Aus Politik Und Zeitgeschichte - 2007 - N08-09 Ukraine Und Weirussland Nim
Aus Politik Und Zeitgeschichte - 2007 - N08-09 Ukraine Und Weirussland Nim
Vitali Silitski
Sonderfall Lukaschenko
Sabine Fischer
Die russische Politik gegençber der Ukraine und Weiûrussland
Wilfried Jilge
Geschichtspolitik in der Ukraine
Bohdan Hud
Das ukrainisch-polnische Verhåltnis
Hans-Georg Golz
Oksana Sabuschko Die Szene wirkte fast biblisch: das uralte
Thema der Versuchung der kleinen Dåmo-
Essay
hatte) beståtigte, wenn auch sichtbar nervæs
im weiteren Verlauf der Sendung: ¹Ja, es gab
eine solche Unterredung.ª Dagegen lehnte in
einer anderen Einspielung der Leiter des
Bçros der Europåischen Kommission in der
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Staaten die Vertreter gewachsener und reifer Imperium verwehrten ¹Rechten und Freihei-
europåischer Demokratien zuweilen so wie ten des dritten Standesª, zu einer gewåhlten
unsere ukrainischen Mafiosi verhalten. Was Regierung, zu all dem, was im Industriezeit-
der Moderator der Sendung mit kindlicher Be- alter nur als ¹Mythosª çberlebte, vor allem
leidigung in der Stimme so kommentierte: Die eine Rçckkehr zum Gefçhl, dass ¹wir einst
Korruption in der Ukraine ist wirklich eine freie Kosaken warenª (die Zaporoger Kosa-
çble Sache, doch die Korruption in der EU, ja, ken des Dnipro, die sich im 16. Jahrhundert
das ist natçrlich etwas ganz anderes. Oder? als æstlicher Vorposten des Malteserordens
gegen das Osmanische Reich gegrçndet hat-
ten, spielen fçr das kulturelle Selbstverstånd-
Mythos Europa nis der Ukrainer eine wohl bedeutendere
Rolle als das mittelalterliche Rittertum fçr
Das Ausmaû der Enttåuschung låsst sich nur das der Westeuropåer).
begreifen, wenn man weiû, welch breiten
Raum der ¹Mythos Europaª im ukrainischen So verkærpert der Mythos ¹Europaª in der
Bewusstsein einnimmt. Er spielte nirgendwo Vorstellung eines Ukrainers der Gegenwart
sonst in Europa eine solch gewichtige Rolle (gleichgçltig, ob er schon einmal in Mittel-
bei der Herausbildung nationaler Identitåt ± oder Westeuropa war) nach wie vor das ¹ver-
abgesehen vielleicht vom Balkan, der in dieser lorene Paradiesª, einen Ort, an dem Gerech-
Hinsicht keine zufållige Parallele darstellt. In tigkeit und Wohlstand herrschen und vor
der Geschichte der Ukraine wie auch der allem die Menschenrechte geachtet werden:
Balkanlånder war die Bedrohung durch das Libert, egalit, fraternit wehen als unsicht-
Osmanische Reich stets latent. Mitte des bare Banner im Wind. Wir Ukrainer wurden
17. Jahrhunderts war die Ukraine aufgrund einst aus diesem Paradies vertrieben, doch
von kriegerischen Auseinandersetzungen an nun wollen wir wie unsere Nachbarn, die
zwei Fronten ± gegen die Tçrken und gegen Polen und die Balten, heimkehren. So oder
die Polen ± gezwungen, ein militårisches ganz åhnlich wçrden es ein Kiewer Ge-
Bçndnis mit dem Moskauer Groûfçrstentum schåftsmann, ein Student aus dem Donbass,
einzugehen, in dessen Folge sich die Ukraine ein Lemberger Taxifahrer und ein Hafenar-
wenigstens den erhofften Zugang zum Meer beiter aus Odessa ausdrçcken.
sicherte. Doch der Preis dafçr war hoch ± zu
hoch, wie sich herausstellte: Die Anfånge Auch deshalb riefen bei mir westliche
einer konstitutionellen Entwicklung in der Kommentare, in denen die ¹Orangene Revo-
Ukraine wurden im Keim erstickt, und Ende lutionª als Ergebnis unserer gerade erst er-
des 18. Jahrhunderts verlor die Ukraine auch wachten ¹prowestlichen Orientierungª gese-
ihre politische Autonomie. hen wurde, immer ein mildes Låcheln hervor.
Ich bin mir 120-prozentig sicher, dass die
Mit Ausnahme der westlichen Gebiete war ¹Orientierungª der Millionen von Menschen,
die Ukraine in den folgenden beiden Jahr- die im November 2004 auf die Straûen gingen
hunderten Teil des russischen Imperiums, an und gerechte Wahlen forderten, rein ukrai-
dessen organisatorischer Herausbildung sich nisch war ± an den Westen dachten wir in
Ukrainer wesentlich beteiligten (die Idee jenem Herbst nicht mehr als der Westen an
der ¹Bildungsmission Kiewsª im Russischen uns. Dabei stellte sich heraus, dass die Werte,
Reich wurde von den ukrainischen Gelehrten fçr die die Menschen ± ohne Ûbertreibung
des 17. Jahrhunderts getragen ± ein schwacher gesagt ± bereit waren, ihr Leben einzusetzen,
Widerhall findet sich noch beim russisch nåmlich ¹Freiheitª und ¹Gleichheit aller vor
schreibenden Ukrainer Nikolai Gogol). Die dem Gesetzª sowie das Recht, çber die Zu-
¹Missionª wurde beendet und die Ukraine kunft der Heimat zu bestimmen, dass diese
zur kolonialen Provinz Russlands, ein Reser- Werte ¹zufålligª mit den grundlegenden Wer-
voir an menschlichen und natçrlichen Res- ten der etablierten europåischen Demokratien
sourcen. Durch die ukrainische nationale çbereinstimmten. Unsere intellektuellen Tra-
Wiedergeburt im 19. und 20. Jahrhundert zog ditionen des 19. und 20. Jahrhunderts, die
sich als roter Faden ¹die Rçckkehr nach Eu- trotz Gefångnis und Gulag unbeirrt auf die
ropa als eine Rçckkehr zu sich selbstª. Das Zugehærigkeit der Ukraine zur europåischen
heiût: Rçckkehr zu einer seinerzeit nicht rea- Kulturlandschaft beharrten, sind also durch-
lisierten Verfassung, zu den vom russischen aus lebendig.
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Ich bin nicht so naiv zu glauben, dies sei skizze. Es ist bemerkenswert, wenn gerade mal
ein ausreichender Grund fçr einen raschen gut zwei Jahre nach der Orangenen Revoluti-
EU-Beitritt der Ukraine. Auûerdem bewegt on (die, ich wiederhole es gerne, in erster Linie
mich eine ganz andere Frage: Inwieweit be- ein kulturelles Phånomen war, eine Bewegung
schrånkt sich die heutige EU nicht nur auf moralischen Protests, ein Kampf um Werte)
die Grenzziehungen von Schengen, sondern die ukrainische Politelite vor den Augen der
gewåhrleistet fçr jene kulturelle Landschaft fassungslosen Gesellschaft mit der Leichtigkeit
ein zuverlåssiges politisches Klima, die auch eines Jahrmarktgauklers alle ¹orangenenª
meine geistige Sphåre darstellt? Vielleicht ist Werte verschwinden låsst. Diese Groteske la
es ja am Ende ganz gut, wenn die Ukraine Gogol sticht natçrlich ins Auge. Das Pastell
erst ¹reiftª, um alle geforderten Standards dagegen ist dezenter, subtiler, man kann es,
der europåischen Mitgliedschaft zu erfçllen, wenn man mæchte, auch çbersehen. Schauen
und eventuell wird sich wåhrenddessen he- wir uns zum Beispiel den EU-Russland-Gipfel
rausstellen, dass der europåische Mythos nur an, der im Oktober 2006 in Finnland stattfand.
in der romantischen Vorstellung europåischer An diesen Tagen wurden in Russland unge-
Provinzler existiert und man weder in Rom niert Georgier nur deshalb deportiert, weil sie
(das Recht) noch in Canossa (die Moral) oder Georgier sind, die Miliz hielt auf der Straûe
in Paris (libert, egalit, fraternit! jawohl!) verdåchtige dunkelhåutige und farbige Men-
ernsthaft an Rom, Canossa oder Paris glaubt. schen an, und in der Folge wurden diese ¹Ver-
Vielleicht wird sich zeigen, dass die europå- dåchtigenª dann ± angestachelt durch die Be-
ische kulturelle Identitåt schon långst von hærden ± von russischen Ultranationalisten
einer Armee zynischer Politiker und Ge- straffrei in finsteren Ecken verprçgelt.
schåftsleute zertrampelt worden ist, die Euro-
pa çbersichtlich und bequem aufteilen in Wåhrenddessen erklårte im finnischen
einen Salon, in dem man laut gemeinsamer Lahti der Pråsident jenes Landes, das vor
Verordnung alle Knæpfe geschlossen haben çber 200 Jahren Europa die erste Deklaration
muss, und in ein Vorzimmer, in dem man sich der Menschen- und Bçrgerrechte schenkte
ungeniert gehen lassen kann und all das er- (ich hoffe doch, dass dieses Dokument noch
laubt ist, was im Salon verpænt ist, etwa die zum Bestand des europåischen Wertekanons
eigenen Grundsåtze ganz schnell vergessen gehært?), dass man die Frage der Menschen-
und den Einheimischen vorschlagen: Klauen rechte nicht mit Angelegenheiten der wirt-
wir unseren Steuerzahlern ein paar Millionen, schaftlichen Zusammenarbeit vermischen sol-
ihr bekommt natçrlich auch ein Stçckchen le. In der Ûbersetzung aus dem Pastell der
vom Kuchen, aber eins dçrft ihr nie verges- Diplomatensprache heiût das wohl: die Frage
sen: Korrupt seid ihr hier im Vorzimmer, bei russischer Gaslieferungen nicht mit dem rus-
uns im Salon gilt es als unanståndig, dieses sischen Rechtsradikalismus zu vermischen.
Wort auch nur auszusprechen. Ihren Rechtsradikalismus kænnen die Russen
behalten, das Gas nehmen wir. Schon gut, ich
Mit anderen Worten: Ist die Kultur in Eu- werde nicht weiter der Werte libert, egalit,
ropa çberhaupt noch in der Lage, einen posi- fraternit gedenken, aber sollte die Zwischen-
tiven Einfluss auf politische Realitåten aus- kriegszeit Europas, an die sich noch genç-
zuçben? Ich habe den dringenden Verdacht, gend Zeitzeugen erinnern, die europåische
dass mit der Beantwortung dieser Frage mehr Politik nicht gelehrt haben, dass es keine
oder weniger auch die Zukunft der Demokra- ¹auslåndischenª Faschismen gibt? Dass der
tie im 21. Jahrhundert abhångt, und dies geht heute gnådigerweise so genannte, als ¹innere
die ¹reifenª und ¹jungenª Demokratien glei- Angelegenheitª tolerierte Faschismus morgen
chermaûen an. Geschlossene Gesellschaften mit Springerstiefeln gegen die eigene Tçr tre-
lassen sich in der heutigen Welt nicht mehr ten wird? Oder, entsprechend dem techni-
etablieren. schen Fortschritt im 21. Jahrhundert, neben
dir mit radioaktiven Polonium im Gepåck im
Flugzeug sitzen wird?
Menschenrechte
Das historische Gedåchtnis bildet den Kern
In der Ukraine schlagen sich europåische Un- der Kultur, und wenn es verloren geht, dann
glçcksfålle ungewæhnlich intensiv nieder ± wie geht auch die Fåhigkeit verloren, Zukunfts-
eine grelle Úlfarbe auf einer blassen Pastell- perspektiven einzuschåtzen, çberhaupt die
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långerfristigen Folgen seiner Unternehmun- Ja wirklich, wir als ¹Vorzimmerª, oder,
gen zu bedenken. An dieser Stelle ist es ange- besser gesagt, als zweihundertjåhriger ¹Kel-
bracht, an eine andere hæchst interessante Ge- lerª Europas (dessen Existenz Europa im 20.
schichte zu erinnern, die freilich nicht mehr in Jahrhundert total ignorierte und deshalb auch
Úl, sondern mit fettem, immer noch dampfen- vællig çberrumpelt war, als wir plætzlich wie-
dem Blut gemalt ist: 1933 war das Jahr des Ge- der auf der Landkarte auftauchten), haben ein
nozids am ukrainischen Volk (Holodomor), ganzes Arsenal vergrabener Leichen, und
als einer der fruchtbarsten Bæden Europas mit wahrscheinlich kann man sich nirgendwo an-
Millionen von toten Bauern çbersåt war und schaulicher davon çberzeugen, dass totge-
das von diesen Bauern mit Waffengewalt er- schwiegene Geschichte långer lebt und ein
presste Getreide zu Dumpingpreisen auf Untergrunddasein fçhrt, so wie jene unter die
den Weltmarkt geworfen wurde. Unter den Erde verbannten Flusslåufe, die frçher oder
Hauptaufkåufern dieses ¹seltsamerweiseª so spåter doch wieder an der Oberflåche auftau-
billigen (nach Schåtzungen von Historikern chen. Die Ukraine ist ein gewaltiger und
etwa zwei Menschenleben pro Tonne) Sowjet- noch immer nicht zur Gånze aufgetauchter
weizens war Hitlerdeutschland. Franzosen Strom aus dem Keller Europas. Es wåre zu
und Briten saûen als Gåste von Stalin beim einfach, die Ukraine nur durch das Prisma der
Dinner im Kreml und schrieben anschlieûend heutigen politischen Gegebenheiten wahr-
fçr ihre Zeitungen, dass von einer Hungersnot nehmen zu wollen, nåmlich als ein Land, das
in der Ukraine keine Rede sein kænne. mit all seinem Reichtum nicht ordentlich um-
Wåhrenddessen wuchs und gedieh in Frank- gehen kann wegen einer fatalen Regierung
reichs und Groûbritanniens unmittelbarer und einer schwachen politischen Elite. Aber
Nachbarschaft ein Regime, dass bald darauf woher sollten wir eine starke Elite auch neh-
versuchen sollte, ganz Europa in ein Konzen- men? Es konnte gar keine heranwachsen,
trationslager zu verwandeln, noch schreckli- denn von 1930 bis in die 1980er Jahre hinein
cher als jene bereits existierenden Sowjetlager. fanden regelmåûig grçndliche ¹Såuberungs-
Diese Geschichte ist ein eigentlich çberflçs- aktionenª gegen die ukrainische Bildungs-
siger Hinweis darauf, wie gefåhrlich es sein schicht statt.
kann, die kurzfristigen Vorteile wirtschaftli-
cher Zusammenarbeit und Fragen der Men- Dieses Land ist seit jeher eine Kreuzung
schenrechte nicht ¹zu mischenª. und Symbiose griechisch-byzantinischer und
lateinischer Traditionen, ein besonderer
Borschtsch (Nationalgerichte lassen sich auch
Im Keller Europas als Metaphern fçr nationale Eigenheiten in-
terpretieren). Seinen unverwechselbaren Ge-
Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sollten schmack verdankt er einer Komposition sehr
uns gelehrt haben, dass es, unabhångig unterschiedlicher Zutaten, und so sollte die-
davon, wo gestern noch die Berliner Mauer ses Land im Zeitalter der Globalisierung we-
stand und heute die Grenze der Schengen- nigstens als jahrhundertealtes multikulturelles
Zone verlåuft, nur eine europåische Ge- Laboratorium Interesse wecken. Denn hier
schichte gibt, die tief in ihrem Inneren durch findet sich fast alles, was das Erbe des Alten
einen Leichenzug miteinander verbunden ist, Europa ausmacht, von den Ruinen altgriechi-
von dem wir håufig nicht einmal etwas scher Kolonien çber mittelalterliche Burgen
ahnen (und uns nur dann wundern, wenn und Schlæsser bis hin zu orthodoxen Barock-
Teile davon sichtbar werden). Mit der Ge- kirchen, die in Moscheen umgewandelt wur-
schichte ist es so wie mit dem Strafgesetz- den, um danach zu Kirchen der Jesuiten
buch: Unwissenheit befreit nicht von Verant- zu werden (und spåter wieder zu orthodoxen
wortung. Jedes Mal, wenn Freunde im Wes- Gotteshåusern, allerdings nur noch russi-
ten, håufig Schriftsteller und Journalisten, schen Typs, die dann bald zu sowjetischen
auf noch vergrabene Leichen im eigenen Fabrik- und Lagerhallen wurden).
Keller und auf die Folgen erst heute enthçll-
ter, schwarz-weiû gemalter Halbwahrheiten Auûerdem gehæren nicht zuletzt gut 600
und verschwiegener Lçgen aus dem Zweiten Jahre jçdischer Kultur dazu (der Chassidis-
Weltkrieg und der Zeit des Kalten Krieges mus ist das Erbe des ukrainischen Juden-
anspielen, entgegne ich: ¹Welcome to tums), und in der Reihenfolge der Zuberei-
Ukraine!ª tung kommt noch eine orientalisch-wçrzige
6 APuZ 8 ± 9/2007
Note mit deutlichen tçrkischen Einflçssen als ukrainische Widerstandsbewegung, die Parti-
direkte Folge von zwei Jahrhunderten kriege- sanenarmee, seit 1942 gegen die Naziokkupa-
rischer Auseinandersetzungen der Kosaken tion und dann gegen die sowjetische Besat-
und Tçrken hinzu. zung bis Mitte der 1950er Jahre kåmpfte (der
letzte ukrainische Partisan beendete am
Trotz aller desastræsen Anstrengungen des 25. August 1991 seinen Widerstand, einen Tag
Sowjetimperiums, diesen Borschtsch in eine nach der Unabhångigkeitserklårung der
fade Gulagbrçhe zu verwandeln (eine ganze Ukraine); oder dass Tschernobyl in psycholo-
Reihe von ¹Zutatenª wurde liquidiert, Dut- gischer Hinsicht fçr die Ukrainer der Wende-
zende nationaler Minderheiten, die noch in punkt war, auûerdem den totalen Bankrott
den 1930er Jahren blçhten, existierten zur des Sowjetregimes bedeutete (das dann
Zeit des Zerfalls der Sowjetunion in der gemåû dem Trågheitsgesetz zerfiel) ± all diese
Ukraine nicht mehr), blieb der ¹Geschmackª gewaltigen, von Generation zu Generation
erhalten, nicht nur im Alltag, sondern auch nur mçndlich weitergegebenen Gedåchtnis-
im tieferen Sinn, in einer prinzipiellen ukrai- schichten der historischen Erfahrung, çber
nischen kulturellen Polyphonie: in der Tole- die man in offiziellen Formulierungen in der
ranz gegençber dem ¹Anderenª, ¹Fremdenª Ukraine erst seit verhåltnismåûig kurzer Zeit
(zum Beispiel kann man in der Ukraine in spricht (im November 2006 verabschiedete
jede Kirche gehen, ungeachtet dessen, wel- das ukrainische Parlament eine Deklaration,
cher Konfession und welchem Patriarchat sie welche die Hungertragædie von 1933 als
angehært, um zu beten, oder alltågliche Stra- Genozid bezeichnet), sind auûerhalb der
ûenszenen beobachten, wenn Bekannte und Ukraine natçrlich Terra incognita. Aber so
Freunde in verschiedenen Sprachen miteinan- kann es nicht bleiben, allein schon deshalb,
der schwatzen). weil ohne die ¹eliminierte(n) ukrainische(n)
Geschichte(n)ª die europåische Retrospektive
Aber es gibt im ukrainischen Erfahrungs- des 20. Jahrhundert einen schiefen Blickwin-
schatz auch schreckliche und durchaus kel erhålt, und auch, weil ohne diese ¹Ge-
lehrstçckhafte Erfahrungen. Der nach dem schichte(n)ª Historikern, Philosophen und
Zusammenbruch des Zaren- und des Habs- Schriftstellern grundlegendes Material zur
burgerreiches gefçhrte ukrainische Unabhån- Reflexion çber den moralischen Wert von
gigkeitskrieg von 1918 bis 1920 gegen Russ- Niederlagen im Schicksalslauf von Låndern
land und Polen endete mit einer Niederlage. und Vælkern fehlen wçrde.
So wurden die zahlreichen europåischen Ka-
tastrophen des 20. Jahrhunderts stets auch in ¹Euch Ukrainern geht's doch gutª, sagte
die Ukraine getragen, und zwar mit besonde- mir vor kurzem mit einem neidischen Lå-
rer Grausamkeit und so katastrophal, dass cheln eine russische Journalistin, ¹ihr streitet
jahrzehntelang fçr Darlegungen und Diskus- euch, diskutiert, explodiert, kåmpft fçr etwas,
sionen çberhaupt nur ein schmaler Strei- glaubt an etwas. . . doch wir, wir hatten das
fen des ¹Katastrophenspektrumsª zugånglich ,Groûe Russland` , aber was ist uns geblieben
war, den man entweder mit Zentral- und auûer der Nostalgie an Stalin.ª (Als ich
Westeuropa (das Grauen des Zweiten Welt- den Roman ¹Feldstudien çber ukrainischen
kriegs) oder mit dem Rest der kommunisti- Sexª [Wien 2006] schrieb, quålte ich mich mit
schen Welt teilte (Gulag, Verfolgung und Er- dem ukrainischen ¹Verliererkomplexª, und
mordung Andersdenkender). weil ich nicht wusste, wie ich ihn bewåltigen
sollte, schwieg ich beleidigt. Ich wåre nie auf
Doch dass Stalins Vælkermord in der die Idee gekommen, darçber nachzudenken,
Ukraine mehr Menschenleben als der Zweite wie teuer Vælker ihren ¹Siegerkomplexª be-
Weltkrieg kostete (man schåtzt etwa sechs zahlen.)
Millionen ermordete Ukrainer); dass der Ho-
locaust im Grunde genommen der zweite
Akt der Katastrophe des ukrainischen Juden- Licht ins Dunkel
tums war (der erste wurde bereits in den
1930er Jahren aufgefçhrt, als ¹jiddischspra- Es geht nicht nur um die Neubewertung der
chige Stådtchenª in Gulags umgesiedelt wur- Erfahrung von Niederlagen. Wesentlicher ist,
den und die Ukraine einen elementaren Teil dass Europa mental noch immer im Nach-
ihres kulturellen Reichtums verlor); dass die kriegseuropa lebt, in einer Welt, die vom Kal-
APuZ 8 ± 9/2007 7
ten Krieg gestaltet wurde. Diese Gestaltung Vitali Silitski
zu veråndern, ohne die ¹Leichen im Kellerª
auszugraben, wird kaum mæglich sein. Der
¹ukrainische Kellerª muss freigelegt werden; Sonderfall
Lukaschenko
davon bin ich felsenfest çberzeugt. Die Er-
fahrungen eines Landes, das seine wie auch
immer beschådigte Identitåt zu einer Zeit
bewahrte, als es laut Logik der Geschichte
kaum eine Chance hatte, wenigstens seinen
Namen zu bewahren, eines Landes, das vor
15 Jahren bei Null anfing, seine Traditionen,
einen ¹dritten Standª, eine Mittelklasse so
M inisterpråsident Matti Vanhanen fand
zum Ende der finnischen EU-Ratsprå-
sidentschaft deutliche Worte: Weiûrussland
wiederzubeleben, dass es in Bçrgerbewegun- gleiche einem ¹schwarzen Lochª und einer
gen und Massendemonstrationen seine Rech- håsslichen ¹Narbe auf dem Antlitz Euro-
te und Freiheiten einforderte, ein solcher Er- pasª. 1 In den ersten Tagen des Jahres 2007
fahrungsschatz sollte im gesamteuropåischen brachte sich dieses ¹schwarze Lochª dem
Bewusstsein nicht fehlen. Kontinent nachdrçcklich in Erinnerung ± der
Handelskrieg mit Russland und der kurzfris-
Dies sollte auch eine Frage der gemeinsa- tige Stopp der Erdællieferungen nach Europa
men Anstrengung sein, Licht in die finsteren machten deutlich, dass ¹Europas letzte
Kellerecken Europas zu bringen, denn es ist Diktaturª Probleme aufwerfen kænnte, die
åuûerst riskant, sie mit ins 21. Jahrhundert zu weit çber moralische
nehmen. In finsteren Ecken lassen sich be- Bedenken çber das
quem dunkle Geschåfte machen, und solange Fortbestehen autori- Vitali Silitski
businessmen verschiedener Nationen hinter tårer Herrschaftsfor- PhD, geb. 1972; bis 2003 Asso-
verschlossenen Tçren Transaktionen durch- men im Europa des ciate Professor an der European
fçhren, kann ± zum Beispiel ± jener immer 21. Jahrhunderts hin- Humanities University in Minsk/
noch nicht endgçltig gesicherte Sarkophag ausgehen. Weiûrussland; Visiting Scholar
des Reaktors 4 endgçltig auseinanderbrechen at the Center on Democracy,
und ohne Rçcksicht auf diplomatische Proto- Der weiûrussische Development, and the Rule
kolle die EU und die Ukraine auf immer in Pråsident Alexander of Law, Stanford University,
einer einzigen Zone vereinen ± in einer, die Lukaschenko hat sich Encina Hall C, Stanford,
fçr Menschen unbewohnbar sein wird. den Stçrmen der De- CA 94305 ±6055, USA.
mokratisierung bis- [email protected]
Und dann heiût es tatsåchlich nur noch: no lang ebenso erfolg-
comments. reich entgegengestemmt wie der jçngsten
Welle von ¹Revolutionenª an der Wahlurne,
welche die postsowjetischen autokratischen
Amtsinhaber in Georgien, der Ukraine und
Kirgistan davonspçlten. Zarte Hoffnungen,
dass diese Welle die Weiûrussen ebenfalls zu
einem Volksaufstand bewegen kænnten, zer-
schlugen sich im Mårz 2006 mit dem klaren
Sieg Lukaschenkos bei der Pråsidentschafts-
wahl und seinem entschiedenen Vorgehen
gegen all jene, die gegen Unregelmåûigkeiten
bei der Wahl protestiert hatten.
8 APuZ 8 ± 9/2007
schaftsregime aufgebaut, das auf einem simp- Sicherheitskråfte, die keiner Kontrolle unter-
len, aber wirksamen Prinzip beruht: Die ge- liegen und auch auf die Wirtschaft und die
samte Maschinerie des Staates ist dem Ziel Auûenpolitik Einfluss nehmen. Dies alles hat
des persænlichen Machterhalts untergeordnet. eine hoch zentralisierte, pråsidiale ¹Vertikale
Diese Logik durchdringt alle Bereiche des der Machtª entstehen lassen, in der Ernen-
politischen und gesellschaftlichen Lebens und nungen und Befærderungen vor allem auf-
schçtzt das Regime bisher wirkungsvoll vor grund persænlicher Loyalitåt erfolgen. Luka-
demokratischem Druck von auûen. In vielen schenko kann abweichende und konkurrie-
Analysen wird das Regime als sowjetisches rende Stræmungen innerhalb des Machtappa-
oder neosowjetisches Regierungsmodell rats leicht çberwachen und gegen diese
missverstanden, was auf die weiterhin im vorgehen; Reformen von innen sind ausge-
Ûberfluss vorhandenen Ordnungsmuster so- schlossen. Angesichts der Tatsache, dass er
wjetischen Stils zurçckzufçhren sein mag. die Opposition auch in freien Wahlen leicht
Doch so, wie sich Propaganda sowjetischen besiegen kænnte, mag Lukaschenkos Streben
Stils in Weiûrussland mit der Werbung fçr nach unbegrenzter Herrschaft als unnætig er-
Luxusgçter abwechselt, stellt auch die politi- scheinen. Und doch ist es Ausdruck eines
sche Wirklichkeit eine bizarre Mischung dar, weiteren Wesensmerkmals des Regimes: der
welche die sich wandelnde Natur eines ¹mo- Neigung, die Opposition zu identifizieren
dernenª Autoritarismus widerspiegelt, der und zu zerschlagen, bevor sie an Stårke ge-
sich in einem zunehmend liberalen Umfeld winnt. Ich bezeichne diese Logik als pråemp-
zu behaupten hat. tiven Autoritarismus. Gemåû dieser Logik
geht die Regierung auch gegen schwache po-
litische Parteien vor, es werden Oppositio-
Pråemptiver Autoritarismus nelle politisch kaltgestellt, selbst wenn sie
noch keine ernsthafte politische Bedrohung
Lukaschenkos modernisierte Autokratie ist ± darstellen. Sie greift die unabhångige Presse
anders als das totalitåre Sowjetsystem ± um an, selbst wenn diese kaum gelesen wird,
eine besondere Form der Legitimitåt durch und zerschlågt Nichtregierungsorganisatio-
Wahlen angereichert. Lukaschenko trat sein nen (NGOs), sobald sie çber die urbane Sub-
Amt nach freien und auf Wettbewerb beru- kultur hinauszureichen beginnen.
henden Wahlen an; sein Sieg mit einem rçck-
wårts gerichteten, antidemokratischen Pro- Pråemptiver Autoritarismus prågt die Re-
gramm spiegelte die Stimmung in der Gesell- gierungszeit Lukaschenkos bereits seit 1994.
schaft wider: vergleichsweise positive In einem ersten Schritt fçhrte seine Regierung
Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten des die Zensur der staatlichen Medien wieder ein
Kommunismus und eine schwach ausge- und stårkte die Befugnisse der Sicherheits-
prågte nationale Identitåt. Der Zusammen- kråfte. Sie zerschlug private Unternehmen,
bruch der Sowjetunion wurde weithin als Ka- die erwiesene Gegner Lukaschenkos finan-
tastrophe und Tragædie betrachtet. Ausgestat- zierten oder denen dies unterstellt wurde,
tet mit einem starken Mandat nutzte und entzog der Opposition die wirtschaftli-
Lukaschenko seine Popularitåt, die Anfang che Basis. In einer zweiten Phase trieb Luka-
der neunziger Jahre aufkeimenden demokra- schenko im November 1996 das Referendum
tischen Institutionen zu zerschlagen. Seinen çber eine Verfassungsånderung voran, die
Anhångern hatte er den Griff nach der Macht ihm alle Machtbefugnisse zugestehen sollte.
als einzigen Weg zur Aufrechterhaltung von Fçhrende Oppositionelle und die wahr-
Ordnung und ækonomischer Sicherheit ver- scheinlichsten Mitbewerber um das Pråsiden-
kauft. tenamt verschwanden 1999 auf mysteriæse
Weise und wurden vermutlich von Sonder-
Ein weiteres wesentliches Merkmal des Lu- einheiten der Polizei entfçhrt. Diese Maûnah-
kaschenko-Regimes ist die unbegrenzte per- men verdeutlichten Lukaschenkos Gegnern,
sænliche Kontrolle. Selbst eine Regierungs- dass der Preis fçr eine Konfrontation mit der
partei fehlt, welche die Ûbergriffe des Macht- Regierung unerschwinglich war. Sofort nach
habers ab und an zçgeln kænnte. Stattdessen seiner ersten Wiederwahl 2001 ging Luka-
herrscht der Pråsident persænlich çber die schenko daran, die strikte Kontrolle des Staa-
Legislative, die Exekutive, die Gerichte, die tes çber die Gesellschaft auszubauen. Seine
Regierungsbçrokratie und vor allem çber die Regierung fçhrte eine massive Kampagne
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gegen die Zivilgesellschaft und die unabhån- ¹Diffamierungª des Landes auf internationa-
gige Presse und erlieû Beschåftigungsgesetze ler Ebene ahnden zu kænnen.
im æffentlichen Sektor, die Entlassungen er-
leichtern. So knçpfte er die Sicherheit von
Arbeitsplåtzen an politische Loyalitåt und Der ¹korporatistische Staatª
beseitigte selbstorganisierte Gesellschaftsbe-
reiche, in denen eine demokratische Opposi-
und die Opposition
tion håtte çberleben kænnen. Im Oktober
Mit diesen pråemptiven Maûnahmen hielt
2004 lieû Lukaschenko ein weiteres Referen-
Lukaschenko die ¹revolutionåre Seucheª von
dum çber die Verfassung durchfçhren, das
seinem Land fern und schloss aus, dass das
ihm eine lebenslange Amtszeit ermæglichen
politische System mittels Wahlen veråndert
sollte. Es gab kaum organisierten Widerstand,
werden kænnte. Es entstand eine trostlose po-
obwohl unabhångige Meinungsumfragen dar-
litische und soziale Landschaft, der es an in-
auf hindeuteten, dass Lukaschenko mægli-
stitutionellen Faktoren und Organisations-
cherweise verloren håtte, wåren die abgegebe-
mæglichkeiten fehlt. Kurz vor der Wahl im
nen Stimmen nur korrekt ausgezåhlt wor-
Mårz 2006 erklårte Lukaschenkos Funktionår
den. 2
fçr ideologische Kontrolle, es sei das hæchste
Ziel des Regimes, Weiûrussland in einen
Am Ende verstand es Lukaschenko sogar,
¹korporatistischen Staatª umzuwandeln. 3
die Welle demokratischen Wandels in der Re-
Diese Bezeichnung weckt beunruhigende As-
gion fçr sich zu nutzen. Er konnte die Tech-
soziationen mit autoritåren Diktaturen der
niken zur Mobilisierung der Massen, die
europåischen Zwischenkriegszeit, spiegelt
Wahlkåmpfe und die Straûenproteste, welche
aber den Charakter des Systems wider. Mit
die Opposition in Serbien, der Ukraine, Ge-
wirtschaftlichen und administrativen Mitteln
orgien und Kirgistan zum Sturz der Machtha-
wurde die bedingungslose Unterordnung des
ber nutzte, aus nåchster Nåhe beobachten.
Einzelnen unter den Staat erreicht, autonome
Lukaschenko erwies sich als gelehriger Schç-
Gesellschaftsbereiche wurden ihrer Legitimi-
ler, der eine Wiederholung dieses Szenarios in
tåt beraubt, unerwçnschte politische Aktivi-
seinem Land unbedingt zu verhindern suchte.
tåten wurden unter Strafe gestellt und die
Nach der ukrainischen Revolution und im
Unterdrçckung institutionalisiert. Dies fçhrte
Vorfeld der Pråsidentschaftswahl im Mårz
zu einer Restauration von staatlich-gesell-
2006 vervollståndigte die Regierung daher
schaftlichen Beziehungen, wie sie bereits zur
ihre autoritåre Herrschaft und nahm kritische
Sowjetzeit bestanden hatten.
Organisationen und Netzwerke ins Visier.
Insbesondere ging die Regierung gegen
Dieser Gesellschaftsvertrag stçtzt sich auf
NGOs vor, welche den Verlauf der Wahl be-
ein bemerkenswertes Maû an sozialem Zu-
obachten wollten, sowie gegen unabhångige
sammenhalt und wirtschaftlicher Stabilitåt.
Meinungsinstitute, die das offizielle Wahler-
Weiûrussland weist seit 1996 Wirtschafts-
gebnis håtten anzweifeln kænnen. Sie zer-
wachstum auf. Seit 2003 hat es sich noch be-
stærte die Organisationsgrundlage der politi-
schleunigt und ist auf durchschnittlich zehn
schen Parteien, begrenzte die wenigen Publi-
Prozent im Jahr gestiegen. Zwischen 2003
kationen der legalen oppositionellen Presse
und 2006 hat sich das Durchschnittseinkom-
auf kaum mehr 30 und sperrte diesen
men der Bevælkerung von 100 auf mehr als
die staatlichen Handels- und Vertriebswege.
270 US-Dollar erhæht. Aufgrund dieser
Zudem setzte sie Vorschriften gegen die meis-
Daten konnte die Regierung das Auskommen
ten Formen auslåndischer Unterstçtzung in
jener Schichten garantieren, von denen der
Kraft. Am Vorabend der Pråsidentschafts-
Status quo am ehesten unterstçtzt wird ± ålte-
wahl schlieûlich ergånzte das Parlament das
re Menschen, die Landbevælkerung und zu
Strafrecht, um NGOs ohne offizielle Regi-
einem groûen Teil auch die Arbeiter der gro-
strierung bestrafen sowie Vergehen wie die
ûen Industrieunternehmen, die mit staatlicher
¹Organisation von Massenunruhenª oder die
Unterstçtzung am Leben gehalten werden.
Als zusåtzliche Stçtze des korporatistischen
2 Vgl. David Marples, Belarus Referendum Results
Disputed, in: Eurasia Daily Monitor vom 20. 10. 2004; 3 A Corporate Country, in: Telegraf news agency, 3. 4.
10 APuZ 8 ± 9/2007
Staates hat sich die Virtualisierung des politi- enthalt in EU-Staaten ermæglichten, werden
schen und æffentlichen Lebens erwiesen, çber gekçrzt, denn solche Aufenthalte setzen den
die eine nahezu totale Informations- und Me- Nachwuchs nach Auffassung Lukaschenkos
dienkontrolle erzielt wird. Indem das Regime ¹westlichem Konsumdenkenª aus. 5
unabhångige Meinungen unterdrçckt, formt
es die æffentliche Meinung. Die Propaganda Die Regierung schirmt Weiûrussland zwar
rçhmt die wirtschaftlichen Erfolge der Regie- vor politischen und kulturellen Einflçssen
rung und zeichnet ein dçsteres Bild des æko- aus Europa ab, ist aber zu einer Ausweitung
nomischen Niedergangs, der sozialen Ent- der Wirtschaftsbeziehungen bereit. Etwa 50
wurzelung und politischer Krisen in den Prozent der Exporte gehen in die EU, zum
Nachbarlåndern, die sich anders als Weiû- græûten Teil veredelte Erdælprodukte aus
russland auf wirtschaftliche Reformen einlie- einer Handvoll staatlich kontrollierter Raffi-
ûen. 4 Ûberdies verbreiten die staatlichen Me- nerien. Deshalb zeitigt dieser Handel auch
dien immer wieder Horrorgeschichten çber kaum jene gesellschaftlichen und kulturellen
den demokratischen Wandel in der frçheren Auswirkungen, die von einer Ausweitung der
Sowjetunion und deuten an, dass die weiûrus- Wirtschaftsbeziehungen zu erwarten wåren.
sische Opposition genau jenes Chaos anstre- Ironischerweise trågt die EU somit de facto
be, um an die Macht zu gelangen. zur wirtschaftlichen Unterstçtzung des Sys-
tems Lukaschenko bei.
Die korporatistische Ausrichtung des Staa-
tes und die staatlich entworfene Wirklichkeit Eines der wenigen Schlupflæcher in Luka-
sind eng miteinander verflochtene Phåno- schenkos ¹korporatistischem Staatª besteht
mene. Die æffentliche Zustimmung zum Sta- in der Durchfçhrung von Wahlen, die zumin-
tus quo hångt nicht nur davon ab, ob die Re- dest formal dem Anspruch politischen Wett-
gierung Sicherheit und Stabilitåt garantieren streits gençgen. Damit eræffnet sich der Op-
kann, sondern auch davon, ob sie die Gesell- position zwar die Chance zur Organisation,
schaft çberzeugen kann, dass die politische aber ihr Ûberleben hångt angesichts des von
Ordnung und das Wirtschaftssystem fçr den Repression und Angst geprågten Klimas zu-
Durchschnittsbçrger die beste Wahl darstel- nehmend vom persænlichen Mut und der
len. Die Verbreitung derartiger Ûberzeugun- Entschlossenheit ihrer Aktivisten ab. Die de-
gen wird durch die internationale Isolation mokratische Gemeinschaft in Weiûrussland
erleichtert. Die Isolation, etwa Lukaschenkos genieût, obgleich sie eine Minderheit dar-
Einreiseverbot in die EU, bietet Schutz vor stellt, betråchtliche Sympathien und Unter-
unwillkommenem Demokratisierungsdruck stçtzung. Diese gesellschaftliche Opposition
und kulturellen Einflçssen. Folglich zeigt die verhålt sich jedoch weitgehend passiv und
Regierung wenig Interesse daran, dass Weiû- geht çber Debatten im Familien- und Freun-
russland in den Europarat zurçckkehrt oder deskreis nicht hinaus. Ihr aktiver Teil, die
eine Zusammenarbeit im Rahmen der Euro- Oppositionsparteien, die NGOs sowie enga-
påischen Nachbarschaftspolitik (ENP) ein- gierte Individuen (etwa Kulturschaffende und
geht. Politischen Entscheidungstrågern, Jour- Intellektuelle), wurde in die Nåhe einer poli-
nalisten und Bçrgerrechtlern verweigert sie tischen Subkultur gerçckt. Dieses Netzwerk,
die Einreise, der Austausch von Informatio- das an die Dissidentenbewegung zur Sowjet-
nen sowie kulturelle und intellektuelle Kon- zeit erinnert, kann kaum die Rolle einer kon-
takte werden unterdrçckt, und Bildungsein- ventionellen politischen Opposition spielen
richtungen, die westliche Lernmethoden ver- oder gar deren Ziele erreichen, da seine Mæg-
breiten (etwa die European Humanities lichkeiten, Einfluss auf politische Prozesse
University in Minsk), werden geschlossen. und die Machtverteilung im Land auszuçben,
Selbst Hilfsprogramme im Zusammenhang zunehmend eingeschrånkt werden.
mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl, die
weiûrussischen Kindern einen Erholungsauf- Erstens fçhrt offen ausgedrçckte Unzufrie-
denheit zum Verlust an materieller Sicherheit
4 Im Juni 2006 glaubten 31 % der Weiûrussen, dass der
Lebensstandard in ihrem Land hæher liege als in der 5 Vgl. Freedom House (Ed.), Belarus 2005. Freedom
EU. Vgl. Independent Institute for Socio-Economic House Freedom in the World Report, 2005;
and Political Studies opinion poll, Winter 2006; www.freedomhouse.org/template.cfm?page = 47&nit
www.iiseps.org/data06±02±61.html. = 358& year = 2005&display= democ.
APuZ 8 ± 9/2007 11
und Lebensperspektiven. Die Bçrgerinnen der Wahl wurden mindestens 200 Wider-
und Bçrger hången hinsichtlich der Erfçllung ståndler in Haft genommen oder mit Geld-
ihrer Lebensziele und Hoffnungen immer strafen belegt. Vier NGO-Wahlbeobach-
stårker von der Regierung ab. Letztlich hat ter wurden festgenommen und beschuldigt,
sich der aktive Kern der Opposition im Lauf einen terroristischen Anschlag geplant zu ha-
der Jahre auf jene reduziert, die vor langer ben. 6 Die offiziellen Medien heizten die
Zeit durch das Netz des ¹korporatistischen Hysterie weiter an, der weiûrussische KGB
Staatesª gefallen sind und nicht willens oder drohte, all jene, die es wagen sollten, gegen
in der Lage sind, wieder unter die Fittiche der die Wahlergebnisse zu protestieren, als Terro-
Regierung zurçckzukehren. risten zu betrachten und mæglicherweise mit
dem Tode zu bestrafen. Trotzdem engagierten
Zweitens bræckelt die Basis der Oppositi- sich landesweit tausende Aktivisten im Wahl-
on: Jene sozialen Schichten, die traditionell kampf, ermutigt durch das kåmpferische Auf-
das Rçckgrat des Widerstands bilden und treten der Oppositionsfçhrer Alexander Mi-
unter anderen Bedingungen mehr als andere linkewitsch, dem Anfçhrer der Vereinigten
zu demokratischen Verånderungen beitragen Demokratischen Kråfte, und Alexander Ka-
kænnten, werden von der Regierung zuneh- zulin, dem Vorsitzenden der Sozialdemokra-
mend kooptiert. Gerade in der jungen Gene- tischen Partei. Kazulins beiûende Attacken
ration ist die Bereitschaft gewachsen, das Re- gegen Lukaschenko fanden in der Úffentlich-
gime im Austausch gegen hæhere Einkommen keit ein betråchtliches Echo. Er bewies be-
und eine Karriere in der Regierung, den Me- merkenswerten Mut bei der Organisation
dien, in der Wirtschaft oder im Bildungsbe- von Straûenprotesten. Fçr diese Courage
reich aktiv zu unterstçtzen. Die jçngere Ge- zahlte er einen hohen Preis: Zweimal wurde
neration, deren Ansichten, Bewusstsein und er von der Bereitschaftspolizei verprçgelt,
Hoffnungen in der kurzen Zeit der politi- bevor er am 25. Mårz verhaftet und zu einer
schen Liberalisierung der spåten achtziger Gefångnisstrafe von fçnfeinhalb Jahren ver-
und frçhen neunziger Jahre geformt wurden, urteilt wurde.
war eine treibende Kraft der demokratischen
Opposition gewesen. Die jungen Leute von Die Veræffentlichung der offiziellen Wahl-
heute haben jedoch noch nie einen anderen ergebnisse 7 læste Massenproteste aus, bei
Machthaber als Lukaschenko erlebt. denen sich bis zu 25 000 Menschen in Minsk
versammelten und den Drohungen der Si-
Drittens liegt die Toleranzschwelle fçr den cherheitskråfte trotzten. Die Demonstratio-
Machtmissbrauch und die Verletzung von po- nen hielten mehrere Tage an, und es entstand
litischen und bçrgerlichen Rechten erstaun- ± wie in Kiew wåhrend der ¹Revolution in
lich hoch. Solange Lukaschenko allein die Orangeª ± ein Zeltlager. Die Demonstranten
Opposition attackiert, reagiert die Úffent- forderten freie und faire Neuwahlen. Doch
lichkeit auf politische Unterdrçckung, Atta- die Proteste nahmen schnell ab, zumal es
cken der Massenmedien und die Unterminie- keine Anzeichen dafçr gab, das Regime oder
rung der Wahlverfahren mit Indifferenz. sein Unterdrçckungsapparat werde ange-
sichts der Straûendemonstrationen den Rçck-
zug antreten oder gar in sich zusammenstçr-
Pråsidentschaftswahl 2006
6 In einem nichtæffentlichen Gerichtsverfahren wur-
Die Opposition kåmpft um ihr Ûberleben den sie gemåû der NGO-Bestimmungen des Straf-
und muss ihre Bedeutung in einem Umfeld rechts verurteilt.
7 Vgl. die offiziellen Ergebnisse: www.rec.gov. by/
unter Beweis stellen, in dem ihre Rolle darauf
elect/prrb2006/ itog.html. Mit einem Anteil von 83 %
reduziert wird, bei zeremoniellen Wahlçbun- wurde Lukaschenko zum Wahlsieger erklårt; auf Mi-
gen mit vorhersehbaren Ergebnissen unter linkewitsch entfielen 6 %, auf Kazulin 2 %. Selbst die
der Rubrik ¹ferner liefenª zu rangieren. Im Schåtzungen unabhångiger Institute gaben den Amts-
Vorfeld der Pråsidentschaftswahl am 19. inhaber als Wahlsieger an, auch wenn sie die Hæhe sei-
Mårz 2006 fçhlte sich die Opposition inspi- nes Sieges nicht beståtigten. Gemåû den Angaben des
Independent Institute for Socio-Economic and Poli-
riert von der ukrainischen ¹Revolution in tical Studies håtte Lukaschenko bei einer fairen Aus-
Orangeª. Angesichts von Unterdrçckung zåhlung 63 % der Stimmen erzielen kænnen, Milinke-
und Diffamierung entwickelte sich ihr Wahl- witsch 20 % und Kazulin 4 %; vgl. www.iiseps.org/3±
kampf zu einer mutigen Schlacht. Kurz vor 06±1.html.
12 APuZ 8 ± 9/2007
zen. Die Massenmedien diffamierten die De- Veræffentlichungen oder neue Websites, mit
monstranten so lange als Sældner, Zuhålter denen versucht wird, das Informationsmono-
und Junkies, bis sich die Mehrheit der Bevæl- pol des Staates zu brechen. Einige der aus den
kerung schlieûlich hinter die Polizeiaktionen staatlichen Vertriebsnetzen genommenen Zei-
stellte. In einem letzten Aufbegehren rief die tungen starteten Solidaritåts- und Fundrai-
Opposition am 25. Mårz zu einem Protest- singkampagnen und sicherten so ihr wirt-
marsch auf, den die Bereitschaftspolizei aus- schaftliches Ûberleben. Darçber hinaus tra-
einandertrieb. Menschenrechtsgruppen zufol- ten vor allem in der zweiten Jahreshålfte 2006
ge lag die Zahl der vor und nach dem Wahl- eine Reihe von Bçrgern, die von den Behær-
kampf Festgenommenen und Inhaftierten bei den diskriminiert worden waren und ihre
etwa 1 000 Personen. 8 Hoffnungs- und Machtlosigkeit als Waffe
einsetzen, in den Hungerstreik.
Nach der Wahl kåmpfte die Opposition
darum, nicht wieder in Apathie zu verfallen. Energiekonflikt mit Russland
Die jungen, von den Verhaftungen unbeein-
druckten Aktivisten organisierten weitere Die Hoffnung auf eine demokratische Zu-
Proteste, doch verliefen auch diese im Sande, kunft ist eng verknçpft mit dem Beharrungs-
als die Behærden hårter durchzugreifen be- vermægen der Zivilgesellschaft. Diese Hoff-
gannen. Hunderte junger Menschen, meist nung åndert nichts an der dçsteren Realitåt,
Studenten, die aufgrund der Verhaftungen einem versteinerten autoritativen Umfeld,
ihre Stipendien und Arbeitsplåtze verloren doch sieht Lukaschenko keiner sorgenfreien
hatten, wurden gezwungen, ins Ausland zu Zukunft entgegen. Vielmehr wird es fçr ihn
gehen. Wie tief die Krise der Opposition mit der Zeit eine enorme Herausforderung
reichte, war schon im Vorfeld der Kommu- darstellen, die steigenden gesellschaftlichen
nalwahlen am 13. Januar 2006 offenkundig Erwartungen zu erfçllen, die seine innenpoli-
geworden; auch gemeinsam war es den Op- tische Legitimitåt festigen. Angesichts des fçr
positionsparteien nicht gelungen, mehr als Politik und Wirtschaft gçnstigen åuûeren Kli-
500 Kandidaten fçr mehr als 24 000 Wahlbe- mas und der Bereitschaft Russlands, die wirt-
zirke aufzustellen. Zu Beginn des Jahres 2007 schaftlichen und politischen Kosten zur Auf-
hat sich die Einheit der Opposition vollends rechterhaltung des Regimes zu tragen, war es
aufgelæst. in der Vergangenheit leicht, dieser Aufgabe
gerecht zu werden. Die drastische Erhæhung
Angesichts der Gegebenheiten in Weiû- der Gaspreise und das Ende der zollfreien
russland ist es nur logisch, dass demokrati- Úleinkåufe in Russland haben die bilateralen
sches Engagement Formen zivilen Ungehor- Beziehungen seit Januar 2007 grundlegend
sams annimmt, der an die Dissidentenbewe- veråndert. Zwar werden Weiûrussland immer
gung der Sowjetzeit erinnert. Nach der noch gçnstigere Preise eingeråumt als ande-
Pråsidentschaftswahl entwickelte sich eine ren frçheren Sowjetrepubliken, doch droht
Gemeinschaft demokratischer Bçrger, die der neue Preis den strapazierten Gesell-
sich bislang noch nicht aktiv in der Oppositi- schaftsvertrag zu untergraben, denn ohne
on engagiert. Gestårkt durch den Wahlkampf Vorzugsbehandlung wåren die groûzçgigen
entwickelten sie neue Formen politischer Ak- Gehålter und Sozialausgaben der vergange-
tivitåt. Dieser Teil der Opposition war ver- nen Jahre nicht mæglich gewesen.
antwortlich fçr eine sprunghafte Zunahme
unkonventioneller Protestaktionen, etwa Das Ende der Vorzugsbehandlung fand zu-
flash mobs (Menschengruppen, die sich kurz nåchst kaum politischen Widerhall. Tatsåch-
treffen, eine Aktion durchfçhren und sich lich hat Moskau seine politische Unterstçt-
rasch wieder zerstreuen) und Auffçhrungen zung fçr Minsk offiziell nie aufgekçndigt.
in den Straûen. Landesweit wurden Solidari- Vor einem Jahr erst verteidigte der Kreml die
tåtsaktionen fçr politische Gefangene organi- Durchfçhrung der Pråsidentschaftswahl, und
siert, strotzten die Diskussionsforen und der russische Auûenminister beschuldigte in-
Blogs im Internet vor Vorschlågen und Auf- ternationale Organisationen, eine ¹aufrçhre-
rufen zum Handeln, seien es nun Samisdat- rische Rolleª gespielt zu haben. 9 Der Entzug
8 Informationen des Menschenrechtszentrums Spring 9 RFE/RL newsline, Russia Blames OSCE For Ten-
96: www. spring96.org/ by/news/3997/ sowie /4154/. sions In Belarus vom 24. 3. 2006; www.rferl.org /fea-
APuZ 8 ± 9/2007 13
der russischen Subventionen wurde erst ange- Herausforderung fçr Europa
kçndigt, als Lukaschenkos Wahlsieg im Mårz
2006 sicher war. Die Erhæhung der Rohæl- Der Energiekonflikt erinnerte daran, dass
preise ist mehr als ein politisches Druckmit- Weiûrussland trotz der politischen Isolation
tel. Zum einen will man sich in einem poli- eine Herausforderung fçr Europa darstellt.
tisch relativ ungefåhrlichen Moment eines Ûber das Land wurde im vergangenen Jahr in
groûen Teils der Kosten entledigen, die zur den europåischen Medien håufiger berichtet
Unterstçtzung Lukaschenkos erforderlich als jemals zuvor. Die Oppositionsfçhrer wur-
sind. Zum zweiten drångt Moskau darauf, den in Europa mit Menschenrechtspreisen
dass Lukaschenko sein Versprechen einlæst, bedacht, Universitåten boten den in Weiû-
die wichtigsten Erdgas-Transitleitungen zu russland suspendierten demokratischen Akti-
privatisieren. visten Mæglichkeiten zur Fortsetzung ihres
Studiums. Offiziell wurde die Durchfçhrung
Vor diesem Streit war die Ûberzeugung der Pråsidentschaftswahl von der EU scharf
weit verbreitet, die Einnahmeausfålle wçrden verurteilt, und es wurden wichtige Sanktio-
Lukaschenkos Macht schwåchen. Doch Lu- nen gegen die obersten Vertreter des Regimes
kaschenko unternahm den ungestçmen Ver- verhångt. Der Europarat hat die Vorzugsbe-
such, die Vorteile und Rabatte zu bewahren, handlung in den Handelsbeziehungen im De-
die Russland ihm verweigern wollte, und den zember 2006 so lange ausgesetzt, bis Weiû-
finanziellen Schlag durch eine Erhæhung der russland Grundfreiheiten und vor allem das
Transitgebçhren fçr Erdgas und einen neuen Recht auf freie Gewerkschaften wiederher-
Transitzoll fçr Erdæl abzuschwåchen. Als die stellt.
russischen Firmen sich weigerten, diesen Zoll
zu bezahlen, kam es zur Einstellung der Erd- Sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in
ællieferungen nach Europa. Viele Beobachter den Institutionen der EU ertænte der immer
sind der Auffassung, Lukaschenko habe diese lautere Ruf nach einer europåischen Politik,
Entwicklung mæglicherweise beabsichtigt, die zur Færderung der Demokratie beitrågt.
um in Europa Sympathien zu gewinnen, wo Doch Lukaschenkos pråemptiver Autoritaris-
der 2006 zwischen Russland und der Ukraine mus und seine Neigung zur selbst herbeige-
ausgetragene Erdgasstreit noch in Erinnerung fçhrten Isolation machen den Einfluss der
war. Lukaschenko hatte sich bezçglich der EU im Lande unerwçnscht. Das Regime ist
europåischen Reaktion auf die Krise aber einzig auf das eigene Ûberleben ausgerichtet,
wohl geirrt: Anders als fçr die demokratisch was eine an Bedingungen geknçpfte ¹Politik
gewåhlte und prowestlich ausgerichtete der kleinen Schritteª 11 als angemessenes poli-
ukrainische Regierung unter Wiktor Juscht- tisches Werkzeug ausschlieût. Jeder substan-
schenko hegt Europa fçr Lukaschenko nur zielle Schritt der EU war an die Bereitschaft
wenig Sympathie. der weiûrussischen Behærden geknçpft, die
Kontrolle im Land zu lockern. Diese Um-
Lukaschenko kann sich kçnftig nicht mehr stånde machen auch die Europåische Nach-
sicher sein, ein Umfeld vorzufinden, das der barschaftspolitik (ENP) ± das wichtigste
Konsolidierung seiner Herrschaft færderlich Instrument der EU in den Beziehungen zu
ist, oder dass Russland bereit ist, sein Regime ihr nicht angehærenden Låndern ± zu einem
zu subventionieren. Doch es wåre abwegig, groûenteils bedeutungslosen politischen In-
von ihm eine Transformation oder auch nur strument.
eine partielle Liberalisierung des Regimes zu
erwarten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass Eine realistischere Option håtte im direk-
das Regime sich immer stårker auf seinen Un- ten Austausch mit der Zivilgesellschaft und
terdrçckungsapparat sowie politische und ad- den demokratischen Kråften liegen kænnen,
ministrative Kontrollmechanismen verlåsst. 10 doch beruhen die meisten Hilfsprogramme
der EU auf intergouvernementaler Zusam-
tures article/2006/03/0555e6d7 ±43dd-40ce-aa6c-
81808a2b8 bba. html Volya (Minsk) vom 7. 1. 2007; http:// nv-online.info/
10 Die Medien veræffentlichten mitten in der ¹heiûen index.php?c=ar&i=1878.
Phaseª des Energiekonflikts Informationen çber eine 11 The EU's Relations with Belarus: Overview, Euro-
Gehaltserhæhung bei der Bereitschaftspolizei um das pean Union information; http://ec.europa. eu/ comm/
Vierfache; vgl. Better than in Europe, in: Narodnaya external_ relations/ belarus/intro.
14 APuZ 8 ± 9/2007
menarbeit. In der Vergangenheit gehærten je- ralisierung des EU-Visa-Regimes wird dies
doch gerade Regierungsstellen und nicht die unmæglich sein.
Zivilgesellschaft zu den græûten Nutznieûern
dieser Hilfen, die manchmal geradezu zyni- Drittens mçssen Entscheidungen vermie-
sche Resultate erbrachten. So wurde zum Bei- den werden, die Lukaschenkos Politik zu-
spiel ein Gefångnis in Minsk mit Mitteln aus tråglich sind. Ein charakteristisches Beispiel
dem TACIS-Programm wieder aufgebaut, hierfçr ist die Absicht der EU, von Juni 2007
das spåter als Arrestanstalt fçr demokratische an die Kosten eines Schengen-Visums fçr
Aktivisten diente. Weiûrussen von 35 auf 60 EUR anzuheben. 13
Zur Færderung der Demokratie in Weiû- Bei realistischer Einschåtzung verfçgt die
russland sind Instrumente nætig, die opposi- EU gegenwårtig çber keine guten politischen
tionelle Gruppen und demokratische Bçrger Optionen gegençber Weiûrussland. Doch die
unterstçtzen, ohne ihren Status und ihre Be- Bedingungen fçr eine Transformation im
ziehungen zur Regierung zu berçcksichtigen. Land werden umso gçnstiger, je stårker die
Es ist unvermeidlich, dass die Unterstçtzung Zivilgesellschaft und die demokratische Op-
fçr die Zivilgesellschaft Zweifel aufwerfen position sind. Die Alternative wåre das ver-
wird, und es ist nicht klar, ob sie sich jemals gebliche Warten auf ein Umdenken und eine
auszahlen wird. Doch die Zusammenarbeit neue Politik der weiûrussischen Staatsgewalt.
mit unteren Rången der Bçrokratie und mit
Experten, die sich nicht unmittelbar an po-
litischer Unterdrçckung beteiligen, sowie
eine nicht-politisierte Unterstçtzung wie
Bildungsaustausch und Weiterbildungspro-
gramme fçr Fachkråfte und Geschåftsleute
sollten wo immer mæglich vorangetrieben
werden.
12 So wurden Radiobeitråge çber Kurzwelle ausge- 13 Vgl. Grzegorz Gromadzki, A Difficult Case. Be-
strahlt, fçr die nur schwer Empfangsgeråte zu finden larus as the Part of the European Neighborhood Poli-
sind. Die auf einem Internetzugang beruhenden Me- cy, in: International Issues & Slovak Foreign Policy
dien erfordern Hochgeschwindigkeitszugånge, die in Affairs, 15 (2006) 2, S. 37± 45.
Weiûrussland noch immer kaum zu haben und uner-
schwinglich sind.
APuZ 8 ± 9/2007 15
Sabine Fischer als Verkehrssprache verbreitet. Die Bezie-
hungen zwischen den Gesellschaften sind
A uch gut 15 Jahre nach dem Zerfall der Aus sicherheitspolitischer Perspektive ist
Sowjetunion bestehen starke Interde- die geographische Situation Weiûrusslands
pendenzen zwischen den ehemaligen Sowjet- und der Ukraine bedeutend, da sie ¹zwi-
republiken. Diese sind sowohl politischer als schenª Russland und Westeuropa bzw. den
auch sicherheitspolitischer, wirtschaftlicher westeuropåischen und transatlantischen
und gesellschaftlicher Natur. Ihre Wirkungen Bçndnissen liegen. In den 1990er Jahren war
auf die Regionalbezie- diese Brçcken- oder Pufferposition bedeut-
hungen zwischen den sam im Zusammenhang mit der ersten
Sabine Fischer NATO-Osterweiterung um Polen, Ungarn
15 neuen Staaten sind
Dr. phil., geb. 1969; wissen- und die Tschechische Republik. Seit einigen
widersprçchlich. 1
schaftliche Mitarbeiterin am EU Jahren, besonders seit der Erweiterung 2004,
Wåhrend die Kompa-
Institute for Security Studies hat auch die EU im postsowjetischen Raum
tibilitåt einzelner Sek-
(ISS), 43 Avenue du PrØsident immens an Gewicht gewonnen. Da Russland
toren zur Verstårkung
Wilson, 75775 Paris 16/ die Region als seine Einflusssphåre betrach-
wirtschaftlicher Ko-
Frankreich. tet, hat sich eine Integrationskonkurrenz zwi-
operation und Inte-
[email protected] schen Moskau und Brçssel entwickelt, deren
gration, beispielsweise
der russischen und Austragungsort die westliche GUS ist. Damit
weiûrussischen Rçstungsindustrien, gefçhrt sind die Beziehungen zu den westlichen
hat, belasten die ungelæsten ethnopolitischen Nachbarn auch eine Determinante fçr das
Konflikte in Moldawien, Georgien und Aser- Verhåltnis Russlands zu seinen wichtigsten
baidschan die bilateralen Beziehungen und politischen und Handelspartnern in der EU.
verschårfen die Fragmentierung der Region.
Die Russische Fæderation als politisch und Dieser Beitrag analysiert die Beziehungen
militårisch måchtigster und wirtschaftlich Russlands zu den beiden westlichen Nach-
stårkster Nachfolgestaat der Sowjetunion barn unter besonderer Konzentration auf
nimmt auf fast allen Ebenen der regionalen Wandlungsprozesse nach dem Amtsantritt
Beziehungen eine Schlçsselrolle ein. von Pråsident Vladimir Putin. Es geht zu-
nåchst um die Entwicklung der Auûenpoliti-
Die westlichen Mitglieder der Gemein- ken der drei Staaten sowie der bilateralen Be-
schaft Unabhångiger Staaten (GUS), insbe- ziehungen, bevor diese im regionalen Kontext
sondere die Ukraine und Weiûrussland (Bela- 1 Vgl. Sabine Fischer, Integrationsprozesse im post-
rus), sind seit Beginn der Eigenstaatlichkeit
sowjetischen Raum: Voraussetzungen, Erwartungen,
von besonderer Bedeutung fçr die russische Potenziale, in: Internationale Politik und Gesellschaft,
GUS-Politik. Die Ukraine und Weiûrussland (2006) 1, S. 134 ±149; Andrei P. Tsygankov, If Not by
gelten als die ehemaligen Sowjetrepubliken, Tanks, then by Banks? The Role of Soft Power in Pu-
welche der russischen Gesellschaft kulturell tin's Foreign Policy, in: Europe-Asia Studies, 58 (2006)
am nåchsten stehen. Neben groûen russi- 7, S. 1079±1099.
2 Vgl. Sabine Fischer, Russlands Westpolitik in der
schen Minderheiten in beiden Låndern sind Krise 1992±2000. Eine konstruktivistische Analyse,
die Landessprachen dem Russischen eng Frankfurt ± New York 2003; Rolf Peter, Russland im
verwandt. In weiten Teilen von Weiûruss- neuen Europa. Nationale Identitåt und auûenpolitische
land, aber auch in der Ukraine ist Russisch Pråferenzen (1992±2004), Mçnster 2005.
16 APuZ 8 ± 9/2007
interpretiert werden. Die These lautet, dass schafts- und Kooperationsabkommen mit
Russland, welches in seiner Politik gegençber der EU.
Weiûrussland und der Ukraine einen jeweils
spezifischen Mix von auûenpolitischen In- Die ukrainische Innenpolitik war von wi-
strumenten einsetzt, in beiden Staaten sowie dersprçchlichen Tendenzen gekennzeichnet.
in der westlichen GUS insgesamt in den ver- Nach seiner Wiederwahl ernannte Kutschma
gangenen Jahren eklatante Einflussverluste zwar das liberale und pro-westlich orientierte
hinnehmen musste. Die Reaktionen auf diese Politikergespann Viktor Juschtschenko und
Entwicklung machen sich sowohl in den bila- Boris Tarasjuk zum Premier- bzw. Auûenmi-
teralen weiûrussisch- bzw. ukrainisch-russi- nister und signalisierte Bereitschaft zu weite-
schen als auch in den regionalen und interna- rer Annåherung an den Westen. Aber gleich-
tionalen Beziehungen bemerkbar. zeitig wurde das Regime von Skandalen er-
schçttert. ¹Kutschma-Gateª, die Publikation
von Tonbandaufnahmen, die belegten, dass
Ukrainische Auûenpolitik der Pråsident die Ermordung des regimekriti-
schen Journalisten Georgi Gongadse gebilligt
Die Auûenpolitik der Ukraine schwankte und sogar in Auftrag gegeben hatte, beschleu-
von Beginn an zwischen ¹Ostª und ¹Westª. nigten die Entfremdung zwischen der
Zwar trat die Ukraine der GUS bei (ohne die Ukraine und Westeuropa. 5 Die ukrainische
Grundakte zu unterzeichnen), reagierte je- Fçhrung suchte Anfang dieses Jahrzehnts bis
doch mit groûer Zurçckhaltung auf russische zu den Pråsidentschaftswahlen Ende 2004
Versuche, die Integration der postsowjeti- wieder eine stårkere Anlehnung an Russland.
schen Staaten im Rahmen dieses Bçndnisses Diese gipfelte in der russischen Unterstçt-
zu vertiefen. Gleichzeitig sendete die Admi- zung fçr den Pråsidentschaftskandidaten des
nistration unter Leonid Kutschma immer Regimes, Viktor Janukowitsch.
wieder starke Signale nach Westen. 1997 un-
terzeichnete der ukrainische Pråsident die Gleichzeitig blieben zahlreiche Streitfragen
Grundakte NATO-Ukraine, welche der zwischen beiden Staaten offen. Die Auseinan-
Ukraine einen Sonderstatus in den Auûenbe- dersetzungen çber die Schwarzmeerflotte, die
ziehungen zur NATO einråumte. Wenige Halbinsel Krim, Grenzfragen und die Rechte
Monate zuvor war ein åhnliches Dokument der russischsprachigen Bevælkerungsanteile,
mit Russland unterzeichnet worden, unter welche die Beziehungen in den 1990er Jahren
anderem, um russischen Protesten gegen die bestimmt hatten, prågten weiterhin die Tages-
erste NATO-Erweiterungsrunde zu begeg- ordnung. 6 Je abhångiger sich die ukrainische
nen. Der Abschluss der ¹Charta çber eine be- Fçhrung in ihrem Bestreben nach Machter-
sondere Partnerschaftª verlieh der Ukraine, halt auch çber 2004 hinaus von der russischen
die zuvor ebenso wie die anderen postsowje- Unterstçtzung wåhnte, desto mehr Zuge-
tischen Republiken Teilnehmerin am Pro- ståndnisse lieû sie sich abringen. Eine unein-
gramm ¹Partnerschaft fçr den Friedenª war, geschrånkte Teilnahme der Ukraine am Pro-
eine besondere Position. 3 2002 veræffent- jekt eines Einheitlichen Wirtschaftsraums mit
lichte die ukrainische Fçhrung eine ¹Lang- Russland, Weiûrussland und Kasachstan
zeitstrategieª fçr den NATO-Beitritt. Diese konnte die russische Seite jedoch nicht errei-
Tendenz wurde verstårkt durch die aktive chen. 7
ukrainische Rolle bei der Grçndung der
GU(U)AM, 4 einer Organisation, welche mit Die Orangene Revolution brachte eine ra-
Unterstçtzung der USA ein geopolitisches dikale Ønderung des auûenpolitischen Kur-
Gegengewicht zu Russland bilden sollte.
1998 schloss die Ukraine als zweiter Staat 5 Vgl. Jakob Hedenskog, Filling ¹the gapª. Russian
auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion security policy towards Belarus, Ukraine and Moldova
nach der Russischen Fæderation ein Partner- under Putin, in: ders. u. a. (Eds.), Russia as a Great
Power. Dimensions of security under Putin, London ±
3 Vgl. www.nato.int/issues/nato-ukraine/index.html New York 2005, S. 130±155, hier S. 138.
(9. 1. 2007). 6 Vgl. Roman Wolczuk, Ukraine's Foreign and Secu-
4 Die GUUAM bestand zum Zeitpunkt ihrer Grçn- rity Policy 1991±2000, London ± New York 2003.
dung aus Georgien, der Ukraine, Armenien und Mol- 7 Vgl. Sabine Fischer, Russland und die Ukraine.
dawien. 1999 trat Usbekistan bei, das jedoch 2005 seine Fehlkalkulation oder neo-imperialer Impuls?, in: Ost-
Mitgliedschaft beendete. europa, 55 (2005) 1, S. 64±76.
APuZ 8 ± 9/2007 17
ses. Die deutliche russische Parteinahme fçr gust 2006 herrscht in der Innen- wie in der
das abgelæste Regime warf einen Schatten auf Auûenpolitik eine Pattsituation. Juschtschen-
die Beziehungen zwischen Moskau und dem ko, innenpolitisch geschwåcht, findet kaum
neuen Fçhrungsduo aus Pråsident Viktor noch Unterstçtzung fçr seine Auûenpolitik.
Juschtschenko und Premierministerin Julia Janukowitsch und die Partei der Regionen
Timoschenko. Neben der Unterstçtzung des stehen dem Westkurs des Pråsidenten zu-
Wahlkampfes von Janukowitsch und der Ent- rçckhaltend gegençber, ohne fçr eine klare
sendung von Politstrategen als Berater stan- Neuausrichtung auf Russland einzutreten.
den russische Geheimdienste unter dem Ver- Die Beziehungen mit Russland, die sich vor
dacht, an dem Giftanschlag auf Juschtschen- allem zwischen 2000 und 2004 dynamisch
ko mitgewirkt zu haben, unter dessen Folgen entwickelt hatten, stagnieren oder werden
der Pråsident bis heute leidet. Daneben fçhr- von heftigen Spannungen belastet, wie sie
ten auch die auûenpolitischen Akzente der wåhrend der Gaskrise im Winter 2005/2006
neuen ukrainischen Fçhrung zu nachhaltigen offenbar wurden.
Verstimmungen zwischen Kiew und Moskau.
Hatte die Vorgångerregierung eine Schaukel-
politik zwischen Russland und den Westeuro- Weiûrussische Auûenpolitik
pa verfolgt, so erklårte Juschtschenko den
Beitritt der Ukraine sowohl zur EU als auch Anders als die ukrainische richtete sich die
zur NATO zum prioritåren auûenpolitischen weiûrussische Auûenpolitik nach der Wahl
Ziel. Um die Position der Ukraine in der Re- Aleksander Lukaschenkos zum Pråsidenten
gion zu stårken, trieb die Regierung 2005 die 1994 an einer stårkeren Integration mit Russ-
Wiederbelebung der GUAM voran, die 2006 land aus. Die Beziehungen zu den westlichen
zu einer internationalen Organisation auf- Demokratien verschlechterten sich nach sei-
gewertet wurde. Darçber hinaus war die nem Machtantritt rapide. Nachdem im No-
Ukraine gemeinsam mit Georgien treibende vember 1996 ein manipuliertes Referendum
Kraft bei der Bildung der ¹Union der Demo- çber eine Verfassungsånderung stattgefunden
kratischen Wahlª, die sich aus postsowjeti- hatte, welche Lukaschenko mit weitreichen-
schen und mittelosteuropåischen Staaten, da- den Machtbefugnissen ausstattete, schrånkten
runter auch EU-Mitgliedern, zusammensetzt. die EU-Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu
Gegençber EU und NATO trat die Ukraine Weiûrussland ein. Nach einer Reduzierung
nun explizit fçr die Eræffnung einer Beitritts- der bilateralen Kontakte direkt nach dem Re-
perspektive ein. Unterstçtzt von Polen und ferendum beschloss der Europåische Rat im
den baltischen Staaten bemçhte sie sich vor September 1997 die Beschrånkung ministe-
allem in ihren Beziehungen zur EU um An- rieller Kontakte auf den EU-Vorsitz und die
nåherung. Die Ukraine war die erste sowjeti- Troika, die Aussetzung des Ratifizierungs-
sche Nachfolgerepublik, mit der ein Aktions- prozesses fçr das Partnerschafts- und Koope-
plan im Rahmen der Europåischen Nachbar- rationsabkommen, welches ebenso wie bei
schaftspolitik (ENP) abgeschlossen wurde. den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken
Fçr 2007 und 2008 stehen Verhandlungen die politischen und wirtschaftlichen Bezie-
çber ein so genanntes enhanced agreement hungen zur EU regeln sollte, sowie die Ein-
bevor, da das Partnerschafts- und Kooperati- stellung technischer Hilfe im Rahmen des
onsabkommen zwischen der Ukraine und der Hilfsprogramms TACIS 8 mit Ausnahme von
EU sowie der erste Aktionsplan im Rahmen humanitåren und demokratiefærdernden
der ENP 2008 ablaufen. Maûnahmen. 9
Angesichts der jçngsten innenpolitischen In den folgenden Jahren waren die Bezie-
Entwicklungen in der Ukraine ist offen, wie hungen Weiûrusslands zu Westeuropa und
sich das Land innen- und auûenpolitisch den USA angespannt. 1998/99 zwang die
positionieren wird. Die monatelange Regie- weiûrussische Fçhrung zahlreiche Staaten,
rungskrise nach den Parlamentswahlen im ihre Botschafter aus Minsk abzuziehen. Die
Mårz 2006, welche die Partei der Regionen 8 Technical Assistance to the Commonwealth of
unter Fçhrung von Janukowitsch fçr sich
Independent States.
entscheiden konnten, legte das Land auch 9 Vgl. www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laender-
auûenpolitisch lahm. Seit der Ernennung Ja- informationen/Belarus/Aussenpolitik.html#t3 (9. 1.
nukowitschs zum Premierminister im Au- 2007). Alle Bestimmungen sind bis heute in Kraft.
18 APuZ 8 ± 9/2007
EU verhångte daraufhin ein Einreiseverbot nicht zuletzt an den vagen Bestimmungen des
fçr hochrangige weiûrussische Politiker. Die Unionsvertrages. Dabei drehen sich russische
EU und andere internationale Organisationen und weiûrussische Deutungen vor allem um
kritisierten regelmåûig das autoritåre politi- die Frage, ob der kçnftige Unionsstaat eine
sche System sowie die Manipulation und Fål- symmetrische oder asymmetrische Struktur
schung der Parlamentswahlen in den Jahren haben soll: Die weiûrussische Seite plådiert
2000 und 2004 sowie der Pråsidentschafts- fçr eine Union gleichberechtigter Staaten, in-
wahlen 2001 und 2006. Die ENP, welche die nerhalb derer Weiûrussland seine Souveråni-
sich erweiternde EU nach 2002 zur Gestal- tåt behalten wçrde. Die Fçhrung håtte in
tung ihrer Beziehungen zu den neuen Nach- einer solchen Konstellation die gleichen Ge-
barn im Osten und Sçden entwickelte, nennt staltungsrechte wie die russische Seite. Russi-
Weiûrussland zwar als potenziellen Partner- sche Szenarien bewegen sich eher in Richtung
staat, macht eine Kooperation jedoch von einer asymmetrischen Union bis hin zur Inte-
einer Demokratisierung abhångig. Trotz gration Weiûrusslands in den russischen
dieser weitgehenden Isolation stammt ein Staat. 11 Diese Option stæût in Minsk jedoch
wesentlicher Teil der weiûrussischen Devi- auf strikte Ablehnung. 12
seneinnahmen aus Reexporten gçnstig erwor-
bener russischer Energietråger nach Westeu- Die Integration der beiden Staaten ist im
ropa. Dies belegt, dass die wirtschaftlichen militårischen Bereich sowie im Rçstungssek-
Beziehungen nicht vollståndig unterbrochen tor am weitesten fortgeschritten. Weiûruss-
sind, Minsk jedoch auch hier von Moskau ab- land hat seine Verteidigungsdoktrin weitge-
hångig ist. hend den russischen Dokumenten angepasst.
Im Rahmen einer gemeinsamen GUS-Luft-
Weiûrusslands Isolation låsst eine stårkere abwehr unterhålt Russland eine Radarstation
Orientierung nach Osten fast zwangslåufig bei Baranovichi. Auûerdem haben beide
erscheinen. Doch auch die Beziehungen zu Seiten ihre Rçstungsindustrien sowie -ex-
Russland sind schweren Belastungen ausge- porte eng aufeinander abgestimmt. Mitunter
setzt gewesen. Verhandlungen çber eine diente Weiûrussland der russischen Rçs-
(Re)Integration der beiden Staaten setzten be- tungsindustrie als Strohmann fçr Waffenex-
reits vor 1994 ein. 1996 unterzeichneten die porte in politisch problematische Regionen.
Pråsidenten einen Vertrag zur Bildung einer Dies war fçr die russische Seite besonders
russisch-weiûrussischen Gemeinschaft, der vorteilhaft, weil sie auf diese Weise ihre Be-
1997 durch einen Unionsvertrag ergånzt ziehungen zum Westen nicht gefåhrden
wurde. Er sieht die Bildung gemeinsamer In- musste. 13
stitutionen in Gestalt eines Obersten Staatsra-
tes sowie eines Ministerrates, eines Ståndigen
Komitees, eines Unionsparlaments und eines Die weiûrussische Volkswirtschaft ist von
gemeinsamen Staatshaushaltes vor. Die Ver- Russland abhångig. Ohne die niedrigen Ener-
fasstheit des Unionsstaates soll in einem giepreise, mit denen Russland den Nachbarn
Grundgesetz geregelt werden. Im wirtschaft- bislang faktisch subventioniert hat, kænnte
lichen Bereich sind die Bildung eines Ge- das reformfeindliche Regime Lukaschenkos
meinsamen Wirtschaftsraums sowie eine ge- kaum çberleben. Russland ist darçber hinaus
meinsame Wåhrung geplant. 10 der græûte Abnehmer von weiûrussischen In-
dustrieprodukten, die wegen der Zollunion
Doch trotz dieser ehrgeizigen Ziele ist die zwischen beiden Staaten billig exportiert wer-
Integration weit hinter den Erwartungen so- den und (nur) deshalb auf dem russischen
wohl der beteiligten Akteure als auch westli-
cher Beobachter zurçckgeblieben. Dies liegt
11 Vgl. Thomas Ambrosio, The Political Success of
10 Vgl. www.mid.ru/ns-rsng.nsf/ 6bc38aceada 6e44b Russia-Belarus Relations: Insulating Minsk from
432569e700419ef5/89cef2592f33c45743256a5400303 Color Revolution, in: Demokratizatsiya, 13 (2006)
152? Open Document (9. 1. 2007); Clelia Rontoyanni, 3, S. 407±434, hier S. 413.
A Russo-Belarusian ¹Union Stateª: A defensive 12 Vgl. Roth Dreyermond, The State of the Union.
response to Western enlargement?, University of Military Success, Economic and Political Failure in the
Glasgow, Dept. of Politics, Working Paper Series Russia-Belarus Union, in: Europe-Asia Studies, 56
10/00, www.one-europe.ac.uk/pdf/W10Clelia.pdf (2004) 8, S. 1191±1205.
(9. 1. 2007). 13 Vgl. J. Hedenskog (Anm. 5), S. 133.
APuZ 8 ± 9/2007 19
Markt bestehen kænnen. Die jçngsten Aus- scher Perspektive hatte diese Vereinigung je-
einandersetzungen zwischen dem Kreml bzw. doch nicht das Potenzial, zu einem Integra-
dem russischen Energiekonzern Gasprom tionskern im postsowjetischen Raum zu
und Minsk um die Anhebung der Energie- werden, weil die Ukraine nicht zu ihren Mit-
preise belegen einmal mehr, dass sich das gliedern gehærte. Deshalb trieb die russische
der russischen GUS-Politik zugrunde liegen- Fçhrung als organisatorische Alternative die
de Kosten-Nutzen-Kalkçl spçrbar veråndert. Schaffung eines Einheitlichen Wirtschaftsrau-
Sind bislang offensichtlich die politischen mes (EWR) voran, dem neben Weiûrussland
und geopolitischen Vorteile enger Beziehun- und Kasachstan im September 2003 nach
gen zu Weiûrussland aus russischer Perspekti- zåhen Verhandlungen auch die Ukraine zu-
ve groû genug gewesen, um die kostenintensi- stimmte. Der EWR læste die EWG als von
ve Integrationspolitik wenn nicht voranzu- russischer Seite favorisiertes Integrationspro-
treiben, so doch partiell aufrecht zu erhalten, jekt im postsowjetischen Raum ab. Ange-
so verschieben sich die Gewichte nun schritt- strebt wurden die Schaffung von supranatio-
weise in Richtung einer Úkonomisierung. nalen Institutionen und die freie Beweglich-
keit von Personen, Waren, Dienstleistungen
und Kapital. Auch die Einfçhrung einer ge-
meinsamen Wåhrung wurde als Fernziel
Russische Auûenpolitik: nicht ausgeschlossen.
Fortsetzung des Imperiums?
Úkonomisierung und Pragmatismus in den
Seit dem Amtsantritt Putins hat die russische Beziehungen zu den GUS-Staaten wurden
Auûenpolitik eine doppelte Wende erfahren. flankiert von einer Politik der Úffnung ge-
Wie in anderen Feldern auch orientierte sie gençber dem Westen. Bereits zu Beginn ihrer
sich nach 2000 zunåchst stårker an ækonomi- Amtszeit signalisierte die neue russische Fçh-
schen Kriterien. Die Bewertung der Bezie- rung Kooperationsbereitschaft und setzte in
hungen zu den çbrigen ehemaligen Sowjetre- ihren auûenpolitischen Strategiepapieren
publiken erfolgte zunehmend unter dem Ge- einen starken Akzent besonders auf die EU
sichtspunkt ækonomischer Effektivitåt. 14 als wichtigste Handels- und Modernisie-
Fçr die Staaten oder Subregionen, die in den rungspartnerin. Durch den Eintritt in die
1990er Jahren Gegenstand geopolitischer ¹Allianz gegen den Terrorª nach den An-
Auseinandersetzung zwischen der Russischen schlågen auf die USA im September 2001
Fæderation und vor allem den USA gewesen konnte die Distanz, die sich zwischen Russ-
waren, zog diese neue Akzentsetzung spçrba- land und dem Westen im Zusammenhang mit
re Verånderungen nach sich. So zeigte die rus- dem Kosovo-Krieg 1999 gebildet hatte, çber-
sische Regierung in den Beziehungen zu wunden werden.
einzelnen GUS-Republiken, vor allem zur
Ukraine und zu Georgien, aber auch zu
Weiûrussland, weniger Bereitschaft, ækono- Seit 2004 machen sich sowohl in der regio-
mische Interessen geostrategischen Erwågun- nalen als auch internationalen Politik Russ-
gen unterzuordnen. Dies manifestierte sich in lands Verånderungen bemerkbar. 15 Gegen-
Konflikten çber Zahlungssåumnisse und çber der Ukraine und Georgien, aber auch
Energieschulden der drei Staaten. Moldawien instrumentalisiert Moskau zu-
nehmend wirtschaftliche Macht, um politi-
schen Druck auszuçben und missliebigen in-
Gleichzeitig intensivierte Russland seine
nenpolitischen Entwicklungen in diesen Staa-
Bemçhungen um die Integration der Staaten
ten entgegenzuwirken ± vor allem aber, um
auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion
eine Ausdehnung der ¹farbigen Revolutio-
und betrieb die Entstehung neuer Organisa-
nenª zu verhindern. Die EU wird nicht mehr
tionen. Im Jahr 2000 grçndeten Russland,
ausschlieûlich als Partnerin, sondern als wich-
Weiûrussland, Kasachstan, Kirgistan und Ta-
dschikistan, aufbauend auf dem Vertrag çber
eine Zollunion von 1996/99, die Eurasische
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Aus russi- 15 Vgl. ders., Evolution or Regression? Russian Fo-
20 APuZ 8 ± 9/2007
tigste Konkurrentin um Einfluss im postso- engeren Wirtschaftsbeziehungen zu Russland
wjetischen Raum wahrgenommen. 16 zurçckgefçhrt wurde. So ist Russland der
wichtigste Absatzmarkt fçr ukrainische In-
Russland und die Ukraine dustrieprodukte, die auf dem Weltmarkt
kaum konkurrenzfåhig wåren. Zum anderen
Das Verhåltnis zur Ukraine kann als Barome- jedoch trug die zunehmende Isolation der
ter fçr die Wandlungsprozesse der russischen Ukraine im Zusammenhang mit Korruption
Auûenpolitik gesehen werden. Nachdem es und Menschenrechtsverletzungen unter Kut-
in den 1990er Jahren von beiderseitiger Stra- schma zu græûerer Offenheit russischen Ko-
tegielosigkeit gekennzeichnet war und weder operations- und Integrationsangeboten ge-
die politischen noch die wirtschaftlichen Be- gençber bei, da das Regime in ihnen eine
ziehungen gepflegt wurden, intensivierte die Mæglichkeit der Herrschaftsstabilisierung
russische Fçhrung nach Putins Machtantritt sah. Die Annåherung zwischen Russland ei-
ihre Ukraine-Politik. Dies manifestierte sich nerseits und EU und NATO andererseits im
in håufigeren Gipfeltreffen, aber auch in der Zuge des Kampfes gegen den Terrorismus
Tatsache, dass mit Viktor Tschernomyrdin 17 lieû schlieûlich das westliche Interesse an
2001 ein politisches Schwergewicht den Bot- einer regionalen Sonderrolle der Ukraine
schafterposten in Kiew çbernahm. Im Zuge schwinden.
des wirtschaftlichen Aufschwungs in Russ-
land wurden russische Unternehmen als Trotz dieser deutlichen Dynamisierung
Investoren in der Ukraine aktiv. Auch Ver- und Intensivierung der Beziehungen erreichte
handlungen çber die ukrainischen Gasschul- die russische Seite nie einen Gleichklang mit
den schienen zu einer Læsung zu fçhren, die den eigenen regionalpolitischen Vorstellun-
unter anderem in der Errichtung eines trans- gen. Auch die Regierung Kutschma/Januko-
nationalen Gaskonsortiums lagen, welches witsch beharrte bis zu ihrer Abwahl und
fçr den Transit russischen Gases durch die trotz wachsender Abhångigkeit von russi-
Ukraine verantwortlich sein sollte. Russland, scher Unterstçtzung auf der ukrainischen Ei-
welches der Ukraine ± wie allen anderen ehe- genståndigkeit. Der Ausgang der Wahlen
maligen Sowjetrepubliken ± Gas zu stark kann als Tief- und zugleich Wendepunkt des
subventionierten Preisen verkaufte, erklårte russischen Engagements im GUS-Raum be-
sich bereit, der Ukraine mit einer Reduzie- trachtet werden. Die verfehlte, ja fast errati-
rung der Rçckzahlungsforderungen entge- sche Politik der russischen Fçhrung beruhte
genzukommen. Im Gegenzug sagte die auf einer doppelten Fehlwahrnehmung: Zum
Ukraine ein Ende der ¹Gasdiebståhleª zu. 18 einen wurde Moskau ± wie die westeuropå-
ischen Regierungen auch ± von der Dynamik
Diese Entwicklungen verstårkten die Ab- der ukrainischen Protestbewegung gegen die
hångigkeit der ukrainischen Wirtschaft wie Manipulation der Wahlen çberrascht, wåh-
auch der herrschenden Elite von Russland. rend es die Stårke der von ihm unterstçtzten
Zwei Grçnde erklåren deren Bereitschaft, Akteure çberschåtzt hatte. Zum anderen
dies hinzunehmen: Zum einen erhæhte der hatte man das entschlossene Auftreten der
russische Boom die wirtschaftliche Attrakti- EU fçr die Demokratiebewegung offensicht-
vitåt des Landes als Kooperationspartner. lich nicht antizipiert, sondern im Gegenteil
Putins dynamische Politik sowie seine Prio- vorausgesetzt, dass Brçssel bzw. die europå-
ritåtensetzung hinsichtlich engerer Beziehun- ischen Staaten Russland in seinem direkten
gen zur Ukraine verstårkten diesen Ein- Einflussbereich weitgehend freie Hand lassen
druck. Auch die Ukraine erlebte in den wçrden.
ersten Jahren dieses Jahrzehnts einen Wirt-
schaftsaufschwung, der nicht zuletzt auf die Der Machtwechsel in der Ukraine brachte
eine abrupte Abkçhlung der Beziehungen
16 Vgl. Sabine Fischer, Die EU und Russland. Kon- mit sich. In Russlands auûenpolitischer Elite
flikte und Potenziale einer schwierigen Partnerschaft, herrschte im Sommer 2004 Einigkeit darçber,
SWP-Studie 34 (2006). dass sich die Ukraine nach Juschtschenkos
17 1985±1989 Minister fçr Gasindustrie der Sowjet-
Wahlsieg weiter aus Russlands Einflussbe-
union, 1989±1992 Vorsitzender von Gasprom; 1992±
1998 russischer Ministerpråsident unter Boris Jelzin, reich hinausbewegen werde. Eine Ursache
1998± 2001 Aufsichtsratsvorsitzender von Gasprom. fçr den Wahlausgang und die Massenproteste
18 Vgl. J. Hedenskog (Anm. 5), S. 141. nach dem zweiten Wahlgang sahen russische
APuZ 8 ± 9/2007 21
Beobachter in westlicher Einflussnahme. mokratischer Regierung gelten, da weder die
Auch hinter den Demonstrationen in Kiew EU noch die NATO dem Land derzeit eine
und anderen Stådten wurden westliche Initi- Beitrittsperspektive eræffnen.
atoren vermutet. Schon im Vorfeld des Sieges
des als prowestlich wahrgenommenen Vik- Russland und Weiûrussland
tor Juschtschenko kursierten Befçrchtungen
çber einen mæglichen Dominoeffekt, der
Auch Weiûrussland, das sich innen- wie au-
zum Sturz der prorussischen Regime in Ar-
ûenpolitisch in vællig anderen Konstellatio-
menien, Weiûrussland und Kasachstan fçh-
nen befand, bekam die Úkonomisierung der
ren kænnte. In einigen Szenarien wurde
russischen Auûenpolitik rasch zu spçren. Aus
selbst die ¹Installationª einer prowestlichen
der Perspektive der neuen russischen Fçh-
Fçhrung in Moskau nicht ausgeschlossen.
rung verlor die russisch-weiûrussische Union
All dies grçndet auf der Vorstellung, dass die
rapide an Attraktivitåt. Der Reformstau in
Ukraine zum Kristallisationspunkt eines
Weiûrussland, der die Wirtschaft bereits in
¹geopolitischen Spielsª zwischen Russland
den 1990er Jahren zu einem russischen Sub-
und dem Westen um Einfluss und Macht im
ventionsbetrieb gemacht hatte, musste ange-
postsowjetischen Raum geworden sei. Diese
sichts der Dynamisierung der russischen
Wahrnehmung ist von Einkreisungsphobien
Wirtschaft noch stårker als Hemmschuh und
geprågt, die irrational anmutende Reaktionen
Belastung erscheinen.
hervorbringen. Der Einfuhrstopp fçr mol-
dawische Agrarprodukte und Weine sowie
fçr georgische Weine und Mineralwåsser im Hinzu kam, dass in der Kosten-Nutzen-
Frçhsommer 2006 und die Auseinanderset- Kalkulation der neuen russischen Fçhrung
zung um die Festnahme und Abschiebung sicherheitspolitische Vorteile (vor allem ge-
von FSB-Agenten in Tbilisi erwecken den gençber dem Westen) wirtschaftliche Nach-
Eindruck, als verlasse die russische Fçhrung teile nicht mehr in dem Maûe aufwogen,
den zu Beginn ihrer ersten Amtszeit gewåhl- wie dies noch in der zweiten Hålfte der
ten pragmatischen Zugang zu den çbrigen 1990er Jahre der Fall gewesen war. Vielmehr
GUS-Staaten. Auch die Auseinandersetzun- bedeuteten engere Beziehungen zum ¹letz-
gen mit der Ukraine im Winter 2005/2006, ten Diktator Europasª nun sogar ein Risiko
die in westlichen Medien als ¹Gaskriegª kol- fçr die Annåherung Russlands an die EU.
portiert wurden, stehen in diesem Kontext. Schlieûlich betrachtete selbst die russische
Hier wurde ein im Prinzip nachvollziehbarer Fçhrung die Aktivitåten des weiûrussischen
± und von der neuen ukrainischen Regierung Pråsidenten mit zunehmender Skepsis. Diese
immer wieder propagierter ± Schritt, nåmlich entsprang weniger der Sorge um Demokra-
die Beendigung russischer Subventionen fçr tie und Menschenrechte, die von Luka-
die ukrainische Wirtschaft çber kçnstlich schenko mit Fçûen getreten werden. Viel-
niedrig gehaltene Energiepreise, in einem mehr riefen dessen machtpolitischen Ambi-
Ausmaû politisiert, welches dem internatio- tionen gepaart mit Beliebtheit auch in
nalen Ansehen Russlands erheblich schadete Russland Bedenken hervor. Das Verhåltnis
und vielen anderen auûenpolitischen Zielen der beiden Pråsidenten war von Beginn an
der Putin-Administration zuwiderlief. 19 åuûerst unterkçhlt.
Die ukrainische Fçhrung ist çber die Frage Auch Weiûrussland, welches seine Energie
des auûenpolitischen Kurses gespalten. Auch ausschlieûlich aus Russland bezieht und
wenn sich die Partei der Regionen unter Ja- gleichzeitig neben der Ukraine wichtigstes
nukowitsch durchsetzen sollte, wird man in Transitland fçr russische Energieexporte nach
Moskau kaum von einer ¹Rçckkehrª der Westeuropa ist, geriet in einen ¹Gaskonfliktª
Ukraine in die russische Einflusssphåre aus- mit Moskau, als Gasprom im September 2003
gehen kænnen. Wahrscheinlicher ist die Fort- eine deutliche Anhebung der Energiepreise
setzung der bekannten Schaukelpolitik. Dies ankçndigte. Ziel des russischen Drucks war
wçrde auch fçr eine Ukraine unter liberalde- die Durchsetzung eigener Interessen in der
russisch-weiûrussischen Union (z. B. die Er-
19 Russland hatte 2006 erstmals den G8-Vorsitz inne. weiterung der Rubelzone) und die Beteili-
Das Thema Energiesicherheit stand auf der Agenda des gung Gasproms am weiûrussischen Transit-
G8-Gipfels in St. Petersburg. monopolisten Beltransgas. Im Verlauf des
22 APuZ 8 ± 9/2007
Konflikts stellte Gasprom am 18. Februar ter Reichweite. Russland, Weiûrussland und
2004 seine Gaslieferungen vorçbergehend die Ukraine sowie die EU sind in einem sehr
ein, bevor beide Seiten sich auf einen neuen konfliktgeladenen Beziehungsdreieck gefan-
Vertrag fçr die Belieferung Weiûrusslands gen. Die Spannungen in den regionalen Be-
einigen konnten. 20 Im jçngsten Disput, der ziehungen werden sich nur læsen, wenn sich
am 31. Dezember 2006 vorlåufig beigelegt alle Seiten dieses Dreiecks um eine konstruk-
wurde, konnte Russland seine Forderungen tive Politik bemçhen.
(vor allem nach Beteiligung Gasproms an
Beltransgas) weitestgehend durchsetzen. Wie
neuerliche Auseinandersetzungen im Januar
2007 jedoch zeigten, ist der Konflikt damit
keineswegs dauerhaft beigelegt.
APuZ 8 ± 9/2007 23
Wilfried Jilge In den Bereich der Geschichtspolitik gehæren
Thesen, welche die Hungersnot als einen
Die These vom ¹Holodomorª 2 als geplan- ukrainischen Debatte als Bezeichnung fçr den
Hungerterror eingebçrgert. Es ist eine Verbindung von
ter Genozid am ukrainischen Volk ist in der
holod (Hunger) und mor (Krankheit, Seuche, Massen-
ukrainischen Forschung mehrheitsfåhig, in- sterben) und verweist auf die gewaltsame Instrumen-
ternational aber hæchst umstritten. Neuere talisierung der Hungersnot durch die Bolschewiki ge-
Forschungen haben zwar nationalitåtenpoliti- gen die sich gegen die Kollektivierung wehrenden
sche Faktoren berçcksichtigt, aber auch nach- Bauern. Mit der Begriffsbildung wird die Einzigartig-
gewiesen, dass die Politik der Bolschewiki keit des von der sowjetischen Fçhrung verçbten Ver-
brechens angedeutet.
widersprçchlicher war, als es Ansåtze nahe 3 Vgl. Rudolf A. Mark/Gerhard Simon (Hrsg.), Ver-
legen, die ausschlieûlich von nationalen und nichtung durch Hunger. Der Holodomor in der
politischen Faktoren ausgehen. Die Kontro- Ukraine und der UdSSR (Themenheft Osteuropa 12),
verse ist wissenschaftlich nicht entschieden. Berlin 2004.
24 APuZ 8 ± 9/2007
scher Ausrichtung oder als Genozid (biswei- fassendes Maûnahmenpaket. Bereits 2005
len: Ethnozid) am ukrainischen Volk selbst in hatte der Pråsident die Grçndung eines ¹In-
der autoritåren Endphase des Regimes Kut- stituts des nationalen Gedenkensª (INP)
schma ± als die Staatsfçhrung zunehmend auf nach polnischem Vorbild in die Wege geleitet,
Versatzstçcke sowjetischer Geschichtspolitik das laut Beschluss des Ministerkabinetts vom
zurçckgriff ± zum Bestandteil der offiziell 5. Juli 2006 als ¹zentrales Organ der exekuti-
zugelassenen Schulgeschichtsbçcher. 4 ven Gewaltª begrçndet wurde. 6 Die Bestim-
mungen des INP lesen sich wie ein ge-
Holodomor-Gedenken als Mittel der schichtspolitisches Programm zur Færderung
der Nationsbildung: Das Institut solle der
Nationsbildung ¹Realisierung der staatlichen Politik in der
Sphåre der Erneuerung und Bewahrung des
Der im Januar 2005 als Pråsident vereidigte nationalen Gedåchtnisses des ukrainischen
Viktor Juschtschenko und die von ihm einge- Volkesª dienen sowie die Erinnerung an die
setzten ¹orangefarbenen Regierungenª setz- Opfer der politischen Repressionen verewi-
ten in ihrer Geschichtspolitik deutlich stårke- gen. Als weitere Aufgaben werden die Står-
re nationale Akzente, als dies in der spåten kung der ¹Achtung der Gesellschaft vor der
Kutschma-Øra der Fall war. In einem wesent- eigenen Geschichteª und die weltweite Ver-
lichen Punkt unterschied sich Juschtschenko breitung von ¹objektiven Informationenª zur
von seinem Vorgånger: Er lieû die Medien ukrainischen Geschichte genannt.
unangetastet und hat sie nicht zur Manipula-
tion der regional unterschiedlichen Erinne- Die Erinnerung an den Holodomor sollte
rungskulturen genutzt. Anders als Kutschma der Integration der Nation çber regionale
hat er die Erinnerung an ¹nationale Heldenª, Grenzen hinweg dienen: Die Pråsidialerlasse
etwa an den in den russisch-ukrainischen Be- zum Holodomor-Gedenken im Jahr 2006
ziehungen hæchst umstrittenen Kosakenhet- stieûen die Einweihung oder Vorbereitung
mann Iwan Mazepa, 5 auch bei Auftritten in fçr die Errichtung von Denkmålern an die
den çberwiegend russischsprachigen sçdli- Opfer des Holodomor in såmtlichen Gebiets-
chen und æstlichen Regionen des Landes the- zentren der Ukraine (z. B. in Charkiw im
matisiert, in denen die Identifikation mit na- Osten und Tschernihiw im Norden) an. Der
tionalen Helden deutlich geringer ist als in symbolischen Integrationspolitik diente das
den westlichen Landesteilen. bereits 2005 vom Pråsidenten eingefçhrte Ri-
tual der Pflanzung eines Schneeballstrauch-
Einer der Schwerpunkte der geschichtspo- hains. Der Schneeballstrauch mit seinen roten
litischen Agenda von Pråsident Juschtschen- Beeren ist ein ukrainisches heraldisches Zei-
ko wurde ab 2005 die Auseinandersetzung chen und Symbol der Nationalkultur. Von
mit der totalitåren sowjetischen Vergangen- Bçrgerinnen und Bçrgern aus Dærfern aller
heit. Im Zentrum steht die staatliche Færde- Regionen, die unter dem Hunger gelitten
rung der Erinnerung an die Opfer des Holo- hatten, wurden Schneeballstråucher an den
domor in der Ukraine der Jahre 1932/1933. Dnjepr-Hången (in der Nåhe des Kiewer
Im Jahr 2006 beschlossen Pråsident und Re- Hæhlenklosters) gepflanzt, wo in den kom-
gierung anlåsslich des ¹Tages des Gedenkens menden Jahren eine monumentale Gedenk-
an die Opfer der Holodomore und politi- ståtte zum Holodomor entstehen soll: Ge-
schen Repressionenª (25. November) ein um- plant sind ein Denkmal, ein Museum und ein
wissenschaftlich-methodisches Zentrum.
4 Vgl. ausfçhrlich Wilfried Jilge, Holodomor und Na-
tion. Der Hunger im ukrainischen Geschichtsbild, in: Kristallisationspunkt der pråsidialen Erin-
ebd., S. 147± 163. nerungs- und Integrationspolitik wurde das
5 Als die Ukraine im Nordischen Krieg (1700±1721)
Gesetzesprojekt ¹Ûber den Holodomor in
zum Kriegsschauplatz wurde, læste sich Iwan Mazepa der Ukraine in den Jahren 1932±1933ª, das
(1639±1709) ± Hetman (Feldherr) und militårischer
der Pråsident am 3. November 2006 ± wenige
Fçhrer der ukrainischen Dnjepr-Kosaken (ab 1687) ±
1708 von Zar Peter I. und wechselte mit den Sapo-
roscher Kosaken auf die Seite Schwedens unter Kænig 6 Beschluss des Ministerkabinetts der Ukraine Nr. 927
Karl XII. Fçr ukrainische Patrioten ist Mazepa daher vom 5. 7. 2006, Pro zatverdzÏennja PolozÏennja pro
ein leuchtendes Symbol der Unabhångigkeit, fçr russi- UkraÒns'kyj instytut nacional'noÒ pam''jati, in: Ofi-
sche Nationalisten bis heute ein Separatist und Ver- cijnyj visnyk UkraÒny, (2006) 27, 19. 7. 2006, S. 83,
råter. § 1962.
APuZ 8 ± 9/2007 25
Wochen vor dem offiziellen Gedenktag zum ordneten. Sie warnten vor einer Politisierung
Holodomor ± beim Parlament registrieren des Themas und erklårten die Anerkennung
lieû. In æffentlichen Stellungnahmen erklårte des Holodomor noch vor dem Gedenktag
er die in § 1 festgesetzte Anerkennung des ¹zur Verpflichtung der politischen Kråfte
Holodomor der Jahre 1932/1933 in der vor der ukrainischen Nationª. Das Parlament
Ukraine als ¹Genozid an der ukrainischen verschob jedoch am 17. November 2006 die
Nationª zum Kern des Gesetzesvorhabens. Behandlung des Gesetzesprojektes. Der Stell-
Aus Sicht des Pråsidenten dient die Anerken- vertreter des Pråsidenten im Parlament
nung als Genozid auch deswegen der ¹Kon- sprach daraufhin von einer ¹verantwortungs-
solidierungª der Nation, da die Bewertung losen Position des Parlamentsª. So konnte
der Hungersnot als Genozid von der Bevæl- Juschtschenko die gesetzliche Anerkennung
kerungsmehrheit geteilt werde. Auûerdem des Genozids zwar nicht rechtzeitig zum Ge-
verbietet das Gesetz die æffentliche Leugnung denktag durchsetzen, sich jedoch vom ¹un-
des Holodomor als ¹Verhæhnung des Geden- verantwortlichenª Parlament als Wahrer des
kens der Opfer des Holodomorª und ¹Er- nationalen Gedåchtnisses und damit der Na-
niedrigung der Wçrde des ukrainischen Vol- tion absetzen und so moralisch legitimieren.
kesª. Die bisweilen einseitige Fixierung auf
die Genozidthese drçckt sich sowohl in der Die Genozidthese in der politischen
Intensivierung der diplomatischen Bemçhun-
gen um die Anerkennung der Hungersnot als Auseinandersetzung
Genozid als auch in den Bestimmungen zum
INP aus: Das Institut soll ¹an der Realisie- Ein Gesetz zur politischen Bewertung des Ho-
rung der staatlichen Politik zur Anerkennung lodomor wurde erst in einer langen parlamen-
der Holodomore in der Ukraine als Akte des tarischen Debatte zur Hungersnot am 28. No-
Genozids teilnehmenª. Dies bezieht sich vember 2006, drei Tage nach den Gedenkfeier-
nicht nur auf die Hungersnot von 1932/1933, lichkeiten, vom Parlament verabschiedet. 8 Bei
sondern auf auch die sowjetischen Hungers- dem von einer absoluten Mehrheit angenom-
næte der Jahre 1921 ±1923 und 1946±1947. 7 menen Gesetz ¹Ûber den Holodomor in der
Ukraine in den Jahren 1932±1933ª handelte
In seiner Ansprache an das ukrainische es sich um einen Kompromiss, der nur eine
Volk und die Abgeordneten des Parlaments geringfçgige Modifikation des ursprçngli-
am 16. November 2006 bat Viktor Jutscht- chen Vorhabens darstellte. Es enthielt die An-
schenko die Parlamentsabgeordneten um die erkennung des Holodomor als ¹Genozid am
Zustimmung zu seinem Gesetzesprojekt, ukrainischen Volkª und stufte seine Leug-
noch vor dem offiziellen Holodomor-Ge- nung als widerrechtlich ein. Die parlamenta-
denktag am 25. November. Ausdrçcklich be- rische Mehrheit wurde durch die fast ge-
tonte er, kein anderes Volk ± gemeint waren schlossene Zustimmung derjenigen Fraktio-
die Russen ± des Genozids beschuldigen zu nen gewåhrleistet, die bis zum Sommer 2006
wollen: Urheber des Verbrechens sei das stali- in den beiden von Juschtschenko eingesetzten
nistische Regime in der Sowjetunion gewe- ¹orangenenª Regierungen vertreten waren
sen. Jutschtschenko und die Vertreter des und mit dem Pråsidenten auf dem Platz der
Pråsidialapparates appellierten sowohl an die Unabhångigkeit in Kiew die Proteste gegen
Moral als auch an den Patriotismus der Abge- die gefålschten Pråsidentenwahlen im No-
vember/Dezember 2004 unterstçtzten: der
7 Bisher haben zehn nationale Parlamente den Holo- propråsidiale Block ¹Unsere Ukraineª, der
domor als Genozid an den Ukrainern anerkannt (u. a. græûte Oppositionsblock ¹Block Julia Timo-
Estland, Italien, Litauen, Polen und Georgien). Bei den schenkoª sowie die Fraktion der Sozialisti-
diplomatischen Bemçhungen erhålt die Ukraine vor schen Partei der Ukraine (SPU). Die Partei
allem von den ostmitteleuropåischen Nachbarn Un- der Regionen (PR) des amtierenden Premier-
terstçtzung: Ende 2006 verurteilte das polnische Par-
ministers Viktor Janukowytsch stimmte bis
lament den Holodomor anlåsslich des Gedenktages als
Genozid am ukrainischen Volk und zeigte besonderes auf zwei Abgeordnete nicht fçr das Gesetz,
Verståndnis fçr das Gedenken der Ukrainer an den und die Fraktion der Partei der Kommunis-
Holodomor: Alle Formen des Totalitarismus håtten
insbesondere in der Geschichte von Polen und Ukrai- 8 Vgl. Gesetz der Ukraine Nr. 376/V vom 28. 11. 2006,
nern ihre Spuren hinterlassen. Anm. der Red.: vgl. zum Pro Holodomor 1932± 1933 rokiv v UkraÒni, in: Vido-
ukrainisch-polnischen Verhåltnis auch den Beitrag von mosti VerchovnoÒ Rady UkraÒny (VVR), (2006) 50,
Bohdan Hud in diesem Heft. S. 504.
26 APuZ 8 ± 9/2007
ten (KPU) verweigerte ebenfalls erwartungs- deutung des Ereignisses fçr die Ukraine,
gemåû die Unterstçtzung. Fçr Jutschtschen- sprach sich jedoch gegen die Annahme der
ko war dies immerhin ein Teilerfolg: Ihm ge- Genozidthese aus. In den Redebeitrågen ihrer
lang es, das ehemalige ¹orangefarbeneª bzw. Abgeordneten und in dem von ihr eingebrach-
nationaldemokratische Lager zu mobilisieren ten alternativen Gesetzesprojekt, das dem
und in Zeiten eigener schlechter Umfrage- Projekt des Pråsidenten durchaus åhnlich war,
werte sein Bild bei der ¹orangenenª Wåhler- sprach die PR vom ¹Holodomorª als ¹Verbre-
schaft mittels eines patriotisch und emotional chen des Stalinschen Regimes gegen die
besetzten Themas aufzupolieren. Menschheitª und als einer ¹nationalen Tragæ-
die des ukrainischen Volkesª. Gegen die Ge-
Entscheidenden Anteil am Zustandekom- nozidthese fçhrte sie an, dass es damals auch
men des Kompromisses hatte die Fraktion der in anderen sowjetischen Regionen auûerhalb
SPU, insbesondere ihr Vorsitzender Oleksandr der Ukraine (z. B. in Kasachstan oder in den
Moroz, der zugleich Pråsident des ukraini- Schwarzerdegebieten Russlands) massenhaft
schen Parlaments ist. Die Sozialisten gehæren Opfer der Hungersnot gegeben habe, natio-
gemeinsam mit PR und KPU der ¹Antikrisen- nale und ethnische Kriterien auf die Hungers-
koalitionª an und unterstçtzten die Regierung not daher nicht angewendet werden kænnten.
Janukowitsch. Moroz handelte mit Juscht- Sie warf dem Pråsidenten und den propråsi-
schenko einen Gesetzeskompromiss aus: So dialen Kråften vor, mit einer Fixierung auf die
wurde in § 1 zur Anerkennung des Genozids Genozidthese das Land zu spalten.
der Begriff ¹ukrainische Nationª durch ¹ukrai-
Die PR vertritt vor allem die russischsprachi-
nisches Volkª ersetzt. Laut Verfassung ist
gen Wåhler im Osten der Ukraine, die der so-
damit die Gesamtheit der Bçrger gemeint, un- wjetischen Vergangenheit weniger kritisch ge-
abhångig von ihrer ethnischen Zugehærigkeit. gençberstehen als die Bevælkerung im Zentrum
Damit wurde dem Einwand der Sozialisten und Westen des Landes und fçr enge Beziehun-
und anderer Abgeordneter Rechnung getragen, gen mit Russland eintreten. Auûerdem liegt die
nicht ausschlieûlich ethnische Ukrainer seien wirtschaftliche und politische Machtbasis des
Opfer des Holodomor geworden. Premierministers Janukowytsch in den ener-
Indem die Sozialisten in einer Abstimmung giehungrigen Industrien des ukrainischen
eine ¹orangene Koalitionª schmieden halfen, Ostens (Stahlproduktion): Die Sicherung billi-
ger Energielieferungen aus Russland gehært
erinnerten sie den Premierminister und die PR
daher zu den Prioritåten in der auûenpoliti-
an die wichtige Rolle des ¹kleinen Koalitions-
schen Agenda der Regierung Janukowytsch.
partnersª und legitimierten sich zugleich als
Garanten ¹konstruktiver Læsungenª. Mit die- Das Auûenministerium der Russischen Fæ-
ser Legitimationsfunktion von Geschichtspo- deration erklårte im Rahmen der ukraini-
litik war die Verschleierungsfunktion zur Ka- schen Debatte çber den Holodomor, dass
schierung undemokratisch-postsowjetischer man die Bewertung der Hungersnot als Ge-
Verhaltensweisen freilich eng verbunden: In nozid nach ethnischen und nationalen Krite-
seiner Parlamentsrede zum Holodomorgesetz rien nicht anerkenne und warnte vor einer
bezeichnete Moroz die ¹Entwicklung der De- Politisierung des Themas. Die von der dama-
mokratieª als wichtigste Lehre, die aus dem ligen sowjetischen Fçhrung verantwortete
Holodomor zu ziehen sei. Doch wenige Mo- Hungersnot gehære zum ¹gemeinsamen Ge-
nate zuvor hatte er nach einer bereits getroffe- dåchtnisª von Ukrainern, Russen, Kasachen
nen Koalitionsvereinbarung zwischen den und anderen Vælkern der ehemaligen Sowjet-
¹orangenen Parteienª durch einen såmtlichen union. Die russische Seite empfindet die vom
demokratischen Gepflogenheiten widerspre- Pråsidenten der Ukraine betriebene Anerken-
chenden politischen Seitenwechsel die Ernen- nung der Genozidthese implizit als antirussi-
nung von Viktor Janukowytsch zum Premier- sche Schuldzuweisung. Im Hinblick auf na-
minister ermæglicht, der mit seiner PR eine tionalistische Tendenzen in der ukrainischen
Hauptverantwortung fçr die Wahlfålschungen æffentlichen Debatte ist dieser Vorwurf nicht
im Jahr 2004 trågt. unbegrçndet, bezçglich der Haltung des Prå-
sidenten und der meisten Abgeordneten je-
Die PR leugnete in ihrem Gesetzesentwurf doch nicht gerechtfertigt. 9
weder den verbrecherischen Charakter der
Hungersnot noch die Verantwortung der so- 9 Dass die erinnerungspolitischen Auseinander-
wjetischen Fçhrung noch die besondere Be- setzungen um den Holodomor mit dem verstårkten
APuZ 8 ± 9/2007 27
Die Haltung der PR war jedoch nicht nur die geschichtspolitische Moralisierung einer
von der Sorge um innere Konsolidierung und juristischen Formel wurden die fast aus-
geschichtspolitischen Frieden mit Russland, schlieûlich in der Anerkennung des Genozids
sondern auch von machtpolitischen Motiven liegenden Unterschiede zwischen dem modi-
geleitet. Vor dem Hintergrund der politischen fizierten pråsidialen Gesetzesprojekt und
Rivalitåt und des verfassungsrechtlich noch dem Vorhaben der PR in absolute Aus-
nicht geklårten Kompetenzgerangels zwi- schlusskriterien verwandelt: Denjenigen Ab-
schen Pråsident und Regierung håtte es eine geordneten, welche die Genozidthese ablehn-
breite Parlamentsmehrheit unter Einschluss ten, wurde implizit die ¹wahreª patriotische
der Stimmen der PR dem Pråsidenten ermæg- Gesinnung abgesprochen und ihr Handeln im
licht, die æffentlichkeitswirksame Rolle eines Namen der Nation moralisch delegitimiert.
çber regionale Unterschiede und politische
Konflikte erhabenen Schiedsrichters zu spie-
len, der symbolisch die Einheit der Nation Politisierung und nationalistische
garantiert. Eine Zustimmung zum Gesetz Tendenzen
wåre fçr die PR durchaus mæglich gewesen:
Der heutige Vizepremierminister Dmytro Die auf die Genozidthese fixierte Hungerde-
Tabatschnyk hatte bereits 2002/2003 in den batte ging auch mit der Konstruktion nationa-
parlamentarischen Anhærungen zur Hungers- ler (antirussischer) Feindbilder und Stereoty-
not ± damals ebenfalls in der Funktion als Vi- pen einher. Die meisten Debattenredner des
zepremierminister der Regierung Januko- nationaldemokratischen Lagers und insbeson-
wytsch ± die Hungersnot als ¹Genozid am dere der Pråsident haben die Genozidthese
ukrainischen Volkª gewertet. ausdrçcklich nicht ethnisch-exklusiv begrçn-
An der Parlamentsdebatte zur Hungersnot det; unter Bezug auf die Vælkermordkonven-
låsst sich exemplarisch der Prozess der kultu- tion der Vereinten Nationen aus dem Jahre
rellen Umwertung der postsozialistischen 1948 argumentierten sie mit dem Kriterium
Gesellschaft durch nationale Identitåts- und ¹nationalª im Sinne einer politischen Nation,
Geschichtspolitik illustrieren: Mittels eines die nicht nur ethnische Ukrainer einschlieût.
essentialistischen Geschichtsbildes werden Gleichwohl wurde in einigen Beitrågen der
relative Unterschiede zwischen politischen æffentlichen Debatte Russland als dem alleini-
und nationalen Gruppen in absolute, totale gen Rechtsnachfolger der UdSSR die unmit-
Unterschiede verwandelt, um durch Exklusi- telbare Verantwortung fçr den Holodomor
on den politischen Gegner zu delegitimie- zugeschrieben. 11 Aus historischen und natio-
ren. 10 Der stellvertretende Fraktionsfçhrer nalen Stereotypen wurden Schlussfolgerungen
des ¹Blockes Julia Timoschenkoª Oleksandr fçr die politische Gegenwart abgeleitet: So sei
Turtschynow erklårte die Zustimmung zur die (von der Partei der Regionen geforderte)
Anerkennung der Genozidthese zum Maû- Einfçhrung der russischen Sprache als zweiter
stab der Zugehærigkeit der Abgeordneten zur Staatssprache der ¹Versuch, den kulturellen
nationalen Elite und ihrer moralischen Fåhig- Schlag des Holodomor gegen die Ukrainer
keit, die Wçrde der Vorfahren zu verteidigen auch fçr die Zukunft festzuschreibenª. 12
und sich als Nation zu pråsentieren. Durch
Problematisch ist weniger die Aussage zum
Heranrçcken der Ukraine auch im ¹ålteren EU-Euro- Status des Russischen denn die Polarisierung
paª zum Thema werden kænnten, illustriert die Aus- aktueller kulturpolitischer Fragen durch His-
stellung ¹Die Hungersnot in der Ukraine 1932/1933ª,
die das Ústerreichische Staatsarchiv, die Úster- 11 Dabei ist zu bedenken, dass ein Teil dieser Beitråge
reichisch-Ukrainische Gesellschaft und die Ukrai- håufig eine direkte Reaktion auf die in Putins Russland
nische Botschaft in Wien unter Schirmherrschaft von gepflegte, apologetische Erinnerung an sowjetische
Bundesminister a. D. Rudolf Edlinger organisierten Symbole oder ¹Heldenª darstellt; dazu gehært die po-
und am 21. 2. 2006 eræffneten: Gegen die Ausstellung sitive Neubewertung von Symbolen des Stalinismus
hatten Vertreter der Russischen Fæderation Einwånde (z. B. von Stalins Geheimdienstchef Berija) ± eine Ent-
bei der æsterreichischen Regierung vorgebracht. Of- wicklung, die in der Ukraine angesichts der damit ein-
fensichtlich unterstellte die russische Seite der Aus- hergehenden autoritåren Entwicklung mit Sorge be-
stellung eine antirussische Tendenz. obachtet wird.
10 Vgl. zu diesem postkolonialistischen Ansatz Gra- 12 Vgl. den Beitrag des Politologen und Aktivisten der
ham Smith u. a. (Eds.), Nation-Building in the Post- Jugendorganisation Pora, Ostap Kryvdyk, Holodomor
Soviet Borderlands. The Politics of National Identities, bez UkraÒnciv, in: UkraÒns'ka Pravda vom 27. 11. 2006;
Cambridge 1999, S. 15± 16. www.pravda.com.ua.
28 APuZ 8 ± 9/2007
torisierung. Fragwçrdig sind diese Tendenzen rung und Westorientierung der Ukraine. Ein
auch deswegen, weil sie die ukrainische Nati- Beispiel ist die Geschichtspolitik Viktor
on ausschlieûlich als Opfernation definieren Juschtschenkos in seiner Zeit als Oppositions-
und von jeder eigenen Verantwortung fçr die fçhrer der Jahre 2003/2004. Im Rahmen des
totalitåre Vergangenheit zu entlasten suchen. Gedenkens zum 70. Jahrestag des Holodomor
In diese Richtung zielt in einigen Fållen auch 2003 unterstrich er die Bedeutung einer freien
die Bezeichnung des Holodomor als ¹ukraini- Presse und einer in Europa integrierten
scher Holocaustª, die den Holocaust zugun- Ukraine: In einem solchen Land håtte kein
sten der Hervorhebung und Wahrung des Op- Regime die Hungersnot verschweigen und
ferstatus in den Hintergrund drången soll. Je- den Notleidenden Hilfe verwehren kænnen.
doch bedeutet dieser in der ukrainischen In demokratisch-emanzipatorischer Absicht
Debatte fast eingebçrgerte Begriff nicht nutzte Juschtschenko das Thema zu einer Kri-
zwangslåufig eine Abwertung des Holocaust, tik am autoritåren Regime Kutschmas, ohne
auch wenn dieser in der Erinnerungskultur durch Schuldzuweisungen an ¹die Russenª in
der Ukraine und anderen Staaten Ostmitteleu- die Falle der staatlichen Propaganda gegen
ropas einen insgesamt wohl geringeren Stel- die ¹faschistischen Nationalistenª zu tappen.
lenwert als die sowjetischen Verbrechen hat: 13 Auch in anderen historischen Fragen verband
In vielen Fållen signalisiert der Begriff das Be- der damalige Oppositionsfçhrer Schlçsselele-
dçrfnis nach Anerkennung einer internationa- mente des antisowjetisch-nationalen Ge-
len und vor allem in den westeuropåischen Er- schichtsbildes mit einem demokratisch ausge-
innerungskulturen immer noch wenig be- richteten Reformprogramm und konnte der
kannten totalitåren Vernichtungserfahrung. Opposition so auch Wåhler auûerhalb der na-
tionalbewussten Westukraine erschlieûen.
Nach Meinung einer Minderheit von ukra-
inischen Historikern haben eine nationale Mit dem Rollenwechsel Jutschtschenkos
und moralisierende Argumentation sowie die vom Oppositionsfçhrer zum Pråsidenten
legitimationswissenschaftlich-staatsaffirmati- haben sich die Bedeutungen seiner Ge-
ve Fixierung auf die Genozidthese Auswir- schichtspolitik gerade im Bezug auf das
kungen auf das Klima in der historischen For- Thema Hungersnot verschoben: Im Vorder-
schung der Ukraine: Die in den vergangenen grund stehen Werte wie ¹Konsolidierungª,
Jahren zunehmende Politisierung kænne ¹Einheit der Nationª und ± eng damit ver-
¹dem umfassenden Verståndnis des Ausma- bunden ± die politisch-moralische Legitimati-
ûes, der Ursachen und der Folgen der Tragæ- on der pråsidialen Fçhrung und der sie unter-
die nur abtråglichª sein. 14 stçtzenden politischen Kråfte. Gleichwohl
låsst sich diese Geschichtspolitik nicht auf
eine machtpolitische Inszenierung der Staats-
Ambivalenz nationaler Geschichtspolitik macht reduzieren: Die christlich-religiæs ein-
gefårbten Zeremonien zum Gedenken an die
Trotz der exklusiv-nationalistischen Tenden- Opfer des Holodomor im November 2005
zen ist fçr viele ukrainische Wissenschaftler und insbesondere im November 2006, die in
und Intellektuelle, die der Genozidthese fol- Kiew unter dem Motto ¹Zçnde eine Kerze
gen, die historische Aufarbeitung der Hun- anª stattfanden, illustrierten das verbreitete
gersnot kein Grund fçr zwischennationale Bedçrfnis der Bevælkerung, der Tragædie zu
Schuldzuweisungen; vielmehr gilt sie als ein gedenken: Tausende Kiewer stellten vor dem
historisches Argument fçr die Demokratisie- Denkmal zum Holodomor auf dem Platz vor
13 Vgl. zum Zusammenhang von Erinnerung an den
dem Michaelskloster eine Kerze zum Anden-
ken an die Opfer der Hungersnot auf. Die
Holocaust in der Ukraine, den Zweiten Weltkrieg und
den damit symbolisch håufig verknçpften ¹ukraini- vom Pråsidenten anlåsslich des Gedenktages
schen Holocaustª Wilfried Jilge, Zmahannja zÏertv eræffnete und stark besuchte Ausstellung
[Konkurrenz der Opfer], in: Krytyka, (2006) 5, S. 14± ¹Freigegebene Erinnerungª im ¹Ukraini-
17. schen Hausª in Kiew pråsentierte geheime
14 Valerij Vasil'ev, Zwischen Politisierung und His-
Dokumente der sowjetischen Geheimpolizei
torisierung. Der Holodomor in der ukrainischen His-
NKWD zur Hungersnot und zu den politi-
toriographie, in: R. A. Mark/G. Simon (Anm. 3),
S. 165 ±182, hier S. 182. Fçr Hinweise zur jçngsten schen Repressionen des Stalinismus. Diese
Entwicklung im Januar 2007 danke ich dem Kiewer und åhnliche Ausstellungen in den Regionen
Historiker Heorhij Kasianov. sollten mittels der Auseinandersetzung mit
APuZ 8 ± 9/2007 29
der sowjetischen Vergangenheit die Intole- Nationsbildung gerçckt. Wie in anderen ost-
ranz gegençber jeder Form von Gewalt und mitteleuropåischen Staaten ist die Interpreta-
die demokratische Entwicklung færdern. tion der Hungersnot als Genozid auch Teil
der Bemçhungen, durch eine als einzigartig
Im Kontrast zu dem demokratischen und gedeutete totalitåre Erfahrung die Nation als
moralisch-patriotischem Impetus stehen je- besondere Opfer- und Erinnerungsgemein-
doch einige strukturelle Kontinuitåten zwi- schaft zu konstituieren und ihre Einheit his-
schen der Geschichtspolitik des Kutschma- torisch zu legitimieren. Dabei zeigt sich, dass
Regimes einerseits und der heutigen Pråsi- die Verånderungen der Bedeutungen der Ge-
dialadministration sowie der Regierung ande- schichtspolitik ein und derselben politischen
rerseits. Ein Beispiel ist die nicht immer Kraft u. a. von ihrer Rolle in den politischen
transparente Genese der Grçndung des INP: Institutionen und der jeweiligen machtpoliti-
Der Posten des Direktors und seiner Stellver- schen Konstellation abhångig sind.
treter wurde entweder mit Politikern aus dem
Umkreis des Pråsidenten und des nationalde- Eine breite Ûbereinstimmung der Bevælke-
mokratischen Lagers oder mit ¹guten Patrio- rung mit der Genozidthese, mit der Jutscht-
tenª besetzt, die durchweg keine Historiker schenko implizit sein Gesetzesvorhaben
sind. Vor allem aber ist das Institut, das in der rechtfertigte, låsst sich aus jçngsten Umfragen
nationalen Gedenkståtte untergebracht wer- nicht ablesen. Dennoch kænnte die staatlich
den soll, bisher eine rein virtuelle Veranstal- gefærderte Erinnerung an den Holodomor ein
tung ohne Adresse und Finanzierung; seine Grund dafçr sein, warum das Thema im his-
Genese entzieht sich weitgehend der Úffent- torischen und nationalen Bewusstsein der
lichkeit. 15 Insgesamt drångt sich daher der Ukrainer an Bedeutung gewonnen hat. Nach
Eindruck auf, dass eine stark moralisierende einer Umfrage des Kiewer Internationalen In-
Geschichtspolitik und ihre monumentalen stituts fçr Soziologie an der Mohyla-Akade-
Gedenkformen die Perpetuierung eines mie hat die çberwiegende Mehrheit der er-
die offizielle Kulturpolitik kennzeichnenden wachsenen Bevælkerung von der Hungersnot
postsowjetischen Klientelwesens und dessen gehært oder gelesen (mehr als 94 Prozent).
Verhaltensweisen verschleiern sollen. 69 Prozent der Befragten sind der Meinung,
dass fçr den Hunger vor allem die Aktionen
Fazit der Sowjetmacht verantwortlich waren. Aber
nur ein Viertel derjenigen, die von einer ge-
Der Holodomor ist ein Schlçsselereignis im planten Hungersnot ausgehen, glauben, dass
nationalen Geschichtsbild der Ukraine. Seine sie ausschlieûlich gegen ethnische Ukrainer
Interpretation als ¹Genozid am ukrainischen gerichtet war. Dagegen glauben 61 Prozent,
Volkª ist in den vergangenen Jahren noch die von einer geplanten Hungersnot ausgehen,
stårker ins Zentrum einer symbolisch-ge- der Holodomor habe sich gegen alle Bewoh-
schichtspolitischen und staatlich gefærderten ner der Ukraine unabhångig von ihrer Natio-
nalitåt gerichtet. Bemerkenswert ist, dass im
15 Zum Direktor ernannte der Pråsident Ihor Juch- çberwiegend russischsprachigen Sçden fast
nowsky, der von 1990 bis 2006 fçr die Nationalbe- 60 Prozent und im ebenfalls russischsprachi-
wegung Ruch und spåter fçr den ¹Block Viktor gen Osten immerhin deutlich çber 40 Prozent
Juschtschschenko ,Unsere Ukraine'ª im Parlament saû
der Befragten meinen, dass der Holodomor
und heute Mitglied des Rates der Pråsidentenpartei
¹Volksunion ,Unsere Ukraine`ª ist. Juchnowsky ist von den sowjetischen Machthabern verursacht
Physiker und leitet eines der Institute fçr Physik an der wurde (im Westen des Landes ca. 80 Prozent,
Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. im Zentrum çber 70 Prozent). Insofern
Dem Physiker, der bereits als Abgeordneter mit ge- kænnte der Holodomor tatsåchlich zu einem
schichtspolitischen Fragen befasst war und dort eine Symbol werden, das Ukrainer unterschiedli-
moderate Haltung einnahm, darf ein ernsthaftes Inte-
cher Regionen in der Erinnerung an eine tota-
resse an der Aufarbeitung der totalitåren Vergangen-
heit unterstellt werden. Bemerkenswert ist, dass der litåre Vernichtungserfahrung eint. 16
wissenschaftliche Sekretår des Instituts zum Stellver-
treter ernannt wurde. Zum weiteren Stellvertreter
wurde der Vorsitzende der Kiewer Organisation der
Vasyl Stus-Gesellschaft ¹Memorialª ernannt. Krucyk 16 Vgl. die Zahlen bei Viktorija Herasymc Ï uk, Nedo-
war von 1994±1998 als Mitglied des Kongresses der rozkazaly, in: Den', Nr. 196 vom 11. 11. 2006.
Ukrainischen Nationalisten Abgeordneter im ukraini-
schen Parlament.
30 APuZ 8 ± 9/2007
Bohdan Hud Von der Kiewer Rus
zur Kosakenrevolution
Das ukrainisch- In den ersten Jahrhunderten waren die Bezie-
polnische
hungen zwischen der Kiewer Rus und Polen
nicht von Feindschaft gekennzeichnet. Die
Beziehungen zwischen den Herrschern fçg-
Verhåltnis
ten sich in das damals çbliche Schema der
auswårtigen Politik ein; sie waren durch Feh-
den zwischen den Fçrsten wie durch Bçnd-
nisse und Koalitionen zwischen Feinden von
gestern gekennzeichnet.
U krainer und Polen gehæren zur Gruppe Die Gleichwertigkeit der Beziehungen
benachbarter Vælker, çber die man ± im zwischen den beiden græûten Staaten Mittel-
Anklang an die Worte des ¹Eisernen Kanz- osteuropas wurde durch den verheerenden
lersª Otto von Bismarck ± sagen kann, dass Tatareneinfall der ¹Goldenen Hordeª 1240/
sie in ihrer Geschichte keine guten Freunde 41 nachhaltig gestært. Die Rus, in einzelne
waren. 1 Die Geschichte der ukrainisch-pol- Fçrstentçmer aufgeteilt, errang die verlorene
nischen Beziehungen umfasst çber tausend Macht nie mehr zurçck. Dem polnischen Kæ-
Jahre. Im Verlaufe einer so langen Zeit durch- nigreich dagegen gelang es, den Tatarenan-
liefen sie naturgemåû sturm zurçckzuschlagen. Danach entwickelte
es sich in allen Bereichen des staatlichen und
Bohdan Hud einen langen Weg der kulturellen Lebens. Unter den Bedingungen
Dr. phil., geb. 1956; Historiker Bildung, Entwicklung der Krise der ruthenisch-ukrainischen Staat-
und Politologe; Direktor und Verånderung
lichkeit annektierte Polen schlieûlich im
am Institut für Europäische ihres Charakters. Jahre 1387 Galizien, das mit Unterbrechun-
Integration der Ivan Franko gen bis 1939 Bestandteil des polnischen Staa-
Nationaluniversität L'viv Die Grçndung
zweier benachbarter tes bleiben sollte.
(Lemberg), 1, Universytetska
str., L'viv, 79000/Ukraine.Staaten, der Kiewer
Rus (Kiewer Reich) In den folgenden Jahrhunderten erwies sich
[email protected] die Politik der litauischen Fçrsten, nach Osten
und des Staates der
Piasten, in deren Rah- vorzustoûen, als sehr erfolgreich. Sie schufen
men die Herausbildung der ukrainischen und ein gewaltiges Reich, das von der Ostsee bis
der polnischen Ethnie begann, fållt in das zum Schwarzen Meer reichte und in dem die
Ende des ersten Jahrtausends nach Christus. litauischen Gebiete nur ein Zehntel des ge-
Praktisch gleichzeitig empfingen sie das samten Territoriums ausmachten. Den Rest
Christentum: 966 (Piasten bzw. Polen) und bildeten die weiûrussischen und ukrainischen
988 (die Rus), mit dem Unterschied, dass die Lånder. In dieser Lage wurde dank gelungener
Polen das Christentum des lateinischen oder Diplomatie auch das Vordringen Polens nach
westlichen Ritus annahmen, die Rus hingegen Osten mæglich. Litauen war gezwungen, seine
des byzantinischen oder æstlichen. Von da an æstlichen Grenzen zunåchst vor den Ûberfål-
çbte dieser Unterschied der religiæsen und len der Tataren, spåter gegen den Moskauer
zugleich auch zivilisatorischen Zugehærigkeit Staat zu schçtzen, und suchte Unterstçtzung
einen bedeutenden Einfluss auf die ukrai- bei seinem westlichen Nachbarn. Die im Jahre
nisch-polnischen Beziehungen aus. Zwar war 1385 in Krevo geschaffene Union zwischen
auch die Kiewer Rus im Laufe der Jahrhun- dem Kænigreich Polen und dem Groûfçrsten-
derte offen fçr westliche Einflçsse, und die tum Litauen begrçndete ein dynastisches
ukrainische Orthodoxie war ± im Unter- Bçndnis zwischen beiden Staaten, das im
schied etwa zur moskowitischen ± toleranter
gegençber anderen Glaubensbekenntnissen. Ûbersetzung aus dem Ukrainischen: Dr. Ernst Lçde-
mann, Nuûloch.
Dennoch ist Ivan Lysjak-Rudnyc'kyj darin 1 Vgl. Jan Feldman, Bismark a Polska, Warschau 1980,
zuzustimmen, dass gerade ¹die Religion die S. 472.
Ukrainer und Polen immer mit einer groben 2 Ivan Lysjak-Rudnyc'kyj, IstorycÏ ni ese V 2 t. Tom 1,
Linie voneinander trennteª. 2 Kiew 1994, S. 85.
APuZ 8 ± 9/2007 31
Jahre 1413 durch die Union von Horodlo ver- Laufe von zwei bis drei Generationen latini-
tieft wurde. Damit waren die Grundlagen siert, indem sie die westliche, europåische Kul-
fçr die Vorherrschaft des polnisch-litauischen tur, polnisch vermittelt, çbernahmen. Durch
Elements im kçnftigen Vielvælkerstaat ge- den Ûbergang zum Katholizismus verloren die
schaffen, da mit der Union die Privilegien der ruthenischen Eliten jedoch die Verbindung zu
litauischen Herrscher ræmisch-katholischen breiten Schichten der ¹rzeczpospolitischenª
Glaubensbekenntnisses festgeschrieben und ruthenischen Bevælkerung. Sie verschmolzen
die ruthenischen Eliten von der Macht fernge- organisch mit dem Milieu der polnisch-litaui-
halten wurden. 3 schen Aristokratie und genossen die ¹goldenen
Freiheitenª der Adelsimmunitåt. Wie der pol-
Die endgçltige Herausbildung dieser nische Schriftsteller Tadeusz Konwicki tref-
Rzeczpospolita (res publica) wurde anderthalb fend bemerkte, ¹infiziertenª die Polen die
Jahrhunderte spåter vollendet. Der neue Staat Ukrainer mit der lateinischen Tradition, wåh-
entstand als Folge der Union von Lublin im rend die Ukraine-Rus der Rzeczpospolita
Jahre 1569. Zu seiner græûten Schwåche sollte einen verwæhnten Magnatenstand çbergab,
die Abwesenheit des dritten, ruthenischen der seinerseits die Polen mit dem Groûen
¹Elementesª in der Fæderation ¹zweier Væl- Osten ¹ansteckteª. 4 Es sollte aber auch her-
kerª werden. Dieser Umstand wurde immer vorgehoben werden, dass viele Vertreter des
wieder zum Anlass heftiger ukrainisch-polni- mittleren und kleinen ruthenisch-litauischen
scher Konflikte, welche 1596 zur religiæsen Adels der orthodoxen Kirche treu blieben
Union zwischen der ukrainischen orthodoxen oder sich, wie in Wolhynien und Galizien, dem
und der ræmisch-katholischen Kirche fçhrte Protestantismus anschlossen.
und das Entstehen der ¹Uniertenª ± spåter
¹Griechisch-Katholischenª ± Kirche sowie Wåhrend sich der litauisch-ruthenische
neue Spaltungen innerhalb der ukrainischen Adel geradezu organisch in die Struktur der
Gesellschaft zur Folge hatte. Rzeczpospolita einfçgte, geriet das Zaporo-
ger Kosakentum in ståndig neue Konflikte
Gleichwohl hatte die Union von Lublin fçr mit den politischen und wirtschaftlichen Eli-
die ukrainischen Lånder nicht nur negative ten. Die Rolle des Kosakentums wuchs in der
Folgen, waren sie doch nun mehrheitlich im zweiten Hålfte des 16. Jahrhunderts rasch an.
Rahmen eines einzigen staatlichen Organis- In dieser Zeit entstanden in der Ukraine zahl-
mus vereint, was die Bindungen zwischen reiche Adelsgçter, in denen Getreide ange-
dem Westen und dem Osten der Ukraine baut und Vieh fçr den Verkauf gezçchtet
stårkte. Mehr noch, der Beitritt zu einem wurde. Gute und rasche Erwerbsmæglichkei-
Staatswesen, das unter dem Einfluss europå- ten spornten die Groûgrundbesitzer an, ihre
ischer kultureller Prozesse stand, bedeutete Låndereien auszuweiten und die ukrainischen
die Ûbertragung dieser Einflçsse auch auf die Bauern zu Leibeigenen zu machen. Diese
ukrainischen Lånder. Nicht von ungefåhr Vorgånge spitzten sich zu Beginn des 17.
waren das Ende des 16. und der Beginn des Jahrhunderts zu, als Westeuropa, wåhrend es
17. Jahrhunderts eine Periode der Entwick- vom Dreiûigjåhrigen Krieg verwçstet wurde,
lung der Bildung und des Buchdrucks, der zum Hauptabnehmer von ukrainischem Brot
Architektur, der Literatur und der bildenden und Fleisch aufstieg. Die Bauern versuchten,
Kçnste. Auûerdem gehærte die Rzeczpospoli- sich der Leibeigenschaft zu entziehen. Viele
ta, in der die Feuer der Inquisition nicht flohen in die unbesiedelten Steppengebiete,
brannten und in der neben der ræmisch-ka- etwa in das ¹Land hinter den Stromschnel-
tholischen Kirche weiterhin die orthodoxe lenª (ZaporizÏzÏja), wo sie sich den Kosaken
bestand und sich der Protestantismus entfal- anschlossen. Hier liegt die Ursache fçr zahl-
ten konnte, unter religiæsem Aspekt damals reiche Aufstånde der Kosaken-Bauern. Fer-
zu den tolerantesten Staaten Europas. ner begçnstigte der Beitritt von Vertretern
des ukrainischen Adels zum Kosakentum
Die Nachfahren der litauisch-ruthenischen dessen Umwandlung in eine måchtige militå-
Fçrsten- und Bojarengeschlechter wurden im risch-politische Organisation, die zu Beginn
des 17. Jahrhunderts an der Spitze der ukrai-
3 Vgl. Karol Grçnberg, Sprengel Bolesøaw. Trudne
saÎsiedztwo. Stosunki polsko-ukrainÂskie w X-XX wie- 4 Kazimierz Podlaski, Bilorusy ± litovci ± ukrajinci:
ku, Warschau 2005, S. 38. naÉi vorohy cÏy braty?, Mçnchen 1986, S. 147.
32 APuZ 8 ± 9/2007
nischen religiæsen und sozialen Bewegung wies sich sehr bald als Fehlschlag. Nach
stand. einem erbitterten Bçrgerkrieg mit schreckli-
chen Verbrechen auf beiden Seiten wurde das
Vor allem die måchtigen Fçrsten des Abkommen weder in Polen noch in der
Grenzgebietes wollten das ukrainische Kosa- Ukraine angenommen.
kentum vernichten. Die kosakischen quasi-
staatlichen und sozialen Strukturen bildeten In erster Linie profitierte Moskau davon.
fçr sie das Haupthindernis fçr die vællige Un- Gemåû dem 1667 im Dorf Andrusovo in der
terwerfung der ukrainischen Gebiete. Der Nåhe von Smolensk unterzeichneten Waffen-
Konflikt zwischen dem Magnatentum und stillstand zwischen dem Zarenreich und der
den Kosaken drohte sich zu einem national- Rzeczpospolita fielen die ukrainischen Ge-
religiæsen und sozialen ukrainisch-polnischen biete auf dem linken Ufer des Dnipro (das
Konflikt mit tragischen Folgen fçr beide Væl- ¹Linksufrigeª, livoberezÏzÏja) an Moskau. Die
ker auszuweiten. Vorboten der kçnftigen Ka- rechtsufrige Ukraine (pravoberezÏzÏja) verblieb
tastrophe wurden die Kriege zwischen den formell unter dem Einfluss Polens. Indes en-
Kosaken und dem Adel in den 1620er und dete der Kampf um dieses Gebiet erst nach
1630er Jahren, die sich zur ukrainischen Re- dem Nordischen Krieg 1711, als es erneut ein
volution unter Fçhrung von Bohdan Chmel'- fester Bestandteil des polnischen Staates
nyc'kyj auswuchsen. Es wurde deutlich, dass wurde.
alle Schichten des ukrainischen Volkes ± vom
Adel und der hæheren Geistlichkeit bis hin zu Die neuerliche Annexion des rechtsufrigen
den Bauern ± die Grundlagen der Union von Gebietes begçnstigte die polnischen Groû-
Lublin kategorisch ablehnten. Das 1569 igno- grundbesitzer, die ihre gewaltigen Latifun-
rierte ¹dritte Elementª der polnisch-litau- dien rasch wiederherstellten. Fçr die Rzecz-
ischen Fæderation drångte nun auf einen eige- pospolita blieben diese Låndereien der Quell
nen Staat. Selbst die weitgehende Autonomie eines beståndig schwelenden religiæsen und
der Wojewodschaften von Kiew, Tschernihiw sozialen Konfliktes. Die ukrainischen Bauern
und Bracøaw nach dem Abkommen von Zbo- im rechtsufrigen Gebiet revoltierten mehr als
riv 1649 konnte es nicht zufrieden stellen. einmal gegen die polnische Adelsherrschaft;
Chmel'nyc'kyj strebte danach, ein rutheni- diese Unruhen gingen als Hajdamakenauf-
sches Fçrstentum in den Grenzen der ehema- stånde in die Geschichte ein. Unordnung und
ligen Kiewer Rus einschlieûlich Galiziens zu Anarchie, die unter den Bedingungen einer
errichten. Das war fçr die polnische Seite schwachen Kænigsherrschaft und adliger
nicht annehmbar. Willkçr auf diesen Låndereien herrschten, lie-
ferten den Russen immer wieder geeignete
Anlåsse, sich in die inneren Angelegenheiten
Gegenspieler Moskau der Rzeczpospolita einzumischen und eine
Politik des divide et impera durchzufçhren,
Einige Jahre erbitterten Krieges brachten kei- indem sie die ukrainische orthodoxe Bevælke-
ner Seite den Sieg. Auf der Suche nach Unter- rung gegen Katholiken und Unierte unter-
stçtzung unterschrieb Chmel'nyc'kyj 1654 in stçtzte.
Perejaslaw ein Abkommen mit Russland, das
dessen Protektorat çber das Saporoscherheer Schlagendes Beispiel einer solchen Politik
vorsah. Dieses Abkommen, mit dem sich die wurde der groû angelegte Hajdamakenauf-
Kosaken der russischen Herrschaft unterstell- stand im Jahre 1768, ausgelæst durch prorus-
ten, hatte fatale Folgen fçr die Ukraine und sische Kråfte, die KolijivÉcÏyna (Kolij, ¹groûes
ebenso fçr Polen. Es zog das Moskowitische Messerª). Zu Opfern des Gemetzels, das
Reich in die osteuropåische Politik hinein, die Hajdamaken verçbten, wurden Tausende
half jedoch den Kosaken nicht, ihre Unab- aus der polnischen, ukrainischen (unierten)
hångigkeit zu erkåmpfen. Mehr noch, es und jçdischen Bevælkerung der rechtsufrigen
schuf die bedrohliche Aussicht, dass die pol- Ukraine. Unter dem Vorwand, Ordnung in
nische Herrschaft nur durch die Moskauer den Territorien zu schaffen, die unmittelbar
Despotie abgelæst wurde. Das Abkommen an das Russische Reich grenzten, lieû Zarin
von HadjacÏ zwischen der Ukraine und Polen, Katharina II. russische Truppen einmarschie-
welches endlich auch das ¹dritte Elementª in ren und unterdrçckte die KolijivÉcÏyna. Einige
der Rzeczpospolita berçcksichtigen sollte, er- Jahre spåter fçhrte sie gemeinsam mit Preu-
APuZ 8 ± 9/2007 33
ûen und Ústerreich die erste Teilung der die polnischen Einflçsse in der rechtsufrigen
Rzeczpospolita durch. Auf die erste Teilung Ukraine weitgehend erhalten, und auch die
folgten die zweite (1793) und die dritte (1795) feudalen Strukturen, die sich im 17. und 18.
Teilung Polens, und der gewaltige Vielvælker- Jahrhundert herausgebildet hatten, wurden
staat hærte auf zu bestehen. 5 Als Folge der konserviert.
Teilungen gelangte fast die gesamte rechts-
ufrige Ukraine an das Russische Reich, mit Erfolgreich betrieb die Zarenregierung
Ausnahme Ostgaliziens mit dem Zentrum in weiterhin eine Politik des divide et impera.
L'viv (Lemberg) und der nærdlichen Bukowi- Einerseits brachte sie die orthodoxe ukraini-
na mit C Ï ernivci (Czernowitz), die an die sche Bevælkerung gegen die katholischen
Ústerreichische Monarchie fielen. Polen auf, besonders wåhrend der polnischen
Aufstånde 1830/31 und 1863/64, andererseits
Bis in die jçngste Zeit vertrat man in der leistete sie den polnischen Groûgrundbesit-
ukrainischen Geschichtsschreibung die An- zern tåtige Hilfe bei der Unterdrçckung der
sicht, dass mit dem Wandel der staatlichen antifeudalen Bauernbewegungen. Insgesamt
Zugehærigkeiten der ukrainisch-polnische gelang es dem Zaren, dank einer rçcksichtslo-
Konflikt nur in Ostgalizien çberdauerte. In sen Unterdrçckung, der die polnischen Groû-
den Gebieten der rechtsufrigen Ukraine unter grundbesitzer ihre ukrainischen Untergebe-
russischer Herrschaft, die Anfang des 19. nen aussetzten, die Masse der Bauern auf ihre
Jahrhunderts in die Kiewer, Podolische und Seite zu ziehen. Diese traten aktiv auf der
Wolhynische Gubernie aufgeteilt wurden, sei Seite der Russen im Kampf gegen die adligen
dagegen der ukrainisch-russische Konflikt Revolutionåre auf, besonders wåhrend der
zum dominierenden geworden. Doch in den Jahre 1863 und 1864. Prorussische Haltungen
vergangenen Jahren erlangte die Konzeption nahm auch die schmale ukrainische Intelli-
des ukrainischen Emigrationshistorikers Ivan genz ein, die den Weg der direkten Zusam-
Lysjak Rudnyc'kyj 6 und des franzæsischen menarbeit mit der zaristischen Regierung ein-
Forschers Daniel Beauvois 7 immer breitere schlug, um den polnischen Einfluss in der
Beachtung, wonach sich in Kiew, Podolien Ukraine zu bekåmpfen.
und Wolhynien bis zum Ende des Ersten
Weltkrieges ein heftiger ethnosozialer Kon- Vorherrschend war indes nicht der natio-
flikt zwischen den polnischen Groûgrundbe- nale, sondern der ethnosoziale Konflikt, da
sitzern und dem ukrainischen Kleinbauern- im absolutistischen Zarenreich offene Øuûe-
tum gehalten habe. Der Anlass dafçr lag rungen nationalen Selbstbewusstseins und na-
darin, dass die russische Regierung, nachdem tionaler Gegensåtze unmæglich waren. Statt-
sie die polnisch-litauische Staatlichkeit aufge- dessen schwelte der Konflikt in der Ukraine
læst hatte, auf regionaler Ebene gezwungen auf dem Lande und brachte sich ståndig mit
war, auf die Erfahrungen des polnischen båuerlichen Unruhen in Erinnerung, deren
Adels zurçckzugreifen und ihn in das System zwischenzeitlicher Hæhepunkt in die Jahre
der lokalen Selbstverwaltung einzubeziehen, der russischen Revolution 1905 ±1907 fållt.
wobei sie den Polen die Mehrheit der Posten Sein endgçltiger Austrag fållt in die letzten
in den Gubernien (Gouvernements) und Jahre des Ersten Weltkrieges, als nach der de-
Kreisen çberlieû. Auch wurden die Rechte mokratischen Februarrevolution von 1917
der polnischen Groûgrundbesitzer auf die der Bauernaufstand in Russland den polni-
Låndereien beståtigt, die sich in ihrer Verfç- schen Groûgrundbesitz vællig vernichtete. 9
gung befanden, zusammen mit den båuerli-
chen Leibeigenen. 8 Auf diese Weise blieben
Ethnopolitische Konflikte
5 Vgl. Leonid ZaÉkil'njak, Krykun Mykola. Istorija
In den Jahren 1918 bis 1921 war das ukrai-
Pol'ÉcÏi: Vid najdavniÉich cÏasiv do naÉych dniv, Lem-
berg 2002, S. 232 ±249. nisch-polnische Verhåltnis von den bilatera-
6 Vgl. I. Lysjak-Rudnyc'kyj (Anm. 2). len Beziehungen zwischen ihren neu entstan-
7 Vgl. Daniel Beauvois, TrÕjka Î t ukrainÂski. Szlachta,
carat i lud na Woøyniu, Podolu i kijowszczyzÂnie. vælkerreich. Entstehung ± Geschichte ± Zerfall, Mçn-
1793± 1914, Lublin 2005, S. 92±96. chen 19932), S. 65.
8 Vgl. Andreas Kappeler, Rossija ± mnogonacio- 9 Vgl. Bohdan Hud', Zahybel' Arkadiji. Etnosocial'ni
nal'naja imperija. Vozniknovenije. Istorija. Raspad, aspekty ukrainis'ko-pol's'kych konfliktiv XIX ± per-
Moskau 2000 (russ. Ausgabe von: Ruûland als Viel- Éoji polovyny XX stolittja, Lemberg 2006, S. 243±306.
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denen Staaten geprågt. Der nåchste Konflikt, Entwicklung. Der polnische Adel leistete hef-
nun von ethnopolitischem Charakter, schien tigen Widerstand, hatte er doch weiterhin die
unvermeidlich. Es ging um die umstrittenen fçhrenden Posten in der ærtlichen Selbstver-
Territorien der rechtsufrigen Ukraine, die waltung wie auch im wirtschaftlichen und
von einer gemischten ukrainisch-polnischen kulturellen Lebens des Landes inne. Die Be-
Bevælkerung besiedelt waren. Der Kampf ziehungen zwischen Ruthenen und Polen
um das Territorium und die Grenzen zwi- verschårften sich innerhalb kurzer Zeit. Aus
schen der Ukrainischen Volksrepublik (UVR) Dankbarkeit gegençber dem Kaiserthron hal-
mit dem Zentrum in Kiew und Polen fen die galizischen Ukrainer der Regierung
(II. Rzeczpospolita) dauerte bis Ende 1919. im Jahre 1848, den polnischen Aufstand in
Nur die Tatsache, dass sich die Fçhrer der Lemberg zu unterdrçcken. Aber Wien lieû
beiden Staaten, Symon Petljura und Jozef Pil- die gesellschaftlichen und sozialen Verhålt-
sudski, der manifesten Bedrohung von Seiten nisse in Galizien unveråndert und tolerierte
des gemeinsamen Feindes, des bolschewisti- ausdrçcklich den polnischen Adel, der nach
schen Russlands, bewusst wurden, zwang die Einfçhrung der galizischen Autonomie 1861
Konfliktparteien schlieûlich zu einem Waf- nun sogar die ganze Macht erhielt.
fenstillstand.
Doch in der zweiten Hålfte des 19. Jahrhun-
Der nåchste Schritt zu einer Verståndigung derts wuchs das nationale Selbstbewusstsein
zwischen der UVR und der Rzeczpospolita der galizischen Ruthenen. Es bildete sich eine
wurde ein militårisch-politisches Bçndnis, zahlenmåûig starke Schicht der ukrainisch-ga-
der Warschauer Vertrag von 1920, kraft des- lizischen Intellektuellen heraus, unter deren
sen Polen sich verpflichtete, den Ukrainern Einfluss sich die Bauern immer deutlicher da-
bei der Wiedererrichtung eines unabhångigen rçber klar wurden, dass die soziale Befreiung
ukrainischen Staates Hilfe zu leisten. Jedoch Hand in Hand mit der nationalen gehen
endete die gemeinsame antibolschewistische mçsse, und aktiv im Kampf gegen die Allzu-
Aktion (Kiewer Feldzug) im selben Jahr mit ståndigkeit des polnischen Adels teilnahmen.
einem Misserfolg: Ohne die Hilfe des Wes- Ein schlagendes Beispiel fçr die båuerliche,
tens konnten die Verbçndeten das bolsche- gegen den Adel und zugleich gegen die Polen
wistische Russland nicht çberwinden. In die- gerichtete Bewegung war der Streik des Jahres
ser Situation unterschrieb Polen im Mårz 1902, organisiert von der ukrainischen Radi-
1921 in Riga einen Friedensvertrag mit der kalen Partei. Besonders heftig war der Kampf
Russischen Fæderation und ihrem Satelliten, fçr das allgemeine und gleiche Wahlrecht und
der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepu- fçr die Einrichtung der ukrainischen Univer-
blik (Ukrainische SSR). Polen hatte sich so sitåt in Lemberg. In seinem Verlauf gab es
das æstliche Galizien und das westliche Wol- zahlreiche Opfer auf beiden Seiten. Der Statt-
hynien gesichert, die in der Zwischenkriegs- halter Galiziens Graf Andrzej Potocki wurde
zeit zum Zentrum einer neuen Runde des der Wahlfålschung beschuldigt und von dem
ukrainisch-polnischen Konfliktes wurden. 10 ukrainischen Studenten Myroslav SicÏyns'kyj
Dieser westliche Teil der Ukraine wurde 1939 erschossen. Im Jahre 1910 fiel der Ukrainer
von der Sowjetunion annektiert und der Adam Kocko den blutigen Zusammenstæûen
Ukrainischen SSR zugeschlagen. zwischen ukrainischen und polnischen Stu-
denten an der Universitåt Lemberg zum
In Galizien hatten sich die ukrainisch-pol- Opfer. 11
nischen Beziehungen seit Mitte des 14. Jahr-
hunderts entwickelt. Die Dominanz des pol- 1914 erreichte der ukrainisch-polnische
nischen Adels fçhrte dazu, dass die galizi- Konflikt in Galizien seinen Hæhepunkt. Am
schen Ukrainer oder Ruthenen praktisch Vorabend des Krieges konnte die Wiener Re-
jeden Einfluss verloren. Die Einverleibung gierung ihn nur unter betråchtlichen Anstren-
Galiziens in die Habsburgermonarchie ge- gungen beilegen ± jedoch nicht fçr lange Zeit.
reichte den Ruthenen zum Vorteil, denn sie 1918 brach er mit dem Zerfall der Úster-
erhielten die Mæglichkeit einer zwar begrenz- reichisch-Ungarischen Monarchie mit neuer
ten, aber doch realen national-kulturellen
11 Vgl. Jarosøaw Hrycak, Historia Ukrainy 1772±
10 Vgl. Andrzej Chojnowski, Ukraina, Warschau 1999. Narodziny nowoczesnego narodu, Lublin 2000,
1997, S. 60±62. S. 100.
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Heftigkeit aus. Die in Lemberg am 1. No- Zur tragischen Zuspitzung in den ukrai-
vember jenes Jahres proklamierte Westukrai- nisch-polnischen Beziehungen wåhrend des
nische Volksrepublik (ZUNR) war vom Zweiten Weltkriegs kam es in den Jahren
ersten Tage ihres Bestehens an gezwungen, 1943 und 1944. Seine Hauptursache war der
gegen den Aufstand der galizischen Polen zu Umstand, dass sich die polnische Exilregie-
kåmpfen, die bald Hilfe aus Zentralpolen er- rung eindeutig dafçr aussprach, die Gebiete
hielten. In dem erbitterten ¹Krieg um Lem- Galiziens und Wolhyniens auch nach dem
bergª errangen die Polen den Sieg. Jedoch Krieg im polnischen Staat zu halten. Die Fçh-
verwandelte sich dieser Sieg, dessen Ergeb- rung der OUN hingegen verlangte von den
nis die Einverleibung Ostgaliziens in die Polen, die Territorien als unabhångigen ukrai-
II. Rzeczpospolita war, in der Zwischen- nischen Staat anzuerkennen, der, wie sie
kriegszeit fçr die Polen in ein ernstes Pro- meinte, nach einem fçr Deutschland gçnsti-
blem. Die ukrainische Nationalbewegung gen Kriegsende entstehen wçrde. Um den
fand sich mit dem Verlust ihrer Staatlichkeit gemischten Bevælkerungscharakter Galiziens
nicht ab, und die nationale und soziale Politik und Wolhyniens zu veråndern und deren
der polnischen Regierungen trug nicht dazu Rçckkehr zu Polen zu verhindern, prokla-
bei, die Ukrainer wenn schon nicht zu Freun- mierte die OUN eine ¹Entpolonisierungª der
den, dann wenigstens doch nicht zu Feinden westlichen Gebiete der Ukraine, nachdem sie
des polnischen Staates zu machen. 12 Die pol- die Polen aufgefordert hatte, ihre Heimståt-
nische Schriftstellerin Maria Dombrowska ten zu verlassen und in ethnisch polnische
bemerkte prophetisch, dass der polnische Gegenden umzusiedeln. Da diesem Aufruf
Staat fçr seine antiukrainische Politik noch nur eine unbedeutende Zahl von Polen folgte,
¹schwer bezahlen werdeª. 13 begann die Ukrainische Aufstandsarmee
(UPA) mithilfe der ærtlichen Landbevælke-
So war es kaum verwunderlich, dass sich rung, die polnischen Grundbesitzern und Ko-
die ukrainischen Parteien, die legalen wie die lonisten zu enteignen. Es kam zu massiven
illegalen, ausnahmslos in offener Opposition antipolnischen Aktionen. Ihnen fielen in ers-
gegençber Polen befanden. Besonders aktiv ter Linie friedliche Einwohner polnischer
war das Wirken der Organisation ukraini- Nationalitåt zum Opfer. Als Reaktion çbten
scher Nationalisten (OUN). Massive Terror- Einheiten der polnischen Heimatarmee (Ar-
anschlåge der OUN in den æstlichen Woje- mija Krajowa/AK) Vergeltung an der ukraini-
wodschaften der II. Rzeczpospolita schufen schen Zivilbevælkerung.
in der Zwischenkriegszeit eine gespannte At-
mosphåre der offenen ethnopolitischen Kon- Einige ukrainische und polnische Forscher
frontation. sind der Ansicht, dass das ukrainisch-polni-
sche Gemetzel auf eine Provokation der so-
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges orga- wjetischen Geheimdienste zurçckzufçhren
nisierten die OUN und auch prokommunisti- sei. Bewiesen ist, dass sowjetische Partisanen-
sche Elemente eine Reihe bewaffneter Ûber- einheiten, die sich bald als Soldaten der AK,
fålle auf die zurçckweichenden polnischen bald als Kåmpfer der UPA ausgaben, entwe-
Streitkråfte, aber auch auf die Besitztçmer der Polen oder Ukrainer tæteten und damit
polnischer Landeigner und Kolonisten. An- einen brudermærderischen Krieg hervorrie-
dererseits hielten die ukrainischen Soldaten in fen. Die Hauptlast der Verantwortung dafçr
der polnischen Armee (çber 100 000) im All- liegt jedoch bei Ukrainern und Polen, denen
gemeinen den Fahneneid und die Treue ge- es wie 1920 nicht gelang, sich gegen die ge-
gençber dem polnischen Staat bis zum Ende, meinsamen Feinde zu vereinen und so der
und ein ukrainischer General wurde sogar nazistischen wie der sowjetischen Politik des
mit dem hæheren militårischen Orden Virtuti divide et impera in die Hånde spielten. Der
Militari ausgezeichnet. 14 Massenmord (auf polnischer Seite kamen
zwischen 40 000 und 60 000 Menschen ums
Leben, auf ukrainischer çber 20 000) an
12 Vgl. Tadeusz Olszaµski, Historia Ukrainy XX w.,
Alten, Frauen und Kindern brachte keiner
Warschau 1994, S. 158.
13 Zit. in: Bohdan Hud', Ukrajinci ± poljaky: chto
Seite einen Vorteil. Die Erinnerungen an das
vynen?, Lemberg 2000, S. 101. ¹Wolhynische Gemetzelª wurden zu einer
14 Vgl. Andrzej Sowa, Stosunki polsko-ukrain  skie Art Mine mit Zeitzçnder, die nach der Wie-
1939± 1947, Krakau 1998, S. 76. dergeburt eines unabhångigen Polens und
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einer unabhångigen Ukraine die ukrainisch- staltung der Sowjetunion auf neuen fæderati-
polnischen Beziehungen vergifteten. ven Grundlagen. Dies widersprach der kurz
zuvor getroffenen Entscheidung der pol-
nischen Regierung, die Unabhångigkeit der
Die Ukraine und Polen heute Ukraine anzuerkennen, und rief in der
Ukraine einen Schock hervor; ebenso gab es
Die Ukraine war 1945 Grçndungsmitglied Beschuldigungen an die Adresse Polens, es
der Vereinten Nationen. In den 1980er Jahren spiele mit der Ukraine ein doppeltes Spiel. 15
verstårkten sich die Unabhångigkeitsbestre-
bungen; 1990 erklårte die Ukraine ihre Sou- In den folgenden Jahren verstårkten sich
verånitåt innerhalb der Sowjetunion und pro- solche Verdachtsmomente. Ungeachtet stån-
klamierte am 24. August 1991 ihre Unabhån- diger pro-ukrainischer Deklarationen und
gigkeit. Polen und die Ukraine nahmen aktiv auch einzelner Maûnahmen, die eine ukrai-
an den Transformationsprozessen in Mittel- nisch-polnische Zusammenarbeit in Gang
osteuropa teil. Die polnische Gewerkschafts- bringen sollten, unterstçtzte die polnische
bewegung SolidarnosÂc hatte entscheidend Regierung keine der ukrainischen Initiativen,
zum Scheitern des kommunistischen Systems sich deutlicher dem russischen Einfluss zu
in den Satellitenstaaten der Sowjetunion bei- entziehen und sich der neuen pro-europå-
getragen. Der Austritt der Ukraine aus dem ischen Gemeinschaft der ehemaligen Satelli-
sowjetischen Imperium verursachte dessen tenstaaten der UdSSR anzuschlieûen. Ende
Zerfall. Symbolhafte Bedeutung kommt der 1993 kam es zu einer tiefen Krise in
Tatsache zu, dass Polen am 1. Dezember 1991 den ukrainisch-polnischen Beziehungen, als
als erster Staat in der Welt die Unabhångig- durch polnische Geheimdienste die Spionage-
keit der Ukraine offiziell anerkannt hat. Je- tåtigkeit eines ukrainischen Majors aufge-
doch entwickelten sich die Beziehungen zwi- deckt wurde. Selbst in den Augen polnischer
schen den Nachbarstaaten entgegen einer all- Beobachter war seine Schuld sehr zweifel-
gemein akzeptierten Vorstellung bei weitem haft. 16 Jedoch nahm die polnische Seite die
nicht in unkomplizierter Weise. Das trifft be- Regelung der Angelegenheit nicht auf diplo-
sonders auf die erste Hålfte der 1990er Jahre matischem Wege in Angriff, sondern organi-
zu, als Lech WaøeÎsa Pråsident Polens war. Als sierte eine æffentliche Gerichtsverhandlung.
Vertreter der Rechten war er nicht in der In deren Folge waren die ukrainisch-polni-
Lage, die Vorbehalte gegen die Ukraine und schen Beziehungen fçr mehr als ein Jahr ¹ein-
die Ukrainer, die fçr diese politische Bewe- gefrorenª. Nutzen zog daraus nur Russland.
gung charakteristisch waren, entscheidend zu
bekåmpfen, ebenso wenig die Furcht vor Die Wahl von Alexander KwasÂniewski als
Russland. Vertreter der Linken zum Pråsidenten Polens
im Jahre 1995 wirkte sich positiv auf die
Die unabhångige Ukraine und Polen muss- ukrainisch-polnischen Beziehungen aus. 1996
ten ihre bilateralen Beziehungen vællig neu lud KwasÂniewski den ukrainischen Pråsiden-
aufbauen. Am 18. Mai 1992 wurde von den ten Leonid Kutschma zum Gipfeltreffen der
Pråsidenten WaøeÎsa und Leonid Krawtschuk Staatsoberhåupter der Zentraleuropåischen
in Warschau der Vertrag çber gute Nachbar- Initiative (CEI) ein. Seit dieser Zeit war das
schaft, freundschaftliche Beziehungen und Hauptaugenmerk der ¹æstlichenª Auûenpoli-
Zusammenarbeit zwischen den beiden Nach- tik Polens auf die Ukraine gerichtet. KwasÂ-
barstaaten unterzeichnet. Seine Bedeutung niewski und Kutschma versuchten, den Ein-
lag vor allem in der gegenseitigen Anerken- fluss der Vergangenheit auf die ukrainisch-
nung der gemeinsamen Nachkriegsgrenze, polnischen Beziehungen zu minimieren,
der Rechte nationaler Minderheiten sowie nachdem sie im Mai 1997 eine Erklårung
der Formulierung offenkundiger gemeinsa- çber Verståndigung und Versæhnung unter-
mer Interessen in der Auûenpolitik. Doch zeichnet hatten, in der sie unter anderem die
war die Haltung WaøeÎsas gegençber der unab- Vorgånge in Wolhynien und Galizien in den
hångigen Ukraine nicht eindeutig. Noch am
5. Dezember 1991 hatte er in einem Interview 15 Vgl. Antoni Kamin  ski/Jerzy Kozakiewicz, Sto-
fçr die Moskauer Fernsehanstalt ¹Ostanki- sunki Polsko-UkrainÂskie. Raport, Warschau 1997,
noª erklårt, er persænlich unterstçtze den S. 22 ±23.
Plan Michail Gorbatschows fçr eine Umge- 16 Vgl. ebd., S. 38 ±39.
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Jahren 1943/44 verurteilten. Nach dem Vor- volutionª Ende 2004 eine deutliche Belebung.
bild der deutsch-polnischen Schulbuchkom- Bekanntlich leistete Polen die tatkråftigs-
mission wurde eine ukrainisch-polnische te moralische und materielle Unterstçtzung
Kommission geschaffen, die an gemeinsamen fçr die Demonstranten auf dem Kiewer
Zugången zur Darstellung der belasten- ¹Majdanª, und Pråsident KwasÂniewski spielte
den Vergangenheit in Schulbçchern arbeiten eine gewichtige Rolle bei der friedlichen Læ-
sollte. Im Jahre 2000 wurde in Lemberg das sung der politischen Krise in der Ukraine.
Kollegium der ukrainischen und polnischen Hinzuweisen ist auch auf den entscheidenden
Universitåten geschaffen, das der Verståndi- Einfluss der Europaabgeordneten aus Polen
gung und Versæhnung zwischen den jungen bei der Annahme der Resolution durch das
Leuten der Nachbarlånder dienen sollte, åhn- Europåische Parlament im Januar 2005, in der
lich wie dies die polnisch-deutsche Universi- es die Europåische Kommission dazu aufrief,
tåt ¹Viadrinaª in Frankfurt/Oder leistet. Auf der Ukraine eine klare Perspektive fçr eine
wirtschaftlichem Gebiet und dem der grenz- kçnftige EU-Mitgliedschaft zu geben.
çberschreitenden Zusammenarbeit lieûen die
Ukraine und Polen die Tendenz zur Steige- In den folgenden Jahren gelang es der
rung des Auûenhandels erkennen, dessen Wa- Ukraine und Polen, einen Schlussstrich unter
renumsatz drei Milliarden US-Dollar çber- zwei irritierende Angelegenheiten histori-
steigt. Zwei Euro-Regionen, ¹Karpatenª schen Charakters zu ziehen, welche die ukrai-
und ¹Bugª, wurden gegrçndet, und die Zahl nisch-polnischen Beziehungen vergiftet hat-
der Grenzçbergånge wurde vergræûert. Auf ten. Am 24. Juni 2005 wurde in Anwesenheit
europåischer Ebene wurde Polen zum An- der beiden Pråsidenten Wiktor Juschtschenko
walt der Ukraine bei deren Integration in die und KwasÂniewski ein Friedhof fçr polnische
euro-atlantischen Strukturen ± eine åhnliche Kåmpfer eingeweiht, die im ¹Krieg um Lem-
Rolle, wie sie einst Deutschland beim Beitritt bergª 1918 ±1919 gefallen waren. Ein Jahr
Polens zur EU und zur NATO gespielt hatte. spåter, am 13. Mai 2006, enthçllten die Pråsi-
Es lag im polnischen Interesse, die Zone der denten Juschtschenko und Lech Kaczynski
Stabilitåt, der Demokratie und des Wohlstan- feierlich ein Mahnmal zur Erinnerung an die
des von ihren Grenzen mæglichst weit nach Einwohner des Dorfes Pawlokoma, die im
Osten zu verschieben. Jahre 1946 von polnischen Nationalisten er-
mordet worden waren.
Doch diese Bemçhungen Polens erwiesen
sich als verspåtet. Im Unterschied zur pro- So kann man ungeachtet vielfåltiger wirt-
europåischen Umgebung Krawtschuks erwies schaftlicher Gegensåtze behaupten, dass das
sich die Regierung Kutschma als deutlich gegenwårtige ukrainisch-polnische Verhåltnis
prorussisch ausgerichtet. Die Einbeziehung von Offenheit und gegenseitigem Interesse
der Ukraine in die Sphåre der strategischen geprågt ist. Polen ist interessiert an den ¹æst-
Interessen Russlands wurde auch durch die lichenª Mårkten, ebenso an der Stabilitåt der
Tatsache begçnstigt, dass Russland in der Demokratie in der Ukraine; die Ukraine an
zweiten Hålfte der 1990er Jahre allmåhlich den Mårkten der EU-Mitgliedslånder und an
den Ausweg aus einer långeren politischen Unterstçtzung ihrer Bemçhungen um euro-
und wirtschaftlichen Krise fand. Mit dem påische Integration. Die Gespenster der Ge-
Amtsantritt von Pråsident Wladimir Putin er- schichte scheinen allmåhlich in die Vergan-
neuerte es seinen Einfluss im postsowjeti- genheit zu entweichen. An ihre Stelle tritt die
schen Raum, insbesondere dank der Preisstei- bilaterale Zusammenarbeit zum gegenseitigen
gerungen fçr russische Energietråger auf den Nutzen in allen Sphåren des gesellschaftli-
Weltmårkten. Eine neue tiefe Krise in den chen Lebens. Dies geschieht ohne Zweifel
ukrainisch-polnischen Beziehungen trat im zum Nutzen der jetzigen Generation der
Jahre 2004 ein, nachdem Kutschma die These, Ukrainer und Polen, die in einem gemeinsa-
wonach das hauptsåchliche strategische Ziel men europåischen Haus ohne Grenzen und
der Ukraine die Integration in die EU und Trennungslinien leben wollen.
die NATO sei, aus der Verteidigungsdoktrin
der Ukraine gestrichen hatte.
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Die EU bedarf der Reformen in Aus Politik und Zeitgeschichte
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Gerd Strohmeier der Herausgeberin dar; sie dienen
Die EU zwischen Legitimitåt und Effektivitåt der Unterrichtung und Urteilsbildung.
Vitali Silitski
8-15 Sonderfall Lukaschenko
Bei realistischer Einschåtzung verfçgt die EU gegenwårtig çber keine guten poli-
tischen Optionen gegençber Weiûrussland. Doch die Bedingungen fçr eine
Transformation in Weiûrussland werden umso gçnstiger, je stårker die Zivil-
gesellschaft und die demokratische Opposition sind.
Sabine Fischer
16-23 Die russische Politik gegençber der Ukraine und Weiûrussland
Russland, Weiûrussland und die Ukraine sowie die EU sind in einem konfliktge-
ladenen Beziehungsdreieck gefangen. Die Spannungen in den regionalen Bezie-
hungen werden sich nur læsen, wenn sich alle Seiten dieses Dreiecks um eine
konstruktive Politik bemçhen.
Wilfried Jilge
24-30 Geschichtspolitik in der Ukraine
Die Anerkennung der sowjetischen Hungersnot 1932/33 als ¹Genozid am ukrai-
nischen Volkª ist in der Ukraine ins Zentrum geschichtspolitischer Debatten
gerçckt. Der ¹Holodomorª hat zentrale Bedeutung fçr die Konstruktion einer
nationalen Identitåt erlangt.
Bohdan Hud
31-38 Das ukrainisch-polnische Verhåltnis
Ungeachtet mancher wirtschaftlicher Gegensåtze kann man behaupten, dass die
gegenwårtigen ukrainisch-polnischen Beziehungen von Offenheit und gegensei-
tigem Interesse geprågt sind. Die Gespenster der Geschichte scheinen allmåhlich
in die Vergangenheit zu entweichen.