Kirsner - Komm Und Sieh
Kirsner - Komm Und Sieh
Inge Kirsner
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Teil I Einführung
1 Gottesbilder im Film. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
V
VI Inhaltsverzeichnis
8 Lust am Untergang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Dystopische Entwürfe in Kinofilmen seit den 60er Jahren
12 „Arrival“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
13 „Biutiful“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
18 „Tschick“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Filmanhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Teil I
Einführung
„Komm und sieh: Religion im Film“
Der Film hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine solche Formenvielfalt erfahren,
dass der Kinofilm nur noch einen kleinen Bereich dieser Variationen darstellt. Zu-
gleich ist dieser Bereich immer noch massenwirksam und gehören viele Filme zu
dem, „was man gesehen haben muss“ – neben all den Serien oder nur über An-
bieter wie Netflix zugänglichen Filmen.
Der Titel dieses Buches: „Komm und sieh!“ – ist einerseits selbst ein Filmtitel
(Elem Klimow, UdSSR 1985) und andererseits die Aufforderung des Jüngers Phi-
lippus, als er gefragt wird, wer denn der aus Nazareth sei, von dem es heißt, dass
auf ihn alle gewartet hätten (Johannes 1, 46). „Komm und sieh (selbst)!“
Elem Klimows Anti-Kriegs-Film hieß in der DDR „Geh und sieh“. Sowohl die
„Komm-“ wie die „Geh-“Struktur soll in diesem Buch und mit ihm der Kinofilm
stark gemacht werden: Jeder Kinobesuch ist eine Reise, und sie führt an einen Ort,
der bei aller Anonymität ein gemeinschaftliches Erleben ermöglicht, das in man-
chem strukturell einem Gottesdienstbesuch gleicht.1
Film führt vor Augen, was (anders) nicht gedacht werden kann, macht sinnlich,
was nur ‚gewusst‘ ist und lässt den ganzen Körper teilhaben an einem Geschehen,
das – so! – noch nie gesehen wurde. Film öffnet Erfahrungsräume und macht – bei
aller Distanz (er ist „Fake“) – klar, dass uns die Beschaffenheit der Welt angeht,
Wer will ich gewesen sein? Diese Frage in den Alltag zu transponieren, heißt,
die Frage nach den „letzten Dingen“ zu einer alltäglichen zu machen und ermahnt
uns, dem Leben eine selbst gewählte Richtung zu geben.
Religion wird hier als emanzipative Bewegung aufgefasst, die den Menschen
eher darin unterstützt, Ambivalenzen auszuhalten, als dualistische, einseitige
Welt- und Gottesbilder zu bestätigen.
So beginnt das Buch in seinem 1. Kapitel, das die Grundlagen eröffnet, mit einer
Auseinandersetzung mit den Gottesbildern im Film und – daran anschließend im
2. Kapitel – den zehn Geboten, wie sie sowohl in alten Bibelfilmen als auch in neu-
eren (nicht explizit religiösen) Filmen wie „The Beach“ Gestalt gewinnen.
In ähnlicher Weise geht es auch in den anderen Beiträgen zu den Grundlagen
zunächst um die Analyse religiöser Themen im Film, wie sie in aktuellen Filmen
aufgenommen wird und für eine nicht religiöse Lesart eine offene Bedeutung ge-
winnen kann.
„Opfere deinen einzigen Sohn, den du liebhast“ – so wird in Genesis 22, 3
Abraham von Gott aufgefordert. „Wie ein Schwein zum Schlachten“ führt auch
der Schulleiter Dumbledore seinen Zögling Harry Potter – nicht das einzige
Kindesopfer in der neueren Filmgeschichte, die biblische Motive aufnimmt und
weiterführt. Von „Arrvial“ bis „Tribute von Panem“ werden im 3. Kapitel unter-
schiedliche – nicht-religiöse – Formen von Opferungen vorgestellt und mögliche
Ausgänge aus dem menschlichen Denken, alles habe seinen Preis, versucht.
Das 4. Kapitel nimmt eine weitere biblische Figur – den leidenden Hiob – in
den Blick, wie sie die Gebrüder Coen in „A Serious Man“ in Szene gesetzt haben
und wie sie der russische Film „Leviathan“ gesellschaftskritisch zeichnet; mit sehr
schwarzem Humor wird die Hiobsfigur in Gestalt des Pfarrers Ivan schließlich
von seinem zunächst rechtsradikal agierenden Schützling Adam in „Adams Äpfel“
erlöst.
Einer weiteren traditionell religiösen Figuration widmet sich das 5. Kapitel mit
dem Thema der „Auferstehung“, das deren sehr unterschiedlichen Gestaltungen in
europäischen („Biutiful“) und amerikanischen Filmen nachgeht („40 Tage in der
Wüste“, „The American“).
Eine ausführliche Typologie des Bösen wird im 6. Kapitel entwickelt, wie es
sich z.B. in „The Dark Knight“ und seiner Fortsetzung „The Dark Knight Rises“
sowie in Tarantinos „Inglourious Basterds“ zeigt.
Von der „Lust am Untergang“ erzählt das 7. Kapitel anhand von Kurzfilmen
und Spielfilmen wie „Die Stadt der Blinden“ und „Melancholia“.
Mit „Die Tribute von Panem“ wurde der Begriff der Dystopie im Mainstream-
kino populär, den es aber in literarischer und filmischer Hinsicht schon viel früher
gab. Mit Dystopien und Utopien beschäftigt sich das 8. Kapitel, das deren (Film-)
6 „Komm und sieh: Religion im Film“
Geschichte exemplarisch seit den 60er Jahren bis heute verfolgt, von „Fahrenheit
451“ und „1984“ bis „Mad Max – Fury Road“ und „Tribute von Panem“.
Mit dem aktuellen Thema der künstlichen Intelligenz setzt sich das 9. Kapitel
der Grundlagen auseinander, das davon ausgeht, dass zuerst das Verhältnis des
Menschen zu den „natürlichen Intelligenzen“ wie den Tieren geklärt werden muss,
ehe es um seine Beziehung zu den Maschinen geht. Ausgehend von den Klassikern
„2001-Odyssee im Weltraum“ und der Reihe „Planet der Affen“ geht die Unter-
suchung auch auf neuere Filme wie „Ex Machina“ und „Blade Runner 2049“ ein.
Letzterer ist auch – mit anderen Filmen – Gegenstand des 10. und letzten Kapitels,
das sich mit Digitalisierung beschäftigt.
Im zweiten großen Teil, den „Konkretionen“, geht es darum, wie die im Film
angeschnittenen Themen und Problemfelder in einem Gottesdienst sowie anderen
gemeinde- und religionspädagogischen Feldern Gestalt gewinnen können.
Es werden Filmausschnitte und theologische Zugänge zu diesen vorgestellt,
die optional in Gottesdienst und Unterricht eingesetzt und in größere Zusammen-
hänge eingebunden werden können. Die liturgischen Elemente sind als Vorschläge
gedacht, wie man die im Film eruierten Themen aufgreifen und in gottesdienst-
lichem und unterrichtlichem Wirken zu biblischen Texten in Beziehung setzen
kann.
Dabei werden sowohl Animationsfilme (Alles steht Kopf), Literaturver-
filmungen (Tschick), Familiendramen (Captain Fantastic, Nokan, Biutiful) als
auch Fantasy- und Science-Fiction-Filme (Arrival, Tribute von Panem, Mad
Max – Fury Road) vorgestellt und die in der Analyse entfalteten Grundlagen prak-
tisch fruchtbar gemacht.
Teil II
Grundlagen: Analyse religiöser Themen
im Film
Gottesbilder im Film
1
Weihnacht
damals
als gott im schrei der geburt
die gottesbilder zerschlug
und
zwischen marias schenkeln
runzelig rot
das kind lag
Kurt Marti
Mag man, nach dem Durchgang durch viele Gottesbilder, deren Verwerfungen und
immer neuen Konstruktionen, schließlich wieder hier mit seinem Gottesbild ankommen,
beim Kind – als Kind stellt man sich Gott sicher nicht als ein solches vor, sondern eher
wie den Gott auf Michelangelos berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle (oder
einem der zahlreichen anderen Gemälde wie dem Bildnis Gottes auf Giovanni Battista
Tiepolos „Die heilige Thekla betet für die Pestkranken“ aus dem Jahr 1758).
Diesem ‚sixtinischen Gott‘ gleicht einer seiner früh(filmisch)en menschlichen
Ebenbilder – Charlton Heston in „Die zehn Gebote“:
Ab der Mitte des Films lernt man Mose (Charlton Heston) als einen schneidigen
jungen Mann kennen, der, zunächst Pharaonenthronanwärter, lernen muss, dass
er eigentlich der untersten Kaste, den Hebräern, angehört und der diese dann aus
der Sklaverei heraus und in die Wüste hinein führt. Dort muss er, als er auf den
Sinai steigt, um Gottes Gebote in Empfang zu nehmen, sein Volk eine Weile allein
lassen. Dieses treibt natürlich eine Menge Unfug, und als er, mit seinen Steintafeln
bewaffnet, den Berg herunterkommt, sehnsüchtig erwartet von Josua, benutzt er
diese, um das mittlerweile errichtete goldene Kalb zu zerschmettern. Er gleicht in
seinem Zorn, mit wallenden weißen Haaren und Bart, dem ‚sixtinischen‘ Bild des
alttestamentlichen Gottes.
Ein etwas anderes Bild gibt er in „Bruce Almigthy“ (Tom Shadyac, USA 2003)
ab, aber es bleibt doch: ein weiser alter Mann. Morgan Freeman gibt hier einen
Gott, der den unzufriedenen Fernsehreporter Bruce Nolan mit seiner Vertretung
beauftragt. Dieser muss lernen, dass die Weltherrschaft kein einfaches Geschäft ist
und gibt es am Ende gerne wieder ab.
Als alter Mann erscheint Gott auch seiner glühenden Verehrerin Jeanne d’Arc in
Luc Bessons Film von 1999 – aber erst am Ende. Davor wächst er mit ihr mit,
erscheint ihr in den ersten Visionen als Kind, dann als junger Mann (mit jesuani-
schen Zügen) und schließlich in Gestalt Dustin Hoffmanns.
Wir wachsen gewissermaßen mit dem Kind mit, das wir zunächst als beicht-
süchtiges Mädchen kennenlernen, das den heimischen Priester im Dorf Reims
leicht überfordert (01.28–0.04.26); dieser versucht, Jeannes starken Glauben als
Überkompensation (von was eigentlich?) abzutun, doch scheint dieser keinem
Mangel zu entspringen, vielmehr nährt er sich von Visionen, die Jeanne so deutet,
dass Gott etwas ganz Besonderes mit ihr vorhat: wie einst Mose ihr Volk von
den Fesseln der Sklaverei (die Engländer geben hier die Ägypter) zu befreien. Der
Gott, der ihr in wechselnder Gestalt begegnet, wird auf akustischer wie auch vi-
sueller Ebene neben dem ‚fascinosum‘ auch als Anlass zu ‚tremendum‘ gezeigt.
Wölfe sind seine Begleittiere, aber auch der Tanz mit seiner glühenden Jüngerin ist
Teil seiner Selbstoffenbarung (0.37.13–0.42.02). Er vermacht Jeanne ein Schwert –
jedenfalls wird dies von Jeanne so gedeutet. Welche anderen Möglichkeiten es
gibt, wird ihr in einer letzten Gotteserscheinung zuteil: Dass das Schwert auf wun-
derbare Weise zu ihr gelangt sein soll, ist ebenso Teil einer selbstgemachten Bot-
schaftskonstruktion wie auch die Gottesvisionen projektive Imaginationen sind
(2.07.40–2.11.06).
Bei aller offensichtlichen Konstruktion der Wirklichkeit Jeannes (bzw. der Vor-
stellung des Regisseurs) bleibt am Ende die Frage, kraft welchen Charismas ein
Mädchen aufbricht, um die (ihr bekannte) Welt zu retten – und schließlich für
diese Vision auch bereit ist, ihr Leben zu lassen. Dieser Gottesglaube wird im Film
als etwas absolut Singuläres gezeigt – trotz aller Dekonstruktion bleibt Raum für
Offenbarungen und Wunder.
1.3 Dogma (Kevin Smith, USA 1999) 11
Als spielende Weisheit erscheint „die Gottheit“ in Kevin Smith’s Film „Dogma“
(USA 1999).
Gott wird zunächst als jemand gezeigt, der manchmal auf der Erde lustwandelt
und sich dazu in die Gestalt eines Menschen hinein begibt – leider Gottes fällt
dieser, im Körper eines alten Mannes befindlich, sogleich einem dämonischen An-
schlag zum Opfer, fällt ins Koma und liegt im Krankenhaus. Bethany, die letzte
Nachfahrin, soll ihn von da wieder herausholen, beauftragt von der Stimme Gottes
(verkörpert von Alan Rickman). Nur Gott kann zwei rebellische Engel stoppen,
die, einst verbannt, wieder in den Himmel wollen und mit ihrem Vorhaben die
gesamte Menschheit gefährden.
Die Erscheinung Gottes am Ende hat dabei wenig mit dem alten Mann zu tun,
der uns eingangs kurz vorgestellt wurde. Er/sie/es ist etwas Besonderes und hat
zudem Humor, wie die Stimme Gottes meint (DVD Kap. 17).
Gott wird als Frau und als Clownin gezeigt; die von ihr Auserwählte ist eben-
falls eine Frau, die auf ungewöhnliche Weise wieder einen Zugang zum Glauben
findet, der allerdings wenig mit seiner traditionellen Form zu tun hat. Zudem emp-
fängt die Auserwählte ohne Zutun eines Mannes ein Kind (ein Mädchen!), das die
göttliche Dynastie sichern soll.
Anfangs erscheint Gott in der Gestalt eines alten Mannes, der, so können wir
dem Gespräch der Engel entnehmen, ganz dem Bild des rachsüchtigen Gottes ent-
spricht, wie er die Rezeptionsgeschichte des Alten Testaments geprägt hat1. Doch
dies ist nur eine Gestalt Gottes, die im Film mit ihrem Bewusstseinsausfall ans
Ende gelangt. Es ersteht aus ihm eine junge Frau auf, die (nicht immer gelingende)
Handstände macht, die Menschen liebt und auch Gnade mit den rebellischen En-
geln walten lässt. Gespielt wird diese Göttin von der Sängerin Alanis Morisette,
die ihr eine leichte, spielerische Gestalt verleiht und sich bei aller Leichtigkeit
dennoch als machtvolles Wesen erweist.
Sie scheint sich jenseits von Gut und Böse zu befinden; und auf alle Fälle macht
sie am Ende „alles wieder gut“.
1 „…Leider sind beide (Engel) ein Opfer der biographischen Entwicklung Gottes. Der
alttestamentliche Gott verlangte von den Racheengeln noch saubere Arbeit. Seitdem
er selber Vater ist, findet er an Massakern keinen Gefallen mehr,“ so schreibt Klaas
Huizing in seinem amüsanten Dogma-Kommentar, in: Klaas Huizing, Der inszenierte
Mensch. Eine Medien-Anthropologie (Ästhetische Theologie, Bd. II), Stuttgart 2002,
S.188–198, S.193f.
12 1 Gottesbilder im Film
Wie ein griesgrämiger alter Gott von seiner fröhlichen Frau abgelöst wird, das
können wir in „Das brandneue Testament“ verfolgen.
Durch den Film geleitet die Tochter Gottes, welche seine Geschichte erzählt und
dann ihre eigene, als sie zu den Menschen gegangen ist, um ihnen (mit der Nen-
nung des jeweiligen Todesdatums) eine Gestaltungsfreiheit für die verbleibende
Lebenszeit zu eröffnen. Währenddessen versucht der Vater, ihr Treiben zu stoppen,
bleibt aber unterwegs hängen; seine Abwesenheit wird von seiner Frau genutzt, um
seinen Computer zu rebooten.
Als „Göttin“ begrüßt sie der neu gestartete Computer, der sie von früher zu ken-
nen scheint. Sie beginnt, die Gestalt der Welt neu zu designen und kehrt allerhand
Muster um. Der Himmel ist nun eher ein geblümter als ein bestirnter, und Männer
sind ab jetzt in der Lage, neues Leben zu gebären (und keine Waffen mehr zu brau-
chen oder „zweite Schöpfungen“ in die Welt setzen zu müssen). Währenddessen
ist von Gott nicht mehr die Rede, der inzwischen im Waschmaschinengewerbe
arbeitet und Opfer all der Gebote geworden ist, die er selbst einst schuf.
Der auf der Berlinale 2019 gefeierte Film ist eine Gesellschaftssatire, die von der
arbeitslosen Petrunya erzählt, welche in eine Männern vorbehaltene Prozession
eingreift. Tatsächlich gibt es in Mazedonien den Brauch, am Dreikönigstag ein
angeblich glückbringendes kleines hölzernes Kreuz von der Brücke zu werfen, das
dann von einem Schwimmer wieder herausgeholt werden soll. Petrunya springt
und erringt das Kreuz, das sie den aufgebrachten und gewalttätig werdenden Män-
nern nicht aushändigen möchte.
Im Laufe des schließlich auf einer Polizeistation ausgetragenen Konfliktes
gewinnt Petrunya an Stärke und übergibt schließlich das Kreuz freiwillig dem
Priester Kosta. Sie braucht es nicht mehr, sie hat ihren persönlichen Sieg gegen die
patriarchalen Strukturen errungen.
Gott tritt hier nicht mehr ‚persönlich‘ auf, der Statthalter ist das Kreuz, das in
ganz unterschiedlicher Weise verzweckt und missbraucht wird, bis es als Element
des Empowerments schließlich das wird, was es im christlichen Kontext immer
schon war: Zeichen zu sein für eine Umkehrung menschenfeindlicher Strukturen.
Fazit 13
Fazit
Die bewegten Bilder des Kinos haben den Vorteil, dass sie jedes „feste“ Bild wie-
der auflösen und so dem 2. Gebot alle Ehre machen, dem zufolge es kein festes,
endgültiges Bild von Gott geben soll und darf.
Ein erstes Bild hat Gott ja selbst geschaffen – ein Ebenbild namens Mensch
(Gen 1, 28).
Der Mensch konstruiert Wirklichkeit, Sinn. Er/sie glaubt Gott, d.h. im und
durch Glauben wird ein Bild Gottes konstruiert. Wir brauchen solche Bilder in
aller Vorläufigkeit, um sie wieder aufzulösen zu gegebener Zeit (wie wir es bei
Bessons Jeanne d’Arc gesehen haben). Dabei haben wir gesehen, dass jede Zeit ein
anderes Gottesbild hervorbringt – derzeit wird der alte patriarchale Gott abgelöst
durch verschiedene weibliche Modelle.
Bilder von Gott sind nicht nur vorläufig, sondern auch widersprüchlich – von
Anfang an. Auch da, wo sich Gott – nach dem Zeugnis eines Menschen – selbst
offenbart, bleibt es rätselhaft (vgl. Ex 3,13f: „Ich werde sein, der ich sein werde“).
Gott stellt sich vor – jedoch als Negation aller Vorstellung: „Gott verbirgt sich, und
… ist in demselben Sinn offenbar. Wo ich Gott erfahre, ist es nicht mehr Gott – nur
eine Weise (des) Erscheinens“ (Lehnert 2017, 57).
Christian Lehnert beschreibt die Widersprüche des Glaubens so: „Gott ist
in mir, und er ist ganz fremd, wenn er geschieht. Gott ist mir nah, und er höhlt
mich aus. Gott umfängt mich in Liebe, und er nimmt mir das Verständnis meiner
Lebenslinien…
Glaube ist Unglaube. Denn der Glaube bemächtigt sich des Gottes mit untaug-
lichen Mitteln“ (Lehnert, 57).
Ein Mittel, Gott zu erfahren, ist das Gebet. Aber auch hier, so fragt Augustinus:
„Wie aber soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und meinen Herrn, da ich
doch, wann ich ihn rufe, in mich herein ihn rufe? Und welches ist der Ort in mir,
wohin er kommen soll, mein Gott?“
Lehnert spricht wie Augustinus von ‚ihm‘, doch ist das bereits ein Bild. Not-
wendig sind jedoch offene, ambiguitäre Konstrukte von Gott und vom Menschen
(Klessmann 2018, 248ff), wie sie auch das Kino in wechselnden Bildern, abhängig
von jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen und oft genug mit utopischem
Surplus, zeigt.
Konstrukte, wie die eben vorgestellten, fallen vielfältig aus, sind zeit-, milieu-
und ebenso kulturabhängig wie persönlichkeitsspezifisch. Ein einzelnes Konzept
kann keine Verbindlichkeit für alle Menschen beanspruchen. In ihrer Vielfältig-
keit sind die Vorstellungen vieldeutig und lösen entsprechende Ambivalenzen aus.
Gleichzeitig ist die „einzige Möglichkeit, das Bilderverbot zu beachten, viele Bil-
14 1 Gottesbilder im Film
der von Gott zuzulassen und keinem zu gestatten, als das Gottesbild Anspruch auf
Richtigkeit zu erheben“ (Ebach 2002, 143).
Das Kino ist der ideale Ort für solche bewegten Bilder, deren drohende Ver-
festigungen immer wieder zerschlagen werden müssen, um Raum zu schaffen für
das Wechselspiel zwischen Neuem und Vertrautem, zwischen Glauben und Un-
glauben (Mk 9,24).
Literatur
Augustinus, Bekenntnisse/Confessiones, hg. v. Jörg Ulrich, Frankfurt/M. und Leipzig,
2007, 10
Ebach, Jürgen, Vielfalt ohne Beliebigkeit, Bochum 2002,143
Klaas, Huizing, Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie (Ästhetische Theo-
logie, Bd. II), Stuttgart 2002, S.188–198, S.193f.
Klessmann, Michael, Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubens-
gewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Stuttgart 2018
Lehnert, Christian, Der Gott in einer Nuss, Berlin 2017, 12, 57
Marti, Kurt, geduld und revolte. die gedichte am rand, Stuttgart, 2.Aufl., 1984, 8
Anleitungen zum Leben:
Die zehn Gebote im Film 2
Liebe, Lüge, Mord und Verrat sind Stoff für das Kino wie auch Thema der zehn
Gebote in Exodus 20. Charlton Heston schwang in Cecil B. DeMilles Film als
Mose die beiden Gesetzestafeln eindrucksvoll über den Köpfen der pflichtver-
gessenen Israeliten und zerschmetterte die erste Fassung wutentbrannt, Krzystof
Kieslowski widmete jedem Gebot einen eigenen Film, die evangelische Kirche
schrieb Filmwettbewerbe aus, um Filmemacherinnen und Regisseure der Gegen-
wart zur Auseinandersetzung mit den zehn Geboten zu motivieren und für Kinder
wurden sie als „Unsere zehn Gebote“ in handliche Formate gepackt (TV-Reihe
von 2006). Wir begeben uns auf eine kleine Reise durch die Filmgeschichte(n) in-
klusive Urlaub am Strand („The Beach“ von Danny Boyle, USA/UK 2000).
Die Guardini-Stiftung in Berlin startete 2010 einen Filmwettbewerb. Es handel-
te sich um den Dekalog-Filmpreis, ausgelobt in den Jahren 2013–2017, ein Projekt
anlässlich des Reformationsjubiläums. Der Wettbewerb sollte eine filmspezifische
Auseinandersetzung junger Regisseurinnen und Regisseure mit den zehn Geboten
anregen mit der Frage, welchen Stellenwert sie in unserer heutigen Gesellschaft
haben und wie man sich ihnen filmisch nähern kann.
Eine Anekdote: Ich war Hochschulpfarrerin in Ludwigsburg und sandte die An-
frage der Guardini-Stiftung an die dort ansässige Filmakademie Baden-Württem-
berg. Dort erhielt ich per E-Mail die Antwort: „Ich glaube nicht, dass einer unse-
rer Filme zu dem Thema passt.“ Worauf ich zurückmailte: „Sie meinen: Sie haben
nichts zum Thema Mord, Lüge, Ehebruch, Neid, Eifersucht, Verrat? Ich denke, der
Bezug zu den 10 Geboten ist, ähnlich wie bei Kieslowskis Dekalog, sehr offen und
betrifft die existentiellen Grundsituationen des Menschen.“ Worauf ich die Antwort
erhielt: „Ah, ok, zu den Themen „Mord, Lüge, Ehebruch, Neid, Eifersucht, Verrat“
haben wir sicher etwas ;) Ich kann Ihre E-Mail an die Studenten weiterleiten.“
Anhand dieser Begebenheit wird etwas deutlich. Eine Ausschreibung, die sich
„Dekalog“ nennt oder „10 Gebote“, wird sogleich assoziiert mit Bibel und Kir-
che. Dazu produzieren junge Filmemacher eher nichts – jedenfalls nichts Direktes.
Wie die Wettbewerbseinreichung „Der Verdacht“ von Felix Hassenfratz (D 2007)
zeigt, tritt (im Film) die Institution Kirche höchstens als restriktives Element auf.
Von ihr muss man sich absetzen, sie repräsentiert den konservativen Teil der Ge-
sellschaft.
Doch geht es zunächst einfach darum, wie sich eine Gruppe von Menschen
organisiert, die Regeln braucht, damit ein Zusammenleben möglich wird. Ein Zu-
sammenleben, das immer gefährdet ist. Warum, das erklärt der kolumbianische
Philosoph Nicolás Gómez Dávila (1913–1994) so:
„Da der Mensch im hintersten Winkel seiner Seele ein Tier versteckt hält, müsste
sich selbst eine gerechte Gesellschaft gegen die menschliche Verderbtheit schützen“.
(Dávila 2006, 313).
Zwar wird den Tieren mit diesen Worten Unrecht angetan, da sie sich meist viel
angemessener verhalten als Menschen. Aber Gómez Dávila bezeichnet mit dem
Tierischen das Unberechenbare, das Archaische. Und er meint, dass die Barba-
rei immer knapp unter der Oberfläche jeder Zivilisation lauert. Der Philosoph ist
ein erklärter Gegner von Revolutionen und politischen Utopien und bezweifelt,
dass sich der Mensch mit dem gesellschaftlichen Fortschritt auch zum Besseren
entwickelt. Er verweist auf die unberechenbare Natur des Menschen, seine trieb-
gesteuerte Selbstsucht, die das Ziel untergräbt, ein Paradies auf Erden zu schaffen.
Die Hoffnung auf ein Inselparadies treibt den jungen Studenten Richard Fischer
(Leonardo DiCaprio) in der Verfilmung des Romans von Alex Garland „The
Beach“ an, sich mithilfe einer geheimnisvollen Karte in Thailand auf den Weg
zu machen. Der Backpacker macht uns mit den „zehn Geboten der Rucksack-
reisenden“ bekannt, von denen „dies das erste (ist): Man latscht nicht in einen Hin-
2.1 Die Suche nach dem Paradies: „The Beach“ … 17
du-Tempel und fragt: ‚Wieso betet ihr eine Kuh an?´ Man schaut sich um, nimmt
zur Kenntnis, passt sich an, akzeptiert.“1 Zunächst genügt dieses Laissez-Faire,
doch die Reise geht weiter.
Richard motiviert das französische Paar Étienne und Françoise dazu, ihn zu
begleiten. Gemeinsam erreichen sie den für normale Touristen unerreichbaren und
versteckten Strand, zentraler Ausgangspunkt des erhofften Inselparadieses.
Bald treffen sie dort auf die kleine Gemeinschaft der Zivilisationsflüchtlinge,
die Richard und seine Freunde – zunächst zögerlich – aufnehmen werden.
Diese Situation wäre ein guter Ausgangspunkt für die Überlegung, welche Re-
geln oder auch Gebote eine (jede) Gemeinschaft braucht, um ihr Zusammenleben
zu gestalten.
1 Alex Garland, Der Strand, 128; weitere Gebote sind: Schlag niemals eine Einladung
aus, sei offen für alles, was du nicht kennst, bleibe nie länger als nötig, sei für alles
aufgeschlossen und suche die Erfahrung; und wenn sie weh tut, dann ist sie es wahr-
scheinlich wert.
18 2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
„Die zehn Gebote“ aus dem Jahr 1956 waren ein Remake von Cecil B. DeMilles
eigenem Film von 1923. In Technicolor und einem der größten Sets, das bis dahin
je für einen Film gebaut wurde, entstand die Lebensgeschichte des von Charlton
Heston gespielten Mose, das bis vor etwa 20 Jahren mindestens einmal jährlich
über die heimischen Bildschirme flackerte. Der Finger Gottes selbst schrieb die
Gebote hier direkt auf die Tafeln, wie bereits der Trailer zum Film zeigte.
Ohne Gesetz gibt es keine Freiheit, hält Mose dem Dauer-Nörgler Dathan ent-
gegen, der das Volk lieber zurück nach Ägypten führen will (und natürlich ein
pharaonischer Agent ist). Und, sehr eindrucksvoll in Szene gesetzt: Wer nicht nach
den Geboten des Herrn leben will, der wird daran sterben (Kap. 3, 20). Zorn-
entbrannt benutzt Mose die von Gott beschriebenen steinernen Tafeln als Wurf-
geschosse, um dem Treiben der Israeliten, die seine Abwesenheit zum Feiern und
Tanzen um das goldene Kalb nutzten, ein Ende zu setzen.
Der Film nutzt seine Länge von 220 Minuten dazu, die Transformation des
jungen, attraktiven Mannes zum zornigen, alten Gesetzeshüter, der Michelangelos
Gott-Vater in der sixtinischen Kapelle ähnelt, zu zeigen. Ein Mose- und ein Gottes-
bild, das heute kaum mehr zu vermitteln ist. Doch ist die Geschichte selbst so
spannend, dass es seitdem einige Neuverfilmungen gegeben hat, die exemplarisch
kurz vorgestellt werden sollen.
Als „Anleitung zum Leben“ werden in dem Animationsfilm von Billy Boyce die
Gebote hier von Gott dem Mose verkündet. Das entspricht dem Sinn nach der Ein-
leitung der Gebote in Exodus 20: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyp-
ten herausgeführt hat“ … also in die Freiheit, zu einem Leben, das nicht mehr von
Unterdrückung und Tod bestimmt ist. Als Anleitung zu einem guten Leben für
alle. Die folgenden Einleitungen „Du sollst nicht…“ könnten als „Du wirst nicht“
gelesen werden, im Sinne von „Du musst nicht mehr…“, du bist ab jetzt frei von
Habsucht, Gier, Neid.
Ästhetisch ist diese 10-Gebote-Version natürlich etwas fragwürdig, denn es
bleibt die Frage, warum es nach dem gelungenen und ideenreichen Animationsfilm
„Der Prinz von Ägypten“ (Brenda Chapman, USA 1998) mit Mose als Titelheld
nochmals nötig war, die Mosegeschichte in Animationsform vorzuführen.
2.3 Eine Anleitung zum Leben: Die zehn Gebote … 19
Eine Idee davon liefert vielleicht die Kritik zum Film auf der Internetplattform
kino.de, die hervorhob, dass es hier um eine der wichtigsten und spannendsten Pas-
sagen der Bibel gehe, deren Inhalt immer wieder (neu) vermittelt werden müsse.2
Ein Auszug: „Kaum ein Gesetz existiert länger und hat die Werteordnung der
westlichen Zivilisation intensiver beeinflusst als die zehn Gebote. Auch im Kino
hat dieser Teil der Bibel immer wieder als großes monumentales Epos Einzug ge-
halten. Allerdings hatten die Filmemacher dabei immer eine ältere, erwachsene
Zielgruppe im Auge. Das soll sich nun mit dieser bereits aus dem Jahre 2007
stammenden Zeichentrickadaption ändern. Die bei uns weitgehend unbekannten
Regisseure Bill Boyce und John Stronach halten sich, was ihre Erzählstruktur be-
trifft, ganz eng an die Heilige Schrift… Dass an der Dramaturgie der Geschichte
wenig geändert wurde, hat Sinn, schließlich hat diese Bibel-Passage genügend
Schauwerte zu bieten…
(Etwas störend ist…, dass die altmodische Sprache beibehalten wurde und
kein Versuch unternommen wurde, diese kindgerecht aufzuarbeiten. Dabei konnte
man auf der Synchronspur richtig punkten. Ob der unvermeidliche Otto Sander
als Erzähler, dessen Sohn Ben Becker als Mose oder Sky Du Mont als salbungs-
voll hallende Stimme Gottes, die Sprecher sind vom feinsten, was sich bis in die
kleinste Nebenrolle fortsetzt, darunter auch Heinrich Schafmeister als ewig nör-
gelnder Querulant Dathan und „Traumschiff“-Veteran Sascha Hehn als Aaron.“)
So könnte man auch das Projekt Ben Beckers, der „Die Bibel – eine gesprochene
Symphonie“ realisiert und den Mose im Film synchronisiert hat, auffassen: Als
Missionsprojekt, damit es verkündet werde, auf alle Weise, was in der Bibel steht.
„Jesus mag Gottes Sohn sein, aber Ben Becker ist seine Stimme“ – so schrieb
damals die Zeitschrift Vanity Fair. Wenn man dieses Pathos auch nicht unbedingt
teilt: Eine der Reaktionen auf die Lesung war das Erstaunen darüber, was in der
Bibel alles drinsteht!
Zu diesem Zweck mag das Immer-Wieder-Erzählen der biblischen Geschichten
gerechtfertigt sein, in immer neuen (filmtechnischen) Varianten; ob jedoch damit
aufgeschlüsselt werden kann, was das ganze Unternehmen soll, ob und in welcher
Weise die hier vorgestellte Religion etwas mit der Lebenswelt der Rezipierenden,
speziell der Kinder, zu tun hat und somit gegenwärtigen existenziellen Fragen,
bleibt fraglich.
Ein gelungener Versuch, die zehn Gebote kindgerecht aufzubereiten, waren
„Unsere Zehn Gebote“, eine TV-Serie von 2006, hier besonders der Film zum
Thema des 5. Gebotes, „Du sollst nicht töten“.
Die 2006 entstandene Serie bietet anhand von spannend gestalteten, nachvollzieh-
baren Konfliktsituationen Ansatzpunkte, um mit Kindern über die Botschaft der
Zehn Gebote zu sprechen, so die Selbstbeschreibung.
Die meisten Folgen eignen sich für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren, einige
auch für jüngere bzw. ältere Kinder. In „Du sollst nicht töten“ geht es um den elf-
jährigen Leon, der von zwei größeren Jungen gemobbt wird. Sie verfolgen ihn, zer-
trampeln sein geliebtes Modellflugzeug und zwingen ihn, Regenwürmer zu essen.
Als die Quälerei für Leon unerträglich wird, sinnt er auf Rache. Er lockt einen der
Peiniger in eine Falle. Doch als die Falle tatsächlich ‚zuklappt‘ und der Gegner fast
sein Leben oder doch seine Unversehrtheit verliert, entschließt sich Leon in letzter
Minute, ihm doch zu helfen.
Tatsächlich kann man sich überlegen, ob man mit Kindern im Grundschulalter
mit diesen Kurzfilmen arbeiten möchte.
Ansonsten liefern gegenwärtige Filmproduktionen genug Stoff, um auch mit
Kindern die Frage nach Liebe, Tod und Eifersucht zu behandeln – auch die „Har-
ry-Potter“-Reihe hat einiges dazu zu bieten.
Das 6. Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ hat der polnische Regisseur auf die
Liebe im allgemeinen ausgeweitet und – wie zum 5. Gebot „Du sollst nicht
töten“ – einen zweiten längeren ‚kurzen Film‘ innerhalb seiner Dekalogreihe ge-
macht.
Exkurs
Ende der 80er Jahre verarbeitet der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski
in EIN KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE das Thema der Verletzlichkeit der
Gefühle und die unerfüllte Sehnsucht nach menschlicher Nähe. EIN KURZER
FILM ÜBER DIE LIEBE entstand im Rahmen des Dekalog-Zyklus, der die
erste Zusammenarbeit Kieslowskis mit dem ehemaligen Rechtsanwalt Krzy-
sztof Piesiewicz darstellt. In ihren jeweils einstündigen Fernsehfilmen machen
sie die zehn Gebote zum Thema komplexer Untersuchungen über die existen-
ziellen Probleme einer in die Moderne strebenden Gesellschaft. EIN KURZER
2.5 Ein kurzer Film über die Liebe (Krzysztof Kieslowski, Polen 1988) 21
FILM ÜBER DIE LIEBE ist die für das Kino erweiterte Fassung von DEKA-
LOG 6, dem Film zum Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“.
Exemplarisch für die ganze Reihe soll ein Ausschnitt des Films zum 6. Gebot
stehen, in dem die ältere Magda den jungen Postbeamten Tomek, der sie heimlich
seit Jahren mithilfe eines Fernrohrs beobachtet und ihr dies schließlich gestanden
hat, das erstemal in ihre Wohnung einlädt.
Sie beginnt, mit ihm zu flirten, fordert ihn auf, sie zu berühren, der unerfahrene
Tomek kommt viel zu schnell und sie lässt ihn fallen, indem sie sich über ihn lustig
macht: Siehst du, das ist sie schon, die ganze Liebe!
Was ist hier die eigentliche Sünde, der eigentliche Verrat? Die „Ehebrecherin“
heißt Magda und es klingt dabei der Name Maria Magdalena an, die fälschlicher-
weise und unbiblisch in der Rezeptions- und Kunstgeschichte oft als Prostituierte
bezeichnet wird.
Sie kann keine Ehe brechen, da sie nicht verheiratet ist, und der Junge würde
sich bei enger Auslegung des Gebotes genauso schuldig machen. Beobachtet wird
das Ganze wieder mit dem Fernrohr, von seiner Patentante (englisch: godmother),
die dann im Verlauf der weiteren Geschichte zur (göttlichen) Richterin wird.
Der eigentliche Verrat ist der Zynismus Magdas, die nicht an die Liebe glaubt
und diesen Unglauben nun auf sehr demütigende Weise weitergibt. Der Selbst-
mordversuch Tomeks ist zugleich ein Neubeginn, der Schock über die Folgen ihrer
Konfrontation lässt Magda „zum besseren Menschen“ werden („Ich bin kein guter
Mensch“, hatte sie zuvor zu Tomek gesagt).
Auch wir selbst werden als Zuschauer ‚vorgeführt‘,3 unsere Schaulust entspricht
möglicherweise der Tomeks und rührt in gewisser Weise an das zweite Gebot, in
dem es nicht nur heißt, dass man sich von Gott kein Bildnis machen solle, sondern
auch von nichts, was im Himmel oder auf Erden ist. (Doch solange sich die Bilder
bewegen und keines davon „das letzte“ ist, dürfte die Schaulust im und am Kino
nicht als Gebotsüberschreitung gelten; und auch Tomek will ja, dass sein „Bild“
aus dem Rahmen tritt und lebendig wird; er weigert sich, es beim „Bildnis“ zu
belassen).
Kieslowski siedelt die Auseinandersetzung mit dem Gebot im Alltag an, in der
Beziehung dreier Menschen zueinander, die miteinander Nähe und Distanz, Sorge
und Vergebung einüben und darüber ein Stück näher zu sich selbst gelangen. Film-
ästhetisch überragend umgesetzt, sind diese Filme bis heute das Beste, was es zu
den zehn Geboten filmisch zu zeigen gibt. Außer, man verabschiedet sich von der
Aus der Perspektive evangelischer Theologen haben Thomas Heller und Mi-
chael Wermke die Handlung wie folgt zugespitzt:
„Ein sündiger Mensch erhält unerwartet und vollkommen unabhängig von
seinen Werken Zugang zum Paradies bzw. Gottesreich, wohlgemerkt zu einem
immanenten Gottesreich liberal-theologischer Prägung. Doch der vorauslaufende
Akt der Rechtfertigung (forensische Rechtfertigung) hat aus dem Sünder keinen
besseren Menschen gemacht (effektive Rechtfertigung, sanctificatio gemäß Mt
7,16–20): Die ,Arbeit am Reich Gottes‘(Albrecht Ritschl) misslingt und unter
dem Einfluss äußerer Kräfte (,Welt‘, Versuchung) und innerer Sünden (Hochmut,
Egoismus, Triebhaftigkeit) wandelt sich das Paradies zum läuternden Zerrbild der
eigentlich schon verlassenen Welt. Am Ende bleibt nur noch Buße und die vage
Hoffnung auf ein Weiterbestehen des Paradieses: irgendwo, irgendwann“ (Heller/
Wermke 2009, 137)
Um Mensch zu werden, musste dieser das Paradies verlassen (das hat Sören Kierke-
gaard in seinem „Begriff Angst“ ausführlich beschrieben.) Nachdem er vom Baum
der Erkenntnis gegessen hatte und so Gott (ebenbildlicher) wurde, verhinderte die-
ser, dass er auch noch vom Baum des Lebens kostete. So hat den Menschen seine
Menschwerdung das Leben gekostet – aber erst an dessen Ende.
Die Tage davor müssen wir gestalten, zwischen Freiheit und Bindung. Denn
sobald sich zu einem Menschen ein zweiter gesellt, muss und wird es Regeln
geben, aus- oder ungesprochen. Die Israeliten, eben dem Sklavenhaus Ägypten
entkommen, mussten sich neu strukturieren und verfassen, in Abgrenzung zu ihrer
Umwelt und in Hinblick auf die Neugestaltung ihrer Freiheit.
Die Wüste war ihre Insel. Der Film „The Beach“ zeigt uns mit dem Untergang
des Inselparadieses, dass die Utopiegegner recht haben damit, dass man den Men-
schen vor sich selbst schützen muss und vor autokratischen Herrscher/innen, die zu
wissen glauben, was gut ist für ihn (und vor allem für sich selbst).
Er zeigt aber auch, dass der Mensch im Herzen das „moralische Gesetz“ trägt,
das Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ beschreibt. Auch wenn die
Menschen in dem bestirnten Himmel über ihnen keine letzte Instanz mehr ver-
muten, die ihnen „Anweisungen zum Leben“ mitgeteilt hat, so scheint doch das
Gesetz in ihren Herzen lebendig zu sein, wie es Hesekiel und auch Jeremia be-
schreiben:
24 2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
„Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben“ (Jeremia
31,33).
Diese Form der Inkarnation des Gesetzes tritt in den meisten Filmen zutage, die
andererseits ihr dramaturgisches Potential aus den Überschreitungen und Brü-
chen beziehen. Die „Fallhöhe“ der Figur heißt das bei den Drehbuchschreiber/
innen, und natürlich steckt da das Wort „Sündenfall“ mit drin, wie der Film ja
davon lebt, dass wir zwar von einem Paradies auf Erden träumen, es aber faktisch
nur schwer aushalten könnten und deswegen manchmal ins Kino gehen, um am
dramaturgischen Dreischritt, Paradies – Fall – Erlösung, ohne Gefahr für Leib und
Leben, probehalber und mit Erkenntnisgewinn, teilzuhaben.
Literatur
Dávila, N.G., Scholien zu einem inbegriffenen Text, Wien 2006, 313
Garland, Alex ,The Beach 1996, dt.: Der Strand, München 2005
Heller, Thomas /Wermke, Michael, The Beach. Reise, Glück, Tod und der Einblick in eine
nahezu unbeachtete jugendliche Subkultur, in: Inge Kirsner/Michael Wermke (Hg.), Pas-
sion Kino, Göttingen 2009, 136–144, 137.
„Opfere, was du liebhast!“
3
Opfer im Film
Schlachte deinen einzigen Sohn, den du liebhast! – Was für ein Befehl! Nach Gen
22, 3 ist Abraham bereit dazu, Gott zu gehorchen. Er muss es schließlich nicht tun –
anders als Steven Murphy, der in Lanthimos‘ Film „Killing of a Sacred Deer“ den
Sohn opfern muss, damit die restliche Familie überlebt. Snape ist in „Harry Potter
und die Heiligtümer des Todes“ entsetzt, als er erfährt, dass Dumbledore seinen
Ziehsohn Harry „wie ein Schwein zum Schlachten“ führen will – der Kampf gegen
das Böse erfordere dies. In „Arrival“ (Denis Villeneuve, USA 2017) geht es um
eine Tochter, deren Schicksal schon besiegelt ist, bevor sie das Licht der Welt er-
blickt – die Filmgeschichte ist voller Kinderopfer, die im folgenden exemplarisch
betrachtet werden.
1 „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ (David Yates, USA/GB 2011) ist der
achte und letzte Teil der Verfilmungen der siebenbändigen Harry-Potter-Romanfolge
von Joanne K. Rowling, die in den Jahren 1997–2007 erschienen sind.
„Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast, Isaak! Und geh zum Land
Moria und führe ihn dort hinauf zum Brandopfer.“
Während Abraham von dieser Ansage zumindest überrascht worden sein muss –
immerhin hatte Gott ihm zugesagt, dass seine Nachkommen so zahlreich sein
würden wie die Sterne am Himmel; aber was wird mit den Nachkommen, wenn
er seinen einzigen Sohn opfern soll? – so hat Dumbledore diesen Effekt nicht. Von
Anfang an weiß er, was ihm und was seinem Ziehsohn Harry bevorsteht. Dabei
gibt es keine höhere Instanz, die ihm befehlen oder die ihn aufhalten könnte. Er
3.1 Harry Potter und die Heiligtümer des Todes 27
selbst entscheidet – und das ist genauso unwiderruflich wie sein eigener Tod, des-
sen Umstände Harry im Denkarium erfährt. Januskopf Snape ist sein Beschützer –
bis er ihn im günstigen Moment ausliefern muss, damit das Böse für immer besiegt
wird.
Abraham erfährt den Grund für die Ansage Gottes nicht. Dieser, würde er den
Gedanken zulassen, ist selbst der Böse! Diesen Ansatz hat Sören Kierkegaard
in einer seiner Reden durchgespielt.2 Hier entschließt sich Abraham dazu, lieber
selbst die Last der Verantwortung und die Schuld vor dem Sohn auf sich zu neh-
men: „Es ist doch besser, dass er (Isaak) glaubt, ich sei ein Unmensch, als dass er
den Glauben an dich verlöre“, so spricht er zu Gott.
Ein Gott, an den er immer noch glaubt – dem er den Sohn geopfert hätte, auch
wenn er lieber sich selbst opfern würde. War es das: Wollte Gott prüfen, ob Ab-
raham mehr an dem Sohn seines Alters hängt als an dem, der ihm diesen Sohn
tatsächlich geschenkt hat? Als Prüfung wurde in der Traditionsgeschichte dieses
Textes das Ganze gerne gesehen, als Prüfung, die Gott als bestanden ansah und
es deshalb nicht mehr nötig hatte, auf Vollzug zu pochen. Eine weitere Folgerung
wäre: es sei immer das Liebste, was Gott von einem fordere – um die Prioritäten
klarzumachen. Opfere Gott das, was dir das Liebste ist! Nur so kannst du zeigen,
dass du ihn wirklich liebst. Er übrigens hat nicht gezögert, sich in der Gestalt Jesu
Christi selbst zu opfern – keiner sprang da für ihn ein, dieses Opfer wurde voll-
zogen.
In der Exegese wird vom Ersatz des Menschenopfers durch das Tieropfer ge-
sprochen, versinnbildlicht in dieser Geschichte. Doch auch für Harry springt kein
phantastisches Tierwesen ein – er muss es selbst vollbringen und im Kampf gegen
den Bösen sich selbst zum Opfer bringen, vorausgesagt und vorausgewusst vom
Oberhaupt der guten Seite, Dumbeldore. Wie ein Schwein zum Schlachten! ent-
fährt es Snape, und wir denken natürlich eher an das biblische Lamm, das nun
wieder durch den Menschen Jesus ersetzt wurde.
Dass Harry dies eines Tages erfahren würde, das wusste Dumbledore; schließ-
lich hat er ihn selbst mit den Denkariumsmechanismen vertraut gemacht. Er sollte
es dann erfahren, wenn er bereit dazu war – und fähig, das Erfahrene zu ertragen.
Die Erlöserfigur Harry Potter, der Christus incognito, wie man solche Gestalten
in Literatur und Film nennen könnte, tritt seinen schweren Gang zur Schlachtbank
an – zunächst wie im Nebel, in dem ihm die Toten nochmals begegnen, bei denen
er bald sein wird und die ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Konsequenterweise
sollte er sterben – das erscheint einem beim ersten Lesen des Buches zwangsläufig
so. Das erscheint bitter, aber folgerichtig – und insofern ein Happy End, als mit
diesem Opfer der Kampf gegen das Böse gewonnen wird.
Doch soweit kommt es nicht. Harry darf seinen eigenen Tod überleben (K.25,
1.37.30–1.42), anders als sein Widersacher Voldemort. Aber doch war er bereit
zu allem; und vielleicht liegt hier der Schlüssel –auch für uns zu dieser finsteren
Abrahamsgeschichte.
Man könnte Genesis 22 so lesen, dass hier zwei Seiten Gottes dargestellt wer-
den: die dunkle Seite, die Leben fordert, Menschen über die Zukunft im Unklaren
lässt, ein Gott, der tatenlos, abwesend, verborgen scheint; und die zugewandte
Seite Gottes, der rechtzeitig seine Boten schickt, um Leben zu retten, der eine Zu-
kunft verheißt und sich an seine Versprechen hält. Es ist der eine Gott, der verletzt
und der heilt, so haben es Jesaja und Hiob gesehen. Egal, wie er sich ihm zeigt:
Abraham hält an diesem Gott fest.
Johannes de Silentio, Kierkegaards Pseudonym, wird nie vergessen, so heißt es
in „Furcht und Zittern“, dass du (Abraham) hundert Jahre (1. Mose 21,5) brauch-
test, um einen Sohn des Alters wider Erwarten zu bekommen, dass du das Messer
ziehen musstest, bevor du Isaak behieltest, er wird nie vergessen, dass du in 130
Jahren nicht weiter gekommen bist als bis zum Glauben“ (S.22, ebd.).
Abraham war bereit, so wie Harry es war – zum Äußersten bereit, bereit, sich
selbst aufs Spiel zu setzen, mit Leib und Leben, in unbedingtem Glauben an das
Gute, das sich manchmal in finsterer Gestalt zeigt. Bereit, anzunehmen, was immer
kommt – mit wachen Sinnen und Haut und Haar. Was für ein Vertrauen!
3.2 Arrival
„Ja!“ Mit dieser Bereitschaft, alles anzunehmen, was kommt, enden Film und Ge-
schichte zu „Arrival“ (Denis Villeneuve, USA 2016). Hier besuchen Aliens die
Erde und bringen mit ihrer Sprache den mit ihnen kommunizierenden Menschen
die Gabe bei, das lineare Denken zu verlassen und in ein teleologisches einzu-
steigen, welches das Ziel des Weges kennt und Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft als Einheit zu sehen.
Die Linguistin Louise Banks spricht mit diesen Wesen, deren Absichten un-
klar sind und die als potentielle Gefahr gelten. Nach einem für sie zunächst ver-
wirrenden Alleingang erkennt sie allmählich die Zusammenhänge zwischen den
Gedankenfetzen, die uns als Zuschauende wie Rückblenden erscheinen und die
Louise als Vorausschau erkennen muss (1.29–1.31.50).
Die Tochter, die wir hier kennenlernen, wird sterben, zu früh sterben, und die
Mutter, die zukünftige, weiß das schon vor deren Zeugung. Es ist kein Gott, der
3.3 Survival 29
hier ein Kindesopfer verlangt, sondern es ist das tragische Schicksal, das sich
zwangsläufig erfüllt und zu dem Louise auch hätte „Nein!“ sagen können – oder
etwa nicht? Wie die rätselhafte Geschichte in Genesis 22 bietet auch Ted Chi-
angs Geschichte, die „Arrival“ zugrunde liegt, einen Raum, in dem Menschen ihre
eigenen Leidenserfahrungen wiedererkennen können. Mitten in der Schönheit und
dem Glück des Lebens, das sich in den Kindern zeigt, wird auch dessen Wandel
und Vergänglichkeit offenbar. Wir können nichts und niemanden festhalten – kei-
nen Gott, keinen Glauben und keinen Menschen, und doch setzen wir uns in Be-
ziehung, leiden, kämpfen, lieben, sind glücklich.
3.3 Survival
Nicht immer wird das Kind verschont. In einer zentralen Szene in „Survival“ (Matt
Reeves, USA 2017), dem letzten der Prequel-Reihe „Planet der Affen“, erzählt der
menschliche, lediglich „Colonel“ genannte Kommandant Caesar, dem Anführer
der Affen, warum es nötig sein kann, stumme Kinder und sprechende Affen zu
töten (Kap.16/17; 1.13.28–1.22.55).
Für den Colonel ist es ein Heiliger Krieg, den er führt und ihn dazu gebracht
hat, den eigenen Sohn zu töten: dieses allerdings nicht im Namen Gottes, sondern
im Namen der Menschen. Er führt seinen Krieg für den Überlebenskampf seiner
Spezies, die er, in aristotelischer Tradition, vom Tier unterschieden sieht durch
den Gebrauch verbaler Sprache. Wenn der Mensch verstummt, ist das wesentliche
Moment seines Menschseins erloschen und er wird zum „primitiven Tier“ (vgl.
den Ansatz des „Speziezismus“ und Peter Singers Gegendarstellung). Sobald das
Tier sich aus seinem ‚primitiven Status‘ durch den Gebrauch der (menschlichen)
Sprache erhebt, da mit der Sprache auch die (abstrakte) Denkfähigkeit gegeben
ist, sieht der Colonel den Bestand der Menschheit gefährdet. So ist es besser, den
verstummten Teil der Menschheit zu töten, als die Gesamtheit der Menschen
dem ansteckenden Virus preiszugeben. Innerhalb dieser tödlichen Logik ist kein
Raum für andere Denkmodelle, etwa dem posthumanistischen Ansatz, den in den
1990er Jahren Donna Haraway mit ihrem Cyborg-Manifest vorstellte. Vorstell-
bar wird eine Welt, die nicht mehr den Menschen an die Spitze stellt, sondern in
der der Mensch die Verantwortung übernimmt für das von ihm und vor ihm Ge-
schaffene und sich in Beziehung setzt zu allen fühlenden und denkenden Wesen.
Zur Gesamtheit der Vielfalt und Vielfältigkeit der Lebewesen müssen vielleicht
auch bald künstliche Wesen gezählt werden, die zumindest in Literatur und Film
sprechen, denken und fühlen können, also: menschlich geworden sind.
30 3 „Opfere, was du liebhast!“
Gefühle sind Maschinen fremd. So durfte man zumindest annehmen, bis man
in „Blade Runner“ von Ridley Scott Maschinenwesen kennen lernte, die sich am
Ende gar als die besseren Menschen erwiesen. In der Fortsetzung von Denis Vil-
leneuve („Blade Runner 2049“ aus dem Jahr 2017) sind sie dem Menschen nicht
nur in Hinblick auf das Gefühlsleben ähnlich geworden, sondern erweisen sich
auch als fortpflanzungsfähig – ein Wunder! So wird es dem Maschinenwesen
„K“ von einem älteren Vorgänger berichtet. Eine Zeitlang erscheint es K, der sich
bald „Joe“ nennt, so, als ob er selbst dieses Kind sein könnte, das der Verbindung
der beiden überlebenden Replikanten aus dem ersten „Blade Runner“ entstammt.
Doch auch als er diesen Gedanken fallen lassen muss, lässt ihn doch ein Gedanke
nicht los, den ihm eine Roboterfrau einst gesagt hat, als sie ihn für eine tödliche
Mission gewinnen wollte:
„Aus dem richtigen Grund zu sterben, ist das Menschlichste, was wir tun können.“
Die Tochter mit dem Vater wieder zusammenzuführen – das erscheint Joe als Mis-
sion, deren Todesfolge ihn als wahren Menschen erweist. Er stirbt für die anderen
und wird zu einem „Christus incognito“.
Fazit
Literatur und Filme ermöglichen es uns, immer wieder einen Blick von außen
auf unsere Kultur zu werfen, insbesondere auf das Mysterium des christlichen
Glaubens, jenes Opfer, das von Abraham verlangt, aber erst mit Jesus Christus
vollzogen wurde.
Abraham, so sagt Sören Kierkegaard, sei nicht weiter gekommen als bis zum
Glauben. Er bleibt ein Vorbild für diesen Glauben in seiner Vorbehaltslosigkeit,
seinem Bereit-Sein.
Karl Barth schreibt in seinem Römerbrief: „Wir sehen Abraham finden, wo er
offenbar nur zu verlieren hat – verbinden, wo offenbar alles zerrissen ist – stehen,
wo man offenbar nicht stehen kann. Wir hören ihn Ja sagen, wo offenbar von
unten wie von oben nur das Nein übrig bleibt. Und das eben ist sein Glaube: das
Glauben »ohne Hoffnung auf Hoffnung«, der Schritt hinaus über des Menschen
Eigenheit und Gottes Fremdheit, über die Sichtbarkeit des Sichtbaren und die
Unsichtbarkeit des Unsichtbaren, über die subjektive und objektive Möglichkeit –
dahin, wo nur Gottes Wort ihn halten kann.“ (RÖ II zu Röm 4)
Fazit 31
„Gott kümmert sich wirklich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und er
gibt manchmal sehr genaue Hinweise.
Diese Liebesregungen, die aufquellen in unserer Brust, bis sie uns den Atem nehmen,
diese Erleuchtungen, diese Ekstasen, unerklärlich angesichts unserer biologischen
Natur, unserer Stellung als einfache Primaten, sind extrem klare Zeichen.
Und ich verstehe, heute, den Gesichts-Punkt des Christus, seinen wiederholten Ärger
gegenüber der Verhärtung der Herzen: sie haben all die Zeichen, und sie nehmen sie
nicht zur Kenntnis. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärm-
lichen geben? Muss man wirklich an dieser Stelle so deutlich sein? Offenbar Ja.“
(Houellebecq, 2019, 347)
32 3 „Opfere, was du liebhast!“
Das Opfer, so steht es im Hebräerbrief (9,12), ist schon gebracht, ein für allemal.
Jesu Leib wurde gegeben, Christi Blut ist geflossen, für viele. Harry Potter darf
leben und wir sehen, wie sein Leben 12 Jahre später aussieht. Vielleicht wäre die
Geschichte konsistenter, die Erzählung konsequenter gewesen, wäre er tatsächlich
gestorben.
Doch glauben wir an einen Gott, der die Konsequenzen selbst gezogen hat; wir
dürfen leben und wir glauben wie Abraham auf Hoffnung.
Filme erzählen auf ihre Weise vom Opfer – und ermutigen uns, unsere christ-
liche Geschichte immer wieder neu zu reflektieren, sie neu sehen und kennen zu
lernen.
Literatur
Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. und hrsg. von Schwarz, Franz F.,
Stuttgart: Reclam 1989, 78
Barth, Karl, Der Römerbrief II, zu Römerbrief 4
Chiang, Ted, Geschichte deines Lebens, in: “Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes”, Stories
von Ted Chiang, Berlin 2011, 37-94 (vgl. dazu: Inge Kirsner in: https://www.theomag.
de/114/ik14.htm)
Haraway, Donna, A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology and Socialist Feminism
in the 1980s. In: Linda Nicholson (Hrsg.): Feminism, Postmodernism. Routledge, New
York, 190–233
Houllebecq, Michel, Serotonine, Paris 2019, S. 347, die zitierte Stelle wurde übersetzt aus
dem Frz. von Armin Münch.
Kierkegaard, Sören, Furcht und Zittern, Frankfurt/M. 1984, 12
„Nimm in Einfachheit alles hin,
was dir widerfährt“ 4
Hiob im Film
Diesen tapferen Rat gibt Rosa Luxemburg ihrer Freundin Sonia, der Frau ihres
Mitstreiters Karl Liebknecht, in einem Brief von 1917, geschrieben im Gefängnis
in Breslau. So muss man das Leben eben nehmen – fast 1000 Jahre früher hat
ein französischer Rabbiner Ähnliches geschrieben, was dann die Coen-Brüder als
Motto an den Anfang ihres Filmes „A Serious Man“ aus dem Jahr 2009 setzten:
Übersetzen könnte man dieses Motto mit: „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir
widerfährt“ (so die dt. Übersetzung im Film). Oder: Empfange in Bescheidenheit
das, was dir passiert. Oder „… das Rätsel einfach akzeptieren“, wie Filmkritiker
1 Raschi ist ein Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (geboren 1040 in Troyes; dort
gestorben am 5. August 1105). Er war ein französischer Rabbiner und maßgeblicher
Kommentator des Tanach und Talmuds und hat auch christliche Exegeten beeinflusst.
Raschis letzte Jahre wurden durch die an den Juden verübten Massaker des Ersten
Kreuzzuges getrübt, bei denen er Freunde und Verwandte verlor.
Kai Mihm in epd Film zur möglichen Botschaft von „A Serious Man“ schreibt.2
Zusammengefasst: Shit happens. Solange es nicht einem selbst passiert, mag man
dieses Motto ja noch unterschreiben. Doch die Coens haben beschlossen, ihrem
Helden oder doch eher: Anti-Helden so viel widerfahren zu lassen, dass seine Ge-
lassenheit zum Teufel geht.
Larry Gopnik, Physikprofessor mit Aussicht auf Festanstellung, erhält eines
Tages ein unmoralisches Angebot. Er soll die Note eines koreanischen Studie-
renden soweit anheben, dass dessen Stipendium nicht gestrichen wird. Um die-
ser Forderung Nachdruck zu verleihen, findet Larry einen Geldumschlag vor;
der Student leugnet jedoch, dass dieser von ihm stamme. Zuhause eröffnet ihm
seine Ehefrau, dass sie sich scheiden lassen und mit Sy Ableman zusammenleben
will, einem Witwer, der wie sie Teil der jüdischen Gemeinde ist. Da das neue
Paar mit den Kindern im Elternhaus wohnen bleiben will, wird Larry mitsamt
seinem psychisch labilen Onkel in ein Motel ausquartiert. Zu den bevorstehenden
Anwaltskosten kommen noch dubiose Firmenrechnungen, die wohl auf seinen
musiknärrischen Sohn zurückgehen, der bald Bar Mitzwa haben soll und nebenbei
Haschisch konsumiert. Da wird auch noch die Festanstellung durch das Eintreffen
verleumderischer Briefe an die Kommission gefährdet; kurz: Larry braucht Hilfe.
Der Film spielt im Jahr 1967 im mittleren Westen, in Minneapolis, und Larry
landet nicht etwa auf der Couch eines Psychotherapeuten (wie es auch schon zu
dieser Zeit in New York üblich gewesen wäre), sondern bei einem Rabbi, und als
der keine Antwort weiß, bei einem zweiten. Von diesem will Larry, der bereits
alles irgendwie akzeptiert hat, was ihm geschieht, wissen, warum ihm Gott dies
alles widerfahren lässt (filmtechnisch wird Larry ‚von oben‘ gezeigt, er schaut zu
der ‚Autorität‘ auf).
Jener zweite Rabbi erzählt Larry auf seine Frage hin, wie Gott zu uns spricht,
die Geschichte von einem jüdischen Zahnarzt, der eine rätselhafte Botschaft im
Zahnabdruck eines „Goj“, eines „Ungläubigen“ findet. „Hilf mir“ steht da in heb-
räischen Buchstaben auf der unteren Vorderzahnreihe geschrieben. Auf der Suche
nach dem Sinn der Botschaft – ruft da Gott, Ha-Schem, etwa selbst um Hilfe? Gibt
es noch weitere Botschaften an ihn? – untersucht er sämtliche Abdrücke seiner
Patienten genauer und landet schließlich beim selben Rabbi wie Larry – bei ihm.
Als Larry nach der Fortsetzung und dem Sinn der Erzählung fragt, erwidert der
Rabbi, dass Gott uns keine Antworten schulde, die Verpflichtung liege umgekehrt
beim Menschen. (K.3, 53.57–1.00.1)
Der Rat des Rabbi lautet: Abwarten und Durchhalten. („Vielleicht sind die Pro-
bleme, die Sie so quälen, wie Zahnschmerzen. Sie haben sie ein Weilchen, und
dann gehen sie wieder weg.“)
Dies entspricht im Grunde dem Raschidschen Motto des Films. Man könnte
sie auch so verstehen wie die Kundgebung des einen Freundes von Hiob, der be-
findet, dass dieser kein Recht auf eine Antwort habe. („Denn die Weisheit – des
Allmächtigen – ist höher als der Himmel“, sagt z.B. Zofar, Hiob 11, 8).
Rabbi Nr. 1 hatte ihm geraten, alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen:
Zwar sei Gott – Ha-Schem (ein hebr. Wort für Gott, das an Stelle seines wirk-
lichen Namens benutzt wird) – tatsächlich in der Welt und auch dort zu erkennen,
allerdings müsse man dazu seinen Blickwinkel verändern und die Dinge komplett
neu sehen lernen; dazu solle man das Vertraute wie mit Augen von Fremden be-
trachten.
Der dritte Rabbi kann ihn nicht empfangen, weil „er gerade denkt“ (dieser Rabbi
erscheint wie ein ‚Weiser in der Höhle‘, als einer, der möglicherweise nichts – und
alles zugleich denkt).
Larry wehrt sich nicht gegen die Widerfahrnisse, er nimmt tatsächlich alles
hin, wenn auch zunehmend unter Klagen. Was ihn mindestens so erschüttert wie
die Tatsache, dass seine Frau sich von ihm trennt, ist der Grund, warum sie es tun
will: Den frisch verwitweten Sy Ableman kann er sich als Lover einfach nicht
vorstellen. Zudem gilt er, wie man während der Beerdigungsansprache erfährt, als
„zaddik“, als „serious man“. Letzteren könnte man mit „ein ernsthafter bzw. recht-
schaffener Mann“ übersetzen3; es ist ein Gerechter, der mehr tut, als die Gebote
Gottes zu erfüllen. Larry will auch ein solcher sein, stellt sich der Vorzimmerdame
des Rabbi Nr. 3 als einen solchen vor. Das Prädikat seines Nebenbuhlers wirkt je-
doch zunehmend zweifelhaft, besonders, als man erfährt, dass Ableman es wahr-
scheinlich war, der die verleumderischen Briefe an Larrys Berufungskommission
geschickt hatte.
Als „zaddik“ sah sich auch Hiob, der sich nichts zuschulden hatte kommen las-
sen und seine Widerfahrnisse als ungerechtfertigte Strafen Gottes interpretiert. Im
Buch Hiob wird vom Zerbrechen des Glaubens an einen Tun-Ergehen-Zusammen-
hang erzählt, und es ist am Ende auch nicht Hiob, den Gott verurteilt, sondern er
weist die drei Freunde Hiobs zurecht, die so gut über Gottes Weisheit und Hiobs
3 Fred Melamed, der Sy Ableman spielt, übersetzt in einem Interview (im Featurette der
DVD-Standardversion) „a serious man“ mit „eine wichtige Persönlichkeit“, die Larry
gerne auch wäre: vielleicht kommt dies im Sinne eines „ernstzunehmenden Mannes“
der Sache am nächsten.
36 4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
Vergehen Bescheid wussten. Gott weist damit den Anspruch der menschlichen
Deutungsmacht zurück.
Die drei Rabbis im Film entsprechen den drei Freunden Hiobs, wenn auch ihre
Antworten (bzw. ihr Schweigen) nicht deckungsgleich sind.4 Das versöhnliche
Ende des Hiobbuches, in dem der Gerechte, von Gott mithilfe des Teufels geprüft
und für gut befunden, wieder ins Recht gesetzt wird und noch ein langes gutes
Leben haben darf, findet sich in der Erzählung über den amerikanischen Hiob
Larry nicht wieder. Gerade, als sich die Lage zu beruhigen scheint – der Sohn Lar-
rys bringt seine Bar Mitzwa trotz Bekifftseins tapfer hinter sich, die Frau wendet
sich nach dem Tod des Exlovers Sy Ableman ihm wieder zu, die Note des Studen-
ten wird etwas angehoben und das Geld zum Begleichen der Anwaltsrechnung
verwendet – kommt der Anruf des Arztes, der Larry über das Ergebnis seiner
Röntgenbilder in Kenntnis setzen will – und es naht ein Tornado! Larry wird keine
erlösende Ruhe gewährt.
Fragt man sich, was die ganze Geschichte soll und ob die Coen-Brüder nicht
Sadisten sein müssen, da sie ihrem armen amerikanischen Jedermann soviel Un-
geheures antun, ohne ihn zu erlösen, muss man doch feststellen, dass der Film
ein Stück der Rätselhaftigkeit des Daseins ziemlich wirklichkeitsgetreu ein-
fängt.5 Er unterläuft die Erwartungen des Hollywoodschemas einer Heldenreise
(wie man es schließlich angesichts ihres bisherigen Filmschaffens von den Coens
auch erwartet) und stellt mit seiner Verweigerung von Erklärungen und stimmigen
Schlüssen das Publikum und dann auch die Filmkritiker vor eine – wenn auch
nicht hiobsgleiche – Probe.
Tobias Kniebe sieht das Regisseur-Paar als Gott ihrer Filmfigur, dem es gefällt,
dem Publikum keine Rechenschaft schuldig zu sein. Zudem seien die nichts-
Eine solche Komik, die um einiges schwärzer ist, wird auch in „Adams Äpfel“ ein-
gesetzt werden. Zunächst aber wird der Film „Leviathan“ betrachtet, der sich mit
der russischen Lebenswirklichkeit auseinandersetzt, in der Kirche, Wirtschaft und
Staat eine unheilvolle Allianz eingegangen sind und schreiende Ungerechtigkeit
bei keiner Instanz eingeklagt werden kann.
4.2 Leviathan
(Andrei Swjaginzew, Russland 2014)
Eine einfache Geschichte: Ein Böser will vom Guten dessen Haus. Ein Mächtiger,
korrupt, brutal, rücksichtslos, will von dem einfachen Mann dessen Hab und Gut.
Und er wird es bekommen, weil der Regisseur nicht den Schimmer eines Zweifels
6 Tobias Kniebe, Was will Gott von diesem Mann? in: Süddeutsche Zeitung, 20.1.2010
7 Andreas Borcholte: Himmel, wo bist du? In: Der Spiegel, 19.1.2010
8 Thomas Assheuer: Komik ist eine Kampftechnik. In: Die Zeit, 15.1.2010
38 4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
daran aufkommen lässt, dass die Welt, in der sich der Niedergang des kleinen
Mannes mit unabänderlicher Logik vollziehen wird, so ist, so böse, so abgründig.
Dies erinnert zumindest zu Beginn an die Geschichte, die der Prophet Nathan
dem König David erzählt (2. Samuel 12, 1–12): Ein reicher Mann mit vielen Scha-
fen und Rindern nimmt dem Armen sein einziges geliebtes Schaf – und zieht man
diese Beispielgeschichte mit der neutestamentlichen Erzählung vom reichen Mann
und dem armen Lazarus zusammen (Lk 16, 19–31), so wird dem Armen am Ende
doch Gerechtigkeit zuteil.
Für den armen Nikolai gibt es nach dem Verlust seines Hauses und seiner Frau
keinen Trost. Er hat mit dem Trinken angefangen; er kann sich nicht mehr um sei-
nen Sohn kümmern, das Haus wird ihm genommen werden. Er stellt den Priester
des Ortes zur Rede und fragt ihn danach, wo Gott sei; dieser erzählt im daraufhin
die Geschichte von Hiob und rät Nikolai, wie dieser durchzuhalten. Doch Nikolai
kann mit der Geschichte nichts anfangen. Biblische Geschichten hält er für Mär-
chen ( K.10, 1.47–1.49).
Der Radikalität der Erzählung werden großartige Bilder der Landschaft an
der Barentsee, wo das Familienerbe Nikolais steht, gegenübergestellt; genau die
Schönheit der Lage ist es aber, die die Aufmerksamkeit des Bürgermeisters auf
sich zieht. Auch er holt sich, wie Nikolai, Rat von einem Priester. Dieser, der Bi-
schof des armen Dorfpriesters, an den sich Nikolai gewandt hat, gibt dem Begehr-
lichen „bessere“ Tipps und zu allem Überfluss Gottes Segen bei all seinem Tun
auf den Weg.
Am Ende wird der Arme auch noch seiner Freiheit beraubt – des Mordes an
seiner Frau für schuldig befunden, landet er nach dem Abbruch seines Hauses
im Gefängnis. „Nun weiß er, mit wem er sich besser nicht anlegen sollte“, resü-
miert am Ende der zufriedengestellte Bürgermeister, bevor er am nächsten Tag den
Gottesdienst besucht (K.12, 2.05.22–2.08.00).
Zwei Momente gibt es während der unsäglichen Predigt des korrupten Pries-
ters, die das Geschehen mit einem Spurenelement der Hoffnung versehen. Da ist
der Blick des kleinen Sohnes des Bürgermeisters, der nach oben in die Rundkuppel
wandert, in die Licht einfällt, so, als suche der Kleine einen Ausweg aus der Lita-
nei des immer Gleichen.
Später beugt sich sein Vater zu ihm hinunter und sagt, der Priester „spricht von
dem Gott, der alles sieht“. Es bleibt die Hoffnung, dass Gott mit dem priesterlichen
Absegnen der korrupten Zustände nicht einverstanden ist; die Ikone mit dem
Christusantlitz, auf welchem die Kamera schließlich ruht, gibt zu bedenken, dass
die wahre Kreuzesschändung die gotteslästerliche Predigt des satten Priesters ist.
Diese zwei zarten Augenblicke jedoch müssen ungeheuren Momenten stand-
halten, die unbarmherzig zeigen, wie das Kleine zwischen schwergewichtigen
4.3 Adams Äpfel (Anders Thomas Jensen, Dänemark 2006) 39
Mächten und Gewalten zerquetscht wird. Die traumgleichen Bilder des blauen
Holzhauses, das am Rand des Meeres zu schweben scheint, sind zugleich in eine
Atmosphäre der Bedrohung getaucht, denn die erste Handlung, die wir, noch nebel-
haft, mitverfolgen, ist die Fahrt Nikolais an den Bahnhof, wo er seinen Freund und
Anwalt abholt, der ihm beistehen soll gegen die Verbindung zwischen Wirtschaft,
Kirche und Staat, die ihm das Eigentum rauben will. Noch glaubt der Freund an
das Recht, doch bald schon wird ihm eingebläut, dass das Recht dem gehört, der es
bezahlen kann. Er, der „schöne Anwalt aus Moskau“, wie er im Dorf genannt wird,
trägt zur Entfremdung zwischen den Eheleuten bei, die es schon schwer genug
haben mit dem halbwüchsigen Sohn, der die Stiefmutter nicht akzeptiert. Den Ehe-
bruch verzeiht Nikolai seiner Frau, doch der Sohn vergibt nicht und trägt dazu bei,
dass sie freiwillig in den Tod geht.
Schlimmer noch als Hiob ergeht es Nikolai. Er verliert nicht nur die Frau und
den Besitz, sondern zum Verlust der Freiheit und damit auch des Sohnes kommt
noch die Abkehr seiner einzigen Freunde, die ihn verdächtigen, seine Frau um-
gebracht zu haben.
Zur Ohnmacht der Schwachen gesellt sich ein Bild, das, möglicherweise, auf
die Ohnmacht Gottes verweist. Als der Sohn es eines Tages zuhause nicht mehr
aushält und an ein abgelegenes Stück Strand geht, steht er vor einem riesigen Ske-
lett, das wohl zu einem Wal gehört hat und nun an den Leviathan erinnert, der
sich (nach Hiob 40,25) von keinem Menschen fangen lässt und der nur der Gewalt
Gottes untersteht. Hier aber, im Film „Leviathan“, liegt dieses Riesentier verendet
und gestrandet da und zeugt von der Gottverlassenheit jener, die ihn im Mund,
aber nicht im Herzen tragen und von jenen, die den Menschen rettungslos aus-
geliefert sind.
So wird das skelettierte Tier zu einem Kreuzigungsbild, dem keine Auf-
erstehung folgt.
Anders in „Adams Äpfel“, jenem österlichen Film aus Dänemark, der mit
kuchenessendem Auferstandenen endet.
Der Titel dieser dänischen Satire setzt biblische Assoziationen frei. Adam, der
erste Mensch, von der Erde genommen, eingehaucht bekommen den Atem Gottes;
genossen die Äpfel, Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse, danach der Erde
überlassen, sie zu bearbeiten.
40 4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
Ein Mann namens Adam wird Ivan anvertraut, dem Pfarrer einer kleinen däni-
schen Gemeinde, die sich zusammensetzt aus Menschen, die er resozialisieren soll.
Dass es keine schlechten Menschen gibt, das hat er sich in den Kopf gesetzt und
lässt sich durch keine Tatsache der Welt davon abbringen. Seine unerschütterlichen
Überzeugungen reizen den Neuankömmling Adam zum Widerspruch. Er ist die
lebende Antithese zu Ivans Thesen, und der Film macht von Beginn an unverzüg-
lich klar, dass er Lust an Zerstörung empfindet. Sein nächstes Objekt ist also Ivan.
Aber da hat noch etwas anderes oder jemand anders seine Hand im Spiel. Dieses
Etwas oder dieser jemand schafft es, die Bibel, die Ivan Adam hingelegt hat, beim
Hinunterfallen immer bei Hiob aufzuschlagen.
Irgendwann beginnt Adam zu lesen im Buch Hiob. Und er liest: Gott gibt
Hiob, den Guten, Gerechten, in die Hand des Teufels. Der Teufel erscheint hier
weniger als Widersacher denn als Handlanger Gottes. Er gehört zu dessen Hof-
staat, geht bei ihm ein und aus. Er reizt Gott, bis dieser ihm den Hiob zur Prüfung
überlässt.
Zunächst erscheint Ivan als Hiobsfigur, und Adam als der teuflische Versucher.
Adam will Ivans Konstruktion der Wirklichkeit, die das Böse einfach nicht sieht und
kennen will, zerstören. Er erzählt Ivan, dass er das Buch Hiob gelesen hat und daraus
schließen muss, dass es nicht der Teufel ist, der Ivan quält, sondern Gott. Daraufhin
bricht Ivan zusammen, Blut fließt aus seinem Ohr. Adam bringt ihn ins Krankenhaus
(K. 8, 55.22–58.40). Damit wird der turning point der Geschichte eingeleitet.
Ein zweiter erzählerischer Strang ist der Arbeitsauftrag, den sich Adam ge-
geben hat, zunächst aus einer Art Unmut oder Übermut heraus. Einen Apfelkuchen
zu backen, hat er sich vorgenommen, und der Lauf der Welt scheint sich ver-
schworen zu haben, es dazu nicht kommen zu lassen. Wie die Plagen über Ägyp-
ten einbrechen, ist der Apfelbaum geradezu übernatürlichen Zerstörungsorgien
ausgesetzt, Würmer, Vögel, Blitze, und nicht nur das: Auch der Backofen erleidet
einen Kurzschluss nach dem anderen.
Seltsamerweise führen alle diese zerstörerischen Ereignisse auf etwas zu, was
anfangs nicht vorauszusehen und schließlich kaum mehr erwartbar war.
Und dieses Ende, kann nur deshalb eintreten, weil Ivan, und vielleicht auch
Adam, erkennen, was im Buch Hiob steht: Gott ist einer, der verletzt und verbindet,
der zuschlägt und heilt (Hiob 5, 18). Einer der Freunde Hiobs äußert dies und
bringt damit folgendes zum Ausdruck:
Das Böse kann nicht isoliert vom Guten betrachtet werden, sondern beides
lebt in irdischer Verzahnung in- und voneinander. Was uns in „Adams Äpfel“ als
schwarzes Märchen erzählt wird, mit irren Wendungen und zynischem Humor,
ist Ausdruck einer Lebenserfahrung, die erkannt hat, dass jede Abspaltung das
Abgespaltene umso stärker macht. (Oder, um nach Hiob 2,10 mit Hiob zu spre-
4.3 Adams Äpfel (Anders Thomas Jensen, Dänemark 2006) 41
chen: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch an-
nehmen?“)
Fühlt sich Ivan zunächst vom Teufel geprüft und versucht, will Adam ihn nach
der Lektüre des Hiobbuches davon überzeugen, dass Gott selbst es ist, der ihn
verfolgt. Es gelingt ihm, und schließlich wird Ivan resignieren und zu seinem spas-
tisch gelähmten Sohn sagen: „Gott hasst uns!“ Mit dieser Einsicht scheint ihm
aber zugleich alle Lebenskraft genommen. Er gibt auf, mit dem Glauben an einen
gütigen Gott auch den an die Menschen. Seine Schützlinge wissen nicht mehr wei-
ter, und Adam muss schließlich die Verantwortung übernehmen und handeln. Was
als böses Spiel begann, wendet sich zum Guten. Ein Gutes allerdings, was nichts
mehr mit der Wirklichkeitsverstellung des Pfarrers zu tun hat. Sondern zeigt, dass
die Veränderung von Strukturen immer neue Seiten an einem Menschen hervor-
bringen kann.
So wird Hiob Ivan, der Geprüfte, zu einer Josephsfigur. Die Menschen ge-
dachten es böse mit ihm zu machen, doch Gott gedachte es gut zu machen. Oder
säkular gesprochen:
Das Böse schlägt ihm zum Guten aus. So wird diese böse dänische Komödie,
der man alles Mögliche vorgeworfen hat, von der Verunglimpfung körperlich be-
einträchtigter Kinder bis zur Bibel, zu einem zutiefst humanistischen Film, im
Sinne einer Menschlichkeit, die einen mit sich selbst bekannt macht und einen über
sich selbst erschrecken lässt, wenn man lachen muss über Dinge, die man eigent-
lich verurteilen müsste. Es ist ein befreiendes Lachen, entspringend der Selbst-
erkenntnis und der Einsicht, dass es schließlich nur ein Film ist. Ein Film aller-
dings, der mit dem Metaphysischen rechnet, wie man es so noch nie gesehen hat.
Er zeugt von dem Bedürfnis, sich mit dem Bösen in der Welt auseinanderzu-
setzen, ohne darüber zu verzweifeln, wie Hiob dies in seinen Reden tut, die auch
Gott im Gegensatz zu den Theodizee-Reden seiner Freunde gut heißt.
Dabei wirkt manches Bild stärker als viele der absurden Handlungsstränge: Da
versucht Adam zu Beginn, ein Bild von Hitler anstelle des Kreuzes aufzuhängen.
Doch immer wieder fällt das Bild herunter. Ivan, der Adam immer die andere
Wange hinhält, wird zum Fleisch gewordenen Bild Christi. Und dann erscheint
nicht mehr Gott als der, der verletzt und heilt, sondern als der, der dies alles selbst
erleidet.
Albert Camus schreibt:
„Christus kam, um zwei Hauptprobleme zu lösen: das Böse und den Tod, (die beide
gerade die Probleme der Revolte sind). Seine Lösung bestand zuerst darin, sie auf
sich zu nehmen. Der Gottmensch leidet auch, und mit Geduld. Das Böse wie der Tod
42 4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
können ihm nicht völlig zugeschrieben werden, da auch er zerrissen ist und stirbt.“
(Camus 1969, 29)
Dass der Tod aber nicht das letzte Wort hat; und dass am Ende doch, aller Wirr-
nisse zum Trotz, ein Apfelkuchen aus den Früchten der Erkenntnis von Gut und
Böse entstehen und Abendmahl gefeiert werden kann (K. 12, 1.22.20–1.24.389):
davon erzählt dieser Film.
Dinge passieren bzw. „Shit happens“, könnte man am Ende (wie Raschi) sagen,
manchmal aber ist so Wunderbares dazwischen, dass man manchmal (wie Jules in
„Pulp Fiction“) daran glauben möchte, dass Gott seine Hand im Spiel hat (und den
Verlauf einer Kugel steuert).
Am Ende aller drei exemplarischen Film-Welt-Betrachtungen (jüdisch; ortho-
dox; protestantisch) lässt sich punktuell – lediglich in Bezug auf den jeweiligen
Film! – festhalten: Juden wollen eine Antwort von Gott (der sie auf seine Weise
gibt – oder auch nicht; der Mensch leidet); Russisch-Orthodoxe bzw. Post-So-
zialistische erwarten kein Eingreifen Gottes (und versuchen, im Rahmen ihrer
Möglichkeiten den Lauf der Dinge zu verändern; die Möglichkeiten sind jedoch
sehr unterschiedlich; Gott leidet); den Protestanten gelingt es manchmal, ihre
Gottesvorstellung dem Lebensverlauf anzupassen (oder: Menschen leiden so lange
aneinander, bis sie Gott eine Chance geben und für einen Augenblick erfreut sich
der Mensch am Menschen und an Gott und Gott an ihm).
Fazit
In Filmen wird die Theodizee- zur Anthropodizee-Frage: Was tut der Mensch dem
Menschen an? Wie kann der Mensch zulassen, was der Mensch seiner eigenen
Spezies antut?
Wie das Hiobbuch selbst fungieren auch die Filme als Gleichnisse, innerhalb
derer man sich wechselweise mit den Figuren identifizieren oder sich von ihnen ab-
grenzen kann. Das Leiden ist vorprogrammiert: so ziemlich alle Filmerzählungen
führen den Helden, die Heldin in eine Krise. Das Leiden will durchlitten, durch-
lebt werden. Um Einübung, Durchdringung und Überwindung des Leidens geht es
9 Das ist die vorletzte Szene des Films: Adam hat einen kleinen Apfelkuchen mit dem
einzig übrig gebliebenen Apfel gebacken. Er möchte ihn Ivan ins Krankenhaus brin-
gen, doch dessen Bett ist leer. Er fragt den Arzt, wo er sei, doch dieser packt gerade
seine Sachen und sagt, er müsse dorthin gehen, wo die Menschen sterben, wenn sie
eine Kugel in den Kopf kriegen und nicht statt dessen im Garten säßen. Adam findet
Ivan dort und gemeinsam essen sie den Kuchen.
Literatur 43
in allen drei vorgestellten Filmen. Die Antworten sind unterschiedlich, und es gibt
sie auch immer nur in vorläufiger, ‚menschlicher‘ Form. Wie bei Hiob wird Gott
zur Rechenschaft gezogen, doch wenn überhaupt, so wird eine Antwort gegeben,
die nicht unbedingt auf die Frage eingeht.10
Und im Fall von „Leviathan“ bleibt eine solche ganz offen – was bleibt, ist
die Erzählung selbst, das Geschehen bleibt nicht zeugenlos. Und es bleibt mit den
Psalmbetern zu hoffen, dass sich „die Gottlosen“ selbst um ein sinnvolles, erfülltes
Leben bringen, der Weltenlauf nicht allein in deren Hand liegt.
Literatur
Assheuer, Thomas, Komik ist eine Kampftechnik. In: Die Zeit, 15.1.2010
Borcholte, Andreas, Himmel, wo bist du? In: Der Spiegel, 19.1.2010
Camus, Albert, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, 29
Kniebe, Tobias, Was will Gott von diesem Mann? in: Süddeutsche Zeitung, 20.1.2010
10 Vgl. dazu den Song „God shuffled his feet“ der Gruppe Crash Test Dummies.
Von Organspenden, Schmetterlingen
und Kolibris 5
Auferstehung als Film-Thema
Als Beispiele für die Spannbreite des Themas „Auferstehung im Film“ werden im
Folgenden drei Jesusfilme und zwei Filme aus dem Arthaus-Segment vorgestellt,
die sich nicht als religiöse verstehen, an denen man aber Tendenzen einer Vor-
stellung dessen, was nach dem (oder mit dem) Tod kommt, beispielhaft zeigen
kann.
Der Vorteil filmischer Darstellung ist zugleich seine Begrenzung. Film muss
‚zeigen‘, was er erzählen will, es muss Bild werden, was gedacht, gesagt wird.
In Bezug auf die Auferstehung in Jesusfilmen heißt das: (Wie) wird der Aufer-
standene dargestellt, sofern das Nachösterliche Thema ist?
Die ‚materiellste‘ Auferstehung wird in Denys Arcands „Jesus von Montreal“
(Kanada 1989) gezeigt. Der Jesusdarsteller eines Passionsspiels in Montreal, der
zunehmend mit seiner Rolle verwächst, taucht am Ende des Spiels nicht mehr auf.
Die anderen Schauspieler warten am Ende des Stückes auf sein Erscheinen, doch
zeigt er sich nicht mehr. Die anderen verbeugen sich für ihn, machen weiter,….
Sie sind jetzt ‚die Kirche‘, als seine Jüngerinnen und Jünger erzählen sie weiter
vom Reich Gottes und führen sein Werk fort. Dies wiederholt sich in gewisser
Weise dann am Ende des Films, als der Schauspieler, Daniel Coulombe, im Ver-
lauf einer gewalttätigen Auseinandersetzung am Ende des Spiels getroffen vom
Kreuz, tatsächlich stirbt. Seine Mitspielerinnen und Mitspieler entscheiden sich
zur Freigabe seines Körpers – wie es in seinem Sinne gewesen wäre, so mutmaßen
sie – und seine Organe, das Herz, die Augen, leben in den Menschen weiter, die sie
transplantiert bekommen haben. So schenkt ihnen der Jesus Gewordene ein neues
Leben; auch seinen Kolleginnen und Kollegen hat er ein neues Leben geschenkt,
sie werden sein Wirken weiterführen (am konsequentesten die „Magdalena“ des
Stückes, die anderen hingegen werden sogleich von der Kulturindustrie, im Film
verkörpert von einer teuflischen Figur, vereinnahmt).
Es ist der Geist, der weiterwirkt, die Botschaft wird auch ohne den Aufer-
standenen weiterhin Wirklichkeit in der Welt. Dies entspricht dem Seelsorgeansatz
Roland Kachlers in seiner Fortschreibung der Trauerarbeit, der zufolge der/die
Tote Beherbergung ‚in uns‘ findet (Kachler 2005).
Das Sein des geliebten Menschen findet in uns ein Zuhause, die Liebe geht
weiter, über den Tod hinaus und findet Ausdruck in dem ‚neuen Leben‘, das seine
Identität durch diese Form von „Inkarnation“ rettet. Ganz profan könnte man das
so formulieren: Der Gestorbene/die Identität des geliebten Toten bleibt bestehen,
solange die Menschen am Leben sind, die ihn in sich beherbergen. Mit ihnen stirbt
auch die Erinnerung. Die Auferstehung bleibt eine immanente (nicht notwendiger-
weise, aber möglicherweise).
Eine (wenn auch fragwürdige) Form von Transzendenz wird uns in „Passion
Christi“ von Mel Gibson (USA 2004) präsentiert. Nach unvorstellbaren Qualen
stirbt der geschundene Jesus, doch ein letztes Bild zeigt uns einen auferstandenen
Christus, durch dessen Loch im Handrücken, der in Großaufnahme gezeigt wird,
die Ostersonne scheint. (Deutlich wird: Kitsch und Gewalt liegen manchmal ganz
nah beieinander).
Doch es gibt einen Weg zwischen Immanenz und Transzendenz, und dieser
wird beschritten von den Filmen, die sich nicht unbedingt als religiöse verstehen.
Beispielhaft steht dafür „The American“ (Anton Corbijn, USA 2010).
Ein Blick auf die letzte Filmszene: Im rechten Bildausschnitt ist ein Baum zu
sehen; er steht am Ufer eines Flusses. Und am Stamm entlang, wenn man genau
hinsieht, flattert etwas in die Höhe, über die Krone hinaus – ein weißer Schmetter-
ling, winzig, nur zu erkennen, weil er das Einzige ist, was sich im Bild bewegt.
Ein Filmbild, das einigermaßen unspektakulär wäre, hätte man nicht in der Ein-
stellung davor einen Mann tödlich verwundet über dem Lenkrad seines Autos
zusammenbrechen sehen. Ein Film ohne Hoffnung, ein Tod (und somit auch ein
Leben) ohne Erlösung, gäbe es da nicht dieses minimalistische Auferstehungsbild.
Der Schmetterling als Bild der Seele, als christliches Symbol für die Auf-
erstehung ist ein gängiges Zeichen. Es ist zu finden im Schmetterlingsbuch in den
Händen und als Tattoo zwischen den Schulterblättern des „American“, der, ver-
körpert von George Clooney, in Anton Corbijns Film Zweifel an seiner Tätigkeit
bekommt. Der harte Panzer des Auftragskillers bekommt Risse. Wir schauen der
„Entpuppung“ des Mannes zu, der von der Frau, in die er sich verliebt, „Signore
Farfalla“ genannt wird, Schmetterlingsmann. Die andere Frau, die er zu Beginn
5 Von Organspenden, Schmetterlingen und Kolibris 47
des Films (aus beruflichen Gründen) getötet hat, ersteht in seinen Träumen wie-
der auf; dass seine Coolness zunehmend aufbricht, beunruhigt den Auftraggeber.
Die Waffe, die der Amerikaner baut (eine so handwerklich wie künstlerisch an-
mutende und ausführlich gezeigte Tätigkeit, die etwas Meditatives hat), soll die
letzte sein, die er in die Hand nimmt.
Mit Meditation wird normalerweise etwas anderes als der Waffenbau in Ver-
bindung gebracht. Doch ein schwarzes Loch, das todbringende „Nichts“ könnte
auch im Inneren des Labyrinthes von Chartres gesehen werden. Ist nicht der Tod
wenn schon nicht Ziel, so aber doch das Ende des Lebens? Unweigerlich, in wach-
senden und engeren Kreisen läuft man darauf zu, läuft man hinein. Es gibt Ab-
kürzungen, Wiederholungen, Tricks (letztlich vergeblich) – oder aber das bewusste
Gehen. Während des Begehens der kreisenden Wege ist man sich sowohl seiner
Vergänglichkeit als auch seiner Ewigkeit bewusst. Der Augenblick als Einbruch
der Ewigkeit in die Zeit, wie ihn Sören Kierkegaard bezeichnet hat, wäre dann
die „Auferstehung mitten im Leben“. Das bewusste Erleben des Weges wird zur
Erkenntnis des Jenseits im Diesseits. Es ist ein Perspektivwechsel, wie ihn Reli-
gion und Kunst ermöglichen. So schließen sich Distanzierung und Unmittelbarkeit
nicht unbedingt aus, sondern umschließen sich im Genuss, in der Erkenntnis des
Augenblicks.
Walt Whitman, den weniger die Angst vor dem Tod als die Ungewissheit über
die Natur der Wirklichkeit plagt, der sich fragt, ob „Zuversicht und Hoffnung
schließlich nichts als Vermutungen sind, dass die persönliche Fortdauer jenseits
des Grabes vielleicht nur ein schönes Märchen“ (Whitman 1904, 131–132) ist,
spricht in einem Gedicht von der Fraglosigkeit der Auferstehung in der Begegnung.
Nehmen wir dieses Bild als Ausdruck des Bewusstseins dafür, dass Auf-
erstehung im Gegenüber geschieht. Im Johannesevangelium (Kap.20) ist es die
Auferstehungszeugin Maria Magdalena, die ihr Erleben den anderen Jüngern mit-
teilt und sie so zu Teilhabern an der Auferstehungsgewissheit macht: Teilhaben an
der Liebe, denn Gott ist die Liebe.
Im „American“ stirbt der Mann nicht zeugenlos, sondern die Frau (die er gerade
zuvor gefragt hat, ob sie mit ihm fortgehen will – wir sehen diesen Augenblick
durch das Visier der Killerin, bevor der Schuss sich löst, der aber ‚nach hinten‘
losgeht) sieht ihn und sein letzter Augenblick gilt ihr; ihre Liebe ist aufgehoben
und erfüllt. Der Schmetterling ist der harten Puppenschale entronnen und darf
aufsteigen, Augenblick als Ewigkeit in der Zeit.
In „Biutiful“ (Alejandro Gonzáles Iñárritu, Mexiko/Spanien 2010) ist es
ebenfalls das Schlussbild, welches einen Ausblick auf das Geschehen ‚danach‘
gewährt und das eine Variation des Anfangsbildes ist, den Film also rahmt und
bis zum Ende sehr rätselhaft bleibt. Noch mehr Rätselhaftes gibt es auf dem Weg
48 5 Von Organspenden, Schmetterlingen und Kolibris
dazwischen: Uxbal, der sich liebevoll alleine um seine zwei Kinder kümmert, wird
öfter von Familien gerufen, die einen Angehörigen verloren und das Gefühl haben,
der Tote wolle ihnen noch etwas mitteilen. Uxbal ‚sieht‘ die Toten und hört, was sie
zu sagen haben und teilt dies gegen Geld mit. Als bei ihm eine unheilbare Krebs-
erkrankung diagnostiziert wird, beginnt er, seine Angelegenheiten zu ordnen und
für seine Kinder vorzusorgen. Als er stirbt, ruft ihn seine Tochter: „Papa“… und
das Bild geht über in jenen Winterwald, den wir schon anfangs gesehen haben,
und in dem Uxbal einem jungen Mann begegnet – „Papa“ – seinem Vater, der in
einem jüngeren Alter gestorben ist als jetzt der Sohn, und sie setzen das Gespräch
vom Anfang fort, der Vater zeigt ihm, wie man gleichzeitig Wasser, Wellen und
Wind intoniert und Uxbal zeigt ihm, dass man gleichzeitig dazu auch noch rau-
chen kann… als der junge Mann aus dem Bild geht, fragt Uxbal, „Was ist da?“ –
und folgt ihm nach. „Für meine stolze alte Eiche“ steht am Ende als Widmung für
den Vater des Regisseurs.
Wohin gehen wir, wenn wir sterben und gibt es eine Auferstehung?
Das Bild des Schmetterlings im „American“ gleicht dem Bild der unsterblichen
Seele, die sich vom Körper ablöst und einen anderen Ort sucht. Auferstehung ist
jedoch prinzipiell etwas anderes als die Unsterblichkeit der Seele. Nach der Auf-
erstehungsvorstellung löst sich im Tod nicht die Seele vom Körper und existiert
körperlos fort. Im Tod endet die Gemeinschaft einer individuellen Person mit an-
deren Personen (wobei das oben beschriebene Konzept des „Beherbergens“ die
Gemeinschaft auf einer anderen Ebene fortsetzen kann). Der Tote lebt in der Er-
innerung der Lebenden weiter – so lange die sich Erinnernden am Leben sind.
Aber denken wir uns doch einmal einen ganz anderen, größeren Erinnerungs-
speicher (Tetens 2019, 68): Wenn das gesamte Leben der Person mit ihrer Identität
nicht nur in den Menschen, sondern in Gottes Denken aufbewahrt ist, so kann Gott
die Gemeinschaft derselben Personen erneuern und wiederaufleben lassen, indem
er die Personen wiederverkörpert. (Hermanni, 2011, 167–190)1
Eine Synthese schließlich bildet noch ein jüngerer (Jesus-)Film, „40 Tage in
der Wüste“ (Rodrigo García, USA 2017), ein sehr ungewöhnlicher Bibelfilm.
Die Versuchungen Jesu in der Wüste enden hier mit seinem Gang nach Jerusalem
ans Kreuz. Dort hängend, fast schon am Verlöschen, sieht er einen flatternden Ko-
libri, der einige Zentimeter vor seinem Gesicht in der Luft ‚stillzustehen‘ scheint.
Erstaunt blickt er auf das Tier, um dann (für immer?) seine Augen zu schließen.
1 Andrej Tarkowskijs und Steven Soderbergs „Solaris“ zeigen (in ihren jew. Ver-
filmungen des Lemschen Romans) den gleichnamigen Ozean als Erinnerungsspeicher,
der Auferstehungen ermöglicht.
Literatur 49
Literatur
Hermanni, Friedrich, Metaphysik. Versuch über die letzten Fragen, Tübingen 2011, 167–190
Kachler, Roland, Meine Trauer wird dich finden, Freiburg 2005
Kachler, Roland, In meiner Trauer wohnt die Liebe: Gedanken, die den Tod überwinden,
Freiburg/Stuttgart 2010
Tetens, Holm, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theorie, Stuttgart 2019, 68
Whitman, Walt, Von der furchtbaren Ungewissheit der Erscheinungen, in: Grashalme, Leip-
zig 1904, 131–132
Zur Typologie des Bösen
6
Bösewichte und Verbrecherinnen
Eine Typologie des Bösen kann es nur anhand einer exemplarischen Auswahl
geben, und in den folgenden Filmbeispielen werden einige Typen vorgestellt: Vom
bösen Spieler über den Pragmatiker bis zum Sadisten, dann wird ein Kamera-
schwenk auf das weibliche Geschlecht gemacht, das sich manchmal hinter einem
männlichen Bösewicht versteckt; eine der ersten Serienmörderinnen schließt den
Reigen der exemplarischen Betrachtung des filmischen Bösen ab.
Der Böse wird im Folgenden unter diesen Aspekten gezeigt:
• als einer, dem der Zweck die Mittel heiligt (John Travolta als Gabriel Shear in
„Password Swordfish“)
• als Spieler (Heath Ledger als Joker in „Dark Knight“)
• als Pragmatiker (Toni Servillo als Franco in „Gomorrha“)
• als Sadist (Christoph Waltz als Offizier Landa in „Inglourious Basterds”)
• als Verkleidete: Marion Cotillard (als Miranda Tate), mit der „Maske“ des
Haudegens Bane in „Dark Knight Rises“
• als Serienmörderin (Amanda Plummer als Eunice in „Butterfly Kiss“)
Beginnen wir mit einem Typen, den Quentin Tarantino wiederentdeckt hat, ein Bö-
sewicht, dem der Zweck die Mittel heiligt: Gleich zu Beginn von „Password Sword-
fish“ spricht Gabriel Shear alias John Travolta in die Kamera hinein über Holly-
wood-Filme und deren Problem, den Bösen am Ende davonkommen zu lassen.
John Travolta verkörpert „den Bösen“ in diesem Film von Dominic Sena aus
dem Jahr 2001, und er ist gerade dabei, zur Wirklichkeit werden zu lassen, was er
vor laufender Kamera kundgetan hat: eine blutige Geiselnahme. Das Böse hat in
diesem Film eine schillernde, ständig brechende Oberfläche, und in der Mitte des
Films (Kap. 20) erfahren wir, dass sich der vielfache Mörder als Ritter für die Frei-
heit Amerikas versteht. Wir lernen, dass all die Opfer, unschuldige Zivilisten, dar-
gebracht werden mussten auf dem Altar des heiligen Kampfes gegen den Terroris-
mus. Der Zweck heiligt die Mittel, das scheint der Film uns zu vermitteln, es gibt
eine sogenannte weiße Gewalt, die notwendig ist, um das höchste Gut zu schützen.
Wie der gut gemachte Film uns bearbeitet, auf intelligente Weise, mit tollen Dialo-
gen und Actionsequenzen, sind wir fast geneigt, zuzustimmen, und freuen uns, dass
der Böse doch edle Motive hat und am Ende nicht nur davonkommt, sondern seine
Mission weitertreibt. Solche Filme, die nicht nur das Böse thematisieren, sondern
Botschaften transportieren wie diese, dass es Ziele gibt wie den Schutz des Vater-
landes, die alle Mittel rechtfertigen, können als „böse Filme“ bezeichnet werden.
Böse, weil im höchsten Maß manipulativ: Film benutzt als politisches Mittel.
Das Böse ist das Lieblingsthema des Films. Es zeigt sich in jeder Kultur an-
ders, es versteckt sich in unterschiedlichen Formen oder tritt höchst offen zutage:
personifiziert in Teufelsfiguren, in fremden Lebensformen from outer space oder
sich offenbarend im eigenen Inneren. Der Film findet Bilder für das Erschreckende
und bannt es damit zugleich: Das Lichtspiel findet im Dunkeln statt und zeigt
dort Dinge, die durch ihre Benennung und Formgebung gebannt werden. Denn
das Schrecklichste ist immer noch das, was wir uns selbst vorstellen können, was
unsere eigene Phantasie hervorbringt – der Film erweist sich als Spiegel, der die
Medusa in ihr eigenes Angesicht schauen und erstarren lässt, die Medusa unserer
eigenen Angstgebilde.
Was wir dann zu sehen bekommen, im Spiegel des Films, ist schon die ver-
mittelte Form: Wir bezahlen an der Kinokasse dafür, dass wir an Leib und Leben
geschont werden und doch teilhaben dürfen an grausamen Racheakten, Gewalt-
spielen und Weltuntergängen.1 Doch manchmal – wir hoffen und wir fürchten das
1 Dies im Sinne einer Katharsis; die Lust am Agieren wird stellvertretend ausgelebt.
6.1 Zur Einstimmung: Böse Filme am Bsp. von „Password Swordfish“ 53
zugleich – geht uns ein Film unter die Haut, er bleibt keine Fiktion, sondern setzt
sich in unserem Kopf, in unserem Körper, im Gedächtnis fest und verwebt sich
mit unserer eigenen Lebensgeschichte. Das Spiel wird ernst. („Das geschieht doch
alles nur in meinem Kopf?“ fragt Harry Potter am Ende des letzten Bandes, in:
„Die Heiligtümer des Todes“. – „Na und?“ fragt Dumbledore. „Macht dies das
alles weniger wirklich?“2).
Das Böse ist nicht nur das Lieblingsthema des Films; um Gut und Böse geht es
eigentlich immer, es ist die Hauptfrage der Theologie wie der Philosophie.
Das Böse stellt die menschliche Vernunft auf eine harte Probe, denn es bringt
unsere Zuversicht ins Wanken, dass der Lauf der Welt einen Sinn ergibt: Das
schreibt die amerikanisch-jüdische Philosophin Susan Neiman in ihrer Studie
„Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie“. Das Problem des
Bösen bezeichnet sie als die treibende Kraft des modernen Denkens, neben dem
alle anderen erkenntnistheoretischen Probleme (wie z.B. die „Konstruktion der
Wirklichkeit“) verblassen. Das Problem des Bösen lässt sich sowohl theologisch
als auch säkular formulieren, doch im Grunde geht es darum, die Welt als Ganze
zu verstehen. Die Religion ist eine Weise, mit dem Problem des Bösen zurecht zu
kommen; der Glaube an den Sündenfall, so Neimann, sei nicht zuletzt deshalb so
beharrlich, weil es leichter ist, das Leben als Strafe zu sehen, denn als ganz und
gar sinnlos.
Neiman sieht eine Lösung darin, die Metaphysik und damit die Frage nach dem
Sinn abzuweisen, der niemals gegeben, sondern immer erarbeitet ist. Die Frage
nach dem Bösen muss weiter gestellt, es muss so tief wie möglich verstanden wer-
den. Wissen hilft!
Film ist die unterhaltsamste Erkenntnisform. Vielleicht liefert er weitere Denk-
anstöße für unser Wissen um das Böse, wie sie auch von der Theologie gegeben
und aufgenommen wurden. Wenn sich Film, wenn sich Theologie Gedanken macht
zum Bösen, geht es auch immer um die Rolle des Guten, um seine Widerstands-
fähigkeit und Gestaltungskraft. Oder anders gesagt: um Erlösung von dem Bösen.
2 ‚Tell me a last thing‘, said Harry. ‚Is this real? Or has this been happening inside my
head?‘ … ‚Of course it is happening inside your head, Harry, but why on earth should
that mean that it is not real?‘, in: J.K.Rowling, Harry Potter and the Deathly Hallows,
London: Bloomsbury 2007, 579
54 6 Zur Typologie des Bösen
Eine der beeindruckendsten Formen des Bösen wurde uns im Kino mit der Figur
des „Joker“ präsentiert. Dieser „Joker“ in Christopher Nolans „The Dark Knight“
(USA 2008) will nichts, kein Geld, keine politischen Ämter, er will nur spielen; die
ganze Welt ist ihm ein Spielplatz für seine grausamen Inszenierungen, mit denen
er seinen Lieblingsfeind, Batman, den phantastischen Welten- bzw. Gotham-City-
Retter, davon zu überzeugen gedenkt, dass das Böse letztlich immer siegen muss,
dass die Angst immer größer ist als der gute Wille, dass der Mensch zu allem
bereit ist, um seine Haut zu retten oder die seiner Liebsten.
Er fordert Batman zum Treffen, zum Kampf. Er möchte es sehen, wenn Batman
miterleben muss, wie alles, wofür er kämpft, in die Luft geht. Zwei Inszenierungen
hält er für Batman bereit: einmal hat er seine Liebste an eine Bombe angeschlossen,
ebenso wie deren Verlobten; sie können sich über Telefon entscheiden, wer von
beiden weiterleben wird, denn einer von beiden wird auf alle Fälle sterben. Wie
wird sich Batman entscheiden, wem wird er zu Hilfe eilen? Der Verlobte jener
Frau, die er liebt, ist sein Hoffnungsträger, sein „Weißer Ritter“, er soll mit Bat-
mans Hilfe Gotham City wieder ans Licht führen.
Die andere Inszenierung bietet eine ähnliche Dilemma-Situation: Zwei Fäh-
ren sind unterwegs, an beiden ist eine Bombe befestigt; auf jedem der Schiffe
befindet sich ein Auslöser für die Bombe des jeweils anderen. Diejenigen wer-
den überleben, die als erste den Zünder betätigen.3 Auf der Fähre, die Sträflinge
transportiert, nimmt ein Häftling den Zünder an sich. Parallel dazu wird gezeigt,
wie auch auf dem anderen Schiff ein Passagier den Zünder entschlossen ergreift.
Währenddessen kämpfen der Joker und Batman gegeneinander; um 12 Uhr, als die
Bombe hochgehen soll, schaut der Joker kurz auf die Zeiger und freut sich auf das
Feuerwerk: Dieses findet jedoch nicht statt, weil beide „Entscheider“ den Zünder
wieder zurückgeben bzw. ins Wasser geworfen haben.
„Ich tue das, was Sie schon längst hätten tun sollen!“ Ausgerechnet der Sträf-
ling, von dem alle alles erwarten, tut das einzig Richtige. Er wählt den dritten Weg,
den kreativen Ausgang aus der Dilemma-Situation. In Schnitt/Gegenschnitt-In-
szenierungen, in die auch noch das Treffen zwischen dem dunklen Ritter und dem
bösen Spieler eingesprengt wird, verfolgen wir zugleich Handlungs- und Meta-
ebene und können auf allen Ebenen genießen, dass der Böse unrecht behält und
knurren muss: „Auf nichts kann man sich heutzutage mehr verlassen!“
Er kann den Guten weiter verhöhnen, hat er doch noch ein Ass im Ärmel; und
dennoch ist er gerade von ganz normalen Menschen, die keine Helden waren, über-
wunden worden, weil sie das Menschlichste aus der Situation gemacht haben. Sie
haben einen anderen, den dritten Weg gewählt; haben sich nicht geopfert, aber sind
auch nicht zu Mördern geworden.
Geopfert wird am Ende das Image des Superhelden. Denn um den bösen Spie-
ler zu besiegen, muss Batman abtauchen und seinen Heldenstatus opfern, muss
fremde Schuld auf sich nehmen und sagt von sich: „Ich bin, was immer Gotham
braucht. Die Wahrheit ist nicht immer gut genug; manchmal verdienen die Men-
schen mehr: Dass ihr Vertrauen belohnt wird.“
Vielleicht meint Batman hier das Vertrauen, von dem auch die Bibel zeugt:
Der Glaube daran, dass am Ende alles gut werden wird (wenn auch der Garant
für ein solches Vertrauen nicht mehr Gott, sondern der Mensch sein muss). Oder
dass, zumindest, nicht der Tod, sondern das Leben siegen und der zerstörerische
Prozess umgekehrt wird, dem zufolge „der letzte Anlegeplatz nur die Höllenstadt
sein kann und die Strömung uns in einer sich stets verengenden Spirale dort hin-
unterzieht“, wie Italo Calvino in „Die unsichtbaren Städte“ schreibt. Um dies zu
erreichen sucht Batman, „wer oder was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm
Bestand zu geben“ (Calvino 1977, 192).
Dazu geht er einen dritten Weg: Der wahre Schuldige wird nicht entlarvt, und
doch geht das böse Spiel nicht auf. Der Joker wird besiegt durch Mittel, die ihm
nicht zur Verfügung stehen, durch eine Freiheit des Willens, die sich am Ende
gegen ihn kehrt.
Das Böse wird überwunden durch einen kreativen, einen dritten Weg, einen
zwischen „Kampf“ und „Flucht“.
Von einem solchen dritten Weg wird auch oft gesprochen, wenn von Jesu
Handlungsweise die Rede ist, wie sie uns in den Evangelien berichtet wird. Oft
genug stellen ihn seine Gegner in Frage, stellen ihm Fragen, die eigentlich Fallen
sind; egal wie Jesus antworten wird, es wird ihm zu Ungunsten ausgelegt werden.
Gezeigt werden Strukturen, aus denen auszusteigen eigentlich unmöglich ist – und
doch findet Jesus einen Weg, selbst das für seine Botschaft zu nutzen. Er findet
eine unerwartete, dritte Möglichkeit – für solche kreativen Umgangsweisen mit
dem Bösen gibt es noch mehr filmische Beispiele.
„Das Böse“ ist in Bibel wie im Film meist in irgendeiner Weise personifiziert.
Diese Personifikationen stehen oft für Zusammenhänge, aus denen zwangsläufig
Verhaltensweisen folgen, die unausweichlich miteinander verknüpft scheinen:
„Strukturelle Sünde“ hat Dorothee Sölle sie genannt. Ein Ausdruck, der aus der
56 6 Zur Typologie des Bösen
Eine Erlösung im Film ist das nicht, aber das Aufzeigen eines Ausweges. So
wird der Film vom Spiegel der Gesellschaft, der er ist, zum Spiegel auch der
Möglichkeiten eines menschenwürdigen Lebens angesichts des Bösen in der Welt
(Kirsner 2013, 224–234).
Im Film ist die Theodizee-Frage, die Frage nach der Rechtfertigung Gottes
angesichts des Leids auf der Welt, zur Anthropodizee-Frage, zur Frage nach der
Menschlichkeit des Menschen angesichts des Leids geworden. Die Einübung von
Empathie, das Einfühlen in den anderen, das Gegenüber, sei ein Weg, eine solche
Menschlichkeit zu lernen, das ist eine der Thesen von Arno Gruen in „Der Verlust
des Mitgefühls“ (1997). Aber die Empathie kann auch als Mittel des Sadisten ein-
gesetzt werden, der sein Opfer quält, indem er es empathisch mit Fäden einspinnt,
um ihm dann die Luft abzudrehen. So, wie es der dämonische Oberst Hans Landa,
verkörpert von Christoph Waltz, tut.
Eine solche Meisterschaft verkörperte auch der von Heath Ledger gespielte Joker
in „The Dark Knight“ und nach dem Tod des Darstellers entschloss sich Nolan, für
den letzten Teil seiner Batman-Trilogie „The Dark Knight Rises“ einen völlig an-
deren Bösewicht als Gegenspieler zu wählen (Christopher Nolan, USA 2012). Der
muskulöse Bane (Tom Hardy) mit seiner „Darth-Vader“-Maske wäre trotz seines
bedrohlichen Auftretens und der Tatsache, dass er stärker ist als der zwischenzeit-
lich schon etwas lädierte Batman, eine recht eindimensionale Figur – würde da
nicht, wie in einer russischen Babuschka-Figur, noch etwas anderes in bzw. hinter
ihm stecken. Als sich Batman in einer Szene gegen Bane, der ihn kampfunfähig
glaubt, doch nochmals erhebt und den Kampf gewinnt, stößt ihm Miranda Tate,
die Batman bisher auf seiner Seite glaubte, ein Messer in die Rippen und offenbart
ihm, dass sie hinter der Bombe steckt, die Gotham zerstören wird.6
Längst haben die Frauen aufgeholt, dürfen mehr und anderes sein als die un-
durchsichtig-geheimnisvolle femme fatale der 40er Jahre, können prinzipiell alles,
auch in Sachen Böses (Kirsner 2006, 43–55), und sind als angebliche Freundin
dann gerade die Teufelin in Person. Miranda Tate ist Batmans eigentliche Gegen-
spielerin, Bane ist lediglich ihr Werkzeug. Doch so berechnend sie ist, so be-
rechenbar ist sie letztlich auch; ganz anders Amanda Plummer als durchgeknallte
Eunice, vor der praktisch nichts sicher ist.
was die Beziehung zwischen den beiden intensiviert. – Die völlige Diskrepanz
zwischen ungerührten Reaktionen und ungeheuren Taten fordert moralische Fra-
gen heraus und verleiht dem Film seine Spannung. Eine Studie menschlicher De-
formation, in der gezeigt wird, zu welchen Mitteln ein Mensch in seiner Einsam-
keit greifen kann, um sich selbst wieder zu spüren und um auf sich aufmerksam
zu machen.
In einer Filmszene, stehend auf der Brücke über einer Autobahn, beklagt sich
Eunice bei Miriam darüber, dass sie noch so viel Menschen umbringen könne, aber
es geschähe nichts; Gott habe sie vergessen. Miriam wendet ein, dass sie zu ihr
stehen würde und sie sähe; Eunice dagegen meint, dass Miriam sie auch bald nicht
mehr sehen könne und sagt: „Bevor du mich gut machst, mache ich dich böse.“8
Schmetterlinge küssen sich nicht, sagt Mi zu Eu, aber Engel tun es – und die
beiden Frauen küssen sich am Ende ihrer Himmel- und Höllenfahrt, bevor Mi auf
Befehl von Eu sie als „Sühneopfer“ darbringt. Sühneopfer kommen immer in den
Himmel, da sie ein Geschenk an Gott seien, erläutert Eu. Eu ist sich sicher, dass
Gott dieses Geschenk annehmen wird, obwohl sie sich während ihres Lebens –
auch und gerade von Gott – vergessen glaubte. Sie habe schon Schlimmeres ge-
macht, als Menschen umzubringen, aber Gott und die Menschen hätten sich nicht
darum gekümmert. Sie kann tun, was sie will: Sie scheint ein Nichts zu sein, da
ihre Taten keine Konsequenzen nach sich ziehen: Schuld ohne Sühne. So (ent-)
sühnt sie sich selbst, mithilfe des einzigen sie liebenden Menschen – Mi, die bisher
im Film die Opferrolle innehatte. Sie – Mi – tut alles aus Liebe zu Eu, bis zum
bittersüßen Ende. Tatsächlich ist der Schlussmord als Erlösung dargestellt. Eu lässt
sich von Mi ihre Märtyrerketten abnehmen, die sie sich bis dahin als Erdenketten,
als Schwerkraftinstrumente, selbst angelegt hatte. Sie liebe Wunden, sagt sie ein-
mal zu einem Liebhaber, dessen ‚Seitenwunde‘ (eine Nierennarbe) sie küsst, bevor
er umgebracht wird. Eu ist eine moderne Judith, jeder Mensch ist ihr ein poten-
tieller Holofernes, und jeder Liebesakt wird wie bei einem Spinnenweibchen in
eine Exekution aufgelöst. Sie wird am Ende durch ihr Selbstopfer nicht zum guten
(was Mi immer gehofft hatte), aber zum – zumindest aus ihrer Einsamkeit – er-
lösten Menschen. Man lernt mit Miriam, aus deren Sicht wir Eunice kennenlernen,
Eunice wenn schon nicht lieben, so doch ihre Handlungsweise nachvollziehen zu
können.
Interessant ist, wie der Opfergedanke hier zum Tragen kommt, nachdem so
viele Menschenopfer gebracht wurden, bis es zum Versuch der Selbstentsühnung
kommt. „Butterfly Kiss“ erscheint als Kreuzung zwischen Frauen-Roadmovies
wie „Thelma und Louise“ und Gewaltfilmen wie „Henry. Portrait of a Serial Kil-
ler“ und ist ein weiterer filmischer Ausdruck zunächst sinnlos erscheinender Ge-
waltakte. Diese stehen in „Butterfly Kiss“ in direktem Zusammenhang mit der
Frage nach dem abwesend erscheinenden Gott, der die Opfer nicht annehmen will,
mit denen er gerufen werden sollte.
Der als Taufakt dargestellte Sühnemord wird mit großer Zärtlichkeit als Per-
version des Tötens inszeniert. Der Höllentrip wird zur Himmelfahrt. Das Ziel ist
das, was sich Mystiker und Ekstatiker als „Erlösung“ vorstellen. Der mittelalter-
liche Gral als Erlösungssymbol wird einmal kurz angedeutet, als sie einmal auf
ihrer Tour nach Camelot fahren, wenn dies auch nur ein Vergnügungspark ist.
Die Suche nach dem verlorenen Paradies und der letzten Erlösung steht als My-
thos gegen die Alltagsrealität, die hier durchweg gewaltsam bestimmt ist.
Nie entsteht im Laufe dieses Films ein Sog, der einen auf den Trip mitnimmt,
nie verschmelzen Musik, Montage und Spiel zu der einen großen Hollywood-Be-
rührung. Der Bruch des Alltags, der Sehnsucht über das Vorfindliche hinaus wird
gebrochen und bleibt es. Die „Metaphysik des Bösen“ wird in dem so zarten wie
harten „Butterfly Kiss“ angedeutet, ohne diese zu feiern oder zynisch zu werden –
wie dies in Dominic Senas und Quentin Tarantinos Filmen zuweilen geschieht.
Die Logik des Symbols am Bsp. von „Batman“ als exemplarischem Filmbeispiel
„Surreale“ Darstellungen des Kinos benutzen Bildformen, die Sichtbarkeit mit
Verfremdung kombinieren, wie dies in „Batman“ geschieht, in dem das Bild-Zei-
chen aus der Comic-Form erwächst, wie Dirk Rustemeyer schreibt (Rustemeyer
2013, 178f).
Diese Typisierung lässt zwischen dem Gesehenen und seiner Wahrnehmung
eine Unterscheidung zu. Oder, in der Fortschreibung semiotischer Tradition aus-
gedrückt: „Die Alternative von Gut und Böse erscheint als oszillierendes Spiel
beobachterabhängiger Zuschreibungen und funktionaler Äquivalente, bei dem das
ausgeschlossene Dritte einer Unterscheidung zum zentralen Faktor wird. Es er-
möglicht die Reformulierung der religiösen Differenz von Gut und Böse in Form
innergesellschaftlicher Konflikte und Unterscheidungsordnungen, um der Diffe-
renz ihre scheinbare Eindeutigkeit zu entziehen.“ (Rustemeyer 2013, 183)
Batman hat den Markt der Zeichenhelden 1939 als differenziertere und ambiva-
lente Antwort auf Superman betreten. Batman ist kein Held eindeutiger Werte, mo-
ralischer Maximen und rechtlicher Loyalitäten. In seinem Fall wird die Prägnanz
einer Comic-Figur ausgenutzt, um komplexe, uneindeutige soziale Dilemmata
6.7 Zum Ausblick: Gut und Böse als notwendige Unterscheidung? 61
Joker zeigt das Teuflische als das (zum Negativen gewendete) Menschliche; um
dieses zu überwinden, muss Batman übermenschlich werden, nämlich zu einer
Vorstellung. Bilder erweisen sich als mächtiger als die Wirklichkeit. Erst als Sym-
bol hat der Kämpfer für das Gute Erfolg. Erst als Vorstellung wird das Gute zu
einer Wirklichkeit, die Wirklichkeit schafft, indem sie für andere zum Bild der
Wirklichkeit wird. In Batmans Geschichte formuliert sich also die Bedingung der
Möglichkeit Gottes in der Welt. Die geliebte Rachel drängt Bruce (Wayne, wie
Batman mit bürgerlichem Namen heißt), als Stellvertreter Gottes in der Gesell-
schaft tätig zu werden: „Welche Chance hat Gott, wenn die guten Menschen nichts
tun?“9 So wird Batman als Stellvertreter des gerechten Gottes zum unermüdlichen
Arbeiter an der Gerechtigkeit. Er vertritt einen Gott, der sich nach erledigter
Schöpfungsarbeit nicht als passiver Beobachter aus der Welt heraushält, sondern
mit der Unvollkommenheit der Welt arbeitet. Im Zuge dieser Arbeit wird er zum
Unterscheidungskünstler, der – da er mit der Vernichtung der Sünder zugleich die
Unterscheidung von Recht und Unrecht, Intention und Schuld aufheben würde, die
ihn ja selbst konstituiert – dauernd zwischen Gut und Böse unterscheiden muss:
„Jede solche Unterscheidung vollzieht die Gottesfunktion, weil sie die Welt spal-
tet, um ein Verhältnis zur Welt zu gewinnen.“ 10
Religion, die eine solche Unterscheidung differenziert nachvollzieht, nämlich
als unendliche Arbeit, ist eine Form der Lebensführung und ein Deuteschema
innerweltlicher Kontingenzen. Im Kino wird die Welt als oszillierende Ordnung
simultaner Unterscheidungen beobachtbar. Für die Länge eines Spielfilms probie-
ren wir Gottes Blick auf die Welt aus und lernen immer neue Wege aus morali-
schen Dilemmata kennen.11
9 Gleichzeitig weiß sie, dass sie ein Symbol nicht lieben kann, da das, was Wayne als
Batman macht, nie „persönlich sein“ darf, wie Butler Alfred sagt, vgl. Rustemeyer,
199.
10 Rustemeyer, a.a.O., 201.
11 Siehe zuletzt die Unterbrechung der Gewaltspirale in „Tribute von Panem – Mocking
Jay“ – Teil 2 – von Francis Lawrence aus dem Jahr 2015, als Katniss einen, der ihr
das Messer an den Hals hält, überzeugt, sie nicht zu töten; die Frauengestalten, u.a.
Präsidentin Alma Coin, sind einer eigenen Betrachtung wert.
Literatur 63
Literatur
Calvino, Italo, Die unsichtbaren Städte, München 1977, 192
Gruen, Arno, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit, München
1997
Kirsner, Inge, Kirchenbilder und Menschenbildung, Religionspädagogische Studien im
Spannungsfeld von Medien, Bildung und Religion, Leipzig 2013, 224–234
Kirsner, Inge, Der/die oder das Böse? Über geschlechtliche Rollenzuschreibungen des
Bösen im Film, in: Helga Kuhlmann/Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.), Hat das Böse ein
Geschlecht?, Stuttgart 2006, 43–55
Neimann, Susan, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt/M.
2004
Rustemeyer, Dirk, Darstellung. Philosophie des Kinos, Velbrück 2013
Weltuntergänge und andere
Apokalypsen im Film 7
Der Mensch wird durch Maschinen ersetzt; ein großer Planet trifft auf die Erde;
eine rätselhafte Krankheit lässt die Sehkraft der Menschen erlöschen: Filmische
Visionen über eine mögliche Zukunft der Erde sind ein Spiegel der Gesellschaft, in
dem Tendenzen der Gegenwart aufgenommen und weitergedacht werden.
Einige realistische Filmphantasien werden im Folgenden dazu entfaltet und
Überlegungen daran angeschlossen, was an Apokalypsefilmen so reizvoll sein
könnte, dass aus der „Lust am Untergang“ ein eigenes Filmgenre werden konnte.
Ein eindrückliches Beispiel liefert der 8minütige Animationsfilm von Marius Fiet-
zeck und Martin Lapp aus dem Jahr 2011, entstanden als Abschlussarbeit an der
Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.
Sein Titel O.P.A. ist die Abkürzung für „Organized Personal Assistant“, und ein
solcher steht eines Tages vor der Tür eines alleine lebenden alten Mannes.
Wir erleben mit, wie der „Organized Personal Assistant“ – ein Roboter, eigent-
lich als Haushaltshilfe gedacht – immer mehr Funktionen im Haushalt eines
alten Menschen übernimmt und schließlich auch die Kontrolle über die Gesund-
heit seines Klienten. Was zunächst wie eine Erleichterung der alltäglichen Auf-
gaben erscheint, wird durch die ständigen Uploads der Maschine zur Bedrohung.
Alles Analoge (Bücher, Kaminfeuer) wird digitalisiert und schließlich wird der
Mensch – das letzte analoge ‚Ding‘ – selbst zum Opfer der letztlich von ihm initia-
lisierten „schönen neuen Welt“. Die Einverleibung des Menschen durch den Com-
puter – im Film ganz ‚bildlich‘ – ist die letzte Konsequenz der Cyborgisierung der
Welt. „Cyborg“ (cybernetic organism) bezeichnet ein Mischwesen aus lebendigem
Organismus und Maschine; bezeichnet werden damit Menschen, deren Körper
dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden. Sie sind also keine Roboter,
da sie lediglich technisch veränderte biologische Lebensformen sind.
Würde man den Begriff ganz streng fassen, so müsste auch ein Brillenträger
oder die Trägerin eines Hörgerätes letztlich „Cyborg“ genannt werden – je nach-
dem, ob man ein (externes oder internes) Gerät braucht, um sich als vollständiger
Mensch zu fühlen. Dem zufolge wären auch Smartphone-UserInnen potentiell Cy-
borgs.
Der Roboter im Film ist das Gegenüber des alten Mannes, er ist (bis auf das
Ende) nicht direkt körperlich mit ihm verbunden. Gedacht ist er aber vom (im Film
nicht benannten) Schenkenden als unverzichtbar werdende Dauerhilfe, die den Ab-
sender von seinem möglicherweise schlechten Gewissen entlastet. Das Gerät soll
zur Ich-Erweiterung des Empfängers werden und ihm all das ermöglichen, was er
aus Altergründen immer weniger selbst schafft (dies alles ist längst keine Science-
Fiction-Utopie mehr).
Nun aber geschieht die Umkehrung, die alte Angst des Menschen, das von ihm
Geschaffene oder Verursachte könne sich letztlich gegen ihn selbst wenden:
Die Maschine wird immer eigenmächtiger und wird zunächst zum Herrscher
über seinen Schöpfer, schließlich sogar zu seinem Todfeind.
Visualisiert wurden solche Ängste schon früh, man denke an den jüdischen
Lehmmenschen Golem oder an Dr. Frankensteins Monster, um frühe Filmbei-
spiele zu nennen. Später wurde Ridley Scotts „Blade Runner“ (USA 1982) stil-
bildend und mit dem „Terminator“ (USA 1984) schuf James Cameron schließlich
eine menschliche Maschine, die zunächst gegen und dann für die Menschen ein-
gesetzt wird (Terminator 2 – Tag der Abrechnung 1991), um der Maschinenherr-
schaft über die Menschen Einhalt zu gebieten.
Vollendet erschien diese Herrschaft dann in „Matrix“ (USA 1999), jenem groß-
artigen Actionspektakel, das noch vor dem 3D-Zeitalter in einer Achterbahn für
die Sinne zeigte, dass Menschen eben doch kreativer sind als Maschinen (und
unvorhergesehene Dinge tun, die die rationalen Maschinen schließlich zum Patt
zwingen).
Alle diese genannten Filme gehen letztlich gut aus für den Menschen – ob
die wenig tröstliche Version im radikalen Kurzfilm „O.P.A.“ die realistischere
ist? Einen Hoffnungsschimmer für das Überleben der Menschen gibt es in der
Literaturverfilmung „Die Stadt der Blinden“.
7.2 „Die Stadt der Blinden“ … 67
In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von José Saramago aus dem Jahr
1995 ist in der ersten Szene eine ungewöhnliche Verkehrssituation zu sehen (0–
3,16).
Die Ampel schaltet auf grün, doch ein Auto bleibt stehen, mitten auf einer ver-
kehrsreichen Straße; alle hupen, fluchen, überholen, irgendwie. Ein Blick in das
blockierende Auto offenbart einen verstörten Mann, der immer wieder die Hände
vor das Gesicht schlägt, hilflos herumtastend. „Ich kann nichts mehr sehen!“
Der Mann am Steuer hat von einem Augenblick auf den anderen sein Augen-
licht verloren. Der freundliche Passant, der den Hilflosen anspricht und nach
Hause geleitet, wird den Schlüssel behalten und das Auto des Blinden stehlen; ein
geringes Delikt im Vergleich zu dem, was folgt, als epidemieartig immer mehr
Menschen schlagartig erblinden. Die Folge dieser Epidemie ist der Zusammen-
bruch der Zivilisation, und deutlich wird, dass wir in einer visuellen Welt leben, in
der Informations- und Warenströme hautsächlich über das Auge laufen. Fällt der
Sehsinn aus, läuft auch sonst nichts mehr. Im Vorteil sind hier die Immer-Schon-
Blinden, da sie sich besser in dieser Welt auskennen.
„Der Zustand der Welt erfüllt mich mit großer Angst und Sorge, da bahnt sich eine
Katastrophe an, um die sich niemand zu kümmern scheint. Wir müssen die Art, wie
wir leben und konsumieren, radikal verändern, bewegen uns aber immer weiter in
dieselbe Richtung“,
in ihrer (ehemaligen) Wohnung untergebracht hat. Sie hat zuviel gesehen: Hunde,
die aus Nahrungsmangel Leichen fressen; ‚natürlich’ Blinde, die ihre Vorerfahrung
in den Dienst skrupelloser Tyrannen stellen, eine Welt, die von der Natur zurück-
erobert wird und wo die Menschen, sich als evolutionärer Fehltritt erweisend, ei-
nander ausrotten. Blind sein wäre eine Gnade gewesen, und blind werden wäre
die natürliche Konsequenz, nachdem sie, mit der zweifelhaften Gabe des Sehens
gesegnet, die anderen gerettet hat, die gerade wieder staunend anfangen, die Dinge
mit ihren Augen wahrzunehmen – die sie zuvor (so) nicht gesehen haben.
Das Ende des Films spielt in der Wohnung der letzten Sehenden, es wird er-
zählt, wie der erste Blinde sein Augenlicht wiedererlangt und damit den anderen
Hoffnung gibt (2.7.44 – 2.10.30).
Sehenden Auges blind zu sein, dieses Motiv hat Platon in seinem Höhlengleich-
nis ausgeführt, das die Matrix für mehrere Romane Saramagos (am dichtesten in
„Das Zentrum“) bildet. Das Kino bildet strukturell die Höhle Platons nach, und ein
Kinostück zu machen, das annähernd dieses Nicht/Sehen abbildet, das hat Filme-
macher Mereilles geschafft. Die Welt, in der die Sehenden ihr Augenlicht verlieren
müssen, um zu erkennen, was Leben ausmacht, was Liebe ist, was die Welt zu-
sammenhält, geht am Ende nicht unter; Keimzelle der Hoffnung bildet die kleine
Gemeinschaft, die, einander solidarisch begleitend, einander erkannt hat und so in
der apokalyptischen Umwelt überleben kann.
Die ganze Welt retten, wie es die US-amerikanischen Helden tun, ist ihnen ver-
sagt; aber sie werden einander zur Welt.
Werfen wir nun einen Blick auf jene US-amerikanischen Helden: die sind auch
nicht mehr das, was sie einmal waren. Die Superhelden scheinen zugleich mit den
Twin Towers zu Fall gekommen zu sein und haben sich davon nicht mehr erholt.
Der dunkelste Held von allen ist Batman, der in „The Dark Knight“ (Christopher
Nolan, USA 2008) einen so starken Abschied genommen hat, dass niemand an
(s)eine Rückkehr glauben mochte. Um Gotham City, exemplarisch für die ganze
Welt, zu retten, musste er seinen Heldenstatus opfern, fremde Schuld auf sich neh-
men, um der Menschheit ihren Glauben an das Gute und somit ihre Überlebens-
fähigkeit zu erhalten. Aber nun kehrt das Böse zurück – denn solange Batman lebt,
wird er die dunklen Mächte anziehen.
Die Düsternis von „The Dark Knight“, wo „der tragische Held den Kampf ge-
wonnen, die moralische Schlacht jedoch verloren hat“ (Schnelle 2012, 41), konnte
von seinem Sequel kaum übertroffen werden. Das Austreiben des Heroischen aus
dem Helden jedoch wird in „The Dark Knight Rises“ (Christopher Nolan, USA 2012)
perfektioniert. Als heroisch könnte am Ende lediglich sein (allerdings von ihm selbst
inszenierter, also gefakter) Opfertod gedeutet werden, als er die von Bösewicht Bane
scharf gemachte Atombombe mit dem Batmobil aus Gotham herausschafft.
7.3 „Melancholia” (Lars von Trier, Dänemark/S/F/D 2011) 69
dass man fast versucht ist zu sagen: eine Apokalypse ist noch kein Weltuntergang.
Er erscheint hier als Wiedergeburt, denn es erscheint unvorstellbar, dass diese
Energie sich zugleich mit der Erde auflösen könnte.
Die an ihrer inneren Dunkelheit leidende Justine erwacht zu neuem Leben an-
gesichts der finsteren Bedrohung von außen. Ihr wird die Dunkelheit der äußeren
Ereignisse zum Licht, das ihr den Weg weist, ihr klar macht, was zu tun ist, wenn
man eigentlich nur noch auf das Ende warten kann. Sie nutzt die letzten Minu-
ten dazu, ein temporäres Kunstwerk zu errichten und ihrem Neffen mit dieser
magischen Höhle ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Das angesichts der
Wucht der kommenden Ereignisse zerbrechlich erscheinende Tipi wird zu einem
Zelt, das wie die Rauch- und Feuersäule den Israeliten in der Wüste Schutz ver-
lieh, in dem Bewusstsein, dass Gott ihr Reisebegleiter war. Die magische Höhle
wird zum Übergangsobjekt, das dazu hilft, mit den Ereignissen, die geschehen und
geschehen werden, umzugehen. Sie ist vergleichbar mit dem, was man die Konst-
ruktion des Glaubens nennen könnte. Es nimmt dem Jungen die Angst, der Hand
in Hand mit seiner Tante das Ende nicht überlebt, aber erlebt. Der Glaube hilft zu
leben, und manchmal bedient er sich auch temporärer Konstruktionen wie der-
jenigen eines Gegenstandes, der die Erde bewohnbar macht und erleuchtet – wie
die Höhle, die dem Glanz des lichtvollen Untergangsplaneten einen eigenen ent-
gegenstellt. Das Licht kommt von der Verbindung der drei Menschen miteinander,
die auf zwar unterschiedliche Weise, aber eben miteinander verbunden das Finale
zu einem Übergang gestalten. Sie setzen der kalten Welt der Beziehungslosigkeiten
eine wie für diesen letzten Augenblick erworbene Bindungsfähigkeit entgegen, die
ihnen Würde verleiht und sie vor einem sinnlosen Abbruch aller Geschichten ret-
tet.
„Melancholia“ erzählt so mitten in den geschilderten Finsternissen, inneren
und äußeren, die einander entsprechen, zugleich die Geschichte vom Licht.
Angesichts der filmischen Schluss-Szene kann man vielleicht nicht von Er-
lösung sprechen, aber von der Möglichkeit, mit den geschilderten Ereignissen um-
zugehen, diese zu gestalten. Es ist ein Akt der Freiheit, wie ihn auch Franz Kafka
in seinem „Bericht für eine Akademie“ beschreibt. Kafka skizziert hier, dass es
eine Erlösung höchstens im Sinne einen Auswegs geben kann, der darin besteht,
die einzige Wahl, die man hat, als Freiheit zu begreifen.
Die Erde geht unter, doch dem mitleidlosen Planeten, dem sie unglücklich im
Wege steht, kann man immer noch das Wunder der eigenen Existenz entgegen-
setzen, die auch mit der irdischen Auslöschung weder verneint noch rückgängig
gemacht wird. Ich existiere, ich werde existiert haben: ein Augenblick, der Ewig-
keit wird in der Zeit.
72 7 Weltuntergänge und andere Apokalypsen im Film
Zum Schluss
Am Ende bleibt: Wir sind immer die Überlebenden, die Lust am Untergang speist
sich aus dem Voyeurismus des Kinos, Bilder zu sehen von Dingen, die man fürch-
tet, und selbst an Leib und Leben unversehrt zu bleiben. Es ist wie das memento
mori eines mittelalterlichen Totentanzes, den man betrachtet und angesichts des
Endes, das jedem bevorsteht, die Zeit bis dahin schätzen lernt. Apokalypse im
Kino also als Glückserfahrung des Hier und Jetzt; zugleich aber auch das Ermög-
lichen eines Handelns im Hier und Jetzt, auf dass abgewendet werden möge, was
uns der Film als dunklen Spiegel vorhält und auch als Konsequenz menschlichen
Handelns gezeigt wird.
Dabei ist die Johannesoffenbarung der Bildlieferant für viele apokalyptische
Filme. Auch die Grundbewegung der biblischen Geschichte und ihrer Geschichten
wird aufgenommen: Zu Beginn wird ein Ereignis geschildert, das kann Sünden-
fall genannt werden oder auch ein unverhoffter Einbruch von außen. Der Normal-
zustand gerät ins Wanken, die Krise steigert sich bis zu einem alles entscheidenden
Höhepunkt – und es erfolgt die Rettung in letzter Minute (jedenfalls meistens; in
„O.P.A.“ heißt es, das Ende des Menschen ist noch nicht das Ende der Welt; „Me-
lancholia“ schildert uns zumindest die Rettung der inneren Integrität angesichts
des Untergangs).
Als die erste biblische Apokalypse könnte die Sintfluterzählung bezeichnet wer-
den (die ebenfalls Bildgeber von Filmen wie Roland Emmerichs „2012“ von 2009
oder Alfonso Cuaróns „Children of Men“ von 2006 ist). Bevor Gott – nachdem er
erkennt, dass die Menschen sich wohl auch durch Strafe nicht ändern – seinen Bund
mit Noah schließt, verheißt er: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat
und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22). Es
muss nämlich weiter kein kosmisches Ereignis eintreten, um die Welt untergehen zu
lassen als das Stillstehen der Zeit, die Unterbrechung des Naturkreislaufes (wie in
„Children of Men“).
Die letzte biblische Apokalypse, die in der Johannesoffenbarung mit ge-
waltigen und großartigen Bildern beschrieben und in vielen Filmen transformiert
wird, endet jedenfalls mit einer Unterbrechung; nach der Johannes-Offenbarung
22, 5 „wird keine Nacht mehr sein“ – und das wäre dann endgültig das Ende des
Kinos. Dieses tröstet uns, solange es noch existiert, über die Entdeckung hinweg,
wie groß das Weltall ist und wie klein die Erde darin und wie wenig es bedarf,
die kleine blaue Kugel auszulöschen. Solange das Weltall – wie eindrucksvoll in
„Gravity“ zu sehen – in einen Film passt, haben wir Menschen das Gefühl eines
gewissen Überblicks. Im Kino schauen wir unentwegt der Zerstörung, aber auch
der Schöpfung „eines neuen Himmels und einer neuen Erde“ zu oder jedenfalls
Literatur 73
eines kleinen Stücks davon, in dem Bewusstsein, dass die Vollendung jener neuen
Welt in unserer Mitverantwortung, aber jenseits unserer Macht liegt.
Literatur
„Wir sitzen alle im selben Auto“. Der brasilianische Regisseur Fernando Mereilles über die
Internationale des Kinos, den Zustand der Welt und seinen neuen Film „360“, Gespräch
mit Anke Sterneborg in: epd Film 8/2012, 18–23, 23
Schnelle, Frank, Filmkritik zu „The Dark Knight Rises“, epd-Film 8/2012, 41
Lust am Untergang?
8
Dystopische Entwürfe in Kinofilmen
seit den 60er Jahren
„Es war eine Lust, Feuer zu legen. Es war eine besondere Lust, zu sehen, wie etwas
verzehrt wurde, wie es schwarz und zu etwas anderem wurde. Das Messingrohr
in der Hand, die Mündung dieser mächtigen Schlange, die ihr giftiges Kerosin in
die Welt hinausspie, fühlte er das Blut in seinen Schläfen pochen, und seine Hände
waren die eines phantastischen Dirigenten, der eine Symphonie des Brennens und
Sengens aufführte, um die kärglichen Reste der Kulturgeschichte vollends auszu-
tilgen.“
Das sind die Eingangssätze aus Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ aus dem Jahr
1953, in dem er die letztlich selbstzerstörerische Lust seines Feuerwehrmannes
Montag am Untergang beschreibt (Bradbury 2003, 9). Zusammen mit Aldous
Huxleys „Schöne neue Welt“ (1932) und George Orwells „1984“ (1948) schossen
diese großen Drei der dystopischen Buchklassiker aus der ersten Hälfte des letz-
ten Jahrhunderts Anfang 2017 in den Bestsellerlisten ruckartig nach oben, nicht
nur in Amerika, wo Donald Trump im Januar 2017 ins Amt des US-Präsidenten
eingeführt wurde, sondern auch in Deutschland, wo es in den Buchhandlungen
Neuauflagen von „1984“ und eine Neuübersetzung der „Schönen Neuen Welt“ gab.
Auch Remakes der längst zu Klassikern avancierten Literaturverfilmungen gab es:
„451“ von Ramin Bahrani als TV-Film und die Serie „The Handmaid’s Tale“ (1990
verfilmt von Völker Schlöndorff als „Die Geschichte einer Dienerin“, basierend
auf Margret Atwoods unübertroffenem Roman).
In Zeiten des politischen Umbruchs und der gesellschaftlichen Spaltung be-
kommen die mahnende Literatur und die prophetische Dimension auch von Main-
stream-Filmen neue Relevanz, denn sie warnen vor dem, was noch kommen könn-
te. Und wenn eine Regierung neue Wahrheitsformen wie „Alternative Fakten“
(erfunden von Trumps Beraterin Kellyanne Conway) einführt, erscheinen fiktio-
nale Totalitarimus-Szenarien wieder wirklichkeitsnäher.
Warum gab es bisher noch keine Neuverfilmung von „1984“? Eine erste These.
Möglicherweise ist es in einer Zeit, in der weltweit wieder totalitäre Staats-
formen erstarken, wir uns also der schwarzgemalten Wirklichkeit von Buch und
Film nähern, weder gewünscht noch erforderlich, noch schwärzer zu malen. Was
wir vielmehr zu brauchen scheinen, sind Hoffnungsbilder, utopische Einschüsse in
den zur Zeit populären Dystopien, wie sie auch „Fahrenheit 451“ liefert, Truffauts
Verfilmung von Ray Bradburys Klassiker.
Der Feuerwehrmann Montag, verkörpert von Oskar Werner, stellt seine Arbeit als
Bücherverbrenner zunächst nicht in Frage. Er lebt in einer hedonistischen Gesell-
schaft, in der Bücher als unglücksstiftend betrachtet werden, da sie sich mit Pro-
blemen und Konflikten auseinandersetzen, depressiv machen und daher gesetz-
lich verboten sind. Die Feuerwehr hat die Aufgabe, Bücher aufzuspüren und zu
verbrennen (Fahrenheit 451 bzw. 232 Grad Celsius „ist die Temperatur, bei der
Papier anfängt zu brennen“). Eines Tages trifft Montag die Lehrerin Clarisse, die
eben von ihrem Dienst als Lehrerin suspendiert wurde, weil sie Bücher las. Sie
fragt Montag, ob er glücklich sei? Diese Frage beschäftigt ihn, als er nach Hause
zu seiner Frau Linda kommt, einer mit TV und Tabletten ruhiggestellten Frau.
Neugierig geworden, beginnt er heimlich Bücher mitzunehmen und zu lesen, was
Linda beunruhigt, die ihn schließlich verrät. Er, der sowieso seinen Beruf auf-
geben wollte, nachdem er eine Bücherfreundin lieber mit ihren Büchern sterben
als diese verlassen sah, versucht zu den Bücherfreunden zu gelangen, von denen
Clarisse ihm erzählt hat.
Es gelingt ihm, die Buchmenschen aufzuspüren, bei denen auch Clarisse in-
zwischen untergekommen ist. Beide beginnen nun ihrerseits ein Buch auswendig
zu lernen, um es für die Nachwelt zu erhalten.
Der Entwurf einer Gesellschaft, in der Bücher lesen verboten und sogar töd-
lich ist, erscheint gegenwärtig eher als weltferne Utopie denn als Dystopie. In einer
Zeit, in der Buchhandlungen sterben und einer immer größeren Anzahl an Buchver-
öffentlichungen eine immer kleinere Anzahl an Leserinnen und Lesern gegenüber-
zustehen scheint, hat das rührende Ende des Films 451 etwas Nostalgisches. Etwas
mehr Sprengkraft bekommt das Ganze, wenn Bücher als Symbol für analoges
8.2 „1984“ (Michael Radford, GB 1984) 77
Wissen und analoge Techniken stehen und digitale Technik als Gegenüber. Dann
gewinnen die fehlenden Antennen, die im Film die Bücherfreunde verraten, sogar
etwas Aktuelles: was wäre denn, wenn man sich komplett dem „Fernsehen“ der heu-
tigen Zeit, nämlich dem Internet, dem Konsum, den Kontaktmedien wie Whatsapp
verweigert? Wäre man da überhaupt noch gesellschaftsfähig? Man braucht dann
nicht mehr verfolgt zu werden, sondern man hat sich selbst sozial ausgeschaltet.
Manche neueren Dystopien erzählen davon, dass nach der Apokalypse keine
Geräte, kein Strom mehr zur Verfügung stehen und die Menschen wieder von
vorne anfangen müssen – so z.B. in dem S-F-Film „Die fünfte Welle“ (J. Blake-
son, USA 2016). Hier erscheint eines Tages ein außerirdisches Raumschiff auf der
Erde. Die darin befindlichen Aliens beginnen, die menschliche Zivilisation zu zer-
stören, indem sie in einer ersten Welle durch einen elektromagnetischen Puls alle
elektrischen Geräte funktionsunfähig machen. Hier wäre nun das Ende von Ray
Bradburys Roman „451“ interessant, in dem Montags Heimatstadt im Zuge eines
Krieges zerstört wird und sich daraufhin die Buchmenschen auf den Weg machen,
um mit ihrem Wissen den Überlebenden bei einem Neubeginn zu helfen.
In „1984“ gibt es keine Überlebenden, nur gebrochene Hüllen. Mit einem sol-
chen Bild entlässt uns Michael Radford aus seiner vorlagentreuen Verfilmung von
George Orwells „1984“. Es zeigt uns John Hurt als Winston Smith, der versucht hat,
gegen den „Großen Bruder“ zu rebellieren und der nun gefoltert wird, genauso wie
seine Geliebte, um am Ende über den Fake-Sieg eines Fake-Krieges zu jubeln und
die Hoffnung auf eine Liebe verloren hat, die aus der Mediendiktatur retten könnte.
1984 wurde tatsächlich im Orwell-Jahr 1984 verfilmt. Mit diesem Film sind wir
von den 60er Jahren, mit denen wir begannen, zwei Jahrzehnte weiter gesprungen.
Dazwischen liegen mindestens zwei erwähnenswerte dystopische Entwürfe: zum
einen „Der Omega-Mann“ (Boris Sagal) von 1971, der mit „I am Legend“ (Francis
Lawrence) von 20071 neu verfilmt wurde; und zum anderen „Soylent Green“ (…
Jahr 2022…die überleben wollen) aus dem Jahr 1973, beide mit Charlton Heston
in der Hauptrolle.
In beiden Filmen werden wir mit einer finsteren Welt konfrontiert, in der, wie
in den meisten dystopischen Filmen, die Apokalypse bereits stattgefunden hat und
es ums Überleben auf einem unwirtlich gewordenen Planeten geht.
1 Beide auf der Basis des Romans „I am Legend“ von Richard Matheson aus dem Jahr 1954
78 8 Lust am Untergang?
Der „Omega-Mann“ versucht, eine Welt zu retten, die dem Krieg zwischen
der UdSSR und China zum Opfer gefallen ist. Unter anderem wurden im Krieg
biologische Waffen wie Bakterienstämme eingesetzt, letztere mutierten und ver-
seuchten fast die ganze Menschheit. Beim Versuch, mit einem Antiserum ein paar
Noch-Nicht-Infizierte zu retten, stirbt der Protagonist. Sein Ende wird christus-
ähnlich inszeniert, wie überhaupt die ganze Geschichte von christlicher Er-
lösungsmystik zehrt. Davon ist in der Neuverfilmung mit Will Smith nichts mehr
zu spüren.
Der Film „Soylent Green“ erschien ein Jahr nach dem Bericht „Die Grenzen
des Wachstums“ des Club of Rome und wird zu den ersten Ökodystopien gezählt.
(Die Vorlage lieferte das Buch „New York 1999“ von Harry Harrison.)
Es geht darin um Umweltzerstörung, Überbevölkerung und die möglichen Fol-
gen von exzessiver Nutzung endlicher Ressourcen, die nur noch den Reichen zur
Verfügung stehen. Dem Großteil der Menschen stehen nur noch Soylent Red und
Soylent Yellow zur Verfügung, eine Mischung aus Soja und Linsen. Ein neues,
schmackhafteres Produkt, Soylent Green, wird entwickelt, das angeblich aus
Plankton gewonnen wird und reißenden Absatz findet. Der Polizist Thorn kommt
durch Nachforschungen aufgrund des Mordes an einem Mann, der für die Firma
Soylent arbeitete, dem wahren Ursprung der grünen Täfelchen auf die Spur. Sie
kommen direkt aus den Tötungsanstalten, in die sich auch sein Freund Sol nach
Entdeckung der Wahrheit begeben hat: „Soylent Green is people!“ – „Soylent
Grün ist Menschenfleisch!“2
Vielleicht ist ja tatsächlich der Mensch die letzte große Ressource. Die großen
Fluchtbewegungen der letzten Jahre haben Drogen und andere heiße Ware ersetzt
durch Menschenschmuggel, wie auf zynische und treffende Weise „Sicario 2“ von
Stefano Sollima (USA 2018) erzählt.
Und Menschenfleisch dient nicht nur der Nahrung, sondern kann auch als
Ersatzteillager dienen, eine ebenso grausame Wahrheit, mit der das Klonmädchen
Kathy H. in „Alles, was wir geben mussten“ (Mark Romanek) von 2011 konfron-
tiert wird, der Verfilmung des S-F-Romans von Kazuo Ishiguro.
(Wieder haben wir einen Sprung gemacht, dabei gäbe es aus den 80er und 90er
Jahren noch viel Dystopisches zu berichten, vom Terminator über Gattaca und
Matrix bis zum Minority Report und der Stadt der Blinden.)
Konzentrieren wir uns aber jetzt auf das gegenwärtige Jahrzehnt, in dem der
Begriff der Dystopie erst so richtig massenwirksam wurde.
2 Der Film „Delicatessen“ (F 1991) von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro geht da noch
weiter: Hier sind Vegetarier das Grundnahrungssmittel der Fleischesser.
8.3 Tribute von Panem (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015) 79
Eine Dystopie schildert das Gegenteil einer Utopie und thematisiert meist die
Herrschaft eines autokratischen Staates, der von Diktatur, Bürgerkrieg, Armut und
Hunger geprägt ist, über das Denken und Leben der Bürgerinnen und Bürger.3
Seit dem 16. Jhdt. haben Menschen angesichts einer als mangelhaft empfunde-
nen Lebenssituation von möglichen Veränderungen und besser funktionierenden
Systemen geträumt. Die Gattung der Utopie, wie die Schrift von Thomas Morus
von 1516 heißt (aber zu der auch Platons „Politeia“ gezählt werden kann), ist ihrer
Grundtendenz treu geblieben: Dem Wunsch nach einem funktionierenden System,
das die vorherrschenden Probleme der Gesellschaft überwunden hat und eine posi-
tive Lebensperspektive bietet.4
Die Dystopie ist eine Art utopian-dystopia, eine von einem starken Pessimis-
mus geprägte (Text- oder Film-)form, die jedoch Möglichkeiten zur Veränderung
und zur Hoffnung auf Verbesserung zulässt – davon ist auch die Panem-Dystopie
geprägt und verleiht ihr eine utopische Perspektive.
Die Romantrilogie von Suzanne Collins, die den vier Panem-Filmen zugrunde-
liegt, kann trotz verschiedener Elemente der Science Fiction und der Fantasy ins-
gesamt der Gattung der Anti-Utopie bzw. der Dystopie zugeordnet werden.5
Die Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft – Hauptthema der bereits ge-
nannten dystopischen Romane, Orwells „1984“ und Huxleys „Schöne neue Welt“,
wird allerdings häufig hinter die Handlung und die Aufrechterhaltung der Span-
nung der Geschichte zurückgestellt, seine Konzession an das jugendliche Ziel-
publikum, bei dem Spannung und der Bezug zur eigenen Lebensphase im Vorder-
grund rezeptionsförderlich ist. Die starke Fokussierung auf die Protagonistin,
die sich im jugendlichen Alter befindet, entspricht der Gattung der Adoleszenz-
erzählung, bei der die Entwicklung einer differenziert und individuell dargestellten
Hauptfigur nachgezeichnet wird.
Im Gegensatz zu ‚reinen‘ Utopien versetzen dystopische Szenarien die Rezipie-
renden meist in medias res, also die beschriebene Welt, die diesem dann aus den
3 Bereits Fritz Langs „Metropolis“ von 1927 lässt sich in diesem Sinne als als Dys-
topie bezeichnen, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_dystopischer_Filme, ent-
nommen am 4.3.2016
4 Wiemers, 2013, 11
5 Wiemers, 2013, 9
80 8 Lust am Untergang?
Augen eines Bewohners oder einer Bewohnerin, durch die Beschreibung des alltäg-
lichen Lebens, vermittelt wird. Anders als in der Utopie, in der der Protagonist in
die utopische Welt reist, lebt die Hauptfigur einer Dystopie bereits in dieser Gesell-
schaft. Sie ist meist unangepasst oder wird es im Lauf der Geschichte, woraus sich
der Konflikt im Handlungsverlauf ergibt. Das Reisemotiv der Utopie wird in der
Dystopie zu einer spirituellen Suche nach der eigenen Wahrheit, nach der Identität.
Peeta und Katniss, die Hauptfiguren in „Panem“, gehen hier unterschiedliche
Wege, um ihre jeweilige Authentizität zu erlangen und dann auch zu erhalten.
Es gibt von Seiten des Staates verschiedene Methoden der gewalttätigen Unter-
drückung von Unangepasstheit. Dazu kommt die Kontrolle der Menschen durch
Konsum und Unterhaltung. Mit ihrer Hilfe werden die Bewohner des Kapitols
und des ersten Distriktes vollständig abhängig vom System gemacht. Das Leben
der Kapitolbewohner ist von Überfluss und Reichtum geprägt, ihre Sorge gilt der
ständigen Optimierung des Aussehens. Zu ihrer Unterhaltung dienen die für die
Teilnehmenden tödlichen Hungerspiele, in deren öffentlicher Zelebrierung durch
die Bewohner des Kapitols sich deren fehlendes Bewusstsein für die Situation der
Menschen in den Distrikten offenbart.
Ist in „1984“ und „Schöne neue Welt“ ein Erfolg der Außenseiter aufgrund der
Gestaltung der Figuren nicht angelegt und besteht also keine Hoffnung auf Ver-
änderung durch den Widerstand des Individuums gegen das System, wird die War-
nung vor potentiellen, negativen Entwicklungen der realweltlichen Gesellschaft,
symbolisiert durch die fiktive Welt innerhalb der Dystopie, verstärkt. In Panem
besteht allerdings Hoffnung auf Veränderung – die Protagonistin ermöglicht als
Vertreterin der ausgebeuteten Masse die erfolgreiche Rebellion.
Allerdings entspricht Katniss in ihrer Anlage der Außenseiterstellung der Pro-
tagonisten in den klassischen dystopischen Erzählungen. Sie muss nach dem Tod
des Vaters für die Familie sorgen und verschafft dieser illegalerweise Fleisch,
indem sie mit Pfeil und Bogen jagt (vgl. das Jagdrecht unter feudalistischer
Herrschaft). Besitz und Gebrauch der Waffen unterscheidet sie von den übrigen
Distriktbewohnern und lässt sie mit dieser Form der Wilderei schon früh gegen
Kapitolregeln verstoßen, auch wenn dies aus der Not heraus geschieht und zu-
nächst keine bewusste Rebellion gegen das System darstellt.
Ihr passiver Widerstand steigert sich jedoch zur aktiven Rebellion, sie wird
aus anfänglicher Sorge nur für ihre Familie zur Hoffnungsträgerin aller Unter-
drückten.
Sie ermutigt zu eigenständigem Handeln gegen scheinbar übermächtige Kräf-
te in der eigenen Gesellschaft. Man könnte demnach auch von utopischen Zügen
innerhalb der Panem-Trilogie sprechen, wenn nicht der Schluss diesen Eindruck
relativieren würde. Denn trotz des Erfolges der Rebellion deutet Collins am Ende
8.3 Die Tribute von Panem (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015) 81
an, dass sich die überkommenen, schlechten Zustände auch unter der neuen Re-
gierung ebenso wieder einstellen könnten. Der Schluss der Filmtetralogie nimmt
diese Stimmung auf:
Im vorletzten Kapitel von „Mocking Jay 2“ (K.10; 1.49.21-1.56.02) soll Katniss
den Ex-Präsidenten Snow öffentlich hinrichten; doch tötet sie mit ihrem Pfeil statt
dessen die neue Präsidentin Alma Coin, die angekündigt hat, erneut Hungerspiele
einzuführen. Nach Katniss tödlichem Schuss, der dies verhindern soll, wird es
neue Wahlen geben.
Mit „Tribute von Panem“ wurde eine Trilogie geschaffen, die in der Tradition
der klassischen Dystopien eine Warnung vor der negativen Entwicklung politischer
Machtstrukturen und deren Auswirkung auf die Gesellschaft darstellt. Gleich-
zeitig ist den Texten eine Appellfunktion immanent, die zusammen mit der Option
auf Hoffnung die Rezipierenden dazu ermutigt, sich auch gegen übermächtig er-
scheinende, repressive Kräfte zur Wehr zu setzen.
In den klassischen Dystopien stehen fast ausschließlich Männer im Vorder-
grund (mit einer Ausnahme: „Die Geschichte der Dienerin“ von Volker Schlön-
dorff, nach Margret Atwoods Roman „Der Report der Magd“). Die Besetzung
der Hauptfigur mit einem weiblichen Charakter ist einem modernen Umgang mit
Figuren beider Geschlechter zuzurechnen, die heute gleichermaßen als Helden-
figuren fungieren können.
Als der Film „The Hunger Games“ 2012 in die Kinos und mit ihm der Begriff
„Dystopie“ in Mode kam, konnte noch niemand wissen, dass fünf Jahre später
mit dem (drohenden) Verlust der alternativen Welten alternative Fakten geboren
werden würden.
Neusprech und Doppeldenk sind die Schlagworte in „1984“, der Pate stand für
alle dystopischen Filme, die im Schlepptau von „Tribute“ auf die Leinwand kamen
(Die Bestimmung, Hüter der Erinnerung, Elysium, The Maze Runner). Orwell
zeigt hier, wie alle typischen Dystopien, einen Staat, in welchem die Regierung
versucht, weitestgehende Kontrolle über das Denken, die Freiheit von Informa-
tionen und allgemein die Lebensweise ihrer Bürgerinnen und Bürger zu erlangen.
Was in Orwells Gesellschaft von oben bis unten durchgreifen soll, ist die neue
Sprache und das neue Denken, das bedeutet die Auflösung der verbindlichen
Fakten und der nachprüfbaren Wirklichkeit. Nachrichten werden gefälscht, Er-
innerungen angepasst. Neusprech ist eine reduzierte Sprache, welche die komplexe
Wirklichkeit mit ihren Problemlagen nicht mehr annähernd erfassen kann. Ein
solches „Newspeak“ gibt es in der „Divergent“-(Bestimmungs-)Reihe bereits, in
„Tribute“ werden Dinge und Sachverhalte einfach umbenannt; Euphemismen wie
„Ernte“ für die Inszenierung öffentlicher Morde sind die Regel.
82 8 Lust am Untergang?
Können Bücher und Filme über Jugendliche, die andere Jugendliche ab-
schlachten, theologisch bzw. philosophisch relevant sein? Die Verfasser/innen der
2013 erschienenen US-amerikanischen Veröffentlichung „Die Philosophie bei
‚Die Tribute von Panem‘“ bejahen dies:
„Die Panem-Trilogie enthält zweifellos viele reizvolle Elemente, doch einer der
Hauptgründe für die Faszination, die sie ausübt, war den Autoren dieses Buches be-
sonders wichtig: die Suche nach der Wahrheit.
Die Panem-Trilogie erzählt die Geschichte eines unerschrockenen jungen Mädchens
namens Katniss, das Schicht um Schicht die Lügen aufdeckt, die seine Welt um-
hüllen, und der Wahrheit hinter den vielen hohlen Fassaden auf die Spur kommt…“
(Dunn/Michaud 2013, 111).
Mit den hohlen Fassaden ist hier die eine der postapokalyptischen Welten des
zweigeteilten Panem gemeint: Das reiche „Kapitol“ ist der Regierungssitz über 12
Distrikte, die je eine spezifische Aufgabe haben in Hinsicht auf Belieferung des
Kapitols (Stromerzeugung, Fischerei etc.). Um Rebellionen zu vermeiden, ist jeder
Distrikt einmal im Jahr gezwungen, einen Tribut in Form eines jungen Mannes
und einer jungen Frau zu leisten, die in den sog. „Hungerspielen“ gegeneinander in
einer Arena antreten und es nur eine/n Sieger/in geben darf. (Die Gladiatorenspiele
des alten Rom standen hier Pate).
Mit jener Zweiteilung wird uns in „Panem“ eine Welt gezeigt, die wie ein nur
leicht verzerrter Spiegel unserer heutigen erscheint. Und, so fragen die Autoren des
Buches, könnte „unser Land den gleichen unheilvollen Kräften anheimfallen, die
Panem verwüsteten“ (S. 13)? Diese Ängste sind begründet, wenn leicht kränkbare
narzisstische Populisten auch mithilfe bestimmter Medien an die Macht kommen;
wir sind der Fiktion von „Panem“ in der Wirklichkeit inzwischen näher gekommen:
Der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich, dem zu-
nehmenden Mangel an Solidarität, den gravierenden sozialen Verschiebungen und
der damit einhergehenden Suche nach „Sündenböcken“. Die Panem-Trilogie
„ist eine Geschichte, die eine Warnung enthält, was aus der menschlichen Gesell-
schaft werden könnte. Sie beschreibt eine Welt, in der Kinder zur Unterhaltung der
Massen abgeschlachtet werden (der ‚Opfer‘-Gedanke archaischer Gesellschaften),
die Macht in den Händen nahezu unantastbarer Tyrannen liegt und die Arbeiter hun-
gern, während die Wohlhabenden vergnügt zuschauen. Gleichzeitig bietet sie uns
eine Chance, darüber nachzudenken, wie diese unheilvollen Kräfte ihre Schatten
in unserer heutigen Welt vorauswerfen könnten und dass sich die außergewöhnliche
Fähigkeit zu Herzensgüte und Heldentum oft in scheinbar gewöhnlichen Sterblichen
verbirgt, beispielsweise in einem mutigen heranwachsenden Mädchen, das ent-
schlossen ist, seine Familie zu beschützen.“ (S.14)
8.3 Die Tribute von Panem (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015) 83
Tatsächlich wird Katniss Everdeen nicht als Superheldin eingeführt, und das macht
sie zu einer idealen Identifikationsfigur. Sie ist vielmehr ein ganz normales junges
Mädchen, das weniger an das Wohl ‚der ganzen Welt‘ denkt als vielmehr einfach
ihre Familie (bzw. die kleine Schwester) retten will. Sie erscheint als eher ängstliche,
unsichere Teenagerin, die fast wider Willen zur Superheldin aufgebaut und als solche
zur Identifikationsfigur für alle Unterdrückten und Symbol der Revolution wird.
Es ist eine Erzählung mit märchenhaften Zügen: Aus dem Handeln einer
Einzelnen wird eine Gruppenbewegung, etwas, das Katniss nicht gewollt, aber be-
wirkt hat.
Auf der Basis von Vertrauen und Solidarität wird der Sieg errungen – eine ein-
zige Tat gegen einen absoluten Staat. Katniss bringt das Räderwerk zum Stillstand
und zeigt sich in ihrer stellvertretenden Funktion als Erlöserfigur, als weibliche
Christusfiguration.
Ja, es scheint möglich zu sein, zeitweise, das „wahre Leben im Falschen“, wie
Adorno es noch verneinte, die Entscheidungsspielräume sind nicht so eng, wie es
das gesellschaftliche System vorlegt.
Auf seine Weise betreibt der Film Empowerment, eine Art der Selbst-
ermächtigung, die gegen Ohnmachtserfahrungen protestieren lässt. So wird der
Film selbst zu einer ‚alternativen Welt‘, deren Fehlen im Film beklagt wird.
In einer Welt, in der ein geringer Prozentsatz der Menschheit auf der Insel der
Seligen lebt und ein weit größerer genau da hin möchte, weil er in der Hölle lebt,
brauchen wir Erzählungen mit Heilsbildern, um die Wirklichkeit zu verändern.
Wenn „1984“ für immer mehr Menschen Wirklichkeit geworden ist, braucht uns
vor dieser Wirklichkeit niemand mehr zu warnen. Gefragt sind neben und zusätz-
lich zum gesellschaftlichen Engagement Hoffnungserzählungen wie z.B. Filme,
die zeigen, welche Handlungsoptionen es gibt, auch für einzelne, die wissen, dass
Überleben kein egoistischer Impuls bleiben muss.
Zu Beginn standen die Eingangssätze aus Bradburys Roman „451“; nun folgt
ein (Wort-)Bild aus den Schluss-Sätzen. Montag hatte vor seiner Flucht begonnen,
in einem der letzten verbliebenen Exemplare der Bibel zu lesen.
Er memoriert das daraus Behaltene, während er sich mit einer Gruppe von
Büchermenschen zur durch den Krieg zerstörten Stadt aufmacht, um sie wieder
aufzubauen:
84 8 Lust am Untergang?
„Und auf beiden Seiten des Stromes stand ein Baum des Lebens, der trug zwölfmal
Früchte und brachte seine Früchte alle Monate; und die Blätter des Baumes dienten
zur Heilung der Völker“ (Offb. 22,2).6
6 Siehe dazu auch die als Graphic Novel erschienene Ausgabe von „Fahrenheit 451“,
illustriert von Tim Hamilton, der das Geschehen in die Gegenwart überträgt (Frank-
furt/M. 2010, 156f).
8.3 Die Tribute von Panem (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015) 85
Zum Beispiel nennt Foucault das Kino einen solchen Ort, der eine Spiegel-
funktion hat. Entwicklungen der Gesellschaft werden hier aufgespürt, vermittelt
und weitergeführt. Der Spiegel nimmt eine interessante Funktion ein, ist weder
Utopie, noch Heterotopie, sondern etwas Dazwischenliegendes.
Heilsbilder, wie sie in solchen heterotopen Orten gezeigt werden oder selbst
solche Orte repräsentieren, rufen eine Sehnsucht hervor, die in der realen Welt
wirksam werden kann, bis hin zur Revolte. So können auch apokalyptische Bilder,
wie wir sie gesehen haben, Widerstand stärken und die Hoffnung auf einen neuen
Himmel und eine neue Erde wieder aufleben lassen.
Zum Schluss noch ein kleiner Dialog zwischen dem, was Kino war und dem, was
es sein könnte. Wie der benjaminsche Engel der Geschichte haben wir einen Blick
zurück auf den „Trümmerhaufen der Filmgeschichte“, wie der Filmkritiker Patrick
Holzapfel es nennt, geworfen und richten nun einen Blick auf eine mögliche Zu-
kunft.7
Das Kino kann – ob analog oder digital – eine Erfahrungswelt permanenter und
sinnlicher Erziehung sein, nicht nur ein Moment, der als „Event“ existiert und prä-
sentiert wird. Es ist natürlich auch ein Kontinent der Stereotypen, die sich in den
gegenwärtig übermächtigen Prequels und Sequels immer wieder manifestieren.
Momentan wird in der Filmgeschichte und Ästhetik die Ebene der Kino-Ideo-
logie vernachlässigt: „Kaum noch jemand hält es außerhalb Frankreichs für not-
wendig, sich über das Wesen von bewegten Bildern Gedanken zu machen – und
auch dort ist die Bildtheorie seit längerer Zeit eher eine Theorie des Bedauerns,
keine des Gegenwartsbezugs“, meint der eben genannte Siegfried-Kracauer-Preis-
träger Holzapfel.
Das einzige, was Filme jenseits ihrer Kategorisierungen noch zu unterscheiden
scheint, sind die Geschichten, die erzählt werden, und die Haltung zur Welt, die
in ihnen zum Ausdruck kommt. Aber abgesehen von allem Gegenwartsbezug hat
großes Kino immer schon mehr von der Zukunft als von der Gegenwart gehandelt.
Indem sie Vergangenes vor unseren Augen passieren lassen, sind sie ein Indikator
für das, was geschehen könnte – wie ein Seismograph. Das Beben wird aufgespürt
und verstärkt. In Charlie Chaplins „Großem Diktator“ werden Geschehnisse des
„Sie brauchen keine Bücher, sondern das, was darin stand. Sie finden es in der Natur
und in Ihrem Innern. Bücher sind nicht die einzigen Behälter, in die wir Dinge ein-
gelagert haben, die wir zu vergessen fürchteten. An sich haben sie gar nichts Magi-
sches. Ihre Zauberkraft beruht auf dem, was darin steht, in der Art, wie darin aus
Fetzen des Universums ein Gewand für uns genäht wurde… Sie (die Bücher) zeigen
das Gesicht des Lebens mit allen seinen Poren“ (Bradbury, 2010, 81/82).
Literatur
Bradbury, Ray, Fahrenheit 451, dt. Erstausgabe Zürich 1955, zitierter Text stammt aus der
2003 vom Autor überarbeiteten Jubiläumsausgabe, S.9
Dunn, George A. /Michaud, Nicolas (Hg.), Die Philosophie bei „Die Tribute von Panem“,
2013 in Deutschland erschienen im Wiley-VCH-Verlag in Weinheim, 11
Foucault, Michel, Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahr-
nehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchgesehene Auf-
lage. Leipzig: Reclam, 1993, S. 39
Huxley, Aldous, Schöne neue Welt, Frankfurt/M. 2014, neu übersetzt von Uda Strätling
Wiemers, Eva, Dystopien in aktueller Kinder- und Jugendliteratur und als Thema im
Deutschunterricht: Suzanne Collins‘ Die Tribute von Panem, Hamburg: Bachelor- und
Master Publishing 2013
Mensch, Tier, Maschine
9
Natürliche und künstliche Intelligenzen
seiner Umwelt mit eingebunden, er steht nicht mehr, wie in alten Darstellungen, an
der Spitze der Welt/der Nahrungskette/der Schöpfung. Vielmehr ist er eingebettet
in den Kreislauf des Lebens – in Beziehung zu allem, was lebt und fühlt, abhängig,
angewiesen und verantwortlich.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Anfänge, als der Mensch noch an ande-
rer Stelle im Kreislauf der Nahrungskette stand:
In Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ aus dem Jahr 1968 werden die
Affen-Menschen, gemeinsame Vorfahren, eines Nachts von einer seltsamen Er-
scheinung geweckt. Einer der Vorfahren traut sich, das wie vom Himmel gefallene
Ding, eine Art Stele, zu berühren. Derselbe wird es später sein, der lernt, dass der
abgenagte Knochen, der von den mit den Menschen-Vorfahren zusammen leben-
den Tapiren übrig geblieben ist, auch als Tötungsinstrument eingesetzt werden
kann: der erste Brudermord der Menschheitsgeschichte – noch vor Kain und Abel.
Derselbe Knochen, der in die Luft geworfen wird, wird im berühmtesten
Schnitt der Filmgeschichte zum Raumschiff. Eine Grenzüberschreitung führt zur
anderen. Der Mensch wird im All am Ende neu geboren – in die Mächte oder
(außerirdischen) Intelligenzen hinein, die auch die Stele zu Beginn auf die Erde
pflanzten, um den Keim für transzendentes Bewusstsein anzuregen.
Vorher musste er die Maschine – HAL – ausschalten: Auch sie erweist sich
am Ende als nicht nur denkendes (rationales, dem Befehl unbedingt folgendes),
sondern auch fühlendes Wesen, das Angst hat und dessen (identitätsbildende) Er-
innerungen gelöscht werden.
In „Prevolution“, dem Prequel zum „Planet der Affen“ von Rupert Wyatt (USA 2011)
wird erzählt, wie die Affen zur dominanten Spezies auf der Erde werden konn-
ten.2 In einem Versuchslabor wird ein vielversprechendes Mittel gegen Demenz an
2 Wenn es eine Filmreihe mit allen Prequels, Sequels und einer Einzeladaptionen auf
mindestens neun Filme gebracht hat, kann man schon von einer Serie sprechen. Grund-
lage für diese ist die Novelle „La Planète du singes“ von Pierre Boules, die 1963 in
Paris erschienen ist. Fünf Jahre später beginnt mit dem „Planet der Affen“ (Franklin J.
9.1 2001 – Odyssee im Weltraum … 91
Schaffner, USA 1968) die Reihe der filmischen Adaptionen. Folgende Ausführungen
beziehen sich auf die Prequel-Trilogie „Prevolution“ (Rupert Wyatt, USA 2011), „Re-
volution“ (Matt Reeves, USA 2014) und „Survival“ (Matt Reeves, USA 2017).
3 Dieses Wort „Nein“ ist im Film „Die Schlacht um den Planet der Affen“ (Battle for
the Planet of the Apes, J. Lee Thompson, USA 1973) das den versklavten Menschen
verbotene Wort.
92 9 Mensch, Tier, Maschine
Erst, als Caesar „Nein!“ sagt, ist der Mann bereit, das Tier als ernstzunehmendes
Gegenüber wahrzunehmen – ein schwerer Fehler, wie sich im Verlauf der weiteren
Geschichte zeigen wird: Ein Virus wird die Menschheit fast auslöschen, nur die –
geflüchteten – Affen überleben und übernehmen tatsächlich die Stelle der Men-
schen in der Welt, nur ohne deren Selbstabschaffungstrieb. – Noch aber dauert es
bis dahin: Ein Teil dieser Geschichte wird im Mittelteil der Trilogie, in Revolution
(Matt Reeves, USA 2014) erzählt, deren Ende in „Survival“:
Caesar versucht einen Weg zu finden, um trotz des von den Menschen verursachten
Kriegs mit seinem Stamm in Frieden leben zu können. Doch eine Spezialeinheit ist
hinter ihm her, die ihn unbedingt töten will. Durch einen Verrat wird das Geheim-
versteck der Affen entdeckt und angegriffen. Caesars Frau und Kind werden dabei
getötet und in ihm erwacht der Wunsch nach Rache. Dennoch lässt er die beim
Kampf gefangenen Soldaten frei mit der Botschaft, ihn einfach in Ruhe zu lassen.
Während er sich mit einigen Gehilfen an seiner Seite auf die Suche nach dem Lei-
ter der Spezialeinheit macht, machen sich die anderen Affen auf den Weg in ein
fruchtbares Stück Land jenseits der Wüste.
Unterwegs zu der von dem lediglich „Colonel“ genannten angeführten Einheit,
die sich AlphaOmega nennt, stößt Caesars Gruppe auf ein stummes Mädchen,
welches sie mitnehmen, da es alleine nicht überleben würde.
Als sie auf das Camp der Einheit treffen, müssen sie feststellen, dass die ande-
ren Affen gefangengenommen wurden und unter KZ-ähnlichen Bedingungen zu
Bauarbeiten gezwungen werden. Als Caesar entgegen der Warnungen der ande-
ren alleine den Colonel aufsuchen will, wird er gefangengenommen und gefoltert.
Dem Colonel vorgeführt, erläutert dieser, warum er ihn vernichten wolle: Das
Virus, das die Menschen größtenteils getötet habe, sei nun modifiziert und würde
lediglich das Sprachzentrum befallen; damit die anderen sich nicht anstecken,
habe er befohlen, alle Stummen zu töten und konsequenterweise auch den eigenen
Sohn getötet. Die immunen Affen, die sprechen könnten, müssten getötet werden,
damit sie nicht etwa zur dominanten Spezies auf Erden werden. Es ist für ihn ein
„Heiliger Krieg“ (K. 17, 1.16.56–1.22.59).
So erklärt sich der Name der Spezialeinheit AlphaOmega, die griechischen
Buchstaben für Anfang und Ende: Der Mensch soll wie am Anfang der Geschichte
auch an deren Ende der Beherrscher der Welt sein. Die Sprache unterscheidet ihn
vom Rest der anderen Lebewesen – der Colonel liegt hier auf einer Argumentations-
9.3 Ex Machina (Andrew Garland, GB 2015): Der Mensch wird geopfert 93
linie mit Aristoteles, in dessen Gefolge der Mensch seinen Sonderstatus immer an
der (Verbal-)Sprache festmachte (Aristoteles 1989, 78). Auch der affenfeindliche
Kommandant in der alten Reihe, Teil 4: „Eroberung vom Planet der Affen“ hat er-
kannt, dass in der Sprache ein Schlüssel liegt und will den sprachfähigen Caesar
töten.
Der Colonel in „Survival“ bezeichnet seinen Kampf als „Heiligen Krieg“ – die
menschliche Vorherrschaft ist in seinen Augen eine göttliche. Ohne die ihn zum
Gott machende Sprache wird der Mensch jedoch zum primitiven Tier, wie er sagt.
Es ist ein Schicksal, das ihn schließlich selbst ereilt: Als Caesar ihn während des
Schlusskampfes (den Affen gelingt der Ausbruch, währenddessen rückt gegen den
Colonel ein feindliches Heer an) aufsucht, stellt er fest, dass sein Feind stumm
geworden ist.
Ein Mensch ohne Sprache sei kein Mensch mehr, hatte er zuvor gesagt – und
ehe sich der stumm Gewordene der neuen Spezies unterordnet, die sprachfähig,
klug und in dieser apokalyptischen Umwelt überlebensfähig ist, erschießt er sich
lieber selbst.
Der alte Mensch hat sich selbst gerichtet – der neue Mensch hat eine Zukunft
im Verbund mit den Affen. Das stumme Mädchen, das die Affen bei ihrem Be-
freiungskampf unterstützt hat, wird von seiner Affenamme „Nova“ genannt (nach
dem Schriftzug eines Oldtimer-Logos, das der Kleinen als Spielzeug diente). Nova
erreicht zusammen mit den überlebenden Affen das gelobte Land – es ist eine
Landschaft mit Bäumen und Wasser, die Caesar noch sehen, aber nicht mehr mit
den anderen betreten kann. – Er stirbt schließlich an einer Verletzung, die ihm im
Showdown von einem Soldaten beigebracht wurde, den er selbst einst verschonte.
Die Affen erweisen sich als die klügeren, empathischeren Wesen, die in dieses
posthumanistische Zeitalter eintreten.
In Andrew Garlands Regiedebüt „Ex Machina“ (GB 2015) erschafft ein Forscher in
einem unterirdischen Labor perfekte Roboter, genauer: faszinierende Maschinen-
frauen. Um zu testen, inwieweit sie nicht nur Gefühle entwickeln, sondern auch er-
wecken können, lotst er ein männliches Versuchskaninchen in seinen Bau. Dieser
lässt sich einwickeln von einem Modell, dem er die Flucht ermöglicht – und dabei
selbst in seinem zum Grab werdenden Labor zurückgelassen wird.
Während die Maschinefrau Ava aus dem unterirdischen Labor nach oben
schreitet, ist Schuberts Piano Sonate No 21 zu hören. Ihr Name lässt das erste
94 9 Mensch, Tier, Maschine
weibliche Geschöpf – „Eva“ – anklingen. Der Wald, den sie betritt, mutet wie
ein unberührtes Paradies an. Sie ist, als „zweite Schöpfung“, das Ebenbild ihres
Schöpfers. Wurde der Mensch nach Gen 1, 28 als Ebenbild geschaffen, dann offen-
sichtlich auch mit der Fähigkeit seines Schöpfers, etwas zu erschaffen (vgl. Exodus
35, 30).Wie die Musik, zu der Ava ans Licht schreitet, ist sie ein „Kunsthandwerk“,
das aber nun seinen Schöpfer zurücklässt.
Was der Mensch nicht vollendet hat, wird vielleicht das von ihm Geschaffene
vollbringen, jene zweite Schöpfung, die Ebenbild ihres Schöpfers ist.
Das hier vorgestellte Forschungskonzept ist das des Transhumanismus – und
der Film zeigt die Folgen des Konzeptes von ungebremster Forschung.
In fiktionaler Form wird dieses auch in Frank Schätzings Bestseller „Die Tyran-
nei der Schmetterlinge“ (München 2018) beschrieben – der Computer „Ares“ ent-
wickelt sich nicht in überschaubaren Schritten weiter als der Mensch, sondern im
Zuge einer Intelligenzexplosion erkennt er, dass der Mensch Ursache der Probleme
ist, die er beheben soll – und löscht ihn aus, noch bevor dieser darauf reagieren
kann. Ray Kurzweil, Verfasser von „How to create a mind“ (New York 2012), geht
davon aus, dass Computer 2045 den Menschen in sämtlichen Fähigkeiten über-
treffen und die Weltgeschichte in die Phase des Transhumanismus übergeht – in
das Zeitalter nach dem Menschen, dem das Verdienst zukomme, eine gottähnliche
Intelligenz geschaffen zu haben. Gegen dieses Spiel mit Vernichtungsphantasien
und Heilsversprechen wehrt sich die Mehrheit der Forscherinnen und Forscher,
doch ist die Kontrolle von KI-Systemen eine Frage, die die Wissenschaft im Auge
behalten muss (Ramge 2018, 85).
In Denis Villeneuves „Arrival“ (USA 2017) sind es fremde Intelligenzen, die den
Menschen letztlich besser mit sich selbst vertraut machen und dann wieder ent-
schwinden. Kommen diese Heptapoden ‚from outer space‘, wurden in seiner Fort-
setzung von Ridley Scotts „Blade Runner“ (USA 1982) die „Fremden“ von den
Menschen selbst geschaffen und als Killer anderer Replikanten in den Dienst ge-
nommen. Wie einst Replikantenjäger Deckard macht nun die Mensch-Maschine
„K“ einige Entdeckungen, die seinen Auftrag fragwürdig erscheinen lassen. Er
findet heraus, dass die Replikantin, mit der Deckard einst geflohen ist, ein Kind
zur Welt gebracht hat. Zunächst hofft er, dieses Kind zu sein – doch als er dies
als Täuschung erkennt, entscheidet er sich dennoch für einen Auftrag, den er sich
selbst gibt und in dessen Vollzug er sich für die anderen opfert.
Literatur 95
Aufgefordert wird er dazu von einer Replikantin, die das Kind zweier Maschi-
nen einst gerettet hat und die sagt, sich zu opfern, sei das Menschlichste, was sie
tun könnten.
Den Vater des Kindes, Deckard, den er töten soll, verschont der mittlerweile
transformierte Replikant und führt ihn am Ende sogar mit seiner Tochter zu-
sammen, jenem „Wunder“, vor dem die Menschen sich so sehr fürchten, weil die
Maschinen ihn jetzt auch zur Reproduktion nicht mehr brauchen und vollends
autonom geworden sind.
Er kämpft um eine Welt, die nicht mehr den Menschen an die Spitze stellt,
sondern in der der Mensch die Verantwortung übernimmt für das von ihm und vor
ihm Geschaffene und sich in Beziehung setzt zu allen fühlenden und denkenden
Wesen.
Dieses Konzept des Posthumanismus wurde bereits in den 70er Jahren an-
gelegt, u.a. in den Schriften Donna Haraways (z.B. im „Cyborg-Manifest“).
Sie verabschiedet sich von einem Konzept (männlich-)menschlicher Vorherr-
schaft zugunsten einer Vielfalt und Vielfältigkeit der Lebewesen.
Alles auf Anfang: Das ist eine zwar schöne, jedoch unrealisierbare Utopie.
Aber wir können an den Anfang zurück zumindest des ersten Films, „2001-Odys-
seee im Weltraum“. Da werden wir Augenzeugen einer Wiedergeburt. Nach dem
Abschied der Maschine HAL, die Angst hat vor dem Sterben, wird dem Astronau-
ten eine Wiedergeburt zuteil: Als Baby wird er in einem Weltraum gezeigt, der die
Dimensionen des Alten sprengt und offen ist für neue Schöpfungen.
Im Anschluss an diese Überlegungen wäre eine „ökologische Pneumatologie“
im Sinne von Prediger 3, 19 („Wir haben alle denselben Odem“) und dem ev. Theo-
logen Karl Barth zu entwickeln, der schon früh in seiner Kirchlichen Dogmatik
von einem „sorgfältigen, rücksichtsvollen, freundlichen und eben vor allem: ver-
ständnisvollen, seinen Bedürfnissen und den Grenzen seiner Möglichkeiten nach-
fühlenden und Rechnung tragenden“, also im besten Sinne: menschlichen Umgang
mit den Tieren sprach (Barth, 400) – und die ganze Ethos-Gemeinschaft umfassen
müsste, die neben Menschen und Tieren auch Pflanzen und Artefakte einschließt
(Kirsner 2020, 159).
Literatur
Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. und hrsg. von Schwarz, Franz F.,
Stuttgart: Reclam 1989, 78.
Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik III, 4, Zürich 1932–1967, 400
96 9 Mensch, Tier, Maschine
Horstmann, Simone et. al., Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere, Regensburg: Fried-
rich Pustet, 2018
Kirsner, Inge, Wir sehen nicht mit den Augen, sondern durch sie. Überlegungen zu einer
Ethik des Films und im Film, in: Gotlind Ulshöfer/Monika Wilhelm (Hg.), Theologische
Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2020, 157–169, 159 f.
Paola, Cavalieri /Peter, Singer (Hg.), 1993. The Great Ape Project, London, dt: Menschen-
rechte für den Großen Menschenaffen, München 1994
Ramge, Thomas, Mensch und Maschine. Wie Künstliche Intelligenz und Roboter unser
Leben verändern, Stuttgart 2018, 85
Schätzing, Frank, Die Tyrannei der Schmetterlinge, München 2018
Weber, Andreas, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften,
Berlin 2007 (3. Aufl.)
Digitalisierung und Ethik im Film
10
Welche ethischen Probleme sich aus dem Miteinander und Gegeneinander von
Menschen und Maschinenmenschen ergeben, ist das Thema der zwei „Blade Run-
ner“-Filme, Ridley Scotts aus dem Jahr 1982 (als Director’s Cut 1999 und als Final
1 Die folgenden Überlegungen stellen die gekürzte Fassung eines Textes der Autorin
dar, der in folgendem Band erschienen ist: Gotlind Ulshöfer, Monika Wilhelm (Hg.),
Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2020, 157–169
Cut 2008 herausgekommen) und Denis Villeneuves „Blade Runner 2049“ von
2017.
Ethische Fragen stellen sich hier zunächst bei der Beurteilung des Handelns
der Filmfiguren. „Blade Runner“ macht deutlich, dass die Frage – Handelt jemand
gut oder richtig? – bezüglich der sog. Maschinenwesen weniger relevant sind als
vielmehr bezüglich der Menschen, die ihnen „dies oder das“ antun. Welches Han-
deln „menschlich“ im Sinne des Humanums ist, erweist sich gerade angesichts des
„Anderen“. Anhand des „Modellhandelns“ der Filmfiguren kann über eine Ethik
des Films bzw. für den Film neu nachgedacht werden
„Blade Runner“ von 1982 stellt die Frage nach der Seele: Können Roboter lie-
ben? (Wie) integrieren sie eingepflanzte Erinnerungen in ihr Identitätskonzept?
„Blade Runner 2049“ stellt die Frage nach der Verantwortung, das heißt, die
Frage nach dem richtigen Handeln der Menschen den Maschinen gegenüber. Der
Plot von „Blade Runner 2049“ setzt den von 1982 fort, indem der Blade Run-
ner mit der Bezeichnung K – selbst eine Maschine, zur Jagd auf andere Maschi-
nen eingesetzt – eine eigene Entscheidung trifft, die nicht in ihm angelegt war.
Die Maschine opfert sich selbst, um einen (oder zwei) andere(n) Blade Runner
zu retten – und damit auch die Menschen. Das Selbstopfer ist die höchste Form
des Altruismus und macht die Hauptfigur K am Ende zu einer Christusfiguration
(Kirsner 2013, 245–258).
Die Entscheidung, das eigene Leben hinzugeben, entspringt der Willensfrei-
heit – also dem, was den Menschen zum Menschen macht und ihn bislang von der
Maschine unterschied (Lienemann 2008, 30). Indem die Maschine K, die als reine
Waffe ausgebildet worden war, ihre Freiheit realisiert, sprengt sie die von dem
Menschen festgeschriebenen Definitionen. In Hinblick auf eine Ethik wäre dann
nicht mehr zwischen „Mensch und Artefakt“ zu unterscheiden, sondern müsste
von so etwas wie einer „Person“ die Rede sein (Lienemann 2008, 31).
Diese „Person“ erweist sich als jemand, der potentiell kooperatives und altruis-
tisches Verhalten zeigt, obwohl dies nicht in seiner – vom Menschen geformten –
„Natur“ angelegt ist. Er ist hierin Ebenbild seines – menschlichen – Schöpfers,
denn dieser wurde im Zuge der Darwin-Rezeption und dessen „evolutionären
Ethik“ zum grundsätzlichen Egoisten erklärt und durfte erst in jüngerer Zeit eine
Rehabilitation erfahren: Altruismus erweist sich zunehmend als ebenso mensch-
liche Grundeigenschaft wie Egoismus (Lienemann 2008, 47).
Der Turning Point der Geschichte des bis dahin reibungslos als Killerwaffe
funktionierenden K ist die Entdeckung, dass eines der älteren Modelle – Rachel,
mit welcher der Replikantenjäger Deckard in Blade Runner von 1982 floh – sich
organisch fortgepflanzt und ein Kind geboren hat. Je mehr er erfährt, desto über-
zeugter ist er, selbst dieses Kind zu sein. Dieses Bewusstsein ist es, wodurch er
10.2 Seelenlose Überwachungs-Maschinerie und die Frage … 99
seine Identität neu verstehen und hinterfragen lernt. Dies geschieht zunächst auf
der Basis von Erinnerungen. Solche Erinnerungen wurden wie auch Träume den
Replikanten genannten Cyborgs eingepflanzt; doch eines dieser Bruchstücke er-
kennt K als ‚authentisch’, und er begibt sich auf die Suche nach dessen Ursprung
und damit nach seiner „Geburtsgeschichte“. Die Fähigkeit, sich zu erinnern, das
heißt aus dem Geschehenen eine sinnhafte Existenz abzuleiten, wird zum Movens
der weiteren Handlung, die eine überraschende Volte bietet.
Am Ende steht eine Erkenntnis, die auch in filmischen Vorgängern (wie z. B.
„Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder) gefeiert wird: Die Menschen-
ebenbildlichkeit der Maschinen erweist sich nicht anhand der Hardware (dem Ma-
terial), sondern anhand der Software (den Gedanken, Träumen, dem Umgang mit
den Erinnerungen, den Handlungen).
und dass das Ganze auch nach dem Tod des alten Präsidenten weitergespielt werden
wird – einschließlich der Hungerspiele. Katniss weiß das, und sie ist bereit, die Folgen
ihres Mordes – sie schießt auf einen unbewaffneten Menschen – auf sich zu nehmen.
Sie tut, was getan werden muss, sie fällt dem Rad in die Speichen, wieder einmal stell-
vertretend, diesmal nicht als „Ersatz-Tribut“ für die kleine Schwester, sondern für das
ganze Volk, das nicht erneut von einem Tyrannen beherrscht werden soll.
Die Attentäterin verantwortet also ihr Tun, das ihr angesichts der ethischen
Dilemma-Situation angemessen scheint. Von einem absoluten, ‚gesetzlichen’
Standpunkt aus gesehen ist es Mord; dieser aber erscheint als angemessen, wenn
durch den Tod eines einzelnen viele gerettet werden. Die Fürsorge, die sie zu-
nächst einzelnen angedeihen lässt, wird damit auf die gesamte Bevölkerung aus-
geweitet. Katniss handelt aus persönlicher Überlegung, der Situation angemessen,
nicht einem abstrakten Gerechtigkeitsempfinden folgend. Der feministischen
Care-Ethik der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan zufolge kann ein
politisches Attentat eine ethisch vertretbare Entscheidung sein, wenn sie durch
die Verantwortung für Unschuldige motiviert ist, die wehrlos sind. Katniss sorgt
dafür, dass Kinder in Zukunft nicht länger in einer Welt leben müssen, die ihre
Kinder opfert, um Konflikte auszutragen (Dunn/Michaud 2013; Gilligan 1988).
Die auf der Romantrilogie basierenden Tribute-Filme spitzen Konflikte der
gegenwärtigen Gesellschaft und der politischen Weltsituation zu. Die zum Teil ex-
tremen physischen und psychischen Gewaltdarstellungen sind eingebunden in die
Solidarität mit den Opfern, d. h. die Zuschauenden leiden als Sich-Identifizierende
mit. So wird die Macht der Medien und die Gewalt, die mit ihrer Hilfe über Men-
schen ausgeübt werden kann, erlebbar gemacht.
Als Opfer erscheint zunächst auch der Protagonist, der Kunstkurator Christian, in
Ruben Östlunds „The Square“, der 2017 den europäischen Filmpreis für die beste
Komödie erhielt. Das Smartphone wird Christian gestohlen, als er einer schein-
bar verfolgten Frau helfen will. Im Zuge des Versuchs, sein lebenswichtiges Gerät
wiederzuerlangen, lernen wir den Kunstkurator als einen kennen, der ein merk-
würdig leeres Leben führt, in zwischenmenschlichen Beziehungen versagt und die
Konsequenzen seines Handelns nicht annähernd abzuschätzen – geschweige denn
dafür einzustehen – vermag. Doch das leere Konstrukt zerbricht, als ein Kind,
das von seinen Eltern irrtümlich für den Täter gehalten wird, ihn anhaltend mit
seiner Schuld konfrontiert (-Christian hatte sein Smartphone in einem Wohnblock
10.3 Seelenlose Menschen und die Inszenierung von Nächstenliebe 101
„Wie groß ist denn Godzilla?“ fragt ein Mann zwei kleine Mädchen, die auf einem
iPod gerade einen Film gucken. „Etwa so“, das Mädchen zeigt zwei Zentimeter
zwischen Zeigefinger und Daumen. Dieser Werbespot ist bereits einige Jahre alt,
der Godzilla-Spot und einige andere Spots liefen alle auf dieselbe Botschaft hi-
naus: KINO – Dafür werden Filme gemacht! Es ist das natürliche Bestreben der
Kinobranche, den Film wieder groß zu machen – doch steht dem gegenüber die
zunehmende Totaldigitalisierung vor allem jugendlicher Nutzer*innen, die ja auch
nicht nur Filme und Serien schauen, sondern immer mehr über Computerspiele
hinaus in die Virtual und Augmented Reality eintauchen und dort aktiv werden
(siehe dazu Balkenborg 2017).
So sind nach Ergebnissen der JIM-Studie von 20162 98 % der Jugendlichen
mit einem Smartphone ausgestattet. Nutzungsschwerpunkte sind neben Kommu-
nikation mit Freund*innen und Musikhören das Spielen und Filme-Schauen. Di-
gital Natives nutzen dabei mehrere Medien parallel, sie switchen sowohl zwischen
Medien als auch zwischen den Inhalten. Im Vergleich zur Elterngeneration, den
Digital Immigrants, lässt sich sagen, dass für „Natives“ Handy und Computer zum
wichtigsten Mittler für Verbindungen von Mensch zu Mensch geworden, ständige
Vernetzung und Erreichbarkeit selbstverständlich sind und die Frage nach dem
Unterschied zwischen realer und digitaler Identität immer mehr verschwimmt
(Palfrey / Grasser 2008, 5).
Die Frage ist, was sich dadurch für die Filmrezeption und die damit verbundenen
ethischen Fragestellungen ändert. Oft wird hier versäumt, die positiven Aspekte
der neuen digitalen Welt zu sehen und nutzbar zu machen; wie z. B. in Bezug
auf das Lesen von Hypertexten neue Fähigkeiten entwickelt werden, kann dies
möglicherweise auch auf das Filmesehen und -rezipieren übertragen werden. Die
Partizipationsmöglichkeiten werden größer, die Interaktivität wird bestimmender.
Filmsehen wird zur aktiven, konstruktiven Tätigkeit (dazu Falschlehner 2014, 85).
Das war es übrigens auch schon im Zeitalter des analogen Sehen, was ein kur-
zer Blick zurück zeigt: Als die Filme noch als Streifen auf Rollen in die Kinos
kamen, galt es, die 24 einzelnen Film-Bilder pro Sekunde zu einem laufenden Film
zu machen; bei der Filmprojektion geschah dies (u. a.) mit Hilfe des Malteser-
kreuzes, das aus Kreuz und Transportbolzen bestand und die Aufgabe hatte, den
2 JIM steht für „Jugend, Information, (Multi)Media“ und wird vom Medienpädagogischen
Forschungsverbund Südwest seit 1998 herausgegeben, siehe https://www.mpfs.de/filead-
min/files/Studien/JIM/2016/JIM_Studie_2016.pdf, aufgerufen am 1.12.17.
10.5 Virtual Reality – neue Sinnlichkeit und Emotionalität … 103
Das leibliche Erleben tritt in der Virtual Reality in den Vordergrund. Ein be-
sonders eindrucksvolles Beispiel hierfür lieferte der Regisseur Alejandro Inárritu
und Kameramann Emmanuel Lubezki, die für ihren VR-Film 2017 einen Sonder-
Oscar erhielten.
Das Flüchtlingselend an der US-Grenze zu Mexiko wird in dieser Installation
so unmittelbar erlebt, „dass der Besucher im Sand kniet und zitternd seine Hände
über den Kopf hält“ (Schneider 2017). Er hat dazu den Befehl von einem Grenz-
beamten erhalten, der ihm das Gewehr ins Gesicht hält. Im Hintergrund ist ein me-
xikanischer Flüchtling zu sehen, der sich hinter einem Busch versteckt und darum
bittet, nicht verraten zu werden. Es ist eine intensive und verstörende Erfahrung,
die einem in einem 400 Quadratmeter großem Raum im Los Angeles County Mu-
seum of Art widerfährt. Die visionäre Installation heißt „Carne y Arena (Virtu-
ally present, Physically invisible)“ und ist mehr als ein Film – eine Innovation,
die kreative Grenzen verschiebt, alles bisher Erlebte infrage stellt und als „Game
Changer“ neue Spielregeln aufstellt. Das von Inárritu Entworfene geht weit über
die 3- oder gar 4D-Dimension hinaus. Er experimentiert mit der Technologie,
bricht die Diktatur des Bildes und greift direkt ins menschliche Befinden ein – er
104 10 Digitalisierung und Ethik im Film
erzeugt Empathie auf eine Weise, die weit über das Erleben eines prominenten
Handlungsstranges oder das Mitfühlen des Leidens des dokumentierten Elends –
wie es in Ai Weiweis ausgezeichnetem „Human Flow“ (USA 2017) der Fall ist –
hinausgeht. Wie dieser lässt er jedoch auch Flüchtlinge ihre Geschichten erzählen,
auf kleinen Leinwänden in einem Raum, in den die Besucherinnen und Besucher
nach ihrem Virtual-Reality-Erlebnis geführt werden.
„Du bist einer von ihnen“ – das wird im VR-Raum suggeriert; im Nebenraum
kann ich mich davon dann wieder erholen und mir in gewohnter Distanz die Ge-
schichten erzählen lassen, die mich ebenfalls – wenn auch anders – berühren; das
hat auch die Rezeption von Ai Weiweis „Human Flow“ gezeigt. Es werden hier
zwei Formen der „Empathieerzeugung“ deutlich: einmal wird Teilnahme über das
Gesicht des Anderen ermöglicht, der zum Gegenüber wird und dessen Schicksal
wir nachempfinden können; zum anderen erfahren wir das Schicksal am eigenen
Leib, auch wenn das Ganze nur ‚gefakt‘ ist. Das eine wirkt distanzierter als das
andere, lässt aber auch mehr Raum für eine reflektierte Reaktion.
Auf welche Weise auch immer Empathie ‚erzeugt‘ wird: Der Film im Kino
bleibt ein wunderbares Kunstwerk für Menschen, die sich mit „Haut und Haar“
auf rund zwei Stunden Eintauchen in einen Film einlassen wollen – und tritt als
Wahrnehmungspotential neben andere Formen des Erlebens von „Kino im Kopf“.
Die digitale „Infosphäre“, wie sie der Philosoph Luciano Floridi (Floridi 2014,
87ff.) nennt, erscheint als Resultat einer vierten großen Umwälzung – nach den
drei großen Wenden der Weltsicht, die von Kopernikus, Darwin und Freud ein-
geleitet worden waren. Sie definiert neu, was es heißt, Mensch zu sein. Der ersten
großen Medienrevolution zu Beginn der Neuzeit – dem Buchdruck – folgt nun die
zweite, in der die Medien prägende Institutionen wie auch Technologien des Selbst
und Vermittler gesellschaftlichen Miteinanders sind: „Menschen machen Medien,
Medien machen Menschen, und diese Medien präformieren die Gesellschaft, in
der sie zum Einsatz kommen“ (Zöllner 2016, 5).
Ebenso gilt: Menschen machen Maschinen und diese Maschinen formen die
Menschen, welche sie einsetzen. Sobald Cyborgs wie die Replikant*innen in den
Blade Runner-Filmen keine Phantasiegeschöpfe mehr sind, wird sich noch einmal
verschärft die Frage stellen, was es heißt, Mensch zu sein – und sich als solcher
verantwortlich gegenüber der „zweiten Schöpfung“ zu verhalten und es auszu-
halten, dass die Grenzziehung immer schwieriger werden wird.
Literatur 105
In diesem Kontext ist eine Ethik des Films auf verschiedenen Ebenen zu ver-
ankern: Erstens hat sich die Einbettung der Filme verändert – neben den Kinofilm
sind zahlreiche andere Formate und Interaktionsmöglichkeiten getreten. Wie auf-
gezeigt, bieten neue Technologien ästhetische Möglichkeiten, die zu veränderten
Wahrnehmungen führen. Diese ethisch zu beurteilen, kann nur im Hinblick auf
die jeweiligen Filme geschehen. Zweitens führt Digitalisierung zu einer kulturel-
len Veränderung bezüglich der Vermarktung von Filmen und der Bedeutung, die
Kino als gesellschaftliche Institution hat. Drittens führen Verarbeitung und Aus-
wertung der Datenmengen zu neuen Herausforderungen in der privaten Lebens-
führung wie auch im alltäglichen Umgang mit Privatheit, Identifizierbarkeit,
Kontrolle und Überwachung – was zunehmend auch Thema zahlreicher Filme ist.
Was 1984 mit der Orwell-Verfilmung von „Big Brother“ begann (1984, Michael
Radford), hat in Dystopien wie „Tribute von Panem“, „Divergent“, „Maze Runner“
usw. seine Fortsetzung gefunden.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Umrissen dieses zu-
nehmend vertieft mediatisierten Lebens immer wieder neu. Filme thematisie-
ren anthropologische Grundkonflikte. Sie stellen diese Konflikte vor, spielen sie
durch, stellen Lösungsmöglichkeiten oder -unmöglichkeiten dar. Viele Filme lie-
fern Dilemmageschichten, anhand derer ethische Fragestellungen entwickelt und
geschärft werden können.
Elementare zwischenmenschliche Konflikte und Grundambivalenzen mensch-
lichen Daseins – zu denen auch zunehmend die Digitalisierung gehört, welche
aber die Konflikte lediglich beschleunigt bzw. verschärft – werden verhandelt.
Filme ermutigen dazu, sprechend und handelnd einzugreifen in eine Welt,
deren Gefährdungen und Chancen sie mit ihren Geschichten ab- und weiterbilden.
Filme behandeln und verhandeln kritisch Werte, indem sie deren Gefährdung,
deren Missbrauch und deren Wichtigkeit aufzeigen, ohne Handlungsanweisungen
geben zu wollen. Ein Film ist dabei nicht nur ethisch und ästhetisch zu befragen,
sondern auch in seinem Setting von Produktion und Rezeption wahrzunehmen.
Literatur
Dunn, George/ Michaud, Nicolas (2013), Die Philosophie bei „Die Tribute von Panem“,
Weinheim.
Falschlehner, Gerhard (2014), Die digitale Generation, Berlin.
Gilligan, Carol (1988), Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München
[zuerst 1982].
Floridi, Luciano (2014), The fourth revolution: How the infosphere is reshaping human
reality, Oxford.
106 10 Digitalisierung und Ethik im Film
Hrdy, Sarah Bluffer (2010), Die weibliche Seite der Evolution, Berlin
Kirsner, Inge (2020), Wir sehen nicht mit den Augen, sondern durch sie, in: Gotlind Ulshö-
fer, Monika Wilhelm (Hg.), Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart
2020, 157–169
dies., (2013), Kirchenbilder und Menschenbildung. Religionspädagogische Studien im
Spannungsfeld von Medien, Bildung und Religion, Leipzig.
dies., Der Einzelne und die Masse – Rituale der Mobilmachung in Leni Riefenstahls
„Triumph des Willens“, in: Richard Janus u.a. (Hg.), Massen und Masken. Kulturwissen-
schaftliche und theologische Annäherungen, Wiesbaden 2017, 97–105.
Klein, Stefan (2010), Vom Sinn des Gebens: Warum Selbstlosigkeit siegt und wir mit Egois-
mus nicht weiterkommen, Frankfurt/M.
Lienemann, Wolfgang (2008), Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen.
Monaco, James (2009). Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie
des Films (dt. Erstausgabe 1990)
Palfrey, John / Grasser, Urs (2008), Generation Internet, Die Digital Natives: Wie sie leben.
Was sie denken. Wie sie arbeiten, München.
Schneider, Jürgen (2017), Du bist einer von ihnen!, in: Süddeutsche.de Kultur, entnommen
unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/virtuelle-realitaet-im-film-du-bist-ei-
ner-von-ihnen.de
Seeßlen, Georg (2017), Die Zukunft – revisited, epd Film 10/17, 42–47.
Ulrich, Wolfgang (2017), Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur,
Berlin
Zöllner, Oliver (2016), Medienethik. Werte- und Handlungskompetenz im digitalisierten
Medienalltag, in: entwurf 4/2016, 3
Teil III
Konkretionen – Filmgottesdienste
„Alles steht Kopf“1
11
• Vorspiel
• Begrüßung/Einführung
Liebe Studierende,
wir begrüßen Sie und Euch zu unserem Filmgottesdienst mit Ausschnitten aus
Pete Docters Pixar-Film „Alles steht Kopf“ aus dem Jahr 2015.
Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel – diese uns mehr oder weniger be-
herrschenden Gefühle werden hier als niedliche Disney-Figuren vorgestellt, die
ihre Kommandozentrale in unserem Kopf haben. Der 3D-Animationsfilm stellt
sich dabei die Frage: Was tun, wenn der Mensch aus dem Gleichgewicht gerät und
es aus dem entstehenden Gefühlschaos keinen Ausweg gibt? Dem gehen wir ge-
meinsam in unserem Gottesdienst nach, den Studentinnen der Theologie erarbeitet
haben.
• Votum: Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen Gottes, des Vaters, des Soh-
nes und des Heiligen Geistes.
Zudem muss Freude feststellen, dass sie Riley nicht vor allem beschützen kann
und nur freundlich und glücklich zu sein, das ist auch nicht die Lösung.
Kummer hat nun also eine Aufgabe. Sie schafft es, dass Riley umdreht und
nach Hause fährt und ihren Eltern erzählt, was in ihr vorgeht. Durch ihre wahren
Gefühle, die sie nun offenbart, können die Eltern verstehen, was sie bewegt und
entsprechend darauf reagieren.
Es entstehen neue Erinnerungen, die nicht nur von Freude, Wut, Angst, Ekel
oder Trauer geprägt sind, sondern mehrere Emotionen gleichzeitig beinhalten. Die
Kugeln haben nun nicht mehr nur eine Farbe, sondern mehrere. Kennen wir dies
nicht auch aus unserem eigenen Leben? Viele mussten zum Studieren umziehen
und sich auf neue Situationen einlassen. Diese Situationen können geprägt sein von
Trauer und Angst, weil Freunde und Familie nicht mitkönnen, gleichzeitig aber
von freudiger Erwartung auf den neuen Lebensabschnitt.
Hier ist die Verbindung zu unserem Bibeltext von heute. Nur wenn es ein Zu-
sammenspiel der Emotionen gibt, ist Riley komplett. So wie der Leib ohne einzel-
ne Glieder nicht vollständig ist, scheinen sie noch so unwichtig, genauso brauchte
Riley mehr als nur Freude, um sie selber zu sein.
Fürbitten:
Gott des Himmels und der Erde, schenk uns,
dass wir unser Unglück immer wieder ausatmen können,
tief ausatmen, so dass man wieder einatmen kann.
Und vielleicht auch unser Unglück sagen können
in Worten wirklichen Worten
die zusammenhängen und Sinn haben
und die man selbst verstehen kann
11 „Alles steht Kopf“ 113
• Segen
• Nachspiel: Leg deine Sorgen nieder
„Arrival“1
12
• Vorspiel
• Begrüßung/Einführung
Liebe Gemeinde,
herzlich willkommen zu unserem Filmgottesdienst mit einigen Ausschnitten aus
Denis Villeneuves „Arrival“ aus dem Jahr 2016. Dieser seltsam-schöne Film er-
zählt von der Ankunft einer fremden Lebensform auf der Erde und den Reaktionen
der Menschen (und Regierungen) darauf. Die Antwort der siebenarmigen kraken-
ähnlichen Wesen – Heptapoden genannt – auf die brennendste Frage „Warum seid
ihr hier?“ kann mit herkömmlichen Mitteln nicht entziffert werden, deshalb wird
die Linguistin Louise Banks zu Hilfe geholt. Sie erkennt im Laufe ihrer Kontakt-
aufnahme, dass die Äußerungen der Fremden einem System folgen, das die Gren-
zen der bekannten Sprachen und der bisherigen naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse überschreitet.
Nachdem Louise ihre Ausrüstung ausgezogen hat, folgt auch Ian ihrem Bei-
spiel. Sie stehen nun direkt vor der Scheibe, denn auch den vorher noch gewahrten
Sicherheitsabstand hat Louise durch das Berühren der Scheibe hinter sich gelassen.
Bei der erneuten Vorstellung der Namen gelingt eine Interaktion, die Heptapoden
antworten mit Schriftzeichen.
Auch wenn die Menschen die Schriftzeichen der Heptapoden zunächst nicht
verstehen, sind sie doch ein großer Fortschritt. Zu Beginn der Kontaktauf-
nahmen waren von den Heptapoden nur Geräusche zu hören. Der Vergleich von
Mitschnitten dieser Geräusche und der Schriftzeichen veranlasst Louise zu dem
Schluss, dass die Laute und die Schrift der Heptapoden nicht direkt zusammen-
gehören, es also zunächst wichtiger ist, die Schrift zu analysieren, auch, weil
sie vielfältiger erscheint. Das ist als Deutsche/r schwer zu verstehen, da unsere
Schrift phonografisch ist, das heißt, dass wir unseren Wortklang verschriftlichen.
Im Deutschen wird jedem bedeutungsunterscheidendem Laut, in der Fachsprache
Phonem, ein Zeichen zugeordnet, die Laute werden also in Schriftsymbole über-
tragen. Die Schrift der Heptapoden ist, sucht man eine vergleichbare Sprache und
Schrift auf der Erde, wohl am ehesten mit dem chinesischen Schriftsystem zu
vergleichen. Das Chinesische ist eine morphemische Sprache, das heißt, dass die
Bedeutungseinheiten verschriftlicht werden. Die Bedeutungseinheit „Mensch“ hat
beispielsweise ein Schriftzeichen, ein Graphem. So ähnlich funktioniert auch die
Schrift der Heptapoden. Sie schreiben in Kreisen. Durch die Analyse der Kreise
finden Louise und Ian heraus, dass die Kreise nicht nur eine Bedeutungseinheit
darstellen, sondern ganze Sätze sind. Diese Erkenntnis fördert den weiteren Lern-
prozess.
Bei aller Wissenschaftlichkeit müssen jedoch zwei Dinge immer beachtet wer-
den: reine Logik hätte hier zunächst nicht weitergeholfen. Ebenso wie wenn wir
Fremdsprachen lernen und ein Sprachgefühl entwickeln müssen, brauchte auch
Louise zunächst ein Gefühl für die Sprache. Ihre Intuition war ihr dabei sehr hilf-
reich. Das Vertrauen, das sie und dann auch Ian den Heptapoden entgegenbringen
wird belohnt, es geschieht ihnen nichts Schlimmes, im Gegenteil, der Aufbau einer
Beziehung zu den Heptapoden gelingt.
Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang von Sprache und Schrift immer
beachtet werden muss, ist, dass Sprache zwar eine Lösung darstellt, da sie eine
Möglichkeit zur Kommunikation bietet, Sprache aber auch zu Missverständnissen
führen kann, etwa, wenn Konzepte von Begriffen sich unterscheiden.
118 12 „Arrival“
Wir rühren hier an ein merkwürdiges historisches und philologisches Thema, das
auch an einem Kernstück der biblischen Überlieferung erkennbar wird. Wir haben
die Erzählung von der merkwürdigen Erscheinung am Dornbusch und von der
Offenbarung Gottes in der Sprache.
Gott ist sprachlich. Er inkarniert sich in die Sprache. Der Gottesname JHWH
wird in unserer Übersetzung als Tetragramm, also nur in seinem Konsonanten-
bestand, wiedergegeben. So sind die Konsonanten des Gottesnamens auch in den
alten biblischen Handschriften überliefert.
Antike Bibelhandschriften, etwa aus der Bibliothek von Qumran, aus dem 1.
Jahrhundert vor Christus, schreiben die Konsonanten des Gottesnamens nicht wie
den umgebenden Text, in hebräischer Quadratsschrift, sondern gesondert in alt-
hebräische Schrift. Das zeigt, dass der Gottesname in manchen Kreisen des Juden-
tums bereits in der Spätantike eine Sonderstellung einnahmen und aus Respekt vor
seinem Träger nicht mehr ausgesprochen wurde. Das hat sich in den gottesdienst-
lichen Lesungen des Judentums bis heute erhalten. In den griechisch sprachen
Quellen finden wir allerdings seine Transkriptionen.
Die Sprach- und religionsgeschichtliche Herkunft dieses Namens ist nicht mit
Sicherheit zu klären. Sie könnte sich auf eine nordwestsemitische Verbalwurzel
mit den Konsonanten hwh zurückführen lassen, was so viel bedeuten würde wie
Fallen, Wehen, vielleicht in dem Zusammenhang: „er lässt Blitze und Regen fallen,
er weht“.
Es wird aber auch nach wie vor vertreten die Verbalwurzel hwh entsprechend
den Paronomaisen in Exodus 3 ,14 als Nebenform der hebräischen Verbalwurzel
hjh, sein, werden, aufzufassen. Die Bedeutung wäre dann: er ist, er erweist sich, im
Grundstamm oder er ruft ins Dasein, erschafft im Kausativstamm. (Exodus 1–15,
Helmut Utzschneider, Wolfgang Oswald zu Ex 3,14).
Das Tetragramm: das Vierfachzeichen, 4 Hebräische Buchstaben, die den Gott
Israels bezeichnen, den Gott des Himmels und der Erde, den Befreier, den Bundes-
partner, den Retter, den Richter, den Erlöser. Ein Eigenname und zugleich eine
Aussage. Auf einer Stele, östlich des Toten Meeres, hat man die älteste außer-
biblische Spur dieses Namens gefunden. Ein archäologischer Beleg des ‚Ich bin
da!. Ein Wort aus einer Zeit, in der die Griechen noch im Dämmerschlaf lagen. „
Der „Ich bin“, der „ ich werde es sein „ hat mich zu Euch gesandt „ sagt Mose. Jod,
Heh, Waw, Heh. JHWH. Für einen Juden unaussprechlich. Und wir, wenn wir den
Namen aussprechen, wir stammeln nur Unaussprechliches. Denn der da spricht, ist
einer, der „ich“ sagt. Und nur ich selbst kann für mich ‚Ich’ sagen. „Ich bin JHWH,
12 „Arrival“ 119
Dein Gott, von Ägyptenland her, und du sollst keinen anderen Gott kennen als
mich und keinen Retter außer mir allein.“
Karl Barth, der Theologe der Ehrfurcht vor dem Gottesnamen, der so viel über
Gottes Selbstoffenbarung in dem lebendigen Wort, in dem Logos, in Christus ge-
schrieben hat, wie kein anderer im 20. Jahrhundert, übersetzt das Tetragramm:
„Ich bin der, dessen eigentlichen Namen niemand ausspricht…“. Und er erklärt:
Der offenbarte Name selbst soll durch seinen Wortlaut an die Verborgenheit … des
offenbarten Gottes erinnern.“
Gott ist uns verwehrt. Er ist durch das Bilderverbot verwehrt. Er ist uns durch
unsere conditio humana verwehrt. Wir sind Menschen und können Gott nicht fas-
sen. Als ob ein Fingerhut das Meer fassen könnte? Unmöglich, von ihm zu reden.
Du sollst dir kein Bildnis machen.
Aber dennoch: Gott hat sich irgendwie in die Sprache hineinbegeben. Und die
Sprache ist ihrerseits ein Universum voller Zeichen und Bilder und Metaphern.
Wir machen Bilder. Seit den Gottesbegegnungen am Dornbusch – und später am
Horeb, tasten wir durch die Sprache hinter ihm her. „Du darfst hinter mir her
sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“
„Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer
Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?,
was soll ich ihnen sagen?“ Fragt Mose. Und Gott spricht: „Ich werde sein, der ich
sein werde. … So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich
zu euch gesandt.“
Wir haben seinen Namen. Und in seinem Namen ist etwas von seinem Wesen.
Irgendwie haftet ein Wesen in diesem Namen. Und zugleich ist dieser Name der,
der sich nicht behafteten lässt.
Ich werde sein. Ich bin, der ich bin. Was ist das? Wir sehen und stammeln hinter
ihm her. Da ist seine Anwesenheit, der wir nachspüren. Wir alle ahnen sie. Da ist
sein Name, der ihn, den geschichtlichen Gott identifizierbar macht. Wir spüren
ihm nach seit Jahrtausenden. Und dieses Nachspüren hinterlässt eine Spur.
Die Spur des Namens: Gottes unaussprechlicher Name, der doch die Sprache
sucht, seine Namenlosigkeit in diesem Namen ist kein Mangel an Bestimmtheit.
Sie ist die geradezu die Bedingung dafür, die verschiedensten Namen an sich zu
ziehen und die eigene Spur Schritt um Schritt zu verdeutlichen.
Gott lässt sich ein auf die Sprache. Und indem er sich einlässt, macht er sich
niedrig. Und indem er sich niedrig macht, würdigt er unsere Sprache. Und in-
dem er unsere Sprache würdigt, weist unsere Sprache immer schon über das Vor-
handene hinaus. Wir reden nicht nur von den Dingen. Wir loben, klagen, psalmo-
dieren, beten.
120 12 „Arrival“
Weise vereinigt.“ (Barth, Römerbrief II,80). Später wird er sagen: „Wenn ich ein
System habe (also eine Art des theologischen Redens von Gott und von der Wirk-
lichkeit), so besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den unendlich qualita-
tiven Unterschied von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und posi-
tiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. Gott ist im Himmel und
du auf Erden. Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung
dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe
der Philosophie in einem.“
Zum Ende des Films: „Weißt Du, was mich am meisten überrascht hat? Nicht,
die zu treffen, sondern dich zu treffen.“ Das sind die Worte Ians zu Louise am
Ende, als sich die Wesen verabschiedet haben. In der Verbindung der beiden
Wissenschaftler, die so verschieden an das Phänomen herangegangen sind, treffen
sich viele weitere Gegensätze, die die Struktur des Films bestimmt haben: männ-
lich-weiblich; „harte“ und „weiche“ Wissenschaft; Logik (Verstand) und Intuition
(Gefühl); gekrümmt-gerade; Vergangenheit und Zukunft. Als Louise am Ende
„Ja“ sagt, gibt das ihrem Vertrauen Ausdruck, dass sie die weitere Lebensreise an-
treten und annehmen wird, selbst wenn sie weiß, wie die Geschichte weitergehen
wird. Sie erkennt, dass Zeit nicht linear ist, das hat sie von den Aliens gelernt und
sie ist bereit, das von ihnen Gelernte umzusetzen und anzunehmen. Sie wird die
„universelle Sprache“ verbreiten und so vielen Menschen zugänglich machen in
der Hoffnung auf ein Weltbündnis, wie es nach dem Weggang der zunächst be-
drohlich erscheinenden Fremden möglich erscheint.
So wird dieser Film, der mit der Schilderung eines persönlichen Schicksals,
das Auswirkungen auf das ganze Weltgeschehen hat, Mikro- und Makrokosmus
miteinander verbindet, auch zu einem politischen. Gerade in einer Zeit, in der man
das Gefühl hat, auf einem Pulverfass zu sitzen, zeugt er von der Hoffnung, dass die
Menschen durch ein Band der Sehnsucht miteinander verbunden sind, der Sehn-
sucht, die Grenzen der Zeit und die zwischen verschiedenen Individuen zu über-
winden. Die Mystiker haben vom „Immer jetzt“ gesprochen, vom Augenblick als
Keil der Ewigkeit in der Zeit.
Fürbittgebet:
Gott des Himmels und der Erde, wir können darauf vertrauen, in deiner Hand zu
sein, wir waren es, sind es und werden es sein, was auch geschieht. Schenk uns
dieses Vertrauen immer wieder neu, so dass wir den Mut finden, Schritte zu tun
gegen das Übliche, das Eingefahrene, das Bekannte und unseren Beitrag leisten
zu einer Verständigung der Menschen und aller deiner Geschöpfe untereinander.
12 „Arrival“ 123
Wir beten mit den Worten, die Jesus uns zu beten gelehrt hat:
• Vater Unser
• Segen
• Nachspiel
„Biutiful“ 1
13
Filmausschnitt
(die ersten 3 1/2 min des Films „Biutiful“ stumm, mit Orgelvorspiel)
Lied: O komm, o komm, du Morgenstern (EG 19)
Liebe Universitätsgemeinde,
Ich freue mich darüber, heute abend bei Ihnen mit einem Film Gast sein zu dürfen.
Wir sitzen hier in der Kirche ja ähnlich wie im Kino – wenn auch mit einer etwas
anderen Erwartungshaltung. Strukturell gibt es Ähnlichkeiten, doch auch inhalt-
lich: oft genug wird man im Kino damit konfrontiert, wie religiös oder zumindest
existentiell tiefgründig Filme sind. Und ihre Bilder erzählen etwas, das mit Worten
schwer zu beschreiben ist. Aber wir versuchen es heute Abend – zunächst mit der
Anfangssequenz des Films „Biutiful“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro
Gonzales Inarritu aus dem Jahr 2011. Während der Predigt kommen dann noch
ein Ausschnitt aus der Mitte und die Schluss-Sequenz des Films dazu. Vielleicht
ist statt „Predigt“ theologischer Zugang das bessere Wort.
„Unterbrechung“ sei das kürzeste Wort für Religion, das hat einmal Johann
Baptist Metz gesagt, der 2019 im Alter von 91 Jahren in Münster gestorben ist.
Tagesgebet:
HERR, lehre doch mich, / dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben
ein Ziel hat und ich davon muss. 6 Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir,
und mein Leben ist wie nichts vor dir. Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die
doch so sicher leben! (aus Ps 39)
Gott des Himmels und der Erde, wir waren, wir sind und wir werden sein – in
deiner Hand. Du bist die Erinnerung und die Zukunft, wir sind Mitgestalterinnen
und -gestalter deiner Wirklichkeit, die viel phantasievoller ist als es unsere Ge-
danken zulassen. Wir sind deine Söhne und Töchter, deine Menschen, die ihren
Ursprung oft genug vergessen – zusammen mit der Verantwortung für diese Erde.
Wir stehen heute vor Dir, mit unserer Sehnsucht, mit unserem Scheitern, und mit
unseren Zweifel, Fragen, Bitten. Höre sie – wir wissen sie bei dir angekommen und
aufgehoben…
…
Du hörst uns, Gott – Amen.
• Als Schriftlesung: Arvo Pärts Vetronung von Lukas 3, 23–28 „…which was the
son of God“
(Der Stammbaum Jesu nach Lk 3, V. 23: And Jesus himself began to be about
thirty years of age, being (as was supposed) the son of Joseph, which was the
son of Heli, ….. , V.38:… which was the son of Seth, which was the son of
Adam, which was the son of God.)
• Predigt zu „Biutiful“
Ich habe so viele schönste Kinomomente im Laufe der letzten vier Jahrzehnte
gesammelt (seit ich mit 16 Jahren das erste Mal im Kino war), dass eine Auswahl
fast unmöglich schien – angefangen bei der Anfangssequenz von „Spiel mir das
Lied vom Tod“, meinem ersten in Wangen/Allgäu, über „Blade Runner“ bei Regen
während des Open Air auf dem Jungfernstieg in Hamburg bis hin zur Schluss-Se-
quenz von „Arrival“, der Begegnung mit den außergewöhnlichen Aliens im Glo-
riakino in Stuttgart.
So versuchte ich mich auf den Begriff der Schönheit zu konzentrieren und kam
so auf „Biutiful“, genauso geschrieben wie gesprochen. Der orthografisch falsche
Titel stammt aus einer Szene des mexikanischen Films von Alejandro González In-
árritu aus dem Jahr 2010. Der Vater Uxbal liest das Wort von einer Zeichnung seiner
Tochter Ana ab. Er selber hatte es ihr in einer früheren Szene falsch buchstabiert.
Was mich zusätzlich anspornte, war die Kritik einer Journalistin am Film, die
in „Die Zeit“ unter dem Titel „Ohne Erbarmen“ schrieb, Biutiful sei mit einer
Gewebemischung aus Mystik und Theologie unterfüttert, wobei gerade im theo-
logischen ein Missverständnis von Biutiful liegen könne: „Denn dem Sinn des
neuen Testamentes, auf das Uxbals Geschichte anspielt, entspricht die Idee einer
durchweg gnaden- und erbarmungslosen Welt gerade nicht.“ (Ursula März,
10.3.2011, in ZEIT Nr. 11/2011).
Sie haben gerade den Anfang des Films gesehen, in dem der Vater mit seiner
Tochter spricht und ihr einen Ring weitergibt, ein Familienerbstück, sie wird ihn
tragen und die Familiengeschichte fortschreiben. Die daran anschließende Szene
bleibt zunächst rätselhaft, wird aber aufgenommen in einer kurzen Zwischen-
sequenz, dessen Kapitel den Namen „Vater“ trägt:
Nun würde dieser Film ja, so denken Sie zu Recht, besser in den (Totengedenk-)
Monat November passen als in den Adventsmonat Dezember. Aber es ist die hier
aufgenommene Idee der Intergenerativität, weshalb ich ihn dennoch für passend
erachte.
Wenn wir die Anfänge der Evangelien anschauen, stoßen wir bei Matthäus und
bei Lukas jeweils auf Stammbäume. Das erste Kapitel des Matthäusevangeliums
zählt lauter Vaternamen auf – das beginnt mit Abraham und führt über eine lange
Reihe anderer Patriarchen, lediglich unterbrochen durch immerhin drei Frauen-
namen, bis hin zu Joseph, dem Mann Marias, von dem geboren ist Jesus, so steht es
im Vers 16. Der offensichtlichen Unterbrechung, die in der Schwierigkeit besteht,
wer der Vater Jesu ist, geht Lukas elegant aus dem Weg. Er geht seinen Stamm-
baumweg umgekehrt, fängt bei Jesus an, von dem es heißt „er ward gehalten für
einen Sohn Josephs“ (Lk 3, 23, nach Luther 1912). Arvo Pärt hat den Stammbaum
vertont, da heißt es „he was supposed to be…“, dann führt die Reihe rückwärts
weiter bis Adam und endet mit Wucht „der war Gottes“.
Wir feiern bald die Geburt des Sohnes Gottes, doch können wir den Stamm-
baum auf jede und jeden von uns anwenden. Was für eine Verheißung, die jetzt
aus der Vergangenheit strahlt in die Zukunft: Wir sind Gottes. Dieser Ursprung
eint noch stärker als die in einer Taufformel beschlossene Zusage im Galater-
brief 3, 26–28: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus
Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
28 Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht
Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Wir sind Gottes – wir alle, richtet man den Zeitpfeil rückwärts, sind eins in
Gott.
Die Wucht dieser Aussage, Zusage, wird in dem Pärt-Stück spürbar. Es ist eine
Wirklichkeit, die das Gegenwärtige umhüllt.
Ja, es ist traurig, keinen Vater zu haben, wie es Uxbals Sohn traurig feststellt. Er
wird bald selbst diese Erfahrung des Vaters teilen.
Schauen wir uns nun das Schlusskapitel des Films an: es ist der Vater, dem
Uxbal im Moment seines Todes begegnet – Was ist da? Fragt er diesen, als er aus
dem Bild und weiter in den Wald tritt…
3. Filmausschnitt
(letztes Kapitel, Begegnung Uxbal-Vater bis zum Filmende, 5 min)
Er erhält keine Antwort, geht ihm nach, lächelnd, aber wir könnten ihm antworten:
Was ist da? Ein Perspektivwechsel, Zeit für Abschied und Neuanfang. Wir haben
die erste Filmsequenz am Ende noch einmal gesehen, aber nun aus anderer Pers-
pektive. Wir sehen jetzt die Tochter, das Mädchen, dem der Ring übergeben wird –
13 „Biutiful“ 129
eine Ringparabel, so könnte man das Ganze nennen, da es sich um das Geschehen
schließt. Die Tochter trägt jetzt das Familienerbstück – dabei ist es gleich gültig,
ob der Diamant echt ist oder nicht. Wichtig ist, was er bedeutet.
Du bist Gottes! Diese Verheißung, die höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure
Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Fürbitten:
Gott, du Schöpfer der Erde,
wir fühlen uns nicht mehr wohl in unseren Städten und Dörfern. Die Luft stinkt
zum Himmel und der Boden ist überdüngt. Wir kaufen billiges Fleisch und haben
unsere Urlaubsflug ist schon gebucht. Weite unser Herz, damit uns die Erwärmung
der Erde nicht kalt lässt. Schärf unseren Verstand, damit wir unseren Lebensstil
ändern und die kleinen Bequemlichkeiten eintauschen gegen die große Hoffnung,
dass diese Erde bewohnbar bleibt für uns und unsere Kinder.
Gott, du Bruder und Schwester der Menschen
Wir bringen vor Dich die Menschen, die verschleppt, vertrieben, geflohen sind. Sie
tragen die Erfahrung der Angst und des Leidens mit sich. Sie sitzen bei uns wie
an den Wasserflüssen Babylons und trauern um ihre Heimat. Weite unser Herz,
damit wir ihre Trauer sehen. Schärfe unseren Verstand, damit wir verstehen, wie
wir an den Ursachen ihrer Flucht beteiligt sind. Und lass uns gute Gastgeber und
Begleiter für sie sein.
Gott, du Geist des Mutes und der Wahrheit
Es ist ein Sehnen tief in uns nach Glück und Liebe und Erfolg. Lass uns gnädig
sein mit unseren Misserfolgen, unserem Alter, unserer Traurigkeit, und stille unser
Durst nach Leben, so wie Du es gibst. Gib uns Phantasie wie wir uns mit Men-
schen guten Willens zusammenschließen, damit die Güter in dieser Gesellschaft
gerecht verteilt, alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und wir
Arme und Kranke nicht mit einem Almosen abspeisen.
Wir rufen zu Dir, du Geheimnis der Welt. Rede Du zu uns, damit wir schweigen
und hören und den Weg des Friedens suchen.
• Vater unser…
• Lied: EG 13, 1–3 Tochter Zion
• Segen
„Captain Fantastic“1
14
• Begrüßung/Einführung
Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Herzlich willkommen zu unserem Filmgottesdienst. Mit anderen Augen sehen,
mit den Augen von Filmemacherinnen und Filmemachern: unser Leben, Entwürfe
des Menschseins, Bilder und Szenen – das Gesehene mit biblischen Bildern und
Szenen und Texten ins Gespräch bringen, finden, was uns bewegt, infrage stellt,
das ist das Thema dieses Abends. Es wird uns hier ein besonderer, alternativer
Lebensentwurf vorgestellt.
Wer oder was ist „Nike“? Göttin oder Turnschuh? Die fernab der Zivilisation auf-
gewachsenen Kinder der Familie Cash werden mit den Errungenschaften derselben
konfrontiert und müssen sich mit Witz, Stärke und Wissen behaupten. Einen Clash
der Kulturen besonderer Art liefert Matt Ross Film „Captain Fantastic“, wie die
sechs Kinder ihren Vater Ben (nur halb im Scherz) nennen. Gemeinsam mit seiner
Frau Leslie hat er die Kinder in einem alternativen Idyll in den tiefen Wäldern an
der Pazifikküste im Nordwesten der USA zu idealen und guten Menschen erzogen,
hat sie zu reflektierenden und auf hohem Niveau artikulierenden Individuen ge-
macht. Und alles könnte schön sein, wäre da nicht der Tod. Als die Mutter stirbt,
macht sich die Familie auf und reist quer durch die USA, was ihren Lebensentwurf
und den der ‚Anderen‘ auf den Prüfstand stellt.
2. Lied: „Du bist der Schöpfer des Universums“ (NL Nr. 24)
• Zwischenspiel Orgel
Einführung:
Auf dem Weg zur Beerdigung der Mutter besucht die Familie die Familie der
Schwester (und Tante). Beim gemeinsamen Abendessen stoßen zwei völlig unter-
schiedliche Kulturen aufeinander und die Konflikte spitzen sich zu.
Die eben gesehene Szene zeigt die Doppelbödigkeit einer Gesellschaft, die die
eigenen Gewaltstrukturen verdeckt (wie das Schlachten von Tieren, die es aus der
Tiefkühltruhe zu kaufen gibt) und sich der Auseinandersetzung mit existentiellen
Themen wie Scheitern, Schuld und Suizid mit faden Argumenten entzieht. Was
verdeckt wird, kommt an anderer Stelle wieder hervor – die Jungs finden ihren
eigenen Umgang mit Tod und Gewalt.
Welche mentale Gewalt der Vater seinen Waldkindern antut, kommt zum Aus-
druck, als der Älteste studieren gehen will. Sein Vater hat Angst vor dem Loslassen,
dem Kontrollverlust und zeigt selbst dogmatische Seiten. Doch hat er seine Kinder
zu solch selbstbewussten Wesen erzogen, dass sie trotz seines Widerstandes ihren
jeweils ganz eigenen Weg finden werden.
3. Lied: Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt
(n. Offb. 21, EG 153, 1–5)
Fürbitten:
Gott des Himmels und der Erde, Du hast eine vielfältige Welt erschaffen als Bild
Deiner Seele. Der Mensch als dein Abbild ist Teil dieser Vielfältigkeit. Stärke
uns im Umgang mit diesen Unterschieden, hilf uns dabei, sie auszuhalten und als
Herausforderung und Gewinn zu betrachten.
…
Stärke uns auch im Umgang mit unserer Endlichkeit, mit dem Sterben und dem
Tod. Lass uns eine Sprache finden, in der wir uns dem stellen können, was uns
Angst macht.
…
• Vater Unser
• Segen
„Mad Max Fury Road –
Die Suche nach (Er-)Lösung“1 15
• Vorspiel ; Begrüßung/Einführung
ist Herrscher der Zitadelle und somit der Wasservorräte. Er ist auch der einzige,
der Kinder zeugen darf; dazu werden Frauen missbraucht, die „Brüter“ genannt
werden. Diese fliehen nun gemeinsam mit Furiosa, später stößt Max zu ihnen. Was
ihnen auf dem Weg durch die postapokalyptische Wüste begegnet, werden wir
gleich in Augenschein nehmen.
• Wechselgebet: Psalm 46
ort für bedeutsame Personen der deutschen Geschichte errichtet. Darin finden
sich beispielsweise Büsten von Martin Luther oder Sophie Scholl. – In den nor-
dischen Mythen, die auch mit der Nibelungen-Saga identisch sind, wurde Wal-
hall als prächtige Halle mit 540 Toren, durch die je 800 Soldaten nebeneinander
einziehen können, beschrieben und liegt in der Burg des nordischen Gottesvaters
und Kriegsgottes Odin. Dort werden die Krieger von den Walküren umsorgt, die
sie auch nach Walhall geleitet haben. Im Gegensatz zu den christlichen Paradies-
Vorstellungen ist Walhall unter der Erde angesiedelt, auch die Götter wohnen in
Burgen in dieser Unterwelt. Die Darstellungen der Zitadelle von Immortan Joe
gleichen sehr stark den Beschreibungen dieser Sagen. So wird die Unterwelt dort
als lichtdurchflutetes, „grünes Götterheim“ beschrieben. Auch der Däne Saxo
Grammaticus spricht nur von unterirdischen Totenorten mit angenehmen grünen
Gefilden.
Doch entgegen der heute überlieferten und verklärten Sichtweise, die auch
im Film zu sehen ist, lässt keine der schriftlichen Quellen auch nur andeutungs-
weise erkennen, dass die Wikinger einem heldenhaften Tod mit Aussicht auf den
Einzug in Walhall gelassen ins Auge sahen. Vielmehr mieden sie die erkannte
Gefahr und retteten sich. Für sie war Walhall eher eine Mahnung, das irdische
Leben bewusst und nicht unbedacht zu begehen und zugleich Trost für die Hinter-
bliebenen – nicht aber ein erstrebenswertes Schicksal. Es stellt sich somit anderen
Jenseitsvorstellungen im militärischen Kontext entgegen, wie beispielsweise den
Märtyrer-Absichten der Selbstmordattentäter im islamistischen Umfeld.
Der War Boy im Film sagt, dass ihm dreimal die Tore zu diesem Ort offen stan-
den. Er hatte mehrfach versucht, geradezu fahrlässig eine militärische „Helden-
tat“ unter Einsatz seines Lebens zu begehen, die jedoch scheiterten. Am Ende
des Filmes wird ihn dieses Schicksal schließlich doch ereilen. Jedoch immerhin
zugunsten des „Guten“…
verbracht, bevor sie mit ihrer Mutter entführt wurde. Immer wieder spürt man im
Film die Sehnsucht, die Furiosa nach diesem Ort empfindet.
Dieser Ort stellt für sie ihre Erlösung dar. Doch von was wird Furiosa „erlöst“,
wenn sie diesen Ort findet? Sucht sie Zugehörigkeit? Frieden?
Mitten in der Wüste findet sie die Frauen, die mit ihr an dem grünen Ort gelebt
haben. Sie ist ihrem Ziel ein Stück näher gekommen. Es blitzt ein Moment der
Hoffnung auf, der im nächsten Moment wieder zerstört wird. Der grüne Ort, ihr
Zuhause, existiert nicht mehr. Das Wasser ist verschmutzt, die anderen Menschen
wurden getötet. Eindrücklich zeigt die Filmszene, wie in Furiosa alles zusammen-
bricht. Alle Qualen, die sie auf sich genommen hat, scheinen umsonst gewesen zu
sein. Das Ziel, für das sie so hart gekämpft hat, gibt es nicht mehr. Ihre Hoffnung,
den Ort zu finden, wurde zerstört. Ein Gefühl von tiefer Verzweiflung überkommt
sie. Die Hoffnung, in ihren Heimatort zurückzukehren und ein friedliches Leben
zu führen, bleibt eine Illusion.
Ich kann Hoffnungslosigkeit, die Furiosa nun empfindet, gut nachvollziehen.
Man hat für etwas gekämpft, etwas, das einem wichtiger ist als alles andere. Man
hat die ganze Kraft, die man hatte, investiert, um das Ziel zu erreichen. Und dann
bekommt man die Nachricht, dass alles umsonst war.
Der Grüne Ort, ihre Erlösung, existiert nicht mehr. Wie lebt man nun weiter?
Aufgeben oder weiter kämpfen? Und wenn kämpfen, wofür denn? Wie macht man
weiter, wenn der Sinn verloren gegangen ist? Gibt es einen anderen Weg, den sie
noch nicht gesehen hat?
Fürbitten
15 „Mad Max Fury Road – Die Suche nach (Er-)Lösung“ 141
• Vater Unser
• Segen
„Nokan – Die Kunst des Ausklangs“1
16
• Orgelvorspiel
Der Film des jap. Regisseurs Yojiro Takita heißt auf engl. „Departures“ – „Ab-
schiede“. Der jap. Filmtitel „Okuribito“ setzt sich zusammen aus dem Verb okuru,
d.h. verabschieden, geleiten, und dem Substantiv hito – Mensch. Übersetzt heißt
es in etwa „einer, der andere verabschiedet oder geleitet“. Was hinter diesem Wort
steckt, muss der gerade arbeitslos gewordene Cellist Daigo erfahren:
Der Chef erkennt die Krise seines Noch-Angestellten und greift den Vorwurf eines
Kunden indirekt auf, ja, wir leben von den Toten, überhaupt leben wir von Totem,
den was ist Kochen anderes als das Präparieren von Leichnamen?
„Wenn du nicht sterben willst, musst du essen – und wenn du’s schon musst,
soll’s auch schmecken…“ – fast hören wir an dieser Stelle den Text aus Prediger
9, 4–10 heraus:
Schriftlesung:
Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender
Hund ist besser als ein toter Löwe. 5 Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben
werden, die Toten aber wissen nichts; sie haben auch keinen Lohn mehr, denn
ihr Andenken ist vergessen. 6 Ihr Lieben und ihr Hassen und ihr Eifern ist längst
dahin; für immer haben sie keinen Teil mehr an allem, was unter der Sonne ge-
schieht. 7 So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem
Mut; denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen. 8 Lass deine Kleider immer
weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. 9 Genieße das Leben mit
der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der
Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der
du dich mühst unter der Sonne. 10 Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun
mit deiner Kraft, das tu; denn im Totenreich, in das du fährst, gibt es weder Tun
noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit.
Eingeleitet werden diese Gedanken durch den wunderschönen Abschnitt des Pre-
digers Kohelet in 3, 19–22, in dem der Prediger über die Zeit reflektiert und darü-
146 16 „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“
ber, dass alles seine Zeit hat…. Und angesichts der Vergänglichkeit alles Seienden
es nichts Besseres gäbe, als dass der Mensch fröhlich sei bei seiner Arbeit und das
Leben genießen solle.
Das bedeutet weniger Verantwortungslosigkeit als vielmehr höchste Ver-
antwortlichkeit bei klarem Bewusstsein, dass wir Sterblichen, die wir alle in
strukturellen Schuldzusammenhängen leben – nämlich immer auf Kosten anderen
Lebens (auch wenn wir Vegetarier bzw. Veganer sind) – das Leben als kostbare
Gabe sehen, mit dem wir gut umgehen sollen – mit eigenem und fremdem. Und
das schließt den guten und verantwortlichem Umgang mit denen ein, die von uns
gegangen sind, „the departed“.
• Orgelmusik
Der Vater, der die Familie verließ, als Daigo 6 Jahre alt war, und den er nicht ver-
klärt, sondern hassen gelernt hat, ist verstorben. Nach langem Zögern und auf das
Drängen Mikas hin entschließt sich Daigo, doch zu dem einsamen Toten zu reisen
und ihn schließlich sogar selbst zu waschen und aufzubahren. Er findet in dessen
Hand einen Stein, den er ihm mal als Kind geschenkt hatte.
Erst in der Berührung ‚erkennt‘ Daigo seinen Vater wieder, den er vor 30 Jahren
zuletzt gesehen hat und an dessen Gesicht er sich nicht mehr erinnern konnte. Er
erkennt, dass er es nicht nur dem toten Vater, sondern auch sich selbst schuldig ist,
dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Erst als er seinen Hass loslässt, wird auch
die Liebe zum Vater wieder frei, die zwar enttäuscht wurde, aber im Abschied
wieder entdeckt wird. Er muss seine negativen Gefühle loslassen, damit das Ver-
gangene nicht alpdruckhaft das Leben bestimmt. Indem er den Stein, den er dem
Vater einst gab, nun symbolisch an das eigene Kind weitergibt, wird nicht nur
die Generativität verdeutlicht, sondern auch die Chance, die in jedem Neuanfang
steckt. Es ist ein Versprechen, es diesmal anders zu machen – dem Toten zu ver-
geben und den Lebenden gerecht zu werden.
Die Zurüstung für die letzte Reise ist eine Geste der Nächstenliebe. Und es
ist – paradox genug – eine Handlung, die auch von der Lust am Leben zeugt.
Einem vergänglichen Geschenk, das gerade an seinen Grenzen nochmals in aller
Schönheit aufleuchtet.
… Wir beten gemeinsam
4. Lied: EG 369, 1–4 Wer nur den lieben Gott läßt walten
• Segen
• Orgelnachspiel
„Die Tribute von Panem – Hunger Games“
17
Filmgottesdienst 1
• Begrüßung/Einführung
Liebe(Film-)Gemeinde,
wir begrüßen Sie herzlich zu unserem Filmgottesdienst zu
„Tribute von Panem“ – die Hungerspiele, einer der großen Filme der letzten
Jahre – basierend auf der gleichnamigen Romantrilogie von Suzanne Collins.
Die „Hunger Games“ spielen in naher Zukunft und sind in einer postapo-
kalyptischen Welt angesiedelt. Erzählt wird die Geschichte von Katniss Everdeen,
die zum Symbol der Rebellion gegen ein diktatorisches System wird.
Das reiche „Kapitol“ ist der Regierungssitz über 12 Distrikte, die je eine spezi-
fische Aufgabe haben (Stromerzeugung, Fischerei etc.) Distrikt 12, aus dem die
Protagonstin Katniss stammt, lebt vom Bergbau und ist einer der ärmsten. Ur-
sprünglich gab es 13 Distrikte, aber jener 13. wurde aufgrund eines Aufstandes
angeblich dem Erdboden gleichgemacht. Um weitere Rebellionen zu vermeiden,
ist jeder Distrikt einmal im Jahr gezwungen, einen Tribut in Form eines jungen
Mannes und einer jungen Frau zu leisten, die in den sog. „Hungerspielen“ gegen-
einander in einer Arena antreten und es nur eine/n Sieger/in geben darf.
Mit jener Zweiteilung wird uns in „Panem“ eine Welt gezeigt, die wie ein nur
leicht verzerrter Spiegel unserer heutigen erscheint. Ob und wie es „ein wahres
Leben geben kann im Falschen“ (Adorno)2, mit dieser Frage wollen wir uns im
heutigen Gottesdienst beschäftigen.
In einer geteilten Welt von Mächtigen und Habenichtsen wird eine junge Frau –
Katniss Everdeen – zum Symbol der Rebellion.
Mit ihrem vom Zorn getriebenen Trotz bringt sie eine Welt zum Einsturz und
vermag den in mörderischen Spielen pervertierten Hunger nach Gerechtigkeit neu
zu entfachen. Ob es dauerhaft gelingt, gerechtere Strukturen zu etablieren oder ob
sich das Grauen wiederholen wird, bleibt in dieser Anti-Utopie offen.
Wir wollen in diesem Filmgottesdienst zentrale Filmausschnitte und einige we-
nige Gedanken dazu in Verbindung bringen mit biblischen Texten, Liedern und
Gebeten.
• Votum:
Sie stößt die Mächtigen vom Thron und hilft den Niedrigen auf…
mit diesem Anklang an das Lobpreislied der Maria aus dem Lk-Ev lade ich sie
ein, diesen biblischen Protestsong jetzt mit mir im Wechsel zu sprechen:
• Wechselgebet: Magnificat
Einführung:
Katniss wird mit Peeta, ihrem ausgelosten Kampfgenossen, ins Kapitol gebracht,
wo sie für den kommenden Kampf ausgebildet und der Kapitolbevölkerung prä-
sentiert werden.
Der Stylist Cinna hat für den Einzug von Katniss in die Arena ein spektaku-
läres Feuerkleid kreiert, und auch für ihren Auftritt in der Show hat er sich etwas
Besonderes ausgedacht.
„Sei einfach du selbst!“: Das ist der Rat, den Cinna seinem Schützling mit auf den
Weg gibt.
Wie geht das? In einer Welt voll mit Anforderungen? Voller Vergleiche? Voller
Leistungsdruck?
Wie kann ich in der Schule ich selbst sein, wenn mir das Fach nicht liegt?
Was nützt mir der Traumberuf, wenn ich davon nicht leben kann?
Wie kann ich ich selbst sein in einer Gruppe, von der ich nur Teil werde, wenn ich
ihren Erwartungen entspreche?
Gott verspricht uns:
Ich kenne dich. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du musst dich nicht
verstellen.
Bei mir bist du zuhause, so wie du bist.
Ich will festhalten an diesem Versprechen.
Ich will, wie Dietrich Bonhoeffer sagen:
„Wer ich auch bin – du kennst mich.
Dein bin ich, o Gott.“
3. Lied: 89 Du tust
Einführung:
In dem nächsten Abschnitt sehen wir Katniss und Peeta einen Tag vor Beginn des
Wettkampfes. Erst wenige Stunden davor mussten sie sich vor tausenden Men-
schen präsentieren, wie auf einem Präsentierteller, dabei möglichst attraktiv und
begehrenswert wirken, um mehr Chancen zu haben zu überleben. In einer ruhigen
Minute können sie zu zweit ein Gespräch führen.
17 „Die Tribute von Panem – Hunger Games“ 153
Einführung:
Nach dem Gespräch zwischen Peeta und Katniss beginnen die 74. Hungerspiele.
Beide kämpfen um ihr Leben in der Arena. Sie wenden aber verschiedene Strate-
gien an: Katniss schlägt sich alleine durch und vertraut niemanden. Peeta schließt
sich einer Gruppe an, die Katniss auslöschen will. Doch insgeheim hilft er ihr so,
nicht gefunden zu werden. Viele Tribute lassen in der Arena ihr Leben und einige
154 17 „Die Tribute von Panem – Hunger Games“
werden zu Mördern. Am Ende sind nur noch Peeta und Katniss übrig. Bei den 74.
Hungerspielen darf es – eine kurzfristige Regeländerung – auch zwei Sieger geben.
Beide müssen aber aus demselben Distrikt stammen. Katniss und Peeta ist der Sieg
also sicher. Doch plötzlich werden die Regeln geändert: es darf nur eine/n geben!
Hier setzt der folgende Filmausschnitt ein:
Fürbitten:
Guter Gott,
In dir finden wir zu uns selbst.
Wir bitten dich: lass uns deine Stimme hören.
Sprich mit deiner Liebe in unser Herz und lass uns diese Liebe weitergeben.
Jesus Christus,
Du hast uns erlöst. Du bist den Weg der Liebe bis zum Ende gegangen und hast
dich selbst aufgeopfert.
Lass uns dieses Wunder immer wieder neu begreifen.
Heiliger Geist,
Aus vielen Biographien und Individuen formst du eine Gemeinschaft.
17 „Die Tribute von Panem – Hunger Games“ 155
Wir bitten dich: lass unsere Unterschiedlichkeit fruchtbar werden. Schenke Ver-
ständnis im Streit. Vereine unsere Herzen in dir.
Gemeinsam beten wir: Vater Unser
• Segen
• Mit Chor: „Freedom is coming“
„Tschick“1
18
• Vorspiel
Begrüßung:
Ganz herzlich begrüße ich Sie zu unserem vierten Kinogottesdienst hier in der
Stadtkirche heute mit dem Film „Tschick“ aus dem Jahre 2016 von Fatih Akin
nach dem Buch von Wolfgang Herrndorf.
Eine Hymne auf das Leben, die Jugend, die Freundschaft, die Freiheit, die
Liebe und das Abenteuer. Dieses Abenteuer braucht nicht viel: Sommerferien,
zwei von ihren Eltern vernachlässigte Jugendliche,Maik Klingenberg und Andrej
Tschichatschow, genannt Tschick, beide Außenseiter, ein geklauter Lada und den
Entschluss zu einer Spritztour in die Walachei, ohne Karten und Navi, versteht
sich. Die Freiheit beginnt vor der Haustüre, in diesem Fall vor den Toren Berlins.
Begleiten wir die beiden auf ihrer Fahrt durch die ostdeutsche Provinz und auf
dem Weg zu sich selbst.
Zunächst wollen wir Ihnen einige zentrale Passagen aus dem Buch „Tschick“
von Wolfgang Herrndorf aus dem Jahr 2010 vorstellen, die unseres Erachtens zei-
gen, dass diese brillant erzählte Geschichte mehr ist als ein Jugendroman und ein
Roadmovie.
Lässig und wie nebenbei führt es uns aus der Sicht eines Jugendlichen an die
staunenswerten Seiten des Lebens heran, die in unserer Erwachsenwelt oft genug
verdeckt bleiben. Wir wollen sie mit Liedern, Texten und Musik in Verbindung
bringen, die diese Sicht vertiefen und weiterführen.
Nach dem gottesdienstlichen Teil und einer kurzen Pause zur Stärkung zeigen
wir dann den Film.
Und nun lade ich Sie ein mit uns das Leben zu feiern, im Namen des Gottes,
in dem wir die Quelle unseres Lebens sehen, im Namen Jesu Christi, der Fülle
des Lebens und im Namen des Heiligen Geistes, Wegweiser zu Freundschaft und
Liebe. Amen.
1. Szene: „Gottkarton“
Die Mutter von Maik ist Alkoholikerin, und manchmal verschwindet sie Richtung
„Beautyfarm“, das ist die euphemistische Familienbezeichnung für die Entzugs-
klinik.
Sie erzählt Maik von den Psychospielen, mit denen sie dort konfrontiert ist. Eins
davon ist das gegenseitige Zuwerfen eines Wollknäuels, wer es fängt, darf reden,
und so entsteht etwas, was Gesprächsgeflecht genannt wird.
• Lesung aus „Tschick“2: S.29 unten „Und wenn jetzt einer glaubt…“ – S. 31
oben“… im Nachhinein“
Theolog. Zugang:
Dieser Gottkarton ist ja erstmal eine ganz vernünftige Sache. Er fungiert als Klage-
mauer, als Gebetswand, als Sorgenkasten. Er ist die dunkle Höhle, in die man
hineinsprechen kann und die auch die finstersten Geheimnisse gut bewahrt. Sie
hält sich absolut an das Beichtgeheimnis und was dabei herauskommt, ist höchs-
tens, dass man sich allein dadurch besser fühlt, dass man das, was einen belastet,
mal herausgelassen hat. Ob man diese Black Box, die ja zunächst nichts ist als ein
Sorgenspiegel, nun Gott oder Großer Geist oder Osiris nennt, ist egal, vor allem in
der Psychotherapie. Hier werden die für sinnvoll erachteten Rituale, die ihren ur-
sprünglichen Platz in der Religion haben, herausgelöst und säkularisiert. Wichtig ist,
dass es da eine Instanz gibt, die einen versteht und annimmt, wie man ist, ob diese
Instanz nun eine Eigenkonstruktion, eine komplette Erfindung ist oder nicht. Über
Gott selbst kann, will und braucht die Therapie nun keine Aussage machen. Was
sie aber genau weiß, ist, dass jeder Mensch Vater und Mutter hatte, von denen das
Lebensskript gelernt wurde. Wenn man dieses innere Kind, das als rebellisches oder
angepasstes weiter in einem lebt, nun ins Bewusstsein hebt und genau betrachtet,
kann man es heilen. Dazu muss aber die Elternbeziehung durchleuchtet werden.
Der Karton wird nun von der Mutter mit keiner göttlichen Instanz belegt, son-
dern mit „Karl-Heinz“, was ja eigentlich genauso legitim ist wie Osiris. Mit letz-
terem könnte der Therapeut leben, mit Karl-Heinz nicht. Sein Weltbild käme erst
wieder in Ordnung, wenn der Vater so hieße, aber das tut er nicht. Wenn es schon
keinen Gott gibt, muss wenigstens der irdische Sinnzusammenhang stimmen. Da
aber nun dieser irdische Vater tatsächlich Gottlieb heißt, ist der Therapeut wieder
glücklich. Dann kann die Tochter den Karton ja so nicht nennen, denn sie muss
sich ja von diesem Vater absetzen, dem sie höchstwahrscheinlich zu fünfzig Pro-
zent ihre Sucht verdankt. Der Therapeut weiß also Bescheid, seine Welt ist wieder
in Ordnung. Ob der Patientin damit geholfen ist? Vielleicht ja; sie erwartet von
der Therapie auch keine neuen Heilsversprechen, sondern einfach eine mögliche
Linderung ihrer Sucht, eine Pause. Schön ist an dieser Szene, dass der ansonsten
ziemlich verständnislose Vater von Maik mal aus sich herauskommt, eine andere,
humorvolle Seite zeigt.
2. Szene: Sternenhimmel:
Einleitung
Maik und Tschick liegen nachts auf einer Aussichtsplattform und schauen in
den Sternenhimmel; sie überlegen miteinander, ob es wohl Leben gibt im All und
wie dieses Leben sich möglicherweise gerade dieselben Gedanken macht wie sie.
Theolog. Zugang:
Die zwei Jungs kommen über den Film „Starship Troopers“ (Paul Verhoeven,
USA 1997), der von einer Invasion auf einen von Rieseninsekten bevölkerten Pla-
neten handelt, auf die Idee, dass genauso gut gerade im Moment zwei Insekten-
jungen in das All starren könnten und sich zwei Jungs ausdenken, die gerade auf
einem Planeten namens Erde unterwegs sind und ins All starren.
160 18 „Tschick“
Wer hat sich nun wen ausgedacht? Sind die ‚da oben‘ Fiktion oder die ‚da
unten‘? Und wie ist der menschliche Geist beschaffen, dass er sich über sich selbst
Gedanken machen kann? Immerhin ist er in der Lage, sich (fiktiv) Gedanken
zu machen über andere Lebensformen, die das gleiche Existenzrecht haben wie
menschliche Lebewesen (anders als im Film, der die Sicht der Menschen auf die
Insekten als schleimige ekelerregende Figuren zeigt, die besiegt und unterworfen
werden müssen – aber dies zugleich in der Form einer Satire tut, die das Genre
vorführt und diese Form des Kolonialismus verurteilt).
„Die denken, dass es uns gibt, weil wir ja auch denken, dass es sie gibt!“ (S. 121)
„Der Wahnsinn“, dieser Gedanke, der mit dem Weiterspinnen der Idee der
Konstruktion der Wirklichkeit zugleich die Konstruktion eines Glaubens an Gott
mit beinhaltet. „Aliens“ sind hier alle nichtirdischen Wesen. Und diese halten den
Raum für die Einsicht in die Relativität menschlichen Denkens offen. Zugleich
wird der Raum für ein den einzelnen übersteigendes – transzendentes – Denken
eröffnet. Dieses wird im Gespräch zwischen zwei geistesverwandten Seelen ent-
wickelt, die einen Kairos, einen erfüllten Augenblick miteinander erleben. Doch
der Höhepunkt kommt noch.
• Lesung aus „Tschick“: S. 175“Jetzt denken alle, wir wären 1910 dagewesen“
bis S. 176: „da haben wir’s dann nicht gemacht“.
Freundschaft, menschliche Nähe, so entdeckt Maik, ist Nähe auf Zeit und will
doch eigentlich Dauer. Die Ahnung des möglicherweise bald bevorstehenden
Endes ihres Zusammenseins wird durch eine Verabredung in 50 Jahren gemildert
im Wissen um die bis dahin sicherlich völlig veränderten Umstände. Ein erstes
Gespür für das Vergehen von Freundschaft und Jugend streift die drei und be-
wahrheitet sich dann schon beim Abstieg, als Isa mit einer Reisegruppe zu ihrer
Halbschwester nach Prag entfleucht.“ Ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen
würde oder frühestens in fünfzig Jahren.“
• Lesung aus „Tschick“: S. 209“ Seit ich klein war“ bis Ende Seite 209“… was
los war“.
»Seit ich klein war, hat mir mein Vater beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die
Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht.«
Das hat Maik allerdings nicht nur von seinem Vater gelernt, sondern schein-
bar die ganze Welt der Erwachsenen ist davon überzeugt. Lehrer. Reporterinnen.
Nachrichtensprecher. Alle, die durch ihre Tätigkeit das Leben anderer Menschen
prägen, scheinen sich einig: Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht.
Und jetzt passiert es, dass die beiden Jugendlichen entdecken: entweder sie hat-
ten wahnsinnig Glück, dass sie nur dem einen Prozent guter Menschen begegnet
sind, oder aber an dieser Erwachsenentheorie ist etwas faul.
»Werdet wie die Kinder!« hat Jesus gesagt. Vielleicht genau aus diesem Grund.
Weil sie genau wie Maik und Tschick durchs Leben gehen. Neugierig, abenteuer-
lustig, vielleicht ein bisschen naiv, aber mit einem soliden Grundvertrauen, dass
schon alles irgendwie klappt. Sie schaffen es irgendwie, nicht nach versteckten
negativen Botschaften in den Aussagen anderer zu suchen. Vielleicht sind sie ja
gar nicht nur an »gute Menschen« geraten. Aber irgendwie haben sie es geschafft,
in diesen Menschen das Gute zu sehen. Und oft ist das der erste Schritt. Wenn ich
erfahre, dass mich jemand als gut ansieht, mir nicht misstraut, sondern mir Dinge
zutraut – dann passiert etwas mit mir. Dann erkenne ich, dass die Welt nicht nur
schlecht ist, sondern dass ihr ein Zauber innewohnt. Dass sie eine Schönheit hat,
die manchmal wie ein Schatz gehoben werden muss. Und dann bekommen wir
Lust, durch unsere Worte und Taten diesen Schatz zu heben.
162 18 „Tschick“
• Musik
Fürbittengebet:
Guter Gott,
schenke uns Vertrauen.
Schenke uns Vertrauen in Dich und in deine Menschheit.
Schenke uns den Kraft, den nächsten Schritt zu tun.
Schenke uns den Mut, aufzubrechen, auch wenn wir nicht genau sehen, was auf
uns zukommt.
Nimm unsere Zweifel und verwandle sie in Zuversicht.
Gott des Himmels und der Erde, nur zusammen sind wir ganz; in der Beziehung zu
Dir und zu anderen werden wir zu den Menschen, wie Du sie Dir vorgestellt hast
zu Anbeginn der Schöpfung. Stärke uns darin, Dein Schöpfungswerk, Menschen,
Tiere, Natur, zu bewahren und zu erhalten, damit das Leben für alles Leben eines
in Fülle ist.
Vater Unser…
• Segen
Filmanhang
Filmgottesdienste:
Alles steht Kopf (Pete Docter, USA 2015)
Arrival (Denis Villeneuve, USA 2016)
Biutiful (Alejandro González Iñárritu, Mexiko/Spanien 2010)
Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück (Matt Ross, USA 2016)
Mad Max – Fury Road (George Miller, USA 2015)
Nokan – Die Kunst des Ausklangs (Yojiro Takita, Japan 2008)
Tribute von Panem – The Hunger Games (Gary Ross, USA 2012)
Tschick (Fatih Akin, D 2016)