Sind Gefahrlich: Frauen, Die Lesen
Sind Gefahrlich: Frauen, Die Lesen
| ELISABETH SAN
te DMANN
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Frauen, die lesen, galten lange Zeit als gefahrlich - denn lesend konnten sie
sich Wissen aneignen, das nicht fiir sie bestimmt war, und die enge Welt des
Heims, der Kindererziehung und der Hausarbeit mit der unbegrenzten Welt
der Gedanken und der Phantasie eintauschen. Doch wahrend es Jahrhunder-
te dauerte, bis es Frauen tatsachlich erlaubt war zu lesen, was sie mochten,
waren Kiinstler von jeher fasziniert von ihnen. Frauen, die ein Buch in Han-
den halten und tief in die Lektiire versunken sind, begegnen uns in meister-
haften und weltbertihmten Werken aus allen Epochen.
Stefan Bollmann fiihrt feinsinnig und anregend durch die Geschichte weib-
lichen Lesens und erklart uns, warum grofge Maler wie Corinth, Boucher,
Rembrandt, Tissot, van Gogh, Vermeer u. v. a. lesenden Frauen nicht wider-
stehen konnten.
Gs)
2. Auflage 2014
Insel Verlag
:
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Inhalt
Vorwort von
Elke Heidenreich
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<r
Il Intime Momente
Verzauberte Leserinnen
VI Kleine Fluchten
Einsame Leserinnen
87
Nachwort von
Stefan Bollmann
113
Literaturhinweise, Bildnachweis
141
Register
142
_ Elke Heidenreich
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
Kleine Fliegen!
ie Frauen waren in der Geschichte die Leserinnen, die
kleinen Fliegen, die ins Netz des geschriebenen Wortes
gingen, sie waren das Publikum«, schreibt Dubravka UgreSi¢
in ihrem Buch »Lesen verbotenx.
Waren? Wir sind es! Wir gehen immer noch ins Netz der
Geschichten, begeistert, wachen Verstandes, hungrig nach
der Leidenschaft der Worter. Neben uns die langweiligen
Manner, die wir anstofsen mtissen und denen wir sagen mius-
sen: »Nun lies das doch auch mal!« Wir verlieben uns nur
noch, wenn uns einer schone Briefe schreibt, gerade die Liebe
lebt aus Wortern, lasst sich herbeischreiben, grofs schreiben,
die Liebe, die Angst, das Alter, der Tod - im Netz der Sprache
finden wir, was wir brauchen, und lassen uns nur zu gern
einfangen. Auf den Scheiterhaufen der Inquisition brannten
vorwiegend Frauen und Bicher. Der Anteil geopferter Manner
ist daneben eher gering. Aber Frauen, die lesen und schrei-
ben konnten, die etwas wussten, und Bucher, in denen dieses
Wissen stand, die waren gefahrlich. Weg damit! Manner ver-
achten oft das geschriebene Wort — Staatsmanner, Diktato-
ren, Herrscher, Polizisten, Beamte. Frauen wickeln vielleicht
mal ein Bund Suppengriin oder einen Fisch in eine Zeitungs-
seite mit Gedichten, aber was ist das, fragt Dubravka UgreSic,
»im Vergleich mit der Bucherverbrennung unter dem chine-
sischen Kaiser Shihuangdi«?
Wer kennt schon den chinesischen Kaiser Shihuangdi?
Aber eine lesende Frau kann ja alles nachschlagen, und da
lernt sie: »Shih Huang Ti, 260-210 vor Christus, erzwang den
ersten chinesischen Einheitsstaat.« Und sofort sieht man die
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
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Jean-Jacques Henner, 1829-1905
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
sto
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
nur Manner lieben, die lesen, die plétzlich mit diesem Blick
hochschauen, von weit her kommend, weich, mit einem
Wissen nicht nur tiber sich, sondern auch tiber mich. Frau-
en lieben Manner, die lesen. Manner lieben aber in der Regel
keine lesenden Frauen. Und nur ganz selten lesen Manner
und Frauen zusammen. Dann landet man aber gleich in der
Holle — wir erinnern uns an Dantes »Gottliche Komédie«:
In der Holle trifft er Francesca, die ihm erzahlt, wie sie und
ihr Geliebter Paolo miteinander die Liebesgeschichte des
Ritters Lancelot lasen (dabei wurden sie tberrascht und ver-
dammt), und es heif$t: »Mehrmals beim Lesen mussten wir
die Augen erheben, es entfarbt’ sich unser Antlitz; doch eine
Stelle war’s, der wir erlagen. Die war es, wo der heifs begehr-
te Mund von solchem Liebenden gektisset wurde, da kiisste
dieser hier, der nie von mir getrennt sein wird, erbebend mir
den Mund. (...) An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«
Das ist eines der eher seltenen Dokumente tber das Lesen
zu zweit. Der wahre Leser liest allein. Aber Liebende lesen mit-
unter gern ihre Liebe, so wie jeder sich selbst in jedem Buch
liest.
In der wunderbaren kleinen Geschichte »Der unbelesene
Bucherfreund« von Max Frisch wird von einem Buchersamm-
ler berichtet, der nicht liest. Mit den Biichern sei es wie mit
den Kiissen, sagt er, »wir mtissen sie hiiten, damit sie nicht
unselten werden, nicht in Gewohnung ersterben, alles Er-
lebte verlangt ja viel Haltung, viel Geduld und Verzicht, viel
Strenge«. Was fiir ein bertickender Gedanke: dass alles Erlebte
Haltung und Strenge verlangt! Alles Erlesene auch, ohne dass
wir es damit zu ernst nehmen wollen: Es darf uns durchaus
auch unterhalten, aber ernst, still und streng mtssen wir zu-
nachst schon bei der Sache sein.
Aus dem Lesen erwachst Selbstvertrauen, aus dem Selbst-
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Harald Metzkes, *1929
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
DA
Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
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Uber das Gefahrliche, wenn Frauen zu viel lesen
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Wo das Wort wohnt
Begnadete Leserinnen
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Simone Martini
D arstellungen der Verktindigung an Maria waren im
14. Jahrhundert keine Seltenheit. Doch so wie Simone
Martini aus Siena hatte das vor ihm keiner gezeigt. Die Gewan-
der und Fligel des Engels sind in glanzendes Gold getaucht.
Seine Lippen sind leicht zum Sprechen ge6ffnet, und was er zu
sagen hat, steht auf Schriftbandern; eines davon fiihrt zu Mari-
as Ohr: »Sei gegriifst, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Siehe,
du wirst empfangen im Mutterleib. Fiirchte dich nicht, Maria.«
Schon zeitgendssischen Betrachtern des Bildes ist Marias
verschreckte Haltung aufgefallen. Es ist, als ob sie vor der Macht
der Worte des Engels in »ihre« Ecke ausweicht. In Marias Er-
schrecken liegt etwas von Abwehr, verbunden mit einer seltsa-
men Gleichgiiltigkeit. Fast als wollte sie sich von dem Gesche-
hen abwenden, rafft sie den Mantel vor der Brust zusammen.
Das rote Buch, Symbol ihrer Weisheit, in dem sie gerade
gelesen hat, halt sie mit dem Daumen einen Spalt offen. For-
mat und Ausstattung des Buches deuten darauf hin, dass es
sich um ein Stundenbuch handelt, das im spaten Mittelalter
von Wohlhabenden als individuelle Andachtsbicher fiir Laien
benutzt wurden und oftmals auch dazu dienten, Kindern das
Lesen beizubringen.
So sehen wir in dieser Verktindigung auch der Geburt von
etwas Neuem zu: Martinis Maria ist eine kluge Frau und langst
nicht mehr die naive Unschuldige, als die sie die Theologen
gerne sahen. Sie beherrscht etwas, das im Spatmittelalter
zur Gewohnheit der Gebildeten wird: still zu lesen und sich so
das Wissen aus freien Stiicken anzueignen ~ durch Lektiire und
Studium. Und wer so vertieft ist in ein Buch wie diese Maria, der
erschrickt schon mal, wenn man stort.
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Hugo van der Goes
ir sehen den rechten Seitenfltigel eines Altarbilds, das
der Genter Meister Hugo van der Goes im Auftrag des
Florentiners Tommaso Portinari gemalt hat. Das Triptychon
mit den gewaltigen Ausmafsen von zweieinhalb mal sechs
Metern gehort zu den beeindruckendsten Zeugnissen altnie-
derlandischer Malerei in Italien. Der Stifter Portinari leitete
zwischen 1465 und 1480 in Briigge das Handelshaus der
Medici und gab dort das fiir einen Altar in Florenz bestimmte
Werk in Auftrag. Wahrend die Haupttafel das Geschehen der
Gebutt Jesu zeigt, stellen die beiden Seitenfltigel das Stifter-
paar mit seinen Kindern dar. Dabei hat der Maler auf den da-
mals bereits veralteten Brauch zurtickgegriffen, die Stifter klei-
ner als ihre Schutzheiligen abzubilden; von den Figuren der
heiligen Margareta und Maria Magdalena, die hinter Portina-
ris Ehefrau Maria Baroncelli und ihrer erstgeborenen Tochter
Margherita aufragen, geht so eine gebieterische Strenge aus.
Die ganz in Rot gewandete heilige Margareta halt in ihrer
Linken ein aufgeschlagenes Buch. Doch blickt sie nicht auf die
Buchseiten; das Buch ist hier vielmehr Symbol des Glaubens
und erftillt zusammen mit dem Kreuz die Funktion eines Ab-
wehrzaubers. Dieser richtet sich gegen den Drachen zu Figen
der Heiligen, in dessen Maul wir einen ihrer beiden Pantoffeln
erblicken kénnen. Der Legende nach erhielt die Martyrerin
Margareta im Kerker Besuch vom Teufel in Gestalt eines Dra-
chen, der sich auf sie stiirzen wollte und sie in einer Version
der Geschichte sogar verschlang; doch Margareta konnte ihn
durch das Kreuzeszeichen bezwingen. Auf dem Altarbild von
van der Goes wird die schtitzende Wirkung des Kreuzes ver-
starkt durch den Verweis auf das Buch mit der Heiligen Schrift.
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Ambrosius Benson, um 1495-1550
30
Ambrosius Benson
as Salbgefafs, das die Maria Magdalena des Portinari-
Altars in ihrer Rechten halt, steht hier auf einem Tisch.
Vor allem dieses Attribut weist darauf hin, dass wir es auch
bei dieser lesenden jungen Frau mit einer Verkérperung der
Heiligen zu tun haben. Seit dem 13. Jahrhundert erfreute sich
die Figur der Maria Magdalena als Stinderin und Biiferin
grofser Popularitat. Mit ihr identifizierte man die Prostituierte,
der Jesus im Haus des Pharisaers ihre Sinden vergibt. Zuvor
hat sie seine Fufge mit Tranen benetzt, mit ihren Haaren ge-
trocknet und schliefslich gektisst und gesalbt — so berichtet es
das Lukas-Evangelium.
Das Buch in Verbindung mit Maria Magdalena taucht nicht
vor dem 15. Jahrhundert auf. Anders als die Attribute Toten-
kopf und Spiegel, die spater hinzutreten, steht es zunachst
nicht fiir die Zweideutigkeiten des weltlichen Lebens, sondern
im Gegenteil fiir deren Uberwindung durch ztichtige Kontem-
plation. Doch schon bald wird Maria Magdalena die kirch-
liche Sphare verlassen und als schéne, haufig gar nicht oder
kaum noch bekleidete junge Frau auf den Leinwanden wieder
auftauchen - gerne auch mit einem Buch in der Hand.
Ambrosius Benson, ein in Norditalien geburtiger und dann
als Freimeister in Briigge tatiger Maler, hat dem Zeitge-
schmack entsprechend haufig allegorische Frauenportrats,
darunter auch eine Reihe von Magdalenen gemalt. Sie wurden
nach Spanien und Italien exportiert und auf den Januar- und
Maimarkten in Briigge verkauft. Die htibsche junge Frau,
die andachtig in das in roten Samt eingeschlagene Buch blickt,
hatte fiir den zeitgenéssischen Betrachter die allegorische
Bedeutung eines Eheversprechens.
31
Michelangelo Buonarroti
ie Renaissance erweckte die Geschichten und Figuren der
Mythologie zu neuem Leben. In seinem gewaltigen Fresko
in der Sixtinischen Kapelle brachte Michelangelo Propheten
des Alten Testaments und heidnische Sibyllen zusammen.
Sibyllen waren die Prophetinnen der Antike: Frauen, die
kiinftige, meist erschreckende Ereignisse voraussagten. Ihre
Beinamen erinnerten an ihre Wirkungsstatte; so soll die
Cumiaische Sibylle in einer Orakelhohle in Cumae im italieni-
schen Kampanien geweissagt haben. Ovid erzahlt von dieser
Sibylle, Apollon habe sie mit Geschenken bestechen wollen,
um sie zu verfiihren. Als sie darauf
um so viele Lebensjahre
bat, wie eine Handvoll Staub Sandkorner enthalt, vergafs sie
zu wunschen, es sollten immerfort Jugendjahre sein. So ist sie
die langste Zeit ihrer tausend Lebensjahre eine gebrechliche
Greisin, bis ihre einst grofse und schéne Gestalt so winzig und
ausgezehrt ist, dass niemand mehr sie sehen kann und man
nur noch ihre Stimme erkennt. Michelangelo zeigt sie uns lange
vor diesem Endstadium. Zwar ist ihr Leib schon stark gealtert
und ihr Gesicht tief zerfurcht, aber ihre machtigen und musku-
l6sen Arme erinnern an die eines jungen, kraftigen Mannes.
Die bertihmteste Geschichte um die Cumaische Sibylle
handelt von den neun prophetischen Bichern, die sie Tarqui-
nius Superbus, dem letzten K6nig von Rom, zu einem hohen
Preis zum Kauf anbietet. Als dieser ablehnt, verbrennt sie erst
drei und dann nochmals drei, bis Tarquinius den vollen Preis
fiir die verbliebenen drei Bticher entrichtet. Aus einem dieser
weissagenden Biicher liest Michelangelos Sibylle, halb Hexe,
halb Gigantin, unser aller Zukunft; doch scheinen die Seiten
leer zu sein.
32
Lk
ia a
Intime Momente
Verzauberte Leserinnen
36
Rembrandt Harmensz van Rijn, 1606-1669
38
Jacob Ochtervelt
D: Brief war in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts
grofs in Mode gekommen. In keinem anderen Land
Europas konnten so viele Burger lesen und schreiben, und
der Schriftverkehr wurde in wirtschaftlichen und politischen,
aber auch privaten und intimen Beziehungen immer wichti-
ger. Handbiicher der Briefschreibekunst und kalligrafische
Musterbticher kamen auf den Markt; entscheidend fiir den
Erfolg von Briefschaften war nicht nur, die gemafse Ausdrucks-
weise zu wahlen, sondern auch lesbar und asthetisch anspre-
chend zu schreiben. Rasch begannen auch Briefschreiber
und -leser —- mehr schreibende Manner als Frauen und mehr
lesende Frauen als Manner - die Welt der Malerei zu bevél-
kern. Beruhmt sind die Bilder von Jan Vermeer, Gerard ter
Borch und Pieter de Hooch.
Das nebenstehende Gemalde gehort in diesen Umkreis und
geht zugleich daruber hinaus. Es ist eines der wenigen der
Zeit, das Medien in Konkurrenz miteinander zeigt — in diesem
Fall Buch, Brief und Gesprach. Offensichtlich wiederholt der
Mann in mundlicher Form den Liebesantrag, den er bereits
einem auf dem Tisch liegenden Brief anvertraut hat. Dass das
rote Briefsiegel gebrochen ist, deutet darauf hin, dass die Frau
den Inhalt zur Kenntnis genommen hat. Allerdings fahrt sie,
scheinbar ungeruhrt, in ihrer Lektire fort, die ihr wichtiger als
jeder schriftliche oder mundliche und auch jeder andere Ver-
kehr (man beachte das Bett im Hintergrund) zu sein scheint,
und das, obwohl sie einen alles andere als sproden Eindruck
macht. Das Bild zeigt: Die Frau geniefst die Aufmerksamkeit,
aber sie gibt dies nicht zu erkennen, indem sie sich in ihre
Lektiire vertieft —- oder wenigstens so tut, als ob.
39
Pieter Janssens Elinga
n die Lekttire eines Bestsellers der damaligen Zeit versun-
ken, wendet die Zofe dem Betrachter des Bildes den Riicken
zu. Statt ihren Arbeitspflichten nachzukommen, gibt sie ihrer
Leselust nach. Das genussvolle Erleben der eigenen emotio-
nalen Bewegtheit vermittelte den Leserinnen ein neues,
begliickendes Bewusstsein ihrer selbst, das sich bei der Erfiil-
lung der ihnen zugewiesenen sozialen Rolle niemals einstellte.
40
Pieter Janssens Elinga, 1623-1682
41
Jan Vermeer
ie mOglicherweise schwangere Frau steht am (unsichtba-
De Fenster und liest einen Brief, den sie wohl von ihrem
Mann bekommen hat. Die Karte von Stidostholland an der
Wand im Hintergrund verweist auf den abwesenden Schreiber.
Die Lippen der Frau sind leicht ge6ffnet, so als wurde sie den
Inhalt des Briefes halblaut vor sich hin sprechen — Hinweis
auf die Intensitat, mit der sie das Gelesene aufnimmt,
vielleicht aber auch auf die Mihe, die ihr die Entzifferung
des Briefes macht. Wie in einer schtitzenden Hille ist diese
Leserin in einer Aura der Intimitat geborgen.
43
a ORE
Residenzen des Vergntigens
Selbstbewusste Leserinnen
46
Francois Boucher, 1703-1770
47
Jean Raoux
ie franz6sischen Genremaler des 18. Jahrhunderts stehen
De der Tradition der hollandischen Malerei des 17. Jahr-
hunderts. Starker als ihren Vorlaufern kam es ihnen jedoch auf
das Festhalten eines fltichtigen Moments, auf die Wiedergabe
eines kostbaren Augenblicks an. Das Gemalde wird zum voll-
kommenen Schnappschuss: Eine Geste, eine K6rperhaltung,
ein beseelter Blick fangen das Geheimnis der Weiblichkeit ein.
Der Brief ist sicher ein Liebesbrief
(das Portrat des Mannes
auf der Riickseite des Deckels der geoffneten Schmuck-
dose weist darauf hin), doch das Bild will keine Geschichte
erzahlen, sondern etwas zeigen: den Augen-Blick der Liebe.
49
Jean-Honoré Fragonard
ie junge, nach der Mode der Zeit gekleidete Frau halt das
Doe in dem sie liest, auf schickliche Weise, wie sie
etwa auch eine Teetasse zum Mund fiihren wiirde: mit nur vier
Fingern, den kleinen ganz leicht abgespreizt. Lesen ist nun
etwas Leichtes, beinahe Schwebendes: keine Spur mehr von
mthsamer Ergritindung des verborgenen Schriftsinns. Dem
Maler gelingt es, im Augenblick des Lesens zwei Blicke ein-
zufangen: den aufmerksam auf die Zeilen des Buches gehefte-
ten Blick und einen frei schwebenden, der sich in den Gefiih-
len und Traumereien verliert, die durch die Lektiire entstehen.
50
Jean-Honoré Fragonard, 1732-1806
51
Jean-Etienne Liotard, 1702-1789
52
Jean-Etienne Liotard
er vom Reisefieber befallene Genfer Birger Jean-Etienne
|5 ae gehort zu jenen Kinstlern des 18. Jahrhunderts,
die von Stadt zu Stadt und von Hof zu Hof zogen und nur auf
die Wahrung ihrer Freiheit bedacht waren. Seit seinem funf
Jahre wahrenden Aufenthalt in Konstantinopel, dem heutigen
Istanbul, trug er turkische Gewander, eine Pelzmtitze und
einen Bart bis zum Girtel, was ihm den Beinamen »peintre
turc« einbrachte und sich aufserordentlich positiv auf den Ver-
kauf seiner Bilder auswirkte. Auch die von ihm portratierten
Damen, darunter sch6ne Leserinnen, kleidete er mit Vorliebe
in tiirkische Gewander. Er selbst legte die Tracht erst dreizehn
Jahre spater, anlasslich seiner Hochzeit, ab. Die Starke von
Liotards Pastellmalerei liegt in der reizvollen Kombination aus
osmanischem Zauber und weiblicher Schonheit.
Sy)
Stunden der Wonne
Empfindsame Leserinnen
56
Franz Eybl, 1806-1880
57
Gustav Adolph Hennig
as als Umschlagmotiv einer »Geschichte des Lesens«
bekannt gewordene Bild des klassizistischen Leipziger
Malers wirkt durch seine Schlichtheit, die inm zugleich Moder-
nitat verleiht. Der monochrome Hintergrund halt die Lesende
von jedem sozialen, kulturellen oder religidsen Bezug fern,
der etwas ber ihre Herkunft und Motivation verraten wurde.
Das Schwarz des streng gescheitelten Haares wiederholt sich
im Einband des Buches, das die Lesende vor ihrer Brust halt.
Obwohl die demiitig niedergeschlagenen Augen des Madchens
und ihre Lesehaltung unwillkurlich an ein Gebetbuch denken
lassen, scheint es sich weniger um ein bestimmtes Buch als
um die Abstraktion »Buch« zu handeln, so andeutungsweise
ist es gemalt. Die auf die angewinkelten Knie gestiitzten, tiber
Kreuz gelegten Hande drticken eine starke Befangenheit aus,
die sich in den schmalen Gesichtsztigen des Madchens und
ihren aufeinandergepressten diinnen Lippen wiederholt.
Trotz seiner ausdrucksstarken Farbe ist das breite Gewand
der Lesenden mit dem geometrischen Halsausschnitt und
dem nur angedeuteten Faltenwurf
von grofser Schlichtheit und
lasst nichts von dem weiblichen Korper, der darunter verbor-
gen ist, ahnen. Aller AufS§enbezug und alle Bewegung ist in eine
Wendung nach innen zurickgenommen.
Angesichts der barocken Fille an Themen und Motiven,
die die besagte »Geschichte des Lesens« von Alberto Manguel
uber ihren Gegenstand ausbreitet, erscheint die spréde und
asketische Umschlagfigur zunachst wie eine Fehlbesetzung.
Und doch geht gerade von ihrer Weltferne und Innerlichkeit
eine gewisse Verfiihrung aus — als waren die Riickzugswiinsche
empfindsamer Leserinnen und Leser bei ihr gut aufgehoben.
58
a
59
Anselm Feuerbach, 1829-1880
61
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Die Suche nach sich selbst
Passionierte Leserinnen
65
Ramon Casas i Carbo
eeinflusst von Manet, Whistler und Degas, schuf der
katalanische Maler und Zeichner Casas i Carbo nicht nur
Gemalde, die ihn zum Chronisten seiner Epoche machten,
sondern er entwarf auch zahlreiche Werbeplakate. Casas reiste
gerne und viel, in die USA und nach Kuba, und war Mitbegritin-
der eines Kiinstlerlokals, das zum Sammelbecken der Avant-
garde in Barcelona wurde.
Die Pose der von den Anstrengungen eines Ballvergniigens
erschopft auf den Divan gesunkenen jungen Dame, die ein
zerlesenes Buchlein oder Heft in der Hand halt, in das sie wohl
zur Entspannung hineingeschaut hat, verwendete Casas auch
als Plakatmotiv fiir die von ihm illustrierte Wochenschrift
»Pél & Ploma«. Sie wurde von dem Kunstkritiker Miguel Utrillo
redigiert und erschien zwischen Juni 1899 und Dezember
1903. Auf einem Werbeplakat ftir die Zeitschrift halt die in
einen gigantischen rosafarbenen Schal verpackte und noch
frisch und unternehmungslustig aussehende junge Dame
einen Brief in den Handen, den sie in der Tat auch gerade
liest. Auf beiden Versionen des Motivs ist Lesen eine Art Snack
zwischen den grofsen Lebensmahizeiten. Wie die wirklichen
Existenzktinstler wissen, muss man nicht immer auf die
grofsen Inszenierungen warten; in den kurzen Intermezzi
steckt oftmals mehr vom Geschmack und Gewicht der Welt.
Es sind die Momente, in denen man das Leben spit.
66
Ramon Casas i Carbo, 1866-1932
67
Edouard Manet, 1832-1883
68
Edouard Manet
a lecture«, so der Originaltitel des Bildes, kann neben dem
| ei Leseakt auch das laute Vorlesen meinen, das im
Laufe der Jahrhunderte immer mehr an Bedeutung verlor.
Dem 1865 entstandenen Portrat seiner ganz in Weifs gekleide-
ten Frau Suzanne hat Manet die Figur des vermutlich gemein-
samen Sohnes Léon Koelin-Leenhoff allerdings erst Jahre
spater hinzugefiigt und dafiir den homogenen weifslichen
Hintergrund an einer Stelle aufgerissen.
Die Stimme des Sohnes, der seiner Mutter vorliest, dringt
gewissermafsen aus dem Off an ihr Ohr; ansonsten jedoch
bleiben die beiden auf dem Bild ohne jede Beziehung.
69
James Jacques Tissot
ange Zeit iberdauert hat die Angewohnheit, Kindern
| each Die Idylle der trauten Vorlesestunde am von
einem dicht belaubten Baum tberwolbten Schattenplatz
hat der Maler hier allerdings mit zahlreichen Fragezeichen
versehen. Das Raubtierfell im Vordergrund, an dem sich das
Kind emporhangelt, korrespondiert mit dem dunklen Weiher
hinter der Wiese. Es ist, als hatte die Schreckensdimension
so vieler harmlos anmutender Kindergeschichten auf die
Umgebung tibergegriffen. Auch Stille kann unheimlich sein.
Tissot hat dieses Motiv mehrfach verwendet. Auf einem
ahnlichen Bild ist das Kind von der Lektiire gefangen und
nicht wie hier von etwas, das wir nicht sehen, abgelenkt.
70
James Jacques Tissot, 1836-1902
al
tat
Sean
eo i:
James Abbott
McNeill Whistler
i) in Amerika geborene, in London wirkende und sich als
Pariser fuhlende Maler und Radierer Whistler betitelte
seine Gemalde gewohnlich nach der vorherrschenden Farb-
stimmung: »Nocturne. Blau und Gold: Valparaiso<, »Arrange-
ment in Grau und Schwarz Nr. 1: Bildnis der Mutter des
Kunstlers« oder einfach auch »Venedig in Turkis«, »Amsterdam
in Topas«, »Bretagne in Opal«. Uber die zuletzt genannten
Ansichten schrieb Marcel Proust, sie hatten ihn in einen un-
beschreiblichen Zustand nervoser Unruhe versetzt; niemals
hatten Manet oder Degas ihn im gleichen Mafse erregt.
Whistler selbst waren die Impressionisten zu realistisch;
er hielt die Symbolisten fiir moderner.
Seinen zahlreichen Kaltnadelradierungen gab Whistler hin-
gegen geradezu prosaische Titel. »Reading by Lamplight« zeigt
eine junge Frau im Profil, welche im Schein einer Petroleum-
lampe, eine Tasse Kaffee oder Tee neben sich, in einem Buch
liest, das sie beangstigend dicht vor ihre Augen halt. Da das
Licht der Tischlampe ausreichend hell zu leuchten scheint,
bleibt eigentlich nur die Deutung tibrig, dass die Lesende stark
kurzsichtig ist. Vielleicht ist sie aber auch nur hoch konzent-
riert und duldet so wenig Distanz wie moglich zwischen sich
und dem Buch. Leserin und Buch verschmelzen, zwischen
ihnen hat nichts mehr Platz. Diese Leserin braucht nur einen
gemiitlichen Stuhl, Licht und eine fesselnde Lektiire fur das
kleine Gltick.
Tid
Charles Burton Barber
port und Tiere, darunter Htihner und Entenfamilien, vor
allem aber Hunde, etwa die Lieblingshunde der K6nigin
Victoria, waren die bevorzugten Themen von Charles Burton
Barber. Die chinesisch anmutende Teetasse auf dem Bild
mag daran erinnern, dass der Mops wohl aus China zu uns
kam. Mit der Mode der Chinoiserie hielt er auch Einzug in die
Burgerhauser und wurde nicht nur als porzellanene Mops-
figur, sondern auch als hochgeztichteter Schmusehund bald
zum Liebling insbesondere alleinstehender Damen.
Auf diesem Bild ist er dagegen der Begleiter einer selbst-
bewussten jungen und schoénen Frau.
74
Charles Burton Barber, 1845-1894
US)
vis Corinth, 1858-1925
76
Lovis Corinth
ach einem mehrjahrigen Studienaufenthalt in Paris,
der aber nicht zu einer intensiveren Begegnung mit den
Impressionisten fiihrte, geht Corinth im Winter 1887/88
nach Berlin. Dort nimmt er den Kiinstlernamen »Lovis« an;
es entstehen sein erstes, beinahe noch altmeisterliches Selbst-
portrat und dieses sch6ne Bild einer lesenden jungen Frau.
Es besticht durch seinen ungewohnlichen Blickwinkel, eine
Dreiviertelansicht von hinten, das sogenannte »profil perdu«.
HU
Théodore Roussel, 1847-1926
78
Théodore Roussel
HE)
Vincent van Gogh
ie viele Maler vor ihm, halt van Gogh nicht den Vorgang
des Lesens selbst, sondern den Zustand seines Nach-
wirkens fest — wenn der Blick sich von den Zeilen des Buches
geldst hat und das soeben Gelesene in den Gedanken des
Lesers sein Echo und seine Fortsetzung findet. Ungewohnlich
hingegen ist, dass van Goghs Lesende den Blick vom Betrach-
ter des Bildes weg in eine unbestimmte Ferne richtet; der auf
den Arm gesttitzte Kopf charakterisiert sie zudem als Melan-
cholikerin. Wie alle geistigen Tatigkeiten entzieht sich der
Vorgang des Lesens der naturalistischen Darstellung. Zeigen
kann uns der Maler lediglich eine Person, deren K6perhaltung
und Blick darauf schliefsen lassen, dass sie gerade liest. Tut
er dies, liegt die Suggestion nahe, dass das Lesen ein Vorgang
ist, der sich selbst gentigt — als wurde die Suche nach Wahr-
heit schon im Lesen an ihr Ziel gelangen. Van Goghs Madame
Ginoux scheint dieser verbreiteten Ansicht widersprechen zu
wollen: Das Lesen der Biicher, so kann uns diese einfache,
altere, schwermiitig-weise Frau sagen, liegt an der Schwelle
des geistigen Lebens; es fiihrt uns darin ein, aber es ist nicht
schon selbst das Ziel.
Die Bildnisse van Goghs hatten ohne ihre haufig iberra-
schende Farbgebung nicht den Offenbarungscharakter, der
uns immer wieder in Staunen versetzt. Hier ist es das beinahe
schreiende Gelb des Hintergrunds, das die Gestalt verdunkelt
und sie doch zugleich von Licht umflort erscheinen lasst. Er
wolle Mann und Frau eine »~Anmutung des Ewigen< geben, hat
van Gogh dazu bemerkt: Was einst durch den Heiligenschein
symbolisiert wurde, versuche er »durch das Strahlen und
Vibrieren der Farben« wiederzugeben.
80
Peter Severin Kroyer, 1851-1909
Rosengarten, 1893,
(Die Frau des Malers im Garten in Skagen)
Skagens Museum, Skagen
82
Peter Severin Kroyer
ach Aufenthalten in Paris, Spanien sowie in Italien liefs
|’ pe der geburtige Norweger Peter Severin Kroyer in der
danischen Kunstlerkolonie Skagen nieder. Dort entstanden,
insbesondere wahrend der kurzen nordischen Sommer,
zahlreiche, im Garten des Hauses gemalte Bilder, auf denen
ofter auch Marie Kr@yer, seine Frau, zu sehen ist. Den beiden
Liegesttihlen im Hintergrund hat Kroyer auch ein eigenes
Bild gewidmet; wiederum liegt im linken von beiden Marie,
mufiggangerisch in einer Zeitung lesend, wahrend der rechte
frei bleibt und wohl auf den Maler wartet, der nach getaner
Arbeit vor dem Motiv an die Seite seiner geliebten Frau zuruck-
kehren wird. Wir sptren den Einfluss der Impressionisten,
die so gerne draufsen malten und ihre Sujets unter frei-
em Himmel darstellten. Lesen in der Natur, in der Sonne
im Sommer, muss ftir die von langen Wintern gepragten
Norweger ein besonderes Vergniigen gewesen sein.
83
Vittorio Matteo Corcos
unge, traumerisch blickende, gedankenverlorene Frauen,
haufig in zweifelhaften Milieus, waren in den 1880er- und
1890er-Jahren die Spezialitat des florentinischen Malers
Vittorio Matteo Corcos. Corcos hatte vier Jahre in Paris studiert
und dort die Zweideutigkeiten der Belle Epoque kennenge-
lernt. Eine Reminiszenz an diesen Aufenthalt ist der Stapel mit
den drei gelben Banden der berithmten Buchreihe des Verlags-
hauses Garnier an der Seite der jungen Frau.
Die verwehten Blatter auf dem Boden sowie die abgelegten
Sommerrequisiten Strohhut und Sonnenschirm neben dem
Bicherstapel weisen auf ein erstes Thema des Bildes: die Ver-
ganglichkeit des Daseins. Auf den Sommer folgt der Herbst.
Doch ist es das, worum die Gedanken der jungen Frau kreisen?
Unter dem verwelkenden Laub finden sich auch rote Bliiten-
blatter; sie stammen von einer Rose, die der Buicherstapel vor
dem Herunterfallen von der Bank bewahrt. Die Rose, und gar
die rote, ist ein Symbol der Liebe; auch sie scheint verwelkt,
vergangen, dahin. Die Rose ist aber auch ein Symbol der Un-
schuld: In vielen Gegenden Europas wurde sie traditionell von
der Braut am Hochzeitsmorgen in einen Fluss geworfen, um
damit den Abschied vom Madchendasein zu symbolisieren.
Dies kOnnte das Thema des Bildes sein: Der Sommer, der
gerade Abschied nimmt, hat aus einem Madchen eine selbst-
bewusste Frau gemacht. Vielleicht hat dazu auch die Lektiire
beigetragen. So scheint die Rose als Lesezeichen gedient zu
haben. Die Art, wie die Leserin ihren Kopf beinahe trotzig
aufrichtet, zeigt jedenfalls: Sehnsucht nach Riickkehr in den
Zustand der Unschuld ist ihre Sache nicht. Der Titel des Bildes
fiihrt in die Irre: Diese Leserin ist keine Traéumerin.
84
Vittorio Matteo Corcos, 1859-1933
85
Kleine Fluchten
Einsame Leserinnen
89
Vilhelm Hammershoi
er Kopenhagener Maler Vilhelm Hammershgi bezog
D 1898 mit seiner Frau eine grofiztigige Wohnung im ersten
Obergeschoss des aus dem 17. Jahrhundert stammenden
Hauses Strandgade 30. Vor dem Einzug liefs das Paar Turen,
Fenster, Tafelungen und Zierleisten einheitlich weifs, die zuvor
farbigen Wande und Decken grau streichen. Fortan sollte die
nur sparlich méblierte Wohnung ihrem Mieter als Laborato-
rium und Schauplatz einer so erstaunlichen wie ratseihaften
Interieurmalerei dienen.
Das »Interieur mit brieflesender Fraux ist eines der ersten
dort entstandenen Bilder. Unschwer lasst es sich als spiegel-
bildliche Verkehrung von Vermeers »Briefleserin in Blau«
erkennen (vel. S. 42). Statt mit dem Gesicht zum Fenster, steht
Hammershgis Briefleserin vor einer gedffneten Tur, die in das
angrenzende Zimmer fiihrt. Und statt vor einer Landkarte, die
bei Vermeer einen zweiten AufSenbezug herstellt, steht sie vor
einer weiteren, diesmal geschlossenen Tur. Hinter dieser Tur
wiederholt sich, wie ein spater entstandenes Bild zeigt, die
Konstellation: ein Raum mit zwei Turen, von denen eben-
falls eine offen steht. Alle Hinweise, die den Brief und seine
Leserin in den Kontext einer Geschichte einbetten, sind auf
Hammershois Bild getilgt. Die Zeit halt nicht fiir einen intimen
Augenblick den Atem an, sie steht dauerhaft still. Selbst der
Brief scheint aus dem Nirgendwo zu kommen - auch er gewis-
sermafsen eine Tur, die nur auf sich selbst verweist. Aus diesen
Raumfluchten ist eine Flucht, und sei es auf den imaginaren
Schwingen der Lekttire, von vornherein zum Scheitern verur-
teilt. Wo es aber nichts mehr zu erzahlen gibt, erstarren auch
die Lesenden zur leblosen Figurenstaffage.
90
HNaeaninnel
|
Atal
of
yam:
SRST
Ea
92)
Robert Breyer
rsprunglich als Breitformat gemalt, wurde das Bild auf
‘ie rechten Seite spater erheblich beschnitten und
konzentriert sich jetzt ganz auf die beiden modisch gekleide-
ten und frisierten Frauen. Obwohl sie nicht direkt miteinan-
der kommunizieren, sind beide mit demselben befasst. Ihre
Zusammengehorigkeit wird auch dadurch herausgestellt,
dass ihre aneinandergrenzenden Gestalten eine wellenformig
geschwungene Diagonale vom oberen linken zum unteren
rechten Bildrand bilden.
Wahrend die Frau im blauen Kleid schrag, beinahe vollstan-
dig abgewandt im Sessel sitzt, ihre Beine entspannt Uber die
Lehne baumeln lasst und sich dabei auf ihre Lektiire konzen-
triert, hat es sich ihre Freundin auf dem Boden bequem ge-
macht; dem Betrachter zugewandt, blattert sie in Biuchern und
Zeitschriften, die auf dem Teppich verstreut sind. Die beiden
typischen Lesehaltungen auf Gemdalden - Versunkenheit in
die Lektiire, abgewendet vom Betrachter, oder Hinwendung zu
diesem beim Aufblicken von der Lektiire — sind hier, auf zwei
Frauen aufgeteilt, harmonisch in einem Bild vereint. Es strahlt
Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit aus; seine Stimmung
ist gepragt von Vertrauen und Geborgenheit.
oy
Edouard Vuillard
nsbesondere Vuillards friihe, noch in den Neunzigerjahren
des 19. Jahrhunderts entstandenen Interieurszenen hin-
terlassen den Eindruck, als sei er als Maler angetreten, die
beriihmte programmatische Formulierung seines Mitscht-
lers und Berufskollegen Maurice Denis zu bestatigen, »dass
ein Bild, bevor es ein Streitross, eine nackte Frau oder eine
beliebige Anekdote wird, seinem Wesen nach eine ebene, in
einer bestimmten Anordnung mit Farben bedeckte Flache
ist«. Spater, wie in diesem Bild aus den 1920er-Jahren, wird
Vuillard die Radikalitat der Aufl6sung von Raumlichkeit und
Perspektive wieder zuriicknehmen: Nun werden die Ecken
nicht mehr verschliffen, die Gegenstande im Raum wieder aus-
gemalt; die Nivellierung von Raum, Menschen und Dingen in
einer ornamentalen Lebenshiille wird bis zu einem gewissen
Grad aufgegeben.
Noch immer aber ist es das Interieur, in dem sich Vuillards
Malerei bewegt. Doch haben die Enge und Beklemmung der
frihen Darstellungen einer gewissen Weitraumigkeit und
Luftigkeit Platz gemacht, und mit ihnen ist auch das Gefang-
nis der Nahe ohne Ausweg zerbrochen. In dieser gleichmafig
ausgeleuchteten Bibliothek scheint eine Beziehung unter den
Anwesenden moglich zu sein, die den Raum mit den Schwin-
gungen menschlicher Lebendigkeit erfiillt. Das in der Tir
lehnende Madchen hat mit ihrer Anwesenheit auch den Raum
zum angrenzenden Zimmer hin ge6ffnet. Trotzdem ist die
Intimitat der Situation gewahrt. Wie viele seiner Zeitgenossen
macht Vuillard uns klar, dass im Innenleben und der Intimitat
das Unheimliche und der Schrecken lauern k6nnen.
94
Edouard Vuillard, 1868 - 1940
95
Félix Vallotton
st fiir Vuillard das Interieur Heim und Arbeitsort, so fiir
{ese Malerfreund aus der Nabis-Gruppe, den gebirtigen
Genfer Félix Vallotton, eine Buhne menschlicher Leiden-
schaften und Leiden. Hier werden die unerbittlichen Kampfe
zwischen den Geschlechtern ausgetragen, die sich noch in
der Welt der Gegenstande bekunden, die den Innenraum
moblieren.
Das alles fehlt in »Leserin mit gelber Kette«; die Psycho-
kulisse ist abgebaut und die Bedrangnis der gelassenen
Betrachtung eines Buches mit Bildern weitraumiger Land-
schaften gewichen. Mag auch die Szenerie noch Rudimente
einer Buhnensituation aufweisen — fiir einen Moment zu-
mindest ist Ruhe eingekehrt und hat das harmonische Drei-
eck aus Blick, Armen und Buch uber die Tragikomédie der
menschlichen Beziehungen gesiegt. Valloton zeigt uns eine
verschmitzt lachelnde Frau, die in sich selbst zu ruhen scheint.
96
Félix Vallotton, 1865-1925
oF:
Suzanne Valadon, 1867-1938
98
Suzanne Valadon
arie-Clémentine Valadon, genannt Suzanne, kam von
der Tatigkeit als Modell, beispielsweise fiir Renoir und
Toulouse-Lautrec, zur Malerei. Die Autodidaktin hat den
weiblichen Akt endgiiltig von der falschen Aura der Salon-
malerei befreit und den Katalog der Posen durch eine ge-
malte Nacktheit ersetzt, die so naturalistisch wie expressiv ist.
Valadon gibt den kunstlerischen Zugriff auf den weiblichen
K6rper nicht auf, befreit inn aber von dem Doppelspiel aus
Erhohung und Erniedrigung der konventionellen Aktmale-
rei. Ihre Bilder verleihen dem weiblichen K6rper eine eigene
Prasenz und Ausstrahlung, ohne sich auf einen gangigen
Schonheitskanon oder das Moment der Erotik zu beziehen.
1931 malt die mittlerweile 66-jahrige Malerin ein Altersbildnis
von sich selbst mit nackten Brusten — zu dieser Zeit ein ab-
solutes Novum.
Die Frau auf unserem Bild hat die Bettdecke zurtickgeschla-
gen und sich auf das Laken gesetzt. Am Bettpfosten hangt die
abgelegte Garderobe. Entspannt blattert sie in einem Heft.
Wie die Frau auf Hoppers neun Jahre spater entstandenem
Bild »Hotel Room« (vgl. S. 107) scheint auch sie sich in einem
Hotelzimmer aufzuhalten, wartet vielleicht auf einen Lieb-
haber. Anders als Hoppers existenziell unbehauste Reisende
vermittelt sie jedoch den Eindruck, hier ein, und sei es nur
sehr vortibergehendes, Obdach zu haben. Das Bettzeug,
dessen Farben die ihrer Haut aufnehmen, und der rote
Teppich zu ihren Fuf$en rahmen den nackten Korper ein
und geben ihm Schutz und Halt.
99
Gwen John
wen John war eine der grofsen englischen Malerinnen
des 20. Jahrhunderts. Den Titel »The Convalescent«, die
Genesende, verwendete sie selbst fiir ihr Bild; es ist eines aus
einer Serie von zehn Gemalden, die um 1920 entstanden sind
und in obsessiver Wiederholung immer das gleiche Motiv
der lesenden Rekonvaleszentin zeigen, die manchmal statt
des Briefes auch ein Buch in den Handen halt. Diese Fassung
hat Gwen John wohl fiir Isabel Browser, eine enge Freundin,
gemalt, die sich zu der Zeit im Krankenhaus befand. Wir sehen
eine sehr schwach anmutende junge Frau, die mide wirkt und
gleichzeitig entschlossen. Gwen John kommt es weniger auf
die aufsere Erscheinung der Frau als auf ihre intensive Prasenz
an. Der z6gerliche Stil deutet darauf hin, dass sich die Malerin
wie ihre Figur in einem Zustand der Erschépfung befindet —
als bediirfte es eines aufsSergewohnlichen Kraftaufwandes, um
sich vor der Gefahr des Scheiterns in Sicherheit zu bringen.
In der Neurasthenie, einer Erschopfungsreaktion, die mit
einer Uberempfindlichkeit der Sinnesorgane, nervéser Reiz-
barkeit und gesteigerter Selbstaufmerksamkeit einhergeht,
sahen viele Zeitgenossen Gwen Johns einen Empfindungszu-
stand, welcher der modernen Zeit und ihrer Kunst gleicher-
mafsen entspricht. Der Schriftsteller Marcel Proust ging davon
aus, dass in solchen Fallen das Lesen helfen und die Rolle
einnehmen kénnte, die ansonsten der Nervenarzt spielt.
Der Kranke bedarf eines Antriebs von aufgen, doch muss
sich dieses Eingreifen zugleich in ihm selbst vollziehen. Das
aber, so Proust, ist genau die Definition des Lesens, und nur
des Lesens. Es wirkt so als Heilmittel, das uns in Phasen der
Ersch6pfung Geisteskraft und Willensstarke zurtickgibt.
100
Gwen John, 1876-1939
101
sla:
I\= 193301936 =
Th Pea
102
Cagnaccio di San Pietro
& agnaccio (zu Deutsch »Klaffer«) di San Pietro war der
Kunstlername von Natalino Bentivoglio Scarpa. Nachdem
er sich Anfang der Zwanzigerjahre vom Futurismus gelést
hatte, zielte seine Malerei auf Objektivitat im Sinne der Neuen
Sachlichkeit ab. Einfltisse von Otto Dix und insbesondere
Christian Schad, den er wohl auch personlich kannte, sind
unverkennbar.
Das kuhle und distanzierte Bildnis der Frau des venezia-
nischen Anwalts Vighi zeigt sie eingesperrt in ihrem burger-
lichen Salon. Die Nippesfiguren auf dem Tischchen kinden
von einer Lust am Kindlichen; vermutlich deuten sie auf eine
amourose Beziehung zwischen dem Htindchen — dem Ma-
ler namens klaffer — und der Anwaltsgattin hin, deren rote
Kleiderfarbe in Kamm und Kehllappen des Gockels wieder-
kehren. Wahrscheinlich meint der Hahn den Ehemann; den
Ausdruck Hahnrei (»becco<) gibt es auch im Italienischen.
Das Kindliche der Figuren wiederholt sich im Gesicht der
Frau, in dem sich ein Ausdruck des Erstaunens, wie wir ihn
von Kinderbildern kennen, mit grofser Schwermut mischt.
Das Bild spricht von der schmerzlichen Erfahrung des Sich-
tiberlebt-Habens: Kind einer Zeit geblieben zu sein, die langst
passé ist und ohne dass noch die Chance einer Regenera-
tion bestiinde. Selbst das Lesen scheint hier seine heilende
Antriebskraft verloren zu haben.
103
Alexander Alexandrowitsch
Deineka
einekas Kunst stand von Anfang an im direkten Zusam-
menhang mit den gesellschaftlichen Umwalzungen in
Russland seit der Oktoberrevolution. Er sah sich nicht nur als
Chronist, sondern ebenso als Wegbereiter der entstehenden
kommunistischen Gesellschaft. Daftir suchte er nach neuen
Wegen der Realisierung jenseits der asthetischen Schablonen
des 19. Jahrhunderts und fand sie in Futurismus, Konstruk-
tivismus und.Fotomontage. Seine Illustrationen, Plakate,
dekorativen Wandbilder und Monumentalwerke waren auf
direkte Wirkung bis hin zur Propaganda aus. Dabei bevorzugte
er Themen wie das Pathos der Industriearbeit, die Revolutions-
geschichte, Korperkultur und Sport.
Neben der monumentalen und agitatorischen gibt es auch
eine intime, poetische Dimension in seinem Werk, fiir die
er dann doch auf Elemente des ausgehenden 19. Jahrhun-
derts zurtickgriff
und sich auf seinen Auslandsreisen von den
»burgerlichen« Kunststr6mungen seiner Zeit anregen liefs.
Anfang der Dreifsigerjahre malte er eine Reihe von Frauen-
portrats; sie zeigen junge Frauen, die zweifelsfrei mit beiden
Beinen in der Gegenwart stehen, im engen Sinne jedoch nicht
arbeiten: Sie baden, geniefsen Mutterfreuden oder lesen, wie
die htibsche, a4uferst konzentrierte, durch nichts ablenkbare
Frau auf unserem Bild. Sie als Botschafterinnen der sch6nen
neuen Welt zu bezeichnen wiirde zu weit fiihren; doch sind
sie Beleg vom Aufbruch der Frau in eine neue Unabhangigkeit
und Selbstbestimmtheit.
104
Alexander Alexandrowitsch Deineka, 1899 - 1969
105
Edward Hopper
m Jahr 1931 malt der Amerikaner Edward Hopper ein fiir
seine Verhaltnisse riesengrof§es, annahernd quadratisches
Bild, »Hotel Room«. Eine Frau sitzt in Unterwasche auf einem
Hotelbett, die Schuhe hat sie abgestreift, das ausgezogene
Kleid sorgfaltig ber die Lehne eines grtinen Sessels gelegt,
Reisetasche und Koffer sind noch nicht ausgepackt. Die tief-
dunkle Flache unterhalb des gelben Rouleaus deutet auf die
Tageszeit: Es ist finstere Nacht. Die Frau, deren Gesichtsztige
im Schatten liegen, liest in einem Faltblatt, vermutlich einem
Fahrplan. Sie wirkt unentschlossen, beinahe ratlos, schutzlos.
Uber der starren Szenerie liegt die Melancholie der Bahnhé-
fe und anonymen Hotelzimmer, des Unterwegsseins, ohne
anzukommen, der Ankunft, die nur kurzer Haltepunkt vor
einer weiteren Abreise ist. Hoppers Fahrplanleserin ist tief in
Gedanken versunken. Doch ist diese Versunkenheit hier ohne
Gegentiber, sie ist existenziell unbehaust, ein Ausdruck des
Unbehagens in der modernen Kultur.
Hoppers Lesende sind nicht gefahrlich, sondern gefahrdet
- weniger durch eine ungeztigelte Einbildungskraft als von der
modernen Volkskrankheit Depression. Ein sieben Jahre spater
entstandenes Bild zeigt eine 4hnliche Frau in einem Zugabteil;
auch sie liest. Glaubt man diesen Bildern, so liegt iber dem
Lesen und den Leserinnen eine unheilbare Melancholie -
als hatte das frohliche Chaos, in die das Lesefieber die bis dato
so geordnete Welt des Lesens gestiirzt hatte, zuletzt dahin ge-
fiihrt, dass sie so gleichgtiltig geworden ist wie die Mienen von
Hoppers lesenden Frauen samt den Drucksachen, mit denen
sie sich ohne wirkliche Anteilnahme beschaftigen.
106
Edward Hopper, 1882-1967
107
Eve Arnold, 1912-2012
108
Eve Arnold
Dy ® Frage »Hat sie oder hat sie nicht?« konnte schwerlich
unterbleiben. Hat Marilyn Monroe, die blonde Ikone des
20. Jahrhunderts, den »Ulysses« von James Joyce, die Ikone
der Hochkultur des 20. Jahrhunderts, das Buch, das viele ftir
die grofste Sch6pfung unter den modernen Romanen halten,
nun gelesen oder nur so getan? Denn wie aus anderen Bildern
der gleichen Fotosession zweifelsfrei hervorgeht, ist es dieses
Buch, in dem Marilyn hier liest.
Literaturprofessor Richard Brown wollte es wissen. Und
schrieb dreifgsig Jahre nach der Fotosession an die Fotogra-
fin, die es eigentlich wissen musste. Eve Arnold antwortete
prompt, sie habe Marilyn damals bereits im »Ulysses« lesend
angetroffen. Marilyn habe gesagt, dass sie den Ton des Buches
md6ge; sie wurde es laut lesen, um es besser zu verstehen,
aber es sei harte Arbeit. Als sie dann wie verabredet die Fotos
machen wollten, las Marilyn im »Ulysses«, wahrend Eve Arnold
den Film einlegte. Und auf diese Weise habe sie sie fotogra-
fiert. Wir brauchen Literaturprofessor Browns Fantasien nicht
zu folgen, Marilyn habe ihre Lektire des »Ulysses« fortgesetzt,
sich an einem College eingeschrieben und habe ihr Leben als
Filmstar und Model aufgegeben.
Folgen kénnen wir Literaturprofessor Brown allerdings in
seiner Empfehlung, den »Ulysses« so zu lesen, wie Marilyn es
vorgemacht habe: nicht hintereinander und von vorne nach
hinten, sondern episodisch, indem wir von Zeit zu Zeit das
Buch an unterschiedlichen Stellen aufschlagen und kleine
Lesestrecken zuriicklegen. Wir konnten diese unordentliche
Art des Lesens gerne auch die Marilyn-Methode nennen.
Professor Brown empfiehlt sie jedenfalls seinen Studenten.
109
Jean Baptiste Siméon Chardin,
113
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
114
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
115
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
muss fiir etwas anderes herhalten; nicht um ihr Bild von der
Welt geht es, sondern um das ihrer Betrachter, die sich nur zu
gerne von etwas Liederlichkeit hinreifgen lassen.
Gefdhrliches Lesen
Andere soziale Milieus trieben mit solcher Moral nicht nur ihr
Spiel, sondern nahmen sie aufserst ernst. Als zu Zeiten Char-
dins und Baudouins das Lesefieber zu grassieren begann und
erst in der Metropole Paris, spater dann auch in den abgele-
generen Provinzen alle Welt und hauptsachlich die Frauen
ein Buch in der Tasche trugen, rief dieses die Zeitgenossen
irritierende Phanomen rasch Beftirworter wie Kritiker auf
den Plan. Erstere propagierten ein nutzliches Lesen, das die
»Lesewut«, wie man damals sagte, fiir Botschaften der Tugend
und fiir Bildungsmafsnahmen kanalisieren sollte. Ihre kon-
servativen Gegenspieler hingegen sahen im zuigellosen Lesen
lediglich einen weiteren Beleg fiir den unaufhaltsamen Verfall
von Sitte und Ordnung. So wollte beispielsweise der Schweizer
Buchhandler Johann Georg Heinzmann die exzessive Roman-
leserei gar neben der Franzésischen Revolution als zweites
Extrem des Zeitalters verstanden wissen, das »im Geheimen«
ebenso viel Ungliick unter die Menschen und Familien ge-
bracht habe wie die »schreckbare Revolution« 6ffentlich. Aber
auch die Fraktion der Aufklarer erkannte im enthemmten
Lesen vorrangig ein sozialschadliches Verhalten. Die Folgen
»geschmack- und gedankenloser Lekttire«, so der Kantianer
Johann Adam Bergk 1799, seien »unsinnige Verschwendung,
untiberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, grenzenloser
Hang zum Luxus, Unterdrtickung der Stimme des Gewissens,
Lebenstiberdruss, und ein friuher Tod« - kurz, ein Riickfall
aus burgerlichen Tugenden in aristokratische Laster, welcher
folgerichtig mit Verringerung der Lebenserwartung bestraft
116
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
Stilles Lesen
Fragt man nach dem Stein des Anstofses, der die Moralisierer
gegentiber den Erscheinungen des intensiven und exzessiven
Lesens derart aufbrachte, so kann dartiber die Wendung »im
Geheimen< Aufschluss geben, die der schon zitierte Buch-
handler Heinzmann verwendet hat, als er tiber die »Pest der
Literatur« dozierte. Denn »im Geheimen«x heifst nicht nur pri-
vat und damit nicht 6ffentlich, es heifgt auch der Kontrolle
durch die Gesellschaft und ebenfalls durch die nachste Ge-
meinschaft, etwa die Familien-, Haus- oder Religionsgemein-
schaft, entzogen. Moglich wurde dieser Kontrollverlust, der
in positiver Wendung eine intime, heimliche Beziehung zwi-
schen Buch und Leser bedeutet, durch die Praxis des stillen
Lesens.
Auch dieses lautlose Lesen ist ftir uns selbstverstandlich,
war es aber keineswegs immer. Um hier auf Irritationen zu
stofsen, mlissen wir noch weiter als bis ins 17. oder 18. Jahr-
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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Rembrandt Harmensz van Rijn,
ala
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
sie sich ihr eigenes Bild von der Welt, das mit dem von Her-
kunft und Tradition vermittelten und dem des Mannes nicht
ubereinstimmen muss. Das alles bedeutet noch lange nicht
die Befreiung der Frau aus patriarchalischer Vormundschaft.
Wohl aber st6fst es die Pforte auf, durch die der Weg ins Freie
fuihrt.
Weibliches Lesen
Im Jahr 1631 hat Rembrandt eine alte lesende Frau gemalt
(das Bild ist bekannt als »Rembrandts Mutter«; manche wol-
len in der Gestalt die Prophetin Hannah erkennen). Das
machtige Buch auf dem Schofs der Greisin, das aus sich selbst
heraus zu leuchten scheint, ist auch aufgrund seiner hebrai-
sierenden Buchstaben als Altes Testament erkennbar. Die
runzlige Hand der Greisin liegt flach auf der aufgeschlagenen
Seite: Auf diese Weise markieren altere Menschen, denen das
Lesen Muthe bereitet, die gerade zu lesende Zeile. Die Gebarde
ist aber auch Ausdruck der intensiven Beziehung, die Rem-
brandts Lesende zu den Worten der Bibel hat; es scheint, als
wolle sie Sinn und Bedeutung des Gelesenen tief in sich auf-
nehmen.
Nicht nur diese Geborgenheit im Glauben gerat mit der
Aufklarung und dem Fortgang der Verbreitung des stillen
Lesens in eine Krise; die Biicher — oder gar nur das eine — bi-
f$en zudem ihre unbedingte Autoritat ein. Sie kunden nun
nicht mehr von unbezweifelbarer Wahrheit, sondern werden
mehr und mehr zu Instrumenten, die der Selbstwahrneh-
mung und Selbstdeutung ihrer Leserinnen und Leser dienen.
Gleichzeitig héren diese auf, auf immer die gleichen, von
Generation zu Generation weitervererbten Bucher zurickzu-
greifen; stattdessen erobern sie sich neuen, auch nichtreli-
gidsen Lesestoff, der innen empirische Kennitnisse, kritische
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
124
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
Anarchisches Lesen
Besonders zwei soziale Gruppen sind es, die zukinftig fur
den Umbruch des Leseverhaltens stehen werden: junge Intel-
lektuelle und wohlhabende Frauen. Beide waren auf der Su-
che nach neuen Texten; in erster Linie nicht einmal, um sie
gegen die alten Autoritaten durchzusetzen, sondern getrie-
ben von dem Bedirfnis nach privater und gesellschaftlicher
Selbstverstandigung. Beide Gruppen verfiigten uber relativ
viel freie Zeit: die jungen burgerlichen Intellektuellen, weil
sie in einer sozial immobilen Welt haufig von allen Aufstiegs-
chancen abgeschnitten waren; die Gattinnen und Tochter
des Burgertums, weil sie mit wachsendem Wohlstand uber
Dienstpersonal und infolgedessen auch tiber Freizeit, zumin-
dest aber Uber den Tag verteilte Zwischenzeiten verftigten,
die zur Lektiire genutzt werden konnten. Selbst Zofen und
Stubenmadchen bekamen etwas von diesem Zeitwohlstand
mit; das kostspielige Licht, um bei Dunkelheit zu lesen, war
im Haushalt der Herrschaft vorhanden, und zuweilen blieb
auch etwas Geld ftir die Leihbiicherei. (Die Buchpreise waren
noch um 1800 exorbitant hoch: Flr den Gegenwert eines
neuen Romans konnte sich eine Familie ein bis zwei Wochen
ernahren.)
Im Gegensatz zum gelehrten und niitzlichen Lesen der
Tradition hatte die neue Lekttirepraxis etwas Ungeziigeltes,
Wildes: So war sie stark auf die Steigerung der Einbildungs-
kraft der Lesenden zugeschnitten. Nicht die nach Stunden
und Tagen gerechnete Lesezeit war das Entscheidende, son-
dern vielmehr die Intensitat des emotionalen Erlebens, die
sich dabei einstellte. Uber die Erregung einzelner, bestimm-
ter Geftihle, wie Lust, Trauer oder Hingabe, hinaus waren die
Leserinnen und Leser stichtig nach dem Selbstwertgefiihl,
das die Lekttire hervorrief. Das genussvolle Erleben der eige-
126
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
127
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
nen wir einem Brief entnehmen, den Bettina von Arnim, die
Meisterin der fingierten Briefwechsel, im Namen ihrer Freun-
din Karoline von Giinderrode sich selbst geschrieben hat. Die
Schilderung des Zimmers der fiir geraume Zeit abwesenden
Bettina liest sich wie das Psychogramm einer wilden Leserin,
die in der Wahl ihrer Lektire und in ihren Lesegewohnheiten
in sch6nster Anarchie durch alle Zeiten, Stile und Gebiete
hindurchfahrt: »... in Deinem Zimmer sah es aus wie am Ufer,
wo eine Flotte gestrandet war. Schlosser wollte zwei grofse
Folianten, die er ftir Dich aus der Stadtbibliothek geliehen hat
und die Du schon ein Vierteljahr hast, ohne drin zu lesen. Der
Homer lag aufgeschlagen an der Erde, Dein Kanarienvogel
hatte ihn nicht geschont, Deine sch6ne erfundne Reisekarte
des Odysseus lag daneben und der Muschelkasten mit dem
umgeworfenen Sepianapfchen und allen Farbenmuscheln
drum her, das hat einen braunen Fleck auf Deinen sch6nen
Strohteppich gemacht ... Dein Riesenschilf am Spiegel ist
noch griin, ich hab ihm frisch Wasser geben lassen, Dein
Kasten mit Hafer, und was sonst noch drein gesaet ist, ist alles
durcheinander emporgewachsen, es deucht mir viel Unkraut
darunter zu sein, da ich es aber nicht genau unterscheiden
kann, so hab ich nicht gewagt, etwas auszureifgen; von Bu-
chern hab ich gefunden auf der Erde den Ossian, die Sacon-
tala, die Frankfurter Chronik, den zweiten Band Hemsterhuis,
den ich zu mir genommen habe, weil ich den ersten Band von
Dir habe... Siegwart, ein Roman der Vergangenheit, fand ich
auf dem Klavier, das Tintenfass draufliegend, ein Gliick, da
es nur wenig Tinte mehr enthielt, doch Du wirst Deine Mond-
scheinkomposition, tiber die es seine Flut ergoss, schwerlich
mehr entziffern. Es rappelte was in einer kleinen Schachtel
auf dem Fensterbrett, ich war neugierig sie aufzumachen, da
flogen zwei Schmetterlinge heraus, die Du als Puppen hin-
128
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
eingesetzt hattest, ich hab sie mit der Liesbet auf den Altan
gejagt, wo sie in den bliihenden Bohnen ihren ersten Hunger
stillten. Unter deinem Bett fegte die Liesbet Karl den Zwolften
und die Bibel hervor, und auch - einen Lederhandschuh, der
an keiner Dame Hand gehért, mit einem franzésischen Ge-
dicht darin, dieser Handschuh scheint unter Deinem Kopfkis-
sen gelegen zu haben.«
Unschwer lasst sich vorstellen, wie das konkrete Lesever-
halten dieser jungen Dame ausgesehen haben muss. Zu der
Freiheit, die sie sich herausnahm, gehorte es, »hin- und her-
zublattern, ganze Passagen zu lberspringen, Satze gegen den
Strich zu lesen, sie misszuverstehen, sie umzumodeln, sie
fortzuspinnen und auszuschmiicken mit allen méglichen
Assoziationen, Schltisse aus dem Text zu ziehen, von denen
der Text nichts weifs, sich ber ihn zu argern, sich tiber ihn zu
freuen, ihn zu vergessen, ihn zu plagiieren, und das Buch,
worin er steht, zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Ecke zu
werfen«.
Nein, voranstehende Formulierungen stammen nicht mehr
von Bettina von Arnim, sondern wurden tber 150 Jahre spa-
ter von Hans Magnus Enzensberger niedergeschrieben, um
den »anarchischen Akt« der Lektiire zu charakterisieren. Sie
beschreiben den Status quo des mittlerweile gangigen Lese-
verhaltens. Allerdings ist dieser freie, nicht reglementierte
Gebrauch von Biichern nicht selbstverstandlich, sondern hat
sich in einem langwierigen Prozess gegen eine dufserst geord-
nete und mit Zwangen beschwerte Praxis durchgesetzt. Die
letzten Anwalte einer Ordnung des Lesens sind heute Pada-
gogen und Geisteswissenschaftler. Zumal angesichts der Kon-
kurrenz, welche die audiovisuellen Medien den traditionellen
Druckerzeugnissen in Sachen Unterhaltung und Information
machen, scheinen sie auf verlorenem Posten zu stehen.
129
Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
Im Bett lesen
Wenn es auch keinen privilegierten Ort der Lekttire mehr gibt,
so existieren doch bevorzugte Ruckzugsmoglichkeiten, die
der ungezuigelten und unbeschwerten Art des Lesens entge-
genkommen. Eine davon ist das Bett, das schon bei der Schil-
derung des Zimmers der Bettina von Arnim eine prominente
Rolle spielte. Als von Nacht zu Nacht aufgesuchte Schlafstatt,
die auch dem Lieben und dem Sterben dient, in dem die Men-
schen gezeugt und geboren werden, in das sie sich bei Krank-
heiten zuruckziehen und in dem sie gewohnlich ihren letzten
Atemzug tun, ist das Bett ein Ort im menschlichen Leben, wie
er existenzieller kaum denkbar ist. Im Verlauf der letzten Jahr-
hunderte ist es immer starker zum Schauplatz menschlicher
Intimitaét geworden. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts zeigen
mehr und mehr Gemalde die Lekttire im Bett als neue, typisch
weibliche Gewohnheit.
Als junges Madchen muss die franzésische Schriftstellerin
Colette, so wird sie spater in einem ihrer Romane erzahlen,
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Eine Geschichte des Lesens in Bildern vom 13. bis 21. Jahrhundert
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rende Kinder, zwei von ihnen barfuf&, die vor einer Mauer auf
dem Boden sitzen und in gr6fster Konzentration in ein Buch
schauen, welches das mittlere von ihnen auf den Knien hilt.
Das Foto ist 1915 in Ungarn entstanden, wo der 1894 gebore-
ne Fotograf als Andor Kertész aufwuchs und sich selbst das
Fotografieren beibrachte. Und doch ist die Botschaft von »On
Reading« nicht: Alle Welt liest alles Mégliche. Wohl wird bei
Kertész an allen Orten der Welt und in allen méglichen und
unmoglichen Situationen gelesen, immer aber ist der Leser
ein ganz besonderes, man ist beinahe versucht zu sagen »er-
lesenes« Individuum. Kertész’ Kamera isoliert ihn von seiner
Umgebung, so wie er sich von ihr fiir und durch den Vorgang
des Lesens isoliert. In der einsamen Masse ist er der introver-
tierte Einzelne, in der Menge der aufSengeleiteten Konsumen-
ten der innengeleitete MifsSigganger. Unverwandt schaut er in
sein Buch oder in die Zeitung und hinterlasst beim Betrachter
den Eindruck von Unangreifbarkeit.
Die bekannteste Fotografie von »On Reading«, welche die
Bildfolge beschliefSt, ist 1929 in einem Hospiz im burgun-
dischen Beaune entstanden. Auf dem perfekt komponierten
Bild sehen wir eine Greisin, die klein und zusammengesunken
auf einem Bett sitzt, ein Buch in den Handen haltend, in dem
sie aufmerksam und konzentriert liest. Die schweren dunklen
Balken und die gerafften hellen Vorhange eines Baldachins
verleihen der Szenerie etwas Theatralisches: Als ware der
Blick fiir einen Moment ungewisser Dauer freigegeben auf ein
bedeutsames Schauspiel, an dessen Ende sich die Vorhange
ein fiir alle Mal schlief$en werden. Natiirlich wiirde es einen
gewissen Unterschied machen, wenn die alte Dame statt etwa
in einem Gebetbuch in einem Drama von Racine oder gar
einem zeitgendssischen Skandalroman lesen wiirde, doch die
Frage, ob wir es mit einer frommen, gebildeten oder rebelli-
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Anhang
Literaturhinweise
Bildnachweis
Agentur Focus, Hamburg: Seite 108 97, 110/111, 124 links, Umschlag-
Archiv fiir Kunst und Geschichte, ruckseite rechts
Berlin: Umschlagabbildung, 8 Bridgeman Art Library, Berlin: 6/7,
oben, 9 oben, 24, 26, 29, 30, 33, 64, 72, 82, 101, 130 links, 140
38, 42, 48, 51, 52, 54, 57, 59, 67, 68, Isolde Ohlbaum, Mtinchen: 10
75, 78, 81, 85, 92, 95, 98, 102, 105, Statens Museum for Kunst,
107, 112, 117 rechts, 124 rechts, Kopenhagen: 1
137, 144, Umschlagrtckseite links VG Bild-Kunst, Bonn 2014: 20, 105
und Mitte
Artothek, Weilheim: 8 Mitte,
8 unten, 9 Mitte, 9 unten, 15, 34, Weitere Nachweise tiber das
41, 44, 47, 60, 62, 71, 76, 86, 91, Bildarchiv des Insel Verlags
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ANHANG
Register
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ANHANG
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es ton te
eae
Frauen, die lesen, galten lange Zeit als
gefahrlich - denn lesend konnten sie sich Wissen
aneignen, das nicht fiir sie bestimmt war.
Ktinstler jedoch waren von jeher fasziniert von
ihnen und verewigten sie in meisterhaften
Werken aus allen Epochen ...
Feinsinnig und anregend fiihrt uns
Stefan Bollmann durch die Geschichte
weiblichen Lesens und erklart, warum
erofse Maler wie Rembrandt, van Gogh oder
Vermeer lesenden Frauen nicht
widerstehen konnten.
P6Z-VL0-L