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Coelho, Paulo - Zehn Weihnachtsgeschichten

Das Buch 'Zehn Weihnachtsgeschichten' von Paulo Coelho versammelt erstmals Erzählungen, die zwischen 1998 und 2008 in verschiedenen Medien veröffentlicht wurden und thematisiert Freude, Großzügigkeit und die Wunder des Alltags. Coelhos Geschichten laden Leser ein, über ihren Lebensweg nachzudenken und inspirieren dazu, die kleinen und großen Wunder im Leben zu erkennen. Die Erzählungen sind geprägt von tiefen Reflexionen über den Glauben, die Menschlichkeit und die Bedeutung von Weihnachten.

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Coelho, Paulo - Zehn Weihnachtsgeschichten

Das Buch 'Zehn Weihnachtsgeschichten' von Paulo Coelho versammelt erstmals Erzählungen, die zwischen 1998 und 2008 in verschiedenen Medien veröffentlicht wurden und thematisiert Freude, Großzügigkeit und die Wunder des Alltags. Coelhos Geschichten laden Leser ein, über ihren Lebensweg nachzudenken und inspirieren dazu, die kleinen und großen Wunder im Leben zu erkennen. Die Erzählungen sind geprägt von tiefen Reflexionen über den Glauben, die Menschlichkeit und die Bedeutung von Weihnachten.

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Paulo Coelho

Zehn
Weihnachtsgeschichten

Aus dem Brasilianischen von


Maralde Meyer-Minnemann
Ze hn We ihnachtsg e schichte n

Der p ortugiesische Originaltitel lautet


Contos de Natal
Cop yright © Paulo Coelho, 1998 -2008.
http :/p aulocoelhoblog.com/

Aus dem Brasilianischen von cop yright © Maralde Meyer-Minnemann

Published by: Sant Jordi Asociados Agencia Literaria S.L.U.


08008 - Barcelona, Esp anha.
www.santjordi-asociados.com/

Umschlagdesign: Cop yright © Dep artamento de Arte y Diseño del Grup o Planeta
Umschlagfoto: Cop yright © STILLFX/Shutterstock
Photo: Cop yright © Niels Ackermann, Rezo.ch

Ebook Produktion: booqlab.com

Alle deutschen Rechte vorbehalten

ISBN eBook : 978-84-617-2856-5


aulo Coelho, geboren 1947 in Rio de Janeiro. Alle seine Romane,

P insbesondere Der Alchimist, Veronika beschließt zu sterben, Elf


Minuten und zuletzt Untreue, sind Weltbestseller, wurden in 80
Sprachen übersetzt und erreichten eine bisherige Weltauflage von über
175 Millionen Exemplaren. Seine Reflexionen und die Themen seiner
Bücher regen weltweit Leser zum Nachdenken an und dazu, ihren
eigenen Weg zu suchen.
Seit 2002 ist er Mitglied der brasilianischen Academia de Letras. 2007
wurde er zudem zum UNO-Friedensbotschafter berufen. Während der
Frankfurter Buchmesse wurde er mit dem ›2009 Guinness World Record‹
für das in die meisten Sprachen übersetzte Buch Der
Alchimistgewürdigt. Paulo Coelho ist der Schriftsteller mit den meisten
Followersin den Social Media.
http://paulocoelhoblog.com/
Zehn Weihnachtsgeschichten
In den vergangenen Jahrzehnten haben Paulo Coelhos Werke
Millionen von Lesern begleitet. In seinen Romanen und seinen
Geschichten hat der brasilianische Autor seine Erlebnisse und
Gedanken mit Menschen aus der ganzen Welt geteilt.

Zehn Weihnachtsgeschichten versammelt erstmals alle zwischen


1998 und 2008 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften
erschienenen Erzählungen in einem Band. Sie handeln von
Freude, Großzügigkeit, Demut und den kleinen und großen
Wundern, die wir in unserem Alltag erleben. Paulo Coelhos
Geschichten und Gedanken helfen jenen, die bereits zu ihrem
Lebenstraum unterwegs sind, und lädt zugleich neue Leser dazu
ein, sich ebenfalls auf den Weg zu machen.
G egrüßet seist du, Maria, ohne
Sünde empfangen, bete für
uns, die wir uns an dich wenden.

Amen.
A, B, C, D ...

„ Der Glaube lebt noch immer im Herzen der Menschen“, sagte sich
der Priester, als er die volle Kirche sah. Es waren die Arbeiter des
ärmsten Viertels von Rio de Janeiro, die sich alle zur Christmette
eingefunden hatten.
Er freute sich darüber. Würdigen Schrittes begab er sich zum Altar.
„A, B, C, D...“
Es klang wie eine Kinderstimme. Die Anwesenden schauten sich
verärgertum, wer es wagte, die Messe zu stören. Doch die Stimme fuhr
fort:
„A, B, C, D ...“
„Schluss damit”, sagte der Priester.
Das Kind – es war ein Junge – schien wie aus einer Trance zu
erwachen. Es warf einen ängstlichen Blick in die Runde, und sein
Gesicht überzog sich mit Schamesröte.
„Was soll das? Siehst du denn nicht, dass du unser Gebet störst?“
Der Junge senkte den Kopf, und Tränen rannen über ihm über die
Wangen.
„Wo ist deine Mutter?“, wollte der Priester wissen. „Hat sie dir nicht
beigebracht, wie man sich bei einer Messe benimmt?“
Mit gesenktem Kopf sagte der Junge:
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Pater, aber ich habe nie beten
gelernt. Ich bin ohne Vater und Mutter auf der Straße aufgewachsen.
Heute ist Weihnachten, und ich wollte mit Gott reden. Ich weiß nicht,
welche Sprache er spricht, also sage ich die Buchstaben, die ich kenne.
Ich hatte mir gedacht, dass Er dort oben die Buchstaben nehmen und
daraus die Worte und Sätze machen könnte, die ihm gefallen.“
Der Junge erhob sich.
„Ich gehe jetzt“, meinte er. „Ich möchte die Leute nicht stören, die
genau wissen, wie man mit Gott redet.“
„Komm mit mir“, sagte daraufhin der Priester.
Er nahm den Jungen bei der Hand und führte ihn zum Altar. Dann
wandte er sich an die Gläubigen.
„Heute Abend werden wir vor der Messe ein ganz besonderes Gebet
sprechen. Wir werden Gott selber schreiben lassen, was er hören
möchte. Jeder Buchstabe entspricht einem Augenblick in diesem Jahr, in
dem wir eine gute Tat getan, mutig für einen Traum gekämpft oder ein
Gebet ohne Worte gesprochen haben. Wir werden ihn bitten, den
Buchstaben unseres Lebens eine Ordnung zu geben. Wir werden uns
alle ganz fest wünschen, dass diese Buchstaben Ihm erlauben, die Worte
und Sätze zu schaffen, die Ihm gefallen.“
Mit geschlossenen Augen begann er das Alphabet aufzusagen. Und alle
Menschen in der Kirche fielen mit ein:
„A, B, C, D ...“

(Nach einer einer alten jüdischen Sage)


Mogo

E s war einmal ein Mann namens Mogo. Er war der Meinung, dass
Weihnachten feiern Humbug sei.
Er war keineswegs ein Geizhals, sondern im Gegenteil ein guter,
rechtschaffener Mensch voller Nächstenliebe und überdies ein liebender
Ehemann und Vater. Aber die Geschichte von der Menschwerdung
Christi, die an Heiligabend verkündet wurde, wollte er einfach nicht
glauben.
Da er ein Mann mit Prinzipien war, lehnte er es auch ab, die Form zu
wahren.
Als seine Familie wie jedes Jahr an Heiligabend zur Mitternachtsmesse
in die Kirche aufbrach, blieb Mogo zu Hause.
„Ich würde heucheln, wenn ich euch begleiten würde“, sagte er.
„Lieber bleibe ich hier und warte auf euch.“
Nachdem die Familie gegangen war, stellte sich Mogo eine Weile ans
Fenster und sah zu, wie es draußen zu schneien anfing. „Wie schön“,
dachte er, „wenn schon Weihnachten, dann wenigstens weiße
Weihnachten.“
Er zündete den Kamin an, setzte sich mit der Zeitung in seinen
Lieblingsessel und begann zu lesen. Doch schon bald wurde er von
einem Geräusch am Fenster abgelenkt. Es klang, als würde jemand
Schneebälle dagegen werfen. Kurzentschlossen zog Mogo seine Jacke
an und ging hinaus, um nachzusehen.
Doch als er die Tür öffnete, sah er keinen frechen kleinen Jungen,
sondern einen Schwarm Vögel, die im Schneegestöber von ihrem Kurs
abgekommen waren, verwirrt gegen die fensterscheiben geflogen waren
und sich jetzt zitternd im Schnee aneinanderkauerten.
„Ich kann doch nicht zulassen, dass die Tiere da draußen erfrieren“,
dachte Mogo. „Aber wie kann ich ihnen bloß helfen?“
Da fiel ihm das Pony der Kinder ein, das drüben im warmen Stall stand.
Mogo zog seine Stiefel an, stapfte durch den Schnee über den Hof,
öffnete die Stalltür und machte Licht. Die Vögel rührten sich nicht von
der Stelle.
„Sie haben Angst“, dachte Mogo.
Er ging wieder ins Haus, holte Brot, formte aus dem weichen Inneren
Kügelchen und streute sie vor die Stalltür. Die Vögel jedoch pickten die
Brotkrumen nicht auf, sondern flatterten weiter hilflos im Schnee
herum.
Nun versuchte Mogo, sie mit seinen Stiefeln vor sich her Richtung
Stall zu treiben.
Die Vögel stoben überallhin, nur nicht in den hellen, warmen Stall.
Mogo wusste nicht, was er noch tun sollte.
„Ihr glaubt wohl, ich wäre ein gefährliches Wesen“, sagte er laut.
„Versteht ihr denn nicht, dass ihr mir vertrauen könnt?“
Verzweifelt rief er:
„Könnte ich mich doch nur für ein paar Minuten in einen Vogel
verwandeln, dann würdet ihr sehen, dass ich euch wirklich retten
möchte!“
In diesem Augenblick schlugen die Kirchenglocken Mitternacht. Mit
Tränen in den Augen kniete Mogo im Schnee nieder und sagte:
„Jetzt begreife ich, dass wir immer nur denen vertrauen, die sind wie
wir und die das Gleiche durchmachen wie wir.“

(Nach der Erzählung Come and Follow me von Paul H. Dunn)


Die drei Zedern

I n dieser Geschichte geht es um drei legendäre Zedern, die in den


einst wunderschönen Wäldern des Libanon heranwuchsen. Zedern
wachsen bekanntlich nur sehr langsam, überdauern dafür aber
Jahrhunderte – Zeit genug, um über Leben und Tod, Mensch und Natur
nachzudenken.
Unsere drei Zedern erlebten die Heimkehr von König Salomons
Kundschaftern und später die Schlachten gegen die Assyrer, die das
Land mit Blut tränkten. Sie lernten Königin Jezebel und den Propheten
Elias kennen, die einander todfeind waren. Und sie standen auch noch
da, als das Alphabet erfunden wurde, und freuten sich über die
Karawanen, die mit bunten Stoffen beladen an ihnen vorbeizogen.
Eines Tages unterhielten sie sich über die Zukunft.
„Nach allem, was ich gesehen habe“, sagte der erste Baum, „möchte
ich zum Thron des mächtigsten Herrschers der Erde werden.«
„Ich wäre gern Teil von etwas, das das Böse für immer in Gutes
verwandelt“, meinte die zweite.
Und die dritte Zeder fügte hinzu: „Wenn ich wählen könnte, wollte
ich, dass die Menschen, wenn sie mich ansehen, an Gott denken.“
Wieder vergingen Jahre, bis eines Tages Holzfäller kamen. Die Zedern
wurden geschlagen und mit einem Schiff weit weg gebracht.
Jeder der drei Bäume hatte seinen Wunsch getan, doch die
Wirklichkeit fragt nicht nach den Träumen. Aus dem ersten Baum wurde
ein Unterstand für Tiere gezimmert, aus dem, was übrig blieb, eine
Krippe für das Heu. Aus dem zweiten Baum wurde ein einfacher Tisch,
den später ein Möbelhändler kaufte. Da sich für das Holz des dritten
Baumes kein Käufer fand, wurde er zersägt und in ein Lager in einer
großen Stadt gebracht.
Unglücklich klagten die drei Bäume: „Unser Holz war gut, niemand
hat etwas Schönes daraus gemacht.“
Die Zeit verging, und in einer sternklaren Nacht verbrachte ein
Ehepaar, das keine Herberge gefunden hatte, die Nacht im Stall, der aus
dem Holz der ersten Zeder gebaut worden war. Die Frau gebar unter
Schmerzen ein Kind und legte es in das Heu in der hölzernen Krippe.
Da begriff der erste Baum, dass sein Traum in Erfüllung gegangen war:
Dort lag der König der Könige.
Jahre darauf setzten sich mehrere Männer an den Tisch, der aus dem
Holz des zweiten Baumes gemacht worden war. Bevor sie zu essen
begannen, sprach einer von ihnen einige Worte über das Brot und den
Wein, die vor ihm standen.
Und da begriff der zweite Baum, dass er nicht nur als Unterlage für ein
Glas Wein und ein Stück Brot diente, sondern für den Bund zwischen
Gott und den Menschen.
Am nächsten Tag wurden zwei Stücke der dritten Zeder aus dem Lager
geholt. Es wurde ein Kreuz aus ihnen gezimmert, das achtlos in eine
Ecke geworfen wurde. Wenige Stunden darauf brachten sie einen
schwer verletzten Mann und schlugen ihn an das Holzkreuz. Die Zeder
klagte über das grausame Los, das ihr das Leben vorbehalten hatte.
Doch ehe noch drei Tage vergangen waren, begriff auch die dritte
Zeder ihr Schicksal: Der Mann, der an ihr Holz geschlagen worden war,
war jetzt das Licht, das alles erleuchtete. Das aus ihrem Holz gezimmerte
Kreuz war nun nicht mehr das Symbol der Qual, sondern war ein
Zeichen des Sieges geworden.
Wie es oft mit Träumen geschieht, hatten sie sich auch für die drei
Zedern aus dem Libanon erfüllt – nur nicht so, wie diese es sich
vorgestellt hatten.
Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen

E s gibt eine altbekannte Legende, deren Herkunft ich nicht


feststellen kann. Sie erzählt vom Erzengel Michael, der eine Woche vor
Weihnachten seine Engel bat, auf die Erde hinabzusteigen und die
Menschen zu besuchen, weil er wissen wollte, ob alles für das Fest von
Christi Geburt bereit sei. Paarweise wurden sie losgeschickt, immer ein
älterer Engel mit einem jüngeren, damit der Erzengel sich einen
umfassend-en Eindruck dessen machen konnte, was in der Christenheit
geschah.
Eines dieser Zweiergespanne wurde auch nach Brasilien geschickt und
kam dort spät in der Nacht an. Da die beiden Engel nicht wussten, wo
wie übernachten sollten, baten sie in einem der großen Herrenhäuser,
wie es sie vereinzelt noch heute in Rio de Janeiro gibt, um Herberge.
Der Herr des Hauses, ein Adliger, der kurz vor dem Bankrott stand
(bankrott sind viele in Rio de Janeiro), war ein tiefgläubiger Katholik,
der die Himmelsboten sogleich an ihrem goldigen Heiligenschein
erkannte. Doch da er eine große Weihnachtsfeier vorbereitete und die
Weihnachtsdekoration nicht durcheinanderbringen wollte, wies er
ihnen zum Schlafen einen Raum im Keller zu.
Obwohl auf den Weihnachtskarten immer Schnee zu sehen ist, fällt das
Christfest in Brasilien mitten in den Sommer. Im Keller, in dem die
Engel übernachten sollten, herrschte eine fürchterliche Hitze, und die
feuchte Luft war zum Ersticken. Die Engel legten sich auf die harte Erde.
Als er sein Nachtgebet sprechen wollte, bemerkte der ältere Engel
einen Riss in der Wand. Er erhob sich, reparierte ihn mit Hilfe seiner
überirdischen Fähigkeiten und betete weiter. Es war so heiß, daß sie
die ganze Nacht wie in der Hölle schmorten und fast kein Auge zutaten.
Trotzdem mussten sie am nächsten Morgen die Aufgabe erfüllen, die
ihnen aufgetragen worden war. Sie durchstreiften die große Stadt mit
ihren zwölf Millionen Einwohnern, mit ihren Stränden und Hügeln,
ihren Gegensätzen. Sie füllten ihre Fragebögen aus, und als es wieder
Nacht wurde, machten sie sich auf ins Landesinnere. Doch sie hatten die
Zeitverschiebung nicht bedacht und hatten daher wieder keinen Ort
zum Übernachten.
Diesmal klopften sie an die Tür einer bescheidenen Hütte. Das junge
Paar, das ihnen öffnete, wusste nicht, wie Engel aussehen, und erkannte
daher die beiden Pilger nicht. Sie bereiteten den Engeln ein Nachtmahl
und zeigten ihnen ihr neugeborenes Kind. Als Schlafplatz boten sie
ihnen ihr eigenes Zimmer an und entschuldigten sich für ihre Armut; sie
hätten nicht genug Geld, um sich gegen die mörderische Hitze eine
Klimaanlage leisten zu können.
Als die Engel am nächsten Morgen aufwachten, fanden sie das Paar in
Tränen aufgelöst vor. Ihr einziger Besitz und Lebensunterhalt, eine
Kuh, lag tot auf dem Feld. Sie schämten sich, den Pilgern zum Abschied
kein rechtes Frühstück bereiten zu können, da die Kuh, die ihnen sonst
Milch gab, nicht mehr lebte.
Als die Engel auf der ungepflasterten Straße entlanggingen, zeigte der
jüngere Engel sich empört.
„Ich kann nicht begreifen, wie du dich verhalten hast! Der erste Mann
hatte alles, was er brauchte, und dennoch hast du ihm geholfen. Und
bei diesen armen Leuten, die uns so freundlich aufgenommen haben,
hast du nichts getan, um ihr Leid zu lindern!“
„Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen“, sagte der ältere Engel.
„Als wir in diesem schrecklichen Keller waren, bemerkte ich, daß auf der
anderen Seite der Wand viel Gold lag, die ein früherer Hauseigentümer
dort versteckt hatte. Und ich beschloss, es wieder zu verbergen, weil
der jetzige Herr des Hauses nicht bereit war, denen zu helfen, die es
brauchten.
Gestern, während wirim Bett der jungen Eheleute schliefen, das sie
uns überlassen hatten, bemerkte ich plötzlich, dass noch ein dritter Gast
hinzugekommen war: der Todesengel. Er war auf die Erde geschickt
worden, um das Kind mitzunehmen. Aber da ich ihn seit vielen Jahren
kenne, ist es mir gelungen, ihn zu überzeugen, statt des Lebens des
Kindes das der Kuh zu nehmen. Erinnere dich an den Tag, der bald
gefeiert wird: Außer den Hirten wollte niemand Maria aufnehmen. Dafür
sahen diese als Erste den Retter der Welt.“
Humi ist nie zufrieden

D as Schöne an Geschichten ist, dass sie sich im Laufe der


Jahrhunderte verwandeln und Teil des kollektiven Unbewussten
werden. Ich weiss nicht, ob die folgende Geschichte ursprünglich aus
Japan stammt (sie wurde mir an einem Lagerfeuer an Weihnachten
erzählt). Aber das Gleichnis dessen, der das Wunder des Lebens nicht
begreift und darum immer noch mehr will und Grosszügigkeit mit
Habgier vergilt, kann uns allen, die wir auf der Suche nach unseren
Träumen sind, als warnendes Beispiel dienen.
Vor vielen Jahren lebte in einem fernen Land ein junger Mann namens
Humi, der sein Brot als Steinbrecher verdiente. Er war zwar kräftig, aber
unzufrieden mit seinem Schicksal und beklagte sich Tag und Nacht.
Er war mit der christlichen Religion nur insoweit vertraut, als er
wusste, dass den Menschen einmal im Jahr ein Wunsch gewährt wurde.
Und so kam es, dass er am Weihnachtstag allen Ernstes zu beten anfing,
und zu seiner Überraschung tauchte ein Schutzengel auf.
„Du bist gesund und hast das Leben noch vor dir“, sagte der Engel.
„Alle jungen Männer müssen wie du klein anfangen. Warum beklagst du
dich ständig?“
„Gott ist ungerecht zu mir und gibt mir keine Gelegenheit zu
wachsen“, antwortete Humi.
Besorgt begab sich der Engel zum Herrgott und bat um Hilfe für
seinen Schutzbefohlenen, damit dieser nicht seine Seele verlor.
„Dein Wille geschehe“, sagte der Herr. „Alles, was Humi sich wünscht,
wird in Erfüllung gehen.“
Am nächsten Tag arbeitete Humi wie immer im Steinbruch, als er
einen Wagen vorbeifahren sah, in dem ein mit Juwelen
behängterAdliger saß. Indem er mit den Händen über sein
verschwitztes, dreckiges Gesicht fuhr, sagte Humi bitter:
„Warum kann ich nicht adlig sein wie er? Das ist mein Schicksal!“
„Wohlan, so geschehe es“, murmelte sein Engel freudig.
Und Humi verwandelte sich in den Besitzer eines prächtigen Palastes
mit vielen Ländereien, Dienern und Pferden. Täglich machte er sich mit
einem eindrucksvollen Hofstaat auf den Weg und genoss es, seine
ehemaligen Gefährten am Straßenrand aufgereiht zu sehen, die voller
Ehrerbietung zu ihm aufschauten.
An einem dieser Nachmittage war die Hitze sogar unter seinem
vergoldeten Schirm unerträglich. Humi schwitzte genauso wie früher,
als er noch Steine gebrochen hatte. Ihm wurde klar, dass er nicht so
bedeutend war, da es über ihm Fürsten und Kaiser gab und noch
darüber die Sonne, die niemandem gehorchte, da sie die wahre Königin
war.
„Ach, mein Engel!“, quengelte Humi. „Warum kann ich nicht die Sonne
sein? Das ist mein Schicksal!“
„Wohlan, so geschehe es“, rief der Engel aus und verbarg seine Trauer
über so viel Vermessenheit.
Und Humi wurde zur Sonne, so wie er es sich gewünscht hatte.
Nun strahlte er am Himmel und genoss seine ungeheure Macht, nach
Lust und Laune die Ernten reifen lassen oder verbrennen zu können. Da
sah er am Horizont einen schwarzen Punkt, der sich rasch näherte. Der
schwarze Punkt wuchs, und Humi bemerkte, dass es eine Wolke war,
die sich vor ihn schob und bewirkte, dass er die Erde nicht mehr sehen
konnte.
„Engel“, rief Humi. „Die Wolke ist stärker als die Sonne! Mein Schicksal
ist es, Wolke zu sein.“
„Wohlan, so geschehe es“, antwortete der Engel.
Humi wurde in eine Wolke verwandelt und fand, dass sein Traum in
Erfüllung gegangen war.
„Ich bin mächtig!“, rief er und verdunkelte die Sonne.
„Ich bin unbesiegbar“, donnerte er und verfolgte die Wellen.
Doch an der Küste des Ozeans erhob sich ein riesiger Fels aus Granit,
der so alt war wie die Welt. Humi fand, dass der Fels ihn herausforderte,
und entfesselte einen Sturm, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte.
Die Wellen schlugen mächtig und wild an den Felsen, versuchten ihn
aus seiner Verankerung zu reißen und in die Tiefe des Meeres zu
stürzen.
Doch der Fels blieb fest und unverrückbar auf seinem Platz.
„Engel“, schluchzte Humi. „Der Fels ist stärker als die Wolke! Mein
Schicksal ist es, Fels zu sein.“
Und Humi wurde zu einem Fels.
„Wer wird mich jetzt besiegen können?“, fragte er sich. „Ich bin der
Mächtigste auf Erden.“
Und so vergingen einige Jahre, bis Humi eines Morgens einen
schmerzhaften Hieb in seinem steinernen Inneren spürte. Dann hörte er
dumpfe Schläge und spürte abermals den riesigen Schmerz.
Verrückt vor Angst rief er:
„Engel, jemand will mich töten! Er hat mehr Macht als ich, ich will sein
wie er.“
„Wohlan, so geschehe es!“, rief der Engel weinend.
Und so kam es, dass Humi wieder Steine brach.
Die Tanne von Saint-Martin

A ls der Priester der kleinen Dorfkirche von Saint-Martin in den


französischen Pyrenäen sich an Heiligenabend anschickte, die Messe zu
lesen, roch er plötzlich einen wunderbaren Duft. Es war Winter und die
Blumen längst verschwunden – doch da lag dieser köstliche Duft in der
Luft, als sei es vorzeitig Frühling geworden.
Verwirrt trat der Priester vor die Kirche, um herauszufinden, woher
dieses Wunder rührte, und traf auf einen halbwüchsigenJungen, der auf
der Schwelle des Schultores saß. Neben ihm stand etwas, das aussah
wie ein goldener Weihnachtsbaum.
„Was für ein wunderschöner Baum!“, sagte der Priester. „Er scheint
den Himmel berührt zu haben, denn er verströmt einen himmlischen
Duft. Und er ist aus Gold! Woher hast du ihn?“
Der Junge schien sich über die Bemerkung des Priesters nicht zu
freuen.
„Je länger ich ging, umso schwerer wurde er, und die Nadeln sind
inzwischen ganz hart. Doch Gold ist das sicher nicht. Außerdem habe
ich Angst, was meine Eltern sagen werden, wenn ich damit nach Hause
komme.“
Der Junge erzählte, wie es dazu gekommen war:
»Heute morgen bin ich in die große Stadt, nach Tarbes, gegangen.
Meine Mutter hatte mir Geld für einen schönen Weihnachtsbaum
gegeben. Als ich aber durch ein Dorf kam, sah ich eine alte Frau allein
dasitzen, die gewissniemanden hatte, mit dem sie Weihnachten feiern
konnte. Ich gab ihr etwas Geld, damit sie sich etwas Gutes zu essen
kaufen konnte, denn ich war sicher, beim Kauf des Baumes einen
Nachlass zu bekommen.
In Tarbes angelangt, kam ich vor dem Gefängnis vorbei, vor dem ein
paar Leute auf die Besuchszeit warteten. Sie alle wirkten traurig, denn
sie würden den Abend ohne den geliebten Menschen verbringen
müssen, der im Gefängnis war. Ich hörte, wie einige davon sprachen,
dass sie nicht einmal ein Stück Pastete hatten kaufen können. Da
beschloss ich ganz spontan, mein Geld mit ihnen zu teilen, denn sie
hatten es nötiger als ich. Trotzdem hatte ich immer noch etwas Geld für
ein Mittagessen übrig. Und im Übrigen würde der Gärtner, ein Freund
meiner Familie, mir bestimmt den Baum umsonst geben, und ich würde
nächste Woche für ihn arbeiten und so meine Schulden abzahlen.
Doch als ich am Markt anlangte, erfuhr ich, dass der Gärtner nicht zur
Arbeit erschienen war. Ich versuchte auf alle erdenkliche Weise,
jemanden zu finden, der mir Geld lieh, damit ich irgendwo anders einen
Baum kaufen konnte. Doch ich hatte kein Glück.
Ich dachte mir, wahrscheinlich würde ich mit vollem Bauch besser
nachdenken können. Ich war gerade auf dem Weg zu einem Imbiss, als
ein kleiner fremdländisch wirkender Junge mich bat, ihm doch ein paar
Münzen zu geben, denn er habe seit zwei Tagen nichts gegessen. Er
fügte hinzu, auch das Jesuskind habe sicher einmal hungern müssen,
und da gab ich ihm das bisschen Geld, das ich noch übrig hatte, und
machte mich auf den Nachhauseweg. Unterwegs brach ich einen
Tannenzweig ab. Ich versuchte ihn zurechtzuschneiden, aber er wurde
so hart wie Metall und sah bei weitem nicht so aus wie der
Weihnachtsbaum, den meine Mutter erwartet.«
„Mein Lieber«, sagte der Priester. „Der Duft dieses Baumes lässt
keinen Zweifel daran, dass er vom Himmel berührt wurde. Lass mich dir
den Rest deiner Geschichte erzählen:
Sobald du die alte Frau verlassen hattest, bat sie gleich die Jungfrau
Maria, die Mutter war wie sie, dir diesen unerwarteten Segen
zurückzuzahlen. Die Verwandten der Häftlinge waren überzeugt, einem
Engel begegnet zu sein, und dankten den Engeln für die Pasteten, die
sie hatten kaufen können. Der Junge, dem du begegnet bist, hat Jesus
dafür gedankt, dass sein Hunger gestillt wurde.
Die Heilige Jungfrau, die Engel und Jesus hörten die Gebete derer,
denen geholfen worden war. Als du den Tannenzweig abgebrochen
hast, hat die Heilige Jungfrau ihm den Duft der Barmherzigkeit
verliehen. Während du weitergingst, haben die Engel seine Nadeln
berührt und sie in Gold verwandelt. Danach betrachtete Jesus das Werk
und segnete es, und von nun an werden jedem, der diesen
Weihnachtsbaum berührt, die Sünden vergeben und die Wünsche
erfüllt.“
Und so geschah es. Die Legende erzählt, dass die heilige Tanne sich
noch immer in Saint-Martin befindet. Doch ihre Kraft ist so groß, dass
alle Menschen, die ihrem Nächsten am Heiligen Abend helfen, mögen
sie auch noch so weit von dem kleinen Dorf in den Pyrenäen entfernt
sein, von ihr gesegnet werden.

(In Anlehnung an eine chassidische Geschichte)


Ein Platz im Paradies

V or vielen Jahren lebte im Nordosten Brasiliens ein bitterarmes Paar,


dessen einziger Besitz ein Huhn war. Von den Eiern, die es legte,
konnten sie sich schlecht und recht ernähren.
Nun starb aber das Tier am Vorabend von Weihnachten. Der Mann
hatte nur ein paar Cent, und das reichte nicht, um Nahrung für das
Weihnachtsmahl zu kaufen. Hilfesuchend wandte er sich an den
Dorfpfarrer.
Anstatt ihm zu helfen, meinte der Pfarrer nur:
„Wenn Gott eine Tür schließt, öffnet er ein Fenster. Wenn dein Geld
für kaum etwas mehr reicht, dann gehe auf den Markt und kaufe das
Erstbeste, was man dir anbietet. Ich segne diesen Kauf, und da am
Weihnachtstag Wunder geschehen, wird etwas dein Leben für immer
verändern.“
Obwohl er nicht sicher war, ob dies wirkliche eine gute Lösung sei,
ging der Mann auf den Markt. Ein Händler sah ihn ziellos umherlaufen
und fragte ihn, was er suche.
„Ich weiß es nicht. Ich habe nur sehr wenig Geld, und der Pfarrer hat
gesagt, ich solle das Erstbeste, wasman mir anbietet, kaufen.“
Der Händler war steinreich, ließ aber dennoch keine Gelegenheit aus,
etwas dazuzuverdienen. Er nahm sogleich die Münzen, kritzelte etwas
auf ein Stück Papier und gab es dem Mann.
„Der Rat des Pfarrers war richtig. Da ich immer ein guter Mensch war,
verkaufe ich dir an diesem Festtag meinen Platz im Paradies! Hier ist die
Urkunde!“
Der Mann nahm das Papier und ging davon, während der Händler
stolz auf ein weiteres gutes Geschäft zurückblieb. Am selben Abend,
während er sich in seinem Haus voller Dienstboten für das
Weihnachtsmahl fertig machte, erzählte er seiner Frau die Geschichte
und fügte hinzu, dass er dank seiner Fähigkeit, schnell denken zu
können, soreich geworden sei.
„Du solltest dich schämen“, sagte seine Frau. „Sowas tut man doch
nicht. Und erst recht nicht an Weihnachten! Geh sofort zum Haus dieses
Mannes, und hol das Papier wieder zurück. Andernfalls setzt du keinen
Fuß mehr hier herein.“
Erschrocken über den Zorn seiner Frau, gehorchte der Händler. Er
musste sich lange durchfragen, bis er das Haus des Mannes fand. Als er
eintrat, sah er das Ehepaar an einem leeren Tisch sitzen, in dessen Mitte
das Papier lag.
„Ich bin hergekommen, weil ich falsch gehandelt habe“, sagte der
Händler. „Hier ist dein Geld, bitte gib mir zurück, was ich dir verkauft
habe.“
„Sie haben nichts Falsches getan“, entgegnete der arme Mann. „Ich
habe den Rat des Pfarrers befolgt und weiß, dass ich etwas Gesegnetes
besitze.“
„Das ist doch nur ein Stück Papier: Niemand kann seinen Platz im
Paradies verkaufen! Wenn du willst, zahle ich dir das Doppelte.“
Doch da er an Wunder glaubte, wollte der arme Mann das Papier nicht
verkaufen. Der Händler erhöhte sein Angebot immer weiter, bis er bei
zehn Goldstücken angelangt war.
„Das wird mir nichts bringen“, sagte der arme Mann. „Ich muss meiner
Frau ein würdigeres Leben ermöglichen, und dazu brauche ich hundert
Goldstücke. Auf dieses Wunder warte ich an diesem Weihnachtsabend.“
Verzweifelt, weil er wusste, dass, wenn er noch mehr Zeit verlor, in
seinem Haus niemand zu Abend essen oder zur Mitternachtsmesse
gehen könnte, zahlte der Mann am Ende die hundert Goldstücke. Für
die beiden armen Leute erfüllte sich ein Wunder. Der Händler erfüllte,
was seine Frau von ihm verlangt hatte. Aber seine Frau war sich nicht
sicher: War sie ihrem Mann gegenüber nicht zu hart gewesen?
Gleich nach dem Ende der Messe sprach sie den Pfarrer an:
„Mein Ehemann hat den armen Mann getroffen, dem Sie vorgeschlagen
hatten, das Erstbeste zu kaufen, was man ihm anbot. Da er leicht
verdientes Geld vermutete, schrieb mein Mann ihm auf ein Stück Papier,
dass er ihm seinen Platz im Paradies verkaufe. Ich habe ihm gesagt, es
werde bei uns im Hause kein Weihnachtsessen geben, wenn er das
Papier nicht wieder zurückbringe. Am Ende hat er hundert Goldstücke
dafür zahlen müssen. War ich zu streng? Ist ein Platz im Paradies
wirklich so viel wert?“
„Erstens hat dein Mann an diesem im christlichen Leben so
bedeutsamen Tag großzügig sein können. Zweitens war er ein
Werkzeug Gottes, damit sich ein Wunder vollziehen konnte. Aber, um
auf deine Frage zu antworten: Als er seinen Platz im Himmel für ein paar
Cent verkaufte, war dein Mann nicht einmal diesen Preis wert. Als er
sich aber entschloss, ihn für hundert Goldstücke zurückzukaufen, nur
um der Frau, die er liebt, eine Freude zu bereiten, hat er sich, das kann
ich dir versichern, als sehr viel mehr wert erwiesen als nur das.“

(In Anlehnung an eine chassidische Erzählung von David Mandel)


Josés Sandalen

V or vielen, so vielen Jahren, dass schon niemand mehr weiß, wann


genau es war, lebte in einem Dorf im Süden Brasiliens ein
siebenjähriger Junge namens José. Er hatte seine Eltern sehr früh
verloren und war von einer Tante aufgezogen worden, die zwar reich,
aber sehr geizig war. José, der nie erfahren hatte, was Liebe ist, fand
aber, das Leben sei nun einmal so, und störte sich nicht daran.
Die Tante und José wohnten in einem Viertel für reiche Leute, und die
Tante hatte den Schuldirektor gedrängt, ihren Neffen in die dortige
Schule aufzunehmen. Sie wollte allerdings nur ein Zehntel des
Schulgelds bezahlen und drohte, sich beim Bürgermeister zu
beschweren, falls er ihrer Bitte nicht nachkam. Der Direktor gab klein
bei, wies jedoch seine Lehrer an, José bei jeder Gelegenheit zu
demütigen. Er wollte José so lange provozieren, bis er ausfällig und ihm
so den Vorwand liefern würde, ihn der Schule zu verweisen. José, der
nie erfahren hatte, was Liebe ist, fand, das Leben sei nun einmal so, und
störte sich nicht daran.
Dann kam Heiligabend. Auf dem Weg zur Christmesse unterhielten
sich Josés Schulkameraden darüber, was sie am nächsten Morgen in
ihren Schuhen finden würden: teures Spielzeug, Schokolade und
daneben Roller und Fahrräder. Sie waren schön angezogen, wie immer
an Feiertagen, nur José hatte wie immer seine zerlumpte Kleidung und
die abgewetzten Sandalen an, die ihm längst zu klein waren. Einige
Kinder fragten ihn, warum er so ärmlich angezogen herumlief, und
schämten sich, ihn zum Schulkameraden zu haben. Da José nie erfahren
hatte, was Liebe ist, störten ihn ihre Fragen nicht.
Als José die Kirche betrat, hörte er die Orgel spielen, sah die
brennenden Lichter, die Leute in ihren Sonntagskleidern, die Familien,
die zusammensaßen, Eltern, die ihre Kinder im Arm hielten, und da
plötzlich fühlte er sich arm und elend. Nach der Kommunion setzte er
sich, anstatt mit allen anderen nach Hause zu gehen, auf die Schwelle
der Kapelle und begann zu weinen. Auch wenn José die Liebe nie
kennengelernt hatte, wusste er wohl, was es hieß, allein, hilflos, von
allen verlassen zu sein.
In diesem Augenblick bemerkte er einen Jungen neben sich, der
barfuß war und ebenso arm aussah wie er selber. Da er ihn noch nie
gesehen hatte, nahm er an, dass er lange gegangen sein musste, um bis
hierher zu kommen. Er dachte: ‚Dem Jungen müssen die Füße wehtun.
Ich werde ihm eine meiner Sandalen geben, das wird sein Leiden
halbieren.’ José hatte zwar die Liebe nicht kennengelernt, aber er
wusste, was Leiden ist, und wollte nicht, dass andere litten wie er.
Er gab dem Jungen eine Sandale und ging mit der anderen nach
Hause. Er trug sie abwechselnd mal am linken, mal am rechten Fuß, um
sich weniger wundzulaufen. Als er nach Hause kam, sah seine Tante
sofort, dass er eine Sandale verloren hatte, und drohte ihm, wenn er sie
am nächsten Tag nicht wiedergefunden hätte, würde er bestraft.
José ging voller Angst ins Bett, denn er kannte die Strafen seiner
Tante. Zitternd lag er da und fand keinen Schlaf. Als er endlich am
Einschlafen war, hörte er plötzlich lautes Stimmengewirr aus der guten
Stube. Seine Tante stürzte ins Zimmer und befahl ihm, sofort ins
Wohnzimmer zu kommen. Noch ganz benommen ging José hinüber und
sah die Sandale, die er dem Jungen gegeben hatte, mitten im Zimmer
liegen, und darum herum alles mögliche Spielzeug, Fahrräder, Roller,
Kleider. Die Nachbarn waren ebenfalls alle da, zeterten und schimpften,
ihre Kinder seien bestohlen worden, hätten beim Aufwachen nichts in
ihren Schuhen gefunden.
In dem Augenblick erschien atemlos der Priester. Er hatte auf der
Schwelle der Kapelle eine ganz in Gold gekleidete Statue des
Christuskindes gefunden, die nur an einem Fuß eine Sandale trug.
Augenblicklich wurde es ganz still, alle Anwesenden lobten Gott und
seine Wunder. Und die Tante brach in Tränen aus und bat José um
Vergebung. Josés Herz aber wurde von der Kraft und von der Liebe
erfüllt, die er jetzt endlich erfahren hatte.
(Nach einer Erzählung von François Coppée aus dem Jahre 1903)
Der Gaukler unserer Lieben Frau

E ine Legende aus Österreich berichtet von einer Familie Burkhard,


bestehend aus einem Ehepaar mit einem Kind, die auf den
Weihnachtsmärkten Gedichte rezitierten, Balladen sangen und die Leute
mit ihren Jonglierkünsten unterhielten. Wie man sich vorstellen kann,
war nie Geld für Weihnachtsgeschenke übrig.
„Der heilige Nikolaus bringt nicht nur Geschenke, die man sehen
kann“, erklärte der Vater seinem Sohn, „sondern auch sogenannte
unsichtbare Geschenke. In ein Heim, in dem Zwietracht herrscht,
versucht er in der heiligsten Nacht der Christenheit Harmonie und
Frieden zu bringen. Wo Liebe fehlt, pflanzt er ein Samenkorn namens
Glauben ins Herz der Kinder. Denen, für die die Zukunft düster und
ungewiss aussieht, bringt er Hoffnung. Wir jedenfalls sind gesegnet mit
unsichtbaren Geschenken, weil wir leben und unsere Arbeit tun dürfen,
die darin besteht, den Menschen eine Freude zu machen. Vergiss das
nie.“
Der Zeit verging, aus dem kleinen Jungen wurde ein junger Mann,
und eines Tages kam die Familie am eindrucksvollen Stift Melk vorbei.
„Erinnerst du dich noch daran, wie du mir vor vielen Jahren die
Geschichte von den unsichtbaren Geschenken erzählt hast, Vater? Ich
glaube, ich habe auch einmal eines dieser Geschenke erhalten: die
Berufung, Priester zu werden. Hättest du etwas dagegen, wenn ich den
ersten Schritt tue, um meinen Traum zu verwirklichen?“
Obwohl sie ihren Sohn brauchten, respektierten die Eltern seinen
Wunsch. Sie klopften an das Tor des Klosters und wurden großzügig
und liebevoll von den Mönchen beherbergt, die den jungen Burkhard
als Novizen in ihren Reihen aufnahmen.
Es kam der Abend vor Weihnachten. Und ausgerechnet an diesem Tag
geschah in Melk ein Wunder: Unsere Liebe Frau stieg mit dem Jesuskind
im Arm herunter zur Erde, um das Kloster zu besuchen.
Die Mönche waren glücklich über diesen Besuch und stellten sich in
einer langen Reihe auf. Einer nach dem anderen kniete vor der Jungfrau
nieder und ehrte sie auf seine Weise. Einer wies auf die schönen Bilder,
die die Kirche schmückten, ein anderer brachte ein Exemplar der Bibel,
die in jahrelanger Arbeit mit der Hand geschrieben und mit
Buchmalereien reich geschmückt worden war, ein Dritter sagte die
Namen aller Heiligen auf.
Als Letzter in der Reihe wartete aufgeregt der junge Burkhard. Seine
Eltern waren einfache Gaukler und hatten ihm nur beigebracht, mit
Bällen zu jonglieren.
Als er an der Reihe war, wollten die Mönche die Ehrungen
abschließen, weil sie glaubten, der junge Novize könnte nichts
Ebenbürtiges beitragen und womöglich dem Ansehen des Klosters
schaden. Doch auch er wollte der Jungfrau und dem Jesuskind
unbedingt etwas darbringen.
Er schämte sich zwar, zog aber unter den missbilligenden Blicken der
Mönchen ein paar Orangen aus der Tasche und begann sie
hochzuwerfen und mit ihnen zu jonglieren. Er schuf mit ihnen einen
wunderschönen Kreis in der Luft, so wie er es immer gemacht hatte, als
er mit seinen Eltern noch von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen war.
Erst da begann das Jesuskind auf dem Schoß der Gottesmutter vor
Freude in die Hände zu klatschen. Und die Heilige Jungfrau streckte die
Arme nach ihm aus und ließ ihn das Kind, das in einem fort lächelte,
eine Weile halten.
Am Ende der Legende heißt es, dass wegen dieses Wunders alle
zweihundert Jahre wieder ein Burkhard an das Tor der Abtei Melk klopft
und dort aufgenommen wird, und dass, solange er dort ist, die
„unsichtbaren Geschenke“ die Herzen derer verwandeln können, die ihn
kennen.
Der alte Mann, die glatzköpfige Frau und der
traurige Junge

W ie jedes Jahr hatte der König seinen Premierminister an


Heiligabend zu einem Spaziergang eingeladen. Er genoss es, durch die
festlich geschmückten Straßen zu flanieren. Doch um unerkannt zu
bleiben, verkleideten sich beide immer als Händler aus fernen Landen.
Sie schlenderten durch das Stadtzentrum, betrachteten die Girlanden,
die brennenden Kerzen auf den Treppenstufen vor den Häusern, die
Verkaufsstände, die Männer, Frauen und Kinder, die zu ihren
Verwandten eilten, um an diesem Abend um einen reich gedeckten
Tisch herum zu feiern.
Der Rückweg führte die beiden durch ein Armenviertel. Dort sah es
ganz anders aus. Keine Lichter, Kerzen, kein Duft leckerer Speisen. Und
es war auch kaum jemand auf der Straße zu sehen. Wie jedes Jahr wies
der König seinen Premierminister an, sich künftig besser um die Armen
im Reich zu kümmern. Der Minister nickte, wusste aber genau, dass die
Angelegenheit im Mahlstrom der Bürokratie, wegen der Verteilung der
Staatsfinanzen und der anstehenden Gespräche mit ausländischen
Würdenträgern schon bald in Vergessenheit geraten würde.
Plötzlich hörten sie Musik. Sie schien aus einer morschen Bretterhütte
zu kommen. Durch eine Ritze konnten sie in die Hütte hineinsehen. Es
bot sich ihnen ein seltsamer Anblick: Ein alter Mann saß in einem
Rollstuhl und schien zu weinen, während ein kahlgeschorenes junges
Mädchen tanzte und ein traurig dreinblickender Junge eine Volksweise
sang und dazu auf einem Tamburin den Takt schlug.
„Merkwürdig! Lass uns herausfinden, was da los ist“, sagte der König
zum Premierminister.
Er klopfte an die Tür. Der junge Mann hörte auf zu singen, öffnete und
bat sie herein.
„Wir sind Händler auf der Durchreise und suchen einen Schlafplatz. Da
haben wir die Musik gehört und gesehen, dass Sie noch wach sind.
Können wir bei Ihnen übernachten?“
„Sie werden bestimmt in einer der Herbergen der Stadt unterkommen.
Wir können Sie leider nicht aufnehmen. Die Musik mag darüber
hinwegtäuschen, aber in unserem Haus herrschen Trauer und Leid.“
„Und dürfen wir erfahren, weshalb?“
„Meinetwegen“, sagte der Alte. „Ich habe meinem Sohn eine gute
Ausbildung ermöglicht, damit er eines Tages Sekretär im königlichen
Palast werden kann. Aber die Jahre vergingen, und es wurde nie eine
neue Stelle ausgeschrieben. Letzte Nacht nun hatte ich einen
merkwürdigen Traum: Ein Engel erschien mir und bat mich, einen
silbernen Becher zu kaufen, weil der König mich besuchen würde. Er
würde etwas trinken und anschließend meinem Sohn eine Anstellung
geben.
Der Engel war so überzeugend, dass ich beschloss zu tun, was er
gesagt hatte. Da wir kein Geld haben, ist meine Schwiegertochter heute
auf den Markt gegangen und hat ihr Haar verkauft, und wir haben mit
dem Erlös den Becher gekauft, der dort steht. Jetzt versuchen die
beiden mich aufzuheitern, sie singen und tanzen, weil Weihnachten ist,
aber es hilft nichts ...“
Der König sah den silbernen Becher, bat, man möge ihm darin etwas
Wasser bringen, weil er durstig sei. Bevor er wieder ging, sagte er zu
den dreien:
„Was für ein Zufall! Heute waren wir beim Premierminister, und der
hat uns gesagt, nächste Woche würde die Stellung wieder
ausgeschrieben.“
Der Alte nickte gutmütig, glaubte aber nicht recht, was er da hörte,
und verabschiedete sich von den Fremden. Doch am nächsten Tag
wurde eine Proklamation des Königs auf allen Straßen der Stadt
verlesen. Ein neuer Sekretär wurde gesucht. Zu einer festgesetzten
Stunde war der Audienzsaal voller Leute, die sich alle um den begehrten
Posten bewerben wollten. Der Premierminister trat ein und bat alle
Anwesenden, Papier und Stift bereit zu halten.
„Hier ist das Thema des Aufsatzes: Warum weint ein alter Mann, tanzt
eine kahlgeschoreneFrau und singt ein trauriger Junge?“
Ein entsetztes Raunen ging durch den Saal: Niemand wusste, wie er
daraus eine Geschichte machen sollte. Nur ein ärmlich gekleideter
junger Mann in einer Ecke des Raumes lächelte und begann zu
schreiben.

(Nach einer Erzählung aus Indien)


Paulo Coelho - Bibliothek

Auf dem Jakobsweg


Der Alchimist
Brida
Schutzengel
Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte
Der Wanderer
Unterwegs
Der Fünfte Berg
Handbuch des Kriegers des Lichts
Veronika beschließt zu sterben
Der Dämon und Fräulein Prym
Elf Minuten
Der Zahir
Sei wie ein Fluß, der still die Nacht durchströmt
Die Hexe von Portobello
Der Sieger bleibt allein
Aleph
Die Schriften von Accra
Untreue
Der Weg des Bogens
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