Diskursforschung Eine Einführung für
SozialwissenschaftlerInnen, 3rd Edition
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aftlerinnen-3rd-edition/
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Inhalt
1 Die Aktualitat der Diskursforschung 7
2 Ansatze der Diskursforschung 13
2.1 Die Karriere des Diskursbegriffs 14
2.2 discourse analysis 20
2.3 (Korpus-) Linguistisch-historische Diskursanalysen 22
2.4 Critical Discourse Analysis/Kritische Diskursanalyse 26
2.5 Kulturalistische Diskursforschung 34
2.6 Diskurstheorien 42
2.7 Wissenssoziologische Diskursanalyse 56
2.8 Zusammenfassung 60
3 Der Forschungsprozess 61
3.1 Begriffe 62
3.2 Fragestellungen 65
3.3 Allgemeine Grundlagen 71
3.3.1 Diskursforschung ist Interpretationsarbeit 72
3.3.2 Die Adaption qualitativer Methoden 74
3.3.3 Grenzziehungs- und Geltungsprobleme 75
3.3.4 Mehr als Textanalyse 76
4 Die Vorgehensweise 79
4.1 DerEinstieg 79
4.2 Die Sondierung des Untersuchungsfeldes 82
4.3 Die Datenauswahl 82
4.3.1 Datenformate 82
4.3.2 Korpusbildung 84
4.3.3 Die Auswahl von Daten zur Feinanalyse 87
4.4 Andere Datenformate und methodische Bezuge 89
5 Die Feinanalyse der Daten 93
5.1 Situiertheit und Materialitat einer Aussage 95
5.2 Formale und sprachlich-rhetorische Struktur 96
5.3 Die interpretative Analytik der Inhalte 97
5.3.1 Phanomenstruktur 99
5.3.2 Deutungsmuster 104
5.3.3 Narrative Struktur 107
6 Von der Feinanalyse zum Gesamtergebnis 109
6.1 Von der Aussage zum Diskurs und dartiber hinaus 109
6.2 Interpretation und Presentation der Ergebnisse 112
7 Schlussbemerkung 115
8 Literaturverzeichnis 117
1 Die Aktualitat der Diskursforschung
Kollektive Wissensordnungen und Diskurse
In den Sozialwissenschaften besteht ein Grandkonsens dariiber, dass die Be-
ziehungen der Menschen zur Welt durch koUektiv erzeugte symbolische
Sinnsysteme oder Wissensordnungen vermittelt werden. Die verschiedenen
Paradigmen unterscheiden sich nach dem theoretischen, methodischen und
empirischen Stellenwert, den sie dieser Einschatzung einraumen. In Analysen
der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen und symbolischen Ordnungen
haben in den letzten Jahrzehnten die Begriffe des Diskurses, der Diskursthe-
orie und der Diskursanalyse enorm an Bedeutung gewonnen. Dies gilt vor al-
lem fiir die breite Rezeption der Arbeiten von Michel Foucault. In deutlich
geringerem MaBe lasst sich dies auch fiir Entwicklungen innerhalb des inter-
pretativen Paradigmas behaupten. Die Konjunktur diskursorientierter Theo-
riebildungen und Forschungen zeigt sich eindrucksvoll in verschiedenen so-
zial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, bspw. in Geschichts-, Sprach-,
Literatur- und Politikwissenschaften oder der Soziologie.^ Der Bezug auf den
Begriff ,Diskurs' erfolgt dann, wenn sich die theoretischen Perspektiven und
die Forschungsfragen auf die Konstitution und Konstruktion von Welt im
konkreten Zeichengebrauch und auf zugrunde hegende Strukturmuster oder
Regeln der Bedeutungs(re-)produktion beziehen. Diskurse lassen sich als
mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschrei-
bungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch
eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu
institutionahsieren. Diskurstheorien bzw. Diskursanalysen sind wiederum
wissenschaftliche Untemehmungen zur Untersuchung der damit angespro-
chenen Prozesse: Die sozialwissenschaftliche Diskursforschung beschaftigt
sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprechen/Schreiben als Tatigkeit bzw.
soziale Praktiken und der (Re-) Produktion von Sinnsystemen/Wissensord-
nungen, den darin eingebundenen sozialen Akteuren, den diesen Prozessen
zugrunde liegenden Regeln und Ressourcen sowie ihren Folgen in sozialen
Kollektiven.
Vgl. Keller (1997), die Beitrage in Keller/Hirseland/SchneiderA^iehover (2006,
2005a,b), die Hinweise in der vorliegenden Einfuhrang sowie die Webseite des Ar-
beitskreises Diskursanalyse (www.diskursforschung.de) und das Diskussionsforum
www.diskursanalyse.org.
Diskurstheorien und Diskursanalysen unterscheiden sich in ihrer Bezug-
nahme auf Sprach- bzw. Zeichengebrauch von anderen sozialwissenschaftli-
chen Beschaftigungen mit Sprache, wie der Sprachsoziologie oder der ethno-
methodologisch fundierten Konversationsanalyse, well sie sich weder fiir so-
zialstrukturelle Formungen des Sprachgebrauchs noch flir den Sprach-
gebrauch als Handlungsform oder -vollzug interessieren. Und im Unterschied
zur mitunter als Diskurstheorie etikettierten Diskursethik von Jiirgen Haber-
mas geht es nicht um die Formulierung von Idealbedingungen fiir Argumenta-
tionsprozesse.^ Im Zentrum der hier vorgestellten Perspektive sozialwissen-
schaftlicher Diskursforschung steht vielmehr die Analyse institutioneller Re-
gulierungen von Aussagepraktiken und deren performative, wirklichkeitskon-
stituierende Macht. Wahrend Diskurstheorien allgemeine theoretische Grund-
lagenperspektiven auf die sprachformige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit
von Welt entwickeln, konzentrieren sich Diskursanalysen auf die empirische
Untersuchung von Diskursen. Mit dem Begriff der Diskursanalyse wird aller-
dings keine spezifische Methode, sondem eher eine Forschungsperspektive
auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstande bezeich-
net. Was darunter konkret, im Zusammenhang von Fragestellung und metho-
disch-praktischer Umsetzung verstanden wird, hangt von der disziplinaren
und theoretischen Einbettung ab. Der Begriff des Diskurses bezieht sich des-
wegen selbst innerhalb des engeren Feldes der Diskursforschung auf sehr Un-
terschiedliches und mit seiner Verwendung sind heterogene Forschungsziele
verbunden. Diskurstheorien und Diskursanalysen verstehen sich heute meist
als qualitative, hermeneutische bzw. interpretative Perspektiven oder werden
diesen in Methodentiberblicken zugeordnet (Hitzler/Honer 1997; Flick 2002).
Trotz der Heterogenitat diskursanalytischer und diskurstheoretischer Ansatze
konnen vier Merkmale als kleinste gemeinsame Nenner der Verwendung des
Diskursbegriffs gelten: Diskurstheorien und Diskursanalysen
- beschaftigen sich mit dem tatsachlichen Gebrauch von (geschriebener
oder gesprochener) Sprache und anderen Symbolformen in gesellschaftli-
chen Praktiken;
- betonen, dass im praktischen Zeichengebrauch der Bedeutungsgehalt von
Phanomenen sozial konstruiert und diese damit in ihrer gesellschaftlichen
Realitat konstituiert werden;
- unterstellen, dass sich einzelne Interpretationsangebote als Telle einer
umfassenderen Diskursstruktur verstehen lassen, die voriibergehend
durch spezifische institutionell-organisatorische Kontexte erzeugt und
stabilisiert wird, und
- gehen davon aus, dass der Gebrauch symbolischer Ordnungen rekon-
struierbaren Regeln des Deutens und Handelns unterliegt.
Vgl. zur discourse analysis Kapitel 2.2. und Deppermann (1999); zur Entwicklung
von Wissenssoziologie und Sprachforschung Knoblauch (2000).
Fiir eine sozialwissenschaftliche Diskursforschung, die sich fiir die institutio-
nelle Regulierung kollektiver Wissensordnungen interessiert, sind die struk-
tur- und praxistheoretischen Uberlegungen von Pierre Bourdieu (1987) und
Anthony Giddens (1992) von Bedeutung. Giddens bspw. begreift Handeln
(und damit auch kommunikatives Handeln) in Analogie zu Ludwig Wittgen-
steins Theorie der Sprachspiele als Realisierung von Strukturmustem (Re-
geln); diese existieren im konkreten Handlungsvollzug, der sie aktualisiert, in
ihrer Giiltigkeit bestatigt und weiter fortschreibt, der sie aber auch in Frage zu
stellen, zu unterlaufen oder zu transformieren vermag. Das tatsachliche Ge-
schehen ist dabei keine direkte Folge der zugrunde liegenden Strukturen, son-
dem Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs sozialer Akteure mit die-
sen Mustem. Deswegen unterscheidet sich der konkrete Sprachgebrauch mit
seinen Moglichkeiten der Welt(um)deutung von den starren Systemen des
Strukturalismus (vgl. Kapitel 2.1).
Es ware verktirzt, das zunehmende Interesse an diskurstheoretischen und
diskursanalytischen Perspektiven nur aus binnenwissenschafthchen Prozessen
abzuleiten. Tatsachlich kommt darin auch die wissenschaftliche Reflexion he-
terogener gesellschaftlicher Veranderungen und Wandlungsprozesse zum
Ausdruck, die in jtingerer Zeit das Label der Wissensgesellschaft erhalten ha-
ben, und deren Bedeutung fur die Entwicklung der modemen Gesellschaften
etwa von Giddens (1991) betont werden. Mit dem Ansteigen systematischer
Wissensproduktion nimmt die offentliche Aufinerksamkeit fiir die Kontingenz
dieses Wissens zu. Helga Nowotny hat in diesem Zusammenhang davon ge-
sprochen, dass Tatsachen ihre Eindeutigkeit, d.h. ihre eindeutige Klassifizier-
barkeit verlieren (vgl. Nowotny 1999). Ahnlich wird in anderen Teilen der
Wissenschafts- und Technikforschung die Zunahme hybrider Phanomene fest-
gestellt, die sich eindeutigen Zurechnungen auf Natur, Gesellschaft oder
Technik entziehen (Latour 1995). Gerade deswegen sind Diskurse als Prozes-
se und Versuche der Sinnzuschreibung und -stabilisierung von hoher gesell-
schaftlicher Bedeutung. Neben der exponentiellen Zunahme der Wissenspro-
duktion gibt es einen zweiten empirischen Grund ftir die Konjunktur der Dis-
kursforschung: die enorme Verbreitung von professionalisierten Kommunika-
tionsprozessen und -technologien, d.h. der strategisch-instrumentellen Bear-
beitung der Sprachpraxis in den verschiedensten gesellschaftlichen Hand-
lungsfeldem (Keller 2005b).
Die Konzeption der Einfuhrung
Die vorliegende Einfuhrung wendet sich an Sozial-, Geschichts- und Politik-
wissenschaftlerlnnen, die sich fiir die Prozesse der Erzeugung, Stabilisierung
und auch Transformation gesellschaftlicher Wissensordnungen interessieren.
Sie bietet zunachst einen Uberblick liber das gegenwartige Spektrum der Dis-
kursforschung und fokussiert dann im Anschluss an den Ansatz der Wissens-
soziologischen Diskursanalyse (Keller 2005b) Fragen der methodischen Um-
setzung. Trotz der Vielzahl an Publikationen zur Diskurstheorie und Diskurs-
analyse bleibt das konkrete empirische Vorgehen in den meisten Veroffentli-
chungen nur indirekt erschlieBbar. Wahrend Diskurstheorien in elaborierter
Form vorliegen, gibt es jenseits der Methodenvorschlage quantifizierender,
auf groBe Textkorpora orientierter sprachwissenschaftlicher Diskursforschung
und der erwahnten discourse analysis kaum Einfiihrungen in diskursanalyti-
sche Vorgehensweisen. Von Wissenssoziologischer Diskursanalyse wird zu-
nachst deswegen gesprochen, weil diskurstheoretische und diskursanalytische
Perspektiven aufgrund ihrer Forschungsinteressen und methodischen Vorge-
hensweisen in der Tradition soziologischer Wissensanalysen verortet werden
konnen. Spezifischer wird damit ein Ansatz der Diskursanalyse vorgestellt,
der einen Brlickenschlag zwischen handlungs- und strukturtheoretischen Tra-
ditionen der Wissenssoziologie anvisiert. Dieser Ansatz soil dazu beitragen,
den Gegensatz zwischen Wissensanalysen, die auf die Emergenz kollektiver
Wissensordnungen fokussieren, und solchen, die Defmitionskampfe gesell-
schaftlicher Akteure betonen, zu uberwinden. Dies gilt nicht nur im Hinblick
auf die theoretische Fundierung, sondem auch beziiglich der Moglichkeiten
methodisch-praktischer Umsetzungen von Diskursanalysen. Dass in diesem
Zusammenhang von ^xssQnssoziologie gesprochen wird, lasst sich aus der
disziplinaren Herkunft des Verfassers erklaren. Denn tatsachlich entwickeln
diskurstheoretische und diskursanalytische Ansatze seit langerem disziplin-
iibergreifende theoretische und methodische Prinzipien, die eine Trennung
von Soziologie, Sprach-, Geschichts- und Politikwissenschaften durch ihren
jeweiligen Forschungsgegenstand, aber immer weniger durch unterschiedene
Theorien und Methoden begrlinden. Die Wissenssoziologische Diskursanaly-
se wird in ihrer methodischen Umsetzung in der Sozialwissenschaftlichen
Hermeneutik verortet. Sie ist in ihrer empirisch-methodischen Umsetzung ein
Interpretationsprozess. Deswegen kann bei der Datenerhebung und -auswer-
tung mit Gewinn auf Analysestrategien zuriickgegriffen werden, die im Kon-
text des interpretativen Paradigmas bzw. der qualitativen Sozialforschung
entwickelt wurden. Es geht dabei nicht um die Erfmdung neuer oder gar der
Methode(n) der Diskursforschung. Vielmehr werden Vorschlage gemacht,
wie qualitative Methoden systematisch und sinnvoll in diskursanalytische
Forschungsperspektiven einbezogen werden konnen, welche Modifikationen
diesbezUglich vorzunehmen sind und wie mit den dabei entstehenden Proble-
men umgegangen werden kann.
Die Einfuhrung ist in sieben Kapitel gegliedert. Im anschlieBenden zwei-
ten Kapitel werden die wichtigsten aktuellen Perspektiven der Diskursfor-
schung kurz erlautert. Damit konnen die Leserlnnen die Vorschlage zur me-
thodischen Umsetzung der Diskursforschung in einem breiteren Theorie- und
Forschungsfeld verorten. Das Kapitel kann dariiber hinaus als Ausgangspunkt
fur Vertiefungen unterschiedlicher diskursorientierter Perspektiven genutzt
10
werden. Die anschlieBenden Kapitel drei bis sechs widmen sich, ausgehend
von einigen Schlusselkonzepten der Diskursforschung und einem Uberblick
uber Forschungsfragen, den unterschiedlichen Stufen des Forschungsprozes-
ses, etwa der Zusammenstellung des Datenkorpus, den Methoden der Daten-
erhebung und -auswertung sowie der Gesamtinterpretation. Damit sollen Le-
serlnnen in die Lage versetzt werden, eigenstandig entsprechende For-
schungsvorhaben zu konzipieren. Das abschlieBende siebte Kapitel enthalt ei-
nen kurzen Ausblick auf die weiteren Perspektiven sozialwissenschaftlicher
Diskursforschung. Bedanken mochte ich mich an dieser Stelle bei Alexandra
Obermeier und Willy Viehover fur ihre hilfreichen Kommentare zu den ver-
schiedenen Manuskriptversionen.
11
2 Ansatze der Diskursforschung
Der Begriff,discourse' meint im angelsachsischen Sprachalltag ein einfaches
Gesprach, eine Unterhaltung zwischen verschiedenen Personen. In der fran-
zosischen bzw. den romanischen Sprachen ist ,discours' (,discorso') eine ge-
laufige Bezeichnung fur eine ,gelehrte Rede', einen Vortrag, eine Abhand-
lung, Predigt, Vorlesung und dergleichen mehr. Seit einigen Jahren taucht
auch in der deutschen Alltagssprache der Begriff ,Diskurs' auf, meist, um
damit ein offentlich diskutiertes Thema (z.B. der Hochschulreformdiskurs),
eine spezifische Argumentationskette (z.B. ,der neoliberale Diskurs') oder die
Position/AuBerung eines Politikers, eines Verbandssprechers (etwa ,der Ge-
werkschaftsdiskurs') usw. in einer aktuellen Debatte zu bezeichnen, zuweilen
auch, um von organisierten Diskussionsprozessen zu sprechen. Dennoch ist
,Diskurs' als nicht-wissenschaftlicher Begriff im Englischen und Franzosi-
schen sehr viel gelaufiger, und auf diesen Begriffsverstandnissen beruht zum
groBten Teil seine wissenschaftliche Karriere. Dabei wird unter ,Diskurs'
auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften sehr Unterschiedliches ver-
standen. Das gilt sowohl fiir die theoretische Konzeptualisierung im Hinblick
auf disziplinspezifische Forschungsinteressen wie auch fiir die methodische
Umsetzung in konkreten Forschungsprojekten. In den letzten Jahren sind ins-
besondere im englischsprachigen Raum eine Vielzahl von Einfiihrungs- und
Uberblickdarstellungen zum Diskursbegriff erschienen. Sie dokumentieren
die enorme Verbreitung von diskursbezogenen Perspektiven in verschiedenen
Disziplinen und auch quer zu Disziplingrenzen. Mehrere PubHkationsreihen
und Zeitschriften wie „Discourse & Society" oder „Discourse Studies", aber
auch Workshops, Tagungen und Sunmier Schools haben sich als Foren ent-
sprechender Diskussionen etabliert. Im diszipliniibergreifenden Uberblick
konnen einige, in sich wiederum differenzierte Akzentuierungen des Diskurs-
begriffs unterschieden werden. Die wichtigsten Grundideen werden nachfolgend
exemplarisch vorgestellt. Zuvor mochte ich die wissenschaftliche Karriere des
Diskursbegriffs kurz beleuchten.
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2.1 Die Karriere des Diskursbegriffs
Die Sprachwurzeln von ,Diskurs' liegen im altlateinischen ,discurrere' oder
,discursus'. Als Allerweltswort wird der Begriff in unterschiedlichen Zusam-
menhangen benutzt. Im 13. Jahrhundert entstehen spezifischere philosophi-
sche Fassungen und ab dem 16. Jahrhundert werden damit haufig ,gelehrte'
Abhandlungen bezeichnet (Schalk 1997/98; Nennen 2000a; Kohlhaas 2000).
Im Kontext des philosophischen Pragmatismus benutzen Charles S. Peirce
und George H. Mead den Ausdruck „universe of discourse". Sie kommen
damit der heutigen Begriffsverwendung im Sinne der vorliegenden Einfiih-
rung sehr nahe: „Es wird davon ausgegangen, dass sich die Bedeutung
sprachlicher AuBerungen immer in Relation zu einem die Kodierung und De-
kodierung reglementierenden ,Diskursuniversum', dem konkreten Kontext
einer AuBerung, erschlieBt" (Schalk 1997/98: 93). Der Diskursbegriff be-
zeichnet hier die Verkniipfting von einzelnem Sprachereignis und kontextab-
hangiger Bedeutungszuweisung: Zeichen haben Bedeutung nur im Kontext
umfassenderer ,Sprachspiele'.
Im us-amerikanischen sprachwissenschaftlichen Strukturalismus und der
Distributionslinguistik hat Zelig S. Harris 1952 den Begriff der ,discourse a-
nalysis' zur Bezeichnung seines Ansatzes einer strukturell-grammatikalischen
Analyse von Indianersprachen eingefiihrt; ,discourse' bezeichnet hier satz-
Ubergreifende sprachliche Strukturen (Harris 1952). Unter diesem Label ent-
wickelt sich dann ein breites Spektrum der sprachpragmatischen Erforschung
insbesondere miindlicher Kommunikationsprozesse. Die Vorschlage von Har-
ris wurden auch zur Inspirationsquelle flir quantifizierende Analysen groBer
Textkorpora im Schnittpunkt von Sprach- und Geschichtswissenschaften
(Guilhaumou 2005).
Fur den Gebrauch des Diskursbegriffs im Sinne der vorliegenden Einfuh-
rung waren vor allem die theoretisch-konzeptionellen Entwicklungen im fran-
zosischen Strukturalismus und Poststrukturalismus seit Mitte der 50er Jahre
wichtig. Sie konnen hier nur in wenigen Stichworten umrissen werden.* Als
,Strukturalismus' wird ein in den 50er und 60er Jahren in Frankreich entstan-
denes Ensemble von Theorien und Forschungen in unterschiedlichen Diszip-
linen bezeichnet, deren Gemeinsamkeit im Riickgriff auf die Sprachtheorie
von Ferdinand de Saussure (1967) besteht. Aus der Auseinandersetzung mit
verschiedenen Kritiken entwickeln einige Strukturalisten dann ab Mitte der
60er Jahre modifizierte Positionen, die als Neo- oder ,Poststrukturalismus' e-
tikettiert werden. Wahrend der Strukturalismus Diskurse als abstrakte und ob-
jektive Regelstrukturen begreift und untersucht, wendet sich der Poststruktu-
ralismus starker den Wechselwirkungen zwischen (abstrakten) symbolischen
Ordnungen und dem konkreten Sprach- bzw. Zeichengebrauch, d.h. dem Ver-
1 Vgl. Frank (1983), Dosse (1996, 1997), Williams (1999), Reckwitz (2000), Staheli
(2000).
14
haltnis von Strukturen und Ereignissen (meist Sprach-Handlungen bzw. sozia-
len Praktiken) zu.
Am Ausgangspunkt der Entwicklung des Strukturalismus steht zunachst
die durch den Ethnologen Claude Levi-Strauss vermittelte Rezeption der
Sprachtheorie des Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure in
den franzosischen Sozial- und Geisteswissenschaften.^ Saussure entwarf einen
wissenschaftlichen Begriff von Sprache, der diese als System von Zeichen -
die „langue" - begreift, das dem konkreten Sprechen und Schreiben, d.h. dem
praktischen Sprachgebrauch der Individuen zugrunde liegt.^ Dieses Sprach-
system wird als eine historisch entstandene soziale Institution - vergleichbar
dem politischen System oder dem Recht - verstanden, deren Genese auf die
sprachlichen Interaktionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft zuriickgefuhrt
werden kann. Allerdings handelt es sich dabei um ein emergentes Phanomen,
das sich als Ganzes aus der Summe der einzelnen Beitrage ergeben hat, ohne
damit identisch zu sein. Nicht von ungefahr enthalt diese Beschreibung An-
klange an die Soziologie von Emile Durkheim:
„Die soziologische Bedeutung des Begriffs Langue/Parole liegt auf der Hand. Schon
sehr friih hat man die offenkundige Verwandtschaft der Sprache im Saussureschen
Sinn (langue) mit dem Durkheimschen Begriff des KoUektivbewuBtseins hervorgeho-
ben, das von seinen individuellen Manifestationen unabhangig ist: man hat sogar be-
hauptet, daB Durkheim einen direkten EinfluB auf Saussure gehabt habe; Saussure soil
die Auseinandersetzung zwischen Durkheim und Tarde aus der Nahe verfolgt haben;
seine Auffassung der Sprache soil von Durkheim kommen und seine Auffassung des
Sprechens eine gewisse Konzession an Tardes Ideen tiber das Individuelle sein." (Bar-
thesl981:21 [1964])
Von der Sprache als einem System zu sprechen, impliziert die Annahme be-
stimmter Beziehungen, RegehnaBigkeiten bzw. Strukturen zwischen den Sys-
temelementen; diese steuem als Code den praktischen Sprachgebrauch. Fol-
genreich fur die Entwicklung diskursanalytischer Perspektiven ist dabei die
entschiedene Verabschiedung einer Reprasentationsperspektive, d.h. der Vor-
stellung, Lautbild und Bedeutung eines Zeichens seien eine Widerspiegelung
des empirischen Phanomens, auf das es sich bezieht."^ Nach Saussure ergibt
Vgl. zur Einfuhrung in das Werk von Saussure Prechtl (1994); allgemein zur Semiotik
Chandler (2002); zur Verortung der Arbeiten Saussures in der Entwicklung diskurs-
theoretischer Perspektiven Williams (1999), Howarth (2000), Kress (2001), Staheli
(2000).
Saussure betrachtet die Sprache als wichtigstes Zeichensystem; die Uberlegungen las-
sen sich allerdings analog auf andere Zeichenformen iibertragen. In diesem Sinne wer-
den in der Semiotik alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse, d.h. als
Prozesse der EntauBerung und Rezeption von Zeichen verstanden. Vgl. dazu sowie zu
Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Sprachtheorien von Saussure und
Peirce z.B. Eco (1991: 28ff); Chandler (2002: 17ff).
Saussure steht damit nicht alleine: Die Abbildfiinktion der Sprache wird auch bspw.
bei Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger und im us-amerikanischen Pragmatismus ver-
15
sich der Gehalt eines Zeichens aus der Stellung des Zeichens im Zeichensys-
tem der langue, d.h. in den Differenzbeziehungen zu den anderen Zeichen,
von denen es sich unterscheidet. In diesem Sinne ist er willktirlich oder , arbit-
rary weil ihm keine auBersprachliche, gleichsam natiirliche Notwendigkeit
zukommt; nicht in dem Sinne, dass man im Sprechen Zeichen beliebig einset-
zen konne, denn dann ware keine Verstandigung moglich. Das hier nur in we-
nigen Grundziigen vorgestellte Sprachmodell von Saussure wurde von Claude
Levi-Strauss Ende der 40er Jahre auf Fragestellungen der Ethnologic und
Kulturanthropologie ubertragen. Konkrete kulturelle Phanomene wie Ver-
wandtschaftsbeziehungen oder die Erzahlung von Mythen werden von ihm in
Analogic zur Saussureschen Sprachthcorie als parole, d.h. als Ereignisse beg-
riffen, denen cine subjektunabhangige Regelstruktur, etwa ein System der
Verwandtschaftsstrukturen oder ein System der Mythen (d.h. jewcils cine Art
langue) zugrunde liegt. So wie die Zeichen im System der Sprache bilden
auch hier die einzelnen Elemente ihren Wert, ihre Bedeutung durch die Diffe-
renzbeziehungen innerhalb dieses systemischen Strukturgefiiges. Aufgabe der
Wissenschaften ist dann die Rekonstruktion dieser Systeme bzw. objektiven
Strukturen fiir ihre jeweiligen Forschungsgegenstande.
Fiir die heutige Begriffskonjunktur von ,Diskurs' sind die Arbeiten des
Philosophen Michel Foucault am folgenreichsten. Im Kontext des strukturalis-
tischen Elans veroffentlicht er 1966 seine Analyse der „Ordnung der Dinge"
(Foucault 1974a). Darin unterscheidet er im historischen Riickblick auf Re-
naissance, Aufklarung, Romantik und Modeme je spezifische, sukzessiv auf-
tauchende und sich ablosende grundlegende Wissensordnungen bzw. allge-
meine Erkenntnisstrukturen („episteme")- So wie die langue der parole zu-
grunde liegt und sic erst ermoglicht, so liegen diese Strukturen des Erkennens
den konkreten Erkenntnistatigkeiten und ihrer sprachlichen Fixierung in den
verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zugrunde. Foucault verab-
schiedet damit - wie schon zuvor Friedrich Nietzsche und auch sein eigener
Lehrer, der Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem - alle Vorstellungen
einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung im Sinne stan-
dig fortschreitender Wahrheitsfmdung. Dieses Buch, im Untertitel als „Ar-
chaologie der Humanwissenschaften" bezeichnet,
„ist das editorische Ereignis des Jahres (...) Foucault wird von der strukturalistischen
Welle getragen, und sein Buch erscheint als die philosophische Synthese der seit rund
fiinfzehn Jahren gefuhrten neuen Reflexion. Hat der Autor spater das Etikett des
Strukturalismus von sich gewiesen und es als Schmahung gewertet, so siedelt er sich
doch 1966 mit Nachdruck im Kern des Phanomens an." (Dosse 1996: 475)
Die hier nur angedeutete Verbreitung strukturalistischer Annahmen ist von
Anfang an in Frankreich der von Paul Ricoeur, Julia Kristeva, Jacques Derri-
abschiedet; entsprechende Positionen lassen sich bis zu Platon zuriickverfolgen (Dos-
se 1996: 76ff; Rorty 1967, 1981, 1989; Reckwitz 2000).
16
da und vielen anderen formulierten Kritik ausgesetzt.^ Die Einwande stiitzen
sich auf phanomenologisch-hermeneutische Philosophietraditionen, die Se-
miotik des amerikanischen Pragmatismus, sprachphilosophische Reflexionen
des tatsachlichen Sprachgebrauchs und alternative wissenschaftliche Theorien
zur menschlichen Sprachfahigkeit. Vor allem gegen drei Merkmale der struk-
turalistischen Perspektiven wird Einspruch erhoben: Erstens wird der als ii-
berzogen eingeschatzte wissenschaftliche Objektivismus sowie die Ahistori-
zitat und fehlende Dynamik der strukturalistischen Modelle kritisiert. Bei-
spielhaft dafur steht etwa Foucaults Beschreibung des epochenspezifischen,
diskontinuierlichen Nacheinander unterschiedlicher Wissensordnungen, die
mit der expliziten Ablehnung von Fragen nach dem Warum und Wie ihres
Wandels einhergehen. Der zweite Komplex von Einwanden richtet sich auf
die - zugunsten der Strukturpraferenz - fehlende Beschaftigung mit dem
konkreten Sprachgebrauch, d.h. den einzelnen Kommunikationsereignissen.
Der Strukturalismus interessiert sich demnach nur ftir abstrakte Differenzsys-
teme, ohne dass er angeben kann, wie diese den konkreten Phanomenen
zugrunde liegen. SchlieBlich wird drittens auch die mangelnde Reflexion der
Bedeutungsdimension symbolischer Ordnungen und deren Anwendung in den
Interpretationsleistungen von sozialen Akteuren beklagt. So wird im Struktu-
ralismus von der Urheberschaft von Textproduzenten und den Interpretations-
leistungen der Rezipienten abstrahiert, wenn es um den in Texten enthaltenen
Sinn geht, denn dahinter steckt ja, so die Annahme, die abstrakte Struktur der
jeweiligen langue. Dagegen verweist etwa die Rezeptionsasthetik auf die
Moglichkeit prinzipiell unendlich verschiedener Toxtlesarten durch je histo-
risch situierte Interpreten. Wahrend solche und andere kritische Stimmen zu-
nachst nur vereinzelt Gehor fmden, andert sich ihr Einfluss gegen Ende der
60er Jahre, nicht zuletzt im Kontext der Studentenunruhen von 1968, wo ein
heftiger und polemischer Streit dariiber entbrennt, ob die Strukturen auf die
StraBe gegangen seien, oder die Menschen (Dosse 1997: 152ff). Viele, in un-
terschiedlichen Disziplinen arbeitende und mehr oder weniger durch den
Strukturalismus gepragte Wissenschaftler wie Roland Barthes, Michel Fou-
cault, Pierre Bourdieu, Louis Althusser oder Jacques Lacan versuchen, Ar-
gumente der Strukturalismuskritik in ihre Theorien einzubauen und starker
auf Fragen der tatsachlichen praktischen Gebrauchsweisen der Symbolsyste-
me einzugehen. Sie entwickehi damit neo- oder poststrukturalistische Ansat-
ze. Fragen nach dem Verhaltnis von Strukturen und Ereignissen, Handlungen
und Subjekten, Statik und Dynamik werden dabei in unterschiedlicher Weise
beantwortet.^
5 Vgl. etwa Dosse (1997); Frank (1983); Reckwitz (2000); Staheli (2000).
6 Dosse (1995) diagnostiziert fur die franzosische Debatte eine ,vollstandige Riickkehr
des Akteur- und Subjektbezugs' ab Anfang der 1970er Jahre.
17
Exkurs: Die Diskursethik von Jiirgen Habermas und die
Diskursforschung
Eine der haufigsten Verwendungen des Diskursbegriffs wurde durch die von dem deut-
schen Sozialphilosophen Jiirgen Habermas entwickelte, mitunter auch als Diskurstheorie
bezeichnete Diskursethik ausgelost (z.B. Habermas 1981, 1983, 1994; Nennen 2000; Gott-
schalk-Mazouz 2000). In Auseinandersetzung mit verschiedenen sprachphilosophischen
und sozialwissenschaftlichen Theorien entwirft Habermas, aus der Tradition der Kritischen
Theorie kommend, eine umfangreiche „Theorie des kommunikativen Handelns". Darin
spielt die Idee des „herrschaftsfreien Diskurses" eine zentrale Rolle. Ein Kemgedanke ist
die Annahme, dass menschliche Sprachfahigkeit bzw. -kompetenz genau vier Geltungsan-
spruche impliziert, die in jedem konkreten, emsthaft gemeinten Sprechakt eines sprach-
kompetenten, vemunftbegabten Sprechers mittransportiert und von den Kommunikations-
teilnehmem wechselseitig unterstellt werden miissen. Erst dadurch ist sprachliche Verstan-
digung uberhaupt moglich. So erwarten wir, dass Aussagen verstandlich und wahr sind,
dass der Sprecher Wahrhaftigkeit an den Tag legt und dass das GeauBerte richtig ist. Diese
Eigenschaften kann man - so Habermas - gezielt in der Form von ,Diskursen' nutzen.
,Diskurse' sind hier Fortsetzungen des normalen kommunikativen Handelns mit anderen
Mitteln, namlich organisierte (Diskussions-)Prozesse argumentativer Auseinandersetzun-
gen. Sie sollen durch explizite Regeln und GestaltungsmaBnahmen eine moglichst weitge-
hende Einhaltung der erwahnten Geltungsanspniche gewahrleisten; dies gilt auch fur die
Moglichkeit zur Teilnahme/AuBerung fiir alle, die von dem jeweiligen Thema ,betroffen'
sind. Die Diskursethik formuliert ein sozial- und sprachphilosophisch begrundetes norma-
tives Modell, aber kein Forschungsprogramm. Mit Diskursforschung hat der Habermass-
che Ansatz also wenig zu tun; allerdings wird sein Diskurskonzept im Kontext der critical
discourse analysis teilweise als kritischer MaBstab zur Beurteilung der ,Verzerrungsgrade'
realer Kommunikationsprozesse herangezogen (vgl. Kapitel 2.4). So benutzt bspw. die os-
terreichische Soziolinguistin Ruth Wodak die Diskursethik als MaBstab zur empirischen
Feststellung von - gemessen am Idealmodell - Verzerrungen bzw. Storungen ,realer Dis-
kurse', also realer Gesprachsverlaufe. Die Diskursethik wird hier zur normativen Grundla-
ge einer diskurskritischen Sprachforschung, die „Diskursunordnung" in institutionellen
Kontexten und organisatorischen Settings untersucht (Wodak 1996). Vollig anders dage-
gen ist der Bezug in den diskursanalytischen Forschungen von Jiirgen Gerhards u.a. (vgl.
Kap. 2.5). Diese zielen darauf, anhand der Rekonstruktion medienvermittelter offentlicher
Diskussionsprozesse iiber umstrittene Themen (wie bspw. Abtreibung) empirisch nachzu-
weisen, dass die modeme Medienoffentlichkeit dem Habermasschen Diskursideal nicht
entspricht. Hier dient die Diskursethik nicht als normativer MaCstab der Kritik, sondem es
wird empirisch gezeigt, dass offentliche Diskussionsprozesse nicht dem Ideal der regulati-
ven Idee folgen (z.B. Gerhards 2005; Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998).
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Einfiihrungsliteratur zum Diskursbegriff
Den allgemeinen Hintergrund zu den Perspektiven der Diskursforschung bilden Debat-
ten iiber ,sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus' und ,Wissenssoziologie' (vgl.
Burr 1997; Hacking 1999; Gergen 1999; Maasen 1999; McCarthy 1996; Power 2000;
Knoblauch 2005). Zur Diskursforschung gibt es eine Vielzahl von Einfiihrungen, Uber-
blicken und Sammelbanden, die meist entweder Schwerpunktsetzungen in der Diskurs-
theorie oder in der discourse analysis (DA) vomehmen. In jiingerer Zeit werden auch
Vorschlage zur Vermittlung dieser Perspektiven vorgelegt. Unter den vielen Einftihrun-
gen seien hier einige genannt, die mir hilfreich scheinen. Auf weitere Literatur zu ein-
zelnen Ansatzen gehe ich an spaterer Stelle ein.
MacDonell (1986) erlautert diskurstheoretische Entwicklungen vom Strukturalismus
iiber die marxistische Diskursanalyse von Pecheux bis hin zu den Arbeiten von Fou-
cault; Mills (1997) fiihrt in die Arbeiten Foucaults ein und stellt Bezuge zur feministi-
schen und postkolonialen Diskussion her; Howarth (2000) skizziert Entwicklungen von
Saussure iiber Althusser, Foucault und den Poststrukturalismus bis hin zur Diskurstheo-
rie von Mouffe und Laclau. Landwehr (2001) fiihrt in Grundlagen diskurshistorischer
Ansatze ein. Die Beitrage in Keller/Hirseland/SchneiderA/'iehover (2006; 2005a) pra-
sentieren theoretisch-konzeptionelle Vorschlage und forschungspraktische Umsetzun-
gen aus unterschiedlichen Disziplinen. In Keller/Hirseland/SchneiderA^iehover (2005b)
werden Beziehungen und Abgrenzungen zwischen wissenssoziologischen und post-
strukturalistischen Perspektiven der Diskursforschung diskutiert. Van Dijk (1997a,b),
Parker/ The Bolton Discourse Network (1999) erlautem Vorgehensweisen der DA aus
einem breiten Disziplinspektrum; Wetherell/TaylorAfates (2001b) stellen exemplari-
sche Anwendungen der DA vor; Gee (1999) verkniipft die DA mit diskurstheoretischen
Uberlegungen. Jorgensen/ Philipps (2002) stellen neben der Diskurstheorie von Laclau/
Mouffe auch die Critical Discourse Analysis und die Diskursive Psychologie (Potter,
Wetherell u.a.) vor und bemiihen sich um eine Integration dieser Ansatze. Andersen
(2003) arbeitet vergleichend Analysestrategien von Diskurstheorie, Begriffsgeschichte
und Systemtheorie heraus. Die Reader von Wetherell/Taylor/ Yates (2001a) und Ja-
worsky/Coupland (1999) prasentieren eine Auswahl grundlegender Texte insbesondere,
aber nicht nur aus dem Kontext der DA. Philipps/Hardy (2002) liefem einen knappen
Uberblick iiber theoretische Grundlagen und praktische Umsetzungen einer Diskursfor-
schung, die Diskurstheorie und DA verbinden will. Keller (1997) fasst Grundiiberle-
gungen sozialwissenschaftlicher Diskursforschung zusammen. Williams (1999), Cha-
raudeau/Maingueneau (2002) und Guilhaumou (2005) dokumentieren Entwicklung und
Stand der franzosischen Diskursforschung.^
7 Kurze Erorterungen methodologischer und methodischer Aspekte fmden sich bei Kar-
penstein-EBbach (2000) und Waldschmidt (1997). Politikwissenschaftliche Ansatze
mit mehr oder weniger starker sprachwissenschaftlicher Verankerung werden erlautert
in Maas (1988, 1989), Januschek (1985), Nullmeier (2006), Fischer/Forrester (1993),
Hajer (1995, 2002, 2005), Opp de Hipt/Latniak (1991), Donati (2005), Chil-
ton/Schaffner (2002), Mottier (2002), Howarth/Torfmg (2005), Dyk (2006); litera-
turwissenschaftliche Auseinandersetzungen fmden sich in Fohrmann/Miiller (1988),
Bogdal (1999). Vgl. zur geschichtswissenschaftlichen Diskursforschung und anderen
Disziplinen weiter unten.
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2.2 discourse analysis
Der Sammelbegriff discourse analysis (DA) bezeichnet eine Vielzahl von
Forschungsansatzen, die sich aus linguistischen, soziolinguistischen, ethno-
methodologisch-konversationsanalytischen, soziologischen und psychologi-
schen Perspektiven mit der Analyse von ,naturlichen' Kommunikationspro-
zessen in unterschiedlichen Kontexten beschaftigen. Dabei handelt es sich um
die in der englischsprachigen Diskursliteratur sicherlich am weitesten ver-
breitete Variante des Diskursbegriffs.^ Im Deutschen sollte diesbezuglich
vielleicht eher von qualitativer ,Sprachgebrauchsforschung' oder empirischer
Gesprachsforschung gesprochen werden, um Missverstandnisse mit anderen
Diskursbegriffen zu vermeiden (Deppermann 1999). Auch wenn die Konver-
sationsanalyse dem Spektrum der DA zugeordnet werden kann, so spielen in
letzterer doch Fragen des Kommunikationskontextes und die aktualisierten
Inhalte eine groBere Rolle. Dies zeigt sich insbesondere in der weiter unten
behandelten Critical Discourse Analysis (vgl. Kapitel 2.4).
Disziplintibergreifend charakterisiert der niederlandische Sprachwissen-
schaftler Teun van Dijk das Projekt der discourse analysis durch das Ziel ei-
ner Analyse von Sprachgebrauch - Reden oder Schreiben („text and talk") -
als Realprozess im gesellschaftlichen Kontext („in action"). Dabei reicht der
Kontextbegriff von lokal-situativen bis hin zu gesamtgesellschaftlichen, his-
torisch dia- und synchron weit ausgreifenden Dimensionen. Die Bestimmung
des Anfangs und Endes eines Diskurses wird in Abhangigkeit von der For-
schungsfrage getroffen. Zentrale Fragen richten sich darauf, wer in einem
kommunikativen Ereignis wie, warum und wann Sprache gebraucht:
Grundlagenliteratur zur discourse analysis
Deppermann (1999) prasentiert einen verstandlichen Zugang zur Gesprachsforschung,
der sprachwissenschaftliche und soziologische Perspektiven verkntipft. Philipps/Hardy
(2002) skizzieren ebenfalls primar die Forschungspraxis. Die von Teun van Dijk he-
rausgegebenen Handbticher (1985; 1997a,b) stellen Ansatze aus Sprachwissenschaften
und kognitiver Psychologie vor. Hilfreiche neuere Zusammenstellungen der unter dem
Dach der DA versammelten Ansatze liefem Wetherell/TaylorAfates (2001b), Schiffrin/
Tannen/Hamilton (2001) sowie Cameron (2001). Billig (1996) entwickelt eine einfluss-
reiche Perspektive auf den Zusammenhang von Argumentationsprozessen und Kog-
nitionen. Wetherell/Taylor/Yates (2001a) und Jaworski/Coupland (1999) prasentieren
klassische Grundlagentexte. Parker/The Bolton Discourse Network (1999) erlautem zu-
satzlich semiotische Zugange zur Analyse visueller Dokumente u.a.m. Gee (1999) ver-
kntipft die DA mit Uberlegungen zu Theorien kognitiver Schemata und zur Diskursthe-
orie. Schiffrin (1994), Ehlich (1994), Fritz/Hundsnurscher (1994) oder auch
BrownAfule (1983) konzentrieren sich auf linguistische Ansatze der DA. Beziige zur
ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der soziologischen Sprachforschung
Darauf beziehen sich auch meist die Beitrage in den Zeitschriften ,Discourse & Socie-
ty', ,Discourse Studies' und anderen sprachwissenschaftlichen Fachzeitschriften.
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finden sich in Luckmann (1979), McHoul (1994), Eberle (1997), Knoblauch (2000),
Wood/Kroger (2000). Unter dem Etikett der diskursiven Psychologic hat sich eine neue
Forschungsperspektive entwickelt, die psychologische Fragestellungen mit den Mitteln
der DA untersucht (Potter 1996, 2006; PotterAVetherell 1987; Edwards 1997; Ed-
wards/Potter 1992; Parker 1992).
"I have characterized discourse as essentially involving three main dimensions,
namely language use, cognition, and interaction in their sociocultural contexts. Instead
of vaguely summarizing, paraphrasing or quoting discourse, as is still often the case in
social scientific approaches, discourse analytical studies distinguish various levels,
units or constructs within each of these dimensions, and formulate the rules and strate-
gies of their normative or actual uses. They functionally relate such units or levels
among each other, and thereby also explain why they are being used. In the same way,
they functionally connect discourse structures with social .and cultural context struc-
tures, and both again to the structures and strategies of cognition. Discourse analysis
thus moves from macro to micro levels of talk, text, context or society, and vice versa.
It may examine ongoing discourse top dovm, beginning with general abstract patterns,
or bottom up, beginning with the nitty-gritty of actually used sounds, words, gestures,
meanings or strategies. And perhaps most importantly, discourse analysis provides
the theoretical and methodological tools for a well-founded critical approach to the
study of social problems, power and inequality." (Van Dijk 1997c: 32)
Van Dijk begreift die discourse studies als neue Querschnittsdisziplin, insbe-
sondere als Briickenschlag zwischen Sprach- und Kognitionsforschung. Je
nach Fragestellung und (inter)disziplinarer Perspektive zwischen Linguistik,
Kognitionswissenschaften, Psychologie und Soziologie sind weitere Spezifi-
zierungen der Diskursebenen notwendig. Trotz der weiten Definition des
Kontextbegriffs finden sich im Zusammenhang der discourse studies tiber-
wiegend die linguistischen, konversations- sowie gattungsanalytischen Tradi-
tionen der Analyse konkreten Sprachgebrauchs im situativen Kontext. Hier
richten sich Forschungsinteressen auf formale Produktionsregeln und Gat-
tungsstrukturen von Texten und AuBerungen in unterschiedlichen Kontexten,
z.B. auf die Struktur von Nachrichten in Printmedien, auf soziale Faktoren im
Gesprachsverhalten oder Grundmuster von miindlichen Kommunikations-
prozessen (etwa zwischen Lehrem und Schtilem, Mannem und Frauen), auf
die Organisation von Sprecherwechsehi usw. In diesem Sinne defmiert der
diskursanalytische Ansatz der Funktionalen Pragmatik bspw. wie folgt:
„Unter Diskurs sind Einheiten und Formen der Rede, der Interaktion, zu verstehen, die
Teil des alltaglichen sprachlichen Handelns sein konnen, die aber ebenso in einem in-
stitutionellen Bereich auftreten konnen (...) Systematisch gesehen gehort zum Diskurs
die Koprasenz von Sprecher und Horer (,face-to-face-Interaktion'); diese kann aber
z.B. auf zeitliche Koprasenz (am Telefon) reduziert sein. Zugleich laBt sich auch die
Gesamtheit der Interaktionen zwischen Angehorigen bestimmter gesellschaftlicher
Gruppen (z.B. Arzt - Patient, Wissenschaftler, Politiker - Biirger) oder innerhalb ei-
nes ausgewiesenen gesellschaftlichen Bereiches (Z.B. der Lehr-Lem-Diskurs in Schu-
len und anderen Ausbildungsinstitutionen) zusammenfassend als Diskurs bezeichnen.
Die konkreten Formen und Ablaufe von Diskursen sind Gegenstand der Diskursana-
lyse." (Brunner/Graefen 1994: If)
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