Arendt Politik Und Philosophie
Arendt Politik Und Philosophie
Von HANNAH A R E N D T
Die Kluft zwischen Philosophie und Politik entstand historisch gesehen mit dem Prozeß
und der Verurteilung des Sokrates, was in der Geschichte des politischen Denkens dieselbe
Rolle eines Wendepunkts spielt wie in der Geschichte der Religion der Prozeß und die
Verurteilung von Jesus. Unsere Tradition des politischen Denkens begann, als Plato ange-
sichts des Todes von Sokrates Plato am Leben der Polis verzweifelte und gleichzeitig gewisse
Grundlagen der Lehren Sokrates' anzweifelte. Weil Sokrates nicht in der Lage war, seine
Richter von seiner Unschuld und seinen Verdiensten zu überzeugen, die den besseren und
jüngeren der Bürger Athens so einleuchtend erschienen, zweifelte Plato die Tauglichkeit des
Uberredens an. Uns fällt es schwer, die Bedeutung dieses Zweifels zu begreifen, weil „Über-
redung" eine sehr schwache und unzulängliche Übersetzung des alten peithein ist, dessen
politische Bedeutung sich in der Tatsache äußert, daß Peithô, die Göttin der Überredung,
einen Tempel in Athen hatte. Zu überreden, peithein, war die spezifisch politische Form der
Rede, und da die Athener stolz darauf waren, daß sie im Unterschied zu den Barbaren ihre
politischen Angelegenheiten auf der Ebene der Rede und ohne Zwang regelten, hielten sie
die Rhetorik, die Kunst der Überredung, für die höchste, wahrhaft politische Kunst. Sokra-
tes' Rede in der Apologie ist eines der größten Beispiele dafür, und es richtet sich gegen diese
Verteidigung, wenn Plato im Phaidon eine „verbesserte Apologie" schreibt, die er ironisch
„überzeugender" nennt (pitbanoteron, 63 b), weil sie mit einem Mythos des Jenseits, kom-
plett mit körperlichen Strafen und Belohnungen, endet, der dazu bestimmt ist, die Zuhörer
eher zu erschrecken als bloß zu überreden. Sokrates' entscheidendes Argument in seiner
Verteidigung vor den Bürgern und Richtern Athens lautete, daß sein Verhalten im höchsten
Interesse der Stadt gelegen hätte. Im Kriton hatte er seinen Freunden erklärt, daß er nicht
fliehen konnte, sondern vielmehr aus politischen Gründen die Todesstrafe erleiden mußte.
Er scheint nicht nur unfähig gewesen zu sein, seine Richter zu überreden, sondern auch seine
Freunde zu überzeugen. Mit anderen Worten konnte die Stadt keinen Philosophen und
konnten die Freunde keine politische Argumentation gebrauchen. Das ist Teil der Tragödie,
von der Piatos Dialoge zeugen.
Eng mit seinem Zweifel an der Tauglichkeit der Überredung ist Piatos wütende Verurtei-
lung der doxa, der Meinung, verbunden, was sich nicht nur wie ein roter Faden durch seine
politischen Werke zieht, sondern auch einer der Ecksteine seines Begriffs der Wahrheit
wurde. Die platonische Wahrheit wird immer als das genaue Gegenteil von Meinung ver-
standen, selbst wenn doxa nicht erwähnt wird. Das Schauspiel, wie Sokrates seine eigene
doxa den unverantwortlichen Meinungen der Athener unterwarf und von einer Mehrheit
382 Hannah Arendt, Philosophie und Politik
überstimmt wurde, veranlaßte Plato, Meinungen zu verachten und sich nach absoluten
Maßstäben zu sehnen. Solche Maßstäbe, durch die menschliche Taten beurteilt werden
könnten und menschliches Denken ein gewisses Maß an Verläßlichkeit erlangen könnte,
wurden von nun an zur vorrangigen Triebkraft seiner politischen Philosophie und beein-
flußten entscheidend selbst die rein philosophische Ideenlehre. Ich glaube nicht, wie oft
angenommen wird, daß das Konzept der Ideen ursprünglich ein Konzept von Normen und
Maßstäben, noch daß sein Ursprung politisch war. Aber diese Interpretation ist um so
verständlicher und berechtigter, als Plato selber der erste war, der die Ideen zu politischen
Zwecken benutzte, d. h. absolute Maßstäbe in den Bereich der menschlichen Angelegenhei-
ten einführte, wo ohne solche transzendierenden Maßstäbe alles relativ bleibt. Wie Plato
selber zu betonen pflegte, wissen wir nicht, was absolute Größe ist, sondern erfahren nur
etwas, das größer oder kleiner im Verhältnis zu etwas anderem ist.
Der Gegensatz von Wahrheit und Meinung war sicherlich die antisokratischste Schlußfol-
gerung, die Plato aus dem Prozeß gegen Sokrates zog. Indem Sokrates dabei scheiterte, die
Stadt zu überzeugen, hatte er nachgewiesen, daß die Stadt kein sicherer Ort für den Philo-
sophen ist, und das nicht nur in dem Sinn, daß sein Leben wegen der Wahrheit, die er besitzt,
unsicher ist, sondern auch in dem viel wichtigeren Sinn, daß die Stadt nicht damit betraut
werden kann, die Erinnerung an den Philosophen zu bewahren. Wenn die Bürger Sokrates
zum Tode verurteilen konnten, waren sie nur zu bereit, ihn zu vergessen, als er tot war. Seine
irdische Unsterblichkeit wäre nur gesichert, wenn die Philosophen mit ihrer eigenen Solida-
rität beseelt werden könnten, die mit der Solidarität der Polis und ihrer Mitbürger unverein-
bar war. Das alte Argument gegen die sophoi, die weisen Menschen, das bei Aristoteles
ebenso wie bei Plato wiederkehrt, daß sie nicht wissen, was gut für sie selber ist (die Voraus-
setzung der politischen Weisheit), und daß sie lächerlich aussehen, wenn sie auf dem Markt-
platz erscheinen und eine allgemeine Zielscheibe des Spotts abgeben - so wie Thaies von
einem Bauernmädchen ausgelacht wurde, als er in Betrachtung der Sterne in einen Brunnen
vor seinen Füßen fiel - , wurde von Plato gegen die Stadt gekehrt.
Um die Ungeheuerlichkeit von Piatos Forderung zu begreifen, der Philosoph sollte der
Herrscher der Stadt werden, müssen wir uns diese allgemeinen „Vorurteile" vor Augen
führen, die die Polis gegenüber den Philosophen, nicht aber den Künstlern und Dichtern
hegte. Nur der sophos, der nicht weiß, was für ihn selber gut ist, wird noch weniger wissen,
was gut für die Polis ist. Der sophos, der weise Mensch als Herrscher, muß im Widerspruch
zu dem gängigen Ideal des phronimos, des verständigen Mannes, gesehen werden, dessen
Einsichten in die Welt der menschlichen Angelegenheiten ihn zur Führerschaft qualifizieren,
wenn auch natürlich nicht zur Herrschaft. Philosophie, die Liebe zur Weisheit, wurde
überhaupt nicht für dasselbe gehalten wie diese Einsicht, phronésis. Der weise Mensch allein
befaßt sich mit den Angelegenheiten außerhalb der Polis, und Aristoteles stimmt völlig mit
dieser öffentlichen Meinung überein, wenn er feststellt: „Daher gelten Anaxagoras und
Thaies und Denker ihrer Art als Repräsentanten philosophischer Weisheit, nicht aber der
praktischen Einsicht, wenn man beobachtet, wie sie es nicht verstehen, ihren eigenen Vorteil
wahrzunehmen - und man schreibt ihnen ein Wissen um bedeutende, großartige, schwer
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verständliche und unergründlich rätselhafte, fürs Leben aber unbrauchbare Dinge zu, weil
sie nicht das suchen, was ein „Gut für den Menschen" (anthrôpina agathd) ist. 1 Plato
leugnete nicht, daß das Anliegen des Philosophen die ewigen, unveränderlichen und nicht
menschlichen Angelegenheiten war. Aber er stimmte nicht zu, daß ihn dies unfähig mache,
eine politische Rolle zu spielen. E r stimmte nicht der Schlußfolgerung der Polis zu, daß sich
der Philosoph ohne Sorge um das menschliche Wohl in der ständigen Gefahr befände, ein
Nichtsnutz zu werden. Der Begriff des Guten (agathos) hat hier keine Verbindung zu dem,
was wir mit Güte in einem absoluten Sinn meinen; es meint ausschließlich gut-für, günstig
oder nützlich (cbrésimon), und ist deshalb schwankend und zufällig, weil es nicht notwendi-
gerweise das ist, was es ist, sondern immer auch anders sein kann. Der Vorwurf, daß die
Philosophie den Bürgern ihre persönliche Tauglichkeit rauben kann, ist implizit in Perikles'
berühmtem Ausspruch enthalten: philokaloumen met' euteleias kai philosophoumen aneu
malakias (wir lieben das Schöne ohne Übertreibung und wir lieben Weisheit ohne Weich-
lichkeit oder Unmännlichkeit). 2 Im Unterschied zu unseren eigenen Vorurteilen, in denen
Weichlichkeit und Unmännlichkeit eher mit der Liebe zum Schönen verbunden sind, sahen
die Griechen diese Gefahr in der Philosophie. Philosophie, die Beschäftigung mit der Wahr-
heit ungeachtet des Bereichs der menschlichen Angelegenheiten - und nicht die Liebe zum
Schönen, das überall in der Polis vertreten war, in Statuen und Dichtung, in Musik und den
Olympischen Spielen - , trieb ihre Anhänger aus der Polis und machte sie untauglich für sie.
Als Plato die Herrschaft für den Philosophen beanspruchte, weil er allein die Idee des Guten,
die höchste der ewigen Wesen, anschauen konnte, stellte er sich auf zwei Ebenen gegen die
Polis: E r behauptete erstens, daß die Beschäftigung des Philosophen mit den ewigen Dingen
ihn nicht dem Risiko aussetzte, ein Nichtsnutz zu werden, und er bestand zweitens darauf,
daß diese ewigen Dinge noch „wertvoller" als schön waren. Seine Antwort auf Protagoras,
daß nicht der Mensch, sondern ein Gott das Maß aller menschlichen Dinge sei, ist nur eine
andere Version desselben Ausspruches. 3
Piatos Beförderung der Idee des Guten auf den höchsten Platz im Bereich der Ideen, als
Idee der Ideen, geschieht im Höhlengleichnis und muß in diesem politischen Zusammen-
hang verstanden werden. Es ist viel weniger selbstverständlich als wir wahrscheinlich den-
ken, die wir unter den Auswirkungen der platonischen Tradition aufgewachsen sind. Plato
wurde offensichtlich von dem griechischen sprichwörtlichen Ideal geleitet, dem kalon k'aga-
thon (dem Schönen und Guten), und es ist deshalb bezeichnend, daß er sich für das Gute
anstelle des Schönen entschied. Vom Standpunkt der Ideen selber aus betrachtet, die als das
bestimmt werden, dessen Erscheinung erleuchtet, hat das Schöne, das nicht benutzt werden
kann, sondern nur erstrahlt, eine viel größere Berechtigung, die Idee der Ideen zu werden. 4
Der Unterschied zwischen dem Guten und dem Schönen besteht nicht nur für uns, sondern
deshalb mehr noch für die Griechen darin, daß das Gute angewendet werden kann und ein
Element der Nützlichkeit in sich trägt. N u r wenn das Reich der Ideen durch die Idee des
Guten erleuchtet wird, kann Plato die Ideen für politische Zwecke benutzen und in den
Gesetzen seine Ideokratie errichten, in der ewige Ideen in menschliche Gesetze verwandelt
werden.
Was in der Republik als ein strikt philosophisches Argument erscheint, wurde durch eine
ausschließlich politische Erfahrung geweckt - den Prozeß und Tod des Sokrates - , und es
war nicht Plato, sondern Sokrates, der als erster Philosoph die Linie überschritt, die von der
Polis für den sophos, den Menschen gezogen wurde, der sich mit ewigen, nicht menschlichen
und nicht politischen Dingen befaßt. Die Tragödie des Todes von Sokrates beruht auf einem
Mißverständnis: Die Polis verstand eben nicht, daß Sokrates nicht behauptete, ein sophos, ein
weiser Mensch zu sein. Weil er bezweifelte, daß es Weisheit für Sterbliche gibt, sah er die
Ironie in dem Delphischen Orakel, das besagte, daß er der weiseste aller Menschen sei: Der
Mensch, der weiß, daß Menschen nicht weise sein können, ist der weiseste unter ihnen. Die
Polis glaubte ihm nicht und forderte ihn auf, zuzugeben, daß er wie alle sophoi politisch ein
Nichtsnutz wäre. Tatsächlich aber hatte er als Philosoph seinen Mitbürgern nichts zu lehren.
Der Konflikt zwischen dem Philosophen und der Polis hatte sich zugespitzt, weil Sokrates
neue Forderungen an die Philosophie gestellt hatte, gerade weil er nicht behauptete, weise zu
sein. Und in eben jener Situation entwarf Plato seine Tyrannei der Wahrheit, in der nicht das,
was weltlich gut ist und von dem die Menschen überzeugt werden können, die Stadt regieren
soll, sondern ewige Wahrheit, von der die Menschen nicht überzeugt werden können. Durch
die sokratische Erfahrung wurde offenbar, daß nur die Herrschaft dem Philosophen jene
irdische Unsterblichkeit sichern kann, von der angenommen wurde, daß sie die Polis all
ihren Bürgern sichert. Denn während das Denken und die Handlungen aller Menschen
durch die ihnen innewohnende Instabilität und menschliche Vergeßlichkeit bedroht werden,
waren die Gedanken des Philosophen vorsätzlichem Vergessen ausgesetzt. Deshalb war
dieselbe Polis, die ihren Einwohnern eine Unsterblichkeit und Stabilität garantierte, die sie
ohne sie nie erwarten konnten, eine Bedrohung und Gefahr für die Unsterblichkeit des
Philosophen. Der Philosoph fühlte allerdings in seinem Zwiegespräch mit den ewigen Din-
gen das Bedürfnis nach irdischer Unsterblichkeit weniger als jeder andere. Doch geriet diese
Ewigkeit, die mehr als irdische Unsterblichkeit war, mit der Polis in Konflikt, sobald der
Philosoph versuchte, seine Belange den Mitbürgern nahezubringen. Sobald der Philosoph
seine Wahrheit, das Nachdenken über die Ewigkeit, der Polis vortrug, wurde sie sofort zu
einer Meinung unter anderen Meinungen. Sie verlor ihre unterscheidende Qualität, denn es
gibt kein sichtbares Zeichen, das Wahrheit von Meinung unterscheidet. Es ist, als ob in dem
Augenblick, in dem das Ewige mitten unter die Menschen gebracht wird, es zeitlich wird, so
daß die bloße Diskussion darüber mit anderen bereits die Existenz des Reichs bedroht, in
dem sich die Liebhaber der Weisheit bewegen.
Als Plato die Implikationen des Prozesses gegen Sokrates durchdachte, gelangte er sowohl
zu seiner Auffassung von Wahrheit als dem direkten Gegenteil von Meinung als auch zu
seinem Begriff einer spezifisch philosophischen Form der Rede, dialegesthai, als Gegenteil
von Überredung und Rhetorik. Aristoteles nimmt diese Unterscheidungen und Gegenüber-
stellungen als selbstverständlich an, wenn er seine Rhetorik, die nicht weniger zu seinen
politischen Schriften gehört als seine Ethik, mit der Feststellung beginnt: hé rhétoriké estin
antistrophos té dialektiké (die Kunst der Überredung [und deshalb die politische Kunst der
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Rede] ist das Gegenstück zur Kunst der Dialektik der Kunst der philosophischen Rede]).5
Der Hauptunterschied zwischen Überredung und Dialektik besteht darin, daß erstere sich
an eine Menge richtet (peitbein ta pléthé), während Dialektik nur als ein Dialog zwischen
zweien möglich ist. Sokrates' Fehler bestand darin, sich in der Form der Dialektik an seine
Richter zu wenden, weshalb er sie nicht überreden konnte. Weil er andererseits die der
Überredung innewohnenden Grenzen respektierte, wurde seine Wahrheit eine Meinung
unter Meinungen, die kein bißchen mehr wert war als die Nicht-Wahrheiten der Richter.
Sokrates bestand darauf, die Angelegenheit mit seinen Richtern so durchzusprechen, wie er
es gewohnt war, alle Arten von Dingen mit einzelnen Athenischen Bürgern oder mit seinen
Schülern zu besprechen; und er glaubte, daß er dadurch zu einer Wahrheit gelangen und die
anderen von ihr überzeugen könnte. Doch Überredung kommt nicht von Wahrheit, sondern
von Meinungen6, und nur Überredung zählt und weiß, wie man mit der Menge umgeht. Die
Menge zu überreden heißt, den vielfältigen Meinungen die eigene Meinung aufzuwingen;
Überredung ist nicht das Gegenteil von Herrschaft durch Gewalt, sie ist nur eine andere
Form davon. Die Mythen eines Jenseits, mit denen Plato all seine politischen Dialoge been-
dete, mit Ausnahme der Gesetze, sind weder Wahrheit noch bloße Meinung; sie sind als
Geschichten gedacht, die Angst machen können, d. h. ein Versuch, Gewalt durch den bloßen
Gebrauch von Worten auszuüben. Er kommt in den Gesetzen ohne abschließenden Mythos
aus, weil die detaillierten Vorschriften und der noch detailliertere Strafkatalog die Gewalt
mit bloßen Worten unnötig macht.
Obwohl es mehr als wahrscheinlich ist, daß Sokrates der erste war, der dialegesthai (etwas
mit jemandem durchsprechen) systematisch benutzte, erachtete er es wahrscheinlich nicht
als das Gegenteil oder auch nur als Gegenstück zur Überredung, und es ist sicher, daß er
nicht die Ergebnisse dieser Dialektik der doxa, der Meinung, entgegensetzte. Für Sokrates
wie für seine Mitbürger war doxa die Formulierung dessen in Rede, was dokei moi, d. h. was
mir scheint. Diese doxa hatte nicht das zum Gegenstand, was Aristoteles das eikos, das
Wahrscheinliche, nannte, die vielen verisimilia (im Unterschied zum unum, verum, der einen
Wahrheit, einerseits und der grenzenlosen Falschheit, der falsa infitiva, andererseits), son-
dern verstand die Welt, wie sie sich mir erschließt. Es war deshalb keine subjektive Phantasie
und Willkür, aber auch nichts Absolutes und für alle Gültiges. Er nahm an, daß sich die Welt
jedem'Menschen anders, entsprechend seiner Stellung in ihr, erschließt, und daß die „Einför-
migkeit" der Welt, ihre Gemeinsamkeit (koinon, wie die Griechen sagen würden, allen
gemein) oder „Objektivität" (wie wir von dem subjektiven Standpunkt der modernen Philo-
sophie aus sagen würden) in der Tatsache liegt, daß sich dieselbe Welt jedem erschließt und
daß trotz aller Unterschiede zwischen den Menschen und ihrer Stellung in der Welt - und
folglich ihrer doxai (Meinungen) - „wir beide, du und ich, menschlich sind".
Das Wort doxa bedeutet nicht nur Meinung, sondern auch Glanz und Ruhm. Als solches
ist es mit dem politischen Bereich verbunden, der der öffentliche Raum ist, in dem jeder
erscheinen und zeigen kann, wer er ist. Seine eigene Meinung zu bekräftigen, gehörte zu der
Fähigkeit, sich selber zu zeigen und von anderen gesehen und gehört zu werden. Das war für
die Griechen das eine große Privileg, das an das öffentliche Leben gebunden war und in der
Zurückgezogenheit des Haushalts fehlte, in dem man von anderen weder gesehen noch
5 Rhetorik 1354 a 1
6 Phaidros 260 A
386 Hannah Arendt, Philosophie und Politik
gehört wird. (Die Familie, Frau und Kinder, Sklaven und Diener, wurden natürlich nicht als
völlig menschlich angesehen.) In dem privaten Leben ist man versteckt und kann weder
erscheinen noch glänzen, und folglich ist dort keine doxa möglich. Sokrates, der ein öffentli-
ches Amt und öffentliche Ehren ablehnte, zog sich nie in das private Leben zurück, sondern
bewegte sich im Gegenteil auf dem Marktplatz, gerade mitten unter diesen doxai, diesen
Meinungen. Was Plato später dialegesthai nannte, bezeichnete Sokrates selber als Maieutik,
die Hebammenkunst: Er wollte anderen dabei helfen, sie von dem zu entbinden, was sie
ohnehin dachten, und die Wahrheit in ihrer doxa zu finden.
Die Bedeutung dieser Methode lag in einer zweifachen Uberzeugung: Jeder Mensch hat
seine eigene doxa, seinen eigenen Zugang zur Welt, und deshalb muß Sokrates immer mit
Fragen beginnen; er kann nicht im voraus wissen, welche Art von dokei moi, von Es-scheint-
mir, der andere besitzt. Er muß sich von der Position des anderen in der gemeinsamen Welt
überzeugen. Denn so wie niemand im voraus die doxa des anderen kennen kann, so kann
niemand aus sich heraus und ohne weitere Anstrengung die seiner eigenen Meinung inne-
wohnende Wahrheit kennen. Sokrates wollte diese Wahrheit herausbringen, die jeder poten-
tiell besitzt. Wenn wir seiner eigenen Metapher der Maieutik treu bleiben, können wir sagen:
Sokrates wollte die Stadt wahrer machen, indem er jeden Bürger seine Wahrheit äußern läßt.
Die Methode, das zu tun, ist dialegesthai, etwas durchzusprechen, aber diese Dialektik
bringt Wahrheit nicht durch die Zerstörung von doxa oder Meinung hervor, sondern offen-
bart im Gegenteil doxa in ihrer eigenen Wahrhaftigkeit. Die Rolle des Philosophen besteht
also nicht darin, die Stadt zu regieren, sondern ihre „Schmeißfliege" zu sein, nicht philo-
sophische Wahrheiten zu erzählen, sondern die Bürger wahrheitsliebender zu machen. Der
Unterschied zu Plato ist entscheidend: Sokrates wollte nicht so sehr die Bürger erziehen als
ihre doxai zu verbessern, die das politische Leben bildeten, an dem auch er teilnahm. Für
Sokrates war Maieutik eine politische Aktivität, ein Geben und Nehmen, das wesentlich auf
einer Basis strikter Gleichheit beruhte und dessen Früchte nicht an dem Ergebnis gemessen
werden konnten, zu dieser oder jener allgemeinen Wahrheit zu gelangen. Piatos frühe Dia-
loge stehen deshalb offensichtlich noch ganz in der sokratischen Tradition, wenn sie häufig
unschlüssig und ohne Ergebnis enden. Etwas durchgesprochen zu haben, über etwas gespro-
chen zu haben, die doxa, irgendeines Bürgers, schien Ergebnis genug zu sein.
Es ist offensichtlich, daß diese Art des Dialogs, der keiner Schlußfolgerung bedurfte, um
sinnvoll zu sein, sich bestens für Freunde eignet und am häufigsten von ihnen geführt wird.
Freundschaft besteht tatsächlich weitgehend in dieser Art des Sprechens über etwas, das die
Freunde gemein haben. Indem sie darüber sprechen, was zwischen ihnen liegt, wird es ihnen
immer gemeinsamer. Es erlangt nicht nur seine spezifische Artikuliertheit, sondern entwik-
kelt sich, dehnt sich aus und beginnt schließlich im Lauf von Zeit und Leben, eine eigene
kleine Welt zu bilden, die in Freundschaft geteilt wird. Mit anderen Worten, politisch
gesprochen, versuchte Sokrates, in der Bürgerschaft Athens Freunde zu gewinnen, und das
war in der Tat ein sehr verständliches Ziel in einer Polis, deren Leben auf einem intensiven
und ununterbrochenen Wettstreit aller gegen alle, dem aei aristeuein, beruhte, bei dem man
sich fortwährend als der Beste von allen zeigte. In diesem agonalen Geist, der schließlich die
griechischen Stadtstaaten ruinieren sollte, weil er Bündnisse zwischen ihnen nahezu unmög-
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lieh machte und das einheimische Leben der Bürger mit Neid und gegenseitigem Haß
vergiftete (Neid war das nationale Laster des alten Griechenland), war das Gemeinwohl
ständig bedroht. Weil die Gemeinsamkeit der politischen Welt nur durch die Mauern der
Stadt und die Grenzen ihrer Gesetze gebildet wurde, wurde der Neid in den Beziehungen
zwischen den Bürgern nicht gesehen oder erfahren, nicht in der Welt, die zwischen ihnen lag
und ihnen allen gemeinsam war, selbst wenn sie sich auch jedem Menschen unterschiedlich
erschließt. Wenn wir die Terminologie von Aristoteles benutzen, um Sokrates besser zu
verstehen - und große Teile der politischen Philosophie von Aristoteles, besonders jene, in
denen er sich ausdrücklich gegen Plato stellt, gehen auf Sokrates zurück - , können wir jenen
Teil der Nikomachischen Ethik zitieren, in dem Aristoteles erklärt, daß eine Gemeinschaft
nicht von Gleichen gebildet wird, sondern im Gegenteil von Leuten, die verschieden und
ungleich sind. Die Gemeinschaft entsteht durch das Gleichmachen, isasthénai.7 Dieses
Gleichmachen findet bei allen Tauschvorgängen wie zwischen dem Arzt und dem Bauern
statt, und es beruht auf dem Geld. Das politische, nicht wirtschaftliche Gleichmachen
geschieht durch die Freundschaft, d i t p h i l i a . Daß Aristoteles Freundschaft in Analogie zu
Bedürfnis und Austausch sieht, hängt mit dem inhärenten Materialismus seiner politischen
Philosophie zusammen, d.h. mit seiner Uberzeugung, daß Politik letztlich wegen der
Lebensbedürfnisse notwendig ist, von denen sich die Menschen selbst zu befreien bemühen.
So wie Essen nicht Leben, sondern die Bedingung zum Leben ist, so ist das Zusammenleben
in der Polis nicht das gute Leben, sondern dessen materielle Bedingung. Er sieht deshalb
letztlich Freundschaft von dem Standpunkt des einzelnen Bürgers, nicht von dem der Polis
aus; die oberste Rechtfertigung der Freundschaft lautet: „Ohne Freunde möchte niemand
leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße."8 Das Gleichmachen in der
Freundschaft bedeutet natürlich nicht, daß die Freunde dieselben oder einander gleich,
sondern vielmehr gleiche Partner in einer gemeinsamen Welt werden — daß sie zusammen
eine Gemeinschaft bilden. Gemeinschaft ist das, was Freundschaft zustande bringt, und
offensichtlich zielt dieses Gleichmachen auf die ständig zunehmende Differenzierung der
Bürger, die einem agonalen Leben innewohnt. Aristoteles schließt, daß es Freundschaft und
nicht Gerechtigkeit ist (wie Plato in der Republik behauptet, dem großen Dialog über
Gerechtigkeit), die das Band der Gemeinschaft zu sein scheint. Für Aristoteles steht Freund-
schaft höher als Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit nicht länger zwischen Freunden nötig ist. 9
Das politische Element in der Freundschaft besteht darin, daß in dem wahrheitsliebenden
Dialog jeder der Freunde die der Meinung des anderen innewohnende Wahrheit verstehen
kann. Ein Freund versteht seinen Freund mehr als eine Person, weil er versteht, wie und in
welch spezifischer Artikuliertheit die gemeinsame Welt dem anderen erscheint, während er
als eine Person für alle Zeiten ungleich oder verschieden ist. Diese Art des Verstehens - die
Welt (wie wir heute ziemlich platt sagen) vom Standpunkt des anderen Gefährten - ist die
politische Art der Einsicht par excellence. Wenn wir die eine herausragende Tugend des
Staatsmannes auf traditionelle Weise definieren wollen, können wir sagen, daß sie darin
besteht, die größtmögliche Zahl und Vielfalt von Wirklichkeiten zu verstehen - nicht von
subjektiven Standpunkten, die es natürlich auch gibt, uns aber hier nicht beschäftigen - , wie
sich solche Wirklichkeiten selber den vielfältigen Meinungen der Bürger eröffnen, und
gleichzeitig fähig zu sein, mit den Bürgern und ihren Meinungen zu kommunizieren, so daß
die Gemeinsamkeit dieser Welt augenscheinlich w i r d . Wenn solch ein Verstehen - und
dadurch inspiriertes Handeln - ohne die Hilfe des Staatsmannes stattfinden sollte, dann wäre
für jeden Bürger die Voraussetzung dafür, ausreichend deutlich vernehmbar zu sein, u m
seine Meinung in ihrer Wahrhaftigkeit zu zeigen und deshalb seine Mitbürger zu verstehen.
Sokrates scheint geglaubt zu haben, daß die politische Funktion des Philosophen darin
besteht, diese A r t einer gemeinsamen Welt zu errichten, die auf einem Verständnis der
Freundschaft beruht, in der keine Herrschaft nötig ist.
Dazu vertraute Sokrates auf zwei Einsichten: die eine, die in dem Wort des Delphischen
Apollo enthalten ist, gnôthi sauthon, erkenne dich selbst, und die andere, von der Plato
berichtet (und die bei Aristoteles wiederklingt): „Es ist besser, mit der ganzen Welt uneins zu
sein, als daß ich, der ich Einer bin, nicht mit mir selber in Einklang bin." 1 0 Letzteres ist der
Schlüsselsatz für die sokratische Überzeugung, daß Tugend gelehrt und gelernt werden
kann.
In dem Sokratischen Verständnis bedeutet das Delphische Erkenne-dich-selbst: N u r
indem ich weiß, was mir erscheint - nur mir und deshalb für immer mit meiner eigenen
konkreten Existenz verbunden - , kann ich die Wahrheit verstehen. Absolute Wahrheit, die
für alle Menschen dieselbe und deshalb beziehungslos, unabhängig von der Existenz jedes
Menschen, wäre, kann nicht für Sterbliche existieren. Für Sterbliche ist das Entscheidende,
die doxa wahrheitsgemäß zu machen, in jeder doxa Wahrheit zu sehen und in einer solchen
Weise zu sprechen, daß sich die Wahrheit der Meinung des Einzelnen ihm selber und
anderen offenbart. Auf dieser Ebene bedeutet das Sokratische „Ich weiß, daß ich nicht w e i ß "
nicht mehr als: Ich weiß, daß ich nicht die Wahrheit für jedermann habe, ich kann nicht die
Wahrheit des anderen Gefährten kennen außer, wenn ich ihn frage und dadurch seine doxa
erfahre, die sich ihm im Unterschied zu allen anderen offenbart. In seiner immer zweideuti-
gen A r t ehrte das Delphische Orakel Sokrates als weisesten aller Menschen, weil er die
Grenzen der Wahrheit für Sterbliche, seine Grenzen durch dokein, Erscheinungen, akzep-
tiert hatte, und weil er gleichzeitig im Gegensatz zu den Sophisten entdeckte, daß doxa
weder subjektive Illusion noch willkürliche Verzerrung war, sondern im Gegenteil das,
woran Wahrheit beständig haftete. Wenn die Quintessenz der Lehren der Sophisten in dem
dyo logoi bestand, darauf zu beharren, daß über jede Angelegenheit auf zwei verschiedene
Weisen gesprochen werden kann, dann war Sokrates der größte Sophist von ihnen allen.
Denn er dachte, daß es so viele verschiedene logoi wie Menschen gibt oder geben sollte, und
daß all diese logoi zusammen die menschliche Welt bilden, insofern Menschen in der Art des
Sprechens zusammenleben.
Für Sokrates war das Hauptkriterium für den Menschen, der wahrheitsgemäß seine doxa
sagt, „daß er mit sich selber übereinstimmt" - daß er sich nicht selber widersprechen und
nicht widersprüchliche Dinge sagen soll, was die meisten Leute tun und was jeder von uns
irgendwie zu tun befürchtet. Die Angst davor, sich zu widersprechen, kommt daher, daß
jeder von uns, „indem er einer ist", gleichzeitig mit sich selber reden kann (eme emauto), als
10 Gorgias 482 c (Diese Übersetzung stammt von Arendt, um auf die Aussage „der ich Einer bin"
deutlicher als in der gängigen Ubersetzung von Schleiermacher: „allein mit mir selbst" hervorheben
zu können, d. Hg.)
Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 389
ob er zwei wäre. Weil ich schon Zwei-in-eins bin, wenigstens wenn ich zu denken versuche,
kann ich, um die Definition von Aristoteles zu benutzen, einen Freund als ein „anderes
Selbst" erfahren (beteros gar autos hoo philos estin). Nur jemand, der die Erfahrung gehabt
hat, mit sich selber zu sprechen, ist in der Lage, ein Freund zu sein, ein anderes Selbst
anzunehmen. Die Bedingung dafür ist, daß er eines Sinnes mit sich selbst ist, in Ubereinstim-
mung mit sich (homognômonei heuatô), weil jemand, der sich selber widerspricht, unglaub-
würdig ist. Die Fähigkeit zu sprechen und die Tatsache der menschlichen Pluralität entspre-
chen einander und das nicht nur in dem Sinn, daß ich Worte für Kommunikation mit jenen
benutze, mit denen ich in der Welt zusammen bin, sondern in dem noch wichtigeren Sinn,
daß wenn ich mit mir selber spreche, ich mit mir selber zusammenlebe.11
Der Satz des Widerspruchs, mit dem Aristoteles die westliche Logik begründete, kann zu
dieser grundlegenden Entdeckung von Sokrates zurückverfolgt werden. Insofern ich einer
bin, will ich mir nicht widersprechen, aber ich kann mir widersprechen, weil ich im Denken
Zwei-in-einem bin; deshalb lebe ich nicht nur mit anderen, als einer, sondern auch mit mir
selbst. Die Angst, sich zu widersprechen, ist die Angst, sich aufzuspalten, nicht länger einer
zu bleiben, und dies ist der Grund, warum der Satz vom Widerspruch die grundlegende
Regel des Denkens werden konnte. Dies ist auch der Grund, warum die Pluralität der
Menschen nie gänzlich abgeschafft werden kann und warum die Flucht des Philosophen aus
dem Bereich der Pluralität immer eine Illusion bleibt: Selbst wenn ich gänzlich mit mir allein
leben müßte, würde ich, so lange ich lebe, unter der Bedingung der Pluralität leben. Ich muß
mich selber aushalten, und nirgends zeigt sich dieses Ich-mit-mir-selber klarer als im reinen
Denken, der immer ein Dialog zwischen den beiden ist, die ich bin. Der Philosoph, der,
wenn er der menschlichen Bedingung der Pluralität zu entfliehen versucht, seine Zuflucht
zur absoluten Einsamkeit nimmt, ist radikaler dieser jedem menschlichen Wesen innewoh-
nenden Pluralität ausgeliefert als jeder andere, weil es diese Gemeinschaft mit anderen ist, die
mich, indem sie mich aus dem Dialog des Denkens herausruft, wieder zu einem macht —
einem einzelnen, einzigartigen menschlichen Wesen, das nur mit einer Stimme spricht und
als solches von allen anderen erkennbar ist.
Sokrates wollte darauf hinaus (und die Theorie der Freundschaft von Aristoteles erklärt
das umfassender), daß das Zusammenleben mit anderen mit dem Zusammenleben mit sich
selber beginnt. Sokrates' Lehre bedeutete: Nur derjenige, der weiß, wie er mit sich selber
lebt, kann mit anderen zusammenleben. Das Selbst ist die einzige Person, von der ich nicht
fortgehen kann, die ich nicht verlassen kann, mit der ich zusammengeschweißt bin. Deshalb
ist es wirklich besser, „daß noch so viele mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin,
nicht im Einklang mit mir selber sein sollte". Ethik hat nicht weniger als Logik ihren
Ursprung in dieser Feststellung, denn Gewissen beruht in seinem allgemeinsten Sinn auch
auf der Tatsache, daß ich mit mir selber in Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung
sein kann, und das bedeutet, daß ich nicht nur anderen erscheine, sondern auch mir selber.
Diese Möglichkeit ist von größter Bedeutung für die Politik, wenn wir (wie auch die Grie-
chen) die Polis als einen öffentlich-politischen Raum verstehen, in dem die Menschen ihre
volle Menschlichkeit erlangen, ihre volle Wirklichkeit als Menschen, weil sie nicht nur sind
(wie in der Privatheit des Haushalts), sondern erscheinen. Wie sehr die Griechen die volle
Wirklichkeit als die Wirklichkeit dieses Erscheinens verstanden, und wie sehr das besonders
für moralische Fragen bedeutsam war, können wir aufgrund der immer wiederkehrenden
Frage in den politischen Dialogen Piatos beurteilen, ob eine gute Tat oder eine gerechte Tat
das ist, was es ist, selbst „wenn sie den Menschen und Göttern unbekannt und verborgen
bleibt". Denn das Problem des Gewissens, in einem rein weltlichen Zusammenhang ohne
Glaube an einen allwissenden und für alles sorgenden Gott, der ein letztes Urteil über das
Leben auf Erden sprechen wird, diese Frage ist tatsächlich entscheidend. Es ist die Frage, ob
es ein Gewissen in einer weltlichen Gesellschaft geben und in einer weltlichen Politik eine
Rolle spielen kann. Und es ist auch die Frage, ob Moral als solche eine irdische Wirklichkeit
hat. Die Antwort des Sokrates ist in seinem oft erwähnten Rat enthalten: „Sei, wie du
anderen erscheinen möchtest", d. h. erscheine dir selber so, wie du erscheinen möchtest,
wenn du von anderen gesehen wirst. Denn selbst wenn du allein bist, bist du nicht völlig
allein; du kannst und mußt dir selber deine eigene Wirklichkeit bezeugen. Oder um es auf
eine sokratischere Art auszudrücken - denn obwohl Sokrates das Gewissen entdeckte, hatte
er noch keinen Namen dafür - , der Grund, warum du nicht töten sollst, selbst unter
Bedingungen, unter denen dich niemand sieht, ist der, daß du unmöglich mit einem Mörder
zusammen sein wollen kannst. Indem du einen Mord verübst, würdest du dich selber dein
Leben lang der Gesellschaft mit einem Mörder ausliefern.
Darüber hinaus bin ich, wenn ich mit dem Dialog der Einsamkeit beschäftigt bin, in dem
ich strikt mit mir selber zusammen bin, nicht völlig von der Pluralität getrennt, die die Welt
der Menschen ausmacht und die wir in ihrem allgemeinsten Sinn die Menschlichkeit nennen.
Diese Menschlichkeit, oder besser diese Pluralität zeigt sich schon in der Tatsache, daß ich
Zwei-in-einem bin. („One is one and all alone und evermore schalt be" trifft nur auf Gott
zu. 12 ) Die Menschen existieren nicht nur in der Mehrzahl wie alle irdischen Dinge, sondern
tragen auch ein Anzeichen für diese Pluralität in sich selber. Doch kann das Selbst, mit dem
ich in der Einsamkeit zusammen bin, niemals selber dieselbe fest umrissene und einzigartige
Gestalt oder Unterscheidung annehmen, die alle anderen Leute für mich besitzen; vielmehr
bleibt dieses Selbst immer veränderlich und etwas unbestimmt. In der Form dieser Veränder-
lichkeit und Unbestimmtheit verkörpert dieses Selbst, während ich mit mir zusammen bin,
mir alle Menschen, die Menschlichkeit aller Menschen. Was ich von anderen Leuten zu tun
erwarte - und diese Erwartung steht vor allen Erfahrungen und überlebt sie alle - , ist
weitgehend von den sich fortwährend verändernden Möglichkeiten des Selbst bestimmt, mit
dem ich zusammenlebe. Mit anderen Worten ist ein Mörder nicht nur zu einer dauerhaften
Gesellschaft seines eigenen mörderischen Selbst verurteilt, sondern er wird alle anderen
Leute im Licht seiner eigenen Handlung sehen. Er wird in einer Welt potentieller Mörder
leben. Es ist nicht seine eigene isolierte Handlung, die von politischer Bedeutung ist, oder gar
der Wunsch, sie auszuführen, sondern diese seine doxa, die Art, in der sich ihm die Welt
erschließt und ein wesentlicher Bestandteil der politischen Wirklichkeit ist, in der er lebt. In
diesem Sinn und in dem Maß, wie wir noch mit uns selber zusammenleben, ändern wir alle
ständig die menschliche Welt, in guten und in schlechten Tagen, selbst wenn wir überhaupt
nicht handeln.
12 Engl. Kinderlied
Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 391
Für Sokrates, der fest davon überzeugt war, daß man unmöglich mit einem Mörder oder in
einer Welt potentieller Mörder leben kann, steht derjenige, der behauptet, daß ein Mensch
zugleich glücklich und ein Mörder sein kann, wenn nur niemand davon weiß, in einer
zweifachen Nicht-Ubereinstimmung mit sich selber: Er macht eine sich selbst widerspre-
chende Erklärung und zeigt sich willig, mit jemandem zusammenzuleben, mit dem er nicht
übereinstimmen kann. Diese zweifache Nicht-Ubereinstimmung, der logische Widerspruch
und das ethisch schlechte Gewissen, war für Sokrates noch ein und dasselbe Phänomen. Das
ist der Grund, warum er dachte, daß Tugend gelehrt werden könnte, oder, um es auf eine
weniger banale Art zu sagen, daß es das Bewußtsein ist, daß der Mensch ein denkendes und
handelndes Wesen in einem ist, nämlich jemand, dessen Gedanken unabänderlich und
unausweichlich seine Handlungen begleiten, was Menschen und Bürger verbessert. Die
dieser Lehre zugrunde liegende Voraussetzung ist das Denken und nicht das Handeln, weil
ich nur im Denken den Dialog des Zwei-in-einem, der ich bin, führe.
Für Sokrates ist der Mensch noch kein „rationales Wesen", ein Wesen, das mit der Fähig-
keit der Vernunft ausgestattet ist, sondern ein denkendes Wesen, dessen Denken sich in der
Art zu sprechen ausdrückt. In gewissem Maß traf die Beschäftigung mit der Sprache schon
auf die vorsokratische Philosophie zu, und die Identität von Sprechen und Denken, die
zusammen den logos bilden, ist vielleicht eines der herausragenden Merkmale der griechi-
schen Kultur. Was Sokrates dieser Identität hinzufügte, war der Dialog von mir mit mir
selber als die grundlegende Bedingung des Denkens. Die politische Bedeutung der Entdek-
kung von Sokrates liegt darin, daß sie darauf besteht, daß Einsamkeit, die vor und nach
Sokrates als Vorrecht und professioneller habitus nur des Philosophen verstanden und
natürlich von der Polis als antipolitisch beargwöhnt wurde, im Gegenteil die notwendige
Bedingung für das gute Funktionieren der Polis ist, eine bessere Garantie als Verhaltensre-
geln, die von Gesetzen und der Angst vor Strafe durchgesetzt werden.
Hier müssen wir uns wieder Aristoteles zuwenden, wenn wir ein schon abgeschwächtes
Echo von Sokrates finden wollen. Offensichtlich als Entgegnung auf das Protagoreische
anthrôpos metronpantôn chrématòn (der Mensch ist das Maß aller menschlichen Dinge oder
wörtlich aller von Menschen benutzten Dinge) und, wie wir sahen, auf Piatos Ablehnung,
daß das Maß der menschliche Dinge theos ist, ein Gott, das Göttliche, wie es in den Ideen
erscheint, sagt Aristoteles: estin hekastou metron hé areté kai agathos (das Maß für jeden ist
die Tugend und der gute Mensch). 1 3 Der Maßstab ist, was Menschen selber sind, wenn sie
handeln und nicht etwas, das wie die Gesetze außerhalb liegt oder übermenschlich wie die
Ideen ist.
Niemand kann daran zweifeln, daß eine solche Lehre in einem gewissen Konflikt mit der
Polis stand und immer stehen wird, die Achtung für ihre Gesetze unabhängig von persönli-
chem Gewissen verlangen muß, und Sokrates kannte die Natur dieses Konflikts sehr gut, als
er sich selber eine Schmeißfliege nannte. Wir andererseits, die wir unsere Erfahrung mit
totalitären Massenorganisationen gemacht haben, deren grundlegendes Ziel darin besteht,
jede Möglichkeit dieser Einsamkeit zu vernichten - außer in der unmenschlichen Gestalt der
Einzelhaft - , können leicht bezeugen, daß wenn ein Mindestmaß des Alleinseins mit sich
selber nicht mehr gesichert ist, nicht nur die weltlichen, sondern auch alle religiösen Formen
des Gewissens abgeschafft werden. Die häufig beobachtete Tatsache, daß das Gewissen
selber unter totalitären Bedingungen der politischen Organisation nicht länger funktio-
nierte, und das ganz unabhängig von Angst und Strafe, ist vor diesem Hintergrund erklär-
lich. Kein Mensch kann sein Gewissen intakt halten, der nicht den Dialog mit sich selber
verwirklicht, d. h. der der Einsamkeit ermangelt, die für alle Formen des Denkens benötigt
wird.
Sokrates geriet noch auf eine andere, weniger offensichtlichen Weise mit der Polis in
Konflikt, und diese Seite der Angelegenheit scheint er nicht erkannt zu haben. D i e Suche
nach Wahrheit in der doxa kann zu dem katastrophalen Ergebnis führen, daß die doxa völlig
zerstört wird, oder -daß sich das, was erschienen ist, als eine Illusion herausstellte. Das
geschah, wie Sie sich erinnern werden, König Odipus, dessen ganze Welt, die Wirklichkeit
seines Königtums, zu Bruch ging, als er begann, in sie hineinzublicken. Nachdem er die
Wahrheit entdeckte, blieb Odipus ohne irgendeine doxa in ihren vielfältigen Bedeutungen
von Meinung, Glanz, Ruhm und einer eigenen Welt zurück. Wahrheit kann deshalb doxa
zerstören, sie kann die spezifische politische Wirklichkeit der Bürger zerstören. Auf ähnli-
che Weise ist es angesichts dessen, was wir von Sokrates' Einfluß wissen, offensichtlich, daß
viele seiner Zuhörer nicht mit einer wahreren Meinung, sondern mit überhaupt keiner
Meinung fortgegangen sein müssen. Die schon erwähnte Ergebnislosigkeit vieler platoni-
scher Dialoge kann auch in diesem Licht gesehen werden: Alle Meinungen sind zerstört,
aber keine Wahrheit tritt an ihre Stelle. U n d gab nicht Sokrates selber zu, daß er keine eigene
doxa hatte, sondern „steril" war? D o c h war nicht vielleicht gerade diese Sterilität, dieser
Mangel an Meinung, auch eine Voraussetzung für Wahrheit? Jedoch kann es sein, daß
Sokrates ungeachtet all seiner Proteste, keine besondere lehrbare Wahrheit zu besitzen,
irgendwie schon wie ein Fachmann in Wahrheit erschienen sein muß. D e r Abgrund zwi-
schen Wahrheit und Meinung, der von da an den Philosophen von allen anderen Menschen
trennen sollte, war noch nicht aufgebrochen, aber er war in Gestalt dieses einen Menschen
schon angezeigt oder vielmehr angedeutet, der, wo immer er ging, jeden um ihn herum und
vor allen anderen sich selbst, wahrer zu machen versuchte.
U m es anders auszudrücken: Der Konflikt zwischen Philosophie und Politik, zwischen
dem Philosophen und der Polis, brach aus, weil Sokrates keine politische Rolle spielen,
sondern die Philosophie für die Polis belangvoll werden lassen wollte. D e r Konflikt wurde
umso schärfer, als dieser Versuch mit dem raschen Niedergang des athenischen Polislebens
in den 30 Jahren zwischen dem Tod von Perikles und dem Prozeß gegen Sokrates zusam-
menfiel (doch war es wahrscheinlich nicht mehr als ein bloß zufälliges Zusammentreffen).
Der Konflikt endete mit einer Niederlage für die Philosophie: N u r durch die berühmte
apolitia, die Gleichgültigkeit und Verachtung für die Welt der Stadt, die so charakteristisch
für die ganze nachplatonische Philosophie ist, konnte sich der Philosoph gegen die Verdäch-
tigungen und Feindseligkeiten der Welt um ihn herum schützen. Mit Aristoteles beginnt die
Zeit, in der sich die Philosophen nicht länger für die Stadt verantwortlich fühlen, und das
nicht nur in dem Sinn, daß Philosophie keine besondere Aufgabe auf dem Gebiet der Politik
hat, sondern in dem viel weiteren Sinn, daß der Philosoph weniger Veantwortung für sie hat
als jeder seiner Mitbürger - daß die Lebensweise des Philosophen anders ist.
Während Sokrates noch den Gesetzen gehorchte, die ihn, allerdings fälschlicherweise,
Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 393
verurteilten, weil er sich für die Stadt verantwortlich fühlte, verließ Aristoteles Athen sofort
und ohne Gewissensbisse, als er in die Gefahr eines ähnlichen Prozesses geriet. Die Athener,
so soll er gesagt haben, sollten sich nicht zweimal gegen die Philosophie versündigen. Das
einzige, was die Philosophen von da an hinsichtlich der Politik wollten, war, allein gelassen
zu werden, und das einzige, das sie von der Regierung verlangten, war Schutz für ihre
Freiheit zu denken. Wenn diese Flucht der Philosophie aus der Sphäre der menschlichen
Angelegenheiten ausschließlich historischen Umständen geschuldet ist, ist es mehr als zwei-
felhaft, daß ihre unmittelbaren Ergebnisse - die Trennung des Menschen des Denkens von
dem Menschen des Handelns - in der Lage gewesen wären, unsere Tradition des politischen
Denkens zu begründen, die zweieinhalbtausend Jahre der höchst unterschiedlichen politi-
schen und philosophischen Erfahrung überlebte, ohne daß diese Grundlage in Frage gestellt
worden wäre. Die Wahrheit ist vielmehr, daß in der Person wie in dem Prozeß des Sokrates
ein anderer und viel tieferer Widerspruch zwischen Philosophie und Politik erschien, als es
aus dem, was wir von Sokrates' eigenen Lehren wissen, hervorgeht.
Das scheint zu offensichtlich, fast eine Banalität, und doch wurde es allgemein vergessen,
daß jede politische Philosophie zuallererst die Haltung des Philosophen gegenüber den
Angelegenheiten der Menschen ausdrückt, den pragmata tön anthrôpôn, zu denen auch er
gehört, und daß diese Haltung selber die Beziehung zwischen der spezifisch philosophischen
Erfahrung und unserer Erfahrung beinhaltet und ausdrückt, wenn wir uns unter den Men-
schen bewegen. Es ist ebenso offensichtlich, daß jede politische Philosophie auf den ersten
Blick die Alternative ins Auge zu fassen scheint, entweder die philosophische Erfahrung mit
Kategorien zu interpretieren, die ihren Ursprung dem Bereich der menschlichen Angelegen-
heiten verdanken, oder im Gegenteil Vorrang für die philosophische Erfahrung zu bean-
spruchen und die ganze Politik in diesem Licht zu beurteilen. Im letzteren Fall wäre die beste
Regierungsform eine solche Lage der Dinge, in der die Philosophen die größtmögliche
Gelegenheit zum Philosophieren hätten, und das heißt eine, in der jeder den Maßstäben
entspricht, die die besten Bedingungen dafür zu bieten versprechen. Doch die bloße Tatsa-
che, daß von allen Philosophen nur Plato jemals wagte, ein Gemeinwesen ausschließlich vom
Standpunkt des Philosophen aus zu entwerfen, und daß praktisch gesprochen dieser Ent-
wurf nie ganz ernst genommen wurde, nicht einmal von Philosophen, deutet darauf hin, daß
es bei dieser Frage noch eine andere Seite gibt. Der Philosoph bleibt ein Mensch, obwohl er
etwas wahrnimmt, das mehr als menschlich, also göttlich ist (theion ti), so daß der Konflikt
zwischen Philosophie und den Angelegenheiten der Menschen letztlich ein Konflikt inner-
halb des Philosophen selbst ist. Es ist dieser Konflikt, den Plato rationalisierte und in einen
Konflikt zwischen Körper und Seele verallgemeinerte: Während der Körper die Stadt der
Menschen bewohnt, wird das göttliche Ding, das die Philosophie wahrnimmt, von etwas
gesehen, das selber göttlich ist — die Seele - , die irgendwie von den Angelegenheiten der
Menschen getrennt ist. Je mehr ein Philosoph ein wahrer Philosoph wird, umso mehr wird er
sich von seinem Körper trennen; und da, so lange er lebt, eine solche Trennung nie wirklich
erreicht werden kann, wird er versuchen, das zu tun, was jeder freie Bürger Athens tat, um
sich von den Lebensnotwendigkeiten zu trennen und zu befreien: Er wird über seinen
Körper regieren wie ein Herr über seine Sklaven. Wenn der Philosoph die Herrschaft über
die Stadt erlangt, wird er nicht mehr gegenüber ihren Einwohnern tun, als er schon zu seinem
Körper getan hat. Seine Tyrannei wird im Sinn sowohl der besten Regierung als auch der
persönlichen Legitimität gerechtfertigt werden, d. h. durch seinen vorrangigen Gehorsam als
sterblicher Mensch gegenüber den Befehlen seiner Seele als ein Philosoph. All unsere gängi-
gen Reden, die besagen, daß nur jene, die zu gehorchen wissen, dazu berechtigt sind, zu
befehlen, oder daß nur jene, die sich selber zu beherrschen wissen, legitim über andere
herrschen können, haben ihre Wurzeln in der Beziehung zwischen Politik und Philosophie.
Die platonische Metapher eines Konflikts zwischen Körper und Seele, die ursprünglich
ersonnen wurde, um den Konflikt zwischen Philosophie und Politik auszudrücken, hatte
eine so fürchterliche Auswirkung auf unsere religiöse und geistige Geschichte, daß sie die
Erfahrungsgrundlage überschattete, von der sie ausging — genauso wie die platonische Tren-
nung des Menschen selber in zwei die ursprüngliche Erfahrung des Denkens als des Dialogs
des Zwei-in-einem, des eme emautô, überschattete, was die eigentliche Wurzel all dieser
Trennungen ist. Das soll nicht heißen, daß der Konflikt zwischen Philosophie und Politik
ruhig in irgendeine Theorie über das Verhältnis zwischen Seele und Körper aufgelöst werden
könnte, sondern daß niemand nach Plato sich so des politischen Ursprungs dieses Konflikts
bewußt war, noch es in so radikalen Begriffen auszudrücken wagte.
In der Höhle
Plato selber beschrieb die Beziehung zwischen Philosophie und Politik in den Begriffen
der Haltung des Philosophen zur Polis. Die Beschreibung wird im Höhlengleichnis gegeben,
die den Mittelpunkt seiner politischen Philosophie wie auch der Republik darstellt. Die
Allegorie, in der Plato eine Art konzentrierter Biographie des Philosophen zu geben beab-
sichtigt, vollzieht auf drei Ebenen, die jede als ein Wendepunkt gedacht ist, eine Kehrtwen-
dung, und alle drei bilden zusammen diese periagôgé holés tés psychés, diese Kehrtwendung
des ganzen menschlichen Wesens, worin für Plato die eigentliche Entstehung des Philo-
sophen besteht. Die erste Umkehr findet in der Höhle selber statt; der zukünftige Philosoph
befreit sich von den Fesseln, die den Höhlenbewohnern „Arme und Genick" anketten, so
daß „sie nur nach vorn blicken können", wobei ihre Augen gebannt auf eine Wand blicken,
auf der Schatten und Bilder von Dingen erscheinen. Als er sich zum ersten Mal herumdreht,
sieht er im rückwärtigen Teil der Höhle ein künstliches Feuer, das die Dinge in der Höhle so
erscheinen läßt, wie sie wirklich sind. Wenn wir auf die Geschichte näher eingehen wollen,
könnten wir sagen, daß diese erste periagôgé die des Wissenschaftlers ist, der nicht mit dem
zufrieden ist, was die Leute über die Dinge sagen, und „sich umdreht", um, ungeachtet der
Meinungen, die die Menge vertritt, herauszufinden, wie die Dinge selber sind. Denn die
Bilder auf der Wand waren für Plato die Entstellungen der doxa, und er konnte Metaphern
benutzen, die ausschließlich vom Anblick und der anschaulichen Wahrnehmung stammten,
weil das Wort doxa anders als unser Wort Meinung einen starken Beiklang des Sichtbaren
hat. Die Bilder auf der Wand, auf die die Höhlenbewohner blicken, sind ihre doxai, was und
wie ihnen Dinge erscheinen. Wenn sie auf die Dinge blicken wollen, wie sie wirklich sind,
müssen sie sich umdrehen, d. h. ihre Haltung verändern, weil, wie wir schon sahen, jede doxa
von der Stellung des einzelnen in der Welt abhängt und ihr entspricht.
Ein viel wichtigerer Wendepunkt in der Biographie des Philosophen tritt ein, wenn dieser
einsame Abenteurer nicht mit dem Feuer in der Höhle und den Dingen zufrieden ist, die nun
so erscheinen, wie sie wirklich sind, sondern herausfinden will, woher dieses Feuer kommt
und was die Ursachen der Dinge sind. Wieder dreht er sich herum und findet einen Ausgang
aus der Höhle, einen Treppenaufgang, der ihn zum klaren Himmel führt, zu einer Land-
Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 395
schaft ohne Dinge oder Menschen. H i e r erscheinen die Ideen, die ewigen Wesenheiten der
vergänglichen Dinge und der sterblichen Menschen, die von der Sonne beleuchtet werden,
der Idee der Ideen, die den Betrachter befähigt, zu sehen, und die Ideen, z u erstrahlen. Das ist
gewiß der Höhepunkt in dem Leben des Philosophen, aber hier beginnt die Tragödie. Da er
noch ein sterblicher Mensch ist, gehört er hier nicht her und kann hier nicht bleiben, sondern
m u ß in die Höhle als sein irdisches Heim zurückkehren, und doch kann er sich in der Höhle
nicht mehr zu Hause fühlen.
Jeder dieser Wendepunkte w u r d e von einem Verlust der Sinneswahrnehmung und der
Orientierung begleitet. Die an die schattigen Erscheinungen auf der Wand gewohnten
Augen werden durch das Feuer im rückwärtigen Teil der Höhle geblendet. Die dann an das
Dämmerlicht des künstlichen Feuers gewöhnten Augen werden durch das Licht der Sonne
geblendet. Aber am schlimmsten von allem ist der Verlust der Orientierung, die jene befällt,
deren Augen sich einmal an das helle Licht unter dem Himmel der Ideen angepaßt haben,
und die nun ihren Weg in die Dunkelheit der Höhle finden müssen. Warum Philosophen
nicht wissen, was gut für sie ist - und w i e sie von den Angelegenheiten der Menschen
entfremdet werden - , w i r d in dieser Metapher erfaßt: Sie können nicht mehr in der Dunkel-
heit der Höhle sehen, sie haben ihren Orientierungssinn verloren, sie haben verloren, was
w i r als ihren Gemeinsinn bezeichnen würden. Wenn sie zurückkommen und versuchen, den
Höhlenbewohnern zu erzählen, was sie außerhalb der Höhle gesehen haben, klingen sie
nicht plausibel. Den Höhlenbewohnern scheint bei allem, was sie sagen, als ob die Welt „auf
den Kopf gestellt" (Hegel) wäre. Der zurückkehrende Philosoph befindet sich in Gefahr,
weil er seinen Gemeinsinn verloren hat, der nötig ist, u m sich in einer allen gemeinsamen
""^lt : , - ^ r e n , und d a r ü b : :-.:.· - " .'! das, w a s er in seinem Denken b'-gt, dem
Gemeinsinn der Welt w i d e r s p r i c h .
Es gehört zu den befremdenden Aspekten des Höhlengleichnisses, daß Plato die Bewoh-
ner als erstarrt, vor einer Wand angekettet und ohne jede Möglichkeit, irgend etwas zu tun
oder miteinander zu sprechen, darstellt. Tatsächlich sind die beiden politisch bezeichnend-
sten Worte, die die menschliche Tätigkeit beschreiben, Reden und Handeln ( l e x i s und pra-
xis), in der ganzen Geschichte auffällig abwesend. Die einzige Beschäftigung der Höhlenbe-
wohner besteht darin, auf die Wand zu blicken; sie lieben es offensichtlich, u m ihrer selbst
willen zu sehen, unabhängig von allen praktischen Bedürfnissen. 1 4 Die Höhlenbewohner
sind - mit anderen Worten - als gewöhnliche Menschen dargestellt, aber auch mit der einen
Qualität, die sie mit den Philosophen teilen: Sie werden von Plato als potentielle Philo-
sophen hingestellt, die in Dunkelheit und Unwissenheit mit dem einen Ding beschäftigt
sind, mit dem sich der Philosoph in der Helligkeit und vollem Wissen befaßt. Das Höhlen-
gleichnis soll also nicht so sehr darstellen, w i e die Philosophie vom Standpunkt der Politik
aussieht, sondern w i e die Politik, der Bereich der menschlichen Angelegenheiten, vom
Standpunkt der Philosophie aussieht. U n d das Ziel ist, in dem Bereich der Philosophie jene
Maßstäbe zu entdecken, die der Stadt der Höhlenbewohner angemessen sind, die aber doch
für Bewohner sind, die, wenn auch dunkel und unwissend, ihre Meinungen hinsichtlich
derselben Angelegenheiten w i e die Philosophen gebildet haben.
26*
396 Hannah Arendt, Philosophie und Politik
Staunen
Weil Plato die Geschichte für politische Zwecke ersonnen hat, erzählt er uns nicht, was
den Philosophen von jenen unterscheidet, die auch gern um ihrer selbst willen sehen, oder
was ihn sein einsames Abenteuer beginnen ließ und ihn dazu veranlaßte, die Ketten zu
brechen, mit denen er an die Wand der Illusion geschmiedet ist. Am Ende der Geschichte
erwähnt Plato wieder nebenbei die Gefahren, die den zurückkehrenden Philosophen erwar-
ten, und schließt aus diesen Gefahren, daß der Philosoph, obwohl er sich nicht für die
menschlichen Angelegenheiten interessiert, die Herrschaft übernehmen muß, und wenn
auch nur aus Angst davor, von einem Unwissenden regiert zu werden. Aber er erzählt uns
nicht, warum er nicht seine Mitbürger überzeugen kann, die ohnehin schon gebannt vor der
Wand sitzen und dadurch in gewisser Weise bereit sind, „höhere Dinge", wie Hegel sie
nannte, zu empfangen und seinem Beispiel folgend den Weg aus der Höhle zu wählen.
Um auf diese Fragen zu antworten, müssen wir zwei Erklärungen Piatos ins Gedächtnis
zurückrufen, die er nicht in dem Höhlengleichnis macht, aber ohne die dieses Gleichnis
unklar bleibt und die sozusagen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die eine macht
er im Theaitetos - einem Dialog über den Unterschied zwischen epistémé (Wissen) und doxa
(Meinung) - , in dem Plato den Ursprung der Philosophie bestimmt: mala gar philosophou
touto to pathos, to thaumadzein; ou gar allé arché philosophias hé hauté (Denn dies ist der
Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen
anderen Anfang der Philosophie als diesen .. .). 15 Und die zweite Erklärung macht Plato im
Siebenten Brief, als er über jene Dinge redet, die ihm die ernstesten sind (peri hôn egô
spoudadzo), d. h. weniger die Philosophie, wie wir sie verstehen, als ihr ewiger Gegenstand
und ihr ewiges Ziel. Darüber sagt er, rhéton gar oudamôs estin hôs alla mathémata, all' ek
pollés synousias gignomenés ... hoion apo pyros pédésantos exaphthen phôs (Läßt es sich doch
in keiner Weise wie andere Kenntnisse in Worte fassen, sondern indem es, vermöge der
langen Beschäftigung mit dem Gegenstande ... ein entzündetes Licht in der Seele sich
erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält).16 In diesen zwei Erklärungen haben wir
den Anfang und das Ende des Lebens des Philosophen, die die Höhlengeschichte ausläßt.
Thaumadzein, das Staunen über das, was ist, wie es ist, ist Plato zufolge ein pathos, etwas,
das Bestand hat und sich als solches ganz von doxadzein, der Bildung einer Meinung über
etwas, unterscheidet. Das Staunen, das der Mensch erleidet oder das ihm widerfährt, kann
nicht mit Worten erzählt werden, weil es für Worte zu allgemein ist. Plato muß ihm zuerst in
jenen oft berichteten traumatischen Zuständen begegnet sein, in denen Sokrates plötzlich,
wie von einer Verzückung erfaßt, in völlige Bewegungslosigkeit fiel, bei der er bloß guckte,
ohne etwas zu sehen oder zu hören. Daß dieses sprachlose Staunen der Beginn der Philo-
sophie ist, wurde für beide, Plato und Aristoteles, axiomatisch. Und diese Beziehung zwi-
schen der konkreten und einzigartigen Erfahrung unterschied die Sokratische Schule von
allen früheren Philosophien. Für Aristoteles liegt nicht weniger wie für Plato die letzte
Wahrheit jenseits der Worte. In Aristoteles' Terminologie ist der menschliche Empfänger
das nous, der Geist, dessen Inhalt ohne logos ist (hôn ouk esti logos). So wie Plato die doxa der
Wahrheit entgegensetzte, so stellt Aristoteles diephronésis (die politische Einsicht) dem nous
15 Theaitetos 155 d
16 Siebenter Brief, 342 c
Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 397
(dem philosophischen Geist) gegenüber.17 Dieses Staunen über alles, das so ist, wie es ist,
bezieht sich nie auf irgendein besonderes Ding, und deshalb interpretierte es Kierkegaard als
die Erfahrung des Nicht-Dings, des Nicht-Seins. Die spezifische Allgemeinheit philo-
sophischer Erklärungen, die sie von den Erklärungen der Wissenschaften unterscheidet,
entstammt dieser Erfahrung. Philosophie als eine spezielle Disziplin - und in dem Umfang,
daß sie eine bleibt - beruht auf ihr. Und sobald sich der sprachlose Zustand des Staunens in
Worte verwandelt, beginnt er nicht mit Erklärungen, sondern formuliert in endlosen Varia-
tionen das, was wir die letzten Fragen nennen: Was ist das Sein? Wer ist der Mensch?
Welchen Sinn hat das Leben? Was ist der Tod? etc. - denen allen gemeinsam ist, daß sie nicht
wissenschaftlich beantwortet werden können. Sokrates' Feststellung: „Ich weiß, daß ich
nicht weiß", drückt in Begriffen des Wissens diesen Mangel an wissenschaftlichen Antwor-
ten aus. Aber in einem Zustand des Staunens verliert diese Erklärung ihre trockene Negativi-
tät, denn das Ergebnis, das im Denken der Person übriggeblieben ist, die das pathos des
Staunens erlitten hat, kann nur so ausgedrückt werden: Jetzt weiß ich, was es heißt, nicht zu
wissen; jetzt weiß ich, daß ich nicht weiß. Von dieser tatsächlichen Erfahrung des Nicht-
wissens, in der sich einer der grundlegenden Aspekte der menschlichen Bedingung auf Erden
selbst offenbart, erheben sich die letzten Fragen - nicht von der rationalisierten, demon-
strierbaren Tatsache, daß es Dinge gibt, die der Mensch nicht weiß, was aber, so die Hoff-
nung der Forschrittsgläubigen, eines Tages ganz anders sein wird, oder die Positivisten als
unwichtig abtun. Indem der Mensch die letzten, unbeantwortbaren Fragen stellt, erweist er
sich als fragestellendes Wesen. Das ist der Grund dafür, daß Wissenschaft, die unbeantwort-
bare Fragen stellt, ihren Ursprung der Philosophie verdankt, einen Ursprung, der seine
ständig gegenwärtige Quelle durch die Generationen hindurch behält. Würde der Mensch
jemals die Fähigkeit, letzte Fragen zu stellen, verlieren, würde er zugleich auch seine Fähig-
keit, beantwortbare Fragen zu stellen, verlieren. Er würde aufhören, ein fragestellendes
Wesen zu sein, was das Ende nicht nur der Philosophie, sondern auch der Wissenschaft wäre.
Wenn es wahr ist, was die Philosophie betrifft, daß sie mit thaumadzein beginnt und mit
Sprachlosigkeit endet, dann endet sie genau da, wo sie begann. Anfang und Ende sind hier
dasselbe, was der grundlegendste der sogenannten Teufelskreise ist, den man in so vielen
strikt philosophischen Argumenten findet.
Es ist diese philosophische Erschütterung, von der Plato spricht, die alle großen Philo-
sophien durchdringt und den Philosophen, der ihn erleidet, von denen trennt, mit denen er
zusammenlebt. Und der Unterschied zwischen den Philosophen, die wenige sind, und der
Menge besteht keineswegs darin - worauf Plato schon hinwies - , daß die Mehrheit nichts
von dem pathos des Staunens weiß, sondern sie es vielmehr ablehnen, es zu erleiden. Diese
Weigerung drückt sich in doxadzein aus, in der Bildung von Meinungen über Angelegenhei-
ten, über die man keine Meinung haben kann, weil der allgemeine und allgemein akzeptierte
Maßstab des Gemeinsinns hier nicht zutrifft. Doxa könnte mit anderen Worten das Gegen-
teil von Wahrheit werden, weil doxadzein in der Tat das Gegenteil von thaumadzein ist.
Meinungen zu haben geht fehl, wenn es diese Angelegenheiten betrifft, die wir nur im
sprachlosen Staunen darüber kennen, was ist.
Der Philosoph, der sozusagen ein Fachmann im Staunen und im Stellen dieser Fragen ist,
die aus dem Staunen entstehen - und wenn Nietzsche sagt, daß der Philosoph der Mensch
ist, um den herum ständig außergewöhnliche Dinge geschehen, dann spielt er auf dieselbe
Sache an - , findet sich selbst in einem zweifachen Konflikt mit der Polis. Da seine letzte
Erfahrung eine der Sprachlosigkeit ist, hat er sich selbst außerhalb des politischen Raums
gestellt, in der die höchste Fähigkeit des Menschen gerade die Sprache ist - logon echón ist
das, was den Menschen zu einem dzôon politikon, einem politischen Wesen macht. Die
philosophische Erschütterung trifft den Menschen darüber hinaus in seiner Besonderheit,
d. h. weder in seiner Gleichheit mit allen anderen noch in seiner absoluten Unterschiedlich-
keit von ihnen. In dieser Erschütterung ist der Mensch, als einzelner, der er war, für einen
flüchtigen Augenblick mit dem Ganzen des Universums konfrontiert, so wie er nur im
Augenblick seines Todes wieder damit konfrontiert sein wird. Er ist einigermaßen von der
Stadt der Menschen entfremdet, die nur argwöhnisch auf alles blicken kann, was den Men-
schen in der Besonderheit betrifft.
Doch noch schlimmer in seinen Folgen ist der andere Konflikt, der das Leben des Philo-
sophen bedroht. Da das pathos des Staunens den Menschen nicht fremd ist, sondern im
Gegenteil eine der allgemeinsten Kennzeichen der menschlichen Bedingung, und da der Weg
aus ihm heraus für die vielen darin besteht, Meinungen zu bilden, wo sie ungeeignet sind,
wird der Philosoph unweigerlich in einen Konflikt mit diesen Meinungen geraten, die er
unerträglich findet. Und da sich seine eigene Erfahrung der Sprachlosigkeit nur darin äußert,
unbeantwortbare Fragen zu stellen, ist er tatsächlich in dem Augenblick, in dem er in den
politischen Raum zurückkehrt, in einem entscheidenden Nachteil. Er ist der einzige, der
nicht weiß, der einzige, der keine bestimmte und klar definierte doxa hat, um mit anderen
Meinungen zu wetteifern, deren Wahrheit oder Unwahrheit der Gemeinsinn entscheiden
will, d. h. jener sechste Sinn, den wir nicht nur alle gemeinsam haben, sondern der uns in eine
gemeinsame Welt stellt und sie dadurch ermöglicht. Wenn der Philosoph in dieser Welt des
Gemeinsinns zu sprechen beginnt, zu der auch unsere allgemein anerkannten Vorurteile und
Urteile gehören, wird er immer versucht sein, in Begriffen des Nicht-Sinns zu sprechen, oder
- um noch einmal Hegels Satz zu benutzen - den Gemeinsinn auf den Kopf zu stellen.
Diese Gefahr entstand mit dem Beginn unserer großen philosophischen Tradition, mit
Plato und in geringerem Maße mit Aristoteles. Der Philosoph, der sich wegen des Prozesses
gegen Sokrates der inhärenten Unvereinbarkeit von grundsätzlich philosophischen und
grundsätzlich politischen Erfahrungen allzu bewußt war, verallgemeinerte die anfängliche
und einleitende Erschütterung des thaumadzein. Die sokratische Position ging in diesem
Prozeß nicht verloren, weil Sokrates keinerlei Schriften hinterließ, oder weil Plato ihn
absichtlich verdrehte, sondern weil die sokratischen Einsichten verlorengingen, die aus einer
noch intakten Beziehung zur Politik und der besonderen philosophischen Erfahrung gebo-
ren wurden. Denn was für dieses Staunen wahr ist, mit dem alle Philosophie beginnt, ist nicht
für den nachfolgenden einsamen Dialog selber wahr. Einsamkeit oder der denkende Dialog
des Zwei-in-einem, ist ein integraler Teil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit
anderen, und in dieser Einsamkeit kann auch der Philosoph nicht anders als Meinungen zu
bilden - auch er gelangt zu seiner eigenen doxa. Seine Unterscheidung von seinen Mitbür-
gern besteht nicht darin, daß er irgendeine besondere Wahrheit besitzt, von der die Menge
ausgeschlossen ist, sondern immer bereit bleibt, das pathos des Staunens zu erleiden und
dabei den Dogmatismus der bloßen Besitzer von Meinungen vermeidet. Um mit diesem
Dogmatismus des doxadzein wetteifern zu können, schlug Plato vor, das sprachlose Staunen
endlos auszudehnen, das zu Beginn und am Ende der Philosophie herrscht. Er versuchte, das
Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 399
zu einem Lebensstil zu entwickeln (den bios theôrétikos), was nur ein flüchtiger Augenblick
oder, um Piatos eigene Metapher zu benutzen, der fliegende Funke zwischen zwei Feuerstei-
nen sein kann. Bei diesem Versuch richtet sich der Philosoph selber ein, gründet seine ganze
Existenz auf dieser Einzigartigkeit, die er erfuhr, als er das pathos oder thaumadzein erlitt.
Und dadurch zerstört er die Pluralität der menschlichen Bedingung in ihm selber.
Daß diese Entwicklung, deren ursprünglicher Anlaß ein politischer war, allgemein für
Piatos Philosophie so bedeutend wurde, ist offensichtlich. Es schlägt sich schon in den
seltsamen Abweichungen von seiner ursprünglichen Auffassung nieder, die man in seiner
Ideenlehre findet, Abweichungen, die meines Erachtens ausschließlich von seinem Wunsch
herrühren, die Philosophie für die Politik brauchbar zu machen. Aber es ist natürlich strengge-
nommen von viel größerer Bedeutung für die politische Philosophie gewesen. Für den
Philosophen wurde Politik - wenn er nicht den ganzen Bereich als unterhalb seiner Würde
liegend ansah - zu dem Feld, in dem es um die Sorge um die grundlegenden Bedürfnisse des
menschlichen Lebens geht, und auf das die absoluten philosophischen Maßstäbe angewendet
werden. Die Politik konnte sich natürlich nie solchen Maßstäben anpassen und wurde deshalb
im großen und ganzen als ein unethisches Geschäft nicht nur von den Philosophen beurteilt,
sondern in den kommenden Jahrhunderten auch von vielen anderen; philosophische Ergeb-
nisse, die ursprünglich im Gegensatz zum Gemeinsinn formuliert wurden, schließlich von der
öffentlichen Meinung der Gebildeten aufgesogen wurden. Politik und Regierung (Herr-
schaft) wurden gleichgesetzt und beide als Spiegelbild der Schwächen der menschlichen Natur
verstanden, so wie der Bericht von den Taten und Leiden der Menschen als ein Spiegelbild der
menschlichen Sündenhaftigkeit angesehen wurde. Doch während Piatos unmenschlicher
idealer Staat nie verwirklicht wurde und die Nützlichkeit der Philosophie während der
Jahrhunderte verteidigt werden mußte - weil sie sich im tatsächlichen politischem Handeln als
äußerst nutzlos erwies - , leistete die Philosophie dem westlichen Menschen einen außerge-
wöhnlichen Dienst. Weil Plato in gewissem Sinn die Philosophie für politische Zwecke
deformierte, fuhr die Philosophie fort, Normen und Regeln, Maßstäbe und Maßsysteme zur
Verfügung zu stellen, mit denen der menschliche Geist zumindest versuchen konnte zu
verstehen, was im Bereich der menschlichen Angelegenheiten geschah. Es ist diese Nützlich-
keit für das Verstehen, die mit dem Anbruch der Moderne erschöpft war. Machiavellis
Schriften sind das erste Zeichen dieser Erschöpfung, und bei Hobbes finden wir zum ersten
Mal eine Philosophie, die keinen Nutzen für die Philosophie hat, sondern beansprucht, an
dem anzusetzen, was der Gemeinsinn als gegeben annimmt. Und Marx, der der letzte
politische Philosoph des Westens ist und der noch in der Tradition steht, die mit Plato begann,
versuchte schließlich, diese Tradition, ihre grundlegenden Kategorien und Hierarchie der
Werte, auf den Kopf zu stellen. Mit dieser Umkehrung war die Tradition in der Tat an ihr Ende
gelangt.
Tocquevilles Bemerkung: „Da die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der
Geist im Dunkeln", wurde aus einer Situation heraus geschrieben, in der die philosophischen
Kategorien der Vergangenheit nicht mehr zum Verstehen ausreichten. Wir leben heute in einer
Welt, in der nicht einmal mehr der Gemeinsinn noch einen Sinn macht. Der Zusammenbruch
des Gemeinsinns in der gegenwärtigen Welt zeigt an, daß Philosophie und Politik ungeachtet
ihres alten Konflikts dasselbe Schicksal erlitten haben. Und das bedeutet, daß das Problem der
Philosophie und Politik oder der Bedarf an einer neuen politischen Philosophie, aus der eine
neue Wissenschaft der Politik entstehen könnte, wieder auf der Tagesordnung steht.
400 Hannah Arendt, Philosophie und Politik
Philosophie, politische Philosophie und alle ihre anderen Zweige werden nie ihren
Ursprung im thaumadzein, in dem Staunen über das, was ist, wie es ist, leugnen können.
Wenn die Philosophen trotz ihrer notwendigen Entfremdung von dem Alltagsleben der
menschlichen Angelegenheiten jemals zu einer wahren politischen Philosophie gelangen
sollten, müßten sie die Pluralität des Menschen, aus dem der ganze Bereich der menschlichen
Angelegenheiten entsteht - in ihrer Größe und ihrem Elend - zum Gegenstand ihres thau-
madzein machen. Biblisch gesprochen, würden sie so, wie sie im sprachlosen Staunen das
Wunder des Universums, des Menschen und des Seins akzeptieren, das Wunder akzeptieren
müssen, daß Gott nicht D E N Menschen schuf, sondern „er schuf einen Mann und ein
Weib". Sie würden, ohne vor den menschlichen Schwächen zu resignieren, bloß die Tatsache
akzeptieren müssen, daß „es nicht gut ist, daß der Mensch allein sei".
Anmerkung
Der Übersetzung liegt zugrunde der Text des Beitrags Hannah Arendt: Philosophy and
Politics, in: Social Research, Vol. 57, No. 1 (Spring 1990), p. 73-103.
Wir danken Frau Lotte Kohler (New York) für die freundliche Genehmigung zum Abdruck
dieses Beitrags.