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Die Zusammenfassung Der Burgerlichen Ges

Der Beitrag analysiert Marx' Staatstheorie aus der Perspektive der Formanalyse und diskutiert die Entwicklung der materialistischen Staatstheorie seit 1965, insbesondere die Kontroversen zwischen Instrumentalismus und Strukturalismus. Es wird argumentiert, dass der moderne Staat als politische Form die privaten Interessen der antagonistischen Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfasst und dass seine spezifische Natur nicht nur in der Klassenherrschaft, sondern auch in der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise begründet ist. Die Diskussion umfasst auch die Staatsableitungsdebatte, die die Grenzen der Staatstätigkeit und die Illusion der politischen Gemeinschaft im modernen Staat thematisiert.

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Die Zusammenfassung Der Burgerlichen Ges

Der Beitrag analysiert Marx' Staatstheorie aus der Perspektive der Formanalyse und diskutiert die Entwicklung der materialistischen Staatstheorie seit 1965, insbesondere die Kontroversen zwischen Instrumentalismus und Strukturalismus. Es wird argumentiert, dass der moderne Staat als politische Form die privaten Interessen der antagonistischen Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfasst und dass seine spezifische Natur nicht nur in der Klassenherrschaft, sondern auch in der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise begründet ist. Die Diskussion umfasst auch die Staatsableitungsdebatte, die die Grenzen der Staatstätigkeit und die Illusion der politischen Gemeinschaft im modernen Staat thematisiert.

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Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft

in der Staatsform

Zu Marx’ Theorie des Staats

Soichiro Sumida

In diesem Beitrag werden wir Marx’ Staatstheorie aus der Sicht der Form-
analyse entwickeln. Die materialistische Staatstheorie wurde seit 1965 durch
die „Neue Marx-Lektüre“ in der Bundesrepublik entwickelt und stellt eine
Staatskritik auf Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie von Marx dar.1
In den 1970er Jahren schien vor dem Hintergrund der strukturellen Krise des
Kapitalismus die „Kontroverse Poulantzas-Miliband“ den Raum der marxisti-
schen Staatstheorie in Westeuropa zu füllen. In dieser Kontroverse wurde der
Instrumentalismus Ralph Milibands – einem Nachfolger des „traditionellen
Marxismus“,2 der den Staat als Werkzeug der ökonomisch herrschenden Klasse
begriff – durch Nicos Poulantzas’ Strukturalismus kritisiert, der die relative
Autonomie des Staats hervorhob. Allerdings stimmten beide darin überein, den
Staat als einen den Klassenantagonismus ergänzenden Überbau zu fassen.
Diese Klassenstaatstheorien konnten allerdings nicht die Spezifität des mo-
dernen Staates erfassen, der sich von dem Gemeinwesen vormoderner Gesell-
schaften grundlegend unterscheidet.3 Diese Besonderheit wurde durch die
Staatsableitungsdebatte verdeutlicht. Fast zeitgleich zur „Kontroverse Poulant-
zas-Miliband“ geführt, ist sie jedoch außerhalb Deutschlands und eines kleinen
Kreises an britischen und amerikanischen Marxisten auf nur wenig Resonanz
gestoßen. Die Staatsableitungsdebatte in Westdeutschland kritisierte die Klas-
senstaatstheorie in Anknüpfung an Eugen Paschukanis, einem sowjetischen

1
Siehe Helmut Reichelt: Neue Marx-Lektüre. Hamburg 2008; Ingo Elbe: Marx im Westen.
Berlin 2010; Moritz Zeiler: Materialistische Staatskritik. Stuttgart 2017. Zur Formanalyse bei
Marx siehe Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Bd. 1.
Frankfurt a.M. 1969. S. 105.
2
Siehe Moishe Postone: Time, Labor, and Social Domination. Cambridge 1993. S. 8.
3
Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart 2004.
S. 206/207.

Marx-Engels-Jahrbuch 2017/18. S. 41–60. 41


Soichiro Sumida

Juristen, und sah die Grundmerkmale der kapitalistischen Produktionsweise


nicht in der Klassenherrschaft oder dem Privateigentum, sondern im Wert (der
Ware) und in der Privatproduktion. Kurz gesagt wurde hier der Staatsbegriff
als die politische Form aus den ökonomischen Formbestimmungen Ware, Geld
und Kapital abgeleitet.
Im Umfeld der Staatsableitungsdebatte kam es innerhalb der westdeutschen
Linken zu einer politischen Konfrontation. Nachdem die SPD der Koalitions-
regierung beigetreten war, wurde die Frage aufgeworfen, ob der Staat ein Trä-
ger der strukturellen Transformation zum Sozialismus werden kann. Die Kon-
troverse wurde durch einen von Wolfgang Müller und Christel Neusüß im
Jahre 1970 veröffentlichten Aufsatz ausgelöst.4 Sie kritisierten sowohl die
Spätkapitalismus-Theorie der Frankfurter Schule, wie sie Jürgen Habermas
und Claus Offe auffassten, als auch die Theorie des staatsmonopolistischen
Kapitalismus, die von Robert Katzenstein in Ostdeutschland vertreten wurde:
Beide seien der „Sozialstaatsillusion“ verfallen, also der Vorstellung, dass der
kapitalistische Staat politische, wirtschaftliche und soziale Prozesse bewusst
kontrollieren könne. Im Gegensatz dazu sollte die Staatsableitung zweierlei
Grenzen der Staatstätigkeit erfassen: erstens die Grenzen der Fähigkeit des
Staats, verschiedene Probleme des Kapitals zu lösen, zweitens die Grenzen der
Möglichkeit, den Übergang zum Sozialismus durch die Nutzung des Staates zu
verwirklichen.5
Aufgrund der hohen Komplexität der Staatsableitung haben bisherige For-
schungen ihre Problematik nicht richtig verstanden. Sie haben das Argument
von Paschukanis, Ausgangspunkt der Staatsableitungsdebatte, als zirkulatio-
nistisch unterschätzt, weil es ihrer Auffassung nach die Klassenherrschaft im
Produktionsprozess übersehen habe.6 Paschukanis wollte jedoch nicht die Be-
ziehung zwischen der herrschenden Klasse und dem Staatsapparat selbst er-
klären, sondern die Frage beantworten, warum die Besonderung (d.h. Tren-
nung) des Staates von der Gesellschaft die politische Form der kapitalistischen
Gesellschaft ist. Wie Johannes Agnoli meint, ist der Kern der materialistischen
Staatstheorie so zu begreifen, dass jeder Staat in der kapitalistischen Gesell-
schaft immer der Staat des Kapitals ist.7 Anders ausgedrückt: Es handelt sich
4
Wolfgang Müller, Christel Neusüß: Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnar-
beit und Kapital. In: Sozialistische Politik. 1970. Nr. 6/7.
5
John Holloway, Sol Picciotto: Introduction. Towards a Materialist Theory of the State. In: State
and Capital. Ed. by id. Austin 1978. S. 1/2.
6
Siehe z.B. Simon Clarke: State, Class Struggle, and the Reproduction of Capital. In: The State
Debate. Ed. by id. London 1980. S. 167.
7
Siehe Johannes Agnoli: Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik.
Freiburg 1995.

42
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

um eine strukturelle äquivalente Beziehung zwischen Kapital und Staat. Im


Folgenden werden wir die materialistische Staatskritik erläutern, welche auf
Marx’ Formanalyse beruht.

1. Marx’ Staatstheorie in seinem Frühwerk

Das Thema des vorliegenden Beitrags ist zwar die Staatstheorie in Marx’
Hauptwerk, die durch die Formanalyse der Ökonomiekritik begründet ist.
Trotzdem möchten wir zunächst den Blick auf das Staatsverständnis in seinem
Frühwerk richten, da sein Kern erhalten blieb, nachdem Marx die Staatstheorie
auf der Grundlage der Formanalyse neu etablierte. Insbesondere erwähnte
Marx in seinen Plänen zur Kritik der politischen Ökonomie häufig den Begriff
der Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats –
dieser wurde zum Schlüsselelement der Staatstheorie seines Hauptwerks, deren
Gegenstand die politische Form des Kapitalismus ist. Dieses Konzept wurde
bereits in der Deutschen Ideologie wie folgt formuliert:
„Da der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre
gemeinsamen Interessen geltend machen & die ganze bürgerliche Gesellschaft einer
Epoche sich zusammenfaßt, so folgt daß alle gemeinsamen Institutionen durch den
Staat vermittelt werden, eine politische Form erhalten.“8

„Durch die Emancipation des Privateigenthums vom Gemeinwesen ist der Staat zu
einer besonderen Existenz neben & außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er
ist aber weiter Nichts, als die Form der Organisation welche sich die Bourgeois
sowohl nach außen als nach innen hin, zur gegenseitigen Garantie ihres Eigenthums
& ihrer Interessen nothwendig geben.“9
Hier entdeckte Marx die Ursache des modernen Dualismus der bürgerlichen
Gesellschaft und des Staates nicht in der politischen Verfassung, sondern in der
bürgerlichen Gesellschaft selbst, nämlich in der Produktionsweise und Ver-
kehrsform. Der moderne Dualismus sollte in Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie durch eine bestimmte Staatsform (d.h. Demokratie) und
dann in Zur Judenfrage durch die Aufhebung des Widerspruchs zwischen all-
gemeinen und besonderen Interessen überwunden werden. In der Deutschen
Ideologie jedoch sollte der moderne Dualismus aus der materiellen Lebens-
weise der Individuen und damit aus der spezifischen Form der bürgerlichen

8
Karl Marx, Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. Manuskripte und Drucke. In: MEGA➁ I/5.
S. 117.
9
Ebenda. S. 116/117.

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Soichiro Sumida

Gesellschaft erklärt werden. Der Staatsbegriff der Zusammenfassung der bür-


gerlichen Gesellschaft wird auch in Misère de la philosophie angedeutet: „die
politische Gewalt [ist] der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes inner-
halb der bürgerlichen Gesellschaft“.10 So definierte Marx in seiner frühen
Staatstheorie den modernen Staat als politische Form, welche die privaten
Interessen der antagonistischen Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft zu-
sammenfasst.
Zwei weitere Bestimmungen bildeten die Grundlage der traditionellen mar-
xistischen Staatstheorie. Erstens: Der Begriff vom Staat als einem, der die
Gewalt organisiert, um die Klassenherrschaft zu ergänzen. Dies ist die ein-
flussreichste Bestimmung in Engels’ Staatstheorie und man findet sie typi-
scherweise im Manifest der kommunistischen Partei:
„Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Ge-
schäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“11
„Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle
Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die
öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen
Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern.“12

Obwohl dieser Begriff der Staatsgewalt als ein Instrument der herrschenden
Klasse häufig von politischen und soziologischen Staatstheorien übernommen
wurde, ist er oft als Ökonomismus oder Reduktionismus kritisiert worden. Al-
lerdings nehmen Marx und Engels hier keine übergeschichtliche Bestimmung
vor, wonach die Staatsgewalt in jeder Gesellschaft die Klassenherrschaft er-
gänzen würde. Wie durch den Staatsbegriff der Zusammenfassung der bürger-
lichen Gesellschaft deutlich wird, sieht Marx die eigentliche Bestimmung des
modernen Staates in der Gewährleistung des Eigentums und dem Ausgleich
der verschiedenen Interessen der bürgerlichen Klassen. Die politische Macht,
das Privateigentum zu garantieren, ist ein für Thomas Hobbes und John Locke
typischer Staatsbegriff.13
Zweitens: Der Staatsbegriff als illusorische Gemeinschaft. Diese Bestim-
mung ist von Jean-Jacques Rousseaus und Georg Friedrich Wilhelm Hegels
Staatstheorien beeinflusst,14 was nicht auf die enge Definition des Staats als

10
Karl Marx: Das Elend der Philosophie. In: MEW. Bd. 4. S. 182.
11
Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW. Bd. 4. S. 464.
12
Ebenda. S. 482.
13
Siehe Crawford Brough Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism. Oxford
1962.
14
In diesem Beitrag können wir nicht Marx’ politische Gedanken oder seine Studien zur Ge-

44
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

Instrument der herrschenden Klasse, sondern auf die politische Gemeinschaft-


lichkeit der modernen Gesellschaft verweist. Daneben bezieht sich diese Be-
stimmung stark auf das Moment der Zusammenfassung widersprüchlicher pri-
vater Interessen, wie wir bereits gezeigt haben.
„[E]ben aus diesem Widerspruch des besonderen & gemeinschaftlichen Interesse
nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbstständige Gestaltung, ge-
trennt von den wirklichen Einzel- & Gesammtinteressen, an, & zugleich als illuso-
rische Gemeinschaftlichkeit [...] Eben weil die Individuen nur ihr besondres – für sie
nicht mit ihrem gemeinschaftlichen Interesse Zusammenfallendes suchen – wird dieß
als ein ihnen ,fremdes‘ u. von ihnen ,unabhängiges‘, als ein selbst wieder besondres
u. eigenthümliches ,Allgemein‘ Interesse geltend gemacht, od. sie selbst müssen sich
in diesem Zwiespalt bewegen, wie in der Demokratie. Andrerseits macht denn auch
der praktische Kampf dieser, beständig wirklich den gemeinschaftlichen u. illusori-
schen gemeinschaftlichen Interessen entgegentretenden Sonderinteressen, die prak-
tische Dazwischenkunft u. Zügelung durch das illusorisch ,Allgemein‘ Interesse als
Staat nöthig.“15
Wie von Joachim Hirsch, einem Vertreter der Staatsableitungsdebatte, hervor-
gehoben wurde,16 enthält diese Passage bereits eine Bestimmung, welche die
spätere Formanalyse vorwegnimmt: Der moderne Staat wird als eine von den
besonderen Interessen der Individuen unabhängige und selbständige gesell-
schaftliche Beziehung verstanden, d.h. als ein spezifisch gesellschaftliches
Machtverhältnis. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die praktischen Interven-
tionen und Kontrolltätigkeiten vom Staat auf der Grundlage der allgemeinen
Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgen müssen, auch wenn diese
allgemeinen Interessen eine illusorische Gestalt annehmen. Die politische Ge-
meinschaftlichkeit des modernen Staats ist eine entfremdete.17 In diesem Sinne
ist auch die folgende Aussage aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte zu
verstehen:
„Jedes gemeinsame Interesse wurde sofort von der Gesellschaft losgelös’t, als hö-
heres, allgemeines Interesse ihr gegenübergestellt, der Selbstthätigkeit der Gesell-
schaftsglieder entrissen und zum Gegenstand der Regierungs-Thätigkeit gemacht,
von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunalvermögen einer Dorfgemeinde

schichte der Staatsbildung in den Kreuznacher Heften (MEGA➁ IV/2) betrachten, aber in der
Kritik dieser politischen Theoretiker können wir den Keim der Staatskritik seines Hauptwerks
finden.
15
Marx, Engels: Deutsche Ideologie. MEGA➁ I/5. S. 33–37.
16
Siehe Joachim Hirsch: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalisti-
schen Staatensystems. Hamburg 2005. S. 21.
17
Siehe Alan Wolfe: New Directions in the Marxist Theory of Politics. In: Politics and Society.
Vol. 4. 1974. No. 2.

45
Soichiro Sumida

bis zu den Eisenbahnen, dem Nationalvermögen und der Landesuniversität Frank-


reichs.“18

In dem Argument von Marx wird das Parasitendasein des französischen


Staates für die Gesellschaft – z.B. durch eine mächtige Bürokratie, ein stehen-
des Heer und eine verselbständigte Exekutivgewalt – betont. Obwohl die kon-
zentrierte Macht (d.h. der zentralisierte Staat) ihren Ursprung in der absoluten
Monarchie hatte, wurde sie durch die bürgerliche Gesellschaft gestärkt, da
diese, auf Konflikten privater Interessen beruhend, sich ausdehnte, als das
feudale System, das durch ein Netzwerk verschiedener Korporationen unter-
stützt wurde, zerfiel. „Die Konzentration der Produktionsinstrumente und die
Arbeitsteilung sind ebenso untrennbar voneinander wie auf dem Gebiete der
Politik die Zentralisation der öffentlichen Gewalten und die Teilung der Pri-
vatinteressen.“19 Bemerkenswert ist im obigen Zitat die These, dass die Ver-
waltung von Infrastruktur und öffentlichen Gütern, für welche die Gesell-
schaftsmitglieder ursprünglich ein gemeinsames Interesse hatten, durch die
politische Form des von den Individuen oder der Gesellschaft unabhängigen
Staats vermittelt wird. Kurz gesagt, obwohl der moderne Staat eine öffentliche
Form der Zusammenfassung der unterschiedlichen privaten Interessen erhält,
muss seine politische Form die der illusorischen Gemeinschaftlichkeit anneh-
men.

2. Zur politischen Formbestimmung


in der Kritik der politischen Ökonomie

Wie Marx im ersten Band des Kapital feststellte, entdeckte die klassische
Ökonomie den in der Form des Werts verborgenen Inhalt (d.h. die Arbeit),
konnte jedoch nicht in Frage stellen, warum dieser Inhalt die Form des Werts
annehmen musste.20 Die „materialistische Methode“21 der Kritik der politi-
schen Ökonomie ist entscheidend zur Erfassung der politischen Formbestim-
mung. Der Grund dafür liegt darin, dass sowohl die klassischen Ökonomen der
vormarx’schen Periode die Formanalyse des Werts übersahen als auch die

18
Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEGA➁ I/11. S. 178/179.
19
Marx: Das Elend der Philosophie. MEW. Bd. 4. S. 153.
20
Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. Hamburg 1872. In: MEGA➁ II/6. S. 110/111.
21
„Es ist in der That viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildun-
gen zu finden, als umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre ver-
himmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissen-
schaftliche Methode.“ (Ebenda. S. 364.)

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Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

traditionellen Marxisten der nachmarx’schen Periode die fundamentale Ana-


lyse der politischen Formen des Rechts und Staats aufgaben.22 In der Tat kon-
zentrierten sich traditionelle marxistische Politikwissenschaftler nicht auf die
Formen des Rechts und Staats, sondern nur auf ihre Inhalte wie Zwang, phy-
sische Gewalt und Herrschaft. Im Gegenteil dazu kritisierte Paschukanis diese
Klassenstaatstheorie vom Gesichtspunkt der Formanalyse und stellte das fol-
gende Problem auf:
„[...] warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die fakti-
sche Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie
die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum
wird der Apparat des staatlichen Zwangs nicht als privater Apparat der herrschenden
Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form
eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen
Macht an? Wir können uns nicht auf den Hinweis beschränken, daß es für die
herrschende Klasse vorteilhaft ist, eine ideologische Nebelwand zu errichten und ihre
Klassenherrschaft hinter dem Schirm des Staates zu verbergen. “23

Ähnlich der Analyse der ökonomischen Formbestimmung in der Kritik der


politischen Ökonomie muss auch die Formanalyse des Staates klären, warum
und wie der Inhalt der Klassenherrschaft (wie physische Gewalt) die Form
einer öffentlichen Macht annimmt, in welcher sich die bürgerliche Gesellschaft
zusammenfasst. Paschukanis’ Frage soll im Folgenden anhand der Marx’schen
Manuskripte zum Kapital hinreichend beantwortet werden. Marx entwickelte
die sogenannte Basis-Überbau-Theorie im Vorwort von Zur Kritik der politi-
schen Ökonomie: „Die Gesammtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die
ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juris-
tischer und politischer Ueberbau erhebt“.24 In der traditionellen Basis-Überbau-
Theorie wurde nur die formale Unterscheidung zwischen Basis und Überbau
problematisiert, aber Marx’ Formanalyse unterscheidet sich von der klassi-
schen Ökonomie darin, dass „it creates no sharp discontinuities between eco-
nomic and political spheres“.25 Holloway und Picciotto betonen auch, dass „the
economic should not be seen as the base which determines the political su-
perstructure, but rather the economic and the political are both forms of social
relations“.26
22
Siehe Sonja Buckel: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen
Theorie des Rechts. Weilerswist 2007. S. 90.
23
Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Freiburg 2003. S. 139.
24
Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft. Vorwort. In: MEGA➁ II/2. S. 100.
25
Ellen Meiksins Wood: Democracy against Capitalism. Renewing Historical Materialism. Cam-
bridge 1995. S. 21.
26
Holloway, Picciotto: Introduction (Fn. 5). S. 14.

47
Soichiro Sumida

Paschukanis versuchte nicht nur die Klassenstaatstheorie, sondern auch die


mechanische Basis-Überbau-Theorie zu überwinden. Die von ihm ins Zentrum
gerückte Rechtsform lässt sich nicht im einfachen Rahmen einer mechanischen
Entgegensetzung von Basis und Überbau fassen.27 In der Basis-Überbau-Theo-
rie wird zwar die bestimmende Beziehung beider in Frage gestellt, aber die Art
und Weise ignoriert, wie die wirtschaftliche Grundlage und der politische
Überbau gleichzeitig voneinander getrennt und miteinander verbunden sind.
Denn auf den ersten Blick scheint die Perspektive der Formanalyse den For-
meln des viel zitierten Vorworts zu widersprechen.
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung gerathen die materiellen Produktiv-
kräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnis-
sen, oder was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigenthumsverhältnis-
sen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der
Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann
eine Epoche socialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grund-
lage wälzt sich der ganze ungeheure Ueberbau langsamer oder rascher um. In der
Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der ma-
teriellen naturwissenschaftlich treu zu konstatirenden Umwälzung in den ökonomi-
schen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künst-
lerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Men-
schen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.“28

Hier wurde der in der Deutschen Ideologie etablierte historische Materialismus


im Kontext der „sozialen Revolution“ beschrieben, und die materiellen Verän-
derungen in den wirtschaftlichen Produktionsbedingungen wurden klar von
den ideologischen Formen des Überbaus unterschieden. Aber Marx betont laut
Paschukanis in dieser Formel des Vorworts „den Umstand, daß das Eigentums-
verhältnis, diese grundlegende unterste Schicht des juristischen Überbaues, in
so enger Berührung mit der Basis steht, daß die beiden als ,dasselbe Produk-
tionsverhältnis‘ erscheinen, wie ,der juristische Ausdruck dafür ist‘“.29 Das
Juristische unterscheidet sich vom Gesetz der Staatsgewalt und ist ein Begriff,
der Recht, Gesetz und Polizei umfasst. Anders ausgedrückt: Der Fokus der
Formanalyse von Paschukanis liegt nicht einfach auf der Unterscheidung zwi-
schen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau, sondern auf der
Tatsache, dass die beiden Sphären voneinander getrennt und gleichzeitig durch
27
Antonio Negri: Paschukanis lesen. Notizen anläßlich der erneuten Lektüre von Eugen Pa-
schukanis’ Allgemeiner Rechtslehre und Marxismus. In: Kritik der Politik. Johannes Agnoli
zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann und Clemens Nachtmann.
Freiburg 2000.
28
Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEGA➁ II/2. S. 100/101.
29
Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus (Fn. 23). S. 77.

48
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

das Juristische miteinander verbunden sind. Um also „die politische Form des
Kapitalismus“ abzuleiten, ist es notwendig, anstelle der Basis-Überbau-Theorie
die „Trennung und Verbindung von Ökonomie und Politik“ zu rekonstruieren.
Es ist zu bemerken, dass der Begriff der Staatsform nicht die bloße Regie-
rungsform bedeutet, wie sie oft von der modernen Politikwissenschaft betrach-
tet wird. Auch in der bisherigen Forschung der marxistischen Staatstheorie
wurde der Begriff der Staatsform nicht wie bei Paschukanis und der Staatsab-
leitungsdebatte als soziale Form verstanden,30 weil der Begriff der politischen
Form in der gleichen Bedeutung wie das politische Regime (z.B. Bonapartis-
mus, Faschismus usw.) aus Sicht der Politikwissenschaft verwendet wurde.31
Dennoch war die Staatstheorie, die Marx als eigene Arbeit unabhängig von der
Vollendung des Kapital konzipierte, weit entfernt von einer Theorie des poli-
tischen Systems. Marx wollte die Verhältnisse „der verschiednen Staatsformen
zu den verschiednen ökonomischen Structuren der Gesellschaft“32 begreifen. In
der Tat ist dies nur eine sehr abstrakte Bestimmung der Staatsform; es ist
jedoch möglich, diese allgemeine Bestimmung des Staats zu konkretisieren,
indem man die Formanalyse anwendet, um die für die kapitalistische Gesell-
schaft eigentümliche politische Form zu erfassen. In einer historischen Be-
trachtung im dritten Buch des Kapital wird die Basis-Überbau-Theorie detail-
lierter entwickelt als in der Deutschen Ideologie oder im Vorwort und das
Konzept der ökonomischen und politischen Formen, die aus einer sozialen
Arbeitsform hervorwachsen, klar formuliert:
„Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Surplusarbeit aus den unmit-
telbaren Producenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knecht-
schaftsverhältniß, wie es unmittelbar aus der Production selbst hervorwächst, und sie
seinerseits bestimmend, erscheint.33 Hierauf aber gründet sich die ganze Gestalt des
ökonomischen, aus den Productionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemein-

30
Helmut Brentel: Soziale Form und ökonomisches Objekt. Opladen 1989.
31
Zum Unterschied zwischen verschiedenen Staatsformen, die mit politischen Machtverhältnissen
usw. historisch ausgeprägt sind, und der Form des Staats, die durch den Ansatz der Formana-
lyse konzeptualisiert wird, siehe Ulrich Jürgens: Theorien zum Verhältnis von Politik und
Ökonomie. In: Kritik der politischen Wissenschaft. Analysen von Politik und Ökonomie in der
bürgerlichen Gesellschaft. Hrsg. von Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens und Hans Kastendiek.
Bd. 2. Frankfurt a.M. 1975. S. 410.
32
Marx an Louis Kugelmann, 28. Dezember 1862. In: MEGA➁ III/12. S. 296.
33
In seiner Ausgabe des dritten Bands des Kapital korrigierte Engels den Ausdruck „wie [...] sie
seinerseits bestimmend, erscheint“ zu „wie [...] seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt“.
(Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 3. Hamburg 1894. In: MEGA➁
II/15. S. 766.) Daher wurde nicht die Trennung und Verbindung von Basis und Überbau, son-
dern die Interaktion zwischen den beiden getrennten Sphären betont und dabei das Konzept der
politischen und ökonomischen Formbestimmungen übersehen.

49
Soichiro Sumida

wesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedesmal das
unmittelbare Verhältniß der Eigenthümer der Productionsbedingungen zu den un-
mittelbaren Producenten, welches seinerseits naturgemäß einer bestimmten Entwick-
lungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher der Entwicklung ihrer gesell-
schaftlichen Productivkraft entspricht, worin wir das innerste Geheimniß, die ver-
borgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Construction und daher auch der
allgemein politischen Form des Souverainitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz
der spezifischen Staatsform finden. Dieß hindert nicht, daß dieselbe ökonomische
Basis – den Hauptbedingungen nach – durch zahllos verschiedne empirische Um-
stände, Naturverhältnisse, Racenverhältnisse, von aussen wirkende geschichtliche
Einflüsse u.s.w. unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen
kann, die nur durch die Analyse der empirisch gegebnen Umstände zu begreifen
sind.“34
Hier stellt Marx die Korrespondenz oder die Interaktion zwischen Ökonomie
und Politik, wie sie von der Basis-Überbau-Theorie des traditionellen Marxis-
mus angenommen wird, nicht in Frage. Da ist erstens die transhistorische Ver-
flechtung von Produktionsverhältnissen und Herrschafts- und Abhängigkeits-
verhältnissen. Aus dem eigentlichen Produktionsverhältnis, entsprechend der
Arbeitsform der unmittelbaren Produzenten und der Aneignungsform ihrer
überschüssigen Arbeit, wird das eigentliche Herrschafts- und Abhängigkeits-
verhältnis erzeugt, und es erscheint seinerseits als das Produktionsverhältnis
bestimmend. Insbesondere bei der Erfassung der politischen Form handelt es
sich bei ihrem Indikator um das Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis, d.h.
„die gewaltsame Herrschaft eines Theils der Gesellschaft über den andren“.35
Mit anderen Worten, Marx definierte das Herrschafts- und Abhängigkeitsver-
hältnis, welches aus den Produktionsverhältnissen erzeugt wird und mit ihr
verknüpft ist, als Anfangsbestimmung der politischen Form.
Zweitens wird auf der Grundlage des mit dem Herrschafts- und Abhängig-
keitsverhältnis verflochtenen Produktionsverhältnisses (und des Eigentumsver-
hältnisses als ihrem rechtlichen Ausdruck) die ökonomische Struktur der Ge-
sellschaft als Ganzes erzeugt, woraus gleichzeitig die politische Form der ge-
sellschaftlichen Konstruktion hervorwächst. Auf der Basis der anfänglichen
politischen Formbestimmung des Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisses
wird die Staatsform, die politische Form der Gesellschaft als Ganzes, gebildet.
Daher ist vom Standpunkt der Formanalyse aus die direkte Übereinstimmung
oder die gegenseitige Bestimmung zwischen Basis und Überbau kein Problem.

34
Karl Marx: Das Kapital (Ökonomisches Manuskript 1863–1865). Drittes Buch. In: MEGA➁
II/4.2. S. 732.
35
Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861–1863). In: MEGA➁ II/3.
S. 1836.

50
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

Vielmehr müssen wir die politische Form jeder Gesellschaftsformation aus der
Verflechtung des Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisses und der einer
Arbeits- und Aneignungsform entsprechenden ökonomischen Form entwi-
ckeln.
Obwohl wir bisher die Verflechtung von ökonomischen Formen und Herr-
schafts- und Abhängigkeitsverhältnissen in den Produktionsverhältnissen be-
tont haben, will die Kritik der politischen Ökonomie die Trennung und Ver-
bindung von Politik und Wirtschaft nicht übergeschichtlich erfassen. Kurz ge-
sagt, es handelt sich nicht um die Trennung und Verbindung von Politik und
Wirtschaft in jedem Gesellschaftssystem, sondern um die Art und Weise der
für das kapitalistische Gesellschaftssystem spezifischen Trennung und Verbin-
dung beider. Wie in der Kritik des Gothaer Programms deutlich wird, be-
schäftigt sich Marx mit der der ökonomischen Struktur einer kapitalistischen
Gesellschaft entsprechenden politischen Form, d.h. der politischen Formbe-
stimmung des kapitalistischen Staates: „die verschiednen Staaten der ver-
schiednen Kulturländer [haben], trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle
das gemein dass sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft
stehn“36. Daher sind aus der Perspektive der Formanalyse die politischen For-
men der vorkapitalistischen und kapitalistischen Gesellschaft streng zu unter-
scheiden.
In der vorkapitalistischen Gesellschaft basiert das Verhältnis der Eigentümer
von Produktionsmitteln zu den unmittelbaren Produzenten, mit Ausnahme von
selbständigen Bauern mit freier Individualität, grundsätzlich auf einem persön-
lichen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis. Im Gegensatz zur Waren-
produktion setzt hier die in Produktionsverhältnissen erfolgende Arbeits- und
Aneignungsform die auf persönlichen Beziehungen beruhenden Eigentums-
verhältnisse voraus. Deshalb besteht auch die ökonomische Struktur der Ge-
sellschaft aus einem Gemeinwesen37 der persönlichen Abhängigkeitsverhält-
nisse und die dem Gemeinwesen entsprechende politische Gestalt nimmt die
politische Form einer Gemeinde (z.B. pólis) oder eines Despotismus an, je
nachdem, ob den unmittelbaren Produzenten gegenüber die Grundeigentümer
36
Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. In: MEGA➁ I/25. S. 21.
37
Nach diesem in den Grundrissen im Abschnitt Formen, die der kapitalistischen Produktion
vorhergehen entwickelten Konzept sind die persönlichen Beziehungen zwischen den Mitglie-
dern durch eine ursprüngliche Einheit von Produzenten und Produktionsmitteln bedingt. Im
Gegensatz zu der auf der Eigentumslosigkeit des Arbeiters beruhenden kapitalistischen Gesell-
schaft garantiert das Gemeinwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft ein ursprüngliches
Eigentum, das heißt „das Verhalten des Einzelnen zu den natürlichen Bedingungen der Arbeit
und Reproduction als ihm gehörigen“. (Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Öko-
nomie. In: MEGA➁ II/1. S. 380.)

51
Soichiro Sumida

ein Privateigentümer oder ein Staat sind.38 So schrieb Marx im dritten Buch
des Kapital zur pólis: „in dem antiken Verhältnisse“ ist „das Eigenthum des
Producenten an seinen Productionsbedingungen zugleich Basis der politischen
Verhältnisse, der Selbstständigkeit des citoyen.“39
Doch in der kapitalistischen Gesellschaft, in der die Warenproduktion voll-
ständig entwickelt ist, können die Privatpersonen nicht durch persönliche Be-
ziehungen zueinander in gesellschaftliche Produktionsverhältnisse treten. Da
das Gemeinwesen und die Gemeinde aufgelöst sind, müssen die Einzelnen eine
gesellschaftliche Arbeitsteilung nicht durch gemeinschaftliche Arbeit, sondern
durch voneinander unabhängige private Arbeiten betreiben. Weil die Privatar-
beiten selbst keinen direkten sozialen Charakter haben, müssen die privaten
Produzenten sich zu ihren Arbeitsprodukten als Werte verhalten und gesell-
schaftliche Verhältnisse vermittels des Arbeitsproduktes, d.h. durch eine ver-
sachlichte Beziehung, herstellen.40 Während die ökonomische Formbestim-
mung der Arbeitsprodukte (die Wertform) durch das bestimmte Verhalten der
Privatpersonen geschaffen wird, muss sie also die Handlungen und das Be-
wusstsein der Einzelnen beschränken. Für unsere Staatskritik ist außerdem der
folgende Punkt wichtig: Die Logik der sozialen Form der versachlichten Pro-
duktionsverhältnisse gilt auch für die politische Form der Herrschafts- und
Abhängigkeitsverhältnisse und der Gesellschaftsstruktur. Mit anderen Worten,
die politische Form der kapitalistischen Gesellschaft gründet nicht auf den
persönlichen Beziehungen einer Gemeinde wie in der vorkapitalistischen Ge-
sellschaft. Stattdessen wird sie als ein Staatsapparat gegründet, der die aus den
versachlichten Produktionsverhältnissen hervorwachsenden Herrschafts- und
Abhängigkeitsverhältnisse von außen ergänzt.
Daher kann die Problematik von Paschukanis, auf die in der Staatsablei-
tungsdebatte ständig referiert wird, aus der Sicht von Marx’ Kritik der politi-
schen Ökonomie wie folgt umschrieben werden. In der kapitalistischen Gesell-
schaft sind die persönlichen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse in der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung und dem unmittelbaren Produktionsprozess

38
Marx nahm in seinen historischen Betrachtungen zwei Formen des „ursprünglichen Eigentums“
an: Kleingrundeigentum im Westen und Gemeineigentum im Orient. Zum Begriff der „asiati-
schen Form“ bei Marx, einer Verbindung von Grundeigentum und despotischem Staat, siehe
Soichiro Sumida: The Breadth and Depth of the Asiatic Form in Pre-Capitalist Economic
Formations. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2015/2016. Berlin 2016. S. 103–114.
39
Marx: Das Kapital (Ökonomisches Manuskript 1863–1865). Drittes Buch. MEGA➁ II/4.2.
S. 649.
40
Zum Begriff der Versachlichung in Marx’ Ökonomiekritik siehe Ryuji Sasaki, Kohei Saito:
Abstrakte Arbeit und Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur. In: Beiträge zur Marx-Engels-
Forschung. Neue Folge 2013. Hamburg 2015.

52
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

aufgelöst und die voll entwickelte Warenproduktion, d.h. die versachlichte


Beziehung, dringt dort durch. Daher bildet die politische Form der Gesell-
schaftsstruktur als Reaktion auf die aufgeteilten privaten Interessen in der öko-
nomischen Struktur einen von der Gesellschaft unabhängigen und getrennten
Mechanismus. Da in der kapitalistischen Gesellschaft alle persönlichen Herr-
schafts- und Abhängigkeitsverhältnisse aufgelöst und von der ökonomischen
Struktur getrennt sind, erscheint die politische Form der Gesellschaftsstruktur
nicht wie das feudale System als Macht-verteilte Anarchie: „substituting to the
checkered (party coloured) anarchy of conflicting medieval powers the regu-
lated plan of a statepower, with a systematic and hierarchic division of la-
bour.“41 Auf diese Weise erscheint die Staatsform der kapitalistischen Gesell-
schaft nicht als „privat“ von der herrschenden Klasse organisiert, sondern viel-
mehr als eine „öffentliche“ Macht, welche die ökonomische Formbestimmung,
d.h. die versachlichte Beziehung, nach außen ergänzt. Dies ist nichts anderes
als „die politische Form des Kapitalismus“, die Marx als „Zusammenfassung
der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform“ definiert hat.

3. Der expropriierte Staat als die politische Form des Kapitalismus

In seinem Plan für die Kritik der politischen Ökonomie schrieb Marx 1857
unter den Abschnitt „Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der
Form des Staats“: „Die ,unproductiven‘ Klassen. Steuern. Staatsschuld. Oef-
fentlicher Credit. Die Bevölkerung. Die Colonien. Auswanderung.“42 Auch der
„Sechs-Bücher-Plan“ sah „Kapital, Grundeigenthum, Lohnarbeit; Staat, aus-
wärtiger Handel, Weltmarkt“43 vor, doch Marx konnte die Staatskritik als Kri-
tik der politischen Ökonomie nicht vollenden. In den Grundrissen hat er je-
doch unsystematisch untersucht, wie der Staat (z.B. in England oder Nord-
amerika) „von vorn herein der bürgerlichen Gesellschaft, deren Production
untergeordnet war“44 und inwiefern Steuern und Staatsschuld als „die wirth-
schaftliche Grundlage der Regierungsmaschinerie“45 „selbst aus den bürgerli-

41
Karl Marx: The Civil War in France. In: MEGA➁ I/22. S. 53.
42
Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Einleitung. In: MEGA➁ II/1. S. 43.
43
Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEGA➁ II/2. S. 99.
44
Marx: Grundrisse. Einleitung. MEGA➁ II/1. S. 4.
45
Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. MEGA➁ I/25. S. 23. Zu den
Kategorien Steuern und Staatsschuld in der Kritik der politischen Ökonomie von Marx, siehe
Ingo Stützle: Austerität als politisches Projekt. Münster 2014; Timm Graßmann: Karl Marx’
Kritik des besteuernden Staats. In: Fiskus – Verfassung – Freiheit. Politisches Denken der

53
Soichiro Sumida

chen Verhältnissen hervorwachsen“.46 Übrigens konzentrierte sich die japani-


sche Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus auf den Begriff der
„Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats“ und
leitete eine Kategorie „gemeinschaftlicher Geschäfte“ aus dem Kapitel „Kreis-
lauf des Kapitals“ der Grundrisse ab.47 Da sie sich jedoch auf die traditions-
marxistische Klassenstaatstheorie stützte, können wir darin keinen Formana-
lyseansatz finden. Wie wir im Folgenden sehen werden, will Marx in den
Grundrissen nicht die transhistorischen „gemeinschaftlichen Geschäfte“ des
politischen Staates erfassen. Vielmehr betont er, dass kapitalistische Staaten
mit ihren eigenen politischen Formbestimmungen nur einseitig die für die Ge-
meinde (politische Gemeinschaft) eigentlich gemeinschaftlichen Geschäfte
verrichten können. Von diesem Gesichtspunkt der Formanalyse her ist es wich-
tig, die folgenden beiden, in den Grundrissen entwickelten Staatsfunktionen
genau zu verstehen.
Für die Gemeinde oder den despotischen Staat in der vorkapitalistischen
Gesellschaft ist erstens „ein allgemeines Geschäft“ charakteristisch. Marx
schrieb auch im dritten Buch des Kapital, dass „in despotischen Staaten die
Arbeit der Oberaufsicht und allseitigen Einmischung der Regierung beides in
sich enthält, sowohl das Verrichten der allgemeinen Geschäfte, die aus der
Natur aller Gemeinwesen hervorgehn, wie die spezifischen Functionen, die aus
dem Gegensatz der Regierung zu der Volksmasse entspringen“.48 Kurz gesagt
wird das allgemeine Geschäft der Gemeinde als eine Funktion „necessitated by
the general and common wants of the country“ definiert, die sich von der
letzteren Funktion „of governmental authority over the people“ unterscheidet.49
Die für die politische Gemeinschaft eigentliche „öffentliche Arbeit“ (d.h. das
Verrichten der allgemeinen Geschäfte und die Aufrechterhaltung der Autorität)
muss im kapitalistischen Gesellschaftssystem jedoch die Form der „Zusam-
menfassung der bürgerlichen Gesellschaft“ annehmen.50 Die öffentliche Arbeit

öffentlichen Finanzen von Hobbes bis heute. Hrsg. von Sebastian Huhnholz. Baden-Baden
2018. S. 179–208.
46
Marx: Grundrisse. Einleitung. MEGA➁ II/1. S. 7.
47
Siehe Kenichi Miyamoto: Moderner Kapitalismus und Staat [auf Japanisch]. Tokio 1981.
48
Marx: Das Kapital (Ökonomisches Manuskript 1863–1865). Drittes Buch. MEGA➁ II/4.2.
S. 455.
49
Marx: The Civil War in France. MEGA➁ I/22. S. 106.
50
Mit Blick auf Marx’ Kritik der Staatsfinanzen definiert Michael Krätke nicht-warenproduzie-
rende Staatsaktivitäten im kapitalistischen Gesellschaftssystem als Gebrauchswert produzieren-
de „öffentliche Arbeit“ im Gegensatz zu wertproduzierender Privatarbeit. (Michael Krätke:
Kritik der Staatsfinanzen. Hamburg 1984. S. 47.) Während jedoch die politische Gemeinschaft
in der vorkapitalistischen Gesellschaft den Gebrauchswert liefert, ist es wichtig davon zu un-

54
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

der politischen Gemeinschaft spezialisiert sich unter dem kapitalistischen Ge-


sellschaftssystem auf eine Staatsfunktion, soweit sie die ökonomische Form-
bestimmung ergänzt. Wie in der Staatsableitungsdebatte betont wurde, ist es
eine Funktion, das Privateigentum der Mitglieder (der Warenbesitzer) inner-
halb der nationalen Grenze nach außen zu ergänzen und die Reproduktion der
Arbeitskraft zu garantieren, die von konkurrierenden Einzelkapitalen über-
haupt nicht berücksichtigt werden kann.51 Solange also die kapitalistische
Staatsform die wirtschaftliche Struktur ergänzt, hat der Staat eine enorme
Macht der Einmischung in die bürgerliche Gesellschaft. In diesem Sinne hat
der kapitalistische Staat – unabhängig vom Entwicklungsstadium oder des po-
litischen Regimes – die Logik der Ergänzung des Privateigentums verinner-
licht, und seine öffentliche Arbeit ist immer durch die ökonomische Formbe-
stimmung eingeschränkt.
Die zweite Funktion einer „Herstellung allgemeiner Produktionsbedingun-
gen“52 ist diejenige, in der die erste Funktion im Kontext der politischen Öko-
nomie begriffen wird. Wie Marx in den Grundrissen schrieb, ist der Staat
immer noch nicht vollständig vom Kapital abhängig und das für die politische
Gemeinschaft ursprüngliche Geschäft hat sich noch nicht zu einem „Privat-
geschäft von Einzelnen“ oder einer besonderen Bedingung für das Kapital
verwandelt, auch wenn „die auf den Tauschwerth gegründete Production und
Theilung der Arbeit eintritt“.53 Dies ist der Fall, wenn ein Staat als politische
Gemeinschaft aufgrund seines gewaltigen Zwangs die travaux publics immer
noch durch Steuern und Grundrente betreibt.
„[W]o der Staat traditionell ihm gegenüber noch eine supérieure Stellung einnimmt,
besizt er noch das Privilegium und den Willen die Gesammtheit zu zwingen einen
Theil ihrer Revenu, nicht ihres Capitals, in solche allgemein nützliche Arbeiten [zu
stecken], die zugleich als allgemeine Bedingungen der Production erscheinen, und
daher nicht als besondre Bedingung für irgendeinen Capitalisten – und so lange das
Capital nicht die Form der Actiengesellschaft annimmt, sucht es immer nur die

terscheiden, dass die öffentliche Arbeit des kapitalistischen Staats auf eine Staatsfunktion spe-
zialisiert ist, die durch die Wertform begrenzt ist und sie gleichzeitig von außen ergänzt. Ob-
wohl Krätke sich auf Ansätze der Formanalyse stützt, nähert sich seine Definition der öffent-
lichen Arbeit, die nur übergeschichtlich das allgemeine Geschäft des Staats erfasst, den Sozi-
alstaatsillusionen an.
51
Obwohl wir dies im vorliegenden Beitrag nicht diskutieren können, muss diese sozialpolitische
Funktion als durch den Druck des Klassenkampfes (besonders der Arbeiter) vermittelt begriffen
werden. Siehe Nicos Poulantzas: L’État, le pouvoir, le socialisme. Paris 1987. S. 205.
52
Elmar Altvater: Zu einigen Problemen des Staatsinterventionismus. In: Prokla. 1972. H. 3.
S. 17.
53
Marx: Grundrisse. MEGA➁ II/1. S. 428.

55
Soichiro Sumida

besondren Bedingungen seiner Verwerthung, die gemeinschaftlichen schiebt es als


Landesbedürfnisse dem ganzen Land auf.“54

Aus der Sicht der Formanalyse ist interessant, dass hier die politische Form des
Staates nicht in Bezug zur herrschenden Klasse, sondern als die ökonomische
Formbestimmung des Kapitals verstanden wird. In der vorkapitalistischen Ge-
sellschaft hat die politische Gemeinschaft nicht nur „allgemeine Geschäfte“
verrichtet, sondern auch „allgemeine Produktionsbedingungen“ wie die Infra-
struktur hergestellt, um gemeinschaftliche Interessen der Gesellschaftsmitglie-
der zu verwirklichen. Mit anderen Worten mobilisierte die politische Gemein-
schaft einen Teil der gesellschaftlichen Arbeit und bereitete öffentliche Güter
wie Straßen vor.
„Hergestellt wird er [der Weg] aber nur, weil er ein nothwendiger Gebrauchswerth
für die Gemeinde ist, weil sie seiner à tout prix bedarf. Es ist dieß allerdings eine
Surplusarbeit, die der Einzelne, sei es in der Form der Frohnde, sei es in der ver-
mittelten der Steuer über die unmittelbare Arbeit, die nothwendig zu seiner Subsis-
tenz ist, thun muß.“55

Wenn sich die Gemeinwesen jedoch als Ergebnis der Ausweitung der Waren-
produktionsverhältnisse allmählich zersetzen, werden die allgemeinen Produk-
tionsbedingungen, die ursprünglich der politischen Gemeinschaft gehörten,
auch vom Kapital unternommen. Infolgedessen verliert die politische Gemein-
schaft die allgemeinen Produktionsbedingungen und verwandelt sich in einen
modernen Staat, der von der ökonomischen Formbestimmung des Kapitals
abhängig ist. Dieser „Staat des Kapitals“ kann weder überschüssige Arbeiten
allein mobilisieren noch den Gebrauchswert von Infrastruktur usw. bereitstel-
len. Seine Funktion wird auf die ökonomischen Formbestimmungen be-
schränkt sein.
„Alle allgemeinen Bedingungen der Production, wie Wege, Kanäle etc, [...] unter-
stellen, um vom Capital unternommen zu werden, statt von der Regierung, die das
Gemeinwesen als solches repräsentirt, höchste Entwicklung der auf das Capital ge-
gründeten Production. Die Ablösung der travaux publics vom Staat und ihr Ueber-
gehn in die Domäne der vom Capital selbst unternommnen Arbeiten, zeigt den Grad
an, wozu sich das reelle Gemeinwesen in der Form des Capitals constituirt hat.“56
Die vormoderne politische Gemeinschaft konnte die allgemeinen gemein-
schaftlichen Bedingungen mit eigener Kraft aufrechterhalten, wie der Despo-
tismus in Asien: „wo der Staat der Verausgaber der Revenue des ganzen Lan-

54
Ebenda. S. 431.
55
Ebenda. S. 426.
56
Ebenda. S. 430.

56
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

des, besizt er die Macht grosse Massen in Bewegung zu setzen“.57 Mit der
Entwicklung der kapitalistischen Produktion jedoch, sobald die allgemeinen
Produktionsbedingungen vom Kapital in Form einer Aktiengesellschaft unter-
nommen werden, verliert die politische Gemeinschaft ihre eigene Macht, die
gesamte gesellschaftliche Arbeit zu verteilen und wird zu einem unter dem
Kapital subsumierten modernen Staat. Anders als die Grundeigentümer selbst
(despotischer Staat) oder der Verein privater Eigentümer (pólis) besitzt der
moderne Staat die Produktionsmittel nicht ursprünglich, so dass er die Mehr-
arbeit der unmittelbaren Produzenten nicht mit seiner Zwangsgewalt aneignen
kann. Kurz gesagt wurde der moderne Staat in der kapitalistischen Produkti-
onsweise in einen „expropriierten Staat“58 verwandelt, der von den allgemei-
nen Produktionsbedingungen getrennt und für den es unmöglich ist, die all-
gemeinen Bedingungen mit eigener Kraft vorzubereiten und die gesellschaft-
liche Gesamtarbeit in Bewegung zu setzen.59
In der Tat ist der kapitalistische Staat von der ökonomischen Struktur ge-
trennt und die politische Form kann die offensichtliche Unabhängigkeit von
der ökonomischen Formbestimmung annehmen, d.h. ihre eigene Finanzpolitik
verfolgen, solange Kapitalakkumulations- und Reproduktionsprozesse rei-
bungslos ablaufen. Im Gegensatz zur vorkapitalistischen Gesellschaft kann der
kapitalistische Staat als expropriierter Staat jedoch nicht die ökonomische
Struktur selbst bilden und ist durch die ökonomischen Formbestimmungen
Geld und Kapital begrenzt. Der Grund ist, dass der kapitalistische Staat den
Mehrwert nicht direkt aneignen kann, weil er sich aus den gesellschaftlichen
und unmittelbaren Produktionsprozessen zurückzieht. Die Finanzierung der

57
Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861–1863). MEGA➁ II/3. S. 233.
58
Zur Ähnlichkeit zwischen diesem Konzept Rudolf Goldscheids und der Staatsableitung, siehe
Rudolf Hickel: Einleitung. Krisenprobleme des „verschuldeten Steuerstaats“. In: Rudolf Gold-
scheid und Joseph Alois Schumpeter: Die Finanzkrise des Steuerstaates. Beiträge zur politi-
schen Ökonomie der Staatsfinanzen. Hrsg. von Rudolf Hickel. Frankfurt a.M. 1976.
59
Im Gegenteil zu den Waren produzierenden Privatarbeiten wird die abstrakte Arbeit des öffent-
lichen Diensts (z.B. die Arbeit der Beamten) nicht im Wert vergegenständlicht. Marx erwähnte
in den Randglossen zu Adolph Wagner als Ausnahme: „Wo der Staat selbst kapitalistischer
Produzent, wie bei Exploitation von Minen, Waldungen etc., ist sein Produkt ,Ware‘ und besitzt
daher den spezifischen Charakter jeder andren Ware.“ (Karl Marx: Randglossen zu Adolph
Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“. In: MEW. Bd. 19. S. 370.) Marx’ Begriff des
Staatskapitals müsste auf der Grundlage der folgenden Bestimmung im Manuskript V zum
zweiten Buch des Kapital entwickelt werden, wonach die individuellen Kapitale „als Staats-
kapital fungiren, soweit die Regierungen produktive Lohnarbeit in Minen, Eisenbahnen etc.
anwenden; als industrielle Kapitalisten fungiren“. (Karl Marx: Das Kapital. [Ökonomisches
Manuskript 1868–1870]. Zweites Buch: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals [Manuskript V].
In: MEGA➁ II/11. S. 636.)

57
Soichiro Sumida

Staateingriffe in den Kapitalakkumulationsprozess stammt nicht aus den


Staatsaktivitäten selbst, sondern muss durch Steuern und Staatsschuld einem
Teil des durch das Kapital erzeugten Mehrwerts entzogen werden. Im Gegen-
satz zum vormodernen besitzenden Staat kann daher der moderne Staat als die
politische Form des Kapitalismus seine Einkommen und Ausgaben nicht un-
abhängig finanzieren.

Fazit

Der kapitalistische Staat ist als die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesell-
schaft nichts weiter als die strukturelle Kohäsion, die darin besteht, dass die
gewaltsamen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse als Folge ihrer Tren-
nung von den gesellschaftlichen und unmittelbaren Produktionsverhältnissen
auf die öffentliche Macht konzentriert wird. In der Tat etabliert die versachlich-
te Beziehung innerhalb der ökonomischen Struktur in der kapitalistischen Ge-
sellschaft – zusammen mit der Trennung der gewaltsamen Herrschaftsverhält-
nisse von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und dem unmittelbaren Pro-
duktionsprozess – „le despotisme du capitaliste sur le travailleur“.60 So werden
in der kapitalistischen Gesellschaft die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhält-
nisse neu produziert, und zwar nicht von einer außerökonomischen Gewalt,
sondern durch die ökonomische Formbestimmung der versachlichten Bezie-
hung. Denn „das Productionsverhältniß [erzeugt] selbst ein neues Verhältniß
der Ueber- und Unterordnung (das auch politische etc Ausdrücke seiner selbst
producirt)“.61 Deshalb ergänzen die politischen Herrschaftsverhältnisse in der
kapitalistischen Gesellschaft die ökonomische Struktur von außen, werden aber
zugleich als die von ihr beschränkte öffentliche Macht reproduziert. Dies ist
die grundlegende These von Marx’ materialistischer Staatstheorie.
Wie Hirsch kritisierte, verfiel die Staatsableitungsdebatte oft in einen ab-
strakten Funktionalismus, der die Klassenherrschaft und die Machtverhältnisse
übersieht. Wenn wir jedoch die Anfangsbestimmung der politischen Form wie
die Klassenstaatstheoretiker in der Klassenherrschaft finden, können wir nicht
die Eigentümlichkeit des kapitalistischen Staates erfassen, der sich von der
politischen Gemeinschaft jeder vorherigen Klassengesellschaft entscheidend
abhebt. Das Thema der Formanalyse besteht darin, konkret zu erfassen, wie

60
Karl Marx: Le capital. Paris 1872–1875. In: MEGA➁ II/7. S. 655.
61
Karl Marx: Das Kapital (Ökonomisches Manuskript 1863–1865). Erstes Buch. In: MEGA➁
II/4.1. S. 98.

58
Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Staatsform

der kapitalistische Staat in einer bestimmten klassenpolitischen Situation auf


die ökonomische Formbestimmung, die er äußerlich ergänzt, beschränkt ist.
Zur Zeit der Staatsableitungsdebatte betonte Hirsch den Klassenkampf und
die politische Krise im Prozess der Kapitalakkumulation, anstatt die ökono-
mische Formbestimmung lediglich in der Dimension der Warenproduktions-
verhältnisse abstrakt zu erfassen. Laut Hirsch sind die Möglichkeiten und
Grenzen der Staatsaktivitäten in der kapitalistischen Gesellschaft nicht direkt
aus dem Verwertungsprozess des Kapitals abgeleitet, sondern von der durch
den Klassenkampf vermittelten „kapitalistischen Vergesellschaftung“ be-
stimmt.62 Für Hirsch ist die Staatsform der Zusammenfassung der bürgerlichen
Gesellschaft nicht unmittelbar von der ökonomischen Formbestimmung, son-
dern konkret von den durch sie beschränkten Klassenkonflikten abgeleitet.
Nichtsdestoweniger ist der so begriffene kapitalistische Staat nicht eine poli-
tische Instanz, die relativ autonom von der ökonomischen Formbestimmung
ist, wie die Theorie der „materiellen Verdichtung der Kräfteverhältnisse“ von
Poulantzas annimmt. Denn die Tätigkeiten des politischen Staats, der von der
ökonomischen Struktur der Gesellschaft getrennt ist, sind in bestimmter Weise
mit den ökonomischen Formbestimmungen verbunden und immer durch sie
eingeschränkt.63 Aber wie Holloway kritisierte, versteht Poulantzas’ Theorie
Marx’ Ökonomiekritik nicht als Kritik an der Totalität des kapitalistischen
Gesellschaftssystems.64 Infolgedessen achtet sie nur auf den Schein der Auto-
nomie des Staates und fällt in einen Politismus, der das Politische von dem
Ökonomischen trennt. In unserer Formanalyse müssen jedoch beide als eine
spezifische Form einer Reihe von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ver-
standen werden.
Obwohl dies im vorliegenden Artikel nicht ausgeführt werden kann, ist es
notwendig, die eigentliche soziale Form des „Klassenkampfes“ im kapitalisti-
62
Joachim Hirsch: Elemente einer materialistischen Staatstheorie. In: Probleme einer materialis-
tischen Staatstheorie. Frankfurt a.M. 1973. S. 203/204.
63
In den letzten Jahren hat John Kannankulam den „autoritären Etatismus“ im Neoliberalismus
basierend auf der Formanalyse analysiert, aber dabei Poulantzas’ Definition der politischen
Formbestimmung der Trennung des Staats von der Gesellschaft als eine Konstruktion ideolo-
gischer, politischer und wirtschaftlicher Elemente gewürdigt. (John Kannankulam: Autoritärer
Etatismus im Neoliberalismus. Hamburg 2008. S. 61.) Das Problem ist jedoch, dass Poulantzas’
Analyse des Kapitalismus selbst nicht auf der Formanalyse von Wert- und Rechtsform basiert.
Mit Poulantzas’ Ansatz ist es nicht möglich, die Grenzen der Staatsaktivitäten systematisch zu
analysieren, welche durch die äquivalente Beziehung zwischen Staat und Akkumulationspro-
zess des Kapitals auferlegt werden. Siehe Ingo Elbe: Rechtsform und Produktionsverhältnisse.
In: Philosophieren unter anderen. Hrsg. von Urs Lindner, Jörg Nowak und Pia Paust-Lassen.
Münster 2008.
64
Holloway, Picciotto: Introduction (Fn. 5). S. 178.

59
Soichiro Sumida

schen Gesellschaftssystem zu betrachten, um die Tätigkeit und Funktion des


kapitalistischen Staates im Detail zu erfassen.65 Wie Holloway Negri kritisier-
te, ist der Klassenkampf jedoch nicht der Ausgangspunkt für die Analyse der
kapitalistischen Gesellschaft.66 Laut Marx’ Methode ist die ökonomische
Formbestimmtheit von Waren der Ausgangspunkt der Kritik der politischen
Ökonomie und so muss auch der Begriff des Klassenkampfs auf der Grundlage
der Formanalyse betrachtet werden. Indem wir einen übermäßigen Politismus
ausgehend von der Analyse des Klassenkampfs vermeiden, müssen wir die
politischen Momente wie Klassenkampf und Machtverhältnisse mit der Form-
analyse kombinieren.67 Kurz gesagt sollte man Marx’ Kritik der politischen
Ökonomie auch bei der Entwicklung der Klassenstaatstheorie gründlich aus-
beuten.

65
Ebenda. S. 12.
66
John Holloway: Crisis, Fetishism, Class Composition. In: Open Marxism. Ed. by Werner Bon-
efeld, Richard Gunn and Kosmas Psychopedis. Vol. 2. London 1992. S. 150.
67
Für Hirsch’ Kritik an Poulantzas, siehe Joachim Hirsch, John Kannankulam: Poulantzas und
Formanalyse. Zum Verhältnis zweier Ansätze materialistischer Staatstheorie. In: Poulantzas
lesen. Hrsg. von Lars Bretthauer et al. Hamburg 2006.

60

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