Ismail Kadare Der General Der Toten Armee - Roehm Joachim
Ismail Kadare Der General Der Toten Armee - Roehm Joachim
Zwanzigstes Kapitel
Das Haus, in dem die Hochzeit stattfand, stand mitten im Dorf. Sie sahen es schon
von weitem. Beim Anblick der hell erleuchteten Fenster empfanden sie die Nässe
des Regens noch stärker. Trotz des schlechten Wetters stand die Haustür weit of-
fen. Unter dem ausladenden Vordach waren Menschen versammelt. Das Gäßchen,
das zum Haus führte, war erfüllt von lebhaften Gebärden, geflüsterten Worten und
allerlei Geräuschen. Die beiden in ihren schwarzen Mänteln gingen wortlos neben-
einander her. Die Gasse hallte wider von ihren Schritten, den gewichtigen des Ge-
nerals, der gleichgültig durch alle Pfützen tappte, und den leichteren, rascheren des
Priesters.
Unter dem Vordach der Haustür, wo sich festlich gekleidete junge Männer, Ziga-
retten rauchend, mit gedämpfter Stimme unterhielten, blieben sie kurz stehen.
Dann traten sie ein, der General voran, der Priester hinter ihm. Die Trommel
schwieg, so daß man drinnen Männerstimmen hörte. Im Flur entstand ein kleiner
Menschenauflauf. Jemand rief etwas ins Zimmer hinein, und gleich darauf kam mit
überraschtem Gesicht ein alter Mann auf sie zu. Grüßend legte er die rechte Hand
auf das Herz, bevor er ihnen aus den Mänteln half, die er dann zu den Filzumhän-
gen der Bauern an den Haken hängte. Als sie in Begleitung des Hausherrn das ge-
räumige Zimmer betraten, kam Bewegung in die Menge, man tuschelte und reckte
die Köpfe. Es war wie ein Hain voller Bäumchen und bunter Blumen, durch den ein
Windstoß geht.
Der Anblick kam unerwartet für den General. Er war so verdutzt, daß vor seinen
Augen zuerst nur bunte Farben tanzten, als habe er eine Ohrfeige erhalten.
Jemand führte ihn an einen Tisch, ein anderer sagte etwas zu ihm, und er selbst
nickte mehrmals vage grüßend in verschiedene Richtungen, wobei er ein paar Wor-
te in seiner Muttersprache vor sich hinmurmelte.
Erst als dröhnend die Trommel einsetzte, begleitet von den schneidenden Klän-
gen der Violine, und die Menschen wieder zu tanzen begannen, faßte er sich ein
wenig. Er hörte neben sich ein Klirren, und eine Stimme sagte in seiner Sprache:
„Erheben wir das Glas!“ Er erhob sein Glas und trank. Die Stimme begann etwas zu
erklären, doch der General hatte immer noch Mühe zu folgen. Es ärgerte ihn, daß er
sich so aus dem Gleichgewicht hatte bringen lassen.
Die Hochzeit wirkte auf ihn wie ein riesenhaftes Geschöpf, das atmete, sich be-
wegte, keuchte und die ganze Umgebung mit seinem betäubenden Brodem erfüllte.
Es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder erholt hatte. Jetzt bemerkte er auch die
Kindern, die ihn in stummem Vergnügen anstrahlten. Sie steckten die Köpfe zu-
sammen, zeigten mit Fingern auf ihn und schienen etwas zu zählen, wahrscheinlich
die goldenen Knöpfe an seiner Uniform oder die Streifen auf den Schulterstücken,
dann tuschelten sie wieder miteinander, konnten sich aber nicht einig werden und
schüttelten heftig die kleinen Köpfe.
Der General schaute sich aufmerksam um. Er sah die mit gewaltigen Schnurrbär-
ten geschmückten Greise mit untergeschlagenen Beinen auf der Wandbank sitzen
und sich geruhsam unterhalten, wobei sie hin und wieder an ihren langen Pfeifen
zogen. Er sah die weißgekleidete Braut, die ganz und gar schöne Verwirrung ver-
körperte. Er sah den schwitzenden Bräutigam, der unentwegt hin und her lief. Er
sah in den Ecken Trauben junger Mädchen kichern und tuscheln, als sei Kichern und
Tuscheln das einzige auf der Welt, das sie beherrschten. Er nahm die vorgespiegel-
te Melancholie der jungen Burschen wahr, in deren Mundwinkeln Zigaretten hingen,
musterte die in Schweiß gebadeten dunkelhäutigen Musikanten, folgte mit seinem
Blick den Matronen, die ständig wegen irgendwelcher kleiner Sorgen zwischen den
Zimmern unterwegs waren, und ließ ihn schließlich auf den ikonenhaft stillen Ge-
sichtern der alten Frauen ruhen, die reglos in einer Reihe saßen.
Dann konzentrierte der General seine Aufmerksamkeit auf die gewandten Bewe-
gungen der Füße, deren Fersen rhythmisch auf den Boden schlugen. Er hörte die
Faltenröcke der Männer knistern, die so weiß waren wie der Schnee im Hochgebir-
ge, aus dem er eben zurückkam, lauschte den endlos langen, furchtbar komplizier-
ten Trinksprüche, die, in seine Sprache übersetzt, keinerlei Sinn ergaben, den rau-
hen Männerlieder, die an die Abenddämmerung über den Hängen der Berge erin-
nerten, den sehnsüchtig getragenen Gesängen der Frauen, die sich an die breiten
Schultern der Männerlieder anlehnten und dann demütig gesenkten Hauptes neben
ihnen hergingen.
Der General schaute sich um und dachte an gar nichts. Er trank nur Raki und lä-
chelte ständig, ohne zu wissen, warum.
Ich weiß nicht, zu welcher dieser Armeen du gehörst. Ich konnte die Uniformen nie
auseinanderhalten, und inzwischen bin ich zu alt, um es noch zu lernen. Aber daß
du ein Fremder bist, einer von denen, die zu uns kamen, um Tod zu bringen, das
sieht man sofort. Deine Orden zeigen, daß du dich auf das verdammte Handwerk
des Eroberns gut verstehst. Du und deinesgleichen, ihr seid schuld daran, daß ich
aufgehört habe, ein Mensch zu sein. Jetzt bin ich nur noch die närrische Alte, die in
einer Ecke sitzt, wenn fremde Leute Hochzeit feiern, und scheinbar sinnlos die Lip-
pen bewegt. Keiner will sich anhören, was ich zu sagen habe. Sie sind so fröhlich
und ausgelassen. Soll ich elendes Weib ihnen die Freude verderben? Also sitze ich
hier in meiner Ecke und murmle vor mich hin, verfluche dich, aber nur leise, damit
niemand es hört. Was hast du eigentlich auf dieser Hochzeit zu suchen? Welcher
Teufel hat dich hergetrieben? Jetzt sitzt du albern grinsend mit am großen Tisch.
Warum stehst du nicht auf, ziehst deinen Mantel an und verschwindest einfach,
hinaus in den Regen, aus dem du gekommen bist? Merkst du nicht, daß du hier
überflüssig bist? Verfluchter Hund!
Die Frauen sangen immer noch. Dem General war, als füllte warmer Dampf seine
Brust. Er ruhte sich aus in einem Bad aus Licht und Klängen. Und diese Lichter und
Klänge, die ihn umschwappten wie eine heiße Quelle, schwemmten den nach Fäul-
nis und Tod riechenden Lehm der Gräber von seinem Leib.
Des Generals Benommenheit schwand, und es kam wieder Leben in ihn. Er woll-
te sich unterhalten, gepflegte Sätze formulieren oder hören. Sein Blick suchte und
fand den Priester. Er saß auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches wie auf
Kohlen und starrte ständig auf den gleichen Punkt.
Der General beugte sich vor und sprach ihn an.
„Sehen Sie, alles ist wunderbar!“
Der Priester gab keine Antwort.
Des Generals Schultern strafften sich. Von allen Seiten kamen die Blicke der Leu-
te wie stumme Pfeile auf ihn zugeflogen. Sie trafen ihn überall, vor allem seine Or-
den und Rangabzeichen und ganz selten nur seine Augen. Die dunklen, schweren
Männerpfeile und die flinken, glitzernden, unsicheren Pfeile der Frauen.
„Einem stolzen Vogel gleich wirst du über diesen Bergen kreisen ...“
„Schön, nicht?“ wandte er sich erneut an den Priester. Doch dieser antwortete
wieder nicht, sondern warf ihm nur einen skeptischen Blick zu, ehe er die Augen
wieder senkte. „Diese Leute respektieren uns“, sagte der General. „Das sieht man
ganz deutlich.“
„Der Tod genießt überall Respekt.“
„Der Tod? Ich glaube nicht, daß wir sein Mal auf der Stirn tragen“, erwiderte der
General. Er versuchte ein Lächeln, doch es mißlang. „Der Krieg ist schon lange vor-
bei“, fuhr er fort. „Vergangen und vergessen. Ich bin mir sicher, daß auf dieser
Hochzeit kein Mensch feindselige Gefühle gegen uns hegt. Schauen Sie sich doch
nur um, diese ganze Freude.“
Der Priester sagte nichts, und der General beschloß, nicht mehr mit ihm zu re-
den. Die schwarze Soutane begann bereits vor seinen Augen zu tanzen.
Offenbar fühlt sich der Priester fehl am Platze, dachte er. Und er selbst, galt das
auch für ihn? Schwer zu sagen. Sie waren nun einmal da. Auch wenn sie hier nichts
zu suchen hatten, einfach wieder wegzugehen, verbot sich. Im Gefecht unter
Langsam begreifst du, daß du hier nichts zu suchen hast. Du spürst wohl, daß es
auf dieser Hochzeit einen Menschen gibt, der dich verflucht. Man kann dem Fluch
einer Mutter nicht entgehen. Natürlich, man behandelt dich mit Respekt, trotzdem
beginnst du zu ahnen, daß es ein Fehler war, zu dieser Hochzeit zu kommen. Du
versuchst es von dir wegzuschieben, aber das gelingt dir nicht. Deine Hand zittert,
wenn du nach dem Rakiglas greifst, und in deinen Augen flackert Angst.
Die Trommel begann wieder zu dröhnen. Die Klarinette weinte. Die Geigen fielen
ein. Verspätete Hochzeitsgäste in durchnäßten Filzumhängen trafen ein. Der Bach
war über die Ufer getreten, so daß sie einen Umweg hatten machen müssen. Man
umarmte sich, dann nahmen die Ankömmlinge am Tisch Platz.
Hochzeiten sind ihnen heilig, dachte der General, sonst hätten diese Leute nicht
den weiten Weg durch den Regen auf sich genommen. Einen Sturzregen nennt man
das. Kaum ist ein Grab geöffnet, läuft es auch schon voll.
Es heißt, du suchst nach gefallenen Soldaten aus deinem Land. Du hast wohl schon
eine Menge von ihnen gefunden, und bestimmt werden es noch mehr, aber einen
entdeckst du nie, selbst wenn du für den Rest deines Lebens weitersuchst. So, wie
ich für den Rest meines Lebens meine Tochter und meinen Mann nicht wiedersehen
werde. Ich würde dir gerne etwas von ihm erzählen, ich meine von dem einen, den
du nicht entdecken wirst, aber ich will den Gastgebern die Hochzeit nicht verder-
ben. Sie war meine Tochter. Eine Mutter weiß, was Schmerzen sind, sagt man. Für
mich gilt das ganz besonders, verfluchter Hund. Auch in jener Nacht hat es gereg-
net, überall standen Pfützen, und es war alles andere als leicht, das Grab auszuhe-
ben. Es lief immer wieder voll mit dunklem, schmutzigem Wasser, das direkt aus
den Quellen der Nacht zu stammen schien. Ich habe es trotzdem geschafft. Aber
von mir erfährst du nichts, das sage ich dir.
Der General zündete sich eine Zigarette an. Dabei beschlich ihn das befremdliche
Gefühl, daß sie gegenüber den langen, dunklen, voluminösen Bruyèrepfeifen in den
abgearbeiteten Händen der Greise ein kümmerliches Bild abgab. Die Pausen, die
dadurch entstanden, daß sie in regelmäßigen Abständen an ihren Pfeifen zogen,
sorgten für einen gelassenen Gang ihrer Unterhaltung.
Der Hausherr (es war der alte Mann, der den General bei seiner Ankunft begrüßt
hatte) kam und setzte sich neben ihn, eine Pfeife in der Hand wie alle seine Alters-
genossen. An der seiner schwarzen Filzjacke baumelte eine gelblich glänzende Me-
daille. Viele Bauern trugen solche Medaillen, und jedesmal, wenn er eine entdeckte,
meinte der General, das bleiche Gesicht eines getöteten Soldaten aus seiner Armee
vor sich zu sehen. Er lächelte in das zerfurchte Gesicht des Hausherrn, das ihn an
die Rinde eines alten Baums erinnerte. Der Mann, der vorhin den Trinkspruch aus-
gebracht hatte, übersetzte ihm, was der Greis sagte. Dieser entschuldigte sich in
gesetzten Worten dafür, daß er erst jetzt Zeit für ein Gespräch mit dem General ge-
funden hatte, jedoch seien ständig neue Gäste eingetroffen, die er alle persönlich
habe begrüßen müssen. Der General schüttelte heftig den Kopf und sagte mehr-
mals „Aber ich bitte Sie!“ und „Vielen Dank!“ Der alte Mann zog ein paarmal ge-
mächlich an seiner Pfeife, bevor er in ruhigem Ton die Frage stellte:
„Woher bist du?“
Der General sagte es ihm.
Der Alte wiegte nachdenklich das Haupt, und der General begriff, daß sein Ge-
sprächspartner den Namen der großen und bedeutenden Stadt, aus der er stamm-
te, noch nie gehört hatte.
„Hast du Frau und Kinder?“ wollte der Alte daraufhin wissen und wünschte, als
der General die Frage bejahte, seiner Gattin und den Sprößlingen ein langes Leben.
Er zog erneut an der Pfeife, und auf seiner Stirn erschienen zwei tiefe Falten. Als
er sich zum Weitersprechen anschickte, wußte der General, daß nun genau das
kommen würde, was er an diesem Ort am wenigsten hören wollte.
„Ich weiß, weshalb du hier bist“, sagte der Alte mit gleichgültiger Stimme. Den-
noch fuhren seine Worte dem General wie Pfeile in die Brust. Seit er dieses Hoch-
zeitshaus betreten hatte, versuchte er den Grund seiner Anwesenheit in Albanien zu
verdrängen, vielleicht, weil er hoffte, auch die anderen würden ihn dann vergessen.
Am liebsten wäre er an diesem Abend wie ein einfacher Tourist behandelt worden,
der sich für die ehrwürdigen Bräuche eines alten Volkes interessiert. Nun waren sie
doch bei diesem verwünschten Thema gelandet, und der General bereute zum er-
sten Mal wirklich, daß er sich zum Besuch dieser Hochzeit hatte hinreißen lassen.
„Ja“, fuhr der Greis fort, „es ist gut, daß du die toten Soldaten heimholst, denn
jedes Geschöpf Gottes hat es verdient, in der eigenen Erde zu ruhen.“
Der General nickte wortlos.
Der alte Mann klopfte seine Pfeife aus, ohne danach den Blick vom Aschenbecher
zu wenden.
„Aber du hast schlechtes Wetter erwischt“, sagte er dann.
Ich weiß, daß du heute in der Kantine nach ihm gefragt hast. Du suchst wohl schon
lange und kannst ihn nicht finden. Warum ist dir an diesem erbärmlichen Oberst so
viel gelegen? Warst du mit ihm befreundet? Natürlich warst du mit ihm befreundet,
sonst würdest du ihn nicht überall suchen. Schon den ganzen Abend fragt man die
Leute im Dorf aus. Jeder weiß, daß er hier irgendwo vermodert, aber die genaue
Stelle kennt keiner. Du wirst ohne deinen niederträchtigen Freund wieder davon-
machen müssen. Er hat mein Leben zerstört. Verschwinde endlich, du bist ver-
flucht, genau wie er. Jetzt sitzt du so friedlich da wie ein Osterlamm und schaust
den Leuten grinsend beim Tanzen zu, aber ich weiß genau, was in deinem Kopf
vorgeht. Ihr wartet doch nur auf den Tag, an dem ihr wieder über uns herfallen
könnt. Ihr seid scharf darauf, alles hier in Schutt und Asche zu legen und die Leute
umzubringen, wie es deine Freunde schon einmal getan haben. Du hast auf dieser
Hochzeit nichts zu suchen. Daß dir nicht die Knie gezittert haben, als du losgegan-
gen bist. Wenigstens um meinetwillen. Wegen mir närrischem altem Weib. Was ist
denn nun los? Willst du womöglich tanzen? Du wagst es tatsächlich, zu tanzen? Wie
du grinst! Jetzt stehst du auf! Und die Leute lassen es zu! Halt! Was macht ihr da?
Das ist zuviel! Versündigt euch nicht vor dem Herrn!
Die Trommel dröhnte wieder wie eine Kanone. Die Klarinette fing an zu jammern,
und die Geigen folgten mit dünnen Frauenstimmen. In der Mitte des Raumes bildete
sich ein Kreis. Erst waren es zwei, dann drei und schließlich viele Menschen.
Der General schaute auf die Tanzenden. Dann auf den Priester. Dann wieder auf
die Tanzenden. Den Priester. Die Tanzenden. Priester. Tanz. Und dann ...
Der General erhob sich. Es kam, wie es kommen mußte. Er stand da und wartete
auf die Gelegenheit, sich in den Kreis einzureihen, der sich vor ihm drehte wie ein
Feuerring. Mehrmals streckte er die Hand aus, zog sie aber sogleich wieder zurück,
weil er fürchtete, sie sich zu verbrennen. Vor ihm flackerten die Flammen. Der Alte,
der den Reigen anführte, sank auf die Knie und sprang wieder auf, stampfte mit
dem Bein auf den Boden, als wolle er sagen: „Seht, so ist es und so bleibt es!“,
schwenkte sein weißes Tuch, löste sich von seinem Tanzpartner, drehte sich um die
eigene Achse, beugte erneut das Knie, sank dann wie niedergemäht zu Boden,
stand sofort wieder auf und knickte wieder ein und stürzte wieder wie vom Blitz ge-
troffen hin, doch nur, um unter den Donnerklängen der Trommel sogleich wieder
zum Leben zu erwachen. Sie dröhnte wie wild, die Klarinette vibrierte, es klang wie
das Heulen einer Bestie, und die Saiten der Geigen zuckten dazu wie Schlangen.
Die Trommel schlug ein immer schnelleres Stakkato, verfolgt vom Kreischen der
Geigen, es klang, als würden Felsbrocken durch eine Höhle gerollt. Der General
stand immer noch da. Der wütende, gefährliche, glitzernde Sturm machte ihn
schwindelig. Was sollte er tun? Wie durch einen Nebelschleier sah er die schweiß-
überströmten Gesichter der Musikanten, das Schallrohr der Klarinette, das inmitten
von Rauchschwaden auf und ab zuckte wie die Mündung eines Flakgeschützes, die
fiebrig zusammengepreßten Augen der Tänzer. Dann verstummte die Trommel, die
Saiten kamen zitternd zur Ruhe, alles war phantastisch und versprach, genauso
zauberhaft weiterzugehen bis weit nach Mitternacht, doch als die Leute zu ihren
Plätzen zurückkehrten, erklang plötzlich ein Stöhnen. Es durchbohrte den General.
So laut es auf der Hochzeit auch zuging, alle hörten das Stöhnen. Merkwürdig.
Niemand hatte der alten Nica ein solches Stöhnen zugetraut.
„Ah, ah“, klagte sie mit dünner Stimme. Tiefe Stille trat ein, und man hörte deut-
lich, daß sie nicht nur stöhnte, sondern auch schluchzte. Der General sah, wie man
die Greisin umringte und sich um sie kümmerte, wie jemand herbeigerufen wurde
und wie sich die arme alte Frau allmählich zu beruhigen schien, die aus irgendei-
nem Grund tief bekümmert war.
Hätte sie sich tatsächlich beruhigt, wie der General und alle um ihn herum glaub-
ten, so wäre alles in Ordnung gewesen und der General wahrscheinlich bis weit
nach Mitternacht dageblieben. Doch die alte Nica begann erneut zu klagen. Offen-
bar war es unmöglich, sie zu beschwichtigen, im Gegenteil, nun war sogar ein
Schrei zu vernehmen. Laut redeten die anderen durcheinander, bis sich schließlich
das Jammern der Alten wieder über die Stimmen erhob und wie eine scharfes Mes-
ser alle Freude zerschnitt. Noch mehr Menschen, Männer und Frauen, eilten zu der
alten Nica, und es schien dem General, als ob sie um so lauter weinte, je mehr
Menschen sich um sie versammelten. Die Musikanten begannen zu spielen, doch
die alte Nica schrie noch gellender, so daß die Instrumente erschrocken wieder ver-
stummten. Der General sah, wie Bewegung unter die Menschen kam, die um sie
herumstanden. Es war, als beulte sich die Traube aus, und plötzlich platzte sie auf
und die alte Nica drang daraus hervor. Zum ersten Mal erblickte er das welke, gelb-
liche Gesicht, die Tränen in den weit aufgerissenen Augen, den klapperdürren Leib.
Was tut sie da, was will sie, weshalb weint sie? fragte der General, der mit einem
Schlag wieder nüchtern geworden war. Niemand gab Antwort. Die Leute stürzten
sich auf die alte Nica, zwei Frauen ergriffen sie an den Armen und wollten sie an ih-
ren Platz zurückführen, doch sie schrie und riß sich los und kam auf den General zu
und blieb vor ihm stehen. Er sah ihre aufgelösten Züge und begriff gar nichts. Sie
gestikulierte, kreischte, schrie ihm etwas ins Gesicht, doch er stand nur leichenblaß
da. Einen Moment später hatte man die alte Frau von ihm weggezogen. Sie ent-
wand sich den Griffen, doch anstatt erneut auf den General loszugehen, rannte sie
diesmal zur Tür hinaus.
Der General war wie vom Donner gerührt. Man vermied es, ihm die Worte der al-
ten Frau zu übersetzen. Daß der Priester Albanisch verstand, wußte niemand. Die
Leute hatten sich um die weinende Braut und den Hausherrn versammelt, der sich
mit kreideblassem Gesicht bekreuzigte.
„Ich habe es Ihnen gleich gesagt“, beschwerte sich der Priester, der neben den
General getreten war. „Wir hätten nicht herkommen sollen.“
„Was ist den passiert?“ fragte der General.
„Später. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden.“
„Sie hatten wohl recht“, meinte der General. „Ich bin zu weit gegangen.“
Die Menschenmenge, die bisher einem farbenprächtigen, von Worten summen-
den Hain geglichen hatte, war schlagartig zu einem düsteren Winterwald geworden.
Köpfe wurden geschüttelt, Arme, Hände und dürre Finger flogen auf und ab wie
entlaubte Zweige im Hagelschauer, und über allem kreiste trocken krächzend die
Sorge.
„Was haben die überhaupt auf unserer Hochzeit zu suchen?“ fragte einer der
jungen Burschen.
„Pscht, so etwas sagt man nicht.“
„Was sagt man nicht? Die scheuen vor nichts zurück. Sogar mittanzen wollen
sie.“
„Hätten wir sie denn wegschicken sollen? Das wäre gegen den Brauch unserer
Väter gewesen.“
„Brauch, Brauch! Was sagt denn der Brauch unserer Väter zu der armen Nica?“
„Pscht, ich glaube, sie hören uns.“
„Keine Sorge“, warf ein anderer ein. „Selbst wenn sie Albanisch könnten, sie
würden den Kummer der Alten nicht verstehen.“
In Wirklichkeit hörten der General und der Priester nichts von dem Gespräch. Sie
standen nur da und schauten in die Mienen der Leute. Der General verlor bald das
Interesse an den Männern und jungen Burschen und wandte sich den alten Frauen
zu, die in ihren großen, schwarzen Tüchern wirkten wie der Chor einer antiken Tra-
gödie.
Furcht regte sich im General. Er bereute bitter, daß er hergekommen war. Men-
schen vergaßen nicht so schnell, und galten nicht gerade die Albaner als besonders
rachsüchtig? Was für eine verrückte Idee, diese Hochzeit zu besuchen! Bisher war
er sorgfältig darauf bedacht gewesen, allen Problemen aus dem Weg zu gehen.
Seine Fahrten hatte er unter dem Schutz des Gesetzes und stets nur in Begleitung
Einheimischer unternommen. Und nun dieser Übermut. Hier schützte ihn kein Ge-
setz. Hier konnte alles geschehen, hier war niemand für irgend etwas verantwort-
lich.
„Gehen wir“, sagte er plötzlich. „Gehen wir auf der Stelle.“
„Ja, gehen wir“, erwiderte der Priester. „Wir sind aufs Schlimmste beleidigt wor-
den. Die Alte hat uns furchtbare Dinge an den Kopf geworfen.“
„Dann können wir nicht gehen, ohne darauf zu antworten. Was hat sie denn ge-
sagt?“
Der Priester setzte eben zu einer Erwiderung an, als der Hausherr auf sie zukam.
„Bleiben Sie“, sagte er mit einer einladenden Geste zum Tisch hin. Dann bedeu-
tete er den Frauen, Raki und etwas Eßbares aufzutragen. Der General und der Prie-
ster wechselten einen Blick, dann schauten beide den Hausherrn an. „So etwas
kommt nun einmal vor“, meinte der Alte. „Bleiben Sie. Setzen Sie sich wieder.“
Sie folgten seiner Aufforderung. Im Sitzen fielen sie weniger ins Auge.
Inzwischen war die Ordnung in dem großen Raum größtenteils wiederhergestellt.
Die Leute kehrten an die Tische zurück. Neben dem General nahm der Mann Platz,
der sich an der Übersetzung der Trinksprüche versucht hatte.
Die alte Nica, so beteuerte er, sei eine verwirrte Frau. Das Schicksal habe ihr bö-
se mitgespielt. Während einer Vergeltungsaktion habe das Bataillon des Obersten
Z. ihren Mann aufgehängt. Dann berichtete der Mann, was weiter geschehen war:
Der Oberst nahm Nicas vierzehnjährige Tochter in sein Zelt mit. Am Morgen dar-
auf ertränkte sich das Mädchen im Brunnen. In der Nacht verschwand der Oberst.
Abends, so wurde später erzählt, tauchte er wieder bei Nica auf, denn niemand hat-
te ihm den Tod des Mädchens mitgeteilt. Seinem Burschen befahl er, vor dem Haus
zu warten. Er blieb lange aus, viel länger, als für normal gelten konnte. Trotzdem
harrte der Bursche befehlsgemäß vor der Tür aus. Schließlich begann es zu däm-
mern. Bei der morgendlichen Durchsuchung fand man das Haus leer vor. Niemand
hatte eine Erklärung für das Verschwinden von Oberst Z. Einige vermuteten, er sei
dringend nach Tirana gerufen worden. Auch andere Möglichkeiten wurden in Be-
tracht gezogen. Die Offiziere hüllten sich in Schweigen. Am Tag darauf rückte das
Bataillon ab.
All dies trug des Generals Tischnachbar in knappen Sätzen vor. Sie sausten nie-
der wie Peitschenhiebe.
Inzwischen hatte auch die Musik wieder zu spielen begonnen, doch zunächst
konnte sich niemand zum Tanzen entschließen. Schließlich gingen ein paar Frauen
mit gutem Beispiel voran. Man konnte meinen, alle hätten die alte Nica vergessen.
Der General saß stocksteif am Tisch und brachte keinen klaren Gedanken zusam-
men. Er schaute zum Priester hinüber. Ihre Blicke kreuzten sich.
„Was hat die Alte gesagt?“ wollte der General wissen.
Der Priester schaute ihn aus seinen grauen Augen fest an, und der General be-
gann sich unwohl in seiner Haut zu fühlen.
„Unter anderem hat sie gesagt, sie könne Ihren Anblick nicht ertragen, weil sie
ein Freund von Oberst Z. seien.“
„Ich soll ein Freund von Oberst Z. sein?“
„Ja, genau das meint sie.“
„Wie kommt sie denn darauf? Nur, weil wir uns heute abend nach ihm erkundigt
haben?“ Der General schien mit sich selber zu sprechen.
„So wird es sein“, gab der Priester trocken zurück.
Die Miene des Generals wurde immer finsterer. Von dem, was sich um ihn herum
abspielte, nahm er kaum noch etwas wahr.
„Ich stehe jetzt auf“, sagte er plötzlich. „Ich stehe jetzt auf und erzähle allen,
daß ich kein Freund von Oberst Z. bin. Daß ich ihn als Soldat zutiefst verachte.“
„Warum wollen Sie das tun? Um sich bei diesen Bauern anzubiedern?“
„Nein“, antwortete der General, „sondern um die Ehre unserer Armee zu retten.“
„Was schadet es der Ehre unserer Armee, wenn ein altes Weib sie beschimpft?“
„Ich werde ihnen klarmachen, daß nicht alle unsere Offiziere so tief gesunken
waren, daß sie sich von einer Frau umbringen ließen.“
Der Priester zog die Brauen hoch.
„Uns steht kein Urteil zu“, sagte er langsam. „Das hat er dort oben in der Hand.“
„Die glauben tatsächlich, ich sei sein Freund gewesen“, fuhr der General fort.
„Wie sie uns anschauen! Sehen Sie nicht ihre Augen?“
„Haben Sie etwa Angst?“ meinte der Priester.
Der General warf ihm einen empörten Blick zu. Er setzte eben zu einer harschen
Antwort an, als die Trommel zu spielen begann, so daß er nicht mehr zu Wort kam.
Es stimmte, der General hatte Angst. Heute abend war er mit seinem unüberleg-
ten Handeln entschieden zu weit gegangen. Nun hieß die Parole, den Rückzug anzu-
treten. Aber mit Umsicht. Die erboste Menge mußte beschwichtigt werden. Es galt,
sich umgehend von Oberst Z. zu distanzieren. Sich seiner zu entledigen. So wie
man einen Schmutzfladen vom Stiefel streift.
Rein äußerlich gesehen, schien sich die Lage zu beruhigen. Aber eben nur äußer-
lich. Es brodelte in dieser Hochzeitsgesellschaft, das wußte er. Das merkte er an
den heimlichen Blicken, die man ihnen zuwarf, und dem ständigen Getuschel. Nicht
außer acht gelassen werden durfte, daß bei der Haustür neben den Umhängen und
Gasse, oder man gab ihrem Flehen nach, jedenfalls gelangte sie herein, und überall
waren erstaunte Rufe und Laute des Entsetzens zu vernehmen. Nica war klatsch-
naß, über und über mit Lehm beschmiert, totenbleich im Gesicht, und auf der
Schulter trug sie einen Sack.
Der General erhob sich mit bebenden Knien, denn er ahnte, daß die Frau zu ihm
wollte. Er stellte sich ihr wie ein Tier, das den Feind hört und sich unter dem Bann
seiner Stimme nicht von der Stelle rührt, obwohl es noch weglaufen könnte.
Unschlüssig standen die Leute um die beiden herum. Niemand vermochte einen
klaren Gedanken zu fassen. Dem Blick, mit dem die alte Nica den General maß,
fehlte die Mitte. Es war, als hätte sie seinen Geist vor sich. Unter ständigem Husten
stieß sie ein paar Worte hervor, von denen er nur „Tod“ verstand.
„Übersetzt mir!“ rief der General hilfeheischend. Doch niemand tat ihm den Ge-
fallen. Der General wandte den Kopf und schaute den Priester an, der daraufhin nä-
her kam.
„Sie behauptet, sie habe damals einen hohen Offizier aus unserer Armee getötet.
Ob Sie der General seien, der die Knochen der Soldaten einsammelt.“
Der General wandte sich wieder der Frau zu.
„Ja“, sagte er mit erstickter Stimme. Er mußte sich dazu zwingen, ihrem Blick
nicht auszuweichen.
Die alte Nica redete weiter, doch der Priester konnte ihre Worte nicht überset-
zen, weil sie im lauten Gemurmel der Leute untergingen, und noch ehe jemand sie
daran hindern konnte, warf sie den Sack, den sie auf der Schulter trug, dem Gene-
ral vor die Füße. Der Priester brauchte jetzt nicht mehr zu übersetzen, es gab nichts
mehr zu übersetzen, alles war klar. Der Blick des Generals wanderte von der alten
Nica zu dem Sack, der mit einem dumpfen Klatschen vor ihm auf dem Fußboden
geschlagen war. Schwarze Erdfladen klebten daran. Die Frauen fuhren entsetzt
auseinander und schlugen die Hände vors Gesicht, während die Greisinnen Kreuze
schlugen und fassungslos murmelten:
„Sie hat ihn tatsächlich vor ihrem Haus vergraben.“
„Unglückliche!“ rief jemand.
Die alte Nica drehte sich um und ging weg, klatschnaß und lehmbeschmiert, und
niemand versuchte sie aufzuhalten, denn es war geschehen, was hatte geschehen
sollen.
Der General starrte auf den Sack. Das Entsetzen, der Lärm und die Klagerufe
ringsum machten, daß seine Ohren dröhnten. Plötzlich jedoch, er konnte es sich
nicht erklären, trat Totenstille ein. Vielleicht wurde es auch gar nicht still, sondern
er bildete es sich nur ein. Vor seinen Füßen und den Füßen der Hochzeitsgäste lag
schwarz und stumm der mit Flicken übersäte alte Sack, wie ihm seltsamerweise
auffiel. Jemand muß sich um den Sack kümmern, quälte sich ein Gedanke durch
sein erstarrtes Gehirn. Inmitten des Schweigens beugte er sich unbeholfen hinab,
ergriff mit bebenden Händen den lehmbeschmierten Sack an der Stelle, wo er zu-
geschnürt war, und hob ihn auf. Dann legte er ihn sich, immer noch unbeholfen, auf
die Schulter und ging durch die Tür hinaus in den Regen, gebeugt und mit schwer-
fälligen Schritten, als trage er die Schande und die Last der ganzen Welt auf seinem
Rücken. Der Priester folgte ihm.
Hinter ihnen begann jemand laut zu weinen.
© Ammann Verlag