153
weiteren wird es sich um einen Kampf gegen die Aus-
hungerer des Vo lkes, gegen Spekulanten und landwirt-
schaftliche Kapitalisten jeglicher Sorte handeln. Schliess-
lich geht es um den Schutz vor der imperialistischen Vor-
herrschaft über unsere Landwirtschaft, im Hinblick auf
ihre Ausrichtung, auf den Raubbau an unseren Ressour-
cen und die schmutzige Konkurrenz unserer einheimi-
schen Produktion durch Einfuhren, deren einziges Ver-
dienst in ihrer Verpackung für eine unter Snobismus lei-
dende Bourgeoisie liegt. Kostendeckende Preise und Ein-
richtungen der Nahrungsmittelindustrie werden den Ba u-
ern Märkte für ihre Produkte während aller Jahreszeiten
bieten.

Die Verwaltungsreform: zielt darauf ab, die von der


Kolonisierung geerbte Verwaltung operationell zu ma-
chen.
Zu diesem Zweck muss sie von allen Übeln, die für sie
charakteristisch sind, befreit werden, namentlich von der
schwer auf ihr lastenden schikanösen Bürokratie und ih-
ren Folgen. Wir müssen zu einer vollständigen Überar-
beitung der Funktionsweise der öffentlichen Dienste
schreiten. Die Reform muss auf eine kostengünstigere,
eine wirkungsvollere und flexiblere Verwaltung hinaus-
laufen.

Die Schulreform: zielt darauf ab, eine neue Vorstel-


lung von Erziehung und Kultur voranzutreiben. Sie muss
darauf hinauslaufen, die Schule in ein Instrument im
Dienst der Revolution umzuwandeln. Die Absolventen
dürfen nicht ihren eigenen Interessen oder jenen der aus-
beuterischen Klassen dienen, sondern den Interessen der
Volksmassen.

154
Die revolutionäre Erziehung, die in der neuen Schule
vermittelt werden wird, muss jedem eine Ideologie, ein
Persönlichkeitsbild Obervoltas einprägen, welche das
Individuum von allem Anpassertum freimacht. Den Schü-
lern und Studenten beizubringen, sich auf kritische und
positive Art die Ideen und Erfahrungen anderer Völker
anzueignen, wird eine der Berufungen der Schulen einer
Volksdemokratie sein. Um mit dem Ana lphabetismus und
dem Aberglauben Schluss zu machen, müssen alle Ener-
gien für die Organisierung der Massen mobilisiert wer-
den, um sie zu sensibilisieren und in ihnen Wissensdurst
zu erzeugen, indem ihnen die Nachteile der Unwissenheit
aufgezeigt werden.
Ohne Beteiligung der unmittelbar Interessierten ist jede
Politik der Bekämpfung des Analphabetismus zum Sche i-
tern verurteilt. Was die Kultur in einer demokratischen
Gesellschaft betrifft, so muss sie einen dreifachen, nä m-
lich nationalen, revolutionären und volksnahen Charakter
annehmen. Alles, was antinational, antirevolutionär und
volksfeindlich ist, muss ausgerottet werden. Demgege n-
über werden wir unsere Kultur verherrlichen, welche die
Würde, den Mut, den Nationalstolz und die grossen
menschlichen Tugenden gefeiert hat.
Die demokratische Volksrevolution wird die geeigneten
Bedingungen für das Aufblühen einer neuen Kultur
schaffen. Unsere Künstler werden freie Hand haben, kühn
vorwärtszuschreiten. Sie werden die sich bietende Gele-
genheit nützen müssen, um unsere Kultur auf Weltniveau
zu heben.
Mögen die Schriftsteller ihre Feder in den Dienst der
Revolution stellen.
Mögen unsere Musiker nicht nur die glorreiche Ver-
gangenheit unseres Volkes besingen, sondern auch seine

155
strahlende und vielversprechende Zukunft. Die Revoluti-
on erwartet von unseren Künstlern, dass sie die Wirklich-
keit zu beschreiben verstehen, dass sie davon lebendige
Bilder machen, dass sie diese Bilder in melodiösen Noten
ausdrucken können, und dabei gleichzeitig unserem Volk
den richtigen, in eine bessere Zukunft fahrenden Weg
angeben. Die Revolution erwartet von ihnen, dass sie ihr
schöpferisches Genie in den Dienst einer nationalen, re-
volutionären und volksverbundenen Kultur Obervoltas
stellen.
Man muss aus allem Guten der Vergangenheit, unseren
Traditionen schöpfen können, aber auch aus dem Positi-
ven der fremden Kulturen, um unserer Kultur eine neue
Dimension zu geben.
Die unerschöpfliche Quelle für die schöpferische Inspi-
ration der Massen liegt in den Volksmassen selbst. Mit
den Massen leben zu können, sich an der Volksbewegung
zu beteiligen, die Freuden und Leiden des Volkes zu tei-
len, mit ihm zu arbeiten und zu kämpfen, das sollten die
Hauptsorgen unserer Künstler sein.
Vor dem Schaffen sich die Frage stellen: an wen richtet
sich unser Werk? Wenn wir die Überzeugung haben, dass
wir für das Volk Schaffen, dann müssen wir auch wirk-
lich wissen, was das Volk ist, wie es sich zusammensetzt,
welches seine tiefsten Anliegen sind.

Die Reform der Produktions - und Verteilungs-


strukturen unserer Wirtschaft: die Reformen in diesem
Bereich haben zum Ziel, Schritt für Schritt eine wirkliche
Volkskontrolle über den Produktions- und Verteilungs-
kreislauf in Obervolta herzustellen. Denn ohne eine wirk-
liche Beherrschung dieser Kreisläufe, ist es praktisch

156
unmöglich, eine unabhängige Wirtschaft im Dienste des
Volkes aufzubauen.

Volk von Obervolta!


Aktive Genossinnen und Genossen der Revolution!
Die Bedürfnisse unseres Volkes sind riesengross. Die
Befriedigung dieser Bedürfnisse macht revolutionäre
Veränderungen in allen Bereichen notwendig.
So sind im Gesundheits- und sozialen Bereich folgende
Ziele zu erreichen:
- Gesundheitseinrichtungen, die für alle erreichbar sind;
- Aufbau einer Unterstützung und eines Schutzes für
Mütter und Kinder;
- eine Politik der Immunisierung gegen ansteckende
Krankheiten durch die Vervielfachung von Impfkampag-
nen;
- eine Sensibilisierung der Massen, damit sie sich gute
Hygienegewohnheiten aneignen.
Alle diese Ziele können ohne ein bewusstes Mitwirken
der Volksmassen selbst unter der revolutionären Anlei-
tung der Gesundheitsdienste nicht erreicht werden.

Im Wohnungsbreich, einem entscheidenen Bereich,


müssen wir eine kraftvolle Politik einleiten, um mit der
Immobilienspekulation und mit der Ausbeutung der
Werktätigen durch wucherische Mietzinse Schluss zu
machen. Wichtige Massnahmen müssen in diesem Be-
reich getroffen werden, um
- vernünftige Mietzinse einzufahren;
- eine rasche Parzellierung der Quartiere zu erreichen;
- in grossem Rahmen und genügender Zahl für die
Werktätigen Wohnhäuser zu bauen.

157
Ein wichtiges Anliegen des CNR ist die Vereinigung
der verschiedenen Nationalitäten Obervoltas im gemein-
samen Kampf gegen die Feinde unserer Revolution.
Es gibt in unserem Land in der Tat eine Vielzahl von
Volksgruppen, die sich in Sprache und Gebräuchen vo n-
einander unterscheiden. Es ist die Gesamtheit dieser Na-
tionalitäten, welche die Nation Obervoltas bildet. Der
Imperialismus mit seiner Politik des Teilens und Beherr-
schens hat sich angestrengt, die Widersprüche zwischen
ihnen zu verschärfen, um die einen gegen die andern auf-
hetzen zu können.
Die Politik des CNR zielt auf die Vereinigung dieser
verschiedenen Nationalitäten ab, damit sie in Gleichheit
leben und sich der gleichen Erfolgschanchen erfreuen
können. Um dies zu erreichen, wird der Akzent besonders
auf folgende Punkte gelegt:

- die wirtschaftliche Entwicklung der verschiedenen


Regionen;
- die Förderung des wirtschaftlichen Austausches zw i-
schen den Regionen;
- Kampf gegen die Vorurteile unter den Volksgruppen,
Beilegung der sie trennenden Streitigkeiten im Geiste der
Einheit;
- Bestrafung der Spalter.

Angesichts all der Probleme, mit denen sich unser Land


konfrontiert sieht, erscheint die Revolution als eine Her-
ausforderung, mit der wir fertig werden müssen, ange-
spornt durch unseren Siegeswillen, mit der tatkräftigen
Beteiligung der Volksmassen, die im Rahmen der CDR
mobilisiert werden.

158
In naher Zukunft wird die Ausarbeitung der
Bereichsprogramme das ganze Territorium Obervoltas zu
einem grossen Werkplatz machen, wo der Wettbewerb
unter allen arbeitsfähigen Einwohnern gefordert wird für
den gnadenlosen Kampf den wir führen, um dieses Land
in ein wohlhabendes und strahlendes Land zu
verwandeln, ein Land, wo das Volk der einzige Herr aller
materiellen und immateriellen Reichtümer der Nation ist.
Schliesslich müssen wir den Platz der Revolution Ober-
voltas im revolutionären Weltprozess definieren. Unsere
Revolution ist integrierender Teil der weltweiten Bewe-
gung für Frieden und Demokratie gegen den Imperialis-
mus und jede Art von Hegemonismus.
Deshalb bemühen wir uns, diplomatische Beziehungen
mit allen Ländern, ungeachtet ihres politischen und wirt-
schaftlichen Systems, auf der Grundlage folgender Prin-
zipien herzustellen:
- gegenseitige Respektierung der Unabhängigkeit, terri-
torialen Integrität und nationalen Souveränität;
- gegenseiter Nicht-Angriff;
- keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten;
- Handel mit allen Ländern auf gleichberechtigter Basis
und gemäss dem Prinzip des gegenseitigem Vorteils.
- Unsere Solidarität und unsere aktive Unterstützung
der nationalen Befreiungsbewegungen, die für die Unab-
hängigkeit ihres Landes und die Befreiung ihrer Vö lker
kämpfen. Diese Unterstützung richtet sich besonders:
- an das Volk Namibias unter Leitung der SWAPO;
- an das saharauische Volk in seinem Kampf um die
Wiedererlangung seines nationalen Territoriums;
- an das palästinensische Volk in seinem Kampf um
seine nationalen Rechte.

159
In unserem Kampf sind die antiimperialistischen Länder
Afrikas unsere objektiven Verbündeten. Die Annäherung
an diese Länder ist nötig geworden wegen der neokolo-
nialen Neugruppierung, die auf unserem Kontinent statt-
findet.

Es lebe die Demokratische Volksrevolution!


Es lebe der Nationale Revolutionsrat!
Vaterland oder Tod, wir werden siegen!

UNO-Rede

Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Na-


tionen, Oktober 1984

Herr Präsident, Herr Generalsekretär. verehrte Vertre-


ter der internationalen Gesellschaft,
Ich bin hierhergekommen, um Ihnen die brüderlichen
Grüsse eines Landes, von 274’000 km2 Fläche zu über-
bringen, wo sieben Millionen Kinder, Frauen und Männer
sich von nun an weigern, an Unkenntnis, Hunger und
Durst zu sterben; eines Landes, dem es während eines
Vierteljahrhunderts nicht gelungen ist, wirklich als souve-
räner Staat zu leben mit einem Sitz in der UNO.
Ich spreche an dieser 39. Generalversammlung zu Ihnen
im Namen eines Volkes, das entschieden hat, sich auf
dem Land seiner Vorfahren zu behaupten und die Ver-
antwortung, für seine Geschichte in die eigenen Hände zu
nehmen, und zwar sowohl in ihren positiven als auch ne-
gativen Aspekten, ohne jeden Komplex.

160
Schliesslich komme ich hierher im Auftrag des Natio-
nalen Revolutionsrates von Burkina Faso, um Ihnen die
Ansichten unseres Volkes zu den Punkten der Tagesord-
nung darzulegen, denen die tragische Verkettung der Er-
eignisse zugrunde liegt, die an diesem Ende des 20. Jahr-
hunderts die Welt in schmerzhafter Weise spalten. Eine
Welt, wo die Menschheit in einen Zirkus verwandelt
worden ist, zerrissen durch Kämpfe zwischen den Gros-
sen und minder Grossen, geschlagen von bewaffneten
Banden, der Gewalttätigkeit und der Ausplünderung
preisgeben.
Eine Welt, in der Nationen, die sich der internationalen
Rechtsprechung unterwerfen, gesetzlose Gruppen kom-
mandieren, die von Raub leben, und mit dem Gewehr in
der Hand schändliche Geschäfte tätigen.

Herr Präsident,
Ich habe nicht die Absicht, hier Dogmen zu verkünden.
Ich bin weder ein Messias noch ein Prophet. Ich befinde
mich nicht im Besitz der Wahrheit. Mein einziger Ehrgeiz
besteht in einem doppelten Streben:
- erstens, in einer einfachen Sprache, der Sprache der
Offenheit und Klarheit, im Namen meines Volkes, des
Volkes von Burkina Faso, sprechen zu können;
- zweitens auf meine Weise der Stimme des „grossen
Volkes der Enterbten“ Ausdruck geben zu können, das
jener Welt angehört, die man boshafter Weise „Dritte
Welt“ getauft hat. Und dann, auch wenn es mir nicht ge-
lingt, mich verständlich zu machen, die Gründe für unse-
re Revolte darzulegen.

All dies kennzeichnet das Interesse, das wir der UNO


entgegenbringen; aus der Forderung nach unseren Rech-

161
ten schöpfen wir die Kraft und die Strenge des klaren
Bewusstseins unserer Aufgaben.
Wohl niemand wird sich wundern, Ex-Obervolta, das
heutige Burkina Faso, in dieser verachteten Rumpelkam-
mer, der Dritten Welt nämlich, anzutreffen, welche im
Augenblick der formellen Unabhängigkeitserklärungen
von den anderen Welten erfunden worden ist, um unsere
geistige, kulturelle, wirtschaftliche und politische Ent-
fremdung besser gewährleisten zu können. Wir wollen
uns hier einsetzen, ohne jedoch diesen gigantischen Ge-
schichtsbetrug zu rechtfertigen. Noch viel weniger, um zu
akzeptieren, „Hinterhof eines überfressenen Westens“ zu
sein. Demgegenüber möchten wir das Bewusstsein stär-
ken, einer trikontinentalen Gesamtheit anzugehören. Wir
möchten unterstreichen und zwar als Blockfreie und mit
unserer festen Überzeugung - dass eine besondere Solida-
rität die drei Kontinente Asien, Lateinamerika und Afrika
im gemeinsamen Kampf gegen die gleichen politischen
Schieber, die gleichen wirtschaftlichen Ausbeuter, ver-
bindet.
Unsere Präsenz in der Dritten Welt anzuerkennen,
heisst - um José Marti zu zitieren - „zu bestätigen, dass
wir auf unserer Wange jeden Schlag, der irgendeinem
Menschen auf dieser Welt versetzt wurde, spüren“. Wir
haben bisher die andere Wange hingehalten. Die Ohrfei-
gen haben sich verdoppelt. Aber das Herz des Bösen hat
sich nicht erweicht. Sie haben die Wahrheit des Gerech-
ten mit Füssen getreten. Sie haben Christi Worte verraten.
Sie haben sein Kreuz in eine Keule verwandelt. Und
nachdem sie sich mit seinem Gewand bekleidet hatten,
haben sie unsere Körper und unsere Seelen zerrissen. Sie
haben eine Botschaft pervertiert. Sie haben ihn ver-
westlicht, während wir ihn als universelle Befreiung auf-

162
fassten. Dann haben sich unsere Augen geöffnet ange-
sichts der Realität des Klassenkampfes. Wir werden keine
Ohrfeigen mehr erhalten. Es muss verkündet werden,
dass es für unsere Völker nur eine Rettung geben kann,
wenn wir allen Modellen, die Scharlatane jeden Schlages
uns während zwanzig Jahren zu verkaufen versuchten,
den Rücken kehren. Es kann für uns keine Rettung geben,
wenn wir diese Verweigerung nicht durchziehen. Keine
Entwicklung ohne diesen Bruch.
Im übrigen sind alle neuen „Meister-Denker“ angesichts
des schwindelerregenden Anwachsens dieser Milliarden
Menschen in Lumpen aus ihren Träumen gerissen wor-
den, eingeschüchtert von der Drohung, welche die vom
Hunger geplagte Masse auf ihren Magen lasten lässt. Sie
beginnen ihre Reden neu zu fassen und suchen fieberhaft,
einmal mehr an unserer Stelle, nach Wundermitteln und
neuen Formen für die Entwicklung unserer Länder. Um
sich davon zu überzeugen, ge nügt es, die zahlreichen Do-
kumente dieser unzähligen Kolloquien und Seminare zu
lesen. Ich bin weit davon entfernt, die geduldigen An-
strengungen ehrlicher Intellektueller lächerlich zu ma-
chen, die - weil sie Augen haben zu sehen - die schreckli-
chen Konsequenzen der Verwüstungen entdecken, wel-
che sogenannte „Spezialisten“ in Sachen Entwicklung in
der Dritten Welt angerichtet haben.
Meine Befürchtung ist, dass die Prosperos jeder Sorte
die Ergebnisse so vieler Anstrengungen mit Beschlag
belegen, um daraus eine Waffe zu machen, die bestimmt
ist, uns in eine auf den Geschmack unserer Zeit getrimm-
te Sklavenwelt zurückzuschicken. Diese Befürchtung ist
umso gerechtfertigter, als das diplomierte afrikanische
Kleinbürgertum, wenn nicht gar jenes der ganzen Dritten
Welt, nicht bereit ist, auf seine Privilegien zu verzichten,

163
sei es aus geistiger Faulheit, sei es einfach, weil es an der
westlichen Welt Geschmack gefunden hat. Es vergisst
deshalb, dass jeder wirkliche politische Kampf eine ge-
wissenhafte theoretische Auseinandersetzung erfordert
und es verweigert sich der geistigen Anstrengung, neue
Konzepte zu erfinden, die dem uns erwartenden mörderi-
schen Kampf gerecht werden. Als passive und bemitlei-
denswerte Konsumenten sind sie bis oben hin voll von
den fetischisierten Vokabeln des Westens, so wie sie voll
sind von seinem Whisky und Champagner, ausgeschenkt
in seinen Salons, wo jene zweifelhafte Harmonie
herrscht. Man sucht seit den Konzepten der „Negritude“
und der „African personnality“, die nun auch vom Alter
gezeichnet sind, vergebens nach wirklich neuen Ideen,
die den Köpfen unserer „grossen“ Intellektuellen ent-
sprungen sind. Der Wortschatz und die Ideen kommen
anderswoher. Unsere Professoren, unsere Ingenieure und
Wirtschaftswissenschaftler begnügen sich damit, ein we-
nig Farbe beizugeben, weil sie von den europäischen
Universitäten, deren Produkt sie sind, oft nur ihre Diplo-
me und den milden Geschmack der Adjektive oder Su-
perlative mitgenommen haben!
Es ist dringend notwendig, dass unsere Kader und unse-
re Schreibtischarbeiter lernen, dass es keine unschuldige
Schreibweise gibt. In dieser Zeit der Stürme können wir
nicht unseren Feinden von gestern und von heute das
Monopol des Denkens, der Vorstellungskraft und der
Kreativität überlassen. Bevor es zu spät ist - denn es ist
schon spät - müssen diese Eliten, diese Männer Afrikas,
der Dritten Welt, zu sich selbst zurückfinden, das heisst
zu ihren Gesellschaften, zum Elend, das wir geerbt ha-
ben; und zwar nicht nur, um zu verstehen, dass der
Kampf um ein Denken im Dienste der enterbten Massen

164
nicht vergeblich ist, sondern auch, dass sie auf internatio-
naler Ebene nur glaubhaft werden können, wenn sie wirk-
lich ein getreues Abbild ihrer Vö lker erfinden oder noch
besser geben. Ein Bild, das ihnen ermöglicht, tiefgreifen-
de Veränderungen der sozialen und politischen Lage zu
verwirklichen, die geeignet sind, uns aus fremder Vor-
herrschaft und Ausbeutung herauszureissen, welche unse-
re Staaten einzig der Perspektive des Bankrotts auslie-
fern.
Das ist, was wir, das Volk von Burkina Faso, in jener
Nacht des 4. August 1983, beim ersten Funkeln der Ster-
ne am Himmel unserer Heimat erfasst haben. Wir muss-
ten uns an die Spitze der aufständischen Bauern stellen,
die sich auf dem Land ankündigten, Bauern, die durch
das Vorrücken der Wüste verwirrt, von Hunger und Durst
erschöpft und ihrem Schicksal überlassen waren. Wir
mussten den Revolten der erwerbslosen frustrierten städ-
tischen Massen einen Sinn geben, die es müde waren, die
Limousinen der entfremdeten, sich an der Spitze des
Staates ablösenden Eliten in den Strassen zirkulieren zu
sehen. Denn diese Eliten konnten ihnen nichts anderes als
falsche Lösungen anbieten, welche in den Himen anderer
ausgedacht und entwickelt wurden. Wir mussten den ge-
rechten Kämpfen der Volksmassen, die sich gegen den
scheusslichen Imperialismus mobilisierten, eine ideologi-
sche Seele geben. An die Stelle der vorübergehenden
Revolte, die lediglich ein Strohfeuer ist, sollte ein für
allemal die Revolution treten, der ewige Kampf gegen
jegliche Herrschaft. Andere vor mir haben festgestellt
und andere nach mir werden noch feststellen, wie breit
der Graben zwischen den wohlhabenden Völkern und
jenen geworden ist, die sich nur danach sehnen, etwas
zum Essen gegen den Hunger, etwas zum Trinken gegen

165
den Durst zu haben, zu überleben und ihre Würde zu be-
wahren. Aber niemand kann sich vorstellen, wie sehr bei
uns das Korn der Armen die Kuh der Reichen ernährt hat!
Im Falle des ehemaligen Obervolta war dieser Prozess
beispielhaft. Wir waren die magische Verdichtung, die
Zusammenfassung aller Übel, die über alle sogenannten
Entwicklungsländer hereingebrochen waren. Das Zeugnis
der ohne Sinn und Verstand als Allheilmittel angepriese-
nen Hilfe spricht Bände. Wenig zahlreich sind die Lä n-
der, die wie das meine von Hilfe jeder Art geradezu über-
schwemmt worden sind. Diese Hilfe hielt man im Prinzip
für einen Dienst an der Entwicklung. Aber man wird da,
wo früher Obervolta war, vergeblich nach Zeichen su-
chen, die auf eine Entwicklung hinweisen könnten. Die
Männer an den verantwortlichen Stellen konnten diesen
Zufluss von aussen, sei es aus Naivität oder Klassen-
egoismus, nicht beherrschen, seine Auswirkungen nicht
erfassen und die im Interesse unseres Volkes liegenden
Forderungen nicht zum Ausdruck bringen.
In der Analyse einer Tabelle, die 1983 vom Sahel-Club
veröffentlicht worden ist, kommt Jacques Giri in seinem
Werk „Le Sahel demain“ mit viel gutem Willen zum
Schluss, dass die Sahel-Hilfe aufgrund ihres Gehaltes und
der durch sie ausgelösten Mechanismen nicht mehr als
eine Überlebenshilfe ist. Nur dreissig Prozent dieser Hil-
fe, unterstreicht er, erlauben dem Sahel das einfache
Überleben. Gemäss Jacques Giri hat diese Auslandhilfe
keine anderen Ziele, als mit der Entwicklung der unpro-
duktiven Sektoren fortzufahren und so unsern kleinen
Staatshaushalten unerträgliche Belastungen aufzubürden,
den ländlichen Raum zu desorganisieren, das Defizit un-
serer Handelsbilanzen und unsere Verschuldung zu ver-
grössern.

166
Einige schematische Angaben, um das ehemalige Ober-
volta zu charakterisieren:

- Sieben Millionen Einwohner, darunter mehr als sechs


Millionen Bäuerinnen und Bauern.
- Eine Kindersterblichkeit von schätzungsweise 180 auf
l’000.
- Eine auf vierzig Jahre begrenzte Lebenserwartung.
- Eine Analphabetenrate von 98%, wenn wir jene als al-
phabetisiert erfassen, die in einer Sprache lesen, schrei-
ben und sprechen können.
- Ein Arzt auf 50’000 Einwohner.
- Eine Einschulungsrate von 16%.
- Und schliesslich ein Bruttoinlandprodukt pro Kopf
von 53’356 Francs CFA (= ca. 270 SFr./ 340.- DM), was
kaum mehr als 100 US-Dollar sind.

Die Diagnose ist offensichtlich düster. Die Quelle des


Übels war politischer Natur. Die Behandlung kann dem-
zufolge nur politisch erfolgen. Natürlich ermutigen wir
die Hilfe, die uns hilft, uns der Hilfe zu entledigen. Aber
im allgemeinen läuft die Unterstützungs- und Hilfspolitik
nur darauf hinaus, uns zu desorganisieren, zu unterjochen
und die Verantwortung für unseren eigenen wirtschaftlich
rellen Raum wegzunehmen. Wir haben uns entschieden,
das Risiko auf uns zu nehmen, neue Wege einzuschlagen,
um glücklicher zu werden. Wir haben uns entschieden,
neue Techniken anzuwenden. Wir haben uns entschieden,
neue, unserer Zivilisation angepasstere Organisations-
formen zu erforschen. Dazu haben wir auf schroffe Weise
und für immer jede Art von fremdem Diktat zurückge-
wiesen, um so die Voraussetzungen für ein würdiges Le-

167
ben zu schaffen, das unseren grossen Ambitionen ent-
spricht.
Wir weisen den Zustand des einfachen Überlebens zu-
rück, wir lockern den äusseren Druck, wir befreien die
ländlichen Gebiete von mittelalterlichem Immobilismus
und vom Rückschritt, wir demokratisieren unsere Gesell-
schaft, wir öffnen den Blick auf eine Welt der kollektiven
Verantwortung, damit wir wagen, die Zukunft selbst zu
erfinden.
Wir zerschlagen und bauen die Verwaltung mittels ei-
nes anderen Beamtenbildes wieder auf, wir tauchen unse-
re Armee ins Volk ein, indem wir sie an der produktiven
Arbeit beteiligen und ihr unablässig in Erinnerung rufen,
dass ein Soldat ohne patriotische politische Bildung el -
diglich ein Krimineller an der Macht ist.
Das ist unser politisches Programm.
Was die Wirtschaftsführung betrifft, so lernen wir, ein-
fach zu leben, uns Sparsamkeit aufzuerlegen und sie zu
akzeptieren, um selbst in der Lage zu sein, unsere grossen
Zukunftsentwürfe zu verwirklichen.
Dank des Vorbilds der nationalen Solidaritätskasse, die
durch freiwillige Beiträge gespeist wird, beginnen wir
schon jetzt, auf die grausamen Fragen zu antworten, wel-
che uns die Dürre stellt. Wir unterstützen die Prinzipien
von Alma-Ata und wenden sie an, indem wir den Bereich
der primären Gesundheitsversorgung ausdehnen. Wir
haben die Strategie des Gobi FFF zu unserer, zur Staats-
politik gemacht, wie es die UNICEF empfohlen hat.
Durch Vermittlung der UNSO sollte die UNO nach un-
serer Meinung den von der Dürre betroffenen Ländern
ermöglichen, mittel- und langfristige Pläne aufzustellen,
damit diese Länder die Nahrungsmittelselbstversorgung
erreichen.

168
Um das 21. Jahrhundert vorzubereiten, haben wir mit
der Schaffung einer besonderen Abteilung unserer Lotte-
rie „Instruisons nos enfants“ (Unterrichten wir unsere
Kinder), eine grosse Kampagne für die Erziehung und
Bildung unserer Kinder in einer neuen Schule lanciert.
Durch den segensreichen Einsatz der Comités de Défense
de la Révolution haben wir ein umfangreiches Programm
zum Bau von Sozialwohnungen (500 in drei Monaten),
Strassen, kleinen Wasserrückhaltebecken etc. in Gang
gesetzt. Unser wirtschaftliches Ziel ist, dahingehend zu
wirken, dass Hirn und Arm eines jeden Einwo hners von
Burkina Faso ihm mindestens dazu dienen, sich durch
Erfindungsgeist und Schaffenskraft zwei Mahlzeiten pro
Tag und genügend Trinkwasser zu sichern.
Wir schwören, wir verkünden feierlich, dass in Burkina
Faso von jetzt an nichts mehr ohne Beteiligung seiner
Bevölkerung geschehen wird. Nichts, was nicht zuvor
von uns selbst entschieden, von uns selbst ausgearbeitet
worden ist. Es wird keine Anschläge mehr auf unsere
Gefühle und unsere Würde geben.
Kraft dieser Gewissheit möchten wir, dass unsere Worte
alle erreichen, die leiden, alle, deren Würde durch eine
Minderheit oder durch ein Unterdrückungssystem gekne-
belt wird.
Erlauben Sie, die Sie mir zuhören, dass ich folgendes
sage: Ich spreche nicht nur im Namen meiner Heimat
Burkina Faso, die ich sehr liebe, sondern auch im Namen
aller, die irgendwo leiden:

Ich spreche im Namen jener Millionen von Menschen,


die in Ghettos leben, weil ihre Haut schwarz ist, oder weil
sie aus einer andern Kultur stammen und deren Status
kaum höher als der eines Tieres ist.

169
Ich leide mit den massakrierten, vernichteten, erniedrig-
ten und seit Jahrhunderten in Reservaten eingesperrten
Indianern, die keinerlei Rechte gemessen und deren Kul-
tur sich nicht bereichern kann, indem sie eine glückliche
Verbindung mit anderen Kulturen eingeht, inbegriffen die
Kultur des Eroberers.
Ich ergreife das Wort im Namen der Arbeitslosen eines
strukturell ungerechten und konjunkturell aus der Bahn
geworfenen Systems. Sie sind dazu verurteilt das Leben
nur als Reflex auf das Leben der Bessergestellten wahr-
zunehmen.
Ich spreche im Namen der Frauen der ganzen Welt, die
unter einem von den Männern auferlegten Ausbeutungs-
system leiden. Was uns betrifft, so sind wir bereit, alle
Vorschläge aus der ganzen Welt entgegenzunehmen, die
zu einer vollen Entfaltung der Frauen Burkina Fasos ver-
helfen können. Im Gegenzug lassen wir alle Länder an
der positiven Erfahrung teilhaben, die wir nun mit den
Frauen machen, welche auf allen Stufen des Staatsappa-
rates und des gesellschaftlichen Lebens in Burkina Faso
präsent sind. Frauen, die kämpfen und mit uns zusammen
verkünden, dass der Sklave, der nicht fähig ist, seine Re-
volte selbst durchzufahren, nicht verdient, dass man sich
seines Schicksals erbarme.
Dieser Sklave ist für sein Schicksal selbst verantwort-
lich, wenn er sich über die verdächtige Herablassung ei-
nes Herrn Illusionen macht, der behauptet, ihn freilassen
zu wollen. Nur der Kampf befreit, und wir rufen alle un-
sere Schwestern aller Rassen auf, sich zum Sturm auf die
Eroberung ihrer Rechte aufzumachen.
Ich spreche im Namen der Mütter unserer mittellosen
Länder, die ihre Kinder an Malaria und Durchfall sterben
sehen und nicht wissen, dass es einfache Mittel gibt, um

170
sie zu retten. Die Wissenschaft der Multis enthält sie ih-
nen vor und zieht es vor, in ihre kosmetischen Labors
sowie in die Schönheitschirurgie zu investieren, um die
Launen einiger Frauen oder Männer zu befriedigen, deren
Eitelkeit wegen des Übermasses an Kalorien ihrer allzu
reichlichen Mahlzeiten angegriffen ist, deren Regelmäs-
sigkeit uns aus dem Sahel schwindlig macht. Diese einfa-
chen Mittel, die von der WHO und der UNICEF empfo h-
len werden, haben wir zu übernehmen und zu popularisie-
ren entschieden.
Ich spreche auch im Namen des Kindes, des Kindes des
Armen, das Hunger hat und vergeblich auf die reichen
Auslagen eines Ladens für Reiche schielt. Der Laden ist
durch eine dicke Scheibe geschützt. Die Scheibe selbst
wiederum durch ein unüberwindliches Gitter. Und das
Gitter wird bewacht von einem behelmten Polizisten mit
einem Gummiknüppel. Dieser Polizist ist vom Vater ei-
nes andern Kindes dorthin gestellt worden, welches sich
hier bedient oder vielmehr bedienen lässt, weil es alle
Garantien für die Anerkennung und die kapitalistischen
Normen des Systems vorweisen kann.
Ich spreche im Namen der Künstler (Dichter, Maler,
Bildhauer, Musiker, Schauspieler), anständigen Men-
schen, die zusehen müssen, wie sich ihre Kunst vor der
Alchimie des Showbusiness prostituiert.
Ich erhebe meine Stimmen im Namen der Journalisten,
die zum Schweigen oder zur Lüge verurteilt sind, um
nicht das schwere Los der Arbeitslosigkeit ertragen zu
müssen.
Ich protestiere im Namen der Sportler der ganzen Welt,
deren Muskeln von den politischen Systemen oder den
modernen Sklavenhändlern ausgebeutet werden.

171
In meinem Land konzentriert sich alles Unglück der
Völker, es stellt eine schmerzhafte Synthese aller Leiden
der Menschheit dar, aber auch und vor allem der Hoff-
nungen in unsere Kämpfe. Deshalb fiebre ich selbstver-
ständlich auch im Namen der Kranken, die ängstlich den
Horizont einer Wissenschaft erforschen, welche von den
Waffenhändlern vollständig in Anspruch genommen
wird. Meine Gedanken gehen zu denen, die von der Zer-
störung der Natur betroffen sind, und zu jenen dreissig
Millionen, die - wie jedes Jahr - von der schrecklichen
Waffe des Hungers umgebracht werden.
Als Soldat kann ich den Soldaten nicht vergessen, der -
den Finger am Abzug - den Befehlen gehorcht und dabei
weiss, dass die abgefeuerte Kugel nur die Botschaft des
Todes trägt.
Schliesslich möchte ich meiner Empörung Ausdruck
geben, wenn ich an die Palästinenser denke, die von einer
unmenschlichen Menschheit dazu bestimmt worden sind,
an die Stelle eines anderen Volkes zu treten, das gestern
noch in aller Ruhe dem Martyrium preisgegeben wurde.
Ich denke an dieses tapfere palästinensische Volk, an die
zersprengten Familien, die durch die Welt irren auf der
Suche nach einem Asyl. Mutig, entschlossen, stoisch und
unermüdlich rufen die Palästinenser jedem menschlichen
Bewusstsein die Notwendigkeit und die moralische Ver-
pflichtung in Erinnerung, die Rechte eines Volkes zu re-
spektieren. Zusammen mit ihren jüdischen Brüdern sind
sie antizionistisch.
An meiner Seite befinden sich die brüderlichen Solda-
ten des Iran und des Irak, die in einem selbstmörderi-
schen Bruderkrieg sterben. Ich fühle mich ebenfalls mei-
nen Genossen aus Nicaragua nahe, deren Häfen vermint
sind, deren Städte bombardiert werden, und die trotz al-

172
lem mit Mut und Klarsicht ihrem Schicksal begegnen. Ich
leide mit allen, die in Lateinamerika unter den
imperialistischen Übergriffen leiden.
Ich möchte an der Seite der Völker Afghanistans und
Irlands stehen, an der Seite der Völker Grenadas und Ost-
timors, jedes auf der Suche nach dem Glück, das ihre
Würde und die Gesetze ihrer Kultur vorschreibt.
Ich erhebe mich hier im Namen all jener, die auf ir-
gendeinem Weltforum ihre Stimme vergeblich einzubrin-
gen versuchten und ihr Anliegen wirklich beachtet sehen
wollen.

Auf dieser Bühne haben viele vor mir das Wort ergrif-
fen, andere kommen nach mir. Aber nur einige wenige
werden die Entscheidungen treffen. Dennoch sind wir
hier alle als gleichberechtigt vorgestellt. So mache ich
mich nun zum Sprachrohr all jener, die vergeblich auf
irgendeinem Weltforum sich Gehör verschaffen wollen.
Ja, ich will im Namen all jener sich selbst überlassenen
sprechen, weil ich „ein Mensch bin und nichts menschli-
ches mir fremd ist“.
Unsere Revolution in Burkina Faso ist offen gegenüber
dem Unglück aller Völker. Sie lässt sich auch von den
Erfahrungen aller Menschen seit dem ersten Atemzug der
Menschheit inspirieren.
Wir wollen die Erben aller Revolutionen der Welt sein,
aller Freiheitskämpfe der Völker der Dritten Welt. Wir
hören auf die grossen Umwälzungen, welche die Welt
verändert haben. Wir lernen aus der amerikanischen Re-
volution die Lektion ihres Sieges gegen die koloniale
Vorherrschaft und die Konsequenzen dieses Sieges. Wir
machen die Bekräftigung der Doktrin der Nichteinmi-
schung der Europäer in die amerikanischen Angelege n-

173
heiten und der Amerikaner in die europäischen Angele-
genheiten zur unsere. Was Monroe 1823 erklärte, nämlich
„Amerika den Amerikanern“, nehmen wir auf, indem wir
sagen „Afrika den Afrikanern“, „Burkina Faso den Bur-
kinabern“. Die Französische Revolution von 1789 er-
schütterte die Grundlagen des Absolutismus und lehrte
uns die Menschenrechte, welche mit den Rechten der
Völker auf Freiheit verbunden sind.
Die grosse Oktoberrevolution von 1917 hat die Welt
verändert, sie hat den Sieg des Proletariats ermöglicht, sie
hat die Grundlagen des Kapitalismus ins Wanken ge-
bracht und die Träume der Pariser Kommune von einer
sozialen Gerechtigkeit Wirklichkeit werden lassen.
Offen gegenüber allen Willensäusserungen der Völker
und ihren Revolutionen, eingedenk auch gewisser
schrecklicher Fehlschläge, die zu tragischen Unterlassun-
gen im Bereich der Menschenrechte geführt haben, wo l-
len wir von jeder Revolution nur den reinen Kern erha l-
ten; der uns verbietet, uns der Realität anderer zu unter-
werfen, auch wenn wir uns im Reich der Ideen in einer
Interessengemeinschaft befinden.

Herr Präsident,
Jetzt ist keinerlei Schwindel mehr möglich. Die neue
Weltwirtschaftsordnung, für die wir kämpfen und weiter-
hin kämpfen werden, kann nur verwirklicht werden:
- wenn es uns gelingt, die alte Ordnung, die uns igno-
riert, zu zerstören;
- wenn wir den Platz einnehmen können, der uns in der
politischen Organisation der Welt zukommt;
- wenn wir, unseres Gewichts in der Welt bewusst, ein
Aufsichts- und Entscheidungsrecht über die Mechanis-

174
men erhalten, die den Handel, die Wirtschaft und das
Währungssystem auf Weltebene regeln.

Die neue Weltwirtschaftsordnung steht, ganz einfach,


Seite an Seite mit den anderen Rechten der Völker (Recht
auf Unabhängigkeit, freie Wahl der Regierungsformen
und -strukturen), wie auch das Recht auf Entwicklung.
Und wie alle anderen Rechte der Völker auch, kann sie
nur im und durch den Kampf der Völker erobert werden.
Die neue Weltwirtschaftsordnung wird niemals das Er-
gebnis der Grosszügigkeit irgendeiner Grossmacht sein.
Ich bewahre in mir die unerschütterliche Überzeugung,
eine Überzeugung, die ich mit der grossen Gemeinschaft
der blockfreien Länder teile, dass unsere Gruppen ange-
sichts der niederschmetternden, zum Himmel schreienden
Not unserer Völker weiter zusammenhalten wird, dass
unsere gemeinsame Verhandlungsmacht sich verstärkt,
dass wir unter allen Nationen Verbündete finden und in
Übereinstimmung mit jenen, die uns verstehen können,
beginnen, ein System wirklich neuartiger internationaler
Wirtschaftsbeziehungen zu organisieren.

Herr Präsident,
Wenn ich die Einladung angenommen habe, vor dieser
illustren Versammlung hier das Wort zu ergreifen, so
deshalb, weil die Vereinten Nationen trotz der Kritiken,
die ihnen von Seiten gewisser grosser Beitragszahler zu-
teil wird, die ideale Tribüne für unsere Forderungen blei-
ben, ein unverzichtbarer Ort, um die legitimen Ansprüche
der Länder ohne Stimme auszudrücken.
Dies drückt unser Generalsekretär sehr richtig aus,
wenn er schreibt: „Die UNO ist darin einzigartig, dass sie
die Sehnsüchte und die Frustrationen zahlreicher Länder

175
und Gruppierungen der ganzen Welt wiedergibt. Eines
ihrer grossen Verdienste ist, dass alle Nationen, einge-
schlossen jene, die schwach, unterdrückt und die Opfer
der Ungerechtigkeit sind (es geht hier um uns), hier - so-
gar wenn sie mit den harten Realitäten der Macht kon-
frontiert sind - eine Tribüne finden und sich Gehör ver-
schaffen können. Eine gerechte Sache, selbst wenn sie
sonst nur auf Ablehnung und Indifferenz stösst, kann in
der UNO ein Echo finden; dieses Merkmal der Organisa-
tion findet zwar nicht immer Wertschätzung, ist aber des-
halb nicht weniger wesentlich.“ Schluss des Zitats.
Man kann den Sinn und die Bedeutung unserer
Organisation nicht besser definieren.
Auch besteht für jeden von uns der kategorische Impe-
rativ, die Grundlage unserer Organisation zu festigen und
ihr die Mittel zur Aktionsfähigkeit zu geben. Wir unter-
stützen deshalb die Vorschläge, die der Generalsekretär
zu diesem Zweck unterbreitet hat, um die Organisation
aus ihren zahlreichen Engpässen herauszubringen, welche
durch das Spiel der Grossmächte vorsorglich genährt
werden, damit die UNO in den Augen der Öffentlichkeit
diskreditiert wird.

Herr Präsident,
Weil ich die wenn auch beschränkten Verdienste unse-
rer Organisation anerkenne, kann ich mich über die Auf-
nahme neuer Mitglieder nur freuen. Deshalb begrüsst die
Delegation von Burkina Faso den Eintritt des 159. Mit-
gliedes unserer Organisation: von Brunei-Darussalam.
Die Unvernunft jener, in deren Hände zufälligerweise
die Führung der Weit gefallen ist, zwingt die Bewegung
der Blockfreien - der Brunei-Darussalam, so hoffe ich,
bald beitreten wird - den Kampf um die Abrüstung als

176
eines ihrer ständigen Ziele zu betrachten. Die Abrüstung
ist einer der wesentlichsten Aspekte unter den erstrangi-
gen Bedingungen zur Verwirklichung unserer Rechte auf
Entwicklung.
Unserer Ansicht nach braucht es ernsthafte Studien, die
alle Elemente berücksichtigen, welche die Welt ins Elend
gestürzt haben. Unseren Gesichtspunkt hat Präsident Fi-
del Castro 1979 bei der Eröffnung der sechsten Gipfel-
konferenz der blockfreien Länder bewundernswert aus-
gedrückt, als er erklärte - ich zitiere:
„Mit 300 Milliarden Dollars könnte man in einem Jahr
60’000 Schulen für 400 Millionen Kinder bauen; oder 60
Millionen komfortable Wohnungen für 300 Millionen
Menschen; oder 20’000 Fabriken mit 20 Millionen Ar-
beitsplätzen; oder man könnte damit 150 Millionen Hek-
taren Land bewässern, die mit Hilfe der entsprechenden
Technik eine Milliarde Menschen ernähren könnten...“
Ende des Zitats.
Indem man heute diese Zahl mit zehn multipliziert -
was sicher noch weniger ist als in Wirklichkeit - erkennt
man das Ausmass dessen, was die Menschheit jedes Jahr
im militärischen Bereich, das heisst im Kampf gegen den
Frieden, verschwendet. Man kann leicht nachvollziehen,
weshalb der Unmut der Völker sich rasch in Revolte und
Revolution verwandelt angesichts der Brosamen, die man
ihnen in der schändlichen Form einer gewissen Hilfe zu-
wirft, welche manchmal von - offen gesagt - niederträch-
tigen Bedingungen begleitet ist. Man begreift endlich,
warum wir uns im Kampf um Entwicklung als unermüd-
liche Kämpfer für den Frieden bezeichnen.
Wir schwören, für den Abbau der Spannungen zu
kämpfen, die Prinzipien eines zivilisierten Lebens in die
internationalen Beziehungen einzuführen und diese in

177
allen Teilen der Welt zur Geltung zu bringen. Was auf
das gleiche herauskommt, wenn ich sage, dass wir nicht
länger passiv dem Austausch von Konzepten beiwohnen
können.
Wir bekräftigen unsere Entschlossenheit, aktive Ver-
bündete des Friedens zu sein; unseren Platz im Kampf für
die Abrüstung zu halten; in der internationalen Politik als
ein Entscheidungsträger zu handeln, der frei ist von je-
dem Zwang gegenüber allen Grossmächten, was auch
immer die Absichten letzterer sein mögen.
Aber die Suche nach dem Frieden muss Hand in Hand
gehen mit der gesicherten Anwendung des Rechts der
Länder auf Unabhängigkeit, der Völker auf Freiheit und
der Nationen auf autonome Existenz. Im Mittleren Osten
nimmt in diesem Zusammenhang hinsichtlich Arroganz,
Unverschämtheit und unglaublicher Starrköpfigkeit ein
kleines Land den schändlichsten und elendesten ersten
Platz ein - nämlich Israel, das seit mehr als zwanzig Jah-
ren mit der unumschreibbaren Komplizenschaft seines
mächtigen Schutzherrn, der USA, fortfährt, die interna-
tionale Gemeinschaft herauszufordern. Unter Missach-
tung einer Geschichte, die gestern noch jeden Juden dem
Horror der Gasöfen aussetzte, bringt Israel heute fertig,
andern das zuzufügen, was einst sein eigenes Golgatha
war.
Wie die Dinge auch immer liegen, Israel, dessen Volk
wir wegen seines Mutes und seiner Opfer in der Verga n-
genheit lieben, muss wissen, dass die Bedingungen für
seine eigene Ruhe nicht in einer von aussen finanzierten,
militärischen Macht liegen. Israel muss beginnen zu ler-
nen, eine Nation wie alle anderen auch, eine Nation unter
anderen, zu werden.

178
Jetzt aber sehen wir uns verpflichtet, von dieser Tribüne
herab unsere aktive und vor Ort sich erweisende Solidari-
tät mit den Kämpfern (Frauen und Männern) des wunder-
baren Volkes von Palästina zu bekräftigen, weil wir wis-
sen, dass kein Leiden ohne Ende ist.

Herr Präsident,
Wenn wir die Situation analysieren, die politisch und
wirtschaftlich in Afrika vorherrscht, kommen wir nicht
darum herum, unsere tiefe Besorgnis über die gefährliche
Bedrohung der Rechte der Völker durch einige Nationen
zu unterstreichen, die - ihrer Verbündeten gewiss - offen
die internationale Moral verhöhnen.
Bestimmt haben wir das Recht, uns über den Entscheid
zum Rückzug der fremden Truppen aus dem Tschad zu
freuen, damit die Tschader nun unter sich, ohne Vermitt-
ler, nach Mitteln suchen können, um ihren Bruderkrie g zu
beenden, und womit diesem Volk, das seit so vielen Re-
genzeiten nicht mehr aufhören kann zu weinen, die Mög-
lichkeit gegeben wird, seine Tränen zu trocknen. Aber
trotz der da und dort zu verzeichnenden Fortschritte der
afrikanischen Völker in ihrem Kamp f um wirtschaftliche
Befreiung, ist unser Kontinent nach wie vor ein Spiegel
der wesentlichen Realitäten - nämlich der Widersprüche
zwischen den Grossmächten - schleppt nach wie vor die
unerträglichsten Ausweglosigkeiten der gegenwärtigen
Welt mit sich. Deshalb akzeptieren wir nicht und verur-
teilen in aller Form das Schicksal, welches das König-
reich Marokko dem Volk der Westsahara zuweist. Ma-
rokko bedient sich trödlerischer Methoden, um die Frist
herauszuzögern, die ihm jedoch in jedem Fall durch den
Willen des saharaouischen Volkes auferlegt wird.

179
Ich habe bei meinem persönlichen Besuch in den durch
das saharaouische Volk befreiten Regionen die Überze u-
gung gewonnen, dass jetzt nichts mehr seinen Marsch zur
totalen Befreiung seines Landes unter der aktiven und
weitsichtigen Führung der Frente Polisario aufhalten
kann.
Ich will mich nicht allzulange bei der Frage von Mayo t-
te und der Inseln des madegassischen Archipels aufhal-
ten. Weil die Dinge klar, die Prinzipien offensichtlich
sind, muss man nicht mehr Worte verlieren. Mayotte ge-
hört zu den Komoren. Die Inseln des Archipels sind ma-
degassisch.
In Lateinamerika begossen wir die Initiative der Conta-
dora-Gruppe, die eine positive Etappe auf der Suche nach
einer gerechten Lösung der dort herrschenden, explosiven
Lage darstellt. Commandante Daniel Ortega hat hier im
Namen des revolutionären Volkes von Nicaragua konkre-
te Vorschläge unterbreitet und zu Recht grundsätzliche
Fragen aufgeworfen. Wir erwarten, dass in seinem Land
und in Zentralamerika ab 15. Oktober der Frieden ein-
kehrt und wir nehmen dafür die Ansicht der Weltöffent-
lichkeit zum Zeugen.
So wie wir die ausländische Intervention in Grenada
verurteilt haben, geisseln wir jede Intervention von aus-
sen. Deshalb können wir auch zur ausländischen Inter-
vention in Afghanistan nicht schweigen.
Es gibt allerdings einen Punkt, der so schwer wiegt,
dass er von uns allen eine offene und entschiedene Erklä-
rung fordert. Diese Frage kann, Sie werden es vermuten,
nur die Frage Südafrika sein. Die unglaubliche Unver-
schämtheit dieses Landes gegenüber allen Nationen der
Erde, selbst gegenüber jenen, die den Terrorismus unter-
stützen, den Südafrika zur physischen Liquidierung der

180
schwarzen Mehrheit dieses Landes systematisch ausübt,
die Verachtung, welche Südafrika gegenüber all unsern
Resolutionen zur Schau trägt, stellen eine der drängend-
sten Sorgen der Gegenwart dar.
Aber am tragischsten ist nicht, dass sich Südafrika an-
gesichts der allgemeinen Abscheu vor den Apartheidsge-
setzen selbst auf die Anklagebank der internationalen
Gemeinschaft setzt, noch weniger, dass es Namibia
illegalerweise unter dem kolonialistischen und
rassistischen Stiefel hält oder nach wie vor seine
Nachbarn ungestraft den Gesetzen des Banditentums
unterwirft. Nein, das widerlichste, das erniedrigendste für
das menschliche Bewusstsein ist der Umstand, dass es
Südafrika gelungen ist, das Unglück von Millionen von
Menschen zu „banalisieren“, die nichts als ihre Brust und
den Heroismus ihrer nackten Hände haben, um sich zu
verteidigen. Der Komplizenschaft der Grossmächte
gewiss und sicher, dass bestimmte unter ihnen sich an
seiner Seite aktiv engagieren, dank auch der kriminellen
Kollaboration einiger trauriger Gestalten unter den
afrikanischen Führern, schämt sich die weisse Minderheit
nicht, sich über den Seelenzustand aller Völker lustig zu
machen, welche die in diesem Land gebräuchlichen
Schlächtermethoden untolerierbar finden.
Es gab eine zeit, wo sich internationale Brigaden bilde-
ten, um die Ehre von Nationen zu verteidigen, die in ihrer
Würde verletzt worden sind. Und obwohl die Wunden,
die wir alle an unseren Seiten tragen, eitern, werden wir
heute Resolutionen verabschieden, deren einziges Ver-
dienst darin bestehen wird - so wird man sagen -, eine
Piraten-Nation zur Reue zu bringen, die „das Lächeln
zerstört, wie der Frost die Blumen tötet“.

181
Herr Präsident,
Bald werden wir den 150. Jahrestag der Emanzipation
der Sklaven des britischen Weltreichs feiern.
Meine Delegation unterstützt den Vorschlag von Ant i-
gua und Barbados, dieses Ereignis, das für die afrikani-
schen Länder und die schwarze Welt von eminent wichti-
ger Bedeutung ist, mit grosser Pracht zu würdigen. Für
uns muss der Akzent bei allem, was in der ganzen Welt
anlässlich dieser Gedenkfeiern gesagt oder organisiert
wird, auf die grausame Zeche gelegt werden, welche
Afrika und die schwarze Welt für die Entwicklung der
menschlichen Zivilisation bezahlt hat. Eine Zeche, die nie
rückerstattet wurde, und die ohne Zweifel die Gründe für
die heutige Tragödie unseres Kontinentes erklärt.
Es war unser Blut, das den Aufschwung des Kapitalis-
mus speiste, das die jetzige Abhängigkeit ermöglichte
und unsere Unterentwicklung verfestigte. Man kann diese
Wahrheit nicht mehr verschweigen, die Zahlen nicht
mehr verfälschen. Für jeden Neger, der auf eine Plantage
gelangte, liessen mindestens fünf andere ihr Leben oder
wurden verstümmelt. Und dabei übergehe ich noch die
Desorganisation des Kontinents sowie die Folgen, die
sich daraus ergeben haben.

Herr Präsident,
Wenn die ganze Welt dank Ihnen, dank der Hilfe des
Generalsekretariats, anlässlich dieses Jahrestages von
dieser Wahrheit überzeugt werden kann, wird sie auch
verstehen, weshalb wir mit jeder Faser unseres Körpers
den Frieden zwischen den Nationen wollen, warum wir
innerhalb einer Organisation unser Recht auf Entwick-
lung in absoluter Gleichheit und einer Verteilung der
menschlichen Ressourcen fordern. Denn unter allen

182
menschlichen Rassen sind wir diejenige, die am meisten
gelitten hat; deshalb haben wir, das Volk von Burkina-
Faso, uns geschworen, auf keinem Flecken Erde die ge-
ringste Rechtsverweigerung zu dulden. Es ist die Erinne-
rung an dieses Leiden, das uns heute an die Seite der PLO
gegen die bewaffneten Banden Israels stellt. Es ist die
Erinnerung an dieses Leiden, die uns einerseits gebietet,
den AN und die SWAPO zu unterstützen, und uns ande-
rerseits die Präsenz von Menschen in Südafrika unerträg-
lich macht, die sich Weisse nennen und in deren Namen
die Welt verbrennen. Es ist schliesslich auch diese Erin-
nerung, die uns in der UNO unseren ganzen Glauben in
eine gemeinsame Verpflichtung setzen lässt, in eine ge-
meinsame Aufgabe und eine gemeinsame Hoffnung.
Wir fordern:
- dass die Kampagne zur Freilassung Nelson Mandelas
weltweit verstärkt und sein Auftritt an der nächsten
UNO-Generalversammlung ein gemeinsam errungener,
stolzer Sieg wird;
- dass zur Erinnerung an unsere Leiden und als kollek-
tive Entschuldigung ein internationaler Preis der wieder-
versöhnten Menschheit gestiftet und all jenen zuerkannt
werden soll, die durch ihre Bemühungen zur Verteidi-
gung der Menschenrechte beitragen;
- dass alle Budgets für die Weltraumforschung um ei-
nen Zehntausendstel gekürzt werden, wobei dieser Betrag
der Gesundheitsforschung sowie der Wiederherstellung
der menschlichen Umwelt dienen soll, welche durch alle
diese künstlichen, dem Ökosystem schädlichen Brände
aus dem Gleichgewicht geworden worden ist.

Wir schlagen ebenfalls vor, dass die Struktur der UNO


überdacht und dem Skandal, den das Vetorecht darstellt,

183
ein Ende bereitet wird. Sicher werden die perversen Fol-
gen einer missbräuchlichen Anwendung durch die Wach-
samkeit einiger Nationen, die dieses Recht besitzen, ge-
mildert. Trotzdem ist das Veto-Recht durch nichts ge-
rechtfertigt: weder durch die Grösse der Länder, die dar-
über verfügen, noch durch deren Reichtümer. Wird als
Argument zur Rechtfertigung einer solchen Ungleichheit
vorgebracht, der Preis dafür sei während des letzten
Weltkrieges bezahlt worden, so mögen die Nationen, die
sich diese Rechte selbst zuerkannt haben, wissen, dass
auch wir - jeder von uns einen Onkel oder Vater haben,
der wie Tausende anderer Unschuldiger aus der Dritten
Welt herausgerissen worden ist, um das von den Hitler-
horden verhöhnte Recht zu verteidigen, und der in seinem
Fleisch ebenfalls die Narben der Nazi-Kugeln trägt.
Möge also Schluss sein mit der Arroganz der Grossen,
die keine Gelegenheit auslassen, die Rechte der Völker in
Frage zu stellen. Die Abwesenheit Afrikas im Klub der
Vetorecht-Inhaber ist eine Ungerechtigkeit, die ein Ende
haben muss.
Schliesslich hätte meine Delegation nicht alle ihre
Pflichten erfüllt, wenn sie nicht die Suspendierung Israels
sowie schlicht und einfach den Ausschluss Südafrikas aus
unserer Organisation fordern würde. Sobald diese Länder,
im Lauf der Zeit, jene Änderungen vollzogen haben, wel-
che sie in die internationale Gemeinschaft zurückführen
werden, wird sie jeder von uns - mein Land an der Spitze
- gerne wieder aufnehmen wollen und ihnen bei ihren
ersten Schritten helfen. Wir möchten unser Vertrauen in
die UNO an dieser Stelle nochmals unterstreichen. Wir
sind ihr dankbar für die Arbeit, die ihre Unterorganisatio-
nen in Burkina Faso leisten, dankbar für ihren Beistand in
den harten Zeiten, die wir gegenwärtig durchleben.

184
Wir sind den Mitgliedern des Sicherheitsrates dankbar,
dass sie uns in diesem Jahr zweimal den Vorsitz bei sei-
nen Arbeiten übertragen haben. Wir wünschen uns nur zu
sehen, dass der Sicherheitsrat das Prinzip des Kampfes
gegen die Vernichtung von jährlich dreissig Millionen
Menschen durch die Waffe des Hungers, die heute grös-
sere Opfer fordert als die Atomwaffen, annimmt und an-
wendet.
Dieses Vertrauen und dieser Glaube in die UNO ver-
pflichten mich auch, dem Generalsekretär, Herrn Javier
Perez de Cuellar, für seinen so geschätzten Besuch zu
danken, den er uns abgestattet hat, um sich vor Ort ein
getreues Bild von den harten Realitäten unseres Lebens
von der Tragödie des Vormarsches der Wüste zu machen.
Ich möchte nicht schliessen, ohne den hervorragenden
Qualitäten unseres Vorsitzenden die Reverenzen zu er-
weisen, der mit der Klarsicht, die wir von ihm gewohnt
sind, die Arbeiten dieser 39. Session zu leiten verstehen
wird.

Herr Präsident,
Ich habe Tausende von Kilometern zurückgelegt. Ich
bin hierher gekommen, um jeden von Ihnen zu bitten,
unsere Anstrengungen zu vereinen, damit der Hochmut
der Leute, die nicht im Recht sind, ein Ende nimmt, damit
das traurige Schauspiel der Kinder, die Hungers sterben,
aufhört, damit die Unwissenheit verschwindet, damit die
gerechte Rebellion der Völker triumphiert, damit der
Waffenlärm schweigt und damit wir endlich mit einem
einzigen für das Überleben der Menschheit kämpfenden
Willen mit dem grossen Dichter Novalis im Chor singen
können: „Dann werden die Gestirne die Erde wieder be-
suchen, der sie gram geworden waren in jenen Zeiten der

185
Verfinsterung; dann legt die Sonne ihren strengen Zepter
nieder, und wird wieder Stern unter Sternen, und alle Ge-
schlechter der Welt kommen dann nach langer Trennung
wieder zusammen. Dann finden sich die alten verwaisten
Familien, und jeder Tag sieht neue Begrüssungen, neue
Umarmungen; dann kommen die ehemaligen Bewohner
der Erde zu ihr zurück, in jedem Hügel regt sich neu er-
glimmende Asche, überall lodern Flammen des Lebens
empor, alte Wohnstätten werden neu erbaut, alte Zeiten
erneuert, und die Geschichte wird zum Traum einer un-
endlichen, unabsehlichen Gegenwart.“

Waldrede

Rede von Hauptmann Thomas Sankara an der Interna-


tionalen Konferenz über den Baum und den Wald, Paris,
5. Februar 1986

Exzellenzen,
Meine Damen und Herren,
Meine Heimat Burkina-Faso ist unbestreitbar eins der
seltenen Länder auf diesem Planeten, welches zu Recht
sagen kann, dass sich in ihm alle Naturkatastrophen kon-
zentrieren, die die Menschheit am Ende des 20. Jahrhun-
derts noch kennt.
Dennoch haben die acht Millionen Einwohner Burkina-
Fasos diese Realität während 23 Jahren in einem
schmerzhaften Prozess verinnerlicht. Sie sahen Mütter,
Väter, Töchter und Söhne sterben, welche Hunger, Un-
terernährung, Krankheit und Ungewissheit zu Hunderten
hinwegrafften. Mit Tränen in den Augen mussten sie zu-

186
sehen, wie Tümpel und Flüsse austrockneten. Seit 1973
waren sie Zeugen eines beständigen Niedergangs ihrer
Umwelt, des Baumsterbens und des mit Riesenschritten
geschehenden Vormarsches der Wüste. Man schätzt, dass
die Sahel-Wüste pro Jahr um 7 km vorrückt.
Einzig diese Realitäten machen die berechtigte Revolu-
tion in Burkina Faso verständlich, die aufkeimte, langsam
heranreifte und schliesslich in der Nacht vom 4. August
1983 in Form einer demokratischen Volksrevo lution aus-
gebrochen ist.
Ich bin hier nur der bescheidene Sprecher eines Volkes,
das sich weigert, seinem eigenen Tod zuzusehen, nach-
dem es passiv dem Tod der natürlichen Umwelt zuge-
schaut hat.
Seit dem 4. August 1983 sind das Wasser, der Baum
und das Leben, um nicht zu sagen das Überleben, grund-
legende und unantastbare Gegebenheiten für alle Hand-
lungen des Nationalen Revolutionsrates von Burkina-
Faso.
In seinem Namen möchte ich auch dem französischen
Volk, seiner Regierung und insbesondere seinem Präsi-
denten, Herrn François Mitterand, meine Anerkennung
für diese Initiative bezeugen, welche das politische Genie
und die Klarsicht eines Volkes belegt, das gegenüber der
Welt immer offen war und immer Sensibilität für ihr
Elend bewiesen hat.
Burkina Faso, im Herzen des Sahel gelegen, wird den
richtigen Wert der Initiativen, die mit den vitalen Sorgen
seines Volkes übereinstimmen, immer zu schätzen wissen
und es wird, wenn immer nötig, präsent sein - dies im
Gegensatz zu unnützen Vergnügungsreisen.

187
Seit bald drei Jahren führt mein Volk, das Volk von
Burkina Faso, einen titanischen Kampf gegen den Vor-
marsch der Wüste. Es war deshalb seine Pflicht, hier an-
wesend zu sein, um über seine Erfahrungen zu sprechen
und von den Erfahrungen anderer Völker irgendwo in der
Welt zu profitieren.
Seit bald drei Jahren wird in Burkina Faso jedes Fest
(Hochze it, Taufe, Auszeichnung, Besuch von Persönlich-
keiten und andere) mit dem Pflanzen eines Baumes gefei-
ert.
Zum Neujahr 1986 haben alle Schülerinnen und Schüler
von Ouagadougou, unserer Hauptstadt, ihren Müttern
3’500 Kochherde geschenkt, die sie mit ihren eigenen
Händen gefertigt haben; in zwei Jahren kommen noch
80’000 hinzu, die von den Frauen selbst gefertigt werden.
Das war ihr Beitrag an die nationale Anstrengung, den
Brennholzverbrauch zu senken und Baum und Leben zu
schützen.
Der Zugang zum Besitz oder auch nur zur Miete der
Hunderten von Sozialwohnungen, die seit dem 4. August
1983 gebaut worden sind, ist strikte daran gebunden, dass
der Begünstigte eine minimale Zahl von Bäumen pflanzt
und für sie sorgt wie für seine Augäpfel. Begünstigte, die
ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, sind dank der
Wachsamkeit unserer Komitees zur Verteidigung der
Revolution, welche lasterhafte Zungen systematisch und
ohne jede Nuancierung zu verunglimpfen pflegen, schon
aus ihren Wohnungen ausgewiesen worden.
Nachdem in Burkina Faso und benachbarten Ländern
auf dem ganzen Territorium innert vierzehn Tagen
zweieinhalb Millionen Kinder im Alter von neun
Monaten bis vierzehn Jahren gegen Masern,
Hirnhautentzündungen und Gelbfieber geimpft worden
sind; nachdem wir mehr als 150 Brunnenbohrungen
188
als 150 Brunnenbohrungen realisiert haben, die rund zwei
Dutzend Sektoren unserer Hauptstadt, welche bis anhin
auf dieses Grundbedürfnis verzichten mussten, mit
Trinkwasser versorgen; nachdem wir innerhalb von zwei
Jahren die Alphabetisierungsrate von 12% auf 22% er-
höht haben, setzt das Volk Burkina Fasos seinen Kampf
für ein grünes Land siegreich fort. Zehn Millionen Bäume
sind im Rahmen eines fünfzehn Monate dauernden
Volksentwicklungsprogramms gepflanzt worden, womit
wir die erste Herausforderung bei der Vorbereitung unse-
res Fünfjahresplanes meisterten.
In den Dörfern unserer Flusstäler muss jede Familie im
Jahr hundert Bäume pflanzen.
Das Schlagen und Vermarkten von Brennholz ist voll-
ständig reorganisiert und strengen Vorschriften unterwor-
fen worden. Diese Tätigkeiten erfordern den Besitz einer
Holzhändlerkarte, die Respektierung der zum Holzschlag
freigegebenen Zonen bis hin zur Sicherung der Auffor-
stung der geredeten Zonen. Jede Stadt und jedes Dorf in
Burkina-Faso besitzt heute ein eigenes Wäldchen, womit
wir eine alte Tradition wiederaufleben lassen. Dank der
Anstrengung, das Verantwortungsbewusstsein der
Volksmassen zu verstärken, sind unsere städtischen Ze n-
tren von der Geissel herumstreunender Tiere befreit. Auf
dem Land richten sich unsere Anstrengungen darauf, die
Sesshaftigkeit des Viehs zu fördern, um die intensive
Viehzucht zu begünstigen und so das wilde Nomadisieren
zu bekämpfen. Alle kriminellen Akte von Pyromanen, die
Waldbrände legen, werden von den dörflichen Volks-
schlichtungsgerichten abgeurteilt und bestraft.
Die zwangsmässige Pflanzung einer bestimmten Anzahl
Bäume zählt dabei zu den von diesen Gerichten verhäng-
ten Strafen. Vom 10. Februar bis zum 20. März dieses

189
Jahres nehmen 35’000 Bauern, Verantwortliche der dörf-
lichen Gruppen und Genossenschaften, an Intensivkursen
teil, um später in Sachen Wirtschaftsführung, Organisati-
on und Unterhalt der Umwelt selbst unterrichten zu kön-
nen.
Seit dem 15. Januar läuft in Burkina Faso unter dem
Namen „Récolte populaire de semences frostigeres“
(„Volkssammlung von Baumsprösslingen“) eine Aktion,
um die 7’000 dörflichen Baumschulen zu versorgen. Wir
fassen alle diese Aktionen mit dem Begriff der „Drei
Kämpfe“ zusammen.

Meine Damen und Herren,


Es ist nicht meine Absicht, die bescheidene revolutio-
näre Erfahrung meines Volkes in Sachen Baum- und
Waldschutz vorbehaltlos und masslos zu beweihräuchern.
Es ist meine Absicht, Ihnen so klar wie möglich von
den tiefgreifenden Änderungen zu erzählen, die in Burki-
na Faso, in den Beziehungen zwischen dem Menschen
und dem Baum, im Gang sind. Es ist meine Absicht, so
getreu wie möglich Zeugnis von der Geburt und Entwick-
lung einer aufrichtigen und tiefen Liebe zwischen dem
Menschen Burkina Fasos und dem Baum in meiner Hei-
mat abzulegen.
Indem wir dies tun - so glauben wir -, setzen wir unser
theoretisches Konzept mit für die Sahel-Realität spezifi-
schen Wegen und Mitteln an Ort und Stelle um und su-
chen nach Lösungen für die gegenwärtigen und zukünfti-
gen Gefahren, die weltweit den Baum bedrohen.
Die Anstrengungen der gesamten, hier versammelten,
Gemeinschaft sowie unsere eigenen Anstrengungen, Ihre
Erfahrungen sowie unsere Erfahrungen zusammenge-
nommen, eignen sich bestimmt, um dauernde und abge-

190
stützte Erfolge im Kampf zur Rettung des Baumes, der
Umwelt und - kurz gesagt - des Lebens zu garantieren.

Exzellenzen, meine Damen und Herren,


Ich bin hierher gekommen, weil wir hoffen, dass Sie ei-
nen Kampf aufnehmen, bei dem wir nicht abseits stehen
wollen; wir, die wir täglich angegriffen werden und er-
warten, dass das grünende Wunder dem Mut entspringen
wird, zu sagen, was gesagt werden muss.
Ich bin hierher gekommen, mich Ihren Klagen über die
Härte der Natur anzuschliessen.

Ich bin zu Ihnen gekommen, um den Menschen anzu-


klagen, dessen Egoismus der Grund für das Unglück sei-
nes Nächsten ist.
- Die koloniale Ausplünderung hat unsere Wälder de-
zimiert, ohne einen Gedanken an eine Wiedergutmachung
für unsere Zukunft zu verschwenden.
- Die ungestrafte Störung der Biosphäre durch wilde
und mörderische Rallyes auf dem Boden und in der Luft
geht weiter. Und man kann niemals genug hervorheben,
wie sehr diese Maschinen, die Abgase herauslassen, das
Gemetzel auf der Strasse propagieren.

Jene, welche die technischen Mittel haben, um die


Schuldigen festzustellen, haben daran kein Interesse, und
jene, die daran Interesse haben, verfügen nicht über die
technischen Mittel. Ihnen bleibt nur ihr Fühlen und ihre
innerste Überzeugung.
Wir sind nicht gegen den Fortschritt, aber wir wün-
schen, dass der Fortschritt nicht anarchisch und kriminell
rücksichtslos gegenüber den Rechten anderer sei.

191
Wir wollen also unterstreichen, dass der Kampf gegen
den Vormarsch der Wüste ein Kampf für das Gleichge-
wicht zwischen Menschen, Natur und Gesellschaft ist. Es
ist in diesem Sinn vor allem ein politischer Kampf und
kein fatalistischer. Die Schaffung eines Ministeriums für
Wasser, welches das Ministerium für Umwelt und To u-
rismus in meinem Land ergänzt, bezeugt unseren Willen,
die Probleme klar herauszuarbeiten, damit wir fähig wer-
den, sie zu lösen.
Wir müssen für die Beschaffung der Finanzmittel
kämpfen, um die bestehenden Wasserressourcen nutzen
zu können (Brunnenbohrungen, Staudämme und -
hecken). Hier ist deshalb der Ort, die aufgezwungenen
Abkommen und die drakonischen Bedingungen der Ba n-
ken und Finanzierungsorganismen zu verurteilen, welche
unsere diesbezüglichen Projekte zum Scheitern verurtei-
len. Es sind diese prohibitiven Bedingungen, welche die
traumatische Verschuldung unserer Länder provozieren
und uns jeden Manövrierraum wegnehmen.
Weder die falschen Argumente des Malthusia nismus -
ich bestehe darauf, dass Afrika ein unterbevölkerter Kon-
tinent ist - noch die Ferienkolonien, die hochtrabend und
demagogisch Aufforstungsoperationen genannt werden,
stellen die richtigen Antworten dar. Wir und unser Elend,
wir werden zurückgedrängt wie Räudige und Aussätzige,
deren Klagelieder die gemächliche Ruhe der Fabrikanten
und Händler des Elends stören.
Deshalb hat Burkina Faso vorgeschlagen und schlägt
immer noch vor, dass l% der kolossalen Summen, welche
der Erforschung des Zusammenlebens mit anderen Ge-
stirnen geopfert werden, sozusagen als Kompensation der
Finanzierung von Projekten zur Rettung des Baumes und
des Lebens aufgewendet werden.

192
Wir zweifeln nicht, dass ein Dialog mit den Marsbe-
wohnern die Wiedererlangung des Garten Edens ermögli-
chen könnte. Aber in der Zwischenzeit haben die Erden-
bewohner, die wir sind, auch das Recht, eine Auswahl
abzulehnen, die sich auf die schlichte Alternative Hölle
oder Fegefeuer beschränkt.
Wie gesagt, unser Kampf für den Baum und den Wald
ist in erster Linie ein demokratischer Volkskampf. Denn
die unfruchtbaren und kostspieligen Anregungen einiger
Ingenieure und Experten für Waldwirtschaft werden nie
etwas ausrichten! Desgleichen werden auch die aufgerüt-
telten Gewissen zahlreicher Foren und Institutionen -
seien sie noch so aufrichtig und lebenswert - den Sahel
nicht ergrünen lassen, wenn es an Geld fehlt, um in hun-
dert Metern Tiefe Trinkwasserbrunnen zu graben und
während es dazu verwendet wird, Erdöl in dreitausend
Meter Tiefe zu fördern! Karl Marx sagte es so: „Man
denkt weder die gleichen Dinge noch auf die gleiche
Weise, je nachdem ob man in der Hütte oder in einem
Palast lebt.“ Aber dieser Kampf für den Baum und den
Wald ist vor allem ein antiimperialistischer Kampf. Denn
der Imperialismus ist der Pyroman in unsern Wäldern und
Savannen.

Meine Herren Präsidenten, meine Herren Ministerpräsi-


denten, meine Damen und Herren,
damit das Grün des Überflusses, der Freude und des
Glücks zu seinem Recht kommt, stützen wir uns auf diese
revolutionären Prinzipien des Kampfes. Wir glauben an
die Tugend der Revolution, um das Sterben unseres La n-
des aufzuhalten und ihm eine glückliche Zukunft zu er-
öffnen.

193
Ja, die Problematik des Baumes und des Waldes ist aus-
schliesslich eine des Gleichgewichts und der Harmonie,
die es zwischen dem Individuum, der Gesellschaft und
der Natur zu verwirklichen gilt. Dieser Kampf ist mö g-
lich. Wir schrecken vor der Grösse der Aufgaben nicht
zurück, wir wenden uns vor dem Leiden der anderen
nicht ab, denn der Vormarsch der Wüste kennt keine
Grenzen.
Diesen Kampf können wir gewinnen, wenn wir uns ent-
scheiden, Architekten und nicht nur Bienen zu sein. Es
wird dies der Sieg des Bewusstseins über den Instinkt
sein.
Biene und Architekt, ja! Der Autor möge mir erlauben,
den dualistischeu Charakter dieses Gleichnisses zu einem
Triptychon zu verlängern, nämlich Biene, Architekt und
revolutionären Architekt. Vaterland oder Tod! Wir wer-
den siegen!
Ich danke Ihnen.

Neujahrsbotschaft 1987

Die Botschaft, die ich dem Volk Burkina-Fasos am Be-


ginn des Jahres 1987 überbringe, ist vor allem die, dass
wir uns all jener erinnern, die nah und fern, direkt oder
indirekt, zu dem beigetragen oder das initiiert haben,
worauf wir 1986 stolz waren und das 1987 als Sprung-
brett zu unserem Glück dient. Sie sind nicht mehr unter
uns. Vom Tode weggerafft haben sie uns vor der Zeit
verlassen, die es ihnen erlaubt hätte, die Früchte ihrer
Anstrengungen zu gemessen. Wir mögen ihrer immer
gedenken und uns daran erinnern, dass die Siege, die wir

194
erringen, die gemeinsamen Siege des ganzen Volkes von
Burkina-Faso sind und nicht das Verdienst einiger weni-
ger. Und auch wenn sie nicht mehr da sind, haben sie
auch ihren Anteil. Wir haben deshalb die Pflicht, dem
Andenken der von uns Gegangenen die Ehre zu erweisen.
Ich entbiete meinen Gruss auch allen, die unter Entsa-
gungen es auf sich genommen, das zu ertragen, was die
Revolution fordert. Das Jahr 1986 war sehr schwer für
uns. Es war schwierig auf politischer Ebene, es war
schwierig, was die innere und äussere Sicherheit betrifft.
Das hat unserer Wirtschaft und unserer Moral einen
Schlag versetzt. Das hat uns die Mühseligkeit des Lebens
in Burkina-Faso verspüren lassen, und aller, was wir für
unser Volk im Jahre 1986 ins Auge gefasst haben, ist auf
viel Unverständnis gestossen. Unverständnis der gepla n-
ten und ergriffenen Massnahmen! Aber dank des Kamp-
fes jedes einzelnen von uns, dank unseres gemeinsamen
Kampfes, haben wir schliesslich triumphiert, und es ist
uns gelungen, so zu handeln, dass wir als eigenständiges
Volk, Land und Staat bestehen konnten. Ein Land, das
einen neuen Start geschafft hat. Alle diejenigen, die nach
drei oder vier Jahren nach Burkina-Faso zurückgekehrt
sind, anerkennen diese Änderungen, die alltäglich sind,
aber leider nicht mit der Geschwindigkeit, in dem
Rhythmus, wie es das Volk fordert, vor sich gehen. Wir
werden dies im Auge behalten. Es ist uns gemeinsam
gelungen, den Qualen, die uns umgeben und uns manc h-
mal an der Zukunft zweifeln lassen, zu entrinnen. Ich
möchte deshalb das Volk Burkina-Fasos zu seinen Be-
mühungen, die es vollbracht hat, beglückwünschen und
ihm sagen, dass das Jahr 1987 ein Jahr der Konsolidie-
rung, der Organisation und einer stärkeren Entwicklung
sein muss. Es wird das erste Jahr unseres Fünfjahrespla-

195
nes sein, vergessen wir das nicht! Es wird ein Jahr sein,
wo unsere wirtschaftlichen Errungenschaften uns gestat-
ten müssen, einen noch grösseren Sprung zu machen,
wichtiger durch die Durchführung unserer grossen Pro-
jekte, durch die Verwirklichung unserer kleinen Vorha-
ben, durch die Organisation der Arbeit. Das Jahr 1987
soll ebenfalls ein Jahr eines besseren sozialen Lebens
sein, gekennzeichnet von mehr Harmonie, von mehr
Reinheit in unserem Leben, indem wir unsere Gesell-
schaft von ihren Plagen, Schandflecken, dem Aussatz
befreien, die die Delinquenz, der Sittenzerfall, die Prosti-
tution usw. darstellen.
1987 muss zum Jahr der politischen Konsolidierung
werden. Wir brauchen politische Stärke, wir brauchen
mehr Zusammenschluss. Wir haben die Erfahrung unse-
rer Gruppenkämpfe gemacht. Wir haben die Erfahrung
unserer individuellen Eskapaden gemacht, und wir wissen
heute, was jeder von uns wert ist. Und wir haben auch
begriffen, dass wir im Vergleich zur Gemeinschaft un-
endlich klein sind. Wir haben begriffen, was jeder von
uns von den andern erwartet, und wir haben die Notwen-
digkeit begriffen, uns noch mehr zusammenzuschliessen,
wie dies nun jeden Tag konkret und in der gelebten Wirk-
lichkeit realisiert wird auf Führungsebene. Wir brauchen
eine grössere Mobilisierung, und es geschieht durch diese
Mobilisierung, dass wir das Volk von Burkina-Faso zu
noch mehr Arbeit organisieren können. Jede Mühe ver-
dient ihren Lohn, und wer seinen Lohn will, muss sich
nur die nötige Mühe geben. Wir werden die Arbeit orga-
nisieren, wir laden alle ein, sich noch ein wenig mehr
anzustrengen. Diejenigen, die schon einen Arbeitsplatz
haben, mögen noch effizienter sein, sie mögen ihrer Ar-
beit noch mehr Aufmerksamkeit widmen, damit Ressour-

196
cen frei werden, die den andern Einwo hnern Burkina-
Faso dienen. Diejenigen, die einen Arbeitsplatz erhalten,
mögen diese neuen Arbeitsplätze schätzen lernen, sie sind
für sie geschaffen worden, und sie mögen erkennen, dass
das Leben dem ganzen Volk von Burkina-Faso zusteht.
Wir möchten ein glückliches Burkina-Faso, in dem Über-
fluss herrscht, und deshalb zähle ich im angebrochenen
Jahr vor allem auf die Frauen, auf diese Ehefrauen, diese
Hausfrauen, jene, die zuhause sind, jene, die uns das Es-
sen bereiten, jene, die darauf schauen, wie wir leben. Sie
mögen die wachsamen Wärterinnen dieser Wirtschaft der
Unabhängigen, dieser Politik der ständigen Unabhängig-
keit für unser Wohl sein. Nur wenn das Volk Burkina-
Faso seine Reichtümer, so klein sie sein mögen, schätzen
lernt, nur wenn das Volk Burkina-Fasos anerkennt, dass
ein besseres Leben zu haben ist, indem es eine Organisa-
tionsanstrengung unternimmt, nur dann werden wir sagen
können, dass wir eine Welt geschaffen haben, wo es sich
sehr gut leben lässt. Unsere Ehefrauen, unsere Hausfrau-
en, unsere Mütter, brauchen weder kiti, noch zatu oder
raabo, um zu wissen, was man der Familie auftragen
muss. Welche Entscheide wir auch immer fä llen, allein
sie können im Alltag die Parole, die Produkte Burkina-
Fasos zu konsumieren zum grösseren Wohl Burkina-
Fasos, in die Tat umsetzen.
Ich wünsche allen ein glückliches und gutes Jahr. Allen,
die mit uns in Burkina-Faso leben, sei es aus Freund-
schaft zu uns, sei es einfach, weil ihre Pflicht sie in unser
Land geführt hat, ich möchte ihnen wünschen, ein gutes
Jahr bei uns zu verbringen, noch besser zu begreifen, dass
jetzt aufregende Jahre ihres Lebens oder ihrer Karriere
durchlaufen, weil sie der Geburt eines Volkes beiwohnen;
sie können gerade sehen, wie ein Volk aus der Puppe

197
schlüpft und mit jedem Tag ein stärkeres, selbstsicheres
Volk wird. Sie werden privilegierte Zeugen gewesen sein.
Ich richte meine Wünsche an alle überall in der Welt,
an die Staaten, an alle Regierungen, die unser Volk re-
spektieren, das sich nie selbst verleugnet hat und mit uns
in aufrichtiger Freundschaft zusammenarbeiten.
Ich grüsse alle Völker, die es heute so eingerichtet ha-
ben, dass der Name Burkina-Faso mehrmals rund um die
Erde gegangen ist, so dass wir ihn auch auf den entfernte-
sten und unbekanntesten Inseln wiederfinden. Ich möchte
allen diesen danken und ihnen sagen, dass wir uns ihres
Vertrauens würdig erweisen werden.
Ich möchte wie jedes Jahr das Volk Ghanas grüssen,
das brüderliche Volk Ghanas, mit dem wir zusammen
jedes Jahr am 31. Dezember die Revolution feiern, die die
Ghanesen in Ghana durchführen zum Wohl ihres Volkes
und in der Perspektive einer Einheit zwischen den Vö l-
kern Ghanas und Burkina-Fasos und einer grösseren Ein-
heit zwischen allen Völkern der Erde und vor allem der
Völker Afrikas.
Ich wünsche allen Bürgern Burkina-Fasos, wo sie auch
immer seien, in den Städten und auf dem Land, den
Kranken und Gesunden, allen, die mich hören ein gutes
und glückliches Jahr.
Vaterland oder Tod, wir werden siegen!

198
Beschneidung - kein Thema für Europas Frauen
von Jacqueline Ki-Zerbo

Ich komme aus einer afrikanischen Region, wo die


Klitorisbeschneidung noch praktiziert wird. Das Problem
der Klitorisbeschneidung wurde nicht erst in den letzten
Jahren aktuell. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang
an eine Konferenz, die schon 1974 von den Vereinigten
Nationen für afrikanische Frauen in Addis Abeba
organisiert wurde. Die Beschneidung wird nicht zufällig
heute wieder öfters zur Sprache gebracht, wo wir von der
kulturellen Identität Afrikas sprechen. Leider lesen wir in
der Presse oder hören wir im Rundfunk über die
Beschne idung, die Exzission, nur unter rein
medizinischen oder juristischen Gesichtspunkten. Dort
schreiben oder sprechen Ärzte und Rechtsanwälte, denen
sie ausnahmslos schrecklich erscheint, und die darum
sagen, die Entfe rnung eines Körperteils sei vor allem eine
Verletzung der körperlichen Ident ität eines Menschen
und wohl auch seiner Grund-Rechte. Aber die
Beschneidung ist nicht nur unter physischen
Gesichtspunkten zu sehen, denn es ha ndelt sich nicht
bloss um eine Operation am weiblichen Körper. Sie muss
auch in einem kulturellen Kontext gesehe n werden, den
Ausländer nicht immer ganz verstehen können. Die
Beschneidung ist eine Praktik, die in einem bestimmten
Lebensabschnitt an einem Mädchen vorgenommen wird.
Das Mädchen wird übrigens vor der Beschneidung
sexuell aufgeklärt und danach sorgfältig gepflegt. Ich
muss allerdings um der Wahrheit willen hinzufügen, dass
dieser aufklärerische und erzieherische Aspekt leider
heute zunehmend verschwindet. Wenn man heute
Bevölkerungsgruppen, bei denen die Exzission noch
praktiziert wird, fragt, wozu das Ganze gut sei, dann
199
können die kaum noch eine richtige klärende Antwort
geben; da kommen nur noch Sätze wie: „Das haben wir
schon immer so gemacht, das war früher mit einem be-
stimmten Unterricht und der sexuellen Aufklärung ver-
bunden“. Mit anderen Worten: Heute ist der Inhalt der
Beschneidungs-Praxis weitgehend vergessen.
Wir Afrikanerinnen sehen die Beschneidung als einen
kulturellen Sachverhalt an, der nur uns etwas angeht und
über den wir allein befinden können. Alle Artikel und
Beiträge von Ausländern können das Problem nicht lösen
helfen, sondern nur polarisieren. Wenn ich so argume n-
tiere, wird man meinen, ich sei eine Vertreterin und Ver-
teidigerin der Beschneidung. Aber das bin ich nicht. Ich
sage nur, dass die Afrikaner allein entscheiden müssen;
vor allem die Afrikanerinnen, die die Beschneidung erlit-
ten haben, wozu auch ich gehöre.
Aber wenigstens will ich hier eine Reihe von Dingen
entmystifizieren: Da wird zum Beispiel gesagt, dass die
Afrikanerinnen dadurch frigide werden. Das ist so eine
Einbildung der Ausländerinnen, die wahrscheinlich
fürchten, wenn man bei ihnen etwas wegschnitte, dann
müssten sie unbedingt frigide werden. Aber solche Äng-
ste sollte man nicht unbedingt auf Leute anderer Kulturen
projizieren. Die Frauenkonferenz in Kopenhagen 1980
war Anlass für eine Reihe von intellektuellen Afrikane-
rinnen, die der Beschneidung unterzogen wurden, öffent-
lich zu erklären, dass sie mit ihren europäischen Schwe-
stern einverstanden seien, wenn sie ihre körperliche Iden-
tität und Unverletzbarkeit verteidigen wollten; aber sie
fügten sogleich hinzu, dass man nicht so vorgehen könne,
wie der Affe, der eine Fliege töten wollte und seinem
Affenbruder derart auf den Kopf schlug, dass dieser starb.
Mit anderen Worten: Man darf auch dieses Kind nicht mit

200
dem Bade ausschütten. Die Afrikaner zeigen, sobald man
ihnen die Beschneidung vorwirft, immer die gleiche Re-
aktion: Sie fühlen sich als Barbaren behandelt; daher las-
sen sie sich in dieses Problem nicht mehr dreinreden. Ich
möchte Sie also einladen, dieses Problem unter verschie-
denen Aspekten mitzuberücksichtigen. Aber im Grunde
ist das ein Gespräch, das ich lieber unter Afrikanern füh-
re.
Ergänzen möchte ich nur noch: Wenn wir vom kulturel-
len Kontext der Beschneidung sprechen, können wir un-
sere Religion nicht ausschliessen, denn unserer Meinung
nach gehört Religion wesentlich zum kulturellen Bereich.
Mit der Beschneidung bleiben sicher religiöse Wertvor-
stellungen verbunden. Ähnliches gilt für Polygamie und
Scheidung. Selbst in Europa ist das Problem der Sche i-
dung ja an religiöse, rechtliche und soziale Vorausset-
zungen gebunden, zum Beispiel daran, auf die Unterstüt-
zung durch einen Mann verzichten und gegebenenfalls
für die Kinder selbst sorgen zu müssen. Wenn die Afri-
kanerin ihre Scheidung begehrt, muss sie solche Erwä-
gungen anstellen und sich fragen, ob sie einen Bruder
oder Onkel hat, der für sie sorgt, sofern sie ihren Mann
verlässt. In Afrika ist es ja immer ein Mann, der für eine
Frau zu sorgen hat. Da die Frauen oft nicht hinreichend
gebildet und ausgebildet worden sind, müssen sie sich
unter die Schutzherrschaft irgendeines männlichen Ver-
wandten begeben. Die Problematik der Scheidung ist also
nicht bloss eine religiöse und rechtliche, sondern vor al-
lem auch eine materielle Frage nach der Versorgung. Vie-
le Afrikanerinnen denken also gar nicht erst an Sche i-
dung, weil für eine solche die Voraussetzungen nicht ge-
geben sind.

201
Noch einmal zurück zum Problem der Beschneidung.
Ich habe gesagt, dass die Beschneidung eine körperliche
Operation ist, die einhergeht mit einer Re ihe von aufklä-
renden Massnahmen und Unterweisungen. Ich habe nicht
gesagt, dass diese Unterweisung oder Aufklärung als
Rechtfertigung anzusehen ist für die Beschneidung. Auf-
klärung geht nur zeitlich einher mit der Beschneidung,
aber das eine rechtfertigt das andere nicht. Im übrigen
wird die Beschneidung je nach Region sehr unterschied-
lich vollzogen. In manchen Gegenden wird sie sehr früh
durchgeführt, dann entfällt natürlich die Aufklärung, die
sonst mit der Beschneidung einher geht. Man betrachtet
das nur als eine Art hygienischen Vorgang. In anderen
Regionen wird die Beschneidung bei der Pubertät vollzo-
gen und geht mit Initiationsriten einher, die sehr umfang-
reich sind. Ich kenne einige Mädchen aus dieser Alters-
klasse; ich kenne ihre Gesänge, die sie lernen, und ich
weiss, dass dabei wirklich aufklärerische Arbeit geleistet
wird. Die Initiantinnen leben einige Wochen zusammen
in einem besonderen Haus. Es wird ihnen eine gewisse
Körperbeherrschung beigebracht. Es werden bestimmte
Verhaltensformen gelehrt. Eine Lehrerin bringt ihnen bei,
wie man isst, wie man spricht, wie man mit Leuten ver-
kehrt; also quasi eine gesellschaftliche Erziehung. Sie alle
wissen sicherlich, dass solches Wissen in Afrika nicht
jedem Beliebigen weitergegeben werden darf. Die alten
Frauen werden also nicht jedem erzählen, was sie den
jungen Mädchen beibringen. In anderen sozialen Gruppen
wird die Beschneidung sehr spät vorgenommen, mal erst
bei der Heirat, mal sogar erst nach der ersten Niederkunft.
Wir haben es also insgesamt mit ganz unterschiedlichen
Gebräuchen und Verhaltensweisen zu tun, und für jeden
konkreten Fall gibt es einen ebenso konkreten kulturellen

202
Inhalt, der mit der Beschneidung einhergeht. Was nicht
übersehen werden darf ist, dass die Beschneidung als ein
Ritus der Aufnahme in die Gesellschaft gesehen wird.
Erst mit diesen Praktiken wird man eigentlich zur Frau.
Man wird befreit von irgendwelchen bösen Elementen
und dadurch erst gesellschaftlich integrierbar.
Ich würde jedenfalls Vorbehalte anmelden gegenüber
allen Info rmationen über die Beschneidung, die europäi-
sche Anthropologen oder Ethnologen aus Afrika mitbrin-
gen; denn sie bestürmen, bedrängen un befragen die tradi-
tionell lebenden Leute um Erklärungen. Und dann erzählt
man einfach irgendetwas.

Zur Identität der afrikanischen Frau


von Elisabeth Ohene

Die afrikanische Frau - würde ein Mann dieses Thema


behandeln, so hätte er vermutlich eine einfachere Aufga-
be als ich. Denn wahrscheinlich würde er einfach das
Bild seines Idealtyps einer Frau zeichnen. Je nach Ge-
schmack dieses Mannes wird er vielleicht sagen, sie soll
klein und zierlich sein, oder gross und mit den Körper-
massen 86-61-102. Und sie soll ein Typ von Frau sein,
die schweigt und erst dann redet wenn sie gefragt wird.
Wenn wir die afrikanischen Männer so frage und sie bit-
ten würden, uns zu sagen, was ihr Idealtyp von Frau sei
dann würden wir wahrscheinlich eine Vielzahl von Por-
träts von Idealfrauen erhalten, wahrscheinlich so viele,
wie es Männer gibt. Aber ich bin nicht einmal sicher,
dass wir am Ende einer solchen Umfrage dan einen Ideal-
typ der afrikanischen Frau bekommen hätten. Wahr-

203
scheinlich sind die meisten Menschen der Ansicht, dass
es so etwas wie die afrikanische Frau schlechthin gar
nicht geben kann. Afrika ist ein riesiger Kontinent. Es
wohnen dort völlig unterschiedliche Völker und des we-
gen ist es wahrscheinlich völlig unrealistisch von „der“
afrikanische Frau schlechthin zu sprechen.
Deswegen muss sich meine Beschreibung der afrikani-
schen Frauen notgedrungen auf den westafrikanischen
Typus beschränken. Einfach aus dem Grund, weil ich
diesen Typus am besten kenne und weil ich selbst eine
solche westafrikanische Frau bin. Die Frauen im allge-
meinen, ob es sich nun um Afrikanerinnen handelt oder
Frauen andere Kontinente, haben erst im letzten Jahr-
zehnt Schlagzeilen gemacht Wahrscheinlich ist es daher
angebracht, dieses Referat mit der Frage zu beginnen, wie
es dazu kam, dass die Frauen als eigene Gruppe über-
haupt im Rahmen der Frauenbefreiungsbewegung an die
weltweite Öffentlichkeit traten. Indem wir näher untersu-
chen, wogegen sich di westliche Frau auflehnte, wofür sie
kämpfte, können wir gleichzeitig mitdiskutieren, wie die
Reaktion der afrikanischen Frau auf derartig Kämpfe aus-
sieht. Wir können klären, ob die afrikanische Frau ähn-
lich Probleme hatte und ob sie überhaupt Sympathie emp-
fand für das, was man als Frauenbefreiungsbewegung
bezeichnet hat.
Viele Frauen in Afrika waren nicht gerade begeistert
von der Frauenbefreiungsbewegung. Sie liess sie eher
kalt. Die Zielsetzungen haben sie nicht sehr beeindruckt.
Denn die BH-Verbrennungen, die bewusste Verwendung
einer ordinären Sprache, die die Zuhörerschaft schockie-
ren sollte, so etwas war für die afrikanischen Frauen nicht
unbedingt eine Problemstellung, die auch für sie galt. Da
gab es zum Beispiel die Frage, was denn eigentlich im

204
westlichen Sinne Schönheit sei. Eine Frage, die die afri-
kanischen Frauen nicht sonderlich bewegte. Ein BH war
für sie nur ein praktisches Bekleidungsstück, also etwas
Nützliches, aber nicht etwas, was eine weitergehende
Bedeutung hatte. Die Brüste waren in den afrikanischen
Gesellschaften nie Körperteile, die als etwas Unanständ i-
ges galten. Für uns ist es sicher unanständiger, die Beine
zu zeigen als die Brüste. Wenn man also Frauen sah, die
ohne BH gingen, so war das in Afrika durchaus nichts
Schockierendes, die Verbrennung des BH’s also ein sinn-
loser Akt. Die Verbrennung von Büstenhaltern wäre si-
cherlich keine Kampfmassnahme gegen irgendwelche
Fesseln der afrikanischen Frau gewesen. Die Symbole,
die im Rahmen der Frauenbefreiungsbewegung verwen-
det wurden, beeindruckten viele afrikanischen Frauen in
keiner Weise.
Auch die andere Frage, ob Frauen als Puppen oder Ba-
bies behandelt werden, die eine Art zerbrechliches Por-
zellan darstellen, oder ob sie von Männern herablassend
behandelt werden, stellt sich in Afrika nicht. Die Frau ist
dort weder Puppe noch zerbrechliches Porzellan. Die
afrikanische Frau hatte es immer mit der mühseligen
Wirklichkeit des Lebens zu tun, mit harter Arbeit - das
war stets ihr Los. Und diejenigen afrikanischen Frauen,
denen man gelegentlich die Tür eines Autos aufhält, ha-
ben nie den Endruck gehabt, dass das etwas war, dessen
sie sich zu rühmen hätten. Wahrscheinlich sind sie eher
verlegen, wenn man so etwas tut. Ihre Männer glauben
auch nicht, dass es besonders fraulich ist, wenn Frauen
sich als ewig jung darstellen oder versuchen, Jugend vor-
zuspiegeln. Afrikanische Frauen sahen sich bisher nie
gezwungen, ihr Alter zu verschweigen, denn in afrikani-
schen Gesellschaften gilt es nicht als besonders erstre-

205
benswert, wenn man ewig 25 Jahre alt bleibt. Oder wenn
man plötzlich einen Sprung von 25 auf 40 macht, um
danach bis zum Ende seines Lebens 40 zu bleiben. Die
afrikanischen Frauen waren immer stolz auf ihr jeweili-
ges Alter, weil unsere Gesellschaft das Alter respektiert.
In den afrikanischen Gesellschaft hat also das Alter nur
eine protokollarische Bedeutung, deswegen gibt es kein
Interesse der afrikanischen Frau, ihr Alter zu verschwei-
gen. Dinge, die also für die westliche Frau erstrebenswert
sind, waren oft kaum so bedeutsam für afrikanische Frau-
en.
Die Afrikanerin läuft immer vor dem Mann her - wohl-
verstanden, damit der Mann sie vor Gefahren schützt,
wenn sie von der Arbeit kommen oder zur Arbeit gehen.
Schauen wir uns einmal einen Weg von oder zur Arbeit
der beiden an: Die Frau trägt eine Menge Gepäck auf
dem Kopf. (Das heisst: Wir mussten nie in eine Manne-
quin-Schule gehen, um zu lernen, wie man gut, aufrecht
und gerade geht.) Wir mussten immer Dinge auf dem
Kopf tragen, das haben wir von Kindsbeinen an getan.
Die Frau kommt also mit einer Menge Dinge auf dem
Kopf, dazu hat sie ihr Kind auf den Rücken gebunden;
der Mann trägt höchstens eine Waffe, um irgendein wil-
des Tier abzuwehren, das die Frau möglicherweise be-
drängen könnte. Auf dem Feld hat die Frau mindestens
ebenso viel gearbeitet wie der Mann. Wenn diese Prozes-
sion nach Hause kommt, kann sich die Frau nicht in den
Lehnstuhl setzen; sie muss sofort in die Küche, muss ihre
Hausarbeit machen, sie muss für ihren hungrigen und
müden Mann sorgen.
Traditionellerweise war auch die Verwendung von ob-
szönen Ausdrücken nie beschränkt - jedenfalls in der
ländlichen Gesellschaft. Wenn eine freizügige Sprache

206
eingeschränkt war, dann nur aus Altersgründen; Afrika-
ner verwenden gewisse Ausdrücke nicht, wenn Kinder
dabei sind. Aber mit dem Geschlecht hat das nichts zu
tun. Die Männer sagen nicht, jetzt sind Frauen unter uns,
also dürfen wir nicht ordinär reden. Wenn eine Frau er-
wachsen ist, dann kann sie mit den Männern auf der Basis
der Gleichheit verkehren. Zusammengefasst: die Idee,
dass man Frauen wie Kinder behandelt, ist nicht afrika-
nisch.
Das heisst natürlich nicht, dass die afrikanische Frau
nicht auch unterdrückt worden wäre, also sehr wohl ein
Bedürfnis nach Befreiung bestanden hätte. Das Problem
war nur, dass die afrikanische Frau es einfach nicht
verstand, warum die westlichen Frauen sich dagegen
wehrten, wie ein Baby oder eine Puppe behandelt zu
werden. Ausdrücke wie Baby oder Puppe oder Sugar oder
Liebling, das sind in Afrika keine Koseworte. Kein Afri-
kaner nennt seine Frau etwa Puppe oder Zuckerpüppchen
oder Baby oder ähnliches. Die Männer sprechen nicht zu
Frauen, als wären sie Kinder. Im Gegenteil.
Was die Afrikanerin will, ist eine gewisse Entlastung.
Sie will nicht mehr so schwere Lasten tragen, auch in
ganz wörtlichem Sinn. Als sich die traditionellen afrika-
nischen Gesellschaften wandelten und sich hinentwickel-
ten zu westlich beeinflussten Gesellschaften, da wurde
die afr ikanische Frau zur grossen Verliererin. Sie hatte
nun einige Lasten zu tragen, die die Frau im Westen seit
langem trug, ohne dass sie jedoch die Vorzüge genossen
hätte, die die Frau im Westen gehabt hatte. Die Afrikane-
rin leidet unter Diskriminierungen im Beruf, und sie hat
gelernt, dass Zivilisiertsein bedeutet, nicht zuzugeben
oder gar offen zu zeigen, dass man auch clever, gescheit
und tüchtig ist. Sie ist also zwischen zwei einander wi-

207
dersprechende Kulturen geraten, und sie freut sich gar
nicht darüber, dass die Frau im Westen jetzt gewisse
Dinge ablehnt zur selben Zeit, zu der sie in Afrika gerade
lernt, dass diese Dinge auch angenehm sein können.
Die traditionelle Arbeitsteilung nach Geschlechtern, die
in der westlichen Welt als normal gelten darf, war in den
afrikanischen Gesellschaften nie so strikt. In den rein
traditionellen Gesellschaften herrschte hier eine eher
pragmatische Unterscheidung: In den Agrargesellschaften
ist es zunächst Aufgabe des Mannes, das Roden durchzu-
fahren. Danach ist die Frau verantwortlich für Jäten, für
Pflanzen, Ernten. Aber hier kann man nie klar einen
Trennungsstrich ziehen - das ist Sache des Mannes, das
ist Sache der Frau. Es ist durchaus möglich, dass eine
Frau ihre Landwirtschaft allein betreibt, weil sie sie auch
allein besitzt. Die Statistiken des Internationalen Ar-
beitsamtes besagen, dass 60 bis 80 Proze nt der Arbeits-
kräfte in der Landwirtschaft in Afrika Frauen sind. Sie
pflanzen, jäten, ernten, verarbeiten und konservieren für
den Bedarf ihrer Familie. Wenn es sich jedoch um Erträ-
ge handelt, die für den Verkauf auf dem Markt bestimmt
sind, dann ist das meist Angelegenheit des Mannes. Aber
auch diese Trennung gilt nich überall, sondern eher für
die Länder des südlichen Afrikas und Ostafrikas. In Gha-
na z.B. kann man nicht unbedingt sagen, dass gewisse
Landwirtschaften nur von Frauen betreut werden und
andere von den Männern. Es ist durchaus möglich, dass
eine Frau hier eine eigene Landwirtschaft betreibt mit
Gemüse, Süsskartoffeln und ähnlichem, was wir als Ne-
benerwerbs-Landwirtschaft bezeichnen. Bei all dem ist
mir nicht wichtig nachzuweisen, dass die Frauen minde-
stens soviel arbeiten wie die Männer, obwohl das sicher-
lich auch wichtig ist. Wichtiger ist es mir zu sagen, dass

208
die Frau über das, was sie produziert, frei nach ihrem
Gutdünken verfügen kann. Insbesondere in Westafrika ist
es für eine Frau geradezu schockierend, entdecken zu
müssen, dass in den sogenannten zivilisierten Teilen der
Welt noch immer Frauen um ihr Recht kämpfen müssen,
selbst Eigentum zu besitzen und darüber verfügen zu dür-
fen, ohne den Mann fragen zu müssen.
Ein Beispiel: Der Einzelhandel in Westafrika wird im-
mer noch von den legendären Marktfrauen dominiert,
Frauen, die in der Lage wären, es mit jedem Industrieka-
pitän eines weltweiten Grossunternehmens aufzunehmen.
Diese Frauen verstehen es sogar, mit multinationalen Ge-
sellschaften zu verhandeln und ihre Geschäfte zu machen.
Ihr Scharfsinn im Geschäftsleben ist so beeindruckend
und die Art und Weise, wie sie ihr Geschäft tätigen,
grossartig - wenn auch vielleicht unorthodox -, dass sie es
leicht mit Absolventen der Harvard-Business-School, die
in einem Ministerium sitzen oder gar Finanzminister ge-
worden sind, aufnehmen. Diese Frauen bilden eine in
höchstem Masse selbstbewusste Gruppe. Und sie sind
sich auch der Macht, die sie haben, voll und ganz be-
wusst. Es wurde in Nigeria und Ghana gesagt, dass diese
Frauen eine Regierung stürzen und eine andere, die sie
haben wollen, einsetzen könnten. Oder wenn alle Markt-
frauen von Accra eines Tages beschlossen, ihre gesamten
Guthaben von der National-Bank abzuziehen, dann würde
diese Bank Bankrott gehen. Ich bedaure direkt, dass diese
Frauen bis jetzt noch nicht auf diese Idee gekommen
sind.
Es ist nun interessant festzustellen, wie das Verhältnis
dieser Frauen zu ihren Ehemännern oder Freunden oder
den Männern im allgemeinen aussieht. Das Haus, das so
ein Paar bewohnt, gehört vielleicht der Frau. Es mag

209
durchaus sein, dass sie die gesamte Kleidung des Mannes
kauft und bezahlt. Sie gibt ihm vielleicht sogar ein Ta-
schengeld. Aber sie besteht darauf, aus Gründen, die mir
nie einsichtig waren, von „ihrem“ Mann eine Art symbo-
lisches Haushaltsgeld zu bekommen und wenn es nur
eine Summe ist, die vielleicht nur für fünf Tage reicht.
Aber sie besteht auf diesem Haushaltsgeld, um den äusse-
ren Schein zu wahren. Ich glaube, Afrikanerinnen leisten
wirklich grosses, wenn sie dem Ego des Ehegatten
schmeicheln wollen. Wenn beispielsweise so ein Paar zu
irgendeinem Fest geht, wo es üblich ist, Geld zu spenden,
dann stammt es sicherlich von der Frau, aber sie sorgt
rechtzeitig dafür, dass dieses Geld vom Mann gegeben
wird, indem sie es ihm heimlich zusteckt. Dann zieht der
Mann seine grosse Show ab und spendet das Geld. Selbst
wenn eine Frau allein zu einem solchen Fest geht, dann
gibt sie das Geld sozusagen nur als Überbringerin ihres
Mannes. Mit anderen Worten: Sobald die Frau vom
Markt zurückkehrt, das heisst aus dem Geschäftsleben
oder aus ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit nach Hause
kommt, dann unterwirft sie sich ganz bewusst der Herr-
schaft des Mannes, obwohl sie eigentlich den Geldbeutel
verwaltet. Das ist eine interessante Tatsache, da immer
angenommen wurde, dass das Geld die wesentliche Rolle
spielt für die Herrschaftsverhältnisse zwischen Mann und
Frau. Diese Frauen sind sich natürlich voll und ganz der
Macht bewusst, die sie in Händen halten. Wenn sie diese
Macht bewusst aufgeben, dann geschieht es absichtlich.
Sie unterwerfen sich dem Mann nicht deswegen, weil er
die ökonomische Macht hat, denn er hat sie oft gar nicht,
sondern aus Gründen, die weit zurückreichen in die tradi-
tionellen Gegebenheiten der maternalistischen Gesell-
schaft. Dort hatte die sogenannte Königinmutter ungehe u-

210
re Macht. Denn sie entschied immer darüber, wer neuer
König werden sollte. Obwohl bestimmte Strukturen und
Vorschriften zur Wahl des Häuptlings galten, hatte das
letzte Wort praktisch immer die Königinmutter. Sie hat
gesagt, wer zum Häuptling gewählt wird, aber auch wer
abgesetzt werden muss. Sie hat also über die entscheidene
Macht verfügt bei der Auswahl der Führungspersönlich-
keiten. Aber gleichzeitig waren diese Königinmütter
durchaus bereit und willens, sich mit einer zweitrangigen
Rolle zu begnügen. Sie wären nie auf den Gedanken ge-
kommen, ihre eigentlichen Machtbefugnisse, die sie tat-
sächlich ausüben, nach aussen deutlich zur Schau zu stel-
len. Ich fasse wieder zusammen: Die afr ikanischen Frau-
en hatten eigentlich keine Probleme, was ihren Status in
der Gesellschaft anlangt. Sie hatten immer Macht und sie
wussten das. Also hatten sie da überhaupt keine Komple-
xe. Erst als die westliche Kultur eindrang, kam es zu ei-
ner Vermischung der Rollen, und die Stimme der Frauen
in Afrika trat in den Hintergrund. Die wirtschaftliche Un-
abhängigkeit vieler Frauen ging verloren und damit auch
ihre Mitbestimmung. Von nun an spielten viele Afrikane-
rinnen eine völlig untergeordnete Rolle, waren völlig ab-
hängig von den Männern. Sie versuchten westliche Nor-
men zu übernehmen, indem sie zum Beispiel meinten,
dass eine richtige Lady nicht arbeiten sollte; statt dessen
gründeten sie Vereine: die Frauen von Ärzten, die Frauen
von Rechtsanwälten - alles „sehr wichtige“ Frauenver-
bände. Solche Gruppen sind ebenso unafrikanisch wie
absurd. Denn es werden lediglich Vorbilder der westli-
chen Mittel- oder Oberschicht nachgeahmt, indem man
Veranstaltungen wie Teekränzchen oder Kaffeeklatsch
und ähnliches macht. Solche Frauen haben sich nur mit
der Karriere ihrer Männer identifiziert. Ein derartiges

211
Phänomen ist, wie ich betonen möchte, völlig unafrika-
nisch. Die Regeln des Protokolls und der Etikette bei ech-
ter afrikanischer Geselligkeit ziehen nie die Position des
Ehemannes für eine Frau in Betracht. Die Stellung der
Frau hat traditionellerweise in Afrika nichts mit der Posi-
tion ihres Mannes zu tun. Erst die Übernahme des westli-
chen Systems führte zu Status- und Machtverlust für die
Frau in Afrika und dämmte gleichzeitig jegliche Initiative
der Afrikanerin ein. Erst in jüngster Zeit haben ökonomi-
sche Faktoren dazu geführt, dass diese Dinge neu über-
dacht wurden und man sich fragte, ob derartige Träume
oder Zielsetzungen überhaupt sinnvoll sind. Frauen konn-
ten auch in der traditionellen Gesellschaft Medizinfrauen
oder Fetischpriesterinnen sein. Aber durch den Wandel,
der mit der Übernahme der westlichen Kultur über uns
hereinbrach, sah man es nicht mehr gerne, dass Mädchen
ein Medizinstudium aufnahmen. In der traditionellen Ge-
sellschaft dagegen waren es nicht bloss Männer, die sich
der Heilkunde verschrieben und Frauen, die bestenfalls
Assistenzdienste leisteten. Umgekehrt war das Handwerk
nicht etwa nur den Frauen vorbehalten. Vielmehr war
Handarbeit auch eine männliche Tätigkeit. Aber als der
Schulbesuch allgemein üblich wurde, hat man die Mäd-
chen beschwatzt, nur noch derartige handwerkliche Ar-
beiten zu erlernen, während die theoretischen Ausbil-
dungswege den Jungen vorbehalten blieben.
Für die Mode hat die Afrikanerin schon immer etwas
übrig gehabt. Zum Beispiel legt sie auf ihre Haartracht
grossen Wert und verbringt viele Stunden damit, eine
neue Frisur zu kreieren. Kurze Zeit jedoch war der Ein-
fluss des Westens auf unsere Mode und Frisur so gross,
dass die Afrikanerinnen alle Modetrends Europas nach-
ahmten. Da gab es Frauen in Accra, die nur Christian-

212
Dior-Kleider und Frisuren trugen, die etwa auf den Titel-
bildern von Vogue erschienen. Für solche Trends waren
zum Teil die schwarzen Amerikanerinnen verantwortlich
- aus Gründen, die ich hier nicht im Detail erörten möch-
te. Diese schwarzen Amerikanerinnen waren einfach ge-
zwungen, die weissen Frauen nachzuahmen. Da war es
natürlich für die amerikanischen und europäischen Pro-
duzenten sehr verlockend, in Afrika hier einen ähnlich
erfolgsversprechenden Markt aufzubauen. Sie verkauften
den Afrikanerinnen Hautbleichcreme, die tatsächlich eine
Zeitlang guten Absatz fand. Oder es wurden Produkte
verkauft, die das Haar glätten, damit die Afrikanerinnen
so aussahen wie Europäerinnen. Diese Dinge galten eine
bestimmte Zeit lang als modern, als einer guten Erzie-
hung entsprechend.
Ähnlich war es mit der Kleidung. Man zwang die Afr i-
kanerinnen in alle möglichen europäischen Kleidungs-
stücke, die ihre breiten Hüften und ihren runden Po klei-
ner machen sollten. Dabei waren diese Modelle über-
haupt kein Vorbild für die Afrikanerinnen - was jema n-
dem in Europa gut steht, das braucht noch lange nicht zu
einer Afrikanerin zu passen. Glücklicherweise erkannten
viele (oder zumindest einige) Frauen diese Trugbilder.
Sie sahen einfach nicht mehr ein, warum sie engsitzende
Korsetts tragen oder ihr Haar vergewaltigen und
wahnsinnig viel Geld ausgeben sollten, nur um westlich
zu wirken. Glücklicherweise haben sich diese Dinge wie-
der gewandelt. Das Kraushaar ist wieder in Mode, und
man gilt nicht nur dann als gut angezogen, wenn man die
Schöpfungen von europäischen Modezaren trägt.
Die Ernährung spielt hier übrigens auch hinein. Mäd-
chen wurden zur Schule geschickt und lernten dort die
französische Küche und wie man ein Soufflé macht oder

213
was Europäer sonst noch als besondere Spezialität anse-
hen. Es wurde nicht länger als zivilisiert angesehen, wenn
eine Frau traditionelle Speisen zubereitet. Wir haben hier
echt einen Verlust zu verzeichnen gehabt und auch die
kulinarische Erfindungsgabe wurde abgetötet. Etwa wenn
es darum ging, neue Zubereitungsarten für die traditione l-
len Nahrungsmittel zu finden.
Ich sagte bereits, dass es in Afrika immer als unanstän-
dig galt, die Beine herzuzeigen, während die Brüste zu
zeigen durchaus in Ordnung war. Dass die freien Brüste
durchaus nichts Unanständiges waren, ist wohl darauf
zurückzuführen, dass bei uns die Mutterschaft eine so
wichtige Rolle spielt. Kinderkriegen ist nach wie vor be-
sonders wichtig in Afrika. Und in der Regel wird es als
ein Fluch der Ahnen oder als eine Strafe Gottes angese-
hen, wenn eine Afrikanerin kein Kind zur Welt bringt.
Die Mutterschaft festigt und stärkt den Status einer Frau
in unserer Gesellschaft. Denn ab einem bestimmten Alter
verlieren die afrikanischen Frauen ihren individuellen
Namen. Man kennt sie dann nur noch als Mutter des X
oder die Mutter des Y, niemals jedoch als Frau des X
oder des Y. Man kennt sie als Mutter von X. Wenn von
einem bestimmten Alter an eine Frau nur noch als die
Mutter von irgend jemand bezeichnet wird, und das ist
dann bei irgendwelchen Frauen gar nicht der Fall, dann
ist das für die Betreffenden wirklich eine Katastrophe.
Obwohl es als wichtig angesehen wird, dass eine junge
Frau heiratet, ist es aber auch keine Katastrophe oder kein
„Tabu“, wenn eine Frau unverheiratet bleibt. Unverheira-
tet zu sein ist nicht so schlimm wie kinderlos zu sein,
selbst wenn das bedeuten sollte, dass man nur uneheliche
Kinder hat.

214
Die Probleme für die Frauen der gesamten Welt sche i-
nen mir etwa gleichgelagert zu sein, nur die Akzente
werden in den verschiedenen Regionen sehr unterschied-
lich gesetzt. Alle Frauen haben den Eindruck, dass sie
sich befreien und emanzipieren müssen. Aber wovon die
europäische Frau befreit werden will, ist ganz etwas an-
deres, als wovor die Afrikanerin gerettet werden will. Die
Afrikanerin (wie die Frauen in anderen Erdteilen) sieht es
als ihre Hauptaufgabe an, dass die Familie weiterbesteht.
Sie kocht und lehrt ihre Töchter kochen; sie setzt dem
Gatten sein Leibgericht vor; sie klagt über die Untreue
ihres Ehemannes auch in der Polygamie; sie erzieht ihre
Söhne dazu, die Ohren steif zu halten und belehrt ihre
Töchter, dass nichts auf der Welt wichtiger ist, als ein
Kind auszutragen.
Noch ein letztes Wort zur Polygamie; denn das ist ein
Thema, bei dem Europäern immer so ein wohliger
Schauer den Rücken herunterläuft. Die meisten afrikani-
schen Frauen sehen kein Problem in der Polygamie. Na-
türlich sind auch sie zu jenen Gefühlen fähig, die westli-
che Frauen immer voraussetzen. Aber es wäre doch ei-
gentlich Heuchelei, wenn man behauptet, nur der westli-
che Typ der Ein-Ehe sei massgeblich für das, was man
Ehe nennt. Die Männer des Westens leben in Monoga-
mie. Aber diese Monogamie geht Hand in Hand mit Sei-
tensprüngen oder Geliebten. Das ble iben natürlich illega-
le Verhältnisse, weil die Legalität nur die Einehe vor-
sieht. Die Afrikaner bekennen sich zur Polygamie. Im
Grunde machen sie dasselbe wie die Männer in anderen
Erdteilen auch, aber sie erkennen auch andere Frauen als
ihre legitimen Ehe frauen an. Bei uns weiss eine Frau,
woran sie ist; und das ist besser, als wenn sie glaubt, sie
sei die einzige, in Wirklichkeit ist sie das aber nicht und

215
muss ständig nachsehen, was der Mann ausser Haus ei-
gentlich so treibt. Soweit ein kleiner Exkurs zur Frage der
Polygamie. Eine berühmte Beschreibung der Frau sagt,
sie sei eine Kreatur, „die zu Tränen neigt.“ Ja, auch die
Afrikanerin kennt Zeiten der Tränen. Denn sie ist es, die
die Aufgabe hat, einen Leichnam zu versorgen, einen
Verstorbenen auf die Bestattung vorzubereiten. Aber erst
nachdem sie ihn versorgt und aufgebahrt hat, darf sie
weinen. Erst wenn ihre Arbeit getan ist, darf sie weinen.
Dann muss sehr viel geweint werden am Totenbett. Und
dabei wird sie nicht gestört, solange der Tote im Haus ist.
Fast bin ich geneigt zu sagen, dies sei ein Bild für das
Leben der afrikanischen Frau überhaupt: Die Arbeit muss
getan werden, und erst wenn diese Arbeit beendet ist,
dann kommt die Zeit für Tränen, wo die Tränen aber auch
reichlich fliessen.

Anmerkung zur Stellung der Frau


im modernen Afrika
Von Ofozu Amaah

In der modernen Gesellschaft ist die Kleinfamilie der


Normalfall auch für Afrika geworden. Aus diesem Grund
identifizieren sich auch bei uns heute viele Frauen mit der
Position des Mannes. In unserer traditionellen Gesell-
schaft behielten alle Frauen ihren eigenen Namen. Man
kannte sie als Schwester oder Mutter von dem und dem.
Der Ehemann war nicht so wichtig für die Identität der
Frau. Heute ändert sich diese Situation. Sehr viele Män-
ner identifizieren sich mit und durch ihre Ausbildung,
ihre Stellung, ihren Titel - aber nicht mehr durch die

216
Grossfamilie, aus der sie stammen. Und das trägt in ei-
nem gewissen Mass zur Unterdrückung der Frau durch
den Mann in der Kleinfamilie bei. Hiergegen hat auch die
westliche Frau gekämpft, als sie mehr Rechte für sich
forderte. Die afrikanische Frau hatte mit solchen Proble-
men lange nichts zu tun. Erst die Kleinfamilie birgt heute
das Risiko eines Verlustes der überkommenen Rechte der
afrikanischen Frau. Etwas anderes sollte aber auch gesagt
werden: Wenn die afrikanischen Frauen sich der westli-
chen Zivilisation unterwerfen, der westlichen Mode, den
westlichen Tendenzen in der Haartracht, dann hat das
nichts zu tun mit der Beziehung der Geschlechter; es ist
vielmehr Ausdruck einer allgemeinen Haltung, die alle
unterdrückten Gesellschaften betrifft: Derjenige, der un-
terdrückt wird, passt sich dem Massstab des Unterdrük-
kers an.

217
Burkina Faso - eine Übersicht
Von Jean Rossiaud

Auszug aus dem Journal de Genève vom 18. Februar


1986 (in Zusammenarbeit mit Eric Rossiaud und François
Grin).

Burkina Faso, „Heimat“ (auf Douala) „der freien Men-


schen“ (auf Moré), besteht aus einem ausgedehnten Pla-
teau, dessen Fläche ungefähr der Hälfte Frankreichs ent-
spricht; die Bevölkerung ist beinahe gleich gross wie die
schweizerische. Ohne Zugang zum Meer, grenzt es im
Norden an Mali und Niger und ist im Süden durch die
Elfenbeinküste, Ghana, Togo sowie Benin vorn Golf von
Guinea getrennt.

Die Verwüstungen des Harmattan

Die Regenzeit dauert von Juni bis Oktober, eine Jahres-


zeit ununterbrochener Tätigkeit, in welcher man sät und
erntet (Hirse, Sorgho etc.); sich fortzubewegen, wird sehr
schwierig, die Pisten sind unpassierbar. In der Trocken-
zeit, die vom November bis Mai dauert, verlangsamt sich
traditionellerweise - mit regionalen Abweichungen - die
gesamte Aktivität.
Entgegen bestimmten Vorstellungen über den Sahel be-
trägt die Niederschlagsmenge in Burkina Faso nicht spür-
bar weniger als der Durchschnitt in den europäischen
Ländern: die Niederschläge verteilen sich aber nicht über
das ganze Jahr, sondern nur auf drei bis vier Monate im
Maximum. Ausser in sehr trockenen Perioden (1972-
1983) fällt also genügend Regen. Wenn es an Wasser
mangelt, so deswegen, weil es schlecht gefasst oder zu-

218
rückgehalten wird: es kann nicht in allzu trockene oder
durch herumziehende Herden festgestampfte Böden ein-
sickern und trägt in zerstörerischen Wildbächen einen
Teil des Humus mit sich fort. Zurück bleibt eine sehr ma-
gere Erde, die der Wind, der Harmattan, schliesslich in
Wüste verwandelt.
Dennoch ist Burkina Faso im wesentlichen ein Agrar-
land: 95% der aktiven Bevölkerung arbeiten im primären
Sektor. Der Anbau für die Selbstversorgung macht 90%
aus, gegenüber 10% für Cash-Crops (Bohnen zum Be i-
spiel). Da die Zuwachsrate der Lebensmittelproduktion
niedriger bleibt als das Bevölkerungswachstum, nimmt
das Lebensmitteldefizit immer mehr zu (1984: 25’000
Tonnen beim Getreide). Die Hungersnot von 1984, eine
direkte Folge davon, konnte nur dank internationaler Hil-
fe verhindert werden, welche aber oft zu spät eintraf.

Karger Boden und Untergrund

Es geht nicht darum, Tatsachen zu bestreiten: Burkina


Faso sieht sich mit einem Klima und einem Boden kon-
frontiert, die zu den undankbarsten gehören. Aber diese
ungünstige geographische Lage ist nicht fatal. Die wic h-
tigsten Handicaps, die den Aufschwung des Landes be-
hindern, müssen anderswo gesucht und sie müssen poli-
tisch überwunden werden.
Erstens ist der Untergrund sehr arm an Rohstoffen:
Kupfer, Marmor, Antimon und Bauxit sind zu wenig
konzentriert, um einen rentablen Abbau zu ermöglichen.
Die „Eisenbahnschlacht“ zu der die ganze Bevölkerung
aufgerufen ist, sich zu beteiligen, hat zum Ziel, den Sahel
verkehrstechnisch zu erschliessen und in Tambao, 350
km nördlich von Ouagadougou endlich den Abbau des

219
Magnesiums zu ermöglichen. Zweitens fehlen genügend
Energiequellen: Burkina Faso verfügt weder über Erdöl
noch Steinkohle, weshalb es einige grosse Staudammpro-
jekte wiederaufgenommen hat, 1983 Sourou und 1985
Kompienga. Das Ziel ist die Verminderung der Erdöl-
rechnung sowie die Entwicklung der bewässerten Land-
wirtschaft bis zur Lebensmittelselbstversorgung in eini-
gen Jahren. Dem widerspricht René Dumont: der be-
rühmte Agronom zählt diese Vorhaben zu den Prestige-
projekten.

Die Mossi kehren ins Land zurück

Drittens ist die industrielle Ausrüstung von Grund auf


nicht für grosse Produktionseinheiten angepasst worden,
da der innere Markt wegen der schwachen Kaufkraft der
Bevölkerung begrenzt ist (95% der Bevölkerung leben im
Subsistenzsektor) und die Exportmärkte keine Alternative
bieten.
Viertens hat man die Arbeitskräfte aus dem Volk der
Mossi, das für seinen Arbeitseifer bekannt ist, lange Zeit
als den einzigen Reichtum Obervoltas betrachtet. Eine
massive Emigration (1,5 Millionen) war ein Charakteri-
stikum des Landes seit der Kolonisierung durch Frank-
reich, welches diese Arbeitskräfte zwecks Ausbeutung
seiner anderen Kolonien (Mali, Niger, Elfenbeinküste)
oder als seine „tirailleurs sénégalaises“ (senegalesische
Schützen) benützte. Heute, nach Abschaffung der
Kopfsteuer, die immer ein wichtiger Grund für die Emi-
gration war, fordert Burkina Faso diese Arbeiter auf, ins
Land zurückzukehren.

220
Die Flexibilität gegenüber Investoren

Schliesslich zwingt die Abhängigkeit vom auslän-


dischen Kapital die Regierung, ideologische Flexibilität
an den Tag zu legen, um den ausländischen Investoren
Sicherheiten zu geben und eine überstürzte Kapitalflucht
zu verhindern: der zukünftige Fünfjahresplan gesteht dem
Privatsektor einen Vorzugsplatz zu (Reduktion des staat-
lichen Verwaltungsbudgets, der Beamtengehälter und der
diplomatischen Repräsentationsausgaben).
Als sich Staatschef Thomas Sankara 1985 an die „Män-
ner der Wirtschaft“ wandte, erklärte er: „Wenn Sie sich
entscheiden, in die prioritären Sektoren zu investieren,
die dem Volk helfen, bei den Nahrungsmitteln die Selbst-
versorgung zu erreichen, sowie hinsichtlich Wohnen,
Erziehung, Gesundheitswesen seine Grundbedürfnisse zu
befriedigen, werden wir das ganze Gewicht des Staates
dafür einsetzen, Sie zu schützen. Dafür gibt es weite Be-
reiche, wo Sie investieren können...“ Integer, antiimperia-
listisch und bestrebt, seine Bündnisse möglichst zu diver-
sifizieren, lehrt das neue Regime die Bevölkerung die
Notwendigkeit, sich „auf die eigenen Kräfte zu stützen“.
Der „autozentrierte“ Entwicklungsprozess gibt sich eher
pragmatisch als dogmatisch, auch wenn die Verwendung
eines orthodox- marxistischen Vokabulars das Gegenteil
erwarten liesse.
Der Wille zur Demokratisierung aller Ebenen scheint
aufrichtig zu sein und macht sich bemerkbar zum Be i-
spiel im Platz, der den Frauen zugewiesen wird, in der
Unterdrückung des Chief-Wesens als politische Macht,
im Kampf gegen Machtmissbrauch und Unterschlagung
von Geldern, oder in der Wiederaufwertung der ländli-
chen Gebiete.

221
Jeder Bürger ist ein „Freiwilliger“

Eine dauernde Anstrengung wird von jedem Bürger


verlangt: „Freiwilliger“ Bau von Schulen, Sportplätzen
und Sanitätsposten in jedem Dorf; Einübung der Waffen-
bedienung in einer dem schweizerischen Modell ähnli-
chen Milizarmee. Bei so vielen Forderungen an ihre
Schäflein laufen die politischen Führer jedoch Gefahr,
eines Tages einer Bevölkerung gegenüberzustehen, wel-
cher der Schnauf ausgeht. Der Dienstleistungssektor ist -
wie in der Mehrzahl der Drittweltländer - praktisch inexi-
stent, sieht man von der aufgeblähten Verwaltung ab, die
allein 60% des Staatsbudgets verschlingt. Der erbitterte
Kampf, den das Regime gegen Korruption, Prestige-
Aufwendungen und Lebensführung der Bürokraten führt,
ist eines der greifbarsten Resultate der Regierung Sanka-
ra. Aber man schafft keine Privilegien ab, ohne Unzufrie-
denheit hervorzurufen, besonders unter den regimefeind-
lichen Beamten.
Gegenwärtig besteht dennoch kein Zweifel, dass die
Mehrheit des Volkes für die Ideale von Hauptmann San-
kara gewonnen ist.

222
Thomas Sankara - kurze Biographie

Geboren am 21. Dezember 1949 in Yako. Sein Vater ist


Peul, seine Mutter Mossi. Katholisch.
Primarschule in Gaoa in der Provinz Poni (Abschluss
der Primarschule 1966). Eintritt in die Militärschule von
Kadiogo, wo er das Abitur macht. Er setzt seine Studien
an der Miliärakademie von Antsirabe (Madagaskar) fort.
Er wird zum Offizier befördert und erhält den Grad eines
Unter- Leutnants im Jahre 1972. Er erhält die Gelegenheit
zur Teilnahme an einem Fallschirrnspringerkurs an der
Fallschirmspringerschule von Pau (Frankreich), wo er
gemäss einigen Zeugen Kontakt mit der OCV (Organisa-
tion communiste voltaique = Kommunistische Organisa-
tion Obervoltas) hat. Zweiter Schulungskurs: Fallschirm-
springerzentrum Rabat (Marokko). Zurück nach Ober-
Volta im Jahre 1974, wo er wiederholt sich mit Verant-
wortlichen von Organisationen der Linken trifft, aber in
keine davon als Mitglied eintritt. Dafür organisiert sich
diskret eine nationalistische Gruppe von Militärs und
Zivilpersonen. Sie setzt sich namentlich zusammen aus
Thomas Sankara, Blaise Compaoré, Jean-Baptiste Linga-
ni, Henri Zongo und Abdul Salam Kaboré. Ende 1974
wird Thomas Sankara an die Front von Mare de Soum
geschickt, eine Region, die sowohl von Mali wie von
Obervolta beansprucht wird. 1976 wird er Fallschirm-
springer-Instruktor und wird Verantwortlicher für die
Fallschirmspringer-Kommandos von Pô. Im September
1981 beruft ihn Oberst Saye Zerbo in seine Regierung,
wo er den Posten eines Staatssekretärs bei der Präsident-
schaft der Republik als Informationsbeauftragter beklei-
det. Im April 1982 demissioniert er „wegen Meinungs-
verschiedenheiten“. Er wird sofort dem Militärcamp von

223
Dedougou (200 km von Ouagadougou entfernt) wegen
Disziplinarverstoss und Ungehorsam zugeteilt. Am 7.
November 1982 Staatsstreich. Sanitätsmajor Jean-
Baptiste Ouedraogo wird Staatschef. Thomas Sankara,
von dem einige behaupten, er habe beim politischen Um-
sturz eine wichtige Rolle gespielt, bleibt vorerst im Hin-
tergrund, wird aber am 11. Januar 1983 Ministerpräsi-
dent.
Am 17. Mai 1983 wird Sankara abgesetzt und im
Militärlager von Ouahigouya inhaftiert. Die Verhaftung
wurde von Hauptmann Jean-Claude Kambouele durchge-
führt, der zusammen mit ihm in Madagaskar ausgebildet
wurde. Jean-Baptiste Lingani wurde ebenfalls verhaftet.
Henri Zongo, der sich im Militärlager Guillaume Oue-
draogo im Zentrum von Ouagadougou verschanzt hatte,
ergab sich schliesslich auf ausdrücklichen Befehl von
Thomas Sankara, der es vermeiden wollte, Frankreich
und gewissen Ländern der Subregion einen Vorwand zur
Intervention zu liefern.
Nur Blaise Compaoré konnte entkommen und ging mit
seinen Fallschirmspringer-Kommandos in Pô zur offenen
Rebellion über. Zum Schluss muss die Regierung wei-
chen: Thomas Sankara wird nach Ouagadougou zurück-
gebracht, wo er unter Haus arrest gestellt wird. Am 4. Au-
gust 1983 marschiert Blaise Compaoré auf Ouagadougou
und nimmt die Hauptstadt ein. Ein Nationaler Revoluti-
onsrat wird gebildet. Thomas Sankara wird sein Vorsit-
zender. Blaise Compaoré wird Staatsminister bei der Prä-
sidentschaft der Republik, Jean-Baptiste Lingani wird
Verteidigungsminister und Henri Zongo Minister für
Wirtschaftsförderung.

224
Kurze Chronologie der Ereignisse
12. Jahrhundert. Vermutlich Eroberung des heutigen
Mossigebietes durch berittene Mossikrieger, die aus dem
heutigen Ghana kamen. Gründung des Königreiches,
oberster weltlicher und geistlicher Herrscher ist der Mogo
Naba („Herrscher der Welt“) mit Sitz in Ouagadougou.
15. Jahrhundert. Einwanderung der Peul, der Samo und
der Bissa.
1894. Die Franzosen dringen ein.
1896. August. Eroberung Ouagadougous durch die Fran-
zosen.
1897. Beginn der kolonialen Ära. Einführung der
Kopfsteuer und Zwangsarbeit (Eisenbahn- und Strassen-
bau, Plantagen an der Elfenbeinküste).
1904. Obervolta wird der Kolonie Haut-Sénegal-Niger
einverleibt. Die Verwaltung wird Stück für Stück von der
Kolonialmacht übernommen.
1919. Obervolta wird als eigenständiges koloniales Terri-
torium konstituiert.
1932. Die französischen Plantagenbesitzer erreichen die
Auflösung des Territoriums. Es wird auf die Elfenbeink ü-
ste, Niger und Französischer Sudan aufgeteilt.
1946. Gründung des Rassemblement democratique afri-
cain (RDA) in Bamako (Mali).
Abschaffung der Zwangsarbeit.
1947. Obervolta wieder als eigenes Territorium konstitu-
iert.
1956. Die Sektion Obervoltas des RDA wandelt sich in
den Parti democratique unifid, dann in die Union démo-
cratiques voltaique um.

225
11. Dezember 1958. Proklamation der Republik. Der
Vorsitz des Ministerrates wird Maurice Yameogo anver-
traut.
10. Dezember 1959. Yameogo wird Präsident der Repu-
blik.
5. August 1960. Proklamation der Unabhängigkeit Ober-
voltas.
1965. Die Regierung beschliesst eine Senkung der Löhne.
Ausrufung des Generalstreikes.
3. Januar 1966. Staatsstreich unter Führung von Oberst-
leutnant Sangoule Lamizana, Sturz Yameogos. Lamizana
übernimmt die exekutive und legislative Macht auf dem
Dekretsweg.
8. Februar 1974. Die Armee beschliesst, die gesamte
Macht zu übernehmen.
28. Mai 1978. Sangoule Lamizana wird zum Präsidenten
gewählt.
25. November 1980. Lamizana wird durch einen militäri-
schen Staatsstreich gestürzt. Oberst Saye Zerbo über-
nimmt die Macht an der Spitze des Comité militaire de
rederessement pour le progrés national (Militärisches
Wiederaufbaukomitee für den nationalen Fortschritt).
7. November 1982. Saye Zerbo wird seinerseits von ei-
ner Gruppe von Offizieren gestürzt, die den Conseil pro-
visoire de salut du peupie (CPSP, Provisorischer Volks-
wohlfahrtsrat).
26. November 1982. Der CPSP wird durch den Conseil
de salut du peuple (CSP, Volkswohlfahrtsrat) ersetzt,
dessen Vorsitz von Sanitätsmajor Jean-Baptiste Ouedrao-
go übernommen wird.

226
17. Mai 1983. Hauptmann Thomas Sankara, Ministerprä-
sident, wird auf Befehl des CSP verhaftet. Er wird im
Juni in der Folge der Rebellion einer Fallschirmspringer-
Kommandoeinheit unter Führung von Blaise Compaoré
befreit.
4. August 1983. Ein Staatsstreich stürzt Jean-Baptiste
Ouedraogo. Der Conseil national de la révolution (Natio-
naler Revolutionsrat) wird unter dem Präsidium von
Thomas Sankara gebildet. 28. Mai 1984. Ein Staats-
streichversuch scheitert, sieben Verschwörer werden hin-
gerichtet.
4. August 1984. Obervolta wird in Burkina-Faso umbe-
nannt; die „Heimat“ (Dioula-Sprache)der „freien Men-
schen“ (Moré-Sprache).

227
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