Erich Fried
Ein Soldat und
ein Mädchen
Roman
Über dieses Buch »Neben Ilse Aichingers ›Die größere
Hoffnung‹ (1948) ist Erich Frieds 1951 fertiggestellter, 1960
erschienener Roman ›Ein Soldat und ein Mädchen‹ wohl das
wichtigste Dokument literarischer Geschichtsbewältigung der
damals jungen, um ihre Jugend gebrachten österreichischen
Generation. Beschrieb die Aichinger, gleich alt wie Fried, das
Schicksal eines rassisch verfolgten Mädchens, wagte Fried, um
den Preis des Mißverstandenwerdens, eine radikal-humane
Gegenperspektive. Über einen komplizierten Erzählungsrahmen
nähert er sich der Psyche eines deutschen Mädchens, das als
Lager-Kapo eingesetzt war und darum nach dem Krieg zum Tode
verurteilt und hingerichtet wurde. Ihr letzter Wunsch erfüllt sich,
mit einem amerikanischen Wachsoldaten verbringt sie ihre letzte
Nacht. Der Soldat - ›deutscher Jude, heimatloser Emigrant und
nun waffenklirrendes Gespenst in den Ruinen des eigenen
Landes‹ - versucht, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen,
Anklage, Haß, Liebe, Verständnis, Vergebung, Furcht vor der
Wiederholung der Greuel zusammenzubringen und damit zu
leben. Die ganze Romanstruktur bildet seine Verwirrung und
Ohnmacht ab bei seiner Suche nach dem Menschen im
Unmenschen, nach dem Opfer im Henker« Die Presse, Wien
Der Autor Erich Fried, geboren 1921 in Wien, floh nach der
Besetzung Österreichs nach England und lebte seitdem in
London. War als Fabrikarbeiter, Milchchemiker, Bibliothekar
und Redakteur bei der BBC tätig, seit 1968 freier Autor und
Übersetzer. Außer dem Roman ›Ein Soldat und ein Mädchen‹
publizierte er Gedichte und Essays, daneben machte er sich als
Übersetzer einen Namen (u.a. Shakespeare, Dylan Thomas). Er
erhielt den ›Prix International des Editeurs‹ (1977), den Preis der
Stadt Wien für Literatur (1980), den Buchner-Preis (1987). Erich
Fried starb im November 1988 in Baden-Baden. Im Fischer
Taschenbuch Verlag erschienen außerdem vom selben Autor die
Gedicht-Bände ›Befreiung von der Flucht‹ (Bd. 5864), ›Reich der
Sterne‹ (Bd. 5959) und ›Warngedichte‹ (Bd. 2225)
ERICH FRIED
EIN SOLDAT UND EIN MÄDCHEN
ROMAN
Dieses eBook ist nicht zum
Verkauf bestimmt.
FISCHER TASCHENBUCH VERLAG
18. - 20. Tausend: Dezember
Ungekürzte Ausgabe
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, März 1984
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
der Claassen Verlag GmbH, Düsseldorf
Copyright © 1960 by Claassen Verlag, Düsseldorf
Neuausgabe 1982 im Claassen Verlag, Düsseldorf
Satz: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Umschlaggestaltung: Jan Buchholz / Reni Hinsch
Printed in Germany
isbn 3-596-25432-9
ERSTER TEIL
EIN BERICHT
EIN SOLDAT UND EIN MÄDCHEN
Ein Soldat und ein Mädchen. Der Soldat war ein Soldat, und
das Mädchen war ein Mädchen. Und nun sind sie beide fort und
kommen nicht wieder zurück, und dieser Bericht ist das letzte,
was übriggeblieben ist.
Der Erzähler hat den Soldaten erst gesehen, als er kein Soldat
mehr war. Das Mädchen hat er nie gesehen. Dem Erzähler hat es
der Soldat erzählt. Der Soldat war der Erzähler des Erzählers,
und nun ist der Erzähler der Erzähler des Soldaten geworden. Da
gerät leicht alles durcheinander. Außerdem fehlt mir die Gabe,
aus einer wirklichen Begebenheit eine wahre Geschichte zu
machen. Ich habe mir diese sonst fragwürdige Begabung nie so
sehr gewünscht wie in diesem Fall.
Ein Stoß Notizen und Manuskripte: meine Notizen zu dieser
Geschichte, die Manuskripte des Soldaten, meine eigenen
Manuskripte; dazu noch Alternativfassungen, Fußnoten, Briefe
und biographische Erläuterungen zum Text. Aber obenauf ein
sorgfältig getipptes Titelblatt. In Großbuchstaben, gesperrt, in die
Mitte der Seite gerückt, die beiden Worte
DAS LETZTE
aber daneben ein handgeschriebener Vermerk: zu
abgebraucht! Kein guter Titel.
Darunter, klein getippt, auf der rechten Hälfte des Blattes ein
englisches Motto:
Thou hast committed -
Fornication: but that was in another country,
And besides, the wench is dead.
[The Jew of Malta]
Sonst steht auf dem Titelblatt nichts, nur mit Bleistift ist
etwas hingekritzelt, aber wieder durchgestrichen, unleserlich.
Das Motto heißt auf deutsch ungefähr:
Getrieben hast du -
Hurerei: doch das war in einem anderen Land,
Und außerdem, die Dirne ist tot.
[Der Jude von Malta]
›The Jew of Malta‹ ist ein altes englisches Theaterstück aus
der Zeit Shakespeares. Von Marlowe. Aber ich habe es nie
gelesen. Das Zitat habe ich nicht selbst gefunden, es steht bei
Eliot, als Motto für sein Gedicht ›Portrait of a Lady‹.
Auch bei Hemingway habe ich es gefunden, am Anfang
seines Kriegsromans ›A Farewell to Arms‹. Das Buch soll viel
aus seinem eigenen Leben enthalten. Wenigstens hat mir das
jemand gesagt. Was ist da so ein Zitat? Ein Verrat des
schreibenden Menschen an sich selbst? Oder Bitterkeit? Oder nur
ein Versuch, von seinem eigenen treuen Schatten um jeden Preis
den rechten Abstand zu halten?
Und auch hier soll es wieder Motto sein, denn auch hier paßt
es. Zwar nicht originell, ein Zitat zum dritten Mal zu verwenden,
aber wenn man sich selbst nicht mehr ertragen kann und nicht
weiß, woran man sich halten soll, sucht man Gesellschaft.
Wenn es ein Roman wäre, dürfte das Buch frühestens mit
dieser Gesellschaft beginnen. Eine Abendgesellschaft in
Hampstead, London. Das Zimmer zu klein. Gedränge von
Menschen, die sich nicht kennen, Bruchstücke von Substanzen,
die aneinander haften wollen, aber nicht können, bunt
zusammengewürfelt wie die Wohnungseinrichtung:
Emigrantenmilieu.
Im Zigarettenrauch schwimmen Gesprächsfetzen; auch über
den Rauch selbst wird gesprochen, über Lungenkrebs und
Zigaretten: »Was da nur verraucht wird! In Deutschland, knapp
nach dem Krieg, wäre das ein Vermögen gewesen. Damals
konnte man für eine Handvoll Zigaretten ein Mädel haben. Die
meisten haben das auch getan. Na ja, warum nicht?«
Eine Frage, die keine Antwort erwartet hat. Aber dann doch
eine Antwort, gepreßt, eine Spur lauter: »Manche haben das auch
nicht getan.« Der geantwortet hat, steht auf, kommt auf mich zu.
Ich möchte mit ihm eigentlich nicht ins Gespräch kommen.
Jemand hat gesagt, er schreibt oder hat einmal geschrieben. Also
lieber hinüber ins andere Zimmer, wo ich mir mein Glas füllen
lasse.
Aber ein, zwei Stunden später stehe ich dann doch neben ihm.
Er sitzt und summt. Nicht unsympathisch; ein wenig dick
vielleicht, aber das ist oft nur eine Art elastischer Panzer gegen
die eigenen Nerven. Summt ein Lied, das ich in all den Jahren in
England nicht mehr gehört habe:
»… sonst wird dich der Jäger holen
mit dem Schießgewehr!
Seine große, lange Flinte
schießt auf dich den Schrot,
färbt dich dann die rote Tinte,
und dann bist du tot,
färbt dich dann die rote Tinte,
und dann bist du tot.«
Das erste Mal summt er »to-ho-hot«, das zweite Mal kurz
»tot«. Einen grauen amerikanischen Gabardineanzug trägt er und
eine schwarze Armbinde. Ein wirklicher Amerikaner oder
Engländer trägt kaum eine Armbinde, höchstens einen schwarzen
Fleck. Er ist kein wirklicher Amerikaner, Engländer auch nicht.
Er hat vorhin deutsch gesprochen, glaube ich, und überhaupt sind
nur drei oder vier Engländer hier, sonst lauter deutsche und
österreichische Emigranten.
»Liebes Füchslein, laß dir raten:
Sei doch nur kein Dieb,
sei doch nur kein Dieb!
Ei, was brauchst du Gänsebraten?
Nimm mit Maus vorlie-hie -hieb.
Ei, was brauchst du Gänsebraten?
Nimm mit Maus vorlieb!«
»Nicht unkomisch«, sagt er laut. »Erst schießens' ihn tot und
dann kommens' ihm mit guten Ratschlägen!« Sein Argument ist
nicht ganz logisch, denn der Fuchs könnte doch die gestohlene
Gans wieder hergeben, ehe ihn der Jäger holen kommt.
Die Dame des Hauses sieht ihn neben mir stehen und stellt
vor: »Herr Dr. Sowieso. Zu Besuch aus den Vereinigten
Staaten.« Sie erwähnt, daß ich schreibe. Er lacht, ist vielleicht
doch nicht mehr ganz nüchtern. »Ja, ja, das wollt' ich auch
einmal, aber ich hab's aufgegeben. Ich bin … gescheitert bin ich,
mein Lieber!« Und dann, ohne weitere Einleitung, mit der
Unaufhaltsamkeit des Betrunkenen: »Da, schaun Sie her, das hab
ich geschrieben … Aber ich war damals nicht ganz …« Er tippt
sich an den Kopf. Dann raschelt das Papier aus seiner
Brieftasche.
Unangenehm, wenn einem Manuskripte so unter die Nase
gehalten werden. Meistens schlechtes Zeug, man ist dann
verlegen. Gott sei Dank, wenigstens Schreibmaschine; schon
ziemlich zerknittert, Verse. Keine Überschrift, kein
Zwischenraum zwischen den Zeilen:
Soldaten der Freiheit haben den Galgen gebaut,
Mühelos haben sie einen Henker gefunden,
Und dann standen sie und henkten sechseinhalb
Stunden.
Zuletzt hat ihnen wahrscheinlich nicht mehr gegraut.
Schwer muß der Anfang gewesen sein, mit den
Frauen,
Besonders eine von ihnen war schön und mutig und
jung.
Aber dann später kamen sie sicher in Schwung
Und faßten zu ihren Händen wieder Vertrauen.
Vor Weihnachten, wenn sonst das Schweineschlachten
beginnt,
Ist das geschehen, in Hameln, im Jahre des Sieges,
Kurz nach Ende des Großen Gerechten Krieges.
In Hameln herrschte schon Hunger und kalter Wind.
Hameln ist eine Stadt im westfälischen Land,
Dort stand der Galgen, dort liegen die armen Sünder.
Durch seinen Rattenfänger und viele verlorene Kinder
War der Ort schon zuvor seit alters bekannt.
Was ich davon halte? - Also: Jede Zeile mit großen
Anfangsbuchstaben … ist das nicht zu zeremoniell? Nein, das ist
überhaupt ein kleinlicher Einwand! Und das Gedicht selbst? Ich
weiß nicht; eine Dichtung ist das nicht, unbegabt aber auch nicht.
Die zwei letzten Strophen zum Beispiel stellen die
Hinrichtungsszene wirksam und unheimlich einfach in die großen
Zusammenhänge hinein: Anfang des Hungerwinters nach dem
Krieg, westfälisches Land (das war einmal das Land der Droste)
… aber ist es nicht jetzt Hannover? - Oder doch wieder
Nordrhein-Westfalen? - Weiß ich nicht - wie fremd man wird! -
Aber auch das spielt keine Rolle … das jedenfalls ist der Raum.
Präzise genug, westfälisches Land.
Westfälisches Land, Westfälischer Friede … da hätten wir
auch die Zeit, den Raum und die Zeit … die Zeit nach dem
großen Krieg, die Zeit nach dem Abtreten des Rattenfängers …
ein abgründiger Vergleich, gerade weil er nicht neu ist. Durch
seinen Rattenfänger und viele verlorene Kinder? Aber auch die
Hingerichteten sind verlorene Kinder. Auch wenn man sie
Kriegsverbrecher genannt hat, auch wenn sie wirklich
Kriegsverbrecher waren. Sie waren verlorene Kinder, schon
bevor sie Kriegsverbrecher wurden.
Einige starke Zeilen: Und dann standen sie und henkten
sechseinhalb Stunden. Müßte aber doch eigentlich heißen:
sechseinhalb Stunden lang. Oder ein Komma nach henkten?
Sonst kann doch niemand wissen, wer gehenkt wird, die
Menschen oder die sechseinhalb Stunden? Haarspalterei! -
Außerdem: stimmt vielleicht. Tötet man nicht immer zugleich
auch die Zeit, wenn man Menschen tötet? Mindestens die
Hinrichtungszeit, wahrscheinlich mehr, viel mehr? Eine Art, die
Zeit totzuschlagen. Die Zeit ist dann eine tote Zeit.
»Färbt dich dann die rote Tinte,
Und dann bist du tot!«
Nein, nicht philosophieren, sondern das Gedicht ansehen!
Warum weiche ich denn immerzu aus? … Also: … Ansonsten ist
dieses Gedicht zu sehr Leitartikel. Zu dürr, und viele Phrasen:
Soldaten der Freiheit. Natürlich ironisch gemeint, wäre sonst
ganz unerträglich. Aber auch ironisch gemeint liegen solche
Worte einem Gedicht im Magen. Ein Gedicht hat eben einen
empfindlicheren Magen als ein Zeitungsleser oder eine
Kulturepoche des Abendlandes. Auch ironisch gemeint sind es
noch Phrasen. Aber doch nicht Phrasen schlechthin, sondern
Phrasen, die sich gegen Phrasen wenden, die gegen sich selbst
laut werden. Das ganze Gedicht mit seinen harten, breitrollenden
Zeilen, ohne jedes dichterische Bild … das hat etwas Unerlöstes.
Die Verdammnis, die sich selbst verdammt, der Rauch, der sich
in Rauch auflöst.
Und dabei waren sie Soldaten der Freiheit, trotz aller Ironie!
Oder nicht? Doch nicht ihre Schuld, wenn die Wirklichkeit der
Freiheit manchmal so aussieht! Und wenn man Bilanz zieht, so
haben sie immer noch unendlich viel mehr Freiheit gebracht als
… Aber darf man solche Bilanzen ziehen? Nein, das
Erstaunlichste an dem Gedicht ist, daß dieser Mann da es
geschrieben hat. Ja. Da steht er, vierschrötig, ein wenig hilflos.
Und da steht auch das Gedicht, schwarz auf weiß, mindestens so
wirklich wie der Mann selbst.
Und Hameln? Das war doch das Urteil im Belsenprozeß …
Die Hinrichtungen damals … Wirklich sonderbar. Gewiß, auch
ich bin gegen Todesstrafe, aber deshalb hätte ich doch noch lange
nicht so ein Gedicht geschrieben! Immerhin waren diese
Verurteilten entsetzliche Menschen. Unvergleichlich weniger
beklagenswert als ihre Opfer. Oder doch nicht? Vielleicht gilt
zuletzt jeder Mensch gleich viel, sogar wenn er selbst ein Feind
dieser Gleichheit war? Aber verflucht nochmal, der Mann da
neben mir ist doch Emigrant. Wie ich. Und auf den ersten Blick
als Jude zu erkennen. Woher nimmt er da diese persönliche
Anteilnahme - denn das ist doch schon mehr als Mitleid -, diese
Bitterkeit?
»Ich kann nicht viel dazu sagen«, sage ich, hilflos, weil ich
zuviel dazu sagen könnte. »Ich selbst schreibe ganz anders …«
Und dann stelle ich doch die Frage: »Wie kamen Sie eigentlich
dazu, das zu schreiben?« Er lacht, aber kein wirkliches Lachen.
»Sein S' mir nicht bös, aber bevor ich Ihnen Antwort geb', möcht'
ich lieber Sie selber was fragen: Das Gedicht da, macht Ihnen das
einen Eindruck?«
»Ja, doch, Eindruck gewiß. Vor allem menschlich …«
»Dankschön! Also, dann will ich Ihnen was sagen: nämlich,
menschlich ist dieses Gedicht ein Dreck! Sie entschuldigen
schon. Nämlich, auf was es mir wirklich ankommt, das hab' ich
da nicht hineinbringen können. So gut wie gar nichts von dem,
um was sich's mir dreht. Und außerdem hab' ich das da doch über
Belsen geschrieben, und was weiß denn ich von Belsen, außer
was alle wissen? Dort waren doch die Engländer! Ich bin nie im
Leben dort gewesen. Ich war bei den Amerikanern! Ich hab'
keinen und keine von dort gesehen, nicht die einen und auch
nicht die andern.«
Er beugte sich vor und schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Lieber, dieses Gedicht ist eine Lüge! Die letzte
und gefährlichste Art Lüge: wenn einer schon ganz nah is' bei
seiner eigenen Wahrheit, aber er will nicht oder er kann nicht und
sagt dafür was anderes! Wohlgemerkt, diese andere Wahrheit, die
kann auch ganz wahr sein; aber meine eigene Wahrheit ist es
nicht. Sehen Sie, das ist das reine Dampfabblasen: man sagt was
Ähnliches, eine Umschreibung, damit man nur ja nicht das
Eigentliche sagen muß. Bei uns zu Haus, als Kinder, da haben
wir Verstecken gespielt: ›Wasser, Wasser! - Es brandelt, es
brandelt! - ›Feuer, Feuer!‹ Und in dem Gedicht, da brandelts.
Aber Feuer, mein Lieber? Feuer ist das keines! Nein, was mich
erledigt hat, das war etwas ganz Ähnliches. Ganz ähnlich. Aber
das - das, was wirklich war -, das hab' ich nicht schreiben
können. Sie, mein Lieber, Sie würden das vielleicht können. Und
wissen Sie, warum? Weil es Sie eigentlich nichts angeht! Ich will
Sie nicht beleidigen, aber, verstehn Sie, was einem selber
passiert, das kann der Mensch dann oft nicht sagen. Es fehlt ihm
der Abstand. Und wo man keinen Abstand hat, dort kann man
auch nicht scharf einstellen und anvisieren. Das ist so, wie mit
dem Toten Winkel bei der Artillerie. Und weil ich das nicht
schreiben kann, drum hat das ganze Schreiben auch nicht viel
Sinn für mich. Ich glaub', ich muß es überhaupt aufgeben. Sie
kennen doch den alten Witz, wie ein Kritiker zu einem
Dichterling sagt: »Also erst schreiben Sie einmal ein, zwei Jahre
lang gar nichts, und nachher …‹ - ›Ja?‹ - ›Nachher geben Sie 's
ganz auf!‹«
Es zuckte in seinem Gesicht, er versuchte sich selbst Beifall
zu lachen, ziemlich zerrüttet. Er begann zu erzählen. Gut erzählte
er nicht, wenigstens nicht an jenem ersten Abend, aber es kam
nicht darauf an. Ich traf ihn am nächsten Tag wieder. Wir haben
zehn oder zwölf Abende miteinander verbracht. Mit dem, was er
zu erzählen hatte, ließ sich das Gedicht wirklich nicht
vergleichen. Dennoch war ich fast froh, als er vor Monatsende
nach Amerika zurückfuhr.
Das also ist der Rahmen, das abgenutzte Sprungbrett für die
Kunstform der sogenannten wahren Geschichte. Noch dazu
unbeholfen; daß der Mann auch Schriftsteller ist oder mindestens
doch früher geschrieben hat. So dick trägt nur das Leben selbst
auf; grenzenlose Möglichkeiten, aber alle trivial: zwei Spiegel im
Londoner Nebel, einander gegenübergestellt, und eine unendliche
Reihe wechselseitiger Bespiegelungen, während sie langsam
erblinden. ›Das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die
Zeiten sich bespiegeln‹ Ich mich in ihm, er sich in mir, und die
Zeit in uns beiden.
An den Abenden, die wir so verbracht haben, sind noch
weitere Manuskripte aufgetaucht. Ein Gedicht, das er sich
abgeschrieben hatte, Verfasser vergessen. An die fünfzehn kurze
Prosastücke und einige längere, alles in allem eine dicke Mappe
voll.
»Die liegen schon die ganze Zeit in meinem Koffer herum, du
kannst sie behalten. Ich will das alles los sein. Mir hängt es zum
Hals heraus!«
So nahm ich die Manuskripte. Erst viele Monate später, als
ich zum ersten Mal versuchte, das Buch zusammenzustellen,
begann er sich für seine Manuskripte wieder zu interessieren und
schickte Briefe mit Erläuterungen und Korrekturvorschlägen.
Damals aber, als wir uns kennenlernten, bekundete er wenig
innere Anteilnahme, außer daß er mich am Tag, an dem er mir
den ersten Stoß Manuskripte brachte, zu duzen begann. Aber er
erzählte gut, besser als in vielen seiner Geschichten. Nur an ein
oder zwei Stellen stockte er und konnte nicht weiter. An diesen
Stellen nahm er schon damals seine Manuskripte zu Hilfe. »Da,
lies selber, was ich darüber geschrieben hab'. Viel besser, wie
wenn ich versuch', davon zu reden.«
Mundartliche Färbung, wenn er sprach, aber gekonntes,
strenges oder bewußt experimentelles Schriftdeutsch. Das war
nicht sein einziger Gegensatz und Widerspruch. Für seine
Geschichte aber ist das kaum wichtig.
Oder doch; wenn es mir nur um eine Romanfigur zu tun
wäre? Wenn ich den ganzen Mann, seine Geschichte und seine
literarischen Versuche, seine Grübeleien und Erklärungen nur
erfunden hätte? Die Spaltung zwischen nachlässigem Sprech-
und Briefstil und literarischer Sorgfalt wäre dann nur ein weiterer
kleiner Einfall.
Nein. So ist es auch nicht. Zwar, ich will mich nicht besser
machen, als ich bin: so, wie ich diese Geschichte niederschreibe,
hat sie sich nicht zugetragen. Schon allein die Rücksicht auf tote
und lebende Menschen hätte mich zu zahllosen Verdrehungen
und Verfälschungen gezwungen. - Aber so, mir nichts, dir nichts,
erfindet man solche Begebenheiten auch nicht. Das überläßt man
der Wirklichkeit. Außerdem wäre es schamlos. Etwa als hätte ich
mir ausgedacht, daß ich meinen Vater nicht wiedererkannte, als
ihn die Gestapo freiließ, am 24. Mai 1938. Aber die Gestapo hat
ihn wirklich freigelassen, und ich habe ihn wirklich nicht
wiedererkannt. Nicht, ehe man mir gesagt hatte: »Das ist Ihr
Vater.«
Er war genau einen Monat lang verhaftet, vom 24. April bis
zum 24. Mai. Zweimal vierundzwanzig. Und er ist noch am
selben Tag gestorben. Der war zugleich auch sein
achtundvierzigster Geburtstag. Zweimal vierundzwanzig ist
achtundvierzig. So etwas erfindet man nicht.
Aber mit solchen Gedanken hatte ich mich festgefahren. Die
Geschichte von dem Mann und seinen Erlebnissen kam nicht
über den Anfang hinaus. Ich glaube, damals dachte ich noch an
einen Roman, Zeitroman, Tatsachenroman, Schlüsselroman, ich
weiß nicht mehr.
Ich ließ den ganzen Papierstoß längere Zeit liegen und begann
dann von neuem, mit einer Art Verzeichnis meiner Quellen und
dessen, was ich wußte. Das sah so aus:
Von den Personen kenne ich nur eine, meinen Gewährsmann,
der zur Zeit der Handlung Soldat war. Als ich ihn traf, war er
längst wieder Zivilist und, wie gesagt, ein wenig dick geworden.
Nicht unsympathisch, nicht viel über dreißig. Mittlere Größe,
kräftiger Brustkorb, der Kopf groß, starke, breite Stirne, kluge
Augen. Aber die Nase zu breit, die Lippen zu wulstig. Mund und
Kinn unsicher und nicht fest genug. Die obere und die untere
Hälfte dieses Gesichts paßten nicht recht zusammen; schwer zu
sagen, ob es ein noch nicht ganz gewordenes oder ein nicht mehr
ganz vorhandenes Gesicht war. Intelligent und gutmütig, sinnlich
und unharmonisch, stark und schwach zugleich, differenziert und
primitiv, ein Kopf voller Möglichkeiten.
Ich kenne auch eine Photographie des Mädchens Helga. An
die Bildberichte aus den Zeitungen erinnere ich mich nur noch
ungenau. Die anderen Personen - Nebenfiguren - sind mir nur aus
dem Munde des Soldaten bekannt.
Einzelheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung kenne ich
überhaupt nicht, weder die genauen Gepflogenheiten bei der
Urteilsverkündung, bei der Bewachung der Häftlinge und bei der
Hinrichtung, noch die Stimmung, die damals geherrscht haben
muß, um die Menschen herum, in ihnen und über ihnen allen.
Solche Einzelheiten und Umstände sind aber so wichtig, daß ich
heute hier in London - nur auf einen tief in die Ereignisse
verstrickten Gewährsmann gestützt - höchstens einen Bericht
schreiben kann, aber unmöglich ein Milieu malen, mit Lokalfarbe
und vielen kleinen Nebensachen, ohne die die Menschen
Schatten oder Skelette bleiben.
So ist das Ganze ein Fragment, unverläßlich und
unangenehm. Nicht einmal die Tugend einer naiven Erzählung,
einfach weiterzulaufen, hat es, teils weil ich die Lücken in
meinem Material irgendwie überbrücken muß, teils weil mir der
nötige Abstand fehlt.
Helga, eine der Hauptangeklagten, war nach wochenlanger
Verhandlung verurteilt worden. Es war ein großer Prozeß
gewesen, ihr Bild war in der Presse vieler Länder erschienen, und
einige Soldaten der verschiedenen Siegernationen, die ihre
Zeitungen weniger lasen als nach Mädchenbildern durchsuchten,
wie das Soldaten tun, hatten ihren Kopf ausgeschnitten und
neben Filmschauspielerinnen und Sportlerinnen an die Wände
ihrer Quartiere geklebt.
Es waren mehrere Todesurteile gefällt worden, gegen Männer
und gegen Frauen. Helga hätte als Jüngste und nicht gerade am
schwersten Belastete vielleicht Aussicht gehabt, mit dem Leben
davonzukommen. Aber sie hatte während der Verhandlung weder
geweint noch gebeten oder öffentlich Reue bekundet, sondern
scheinbar unbewegt erklärt, sie bedaure ihr Tun als
Lageraufseherin nicht im mindesten.
Es ist merkwürdig, daß vor Gericht derlei trotzige
Bekenntnisse immer für bare Münze genommen werden, obwohl
sie oft nur eine letzte dünne Wand sind, hinter der mehr echtes
Entsetzen, Schuldgefühl und Verzweiflung aufgespeichert sein
kann als bei den meisten bereitwillig Zerknirschten.
Wie immer dem sein mag, Helga hatte getrotzt und im
Verhandlungssaal mehrmals mit dem Gruß des abgetanen
Regimes gegrüßt. Dieses Verhalten machte ihren Fall
hoffnungslos, obgleich man ihr nicht gerade einen Mord
nachgewiesen hatte, sondern nur zahllose kleinere Taten, die
allerdings immer noch so unfaßbar arg waren wie alles in jenen
Lagern. Zu dieser ganzen langen Liste von angelernten
Grausamkeiten und stumpfen Herzlosigkeiten bekannte sie sich.
Sie habe auf Befehl gehandelt, aber auch aus Überzeugung.
Hätte sich ein Kranker in der Sprechstunde seines
Psychologen benommen wie Helga vor Gericht, so wären die
Heilungsaussichten vielleicht nicht ungünstig gewesen.
Beharrliches Festhalten an etwas, was eigentlich gar nicht mehr
da war, eine Haltung, die ihr in Fetzen vorn Leib hing wie eine
endgültig ausgediente Uniform, das ließ sich doch nicht viel
länger tragen. Es würde ein Zusammenbruch kommen müssen,
und dann könnte man anknüpfen, helfen, ändern …
Vor diesem Forum jedoch hatte nicht das Werden das Wort,
nicht was aus ihr werden sollte, sondern einzig und allein, was
aus ihr geworden war, die begangenen, vergangenen Vergehen
und Verbrechen, deren Furchtbarkeit den Richtern den Blick für
Art, Grenzen und Grad von Helgas eigener Verstricktheit in diese
Schuld trübte. Wo aber eine Gegenwart von ihrer Vergangenheit
eingeholt wird, dort ist immer ein Wohnort des Todes. Dort
entspringt das Todesurteil oder das Altwerden, die Resignation
oder der Wahnsinn, das Biegen oder das Brechen. Dort hört man
das Knacken, mit dem die Sehne reißt, der Bogen splittert, das
Rückgrat bricht.
Was Helga getan hatte, war ungeheuerlich und unerträglich.
Das ist nicht zu bezweifeln. Aber das für die Mitmenschen
unerträglichste Symptom zeigt nicht immer den schwersten
seelischen Schaden an. Eine grausame Lageraufseherin, kaum
erst erwachsen und von Kreaturen erzogen, die solche
Grausamkeit forderten und als verdienstvoll bezeichneten, hätte
ein leichterer Fall sein können als etwa ein Patient, der vielleicht
nur über Müdigkeit und Anfälle von Trauer klagt, deren Grund er
nicht kennt. Wenn man Menschen helfen will, ist
Vorurteilslosigkeit das erste. Dem Vorurteilslosen darf man auch
nicht leichtfertig Urteilslosigkeit vorwerfen. Aber dort, vor
Gericht, ging es nicht um das erste, sondern um das letzte, um
das Urteil; von Anfang an um das Ende.
Zu erwähnen ist noch Helgas Schönheit, die von Anfang an
bis zum Ende die Berichterstatter und Pressephotographen auf sie
aufmerksam gemacht und die Vertreter der Justiz - lauter Männer
- fast ein wenig erbittert hatte, soweit diese sich Gefühlen nicht
völlig versperrten. Ihnen schien Helgas Schönheit irgendwie im
Gegensatz zu ihrer Hartnäckigkeit zu stehen, dabei aber auch
wieder besonders gut zu ihrer Haltung zu passen, etwa wie Don
Juan bei einer ungewöhnlich schönen Frau größeren Widerstand
erhofft. Jedenfalls schien Helga durch Aussehen und Auftreten
besonders geeignet, an ihr ein Exempel zu statuieren.
Man kann sich schwer des Eindrucks erwehren, daß die
wirkliche Helga, ihr wirkliches Gesicht, ihre wirkliche Gestalt,
vor dem geistigen Auge ihrer Richter bald verschwommen sein
und älteren Bildern Platz gemacht haben muß, dem bekränzten
Opfertier oder dem nackten gefesselten Mädchen, das in die
Grundfesten der neuen Brücke, des neuen Hauses eingemauert
wird, um dem Bau Glück zu bringen. Zu klarem Bewußtsein ist
das den Richtern sicher nicht gekommen, aber ein hoher
Beamter, der mit dabei war, soll später gesagt haben, manchmal
sei es gewesen, als habe das Verfahren nur noch die Linien einer
alten, verblaßten, stellenweise fremdartigen und
unverständlichen, aber immer vorgezeichneten Schrift mit roter
Tinte nachziehen müssen. Sogar die Verteidigung, die ihr Bestes
getan habe, sei nur eine Schnörkellinie dieser Schrift gewesen.
Mir hat diesen Ausspruch der Soldat erzählt, und ich mußte
an den Studenten Anselmus in E. T. A. Hoffmanns Märchen ›Der
goldene Topf‹ denken, denn auch Anselmus glaubte schwach
vorgezeichnete Schriftzüge zu sehen, wenn es mit seiner
exotischen Abschreibearbeit flott vorwärtsging.
Über das eigentliche Wesen von Helgas Schönheit kann ich
trotz der Schilderungen des Soldaten nichts Gewisses sagen.
Auch ihr Bild, ein auf Zigarettenkarton geklebtes Zeitungsphoto,
hilft nicht viel. Es war wohl nie sehr scharf gewesen, und als der
Soldat es mir zeigte, war es schon stark abgegriffen. Nur eines
läßt sich vielleicht sagen, mehr nach der Schilderung als nach
dem Bild, daß es ein sehr junges Gesicht war, mit ziemlich
langem, rötlichblondem Haar, mit sehr guten Zähnen und mit
großen, von keiner Furche gezeichneten oder näher
umschriebenen Flächen. Wangen, Stirne und Kinn waren blank
und makellos, vielleicht eines von den Gesichtern, die manchmal
zu lebenden Bildschirmen werden können, auf denen alte
Mysterien und heruntergekommene Riten plötzlich aufleuchten
und für kurze Zeit ihr vergängliches, aber tödlich lebensnahes
Licht- und Schattenspiel treiben.
Der Soldat weiß sich der Farbe von Helgas Augen trotz allen
Nachdenkens nicht zu entsinnen. Sie können grün, grau oder blau
gewesen sein oder etwas von allen drei Farben gehabt haben. Auf
dem Zeitungsbild hat Helga einen starren Blick, aber das liegt
vielleicht nur an dem Blitzlicht. Das Gesicht sieht auf dem Bild
merkwürdig zeitlos aus - unbestimmt, ohne verschwommen zu
sein -, eines von jenen Gesichtern, in die man sich alles
hineindenken kann, wie in den blassen, kalten Winterhimmel, ins
Kielwasser eines Schiffes oder ins Rattern eines Zuges, bis man
zuletzt nicht mehr weiß, was man wirklich gesehen hat.
Als das Urteil verkündet wurde, hatte Helgas Mutter
geschrien, war aber ohnmächtig geworden, noch ehe man sie aus
dem Gerichtssaal führen konnte. Der Vater hatte ununterbrochen
den Kopf geschüttelt, nicht stark, aber sehr schnell, wie ein
Zittern. Helga sah ihre Eltern flüchtig an, ganz ohne Liebe,
verkniff die Lippen und kehrte dann dem Publikum den Rücken,
so plötzlich, daß sogar die Blitzlichtaufnahmen der
Pressephotographen ein wenig unscharf wurden. Man führte
Helga in einen der kleineren Räume, man gab ihr Kognak zu
trinken, und die Wärterinnen sowie die wachhabenden Soldaten
der Besatzungsmacht, die aus einem Abstand von einigen
Schritten zusahen, stellten fest, daß sie Haltung bewahrte.
In einem dieser kleineren Räume, vielleicht sogar in
demselben, hat sie dann einige Wochen später das gesagt, was
zum eigentlichen Anfang der hier berichteten Begebenheit
wurde.
Es geschah, als man sie nach ihrem el tzten Wunsch fragte.
Helgas Antwort - genauer: ihre zweite Antwort - war vielleicht
noch im Augenblick, in dem sie den Mund auftat, nichts als Trotz
und Bitterkeit, oder ein kindischer Versuch, so hartgesotten zu
sein, wie sie im Prozeß erschienen war. Vielleicht war es auch
Auflehnung gegen den Tod, obwohl - oder gerade weil - Helga
sich geweigert hatte, nach dem Urteil ein Gnadengesuch zu
unterzeichnen. Wie dem auch gewesen sein mochte, die Frist für
Gesuche und Berufungen war nun um, der von der
Besatzungsmacht bestellte Verteidiger hatte ihr gesagt, es bestehe
keine Hoffnung auf Begnadigung und sie müsse nach
menschlicher Voraussicht am nächsten Morgen sterben.
Geistlichen Beistand? Nein. Ob sie ihre Eltern sehen wolle?
Nein. Sie schüttelte den Kopf. Auch der Verteidiger und die
Wärterinnen neben ihr schüttelten den Kopf, fast zugleich mit ihr,
leise und bekümmert. Aber das bedeutete etwas anderes. Der
Verteidiger war einen Augenblick lang ihr Vater und die
Wärterin ihre Mutter, und sie war das Kind, das nicht einer
bändigen konnte und mit dem es eines Tages ein böses Ende
nehmen würde: ›Noch dazu ein Mädchen; wenn ein Junge so
wild ist, in Gottes Namen!‹
Selbst wenn Helga sich in jenem Augenblick darüber
Rechenschaft gegeben hätte, daß gerade der unerträglich enge
Lebenskreis ihrer Eltern sie hinausgeschleudert hatte, wie einen
Stein, durch die Jugendorganisation des Regimes hindurch,
immer weiter, bis an den äußersten Rand des Lebens, ins
Lagerkommando, und sie nun über den Rand der Erdscheibe
hinausschleuderte … selbst wenn sie sich darüber Rechenschaft
gegeben hätte, diesen Menschen um sie herum hätte sie es nicht
gesagt. Sie hätte sie sonst gar noch trösten wollen. Trösten? Es
ging ihr nicht mehr so gut, daß sie Trost ertragen konnte! Dazu
gehörte noch Kraft, sich trösten zu lassen; und mit ihrer Kraft
mußte sie sparsam sein. Sie schüttelte den Kopf: Nein.
Ob sie noch einen Wunsch habe? Sie riß die Augen auf und
verzog die Nase. Sie hatte nur einen Wunsch: Nicht weinen!
Ihnen nicht diese Freude machen!
Aber auch das stimmte nicht. Auch das war nicht wahr und
fiel zu Boden und tiefer hinab ins Bodenlose, wie alles andere,
woran sie geglaubt hatte und was nicht wahr gewesen war. Alles
war ganz anders, alles und alle. Sie waren ja gar nicht so, daß sie
sich über ihre Hilflosigkeit gefreut hätten. Aber das machte sie
nur noch hilfloser. Hilflos und haltlos und bodenlos war dieses
neue, letzte Leben. Kein Leben mehr, und man konnte sich an
nichts mehr halten. Nur das Sterben war immer noch das Sterben,
und ein Henker war und blieb ein Henker, todsicher. Daran
änderte sich so leicht nichts, daran konnte man sich halten.
Wieder verzog sich das Gesicht, rümpfte sich die Nase. Nicht
weinen, solang ich nicht allein bin! Nicht vor allen Leuten. Alles
andere lieber!
»Ihr könnt mich alle …« platzte sie heraus. Mitten im Wort
verlor sie die Stimme und schlug sich die Hände vors Gesicht.
Die Wärterin, die sie stützte, zuckte zusammen. Helga konnte
es deutlich spüren, denn es unterbrach ihr eigenes Zucken, das
mit dem Schluchzen kam und verging. Der eine Soldat brach bei
Helgas Worten in ein kurzes, abgebissenes Lachen aus. Helga
ließ die Hände sinken und stampfte mit dem Fuß auf. »Ja, ich
habe noch einen Wunsch.« Sie schüttelte sich frei. Ihre Stimme
klang gar nicht mehr sehr laut. »Ich will heute nacht mit wem
schlafen. Mit diesem Ami da: mit dir!« Sie zeigte auf den
Soldaten, der sofort verstummt war und sich immer noch die
Hand vor den Mund hielt. Offenbar verstand er Deutsch. »Ich
will heute nacht mit dir schlafen.«
Dieser Soldat ist natürlich der Mann, der mir die Begebenheit
erzählt hat. Die Schilderung ist deshalb vielleicht nicht in allen
Einzelheiten verläßlich, denn derlei wird von der Erinnerung oft
verfälscht. Und auch ich habe da und dort verfälscht, nicht nur,
um Spuren zu verwischen, sondern auch, weil mir all das mehr
bedeutet, als ich erklären kann, weil es mir keine Ruhe läßt.
Manchmal ist es so stark, daß ich mich schon bei der deutlichen
Erinnerung an Ereignisse ertappt habe, die in Wirklichkeit der
Soldat erlebt hat, nicht ich.
Fest steht aber, daß der Soldat nach Helgas Worten kein Auge
mehr für den Gefängnisraum hatte, für die Umstehenden und für
ihr Verhalten, ja kaum mehr für Helga selbst. Er weiß noch, daß
er rot wurde. »Nie in meinem Leben habe ich mich so geschämt,
und ich habe am ganzen Körper gezittert.«
Hier möchte ich ein eigenes Erlebnis berichten:
Ich arbeitete zur Zeit, als das in Deutschland geschah, in einer
kleinen Fabrik im Londoner Stadtviertel Mayfair, die
handgemachte Glasknöpfe, Ohrringe und Broschen herstellte.
Während der Arbeit sprach man über Gott und die Welt, auch
über den Prozeß, den die Zeitungen damals in zahlreichen
Bildberichten auf der ersten Seite brachten.
Nach Bekanntgabe der Todesurteile veranstalteten die
Arbeiter einen sogenannten ›Mock Gallup Poll‹, eine scherzhafte
Rundfrage, wer von ihnen willens wäre, mit Helga zu Bett zu
gehen. Moderne Bildberichterstattung bringt Menschen oft auf
allerlei Gedanken. Jedenfalls betrachte ich das heute sogar
irgendwie als Beweis, daß auch Helgas letzter Wunsch nicht ganz
unverständlich ist. Natürlich hatten die Glasarbeiter in London
von diesem Wunsch keine Ahnung. Die Abstimmung muß sogar
ein bis zwei Wochen, bevor Helga den Wunsch äußerte,
stattgefunden haben.
Von den Arbeitern erklärten sich neun Zehntel bereit. Es
wurde gelacht und geschmunzelt. Zur Belohnung wollten sie ihr
dann das Leben schenken. Nur einer, ein dicker, viel zu
rotbackiger Kahlkopf, ehemaliges Mitglied der British Union of
Fascists, der Handvoll englischer Faschisten, war dafür, das
Mädchen nachher dennoch hinrichten zu lassen oder sogar
eigenhändig vom Leben zum Tode zu befördern. Er war ein
geschickter Glasbläser, immer betont herzlich. Es hieß, er wolle
Vorarbeiter werden, und man traute ihm nicht.
Es muß nun erklärt werden, daß die Erfüllung eines letzten
Wunsches nicht etwa ein wirkliches verbrieftes Recht der
Verurteilten ist, sondern ein ungewisser alter Brauch, lebendig
erhalten vielleicht nur von der Verlegenheit derer, die mit den
Armensündern zu tun haben. Denn das ist immer eine üble
Aufgabe, ganz gleich, aus welchen Gründen ein Todesurteil
gefällt worden ist. Angesichts des Todeskandidaten stellt man
plötzlich fest, daß man ein schlechtes Gewissen hat. Das Urteil
mag höchst gerecht gewesen sein, aber mit einem Mal gilt das
alles nicht, und man ist mitverantwortlich. Entweder, weil man
zum Tode des Verurteilten beiträgt, oder, weil man nichts
dagegen unternimmt, oder auch nur, weil man in der Nähe ist. Es
geht auch gar nicht um Recht oder Unrecht. Ob Menschen ein
Recht haben, die Todesstrafe zu verhängen, ist freilich höchst
fraglich. Aber der Verurteilte hat oft, wenn nicht den Tod, so
doch sicher schwere Strafe verdient, außerdem könnten die Leute
um ihn her zu seiner Rettung auch beim besten Willen kaum
etwas unternehmen. Und doch bleibt das Schuldgefühl wach, so
stark, daß alle Gegengründe wie schlechte Ausreden zu wirken
beginnen, durch die man sich nur immer tiefer in seine Schuld
verstrickt.
In unserer Zeit, in der so viel von Schuld ganzer Gruppen
geredet wird, ist dieses eindeutige Gefühl vielleicht eines der
greifbarsten Beispiele für ein Bewußtsein solcher Schuld. Und,
wie niemals bei einer wirklichen Gruppenschuld, so liegt auch
hier kein juristisch nachweisbares Verschulden vor; nichts,
worauf sich Gesetze oder klare Moralregeln gründen ließen; aber
gerade deshalb ist es quälend und unheimlich. Wer wirklich
glaubt, daß er den Kriegsgefangenen, an denen er vor Jahren
einmal zufällig vorbeikam, seine Zigaretten nur aus Mitleid oder
gar aus politischer Überzeugung gegeben hat, und nicht aus ganz
unlogischem schlechtem Gewissen, der wird diese Überlegungen
nicht verstehen. Ja, es bleibt nicht einmal bei der Schuld von
Menschen: ein ganzes Gebäude, sogar eine ganze Gegend kann
vom Geruch der Schuld ergriffen werden. Die gleichen
Desinfektionsmittel verbreiten eine andere Atmosphäre in einem
Gefängnis als in einem Krankenhaus. Der Karbolduft in einem
Gefängnis hat mehr als Ungeziefer und Krankheitskeime zu
bekämpfen, und die Wärter brauchen ihn nötiger als die
Gefangenen.
Die Alten haben ihre Opfertiere mit auserlesenen Kräutern
gefüttert: das geschah nicht nur, um den Göttern das Beste
darzubringen, allerdings auch nicht aus Tierliebe in unserem
Sinn, aber nicht alle Opfer waren von Anfang an Tieropfer. Von
dort bis zur Henkersmahlzeit ist es nicht mehr weit. Dies ist nur
eine der Wurzeln des Wunschrechtes der Verurteilten, und wenn
es auch kein verbrieftes Recht ist, so ist es doch seltener
gebrochen worden als die meisten verbrieften Rechte.
Außerdem aber unterbricht nichts im Leben, nicht einmal der
Eintritt in ein Kloster, den Menschen so deutlich wie sein
Todesurteil. Das weiß man, und so verwandelt sich das, was als
Strafvollzug gedacht war, unversehens in ein Schauspiel. Nicht in
die barbarische Volksbelustigung öffentlicher Hinrichtungen,
obwohl auch darin etwas davon enthalten war, sondern in das
große memento mori schlechthin. Angesichts des
allgemeinmenschlichen Sterbenmüssens wird die Begründung
des einmal gefällten Todesurteils rasch unwichtig. Wichtig ist nur
mehr, daß man vor einem lebenden Menschen steht, dessen
Todesstunde - zum Unterschied von seinen Mitmenschen - schon
genau angegeben werden kann.
Unterhaltungsstücke beziehen ihre Spannung aus der
Ungewißheit des Ausganges. Der Ausgang einer
Schicksalstragödie aber steht von Anfang an fest, ihre Spannung
ist die Spannung zwischen dem Ende und dem Leben, das sich
folgerichtig und unabwendbar auf dieses Ende zubewegt. Jeder
Verurteilte ist unser Sündenbock, jeder Verurteilte spielt uns das
Sterbenmüssen vor. Das Gewähren des letzten Wunsches ist nur
unser Eintrittsgeld, das wir überlebenden Zuschauer am Aufgang
zur Tribüne bezahlen.
Eine Kontinuität des Lebens, die auch noch in den Stunden
und Tagen zwischen Urteil und Vollzug stärker ist als der eigene,
an den Fingern und Gitterstäben abzählbare Tod, ist fast
unmenschlich. Fanatiker, die sich als Helden ihrer Sache fühlen,
genießen zuweilen etwas wie Fühllosigkeit gegen das
Sterbenmüssen. Aber nur deshalb, weil sie im Grunde auch kein
eigenes Leben gefühlt haben. Ein Mensch, der sein eigenes
Leben gelebt hat, wird in ganz anderer Stimmung zum Tode
geführt. Jesus hatte sein Gethsemane, Verzagen und Stärkung
(und trotz der Stärkung zuletzt sein Eli, eli, lama asabthani), aber
nicht Gleichmut. Deshalb ist es ein sehr zweifelhafter Ruhm,
wenn man dem Sokrates nachsagt, er sei auch noch mit dem
Schierlingstrunk in der Hand nur ganz nebenbei - gewissermaßen
unter vielen anderen Eigenschaften - ein zum Tode Verurteilter
gewesen.
Und Helga? Sie hatte ein, zwei Jahre lang dem Unwesen in
sich die Zügel schießen lassen, das die Lehren der Bewegung, der
sie Gefolgschaft leistete, sonderbar entschlossen und fertig aus
ihrem noch ungeformten Wesen heraufbeschworen hatten. Und
nun war sie verbissen, in die Enge getrieben, verkrampft. Aber
eine echte Fanatikerin war sie kaum. Das Unwesen war hoch aus
ihr herausgeschlagen, in eine schon nicht mehr wirkliche
Wirklichkeit, die sich an den Flammen der Götterdämmerung
erleuchtet hatte und nun irgendwo im Vergangenen lag, vor dem
Todesurteil. Mit dieser Wirklichkeit war es aufgeflackert und zu
Asche und Schlacken verloht. Sie hatte ihren eigenen
Scheiterhaufen überlebt, aber nicht für lange; der eigentümliche
Zustand würde bald vorbei sein. Solange er aber dauerte, war sie
um diese verloderten Jahre jünger und war leer und offen, ein
geplündertes Haus, oder ein Haus mit zerschossenem Tor, das die
Plünderung erwartete. Sie war auf ihre Art tapfer genug, furchtlos
sogar, aber nicht frei von Angst. Es war aus mit ihr, und sie
erwartete das Letzte.
Es gibt eine Redensart des Soldaten: ›Wo nichts mehr
geschehen kann, dort kann alles geschehen.‹ Er hat das auch auf
die Lage Helgas angewendet, und wirklich, es lag für sie unter
den geschilderten Umständen nahe, mit ihrem Lebensrest zu
experimentieren, blindlings Versuche anzustellen. Ihr letzter
Wunsch hatte zunächst keine weitere Aufgabe gehabt, als ein
solcher Versuch zu sein und zu beweisen, daß sie noch etwas
wünschen könne. Zu beweisen, daß sie noch ganz und gar
lebendig sei und es auch noch unter dem Galgen sein werde, daß
sie ihren Tod erleben und nur ihm ihr Leben lassen wolle. Keiner
sollte sie ungestraft schon einen Tag vor der Zeit für tot halten
und über sie lachen dürfen wie über irgendeinen komischen Stein
oder eine Kartoffel.
Daß sie das Lachen des Soldaten mißverstanden hatte, das
wußte sie in jenem Augenblick noch nicht.
Ein Wunsch aber wie der Helgas widersprach allen Satzungen
des Gefängnisses, stand weit außerhalb aller Gewohnheitsrechte
wie Henkersmahlzeit und letzte Zigarette, und seine Erfüllung
kam gar nicht in Frage.
Allerdings muß eine gewisse Widersprüchlichkeit schon hier
erwähnt werden. Der Wunsch war zwar unerhört, aber auch auf
schwer erklärbare Weise naheliegend. Man konnte sich über ihn
nicht wundern. Nun, da er einmal ausgesprochen war, schien man
etwas Derartiges längst erwartet zu haben. Der Soldat hat eine
etwas herausfordernde Formulierung dafür gefunden: »Ihr
Wunsch«, sagte er, »ist gewesen wie eine gute Stelle in einem
Gedicht. Es kann etwas ganz Unmögliches dastehen. Aber man
hat das Gefühl: ›Ja, das hat so gesagt werden müssen. So, und
nicht anders!‹«
Der Soldat hatte an jenem Vormittag gar nicht die Absicht,
Helgas Wunsch zu erfüllen. Alle sahen ihn an, er fühlte sich der
Lage nicht gewachsen und verließ den Raum. Das war zwar ein
Verstoß gegen die Vorschriften, aber kein arger, denn drinnen tat
noch sein Kamerad Dienst. Er mußte den Korridor entlang und
die Treppe hinabgegangen sein, denn er fand sich vor dem
Gebäude im Freien.
Draußen im hellen Sonnenlicht blinzelte er, atmete hungrig
die frische Winterluft ein - es war Adventszeit -, blickte zum
blassen Himmel auf, dann wieder an seinen Beinen hinab, auf
und ab. Auf und ab ging er, auf und ab.
Als nach einiger Zeit von den Quartieren her ein anderer
Soldat auf ihn zukam, ihn schmunzelnd zu seiner Eroberung
beglückwünschte und sich erkundigte, ob er es denn auch
wirklich tun werde, war er so verwirrt, daß er zunächst deutsch
antwortete. Deutsch war seine Muttersprache. Er besann sich
aber, schluckte sein Deutsch hinunter und hieß den anderen im
derbsten amerikanischen Armeeslang zum Teufel gehen. Damit
war der erste Schritt getan, denn noch während er fluchte, fiel
ihm ein, daß auch das Mädchen geflucht hatte, um Haltung zu
bewahren. Eben dadurch hatte sie ihn ja zu seinem erschrockenen
Lachen veranlaßt.
Zu jeder anderen Zeit hätte der Soldat sich gewundert, wie
rasch sich eine Nachricht verbreitet, denn es war unerklärlich,
wieso man drüben in den Quartieren schon Bescheid wußte. Viel
später, als ihm die ganze Begebenheit wieder und wieder durch
den Kopf ging »wie eine Spielzeugeisenbahn auf kreisrunder
Strecke«, hat er sich das dann wirklich gefragt. Aber solche
Beobachtungen sind nicht neu. Die meisten
Zwangsgemeinschaften von Menschen unter Druck, ganz gleich,
ob es Sträflinge oder Soldaten sind, haben ihr eigenes heimliches
Nachrichtensystem.
Damals interessierte sich der Soldat für solche Überlegungen
nicht. Irgendwie hatte ihn sein Fluchen gestärkt und ihm wieder
Kraft zum Denken gegeben. Ihn beschäftigte nun nicht das
Gerücht, sondern etwas ganz anderes. Etwas wie eine Einsicht,
gegen die er sich nicht länger sträuben konnte.
Während des Gerichtsverfahrens hatte er sich immer wieder
dabei ertappt, daß er Helga anstarrte. Was er dabei empfand, war
so stark, daß er zuzeiten unter irgendeinem Vorwand den
Gerichtssaal verlassen hatte und draußen hin und her gelaufen
war. Er haßte dieses theatralische Benehmen, wie er es nannte,
aber er konnte sich davon nicht freimachen. Um eine Erklärung
für seine Gefühle war er bisher nicht verlegen gewesen. Es war
Haß, wütender, gewaltiger Haß gegen dieses Mädchen und gegen
alles, was sie verkörperte. Zu diesem Haß hatte er - deutscher
Jude, heimatloser Emigrant und nun waffenklirrendes Gespenst
in den Ruinen des eigenen Landes - wahrhaftig Grund genug.
Helga war es, oder ihresgleichen, die seine Eltern zum
Selbstmord getrieben hatte. Helga war es, deren Tun die alten
Gesichter seiner Großmutter und vieler Onkel und Tanten, die in
der Unbeholfenheit und Gebrechlichkeit ihrer vorgerückten Jahre
Deutschland nicht mehr rechtzeitig verlassen konnten, in Staub
verwandelt hatte; in Staub und Asche wie die Städte des Landes,
in nasse Erde und trockene Todesnachrichten. Helga war es, und
nicht jene erbärmlichen anderen Angeklagten, Dutzendkreaturen,
die es nun nicht gewesen sein wollten und sich kleiner
Unterlassungssünden in ihren Henkersdiensten entsannen, auf die
sie sich jetzt wie auf große Heldentaten der Menschlichkeit
beriefen. Nicht sie waren es, sondern dieses eine rotblonde
Mädchen mit den viel zu guten Zähnen. Nur sie; eine
Todesgöttin, eine Furie! Eine Medusa, deren helles Haar sich
jeden Augenblick zu seiner wahren Schlangengestalt aufbäumen
und ihn umstricken und des Atems berauben konnte.
Noch nie hatte er so gehaßt. Er hatte im Gymnasium einen
Mitschüler gehaßt, und später noch diesen oder jenen, dann und
wann, gar nicht oft - am meisten vielleicht einen glücklicheren
Rivalen bei einem Mädchen. Und immer waren es Männer
gewesen. Daß man auch eine Frau hassen konnte, eine ganz
junge Frau - nicht eine alte Hexe, sondern ein schönes Mädchen-,
dieser Gedanke war ihm eigentlich nie gekommen. Nun wußte er
es: man konnte eine Frau hassen, wilder, tiefer und ganz anders
als je einen Mann. Alles, was in ihm war, warf sich in diesen Haß
hinein wie in einen Feuerofen, in einen der wirklichen, aber
durch ihre Grauenhaftigkeit unvorstellbaren und fast schon
sagenhaften Feueröfen der Vernichtungslager, oder in den uralten
Feuerofen der Bibel … dort flammte lodernder Haß, dort sang er,
wie die Männer im Feuerofen gesungen hatten.
Nicht nur, daß seine Eltern und Verwandten umgekommen
waren, sondern auch das Zunichtewerden seiner eigenen
Lebenspläne, das Herausgerissensein, das elende Leben in einem
fremden Land: das alles war die Schuld dieses Mädchens Helga.
Daß er die eigene Heimat in einer fremden Uniform wiedersah,
daß sie keine Heimat mehr war, daß das Eckhaus mit dem roten
Firmenschild, in dem er als Kind gewohnt hatte, in Trümmern
lag, auch das war die Schuld dieses Mädchens Helga. Und daß er
unter seiner Uniform allein war, nackt und verloren und gar nicht
wie nach einem siegreichen Krieg, auch das war ihre Schuld. Es
tut gut zu hassen, dafür, daß man allein ist; es tut gut zu hassen,
dafür, daß man verloren ist. Also hatte er sie gehaßt, getreulich,
die ganze Verhandlung hindurch; es war ein naher Haß gewesen,
denn sie hatte sich unter einem Dach mit ihm befunden, greifbar
nahe.
Das war die eine Seite seiner Gefühle gewesen, grell
beleuchtet vom Blitzlicht der Pressephotographen. Die andere
Seite war ihm erst nach Ende des Prozesses aufgedämmert, und
deutlich war sie erst jetzt geworden, seit dem letzten Wunsch des
Mädchens: dieser Haß, der anders war als jeder andere Haß,
dieser Haß auf den ersten Blick, der wie eine atemraubende
Abenteuerfahrt in eine unbekannte Tropfsteinhöhle war, dieser
nahe, innige Haß, der seine Augen brennen und seine Lippen
vertrocknen ließ, war kein Haß. Und wenn er jetzt ungezählte
Male ›Helgahelgahelgahelga!‹ sagte, so war es keine
Beschwörung mehr und kein Fluch. Oder vielleicht doch eine
Beschwörung, aber von anderer Art. Wenn er die Augen schloß,
sah er ihr Gesicht, das Medusenhaupt. Er sah ihre Haare, die
rötlich-gelben Schlangen. Von allen Seiten kamen die gelben
Schlangen. Sie legten sich um seinen Hals, den morgen kein
Henker zuschnüren würde. Nicht fest, nur ganz leise
umschlangen sie ihn, aber der Hals schnürte sich von innen zu.
Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzulügen. Er selbst war
verurteilt, so oder so.
Wenn er ihren letzten Wunsch nicht erfüllte, konnte er nicht
weiterleben. Wenn er Helgas Wunsch nicht erfüllte, verdiente er
nicht weiterzuleben. Und wenn er ihn erfüllte? Er blieb stehen
und sah an seinen Beinen nieder. Er nahm eine Zigarette, zündete
sie an und warf sie weg. Auch das war noch Lüge, eine einzige
große, hochtrabende Lüge. Gar nicht nur ihr Wunsch; noch ganz
anderes wollte erfüllt sein: es war sein eigener Wunsch, sein Haß
oder seine Liebe, die Sehnsucht oder die Zerstörung in ihm, es
war das Faustrecht des siegreichen Soldaten, dem die Frauen des
Feindes gehören; es war all das, und es war nichts von alledem,
es war Helga und nichts als sie. Helgahelgahelgahel … Hel und
Heliogabal, er verhaspelte sich … Helga, und sonst nichts mehr.
Helga, sonst nichts. Helga … und nichts, das Nichts … und alles
vergebens …
Langsam wurde er ruhig. Es war ein etwas schmerzhaftes
Ruhegefühl, wie wenn einem der Fuß einschläft, nur daß es nicht
der Fuß war, überhaupt nicht sein Körper. Auf seiner
Armbanduhr war es zwölf Uhr. Noch eine Stunde Wachdienst.
Dann essen. Das hatte ihm der Krieg beigebracht: immer essen;
auch vor einem Angriff. Essen und Trinken hält Leib und Seele
zusammen. Nachher würde keine Zeit zu verlieren sein.
Dabei sagte er sich immer wieder, er könne ja tun, was er
wolle, denn es könne gar nichts geschehen; die Erfüllung des
Wunsches sei völlig ausgeschlossen, ganz gleich, was er
unternehmen werde. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Etwa so, wie
ein Mann mitten in einem Alptraum die Unwirklichkeit seiner
Schreckbilder ahnen und eigentümliche, ohnmächtige Ruhe
finden kann.
Hier habe ich die Niederschrift längere Zeit unterbrochen.
Daß ich nun doch weiterschreibe, geschieht kaum, um einer
menschlichen oder literarischen Pflicht zu genügen. Nein, der
angefangene Bericht hat mir keine Ruhe gelassen. Das ist alles.
Was mir damals das Weiterschreiben verleidete, war die
Entdeckung, wie sehr die Art des Soldaten zu erzählen, ja sogar
der Stil seiner Manuskripte, meinen eigenen Bericht, mich selbst,
beeinflußt hatte. Das war schwer zu ertragen, obwohl es natürlich
seinen guten Grund hatte. Die Geschichte des Soldaten hat mich
nämlich von Anfang an so sehr beschäftigt, ich möchte fast
sagen, überrumpelt, daß ich heute oft kaum mehr zwischen ihm
und mir selbst unterscheiden kann. Nur indem ich mich immer
wieder auf die einfachen Tatsachen meines Stubenhockerdaseins
in England besinne, das ich von meiner Ankunft als Emigrant im
August 1938 bis zu meinem ersten Flug nach Berlin im Januar
1953 nicht ein einziges Mal verlassen habe, wird mir wieder klar,
daß nicht ich selbst es gewesen sein kann, der Helga gekannt hat.
Weil ich mich aber in dieses fremde Schicksal nachträglich so
tief verstrickt habe, daß mir die Wirklichkeit meines eigenen
Daseins oft weniger Ich ist als das Ich des Soldaten, fällt es mir
nur noch schwerer, diesen Bericht ohne Befangenheit zu Papier
zu bringen. In meiner Gymnasialzeit konnte ich, trotz meiner
angeblichen Frühreife, Entwicklungsromane, wo sie in die ersten
großen Erfüllungen der körperlichen Liebe mündeten, nie ohne
Herzklopfen lesen. Das legte sich später; Erwachsenwerden heißt
oft weiter nichts als Abstumpfen. Aber jetzt, bei der Niederschrift
dieser Geschichte, schnürt sich mir wieder der Hals zu, und die
Lippen werden mir trocken wie dem Soldaten.
Der Dienst und ein hastiges, eigentümlicherweise mit großem
Hunger hinuntergewürgtes Mittagsmahl waren vorbei. Ferner
denn je waren dem Esser der tassenklirrende Kantinenlärm und
das Plärren des ewigen Lautsprechers. Er sah und sah nicht die
fetten amerikanischen Illustrierten, die braunen Coca-Cola -
Flaschen in Reih und Glied und die langen hageren oder kurzen
dicken Uniformleiber. Er hörte und hörte nicht das
auftrumpfende oder heimwehkranke Wortgemisch, Deutsch mit
amerikanischen Brocken, Amerikanisch mit deutschen Brocken.
Er stand auf und streifte die Krumen ab. Er ging an die
aussichtslose und gefährliche Aufgabe, sich den Weg zu Helga
zu bahnen. Doch hat er dann später versichert, eigentlich sei das
alles ganz unerwartet leicht gegangen.
Das ist vielleicht gar nicht so verwunderlich. Abgesehen
davon, daß Menschen in der näheren Umgebung von
Armensündern oft aus schlechtem Gewissen sehr nachgiebig
werden, regten sich in den meisten Leuten, mit denen der Soldat
an jenem Nachmittag zu tun hatte, deutlich Kuppelinstinkte.
Auch das ist nicht selten, besonders in Zwangsgemeinschaften,
außer wenn Neid oder ein noch wirklich gültiger Moralkodex im
Wege stehen. Aber von den landläufigen Moralbegriffen war zu
jener Zeit nur noch gerade genug übrig, um die Leute, die dem
Soldaten halfen, zu einigen frivolen oder zynischen
Bemerkungen zu veranlassen. So entschuldigten sie sich
gewissermaßen vor sich selbst, aber der Sache, um die es ging,
war das weiter nicht hinderlich.
Bei ein oder zwei Wärterinnen trat dieser Kuppelinstinkt
sogar ganz urwüchsig und natürlich zutage. Sie wurden dadurch
fast schön. Es gibt eine Ebene, auf der zwischen der weinenden
Zofe einer Braut, der wohlwollenden Bordellmutter, der
Hohenpriesterin Astartes und der Gefängniswärterin eines zum
Tode verurteilten Mädchens kein Unterschied mehr besteht. Zwar
hatte der Soldat die Wärterinnen bestochen, die eine mit
Schokolade, die andere, jüngere, mit Nylonstrümpfen. Doch
diese Geschenke waren lächerlich klein, standen in so gar keinem
Verhältnis zum Wagnis der Wärterinnen, daß schon an ihrer
Geringfügigkeit die sogenannte Bestechung als Formalität und
bloße Spielregel erkennbar war; als Verneigung vor den
Nebengottheiten, um sie freundlich zu stimmen; als heimlicher
Ritus, den es zu erfüllen galt.
Die Kompaniekameraden, die im Gefängnis und in der
Administration Dienst taten, leisteten dem Soldaten gleichfalls
Vorschub und verbargen ihre Verlegenheit mit Summen törichter
Schlager und mit Witzen, die unanständig sein sollten. Das alles
verhallte hinter ihm, Polterabendgepolter, Satyrlieder der
Kumpane des Bräutigams vor der Brautkammer. Übrigens
scheint es, daß diese Männer alle froh waren, nicht in seiner Haut
zu stecken.
Das Augenzudrücken gegenüber dem Vorhaben des Soldaten
entsprach in mancher Hinsicht auch dem eigentlichen
Grundcharakter einer Armee und vielleicht mehr noch dem
Wesen des eben beendeten Krieges. Jede Armee ist im Grunde
eine Organisation mit negativen Zielen, eine Zusammenrottung
von Menschen zur Abwehr oder Niederwerfung eines Gegners.
Auch der eben beendete Krieg war eine negative Aktion gewesen
wie jeder Krieg, trotz seiner traurigen Notwendigkeit, trotz aller
positiven Kriegsziele, die ja zudem bei den einzelnen
Verbündeten völlig verschieden waren. Er hatte der
Niederwerfung eines gemeinsamen Todfeindes gegolten. Zwar
war es eine verabscheuenswerte Theorie und schändliche Praxis
gewesen, gegen die man zu Felde gezogen war, aber über den
Sieg hinaus konnte eine Armee ihrem Wesen nach nicht
Instrument zur Verwirklichung allgemeiner
Menschheitshoffnungen sein. Orgien der Sieger und Plünderung
der Besiegten, dies, und nicht Wiederaufbau und Umerziehung,
entspricht dem wahren Wesen einer Armee. Ja, daß die
Siegermächte es im allgemeinen vermochten, dieses alte Wesen
oder Unwesen bis zu einem gewissen Grade zu unterdrücken, rief
in vielen ihrer überlebenden Soldaten zuweilen ein dumpfes
Gefühl wach, irgendwie um den Sieg betrogen zu sein. Nun, da
der Feind seit einigen Monaten vernichtet war, machte sich in
Redensarten und zahllosen Handlungen und Unterlassungen eine
eigenartige Leere bemerkbar. Zunächst in der Seele des einzelnen
Menschen, aber dabei blieb es nicht, und schon damals
veränderte sich dadurch das Wesen der immer noch äußerst
schlagkräftigen Heeresorganisation.
Und auch in diesem besonderen Fall, in diesem juristischen
Nachspiel am äußersten Rande des Krieges, war mit der
Urteilsverkündung der Kampf aus, und in das Vakuum stürzte
sich ein Gewirr urtümlicher Instinkte und heimlicher Kräfte und
Gegenkräfte, die da und dort wirksam wurden und unter anderem
- fast nebenbei - die Disziplin der anwesenden Uniformträger
lockerten.
Mit wirklicher Milde hatte das Verhalten derer, die dem
Zusammenkommen Helgas und des Soldaten Vorschub leisteten,
wahrscheinlich ebensowenig zu tun wie das Todesurteil mit
Grausamkeit. Es handelte sich um etwas völlig anderes. Der
Soldat selbst hat mehrmals gesagt, daß ihm dieselben Leute mit
größter Selbstverständlichkeit unüberwindliche Schwierigkeiten
in den Weg gelegt und vielleicht sogar kurzen Prozeß mit ihm
gemacht hätten, wenn er versucht hätte, Helga zu befreien, zu
retten, statt nur ihre letzte Nacht mit ihr zu verbringen.
Wieso ihm an jenem Nachmittag noch überhaupt nicht der
Gedanke kam, Helga zu befreien, das hat er sich später oft
gefragt, aber ohne klares Ergebnis. Der Erzähler hat es
vermieden, darüber allzuviel mit ihm zu sprechen, aber er glaubt,
einer der Gründe kann die Liebe des Soldaten gewesen sein.
Der Soldat hat erklärt, er habe nicht nur nie in seinem Leben
einen Menschen so sehr geliebt, sondern auch nie zuvor ein so
tiefes Liebesgefühl für möglich gehalten. Man kann vielleicht
annehmen, daß eben diese übermächtige und völlig unerwartete
Liebe den Gedanken an Rettung gar nicht aufkommen ließ. Liebe
und Leben sind selten gleichgerichtet, und nur eine beherrschte,
gemäßigte und gewissermaßen schon in den Alltag eingebettete
Liebe hofft und plant sich selbst über ihre erste Erfüllung hinaus.
Hier aber hätten schon dieser ersten Erfüllung unüberwindliche
Hindernisse und Gefahren gedroht, wenn der Soldat gleichzeitig
Rettungspläne ins Werk gesetzt hätte.
Auch war diese Liebe in dem Soldaten unter den nun einmal
gegebenen Umständen groß geworden. Die Mächte der Vernunft,
der Vorschrift und Disziplin, die ihm im Wege standen, hatte er
ja keineswegs geschlagen, er hatte sie nicht einmal von sich
abgeschüttelt, sondern er war ihrem Griff nur entglitten, auf eine
ihm selbst rätselhafte Art, wie ein Kind zuweilen entschlüpfen
kann, weil es leicht übersehen wird, oder mit seinen eigenen
Worten: »Wie ich mir als Kind gedacht hab', wenn ich nur klein
und schnell genug wär', könnt' ich trocken zwischen den
Regentropfen durchlaufen.«
Und nun sank er in seine Liebe ein, tiefer und tiefer. Es war
keine wohlbegründete Liebe, sondern eine abgründige, keine
Liebe auf den ersten Blick, sondern eine Liebe auf den letzten
Blick; verirrt, verloren, bereit zum Aufbruch ins Grundlose.
Solche Gefühle reifen nicht, brechen nicht aus Blattwerk und
Knospe hervor, sondern sind einfach da, wie die Herbstzeitlosen,
ähnlich vielleicht der plötzlichen Leidenschaft, die ein Mann für
eine Dirne empfinden kann, wobei die äußere Unverbindlichkeit
der Begegnung über die Tiefe der in ihr gebundenen und
losgebundenen Mächte leicht täuschen kann. Vielleicht war auch
die kurzlebige Liebe des haltlos und dadurch grausam
gewordenen Fürsten aus ›Tausendundeiner Nacht‹ von dieser
Art, jene feindselige Liebe, die jeden Tag von des Mannes
Wissen genährt und genarrt wurde, daß die Geliebte seiner Nacht
am nächsten Morgen sterben müsse und ihm deshalb nicht den
geringsten Schmerz mehr bereiten könne, außer dem einen,
größten, von ihm selbst verhängten, eben daß sie starb.
Allerdings unterschied sich der Soldat von dem Märchenfürsten
dadurch, daß er das Todesurteil nicht aufheben konnte.
Der kurze Winternachmittag verging, ohne daß der Soldat zu
klarer Besinnung gekommen wäre. Er konnte sich später nicht
erinnern, in diesen Stunden, in denen er intensive Betriebsamkeit
entfaltete, irgend etwas empfunden zu haben; nicht Glück, nicht
Erwartung, nicht Trauer, nicht Angst, auch nicht Grauen. Es sei
immer noch wie die massive Dumpfheit eines eingeschlafenen
Fußes gewesen, erklärte er. Nur atmen konnte er nicht ganz ohne
Schwierigkeiten und machte sich deshalb Sorgen um seine
männliche Leistungsfähigkeit, was ihm - als er sich bei dem
Gedanken ertappte - widerlich und vor allem unsagbar lächerlich
erschien.
Ohne daß er selbst wußte wie, hatte er sich nach einigen
Stunden alle Wege geebnet, hatte alle Hindernisse beseitigt.
Unmöglich würde es also nicht sein. Wie ein Schlafwandler kam
er aus den weitläufigen Gefängnisgebäuden wieder ins Freie.
Der Rest des Nachmittags verging damit, daß er ein
Armeefahrzeug anhielt und sich in sein Quartier mitnehmen ließ,
wo er ein Bad nahm und sich rasierte. Beim Ankleiden fand er in
seiner Tasche eine Packung Schutzmittel, wie sie in den meisten
modernen Armeen verteilt werden. Er trug sie gleich seinen
Kameraden gewöhnlich bei sich, für alle Fälle. Nun sah er die
bedruckte Packung mit der sachlichen Gebrauchsanweisung
nachdenklich an, dann schüttelte er sich und warf das Ganze in
den Abort. Das war das einzige Mal an jenem Nachmittag, daß
die Starre ihn losließ. Er begann zu weinen, und die Tränen
brannten auf seinen frischrasierten Wangen. Wie
Gesichtsspiritus, dachte er. Dann hörte er wieder zu weinen auf.
Als er sich fertiggemacht hatte, ging er zu Fuß durch den
sinkenden Abend ins Gefängnis zurück. Er ging einfach hin.
Schokolade hatte er nicht mitgenommen, nicht einmal Zigaretten
trug er bei sich. Die letzte hatte er mittags weggeworfen. Er
brachte keine Geschenke. Das alles fiel ihm erst viel später ein.
Er machte sich auch keine Gedanken, was Helga sagen
werde, und ob sie es wirklich gemeint habe. So wie man beim
Gehen seine Füße gebraucht, ohne zu wissen, was man mit ihren
Nerven und Sehnen tut, ging er zu Helga. Nur dieses Fehlen aller
Überlegung von Mittel und Zweck, Ursache und Sinn gab ihm
Sicherheit. Es ist dies im Grund die einzige Art, beim Gehen
vorwärtszukommen. Wenn unsere Gliedmaßen denken könnten,
wären wir gelähmt.
Die wachhabende Wärterin hatte sich zurückgezogen, eine
zweite Wärterin rasselte mit Schlüsseln. Der eine der beiden
rauchenden Soldaten vor der Zellentür schlug ihm ermunternd
auf die Schulter. Dann ging die Tür vor ihm auf und fiel hinter
ihm zu. Der Schlüssel im gut geölten Schloß kritzte nur ganz
leise.
Helga sprang von ihrem Bett auf und wich gegen die Wand
zurück. Dann kam sie auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn,
so fest, daß es ihm in den Ohren zu sausen begann. Ihr nahes
Gesicht sah er nur undeutlich, denn sie küßten sich.
Hier muß die sonderbare und sentimentale Episode von den
Strümpfen erzählt werden. Ich habe schon zuvor erwähnt, daß der
Soldat die jüngere Wärterin mit Nylonstrümpfen bestochen hatte.
Daß es sich dabei wirklich um Bestechung gehandelt habe,
schien mir von Anfang an zweifelhaft. An einem der letzten Tage
vor seiner Abreise nach Amerika hat er mir dann noch die
folgende Episode berichtet, die sich seither als Notiz auf einem
Zettel in meinen Manuskripten herumgetrieben hat. Es ist ganz
einfach: als der Entschluß der Wärterin erst einmal feststand, die
beiden zueinanderkommen zu lassen, hatte sie die Nylonstrümpfe
in die Zelle gebracht und sie Helga aufgedrängt. Helga hatte -
wie nicht anders zu erwarten war - noch nie in ihrem Leben
Nylonstrümpfe gesehen. Dieser Umstand sowie das Staunen über
das plötzliche Geschenk der Wärterin und vielleicht auch die
Mitteilung, daß es der Soldat war, der die Strümpfe gebracht
hatte - das alles bewirkte schließlich, daß Helga an diesem letzten
Abend zum ersten Mal in ihrem Leben jenen damals auf allen
Schwarzmärkten Europas begehrten Artikel trug: Nylonstrümpfe.
Es gibt Geschenke, die ihren wahren Wert ihrer Sinnlosigkeit
verdanken. Aber dieser erste und einzige Ansatz zu weiblichem
Geschmücktseinwollen war vielleicht gar nicht so sinnlos: die
geschlagene Bewegung, die für Helga zuerst das Leben bedeutet
hatte und nun den Tod bedeutete, war eigentlich eine
Besessenheit der Männer gewesen: zwar verkommen, verirrt oder
schamlos verfälscht, aber immer noch unverkennbar letzter
Ausläufer uralter Männerriten, die in tausendjähriger
Vergessenheit heruntergekommen und böse geworden waren,
ähnlich wie die alten Religionen in späterer Zeit zu Hexenkulten
und heimlichen Mordbünden entarteten. Zwar waren Frauen
scharenweise ergriffen und mitgerissen worden, hatten den
Führern der Bewegung zugejubelt und waren hörig gewesen wie
die Hexen ihren Hexenmeistern. Aber im Kern war das Wesen
der Bewegung ein männliches. Die Frauen waren bestenfalls
Ergänzung, als chthonische Mütter oder als eugenisch einsetzbare
Instrumente zu planmäßiger Schaffung und Aufzucht neuer
Mannen. Wo aber Frauen in die uniformierte Elite mit
hineingezogen wurden, dort waren sie nicht Frauen, sondern
Männinnen gewesen, ohne Puder und Lippenstift, ohne
Seidenwäsche und Schuhe mit hohen Absätzen. Und es ging
dabei nicht um Wert oder Unwert der Frauenmoden des
Jahrzehnts, sondern um die Verleugnung des Weiblichen.
Die Nylonstrümpfe aber bedeuteten, daß Jeanne d'Arc ihre
Männerkleidung abgelegt hatte. Dieser vermessen klingende
Vergleich stammt vom Soldaten, nicht von mir. Aber ich stimme
ihm da zu. Streiterin Christi oder des Antichrist, Bewegung oder
Widerstandsbewegung - das Wort gilt, gleichviel ob als Parallele
oder als Spiegelbild. Und wenn es wirklich eine Gnade gibt, die
nicht von dieser Welt ist und die bis in die Todeszellen reicht,
welcher Mensch dürfte dann behaupten, daß diese Gnade eine
Geschlagene aus der Heerschar der anderen Seite nicht zu
erreichen vermag?
Das Spiegelbild Helga-Jeanne d'Arc erklärt auch etwas
anderes; etwas, was der Soldat nach einigem Nachdenken Helgas
Jungfräulichkeit genannt hat. Es handelt sich hier nicht darum, ob
in den Tagen des geschlagenen Regimes der eine oder andere
Mann ihr Bett geteilt hatte. Denn in ihrer Laufbahn als Männin,
in jener Bewegung, die mit dem Weiblichen im Grunde
unvereinbar blieb, war Helga einer Larve gleich gewesen. Und
Larven, auch wenn sie einander bekriechen, sind nicht paarig.
Dann war die Haft gekommen, der Prozeß, das Urteil; und nun
erst, an diesem Nachmittag, an diesem einen Abend, hatte sie
sich als Frau entpuppt. Dieser ihrer letzten gültigen Form konnte
der nahende Tod so wenig Abbruch tun, wie er die Eintagsfliege
beirren kann, für die Anfang und Ende der Vollkommenheit
ineinanderklingen. Und in dieser letzten Gestalt Helgas war der
Soldat ihre erste und einzige Begegnung, das Abstreifen der
Nymphenhaut und der Hochzeitsflug über den Wassern der
Geburt und des Todes.
Deshalb konnte sie ihm mit jener Weisheit begegnen, wie
man sie bei ganz unerfahrenen Mädchen findet, die sich immer
nur aus der eigenen Tiefe Rat holen müssen und nicht für alles
und jedes zwei, drei kleinliche, seichte Erfahrungen bei der Hand
haben. Erst eine alte Frau, die schon zu vergessen begonnen hat,
erinnert sich wieder dieser Tiefe. Unter dem Gewicht des
kommenden Tages hatte in Helga vielleicht auch dieses
Vergessen des Oberflächlichen schon begonnen. Auch ist im
eigenen Tod keiner erfahren, und diese Unerfahrenheit macht den
Menschen in seinen letzten Stunden unschuldiger, unbedingter
und trotz aller Abwehr erwartungsvoll. So stand es um Helga, als
der Soldat zu ihr in die Zelle trat.
Hier habe ich einige Erklärungen nachzuholen, die das Tun
und Denken der Hauptpersonen dieser Geschichte betreffen.
Das Verhalten des Soldaten ist leicht verständlich, so leicht
sogar, daß es für eine landläufige Erzählung zu wenig
ungewöhnlich wäre. Man weiß vom ersten Augenblick an, was er
tun wird.
Sein anfängliches Grauen vor dem Mädchen war zwar im
Umschlagen seiner Gefühle keineswegs völlig verschwunden;
aber gerade dieses Grauen konnte einen Menschen, der in einer
Welt, in der das Grauen eine wesentliche Rolle spielt, schon
längst seinen Weg verloren hatte, auch anziehen und im
eigentlichen Sinn des Wortes bannen. Es muß nebenbei erwähnt
werden, daß der Soldat sich bei der Beschreibung jenes
Nachmittags mehrmals widersprochen hat. Es scheint, daß er
trotz aller Benommenheit und trotz der Starre, die ihn hinderte,
tief zu atmen, doch ununterbrochen von einem Strom heftiger
Gefühle und phantastischer Gedanken heimgesucht wurde. Er
empfand, daß er, indem er zu Helga ging, den gleichen Weg
nahm, den seine zugrunde gegangenen Verwandten und Freunde
genommen hatten. So war seine Haltung zum Teil auch passiv
und fast schmerzselig, und er suchte mehr als bloß das
Zusammensein mit Helga. Vielleicht war das Mythische stärker
als das Sinnliche. Aber unter den bestehenden Umständen mußte
jede Erfüllung die Schmerzseligkeit in sich schließen, um
überhaupt Erfüllung zu werden. Darum war seine Haltung bei
weitem nicht so abwegig, wie sie ohne Berücksichtigung dieser
ungewöhnlichen Umstände erscheinen müßte. Außerdem
beschwerte ihn das Gefühl, selbst ein Teil der Macht zu sein, die
sich anschickte, am nächsten Tag an dem Mädchen das Urteil zu
vollstrecken. Daß er seinen Weg in ihre Zelle zugleich auch als
Teil dieses Strafvollzuges empfunden haben dürfte, widerspricht
dem nicht wirklich. Er war Henker und Opfer einer todgeweihten
Todesgöttin, Sühner und Büßer eines Bluturteils, das er selbst
vollstrecken half, marodierender Soldat, römischer Legionär, der
in den Kellerlöchern des Kolosseums in der Nacht vor den
öffentlichen Menschenzerfleischungen der Arena das heimliche
jus ultimae noctis ausübte. Zwei, drei Stunden später waren ihm
alle diese Grübeleien und Theorien unwichtig geworden,
gegenstandsloser Unsinn, der einen wirklichen Menschen, der
noch lebte, nie ergründen konnte. Aber in den ersten
Nachmittagsstunden hatte er - außer seiner Angst und Sehnsucht
- noch nicht viel anderes als Theorien. Dennoch, ja vor allem,
und quer durch all das hindurch, war er aber auch schon an jenem
Nachmittag ein bis zur Verzweiflung Liebender.
Daß die Theorien überhaupt so in ihm wuchern konnten wie
sonst höchstens in sehr unreifen, unerfahrenen Menschen, hatte
seinen Grund zum Teil im Furchtbaren der Lage, zum Teil aber
auch einfach darin, daß der Soldat etwas, was wir im
gewöhnlichen Leben eine persönliche Beziehung nennen würden,
zu Helga noch nicht hatte, ja noch nicht haben konnte. Er kannte
sie noch gar nicht. Ehe er in der Zelle stand, hatte er nie ein Wort
mit ihr gesprochen. Es war eine Begegnung, wie sie sich nur in
einer ziemlich aus den Fugen gegangenen Welt ereignen konnte.
Wie weit auch er selbst mit seiner Welt schon zerfallen war, das
wußte der Soldat an jenem Tag noch nicht. Es war der letzte Tag,
an dem er es noch nicht wußte.
Hier wollte ich ursprünglich einige längere Manuskripte des
Soldaten einschalten, die über seinen Seelenzustand und seine
Zerfallenheit mit Zeit und Umwelt besser Auskunft geben
könnten als alles, was ich darüber sagen kann. Einige dieser
Manuskripte sind noch vor seiner Begegnung mit Helga
entstanden, andere später, zum größeren Teil in einem
amerikanischen Armeehospital. Sie sind aber zu umfangreich, um
hier eingefügt zu werden, und er selbst hat schließlich eine Stelle
gegen Ende dieses Berichtes ausgesucht, wo seine Manuskripte
eingefügt und auch ihre Zusammenhänge untereinander und mit
den hier festgehaltenen Ereignissen kurz erklärt werden können.
Literarisch sind seine Arbeiten natürlich nicht alle gleichwertig,
aber seine Prosa ist im allgemeinen besser als seine Gedichte,
und außerdem sind sogar weniger geglückte Versuche oft
interessant und von unerwarteten Seiten her aufschlußreich. Aber
zunächst kann man auch ohne diese Manuskripte dem Gang der
Ereignisse folgen.
Was den Seelenzustand des Soldaten betrifft, so haben wir,
wie schon erwähnt, sein Wort dafür, daß ihm an jenem
Nachmittag, als er sich auf den Weg zu Helga machte, noch nicht
ganz bewußt wurde, wie sehr er mit seiner Welt schon zerfallen
war. Als er davon sprach, erwähnte er abermals den Toten
Winkel, jenen Raum im Schatten einer Batterie, den ihre
Geschütze nicht bestreichen können. »Ich war zu nah dran, ich
hab' gar nichts gespürt und gedacht. Erst nachher hat's mich
erwischt«, sagte er, »dafür aber desto gründlicher.«
Helga hingegen wußte sehr wohl, wie sehr sie mit ihrer
Umwelt zerfallen war. Erstens geht eine Welt durch ihre
Niederlage viel deutlicher, unverkennbarer zugrunde als durch
ihren Sieg. Und zweitens gab es für Helga keinen nächsten Tag
mehr: unverkennbar war auch ihr eigener Untergang. Es gibt aber
ein Wissen, das unter allen Umständen gewußt werden will, und
da ihr zum Wissen nicht mehr viel Zeit blieb, wußte sie es eben.
Ähnlich wie das Kind im Mutterleib die ganze Entwicklung der
Lebewesen in einer den Weltzeiten gegenüber unendlich
verkürzten Zeitspanne wiederholt, nimmt ein Sterbender nicht
nur die Entwicklung seines eigenen Lebens dem Schicksal
vorweg - so daß vielleicht kein Säugling stirbt, ohne im letzten
Flimmern einer Todessekunde uralt geworden zu sein -, sondern
das vergehende Einzelleben greift auch in die Biegung der
künftigen Jahrhunderttausende und zuckt voraus bis ans Ende der
Menschheit. Auch dieser Vorgang, der das Opfer dem Opfernden
entrückt und zuletzt die verbundenen Augen sehend macht,
durchdrang und verwandelte die letzte Nacht von Helgas Leben
und hatte nun, am Abend, schon begonnen. Doch davon läßt sich
nichts Erklärbares wissen oder aussagen, und das ist vielleicht
gut so.
Eines hat Helga offenbar selbst gesagt, daß sie den Soldaten
weder liebte noch anziehend fand, als sie ihren letzten Wunsch
aussprach. An die Erfüllbarkeit dieses Wunsches hatte sie
ebensowenig geglaubt wie die Umstehenden; er war nicht viel
mehr als Trotz und Angst vor dem Nichts gewesen. Dem Nichts
sucht man ja oft ins Geschlecht zu entfliehen. Die Wahl der
Person des Soldaten aber war - wenigstens an der Oberfläche -
dem Zorn Helgas über sein Auflachen zuzuschreiben, das sie, wie
schon erwähnt, mißverstanden hatte.
Aber am Abend des gleichen Tages, als der Soldat in der Tür
ihrer Zelle stand, hegte Helga anscheinend schon ganz andere
Empfindungen für ihn. Dies ist bei weitem nicht so einleuchtend
wie das - wenn man von moralischen Vorurteilen absieht - fast
selbstverständliche Gefühlsschicksal des Mannes. Aber offenbar
hatte Helga zunächst mit dem Aussprechen ihres Wunsches
etwas zwischen sich und das Sterben gesetzt. Nun bietet aber das
Sterben selbst, die endgültige Einholung des Nichts durch das
Sein, trotz seiner gefühlsüberwucherten Nebenumstände dem
Gefühl keinen Halt mehr. Somit war dieser Mann mit einem Mal
das letzte, was es für Helga gab, der letzte Turm des Diesseits,
der letzte Brennpunkt aller irdischen Gefühle.
Er war das alles zunächst nur als Gedankenspiel, wie ein
Tagtraum, ein Wunsch aus einem Märchenbuch der Kindheit
oder eine Phantasie der Pubertät. Dann aber, als Helga von der
Wärterin gefragt wurde, ob sie das zu dem Soldaten im Ernst
gesagt habe, und wieder einige Stunden später, als sie von seinen
Bemühungen erfuhr, gegen alle Vorschriften zu ihr
durchzudringen, wurde ihr dieser Mann bitter-notwendige
Unterbrechung der Stunden zum Tode; wurde Sehnsucht,
Hoffnung, immer deutlichere Verkörperung des Lebens im
sinkenden Dunkel der vorabendlichen Zelle; wurde geflüsterte
Bestätigung, Schritt draußen auf dem Gang und Bewegung der
Türe. Noch ein Zusammenzucken, Zurückweichen und
Entgegenfallen, und dann nichts mehr von den einzelnen Zügen
seiner kaum erinnerten Gestalt. Auch nichts mehr von den
wechselnden Zügen ihrer eigenen Gefühle, sondern alles
zugleich, in vollen Zügen; alles, was es gab, was gegeben werden
konnte und was es je geben würde. Hergegeben und hingegeben
in einem Zug. Alles.
Daß Helga auch gehört hatte, er sei Jude und deutscher
Emigrant, hatte in ihr Gefühl noch etwas anderes gebracht, eine
im Grunde unpersönliche Bestärkung und Bestätigung dieses
Gefühls aus einer Sphäre weit außerhalb der Todeszelle; aus
einer Sphäre, die das Besondere mit einem Mal wieder ins
Allgemeine verwurzelte, von dem es schon tödlich losgerissen
schien. Ich meine Helgas Weltanschauung oder doch den ersten
und letzten Ansatz Helgas zu einer eigenen Weltanschauung.
Nach dem Anhören der langen Berichte des Soldaten bin ich
überzeugt, daß Helga ihre frühere Gesinnung aufgegeben hatte,
obwohl sie ihr noch während des Prozesses scheinbar so
hartnäckig treu geblieben war. Diese vielleicht lächerlich
klingende Erklärung wäre nicht notwendig, um des Soldaten
Liebe oder auch nur meine eigene Einstellung zu rechtfertigen,
denn Liebe bedarf keiner Rechtfertigung. Aber den Berichten des
Soldaten war zu entnehmen, daß diese zwei Faktoren, Helgas
Liebe und die unerbittliche Klärung ihrer Gedanken durch das
Nahen des Todes, sprungartig eine Entwicklung in ihr
vollendeten, die mit dem Zerfall des vernichteten Regimes
begonnen hatte.
Ich lege Wert darauf, die Heldin der Geschichte des Soldaten
- und mithin auch meine Heldin - eindeutig darzustellen, weil sie
sich gegen Anschuldigungen nicht mehr verteidigen kann. Nicht,
daß Helga sich nach dem Wind gerichtet hätte, der zu ihrer
Hinrichtung wehte; das hat ein zum Tode Verurteilter nicht mehr
nötig. Aber die Zerschmetterung und völlige Ohnmacht einer
Welt, die ihre Rechtfertigung und alle ihre ungeheuerlichen
Ansprüche im Grunde einzig und allein aus ihrer eigenen
Machtfülle und Herrlichkeit abgeleitet hatte, war gerade in den
Augen der von ihr einst wirklich Überzeugten das, was die
Niederlage einer humanen und irgendwie wohlwollenden
Bewegung oder politischen Partei nie ganz sein kann: ihre
endgültige und überzeugende Widerlegung.
Das Gerichtsverfahren hatte diese Entwicklung nahezu
vollendet. Es war für Helga nicht Recht und Gerechtigkeit,
sondern ein todernstes Spiel mit vertauschten Rollen, in dem sie
sich an der Stelle jener fand, über die sie im Lager Herrin
gewesen war. Das einzige Gegengewicht, die einzige
beruhigende Bestätigung ihrer bisherigen Grundsätze fand sie in
dem fast von Anfang an über ihr hängenden Todesurteil. Dieses
letzte Auskunftsmittel, das die Reue untätig und unwichtig
macht, schien ihr wenigstens in dieser einen Hinsicht die größere
Ehrlichkeit der gestürzten Barbarei zu beweisen. So kam es, daß
sie während der Verhandlung nichts von dem zugab, was sie
schon an Zweifeln oder Reue empfand. Wer zuletzt die gleichen
Mittel gebrauchte, die sie im Lager gelernt hatte, dem konnte
man auch nach den Grundsätzen begegnen, die dort gegolten
hatten. Und schon im Lager war sie besonders verbissen und wild
dann gewesen, wenn sie gespürt hatte, wie ihre eigenen Zweifel,
ihr eigenes Entsetzen in ihr wuchsen. Dann mußte sie ihre Eltern
niederschreien, sie durfte ihnen nicht die Freude des
Rechtbehaltens machen: nicht ihnen und nicht den andern!
All dies und noch viel mehr hat der Soldat mir erzählt, an drei
oder vier langen Abenden, bruchstückweise und mit endlosen
Wiederholungen. Es ist verwunderlich, daß jene zwei Menschen
in ihrer einen Nacht Zeit fanden, auch von diesen Dingen zu
sprechen, und es war Helga, die darauf bestand, es zu sagen. Es
scheint, daß für sie der Soldat - gerade weil er der ›anderen Seite‹
angehörte, und weil er Jude war - in ihrer sich neu bildenden,
gedrängten und letzten Welt die Stelle verkörperte, an der
Abbitte geleis tet und etwas gutgemacht werden mußte; und
Helga konnte jetzt zum ersten Mal Reue zeigen, weil keine Reue
mehr von ihr verlangt wurde. Aber sooft sich der Soldat seit
seiner Rückkehr nach Deutschland, die keine Heimkehr war, als
Geschädigter und Beleidigter gefühlt hatte, dem Abbitte gebührt -
ein Gefühl, dessen er sich fast bewußt bedient hatte, um das volle
Gewicht der Trauer über die Zerstörung seiner alten Heimat von
sich abzuhalten -, gerade jetzt konnte er sich in diese Rolle nicht
mehr finden, denn er war es ja, der Helga über ihren Tod trösten
und diesen Tod im voraus sühnen wollte. So waren Helga und
der Soldat in einem tiefen Gegensatz vereint, und sie hätten sich
vielleicht noch zuletzt im Wettstreit ihrer Schuldgefühle in ein
groteskes, tragikomisch auswegloses Mißverständnis verstrickt,
wenn ihre Worte und Erklärungen mehr gewesen wären als ein
winziger knisternder Funke in jener Nacht.
Der Bericht über diese Nacht findet sich in den Manuskripten
des Soldaten unter der Überschrift Die Nacht. Er ist eine von
zwei mit Bleistift geschriebenen Arbeiten, die beide während
seines Zusammenbruchs entstanden sind. Die andere Arbeit, die
keine Überschrift trägt, schildert ein Gewirr von Ereignissen und
Eindrücken oder Phantasien des darauffolgenden Morgens. In
beiden Arbeiten schreibt der Soldat von sich selbst in der dritten
Person, als wolle er immer noch Abstand halten. In beiden
Arbeiten bedient er sich auch - vielleicht zum Teil aus dem
gleichen Grund - seines eigenartigsten Kunstmittels, des
›ernsthaften Wortspiels‹, wie er es nennt. Er hat das anscheinend
aus der neueren Literatur seiner zweiten Heimat übernommen,
aber bis an die Grenzen des Möglichen weitergeführt. »Ich
glaube, diese sogenannte Wortspielerei verschafft einem eine Art
Gegengewicht, wenn alles rund um einen her einstürzt«, sagte er
einmal darüber. Ich mußte mich zunächst an diese Form
gewöhnen. Nun aber ertappe ich mich oft dabei, daß ich sie,
ebenso wie manche andere seiner stilistischen Eigenheiten,
nachahme. Aber das ist unwichtig, und das Manuskript, das hier
folgt, bedarf keiner weiteren Einleitung.
DIE NACHT
Nacht ist Nacht, Liebe ist Liebe. Man weiß, wieviel Beine
zwei Menschen haben, wieviel Brüste, wieviel Finger und Lippen
und Zähne. Man weiß, wie das Geschlecht beschaffen ist und daß
man nackt sein kann. Man weiß alles, und man hat es schon
immer gewußt.
Aber das stimmt nicht. Nacht ist nicht Nacht, Liebe ist nicht
Liebe. Man weiß nicht, wieviel Hände und Lippen es sind; man
weiß nicht, wie das Geschlecht beschaffen ist; und man hat es nie
gewußt, und man wird es nie wissen. Und ob nicht die Toten oder
die, die nicht mehr geboren werden, ihr ganzes Leben und ihre
ganze Sehnsucht in die Liebenden bohren und ihnen alles
mitgeben, oder ob sie ihnen alles nehmen und alles mitnehmen.
Denn wer erzählt, was noch zählt? - an diesem einen Ziel in
der Nacht vor dem Zahltag, wenn schon alles zur Reise gerichtet
ist, ohne Hin und Her, ohne Richtung und ohne Richter. Denn ist
auch schon alles zur Hinrichtung hergerichtet, so ist es doch noch
weit; vielleicht in einem anderen Land; dort und nicht hier. Und
das Heer aus dem anderen Land, die Flut der Sieger, schmilzt hin
und versiegt; denn das Meer wird zur Ebbezeit weniger, und es
kommt die Zeit, die verzeiht. Dann vergeht und verschwindet
jeder Krieg und jeder Tod, und das Heer ist nur noch der letzte
Soldat, der in der innersten Zelle der innersten Zelle steht, dort,
wo das Gefangene ihn gefangennimmt und umfängt.
Nagt denn die Sorge noch an denen, die nackt sind? Und was
morgen würgt, wirkt es schon in dieser Nacht; schont es sie
nicht? Ist nicht die Todeszelle die letzte Zelle des Lebens, eine
Stelle der Stille im Wirbelwind des Verwehens, an der sich das
Entzweite wieder vereint und das Verwaiste und das Verrohte
weiß und rot wird?
Alles ist offen, nicht nur die Zelle. Und alles ist zugefallen
und geschlossen, nicht nur die Zellentür hinter dem Soldaten. Sie
selbst sind einander zugefallen und offen, der offene Zufall; und
sie halten einander umschlossen. Ein Soldat ist kein Soldat mehr
ohne Uniform. Vielleicht ist er nie ein Soldat gewesen. Wie
leicht ist er nie ein Soldat gewesen! Und auch Helga ist nicht
mehr, was sie gewesen ist, und ist noch nicht, was sie werden
wird.
In dieser Nacht bewährt sich alles, als sollte es ewig währen
als ewige Wahrheit. Und Helga ist er, und er ist sie; und er ehrt
sie, und er ißt sie. Und sie sieht ihn, und die Nacht ist nackt.
Weiter und weiter, näher und näher, aneinander genährt und
einander geweiht: das weite Sichauftun vor dem Abgetanwerden,
das Erleben vor dem Ersterben. Sie eröffneten sich und
erschlossen sich, eines dem andern, sie suchten einander und
fanden einander, sie versuchten einander und empfanden
einander. Sie waren einander Fülle und Leere, eines fühlte das
andere und lehrte das andere. Sie füllten einander und leerten
einander, und die Fülle der Nacht vernichtete jede falsche Lehre.
Mann und Frau, erhaben und vertieft, einander Erhebung und
Vertiefung, taufen ihre Höhen und ihre Tiefen mit dem Wasser
aus dem Staub, denn sie sind der Sterblichen lebende Brunst und
die Brunnen, die brennen.
Dann sind sie nichts. Sie sind nichts mehr und sind doch mehr
als das Nichts: sie sind Meer. Das Stille Meer und das Tote Meer,
das Schwarze Meer und das Rote Meer; das weiße Eismeer und
das rote Feuermeer. Ein Weißes und ein Rotes, ein Lebendes und
ein Totes, ein Schwarzes und ein Weißes, und wenn das Kind
nicht schlafen will, dann kommt das Schwarze und beißt es.
Sie sind die Küste, und sie sind die Küsse. Sie sind der Sand
an der Küste, und sie sind der Sund, und sie sind die Sünde, und
sie sind die Sinne, und sie sind die Sonne und der Mond und der
Mund, und sie sind die Sterne, und sie sind Stirne an Stirne. Sie
waren, und sie werden sein, und sie sind; sie sind der Sinn.
Und sie sind verfilztes Tanggrashaar über den Tiefen und
Untiefen des Meeres, und sein Busen und Schoß und reitender
Schaum und verschwendeter Gischt, und sie sind die offene See
und die Brandung. Und ob es die älteste Nacht ist, und ob es der
Jüngste Tag ist, die Zeit, die verzeiht, die Zeit zum vorletzten
Schlaf, denn auch was nackt ist, nickt ein - das alles wissen sie
nicht. Und was heißt Schlaf, und was heißt schlaff? Und was
heißt Wachen, und was heißt Wachsen, heiß wachsen? Das
fragen sie nicht, denn sie sind die brennenden Brunnen, sie sind
die verheißene Flut. Sie überfluten und überschwemmen
einander, sie tragen einander, sie ziehen einander hinab und
stemmen einander hoch. Sie tränken einander und trinken
einander und ertrinken ineinander.
Aber die Sintflut flaut ab und verebbt, und die nassen Berge
heben sich dampfend ins Himmelblau. Wieder teilt sich ihnen ihr
Wasser und Land, und unter ihren Lenden sind Länder und
Küsten. Und sie kosten das bittere Salz, und ihre kostbaren
Tränen trennen das Blau des Auges vom Blau des Himmels.
Dies ist der neue Bund, sie sind verbunden und verbündet.
Beide sind gebogen von dieser Erregung und sind der doppelte
Regenbogen. Sie sind das Tor des Himmels, und sie sind die
Zeugen. Sie sind es, die zeugen. Und sie haben einander noch
viele Länder zu zeigen, die Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeiten, die Arme der Welt und ihre Fraulichkeiten. Und
in der Mitte den Baum des Lebens.
Im Baum des Lebens erlaubt das redende Laub, was der
Baum der Erkenntnis ihnen verboten hat. Ihr Botenstab war nur
ein letztes dürres, entwurzeltes Reis, ein Stab aus Staub, aber hier
pflanzen sie ihn auf. In diesem Grund wird ein Wanderstab zum
Wunderstab und bohrt gegen alle Gebote das entbehrte Wasser
aus Stein und Staub und macht das ärmste Stück Erde zum
Erdreich. Der Stab reicht zum Baum des Lebens hinauf wie die
Stäbe der Jungen, die Kastanien von den Zweigen schlagen. Aber
hier wird nichts abgeschlagen, sondern der Stab trägt Blüte und
Frucht; sein Abfall ist ein Apfel.
Die Äpfel von Odin und Idun und Eden rollen am Grund. Der
fruchtbringende Stab ist als Zeltstange aufgepflanzt, damit das
Sehende bei dem Seienden wohnen kann; ein Zelt für das Blinde
und für das Blonde, für die Braut und den Freier, der kein
Befreier mehr ist; für die Feier und für das Feuer.
Denn sie selbst sind Flammenzungen, die am Baum des
Lebens lecken; die lockenden Zungen, die ihr eigenes Feuer
lockern und schüren, die gelbroten Locken, die als Schlangen den
Hals umschnüren. Ihre Arme und Beine sind Zangen und
Scheren, die rechten und linken richten und lenken, und sie
bäumen sich am Fuß des Baumes auf und stammeln ohnmächtig
am mächtigen Stamm, an dessen Wurzeln schon die Axt gelegt
ist. An ihrem Fürchten sollen sie sich erkennen!
Und sie erkannten sich. Und sie erkannten, daß sie nackt
waren. Und sie erkannten, daß es Nacht war.
Die Nacht aber ist die Nacht, die eingezeichnet ist in alle
anderen Nächte und ausgezeichnet ist vor allen anderen Nächten;
der Übergang von der einen Seite auf die andere, der Untergang
aller Verfolger und die Empörung; das endlose Irren in der Wüste
und das Opfer und das Blut und der Sündenbock und die Eherne
Schlange; und der Tod aller, die in das Abenteuer ihrer Befreiung
ausgezogen sind, auch wenn das Rote Meer nicht über ihnen
zusammenschlägt. Denn eine Generation muß erst sterben.
Ich wußte nicht recht, was ich mit dem Soldaten anfangen
sollte, als ich diese Blätter gelesen hatte. Er saß da und war kein
Soldat mehr. Zur Zeit, als das alles geschehen war, mußte er noch
etwas anders ausgesehen haben; besser trainiert und gedeckt von
seiner Uniform. Eine Uniform ist etwas unpersönlich Gültiges
und zugleich etwas Nacktes. Diese Nacktheit der Uniform hatte
er nun verloren. Ich sehe ihn noch auf dem Sesselrand hocken, in
seinem grauen Zivilanzug aus amerikanischem Gabardine, und
einen Zigarettenstummel töten oder an seiner schwarzen
Armbinde zupfen - ein gutmütiger, zur Traurigkeit neigender
jüdischer Intellektueller. Etwas zu dick, doch das ist, wie gesagt,
oft nur eine Art Panzer gegen die eigenen Nerven, die man in Fett
einbettet; ein Bollwerk gegen die Verzweiflung. Er selbst hatte
das einmal gesagt: »Eine Weltanschauung kann wie ein Korsett
sein, das hält einen zusammen. Aber wenn sie kaputt ist, dann
geht man aus dem Leim.«
Ja, dachte ich, er ist ein wenig aus dem Leim gegangen. Und
er spricht zuviel. Klug, aber zuviel. Von dem, was gilt, hat er
schon gestern genug gesagt. Mehr als genug; jetzt bettet er es nur
noch in Fett ein. Ich weiß das alles schon, ich erinnere mich aller
seiner Erinnerungen. Ich weiß auch, daß es Augenblicke gibt, in
denen ich ihn hasse, aufgestachelt von einer unsinnigen
Eifersucht, gegen den Strom der fließenden und schon
verflossenen Zeit. Ich weiß, daß mir der Gedanke gekommen ist,
man könnte diesen Mann vielleicht zum Selbstmord treiben, weil
er Helga nicht gerettet hat.
Aber das ist Unsinn. Er hat getan, was er konnte, und man
muß Mitleid mit ihm haben. Man muß! Und wenn er wirklich
Selbstmord beging, so wäre es auch nicht leichter zu ertragen;
oder doch nicht viel leichter. Ich tue ihm Unrecht.
In den verlassenen und unwohnlich gewordenen Gängen und
Räumen sonderbarer alter Rechte und Gerechtigkeit klingt noch
da und dort ein Echo auf.
Ein wilder Stamm - ich glaube, es waren Indianer im
Amazonasbecken - bindet zum Tod verurteilte Frauen in der
Nacht vor der Hinrichtung an den Pfahl auf dem Dorfplatz. Dort
darf sie genießen, wer will; doch es heißt, daß von diesem Recht
seit langer Zeit kaum noch Gebrauch gemacht wird. In dieser
Sumpfgegend hat jetzt der frühere Faschist aus der Londoner
Glasfabrik sein Lager aufgeschlagen. Sein Gesicht leuchtet im
Widerschein der Glasbrennerlampen von Mayfair feist und
schweißnaß, ein zweiter Mond aus weißlichem Schlamm. Er
wartet der Opfer, die da kommen sollen. Einmal hat er etwas zu
sehen geglaubt, aber das war nur ein Mann, noch dazu in
amerikanischer Uniform und jüdisch aussehend. Allenfalls hat er
ihn angerufen, denn am Amazonas gibt's nicht viel Gesellschaft,
und in der Not frißt der Teufel Fliegen. Aber der Jud in Uniform
hat ihn gar nicht gehört und ist vorbeigetorkelt und hat sein Lager
verfehlt. Vielleicht ist er überhaupt nur ein Geist gewesen. Also
wartet er weiter. Er wartet, daß eine Frau festgebunden wird. Ihm
ist jede recht.
Das andere Recht ist altes deutsches Recht, Stadtrecht,
Landrecht, Stammesrecht. Ein Verurteilter kann vom Tod gelöst
werden, wenn sich ein ehrbarer unbescholtener Christenmensch
findet, der ihn zur Ehe begehrt. Solche Ehe löst von Rad und
Galgen, doch der Losgegebene ist seinem Ehegemahl für den
Rest seiner Tage leibeigen.
Dieses Recht ist uralt und ist mit den Jahrhunderten
zerbröckelt und verwittert, so daß schon in längstvergangenen
Zeiten in jener Stadt nur ein Weib einen Mann lösen konnte, im
benachbarten Herzogtum nur ein Mann ein Weib. Aber hier soll
festgehalten sein, daß irgendwann und irgendwo gegen den
Todesspruch dieser Raum des Lebens gezimmert war. Er steht
leer, denn Helga und der Soldat haben keinen Schlüssel. In den
Staub des erblindeten Fensters hat ein Kind mit dem Finger einen
Galgen gezeichnet, mit einem Gehenkten und mit Raben, die wie
der Buchstabe V aussehen, oder wie ein aufgeschlagenes Buch.
Wie der Soldat nach jener Nacht Helgas Zelle verlassen hat,
darüber war von ihm keine zusammenhängende Auskunft zu
erhalten und vielleicht auch nicht zu erwarten. Er sprach vom
Frost und von einem langsamen Morgen, der die Unendlichkeit
der vergangenen Nacht Lügen strafen wollte, dabei aber nur
doppelt erbärmlich wurde und die hallenden Gefängniskorridore,
die hüstelnden Beamten und gepflegten Offiziere anfraß und hohl
und grau machte.
»Eine Wärterin hat einen Schlüssel umgedreht, und zwei
wachhabende Soldaten waren unrasiert.« - »Nachher im
Wartezimmer war es kalt. Ich hab' meinen Hauch gesehen. Ich
hab' die Fensterscheibe angehaucht, und da hatten wir die
Bescherung! Irgendwer muß es hingeschmiert haben, aber sehn
hat man's erst können, wie ich das Glas angehaucht hab'. Ein
Galgen mit einer Frau dran. Da hab' ich die Scheibe eingehaut.«
Es scheint, daß er nach dem Einschlagen der Fensterscheibe
im Administrationsgebäude in aller Eile dem kommandierenden
Offizier vorgeführt wurde. Auch der Arzt kümmerte sich um ihn,
denn er hatte sich die Hand ziemlich übel zugerichtet.
Auf alle weiteren Fragen des Erzählers hin sprach der Soldat
aber nur immer wieder vom Toten Winkel. Nach Art ratloser
Menschen, die endlich für etwas eine Erklärung gefunden haben
und nun alle Fragen der Welt damit lösen wollen, versuchte er
unter diesem Begriff auch vieles zu verstehen, was mit dem
militärischen Fachausdruck nichts zu tun hat.
Toten Winkel nennt man den Winkel, innerhalb dessen ein
Geschütz oder Gewehr nicht in Aktion treten kann, weil sein
Standort oder die Grenze seiner Richtbarkeit das nicht gestatten.
Es handelt sich dabei meist um Gelände in unmittelbarer Nähe
einer Feuereinheit, mag diese nun ein Befestigungswerk oder ein
Panzer sein.
Der Soldat wiederholte auf die verschiedensten Fragen, die
Zelle, in der er mit Helga die Nacht verbrachte, sei im Toten
Winkel des Todesurteils gelegen: »Tod kürzt sich gegen Tod, so
ist uns ein freier Raum geblieben bis zum Morgen.« Am Morgen,
erklärte er, sei er aus dem Toten Winkel hervorgetreten.
Es steht fest, daß der Soldat an jenem Morgen auf seine
Umgebung einen verstörten Eindruck machte. Er gab sich Mühe,
die gleiche Betriebsamkeit zu entfalten, die ihm am vergangenen
Nachmittag den Weg zu Helga gebahnt hatte. Diesmal ging es
ihm darum, die Vollstreckung des Urteils zu verhindern. Aber er
scheint ziemlich unbeholfen zu Werke gegangen zu sein, ganz
abgesehen von der Aussichtslosigkeit eines solchen Vorhabens.
Tags zuvor hatte er sich ruhig gefühlt, gewissermaßen erstorben,
als sei ihm der Fuß eingeschlafen; nur atmen habe er nicht gut
können. Nun aber war der eingeschlafene Fuß wieder aufgewacht
und brannte unerträglich. Und er atmete zu tief. Er weinte sogar.
Die ihm vor wenigen Stunden geholfen hatten, waren über
Nacht nicht Unmenschen geworden. Nur einer meinte, seinen
Spaß habe er gehabt, und nun solle er keine Geschichten machen.
Die anderen versicherten ihn ihres Mitgefühls, aber sie hatten
Angst, sich Unannehmlichkeiten zuzuziehen. Er nickte nur.
Tröstungen wie ›Sterben müssen wir schließlich alle!‹ waren
unanfechtbar, wurden aber in diesem Augenblick in seinen Ohren
aus axiomatischen Wahrheiten zu scheinheiligen Lügen.
Immerhin, und obwohl man ihn warnte, das werde noch seine
schimpfliche Entlassung zur Folge haben, erwirkte man ihm eine
Vorsprache beim Kommandanten.
Im Wartezimmer schlug er dann die Fensterscheibe ein, und
so kam es, daß der Kommandant schon ungefähr wußte, in
welcher Verfassung er den Mann finden werde, als er ihn rufen
ließ. Der Arzt war schon zuvor beim Kommandanten gewesen,
und das war kein Zufall. Als im Vorraum das Glas zerklirrte,
nahm der Arzt gerade seine Instruktionen entgegen; er hatte die
Aufgabe, den Hinrichtungen als Beobachter beizuwohnen.
Soweit sich das heute noch feststellen läßt, graute ihm vor dieser
Pflicht, und er scheint das Verbinden der zerschnittenen Hand
des Soldaten im Vorzimmer und dann die Überwachung des
offenbar verstörten Mannes im Büro des Kommandanten als
Ablenkung und Erleichterung empfunden zu haben.
Der Soldat (soweit er über das Gespräch mit seinem
Kommandanten überhaupt Auskunft geben kann) begann mit
einigen nicht sehr verständlichen Sätzen von dem Galgen an der
Fensterscheibe. Aber der Kommandant winkte ab und fragte, was
er zum Fall Helga vorzubringen habe. Daraufhin erklärte der
Soldat, daß er Helga liebe, daß auch sie ihn liebe und daß sie
nicht mehr schuldig sei. Ne in, nicht unschuldig, aber jetzt nicht
mehr schuldig, das sei doch ganz einfach, weil ein Mensch nicht
derselbe bleibe. Und außerdem erwarte sie wahrscheinlich ein
Kind von ihm; da könne man sie doch nicht hinrichten, erklärte
er mit erhobenen Händen. Auf die Frage, wie weit die
Schwangerschaft der Verurteilten fortgeschritten sei und wann er
zum ersten Mal Umgang mit ihr gehabt habe, erwiderte er
wahrheitsgemäß, es sei in der vergangenen Nacht gewesen.
Die Sekretärin des Kommandanten, die wartend hinter ihrer
Schreibmaschine gesessen hatte, brach bei diesen Worten in ein
kurzes, abgebissenes Lachen aus. Der Soldat ließ die Hände
sinken, stampfte mit dem Fuß auf, schlug mit der verletzten Hand
auf die Schreibmaschine los und schrie. Mitten im Satz verschlug
es ihm die Rede, und er begann zu weinen.
Der Arzt flüsterte dem Kommandanten etwas zu, dieser sagte
mit ruhiger Stimme zum Soldaten, er werde sehen, was er tun
könne. Er hieß ihn einige Minuten draußen warten; einer seiner
Kameraden werde ihm Gesellschaft leisten. Draußen strömte
durch die zerbrochene Scheibe kalte, frische Winterluft ins
Zimmer.
Auch der Kommandant war kein Unmensch. Er war froh, daß
ihm der Zustand des Soldaten die Möglichkeit gab, den Mann
ohne Disziplinarverfahren durchrutschen zu lassen. Aber das war
auch alles, was er für ihn tun konnte. Eine Armee ist - um mich
einer Definition des Soldaten zu bedienen - eine Organisation,
die den einzigen Winkel, in dem ihre Geschütze nicht Tod
streuen können, den Toten Winkel nennt. Eine solche
Organisation kann zum Tode Verurteilten nicht das Leben retten,
auch beim besten Willen nicht, falls sie eines solchen fähig wäre;
es ist nicht ihres Amtes.
Der Arzt kam ins Vorzimmer zurück. Er sah sich den
Soldaten an, fühlte seinen Puls und prüfte flüchtig Kniescheiben-
und Pupillenreflexe und die Zittrigkeit beider Hände. Dann sagte
er - nach der Schilderung des Soldaten -, er könne ihn in seinem
Dienstwagen zu Helga mitnehmen, zur Ruine des alten
Kreisgefängnisses hinüber … auf den Richtplatz, setzte er nach
einem Augenblick hinzu. Er könne sie nochmals sehen, und
vielleicht, meinte er mit einer unbestimmt tröstlichen
Handbewegung, vielleicht könne man im letzten Augenblick
doch noch … man wisse ja nie …
Der Soldat nickte mechanisch. Die Tränen liefen ihm über die
Wangen, auch mechanisch, als weine er, ohne zu weinen. Der
Arzt sprach weiter.
In diesem Zustand - erklärte er dem Soldaten - könne er aber
nicht gehen. Er müsse sich eine Spritze geben lassen, zur
Beruhigung. Dann dürfe er mitkommen.
Der Soldat nickte Zustimmung, und der Arzt brach zwei
Ampullen den Hals; doppelte Dosis.
Was weiter geschah, ist nicht feststellbar. Der Arzt gab dem
Soldaten die Spritze und nahm ihn in seinen Dienstwagen. Das
Mittel muß fast sofort zu wirken begonnen haben. Ob der Arzt
den Soldaten wirklich auf den Richtplatz mitgenommen hat - es
soll der große Hof des abseits gelegenen, ausgebrannten alten
Kreisgefängnisses gewesen sein - oder ob er in seinem
Dienstwagen einen Umweg gemacht hat, um ihn unterwegs ins
Armeehospital einzuliefern, das läßt sich heute nicht mehr
klarstellen. Ausgeschlossen ist es nicht, daß der Soldat wirklich
noch im Auto saß oder lag, als es vor dem Kreisgefängnis hielt,
denn der Arzt war schon durch den Zwischenfall mit der
Fensterscheibe aufgehalten worden, und die Zeit drängte. Unter
gewissen Umständen darf man Menschen nicht warten lassen.
Wenn der Soldat tatsächlich erst nachher ins Hospital eingeliefert
wurde, so muß er jedenfalls schon im Auto bewußtlos gewesen
sein. Dafür hatte die ›doppelte Spritze‹ gesorgt.
Bleibt nur die Frage, was Bewußtlosigkeit ist und wo im
Augenblick verzweifelten Aneinanderdenkens die Telepathie
aufhört und die Halluzination beginnt. Der Soldat behauptet,
Helga auf dem Richtplatz gesehen zu haben. Ich rücke hier das
zweite seiner beiden Bleistiftmanuskripte ein, weil auch er an
dieser Stelle seine Schilderungen unterbrach und es mir zeigte.
Diese Aufzeichnungen haben keinen Titel. Der Soldat geht in der
für ihn charakteristischen Form von Lautverbindungen zu
Gedankenverbindungen über, und seine Beschreibung hat
eigentlich weder Anfang noch Ende.
DAS ZWEITE BLEISTIFTMANUSKRIPT
Als wäre einem der Fuß wieder eingeschlafen; nur betrifft es
diesmal den Körper, nicht wie gestern … Und sie selbst ist frei,
denn man sieht sie deutlich im Freien. Helga im Freien, auf dem
großen Gefängnishof, aber auch wieder gar nicht so deutlich;
nein, schon in einem leichten Nebel aus Gesichtern, Zurüstungen,
Vorrichtungen. Der Gefängnishof hält sie fest und sie hält den
Gefängnishof fest, sie hält Hof: ein Hoffest hält sie. Man muß zu
ihr hin, aber man vergißt seine eingeschlafenen Füße zu wecken,
so wird fast ein Fußfall draus. Man neigt sich weit vor, und der
Arzt hält einen und zieht einen weit zurück, aber jetzt führt im
Nebel schon jede Bewegung zu weit und man verliert die
Richtung; das alles hat schon zu weit geführt und man kann sich
nicht mehr orientieren. Also kommt man nicht zu stehen, wenn
einen der Arzt faßt, sondern man schwankt und pendelt, vor und
zurück. Ein Fußfall vor Helga hätte den Vorzug vor diesem
Rückzug verdient; man muß den Kopf schütteln, ununterbrochen;
aber nicht schnell wie ein Zittern, sondern langsam und
gleichmäßig. Sehr beruhigend, ein richtiges Pendel.
Das Pendel ist das Pendel einer Uhr, und die Uhr ist schon
fast abgelaufen. Nur geht sie falsch: statt stehenzubleiben, geht
sie vor und zurück, vor und zurück. Aber sie geht noch und steht
nicht still.
Der Nebel auf dem Hof schließt Helga von Pendelschlag zu
Pendelschlag fester ein. Sie nähert sich dem Gerüst, aber man
kann nur ihren Kopf sehen, von dem die rötlich-gelben
Schlangen schläfrig niederbaumeln, vor und zurück; zu müde,
um einem noch einmal den Hals zu liebkosen. Das
Medusenhaupt! Hätte man nicht die Spritze bekommen, so wäre
man jetzt zu Stein erstarrt … Wallender Nebel und harter Stein
… Wallen und Stein werden … So aber gedenkt man nur einen
langen Schlaf zu tun … Die Haare schillern und wiegen sich und
wiegen einen mit: von den Haaren in Schlaf gewiegt, denn wir
alle sind Pendel, haargenau gleich lang, damit wir in unserer Zeit
bleiben. Und jedes Haar ist gezählt und zählt einen, und man ist
von den Haaren gezählt, gewogen und zu leicht befunden …
Weil man aber so leicht ist und weil das Pendel so stark
schwingt, gibt man nach und schwingt mit und wartet auf den
Schlag: auch die eigene Zeit ist bemessen, und auch das eigene
Stündlein schlägt. Man ist von den gelben Schlangen
umschlungen und eng in der Schlinge, und man hängt an den
Haaren, an denen man hängt, mit Haut und Haaren, verstrickt in
sein Herz. Die Füße finden keinen Grund mehr, und im nächsten
Augenblick muß man ins Bodenlose fallen. Es ist alles eine
riesige uralte Uhr, die große Uruhr, die Urgroßmutter aller
schweren Stunden und Schicksalsschläge. Die Gewichte
baumeln.
Diese Uhr hat viele scharfe Zähne und Anker mit
Widerhaken, und selbst ist man nur ein unruhiger, kleiner, in
Unordnung geratener Uhrteil. Ist man das aber, so muß - wenn
einem der Nebel, der alles umstrickt, noch ein Urteil gestattet - so
muß eigentlich dieser eine Uhrteil im Schlagwerk das ganze
Getriebe anhalten können, wenn er aus seiner Lage springt. Denn
ohne den kleinsten Teil kann die Uhr nicht gehen. Ihr Schlag
wird nicht geschlagen, ihr Urteil gilt nicht: die Zeit ist nicht mehr
genau bemessen.
Also springt man mit einem lauten Ruf »Helga« mitten ins
Werk, das eben zu seinem letzten Schlag ausholt. Auf das Gerüst
zu, das sich aus der Nabe des Urnebels erhebt:
»Helga!«
Da stürzen einem der Richter und der Arzt zu Füßen, und der
Henker läßt den Kopf hängen und weint, und man legt ihm eine
gelbe Schlange um den Hals, die ringelt sich und beißt sich in
den Schwanz, zum Zeichen, daß alles in sich selbst beruht und
nie vorbei ist. Der Arzt sticht seine Spritze in den Galgen, da läßt
der Galgen locker, und die Schlinge, die sich schon
zusammengezogen hat, muß gähnen und dehnt sich und öffnet
sich wieder. Die Schlinge wird schlank, der Strick streckt sich
und wird dünner und dünner. Er ist nur noch eine Schnur, die
leise schnurrt und einschläft wie eine müde Katze; ein dünner
Faden, an dem alles hängt.
Helga aber kommt auf einen zu und wird größer und kleiner,
größer und kleiner; immer größer und immer kleiner, ein
schwingendes Pendel. Und auch das Kind ist schon da, kleiner
noch als Helga, wenn sie klein ist, und größer als man selbst in
Uniform; und größer als Helga, wenn sie groß ist.
Und alle drei, Arzt und Richter und Henker, beten das Kind
an, denn das Kind ist ein Kind. Und auch sie selbst sind drei, das
Kind und Helga und ihr Soldat, denn der ist man selbst, denn
selbst ist der Mann! Vater, Mutter, Kind ist man, groß und klein:
und klein und groß weinen vor Freude. Klein und groß, wie in
Mutters Schoß, kleiner und größer, und kleiner und größer und
kleiner. Und man schwankt zwischen nächster Nähe und fernster
Ferne und hält einen Feldstecher an die Augen, einmal mit dem
richtigen Ende, aber einmal mit dem verkehrten; nämlich, um das
Ende, das einem zu groß ist, zu verkleinern, um das Gericht zu
verkehren und das Verkehrte zu richten, und vielleicht, um das
Bild zu beurteilen und sich ein Urteil zu bilden.
Und vielleicht ist das alles darauf zurückzuführen, daß man
alles zurückführen will, vom Tod zum Leben, vom Beschluß zum
Beginn.
Der Weg aber führt durch das neblige Feld und durch zwei
stechende, schwarze, glotzende Mündungen aus dem Ende herein
und zum Anfang hinaus. Also sinkt man hinüber ins Auto des
Arztes, und das Auto fährt rückwärts, und der Arzt zieht einem
die Nadel der Spritze aus dem Arm und füllt zwei Ampullen,
deren Glashälse wieder heil werden, ehe sich ihre Schachtel
schließt. Und der Schmerz in der Hand, von der sich der Verband
löst, hört erst auf, als die heile Fensterscheibe wieder den Galgen
trägt, und der Wutkrampf weicht dem ersten beklommenen
Gefühl, denn man atmet seinen dampfenden Hauch wieder ein,
und also sieht man noch nicht den Galgen an der kalten Scheibe.
Und weiter und weiter geht es, und näher und näher,
rückwärts taumelnd durch Korridore, deren hallendes Echo sich
unter die Fußtritte verkriecht und schweigt. Und irgendwo im
Osten sinkt die Wintersonne aus dem begonnenen Vormittag in
Morgengrau und Nachtdunkel zurück, ein Kind, das zu früh aus
langem Schlaf aufgeschreckt ist, ein Licht, das sich vor der Zeit
gegen die Finsternis erhoben hat.
Und irgendwo im Kommenden läßt man gepflegte Offiziere
gähnen und Beamte hüsteln und zwei unrasierte Soldaten Wache
stehen, Nachtwache, hohl und grau, eine beklemmende
Vorahnung. Und man läßt eine Wärterin einen Schlüssel drehen,
aber nach der anderen Seite als später, vor einigen Stunden. Und
um einen selbst ist Helga und Dunkelheit und Dunkelheit und
Helga, und Helga ist selbst die Dunkelheit, und die Dunkelheit
selbst ist Helga; hin und her, hin und her, ein Kahn, der hin und
her fährt auf einem rückgestauten Fluß, und der Übergang von
der einen Seite zur anderen, und der Untergang von der anderen
Seite zur einen, und das Rote Meer, das über allen
zusammenschlagen will, die zur Befreiung ihres Abenteuers
einziehen; und die Nacht, die vorgezeichnet ist vor allen anderen
Nächten und Antwort gibt auf alle vier Fragen. Und es beginnt
Nacht zu sein, und es hört auf Nacht zu sein, und es hört auf zu
sein, und es hört auf, und es hört auf zu hören, und es hört auf
aufzuhören, und es ist Nacht, und es ist Nacht und Nacht und
Nacht. Und man will nicht erschlaffen und will nicht schlafen,
und das Schwarze ist gekommen und hat gebissen, aber wer nicht
hören will, der muß nicht fühlen und nicht ins Schwarze beißen,
denn er weiß nicht, was schwarz ist, und läßt sich nichts
weismachen und läßt sich nichts anschwärzen. Und doch wird er
alles schwarz auf weiß haben, und er weiß: er wird alles schwarz
haben. Und schwarz ist schwarz, und weiß ist weiß, und in
Schweiß gebadet und in Schwarz gebettet, und Nacht ist Nacht
und Nacht und Nacht und Nacht.
Dies ist das Manuskript des Soldaten von der Hinrichtung, ein
Dokument für das, was er selbst gefühlt und gedacht hat. Eine
Beschreibung der tatsächlichen Vorgänge kann es seiner
Entstehungsgeschichte nach kaum sein. Außerdem habe ich
später gehört, daß die Hinrichtungen nicht unter freiem Himmel
auf dem Gefängnishof stattfanden, sondern im Inneren des alten
Gebäudes, beziehungsweise des einen Flügels, der noch stand. Es
sollen auch keine Galgen gebaut, sondern nur Falltüren im
Fußboden gezimmert worden sein, die sich unter den
Delinquenten öffneten und sie ins Leere stürzen ließen, wobei der
Strick ihnen den Hals zuschnürte oder das Genick brach.
Demnach scheint es, daß dem Soldaten Wirklichkeit und
Vision ineinander verschwommen sind, mindestens von dem
Augenblick an, in dem er die Fensterscheibe eingeschlagen hatte.
Aber ich glaube nicht, daß das Hinrichtungsmanuskript dadurch
unwesentlich wird. Ob Galgen oder Falltüre, es blieb derselbe
Strick, derselbe Tod durch den Strang. Und was den Soldaten
verstört hatte, das war das Geschehen selbst. Deshalb kann seine
Verstörtheit unsere Anteilnahme nicht verringern. Feststeht, daß
Helga gehängt worden ist. Feststeht auch, daß der Soldat nichts
dagegen tun konnte und in der Verzweiflung seiner
Machtlosigkeit zusammenbrach.
Dieser Zusammenbruch und die Einlieferung ins
amerikanische Armeehospital sind eigentlich das Ende des
Berichtes über die Begegnung des Soldaten mit dem Mädchen.
Aber gerade deshalb ist es möglich, hier die innere Geschichte
und Vorgeschichte dieser Begegnung nachzutragen. Denn im
Grunde sind alle Manuskripte, die der Soldat nach seiner
Begegnung mit Helga geschrieben hat, ja sogar einige schon
früher entstandene Arbeiten, Beiträge zum Verständnis dieser
Geschichte.
Ich wollte diese Manuskripte ursprünglich an einer anderen
Stelle des Berichtes, kurz vor der Schilderung der Nacht, in den
Text einfügen. Aber die endgültige Entscheidung blieb dem
ehemaligen Soldaten selbst vorbehalten, und er hat entschieden,
sie erst hier einzurücken, nach seinen Aufzeichnungen über die
Hinrichtung. »Hier bist du schon sehr weit mit der Erzählung«,
schrieb er mir. »Alles, was geschehen konnte, ist eigentlich schon
geschehen. Auf eine kleine Unterbrechung von einigen hundert
Seiten kommt es da nicht mehr an.«
Hier beginnen also die Schriften des Soldaten. An den
Manuskripten habe ich nichts geändert, nur auf seinen Wunsch
einige Einleitungsworte und erklärende Zwischentexte
geschrieben und ein sehr zweischneidiges Ibsen-Zitat, das er zu
diesem Zweck bestimmt hat, als Motto vornean gesetzt.
ZWEITER TEIL
SCHRIFTEN DES SOLDATEN
PASSAGEREN:
For den sags skyld vaer uforsagt; -
man dør ej midt i femte akt.
DER PASSAGIER:
Was das betrifft, nur unverzagt; -
Man stirbt nicht mitten im fünften Akt.
[Ibsen, Peer Gynt, 5. Aufzug]
Die Wahl des Zitates finde ich bezeichnend für den Soldaten.
Ich muß ihn weiterhin so nennen, so lächerlich es klingt, denn er
weigert sich, seinen Namen bekanntzugeben, was in Anbetracht
der Umstände begreiflich ist. Er hat auch darauf bestanden, Ibsen
nicht nur in der Übersetzung, sondern auch in der Ursprache zu
zitieren, denn er behauptet, keine der deutschen Übersetzungen
reiche an Peer Gynt heran.
Ansonsten hat er mir zwar nicht viele, aber doch einige
Anhaltspunkte für die Zusammenstellung seiner Schriften
gegeben. Hier eine darauf bezügliche Stelle aus einem seiner
Briefe:
›Du hast ganz freie Hand, aber ein paar Worte zu den
einzelnen Geschichten wirst Du schon schreiben müssen.
Besprochen haben wir sie ja oft genug und sogar einen ganzen
Stoß Papier verkorrespondiert. Wenn man sie nämlich nur
einfach druckt, ohne ein Wort dazu zu sagen, merkt beim Lesen
vielleicht nur jeder Zehnte etwas von den Zusammenhängen.
Wenn Du aber darauf aufmerksam machst, merkt's vielleicht
doch jeder Dritte, und dieser Unterschied ist schon der Mühe
wert.‹
Meinen Einwand, durch erklärende Zwischentexte werde den
Arbeiten etwas von ihrem Eigenleben geraubt, ließ er nicht
gelten:
›Erstens kannst Du Deine Erklärungen immer hinten anfügen.
Dann ist die Geschichte entweder schon verdaut oder unverdaut,
aber jedenfalls gelesen, und Du kannst keinem mehr den
Geschmack daran verderben, höchstens den Nachgeschmack; und
dafür werden sie Dir wahrscheinlich dankbar sein!
Zweitens aber, mein Lieber, sogar die dicksten Wälzer zur
Erläuterung von Werken der Kunst und Literatur versagen mit
nachtwandlerischer Sicherheit an allen wirklich wichtigen oder
schwierigen Stellen. Also werden diese Stellen auch Deine
Kommentare überleben, denn Du willst Dich doch ohnedies nur
auf ein paar Eselsbrücken beschränken. Diese aber sind nötig,
denn weil hier ganz richtig gestorben wird, und zum Unterschied
von Peer Gynt nicht erst im fünften, sondern sogar schon mitten
im ersten Akt, muß man dem Leser doch die Chance geben zu
sehen, daß darüber hinaus noch etwas los ist, wenn auch von
einer Handlung oder gar vom Schürzen und Lösen des Knotens,
wie wir das in der Schule gelernt haben, keine Rede sein kann.
Aber um die Handlung laß Dir nur gar keine grauen Haare
wachsen. Du weißt doch noch, was wir damals, als wir über
Todesstrafe sprachen, von den alten Griechen gesagt haben.‹
Soweit ich mich entsinnen kann, hatten wir nichts besonders
Originelles gesagt. Wir waren uns einig gewesen, daß in der
antiken Schicksalstragödie nicht nur der Ablauf der Handlung im
wesentlichen feststand, sondern daß die meisten Zuschauer die
Sagen, die dargestellt wurden, genau kannten und nicht
überrascht, sondern mitgenommen werden wollten. Nicht einmal
mitgerissen, sondern mitgeführt. Entscheidend war nicht die
Spannung, was geschieht, sondern die Einsicht, wie es geschieht.
Wir waren bei der Erklärung des Verhaltens von Menschen in der
Umgebung eines zum Tode Verurteilten darauf zu sprechen
gekommen. Er hatte diese Menschen teils mit dem Chor, teils mit
den Zuschauern der griechischen Tragödie verglichen. Auch
beim Verurteilten in der Todeszelle steht der Ausgang fest, es
kommt nicht aufs Ziel an, sondern auf das letzte Stück Weg zu
diesem Ziel. Der vorausberechnete Tod, die festgesetzte
Todesart, das Wissen des Todeskandidaten um alle diese
Einzelheiten verwandeln das Spiel des Zufalls in ein
gesetzmäßiges Zusammenspiel und Gegenspiel von Menschen, in
einen rituellen Tanz, in eine Schicksalstragödie. Zum Helden
einer solchen Tragödie wäre auch noch der letzte Schurke gut
genug, denn die allgemeine, gleiche, geheime und direkte
Eigenschaft aller Menschen, daß jeder einer Mutter Kind ist,
kann man auch ihm schlechterdings nicht absprechen.
Nun, die Schriften des Soldaten, die hier folgen, werden keine
Einzelheiten aus Helgas letzten Tagen enthüllen, weder wie der
Soldat sie zuerst oder zuletzt gesehen hat, noch was er gesagt,
getan oder zu tun oder zu verhindern versucht hat. Aber gerade
weil das Spiel aus ist, weil die Handlung dieses Buches längst
abgeschlossen ist und eigentlich schon im Anfang ihr Ende
erreicht hatte, können die Schriften des Soldaten einen anderen
Weg zeigen. Keinen Ausweg. Den gibt es nicht. Auch keinen
Weg durch das Geschehene hindurch, sondern in es hinein. Und,
wenn man so sagen darf, nicht von außen hinein, sondern von
innen tiefer hinein. Je mehr geschieht, desto schwerer wird es
uns, das Was und das Wie des Geschehens zugleich zu erleben.
Aber erst dieses Wie macht das Geschehen zu dem, was uns
geschieht; macht, was an uns geschieht, zu dem, was in uns
geschieht. Ein Bericht steht außen und kann Einblicke gewähren.
Ein Ausblick aber ist nur von innen her möglich.
SCHRIFTEN DES SOLDATEN
I. Fünf Umschreibungen einer Begegnung
DIE STÄRKEREN
Stärker als das Leben ist die Hoffnung
Stärker als die Hoffnung ist das Unrecht
Stärker als das Unrecht ist die Schuld
Stärker als die Schuld ist die Liebe
Stärker als die Liebe ist die Verzweiflung
Stärker als die Verzweiflung ist der Tod
[aus den Gedichten des Soldaten]
Als erste Gruppe seiner Schriften hat der Soldat fünf seiner
Arbeiten ausgewählt, die ihm am deutlichsten an die Begegnung
mit Helga anzuknüpfen scheinen, obwohl er auch in ihnen, wie er
sagt, nicht schildern, nicht erzählen, sondern nur ›umschreiben‹
konnte.
SEIN WIRKLICHES HERZ
Sein wirkliches Herz lief voraus, ein kleiner roter Hund,
aufgeregt, sich zuweilen fast überschlagend, vielmals den selben
Weg, hin und her, ein Pendel oder nur eines kleinen Hündchens
eifrig geschwenkter Schwanz. Manchmal ein scharfer Pfiff, und
es blieb einen Augenblick stehen. Manchmal lief es seiner Nase
nach, sprang erleichtert an einem rotblonden Mädchen hoch,
wurde von ihren Begleitern verscheucht, nahm abermals die
Verfolgung auf und erhaschte im Laufen da und dort wertlosen
Abfall und dann und wann einen Bissen, der es bei Kräften
erhielt.
Immer kehrte sein Herz zu ihm zurück und vergewisserte
sich, daß er noch da sei. Dann lief es wieder voraus, zu dem
Mädchen, oder es blieb hinter ihm auf dem schon zurückgelegten
Weg, stöberte in einem nur ihm bekannten Winkel
Weggeworfenes oder Verlorenes auf und schleppte es herbei.
Aber lange blieb es nie weg. Es sah komisch aus, wenn das Herz
auf ihn losstürzte, heiß und rot vom Laufen. Die Leute blieben
jedes Mal in einigem Abstand stehen und lächelten ein wenig,
wie man lächelt, wenn ein übereifriger Hund mit pochenden
Flanken zitternd vor seinem Herrn steht oder unbedacht an ihm
hochspringt und ihm die Spuren seiner Pfoten auf dem Mantel
hinterläßt.
Das ging einige Zeit so weiter, aber eines Morgens war er
nicht mehr da. Das Herz lief hin und her, hin und her, vor und
zurück auf dem Weg - nichts! Es drehte sich wie ein wahnsinnig
gewordener Kreisel um die eigene Achse, sprang - ein von
unsichtbaren Händen geschlagener Ball - zwischen den
Menschen durch, die schon nach ihm zu treten begannen, lief
dem einen oder anderen zu, wich aber enttäuscht zurück, sooft es
seinen Irrtum erkannte, und suchte die Straße und alle ihre
Biegungen ab, jede Sackgasse und jeden versteckten Torweg, bis
es völlig erschöpft war.
Vorübergehende erbarmten sich, versuchten es mit
Leckerbissen zu locken und riefen es mit vielen Namen, in der
Hoffnung, einer werde der rechte sein. Aber mit dem Herzen war
nichts mehr anzufangen. Von Schlag zu Schlag wurde es
schwächer, und nach einigen Tagen war alles aus.
Als er viel später vorbeikam, erfuhr er nur noch von Kindern
und Eckenstehern, wie sein Herz ihn nicht mehr gefunden hatte
und zugrunde gegangen war. Er zuckte die Achseln und hatte ein
leichtes, leeres Gefühl in der Brust.
Sein wirkliches Herz enthält Re miniszenzen an das
amerikanische Armeehospital. Das ›leichte, leere Gefühl in der
Brust‹, und nicht nur in der Brust, sondern auch im Kopf und
manchmal in allen Gliedern, hatte er damals wirklich. Er hat oft
davon erzählt. Er hielt es für eine Folge der Behandlung
(Elektroschock). Er habe damals ein schlechtes Gewissen gehabt;
er habe die Vorstellung nicht loswerden können, Helga sei erst
dadurch ganz und gar getötet worden, daß er sie sich
›wegschocken‹ ließ.
Er sagte auch, zwischen elektrischer Schockbehandlung und
Hinrichtung bestehe für ihn immer eine merkwürdige
Gedankenverbindung. Der Erfinder des Elektrischen Stuhls in
den Vereinigten Staaten habe seinen Apparat ursprünglich - für
wesentlich schwächeren Strom - zu Heilzwecken gebaut. Erst
nach einigen tödlichen Unfällen, als die Zeitungen schrieben,
niemand werde sich dieser Hinrichtungsmaschine anvertrauen
wollen, habe der geschäftstüchtige Mann den Apparat
entsprechend umgebaut.
Sonst ist höchstens noch zu erwähnen, daß der Soldat mir
sagte, beim Korrigieren dieser Geschichte habe ihn das Hin und
Her des zunächst übermütigen, dann verzweifelten Herzens an
die Hin- und Herbewegung in seiner Beschreibung oder Vision
der Hinrichtungsszene erinnert.
Diese Arbeit ist zwei Monate nach Helgas Tod entstanden.
DIE GESCHICHTE VOM MANN MIT DEM STARKEN
WILLEN
Einer hatte von Kindheit an einen starken Willen und einen
harten Kopf. Er gehörte zu den wenigen, die sich nicht
fürchteten, wenn es dunkel wurde, denn er wußte, daß Gespenster
nur als Hirngespinste durch die Träume furchtsamer Kinder
geistern.
Als Junge ging er dreimal um Mitternacht allein über den
Kirchhof; er sagte dann, nicht ein einziges Mal sei ein Toter
gegen ihn aufgestanden. Zur Zeit einer Epidemie nahm er alle
Kraft zusammen und wurde nicht krank, als einziger Schüler in
seiner ganzen Klasse, so daß er von den anderen lange verspottet
und gemieden wurde wie ein Aussätziger.
Später stieg er dann ganz allein auf die gefährlichen Berge im
Umkreis seiner Heimatstadt, denn es war allgemein bekannt, daß
man auf dem höchsten Gipfel eines Berges den Mond berühren
kann, wenn man die Zähne zusammenbeißt und den Arm
ausstreckt, so weit es nur geht. Das gelang ihm aber nicht.
Vielleicht hatte er doch noch zuviel Angst, das Gleichgewicht zu
verlieren, oder es fehlte ihm an Selbstvertrauen und er streckte
den Arm nicht weit genug aus. Aber damals war er noch nicht
erwachsen.
Später, als Mann, hatte er eine Geliebte. Sie hatte einen bösen
Traum mitgeträumt, der damals viele Leute befiel, des Nachts
und auch am hellen Tag, und sie hatte im Traum um sich
geschlagen und dabei Menschen weh getan. Dafür sollte ihr der
Kopf abgeschlagen werden und ihm das Herz herausgerissen, zur
Strafe, daß er sie liebhatte.
Er küßte sie und schärfte ihr ein, nicht an den Tod zu glauben,
denn ihre Liebe mache sie beide unsterblich, auch wenn man ihm
zehnmal das Herz aus dem Leibe risse. Sie hörte ihn an und sagte
Ja, denn sie liebte ihn.
Am nächsten Tag sah er zu: in dem Augenblick, in dem man
ihr den Kopf abschlug, spürte er, wie ihm das Herz
herausgerissen wurde. Er schüttelte sich und konnte wieder seine
Arme und Beine gebrauchen. Sein starker Wille hatte gesiegt.
Er ging zu seiner Geliebten und setzte ihr den Kopf wieder
auf die Schultern. Er streichelte sie und redete ihr gut zu. Aber
sie blieb tot; ihr Wille war zu schwach gewesen.
Der Mann mit dem starken Willen aber lebt heute noch und
spricht seinen Mitbürgern im ganzen Land Mut zu, daß Bomben
und Flammen nicht wirklich gefährlich sind, und daß das Sterben
nicht tödlich sein muß, wenn man nur weiß, was man will.
Die Geschichte vom Mann mit dem starken Willen wurde
wahrscheinlich noch in Deutschland, im amerikanischen
Armeehospital geschrieben, vielleicht aber erst kurz nach der
Entlassung und Rückkehr nach Amerika. Der Soldat hatte diese
Fabel vergessen und war überrascht, sie unter seinen
Manuskripten zu finden. Er kann sich nicht mehr erinnern, ob sie
nur sarkastisch und bitter gemeint war, oder ob seine Sehnsucht
nach mystischem oder okkultem Trost, die damals sehr groß war,
bei ihrer Entstehung mitgespielt hat. Aber der letzte Satz spricht
meines Erachtens dafür, daß die Grundstimmung doch Bitterkeit
war. Außerdem hat der Soldat auf das Manuskript einen alten
englischen Scherzreim, der in diesem Zusammenhang auch nur
sarkastisch gemeint sein kann, notiert, einen sogenannten
Limerick, samt seinem eigenen Übersetzungsversuch:
There was a faith-healer of Deal
Who said: ›Though I know pain ain't real,
If I sit on a pin
And it punctures my skin
I dislike what I fancy I feel.‹
Ein Gesundbeter in Deal sagte: ›Zwar,
Daß es Schmerz gar nicht gibt, ist mir klar.
Aber wenn ich mich auf einen Reißnagel setze
Und glaube zu spüren, daß ich mich verletze -
Dieser Wahn ist höchst peinlich, fürwahr.‹
Das Bild vom herausgerissenen Herzens das sich hier wie in
der vorigen Geschichte findet und sich natürlich auf die
volkstümliche Darstellungsweise unerträglicher Trauer bezieht,
taucht auch in einem um dieselbe Zeit entstandenen Gedicht des
Soldaten auf, Sinnloser Tod. Dort wird es mit aztekischen
Menschenopferriten in Verbindung gebracht.
SINNLOSER TOD
Wenn aber dein Herz aus dir ausbricht, noch vor der
Nacht
Wie Aussatz ausbricht: am Weg und mitten am Tag -
Wenn der Lärm aller Autos übertönt wird von seinem
Schlag,
Wenn es, ein Sturmbock, dir gegen die Rippen kracht,
Wirst du allein sein mit deinem Blutwein im Munde,
Mit deinen Brunnenadern und deinem
Trümmergebein,
Nur dein zuckendes Herz auf dem Pflasterstein
Wird zu dir schrein, als eine zweite Wunde.
Zwar, dann wirst du dich weit nach hinten verbiegen
wie ein Geopferter auf seinem Stufenaltar,
Der schon in heiliger Hut seiner Götter war.
Dich aber lassen sie auf der Straße liegen.
Denn dein Herz war kein Opfer: Es bittet um keinen
Segen.
Es liegt nichts an ihm. Du kannst dich zu ihm in den
Rinnstein legen.
Zur Textstelle ›Sie hatte einen bösen Traum mitgeträumt, der
damals viele Leute befiel …‹ schrieb er mir:
›Ich weiß ganz genau, daß das keine ausreichende
Begründung, geschweige denn Verteidigung, sein kann. Aber ich
weiß mir nicht zu helfen. Ich glaube nicht, daß man das Recht
hat, an einem Satz, den man einmal so geschrieben hat, weil man
unbedingt mußte, nachträglich allzuviel herumzuändern.
Stilistisch ja, aber politisch ›auf die Höhe seiner bewußten
Erkenntnisse bringen‹? Ich weiß nicht; scheint mir
abgeschmackt. Außerdem habe ich eine gute Entschuldigung vor
mir selbst: Auch das ist doch nur eine von meinen
Umschreibungen und nichts wirklich Erlebtes. In Wirklichkeit
wurde ja auch kein Kopf abgeschlagen.
Schon aus dieser kläglichen Verteidigung siehst Du
hoffentlich, daß ich mir nicht zu helfen weiß. Liebe fragt halt
nicht, ob sie berechtigt ist, und möchte am liebsten auch
Unentschuldbares entschuldigen. Und außerdem habe ich immer
noch das Gefühl (und ich glaube bestimmt: nicht nur, weil ich sie
liebgehabt hab'), daß ihr Unrecht geschehen ist. Vor allem:
Todesstrafe überhaupt! - Da haben wir ja die gleichen Ansichten.
Zweitens auch der Fall selbst: sie war doch noch ein Kind, als sie
dazu erzogen wurde. Ich möchte niemandem einen Vorwurf
machen. Solche Urteile waren nach den furchtbaren Greueln, die
geschehen waren, unvermeidlich und sehr verständlich. Aber ob
das Unrecht, das trotz allem darin lag, die ›verlorenen Kinder‹ zu
töten, nicht späterhin den eigentlichen Schuldigen zugute kommt,
die dahinterstanden, die sie systematisch zu Ungeheuern
ausbildeten, nachher aber oft schlau genug waren, dem ersten
Vergeltungshunger zu entgehen?‹
KLEINE BEOBACHTUNGEN
Zeit und Liebe braucht man zu diesen Beobachtungen. Sehen
wir zum Beispiel einem Mann zu, der eben Nachricht vom Tod
seiner Geliebten erhalten hat, wie er aufsteht, sich höflich
entschuldigt, sich verabschiedet, hinausgeht und sich erschießt.
Wenn es ein richtiger Mann war, so könnte man darauf wetten,
daß er im Gehen noch einen kleinen Scherz gemacht hat,
womöglich einen Scherz, dessen feinere Bedeutung man erst
nachher versteht.
Aber es gehört Geduld dazu; nicht jedem glückt die
Beobachtung gleich beim ersten Mal. Und heute verfährt
mancher Mann in solcher Lage nicht mehr stilgerecht.
Die Beobachtungen werden auch dadurch erschwert, daß man
vorher nie weiß, wann die Gelegenheit, die sich bietet, wirklich
echt ist, mit einem Wort, wann es wirklich Liebe war.
Nachträgliche Beobachtungen aber zählen nicht, denn dann will
jeder gleich lauter bedeutsame Worte gehört und
schwerwiegende Gesten bemerkt haben. Am leichtesten wäre das
Sammeln solcher Beobachtungen, wenn man die Ereignisse
einfach verkehrt ablaufen ließe, wie einen Film beim Aufspulen.
Die unwiderstehliche Komik dieser verkehrten Handlungen wäre
für den Betrachter schon nach dem ersten Dutzend Todesfälle -
oder, besser gesagt, Auferstehungen - so gewohnt, daß er kaum
mehr lächeln müßte, sondern einfach darüber hinwegsehen
könnte.
MENSCHENWÜRDE
Es gibt Menschen, die sich bei Schicksalsschlägen von ihrer
besten Seite zeigen. Manche können das Schwerste tragen, und
wäre es nicht ein Verstoß gegen göttliche und irdische
Gerechtigkeit, so müßte man ihnen wünschen, es möge ihnen
immer wieder etwas zustoßen, damit sie sich zu ihrer ganzen
Größe erheben können. Entfaltung der höchsten Fähigkeiten ist
schließlich wichtiger als bloßes Wohlergehen.
Andere sind beim Hereinbrechen der Katastrophe nicht
minder tapfer, gefaßt und großzügig. Sie stehen scheinbar über
den Dingen. Später aber, nach Stunden, Tagen oder Wochen, in
denen sie ihre Heldenrolle erfolgreich gespielt haben, packt sie
der Jammer. Sie bleiben gleichsam mitten im Wort stecken,
versuchen mit Hilfe der bewährten Gesten über den toten Punkt
hinwegzukommen, wiederholen laut einige ihrer tapferen und
erfolgreicheren Redewendungen, fast noch beifallheischend, aber
schon mit starrem und hilfeflehendem Blick, und brechen
schließlich zusammen. Dann sind sie kleinmütig und bitter,
ungerecht, konfus, schäumen vor ohnmächtiger Wut und bieten
ein Bild kläglicher Fassungslosigkeit, selbst wenn sich die
wirkliche Lage der Dinge in der Zwischenzeit gebessert hat, zum
Beispiel wenn die zum Tod verurteilte Geliebte mittlerweile
schon längst auferstanden ist.
Das Verhältnis des Ausmaßes der in Erscheinung tretenden
Gefühle zu den tragischen Anlässen und zur Länge der
heldenhaften Zwischenzeit oder Inkubationsfrist läßt sich nur
schwer durch eine brauchbare Formel ausdrücken. Erfahrene
Staatsmänner, Berichterstatter, Henker und andere Menschen in
bevorzugter Stellung behaupten, je schwerer die
Schicksalsschläge und je größer das Format der Betroffenen,
desto mehr Zeit verstreiche zwischen dem Unglück und den von
ihm hervorgerufenen Verfallserscheinungen. Skeptiker wollen
sogar die Größe wirklich bedeutender Männer einfach aus deren
langsamen Reaktionen erklären. Die Zeitspanne soll bei ihnen so
groß sein, daß ihr moralischer Verfall oft erst Monate, ja erst
Jahre nach ihrem Tod eintritt.
Kleine Beobachtungen und Menschenwürde bedürfen kaum
einer Erklärung. Die Bitterkeit, die Neigung zu abstrusen
Vorstellungen sprechen für sich selbst und verraten zugleich die
Entstehungszeit: kurz nach dem Zusammenbruch. Es ärgerte ihn
damals, daß er zusammengebrochen war, aber auch, daß er nicht
Selbstmord begangen hatte. Der Gedanke an den umgekehrten
Ablauf einer Handlung in Kleine Beobachtungen ist vielleicht
vom Ende seiner Hinrichtungsvision angeregt, die in den Bericht
als Zweites Bleistiftmanuskript eingerückt wurde.
DIE ARMBINDE
Der Mann, der immer an meinem Fenster vorübergeht, ist
weiter nicht interessant. Niemand sieht ihn zweimal an, und
außer seinen Bekannten hat es wahrscheinlich kein Mensch
bemerkt. Es ist auch noch nicht lange her. Er kann sie kaum seit
mehr als einer Woche tragen, die Armbinde, sogar wenn ich sie
vielleicht zwei, drei Tage lang übersehen habe.
Sie sitzt auf dem Mantelärmel, am Oberarm. Sie erhebt sich
ein wenig über die Ärmeloberfläche. Ein rundumlaufendes Stück
Stoff, dunkel, auf den Mantel aufgenäht, aber aus ganz anderem
Material. Ursprünglich wenig mehr als ein dunkles Loch zum
Hineinschlüpfen, umhegt und umfriedet sie nun den einen Ärmel.
Auf den ersten Blick sticht die Binde fast wohltuend von dem
schon etwas schäbigen Kleidungsstück ab; ihr Stoff ist neu,
peinlich sauber und hat einen gedämpften, matten Glanz. Zu
einem erfreulicheren Anblick macht aber die Armbinde den
Mann nicht. Daran ist vielleicht nur ihre düstere Farbe schuld.
Aber das alles ist eigentlich nicht wichtig. Mir liegt gar nicht
genug an diesem Mann, den ich schließlich nicht näher kenne.
Nur an den Mantel denke ich jetzt manchmal. Keine
wesentlichen oder besonders klugen Gedanken, aber immerhin,
sein Mantel und besonders die Binde flößen mir ein gewisses
beiläufiges Interesse ein.
Eine dunkle Binde, die keine Wunde verbindet und keinen
Schaden in Dunkel hüllt … denn es ist ja nicht anzunehmen, daß
sich gerade an jener Stelle zufällig wirklich eine Wunde, ein Riß
oder ein Loch im Mantel aufgetan habe. So abgerissen sieht der
Mann doch nicht aus. Es müßte also schon einigermaßen seltsam
zugehen, wenn diese Binde wirklich einen unheilbaren Schaden
verdeckte. Ganz ausgeschlossen ist das freilich nie, besonders
wenn man bedenkt, daß eine überlegende oder hausfraulich
veranlagte Person von einer schadhaften Stelle leicht veranlaßt
werden könnte, gerade dort die schwarze Binde anzubringen, so
daß man ihr wenigstens diesen einen bescheidenen Vorteil
abgewinnt. Aber dennoch finde ich es höchst unwahrscheinlich.
Man muß also annehmen, daß die Binde ein Stück
Mantelstoff verdeckt, genau so groß wie sie selbst und durchaus
heil, soweit sich dieses Wort auf einen doch schon etwas
abgetragenen Mantel überhaupt noch anwenden läßt. Die Binde
wäre demnach ein äußeres Merkmal der Stelle, an der wir ein
Stück Stoff nicht mehr sehen, das sich in keiner Weise von dem
übrigen Stoff unterscheidet, den ich von meinem Fenster aus
tagtäglich in wechselnder Bewegung und Beleuchtung auf der
Straße erkenne.
Luft und Licht können nun das unter der Binde ruhende Stück
Stoff nicht mehr erreichen, zumindest fällt es ihnen schwer, die
Binde zu durchdringen, die es von allen Seiten umschließt und
ein wenig überwölbt. Dafür ist aber dieses verborgene Stück
Stoff dem Straßenstaub und dem Regen entrückt und von seiner
dunklen Umhüllung weit besser geschützt als alles, worauf noch
das Licht scheint. Wahrscheinlich ist dieser Schutz einer dünnen
Schicht etwas schaler Luft, die zwischen der Binde und dem, was
sie verhüllt, eingeschlossen ist, noch mehr zu verdanken als dem
Stoff der Binde selbst.
Bedenke ich das genauer, wozu ich freilich kaum Zeit finde,
weil ich schließlich andere Sorgen habe, so scheint mir sogar,
daß eine meiner anfänglichen Behauptungen gar nicht stimmt
oder doch jetzt nicht mehr stimmen kann: das betreffende Stück
Stoff hat zwar vielleicht, als man es verdeckte, noch ganz wie
seine Umgebung ausgesehen, nun aber wirken doch unablässig
Sonne und Regen, Wind und Staub dahin, daß ein immer
deutlicherer Unterschied entsteht.
Man kennt die unbefriedigenden Versuche, etwas umzustellen
oder auch nur zu verrücken, was lange Zeit an einer bestimmten
Stelle gestanden hat; etwa Möbel, die ein bestimmtes Stück
Wand verdeckt haben; aber auch Vorstellungen, die in einem
Menschen eine bestimmte Rolle gespielt haben. Das vorgestellte
Möbelstück oder Bild läßt sich nicht mehr entfernen, ohne daß
der Schaden offenbar wird. Dabei weiß man oft gar nicht,
welches Wandstück eigentlich das beschädigte ist, der
unangenehm auffallende Fleck oder die übrige, verstaubte oder
verblichene Wandfläche.
Wenn ich also eines Tages mein Fenster aufmache und den
Mann anhalte, dann muß ich ihn warnen. Ich muß ihm sagen, er
soll sich um keinen Preis einfallen lassen, seine Binde wieder
abzunehmen und nachzusehen, wie es darunter aussieht. Denn
das wäre kein erfreulicher Anblick mehr! Weigert er sich aber,
zeitlebens mit einem zweifelhaften dunklen Verband auf dem
Ärmel herumzulaufen, so soll er den Mantel lieber überhaupt
ablegen. Gut ist der ohnehin nicht mehr.
Aber ich werde den Mann kaum warnen; sogar ganz sicher
nicht. Schon das Aufstoßen meines Fensters ist nicht immer
leicht, besonders an einem kalten Morgen nicht, wenn es noch
festgefroren ist. Der Mann wäre wohl in der Menge, die zur
Arbeit hastet, längst verschwunden, ehe ich dazu gekommen
wäre, ihn wirklich zu rufen. Außerdem könnte ich mich zu einem
solchen Schritt kaum entschließen; man muß bedenken, daß mir
an dem Mann eigentlich nicht viel liegt. Auch der Stoff seines
Mantels kann mir schwerlich etwas bedeuten. Manchmal, wenn
ich sie sehe, Mann und Mantel, ertappe ich mich sogar dabei, wie
wenig sie mir bedeuten. Zugegeben, ich denke von Zeit zu Zeit
an den Mann, an den Mantel und an die dunkle Binde. Aber das
könnte doch auch kaum anders sein, solange sie mir leibhaftig
vor Augen stehen, nur durch ein zerbrechliches Fenster mit
Fingermalereien auf der beschlagenen Scheibe von mir getrennt.
An das Stück Stoff aber, das doch immer noch unter dieser Binde
vorhanden sein muß, wie sehr es sich auch verwandelt haben
mag, denke ich schon fast gar nicht mehr.
Man muß sich vor Augen halten, daß ich dieses Stück Stoff,
ebenso wie den ganzen übrigen Mantel, bis vor einer Woche
tagtäglich mindestens zweimal von meinem Fenster aus gesehen
habe. Jetzt aber ist mir schon manchmal, als sei es nie
dagewesen. Daraus kann man ermessen, wie gering meine
Anteilnahme sein muß.
Die Armbinde entstand kurz nach der Geschichte Sein
wirkliches Herz.
Eine Armbinde hat der Soldat lange getragen, auch noch, als
ich ihn kennenlernte. Man nahm damals an, er trage sie zum
Zeichen der Trauer um seine Schwester. In Wirklichkeit hatte er
sie schon zuvor getragen; die Trauer galt Helga.
Auch Die Armbinde, ebenso wie sein am Anfang des Buches
zitiertes Gedicht Soldaten der Freiheit sind das, was er
Umschreibungen nennt. Er versucht nicht sich selbst, sondern
›fast sich selbst‹ darzustellen. So will er sich auch von dem
Träger der Armbinde distanzieren. Außerdem sagte er mir, zu
jener Zeit habe er sich ständig ausmalen müssen, wie Helga im
Grab zerfalle . Er sagte auch: »Außerdem hat mich eine
literarische Spielerei interessiert: ich wollte das Begraben des
Stoffes am Ärmel des Mannes als richtiges kleines Begräbnis
schildern und dabei auch die Schrecken des Grabes ein wenig
andeuten.«
SCHRIFTEN DES SOLDATEN
II. Aus den letzten Kriegsjahren
DER SIEGER
Kasperle hat den Tod gefällt
mit seinem hölzernen Schwert.
Nun ist kein Tod mehr in der Welt,
drum ist auch das Leben nichts wert.
Und ist das Leben nichts wert in der Welt,
so ist das Sterben nicht schwer.
Kasperle hat den Tod gefällt
und ist hölzern wie er.
[aus den Gedichten des Soldaten]
Diese Geschichten sind in Amerika entstanden, vor der
Begegnung des Soldaten mit Helga, und zeigen, wie er seine
Welt sah und empfand.
DER BRAND
Was mich damals als Kind eigentlich in Sicherheit gewiegt
hat, weiß ich kaum. Gewiß, meine Eltern lebten, außer einem
Hund war in meinem Umkreis noch nichts gestorben; auch ein
eigenes Zimmer hatte ich, mit schönen Möbeln. Und doch war es
mehr die Geborgenheit unter den gleichgültigen Dingen, die mir
wohltat, das Umgebensein von Geschäftsläden, Laternen,
Gartenmauern und Plakaten, nicht einmal schön, aber alle seit
jeher so gewohnt, daß ich sie gar nicht richtig bemerkte. Dieses
Nichtbemerken aus langer Gewohnheit dürfte auch einer der
Gründe sein, weshalb es mir nicht gelingen will zu beschreiben,
wie das Haus vor dem Brand ausgesehen hat. Ich habe das Haus
und die ganze Gasse zu oft gesehen. Hätte man mir rechtzeitig
gesagt: »Morgen wird es brennen«, so wüßte ich jetzt alles. Aber
zuvor gab es keinerlei Anzeichen, und dann brannte es eben.
Auch meine Eltern sind schuld daran, besonders meine
Mutter. Hätte sie mich damals am Vormittag aus der Schule
abgeholt und in die Gasse geführt, durch den Rauch, bis vor das
Haus, es wäre mir sicherlich noch gelungen, aus den Flammen
das alte Bild zu retten. Die Flammen müssen an jenem Vormittag
die Zimmer erhellt und von innen heraus durchsichtig gemacht
haben, und diesen Anblick hätte ich so leicht nicht vergessen. Die
Stimmung unmittelbar bevorstehender Vernichtung läßt den
Blick schärfer werden, und die Dinge am Rand ihres
Nichtmehrseins treten uns plastischer entgegen.
Meine Mutter aber tat nichts dergleichen. Es war für mich ein
gewöhnlicher Schultag. Zwar hörten wir die Signale der
Feuerwehr, aber der Lehrer schlug mehrmals mit dem Lineal auf
den Tisch, kurz und zornig, so daß selbst die Flinksten, die schon
von ihren Plätzen aufgesprungen waren, um ans Fenster zu eilen,
zurückgescheucht wurden, als hätte der Hieb sie selbst getroffen.
Mittags holte die Mutter mich ab wie alle Tage. Für den
Rauchgeruch wußte sie eine Erklärung: »In der Nebengasse wird
geteert.« Wir machten einen Umweg. »Man ruiniert sich sonst
nur die Schuhe«, meinte die Mutter.
Allerdings muß gesagt werden, daß auch sie von der wahren
Bedeutung des Brandes keine Ahnung gehabt haben kann.
Vielleicht hätte sie sich sonst ganz anders verhalten. Das Leben
in einer großen Stadt aber brachte es mit sich, daß man fast
täglich von Feuersbrünsten erfuhr, einmal da, einmal dort, und es
deshalb verlernt hatte, einem Brand genügende Aufmerksamkeit
zu schenken. Man verließ sich auf die städtische
Wasserversorgung und auf die modern ausgestattete Feuerwehr,
die Tag und Nacht oben auf dem alten Lebensturm einen
Beobachtungsposten unterhielt. Es war, ohne daß man davon
gesprochen hätte, als sei durch den Bestand der Feuerwehr ein
Brand gleichsam in die Reihe der ordnungsgemäßen und
gehörigen Dinge aufgerückt und eigentlich nur noch
Angelegenheit der Feuerwehrleute, etwa wie die Anfertigung
eines neuen Schlüssels Sache des Schlossers war.
Mein Fenster, das sich nach der Nebengasse hin öffnete, war
an jenem Abend geschlossen und verhangen, und ich erinnere
mich zwar noch, daß meine Eltern flüsterten, aber ich kam
damals nicht auf den Gedanken, ihr Geflüster in Zusammenhang
mit dem ungewöhnlichen Zustand des Fensters zu bringen.
Am nächsten Tag allerdings, in der Schule, hörte ich alles.
Einige Kinder aus schlechterem Hause, mit denen ich sonst
wenig zu tun hatte, die aber viel auf der Gasse herumtollen
durften, hatten es sogar mit eigenen Augen gesehen und hatten
allerlei Reliquien, verkohlte Holzstücke, angesengte Blätter von
alten Büchern und übelriechende, stark rußende Stoffreste mit in
die Schule gebracht. Diese Gegenstände gingen heimlich von
Bank zu Bank, man betastete sie, roch daran und besah sie von
allen Seiten. Da viele Kinder in ihrer Erregung die gewohnte
Vorsicht vergaßen, wurde der Lehrer aufmerksam, fuhr
dazwischen, nahm uns ein Stück nach dem andern weg und legte
es auf das Katheder, bis dieses zuletzt selbst das Aussehen einer
kleinen Brandstätte hatte.
Aus geflüsterten Mitteilungen erfuhr ich, daß es ein großes
Feuer sein mußte, denn es hatte gestern am Vormittag zu brennen
angefangen und war heute knapp vor Schulbeginn weder gelöscht
noch auch nur herabgemindert. Allerdings hörte man auch von
einem Umsichgreifen der Flammen nur wenige unverläßliche
Gerüchte, von denen die meisten kindische Wunschträume
waren, wie zum Beispiel das hartnäckige Getuschel von der
Bedrohung der Schule und ihrer stündlich bevorstehenden
Schließung.
Zu Hause am Nachmittag bemühte ich mich mehrmals, das
Gespräch auf das Feuer zu bringen, zwar erfolglos, doch
verwickelten sich die Eltern in Widersprüche. »Von welchem
Feuer sprichst du? Ich weiß von keinem« , meinte die Mutter. Der
Vater aber sagte: »Ich will von deinem Feuer nichts mehr hören,
und wenn ich auch nur eine Spur von Ruß an dir finde, dann
kannst du was erleben!«
Am Abend fand ich mein Fenster wieder ganz und gar
verhangen, aber als die Mutter zum Zimmer hinaus war, stieg ich
aus dem Bett, hob die schwere Decke und den Vorhang und sah
mir alles an. Der Nachthimmel war von einem herrlichen roten
Schein erhellt. Er ging von einer Feuersäule aus, die aus der
Nebengasse in die ruhige Winterluft aufstieg, und darunter
glühten die Dachsparren des brennenden Hauses wie die Gräten
eines riesigen Fisches, die noch auf dem Teller liegen, wenn alles
Eßbare schon verzehrt ist. Auf den umliegenden Dächern konnte
ich die kleinen Schattengestalten der Feuerwehrleute erkennen,
die mit Seilen, Äxten und Schläuchen hantierten, die Dächer
berieselt hielten und ab und zu einen Wasserstrahl auf die
Flammen richteten, worauf jedesmal eine Wolke gelbleuchtenden
Dampfes zum rosigen Himmel aufstieg. Der Anblick hatte nichts
Furchtbares, und in dem Bewußtsein, immerhin einen Blick auf
das Feuer geworfen zu haben, schlief ich beruhigt ein.
Am nächsten Tag ließ uns der Oberlehrer in den Festsaal
zusammenrufen und verkündete seinen Entschluß, uns alle unter
Aufsicht unserer Lehrer an die Brandstätte zu führen, um so
durch den wirklichen Augenschein dem heimlichen, neugierigen
Geflüster ein Ende zu bereiten, das jeden ordentlichen Unterricht
unmöglich mache.
Wir brachen in lauten Jubel aus, holten unsere Mäntel,
Mützen und Handschuhe, stellten uns in Zweierreihen auf und
wurden, sorgsam von den Lehrern eskortiert, in die Nebengasse
geführt.
Es war allerdings nicht daran zu denken, an das brennende
Haus so dicht heranzukommen, wie wir das gerne gewollt hätten.
Ein Seil sperrte die eine Seite der Gasse ab, und Feuerwehr und
ein starkes Polizeiaufgebot standen da, den Rücken gegen das
Feuer, mit ausgebreiteten Armen, und vereitelten jeden Versuch
durchzuschlüpfen. Das Haus brannte lichterloh; was aber nachts
von meinem Fenster aus eine Feuersäule gewesen war, das zeigte
sich uns jetzt nur als Rauchwolke. Überhaupt machte sich der
Lichtschein der Flammen weit weniger merkbar als ihre Wärme.
Schon beim Einbiegen in die Gasse war uns aufgefallen, daß man
trotz des Wintertages keinen Atemhauch mehr sah, und hier in
der Nähe der Flammen war es so warm, daß wir Handschuhe und
Mützen in die Manteltaschen steckten und die Mäntel selbst
auszogen und über den Arm hängten.
Es standen viele Neugierige da; auch konnten wir sehen, daß
zwischen dem Feuerwehrkommandanten und einigen älteren
Herren in Zivil erregte Gespräche geführt wurden. Schließlich
verlor der Wortführer die Geduld und sagte mit erhobener
Stimme zum Feuerwehrkommandanten: »Aber was! Praktische
Erfahrung!« Und zu den anderen Zivilisten: »Gehen wir, meine
Herren! Ein Dienst, der nicht seine Theorie hat, ist eben ein
bloßer Handlangerdienst!«
Die Telephonzelle an der Ecke war von einer Schar hastig
sprechender Männer umlagert, Zeitungsreporter, wie uns unsere
Lehrer erklärten. Einige Straßenkinder versuchten immer wieder
zwischen Feuerwehrleuten und Polizisten durchzubrechen. Ihrem
Aussehen nach mußte ihnen das auch schon mehrmals gelungen
sein, denn sie waren über und über voll Ruß. In der breiten
Toreinfahrt des alten Hauses schräg gegenüber der Brandstelle
hatten zwei Maler ihre Staffeleien aufgestellt und winkten den
Leuten von Zeit zu Zeit, sie mögen ihnen doch die Aussicht
freigeben. Als die Hausbesorgerin herauskam und heftig
gestikulierend auf die Maler einsprach, drückte ihr der eine etwas
in die Hand, worauf sie die halbfertigen Gemälde andächtig
anblickte, mit dem Zeigefinger zwischen Leinwand und
Brandrichtung hin- und herfuhr, mehrmals mit dem Kopf nickte
und endlich verschwand.
Über den Brand selbst, der doch eigentlich das Interessanteste
hätte sein müssen, weiß ich nur wenig zu berichten. Das Feuer
beschränkte sich auf das eine Haus, das, wie uns unsere Lehrer
sagten, nun schon seit drei Tagen genau den gleichen Anblick
bot. Vorhänge, Einrichtungsgegenstände, Bücher, Kleider, sagte
man uns, seien schon in den ersten Augenblicken verlodert und
verkohlt. Das Haus selbst aber habe die ganze Zeit gleichmäßig
gebrannt, ohne zu verbrennen. Dieser an sich unerklärliche
Umstand, daß Sparren, Fensterrahmen und Türstöcke brannten,
ohne sich zu verzehren, und daß sich die Flammen ohne neue
Nahrung erhielten, verlieh dem Anblick etwas Ruhiges und
Selbstverständliches.
Als uns schließlich mehrere Feuerwehrleute versicherten, es
sei auch nicht ein einziger Mensch ums Leben gekommen, hörten
wir auf, Knochensuchen zu spielen, und unser Interesse erlahmte.
Wir wendeten uns vom Feuer ab und den umliegenden Häusern
zu. Dort war viel mehr los. Die Möbelpacker waren am Werk,
Wohnungseinrichtungen auf große wartende Wagen zu verladen.
Diese Häuser waren immerhin vielleicht gefährdet, außerdem
sickerte das Wasser, mit dem die Feuerwehr ihre Dächer
berieselte, nach und nach durch alle Decken und Fußböden und
beschädigte Tapeten und Einrichtung. Die zornigen Hausbesitzer
machten dem Feuerwehrkommandanten verzweifelte
Vorstellungen, er solle doch ihre Dächer nur vom First aus
besprengen, so daß das Wasser unschädlich abfließen könne wie
Regen, und nicht die Häuser von unten her anspritzen lassen, daß
die Fensterscheiben zerbrachen und der Dachbelag hochgeworfen
wurde. Der Feuerwehrkommandant aber, offenbar noch von
seinem Wortwechsel her verärgert, weigerte sich, von der
gewohnten Praxis abzugehen, und verwies die Beschwerdeführer
an die Stadtverwaltung. Seine Mannschaft sicherte mitunter sogar
die auf der Straße zum Abtransport bereitstehenden Schränke und
schweren Polstersessel durch einen kräftigen Wasserstrahl vor
Brandschaden.
Auf dem Rückweg in die Schule fiel es mir schwer, meine
Enttäuschung zu verbergen. In den Tagen des Wartens hatte ich
mir wirklich einen bedeutenderen Anblick erhofft. Auch nachts
im Traum sah ich dann nicht etwa den Brand selbst, sondern nur
die bestechliche Hausbesorgerin und den rücksichtslosen
Feuerwehrkommandanten. Die beiden vollführten einen wahren
Höllentanz, bei dem sie hüpften und sprangen und rot und
glühendheiß wurden, als seien sie selbst die Feuersbrunst. Dann
wieder malte der Feuerwehrkommandant mit Wasserfarben
gierige Flammenzungen auf Haustore und herumstehende Möbel,
und die Hausbesorgerin sah bewundernd zu und verrichtete
Handlangerdienste; das heißt, sie spritzte Wasser zum Mischen
der Flammenfarbe aus einem Schlauch, der wie eine Schlange
den Zugang zum verbotenen Haus sperrte. So trieben sie es die
ganze Nacht lang.
Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, der Ausflug an die
Brandstätte habe in der Schule die Ruhe wiederhergestellt. Kaum
war uns die Feuersbrunst aus den Augen, so erregte sie wieder
unsere Phantasie. Wir zündeten Streichhölzer an, versuchten eine
Schulbank in Brand zu stecken, verbrannten eine große Fliege,
die wir gefangen hatten, und stellten uns im Waschraum an den
Wasserhahn, hielten mit dem Finger die Mündung zu, drehten
dann auf und spielten so mit scharfen, dünnen Strahlen
Feuerspritze.
Am nächsten Tag brannte das Feuer immer noch. Es galt nun
allgemein als unlöschbar, aber die Leute begannen sich schon
daran zu gewöhnen. Nicht einmal mehr meine Mutter bestand
darauf, einen Umweg zu machen. Da es unsere Lehrer
verantworten zu können glaubten, uns hinzuführen, sei nun
ohnehin alles einerlei, meinte sie achselzuckend. Die Kinder aber
hielten in der großen Pause auf dem Schulhof Kriegsrat über die
Möglichkeit, einen unlöschbaren Brand zu löschen. So kam es
auch zu dem ersten Todesfall, der mit dem Ausbruch des Feuers
in Zusammenhang stand. Einige größere Jungen gossen einem
unbeliebten kleinen Rothaarigen unter lautem »Feurio!« einen
Eimer Wasser über den Kopf. Er saß dann während der drei
folgenden Stunden triefendnaß auf seinem Platz hinten beim
Fenster, zu verschüchtert, um etwas zu melden. Tags darauf
fehlte er, und eine Woche später starb er an Lungenentzündung.
Der Rothaarige hatte aus Furcht vor der Rache der Größeren
seinen Eltern erzählt, ihn habe auf dem Weg durch die Gasse ein
Strahl aus einem der Spritzenschläuche getroffen. Auch wir
andern vertuschten den Vorfall; so kam es zu keiner
Untersuchung, und das Leben in der Schule nahm seinen
gewohnten Verlauf. Vielleicht haben wir deshalb in den nächsten
Wochen über das Feuer weniger gesprochen, als wir es sonst
getan hätten.
Nichts schien sich ändern zu wollen. Das Haus brannte und
stürzte nicht ein; an Stelle der Seilsperre war ein verläßlicheres
und gefälliger aussehendes Gitterwerk errichtet worden, und
damit schien das Feuer endgültig zu einer stehenden Einrichtung
geworden zu sein. Es griff nicht um sich; es ließ sich aber auch
nicht löschen. Man versuchte es mit allerlei chemischen
Löschmitteln, aber ohne merkliche Wirkung, höchstens daß die
Flammen eine Weile lang ihre Farbe veränderten. Öfters kamen
Herren von der Stadtverwaltung und führten Abordnungen
ausländischer Wissenschaftler an die Brandstätte. So verging der
Winter.
Ich weiß nicht, ob ich erwähnt habe, daß damals die
gewohnten Ausbrüche größerer und kleinerer Brände völlig
aufhörten. In den ersten Wochen gab es noch dann und wann in
entlegenen Stadtteilen ein kleines Feuer, doch handelte es sich
um ganz unbedeutende Ausbrüche, die meist schon vor
Eintreffen der Feuerwehr von den Hausbewohnern gelöscht oder
gar von selbst erloschen waren. Nach einigen Wochen hörte auch
das auf. Von Januar bis Mitte April brannte in der ganzen Stadt
nur das eine Haus in unserer Nebengasse.
Dann eines Tages riefen die Zeitungsjungen Extraausgaben
aus. Es brannte in fünf verschiedenen Stadtteilen. Fünf Brände an
einem Tag wären sonst in einer so großen Stadt nichts
Ungewöhnliches gewesen, aber nach Monaten ohne ein einziges
Feuer erregten sie Aufsehen, ja Panik. Um die gleiche Zeit
erlosch plötzlich das Feuer in der Nebengasse, und das Haus
stürzte von einem Augenblick auf den andern zu Asche ein,
wobei mehrere Feuerwehrleute ums Leben kamen. Bei ihrem
Begräbnis wurden ernstliche Ruhestörungen nur mit knapper Not
vermieden.
Schon am nächsten Tag stand fest, daß die fünf neuen Brände
von gleicher Art waren wie der erste. Die Zeitungen brachten
beruhigende Erklärungen, es sei immer noch weniger als jedes
zehntausendste Haus betroffen, und die Feuergefahr in der Stadt
sei demnach eigentlich geringer als je zuvor. Trotz dieser
tröstlichen Statistiken herrschte Angst. Die Preise der Landhäuser
stiegen von Tag zu Tag und erreichten phantastische Höhen, und
auf den großen Ausfallstraßen drängten sich hochbepackte
Fahrzeuge aller Art. Auch bei uns wurden Kisten und Koffer
gepackt und alle Vorbereitungen zum Verlassen der Stadt
getroffen.
Ich ging nach wie vor in die Schule. Die Stadtverwaltung
hatte angeordnet, daß der Unterricht seinen gewohnten Fortgang
zu nehmen habe. Viele Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr aus
den Augen, und in unserer Klasse fehlte mehr als ein Drittel der
Schüler. Der Unterricht verlief dadurch eigentlich recht
angenehm, denn die Lehrer hatten mehr Zeit, sich mit
Einzelheiten zu befassen, wirklich neuen Lehrstoff wollten sie
aus Rücksicht auf die hohe Zahl der Fehlenden nicht
durchnehmen. So wurden einem allerlei Fragen beantwortet, die
sonst mit einer ausweichenden Bemerkung abgetan worden
waren. Dennoch wäre ich lieber daheim geblieben, denn beim
Packen unserer Sachen kamen nun oft die merkwürdigsten Dinge
ans Licht; die Tischgespräche der Eltern wurden trotz meiner
Gegenwart von Tag zu Tag aufschlußreicher und interessanter.
Das Wetter war ungewöhnlich schön und warm. Es herrschte
Windstille. Nachts konnten wir vom Balkon unseres Hauses aus
in verschiedener Entfernung vier Feuersäulen aufsteigen sehen,
die höchste halb verdeckt von der gigantischen schwarzen Masse
des alten Lebensturms. Die fünfte Brandstelle lag auf der anderen
Seite des Hauses und war nur vom Dienstbotenzimmer aus
sichtbar.
Aus den Gärten kam der Duft der blühenden Sträucher,
morgens und abends sangen die Vögel. Manchmal wurde von der
warmen Luft, die an den besonnten Häuserwänden aufstieg,
schon ein weißer oder brauner Schmetterling hochgetragen, und
ich habe meine Mutter mehrmals mitten in Gesprächen über die
bevorstehende Abreise sagen gehört, sie habe noch nie einen so
schönen Mai erlebt.
Es war nämlich schon Mai, Mitte Mai, und so ist eigentlich
nicht mehr viel zu berichten. Das wußte aber damals noch
niemand.
Am Tag, an dem es geschah, hatten wir Schulausflug. Ich
kann mich noch an die Auseinandersetzung zwischen meinen
Eltern erinnern, ob es nicht doch unvorsichtig sei, mich so lange
fortzulassen. Die Erlaubnis zur Teilnahme an dem Ausflug hatte
ich schließlich dem Fatalismus meines Vaters zu verdanken. Ich
erwähne das, weil mir dieser Fatalismus sonst öfters wie
Gleichgültigkeit und Mangel an Liebe erschienen war. An jenem
Morgen aber kam er mir eben recht, und so verließ ich das Haus
ohne Groll gegen meinen Vater.
Der Ausflug verlief zunächst wie alle Schulausflüge. Es
wurde gesungen, gewandert, gespielt und auf einer Wiese
Mittagsrast gehalten. Nach dem Essen lagen wir schläfrig
blin zelnd im Gras und ruhten ein wenig aus. Plötzlich begannen
zwei oder drei Kinder zu schreien.
Die Wiese lag auf einem sanft geneigten Hang, von dem man
auf die Stadt heruntersehen konnte, auf den Fluß, den alten
Lebensturm und die zahllosen Straßen und Häuser. Nur die
südlichen Vorstädte waren nicht zu sehen.
Als die Kinder zu schreien anfingen, hatten wir ihnen zuerst
ins Gesicht gesehen, dann aber in dieselbe Richtung geblickt wie
sie. Nur die wenigsten von uns schrien mit. Einige blieben ganz
still sitzen. Von den Mädchen begann eines laut zu lachen, hielt
sich aber dann den Mund zu. Auch der Lehrer sagte nichts. Er
ballte nur die Fäuste und stieß die Fingerknöchel mehrmals
langsam und nachdenklich gegeneinander, nicht zu fest, als
fürchte er, sich weh zu tun.
Ich kann eigentlich nicht einmal sagen, daß ich entsetzt war.
Es war ein dumpfes und zugleich leise prickelndes Gefühl,
ähnlich wie wenn einem ein Fuß eingeschlafen ist, nur eben nicht
im Fuß, sondern in der Magengrube und im Kopf, und vielleicht
nicht einmal dort, sondern irgendwo außerhalb.
Unser Entsetzen wäre vielleicht größer gewesen, wenn das
Bild dort unten noch etwas Bekanntes gehabt hätte. Aber es hatte
nichts Bekanntes mehr. Die ganze Niederung war eine
einheitliche Masse von Flammen. Es gab weder brennende
Häuser noch Straßenzüge oder Stadtteile, nur Flammen. Nicht
einmal der alte Lebensturm oder der Fluß waren zu erkennen.
Daß aus diesem Feuer niemand mit dem Leben
davonkommen konnte, wußten wir eigentlich gleich. Dennoch
entschlossen wir uns zur Flucht erst, als der heiße, trockene Wind
den Hang heraufkam. Der Lehrer befürchtete einen Waldbrand.
Daß auch weiterhin Wälder und freie Landstriche nicht betroffen
wurden, war damals noch nicht bekannt.
Spät am Nachmittag erreichten wir einen Ort am Fuß des
Gebirges. Die Leute waren bereit, uns aufzunehmen, doch
brannten bei ihnen seit dem Mittag die Kirche und das Beinhaus
auf dem Friedhof. Die heiße Luft im Beinhaus sprengte vor
unseren Augen das Tor auf, und drinnen konnte man die Schädel
mit ihren tiefen Augenhöhlen glühen sehen.
Wir zogen es vor, im Wald zu übernachten. Gegen
Mitternacht verfiel das Mädchen, das am Nachmittag gelacht
hatte, in Krämpfe und starb vor dem Morgengrauen. Wir konnten
sie nicht ins Kirchdorf zurückbringen, denn das brannte schon
lichterloh, doch waren viele Bauern mit dem Leben
davongekommen. Sie gaben uns Brot und Speck. Wasser tranken
wir aus einer Quelle.
Tags darauf erfuhren wir in der Kreisstadt die ersten
Einzelheiten über das Schicksal unserer Vaterstadt. Wir sahen
auch die Namenlisten der Überlebenden, kaum fünfhundert
Namen. Eines der Kinder fand seinen Vater auf der Liste und
wurde von uns getrennt und zu ihm gebracht. Bei diesem
Abschied haben fast alle geweint, zum ersten Mal seit der
Katastrophe.
Als nach einigen Tagen in der Kreisstadt der erste Brand
ausbrach, fuhren wir weiter. Wir wurden mit überlebenden
Kindern aus zwei anderen großen Städten unter Aufsicht einiger
Pflegerinnen und Lehrer zu einer Art Sommerlager
zusammengeschlossen. Der Sommer jenes Jahres war ja
ungewöhnlich schön, auch hatten wir dank der Fürsorge einer
behördlichen Stelle zunächst genügend Lebensmittel. Von den
Ereignissen des Herbstes hatten wir damals noch keine Ahnung.
Ich glaube aber, auch wenn wir alles gewußt hätten, hätten wir
uns nicht anders benommen. Wir waren besonders in den ersten
sechs oder acht Wochen gehorsam, leicht zu lenken, schliefen
sehr viel und waren überhaupt ein wenig still und stumpf, fast
wie Pflanzen. Bekanntlich war dieser Zustand nicht von Dauer,
aber was schließlich zu einer plötzlichen Änderung geführt hat,
das hängt nicht mehr unmittelbar mit dem Brand zusammen, von
dem hier berichtet werden sollte.
Der Brand ist trotz aller märchenhaften, symbolischen und
allegorischen Züge eigentlich eine richtige Flüchtlingsgeschichte.
Bedrohung und Zerstörung der Heimat, überraschende Einblicke
durch die Gefährdung althergebrachter Zustände, Vorbereitungen
zur Emigration und zuletzt Anfang einer ratlosen Flucht; das sind
die wesentlichsten Elemente der Handlung.
Die Bestechung der Hausbesorgerin geht auf ein wirkliches
Erlebnis des Verfassers zurück. Er schrieb mir in einem Brief
darüber:
›Nach den Judenverfolgungen vom 10. November 1938 war
der Andrang nach Ausreisepapieren sehr groß. Wir standen
Schlange. SA zerstreute uns unter Drohungen, aber meine Mutter
hat von einer Hausbesorgerin einen sogenannten 'Stehplatz' in
einem Tor in der Nähe des Amtes gekauft. Wir standen dort,
voller Angst vor der SA, aber überzeugt, daß es unbedingt
notwendig sei, trotz allem zu warten und die Ausreisepapiere zu
holen.‹
Interessant ist vielleicht, daß das erste Todesopfer ein
Rothaariger ist. Der Rothaarige ist im Volksaberglauben seit
jeher der vom Schicksal Gezeichnete. Ähnliches findet sich auch
in seinen späteren Schriften.
Die Darstellung der totalitären Kräfte des Terrors als
Elementargewalten erklärt vielleicht, wie sich der Verfasser von
Haß freihalten konnte.
Den Vergleich des Starregefühls unmittelbar nach Eintritt
eines Ereignisses, das zu schwerwiegend ist, um bewältigt zu
werden, mit einem ›eingeschlafenen Fuß‹ hat der Verfasser
später, als er mir von seiner Begegnung mit Helga erzählte,
mehrmals gebraucht.
Die Beschreibung des Starregefühls beim Brand der Stadt ist
eine spätere Einfügung des Soldaten in sein Manuskript, ebenso
seine Schilderung des Mädchens, das angesichts der Katastrophe
zu lachen beginnt, sich die Hand vor den Mund hält und am
nächsten Tag stirbt. Beide Einfügungen dürften Umschreibungen
von Beobachtungen des Soldaten bei seinem ersten
Zusammenstoß mit Helga sein.
DIE LETZTE FLIEGE
Es war ein sonniger Nachmittag in einem Sommerhaus
unweit der Stadt. Das Kind hatte auf einen Ausflug in den Wald
gehofft, aber die Mutter war müde. Allein durfte es nicht gehen;
es war noch nicht groß genug. So blieb es gelangweilt im Garten,
spielte einsame Spiele mit dem Pingpongtisch, weinte mehrmals,
ohne daß jemand es trösten kam, versuchte sich selbst ein
Märchen zu erzählen, in dem es eine hochgestellte Person war,
und wurde schließlich auf die Fliegen aufmerksam.
Die Fliegen versammelten sich auf dem Pingpongtisch um die
kreisrunde Spur des Glases. Das Kind hatte sein Himbeerwasser
gleich nach dem Essen ausgetrunken, auch das Glas war schon
weggenommen worden. Aber die klebrigen Tropfen konnten
noch nicht vertrocknet sein, denn die Fliegen ließen sich nicht
verscheuchen.
Das Kind versuchte sie mit der Hand zu fangen, aber es hatte
kein Glück. Es war ungeschickt, das wußte es. Auch der Ekel
hemmte seine Hand, mitten in der Bewegung. Schließlich lief es
ins Haus und brachte aus der Küche einige alte Papiertüten.
Eine davon wurde über die Hand gestülpt; das Kind lauerte
mit erhobenem Arm neben dem Pingpongtisch. Dann klatschte
die Hand flach auf die Fliege nieder, durch das Papier vor der
widerwärtigen Berührung geschützt. Von Zeit zu Zeit wurde eine
reine Tüte genommen. Als alle verbraucht waren, wickelte das
Kind Zeitungspapier um die Hand. Für jedes Opfer wurde auf
den Pingpongtisch ein kleiner Stein vom Kiesweg gelegt.
Die einzelnen Bewegungen wurden rasch zweckmäßiger. Vor
dem Zuschlagen stellte sich das Kind so an den Tisch, daß kein
störender Schatten seiner Hand eher auf die Tischplatte fiel als
die Hand selbst. Nach Ausschaltung dieses letzten, unfreiwilligen
Warnsignals konnte es die Zahl seiner Denksteine auf dem
Pingpongtisch rasch vergrößern.
Das Kind war nicht unzufrieden mit sich; es tat nützliche
Arbeit. Tierquälerei konnte ihm niemand vorwerfen, denn es
tötete seine Fliegen schneller als das Fliegenpapier an der
Küchenlampe. Aber sein Verfahren hatte eine Schwäche. Zwar
die gewöhnlichen kleinen grauen Fliegen und sogar die grünen
vom Düngerhaufen streckte es in Scharen auf die Tischplatte
nieder, aber gegen die großen Brummfliegen, die ebenfalls
naschen kamen, versagte es. Diese Tiere hatten eine
unberechenbare Art sich zu bewegen. Sie waren mißtrauischer als
die kleinen. Je größer, desto gescheiter waren sie offenbar. Das
Ärgste aber blieb ihr lautes Aufsummen, vor dem das Kind jedes
Mal erschrak und die Hand zurückzog.
Endlich, als es dennoch einen dieser großen Brummer erlegt
hatte, deren jeder eigentlich mehr Steine wert war als zehn von
den kleinen Fliegen, zerriß zwischen Fliegenkörper und Hand das
Papier, und das Kind mußte voll Ekel zum Brunnen laufen und
die Hand abspülen. Es kam sich dabei gar nicht mehr wie die
hochgestellte Person aus seinem Märchen vor, sondern eher wie
der Räuber, der seine Opfer mit einem ganz kurzen Dolch
abschlachtet und nachher voll Blut ist.
Auf dem Rückweg vom Brunnen verschwand das Kind
wieder ins Haus und holte ein langes Holzlineal.
Wenn man das Lineal mit der einen Hand hielt, mit der
anderen zurückbog und dann plötzlich das Ende losließ, schnellte
es mit scharfem Geräusch vor. Diese Bewegung, dicht über der
Tischplatte vollführt, scheuchte die Fliegen auf und vor das
Lineal, das mit einem kleinen Knall gegen ihre Leiber klopfte
wie gegen Erbsen und sie wie Erbsen mit trockenem Schlag
fortschleuderte. Der Schlag war tödlich.
Auch diese neue, viel elegantere Jagdmethode wollte erst
gelernt sein. Bei dem verbesserten Verfahren war es
zweckmäßig, anders zu stehen. Hatte der Schatten zuvor den
Ertrag vermindert, so steigerte er ihn nun. Der Schatten des
Linealendes konnte nämlich die Tiere gerade einen Augenblick
vor dem Vorbeiflitzen des Holzes von ihrem Fraß aufstören. Zum
Entkommen war es dann schon zu spät; sie fanden nur noch Zeit,
dem Lineal in den Weg zu fliegen. Es kam auch sehr darauf an,
die Beute in eine Richtung zu schleudern, wo man sie ohne Mühe
finden und zählen konnte, denn das Lineal tötete oft mit einem
Schlag zwei oder drei Stück, und die Kiesel wurden immer noch
gewissenhaft als Denksteine auf den Tisch gelegt.
Die Einrichtung der Denksteine behielt das Kind nur aus
Gewohnheit bei. Eigentlich waren sie nicht mehr nötig, denn zu
den Vorteilen des neuen Verfahrens gehörte es auch, daß die
Beute nicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde, sondern
mehr oder weniger Ähnlichkeit mit dem Anblick bewahrte, den
sie zu Lebzeiten geboten hatte. So konnten nun neben ihren
Denksteinen auch die Fliegen selbst in Reih und Glied ausgelegt
werden. Ein sanftes Nachschieben mit dem Lineal und mit einem
Blumenstengel brachte jede an ihren richtigen Ruheplatz. Zuerst
hatte das Kind gegen diese Aufbahrung gewisse Bedenken
gehabt; als aber die Fliegen vom Anblick ihrer Toten gar nicht
abgeschreckt wurden, sagte es sich, daß der Jagd keine Gefahr
drohe, seufzte nach Art seiner Mutter erleichtert auf und
beruhigte sich.
Die Jagdmethode erreichte ihre Vollendung, als das Ballnetz,
das quer über den Pingpongtisch lief, mit Zeitungspapier zu
einem undurchdringlichen Wall ausgebaut wurde, einer Art
Kugelfang, gegen den die getroffenen Fliegen geschnellt wurden.
Diese Hilfsvorrichtung erleichterte das Bergen, Zählen und
Zurechtlegen der Leichen aller Größen und brachte Ordnung in
das Verfahren. ›Fliegenpingpong‹ nannte das Kind seinen neuen
Sport.
Eben hatte das Lineal eine große Brummfliege auf den
Zeitungswall zu geschleudert, da wurde das Kind ins Haus
gerufen. Nach ein oder zwei Minuten kam es zurückgelaufen und
suchte am Fuß des Zeitungswalls seine Beute.
Die Brummfliege lebte. Sie hatte sich halb aufgerichtet und
kroch sehr langsam am Rand eines Zeitungsblattes dahin;
schließlich erklomm sie das Papier, zögernd und mit sichtlicher
Mühe. Der eine Flügel war aus der Richtung geknickt, und
dahinter glänzte etwas feucht. Die Fliege war stellenweise mit
sehr kurzem, braunem Haar bedeckt. Sie kroch nicht geradeaus
über das Papier, sondern imme r im Kreis herum. Der gesunde
Flügel befand sich an der Außenseite dieses Kreises. Wenn man
sie mit dem Blumenstengel leicht berührte, summte sie, aber nur
sehr leise. Immer wieder versuchte sie, das Bein, das unter dem
getroffenen Flügel ansetzte, in den Bereich ihrer Mundwerkzeuge
zu bringen, die sich ununterbrochen bewegten. Es gelang aber
nicht. Als das Kind mit seinem Blumenstengel an dem Bein
schob, um nachzuhelfen, summte sie heftig auf, unternahm einen
Flugversuch, fiel vom Tisch und blieb unten im Kies auf dem
Rücken liegen.
Das Kind war erschrocken. Es faßte sie behutsam am
gesunden Flügel, ließ ihn aber gleich wieder los, aus Furcht, ihn
abzureißen. Es sah sich hilfesuchend um, riß achtlos ein Stück
Zeitung aus seinem Zeitungswall, schob die Fliege mit dem
Blumenstengel sorgfältig auf das Papier und hob sie auf den
Tisch zurück. Dann sah es sie an.
Die Fliege regte sich nicht. Nach einer kleinen Weile begann
sich das Kind zu fürchten. Es schob die Fliege mit dem
Blumenstengel ganz langsam einige Zeilen weit über das
Zeitungsblatt, um sie vielleicht so zu einer Bewegung zu
ermuntern. Der feuchtglänzende Fleck hinter dem beschädigten
Flügel ließ auf dem Papier eine zarte Spur zurück. Da schob das
Kind nicht weiter. Es beugte sich über die Fliege und begann sie
leise anzuhauchen, einige tiefe, nicht sehr sichere Atemzüge lang.
Endlich bewegte das verletzte Tier wieder die Beine und zappelte
schwach. Das Kind riß noch einen zweiten Streifen vom
Zeitungswall und drehte nach mühseligem Hantieren mit den
beiden Papierstücken die Fliege um. Sie kam zu stehen, dann und
wann hob sie ein Bein.
Einmal, als das Kind ein Stück Zeitungspapier in den Mund
stecken wollte, hatte man ihm gesagt, Druckerschwärze sei giftig.
Das fiel ihm nun ein. Vielleicht war die Drucke rschwärze auch
für die Fliege giftig. Auch der Pingpongtisch mit seiner
giftgrünen Farbe konnte gefährlich sein. Man mußte die Fliege in
eine bessere Umgebung bringen, wenn sie sich erholen sollte.
Das Kind trug sie auf dem Papier zu einer großen Blume und
schob sie behutsam in den offenen Kelch. Die Fliege bewegte
sich matt. Dem Kind fiel ein, daß Fliegen eigentlich nicht von
Blüten leben, und es rannte ins Haus und brachte aus der Küche
ein winziges Stück Käse und eine einzelne Fleischfaser.
Die Fliege saß nicht mehr im Kelch. Sie war gefallen und in
ein glitzerndes Spinnennetz geraten, dem der Stengel der großen
Blume als Stütze diente. Sie strampelte ein wenig. Das Kind
überwand sich, griff ins Netz und nahm den Teil, in den sich die
Fliege verstrickt hatte, in die Hand. Auf der Handfläche trug es
die klebrigen Fäden mit der Fliege zum Tisch zurück. Es legte
Fleischfaser und Käse auf den Tisch, um die andere Hand
freizubekommen. Dann begann es die Fliege von den Fäden zu
lösen; eine langwierige Arbeit, obwohl sie sich nicht fest
verstrickt hatte. Zuletzt hielt es sie prüfend gegen die sinkende
Sonne. Kein Faden haftete mehr an der Fliege, aber sie bewegte
sich kaum.
»Sie wird müde sein von den vielen Aufregungen.« Das Kind
trug die Fliege wieder auf die Blume. Dann legte es Fleischfaser
und Käsekrume säuberlich rechts und links neben sie in den
Kelch.
Als die Mutter zum Abendessen rief, sah das Kind noch rasch
den Himmel an. Keine Wolke zu sehen; es würde nachts nicht
regnen, hoffentlich nicht. Ein letzter Blick auf die Blume zeigte
alles unverändert. Die Fliege stand im Kelch, ein wenig schief,
neben ihr Fleisch und Käse. Die Reste des Spinnennetzes waren
gründlich zerstört worden. Gute Nacht konnte man zu einer
Fliege nicht sagen. Also nickte das Kind nur flüchtig mit dem
Kopf; das mußte nicht mehr bedeuten, als daß nun alles soweit in
Ordnung sei. Dann mußte es ins Haus.
Am Morgen war sein erster Weg zur Blume. Im Kelch
glänzte noch Tau. Käse, Fleisch und Fliege waren verschwunden.
»Sie hat sich erholt, sie hat alles aufgegessen und ist schon
weggeflogen«, sagte das Kind. Auf der Erde und in den Gräsern
rund um die Blume war nichts zu sehen. Das Kind atmete auf. Es
dachte nach. Eigentlich wollte es sich freuen, die Fliege war doch
gerettet. Es sagte sich das mehrmals, zuletzt ganz laut; dabei
wurde es aber rot im Gesicht, als habe es etwas verschwiegen.
Mit einem Mal ballte es die Faust und rannte davon. Es
schlug einen großen Bogen um den Pingpongtisch, sah sich im
Laufen um, stolperte, fiel auf den Kies und begann laut zu
weinen.
Die letzte Fliege trägt über dem Titel einen Bleistiftvermerk:
›Fast alles wirkliches Kindheitserlebnis.‹
Das Umschlagen der Feindschaft in Liebe ist wie
selbstverständlich dargestellt, ebenso der Wunsch, Rettung zu
bringen. So fällt einem der Umfang dieser Verwandlung im
ersten Augenblick vielleicht gar nicht auf. Eine solche
Gefühlsänderung hat bekanntlich wenige Monate später im
Leben des Verfassers eine entscheidende Rolle gespielt. Aber
schon lange vor Kriegsende hat ihn das plötzliche Umschlagen
von Gefühlen viel beschäftigt und kommt in seinen Geschichten
immer wieder vor. Er selbst nennt es Umkippen oder
Umschlagen, manchmal auch Rollentausch.
Der Brand z.B. enthält einen Traum, in dem der
Feuerwehrkommandant vom Vortag Flammen auf Haustore und
Möbel malt. Dieser Rollentausch zeigt vermutlich das Mißtrauen
des Verfassers gegen die Obrigkeit und ihre angeblich guten
Absichten.
DER SPINNENKREUZZUG
Jeden Morgen, wenn die Mutter es spielen schickte, stand das
Kind eine Weile vor dem Spinneneck, horchte, wie die
Wasserleitung tickte, und war traurig. Warum, das wußte es
nicht, genau wie es nicht wußte, warum der Winkel bei der
Wasserleitung Spinneneck hieß, der Garten oben am Hang hinter
dem Sommerhaus Hexenpark und die Holztreppe zum Garten
hinauf Brummstiege. Diese Namen hatte das Kind selbst in
vergangenen Feriensommern erfunden, aber sie waren seither
Wirklichkeit geworden, vielleicht wirklicher als Winkel, Garten
und Treppe. Sie hatten ihren eigenen Geschmack im Mund, sie
ließen sich beim Spielen stundenlang wiederholen, und sie
blieben dabei doch seltsam und geheimnisvoll.
Das Kind stand vor dem Spinneneck und war traurig. Die
Sonne blinkte in den Tropfen, die vom Wasserleitungshahn ins
Becken fielen, wobei sich jedes Mal ein Wellenkreis bildete und
in der Mitte, einen Augenblick lang, wenn der Tropfen
aufplatschte, ein winziger Stiel aus Wasser, der rundgedrechselt
wie der Holzgriff eines Springseils aussah, mit dünnerem Hals,
aber oben am Ende wieder verdickt. Das Kind konnte nie
herausfinden, ob diese Stiele dadurch entstanden, daß die
gefallenen Tropfen noch einmal hochhüpfen wollten, oder ob
ihnen das Wasser zuletzt entgegenkam.
Jeder Tropfen glitzerte in der Morgensonne, und das bewegte
Wasser im Becken warf zitternde Spiegellichtfiguren ins
Spinneneck, so daß die Spinnweben glänzten und manchmal alle
Regenbogenfarben in den glasigen Flügeln standen, die von den
gefressenen und abgefallenen Mücken und Sommerfliegen im
Netz übriggeblieben waren.
Hatte sich ein Tier erst vor kurzem in den klebrigen Fäden
verfangen und war es von seinen Befreiungsversuchen noch nicht
zu erschöpft, so ermutigte der tanzende Sonnenfleck es
manchmal zu neuer Bewegung. Dann glitt die Spinne vorsichtig
ein kleines Stück näher, besorgt um Falle und Fang.
Fast immer gab es im Spinneneck etwas zu sehen, denn da
hing ein Netz neben dem anderen, und in einem zappelte immer
ein Tier. Nicht umsonst trug das Spinneneck seinen Namen, nur
war nicht einzusehen, warum gerade die Ecke bei der
Wasserleitung so hieß, denn das Sommerhaus hatte viele Winkel,
und der Schuppen daneben noch mehr, und in den meisten gab es
viel mehr Spinnen als bei der Wasserleitung, wo die Mutter sie
immerhin von Zeit zu Zeit mit einem Besen entfernte.
Diesmal aber hatte sich nichts Lebendiges in die Fäden
verstrickt, nur eine graue Spinne glitt hin und her und besserte ihr
Netz aus: »Sie lauert auf Schmetterlinge.«
Erst vor wenigen Tagen hatte die Mutter von der
Schmetterlingskönigin erzählt und hatte auch den hohen Ton
nachgeahmt, mit dem ein Schmetterling weint, wenn er gefangen
wird. Nur viel lauter als wirkliche Schmetterlinge, die man ohne
ganz besondere Apparate nicht hören kann. Das Kind hatte
versprochen, nie mehr Schmetterlinge zu fangen. Aber die
Spinne war nach wie vor auf Fang aus und schämte sich nicht
einmal.
Ein abgebrochener Zweig lag neben der Wasserleitung auf
den Fliesen. Das Kind sah die Spinne an und hob ihn auf. Es hielt
den Zweig wie der Vater im Kaffeehaus den Billardstock, zielte
auf die Spinne, die gerade langsam über die Mauer kroch, und
berührte schließlich ihren Rücken. Die Spinne hätte weglaufen
oder über das Holz auf das Kind zukriechen und es in die Flucht
schlagen können, aber sie zuckte nur, zog die Beine ein und
stellte sich tot. Zuletzt, als sie sich bewegen wollte, war es schon
zu spät. Mit feinem Knacken, wie eine pralle Erbsenschote, auf
die man drückt, platzte ihr Leib.
Das Kind wandte sich ab, sprang mit einem Satz aus dem
Spinneneck in den Hof zurück und stocherte mit dem Ende seines
Zweiges im Staub herum, um die Spinnenreste loszuwerden.
»Wein nicht! Du bist kein Wickelkind mehr«, hatte ein alter
Herr vor einigen Tagen gesagt, als es sich beim Spazierengehen
weh getan hatte. Mit weiten Augen, in denen es zuckte,
betrachtete das Kind sein Spiegelbild in einer Fensterscheibe. Es
war wirklich schon groß. Es schluckte, fuhr sich mit dem
staubigen Handrücken über die Nase und faßte wieder Mut. Eine
Spinne war ja nicht wie ein anderes Tier. Und die
Schmetterlingskönigin würde ihm dankbar sein und ihm zur
Belohnung vielleicht sogar verzeihen, was es selbst bis vor
kurzem …
Das Kind strich sich das Haar aus dem Gesicht und
marschierte mit seinem Zweig ins Spinneneck zurück. Es hieb
die Reste der Spinne von der Wand und zerstörte mit einigen
schnellen Schlägen alle Netze. Zwei Spinnen kamen hervor. Die
eine wurde erschlagen. Die andere hielt sich am Stock fest und
ließ sich an einem Faden zu Boden gleiten. Das Kind zertrat sie.
Ehe es den Fuß wieder hob, scharrte es lange auf dem Stein.
Dann sah man nur noch einen großen feuchten Fleck auf den
Fliesen.
Im innersten Winkel des Spinnenecks hatte sich der Verputz
von der Mauer gelöst. Dort war ein Loch. Man konnte nicht
sehen, ob eine Spinne drinnen saß. Es fiel zu wenig Licht hinein.
Das Kind traute sich auch nicht ganz nahe an das Loch heran. So
holte es vom Hof einen spitzen Span und stieß ihn ins Loch, ganz
tief. Dann ließ es ihn wieder ein wenig locker. So bewegte es
seinen Span hin und her, hin und her, in wachsender Erregung.
Als es ihn zurückzog, haftete an der Spitze ein zappelndes, langes
Bein. Das Kind fühlte, wie sein Herz einen Augenblick lang
stehenblieb. Dann lachte es laut, stand kerzengerade, schulterte
seinen Zweig, steckte sich den Span zur Seite, wie ein Jäger
seinen Hirschfänger, und zog ab.
Von Winkel zu Winkel ging die Jagd, vom Haus in den
Schuppen und wieder zum Haus zurück. Die Spinnen wurden
zertreten und erschlagen, in ausweglose Ecken gejagt und mit
dem nachrückenden Span gespießt, im Regenfaß ertränkt oder
mit Sand begraben. Zuerst warf das Kind nur ganz wenig Sand
auf eine Spinne; dann, wenn sich an einer Seite des Häufchens
der Sand zu verschieben begann und ein ruderndes Bein
auftauchte, wurde mehr Sand aufgeschüttet, bis ein ganzer Hügel
entstand, den das Kind schließlich feststampfte und mit der Hand
zu einem Kuchen formte. Bald gab es auf den Fliesen mehr
Spinnenkuchen, als das Kind zählen konnte. Die Spinnen, die
erlegt wurden, waren hell oder dunkel, grau oder braun, ohne
Zeichnung oder seltsam gemustert. Mehrmals fand das Kind ganz
junge Spinnen, die wie schwarze Punkte in Haufen
beisammenhockten und mit einem grünen Blatt, das sich das
Kind auf den Daumen legte, zerdrückt wurden, alle auf einmal,
ganz ohne Mühe und Gefahr; Spinnenkinder.
Es war ein schöner, sonniger Sommermorgen; langsam wurde
es sehr warm. Ab und zu flatterte ein Schmetterling über den
Hof, ließ sich von der lauen Luft, die an der sonnenbeschienenen
Hausmauer aufstieg, hochtragen und flog über das Dach zum
Hexenpark hinauf. Dem Kind fiel wieder die
Schmetterlingskönigin ein, und es rief den Faltern freundlich zu:
»Seht ihr, die werden euch nicht mehr fangen, die Spinnen da!«
Es befreite sogar einen Schmetterling und eine Libelle aus
Spinnweben, die ihm auf seinem Feldzug in die Hände kamen.
Eigentlich wollte es alle gefangenen Tiere befreien, aber bei den
kleinen Mücken ging das so schwer, und sie waren so
gebrechlich, daß sich das Kind bald begnügte, die Tiere mitsamt
den Fäden, in denen sie hingen, vor den Mund zu halten und sie
dann ins Weite zu blasen. Wenn sie Glück hatten, konnte sie das
kräftige Pusten von den Fäden befreien.
Als Haus und Schuppen abgesucht waren, ging es über die
Brummstiege in den Hexenpark hinauf. Am Geländer fand sich
ein großes Netz, und da zappelte eine Biene. Die Spinne selbst
saß im Netz und beobachtete respektvoll ihre Gefangene, die
wütend summte. Das Kind zerdrückte die Spinne zwis chen zwei
Wäscheklammern. »Siehst du«, sagte es zur Biene. Dann fischte
es sie mit seinem Zweig aus dem Netz. Die Biene hing aber
immer noch in den Fäden, summte und konnte nicht freikommen.
Gerne hätte das Kind sie losgemacht, aber es fürchtete ihren
Stachel und wagte nicht, sie mit der Hand anzufassen. Nicht
einmal ganz dicht an den Mund hielt es sie. Endlich, als alles
Blasen nicht half, warf es den Zweig zornig zu Boden und trat
ihn mit Füßen.
Einen Augenblick später, als das Kind die zertretene Biene
ansah, setzte sich ein großer gelber Schmetterling auf den
Rücken seiner Hand, die auf dem Geländer der Brummstiege lag.
Der Schmetterling klappte die Flügel auf und zu und sah ihm ins
Gesicht. Er hatte winzige, schwarze, stechende Augen. Das Kind
wurde rot, verscheuchte ihn, packte seinen Zweig und lief die
letzten Stufen hinauf.
Im Hexenpark stand ein Buchsbaumstrauch. Seine Zweige
waren voller Spinnweben. Das waren meistens hellgrüne
Gartenspinnen. Das Kind war wütend geworden. Es zerrte und
zerzauste den Strauch, hieb in die dichten weißlichen Gespinste
hinein, daß die kleinen ledrigen Blätter auseinanderflogen, und
wenn es eine Spinne herausgeangelt hatte, begnügte es sich nicht
damit, sie zu zertreten, sondern es spuckte die zuckenden Tiere
an und tramp elte vielmals auf dem gleichen Fleck herum, ehe es
sich neuen Opfern zuwandte. Dabei rief es: »Jetzt komm
herunter, Schmetterlingskönigin! Jetzt schau mir zu!« Aber nur
weit oben gegen die Sonne gaukelten ein, zwei Falter, und keiner
kam nahe.
Anfangs hatte sich das Kind auf die Vertilgung der richtigen
Spinnen beschränkt, die wirklich in Netzen saßen. Nun aber
wurden auch die langbeinigen wippenden Pfefferkörner, die
Weberknechte, nicht mehr verschont. Und als hinter
abgeschlagenem Mauerbewurf und unter umgewendeten Steinen
Asseln auftauchten, häßliche, furchtsame Tiere, die noch viel
mehr Beine hatten als die Spinnen selbst, wurde auch mit ihnen
kurzer Prozeß gemacht.
Gefangene Tiere in den Netzen wurden schon lange nicht
mehr befreit. Das war meist ohnedies nur schlecht gegangen, und
ein Flügel oder einige Beine waren fast immer hängengeblieben.
Jetzt wurde einfach das Netz mit einem Gabelast abgehoben, auf
die Erde gelegt und in den Staub getreten. Das ging schneller,
und man verlor nicht so viel Zeit für die eigentliche Spinnenjagd.
So kam das Kind nach langen, erfolgreichen Zügen, die nur
die Mutter mit einem uninteressanten zweiten Frühstück und
einigen ewig gleichen Ermahnungen unterbrochen hatte, an den
Ort zurück, von dem es am Morgen ausgezogen war, zum
Spinneneck bei der Wasserleitung.
Die Wasserleitung tickte und der Sonnenfleck tanzte, aber
nicht mehr in der Ecke, sondern hoch an der Wand an einer ganz
anderen Stelle. Im Spinneneck selbst rührte sich nichts. Aber da,
zwischen Wasserleitungshahn und Holzpfosten, zog sich ein
glitzernder dünner Faden, der am Morgen noch nicht dagewesen
war. Als das Kind genauer hinsah, fand es neben dem Becken die
Spinne, die den Faden festgemacht hatte und jetzt wieder
hochkroch, sich vom Wasserleitungshahn spannentief hinabließ,
ein wenig baumelte, ihren ersten Faden faßte und nun mit ihrem
Hinterleib einen zweiten dicht neben ihm hinführte. Sie baute ein
neues Netz.
Es war eine große, dicke, fast weiße Spinne. Wäre sie im
Spinneneck herumgekrochen, so hätte man sie sofort erschlagen
können. Aber daß sie ihr Netz an der Wasserleitung baute, die
doch dauernd von der Mutter benutzt wurde, versetzte das Kind
in Staunen. Nachdenklich sah es eine Weile lang dem
Fadenziehen und Festmachen zu, ohne sich zu bewegen. Nicht
nur was die Spinne tat, war eigentümlich, sondern auch ihr
Aussehen, obgleich das gar nicht so ungewöhnlich war;
außerdem erinnerte die Spinne das Kind an etwas, was mit der
Wasserleitung und dem Spinneneck zusammenhängen mußte;
aber nichts, was an diesem Morgen geschehen sein konnte. Es
war nichts Angenehmes, und das Kind wußte auch gar nicht, was
es eigentlich war; aber es fiel ihm ein, was geschehen mußte,
wenn die Mutter zur Wasserleitung kam. Es schüttelte den Kopf.
»Geh weg!« sagte es zur Spinne. »Geh doch lieber weg!« Aber
die Spinne arbeitete weiter.
Das Kind wartete, bis sie wieder an ihrem Faden baumelte,
nahm dann den Faden mit dem Finger ab und setzte die Spinne
auf die Fliesen. »Die Mutter kommt und macht dich tot!«
Die Spinne saß bewegungslos vor dem Kind. »Man muß sie
wegscheuchen.« Das Kind nahm seinen Holzspan und berührte
sie, um sie zum Weglaufen zu bewegen.
Ein Schatten wanderte die Wand entlang, fiel auf die
Wasserleitung und traf das Kind; es drehte sich halb um. Die
Mutter ging vorbei; sie hatte im Hexenpark Grünzeug für die
Küche geholt. Das Kind blickte ihr nach. »Gut, daß sie dich nicht
gesehen hat«, sagte es leise zur Spinne, dann erst wandte es sich
ihr wieder voll zu, um zu sehen, welchen Eindruck die plötzliche
Gefahr auf die Spinne gemacht habe.
Die Spinne war tot. Als sich das Kind nach der Mutter
umwandte, hatte es sich unwillkürlich auf den Span gestützt. Der
Span hatte den dicken, weißen Leib des Tieres zermalmt. Nur die
vielen Beine zuckten noch rundum wild auf dem Stein.
Das Kind war sehr blaß. Es stand langsam auf. Es wußte alles.
Die Wasserleitung tickte und tickte. So hatte sie getickt, als
der Winkel Spinneneck getauft worden war. Hinter der
Wasserleitung hatte eine dicke, weiße Spinne gewohnt, und das
Kind hatte sie jeden Morgen besucht. Die Spinne kannte es und
freute sich schon, wenn es kam. Sie durfte jeden Morgen auf
seinem Arm kriechen, hin und her, hin und her.
Einmal kam plötzlich die Mutter. Sie war zum Ausgehen
angezogen, aber sie wollte noch ein Glas Wasser holen. »Lieber
Gott! Was tust du mit dem garstigen Insekt!? Weißt du denn
nicht: Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen!«
Sie hatte die Spinne zu Boden geschleudert und behutsam mit
der Spitze ihres eleganten Schuhs zertreten. Die vielen, vielen
Beine hatten noch wild auf dem Stein gezuckt, rundum. Das Kind
kniete nieder und berührte die vielen Beine leise mit dem Finger,
jedes einmal. Langsam beruhigten sie sich. Die Sonne brannte
viel zu heiß. Die Tropfen tickten wie Trommeln.
Ein Grabhügel aus Sand wurde gebaut. Dann holte das Kind
seine Schaufel, schob das ganze Grab auf das Blatt, mit der
Spinne, und trug es langsam die Brummstiege hinauf, an eine
sichere Stelle oben im Hexenpark, wo niemand es zertreten
würde.
Die Mutter rief zum Essen. Das Kind meldete sich nicht. Es
faltete die Hände. Viel andächtiger als beim Schlafengehen
sprach es das einzige Gebet, das es kannte:
»Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe beide Augen zu.«
Es rieb sich die Augen, die unerträglich brannten, mit den
Händen, die noch voll Spinnfäden waren, und voll Sand vom
Grab.
»Vater, laß die Augen Dein
Über meinem Bette sein.«
Es sah zum Himmel auf. Ein Schmetterling flog vorbei, aber
hoch oben. Es konnte auch ein anderes Tier sein.
»Hab ich Unrecht heut getan,
Sieh es, lieber Gott, nicht an!«
An dieser Stelle begann die Stimme unsicher zu werden, und
die ersten Tränen kamen. Aber das Kind nahm sich zusammen
und betete zu Ende:
»Alle Menschen, groß und klein,
Sollen Dir befohlen sein.«
Aber es betete nur für einen kleinen, weißlichen Menschen,
der dick gewesen war und viele Beine gehabt hatte.
»Wo steckst du denn bloß, du!?« Die Mutter hatte es am Arm
gepackt und zerrte es hoch. »Seit einer Stunde ruf ich zum Essen.
Und wie du nur aussiehst!«
Das Kind sah die Mutter an. Sie hatte das Gebet nicht gehört
und das Grab nicht gesehen. Sie hatte die schrille, erregte
Stimme. Die alte Spinnenstimme von der Wasserleitung … Nun
erst kam das Weinen, das Weinen und die Wut.
Das Kind riß sich los: »Laß mich, ich will nicht! Ich will
nicht essen!«
Dann rannte es schreiend davon.
Der Spinnenkreuzzug wurde unmittelbar nach der Geschichte
Die letzte Fliege geschrieben. Das Manuskript trägt den
Bleistiftvermerk ›Doppelter Rollentausch!‹
Der Verfasser hat mich aber darauf aufmerksam gemacht, daß
der Spinnenkreuzzug nicht nur ein Gegenstück zur Letzten Fliege
ist, sondern auch eine Darstellung, wie ein ›Kreuzzug zur
Verbesserung der Welt‹ zu einem totalen Vernichtungsfeldzug
wird.
Auf der letzten Seite des Manuskripts steht folgende Notiz:
›Als meine Mutter die Spinne zertreten hat, war ich drei Jahre
alt, als ich Spinnen töten ging, war ich natürlich schon drei, vier
oder fünf Jahre älter. Die Geschichte von der
Schmetterlingskönigin, die über das Leben der Schmetterlinge
und Bienen wacht, kommt aus einem alten Band der Kinder-
Gartenlaube. Meine Großmutter hat sie mir vorgelesen.‹
Auch hier wird der Gegenstand des Hasses zuletzt - und zu
spät - Liebesobjekt, sogar schon bevor das Kind die
Zusammenhänge zwischen seinem Haß und seiner Liebe
versteht. Wahrscheinlich ermöglicht ihm erst die Wiederkehr der
Liebe dieses Verstehen.
Offenbar bestehen auch Zusammenhänge zwischen dieser
Geschichte und der Geschichte vom Brand. Der Verfasser
erzählte mir, der Schatten seiner Mutter sei ins Spinneneck durch
eine Art Torbogen gefallen, durch den man gehen mußte, um zur
Wasserleitung zu kommen. Hier besteht vermutlich ein
Zusammenhang mit dem Haustor, in dem die Hausmeisterin im
Brand Stehplätze verkauft.
Der enge Zusammenhang mit der vorhergehenden Geschichte
Die letzte Fliege ist unverkennbar. Beide Arbeiten sind,
abgesehen von den unmittelbaren Kindheitsreminiszenzen und
Haß-Liebe-Problemen, auch echte Kriegsgeschichten. Die
gleichsam automatische Verbesserung und Vervollkommnung
der Tötungsmethoden ist in beiden fast unerträglich genau
geschildert. Der Verfasser hat sich immer geweigert, mir die
genauen Einzelheiten des Nachmittags zu schildern, an dem er
sich mit mechanischer Tüchtigkeit und Ausdauer den Weg zu
Helga bahnte, trotz oder dank seines Starregefühls
(›eingeschlafener Fuß‹). Auf meine Fragen erwiderte er meistens:
»Denk an die Geschichten, wie das Kind erfinderisch war, als es
die Fliegen und Spinnen umbrachte, grad weil es nur
weitergemacht hat wie ein Uhrwerk. Als es dann wieder ein
Mensch war, da war diese sogenannte Tüchtigkeit wie
weggeblasen. So ging's auch mir damals. Am Nachmittag tüchtig
wie nur was; aber am nächsten Morgen - du weißt ja!«
SCHRIFTEN DES SOLDATEN
III. Aus dem Mental Ward
ERKLÄRUNG
Ich war ein Berg
den hat die Welt bestiegen.
Ich mußte ihr unterliegen
ich bin ein Zwerg
Leute ihr lacht
denn das versteht ihr nicht:
mich hat ein großes Gewicht
so klein gemacht
[aus den Gedichten des Soldaten]
Der Ausdruck Mental Ward, den der Soldat immer
gebrauchte, verhält sich zur offiziellen Bezeichnung Psychiatrie
Ward wie der volkstümliche Wortgebrauch Irrenhaus zu den
offiziellen Bezeichnungen Nervenheilanstalt oder Heil- und
Pflegeanstalt. In diese Abteilung des amerikanischen
Militärhospitals war der Soldat an Helgas Todestag gebracht
worden und schrieb dort in den neun oder zehn Wochen bis zu
seiner Entlassung fast ununterbrochen.
DIE FALLE
Ob das Haus gut war oder schlecht, das kann ich eigentlich
nicht sagen, denn ich habe zeitlebens in keinem anderen Haus
gewohnt, und auch meine Eltern haben schon in der gleichen
Wohnung gelebt und sind dort gestorben. Doch fällt mir bei
genauerem Nachdenken ein, daß sich meine Mutter in den letzten
Jahren, als ich schon ins Amt ging, öfters bei mir über die
klimpernden losen Ziegel im Treppenhaus beklagt hat, und auch
über den großen nassen Fleck an der Zimmerdecke. Eigentlich
gab es zwei Flecke in der Wohnung, aber der andere war nur im
Dienstbotenzimmer; das war kein sehr heller Raum, also sah man
ihn nicht so deutlich. Dieser eine aber verunzierte unsere
Salondecke, gerade neben dem Lüster. Außerdem hatte er ein
sonderbares Aussehen. Wie ein spitziges Gesicht. Heute würde
ich sagen, er sah Jakob Zehrer ähnlich. Aber das reime ich mir
vielleicht nur hinterher so zusammen.
Es muß doch ein recht gutes Haus gewesen sein. Wenigstens
fällt mir sonst nichts Störendes mehr ein. Ich erinnere mich noch
meiner Zufriedenheit, als bald nach meiner Mutter Tod das große
Transportunternehmen im Erdgeschoß zugrunde ging. Nun war
es auch vorbei mit dem Gepolter der schweren Rollbalken und
mit dem Lärm des Verladens von Möbeln, Leitern und Brettern;
auch die Rufe der ungehobelten Aufleger waren verstummt, alles
Geräusche, die etwas Beängstigendes hatten, ähnlich vielleicht
wie Laute von hungrigen Tieren.
In einem wahrscheinlich nur durch Zufall vergessenen
Einsiedeglas hinter der verstaubten Spiegelscheibe des
eingegangenen Unternehmens hatte sich eines Tages eine Maus
gefangen, rannte voll Angst hin und her und konnte nicht mehr
heraus. Aber kein Mensch betrat mehr die leeren Räume. Ich
beobachtete sie, acht Tage lang, zweimal täglich, auf dem Weg
ins Amt und auf dem Heimweg. Zuletzt waren ihre Bewegungen
schwächer, sogar wenn ich mit einem Stück Brot an die
Glasscheibe klopfte. Dann starb sie: vor Hunger und Angst.
Eigentlich hatte ich ja kein ganz reines Gewissen, aber in
einem höheren Sinne schien mir hier dennoch Gerechtigkeit zu
walten, denn Mäuse haben etwas Beängstigendes; wenn sie erst
da sind, kann man ihnen nie entrinnen. So schien es mir damals
ganz in Ordnung, daß auch diese Maus ihrerseits nicht entrinnen
konnte und Angst litt. Wenigstens muß ich das so empfunden
haben, ich hätte sonst sicher den Hausbesorger mit einem kleinen
Trinkgeld veranlaßt, die Maus zu erlösen. Sie ist dann in ihrem
Glasgefäß verfault, und das war vielleicht wieder für mich die
gerechte Strafe.
Ich bin nämlich mit einem überaus feinen Geruchssinn
begabt, und in den folgenden Wochen und Monaten, abends,
wenn sich die Küchendünste des Hauses einigermaßen verzogen
hatten, konnte ich den Verwesungsgeruch der Maus durch die
geschlossenen Türen bis in meine Wohnung hinauf spüren. Daran
änderte sich auch nichts, als ich die Wohnungstür mit Filzstreifen
abdichten ließ. Damals erwog ich zum ersten Mal ernstlich, das
Haus zu verlassen.
Es war an einem jener Abende. Ich stand gerade unschlüssig
vor dem Haustor und war im Begriff, das Taschentuch vor mein
Gesicht zu halten, um beim Eintreten dem Geruch wenigstens
halbwegs zu entgehen, da kam er auf mich zu.
»Guten Abend zu wünschen, der Herr!« grüßte er mich auf
seine unfein aufdringliche Art, »Jakob Zehrer mein Name.« Dann
fragte er mich nach der Adresse des Hausbesitzers. »Ich möchte
nämlich dieses leere Lokal da mieten. Ganz schön, ganz schön,
was?« Er pfiff durch die Zähne.
Ich glaube eigentlich nicht, daß es nur auf Grund meiner
Auskunft geschah. Wahrscheinlich hätte ihm sonst der erstbeste
Wohnungsinhaber die Adresse des Hausbesitzers verraten, und er
wäre höchstens ein oder zwei Tage später eingezogen. Aber
andererseits will ich meine Mitschuld auch nicht einfach leugnen:
ich muß gestehen, ich war von der Aussicht bestochen, daß nun
die Maus entfernt werden würde, und fast ganz ohne mein Zutun!
Ich war deshalb bemüht, die Ähnlichkeit des Mannes mit dem
nassen Fleck an der Decke meines Salons zu übersehen.
Vier Wochen später zog Zehrer ein. Schon am Tag zuvor
waren die Überreste der Maus verschwunden. Ich versuchte den
Hausbesorger vorsichtig auszufragen, aber er wollte von nichts
wissen. Offenbar war er bestochen, oder es mußte einer von
Zehrers dienstbaren Geistern die Arbeit verrichtet haben. Am
gleichen Tag wurde ein schreiend buntes Firmenschild
angebracht: Jakob Zehrer - Feinkost, Delikatessen. Eier! Butter!
Käse!
In den folgenden Wochen lebte ich in den Tag hinein und
scheine wenig von dem bemerkt zu haben, was doch in meiner
unmittelbaren Umgebung vorgefallen sein muß. Dann sperrte
mein Kaufmann Hromadka seinen Laden zu und beging mit
seiner Gattin Selbstmord, mit Leuchtgas. Nun kaufte ich bei
Jakob Zehrer ein, ohne mir etwas dabei zu denken. Sein Gerede,
daß meine Aufwartefrau dem Ehepaar Hromadka bei der
Leichenwäsche die Trauringe gestohlen habe, beschloß ich zu
überhören. Üble Nachrede hat etwas Beängstigendes für mich,
und man kann Leuten vom Schlage Zehrers in solchen Fällen nie
entrinnen. Und überdies mochte es mir damals vorteilhaft
erschienen sein, meinen Kaufmann im Haus zu haben.
Meine Aufwartefrau erzählte mir, Zehrer arbeite mit
amerikanischen Methoden, und keiner der Kaufleute in der
Umgebung könne die Konkurrenz ertragen. Ich hörte nur mit
halbem Ohr zu, dennoch konnte ich mich eines leisen
Unbehagens nicht erwehren. Das konnte auf meinem Vorurteil
gegen amerikanische Methoden beruhen. Außerdem aber war mir
nicht entgangen, daß die Stimme meiner Aufwartefrau besorgt
klang; und ich habe die Erfahrung gemacht, daß einfache Leute
wie sie oft einen überraschend scharfen Instinkt besitzen.
Meine Aufmerksamkeit war jedenfalls geweckt, und ich
konnte feststellen, daß während der nächsten Wochen in der Tat
alle paar Tage der eine oder andere Laden in der Nachbarschaft
zusperren mußte. Sie alle wurden von Zehrer – aufgezehrt. Ich
gestatte mir das bescheidene Wortspiel nur, weil es mir schon
damals bei Tag und Nacht nicht mehr aus dem Sinn wollte. Die
geschlossenen Läden hingen noch eine Weile lang im Gefüge der
Straßen herum wie leergesogene Mücken in einem Spinnennetz;
Jakob Zehrer war die Spinne, saß in der Mitte und gedieh.
Ich kaufte damals Kerzen bei ihm, um gegen ein etwaiges
Versagen der elektrischen Wohnungsbeleuchtung ein wenig
gesichert zu sein. Als ich die Verpackung prüfte - noch ohne
jeden Verdacht -, sah ich, daß Zehrers riesige Geschäftsführerin
die Kerzen in die schwarzumrandete Todesanzeige meines
zugrunde gerichteten Kaufmanns Hromadka gehüllt hatte. Ich
mußte die Kerzen fortwerfen, und ich hätte mich fast beschwert,
denn ich fand die Verwendung der Todesanzeige zu solchem
Zweck nicht nur menschlich unschön, sondern auch höchst
unangebracht. Ich hatte doch nur kurze, dicke Stearinkerzen
gekauft, keine langen Totenkerzen.
Dieser Vorfall hatte mir den letzten Rest meines Vertrauens
geraubt, und ich sah keinen Grund mehr, mir noch länger den
üblen Geruch zu verhehlen, der seit Wochen das Haus durchzog
und immer durchdringender wurde. Zunächst hatte ich an die
Maus im Glas denken müssen; auch an den toten Hromadka, der
ohnehin immer etwas Mausartiges gehabt hatte, piepsig, flink
und immer beflissen hin und her huschend. Aber dann verwies
ich diese Verdächtigungen als unzureichend begründet in das
Reich meiner Phantasie. Der üble Geruch jedoch war damit nicht
aus der Welt geschafft. Er wurde stärker, er bediente sich der
Wege, die der Verwesungsgeruch der Maus im Verlaufe vieler
Monate durch das Haus gebahnt haben mußte, und drang auf
ihnen vor.
Wahrscheinlich rührte er von den zahllosen Käsesorten her
oder von manchen Waren minderer Qualität, die Zehrer billig
erstand und zu Brotaufstrichen und ähnlichem Zeug verarbeitete.
Im Frühling, als es wärmer wurde, steigerte sich der Geruch
mit der Temperatur und wurde unerträglich. Dabei roch es
draußen vor dem Laden ganz anders, geradezu einladend, und
auch im Inneren des Ladens war alles schön geordnet und duftete
so, daß alle Sinne schwelgten. Offenbar mußte eine geheime
Rohrleitung bestehen oder ähnliche Vorrichtungen, durch die die
bei einer so großen Anhäufung von Eßwaren unvermeidlichen
üblen Gerüche von den Kunden ferngehalten und ins Innere des
Hauses abgelenkt wurden. Das waren wohl die amerikanischen
Methoden, von denen meine Aufwartefrau gesprochen hatte.
Jedenfalls beschloß ich, von nun an genau auf Veränderungen
im Gefüge des Hauses zu achten, vor allem aber auf
Rohrmündungen, die ja leicht etwa als Mauselöcher maskiert sein
könnten.
Schon nach wenigen Tagen machte ich meine erste
Entdeckung. Die losen Ziegel im Treppenhaus klimperten nicht
mehr, wie sie es seit den letzten Lebensjahren meiner Mutter
getan hatten, sondern waren in eine weiche, überaus klebrige
Masse eingebettet, die sich wahrscheinlich aus den Käsedünsten
niedergeschlagen hatte. Die gleiche Masse hatte in einigen
abgenutzten Treppenstufen die Vertiefungen ausgefüllt, nicht
unähnlich erstarrendem, aber noch nicht hartem Zement. Ich
mußte diese Stufen mit beträchtlicher Vorsicht vermeiden, um
nicht kleben zu bleiben. Schon aus der Tatsache, daß keiner der
außer mir im Haus Wohnenden ein Wort davon sprach, konnte
ich sehen, daß sie gerade so litten wie ich. Denn nur großer Ekel
kann den Wohnparteien eines Miethauses angesichts solcher
Ereignisse den Mund verschließen.
Der üble Geruch und die klebrigen Stufen machten jede
Benutzung der Treppe zu einem Abenteuer, das den Aufwand
meiner ganzen Entschlußkraft in Anspruch nahm. Dennoch
machte ich mich am Tag, an dem ich mir über die volle
Bedeutung der neuen Lage klargeworden war, auf und ging noch
einmal aus dem Haus. Ich wußte nicht, daß es das letzte Mal sein
sollte.
Ich ging drei Gassen weit zu Kinderlei, dem einzigen
Konkurrenzladen Zehrers, der noch bestand. Ich wollte Zehrer
entrinnen. Meine Aufwartefrau sollte von nun an die nötigen
Eßwaren für mich bei Kinderlei einkaufen. Außerdem wollte ich
Frau Kinderlei die Ereignisse in unserem Haus bekanntmachen.
Ich war schon lange nicht in jenem Laden gewesen und war
betroffen, als ich die Veränderungen sah, die hier stattgefunden
hatten. Frau Kinderlei saß zwar noch immer an der Kasse, aber
sie war stark gealtert und sah meiner Mutter ähnlich.
Ich fühlte mich auch gleich beim Eintreten geborgen und
unter guten Freunden, viel mehr zu Hause als in dem Gebäude, in
dem ich mein ganzes Leben lang gewohnt hatte.
»Guten Tag, Herr Amtsrat! Schön, daß Sie sich wieder
anschauen lassen! Wie geht es denn dem nassen Fleck an der
Salondecke?«
Das waren Frau Kinderleis erste Worte an mich. Sie war ein
zu vornehmer Mensch, um gleich von Zehrer anzufangen; aber
die Sorge in meinen Augen entging ihr nicht, und sie wollte mir
helfen. Ich trat ganz nahe zu ihr hin und sah sie dankbar an.
Dabei holte ich tief Atem, so daß ich den Gewürzduft ihrer
Kleider spürte, den ich schon als kleiner Junge geliebt hatte,
wenn meine Mutter mich zum Einkaufen mitnahm. Und wirklich
griff Frau Kinderlei in die Geldlade, in der kein Geld war, holte
ein Likörbonbon hervor und steckte es mir mit einer verstohlenen
Bewegung in den Mund.
Dann tat sie, als bemerke sie meine Tränen nicht, und begann
in hastigen Worten von sich zu erzählen. Sie sitze zwar noch da,
aber eigentlich führe ihr Mann, Herr Kinderlei, die Kasse. Es sei
ohnehin nur mehr wenig zu tun, denn das Geschäft gehe
schlechter als je. Dafür widme sie sich jetzt viel mehr den
persönlichen Wünschen und Sorgen der Kundschaft, denn die
habe dieser Tage viel auf dem Herzen. Besonders beim letzten
großen Regen habe es wieder überall durchgeregnet, und an den
Zimmerdecken seien die sonderbarsten Figuren aufgetaucht, und
außerdem sei ein Mann vom Tierschutzverein bei ihr im Laden
gewesen und habe alle Mausefallen beschlagnahmt. Dadurch
hätten sie nicht nur viel Geld verloren, sondern das Ärgste daran
sei, daß nun alle Kunden in der ganzen Umgebung den immer
zahlreicher werdenden Mäusen hilflos ausgeliefert blieben, oder
den unverschämt teuren großen Ungeziefervertilgern, die mit
amerikanischen Methoden arbeiteten.
Ich verstand sie nur zu gut und nickte eifrig Zustimmung. Da
ging hinter mir die Ladentüre auf und machte zweimal scharf
›klink-klink‹, denn es war eine Patenttüre und meldete jeden
Hereinkommenden. Ich sah Frau Kinderlei blaß werden und
drehte mich zögernd um. Im Laden stand Jakob Zehrer mit seiner
riesigen Geschäftsführerin. Alle Kraft verließ mich. Eigentlich
wollte ich mich verneigen und ein paar höfliche Worte sagen,
denn die Lage entbehrte nicht einer gewissen Ähnlichkeit mit
einer Inspektion im Amt. Aber ich brachte kein Wort hervor.
Daran trug vielleicht auch das Bonbon Schuld, das mir in den
Hals gerutscht war und nun weder vor noch zurück wollte.
Der alte Herr Kinderlei und alle anderen Kunden hatten sich
hinter einen Ladentisch geduckt. Ich konnte ihr schweres Atmen
hören. Sonst herrschte Stille im Laden. Auch Jakob Zehrer war
still; er sah nur Frau Kinderlei böse aus seinen Diebsäuglein an
und nagte mit seinen ungewöhnlich langen Vorderzähnen an der
Unterlippe.
Desto gesprächiger aber war seine riesige Geschäftsführerin:
»So, so, Frau Kinderlei! Auf unsere Kundschaft sind Sie also
aus? Den Herrn Amtsrat wollen Sie uns untreu machen? Ja,
haben Sie denn gar kein Gewissen nicht im Leib? Der weiß ja
noch gar nicht, was er tut, der Herr Amtsrat! Nicht wahr?«
Ich muß gestehen, daß ich zustimmend nickte, denn wenn
mich Zehrers Geschäftsführerin der Verantwortlichkeit für mein
Tun enthob, konnte das meine Rettung bedeuten.
Sie sprach weiter: »Er ist ja noch wie ein kleines Kind, der
Herr Amtsrat. - Da schaun Sie nur her!« Sie deutete auf eine
Pfütze, die sich um mich herum gebildet hatte. Ich wußte, daß es
nur Likör aus dem Likörbonbon war, das einzige Ergebnis
meiner Schluckversuche, aber ich widersprach nicht, denn erstens
hinderte mich das Bonbon noch immer am Sprechen, und
zweitens wollte ich Frau Kinderlei nicht verraten, die es mir doch
im Vertrauen geschenkt hatte.
Frau Kinderlei würdigte die Geschäftsführerin keines Blickes,
und so wandte diese sich schließlich an mich. »Aber, nicht wahr,
Herr Amtsrat, Sie werden uns nicht untreu werden? Kommen Sie
schön her zu mir, wir gehn jetzt nach Hause!« Sie preßte mich
mit heuchlerisch mütterlicher Zärtlichkeit so fest an ihre Brüste,
daß mir der Atem ausging und ich mich ganz benommen aus dem
Laden und durch die Straßen zerren ließ.
Der Polizist an der Ecke zog die Brauen hoch, als er mich so
sah, und ich wollte schon zu hoffen beginnen, denn er war ein
tatkräftiger Mensch vom gleichen Schlag wie mein verstorbener
Vater. Aber Zehrers Geschäftsführerin lächelte ihm zu, daß er zu
schmunzeln begann, und sagte mit ihrer süßlichen Stimme: »Ja,
ja, Herr Inspektor. Der Herr Amtsrat war schlimm; und jetzt ist
ihm nicht gut, und er muß nach Hause.« Dabei zischte sie mir zu:
»Warten Sie nur, bis wir nicht mehr auf der Straße sind!«
Zwei Minuten später befand ich mich im dunklen Flur
unseres Hauses, ganz allein mit der riesigen Geschäftsführerin
und mit Jakob Zehrer, der auf einmal wieder dicht neben uns war.
Zehrer pfiff durch die Zähne, seine Geschäftsführerin stieß
mich roh von der Brust, so daß ich ihm in die Arme taumelte. Er
hielt mich fest. Die Frau legte eine große, feuchte Hand auf
meine Stirn. Ein Finger ihrer anderen Hand bohrte sich mir in
den Schlund, vorüber an dem Zäpfchen, das sich steif aufrichtete.
Gleich darauf hielt sie mit einem zufriedenen »Na, also!« das
Bonbon in der Hand. Sie reichte es Zehrer, der es an den Mund
hob und benagte. Aber da schlüpfte ihm das Bonbon durch die
Finger und kollerte, mehr laufend als rollend, in das nächste
Mauseloch.
Zehrer mühte sich vergeblich, es hervorzuholen, wurde
wütend und schrie mich an: »Lächeln Sie nicht so unverschämt,
das wird Ihnen gar nichts helfen! Solange ich lebe, kriegen Sie
das Bonbon ohnehin nicht wieder! Und damit Sie's nur wissen:
das Haustor bleibt ab heute zu! Und den Flur hier verwende ich
als Lagerraum. Wer da noch herein oder heraus will, der muß
durch meinen Laden. Und wer nicht bei mir kauft, der kann
überhaupt nicht mehr durch; der wird schon sehen, was ihm
geschieht. Sagen Sie das gefälligst auch Ihrer Aufwartefrau, ich
will niemand mehr im Flur erwischen, und damit Sie sich das
auch ja gut merken …«
Er beugte sich ganz dicht über mich und entblößte seine
großen Vorderzähne. Ich weiß nicht, was noch geschehen wäre,
aber in diesem Augenblick betrat Frau Minka Schnur, meine
Nachbarin, das Haus, leisen Schrittes wie immer, und sagte mit
weicher, etwas gedehnter Stimme: »Guten Abend, Herr Amtsrat
… Wie geht's denn?«
Schon seit einiger Zeit war mir nicht entgangen, daß Zehrer
vor Minka Schnur Angst hatte. Heute scheint es mir, als müsse
das bei ihm eine Vorahnung gewesen sein, aber jedenfalls packte
er seine Geschäftsführerin erschrocken an der Hand und zog sich
mit ihr ins Flureck zurück, zur kleinen Hintertüre seines Ladens.
Von dorther zischte er meine Nachbarin an: »Und Sie kriegen bei
mir überhaupt nichts zu kaufen; keine Milch und keinen Bissen
Brot! Meinetwegen können Sie verhungern!« Er nahm sich nicht
Zeit, die Wirkung seiner Worte abzuwarten, sondern pfiff noch
einmal gellend durch die Zähne und schlug die kleine Ladentür
hinter sich zu.
Frau Minka sah mich aus schmalen Augen an. Nun, da sie
mich vielleicht gerettet hatte, fiel mir wieder recht deutlich auf,
wie schön sie war. Eine merkwürdige Frau. Sie trug immer einen
Pelzmantel und dicksohlige Schuhe, in denen ihre Schritte
unhörbar waren. Der Pelzmantel paßte gut zu ihr. Die Frau hatte
etwas Gefährliches, Weiches. Auch ihre Hände waren
samtweich, nur hatte sie lange rotlackierte Fingernägel. Vor
diesen Nägeln fürchtete ich mich fast, weil sie mir erzählt hatte,
daß sie die Mäuse im Haus mit der Hand fing, seit die Fallen
beschlagnahmt waren.
Sie stellte mir viele Fragen, die mit Zehrers Ausfall gegen sie
zusammenhingen. Aber wie immer, wenn sie zu mir sprach, hörte
ich gar nicht so sehr ihren Worten zu wie ihrer Stimme. Sie
sprach mit deutlich exotischem Akzent, besonders auffällig war
mir die surrende, gurrende Art, in der sie ihren Namen Schnur
aussprach. Sie rollte dabei das ›r‹ scharf und lange. Diesmal kam
der eigenartige Akzent besonders deutlich zur Geltung, denn sie
war sehr aufgeregt, und als wir die Treppen erstiegen, sprangen
aus ihrem Pelz kleine elektrische Fünkchen auf mich über.
Ich bemühte mich, auf ihre Fragen einzugehen und sie zu
beruhigen: »Sorgen Sie sich doch nicht, Frau Minka! Meine
Aufwartefrau ist eine sehr energische Person und wird sich
sicherlich einen Weg durch den Flur zu bahnen wissen, auch
wenn Zehrer alle seine Waren dort auftürmt. Und ich werde sie
beauftragen, bei Frau Kinderlei auch für Sie einzukaufen, Minka.
Ich selbst werde mir schon morgen einen geheimen Gang durch
das Warenlager bauen. Was glauben Sie denn, meine Liebe? Ich
muß doch ins Amt! Und das Ganze wird nicht lange dauern, denn
es werden sich alle Parteien beim Hausbesitzer über Zehrer
beklagen.«
»Ach, Sie wissen noch nicht?« klagte Frau Minka: »Er hat
doch das Haus gekauft. Er ist jetzt der Herr im Haus und kann
tun, was er will.«
Das war zuviel. Ich mu ßte mich am Geländer festhalten und
stehenbleiben. »Ja, ja«, fuhr sie fort, »vor drei Tagen hat er es
gekauft. Ganz billig. Es ist ja durch den - den schlechten Geruch
entwertet, und der Baumeister soll auch gesagt haben, daß die
Käsedünste das Mauerwerk angefressen haben und daß es
baufällig ist.«
Ich erwiderte nichts. Durch die trübselige Stille hörten wir
von unten herauf, vom Hausflur, ein Hin und Her, ein Huschen
und Scharren und Schaben. Das waren Zehrers dienstbare
Geister, die im Flur die Waren aufstapelten, um uns den Weg zu
verbauen.
An jenem Tage sprachen wir nicht weiter. Ich setzte mich in
meine Wohnung und wartete auf meine Aufwartefrau. Sie kam
nicht. Nun, man mußte ihr Zeit lassen, die Hindernisse zu
überwinden, die Zehrer ihr in den Weg gelegt hatte. Am nächsten
Morgen aber stand ich sehr früh auf, denn auch ich mußte mir ja
erst einen Weg aus dem Haus bahnen, wenn ich ins Amt gehen
wollte.
Die Treppen mit ihren gefährlichen Käsestellen schienen mir
diesmal gar nicht gefährlich. Im Gegenteil, sie waren eher eine
geistige und körperliche Vorbereitung auf die bevorstehenden
Aufgaben, eine harte, aber notwendige Schule, wie das
Bewährungsjahr im Amt oder der Anmarsch zu manchen schwer
ersteigbaren Berggipfeln, von denen einige meiner Kollegen nach
dem Sommerurlaub zum Nachteil ihrer Amtspflichten endlose
Geschichten zu erzählen wußten. Unten angelangt, sah ich mich
um. Wie ich erwartet hatte, fand ich den Flur mit Zehrers Waren
verbarrikadiert. Kisten, Ballen, Bananen, Haufen von scharfen
Gewürzen, denen man nicht zu nahe kommen durfte, ohne sich
ein Taschentuch vorzuhalten, Sardinenbüchsen, Aale, Hummer,
Käse. Die Käselaibe verbreiteten durchdringende Gerüche,
Mayonnaisen und Salate machten das Ganze geil und schlüpfrig,
und einige zählebige Hummer bewegten immer noch ihre
Scheren, ganz langsam, tick-tack, tick-tack. Nur die vielen
bunten Etiketten auf Büchsen und Schachteln wirkten ermutigend
und zugleich auch beruhigend, bekundeten sie doch, daß selbst
dieses Chaos durch Aufschriften und Herkunftsangaben in
einzelne, feststellbare Bestandteile auflösbar war und im Falle
behördlichen Einschreitens einer Inventaraufnahme keine
unüberwindlichen Schwierigkeiten in den Weg stellen konnte.
Ich machte mich also an die Arbeit. Einige Kisten stemmte
ich hoch und schob andere darunter, wobei mir die Glitschigkeit
des Flurbodens hinderlich war, manchmal aber auch zustatten
kam. So gelang es mir nach einer Weile angestrengter Arbeit,
einen Kriechgang zu bauen, ähnlich wie ich dergleichen vor
Jahren, noch zu Lebzeiten meiner Mutter, ein- oder zweimal in
alten Bergwerksfilmen gesehen hatte. Es war eine
schweißtreibende, aber doch durchaus befriedigende Tätigkeit,
vor allem ein wahrhaft männliches Unterfangen, zu welchem ich
- ich stelle das mit Stolz fest - dank meiner Berufserfahrung mit
immerhin gewichtigen Aktenbündeln gar nicht so ungeeignet
war.
Bei der Arbeit dachte ich an Frau Schnurs Freude über den
Ausweg, den ich uns da kurzentschlossen bahnte. Dann kamen
mir Frontgeschichten von Schützengräben und Sappeuren, ja
schließlich selbst große historische Vorbilder in den Sinn. Schon
allein die rhythmischen Bewegungen waren mir, der ich sonst
eine vorwiegend sitzende Lebensweise führte, ein erregendes
Erlebnis, ein sportlicher Hochgenuß, wie ihn sich andere,
wanderlustigere Naturen nur durch zeitraubende und kostspielige
Reisen in die Berge oder in ferne Länder erkaufen können.
Ich war schon fast bis zum Haustor vorgedrungen, als mich
das ungewohnte Hochgefühl, das alle meine Adern durchflutete,
schlechthin überwältigte. Mit dem Aufgebot all meiner Kraft
drängte ich zwei schwere Pappschachteln zur Seite und brach
dabei in den Ruf aus: »Der Freiheit eine Gasse!«
Das hätte ich nicht tun sollen. Zwar erstarben die Worte
echolos in den hochgetürmten Eßwaren, aber ich fühlte plötzlich,
daß ich nicht mehr allein war.
»Wer da?« fragte ich. Keine Antwort. Aber neben mir kroch
etwas durch den knöcheltiefen Fleischsalat. Beim Schein meiner
Blendlaterne stellte ich fest, daß es eine lange, nicht mehr ganz
frisch aussehende Wurst war, die sich langsam, aber doch
merklich, auf mich zubewegte.
Jakob Zehrer hatte in seinem Schaufenster, fast genau an der
Stelle, an der einst das Einsiedeglas mit meiner Maus gestanden
hatte, ein Plakat: »Würste meine besondere Spezialität!« Es war
mir oft als besonders aufdringlich und lächerlich aufgefallen.
Aber nun kam mir plötzlich die Erkenntnis, daß sich das Plakat
nicht umsonst dort befand: die Wurst neben mir war eine von
Zehrers speziellen Würsten und war ihm offenbar bis zum
Letzten ergeben. Das verstand ich und gab alle Hoffnung auf. Ich
kroch zurück. Die Wurst mir nach.
Ich eilte die Treppen hinauf, aber die Wurst blieb mir auf den
Fersen, glitschte von Stufe zu Stufe, wobei sie eine verräterische
Kriechspur hinterließ, nicht unähnlich einer Nacktschnecke. Vor
Frau Minkas Wohnungstür blieb ich stehen und überlegte, ob ich
sie nicht zu Hilfe rufen solle. Nur sekundenlang stand ich still,
aber der Wurst hatte es genügt. Sie hatte mich eingeholt. Sie
schlüpfte von unten her in mein Hosenbein, wand sich um meine
Wade und begann an mir hochzukriechen. Nun konnte ich nicht
mehr rufen.
Ich eilte, so rasch ich konnte, in meine Wohnung, schloß
mich ins Badezimmer ein, und es gelang mir, die Wurst, die mich
schon zwei- oder dreimal empfindlich gebissen hatte, zu packen,
beinahe wie Laokoon in der berühmten Gruppe eine der
Schlangen packt, knapp hinter dem Kopf. Die Wurst wand sich in
meinen Händen, und ich spülte sie fort, von Ekel geschüttelt, wie
man Unrat entfernt. Ich hatte sie überwunden, nicht zuletzt dank
der Selbstüberwindung, die ich in der harten Schule der letzten
Wochen gelernt hatte. Aber es war ein Pyrrhussieg. Ich war
völlig erschöpft und es flimmerte mir vor den Augen. Mutlos und
geschwächt, hängenden Kopfes, ging ich zu Frau Minka hinüber.
Mittlerweile war es längst Zeit, im Amt zu sein, aber auch Frau
Minka beschwor mich, keinen weiteren Versuch zu wagen. Statt
dessen trachtete sie, die eine schwindelfreie Turnerin war, über
das Dach das Nachbarhaus zu erreichen und dort durch ein
Mansardenfenster die Verbindung mit der Außenwelt
aufzunehmen. Meinen Vorschlag, die Wäscheleinen aus unseren
Wohnungen aneinanderzuknüpfen und uns zum Fenster
hinunterzulassen, hatten wir nicht durchführen können, weil wir
alles Strickwerk von Mäusen zernagt fanden.
So sah ich pochenden Herzens von einer Dachluke aus zu,
wie Minka auf allen vieren und dennoch leicht und graziös über
den Dachfirst hin dem Nachbarhaus zuschritt. Aber sie mußte
unverrichteterdinge zurückkehren. Das Nachbarhaus schloß nicht
mehr, wie bisher, unmittelbar an unser Haus an, sondern war
durch einen mehrere Meter breiten Abgrund von ihm getrennt.
Mag sein, daß es wegen der übelriechenden Käsedünste
abgerückt war, doch konnte auch Zehrer unser Haus, nachdem er
es erworben hatte, verschoben haben. Mit Geld kann man alles.
So gab es für uns kein Entrinnen mehr.
In den nächsten Wochen und Monaten lernten wir den
Hunger kennen, den Hunger und die Angst. Frau Minka und ich
waren mutterseelenallein im Haus. Alle anderen Parteien hatten
bei Zehrer irgendeine beliebige Kleinigkeit erstanden, um sich
den Durchgang durch seinen Laden zu erkaufen, und waren nicht
wieder zurückgekehrt. Ihre Wohnungen und all ihr Hab und Gut
ließen sie im Stich.
Frau Minka und ich standen hinter dem Treppenabsatz und
hörten, wie Zehrer eine Treppe tiefer mit seiner
Geschäftsführerin die Wohnungen besichtigte: »Auch gut, auch
gut! Wir brauchen ohnehin neue Lagerräume. Das Geschäft
wächst, das Geschäft wächst!« Er pfiff vergnügt durch die Zähne,
wie es seine Art war.
Bald zogen die Waren in die Wohnungen ein. In die eine, wo
Herr und Frau Dr. Kasper gewohnt hatten, lauter Käse, in die
andere Pfeffer, der einem durch die Türritzen in die Augen fiel,
wenn man anklopfte. Als ich an einer der anderen Wohnungen
klingelte, sah mir durchs Guckloch eine Wurst entgegen. Ich
wußte genug, und noch ehe die Tür aufging, lief ich davon wie
ein unartiger Junge.
Es scheint widersinnig, daß wir inmitten der ungeheuren
Mengen von Eßwaren zehrenden Hunger litten. Aber es verstand
sich von selbst, daß die Waren von ihrem Besitzer Instruktion
hatten, auf uns zu lauern, und mein Erlebnis mit der Wurst hatte
uns allen Mut zu Versuchen geraubt. So blieb uns nichts übrig,
als die Niederschläge der Käsedünste aus dem Mauerwerk und
aus den Vertiefungen der Treppenstufen herauszukratzen und zu
essen. Eine ekle Kost, entwürdigend und unzureichend.
Auch die verschiedenen Pilze und Flechten, die das Haus
befallen hatten, schnitten wir oft ab und kochten und verzehrten
sie. Tags darauf waren sie meist schon nachgewachsen, denn im
Hause herrschte, offenbar durch die Zersetzungswärme der
aufgespeicherten Eßwaren, ein drückendes, tropisches Klima wie
in einem Treibhaus. Durch dieses Klima wurden auch alle Farben
greller, das Leben war nur noch ein dumpfes Dahinbrüten, in
dem selbst immer wiederkehrende Gedanken, wie die an meine
Aufwartefrau oder an das Amt, allmählich an Lebhaftigkeit
verloren. Nur die Schimmel- und Flechtenvegetation lebte, rankte
sich in langen, lianenartigen Fäden um Wasserleitungen und
Treppengeländer und gedieh unglaublich schnell und üppig.
Besonders an den schweren Holzbalken auf dem Dachboden
wuchs immer ein großer mausgrauer Pilz, der trotz seiner zähen
korkartigen Fasern zur Not an Stelle von Brot verzehrt werden
konnte. Sonst wäre vielleicht noch eine zarte, scheckige
Pilzgattung zu erwähnen, die auf einem alten Katzenfell
wucherte, das nun ebenfalls auf dem Dachboden lag. Meine
Mutter hatte dieses Katzenfell in ihren letzten Lebensjahren am
Knie getragen, zum Schutz gegen Rheumatismus. Ich hatte die
scheckigen Pilze auf dem Fell als erster entdeckt und fand sie
vortrefflich. Sie schmeckten süß, erinnerten dabei entfernt an
Kümmellikör und wirkten sogar, wenn ich mir das nicht nur
einredete, wirklich leicht berauschend. Doch war ich vielleicht in
meinem geschwächten Zustand besonders anfällig. Die Ernte auf
dem Fell war aber bei weitem nicht so häufig und ergiebig wie
auf den Dachbalken. So blieben die scheckigen Katzenfellpilze
ein seltener Leckerbissen, doch hatte das vielleicht auch sein
Gutes, denn Frau Minka, die sonst zu allem zu haben war, hatte
gegen diese eine Pilzart eine mir unerklärliche Abneigung und
schien auch meine bescheidene Freude an ihrem Genuß zu
mißbilligen. Sie begnügte sich mit den mausgrauen Balkenpilzen,
gelegentlich mit einem Aufstrich von kondensiertem
Treppenkäse.
Dennoch wären wir mit der Zeit sicherlich verhungert, hätten
nicht eines Morgens Frau Minka und ich je ein ungeheures
Geschenkpaket mit Zehrers speziellen Würsten vor unseren
Wohnungen gefunden. Dabei lag ein Brief. Er, Jakob Zehrer,
feiere heute Seinen Geburtstag und erwarte von uns, daß auch wir
Sein Wiegenfest mit Ihm begehen würden. Eine spöttische
Nachschrift lautete, Er wolle sich für den Wert Seiner von Ihm
persönlich übersandten Würste schon auf Seine Weise bezahlt
machen.
Frau Minka und ich waren hungrig. Wir dachten wenig und
aßen viel. Wir aßen tagelang. Aber schließlich hielten sich die
Würste nicht länger frisch. Sie wurden in unserem tropischen
Klima rasch schimmelig. Nun konnten wir sie nicht mehr essen.
Fortwerfen aber konnten wir sie auch nicht, denn seit Zehrer den
Hausflur versperrt hatte, wurden die Küchenabfälle nicht mehr
abgeholt, ein scheinbar unwesentliches, in Wirklichkeit aber
bedeutungsvolles Zeichen des Verfalls, besonders für den
Gebildeten, der sich dabei unwillkürlich erinnert, daß das
Aufhören der öffentlichen Müllabfuhr in Rom am Ende des
Altertums für den Historiker die Zeit der tiefsten Demütigung
und Erniedrigung der Ewigen Stadt bezeichnet.
Die verdorbenen Würste krochen nun auch innerhalb unserer
Wohnungen frei umher und knurrten bösartig, wenn man ihnen
zu nahe kam. Zu spät erkannten wir Jakob Zehrers Absicht, uns
auch noch den Frieden unserer Wohnungen zu rauben. Das war
offenbar seine Art und Weise, sich bezahlt zu machen.
Frau Minka wurde von diesen ungebetenen Mitbewohnern bis
in ihre Träume hinein verfolgt. So entschloß sie sich eines Tages,
zu mir zu ziehen, weil sie es allein nicht mehr aushielt. Ich, der
ich seit dem Tode meiner Mutter vielleicht sogar zu lange und zu
viel allein gewesen war, wäre über die Veränderung meiner
Lebensumstände zu jeder anderen Zeit überglücklich gewesen.
Nun aber, ohne Möglichkeit, das Haus zu verlassen oder ins Amt
zu gehen, war es nur ein trauriges Leben, das wir führten, ganz zu
schweigen davon, daß es uns doch an den vorschriftsmäßigen
Amtshandlungen gebrach, die einem derartigen Schritt erst seine
eigentliche Weihe verleihen.
Andererseits erlegte uns eben die heillose Unordnung der
äußeren Umstände gewisse Beschränkungen auf, so daß die in
solchen Beziehungen sonst übliche Ordnung sozusagen auf
einem Umweg doch wieder zu ihrem Recht kam. An eine
gemeinsame Nachtruhe zum Beispiel war gar nicht zu denken,
denn einer von uns mußte immer gegen die Würste Wache
halten. So war schließlich alles, was ich unter diesen kläglichen
Umständen vermochte, daß ich von Zeit zu Zeit Minkas Pelz
armselige kleine Funken entlocken konnte, wenn sie - vor
Hunger trotz des Tropenklimas fröstelnd - in der Ecke hinter dem
Ofen saß. Dann summte sie auch manchmal mit ihrer tiefen,
angenehmen, exotis chen Stimme eine zärtliche, monotone Weise,
und so hingekauert schmiedeten wir stundenlang phantastische
Rettungspläne, die in seltsamem Gegensatz zur nüchternen
Verzweiflung unserer Lage standen.
Anfangs sprach ich davon, daß doch schließlich das Amt
Erhebungen über meinen Verbleib anstellen werde, doch wußte
ich im stillen, daß solche Erhebungen im Dienstweg nicht von
einem Tag auf den anderen erfolgen, sondern zu gewissenhafter
Bearbeitung und Erledigung Wochen und Monate, ja oft Jahre
erfordern. Öfter noch sprach ich davon, wie eines schönen Tages
meine Aufwartefrau kommen und uns erlösen werde. Ich erinnere
mich noch des Bildes vor meinem geistigen Auge. Es war eine
Art Dornröschenkuß. Meine Aufwartefrau, die ohnehin seit
Jahren über einen nicht unbeträchtlichen Bartwuchs verfügte und
deren Kittel in meinen Gedanken – besonders nach dem Genuß
von Katzenfellpilzen – leicht als Rüstung gelten konnte, war der
erlösende Prinz. Die Stelle der Königstochter vertraten
abwechselnd Minka und ich selbst. Im Herzen aber war ich
dennoch schon halb und halb überzeugt, daß schließlich auch
diese treue Seele den aussichtslosen Kampf aufgegeben haben
mußte.
Deshalb ist es mir ganz unmöglich, mein Glücksgefühl zu
schildern, als eines Morgens Zehrer vor der Türe rief: »Kommen
Sie doch heraus, Herr Amtsrat! Wollen Sie denn nicht Ihre
Aufwartefrau sehen?« Mir kamen die Tränen. »Ja, natürlich!
Danke vielmals, lieber, guter Herr Zehrer! Ich komme sofort!
Vielen, vielen Dank!« rief ich, und Minka, gleichfalls bebend vor
Glück, half mir in meinen besten Anzug. Dann öffnete sie die
Tür.
Jakob Zehrer stand breitbeinig draußen und stemmte mir mit
beiden Händen eine ungeheure Mausefalle entgegen. Im
zugeschnappten, zahnbewehrten Bügel hing blutig und reglos
meine arme Aufwartefrau.
»Ich hab Ihnen gesagt, sie soll sich nicht im Hausflur
erwischen lassen! Aber was man zu euch redet, das ist ja alles für
die Katz! Also hab' ich im Flur Fallen aufgestellt. Da hat sie sich
eben gefangen!« Er sagte das sehr ruhig und sah mir dabei ins
Gesicht.
Ich sah Zehrer an, ich sah meine arme Aufwartefrau an und
sah dann an mir selbst nieder. Es war ein Glück im Unglück, daß
ich in meinem besten Anzug bei diesem traurigen Anlaß
immerhin einen würdigen Eindruck machte. Diese Erkenntnis
gab mir ein wenig von meiner Fassung wieder. »Wieso haben Sie
denn überhaupt noch Mausefallen?« stellte ich Zehrer zur Rede.
»Die hat doch ein Herr vom Tierschutzverein überall
beschlagnahmt?«
Aber Zehrer lachte nur: »Der Tierschutzverein?! Schöne
Einrichtung, ich wollte sagen, Institution. Ja, ja, eine schöne
Anstalt ist der!« Er betonte das Wort Anstalt auf seine
widerwärtige Art und tippte sich dabei gegen die Stirn. »Wissen
Sie, Herr Amtsrat! Die haben doch alle etwas im Kopf … Mein
Gott, der Tierschutzverein! Und überhaupt, sehn Sie sich das
doch nur an: das ist doch keine gewöhnliche Mausefalle, sondern
eine Wolkenkratzerfalle, neueste amerikanische Methode. Das
sagt Ihnen doch schon die Größe.
Der Tierschutzverein konfisziert nur die kleinen Fallen, nur
die kleinen, verstanden!?«
Er lehnte die Falle mit ihrem traurigen Inhalt an die Wand
und ließ mich stehen. Mit Minkas Hilfe untersuchte ich meine
arme Aufwartefrau. Sie war tot - mausetot, wie Zehrer im Gehen
wegwerfend gesagt hatte.
Da verlor Minka die Fassung. »Ich halte das nicht mehr aus«,
schrie sie. »Das ist ja nicht mehr menschlich, das ist ja tierisch!
Ein Gefängnis ist das, eine einzige, riesige Falle!« Sie schrie
immer lauter: »Und dem Zehrer, das sag ich dir, dem kratz ich
die Augen aus, wenn er glaubt, er kann uns lebendig begraben
hier, in diesem Mausoleum! Hörst du«, fauchte sie mich plötzlich
an, »ein Mausoleum ist dieses Haus, ein Mausoleum! Aber
wartet!« Sie schlug, ehe ich sie hindern konnte, die
Fensterscheiben ein, daß plötzlich frische Luft hereinströmte, und
brüllte auf die Straße hinunter. »Tierschutzverein!
Tierschutzverein!! Hilfe! Hier herauf! Hilfe!!«
Ich suchte sie zu beschwichtigen: »Um Himmels willen, reg
dich doch nicht so auf. Wir können doch keinen Skandal auf der
Straße verursachen; schließlich bin ich doch ein höherer Beamter,
berücksichtige das doch!« Aber sie war nicht zu beruhigen, und
als sie endlich erschöpft in der Ofenecke niedersank, klopfte es
schon dreimal scharf an die Tür.
Ich tat auf. Ein Mann in der grauen Uniform des
Tierschutzvereins trat ein, ohne meine Aufforderung abzuwarten,
und marschierte ins Zimmer. Von meinen entgegengestreckten
Händen nahm er keine Notiz, sondern schnarrte mit scharfer
Stimme: »Achtung! - Was hat da geschrien?«
Ich stand stramm und sagte rasch: »Ich, ich«, um Minka
etwaige Unannehmlichkeiten zu ersparen. Zu meiner
Erleichterung stellte ich fest, daß er sie in ihrer Ofenecke von
seinem Standort aus gar nicht bemerken konnte. »Ach so«,
meinte er. »Und ich habe schon gedacht, ein Tier hat geschrien,
das gequält wird. Nun also, was wollen Sie denn eigentlich von
mir?«
Am liebsten hätte ich ihn wieder fortgeschickt, denn sein
Verhalten gefiel mir nicht. Sein Gesicht war seltsam starr, und er
schien weder über gute Umgangsformen zu verfügen noch
irgendwelcher Anteilnahme fähig. Selbst wenn ich annehmen
durfte, daß ihn Zehrer rasch durch seinen Laden eingelassen hatte
und daß ihm beim Herauflaufen der Zustand und das unnatürliche
Klima des Flurs, der Treppen und des ganzen Hauses nicht
aufgefallen war, Zehrers Wolkenkratzerfalle und ihren Inhalt
mußte er doch bemerkt haben.
»Ja, haben Sie denn die Falle vor unserer Wohnungstür nicht
gesehen?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung: »Das
schon, aber da war doch nur ein Mensch drin. Das geht uns
weiter nichts an. Sie als ehemaliger Beamter sollten das doch
wissen und uns nicht mit Sachen behelligen, die nicht in unserem
Zuständigkeitsbereich liegen!« »Aber - aber«, verantwortete ich
mich mit versagender Stimme, das Wort ehemaligen hatte mir
alle Kraft geraubt, »Sie waren doch der Herr, der alle
Mausefallen konfisziert hat, nicht? Und die da sind doch sogar
ganz besonders große, gefährliche? Die haben Sie vielleicht
übersehen, nicht wahr?« Mir kam ein Gedanke, und ich fuhr
eifrig fort: »Und überhaupt, es könnte doch ein Unglück
geschehen: Es könnte sich, geradeso wie meine Aufwartefrau,
eines Tages ein Tier drin fangen, bedenken Sie das doch!«
Aber der Mann vom Tierschutzverein strich nur seine
mausgraue Uniform glatt und lächelte geringschätzig. Da
versuchte ich das Letzte. Ich fiel auf die Knie vor ihm: »Haben
Sie doch ein Herz, mein Herr! Schließlich ist doch kein so großer
Unterschied zwischen Tieren und Menschen! Leben … leben
wollen doch alle! Und überhaupt, wir leben ja wie die Tiere, seit
Herr Zehrer hier ist. Überall hat er die Fallen aufgestellt, und …«
Das Gesicht des Mannes war von einem so hämischen
Lächeln entstellt, daß ich nicht weitersprechen konnte. »So, also
weil ich die kleinen Fallen konfisziert habe, soll ich auch die
großen einziehen. Und alles Ihnen zuliebe? Was?« Er pfiff durch
die Zähne.
Dann riß er sich die graue Uniform des Tierschutzvereins
vom Leibe und auch das angeklebte schwarze Schnurrbärtchen,
das die langen Vorderzähne verhüllt hatte, und stand splitternackt
und abschreckend häßlich vor mir. Jakob Zehrer.
»Was, da staunen Sie, mein Lieber? Ich bin selber der Mann
vom Tierschutzverein! So, jetzt können Sie ja versuchen, ob ich
Ihnen auf Ihre Geschichten Kredit gebe, gegen mich selbst!« Er
hielt sich den Bauch vor Lachen.
Da, während er noch lachte, geschah es. Minka sprang - ein
blankes Küchenmesser in der Hand - mit der Geschmeidigkeit
und Schnelligkeit eines Raubtiers aus ihrer Ofenecke hervor auf
den nackten Zehrer zu. Ich hielt mir die Hand vor die Augen. Die
Nase schnitt sie ihm ab, wenn ich mich recht entsinne. Ja, es muß
die Nase gewesen sein, denn es verbreitete sich sogleich ein
eigenartiger Geruch im Zimmer, offenbar der charakteristische
Blutgeruch.
Zehrer verbiß mit unmenschlicher Anstrengung den Schmerz.
Er wimmerte nur ganz leise wie ein kleines Kind. Sonst war es
sehr still im Zimmer. Plötzlich bemerkte ich auf dem Fußboden
eine lange Wurst. Es war eine von Zehrers speziellen Würsten,
vielleicht aus einem Winkel unbemerkt herbeigekrochen. Sie sah
Zehrer mit ihren grauen Schimmelaugen an, beschnupperte das
reichlich fließende Blut und hob schließlich nach Hundeart dicht
neben der Pfütze ein Bein. Zehrer, der seinen Schmerz kaum
noch verbeißen konnte, rief ihr mit hoher, heiserer Fistelstimme
zu: »Daherein! Zu deinem Herrn kommst du!« Mit seiner Hand,
die er bisher vor die Wunde gehalten hatte, um das Blut zu
stillen, deutete er auf Minka: »Da! Putz weg! Beiß sie hinein!
Pack sie!« Aber die Wurst tat, als habe sie mit Jakob Zehrer nie
etwas zu schaffen gehabt. Sie dehnte und reckte sich träge, drehte
sich nach allen Seiten, machte einen Katzenbuckel und rieb sich
dann zutraulich an Minka, die im Vollgefühl ihres Sieges mit ihr
zu spielen begann.
Zehrer versuchte noch einmal, die Wurst durch einen Pfiff zu
sich zu locken, aber das Pfeifen wollte ihm nicht mehr gelingen,
sei es wegen seiner Schmerzen, sei es, weil er seine völlige
Machtlosigkeit erkannt hatte. Große Tränen traten ihm in die
Augen, die zu meinem Erstaunen ihren Ausdruck plötzlich
verändert hatten und rührend und flehend hin und her blickten,
wie verzweifelte Tieraugen, wenn es kein Entrinnen mehr gibt,
schließlich aber, auf Minka gerichtet, vor Entsetzen erstarrten.
Denn nun duckte sich Minka, bis sie noch rundrückiger
dastand als zuvor die Wurst, und sprang Zehrer, der vor ihren
schmalgewordenen Augen mehr und mehr zusammenschrumpfte,
zum zweiten Mal an. Im Sprung wuchs sie um ein beträchtliches.
Sie packte Zehrer mit den Zähnen, warf ihn in die Luft, fing ihn
mit dem Mund auf, warf ihn abermals hoch, schüttelte ihn
zwischen ihren Kiefern hin und her, wobei sie wieder und wieder
ihre Finger mit den langen roten Fingernägeln rechts und links in
seinen Leib schlug, und fuhr mit diesem grausamen Spiel fort, bis
sein Kopf mit gebrochenem Genick furchtbar beweglich hin und
her pendelte. Dann begann sie ihn zu zerfleischen. Ich mußte
schaudernd an Penthesilea, die wie eine Tigerin reißende
Amazonenkönigin in Heinrich von Kleists schon fast
krankhaftem Drama, denken.
Und da wurde es vor unseren Augen offenbar: Zehrers
Skelett, das von Minkas Zähnen und reißenden Fingernägeln
mehr und mehr freigelegt wurde, war nicht das eines Menschen,
sondern einer ungeheuren Maus. Im Magen aber fanden wir die
angenagten Trauringe des Ehepaars Hromadka. Zehrer hatte
meine arme Aufwartefrau verleumderisch bezichtigt, sie bei der
Leichenwäsche entwendet zu haben. Ich hatte das nie geglaubt,
aber nun erst war dieser Akt endgültig geschlossen und die
Unglückliche von jedem Verdacht gereinigt. Das Wesen aber,
das ihren Tod und den des Ehepaars Hromadka auf dem
Gewissen hatte, war seiner Strafe nicht entgangen. Für den
Augenblick war ich von diesem Tatbestand überwältigt wie von
einer Offenbarung, so daß ich für andere Gedanken und Gefühle
einfach nicht Raum hatte.
Aber das war nicht die einzige Entdeckung. Außer den
Ringen fanden wir in dem nunmehr völlig zerfleischten Kadaver
zwischen den heraushängenden Organen ein raffiniertes,
ungemein verzweigtes Röhrensystem, das alle Teile des Körpers
verband. Man bedurfte keines langen Ratens, um zu verstehen,
daß dies das geheime Röhrensystem war, durch das Zehrer alle
üblen Gerüche aus dem Laden abgesaugt hatte, um sie später
durch die Hintertür ins Innere des Hauses weiterzuleiten.
Die grausigen Vorfälle und Entdeckungen der letzten
Minuten hatten den Rest meiner Kraft verzehrt, und so sehr ich
von den Ereignissen überwältigt und wie gebannt war, ich wäre
doch sicher zusammengebrochen, wäre nicht plötzlich etwas
Braunes, Rundes in meinen Mund gehüpft, der im Nu von einem
belebenden Getränk und von angenehm süßem Geschmack erfüllt
war: Mein Likörbonbon war zu mir zurückgekehrt!
Zehrer hatte geschworen, ich solle es nicht wiederbekommen,
solange er lebe. Und nun war es da. Jetzt erst begriff ich ganz,
daß es mit ihm aus war. Endgültig aus.
Fast im selben Augenblick klimperte es hell in meinen Ohren.
Die Ziegel im Treppenhaus bewegten sich wieder, genau wie zu
Lebzeiten meiner Mutter. Nun muß ich zwar gestehen, daß
zwischen diesem Ereignis und Zehrers Ende kein unmittelbarer
Zusammenhang bestanden haben muß. Vielleicht hatten einfach
Minka und ich die Ziegel im Lauf der Zeit selbst befreit, als wir
die kondensierten Käsedünste, die sie hielten, fortkratzten, um
uns von ihnen zu ernähren.
Aber wie immer dem sei, mir gaben die altgewohnte Musik
und der erfrischende Geschmack im Mund meine Kraft wieder,
und hätte ich nicht durch einen unseligen Zufall Zehrers letzten
todtraurigen Blick aufgefangen, ich wäre restlos glücklich
gewesen. So aber ließen mir diese Augen keine Ruhe. Es drängte
mich, noch einmal ganz aus der Nähe in sie hineinzusehen, so
wie Zehrer auf dem Gipfel seiner Macht mir in die Augen
gesehen hatte, im dunklen Hausflur drohend über mich gebeugt.
Ich trat also an Zehrers Kadaver heran. Aber gerade in diesem
Augenblick riß ihm Minka das eine Auge aus. Nur das andere
glotzte mich noch glasig an, und - ich weiß nicht, wie ich das
hinlänglich augenfällig schildern soll - aber jedenfalls, das
Glasige blieb nicht auf das Glotzen beschränkt, sondern, offenbar
gespeist von den Glaskörpern des anderen, ausgerissenen und
zerflossenen Auges, wuchs es rund um uns, wurde größer und
größer, bis ich mich - gemeinsam mit dem Kadaver und Minka -
von einem gigantischen Glasgefäß ummauert sah. Wir waren
gefangen.
Dazu kam, daß die Käsedünste, die unter hohem Druck dem
zerbissenen Röhrensystem des Kadavers entwichen, Feuer zu
fangen begannen. Sie hatten sich offenbar durch die tropische
Temperatur, die im Haus herrschte, entzündet. Das ganze,
ohnehin schon morsche Gebäude stand im Nu in hellen
Flammen. Aufweinend warf sich Minka an meinen Hals. Hier tat
rasches Handeln not.
Ich lud sie auf meinen Rücken und trat ganz dicht an das
flammenumprasselte Gerippe dessen heran, was eben noch Jakob
Zehrer gewesen war. Dann schwang ich mich, meinen Ekel
überwindend, auf die unterste seiner Rippen. Von da auf die
nächste. So ging es höher und höher, von Stufe zu Stufe auf dem
Knochengerüst. Es war eine richtige Jakobsleiter, himmelhoch!
Durch die höllische Hitze des Brandes dehnte sich das Gerippe
imme r mehr aus und ragte schließlich so hoch auf, daß wir vom
oberen Ende unserer grausigen Leiter aus den Rand des
Glasgefäßes erklimmen konnten, der schon glühendheiß war und
zu zerspringen drohte. Jeden Augenblick glaubte ich das
verhängnisvolle Klingen zerbrechenden Glases zu hören.
Wirklich ertönte in diesem Augenblick ein scharfes ›kling-
kling‹, aber nicht wie von Glas, sondern wie von einer Patenttüre,
wenn jemand hereinkommt. Die Feuerwehr war da. Als erste
sprang Frau Kinderlei vom Wagen und setzte die große Leiter
ans Glas an. So wurden wir gerettet. Ich weiß nicht, wie der
Wagen zuletzt aus der brennenden Wohnung entkommen ist,
denn wir waren beide in Ohnmacht gefallen. Das Haus mit allen
Waren, mit der Leiche meiner armen Aufwartefrau und mit
meiner gesamten Wohnungseinrichtung wurde ein Raub der
Flammen. Nur das Glasgefäß hat seinen grausigen Inhalt
konserviert.
Ich habe wenig hinzuzufügen, denn das Gutachten des
Gerichtsarztes erklärt, das Verfahren sei noch nicht
abgeschlossen. Er ist jetzt mein unmittelbarer Vorgesetzter. Da
wegen des von Jakob Zehrer über mich verhängten Hausarrestes
meine Stellung im Amt anderweitig besetzt worden war, habe ich
mich bis zur Erledigung meines Wiedereinstellungsantrags zur
Verfügung der Behörden gestellt. Man hat mir hier einen neuen
Wirkungskreis zugewiesen: ich ordne die Akten des Falles
Zehrer und bewache das wenige vorhandene Beweismaterial, vor
allem das Skelett, das in seinem Glasgefäß draußen im dunklen
Flur vor dem Archiv steht. Das ist eigentlich die gerechte Strafe
für das Skelett, denn es kann mir nun so wenig entrinnen, wie ich
ihm zu seinen Lebzeiten entrinnen konnte. Aber eigentlich ist es
auch eine Strafe für mich, denn es erinnert mich immer an irgend
etwas Unangenehmes. Nicht an Zehrer selbst, denn das wüßte ich
ja, sondern es muß etwas Unwesentliches sein, das mir im
Strudel der Ereignisse entfallen ist.
Minka, die immer noch ganz aus dem Häuschen ist, macht
immer, wenn sie mich besucht, einen Bogen um das Glas. Sie hat
einstweilen beim Tierschutzverein Gastfreundschaft gefunden,
aber der Gerichtsarzt sagt, wenn das Verfahren beendet ist, werde
ich vielleicht versetzt und rücke in eine höhere Rangstufe auf.
Dann hole ich sie dort heraus und dann heiraten wir.
Die Falle ist die erste noch erhaltene Er zählung, die im
amerikanischen Armeehospital entstanden ist. Die Idee geht auf
einen Traum des Soldaten zurück, in dem viele
Kindheitserinnerungen auftauchten. Das große
Delikatessengeschäft zum Beispiel war tatsächlich im Haus
eröffnet worden, das der Verfasser als Kind bewohnte. Es
ruinierte auch wirklich alle Konkurrenten in der näheren
Umgebung.
Auch der Amtsrat war eine wirkliche Kindheitsfigur, die der
Soldat aber als ›Umschreibung‹, als distanzierende
Selbstdarstellung, ziemlich unbekümmert um das Original
verwertet hat. ›Ich habe aber sehr darauf geachtet, daß mir der
Amtsrat während des Schreibens nicht zu ähnlich wird, sonst
hätte mir das Schreiben keinen Spaß mehr gemacht.‹ Das ist ein
Zitat aus einem Brief des Soldaten, in dem er auch schreibt, die
verquälte Art, wie der Amtsrat sich Gedanken über seine
Beobachtungen und Pläne macht, habe er einigen Paranoikern im
Mental Ward abgelauscht.
Die Erlebnisse des Soldaten spiegeln sich in der Beziehung
des Amtsrats zu Minka, in einem zum Kerker gewordenen Haus,
zwischen Leben und Tod. Diese Frau, die einmal Geliebte und
Schicksalsgefährtin, einmal reißendes Raubtier ist und zum
Schluß Opfer dessen wird, was sie erlebt und getan hat, erinnert
deutlich an Helga.
Daß sie in eine Anstalt gebracht wird, zum
›Tierschutzverein‹, statt zu sterben, ist wieder eine der vielen
›Umschreibungen‹, die Wahrung eines Abstandes zwischen
erlebter und dichterischer Wirklichkeit, um beim Schreiben nicht
von den eigenen unüberwundenen Erlebnissen überwältigt zu
werden. Nicht der Erzähler selbst, sondern nur seine Geliebte
leidet an seelischer Zerrüttung. Auch die Fensterscheibe
zertrümmert sie, und nicht er selbst! Außerdem war der Soldat
der Ansicht, daß Menschen wie Helga geheilt, nicht hingerichtet
werden sollten. Insofern ist der Abschluß der Erzählung ein
Wunschtraum. Das Skelett Zehrers, das der Verfasser am Ende
der Erzählung im dunklen Flur zu bewachen hat, dürfte unter
anderem eine leise politische Warnung bedeuten.
Die anderen wichtigen Ereignisse im Haustor und im
Hausflur erinnern an die Rolle von Toreinfahrten in den früheren
- und auch in ein, zwei späteren - Geschichten.
Noch eine Briefstelle: ›Wenn Du willst, kannst Du Die Falle
auch mit dem Untertitel Ein Katz-und-Maus-Spiel versehen.
Mauß heißt auf hebräisch der Tod und das Adjektiv tot. Über das
Rotwelsch ist das auch in die deutsche Sprache eingedrungen,
z.B. in mausetot, oder Daß dich das Mäuslein beiße. Aber auf
Leben und Tod geht ja eigentlich jedes Spiel.‹
DIE AUSGRABUNG
Drachen in schwarzen Höhlen; Bodenritzen, auf die man
nicht treten darf, weil man sich sonst in eine Kröte verwandelt;
vor dem Einschlafen die heimlichen Zeichen zum Schutz gegen
böse Geister … an all das glaubte ich nicht mehr; lang genug
hatte es mich geängstigt. Auch das Totsein gehörte dazu.
Das Sterben nicht. Sterben konnte man wirklich. Ich hatte
Erna sterben sehen, und ich wußte, daß meine alte Großmutter
gestorben war. Auch mein Vater war gestorben, schon vor ihr,
sogar im selben Teil der Stadt, in dem ich ratlos hin und her lief,
nur durfte ich in den letzten Stunden nicht zu ihm hin. Sterben,
ja, das konnte man, aber das war nicht so arg. Mich hatte das
Totsein geschreckt, nur das Totsein. Sterben ohne Totsein ist
nicht so arg. Auch in der Erde liegen ist nicht so arg. Vor dem
Krieg, als es uns noch gut ging, waren wir im Sommer oft am
Meer. Dort lagen wir gerne so, ganz eingegraben in den warmen
Sand, nur das Gesicht frei zum Atmen. Wer stirbt, der muß nicht
mehr atmen, also kann er noch tiefer hinunter. Im Sand am Meer
hätten die Gestorbenen immer gewonnen. Nur deshalb hielten sie
sich zurück und spielten nicht mit. Es wäre ungerecht gewesen;
die Gestorbenen hätten uns Kinder zu leicht besiegt.
An das Verwesen aber, an das Zerfallen zu Wasser und
Jauche und Erde und Kalkstaub, glaubte ich nicht mehr. Das
gehörte zu den Drachenhöhlen und Krötenritzen, zu den
Hexentänzen und Nachtgespenstern. Ich schämte mich sogar
manchmal, es je geglaubt zu haben. Es war fast so lächerlich wie
das Märchen vom Storch, außerdem aber häßlich, ein böser
Kinderschreck. Gut nur, daß ich das alles beizeiten durchschaut
hatte.
Stück für Stück, wie ein Geduldspiel, hatte ich mein Wissen
zusammengefügt, aus eigener Erfahrung, aus Büchern, denn ich
begann früh zu lesen, und aus unbedachten Worten, die den
Erwachsenen entschlüpft waren; Stück für Stück, aber jedes
paßte zu den anderen, und schließlich blieb dem Aberglauben
kein Raum mehr.
Begonnen hat es mit den Erdarbeiten auf dem alten,
aufgelassenen Friedhof, der damals schon ein Park mit einem
Kinder-Spielplatz war. Ich sehe es noch ganz deutlich vor mir.
Die Männer gruben etwas Hartes aus dem Grund. Voller Lehm.
Der Gärtner kam neugierig näher und richtete seinen Schlauch
auf den Fund. Ein scharfer Wasserstrahl, kräftig genug, um
unsere Spielzeugsäbel zu verbiegen. Der Lehm wurde
weggespült. Ein weißer Arm mit einer wunderschönen schlanken
Hand, das war es. Zuerst stand ich ganz still, dann begann ich in
die Hände zu klatschen, zu lachen und zu springen. »Nicht tot!«
rief ich. »Nicht tot!« Die Männer sahen mich an und lachten mit.
Einer streichelte mir sogar den Kopf, und obwohl er lehmige
Hände hatte und ich damals noch ein besseres Kind war, machte
ich mir gar nichts aus meinem gebürsteten Haar. Am liebsten
wäre ich hochgesprungen und ihm um den Hals gefallen. »Siehst
du«, sagte er zuletzt, »das ist der Arm von dem weißen
Marmorengel dort am Tor. Es geht nichts verloren in der Erde.«
So redeten die Erwachsenen. Ich antwortete nicht und ging
weg. Von meiner Schwester hatte mir Großmutter immer gesagt:
»Sie ist jetzt ein Engel.« Und in einem Märchenbuch stand etwas
von einem Mädchen, das starb und dann marmorweiß dalag,
bevor sie wieder aufwachte. Und es geht nichts verloren in der
Erde, hatte der Gartenarbeiter gesagt.
In den nächsten Nächten hatte ich zwar noch ärgere Träume
als zuvor, aber das waren die letzten. Dann war es aus. Daß man
nicht tot ist, wußte ich damals natürlich noch nicht, aber
immerhin, mein Glaube an den Tod war erschüttert.
So vergingen Jahre. Ich kam aufs Gymnasium und sah die
Bilder und Gipsabgüsse der römischen und griechischen Statuen.
Unser komischer alter Studienrat wurde immer pathetisch und
schrie ganz laut, wenn er sich in Schwung redete. Er erzählte uns
von den Ausgrabungen zur Zeit Leonardos und Michelangelos.
»Und so hob man sie aus ihren Gräbern. Unzerstört!
Unzerstörbar! Voll lebendiger Schönheit!« brüllte er. »Das heißt
Renaissance: Wiedergeburt!« Die Klasse lachte.
Auch ich hatte mitgelacht, aber nach und nach dämmerte mir
auf, daß das in Wirklichkeit die Gestorbenen sein mußten, aus
Griechenland und aus Italien. Alte Funde konnten leicht falsch
erklärt werden, und Auferstehung war ja ein vertrauter Begriff.
Es war gut so. Ich konnte ohne Beklemmung im Dunkeln allein
sein. Damals gab ich die Gewohnheit mit dem Nachtlicht auf.
Damit war aber auch die Frage für mich vorerst abgetan. Was ich
wissen mußte, das wußte ich, und es war eigentlich gar nicht
mehr besonders aufregend. Im Gegenteil, beruhigend, sehr
beruhigend.
Außerdem lernte ich kurz darauf, in den Sommerferien, Erna
kennen, und wir waren viel zu glücklich für solche Gedanken.
Das Wetter war herrlich, der Bergsee ungewöhnlich warm, weil
immerzu die Sonne schien. So konnte man weit
hinausschwimmen, und wir tummelten uns stundenlang im
Wasser herum wie Delphine.
Meine alte Großmutter, die statt meiner Mutter mit aufs Land
gekommen war, hegte vielleicht Verdacht. Auch Ernas Mutter
mochte sich Gedanken machen. Wir aber hatten uns hoch am
Hang in einer Felsennische ein Nest aus Stroh gebaut. Dort
konnte uns keiner sehen, und wäre einer den Hang
heraufgekommen, so hätte ihn das lose Geröll unter den Füßen
schon von weitem verraten.
Sünde? Ach was! Wir haben niemandem etwas zuleide getan,
und wir waren glücklich! Und vielleicht, ich meine, es kann sein
… Es hätte ja sein können, daß Erna sonst, denn es waren ja
kaum mehr zwei Jahre … daß sie sonst gestorben wäre, daß sie
gestorben wäre, ohne … man muß doch leben, ehe man stirbt!
Zwei Jahre, und wieder in der Stadt. Noch niemand war mir
gestorben. Aber die Fahnen mit dem geknickten Abzeichen
klatschten im Regenwind gegen die Mauern, und vom billigen
Fahnentuch fielen rote Tropfen auf das Pflaster. Dann wurde der
Himmel wieder blau, und die Sonne schien. An jenem Tag war
eines von ihren unzähligen Festen, von denen wir ausgeschlossen
waren und die wir auch haßten. Und doch war der Anblick
irgendwie schön: die Musik und die Gesichter der Kinder in ihrer
Tracht, und ihr aufgeregtes Lachen. Solche Schönheit hat wenig
mit ihrem Anlaß zu tun. Und dann die Pferde der Berittenen, ja
die Pferde, eines von diesen Pferden …
Wir standen viel zu weit vorne. Natürlich trugen wir beide
keine Abze ichen, und ich sah nicht aus, als gehörte ich zu ihnen.
Plötzlich hatte mich ein langer Kerl gepackt. Erna fuhr
dazwischen, erhielt einen Stoß, taumelte zurück, fiel, gerade als
die Pferde …
Übrigens war er keiner von den Ärgsten. Er war sogar
erschrocken. Er ließ mich los, rief einige andere herbei und legte
selbst mit Hand an. Erna wurde nach Hause getragen. Sie wohnte
nur wenige Schritte weit. Die Jungen standen mit dummen
Gesichtern herum, schlugen dann die Hacken zusammen und
machten dröhnend kehrt. Später wären sie weniger verlegen
gewesen. Aber das war noch lange vor dem Krieg.
Sie soll nicht wieder zu Bewußtsein gekommen sein. Aber ich
habe das nie recht geglaubt. Wenigstens zuletzt, als sie sich
aufrichtete, muß sie mich doch erkannt haben. Diese eine
Bewegung aus unserer Zeichensprache wäre sonst ganz sinnlos
gewesen. Aber wesentlicher war dann der Eindruck, als ich fünf
Stunden später in ihr Zimmer schlich. Verletzt war sie nicht, oder
wenigstens konnte man es nicht sehen, denn sie hatte nicht
geblutet, und ihr schönes braunes Haar verdeckte alles. Sie war
… marmorweiß war sie. Es gibt kein anderes Wort. Ich berührte
sie, nur sacht, nur am Arm. Der war hart und kühl, kühl und hart,
sehr ruhig. Irgendwie würdig, sicher. Fest wie die Erde, die uns
trägt und hält und nicht verliert.
Ich ging wieder hinaus. Ich war gar nicht traurig. Etwas in
mir war eingeschlafen, ruhig, ohne zu träumen. Noch nie hatte
ich weniger an den Tod geglaubt. Hart und fest und weiß wurde
man im Sterben. Stein. Und hätte das Sinn gehabt, hart und fest
und steinern zu werden, wenn man zerfallen mußte? Nein. Die
Lebenden waren viel hinfälliger. Die Gestorbenen waren sicher.
Ich war auch kein kleiner Junge mehr. Die Zeit war schwer
genug, und ich ließ mich nicht auch noch unnütz schrecken.
Dann starb mein Vater. Sie hatten ihn halb zertreten. Dann
wanderte ich aus. Dann kam der Krieg. Dann, nach und nach, die
kurzen Briefe von drüben, Dokumente, Nachrichten,
Sterbeurkunden. Dieser verschickt, jene verschwunden,
unbestellbare Rote-Kreu z-Briefe zurück, Postvermerk ›Adressat
verstorben.‹ Mein bester Freund, Selbstmord; meine Großmutter,
gestorben; alle unter der Erde, keiner mehr übrig. Drei Jahre, vier
Jahre, fünf Jahre. Man weiß, was Alltag heißt: die erste Nachricht
schien trotz des Erschreckens fast selbstverständlich. Man konnte
in solchen Zeiten nichts anderes erwarten. Die zweite Nachricht
überraschte mich nicht, weil ich die erste so kurz zuvor erhalten
hatte; dann, bei der dritten, vierten, zehnten, hätte ich gar nicht
mehr den Briefumschlag aufreißen müssen. Ich hatte mich daran
gewöhnt; und schließlich waren sie alle weit weg, und ich hatte
viel zu tun, und in der Stadt kam man nie zur Ruhe.
Im Traum war ich zuweilen eine Art Bergmann, sprengte
Querstollen von Grab zu Grab und sah, wie die dort unten
zerfielen. Aber beim Erwachen war natürlich alles wieder in den
Boden versunken. Nicht einmal ein Gefühl der Beklemmung
blieb zurück. Es war ja auch unmöglich; ich als Bergmann! Ich
hatte schon in der Schule immer zu den Ungeschicktesten und
Schwächsten gehört. Und die Querstollen hätten lang sein
müssen, denn meine Leute waren über die halbe Welt zerstreut
gestorben! In München und in Theresienstadt, in Polen, in
Australien, ein Freund auch im Afrikakorps; und von vielen
wußte ich gar nicht, wo. In welche Richtung hätte ich meinen
Stollen treiben müssen? Und in den Gräbern selbst, zwischen
denen ich die Stollen hätte graben müssen, ging es, gottlob, auch
nicht so zu, wie man sich das als Kind in Angstträumen vom
Verwesen und Zerfallen vorgestellt hatte. Kinder lassen sich alles
mögliche einreden, und gegen Gerüche und ungewohnte
Eindrücke sind sie überempfindlich. Ich erinnerte mich noch
genau an Ernas harten, kühlen, marmorweißen Arm. Ein kräftiger
Strahl kalten Wassers ins Gesicht, vor dem Schlafengehen und
nach dem Aufstehen, das war das Beste gegen solche lähmenden
Schauervorstellungen.
Dann meldete ich mich zur Armee. Drill, Überfahrt nach
Europa. Büroarbeiten, zerstörte Städte, Kantinen, Urlaub. Einmal
machte ich mich selbständig. Mich lockte das Ländliche.
Es war ein patriarchalisches Dörfchen. Die Dörfer in jener
Gegend sind sauber und friedlich. Zu lange war ich nicht aus
lauten Menschenhaufen und Schreibstuben herausgekommen,
nun würde es mir guttun. Urlaub: Ferien; das Wort machte um
Jahre jünger. Bergseen und Felsenhänge gab es freilich in dieser
Gegend nicht. Meine Erinnerungen konnten an nichts anknüpfen
und blieben in der Luft schweben. Abends kam ich zufällig über
den Friedhof und blieb vor dem schönen steinernen Grabwächter
mit den schweren Flügeln stehen. Von ferne hatte ich ihn zuerst
für einen Menschen gehalten. Der eine Arm war abgebrochen
und lag zu seinen Füßen; Granatsplitter, sagte man mir.
Irgendwie fühlte ich mich zu Hause.
In der Nacht stand ich dann auf. Kein Mensch begegnete mir
in den alten Gassen; ausgestorben lagen die Häuser da, der
Friedhof war leer. Richtig stak der Spaten im lockeren Grund, ich
mußte nur weitergraben. Es war kühl, aber bei der ungewohnten
Arbeit wurde mir bald warm. Ich warf den Rock ab, nach einer
Weile zog ich sogar das Hemd aus und grub mit nacktem
Oberkörper wie die bronzebraunen Straßenarbeiter im
Hochsommer. Es muß seltsam ausgesehen haben, aber Arbeit
schändet nicht, und Erdarbeit ehrt.
Als ich an den ersten Körper kam, klang mein Spaten hell auf,
so hart war er angestoßen. Es war eine ehrwürdige alte Frau,
eiskalt, gekleidet in die Tracht einer längstvergangenen Zeit. Ich
erhob mich von den Knien und arbeitete weiter. Alte und Junge
fand ich, Männer und Frauen, längst Begrabene und solche aus
frischen Gräbern. Ob es ein Mann war oder eine Frau, ein junger
Mensch oder ein alter, das hörte ich bald schon am Klang des
Spatens. Zwar klangen keine zwei Körper ganz gleich, jeder hatte
seine eigene Note, aber dennoch gab es viel Gemeinsames, wie
das unter Menschen so ist. Ich wurde sehr ruhig. Das Gleichmaß
sinnvoller Arbeit bemächtigte sich meiner Bewegungen. Meine
Gewißheit war bestätigt: in der Erde war nichts
verlorengegangen.
Ich stolperte; das war die Mündung des ersten Querstollens.
Fast wäre ich hineingefallen. Ich wollte nichts zerstören und
wandte mich ein wenig ab. Man mußte ihnen Zeit geben. Als ich
den Spaten wieder aufnahm, sah ich, daß ich recht behalten hatte.
Erna lag da. Dann grub ich meinen Vater aus, meine alte
Großmutter, viele halbvergessene Onkel und Tanten, einige
Freunde; keiner fehlte. Ich fand noch mehrere
Stollenmündungen, aber ich hatte keine Lust, hinunterzukriechen.
Sie hatten ihren Zweck erfüllt.
Ich muß doch sehr verwirrt gewesen sein, denn es kam mir
gar nicht in den Sinn, daß ich vielleicht nicht ewig Zeit haben
würde. Ich bewegte mich langsam, ruhig, und dachte nach. Dann
hob ich zuerst meine Großmutter hoch. Sie hielt die Lippen fest
geschlossen und rührte sich nicht. Aber diesen Kniff kannte ich
schon seit meiner Kindheit. Gar nicht selten hatte sie mich so
erschreckt, zur Strafe, wenn ich am Abend zuvor unfolgsam
gewesen war. Ich tat wie damals. Als ich ihre Nasenspitze
berührte, verzog sie ein wenig das Gesicht. Fast hätte ich laut
gelacht. Um sie mußte ich mir keine Sorge mehr machen.
Nun kam mein Freund an die Reihe. Hier ging ich weniger
sanft ans Werk. Ich schlich mich an, dann schlug ich ihm
plötzlich mit aller Kraft auf die Schulter. Ich muß sagen, er hatte
sich gut in der Gewalt. Immerhin war mir nicht entgangen, daß er
sich, als der Hieb ihn traf, mit einem kleinen Ruck ein wenig zu
mir herumgedreht hatte.
Ähnlich verfuhr ich mit vielen. Die einen wurden gestreichelt,
die anderen gerüttelt. Meinen Vater rief ich nur laut; zu berühren
wagte ich ihn nicht, denn ich wußte, daß sie ihn zuvor noch
schwer verletzt hatten. Aber auch schon mein Ruf genügte
offenbar. Er tastete mit der ihm eigenen Handbewegung nach
einer nicht vorhandenen Zigarette, ganz wie an seinem letzten
Tag. Auch diesmal konnte ich ihm keine Zigarette anbieten. Ich
rauche nicht.
Als ich zu Erna trat, fühlte ich mich schon einigermaßen Herr
der Lage. Sie schliefen nicht sehr tief, das hatte ich
herausgefunden. Ich beugte mich über sie und gab ihr einen Kuß.
Sie zog leise meinen Atem ein, dabei wurde sie langsam weniger
kalt und spröde. Ich legte mich neben sie auf den zerwühlten
Boden, streichelte sie und redete ihr zu. Ich hatte Glück bei ihr,
sogar mehr Glück als bei allen anderen. Ihre Brust hob und
senkte sich, ihre Arme begannen zu zucken, ich konnte von der
Seite her das Beben ihrer langen, schmalen Beine fühlen. Ihre
Muskeln spannten sich; mit ungeheurer Anstrengung arbeitete es
sich in ihr einem Höhepunkt entgegen, einem Gipfel der
Bewegung, der die völlige Erfüllung sein mußte, die endgültige
Erlösung von der Starre.
Aber ich konnte nicht länger zusehen. Ich riß sie an mich,
unbekümmert um alles um uns her, und bedeckte sie mit allen
Küssen, Zärtlichkeiten und Liebesworten aus unserem Nest oben
am Berghang, mit allen erinnerten und versparten alten
Liebkosungen und mit allen neuen, die Trennung und Ferne,
Tage und Nächte der langen Jahre, Sterben und Leben mich
gelehrt hatten.
Das nächste, wovon ich wußte, war der Schrei. Es muß Erna
gewesen sein, aber ich werde nie wissen, warum sie geschrien
hat. Nichts ist mir je so durch Mark und Bein gegangen. Es war
ein Todesschrei. Ein Todesschrei, denn nichts sonst konnte so
klingen. Und er hörte nicht auf. Er war so laut, daß die Nebel der
Dämmerung zerrissen und als kalter Tau auf alles fielen; so laut,
daß ich die Schritte und Stimmen der herbeilaufenden Leute nicht
hörte, ehe sie mich umzingelt hatten. Dann schwieg Erna. Schlaff
hing sie in meinen Armen, mit verzerrtem Gesicht, furchtbar
entstellt, als hätte ein Unmensch unter der Erde sie jahrelang
gequält. Sie war lebloser als je zuvor.
Dafür aber belebte es sich von allen Seiten. Polizisten
machten sich an mich heran, neugierige alte Weiber, Bauern mit
Stangen und Mistgabeln, ein paar junge Kerle, die blöde und
furchtsam grinsten und sich auf die Hacken traten. Einen
Augenblick lang war ich wie zu Stein erstarrt.
Ein furchtbarer Schlag, der sich anfühlte, als müsse mir der
eine Arm abfallen, erweckte mich zum Leben. Ich dachte nicht
nach. Meine militärische Ausbildung kam mir zum ersten Mal
zustatten. Das Gewicht meines Spatens war lebendige Wucht;
mochte die eine Hand auch ertaubt und erstorben sein, der Spaten
trug sie. Schädel um Schädel spaltete er. Es war, als hätte ich
tausend Arme bekommen. Blut floß. Die Zurückweichenden
fielen über die Ausgegrabenen oder wurden von den Querstollen
verschlungen; die Hartnäckigen, die sich nicht gleich zur Flucht
wandten, wurden von den Schwerverletzten an den Füßen
gepackt und umgerissen. Da und dort im aufgegrabenen Erdreich
winselte es um Gnade, aber der Spaten schlug weiter, bis sie alle
tot waren.
Dann legte ich mich müde neben Erna und versprach ihr,
geduldiger zu sein, nicht mehr so heftig. Sie ließ es sich gefallen,
ohne sich zu bewegen. Die Niedergeschlagenen rundum
bedeckten die Ausgegrabenen, so daß man nichts mehr von ihnen
sah, und zerfielen vor meinen Augen zu Erde, zu trübem Wasser
und Staub. Es konnte im ganzen Ort keiner mehr übrig sein, so
still war es. Der Wind kam und brachte Unkrautsamen, die
schnell in Halm schossen. Langsam begann sich auch die
Vertiefung, die Erna und mich barg, mit Staub und Erde zu
füllen. Ganz behaglich war das, wie unser Nest im Gebirge, oder
wie als Kind das Geborgensein im Sand am Ufer des Meeres.
Die Ausgrabung trägt einen Bleistiftvermerk ›Nicht
autobiographisch, aber viele wahre Mikro-Beobachtungen‹.
Mikro-Beobachtungen nennt der Verfasser die kleinen und
kleinsten Beobachtungen, besonders aus der Kinderzeit, die er als
Rohmaterial des Schreibens betrachtet.
Auch hier sind Liebe und Tod benachbart, und der Held wird
schließlich bei dem Versuch, die Macht des Todes zu besiegen,
selbst ein Herbeiführer des Todes, wie der neuseeländische
Kulturheros Maui, über den der Verfasser in seiner Soldatenzeit
einiges gelesen hat.
Außer diesem Vertauschungsmoment findet sich hier auch
wieder die Umschreibung. Die Mädchengestalt Erna nannte er
ursprünglich Agleh, doch ist dieser Name im Manuskript bis auf
zwei offenbar übersehene Stellen durchgestrichen und durch Erna
ersetzt. Agleh ist natürlich ein Anagramm für Helga. Das wäre
eine zweite, noch kompliziertere Vertauschung und
Umschreibung gewesen, denn Erna ist ja kein Mensch von der
›anderen Seite‹. Der Soldat sprach selten von
Nationalsozialismus, Hitler usw., sondern sagte meistens ›die
andere Seite‹. Tatsächlich war Erna der Name eines
Emigrantenmädchens, das im ersten Kriegsjahr in New York
starb, gerade als er im Begriff stand, sich in sie zu verlieben.
Die Ausgrabung ist in vieler Hinsicht eine typische
Emigrantengeschichte. Das Wahnsinnselement dürfte aber mehr
den Störungserscheinungen entsprechen, die der Soldat bei
Mitpatienten beobachten konnte. Sein eigener Zusammenbruch
war nicht mit geistigen Störungserscheinungen verbunden, nur
sehnte er sich, wie er mir erzählte, damals häufig nach Wahnsinn
oder nach dem Tod.
Ansonsten finden sich deutliche Anklänge an die Begegnung
mit Helga, z. B. Haß gegen die störende Umgebung, und die
Umkehrung einer Hinrichtungsszene.
Die Entdeckung des steinernen Arms durch einen
Gartenarbeiter auf dem ehemaligen Friedhof war ein
Kindheitserlebnis des Soldaten.
HEIMKEHR
Die Kugel ist also vorne zum Fenster hereingefahren und
durch die dünne Seitenwand wieder hinaus. Wenigstens muß man
das annehmen, denn die Scheibe ist rettungslos durchlöchert; das
typische Einschußloch. Und auch in der Wand ein Loch.
Seitenwände von solchen Dachstübchen sind oft dünn, so daß
man durchhören kann. Nun kann man auch durchsehen. Ein
Kugelloch. Also ist todsicher ein Schuß gefallen. Gefallen am …
Aber das Datum tut nichts zur Sache, und außerdem ist er immer
ein wenig peinlich, der Versuch, am Zeitlichen das Ausfallen aus
der Zeit zu bestimmen. Drum lieber einfach: der Schuß ist vor
der Zeit gefallen, die seither verstrichen ist und weiter verstreicht.
Und da kann man nur sagen: vor der Zeit gefallen, im Zimmer
gefallen, im Oberstübchen, im Elternhaus.
Man muß also eigentlich wieder aufstehen und die Tränen
trocknen, denn dazu ist man doch schon zu groß. Also versuchen:
wieder aufstehen! Gefallen und wieder auferstanden im Hause
meines Vaters. Gefallen und auferstanden im Elternhaus, wo die
Wunder geschehen.
Es geht aber nicht. Nein, es geht nicht. Also wäre es vielleicht
besser, sich das Elternhaus überhaupt aus dem Kopf zu schlagen.
Nur ist das nicht so leicht, denn dieser Schuß, das war kein
Schlag aus dem Kopf heraus, sondern eher in den Kopf hinein.
Ein betäubender Schlag, besonders das eine Ohr, ganz taub …
und dabei doch wieder ein Schwirren und Gurren und Rucken
wie in einem Taubenschlag:
Ruckucku Kröpfchen - Blut ist im Köpfchen!
Blut ist im Schuck - Ruckuckuckuck!
Das war aber doch das alte Aschenbrödellied, als man ein
Kind war, und wenn man es auch jetzt vielleicht nicht mehr
genau im Kopf hat, wo eigentlich der Schuh drückt, so ist es doch
schwer, sich das Elternhaus aus dem Kopf zu schlagen.
Oder ist das Lied eigentlich umgekehrt, und müßte man sich
also den Kopf aus dem Elternhaus schlagen. Aber da schlägt man
sich blutig. Mit dem Kopf durch die Wand, das geht nicht, und
im Elternhaus schon gar nicht. Und zum Fenster hinausstecken,
das geht erst recht nicht, denn das Fenster gibt es nicht mehr. Das
ist zerschossen. Also gar nicht? Freilich, wer den Kopf erst gar
nicht zum Elternhaus hinaussteckt, sondern einsteckt … wer alles
einsteckt … dem kann keiner eins draufgeben. Aber einmal
gehen sie doch alle hinaus? Ausgang! So geht es aus. Das also ist
der Ausgang? Der Eingang vorn durch die Fensterscheibe und
der Ausgang seitwärts durch die Wand. Verflucht sei der Eingang
und der Ausgang! So also ist das, wenn man eingeht? Man geht
einfach aus … Warum sie vom Eingehen sprechen, wenn sie
doch den Ausgang meinen, den letzten, den schwerverletzten?
Also es hat einem einer eins draufgegeben, eins aufs Dach. Und
was nun? Schwerverletzt? Aufgegeben? Oder nur mehr ein
Geist? Und nun auch noch den Geist aufgeben? Oder ist nur
etwas im Oberstübchen durcheinander, von dem Schlag aufs
Dach? Nun ja: zum Fenster herein und zur Seitenwand hinaus,
zur dünnen, wo man alles hören konnte. Hinter der Wand sind sie
sicher erschrocken und unter die Decke gekrochen, Deckung
suchen. Da kann einem auch wirklich Hören und Sehen vergehn,
von so einem Schuß! Schade eigentlich, jetzt könnte man durch
das Loch in der Wand zusehen, nicht nur zuhören! So hat das Ohr
eigentlich ein Auge bekommen. Guter Gedanke, man ist eben ein
offener Kopf. Und man weiß Bescheid, was vorgeht. Man kennt
sich aus in dem Haus wie in seinem eigenen Kopf. Nein, das
steht schon wieder auf dem Kopf! Denn in seinem eigenen Kopf
kennt man sich nicht aus, der ist von der Schädelwand
verschlossen; außer wenn er offen ist. Ein sonderbares Wort, das:
ein offener Kopf. Es ist also besser, es auf den Kopf zu stellen
und zu sagen, man kennt sich in seinem Kopf aus wie in seinem
Elternhaus. Denn es muß das Elternhaus sein. Zuletzt ist es doch
immer das Elternhaus?! Im Hause meines Vaters sind viele
Wohnungen, und im Oberstübchen bin ich gefallen. Ein
tragischer Fall! Eine Tragödie! Und sie werden alle tun, als wär
ich der Held, die Hauptperson, oder gar der, von dem das Stück
ist. Als wär's ein Stück von mir … »Als wär's ein Stück von mir
…«
Ein Stück von der Seitenwand, wo ich immer mein Ohr dran
hatte, und vorne zum Fenster herein. Und im ganzen
Oberstübchen steht alles kopf und ist durcheinandergeworfen, ein
wahrer Stall! Eine Riesenarbeit, da wieder Ordnung
hineinzubringen; da schwitzt man Blut dabei! Eine
Herkulesarbeit, diesen Augiasstall auszumisten. Da muß man es
eben fließen lassen, hereinbrechen durch die zerschmetterte
Mauer - und ausströmen, immer mehr, den ganzen Augiasstall,
sonst weiß man nicht ein noch aus, sonst verliert man völlig den
Kopf. Aber so wird es leichter. Man hat eben einen offenen
Kopf! Und doch sperrt man Aug und Ohr auf, wie das saust und
braust und verströmt. Und das Gebrüll! Das ist der Stier. Und
man sperrt die Augen auf und stiert. Zum Augias herein und zum
Tore hinaus, Feinsliebchen, das schaute zum Fenster heraus! …
Nein, das sind schon wieder die Drei Reiter. Ich hab eben kein
Ohr dafür. Zum einen Ohr hinein und zum anderen heraus, hat
der Vater immer gesagt, und was ich singe, das ist
ohrenzerreißend. Was ich aber singe, das hab ich nicht gemeint.
Denn mein Feinsliebchen, das schaut zu keinem Fenster mehr
heraus. Gehör hab ich nie gehabt und auch nie gefunden; um was
ich gebeten hab, das ist zum andern Ohr hinaus! Ich wollte ihr
Retter sein, ich wollte ihr Reiter sein mit der Gnadenbotschaft,
aber da krächzten die Raben, und ich bin gefallen. Da bin ich
jetzt ein ganz anderer Reiter:
Wenn er fällt, so schreit er.
Fällt er in den Graben,
Fressen ihn die Raben.
Fällt der Kropf vom Rumpf …
Nein! Das ist falsch. Falsch gesungen. Es ist ja nicht der
Reiter. Ich bin ja der, der gefallen ist! Ich!!! Im Graben, im Gras!
Im Sumpf, wo der ganze Augiasstall geronnen kommt. Hilfe!
Sonst fressen mich ja die Raben, sonst muß ich ja ster…
Nein. Das stimmt nicht. Das könnte man gar nicht wissen, ob
man – – – Das ist nur eine von diesen Dummheiten, die einem so
in den Kopf kommen. Das weiß man doch gar nicht. Erstens
kommt die Kugel viel zu schnell, daß man sie weder hört noch
sieht. Und nachher erst recht nicht, denn dann ist einem schon
Hören und Sehen vergangen! Und überhaupt kann man doch nur
aus den Augen schauen, also hinaus, und nicht hinein! Wie bei
einem Fenster, wenn es draußen Tag ist und drinnen dunkel …
Freilich beim Eingehen, da geht man - heißt es - in sich. Aber
wenn man die Augen einwärts dreht, verdreht man sie auch
wirklich nach der richtigen Richtung? Und außerdem ist es ganz
ungewohnt, als sollte auf einmal die Fensterscheibe selber
anfangen sich umzusehen, und als käme es nicht mehr drauf an,
blank zu sein und ohne Sprung und Einschußloch, als käme es
nicht mehr auf das Aussehen an, sondern auf das Einsehen! Und
die Seitenwand, die müßte selbst das Ohr sein und nicht hören,
was nebenan auf dem Bett los ist, sondern was los ist im eigenen
Oberstübchen. Also eine Wand, die sich gegen sich selbst
wendet; und eine Scheibe, die auf sich selber zielt! Das ist ja
Unsinn! Das wäre ja zum Totlachen, kugeln könnte man sich vor
Lachen, zum Schießen ist das! Eine Fensterscheibe, die in sich
selbst ein Loch macht. Ein Loch, das sich selbst schießt. Ein
Einschuß, aus dem das Selbst herausschießt! Denn die Flut
schießt heraus, der ganze Augiasstall aus dem Loch in der
Seitenwand, Hals über Kopf, bis über die Ohren, und in Strömen
aus dem Fenster, aus diesem runden Fenster, so einem richtigen
Bullauge oder Windauge, wie es zu einem Oberstübchen gehört,
und immer mehr aus dem Auge, aus dem Sinn! Denn der Strom
ist wie von Sinnen.
Aber Wand und Fenster gehören zum Oberstübchen, und das
Oberstübchen gehört zum Haus, und das Haus gehört dem Vater
und der Mutter. Ein kleines Haus. Klein, aber mein! Und das bin
eigentlich ich. Ich bin klein, aber mein. Was? Das Kind oder das
Haus? Das muß man berechnen: sind zwei Größen einer dritten
gleich, so sind sie auch unterein … »Du wirst gleich ganz klein
sein!« Klein? aber nein! Nein! »Hilfe, ich bin verloren!« -
»Verloren? Wem gehörst du, Kleiner?« - »Vater und Mutter.« -
»Und was ist los?« - »Ich bin gefallen, und jetzt bin ich
verloren.« - »Und was willst du?« - »Ich will nach Hause. Im
Hause meines Vaters …« - »Kannst du von hier aus das Haus
sehen?« - »Nein, das kann ich nicht.« Wozu sollte ich es auch
sehen? Wahrscheinlich nur, weil man denkt, zuletzt sieht man
immer das Elternhaus. Sonst wäre es etwas ganz anderes.
Vielleicht Indianer oder Kannibalen oder Kühe auf der Alm im
Gebirge oder Frösche und Kaulquappen im Kleinkinderteich …
Vielleicht bin ich auch schon zu klein für einen Mann und kann
es einfach nicht mehr sehen. Es müssen ja ganze Seen sein, der
ganze Augiasstall von Blut, da hab ich doch nicht mehr Blut
genug für einen Mann. Darum seh ich auch nicht mehr das ganze
Haus, sondern nur das Oberstübchen. Die Kinderstube, die liegt
einem eben im Blut. Da kommt sie jetzt auch mit dem Blut
heraus, denn das verströmt alles, wenn man in seinem Blut liegt.
Das ist so eine Art Ausleeren: alle guten Lehren gehn zum
anderen Ohr hinaus!
Wenn aber schon mehr von mir draußen ist als drinnen, so
muß ich doch außer mir sein. Aus dem Häuschen muß ich sein,
weil ich eins aufs Dach bekommen hab und nun im Oberstübchen
nicht mehr viel drinnen ist … ich bin also außer mir, und ich will
in mich hinein. Da muß ich das Blut wieder trinken. Ganz
einfach: ein Ruck, und ich lieg mit dem Mund im Blut. Hoppa,
hoppa! Brr! Chrr! Rrch!
Da muß man aber achtgeben, daß man sich nicht verschluckt.
Sonst ist man zu tief in sich drinnen. Nicht im Oberstübchen,
sondern im Keller, in den tieferen Regionen. In meiner
Seitenwand ein Leck, da hab ich Blut geleckt. Mahlzeit! Leckere
Mahlzeit! Denn ich will nicht den Geist aufgeben; ich will den
Geist beherrschen! Da gibt's nur eine Medizin: Blut. Und ich bin
mein eigener Medizinmann. Im Trommelfell ein Leck - das war
ein schwerer Schlag. Aber jetzt müssen wir die Geister
beherrschen und die Trommeln schlagen! bum-Bumm bum-
Bumm bum-Bumm-bum! - Ich hab mein Blut getrunken! Ich hab
Macht über mich! Ich gebe den Geist nicht auf, er ist uns
untergeben! Wir schlagen das große Trommelfell, das hört der
Geist im Wald! Wir schreiten ums große Trommelfell, da schreit
der Geist im Wald! Wenn er fällt, so schreit er, der Held. Schreit:
Medizin! Der Medizinmann hält meinen Geist. Ich bin nicht
aufgegeben! Nur die Trommel schlagen, daß sie mich finden im
Graben! »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!« Die
Trommel schlagen, und die Zähne zusammenbeißen. 1-2-3-4-5-
6-7-8-9-Zähne zusammenbeißen. Weiterzählen, wie bei der
Narkose, nicht untertauchen! Ich bin meines Geistes mächtig, ich
bin noch nicht ausgezählt; ich zähl noch mit! Ich kann noch
zählen. Ich kann Blut trinken und die Zähne zusammenbeißen,
ins Trommelfell beißen und die Zähne zusammenschlagen und
den Grasschurz tragen. Den Grasschurz, daß keiner mich sieht,
den Schutz vor dem Schuß. Das Trommelfell schlagen zum
Schutz, und ins Gras hineinbeißen. Niederwerfen, Trommelfeuer!
Fallen und ins Gras hineinbeißen. Ins Gras beißen … ins Gras
beißen …
Ins Gras beißen wie das Vieh. Mut! Du! »Muuuuuht!« In die
Blumen beißen, und der Mund ist voll Bluuu! »Uuuuuu!
Ouuuu!« Langsam ins Gras beißen, und wenn es hochkommt,
hinunterschlucken. Die Wiese ist rot, und das Bluuu ist grün, und
die Sonne ist gar nicht, denn da fallen einem die Augen zu.
»Zuuuuu!« Da kommt es mir wieder hoch, das Gras; und wenn es
hochkommt, hinunterschlucken. Immerzu, auf und zu. Und die
Mücken und Bremsen summen und schießen um Hörner und
Ohren. Alle Mücken, die stechen ja nicht, aber eine kommt
geflogen. Klatsch! Klatsch! Der Augiasstall! Muuuuut! Ich will
Ruh, »Ruuuuuuh!«
Also lieg ich da und saufe Blut wie die Kannibalen, und muß
doch ins Gras beißen wie ein Stück Vieh! Und das Lebensblut
kommt mir hoch, und wenn es hochkommt, so sind es siebenzig
Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so war es Arbeit und
Mühe. Und ein Mensch muß das alles hinunterschlucken, und
auch die Blumen, nur nicht … »Achtung!« Ja: Achtung vor den
Herbstzeitlosen. Die sind giftig, daß man ins Zeitlose kommt.
Dann bist du die Zeit los. Achtung! Achtung, fertig, zeitlos! Los!
Hoppa!
Hoppa, hoppa! Jetzt bin ich gefallen. Aber ich bin doch zuvor
schon gefallen. Gefallen im Graben, fressen die Raben, Fällt er in
den Sumpf, macht der Reiter … Was macht er? Macht über die
Geister? Plumpe Geister! Gefallen im Feld, was macht da die
Welt? Beißt er, so beißt er! Beißt er ins Grabengras, Graben im
Feld. »Fällt er in dem Feld, wälzt sich aus der Welt.« Ich bin nur
in den Graben gefallen, in den Graben. Und aus der Welt kann
man nicht fallen; das hat Grabbe gesagt, nur in den Graben!
»Plumpf!«
Vor dem Einschlafen bin ich immer so gefallen, weich,
weich. Das hat mir ganz gut gefallen hat mir das. Ich gedenke
einen langen Schlaf zu tun gedenke ich. Das hat aber nicht der
Graben gesagt. Das Gras schillert mir vor den Augen. Verlangen
langen Schlaf verlangen. Schlaf ist der Bruder des Schlafes. Das
ist todsicher ist das. Schlaf ist der Bruder des Schlafes. Denn
zuletzt ist jeder sein eigener Bruder, wenn keiner mehr keinem …
Ich schlafe in einer roten Lache. Wie ein Wickelkind in einer
Lache … Das ist zum Schlaflachen! Zum Schlafwachen ist das,
auch wenn du den Kopf schüttelst, Herzbruder des Schlafes!
Hoppa in den Sumpf, macht der Reiter Plumpf!
»Umpf, umpf, umpf! Mooor-ast! Weg, weg, weg, weg!« Eine
Fliege in meinem Maul; und wenn es hochkommt,
hinunterschlucken! Die lockt das Blut an. Nur kaltes Blut! Kaltes
Blut, hier im Sumpf. Platsch, platsch, keck, keck, keck, keck!
Was kriecht denn da? »Na, du kleiner Frosch, was willst du denn
hier im Graben?« - »Auf Armen und Beinen kriechen.« - »Auf
dem Bauche sollst du kriechen!« - »Aber, Vater …!« - »Was
quakst du da? Staub sollst du fressen! Und zu Staub sollst du
wieder …« Nein, nein! Ausweichen. Tiefer hinab ausweichen!
Weicher der rote Schlamm. Ganz aufgeweicht. Auf? Auf Händen
und Füßen? Den Kopf in die Hände. Auf die Hände. Kopf auf die
Hände fallen … Nein, nicht auffallen! Sonst fall ich ihm wieder
in die Hände!
»Auf!« Auf? Wo bin ich? Das kann es doch noch nicht sein?
Ich hab doch noch gar nichts vom Leben gehabt, ich hab noch
nicht alles gesehen! Wo ist die Mutter, die Mutter, wo bist du?
Oder ist sie nur dort das schwarze Loch, das alles frißt? Die letzte
Frist, die schwerverletzte? Und schwarz, weil sie Trauer trägt?
Trauer um … um … um? Nein, um alles in der Welt nicht! Ich
will nicht, laß mir Zeit zur letzten Frist! Noch Zeit, noch Zeit!
Verzeih - Vater, verzeih! Ich habe geglaubt, der Tod ist der
Vater, aber nun seh ich, der Tod ist die Mutter. Die Mutter steht
auf dem Kopf, ein schwarzes Loch nur! Die Mutter steht auf dem
Kopf, ein schwarzes Loch nur! Die Mutter steht auf dem Kopf
und verkehrt sich zum Tod. Dreht um! Dreht um, die Mutter!
»Mutter! - Rettum!« Rettum … Rett um des Vaters willen! Ein
wildes Tier bin ich gewesen im Feld. Blut hab ich getrunken, und
mein Trommelfell hat ein schwarzes Muttermal im Urwald.
Losmachen wollte ich mich und mein Los verschlingen und mich
im Zeitlosen wiederkäuen. Vergib mir! Auf dem Bauche bin ich
gekrochen als ein Frosch im Auge der Schlange, welche den
Baum des Lebens bewacht. Vor der Erkenntnis wollte ich fliehn,
aus dem Oberstübchen ins Erdgeschoß; Schoß der Mutter, ich
hab sie geehrt! Vater, die Mutter ist schwarz, und ich habe
geglaubt, Todvater, du seist der Tod! Vater, vergib mir, denn sie
wissen nicht, was ihre Hände … Vater, in deine Hände, in deine!
Gib du mir Mut! Mut, Vater, Mutt. MMMM … mmmm …
Heimkehr ist in jener Assoziationstechnik geschrieben, der
sich der Verfasser in Augenblicken großer innerer Spannung
öfters überläßt, z. B. in seinen beiden Bleistiftmanuskripten über
die Nacht und über die Hinrichtung. Der Einfluß der englischen
Literatur ist dabei unverkennbar.
Wie in der ursprünglichen Fassung der vorigen Geschichte
der Mädchenname Agleh, findet sich auch hier ein Anagramm,
das Wort Rettum, das nicht nur eine Zusammenziehung aus rette
um ist, sondern auch eine Umkehrung von Mutter. Die
umgekehrte Mutter ist eine Todmutter, deren Schoß ein alles
verschlingender Grabtrichter wird, eine deutliche
Querverbindung zur Ausgrabung.
Der Gedanke an den Rückweg in die Kindheit, ins Altertum,
zu den Wilden, in die Tierwelt, in den Sumpf und in den Schoß
der Erde hat den Soldaten zu jener Zeit als ein Gemisch aus
Sehnsucht und Angst oft beschäftigt. Die Spekulation, wie wohl
der letzte Augenblick sei, wenn man eine Kugel durch den Kopf
bekommen habe, hat ihn gleichfalls beschäftigt. Er will aber
ähnliche Gedanken auch von mehreren anderen Soldaten gehört
haben. Im Krieg waren derlei Grübeleien weit verbreitet.
Die deutlichste Anspielung auf Helga ist die Stelle von dem
mit der Gnadenbotschaft gestürzten Reiter, der der Retter seiner
Geliebten sein sollte. Sie knüpft unverkennbar an Clemens
Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen
Annerl‹ an, in welcher der Verführer des Mädchens durch einen
Sturz vom Pferd ihre Hinrichtung nicht mehr verhindern kann
und deshalb Selbstmord begeht. So dürfte Heimkehr auch
Selbstvorwürfe und Selbstmordgedanken enthalten.
DER WEG DURCH DEN KOPF
Tief im Schoß der Erde hockt das Steinkind. Sein ganzer Leib
liegt im Dunkeln, und der schwere Lehm lahmt ihm Arme und
Beine. Nur der übergroße Kopf ragt hoch über die bitteren Gräser
und toten Bäume, kahl und verwittert, das Gesicht gegen den
Abgrund und das lange Tal. An seine Ohren haben die Menschen
Leitern gelegt.
Dann und wann kommen sie in Prozession. Sie klettern
hinauf, einer nach dem andern, und kauern eine Weile in der
grauen Ohrmuschel, die den Schall von fernher sammelt, so daß
man das Meer rauschen hört. Oben angekommen, knüpfen sie
sich mit ihrem langen Haar aneinander, entzünden an dem
mitgebrachten Feuer die Fackeln und machen sich auf den Weg
ins finstere Innere des Kopfes.
Dann hallen die feuchten Gänge und engen Stollen von ihren
Litaneien. Die ersten stimmen sie beim Eintreten in das schwarze
Loch an:
Wir haben Dein Ohr gefunden,
Um Dir zu gehorchen.
Du hast uns Dein Ohr geliehen,
Dein Ohr steht uns offen!
Du hörst und erhörst uns
Auf den Pfaden Deiner Gedanken.
Sie irren mit ihren Fackeln im Inneren des Kopfes hin und her
und bezeichnen die verzweigten Gänge mit Rußmalen, als
wollten sie sich das Finden des Rückwegs erleichtern. Von Zeit
zu Zeit bleiben sie stehen und beten:
Dunkel sind Deine Gänge,
Und finster die Wege in Dir,
Und schwer zu erforschen
Sind die Bahnen Deiner Gedanken.
Doch ob wir auch straucheln in Nacht,
Wir wandeln in Deinem Haupte:
Du trägst uns geborgen in Dir,
Wo Deine Gedanken wohnen;
Denn eingegangen
Sind wir heut in Dein Ohr.
So kommen sie in eine der beiden großen Höhlungen, die sich
im Inneren der Augäpfel befinden. Sie suchen alte Zeichen an
den Wänden, küssen sie und stellen sich so auf, daß sie im
Inneren des hohlen Augapfels in die gleiche Richtung blicken
wie draußen die flechtenbewachsenen Steinaugen. Nur die
vordere Wand des hohlen Auges trennt sie von der Aussicht auf
den Abgrund und auf das lange Tal. Wenn der letzte die Zeichen
an der kalten Wand geküßt und sich nach der überlieferten
Ordnung aufgestellt hat, verlöschen sie ihre Fackeln und beten im
Dunkeln:
Wer denn vermöchte zu schauen
Aus Deinen Augen?
Der allein, dessen Blick
Die Felsen der Finsternis aufbricht.
Wir aber stehen in Nacht.
Wir sehen nicht klarer
Die Hand vor unseren Augen
Als das Herz in unserer Brust.
Ob wir aber auch blind sind,
Wir stehen in Deinem Auge!
Von uns ist nichts außer dir:
Nicht unsre kleinste Bewegung.
Nicht nur unser Bild,
Nein, uns selber enthält Dein Auge!
Knochen und Haut und Haar,
Unsre Tränen und Stimmen und Kleider.
Dann tappen sie im Dunkel mit ihren Fackeln, wie Blinde mit
Stöcken, und steigen und fallen gewundene Wege hinab in den
offenen Mund, durch den ihnen Tageslicht entgegenströmt.
Beim Anblick des Lichtes werfen sie ihre Fackeln weg:
Heil uns, denn wir sind in Deinem Munde,
Und nicht im Rachen unserer Feinde!
Dein Mund trinkt Licht,
Und wir sind getränkt und erleuchtet.
Ein Laut sind wir gewesen
In Deiner Kehle,
Und ein Lied sind wir geworden
Auf Deiner Zunge;
Sieh nieder auf uns,
Die wir fallen von Deinen Lippen!
Mit diesen Worten gehen sie, einer hinter dem anderen, über
die zerklüftete Zunge auf die Zähne zu und folgen einem alten
Weg, zwischen zwei Zähnen durch, auf den vorspringenden
Wulst der Steinlippe. Sie zücken ihre Messer und zerschneiden
die Haarknoten, mit denen sie sich aneinander geknüpft haben.
Sie stechen aufeinander ein, bis der graue Lippenstein sich rot
färbt. Die Gefallenen werden mit Fußtritten in die Tiefe gestoßen.
Dann halten die Überlebenden Rast. Sie waschen einander die
Wunden mit Regenwasser, das sich in den Vertiefungen des
großen Mundes gesammelt hat, und sie verbinden einander mit
Fetzen, die sie aus ihren Kleidern reißen. Dann springen sie vom
Rand der Lippe wortlos den anderen nach.
Der Weg durch den Kopf entstand unmittelbar nach der
Beendigung der Heimkehr.
Auch Heimkehr war ja ein Weg durch den Kopf, der Weg
einer Kugel durch den Kopf, und die Heimkehr war eine
Heimkehr in den Tod auf dem Weg über die Kindheit. Hier aber
zieht eine ganze Prozession in den Tod. Die Kritik dieser
Schilderung an irregeführtem Kollektivgeist und falschen Riten
tritt deutlich zutage. In einem Brief schreibt der Soldat dazu:
›Eigentlich kommt es aber gar nicht darauf an, die politischen
Sitten und Gebräuche zu verspotten, denn sie sind doch unter
aller Kritik, weil den Menschen jedes Gleichgewicht zwischen
Vernunft und echter Mystik fehlt. Aber als ich diese Geschichte
geschrieben habe, da hab ich das noch nicht gewußt.
Merkwürdig finde ich das Wort Steinkind im ersten Satz der
Geschichte. Durch dieses Wort wird der gespenstige Steingott als
eine gar nicht geborene, sondern im Mutterleib abgestorbene und
verhärtete Frucht (Lithopaedion) bezeichnet. Die Mutter Erde
wird dadurch wieder, wie in der vorigen Geschichte, zur
Todmutter. Überhaupt findet sich trotz aller Formverschiedenheit
der einzelnen Arbeiten bei näherer Betrachtung eine Vielfalt von
inneren Querverbindungen. Ob dieses ungeboren abgestorbene
Kind mit dem Argument des Soldaten am Morgen der Exekution
zusammenhängt, man dürfe Helga nicht hinrichten, weil sie ein
Kind erwarte, konnte ich nicht feststellen. Für diese Annahme
spricht, daß der Soldat hier an das Manuskript ein Gedicht
angeheftet hat, Die Kinderlosen.
DIE KINDERLOSEN
Blas, kalter Wind:
Mein Auge hat ein Kind.
Wein wächst im Land,
Das Kind hab ich gekannt.
Lacrimae-Christi-Wein,
Der hält das Kindlein klein,
Sonst läuft es uns davon
Mit seiner salzenen Kron'.
Die Fischlein in dem Bach,
Die laufen alle nach.
Der Bach wird dann wie Augen trüb,
Schenk ein, mein Lieb! Trink Wein, mein Lieb,
Daß uns das Kind nicht find't! -
Wein, kalter Wind.
DER DRACHE
Der Ritter nimmt Abschied von den Seinen und reitet in den
Wald. Bis zum Kreuz bei den ersten Bäumen geben ihm noch die
beiden Frauen das Geleit. Seine Mutter segnet ihn und hängt ihm
ein Reliquienamulett um den Hals, das Mädchen weint und hält
sich nur mühsam aufrecht. Ehrfürchtig küßt der Ritter der Mutter
die Hand, der Braut den Saum des Schleiers; und während er
klirrend zu Pferde steigt und das Mädchen und die Matrone vor
dem Kreuz niederknien, bricht aus geballten Wolken die Sonne
hervor, läßt seinen Panzer aufblitzen, sprenkelt den Waldboden
mit wehendem Licht- und Schattenspiel, und des Ritters Weg ins
Abenteuer ist noch viele Herzschläge lang am Schillern der
Rüstung zwischen den bemoosten Baumstämmen zu erkennen.
Das Kind beugt sich vor und vergißt über dem Horchen das
Atemholen. Es hat Angst. Es hat unerlaubte, gottlose Angst um
den herrlichen Drachen, dessen Schicksal nun so gut wie
besiegelt ist; denn unmöglich kann er gegen die Gebete der
Frommen, gegen das Reliquienamulett, gegen das gute Schwert
und den hohen Sinn des Ritters, gegen das erprobte Streitroß, mit
einem Wort gegen die ganze Verschwörung des Irdischen mit
dem Überirdischen aufkommen. Was fruchten da noch die
Unterweltkünste, die der Drache mühsam erlernt hat, das dürftige
Gift und Speifeuer und die verzweifelten Schläge mit dem
Schwanz, dessen scheußlicher Anblick ihn vielleicht nur selbst
unsicher macht, mitten im Kampf? Was helfen ihm die
Wendungen des Kopfes auf dem langen, leichtverletzlichen
Schlangenhals und die schwerfälligen Flügelschläge, die ihn
zwischen den Waldbäumen mehr gefährden als furchtbar
machen? Und sind es nicht überhaupt nur große
Fledermausflügel, gerade gut genug zum Niedergleiten vom
Drachenfels, aber in ihrer urzeitlichen Einrichtung den
gemeinsten Sperlings- oder Entenflügeln weit unterlegen und von
Anfang an zum Aussterben verurteilt? - Das Kind kann sich
schon denken, wie die Geschichte weitergehen wird. Es seufzt.
Nur, daß das alte Märchenbuch zerlesen ist. Schon nach den
ersten Worten geht ein grausamer Riß quer über die Seite, und
der Rest der Geschichte fehlt. Das ist wahrscheinlich ein Glück
für den Drachen, denn im Märchenbuch muß sein Untergang
beschlossene Sache gewesen sein. Es ist bekannt, daß von all den
Drachen jenes Buches kein einziger das Inhaltsverzeichnis, ja
nicht einmal den Schluß seiner eigenen Geschichte erlebt. Dieser
Drache aber steht nun nicht mehr im Buch. Also kann es
kommen, wie das Schicksal will, fast als wäre ein neuer
Geschichtenerzähler da, der sich an nichts halten muß, was man
nur mit den altgewohnten Worten erzählen kann.
Kein Kindermärchen mehr, das Unvorhergesehene geschieht:
die beiden Frauen, die alte und die junge, knien noch vor dem
Wegkreuz, da ertönt in den Lüften ein fürchterliches Brausen und
Schnauben, und das Ungeheuer, das über ihnen seine Kreise
zieht, verfinstert die Sonne. Es öffnet den Rachen, triefend von
Blut und Geifer, und läßt einen zerfleischten Körper dicht neben
den Andächtigen niederfallen. Die Matrone sinkt ohnmächtig zu
Boden, das Mädchen erkennt den Bräutigam und bedeckt
verzweifelt die blutigen Reste mit Küssen.
Ja, der Bericht geht noch weiter: die Überreste des Ritters
sind offenbar vorn Drachengift besudelt worden, denn die
Unglückliche trägt von ihrer wahnwitzigen Zärtlichkeit Schwären
im Gesicht und an den Händen davon, die zeitlebens nicht heilen.
Das Kind wird zu Bett gebracht, nach dem neuen Märchen
ganz wie nach den alten. Unter den Hörern Entrüstung, aber da
und dort auch hingerissenes Gruseln, zungengerechte
Redensarten, ja, so gehe es in der Welt, es gebe keine
Gerechtigkeit. Aber die Gefühle der Hörer tun nichts zur Sache,
und der Bericht enthält sonst nichts mehr und geht nicht weiter.
Nur die vielen kleinen Fragen und Gedanken, die das
geschilderte Unglück heraufbeschworen hat, schweben noch
kurze Zeit im Nachhall des Berichtes und wollen erörtert sein.
Viele dieser Fragen und Gedanken wären sicherlich im hohen
Lied des Sieges über den Drachen zusammengefaßt und gültig
beantwortet worden. Aber der Verlust der Blätter aus dem
Märchenbuch hat den Sieg über den Drachen zunichte gemacht,
und der Sieg des Drachen über den Ritter hat eine Bresche in die
ritterliche Welt geschlagen. Sie ist nun ihrer festen Wehr beraubt
und kann keine Fragen und Gedanken zusammenfassen oder gar
beantworten. So werden die verstreuten Gedanken und die losen,
belanglosen Fragen noch einen Augenblick lang laut, dann
zerflattern sie.
Ob die Kröte die Schlange wirklich fragt, weiß keiner. Aber
unmöglich ist es nicht, denn die Schlange hat vor der Kröte keine
Angst. Aber auch die Kröte mit ihren unverdaulichen Giftwarzen
fürchtet den Hunger der Schlange nicht. Außerdem sind auf der
Lichtung zwischen Drachenhöhle und Sumpf, wo die beiden
wohnen, die Zeiten nicht schlecht. Und - wie immer in fetten
Jahren - fühlen sich die beiden einander nahe, unbeirrt von
niedrigen Trieben.
»Wie der Drache so etwas nur tun kann?!« entrüstet sich die
Kröte.
»Was denn? Was ist's denn?« zischt die Schlange. »Etwas
muß er doch schließlich essen.« Sie versucht auf die Kröte
einzugehen: »Ein Ritter? Das ist für ihn, wie wenn unsereins eine
Fliege zu sich nimmt.«
»Eine Fliege?« meint die Kröte nachdenklich und kommt
langsam und leise zitternd zu dem Ergebnis, daß sich der Größe
nach ein Ritter zu einer Fliege so ähnlich verhalte wie ein Drache
zu einer Kröte. Somit wäre eigentlich alles in Ordnung, und es
bestünde kein Grund zur Entrüstung. Dennoch fühlt sich die
Kröte von der klugen Schlange überlistet und von ihren
gleisnerischen Reden umzingelt. Sie läßt für alle Fälle ein wenig
Gift aus ihren Sivispacemdrüsen austreten und blickt versonnen
einer schillernden, metallisch gepanzerten, großen Fliege nach,
die hin und her schwirrt.
»Und überhaupt« knüpft die Schlange an ihre letzte Wendung
an, »es war wohl im Grunde eine Erlösung für den Ritter.« Und
als die Kröte erstaunt das Maul aufsperrt, erklärt sich die
Schlange bereit, ihr ohne Umschweife ihre Meinung über den
Vorfall klarzumachen. Der Ritter sei von dem Drachen
verschlungen worden, und das sei auch ganz in Ordnung, weil
das Leben nun eben manchmal verschlungene Wege gehe,
»richtige Zickzackwege«, meint sie mit einem Blick auf ihre
Windungen und auf die Zeichnung ihrer Schuppen.
Die Erkenntnis, mit der die Schlange vor der Kröte prunkt,
stützt sich hauptsächlich auf die Jungfrau, worunter die Schlange
aber nicht etwa die Braut des Ritters versteht, sondern die
Königstochter, die in der Höhle des Drachen auf Erlösung harrt.
Die Schlange glaubt beobachtet zu haben, daß die
Schwerthand des Ritters erst beim Anblick jener Schönen
unsicher geworden sei. Wohl wissend, mit welcher Schnelligkeit
die Liebe das Herz eines wehrhaften Mannes durchbohren kann,
namentlich in Augenblicken gefahrvollen Kampfes, schlingt die
Schlange den Knoten, der Kreis schließt sich ihr, und sie erklärt
unumwunden, des Ritters Seele sei im entscheidenden
Augenblick zum Zankapfel zwischen seiner Braut und der
Königstochter geworden. Und dieser Apfel sei, von den heftigen
Stößen des plötzlich verwundeten Herzens wie ein Kinderball hin
und her geschleudert, schließlich im Rachen des Drachen zur
Ruhe gekommen. Der Zwiespalt zwischen der angelobten Pflicht
und dem plötzlich winkenden holden Siegespreis, das sei es
gewesen, zischt die Schlange der Kröte zu, was des Ritters
Schwert schwankend gemacht habe, wie einen Magnetstein aus
Cathai, der zwischen den Polen zittert, bis die Klinge schließlich
in das aufgesperrte Drachenmaul gewiesen habe, leise bebend,
schon nicht mehr Waffe, nur Wegweiser in des Ritters eigenes
Geschick. Abgelenkt von ihrem Beruf sei diese Klinge gewesen,
erklärte die Schlange, und auch in verhängnisvoller Wollust
angezogen von dem Ungeheuer, wie das Erz vom Magnetberg,
wie die Nägel und ehernen Platten des Schiffes, das dort in
raschem Scheitern den Ausweg aus endloser Irrfahrt finde. Und
so habe die zögernde Hand des Ritters recht behalten, so habe die
wankelmütige Klinge das wahre Geschick gezeigt, denn der
Drache sei dem jählings Ungeschickten wirklich zum Geschick
geworden. Die Kröte aber klappt ihr Maul wieder zu, verschluckt
die Fliege und meint: »Ja, wenn man es so betrachtet, war es für
ihn vielleicht wirklich eine Erlösung.«
»Wie war sie denn?« erkundigt sich die Schlange mit träger
Anteilnahme.
»Was meinst du?«
»Die Fliege natürlich.«
»Welche Fliege?«
Die Schlange muß die Kröte erinnern, daß vor wenigen
Augenblicken eine grüne Fliege mit metallisch schillerndem
Panzer angesummt gekommen sei, im blitzenden Sonnenlicht
ein-, zweimal unschlüssig zwischen dem Unrat des Drachen und
dem Blut des Ritters hin und her flitzend, bis sie sich schließlich
geradewegs ins Maul der Kröte gestürzt habe.
»Ach, ja«, besinnt sich die Kröte. »Manchmal sind sie ganz
zahm. Aber es geht nicht immer so leicht.«
»Ich glaube gar nicht, daß sie so besonders zahm war. Sie
konnte sich nur nicht schlüssig werden, von welchem der beiden
Gerichte sie zuerst kosten sollte. Das hat sie das Leben gekostet,
sie hat sich selbst gerichtet … Übrigens«, fährt die Schlange fort,
»ohne den Drachen und seine Abfälle, die alles, was da kreucht
und fleucht, anlocken, hätten wir hier ein mageres Dasein.« Und
sie huscht einer fetten Ratte nach.
Des Ritters gutes Schwert steckt bis an den Knauf im weichen
Ackerboden, unweit der Stelle, wo der Drache die Reste des
Ritters ausgespien hat. Der Drache hat das Schwert gleich zu
Anfang des Kampfes verschluckt, und es hat sich langsam durch
seine Eingeweide durchgearbeitet, Knauf voran, die Spitze immer
hintennach, dank der bewundernswerten Einrichtung der Natur,
die das Eingeweide ihrer Geschöpfe vor Schaden schützt. Zuletzt
hat der Drache das Schwert im Flug fallen lassen.
Ein Bauer findet es und trägt es zum Schmied. Der soll ihm
eine Pflugschar daraus schmieden. Der schlaue Schmied
verspricht das auch, legt aber dann eine Pflugschar aus seinem
Vorrat für den Bauern bereit und hängt das gute Schwert in einen
dunklen Winkel. Dort mag es warten, bis der neue Geselle
kommt.
Das erprobte Streitroß des Ritters hat beim Anblick des
Drachen das Weite gesucht und sich in die tiefsten Tiefen des
Waldes verirrt. Dort hat sich die Wilde Jagd seiner angenommen,
und es dient nun nachts einem neuen Herrn.
Was die verunstaltete Braut des Ritters denkt, danach fragt
keiner mehr. Sie ist zu häßlich geworden. Mittlerweile geht die
Sonne zur Rüste. Der Drache ist in seine Höhle heimgekehrt, hat
die Schnauze in den Schoß der Jungfrau gebettet und ist
eingeschlafen. Die Jungfrau sieht sich nachdenklich um. Keine
Fackel brennt, nur vom Schuppenpanzer und besonders vom
Kamm ihres schlafenden Drachen geht ein starkes Leuchten aus.
Nicht nur das goldene Reliquienamulett, das der Drache ihr heute
geschenkt hat, nein, die ganze Höhle mit ihren tausend Kristallen
blinkt und sprüht aus allen Winkeln und Ecken. Kein Stäubchen
trübt den Glanz. Der Drache selbst fegt ihr die Höhle rein,
dreimal am Tag, mit einem einzigen scharfen Schnauben seiner
Nüstern.
Eine Schuppe löst sich vom Rücken seiner Schnauze und fällt
der Jungfrau in den Schoß wie ein welkes Blatt. Sie beginnt
damit zu spielen und zählt die Jahresringe: Ihr Drache wird alt.
Seltsam, wie alles eingerichtet ist: sie selbst ist durch den
Aufenthalt im Bannkreis der Höhle vor dem Älterwerden
bewahrt. Die Zeit steht ihr still. Aber ihr Ungeheuer, das sich um
sie sorgt und müht, wird mit jedem Jahrhundert älter. Und doch
liegt es wie ein müdes Kind zu ihren Füßen und atmet ruhig, die
herrlichen Klauen weit ausgestreckt, so daß sie mit den Krallen
spielen kann. Ruhig wie ein Kind, und wie ein Kind
vertrauensvoll und schutzlos.
Die Jungfrau wird traurig. Sie liebt ihren Drachen, und sein
Sieg heute hat sie vielleicht mehr gefreut als ihn selbst. Und doch
kann sie die Gedanken an die Zukunft nicht verscheuchen. Wie,
wenn er eines Tages an Altersschwäche stürbe, und sie bliebe
allein mitten im Wald zurück? Oder er käme von einem seiner
Flüge nicht wieder, und sie erführe nichts von seinem Schicksal?
Lieber ihn sterben sehen, vor ihren Augen, rasch, im blutigen
Kampf, und dann irgendeinem siegestrunkenen Ritter oder
Königssohn folgen müssen, in die Stickluft seiner Burg, weit fort
von ihrem Wald, in das kleine Gezänk und Geschmeichel der
Kemenate, in die ungepanzerte Menschlichkeit eines winzigen
Brautbetts …
Zwar, das muß noch lange nicht geschehen. Und wenn sie
einem folgen muß, so soll er wenigstens ein großer Held sein,
und sein Ruhm soll die Länder überschwemmen wie ein
berauschendes Getränk, das Vergessen schenkt. Seltsam, denkt
die Jungfrau, mit jedem neuen Ritter, den ihr Drache noch von
ihr abhält und zerfleischt, vermehrt er zugleich auch den Ruhm
seines einstigen Überwinders. So sorgt er für sie, noch über den
eigenen Tod hinaus.
Und vielleicht weiß er das. Vielleicht ist das alles, was er
noch vom Leben hat. Er frißt nur noch wenig, die Beute speit er
aus, und er ist einsam. So weit er fliegt, nirgends mehr
seinesgleichen. Sein Weib ist vor Jahrtausenden im Sumpf
versunken: die Eier sind nicht ausgekrochen, sondern versteint …
Vielleicht ist dem alten Tier das Leben längst eine Last, und nur
ihretwegen stellt es sich wieder und wieder den frechen
Angreifern, statt einfach einzuschlafen oder sich schlafend zu
stellen, wenn sie mit ihren verzauberten Waffen und frommen
Hoffnungen kommen, statt die riesigen, schuppigen Augendeckel
über die müden Augen fallen zu lassen und ihnen gelangweilt
Gelegenheit zu ihrer ruhm- und beutegierigen Heldentat zu
geben.
Draußen rauschen die Nachtbäume. Plötzlich erschüttert ein
schwerer Traum den Leib des Drachen. Er träumt von einer
Höhle voll Eisenerz und Stangen, voll schwerer Hämmer um
einen mächtigen Amboß. Und ein übermütiger, nackter Geselle
lacht tückisch auf, reißt ein Schwert aus einem dunklen Winkel,
und mit einem einzigen Hieb spaltet er den Amboß in zwei
Stücke.
Große Tränen rollen von den Lidern des schlafenden Tieres.
Die Jungfrau erschrickt, beugt sich nieder, rüttelt an seinem
Kopf, küßt ihm die Nüstern und blickt den erwachenden
Drachen, dessen runde Augen noch sekundenlang von der
langsam kleiner werdenden Nickhaut verschleiert bleiben,
nachdenklich lächelnd an.
Der Drache trägt einen Bleistiftvermerk des Soldaten: ›Auch
dieser Spott war noch eine Methode, doch noch nicht das Gruseln
lernen zu müssen!‹
Am auffälligsten ist, wie zahlreich die alten mythischen und
religiösen, christlichen und heidnischen Elemente sind, denen der
Verfasser hier begegnet und deren er sich durch Spott zu
erwehren versucht. In einer Briefstelle zu diesem Thema heißt es:
›Schon Heine hat auf diese Weise versucht, sich seine eigene
Romantik vom Leibe zu halten, aber er hat sich damit viele seiner
besten Gedichte kaputtgemacht.‹
In dieser Geschichte ist fast alles ambivalent gesehen,
zwiespältig. Das Mädchen ist sogar in zwei Personen gespalten,
Braut und Drachenjungfrau. Zwiespältig ist die Mutter des
Ritters, sein Herz, ja sogar die öffentliche Meinung der
Hinterbliebenen und auch der tierischen Zeugen, Kröte und
Schlange.
Deutlich ist auch wieder das Umkippen, der Rollentausch. Die
Tendenz, sich mit der ›anderen Seite‹ zu identifizieren, eine mehr
psychologisch als politisch begründete Verhaltensweise, war dem
Verfasser selbst unheimlich. Ihr entspricht hier die Sympathie für
den Drachen.
Wichtig ist sicher auch, daß die einzig wirklich
mitempfundene Frauengestalt, die zeitlose Jungfrau in der
Drachenhöhle, eindeutig ›auf der anderen Seite‹ steht.
Die Mythenmotive sind vor allem germanische: das Wilde
Heer, die Drachenjungfrau und die Schwertepisoden. In dem
guten Schwert, das nicht zur Pflugschar umgeschmiedet wird,
sondern in einem dunklen Winkel auf die Ankunft des neuen
Gesellen wartet, steckt offenbar ein gut Stück
Nachkriegsenttäuschung und Unglücksprophezeiung.
Der Verfasser behauptet auch, durch die warnenden Beispiele
des schwankenden Ritters und der unschlüssigen Fliege den
Menschen vor der eigenen Zwiespältigkeit warnen zu wollen. Ich
weiß aber nicht, ob er diese Behauptung nicht nur sarkastisch
gemeint hat. Auf meine Frage nach den Gründen der
Sprunghaftigkeit dieser Geschichte schrieb er mir: ›Aus den
gleichen Gründen Stückwerk, wie deine Schilderung der
Helgageschichte: wenn man nicht innerlich mit sich selbst im
reinen ist, dann hat man nicht die Kraft, alles glatt
zusammenzufassen. Aber man tut eben, was man kann.‹
DIE DREI FRAUEN
Kampf, Kampf, seit vielen Stunden. Die beiden Heere hatten
sich längst in ihre Lager zurückgezogen und die letzte
Entscheidung den zweien überlassen, die auf der Wiese klirrend
und knirschend rangen, enger verschlungen als Liebende, Helm
an Helm, Brust an Brust, miteinander, gegeneinander. So ging die
Sonne unter, und die ersten Vögel schliefen singend ein.
Aber endlich hatte er seinen Feind überwunden und ließ ihn
für tot im grünen Gras liegen. Zu erschüttert und auch zu leer, um
zu den Seinen zurückzukehren, schritt der Sieger langsam dem
Waldrand zu. Nun, da er gesiegt hatte, war es sein Wald, so wie
die Wiese seine Wiese und der dunkelnde Abend sein Abend
war. Anders als je zuvor sah er die hohen Bäume an, und zum
ersten Mal bemerkte er, daß drüben am Steilhang ein alter Turm
stand.
Den Näherkommenden begrüßten vor der offenen Pforte die
drei Mädchen, und er war nicht ohne Scheu bei diesem Gruß. Er
mußte die Ahnung, schon einmal hier gewesen zu sein, mit
Gewalt zurückdrängen, und auch das andere Gefühl, daß die drei
auf eine geheimnisvolle Art gegen ihn verschworen seien, wies er
von sich. Was vermochten schon Frauen! So nahm der Sieger
ihre Huldigungen entgegen.
Es schickte sich so, daß die drei in den drei Gemächern des
Turmes wohnten, eine über der anderen.
In der untersten Kammer war es feucht, und die Steine des
Turmes schienen schwer auf den Balken der niedrigen Decke zu
lasten. Manchmal knarrte etwas im schwarzen Holz oder im alten
Gemäuer, und wenn man auffuhr, stieß man sich fast den Schädel
ein, denn in dieser untersten Turmkammer hätte man eigentlich
um einen Kopf kürzer sein müssen.
Dem Sieger aber verging in den Armen der leidenschaftlichen
Bewohnerin Scheu und Müdigkeit. Er fühlte sich wie ein Gigant,
der sich über einen tiefen Brunnen beugt, nasse Erde schöpft und
zugleich ißt und trinkt. Das unheimliche Knarren und Ticken
hörte er erst, als er nach dem Verebben der Leidenschaft mit ihr
zu sprechen versuchte und nur törichte und bedeutungslose
Antworten erhielt. Zweifelnd ruhte sein Blick auf ihrer etwas
niedrigen und fliehenden Stirn. Seine Begierde war gestillt, und
undankbar, wie ein Sieger in solcher Lage ist, wurde er ihres
kopflosen Geredes müde und verließ sie.
Im Zimmer der zweiten Turmbewohnerin gewann er sein
inneres Gleichgewicht wieder. Mit ihren wohlproportionierten
Zügen schien sie ihm ansprechender als die breithüftige
Bewohnerin der untersten Kammer, die ihm nun nachträglich fast
tierisch vorkam. Aber nicht nur diese zweite Frau selbst war
erfreulich, sondern auch ihr Zimmer war schön, nicht zu niedrig
und nicht zu hoch, nicht zu eng und nicht zu breit. Die Fenster
waren nicht schmale Schlitze wie unten, und die Decke verlor
sich weder in unsicheres Nachtdunkel, noch bedrohte sie den
Kopf des Ga stes. Das schöne Ebenmaß, das in der Einrichtung
herrschte, mußte genau berechnet sein, und einen Augenblick
lang fragte er sich, ob diese Schönheit nicht zuviel der
Berechnung verdanke. Wohlausgewogen war auch das
Temperament der Herrin dieses Zimmers. Schon nach den ersten,
klargefügten Sätzen erkannte der Sieger, daß zwischen Kopf und
Schoß dieser Frau ein sorgfältig bewahrtes Gleichgewicht
herrschte.
Eine kurze Weile war er völlig glücklich. Alles schien mit
rechten Dingen zuzugehen. Dann aber kam ihm die Lust, dieses
Gleichgewicht durch Zärtlichkeiten zu erschüttern und ihr Herz
hin und her zu werfen, wie ein mutwilliger, siegreicher Mann das
tut. Als ihm dies aber nicht und nicht gelingen wollte und er
nachdenklich den Kopf an die Brust seiner unerschütterlichen
Geliebten legte, um vielleicht doch ein schnelleres Klopfen ihres
Herzens zu hören, bemerkte er mit wachsendem Entsetzen, daß in
ihrer Brust kein Herz schlug. »Wozu auch?« fragte sie ruhig. Da
lief er aus dem Zimmer.
Im hohen Turmgemach oben erwartete ihn das dritte
Mädchen. Sie nahm seine Hand und führte sie zum Willkommen
an ihr laut schlagendes Herz, als wisse sie, was er bei ihrer
Vorgängerin vermißt hatte. Dann ging sie mit ihm von einem
großen Fenster zum anderen und erklärte ihm den Ausblick:
»Dieses geht auf den Wald hinaus, und das auf die Wiese, und
jenes auf die Felsen des Steilhanges.« Zu jeder Aussicht wußte
sie etwas Kluges zu sagen. Sie hatte Kopf und Herz, daran war
nicht zu zweifeln.
Die Sterne begannen schon zu erbleichen, als seine
Liebkosungen dringlicher wurden. Anfangs erwiderte sie sie von
ganzem Herzen, aber dann hörte etwas auf, oder es ging etwas
nicht weiter. Das Stehenbleiben einer bis dahin unbeachteten Uhr
bemerkt man manchmal so. Den Sieger fröstelte. Einen Atemzug
lang fiel ihm die tierische Wärme des Weibes der untersten
Kammer ein. Dem feuchten Dunst jenes halben Kellers war
etwas beigemengt gewesen, was ihm nun fehlte. Schließlich
erfuhr er es. Seine Schöne teilte ihm mit, daß sie keinen Schoß
habe. Es fehle ihr weder an Kopf noch an Herz, aber er würde nie
in ihrem Schoß liegen und sie nie ein Kind von ihm empfangen
können.
In diesem Augenblick muß in ihm die Raserei des
überstandenen Krieges ausgebrochen sein. Er schrie etwas
Unverständliches und stürzte sich aus dem zerklirrenden
Turmfenster auf die Steine des Steilhangs hinab. Von seinem
Schrei erzitterte die Luft, und vom Aufprall des Körpers erbebte
die Landschaft im tiefsten Grund.
Auf der Wiese, wo der Tau im steigenden Morgenlicht
blinkte, erwachte sein niedergeworfener Gegner aus
todesähnlicher Betäubung. Etwas wie ein fernes Dröhnen schien