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Sind Gefahrlich: Frauen, Die Lesen

In 'Frauen, die lesen, sind gefährlich' untersucht Stefan Bollmann die historische Wahrnehmung von lesenden Frauen, die als Bedrohung für die patriarchalen Strukturen galten, da sie Wissen und Selbstbewusstsein erlangten. Durch die Betrachtung von Kunstwerken, die lesende Frauen darstellen, wird die Faszination der Künstler für diese Frauen deutlich, während Elke Heidenreich im Vorwort die Gefahren des Lesens für Frauen thematisiert. Das Buch beleuchtet die Rolle der Frauen in der Literatur und deren Einfluss auf die Gesellschaft sowie die Herausforderungen, die sie durch das Lesen und das Streben nach Wissen erfahren haben.

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Sind Gefahrlich: Frauen, Die Lesen

In 'Frauen, die lesen, sind gefährlich' untersucht Stefan Bollmann die historische Wahrnehmung von lesenden Frauen, die als Bedrohung für die patriarchalen Strukturen galten, da sie Wissen und Selbstbewusstsein erlangten. Durch die Betrachtung von Kunstwerken, die lesende Frauen darstellen, wird die Faszination der Künstler für diese Frauen deutlich, während Elke Heidenreich im Vorwort die Gefahren des Lesens für Frauen thematisiert. Das Buch beleuchtet die Rolle der Frauen in der Literatur und deren Einfluss auf die Gesellschaft sowie die Herausforderungen, die sie durch das Lesen und das Streben nach Wissen erfahren haben.

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Stefan Bollmann

Frauen, die lesen,


sind gefahrlich
Mit einem Vorwort von
Elke Heidenreich

| ELISABETH SAN
te DMANN
AWWUW IL
Frauen, die lesen, galten lange Zeit als gefahrlich - denn lesend konnten sie
sich Wissen aneignen, das nicht fiir sie bestimmt war, und die enge Welt des
Heims, der Kindererziehung und der Hausarbeit mit der unbegrenzten Welt
der Gedanken und der Phantasie eintauschen. Doch wahrend es Jahrhunder-
te dauerte, bis es Frauen tatsachlich erlaubt war zu lesen, was sie mochten,
waren Kiinstler von jeher fasziniert von ihnen. Frauen, die ein Buch in Han-
den halten und tief in die Lektiire versunken sind, begegnen uns in meister-
haften und weltbertihmten Werken aus allen Epochen.
Stefan Bollmann fiihrt feinsinnig und anregend durch die Geschichte weib-
lichen Lesens und erklart uns, warum grofge Maler wie Corinth, Boucher,
Rembrandt, Tissot, van Gogh, Vermeer u. v. a. lesenden Frauen nicht wider-
stehen konnten.

Stefan Bollmann, geboren 1958, studierte Germanistik, Theaterwissen-


schaften, Geschichte und Philosophie und promovierte mit einer Arbeit
tiber Thomas Mann. Er arbeitet als Lektor, Autor und Herausgeber zahlrei-
cher Bucher in Miinchen. Im Elisabeth Sandmann Verlag erschienen seine
Bestseller Frauen, die lesen, sind gefahrlich (2005), Frauen, die schreiben, leben
gefahrlich (2006), Frauen, die lesen, sind geftihrlich und klug (2010) und Frauen,
die denken, sind gefthrlich (2012). 2013 erschien Warum lesen gliicklich macht
im insel taschenbuch.
insel taschenbuch 4258
Stefan Bollmann
Frauen, die lesen, sind gefahrlich

Gs)
2. Auflage 2014

Erste Auflage 2013


insel taschenbuch 4258
Insel Verlag Berlin 2013

© 2005, Elisabeth Sandmann Verlag GmbH, Miinchen


Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Ubersetzung, des 6ffentlichen
Vortrags sowie der Ubertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch ein-
zelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm
oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages repro-
duziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, verviel-
faltigt oder verbreitet werden.
Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag, Innenseiten und Satz:


Pauline Schimmelpenninck Biro fiir Gestaltung, Berlin
Druck: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm

PrintedinGermany ISBN 978-3-458-35958-6


Stefan Bollmann

Frauen, die lesen,


sind gefahrlich
Lesende Frauen in Malerei und Fotografie

Mit einem Vorwort von


Elke Heidenreich

Insel Verlag
:
il
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ane
wai
Inhalt

Vorwort von
Elke Heidenreich
lee

I Wo das Wort wohnt


Begnadete Leserinnen
25

<r

Il Intime Momente
Verzauberte Leserinnen

III Residenzen des Vergniigens


Selbstbewusste Leserinnen
45
IV Stunden der Wonne
Empfindsame Leserinnen
55

V_ Die Suche nach sich selbst


Passionierte Leserinnen
63

VI Kleine Fluchten
Einsame Leserinnen
87

Nachwort von
Stefan Bollmann
113
Literaturhinweise, Bildnachweis
141

Register
142
_ Elke Heidenreich
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Kleine Fliegen!
ie Frauen waren in der Geschichte die Leserinnen, die
kleinen Fliegen, die ins Netz des geschriebenen Wortes
gingen, sie waren das Publikum«, schreibt Dubravka UgreSi¢
in ihrem Buch »Lesen verbotenx.
Waren? Wir sind es! Wir gehen immer noch ins Netz der
Geschichten, begeistert, wachen Verstandes, hungrig nach
der Leidenschaft der Worter. Neben uns die langweiligen
Manner, die wir anstofsen mtissen und denen wir sagen mius-
sen: »Nun lies das doch auch mal!« Wir verlieben uns nur
noch, wenn uns einer schone Briefe schreibt, gerade die Liebe
lebt aus Wortern, lasst sich herbeischreiben, grofs schreiben,
die Liebe, die Angst, das Alter, der Tod - im Netz der Sprache
finden wir, was wir brauchen, und lassen uns nur zu gern
einfangen. Auf den Scheiterhaufen der Inquisition brannten
vorwiegend Frauen und Bicher. Der Anteil geopferter Manner
ist daneben eher gering. Aber Frauen, die lesen und schrei-
ben konnten, die etwas wussten, und Bucher, in denen dieses
Wissen stand, die waren gefahrlich. Weg damit! Manner ver-
achten oft das geschriebene Wort — Staatsmanner, Diktato-
ren, Herrscher, Polizisten, Beamte. Frauen wickeln vielleicht
mal ein Bund Suppengriin oder einen Fisch in eine Zeitungs-
seite mit Gedichten, aber was ist das, fragt Dubravka UgreSic,
»im Vergleich mit der Bucherverbrennung unter dem chine-
sischen Kaiser Shihuangdi«?
Wer kennt schon den chinesischen Kaiser Shihuangdi?
Aber eine lesende Frau kann ja alles nachschlagen, und da
lernt sie: »Shih Huang Ti, 260-210 vor Christus, erzwang den
ersten chinesischen Einheitsstaat.« Und sofort sieht man die

12
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Bucher- (und Frauen-?) Verbrennung vor sich, denn wenn


Einheitsstaaten etwas nicht leiden kénnen, dann sind dies
lesende Burger. Wer liest, denkt nach, wer nachdenkt, bildet
sich eine Meinung, wer eine Meinung hat, weicht ab, wer ab-
weicht, ist ein Gegner. So einfach lasst sich das erklaren.
» Sehen Sie nun, warum Biicher gehasst und gefiirchtet wer-
den? Sie zeigen das Gesicht des Lebens mit all seinen Poren.
Der SpiefSbiirger aber will Wachsgesichter ohne Poren, ohne
Haare, ohne Ausdruck.«
Das ist ein Zitat aus Ray Bradburys 1953 erschienenem Sci-
ence-Fiction-Roman »Fahrenheit 451«, von Francois Truffaut
verfilmt. Der Roman schildert eine Welt, in der die Feuerwehr
Brande nicht mehr loscht, sondern legt, und zwar Btcher-
brande. Wer Bucher besitzt oder liest, ist Staatsfeind Nummer
eins und wird unter Umstanden ohne lang zu fackeln (!) mit
verbrannt. Feuerwehrhauptmann Beatty erklart seinem Un-
tergebenen Montag, den Bucher heimlich faszinieren: »Ein
Buch im Haus nebenan ist wie ein geladenes Gewehr. Vernich-
te es. Entlade die Waffe. Brich den menschlichen Geist.«
Der Gedanke an Ossip Mandelstam liegt nahe - den Mann
konnten sie vernichten, seine Gedichte konnten sie verbren-
nen, aber Nadeshda, Mandelstams Frau, hatte alles auswen-
dig gelernt und schrieb es auf und erhielt es. Fur uns. Das ist
die Rolle der Frauen in der Literatur, sofern sie nicht selbst
Dichterinnen, sondern Leserinnen sind: Sie heben Schatze
und bewahren sie fiir uns auf - aufser, die Liebe kommt ihnen
dazwischen. Die Liebe, das gebe ich seufzend zu, ist allemal
starker als die Literatur, aber die Liebe in der Literatur ist viel
schoner als die Liebe im Leben. Sie lasst uns wenigstens ab
und zu die Illusionen.
»Der Einundvierzigste« heifgt eine Erzahlung des Russen
Boris A. Lavrenev, 1924 erschienen, also ein Beispiel fiir frihe

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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Sowjetliteratur. Marja Bassowa, Rotarmistin und Scharfschit-


zin, zieht durch Turkestan, stot auf einen weifsrussischen
Offizier, der ihr 41. Opfer werden soll. Aber sie verfehlt ihn,
verhaftet ihn, verliebt sich in ihn, am Ende siegt naturlich (wir
sind im Einheitsstaat!) Marjas Klassenbewusstsein, und sie
t6tet ihn doch. Aber bis dahin passiert etwas Erstaunliches:
Er will rauchen und hat kein Zigarettenpapier mehr. Sie hat
ein kleines Notizbuch mit eigenen Gedichten, ein Schatz, den
sie hutet. Blattchen fiir Blattchen reifs$t sie nun heraus, der
Offizier rollt seinen Tabak hinein, und die Gedichte gehen in
Rauch auf bis zum letzten Vers.
Ist das auch nur einen Augenblick umgekehrt denkbar?
Nattirlich nicht. Die Geschichte handelt von zweierlei: vom
Verhaltnis der Frauen zu ihrer eigenen Kreativitat und vom
Verhaltnis der Manner zur weiblichen Kreativitat. Waren es
seine Gedichte gewesen — noch im Tod hatte er sie auf dem
Herzen getragen. Sie hatte ihren Tabak kauen miissen ...
Aber so sind wir: Wir teilen, lassen los, ernahren diese Ba-
nausen mit dem Kostbarsten, was wir haben. Die Banausen
wissen das und hassen uns daftir. Manner fiirchten lesen-
de Frauen. Und schauen wir uns das Titelbild dieses Buches
an, dann haben sie auch allen Grund dazu. Da sitzt eine sehr
energisch aufgeladene Dame. Sie liest gerade nicht mehr, seit
einigen wenigen Momenten. Aber in ihrem Kopf sind noch die
Worter, die Satze, die Ideen, die sie eben gelesen hat, und zwar
in drei Banden der gelben franzésischen Klassikerausgaben —
Voltaire? Vielleicht hat sie den »Candide« gelesen und denkt
jetzt dartiber nach, was von einer Philosophie zu halten ist,
die darin muindet: »Wir mtissen unseren Garten bestellen«?
So sehr will sie sich noch nicht bescheiden, wer das von ihr
verlangt, kann die Spitze ihres weifg’en Schirmes zu sptiren
kriegen. Aber sie sieht so aus, als sei sie klug genug, die tiefe

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Jean-Jacques Henner, 1829-1905

Die Lesende, um 1880/1890, Musée d’Orsay, Paris

15
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Ironie hinter dem Ganzen zu verstehen, als wiirde ihr gerade


aufgehen: »So sehr also nimmt man uns auf den Arm? Garten
bestellen? Na, wartet.« Ihr Gesicht verrat noch Nachdenken,
ihre Hand zeigt schon Entschlossenheit, die ganze Haltung:
auf dem Sprung.
Das genau haben die Manner noch nie gern an den Frauen
gesehen: dass sie zu sehr durchblicken. Darum gab es noch
im 18. Jahrhundert in die Einbande mancher Romane Faden
und Nadel eingelassen, um die Frauen daran zu erinnern, was
ihre eigentliche Bestimmung war: nicht lesen, sondern den
Haushalt in Ordnung halten. Lesen ist verschwendete Zeit,
verschwendetes Geld, und wer weifs, wohin das fuhrt — eigene
Ideen, Aufruhr, erotische Phantasien,
ja, sonst noch was.
»Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die
Welt«, sagte Marie von Ebner-Eschenbach. Weil die lesende
Frau hinterfragt, und das Hinterfragen zerstort fest gefiig-
te Regeln. Es war Emma Bovarys Ungltick, dass sie nie uber
schwulstige Liebesromane hinauskam, die ihr etwas vorgau-
kelten, was sie dann in ihrem eigenen Leben so schmerzlich
vermisste. Mutter Bovary heizt ihrem Sohn Charles ein, was
Emmas Lesesucht betrifft:
»Romane schmokert sie, schlechte Bticher, Schriften gegen
die Religion, in denen die Geistlichen verhéhnt werden mit
Redensarten aus dem Voltaire!« Da haben wir es: schon wieder
dieser Voltaire. Hatte Emma mal Voltaire gelesen, aber leider
liest sie nur dummes Liebeszeug und muss sich am Ende, als
alles verloren ist, vergiften — wie die Heldinnen ihrer Romane.
Wenn der eigene Kopf nicht wenigstens ein klein wenig mit-
denkt, wenn der eigene Geschmack sich an den Bitichern nicht
entwickelt, dann kann Lesen, wie wir sehen, sogar lebensge-
fahrlich werden.
Man hiite sich aber, lesende Frauen durch die Bank mit

16
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Emma Bovary zu identifizieren! Wir lesen nicht ohne dsthe-


tische Distanz, wir nehmen Geschriebenes nicht fiir bare
Munze, wir glauben nicht, dass das Leben sein muss wie ein
Roman, auch wenn wir fiir eine Weile durchaus gern wohlig
im Roman versinken. Marlene Streeruwitz sagte mal am Ende
eines Interviews Uber ihr Leseverhalten und die fatale Suche
nach dem einzig richtigen, dem einzig wunderbaren Mann,
zu der sie die Romane irregeleitet haben: »G’sund war’s net.«
Man reduziert seit Emma Bovary die Frau ja gern auf die ge-
hobene Unterhaltungsliteratur. Aber ich méchte hier warnend
den kleinen Text »Marktanalyse« von Erich Kastner zitieren:
»Der Kunde zur Gemiusefrau: »Was lesen Sie denn da, mei-
ne Liebe? Ein Buch von Ernst Jiinger?« Die Gemiisefrau zum
Kunden: Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jiingers kristal-
linische Luziditat ist mir etwas zu pratenti6s. Benns zerebrale
Magie gibt mir mehr.«
Man unterschatze lesende Frauen nicht! Sie werden nicht
nur kliger, sie geniefsen nicht nur ein egoistisches Vergni-
gen, sie konnen auch sehr gut allein sein. Lesen ist eine der
grofsen Freuden des Alleinseins, allein mit der eigenen Phan-
tasie und der des Autors. Aber es ist wie mit dem lesenden
Kind: Zuerst will die Mutter, dass es endlich mit dem Buch
still in der Ecke sitzt, dann stellt sie fest, dass das lesende
Kind nicht das pflegeleichte, das einfache Kind ist, sondern
das aufmiupfige, das sich aus der es umgebenden Welt weg-
liest, und das sieht diese Welt nicht gern. So ist das mit den
lesenden Frauen. Alles ist vergessen: Der Haushalt, der Gatte,
wahlweise der Geliebte, nur noch das Buch zahlt, die Intimitat
mit dem, der ihr hier jetzt gerade eine Geschichte erzahlt, und
der Mann, der ihr gegeniibersitzt mit dem Wirtschaftsteil der
Zeitung, kann nicht in ihren Kopf schauen und die dimms-
te aller Fragen stellen: »Was denkst du gerade?« Sie ist gerade

sto
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

ganz woanders, und dahin kann er ihr nicht folgen. Er sieht


sie, da im Sessel, am Fenster, auf dem Sofa, im Bett, im Zug,
aber sie ist doch nicht da. Ihre Seele ruht, aber nicht bei ihm,
der doch dachte, ihr ALLES zu sein. Irrtum, mein Lieber.
»PersOnlichkeitsentfaltung und Lektiire bedingen sich ge-
genseitig«, schreibt die Publizistin Gertrud Lehnert in ihrem
Essay »Die Leserin« tiber das erotische Verhaltnis der Frauen
zur Literatur. Erotisch? Einige der sch6nen Leserinnen auf
den Bildern in diesem Buch sind nackt. Vor dem Buch gibt es
keine Scham, und so kann es direkt durch die Haut ins Herz
dringen. Und von da, vielleicht, in den Kopf. In diesem Essay
taucht auch der Gedanke auf, ob nicht vielleicht der wirkliche
Dichter so androgyn sein muss wie der wirkliche Leser, das
heifgt: Mannlich und weiblich spielen keine Rolle mehr — hier
begegnen sich Seelen, und die Schopferkraft des Lesers er-
kennt die Schopferkraft des Autors tiber alle Geschlechtsgren-
zen hinweg. Ein schoner Traum, auch Virginia Woolf traumt
ihn in ihrem Text »Ein Zimmer ftir sich allein«: »Erst wenn
diese Fusion stattfindet, ist der Geist ganz fruchtbar gemacht
und kann alle seine Fahigkeiten anwenden.« Und so ist ja ihre
Romanfigur »Orlandox< auch beides, Mann und Frau zugleich.
Wurden sich Manner und Frauen besser verstehen, wenn
Manner so viel lasen wie Frauen? Wiissten sie mehr von un-
serem Leben, Denken, Fthlen, wenn sie Sylvia Plath, Virginia
Woolf, Carson McCullers, Jane Bowles, Annemarie Schwar-
zenbach oder Dorothy Parker lasen, so wie wir ja auch He-
mingway, Faulkner, Updike, Roth, Flaubert und Balzac lesen?
»Frauen lesen anders« heifst eine interessante Betrachtung
zu diesem Thema von Ruth Kliiger. Sie lesen auch mehr. Und
sie sind lesend beides, Mann und Frau, geschlechtslos, sie
leiden mit dem Helden, der Heldin, dem Autor, der Autorin,
das spielt keine Rolle. Sie sind gefangen vom Buch. Ich kann

18
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

nur Manner lieben, die lesen, die plétzlich mit diesem Blick
hochschauen, von weit her kommend, weich, mit einem
Wissen nicht nur tiber sich, sondern auch tiber mich. Frau-
en lieben Manner, die lesen. Manner lieben aber in der Regel
keine lesenden Frauen. Und nur ganz selten lesen Manner
und Frauen zusammen. Dann landet man aber gleich in der
Holle — wir erinnern uns an Dantes »Gottliche Komédie«:
In der Holle trifft er Francesca, die ihm erzahlt, wie sie und
ihr Geliebter Paolo miteinander die Liebesgeschichte des
Ritters Lancelot lasen (dabei wurden sie tberrascht und ver-
dammt), und es heif$t: »Mehrmals beim Lesen mussten wir
die Augen erheben, es entfarbt’ sich unser Antlitz; doch eine
Stelle war’s, der wir erlagen. Die war es, wo der heifs begehr-
te Mund von solchem Liebenden gektisset wurde, da kiisste
dieser hier, der nie von mir getrennt sein wird, erbebend mir
den Mund. (...) An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«
Das ist eines der eher seltenen Dokumente tber das Lesen
zu zweit. Der wahre Leser liest allein. Aber Liebende lesen mit-
unter gern ihre Liebe, so wie jeder sich selbst in jedem Buch
liest.
In der wunderbaren kleinen Geschichte »Der unbelesene
Bucherfreund« von Max Frisch wird von einem Buchersamm-
ler berichtet, der nicht liest. Mit den Biichern sei es wie mit
den Kiissen, sagt er, »wir mtissen sie hiiten, damit sie nicht
unselten werden, nicht in Gewohnung ersterben, alles Er-
lebte verlangt ja viel Haltung, viel Geduld und Verzicht, viel
Strenge«. Was fiir ein bertickender Gedanke: dass alles Erlebte
Haltung und Strenge verlangt! Alles Erlesene auch, ohne dass
wir es damit zu ernst nehmen wollen: Es darf uns durchaus
auch unterhalten, aber ernst, still und streng mtssen wir zu-
nachst schon bei der Sache sein.
Aus dem Lesen erwachst Selbstvertrauen, aus dem Selbst-

19
Harald Metzkes, *1929

Lesende am Fenster, 2001, Galerie Leo.Coppi, Berlin

20
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

vertrauen erwachst der Mut zum eigenen Denken. Manner


lieben denkende Frauen nicht unbedingt.
»Manner«, schreibt Gottfried Benn in einem Brief, »wollen
doch nicht am Gehirn von einer Frau bertihrt werden, son-
dern ganz woanders.« Zack. Wir wissen das und lesen trotz-
dem. Mit zunehmendem Alter werden die Biicher mitunter
sogar wichtiger als die Manner. Wir wollen, dass unser Herz
beruhrt wird. Die Dichter tun das.
Auf den Bildern in diesem Buch fehlen die Manner. Es geht
nur um lesende Frauen. Es sind alte und junge Frauen, sie
sitzen oder liegen, bekleidet oder nackt, wir sehen ihre Arme,
ihr Haar, ihre geneigte Kopfhaltung, nur selten sehen wir ihre
Augen, nur dann, wenn sie gerade zu lesen aufhoren und fiir
einen Augenblick hochschauen.
Ich sammele seit Jahren Bilder lesender Frauen, eines da-
von hangt uber dem Sofaplatz, auf dem ich selbst lese. Es ist
von Harald Metzkes und zeigt fiir mein Gefthl eine junge Frau,
die um ihr Leben liest. Sie sitzt am Fenster, es ist stockdunkel
draufsen, aber ein Streif am Horizont zeigt: Es wird auch wie-
der hell. Ich sitze da und lese, ich bin das. Und ich muss nur
noch dreifsig, vierzig Seiten durchhalten, dann darf ich hoch-
schauen und: Es wird wieder hell sein. Ich wiirde nicht so weit
gehen wie Montesquieu, der gesagt hat: »Ich hatte niemals
einen Kummer, den eine Stunde Lesens nicht verscheucht
hatte.« Wahr aber ist: Eine Stunde Lesens lasst mich fiir genau
eine Stunde den Kummer vergessen. Er kommt dann schon
wieder, aber, wie auf dem Bild: Vielleicht ist es bis dahin ja
hell. Macht uns so viel glaubige Hoffnung gefahrlich? Es
scheint so, denn es liegt Kraft darin, das eigene Schicksal zu
gestalten. Erst seit wenigen Jahrzehnten wird uns Frauen das
ja iberhaupt erst zugestanden, und noch immer langst nicht
allen Frauen und noch immer langst nicht Uberall.

DA
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Mir fallt eine komische Geschichte ein, in der das Lesen


als Vorschlag zur Katastrophenbewaltigung herhalten muss.
Es ist eine Geschichte aus der Kindheit von Dylan Thomas.
Er erzahlt, wie es Weihnachten bei den Nachbarn gebrannt
hat. Und nachdem alles in Schutt und Asche liegt und das
Wohnzimmer nass ist und die grofsen Feuerwehrmanner
mit ihrem schweren Gerat erschopft dastehen, sagt Mrs. Pro-
thero, die immer das richtige Wort findet und die jetzt Trost
spenden und ihre Dankbarkeit ausdriicken mochte, zu die-
sen Feuerwehrmannern: »Mochten Sie jetzt vielleicht etwas
lesen?«
»Die einzige Art, das Dasein zu ertragen, besteht darin, sich
an der Literatur wie in einer ewigen Orgie zu berauschen«,
nach diesem Satz aus einem Brief Flauberts von 1858 nannte
Mario Vargas Llosa sein Buch tiber Madame Bovary »Die ewige
Orgie«. Eine Orgie des Lesens — sch6ner Gedanke, wenn man
das Wort »Orgie« nicht nur im Sinne von etwas hemmungslos
Ausschweifendem versteht, sondern ganz ursprtnglich: als
heilige Handlung und geheimen Gottesdienst. Vargas Llosa
weifs, was er an uns Frauen hat: »Es ist allein den Leserinnen
zu verdanken, dass heute tiberhaupt noch Literatur ver6ffent-
licht und verkauft wird.«
»Man lernt vom Leben, indem man lebt. Man lernt vom
Lesen, indem man liest«, sagt Giinter de Bruyn. »Und da das
Lesen von Literatur immer Einblicke in das Leben anderer
gibt, erfahrt man dabei vom Leben mehr, als man selbst er-
leben kann. Lesend lebt man andere Leben mit.« Ich wiirde
erganzen: Man liebt auch andere Lieben mit.
Das zu intensive, das orgiastische Lesen kann auch le-
bensgefahrlich sein. So beginnt die Erzahlung »Das Papier-
haus« von Carlos Maria Dominguez: »Im Frithjahr 1998 kauf-
te Bluma Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte

22
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen

Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson und wurde an der


ersten Strafsenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht an-
gelangt war, von einem Auto tiberfahren.«
Wir ahnen: Lesen macht nicht nur gefahrlich, es gefahrdet
auch, uns und andere. Ich denke an»Das leselustige Kinder-
madchen«, eine Karikatur von 1863, die ein ins Buch versun-
kenes Kindermadchen zeigt, das im Park beim Gehen liest,
lustlos den Kinderwagen hinter sich herzieht und nicht merkt,
dass das Kind langst herausgefallen ist. Ich verstehe, wenn in
solchen Fallen die Hausfrau ein Machtwort spricht.
Aber in der Regel wurde vor lesenden Frauen gewarnt, weil
in ihrem Kopf etwas passierte, das nicht zu den dominanten
Lebensplanen passte, die andere ftir sie machten. Lesen stellt
nicht nur Lebensentwurfe in Frage, sondern auch Vorgaben
hodherer Instanzen wie Gott, Gatte, Regierung, Kirche. Lesen
beflugelt die Phantasie, und Phantasie tragt weg aus der Ge-
genwart, wohin? Als liefSe sich das noch kontrollieren. Und
alles Unkontrollierbare macht Angst. Gerade die, die unkon-
trollierbare Macht austiben (Gott, Gatte, Regierung, Kirche!),
wissen das. Aber Gott driickt da vielleicht noch ein Auge zu.
Virginia Woolf: »Ich habe jedenfalls manchmal getraumt,
wenn der Tag des Jiuingsten Gerichts heraufdammert und
die grofsen Eroberer und Rechtsgelehrten und Staatsman-
ner kommen, ihren Lohn zu empfangen - ihre Kronen, ihren
Lorbeer, ihre Namen unausloschlich gemeifselt in unvergang-
lichen Marmor -, dann werde der Allmachtige sich zu Petrus
wenden und werde sagen, nicht ohne einen gewissen Neid,
wenn er uns mit unseren Btichern unter dem Arm kommen
sieht, Sieh, diese brauchen keinen Lohn. Wir haben ihnen
hier nichts zu geben. Sie haben das Lesen geliebt.«
Elke Heidenreich, Januar 2005

23
cies
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ik
Wo das Wort wohnt
Begnadete Leserinnen

Das Christentum ist eine Religion des Buches.


Bereits in der Spatantike wurde Christus mit
einer Buchrolle dargestellt. Die Bibel, das »Buch
der Bucher«, enthalt Geschichtsbtcher, Lehr-
bucher und prophetische Butcher. Traditionell
gehort das Buch als religidses Symbol in die Hand
von Mannern: von Christus, den Aposteln, den
Martyrern und Heiligen, von Predigern, M6nchen,
Schutzpatronen und Kirchenfirsten. Es ist
Gefafs der gottlichen Gnade und Trager geistiger
Autoritat.
Simone Martini, um 1280/85 -1344

Verkiindigung an Maria, 1333, Uffizien, Florenz

26
Simone Martini
D arstellungen der Verktindigung an Maria waren im
14. Jahrhundert keine Seltenheit. Doch so wie Simone
Martini aus Siena hatte das vor ihm keiner gezeigt. Die Gewan-
der und Fligel des Engels sind in glanzendes Gold getaucht.
Seine Lippen sind leicht zum Sprechen ge6ffnet, und was er zu
sagen hat, steht auf Schriftbandern; eines davon fiihrt zu Mari-
as Ohr: »Sei gegriifst, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Siehe,
du wirst empfangen im Mutterleib. Fiirchte dich nicht, Maria.«
Schon zeitgendssischen Betrachtern des Bildes ist Marias
verschreckte Haltung aufgefallen. Es ist, als ob sie vor der Macht
der Worte des Engels in »ihre« Ecke ausweicht. In Marias Er-
schrecken liegt etwas von Abwehr, verbunden mit einer seltsa-
men Gleichgiiltigkeit. Fast als wollte sie sich von dem Gesche-
hen abwenden, rafft sie den Mantel vor der Brust zusammen.
Das rote Buch, Symbol ihrer Weisheit, in dem sie gerade
gelesen hat, halt sie mit dem Daumen einen Spalt offen. For-
mat und Ausstattung des Buches deuten darauf hin, dass es
sich um ein Stundenbuch handelt, das im spaten Mittelalter
von Wohlhabenden als individuelle Andachtsbicher fiir Laien
benutzt wurden und oftmals auch dazu dienten, Kindern das
Lesen beizubringen.
So sehen wir in dieser Verktindigung auch der Geburt von
etwas Neuem zu: Martinis Maria ist eine kluge Frau und langst
nicht mehr die naive Unschuldige, als die sie die Theologen
gerne sahen. Sie beherrscht etwas, das im Spatmittelalter
zur Gewohnheit der Gebildeten wird: still zu lesen und sich so
das Wissen aus freien Stiicken anzueignen ~ durch Lektiire und
Studium. Und wer so vertieft ist in ein Buch wie diese Maria, der
erschrickt schon mal, wenn man stort.

27
Hugo van der Goes
ir sehen den rechten Seitenfltigel eines Altarbilds, das
der Genter Meister Hugo van der Goes im Auftrag des
Florentiners Tommaso Portinari gemalt hat. Das Triptychon
mit den gewaltigen Ausmafsen von zweieinhalb mal sechs
Metern gehort zu den beeindruckendsten Zeugnissen altnie-
derlandischer Malerei in Italien. Der Stifter Portinari leitete
zwischen 1465 und 1480 in Briigge das Handelshaus der
Medici und gab dort das fiir einen Altar in Florenz bestimmte
Werk in Auftrag. Wahrend die Haupttafel das Geschehen der
Gebutt Jesu zeigt, stellen die beiden Seitenfltigel das Stifter-
paar mit seinen Kindern dar. Dabei hat der Maler auf den da-
mals bereits veralteten Brauch zurtickgegriffen, die Stifter klei-
ner als ihre Schutzheiligen abzubilden; von den Figuren der
heiligen Margareta und Maria Magdalena, die hinter Portina-
ris Ehefrau Maria Baroncelli und ihrer erstgeborenen Tochter
Margherita aufragen, geht so eine gebieterische Strenge aus.
Die ganz in Rot gewandete heilige Margareta halt in ihrer
Linken ein aufgeschlagenes Buch. Doch blickt sie nicht auf die
Buchseiten; das Buch ist hier vielmehr Symbol des Glaubens
und erftillt zusammen mit dem Kreuz die Funktion eines Ab-
wehrzaubers. Dieser richtet sich gegen den Drachen zu Figen
der Heiligen, in dessen Maul wir einen ihrer beiden Pantoffeln
erblicken kénnen. Der Legende nach erhielt die Martyrerin
Margareta im Kerker Besuch vom Teufel in Gestalt eines Dra-
chen, der sich auf sie stiirzen wollte und sie in einer Version
der Geschichte sogar verschlang; doch Margareta konnte ihn
durch das Kreuzeszeichen bezwingen. Auf dem Altarbild von
van der Goes wird die schtitzende Wirkung des Kreuzes ver-
starkt durch den Verweis auf das Buch mit der Heiligen Schrift.

28
Ambrosius Benson, um 1495-1550

Die lesende Maria Magdalena, 1540,


Ca’ d'Oro, Galleria Franchetti, Venedig

30
Ambrosius Benson
as Salbgefafs, das die Maria Magdalena des Portinari-
Altars in ihrer Rechten halt, steht hier auf einem Tisch.
Vor allem dieses Attribut weist darauf hin, dass wir es auch
bei dieser lesenden jungen Frau mit einer Verkérperung der
Heiligen zu tun haben. Seit dem 13. Jahrhundert erfreute sich
die Figur der Maria Magdalena als Stinderin und Biiferin
grofser Popularitat. Mit ihr identifizierte man die Prostituierte,
der Jesus im Haus des Pharisaers ihre Sinden vergibt. Zuvor
hat sie seine Fufge mit Tranen benetzt, mit ihren Haaren ge-
trocknet und schliefslich gektisst und gesalbt — so berichtet es
das Lukas-Evangelium.
Das Buch in Verbindung mit Maria Magdalena taucht nicht
vor dem 15. Jahrhundert auf. Anders als die Attribute Toten-
kopf und Spiegel, die spater hinzutreten, steht es zunachst
nicht fiir die Zweideutigkeiten des weltlichen Lebens, sondern
im Gegenteil fiir deren Uberwindung durch ztichtige Kontem-
plation. Doch schon bald wird Maria Magdalena die kirch-
liche Sphare verlassen und als schéne, haufig gar nicht oder
kaum noch bekleidete junge Frau auf den Leinwanden wieder
auftauchen - gerne auch mit einem Buch in der Hand.
Ambrosius Benson, ein in Norditalien geburtiger und dann
als Freimeister in Briigge tatiger Maler, hat dem Zeitge-
schmack entsprechend haufig allegorische Frauenportrats,
darunter auch eine Reihe von Magdalenen gemalt. Sie wurden
nach Spanien und Italien exportiert und auf den Januar- und
Maimarkten in Briigge verkauft. Die htibsche junge Frau,
die andachtig in das in roten Samt eingeschlagene Buch blickt,
hatte fiir den zeitgenéssischen Betrachter die allegorische
Bedeutung eines Eheversprechens.

31
Michelangelo Buonarroti
ie Renaissance erweckte die Geschichten und Figuren der
Mythologie zu neuem Leben. In seinem gewaltigen Fresko
in der Sixtinischen Kapelle brachte Michelangelo Propheten
des Alten Testaments und heidnische Sibyllen zusammen.
Sibyllen waren die Prophetinnen der Antike: Frauen, die
kiinftige, meist erschreckende Ereignisse voraussagten. Ihre
Beinamen erinnerten an ihre Wirkungsstatte; so soll die
Cumiaische Sibylle in einer Orakelhohle in Cumae im italieni-
schen Kampanien geweissagt haben. Ovid erzahlt von dieser
Sibylle, Apollon habe sie mit Geschenken bestechen wollen,
um sie zu verfiihren. Als sie darauf
um so viele Lebensjahre
bat, wie eine Handvoll Staub Sandkorner enthalt, vergafs sie
zu wunschen, es sollten immerfort Jugendjahre sein. So ist sie
die langste Zeit ihrer tausend Lebensjahre eine gebrechliche
Greisin, bis ihre einst grofse und schéne Gestalt so winzig und
ausgezehrt ist, dass niemand mehr sie sehen kann und man
nur noch ihre Stimme erkennt. Michelangelo zeigt sie uns lange
vor diesem Endstadium. Zwar ist ihr Leib schon stark gealtert
und ihr Gesicht tief zerfurcht, aber ihre machtigen und musku-
l6sen Arme erinnern an die eines jungen, kraftigen Mannes.
Die bertihmteste Geschichte um die Cumaische Sibylle
handelt von den neun prophetischen Bichern, die sie Tarqui-
nius Superbus, dem letzten K6nig von Rom, zu einem hohen
Preis zum Kauf anbietet. Als dieser ablehnt, verbrennt sie erst
drei und dann nochmals drei, bis Tarquinius den vollen Preis
fiir die verbliebenen drei Bticher entrichtet. Aus einem dieser
weissagenden Biicher liest Michelangelos Sibylle, halb Hexe,
halb Gigantin, unser aller Zukunft; doch scheinen die Seiten
leer zu sein.

32
Lk
ia a
Intime Momente
Verzauberte Leserinnen

In den europaischen Gesellschaften vor dem


16. Jahrhundert hat Intimes kaumje einen Platz.
Bei der dann erfolgenden allmahlichen Heraus-
bildung einer Intimsphare spielt das Lese-
verhalten eine grofse Rolle. Die still lesende Frau
geht einen Bund mit dem Buch ein, welcher der
Kontrolle durch die Gesellschaft und die nachste
Gemeinschaft entzogen ist. Sie erobert sich einen
Freiraum, zu dem nur sie selbst Zutritt hat, und
verschafft sich dadurch ein unabhangiges Selbst-
wertgefiihl. Und sie beginnt sich ihr eigenes
Bild von der Welt zu machen, das mit dem der
Tradition und des Mannes nicht tbereinstimmen
muss.
Rembrandt van Ryn
embrandt hat sich zeitlebens mit dem Phanomen des
R Alters auseinandergesetzt. Schon in jungen Jahren
entstehen Bildnisse von Greisinnen und Greisen, die gezeich-
net sind von den Spuren gelebten Lebens und zunehmen-
der Gebrechlichkeit. Dabei ist sein Modell sicher nicht die
eigene Mutter, wie der gelaufige Titel dieses Bildes nahelegt.
Rembrandts Zeitgenosse Jan Lievens (1607- 1674) hat fiir sein
Bild einer alten, lesenden Frau das gleiche Modell verwendet,
ihr allerdings einen Kneifer auf die Nase gesetzt. Beide Frauen
lesen in der Bibel. Rembrandt hat den Korper seiner Greisin
in ppigen Stoff gehullt: Nur die Hand und das zerfurchte
Gesicht schauen hervor. Das machtige Alte Testament scheint
zu leuchten; dabei liegt die runzlige Hand der aufmerksam die
Schrift studierenden Frau flach auf der Buchseite: Auf diese
Weise markieren altere Menschen, denen das Lesen Miihe be-
reitet, die zu lesende Zeile; die Gebarde ist aber auch Ausdruck
der intimen Beziehung der Lesenden zur Schrift.
Entgegen unserer gelaufigen Ansicht hatte die Antike die
Frage nach der Wiirde des Alters und der Alten verneint. Die
Alten hatten ihre Funktion erfillt, indem sie im Staat tatig
waren und Nachkommen zeugten. Rembrandts Bild hin-
gegen stellt eine direkte Beziehung zwischen Aufgabe, Wiirde
des Alters und Autoritat der Schrift her, die viele hochbetagte
Prophetinnen und Propheten kennt. Nichts kénnte weniger
Uberfltissig sein als das demiitige Studieren der Bibel; anderer
Verpflichtungen ledig, besteht darin die Wiirde des Alters. Die
Autoritat des Buches und die innere Sammlung der Greisin
entsprechen einander. Es liegt darin ein Freiwerden von den
bislang erfiillten Rollen und Verpflichtungen.

36
Rembrandt Harmensz van Rijn, 1606-1669

Alte lesende Frau, 1631,


Rijksmuseum, Amsterdam
Jacob Ochtervelt, 1634/35 -—1708/10

Der Liebesantrag an die Lesende, 1670,


Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

38
Jacob Ochtervelt
D: Brief war in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts
grofs in Mode gekommen. In keinem anderen Land
Europas konnten so viele Burger lesen und schreiben, und
der Schriftverkehr wurde in wirtschaftlichen und politischen,
aber auch privaten und intimen Beziehungen immer wichti-
ger. Handbiicher der Briefschreibekunst und kalligrafische
Musterbticher kamen auf den Markt; entscheidend fiir den
Erfolg von Briefschaften war nicht nur, die gemafse Ausdrucks-
weise zu wahlen, sondern auch lesbar und asthetisch anspre-
chend zu schreiben. Rasch begannen auch Briefschreiber
und -leser —- mehr schreibende Manner als Frauen und mehr
lesende Frauen als Manner - die Welt der Malerei zu bevél-
kern. Beruhmt sind die Bilder von Jan Vermeer, Gerard ter
Borch und Pieter de Hooch.
Das nebenstehende Gemalde gehort in diesen Umkreis und
geht zugleich daruber hinaus. Es ist eines der wenigen der
Zeit, das Medien in Konkurrenz miteinander zeigt — in diesem
Fall Buch, Brief und Gesprach. Offensichtlich wiederholt der
Mann in mundlicher Form den Liebesantrag, den er bereits
einem auf dem Tisch liegenden Brief anvertraut hat. Dass das
rote Briefsiegel gebrochen ist, deutet darauf hin, dass die Frau
den Inhalt zur Kenntnis genommen hat. Allerdings fahrt sie,
scheinbar ungeruhrt, in ihrer Lektire fort, die ihr wichtiger als
jeder schriftliche oder mundliche und auch jeder andere Ver-
kehr (man beachte das Bett im Hintergrund) zu sein scheint,
und das, obwohl sie einen alles andere als sproden Eindruck
macht. Das Bild zeigt: Die Frau geniefst die Aufmerksamkeit,
aber sie gibt dies nicht zu erkennen, indem sie sich in ihre
Lektiire vertieft —- oder wenigstens so tut, als ob.

39
Pieter Janssens Elinga
n die Lekttire eines Bestsellers der damaligen Zeit versun-
ken, wendet die Zofe dem Betrachter des Bildes den Riicken
zu. Statt ihren Arbeitspflichten nachzukommen, gibt sie ihrer
Leselust nach. Das genussvolle Erleben der eigenen emotio-
nalen Bewegtheit vermittelte den Leserinnen ein neues,
begliickendes Bewusstsein ihrer selbst, das sich bei der Erfiil-
lung der ihnen zugewiesenen sozialen Rolle niemals einstellte.

40
Pieter Janssens Elinga, 1623-1682

Lesende Frau, 1668/70,


Alte Pinakothek, Munchen

41
Jan Vermeer
ie mOglicherweise schwangere Frau steht am (unsichtba-
De Fenster und liest einen Brief, den sie wohl von ihrem
Mann bekommen hat. Die Karte von Stidostholland an der
Wand im Hintergrund verweist auf den abwesenden Schreiber.
Die Lippen der Frau sind leicht ge6ffnet, so als wurde sie den
Inhalt des Briefes halblaut vor sich hin sprechen — Hinweis
auf die Intensitat, mit der sie das Gelesene aufnimmt,
vielleicht aber auch auf die Mihe, die ihr die Entzifferung
des Briefes macht. Wie in einer schtitzenden Hille ist diese
Leserin in einer Aura der Intimitat geborgen.

43
a ORE
Residenzen des Vergntigens
Selbstbewusste Leserinnen

Sicherlich ist es eine Ubertreibung, zu sagen,


man habe sich im 18. Jahrhundert hauptsachlich
vergntigt und amiusiert. Wohl aber hat man im
Zeitalter von Rokoko und Aufklarung mit dem
Gedanken an das Vergniigen gelebt. Vorbei die
Zeiten, in denen die Leser sich angestrengt ber
schwere Folianten beugten. Die Bucher lagen nun
leicht in der Hand, und die Lekttire von Poesie
und Romanen zahlte zu einem neuen Zeitvertreib,
den das Privatleben bieten konnte. Lesen vertrieb
nicht nur die Langeweile - es wurde auch zum
Erlebnis individueller Freiheit.
Francois Boucher
ie Marquise de Pompadour, die wegen ihres verschwen-
derischen Lebensstils vom Volk verachtete Matresse
Ludwigs XV., stammte selbst aus biirgerlichen Verhaltnissen.
Von ihrem 24. Lebensjahr an pragte die uneheliche Tochter
eines Pariser Kaufmanns den Geschmack des héfischen Frank-
reich. Als sie 1756 zur Hofdame der Konigin ernannt wurde,
beauftragte sie Francois Boucher, den zuktnftigen »Ersten
Maler des Konigs«, mit ihrem offiziellen Portrat.
Nichts ist zufallig auf diesem Bild: Alles soll von Lassigkeit
zeugen — neben Luxus und Geschmack das dritte unerlassliche
Kriterium bei der Einrichtung des Boudoirs; kein Wunder,
dass es Zeitgenossen als »Residenz der Wollust« erschien. Die
Hauptperson lagert in grofser Hoftoilette auf einem Kanapee,
das vor eine Spiegelwand geriickt ist. Darin erblicken wir einen
reich verzierten Bucherschrank, dessen Bande das Wappen
ihrer Besitzerin tragen. Alles auf diesem Bild ist intim und
alles inszeniert. Schon lange vor der Geburt der Massenme-
dien zeigt es uns eine Welt der Zurschaustellung von Wiin-
schen und Leidenschaften. Noch ist es das Buch, das im Reich
des Vergniigens Regie fiihrt. Soeben blickt die Marquise von
der Lekttire auf; mit dem Zeigefinger der rechten Hand halt
sie das Buch aufgeschlagen. Ihr rechter Unterarm und der
Buchfalz befinden sich exakt auf der Bilddiagonale, die von
links oben nach rechts unten fiihrt, wo schon andere Biicher
verstreut herumliegen. Wenn auch dieses ihr entgleitet, wird
der Platz auf ihrem Schofs frei. Vielleicht fiir das Hiindchen,
das zu ihren Fufgen sitzt und sich mit dem Kopf der Marquise
auf der anderen Bilddiagonale befindet? Aber nur so lange,
bis der Konig kommt.

46
Francois Boucher, 1703-1770

Madame Pompadour, 1756,


Alte Pinakothek, Mtinchen

47
Jean Raoux
ie franz6sischen Genremaler des 18. Jahrhunderts stehen
De der Tradition der hollandischen Malerei des 17. Jahr-
hunderts. Starker als ihren Vorlaufern kam es ihnen jedoch auf
das Festhalten eines fltichtigen Moments, auf die Wiedergabe
eines kostbaren Augenblicks an. Das Gemalde wird zum voll-
kommenen Schnappschuss: Eine Geste, eine K6rperhaltung,
ein beseelter Blick fangen das Geheimnis der Weiblichkeit ein.
Der Brief ist sicher ein Liebesbrief
(das Portrat des Mannes
auf der Riickseite des Deckels der geoffneten Schmuck-
dose weist darauf hin), doch das Bild will keine Geschichte
erzahlen, sondern etwas zeigen: den Augen-Blick der Liebe.

49
Jean-Honoré Fragonard
ie junge, nach der Mode der Zeit gekleidete Frau halt das
Doe in dem sie liest, auf schickliche Weise, wie sie
etwa auch eine Teetasse zum Mund fiihren wiirde: mit nur vier
Fingern, den kleinen ganz leicht abgespreizt. Lesen ist nun
etwas Leichtes, beinahe Schwebendes: keine Spur mehr von
mthsamer Ergritindung des verborgenen Schriftsinns. Dem
Maler gelingt es, im Augenblick des Lesens zwei Blicke ein-
zufangen: den aufmerksam auf die Zeilen des Buches gehefte-
ten Blick und einen frei schwebenden, der sich in den Gefiih-
len und Traumereien verliert, die durch die Lektiire entstehen.

50
Jean-Honoré Fragonard, 1732-1806

Lesendes Madchen, 1770


National Gallery of Art, Washington

51
Jean-Etienne Liotard, 1702-1789

Madame Adelaide, 1753, Uffizien, Florenz

52
Jean-Etienne Liotard
er vom Reisefieber befallene Genfer Birger Jean-Etienne
|5 ae gehort zu jenen Kinstlern des 18. Jahrhunderts,
die von Stadt zu Stadt und von Hof zu Hof zogen und nur auf
die Wahrung ihrer Freiheit bedacht waren. Seit seinem funf
Jahre wahrenden Aufenthalt in Konstantinopel, dem heutigen
Istanbul, trug er turkische Gewander, eine Pelzmtitze und
einen Bart bis zum Girtel, was ihm den Beinamen »peintre
turc« einbrachte und sich aufserordentlich positiv auf den Ver-
kauf seiner Bilder auswirkte. Auch die von ihm portratierten
Damen, darunter sch6ne Leserinnen, kleidete er mit Vorliebe
in tiirkische Gewander. Er selbst legte die Tracht erst dreizehn
Jahre spater, anlasslich seiner Hochzeit, ab. Die Starke von
Liotards Pastellmalerei liegt in der reizvollen Kombination aus
osmanischem Zauber und weiblicher Schonheit.

Sy)
Stunden der Wonne
Empfindsame Leserinnen

»Empfindsam<, 1768 von Lessing als Ubersetzung


des englischen »sentimental« vorgeschlagen,
wurde im deutschen Sprachraum rasch ein
Schlusselwort fiir die neuen burgerlichen Formen
der Kultivierung und Intensivierung des Gefihls-
lebens. Eine zentrale Stellung bei der Pflege der
Empfindsamkeit des Einzelnen kam der Lekttre
zu: Lesen bedeutete nun, sich in die zu Papier
gebrachten Empfindungen eines anderen hinein-
zuversetzen und dabei den Horizont der eigenen
Empfindungsméglichkeiten auszuloten und zu
erweitern.
Franz Eybl
on der Lektiire ist die junge Frau vollig gefangen. Unbe-
merkt ist ihre Bluse von der Schulter herabgerutscht.
Die rechte Hand, die hin und wieder mit dem feinen Halsband
spielt, driickt sie gegen die Brust. Das Buch nimmt ihr den
Atem - weil die Geschichte so spannend ist, dass sie unbedingt
wissen muss, wie sie weitergeht? Mag sein, vor allem aber,
weil die Lekture ihr Einfuhlungsvermogen anregt und steigert.
Diese innere Erregung der Leserin spiegelt sich sogar in
der Bewegtheit des Buchschnitts wider; die umgeblatterten
Seiten liegen nicht mehr exakt aufeinander, und ihre feinen
Zwischenraume bieten sich dem Spiel des Lichtes dar.
Das Bild bezieht seinen Reiz aus der Darstellung innerer
Bewegung bei gleichzeitiger aufserer Passivitat. Sein Maler,
Franz Eybl, der seine Heimatstadt Wien sein ganzes Leben
lang nicht verliefs, war in den Kreisen der dortigen Gesell-
schaft bestens als Genre- und Portratmaler eingefiihrt.
Er hatte einen Hang zu Idyllen aus der Alltagswelt des Bieder-
meier. So schildern seine Bilder weniger Handlungen als
Zustandsformen des Innenlebens, deren Darstellung im
19. Jahrhundert zur grofsen neuen Herausforderung der
Malerei wird. Wir sehen eine junge Frau, die ergriffen ist von
der Lekttire. Ihre Gedanken scheinen so arglos zu sein wie
ihr Gesicht anmutig und unschuldig.

56
Franz Eybl, 1806-1880

Lesendes Madchen, 1850,


Osterreichische Galerie im Belvedere, Wien

57
Gustav Adolph Hennig
as als Umschlagmotiv einer »Geschichte des Lesens«
bekannt gewordene Bild des klassizistischen Leipziger
Malers wirkt durch seine Schlichtheit, die inm zugleich Moder-
nitat verleiht. Der monochrome Hintergrund halt die Lesende
von jedem sozialen, kulturellen oder religidsen Bezug fern,
der etwas ber ihre Herkunft und Motivation verraten wurde.
Das Schwarz des streng gescheitelten Haares wiederholt sich
im Einband des Buches, das die Lesende vor ihrer Brust halt.
Obwohl die demiitig niedergeschlagenen Augen des Madchens
und ihre Lesehaltung unwillkurlich an ein Gebetbuch denken
lassen, scheint es sich weniger um ein bestimmtes Buch als
um die Abstraktion »Buch« zu handeln, so andeutungsweise
ist es gemalt. Die auf die angewinkelten Knie gestiitzten, tiber
Kreuz gelegten Hande drticken eine starke Befangenheit aus,
die sich in den schmalen Gesichtsztigen des Madchens und
ihren aufeinandergepressten diinnen Lippen wiederholt.
Trotz seiner ausdrucksstarken Farbe ist das breite Gewand
der Lesenden mit dem geometrischen Halsausschnitt und
dem nur angedeuteten Faltenwurf
von grofser Schlichtheit und
lasst nichts von dem weiblichen Korper, der darunter verbor-
gen ist, ahnen. Aller AufS§enbezug und alle Bewegung ist in eine
Wendung nach innen zurickgenommen.
Angesichts der barocken Fille an Themen und Motiven,
die die besagte »Geschichte des Lesens« von Alberto Manguel
uber ihren Gegenstand ausbreitet, erscheint die spréde und
asketische Umschlagfigur zunachst wie eine Fehlbesetzung.
Und doch geht gerade von ihrer Weltferne und Innerlichkeit
eine gewisse Verfiihrung aus — als waren die Riickzugswiinsche
empfindsamer Leserinnen und Leser bei ihr gut aufgehoben.

58
a

Gustav Adolph Hennig, 1797-1869

Lesendes Madchen, 1828,


Museum der Bildenden Kiunste, Leipzig

59
Anselm Feuerbach, 1829-1880

Paolo und Francesca, 1864, Schack-Galerie, Mtinchen


Anselm Feuerbach
uf seinem Weg durch das Inferno der Gottlichen Komédie
begegnet Dante dem Liebespaar Francesca da Rimini
und Paolo Malatesta; die beiden hatten sich des Ehebruchs
schuldig gemacht und waren in flagranti von Francescas Ehe-
mann ertappt und getotet worden. Auch unter den Bedingun-
gen der HOlle hat das Verlangen der beiden Liebenden nicht
nachgelassen, wie Francesca Dante berichtet: »Wir lasen eines
Tages zum Vergntigen von Ritter Lancelot, wie ihn die Liebe
drangte; alleine waren wir und unverdachtig ... Als wir gelesen,
dass in seiner Liebe er das ersehnte Antlitz kissen musste,
hat Paolo, der mich niemals wird verlassen, mich auf den
Mund gekiisst mit tiefem Beben. Kuppler war das Buch und
der’s geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«
Mit Dantes Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert fand
diese Szene auch Eingang in die Malerei. Dargestellt wurde
mit Vorliebe die dramatische Zuspitzung der Dreiecksge-
schichte: der Kuss der Liebenden, wahrend der dupierte
Ehemann mordsiichtig im Hintergrunde lauert. Nichts davon
auf Feuerbachs Gemalde: Glaubt man den zeitgenOssischen
Betrachtern, so zeigt es das Versunkensein der Liebenden bei
ihrer gemeinsamen Lektire — ihre Zusammengehorigkeit in
Einklang, Stille und Kontemplation.
Schaut man als heutiger Betrachter genauer hin, entdeckt
man jedoch, dass Paolo gar nicht liest, sondern unter Einsatz
von Armen und Beinen gerade einen Annaherungsversuch
unternimmt. Sie hingegen halt in der Lekttire inne und wird
sich ihm wohl im nachsten Moment zuwenden - und das
Vergniigen siegt tiber die Empfindsamkeit.

61
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Die Suche nach sich selbst
Passionierte Leserinnen

Passionierte Leserinnen und Leser erliegen sehr


leicht und nur zu gern der Versuchung, Lesen und
Leben gieichzusetzen. Flaubert lasst seine arme
Madame Bovary daran sogar zugrunde gehen:
Sie ist nicht nur das Opfer falscher, kitschiger
Bucher, sondern auch einer Selbsttauschung, die
sie Bucher mit einem Orakel verwechseln lasst -
als ware die Wahrheit eine von andern fertig zube-
reitete Speise, die wir nur aus dem Regal zu neh-
men brauchen, um sie dann zu verzehren. Lesen
ist Initiation zum Leben und Anreiz, aber es mit
dem Leben selbst zu verwechseln heifst, inm seine
Heilkraft zu nehmen und aus einer Leidenschaft
eine Quelle des Leidens zu machen.
Sir Edward Burne-Jones
A; der zum Kreis der englischen Symbolisten gehérende
Maler und Zeichner Burne-Jones das Bild der auf einem
Sofa liegenden, in ein Buch vertieften Katie Lewis begann, war
sie vier, als er es fertigstellte, ganze acht Jahre alt. Katie war die
jungste Tochter des Staranwalts George Lewis, der prominen-
te Kunstler wie John Singer Sargent, Oscar Wilde, Lawrence
Alma-Tadema und James McNeill Whistler verteidigte und
ein enger Freund des Malers war. Burne-Jones, dessen Kin-
der bereits erwachsen waren, tiberschittete die reizende und
aufgeweckte Katie mit illustrierten Briefen, in denen er ihr
lustige Geschichten erzahlte und sich noch einmal kindlichem
Schabernack hingab. Gemitlich auf eine Couch geflazt, mit
offenem, etwas unordentlichem Haar und hochgerollten
Armeln, vollig von ihrer Lekttire absorbiert, zeigt sein Bild
das junge Madchen als passionierte Leserin. Die Geschichte,
der zumindest im Augenblick Katies ganze Aufmerksamkeit
gilt, ist nicht irgendeine altersgerechte Kleinmadchenlekttre,
sondern die romantische und blutige Legende vom heiligen
Georg, der gegen den Drachen kampft und ihn besiegt; sie
zahlte zu Burne-Jones’ Lieblingserzahlungen und ist Thema
einiger seiner Bilder. Und Katie liest nicht nur von Rittern,
sie sieht auch aus, als entstammte sie einer fernen Zeit. Wie
ein junger Knappe des Mittelalters liegt sie versunken auf der
Couch.

65
Ramon Casas i Carbo
eeinflusst von Manet, Whistler und Degas, schuf der
katalanische Maler und Zeichner Casas i Carbo nicht nur
Gemalde, die ihn zum Chronisten seiner Epoche machten,
sondern er entwarf auch zahlreiche Werbeplakate. Casas reiste
gerne und viel, in die USA und nach Kuba, und war Mitbegritin-
der eines Kiinstlerlokals, das zum Sammelbecken der Avant-
garde in Barcelona wurde.
Die Pose der von den Anstrengungen eines Ballvergniigens
erschopft auf den Divan gesunkenen jungen Dame, die ein
zerlesenes Buchlein oder Heft in der Hand halt, in das sie wohl
zur Entspannung hineingeschaut hat, verwendete Casas auch
als Plakatmotiv fiir die von ihm illustrierte Wochenschrift
»Pél & Ploma«. Sie wurde von dem Kunstkritiker Miguel Utrillo
redigiert und erschien zwischen Juni 1899 und Dezember
1903. Auf einem Werbeplakat ftir die Zeitschrift halt die in
einen gigantischen rosafarbenen Schal verpackte und noch
frisch und unternehmungslustig aussehende junge Dame
einen Brief in den Handen, den sie in der Tat auch gerade
liest. Auf beiden Versionen des Motivs ist Lesen eine Art Snack
zwischen den grofsen Lebensmahizeiten. Wie die wirklichen
Existenzktinstler wissen, muss man nicht immer auf die
grofsen Inszenierungen warten; in den kurzen Intermezzi
steckt oftmals mehr vom Geschmack und Gewicht der Welt.
Es sind die Momente, in denen man das Leben spit.

66
Ramon Casas i Carbo, 1866-1932

Jove decadent (després del ball), 1895,


Museu de Montserrat, Montserrat

67
Edouard Manet, 1832-1883

Die Lektiire, 1868, Musée d’Orsay, Paris

68
Edouard Manet
a lecture«, so der Originaltitel des Bildes, kann neben dem
| ei Leseakt auch das laute Vorlesen meinen, das im
Laufe der Jahrhunderte immer mehr an Bedeutung verlor.
Dem 1865 entstandenen Portrat seiner ganz in Weifs gekleide-
ten Frau Suzanne hat Manet die Figur des vermutlich gemein-
samen Sohnes Léon Koelin-Leenhoff allerdings erst Jahre
spater hinzugefiigt und dafiir den homogenen weifslichen
Hintergrund an einer Stelle aufgerissen.
Die Stimme des Sohnes, der seiner Mutter vorliest, dringt
gewissermafsen aus dem Off an ihr Ohr; ansonsten jedoch
bleiben die beiden auf dem Bild ohne jede Beziehung.

69
James Jacques Tissot
ange Zeit iberdauert hat die Angewohnheit, Kindern
| each Die Idylle der trauten Vorlesestunde am von
einem dicht belaubten Baum tberwolbten Schattenplatz
hat der Maler hier allerdings mit zahlreichen Fragezeichen
versehen. Das Raubtierfell im Vordergrund, an dem sich das
Kind emporhangelt, korrespondiert mit dem dunklen Weiher
hinter der Wiese. Es ist, als hatte die Schreckensdimension
so vieler harmlos anmutender Kindergeschichten auf die
Umgebung tibergegriffen. Auch Stille kann unheimlich sein.
Tissot hat dieses Motiv mehrfach verwendet. Auf einem
ahnlichen Bild ist das Kind von der Lektiire gefangen und
nicht wie hier von etwas, das wir nicht sehen, abgelenkt.

70
James Jacques Tissot, 1836-1902

Stille, undatiert, Privatbesitz

al
tat
Sean
eo i:
James Abbott
McNeill Whistler
i) in Amerika geborene, in London wirkende und sich als
Pariser fuhlende Maler und Radierer Whistler betitelte
seine Gemalde gewohnlich nach der vorherrschenden Farb-
stimmung: »Nocturne. Blau und Gold: Valparaiso<, »Arrange-
ment in Grau und Schwarz Nr. 1: Bildnis der Mutter des
Kunstlers« oder einfach auch »Venedig in Turkis«, »Amsterdam
in Topas«, »Bretagne in Opal«. Uber die zuletzt genannten
Ansichten schrieb Marcel Proust, sie hatten ihn in einen un-
beschreiblichen Zustand nervoser Unruhe versetzt; niemals
hatten Manet oder Degas ihn im gleichen Mafse erregt.
Whistler selbst waren die Impressionisten zu realistisch;
er hielt die Symbolisten fiir moderner.
Seinen zahlreichen Kaltnadelradierungen gab Whistler hin-
gegen geradezu prosaische Titel. »Reading by Lamplight« zeigt
eine junge Frau im Profil, welche im Schein einer Petroleum-
lampe, eine Tasse Kaffee oder Tee neben sich, in einem Buch
liest, das sie beangstigend dicht vor ihre Augen halt. Da das
Licht der Tischlampe ausreichend hell zu leuchten scheint,
bleibt eigentlich nur die Deutung tibrig, dass die Lesende stark
kurzsichtig ist. Vielleicht ist sie aber auch nur hoch konzent-
riert und duldet so wenig Distanz wie moglich zwischen sich
und dem Buch. Leserin und Buch verschmelzen, zwischen
ihnen hat nichts mehr Platz. Diese Leserin braucht nur einen
gemiitlichen Stuhl, Licht und eine fesselnde Lektiire fur das
kleine Gltick.

Tid
Charles Burton Barber
port und Tiere, darunter Htihner und Entenfamilien, vor
allem aber Hunde, etwa die Lieblingshunde der K6nigin
Victoria, waren die bevorzugten Themen von Charles Burton
Barber. Die chinesisch anmutende Teetasse auf dem Bild
mag daran erinnern, dass der Mops wohl aus China zu uns
kam. Mit der Mode der Chinoiserie hielt er auch Einzug in die
Burgerhauser und wurde nicht nur als porzellanene Mops-
figur, sondern auch als hochgeztichteter Schmusehund bald
zum Liebling insbesondere alleinstehender Damen.
Auf diesem Bild ist er dagegen der Begleiter einer selbst-
bewussten jungen und schoénen Frau.

74
Charles Burton Barber, 1845-1894

Lesendes Madchen mit Mops, 1879,


Privatbesitz

US)
vis Corinth, 1858-1925

Lesendes Madchen, 1888,


Privatbesitz

76
Lovis Corinth
ach einem mehrjahrigen Studienaufenthalt in Paris,
der aber nicht zu einer intensiveren Begegnung mit den
Impressionisten fiihrte, geht Corinth im Winter 1887/88
nach Berlin. Dort nimmt er den Kiinstlernamen »Lovis« an;
es entstehen sein erstes, beinahe noch altmeisterliches Selbst-
portrat und dieses sch6ne Bild einer lesenden jungen Frau.
Es besticht durch seinen ungewohnlichen Blickwinkel, eine
Dreiviertelansicht von hinten, das sogenannte »profil perdu«.

HU
Théodore Roussel, 1847-1926

Lesendes Madchen, 1886/87,


Tate Gallery, London

78
Théodore Roussel

Is der franzosische Maler Théodore Roussel sein fast


zweieinhalb Quadratmeter grofses Gemalde »The Reading
Girl« 1887 in seiner neuen Heimat London ausstellte, entriis-
tete sich der Kritiker des konservativen »Spectator« tiber die
»schamlose Willktir«, mit der sich der Maler hier an einem
schénen Thema vergreife. Besonders emporte den idealis-
tischen Kritikergeschmack die Banalitat des Sujets: Weder war
die Frau eine Venus und ihre Nacktheit damit mythologisch
uberhoht noch las sie in einem anstandigen Buch. Denn der
Lesestoff, den die junge Frau beinahe gleichgiltig uber ihr
Geschlecht halt, das sich, unsichtbar, genau im Bildzentrum
befindet, ist eine Illustrierte. Wir sind im Medienzeitalter
angekommen, von dessen ersten Rezipientinnen wir hier eine
kennenlernen — leidenschaftslos entspannt, beinahe gelang-
weilt.
Die Entrtistung, die Roussels Bild ausloste, ging auf kalku-
lierte Provokation zurtick. Wie die Zeitgenossen rasch bemerk-
ten, bezog Roussel sich auf Manets Gemalde »Olympiax, das
gut 20 Jahre zuvor vor den Stockschlagen zornentbrannter Be-
sucher durch zwei Wachter geschiitzt werden musste. Es zeigt
ein Freudenmadchen, das den Besuch eines Kunden erwartet.
Nicht an Skandaltrachtigkeit, wohl aber an Banalitat gelang es
Roussel, den grofsen Manet zu tibertreffen. Denn statt irgend-
eine Geschichte anzudeuten, zeigt er sein neunzehnjahriges
Modell, wie es lassig fiir ihn posiert. Einzig der kunstvoll uber
die Riickenlehne des Stuhls drapierte Kimono bringt Exotik
ins Bild.

HE)
Vincent van Gogh
ie viele Maler vor ihm, halt van Gogh nicht den Vorgang
des Lesens selbst, sondern den Zustand seines Nach-
wirkens fest — wenn der Blick sich von den Zeilen des Buches
geldst hat und das soeben Gelesene in den Gedanken des
Lesers sein Echo und seine Fortsetzung findet. Ungewohnlich
hingegen ist, dass van Goghs Lesende den Blick vom Betrach-
ter des Bildes weg in eine unbestimmte Ferne richtet; der auf
den Arm gesttitzte Kopf charakterisiert sie zudem als Melan-
cholikerin. Wie alle geistigen Tatigkeiten entzieht sich der
Vorgang des Lesens der naturalistischen Darstellung. Zeigen
kann uns der Maler lediglich eine Person, deren K6perhaltung
und Blick darauf schliefsen lassen, dass sie gerade liest. Tut
er dies, liegt die Suggestion nahe, dass das Lesen ein Vorgang
ist, der sich selbst gentigt — als wurde die Suche nach Wahr-
heit schon im Lesen an ihr Ziel gelangen. Van Goghs Madame
Ginoux scheint dieser verbreiteten Ansicht widersprechen zu
wollen: Das Lesen der Biicher, so kann uns diese einfache,
altere, schwermiitig-weise Frau sagen, liegt an der Schwelle
des geistigen Lebens; es fiihrt uns darin ein, aber es ist nicht
schon selbst das Ziel.
Die Bildnisse van Goghs hatten ohne ihre haufig iberra-
schende Farbgebung nicht den Offenbarungscharakter, der
uns immer wieder in Staunen versetzt. Hier ist es das beinahe
schreiende Gelb des Hintergrunds, das die Gestalt verdunkelt
und sie doch zugleich von Licht umflort erscheinen lasst. Er
wolle Mann und Frau eine »~Anmutung des Ewigen< geben, hat
van Gogh dazu bemerkt: Was einst durch den Heiligenschein
symbolisiert wurde, versuche er »durch das Strahlen und
Vibrieren der Farben« wiederzugeben.

80
Peter Severin Kroyer, 1851-1909

Rosengarten, 1893,
(Die Frau des Malers im Garten in Skagen)
Skagens Museum, Skagen

82
Peter Severin Kroyer
ach Aufenthalten in Paris, Spanien sowie in Italien liefs
|’ pe der geburtige Norweger Peter Severin Kroyer in der
danischen Kunstlerkolonie Skagen nieder. Dort entstanden,
insbesondere wahrend der kurzen nordischen Sommer,
zahlreiche, im Garten des Hauses gemalte Bilder, auf denen
ofter auch Marie Kr@yer, seine Frau, zu sehen ist. Den beiden
Liegesttihlen im Hintergrund hat Kroyer auch ein eigenes
Bild gewidmet; wiederum liegt im linken von beiden Marie,
mufiggangerisch in einer Zeitung lesend, wahrend der rechte
frei bleibt und wohl auf den Maler wartet, der nach getaner
Arbeit vor dem Motiv an die Seite seiner geliebten Frau zuruck-
kehren wird. Wir sptren den Einfluss der Impressionisten,
die so gerne draufsen malten und ihre Sujets unter frei-
em Himmel darstellten. Lesen in der Natur, in der Sonne
im Sommer, muss ftir die von langen Wintern gepragten
Norweger ein besonderes Vergniigen gewesen sein.

83
Vittorio Matteo Corcos
unge, traumerisch blickende, gedankenverlorene Frauen,
haufig in zweifelhaften Milieus, waren in den 1880er- und
1890er-Jahren die Spezialitat des florentinischen Malers
Vittorio Matteo Corcos. Corcos hatte vier Jahre in Paris studiert
und dort die Zweideutigkeiten der Belle Epoque kennenge-
lernt. Eine Reminiszenz an diesen Aufenthalt ist der Stapel mit
den drei gelben Banden der berithmten Buchreihe des Verlags-
hauses Garnier an der Seite der jungen Frau.
Die verwehten Blatter auf dem Boden sowie die abgelegten
Sommerrequisiten Strohhut und Sonnenschirm neben dem
Bicherstapel weisen auf ein erstes Thema des Bildes: die Ver-
ganglichkeit des Daseins. Auf den Sommer folgt der Herbst.
Doch ist es das, worum die Gedanken der jungen Frau kreisen?
Unter dem verwelkenden Laub finden sich auch rote Bliiten-
blatter; sie stammen von einer Rose, die der Buicherstapel vor
dem Herunterfallen von der Bank bewahrt. Die Rose, und gar
die rote, ist ein Symbol der Liebe; auch sie scheint verwelkt,
vergangen, dahin. Die Rose ist aber auch ein Symbol der Un-
schuld: In vielen Gegenden Europas wurde sie traditionell von
der Braut am Hochzeitsmorgen in einen Fluss geworfen, um
damit den Abschied vom Madchendasein zu symbolisieren.
Dies kOnnte das Thema des Bildes sein: Der Sommer, der
gerade Abschied nimmt, hat aus einem Madchen eine selbst-
bewusste Frau gemacht. Vielleicht hat dazu auch die Lektiire
beigetragen. So scheint die Rose als Lesezeichen gedient zu
haben. Die Art, wie die Leserin ihren Kopf beinahe trotzig
aufrichtet, zeigt jedenfalls: Sehnsucht nach Riickkehr in den
Zustand der Unschuld ist ihre Sache nicht. Der Titel des Bildes
fiihrt in die Irre: Diese Leserin ist keine Traéumerin.

84
Vittorio Matteo Corcos, 1859-1933

Trdume, 1896, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom

85
Kleine Fluchten
Einsame Leserinnen

Im 20. Jahrhundert wurde das Buch zum Massen-


produkt. Noch nie gab es so viele und so gtinstige
Bucher. Insofern hatte es ein Goldenes Zeitalter
des Lesens werden miussen. Die erntichternde
Bilanz, dass Bucher im Vergleich zu Zeitungen,
Film, Radio, Fernsehen, zuletzt Computer und
Internet immer mehr an Bedeutung verlieren,
stimmt so allerdings nur ftir die Manner. Frauen
lesen nicht nur mehr, sondern auch anders.
In Biichern suchen sie Antworten auf bedeutende
Fragen des Lebens. Aus der grofgen Passion sind
kleine Fluchten geworden.
Carl Larsson
iLur Reformbewegung des Jugendstils, der eine neue Asthe-
tik des Lebens schaffen wollte, lasst sich auch der schwe-
dische Maler Carl Larsson zahlen. Weit tiber seine Heimat
hinaus ist er mit Bilderbé6gen beriihmt geworden, in denen er
das Alltagsleben seiner Familie in einem Haus auf dem Land
zu einer durchgestalteten Lebenswelt verdichtet. Dem heuti-
gen Betrachter springt die Idylle eines Lebens fern der Rastlo-
sigkeit der grofsstadtischen Welt ins Auge. Larsson verfolgte
jedoch ein weit dartiber hinausgehendes Ziel: Er wollte den
wohnenden Menschen aus dem Futteral befreien, in das ihn
das 19. Jahrhundert eingesperrt hatte. Lange vor den avantgar-
distischen Bestrebungen der 1920er-Jahre propagierte Larsson
das preiswerte, nach aufsen hin gedffnete Haus, das uns das
Zusammenleben erleichtert und in dem sich in einer Atmo-
sphare voll Licht, Luft, Bewegung und Offenheit wohnen lasst.
Dabei bildete fiir ihn die bauerliche Kultur weiterhin das Fun-
dament der schwedischen Nation. Nach dem Zweiten Welt-
krieg jedoch entdeckten nicht nur die Schweden, dass das
larssonsche Ideal des unpratentidsen, familienorientierten
Wohnens, der hellen, dkonomisch m6blierten Raume exakt
zu den gar nicht bauerlichen Bediirfnissen und Bedingungen
des modernen Lebens passt. Ikea hat mit diesem Modell den
Weltmarkt erobert.
Das Bild zeigt Larssons Ehefrau Karin, die als Designerin an
der Auspragung des neuen Wohnstils entscheidenden Anteil
hatte. Nach einem harten Arbeitstag sucht sie Entspannung in
der Lektiire. Elektrisches Licht von einer Lampe, deren Schirm
Kaktusbltiiten nachempfunden ist, sorgt dabei fiir angenehme
Beleuchtung.

89
Vilhelm Hammershoi
er Kopenhagener Maler Vilhelm Hammershgi bezog
D 1898 mit seiner Frau eine grofiztigige Wohnung im ersten
Obergeschoss des aus dem 17. Jahrhundert stammenden
Hauses Strandgade 30. Vor dem Einzug liefs das Paar Turen,
Fenster, Tafelungen und Zierleisten einheitlich weifs, die zuvor
farbigen Wande und Decken grau streichen. Fortan sollte die
nur sparlich méblierte Wohnung ihrem Mieter als Laborato-
rium und Schauplatz einer so erstaunlichen wie ratseihaften
Interieurmalerei dienen.
Das »Interieur mit brieflesender Fraux ist eines der ersten
dort entstandenen Bilder. Unschwer lasst es sich als spiegel-
bildliche Verkehrung von Vermeers »Briefleserin in Blau«
erkennen (vel. S. 42). Statt mit dem Gesicht zum Fenster, steht
Hammershgis Briefleserin vor einer gedffneten Tur, die in das
angrenzende Zimmer fiihrt. Und statt vor einer Landkarte, die
bei Vermeer einen zweiten AufSenbezug herstellt, steht sie vor
einer weiteren, diesmal geschlossenen Tur. Hinter dieser Tur
wiederholt sich, wie ein spater entstandenes Bild zeigt, die
Konstellation: ein Raum mit zwei Turen, von denen eben-
falls eine offen steht. Alle Hinweise, die den Brief und seine
Leserin in den Kontext einer Geschichte einbetten, sind auf
Hammershois Bild getilgt. Die Zeit halt nicht fiir einen intimen
Augenblick den Atem an, sie steht dauerhaft still. Selbst der
Brief scheint aus dem Nirgendwo zu kommen - auch er gewis-
sermafsen eine Tur, die nur auf sich selbst verweist. Aus diesen
Raumfluchten ist eine Flucht, und sei es auf den imaginaren
Schwingen der Lekttire, von vornherein zum Scheitern verur-
teilt. Wo es aber nichts mehr zu erzahlen gibt, erstarren auch
die Lesenden zur leblosen Figurenstaffage.

90
HNaeaninnel

|
Atal

Vilhelm Hammershgi, 1864-1916

Interieur mit brieflesender Frau, Strandgade 30, 1899,


Privatbesitz

of
yam:

SRST
Ea

Robert Breyer, 1866-1941

Lesende, 1909, Privatbesitz

92)
Robert Breyer
rsprunglich als Breitformat gemalt, wurde das Bild auf
‘ie rechten Seite spater erheblich beschnitten und
konzentriert sich jetzt ganz auf die beiden modisch gekleide-
ten und frisierten Frauen. Obwohl sie nicht direkt miteinan-
der kommunizieren, sind beide mit demselben befasst. Ihre
Zusammengehorigkeit wird auch dadurch herausgestellt,
dass ihre aneinandergrenzenden Gestalten eine wellenformig
geschwungene Diagonale vom oberen linken zum unteren
rechten Bildrand bilden.
Wahrend die Frau im blauen Kleid schrag, beinahe vollstan-
dig abgewandt im Sessel sitzt, ihre Beine entspannt Uber die
Lehne baumeln lasst und sich dabei auf ihre Lektiire konzen-
triert, hat es sich ihre Freundin auf dem Boden bequem ge-
macht; dem Betrachter zugewandt, blattert sie in Biuchern und
Zeitschriften, die auf dem Teppich verstreut sind. Die beiden
typischen Lesehaltungen auf Gemdalden - Versunkenheit in
die Lektiire, abgewendet vom Betrachter, oder Hinwendung zu
diesem beim Aufblicken von der Lektiire — sind hier, auf zwei
Frauen aufgeteilt, harmonisch in einem Bild vereint. Es strahlt
Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit aus; seine Stimmung
ist gepragt von Vertrauen und Geborgenheit.

oy
Edouard Vuillard
nsbesondere Vuillards friihe, noch in den Neunzigerjahren
des 19. Jahrhunderts entstandenen Interieurszenen hin-
terlassen den Eindruck, als sei er als Maler angetreten, die
beriihmte programmatische Formulierung seines Mitscht-
lers und Berufskollegen Maurice Denis zu bestatigen, »dass
ein Bild, bevor es ein Streitross, eine nackte Frau oder eine
beliebige Anekdote wird, seinem Wesen nach eine ebene, in
einer bestimmten Anordnung mit Farben bedeckte Flache
ist«. Spater, wie in diesem Bild aus den 1920er-Jahren, wird
Vuillard die Radikalitat der Aufl6sung von Raumlichkeit und
Perspektive wieder zuriicknehmen: Nun werden die Ecken
nicht mehr verschliffen, die Gegenstande im Raum wieder aus-
gemalt; die Nivellierung von Raum, Menschen und Dingen in
einer ornamentalen Lebenshiille wird bis zu einem gewissen
Grad aufgegeben.
Noch immer aber ist es das Interieur, in dem sich Vuillards
Malerei bewegt. Doch haben die Enge und Beklemmung der
frihen Darstellungen einer gewissen Weitraumigkeit und
Luftigkeit Platz gemacht, und mit ihnen ist auch das Gefang-
nis der Nahe ohne Ausweg zerbrochen. In dieser gleichmafig
ausgeleuchteten Bibliothek scheint eine Beziehung unter den
Anwesenden moglich zu sein, die den Raum mit den Schwin-
gungen menschlicher Lebendigkeit erfiillt. Das in der Tir
lehnende Madchen hat mit ihrer Anwesenheit auch den Raum
zum angrenzenden Zimmer hin ge6ffnet. Trotzdem ist die
Intimitat der Situation gewahrt. Wie viele seiner Zeitgenossen
macht Vuillard uns klar, dass im Innenleben und der Intimitat
das Unheimliche und der Schrecken lauern k6nnen.

94
Edouard Vuillard, 1868 - 1940

In der Bibliothek, 1925, Privatbesitz

95
Félix Vallotton
st fiir Vuillard das Interieur Heim und Arbeitsort, so fiir
{ese Malerfreund aus der Nabis-Gruppe, den gebirtigen
Genfer Félix Vallotton, eine Buhne menschlicher Leiden-
schaften und Leiden. Hier werden die unerbittlichen Kampfe
zwischen den Geschlechtern ausgetragen, die sich noch in
der Welt der Gegenstande bekunden, die den Innenraum
moblieren.
Das alles fehlt in »Leserin mit gelber Kette«; die Psycho-
kulisse ist abgebaut und die Bedrangnis der gelassenen
Betrachtung eines Buches mit Bildern weitraumiger Land-
schaften gewichen. Mag auch die Szenerie noch Rudimente
einer Buhnensituation aufweisen — fiir einen Moment zu-
mindest ist Ruhe eingekehrt und hat das harmonische Drei-
eck aus Blick, Armen und Buch uber die Tragikomédie der
menschlichen Beziehungen gesiegt. Valloton zeigt uns eine
verschmitzt lachelnde Frau, die in sich selbst zu ruhen scheint.

96
Félix Vallotton, 1865-1925

Leserin mit gelber Kette, 1912,


Privatbesitz

oF:
Suzanne Valadon, 1867-1938

Weiblicher Akt, 1922,


Musée d’Art Moderne de la Ville, Paris

98
Suzanne Valadon
arie-Clémentine Valadon, genannt Suzanne, kam von
der Tatigkeit als Modell, beispielsweise fiir Renoir und
Toulouse-Lautrec, zur Malerei. Die Autodidaktin hat den
weiblichen Akt endgiiltig von der falschen Aura der Salon-
malerei befreit und den Katalog der Posen durch eine ge-
malte Nacktheit ersetzt, die so naturalistisch wie expressiv ist.
Valadon gibt den kunstlerischen Zugriff auf den weiblichen
K6rper nicht auf, befreit inn aber von dem Doppelspiel aus
Erhohung und Erniedrigung der konventionellen Aktmale-
rei. Ihre Bilder verleihen dem weiblichen K6rper eine eigene
Prasenz und Ausstrahlung, ohne sich auf einen gangigen
Schonheitskanon oder das Moment der Erotik zu beziehen.
1931 malt die mittlerweile 66-jahrige Malerin ein Altersbildnis
von sich selbst mit nackten Brusten — zu dieser Zeit ein ab-
solutes Novum.
Die Frau auf unserem Bild hat die Bettdecke zurtickgeschla-
gen und sich auf das Laken gesetzt. Am Bettpfosten hangt die
abgelegte Garderobe. Entspannt blattert sie in einem Heft.
Wie die Frau auf Hoppers neun Jahre spater entstandenem
Bild »Hotel Room« (vgl. S. 107) scheint auch sie sich in einem
Hotelzimmer aufzuhalten, wartet vielleicht auf einen Lieb-
haber. Anders als Hoppers existenziell unbehauste Reisende
vermittelt sie jedoch den Eindruck, hier ein, und sei es nur
sehr vortibergehendes, Obdach zu haben. Das Bettzeug,
dessen Farben die ihrer Haut aufnehmen, und der rote
Teppich zu ihren Fuf$en rahmen den nackten Korper ein
und geben ihm Schutz und Halt.

99
Gwen John
wen John war eine der grofsen englischen Malerinnen
des 20. Jahrhunderts. Den Titel »The Convalescent«, die
Genesende, verwendete sie selbst fiir ihr Bild; es ist eines aus
einer Serie von zehn Gemalden, die um 1920 entstanden sind
und in obsessiver Wiederholung immer das gleiche Motiv
der lesenden Rekonvaleszentin zeigen, die manchmal statt
des Briefes auch ein Buch in den Handen halt. Diese Fassung
hat Gwen John wohl fiir Isabel Browser, eine enge Freundin,
gemalt, die sich zu der Zeit im Krankenhaus befand. Wir sehen
eine sehr schwach anmutende junge Frau, die mide wirkt und
gleichzeitig entschlossen. Gwen John kommt es weniger auf
die aufsere Erscheinung der Frau als auf ihre intensive Prasenz
an. Der z6gerliche Stil deutet darauf hin, dass sich die Malerin
wie ihre Figur in einem Zustand der Erschépfung befindet —
als bediirfte es eines aufsSergewohnlichen Kraftaufwandes, um
sich vor der Gefahr des Scheiterns in Sicherheit zu bringen.
In der Neurasthenie, einer Erschopfungsreaktion, die mit
einer Uberempfindlichkeit der Sinnesorgane, nervéser Reiz-
barkeit und gesteigerter Selbstaufmerksamkeit einhergeht,
sahen viele Zeitgenossen Gwen Johns einen Empfindungszu-
stand, welcher der modernen Zeit und ihrer Kunst gleicher-
mafsen entspricht. Der Schriftsteller Marcel Proust ging davon
aus, dass in solchen Fallen das Lesen helfen und die Rolle
einnehmen kénnte, die ansonsten der Nervenarzt spielt.
Der Kranke bedarf eines Antriebs von aufgen, doch muss
sich dieses Eingreifen zugleich in ihm selbst vollziehen. Das
aber, so Proust, ist genau die Definition des Lesens, und nur
des Lesens. Es wirkt so als Heilmittel, das uns in Phasen der
Ersch6pfung Geisteskraft und Willensstarke zurtickgibt.

100
Gwen John, 1876-1939

The Convalescent, 1923/24,


Fitzwilliam Museum, University of Cambridge

101
sla:

I\= 193301936 =
Th Pea

Cagnaccio di San Pietro,


eigentl. Natalino Bentivoglio Scarpa, 1897-1946

Bildnis der Signora Vighi, 1930/36, Privatbesitz

102
Cagnaccio di San Pietro
& agnaccio (zu Deutsch »Klaffer«) di San Pietro war der
Kunstlername von Natalino Bentivoglio Scarpa. Nachdem
er sich Anfang der Zwanzigerjahre vom Futurismus gelést
hatte, zielte seine Malerei auf Objektivitat im Sinne der Neuen
Sachlichkeit ab. Einfltisse von Otto Dix und insbesondere
Christian Schad, den er wohl auch personlich kannte, sind
unverkennbar.
Das kuhle und distanzierte Bildnis der Frau des venezia-
nischen Anwalts Vighi zeigt sie eingesperrt in ihrem burger-
lichen Salon. Die Nippesfiguren auf dem Tischchen kinden
von einer Lust am Kindlichen; vermutlich deuten sie auf eine
amourose Beziehung zwischen dem Htindchen — dem Ma-
ler namens klaffer — und der Anwaltsgattin hin, deren rote
Kleiderfarbe in Kamm und Kehllappen des Gockels wieder-
kehren. Wahrscheinlich meint der Hahn den Ehemann; den
Ausdruck Hahnrei (»becco<) gibt es auch im Italienischen.
Das Kindliche der Figuren wiederholt sich im Gesicht der
Frau, in dem sich ein Ausdruck des Erstaunens, wie wir ihn
von Kinderbildern kennen, mit grofser Schwermut mischt.
Das Bild spricht von der schmerzlichen Erfahrung des Sich-
tiberlebt-Habens: Kind einer Zeit geblieben zu sein, die langst
passé ist und ohne dass noch die Chance einer Regenera-
tion bestiinde. Selbst das Lesen scheint hier seine heilende
Antriebskraft verloren zu haben.

103
Alexander Alexandrowitsch
Deineka
einekas Kunst stand von Anfang an im direkten Zusam-
menhang mit den gesellschaftlichen Umwalzungen in
Russland seit der Oktoberrevolution. Er sah sich nicht nur als
Chronist, sondern ebenso als Wegbereiter der entstehenden
kommunistischen Gesellschaft. Daftir suchte er nach neuen
Wegen der Realisierung jenseits der asthetischen Schablonen
des 19. Jahrhunderts und fand sie in Futurismus, Konstruk-
tivismus und.Fotomontage. Seine Illustrationen, Plakate,
dekorativen Wandbilder und Monumentalwerke waren auf
direkte Wirkung bis hin zur Propaganda aus. Dabei bevorzugte
er Themen wie das Pathos der Industriearbeit, die Revolutions-
geschichte, Korperkultur und Sport.
Neben der monumentalen und agitatorischen gibt es auch
eine intime, poetische Dimension in seinem Werk, fiir die
er dann doch auf Elemente des ausgehenden 19. Jahrhun-
derts zurtickgriff
und sich auf seinen Auslandsreisen von den
»burgerlichen« Kunststr6mungen seiner Zeit anregen liefs.
Anfang der Dreifsigerjahre malte er eine Reihe von Frauen-
portrats; sie zeigen junge Frauen, die zweifelsfrei mit beiden
Beinen in der Gegenwart stehen, im engen Sinne jedoch nicht
arbeiten: Sie baden, geniefsen Mutterfreuden oder lesen, wie
die htibsche, a4uferst konzentrierte, durch nichts ablenkbare
Frau auf unserem Bild. Sie als Botschafterinnen der sch6nen
neuen Welt zu bezeichnen wiirde zu weit fiihren; doch sind
sie Beleg vom Aufbruch der Frau in eine neue Unabhangigkeit
und Selbstbestimmtheit.

104
Alexander Alexandrowitsch Deineka, 1899 - 1969

Junge Frau mit Buch, 1934,


Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg

105
Edward Hopper
m Jahr 1931 malt der Amerikaner Edward Hopper ein fiir
seine Verhaltnisse riesengrof§es, annahernd quadratisches
Bild, »Hotel Room«. Eine Frau sitzt in Unterwasche auf einem
Hotelbett, die Schuhe hat sie abgestreift, das ausgezogene
Kleid sorgfaltig ber die Lehne eines grtinen Sessels gelegt,
Reisetasche und Koffer sind noch nicht ausgepackt. Die tief-
dunkle Flache unterhalb des gelben Rouleaus deutet auf die
Tageszeit: Es ist finstere Nacht. Die Frau, deren Gesichtsztige
im Schatten liegen, liest in einem Faltblatt, vermutlich einem
Fahrplan. Sie wirkt unentschlossen, beinahe ratlos, schutzlos.
Uber der starren Szenerie liegt die Melancholie der Bahnhé-
fe und anonymen Hotelzimmer, des Unterwegsseins, ohne
anzukommen, der Ankunft, die nur kurzer Haltepunkt vor
einer weiteren Abreise ist. Hoppers Fahrplanleserin ist tief in
Gedanken versunken. Doch ist diese Versunkenheit hier ohne
Gegentiber, sie ist existenziell unbehaust, ein Ausdruck des
Unbehagens in der modernen Kultur.
Hoppers Lesende sind nicht gefahrlich, sondern gefahrdet
- weniger durch eine ungeztigelte Einbildungskraft als von der
modernen Volkskrankheit Depression. Ein sieben Jahre spater
entstandenes Bild zeigt eine 4hnliche Frau in einem Zugabteil;
auch sie liest. Glaubt man diesen Bildern, so liegt iber dem
Lesen und den Leserinnen eine unheilbare Melancholie -
als hatte das frohliche Chaos, in die das Lesefieber die bis dato
so geordnete Welt des Lesens gestiirzt hatte, zuletzt dahin ge-
fiihrt, dass sie so gleichgtiltig geworden ist wie die Mienen von
Hoppers lesenden Frauen samt den Drucksachen, mit denen
sie sich ohne wirkliche Anteilnahme beschaftigen.

106
Edward Hopper, 1882-1967

Hotel Room, 1931,


Sammlung Thyssen-Bornemisza, Madrid

107
Eve Arnold, 1912-2012

Marilyn liest »Ulysses«, 1952,


Eve Arnold/Magnum Photos

108
Eve Arnold
Dy ® Frage »Hat sie oder hat sie nicht?« konnte schwerlich
unterbleiben. Hat Marilyn Monroe, die blonde Ikone des
20. Jahrhunderts, den »Ulysses« von James Joyce, die Ikone
der Hochkultur des 20. Jahrhunderts, das Buch, das viele ftir
die grofste Sch6pfung unter den modernen Romanen halten,
nun gelesen oder nur so getan? Denn wie aus anderen Bildern
der gleichen Fotosession zweifelsfrei hervorgeht, ist es dieses
Buch, in dem Marilyn hier liest.
Literaturprofessor Richard Brown wollte es wissen. Und
schrieb dreifgsig Jahre nach der Fotosession an die Fotogra-
fin, die es eigentlich wissen musste. Eve Arnold antwortete
prompt, sie habe Marilyn damals bereits im »Ulysses« lesend
angetroffen. Marilyn habe gesagt, dass sie den Ton des Buches
md6ge; sie wurde es laut lesen, um es besser zu verstehen,
aber es sei harte Arbeit. Als sie dann wie verabredet die Fotos
machen wollten, las Marilyn im »Ulysses«, wahrend Eve Arnold
den Film einlegte. Und auf diese Weise habe sie sie fotogra-
fiert. Wir brauchen Literaturprofessor Browns Fantasien nicht
zu folgen, Marilyn habe ihre Lektire des »Ulysses« fortgesetzt,
sich an einem College eingeschrieben und habe ihr Leben als
Filmstar und Model aufgegeben.
Folgen kénnen wir Literaturprofessor Brown allerdings in
seiner Empfehlung, den »Ulysses« so zu lesen, wie Marilyn es
vorgemacht habe: nicht hintereinander und von vorne nach
hinten, sondern episodisch, indem wir von Zeit zu Zeit das
Buch an unterschiedlichen Stellen aufschlagen und kleine
Lesestrecken zuriicklegen. Wir konnten diese unordentliche
Art des Lesens gerne auch die Marilyn-Methode nennen.
Professor Brown empfiehlt sie jedenfalls seinen Studenten.

109
Jean Baptiste Siméon Chardin,

Die Freuden des hduslichen Lebens, 1746,


Nationalmuseum, Stockholm
Stefan Bollmann

Eine Geschichte des Lesens in Bildern


vom 13. bis 21. Jahrhundert
esen bereitet Vergniigen und kann uns in andere Welten
eigen — das wird niemand bestreiten, der tiber der
Lekttire eines Buches einmal Raum und Zeit vergessen hat.
Dass Lesen aber auch Vergntigen bereiten soll, ja, dass sein
Zweck hauptsachlich im Reiz des Vergniigens bestehen soll,
ist eine relativ neue Ansicht, die sich vereinzelt im 17. und
dann starker im 18. Jahrhundert Bahn gebrochen hat.
Mitte des 18. Jahrhunderts malt der Franzose Jean Baptiste
Siméon Chardin ein Bild, das in Deutschland unter dem Titel
»Die Freuden des hauslichen Lebens« bekannt geworden ist.
Der franzosische Titel spricht genauer von »Les amusements
de la vie privée«, von den Unterhaltungen oder dem Miufsig-
gang des Privatlebens. Das Gegenteil von »amusements« sind
ndmlich nicht die Leiden, wie die deutsche Ubersetzung na-
helegt, sondern die Langeweile.
Das Bild zeigt eine Frau, die es sich in einem grofsen roten
Sessel mit hoher Ruckenlehne und geschlossenen Armleh-
nen, ein flauschiges Kissen im Rticken und die Fufse auf ei-
nem Taburett, gemiitlich gemacht hat. Zeitgenossen Chardins
glaubten in der damals modischen Kleidung der Frau, aber
besonders in der Art, wie sie das Buch in der linken Hand tiber

113
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

ihrem Schof halt, eine gewisse Nachlassigkeit entdecken zu


konnen.
Im Hintergrund des Bildes erblicken wir ein Tischchen mit
einem Spinnrad sowie eine Terrine und einen Spiegel; Letz-
tere befinden sich auf einer Kommode, deren halb offene Tur
weitere Biicher erahnen lasst. Doch sind diese Attribute des
hauslichen Lebens, die nicht alle von Vergniigen sprechen,
gegentiber der farbigen und lichten Erscheinung der Leserin
im Vordergrund recht unauffallig. Obwohl diese Frau, die bei
anderer Gelegenheit auch spinnen oder Suppe zubereiten
mag, das Buch einen Spalt offen halt, um die Lektiire an der
Stelle wiederaufnehmen zu k6nnen, wo sie sie unterbrochen
hat, ist sie beim Lesen nicht gestdért worden - etwa, weil der
Mann nach dem Essen oder die Kinder nach Schal und Mitze
verlangten oder auch nur die innere Stimme sie zu ihren haus-
lichen Pflichten rief. Die Leserin hat die Lekttire vielmehr aus
freien Sticken unterbrochen, um tiber das Gelesene nachzu-
denken. Ihr Blick, der nichts fixiert - auch nicht den Betrach-
ter des Bildes, der so auf sich selbst zurtickverwiesen wird -,
zeugt von frei schwebender Aufmerksamkeit, einer reflektier-
ten Innerlichkeit. Die Frau traumt das Gelesene fort und sinnt
dartiber nach. Sie liest nicht nur, sondern scheint sich ihr ei-
genes Bild von der Welt zu machen.
Etwa 15 Jahre spater malt Pierre-Antoine Baudouin, Pariser
wie sein Zeitgenosse Chardin, ebenfalls eine Frau, die Vergnti-
gen am Lesen findet. Baudouin war der Lieblingsmaler der
Marquise de Pompadour, die auf dem beriihmten Gemalde
seines Lehrers und Schwiegervaters, Francois Boucher, in
ihrem Boudoir gezeigt wird - auch sie bei der Lektiire, doch
ohne darin versunken zu sein, hingelagert auf ein luxuridéses
Bett, aber ausgehfertig zurechtgemacht, bereit, notfalls auch
den Konig zu empfangen.

114
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Baudouins Leserin hingegen macht den Eindruck, so bald


niemand mehr in ihr durch Baldachin und Paravent abge-
schirmtes Gemach einlassen zu kénnen oder zu wollen, es
sei denn den ertraumten, der sanften Narkose der Lekttire
entsprungenen Liebhaber. Das Buch ist ihr aus der Hand ge-
glitten, hin zu den anderen Dingen weiblichen Vergniigens:
Schof$Shiindchen und Laute. Rousseau hat im Hinblick auf
derlei Lektiire von Buchern gesprochen, die man nur mit ei-
ner Hand liest — die rechte, unter den Rock geglittene Hand
der verztickt im Sessel liegenden Frau mit dem aufgekn6pf-
ten Mieder macht deutlich, was er damit meinte. Auf dem
von links in die Szenerie hineinragenden Tisch befinden sich,
durcheinandergeworfen, Folianten und Karten, eine davon
mit der Aufschrift »Histoire de Voyage« (Geschichte des Rei-
sens), sowie ein Globus. Es bleibt offen, ob sie von einem
fernen Mann oder Liebhaber zeugen, der einst wiederkom-
men wird, oder nur die Achtlosigkeit meinen, mit der hier die
Gelehrsamkeit dem sinnlichen Vergntigen geopfert wird.
Obwohl Baudouins Bild entschieden frivoler und direk-
ter als Chardins Darstellung der Vergniigungen des Lesens
ist, konnte man meinen, es sei auch ungleich moralisieren-
der: Wie so viele Gemalde seiner und auch spaterer Epochen
warnt es vor den verderblichen Folgen der Lektiire. Aber das
ist in diesem Fall nattirlich nur Schein; in Wirklichkeit koket-
tiert Baudouin mit der Moral und benutzt sie als Ablenkungs-
manover. Indem er eine von ihren sinnlichen Traumereien
iiberwaltigte Frau in lasziver Pose zur Schau stellt, wendet er
sich an eine zunehmend scheinheilige Kundschaft, die, wie
Baudouins zeitgenéssischer Kritiker Diderot hellsichtig be-
merkte, aus »kleinen Abbés, jungen leichtbliitigen Advokaten,
dicken Finanzmannern und anderem Volk von schlechtem
Geschmack« besteht. Die von der Lektiire Verfiihrte jedenfalls

115
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

muss fiir etwas anderes herhalten; nicht um ihr Bild von der
Welt geht es, sondern um das ihrer Betrachter, die sich nur zu
gerne von etwas Liederlichkeit hinreifgen lassen.

Gefdhrliches Lesen
Andere soziale Milieus trieben mit solcher Moral nicht nur ihr
Spiel, sondern nahmen sie aufserst ernst. Als zu Zeiten Char-
dins und Baudouins das Lesefieber zu grassieren begann und
erst in der Metropole Paris, spater dann auch in den abgele-
generen Provinzen alle Welt und hauptsachlich die Frauen
ein Buch in der Tasche trugen, rief dieses die Zeitgenossen
irritierende Phanomen rasch Beftirworter wie Kritiker auf
den Plan. Erstere propagierten ein nutzliches Lesen, das die
»Lesewut«, wie man damals sagte, fiir Botschaften der Tugend
und fiir Bildungsmafsnahmen kanalisieren sollte. Ihre kon-
servativen Gegenspieler hingegen sahen im zuigellosen Lesen
lediglich einen weiteren Beleg fiir den unaufhaltsamen Verfall
von Sitte und Ordnung. So wollte beispielsweise der Schweizer
Buchhandler Johann Georg Heinzmann die exzessive Roman-
leserei gar neben der Franzésischen Revolution als zweites
Extrem des Zeitalters verstanden wissen, das »im Geheimen«
ebenso viel Ungliick unter die Menschen und Familien ge-
bracht habe wie die »schreckbare Revolution« 6ffentlich. Aber
auch die Fraktion der Aufklarer erkannte im enthemmten
Lesen vorrangig ein sozialschadliches Verhalten. Die Folgen
»geschmack- und gedankenloser Lekttire«, so der Kantianer
Johann Adam Bergk 1799, seien »unsinnige Verschwendung,
untiberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, grenzenloser
Hang zum Luxus, Unterdrtickung der Stimme des Gewissens,
Lebenstiberdruss, und ein friuher Tod« - kurz, ein Riickfall
aus burgerlichen Tugenden in aristokratische Laster, welcher
folgerichtig mit Verringerung der Lebenserwartung bestraft

116
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

wird. »Der Mangel aller kérperlichen Bewegung beym Lesen,


in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vor-
stellungen und Empfindungen«x, so der Padagoge Karl G. Bau-
er 1791, fuhre zu »Schlaffheit, Verschleimung, Blahungen und
Verstopfung in den Eingeweiden, die bekanntermaafsen bey
beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht ei-
gentlich auf die Geschlechtstheile wirkt« — wer viel liest und
wessen Einbildungskraft dadurch aufgestachelt wird, neigt
auch zur Onanie, wie wirja auf dem Bild von Baudouin bereits
beobachten konnten.
Doch konnten derlei Moralisierungen den Siegeszug des
Lesens, auch und gerade des weiblichen Lesens, nicht auf-
halten. Im Grunde hangt dies damit zusammen, dass die
Leselust, die zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert Europa,

LINKS: Pierre-Antoine Baudouin


Die Lektiire, um 1760, Musée des Arts Décoratifs, Paris
RECHTsS: Grabmal der Eleonore von Aquitanien, um 1204,
Abteikirche Fontevraud, Maine-et-Loire

17
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

aber auch Amerika erfasste, keine Revolution im eigentlichen


Sinne war, wie man eine Zeit lang meinte. Nattirlich gehort
der Wandel des Leseverhaltens in den Zusammenhang der
drei grofsen Umwalzungen, die der amerikanische Soziologe
Talcott Parsons (1902-1979) im Prozess der Herausbildung
moderner Gesellschaften beobachtete. Dazu zahlt neben der
Industrialisierung und Demokratisierung auch eine padago-
gische Revolution: eine Alphabetisierungswelle, die alle Be-
vélkerungsschichten erfasste, und die stetige Verlangerung
der Ausbildungszeit, die heute oft bis weit ins dritte Lebens-
jahrzehnt hineinreicht. Aber alle drei Prozesse, die das Lese-
verhalten nattirlich mitgestalteten, beschleunigten und voll-
endeten nur eine Tendenz innerhalb der Evolution des Lesens,
die sich tiber einen viel langeren Zeitraum hin auspragte.

Stilles Lesen
Fragt man nach dem Stein des Anstofses, der die Moralisierer
gegentiber den Erscheinungen des intensiven und exzessiven
Lesens derart aufbrachte, so kann dartiber die Wendung »im
Geheimen< Aufschluss geben, die der schon zitierte Buch-
handler Heinzmann verwendet hat, als er tiber die »Pest der
Literatur« dozierte. Denn »im Geheimen«x heifst nicht nur pri-
vat und damit nicht 6ffentlich, es heifgt auch der Kontrolle
durch die Gesellschaft und ebenfalls durch die nachste Ge-
meinschaft, etwa die Familien-, Haus- oder Religionsgemein-
schaft, entzogen. Moglich wurde dieser Kontrollverlust, der
in positiver Wendung eine intime, heimliche Beziehung zwi-
schen Buch und Leser bedeutet, durch die Praxis des stillen
Lesens.
Auch dieses lautlose Lesen ist ftir uns selbstverstandlich,
war es aber keineswegs immer. Um hier auf Irritationen zu
stofsen, mlissen wir noch weiter als bis ins 17. oder 18. Jahr-

118
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

hundert zurtickgehen. Die klassische Stelle dafiir findet sich


beim heiligen Augustinus, den das Leseverhalten des Mailian-
der Bischofs Ambrosius so verwunderte, dass er das Erlebnis
noch seinen gegen Ende des 4. Jahrhunderts entstandenen
»Bekenntnissen< anvertraute. Fand er ihn doch bei seinen zu-
meist unangektindigten Besuchen des Ofteren »still ins Lesen
versunken«< vor; denn Ambrosius las niemals laut. Beim Lesen,
so berichtet Augustinus, glitten seine Augen tber die Seiten,
und mit dem Herzen sptirte er nach dem Sinn. Seine Stimme
aber schwieg, und seine Zunge ruhte. Mehrere Erklarungen
gibt uns Augustinus fiir das sonderbare Verhalten des von
ihm verehrten geschaftigen Mannes. Zwei davon haben mit
der Knappheit der Zeit zu tun, die Ambrosius zur geistigen
Erholung bleibt: Will er in diesen kurzen Momenten nicht
abgelenkt werden, fragt sich Augustinus, oder doch nicht in
Erorterungen mit anderen Zuhorenden eintreten mtssen?
Und in der Tat: Gegentiber dem lauten spart das stumme
Lesen Zeit. Und es erméglicht dem Lesenden eine ungestor-
te Beziehung zum Gelesenen, das er auf diese Weise vor den
anderen verbirgt und zu seinem alleinigen Besitz macht.
Als Analphabet gilt uns heute nicht nur, wer nicht lesen
(und schreiben) kann, sondern auch, wer einen Text nur dann
zu verstehen in der Lage ist, wenn er ihn sich laut vorliest. Und
doch muss es eine Zeit gegeben haben, in der es sich genau
entgegengesetzt verhielt: wo das laute Lesen die Norm war,
als die uns heute das stille Lesen gilt. Zwar kannte die Antike
auch die Verinnerlichung der Lesestimme; doch blieb dieses
Leseverhalten damals ein Randphaénomen. Genauso wie wir
uns heute wundern, wenn jemand beim Lesen seine Stimme
erhebt, und sei es nur, dass er murmelt oder kaum horbar
die Lippen bewegt, und wir uns, wenn es sich um kein Kind
mehr handelt, insgeheim nach Griinden dafir fragen, muss

119
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

es in der Antike demjenigen ergangen sein, der nicht mit lau-


ter oder wenigstens leiser Stimme las. Bis weit ins Mittelalter
und, je nach Milieu, bis weit in die Neuzeit hinein war Lesen
beides, Denken und Sprechen, und es war vor allem ein Akt,
der sich nicht getrennt von der AufSenwelt, sondern mitten in
ihr, innerhalb der sozialen Gruppe und kontrolliert durch sie,
abspielte.
Die Emanzipation des stillen vom lauten Lesen vollzog sich
anfangs im Kreis klésterlicher Schreiber und tbertrug sich
erst spater auf universitare Kreise und die gebildeten Aristo-
kratien, um dann, mit dem Fortgang der Alphabetisierung,
ganz allmahlich auch auf andere Bevélkerungsgruppen tiber-
zugreifen. Das Grabmal der Eleonore von Aquitanien zeigt
die 1204 verstorbene KOnigin, gebettet auf den Deckel ihres
Sarkophags, wie sie mit beiden Handen ein aufgeschlagenes
Buch halt. Stilles Lesen, so erfahren wir aus diesem erstaun-
lichen Grabmal, konnte als Sinnbild himmlischer Freuden
gelten, insbesondere bei einer Frau, die sich zeitlebens als
Mazenin der Ktinste und Literatur ausgezeichnet und ihre
letzten Lebensjahre im Kloster verbracht hatte; Zeichen ftir
ein legitimes irdisches Vergniigen war es hingegen keines-
wegs. Heute wiirden wir von geistiger und sozialer Arbeit spre-
chen: Es ging um die mehr oder weniger kontrollierte Aneig-
nung eines mehr oder weniger breiten Kanons tradierter und
normativer Texte.
Wohl konnte sich auch die von Luther propagierte unmittel-
bare Beziehung des Einzelnen zur Gottheit auf das stille Lesen
berufen. Bereits Luther selbst aber, der gerade erst alte Ver-
mittlungsinstanzen abgeschafft hatte, wollte die Auslegung
des Schriftsinns nicht den Kiihnheiten tiberlassen, die sich
bei der privaten Bibellektiire einstellen kénnten, und berief
dementsprechend sofort wieder neue Vermittlungsinstanzen.

120
Rembrandt Harmensz van Rijn,

Alte lesende Frau, 1631, Rijksmuseum, Amsterdam

ala
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Erst am Ende des 17. Jahrhunderts und besonders mit dem


Aufkommen des ganz an der Frommigkeit des Einzelnen ori-
entierten Pietismus wird die individuelle Beschaftigung mit
der Bibel Pflicht fiir alle Glaubigen. Beriihmt geworden ist
die Alphabetisierungskampagne, die die lutherische Kirche
Schwedens mit staatlicher Untersttitzung zwischen 1686 und
1720 durchfiihrte. Der Erwerb von Lesefahigkeit wurde nicht
nur offiziell zur Bedingung fiir die Kirchenmitgliedschaft
erklart, sondern es durchkammten auch Kontrolleure das
Land, um den Kenntnisstand zu tiberprtifen. Doch nutzte die
so lesekundig gewordene Bevélkerung ihre neue Fahigkeit
keineswegs nur, um ihre Katechismuskenntnisse zu bewei-
sen, sondern erwarb zudem weltliche Kenntnisse. Vor allem
Frauen eigneten sich mithilfe einer von der Gesundheitsbe-
horde verteilten Broschtire elementares Wissen tiber Hygiene
und Saugiingspflege an, und als eine Spatfolge der Lesekam-
pagne ging die hohe Sauglingssterblichkeit in den folgenden
Jahrzehnten betrachtlich zurtick. Wenn mehr Kinder die ers-
ten Lebensjahre tiberlebten, brauchten die Frauen auch we-
niger Kinder in die Welt zu setzen, und die Entlastung vom
Gebarzwang verschaffte ihnen neue Freirdume, die sie etwa
zum stillen Lesen nutzen konnten. Dass Schweden bis heute
das Musterland der Fortschrittlichkeit ist, mag hier seinen
Ursprung gehabt haben.
Mit der Lesefahigkeit aber entwickelten sich neuartige
Verhaltensmuster persOnlicher Intimitat, welche die Legiti-
mitat sowohl
der kirchlichen als auch der weltlichen Obrigkeit
auf Dauer bedrohen sollten. Frauen, die damals lesen lern-
ten, waren in der Tat gefahrlich. Denn die Frau, die liest, er-
obert sich nicht nur einen Freiraum, zu dem nur sie selbst
und sonst niemand Zutritt hat, und verschafft sich dadurch
ein unabhangiges Selbstwertgeftihl; dartiber hinaus macht

122
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

sie sich ihr eigenes Bild von der Welt, das mit dem von Her-
kunft und Tradition vermittelten und dem des Mannes nicht
ubereinstimmen muss. Das alles bedeutet noch lange nicht
die Befreiung der Frau aus patriarchalischer Vormundschaft.
Wohl aber st6fst es die Pforte auf, durch die der Weg ins Freie
fuihrt.

Weibliches Lesen
Im Jahr 1631 hat Rembrandt eine alte lesende Frau gemalt
(das Bild ist bekannt als »Rembrandts Mutter«; manche wol-
len in der Gestalt die Prophetin Hannah erkennen). Das
machtige Buch auf dem Schofs der Greisin, das aus sich selbst
heraus zu leuchten scheint, ist auch aufgrund seiner hebrai-
sierenden Buchstaben als Altes Testament erkennbar. Die
runzlige Hand der Greisin liegt flach auf der aufgeschlagenen
Seite: Auf diese Weise markieren altere Menschen, denen das
Lesen Muthe bereitet, die gerade zu lesende Zeile. Die Gebarde
ist aber auch Ausdruck der intensiven Beziehung, die Rem-
brandts Lesende zu den Worten der Bibel hat; es scheint, als
wolle sie Sinn und Bedeutung des Gelesenen tief in sich auf-
nehmen.
Nicht nur diese Geborgenheit im Glauben gerat mit der
Aufklarung und dem Fortgang der Verbreitung des stillen
Lesens in eine Krise; die Biicher — oder gar nur das eine — bi-
f$en zudem ihre unbedingte Autoritat ein. Sie kunden nun
nicht mehr von unbezweifelbarer Wahrheit, sondern werden
mehr und mehr zu Instrumenten, die der Selbstwahrneh-
mung und Selbstdeutung ihrer Leserinnen und Leser dienen.
Gleichzeitig héren diese auf, auf immer die gleichen, von
Generation zu Generation weitervererbten Bucher zurickzu-
greifen; stattdessen erobern sie sich neuen, auch nichtreli-
gidsen Lesestoff, der innen empirische Kennitnisse, kritische

123
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Ideen und Lebenswiinsche vermittelt, die bislang aufserhalb


ihrer Reichweite lagen. Im protestantischen Norden Euro-
pas waren diese Tendenzen, wenn auch verhalten, schon seit
Langerem sichtbar. Auch davon legt die hollandische Malerei
des 17. Jahrhunderts in beredter Weise Zeugnis ab. In kei-
nem anderen Land Europas konnten zu dieser Zeit so viele
Burger lesen und schreiben wie in den Niederlanden, und
nirgendwo wurden so viele Biicher gedruckt wie hier. Reisen-
de wussten zu berichten, dass bereits Mitte des 16. Jahrhun-
derts die Alphabetisierung selbst die Bauern und das einfache
Volk erreicht hatte. Dabei war unter Frauen die Fertigkeit des
Lesens weiter verbreitet als die des Schreibens, welche noch
langer eine mannliche Domane blieb. Ein in den 166o0er-
Jahren entstandenes Gemalde des hollandischen Malers
Pieter Janssens Elinga zeigt ein Dienstmadchen, das in die

LINKS: Pieter Janssens Elinga, Lesende Frau, 1668/70,


Alte Pinakothek, Mtinchen
RECHTS: Ludwig Emil Grimm, Bettina von Arnim, um 1810

124
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Lekture eines Buches vertieft ist. Anders als Rembrandts lesen-


de Greisin wendet sie uns den Riicken zu - ein traditionelles
Zeichen fiir Weltabgewandtheit. Doch gilt ihre Versunkenheit
keineswegs dem Wort Gottes — der indiskrete Blick tiber ihre
Schulter in das aufgeschlagene Buch, zu dem der Maler den
Betrachter einladt, gab dem Zeitgenossen zweifelsfrei zu er-
kennen, in welche Art von Buch die Leserin vertieft war: in die
»schone Historie von dem Ritter Malegis, der das beriihmte
Ross Baiart gewann und viel wunderbare und abenteuerliche
Geschichten betrieb« - die niederlandische Umdichtung
eines mittelalterlichen Heldenepos, die zu den zur damaligen
Zeit aufSerst beliebten Ritterromanen zahlte. Einige Details
desGemaldes deuten darauf hin, dass der Malerdas Leseverhal-
ten der Frauals leichtfertig
und ungehorig kritisiert. So scheint
die Obstschalein Eile und untiberlegt abgestellt worden zu sein
und droht nun jeden Augenblick von dem gewolbten Polster
des Stuhles an der Wand herunterzurutschen; das Kissen, das
eigentlich fiir die Sitzflache jenes Stuhles gedacht ist, den die
Lesende des besseren Lichtes wegen naher an die drei Ober-
fenster herangertickt hat, wurde anscheinend unachtsam
auf den Boden geworfen. Die Pantoffeln, die wohl der Haus-
herrin gehoren, stehen unordentlich mitten im Raum ~- in
ihrem brennenden Wunsch, die Lektiire méglichst schnell
wieder aufzunehmen, diirfte das Dienstmadchen tber sie
gestolpert sein. Wir bekommen so den Eindruck, als nutze
das Madchen die Abwesenheit der Hausherrin aus, um seiner
Lesesucht zu frénen, statt mit Sorgfalt den Arbeitspflichten
nachzugehen, wie es die calvinistische Ethik verlangt hatte.
Ist die Herrin aus dem Haus, scheint die hausliche Ordnung
unverztiglich bedroht.

£25
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Anarchisches Lesen
Besonders zwei soziale Gruppen sind es, die zukinftig fur
den Umbruch des Leseverhaltens stehen werden: junge Intel-
lektuelle und wohlhabende Frauen. Beide waren auf der Su-
che nach neuen Texten; in erster Linie nicht einmal, um sie
gegen die alten Autoritaten durchzusetzen, sondern getrie-
ben von dem Bedirfnis nach privater und gesellschaftlicher
Selbstverstandigung. Beide Gruppen verfiigten uber relativ
viel freie Zeit: die jungen burgerlichen Intellektuellen, weil
sie in einer sozial immobilen Welt haufig von allen Aufstiegs-
chancen abgeschnitten waren; die Gattinnen und Tochter
des Burgertums, weil sie mit wachsendem Wohlstand uber
Dienstpersonal und infolgedessen auch tiber Freizeit, zumin-
dest aber Uber den Tag verteilte Zwischenzeiten verftigten,
die zur Lektiire genutzt werden konnten. Selbst Zofen und
Stubenmadchen bekamen etwas von diesem Zeitwohlstand
mit; das kostspielige Licht, um bei Dunkelheit zu lesen, war
im Haushalt der Herrschaft vorhanden, und zuweilen blieb
auch etwas Geld ftir die Leihbiicherei. (Die Buchpreise waren
noch um 1800 exorbitant hoch: Flr den Gegenwert eines
neuen Romans konnte sich eine Familie ein bis zwei Wochen
ernahren.)
Im Gegensatz zum gelehrten und niitzlichen Lesen der
Tradition hatte die neue Lekttirepraxis etwas Ungeziigeltes,
Wildes: So war sie stark auf die Steigerung der Einbildungs-
kraft der Lesenden zugeschnitten. Nicht die nach Stunden
und Tagen gerechnete Lesezeit war das Entscheidende, son-
dern vielmehr die Intensitat des emotionalen Erlebens, die
sich dabei einstellte. Uber die Erregung einzelner, bestimm-
ter Geftihle, wie Lust, Trauer oder Hingabe, hinaus waren die
Leserinnen und Leser stichtig nach dem Selbstwertgefiihl,
das die Lekttire hervorrief. Das genussvolle Erleben der eige-

126
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

nen emotionalen Bewegtheit war es, wonach sie verlangten;


denn es vermittelte ihnen ein neues, begliickendes Bewusst-
sein von sich selbst, das die Erfiillung der ihnen zugewiese-
nen sozialen Rollen ihnen niemals verschaffen konnte. Bei
ihrer direkten Umgebung blieb es meist ohne Resonanz, und
wenn doch, stief$ es schnell auf Widerstand. In Flauberts
»Madame Bovary« ist die Intensitat des durch Romanlektiire
ausgeldsten Glticksverlangens, aber auch die Uniiberwind-
lichkeit der sich geltend machenden Versagungen exempla-
risch dargestellt. Erst die Bucher, die Emma Bovary liest, ge-
ben ihr eine Vorstellung davon, was zu erleben moglich sein
musste; doch mit ihrer Wirklichkeit lasst sich der Anspruch,
den sie fortan an sich und das Leben stellt, nicht vereinba-
ren. So kommt es zur Katastrophe. Deren Unausweichlich-
keit ahnte man in der Mannerwelt schon seit Langem. Daher
wurden rasch neue Kanons erstellt; sie listen auf, was Versor-
ger und Erzieher an Lektire ftir zutraglich halten, damit die
Frauen, deren tberbordende Einbildungskraft hinlanglich
bekannt ist, nicht infolge verderblicher Lesesucht sich selbst
und ihre Manner gefahrden. Schon bald aber liefSen sich Leser
so gut wie Leserinnen in Sachen Lekttre nichts mehr empfeh-
len, geschweige denn vorschreiben, sondern lasen, was der
Markt hergab, und er gab immer mehr her. Auch beziiglich
der Frage, wie zu lesen sei, sprengte das reale Leseverhalten
die tberkommenen Ordnungsvorstellungen. Insbesondere
die weibliche Lekttire geschah unsystematisch, zerstreut,
nicht selten auch heimlich. Sie passte sich dem Tagesablauf
und den Licken an freier Zeit, die er lief$, an, wurde aber auch
von Launen, Gelegenheiten, Kapricen und den Moden des
belletristischen Marktes bestimmt.
Wie man sich den Lektiirealltag einer »genialischen«jungen
Vielleserin Anfang des 19. Jahrhunderts vorzustellen hat, kon-

127
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

nen wir einem Brief entnehmen, den Bettina von Arnim, die
Meisterin der fingierten Briefwechsel, im Namen ihrer Freun-
din Karoline von Giinderrode sich selbst geschrieben hat. Die
Schilderung des Zimmers der fiir geraume Zeit abwesenden
Bettina liest sich wie das Psychogramm einer wilden Leserin,
die in der Wahl ihrer Lektire und in ihren Lesegewohnheiten
in sch6nster Anarchie durch alle Zeiten, Stile und Gebiete
hindurchfahrt: »... in Deinem Zimmer sah es aus wie am Ufer,
wo eine Flotte gestrandet war. Schlosser wollte zwei grofse
Folianten, die er ftir Dich aus der Stadtbibliothek geliehen hat
und die Du schon ein Vierteljahr hast, ohne drin zu lesen. Der
Homer lag aufgeschlagen an der Erde, Dein Kanarienvogel
hatte ihn nicht geschont, Deine sch6ne erfundne Reisekarte
des Odysseus lag daneben und der Muschelkasten mit dem
umgeworfenen Sepianapfchen und allen Farbenmuscheln
drum her, das hat einen braunen Fleck auf Deinen sch6nen
Strohteppich gemacht ... Dein Riesenschilf am Spiegel ist
noch griin, ich hab ihm frisch Wasser geben lassen, Dein
Kasten mit Hafer, und was sonst noch drein gesaet ist, ist alles
durcheinander emporgewachsen, es deucht mir viel Unkraut
darunter zu sein, da ich es aber nicht genau unterscheiden
kann, so hab ich nicht gewagt, etwas auszureifgen; von Bu-
chern hab ich gefunden auf der Erde den Ossian, die Sacon-
tala, die Frankfurter Chronik, den zweiten Band Hemsterhuis,
den ich zu mir genommen habe, weil ich den ersten Band von
Dir habe... Siegwart, ein Roman der Vergangenheit, fand ich
auf dem Klavier, das Tintenfass draufliegend, ein Gliick, da
es nur wenig Tinte mehr enthielt, doch Du wirst Deine Mond-
scheinkomposition, tiber die es seine Flut ergoss, schwerlich
mehr entziffern. Es rappelte was in einer kleinen Schachtel
auf dem Fensterbrett, ich war neugierig sie aufzumachen, da
flogen zwei Schmetterlinge heraus, die Du als Puppen hin-

128
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

eingesetzt hattest, ich hab sie mit der Liesbet auf den Altan
gejagt, wo sie in den bliihenden Bohnen ihren ersten Hunger
stillten. Unter deinem Bett fegte die Liesbet Karl den Zwolften
und die Bibel hervor, und auch - einen Lederhandschuh, der
an keiner Dame Hand gehért, mit einem franzésischen Ge-
dicht darin, dieser Handschuh scheint unter Deinem Kopfkis-
sen gelegen zu haben.«
Unschwer lasst sich vorstellen, wie das konkrete Lesever-
halten dieser jungen Dame ausgesehen haben muss. Zu der
Freiheit, die sie sich herausnahm, gehorte es, »hin- und her-
zublattern, ganze Passagen zu lberspringen, Satze gegen den
Strich zu lesen, sie misszuverstehen, sie umzumodeln, sie
fortzuspinnen und auszuschmiicken mit allen méglichen
Assoziationen, Schltisse aus dem Text zu ziehen, von denen
der Text nichts weifs, sich ber ihn zu argern, sich tiber ihn zu
freuen, ihn zu vergessen, ihn zu plagiieren, und das Buch,
worin er steht, zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Ecke zu
werfen«.
Nein, voranstehende Formulierungen stammen nicht mehr
von Bettina von Arnim, sondern wurden tber 150 Jahre spa-
ter von Hans Magnus Enzensberger niedergeschrieben, um
den »anarchischen Akt« der Lektiire zu charakterisieren. Sie
beschreiben den Status quo des mittlerweile gangigen Lese-
verhaltens. Allerdings ist dieser freie, nicht reglementierte
Gebrauch von Biichern nicht selbstverstandlich, sondern hat
sich in einem langwierigen Prozess gegen eine dufserst geord-
nete und mit Zwangen beschwerte Praxis durchgesetzt. Die
letzten Anwalte einer Ordnung des Lesens sind heute Pada-
gogen und Geisteswissenschaftler. Zumal angesichts der Kon-
kurrenz, welche die audiovisuellen Medien den traditionellen
Druckerzeugnissen in Sachen Unterhaltung und Information
machen, scheinen sie auf verlorenem Posten zu stehen.

129
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Seit der prinzipiellen Liberalisierung des Leseverhaltens


zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert kann jeder nicht nur
uber das Was und Wie, sondern auch tiber den Ort der Lektiire
frei entscheiden. Nun geht es, wo immer man mochte: am
liebsten zu Hause, in den Sessel geflazt, im Bett oder auf dem
Boden liegend, aber auch im Freien, am Strand oder unter-
wegs, in Zug oder StrafsSenbahn. Bereits Mitte des 18. Jahrhun-
derts berichtete ein deutscher Reisenderaus der franzésischen
Metropole von den zahllosen Gelegenheiten des Lesens: im
Wagen, auf der Promenade, im Theater, in den Pausen, im
Café, im Bad, in den Laden beim Warten auf die Kundschaft,
am Sonntag vor der Hausttir auf einer Bank sitzend, gar beim
Spazierengehen ... Der stille Blick ins Buch erzeugte eine Aura
der Intimitat, die den Lesenden von seiner direkten Umwelt
trennte und ihn doch mittendrin sein liefs (wie Jugendliche
oder Jogger das seit einiger Zeit mit dem MP3-Player prakti-

LINKS: André Dunoyer Segonzac,


Sidonie-Gabrielle Colette, undatierte Fotografie, Privatbesitz
RECHTS: André Kertész, Hospice de Beaune, 1929

130
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

zieren); mitten im Trubel der Stadt und in Anwesenheit an-


derer konnte der Leser ungest6rt bei sich selbst sein. Heute
wappnen sich Singles besonders wahrend der Mahlzeiten ge-
gen die Auffalligkeit des Alleinseins mit spannender Lektiire,
einige wenige Leser bevorzugen sogar nach wie vor die Lesesa-
le der Bibliotheken, wo man noch in derselben Haltung liest
wie einst am Studierpult, aufrecht sitzend, das Buch vor sich
liegend, die Arme auf dem Tisch, in vollstandiger Konzen-
tration auf den Inhalt des Buches, méglichst ohne stérende
Gerausche zu verursachen. Die Bibliothek ist ein guter Ort,
um allein und doch unter Menschen zu sein, inmitten einer
Gemeinschaft Gleichgesinnter, in der sich jeder mit etwas be-
schaftigt, das ausschliefglich ihn angeht.

Im Bett lesen
Wenn es auch keinen privilegierten Ort der Lekttire mehr gibt,
so existieren doch bevorzugte Ruckzugsmoglichkeiten, die
der ungezuigelten und unbeschwerten Art des Lesens entge-
genkommen. Eine davon ist das Bett, das schon bei der Schil-
derung des Zimmers der Bettina von Arnim eine prominente
Rolle spielte. Als von Nacht zu Nacht aufgesuchte Schlafstatt,
die auch dem Lieben und dem Sterben dient, in dem die Men-
schen gezeugt und geboren werden, in das sie sich bei Krank-
heiten zuruckziehen und in dem sie gewohnlich ihren letzten
Atemzug tun, ist das Bett ein Ort im menschlichen Leben, wie
er existenzieller kaum denkbar ist. Im Verlauf der letzten Jahr-
hunderte ist es immer starker zum Schauplatz menschlicher
Intimitaét geworden. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts zeigen
mehr und mehr Gemalde die Lekttire im Bett als neue, typisch
weibliche Gewohnheit.
Als junges Madchen muss die franzésische Schriftstellerin
Colette, so wird sie spater in einem ihrer Romane erzahlen,

131
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

mit dem Vater, einem Kriegsveteranen, um die Lektire strei-


ten. Nicht dass dieser ihr bestimmte Biicher verbietet — Zwei-
fel daran, was die Leidenschaft der Liebe in den Romanen
mit dem gewoéhnlichen Leben zu tun habe und ob bestimm-
te Bucher in Kinderhande gehoren, dufSert eher die Mutter.
Der Vater hingegen greift sich alles Gedruckte, das irgendwo
herumliegt, und schleppt das Erbeutete in die Hohle seiner
Bibliothek, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Was Wunder, dass das junge Madchen friih lernt, die eigene
Lekttire vor dem Vater zu verbergen. Tief in die Kissen ihres
Bettes gesunken, liest Colette in jenen Buchern, die sie vor
den Handen des Vaters und den Augen der Mutter geschiitzt
hat. Das Bett ist ihre Zuflucht, im Bett zu lesen heifst, einen
Kokon der Geborgenheit um sich herum zu spinnen.
Colette wird diesem Leseplatz ihr ganzes Leben lang treu
bleiben. Uberall und in allen Lebensphasen versucht sie,
sich Orte und Zeitfenster zu erobern, in denen sie ungestért
sein kann: allein mit einem Buch. In den letzten Lebensjah-
ren, bedingt durch ihre Krankheit, verlasst sie das Bett kaum
noch, das sie nun zartlich ihr »Flofs« nennt. Im Bett empfangt
sie Besucher, feiert ihren 80. Geburtstag, liest und schreibt:
Dafiir hatte ihr die Prinzessin von Polignac eigens ein Pult
geschenkt, das genau tiber das Bett passte.
Der Fotograf André Kertész hat 1971 in den USA ein Buch
mit dem Titel »On Reading« publiziert. Es umfasst 65 Schwarz-
Weifs-Fotografien, die bis auf wenige Ausnahmen Menschen
bei der Lekttire zeigen, und kommt bis auf die Nachweise auf
der letzten Seite ganz ohne Text aus. André Kertész hat seine
Fotos von Lesenden auf der ganzen Welt aufgenommen, in
Paris und New York, in Venedig, Tokio, Kioto, Manila, New
Orleans, Buenos Aires und in einem Trappistenkloster. Das
alteste Foto zeigt drei 4rmlich gekleidete, vor Schmutz star-

232,
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

rende Kinder, zwei von ihnen barfuf&, die vor einer Mauer auf
dem Boden sitzen und in gr6fster Konzentration in ein Buch
schauen, welches das mittlere von ihnen auf den Knien hilt.
Das Foto ist 1915 in Ungarn entstanden, wo der 1894 gebore-
ne Fotograf als Andor Kertész aufwuchs und sich selbst das
Fotografieren beibrachte. Und doch ist die Botschaft von »On
Reading« nicht: Alle Welt liest alles Mégliche. Wohl wird bei
Kertész an allen Orten der Welt und in allen méglichen und
unmoglichen Situationen gelesen, immer aber ist der Leser
ein ganz besonderes, man ist beinahe versucht zu sagen »er-
lesenes« Individuum. Kertész’ Kamera isoliert ihn von seiner
Umgebung, so wie er sich von ihr fiir und durch den Vorgang
des Lesens isoliert. In der einsamen Masse ist er der introver-
tierte Einzelne, in der Menge der aufSengeleiteten Konsumen-
ten der innengeleitete MifsSigganger. Unverwandt schaut er in
sein Buch oder in die Zeitung und hinterlasst beim Betrachter
den Eindruck von Unangreifbarkeit.
Die bekannteste Fotografie von »On Reading«, welche die
Bildfolge beschliefSt, ist 1929 in einem Hospiz im burgun-
dischen Beaune entstanden. Auf dem perfekt komponierten
Bild sehen wir eine Greisin, die klein und zusammengesunken
auf einem Bett sitzt, ein Buch in den Handen haltend, in dem
sie aufmerksam und konzentriert liest. Die schweren dunklen
Balken und die gerafften hellen Vorhange eines Baldachins
verleihen der Szenerie etwas Theatralisches: Als ware der
Blick fiir einen Moment ungewisser Dauer freigegeben auf ein
bedeutsames Schauspiel, an dessen Ende sich die Vorhange
ein fiir alle Mal schlief$en werden. Natiirlich wiirde es einen
gewissen Unterschied machen, wenn die alte Dame statt etwa
in einem Gebetbuch in einem Drama von Racine oder gar
einem zeitgendssischen Skandalroman lesen wiirde, doch die
Frage, ob wir es mit einer frommen, gebildeten oder rebelli-

V33
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

schen Leserin zu tun haben, trifft nicht ins Zentrum dessen,


was das Foto zeigt (»Don’t think, look!«, soll Kertész gerne ge-
sagt haben). Und was sehen wir auf dem Foto? Eine alte Frau,
die in dem Bett, in dem sie tiber kurz oder lang sterben wird,
weder betet noch deklamiert noch rebelliert, sondern liest.
Lesen ist auf den Bildern von André Kertész eine existenziel-
le Gebarde, die sogar angesichts des bevorstehenden Todes
noch Bestand zu haben scheint. Es ist nicht nur Anreiz oder
Zeitvertreib, sondern hat seine eigene Wahrheit. »Man zieht
sich auf sich selbst zurtick, lasst den KOrper ruhen, macht sich
unerreichbar und unsichtbar fiir die Welt«, schreibt Alberto
Manguel in seiner »Geschichte des Lesens«. »Solitude en hau-
teur«, erhabene Einsamkeit, hat Colette, von der André Kertész
einige seiner und ihrer eindrucksvollsten Portrats gemacht
hat, diesen Zustand ein wenig ironisch genannt.

Die Intimitédt des Lesens


Lesen ist ein Akt der freundlichen Isolation. Lesend machen
wir uns auf taktvolle Weise unnahbar. Vielleicht ist es gerade
das, was die Maler seit langer Zeit an der Darstellung Lesender
reizt: Menschen in einem Zustand der tiefsten Vertrautheit zu
zeigen, der nicht ftir AufSenstehende bestimmt ist. Wurde der
Beobachter sich ihnen in Wirklichkeit nahern, ware dieser
Zustand augenblicklich bedroht. So gibt uns die Malerei zu
sehen, was wir eigentlich nicht sehen konnen, oder doch nur
um den Preis seiner Zerst6rung.
Wenn es einem Maler gelungen ist, Intimitat, die sich so
leicht und rasch verletzen lasst, in grof$tmoglicher Intensitat
und Integritat darzustellen, dann war es Vermeer. Viele der
wenigen Bilder, die er in seinem kurzen Leben gemalt hat,
zeigen junge Frauen, die in ihre gerade ausgetibte Beschafti-
gung vollstandig versunken sind, andere wurden darin gerade

134
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

unterbrochen. Das kénnen alltagliche Verrichtungen wie das


Umgiefsen einer Flissigkeit, das Abwiegen von Gold oder das
Anprobieren einer Kette sein, haufig haben sie auch mit Mu-
sik zu tun, und immer wieder handelt es sich um das Lesen
und Schreiben von (Liebes-) Briefen. So sehen wir die schwan-
gere Frau mit der blauen Jacke in die Lektiire eines Briefes ver-
tieft, den sie wohl von ihrem Mann bekommen hat; die Karte
von Sudostholland an der Wand im Hintergrund, die wir auch
auf anderen Gemdlden Vermeers finden, lasst den Abwesen-
den auch fur den Betrachter des Bildes gegenwartig werden
~ auf eine Weise jedoch, die mit der Innigkeit, in der er fiir die
Briefleserin prasent ist, schwerlich konkurrieren kann. Ihre
Lippen sind halb ge6ffnet, als wurde sie den Inhalt des Brie-
fes halblaut von sich hin sprechen — Hinweis auf die Intensi-
tat, mit der sie das Gelesene aufnimmt, vielleicht aber auch
fur die Muhe, die ihr die Entzifferung des Briefes macht. Wie
in einer schttzenden Hille ist diese Leserin in einer Aura der
Intimitat geborgen, die das so kleine wie genaue Gemalde in
seiner Ganze ausstrahlt. »Vermeer, dieser geheimnisvolle Ma-
ler«, heifst es einmal bei dem niederlandischen Schriftsteller
Cees Nooteboom, Vermeer »hatte etwas mit niederlandischen
Frauen angestellt, er hatte ihre Nuchternheit verzaubert, sei-
ne Frauen walteten tiber verborgene, verschlossene Welten,
in die nicht hineinzukommen war. Die Briefe, die sie lasen,
enthielten die Formel der Unsterblichkeit.«
Vier Jahrhunderte spater scheint von dieser Formel beina-
he nichts tibrig geblieben zu sein. 1931 malt der Amerikaner
Edward Hopper ein fiir seine Verhaltnisse riesengrofses, anna-
hernd quadratisches Bild, »Hotel Room«. Eine Frau sitzt in Un-
terwdsche auf einem Hotelbett, die Schuhe hat sie abgestreift,
das ausgezogene Kleid sorgfaltig tiber die Lehne eines grunen
Sessels gelegt, der hinter dem Bett steht, Reisetasche und

135
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Koffer sind noch nicht ausgepackt. Die tiefdunkle, beinahe


vollstandig schwarze Flache unterhalb des gelben Rouleaus
deutet auf die Tageszeit: Es ist finstere Nacht. Die Frau, deren
Gesichtsztige im Schatten liegen, liest nicht in einem Brief,
sondern in einem Faltblatt, vermutlich einem Fahrplan. Sie
wirkt unentschlossen, beinahe ratlos, und schutzlos. Uber
der starren Szenerie liegt die Melancholie der Bahnhofe und
anonymen Hotelzimmer, des Unterwegsseins, ohne anzu-
kommen, der Ankunft, die lediglich kurzer Haltepunkt vor
einer weiteren Abreise ist. Hoppers Fahrplanleserin ist so tief
in Gedanken versunken wie Vermeers Briefleserin; doch ist
diese Versunkenheit hier ohne Gegentiber, sie ist existenziell
unbehaust, ein Ausdruck des Unbehagens in der modernen
Kultur. Von der Aura der Intimitat ist nur mehr eine Moment-
aufnahme ausdrucks- und ortlosen Lebens geblieben.
Hoppers Lesende sind nicht gefahrlich, sondern gefahrdet
—- weniger durch eine ungeztigelte Einbildungskraft als von
der modernen Volkskrankheit Depression. Ein sieben Jahre
spater entstandenes Bild zeigt eine ahnliche Frau in einem
Zugabteil; auch sie liest - in einem gr6fserformatigen Falt-
blatt, wahrscheinlich irgendeiner Drucksache. Glaubt man
diesen Bildern, so liegt iber dem Lesen und den Leserinnen
nun eine unheilbare Melancholie —- als hatte das frohliche
Chaos, in die das Lesefieber die bis dato so geordnete Welt
des Lesens gesttirzt hatte, zuletzt dahin gefiihrt, dass sie so
gleichgtltig geworden ist wie die Mienen von Hoppers lesen-
den Frauen samt den Drucksachen, mit denen sie sich ohne
wirkliche Anteilnahme beschaftigen.
Eine konservative, zur Hame neigende Kritik wiirde die
Missvergntigtheit daraus ableiten, dass die Frauen aus der In-
timitat der geschtitzten Raume ausgebrochen sind und, gleich
den Mannern, in einer zusehends unpersonlicheren Welt um-

136
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

herirren, statt geduldig auf die Ruckkunft des Geliebten zu


warten, der immer mal einen Brief nach Hause schickt. Das
haben sie nun davon! Doch es gibt auch Zeugnisse ftir einen
anderen, selbstbewussten Umgang mit der neuen Situation,
der sich ihr stellt und gewachsen zeigt, statt einer wohl unwie-
derbringlich verlorenen Innerlichkeit nachzutrauern.
Ein Jahr vor seinem Tod, 1924, hat der in Lausanne gebo-
rene und in Paris tatige Félix Vallotton einen Halbakt gemalt,
dem er den Titel »Die niedergelegte Lekttire« gab. Von schwt-
ler Schlafzimmeratmosphare, die sich in den Jahrhunderten
zuvor mit der Darstellung im Bett liegender, entkleideter
Leserinnen verband, ist hier nichts mehr zu spuren. Festge-
halten ist der Augenblick nach der Lekttire: Das weggelegte,
noch zartlich von der Hand bertihrte Buch weist von der
Nacktheit der Frau weg auf deren Blick. Mit der Darstellung
einer ahnlichen Situation begann unsere Betrachtung: Auch

LINKS: Edward Hopper, Hotel Room, 1931,


Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid
RECHTS: Jan Vermeer (Vermeer van Delft), Briefleserin in Blau,
um 1663/64, Rijksmuseum, Amsterdam

LST,
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

Chardin hatte den Zeitpunkt unmittelbar nach der Lekttire


beziehungsweise im Anschluss an deren (frei gewahlte) Unter-
brechung festgehalten. Anders aber als in den »Vergnigungen
des Privatlebens« scheint die Leserin aufVallottons Bild nicht
so sehr in Gedanken dem Gelesenen nachzuhangen, als dass
sie den Betrachter mit ihrem direkten Blick fixiert.
Vor diesem Blick zergehen alle Traumereien, gleichgiiltig,
ob sie sich an Gelesenes oder Gemaltes kntipfen, ob sie aus
dem intimen Verhaltnis zwischen Buch und Leser oder Bild
und Betrachter aufsteigen. Es ist an dir, sagt dieser Blick, du
hast die Wahl. Es gibt keine Bestimmung, die sich aus irgend-
welchen Buchern herauslesen lasst. Das gilt ganz besonders
fiir rote Bucher, gehe es in ihnen nun um Liebe oder um Poli-

Félix Vallotton, Die niedergelegte Lektiire, 1924,


Musée des Beaux-Arts, Paris

138
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert

tik. Es gibt nur die Ungewissheit der Situation, die du genauso


wenig in der Hand hast wie ich. Wir leben im Hier und Jetzt.
Willst du mir ebenburtig sein, setze dich mit mir auseinander.
Ansonsten geh und stor mich nicht beim Lesen.
Die kleine Galerie dieses Buches mit Bildern von Leserin-
nen funktioniert wie ein imaginares Museum. Vor- und zu-
ruckblatternd, kann der Betrachter darin flanieren, Augen-
blicke erhaschen und Zusammenhange ersehen. Kurze
kommentierende Texte untersttitzen ihn dabei. Auch die Bil-
der des Lesens wollen gelesen werden.
Lesen, hat der Schriftsteller Jean-Paul Sartre gesagt, sei ein
freier Traum. Oftmals neigen wir dazu, in erster Linie den
fabrizierten Traum und weniger den schopferischen Akt zu
sehen. Und doch ist intensives Lesen genau das: Herausfor-
derung unserer schopferischen Freiheit. Wissen wir etwas mit
dieser Freiheit anzufangen? Stefan Bollmann

139
140
Anhang

Literaturhinweise

Enzensberger, Hans-Magnus: »Lust, allen alles zu sein. Deutsche


»Bescheidener Vorschlag zum Schutz Modelekttire um 1800«, hg. von Olaf
der Jugend vor derPoesie«, in: Reincke, Leipzig 1989
»Mittelmaf und Wahn«, Frankfurt
Manguel, Alberto: »Eine Geschichte
a. M. 1988
des Lesens«, Berlin 1998
»Geschichte des privaten Lebens«,
Proust, Marcel: »Tage des Lesens«,
hg. von Philippe Aries und Georges
Frankfurt a. M. 1978
Duby, Frankfurt a. M. 1991
Sternberger, Dolf: »Panorama oder
»Innenleben. Die Kunst des Interieurs.
Ansichten vom 19. Jahrhundert«,
Vermeer bis Kabakov«, hg. von
Frankfurt a. M. 1974
Sabine Schulze, Stadelsches
Kunstinstitut und Stadtische »Warum lesen? Ein Spielzeug zum
Galerie Frankfurt a. M. 1998 Lesen«, hg. von Christiaan L. Hart
Nibbrig, Frankfurt a. M. 1983
»Leselust. Niederldndische Malerei
von Rembrandt bis Vermeer«, »Die Welt des Lesens. Von der Schrift-
hg. von Sabine Schulze, Schirn rolle zum Bildschirm«, hg. von Roger
Kunsthalle Frankfurt a. M. 1993 Chartier u. Guglielmo Cavallo,
Frankfurt a. M. u. New York 1999

Wuthenow, Ralph-Rainer: »Jm Buch


die Biicher oder
Der Held als Leser«,
Frankfurt a. M. 1980

Bildnachweis

Agentur Focus, Hamburg: Seite 108 97, 110/111, 124 links, Umschlag-
Archiv fiir Kunst und Geschichte, ruckseite rechts
Berlin: Umschlagabbildung, 8 Bridgeman Art Library, Berlin: 6/7,
oben, 9 oben, 24, 26, 29, 30, 33, 64, 72, 82, 101, 130 links, 140
38, 42, 48, 51, 52, 54, 57, 59, 67, 68, Isolde Ohlbaum, Mtinchen: 10
75, 78, 81, 85, 92, 95, 98, 102, 105, Statens Museum for Kunst,
107, 112, 117 rechts, 124 rechts, Kopenhagen: 1
137, 144, Umschlagrtckseite links VG Bild-Kunst, Bonn 2014: 20, 105
und Mitte
Artothek, Weilheim: 8 Mitte,
8 unten, 9 Mitte, 9 unten, 15, 34, Weitere Nachweise tiber das
41, 44, 47, 60, 62, 71, 76, 86, 91, Bildarchiv des Insel Verlags

141
ANHANG

Register

Ambrosius, Bischof 119 Corcos, Vittorio Matteo 84


Arnold, Eve 109 Trdume 85
Marilyn liest »Ulysses« 108 Corinth, Lovis 77
Augustinus, hl. 119 Lesendes Madchen 76

Barber, Charles Burton 74 Dante Alighieri 21, 61


Lesendes Madchen mit Mops 75 Deineka, Alexander Alexandro-
Baroncelli, Margherita 28 witsch 104
Baroncelli, Maria 28 Junge Frau mit Buch 105
Baudouin, Pierre-Antoine 114f., 117 Denis, Maurice 94
Die Lekttire 117 Dix, Otto 103
Bauer, Karl G. 117 Eleonore von Aquitanien,
Benson, Ambrosius 31 Grabmal der 117, 120
Die lesende Maria Magdalena 30 Elinga, PieterJanssens 40, 124f.
Bergk, Johann Adam 116 Lesende Frau 41,124
Boucher, Francois 46 Enzensberger, Hans Magnus 129
Madame Pompadour 47 Eybl, Franz 56
Bovary, Emma 18f., 24, 63, 127 Lesendes Madchen 57
Breyer, Robert 93
Feuerbach, Anselm 61
Lesende 92
Paolo und Francesca 60
Brown, Richard 109
Flaubert, Gustave 20, 24, 63, 127
Browser, Isabel 100
Fragonard, Jean-Honoré 50
Buonarroti, Michelangelo 32
Lesendes Madchen 51
Cumdische Sibylle 33
Burne-Jones, Sir Edward 65 Georg, hl. 65
Portrdt von Katie Lewis 64 Grimm, Ludwig Emil 124
Bettina vonArnim 124
Cagnaccio di San Pietro 103
Bildnis der Signora Vighi 102 Hammershgi, Vilhelm 90
Casas i Carbo, Ramon 66 Interieurmit brieflesender Frau,
Jove decadent (després del ball) 67 Strandgade 91
Chardin, Jean Baptiste 113f., 138 Heinzmann, Johann Georg 116, 118
Die Freuden des hduslichen Hennig, Gustav Adolph 58
Lebens 112 Lesendes Madchen 59
Colette, Sidonie-Colette 130f., de Hooch, Pieter 39
132,134 Hopper, Edward 99, 106, 135f.
Hotel Room 107, 137

142
ANHANG

John, Gwen 100 Parsons, Talcott 118


The Convalescent 101 de Pompadour, Marquise 46, 114
Joyce, James 109 Portinari, Tommaso 28
Proust, Marcel 73, 100
Kertész, André 132f.
Hospice de Beaune 130 Raoux, Jean 49
Koelin-Leenhoff, Léon 69 DerBrief48
Kroyer, Marie 83 Rembrandt van Rijn, Harmensz
Kroyer, Peter Severin 83 36, 123f.
Rosengarten (Die Frau des Malers Alte lesende Frau 37, 121
im Garten in Skagen) 82 da Rimini, Francesca 61
Rousseau, Jean-Jacques 115
Larsson, Carl 89
Roussel, Théodore 79
Karin lesend 88
Lesendes Mddchen 78
Larsson, Karin 89
Lewis, Katie 65 Scarpa, Natalino Bentivoglio siehe
Lievens, Jan 36 Cagnaccio di San Pietro
Liotard, Jean-Etienne 53 Schad, Christian 103
Madame Adelaide 52 Tarquinius Superbus 32
Luther, Martin 120 ter Borch, Gerard 39
Malatesta, Paolo 61 Tissot,
James Jacques 70
Manet, Edouard 68, 69, 73, 79 Stille 71
Die Lektiire 68 Valadon, Suzanne 99
Manet, Suzanne 69 Weiblicher
Akt 98
Manguel, Alberto 58 Vallotton, Félix 96, 137
Margareta,
hl. 28 Die niedergelegte Lekttire 138
Maria Magdalena 28, 31 Leserin mit gelber Kette 97
Maria, Muttergottes 27 van der Goes, Hugo 28
Martini, Simone 27 Portinari-Altar 29
Verktindigungan Maria 26 van Gogh, Vincent 80
Monroe, Marilyn 109 L’Arlésienne 81
Ochtervelt, Jacob 39 Vermeer,
Jan 39, 43, 90, 134f.
DerLiebesantrag an die Briefleserin in Blau 42, 137
Lesende 38 Vuillard, Edouard 94
Ovid 32 In der Bibliothek 95

Whistler, James Abbott McNeill


65, 73
Reading by Lamplight 72

143
es ton te
eae
Frauen, die lesen, galten lange Zeit als
gefahrlich - denn lesend konnten sie sich Wissen
aneignen, das nicht fiir sie bestimmt war.
Ktinstler jedoch waren von jeher fasziniert von
ihnen und verewigten sie in meisterhaften
Werken aus allen Epochen ...
Feinsinnig und anregend fiihrt uns
Stefan Bollmann durch die Geschichte
weiblichen Lesens und erklart, warum
erofse Maler wie Rembrandt, van Gogh oder
Vermeer lesenden Frauen nicht
widerstehen konnten.

»Das perfekte Geschenk fiir alle


Frauen, die lesen — und fiir alle Manr
die lesende Frauen lieben.«
BRIGITTE

P6Z-VL0-L

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