Sandra Lehmann - Wirklichkeitsglaube Und Überschreitung (Turia + Kant 2012)
Sandra Lehmann - Wirklichkeitsglaube Und Überschreitung (Turia + Kant 2012)
Sandra Lehmann
Wirklichkeitsglaube und
Überschreitung
Entwurf einer Metaphysik
ISBN 978-3-85132-661-1
A. Entwurf I: Präliminarien
I. Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Das Dass-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2. Logische und quodditative Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 31
3. Wirklichkeitsglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
4. Wirklichkeit und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
I. Der Wirklichkeitsglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
1. Verwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
2. Phänomenale Ensembles und Subjektstelle . . . . . . . . . . . 103
3. Das »Wirkliche« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
a. Die Rede vom »Wirklichen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
b. Schein und Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
c. Wirkliche Verwirklichung: Poiesis . . . . . . . . . . . . . . 109
d. Das Prädikat »wirklich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
4. Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
a. Leib und Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
b. Die Integrität des leiblichen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . 117
c. Ethische Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
d. Belebtes und Unbelebtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
5. Ethisches und Sprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
III. Praxis der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
allerdings zeigen, dass sich Wirklichkeit keinesfalls in diesen
thematischen Kategorien erschöpft, sondern sie vielmehr
ermöglicht und zugleich übersteigt. Allein um dieses trans-
zendierende Moment der Wirklichkeit zu sehen und damit
ihren vollständigen Begriff zu gewinnen, ist es jedoch nötig,
den Bezug der Wirklichkeit zum Bereich der »wirklichen
Erfahrung«, d. i. zum Phänomenalen zu berücksichtigen, ja
ihn als einen wesentlichen, obgleich reduzierten Aspekt von
Wirklichkeit zu beschreiben. Aus der Entscheidung für einen
Wirklichkeitsbegriff, der an phänomenaler Praxis ausgerichtet
ist, resultiert auch, dass diese Arbeit das Wahrheitsproblem
zurückstellt oder genauer, es im Wirklichkeitsproblem auflöst,
mit der Folge, dass Wahrhaftigkeit für sie Vorrang vor Wahr-
heit hat. Wahrhaftigkeit impliziert Wahrheit. Hingegen ist
Wahrheit ohne Ethos der Wahrheit, also ohne Rückbindung an
den transzendierenden Wirklichkeitssinn der Praxis wertlos.
2 . D i e A r i stot e l i s c h e Ko n st e l l at i o n
1 Die Überlegungen beziehen sich auf das Buch IX der Metaphysik, vor
allem die Kapitel 6-8. Ebenfalls wichtige Passagen finden sich in Buch
II, 1-5 von De anima (Über die Seele). Die angegebene Relation der drei
Begriffe ist vorgezeichnet in Martin Heideggers Interpretation der genann-
ten Arbeiten von Aristoteles, vor allem in der 1931 gehaltenen Vorlesung
Aristoteles: Metaphysik IX, 1-3 (GA 33).
des Lebendigen geschieht das etwa, wenn ein Seiendes zu
einer bestimmten Gestalt wächst, die seinem Phänotyp (oder
Begriff) entspricht. Andererseits jedoch bleibt die Verwirkli-
chung offen, denn auch das im ersten Sinne Verwirklichte ist
weiter im Werden. Solange es existiert, ist es durchzogen von
Möglichkeiten, auf die es sich richtet. Dieser zweite Begriff von
Verwirklichung ist ontologisch fundamentaler, denn er gibt die
Seinsweise des endlichen Seienden an. Das endliche Seiende ist
zerfurcht von Nicht-Wirklich-Sein oder auch, im oben ange-
gebenen Sinn, von Nicht-Sein. Die Bewegung der endlichen
Entitäten, die ihnen wesensmäßig zukommt, beruht auf der
Differenz, in der sie zum Sein sind, obgleich sie voll und ganz
im Sein und durch Sein bestimmt »sind«. Die Arbeit geht auf
die bei Aristoteles vorgezeichnete Verwirklichungsproblematik
zurück, insoweit diese Endlichkeit und Wirklichkeit auseinan-
derhält und zugleich ineinander schlingt. Das Verhältnis der
Verschlingung zwischen beiden gilt es zu bestimmen.
Allerdings hat Aristoteles (wie auch die lange Kette seiner
Nachfolger) die ontologische Anlage der genannten Konstel-
lation nur teilweise erfasst. Wie bemerkt, fallen bei ihm Wirk-
lich-Sein und Sein zusammen. Hieraus resultiert eine problema-
tische Verdopplung des Seins, das zugleich Sein als solches und
Sein des endlichen Seienden ist. Als letzteres zeichnet es die
Verwirklichung des Seienden vor und gibt ihm Bestimmtheit,
als ersteres dagegen liegt es jenseits des Möglichkeitsraums der
endlichen Entitäten, obgleich es ihren Daseinsgrund bildet. Es
gibt hier offensichtlich eine Differenz im Sein, das einmal Sein
des Seienden ist, zum anderen aber radikal von ihm geschieden
und gleichsam außerhalb seiner selbst ist.
Nach dem Vorschlag dieser Arbeit lässt sich die damit
gegebene Paradoxie des Seins nur lösen, wenn man das Sein
als solches zu einem bloßen Operator des Denkens macht und
seine transzendente Stellung dem Wirklich-Sein zuschlägt. Das
Sein stellt sich so auf zwei Weisen dar, die phänomenal, d. h.
für die Konstitution des Seienden, unhintergehbar sind. Zum
einen ist es Sein der Bestimmung des Seienden, zum anderen
ist es transzendentes Wirklich-Sein. Um beide Weisen des Seins
adäquat zu fassen, ist ihnen ein je eigenes Register zuzuweisen.
Das Sein der Bestimmung (oder genauer: das Sein des Seienden,
insofern dieses bestimmt ist) steht im Register des »Was«, das
Wirklich-Sein (genauer: das Sein des Seienden, insofern dieses
da ist) im Register des »Dass«. Beide Register ergänzen sich,
ja ragen phänomenal ineinander. Jedes Seiende ist bestimmt
auf der Grundlage seines Dass, also darin, dass es ist. Ebenso
ist es als Bestimmtes offen für seine Verwirklichung, sein Was
hat also Transzendenzbezug. Wenn die Wirklichkeit als Quod-
ditas (Dass-Sein) dennoch Vorrang vor der Bestimmung hat,
hängt das damit zusammen, dass das Seiende vom Dass her in
die eigene Endlichkeit gestellt wird. Es bekommt darüber die
Grenzen dessen vorgezeichnet, was es sein kann, jedoch ohne,
dass die gegenständlichen Grenzen des Was das Dass des Sei-
enden oder seine Wirklichkeit ausschöpften. Das Aristotelische
Dreieck von energeia, dynamis und entelecheia ist damit neu
gefasst, denn die Wirklichkeit ist nun das transzendente Telos
des Seienden, auf das dieses in seiner Bestimmung und zugleich
über sie hinaus bezogen ist.
das der christlichen Theologie. Mit Aristoteles bestimmt diese
das höchste und eigentliche Sein als die reine Wirklichkeit,
der gegenüber die endliche Sphäre des Menschen defizitär ist.
Hieraus ergibt sich eine Lebensordnung, die in allen Bereichen
– gesellschaftlich, politisch, aber auch hinsichtlich der indivi-
duellen Seelsorge – den defizitären Charakter des Menschen
festschreibt. Indem sie die endliche Heillosigkeit mit der Voll-
kommenheit Gottes vermittelt, hält sie die Spanne offen, die
zwischen beiden liegt. Jenseits der Vermittlung ist die mensch-
liche Wirklichkeit »wie Nichts«, und zwar im schärfsten meta-
physischen Sinn, denn sie ist Sein, das zum Nicht-Sein tendiert.
Ohne göttlichen Beistand muss der Mensch daher nach Ablauf
der Endlichkeit, wenn die Verhältnisse sich klären, ganz ans
Nicht-Sein fallen. Die ewige Verdammnis ist der Fluchtpunkt
der Endlichkeit, an dem sie sich in ein Sein auflöst, das nur
noch als Nicht-Sein besteht. Die irdischen Mühen und Qualen
bezeugen, dass die endliche Wirklichkeit an sich selbst genom-
men schon ganz im Bann des nachweltlichen Infernos steht.
Die neuzeitliche Entdeckung der Erfahrungswelt bricht
mit der übergeordneten, göttlichen Wirklichkeit. An die Stelle
der christlichen Dogmen tritt die mathematisierte Auslegung
der Natur. Mathematisch gedeutet, erweist sich die Erfah-
rungswelt als ebenso streng und notwendig strukturiert wie die
Formeln, die man für sie findet. Sie ist durch innere Geschlos-
senheit und Selbstgenügsamkeit charakterisiert, die sich in rati-
onaler Schlüssigkeit ausdrücken.
Auch wenn die mathematisch-rationale Seinsdeutung
durch ihre eigenen formalen Prämissen beschränkt ist, besteht
ihr epistemisches Recht darin, eine Immanenz des Seins zu
betonen, der sich kein »höheres Sein« überordnen lässt. Ent-
sprechend ist der Wirklichkeitsbegriff innerhalb eines einzigen
Seins zu entwickeln. Wie bereits gesehen, bedeutet das nicht,
die Rede von Transzendenz gänzlich aufzugeben. Es heißt
jedoch, dass Transzendenz niemals als reine Transzendenz
zugänglich werden kann, die sich als ein schlechthin Anderes
oder Jenseits zum Sein des Seienden verhält, sondern einzig
als innere Transzendenz des einen phänomenalen Seins. Diese
Arbeit hat so eine zugleich positive wie negative Relation zu
ihren beiden Bezugspolen, dem theologischen Wirklichkeits-
modell einerseits, und dem neuzeitlichen immanenten Ansatz
andererseits.
Einerseits geht sie gegen die theologische Transzendenz-
auffassung, um gleichwohl an der Transzendenzdimension des
Seins festzuhalten. Dies schließt ein, dass die Arbeit Themen
der christlichen Theologie übernimmt, ihnen aber ein anderes
formales Profil gibt. Zentral ist dabei der Gedanke der Integri-
tät des Seienden ungeachtet der »Gewalt der Endlichkeit«, die
sein Erscheinen kennzeichnet.
Andererseits ist der Bezugspunkt der Arbeit zwar die
Immanenz der endlichen Seinserfahrung, aber sie versucht zu
zeigen, inwiefern sich in der Immanenz ein Überschuss zum
Endlichen auftut. Das phänomenale Sein ist so zwar das ratio-
nal beschreibbare All der Gegenstände, aber es ist dies gerade
darin, dass es einen nicht-gegenständlichen Horizont hat, der
seine Ganzheit einräumt und markiert.
Das Verfahren, die »Wahrheit der Religion«, insbesondere
der jüdisch-christlichen Tradition, auf ein immanentes Sein
zu beziehen, zeichnet die neuzeitliche Philosophie aus, wo sie
integral vorgeht, d. h. ontologische Theorie und menschliche
Praxis in einem einzigen großen Entwurf zusammenführt. Lei-
tend ist dabei der Gedanke, dass das, was das Denken als fun-
damentale Zusammenhänge des Seins eingesehen hat, immer
auch angibt, wie das (menschliche) Sein sein soll. Vor allem
die Philosophie Hegels hat diesen Gedanken, der zugleich
Anspruch ist und schon das Mündigkeitspathos der Aufklä-
rung bestimmt, reflexiv durchgearbeitet und zum »System«
objektiviert. Wie sich deutlich zeigen wird, ist die vorliegende
Arbeit sowohl methodisch als auch in der Ausführung weit von
der durch Hegel etablierten »Totalität der Vernunft« entfernt.
Dennoch folgt sie Hegel darin, das Sein mit der Verwirklichung
des Menschen zusammenzubringen, nämlich beide im Termi-
nus der Wirklichkeit, der sowohl einen konstitutiven als auch
einen teleologischen Sinn hat, aufeinander zu beziehen. Der
immanente Imperativ des Seins, der sich hieraus für die Arbeit
ergibt, ist der einer »Totalität des Lebens«. In diesem Impera-
tiv stellt sich der ontologische Ganzheits- oder Wirklichkeits-
bezug des Menschen phänomenal dar. Er gibt die Richtung vor,
in der sich der Mensch von der falschen Geschlossenheit seiner
bestehenden Lebensverhältnisse losmachen kann, um so zu
werden, was er ontologisch schon ist, nämlich über sie hinaus.
Die »Totalität des Lebens« lässt sich auch fassen als »Glück«.
a. Konstruk tivismus
dert das Ich jedoch nicht daran, eine »transphänomenale Welt«
oder – nach Roths begrifflicher Unterscheidung – »Realität« zu
denken (genauer müsste man sagen: durch das Gehirn gedacht
zu bekommen), die dem Gehirn aufnötigt, Wirklichkeit so zu
konstruieren, dass der menschliche Gesamtorganismus überle-
bensfähig ist. Das Wissen von dieser Realität bleibt rätselhaft.
Roths Verweis auf eine Empirie, die den Organismen abver-
langt, sich an Umweltbedingungen anzupassen, genügt nämlich
nicht, weil die Empirie selbst »Wirklichkeit« in Roths Sinne
ist. Nur deswegen kann sie überhaupt Gegenstand einer (biolo-
gistischen) Deutung sein. Der rigide Zweckrationalismus, den
Roth verfolgt, macht solche Zusammenhänge aber nicht sicht-
bar. Roths Wirklichkeit ist daher auch unvollständig. Basale
Lebensfunktionen finden in ihr gut Platz, dafür aber keine
basalen logischen Formen, wenn man von der Kausalrelation
absieht. Der Sinnbegriff, ohne den eine Reflexion über Wirk-
lichkeit kaum auskommen kann, wird komplett ausgeblendet.
Man könnte diese theoretischen Defizite ruhig konstatie-
ren und als Hinweis darauf nehmen, dass die durch Roth ver-
tretene Fusion von Physikalismus und Konstruktivismus nicht
funktioniert. Jede Theorie hat aber einen praktischen Mehr-
wert, sie formuliert Weltbilder, die vorgeben, wie menschliches
Leben nicht nur erschlossen, sondern auch organisiert werden
kann. Die biologistischen Hermeneutiken, die in den letzten
Jahren ein immer breiteres öffentliches Interesse gewonnen
haben und zu denen auch Roths Entwurf zählt, mögen dem
Bedürfnis nach einfachen Interpretationslinien in einer Welt
entgegenkommen, deren Gefüge als unüberschaubar gefürchtet
wird. Was aber ist der Mensch aus biologistischer Perspek-
tive? – Ein Daten verarbeitender Organismus in einer Umwelt,
die Anpassung verlangt, damit das einzig denkbare Ziel der
Lebens- und Überlebenssicherung erreicht wird. Gesellschaft-
lich gewendet ergibt sich hieraus eine verkümmerte Welt, in
der Konformität und darüber hergestelltes Funktionieren die
zentralen Richtwerte sind.
b. Dekonstruk tivismus
b 1. D e r E i n f l u s s H u s s e r l s
wohl am nachhaltigsten in den Fundamenten der dekonstruk-
tivistischen Theorie weitergewirkt. Der Ausgangspunkt für die
dekonstruktivistische Wirklichkeitsdiskussion lässt sich jeden-
falls mit Husserl markieren.4
Wirklichkeit ist für Husserl zunächst der universale
Bereich der Sinngestalten, in den die menschliche Erfahrung
involviert ist und den die philosophische Reflexion in seinem
genauen Aufbau analysieren kann. Die Stärke dieses Ansatzes
liegt darin, dass Wirklichkeit als Sinnsphäre sowohl das Eigen-
recht der Gegenstände als auch dasjenige der Erfahrung wahrt
und sie doch beide aufeinander bezieht. Die Gegenstände sind
also nicht zu reduzieren auf eine sie hervorbringende Instanz,
sie sind an sich selbst da. Ebenso wenig ist die Erfahrung auf
die äußere Prägung der Gegenstände angewiesen, ohne die sie
leer wäre. Beide genügen sich in ihrer Sinnhaftigkeit. Zugleich
überschneiden sie sich in ihr. Der Sinn eines bestimmten Gegen-
standes ist auch der Sinn der Erfahrung dieses Gegenstan-
des. Anders als bei Kant, an dessen berühmte Formulierung
(KrV B197: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der
Gegenstände der Erfahrung«) die Überlegung erinnert, ist der
transzendentale Ermöglichungsgrund dieses Zusammenhangs
nicht subjektiv, sondern hat zunächst den Status einer reinen
»Gabe«. Wirklichkeit ist, was sich selbst im Sinn als Erfah-
rungswelt erscheinen lässt, d. h., Wirklichkeit ist der transzen-
dentale Grund der Erfahrungswelt und als solcher jederzeit in
deren Dasein zugegen.
Die Probleme von Husserls Phänomenologie entste-
hen daraus, dass sie den transzendentalen Sinncharakter der
Erfahrungswelt nicht deutlich genug von den diversen Modi
unterscheidet, in denen diese »da« ist, sich vollzieht oder auch
4 La voix et le phénomène (dt. Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/
Main: Suhrkamp 1979), eine der drei ersten großen Arbeiten, mit denen
Derrida 1967 an die Öffentlichkeit trat, gilt nicht zufällig einer Kritik der
an idealen Sinngestalten oder »eide« ausgerichteten Bewusstseinsphiloso-
phie Husserls.
erfahren wird. Die Eidetik, die sich auf den Sinngehalt der
Erfahrungsgegenstände richtet, konfligiert mit der Veränder-
barkeit und Uneindeutigkeit, der alles Erfahrene unterliegt.
Mit Husserl kann man so einerseits sagen, dass das Erfahrene
seinen Sinn entfaltet, indem es wird und sich so in einem Sys-
tem aufeinander verweisender Bedeutungen situiert. Ande-
rerseits jedoch kann Sinn aufgrund seines für Husserl idealen
Charakters nicht in den diversen Bedeutungen aufgehen, die er
gegenständlich, also als Sinn bestimmter Phänomene annimmt.
Das Eidos der Gegenstände und die Weisen, in denen es sich
gibt, liegen auseinander.
Husserl selbst versuchte diese Schwierigkeit durch die
Supposition eines transzendentalen Subjekts zu lösen, das den
Sinngehalt der Erfahrungswelt gegen ihre verschiedenen Bedeu-
tungsgestalten garantieren soll. Damit jedoch fällt er hinter die
Grundstellung zurück, die er ursprünglich bezog und aus deren
Perspektive sich Wirklichkeit von sich selbst her entfaltet.
Zwar hält er weiter daran fest, dass Wirklichkeit in konstitu-
tivem Sinne »vor« dem erfahrenden Ich und den erfahrenen
Gegenständen liegt. Jedoch tut sie das nicht länger von sich
selbst her, sondern weil ihr ein transzendental-phänomenolo-
gisches Bewusstsein eingelegt ist, das sie in Geltung setzt. Die
alte Dichotomie des Seins reißt so erneut auf, denn die Gegen-
stände sind an sich selbst, d. h. ohne die Instanz des Bewusst-
seins, wieder als sinnlos zu denken, auch wenn es transzen
dental-phänomenologisch gesehen ein Sein ohne Bewusstsein
nicht geben kann.
der Entfaltung. In Sein und Zeit heißt es denn auch: »Als der
Sinn des Seins des Seienden, das wir Dasein nennen, wird die
Zeitlichkeit aufgewiesen«.5
Die dekonstruktivistische Theorie übernimmt Heideggers
Monismus der Temporalität und entwickelt ihn weiter. Die
Betonung der Endlichkeit des Seins wird umgelegt auf Medi-
tationen, die von einer immer abwesenden Präsenz, von einem
inneren Entzug des phänomenal Gegebenen handeln. Durch
das Entzugsmoment sind die Phänomene nicht-identisch mit
dem, als was sie erscheinen und thematisiert werden können.
Die Differenz, in der sie zu sich selbst stehen, verweist sie über
sich hinaus auf neue Konstellationen des Erscheinens, in denen
sie sich aber wiederum entzogen bleiben.
Dabei gewinnt der dekonstruktivistische Theorietyp sein
Profil durch Wegstreichung. Wirklichkeit ist mit Husserl und
Heidegger als Sphäre des Sinns vorausgesetzt. Die Frage nach
der Sinnhaftigkeit und ihrem möglichen Aufweis jedoch wird
ausgeblendet. Sinn wird zu einem Moment der Bedeutungen
des Seienden, ja es muss sogar scheinen, als generiere er sich
erst aus den Bedeutungen. Nur so ist es etwa möglich, dass in
der Theorie Jacques Derridas die Zeichen nicht bloß als Bedeu-
tungsträger vorkommen, sondern – indem sich Sinn nach Der-
rida erst über sie »aussprechen« kann – die eigentlichen Sinn-
konstituenten sind. Da Derrida mit Heidegger von der meta-
physischen Vorstellung einer jenseits des erfahrungsweltlichen
Prozesses liegenden idealen Präsenz der Gegenstände wegkom-
men will, bleibt nur die »Selbstgebung« des Seienden übrig,
und zwar so, wie es erfahrungsweltlich anzutreffen ist, nämlich
als ein Bedeutendes, das nie isoliert vorkommt, sondern dem
in einem interreferentiellen Feld der Bedeutungen je Bedeutung
zugewiesen wird. Der Sinn der einzelnen Bedeutung wandelt
sich mit den Bewegungen des Bedeutungsfeldes, er bezeugt die
Fluktuation. Wie bei Heidegger, nur zeichentheoretisch kon-
kreter, ist er die Funktion der Bedeutung im Bedeutungssystem.
Als eine höherrangige konstitutive Größe dagegen ist er getilgt.
Wenn Sinn differenzlos ins temporale Erscheinen der
Gegenstände einbezogen wird, verfällt auch die Wirklichkeit,
die phänomenologisch seine eingestammte Sphäre ist, der
Logik der Zeit. Entsprechend trägt sich Wirklichkeit dekon-
struktivistisch im Wirklichkeitsverlust zu. Die Phänomene
sind ruhelose Elemente einer Halbwelt, in der sie nur beste-
hen, indem sie nie ganz bestehen. Man kann hier beobachten,
wie Husserls Ausgangsfigur einer Verbindung von Welt und
Erfahrung im Ereignis der Sinngebung buchstäblich als Schat-
ten fortlebt. Ohne transzendentalen Sinn nämlich lösen sich
Erfahrung wie Welt auf. Das erfahrende Ich kann sich dessen,
was es über die Welt sagt, nicht sicher sein und ist in ein rast-
loses Spiel der Perspektiven gezwungen. Hingegen werden die
Gegenstände substanzlos. Da es keine Sinngestalt der Phäno-
mene vor ihren Bedeutungen gibt, ist Husserls Vorstellung ihrer
»Selbstgebung« hinfällig geworden. Was bleibt, ist ein leerlau-
fender Logos, der sich an nichts als seiner eigenen Bewegung
festmachen kann und der ins Nichts stürzte, sobald sie endete.
Die dekonstruktivistische Theorie hat stets bestritten, es
handele sich bei ihr um eine Variante negativer Theologie. Das
stimmt, weil der Dekonstruktivismus nicht von der Unprädi-
zierbarkeit eines jenseits der Prädikation dennoch positiven
Seinsgrundes handelt. Derridas »Différance« – um die wich-
tigste dekonstruktivistische Denkfigur zu nennen – ist radikal
wesenlos, sie ist die bloße Funktion der Verschiebung des
Seinssinns, eine Art arbeitendes Nichts, das dem Erscheinen
integriert ist und es sein lässt, um es zugleich auszuhöhlen.
Auch wenn die Dekonstruktion damit den Gedanken an ein
Göttliches, das über dem Endlichen liegt, ausschließt, kehrt
in ihr jedoch ein theologisches Motiv wieder, nämlich das
der Defizienz des endlichen Seins. Der neuzeitliche Anspruch
einer Grundlegung der Erfahrung allein aus dem, was sich
in der Erfahrung selbst aufweisen und von da aus strukturell
beschreiben lässt, erweist sich dekonstruktivistisch als unein-
lösbar, weil die Erfahrung von einem abgründigen und nicht
prädizierbaren Moment bestimmt ist. Sie entzieht sich einer
rationalen Fundierung in dem Maße, wie sie selbst durch einen
inneren Entzug organisiert wird. Anders als in der Theologie
allerdings wird dieses Moment einer rationalen Unverfüg-
barkeit von Erfahrung und Erfahrungswelt nicht durch eine
höhere Verfügungsinstanz aufgefangen, sondern bleibt als das
Signum einer letztlich leerlaufenden Vernunft stehen.
Dem Dekonstruktivismus lässt sich anrechnen, dass
zumindest seine Stellung gegen den Konstruktivismus eindeutig
ist. Der Konstruktivismus zieht Wirklichkeit auf eine zweck-
rational gedeutete Natur zurück. Die Emanzipation von einer
höheren, göttlichen Wirklichkeit ist erreicht um den Preis, dass
auch der Mensch der eingeschränkten, obgleich formalistisch
stringenten Sphäre zugeschlagen wird, die die Naturgesetze
erfassen. Dagegen kann der Dekonstruktivismus zeigen, dass
die biologistischen Wirklichkeitsdiskurse entgegen ihrer Prä-
tention nicht eine verifizierbare Auslegung der Natur bieten
und bieten können. Als in sich abgründiges Sinngeschehen sind
sie vielmehr durchlässig für wissenschaftsfremde Interessen,
sodass sie bestimmten Formen von Herrschaft zuarbeiten, etwa
solchen, die Menschen zu manipulierbaren und kontrollier-
baren Organismen degradieren. Jedoch ist die »Hermeneutik
des Verdachts« selbst die ultima ratio der Dekonstruktion. Sie
kann daher zwar die Logik der falschen Ansprüche aufbrechen,
zerlegen und bloßstellen. Sie kann aber nicht angeben, worin
das positive »Andere« des Falschen liegen, wohin man sich
gegen es wenden könnte, in welchem Sinn sich gegen es auf-
begehren ließe. Der dekonstruktivistische Denktyp erschöpft
sich so in der bloß virtuellen Sabotage der Umstände, die ihn
dennoch überwölben und einschließen. Ungeachtet des dekon-
struktivistischen Prozederes nämlich, das an ihnen den Entzug
der Wirklichkeit inszeniert, behaupten sie sich als die faktische
Wirklichkeit. Ihr gegenüber kann der Dekonstruktivismus nur
Schattengefechte führen, und zwar schon allein deswegen, weil
ihm ein Begriff des Faktischen fehlt. Das Faktische inszeniert
statt des Entzugs die Präsenz, auf die sich trotz des Entzugs
rekurrieren lässt. Indem der Dekonstruktivismus Präsenz im
Entzug fragmentiert, entbehrt er selbst einer kontrafaktischen
Kraft.
II. Konzeptioneller Überblick
einfachsten Abriss komplexer Zusammenhänge. Im weite-
ren Verlauf der Arbeit und vor allem im zweiten Durchgang
(Entwurf II: Systematik), der auf der Skizze aufbaut, sollte die
Anlage der Konzeption jedoch klarer werden.
1. Das Dass-Sein
Dieser Zusammenhang wird in der Relation zwischen
Mensch und Dass-Sein fassbar. Das Dass-Sein ist an das
menschliche Bewusstsein geknüpft, aber dieses bringt jenes
nicht hervor. Die Einsicht, »dass ich bin« oder »dass x ist«, ist
dem Dass selbst nachträglich, obwohl sie es für das denkende
Ich aktualisiert. Auch in der Aktualisierung liegt das Dass-Sein
unhintergehbar voraus. Die Reflexion der Sprache, die Denken
ist, erreicht immer nur die Grenze zur eigenen Möglichkeitsbe-
dingung, sie fällt nie mit dieser zusammen. Allenfalls kann das
Denken die für seine Voraussetzungen geltenden Verhältnisse
klären, also etwa zeigen, wie sich der Begriff des Dass-Seins zur
Sinnhaftigkeit verhält, die das Dass-Sein vorbegrifflich ermög-
licht, also wie das Dass-Sein in der Sprache auseinandertritt
und doch ein einziges bleibt. Die Frage des Zusammenhangs
von Denken und Dass-Sein wird in dieser Arbeit eine genaue
Erörterung verlangen, ja wird sie im Grunde nie verlassen.
Wird das Dass-Sein im angegebenen Sinne als »Wirklich-
keit« gefasst, kommt es zu einer Trennung zwischen Wirklich-
keit und Erfahrungswelt. Der Gedanke einer Selbstgebung der
Wirklichkeit als Erfahrungswelt, der die entscheidende Leis-
tung von Husserls Phänomenologie war, scheint damit zerstört.
Man könnte sogar eine Wiederaufnahme der platonischen
Metaphysik vermuten, der zufolge die »ideale« und Wahrheit
ermöglichende Wirklichkeit von der scheinhaften, »doxischen«
Erfahrungswelt unterschieden wird. Gegen den platonischen
chorismos deutet diese Arbeit das Dass-Sein jedoch nicht als
übergeordnete, sondern als immanente Voraussetzung der
Erfahrungswelt. Das Dass-Sein ist nicht von der Erfahrungs-
welt geschieden. Es ermöglicht ihr vielmehr zum einen, als
Erfahrungswelt zu erscheinen, und bleibt zum anderen in ihr
präsent als der Sinn, der sie durchquert. Die Erfahrungswelt
ist also weiter wie bei Husserl der Bereich einer Auslegung, in
der die »subjektive« und die »objektive« Seite je schon aufein-
ander verwiesen sind. Dem Verweis ist aber jetzt das Dass des
Verweises beigegeben, das die Verbindlichkeit der erfahrungs-
weltlichen Bedeutungsgestalten garantiert.
Allerdings schöpfen die endlichen Phänomene nie voll-
ständig aus, was ihnen qua Dass als Raum einer möglichen
Ganzheit mitgegeben ist. Als ganze wären die Phänomene
sowohl in totaler Präsenz da als auch vergleichslos, d. h. von
jeder Notwendigkeit, auf einen Begriff bezogen zu werden,
gelöst. Sie wären totale Einzelne in der Totalität aller Einzel-
nen. Das reine Dass, in dem solche Ganzheit liegt, besteht aber
phänomenal nur als Voraussetzung und Fluchtpunkt des erfah-
rungsweltlichen Seins. Der spezifische Gegenstand begegnet so
wenig je als ganzer, d. h. in der Ganzheit der auf ihn gehenden
Perspektiven, wie er je den Inbegriff seiner Gegenständlichkeit
verkörpert. Eben das macht seinen Werdenscharakter und
seine Spezifität aus. Er bleibt also in unüberwindbarer Distanz
zum reinen Dass, ein Partikulares, das auf Ganzheit bezogen
ist, aber sie primär an die allgemeine Form des Begriffs binden
muss.
Vor dem Hintergrund der Gebrochenheit des Endlichen
und der nur formal anzugebenden Fülle des Seienden in sei-
nem Dass-Sein lässt sich die Trennung von Erfahrungswelt und
Dass-Sein als diejenige von Verwirklichung und Wirklichkeit
bestimmen. Die Erfahrungswelt ist die Sphäre der Verwirk-
lichung, das Dass-Sein dagegen die der Wirklichkeit. Die
»ontologische Differenz«, die Heidegger zwischen Sein und
Seiendem zog, lässt sich so anders bestimmen, nämlich als die
Differenz zwischen dem phänomenalen Sein einerseits und dem
es einräumenden, durchquerenden, überbietenden Dass-Sein
andererseits. Allerdings ist das Dass-Sein an das Phänomenale
zurückgebunden, es ist Dass-Sein des Phänomenalen oder auch
des Seins der Sprache. Das Dass-Sein »ist« daher aus phäno-
menaler Perspektive die Wirklichkeit.
Dies schließt ein, dass bis zu einem gewissen Grad an der
Identität von Denken und Sein festzuhalten ist. Jedoch setzt die
Identität das voraus, was schlechthin nicht in ihr aufgeht, näm-
lich die Selbstoffenbarung des Seins des Seienden. Als über-
schießender Sinn verhindert diese, dass das Denken je ganz mit
dem Seienden zusammenfiele. Vielmehr liegt das Seiende qua
Sinn gewissermaßen über sich selbst, d. i. über sein Erscheinen
hinaus. Das gilt auch für das Denken, das – wie noch zu sehen
ist – mit dem phänomenalen Sein qua Logos verbunden ist und
an ihm die Form des Erscheinens hat, inklusive des reflexiven
Sich-selbst-Erscheinens des Denkens.
2 . Lo g i s c h e u n d q u o d d i tat i v e P e r s p e k t i v e
Momente dieser Struktur oder logischen Grammatik als Iden-
tität, Endlichkeit und Fragmentierung zu bestimmen. In dyna-
mischer, also nicht bloß das Sein, sondern den phänomenalen
Seinsvollzug betreffender Perspektive sind sie um den tempo-
ralen Aspekt zu erweitern. Als Welt eröffnende Sprache bringt
der Logos das Seiende in endliche Zeitverhältnisse, in denen
das einzelne Seiende sowohl zu sich selbst wie zu anderem Sei-
enden steht. Der Formalismus der Logik muss diesen tempo-
ralen Aspekt einbeziehen, um vollständig zu sein, also um zu
markieren, inwiefern der Logos die Form der phänomenalen
Welt ist.
Die logische Perspektive muss phänomenal die erste sein.
Gleichwohl lässt sich ihr – durch eine Operation des Denkens
– eine von der Quodditas ausgehende, also quodditative Pers-
pektive vorschalten. Aus ihr werden die Voraussetzungen des
Phänomenalen sichtbar, die sich nicht mehr allein der Instanz
des Logos zuordnen lassen. Die Quodditas oder das Dass-Sein
wird so dreifach bestimmbar, nämlich erstens als die Ermög-
lichung des Erscheinens, zweitens als die bleibende Präsenz
des Sinns jedes Seienden und drittens als der im Sinn liegende
Fluchtpunkt jedes Seienden, der die Fülle von dessen Erschei-
nen vorzeichnet. Alle drei Hinsichten haben metaphysischen
Rang, denn sie erfassen, was nicht im Raum des Erscheinens
aufgehen kann und logisch »nach« (meta) ihm kommt.
Um die Beziehung zum Phänomenalen zu wahren, ist die
quodditative Perspektive dennoch stets vor dem Hintergrund
der logisch-phänomenalen Perspektive zu entwickeln. Das-
selbe gilt allerdings auch andersherum, weil sonst das innere
Transzendenzmoment des Phänomenalen verloren ginge.
Beide Perspektiven sind also zueinander und in Abmessung
aneinander zu entwickeln. Die hier vorgeschlagene Ontologie
changiert auf einem immer schon geteilten Grund zwischen
dem Logos als dem logisch Ersten und dem Dass-Sein als dem
konstitutiv Ersten. Sie zeigt, dass das phänomenale Sein keinen
Ursprung hat, sondern zwei Ursprungsinstanzen, die in einer
apriorischen Verschlingung je schon aufeinander verwiesen
sind. Das Ineinander von Logos und Quodditas ist die Grund-
bestimmung des phänomenalen Seins, es spreizt sich auf in die
Dimensionen von Was und Dass, die sich gegenseitig ergreifen
oder durchqueren.
Wie sich zeigen wird, erlaubt der Ausgang von dieser
Doppelgestalt einen neuen Zugriff auf Themen, die die philo-
sophische Diskussion bis in die Gegenwart beschäftigt haben,
nicht zuletzt, weil sie an die Grenzen des Logos führen. Das
betrifft etwa die Fragen der »Singularität«, der »Evidenz« oder
des »Ereignisses«.
3. Wirklichkeitsglaube
in seiner Empfindungslehre in konkrete kausale Verhältnisse
brachte: Die Gegenstände affizieren den Verstand und geben
ihm damit die Form ihrer möglichen Thematisierung vor.
Jacobi interessiert aber weniger die empiristische Kausal-
konstruktion als das, was sie für das subjektive Moment im
Subjekt-Objektverhältnis übriglässt. In Humes Treatise on
Human Nature findet er neben einer Analyse des Verstandes
den Begriff des »belief«. Hier schließt Jacobi eigenständig an
und bestimmt die menschliche Erfahrung nicht allein als eine
Erfahrung aus dem Verstand, sondern grundsätzlicher noch als
eine Erfahrung aus dem Glauben.6 Der Glaube an den Bestand
der Gegenstände ist für alle Erfahrungsbezüge unhintergehbar
und grundiert auch das Urteil, das als erfahrungsweltlicher Akt
selbst existiert. Jacobi gelangt zwar nicht dahin, von der im
Glauben statthabenden existenziellen Verbindung von Subjekt
und Objekt auf die Selbstgebung der Existenz zu schließen, die
der Subjekt-Objekt-Verbindung vorausgeht (das hat die spä-
tere Existenzphilosophie geleistet). Dennoch ist sein Denken
darin bedeutsam, dass es die Rolle des Existenz- oder Wirk-
lichkeitsglaubens gesehen und im Kontext der einschneidenden
erkenntniskritischen Wende Kants diskutiert hat.
Der systematische Entwurf dieser Arbeit wird mit dem
beginnen, was Jacobi als »Wirklichkeitsglaube« beschrieben
hat, es aber in der Folge anders interpretieren. Als Einstieg
eignet sich der Wirklichkeitsglaube vor allem aufgrund sei-
nes phänomenalen Charakters, denn er lässt sich ohne große
Umstände in den Erfahrungsbezügen aufweisen. In der Welt zu
sein und zu agieren, bedeutet unweigerlich, von ihrem Bestand
auszugehen. Der Zweifel entsteht erst auf einer späteren Stufe,
nämlich dann, wenn man sich reflexiv auf das eigene weltliche
Sein zurückbesinnt.
6 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben, oder
Idealismus und Realismus, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Bd 2,
Leipzig 1815. Die These ist, »daß Glaube das Element aller Erkenntnis und
Wirksamkeit« ist (edb., S. 163/164), wie es an zentraler Stelle heißt.
Diese Einsicht entlastet von der erkenntnistheoretischen
Skepsis und den aus ihr resultierenden Denkmanövern, die
dem sogenannten »Realismusproblem« gewidmet sind. Aller-
dings bleibt einerseits das theoretische Recht dieser Entlastung
zu erweisen. Andererseits wird sich zeigen, dass der Wirklich-
keitsglaube nicht so einfach ist, wie es zunächst scheinen kann,
weil sich die Wirklichkeit, von der er handelt, nicht auf die
Existenz der Gegenstände reduzieren lässt. Wirklichkeit ist
vielmehr als das zu verstehen, was auch für die Existenzerfah-
rung vorausgesetzt ist. In den Wirklichkeitsglauben spielt also
eine fundamentalere, mit Existenz oder Realität nicht mehr
zu identifizierende Wirklichkeit hinein. Entsprechend ist auch
der Wirklichkeitsglaube fundamentaler zu deuten, nämlich im
oben bezeichneten Sinne eines zweiten Erfahrungsmodus, der
dem Verstehen beiseite gestellt ist und gleich ihm einen ontolo-
gischen Stellenwert hat.
Dies bedeutet nicht, dass Verstehen und Glauben ohne
Berührung nebeneinander her laufen würden. Im Gegenteil, so
wie sich konstitutionstheoretisch Logos und Dass-Sein inein-
ander verschränken, sind auch Verstehen und Glauben stän-
dig aufeinander bezogen, denn die phänomenale Welt ist eine
einzige, sie zerfällt nicht in die Welt des Verstehens einerseits
und die des Glaubens andererseits. Entsprechend kann es auch
keine isolierten Glaubenswahrheiten geben, wie sie die christ-
liche Offenbarungstheologie behauptet. Gewiss klingt in der
für diese Arbeit zentralen Beziehung von Glauben und Sinn
oder genauer, in der Thematik des Glaubens als Instanz der
Sinnbeziehung das Grundthema christlicher Theologie an.
Es ist aber so aufzulösen, dass die Offenbarungstheologie als
eine Möglichkeit der conditio humana erscheint. Die Offenba-
rungen Gottes (oder was man als solche auffasst) verdanken
sich der Weise, wie der Mensch im Sein steht. Hierin liegt ihre
Wahrheit, aber ebenso ihr nur relativer Status.
Der oben mit Jacobi gegebene Hinweis, das Urteil sei als
Akt selbst etwas Existierendes, also in die Existenz des Sei-
enden eingelassen, führt auf die enge Verbindung von Wirk-
lichkeit und Praxis. Die Praxis (und nicht die Theorie) ist der
»Ort« im Sein, an dem die Phänomene fraglos da sind, ja an
dem es sogar unsinnig ist, nach ihrem Bestand zu fragen, weil
der Umgang mit ihnen sie unhintergehbar ausweist. In der
Praxis zeigt sich der fundamentale Rang des Wirklichkeits-
glaubens am deutlichsten, denn das Dass-Sein durchwirkt alle
praktischen Bezüge. Es liegt hier der fundamentalontologische
Ansatz nahe, den Umgang mit den Phänomenen als ein pri-
märes Verstehen zu deuten, in dem sich das menschliche »Im-
Sinn-Sein« expliziert. Allerdings fallen damit Sinn und Umgang
gleichsam in eins, d. h., der Umgang wird die Weise, in der
der Sinn ist, und die Praxis ist die ganze Wirklichkeit. Die
Phänomene sind nur, als was sie im Umgang erscheinen. Ihr
Sinn fließt in ihre gegenständliche Bedeutung, die ihn aufzehrt,
sodass auch die Möglichkeit, sie könnten mehr oder anders
sein, als sie faktisch sind, undenkbar wird.
Das Im-Sinn-Sein, das Praxis ist, ist daher über das Verste-
hen hinaus zu führen. »Im-Sinn-Sein« hieße dann zunächst, auf
die Vorzeichnung der Fülle der Phänomene bezogen zu sein.
Aus der Vorzeichnung beziehen die Phänomene zum einen die
Bedeutung, die sie im konkreten Umgang haben, sie werden
also von ihr aus verständlich. Zum anderen sorgt die Vorzeich-
nung dafür, dass sie in ihrer konkreten Bedeutsamkeit nicht
aufgehen, sie sind vielmehr immer mehr als sie sind. Es gibt
keinen Umgang, der ihnen restlos adäquat sein könnte. Pra-
xis ist zwar der primäre Modus der Zuwendung an die Phä-
nomene, kann sie aber nicht einholen; Praxis ist mit anderen
Worten Verwirklichung, die von Wirklichkeit durchzogen und
geleitet ist, aber zwischen beiden besteht keine Identität. Diese
fällt, sobald die Primärbeziehung zwischen Praxis und Logos
gekappt ist.
hat, muss auch die hier entwickelte Konzeption praktisch
zulaufen.
Die praktische Grundkonstellation lässt sich so angeben:
Die Welt ist endlich, und doch ist nicht nur jedes Handeln,
sondern sind die Weltbezüge insgesamt auf Erfüllung angelegt.
Erfüllung ist dabei noch kein Wert. Sie bezeichnet nur die Ten-
denz aller Phänomene, ganz als sie selbst präsent zu sein, denn
sie alle sind im Horizont des Dass-Seins und vom Dass-Sein
durchquert. Dies freilich ist eine spekulative Annahme, eine
Interpretation der Phänomene aus der Perspektive mensch-
licher Erfahrung. Sie drängt sich aber dadurch auf, dass der
Mensch das Dass-Sein als etwas Vorgängiges verstehen muss.
Das Dass-Sein aktualisiert sich so zwar im Verstehen, aber
davon unabhängig betrifft es die Phänomenalität insgesamt,
die im Verstehen »da« ist. Könnten etwa Steine oder Pflan-
zen verstehen, müssten auch sie den Horizont des Dass-Seins
erkennen, ohne ihn dadurch zu »machen«. Das Dass-Sein ist
die Funktion des Seins alles Seienden, insofern dieses kraft des
Dass-Seins phänomenal ist. Die scheinbare Ruhe des Steins
strebt also genauso nach Erfüllung wie das Wachstum der
Pflanze oder die Existenzbewegung des Menschen, der sich
handelnd auf sein eigenes Sein bezieht.
Nicht weniger allerdings sind die Phänomene von der
Bewegung des Logos betroffen, der sie definiert, d. h. ihnen
Grenzen setzt. Die Erfüllungstendenz hat daher immer auch
einen logischen Sinn, nämlich den der Geschlossenheit. Sie
wird gesetzt durch das zeitliche Ende, die Vernichtung, mit der
eine bestimmte Seinsphase zum Ganzen wird, jedoch ohne dass
das Ganze schon eine »Einkehr bei sich selbst« bezeichnete.
Die Ganzheit ist hier rein gegenständlich, das entstehende,
werdende, endende Sein eines Steins, einer Pflanze, eines Men-
schen etc.
Die Arbeit wird den Praxisbegriff in der Spanne von quod-
ditativer Erfüllungstendenz einerseits und gegenständlicher
Definität andererseits entwickeln. Ausgangspunkt ist dabei die
»ethische Struktur«, für die aufgrund der gerade bezeichneten
Spanne zwei Aspekte wesentlich sind, der der Integrität einer-
seits und der der Identität andererseits.
Die Integrität trägt der Sinngestalt als dem Konstituens
der Phänomene, das sie immer schon überbietet, praktisch
Rechnung, sie fasst die Phänomene, insofern sie qua Dass-Sein
einen überphänomenalen Fluchtpunkt haben. Sie selbst gehen
nicht in dem auf, als was sie erscheinen, sondern sind »mehr«.
In diesem Mehr, in der Vorzeichnung ihrer Fülle, sind und blei-
ben sie integer, d. h. unantastbar für alle Weisen des zeitlichen
Erscheinens.
Identität geht zwar auf Integrität zurück, gibt ihr aber
einen verendlichten Ausdruck. Das Integre erscheint als ein
identisches Eines gegen Anderes. Identität ist eine notwendige
Form des Phänomenalen, entsprechend sind auch ihre zentra-
len formalen Figuren phänomenal unhintergehbar. Diese Arbeit
bestimmt sie als Isolation, Aggression und Angst. Eine Praxis,
die dem Impetus der Integrität folgt, kann diese Formen auf-
schieben und darin aktuell überwinden, aber nicht aufheben.
Die ethische Struktur wird dadurch vollständig, dass sich
der Mensch zu seinem Sein verhält, also für sich selbst und die
ihn selbst wie auch das Phänomenale überhaupt charakteri-
sierenden Aspekte von Integrität und Identität offen ist. Die
Gewichtung liegt dabei auf der Identität, denn der Mensch
erfasst sich ethisch als je eines Ich, das für sich selbst und
Anderes verantwortlich ist. Folglich erschließt sich ihm auch
die Integrität des Phänomenalen vom Ich her. Das Phänome-
nale erscheint daher ethisch als integer, aber es ist an das Ich
zurückgebunden. Es ist integer »wie ich«. Noch ein ethisches
Kalkül wie das der Nächstenliebe oder weiter einer empathi-
schen »Nähe zu den Dingen« ist von der Form des »wie ich«
bestimmt.
Da die Integrität des Einzelnen im quodditativen Hori-
zont liegt, impliziert sie unweigerlich die Integrität aller Ein-
zelnen und des Phänomenalen überhaupt, d. h. die Integrität
des »alles in allem«. Der höchste Begriff von Praxis ist daher
da erreicht, wo das identische Moment der ethischen Struktur,
die Form des »wie ich« überschritten wird und der Integrität
des »alles im allem« der Primat gehört. Die vorliegende Arbeit
bestimmt diese Praxis als »gutes Handeln«. Das Gute ist dabei
formal anzugeben als die Vorzeichnung der Erfüllungstendenz
des Phänomenalen für das Handeln. Da das Handeln selbst im
Horizont des Dass-Seins steht, also von der Erfüllungstendenz
durchquert ist, liegt die Möglichkeit des Guten in ihm selbst.
Allerdings ist das Handeln ebenso endlich wie die Welt, auf die
es sich bezieht. Es geschieht zwischen begrenzten Phänomenen,
die jedes für sich nach Fülle streben und darüber ihre Grenzen
aggressiv verschieben oder verteidigen. Das gute Handeln muss
sich diesem Konflikt im Sein stellen, was bedeutet, dass es das
Gute zum phänomenalen Leitbild macht und es im Terminus
der »Gerechtigkeit« fasst. Gerechtigkeit ist der Inbegriff einer
»Praxis der Wirklichkeit«.
Gerechtes Handeln orientiert sich mit der Integrität an
dem, was mehr ist als das Phänomenale, d. i. was sich phäno-
menal nicht erfüllt, weil sich das Phänomenale in ihm trans-
zendiert. Die gerechte Praxis ist entsprechend eine Praxis der
Steigerung, was formal bedeutet, dass sie die Grenzen der Iden-
tität übertritt und die im phänomenalen Konflikt verstrickten
Phänomene zumindest phasenweise von der identischen Form
löst. Die Arbeit wird diese Übertretung, die sich der Integrität
des »alles in allem« unterstellt, als die höchste Form von Ver-
wirklichung, ja in gewissem Sinne als deren endliche Einlösung
bestimmen. Gerechtigkeit jedoch ist ein ungeheurer Anspruch.
Dies wird sich zum einen an der Stellung der gerechten Über-
tretung zur Norm zeigen. Die Norm ist eine Form der Gerech-
tigkeit, denn sie ist etabliert, um den phänomenalen Konflikt
zu schlichten. Da sie die eigenen Kriterien jedoch als objektive
Vorgaben über den phänomenalen Konflikt stellt, gründet
sie sich selbst als identische und bleibt so in ihn einbezogen.
Gerechte Übertretung kann sich daher auch als Normbruch
vollziehen, d. h., sie kann sich über die identischen Ansprüche
der Norm hinwegsetzen.
Ungeheuer ist der Anspruch der Gerechtigkeit aber auch,
weil er das menschliche Glück an die Gerechtigkeit bindet. Das
Glück, die »Erfüllung des Lebens«, ist letztlich nur möglich in
der Gerechtigkeit, d. h. in der Integrität des »alles in allem«.
Phänomenal jedoch kann es die Integrität des »alles in allem«
nicht geben, sondern nur die Bewegung der gerechten Über-
tretung, die von ihr zeugt. Hieraus folgt, dass auch das Glück
in die Ruhelosigkeit der gerechten Bewegung fällt. Andere
Formen der Übertretung – etwa die Liebe, die Poiesis der
Erkenntnis und der künstlerischen Schöpfung – können zwar
Momente der gerechten Übertretung vorwegnehmen. Dennoch
bleibt das, was sich in ihnen als Glück herstellt, ans Identi-
sche zurückgebunden, d. h., sie nehmen weiterhin in Kauf, von
phänomenalem Unglück umgeben zu sein. So billig aber lässt
sich das Glück nicht haben, denn es gehört der Gerechtigkeit,
es ist die höchste Steigerung, es verweist dahin, wo sich das
Mehr des Phänomenalen ganz einstellt. Das Glück ist daher so
schwer wie die Gerechtigkeit selbst.
Es ist zu beachten, dass die von dieser Arbeit entwickel-
ten praktischen Schlüsselfiguren nicht vorgeben sollen, wie zu
leben sei. Sie predigen nicht, sondern sie sind Begriffe, d. h.
Kristallisationen des Versuchs, die Grundzüge des Phänomena-
len zu denken und zu verstehen. Allerdings sind diese Begriffe
streng, und sie müssen es sein, denn die »zum Weltdenken und
Welterkennen notwendigen Tugenden (sind): Eis, Unerbittlich-
keit, Strenge, Zorn, Grazie«7.
III. Methode und Einflüsse
1. Philosophie al s askesis
Diese Arbeit bietet nicht mehr als den Einstieg in eine Proble-
matik. Sie führt vor, was sie als die zentralen Linien, Zusam-
menhänge und Aspekte des Verhältnisses von Phänomenalem
und Dass-Sein versteht. Die Zwischenräume, die dabei entste-
hen, lässt sie jedoch unausgefüllt. Es finden sich in ihr daher
zahlreiche Themen, die sie weniger entwickelt als anzugeben,
in welche Richtung sie zu entwickeln wären. Entscheidend ist
für sie zunächst die Grundstellung des Gedankens.
Dieser Grundstellung nähert sich die Arbeit als askesis.
Askesis, das klassische griechische Synonym von philoso-
phia, meint zunächst nicht »Enthaltsamkeit«, auch wenn sie
aufgrund des sie bestimmenden Willens zu gedanklicher Kon-
zentration fast zwangsläufig zu einer eher reduzierten, als aus-
schweifenden Form führt. Askesis ist »geistige Übung«.8 Sie
erfordert noch nicht Meisterschaft, sondern überhaupt erst in
eine Fragestellung hineinzukommen, dann sparsam Gedan-
ken zusammenzuführen, sie zu »konzipieren«. Insoweit sich
in einer Methode auch eine intellektuelle Haltung und von
da aus eine Praxis des Denkens wiederspiegeln, ist askesis die
Methode dieser Arbeit.
Asketische Methode und Form sollen nicht suggerieren,
die Arbeit sei ohne philosophische Einflüsse entstanden. Einige
wesentliche Bezugspunkte der philosophischen Tradition klan-
gen schon oben an. Ebenso wird es im Verlauf des systemati-
schen Entwurfs zu weiteren Diskussionen einzelner Autoren
8 Vgl. hierzu die Studien Pierre Hadots zur antiken und spätantiken »Phi-
losophie als Lebensform«, die ein entscheidender Impuls für die Denkhal-
tung dieser Arbeit waren, v. a. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform.
Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt/Main: Fischer
2002.
kommen, v. a. wo er sich in einem Nähe-Distanz-Verhältnis
zu ihnen befindet. Da es hier weiterhin darum geht, in die
Konzeption einzuführen, sind jedoch abschließend diejenigen
philosophischen Positionen zu nennen, die für sie maßgeblich
waren.
a . W a lt e r B e n j a m i n
immer mit ihnen übereinstimmt oder sie anders zu entwickeln
versucht.
Das gilt zunächst für den in Benjamins geschichtsphiloso-
phischen Schriften mehrmals vorkommenden Gedanken einer
restitutio in integrum, der sich wohl auf die (ihrerseits plato-
nisch beeinflusste) Apokatastasis-Lehre des Origines zurück-
bezieht.9 Mit dem Restitutio-Gedanken wird eine geschicht-
liche Dialektik möglich. Die Geschichte, die ihrem Verlauf
nach katastrophische Vernichtung ist, ist in den Phänomenen
bezogen auf ein Mehr der Geschichte. Dieses Mehr erlaubt
es einerseits, dass die Phänomene die Geschichte öffnen und
die Perspektive auf ein Unvorhergesehenes freigeben können
(wie etwa im Fall des surrealistischen Effekts oder auch der
großstädtischen Schockerfahrung). Andererseits ermöglicht das
Mehr die »Rettung« der Phänomene aus dem katastrophischen
Gang der Geschichte, eine Rettung, die bereits geschieht, wenn
ein Phänomen im Sinne seiner in ihm vorgezeichneten Einlö-
sung zitiert und damit sein Überschussmoment für die Gegen-
wart aktualisiert wird. – Wie vorausgehende Passagen zeigen,
versucht die vorliegende Arbeit, diese Schlüsselfigur von Ben-
jamins Geschichtsphilosophie aufzunehmen und ontologisch
zu interpretieren. Sie macht also einen Vorschlag, in welchem
weiteren konzeptionellen Kontext sich die von Benjamin gese-
henen Zusammenhänge verstehen ließen.
b. Franz Rosenzweig
Von Franz Rosenzweig war vor allem sein Opus Magnum Der
Stern der Erlösung für diese Konzeption bedeutsam, zum einen
durch die Organisation seiner Systematik und zum anderen
aufgrund der in ihm anklingenden Glaubensthematik.
Die Systematik des Sterns ist im Gegensatz zu den großen
Systemen des Deutschen Idealismus und hier vor allem Hegels
nicht aus einem Prinzip entwickelt, sondern führt drei grundle-
gende Aspekte zusammen, die materielle Welt (die Rosenzweig
»Schöpfung« nennt), die erschlossene Welt des Logos (bei
Rosenzweig »Offenbarung«) und schließlich die Dimension
des Überschusses (Rosenzweigs Dimension der »Erlösung«),
die die offenbarte materielle Welt je schon über sich hinaus
auf ihre absolute Präsenz verweist. Alle drei Aspekte fließen in
der konkreten Erfahrung zusammen und bilden in ihr eigene
Symboliken aus, keinem von ihnen kommt ein letzter Primat
zu. Auch wenn sie sich also auf einer je eigenen Linie beschrei-
ben lassen, sind sie zusammenzusehen oder genauer, sind sie
im Horizont einer immer ausstehenden Zusammenschau zu
thematisieren, die an die Endlichkeit des theoretischen Blicks
gemahnt: Fassbar ist für ihn nie das Ganze, sondern sind nur
Ausschnitte, die er auf das Ganze extrapolieren muss. Die
Anlage dieser Arbeit orientiert sich an der aufgefächerten Per-
spektivität von Rosenzweigs Systems, und zwar aus demselben
Grund einer endlichen Limitierung des theoretischen Zugriffs.
Eine Mitte allerdings hat das System Rosenzweigs gleich-
wohl. Sie ist relational angelegt, nämlich als antwortende oder
entgegnende Annahme der Offenbarung des Seins (oder dessen,
dass Sein ist) durch das menschliche Seiende (bei Rosenzweig
die menschliche Seele). Rosenzweig beschreibt diese hinneh-
mende Entgegnung als Glaube.10 Die Glaubensrelation aktua-
lisiert sich im Zusammenspiel der Grundaspekte des Seins der
Erfahrung, liegt ihnen aber konstitutiv voraus.
10 Vgl. hierzu v. a. die Abschnitte 148-174 des Stern der Erlösung in:
Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/Main: Suhrkamp
1988, S. 186-209.
Die zentrale Funktion der quodditativen Glaubensrela-
tion hat diese Arbeit übernommen. Dennoch versucht sie, sie
in eine klarere begriffliche Sprache zu bringen als bei Rosen-
zweig. Zudem ergeben sich dadurch, dass die Glaubensrelation
in ein methodologisch der Phänomenologie näher stehendes
theoretisches Milieu versetzt wird, auch neue Möglichkeiten
ihrer Beschreibung.
c. Ernst Bloch
zu verhalten, d. h. konkret, sich in Differenz zum gesellschaft-
lichen Kontext zu setzen, der eine bestimmte Auslegung der
Kategorien favorisiert, und so letztlich auch in die Bedeutung
der Begriffe einzugreifen.
Obwohl Bloch damit das Vorrecht der Einzelnen vor den
allgemeinen, anonym-strukturellen Zusammenhängen behaup-
tet, das den Menschen qua Praxis die Verfügungsgewalt über
ihre Begriffe gibt, stellt sich die Frage, wo der Ort der Einzel-
nen in Blochs Theorie ist. Bloch sieht die Bestimmungen, das
Streben, die Geschichte, aber die einzelnen Phänomene fehlen
bei ihm. Sein begrifflicher Apparat lässt es nicht zu, sie in ihrer
Einzelheit zu denken. Es wäre hier von Vorteil gewesen, wenn
Bloch die Einsichten Husserls nicht vorschnell als Variante
des Platonismus abgetan hätte, die die Welt in »erscheinende
Begriffe«11 zerlegt. Auch wenn bei Husserl der Schritt zum
Begriff zu schnell kommt, weil er den Sinn des Erscheinens in
die kategoriale Anschauung legt (und nicht in die quodditative
Sinngestalt, die dem Logos konstitutiv vorausliegt), kommt
er der Eigenständigkeit der Phänomene bedeutend näher als
Blochs Abstraktionen, die – wenn man Hegels Philosophie als
»Voraussetzung« beiseitelässt – unausgewiesen bleiben.
Dennoch zeichnet sich Blochs Denken durch eine doppelte
Aufmerksamkeit aus, nämlich durch die für den transzendie-
renden Impetus des Seins einerseits und die für das Dass-Sein
andererseits. Was ersteren angeht, bedarf es allerdings erneut
einer Einschränkung. Nach Auffassung dieser Arbeit gibt der
transzendierende Impetus kein konkretes Leitbild historischer
Praxis vor. Wo immer er so gedeutet wird, liegt ein Verständ-
nis-, ja man könnte sagen, ein Kategorienfehler vor, der das per
definitionem Unfassbare in ein bestimmtes Weltbild zwingt,
sodass es als Telos des Handelns funktionieren kann. Zwar hat
Bloch ein solches Telos nicht entworfen. In der Vision einer
»klassenlosen Gesellschaft« sieht er es aber zumindest ange-
deutet. Die Grenze zwischen dem bildlosen Dass der Phäno-
mene und seiner inhaltlichen Füllung, die zweifellos de facto
geschieht und aufgrund des phänomenalen Charakters der
Welt sogar geschehen muss, wurde von Bloch nicht entschie-
den genug gezogen. Zu sehr war er davon überzeugt, dass sich
der Überschuss des Dass im Was niederschlagen muss oder
genauer: zu sehr glaubte er an die politische Praxis als Weg
der Gerechtigkeit. Die Kongruenz zwischen politischer Praxis
und Gerechtigkeit kann jedoch nur scheinbar sein, denn der
Überschuss des Dass gilt auch noch gegenüber seinem phäno-
menalen Niederschlag. Gerechtigkeit kann im Phänomenalen
stattfinden, aber sie kann nicht in ihm terminieren, etwa in
einer Form, die sich als »politisch« angeben ließe. Es gibt
daher so wenig eine mögliche Selbsterlösung des Menschen,
wie es überhaupt Erlösung gibt. Es gibt nur Vorzeichnungen
des Überphänomenalen, von denen die Forderung ausgeht, sich
auf ihren Sinn einzulassen und nach ihm zu handeln.
In seiner Aufmerksamkeit für das Dass-Sein dagegen
bleibt Bloch eine wichtige Anregung für diese Arbeit. Entspre-
chend wurde auch der Begriff der quodditas übernommen, den
er mit Verweis auf die scholastische Philosophie gebraucht,
aber in einen anderen Denkzusammenhang bringt. »Quoddi-
tas« ist dann nicht mehr synonym mit dem, was scholastisch
»existentia« heißt. Dies gilt im übrigen für die Arbeit selbst. Es
wurde daher in ihr auch davon abgesehen, auf die komplexe
mittelalterliche Diskussion um das Verhältnis von »essentia«,
»existentia« und »esse« einzugehen. Vielmehr versucht die
Arbeit, »Quodditas« als einen eigenen Terminus zu etablieren,
in dem die Problemstellungen der mittelalterlichen Ontologie
und auch der späteren Existenzphilosophie zwar nachhallen,
der sie aber in ein verändertes konzeptuelles Gefüge bringt.
Schellings verdankt. Mit ihr ist ein zweiter philosophischer
Komplex bezeichnet, der die vorliegende Arbeit präfiguriert
hat. Die Bedeutung dieses Komplexes für das Problem des
Verhältnisses von Wirklichkeit und menschlichem Sein hat
als erster Sören Kierkegaard gesehen, der Schellings Berliner
Vorlesung zur »Philosophie der Offenbarung« (1841/42) mit
zunächst euphorischem Interesse verfolgte. Dass Schelling die
Beziehung von Wirklichkeit und menschlicher Existenz nicht
einmal als Problem sah und stattdessen eine umständliche
Konstruktion der Wirklichkeitsgenese durchführte, enttäuschte
Kierkegaard so tief, dass er Berlin verließ, noch ehe Schelling
seinen Vorlesungszyklus beendet hatte.12
Rückblickend ist diese Enttäuschung zu verstehen, auch
wenn man Schellings Offenbarungsphilosophie wohl diffe-
renzierter bewerten muss. Das erste Drittel der Vorlesung ist
von großer Brillanz. In ihm entwickelt Schelling seine Prob-
lemstellung. Die Vernunft bringt – so führt er aus – zwar die
Inhaltlichkeit der Erfahrungsgegenstände hervor, also die Wei-
sen, in denen sie verstanden werden können. Das Gegebensein
der Gegenstände kann aber nicht von der Vernunft rühren,
es verhält sich hier so, wie bereits Kant darlegte: Der Begriff
von etwas schließt nicht dessen Existenz ein. Die Vernunft ist
auf das Gegebensein der Gegenstände, die von ihr thematisch
entfaltet werden, also je schon angewiesen. Die Wirklichkeit
der Gegenstände liegt vor ihrer Thematizität, sie liegt genauer
darin, dass sie sind, also in ihrem Dass-Sein.
Die zentrale, sich hieraus ergebende Frage ist, wie sich der
Zusammenhang von Wirklichkeit und Thematizität denken
lässt, der sich in der menschlichen Erfahrung je schon herge-
stellt hat. Die klassische erkenntnistheoretische Problemstel-
lung, wie es möglich sei, dass die Gegenstände als eigenständig
und erfahrungsunabhängig aufgefasst werden, wird damit über
das herkömmliche Subjekt-Objekt-Schema gehoben. Subjek-
tives cogito wie objektives cogitatum sind verwiesen auf das
Dass-Sein, das dem letzteren Eigenständigkeit verleiht und das
erstere aus der Unwirklichkeit des bloßen Gedankens heraus-
führt, ihm Welt erschließt.
Doch Schelling kann die Höhe der von ihm aufgemach-
ten Fragestellung nicht halten. Der wesentliche Grund hierfür
ist, dass er ein Absolutes voraussetzt, das sich selbst in den
Dimensionen von Dass-Sein und Was-Sein hervorbringt. Die
genetische Entwicklung aus einem Absoluten ist jedoch immer
notwendig idealistisch, denn es gibt keine Erfahrung des rei-
nen, als Instanz von Deduktion heranziehbaren Absoluten, es
gibt immer nur den Gedanken, der es voraussetzt. Schellings
positive Philosophie, die die Wirklichwerdung der Wirklichkeit
aus dem Absoluten darstellt, ist daher genau so unwirklich wie
die Spekulation Hegels, von der sie sich absetzen will. Beide
bieten groß angelegte Narrative über die Erfahrungswelt, die
sie nicht von ihr selbst her erschließen, sondern der sie einen
nicht ausgewiesenen Sinn supponieren. In beiden Fällen aller-
dings ist das Narrativ nicht gänzlich phantastisch, sondern
trifft – obgleich in übersteigerter Form – einen wesentlichen
Aspekt der Erfahrungswelt. Sein jeweiliger Charakter zeigt
die unterschiedlichen Richtungen an, die Hegel und der späte
Schelling einschlagen.
Hegels Figur einer geschichtlichen Weltwerdung der Ver-
nunft eignet ein emanzipatorisches Moment, das auf das Auf-
klärungsprojekt zurückweist und im Kern politisch-sozialer
Natur ist. Was Hegel aufweist, ist die Möglichkeit einer posi-
tiven, d. h. der menschlichen Vernunftnatur adäquaten Gestal-
tung der Welt qua Bewusstwerdung. Sein Denken ist so impli-
zit an der menschlichen Praxis orientiert, auf seine Weise ist es
geschichtliche Handlungstheorie, die zeigt, dass der Mensch
die Verhältnisse, die er zu sich selbst etabliert, auch selbst ver-
ändern kann. Der absolut-vernünftige Aufbau ist (wie schon
im Falle von Fichtes Idealismus) um diese Einsicht herum kon-
struiert.
Der späte Schelling ist der menschlichen Integrität, um die
es bei der Gestaltung der Welt gehen sollte, näher als Hegel,
obgleich er sie theoretisch ebenso wenig berücksichtigt. Die
Nähe hängt damit zusammen, dass Schelling mit dem Dass-
Sein die Dimension der Unverfügbarkeit des Seienden denkt.
Allerdings trifft Schelling diese Dimension nur im Bild eines
christlichen Gottes, der sich selbst offenbart und doch begriff-
lich inkommensurabel bleibt. Schelling nimmt das Bild für die
offenbarte Wahrheit, die dem Begrifflichen vorausliegt, weil sie
auf den Sinn der Wirklichkeit und nicht allein auf die verstan-
desmäßigen Bedeutungen der Welt führt. Deswegen legt er all
seine begrifflich-konstruktive Anstrengung in die Auslegung
christlicher Theologoumena. Tatsächlich jedoch bleibt das
Bild ein Bild, auch wenn es einen wesentlichen ontologischen
Zusammenhang anzeigt. Die Wahrheit des Christentums liegt
nicht in dem, was Altes und Neues Testament sagen, sondern
in dem, worauf sie symbolisch verweisen. Die begriffliche Kon-
struktion des Symbolischen kommt über die symbolische Ebene
nicht hinaus, sie verdoppelt nur das Narrativ. Schellings Spät-
philosophie bietet so verstanden eine mit denkerischen Mitteln
bestrittene Nacherzählung des Christentums, eine christliche
Gnosis. Sie hält ihn davon ab, die Wahrheit des Christentums
einzulösen, nämlich in der Wahrheit der Erfahrungswelt aufzu-
lösen.
4. Martin Heidegger
Die Formen des Existenzverhältnisses werden dabei sichtbar
als die Formen, in denen sich das Sein überhaupt eröffnet.
Wesentliche Momente von Heideggers Ansatz sind in
diese Konzeption aufgenommen worden. Dies beginnt beim
zentralen Stellenwert des Dass. Zwar deklariert Heidegger ihn
eher implizit als explizit. Dennoch ist das, was Heidegger fun-
damentalontologisch »Sein« nennt offensichtlich quodditativ
geprägt, denn es erschließt sich je im Interesse daran, »dass ich
bin«. Weiterhin identifiziert Heidegger das (quodditative) Sein
mit der Wirklichkeit. Das Sein sei die »Wirklichkeit des Wirk-
lichen«, heißt es etwa in Heideggers späterem Text Zur Seins-
frage.13 Da die Wirklichkeit im Dass des Phänomenalen liegt,
kann Heidegger die erkenntnistheoretische Skepsis aushebeln.
Er kommt so auf eine Philosophie des praktischen Umgangs,
die einen Existenznachweis der Phänomene unnötig macht.
Schließlich hat Heidegger in Sein und Zeit unter dem Termi-
nus »Befindlichkeit« eine vorprädikative Beziehung zum Dass
beschrieben, auf der alle weiteren Seinsvollzüge aufbauen.
Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Heideggers
Denken und den Überlegungen dieser Arbeit hängen vor allem
mit dem Perspektivwechsel zusammen, der sich aus einer phä-
nomenologisch geleiteten Aufmerksamkeit für das Dass ergibt.
Trotzdem wird diese Arbeit aus dem Perspektivwechsel zu
Bestimmungen kommen, die von denen Heideggers teilweise
gravierend abweichen.
Entscheidend ist dabei die Auffassung des Verhältnisses
von Dass und Endlichkeit. Wie weiter oben bemerkt, löst Hei-
degger die Problematik der Gegebenheit von Sinn zugunsten
der Temporalität. Dieser Schritt ist nicht ohne Evidenz, denn
tatsächlich kommt die menschliche Einsicht zu existieren
immer auch als Einsicht in die Endlichkeit der Existenz. Die
Bedeutsamkeit der Phänomene ergibt sich dann daraus, dass
sie in den Kontext der »Sorge um sich selbst« gestellt sind, die
den endlichen Sinn des Seins gleichsam »umsetzt«.
Dennoch wird diese Arbeit auf dem primär überzeitlichen
Moment des Sinns bestehen. Sinn der menschlichen Endlich-
keit zuzuordnen, meint so verstanden schon das Vorurteil, die
Erschlossenheit des Seins und die Erfahrung der Endlichkeit
lägen auf einer Ebene, sodass das Sein nur eine endliche Struk-
tur haben könne. Diese Arbeit wird gegen die Auffassung Hei-
deggers, die das Dass der phänomenalen Endlichkeit zuschlägt,
zu zeigen versuchen, dass die Dass-Dimension zunächst nichts
mit der Endlichkeit zu tun hat, sondern der vorgängige Hori-
zont ist, in dem die Phänomene sich präsentieren können.
Der Logos, der sich in der endlichen Sorgebeziehung manifes-
tiert, fällt je schon in den Raum des Dass-Seins. Hieraus folgt
andersherum, dass das Dass nicht in der Sorge aufgehen kann.
Die Sorge erschöpft das Dass nicht, sondern es geht über sie
hinaus, weil es ihr konstitutiv vorausliegt. Das Dass, von dem
die Sorge handelt, ist dasjenige Dass, auf welches der Mensch
qua Logos zurückkommt, um es als endliches zu fassen. Der
Abstand zum Dass ist damit aber nicht geschlossen. Er bleibt
offen in der Integrität der Dinge gegenüber der Vernichtung
und der Integrität des Menschen gegenüber dem Tod. Die
Sorge ist in ihrem Innern auf die nicht-phänomenale Selbstge-
genwart des Einzelnen, auf sein transzendentes Dass-Sein ange-
wiesen. Dies entgeht Heidegger übrigens auch im Konzept der
Befindlichkeit, das die phänomenale Relation nicht vollständig
entwickelt, also logischen Charakter hat und auf das Verstehen
zuläuft.
In seiner späteren »Aletheiologie« bemüht sich Heidegger,
einen Abstand zwischen Sein und Verstehen zu legen. Er ver-
sucht damit, der drohenden Sinnrelativierung vorzubeugen,
die in Sein und Zeit dadurch droht, dass sich das Sein ganz in
der menschlichen Hermeneutik manifestiert und so mit seiner
historischen Auslegung zusammenfällt. Allerdings beginnt das
Sein beim späten Heidegger auf heikle Weise zu oszillieren.
Auf der einen Seite bleibt es aus dem Abstand auf den Logos
bezogen, es »schickt sich ihm zu«, wie es bei Heidegger heißt,
es »entbirgt sich« und ermöglicht so die Thematizität der Phä-
nomene. Auf der anderen Seite aber »verbirgt« es sich, d. h., es
entzieht sich dem Logos und behält sich andere Möglichkeiten
der Thematizität vor, die es dem Denken »aufgibt«. Die Bin-
dung des Seins an das Verstehen ist damit zwar variantenrei-
cher geworden. Zugleich jedoch werden Heideggers Begriffe
unscharf. Vor allem tritt die untergründige quodditative Kon-
notation des Seins, mit der Sein und Zeit operiert, so weit
zurück, dass das Sein gegenständlich zu schillern beginnt. Hei-
deggers Rede vom »Anwesen« bzw. »Abwesen« des Seins etwa
bewegt sich auf dem semantischen Feld von Gegenstandsbezü-
gen. Verfahren der Durchstreichung oder der Terminus »Seyn«
erhöhen die Irritation, denn das Sein ist damit bloß negativ
als ungegenständlich markiert, es rückt in den paradoxen Sta-
tus eines ungegenständlichen Gegenstands. Als solcher ist es
weiterhin auf den Primat der Endlichkeit verwiesen. Gewiss
zeigt die Möglichkeit eines anderen, noch ausstehenden Sinns
der Endlichkeit den Überschuss des Seins gegenüber dem phä-
nomenalen Zusammenhang an. Aber dieser Überschuss führt
immer wieder auf die Endlichkeit zurück, er begründet deren
Geschichte als »Seinsgeschichte«, d. i. als die Geschichte der
Auslegung des Seins. Die Möglichkeit, dass der Überschuss die
Phänomene dem Logos und der endlichen Geschichte entreißt,
wird nicht gesehen. Gerade dieser Überschuss jedoch bezeich-
net eine andere Freiheit als die der Heideggerschen Offenheit
für das Sein, die fundamentalontologisch wie aletheiologisch
an die Temporalität gebunden ist, nämlich die Freiheit der Inte-
grität, die über das menschliche Seinsinteresse hinausreicht.
B. ENTWURF II
SYSTEMATIK
I. Der Wirklichkeitsglaube
noch, Erfahrung selbst wäre nicht gegeben. An ihrer Stelle
ständen präsenzlose Prozesse. Man könnte sogar sagen, dass
ihnen ein Subjekt fehlt, wenn man darunter dasjenige versteht,
woraus und woraufhin etwas thematisch wird. Allerdings darf
das nicht dazu verleiten, das Dass mit einem Dass-Bewusstsein
zu verknüpfen oder gar zu identifizieren. Dagegen steht der
Wirklichkeitsglaube selbst, der unartikuliert und unabhängig
von jeder Bewusstseinsleistung verläuft, obwohl er sich in
Bewusstsein übernehmen lässt und dann auch artikuliert wer-
den kann. Ließe man Dass und Bewusstsein zusammenfallen,
würde das Bewusstsein die Instanz des Dass, die dieses in Gel-
tung setzt und von der damit die Gegebenheit des Phänomena-
len abhängt. Dem widerspricht aber, dass sich das Bewusstsein
je schon mit seiner eigenen Gegebenheit konfrontiert findet.
Das Dass, das von ihm konstatiert wird, kommt auf ein ihm
vorausliegendes Dass zurück. Dieses Dass ist die Gegebenheit
des Phänomenalen, die sich selbst gibt, d. h. sich selbst als
Präsenz hervorbringt. Das Bewusstsein bewegt sich im Rah-
men dieser Präsenz, es ist durch sie eröffnet. Geht man von
der »Eröffnung« aus, wird die Terminologie des Subjekts noch
brüchiger, denn Eröffnung ist allenfalls in einem funktional-
konstitutiven Sinne »darunterliegend«. Vor allem entzieht sie
sich dem Paradigma der Bestimmung, das gemeinhin mit dem
hypokeimenon/subiectum verbunden ist, ob dieses nun Bestim-
mung auf sich zieht oder sie leistet. In beiden Fällen aktua-
lisiert es sie. Das Dass hingegen schafft nur den Raum der
Bestimmung oder auch der Aktualität, auf die sich ein Subjekt
als Instanz der Bestimmung beziehen kann.
Diese Überlegungen haben die phänomenale Betrachtung
bereits verlassen, indem sie das phänomenale Vertrauen des
Wirklichkeitsglaubens mit einem formalen Dass zusammenge-
bracht haben, von dem das phänomenale Sein eröffnet wird
und das also ontologischen Status hat. Ein Schritt hin zum
Begrifflichen wurde gemacht, der möglicherweise zu schnell
aussieht. Tatsächlich jedoch illustriert er nur die Schwierigkei-
ten, die sich stellen, wenn man über den Wirklichkeitsglauben
nachdenkt. Über das phänomenale Vertrauen in den Bestand
des Phänomenalen lässt sich nicht mehr sagen, als dass es da
ist und dass ohne es das Phänomenale nicht geltend gemacht
werden könnte. Will man das, was der Wirklichkeitsglaube sta-
tuiert, dennoch weiter entwickeln, um ihn darüber zu erschlie-
ßen, muss man es zum Dass formalisieren. Sobald das phäno-
menale Vertrauen auf den Gedanken trifft, fordert es also den
Schritt in die Ontologie. Allerdings kann sie nicht mehr klassi-
schen Zuschnitts sein. In den klassischen Ontologien verläuft
der Schritt von der Ebene der phänomenalen Aussagen zu der
ihrer kategorialen Formalisierung fließend. Er vollzieht sich
auf dem allgemeinen Feld der Aussagbarkeit, das formalisierte
Aussagen über Aussagen einschließt. Die klassische Ontologie
ist vor allem logisch. Was diese Logik auszeichnet, ist, dass
sie sich auf den paradoxen, weil gegenstandslosen Terminus
»Sein« hin organisiert. In ihm verliert sie sich entweder oder
erweist sich ihm gegenüber als inadäquat – was die Suche nach
einer neuen logischen Lösung initiiert. Hingegen legen alle
Operationen, die dem Wirklichkeitsglauben gelten, Zeugnis
ab von einer inneren Grenze des Denkens, die zwischen ihm
selbst und dem Dass als seiner gedachten oder zumindest zu
denkenden Eröffnung verläuft und von der das Denken über
sich selbst hinausgewiesen ist. Das Denken befindet sich an
sich selbst jenseits seiner selbst, d. h., es ist von seiner eigenen
Eröffnung durchquert. Wo es das einsieht und sich von seinem
angestammten Bereich, dem selbstreferentiellen Feld der Aus-
sagen löst, erschließt sich ihm ein neuer ontologischer Raum.
Auch wenn der Wirklichkeitsglaube auf das Dass führt,
indem er ihm korrelativ verbunden ist, bedeutet das nicht,
dass er das Dass in einem konstitutiven Sinne hervorbringt. Da
er an sich selbst genommen a-logisch ist, nämlich nicht aus-
sagt, entbehrt er auch der Kraft der Geltung. Gegenüber dem
Dass ist der Wirklichkeitsglaube also nur Reflex. Als solcher
allerdings hat er eine basale Funktion, die die Weise, wie Sein
»ist«, also sich als Erfahrung zuträgt, betrifft. Der Wirklich-
keitsglaube bezieht das Dass-Sein im Phänomenalen auf das
Phänomenale. Die Präsenz des Phänomenalen, die das Denken
im Dass denkt, ist im Wirklichkeitsglauben immer schon bestä-
tigt. Sie lässt sich ausdehnen auf den umfassenden Horizont
des Phänomenalen, auf die Welt. Die Welt zehrt von der Prä-
senz, die ihr qua Dass zukommt, ebenso die Phänomene. Die
Bezüge, die das Verstehen zwischen den Phänomenen entdeckt
und die den Inhalt der Welt ausmachen, basieren darauf, dass
sie vom Dass ergriffen sind und der Wirklichkeitsglaube dieses
Ergriffensein austrägt.
Die formale Feststellung, der Wirklichkeitsglaube beziehe
das Dass-Sein im Phänomenalen auf das Phänomenale, wird
scheinbar konkreter, wenn man ergänzt, dass hier vom Wirk-
lichkeitsglauben des Menschen die Rede ist und das Dass-Sein
also mit ihm verbunden ist. Aber »was ist der Mensch?«,
zumal, wenn man ihn nicht zur Veranschaulichung begriffli-
cher Zusammenhänge heranzieht, sondern wenn die begriff-
lichen Zusammenhänge dazu dienen sollen, die Bedingungen
des Erfahrungsraums, auf den man vorgeblich »veranschau-
lichend« zurückgreifen kann, zu klären. Die Gattungsvoka-
bel »Mensch« muss hier ihrerseits formalen Rang haben, sie
bezeichnet also selbst einen strukturellen ontologischen Ter-
minus, d. h., sie markiert ein bestimmtes Verhältnis im Sein.
Wie der Wirklichkeitsglaube, der eine Ausprägung dieses Ver-
hältnisses ist, ist es nicht der eröffnende Schlüssel zum Sein, in
ihm liegt die Thematizität des Seins nicht begründet. Vielmehr
hat es einen medialen Status, es ist ein Ort im Sein, an dem
das Sein sich selbst hervorbringt, d. h. in diesem Fall sich als
Dass-Sein erschließt und phänomenale Welt wird. Das Sein
kommt also vor dem Menschen und die Ontologie muss dem
gerecht werden. Dies gilt auch, wenn sie von der menschlichen
Erfahrungswelt ausgeht. Gewiss stellt sich in der Erfahrungs-
welt die Frage nach dem Sein. Zugleich jedoch zeigt sich in der
Frage ein Abstand zur Erfahrungswelt, denn die Frage, deren
prägnanteste Formulierung lautet, »warum etwas sei und nicht
vielmehr nichts?«, fragt über die Erfahrungswelt hinaus nach
deren Möglichkeit. Gerade als Ausdruck des Verhältnisses
zum Sein, das der Mensch ist, indiziert sie eine Angewiesenheit
auf Zusammenhänge, die dem Verhältnis selbst vorausliegen.
Allerdings lässt sich die Angewiesenheit auch positiv wenden:
Das Sein liegt voraus, und doch ist es immer auch das Sein der
Frage, die in der Erfahrungswelt aufbricht, denn ein Sein, das
von keiner Frage gesucht wird, ist bezuglos, also Nichts. Die
Erfahrungswelt bleibt daher im Herz des Denkens, denn um
ihre Möglichkeit geht es. »Sein der Erfahrungswelt« oder auch
»phänomenales Sein« sind die vollen Titel des Seins, insofern
es sinnvoll thematisiert werden kann.
Versuche, das Sein und die phänomenale Welt voneinan-
der zu lösen, hat es dennoch gegeben. Ihr Ausdruck ist die oft
mystisch inspirierte Vorstellung eines reinen Seins. Das reine
Sein steht in radikaler Differenz zum Phänomenalen, die sich
nur durch dessen ebenso radikale Negation überwinden lässt.
Als einzig möglicher Modus der Anwesenheit des reinen Seins
stellt sich die Negation dar, sei sie gedanklich entwickelt oder
praktisch vollzogen in diversen Formen des »Absterbens«,
des leiblichen wie seelischen Rückzugs aus dem Phänomena-
len. Die gedankliche Ordnung, die die radikale Differenz des
reinen Seins festlegt, findet so ihr Äquivalent in einem Ethos
vollständiger Entsagung, von dem das gesamte Weltverhältnis
geprägt ist. Allein dieses Ethos illustriert die Kraft des Begriffs
des reinen Seins, der sich damit selbst Realität gibt, ganz so, als
würde die phänomenale Erfahrung ihn von sich aus fordern.
Jedoch ist diese Forderung nur das Ergebnis einer verzerrenden
Weise, die Bedingungen der Erfahrungswelt zu interpretieren.
Die Interpretation stützt sich nämlich allein auf das Negative
und verabsolutiert es. Nicht nur die Erfahrungswelt ist aus die-
ser Perspektive negativ, weil sie endlich und somit unvollstän-
dig ist, sondern auch das Positive, das das reine Sein sein soll,
ist negativ, weil es durch Negation als das schlechthin Andere
des Phänomenalen gewonnen wird. Die Arbeit des Logos, der
Grenzen zieht, wird hier so ernst genommen, dass bloß noch
Überaffirmation bleibt, um ihm zu entkommen, d. i. Negation,
die sich als Selbstvernichtung des Phänomenalen vollzieht.
Die Grenzziehung wird dadurch aber nicht überwunden, kein
Transzensus findet statt, sondern nur die Auslöschung eines
der Bereiche, den die Grenze vom anderen trennt.
Es ist trotzdem möglich, auf konstruktive Weise vom
reinen Sein zu sprechen. Der Titel ist jedoch nicht besonders
ergiebig. Das reine Sein verliert sich ins buchstäblich »Unvor-
denkliche« einer Einheit von Dass und Logos. Zweifellos lässt
sie sich denken und auch spekulativ entwickeln. Zur Deutung
der Erfahrungswelt jedoch trägt das nicht bei. Vom reinen Sein
lässt sich so nur angeben, dass es sich in der Verbindung von
Dass-Sein und Logos zuträgt. Sie beide bilden seine Funktion,
es selbst aber tritt damit aus dem Kreis des theoretischen Inter-
esses und kommt nicht mehr rein, sondern nur mehr als relati-
ver Terminus vor, als Sein, das sich in Dass und Logos zuträgt.
Thematizität bedenkt. Der Wirklichkeitsglaube ist nicht in der
Lage, sich selbst aufzuweisen. Er ist dazu auf eine fremde Ins
tanz angewiesen. Die Tatsache, dass er im Phänomenalen auf-
gewiesen werden muss, trägt dem bereits Rechnung. Obgleich
in tragender Funktion, ist der Wirklichkeitsglaube ins Phäno-
menale hineingezogen, sein einfacher Vollzug ist eingebettet
in andere Vollzüge, mit denen sich seine Anlage erweitert. Er
tritt in Zusammenhang mit dem gegenständlichen Aspekt der
Phänomene, der nicht dem Wirklichkeitsglauben selbst ent-
springen kann und ihn doch betrifft, der ihn fasst oder auch
wortwörtlich »zur Sprache bringt«. Ohne die Berührung durch
die Sprache bliebe die Funktion des Wirklichkeitsglaubens
rudimentär. Er präsentierte ein Da dessen, was unbestimmt
und formlos ist, einen ortlosen Ort, eine weltlose Welt. In
seiner Beziehung zum Phänomenalen muss der Wirklichkeits-
glaube daher immer schon durchkreuzt sein von der Instanz
der Gegenständlichkeit, d. i. vom Logos. Durch ihn ist der
Wirklichkeitsglaube auf Gegenständlichkeit bezogen, obgleich
er sie nicht herstellen kann. Allerdings gilt ein analoges Ver-
hältnis auch andersherum für Verstehen und Dass-Sein. Das
Verstehen ist je schon darauf angewiesen, dass es Sinn gibt,
und die Gegebenheit des Sinns, die es gegenständlich, d. i. in
den Sinn phänomenaler Bedeutungen wendet, liegt beim Dass-
Sein, das sich wiederum nur als Dass-Sein des Phänomenalen
entfalten kann.14 Das Phänomenale wird so zum Terminus für
eine Verschlingung der ontologischen Verhältnisse, die sich an
den beiden Fundierungsmodi des Phänomenalen, an Verstehen
und Wirklichkeitsglaube, nachvollziehen lässt.
Das schließt nicht aus, das Phänomenale nur unter logi-
schem Aspekt zu betrachten. Es bildet dann den Bereich aller
erfahrbaren und denkbaren Gegenständlichkeit oder auch, alles
»etwas«, das sich in einem Raum der Formen und Formalisie-
rungen der Bestimmung anbietet. Schon die Möglichkeit der
Bestimmung allerdings muss hier rätselhaft sein, denn sie kann
sich nicht aus dem logischen Möglichkeitsraum ergeben, der
nur der Entfaltungsraum des »etwas« oder von »Gegenständ-
lichkeit überhaupt« ist. Es muss – wie man sagt – »etwas« hin-
zukommen, nämlich der Sinn, der erlaubt, etwas, das erscheint,
als ein bestimmtes »etwas« auszulegen, ihm Bedeutung zu
geben. Das Formale kann, selbst wenn es Inhalt präformiert,
nicht Gehalt sein. Es lässt sich hieraus weiter schließen, dass
der Sinn des Phänomenalen außerhalb des Logos liegt. Zwar
wendet er sich an den Logos, aber der Logos ist nicht die Ins-
tanz des Sinns. Dass man – nach klassischer philosophischer
Auffassung – den Logos als solche verstand, war nur dadurch
möglich, dass man Bestimmung und Sinn zusammendachte.
Der Logos wird so in einer Verkehrung der Verhältnisse zum
Reservoir aller möglichen Bestimmungen, kraft derer das Sei-
ende erscheint, d. h. zu seinem Sinn kommt. Allerdings han-
delt es sich hier um eine Abstraktion, die zwar möglich ist,
indem man den Logos auf sich selbst bezieht, die aber zu
einem Verständnis der Erfahrungswelt ebenfalls bloß abstrakt
beiträgt. Ohne Frage nämlich lassen sich in ihr allgemeine Ver-
hältnisse ausmachen, lässt sie sich logisch formalisieren. Die
Transformation des Erfahrenen ins Logische, seine Reflexion
in den logischen Raum hinein, sagt aber noch nichts über den
Gesamtaufbau des Phänomenalen. Der Logos ist in seinem
Rahmen wahr, in dem des Phänomenalen hingegen ist seine
Wahrheit auf den Formaspekt der Phänomene beschränkt.
Indem man klassisch die Sinngebung nicht dachte, kam man
aus dem Abstrakten auf die Phänomene zu und machte es zur
Instanz von Bedeutung. Man hielt für ursprünglich, was man
selbst zuvor dem Erfahrenen »abgezogen« hatte.
Um die gegenständliche Ausrichtung des Wirklichkeits-
glaubens, seinen nicht logischen, jedoch vom Logos tangier-
ten Charakter weiter zu entwickeln, sind die strukturellen
Zusammenhänge anzugeben, die der Logos im Phänomenalen
herstellt. Das Phänomenale steht dabei wie oben angegeben
für ein grundsätzliches Ineinander von Logos und Dass-Sein.
Die quodditative Dimension wird jedoch in den Hintergrund
gerückt. Das Phänomenale ist so das logisch-phänomenale
Feld, das der Logos gestaltet als 1. die Funktion der Gegen-
ständlichkeit, 2. die Funktion der Sprache, in der sich die
Gegenständlichkeit entfaltet und 3. die Funktion der Zeitlich-
keit. Die Verbindung von Logos und Zeitlichkeit mag irritie-
ren angesichts des überzeitlichen Rangs, den man dem Logos
für gewöhnlich zuerkennt. Dennoch ist sie anzunehmen, denn
die Entfaltung der Gegenständlichkeit wäre ohne Zeitlichkeit
nicht möglich. Das im Erfahrungsprozess unabweisbare zeitli-
che Sich-geben der Gegenstände oder einfacher, ihr zeitlicher
Charakter verweist zurück auf das zeitliche Sich-geben des
Logos selbst, der den Erfahrungsprozess durchdringt und die
Grundform der Zeit in ihn hineinzieht. Entsprechend haben
auch alle abstrakteren Formalisierungen des Logos ein zeit-
liches Moment. Sie erscheinen ebenso in der Zeit wie sie im
Sinne eines zeitlichen Seins funktionieren, d. h., für sie gelten
die grundlegenden Hinsichten, die der Logos zwischen den
Koordinaten von Gegenständlichkeit, Sprache und Zeit aus-
bildet und die über den Charakter der Form des Erscheinenden
entscheiden. Diese Hinsichten lassen sich angeben als 1. Frag-
mentierung, 2. Endlichkeit und 3. Identität.
Man könnte versucht sein, die konstitutive Arbeit, die
der Logos am Phänomenalen leistet, für vollständig zu erach-
ten. Das logisch-phänomenale Feld wäre so identisch mit
dem Phänomenalen überhaupt, es wäre das Ganze von Erfah-
rung. Dagegen ist jedoch festzuhalten, dass das Phänomenale
zugleich von Beziehungen durchquert wird, die es offen hal-
ten. Die primäre Beziehung ist die zu seinem eigenen Dass,
für die der Wirklichkeitsglaube das phänomenale Indiz ist.
Sie lässt sich entwickeln zur Beziehung zum Dass möglicher
Gegenständlichkeit. In dieser zweiten Beziehung ist die wahre
Ganzheit des Phänomenalen vorgezeichnet, eine Ganzheit, die
den Logos überwölbt und in die er sich zugleich einträgt. Die
Ganzheit liegt also in der quodditativen Dimension. Wenn das
Erscheinende überzeitlichen Rang haben kann, hängt das mit
ihr zusammen.
a. Fr agmentierung
b. Endlichkeit
Der intrinsische Bruch der Form lässt sich ausbuchstabieren als
endliche Zeit. Genau betrachtet nämlich verweist die Differenz
zum Ganzen, die der Logos statuiert, auf ein temporales Ver-
hältnis. Die Differenz braucht Zeit, um überhaupt möglich zu
sein. Das Ungeschiedene ist zeitlos. Das Geschiedene hingegen
setzt voraus, dass Abstand geschehen ist und weiter geschieht.
Nur auf der abstrakten Ebene formal-logischer Operationen
lässt sich dieses Geschehen in den formalen Terminus der
Negation aufnehmen. Phänomenal jedoch, auf der Ebene der
Erfahrung, ist die Negation auf ein Vorher bezogen, auf das
die Differenz als Nachher folgt. Indem der Logos bestimmt,
ist er also Vollzug der endlichen Zeit. Ohne Zeitlichkeit wäre
die Differenz, die in der Bestimmung liegt, nicht möglich.
Allerdings darf diese Einsicht nicht zur exklusiven Perspektive
auf das Sein der Erfahrung erhoben werden. Der Logos selbst,
der zunächst für solche Exklusivität zu stehen scheint, kann
sich überschreiten, d. h. die Differenz zurücknehmen und sich
auf das beziehen, was ihr vorausliegen muss. Auch wenn man
daher die endliche Zeit als sich vollziehende Differenz versteht,
der die kontinuierliche Bestimmung, d. i. die Auslegung der
Phänomene sich verdankt, bleibt die Frage nach dem Ganzen,
ohne das Differenz unmöglich ist.
Auch als Problem der Temporalität gefasst, besteht das
Problem des Ganzen darin, dass es ohne phänomenale Evidenz
ist. Das Ganze müsste sich in einer vollen Gegenwart darstel-
len, die jedoch aufgrund der Ruhelosigkeit des Logos entzogen
ist. Die phänomenale Gegenwart bildet nur ein Moment der
Zersprengung, von der Vergangenheit und Zukunft organisiert
sind. Entsprechend kann auch das Ganze temporal nur in der
Zersprengung auftreten. Unter dem Primat der Endlichkeit
kann es daher keinen positiven Begriff von ihm geben. Unge-
achtet dessen lässt die Endlichkeit nicht bloß die permanente
Fragmentierung des Bestimmten zu, sondern fordert auch
eine negative Erfüllung. Das hängt damit zusammen, dass
die Endlichkeit in der Zersprengung auf das Ganze bezogen
bleibt und es in diesem Bezug sucht. Die negative Erfüllung
ist so das eigentliche Telos der Endlichkeit. Es ist immer da
erreicht, wo ein Phänomen mit seiner entzogenen Gegenwart
zusammenfällt, nämlich ausgelöscht, also sich selbst an ihm
selbst entzogen wird. Die Ganzheit, die ein Phänomen in seiner
Auslöschung gewinnt, ist das Äußerste, was der Logos vor-
stellen kann. Die Fragmentierung der Phänomene, die sich an
fehlender Präsenz orientiert, terminiert in der Vollständigkeit
des Fehlens, die die Phänomene einschließt. Die Einkehr in
den Entzug beendet die Bewegung des Logos oder auch: Alles
»etwas« läuft logisch auf »nichts« zu. In die Termini menschli-
cher Erfahrung übertragen, heißt das, dass der Logos innerlich
vom Tod besessen ist. Die Besessenheit ist ambivalent, denn
sie bedeutet einerseits, dass der Logos dem Tod zugehört und
ihn daher in die Welt bringt. Der Tod ist der Fluchtpunkt der
Endlichkeit. Indem der Logos den Tod aber in die Welt bringt,
objektiviert er ihn andererseits zu dem schlechten Ende, das
jedem »etwas«, ja der Welt überhaupt droht, während es ihnen
zugleich als Möglichkeit der Erfüllung Gestalt gibt.
c . Id e n t i t ä t
tität vom Ganzheitshorizont des Dass gefordert ist, heißt das
allerdings nicht, sie sei schon das Ganze. Vielmehr ist Identität
nur die phänomenale Ausprägung des Ganzen. Sie liegt auf
einer Ebene mit Fragmentierung und Endlichkeit, sie gehört zu
den Weisen, in denen der Logos Phänomenalität werden lässt.
Zwar meint Identität die Selbstbehauptung der Phänomene im
Werden, aber sie gilt nur formal, d. h., sie kann den vom Logos
statuierten Horizont nicht überschreiten. Am deutlichsten wird
das, wo die Phänomene nicht ungeachtet ihrer Identität, son-
dern gerade als identische enden, wo sie als sie selbst zerfallen
und ausgelöscht werden. Identität bewahrt nicht, als Manifes-
tation des Logos ist sie notwendig auf das Ende bezogen, es ist
auch für sie die (negative) Erfüllung. Mit Recht gilt der Identi-
tätssatz als eine der formalen Wahrheiten des Logos. Reflexiv
erfasst er, was phänomenal der Fall ist: x = x. Er genießt aber
kein Vorrecht gegenüber den anderen Wahrheiten, die sich
über das Phänomenale aussprechen lassen, nämlich dass x nur
Statthalter eines Ganzen ist und dass in x = x die Dynamik
eines gewiss kommenden Endes liegt. Nur scheinbar ist x = x
eine überzeitliche Wahrheit, denn sie selbst ist voll von Zeit,
eine Einsicht, die der Endlichkeit entspringt und unlösbar in
ihren Zusammenhang gehört.
Man kann einwenden, dass Identität im Phänomenalen
fluktuieren könne und daher nicht immer eindeutig sei. Wie
etwa lässt sich die Identität von etwas festmachen, das durch
eine Metamorphose gegangen ist? Ist es nun weiterhin dasselbe
oder ein anderes, hat seine Identität gewechselt? – Die Antwort
ist pragmatisch: Das ist im gegebenen Fall zu entscheiden, der
praktisch-situative Kontext wird die Entscheidung vorgeben,
inklusive der ihr möglicherweise geltenden Konflikte. Hier hin-
gegen interessiert nur der formale Aspekt: Auch dem Verwan-
delten wird man Identität zusprechen, sie stehe nun in Konti-
nuität mit der vorhergehenden oder weiche von ihr als neue
Identität ab. Alain Badiou hat diese formalen Zusammenhänge
als diejenigen der »Zählung-als-Eins« beschrieben.15 In der
15 Vgl. v. a. Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, übers. v. Gernot
erfahrungsweltlichen Praxis operieren wir mit Einsen, das ist
mit Identischem. Eins respektive Identität ist eine Grundform,
die der Erfahrungswelt qua Logos zukommt. Die aktuelle Zäh-
lung von etwas als Eins, die Weisen, in denen etwas als Identi-
sches behandelt wird, bauen auf ihr auf. Um die verschiedenen
Praxen von Identität zu verstehen und zu beurteilen, ist es
nötig, die ontologischen Hintergründe des Identitätskonzepts
sichtbar zu machen. Deutungen von praktischen Prozessen,
etwa der Anerkennung von Identität, sind von da aus zu ent-
wickeln – ebenso wie die Gründe, Identität als praktischen
Parameter zu verwerfen.
Eine andere Infragestellung der Eindeutigkeit von Identi-
tät knüpft beim psychischen Erleben an. Was geschieht, wenn
zwar die begegnenden Phänomene als identisch wahrgenom-
men werden, aber das Ich sich selbst verloren hat, wenn es so
massiv gestört ist, dass es die eigene Ich-Identität nicht mehr
wahren kann? – Die Antwort kann auf das gestörte Ich keine
Rücksicht nehmen: Es ändert sich dadurch nichts. Die Ich-
Reflexion, über die ein Ich von sich selbst weiß, ist ein spätes
Phänomen. Identität ist ihre Voraussetzung, nicht etwas, das
von der Reflexion zerstört werden könnte. Eher schon könnte
man sagen, dass die Ich-Reflexion (wie die mit ihr verbundene
Gegenstandsreflexion) eine Interpretation dieser wie auch der
anderen Voraussetzungen (Fragmentierung, Endlichkeit) liefert.
Das gestörte Ich kommt auf die Identität so zurück, dass es sie
zugunsten der Fragmentierung auflöst. Es wird aber weiterhin
und gleichermaßen von beiden wie auch von der Endlichkeit
organisiert.
4 . S tat i s c h e A n a ly s e d e s
Wirklichkeitsglaubens
Aufgrund der Verschlingung von Dass und Logos ist der Wirk-
lichkeitsglaube einerseits vom Logos tangiert. Der Logos steckt
für ihn das logisch-phänomenale Feld ab, gegen das sich die
konstitutive Funktion des Wirklichkeitsglaubens abheben und
diskursives Thema werden kann. Andererseits spielt der Wirk-
lichkeitsglaube in die gegenständlich-kategorialen Leistungen
des Logos hinein. Fragmentierung, Endlichkeit und Identität
sind auf den Wirklichkeitsglauben zurückbezogen. Das heißt
nicht, dass sie sich in ihm niederschlügen. Ihre genuine Mani-
festation ist das Verstehen. Das Verstehen fragmentiert, ver-
endlicht, identifiziert. Es ist die Weise, in der das Phänomenale
für den Menschen gegenständliche Welt wird und als solche
weiter verhandelt wird, das Verstehen ist der menschliche
Vollzug des Logos, der Auslegung meint. Hingegen legt der
Wirklichkeitsglaube nicht aus. Vielmehr liegt er im Inneren der
Auslegung und hat sie zugleich immer schon überschritten. Im
Wirklichkeitsglauben manifestiert sich die Ganzheit der Phäno-
mene, die den entzogenen Bezugspunkt des Logos bildet. Der
Wirklichkeitsglaube sichert also die Arbeit des Logos, er trägt
das logisch-phänomenale Feld, aber der Grund, den er dabei
herstellt, ist abgerückt, ein virtueller Grund, der dennoch seine
Funktion erfüllt: Die Phänomene sind in der Fragmentierung
als identische gewahrt, ihre Endlichkeit ist organisiert und im
Verweis auf einen überzeitlichen Horizont überboten.
Diese Zusammenhänge sind zunächst am statischen Bei-
spiel des phänomenalen Gegenstandbezugs zu vertiefen. Der
Hintergrund der Betrachtung ist das komplementäre Verhältnis
von Dass und Logos. Da der Wirklichkeitsglaube im und für
das Phänomenale fungiert, muss er so ausgelegt werden, dass
beide Dimensionen zwar ineinander geblendet werden, das
Dass aber den Primat behält. Implizit reflektiert die Auslegung
damit die Bedingungen von Auslegung überhaupt.
a . D e r q u o dd i t a t i v e G e h a l t
ist logisch, der Wirklichkeitsglaube jedoch statuiert ohne Aus-
legung. Er kennt also kein »etwas«, ja nicht einmal ein Phäno-
men. An sich selbst genommen statuiert er das Dass von dem,
was einmal Phänomen sein wird, oder des potentiellen Phäno-
mens. Das Phänomen steht hier gleichsam »auf der Schwelle«
zum Erscheinen. Die Auslegung ist vorgezeichnet, ohne sich
aktualisiert zu haben. Das heißt jedoch nicht, dass die Aktu-
alisierung, die im Ergreifen des Phänomens-auf-der-Schwelle
durch den Logos geschieht, dieses erst eigentlich erfüllte,
indem sie es zum Phänomen macht. Das Verhältnis von Poten-
tialität und Aktualisierung liegt hier anders als gemeinhin.
Dort nämlich hat das Potentielle einen negativen Aspekt. Es
ist noch nicht das Aktuelle. Um einen Begriff vom Potentiellen
zu geben, muss man vom Aktuellen die Aktualität oder auch
den Prozess der Aktualisierung abziehen. Im gegebenen Fall
hingegen ist das Potentielle, das Phänomen-auf-der-Schwelle,
das Positive. Die Negation, die in der Arbeit des Logos liegt,
kommt zu ihm hinzu. Das Hinzukommen ist aber wiederum
nicht im Sinne einer einfachen Addition zu verstehen. Viel-
mehr ergibt es sich aus einem anderen Kontext, nämlich dann,
wenn das, was der Wirklichkeitsglaube gewahrt, das Dass
des potentiellen Phänomens, in den Horizont des Logos tritt.
Das quodditative Phänomen, das aber nicht erscheint, also im
Grunde nicht Phänomen ist, kann nur im logischen Horizont
für potentiell gelten. Im Horizont des Dass jedoch, dem es an
sich selbst zugehört, ist es ganz und gar da, also aktuell oder
wirklich. Die quodditative Wirklichkeit ermöglicht phänome-
nale Wirklichkeit, aber sie ist mehr als die Möglichkeit des
Phänomenalen, weil sie zunächst in einem anderen Horizont
liegt. In ihm ist sie Fülle, die als Möglichkeit auf den Logos
zukommt.
Das Verhältnis zwischen der nicht-phänomenalen Gege-
benheit des Phänomens im Dass, von der der Wirklichkeits-
glaube handelt, und dem Phänomen der logischen Auslegung,
das verstanden werden kann, entspricht dem Verhältnis zwi-
schen Sinn und Thematizität. Nur weil etwas Sinn hat, kann es
thematisiert werden. Andererseits wird der Sinn erst durch die
Thematisierung entfaltet. Damit ist nicht gesagt, dass der Sinn
ohne Thematisierung sinnlos wäre. Das »etwas«, von dem er
Sinn ist, bleibt thematisierbar, unabhängig davon, ob es aktuell
thematisiert wird, ja sogar unabhängig davon, wie es aktuell
thematisiert wird. Noch durch das vollkommene Missverständ-
nis hindurch wahrt es seinen Sinn, der konstant die adäquate
Thematisierung fordert. Allein die strukturelle Gleichheit der
beiden genannten Verhältnisse (Ermöglichung geht im Ermög-
lichten nicht auf) legt nahe, dass sie denselben Zusammenhang
beschreiben. Und tatsächlich gehören sie zusammen. Phäno-
men nämlich ist, was im Horizont der Thematisierung steht,
der der Horizont des Logos ist. Das Dass ermöglicht also mit
dem Phänomen zugleich die Thematisierung. Die Ermögli-
chung von Thematisierung aber ist Sinn. Von daher enthält das
Dass des Phänomens-auf-der-Schwelle zugleich dessen Sinn.
Das Dass ist sinngebend.
In der konkreten, aktuellen Auslegung ist Sinn gleichbe-
deutend mit Gehalt. Da Gehalt nicht mit dem Logos, sondern
mit dem Dass verbunden ist, kann man ihn auch als quoddita-
tiven Gehalt bezeichnen. Der quodditative Gehalt hat für die
aktuelle Auslegung einerseits ermöglichende Funktion, er eröff-
net ihr, was sie als spezifischen Sinn verstehen kann. Anderer-
seits jedoch sorgt er dafür, dass die aktuelle Auslegung nicht
alles ist, was sich von einem Phänomen sagen lässt. Man denke
hier an das Beispiel eines aktuell erfahrenen Gegenstands. Als
solcher genommen ist er nicht ganz, sondern gleichsam nur das
Fragment seiner selbst, keine Erfahrung kann seinem fragmen-
tarischen Charakter beikommen, weil das Fragmentarische die
Erfahrung selbst strukturiert, ein Zusammenhang, den bereits
Edmund Husserl unter dem Terminus der »Abschattung«
beschrieb. Den Gegenstand dennoch zu identifizieren, ihn
sogar mit einer allgemeinen Vokabel, etwa »x«, zu versehen,
müsste unter solchen Umständen ein ungeheures und durch
nichts zu rechtfertigendes Wagnis der Sprache sein. Möglich ist
es nur dadurch, dass der quodditative Gehalt dessen, was dann
»x« genannt wird, der Nennung zuvorkommt. Er sorgt dafür,
dass das »x« Genannte überhaupt »gemeint« werden kann,
dass es als ein zu Bestimmendes für die und in der Auslegung
auftreten kann. Jedoch schreibt er dabei nicht die Bedeutung
»x« für das Gemeinte fest, er ermöglicht erst nur dessen The-
matisierung als Gemeintes. Damit erlaubt er der aktuellen
Auslegung zwar Bestimmung, macht diese aber nicht definitiv.
Der »x« genannte Gegenstand kann etwa auch so in einem
phänomenalen Zusammenhang auftreten, dass er als »y« zu
bezeichnen ist. Der Auslegungsraum, den der quodditative
Gehalt eröffnet, ist nicht beliebig, aber er lässt sich auch nicht
in der aktuellen Auslegung eins zu eins übersetzen.
b. Evidenz
det. Ein Satz ist dann evident, weil sich das, worauf er sich
bezieht, seinem Gehalt nach einer bestimmten Thematisierung
angeboten hat. Die Prädikation kommt nur erläuternd auf die
Thematisierung zurück. Es ist wahr, man kann sinnvollerweise
nicht an ihr zweifeln. Aber der Grund hierfür liegt im Dass
dessen, was prädiziert wird, in seiner nicht-phänomenalen,
jedoch Phänomenalität vorzeichnenden Gegebenheit. Die Evi-
denz der Aussage verdankt sich der quodditativen Gegeben-
heit und erst darüber dem Verhältnis zwischen Aussage und
Ausgesagtem. Man kann diesen Zusammenhang sowohl im
Bereich rein logischer Evidenz, d. i. der Evidenz von logischen
Axiomen und analytischen Sätzen, als auch im Bereich phäno-
menaler Evidenz, d. i. der Gewissheit von gegenständlichem
Sosein und Dasein (Existenz) beobachten. Der Unterschied
zwischen beiden Bereichen besteht allerdings darin, dass sich
der Logos im ersten Fall selbst zum Thema macht, also sich
auf den Gehalt seiner eigenen Form zurückwendet, während er
im zweiten Fall auf den Gehalt von dem geht, was qua Gehalt
in Differenz zu seiner (logischen) Form steht. Da der Gehalt
des Logos sich differenzlos in seiner Form wiederfindet, gilt
die (Selbst-)Gewissheit des Logos notwendig, d. i. solange der
Logos besteht. Die phänomenale Gewissheit dagegen kann
keinen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erheben, denn die
Möglichkeit, dass die Differenz zwischen Gehalt und Form nur
scheinbar geschlossen wird, bleibt bestehen.
Einer verbreiteten Deutung zufolge ist Evidenz »unmit-
telbar«. Zumindest wo es nicht um die rein logische Selbstge-
wissheit, das Sich-selbst-erscheinen des Logos geht, ist der Ter-
minus jedoch unglücklich. Er legt nahe, ein Phänomen könne
jenseits seiner Auslegung einsichtig erfahren werden, also den-
noch Phänomen sein. Das unmittelbar erfasste Phänomen wäre
gleichsam das »reine Phänomen«, das sich seiner unweigerlich
verzerrenden Auslegung entzieht. Dagegen ist darauf zu ver-
weisen, dass für das Phänomenale Auslegung intrinsisch ist. Es
gibt kein Erscheinendes, das nicht Bestimmtes, d. h. Fragmen-
tiertes wäre. Als solches steht es weiteren Bestimmungen offen,
ja könnte ohne die Perpetuierung der Bestimmung, die immer
Weiter-Bestimmung ist, gar nicht sein. Trotzdem lässt sich nicht
leugnen, dass sich als »unmittelbar« gefasste Erfahrungen von
gewöhnlichen, in die weltliche Praxis involvierten Erfahrungen
unterscheiden. In der kontemplativen Schau etwa, die die Phä-
nomene als das sucht, was sie vorgeblich sonst nur im unauf-
merksamen, unbewussten Sein-in-der-Welt sein können: als sie
selbst, scheinen die Gegenstände vollkommen da zu sein. Sie
werden in schattenloser Präsenz erlebt, die die magere Abstrak-
tion des Identitätssatzes x = x als einzigen formalen Ausdruck
erlaubt, ihn aber von Innen überbietet. Die Evidenz ist hier
gleichsam zu stark, jede Sprache wird inadäquat. Gleichwohl
ist sie damit nicht erloschen, denn auch die kontemplative
Erfahrung kann nur im phänomenalen Feld stattfinden. Die
Präsenz, die sie vor sich bringt, ist also nicht bar der Ausle-
gung. Eher schon müsste man sagen, dass diese wie im Fall
phänomenaler Gewissheit durchstoßen ist – mit dem Unter-
schied, dass die Kontemplation den phänomenalen Gehalt
nicht mehr an sprachliche Adäquation, an die Überführung ins
Urteil bindet, sondern nur mehr an diejenige einer zurückge-
nommenen Sprache. Die Inadäquatheit der Sprache verdankt
sich also der Kontemplation als einer geistigen Technik, die
hinter das Denken zurückgeht und davon keine Rechenschaft
ablegt. Sie ist damit aber nicht unmittelbar. Indem sie Evidenz
herstellt, agiert sie im phänomenalen Register, auch wenn sie
es möglichst zu reduzieren versucht und so an einen expliziten
Aufweis der quodditativen Dimension zumindest heranführt:
Die kontemplative Erfahrung zeigt, dass solcher Aufweis von
einem Mehr und einer Intensität des Phänomenalen handelt,
die selbst nicht phänomenal sind.
c . P l a t o n i s c h e r Id e a l i s m u s
ligen Schlüsselfiguren festzumachen, nämlich einerseits der
Idee und andererseits dem, was oben als quodditativer Gehalt
der Phänomene vorkam. Wenn man sich allein auf die ihnen
jeweils zugewiesene Rolle für die Erfahrungskonstitution kon-
zentriert, laufen beide parallel. Wie die Idee gewährleistet der
quodditative Gehalt die Vollständigkeit von Erfahrung. Das
aktuell Erfahrene wird mit ihm auf eine Ganzheit bezogen, an
der es in seinem jeweiligen Erscheinen partizipiert, um selbst
zumindest relatives Ganzes sein zu können. Idee wie quoddita-
tiver Gehalt verbürgen mithin die Wirklichkeit des phänome-
nal Wirklichen. Sie lassen es als es selbst sein, d. h., sie geben
ihm Wahrheit.
Die Differenz zwischen Idee und quodditativem Gehalt
beruht auf ihrer Stellung zum Phänomenalen. Nur solange
man die Stellung formal fasst, scheinen sie kongruent, nämlich
durch einen Abstand bestimmt. Idee wie quodditativer Gehalt
stehen ab, indem sie nicht in der Welt der Erfahrung aufge-
hen. Die Deutung dieses Abstands differiert jedoch in beiden
Fällen gravierend. Der quodditative Gehalt kann nicht in der
Erfahrungswelt aufgehen, weil er im Gegensatz zu ihr nicht
phänomenal verfasst ist. Er hat also trotz seiner grundlegenden
Funktion für sie keinen Teil an ihr, denn er erscheint nicht,
seine Trennung ist radikal.
Hingegen kann die Idee nicht in der Erfahrungswelt
aufgehen, weil sie anders als diese nicht materiell verfasst ist.
Die Trennung ist hier nicht radikal, denn die Idee ist dennoch
phänomenal und damit Gegenstand, obgleich ein Gegenstand
höherer Art. Anders als die Erscheinungen der Erfahrungswelt
wird sie nicht von den Sinnen erfasst. Sie präsentiert sich aber
einer Schau, nämlich der rein intellektuellen des nous. Ihre Dif-
ferenz zum gewöhnlichen erfahrungsweltlichen Seienden ergibt
sich nur daraus, dass für sie eine andere Sichtbarkeit gilt.
Mit dem Paradigma der Sichtbarkeit ist – und Platon hätte
nie etwas anderes behauptet – die Idee an den Logos geknüpft.
Diese Verbindung gewährleistet jedoch gerade nicht, was sie
soll, die Unberührtheit der Idee vom Wandel der Erscheinun-
gen. Im Gegenteil führt sie dazu, dass die Idee selbst in die
Zeitlichkeit hineingezogen und letztlich von ihr zerrieben wird.
Es bedarf hier bloß der Frage, die zuletzt von der Phänomeno-
logie gestellt und Husserls Idealismus selbst zum Verhängnis
wurde: Wie der Bereich der Sichtbarkeit insgesamt strukturiert
sei? Der Abstand der Idee fällt damit, sie wird in das Feld
der übrigen erfahrungsweltlichen Gegenstände gezogen. Dort
bekommt sie eine eigene Geschichte und beginnt, unter den
doxai, den Meinungen zu zirkulieren, sie tritt in den Diskurs
ein. Es gibt auch keine Möglichkeit, sie davor zu bewahren,
es sei denn, man verändert die Anlage der Idee oder vielmehr
dessen, was sie bezeichnen soll, so, dass es vom Logos gelöst
wird. Der Titel »Idee« macht dann allerdings nur noch einge-
schränkt Sinn, denn das vormals »Ideale« verliert die Verbin-
dung zum idein, zum Sehen, es ist nicht mehr Gegenstand einer
möglichen Schau. Man ist damit beim quodditativen Gehalt
angelangt. Wenn es eine Gewähr dafür gibt, dass das Ideale
sich irgendwie durchhält und dass es keine restlose Macht des
Diskurses über das logisch-phänomenale Feld gibt, d. h. dass
nicht jede Aussage in Meinung verwandelt werden kann, dann
liegt sie nicht bei dem, was seit Platon als Idee gedacht wurde,
sondern im quodditativen Gehalt, auf den die Idee zurück-
weist. Was sie meint, kann nur durch den Registerwechsel vom
Gegenständlichen, Phänomenalen, Sichtbaren zum Ungegen-
ständlichen und Unsichtbaren par excellence, d. i. zum Dass-
Sein ins theoretische Recht gesetzt werden. Diese Neustellung
der Metaphysik schließt ein Sprechen vom Unsichtbaren ein,
das nicht nur dessen Entzugsmoment festhält, sondern ihm
eine allen logischen Präsenzen überlegene Präsenz zumisst.
Das Unsichtbare hat dann eine Doppelstellung. Es ist nicht nur
negativ das Entzogene, sondern immer auch positiv der Flucht-
punkt des Sichtbaren.
d. Ereignis
nomenalen Perspektive, an die die Bezeugung gebunden ist,
gilt für das Ereignis Futur II oder französisch futur antérieur:
Das Ereignis wird wahr gewesen sein. Die logischen Akte,
also die Praktiken der Bezeugung, die es in der Welt wirksam
machen, stellen zugleich ihre Nachträglichkeit ihm gegenüber
fest. Das Ereignis ist so zunächst unsichtbares Phänomen, d. h.
ein Phänomen, das erst im weiteren in seiner Phänomenali-
tät bestätigt wird. Indem die Beziehung von Bezeugung und
Ereignis von Badiou in die zeitliche Form des futur antérieur
gebracht wird, entsteht eine Verschränkung von Nachträglich-
keit und Zukunft, mit der wieder eine »Geschichte der Wahr-
heit« denkbar wird, ohne hinter den Stand der Ideologie- und
Diskurskritik der letzten Jahrzehnte zurückzufallen. Was die
Wahrheit in ihrer Geschichtlichkeit bewahrt und darin auch
bewahrheitet, ist nicht die verbindliche Lehre (die zum Dogma
tendiert), sondern die im Sinne des futur antérieur organisierte
Form. Die aufbrechende Offenheit, die das Wahre als Ereignis
kennzeichnet, trifft auf die Übernahme dieser Offenheit in der
Bezeugung. Die Bezeugung verschreibt sich dem Wahren also
zunächst im Sinne der Eröffnung, als die es auftritt, und erst
von da aus der Bedeutung, in der sich sein Auftreten inhaltlich
festlegen lässt und die das Wahre der Gefahr aussetzt, sich zu
verschließen. Dies macht die spezifische »Treue« der Bezeu-
gung aus. In erster Linie ist sie eine Wahrheit ermöglichende
Haltung zum Wahren, die aber gerade deswegen die Kraft hat,
es zu tradieren; während die in der Zeit bewegten geronnenen
Inhalte die Wahrheit abschnüren und entstellen. 17
Allerdings stellt sich die Frage, ob die von Badiou vorge-
nommene Trennung von Sein und Ereignis nicht revidiert wer-
den muss, wenn man tatsächlich – und das ist wohl eines der
entscheidenden Vorhaben eines neuen metaphysischen Denkens
17 Vgl. vor allem Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Kap. V, »Das
Ereignis: Eingriff und Treue«, Berlin: diaphanes 2005, S. 229 ff. Ebenfalls
hinzuziehen lässt sich Badious »materialistische« Deutung des paulinischen
Christentums in: Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalis-
mus, übers. v. Heinz Jatho, München: sequenzia Verlag 2002.
überhaupt – zu einem neuen philosophischen Universalismus
kommen möchte. So scheint es, dass Badiou den Ausnahmeas-
pekt der Bezeugung zu stark macht. Er schränkt sie nämlich
auf Manifestationen im logisch-phänomenalen Feld ein, d. h.
konkret auf Manifestationen der Politik, der Erkenntnis, der
Kunst, der Liebe. Aus Sicht dieser Arbeit ist jedoch die Struktur
von Ereignis und Bezeugung, die dort tatsächlich greift, onto-
logisch tiefer anzusetzen. Phänomenalität überhaupt verdankt
sich so verstanden dem, was man mit der Ereignisphilosophie
»quodditative Ereignishaftigkeit« nennen könnte. Der Logos
leistet in jedem einzelnen Phänomen Bezeugung. Er rekurriert
auf den Gehalt des Dass, der Bestimmung und Idee und phä-
nomenalen Sinn erlaubt, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Nur
so erklärt sich, dass das Ereignis überhaupt im Phänomenalen
Thema werden kann. Es ist eine durchgängige phänomenale
Möglichkeit, so wie Bezeugung durchgängig möglich ist, beide
gehören zur ontologischen Verfassung des Menschen. Die Aus-
nahme, die das Ereignis phänomenal darstellt, verweist so auf
die ontologische Regel, die seine Möglichkeitsbedingung ist.
Das, was sich phänomenal als Ereignis darstellt, geht zurück
auf eine Struktur des Seins, nämlich darauf, dass die Phäno-
mene qua Dass-Sein einen quodditativen Gehalt haben, auf die
der Logos zurückkommt. Das explizite Ereignis oder genauer,
die explizite Praxis des Ereignisses zitiert diesen Zusammen-
hang. Sie vollzieht damit eine Gegenwendung zum gewöhnlich
bestehenden Primat des Logos und macht so den Vorrang des
Dass sichtbar. Das Dass äußert sich als formative Kraft einer
Praxis, die sich auf es beruft und die für die bestehende Ord-
nung (die wie jede Ordnung dem Logos, seinen Strukturen und
Diskursen gehört) inkommensurabel ist. Dennoch muss gelten,
dass das Ereignis in jedem Moment möglich und in gewissem
Sinne sogar gefordert ist. Erfahrung überhaupt hat mit dem
quodditativen Gehalt einen ereignishaften Kern. Das Ethos der
Treue zum Wahren einer spezifischen Situation, das Badiou
thematisiert, ist also um dasjenige der Treue zum Wahren aller
Phänomene in jedem Augenblick zu erweitern. Damit erst wäre
die neue universale Perspektive vollständig.
e . S i n g u l a r i tät
Begriff dessen, worin das Differente differiert, d. i. des Singu-
lären. Es gibt stattdessen nur die Leerstelle im System der logi-
schen Totalität.
Man wird die Singularität der Phänomene nur über
ihr Dass denken können, denn in ihm stellt sie sich her. Wie
gesehen, zeichnet das Dass des phänomenal zu Meinenden,
des Phänomens-auf-der-Schwelle, alle mögliche ihm geltende
Bestimmung vor. An sich selbst jedoch ist es sowohl ganz als
auch bestimmungslos, es ist von keinen Grenzen umfasste,
unbedingte Ganzheit oder absolute Präsenz. Der Wirklichkeits-
glaube, der das Dass erfahrungsweltlich umsetzt, ist perma-
nent bezogen auf diese absolute Einzelheit. Wollte der Logos
sie ergreifen (was er aber nicht kann), hätte er so etwas wie
das nicht weiter reduzierbare »Urbild« des Phänomens. Statt-
dessen entwickelt er das Phänomen in Differenz zum »Urbild«,
d. i. zum quodditativen Gehalt, als ein bestimmtes »etwas«.
Das Phänomen wird so ein identisches, das sich qua Bestim-
mung mit anderen Phänomenen vergleichen, also unter dem
Begriff versammeln lässt. Der absolute Gehalt des Phänomens
jedoch bleibt unberührt bestehen. Auf den Begriff bezogen
ist es daher zwar »Teilhabendes«, also Partikulares. Die Par-
tikularität jedoch enthält einen Überschuss über den Begriff.
Entscheidend ist dabei, dass der Begriff dem Überschuss des
Partikularen nicht nur machtlos gegenüber steht, sondern dass
der Überschuss die Möglichkeit des Begriffes selbst anzeigt und
der Begriff ihn als solche bezeugt. Der Überschuss begleitet den
Begriff als das Unbegrenzte, dem sich die begriffliche Begren-
zungsarbeit verdankt. Das Partikulare ist nicht auf dem Grund
der Bestimmung oder des Begriffs, sondern der Begriff ist auf-
grund des quodditativen Gehalts, der das Partikulare zu jedem
Zeitpunkt begrifflich uneinholbar macht.
In der Theorie der letzten Jahrzehnte hat man das »sin-
guläre Phänomen« oft als Manifestation einer radikalen Kon-
tingenz und Endlichkeit gedeutet. Das Kalkül war dabei sim-
pel: Der Begriff ist (ganz klassisch) die überzeitliche Instanz
der Ordnung, das Partikulare hingegen lässt sich der Ordnung
nicht integrieren, es ist daher eben endlich und kontingent,
eine überschießende Negativität. Die einfache Differenz zwi-
schen partikularer Erscheinung und Begriff genügt aber kei-
nesfalls, Singularität zu denken. Es lässt sich im Kontrast auf
das Beispiel explizit erfahrener Singularität verweisen, sie stehe
nun im Zusammenhang einer religiösen Begegnung mit dem
»Göttlichen« oder einer säkularen »Ästhetik der Überschrei-
tung«: Das mit dem singulären Phänomen konfrontierte Ich
der Erfahrung verliert jeden Weltbezug, es begegnet einer wäh-
rend des Erfahrungsverlaufs übermächtigen Präsenz. Indem
die singuläre Präsenzerfahrung das Ich schlagartig, in einem
Moment der »wahren Empfindung« überkommt, scheint sie
von einer transzendent hereinbrechenden Einsicht zu han-
deln. Das Singuläre hat den Charakter der Epiphanie, d. h., es
erscheint gesteigert und als mehr, als es eigentlich erscheinen
kann. Demgegenüber ist es offensichtlich unangemessen, die
epiphane Steigerung des Singulären als verdichtete Negativität
der Endlichkeit zu deuten, wie es eine Philosophie tun muss,
die Singularität und Kontingenz zusammendenkt. Vielmehr
überwindet die Epiphanie sowohl die Zeit als auch den Begriff
oder genauer, sie statuiert eine Positivität, die nachträglich als
Überwindung deutbar ist. An sich selbst jedoch ist sie relati-
onslos, das Da eines Phänomens, das den Bestimmungen ent-
kommen ist und sich dennoch zeigt.
Unbestritten ist der Zusammenhang von Kontingenz und
Endlichkeit ein wesentliches strukturelles Moment mensch-
licher Erfahrung. Kontingenz ergibt sich aus der Perspektive
eines endlichen Wesens, das sein Sein nicht überschauen kann
und dem die Möglichkeit einer vollkommenen Beziehung zum
Sein, ja einer Einkehr ins Sein gleichwohl vorgezeichnet ist. Der
Mensch ist kontingent im unerfüllbaren Horizont des Dass,
auf den ihn der Logos bezieht, um ihn jedoch in der Beziehung,
die auf einer radikalen Differenz basiert, fernzuhalten. Die Sin-
gularitätserfahrung, die gleich der Kontingenz eine strukturelle
Möglichkeit der Erfahrung ist, ist aber gerade die Aussetzung
der Differenz und der Ferne. Die Verhältnisse ändern sich, der
zeitlich-phänomenale Primat des Logos weicht wie die Zeit
selbst. Für eine nicht bemessbare Spanne tritt das Einzelne in
seiner quodditativen Transzendenz hervor. Man kann hier ein-
wenden, dass zumindest der Zeitpunkt der Begegnung mit dem
Singulären kontingent ist. Wie es oben hieß, »überkommt«
er das Ich, es mag ihn nun gesucht und sich auf ihn vorbe-
reitet haben oder unversehens von ihm überrascht worden
sein. Dieses kontingente Moment macht aber noch nicht die
Singularitätserfahrung als solche aus. Vielmehr gilt es für alle
phänomenale Erfahrung. Nie lässt sich ganz absehen, obwohl
annäherungsweise entwerfen, was geschehen wird. Dies jedoch
resultiert aus der Begrenzungsarbeit des Logos. Die inkom-
mensurable Singularität der Phänomene ist damit nur indiziert,
nicht aber an sich selbst hervorgetreten. Das ist erst in der
Präsenzerfahrung der Fall, die auf das Dass verweist. In ihr
zeigt sich Singularität als das Unbegrenzte, dem gegenüber der
Logos stumm bleibt. Gewiss kann man auch vom Unbegrenz-
ten der Singularität sagen, dass es für alle Erfahrung gilt. Es
tut dies jedoch abgerückt als der (permanente und keinesfalls
kontingente) Bezugspunkt der Differenz, die der Logos statu-
iert und aus der er ist. Solange der Logos sich an der Differenz
bestätigt, gilt die Kontingenz. Sie ist gleichsam die »bestimmte
Negation« des Logos, die Weise, in der er sich seiner eigenen
Begrenzungsarbeit versichert. Die Präsenzerfahrung dagegen
meint das Zurücktreten des Logos, die Öffnung der Grenzen,
eine Inversion, die dazu führt, dass der Logos in sich selbst
einbricht und dem Dass Raum gibt. Allerdings heißt das nicht,
dass die Singularitätserfahrung vor den quodditativen Gehalt
eines Phänomens bringt. Vielmehr bleibt das Erfahrene Phä-
nomen, obgleich ein solches, das von einer potentiellen und
immer ausstehenden Fülle angereichert ist. Singularität ist nicht
integrierbar, aber sichtbar, das gilt zum einen für die exzeptio-
nelle Präsenzerfahrung, in der Singularität ihren eigenen Rang
nachweist und sich von da aus als strukturelles Moment von
Erfahrung begreifen lässt; es gilt aber auch für die einfache
Singularität der Phänomene, mit der die gewöhnliche Erfah-
rung zu tun hat.
5. Innere Transzendenz und innere
Transzendenz der Zeit
Die Alternative von Rationalismus und Irrationalismus ist hier
noch nicht relevant.
Die Bezeugungsstruktur trägt der Nachträglichkeit des
Logos Rechnung, durch die Transzendenz zu seinem inneren
Moment wird. Der Logos legt das Quodditative als ein Vor-
gängiges aus, auf das er in der Auslegung angewiesen bleibt
und dem er nicht adäquat entsprechen kann. Das Vorgängige
bleibt also immer ein Mehr, das Ziel eines unmöglichen Über-
stiegs, der sich aber in den Bezeugungen des Logos anzeigt,
also ihnen Transzendenz einschreibt.
Die Struktur einer inneren Transzendenz des Phänomena-
len, die auf das Verhältnis von Logos und Quodditas zurück-
geht, wird komplexer, wenn man die statische Analyse des
Wirklichkeitsglaubens zu einer dynamischen erweitert. Dies
bedeutet, dass die Zeitlichkeit des Phänomenalen in die Über-
legungen einbezogen werden muss. Bislang nämlich wurden
die Phänomene als etwas thematisiert, das sich auf verschie-
dene Weisen (als Bestimmtes, als Evidentes, als Singuläres) in
der Erfahrung gibt, ohne den Modus dieses Sich-gebens, der
die verschiedenen Weisen fundiert, zu berücksichtigen. Er ist
phänomenal eben die Zeit, d. h. Bestimmung, Evidenz, Singu-
larität beziehen sich auf werdende und endliche Phänomene,
selbst wenn sie den Gang der Zeit zu unterbrechen scheinen.
Auch für die Bezeugungsstruktur spielte die Zeitlichkeit nur
ansatzweise eine Rolle, weil sie zwar für das Verhältnis von
quodditativem Gehalt und Logos veranschlagt, aber nicht auf
die Phänomenalität der Phänomene selbst gewendet wurde.
Zum Verständnis der Bezeugung war dies auch ebenso wenig
nötig wie für dasjenige von Evidenz und Singularität. Bei allen
dreien handelt es sich um Indikatoren des Überzeitlichen im
Zeitlichen. Jedoch bleibt zu bestimmen, wie sich das Überzeit-
liche in die Struktur der Zeit fügt, die für das Phänomenale
grundlegend ist. Die innere Transzendenz des Phänomenalen
lässt sich nur über den Begriff einer inneren Transzendenz der
Zeit ganz erschließen – was impliziert, dass der Begriff des
Phänomenalen auch dann erst vollständig ist. Hierzu gehört,
dass das dynamische Moment, um das es der Analyse geht,
zunächst aus dem Phänomenalen zu entwickeln ist. Allerdings
wird sich zeigen, dass die phänomenale Dynamik als Umset-
zung einer Vorzeichnung zu verstehen ist, die der Quodditas
geschuldet ist und an der sich der Logos permanent abarbeitet.
Der Permanenz, mit der der Logos an die quodditative
Vorzeichnung gehalten ist, entspricht die Permanenz des Wirk-
lichkeitsglaubens. Beide rekurrieren auf das Dass. Jedoch hat
der Wirklichkeitsglaube nicht an sich selbst Permanenz, son-
dern für den Logos. In gewisser Weise erkennt der Logos in der
Permanenz des Wirklichkeitsglaubens die Permanenz wieder,
zu der ihn das Dass zwingt. Der Wirklichkeitsglaube ist an sich
selbst zeitlos, sein Bezugspunkt ist absolute Präsenz. Durch die
Verschlingung von Dass und Logos ist die absolute Präsenz
aber mit der Zeitlichkeit verwoben. Von daher muss auch für
den Wirklichkeitsglauben eine Zeitform gelten. Er ist zeitlich
ohne zeitliche Bestimmung, er ist permanent. Permanenz ist
allerdings eine abstrakte Form. Sie kann nicht erfassen, inwie-
fern der Wirklichkeitsglaube das Dass von »etwas« statuieren
kann, also den Gehalt eines bestimmten Phänomens vorzeich-
net. Die Permanenz ist hierzu gleichsam zu »punktualisieren«.
Sie ist anzusetzen als ein Jetzt, das sich zusammenzieht und
so den Gehalt eines bestimmten Phänomens ausmacht. Die
Punktualität gilt aber kontinuierlich, sie bezieht sich auf alles,
was je Phänomen sein kann. Das punktuelle Jetzt trägt also die
Entfaltung zum universalen Jetzt in sich und andersherum, das
universale Jetzt versammelt alles punktuelle Jetzt in sich. Das
Dass ist der Horizont alles spezifischen Dass, aber es besteht
zwischen beiden Seiten kein hierarchisches Verhältnis, keine
Über- respektive Unterordnung. Sie implizieren einander oder
genauer: sie sind in dieser Implikation zu denken, denn das
Denken muss die Quodditas in der Formel »Dass von etwas«
fassen. Das »etwas« steht dabei ebenso für Phänomenalität
überhaupt wie für das spezifische Phänomen. Das Dass gilt für
beide Fälle, d. h., es setzt das Spezifische ebenso ein wie das
Universale, das sich im weiteren zum Allgemeinen abstrahie-
ren lässt. Der volle logisch-phänomenale Ausdruck des Dass,
der sich vom Wirklichkeitsglauben, von seiner durchgängigen
Präsenz für das Phänomenale aus aufweisen lässt, ist also das
Jetzt. Das Jetzt ist weder statisch (denn es ist in jedem Augen-
blick) noch dynamisch (denn es ist erfüllt). Vielmehr ist es in
sich aufgefächert, sodass das einzelne Jetzt auf das universale
Jetzt verweist und das universale Jetzt dem einzelnen Jetzt
Raum gibt.
Mit dem quodditativen Jetzt lässt sich die innere Trans
zendenz des Phänomenalen grundlegender adressieren. Ihr
strukturelles Fundament wird einsichtig als das einer inneren
Transzendenz der phänomenalen Zeit. Die Ganzheit, d. i. der
quodditative Gehalt, der aus statischer Perspektive der Flucht-
punkt des Phänomenalen war, ist temporalisiert zum Jetzt. Er
hat seinen Ganzheitscharakter dadurch jedoch nicht verloren,
denn nach wie vor ist er kein Phänomen, d. h., er ist der Zeit
nicht unterworfen. Die »Temporalisierung« betrifft so seine
Rolle für die strukturelle Organisation des Phänomenalen.
In dem Maße, in dem die Zeitlichkeit für dieses grundlegend
ist, bildet das quodditative Jetzt den Fluchtpunkt, der die Zeit
ermöglicht, weil er ihr Ganzheit ein- und vorzeichnet.
Das quodditative Jetzt darf keinesfalls mit dem Jetzt der
phänomenalen Zeit verwechselt werden. Das phänomenale
Jetzt nämlich ist nichts weiter als der Schnittpunkt von Vergan-
genheit und Zukunft und darum auf eigentümliche Weise ver-
schoben. Einerseits bildet es sich aus vergangenen Jetztmomen-
ten, andererseits verweist es selbst auf ein kommendes Jetzt,
das seinerseits vergehen wird. Solcherart von Vergangenheit
und Zukunft zerrieben, wird das Jetzt zum Signum der selbst-
bezüglichen Dynamik der Zeit, die negativ verläuft, d. h. aus
einer fortgesetzten Akkumulation des Nicht-mehr besteht: Was
sich auf dem Grund dessen bildet, was nicht mehr ist, ist selbst
das, was nicht mehr sein wird. Sicher kann man diese negative
Dynamik in eine positive umzudrehen versuchen, indem man
darauf insistiert, das Jetzt sei das Noch-nicht eines Zukünfti-
gen, während sich das Noch-nicht eines Vergangenen in ihm
erfüllt. Dies jedoch ist nur möglich, wenn man annimmt, dass
es eine Zukunft vollständiger Erfüllung gibt, die den Aufschub
des Jetzt beendet, indem sie die Zeit in sich selbst einkehren
lässt. Im Sinne der Zeitkonstitution selbst jedoch darf es dieses
Jetzt der ultimativen Erfüllung nicht geben. Das Ende der Zeit
hieße eben, dass die Zeit aufhört, d. h., ein Jetzt der Erfüllung
geht gegen den Sinn der Zeit selbst, die auf die Verschiebung
und Fluktuation des Jetzt angewiesen ist. Mit dem definiti-
ven Jetzt bräche das Spiel von Vergangenheit und Zukunft in
sich zusammen. Das phänomenale Jetzt ist also im Status des
Nicht-mehr zu halten und in ihm zu perpetuieren bzw. die sich
perpetuierende Zeit ist die Zeit des wachsenden Nicht-mehr. In
gewisser Weise zehrt die Zukunft die Vergangenheit auf, indem
sie das nie eingelöste Versprechen gibt, es könnte ein letztes
Jetzt geben.
Strukturell bemerkenswert an der Zeit ist, dass sie das
definitive Jetzt zwar nicht zulassen kann, aber es doch für ihre
Konstitution fordert. Das Nicht-mehr nämlich muss mehr sein
als Nichts, es muss zumindest einen positiven Gehalt haben,
denn sonst wäre das, worauf es sich bezieht, wäre das phäno-
menale Jetzt nie gewesen und könnte auch niemals gewesen
sein. Es gibt also doch eine Präsenz der Zeit, aber diese Präsenz
stellt sich in der Zeit nie ein, sie bildet den zeitlich entzogenen
Grund der Zeit. Die Paradoxie einer zeitlich unmöglichen Prä-
senz der Zeit lässt sich nur auflösen, wenn man den Register-
wechsel vollzieht und die entzogene Präsenz als quodditatives
Jetzt versteht. Der Gehalt der Zeit liegt also in ihrem Dass,
und zwar sowohl im Dass jedes einzelnen phänomenalen Jetzt
als auch im Dass der Zeit überhaupt. Letzteres lässt sich auch
fassen als das Dass der Zeit als ganzer, wobei die Ganzheit nur
hier positiv ist, also nicht für eine Totalität des Nicht-mehr
steht, sondern für das vollständige Gegebensein der Zeit, das
deren negative Arbeit in jedem Moment überbietet. Die Rede
vom Noch-nicht der Ganzheit bezieht ihr Recht einzig aus der
quodditativen Zeitdimension, denn phänomenal kann sie wie
gesehen nichts meinen. Immerhin wird sie damit zum Hinweis
auf die tiefe Ambivalenz der Zeit. Die Zeit ist endlich, aber in
ihr wirkt ein überzeitlicher Gehalt, d. h., ihrer Anlage nach
transzendiert sie sich selbst, ohne die Transzendenz einholen zu
können (was auch gegen den Begriff der Transzendenz ginge).
Das bedeutet wiederum nicht, dass die Transzendenz an sich
selbst der Zeit enthoben wäre und es also eine eigene Sphäre
des Überzeitlichen gäbe. Vielmehr gehört die Transzendenz der
Zeit zur Zeit selbst, ihr gründender Bezug zur Zeit lässt sich
nicht ablösen, es gibt keine Möglichkeit, Zeit und Transzen-
denz voneinander zu trennen.
Die innere Transzendenz verleiht dem Phänomenalen
einen eschatologischen Sinn. Es ist mit ihr auf ein Letztes, auf
seine Ganzheit oder Fülle bezogen. Ganzheit oder Fülle jedoch
sind nicht selbst phänomenal. Sie bezeichnen daher nicht die
Einlösung des Phänomenalen, d. h., es wird keine Zeit kom-
men, in der das Phänomenale sich erfüllt. Hieraus ergibt sich
ein Modell von Eschatologie, das zu den beiden maßgeblichen
Modellen der abendländischen Tradition, dem biblischen
einerseits und dem gesellschaftspolitischen einer säkularisierten
Heilsgeschichte andererseits, quer steht.
Auf jeweils eigene Art avisieren beide Modelle die »Fülle
der Zeit«. So entwirft die biblische Eschatologie zwar einen
radikal neuen Seinsstand, bezieht ihn aber auf eine einzige
Zeit, in der sich bestehendes und neues Sein versammeln, um
sich aneinander einzulösen. Indiziert ist das dadurch, dass die
in der Bibel dokumentierten Vorstellungen vom neuen Seins-
stand, die mit der nachexilischen jüdischen Prophetie beginnen
und auf christliche Endzeitvorstellungen übergreifen, durch-
gängig das phänomenale Leben zitieren, das nur der Gewalt
der Endlichkeit und ihren Implikationen wie Tod, Leiden,
Unrecht enthoben wird. 18 Die neue Zeit der Heilsordnung ist
so weiterhin »Zeit des Erscheinens«. Die Phänomenalität des
Seins bleibt bestehen, ihre Bedingungen sind nicht so verän-
dert, dass sie sich selbst aufheben und sich damit allerdings
auch jeder Vorstellung entziehen würde.
Hingegen löst sich zwar der politische Messianismus, der
als eine Weltanschauungen übergreifende ideelle Formation
der Moderne den religiösen Messianismus beerbt, von der
Vorstellung einer erlösten Welt jenseits der bestehenden Welt,
jedoch nur, um den eschatologischen Impetus bruchlos auf das
»Diesseits« und die phänomenale Zeit zu beziehen. Verglichen
mit dem biblischen Modell kehrt sich die Richtung der Zita-
tion damit um. Das Phänomenale wird zum Ort einer durch-
greifenden Verwandlung, in der die religiöse Vorstellung des
neuen Seinsstandes wiedererscheint. Das phänomenale Leben
ist im Rahmen seiner selbst zu befreien. Die Bedingungen von
Unrecht und Leiden sind aus ihm zu extrahieren, bis abschlie-
ßend die irdische Heilsordnung in Gestalt eines politisch-sozi-
alen Gefüges etabliert ist. Die »Fülle der Zeit« wird umgelegt
auf einen bestimmten geschichtlichen Status quo.
Lässt sich aber vom eschatologischen Imperativ aus, der
im politischen Messianismus greift, ohne weiteres auf seine
phänomenale Einlösung schließen? Nach dem Vorschlag dieser
Arbeit ist die eschatologisch informierte Forderung nach einer
»guten Welt« – was immer darunter im Einzelnen verstanden
werden mag – vielmehr als ein Sinn zu fassen, der sich zwar
auf das Phänomenale bezieht, aber ihm gegenüber inkommen-
surabel ist. Das Letzte ist so verstanden schon eingetreten,
nicht jedoch als die Ordnung einer definitiv gerechten Welt,
18 Vgl. etwa als eine zentrale Passage biblischer Eschatologie Jesaja 65,
17-25: »Denn siehe, ich will einen neuen Himmel schaffen und eine neue
Erde, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu
Herzen nehmen wird. (…) Man soll nicht mehr hören die Stimme des Wei-
nens noch die Stimme des Klagens. (…) Wolf und Schaf sollen beieinander
weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind (…). Sie werden weder
Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der
Herr.«
sondern als dasjenige, was die bestehende Welt sein lässt, und
zwar so, dass sie dabei über sich selbst hinaus auf ihre eigene
Verwirklichung gerichtet wird. Die »Fülle der Zeit« ist aus-
gehend von diesem komplexen Beziehungsverhältnis, von der
sie bestimmenden Dynamik zwischen Immanenz und Trans-
zendenz zu denken. Erst unter dieser Voraussetzung kann sie
zum möglichen und zugleich nicht abschließenden Raum des
Lebens werden.
6 . D e r e s c h ato lo g i s c h e S i n n : D r e i I d e e n
sie den Primat des Logos auf. Das Vernunftdenken kann diese
beiden Momente nur entwerfen, statt von ihnen als Konsti-
tuenten seiner eigenen Situierung im Sein auszugehen. Daher
objektiviert es einerseits die Wirklichkeit zur Idee Gottes als
des allervollkommensten Wesens und beharrt andererseits auf
einer Freiheit, die im eingeschränkten, rein logisch-phänome-
nalen Feld der Vernunft unmöglich ist. Dies ist kein Einwand
gegen die Vernunft, insofern sie die im Phänomenalen aufbre-
chenden überphänomenalen Postulate »vernimmt«. Die »ver-
nehmende Vernunft« – und das ist ein Pleonasmus – ist die
einzige Möglichkeit, den Ideen zu entsprechen. Sie bringt sie
dabei aber nur im abgeleiteten Sinne hervor, d. h., sie expliziert
sie, während sie implizit von den Zusammenhängen bestimmt
ist, die von den Ideen angezeigt sind. Die Ideen, die sich für ein
die Quodditas einbeziehendes Denken ergeben und den escha-
tologischen Sinn fassen, sind die Ideen von Geschichte, Welt
und Integrität.
a. Geschichte
lose evolviertere Narrative zurückgreifen. Der Anfang kann
so etwa als Geschehen der göttlichen Schöpfung, der Erwäh-
lung eines bestimmten menschlichen Kollektivs oder auch der
menschlichen Selbstermächtigung vorkommen; der Untergang
kann als katastrophal gefasst oder zur Erlösung verklärt oder
als offen und unbestimmt veranschlagt werden. Diese und
andere Varianten haben jedoch gemein, dass sie die Idee der
Geschichte ausschließlich phänomenal wenden, sodass das
Ganze stets ein phänomenales Ganzes ist. Einzig nach-moderne
Konzeptionen eines aufgeschobenen Endes, die die Offenheit
des modernen Geschichtsendes weiterentwickeln, rücken das
Ende vom Phänomenalen ab, weil es sich unter phänomenalen
Bedingungen nicht entwerfen lässt. Allerdings wäre im Rahmen
solcher Ansätze, die unter dem Paradigma des »Kommenden«
stehen – also etwa der »kommenden Demokratie« (Derrida),
der »kommenden Gemeinschaft« (Agamben) –, noch stärker
zu berücksichtigen, dass die eschatologische Beziehungsstruk-
tur von Anfang und Ende das Phänomenale zwar strukturiert
und deutungsgebend für es ist, aber hinsichtlich ihrer Ermög-
lichung radikal nicht-phänomenal liegt. Das Entzugsmoment
der Zukunft, das diese unterschiedlich angelegten, jedoch
gleichermaßen an einem retablierten messianischen Geschichts-
begriff arbeitenden Konzeptionen kennzeichnet, ließe sich so
positiv betonen: Das Ganze der Zeit entzieht sich, aber es ist
zugleich der Fluchtpunkt der Zeit, der die phänomenale The-
matizität von Anfang und Ende erst eröffnet. Die quodditative
Dimension erlaubt es also etwa, den phänomenalen Anfang als
Entstehungsmoment des Kosmos zu berechnen oder sich die
katastrophischen Vorgänge des Zeitendes auszumalen. Solche
Verfahren reichen aber andersherum an das Dass nicht heran.
b . W e lt
Die Idee der Welt zieht die dynamische Idee eines Ganzen der
Zeit zurück ins Statische. Bereits in der Geschichtsidee ging
es um die Welt, denn sie ist derjenige phänomenale Bereich,
der der menschlichen Erfahrung offen steht. Etwa schließt
die Vorstellung vom Zeitende diejenige vom Weltende ein. In
gewissem Sinne muss so gelten, dass die Idee der Welt erst mit
der Idee der Geschichte vollständig ist. Dennoch verfügt die
Weltidee über einen eigenen Status. Das wird deutlich, wenn
man an die Analyse der Welt als logisch-phänomenales Feld
zurückdenkt. Die Welt als der Horizont der Phänomene, also
als dasjenige, worin und woraufhin sie erscheinen, zeichnete
sich dort als Fragment des Fragmentierten ab. Trotzdem meint
die gewöhnliche Rede von »der Welt« die Welt als etwas
Ganzes, das als »Raum aller möglichen Erfahrung« positiv
konnotiert ist. Die Fragmentierung, die im weiteren auf die
Zeitlichkeit verweist, scheint hier überwunden. Es gibt jedoch
keine Möglichkeit eines phänomenalen Aufweises der Welt als
eines Ganzen oder als Möglichkeitsraum (und nicht etwa als
Raum der Abbrüche). Ein positiver Weltbegriff ist daher nur
möglich, wenn man davon ausgeht, dass die Welterfahrung
oder die phänomenale Erfahrung in sich selbst über sich selbst
hinausgewiesen ist. Jede Erfahrung der Welt oder der weltli-
chen Gegenstände enthält mehr, als sich ihr selbst entnehmen
lässt. Dieses Mehr ist ihr eschatologischer Sinn, den die Welt-
idee aufnimmt. Wie im Falle der Geschichtsidee strukturiert sie
die Erfahrung, ohne je mit ihr zusammenfallen zu können. Sie
verweist diese auf eine phänomenal unmögliche Ganzheit, die
sich in der Erfahrung selbst nicht einlöst und sie doch »sein«
lässt. Die Ganzheit lässt sich in der Folge als geschichtlich the-
matisieren.
c . I n t e g r i tät
Ganzheit von Geschichte und Welt kann sie sich nicht einlösen.
Dennoch verweist die Singularitätserfahrung auf das, was Inte-
grität meint. Sie bringt vor die Fülle der Phänomene, vor ihre
Unantastbarkeit durch die Zeit und die zeitlich strukturierten
phänomenalen Zusammenhänge. Die Phänomene erscheinen
unversehrt, d. i. integer.
Die Idee der Integrität kommt überall da vor, wo es um
die Inkommensurabilität der Phänomene geht, darum, dass sie
über eine gleichsam »innere« Widerständigkeit verfügen, dass
sie sich sogar gegen ihre Verletzung oder Zerstörung behaup-
ten und sie in gewissem Sinne überstehen. Angemessen gefasst,
ist Integrität nicht exklusiv »menschlich«, sondern universal.
Gleichwohl wird sie da, wo sie als Thema auftaucht, in der
Regel zunächst auf den Menschen bezogen, sei es, dass sie als
psychische Substanz oder »Seele« gefasst wird, deren phäno-
menales Leben in ein postmortales Nachleben überzugehen
vermag, oder sei es, dass sie funktional als praktische Qualität
verstanden wird, die es erlaubt, in den und gegen die faktischen
Lebenssituationen autark zu bleiben (aktiv etwa als »Tugend«,
passiv als »Würde«). Die Beispiele zeigen, dass Integrität eine
ethische Konnotation hat, nämlich mit dem Wert bezogenen
Charakter menschlichen Seins zusammenhängt. Jedoch ist hier
zu beachten, dass die Integritätsidee noch nicht selbst einen
Wert angibt. Dies ist erst der Fall, wo der Logos in der eigenen
Identitätsbewegung entdeckt, auf Integrität angewiesen zu sein
und damit die Integrität aller Phänomene hervortreten lässt.
Dieser Aspekt von Integrität wird spätere Überlegungen dieser
Arbeit beschäftigen. Integrität wird sich dort als das konstitu-
tive Leitbild eines ethischen Grundverhältnisses erweisen, in
dem menschliches Sein zum Phänomenalen steht. Die Integri-
tätsidee bekommt damit Vorrang vor den Ideen von Geschichte
und Welt, auch wenn das menschliche Ethos nur mit ihnen
vollständig ist. Dennoch kommen im konkreten phänomenalen
Vollzug die von Integrität strukturierten Bezüge zu den Phä-
nomenen vor dem weltlich-geschichtlichen Horizont, in dem
diese erscheinen.
An sich selbst ist die Integritätsidee allerdings ohne ethi-
sche Konnotation: In der Integrität liegt, dass die Phänomene
als singulär, ganz und unverfügbar erfahren werden können.
Die Integritätsidee führt damit zunächst auf die Eigenständig-
keit der Phänomene. Eigenständigkeit nämlich setzt Ganzheit
voraus, denn nur Ganzheit gewährleistet, dass etwas »unbe-
dingt«, d. h. ohne ergänzendes Element bestehen kann. Wenn
sich nicht zeigen lässt, dass die Phänomene auf irgendeine
Weise ganz sind, sind sie zwangsläufig als bedingt zu denken.
Da die Phänomene unter der Maßgabe des Logos erscheinen,
bleibt als bedingende Instanz nur der Logos. Er mag subjek-
tiv, objektiv oder subjektiv-objektiv gewendet werden, für die
Eigenständigkeit der Phänomene lässt er in keinem Fall Raum.
Der gebrochene Charakter des Erscheinens arbeitet also de
facto dem Logos zu, die »Abschattung« der Phänomene ruft
geradezu nach einer phänomenal-ideellen Matrix, dank derer
sie sein können. Demgegenüber erschließt die Integritätsidee
die singuläre Ganzheit der Phänomene, indem sie den eschato-
logischen Sinn der Phänomene in die Erfahrung zieht.
d . Id e e n : P r a x i s
Ideen formulieren, die jedoch auch unformuliert für sie gelten.
Diese gleichsam »bewusstlose Geltung« betrifft auch den Men-
schen, denn die Ideen sind auf kein menschliches Bewusstsein
angewiesen. Des Bewusstseins bedarf nur der Mensch selbst,
der das, was die Ideen erfassen, auf sich bezieht, d. h. sich die
eigene phänomenale Situation in einem geschichtlichen, welt-
lichen und integren Sinne erschließt. Die praktischen Formen,
in denen das geschieht, können divers sein. Sie reduzieren sich
keinesfalls auf die metareflexiven Formen des Denkens, also
auf das weite Feld einer theoretischen Praxis. Geschichte, Welt,
Integrität bestehen für den Menschen vielmehr schon allein
kraft des ontologischen Verhältnisses, das er »ist«, also inso-
fern er sich als das Medium, über das sich die Verschlingung
von Dass und Logos phänomenal darstellt, auf sich selbst
entwirft. Das praktische Sein, d. i. das Sein einer quoddita-
tiv gegründeten, medialen praktischen Vernunft, bildet so die
spezifisch menschliche Variante des Phänomenalen. Alle Phä-
nomene tragen einen eschatologischen Sinn, sie alle sind von
der quodditativen Ganzheit des Erscheinens geleitet, das einen
zeitlichen, einen räumlichen und einen singulär-integren Aspekt
hat. In der menschlichen Praxis jedoch wird der eschatologi-
sche Sinn eigens auf die Phänomene zurückbezogen. Am escha-
tologischen Grundcharakter des Phänomenalen ändert sich
dadurch nichts. Ebenso wenig löst sich durch die menschliche
Praxis etwas ein, das sich nicht schon im Erscheinen der Phä-
nomene eingelöst hätte. Es bildet sich jedoch eine Art »innere
Hypostase« des Phänomenalen, ein Raum der Reflexion, der
seinerseits von der inneren Transzendenz des phänomenalen
Seins durchquert ist.
II. Wirklichkeit
1. Verwirklic hung
belässt. Verwirklichung zielt also nicht auf Gestaltwerdung,
sie ist nicht zu verwechseln mit einem Wachstums- oder Ent-
wicklungsprozess der Phänomene, an dessen Ende sie gleich-
sam »ausgereift« sind. Vielmehr bringt die Verwirklichung
die Phänomene je schon in ihre Gestalt, die sich phänomenal
ändert. Das Werden der Phänomene gehört nur in abgeleitetem
Sinne zum Verwirklichungscharakter der Phänomene, nämlich
insofern, als das Werden, das sich aus der Zeitigungsarbeit des
Logos ergibt, den Bezug zum bleibenden quodditativen Gehalt
der Phänomene braucht. Das Indiz der Verwirklichung ist der
ständige Überstieg der Phänomene über sich selbst, sie drängen
zu jedem Zeitpunkt und auf jeder Stufe ihres Alterns zu sich
selbst, sie sind immer in der Verwirklichung. Wenn man die
letzte Auffächerung des Dass wie oben als die einer Präsenz der
Präsenzen deutet, kann man sogar sagen, dass die Phänomene
in der Verwirklichung über ihr phänomenales Ende hinaus
sind. Sie werden enden oder haben bereits geendet, aber die
Wirklichkeitsdimension ist davon nicht berührt. Mehr aller-
dings als dieser formale Begriff eines »Seins jenseits des Endes«
lässt sich nicht erreichen. Was er markiert, die Unendlichkeit
des Endlichen, kann nicht selbst Gegenstand von Erfahrung
werden, obgleich es in die Erfahrung hineinspielt.
Die Prägung des phänomenalen Seins durch die quoddita-
tive Wirklichkeit wird am deutlichsten in der »inneren Hypo-
stase«, die das menschliche Seinsverhältnis im (phänomena-
len) Sein bildet. Menschliche Praxis sucht die Verwirklichung
in der phänomenalen Erfüllungsgestalt. Die Intentionen, mit
denen sich der Mensch auf die Phänomene richtet, zielen stets
in irgendeiner Weise darauf, dass die Bezugnahme sich einlöst.
Dies fällt vor allem auf, wo der Mensch handelt, also sich
bestimmte Vorsätze macht, seien sie kreativ oder destruktiv,
materiell gebunden oder symbolisch, präsentierend oder reprä-
sentierend.
Die Erfüllung ist allerdings dadurch gebrochen, dass sie in
das Verstehen des Menschen eingebunden ist. Das Verstehen
vollzieht den Logos, d. h., es ist Auslegung dessen, was qua
Logos schon immer ausgelegt ist, sein formaler Schlüssel ist das
hermeneutische Als, das etwas je als etwas erscheinen lässt und
so Auslegung iteriert zu a priori Auslegung von Auslegung.
In der iterierten Auslegung der menschlichen Erfahrung wird
der quodditative Gehalt, der die praktische Erfüllungstendenz
vorgibt, sowohl zurückgesetzt als auch bewahrt. Zum einen
nämlich iteriert sich mit der Auslegung auch die Erfüllungsbe-
wegung. Ein bestimmter Handlungsvorsatz kann zwar erfüllt
werden, wird aber durch die Anforderungen neuer Situatio-
nen überholt. Vollständige Erfüllung ist also unmöglich, was
auch ausschließt, dass irgendeine phänomenale Erfüllung für
sie einstehen könnte. Andererseits jedoch verdankt sich die Ite-
ration der Vorzeichnung von Erfüllung. Diese Vorzeichnung
bleibt bestehen, auch wenn die Erfüllung limitiert ist, d. h., der
Möglichkeitsraum der Erfüllung bleibt offen. Die Verwirkli-
chungstendenz hält sich im Gang der Auslegung durch. Der
quodditative Gehalt, der qua Wirklichkeitsglauben Konstitu-
ent von Erfahrung ist, wird durch das hermeneutische Als des
Verstehens zum inneren Sinn des Phänomenalen, d. i. zum Sinn
einer relativen und immer weiter getriebenen Erfüllung. Das
Ganze und das Fragmentierte treten zusammen: Wir erkennen,
aber nie vollständig, wir wollen, aber nicht vollständig, wir
erfüllen, aber nicht vollständig.
den die menschliche Sprache bildet, trägt dieser Komplexität
des Phänomenalen Rechnung. Sie ist aber auch nur auf dieser
Ebene der sprachlichen Präsentation und Repräsentation zu
analysieren. Die phänomenale Komplexität ist logisch. Sie ist
das Ergebnis der iterierten Auslegung des Logos. Es ist sicher
möglich, einzelne Auslegungsfelder zu betrachten und etwa
der Genese ihrer Semantiken nachzugehen. Jedoch liegt das
eigentliche Interesse dieser Arbeit darin zu zeigen, inwiefern
die Semantiken etwas meinen können, und was die es übergrei-
fenden Konnotationen dieser Möglichkeit sind. Anders gesagt:
Es geht um die Subjektstelle der Satzform, die die Komplexität
des Phänomenalen sprachlich expliziert, also sie zur Auslegung
von Auslegung macht. Das Subjekt des Satzes wird durch
den Satz bestimmt, aber es verdankt sich nicht der Bestim-
mung durch den Satz. Vielmehr ist es dasjenige, von dem die
Bestimmung gefordert ist, selbst wenn sie unwahr sein, also
nicht zutreffen sollte. Für die Subjektstelle (und damit auch
für das Subjekt, dem sie Raum gibt) gilt zweierlei. Einerseits ist
sie immer einzeln, auch wenn sie inhaltlich plural gefüllt wird.
Was sich an ihr fassen lässt, ist ein einzelnes zu Meinendes, ein
zu Bestimmendes, das zunächst isoliert ist. Andererseits kann
jedes Glied der Bestimmung selbst an die Subjektstelle rücken,
denn alles ist formal ein zu Meinendes und zu Bestimmendes.
Jede Theorie, die dem Phänomenalen als semantischem Feld
gewidmet ist – und zwar unabhängig davon, ob sie nach der
möglichen Wahrheit von Aussagen, nach diversen sprachli-
chen Typen oder nach der historisch-diskursiven Entfaltung
und Setzung von Bedeutungen fragt –, ist an diesen isolierten
subjektiven Kern des Phänomenalen zurückzubinden, der die
Phänomene als zu Meinende und im weiteren zu Bestimmende
etabliert. Es ist hier allerdings zu beachten, dass der »isolierte
subjektive Kern« bloß aus der Perspektive der hermeneutischen
Auslegung besteht, also etwas ist, das aus ihrer formalen Ana-
lyse folgt. Nur wenn man sich auf sie beschränkt, d. h. aber die
Macht des Logos für total erachtet, kann er für die »Substanz«
der Phänomene gehalten werden. Geht man dagegen davon
aus, dass sich der Logos einem ihn durchquerenden Überschuss
verdankt, wird auch die »Substanz« zu etwas Überschießen-
dem, das sich immer schon auf die Bestimmungen verwiesen
hat, ohne in ihnen aufzugehen. Es gibt so betrachtet keinen
substantiellen Kern. Die Subjektstelle verweist auf einen vor-
gängigen und phänomenal entzogenen Fluchtpunkt, der in den
Bestimmungen nur wiedererscheint oder auch (in keinesfalls
kausalem Sinne) wirkt. Der quodditative Gehalt ist nicht Sub-
stanz.
3. Das »Wirkliche«
offen zutage zu liegen scheint, beginnt damit zu wanken. Die
Auslegung verfängt sich in sich selbst. Tatsächlich kann sie
das, »was so da ist, wie es da ist«, nicht einmal als eigenstän-
dig postulieren, weil in der reflexiven Wendung (»wie«), die
das Da verdoppelt, schon deutlich der Eingriff der Auslegung
sichtbar ist. Es liegt nahe, das Wirkliche als Setzung der Aus-
legung zu erachten. Dann jedoch bricht die Grenzziehung zwi-
schen dem Wirklichen und dem Scheinhaften zusammen, denn
auch der Schein ist Setzung, deren Unterschied zur Setzung des
Wirklichen sich nur schwer plausibel machen lässt. Dass die
philosophische Theorie dies dennoch versucht hat, indem sie
der Wirklichkeitsproblematik diverse Wendungen gegeben hat,
braucht kaum erwähnt zu werden. Zufriedenstellend war keine
ihrer Lösungen, sodass in der gängigen Rede von den »wirkli-
chen Dingen« oder auch den »wirklichen Ideen«, die sich an
den »wirklichen Dingen« ausweisen lassen, unverändert ein
Abgrund klafft. Das philosophische Beharren auf dem, was
man umgeformt den »Wirklichkeitsaspekt des Phänomenalen«
nennen kann, und im Zuge dessen die Verwahrung gegen den
Schein sind dennoch berechtigt. Nur sind die Kriterien dafür
wohl woanders zu suchen als auf dem Feld der Urteile und
Vorurteile, das erlaubt, »wirklich« ohne weiteres als Prädikat
zu verwenden.
Auch in der hier versuchten Fassung des Wirklichkeits-
begriffs wird davon ausgegangen, dass das Problem dessen,
»was so da ist, wie es da ist«, vorrangig ein hermeneutisches
Problem, also ein Problem des auslegenden Logos ist. Jedoch
ist diese Einsicht um den Zusatz zu ergänzen, dass das »Was«,
eben weil es »da« ist, nicht vollständig dem hermeneutischen
Logos entspringt. Die Evidenz oder Gewissheit, die dem Was
anhaftet und die die reflexive Verdopplung des »Da« erlaubt,
ergibt sich aus dem quodditativen Gehalt, auf den der Logos
auslegend zurückkommt. Wenn er etwas »wirklich« nennt,
bestätigt er sich selbst, die Rückwendung adäquat vollzogen zu
haben. Die unübersehbare Schwierigkeit auch dieser Ausgangs-
figur besteht allerdings darin, dass sie die Grenzen zwischen
»Wirklichem« und Schein erneut verschwimmen lässt. Sowohl
erlaubt sie, alles »wirklich« zu nennen, als auch alles für mög-
lichen Schein auszugeben. Die Möglichkeit nämlich bleibt
bestehen, dass sich der hermeneutische Logos in der Angemes-
senheit seines Rückbezugs täuscht, er kann das zu Meinende
so meinen, wie es nicht zu meinen ist, die Gewissheit kann sich
als falsch erweisen. Geht man vom abgerückten Charakter des
quodditativen Gehalts aus, kann man sogar sagen, dass sich
der hermeneutische Logos stets zumindest graduell täuscht,
denn er kann den quodditativen Gehalt nicht einholen. Ent-
sprechend bleibt das Was, das durch die Auslegung statuiert
wird, im durch den quodditativen Gehalt vorgegebenen Rah-
men für Veränderungen offen. Der hermeneutische Logos trägt
hier der Tatsache Rechnung, dass die Phänomene nie ganz
wirklich sein können, darin aber eben ihr phänomenaler Wirk-
lichkeitsaspekt, d. i. ihr phänomenaler Bestand liegt.
b . S c h e i n u n d Täu s c h u n g
Der hermeneutische Logos ist durchgängig an den quodditati-
ven Gehalt zurückgebunden, aber er kann diese Rückbindung
ausblenden, sodass er gewissermaßen »blind« auslegt, zugleich
aber die blinde Auslegung verabsolutiert und an sie alle wei-
tere Auslegung knüpft. Was so produziert wird, ist Schein. Die
Täuschung ist diejenige Weise des Verstehens, die den Schein
in einem zweiten Schritt affirmiert, ihn als das, »was da ist,
wie es da ist«, bestätigt. Man kann diese Grundstruktur der
logisch-hermeneutischen Produktion von Schein und sie bestä-
tigender Täuschung auf alle Bereiche des Scheinhaften wenden,
von der einfachen subjektiven (ichhaften) »Sinnestäuschung«
bis hin zum komplexen, intersubjektiv-objektiven System des
Scheins, das gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse regu-
liert, indem es Menschen bestimmte Rollen zuweist.
Zwei Aspekte sind hervorzuheben. Zum einen ist jede
Täuschung korrigierbar. Gegen die implizite Prätention des
Schein produzierenden hermeneutischen Logos ist der Schein
also nicht absolut, der logisch-hermeneutische Monolog lässt
sich unterbrechen durch eine Intervention des hermeneutischen
Logos selbst, der sich auf das durch den Schein entstellte zu
Meinende verweist und so den gegebenen Auslegungszusam-
menhang überschreitet. Die Selbstkorrektur des hermeneu-
tischen Logos ist dadurch möglich, dass sein permanenter
Fluchtpunkt das Dass der Phänomene ist. Er ist so tendenzi-
ell gegen den Schein gerichtet, was er sucht, ist phänomenale
Gewissheit. Allerdings enthebt ihn dies weder der Gefahr noch
der Möglichkeit, und ob korrigiert oder nicht, Schein zu pro-
duzieren.
Zum anderen lässt sich Schein nicht an bestimmten Typen
von Auslegung, also Präsentation oder Repräsentation, festma-
chen. Vielmehr ist Schein eine Weise von Auslegung, die alle
Auslegungstypen betreffen kann, aber wiederum nicht muss.
Alles kann täuschen, die unmittelbare Wahrnehmung ebenso
wie die Bilder oder die Worte. Nicht weniger jedoch können
alle Auslegungstypen den Wirklichkeitsaspekt der Phänomene
treffen. Entscheidend ist einzig, ob und wie sie sich auf den
quodditativen Gehalt der Phänomene oder auch des Phäno-
menalen überhaupt zurückbeziehen. Um diese erst nur for-
malen Hinweise zu illustrieren, wäre eine eigene Analyse der
verschiedenen Auslegungstypen durchzuführen. Sie hätte die
ungeheure Bandbreite des hermeneutischen Logos zu entwi-
ckeln, seine Fähigkeit, zu präsentieren und zu repräsentieren
und dabei komplexe Symboliken auszubilden, sich zwischen
bloßer Anschauung und Begriff und scheinbar referenzloser
Gestaltung in sich selbst aufzuspalten und zu überbieten, sich
perspektivisch zwischen Ich, Wir und vorgeblich objektivem
Außerhalb zu wenden, sich temporal zu iterieren. Eine solche
Analyse ist hier jedoch nicht möglich, die Arbeit kann sie bloß
streifen – und sie kann angeben, was ein wesentliches Moment
der Analyse sein müsste.
Der Punkt ist wiederum formal und klang bereits an:
Jede Auslegung kann das ausgelegte Phänomen als »wirklich«
prädizieren und sich damit bestätigen, seinen quodditativen
Gehalt getroffen zu haben. Eben weil sie Auslegung, also Sache
des hermeneutischen Logos ist, bleibt sie damit aber weiterhin
der Möglichkeit des Scheins ausgesetzt. Das als »wirklich«
Prädizierte ist immer auch ein potentiell Nicht-Wirkliches, ein
Scheinhaftes (was nicht ausschließt, seinen Scheincharakter zu
durchschauen). Dem Wirklichkeitsaspekt wird die Auslegung
erst da gerecht, wo sie die Verwirklichungstendenz der Phä-
nomene aufspürt, also sie über den Auslegungszusammenhang
hinaus erfasst. Die Auslegung, die der Wirklichkeit getreu ist,
muss also überschreiten, was phänomenal da ist, sie muss es
auf die Sinngestalt, den quodditativen Gehalt beziehen, dessen
Vorzeichnung es sich verdankt.
Dass zu erfassen. Es geht dabei um eine poietische Leistung.
Indem er der Forderung der Quodditas folgt, schafft der her-
meneutische Logos (sich) über sich selbst hinaus, er transzen-
diert sich selbst und die Phänomene, um sie als das zu zeigen,
was sie nicht sind, und was dennoch alle mögliche Erfahrung
von ihnen ausmacht.
Die oben thematisierte Singularitätserfahrung ist die ein-
fachste Variante dieses logisch-hermeneutischen Transzensus.
Ihr wesentliches Moment macht ein neues Sehen aus, das sich
in Differenz zum bestehenden Auslegungszusammenhang stellt,
ja ihn – Faszination und Schrecken des Neuen – aufbricht oder
auch, weil es sich weiter um die Bewegung des hermeneuti-
schen Logos handelt, um seinen Transzensus als Selbstdispen-
sion oder Inversion, einbricht.
Am anschaulichsten hingegen ist die transzendierende
Auslegung im Bereich der Poiesis par excellence, im Bereich
der musikalischen, bildnerischen, literarischen Gestaltungen,
die sich über den Transzensus zur »Kunst« qualifizieren. Es
geht hier um das, was im Kern des Begriffs steckt: Kunst prä-
sentiert oder repräsentiert die Phänomene oder das Phänome-
nale nicht nur, sondern greift auf ihren quodditativen Gehalt
zurück und bündelt ihn. Sie erreicht damit Intensivierungen
von Empfindung und Anschauung, d. h., sie übertrifft alle Voll-
züge, die einer bestimmten hermeneutischen Ordnung folgen.
Die »Einholung« und »Institutionalisierung« der Kunst ändert
nichts daran, dass sie ein radikal anderes, nämlich quodditati-
ves Moment in den hermeneutischen Logos bringt. Kunst ist
immer mehr, und dieses »Mehr« steht für sich selbst, es gilt
unabhängig von der (historischen) Praxis eines allgemeinen
Umgangs mit Kunst (die Aneignungen durch Macht und Öko-
nomie) und macht sie gegenüber seinem Maß zum Maßlosen.
Das Maß der Kunst nämlich liegt in ihr selbst, es ist das Über-
phänomenale, dem sie ihre Form verdankt. Die phänomenalen
Harmonien gelten nicht. Was gilt, ist die dem Überphänome-
nalen ergebene Form, die von eigener Kohärenz ist.
Das »neue Sehen«, das sich der Hinwendung zum Wirk-
lichkeitsaspekt des Phänomenalen verdankt, ist auch für die
verschiedenen Formen von Erkenntnis relevant. Die Wendung
hinter die bestehenden Diskurse macht ihr initiales Moment
aus. Da Erkenntnis, zumal wenn sie als Wissenschaft organi-
siert ist, in den Bereich eines formalisierten Logos gehört, kann
sie das initiale Moment allerdings schnell wieder verlieren. Ein
Gedanke lebt von seiner Stringenz, und doch kann gerade sie
ihn beschädigen, wenn sie ihn aus »äußeren« Gründen dis-
kursiver Kommunizierbarkeit zwingt, sich auf eine bestimmte
Weise zu schließen, wo er eigentlich offen bleiben müsste.
Dennoch gilt für alle grundlegenden Einsichten, dass sie sich
zumindest in ihrem originären Moment bewahren und auf
jedem historischen Stand ihres spezifischen Diskurses zitier-
bar sind, und sei es auch nur als Phase einer Problembildung.
Gleich der Kunst kann Erkenntnis ein überzeitliches Jetzt etab-
lieren, in dem ihre Aktualität fortbesteht.
Der hermeneutische Logos überschreitet sich aber nicht
nur, wo er die Phänomene in ein »anderes Licht« stellt, sie
anders darstellt oder thematisiert. Vielmehr kann auch die
Weise, wie man sich in den phänomenalen Vollzügen hält,
wie man das eigene Handeln auf die Phänomene bezieht, wie
man mit ihnen umgeht, durch ein transzendierendes Moment
ausgezeichnet sein. Dies ist vor allem der Fall, wo die Kalküle
zerbrechen, wo man versucht, der Integrität der Phänomene
(nicht bloß des Typs »Mensch«) gerecht zu werden. Die Aus-
richtung an Integrität stellt die Auslegung und ihre Kontexte
zurück. Hierin besteht die Unbeirrbarkeit des ethisch infor-
mierten »guten Handelns«, das nicht dem eigenen Vorteil
folgt, sondern sich an der Integrität der Anderen orientiert.
Gutes Handeln ist die gleichsam »universale« Poiesis, und
das in doppeltem Sinn. Zum einen richtet es sich ohne Unter-
schied und in direktem Zugriff auf alle Phänomene. Es geht
damit sowohl über den partikularen, sich auf den singulären
Gegenstand fokussierenden Charakter der Kunst als auch über
den reflexiven, die Phänomene aus dem Abstand suchenden
Charakter der theoretischen Erkenntnis hinaus. Es weiß alle
Phänomene als singulär und fragt nicht nach dem ihnen ange-
messenen Urteil. Zum anderen ist das gute Handeln universal
darin, in der Möglichkeit jedes Menschen zu liegen. Es bedarf
keiner Mittel oder Talente, der einfache phänomenale Bezug,
die Tatsache, dass man sich unweigerlich zu den Phänomenen
verhält, genügt bereits. Als universale Poiesis wird das gute
Handeln unten weiter beschäftigen. Hier lässt sich zunächst
die eigentümliche Stellung guten Handelns zu einer Praxis
des »Common Sense« angeben: Die konventionellen Überein-
künfte sind für es unerheblich. Zwar geht es nicht gezielt gegen
die sanktionierten Werte, gegebenenfalls kann es auch mit
ihnen übereinstimmen. Aber nicht weniger kann es gegen sie
verstoßen.
d . Da s P r ä d i k at »w i r k l i c h «
das Phänomenale auf seinen quodditativen Gehalt gerichtet
wird, in der Inversion des hermeneutischen Logos, die sein
Transzensus ist.
Diese Steigerung lässt auch das »Realitätsprinzip« hinter
sich, das nicht bloß tiefenpsychologisch darin besteht, das Ver-
hältnis, in das der Mensch zum Phänomenalen tritt, logisch-
hermeneutisch zu disziplinieren. Das Realitätsprinzip ist das
Prinzip der Einschränkung auf das Bestehende, der Rück-
nahme aller Tendenzen, die über das Gegebene hinaus wollen.
Ein zentrales Problem des neuzeitlich konfigurierten Diskurses
liegt darin, dass er sich auf das Realitätsprinzip einschwor,
obwohl er der Ambivalenz des »Realen«, seiner durchgängigen
Liaison mit dem Schein, nicht beizukommen wusste. In der
Durchdringung der Lebenszusammenhänge durch die kapita-
listische Wertproduktion ist die ontologische Abgründigkeit
des Realitätsprinzips, dem der Schein immanent ist, mit letzter
Konsequenz umgesetzt. Die Unsicherheit über das »Reale«, die
bezeichnenderweise in den letzten Jahrzehnten, also der Zeit
einer Totalisierung des kapitalistischen Weltzugriffs, kulmi-
nierte, ist dafür das angemessene Symptom. Theorien wie etwa
die von der »Virtualisierung« menschlicher Praxis (à la Virilio)
oder von einer Herrschaft der Simulakren (à la Baudrillard)
suchen die Deutung des Symptoms in der Ordnung des »Rea-
len«, ohne zu fragen, in welchem Sinne es das »Reale« über-
haupt gibt. Sie reproduzieren damit das Realitätsprinzip, d. h.,
de facto teilen sie Bereiche des Scheins ab, zu denen es keine
Alternative gibt. Dem Defätismus dieser Theorien entgeht die
Wirklichkeit der Praxis, d. i. die Möglichkeit, dass sich im Phä-
nomenalen etwas auftut, was es überschreitet und damit erst
seinen Sinn fassbar macht. Die Poiesis des hermeneutischen
Logos, sein »fremder« Teil, hört nicht auf, gegen alle Logiken,
die der Logos selbst etabliert hat, auch gegen die kapitalisti-
schen Logiken der Virtualisierung, die als Pseudo-Essenz des
Lebens ökonomische Verwertbarkeit übriglassen und es so
selbst zum Simulakrum machen. Das Realitätsprinzip gilt nur
in dem eingeschränkten Rahmen des auf sich selbst zurück-
geworfenen Logos. Diesen Rahmen durchstößt die Vertikale
der Wirklichkeit, die nach dem suchen lässt, was nicht ist »wie
alles andere«, d. i. nach dem Unidentischen. Das Unidentische
ist nicht negativ, sondern gesteigert. Es ist die Möglichkeit,
die über allen gegebenen Möglichkeiten liegt und zeigt, wie
begrenzt sie sind. Das Neue des Unidentischen schließt nicht
an das Bestehende an, es bezeichnet keinen Fortschritt, es
macht das Bestehende nicht »besser«. Wenn es dennoch von
der phänomenalen Ordnung beansprucht werden kann, hängt
das mit der allgemeinen Dynamik der Auslegung zusammen,
von der auch das, was einen poietischen Anfang hat, Element
ist. Im günstigsten Fall wird der beanspruchte Fortschritt durch
seine eigenen Glieder infrage gestellt. Die Auslegung kann sich
aus sich selbst gegen sich kehren. Sie mag also zwar für den
hermeneutischen Logos verbindlich sein, aber sie ist nie total,
d. h., nie verfällt sie vollständig sich selbst, das Mehr bleibt für
sie konstitutiv.
4 . M at e r i a l i tät
denen Seiten ein Zusammenhang. Einerseits sind die mentalen
Akte materiell gebunden, auch wenn ihre Inhalte immateriell
sind. Denken zum Beispiel lässt sich empfinden bis hin zur Pas-
sion, mit dem Körper des Denkenden hat es einen materiellen
Ort. Daher muss es sich auch irgendwie (qua Stimme, Zeichen,
Schrift) materialisieren, wenn es weitergegeben werden soll.
Andererseits ist Empfindung eine Weise phänomenaler Ausle-
gung. Das bedeutet auch, dass der hermeneutische Logos sie
dem Schein aussetzt. Empfindung besagt nichts über die Exis-
tenz des Empfundenen, es kann »eingebildet« oder halluziniert
sein.
Auch wenn Materialität kein Kriterium für Wirklichkeit
ist, stellt sie eine Grundform phänomenaler Erfahrung dar,
sodass man sagen kann, das Phänomenale sei stets in irgendei-
ner Weise materiell, nicht jedoch, weil es Materialität objektiv
gibt, sondern weil der Logos eine materielle Welt entwickelt,
deren Ganzheit im Dass vorgezeichnet ist. Nicht die Wirklich-
keit ist also um den materiellen Aspekt zu ergänzen, wohl aber
das phänomenale Feld, dem die Wirklichkeit oder Quodditas
den Sinn »Materialität« vorgibt. Um die phänomenale Erfah-
rung als eine Praxis von Erfahrung zu verstehen, ist es nötig,
diesen materiellen Sinn zu verstehen, denn Praxis ist Umgang
mit Anderem, das sich materiell manifestiert. Nur eine Praxis
reiner Theorie (wie die reine Logik oder die Mathematik) kann
diesen materiellen Aspekt überspringen, auch wenn sie als
selbst »phänomenales Geschehen« mit ihm in Zusammenhang
bleibt.
nicht von ihm trennen, sie verläuft immer als leibliche Erfah-
rung, die darüber zur Erfahrung einer materiellen Welt wird.
Der hermeneutische Logos erschließt die leibliche Materialität
nach den Schemata, die sich für das Phänomenale überhaupt
feststellen lassen. Der Leib hat also logisch-phänomenale und
quodditative Aspekte.
Ein erster wesentlicher, logisch-phänomenaler Aspekt
ist, dass sich der Leib im Vollzug der Identitätsrelation bildet.
Der hermeneutische Logos bestimmt den Leib als ein Eines,
ohne das es phänomenal kein sich selbst erschließendes eines
Ich geben könnte. Die Materialität des einen Leibes hat ihre
Grenze in der Empfindung. In ihr wird die Identitätsrelation
manifest, denn Empfindung ist Empfindung des Einen gegen
das Andere.19 Die Gegenwendung stellt eine Beziehung des
Einen zum Anderen her, bezeichnet jedoch zugleich den Ort
der Gefährdung des Einen durch das Andere. Einerseits lässt
die Gegenwendung das Andere als Empfundenes selbständig
bestehen, sie etabliert es als ein seinerseits Widerstehendes;
andererseits eröffnet sie die Möglichkeit, dass das Andere sich
über sie hinwegsetzt und das Eine übernimmt. Die Gegen-
wendung der Empfindung statuiert eine bedrohte Grenze.
Das wird deutlich, wenn man das Verhältnis von Empfindung
und Schmerz betrachtet. Jede Empfindung ist ein minima-
ler Schmerz, der sich bis zur Unerträglichkeit steigern kann.
Schmerz ist äußerste Empfindung, eben deswegen aber stellt
sich in ihm eine ausschließliche Erfahrung des identischen Lei-
bes her. Der Leib wird gleichsam von der Gegenwendung ver-
schlungen. Er beharrt nur noch auf sich selbst, das Andere hat
alle Eigenschaften verloren bis auf die der Auflösung. Die auf
dem materiellen Leib aufbauende Reflexion des hermeneuti-
schen Logos, das selbstgewisse bewusste Ich, wird im Schmerz
reduziert. Es wird auf eine Identität zurückgerissen, von der es
absteht und der es doch angehört.
Bereits der Blick auf den »eigenen Leib« deutet eine Dif-
ferenz an. Der eigene Leib ist immer zugleich »ich« und »er«.
Er ist solange »ich«, wie er sich der aufbauenden Reflexion
fügt und an der Welterschließung des Ich teilhat. Die Ebene der
Empfindung ist hier überschritten zu derjenigen der Erschei-
nungen, die zwar empfunden werden, vorrangig jedoch in das
Feld der Sprache gezogen sind, auf dem sich das Ich willentlich
entwirft. Die ihn ausblendende Integration des Leibes in die
Sprache bricht zumeist dann auf, wenn die Prozesse, in die der
Leib involviert ist, die willentlichen Entwürfe des Ich durch-
kreuzen. Die Prozesse lassen den Leib an Grenzen stoßen,
die nicht der Wille gesetzt hat, d. i. an Grenzen des leiblichen
Vermögens. Das leibliche Vermögen organisiert den Leib und
macht ihn zu dem, was er vor dem Ich ist, ein »er« oder eigent-
lich unpersönlich ein »es«, auf das das Ich irritiert blickt, weil
es die zwischen ihnen bestehende Fremdheit anerkennen muss.
Fremd ist bereits die stille, allenfalls von Krankheit gestörte
Arbeit der Organe, die Blutkreislauf und Stoffwechsel betrei-
ben. Massiver erlegt der Leib seine Bedürfnisse auf, Hunger,
Durst, Müdigkeit, Sexualität, die sich allenfalls zurückdäm-
men lassen.20 Zum Schock wird der Blick auf den eigenen
Leib, wenn er schwer verwundet ist, ihm ein Glied fehlt oder
er sein »Inneres« freigibt. Aber auch schon die schleichende
Zersetzung des Leibes, die ihn altern lässt, konfrontiert das
Ich damit, dass der Leib ihm nicht vollständig gehört, dass er
eine eigene Geschichte hat, mit der das Ich zusammengespannt
ist und die die Geschichte des Ich diktiert, ohne dass es beide
Geschichten identifizieren könnte (es kann aber auch nicht ihre
Zusammengehörigkeit leugnen).
b . D i e I n t e g r i tät d e s l e i b l i c h e n I c h
Manifestationen sind. Und tatsächlich sind das Ich und der
Leib des Ich im Erfahrungsvollzug zusammengehörige Phäno-
mene, denn der Leib ist gleichsam der »phänomenale Ort« des
Ich. Entsprechend versteht auch das verstehende Ich den Leib
als dem Ich zugehörig. Dem widerspricht jedoch, dass das Ich
erst im Verstehen seiner selbst, in der Reflexion, die zugleich
Selbstreflexion ist, gründet. Der Leib ist somit vorher, er ist
der Ort, der die Selbstreflexion einräumt, ohne vom Ich über-
nommen werden zu können. Das Erscheinen des Leibes bleibt
ein anderes als das Erscheinen des Ich, auch wenn sie in einem
einzigen Erscheinenszusammenhang stehen.
Die Verbindung von Ich und Leib wird erst zugänglich,
wenn das Ich nicht auf sich selbst und seine leibliche Gestalt
reflektiert, sondern auf das Dass seiner selbst, das den eigenen
Leib einschließt. »Dass ich bin« bedeutet immer und unauf-
löslich »dass ich leiblich bin«, nicht jedoch, weil das Denken
dies nahelegt (ein sich selbst denkendes Denken ist zumindest –
denkbar), sondern weil die Existenz des Ich, das sein Dass
denkt, dies vorgibt. Das Ich muss sich in einem materiellen
Zusammenhang, dem es leiblich zugehört, konstatieren, weil
es sich in ihm ursprünglich vorfindet. Wenn es sich von ihm
losreißt, dann aufgrund seiner logischen Selbstbewegung,
die es aber wie gesehen nie ganz autark macht, sondern die
die Bindung an den Leib in der Fremdheit fortbestehen lässt.
Das Quodditative, zu dem sich das Ich verhält, gibt also die
Ganzheit des leiblichen Ich vor. In ihr ist die Trennung von Ich
und Leib, die sich aus den reflexiven Aufstufungen des Logos
ergibt, je schon überwunden.
Die Überwindung schließt diejenige des Identischen ein,
auch wenn es auf sie bezogen ist und ihr die eigene Konstitu-
tion verdankt. Die hier relevante Unterscheidung ist die zwi-
schen Integrität und Identität. Integrität ist die quodditative
Ganzheit des Ich. Sie ist materiell konnotiert, d. h., sie ist
materielle Integrität. Als solche umfasst sie die logisch-reflexive
Identität des Ich wie auch die Identität des Leibes. Sie fallen in
ihr in eins, ohne jedoch ein Eines zu sein, das sich gegen Ande-
res behaupten muss.
Die Behauptung gegen Anderes ergibt sich erst unter
logisch-phänomenalen Bedingungen. Ich wie Leib stellen sich
hier gegen die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Auflösung. Ihr
Fluchtpunkt ist dabei Integrität, aber sie wird selbstbezüglich
gewendet, und zwar für beide, für den Leib wie das Ich, sodass
sie sogar in ihrem Verhältnis zueinander voneinander geson-
dert sind. Allerdings beziehen sie sich dabei auf dieselbe Inte-
grität. Nur daher ist die Reduktion des Ich im Schmerz mög-
lich. Das Ich verliert zwar sich selbst, es muss die scheinbar
souveräne Reflexion auf sich selbst zurücknehmen. Es wird
dabei aber nicht bodenlos, sondern es kehrt in den Schmerz
ein, es verschmilzt mit ihm. Auch wenn es gegen den Schmerz
nicht ankommt und sich in ihm entfremdet, beeinflusst es ihn
in einer Hinsicht: Es imprägniert ihn egoistisch. Im Leib, der
dem Schmerz ausgesetzt ist, bleibt so ein Rest von Willen, der
gänzlich auf den Schmerz fokussiert ist. In der Regel kündigt
er sich im Leiden unter dem Schmerz an, dessen letzter Aus-
druck der sprachlose Schrei ist. Der sprachlose Schrei markiert
die Schwelle vor der Auflösung des Identischen, sodass sich
der Antagonismus in ihm ultimativ verschärft. Der sprachlose
Schrei ist schon fast nichts mehr, aber dieses »fast« ist ausge-
füllt vom unbedingten Willen der Beseitigung dessen, was den
Schmerz verursacht.
c . E t h i s c h e M at e r i e
setzen, die das verleiblichte Ich bzw. den ichhaften Leib aus-
macht.
Wenn die Integrität über der Identität steht, heißt das,
dass die Gegenwendung, in der Identität gründet, von der
Integrität aus gedacht gleichsam außer Geltung gesetzt ist.
Das Eine ist so verstanden über sich hinaus, es ist grenzenlos,
obwohl es für es ein Anderes gibt. Das Andere berührt das
Eine aber nicht länger aversiv, es ist vielmehr selbst Ganzes,
das zu Ganzem steht. Im Dass ist die Beziehung der Phäno-
mene die eines »und«, einer Distanz, die ohne Antagonismus
ist, weil es in ihr keine Negation gibt. Auf der Grundlage die-
ses quodditativen Verhältnisses ist es möglich, dass das phäno-
menale Ich hinter seine eigenen Ansprüche zurücktritt und sich
zu den anderen Phänomenen als integren verhält. Innerhalb
der phänomenalen Vollzüge kommt diese Möglichkeit aller-
dings nie rein vor. Zwar gilt in ihnen das quodditative Ver-
hältnis durchgängig, es wird aber ebenso durchgängig durch
das logische Moment des Phänomenalen gebrochen. Die Erfül-
lungstendenz, die dem Menschen ontologisch zukommt, kann
sich also potentiell auf den gesamten Phänomenbereich und
alle Phänomene erstrecken. Dennoch setzt sie sich phänomenal
nur in Varianten durch. Ihre erste Variante ist die egoistische
Identität, die die Integrität des Einen zu wahren sucht. Auch
durch den egoistischen Bruch des Logos bleibt die Integrität
des Anderen jedoch virulent, und zwar aufgrund der Seinsart
des Menschen, die ihn ins Dass der Phänomenalität stellt und
ihn reflexiv auf sie bezieht. Das Ethische beginnt, wo sich der
hermeneutische Logos so von sich löst, dass er sich auf die
quodditative Überbietung des Logos richtet und sie zum Maß-
stab seines eigenen phänomenalen Verhältnisses macht. Mit
dieser Bewegung des hermeneutischen Logos tritt die Integrität
des Anderen zunächst aktuell hervor, d. h., das Andere, das
dem Ich in einer bestimmten Situation begegnet, erscheint inte-
ger »wie ich selbst«. Die antagonistische Drohung kehrt sich
um in die Möglichkeit einer gefahrlosen Berührung, in der der
Eine und das Andere sich gegenseitig nicht nur negativ »kein
Leid zufügen«, sondern sogar positiv »sich wahren«. Dabei
bleibt der materielle Charakter des Anderen bestehen, denn die
Bewegung zur Integrität des Anderen vollzieht sich nicht als
eine Überschreitung des Materiellen, selbst wenn die Identi-
tätsrelation ausgesetzt ist. Vielmehr ist das Andere in seinem
materiellen Erscheinen integer. Integrität und Materialität sind
aufeinander bezogen: Erscheinen ist stets materiell und darin
integer, und Integrität hat einen materiellen Sinn.
Im materiellen Sinn der Integrität liegt eine Gleichstellung
der Phänomene. Integrität erlaubt also keinen Unterschied
zwischen den Seinsarten. So ist das Unbelebte nicht weni-
ger integer als das Belebte. Überhaupt ist Integrität zunächst
wertneutral, denn sie hat ontologisch-formalen Status, sie ist
das transzendente Moment jedes Erscheinenden in seinem
Erscheinen, dasjenige, wodurch die Gestalt des Erscheinenden
kohärent wird. Entsprechend ist es möglich, sich tatsächlich
jedem Phänomen als integrem zuzuwenden, und sei es einfach
darin, es als das bestehen zu lassen, was es ist. Zweifellos kann
eine solche Zuwendung in den phänomenalen Vollzügen als
»unsinnig« erscheinen. Dennoch gilt formal, dass etwa auch
das »Abstoßende« integer ist, auch wenn Ekel und Aversion
(als spezifische hermeneutische Reaktionen) die Integrität über-
blenden. Ein Beispiel für die Gleichrangigkeit des Unbelebten
sind die Spiele von Kindern, wo Hermeneutiken, die das Welt-
verhältnis konventionell gestalten, noch weniger bestimmend
sind und Unbelebtes daher eher zum dialogischen Gegenüber
werden kann. Diese Dialogisierung nimmt zwar vordergrün-
dig die Form der Personalisierung an, aber es geht in ihr nicht
einfach um eine primitive Projektion des Ich. Im Kern der
personalen Form liegt vielmehr die Integrität des Anderen, die
ermöglicht, es mit dem Ich auf eine Stufe zu stellen, sodass es
ist »wie ich« und im Spiel etwa sprechen und handeln kann.
Grade von Reflexion, auch wenn die quodditative Dimension
durchgängig in die Reflexion hineinwirkt.
So ist das Unbelebte bloß Erscheinendes. Als solches ist
es zwar ausgelegt und kann daher auch im weiteren Gegen-
stand von Auslegung sein. In der einfachen Auslegung, die sein
Erscheinen ausmacht, ist der einzige Bezug aber derjenige, den
es zu seinem spezifischen Dass unterhält, ein Bezug, den nur
die daseiende Gestalt des Erscheinenden reflektiert. Die Iden-
tität, die sich hieraus phänomenal ergibt, wird jedoch nicht
Bezugspunkt auf ihr aufbauender Reflexionen. Das Unbelebte
ist daher reich an Formen und materiellen Konstellationen,
ohne sie selbst zu bilden, denn dazu müsste es in ein Verhältnis
zu seiner eigenen Zeitlichkeit treten. Da ihm dieser reflexive
Schritt fehlt, bleibt es im Stadium bloßen Entstehens, Werdens,
Vergehens. Was es ist, ist nicht zufällig, weil es durch den
Bezug zum Dass nicht anders sein kann, als es ist. Da es sich
nicht selbst bildet, ist es jedoch im strengen Sinne bildungslos,
d. h., es wird ohne Selbstbezug. Der Inbegriff des Unbelebten
ist die Gestalt ohne Empfindung.
Das Belebte ist auf allen Stufen durch Selbstbezug cha-
rakterisiert. In »seiner Zeit«, d. h. in der ihm gegebenen
Spanne phänomenalen Daseins, ist sein allgemeines Merk-
mal Selbsterhaltung. Die Grenzen des »Selbst« sind jedoch
nur bei komplexeren Formen des Selbstverhältnisses durch
die individuelle Erscheinung bestimmt. Für den größten Teil
lebendiger Organismen ist das einzelne Exemplar ein Element
der Gattung, der es angehört und die es durch sich selbst am
Leben erhält. Aus der Gattungsperspektive ist das wesentliche
Moment der Selbsterhaltung daher die Reproduktion, Selbst-
erhaltung dient dazu, sie zu gewährleisten. Dies berührt nicht
die – wie bemerkt formale und wertneutrale – Integrität und
Identität der Einzelorganismen. Es heißt nur, dass der Logos
nicht zwingend auf die selbstbestimmte Individualität zielt,
ja nicht einmal die Scheidung von Unbelebtem und Belebtem
streng durchführt. Der Einzelorganismus, der dem Gattungs-
organismus zuarbeitet, steht für ein Seinsverhältnis, das das
Einzelne als belebendes Element einer an sich bildungslosen
Gestalt auftreten lässt. Die belebte Gattung nämlich wird zwar
durch ihre Einzelglieder erhalten und partizipiert damit an der
Bewegung der Selbsterhaltung. Sie ist jedoch an sich selbst so
empfindungslos wie das Unbelebte, eine monolithische Prä-
senz, die die Einzelnen verschlingt. Je weiter die Individuation
fortschreitet, je klarer sich die Einzelnen von den übrigen Ele-
menten ihrer Gattung abheben, desto größer ist der Grad an
Lebendigkeit – bis hin zu einem Wesen, das sich von seiner
Gattung lossagen kann, das gegen den Gattungsorganismus
(und damit notwendig auch gegen den eigenen Leib, dessen
Funktionen an die Gattung binden) auf sich selbst besteht.
Diese individuierte Weise, auf sich selbst zu bestehen, ist aller-
dings noch nicht die ultimative Manifestation des Belebten.
Sie lässt nur die rein logische Bewegung kulminieren, sie führt
die Selbstbezüglichkeit ans Ende. Was ihr noch fehlt, was aber
ebenfalls in ihrer Möglichkeit liegt, ist der reflexive Transzen-
sus auf das eigene Dass, der die Integrität von Belebtem wie
Unbelebtem erschließt. Erst mit ihm wird der Blick auf das
Einzelne so frei, dass es Vorrang vor seiner Gattung erhält. Im
Fall des Unbelebten bedeutet das, dass es in seiner besonde-
ren Gestalt geachtet, dass es als etwas Eigenständiges in die
Praxis des Ich einbezogen werden kann. Der Leib, der durch
seinen gattungshaften Charakter verdinglicht ist, wird als
»mein Leib« erfahren. Im Fall des Belebten hingegen wird die
Eigenständigkeit um den Empfindungsaspekt erweitert. Das
Belebte erscheint als etwas, das sein Weltverhältnis reflektiert,
indem es empfindet. Die Achtung bekommt ein sym-pathe-
tisches Moment. Die Reflexion des Belebten auf sein inneres
Transzendenzmoment ist die Kulmination des Lebens, in ihr ist
das Leben zumindest phänomenal ganz da. Sein quodditativer
Fluchtpunkt ist Belebung als absolute und universale Indivi
duation.
Ein (historisches) Grundproblem der Biologie besteht
darin, dass sie das Belebte unter dem Primat der Gattung und
vor allem der Erhaltung der Gattung beschreibt. Sie orientiert
ihren Lebensbegriff damit an den minder komplexen Formen
des Belebten, an dem Lebendigen, das in kaum gebrochener
Nähe zum Unbelebten (d. i. der Gattung als solcher) steht.
Das ist aber nur solange adäquat, wie sich die biologische
Forschung tatsächlich mit basalen Formen des Lebens ausein-
andersetzt, obgleich der Rahmen des Lebensbegriffs auch bei
solchen Analysen weitergesteckt sein sollte. Im letzten nämlich
betrifft er den ethischen Rahmen der Biologie als Wissenschaft.
Gefährlich wird die Ausrichtung des biologischen Diskurses an
der Gattungserhaltung jedoch in den neueren Soziobiologien.
Der eingeschränkte Lebensbegriff betrifft hier nicht bloß das
wissenschaftliche Ethos, sondern auch das, was sich von ihm
aus als soziale ethische Prämissen festlegen lässt. Ein gesell-
schaftliches Leben, das nach dem Bild des Unbelebten ent-
worfen wird, ist nicht einmal mehr animalisch. Es ist »untot«.
Der Paradigmenwechsel, der sich mit der soziobiologischen
Wendung der Gesellschaftsanalyse ankündigt, besteht darin,
dass man das, was früher kritisch als Zustand der modernen
Lebenswelt thematisiert wurde, nun als überzeitliche Wesens-
konstante behauptet und affirmiert: dass sie die zum Überle-
benskampf animierten Leben benutzt, sie aussaugt und ver-
braucht.
5 . E t h i s c h e s u n d Sp r a c h l i c h k e i t
Anderen im kindlichen Spiel sei nur vordergründig, ist dies
zwar wahr; das »wie ich«, von dem das Spiel handelt, geht
zurück auf die Integrität des Anderen, die die Gleichstellung
im »wie« ermöglicht. Dennoch kommt der vordergründige
Aspekt phänomenal zuerst. Die Katze erscheint eher als »ich«
denn das Insekt oder ein Stück Holz. Der Grund hierfür sind
die Weisen von Interaktion, in die sie mit dem Menschen treten
kann, sodass sie nicht mehr bloß »wie ich«, sondern »wie ein
Ich« auftritt. Sie rückt an das Menschliche heran.
Die Bedeutung der Interaktion verweist darauf, dass auch
der »ethische Anthropozentrismus« ein Problem des Logos
darstellt, denn der Logos stiftet die phänomenalen Bezüge.
Die diversen Stufen der Selbstbezüglichkeit implizieren je auch
einen Bezug zum Nicht-Selbst, und sei es nur im aversiven
Widerstand. Der menschliche Selbstbezug ist dadurch ausge-
zeichnet, dass er dem Dass geöffnet ist und sich in einem Hori-
zont des Sinns vollzieht. Wo der Logos diese Sinnhaftigkeit
reflektiert, ist er Sprache. Für ein Wesen, das über Sprache ver-
fügt, ist die Sinnhaftigkeit nicht äußerlich. Vielmehr liegt der
Sinn in den phänomenalen Vollzügen selbst. Das Erscheinende
ist sinnhaft für ein sinnhaftes Erscheinendes (das »Mensch«
genannt wird). Das »für« wird reziprok, sobald zwei Wesen
über Sprache verfügen. Die Reziprozität der Sprache ist über
die aversive Reziprozität, in der Widerstand auf Widerstand
trifft, hinaus. Sie ist Reziprozität des Sinns, die sprachlichen
Wesen teilen denselben Sinnhorizont, d. h. aber: die Integri-
tät des je Einen tritt der des je Anderen gegenüber, sie ist auf
beiden Seiten reflexiv behauptete Integrität, die sich mitteilt,
und zwar in allen phänomenalen Bezügen. Der gemeinsame
Sinnhorizont führt dazu, dass der eine Mensch die Integrität
des anderen Menschen nicht übergehen kann. Allein durch das
Dasein des anderen Menschen ist er mit ihr konfrontiert, denn
dieses Dasein ist sprachlich. Es zwingt das Ich dazu, die phäno-
menale Stelle des Anderen als die potentiell eigene anzuerken-
nen. Die Reziprozität wird zur immer schon vollzogenen Ein-
setzung des Einen für den Anderen, zum nun erst vollständigen
»wie ich selbst«. Alle Menschen sind wie ein Mensch darin,
dass sie ihre Integrität und Empfindsamkeit und Verletzbarkeit
»sind«, dass sie ihnen erschlossen ist und sie sie phänomenal
vollziehen. Die Sprache, die das erschlossene Sein manifestiert,
indem sie den einen Sinnhorizont phänomenal austrägt, bringt
die Menschen im zwischen ihnen hin und hergehenden »wie
ich selbst« zusammen. Sie macht sie einander zu Stellvertretern
und zugleich zu Instanzen, vor denen sie ihr Handeln rechtfer-
tigen müssen.
Das Ethische kulminiert in der Reziprozität von Wesen,
die über Sprache verfügen. Sprachlichkeit wiederum indiziert
ein bestimmtes Verhältnis im Sein, nämlich dasjenige eines
Wesens, das sich auf das Dass des Phänomenalen bezieht. Wie
sich diese Sprachlichkeit phänomenal ausprägt, kann hier nicht
eingehend diskutiert werden. Jedenfalls ist sie zu kurz gefasst,
wenn man sie an aktuellem Sprachvermögen festmacht. Viel-
mehr handelt es sich bei ihr um eine Grundbestimmung, sie ist
die Seinsweise dessen, was man phänomenal »Mensch« nennt.
Bloß in abgeleitetem und verzerrtem Sinne ist »Mensch« das-
jenige Wesen, das sprechen kann. Zwar stimmt es, dass phä-
nomenal die Hemmungen, einen anderen Menschen zu verlet-
zen, sinken, wenn er nicht über einen adäquaten sprachlichen
Ausdruck verfügt (wie etwa bei Schwerbehinderten, aber auch
bei Kindern oder bei Menschen, die eine fremde Sprache spre-
chen). Jedoch bleibt die Möglichkeit, die Misshandlung von
»Menschen ohne Sprache« als »Unrecht« zu deklarieren, und
zeigt, dass Sprachlichkeit mehr als »Sprechen« bedeutet, näm-
lich im gemeinsamen Sinnhorizont zu stehen. Inwieweit in den
phänomenalen Vollzügen ein individuelles Sprechen aus ihm
wird, ist nachrangig.
Der Vorrang, den das Ethische dem Menschen vor den
übrigen Phänomenen zuweist, scheint gemessen an einer allen
Phänomenen zukommenden Integrität unverhältnismäßig. Und
doch muss das unverhältnismäßige Vorrecht des Menschen
bestehen, wenn es eine ethische Perspektive auf das Phänome-
nale geben soll. Der Logos kann den inneren Transzensus nur
vollziehen, indem er ein Identisches statuiert, d. h. im gege-
benen Fall: Die Integrität der Phänomene ergibt sich über ein
Wesen, das in seiner Sprachlichkeit identisch ist. Die Sprach-
lichkeit allerdings ist durch ihr inneres Transzendenzmoment
ambivalent. Das Ich statuiert sich in ihr als »Ich« und über-
schreitet sich zugleich zur Integrität der anderen Ich, mit denen
es sich identifiziert, nur um die Identität erneut zu überschrei-
ten zur Integrität dessen, was nicht »Ich«, aber doch »wie ich«
ist. Das Identische wird damit durchgängig zurückbezogen
auf das Integre, das dem Identischen konstitutiv vorausliegt.
Das Ethische kulminiert so zwar im menschlichen Seins-
verhältnis, hält aber weiterhin fest, dass alles gleichermaßen
integer ist und Bewahrung fordert. Das Ethische hat so eine
Tendenz zum Guten, denn das Gute bezeichnet die Integrität
aller Phänomene. Jedoch ist diese Tendenz gebrochen, sie ist
eine Möglichkeit des Menschen, die er dennoch nicht erfüllen
kann, weil die (logische) Weise, in der der ethische Sinn für ihn
besteht, die Erfüllung nicht zulässt. Das Gute, das sich für den
Menschen als Gerechtigkeit darstellt, ist – und dies wird noch
weiter Thema sein – eine zugleich mögliche und unmögliche
Forderung.
Die Struktur des Ethischen, auf eine unmögliche Mög-
lichkeit zu führen, indiziert die phänomenale Situation, die
nicht den Menschen allein betrifft, sondern auch den übrigen
Phänomenbereich, den man in der Regel »Natur« nennt. Wie
Logos und Dass ineinander verschlungen sind, so sind es auf
phänomenaler Ebene auch Integrität und Selbstbeharren oder
Vollendungstendenz und Antagonismus. Der Materialität
kommt dabei keine begründende Funktion zu, sie ist daher
auch nicht das, was zu überwinden wäre, damit der Antago-
nismus aufhörte. Vielmehr ist Materialität nur ein Modus des
Phänomenalen, das wiederum der Schauplatz der quodditativ-
logischen Verschlingung ist. Aufgrund der Verschlingung
ist das Materielle ethisch konnotiert, d. h., es kann zu einer
Sprache werden, die fordert, die antagonistische Gewalt solle
aufhören. Nicht weniger jedoch ist das Materielle durch den
aversiven Widerstand bestimmt, über den die Phänomene sich
selbst gegen Anderes behaupten. Indem der Logos sich auf das
Dass bezieht, lässt er die Integrität ebenso phänomenal hervor-
treten, wie er sie bricht, nämlich identisch wendet. Diese meta-
physische Konstellation trägt sich ins Phänomenale ein, wo der
Logos sich auf sich selbst und seine Bedingungen wendet, wo
er hermeneutisch wird. Das Ethische wird damit explizit, es
wird zu einem wesentlichen Moment der Verhältnisse im Sein.
Allerdings hat es dabei nur formalen Status, d. h., es ist nichts
weiter als eben die Explikation der phänomenalen Situation,
es ist der evolvierte Reflex struktureller Zusammenhänge, ein
Vermögen, das vor jeder Entscheidung zur ethisch informierten
Tat liegt. Das Ethische lässt so zwei Möglichkeiten. Einerseits
kann es sich in einem allgemeinen und historischen Wertsys-
tem objektivieren. Es wird so über das subjektive Engagement
hinaus eine verbindliche, an den Logos fallende Auslegung des
Handelns. Andererseits jedoch kann es aufgrund seines inne-
ren quodditativen Transzendenzmoments auf eine subjektive
Steigerungsbewegung führen, in der der unmögliche Anspruch
des Ethischen regulativ wirkt – was bedeutet, dass das Ethische
selbst zum Guten hin überschritten wird.
III. Praxis der Wirklichkeit
schen Anthropozentrismus zur letzten Ausprägung eines nie
endenden Streits des Identischen macht. Eine Praxis des Guten,
die sich als Praxis der Gerechtigkeit, d. i. als Praxis einer den
ethischen Sinn allererst wahrenden Übertretung des Ethischen
konkretisieren wird, ist selbst auf die logisch-phänomenalen
Bedingungen des Ethischen angewiesen. Zwar lässt die Praxis
des Guten die Grenzen hinter sich, die von den Bedingungen
des Ethischen gesetzt werden, aber dieser Transzensus ist nie
abgeschlossen, d. h., er ist durchgängig mit den logisch-phäno-
menalen Grenzen konfrontiert. Der Raum, den sie abstecken,
ist immer wieder neu zu verlassen.
1. D i e p h ä n o m e na l e S i t uat i o n d e s E t h i s c h e n
Dieser Zusammenhang spitzt sich im Menschen zu,
obwohl der Mensch die plurale Relation verinnerlicht, d. h. in
sein Selbstverhältnis aufgenommen hat. Auch wenn sein Erfül-
lungsbezug damit durch eine Welt der Phänomene führt, bleibt
sie wiederum auf ihn zentriert.
a. Vollendungstendenz
agiert. In diesem eingeschränkten Rahmen ist es also möglich,
die Erfüllung positiv zu bewerten.
Die Vollendungstendenz kann auch gegen den Willen des
Ich gehen, obwohl sie seine Handlungen strukturiert. Das Ich
kann also auch in das engagiert sein, was es nicht will. Wie
auch immer das Engagement jedoch ausfällt, es behält einen
wertunabhängigen positiven Charakter. Handelt ein Ich z. B.
unter Zwang, kann es dem Zwang entweder nachgeben und in
seinem Sinn agieren oder sich gegen ihn richten und dem, was
der Zwang fordert, entgegenarbeiten. In beiden Fällen aber
und sogar, wenn es sich abwechselnd beugt oder aufbegehrt, ist
es positiv auf das gerichtet, was es tut. Jedes aktuelle Verhält-
nis, in dem das Ich zu Anderem steht, ist erfüllungsbezogen.
Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass die phänome-
nalen Bezüge des Ich grundsätzlich keine absolute Negation
zulassen, denn auch das absolute Nichts wäre noch positiv,
d. i. vollendete Auslöschung. Die Vollendungstendenz reißt
also nicht ab, solange sich das Ich phänomenal verhält oder
anders gewendet, sie endet erst, wo das Weltverhältnis zerstört
ist. Das ist da der Fall, wo das Ich die Fähigkeit der Auslegung
verliert, also von seinem hermeneutisch-logischen Vermögen
abgeschnitten wird, in der Bewusstlosigkeit.
Die Vollendungstendenz verdankt ihre Dynamik der
quodditativen Dimension des phänomenalen Ich, bezieht sie
aber auf den identischen Status des Ich zurück und konstituiert
dadurch den (strukturell-perspektivischen) Vorrang des Ich vor
den Anderen. Der Zugriff auf die Phänomene ist zentriert im
je Einen, sogar noch, wenn es durch Andere usurpiert wird.
Die Möglichkeit, dass das je Eine die Vollendungstendenz zur
Vollendung der Anderen hin öffnet, entsteht dadurch, dass es
die Vollendungstendenz auf die eigene Integrität bezieht. Die-
ser Bezug – wie auch alle anderen Konstellationen, in die das je
eine Ich zu den Phänomenen tritt – kommt nicht zu der Vollen-
dungstendenz hinzu, er spielt vielmehr beständig in sie hinein.
Nur in der analytischen Beschreibung ist er nachgeordnet, weil
sich in ihm die Relation von Identität und Integrität verdichtet.
Für sich genommen jedoch bildet er eine Variante der Mög-
lichkeiten, in denen sich das menschliche Seinsverhältnis phä-
nomenal entfalten, auf die es die Betonung legen kann.
b . I s o l at i o n , Ag g r e s s i o n , A n g st
tung bekommt dadurch ein dynamisches Moment. Sie drängt
über sich selbst hinaus, um in einem buchstäblich äußeren
Sinne noch mehr bei sich sein zu können. Die Rückwendung
der Integrität auf die Identität bewirkt die Tendenz zu unend-
lichem Wachstum, das bloß durch die gattungsmäßig gesetz-
ten Grenzen eingeschränkt wird. Auch wenn die Gattung das
individuelle Wachstum beschneidet, wirkt es in ihr weiter als
Drang zu einer grenzenlosen Vermehrung der Einzelexemplare.
Jede Gattung tendiert dahin, die Erde zu überschwemmen, sie
mit ihrer Anwesenheit zu erdrücken. Die Aversion wird mit der
Gattung aggressiv.
Die Wachstumstendenz, die Tendenz zur Verdrängung der
Anderen schreibt sich im Menschen fort, mit dem Unterschied,
dass sie sich hier nicht nur gattungsmäßig, sondern auch indi-
viduell niederschlägt. Die Möglichkeiten des Menschen, im
Sinne der aversiven Selbstbehauptung zu agieren, sind so zahl-
reich wie die Möglichkeiten seines Interesses, das ihn egoistisch
der Welt öffnet. Es lassen sich hier nur die Momente heraus-
greifen, die für den Egoismus wesentlich scheinen: Allgemein
bildet das im Kern aggressive Interesse einen der wesentlichen
Aspekte menschlichen Handelns, das sich nicht nur in großen
Akten der Zerstörung, sondern bis in die kleinsten Regungen
sog. »negativer Affekte« (Wut, Zorn, Ekel, Neid etc.) hinein
verfolgen lässt. Dabei enthält die egoistische Selbstbehauptung
strukturell unübersehbar ein Moment der Steigerung, das im
phänomenalen Handeln erfahren werden kann. Zum Egoismus
gehört konstitutiv die quodditative Richtung, das »Dass-Ich«.
Es verleiht der Dynamik der Selbstbehauptung die Intensität,
die sich etwa im Gefühl der Unantastbarkeit ausdrückt, das
den Rausch der Destruktion kennzeichnet. Auf der anderen
Seite jedoch ist das Dass-Ich dasjenige strukturelle Element,
das in den Egoismus die Angst trägt. Heideggers in Sein und
Zeit (§40) durchgeführte Analyse der Angst als der Grund-
befindlichkeit des Menschen trifft insoweit zu, als das funda-
mentalontologische »Dasein« wesentlich durch Seinsinteresse
bestimmt ist, also – in anderen Termini – durch einen über
das Dass-Ich vermittelten Egoismus. So wie das Dass-Ich die
Steigerungserfahrung des Identischen ermöglicht, so wird es
andererseits von ihr an die phänomenale Endlichkeit zurück-
gebunden. Das Dass-Ich ist also zugleich hermeneutisch, es ist
implizite Auslegung der eigenen Grenzen. Hieraus resultiert
der Doppelsinn der Angst, den Heidegger unter der Grundbe-
stimmung des Mit-Seins verdeckte (und die Jean-Paul Sartres
negative Alteritätsphilosophie später teilweise freilegte). Die
Angst ist zum einen Angst um das eigene Dasein. Sie ist darin
aber zum anderen Angst vor den Anderen. Das Dass des iden-
tischen Ich ist immer schon auf eine Welt bezogen, d. h., das
Faktum, dass es (das identische Ich) endet, erscheint ihm mit
den Anderen. Die Angst ist also immer zugleich ontologisch
und ontisch.
Isolation, Aggression, Angst sind die zentralen Momente
einer auf Identität zurückgebogenen Vollendungstendenz. Ihre
prägnante Ausformung erhalten sie durch das menschliche
Ich. Aber auch in der belebten und unbelebten Natur sind
sie zumindest potentiell vorgezeichnet, denn auch dort ist der
Fluchtpunkt der Phänomene das quodditative Dass, von dem
ihre identische Gestalt zehrt. Für den hermeneutischen Logos
können daher alle Phänomene in einer Relation erscheinen,
die von Isolation, Aggression und Angst gekennzeichnet ist.
Thomas Hobbes' »Krieg aller gegen alle« gilt aus logisch-
hermeneutischer Perspektive universal. Zwar bildet er Hob-
bes zufolge erst im Bereich des Menschlichen das Fundament
der Sozialität. Aber dieses Fundament betrifft den Menschen
als Naturwesen und nur im weiteren als soziales Wesen. Das
Soziale steht so auch bei Hobbes in Kontinuität zur Natur,
es bildet diejenige Stufe, auf der sich die Naturverhältnisse
kristallisieren. Unter dem Primat von Identität und Interesse
besteht keine Möglichkeit, das phänomenale Sein nicht als
Kriegszustand zu denken, denn der (latente) Egoismus ver-
härtet die Fronten. Jede Öffnung zum Anderen tritt in eine
bipolare Konstellation der Selbstbehauptung. Die phäno-
menale Situation des Ethischen gibt daher einem »dunklen«,
von Hobbes maßgeblich vertretenen Denken Recht, das seit
Beginn der Neuzeit existiert und die theologische Gefallenheit
der Natur zum unhintergehbaren und unabänderlichen Status
des Phänomenalen macht. Die Konditionen der Endlichkeit,
die über Abgrenzung die Form der Identität annimmt, werden
hier genau wiedergegeben.
Auch wenn das phänomenale Dunkel massiv ist, ist es
jedoch nicht geschlossen. Schon es zu benennen, verweist auf
den Abstand, der die Perspektive zumindest der Möglichkeit
des »Nicht-Dunkels«, der Nicht-Beschädigung des Phänome-
nalen zulässt. Dieser Möglichkeit korrespondiert auf der Ebene
des Denkens, dass ein einseitiger Blick aufs Phänomenale nicht
ausreicht. Das Phänomenale ist stets es selbst und mehr als es
selbst. Im Unglück ist das Glück, im Beschädigten das Inte-
gre, im Endlichen das Unendliche zugegen. Die Überbietung
des Eingeschränkten ist hier nicht bloß ein logisches Kontrast-
mittel, sondern konstitutiv, sie ist die Möglichkeitsbedingung
des Eingeschränkten, die in ihm weiterwirkt. Vom Denken ist
daher gefordert, selbst eine ambivalente Form anzunehmen,
d. h., es muss die Ambivalenz des Phänomenalen denken, die
über dem Konfliktcharakter liegt, ohne ihn aufzuheben. An der
Ambivalenz zeigt sich, dass die Fronten nicht definitiv sind,
weil in ihnen selbst angelegt ist, was sie auflösen kann, eine
Tendenz auf Integrität, die sich letztlich nur in der Integrität
aller erfüllen kann.
a . G u t e s H a n d e l n u n d d i e Id e e d e s G u t e n
schied zur gewöhnlichen klassischen Verwendung zeigen, dass
»gutes Handeln« einen exzentrischen Charakter hat.
Auch für gutes Handeln ist die Entstellung maßgeblich,
also das ethische Vorrecht des Menschen, denn das gute Han-
deln findet phänomenal statt. Seine Anstrengung besteht darin,
sich kontinuierlich mit den Bedingungen zu konfrontieren,
ohne die es nicht »sein« kann und von denen es sich dennoch
nicht bestimmen lassen darf. Es bezieht sich daher auf das
ganze Ethische, d. h. auf das, was schon im formalen Ethi-
schen, im ethischen Grundverhältnis liegt, auf die Integrität
»von allem«. Im formalen Ethischen jedoch ist die Integrität
an die Sprachlichkeit des Ich gebunden. Auf dem Ich liegt die
Betonung: Das Andere ist integer wie ich. Die Ethik läuft ego-
zentrisch zu, weil sie immer auch den Abschluss der logisch-
phänomenalen Bewegung des integren Identischen bildet. Im
guten Handeln hingegen wird die Integrität des Einzelnen, die
den Vergleich zulässt, überschritten und zur vergleichslosen,
universalen Integrität. Gutes Handeln verallgemeinert damit
nicht, sondern es richtet sich nach der inneren Transzendenz
der phänomenalen Vollzüge. Die Integrität des Einen besteht
nicht ohne die Integrität der Anderen, denn der Fluchtpunkt
von Integrität ist die Vollkommenheit oder Ganzheit über-
haupt, die quodditative Fülle des Phänomenalen. Die Steige-
rungsbewegung, von der das gute Handeln so bestimmt ist,
schließt ein, Erfüllung nicht mit der exklusiven Verwirklichung
des Menschlichen (des Einzelnen wie der Gattung) zu identifi-
zieren. Aus der Perspektive guten Handelns betrifft Verwirkli-
chung alles oder nichts/keinen. Es tritt hier ein eschatologischer
Sinn hervor, der für das gute Handeln noch vor dem jeweils
partiellen eschatologischen Sinn der oben angegebenen drei
Ideen konstitutiv ist. Die Welt als der Ganzheitshorizont der
Phänomene, die Geschichte als derjenige der Zeit, die Integrität
als die Ganzheit des Einzelnen sind noch einmal überführt zur
Ganzheit des »alles in allem«.
Der maßgebliche Zug des sechsten Buchs von Platons
Politeia besteht darin, die transzendente Ganzheit der »Idee
der Ideen« als das »Gute« zu fassen. Der Inbegriff des phä-
nomenalen Seins ist damit genuin praktisch konnotiert, was
andersherum bedeutet, dass sich der höchste Sinn des Seins nur
über eine ihm adäquate Praxis erschließen kann. Geschichte,
Welt, Integrität bezeichnen erst nur Grundverhältnisse im Sein.
Sie müssen also nicht eigens vollzogen werden, es genügt, sie
als formale Konstituenten der phänomenalen Erfahrung »wir-
ken« zu lassen. Das Gute hingegen ist nie äußerlich. Es stellt
sich nicht nur her in einer phänomenalen Bewegung, die sich
implizit auf es bezieht (d. i. die Bewegung aller Phänomene).
Vielmehr muss das Gute zum expliziten Sinn der phänome-
nalen Bewegung gemacht werden. Das Gute ist ein Sinn, der
die ihn bestätigende Resonanz fordert, während andersherum
erst mit dem Sinn des Guten die Möglichkeit zutage tritt, dass
das Phänomenale der Verwirklichungsraum der Phänomene
ist. Indem das Gute vollständig ausgelegte Wirklichkeit, d. i.
Wirklichkeit als Wirklichkeit oder das Ganze der Zeit in der
Zeit bezeichnet, ist es mehr als ein formaler Terminus, denn die
Zeit darf nicht aufhören, ihr Überstieg muss vollzogen werden.
Dieser Vollzug von Transzendenz ist der Bewegungsmodus der
Praxis, die sich schon in ihren impliziten Formen auf Ganzheit
bezieht. Das Gute bezeichnet so die ultimative Nähe zwischen
Wirklichkeit und Phänomenalem, aber diese Nähe stellt sich
nur da her, wo die Praxis sich am Guten orientiert und sich
damit im zeitlichen Rahmen, also relativ einlöst.
Voraussetzungen der jüdisch-christlich-abendländischen Tra-
dition vorbei, erschließen und bejahen lässt. Die »historische
Arbeit« vor allem des späten Nietzsche, die die Nullmarkie-
rung umgibt, besteht darin, den abendländischen Schlüssel-
terminus des Guten zu demaskieren. Das Gute ist Nietzsche
zufolge das Leitbild einer »Sklavenmoral«, einer Moral der
Schwachen, die die eigene Unterlegenheit dadurch kompensie-
ren, dass sie die Intentionen ihrer Unterwerfer diskreditieren:
Während diese ihre Überlegenheit genießen oder sogar apo-
theotisch verklären, lehrt die Sklavenmoral als höchste Praxis
ein macht- und selbstloses Handeln. Auf der Rückseite des so
entstehenden Diskurses von Schuld und Güte erweist sich das
Gute jedoch als eine geniale Invention der Schwachen, die mit-
tels ihrer die eigenen Interessen verfolgen und sich gegenüber
den Überlegenen ins höhere Recht setzen. Den Grund dieses
Rechts bildet die performative Durchsetzung des Guten, denn
empirisch existiert es nicht. Der Wille zur Selbstlosigkeit geht
gegen das Leben, das für Nietzsche der primäre Modus des
Phänomenalen ist. Nur die Performanz also kann das Gute
überhaupt aufrechterhalten. Sie sichert sich ab, indem sie das
Gute für überempirisch ausgibt und es so den empirischen Ein-
wänden entzieht. Tatsächlich jedoch entspringt das Gute dem
von Ressentiment genährten Machtwillen der Schwachen, die
sich durch die im Zeichen des Guten vorgenommene Umwer-
tung der Werte zu den neuen Herrschern der Welt machen.
Nietzsches Angriff auf die Idee des Guten trifft für den
Fall zu, dass die performative Einsetzung des Guten tatsächlich
einem Interessenkalkül entspringt, das Verfügungsgewalt, also
Macht fordert. Wer sich als gut und als Verwalter des Guten
deklariert, markiert dann sein Vorrecht, eine Überlegenheit,
die zunächst moralisch ist, aber darin den sozialen oder politi-
schen Vorrang begründet. Von diesem Missbrauch, der Skepsis
vor jeder Praxis des Guten und den durch sie sanktionierten
Normen und Werten nahelegt, ist das Gute selbst jedoch nicht
berührt. Trotz des Missbrauchs nämlich bleibt die Möglichkeit,
das Gute als solches, die Integrität des »alles in allem« zu wol-
len. Ein Handeln, das diesem Willen folgt, ist eine Performanz
des Guten, die nur im Guten selbst gründen kann. Nietzsches
gegen die phänomenalen Zusammenhänge gerichteter Herme-
neutik entgeht, dass das Gute die Form »wie ich« übersteigt
und daher auch nicht aus den egoistischen Interessen des Ich
hervorgehen kann. Solange es noch ein Ich gibt, das einem
Anderen zuweist, das Ich in der Form des »wie ich selbst« zu
sehen, ist das Gute entstellt, denn es ist der ethischen Relation
eingeordnet. Der Transzensus, der sich an der quodditativen
Vorgängigkeit und Vorzeichnung des Guten orientiert, hat
noch nicht stattgefunden. Das Gute jedoch fordert gerade den
Transzensus. Die Diskrepanz tritt besonders hervor, wenn die
Ansprüche derjenigen, die sich im Dienste des Eigenen auf das
Gute berufen, weit formuliert sind. Reklamiert werden etwa
das »Wohl der Gesellschaft« oder sogar das »Heil der Welt«.
Das gute Handeln selbst schafft den Kontrast, durch den die
Grenzen solcher Zielsetzungen sichtbar werden: Es gibt für es
keine Identitäten, für die es eintreten müsste, kein »allgemeines
Wohl«, nicht einmal eine spezifische »Welt«, sondern nur die
Integrität aller Anderen.
c . H y p o k r i s i e u n d u n i v e r s a l e S i t uat i o n
Das gute Handeln hingegen besteht darin zu intervenie-
ren, und zwar nicht mit dem Vorsatz, die Bedingungen defini-
tiv »zum Guten zu wenden«. Vielmehr stellt es sich der grund-
sätzlichen Entstellung der Lebensbedingungen. Das Gute als
der eschatologische Sinn, der das gute Handeln leitet, bleibt
in radikaler Differenz zum Phänomenalen. Das Phänomenale
wird also nie ein integres Ganzes sein, nie wird es eine gute
Welt geben. Dennoch ist das Phänomenale vom Guten wort-
wörtlich »durchdrungen«, es ist in der Entstellung auf das
Gute bezogen. Für das gute Handeln folgt daraus, sich der
Entstellung auszusetzen, um den eschatologischen Sinn der
Phänomene zu wahren. Es beansprucht nichts darüber hinaus,
keinen Gesinnungswandel der Menschen und keine bessere
Welt, deren Genese es exemplarisch voranginge.
Mit der Orientierung nicht am allgemeinen Bild einer
besseren Welt, sondern an den Phänomenen selbst hängt der
situative Charakter des guten Handelns zusammen. Es bezieht
sich auf die Integrität des »alles in allem«, aber der Handelnde
kann sie nur im eigenen Umkreis erreichen, d. h. in dem rela-
tionalen Feld, das er mit Anderen bildet. Er muss daher so
handeln, dass er die Integrität der konkreten Anderen auf die
aller Anderen bezieht. Es geht dabei nicht um ein Verhältnis
der Stellvertretung, sondern um eine aktuelle Relation, die sich
jedoch nur herstellt, wenn die konkreten Anderen ungeteilt als
sie selbst bedeutsam sind. Indem sich das gute Handeln auf
die integre Ganzheit der konkreten Anderen bezieht, verweisen
sie auf alle Anderen, denn die integre Ganzheit der Konkre-
ten bezieht ihre Möglichkeit aus der integren Ganzheit aller.
Trotz dieser universalen Implikation behält das gute Handeln
mit der situativen Bindung ein partikulares Moment. Es muss
sich an den Radius halten, der ihm konstitutiv vorgegeben ist,
auch wenn der Radius keinen privilegierten Status hat, son-
dern durch beliebige Radien austauschbar ist. Der Umfang
des Radius hängt davon ab, inwieweit der Handelnde mit den
Anderen eine gemeinsame Situation bilden kann. Die Situation
ist nicht monologisch, in ihr wirkt nicht nur der Eine auf die
Anderen, sondern auch sie auf ihn. In der Situation kann er
gar nicht anders, als sich auf sie zu beziehen, sie sind unwei-
gerlich da. Das eben meint, dass sie ihn »betreffen« oder ihn
»angehen«. Das Dasein der Anderen ist so ambivalent wie das
Phänomenale selbst. Die Entstellung bedeutet hier auch, dass
die Anderen über eine eigene Identität verfügen, dass sie gege-
benenfalls ihre Ansprüche rücksichtslos und aversiv verfolgen.
oder urteilen kann und zugleich von sich absehen muss. Ein
prägnantes Beispiel hierfür ist die stoische Epoché, durch die
das Ich mittels Affektkontrolle einen Abstand zu sich selbst
schafft. Im Kontext guten Handelns muss die Selbstsuspension
des Ich allerdings noch radikaler gefasst werden. Der sittliche
Abstand ist erst ganz hergestellt, wo sich das Ich der Integrität
der Anderen überlässt. Das Ich muss die Situation, in der es
sich befindet, durchdringen, aber sich nicht weniger von ihr
durchdringen lassen. Es muss zu einer »Zone reiner Verant-
wortung« werden.
Die Verantwortung des jüdisch-christlichen Modells ist
trotz ihres hohen praktischen Rangs nicht rein, sondern objek-
tiv. Das Ich kann sich suspendieren, weil es dem Anspruch
nicht einer pluralen Integrität (der aller Anderen), sondern
dem eines einzelnen übergeordneten (göttlichen) Anderen folgt,
dessen Güte absolut feststeht und der sie in seinen Handlungs-
vorgaben für die weltlichen Subjekte vergegenständlicht. Die
absolute Rückbindung der religiösen Verantwortung, die sich
als Unterordnung unter den göttlichen Willen vollzieht, ermög-
licht die Ich-Suspension. Jedoch erhöht die Stabilität, die das
religiöse Lebenssystem dadurch erhält, im Gegenzug die Mög-
lichkeit der normativen Verallgemeinerung und damit letztlich
der Hypokrisie, in der die Ichzentrierung zurückkehrt.
Im Gegensatz zur Verantwortung des jüdisch-christlichen
Modells droht die säkulare Verantwortung, das Ich nicht nur
zu suspendieren, sondern zu zersplittern. Dem Guten fehlt hier
die Eindeutigkeit der göttlichen Transzendenz, denn seine Form
ist plural; es wird als die Transzendenz zugänglich, die in der
Integrität aller Phänomene liegt. Zwar bezieht sich die plurale
Integrität auf die Integrität des »alles in allem«, aber diese stellt
sich phänomenal nicht ein. Das Ich ist also konstant durch die
plurale Integrität herausgefordert. Es kann dadurch versucht
sein, sich gegen die pluralen Forderungen erneut als Zentrum
zu etablieren, das die situativen Verhältnisse nicht nur abwägt,
sondern im abwägenden Urteil über sie entscheidet. Zwischen
der Zersplitterung und der retablierten Ichform, die die Integ-
rität des »alles in allem« verschließt, braucht es eine Disziplin
der Selbstrücknahme, die das Ich in die situativen Verhältnisse
zieht, um sie an ihnen selbst zu messen, d. h. sie als ein System
hervortreten zu lassen, in dem jedes Element als integres unbe-
dingten Rang hat. Die drohende Zersplitterung des Ich wird
damit nicht durch das Ich selbst aufgefangen, sondern durch
die innere Transzendenz des Phänomenalen, durch die die situ-
ative Suspension oder die Auflösung des Ich organisiert wird,
indem sich das Ich ihr überlässt.
Hinter dem guten Handeln steht ein Wille, der gegen
das identische Interesse geht, das ihn hervorbrachte. Das gute
Handeln ist eine Bewegung, die sich selbst den Boden entzieht,
weil sie das Ich, an das sie sich klammern könnte, auflöst.
Andererseits jedoch macht gerade die Bodenlosigkeit das gute
Handeln sicher. Indem das Gute vollzogen wird, erfährt das
phänomenal identische Ich, das zuletzt in der ethischen Form
des »wie ich« wiederkehrt, dass es selbst mehr als identisch ist.
Es kann also nicht nur in radikalem Sinne gut sein wollen, son-
dern in der logisch-phänomenalen Paradoxie des Guten leben
oder genauer, auf ihrer unfasslichen Grundlage agieren. Man
kann hier von einem »Kreis der phänomenalen Transzendenz«
sprechen, in dem der Vollzug die Möglichkeit nachweist.
e . D i e E x z e n t r i z i tät g u t e n H a n d e l n s
Praxis des Guten jedoch ist in höchstem Maße exzentrisch.
Dostojewskis Fürst Myschkin, der sich den Mitmenschen
ohne jede pragmatische Klugheit zuwendet, führt dies in der
Literatur vor. Auch wenn gutes Handeln nicht notwendig das
Signum eines Scheiterns à la Myschkin tragen muss, ist der
»Idiot« (auch abseits der Literatur) die paradigmatische Figur
der Steigerungsbewegung, die Nietzsche so gerne als Kulmina-
tion des Übermenschen gesehen hätte. Der Übermensch jedoch
bleibt im Identischen. Er kann daher zwar so handeln, dass
alle Schrecken der Identität (z. B. mitleidlose Unterwerfung)
von ihm ausgehen, aber er kann sich nicht selbst übertreffen.
Dagegen trägt die Idiotie des Guten, die an der quodditativen
Integrität des »alles in allem« ausgerichtet ist, dem Mehr des
Phänomenalen Rechnung. Im Guten liegt so die höchste Inten-
sivierung des Lebens. In Nietzsches eigener Sprache muss man
wohl sagen, er habe zu niedrig gedacht, als er das Gute zur
bloßen Fiktion von Interessen machte. Gewiss kann das Gute
phänomenal bloß inszeniert sein. Die Idee des Guten, auf die
die Inszenierung zurückgeht, gründet jedoch nicht phänome-
nal. Strukturell gelten hier notwendig dieselben Verhältnisse
wie im Fall der Ereignisbezeugung oder noch grundlegender
im Fall des Prädikats »wirklich«, die das gute Handeln ethisch
ausbuchstabiert. Das Gute ist die ontologische Regel und die
phänomenale Ausnahme. Die Menschen können also einerseits
gut handeln und damit das Gute bezeugen. Andererseits jedoch
lässt sich die Interesselosigkeit, die sich dem Guten verbindet,
nicht nachweisen. Nicht einmal der Handelnde selbst kann
sich – die Problematik der religiösen Gewissensprüfung ebenso
wie des »guten Willens« Kants – über die eigenen Motive voll-
kommen klar sein. Aufgrund der phänomenalen Deformation
des Guten bleibt die Qualität des aktuellen Handelns ungewiss,
während das Gute als Handlungssinn zweifellos besteht.
3. Gerechtigkeit
a . G e r e c h t i g k e i t a l s » m e h r G e r e c h t i g k e i t«
geschädigt wurde und dafür Vergeltung übte? – Solche und
ähnliche Fragen zeigen, dass eine um das Gute bemühte Pra-
xis den Konflikt nicht überspringen kann. Sie kann das Gute
also nicht einfach auf die Situation applizieren, ganz so, als
habe sich bloß ein situatives Ungleichgewicht ergeben, das sich
durch die Wiederherstellung der rechten Verhältnisse beheben
lässt. Die Integrität derer, die an der Situation beteiligt sind, ist
vielmehr immer schon durch eine lange Geschichte der Beschä-
digungen gegangen und nur durch sie hindurch zugänglich.
Die gerechte Praxis wird hier zur Kunst des Ausgleichs. Der
Ausgleich ist kein Zustand einer unverbrüchlichen Harmonie,
in dem die Phänomene sich unentstellt zu- und miteinander
entfalten. Vielmehr bleibt der Ausgleich prekär, aufgrund sei-
nes prekären Charakters aber offen. Der Ausgleich ist immer
wieder neu herzustellen. Allerdings bedeutet diese praktische
Iteration des Guten nicht, dass es seinen Gehalt verlöre. Das
Leitbild eines ultimativen Ausgleichs bleibt bestehen. Es nimmt
aber praktisch die Form einer ständigen Steigerung an. Es
kann nie genug Gerechtigkeit geben, d. h., Gerechtigkeit stellt
sich selbst in der Forderung nach »immer mehr Gerechtigkeit«
dar. Gerechtigkeit wird also nie mit den Verhältnissen einer
Situation identisch, sie ist immer Gerechtigkeit, die über die
etablierten Verhältnisse hinausgeht. Gerade indem sie den
Konflikt schlichtet, lässt sie die Konflikthaftigkeit bestehen,
denn in ihrem eigenen Begriff, der Gerechtigkeit als »mehr
Gerechtigkeit«, liegt, dass in der Schlichtung der phänomenale
Unfrieden weitergeht.
Hieraus folgt der im Grunde ungeheure Anspruch der
Gerechtigkeit: Der Einzelne soll die Integrität der Anderen so
wahren, dass sie sie auch untereinander wahren, aber er kann
dabei auf keine spezifischen Inhalte zurückgreifen. Er verfügt
einzig über die Form des »Mehr an Gerechtigkeit«, die mit den
Erfordernissen der Situation zusammenzubringen ist, um sie
im Sinne eines relativen Ausgleichs zu schlichten. Gerechtigkeit
verlangt die Anstrengung eines Engagements, das interesse-
los urteilt und dennoch dem eigenen Urteil nicht trauen darf,
weil es kein letztes Wort enthalten kann. Die Entscheidungen
sind mit vollem Einsatz zu treffen, und doch ist der Skrupel
ihnen gegenüber wachzuhalten als Bereitschaft, besser und
gerechter zu entscheiden. Es ist vor diesem Hintergrund eines
nie endenden Entscheidungsprozesses durchaus zulässig zu fra-
gen, warum je ein Mensch die Mühen der Gerechtigkeit auf
sich genommen hat. Die Antwort liegt in dem, was zumindest
intuitiv auch die philosophischen und religiösen Traditionen
ahnten, wenn sie Gerechtigkeit zur höchsten ethischen Tugend
erhoben: Kein Mensch kann der Gerechtigkeit entkommen.
Der Grund hierfür ist jedoch nicht, wie das monotheistische
Weltbild nahelegt, dass eine personalisierte Gerechtigkeit als
richtende Instanz über den Menschen und ihren Taten thront.
Vielmehr ist Gerechtigkeit dem menschlichen Selbst- und Welt-
verhältnis implizit. Sie ist der Anspruch, der auf den Menschen
kommt, indem er auf das Dass des Phänomenalen bezogen ist.
Gerechtigkeit ist die praktische Form der Wirklichkeit. Noch
die Endlosigkeit des phänomenalen Konflikts handelt letztlich
davon, dass alle Interessen erfüllt werden sollen, weil sie zu
einem Teil aus der Erfüllungstendenz der Phänomene hervor-
geht. Sogar hier, im Negativ der identischen Wendung, ist die
Gerechtigkeit zugegen als der Impetus, das Phänomenale in
quodditativer Richtung zu überschreiten, also sich mit dem,
was ist, nicht zufrieden zu geben.
geführt wird. Dennoch stellt auch die Andeutung eine Bezie-
hung zur Gerechtigkeit her, eine Beziehung jedoch, in der
sich das aus phänomenaler Perspektive Unbefriedigende der
Gerechtigkeit ausdrückt. Indem sich die Gerechtigkeit näm-
lich in der Bewegung eines ständigen Überstiegs vollzieht, liegt
in ihr, dass nie alles vollständig integer sein kann, obwohl es
dies sein soll. Die offene Erfüllungstendenz der Gerechtigkeit
verweist so selbst zurück auf Formen einer Vorwegnahme der
Erfüllung, in denen sich der Sinn der Gerechtigkeit zumindest
gebrochen manifestiert. Dies eben geschieht an den extremen
Polen des Ethischen, d. h. einerseits in der partikularen Inte-
gritätsbewegung der Liebe und andererseits in der objektiven
Integritätsbewegung der Norm. Die Liebe zielt darauf, zumin-
dest die Integrität eines Einzelnen zu verwirklichen, wenn
schon die Integrität des Phänomenalen und aller Phänomene
unerreichbar ist. Die Norm hingegen sucht der Anforderung,
die Bedingungen des Ausgleichs ständig neu zu entwerfen,
dadurch zu entgehen, dass sie einen formalen, also in seinen
Kriterien feststehenden Mechanismus des Ausgleichs schafft.
b 1. Pa r t i k u l a r e I n t e g r i tät s b e w e g u n g : L i e b e
Was hier interessiert, ist die Struktur der Liebe vor ihrer Ver-
laufsform (etwa als kurzzeitig aufflammender Affekt oder als
dauernde Passion, die für den Liebenden habituell wird). Die
Liebe ist ein Verhältnis, das der Eine zum Anderen eingeht.21
Der Andere erscheint dabei auf eine Weise, die das Phänome-
nale überschreitet. Der Liebende erblickt ihn in ungebroche-
ner Integrität. Dies ist das verklärende Moment der Liebe, die
phänomenale Unangemessenheit, in der der überphänomenale
Status des Anderen hervortritt.
Aus der Integrität des Geliebten folgt seine radikal sin-
guläre Bedeutung. Er ist vergleichslos. Indem die Liebe sich
auf diese Unvergleichlichkeit oder Singularität des Geliebten
bezieht, ist sie eine Bewegung der Singularität. Sie ist damit wie
21 Der »Eine«, der »Andere«, der »Liebende«, der »Geliebte« sind hier
ebenfalls nur strukturelle Termini.
das gute Handeln exzentrisch, denn sie bricht mit den logisch-
phänomenalen Verhältnissen. Der Andere wird für sie zum Pol
einer Transzendenz, von der aus das Ich und die übrigen Ande-
ren sowie die Weisen, in denen sie sich mit- und gegeneinander
organisieren, unbedeutend werden. Die Steigerung, die sich in
der Liebe vollzieht, ist im Wortsinne einzigartig.
Die Liebe bekommt dadurch einen verzerrenden Charak-
ter, dass sie zwar auf die singuläre Integrität gerichtet ist, aber
dennoch wie jede phänomenale Bewegung phänomenal gebun-
den bleibt. Der Geliebte ist trotz seiner Verklärung ein Anderer,
der in der Welt erscheint. Hiermit hängt zunächst zusammen,
dass die Liebe den geliebten Anderen nicht nur verklärt, son-
dern eine Auseinandersetzung mit ihm ist. Der Andere tritt als
phänomenaler Anderer in die Liebe ein, d. h. aber: er ist iden-
tisch, er wahrt seine Grenzen. Indem die Liebe die Integrität
des Anderen sieht, sieht sie die Möglichkeit der gefahrlosen
Berührung und bezieht sie notwendig – denn die Singularität
des Anderen lässt nur Raum für den auf sie bezogenen Einen –
auf den Liebenden. Die Liebe fordert implizit, erwidert zu wer-
den, denn sie entwirft die Auflösung der Fronten der Identität
zwischen dem Anderen und dem Einen.
Der reziproke Charakter der Liebe bedeutet, dass sie
streng genommen nur unter Menschen möglich ist. Die Liebe
zu einem Ding oder einem Tier entbehrt der Möglichkeit der
Erwiderung, denn beide können die Integrität des Liebenden
nicht als solche festhalten. Die Liebe bleibt einseitig. Wie im
vergleichbaren Fall schwärmerischer Liebe kann die Einsei-
tigkeit durchaus vom Liebenden gewünscht sein, weil sie ihn
nicht zur Auseinandersetzung mit dem Anderen oder genauer,
mit den Perspektiven zwingt, aus denen er das Ich sich entge-
gentreten lässt.
Weil die Liebe phänomenal stattfindet, bleibt sie unsicher.
Neben der Möglichkeit der gefahrlosen Berührung besteht die,
dass der Geliebte sich ins Identische verschließt, obwohl die
Liebe selbst ihn als den zeigt, der sich nicht verschließt. Der
Schmerz der Liebe resultiert aus der Anstrengung, den Anderen
in die Überstiegsbewegung hineinzuziehen, während die Fron-
ten der Identität ständig zu verhärten drohen. Dies gilt auch
noch für den glücklichen Fall erwiderter Liebe. Die Lieben-
den ringen umeinander, sie versuchen sich gegenseitig in der
Bewegung zu halten, die es ihnen erlaubt, das Phänomenale
gemeinsam zu überschreiten und damit die Gestalt der Liebe
zu erfüllen.
Indem sich die Liebe auf die Singularität des geliebten
Anderen bezieht, erkennt sie ihm Vorrang vor den übrigen
Phänomenen zu. Sie ist also »ungerecht«. Das schließt nicht
aus, dass sie auf die übrige phänomenale Erfahrung abstrahlt.
Die Transzendenzbewegung der Liebe informiert das Weltver-
hältnis insgesamt, sodass etwas vom verklärenden Glanz der
Liebe auch über den übrigen Phänomenen liegen kann. Die
Quelle der Verklärung jedoch bleibt der geliebte Andere. Die
Erfahrung der Welt ist auf ihn zugeschnitten, die Phänomene
können zwar gesteigert erscheinen, aber wenn sich die Liebe
verliert, sinken auch sie zurück.
Phänomenal kann Liebe mehreren Anderen zukommen,
schon allein deswegen, weil es unterschiedliche Arten der Liebe
gibt (etwa die erotische Liebe, die Freundesliebe, die Liebe
zwischen Mutter und Kind etc.). Dennoch gilt aus strukturel-
ler Perspektive, dass es unmöglich ist, »alle gleichermaßen zu
lieben«, also mehrere Andere zumindest zur selben Zeit ganz
zu lieben. Liebe ist nur möglich im Vorrang des einen transzen-
dierten Identischen. Die Singularität des Geliebten macht die
ihm geltende Liebe ebenfalls singulär. Wenn er unvergleichlich
ist, dann auch darin, dass niemand so geliebt werden kann wie
er. Der Geliebte ist Anderer ohne Andere. Dies schließt nicht
aus, dass ein Anderer nach ihm ebenso geliebt werden kann
wie er, aber das ist die Geschichte einer neuen Liebe.
Der Anspruch auf eine Liebe, in der alle gleichermaßen
geliebt werden, ist dennoch nicht gehaltlos. Allerdings handelt
es sich bei ihm genau betrachtet nicht um einen Anspruch, der
im Register der Liebe liegt, sondern in dem der Gerechtigkeit.
Rückwirkend verweist er auf die Grenzen der Liebe. Die Liebe
kann nicht alle gleichermaßen lieben, weil in ihr anders als im
Fall der Gerechtigkeit nicht erschlossen ist, dass Integrität letzt-
lich die Integrität aller fordert. Der Transzensus, den die Liebe
vollzieht, bezieht sich nicht auf das Gute, sondern auf den
einen Anderen, der zwar aufgrund seiner Unvergleichlichkeit
nicht »wie ich«, aber doch phänomenal zurückgebunden ist,
ein identisches Ich. Während die Gerechtigkeit die Identität der
Einzelnen aufzulösen sucht, indem sie sie auf die Integrität des
»alles in allem« bezieht, überbietet die Liebe nur die Identität
des einen Anderen durch seine Integrität. Liebe ist singulärer
Überstieg, in dem das Gute, die Integrität des »alles in allem«,
zwar »wirkt«, aber nicht eigens berührt wird.
Diese Überlegungen lassen sich auch auf die »Liebesre-
ligion« par excellence, das Christentum übertragen, das das
Konzept der Liebe tief in der abendländischen Geistesge-
schichte verankerte. Seine Anziehungskraft gewann das Chris-
tentum offensichtlich durch die Suggestion, in ihm fielen Liebe
und Gerechtigkeit zusammen. Kann aber Jesus Christus, der
menschgewordene Gott, universal lieben? – Wird er (so weit,
wie möglich) aus dem Gespinst der christlichen Tradition
gelöst, scheint er eher mit der jüdischen Tradition übereinzu-
stimmen, die die Vorstellung vom »Messias« prägte und der
zufolge die Erlösung der Welt den Weg der Gerechtigkeit neh-
men muss. Wenn also »Jesus Messias« zum »Heil der Welt«
gekommen ist, also um alle Phänomene als Integre in die Inte-
grität des »alles in allem« zu heben, kann er das nur, indem
er die Gerechtigkeit verwirklicht. Die Liebe genügt hier nicht,
denn sie bleibt singulär. Das zeigt sich gerade an dem Überge-
wicht, das die Liebe im Christentum gegenüber der Gerech-
tigkeit bekommt. Der christliche Glaube zehrt von dem Ver-
sprechen, »dass Gott mich liebt«, dass das Ich also durch Gott
transzendiert wird auf das hin, was er selbst einlösen wird. Die
christliche Erlösungsvorstellung trifft sich hier unvermittelt mit
den Träumen des identischen Ich, das auch die weitere Gestalt
des Christentums prägt. So ist das zentrale christliche Gebot,
die Nächstenliebe, an das »wie ich« gebunden. Dadurch ent-
steht zwar eine ethische Form, aber sie ist nie mehr als ethisch,
sie ist nicht gerecht. Die christliche agape verlangt, was struk-
turell unmöglich ist. Sie nimmt den singulären Fall der Liebe,
um den Fall einer universalen Relation zu erfassen, von der sie
aber gerade überstiegen wird.
b 2 . O b j e k t i v e I n t e g r i t ä t s b e w e g u n g : No r m
Während die Liebe eine je singuläre Weise ist, in der sich ein
Einer zu einem Anderen verhält, beschreibt die Norm ein all-
gemeines Verhältnis. Sie betrifft die Weise, in der alle Einen
zu allen Anderen sind, wenn sie der Norm entsprechen, bzw.
sein sollen, wenn sie der Norm nicht oder nicht durchgängig
entsprechen. Der allgemeine Charakter der Norm bezieht sich
auf die Praxis eines bestimmten intersubjektiven Verbandes,
der bis ins Äußerste von Intersubjektivität reichen kann (etwa
in der Normvorgabe der Menschenrechte, die für »alle Men-
schen« gelten). Die diametrale Stellung von Liebe und Norm
ergibt sich aus der formalen Gegensätzlichkeit, mit der sie
die ethische Relation auf das Gute beziehen, ohne es ganz ins
Phänomenale überführen zu können. Der allgemeinen Form
ethischer Intersubjektivität in der Norm steht die singuläre
Form ethischer Intersubjektivität in der Liebe gegenüber. Dies
schließt nicht die Möglichkeit aus, Liebe zur Norm zu erhe-
ben, denn aufgrund ihrer Funktionsweise kann die Norm jedes
singuläre Verhältnis verallgemeinern. Nicht immer jedoch geht
die Verallgemeinerung auf. So ist denn auch Liebe als Norm
unmöglich erfüllbar. Die Gegensätzlichkeit der Liebe zur Norm
setzt sich in dieser Unmöglichkeit durch.
Die Gemeinsamkeit von Norm und Liebe besteht darin,
dass sie durch die Integrität des »alles in allem« informiert sind
und sich in ihnen so ethische Möglichkeiten menschlicher Pra-
xis herauskristallisieren. Norm wie Liebe schaffen ein Verhält-
nis, in dem Integrität über Identität gestellt ist, aber weiterhin
am Identischen gemessen wird. Gerechtigkeit operiert so, als
wäre die Identität der Identischen aufgehoben. Der Konflikt
der Identischen ist nur noch die Spur der Identität, muss aller-
dings als solche beachtet werden. In der Liebe hingegen ist die
Identität im Vorrang des Geliebten aufrechterhalten. Demge-
genüber nimmt in der Norm die Überwindung der Identität
selbst eine identische Form an. Die Norm behauptet sich als
definitiv.
Zunächst scheint die Norm der Gerechtigkeit näher zu
liegen als die Liebe. In der allgemeinen Form nämlich stellt
die Norm die Ansprüche der identischen Einzelnen zurück.
Während diese aversiv vom Konflikt beherrscht werden,
macht die Norm Vorgaben, mit denen der Konflikt enden
kann. Die Norm zielt auf Ausgleich. Der Ausgleich jedoch ist
nur möglich, wenn die identischen Ansprüche und durch sie
hindurch die Integrität derer, die am Konflikt beteiligt sind,
berücksichtigt wird. Für die Norm ist es daher konstitutiv, sich
an Gerechtigkeit zu orientieren. Entsprechend suggeriert die
Norm auch, »gut« zu sein. Selbst wenn eine Norm in einem
intersubjektiven Verband Missverhältnisse schafft und als
»ungerecht« empfunden wird, tut sie das mit dem Anspruch,
die Ungerechtigkeit durch eine höhere Gerechtigkeit auszu-
gleichen, die letztlich auch zum »Guten«, d. h. zum Vorteil
derer ausschlägt, die sich unangemessen behandelt fühlen. Dies
gilt für alle Varianten der Norm, also für alles, was man im
weitesten Sinne als normativ verstehen kann, für alle Gebote,
Verbote, Erlaubnisse und Regelungen, die das intersubjektive
Leben gestalten, sie mögen nun zum Bereich der Konvention,
der Sitte oder des Gesetzes gehören.
Die Differenz der Norm zur Gerechtigkeit tritt darin
zutage, dass sie, indem sie gestaltet, definiert. Die identischen
Ansprüche, die den Konflikt hervorrufen, werden im Wort-
sinne vermittelt, sie werden in einem identischen Anspruch
aufgehoben. Die Vermittlung gilt jedoch nur formal, d. h., die
von der Norm abweichenden singulär-identischen Ansprüche
bleiben unverändert bestehen und bilden gegen die Norm eine
neue Konfliktsituation. Die Norm liegt über den singulären
Ansprüchen und muss sich dennoch gegen sie behaupten. Das
macht den Zwangscharakter der Norm aus. Manifest ist er da,
wo die Norm droht, denjenigen, der sich nicht nach ihr richtet,
aus dem intersubjektiven Verband auszuschließen.
Die von der Norm vorgegebenen Linien sind hier zunächst
klar. Wer der Norm folgt, bleibt – egal, ob er sie subjektiv
bejaht oder ablehnt – im intersubjektiven Verhältnis. Wer
jedoch gegen sie verstößt, für den endet das Verhältnis. Aller-
dings zeigt sich an dieser Stelle die Ambivalenz der Norm,
denn das Verhältnis endet nie vollständig. Ein komplexes inter-
subjektives System wie das moderne Gesellschaftssystem spielt
diese Ambivalenz auf mehreren Ebenen durch. So wird zwar
derjenige, der gegen sittliche Übereinkünfte verstößt, vom sozi-
alen Umgang ausgeschlossen, die Beziehungen zu ihm werden
wortwörtlich »abgebrochen«. Ungeachtet dessen bleibt er ein
»Teil der Gesellschaft« (und etwa ihrer administrativen Proze-
duren). Auch im Fall des Gesetzesbruchs jedoch, der die gesell-
schaftliche Ordnung selbst betrifft, wird der Delinquent nicht
vollständig ausgeschlossen. In der strafenden Sanktion, in der
sich der übergeordnete Status der Norm vor den partikularen
Ansprüchen darstellt, wird das Verhältnis zu ihm aufrechter-
halten. Strafe ist die Form, den Normbrecher trotz Übertretung
in Beziehung zur Norm zu halten, d. h., sie ist immer integra-
tiv, ob sie als Buße oder moderner als ausdrückliches Mittel
sozialer »Reintegration« verstanden wird.
Komplexer funktioniert die Sanktion, wenn sie vor-
sieht, den Delinquenten zu töten. Der Tod scheint zunächst
den radikalen Abbruch des intersubjektiven Verhältnisses zu
bedeuten, ganz so, wie in manchen Stammesgesellschaften der
Ausgeschlossene für tot gilt. Dennoch lässt sich sagen, dass
der verhängte Tod ein integratives Moment behält, denn der
Hingerichtete bleibt in der Tötung mit dem intersubjektiven
Bereich der Norm verbunden. Zum Beispiel wird er nach
seinem Ableben von den exekutiven Instanzen erinnert. Die
Archive, in denen der Hingerichtete sowie die Umstände seines
Todes vermerkt sind, konservieren sein Verhältnis zum inter-
subjektiven Verband, auch wenn er schon kein Subjekt mehr
ist. Im Bereich der Norm sieht Vernichtung nie vollkommene
Auslöschung vor.
Dies heißt nicht, ein intersubjektiver, normativ geschlos-
sener Verband könnte keine Akte der Auslöschung begehen,
d. h. Andere der Intention nach so vernichten, dass sie nicht
erinnert werden können. Solche Fälle haben aber nichts mehr
mit seinem normativen Charakter zu tun, sondern bezeichnen
Konstellationen einer radikalen Feindschaft, in denen eine
Gemeinschaft mit dem Feind undenkbar ist. Radikale Feind-
schaft ist Feindschaft jenseits normativer Konflikte.
Entgegen dem ersten Anschein, wonach die Norm mit
dem von ihr geschaffenen Ausgleich Gerechtigkeit gewährleis-
tet, ist die Norm eine Struktur, die am phänomenalen Konflikt,
am Konflikt der identischen Ansprüche teilhat. Die Teilhabe
hat zwei Aspekte. Zunächst schiebt sich die Norm zwischen
den Konflikt der identischen Ansprüche, sodass diese nun über
sie verhandelt werden können. Allerdings besagt das noch
nichts über die Zugehörigkeit der Norm zum Konflikt. Indem
die Norm nämlich in den Konflikt eingreift, um ihn zu schlich-
ten, weist sie über ihn hinaus. Wenn sie sich dennoch unlösbar
mit dem Konflikt verwebt, liegt das an der definitiven Bedeu-
tung, die sie der Schlichtungsintention gibt. Die Norm erhebt
sich zum festgesetzten Maß über den Konflikt, die konfligie-
renden Ansprüche sollen nicht nur für den singulären Fall über
sie ausgetragen werden, sondern in jedem vergleichbaren Fall.
Mit diesem allgemeinen und definitiven Anspruch entsteht eine
zweite Konfliktfront. Zur Front, die zwischen den identischen
Ansprüchen besteht, tritt diejenige, die sich zwischen den iden-
tischen Ansprüchen und der Norm selbst bildet. Die Norm
etabliert sich nur als Schlichtungsinstanz, indem sie eine neue,
übergeordnete Konfliktzone schafft.
Zur Komplexität des Verhältnisses von Norm und Kon-
flikt gehört, dass die Norm gegen das Statut ihrer definitiven
Form historisch wird. Die Grenze, die sie zieht, macht sie
zugleich für die identischen Ansprüche offen, denn jede Grenze
impliziert die Möglichkeit, übertreten zu werden. Allerdings
kann durch die Grenzübertretung nur der Inhalt der Norm,
nicht ihre Funktion angetastet werden. Die Funktion der
Norm resultiert aus der Schlichtungsintention und weist über
den Konflikt hinaus, was phänomenal bedeutet, dass die Norm
als Schlichtungsinstanz auch unter dem Druck der identischen
Ansprüche bestehen bleibt. Sie können jedoch den normativen
Inhalt verändern, denn er liegt mit ihnen auf derselben dis-
kursiven Ebene. Auch die Norm formuliert einen identischen
Anspruch, der vorgibt, wie eine bestimmte Konfliktsituation
zu ordnen ist. Die identischen Ansprüche können also die von
der Norm bezeichnete Grenze übertreten und so in die Inhalte
der Norm eingreifen.
Die neuere politische Philosophie (Michel Foucault, Jac-
ques Rancière u. a.) hat solche Prozesse unter dem Paradigma
der »Verschiebung« beschrieben. Nach dem Gesehenen lässt
sich sagen, dass die Normverschiebung eine eigentümliche
Doppelbewegung beschreibt. Die Verschiebung vollzieht sich
zugleich mit und gegen die Norm. Sie richtet sich gegen den
definitiven Status, den die Norm beansprucht, verleiht ihr
dabei aber einen neuen (und wiederum vorläufigen) definitiven
Status. Der strukturelle definitive Charakter der Norm wird
also nicht angetastet, sondern kehrt in den veränderten Inhal-
ten wieder. In gewissem Sinne lässt sich sogar sagen, dass er
gerade in der Verschiebung erhalten wird, denn erst mit ihr löst
sich das selbst konflikthafte Wesen der Norm ein. Indem sich
die Norm als allgemeiner identischer Anspruch zwischen die
partikularen identischen Ansprüche schiebt, hat sie schon den
Raum ihrer eigenen Übertretung eröffnet, denn sie erscheint
vor den partikularen Ansprüchen als Grenze. Ohne die Mög-
lichkeit der Übertretung wäre der Begriff der Norm also nicht
vollständig. Die Verschiebung ist daher derjenige Prozess, der
der Vollständigkeit des Begriffs entspricht. In der Verschiebung
stellt sich die Norm ganz dar und behauptet sich als phänome-
nale Instanz.
Die politischen und sozialen Kämpfe, die anhand des
Terminus der »Verschiebung« analysiert werden können, sind
normative Kämpfe. Sie gehören ins politisch-soziale Feld, das
die zentrale und von der Norm strukturierte Konfliktzone
menschlicher Praxis bildet. Für die politisch-sozialen Kämpfe
ist nicht ausgeschlossen, dass sie maskierte Kämpfe um
Gerechtigkeit sind. Allerdings müssen sie dazu ihrer Intention
nach so angelegt sein, dass sie über das Engagement für iden-
tische Ansprüche hinausgehen. Im konkreten politisch-sozialen
Kontext kommt es häufig zu einer Verbindung von identi-
schen Ansprüchen und Ansprüchen der Gerechtigkeit, die so
lange Bestand hat, wie die Instanzen, die die Norm vertreten,
einen gemeinsamen Opponenten darstellen. Die unterschied-
liche intentionale Anlage der Ansprüche tritt frühestens dann
zutage, wenn die normative Verschiebung vorerst abgeschlos-
sen ist und die politisch-sozialen Verhältnisse wieder für stabil
gelten können. Die identischen Ansprüche erweisen sich dann
als ihrerseits normative Interessen, die den politisch-sozialen
Raum strukturieren und sich in ihm instituieren, um Positionen
der Macht zu schaffen. Im Zusammenhang einer »Ordnung
des phänomenalen Lebens« lässt sich hiergegen nichts einwen-
den. Es steht jedoch in Differenz zu den nicht zu beruhigenden
Ansprüchen der Gerechtigkeit.
4. Die Übertretung
Wie oben ersichtlich, fasst diese Arbeit den Begriff der Norm
äußerst weit, nämlich von der sittlichen Konvention bis hin
zum Gesetz. Um diese verschiedenen normativen Formen zu
unterscheiden, wären die unterschiedlichen Weisen ihrer Ein-
setzung zu betrachten, d. h., es wäre zu sehen, welcher norma-
tive Typ unter welchen gesellschaftlichen Umständen entsteht
und wie er entsprechend organisiert ist. Hier hingegen inte-
ressiert nur die Funktion des Normativen, die darin besteht,
dass es für die identischen Ansprüche der menschlichen Praxis
ein Maß des Ausgleichs schafft. Da die menschliche Praxis
ethisch ist, also unter anderem durch die Integrität des Ich
wie der Anderen strukturiert ist, lässt sich sagen, dass sie not-
wendig normativ verfasst ist. Menschliche Praxis schließt stets
Kriterien des intersubjektiven Ausgleichs ein, weil sie ohne sie
nicht nur »entmenschlicht« wäre, sondern auch ihren Praxis
charakter verlöre. In einem Feld der reinen, unvermittelten
Begegnung identischer Ansprüche lässt sich nicht menschlich
leben, es wäre unweigerlich ein Feld reiner Gewalt, das von
der zermalmten Integrität derer genährt würde, die auf ihm
versammelt sind.
Die Normübertretung bezeichnet eine Handlung, die
gegen das von der Norm vorgegebene intersubjektive Aus-
gleichsverhältnis verstößt, um identische Ansprüche durchzu-
setzen. Formal ist es gleichgültig, wie die Übertretung motiviert
ist, also ob sie etwa fahrlässig, aus Gründen persönlichen Vor-
teils oder vor dem Hintergrund unerträglicher Lebensumstände
geschieht, die der Handelnde nach eigener Einsicht mit anderen
teilt und die von der Norm verwaltet werden. Entscheidend ist
nur, dass gegen die Norm verstoßen wird. Ebenfalls gilt for-
mal, dass jede Normübertretung zu einer Normverschiebung
führen kann, denn sie nimmt diese vorweg. In der Regel muss
eine Normübertretung allerdings ihrerseits intersubjektiv orga-
nisiert sein, um tatsächlich eine Normverschiebung nach sich
ziehen zu können. Vergehen, Verbrechen, Umsturz, Revolution,
aber auch legislative Verfahren, in denen die Normübertretung
nicht vollzogen werden muss, weil ihr Zweck eingeholt wird,
gehören ins Feld der einfachen Normübertretung. Strukturell
ist sie ein Element des Normativen.
Aus der Perspektive der Norm wird die gerechte Übertre-
tung erst relevant, wenn sie sich als Normübertretung darstellt.
Die Norm kann nicht anders, sie muss die gerechte Übertre-
tung als normatives Problem identifizieren. Die gerechte Über-
tretung erscheint für sie unter dem Paradigma der Identität als
Ausdruck eines identischen Anspruchs, der mit dem Anspruch
der Norm in Konflikt gerät. An der inadäquaten Herme-
neutik der Norm zeigt sich am deutlichsten, dass die Norm
zwar von Gerechtigkeit informiert ist, aber noch nicht selbst
Gerechtigkeit ist. Der Bezug der Norm zur Gerechtigkeit, der
die Norm für die Integrität der Einzelnen öffnet, genügt nicht,
um Gerechtigkeit durchgängig zu wahren, denn dazu bedarf es
einer permanenten Offenheit für die Integrität der Einzelnen.
Die Norm stellt die permanente Offenheit hinter die definitive
Form zurück. Sie gewährleistet dadurch einerseits eine Praxis,
für die der Konflikt der identischen Ansprüche entschärft ist
und in der sich daher ohne ständige Gewaltdrohung und Ver-
handlungszwang leben lässt. Andererseits jedoch entgeht ihr,
dass der Konfliktcharakter des Phänomenalen ein Moment
enthält, das den Konflikt hinter sich lässt, sei es bereits in der
Struktur der identischen Ansprüche, die qua Erfüllungstendenz
auf die Integrität des Identischen zielen, sei es aber vor allem
in einem Anspruch, der im Konflikt die Gerechtigkeit sucht.
Ein solcher Anspruch auf Gerechtigkeit kann aus normativer
Perspektive nicht existieren, er ist immer nur ein identischer
Anspruch, der mit anderen Ansprüchen, insbesondere Ansprü-
chen der Norm konfligiert. Dies schließt ein, dass für die
Norm Gerechtigkeit (oder das, was die Norm als Gerechtigkeit
auffasst, d. i. ein bestimmtes Ausgleichsverhältnis) plural bean-
sprucht werden kann und daher »gerechte Ansprüche« auch
miteinander in Konflikt geraten können. Tatsächlich jedoch
ist der Gerechtigkeitsanspruch immer nur ein einziger, denn
es gibt nur eine einzige Gerechtigkeit, für die sich jedoch kein
definitiver Inhalt angeben lässt. Phänomenal kann es daher
zwar mehrere Ansprüche auf Gerechtigkeit geben, aber sie
können nicht in Konflikt miteinander, sondern nur mit anderen
Ansprüchen inklusive denen der Norm geraten.
Da die gerechte Übertretung phänomenal stattfindet,
muss sie sich zwangsläufig zu den normativen Ansprüchen
verhalten. Es geht ihr dabei aber nie um die Norm als solche,
d. h., die Norm besteht für sie, aber ohne praktische Ver-
bindlichkeit. Vielmehr bezieht sich die gerechte Übertretung
durch die Norm hindurch auf die jeweilige Situation, um sie
oder genauer, den Konflikt der Situation hin auf die Gerech-
tigkeit zu übertreten. Es handelt sich hier um eine absolute
oder unbedingte Übertretung, d. h. eine Übertretung, die die
phänomenalen Bedingungen des Konflikts überschreitet. Die
phänomenalen Bedingungen geben vor, dass Integrität vom
Identischen her zugänglich wird. Ihnen entspricht der norma-
tive Ausgleich, der die Integrität zu wahren sucht, indem er
den eigenen identischen Anspruch den partikularen identischen
Ansprüchen überordnet. Hingegen geht die Gerechtigkeitsbe-
wegung von der Integrität des »alles in allem« aus und bezieht
sie auf das Identische zurück. Die plurale Partikularität, die
sich in den identischen Ansprüchen ausdrückt, wird damit
zunächst aufgelöst, jedoch um hinsichtlich dessen restituiert zu
werden, was die Ansprüche selbst motiviert, also hinsichtlich
der je einzelnen Integrität, die wahre Integrität nur im Verbund
mit der Integrität aller anderen Einzelnen ist. Da in der Inte-
grität aller, der Integrität des »alles in allem«, die universale
Wirklichkeit der Einzelnen liegt, ist die gerechte Übertretung in
eminentem Sinne verwirklichende Bewegung. Ihr Bezugspunkt
ist die Wirklichkeit, die jedoch überphänomenal ist, also nie
definitiven Status haben kann. Die gerechte Übertretung bleibt
so im Gegensatz zur Norm unabgeschlossen. Dennoch ist sie
positiv, eine Bewegung, die auflöst, um zu restituieren, d. h.
um durchgängig die Integrität der Einzelnen von der Integrität
des »alles in allem« aus zu adressieren und im Phänomenalen
gegen die es durchherrschenden Bedingungen des Konflikts
umzusetzen. Die Phänomene werden unidentisch gemacht, sie
werden über sich hinausgeführt, um so erst sie selbst sein zu
können, also in die Dynamik ihrer Verwirklichung einzutreten.
Phänomenal ist Gerechtigkeit die Form der gerechten
Übertretung. Die Inhalte der Gerechtigkeit ergeben sich aus
den Anforderungen der jeweiligen Situation – und sie zerfallen
mit den Anforderungen. Die Norm steht in ihren Inhalten fest,
sie bilden die Kriterien für die Unterscheidung der phänome-
nalen Welt. Hingegen steht für die Gerechtigkeit nur die Form
ihrer Bewegung fest, die sich dem Nicht-Definitiven, der selbst
dynamischen Idee des Guten verdankt. Die Unterscheidungen
der Gerechtigkeit sind daher stets aktuell, sie werden nicht
getroffen, um die phänomenalen Verhältnisse zu ordnen, son-
dern um sie einzulösen, also über sich hinaustreten zu lassen.
geschieht jedoch intern, sodass das Denken schließlich in eine
neue Liaison mit dem Logisch-Phänomenalen treten muss, also
seine Bedingungen in gewisser Weise wiederholt.
Die gerade skizzierten Zusammenhänge sind paradig-
matisch im dunklen Orgiasmus Georges Batailles entwickelt.
In der Mitte von Batailles Denken steht das menschliche Sein
als Sein-zum-Tode. Die orgiastische Bewegung expliziert die
Beziehung zum Tod und überschreitet sie zugleich. Indem sich
der Mensch der orgiastischen Auflösung unterzieht, indem er
im Orgiasmus nicht mehr identisch, nicht mehr »er selbst« ist,
verwandelt er sich zunächst dem Tod an. Das extreme orgi-
astische Erlebnis füllt sich intensiv, bis obenhin mit der Aus-
löschung des identischen Ich. Gerade darin jedoch führt das
extreme Erlebnis über die Bedürfnisordnung hinaus, in der sich
die Endlichkeit des Menschen manifestiert. Das identische Ich
ist im orgiastischen Erlebnis zerfallen, Interesse, Wille, Bedürf-
nis haben für es keinen Sinn mehr. Die phänomenale Grenze,
von der es zusammengehalten wird und die der Tod markiert,
ist überschritten. Die Integrität des Phänomenalen kündigt
sich an.
Sie kündigt sich an, doch sie setzt sich nicht durch, weil
Bataille sie an die Endlichkeit zurückbindet. Was die Integrität
ankündigt, ist die Eröffnung einer ungeheuren Souveränität des
Ich, von der vor allem Batailles erotisches Werk handelt. Das
transgressive, identitätslose Ich erfährt sich als unantastbar, als
unendlich frei. Aus dieser Souveränität jedoch folgt nichts, sie
bleibt abgeschnitten und singulär. Gültigkeit behalten für sie
daher die Affekte, aus denen sie sich generiert und die mit der
Auflösung der Ich-Identität zusammenhängen. Der orgiasti-
sche Eros ist – und dieses Moment wird Bataille nicht müde zu
beschreiben – an Angst und Entsetzen geknüpft, sie sind es, auf
die auch die Souveränität noch zurückweist.
Die Defizite einer Theorie, die den Ort der Transgression
nur als das Nicht-Phänomenale, nicht jedoch als das Mehr-
als-Phänomenale beschreibt, werden hier besonders deutlich.
Da der transgressive Ort nur negativ, als Ort des schlechthin
Nicht-Identischen gefasst werden kann, bleibt er selbst leer,
während sich zwischen das Logisch-Phänomenale und ihn
selbst der Tod schiebt und die Transgression in seinem Zei-
chen belässt. Das transgressive Ich ist so bis in seine leere
Souveränität hinein vom Tod gezeichnet, es ist im Bann des
Schreckens, mit dem sich die logisch-phänomenale Grenze für
es aufrichtet, um es gegen seine mögliche Freiheit als identisch
festzuhalten. Es trifft daher zu, was die Schriftstellerin und
mehrjährige Geliebte Batailles Laure (d. i. Colette Peignot) in
einer Abrechnung mit ihm schreibt: »Anstatt einer Libertinage,
die (…) eine Art von kraftvoller und glücklicher Bewegung
sein könnte, willst du, dass es einen schmerzlichen Grund zwi-
schen uns gibt.«22 Der »schmerzliche Grund« ist der Tod, der
das Ich an die eigene Identität bindet. Über das Symptom der
»Schmerzlichkeit« (douleur), d. h. des Leidens an sich selbst,
das gegen die und trotz der Auflösung des identischen Selbst
besteht, gemahnt er auch im transgressiven Akt an die Grenze.
Das transgressive Ich tritt unter die Herrschaft des Phänome-
nalen zurück.
Nicht zufällig greift Batailles Theorie am ehesten für die
Deutung solcher Formen des religiösen Kultus, deren Kern das
numinose Überwältigungserlebnis ist. Die Konstellation ist hier
derjenigen ähnlich, die Bataille selbst aufmacht: Der Transgres-
sus führt in die außerordentliche Dimension des Seins, wird
aber von dort an die alltägliche Erfahrungswelt zurückgebun-
den. Im Falle des kultischen Transzendenzbezugs folgt daraus,
dass er die Ordnung des Alltäglichen, die von der göttlichen
Welt vorgegeben wird, sanktioniert, denn der Kultus macht die
Götter in all ihrem erhabenen Schrecken zugänglich. Gerech-
22 Zit. nach Bernd Mattheus, Die Tränen der Liebenden – Über Colette
Peignot (Laure) und Georges Bataille, in: Lettre International, Heft 52, I.
Vj./2001, S. 23.
tigkeit ist hier fern, ja es gibt nicht einmal den Raum für die
Klage über die phänomenalen Lebensumstände (frühe große
Epen wie das Gilgamesch-Epos oder die Ilias beschreiben die
Götter entsprechend als ohne jede Empathie für menschliches
Leiden). Der Orgiasmus paktiert so mit der Ordnung, die sich
nach Möglichkeit nicht verändert, die sich in der mythischen
Wiederholung konstituiert. Der Transgressus ins Leere respek-
tive in den numinosen Schrecken, der die letzte Manifestation
der Leere ist, hat so einen konservativen Kern.
Um die von Colette Peignot geforderte »glückliche Bewe-
gung« zu ermöglichen, ist es nötig, die »Übertretung ins Leere«
noch einmal zu überschreiten. Die Transgression führt dann
nicht ins phänomenale Nichts, sondern in die Wirklichkeitsdi-
mension, von der das Phänomenale durchquert und über sein
endliches Erscheinen hinausgeführt wird. Die Parameter die-
ser Transgression sind Einlösung statt temporäre Auflösung,
Verdichtung statt Auslöschung. Der Tod ist ausgesetzt, die
phänomenalen Grenzen gelten nur noch als Schatten, die ohne
die Integrität, aus der sie sich bilden, ins vollkommene Dunkel
kippten. Das transgressive Souveränitätserlebnis erweist sich
vor diesem Hintergrund als das Erlebnis der Singularität des
Ich und seiner phänomenalen Unverfügbarkeit. Es ist kein
Erlebnis der Gerechtigkeit. Dennoch handelt es von einem Akt
der Transzendenz. Da sich jede transzendierende Übertretung
auf die Integrität des Phänomenalen bezieht, die Integrität des
Phänomenalen sich jedoch wiederum auf die Integrität des
»alles in allem« bezieht, gehört auch das singuläre Erlebnis des
nicht-identischen Ich in den Umkreis der Gerechtigkeit, d. h.,
es führt auf die Wirklichkeit. Die »Übertretung ins Leere«,
in der sich die Singularität des Ich abzeichnet, vollzieht sich
also kraft eines absolut Positiven, das sie jedoch nicht angeben
kann.
Kriterium für die Qualifikation einer Handlung als »vollstän-
dig ungerecht«, d. h. »böse« sein kann. Die Norm kann nur
den normtreuen bzw. normabweichenden Charakter einer
Handlung angeben. Zwar hängt die Norm mit der Gerechtig-
keit zusammen, aber sie gibt ihr einen definitiven Ausdruck.
Die böse Tat ist zunächst ungerechte Tat, also eine Tat,
die gegen die Gerechtigkeit verstößt. Im Unterschied zur
Norm fasst die böse Tat Gerechtigkeit jedoch nicht als defi-
nitives Verhältnis, sondern wendet sich dynamisch gegen den
dynamischen Charakter der Gerechtigkeit. Die böse Tat ist so
selbst eine Bewegung der Steigerung, also mehr als ungerecht.
Streng genommen nämlich enthält jedes ethische Verhältnis ein
ungerechtes Moment, weil es die Integrität des Phänomenalen
unverhältnismäßig interpretiert. Anders als die ethische Rela-
tion schränkt die böse Handlung die Gerechtigkeit aber nicht
nur ein, sondern intendiert, sie unmöglich zu machen. Die böse
Handlung zielt auf die Zerstörung der Integrität des »alles in
allem«. Die innere Transzendenz der Gerechtigkeitsbewegung
wird zurückgenommen. Das Phänomenale wird damit zwar
ebenfalls übertreten, jedoch unter schlechthin negativen Vor-
zeichen. Die böse Bewegung greift nach dem phänomenalen
Fluchtpunkt, um ihn zu vernichten. Sie ist Übertretung, die
sich am Nichts, an der Nicht-Wirklichkeit des Phänomenalen
orientiert.
Die böse Übertretung hat zwei zentrale Aspekte. Zum
einen ist sie phänomenal, d. h., sie intendiert, die Integrität
von Phänomenen zu zerstören, denn anders ist die überphä-
nomenale Integrität des »alles in allem« für das Handeln
nicht erreichbar. In äußerster Weite bezieht sich die böse Zer-
störungsintention auf die »ganze Welt«. Es genügt aber auch
schon ein einziges Phänomen, weil auch seine Korruption in
die Integrität des »alles in allem« eingreift.
Zum anderen kennzeichnet die böse Bewegung, dass
sich der böse Akteur in der von ihm verursachten Zerstörung
selbst genießt. Der Terminus »Selbstgenuss« ist einmal mehr
strukturell gemeint. Das »Selbst« des Genusses ist daher nicht
unweigerlich gleichzusetzen mit einem personalen Ich, son-
dern kann auch eine kollektive Entität sein, die sich selbst als
»eins« zählt. Weiterhin bedeutet Selbstgenuss keine affektive
Selbstberauschung (obgleich sie die Handlung subjektiv beglei-
ten kann), ja der Akteur muss die Handlung und darüber sich
selbst als Handlungsinstanz nicht einmal eigens affirmieren. Im
individuellen Fall kann er an ihr zweifeln, von Schuldgefühlen
geplagt sein etc. Im kollektiven Fall enthebt der überindividu-
elle Charakter der bösen Handlung davon, sie individuell zu
bejahen. Die affirmative oder positive Form kommt ihr viel-
mehr schon zu, indem sie verübt wird, also durch ihren bloßen
Bestand. Beim Selbstgenuss handelt es sich um eine exklusiv
auf den Akteur zentrierte und so verstanden isolierte Steige-
rungsbewegung. Die Vollendungstendenz, die jedem Handeln
inhärent ist, zielt hier auf die totale, d. h. an seiner quodditati-
ven Wirklichkeit ansetzende Vernichtung des Anderen. Indem
damit noch der aversive Widerstand des Anderen gebrochen
wird, der auf seine Integrität zurückgeht, wird der böse Akteur
vollständig auf sich selbst zurückgeworfen. Die böse Tat ist
die Durchsetzung des nackten Dass des Akteurs. Die Nackt-
heit ergibt sich daraus, dass die Integrität des bösen Akteurs
mit der intendierten Zerstörung der Integrität des Anderen
von dem übrigen phänomenalen Zusammenhang, der auf die
Integrität des »alles in allem« verweist, abgeschnitten ist. Der
böse Akteur kann im Grunde gar nicht anders, als sich selbst
genießen.
Es ist denkbar, dass Gerechtigkeit erfordert, ein Anderes
zu zerstören. Die Zerstörung kann aber nur tatsächlich gerecht
sein, wenn sie nicht dem Interesse eines Akteurs, sondern
dem höheren Anspruch der Gerechtigkeit unterstellt wird.
Das schließt ein, dass die gerechte Zerstörung die Integrität
des Zerstörten wahrt, d. h. es im Sinne seiner quodditativen
Gestalt restituiert. Allerdings handelt es sich hier um einen
Grenzfall, denn das Zerstörte wird gerade durch seine phäno-
menale Vernichtung integer, es wird gleichsam in sein reines
Dass zurückgezogen, das ihn der Integrität aller Anderen wie-
dergibt, und so vor sich selbst bewahrt.
Im Gegensatz zum gerechten Zerstörungsakt ist die Bewe-
gung des Bösen auf den bösen Akteur zugeschnitten, sie führt
zu seiner isolierten Steigerung. Die Grenze, die das gerechte
Handeln hier vom Bösen trennt, ist jedoch hauchdünn. Sobald
ein Rest von identischem Interesse bleibt, wird die gerechte
Zerstörung von der Struktur des Bösen bestimmt. Das Böse
zeigt seine Macht, Gerechtigkeit buchstäblich zu pervertieren.
Dabei ist das Böse so unbedingt wie die Gerechtigkeit selbst.
Es richtet sich auf die Integrität, also auf dasjenige, wodurch
die Phänomene Konsistenz haben, um es auszulöschen. Die
böse Bewegung überschreitet damit, was die Phänomene sind,
auf die Möglichkeit hin, dass sie nicht mehr sind, also auf die
durchgestrichene Integrität. Das »Dass-Nicht« ist der Impe-
tus der bösen Bewegung. Sie will den quodditativen Bestand
des Phänomenalen ausmerzen, sie will radikal ent-wirklichen,
d. h., sie gibt dem Nichts des Phänomenalen Raum.
Da auch die böse Bewegung phänomenal gebunden
bleibt, ist ihr Signum die reine Identität, und zwar in doppel-
tem Sinne. Einerseits ist die reine Identität die Form, in der der
böse Akteur erscheint. Indem er sich im nackten Dass-Ich aus
dem Integritätszusammenhang herausbricht, hält ihn allein der
identische Selbstbezug zusammen. Der böse Akteur ist Phäno-
men, aber er legt Phänomenalität so aus, dass er sich in seiner
Identität isoliert.
Andererseits drängt die böse Bewegung auch die anderen
Phänomene in die reine Identität, denn der Intention nach
zerstört sie das Dass-Sein der Phänomene. Die Ohnmacht der
bösen Bewegung besteht darin, dass das Dass phänomenal
unhintergehbar und seine Auslöschung daher unmöglich ist.
Dennoch kann die böse Bewegung die Phänomene beschädi-
gen, nämlich sie gegen ihre je eigene Erfüllungstendenz auf ihr
identisches Moment reduzieren. Im Bereich des Unbelebten
fällt die Reduktion auf das Identische zusammen mit der phy-
sischen Vernichtung, weil die physische Gegebenheit die ein-
zige Weise ist, in der sich das Unbelebte phänomenal darstellt.
Die Ohnmacht der bösen Bewegung wird hier am deutlichsten,
denn was sie erreicht, ist nicht, was sie erreichen wollte. Sie
kann nicht an das Dass rühren, sondern nur an das identische
Erscheinen, das auf das Dass zurückgeht. Die Abstraktion, die
die böse Bewegung an den Phänomenen vornimmt, indem sie
sich gegen das phänomenale Dass richtet, kann zwar die Welt
in eine Wüste verwandeln, aber nicht dazu führen, dass die
Welt zu sein aufhört.
Im Bereich des Belebten dagegen verhalten sich die Phäno-
mene zu sich selbst, d. h., sie streben phänomenal danach, ihrer
quodditativen Ganzheit zu entsprechen. Die böse Bewegung
kann in dieses Entsprechungsverhältnis eingreifen, indem sie
die Erfüllungsbewegung der Phänomene unterbricht. Die vom
bösen Willen intendierte Reduktion der Phänomene auf ihre
identische Form manifestiert sich im Schmerz, den sie ihnen
zufügt. Der Schmerz ist die Verfügungsgewalt der bösen Bewe-
gung. Sie kann nicht an die Integrität der Phänomene rühren,
aber sie kann sie im Phänomenalen von der Integrität trennen.
Die böse Bewegung triumphiert so im Leiden der Anderen. Es
ermöglicht ihr, ihre ohnmächtige Intention zumindest phäno-
menal zu erfüllen, es verleiht phänomenale Macht.
Am deutlichsten wird das am »menschlichen Fall«, denn
Menschen streben nicht nur nach Erfüllung, sondern beziehen
sich auf dieses Streben, indem sie wissen, dass sie sind. Ihre
Lebensbewegung ist durch die Linie strukturiert, die das Wis-
sen zwischen Dass und Erfüllung zieht. Die böse Bewegung
setzt an die Stelle des Dass das »Dass-Nicht«, sie zielt darauf,
die Entfaltung des Ich unmöglich zu machen. Der Schmerz, den
sie ihm zufügt, hat daher eine Zusatzbedeutung. Im Schmerz
soll sich das Ich als durch und durch identisch erfahren, es soll
sich nicht mehr auf die transzendente Gestalt der eigenen Iden-
tität, auf Integrität beziehen können. Das Leiden wird damit
zum Terror, der die Menschen aushöhlt, bis sie bloße Frag-
mente ihrer selbst sind, Phänomene, die sich selbst verloren
haben und nur als die Spur des Selbstverlustes weiterbestehen.
Und doch ist – consolatio philosophiae – die böse Bewegung
auch hier letztlich machtlos, weil sie zwar den subjektiven
Bezug zur Integrität zerstören kann, aber nicht die Integrität
selbst. Die Integrität nimmt also zwar nicht den Schmerz von
denen, die durch die Hölle auf Erden gehen, aber sie bleibt ihr
Fluchtpunkt, sie macht sie phänomenal unverfügbar.
Der Blick aufs Extrem darf nicht dazu führen, die subti-
len Verfahren des Bösen zu übersehen. Menschen sind schon
auf Identität reduziert, wo sie – etwa durch die objektiven
Bedingungen des Krieges oder durch politische Verhetzung – in
eine aversive Konstellation treten. Die Suggestion einer reinen
Opposition stellt die Identität gegen die Integrität, die nur als
gemeinsame Integrität vollständig ist. Es ist bezeichnend, dass
die Suggestion der reinen Opposition nicht ohne ein Moment
von Angst auskommen kann. Allgemein (und nicht nur in die-
sem Fall) ist die Angst ein bevorzugtes Instrument des Bösen.
Sie ist der affektive Modus, in dem sich reine Identität her-
stellt, sie fesselt das Ich an sich selbst, um seinen Selbstentwurf
zu verhindern. Nicht nur semantisch ist die Angst eine Vorstufe
des Terrors.
An der instrumentellen Verbindung von bösem Willen
und Angst zeigt sich, dass die böse Bewegung in letzter Konse-
quenz gegen die Norm gerichtet ist. Die Norm nämlich wahrt
die Integrität auch dadurch, dass sie verbindlich ist und das
soziale Leben so absichert, ihm bis zu einem gewissen Grad die
Angst nimmt. Dies schließt nicht aus, dass politische »Kräfte
des Bösen« einen ihnen gemäße Norm etablieren können. Sie
werden sich aber auch über sie hinwegsetzen, denn das Böse
kann auf das Machtwerkzeug der Angst nicht verzichten. Es
muss die Verbindlichkeit hinter die willkürliche Gewaltdro-
hung zurückstellen. Der gesellschaftliche Ausnahmezustand,
der sich dadurch ergibt, ist eine der großen Kristallisationen
der bösen Übertretung, die vermittels Angstproduktion das
Phänomenale an sich reißt.
5. Das Glück
Nach einer Einsicht Jean Genets »liegt die Revolution in
der Herausforderung, ein bis ins letzte glückliches Leben zu
führen«.23 Bis »ins letzte« glücklich wäre ein Leben, das ganz
»glückliche Bewegung« (Colette Peignot) und so schon selbst
vollständig wäre, ein Leben, das die aggressiven Ansprüche der
Identität aufgekündigt, das sich über Angst, Isolation und Tod
hinweggesetzt hätte. Nach all den Jahren, in denen der wache
Teil der Philosophie dem »Entzogenen« nachgehangen oder
sich nach der stets aufgeschobenen »kommenden Gemein-
schaft« gesehnt hat, scheint es an der Zeit, die Möglichkeiten
eines nicht entzogenen, sondern ganz und gar aktuellen Glücks
ins Auge zu fassen.
Das Glück ist zu Recht verdächtig. Eine falsche Zufrie-
denheit haftet ihm an, ein Rückzug auf das subjektive Wohler-
gehen, das sich widerstandslos den in der Regel unglücklichen,
nämlich vom phänomenalen Konflikt bestimmten Umständen
einfügt. Im schlimmsten Fall paktiert der Wille zum Glück
sogar mit dem Unglück, indem er die eigene Glücksintention
veräußert und sich als »positive Haltung« ins Unglück ein-
bringt. Das Glück wird zu einer Möglichkeit des Unglücks,
welches sich so als Hoffnungsraum darstellen kann, in dem
sich das Glück angeblich verwirklichen lässt. Allerdings bleibt
hiervon unweigerlich nur die Prätention, denn das ins Unglück
eingefügte Glück hat einen falschen Frieden gemacht. Starr
liegt es im Identischen als ein selbst Definitives, das dadurch
besteht, dass es das Unglück ausgeblendet, also die Beziehung
zur Integrität verloren oder sich zumindest verstellt hat.
Auch gegen dieses zufriedene Glück ist auf das Glück der
glücklichen Bewegung zu bestehen, das sich an der Wirklich-
keit, der Integrität des »alles in allem« orientiert. Aufgrund des
Überschusses, der im Prädikat »wirklich« liegt, kann man die-
ses Glück das »wirkliche Glück« nennen. Das wirkliche Glück
sucht nicht den Frieden des Definitiven, sondern entwindet sich
dem Identischen, indem es das sucht, was mehr als identisch
ist. Es vollzieht sich als ständige Überschreitung und ist phä-
nomenal gerade darin vollständig, d. h. nicht nur offen für das
Mehr, sondern dynamisch auf es bezogen, eine Bewegung der
Steigerung, der Intensivierung, aber auch der Absage an das,
»was ist«. Wo das zufriedene Glück mit dem Identischen pak-
tiert, verschwört sich das wirkliche Glück dem unidentischen
Kern des Identischen und macht es zu seinem »guten Dämon«.
Es wird so zur echten eudaimonia, also zur Form eines Lebens,
das seinen phänomenalen Charakter gerade darin erfüllt, dass
es sich auf das Überphänomenale bezieht und sich seinen For-
derungen unterstellt.
Die Orientierung am Transzendenten wäre allerdings eine
Fluchtbewegung, wenn das Transzendente eine Sphäre wäre,
die vom Phänomenalen abgetrennt ist. Die Eudaimonie müsste
das Leben entzweireißen, sie zeigte ihm ein wahres Leben, wäh-
rend es doch phänomenal unweigerlich dem falschen Leben
zugehörte. Es gilt daher zu verstehen, inwiefern das Transzen-
dente selbst die Möglichkeitsbedingung des Erscheinens ist und
sich daher nicht von ihm trennen lässt. Transzendent ist die
Dimension des Dass, ist die Quodditas, von der das Phänome-
nale durchquert und über sich hinausverwiesen ist. Die Bezie-
hung zum Dass, die diese Arbeit als Wirklichkeitsglaube ana-
lysiert hat, stellt die Grundbeziehung dar, auf die der Logos je
schon zurückgreift, wenn er das Phänomenale gegenständlich
erschließt. Daher verhält es sich mit dem Glück wie mit der
Gerechtigkeit: Seinem Anspruch lässt sich nicht entkommen.
Das Glück ist eines der wesentlichen menschlichen Motive,
weil es der menschlichen Seinsweise immanent ist.
Die Verbindung zwischen Glück und Gerechtigkeit
ist nicht äußerlich, sie liegt nicht nur in der Ähnlichkeit des
unbedingten Anspruchs. Tatsächlich ergänzen sich beide, sie
bilden die subjektive und die objektive Seite der glücklichen
Bewegung. Während das Glück das subjektive Gute des Selbst-
bezugs bezeichnet, meint die Gerechtigkeit das objektive Gute
des Bezugs zu Anderen. Die glückliche Bewegung will eine
Vollständigkeit des Lebens, die erst in der Integrität des »alles
in allem« erreicht sein kann. Sie zielt auf Vollständigkeit im
Vollständigen. Gerechtigkeit aber ist nichts anderes. Das Glück
zu suchen oder genauer, in die glückliche Bewegung zu finden,
bedeutet also letztlich, sich an der Gerechtigkeit zu orientieren.
Nur indem das Leben die ultimative Übertretung, die Übertre-
tung der Gerechtigkeit vollzieht, kann es glücklich sein.
Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sich das Leben
auch in anderen Formen der quodditativen Übertretung auf
das Glück einlässt und zum »wirklichen« Leben wird. Poiesis
wie Eros sind »Kräfte« des Glücks. Sie öffnen das Phänome-
nale, um es mit dem Mehr-als-Phänomenalen anzureichern
und darüber zu verwandeln. Da sie sich auf die Integrität
ihres Gegenstandes beziehen, haben sie an der Gerechtigkeit
teil, auch wenn die Gerechtigkeit nicht ihr Thema ist und sich
daher allenfalls in ihnen abzeichnet als eine Möglichkeit, die
sie nicht einlösen. In gewissem Sinne sind sie zu »selbstgenüg-
sam«, während die glückliche Bewegung der Gerechtigkeit
immer noch ruhelos ist und immer noch mehr verlangt, um
die Höhe der Überschreitung in einer letzten Höhe zu sam-
meln. Das Motiv der Gerechtigkeit ist ihr äußerster Anspruch:
Die privaten Inseln des Glücks eines gesteigerten und reichen
Lebens sind schön, weil sie das Mehr des Phänomenalen mani-
fest machen. Solange jedoch nur ein einziges Phänomen von
seiner Integrität abgeschnitten und entstellt ist, ist auch dieses
Glück obszön. Bloß um den Preis der Obszönität kann man
sich daher in ihm einrichten. Das partikulare Glück ist so wei-
terverwiesen an die Ruhelosigkeit der glücklichen Bewegung,
die den Gerechtigkeitsanspruch ins Phänomenale bringt, indem
sie es überschreitet. Das »Unbequeme an der Bequemlichkeit
der eigenen Position« (Jan Patočka)24 muss im partikularen
Glück fühlbar bleiben, damit es sich als wirkliches Glück
erfüllt. Dass es dieser Erfüllung offen steht, dass es sich erfül-
len kann, ist sein positives Moment in einem phänomenalen
Zusammenhang, der die Ansprüche der Grenze, der Fragmen-
tierung, der Endlichkeit über es stülpen will.
Indem Integrität in der glücklichen Bewegung zum prak-
tischen Faktor wird, wird sie selbst zur sittlichen Qualität.
Das Glück gehört denjenigen, die integer bleiben, weil sie dem
Identischen nicht nachgeben. Wer integer ist, versteht: »Dies
hier, was ihr von mir fordert und mir zu bieten habt, kann
nicht alles sein« – es ist unmöglich alles, denn die Wirklich-
keit ist mehr. Am Mehr entzündet sich die Unnachgiebigkeit,
die Fähigkeit zurückzuweisen. Auf dem Weg zum Glück ist
daher schon, wer den ungezählten falschen Ansprüchen, den
Zwängen und Notwendigkeiten der identischen Form wider-
steht und weder »dies mit sich machen lässt«, noch zulässt,
dass mit Anderen »dies gemacht wird«. Gewiss ist das Glück
damit noch nicht vollkommen, aber es zeichnet sich doch ab
in Gestalt von Subjekten, die sich selbst als unidentisch ver-
standen haben und gerade deswegen auf sich beharren. Erst
wo sich Menschen in diese Subjekte einer »anderen Ordnung«
verwandeln, sind sie in der Lage, im Phänomenalen zu leben
und es zugleich zu überleben, d. h. es in jeder Hinsicht zu über-
treffen.