Weise sprachliche Besonderheiten in der Kurzgeschichte „Die Küchenuhr“ von Wolfgang Borchert
nach. Gehe dabei zuerst auf die Wortwahl und den Satzbau ein. Nenne dann zwei stilistische
Mittel und erläutere, wie sie mit dem Inhalt der Geschichte zusammenhängen.
Belege deine Beobachtungen mit Beispielen aus dem Text.
Text
Wolfgang Borchert: Die Küchenuhr (1947)
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er el auf. Er hatte ein ganz altes
Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, daß er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten
Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.
Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der
Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben.
Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blaugemalten
Zahlen ab.
Sie hat weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so
besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen
doch ganz hübsch aus, nde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch
nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch
wenn sie jetzt nicht mehr geht.
Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang. Und
er sagte leise: Und sie ist übriggeblieben.
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau
sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand:
Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr
wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten.
Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau.
Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie
immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er
aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich
noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehengeblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken
Sie mal.
Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getro en, sagte der Mann und schob wichtig die
Unterlippe vor. Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren
stehen. Das kommt von dem Druck.
Er sah seine Uhr an und schüttelte überlegen den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich.
Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein.
Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, daß sie
gerade um halb drei stehengeblieben ist. Und nicht um viertel nach vier oder um sieben. Um halb
drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja
gerade der Witz.
Er sah die anderen an, aber die hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da
nickte er seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in
die Küche. Da war es dann fast immer halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich
konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen
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Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke
und mit einem roten Schal um. Und barfuß. Immer barfuß. Und dabei war unsere Küche
gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja
schon geschlafen. Es war ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir
das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil
die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt
war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das
Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz
selbstverständlich, fand ich, daß sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich
fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät
wieder. Aber das sagte sie jedesmal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so
selbstverständlich. Das alles war doch immer so gewesen.
Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die
anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt,
jetzt weiß ich, daß es das Paradies war. Das richtige Paradies.
Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist
weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.
Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an.
Da hob er wieder die Uhr hoch und er lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das
Schönste ist ja, daß sie ausgerechnet um halb drei stehengeblieben ist. Ausgerechnet um halb
drei.
Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm
saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort
Paradies.