1 Literarische Texte im
Fremdsprachenunterricht
Der Einsatz fremdsprachlicher Literatur zum Zweck des Lehrens und Lernens
von fremden Sprachen hat eine sehr lange Tradition. Innerhalb der Fremdspra-
chendidaktik nimmt die Frage, weshalb und welche literarische Texte im Fremd-
sprachenunterricht behandelt werden sollen und auf welche Weise sie integriert
werden sollen, eine besondere Stellung ein. Diese Frage kann man nur dann
beantworten, wenn man die diachrone Entwicklung des Fremdsprachenunter-
richts im Hinblick auf dessen Lernziele und Aufgaben untersucht. Dazu ist es
erforderlich, sich die Lernziele des Fremdsprachenunterrichts zu vergegenwärti-
gen und zu akzentuieren. Bei einer solchen historischen Perspektive geht es
darum, herauszufinden, aus welchen Zielsetzungen und Aufgaben des Fremd-
sprachenunterrichts heraus literarische Texte ihre Bedeutung gewonnen haben.
1.1 Ziele und Aufgaben des
Fremdsprachenunterrichts – ein Überblick
Es versteht sich von selbst, dass jeder Unterricht auf ein gewünschtes Ziel hin
geplant werden muss. Das übergreifende Ziel des Unterrichts im 19. Jahrhundert
war die „allgemeine geistig-formale“ Schulung. Diese Zielvorstellung des Unter-
richts war auch für den Fremdsprachenunterricht zu akzeptieren. Die Lernenden
einer Fremdsprache sollten ihren Verstand anhand der Logik und Systematik der
Fremdsprache schulen. Die Fremdsprache wurde erlernt durch die Verknüpfung
zahlreicher, einzeln gelernter Regeln. Dabei ging es sicherlich nicht um die prak-
tische Beherrschung der Fremdsprache, sondern vielmehr um eine bewusste Ein-
sicht in deren formalen Aufbau und Regelsystem. Eine Beschreibung dieser Un-
terrichtsverfahren findet sich bei Wilhelm Viëtor:
30 1 Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht
„Es handelt sich darum, den Inhalt der Schulgrammatik und nebenher den nötigen
Wortvorrat dem Schüler zu überliefern. (...) Eine Portion grammatischer Regeln
wird einer ‚Lektion’ oder einem ‚Kapitel’ zugewiesen; Übungssätze in der fremden
Sprache, sodann deutsche, folgen; die zugehörigen Vokabeln stehen entweder mit
oder ohne Verweisungsziffern unter den Stücken oder sind, und das ist das Gewöhn-
liche, in einem Anhang untergebracht, d.h. sie sollen auswendig gelernt werden.“1
Diese Zielsetzung des Fremdsprachenunterrichts im 19. Jahrhundert war damals
zum großen Teil aus seiner Konkurrenzsituation zum altsprachlichen Fremdspra-
chenunterricht (z.B. Latein, Griechisch) heraus zu verstehen. Wenn die moder-
nen Fremdsprachen – also in erster Linie Englisch und Französisch – als Schul-
fächer im Gymnasium akzeptiert wurden und dem übergreifenden Ziel der
Geistesbildung dienen sollten, mussten sie in der Konkurrenz zu Latein und
Griechisch bestehen. Aus dieser Situation heraus war es notwendig, das gleiche
Lernziel für den Fremdsprachenunterricht zu formulieren.2
Gegen einen Fremdsprachenunterricht, der die Lernenden mit Hilfe von Le-
xika und unter Anwendung der gelernten grammatischen Regeln die fremd-
sprachlichen Texte zu übersetzen lehrt und deshalb wenig Bezug zur praktischen
Sprachverwendung herstellt, nahm schon Ende des 19. Jahrhunderts Wilhelm
Viëtor in seinem Aufsatz Der Sprachunterricht muß umkehren! (1882) Stellung.
Er behauptete aus heutiger Sicht zu Recht, dass man keineswegs eine Fremd-
sprache dadurch sprechen lernen wird, dass man lediglich lange Listen von Wör-
tern und Regeln ins Gedächtnis aufnimmt, und formulierte das Lernziel des
Fremdsprachenunterrichts folgendermaßen: „Bringen wir den Schüler dahin, daß
er außer in seiner Muttersprache auch in der fremden Sprache denken und sich
ausdrücken lernt.“3 Aber nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern bis heute wird oft
ein Fremdsprachenunterricht durchgeführt, der „nicht-praktische“ Sprachfertig-
keiten zum Ziel hat. Im Jahre 1960 erklärte Werner Hüllen diese Situation wie
folgt:
„Wenn im Unterricht die geistigen Formationskräfte der Sprache direkt angesteuert
und als eigentlicher Zielpunkt des Faches den Schülern nahegebracht werden, so
werden sie – die Schüler – zwangsläufig mehr in der Betrachtung als in der Beherr-
schung der Sprache geübt werden, und da die Beherrschung im Normalfall ja nicht
1 Viɺtor 1979 [zuerst 1882], S. 22.
2 Dazu vgl. ausführlich Neuner/Hunfeld 1993, S. 19.
3 Viëtor 1979 [zuerst 1882], S. 30.
1.1 Ziele und Aufgaben des Fremdsprachenunterrichts – ein Überblick 31
aus anderen Quellen dazugegeben werden kann, ist tatsächlich eine Lehrsituation
möglich, in der eine Sprache nicht mit dem Ziel ihrer Beherrschung im Sprechen ge-
4
lehrt wird.“
Erst Ende der 60er Jahre – nach der Ablösung einer konservativ orientierten
Bildungspolitik der 50er und 60er Jahre in Deutschland – kam Widerstand gegen
diesen einseitig bildungsorientierten Fremdsprachenunterricht auf. Im Jahre 1971
schrieb Konrad Schröder, dass „es nicht möglich sei, die Daseinsberechtigung
eines Schulfaches Englisch anders herzuleiten als aus der praktischen Verwend-
barkeit und damit der Berufsrelevanz englischen Sprachkönnens“.5 Entscheidend
für Einwände gegen die Forderung des formalen Fremdsprachenunterrichts wa-
ren einerseits die damalige politische und wirtschaftliche Expansion in Deutsch-
land, die die Entwicklung der praktischen Sprachfertigkeit in den Fremdsprachen
notwendig machte.6 Zudem trug die zunehmende Mobilität der Bürger zur Ver-
änderung der Zielsetzung des Fremdsprachenunterrichts bei. Die Regelkenntnis-
se und die Übersetzung klassischer literarischer Werke konnten den neuen Be-
dürfnissen und Anforderungen nicht gerecht werden. Somit wurden die formalen
Bildungsziele von den pragmatischen Zielen abgelöst.
Das damalige Reformklima in Deutschland, in dem neue gesellschaftliche
Modelle und neue pädagogische Leitvorstellungen diskutiert wurden, und die
linguistische Pragmatik, die Sprache gebunden an den Vollzug von Handlungen
betrachtet, führten den Fremdsprachenunterricht und seine Didaktik zu einer
neuen Orientierung im Hinblick auf Unterrichtsziele, Inhalte und Methoden.7
Sprache wird nicht mehr als ein System von Formen betrachtet, sondern als ein
Aspekt menschlichen Handelns. Aus dieser Erkenntnis resultiert die Forderung,
dass die im Fremdsprachenunterricht gelernte Fremdsprache auf die Kommuni-
kation in alltäglichen Situationen im Zielland anwendbar sein soll. Der Übergang
zur kommunikativen Kompetenz (die sogenannte „kommunikative Wende“) als
das neue zentrale Lernziel des Fremdsprachenunterrichts war daher folgerichtig
und bestimmt bis heute im Wesentlichen den Fremdsprachenunterricht. Unter
der kommunikativen Kompetenz wird verstanden, dass die Fähigkeit der Ler-
4 Hüllen 1960, S. 581.
5 Schröder 1971, S. 145.
6 Neuner/Hunfeld 1993, S. 34.
7 Brusch 1985, S. 50.
32 1 Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht
nenden zu entwickeln ist, die gelernte Fremdsprache als Kommunikationsmittel
zu gebrauchen, und zwar so, dass sie in der Lage sind, in der jeweiligen Situation
im Zielland angemessen sprachlich zu handeln.
Vor dem Hintergrund des Lernziels der kommunikativen Kompetenz setzte
sich in der Fremdsprachendidaktik die Erkenntnis durch, dass Fremdsprach-
wissen allein keine kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache ergibt. In
Anlehnung an Hörmann gelangt Wolfgang Feigs zu folgendem Urteil: „Man
kann Sprache nur verstehen, wenn man mehr als Sprache versteht.“8 Das „Mehr“
ist das, was man hier als landeskundliches Wissen bezeichnen kann. Obwohl sich
die Wissenschaft noch nicht auf eine gültige Definition des Begriffs Landes-
kunde einigen konnte, versteht man darunter im Allgemeinen die Vermittlung
der kulturellen, historisch-politischen und sozio-ökonomischen Aspekte eines
Landes.9 Da es nicht Aufgabe dieser Arbeit ist, die Entwicklung des Begriffs
Landeskunde historisch darzustellen, sei hier auf einige Publikationen verwiesen,
in denen dieses Thema ausführlich behandelt wird: z.B. Fischer 1985; Schwend
1987; Krumm 1994; Bischof/Kessling/Krechel 1999; Bettermann 1999.
In einem kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht verliert die
Landeskunde als rein kognitive Wissensvermittlung über die Gesellschaft, die
von den jeweiligen Bezugswissenschaften wie Politologie, Soziologie, Geschich-
te und Geographie ausgeht, an Bedeutung. Die Landeskunde soll in einem engen
Bezug zu möglichen authentischen, kommunikativen Situationen in der Ziel-
sprache stehen, um zur Befähigung der Lernenden zu Kommunikation und
fremdsprachlichem Handeln beizutragen. Im Zuge der kommunikativen Wende
des Fremdsprachenunterrichts fanden kulturelle Medien und massenwirksame
Ausdrucksformen wie Zeitung, Fernsehen, Radio, Film, Musik und Comicstrip
in wachsendem Maße Eingang in den Fremdsprachenunterricht. Mit der Auffas-
sung, dass das landeskundliche Wissen zu einem besseren Verstehen von authen-
tischen Äußerungen und Texten und der Erweiterung der Kommunikations- und
Handlungskompetenz verhilft, hat sich Landeskunde seither als ein wichtiger
Teil des Fremdsprachenunterrichts etabliert.
8 Feigs 1993, S. 78.
9 Sabalius 1996, S. 760.
1.1 Ziele und Aufgaben des Fremdsprachenunterrichts – ein Überblick 33
Im Zuge internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen sowie erleichterter
Reisemöglichkeiten, die verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und Inter-
aktionen zwischen ihnen entstehen lassen, sieht sich der Fremdsprachenunter-
richt mit neuen Anforderungen konfrontiert. Wenn Fremdsprachenunterricht in
den Dienst der Verständigung unter den modernen Gesellschaften, die vor allem
durch Stichworte wie Modernisierung, Globalisierung, Internationalisierung oder
Pluralisierung beschrieben werden können, gestellt wird, ist neben der kommuni-
kativen Kompetenz Fremdkultur- bzw. Fremdverstehen als gleichberechtigtes
Lernziel und gleichberechtigte Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts – in letz-
ter Zeit verstärkt – zu akzeptieren. Diese veränderten Anforderungen machen
eine Überprüfung der Ziele und Schwerpunkte, eine Weiterentwicklung der
Methoden und Erweiterung der Inhalte des Erwerbs und Gebrauchs von Fremd-
sprache notwendig.10
Als Ergänzung und Fortführung der kommunikativen Kompetenz wird der
Begriff „interkulturelle Kompetenz“ in der Diskussion der Fremdsprachendidak-
tik verstanden.11 Der Begriff „interkulturelle Kompetenz“ erhält in jüngster Zeit
einen festen Platz im Fremdsprachenunterricht. Der interkulturelle Ansatz im
Fremdsprachenunterricht stellt die Frage nach der kulturellen Prägung von Kom-
munikation und zielt darauf ab, das Erkennen der fremden Kultur und deren
geprägten Verhaltens in verschiedenen Situationen zu einer interkulturellen
Kommunikationsfähigkeit zu entwickeln. Da es sich in der interkulturellen Kom-
munikation um die Kulturunterschiede handelt, die unmittelbar vom gesellschaft-
lichen Kontext abhängen und den Gegenstand mehrerer Wissenschaftsbereiche
bilden, so z.B. der Linguistik, Literaturwissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Pä-
dagogik, Psychologie oder Text- und Medienwissenschaft, ist bei der Themati-
sierung von interkultureller Kommunikation die interdisziplinäre Annäherung
berechtigt und legitimiert. Die Erforschung der interkulturellen Kommunikation
widmet sich heute vor allem der Rolle der Sprache in interkulturellen Kontakten,
den Problemen interkulturellen Lernens, der kulturspezifischen Prägung der in-
terkulturellen Kommunikation in alltäglichen und beruflichen Kommunikations-
situationen, der Vermittlung kulturellen Wissens und den Funktionen der Litera-
10 Vgl. Baumgratz-Gangel 1993, S. 373.
11 Liedke 1999, S. 557.
34 1 Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht
tur in der Vermittlung zwischen den Kulturen.12 Über die Funktion und Leistung
der Literatur für die interkulturelle Kommunikation wird an anderer Stelle – im
Kontext der Behandlung der beiden Komplexe Erwerb fremdsprachlicher Kom-
munikationsfähigkeit und fremdkulturelle Kenntnisse – noch nachzudenken sein.
Betrachtet man die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, ist zu erken-
nen, dass sich die Lernziele und Lerninhalte des Fremdsprachenunterrichts im
Laufe der Zeit verändert haben. Im folgenden Abschnitt wird das Zusammen-
spiel von Lernziel und Literaturbehandlung im Fremdsprachenunterricht ausführ-
lich behandelt.
1.2 Zum Umgang mit Literatur in der Geschichte der
Fremdsprachendidaktik
1.2.1 Auswirkungen der Pragmatisierung in der Linguistik auf den
Fremdsprachenunterricht
Die Übersetzung fremdsprachlicher Literatur, vor allem die anspruchsvollen
Texte mit hohem Bildungsniveau, spielte einmal eine zentrale Rolle im Fremd-
sprachenunterricht. Diese Bewertung der fremdsprachlichen Literatur änderte
sich jedoch, indem die praktische Sprachfertigkeit beim Erlernen von Fremd-
sprachen immer mehr in den Mittelpunkt rückte. Je mehr die praktische Alltags-
kommunikation innerhalb und auch außerhalb des Fremdsprachenunterrichts
betont wurde, desto stärker wurde der literarische Text zurückgedrängt, weil man
davon ausging, dass praktische Sprachfertigkeit und literarische Texte einen Ge-
gensatz darstellen. Die Pragmatische Wende in den Sprachwissenschaften, die
zur Neuformulierung der Zielsetzung des Fremdsprachenunterrichts führte, hat
die Entwicklungen in der Fremdsprachendidaktik und -methodik besonders
nachhaltig beeinflusst und verändert.13 Die Pattern-Drills der audiolingualen Me-
thode zum Beispiel, die eng in die alltägliche Kommunikation in den authenti-
schen Gesprächssequenzen und (in geringerem Maße) in die Vermittlung landes-
12 Vgl. Hess-Lüttich 2003, S. 77.
13 Vgl. Esselborn 1990, S. 267.
1.2 Zum Umgang mit Literatur in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik 35
kundlicher Informationen eingebunden ist, hatte für literarische Texte kaum
Verwendung. Dem kommunikativen Ansatz ging es primär um pragmatische
Ziele: Die gelernte Fremdsprache sollte in Alltagssituationen verwendet werden.
Vor diesem Hintergrund galt Literatur als ein zu eliminierender Störfaktor.14 Tat-
sächlich verzichteten die meisten in Deutschland in den 70er Jahren und Anfang
der 80er Jahre erschienenen Lehrwerke, wie sie etwa für den DaF-Unterricht vor-
liegen, vor allem in der Grundstufe auf literarische Texte.15
1.2.2 Problematisierung des kommunikativen Ansatzes anhand von
Alltagsdialogen
Anfang der 70er Jahre begann die Phase der „Alltagsdialoge“ als zentrale Texte
im Fremdsprachenunterricht. Alltagsdialoge erschienen notwendig und sinnvoll,
weil ihre Umsetzung in mündliche Imitation durch die Lernenden im Fremdspra-
chenunterricht leicht zu verwirklichen war. Aber bald wurden auch kritische
Stimmen laut.
Hans Eberhard Piepho beispielsweise merkte zu Recht an, dass für diese
Dialoge die „linguistischen Mittel ausgesucht und gestuft worden sind“, dass an-
dererseits aber „die viel schwierigeren Faktoren der pragmatischen Absichten,
Vorgänge und Umstände, die den Zugang mehr als die formalen Funktionen er-
schweren, willkürlich gewählt sind und höchst komplexe Anforderungen an
innere Vorstellung, Deutung und sprachliche und nachgestaltende Realisierung
stellen“.16
14 Rück 1990, S. 7.
15 Vgl. Hofmann 1985, S. 150f. Eine Reihe triftiger Gründe gegen den Einsatz von literarischen
Texten im Fremdsprachenunterricht sind vorgebracht worden. Einige immer wiederkehrende Ar-
gumente sollen hier unter inhaltlichen, sprachlichen und methodisch-didaktischen Aspekten kurz
dargestellt werden: Unter dem inhaltlichen Aspekt ging man davon aus, dass literarische Texte
thematisch zu literarisch, d.h. zu lebensfremd, zu intellektuell oder auch veraltet seien. Daher
würde sich die Mehrzahl der Lernenden nicht für Literatur interessieren, die darum nur Lange-
weile beim Erlernen einer Fremdsprache hervorrufe. Für die Argumente bzgl. des sprachlichen
Aspekts gilt die Annahme, dass literarische Texte sprachlich im Allgemeinen zu schwierig und
kompliziert seien. Die literarische Sprache sei deshalb nicht geeignet zur Realisierung kommuni-
kativer Komponenten. Mit Hinweis auf die Didaktik und Methodik wird häufig darauf hingewie-
sen, dass der Fremdsprachenunterricht mit literarischen Texten nicht möglich sei, da Literatur
keine Kommunikation ermögliche. Zudem würden literarische Texte keine vielfältigen Übungs-
möglichkeiten bieten.
16 Piepho 1974, S. 100.
36 1 Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht
Dies führt zur grundsätzlichen Frage, ob sich aus dem Nachsprechen von
Alltagsdialogen jemals freies Sprechen entwickeln kann. Dies ist stark zu be-
zweifeln, da bei einer bloßen Simulation beispielsweise die Handlungskompe-
tenz unberücksichtigt bleibt. Wie bereits erwähnt, wird unter der kommunikati-
ven Kompetenz die Entwicklung der Fähigkeit verstanden, in der jeweiligen
Situation in der Zielkultur angemessen sprachlich zu handeln. Im Hinblick auf
den Unterschied zwischen Verhalten und Handeln macht Klaus P. Hansen darauf
aufmerksam, dass Verhalten eine Aktion ist, die durch häufige Wiederholung
eingeübt wird, so dass sie – ohne großes Bewusstsein und ohne große Willens-
anstrengung – fast automatisch abläuft. Handeln hingegen setzt die Existenz von
Alternativen voraus und erfordert „eine Phase der Überlegung“,17 die also Auf-
merksamkeit, Zeit, Bewusstsein und arrangierende Vernunft beansprucht. Wenn
durchgehend Alltagsdialoge im Mittelpunkt des Fremdsprachenunterrichts ste-
hen – so wichtig sie auch immer für die Entwicklung einer kommunikativen
Kompetenz sein mögen – wird die kommunikative Intention und Handlungskom-
petenz der Lernenden vernachlässigt.
Es wurde darüber hinaus übersehen, dass eine Vielzahl von Alltagsdialogen
kulturelle Bedingungen und somit kulturelle Unterschiede aufweist, da Alltags-
dialoge in einem jeweils anderen kulturellen Kontext verankert sind. Kulturelle
Unterschiede können die Wahrnehmungen der Lernenden beeinflussen und zu
unterschiedlichen Äußerungen führen. Deshalb muss der Einsatz kommunikati-
ver Methoden auch die spezifischen Rahmenbedingungen der Lernenden berück-
sichtigen.18 Zu bedenken ist auch in diesem Zusammenhang, dass die einseitige
Ausrichtung hin zu den Alltagsdialogen die kommunikative Intention, Phantasie,
Selbständigkeit und Kreativität der Lernenden im Fremdsprachenlernprozess
nicht berücksichtigt hat. Die Lernenden müssen die Möglichkeit haben, nicht nur
Vorgegebenes auszudrücken, sondern auch das mitzuteilen, was sie selbst sagen
möchten.
Ausgehend von diesen kritischen Ansatzpunkten bezüglich der Alltags-
dialoge hat seit etwa Anfang der 80er Jahre das Interesse für die Verwendung
literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht deutlich zugenommen.
17 Hansen 2000, S. 123.
18 Vgl. Neuner/Hunfeld 1993, S. 106.
1.2 Zum Umgang mit Literatur in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik 37
1.2.3 Das wachsende Interesse an literarischen Texten für einen
kommunikativen Fremdsprachenunterricht
Brusch spricht sich in seinem einführenden Beitrag zum Thema „Literarische
Texte im kommunikativen Fremdsprachenunterricht“ dafür aus, dass der Fremd-
sprachenunterricht von Beginn an durch alle Lernstufen hindurch auch literari-
sche Texte als Lektionstexte auswählen solle.19 Er sieht den Grund dafür in der
kontextproduktiven Qualität literarischer Texte. Da es in der Regel nicht möglich
ist, zielsprachliche Realität in den Fremdsprachenunterricht zu bringen, kommen
als geeignete Texte vor allem solche in Betracht, die die Lernenden so an-
sprechen, dass sie sich phantasievoll in sie hineinversetzen können. Gerade lite-
rarische Texte besäßen oft diese Qualität und deshalb seien sie die „kongenialen
Texte“20 des Fremdsprachenunterrichts.
Die kontextproduktive Qualität des literarischen Textes, die eine Identifika-
tion und Übertragung ermöglicht, sieht auch Esselborn, wenn er sein Argument
für das kommunikative Lernziel Literatur formuliert:
„Zur Aktivierung der Lerner durch eine echte Kommunikation über Gegenstände,
die ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechen und auch die affektiv-emotionale
Seite mit einbeziehen und Phantasie und Kreativität anregen, boten sich literarische
Texte geradezu an. Sie sind ‚kontextproduktiv’, bauen die Situation selbst auf und
ermöglichen dem Lerner durch Identifikation eher, sich in die fremdsprachige Reali-
tät hineinzuversetzen als banale Alltagsdialoge. Zudem kann so die ‚sprachbezoge-
ne’ durch eine ‚mitteilungsbezogene’ Kommunikation ergänzt werden, die auch den
21
für einen kommunikativen Unterricht so wichtigen Bezugsaspekt mit einschließt.“
In ähnlicher Weise argumentieren Neuner und Hunfeld: Der Einsatz literarischer
Texte sei dort besonders sinnvoll, „wo man eine ausgeprägte geographische,
kulturräumliche Distanz und anders geartete gesellschaftliche Verhältnisse im
Vergleich zu den Zielländern vorfindet“,22 um durch die Darstellung subjektiver
Perspektiven die Alltagssituationen, Einstellungen und Wertorientierungen des
Zielsprachenlandes näher kennen zu lernen.
19 Brusch 1985, S. 55. Zu dieser Position siehe auch Eismann/Thurmair 1993; Kast 1994; Koppen-
steiner 2001.
20 Ebd.
21 Esselborn 1990, S. 268.
22 Neuner/Hunfeld 1993, S. 124.
38 1 Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht
Literarische Texte konnten mit der Hinwendung zu einem kommunikativen,
lernerbezogenen Fremdsprachenunterricht wieder an Bedeutung gewinnen, da sie
auf die aktive und kreative Teilnahme der Lernenden am Unterrichtsgeschehen
aufbauen.23 Diese Tendenz spiegelt sich auch in den fachwissenschaftlichen und
fachdidaktischen Publikationen seit Mitte der 80er Jahre wider. Hier untersuchte
Aspekte sind die Einbindung literarischer Texte in einen kommunikativ orien-
tierten Fremdsprachenunterricht und die Bestimmung von Funktion und Stellen-
wert des literarischen Textes im Fremdsprachenunterricht (vgl. z.B. Löschmann
1984; Heid 1985; Bredella 1991; Schinschke 1995; Krenn 2003). Darüber hinaus
werden die Spezifika der Gestaltung von Aufgaben und Übungen zu literarischen
Texten für den kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht beschrieben
(vgl. z.B. Riehme 1975; Kast 1984; Mummert 1984a; Bredella/Legutke 1985;
Esselborn 1990; Koppensteiner 2001). Weiterhin wird die Rolle literarischer
Texte bei der fremdsprachigen Könnens- und Persönlichkeitsentwicklung (vgl.
z.B. Löschmann/Schröder 1984; Liebezeit 1985; Butzkamm 1985) und bei der
Erarbeitung der landeskundlichen Komponente im Fremdsprachenunterricht
untersucht (vgl. z.B. Schwend 1987; Löschmann 1990; Fricke 1990; Mummert
1993b).
Das wachsende Interesse an literarischen Texten für den Fremdsprachen-
unterricht ist insbesondere mit kulturellen Fragestellungen verknüpft. Für einen
Fremdsprachenunterricht mit dem Lernziel kommunikative Kompetenz ist es er-
forderlich, kulturelle Informationen über die Zielsprachengemeinschaften einzu-
beziehen, da die kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache ja das Wissen
über die fremde Kultur voraussetzt. In diesem Sinne wird – aus dem Paradig-
menwechsel zur interkulturellen Germanistik – der literarische Text als kulturell
geprägter Text betrachtet, was eine wesentliche Bedingung für die Sprach- und
Kulturvermittlung bildet.
Die Integration von Literatur und Kultur im Rahmen eines auf kommunika-
tive Kompetenz zielenden Fremdsprachenunterrichts soll im folgenden Kapitel
näher betrachtet werden.
23 Vgl. Esselborn 1990, S. 268.