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Marlies Janz Vom Engagement Absoluter Poesie Zur Lyrik Und Asthetik

Marlies Janz untersucht in ihrer Arbeit das Verhältnis von ästhetischer Autonomie und sozialer Adresse in der Lyrik Paul Celans, wobei sie die Dichotomie zwischen absoluter und engagierter Dichtung in Frage stellt. Sie argumentiert, dass Celans Gedichte sowohl hermetisch als auch politisch relevant sind und eine Verbindung zwischen ästhetischem Absolutismus und gesellschaftlichem Engagement herstellen. Die Arbeit zielt darauf ab, die literaturwissenschaftliche Debatte über literarisches Engagement zu bereichern und die Relevanz von Celans Werk im Kontext historischer Erfahrungen zu verdeutlichen.

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Marlies Janz Vom Engagement Absoluter Poesie Zur Lyrik Und Asthetik

Marlies Janz untersucht in ihrer Arbeit das Verhältnis von ästhetischer Autonomie und sozialer Adresse in der Lyrik Paul Celans, wobei sie die Dichotomie zwischen absoluter und engagierter Dichtung in Frage stellt. Sie argumentiert, dass Celans Gedichte sowohl hermetisch als auch politisch relevant sind und eine Verbindung zwischen ästhetischem Absolutismus und gesellschaftlichem Engagement herstellen. Die Arbeit zielt darauf ab, die literaturwissenschaftliche Debatte über literarisches Engagement zu bereichern und die Relevanz von Celans Werk im Kontext historischer Erfahrungen zu verdeutlichen.

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Marlies Janz

Vom Engagement absoluter Poesie


Kann „absolute“ Poesie „engagiert“ sein? Diesem Versuch einer politischen
Interpretation Celans geht es nicht so sehr um den Nachweis politischer An­
spielungen und Motive in einzelnen Gedichten (der gleichwohl mit fast de­
tektivischem Gespür erbracht wird) als vielmehr um die Explikation des poli­
tischen Gehalts von Celans Lyrik überhaupt, gerade auch der scheinbar völlig
esoterischen Gedichte. Damit fordert er nicht nur die bisherige, zumeist
konservative Celan-Rezeption heraus, sondern bricht mit einem eingeraste­
ten Vorverständnis der Literaturkritik gleich welcher Provenienz.

Marlies Janz, geboren 1942, studierte in Berlin und München (Germanistik,


Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft) und promovierte 1974
mit ihrer Celan-Studie. 1963/64 arbeitete sie als Regieassistentin und Dra­
maturgin, seit 1974 ist sie Lehrbeauftragte an der FU Berlin.
Marlies Janz
Vom Engagement absoluter Poesie
Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans

Syndikat
Erste Auflage 1976
€) Autoren- und Vcrlagsgcsellschaft Syndikat, Frankfurt am Main 1976
Alle Rechte Vorbehalten
Umschlag nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand
Produktion Greno GmbH, Heusenstamm
Printcd in Gcrmany
ISBN 3 -8 1 0 8 -0 0 1 4 -7
Inhalt

E in leitu n g ......................................................................................................... 7

I. Frühwerk: Antagonismus von Wirklichkeit und Traum


1. Einfuhrende Übersicht............................................................................ 21
2. Der Zyklus , An den Toren': Traum und D esillusionierung............. 23
Ein mißlungenes Gedicht 23 —Aufhebung von Innerlichkeit 26 —
Natur des Allegorie 30 —Geschichtserfahrung und Resignation 33
3. Der Zyklus ,Mohn und Gedächtnis': Traum und A g g ressio n.......... 38
Traum als Lustgewinn 38 —Beziehung zum Surrealismus und zu
Freud 42 —Apokalyptische Veränderung 43 —Melancholie kein
Fluchtbereich 47 —Motiv der Zeit 51 —Affinität zu Herbert Marcuse
54
4. Zu einzelnen Stilformen ....................................................................... 55
Paradoxien: Antagonismus von Wirklichkeit und Utopie 5 5 —Waffen­
metaphorik: Utopie der Gewaltlosigkeit 57

II. ,Sprachgitter‘: Wiederherstellung von Leben und ästhetische


Stilisation
1. Menschliche Natur und geschichtliche E rfahrung............................. 63
Erstarrtes Leben und Tränensymbolik 63 —Verlust von Sinnlichkeit
und Kommunikation 67 —Atomare Strahlenwinde 71
2 . ,Engführung': Vom Zustand der Subjekte nach Auschwitz und
Hiroshima ' ........................................................................................................ 74
3. Geometrismus als M odifikation ......................................................... 89
Das Gedicht ,Sprachgitter‘ 89 —Zur Widersprüchlichkeit des Bandes 93

III. ,Der Meridian*: Das Engagement absoluter Poesie


1. In te rp re ta tio n .......................................................................................... 99
Dichtung als Negation von Fremdbestimmung 99 - Votum gegen
Artismus und Mallarme' 101 —Büchners ,Lenz‘ und die Wannsee-
Konferenz 104 —Intention auf eine humane Gesellschaft 106 —
Absolutes Gedicht Symbol von Freiheit 109
2. Dichtung und gesellschaftliche P ra xis..................................................... 112
Absurde Metaphorik: Kritik an Inhumanität 112 —Ästhetische
Anarchie: Antizipation ans Ziel gelangter Praxis 114
3. Beziehung zu A d o r n o .....................................................
Die These vom Ende der Kunst 115 —Ästhetisches Fürsichsein als
Protest gegen Herrschaft 118 —Akzentverschiebungen 119
4. Kritik an Pöggelers D eutungsversuch..................................................... 122
IV. .Die Niemandsrose' : Sprachtheorie und Sprachzerstückelung
1. Materialistische Umdeutung von Theologum ena................................ 129
Königsmetapher für Menschenwürde 129 - Verwerfung und Gott-
werdung der Menschheit 133
2. Linguistisches D ichten............................................................................. 139
Lallen und Jiddisch als Sprache der Kreatur 139 - Sprachzerstücke­
lung, kritisch und affirmativ 142 — ,Eine Gauner- und Ganoven weise'
144
3. Logos spermatikos und Geschichtsphilosophie.................................. 149
Dichter als Verfolgte 149 - Engagement und Hermetismus 152 -
Dichtung im historischen Prozeß 156

V. Spatwerk: Zum Zusammenhang von Ästhetik und Geschichts­


philosophie
1. Psychische und historische R e g re ssio n ................................................ 165
Todestrieb, Enttabuisierung, Infantilität 165 - Urzeit als absurde
Metapher 170 Pestzeit und Landnahme 172
2. Individuelle und kollektive Identität .................................................. 176
Primat des .Einzelnen' 176 — Fürsichscin als Widerstand 179 —Un-
verstandenheit und Unverständlichkeit 183 — Verhältnis zur Stu­
dentenbewegung 187
3. Rosa-Luxemburg-Gedicht ..................................................................... 190
Vorbemerkung und Interpretation 190 — „Für sich — für jeden“ 194 —
Gadamers Replik auf Szondi 195
4. Gegenwärtige und zukünftige K u n s t..................................................... 200
Subjektivistische und authentische Lyrik 200 —Zum Gedicht .Faden­
sonnen' 202 — Das Lied als Kunstform der Zukunft 206
Anmerkungen ............................................................................................... 212

Literaturverzeichnis ..................................................................................... 237


Einleitung

Generell ist das Geblök gegen Tendenz


und gegen Engagement gleich subaltern
. . . In der Absage an den Status quo
konvergieren heute Engagement und
Hermetik.
Adorno, Ästhetische Theorie

Ich hoffe . .. immer noch auf Ände­


rung, Wandlung . .. und die Revolution
— die soziale und zugleich antiautori­
täre - ist nur von ihr her denkbar.
Celan, Umfrage des Spiegel

Die These der Arbeit betrifft das Verhältnis von ästhetischer Autonomie
und sozialer Adresse in Celans Lyrik. Im Gegensatz zum größeren Teil der
bisherigen Forschungsliteratur, die mit der Einordnung Celans in die Tradi­
tion absoluter Kunst eine Trennung von gesellschaftsenthobener lyrischer
Wesensschau und sozialem Engagement wo nicht ausdrücklich behauptet, so
doch zumeist unterstellt, wird hier das Spezifische der Gedichte gerade darin
gesehen, daß sie die traditionelle Dichotomie von absoluter und engagierter
Dichtung aufzuheben versuchen. Die Darstellung verfolgt also nicht allein
ein monographisches Interesse, sondern strebt allgemeine Relevanz an als
Problematisierung eines Theorems, mit dessen Hilfe eine vorgeblich reine
Philologie sich immer noch gegen historisch konkrete Interpretationsmetho­
den abgrenzen zu können glaubt. Überdies ist in literaturwissenschaftlichen
Debatten wie etwa der noch andauernden über den Jakobinismus Hölderlins
ein theoretisches Defizit in der Frage literarischen Engagements erkennbar
geworden,' das den Wert der Forschungsergebnisse auf beiden Seiten nicht
nur erheblich beeinträchtigt hat, sondern letztlich zu dem Verdacht berech­
tigt, die Debatte sei in wesentlichen Punkten gegenstandslos. In der Tat ließe
sich der Nachweis führen, daß wichtige Komponenten der von Celan ent­
wickelten Kunstkonzeption, die keinen Widerspruch kennt zwischen ästheti­
schem Absolutismus und gesellschaftlichem Engagement, bei Hölderlin be­
reits vorgebildet sind. Die allgemeine Bedeutung, die Celans Lyrik damit
gewinnt — zweifellos kann die Erkenntnis gegenwärtiger Dichtungen den
Blick öffnen für bisher nicht wahrgenommene Implikationen schon älterer
Werke —, darf indessen nicht verleiten zur Einebnung historischer Differen­
zen. Wollte Adorno in einem größeren Essay den paradigmatischen Charak­
ter der Gedichte Celans für seine eigene Theorie zeitgenössischer Kunst her-

7
vorheben und sie den Dramen Becketts an die Seite stellen, so beabsichtigte
er das vor allem mit dem Recht, daß die Lyrik Celans so wenig wie die
Ästhetik Adornos denkbar ist ohne den Faschismus als historischen Bezugs­
punkt. In Adorno hätte Celan seinen kongenialen Interpreten auch deshalb
gefunden, weil sich sein Werk nur deuten läßt in Verbindung mit kunstphilo­
sophischer Reflexion. Denn bei qualitativ hermetischen Werken lassen sich
Perspektiven für die anzuwendenden philologischen Methoden erst dann ge­
winnen, wenn zugleich nach der ästhetischen Theorie gefragt wird, die ihrem
Hermetismus mit oder ohne Wissen des Autors zugrundeliegt. Die allerorts
zu beobachtende Hilflosigkeit bei der Interpretation literarischer Texte von
der Art Celans, die bestenfalls in tautologischen Paraphrasen der Gedichte
ihren Ausdruck findet, ist primär darin begründet, daß man die manifesten
Inhalte schon für das Ganze hält und sie nicht in Beziehung bringt zum
vorausgesetzten Kunstverständnis, von dem her das ausdrücklich Gesagte
einen völlig anderen Sinn erhalten kann als den zunächst und unmittelbar
angenommenen. Wenn die vorliegende Arbeit diese Zusammenhänge, die mit
Modifikationen zwar, so doch im Prinzip für alle sogenannte dunkle Lyrik
der Moderne Gültigkeit haben, am Beispiel Celans evident machen könnte,
hätte sie eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht.
Die Interpretation Celans versteht sich also zum einen als Untersuchung des
literaturwissenschaftlichen Theorems absoluter Kunst und zum anderen als
Paradigma einer philologischen Methode, die den gesellschaftlichen Gehalt
einer erklärt hermetischen Dichtung zu ermitteln versucht. Zu diesen beiden
voneinander abhängigen Aspekten, dem theoretischen und dem m ethodi­
schen, seien einige Bemerkungen vorangeschickt, die die Lektüre der sachbe-
dingt komplizierten Interpretationen erleichtern mögen, indem sie deren
polemische Richtung verdeutlichen.
Was den theoretischen Ansatz betrifft, wird hier vor allem der historisch
unspezifischen Gleichsetzung von absoluter Dichtung mit der Intention auf
die sogenannten höheren Wirklichkeiten entschieden widersprochen. So ge­
wiß die Loslösung von der empirischen Realität als konstitutiv für diesen
Dichtungstypus allgemein angesehen werden muß, so wenig besagt sie als
solche schon, daß ein Absolutes im germanistisch verschandelten Sinn von
Eigentlichem oder Göttlichem angestrebt würde. Der Begriff vom Absoluten
im privativen Sinn läßt sich nicht ohne weiteres ontologisch oder metaphy­
sisch wenden; er kennzeichnet zunächst nur ein Strukturgesetz und nicht
schon dessen Begründung. In der Forschung scheint dieser Unterschied ge­
wöhnlich deshalb unbeachtet zu bleiben, weil man Mallarm6s Explikation
absoluter Lyrik kurzerhand auf Celan überträgt. Es war Mallarm6s Utopie, in
der Lyrik eine geistige Welt zu etablieren, die keiner empirischen Erfahrung

8
mehr verpflichtet wäre, sondern alle Spuren faktischer Realität in sich ge­
tilgt hätte. Diejenige Kunst galt ihm als absolut, die auf ein Absolutes,
Göttliches aus ist, freilich eines jenseits der positiven Religionen. Program­
matisch ging es darum, das Wirkliche als Gemeines, als quasi satanische
Störung bei der conception pure des Absoluten auszuschließen. Das dieser
Kunst zugrunde liegende Sozialverhalten läßt sich also beschreiben als Ver­
achtung der Vorgefundenen gesellschaftlichen Realität, aber nicht im Namen
von deren Veränderung, sondern des Rückzugs in vermeintlich eigenständige
und sich selbst genügende geistige Bereiche. Selbst die größten Verehrer
Mallarmös stehen heute nicht an, die verzweifelt eskapistischen Züge seiner
Dichtung zur Kenntnis zu nehmen und als solche zu benennen. Um so mehr
muß befremden, daß dasselbe Syndrom, wo man es bei Celan wiederzufin­
den glaubt, zumeist auf eine völlig ungebrochene, enthusiastische Zustim­
mung stößt. Dieses rezeptionsgeschichtliche Phänomen kann seine legitime
Erklärung nicht darin finden, daß man angesichts der biographischen Erfah­
rung Celans, seiner Verfolgung als Jude durch den Faschismus, Zurückhal­
tung üben zu müssen glaubt bei der Verurteilung seiner Kunst als Flucht.
Denn gerade die Reflexion auf jene Erfahrung müßte Zweifel daran aufkom-
men lassen, ob Celan sich denn wirklich die symbolistische Kunstreligion zu
eigen mache. Soll der Hinweis auf die Vernichtungslager nicht bloß deklama­
torisch bleiben, sondern in seiner doch allerseits behaupteten Relevanz für
diese Lyrik ernst genommen werden, so läßt sie sich nicht denken nach dem
sei es frömmelnd, sei es ontologisierend ausgelegten Modell einer Poesie, die
sich als Erscheinungsform des Absoluten verstanden wissen wollte. Die für
Mallarmö charakteristische Intention auf eine affirmativ gesetzte Transzen­
denz, die als vorenthaltene gedacht ist, könnte bei Celan nicht mehr nur als
hilfloser Snobismus gewertet werden, der im übrigen das literarische Niveau
kaum beeinträchtigt. Sie würde vielmehr unter den veränderten historischen
Bedingungen, denen Celan Rechnung trägt, die Substanz der Gedichte an­
greifen und sie zu ideologischem Schund herabsetzen. Verknüpfte sich
nämlich der für Celans Kunst wesentliche Anspruch, den Opfern des Faschis­
mus die Treue zu halten, mit der Auffassung, daß Erfüllung prinzipiell nur
zu finden sei in Eigentlichkeitsbereichen jenseits der empirischen Realität,
so wäre das Eingedenken qualifiziert als bloßes Zugeständnis an die unei­
gentlichen Sphären. Kaum anzunehmen, daß sich Celans apologetische Inter­
preten dieser Konsequenz des eigenen Ansatzes je bewußt geworden sind.
Die Beobachtung, daß die historische Erinnerung, sofern sie nicht in objek­
tiv zynischer Weise depraviert werden soll, und die symbolistische Intention
auf ein Absolutes sich aporetisch zueinander verhalten, blieb einer am 23.
März 1968 in der Frankfurter Rundschau erschienenen Rezension Helmut

9
Hartwigs zu Atem wende Vorbehalten, die freilich aus ihrer Erkenntnis die
falschen Schlüsse gezogen hat. Sie sei hier ausführlich zitiert, weil in ihr
Einsicht und Vorurteil eine Allianz eingehen, die zu zerstören und in ihre
Elemente zu zerlegen nichts anderes heißt, als den Begriff des ästhetischen
Absolutismus so zu differenzieren, daß er in der Anwendung auf ein litera­
risches Ouvre von der Art Celans allererst berechtigt erscheint. Hartwig
schrieb:

„Celans Gedichte sind in gewissem Sinne hermetisch in sieh abgeschlossen gegen die
Außenwelt. Dieser Hermetismus ist die entscheidende Bedingung für den absoluten
poetischen Ton. den die Sprache bei Celan erreicht, kr ist das Prinzip der symbolisti­
schen Poetik, weniger der des Surrealismus, in deren Tradition man Celans Dichtung
sehen sollte. Das Problem für den Leser dieser Gedichte liegt also darin, daß er
verfuhrt wird, die Welt der Gedichte nicht nur im Augenblick der Lektüre absolut zu
setzen, sondern er muß ihre Realität auch auf Dauer als eine höhere anerkennen, gerade
gegenüber sprachlichen Welten, die nicht die Verbindung mit der Sprache als Mittel der
Verständigung gelost haben. Er akzeptiert damit zumindest eine ganz bestimmte Ästhe­
tik und kommt leicht dazu, sie gegen andere Dichtung auszuspiclcn. So kann man z. B.
beobachten, daß Celan in der literarischen Tradition als »echter* Dichter gegen weniger
hermetische ausgespielt wird. Dabei machen die anderen Dichter cs sich im gewissen
Sinne sogar schwerer, wenn sie ihren Wortschatz nicht von vornherein beschränken und
damit die Wirklichkeit im Gedicht ontologisch reduzieren. In Celans Sprache können
Konflikte, Widersprüche, Spannungen nur in sehr beschränktem Sinne als geschicht­
liche erscheinen. Wenn er davon spricht, daß er Wirklichkeit zu fassen versuche, so
meint er bereits eine zeitlose Wirklichkeit wesenhafter Erfahrungen. |. . .1 Celans Ge­
dichte sind faszinierende Sprachkunstwerke, in deren Abläufe sich zu vertiefen hohen
Genuß und seltene Erfahrung bedeutet. Nur sollte man sich der Besonderheit der
Erfahrung bewußt werden, wenn man über sie spricht, und den Zustand, in den sic den
Leser versetzen, nicht als tragisches Bewußtsein verehren, in welchem ,das Grauen
unserer Zeit* unmittelbar gegenwärtig sei. Gefährdet ist unser Leben als geschichtliches,
und die Mythisicrung von Erfahrungen auch nur im Zusammenhang einer bestimmten
Poetik fuhrt eher von der geschichtlichen Wirklichkeit ab als in die konkreten Bedin­
gungen ,des Grauens' hinein."

Ein bloßes Vorurteil, das sich offenkundig herleitet aus Hartwigs berechtig­
ter Aversion gegen die subalterne Verklärung Celans durch den größeren Teil
seiner Interpreten, ist die Behauptung einer prinzipiell enthistorisierenden
und ontologisierenden Tendenz in dieser Lyrik. Die dafür als Argumente
angeführten Beobachtungen beweisen nämlich nicht, was sie sollen. Alle sind
richtig und nirgends sonst mit solcher Prägnanz angestellt worden: daß
Celan Sprache nicht primär als Mittel der Verständigung gebrauche; daß er
keinen Versuch zur Beschreibung von Wirklichkeit unternehme, sondern
einem Wortmaterial den Vorzug gebe, das untauglich zu sein scheint zur
Benennung aktueller bzw. alltäglicher Erfahrungen; daß er es schließlich

10
unterlasse, die „konkreten Bedingungen“ des gegenwärtigen gesellschaft­
lichen Zustandes namhaft zu machen, also auf der Unbrauchbarkeit seiner
Lyrik für konkrete Maßnahmen bestehe. Das Gemeinsame aller Bestimmun­
gen besteht in der Erkenntnis, daß Celan den instrumentellen Gebrauch von
Sprache in seiner Lyrik verweigert. Damit ist jedoch keineswegs bewiesen,
daß er enthistorisierte Bereiche anstreben würde. Die absolute, nicht-instru-
mentelle Verwendung von Sprache findet bei Celan ihre Erklärung nicht
darin, daß seine Dichtung sich als über die geschichtliche Realität erhaben zu
begründen versuchte. So sehr sie mit Mallarm6 —wie besonders Peter Szondi
nachgewiesen hat — in der Art der Sprachverwendung konvergiert, so wenig
läßt sich daraus folgern, daß Celan einig sei mit der symbolistischen Auffas­
sung von der Funktion der Kunst. Die linguistische Erkenntnis über Celans
Gedichte darf nicht einfach überführt werden in metaphysische Spekulation;
seine absolute Poesie ist mitnichten eine Poesie des Absoluten in dem Sinn,
den Hartwig kritisch unterstellt.
Dem genannten Modus der Sprachverwendung Celans hat die Forschung
bislang nur Begründungen zu geben vermocht, die sich die stereotype, histo­
risch unspezifische Identifikation von absoluter Kunst mit politischer
Gleichgültigkeit zu eigen machten, wenn auch mit unterschiedlicher Wer­
tung. Demgegenüber wird hier zu zeigen sein, daß die vermutlich nicht ein­
malige, so doch charakteristische Leistung Celans darin besteht, absolute
Kunst als engagierte zu begreifen. Nicht also wird ein letztlich doch apoli­
tisch verstandener ästhetischer Absolutismus bloß versetzt mit Elementen
der Artikulation von politischem Engagement, sondern das absolute Gedicht
wird seinem eigenen Konstitutionsgesetz nach als politisch engagiertes ausge­
wiesen; es wäre, als absolutes, nicht ohne sein Engagement. Zu diesem
Konzept gelangt Celan, indem er das Kunstwerk, das sich selbst nicht zum
Instrument für anderes macht, als Parteinahme für diejenigen versteht, denen
das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, im äußersten
Fall auch die physische Existenz verweigert worden ist und immer noch
wird. Eine Sprache, die sich nicht erschöpft in ihrer Zeichenfunktion - die
sich nicht zum beliebigen Mittel für den Transport von Bedeutungen macht
- , ist nach Celans Auffassung unabdingbar für eine Dichtung, die auf ihrem
Recht, für sich selbst und nicht für anderes zu sein, insistiert und eben damit
ein Reich der Freiheit meint, das gesellschaftlich noch erst zu verwirklichen
wäre. Sollte dieser Zustand einmal durch, eine vernünftige Praxis herbeige­
führt werden, geht Kunst, wie die kunstphilosophisch bedeutende Schrift
Der Meridian ausführt, in ihrer gegenwärtigen, radikal kritischen Form unter
und entsteht, wie dem Spätwerk zu entnehmen ist, unter den so veränderten
geschichtlichen Bedingungen eine neue Kunstform, die als Preislied auf eine

11
Menschheit beschrieben ist, die zur Übereinstimmung mit sich selbst gelangt.
Besonders mit seiner These vom Ende der gegenwärtigen Kunstform in einer
humanen Gesellschaft sowie mit seiner Kritik am instrumentellen Gebrauch
von Sprache als ästhetischer Mimesis der realen Herrschaft über Menschen
trifft Celan sich mit der ästhetischen Theorie Adornos, auf die der Meridian
sich bewußt bezieht. Die Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung,
aus der sich Adornos Ästhetik begründet, bleibt indessen für Celan weit­
gehend irrelevant. Ob, wie Adorno meint, die Unterdrückung von Menschen
letzten Endes sich herleitet aus der naturbeherrschenden Vernunft als einer,
die im Interesse der physischen Selbsterhaltung zum bloßen Mittel degra­
diert worden ist, bleibt bei Celan dahingestellt. Naturbeherrschung ist bei
ihm thematisch ausschließlich im Sinn der Vernichtung von Leben, wie sie
vom Faschismus in organisierter Form durchgeführt worden ist, und in dem­
jenigen der Unterdrückung der menschlichen Natur als Reaktion auf die
Erfahrung der faschistischen Massenmorde; mit dem letzteren Problem, der
Verkümmerung aller sinnlichen Vermögen und damit auch der Fähigkeit zur
Kommunikation bei denen, die der Vernichtung entkommen konnten, be­
faßt sich vor allem der Band Sprachgitter. Adornos Kunsttheorie wird also
von Celan auf den Punkt fixiert, an dem ihre Einsichten wohl von der
größten Evidenz sind: auf die Erfahrung von Auschwitz. Die Bedingungen,
die zu Auschwitz geführt haben, sind nach Celans Überzeugung bis heute
nicht abgeschafft; das begründet, wie er meint, die Aktualität einer Kunst,
die sich auf dieses historische Ereignis bezieht. Unter der Voraussetzung,
daß die Kunst der Gegenwart ihr Engagement nicht wesentlich in der Form
von in ihr enthaltenen sozialen und politischen Aussagen, aber um so ent­
schiedener kraft ihres Konstitutionsgesetzes artikuliere, schöpft Celan in
seinen Gedichten die gesellschaftskritischen Möglichkeiten absoluter Kunst
in so hohem Maße aus, daß die Unterscheidung zwischen absoluter und
engagierter Literatur, wie sie konventionell getroffen wird, nicht nur theore­
tisch - im Meridian —, sondern auch in der lyrischen Praxis verabschiedet
wird.
Absolut ist für Celan Kunst im Sinne einer radikalisierten Autonomie, die
doch zusammengedacht wird mit einer keineswegs nur unverbindlichen so­
zialen Adresse, ja als eine solche Adresse sich zu begründen versucht. Das
Kunstwerk, das sich als absolutes engagiert für die Selbstbestimmung des
unterdrückten Teils der Menschheit, besteht auf seiner Unverwendbarkeit
für konkrete Maßnahmen der Veränderung und appelliert zugleich an die
soziale Verantwortung des Einzelnen, den Celan vor allem zur Zeit der
Studentenbewegung angesichts vermeintlich gefährlicher Kollektivierungs­
tendenzen in den Vordergrund gestellt hat. Es versteht sich, daß Celans wie

12
Adornos Empfindlichkeit in diesem Punkt Zurückzufuhren ist auf die per­
sönliche Erfahrung des Faschismus. Um so weniger aber kann sich eine
Arbeit, welche die Ausformung des Theorems absoluter Kunst zu ihrem
Gegenstand macht, damit begnügen, das skizzierte Verständnis von Lyrik an
den Gedichten, als deren Intention entsprechend, zu belegen, sondern sie
muß darüber hinaus zu bedenken geben, ob eine solche Kunst realitätsge­
recht ist. Es kann also nicht darum gehen, die Ästhetik Adornos als einen
Interpretationsschlüssel für Celans Lyrik zu benutzen. Vielmehr ist ihr Ver­
hältnis zueinander zu erläutern nach Maßgabe einer Deutung, die den Wahr­
heitsgehalt beider erfragt.
Der hier vorgenommene Versuch einer politischen Interpretation Celans un­
terscheidet sich von den äußerst seltenen bisherigen Ansätzen in ähnlicher
Richtung grundsätzlich darin, daß es ihm nicht sowohl um den Nachweis
politischer Anspielungen und Motive in einzelnen Gedichten zu tun ist als
vielmehr um die Explikation des politischen Gehalts von Celans Lyrik über­
haupt, also auch und gerade der scheinbar völlig esoterischen Gedichte.
Obwohl aufwendige und zum Teil abenteuerliche Recherchen angestellt wur­
den, um bisher von der Forschung übersehene Anspielungen etwa histori­
scher und biographischer Natur in den Gedichten zu entschlüsseln, wird
doch das, was sich dabei an Funden und Entdeckungen ergeben hat, hier
nicht schon als gelungene Interpretation betrachtet und deshalb oft, als
Material für künftige Interpretationen, in die Anmerkungen verwiesen. Wie
überraschend auch immer solche Entdeckungen im ersten Augenblick sein
mögen und wie sehr sie dem philologischen Narzißmus schmeicheln: über
ihren Wert entscheidet erst ihr funktionaler Gebrauch bei der Interpretation
und schließlich vor allem, ob es gelingt, die entsprechenden Bemühungen als
sinnvoll erscheinen zu lassen im Rahmen einer Deutung, die noch ihr eigenes
Angewiesensein auf solche Entdeckungen reflektiert. Im Verkennen dieses
Sachverhalts besteht der grundsätzliche Irrtum der seit Celans Tod aufge­
kommenen Ich-und-Celan-Literatur. Was sie an biographischen Informa­
tionen und Äußerungen Celans mitzuteilen vermag, droht oft die Anstren­
gungen, das Werk selbst zu interpretieren, eher zu verhindern als zu fördern.
Keine Deutung dieses Cfeuvres gewinnt A uthentizität schon aufgrund der
persönlichen Bekanntschaft m it dem Autor. Deshalb sind im Folgenden
Hinweise, die Celan mir gegeben hat, m it Dankbarkeit vermerkt, ohne mit
der Auslegung der Texte selbst verwechselt zu werden. Nicht anders als naiv
zu nennen ist der manchmal schwächer, manchmal stärker ausgeprägte Ver­
such selbst bei Interpreten, deren wissenschaftliches Niveau über jeden Zwei­
fel erhaben ist, einen ästhetischen Text Celans wegen entstehungsgeschicht­
licher Reminiszenzen gleichsam als persönliches Eigentum zu reklamieren.

13
Die epistemologische Reflexion wurde in solchen Fällen, in denen der
Traum der Literaturwissenschaft von ihrer unmittelbaren Relevanz fiir die
Kunst in Erfüllung zu gehen scheint, blockiert. Doch selbst ein Kritiker
dieses Syndroms wie Gadamer, der zu Unrecht Szondi in den Verdacht
nahm, das persönliche Moment bei der Interpretation eines Gedichts zu
überschätzen, hat es nicht vermocht, seine Kritik aus der Beschaffenheit
dieser Lyrik selbst zu begründen. Er hat im Gegenteil deren Besonderheit
völlig verkannt, indem er in seiner Interpretationspraxis festhielt am Ver­
ständnis von lyrischer Sprache als Repräsentation von Wirklichkeit, als bloß
instrumenteller Bezeichnung für Inhaltliches - wohingegen Beda Allemann
wohl als erster die Negation dieser Sprachauffassung bei Celan gesehen hat,
ohne sic jedoch zureichend erklären zu können.
Weil die Negation einer ausschließlich als Informationsträger verwendeten
Sprache einer Sprache, die nicht für sich, sondern allein für anderes ist,
das sie bezeichnet zu den konstitutiven Bedingungen von Celans Lyrik
gehört, ist die Kenntnis von in den Gedichten enthaltenen Sachgehalten für
ihr Verständnis zunächst ebenso unabdingbar wie doch nur eine erste, vor­
läufige Voraussetzung der Interpretation und nicht schon diese selbst. Die
Gedichte verstehen heißt, den Umformungsprozeß zu begreifen, der zwi­
schen den vorgegebenen Bedeutungsvalenzen und den vom einzelnen Ge­
dicht herausgestellten vonstatten gegangen ist. Wie schon an Celans Früh­
werk, in dem die Transformation vor allem religiöser Topoi eine wichtige
Rolle spielt, nachzuweisen sein wird, ist die Sprache der Gedichte von vorn­
herein rc-interpretativ: sie bezieht sich auf konventionelle Bedeutungen, um
sic zu modifizieren. Das Verfahren der Re-Intcrpretation wird von den Inter­
preten Celans zumeist nicht wahrgenommen. Deshalb lesen sich viele Deu­
tungen wie ungewollte Karikaturen auf die lyrischen Texte: sie unterstellen
als letztlich Gemeintes, was für Celan der Ausgangspunkt und Gegenstand
seiner kritischen Re-Interpretation gewesen ist, und reduzieren damit die
Gedichte auf einen traditionellen Sinn. Wo aber das Verfahren als solches
sehr wohl vermerkt worden ist, hat man sich in der Regel zu der falschen
und überdies fast immer apologetisch gemeinten Schlußfolgerung veranlaßt
gesehen, daß die Beziehung von Sprache auf sich selbst zu verstehen sei als
Versuch, Sprache als eigene und angeblich höhere Realität an die Stelle der
empirischen zu setzen. Demgegenüber ist festzuhalten, daß Celans rc-inter-
pretative Sprachverwcndung im Gegenteil in der Absicht begründet ist, eine
lyrische Sprache zu schaffen, die der erfahrenen Realität angemessen wäre.
Erkenntnistheoretisch geht er davon aus, daß die überkommenen Sprachfor-
men der angemessenen Wahrnehmung aktueller Wirklichkeit hinderlich sein
können; daß sie sich wie ein Schleier über das Wahrzunehmende legen und

14
damit das erkennende Subjekt von der Welt entfremden. Die kritische Revi­
sion des überlieferten Sprachmaterials soll diese Entfremdung aufheben. Un­
ter der von Celan vertretenen Prämisse, daß die bloß instrumenteile Verwen­
dung von Sprache schuld sei an ihrer Unfähigkeit, Wirklichkeit noch zu
erreichen, stellt seine Negation einer solchen Sprachverwendung den Ver­
such dar, der Sprache ihre Wahrheit, ihre Angemessenheit an die Erfahrung
von Wirklichkeit wiederzugeben.
Zielt also Celans Lyrik darauf, durch den Abbau sprachlicher Schablonen im
Verfahren der Re-Interpretation eine Adäquanz von lyrischem Ausdruck
und Erfahrung allererst herzustellen, so mißt sie damit der Kunst auch die
Funktion zu, über die vorhandene Realität hinauszugehen, indem sie ihr
vorhält, was ihr mangelt. Das absolute Gedicht, das sich nicht zum bloßen
Mittel der Bezeichnung für anderes macht, sondern das, was es letztlich doch
bezeichnet, in seinen eigenen Sprachformen darzustellen und in diesem Sinn
zu realisieren versucht, gilt Celan eben wegen seines immanenten Protests
gegen die Unterwerfung unter fremde Zwecke als Antizipation eines gesell­
schaftlichen Zustandes, in dem der Einzelne nicht bloß für anderes oder
andere da wäre, sondern sich seinen eigenen Zwecken gemäß entfalten
könnte. Das sich als absolutes engagierende Kunstwerk hat mithin von vorn­
herein einen Doppelcharakter: es bezieht sich auf die bestehende Wirklich­
keit ebenso wie auf deren utopisches Gegenbild. Daher kommt es, daß
Celans Sprache wesentlich janusköpfig ist, daß seine Worte, wenn die
Metapher erlaubt sein soll, immer in zwei gegensätzliche Richtungen zu­
gleich blicken. So meint z. B. die Gedichtüberschrift ,Le Menhir4 (N 58) zum
einen die als versteinert, unlebendig erfahrene empirische Wirklichkeit —ein
Menhir ist eine unbehauene vorgeschichtliche Steinsäule —, zum anderen
aber wird der Überschrift eine konträre Bedeutung gegeben, indem Celan die
Silbe ,Men-‘, die sowohl auf ,Mensch4 als auch auf engl. ,men‘ verweist, im
Wort für den Stein entdeckt und diese Bestimmung mit dem Wort „mensch­
lich44 im Text des Gedichts thematisch werden läßt. Das W o rt,Menhir4, das
den Stein bzw. in metaphorischer Auslegung lebensfeindliche Verhältnisse
meint, bedeutet im Gedicht auch deren Aufhebung um der Humanität, der
Menschlichkeit willen. Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, diese bisher
noch nicht erkannten Phänomene der Sprachverwendung Celans systema­
tisch darzustellen. Für unseren Argumentationszusammenhang ist vor allem
relevant, daß die Dissoziierung von Wörtern in einander konträre Bedeutun­
gen der Intention entspringt, immer zugleich die kritische und die utopische
Dimension der lyrischen Sprache zur Geltung zu bringen. Wo aber virtuell
jede verbale Aussage in das Konträre dessen, was sie zunächst allein zu
bedeuten scheint, überführt werden muß, um ganz verstanden zu werden, ist

15
es sinnlos, den Gedichten Positionen des Autors entnehmen zu wollen, die
aus dieser gerade für den politischen Gehalt von Celans Lyrik wesentlichen
Ambiguität entlassen wären. Das wiederum bedeutet nicht, daß die poli­
tische Position Celans sich überhaupt nicht fixieren ließe. Die antifaschi­
stisch verändernde Praxis, die seine Lyrik nicht direkt initiieren zu können
glaubt, aber als Desiderat darstellt, war für den Autor nicht anders denkbar
als unter sozialistischem Vorzeichen. Um so nachdrücklicher ist das hervor­
zuheben. als keine der bisherigen Interpretationen diese Erkenntnis vollzo­
gen hat - ein Versäumnis, das der Vereinnahmung Celans durch Positionen
in die Hände gespielt hat, die als konservativ zu bezeichnen in einigen Fällen
schmeichelhaft wäre.
Was Methode und Durchführung der Arbeit im einzelnen betrifft, setzt sie
sich mit Gelassenheit dem möglichen Verdacht aus, als Versuch einer Ge­
samtinterpretation dem Detail nicht gerecht werden zu können. Denn nicht
nur liegen detaillierte Einzelinterpretationen bereits vor, sondern es ist dar­
über hinaus selbst bei den besten Arbeiten dieser Art eine Insuffizienz ge­
rade bei der Interpretation von Details zu beobachten, die sich herleitet aus
der mangelnden Berücksichtigung des Verweisungsgeflechts, als das sich
Celans Werk von den frühen Gedichten an immer stärker konstituiert.
Grundsätzlich ist bei Celan auszugehen von einer Interdependenz zwischen
Einzel- und Gesamtinterpretation. Keine der beiden Verfahrensweisen kann
auskommen ohne die andere, soll sie zu befriedigenden Ergebnissen führen.
Wenn also hier die Gesamtinterpretation akzentuiert wird und ausführliche
Einzelinterpretationen in ihren Rahmen eingeordnet werden, so geschieht
das, um den Nachweis zu erbringen, daß Celans Lyrik es nicht erlaubt, vom
einzelnen, aus dem Zusammenhang des jeweiligen Zyklus oder Bandes und
dessen thematischer und ästhetischer Konstellation herausgelösten Gedicht
Verallgemeinerungen derart anzustellen, als sei im Einzelnen immer schon
das Gesamtwerk repräsentiert, eine Unterstellung, die typisch für Lyrikinter­
pretationen ist, die in der Poesie der Kunstperiode ihr bevorzugtes Para­
digma sehen.
Umgekehrt unterstellt die angewandte Methode nicht, daß das einzelne Ge­
dicht sich lediglich als der Fall einer abstrakten Gesetzmäßigkeit interpre­
tieren lasse. Unter den bisherigen Celan-Interpretationen, die das Ganze ins
Auge zu fassen versuchten, hat sich vor allem dies als die größte Gefahr
erwiesen, daß die allgemeinen Gesichtspunkte —übrigens meist nur deskrip­
tiver, nicht problemorientierter Natur —, denen die Interpretation folgte,
sich historisch spezifisch überhaupt nicht fassen ließen. So wurden, zum Teil
unter Verwendung statistischer Mittel, beliebige Stellen aus dem Werk von
seiner frühesten bis zur spätesten Phase kumulativ als vermeintliche Belege

16
zusammengestellt, ohne daß qualitative Unterschiede zwischen den verschie­
denen Perioden dieses Oeuvres noch sichtbar gemacht worden wären. Dem­
gegenüber zielt die hier angewandte Methode darauf, jeweils historisch kon­
kret dasjenige Problem zu bezeichnen, als dessen Lösungsversuch der ein­
zelne Gedichtzyklus oder Band gedeutet werden kann. Wenn die Interpreta­
tion beim Frühwerk einsetzt und bis zum Spätwerk fortschreitet, so liegt
dem keine werkgenetische Betrachtungsweise in dem engeren Sinn zu­
grunde, daß allein schon mit dem Nachweis, daß jeder neue Zyklus als
Antwort auf offengebliebene Fragen des vorangehenden gelesen werden
kann, die Entstehung dieser Dichtung für ausreichend erklärt erachtet wer­
den würde. Vielmehr wird zu zeigen sein, daß sich Celans Lyrik, unbescha­
det ihrer konstanten Bezogenheit auf die Erfahrung des Faschismus als ihren
einmal vorgegebenen geschichtlichen Fixpunkt, wandelt, indem sie auf je­
weils aktuelle gesellschaftliche und politische Ereignisse reagiert, so in den
fünfziger Jahren auf die internationalen Diskussionen über die Atombewaff­
nung, in den späten Sechzigern auf die Studentenbewegung.
In der Büchnerpreis-Rede Der Meridian entwickelt Celan sein Konzept abso­
luter Poesie, und zwar im Stil einer lyrischen Prosa, die in theoretische
Begrifflichkeit allererst übersetzt werden muß. Dieses Konzept wird hier
nicht allein expliziert, sondern auch befragt im Hinblick darauf, inwieweit
Celans Sicht des Verhältnisses von Dichtung und Gesellschaft, seine Auffas­
sung von einer emanzipatorischen Funktion der Dichtung, als praxisbezogen
bezeichnet werden kann —eine Frage, die fortgeführt wird im Vergleich von
Celans Position mit der ästhetischen Theorie Adornos und zu beantworten
ist mit Rücksicht auf beider biographische Fixierung an die historische Phase
offener faschistischer Gewalt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der
Deutung, die O tto Pöggeler dem Meridian gegeben hat, wir 1 exemplarisch
demonstrieren, daß eine bestimmte und bis heute überwiegende Richtung
der Celan-Rezeption — nicht selten mit Hilfe von wie immer auch unwissent­
lich vorgenommenen Verlesungen — die politischen Intentionen dieses
Cfeuvres in ihr genaues Gegenteil verkehrt hat.
Die vier Kapitel Gedichtinterpretation sind chronologisch wie sachlich um
den Meridian zentriert. Während die beiden ersten die Genese des Konzepts
absoluter Dichtung darstellen im Zusammenhang mit der Geschichte der
Juden in der Bukowina und dem von Celan als Analogon zum faschistischen
Völkermord gesehenen Atomtod von Hiroshima und Nagasaki, zeigen die
beiden letzten die Einlösung dieses Konzepts, die sich bei Celan durchaus
nicht gradlinig — nach dem Schema einer bloßen Überführung von ästheti­
scher Theorie in die lyrische Praxis — vollzieht, sondern immer zugleich
auch Modifikation ist, weil sie sowohl den eigentümlichen Problemkonstella­

17
tionen der jeweils neuen Gedichte als auch neu hinzu tretenden historischen
Erfahrungen, wie derjenigen des Pariser Mai, gerecht zu werden bemüht
ist.
Aus eben diesem Grund empfahl sich der Darstellungsmodus, für die einzel­
nen Bande bzw. Zyklen typische Strukturelemcnte, Themen oder Bildkom-
plcxe zu exponieren, um an ihnen die charakteristischen Fragestellungen der
einzelnen Perioden zu erläutern. Im Rahmen des Versuchs, ästhetische und
gesellschaftliche Perspektiven von Celans Gedichten in ihrer Beziehung auf­
einander darzustcllcn, erscheinen die einzelnen Stilzügc im Modus von Lö­
sungen ineins künstlerischer wie gesellschaftlicher bzw. philosophischer und
theologischer Probleme. So wird am Frühwerk das Motiv des Traums hcraus-
gestcllt als Versuch der Lösung des Problems, wie ein Bereich gedacht wer­
den kann, der vom Druck unmenschlicher Verhältnisse —der Erfahrung der
faschistischen Massenmorde entlastet, ohne doch über deren Fortbestand
hinwegzutäuschen. Die Desillusionierung ist das poetische Verfahren, das
auf den bloß transitorischen Charakter der träumerischen Entlastung hin­
weist. In den nach dem Krieg entstandenen Gedichten des Frühwerks da­
gegen erscheint der Traum nicht mehr nur als stets wieder aufgehobener
Fluchtbcrcich. sondern als Medium der Forderung, daß die Kultur nicht
instrumentalisiert werden dürfe für eine faschistische Praxis und daß eine
antifaschistisch verändernde Praxis nötig wäre — eine Forderung, die in­
dessen ohne Antwort bleibt auf die Frage, ob und wie eine solche Praxis
aktuell möglich sei. Dieses Defizit, das im Frühwerk nur erst biographisch, in
der individuellen Erfahrung der Ohnmacht gegenüber der faschistischen Ge­
walt. begründet ist, erweist sich als konstitutiv für die gesamte danach er­
schienene Lyrik und nicht zuletzt für die Ästhetik des Meridian, die ihm
eine Rechtfertigung gibt im Kontext einer allgemein theoretischen Bestim­
mung des Verhältnisses von Dichtung und Gesellschaft. Die entscheidende
Vermittlungsstufc zur Klärung des Kunstbegriffs im Meridian stellt der
Sprachgitter-bund dar. Nicht nur wird hier mit der Beziehung auf Hiroshima
und Nagasaki eine Emanzipation vom allein Biographischen vollzogen. Fol­
genreicher noch ist der Widerspruch zwischen der in den Sprachgitter-
Gcdichten vorherrschenden Neigung zur stilisierenden Reduktion poetischer
Bilder auf tote Strukturen auf der einen Seite und der in diesen Gedichten
ausgesprochenen Forderung nach einer gesellschaftlich gewährleisteten Be­
wahrung und Restitution von menschlichem Leben auf der anderen. Denn es
ist offensichtlich die nachträgliche Erkenntnis dieses Widerspruchs, die
Celan im Meridian dazu veranlaßt hat, Dichtung als Kritik am ästhetischen
Stilisationsprinzip zu definieren, damit dessen Gewalt, als Mimesis gesell­
schaftlicher Unterdrückung, nicht das letzte Wort im Kunstwerk behalte.

18
Die Gedichte der Niemandsrose denken diesen Ansatz zu Ende mit dem
Entwurf einer kreatürlichen Sprache, die zu bilden sei aus den im Verfahren
der Wortzerstückelung gewonnenen Rudimenten signifikativer Sprache. —
Übrigens erlaubten es die Interpretationen von Sprachgitter und der Nie­
mandsrose, den Band Von Schwelle zu Schwelle unberücksichtigt zu lassen,
da dieser sich zum einen Teil, etwa was die geometrische Stilisation betrifft,
als Prolog zu Sprachgitter liest und zum anderen Teil, vor allem mit seinem
durch Mauthner beeinflußten sprachtheoretischen Agnostizismus, einen
Standpunkt vertritt, den Celan in Sprachgitter mit Recht verworfen hat
zugunsten einer historisch konkreten Begründung dafür, daß, wie er meint,
die Fähigkeit zur Erkenntnis von Realität verkümmert und erst wieder her­
zustellen sei. Von Schwelle zu Schwelle übt Kritik an einer Sprache, die dem
realen Zustand der Subjekte unangemessen ist und ihn verschleiert, ohne
daß Celan doch hier schon, wie später in der Niemandsrose, zu einer kon­
struktiven Gegenposition gelangt wäre. — Der in der Niemandsrose ent­
wickelte Begriff einer lyrischen Sprache, die der unterdrückten Kreatur zum
Ausdruck ihres Leidens verhelfen soll, verbindet sich konsequent, weil damit
der Appellcharakter von Lyrik hervorgehoben ist, mit Reflexionen auf die
Funktion der Dichtung im historischen Prozeß, die im Spätwerk dominieren
und in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung eine Zuspitzung
erfahren. Die oppositionellen Bestimmungen, mit denen Celan von Anfang
an seine Lyrik charakterisiert — etwa mit dem Motiv des Traums als einer
Gegenwelt im Frühwerk, dem Verständnis von Dichtung als „Gegenwort“
im Meridian —, setzen sich im Spätwerk fort mit der Bestimmung von Kunst
als Widerstand, der sich nur negativ, in absurder Gestalt artikulieren kann,
weil der hyperbolische Protest gegen die bestehende Wirklichkeit in dieser
keine Materialien mehr findet, aus denen er sich positiv bilden könnte.
Keineswegs sind die späten Bände seit der A tem wende als Zurücknahme des
Konzepts absoluter Poesie zu verstehen, wie man angenommen hat. Viel­
mehr insistieren sie auf dem ästhetischen Absolutismus als einer Kunstform,
die nach Celans Überzeugung erst in einer veränderten Realität hinfällig
werden und einer anderen, affirmativen Kunst weichen würde. Zwischen den
Extremen einer gegenwärtigen Lyrik, die radikal kritisch, ein „Gegenwort“
gegen das Bestehende ist, und der Lyrik einer ungewissen Zukunft, in der es
möglich wäre, ein Loblied zu singen auf das, was ist, läßt Celans Kunstkon­
zeption keine Vermittlungsstufen gelten. Der Rigorismus seiner Auffassung,
daß vorerst nur eine negative, Widerstand artikulierende Dichtung - in
diesem Sinn eine Anti-Kunst - legitim sei, ist begründet im antifaschisti­
schen Engagement. Von dieser ihrer bestimmten Historizität darf Celans
Lyrik nicht losgelöst werden. Sie spezifisch historisch zu lesen aber heißt, sie

19
gegen die Majorität ihrer Liebhaber zu verteidigen ebenso wie gegen diejeni­
gen Kritiker, die sich falsche Deutungen vertrauensvoll zu eigen gemacht
haben. Eine fundierte Kritik an Celan steht bis heute aus. Sie müßte aus der
Einsicht in die besonderen Intentionen seines Werks die Frage zu beantwor­
ten versuchen, ob der ästhetische Absolutismus der Gedichte die vom Autor
angenommenen sozialen und politischen Funktionen in der Tat zu erfüllen
vermag. Daß Celan wiederholt in Widerspruch gerät zu seinen eigenen Ab­
sichten so mit der Übernahme des Rilkeschen Eigentlichkeits-Pathos im
Frühwerk. dem Geometrismus von Sprachgittcr und der Abundanz von
Sachgehalten im Spätwerk , wird im Folgenden zu zeigen sein. Eine weiter­
gehende Kritik könnte fragen nach den besonderen Möglichkeiten von
Lyrik, über die Förderung jener Anti-Stellung, jener Opposition hinaus, die
in Celans Antifaschismus ihren Grund hat, zur Änderung historisch über­
holter Einstellungen und Verhaltensmuster beizutragen. Die kunstphilo­
sophischen und -soziologischen Probleme, die sich von hier aus ergeben, sind
indessen zu kompliziert, als daß sic in einzelgängerischer Anstrengung gelöst
werden könnten. Es ist daher die Hoffnung dieser neuen Deutung, Perspek­
tiven zu eröffnen für eine angemessene Diskussion der Celanschen Lyrik, in
der ihr emanzipatorischer wie auch ihr problematischer Gehalt weiter zu
entfalten wäre.

20
I. Frühwerk: Antagonismus von Wirklichkeit und Traum

1.

Die Frage nach dem Verhältnis der Kunst zu einer humanen Verfassung der
gesellschaftlichen Realität ist in Celans Frühwerk noch nicht ausdrücklich als
Frage, welche die Konstitution des Ästhetischen betrifft, und insofern ihrer
selbst noch weitgehend unbewußt gestellt. Gleichwohl bestimmt sie Celans
Lyrik von Anfang an in ihren stilistischen und thematischen Eigentümlich­
keiten. In den allerfrühesten, vor 1945 entstandenen Gedichten ist sie latent
vorhanden in der Unterscheidung zwischen einer wahren und der wirklichen
Welt, m it der gleichsam programmatisch das erste Gedicht von Sand aus den
Urnen einsetzt, das den Titel ,Drüben4 trägt (SU 5) und ihn erläutert: „Erst
jenseits der Kastanien ist die Welt“ . Man sollte der Versuchung nicht statt­
geben, solche Verse, weil sie konventionell, oft auch ungewollt komisch
sind, unbeachtet zu lassen. Gerade in den zumeist traditionellen Formen der
frühesten Gedichte nämlich treten die spezifischen Intentionen Celans be­
sonders deutlich hervor und weisen einen Weg zum Verständnis zunächst der
zweiten, etwa 1945 einsetzenden Phase des Frühwerks, die zwar nicht, wie
die früheste, von den Interpreten bisher völlig unberücksichtigt geblieben ist,
aber offensichtlich vor so große Probleme gestellt hat, daß es nicht zu sub­
stantiellen Erkenntnissen, sondern nur zu Deskriptionen wie antithetischer
Stil* kommen konnte. Während in fast allen Darstellungen des Celanschen
Cfeuvres die 1945 verfaßte ,Todesfuge4 sei es explizit, sei es implizit als
Ausnahmefall verstanden ist, mit dem die übrige Lyrik derselben Periode
wenig zu schaffen habe, wird hier unter bewußter Ausklammerung jenes
wohl berühmtesten Gedichts der Nachweis geführt, daß die Erfahrung des
Faschismus ausschlaggebend war für die inhaltliche und formale Konstitu­
tion von Celans Werk überhaupt, also auch und gerade für diejenigen Ge­
dichte, deren scheinbare Esoterik es zu verbieten scheint, nach ihren exoteri­
schen Bedingungen zu fragen.
Eben jene Erfahrung war es, die den frühen Celan dazu veranlaßt hat, der
empirischen Realität Gegenwelten entgegenzusetzen. Die frühesten, im
Zyklus ,An den Toren4 zusammengefaßten Gedichte lassen sich als Versuch
der Lösung des Problems beschreiben, wie ein Bereich gedacht werden kann,
der vom Druck unmenschlicher Verhältnisse entlastet, ohne doch letztlich
über deren Fortbestand hinwegzutäuschen. Celan findet eine Lösung für

21
dieses Problem, indem er den Traum kennzeichnet als Illusion, die subjektiv
notwendig sei, aber immer in einer Desillusionierung terminiert, so daß am
Ende das Bewußtsein von der Unerträglichkeit des Bestehenden wieder her­
gestellt ist. Die Traumwelt wird nicht verabsolutiert, sondern dargestellt als
Bereich, der nur transitorisch ein Surrogat für das zu sein vermag, was empi­
risch sein sollte. An dieser Überzeugung kann freilich nur so lange festgehal­
ten werden, wie der aktuelle Zustand der Realität nicht als endgültig be­
trachtet wird. Sie wird von Celan dort aufgegeben zugunsten der Bejahung
einer definitiven Flucht aus der Wirklichkeit, wo die Erfahrung des faschisti­
schen Terrors eine solche Übermacht gewinnt, daß ihm eine Veränderung
zum Besseren nicht mehr möglich zu sein scheint.
Aus diesem Stadium der Resignation hat Celan in der nach 1945 entstan­
denen Lyrik, die im Sand aus den Urnen unter dem Zyklustitel ,Mohn und
Gedächtnis* erschienen ist, hinausgefunden, wenn er nicht mehr nur die
Trostfunktion des Traums thematisiert, sondern ihn als Medium des Auf­
ruhrs gegen eine inhumane Verfassung der gesellschaftlichen Realität dar­
stellt. Mit Vehemenz wird in dem aggressiv-polemischen Gedichttypus dieser
Periode der Anspruch der Träume auf Verwirklichung verfochten. Indessen
wagt Celan aufgrund der Erfahrung völliger Handlungsohnmacht gegenüber
dem Faschismus zunächst nicht daran zu glauben, daß menschliche Kräfte
ausreichen, um die Verwirklichung von Utopischem durchzusetzen; eine
apokalyptische Metaphorik hebt das hervor. Trotz dieses Pessimismus ist der
skizzierte erste Gedichttypus im Zyklus ,Mohn und Gedächtnis* nicht resi-
gnativ. Er geht nicht über zur Affirmation einer Flucht aus der Realität,
sondern hält daran fest, daß nur eine Veränderung der materiellen Daseins­
verhältnisse eine Alternative zum Bestehenden sein könne. Sichtbar wird
diese Position primär in einer im Ansatz materialistischen Religionskritik des
frühen Celan, die eine polemische Destruktion der affirmativen Züge von
Theologumena betreibt, um zugleich das an ihnen zu retten, was als Aus­
druck des Protests gegen inhumane gesellschaftliche Zustände verstanden
werden kann. — Im melancholisch-resignativen Gedichttypus derselben
Periode wird im Zuge einer Apotheose des Melancholikers, die sich als
Kompensation der erfahrenen Handlungsohnmacht erklären läßt, der Ver­
such unternommen, die soziale Begründung der Erfahrung von Vergeblich­
keit auszuklammern und an ihre Stelle das abstrakte Prinzip der Zeit als
Vergängnis zu setzen. Indessen gibt es nur ganz wenige Gedichte, in denen
diese Intention Celans sich ungebrochen durchsetzt. Sie wird korrigiert, wie
am Gedicht .Umsonst* zu zeigen sein wird, zunächst durch den objektiven
Gehalt der Verse und schließlich, wie das Gedicht .Corona* vermuten läßt,
durch einen Wandel von Celans Intention selber, aufgrund dessen er schon

22
früh einer Variante der Kritischen Theorie, der Position Herbert Marcuses,
nahekommt.
Bedeutender ist indessen schon im Frühwerk die sachliche Affinität Celans
zur ästhetischen Theorie Adornos, die sich nachweisen läßt am Wandel der
für diese Phase charakteristischen Waffenmetaphorik. Von einer Metaphorik,
die den Antagonismus von Wirklichkeit und Utopie zum Ausdruck bringen
soll, verändert sie sich in eine Metaphorik der Gewaltlosigkeit. Dieser
einleitende Überblick über die Absichten und Ergebnisse der folgenden Dar­
stellung des Frühwerks mag dem Leser, an dessen mikroskopischen Blick die
vorgenommenen Interpretationen appellieren, zu jener kritischen Geduld
verhelfen, ohne die Celans schwieriges Oeuvre unverstanden und willkür­
lichen Deutungen ausgeliefert bleiben wird.

2.

,An den Toren4, der erste Zyklus im Band Der Sand aus den Urnen' , endet
mit dem Gedicht ,Am letzten Tor4. Damit ist die Verbindlichkeit des Zy­
klustitels für alle siebzehn unter ihm zusammengefaßten Gedichte hervorge­
hoben. Die Gedichttitel könnten auch heißen: Am ersten, zweiten, dritten
Tor usw. Jedes Gedicht variiert die Situation ,An den Toren4.
In der Tat trifft die Metapher ,An den Toren4 das Problem, das die frühe­
sten, vor 1945 entstandenen Gedichte sowohl in ihrer Thematik als auch in
ihrer Form bestimmt: die Frage nach der Möglichkeit der Flucht aus einer
leidbeherrschten Welt in eine andere, leidlose. Die letztere, die Welt gleich­
sam hinter den Toren, wird meistens als die des Traums bezeicnnet. „An den
Toren des Traumes44 heißt es denn auch ausdrücklich in dem Gedicht, dem
der Zyklustitel entstammt (.Dunkles Aug im September4, SU 45/MuG 22).
Und das vorletzte Gedicht von ,An den Toren4 nennt sich ,Die Schwelle des
Traumes4(SU 20).
Die Tormetapher impliziert die Vorstellung eines burghaften Sichabschlie-
ßens des Traums; das Tor, das sich dem Träumenden öffnet, fällt hinter ihm
ins Schloß. Damit ist eine erste, allgemeine Charakterisierung der Traum­
welt, wie sie sich in Celans früher Lyrik darstellt, gegeben. Sie ist abgedich­
tet gegen die Außenwelt und soll Zuflucht bieten. Gebärden, die diese
schützende Hermetik hersteilen, sind das Augenschließen (.Schlaflied4, SU 7)
und das Verhüllen des Gesichts (.Traumbesitz4, SU 6); seine archetypischen
Symbole sind Krug (,Am Brunnen4, SU 8; ,Mohn‘, SU 11; ,Die Schwelle des
Traumes4, SU 20) und Truhe (.Seelied4, Tat2); seine allegorischen Orte Ge­

23
mach (,Bergfrühling', SU 12) und Zelt (,Flugeirauschen', SU 17). All das ist
dem Arsenal der Innerlichkeit entnommen. Wie jedes Frühwerk, wenn dieser
Terminus nicht allein biographisch, sondern auch als stilistische Kategorie
verwendet werden soll, zeichnet sich dasjenige Celans dadurch aus, daß so­
wohl die spezifischen Intentionen als auch die literarischen Vorbilder des
Autors in später nicht mehr vorhandener Prägnanz hervortreten. Qualitativ
frühe Werke sind extrem originell und epigonal zugleich, weil die beiden
stilbildenden Momente der individuellen Absicht des Autors einerseits und
der von ihm akzeptierten überlieferten Formen und Inhalte andererseits
noch unvermittelt sind. Da sich die Intentionen noch nicht in der Arbeit am
Material entäußert und sich eine eigene Stilform geschaffen haben, werden
sie, wie der systematisierende Zyklustitel ,An den Toren* beweist, thema­
tisch und springen die gewählten Vorbilder ins Auge. Neben C. F. Meyer3
hat vor allem Rilke'1 Celans frühe Lyrik beeinflußt. Die Beziehung zum
Cornet ist unverkennbar in dem ,Fin Krieger* (SU 10) betitelten Gedicht:

Horst du: ich rede zu dir, wenn schwul sic dns Sterben vermehren.
Schweigsam entwert* ich mir Tod, leise begegn ich den Spceren.
Wahr ist der endlose Rin. Gerecht ist der Huf.
Kühlst du, dub nichts sich begibt als ein Wehn in den Rauten?
Blutend gehör ich getreu der Fremden und rätselhaft Trauten.
Ich steh. Ich bekenne. Ich ruf.

Motive des Corner („Reiten, reiten .. die „fremde Frau“ 5) verbinden sich
hier mit dem wichtigsten des M alte: der HntgegenSetzung von anonymem
Sterben und individuellem Tod.6 Die Verdinglichung von Menschen zur
Ware, ihr Absterben bei lebendigem Leib („So, also hierher kommen die
Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier“ 7), wird in
Maltes Augen besiegelt durch einen physischen Tod, der den Sterbenden so
entfremdet ist, wie es im Leben die Produkte ihrer Arbeit waren: „Bei so
enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber dar­
auf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es.“ K Br reagiert auf diese
Erfahrung mit der Annahme, daß es früher einmal einen individuellen, ja
Individualität allererst konstituierenden Tod gegeben habe: „Früher wußte
man ( ...) , daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern |. . .j.
Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen
stillen Stolz.“ 9 Celans Gedicht setzt die Spekulationen des Malte fort, in­
dem es den selbst „entworfenen“ Tod gegen entqualifiziertes, nur als Quan­
tität („vermehren“ ) erfaßbares „Sterben“ , ihre eigene Wesenhaftigkeit be­
schwörende Innerlichkeit gegen Verdinglichung setzt. Die Art der Fortfiih-

24
rung ist durch Theoreme Heideggers bestim m t.10 Den eigenen Tod „entwer­
fend“ , glaubt das lyrische Subjekt, es selbst zu werden. Mit dem dreifachen
„Ich“ am Schluß des Gedichts sucht es sich in seinem Selbstsein zu bekräfti­
gen. Von den demonstrativ als „sie“ Bezeichneten, die wohl andere „Krie­
ger“ sind, welche tötend und sterbend „das Sterben vermehren“ , distanziert
sich der Sprechende mit dem ans Tabu der Homosexualität gemahnenden
Epitheton „schwül“ , das den Ekel vor dem Unreinen ausdrücken will. Der
selbst „entworfene“ Tod wird dagegen als ein von „schwüler“ Sinnlichkeit
bereinigter beschrieben, dessen Ethos das der keuschen Minne ist. Er ist nur
„ein Wehn in den Rauten“ (Rauten sind Wiesenblumen), und das Blut ist
dadurch gleichsam entmaterialisiert und zum Symbol heroischen Opfers und
erhabenen Leidens veredelt, daß es in ritterlicher Treue zur „Fremden und
rätselhaft Trauten“ fließt, die wohl zu verstehen ist als Personifikation der
beschworenen Selbstidentität.
Der Protest des Gedichts gegen Krieg, Gewalt und die Verwandlung von
Menschen in Dinge wird im Zuge der Selbstverklärung des lyrischen Sub­
jekts, die Index seiner uneingestandenen Schwäche ist, in Ideologie einge­
bettet. Das Gedicht vergibt die Chance einer akzeptablen politischen und
moralischen Kritik, indem es dem Massensterben den Rückzug auf Innerlich­
keit als ernstgemeinte Alternative gegenüberstellt. Es protestiert gegen sinn­
loses Sterben mit der Sinngebung des Todes und entwertet dadurch den
Protest. Indem es den individuell „entworfenen“ Tod feiert, entsteht der
Eindruck, als werde eher an der Massenhaftigkeit des Sterbens Anstoß ge­
nommen als an der Vernichtung von Menschen überhaupt; als werde Ein­
spruch gegen den Mord erhoben nicht primär im Namen des Rechts auf
Leben, sondern in dem des individuellen Tods. Am „Sterben“ teilzuhaben
oder nicht, wird mit ungewolltem Hohn auf die Opfer der Vernichtung zur
Sache der freien Wahl erklärt: wer seinen Tod „entw irft“ , ist angeblich nicht
mehr nur Exemplar („sie“), sondern „Ich“ .
Mit diesem Zynismus steht das Gedicht im Widerspruch zu den Intentionen,
die von Anfang an für Celans Werk konstitutiv sind. Etwas spätere Texte
scheinen denn auch direkt auf den ,Krieger4 gemünzt zu sein und ihn revo-
zieren zu wollen:

Man redet umsonst von Gerechtigkeit, solange das größte der Schlachtschiffe nicht an
der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt ist. (.Gegenlicht*)

Der 1949 veröffentlichte Aphorismus bestreitet, daß Gerechtigkeit (vgl. im


,Krieger4: „Gerecht ist der Huf.“) im Rückzug auf Innerlichkeit, in einem
Reservat jenseits der politischen Realitäten hergestellt werden könne. Erst

25
wenn das größte Schlachtschiff an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt ist,
wenn die mächtigsten Instrumentarien von Krieg und Vernichtung zerstört
sind, kann begründet von Gerechtigkeit die Rede sein. Widerrufen wird in
der nur wenig späteren Lyrik auch die Sinngebung des Todes, mit der der
..Krieger“ auf die Erfahrung sinnlosen ,.Sterbens“ reagiert. Nicht den sinn­
vollen Tod. sondern seine Aulhebung fordert .Spät und tie f (SU 52 f. /MuG
31 f.):

I's komme ein Mensch aus dein Grabe.

Wahrend der ..Krieger“ den Tod sanktioniert, indem er ihn als Konstituens
von Selbsthcit versteht, wird mit dem Postulat leibhafter Auferstehung jede
Rechtfertigung des Todes abgewiesen. Das spätere Gedicht setzt voraus, daß
nichts dem Tod Sinn geben und ihn damit erträglich machen kann; nur seine
Zurücknahme vermöchte über ihn zu trösten.

Die Situation ,An den Toren* wird im .Krieger* in der Weise variiert, daß der
Krieger sich von der Realität auf den Entwurf seines Todes zurückzicht, der
ihm Selbsthcit zu gewähren scheint. Seine Innerlichkeit beansprucht die
Wurde eines zweiten, höheren Daseins. Ihre polemische Beziehung zur Wirk­
lichkeit wird in Affirmation verkehrt, weil sie sich in sich selbst vollendet
glaubt und die Realität, als Sphäre gleichsam minderer Qualität, verächtlich
sich selbst überläßt. Mit dieser Hypostase von Innerlichkeit brechen die
übrigen frühen Gedichte fast ausnahmslos. Auch sic stellen Innerlichkeit als
andere, bessere Welt dar, aber sie berauben sic der Momente der Selbstgenüg­
samkeit und Selbstgerechtigkeit, indem sie die subjektiven Erfüllungen mit
dem objektiven Fortbestehen des Leidens konfrontieren und der Scham
darüber, daß Innerlichkeit es vergißt, Ausdruck geben. Dem Übergang von
einer in sich ruhenden Innerlichkeit zu ihrer Selbstaufhebung entspricht die
für die früheste Lyrik charakteristische Struktur der Desillusionierung. So­
bald der unversöhnten Realität gedacht wird, verflüchtigen sich die Erfül­
lungen der Innerlichkeit zum bloßen Schein. Die häufige Benennung der
Wunscherfüllung als Traum deutet bereits an, daß ihr illusionärer Charakter
betont wird. Gleichwohl wird ihre Berechtigung, ja Notwendigkeit aner­
kannt. Als Gefahr stellt das Gedicht ,Mohn* (SU 11) Desillusionierung dar:

Die Nacht mit fremden Feuern zu versehen,


die unterwerfen, was in Sternen schlug,
darf meine Sehnsucht als ein Brand bestehen,
der neunmal weht aus deinem runden Krug.

26
Du mußt der Pracht des heißen Mohns vertrauen,
der stolz verschwendet, was der Sommer bot,
und lebt, daß er am Bogen deiner Brauen
errät, ob deine Seele träumt im Rot.
Er fürchtet nur, wenn seine Flammen fallen,
weil ihn der Hauch der Gärten seltsam schreckt,
daß er dem Aug der süßesten von allen
sein Herz, das schwarz von Schwermut ist, entdeckt.

Das Bild der „fremden Feuer“ — eine Wendung Rilkes11 deren Leucht­
kraft die der erloschenen Sterne übertrifft, wird in der zweiten und dritten
Strophe transponiert in die Vorstellung vom roten Mohn. Seine Blüten­
blätter sind die „Flammen“ , mit denen das lyrische Subjekt die Nacht zu
erhellen versucht; er ist „heiß“ wie der „Brand“ der „Sehnsucht“ . Damit
erweist sich der Mohn als Allegorie des Sprechenden selber, der die Geliebte
auffordert, seiner „Pracht“ — es ist die des Gesprochenen als einer ästheti­
schen Veranstaltung, die „Pracht“ des Gedichts — zu vertrauen. Unter der
„Pracht“ aber verbirgt sich ein schwarzes Herz, Metapher der Melancholie.
Würde die Geliebte es sehen, vermöchte sie nicht mehr zu träumen. Ihr Traum
ist nur möglich, solange ihr die Trauer des Sprechenden verborgen bleibt. Sie
darf sich nicht dessen bewußt werden, daß die „Pracht“ Trauer über einen
trostlosen Weltzustand verbirgt, wenn anders sie träumen soll. Der Sprechen­
de aber reflektiert seine ästhetische Veranstaltung als illusionären Ersatz für
das erloschene Sternenlicht, der der vorsichtigsten Prüfung an der Realität,
dem leisesten „Hauch der Gärten“ nicht standhält.
Das Gedicht ,Mohn‘ feiert das Vergessen — der Mohn selbst ist Metapher
des Vergessens — und gedenkt zugleich mit der Metapher der lichtlosen
Nacht und mit dem Eingeständnis der Schwermut der unversöhnten Reali­
tät. In der Wendung „Mohn und Gedächtnis“ hat Celan später diese Doppel­
heit thematisch gemacht. Die lyrische Form, die ihr im Frühwerk prägnant
entspricht, ist die des Schlaflieds, bei dem der Wachende als derjenige auf-
tritt, der eine Person in die Welt des Traums versetzt und zugleich, sofern er
zu sich oder von sich selber spricht, Traum und Wirklichkeit miteinander
konfrontiert. ,Mohn‘ ist in den ersten beiden Strophen - denen dann in der
dritten ein Aparte folgt, in dem die Illusionierung als solche zur Sprache
kommt und insofern eine Desillusionierung vorgenommen wird —ein Schlaf­
lied wie die ausdrücklich ,Schlaflied4 (SU 7) und ,Schlafendes Lieb4 (Plan)
betitelten frühen Gedichte. Das letztere setzt mit dem Bild des Boots, das an
Charon erinnert, Traum und Tod in eins und erwartet vom Traum, was
selbst G ott nicht mehr zu vollbringen vermag; der Traum wird als profane
Erlösung dargestellt:

27
Ls wachsen die Dammergewebe: schlaf!
Den ungewissen Lorbeer triigi nun deine Schlafe.
l Tnd einer, den noch keiner ubertraf,
erwartet, ob der Traum ihn über träfe.
Mit offnem Auge folgt er deinem leichten Boote:
„Lost sich die Fessel? Sinkt sie in das Lose? “
Und abgewandt von deinem Antlitz weint er um die rote
Rose.

Das Weinen um die „rote / Rose“ ist Ausdruck der Verzweiflung darüber,
daß die Angeredete nur in der totalen Entrückung von der Wirklichkeit, die
eine Abwendung auch von der Liebe bedeutet, Trost finden kann. Wie
.Mohn“ betrauert auch .Schlafendes Licb‘ am Gcdichtendc, wiederum mit
der Gebärde des Aparte („abgewandt von deinem Antlitz“ ), daß in der
Realität kein Trost zu finden sei. Beide Gedichte, wie übrigens auch das
eindrucksvolle Gedicht .Fliigelrauschcn“ (SU 17), das vom Traum nicht
spricht, aber die „Pracht“ von Traumbildern ästhetisch realisiert, bestimmen
den Traum als Notwehr gegen einen unerträglichen Weltzustand und heben
damit die für den Träumenden selbstverständliche Verabsolutierung des
Traums zur in sich geschlossenen und sich selbst genügenden Welt auf.
Mit Grund bezieht sich der .Krieger“ nur am Anfang auf die Erfahrung einer
leidvollen Realität, während ,Mohn‘ und .Schlafendes Lieb“ am Schluß dar­
auf verweisen. In ihrer Tendenz sind die Gedichte gegenläufig. Während der
„Krieger“ sich von dem Erfahrenen absetzt und sich selbstherrlich in seine
Innerlichkeit verschanzt, heben die beiden anderen Gedichte die Selbst­
genügsamkeit der Innerlichkeit auf, um den für notwendig erachteten
Ruckzug von der empirischen Wirklichkeit nicht an Affirmation zu verraten.
Daß eine verabsolutierte Innerlichkeit, wie der „Krieger“ sie bejaht, sieh
schuldig macht an den Opfern unmenschlicher Verhältnisse, reflektiert das
Gedicht .Irrsal“ (Plan):

Mondhelles Herz: nun hebt sich der Schleier vom Spiegelbild.


Im Busch pfluckl der Engel der Schläfer die bittere Beere.
Nun tröstet mein Blut die Lanzenstiche im Schild;
erbliihn die Gezeiten dem Sommer der Sterncnmccre.
Du aber bereitest dich jetzt, daß süß dich die Linden beschenken?
Gestürzt ist ein Rosengewölk in dein Aug voll Verzicht?
(Erfuhrst du von mir, wie die Traume die Schläfen versehren? )
Nicht will deine Wimper an Sehnsucht und Wellenschaum denken . . .
Hoch dunkelt der Mais in den Mond und ich segne ihn nicht.

28
Verweilt, wenn die Wolke ertönt, dein Gelenk in den Spangen?
Und glimmt in den Augen aus Samt nicht das herbstliche Licht?
Dann bleib ich, ein Knecht deiner Tränen, gefangen.

In den ersten vier Zeilen12 spricht das lyrische Subjekt in einer dichten
Verkettung scheinbar heterogener Metaphern von der Entschleierung seines
Spiegelbilds; vom Engel der Schläfer, der „die bittere Beere“ pflückt —was
sowohl heißen kann, daß das, was das lyrische Subjekt zur Bitterkeit veran­
laßt, entfernt wird, als auch, daß der Engel eine einschläfernde, rausch­
erzeugende Frucht pflückt —; vom Trost, den das Blut den Wunden des
Schildes spendet; von einem kosmischen Sommer, in dem den Sternen-
meeren Gezeiten „erblühn“ . Die erste Metapher meint die Aufhebung von
Selbstentfremdung; die zweite die subjektive Manifestation dessen, was die
vierte als kosmisches Ereignis beschreibt: die Restitution naturhafter Dyna­
mik, wie sie beim Menschen als Wechsel von Schlaf und Erwachen, in der
nichtmenschlichen Natur als Wechsel der Sternbilder, der Gezeiten und der
Jahreszeiten in Erscheinung tritt. Die dritte Zeile spricht vom Trost der
Lanzenstiche im Schild. Was den Sprechenden vor der Vernichtung ge­
schützt und stellvertretend für ihn gelitten hat, wird nun, da er sich nicht
mehr in Todesgefahr befindet, in einem Akt der Umkehrung des Repräsen­
tationsverhältnisses versöhnt. Indem der Sprechende blutet, wird der Schild
in den Zustand der Unversehrtheit zurückversetzt.
Nachdem das lyrische Subjekt in der ersten Strophe seine eigene Befreiung
vom Leiden beschrieben hat, fragt es nachher Verbindlichkeit dieser Erfah­
rung für eine andere, als Du apostrophierte Person. Diese aber weigert sich,
sich Tröstungen zu überlassen, wie die Natur (Linden, Wellenschaum, herbst­
liches Licht) sie anbietet; „Rosengewölk“ und ertönende Wolke vermögen
sie nicht aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Während das lyrische Subjekt
seinen Kosmos der Innerlichkeit („Mondhelles Herz“ ) als ihm angemessen,
als Aufhebung von Selbstentfremdung erfährt, würde die angeredete Person
Tröstungsversuche als ichfremd, als gewalttätigen Eingriff empfinden: selbst
ein leichtes „Rosengewölk“ würde in ihre Augen hinabstürzen wie ein
schwerer, verletzender Gegenstand.13 Der Tröstungsversuch wäre zusätzliche
Qual, weil er Tröstbarkeit unterstellt und damit das Leiden der Angeredeten
verharmlost. Um sich einer solchen Verharmlosung nicht schuldig zu ma­
chen, solidarisiert sich der Sprechende mit der Angeredeten und versagt er
sich der Flucht in seinen Kosmos des Traums. — Das Gedicht ,Flügelrau­
schen' (SU 17) dagegen, das ebenfalls den Tröstungsversuch als Qual dar­
stellt 14, betont den Aspekt, daß Tröstung unverzichtbar sei. Hier liegt kei­
neswegs ein Widerspruch bei Celan vor. Denn die Tröstung verharmlost erst

29
in dem Moment das Leiden, in dem sie sich als endgültig betrachtet. Ihren
transitorischen Charakter hervorzuheben, ist aber gerade das zentrale Thema
der frühesten Gedichte.

Im Gedicht Jrrsal* sind die Bilder der Tröstung, sofern sie die angcredete
Person betreffen, zu unterscheiden von den in der ersten Strophe genannten,
die auf das lyrische Subjekt bezogen sind. Lindenduft, Wellenschaum, in den
Mond ragender Mais und herbstliches Licht lassen an eine Tröstung in der
Natur denken, während die Eingangsstrophe eine entrückte Welt entwirft,
der keine empirische Erfahrung entspricht. Dieser Unterschied - das Aber,
mit dem sich das lyrische Subjekt dem Du zuwendet (,,Du aber bereitest
dich jetzt“ ), betont ihn wird freilich gemildert durch die artifiziellen
Bilder des ,,Rosengewölks“ , das dem Marienkult entstammt, und der tönen­
den Wolke, das auf den Topos der Sphärenharmonie anspielt. Nimmt man
ihn gleichwohl ernst, ist festzuhalten, daß das Gedicht zwei Modi von
Tröstung analog setzt: Tröstung in einer traumhaften, imaginären Welt und
in der Natur. Die Ohnmacht von Natur, der traditionellen Zufluchtsstätte
von Innerlichkeit, angesichts der Trauer über die Vernichtung von Menschen
hat Celan in seiner frühesten Lyrik dargestellt in dem an die Mutter gerich­
teten Gedicht ,Nähe der Gräber* (SU 14), das als Vorstufe zu dem ursprüng­
lich .Mutter* betitelten Gedicht .Espenbaum* (SU 34 / MuG 1 5 ,s) anzusehen
ist. In .Nähe der Gräber* wird die Mutter gefragt:

Kann keine der Lspcn mehr, keine der Weiden,


den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten?

In dem 1945/46 entstandenen Gedicht .Espenbaum* heißt es:

Lspcnbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel.


Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.

Das weiße Laub der Espe, gleichsam ihr Haar, ist das Bild eines Lebens, das
nicht um seinen natürlichen Verlauf gebracht wurde. Celans Mutter wurde
1942 in ein Vernichtungslager deportiert. Im Unterschied zu .Nähe der
Gräber* ist in dem späteren Gedicht nicht mehr nach der Möglichkeit von
Tröstung durch Natur gefragt, sondern Natur fungiert als Sinnbild für das
verletzte Naturrecht auf Leben. Der Begriff der Naturlyrik wäre jedoch
schon beim frühen Celan verfehlt. Naturseligkeit, die von einer unm ittel­
baren Beziehung des Menschen zur Natur ausgeht, war Celan von Anfang an
fremd, obwohl sein Mentor Alfred Margul-Sperber, der ihn auch literarisch

30
beeinflußt hat, in dieser Richtung schrieb und das Nüssebewispern, wie Benn
boshaft formulierte, während des Krieges und danach aus verständlichen
Gründen hoch im Kurs stand. ,Irrsal‘ und ,Nähe der Gräber' sind die einzigen
frühen Gedichte Celans — unter den späteren wird man keines mehr finden
—, in denen die Möglichkeit von Tröstung durch Natur überhaupt erwogen
wird. Zwar ist im Zyklus ,An den Toren' von Natur die Rede als dem Träger
von Fragmenten einer entsunkenen besseren Welt (,Der Pfeil der Artemis',
SU 15):

Und in den Wassern sträubt sich noch ein Strahl.

Auch die Hoffnung darauf, daß die traumatische Erinnerung an den Genozid
einmal leichter ertragen werden könne, ist in Beziehung gesetzt zur Natur
(,Regenflieder', SU 9):

Es regnet, Schwester: die Erinnerungen


des Himmels läutern ihre Bitterkeit.

(,Septemberkrone', SU 16):

Es trommelt der Specht an den Ast die barmherzige Zeit:

Aber Natur ist in diesen Versen nicht, wie in aller genuinen Naturlyrik,
Zufluchtsort der nach Harmonie und Geborgenheit suchenden Seele, viel­
mehr Material allegorischer Intentionen. Mit Bildern der Natur wird die
Hoffnung ausgedrückt, daß für den Überlebenden noch nicht alles verloren
bzw. seine Regeneration möglich sei. Nicht also wird in der Natur Trost
gesucht, sondern Bilder der Natur werden verwendet, um die Hoffnung auf
eine nicht-illusionäre Tröstung, auf Wiederbelebung und Heilung der zerstör­
ten Menschennatur, zu artikulieren. Indessen hat die allegorisierte Natur in
Celans Frühwerk nicht ausschließlich diese utopische Konnotation. Sie er­
scheint im Gegenteil auch als Ebenbild der bestehenden sozialen Wirklich­
keit. So sehr ist Celans Wahrnehmung der Natur durch geschichtliche Erfah­
rung vermittelt, daß er in ihr die Vernichtung von Leben wiedererkennt. Im
Gedicht ,Bergfrühling' (SU 12) hat Natur die Funktion, eine selbstgenüg­
same Innerlichkeit an das Fortbestehen gesellschaftlich verursachten Leidens
zu erinnern:

In Körben blau den Rauch der Fernen,


Gold der Tiefen unterm Tuch, dem härnen,
kommst du wieder mit gelösten Haaren
von den Bergen, wo wir Feinde waren.

31
Deinen Brauen, deinen heißen Wangen,
deinen Schullern mit Gewölk behängen,
bieten meine herbstlichen Gemacher
große Spiegel und verschwiegne Fächer.
Aber oben bei den Wasserschnellcn,
über Primeln, du, und Soldanellen,
ist wie hier dein Kleid mit goldnen Schnallen
weiß ein Schnee, ein schmerzlicher, gefallen.

Dem Interieur als Ort genüßlicher Selbstbespiegelung und des Bergens erlese­
ner Naturimpressionen; als Ort der Ruhe nach vorangegangenem Kampf
der Motivkomplex der amazonenhaft gekleideten Frau und der Liebe als
Kampf ist Mallarmd entlehnt16 wird gegenübergestellt, was in den Bergen
geschehen ist, nachdem sie von den Liebenden verlassen worden sind: die
Frühlingsblumen sind von Schnee bedeckt worden. Das Fallen des „Kleids
mit goldnen Schnallen14 wird in Beziehung gesetzt zum Schneefall in den
Bergen17; das Bild des Sichbefreiens (Schnallen) und natürlicher Nacktheit
wird konfrontiert mit dem der Unterdrückung und eines tödlichen Verhüllt­
werdens. Den allegorischen Charakter des Naturvorgangs hebt das A ttribut
„schmerzlich14 hervor. Schmerzlich ist der Schneefall als Allegorie der Ver­
nichtung menschlichen Lebens. In dem a u f ,Bergfrühling1 folgenden Gedicht
,Dcr ölbaunF (SU 13) ist der Baum Allegorie eines gemarterten Menschen:
Die Hörner der Hölle, im Ölbaum verklungen:
stießen sic Lufl durch sein Herz, daß cs leer ward und schrie?
Schlief er nicht suß über uns und wir waren umschlungen?
Segnest du ihn und verlöschen wir sie?
Hinst, als wir Finsternis festlich begingen,
kam er zu uns in den Abgrund und sang.
Nun, da ihn frierende Hörner umfingen,
ließ er uns schlummern und zittert am Hang.
Dürfen wir, licht, w'cnn die Brände beginnen,
wandernder Ölbaum, hinauf zu dir gehn?
Daß deine Zweige, suß und von Sinnen,
mit uns im Feuer, im riesigen, stehn?

Wahrscheinlich spielt das Gedicht an auf das von Odysseus unter einem
Ölbaum gebaute E hebett.18 Daß der Ölbaum Liebe, der Ölzweig Frieden
bedeutet, macht ihn zum Repräsentanten der Gewaltlosigkeit und setzt ihn
in schärfsten Kontrast zu einer Gewalt, die als höllische bezeichnet wird.
Nicht nur ist er vom Blasen der Höllenhörner wie von einem Eiswind getrof­
fen worden und dabei erstarrt („ihn frierende Hörner umfingen“ ), sondern
er selbst wurde als Horn benutzt: sein Inneres wurde ausgeblasen, so daß nur

32
noch eine hohle Baumruine übrig geblieben ist. Sie zu erwärmen, ihr den
Schein neuen Lebens zu vermitteln, vermögen nur „Brände“ , die aber zu­
gleich den hohlen Baum endgültig vernichten werden. Die Liebenden, die in
dem Baum ihren eigenen Zustand wiedererkennen, wollen zusammen mit
ihm im Feuer stehen. Das Gedicht geht davon aus, daß die Zerstörung des
Lebens beim Baum wie bei den Menschen so weit fortgeschritten sei, daß
keine wirkliche Erneuerung, sondern nur noch seine scheinbare Wiederher­
stellung im Augenblick des endgültigen Untergangs möglich sei; Leichen
sehen im Augenblick der Verbrennung so aus, als wären sie lebendig.19 Die
Thematik der Flucht aus der Wirklichkeit in eine Traumwelt mit anschlie­
ßender Desillusionierung ist damit verlassen. Unter der Voraussetzung, daß
die Hölle den Sieg davon getragen habe, daß keine Restitution von Leben
mehr möglich sein werde, erscheint der endgültige — nicht mehr nur tran­
sitorische — Rückzug in eine Sphäre, die den Schein von Leben vermittelt,
als legitim; eine Desillusionierung braucht nicht stattzufinden, weil Illusions-
losigkeit der Anlaß ist für die Flucht in die Welt des Scheins. Dieser wird
ohnedies der Charakter der Versöhnlichkeit dadurch genommen, daß Celan
sie als Tod darstellt. Der Trost, den die Scheinwelt spendet, söhnt nicht aus
mit der Wirklichkeit, sondern spricht über sie, weil er eins ist mit Lebens­
verneinung, ein vernichtendes Urteil.

Der Ölbaum repräsentiert die grundlos verfolgte und gemarterte Kreatur.


Diese vermag nicht mehr zu singen, sondern nur noch zu schreien. Das
lautlose Schreien der Natur und ihr Zittern unter der sie umgebenden Kälte
ist schon in der frühesten Lyrik Celans, und nicht erst seit Sprachgitter,
Allegorie menschlichen Leidens. Durchgehend in Celans Lyrik hat Natur
den Charakter des Verstörten. Die für die frühesten Gedichte bezeichnende
Konstellation von Schnee (,Bergfrühling*) und Schrei (,Der Ölbaum‘), die
das Gedicht ,Der Einsame* (SU 18) in gedrängter Form enthält:

Doch hob ich auf ein ander Tüchlein auch:

Rührst du’s, fällt Schnee im Brombeerstrauch.


Schwenkst du’s, hörst du den Adler schrein.

kehrt in der späten Lyrik wieder (,Du d a rfs tA W 7):


Du darfst mich getrost
mit Schnee bewirten:
sooft ich Schulter an Schulter
mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,
schrie sein jüngstes
Blatt.

33
Das jüngste Blatt des Maulbeerbaums schreit in Erwartung eines Lebens, das
ihm Leiden bringt. Seine Lebendigkeit ist ihm Qual. Das Subjekt, das sich
mit dem Maulbeerbaum solidarisiert und sich ihm ähnlich weiß - seine
aMaulbeere' ist das lyrische Wort - , schreckt nicht davor zurück, sich mit
Schnee bewirten zu lassen. Wie in der frühesten Lyrik ist der Schnee hier
Metapher des Todes. Der Sommer, das Lebenmüssen, wird als schmerzhaft
empfunden und der Tod bejaht als Linderung der Qual. Der Sprachgestus
des ,Es macht mir nichts aus', der Gelassenheit, der viele späte Gedichte
bestimmt, ist nicht, als was er mißverstanden werden könnte, Ausdruck der
Selbstüberschätzung und Arroganz. Schon in der frühen Lyrik ist er vorhan­
den, z. B. in dem Gedicht ,\m Brunnen' (SU 8), wenn es heißt:

Wenn sich die Wasser dir und mir verfinstern,


sehn wir uns an - doch was verwandeln sic?

Die Art, in der sich der Sprechende distanziert von dem, was ihn bedroht,
gleicht der Reaktion von Tieren auf Gefahr: sie stellen sich tot, versteinern.
Solche Unbeweglichkeit aber ist eins mit der entsetzten Flucht, von der das
frühe Gedicht ,Festland4(Tat) spricht:

Schwester im Dunkel, reiche die Arznei


dem weißen Leben und dem stummen Munde.
Aus deiner Schale, drin die Welle sei,
trink ich den Schimmer vom Korallengrunde,
schöpf ich die Muschel, hebe ich das Ruder,
das einem, den das Land nicht ließ, entsank.
Die Insel blaut nicht mehr, mein junger Bruder,
und nur die Seele zerrt am Algcnstrang.
Dann lautet seltsam jene Glocke Nie . . .
Dann trieft der Tiefen Balsam, meine Fremde . . .
Wen zu erhöhen, sank ich in die Knie?
Aus welcher Wunde blut ich unterm Hemde?
Mein Herz wirft Schatten, welche deine Hand
verlöscht, bis ich mich wehr und wähle:
Ich will nicht mehr hinauf ins Hügelland.
An jenen Seestern krall dich, meine Seele.

Das Festland wird als „Hügelland“ bezeichnet wohl in der Absicht, es als
Gräberlandschaft zu charakterisieren. Weil das lyrische Subjekt das Leben
auf dem Festland als Tod erfahren hat („weißes Leben“ ) und keine Hoff­
nung besteht, einen davon verschont gebliebenen Freiraum zu Finden („Die
Insel blaut nicht mehr“), flieht es vor dem Land überhaupt und sucht im

34
Meer den Tod. Indem es das Meer trinkt, wird sein „stummer Mund“ beredt.
Das Entsetzen vor dem „Hügelland“ wird formulierbar durch die Nennung
von Gebärden des Entsetzens („Die Seele zerrt am Algenstrang“ , „krall
dich, meine Seele“). Von anderer Art sind die typographischen Gebärden
der dritten Strophe, drei Punkte am Versende. Sie bedeuten Überschuß des
Gemeinten über das explizit Gesagte; signalisieren die Unaussprechlichkeit
einer ungekannten, entrückten Welt. In den Wörtern „seltsam“ und „Frem­
de“ , in der erstaunten Frage, wem der Kniefall gelte und aus welcher Wunde
es denn blute, sowie in der paradoxen Vorstellung vom Läuten der „Glocke
Nie“ wird die Schwierigkeit, jene andere Welt sprachlich zu bestimmen,
thematisch. Das lyrische Subjekt blutet ohne Wunde, betet ohne Adressaten
des Gebets, und die Glocke m it dem Namen Nie läutet jenseits der Zeit. Die
beschriebenen Vorgänge haben sich von ihren Ursachen bzw. Zwecken ge­
löst. Kniefall und Bluten werden als absolute, durch nichts begründete und
nichts bezweckende Geschehnisse dargestellt; die Temporalität, ohne die
kausale und finale Beziehungen nicht sein können, ist aufgehoben. Die
Sphäre, der die Bilder der dritten Gedichtstrophe entstammen, ist die
christliche von Andacht und Passion, doch ist der christliche Gehalt nicht
gewahrt. Nur der Gestus des Betenden und der Nachfolge Christi ist über­
nommen; das Gebet erstarrt zur leeren Gebärde. Die Depravierung religiöser
Gehalte durch geschichtliche Erfahrung hat das Gedicht .Schwarze Flocken4
(SU 19 20) zum Gegenstand:

Schnee ist gefallen, lichtlos. Ein Mond


ist es schon oder zwei, daß der Herbst unter mönchischer Kutte
Botschaft brachte auch mir, ein Blatt aus ukrainischen Halden:
„Denk, daß es wintert auch hier, zum tausendstenmal nun
im Land, wo der breiteste Strom fließt:
Jaakobs himmlisches Blut, benedeiet von Äxten . . .
O Eis von unirdischer Röte - es watet ihr Hetman mit allem
Troß in die finstemden Sonnen . .. Kind, ach ein Tuch,
mich zu hüllen darein, wenn es blinket von Helmen,
wenn die Scholle, die rosige, birst, wenn schneeig stäubt das Gebein
deines Vaters, unter den Hufen zerknirscht
das Lied von der Zeder. . .
Ein Tuch, ein Tüchlein nur schmal, daß ich wahre
nun, da zu weinen du lernst, mir zur Seite
die Enge der Welt, die nie grünt, mein Kind, deinem Kinde!“
Blutete, Mutter, der Herbst mir hinweg, brannte der Schnee mich:
sucht ich mein Herz, daß es weine, fand ich den Hauch, ach des Sommers.
War er wie du.
Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein.

35
Das in der Ukraine Geschehene hat nach der Botschaft der Mutter die Welt
in eine „Enge“ , in eine Totenstarre gebannt - das Motiv der Enge kehrt
dann in der .Todesfuge' wieder und schließlich in der .Engführung* aus
der kein neues Leben mehr entstehen wird. Wo Jakobs Blut geflossen ist, wo
das nach ihm Israel benannte Volk ermordet wurde, herrscht ewiger Winter.
Statt des chiliastischen tausendjährigen Reiches, welches der Faschismus zu
verwirklichen vorgab, ist tausendjähriger Winter, ewiger Tod eingetreten. Die
Verheißungen des Alten Bundes haben keine Gültigkeit mehr. Die in Isaaks
Segen (1. Mose 27, V. 29) beschlossene Verheißung, ein auserwähltes Volk
zu sein, hat sich nicht erfüllt; an die Stelle seines Segens ist der von mörde­
rischen Äxten getreten.
Stellt .Schwarze Flocken* die geschichtliche Widerlegung religiöser Ver­
heißungen dar, so macht .Schwarze Krone* (Tat), ein Gedicht von der Drastik
barocker Texte, Christus namhaft als zerstörende Gewalt:

Mit dem Blut aus den verworrnen


Wunden trankst du deine Dornen;
daß die kauernde vcrkrallle
Ang^t in allem Dunkel walle.
Meine irren Hände falte.
Alle Frohen, alle Frommen
sah ich singend zu dir kommen.
Du erschlugst sic mit dem Beile.
O das Gift von deinem Pfeile.
Meine trüben Augen heile.
In die Winde, in die scharfen,
reißl du alle sanften Harfen.
Trittst den süßen Tau der Tage. . .
Wessen Schritt - der Klang der Klage?
Mein verwehtes Tasten trage.
Mit den Schweigsamen, den vielen,
laßt du fremde Stürme spielen.
In die Stille, in die Weite,
wirfst du deine Flammenscheitc.
Meinen leisen Schlag bereite.

Die Dornenkrone Christi ist angeklagt, terroristische Herrschaft auszuüben


und sich vom Blut der Opfer - es sind die „From m en“ , die Chassidim - zu
nähren. Das christliche Weltbild ist auf den Kopf gestellt: ohne Christus
wären die Menschen frei von Angst, wäre die Welt friedlich. Wie .Schwarze
Flocken* scheint sich auch .Schwarze Krone* in die Zeiten christlicher

36
Judenverfolgungen zurückzuversetzen. Indem es von einem „Hetman“
spricht, setzt .Schwarze Flocken' den faschistischen Völkermord in eins mit
dem Massaker, das griechisch-orthodoxe Kosaken unter Juden und Polen im
Jahre 1648 verübt haben. Der Kosakenhetman (= hauptmann) Chmielnitzky
drang damals mit seinen Horden bis Gurahumora, einer Kleinstadt im Süden
der Bukowina, vor. Daß die Juden der Bukowina den faschistischen Juden­
mord in Beziehung brachten zu dem Massaker der Kosaken, belegt ein Tage­
buch: „Um Moghilew [Sammellager für die aus der Bukowina nach Trans-
nistrien verbrachten Juden, M. J.] herum, wo Chmelnitzkis Banden [. ..]
Greueltaten an Juden verübten, wiederholt sich die Geschichte“ 21. In
.Schwarze Krone' indessen handelt es sich nicht, jedenfalls nicht primär, um
eine Synopse von vergangener christlicher und gegenwärtiger faschistischer
Judenverfolgung. Der rumänische Faschismus war in seinen Anfängen aus­
gesprochen christlich orientiert. Sein Antisemitismus speiste sich nicht über­
wiegend aus rassischen, sondern aus nationalen und religiösen Vorurteilen.22
1927 gründete C. Z. Codreanu die Eliteorganisation der rumänischen Faschi­
sten und gab ihr den religiösen Namen .Legion Erzengel Michael'. Ihre Mit­
glieder, in der Mehrzahl Intellektuelle, verstanden sich als Kreuzritter und
zogen mit christlichen Emblemen durch die Städte und D örfer.23 Bei den
Wahlen im Dezember 1937 war die ,Legion' die drittstärkste Partei Rumä­
niens. Der um Hitlers Wohlwollen bemühte König Carol setzte 1940 .Legio­
näre' als Minister ein und tra f gleichzeitig antisemitische Maßnahmen. In der
Regierung Antonescu besetzten .Legionäre' die wichtigsten Ämter, bis sie
schließlich im Januar 1941 nach einem Putsch in Bukarest von Antonescu
besiegt wurden, der sie als potentielle Anarchisten fürchtete und m it Hit­
lers Unterstützung ein stabiles faschistisches Regime herzustellen bemüht
war. 24
Die Erfahrung eines christlich verbrämten Faschismus hat Celan wahrschein­
lich zur Anklage der Dornenkrone motiviert. Indessen klagt das Gedicht
Christus nicht nur an, sondern es wendet sich zugleich an ihn mit der Forde­
rung, das lyrische Subjekt zu heilen („Meine trüben Augen heile“ , „Meinen
leisen Schlag“ , d. h. einen ruhigen Herzschlag „bereite“ ) und seine Dissozia­
tion aufzuheben („irre Hände“ , „verwehtes Tasten“ .). Den Grund dafür,
sich an Christus zu wenden und somit die Idee der Erlösung ins Frühwerk
einzuführen, gibt das Gedicht .Schwarze Flocken' an mit der Metapher des
ewigen Winters und einer nie mehr grünenden Welt. Mit dem Untergang des
jüdischen Volkes scheint Geschichte besiegelt. Auch die Gefangenschafts­
metapher in den Gedichten .Schlafendes Lieb' und .Irrsal', das Bild einer
versteinerten Welt in ,Am letzten Tor' (SU 21) sowie die Adaptation des
Hesiodschen Mythos einer Geschichte des Verfalls in ,Der Pfeil der Artemis'

37
(SU 15 2S) sind Indizien dann, daß die Realität als verschlossen, ausweg­
los und todverfallen angesehen wird. Die Möglichkeit des Wandels, einer
Veränderung der Welt scheint abgeschnitten. Nur noch Erlösung vermöchte
sie zu retten.
Vermöchte - nicht vermag. Wo Celans Gedichte, nicht nur die frühesten,
Erlösung postulieren, sind sie nicht religiös. Sie artikulieren Erlösungsöerfwr/-
tigkeit und nicht einen wie immer auch ,absurden1 Glauben an Erlösung. Ob
Erlösung sein wird oder nicht, ist Celans Gedichten wenn nicht gleichgültig,
so doch nicht ihr Problem. Die Artikulation von Erlösungsbedürftigkeit ist
in ihnen der äußerste Ausdruck von Verzweiflung: Verzweiflung nämlich
über die Erlösungsbedürftigkeit selber, das heißt über die Ohnmacht mensch­
licher Tröstungsversuche angesichts des erfahrenen Leidens.

3.

Auch die zwischen 1945 und 1948 entstandenen Gedichte, die mit wenigen
Ausnahmen als der erste Zyklus des Bandes Mohn und Gedächtnis bekannt
geworden sind26, konvergieren im Motiv des Traums. Daß sie aber schon auf
den ersten Blick objektiver, distanzierter — auch schwerer verständlich —
erscheinen, ist begründet im Wandel der Bestimmungen des Traums. Wäh­
rend die früheste Lyrik seine transitorische Trostfunktion thematisiert, stellt
die spätere ihn als Medium des Protests und der Auflehnung dar. Sieht in der
frühesten Lyrik das Subjekt angesichts einer Realität, die unabänderlich in
ewigen Winter gefallen zu sein scheint, seine Handlungsmöglichkeiten einge­
schränkt auf Gesten des Leidens und intentionslose Zeremonien27, so tritt es
nun der Realität mit destruktiver Aggressivität entgegen. Die Dynamik vieler
Gedichte dieser Periode, die sich in der reimlosen daktylischen Langzeile28
eine Ausdrucksform schafft, hat ihren Ursprung darin, daß der Anspruch der
Träume auf Verwirklichung mit Vehemenz verfochten wird. Doch ist auch
diese Aggressivität nicht nur ihrer bevorzugten Darstellungsform, sondern
ihrem eigenen Gehalt nach gestischer Natur, Gebärde, die kaum darauf zu
hoffen wagt, daß menschliche Kräfte ausreichen, um die utopischen Wunsch­
bilder des Traums Wirklichkeit werden zu lassen.
Der Zweifel an der Wirksamkeit menschlichen Handelns ist in einem Teil der
Gedichte objektiv begründet in der Verfassung der beschriebenen Realität:
der von Auschwitz, in einem anderen Teil jedoch in der freilich exogen
geprägten Konstitution der protestierenden Subjektivität selber: in Melan­
cholie. Die Erfahrung der Unmöglichkeit, in einer bestimmten historischen

38
Situation zu handeln, und melancholischer Handlungsverzicht, der diese
Situation gleichsam fixiert und im Bewußtsein beibehält, während sie fak­
tisch nicht mehr oder doch nur noch bedingt besteht, treten in der Lyrik des
Zyklus ,Mohn und Gedächtnis' zusammen und zeitigen zwei verschiedene,
komplementäre Typen von Gedichten: einen aggressiv-polemischen und ei­
nen melancholisch-resignativen. Den ersten repräsentieren am deutlichsten
zwei Gedichte, die sich m it der Metapher der Mühle auf die faschistischen
Vernichtungslager beziehen. In ,Das Gastmahl' (SU 44 / MuG 21) heißt es:

es schießt wohl empor uns ein Moos noch, eh von der Mühle sie hier sind,
ein leises Getreide zu Anden bei uns ihrem langsamen Rad .. .

,Spät und tief' (SU 52 f. / MuG 31 f.) spricht von den Mühlen des Todes:

Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung,
ihr setzet es vor unsern Brüdern und Schwestern -

Die Mühle ist ein klassischer Bestandteil der Totenlandschaft. Bei Novalis ist
ausdrücklich von der „furchtbare(n) Mühle des Todes“ die Rede.29 Bedeutete
aber früher die Mühle den Tod wohl wegen der atomisierenden, Or­
ganisches zerstörenden Kraft des Mahlens, so ist in jüngster Zeit, ein Beispiel
für den historischen Wandel von Topoi, eine neue Bedeutung hinzugetreten:
die Mühle wurde zur Metapher einer m it technischer Präzision funktionie­
renden Vemichtungsmaschinerie. Nachweislich wurden die Gaskammern
Todesmühlen genannt: „Kästner [. ..] bat Eichmann: .Stoppen Sie die Todes­
mühlen in Ausschwitz!' “ 30
In Erwartung dessen, daß die von der Mühle kommen werden, heißt es im
,Gastmahl':

Geleert sei die Nacht aus den Flaschen im hohen Gebälk der Versuchung,
die Schwelle mit Zähnen gepflügt, vor Morgen der Jähzorn gesät:
es schießt wohl empor uns ein Moos noch, eh von der Mühle sie hier sind,
ein leises Getreide zu Anden bei uns ihrem langsamen Rad . . .

Unter den giftigen Himmeln sind andere Halme wohl falber,


wird anders der Traum noch gemünzt als hier, wo wir würfeln um Lust,
als hier, wo getauscht wird im Dunkel Vergessen und Wunder,
wo alles nur gilt eine Stunde und schwelgend bespien wird von uns,
ins gierige Wasser der Fenster geschleudert in leuchtenden Truhen — :
es birst auf der Straße der Menschen, den Wolken zum Ruhm!
So hüllet euch denn in die Mäntel und steiget mit mir auf die Tische:
Wie anders sei noch geschlafen als stehend, inmitten der Kelche?
Wem trinken wir Träume noch zu, als dem langsamen Rad?

39
Es hat in den Lagern äußerst selten Aufstände gegeben, und das nicht
nur wegen ihrer Aussichtslosigkeit. Überlebende haben berichtet von der
völligen Apathie der Gefangenen, ihrer Verwandlung gleichsam in Mari­
onetten, die keines Widerstandes mehr fähig waren; sogar die Selbstmordzif-
fem waren in den Lagern niedrig. Daß die Menschen ausgelöscht waren,
noch ehe sie in den Tod gingen, ist einer der Schrecken von Auschwitz:
„Rien n’est plus terrible que ces dSfiles de gens qui vont äla mort comnie des
mannequins4'.31 Schon bei lebendigem Leib verloren die Opfer nahezu
alles, wodurch sie sich als Menschen bestimmten. Sie waren auf bloße Reak­
tionsbündel reduziert. — Mißt man Celans Gedicht an dieser Tatsache, so
muß man wohl zu dem mehrfach über die ,Todesfuge' gesprochenen Urteil
gelangen, die historische Wirklichkeit werde ästhetisiert und damit verharm­
lo st.32 Indessen versucht das ,Gastmahr ebensowenig wie die durchweg im
Zitatstil geschriebene .Todesfuge'33, die Situation und Verhaltensweise von
KZ-Häftlingen wirklichkeitsgetreu zu beschreiben. Die Gedichte geben nicht
vor, Dokumente oder unmittelbarer Ausdruck zu sein, sondern sind in sich
als Gedichte reflektiert, indem sie mittels der Technik des Zitierensvon der
Möglichkeit und Unmöglichkeit handeln, über Auschwitz in der überliefer­
ten literarischen Sprache zu reden. Im Aufgreifen desTopos von der Todes­
mühle kündigt sich diese Intention im ,Gastmahl' an. Die Teilnehmer des
Symposions stellen durch ihr Verhalten e contrario klar, daß dem Topos der
Todesmühle, sofern er mit Vorstellungen wie derjenigen vom Schnitter Tod
assoziiert und in diesem Sinn auf Auschwitz angewandt wird, die Funktion
zufällt, den Tod in den Lagern als überzeitlich-schicksalhaftes Ereignis auszu­
geben und Schicksalsergebenheit zu erzeugen. Können sie nicht verhindern,
der Mühle „ein leises Getreide“ zu sein, so weigern sie sich doch, ihren Tod
als natürliches Schicksal allen Lebens zu verstehen, indem sie auf ihrer Schwel­
le Jähzorn säen, den die von der Mühle (das Pluralpronomen „sie“ wird von
Celan sehr häufig pejorativ und speziell in Beziehung auf die Faschisten ge­
braucht) mitsamt dem Menschen-Getreide ernten werden. Wie in polemi­
scher Beziehung auf das Sprichwort, daß gegen den Tod kein Kraut ge­
wachsen sei, lassen sie ein Moos wachsen, das den Protest gegen ihre Ver­
nichtung symbolisiert. Mit dem wiederholten Bild vom „langsamen Rad“ ,
das bei Celan später am Anfang der ,Engführung4 wiederkehren wird, ist
auf den zum geflügelten Wort gewordenen Vers Logaus von Gottes Mühlen,
die langsam mahlen, angespielt. Die Vernichtungsangestellten mögen sich
seiner ebenso zynisch bedient haben wie nachweislich des gleichfalls im lite­
rarischen Barock beheimateten Topos - den die .Todesfuge4 aufgreift - ,
daß Menschen wie Rauch in die Luft steigen. Was einst Metapher war, ist
Wirklichkeit geworden 34, und unter diesem Aspekt scheint Auschwitz einen

40
Teil der kulturellen Überlieferung unrettbar depraviert zu haben. Indem Ce­
lan aber den ideologischen Gebrauch von Topoi als solchen kenntlich macht,
vermag er in der überlieferten Sprache von Auschwitz zu reden. Damit bestrei­
tet er, daß die bürgerliche Kultur a priori affirmativ sei. Nicht Kultur als solche
und auch nicht ihre Instrumentalisierung schlechthin — denn diese könnte
ja emanzipatorische Interessen wahmehmen —, aber ihre Instrumentali­
sierung für eine faschistische Praxis ist der Gegenstand von Celans Kritik. Es
ist der Lagerleiter, der in der ,Todesfuge‘ sein Tun in Übereinstimmung
sieht mit Kultur; der im Komponisten, dem „Meister aus Deutschland“ , des­
sen Werk die Juden spielen müssen, sein eigenes Ebenbild wahrnehmen zu
können glaubt: den Tod. 35
,Das Gastmahl4 wendet sich nicht nur gegen die Appropriation bürgerlicher
Kultur und Sprache durch den Faschismus, sondern zugleich gegen die Reli­
gion, sofern sie als Mittel zur Disziplinierung eingesetzt wird. Gegen den mit
dem Vaterunser erlernten Wunsch, nicht in Versuchung geführt zu werden,
steht programmatisch der Anfang des Gedichts, der ein Bekenntnis zur Nacht,
zur Macht der Finsternis, zum Bösen ist. 36 Der Topos vom gütigen Himmel
wird lästerlich abgewandelt zur Rede von „giftigen Himmeln“ , die keines­
wegs nur metaphorisch zu verstehen ist, sondern sich auf die aufsteigenden
Giftgase der Krematorien bezieht. Nicht G ott, sondern „den Wolken zum
Ruhm “ handeln die Teilnehmer des Gastmähls. Sie beanspruchen, den Sün­
denfall wiederholend, G ott gleich zu sein, indem sie sich über die „Menschen“
erheben — eine Erhebung, die sich gestisch im Besteigen der Tische aus­
drückt. Gegen christliche Lustfeindschaft schließlich37 ist das Bekenntnis
zur Lust gerichtet, das mit der Bejahung des Zeitlichen statt des Ewigen, der
Vergänglichkeit anstelle der Dauer verbunden wird („alles nur gilt eine Stun­
de“). Der Traum gilt den Zechenden als Münze im Spiel um Lust; als Münze,
die sich eintauschen läßt gegen „Vergessen und Wunder“ , also dazu verhilft,
die Erinnerung an das Wahrscheinliche auszulöschen und das Wunderbare
herauszufordern. Gegen das konservative Verdikt über die Utopie, bloße
Phantastik zu sein, stellen die Teilnehmer des Gastmahls die Bejahung des
nie Gewesenen und keiner bisherigen Erfahrung Entsprechenden. Gegen das
christliche Verdikt über die sinnliche Welt, das alles Glücksstreben von der
materiellen auf die geistige Welt abzulenken versucht, stellen sie die Lust.
Diese widerspricht in der Weise, in der sie in Celans Gedicht dargestellt ist,
dem Konservatismus, weil sie die Gegenstände, an denen sie sich entzündet,
nicht in Besitz zu verwandeln und zu bewahren versucht, sondern verächt­
lich von sich stößt, sobald sie sich an ihnen befriedigt hat; ja ihre Verach­
tung und Zerstörung selber, ihre Dedikation an die Vergängnis, ist den Teil­
nehmern des Gastmahls höchste Lust.

41
Wiewohl am Schluß des ,Gastmahls* mit der Frage: „Wem trinken wir
Träume noch zu, als dem langsamen Rad? “ die Ohnmacht des Protests
angesichts dessen, daß die Todesmühlen weitermahlen, eingestanden und der
Möglichkeit ins Auge gesehen wird, daß der Trinkspruch keinen Adressaten
mehr finden wird als die Todesmühlen selbst, verebbt das Gedicht doch
nicht in Resignation. Während in den Desillusionsgedichten der frühesten
Periode die Träume wie Schaum zerfallen, so daß am Ende nichts verbleibt
als die Klage darüber, daß jede Glücksmöglichkeit verwehrt sei, werden sie
hier als ein Potential verstanden, das zwar nicht die vorhandene Wirklichkeit
zu verwandeln, wohl aber gegen deren Apologie Einspruch zu erheben ver­
mag. Die Träume sind hier nicht mehr nur Illusionen, die um der Entlastung
vom Leiden, um des vorübergehenden Trostes über eine unerträgliche Reali­
tät willen aufgesucht werden; in dieser Funktion sind sie ohne Konsistenz.
Sie werden vielmehr, indem sie als Lustgewinn verstanden sind, dessen er­
klärtes Ziel der Aufstand („steiget mit mir auf die Tische“ ) gegen die be­
stehende Form von Zivilisation ist („Straße der Menschen“ ), zum Medium
der Forderung nach einer radikalen Veränderung der gegenwärtigen Lebens­
verhältnisse. Das belegt auch das Gedicht .Marianne* (SU 29 / MuG 10), in
dem wie im ,Gastmahl‘, aber in anderer Bedeutung, die Münzmetapher für
den Traum verwendet ist:
Nun klingt auf den Riesen der Well der harte Taler der Träume.

Auf den „Fliesen der Welt“ verschafft sich der harte, wertbeständige „Taler
der Träume“ Gehör und verlangt, eingelöst zu werden gegen die Verwirk­
lichung der Träume.

Wenn Celan in der zwischen 1945 und 1948 entstandenen Lyrik, und nur in
dieser Zeit, Lust ins Feld führt sowohl gegen den soziales Unrecht verklären­
den Gebrauch von Kultur als auch gegen den von einer falschen Praxis
ablenkenden Charakter bestimmter kultureller Inhalte, die von der Religion
vertreten werden, knüpft er an die von der Rezeption Freuds bestimmte
Kulturkritik der Surrealisten an .38 Ob er sich schon damals mit Freud selbst
befaßt hat, ist nicht zu entscheiden; nachweisbar ist seine Beschäftigung mit
Freud erst in den späten Gedichten , . . . auch keinerlei* (FS 95) und ,Wirf
das Sonnenjahr* (FS 97), die Montagen von Zitaten aus dem Essay .Jenseits
des Lustprinzips* sind.39 Ungeachtet dessen, ob Celan schon zur Entste­
hungszeit des ersten Zyklus von Mohn und Gedächtnis mit Schriften Freuds
vertraut war, ist ein kurzer Vergleich des ,Gastmahls* mit Freudschen Posi­
tionen aufschlußreich für Celans Ansatz. Wohl in Anlehnung an die surrea­
listische Parteinahme für das Wunderbare (es sei erinnert an Bretons erstes

42
Manifest des Surrealismus) bindet Celan die Verwirklichung von Lust an
„Vergessen und Wunder“ und setzt damit ihre Unvereinbarkeit mit der em­
pirischen Welt nicht schlechthin, wohl aber in der gegenwärtigen Verfassung
voraus. Das scheint zunächst Freud zu entsprechen, der ja den Lustgewinn,
den der Traum vermittelt, nicht nur als beschwichtigendes Surrogat für die
Versagungen in der Realität, sondern auch als Bedrohung für die bestehende
Kultur erkannt hat. Indessen stimmen beide nur in der Diagnose, nicht in
den Konsequenzen überein. Während Freud die Bändigung des Lustprinzips
als kulturelle Notwendigkeit ansah, bejaht Celan im Einverständnis mit den
Surrealisten seine freie Entfaltung zur destruktiven Kraft. Freud, dessen
berühmte Formel: „Wo Es war, soll Ich werden“ 40 nicht einfach als Auf­
forderung zur Triebunterdrückung verstanden werden darf, war der Ansicht,
daß zwischen dem vom Lustprinzip geleiteten Es und dem vom Realitäts­
prinzip geleiteten Ich eine Vermittlung möglich sei, und zwar in der Weise,
daß die Zähmung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip das erstere
gleichsam gesellschaftsfähig mache und ihm so seine Verwirklichung allererst
ermögliche: „Indem es [das Ich] die Regungen des Es [ . . . ] bändigt, ersetzt
es das früher allein maßgebende Lustprinzip durch das sogenannte Realitäts­
prinzip, das zwar dieselben Endziele verfolgt, aber den von der realen
Außenwelt gesetzten Bedingungen Rechnung trägt.“ 41 Bei Celan ist die
historische Basis für die Annahme, daß das Realitätsprinzip die Interessen
des Lustprinzips wahrnehmen könne, zerschlagen. Die „von der realen
Außenwelt gesetzten Bedingungen“ , denen das Realitätsprinzip Rechnung
trägt, bestehen bei ihm in der Erfahrung von Auschwitz, das heißt in der
Erfahrung, daß die vorhandene Realität jede Verwirklichung von Lust strikt
verweigert. Damit tritt bei ihm das Realitätsprinzip in unversöhnlichen Ge­
gensatz zum Lustprinzip. Würde unter Celans Voraussetzungen Ich werden,
wo Es war, bedeutete das die totale Unterdrückung von Lust. Er muß die
Lust an „Vergessen und Wunder“ , an die Negation des Realitätsprinzips
binden, um nicht der resignativen Anpassung an die vorhandene Wirklichkeit
das Wort zu reden. Die völlige Abspaltung der Lust von der Prüfung an den
„von der realen Außenwelt gesetzten Bedingungen“ ihrer Verwirklichung ist
also unter Celans historischen Prämissen paradoxerweise gerade der Versuch,
den Anspruch der Lust auf Verwirklichung festzuhalten. Ihre Befreiung von
der Bindung an „Vergessen und Wunder“ , die Kooperation von Lust- und
Realitätsprinzip, wie Freud sie konzipiert hat, bedarf der Erfahrung des
frühen Celan zufolge einer anderen, noch nicht seienden Wirklichkeit.

Diese andere Wirklichkeit fordert das zweite Todesmühlen-Gedicht, ,Spät


und tie f, mit dem Pathos der Beschwörung:

43
Boshaft wie goldene Rede beginnt diese Nacht.
Wir essen die Apfel der Stummen.
Wir tuen ein Werk, das man gern seinem Stern überlaßt;
wir stehen im Herbst unsrer Linden als sinnendes Fahncurot,
als brennende Gaste vom Süden.
Wir schworen bei Christus dem Neuen, den Staub zu vermählen dem Staube,
die Vögel dem wandernden Schuh,
unser Herz einer Stiege im Wasser.
Wir schwören der Welt die heiligen Schwüre des Sandes,
wir schwören sie gern,
wir schwören sic laut von den Dächern des träum losen Schlafes
und schwenken das Weißhaar der Zeit. . .
Sie rufen: Ihr lästert!
Wir wissen cs langst.
Wir wissen es langst, doch was tuts?
Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung,
ihr setzet es vor unsern Brüdern und Schwestern
Wir schwenken das Weißhaar der Zeit.
Ihr mahnt uns: Ihr lästert!
Wir wissen es wohl,
es komme die Schuld über uns.
Es komme die Schuld über uns aller warnenden Zeichen 43,
cs komme das gurgelnde Meer,
der geharnischte Windstoß der Umkehr,
der mitternächtige Tag,
cs komme, was niemals noch war!
Es komme ein Mensch aus dem Grabe.

In den ersten beiden Zeilen wird das auch im ,Gastmahl4 ausgespro­


chene Bekenntnis zur Wiederholung des Sündenfalls wieder aufgenommen.
Der Sündenfall, der darin besteht, die „Äpfel der Stummen“ zu essen, wird
bejaht gegenüber einer anderen Versuchung: derjenigen durch die „N acht“ ,
die hier, wie im ,Gastmahl1, die Macht der Finsternis, das Böse bezeichnet,
aber mit entgegengesetztem Vorzeichen. Während sie im ,Gastmahl4 das
Böse im religiösen Verstände meint, mit dem die Zechenden sich in Opposi­
tion gegen die theologische Moral einverstanden erklären, bedeutet sie hier
ein Böses, von dem sich die Sprechenden distanzieren. Dieses Böse ist, wie
sich erweisen wird, nicht das von den Religionen angeprangerte, sondern die
christliche Religion selber. - Auch auf den salomonischen Spruch ist ange­
spielt, von dem sich wohl der Topos von ,goldenen Worten4 herleitet: „Ein
Wort, geredet zu seiner Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen“
(Sprüche 25, V. 11). Dieser Vergleich wird in Celans Versen dissoziiert und
seiner Tendenz nach umgekehrt. Das Epitheton „golden“ wird zur Meta­

44
pher für verführerisches Reden, dem sich diejenigen, die „die Äpfel der Stum­
men“ essen, widersetzen. Gleichsam vom Baum der Erkenntnis essend und
damit in den Stand gesetzt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, er­
kennen sie die Boshaftigkeit „goldener Rede“ , die darin besteht, „in den
Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung“ zu mahlen, d. h. den
Tod als Übergang ins ewige Leben zu preisen und damit, sei es auch unge­
wollt, die Todesmühlen von Auschwitz zu sanktionieren. Das Gedicht kriti­
siert diesen Modus von Affirmation der Barbarei mit einer drastischen Meta­
pher. Den „Brüdern und Schwestern“ derer, die aus Protest gegen pfäffische
„goldene Rede“ die „Äpfel der Stummen“ essen, wird das in den Todesmüh­
len gemahlene Mehl — das Knochenmehl der Ermordeten — vorgesetzt wie
das Brot des Abendmahls. Sie sollen glauben, „wer dies Brot isset, der wird
leben in Ewigkeit“ (Joh.6, V. 58). Gegenüber der Verheißung ewigen Lebens
im Jenseits insistieren die Sprechenden auf Zeitlichkeit und Vergänglichkeit
(„den Staub zu vermählen dem Staube“ , „die heiligen Schwüre des Sandes“ ,
„Weißhaar der Zeit“) und fordern sie, daß ein Mensch aus dem Grabe kom­
m e43; daß er von den Toten ins irdische Leben zurückkehre. Diese Forde­
rung ist, wie die ihr keineswegs widersprechende Insistenz auf dem Zeit­
lichen gegenüber dem Ewigen, Lästerung, weil sie die christliche Sinngebung
des Todes, sei es als Übergang ins ewige Leben, sei es als der Sünde Sold,
negiert. Doch vom Vorwurf der Lästerung lassen sich die Sprechenden so
wenig einschüchtern wie von der Drohung einer Sintflut, der äußersten
Strafe Gottes. Vielmehr fordern sie selbst eine Sintflut als Möglichkeit der
Erneuerung in einer Zeit, die als Greisenalter der Geschichte („Weißhaar der
Zeit“) bestimmt ist.
Das Gedicht ist nicht nur Kritik an der Theologie, sondern schließt zugleich
in zustimmender Weise an die jüdisch-christliche Apokalyptik an, wenn es
der gealterten und ihrem Ende zugehenden Zeit die Vision eines „m itter­
nächtigen Tags“ , der „Umkehr“ und der Großen Flut gegenüberstellt, ln
dualistischer Radikalität begegnet es der bestehenden Wirklichkeit mit dem,
„was niemals noch war“ , und setzt mit der Forderung nach einer Weltkata­
strophe voraus, daß es keine historische Kontinuität, auch nicht im Sinne
einer dialektischen Progression, zwischen dem Bestehenden und der verwirk­
lichten Utopie gebe. Die Herstellung des utopischen Zustandes verlangt dem
Gedicht zufolge, daß eine Sintflut tabula rasa m acht44; sie vollzieht sich als
Suspension der Gesetze der Empirie und als Beginn eines absolut Neuen, nie
Gewesenen. Als Vollstrecker dieses ganz Anderen wird Christus der Neue
genannt, also ein Christus, der nicht der Jesus Christus der christlichen
Theologie ist, aber doch ein mehr als nur menschliches Subjekt, wenn nicht
der Messias des Judentums. Theologische Vorstellungen nimmt Celans Ly­

45
rik, die sich wie die materialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts an der
Kritik von Theologie geradezu entzündet, durchaus in ihren Dienst, sofern
sie dem Wunsch nach einer radikalen Veränderung der bestehenden Verhält­
nisse Ausdruck verleihen können. Auch die Forderung, daß ein Mensch aus
dem Grabe komme, ist in der Theologie beheimatet als Dogma der Aufer­
stehung des Fleisches, und Celan richtet sich lediglich gegen seine Spirituali-
sierung. durch die es zum Trost über den physischen Tod w ird.45 Exakt ist
in seiner Lyrik unterschieden zwischen apologetischen und kritischen Mo­
menten der religiösen Bilderwelt. Indessen setzt der Protest gegen eine in­
humane Realität, indem er sich in apokalyptischen Bildern formuliert, vor­
aus, daß Menschen nicht imstande sind, den Status quo zu verändern. Mit
dem standhaften Postulieren, daß es anders sein soll, hat nach der Überzeu­
gung des frühen Celan die Widerstandsleistung der Menschen schon die Gren­
ze üirer Möglichkeiten erreicht.
Daran Kritik zu üben hieße, den Erfahrungsgehalt der Gedichte zu ignorie­
ren. Angesichts einer Realität, die getreu dem in der frühesten Lyrik ausge­
sprochenen Verdikt der Mutter, daß die Welt „nie grünt, mein Kind, deinem
Kinde“ (.Schwarze Flocken1), ohne Hoffnung auf Restitution von Leben
wahrgenommen ist, muß sich als Wunder und Erlösung darstellen, was doch
nur auf dem Wege des verändernden Eingriffs von Menschen herzustellen ist.
Der Protest, den der beschriebene erste Typus von Gedichten im Zyklus
,Mohn und Gedächtnis1 artikuliert, gründet in der Erfahrung der Handlungs­
ohnmacht gegenüber dem Faschismus und will resignativer Apathie entge­
genwirken, indem er der bestehenden Wirklichkeit die Utopie eines ganz
Anderen als unveräußerliche und unverzichtbare entgegenhält. Auf eine
Wirklichkeit, in der alles Handeln vergeblich zu sein scheint, reagieren die
Gedichte mit der Forderung nach Aufhebung der Naturgesetze selber; nach
dem mitternächtigen Tag und Auferstehung der Toten, ln paradoxen For­
mulierungen wie diesen besteht die oft gerühmte Faszination der Gedichte
der hier behandelten Periode, und gerade wegen der nachweislich starken
Wirkung auf den Leser sind diese Stil formen auf ihre mögliche soziale Funk­
tion hin zu prüfen. In ihrem Kontext stehen sie als Desiderate: der m itter­
nächtige Tag soll kommen, ein Mensch soll aus dem Grabe kommen. Mit
diesen Desideraten wird sich jeder identifizieren, sei es, weil sie den Charak­
ter von Sensationen (mitternächtiger Tag) haben, sei es, weil sie die allge­
meinsten Wünsche (es soll kein Tod sein) ansprechen. Sie können zugleich
als völlig unverbindlich mißverstanden werden, weil niemand das Geforderte
verwirklichen, weil kein Mensch die Naturgesetze aufheben kann. Das läßt
sich präzisieren an dem schon erwähnten Aphorismus aus .Gegenlicht1:

46
Man redet umsonst von Gerechtigkeit, solange das größte der Schlachtschiffe nicht an
der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt ist.

Kaum jemand von Celans Lesern, der nicht als moralische Person gegen den
Krieg, gegen Schlachtschiffe, und solidarisch mit den Opfern, hier mit dem
Ertrunkenen, wäre. Auch mit der Pointe des Aphorismus, mit der Forde­
rung, daß das Schwächste das Stärkste sein soll, werden die meisten einver­
standen sein. Das Bild einer zum Richtigen verkehrten Welt, wie es auch die
Apokalyptik etwa in der Verheißung kennt, daß die Letzten die Ersten sein
werden, wendet sich nicht an die politisch handelnde Person und ist — das
ist der entscheidende Punkt — m it seinem Verweis auf ein wunderbares,
nicht menschenmögliches Geschehen dem Mißbrauch im Interesse eskapisti-
scher Tendenzen preisgegeben. Gefordert ist das Unmögliche, die Aufhe­
bung physikalischer Gesetze, und so mächtig der moralische Appell ist, so
sehr ist er geeignet, latente Ohnmachtsgefühle beim Leser zu unterstützen.
Einer solchen falschen Identifikation ist mit der Betonung der historischen
Genesis der Gedichte zu begegnen. Die Frage nach einer hic et nunc zu
realisierenden Gerechtigkeit kann Celan unter seinen Voraussetzungen nicht
anders beantworten als durch den Verweis auf ein Wunder. Denn wo ange­
sichts des faschistischen Terrors jegliches Handeln als vergeblich oder un­
möglich erfahren worden ist, entsteht notwendig der Schein, daß etwas
qualitativ anderes als menschliches Handeln vonnöten sei, um das Gefor­
derte zu verwirklichen. Im Unterschied zur Lyrik seit dem Meridian, die
noch ausführlich zur Sprache kommen wird, ist im Früh werk die Abstinenz
der Gedichte von der Frage nach dem Wie politischer Praxis noch nicht
kunsttheoretisch begründet als Modus, in dem eine von Celan durchaus poli­
tisch explizierte Kunstautonomie sich hersteilen soll, sondern diese Absti­
nenz erscheint hier nur erst als Konsequenz einer bestimmten historischen
Erfahrung. Von dieser ihrer historischen Begründung darf die frühe Lyrik
nicht getrennt werden, wenn anders sie nicht zum Opfer sei es eskapisti-
scher, sei es aktionistischer Interpretationsansätze werden soll, die, wenn
auch kontrovers in der Wertung einer Kunst wie derjenigen Celans, einig sind
in deren Verabsolutierung gegenüber ihren sozialen und politischen Ent-
stehungsb edingungen.

Vom aggressiv-polemischen Gedichttypus hebt sich im Zyklus ,Mohn und


Gedächtnis4 ein melancholisch-resignativer ab, der sich als unbewußter Ver­
such verstehen läßt, die erfahrene Ohnmacht gegen den Faschismus und
seine organisierte Vernichtung von Menschen nachträglich zu rechtfertigen.
Daß es einer solchen Rechtfertigung nicht bedarf, weil für die Betroffenen

47
objektiv keine Möglichkeit eines wirksamen Widerstandes bestanden hat, ist
ein an sich richtiges Argument, das sich indessen der angemessenen Einschät­
zung psychischer Prozesse verschließt. Die neuere Psychiatrie hat bei
KZ-Häftlingen, die der Vernichtung entkommen konnten, schwere Depres­
sionen festgestellt, die auf dem sogenannten „Ubcrlebensschuldgcfiihl**
(survivor guilt) beruhen46: der Überlebende lastet es sich als Verrat an den
Ermordeten an, daß er nichts gegen ihrenTod getan habe und selber entkom ­
men ist. Er versucht, diese seine vermeintliche Schuld zu sühnen, indem er
durch psychische und physische Maßnahmen der Sclbstisolierung, des Ver­
schwindens und Sichvcrbcrgcns, symbolische Tode stirbt, die ihm seine
Handlungsohninacht immer aufs neue beweisen. Der melancholische Ge­
mütszustand, der auf einer Handlungshcmmung ebenso beruht, wie er diese
wiederum erzeugt, läßt sich als eine solche symbolische Todesart ver­
stehen.47 Indessen ist zu unterscheiden zwischen Melancholie als einer so­
zial psychologischen Voraussetzung von Celans früher Lyrik und der explizi­
ten Darstellung von Melancholie in den Gedichten. Indem sie beim frühen
Celan als literarisches Sujet auftritt, eröffnet sich die Möglichkeit, die Welt
des Melancholikers gemäß jener Tradition, die ihr die Fülle alles Lebendigen
und Schönen zuschrcibt, als affirmativ gesetzte Gcgcnwclt, als Fluchtbcrcich
darzustcllen, in dem die Versagungen der Realität vermeintlich aufgehoben
sind. Celan nimmt diese Möglichkeit offensichtlich wahr, wenn er Schwer­
mut sowohl mit Schönheit als auch mit Leben assoziiert. So heißt cs in ,Das
Geheimnis der Farne* (SU 38 / MuG 17):
Auch wird hier in Krügen kredenzt die lebendige Schwermut:
blumig finstert sic hoch, eh sic trinken, als war sic nicht Wasser,
als w-är sic ein Tausendschön hier 1 . . . 1

Und im .Gesang zur Sonnenwende* (SU 43):


O steinerne Masten der Schwermut! O ich unter euch und lebendig!
O ich unter euch und lebendig und schön l . . . 1
Zwar werden im letzteren Beispiel Schönheit und Lebendigkeit der Schwer­
mut entgegengesetzt, aber es ist doch zugleich die steinerne Last der Schwer­
mut, durch die das Ich sich seiner Schönheit und Lebendigkeit allererst
versichert glaubt. Am weitesten geht, so scheint es jedenfalls zunächst, das
Gedicht »Umsonst* (SU 27 / MuG 9) in der Verherrlichung von Melancholie:

Umsonst malst du Herzen ans Fenster:


der Herzog der Stille
wirbt unten im Schloßhof Soldaten.
Sein Banner hißt er im Baum - ein Blatt, das ihm blaut, wenn cs herbstet;
die Halme der Schwermut verteilt er im Heer und die Blumen der Zeit;
mit Vögeln im Haar geht er hin zu versenken die Schwerter.

48
Umsonst malst du Herzen ans Fenster: ein Gott ist unter den Scharen,
gehüllt in den Mantel, der einst von den Schultern dir sank auf der Treppe, zur Nacht­
zeit,
einst, als in Flammen das Schloß stand, als du sprachst wie die Menschen: Geliebte . . .
Er kennt nicht den Mantel und rief nicht den Stern an und folgt jenem Blatt, das
vorausschwebt.
,0 Halm1, vermeint er zu hören, ,o Blume der Zeit'.

In dem G ott, der unter den mit „Halmen der Schwermut“ und „Blumen der
Zeit“ bewaffneten Scharen des „Herzogs der Stille“ weilt, erkennt das zu
sich selbst redende lyrische Subjekt sich selbst wieder. Als G ott trägt es
wieder den Mantel, den es verlor, als es „wie die Menschen: Geliebte“ sagte.
„Umsonst“ ist sein Versuch, sich dadurch, daß es die Fensterscheiben mit
Herzen bemalt, den Blick auf den Hof zu versperren48 und dem als Liebe
bestimmten Menschsein treu zu bleiben. — Die Differenzierung, die das
lyrische Subjekt zwischen sich als „G ott“ und als „Mensch“ trifft, ent­
spricht in geradezu verblüffender Weise der psychoanalytischen zwischen
Ichideal und Ich, die für die Erklärung der Melancholie von größter Bedeu­
tung ist. Der psychische Sachverhalt, daß bei der Melancholie das Über-Ich
oder Ichideal „zu einer Art Sammelstätte der Todes triebe“ 49 wird und sich
gegen das Ich richtet, welches seinerseits erst in der Selbstaufgabe seinem
Ichideal genügen zu können glaubt50, heißt in der Sprache von Celans Ge­
dicht: der „G ott“ verlangt vom „Menschen“ , sich aufzugeben.51 Das Sichver-
hüllen („gehüllt in den Mantel“ ) ist Metapher des melancholischen Wun­
sches, das Ich, den „Menschen“ , verschwinden zu lassen, im äußersten Fall
durch Suizid.
Wie das ,Gastmahl‘ („es birst auf der Straße der Menschen“ ) distanziert sich
auch .Umsonst* von den „Menschen“ . Aber während die Distanzierung sich
im ,Gastmahl* ausweisen ließ als bestimmte Negation von Unmenschlichkeit
wie des Gebots, nicht der Versuchung stattzugeben, wie G ott sein zu wollen;
während sie dort zu verstehen war als Antwort auf eine bestimmte histori­
sche Form von Inhumanität und deren ideologische Rechtfertigung, fällt sie
in .Umsonst* zusammen mit der Negation des Menschlichen überhaupt und
der Tendenz zur Feier von Melancholie als Reservat, in dem man irgendwie
mehr wäre als nur „Mensch“ . Was in der Melancholie gewonnen ist, scheint
mehr zu sein, als die Menschenwelt schlechthin gewähren kann; mehr als
menschliche Liebe, die sich durch einen anderen Menschen, die „Geliebte“ ,
motiviert. Eine stärkere Legitimation kann sich kein Melancholiker geben als
die, daß er seinem göttlichen Teil folge. Ihm scheint die Chance geboten, in
eine andere Welt einzugehen. Fast möchte man das Gedicht, das in höchst
suggestiver Weise die Möglichkeit beschreibt, zwar nicht einer blauen Blume,

49
aber einem blauen Blatt in ein ungewisses Jenseits zu folgen, als Allegorie
der Rczeptionsgeschichtc lesen; möchte man die Scharen des „Herzogs der
Stille“ als Präfigurationen derjenigen Interpreten deuten, die den Blick em­
porrichten zu jenem Eigentlichen und Reinen, von dem Celan angeblich
kündet. Daß aber das Gedicht trotz seiner nicht unproblematischen Tendenz
von diesen Interpreten mißverstanden ist, zeigt die Unangemessenheit einer
Paraphrase: „Umsonst stellst du Gefühls-Klischees aus; als ,Herzog der Stille4
stehst du schon im Schloßhof, d. h. im Vorhof deiner Verkapselung und
sammelst Kräfte (Soldaten), um zur Natur, zum Frieden, zum reinen, unbe­
waffneten Gefühl zurückzukehren.“ S2 Indem die Paraphrase von „Geluhls-
Klischces“ spricht, als ginge es dem Gedicht darum, authentische Gefühle,
gleichsam Originale, gegen billige Reproduktionen auszuspielcn, spiegelt sic
zunächst, wenn auch auf einer falschen Ebene, das angestrengt exklusive
Moment des Gedichts wider. Insofern ist ihr gegen ihre Intention denn sic
ist nicht kritisch gemeint zuzustimmen. Was sie aber als das Ziel des
Gedichts ansicht: ein Zurück zur Natur und zum „reinen“ Gefühl, hat im
Text keinerlei Entsprechung. Das Gedicht unterscheidet nicht zwischen kli­
scheehaftem und „reinem“ Gefühl, sondern zwischen dem emotionellen En­
gagement des Liebenden (Metapher dieser Emotion ist, wohl in Reminiszenz
an Rilkes Cornet. das brennende Schloß) und der Fühllosigkeit, der Kälte
dessen, der sich von den „Menschen“ distanziert. Gegen den Kult des Ge­
fühls, der Gefühle vor der Verdinglichung bewahren möchte, ohne nach
ihrem Gegenstand zu fragen, und sic gerade dadurch zu bloßen Dingen
hypostasiert, zeigt sich das Gedicht ebenso spröde wie gegen den der Natur.
Ein Blatt, welches „blaut, wenn es herbstet“ das sich blau verfärbt und
dessen Zeit beim herbstlichen Untergang der Vegetation allererst beginnt -,
wird man schwerlich in der Natur finden. Indem das Gedicht das Jenseits
der „Menschen“ , wohin das Blatt „vorausschwebt“ , erbaulichen Identifika­
tionen entzieht, widerspricht es denjenigen, die in dem „G ott“ den Führer
ins Reine und Heile sehen möchten. Zugleich scheint es sich kritisch auf sich
selbst zu beziehen und die Apotheose des Melancholikers mildern zu wollen.
Was dieser zuletzt wahrnimmt oder wahrzunehmen glaubt („ ,0 Halm4, ver­
meint er zu hören, ,o Blume der Zeit4 “ ), führt in einer Art Zirkelbewegung
des Gedichts von der Erwartung einer anderen Welt zurück zur Erinnerung
an den Aufbruch des Heers („die Halme der Schwermut verteilt er im Heer
und die Blumen der Zeit“ ). Der Reichtum, den Melancholie versprach, war
der Aufbruch selbst schon, war der Akt der Distanzierung von den „Men­
schen“ , und über ihn hinaus gibt es keine Erfüllung.
Die Göttlichkeit des Melancholikers schrumpft damit auf die negative Be­
stimmung zusammen, daß er den Menschen entrückt sei. Sie ist eins mit dem

50
befremdeten Blick aufs Leben, von dem ,Talglicht4 (SU 30 / MuG 11), die
Tormetaphorik der frühesten Lyrik aufgreifend, spricht:
Schwarz springt das Tor auf, ich singe:
Wie lebten wir hier?

Hinter dem aufspringenden Tor tut sich keine zweite Welt auf. Das Subjekt
auf der Schwelle des Tors vermag weder in eine zweite Welt einzugehen
noch sich, wie es der zur Entstehungszeit des Gedichts populäre Existentia­
lismus empfahl, durch einen acte gratuit in die wirkliche Welt hinein zu
katapultieren, sondern ihm bleibt allein, die empirische Realität mit Befrem-
dung darüber, daß es in ihr zu leben imstande war, zu betrachten. Wie im
Aberglauben ist die Schwelle bei Celan — nach einem Gedicht der hier
behandelten Periode wurde der folgende Band Von Schwelle zu Schwelle
genannt53 — immer auch Schranke, Bannkreis, der nicht überschritten wer­
den kann. Das Subjekt, vor dessen Augen „das Tor“ aufspringt, kann sich
nicht davonmachen, sondern bleibt auf der Peripherie des Bannkreises ste­
hen — an einem Ort, der selbst noch unter den Bann fällt und ihm zugleich
insofern enthoben ist, als von ihm aus die Wirklichkeit als gleichsam unterm
Bann stehende, als geschlossenes und befremdliches Ganzes in den Blick
gerät.

Die Desillusionierung des Melancholikers, der sich zum „G ott“ verwandeln


zu können glaubt, ist der objektive Gehalt des Gedichts .Umsonst4 und lag
wahrscheinlich nicht in Celans Intention. Vieles spricht dafür, daß es zu
jener Zeit seine Absicht war, Melancholie zu einer besonderen und das Sub­
jekt auszeichnenden Gemütsverfassung zu verklären - eine Verklärung, die
Trost bedeutet für den, der es sich unbewußt als Schuld anlastet, in einer
bestimmten historischen Situation handlungsunfähig gewesen zu sein. Am
meisten spricht für diese Vermutung die Art, in der im Frühwerk an einigen
Stellen das für Celans Oeuvre insgesamt wichtige Motiv der Zeit verwendet
ist. Wo Melancholie als außerordentliche und göttliche Gemütsverfassung
dargestellt werden soll, muß ihr geschichtlicher Ursprung — die Erfahrung
von Handlungsohnmacht — verleugnet werden. Ihr exogener Charakter wird
denn auch von Celan zwar nicht prinzipiell bestritten, wohl aber auf eine
überhistorische Ebene verlagert, von der aus sie nicht mehr an eine bestimm­
te und veränderliche Situation gebunden zu sein scheint, sondern an die
Konstitution menschlichen Daseins schlechthin: an das Prinzip der Zeit als
Vergängnis.
Die Ganzheit, zu der sich die Wirklichkeit vor dem Blick des Melancholikers
zusammenschließt, ist die des Absterbens von Natur nicht nur („ , o Blume

51
der Zeit' “ ), sondern der Vergängnis als Inbegriff des unvermeidlichen Un­
tergangs menschlichen Glücks, ln dem Gedicht mit dem signifikanten, weil
das Moment der Einheitlichkeit betonenden Titel ,Das ganze Leben* (SU 51
/ MuG 30) heißt cs:

Die Sonnen des Halbschlafs sind blau wie dein Haar eine Stunde vor Morgen.
Auch sie wachsen rasch wie das Gras übenn Grab eines Vogels.
Auch sie lockl das Spiel, das wir spielten als Traum auf den Schiffen der Lust.
Am Kreidefelsen der Zeit begegnen auch ihnen die Dolche.

Am „Kreidefelsen der Zeit“ havarieren die „Schiffe der Lust“ und werden
die „Sonnen des Halbschlafs“ ebenso erdolcht wie diejenigen, deren Spiel
ein Traum „auf den Schiffen der Lust“ 54 ist. Die Zeit tötet Traum und Lust
ebenso wie die Menschen» die ihr Leben als Traum und Lust leben möchten.
Das, was eben geboren wird, trägt in Celans Augen schon das Stigma des
Todes, und das Glück über seine Geburt wird zugleich als Todesdrohung
wahrgenommen:

Die Sonnen des T odes" sind weiß wie das Haar unsres Kindes:
es stieg aus der ['lut, als du aufschlugst ein Zelt auf der Düne.
Ks zuckte das Messer des Glücks über uns mit erloschenen Augen.

Ist die Einheit der Wirklichkeit die des Todes qua Vergängnis, so vermag sich
ihr Bann nur zu lösen, indem der Kampf gegen den Tod aufgenommen wird.
Das erste Gedicht des Zyklus ,Mohn und Gedächtnis* berichtet denn auch
vom Kampf gegen den Tod (,Ein Lied in der Wüste*, SU 25 / MuG 7):

| .| und staeh nach dem Tod mit dem Degen.

Und das im Band Mohn und Gedächtnis letzte Gedicht des Zyklus, .Corona*
(SU 54 / MuG 33), greift zunächst mit dem Orpheusmotiv und später mit
der Metapher des blühenden Steins das Postulat der Befreiung vom Tod auf:

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schalen die Zeit aus den Nüssen und lehren sic gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:


wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

52
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.

Das Orpheusmotiv („Mein Aug steigt hinab“ ) wird in eins gesetzt mit dem
des Beischlafs; der Liebesakt56 als einer beschrieben, der, wie der Abstieg
des Orpheus in die Unterwelt, Befreiung vom Tod will. Der Tod aber ist,
und darin liegt der entscheidende Unterschied dieser Verse zu ,Das ganze
Leben4 und verwandten Gedichten des Frühwerks57, nicht mehr nur als die
unvermeidliche Vergänglichkeit alles Endlichen verstanden. Als Tod ist in
,Corona4ein bestimmter und veränderlicher sozialer Zustand bezeichnet. Die
den Tod besiegende Lust wird als Antizipation einer Gesellschaft dargestellt,
deren Prinzip nicht mehr das des Todes wäre. Indem die Liebenden „im
Fenster“ sich denen auf der Straße zur Schau stellen, bekunden sie, daß sie
Gesellschaftliches meinen. Ihre Forderung, daß es Zeit werde, d. h. daß Zeit
im emphatischen Sinn noch nicht ist und erst sein soll, opponiert dagegen,
daß Zeit gegenwärtig als leblos und atomistisch erfahren wird; als „Stein“
und „Unrast“ . Erst wenn der Stein „sich zu blühen bequem t“ und der
Unrast „ein Herz schlägt“ , wenn die tote Zeit lebendig wird, ist Zeit im
emphatischen Sinn.
Während in ,Das ganze Leben4 die Lust Schiffbruch erleidet am „Kreide­
felsen der Zeit“ , wird sie in ,Corona4, als Todesüberwinderin, zum Konsti-
tuens gleichsam lebendiger Zeit. Am Anfang von ,Corona4 schien der Ver­
such, die Zeit zum Leben zu erwecken, noch vergeblich: „Wir schälen die
Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: / die Zeit kehrt zurück in die
Schale.“ Am Schluß jedoch ist, indem auf den Finalsatz der vorangehenden
Zeile („Es ist Zeit, daß es Z eit wird“) verzichtet wird, festgestellt, daß Zeit
im gewünschten Sinn — lebendige Zeit - aktuell vorhanden sei; es ist nicht
mehr Zeit, daß es Zeit wird, sondern es ist Zeit.
,Corona4 spricht vom Liebesakt als einem der Befreiung vom Tod und als
Antizipation eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem die tote Zeit zum
Leben erw acht.58 Der Impuls, die Zeit, sofern sie lediglich als Kette von
Versagungen, als todbringend erfahren wird, zu besiegen und die tote Zeit
zum Leben zu erwecken, ist von keiner Revolution wegzudenken. Benjamin
hat dafür das schöne Beispiel genannt, daß in der Juli-Revolution „an mehre­
ren Stellen von Paris unabhängig voneinander und gleichzeitig nach den
Turmuhren geschossen wurde“ . 59 Wer auf Turmuhren schießt, will die alte
Zeit außer Kraft setzen um der neuen willen. Indessen ist mit Anschlägen

53
auf Turmuhren so wenig wie mit öffentlichem Beischlaf mit der Demon­
stration von Lust, die Ewigkeit will eine Revolution zu machen. Sic sind
symbolische Handlungen, Ostentationen, die ein ästhetisches Happening
bleiben und zu keiner sei cs revolutionären, sei es evolutionären Verände­
rung führen, wenn sic getrennt sind von politischer Aktivität. Diese aber
würde nicht „die Zeit“ zum Gegner haben, sondern die Verhältnisse, die die
Zeit leblos und atomistisch machen. Sie würde sich nicht, jedenfalls nicht
zunächst und unmittelbar, gegen den Tod richten, sondern gegen bestimmte
gesellschaftliche Zwänge, die alles Glück unter die Todesdrohung stellen,
und gegen diejenigen, die von diesen Zwängen profitieren. Ihr ginge es nicht
um „Mohn und Gedächtnis“ , sondern um spezifische Inhalte des Vcrgessens
und der Erinnerung, die um einer besseren Zukunft willen zu bewahren oder
zu verwerfen sind.
Nur banausische Beckmesserei würde Celans Gedicht anlasten wollen, daß es
nicht thematisch macht, was die sozialen und ökonomischen Gründe sind für
die Erfahrung, daß die Zeit nicht lebendig sei.60 Die Verse lassen keinen
Zweifel daran zu, daß sic Gesellschaftliches meinen, und das begründet ihren
Vorzug gegenüber dem melancholisch-rcsignativcn Gedichttypus, der durch
.Das ganze Leben* repräsentiert wird. Nicht mehr das abstrakte Prinzip der
Zeit als Vergängnis wird in .Corona* verantwortlich gemacht für den Unter­
gang allen Glücks, sondern cs ist hervorgehoben, daß cs veränderliche gesell­
schaftliche Verhältnisse sind, die dazu führen, daß die Zeit als tote erfahren
wird und der subjektive Versuch, sie zum lebendigen Fortschreiten zu brin­
gen, scheitert: „die Zeit kehrt zurück in die Schale“ . Während die melancho­
lische Disposition, die in ,Das ganze Leben* ihren Ausdruck findet, die natür­
liche Quelle von Unlustcrfahrungen: das Wissen, daß keine Lust von Dauer
sein kann, zu ihrem Gegenstand macht, hat Celan in ,Corona* offensichtlich
die Erkenntnis vollzogen, die Herbert Marcuse sieben Jahre später, 1955, so
formuliert hat:

..Die bloße Voraussicht des unvermeidlichen Endes, die in jedem Augenblick gegenwär­
tig ist. muß in alle libidinösen Beziehungen ein repressives Element bringen und selbst
die Lust leidvoll machen. Diese von allem Anfang an bestehende Versagung in der
Triebstruktur des Menschen wird zur unerschöpflichen Quelle aller anderen Versagun­
gen und ihrer sozialen Wirksamkeit. Der Mensch lernt, ,daß cs ja doch nicht dauern
kann1, daß alle Lust kurz ist, daß für alle endlichen Dinge die Stunde ihrer Geburt
schon die Stunde ihres Todes ist daß cs gar nicht anders sein kann. Er resigniert
schon, che ihn die Gesellschaft zwingt, die Resignation methodisch zu üben.“ M

Die Erfahrung der Vergänglichkeit führt nach Marcuse zur Unterdrückung


des vom Lustprinzip beherrschten Es, das nach Freud keine Zeit kennt,
durch das dem Realitätsprinzip folgenden Ich, welches der Zeit unterworfen

54
ist. Die so entstehende Triebstruktur disponiere die Menschen dazu, jedwede
Unterdrückung ihres Glücksstrebens als unabänderliche und gleichsam natur­
gegebene anzuerkennen. Zwischen berechtigten und unberechtigten Ver­
sagungen, zwischen solchen, die der Sozialisation und Selbstverwirklichung
förderlich sind, und anderen, die nur der Erhaltung bestehender Herrschafts­
positionen dienen, vermag der Einzelne letztlich nicht mehr zu unterschei­
den. Die Zeit als Vergänglichkeit, und sie allein, scheint es dann zu sein, die
ihr Zepter schwingt und Glücksmöglichkeiten verwehrt. In der Melancholie
verfestigt sich die Erhebung der Zeit zur absoluten Macht und die Ergebung
in sie zum unumstößlichen moralischen Gebot, das der Einzelne sich selbst
auferlegt; das Über-Ich wird zur „Sammelstätte der Todestriebe“ . Die de­
struktiven, in der Melancholie selbstzerstörerisch gegen das eigene Ich ge­
richteten Momente der Todestriebe würden nach Marcuse abnehmen, „je
mehr sich das Leben dem Zustand der Befriedigung nähert“ 62, sofern vor­
ausgesetzt werden darf, daß das Ziel dieser Triebe nicht eigentlich die Be­
endigung des Lebens, sondern die des Leidens ist. „Der Tod hörte auf, ein
Triebziel zu sein. Er bleibt eine Tatsache, vielleicht sogar eine letzte Not­
wendigkeit — aber eine Notwendigkeit, gegen die die unterdrückte Energie
der Menschheit protestieren wird, gegen die sie den entschiedensten Kampf
aufnehmen wird.“ 63

4.

Hatte die Metaphorik der Apokalypse den Zweifel daran zum Ausdruck
gebracht, daß eine Veränderung des Bestehenden in menschlichen Kräften
stehe, so bleibt in ,Corona1 völlig offen, wie ein humaner Zustand, die
Genese lebendig fortschreitender Zeit, herbeizuführen wäre. Es wird keine
Antwort gegeben auf die Frage, ob und in welcher Form die vom Gedicht
postulierte Änderung aktuell möglich sei, und eben damit ist der Grundstein
gelegt für die Konstitution des Ästhetischen bei Celan überhaupt, wie sie
später im Meridian auf einer höheren Reflexionsstufe explizit wird. Ließ die
apokalyptische Metaphorik den Schluß zu, daß Celan, aus verständlichen
biographischen Motiven, zeitweilig ausging von der Unversöhnbarkeit von
Wirklichkeit und Utopie auf dem Wege menschenmöglicher Handlungen, so
beharrt ,Corona' bei der Deskription der Unversöhntheit und der Forderung
nach deren Aufhebung, ohne das Problem des gesellschaftlichen Wie einer
solchen Aufhebung zu berühren. (Die Lust, aufgrund derer den Liebenden
die Zeit lebendig wird, ist ja zunächst nur eine private Angelegenheit, über

55
deren emanzipatorische Bedeutung im Hinblick auf konkrete soziale Ver­
änderungen Celan schwerlich dieselben Hoffnungen gehegt haben dürfte wie
Herbert Nlarcuse.)
Obwohl der Zweifel an der Wirksamkeit menschlichen Handelns ein Moment
ist. das bis zur späten Lyrik intermittierend wiederkehrt, ist der in .Corona*
angewandte Modus, auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Praxis zu ver­
weisen. ohne über deren gegenwärtige Erfolgsmöglichkeit ein Urteil abzu­
geben, in Celans Oeuvre von größerem Gewicht. Die Darstellung der Unver-
sohntheit von dem. was ist, und dem, was sein sollte, hat im Frühwerk ihre
spezifische Stilfomi an der Paradoxie, für die die in .Corona* verwendete
Metapher des blühenden Steins paradigmatisch ist; der Stein bezeichnet, wie
die aktuelle Wirklichkeit erfahren wird: als unlebendig, und das Blühen cha­
rakterisiert den utopischen Zustand als einen, in dem die Zeit nicht mehr als
leblos und atomistisch erfahren wird, sondern als lebendige Kontinuität.
Nicht immer lassen sich indessen die einzelnen Bestandteile der Paradoxie,
jeweils für sich genommen, als exakt bedeutende ausweisen. Bei der berühm­
ten „schwarzen Milch“ am Anfang der .Todesfuge* wäre der Versuch
schwerlich angemessen, aus der Wendung selbst und für jeden Bestandteil
gesondert festlegen zu wollen, was er bedeutet. Akzentuiert ist hier vor
allem die formale Struktur der Paradoxie, deren Funktion, den Antagonis­
mus von Wirklichkeit und Utopie zum Ausdruck zu bringen64, sich erst dann
erschließt, wenn der historische Erfahrungsgehalt von Celans Frühwerk er­
mittelt worden ist.
Die häufigste Paradoxie im Frühwerk ist die von Leben und Tod, wie sie
pointiert das Gedicht .Erinnerung an Frankreich* (SU 47 / MuG 24) verwen­
det, das sich biographisch auf Celans ersten Aufenthalt in Frankreich
1938/39 bezieht:

Du denk mit mir: der Himmel von Paris, die große Herbstzeitlose . . .
Wir kauften Herzen bei den Blumenmädchen:
sic waren blau und blühten auf im Wasser.
Es fing zu regnen an in unserer Stube,
und unser Nachbar kam, Monsieur Le Songe, ein hager Männlein.
Wir spielten Karten, ich verlor die Augensterne;
du liehst dein Haar mir, ich vcrlors, er schlug uns nieder.
Er trat zur Tür hinaus, der Regen folgt* ihm.
Wir waren tot und konnten atmen.

Bei den Blumenmädchen wurden Herzen gekauft als Ersatz für die fehlenden
eigenen Herzen. Die gekauften Herzen blühten im Wasser zu blauen Blumen
auf. „Im Wasser“ heißt nicht nur, daß die Herzen wie Blumen ins Wasser

56
gestellt wurden. Ein beliebtes Spielzeug besonders zur Entstehungszeit des
Gedichts (etwa 1947) waren japanische Papierblumen, die sich unter Wasser
entfalteten. Im Folgenden wird das Bild eines Aquariums fortgeführt ent­
sprechend einem der wichtigsten Stilprinzipien von Celans Lyrik bis Sprach-
gitter, der visuellen Analogie.65 Indem es in der Stube zu regnen begann,
wurde diese selbst zum großen Aquarium. In das Aquarium der Stube trat
Monsieur Le Songe, der Traum, ein und gewann im Glücksspiel, das ein Spiel
um Glück war, Augen, Haar und schließlich das Leben seiner Partner. Vom
Traum erschlagen, vermochten die Liebenden, die bis dahin lebende Leich­
name waren — sie mußten sich Herzen kaufen —, allererst zu leben. Sie
„waren tot und konnten atm en“ .
In der paradoxen Verknüpfung von Leben und Tod wird in diesem Gedicht
der Gegensatz des Lebens, wie es ist, zu dem, wie es sein sollte, von Wirk­
lichkeit und Utopie thematisch. Das gegenwärtige Leben wird als Tod, der
Tod als Bedingung des Lebens, wie es sein sollte, dargestellt, ohne daß im
letzteren Fall der Tod verklärt und sanktioniert wäre. Die Bindung des
utopischen Begriffs von Leben an den Tod meint Kritik an einer Realität,
die ein menschenwürdiges Leben verweigert und in ein Jenseits vom wirk­
lichen Leben verweist. Der Tod wird nicht, wie in dem frühen Gedicht ,Der
Krieger4, zur eigensten Möglichkeit des Daseins erhoben. Er bezeichnet viel­
mehr die Unmöglichkeit, in der Welt, wie sie ist, zu leben; sie ist so beschaf­
fen, daß man in ihr nicht atmen kann. Daß das Leben wie der Tod ist, wird
also vermittels einer Inversion, einer Vertauschung von Subjekt und Prädikat
ausgedrückt: der Tod ist Leben.66 Die Inversionsformel (der Tod ist Leben)
geht jedoch nicht restlos in ihrer Rückführung auf den Ausgangspunkt (das
Leben ist wie der Tod) auf; ihre Verwendung wäre bei vollständiger Identi­
tät der Bedeutungen bloß rhetorische Spielerei. Sie hat die Funktion, die
Bedingung, unter der ein Leben, das wie der Tod ist, verwandelt werden
könnte in ein wirkliches Leben, als Vernichtung der bestehenden Lebensver­
hältnisse zu kennzeichnen.67 Insofern, als die Paradoxie von Leben und Tod
nur die Notwendigkeit einer solchen Vernichtung zu formulieren vermag,
nicht aber den dialektischen Prozeß von Aufhebung, der ja auch Bewahrung
ist, bleibt sie abstrakt. Das vor allem mag Celan später dazu bewogen haben,
dieser Stilform zwar nicht völlig den Abschied zu geben, aber ihre Verwen­
dung auf ein Minimum zu reduzieren.

Charakteristisch für die zwischen 1945 und 1948 entstandenen Gedichte -


für den zweiten Zyklus im Sand aus den Urnen bzw. den ersten in Mohn und
Gedächtnis — ist eine Waffenmetaphorik, die sich so wenig mit der zeit­
lichen Nähe der Gedichte zum Zweiten Weltkrieg erklären läßt, wie ihr Sinn

57
sich unmittelbar aus dem Kontext erschließt. Verständlich wird sic zunächst
als Resultat und Spezifikation jener Erfahrung, die in der Paradoxie von
Leben und Tod schon zum Vorschein kam: die des Antagonismus von Wirk­
lichkeit und Utopie. Bezeichnenderweise tritt sie meistens in Verbindung
mit dem Traum auf68, der in der Lyrik dieser Periode nicht mehr, wie in den
frühesten Gedichten, nur Zufluchtsstätte der Subjektivität ist, sondern, wie
beschrieben, militante Züge erhält. DerTrauin ist als Antizipation einer besse­
ren Welt definiert: das bedingt seinen objektiv aggressiven Charakter gegen­
über der bestehenden Wirklichkeit. Indessen richten sich die Waffen des
Traums den Gedichten zufolge nicht unmittelbar gegen die Realität, sondern
gegen die träumenden Subjekte und bringen ihnen den Tod. In .Erinnerung
an Frankreich' spielt schon der französische Name des Traums, Monsieur Le
Songe, darauf an, daß er den Tod bringt: er ist gleichsam ein Bruder der
Madame Lamort der 5. Duineser Elegie. Als Preis im Spiel fordert er zu­
nächst das Augenlicht des lyrischen Subjekts (,,ich verlor die Augensterne“ ).
Analog stellt das frühe Gedicht ,lrrsal‘ den Traum als blendend und tod­
bringend dar, wenn die wahrscheinlich erst Anfang 1948 hinzugefügte
Zeile69 heißt:

(Krfuhrst du von mir, wie die Traume die Schläfen versehren? )

Schlafenverlctzungcn führen, sofern der nervus opticus getroffen ist, zur


Blindheit. Von Blendung durch den Traum ist auch in .Halbe Nacht* (SU 32
/ MuG 13) die Rede:

Halbe Nacht. Mit den Dolchen des Traumes geheftet in sprühende Augen.

Blendung und Tod sind Metaphern dafür, daß der Traum, als Statthalter der
Utopie, für Celan in unversöhntem Widerspruch steht zur empirischen, ,an-
schaubaren' Welt und dem Leben in ihr. Aber nicht nur verhält sich der
Traum aggressiv gegen die Subjekte, denen er die Utopie als strikten Gegen­
satz zu ihrem gegenwärtigen Leben, als Tod, präsentiert, sondern zugleich
vermögen sie sich seiner als einer Waffe zu bedienen. So heißt es in ,Dcr
Stein aus dem Meer* (SU 46 / MuG 23):

Sie tragen ihm Lanzen voran, so trugen wir Traum | . . ,|

Der Traum wurde wie eine Waffe getragen, aber dies Waffentragen hatte
keinen kämpferischen Charakter. Die Subjekte haben den Traum wie eine
Waffe vor sich hergetragen, nicht aber als Kampfinstrument benutzt. Die

58
Traumwaffe bedeutete das antagonistische Verhältnis des Traums zur Reali­
tät — deren objektiven Widerstreit —; als Metapher dafür, daß Celan einer
militanten Praxis im Interesse der Verwirklichung der Utopie das Wort habe
reden wollen, läßt sie sich nicht interpretieren.
Wo die Gedichte dennoch von einer kämpferischen Verwendung von Waffen
sprechen, werden diese nicht zur Eroberung der Realität, sondern des
Traums benutzt. Sie erscheinen als Instrumente in einem Kampf, in dem das
Fehlen eines Gegners darauf hin weist, daß um des Kampfes selber willen
gekämpft wird — als eines Modus des Rauschs, der Ekstase und Entrückung,
wie der Traum sie b ie te t.70 Exemplarisch dafür ist der Schluß des Gedichts
,Dunkles Aug im September4 (SU 45 / MuG 22):

Unverhüllt an den Toren des Traumes


streitet ein einsames Aug.
Was täglich geschieht,
genügt ihm zu wissen:
am östlichen Fenster
erscheint ihm zur Nachtzeit die schmale
Wandergestalt des Gefühls.
Ins Naß ihres Auges tauchst du das Schwert.

In anderen Gedichten vermitteln Waffen Lustgewinn, indem sie für Wurf­


spiele benutzt werden (,Halbe Nacht4):

Ringe wirft sie uns zu, wir fangen sie auf mit den Dolchen.

oder als Spiegel (,Das Geheimnis der Farne4, SU 32 / MuG 17):

Im Gewölbe der Schwerter besieht sich der Schatten laubgnines Herz.

Waffen, die zunächst den Kampf um die Veränderung des Bestehenden zu


bedeuten scheinen, werden bei Celan defunktionalisiert zu Gegenständen
des Spiels und narzißtischer Selbstbespiegelung. Sie bezeichnen den utopi­
schen Zustand als einen der Gewaltlosigkeit. Das prägnanteste Beispiel dafür
ist dieses Gedicht (,Ein Knirschen4, SU 42 / MuG 20):
Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum.
Aus Helmen schäumt dir der Sommer. Der schwärzliche Kuckuck
malt mit demantenem Sporn sein Bild an die Tore des Himmels.
Barhaupt ragt aus dem Blattwerk der Reiter.
Im Schild trägt er dämmernd dein Lächeln,
genagelt ans stählerne Schweißtuch des Feindes.
Es ward ihm verheißen der Garten der Träumer,
und Speere hält er bereit, daß die Rose sich ranke .. .

59
Unbeschuht aber kommt durch die Luft, der am meisten dir gleichet:
eiserne Schuhe geschnallt an die schmächtigen Hände.
verschläft er die Schlacht und den Sommer. Die Kirsche blutet tur ihn.

Das Gedicht hat den Charakter eines Vexierbildes. Die zunächst in der som­
merlichen Landschaft verstreut wahrgenommenen Bestandteile einer Rü­
stung eiserne Schuhe. Helme, Sporn bereiten gleichsam den Blick dafür
vor, daß sich im Blattwerk des Kirschbaums ein Reiter befindet. Dieser trägt
ein Lächeln im Schild, was nicht nur heißt, daß er es zum Wappen gewählt
hat. sondern auch, daß er es im übertragenen Sinn im Schilde führt: er will
die angeredete Person zum Lächeln bringen. Die Wendung „dämmernd dein
Lächeln“ unterstützt diese Deutung. Das Lächeln der angeredeten Person ist
ein dämmerndes, ist erst im Werden begriffen. Zugleich aber läßt sich
„dämmernd“ auf den Reiter selbst beziehen: er befindet sich im Zustand
des Dahindämmcrns, der Entrückung in Erwartung des ihm verheißenen
Traums. Die syntaktische Ambivalenz von „dämmernd“ , die Möglichkeit,
das Wort sowohl auf den Reiter als auch auf das Lächeln der angeredeten
Person zu beziehen, besagt, daß der Reiter der angeredeten Person ähnlich
sei, ihr gleiche. Das bestätigt der Fortgang des Gedichts. Wenn später von
einem die Rede ist, der der angeredeten Person „am meisten“ gleicht, ist
vorausgesetzt, daß auch der Reiter ihr schon ähnlich sei, wenn auch in
geringerem Maße. Die Ähnlichkeit des Reiters mit der angesprochenen Per­
son wird jedoch nirgends diskursiv ausgesagt, sondern allein mit Hilfe der
syntaktischen Ambivalenz von „dämmernd“ zum Ausdruck gebracht.
Das Lächeln im Schild des Reiters ist „genagelt ans stählerne Schweißtuch
des Feindes“ . Das heißt nicht allein, daß der Reiter an seinem Schild das
Schweißtuch des Feindes wie eine Siegestrophäe befestigt hat und daß ans
Schweißtuch wiederum das Lächeln der angeredeten Person genagelt worden
ist. Vielmehr läßt sich das „stählerne Schweißtuch des Feindes“ auch als
Metapher für den Schild selbst verstehen; der Reiter trägt den Schild, das
„stählerne Schweißtuch“ des besiegten Feindes (mit ihrem Schild wurden
die bei ritterlichem Kampf Getöteten bedeckt). Auf dem Schild ist nicht,
wie in Analogie zu Christi Schweißtuch zu erwarten wäre, das Antlitz des
Getöteten abgebildet, sondern gleichsam in seiner Stellvertretung wurde das
Lächeln der angcredeten Person angenagelt. Auf dieselbe Weise wurde das
Lächeln am „stählernen Schweißtuch“ , am Schild befestigt wie Christus am
Kreuz. Das angenagelte Lächeln ist wie das Schweißtuch Metapher der Erlö­
sung, aber einer profanen: derjenigen des Traums. Nicht der Garten Eden ist
denn auch dem Reiter verheißen, sondern der „Garten der Träumer“ . Seine
Waffen dienen als Werkzeuge, diesen Garten entstehen zu lassen:

60
und S p eere hält er b ere it, daß d ie R o se sich ranke . . .

Mit denselben Speeren, so ist anzunehmen, wurde der „Feind“ getötet. Ihre
ursprüngliche Funktion war die von Waffen in einem Kampf, der dem Ge­
dicht vorausliegt und über den es kein Wort verliert. Daraus aber, daß der
Siegespreis der „Garten der Träumer“ ist, läßt sich schließen, daß es in
diesem Kampf um das Kämpfen und die ihm innewohnende Ekstase ging als
Vorbereitung auf den Traum, dem ja das Moment des Rauschhaften, Eksta­
tischen zu eigen ist. In einem solchen Kampf kann es nur Sieger geben, und
der „Feind“ ist, weil er das Kämpfen ermöglicht, zugleich auch der Freund.
Sein Tod ist im Kontext von Celans Gedicht nicht Niederlage, sondern Sieg:
nämlich äußerste Entrückung, analog der des Traums.71 Weil ihm der Tod
nicht Qual, sondern Erfüllung war, vermag das lächelnde Antlitz der ange­
redeten Person auf dem „Schweißtuch“ stellvertretend einzustehen für das
des Toten. Es gleicht nicht allein dem des Reiters, der sich zum Traum
anschickt, sondern auch dem des getöteten „Feindes“ .
Der Kampf mit dem „Feind“ liegt dem Gedicht voraus. Auf der Zeitstufe,
die es beschreibt, ist Kampf nurmehr Metapher der lebendigen Dynamik des
Sommers, in der und als die sich der „Garten der Träumer“ konstituiert. Die
Speere werden zu Rosenstöcken, denn die einzige Schlacht, die nun noch
bevorsteht, ist der Sommer selber. An dem als Schlacht bestimmten Sommer
berauscht sich die angeredete Person: er schäumt ihr aus Helmen wie Wein.
Aber während dieses Sichberauschen dem Bereich des Reiters und seines
Traumes zugehört, ist die angeredete Person in höherem Grade bei sich
selber in der Sphäre des Schläfers, für den Rüstung und Waffen nicht, wie für
den Reiter, die Funktion haben, Rausch und Traum zu vermitteln und dem
Sommer zu seiner Objektivation zu verhelfen. Er, so heißt es, gleiche der
angeredeten Person „am meisten“ , d. h. mehr als das Bild, das der Kuckuck
von sich oder vom Sommer „an die Tore des Himmels“ malt; mehr auch als
der Reiter und der „Feind“ . Von seinen „eisernen Schuhen“ macht er kei­
nen Gebrauch, und die „Schlacht und den Sommer“ —die Schlacht, die der
Sommer selbst ist — verschläft er, in schönster Übereinstimmung mit sich
selbst desertierend. Für ihn, an seiner Statt und seinetwillen, blutet die
Kirsche. Sie ist der Erlöser des Schläfers, aber ihre Erlösungstat besteht
einzig darin, ihn von der Teilnahme an der Schlacht des Sommers zu be­
freien. Anders als das Lächeln und der „Feind“ , die den Reiter zum Traum
erlösen — Kreuzigungs- und Schweißtuchsymbolik deuten auf ihre Erlöser­
funktion —, erlöst die Kirsche den Schläfer vom Traum. Der sommerliche
„Garten der Träumer“ interessiert ihn nicht; an der Schlacht teilzunehmen
wäre ihm lästige Pflicht. Im Schlaf allein, in völliger Abkehr von jeder, sei es
auch beglückender Tätigkeit, findet er sein Glück.72
61
Nur eine verbissene Interpretation des Gedichts, die nicht zur Kenntnis
nähme, daß es das Lächeln auch des Lesers „im Schild“ fuhrt, würde ihm
ankreiden, daß es dem Glück der Bedürfnislosigkeit und untätiger Ruhe das
Wort redet. Vermittels der Gestalt des kindlichen Schläfers ist die preziös-
hcroische Welt des Reiters als eine ironisiert, in der noch das Glück Züge
gewaltsamer Anstrengung, der Unterdrückung von Natur aufweist: die
Schuhe des Reiters knirschen im Kirschbaum und verletzen ihn („Die Kir­
sche blutet“ ); die Rosen sollen sich an Speeren ranken, statt frei zu wach­
sen. Nimmt bei Celan die Waffenmetaphorik ihren Ausgang davon, den A nt­
agonismus von Wirklichkeit und Utopie darzustellen, so ist bei dem Schlä­
fer, der einen Teil ritterlicher Bewaffnung, die „eisernen Schuhe“ , an die
Hände geschnallt hat, um „durch die Luft“ gehen zu können und nicht mit
seinem Tritt die pflanzliche Natur zu versehren, Partei ergriffen für einen
Zustand völliger Gewaltlosigkeit. Ohne daß Celan sich dessen damals schon
bewußt gewesen sein dürfte, antizipiert das Gedicht, indem es das natur­
unterdrückende Moment des Gebrauchs von Waffen durch den „Reiter“
negiert, eine wenn nicht überhaupt die zentrale Bestimmung von Celans
späteren ästhetischen Überlegungen. Deren Affinität zu Adorno nämlich
leitet sich primär aus dem gemeinsamen Ansatz her, Kunst zu verstehen als
Ausdruck von Gewaltlosigkeit ein Theorem, das in seiner langen bürger­
lichen Tradition immer schon eine emanzipatorische Seite hatte: die Kritik
an bestehenden Herrschaftsverhältnissen, und eine resignative: den Verzicht
auf eine befreiende Gegengewalt. Wie Celan diese beiden Aspekte seit dem
Meridian reflektiert und aus dieser Reflexion die für ihn typische Konstitu­
tion des Ästhetischen entwickelt, wird zu zeigen sein. An dieser Stelle sei
zunächst festgehalten, daß schon im Frühwerk mit der Kritik von Gewalt
der Grund gelegt ist für die spätere ästhetische Konzeption.

62
II. ,Sprachgitter‘: Wiederherstellung von Leben
und ästhetische Stilisation

1.

Der Band Sprachgitter, dessen Gedichte zwischen 1955 und 1958 entstan­
den sind, ist strenger zu einem geschlossenen Ganzen durchkomponiert als
die übrigen, aber er ist zugleich derjenige, in dem Celans ästhetische Konzep­
tion in einen Widerspruch gerät, den dann der Meridian mit Erfolg aufzu­
heben versucht. Unter allen Bänden ist Sprachgitter am höchsten gelobt und
am schärfsten verurteilt worden, ohne daß doch zugunsten der einen oder
anderen Seite gesagt werden könnte, daß sein Spezifisches namhaft gemacht
worden wäre. Die eine Seite hat ihn ontologisierend ausgelegt in der Rich­
tung einer „Besinnung [ . . . ] vor dem Nichts“ 73 oder — mit ungewollten
Karikaturen von Heideggers Sprache ist Celans Rezeptionsgeschichte reich
bestückt — einer „Ordnung des Lichten“ 74; die andere, für die Peter
Rühmkorf repräsentativ ist, hat „Unbehagen“ geäußert, „weil man Be­
schränkung ins allzu Enge streben sieht und das Monotone und Monochro­
me wie von ungefähr ins Karge und Dürftige hinübergleiten. [. ..] Ein kleiner
Zuwachs an Weniger, ein winziges Mehr an Verlust, und wir stehen vor dem
Ziegelwandmuster der Avantgarde.“ 75 Die konträren Urteile sind sich einig
in der Diagnose, daß die Lyrik von Sprachgitter von höchster Abstraktheit,
entgegenständlicht und in diesem Verstände unsinnlich ist, aber beide ver­
mögen diesem Phänomen nur Begründungen zu geben, die der Sache äußerlich
bleiben. Weder die existentialistische Feier des „Nichts“ noch der Vorwurf
eines wirklichkeitsflüchtigen Formalismus trifft den Gehalt der Gedichte.
Als Paradigma für deren Intention mögen hier Teile von ,Stimmen* (S 7 ff.)
gelten — dem Gedicht, das den Band gleichsam programmatisch eröffnet. Es
beginnt:

Stimmen, ins Grün


der Wasserfläche geritzt.
Wenn der Eisvogel taucht,
sirrt die Sekunde:
Was zu dir stand
an jedem der Ufer,
es tritt
gemäht in ein anderes Bild.

63
Die ersten beiden Zeilen erinnern an eine eau-forte, an eine Radierung76,
oder auch an eine photographische Aufzeichnung, eine Schallplatte. Die
Stimmen. Äußerungen von Leben, sind zum statischen und toten Bild, zu
Signaturen erstarrt. Im Wort „Eisvogel“ kehrt die Doppelheit von Totem
(Eis) und Lebendigem (Vogel) wieder. Sic wird fortgesetzt im Parallclismus
des Tauchens - einer Tätigkeit des lebendigen Tiers mit dem Sirrcn einer
Sekunde, einem technischen Vorgang, der sowohl an eine Uhr als auch an
einen Photoapparat denken läßt. Das Tauchen des Eisvogels bringt die Was­
serfläche in Bewegung und verändert das Bild, das der am Ufer Stehende von
sich im Wasser reflektiert gesehen hat. Was bisher zu ihm stand77, ihm treu
war, wird ihm in der Sekunde, die wie eine Sense sirrt, geraubt und tritt
„gemäht“ in ein anderes Bild.
Die Modifikation von Organischem, die Vernichtung von Leben ist der Ge­
genstand des ersten Teils des Gedichts .Stimmen4, das Celan mit diesen
Versen enden laß t7”:

Keine
Stimme ein
SpatgeraiKeh, stundenfremd, deinen
Gedanken geschenkt, hier, endlich
hcrbcigcwacht: ein
Fruchtblatt, augengroß, tief
geritzt: cs
harzt, will nicht
vernarben.

Das Fruchtblatt ist Gegenbild zu der am Gedichtanfang beschriebenen Mor-


tifikation, ohne daß doch dieser das Bild eines völlig unversehrten, heilen
Lebens gegenübcrgcstellt wäre. Vielmehr ist das Fruchtblatt „tief / geritzt“ :
die Narbe — biologischer terminus technicus für den Teil eines Fruchtblatts,
der den Blutenstaub aufnimmt — ist zugleich eine Wunde. Während der erste
Gedichtteil die Erstarrung von Lebendigem zum Gegenstand hatte, ist hier
etwas dargcstellt, das sich seine Lebendigkeit in der Weise bewahrt, daß cs
das Leiden an der Vernichtung von Leben zum Ausdruck bringt: das Frucht­
blatt wird einem weinenden Auge glcichgcsetzt. Gegenüber der erstarrenden
Natur des ersten Gcdichttcils repräsentiert es eine Natur, die im Ausdruck
des Leidens ihre Lebendigkeit zu erhalten vermag.
Die Konfrontation des ersten und des letzten Teils von .Stimmen4 läßt deut­
lich werden, daß es im Band Sprachgitter um die kritische Darstellung der
Vernichtung von Leben geht und um die Konstituierung ästhetischer For­
men, die insofern Zeugnisse von Leben sind, als sie das Leiden an jener

64
Vernichtung artikulieren. An zwei weiteren Teilen von ,Stimmen4 können
diese Intentionen Celans gezeigt werden. Sie verdienen auch deshalb beson­
dere Beachtung, weil sie im Unterschied zu den meisten anderen Gedicht­
teilen kaum verständlich scheinen. Der eine lautet:

Stimmen, kehlig, im Grus,


darin auch Unendliches schaufelt,
(herz-)
schleimiges Rinnsal.
Setz hier die Boote aus, Kind,
die ich bemannte:
Wenn mittschiffs die Bö sich ins Recht setzt,
treten die Klammern zusammen.

Unverständlich scheint hier vor allem der letzte Vers, den auch nautische
Kenntnisse nicht klären helfen. Verständlich wird er erst, wenn er bezogen
wird auf die Klammern, die Parenthesen, in die das Wort „(herz-)“ gesetzt
ist. — Celan hat bei Lesungen des Gedichts diesen Teil ausgelassen, weil er,
wie er selber sagte, beim bloßen Hören nicht verständlich sei. — „Treten die
Klammern zusammen“ , so ist das Wort „(herz-)“ in einem Kreis eingeschlos­
sen, der zugleich Unendlichkeit („darin auch Unendliches schaufelt“) und
Gefangenschaft bedeutet. Das Wort ,Herz‘, das Celan hier gemäß einem seit
dieser Periode typischen Stilzug, dessen Begründung in anderem Zusammen­
hang noch zur Sprache kommen wird, mit der bezeichneten Sache selbst
gleichsetzt — also nicht nur das Wort ,Herz‘, sondern das Herz selber wird
von einer Klammer eingeschlossen werden, die es gefangen hält, und zwar
für immer, unendlich. Das eingekreiste Herz ist Symbol gefangenen Lebens
und des Leidens an dieser Gefangenschaft: wenn die Klammern zusammen­
treten, wird das Herz wie das Wort ,Herz‘ nicht nur eingeschlossen, sondern
auch zusammengepreßt.
Man mag darüber streiten, ob die symbolische Verwendung des Schrift­
zeichens einer Klammer ihrer ästhetischen Qualität nach mehr ist als ein
kapriziöses Bilderrätsel. Celan hat in ihr jedenfalls zur Zeit der Entstehung
von Sprachgitter eine Möglichkeit gesehen, im Gedicht der Erfahrung der
Vernichtung von Leben und dem Leiden daran Ausdruck zu geben. Aus
derselben Intention erklärt sich auch der folgende, gleichfalls zunächst kaum
verständliche Teil des Gedichts ,Stimmen‘:

65
Jakobsstimme
Die Tranen.
Die Tranen im Bruderaug.
Dine blieb hängen» wuchs.
Wir wohnen darin.
Arme, daß
sie sich lose.

Aufgrund einer Stelle im Sohar hat die Kabbala gemeint, der Messias werde
erst kommen, wenn die Tränen Esaus, des von Jakob um den väterlichen
Segen Betrogenen, versiegt sein werden.79 In die chassidische Überlieferung,
mit der Celan sich durch Lektüre vertraut gemacht hat er hatte, entgegen
einer häufigen Annahme, solche Kenntnisse nur rudimentär von Hans aus ,
ist dieses Theologurnenon eingegangen. So wird berichtet von den Worten
eines Rabbiners:

..Hs ist überliefert: »Messias, Sohn Davids, kommt nicht, ehe die Tränen Esaus versiegt
sind', riehen doch die Kinder Israels Tag und Nacht um Erbarmen sollen ihre Tränen
umsonst geweint sein, solang auch die Kinder Esaus weinen? Aber die Tränen Esaus,
damit sind nicht die Tränen gemeint, die die Völker weinen und ihr nicht weint,
sondern das sind die Tränen, die ihr allesamt, ihr Menschen, weint |. . . |“ . m>

ln der dialektischen Auslegung des kabbalistischen Theologumcnons trifft


sich Celan mit der chassidischen Anekdote. Dieser zufolge sind die Tränen
Esaus, der um seinen Segen betrogen wurde, die der gesamten Menschheit,
einschließlich der Kinder Israels. Auch bei Celan ist nicht unterschieden
zwischen dem Weinen Esaus, der traditionell alle Nicht-Juden personifiziert,
und dem Leiden Jakobs und der Seinen: Jakob und seine Kinder, die Juden,
„wohnen“ in der Träne des Bruders, die vergossen wurde um eine Mensch­
heit, die insgesamt um ihr Recht betrogen worden ist.
Das Leiden der Menschheit, wie es die Juden erfahren haben, ohne daß es zu
einer Angelegenheit nur der Juden erklärt werden dürfte - eben dies ist der
Grund dafür, daß Celan in scheinbar paradoxer Umkehrung der histori­
schen Tatsachen von den Tränen nicht primär Jakobs, sondern Esaus spricht
, sieht Celans Gedicht manifestiert vor allem in derjenigen Träne, die hän­
gengeblieben und wie ein Kristall gewachsen ist. In ihr sind die Menschen zu
Hause wie in einem gläsernen Sarg. Der für den Band Sprachgitter entschei­
dende Punkt ist damit skizziert: die Erfahrung einer so festen Eingeschlos­
senheit im Leiden, daß Menschen wie tot erscheinen und nicht einmal mehr
der mimetischen Reaktion des Weinens fähig sind, die Indiz ihrer Lebendig­
keit wäre. Deshalb wird am Ende des zitierten Gedichtteils gefordert, daß

66
man atme. Denn in dem Augenblick, in dem jemand atmet und sich somit
als lebendig erweist, wird es auch möglich, das Leiden an der Vernichtung
von menschlichem Leben wieder zu artikulieren: das Tränenkristall wird
sich lösen; der Zustand seiner Verfestigung wird aufgelöst und damit Leben
zumindest in dem Sinn wiederhergestellt, daß die mortifizierte menschliche
N atur wieder fähig ist, im Weinen Ausdruck zu finden.

A uf die Affinität von Celans Ansatz in Sprachgitter zu Adornos Konzeption


einer Sprache des Leidens, die dieser nirgends so nachdrücklich formuliert
hat wie in der Philosophie der neuen M usik81, soll hier nicht eingegangen
werden. Adorno selbst, der an der ,Engführung4 besonders die Metapher des
„feuchten Augs“ hervorgehoben h a t82 und sich mit dem Plan trug, einen
Essay entweder über die ,Engführung4 oder den ganzen Band Sprachgitter zu
schreiben83, wird sie schwerlich entgangen sein. Nach Celans Überzeugung
hat sich die menschliche Natur —das Auge, Organ sinnlicher Wahrnehmung,
ist in Sprachgitter durchweg deren Metapher — aufgrund der historischen
Erfahrung, daß Menschen systematisch vernichtet worden sind, so sehr ge­
gen die Außenwelt abdichten und verhärten müssen, daß sie kaum noch
auffindbar scheint. Vom Verlust der Sinnlichkeit als Folge dessen, daß das
Subjekt, um nicht der Übermacht des Leidens anheim zu fallen, seine Leid­
fähigkeit unterdrücken mußte, handelt dieses Gedicht (,Zuversicht4, S 13):

Es wird noch ein Aug sein,


ein fremdes, neben
dem unsern: stumm
unter steinernem Lid.
Kommt, bohrt euren Stollen!
Es wird eine Wimper sein,
einwärts gekehrt im Gestein,
von Ungcweintem vcrstählt,
die feinste der Spindeln.
Vor euch tut sie das Werk,
als gab cs, weil Stein ist, noch Brüder.

Das „unter steinernem Lid44 verborgene Auge hat keinen Kontakt zur
Außenwelt mehr. Er wird hergestellt erst von der Wimper, die selbst verhär­
tet, „verstählt“ ist infolge der Unterdrückung des Weinens und die wie eine
Spindel den Stein durchbohrt. Das Gedicht artikuliert die Hoffnung, daß die
Menschen sich als so brüderlich erweisen werden wie die Wimper und einen
Stollen durch die Versteinerung des Auges graben werden, um ihm die
Möglichkeit des Weinens ebenso zu verschaffen wie den Blick auf die Außen­

67
weit. Diese beiden Momente, der mimetische Ausdruck von Leiden und die
Restitution der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung, werden von Celan in
eins gesetzt: wo Tränen sind, ist die Möglichkeit der Wahrnehmung von Welt
wieder hergestellt (.Ein Auge, offen', S 47):

Die Träne, halb,


die schärfere Linse, beweglich,
holt dir die Bilder.

Das Rilke zitierende Gedicht ,Blume* (S 25) knüpft an die Befreiung der
unterdrückten menschlichen Natur im Weinen nicht nur den Wiedergewinn
sinnlicher Wahrnehmung, sondern auch die Genese einer Sprache, die Aus­
druck lebendiger Natur und in diesem Sinn von Freiheit ist:

Blume ein Blindcnwort.


Dein Aug und mein Aug:
mc sorgen
für Wasser.
Wachstum.
Herzwand um Herzwand
blatlcrl hinzu.
Lin Wort noch, wie dies, und die Hammer
schwingen im Freien.

Blindheit oder auch Augenlosigkeit bezeichnen in Sprachgitter, ohne daß


dies explizit gesagt wäre, den Verlust von Sinnlichkeit aufgrund der histori­
schen Erfahrung von Auschwitz, die die Überlebenden dazu genötigt hat,
um der Erhaltung der eigenen Person willen zu verhindern, daß das Entset­
zen überhand nimmt und die gesamte psychische Struktur zerstört; die sub­
jektive Natur wird unterdrückt und legt gleichsam einen Panzer an, der sie
schützen soll vor der völligen Destruktion.84 Bilder einer solchen Panzerung
finden sich vielerorts in Sprachgitter. In dem soeben zitierten Gedicht
.Blume* sind es die Herzwände, die hier, entgegen dem anatomischen Wort­
verstand, Wände sind, die sich wie eine Schale um das Herz gebildet haben.
Indem diese Wände von Tränen begossen werden und sich dadurch in Blätter
verwandeln, eröffnet sich die Perspektive, daß die Hämmer des Herzens
diese Interpretation wird unterstützt durch die Beziehung des Gedichts auf
Rilke8S - bald völlig „im Freien“ schwingen werden: daß das gepanzerte
Leben sich wieder als lebendiges zu äußern vermag.86
Den Verlust der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung beschreibt Celan in
Sprachgitter zumeist als Absenz von Wirklichkeit. Deren poetische Darstel­

68
lungsformen sind — wenn der Terminus Mallarmes einmal erlaubt sein soll
zur Bezeichnung eines Phänomens, das bei Celan durchaus anders begründet
ist — blartcs im Schriftbild, die auch als „Leerzeile“ thematisch sind (.Som­
merbericht4, S 52); Vorstellungen von übermäßiger Helligkeit („Weiß“ ,
„Schneefall“ ) oder, komplementär dazu, von Finsternis („Dunkel“ ,
„Nacht“); Bilder von „Verlorenem“ und „Leere“ , deren eindrucksvollstes
wohl das von Spiegeln ist, die gegeneinander stehen, also keine Gegenstände,
sondern nur noch sich selber reflektieren (,Aber‘, S 42). Metaphern der
Unsichtbarkeit von Welt, die denen von Sprachgitter so ähnlich sind, daß
man versucht ist, auf die Identität auch der Bedeutungen zu schließen, gab
es schon vielfach in dem vorhergehenden Band Von Schwelle zu Schwelle,
der indessen von anderen Voraussetzungen ausgeht. Die Lyrik des früheren
Bandes nämlich steht unter dem Einfluß von Mauthners Sprachkritik, die
unter Berufung auf Kant die These vertreten hatte, alle Erkenntnis bestehe
nur aus Worten; es gebe keine Erkenntnis, sondern nur Worte; was Welt
heiße, sei in Wahrheit nur Sprache und nach deren Gesetzen geregelt.87
Diese Ansicht hat Celan sich in Von Schwelle zu Schwelle zu eigen gemacht,
wenn es dort z. B. heißt (,Flügelnacht4, SzS 52):

Unsichtbar,
was braun schien,
gedankenfarben und wild
überwuchert von Worten.
Kalk ist und Kreide.
Und Kiesel.
Schnee. Und mehr noch des Weißen.

Die Ähnlichkeit der Metaphorik mit derjenigen von Sprachgitter sollte nicht
darüber täuschen, daß es in dem späteren Band keineswegs mehr um die
kategoriale Überfremdung der Gegenstände geht, um die bloße Subjektivität
sprachlich vermittelter Erkenntnis. Das Unvermögen der Erkenntnis von Ob­
jektivem ist in Sprachgitter zurückgeführt darauf, daß das Subjekt in Reak­
tion auf die Erfahrung des faschistischen Völkermords sich selbst abgekap­
selt und seine Natur in so hohem Maße unterdrückt hat, daß es vollends
mortifiziert, ein lebender Leichnam zu sein scheint. Vergegenwärtigt man
sich diesen Zusammenhang, wird man auch nicht dazu neigen, die berühm­
ten Hölderlinschen Verse aus .Hälfte des Lebens4:

Die Mauern stehn


Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

69
die Peter Szondi als Ausdruck der Götterferne und der aus ihr resultierenden
Vereinzelung des Subjekts interpretiert h at8*, in diesem Gedicht unvermit­
telt erneuert zu sehen (.Heimkehr1, S 16):

Schnccfall, dichlcr und dichter,


ljubenfärben, wie gestern.
Schnee fall, als schliefst du auch jetzt noch.
Weithin gelagertes Weiß.
Druberhm. endlos.
die Schhllenspur des Verlornen.
Darunter, geborgen,
stülpt sieh empor,
\\ as den Augen so weh tut.
Hügel um llugcl,
unsichtbar.
Aut jedem,
hetmgeholt in sein Heute,
ein ms Stumme entglittenes Ich:
hölzern, ein Pflock.
Dort: ein Gefühl,
vom hiswind her uberge weht,
das sein tauben-, sein schnee*
turbencs Fahnentuch festmachl.

Das Gedicht handelt von einer Subjektivität, die sich so sehr in sich ver­
schlossen hat, daß ihr dynamischer Charakter, ihre Lebendigkeit verlorenge­
gangen ist. Das Ich ist zum toten Holz, zum Pflock geworden, dem keine
Artikulation, die es aus dem Zustand der Leblosigkeit befreien würde, mehr
möglich ist. Es kennt keine Zeit mehr und nimmt Wirklichkeit nur noch
wahr als verlorene und begrabene. Bei dieser erschreckenden und, wie es
zunächst scheint, hoffnungslosen Diagnose aber bleibt das Gedicht nicht
stehen. Indem es fcststellt, daß die Grabhügel der verlorenen Wirklichkeit
..den Augen so weh“ tun, ist hervorgehoben, daß das Ich doch noch nicht
völlig leblos sei: es empfindet den Wirklichkeitsverlust als Schmerz. Erst in
die endgültige Fassung des Gedichts hat Celan dieses Moment eingebracht.
In der Erstveröffentlichung von 1956 hatte es statt „was den Augen so weh
tu t" noch geheißen: „was den Augen so w eh/a/“ . 89 Die frühere Fassung
konstatiert also an dieser Stelle des Gedichts einen vergangenen Schmerz
oder genauer: die Vergangenheit des Schmerzes. Daß das Auge gegenwärtig
noch Schmerz empfinde, wird in der Erstveröffentlichung nicht gesagt. Ge­
genüber der späteren Fassung betont sie mit Hilfe des Präteritums, wie der
diagnostizierte Zustand entstanden ist. Weil der Anblick einer bestimmten

70
Wirklichkeit, der Gräberlandschaft der Vernichtungslager, den Augen uner­
träglich war, hat das Ich die Augen geschlossen und ist in einen Schlaf
versunken („als schliefst du auch jetzt noch“ ), der ihm die sinnliche Erfah­
rung letzten Endes unmöglich gemacht hat.
Ist die spätere Fassung im Hinblick auf den Grad der gegenwärtigen Fühllo­
sigkeit des Subjekts zuversichtlicher als die frühere, so schränkt sie dieses
Moment doch wieder ein durch eine Änderung am Gedichtschluß. In der
Erstveröffentlichung hatte es geheißen:

[•• • I
ein ins Stumme entglittenes Ich:
hölzern, ein Pflock,
an dem ein herüber­
gewehtes Gefühl
sein tauben- und schnee-
farbenes Fahnentuch festmacht.

Das Ich als „Pflock“ und das „Fahnentuch“ eines Gefühls sind in dieser
früheren Fassung nicht nur graphisch —durch den Verzicht auf die Leerzeile
nach „Pflock“ —, sondern auch und vor allem semantisch enger aufein­
ander bezogen als in der endgültigen Fassung. Während es hier noch eindeu­
tig heißt, daß das „Gefühl“ sein „Fahnentuch“ an dem zum Pflock gewor­
denen Ich festmache, bleibt in der späteren Fassung offen, woran die Fahne
befestigt wird. Die enge Beziehung zwischen „Ich“ und „Gefühl“ wird in der
Endfassung überdies dadurch gebrochen, daß sie das Motiv eines „Eiswinds“
neu einführt. Es hebt hervor, daß das „Gefühl“ selbst erkaltet sei. Allein und
unmittelbar wird das „Gefühl“ dem Subjekt die Wärme des Lebendigen
nicht wiedergeben, sondern sein taubenfarbenes „Fahnentuch“ vermag le­
diglich — wie es Noahs Taube ta t90 — zu signalisieren, daß die Katastrophe
von Auschwitz vorüber sei und die Arche, in die das Subjekt sich zurückge­
zogen hat und die ihm zum Grab geworden ist, wieder verlassen werden
dürfe.

Man kann den Gedichten von Sprachgitter ihre Abstraktheit nicht, wie es
Rühmkorf getan hat, als willkürlichen ästhetischen Habitus anlasten, weil die
Gedichte selbst sie reflektieren als Ausdruck eines Verlusts von Sinnlichkeit,
der wiederum als notwendige Reaktion auf die Erfahrung des Faschismus
und als Zustand, den es aufzuheben gilt, begriffen ist. Ebensowenig läßt sich
die Entgegenständlichung der empirischen Realität erklären als Suche nach
einer eigentlichen Wirklichkeit, nach einer wahren Welt jenseits der empi­
rischen; eine solche Deutung würde Celans Intentionen von den Füßen auf

71
den Kopf stellen. Den Verlust des Vermögens, Wirklichkeit sinnlich wahrzu­
nehmen. begründet der Band Sprachgitter, wie vor allem am Gedicht .Heim­
kehr' gezeigt werden konnte, aus einem temporären Zuviel an schlechter
Realität: man hat, um nicht zum Opfer des Entsetzens zu werden, die
Augen schließen müssen. Durch dieses Augenschließen hat das Ich, wie Celan
meint, nicht nur seine Fähigkeit eingebüßt, die subjektive Natur — Leiden
und Gefühle überhaupt — zu artikulieren, sondern zugleich das Vermögen zur
Wahrnehmung der aktuellen Wirklichkeit. Das geschlossene und des Weinens
nicht fähige Auge ist zugleich das Auge, das nicht mehr sehen kann; wie den
Tranen, so ist auch den Blicken der Weg nach außen versperrt. Dem Gedicht
.Zuversicht* zufolge („als gab cs, weil Stein ist, noch Brüder“ ) bewährt sich
Brüderlichkeit, Solidarität darin, dem in sich verhärteten und kommunika­
tionslosen Subjekt Tränen zu ermöglichen, in denen die unterdrückte
menschliche Natur sich löst, und ihm eben damit seine Sinnlichkeit und
Kormnunikationsfähigkeit wiederzugeben. Aus diesem gänzlich unsentimen­
talen Zusammenhang erklärt sich nicht nur die Häufigkeit des Tränenmotivs
in Sprachgitter, sondern auch das des Wassers als Symbol wiedergewonnenen
Lebens, wie cs etwa in den „Grundwasserspuren“ am Ende der ,Engfdhrung*
auftritt oder in einem Gedicht des Bandes, das an die Brunnenstuben des 19.
Jahrhunderts erinnert, in denen, als in einer Vorform der späteren Kurhäu­
ser, Heüwasser getrunken wurde (,Oben, geräuschlos1, S 48 f.):

(Erzähl von den Brunnen, erzähl


von örunnenkranz, örunnenrad, von
Brunnenstuben erzähl.
I...1
Wasser: welch
ein Wort. Wir verstehen dich, Leben.)
Der Fremde, ungebeten, woher,
der Gast.
Sein triefendes Kleid.
Sein triefendes Auge.

Wasser ist hier nicht nur allgemeines Lebenssymbol, als das es traditionell
verwendet wird, sondern ist bezogen auf die Tränen, auf das weinende Auge,
das dem Leiden Ausdruck gibt und damit nach Celans damaliger Überzeu­
gung die Lebendigkeit des Ichs restituiert. Gegensymbol zu Wasser und
Träne ist in Sprachgitter der Sand, der den Zustand der Leblosigkeit der
Subjekte bezeichnet. In dem eben zitierten Gedicht werden sic das „Sand­
volk“ genannt, was zugleich eine Reminiszenz ist an die biblische Wüsten­
wanderung des Volks Israel91; an anderer Stelle ist die Rede von Augcnhöh-

72
len, die vom Flugsand ausgewaschen worden sind (,Heute und morgen4, S
18); und in einer weiteren Variation des Wasser-Sand-Motivs, von dem aus,
in der beschriebenen Weise expliziert, die meisten Gedichte des Bandes ver­
ständlich werden, heißt es (,Weiß und Leicht4, S. 26 f.):
Sichcldiinen, ungezählt.
Im Windschatten, tausendfach: du.
Du und der Arm,
mit dem ich nackt zu dir hinwuchs,
Verlorne.
Die Strahlen. Sie wehn uns zuhauf.
Wir tragen den Schein, den Schmerz und den Namen.

Meermühle geht,
eishell und ungchört,
in unsern Augen.

Der Schluß des Gedichts bezieht sich auf das Märchen von der Salzmühle auf
dem Meeresgrund, die immer mehr Salz produziert, bis das Meer salzig ge­
worden ist.92 In den Augen der Subjekte, das meint Celans Metapher, ent­
steht immer mehr Salz, aber es fehlt noch das Wasser, es fehlen noch die
Tränen, in denen sich das Salz auflösen könnte; vorerst ist dieses Wasser nur
in seiner kristallisierten Form, als Eis vorhanden („eishell“ ). In dem hier
nicht zitierten Mittelteil des Gedichts ist eine Landschaft entworfen, die mit
Licht und Sand die Illusion einer Meereslandschaft erweckt, in Wahrheit
aber ohne Wasser ist: statt des Wasserschaums gibt es nur „Lichtschaum“
und anstelle von Brandung gibt es nur Wellen aus Staub („stäubende Wel­
le“ ). Von Wellen aus Sand ist schon am Anfang die Rede: von „Sichel­
dünen44, also von Dünen, deren Sichelform sie zu Symbolen der Mortifika-
tion von Leben werden läßt. Im Windschatten dieser Dünen, das heißt unter
der Sichelschneide, liegen die Subjekte, die sich als unlebendig und atomi-
siert erfahren. Ihren Identitätsverlust erleben sie als „tausendfache“ Verviel­
fältigung ihrer selbst oder als Verselbständigung ihrer Glieder („der Arm, /
mit dem ich nackt zu dir hinwuchs“). Einen „Namen“ zu tragen, als indivi­
duelles Ich benannt zu sein, wird unter der Bedingung des Identitätsverlusts
als bloßer „Schein“ und als „Schmerz“ empfunden. Wie Asche werden die
Subjekte „ zu h a u f4geweht von einem Wind, der in diesem Gedicht als Strah­
lenwind bestimmt ist. Damit ist ein für Sprachgitter überaus wichtiges Motiv
genannt: radioaktive Strahlenwinde, wie sie bei den orkanartigen atomaren
Explosionen entstehen. Wie die photographischen Dokumente von Hiroshi­
ma und Nagasaki zeigen, haben diese Winde die Menschen augenblicklich

73
verbrannt und von ihnen nur noch Schatten an den Hauserwänden übrigge-
lassen.
Wo immer in Sprachgittcr das Windmotiv auftritt - und dafür gibt es zahl­
reiche Belege, so z. B. „Eiswind44, „w indschief4, „Windschatten“ , „wind-
gerecht“ , „Windgalle“ , „Windbruch“ , und „Windzeichnung“ 93 —, sollte man
die Beziehung auf die atomaren Strahlenwindc im Auge haben. Sogar in
Rezensionen unmittelbar nach Erscheinen des Bandes 1959 ist diese Be­
ziehung unerkannt geblieben, obwohl doch das Thema damals in aller Mun­
de war; Alain Resnais' Film Hiroshima man Arnour war im selben Jahr in den
Kinos angelaufen, und zur Entstehungszeit der Gedichte war von Atom­
bewaffnung und Atomkrieg beinahe täglich in den Zeitungen zu lesen. Um
nur an einige Daten zu erinnern: im Oktober ’56 Gründung der Internatio­
nalen Atomenergie-Organisation; im Oktober ’57 Beginn der Internationalen
Atomenergie-Konferenz in Wien; im Januar ’58 tritt der Euratom-Vertrag in
Kraft; im Oktober ’58 beginnt die Konferenz der drei Atommächte USA,
Großbritannien und UdSSR in Genf. Der Hinweis auf die Entstehungszcit der
Gedichte und ihre exoterischen Bedingungen, die einer esoterischen Celan-
Rezeption nicht in den Blick geraten konnten, sollte indessen nicht dazu
verfuhren, sic in einem unmittelbaren Sinn als Anti-Atomtod-Lyrik zu ver­
stehen. Uber die Art und Weise, in der Celan das Motiv der atomaren Explo­
sion verwendet, gibt das Gedicht von Sprachgittcr Aufschluß, in dem es zum
Leitmotiv geworden ist: die ,Engführung4(S 57 ff.).

2.

Innerhalb von Celans Gesamtwerk weist der Titel .Engführung4, der den
letzten Teil einer Fuge bezeichnet und ihn als „zeitlich enge, d. h. möglichst
gleichzeitige kontrapunktische Zusammenführung von Themen“ (Der Große
Brockhaus) charakterisiert, zurück auf die .Todesfuge4 und somit darauf,
daß das Gedicht von den faschistischen Vernichtungslagern handelt. Wer mit
diesem Vorverständnis an die ,Engführung4 herangeht, wird es alsbald bestä­
tigt finden durch das Signalwort „verbracht“ , das die amtsdeutsche Bezeich­
nung ist für den gerichtlich oder polizeilich verfügten Transport von Men­
schen letztlich nichts anderes als eine Übersetzung von .deportiert4; er
wird beim Bild vom „auseinandergeschriebenen44, durch die „untrügliche
Spur“ der Vergangenheit dissoziierten Gras an die für immer unfruchtbar
gewordenen Stellen im Rasen denken, wie sie etwa an den ehemaligen
Brandstätten von Buchenwald zu sehen sind94; er wird schließlich im vor­

74
letzten Teil des Gedichts, der die Szenerie einer Vernichtungsstätte entwirft,
keinen Zweifel mehr haben an der Richtigkeit seines Vorverständnisses. Un­
ter dem Gesichtspunkt, daß sich das Gedicht auf Auschwitz bezieht, hat
Peter Szondi den Verstehensprozeß ausführlich beschrieben.95 Deshalb
braucht die folgende Interpretation es sich nicht zum Ziel zu setzen, allen
Bedeutungsvarianten einzelner Gedichtstellen nachzugehen. Sie akzentuiert
vielmehr den Aspekt, den Szondi nicht gesehen hat, und von dem aus eine
Vielzahl von Stellen, die in seiner Deutung dunkel und mehrdeutig bleiben,
sich als nur scheinbar dunkel und mehrdeutig erweist: den Aspekt, daß das
Gedicht sich nicht nur auf Auschwitz, sondern auch auf die Atombombe
bezieht.96 Wer dieses zusätzliche und weitergehende Vorverständnis hat,
wird die Erfahrung machen, daß ihm bei der Lektüre des Gedichts scheinbar
abstrakte und kryptische Passagen schlagartig verständlich werden. Er wird
begreifen, daß es bei „Orkanen“ und „Partikelgestöber“ um atomare Explo­
sionen geht und in welchem Sinn von einem „Flugschatten“ gesprochen
wird: es ist der eines Bombers; er wird schließlich erkennen, daß das Gedicht
von einer Zeitbombe handelt, wenn es von einem tickenden Etwas spricht
und später davon, daß den Subjekten noch „Zeit“ geblieben sei. Die „zeit­
lich enge [ . . . ] Zusammenführung von Themen“ , durch die sich eine musika­
lische Engführung charakterisiert, besteht in Celans gleichnamigem Gedicht
primär in der Zusammenführung zweier historischer Themen: der Ereignisse
in den faschistischen Vernichtungslagern m it denen von Hiroshima und Na­
gasaki.
Das Gedicht — soviel sei einer ersten Orientierung wegen dem vollständigen
Z itat97 vorangeschickt — läßt sich in vier Komplexe gliedern. Teil I, der
allein den ersten Komplex bildet, beschreibt, daß jemand an eine Vemich-
tungsstätte verbracht worden sei; das Todesmühlen-Motiv des Frühwerks
(,Das G astm ahf: „Wem trinken wir Träume noch zu, als dem langsamen
Rad? “ ) ist wieder aufgenommen, wenn die Rede ist von einem langsam aus
sich selber rollenden Rad. Die verbrachte Person ist an diesem O rt „zu­
hause“ in dem Sinne, daß an ihm die Erklärung dafür zu suchen ist, daß sie
sich im Zustand der Kommunikationslosigkeit und Blindheit befindet („die
Nacht / braucht keine Sterne, nirgends / fragt es nach dir“ ). Die Teile II bis
V als zweiter Komplex handeln von Subjekten, die in einen heute noch
andauernden Schlaf gefallen sind, und es wird eine historische Begründung
für diesen Schlaf gegeben, die sich im Vorgriff auf das später auftretende
Motiv der „Orkane“ als Bedrohung durch eine Zeitbombe erweist. Die Teile
VI und VII, der dritte Komplex, lassen sich als Parallelismus zur vorangegan­
genen Passage II —V verstehen. Zwar werden nun nicht mehr, in der dritten
Person, „sie“ dargestellt, sondern „wir“ , aber es handelt sich hier analog

75
zum Vorangegangenen wiederum um Subjekte, die angesichts der ihnen dro­
henden Vernichtung in Schlaf gefallen sind: sie haben die Augen geschlos­
sen. Die beiden letzten Teile des Gedichts, die den vierten Komplex bilden,
haben zum Gegenstand, daß die geschlossenen Augen, mit denen die Subjek­
te sich isoliert, in die Enge geführt haben, wieder geöffnet werden. Die Welt
von Auschwitz, die mit der von Hiroshima gleichgesetzt worden ist, wird am
Ende wieder „sichtbar“ als Landschaft, die vom Grundwasser gleichsam
unter Tranen gesetzt wird.

HNGFÜHRUNG

Verbracht ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:
Gras, auseinandergesehrieben. Die Sieine, weiß,
mil den Schauen der Malme:
Lies nieht mehr schau!
Schau nicht mehr geh!
Geh,deine Stunde
hal keine Schwestern, du bist
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
kleltern,
kiellern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.

Nirgends
fragt es nach dir
Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen er hat
keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas
bg zwischen ihnen. Sie
sahn nicht hindurch.
Sahn nicht, nein,
redeien von
Worten. Keines
erwachte, der
Schlaf
kam über sie.

76
[III] *
Kam, kam. Nirgends
fragt es -

Ich bins, ich,


ich lag zwischen euch, ich war
offen, war
hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem
gehorchte, ich
bin es noch immer, ihr
schlaft ja.

(IV]
Bin cs noch immer -

Jahre.
Jahre, Jahre, ein Finger
tastet hinab und hinan, tastet
umher:
Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft cs weit auseinander, hier
wuchs es wieder zusammen - wer
deckte es zu?

(V)
Deckte es
zu - wer?

Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht-und-Nacht. - Zum
Aug geh, zum feuchten.

|VI|

Zum
Aug geh,
zum feuchten -

77
Orkane.
Orkane, von je,
Partikelgeslöber, das andre,
du
weißts ja, wir
ljsens im Buche, war
Meinung.
War, war
Meinung. Wie
faßten wir uns
an an mit
diesen
Händen?
Ks stand auch geschrieben, daß.
Wo? Wir
taten ein Schweigen darüber,
giftgestillt, groß,
ein
grünes
Schweigen, ein Kelchblatt, cs
hing ein Gedanke an Pflanzliches dran
grün, ja,
hing,ja,
unter hämischem
Himmel.
An, ja.
Pflanzliches.
Ja.
Orkane, Par-
tikclgcstöbcr,es blieb
Zeit, blieb,
es beim Stein zu versuchen er
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. Wie
gut wir cs hatten:
Körnig,
körnig und faserig. Stcngclig,
dicht;
traubig und strahlig; nierig,
plattig und
klumpig; locker, ver­
ästelt : er, es
fiel nicht ins Wort, es
sprach,
sprach gerne zu trockenen Augen, eh cs sie schloß.

78
Sprach, sprach.
War, war.
Wir
ließen nicht locker, standen
inmitten, ein
Porenbau, und
cs kam.
Kam auf uns zu, kam
hindurch, flickte
unsichtbar, flickte
an der letzten Membran,
und
die Welt, ein Tauscndkristall,
schoß an, schoß an.

| VIII *
Schoß an, schoß an.
Dann -
Nächte, entmischt. Kreise,
grün oder blau, rote
Quadrate: die
Welt setzt ihr Innerstes ein
im Spiel mit den neuen
Stunden. - Kreise,
rot oder schwarz, helle
Quadrate, kein
Flugschatten,
kein
Meßtisch, keine
Rauchseele steigt und spielt mit.

IVIIIj *
Steigt und
spielt mit

In der Eulenflucht, beim


versteinerten Aussatz,
bei
unsern geflohenen Händen, in
der jüngsten Verwerfung,
überm
Kugelfang an
der verschütteten Mauer:
sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die

79
Chöre, damals, die
Psalmen. Ho, ho­
sianna.
Also
stehen noch Tempel. Lin
Slcrn
hal wohl noch Lichl.
Niehls,
mchls isi verloren.
Ho­
sianna.
ln der Lulenfluchl, hier,
die Gespräche, laggrau,
der Grund wasserspuren.

11X1
( laggrau,
der
Grundwasserspuren
Verbrachl
ms Gelände
mil
der unlrüglichen
Spur:
Gras.
Gras,
auscinandcrgeschricben.)

Die Exposition des Gedichts fordert denjenigen, der in das „Gelände / mit
der untrüglichen Spur“ verbracht worden ist, dazu auf, das Gras nicht mehr
zu ,lesen4 als eine auseinandergeschriebene, dissoziierte Schrift, sondern
gleichsam distanzlos in der Spur zu gehen - den Totenacker mit dem Rad
als Rudiment jener Todesmühle, als die man die faschistischen Vernichtungs­
lager bezeichnet hat, als ein von diesem historischen Geschehen unmittelbar
Betroffener („zuhause“ ) zu beschreiten. Mit dem „Ort, wo sie lagen“ , ist
eine erste Station erreicht.Der Verlust von Sinnlichkeit, wie ihn die meisten
Gedichte von Sprachgitter beschreiben, wird auch hier thematisch gemacht
und aus der Geschichte begründet:

(. ..) Elwas
lag zwischen ihnen. Sic
sahn mehl hindurch.

80
Ich bins, ich,
ich lag zwischen euch, ich war
offen, war
hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem
gehorchte, ich
bin cs noch immer, ihr
schlaft ja.

Was den Subjekten die sinnliche Erkenntnis des jeweils anderen unmöglich
gemacht hat — auch an die lutherische Bedeutung von Erkenntnis, an Sinn­
lichkeit im sexuellen Verstand ist dabei zu denken —, ist nicht nur, wie es
zunächst scheint, eine tickende Uhr. Das tickende Etwas, das von sich selber
spricht — das „Ich, ich“ ist onomatopoetischer Ausdruck des Tickens —, ist
vielmehr auch und vor allem eine Bombe, eine Zeitbombe. Die Subjekte sind
von der Bombe „zugetickt“ worden: sie haben die Augen geschlossen und
sind in Schlaf gefallen, weil sie ihre Vernichtung auf sichzukommen sahen.
Sie haben vor Entsetzen die Augen zugemacht und sind bis heute noch nicht
aus einem Schlaf erwacht, in dem ihre Lebendigkeit reduziert ist auf ein
gleichsam mechanisches, automatisches Atmen, das dem Ticken der Bombe
angepaßt und von ihm beherrscht ist.
Unter der Bedingung dieses andauernden Schlafs der Subjekte vermochte
sich keine Sprache zu konstituieren, vermittels derer die Erkenntnis von
Wirklichkeit ermöglicht worden wäre:

Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht-und-Nacht. - Zum
Aug geh, zum feuchten.

Die letzte Zeile deutet e contrario darauf, daß das Wort, welches Wirklich­
keit sichtbar machen wollte, daran gescheitert ist, daß die Subjekte in ihrem
Entsetzen erstarrt sind und die Augen immer noch geschlossen halten. Hoff­
nung setzt das Gedicht darauf, daß die Augen endlich weinen und mit
diesem Ausdruck des Leidens, in dem die unterdrückte menschliche Natur
wieder frei wird, beitragen zur Aufhebung der Isolation der Subjekte. Dieser

81
Hoffnung aber stellt sich die augenblickliche Überzeugung in den Weg. daß
die Vernichtung von Menschen, die der Grund jener Isolation war, erneut
und immer wieder drohe-, daß die Orkane, in denen sich atomare Explosio­
nen entladen, nicht ihrer technischen Möglichkeit nach, aber in anderen
historischen Formen der Vernichtung von Menschen „von je“ bestanden
haben und auch weiterhin zu befürchten sind:

Zum
Aug geh,
zum feuchten

Orkane.
Orkane, von je.
Purnkelgesiober. das andre,
du
weiß I n ja. wir
lasens im Buche, war
Meinung.
War, war
Meinung. Wie
faßten wir uns
an an mit
diesen
Händen?

Von der Liebe Lancclots lasen Paolo und Francesca „im Buche“ (Dante,
Divina Commedia, Purg. 5, 127 ff.), und diese Liebe wird als Doxa, als bloße
Meinung bezeichnet.98 In bewußter Anlehnung an die vorsokratischc Meta­
phorik, besonders an die des Empcdoklcs, ist die Liebe in Celans Gedicht
Inbegriff des lebendigen Zusammenhangs von Seiendem; im Gegensatz dazu
steht das atomistische ,,PartikcIgestöbcr“ Demokrits. Dieser Zusammenhang
ist zerstört worden, so daß es den Subjekten unglaubhaft erscheint, daß sic
sich je mit ihren lies: zerstobenen — Händen haben anfassen können.
Auch die Sprache, die ja traditionell, vor allem in romantischer Tradition,
als organisches Ganzes aufgefaßt wird und die integrale Zusammenhänge
herstcllen muß, um sinnvoll und verständlich zu sein, ist jener Zerstörung
zum Opfer gefallen:

Es siand auch geschrieben, daß.

Man wird diesen Salz nicht angemessen erklären können ohne Beziehung auf
eine spätere Stelle des Gedichts, an der cs heißt:

82
Ja.
Orkane, Par­
tikelgestöber, es blieb
Zeit, blieb,
es beim Stein zu versuchen - er
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. Wie
gut wir es hatten:

Ehe die atomaren Orkane das Leben der Subjekte endgültig vernichteten,
ehe die Zeitbombe explodierte, „blieb / Zeit“ , um zum Stein zu gehen, der
ihnen „nicht ins Wort“ fiel. Rückwirkend wird von hier aus der abgebro­
chene Satz „Es stand auch geschrieben, daß.“ verständlich als sprachliche
Realisierung dessen, daß jemand den Subjekten „ins Wort“ gefallen ist. Die­
ser jemand ist den Orkanen zugeordnet; er fiel den Subjekten „ins Wort“
und hat sie vergiftet. Die entsprechenden Zeilen seien im Zusammenhang
zitiert:
Es stand auch geschrieben, daß.
Wo? Wir
taten ein Schweigen darüber,
giftgestillt, groß,
ein
grünes
Schweigen, ein Kelchblatt, es
hing ein Gedanke an Pflanzliches dran —
grün, ja,
hing,ja,
unter hämischem
Himmel.
An, ja,
Pflanzliches.

Auf die Frage „Wo? m it der man ihnen „ins Wort“ fiel, antworteten die
Subjekte mit einem Schweigen. „Giftgestillt, groß“ ist syntaktisch ambi­
valent, sowohl auf das Schweigen als auch auf die Subjekte zu beziehen. Die
den Subjekten angemessene Ausdrucksform ist in dieser Passage des Ge­
dichts dargestellt als ein Schweigen, das durch Vergiftung entstanden, ,still
gemacht4 worden ist, aber zugleich als giftgetränktes bedrohlich wirkt und
dem Angriff der Bomber, den ein „hämischer / Himmel“ zuläßt, Einhalt zu
gebieten versucht. Wenn es heißt, daß an dem „giftgestillten“ Schweigen ein
„Gedanke an Pflanzliches“ hing, so ist darauf angespielt, daß bei Vergasun­
gen in den Vernichtungslagern auch Kohlendioxyd verwendet worden ist,
das für Pflanzen lebenswichtig, in hoher Konzentration für Menschen hinge­

83
gen tödlich ist. Der „Gedanke an Pflanzliches“ bezeichnet auf diesem Hin­
tergrund den Wunsch, wie eine Pflanze das Giftgas absorbieren und geradezu
als Lebenselexier benutzen zu können. In derselben Richtung hißt sich die
Kelchblatt-Metapher interpretieren, die auf die Utopie der Verwandlung ei­
nes Giftkelchs in einen Pflanzenkelch verweist.
Indem die Subjekte als giftgetränkte, also auch selber giftige, dem „hä­
mischen / Himmel“ mit gleichsam dämonischer Bedrohlichkeit (,,groß“ )
entgegengetreten sind, blieb ihnen Zeit, „es beim Stein zu versuchen“ :
das „Pflanzliche“ am Stein zu erproben. Bei ihm, so heißt es, hatten sie
es gut, was auch in dem Sinn zu verstehen ist, das sie „es“ das „Pflanz­
liche“ in guter, humaner Weise verwenden konnten, während sie es ja
zuvor zu ihrem eigenen Schutz in boshaft-dämonischer Weise hatten ein-
setzen müssen. Es beim Stein gut gehabt zu haben, wird erläutert:
Körnig,
körnig und faserig. Siengclig.
dicht;
trjubig und strahlig; nicrig,
pLj 11ig und
klumpig; locker, ver­
ästelt ; er, cs
fiel nicht ins Wort, es
sprach,
sprach gerne 7.u trockenen Augen, eh es sic schloß.
Sprach, sprach.
War, war.

Das .Pflanzliche“ wird in mikrobiologischen termini technici beschrieben,


die zum Teil zugleich mineralogische Begriffe sind. Der Stein, „er“ , reprä­
sentierte zugleich „es“ , Pflanzliches. Die Verwandlung des Pronomens „er“
in „es“ will überdies kenntlich machen, daß „er“ , der Stein, weder ein Er
noch eine Sie, sondern ein Es im Sinne eines nichtmenschlichen Wesens war.
Diese Stelle ist für den weiteren Verlauf des Gedichts entscheidend, weil an
ihr zum Ausdruck kommt, daß nun ein Gegenbild zu dem entworfen wird,
was unter Menschen geschieht. Das „es“ , das den Stein als nichtmensch­
liches Wesen charakterisiert, hebt hervor, daß das Folgende als Imagination
zu deuten sei, die sich Bedingungen schafft, wie sie unter Menschen nicht
vorgefunden worden sind. Erst die Flucht in die nichtmenschliche Welt des
Steins hat den Subjekten ermöglicht zu sprechen, ohne daß ihnen „ins
Wort“ gefallen worden wäre. Ihre Sprache („er, es / fiel nicht ins Wort“ ) war
dort zugleich die Sprache der Sache selber („es / sprach“ ), das heißt: ihre
Sprache vermochte den Gegenstand sichtbar zu machen, ihn in seiner sinn­

84
liehen Erscheinung zu vergegenwärtigen; der Stein, so heißt es, sprach zu
ihren Augen und war wirklich, sinnlich präsent:
Sprach, sprach.
War, war.

Als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der Gegenstand sinnlich wahr­
genommen werden konnte und in diesem Verstände zu den Subjekten ge­
sprochen, sich mitgeteilt hat, werden die „trockenen Augen“ genannt. Es
sind dies sowohl die Augen, die angesichts der drohenden Vernichtung
durch die Orkane bzw. durch Gift vor Entsetzen nicht weinen konnten, als
auch die Augen, die beim „gastlichen“ Stein keinen Grund haben zu weinen.
Die in beiderlei Sinn trockenen Augen der Subjekte wurden vom Stein,
nachdem er zu ihnen gesprochen hatte, geschlossen („sprach gerne zu
trockenen Augen, eh es sie schloß“ ). Während sie die Augen fest geschlossen
hielten und die Lider „nicht locker“ ließen, also in hermetischer Abdichtung
der Subjekte von der gegenständlichen Wirklichkeit, vermochte ihr von Ver­
nichtung bedrohtes Leben durch den Stein eine Erneuerung zu erfahren:

Wir
ließen nicht locker, standen
inmitten, ein
Porenbau, und
es kam.
Kam auf uns zu, kam
hindurch, flickte
unsichtbar, flickte
an der letzten Membran,
und
die Welt, ein Tausendkristall,
schoß an, schoß an.

Den Subjekten, die mit geschlossenen Augen „inmitten“ des ,.Pflanzlichen“


standen, drang der Stein durch die Poren, um die letzte noch lebendige
Zellmembran zu flicken. Als dies gelungen war, schoß ihnen „die Welt“ zum
„Tausendkristall“ an; die atomisierte Wirklichkeit trat zu einer Einheit zu­
sammen, aber zu einer kristallisch-anorganischen, über deren Charakter das
Folgende genaueren Aufschluß gibt, das aus einer zweiten Bedeutung des
Wortes ,anschießen* entwickelt wird. .Anschießen* ist von Celan nicht allein
als kristallographischer", sondern auch als atomphysikalischer terminus
technicus gebraucht. Die zum „Tausendkristall“ anschießende Welt schoß
wiederum an gegen die gleichsam als Atomkern verstandenen „Nächte“ , um
sie zu spalten, zu „entmischen“ :

85
S ch o ß an , sch o ß an.
Dann

Nachte, enliTUscht. Kreise,


grün oder blau, role
Quadrate: die
Well setzt ihr Innerstesein
im Spiel mit den neuen
Stunden. Kreise,
rot oder schwarz, helle
Quadrale, kein
Flugsehatien,
kein
Meßtisch, keine
Rauehseele steigt und spielt mit.

Die Kernspaltung, die die Nächte ,,entmischt“ - eine Metapher, deren Ge­
gensatz, „gemischt“ , bei Hölderlin100 vorkommt und damit die Dunkel­
heit auflost, ist ein Gegenbild zur zerstörenden atomaren Explosion der
„Orkane“ . Mit dem Einsatz ihres „Innersten“ versucht „die Welt“ neue
Stunden zu gewinnen - aber was gewonnen wird, ist doch kein realer Neu­
beginn der Geschichte, sondern nur die transitorische Abstraktion von der
erfahrenen Wirklichkeit: eine Welt wird gewonnen, in der kein „Flugschat­
ten“ von Bombern, kein „Meßtisch“ zur strategischen Planung militärischer
Operationen und keine „Rauchseele“ der Krematorien von Auschwitz vor­
handen ist.101
In diese Welt aber, die mit geschlossenen Augen imaginiert ist - er sei
„unsichtbar“ , hatte es vom Stein geheißen, der die „letzte Membran“ flickte
, dringt durch die Nennung von Flugschatten, Meßtisch und Rauchseele
die historisch erfahrene Wirklichkeit wieder ein. Flugschatten, Meßtisch und
Rauchseele steigen doch in die imaginierte Welt der Subjekte hinauf und
bringen zum Bewußtsein, daß sie sich in einer Fluchtwelt befinden, die es als
Fluchtwelt zu reflektieren und damit aufzuheben gilt:

Steigt und
spielt mit

In der Eulenfluchtl05, beim


versteinerten Aussatz,
bei
unsern geflohenen Händen, in
der jüngsten Verwerfung,
überm
Kugclfang an
der verschütteten Mauer:

86
sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die
Chöre, damals, die
Psalmen. Ho, ho­
sianna.
Also
stehen noch Tempel. Ein
Stern
hat wohl noch Licht.
Nichts,
nichts ist verloren.
Ho­
sianna.
In der Eulenflucht, hier,
die Gespräche, taggrau,
der Grund wasserspuren.

Die diesen Gedichtteil einleitende Wendung „Steigt und / spielt m it läßt


sich als Umkehr der vorangegangenen negativen Wendungen „kein / Flug­
schatten“ etc. ins Positive verstehen. Indem all das, was die Subjekte auf der
Flucht vor den vernichtenden „Orkanen“ verdrängt haben, letztlich doch
„steigt“ und „mitspielt“ - wieder ins Bewußtsein tritt - , ist die imaginäre
Welt gesprengt, in der man dank der Abkehr von der Realität, mit geschlos­
senen Augen, zu überleben vermochte. Der Zustand völliger Isolation und
Blindheit ist durchbrochen, und die Welt von Auschwitz wird wieder „sicht­
bar“ :

sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die
Chöre, damals |. . . J

Sichtbar sind, gleichsam als Notenraster in der Landschaft, die verzweifelten


Chöre der Ermordeten. Sie bilden die „untrügliche Spur“ der Vernichtung,
von der am Anfang der ,Engführung* die Rede war und der das lyrische
Subjekt nachgegangen ist, um sich der historischen Motivationen der ,Enge‘,
der Gefangenheit seiner selbst wie aller Überlebenden von Auschwitz und
Hiroshima bewußt zu werden und sie am Ende aufzuheben; um sich aus
seiner Isolation befreien und die Augen wieder öffnen zu können für die
W irklichkeit.103 Die Rillen im Gras sind die einzigen „Tempel“ , die von der
Geschichte der Juden seit der Zerstörung des ersten Tempels noch übrigge­

87
blieben sind; nur in der Form dieser Rillen („Also“ heißt ja auch: in dieser
Art und Weise) bestehen noch Tempel. In ihnen steigt das Grundwasser auf
wie ein Tränenstrom, und damit ist das Gedicht am Ende bei dem angelangt,
wohin es zu gehen bis dahin vergeblich aufgefordert hat: beim „feuchten“
Auge. Es ist den Umweg gegangen über die „trockenen Augen“ einen
Umweg, auf dem deutlich geworden ist, warum die Augen der Überlebenden
von Auschwitz nicht weinen können. Sowohl „sie“ , die Schlafenden, von
denen im zweiten und dritten Teil der .Engführung* die Rede is t,(M, als auch
diejenigen, die dem sechsten und siebten Gedichtteil zufolge vor den
„Orkanen“ die Flucht zum Stein ergriffen haben, sind Überlebende der
Vernichtungslager, an denen das Gedicht die historische Genese einer völli­
gen Komnumikationslosigkcit und der Auslöschung aller sinnlichen Ver­
mögen demonstriert. Angesichts des ihnen drohenden Todes mußten die
Subjekte die Augen schließen, um nicht psychisch vernichtet zu werden,
noch ehe die physische Vernichtung Gewalt über sic gewinnen konnte. In
diesem Schlaf wurden die einen zu Automaten („ich tickte euch zu, euer
Atem / gehorchte“), deren Lebensfunktionen nur noch gleichsam mecha­
nisch ablaufen wie eine Uhr, die anderen vermochten sich einen Rest von
Lebendigkeit zu bewahren („flickte / an der letzten Membran“ ), aber um
den Preis, zunächst aus ihrer imaginären, enthistorisierten Fluchtwelt nicht
mehr in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es gelingt ihnen am Ende, die
Augen wieder zu öffnen, und an die Stelle der Illusion eines absoluten
Ncubeginns der Zeit („neue / Stunden“ ) tritt die Wahrnehmung der Spuren
von damals („sichtbar, aufs / neue: die / Rillen“ ). Indessen hat das Motiv
atomarer „Orkane“ , das in der .Engführung* sowohl Metapher für Auschwitz
ist („giftgestillt“ ) als auch einen zweiten, in Hiroshima und Nagasaki Wirk­
lichkeit gewordenen Modus der Vernichtung von Menschen mit demselben
Gewicht exponiert, die Funktion einer Warnung davor, die Spuren von da­
mals zu Zeugnissen eines einmaligen und unwiederholbaren Geschehens zu
erklären. Indem das Gedicht von der Atombombe spricht, gibt es der Be­
fürchtung Ausdruck, daß immer noch und aufs neue die Bedingungen dafür
bestehen, daß Menschen unter der Drohung ihrer Vernichtung in einen
Schlaf fallen, der ihr Tod bei lebendigem Leib ist; daß unter den aktuellen
gesellschaftlichen Verhältnissen die Denaturierung der Subjekte zu kommu-
nikations- und wcltlosen Monaden fortschreiten könnte.

88
3.

Für die ästhetischen Konsequenzen, die Celan im Sprachgitter-Band aus dem


Ansatz zieht, den historisch bedingten Verlust von Sinnlichkeit, der mensch­
lichen Natur wie aller kommunikativen Vermögen darzustellen und zugleich
nach der gegenwärtigen Möglichkeit seiner Aufhebung zu fragen, aber auch
für eine Inkonsequenz in der Lyrik dieser Periode, aus der sich der Stil­
wandel seit fax Niemandsrose erklären läßt, ist besonders aufschlußreich das
Titelgedicht ,Sprachgitter4 (S 28), von dem Celan selbst meinte, es habe ihn
daran eigentlich nur der „Lichtsinn“ interessiert. Wie fast alle seine Äuße­
rungen zum eigenen Oeuvre ist auch diese für den Leser zunächst keine
Interpretationshilfe, sondern sie wird in ihrer Relevanz erst begreifbar, wenn
man das Gedicht bereits verstanden hat:

Augenrund zwischen den Stäben.


Flimmertier Lid
rudert nach oben,
gibt einen Blick frei.
Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb:
der Himmel, herzgrau, muß nah sein.
Schräg, in der eisernen Tülle,
der blakende Span.
Am Lichtsinn
errätst du die Seele.
(War ich wie du. Wärst du wie ich.
Standen wir nicht
unter einem Passat?
Wir sind Fremde.)
Die Fliesen. Darauf,
dicht beieinander, die beiden
herzgrauen Lachen:
zwei
Mundvoll Schweigen.

Das Gedicht setzt ein mit einer Explikation des Titelworts ,Sprachgitter‘:
„Augenrund zwischen den Stäben“ . Als Sprachgitter werden die vergitterten
Sprechfenster in klösterlichen Parlatorien bezeichnet; Celan ist diesem Wort
bei der Lektüre Jean Pauls zuerst begegnet.105 Die Vorstellung von einem
solchen Sprachgitter ist jedoch bei Celan von vornherein entmaterialisiert.
Vom vergitterten Fenster wird nur die lineare Struktur von „Stäben“ übrig­
behalten und vom Bild einer Person hinter dem Fenster die geometrische

89
Form eines „Augenrunds“ . Gleichwohl wird der gegenständliche Bezug
nicht völlig aufgegeben, denn es ist nicht bloß von einem Rund und Linien
die Rede, sondern vom Rund eines Auges und der linearen Struktur von
Gitterstäben. Das geometrische Bild wird durch eben diese Bewahrung von
Gegenständlichkeit bedeutend: es ist das Bild eines Auges, das in seiner
organischen Funktion so gefangen, so eingeschränkt und behindert ist, daß
es kaum noch als organisches und lebendiges, sondern nurmchr als geometri­
sche und tote Struktur wahrgenommen werden kann. Daß cs dem Gedicht
nicht unmittelbar, wie man gemeint hat, um die Beschreibung einer Person
im Gefängnis geht, sondern um die Beschreibung der Gelangcnheit sinn­
licher Vermögen, wird vor allem dadurch hervorgehoben, daß das Auge
nicht als eines hinter, sondern „zwischen“ Stäben dargestcllt ist. Das Auge
einer Person ist gefangen und zu einem leblosen Gegenstand, einem „Augen­
rund“ geworden, das seine organische Funktion zunächst überhaupt nicht
mehr erfüllen zu können scheint. Erst der zweite, mikroskopisch genaue
Blick desjenigen, der dieses Auge beobachtet, erkennt, daß cs sich um ein
geschlossenes und nun im Zeitlupentempo sich öffnendes Auge handelt:

Flunmcrlicr Lid,
rudcrl naeti oben,
gibt einen Blick frei.

Die abstrakt geometrische und statische Form des ,Augenrunds“ gewinnt


hier den Charakter des Organischen und wird beweglich, aber in so geringem
Maß. daß dies mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen ist. Das Gedicht
bringt das zum Ausdruck, indem es das beschriebene Auge auf eine mikro­
biologische Größenordnung reduziert: das Lid wird - hier verwendet Celan
eine Metapher Gottfried Bonns106 - als nur mikroskopisch wahrnehmbares
,,Flimmertier“ bezeichnet, als im Meer lebender Einzeller, dem Flimmer-
haare zur Fortbewegung dienen. Nur die durch Technik vermittelte Sch-
weise, die mikroskopische Beobachtung, vermag zu erkennen, daß das Auge
lebt und sich aus seiner Gefangenschaft zu einem Blick befreit. Das Auge
wird dargestellt, als befände cs sich in einem Wassertropfen, der unterm
Mikroskop betrachtet wird. Auf dem Hintergrund dieser unausgesprochenen
Vorstellung, die doch Celans Verfahrensweise zugrunde liegt, erklärt sich der
Anschluß:

Ins. Schwimmerin, lraumlos und trüb:


der Himmel, herzgrau, muß nah sein.

Der Mikrokosmos des Wassertropfens einer Träne gleichsam, in die das

90
Auge eingeschlossen ist -- wird übergangslos als Makrokosmos angesehen: als
Meer, in dem die Iris des Auges schwimmt wie die G öttin Iris der griechi­
schen Mythologie: „Iris aber bringt aus dem Meere Wind und großen Regen­
guß“ . 107 Aus der Verbindung von Iris, der Göttin des Regenbogens, mit
Zephyr, dem Westwind, ging Eros hervor. Iris, die Mutter der Liebe,
schwimmt bei Celan in einem Tränenmeer. Sie ist „traumlos und trüb“ und
spiegelt, als Iris des Auges, als Regenbogenhaut, in ihrer Trübheit, die so­
wohl Betrübtheit als auch einen Mangel an Licht bedeutet, einen Himmel
wider, der die Farbigkeit des Regenbogens verloren hat. Die Iris des Auges
sucht nach Licht. Ihre Sinnlichkeit besteht darin, vom Licht angezogen zu
werden, und wo sie bei einem anderen Menschen denselben „Lichtsinn“ 108
wahrnimmt, errät sie, die in der nun folgenden Passage als „du“ apostro­
phiert ist, dessen Seele:

Schräg, in der eisernen Tülle,


der blakende Span.
Am Lichtsinn
errätst du die Seele.

Der Span in der eisernen Halterung, der weniger Licht gibt, als daß er
schwelt und rußt („blaken“ = rußen ist m it engl. ,black* verwandt), ist im
Zusammenhang m it Iris eine Anspielung auf die Fackel des Eros. Diese ist
der Anziehungspunkt für den „Lichtsinn“ , für die Empfindlichkeit des
Auges für Licht. Wo Blicke „frei“ zu werden vermögen in der Reaktion der
Augen auf Licht, wo die Sinnlichkeit der Subjekte aus ihrer Gefangenschaft
hervorkommt, ist Liebe und Kommunikation überhaupt möglich. Deshalb
wünscht das lyrische Ich:

(War ich wie du. Wärst du wie ich.


Standen wir nicht
unter einem Passat?
Wir sind Fremde.)

Der Passat, der traditionell als Glückswind gilt, weil er es Segelschiffen er­
möglichte, bestimmte schwierige Meereszonen zu passieren109, ist in der
Metaphernkonstellation des Sprachgitter-Bandes Gegenbild zu den „Orka­
nen“ der ,Engführung*, bezeichnet also jenen lebendigen und kommunika­
tiven Zusammenhang von Menschen und Dingen, der auch in der »Engfüh­
rung* als Liebe thematisch ist. Indessen wird im Gedicht »Sprachgitter* zu­
gleich in Erwägung gezogen, daß es unterschiedliche Passatwinde gegeben
habe, welche die Subjekte verschiedene Richtungen haben einschlagen las­

91
sen. Sie sind einander ungleich und fremd, obwohl sic beide unter einem
aber eben nicht unter ein und demselben Gliiekswind gestanden haben.
Ähnlich sind sic einander nur darin, daß sie beide „Fremde“ , der sinnlich­
gegenständliehen Welt Entfremdete sind. An der angeredeten Person aber
hat das Gedicht ja bisher den Beginn der Aufhebung dieser Entfremdung,
den „frei“ werdenden Blick gezeigt. An sich selbst konstatiert das lyrische
Subjekt den Prozeß der Emanzipation seiner sinnlichen Vermögen nicht. Im
Unterschied zu der angeredeten Person bleibt das Ich gefangen: die Klam­
mern, in die diese einzige Passage des Gedichts, in welcher das lyrische
Subjekt von sich selbst als einem Ich spricht, gesetzt sind, haben die Funk­
tion, die Gefangcnheit des Ichs im Schriftbild zum Ausdruck zu bringen.
Wahrend das Du im Begriff ist, seine Entfremdung von der sinnlichen Reali­
tät aufzuheben, verharrt das lyrische Subjekt in ihr, obwohl es zuvor die
andere Person mit akribischem Blick beobachtet hat. Dieser Blick ist kom­
munikationslos geblieben. Nicht Kommunikation, sondern nur einen kom-
munikationsloscn Parallclismus von „Fremden“ vermag das lyrische Subjekt
herzustellen:

Die Fliesen. Darauf,


dicht beieinander, die beiden
herzgrauen Lachen:
zwei
Mundvoll Schweigen.

Der „herzgrauc“ Himmel hat sich hier gleichsam abgeregnet zu zwei Träncn-
laehen, die das Weinen von Du und Ich symbolisieren. Aber diese Tränen
sind hier nicht, wie sonst meistens im Band Sprachgitter, dargestellt als ein
Akt der Befreiung der unterdrückten menschlichen Natur, sondern deren
Unterdrückung erscheint durch die ästhetische Verfahrensweise dieser Zeilen
noch potenziert: das anfängliche Bild vom „Augenrund zwischen den Stä­
ben“ , von einem Rund zwischen senkrechten Linien, ist verdoppelt in der
Vorstellung von „Fliesen“ , die ihrer geometrischen Struktur nach quadra­
tische Felder bilden, mit zwei „Lachen“ als Kreisen darauf. Dem Gedicht
liegt eine geometrische Operation zugrunde. Das Anfangsbild wurde ver­
doppelt, in sich verkreuzt und sodann aus der Vertikalen in die Horizontale
verlagert eine Verlagerung, die zur Hälfte vollzogen ist, wenn es in der
Mitte des Gedichts heißt: „Schräg“ . Zwar sind es Tränen, von denen am
Schluß die Rede ist, aber diese sind im doppelten G itter der „Fliesen“ völlig
eingeschlossen. Der Prozeß der Befreiung, den das Gedicht bis zu seiner
eingcklammerten Passage an der angeredeten Person dargcstcllt hatte, ist am
Schluß rückgängig gemacht. Von hier aus erklärt sich Celans spätere Äußc-

92
rung, es sei ihm eigentlich nur auf den „Lichtsinn“ angekommen, als ver­
schlüsselte Selbstkritik. Bis zur Stelle mit dem „Lichtsinn“ nämlich be­
schreibt das Gedicht den Versuch der Emanzipation der Sinnlichkeit, die
Freisetzung eines Blicks als Potential von Kommunikation. Der Schluß je­
doch stellt das Scheitern dieser Kommunikation nicht nur fest, sondern
verhält sich — wenn nicht mit Celans bewußter Intention während der Nie­
derschrift des Gedichts, so doch faktisch — affirmativ zu diesem Scheitern.
Das geometrische Bild, mit dem das Gedicht endet, wird seinerseits nicht
mehr als ästhetischer Modus der Mortifikation von Leben, als Form, die
Organisches auf tote Strukturen abstrahiert, in Frage gestellt. Überdies er­
hält es auch explizit einen affirmativen Zug dadurch, daß das lyrische Sub­
jekt, das nur über eine mechanische Beweglichkeit verfügt - sei es die der
geometrischen Operation, sei es die der Benutzung seines Auges als Mikro­
skop —, von sich selbst behauptet, unter einem Passat, einem Glückswind
gestanden zu haben. Zwar war dies, wie vermutet wird, womöglich ein an­
derer Passat als deijenige, unter dem die angeredete Person gestanden hat,
aber es ist doch eben auch ein Passat, ein Glückswind, den das lyrische
Subjekt für sich geltend macht, das heißt: es stellt seine eigene Verfassung
mitnichten als desolat dar, obwohl sie im kontradiktorischen Widerspruch
steht zur Restitution jener Lebendigkeit, die an der anderen Person beob­
achtet und bejaht wird.

Während in der Tränen- und Wassermetaphorik des Bandes Sprachgitter die


Forderung ausgesprochen ist, daß der menschlichen Natur, die sich aufgrund
der Erfahrung von Auschwitz in sich verhärtet hat, dazu verholfen werden
soll, aus dem Zustand der Leblosigkeit wieder hinauszufinden, macht sich
gleichzeitig bei Celan eine Tendenz zu poetischen Techniken bemerkbar,
die diese Forderung nicht nur nicht einlösen, sondern im Widerspruch zu ihr
stehen. Eben darauf beruht die Inkonsistenz des ,Sprachgitter‘-Gedichts, die
Celan selbst später erkannt zu haben scheint. Zu der Annahme, daß er sie
wahrgenommen habe, berechtigt vor allem auch der Meridian, der, wie zu
zeigen sein wird, aufs schärfste ästhetische Verfahrensweisen kritisiert, die
auf eine Affirmation des Unlebendigen, Anorganischen und Statischen hin­
auslaufen. Der Meridian ist ein Votum nicht nur gegen Benn, der im ,Sprach­
gitter4-Gedicht zitiert ist, sondern auch und vor allem ein Votum Celans
gegen einen Aspekt des Bandes Sprachgitter, den er zu dessen Entstehungs­
zeit wohl noch nicht klar übersehen hat. Daß er das nicht konnte und sich
temporär angezogen fühlte von Benn wie wohl auch vom damals in Frank­
reich aufkommenden Strukturalismus110, dürfte seinen Grund darin haben,
daß der Sprachgitter-Band mit seiner Konzeption von der Befreiung der

93
unterdrückten menschlichen Natur im Weinen zunächst nur reaktiv bleibt:
Anders als in der späteren Lyrik, die sich als Widerstand gegen eine inhu­
mane Verfassung der Gesellschaft begreift, ist im Sprachsttcr-Band nur erst
nach der Möglichkeit gefragt, wie eine Subjektivität, die „ins Stumme“ en t­
glitten ist, aus diesem Zustand befreit werden könne. Die spätere Lyrik
definiert Subjektivität als Fähigkeit zum Widerstand gegen soziale Verhält­
nisse, die ein menschenwürdiges Leben unmöglich machen. In der Lyrik von
Sprachgitter geht cs um die Frage, ob die Überlebenden von Auschwitz noch
eine Chance haben zur Auferstehung von den T o ten .111 Die aktive Leistung,
von der in dieser Periode die Rede ist, besteht im Wiedergewinn von Leben­
digkeit. So heißt cs (,ln die Ferne*, S 38):

| .. . | du sollst almcn(
almen und du sein.

Die bloß automatische Lebendigkeit, wie sic die ,Engführung* darstcllt an


denen, über die der Schlaf gekommen ist, soll aufgehoben werden, der „Puls
den Gegentakt“ gegen sie wagen (.Allerseelen*, S 4 3 ). Es scheint, als sei
Celan selbst schon während der Arbeit am Sprachgitter-Band von dieser
Thematik unbefriedigt gewesen, ohne doch schon jenen Schritt vollziehen
zu können, wie ihn der Meridian ein Jahr später formuliert hat. An die Stelle
einer Neufundicrung seiner ästhetischen Position traten, gleichsam als Surro­
gat, Maßnahmen der Stilisierung, wie sic in keiner anderen Phase von Celans
Oeuvre, weder vorher noch nachher, in der für Sprachgitter charakteristi­
schen Form nachzuweisen sind. Kein anderer Band ist so ausgcfcilt, so
streng durchkomponiert, wie Sprachgitter. Davon zeugen vor allem die zahl­
reichen Änderungen, wie sic bei den Gedichten zwischen der Erstveröffent­
lichung in Zeitschriften und der Drucklegung des Bandes vorgenommen wor­
den sind; in diesem Ausmaß und Gewicht hat cs das sonst bei Celan nie
gegeben. So lautete, um nur ein weiteres Beispiel neben dem in seinen
beiden Fassungen bereits diskutierten Gedicht .Heimkehr* zu geben, der
Titel ,Mit Brief und Uhr* (S 14) ursprünglich: .Stillcben mit Brief und Wand­
uhr.*112 Signifikant ist dabei vor allem, daß Celan das Wort .Stillcben*, in
dem die Technik der Stilisierung von Lebendigem, der Herstellung einer
na tu re m orte, beim Namen genannt wird, später gestrichen hat. Er muß den
Widerspruch zumindest geahnt haben zwischen der Intention des Bandes, für
die Freisetzung unterdrückten Lebens Partei zu ergreifen, und der gleichsam
programmatischen Setzung einer ästhetischen Verfahrensweise, die, als Stili­
sierung, in der Unterwerfung von Lebendigem unter abstrakte Formprinzi­
pien besteht.

94
Die Neigung zum artifiziellen Arrangement ist in Celans Band auf den er­
sten Blick erkennbar. Er beginnt, als wäre er wie ein Musikstück kompo­
niert, mit den ,Stimmen" und endet mit der ,Engfiihrung". Im übrigen ist der
Band nicht musikalisch strukturiert — Celan fand Adornos Plan, ihn als
musikalisches Gebilde zu erklären, eher belustigend aber er macht Musik
zu seinem Gegenstand in ihrer graphischen Form: als Notation. So ist im
Gedicht ,Windgerecht" (S 30) vom vergeblichen Lesen einer windschiefen
Partitur die Rede (auf die Bedeutung der Windmetaphorik braucht hier
nicht noch einmal hingewiesen zu werden):

Tafclwand, grau, mit dem Nachtfries.


Felder, windgcrccht, Raute bei Raute,
schriftlecr.
Leuchtassc! klettert vorbei.
Gesänge:
Augenstimmen, im Chor,
lesen sich wund.

Auch die Eingangsmetapher des Gedichts ,Sprachgitter", das „Augenrund


zwischen den Stäben"", gemahnt an eine Note im Notenraster. Dem ver­
wandt ist diese Stelle in ,Nacht" (S 31):

Denkbar:
droben, im Weltgcstänge,
sternglcich,
das Rot zweier Münder.

Und schließlich gehört in diesen Zusammenhang das Gedicht ,Die Welt"


(S 50), das wie ein oben und unten mit Devisen umrahmtes Emblem auf­
gebaut ist:

Die Welt, zu uns


in die leere Stunde getreten:

Zwei
Baumschäftc, schwarz,
unverzweigt, ohne
Knoten.
In der Düsenspur, scharfrandig, das
eine frei­
stehende Hochblatt.
Auch wir hier, im Leeren,
stehn bei den Fahnen.

95
..Ohne Hoffnung ist nicht das Dasein sondern das Wissen, das im bildhaften
oder mathematischen Symbol das Dasein als Schema sich zu eigen macht
und perpetuiert“ "■* diese Einsicht der Dialektik der Aufklärung scheint,
wie es ohne Zweifel für den Geomctrismus von Sprachgitter meistens zu­
trifft, auch hier zu gelten, wo „Welt“ alsein strengkonturiertesgraphisches
Bild dargestellt ist. Indessen ist gerade dies überaus stilisierte Gedicht ein
Beispiel dafür, daß nicht der Geomctrismus an sich selbst schon, sondern
erst seine unkritische, affirmative Verwendung dazu führt, daß Celan im
Sprachgittcr-B-dnd zeitweilig in Widerspruch tritt zu seinen eigenen Inten­
tionen. Entgegen dem ersten Anschein ist dasselbe Verfahren, das etwa das
Gedicht .Sprachgitter* und auch den Band insgesamt, sofern er als einheit­
liche Komposition auftritt, problematisch macht, in .Die Welt4 angewandt in
einer Art und Weise, die durchaus vereinbar ist mit dem Desiderat, der
denaturierten menschlichen Natur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.Ge­
zeichnet ist eine Landschaft, über die ein Flugzeug hinweggeflogen ist.
..Düsenspur“ ist das erste im strikten Sinn zeitgenössische Wort in Celans
Lyrik, ln dieser seiner Eigenschaft, die einen Überraschungseffekt beim Le­
ser auslösen müßte, ist es ein Signal dafür, daß es im Band Sprachgitter nicht
allein um Auschwitz geht. Die Düsenspur ist die eines Bombers, der die
Landschaft vernichtet hat. Die Bäume sind abgebrannt zu schwarzen
Schäften, die den natürlichen Wuchs, Knoten und Zweige, nicht mehr er­
kennen lassen. Aber in der Düsenspur ist ein Hochblatt - biologischer termi-
nus technicus für ein reduziertes Laubblatt zu sehen. Dieses Blatt ist
Metapher der sich befreienden und sich wieder aufrichtenden („frei-/
stehend“ ) menschlichen Natur, die sich, gleichsam wie eine scharfe Klinge
(„scharfrandig“ ), in die Düsenspur stellt, als vermöchte sic den nächsten
Bomber zu zerschneiden. Die Subjekte, deren Allegorie die beiden Baum­
schäfte sind, bekennen sich zu dem Hochblatt als zu ihrer Fahne. Sic lassen
sich nicht zu den Fahnen des Krieges und Todes rufen, sondern stehen zur
Fahne des Lebens. Eben dies kommt in einem streng graphischen Bild zum
Ausdruck, das wiederum an die musikalische Notation erinnert. Das Blatt als
Fahnentuch innerhalb der Düsenspur gemahnt an eine Note zwischen zwei
Linien. Aber das musikalische Bild ist hier nicht das Ergebnis einer sich
selbst nicht mehr reflektierenden ästhetischen Stilisation. Es ist nicht als ein
Letztes und affirmativ Gesetztes festgehalten. Indem das Gedicht die Linien,
in denen das Blatt gefangen ist, als die Konturen einer Düsenspur darstellt,
ist unausdriicklich gefordert, daß diese Linien beseitigt, die Bedingungen der
Vernichtung von Leben abgeschafft werden sollen. Die Leere, von der am
Anfang und Ende die Rede ist, wäre aufgehoben in einer Gesellschaft, die
keine Vernichtung von Menschen mehr dulden würde. Geomctrismus —

96
letztlich ästhetische Stilisation überhaupt — und der ästhetische Ausdruck
der Forderung nach Restitution und Bewahrung von Leben sind kein abso­
luter Widerspruch. A uf welche Weise ihre Vermittlung zu denken sei, ist das
Thema der kunstphilosophischen Reflexionen im Meridian.

97
III. ,Der Meridian4: Das Engagement absoluter Poesie

1.

Celans Rede anläßlich der Verleihung des Büchnerpreises, Der Meridian


(1960), ist der Versuch einer Theorie von Lyrik nach Auschwitz. Die einzige
philosophische Ästhetik, die sich mit demselben Gegenstand befaßt hat, ist
diejenige Adornos, dessen explizite Äußerungen zu diesem Problem indessen
sowohl zu spärlich als auch zu fragwürdig sind, als daß sie weiterhelfen
könnten. Dem 1951 zuerst publizierten und später berühmt gewordenen
Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, hat Ador­
no später die Korrektur hinzugefügt: „Das perennierende Leiden hat soviel
Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch ge­
wesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ 114Die
Kategorie des Ausdrucks reicht schwerlich aus, um Lyrik als Kunst zu be­
gründen. Sie unterscheidet nicht zwischen Dokumenten des Leidens, wie sie
als Aufzeichnungen von KZ-Häftlingen vorliegen, und Kunstwerken. Celans
Theorie scheint hier zunächst avancierter, weil sie den Kunstcharakter von
Lyrik nach Auschwitz problematisiert. Eben damit aber ist sie der Sache
nach einig mit Adornos Theorie der Moderne — also nicht erst von Kunst
nach 1945 —, die von Celans Ausführungen her deutlich als Projektion der
Problematik von Kunst nach Auschwitz auf die Moderne überhaupt er­
scheint.
Im Folgenden wird zunächst eine genaue Interpretation des Meridian ge­
geben, die davon ausgeht, daß der Leser Celans Ausführungen gleichzeitig
mitverfolgt. Die Schwierigkeiten der Büchnerpreis-Rede, die sich besonders
am Anfang dadurch potenzieren, daß Celan die Kenntnis Büchners beim
Hörer bzw. Leser voraussetzt, sind auf einem anderen Weg kaum zu mei­
stern. Übrigens steht die Angemessenheit von Celans Büchner-Deutung hier
nicht zur Diskussion. Sie zu untersuchen wäre vor allem in Hinsicht auf
Büchners Geschichtsphilosophie interessant, zumal Celan sich einer inter-
pretatorischen Methode bedient, die nicht nur einzelne Werke auf deren
erklärte Intentionen hin untersucht, sondern strukturelle Zusammenhänge
innerhalb des Oeuvres aufspürt und auf diese Weise zu Ergebnissen kommt,
die sich dem etablierten Bild vom politischen Büchner nicht ohne weiteres
einfügen.

Im Anschluß an das Kunstgespräch in Dantons Tod interpretiert Celan den

99
Automaten-Auftritt in Leonce und Lena sowie die Jahrmarktszene im Woy-
zec k us gleichfalls als Zeugnisse der Kunsttheorie Büchners, wiewohl das
Wort „Kunst“ , wo es in den letzteren Szenen fällt, zunächst gar nicht
.Kunstwerk* zu bedeuten scheint, sondern lediglich .Künstlichkeit* und - im
Woyzeck auch .Kunststück*. Unnatur, die artistische Behandlung der
menschlichen Natur ist indessen Gegenstand der Kunstkritik im Danton,
und das macht mehr als wahrscheinlich, daß der kostümierte Jahrmarktsaffe
im Woyzeck und die Automaten in Leonce und Lena die von Büchner
kritisierte Kunst die der Klassik und mehr noch ihrer Epigonen - allego­
risch darstellen. Die Natur, in deren Namen Büchner die künstliche Kunst
oder in seiner Terminologie kurz: „die Kunst“ verwirft, ist nach Celans
Beobachtung, die er freilich nicht explizit formuliert, in den drei Schau­
spielen divergent und komplementär bestimmt nach geschichtstheologi­
schem Modell: im Danton als „glühende“ , „brausende“ und „leuchtende“
Schöpfung als Natur im Schöpfungsstand —; im Woyzeck als nackte Krea-
türlichkeit - als Natur im Zustand der Gefallenheit in Leonce und Lena
als das wieder herzustellende Paradies, in dem es keine künstliche, von
„Uhren und Kalendern“ gemessene Zeit mehr geben soll.
Die von Celan nicht diskursiv formulierte, aber dem Gang seiner Darstellung
zu entnehmende These, daß Büchners Materialismus, sein Begriff von Natur,
theologisch fundiert sei, wird weniger im Meridian als in der Niemandsrose
ein Licht werfen auf Metaphern, in denen Celan sein Selbstverständnis zum
Ausdruck bringt. In der Interpretation Büchners schreitet Celan fort unter
der stillschweigenden Voraussetzung, daß Marionette, Jahrmarktsaffe und
Automat, Büchners Allegorien der idealistischen Kunst, deren Stilisations-
prinzip die Menschen denaturiere, vornehmlich Fremdbestimmung meinen;
daß also Büchners Kritik an der „Kunst“ ihrem objektiven Gehalt nach eine
Kritik an der affirmativen Darstellung des Menschen als eines unfreien, he-
teronomen Wesens sei.116 Diese Voraussetzung erlaubt es Celan, den Schluß
von Dantons Tod wiederum als Allegorie, nämlich des Gegensatzes von He-
teronomie und Autonomie, zu lesen. Celan beschreibt ihn —und diese Ter­
minologie ist bei der Lektüre des Meridian stets im Auge zu behalten — als
Gegensatz von „Kunst“ und „Dichtung“ . Den Bereich der „K unst“ sieht er
durch die theatralisch sterbenden Revolutionäre vertreten, ln seinen Augen
werden Danton und die anderen, vorab Camille, der nicht im geringsten „er
selbst“ ist, sondern nur „ein Mitgefahrener“ , zu Repräsentanten der
„Kunst“ , indem sie vor ihrem Tod Worte deklamieren, die ihnen das Image
von Helden, von „Paradegäulen der Geschiehte“ n 7 sichern sollen. Es geht
ihnen nach Celan allein um diese Wirkung ihrer Worte, und insofern sind
ihre Worte von Subjekt fremden Zwecken bestimmt, heteronom.

100
Demgegenüber versteht Celan Lucile, „die Kunstblinde“ , als Repräsentantin
der wahren Kunst, der „Dichtung“ . Ihr „Es lebe der König“ ist nach seinem
Verständnis „das Gegenwort, es ist das Wort, das den ,Draht‘ zerreißt, das
Wort, das sich nicht mehr vor den .Eckstehern und Paradegäulen der Ge­
schichte4 bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.“ Lucile also
emanzipiert sich von der „Kunst“ , von dem „Draht“ , der sie zur Marionette
machen will, indem sie ohne Rücksicht auf die Wirkung ihrer Worte —und
diese Wirkung ist ihre augenblickliche Verhaftung — „Es lebe der König“
ruft. Ihr Wort, das Celan unter Hinweis auf die Prägung seiner politischen
und damit mittelbar auch poetologischen Ansichten durch Kropotkin und
Landauer mitnichten als reaktionär verstanden wissen möchte, gilt ihm als
autonom, als „Akt der Freiheit“ . In ihm mache Lucile sich frei von Rück­
sichten auf ihre republikanische Reputation zugunsten des Protests gegen
die terreur-, solchermaßen werde sie mit sich selbst identisch, sei sie „da“
(„da ist Lucile, die Kunstblinde, dieselbe Lucile, für die Sprache etwas Per­
sonhaftes und Wahrnehmbares hat, noch einmal da“ ).
Nicht erst am Schluß des Danton, sondern schon während des Kunstge­
sprächs deutet sich nach Celan an, daß Lucile die „Dichtung“ repräsentiert,
denn sie nimmt Camilles Worte nicht inhaltlich wahr —sie weiß nicht „wo­
von die Rede“ ist —, sondern „sieht“ ihn sprechen: sie begreift Sprache als
Ausdruck der Person, der „Gestalt“ des Sprechenden.118 An der Verabsolu­
tierung der Sprache als Ausdruck gegenüber ihrem sachlichen Inhalt hält
Celan indessen mit seiner Interpretation von Luciles „Es lebe der König“
nicht mehr fest. Dieses ist keineswegs gleichgültig gegen seinen Inhalt, son­
dern wird zum „Akt der Freiheit“ , zum Ausdruck eines sich konstituieren­
den Ichs gerade vermöge seines Inhalts: der Kritik an der terreur sowie
daran, daß das Verhalten der Jakobiner um Danton bestimmt ist von der
Rücksicht auf geschichtlichen Nachruhm. Den negativen, kritischen Inhalt
sondert Celan strikt von dem positiven, indem er das „Es lebe der König“ als
antiroyalistisch versteht. Weil sein monarchistischer Wortlaut im Wider­
spruch steht zu dem, was es meint, ist es in sich widersinnig, absurd. Es
huldige, heißt es bei Celan, keiner Monarchie, sondern — und dabei ist
Moquerie über die aufwendige Formulierung mitzulesen — „der für die Ge­
genwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden. — Das, meine
Damen und Herren, hat keinen ein für allemal feststehenden Namen, aber
ich glaube, es i s t . . . die Dichtung.“
Über der Poetologie des Absurden, deren Gewicht erst bei Celans Lenz-
Interpretation zu ermessen sein wird119, ist der Ausgangspunkt nicht aus den
Augen zu verlieren: die Gegenüberstellung von „Kunst“ und Dichtung“ .
Zum Kriterium für die Qualität eines Kunstwerks wird die Frage gemacht,

101
ob ausschließlich Artistik es bestimmt oder ob es ihm gelingt, sich vom
Stilisationszwang zu befreien. Die Analogisierung dieser beiden Möglichkei­
ten des Ästhetischen mit heteronomer und autonomer Subjektivität spricht
der „Dichtung" die Funktion zu, Ausdnick von Freiheit als Möglichkeit des
Selbstseins zu sein.120 Solche Freiheit wird nicht als bereits vorhandene
vorausgesetzt, sondern soll sich im Kunstwerk als Transzendieren seines
Kunstcharakters gleichsam ereignen. „Kunst" und „Dichtung“ sind al­
so nicht, wie es zunächst scheint, als Alternativen gedacht, vielmehr soll
„Dichtung“ als Aufhebung von „Kunst“ innerhalb eines Kunstwerks
entstehen.
Zu diesem Ergebnis kommt Celan in der nun folgenden Passage, die von dem
Biichncrschcn Lenz als einem „mit Fragen der Kunst Beschäftigten“ und als
„Künstler“ , als Kunsttheoretiker und Kunstproduzenten handelt. Wie im
Danton, heißt es, trete auch im Lenz die „Kunst“ auf als Episode, d. h. als
Zwischenspiel auf dem Weg zur „Dichtung“ . Zwar liegt nach Celans Einsicht
nicht die „Dichtung“ in Büchners Intention; ihm gehe es vielmehr um die
Frage nach der „N atur“ - eine Frage, die Celan mit dem Hinweis auf ihre
Relevanz von Mercier bis Hauptmann ausdrücklich historisiert. Aber die
„Kunst“ werde doch schon bei Büchner problematisch, und zwar aus
Gründen, die dazu nötigen, „den Akut des Heutigen“ zu setzen.121 Er,
Celan, habe „keine andere Wahl“ , als diesen Akut zu setzen, und er greife
wohl aus eigenen, nicht jedoch aus „freien Stücken“ mit der Frage „nach
der Kunst und nach der Dichtung“ auf Büchner zurück. Was mit diesen
zunächst dunklen Bemerkungen gemeint ist, erhellt Celans Interpretation
einer Stelle im Lenz. Bei seinem Bemühen, das Natürliche und Kreatürliche
zu fassen, so referiert Celan, entstehe bei Lenz m itunter der Wunsch, zum
Medusenhaupt zu werden, welches sein lebendiges Objekt versteinert, es
tötet. Daß es im Lenz heißt: ,JMan möchte manchmal ein Medusenhaupt
sein“ 122 und nicht: „ich möchte“ , wird von Celan mit Nachdruck hervorge­
hoben und dahingehend verstanden, daß mit dem Wunsch, zum Medusen­
haupt zu werden, der dies Wünschende sich als unheimliches, unmensch­
liches Man erfährt, das solches zu wünschen vermag („Das ist ein Hinaus­
treten aus dem Menschlichen“ ). Das Kriterium der Unmenschlichkeit ist
dabei für Celan entscheidend. Der Wunsch, Leben um des Kunstwerks willen
zu mortifizieren, wird bezogen auf die gesellschaftliche Vernichtung von
Leben123 und unausdrücklich, aber unmißverständlich gefragt, ob diese
künstlerische Attitüde, die auch Lenz unumgänglich scheine, nicht die
Wiederholung gesellschaftlichen Unrechts im Medium des Ästhetischen sei.
Zwar sei, konzediert Celan, bei Büchner die Infragestellung der Kunst auf­
grund solcher Überlegungen vielleicht nur halbbewußt, aber schon radikal

102
im ursprünglichen Wortsinn: es sei problematisch, ob Kunst, der die un­
menschliche Mortifikation von Leben — die „Kunst“ — doch wesentlich zu
sein scheine, überhaupt noch sein dürfe. Damit nimmt Celan die Antwort
vorweg auf seine vielzitierte und gewöhnlich als Artikulation seines Einver­
ständnisses mit Mallarm6 mißdeutete Frage124: „Dürfen wir, wie es jetzt
vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbe­
dingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszu­
drücken, vor allem — sagen wir — Mallarme konsequent zu Ende denken? “
Der Gang des Meridian läßt keinen Zweifel daran, daß Celan diese Frage
strikt verneint. Die Kunst heute als selbstverständliche und nicht problema­
tisierbare Gegebenheit zu betrachten, muß Celan als unverantwortliche Ver­
absolutierung der Kunst gegenüber der heutigen Wirklichkeit erscheinen; als
Parteinahme für eine Kunst, die, wie immer auch unbeabsichtigt, jenseits
ihrer Inhalte allein schon kraft der Anwendung des ästhetischen Stilisations-
prinzips, welches gleichsam Leben tötet, im Bündnis steht mit der gesell­
schaftlichen Vernichtung von Menschen. Kunst heute muß, das ist die
Konsequenz solcher Überlegungen, ihren als Mortifikation ausgewiesenen
Kunstcharakter reflektieren und aufzuheben versuchen, muß „Dichtung“
werden, auch wenn damit letztlich Kunst überhaupt nicht mehr möglich
sein sollte.
Mit dem Wunsch, ein Medusenhaupt zu sein, betrete, heißt es im Meridian,
Büchners Lenz den unmenschlichen Bereich, „in dem die Affengestalt, die
Automaten und damit . . . ach, auch die Kunst zuhause zu sein scheinen“ .
Diese vorsichtige Formulierung („scheinen“ ) wird an späterer Stelle radikali-
siert, wenn vermerkt ist, daß es im Lenz im Anschluß an dessen Ausführun­
gen über die Kunst heißt: „Er hatte sich ganz vergessen“ . Kunst, folgert
Celan daraus, schaffe „Ich-Ferne“ , und da die „Dichtung“ doch „den Weg
der Kunst zu gehen“ habe, „wäre hier ja wirklich der Weg zu Medusenhaupt
und Automat gegeben“ . Der Unterschied zwischen dem früheren „scheinen“
und dem jetzigen „wirklich“ ist nicht ohne weiteres einsichtig. Er erklärt
sich damit, daß unterschieden ist zwischen der Selbstbefremdung, die Lenz
erfährt, als er sich wünscht, ein Medusenhaupt zu sein, und seiner Selbst-
vergessenheit angesichts der Kunst. Im ersten Fall ist der Weg zu Medusen­
haupt und Automat in dem Sinn noch nicht „wirklich“ gegeben, als Lenz
den Wunsch, ein Medusenhaupt zu sein, als ichfremd, als den Wunsch eines
unmenschlichen „Man“ erfährt; Lenz als Ich bewahrt also ein distanziertes
Verhältnis zu dem Bereich von Medusenhaupt und Automat. Erst indem er
sein Ich vergißt, gibt er die Distanz zu Medusenhaupt und Automat auf und
befindet er sich „wirklich“ in deren Bereich. Diese Selbstvergessenheit Len-
zens ist zu interpretieren als ein gleichsam blindes Sicheinlassen auf das

103
ästhetische Stilisationsprinzip, auf die „Kunst“ ; Celan legt Wert darauf, daß
sich Büchners Satz „Er hatte sich ganz vergessen“ nicht nur auf den Kunst­
theoretiker Lenz, den „mit Fragen der Kunst Beschäftigten“ , sondern auch
auf den Künstler, den Kunstproduzenten, bezieht. Jenseits einer undialek­
tischen Verteufelung des ästhetischen Stilisationsprinzips konstatiert Celan,
daß der Künstler sich vorbehaltlos auf dieses einzulassen habe. Nur indem
die „Dichtung“ den „Weg der Kunst“ gehe, habe sie die Chance, sich von
der „Kunst“ freizusetzen, das heißt ihre Partizipation am gesellschaftlichen
Unrecht zu negieren: „Vielleicht - ich frage nur , vielleicht geht die Dich­
tung. wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheim­
lichen und Fremden, und setzt sich doch wo? doch an welchem Ort?
doch womit? doch als was? wieder frei? “
Bei Lucilc vermochte Celan in höchst plausibler Weise die Genese von
„Dichtung“ darzustellen als Einspruch gegen die „Kunst“ , die von den thea­
tralisch sterbenden Revolutionären repräsentiert wird. „Dichtung“ war bei
Lucile als „Akt der Freiheit“ ausgewiesen, in dem das Subjekt sich von
ichfremdem Verhalten, von der Selbststilisierung zum Paradegaul der Ge­
schichte, emanzipiert. Bei Lenz scheint es Celan nicht mehr zu gelingen, den
Aspekt von „Dichtung“ als Negation der „Kunst“ zusammenzudenken mit
dem von „Dichtung“ als „Akt der Freiheit“ . Es wird streng unterschieden
zwischen den beiden Aspekten: „Ich verlasse den Selbstvergessenen, den mit
Kunst Beschäftigten, den Künstler [.. .| ich suche Lenz selbst, ich suche ihn
als Person, ich suche seine Gestalt: um des Ortes der Dichtung, um der
Freisetzung, um des Schritts willen.“ Während Lucile als Person, als Ich sich
konstituiert, indem sie ein „Gegenwort“ gegen die „Kunst“ Findet, scheint
Celan die Selbstidentität Lenzens, wenn er den theoretisch und praktisch
mit „Kunst“ Beschäftigten zu verlassen ankündigt, qualitativ anders bestim­
men zu wollen denn als Protest gegen die „Kunst“ . Indessen erweist sich,
daß Lenzens „Freisetzung“ wie die Luciles als Negation von „Kunst“ ver­
standen ist, aber die Frage danach wird zurückgestellt und am Ende sehr
mittelbar und auf den ersten Blick kaum verständlich beantwortet. Im
Rückgriff darauf, daß LucÜe „Sprache als Gestalt und Richtung und Atem“
wahrnehme, wird zunächst gefragt, welche „Richtung“ Lenz sich selbst ge­
geben habe125; gefragt ist also vorderhand nicht nach dem „Gegenwort“ , in
welchem die Person ihrer selbst inne wird, sondern nach den Konsequenzen
dieser Selbstvergewisserung Für den, der sie erlangt. Aus der Lebensge­
schichte soll rückwirkend geschlossen werden, worin Lenzens „Gegenwort“
bestanden hat. Auf ein biographisches Zeugnis über Lenz rekurriert Celan
denn auch mit seiner Frage, worauf Lenz „hingelebt“ habe, und er zitiert:
„der Tod als Erlöser ließ nicht lange auf sich warten. In der Nacht vom 23.

104
auf den 24. Mai 1792 wurde Lenz entseelt in einer der Straßen Moskaus
aufgefunden. Er wurde auf Kosten eines Adligen begraben. Seine letzte
Ruhestätte ist unbekannt geblieben.“ Lenz endete als Verschollener, unauf­
findbar für die Nachwelt. Dieses sein Verschwinden sieht Celan in der Lenz-
Erzählung dort angekündigt, wo es heißt: „nur war es ihm manchmal unan­
genehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte“ .,26Celan kommentiert:
„Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, — wer auf dem Kopf
geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.“ 127 Nach Celan, läßt sich
daraus folgern, hat sich Lenzens „Gegenwort“ , sein Wunsch, auf dem Kopf
zu gehen, erfüllt, indem er unauffindbar wurde: er ist gleichsam in den Ab­
grund des Himmels gefallen. Seine Selbstidentität realisierte sich darin, daß
er spurlos verschwand. Celans anfängliche und bei Lucile noch mit halber
Moquerie durchsetzte Rede von der „Majestät des Absurden“ , die für die
„Gegenwart des Menschlichen“ zeuge —und nichts anderes als dies Absurde
ist gemeint, wenn in dieser Passage von der Dunkelheit der Dichtung ge­
sprochen wird —, gilt m it vollem Em st für Lenz, der erst in einer verrückten,
verkehrten Welt er selbst sein zu können glaubt und zuletzt unauffindbar
verschwindet. Absurd daran ist die Tatsache, daß Lenzens Selbstidentität,
sein Menschsein, sich ansiedeln muß in einem Bereich jenseits der Menschen:
in der Verrücktheit und schließlich im spurlosen Verschwinden. Sein „Ge­
genwort“ , das (sowenig wie Luciles „Es lebe der König“ als Vivat auf die
Monarchie zu verstehen ist) nicht als Verherrlichung des Wahnsinns und
Werbung für den Rückzug aus. der Menschen weit gedeutet werden will, ist
Kritik an einer Realität, die ihm nicht erlaubt, Mensch zu sein. Mit Bedacht
legt Celan, der gegen Ende des Meridian die Ähnlichkeit seiner selbst mit
Lenz betont, so großen Wert auf die Datumsangabe, mit der Büchners Lenz
beginnt: auf den „20. Jänner“ . Am 20. Januar 1942 fand die Wannsee-
Konferenz über die .Endlösung der Judenfrage4 statt, und daß Büchners
Lenz, übrigens unmittelbar nach der Stelle mit dem „Abgrund“ , sich den
„Ewigen Juden“ nennt, war für Celans Interpretation, wiewohl das mit kei­
nem Wort im Meridian erwähnt ist, sicherlich von Bedeutung. Am „20.
Jänner“ , der erst über hundert Jahre nach Büchner zum historischen Datum
wurde, wird Lenz sich darüber klar, daß er ausgeschlossen davon ist, unter
Menschen menschenwürdig zu leben ; daß er nur als Verrückter, als auf dem
Kopf gehender Unmensch Mensch zu sein vermag. Lenzens Unmenschlich­
keit ist Protest gegen eine Realität, die ihn nicht Mensch sein läßt — und
damit wird evident, daß sein dunkles, absurdes „Gegenwort“ wie das Luciles
Kritik auch an der „K unst“ ist, denn diese wurde ja, nach Celans Deutung,
von Lenz als Verfahrensweise bestimmt, die gesellschaftliches Unrecht im
Medium des Ästhetischen fortsetzt, indem ihr Stilisationsprinzip Leben

105
tötet. Unmenschlichkeit, die Verabschiedung des aufrechten Gangs, ist Len-
zens Antwort auf gesellschaftliche Unmenschlichkeit wie auf diejenige einer
als Medusenhaupt auftretenden „Kunst“ . Den Augenblick, in dem Lenz der
Unmenschlichkeit seines Wunsches, auf dem Kopf zu gehen, inne wird, cha­
rakterisiert Celan als jähe Befremdung, als Schock, der Lenz „und auch uns“
den Atem verschlage eine „Atemwende“ , gleichsam ein Zurückschlagen
des Atems in den Mund, erfahren lasse und zum Verstummen zwinge.
Dies Verstummen erklärt sich als Zweifel daran, ob die Unmenschlichkeit
des „Gegenworts“ nicht doch bloß wie die „Kunst“ - die gesellschaft­
liche unkritisch reproduziere. Gelingt es aber der „Dichtung“ (und dies
Gelingen muß in Konsequenz von Celans Ausführungen als transzendentaler
„Ort“ , als Bedingung der Möglichkeit von „Dichtung“ verstanden werden),
zu unterscheiden zwischen „Fremd und Fremd“ zwischen dem „Ab­
grund“ auf der einen und Medusenhaupt und Automat auf der anderen
Seite, zwischen der Unmenschlichkeit des „Gegenworts“ und der der
„Kunst“ , so ist ihr Verstummen aufgehoben, und mit dem Ich, das „frei-
gesetzt“ ist, weil es nun die Gewißheit hat, daß sein Wort Kritik ist an der
realen Unmenschlichkeit und nicht deren Affirmation, wird nach Celan
möglicherweise noch „ein Anderes“ frei: die Aussicht auf eine menschen­
würdige Realität.

Daß dieser Begriff des „Anderen“ und nicht die Vorstellung einer Hinter­
welt, wie Celans Interpreten sie lieben, den folgenden Ausführungen zu­
grunde liegt, ist evident und wird sich im einzelnen noch erweisen. Nachdem
Celan im ersten Teil des Meridian von der Konstituierung von „Dichtung“
als „Gegenwort“ gehandelt hat, fragt er nun, ohne dies ausdrücklich zu
formulieren, nach der gesellschaftlichen Funktion der als Kritik an Un­
menschlichkeit bestimmten „Dichtung“ . Die Übereinstimmung des Gedichts
mit sich selbst, seine Autonomie, wird geradezu als eine definiert, die durch
das „Andere“ , seine Intention auf eine menschenwürdige Realität, vermittelt
ist: „Vielleicht ist das Gedicht von da her es selbst . . . und kann nun, auf
diese kunst-lose, kunst-freie Weise, seine anderen Wege, also auch die Wege
der Kunst gehen — wieder und wieder gehen? “ An diesem Satz muß zu­
nächst befremden, daß in demselben Atemzug, in dem festgestellt wird, daß
das Gedicht sich befreit habe von der reflexiven Frage nach sich selbst als
„Kunst“ und nun „andere Wege“ zu gehen imstande sei, diese „anderen
Wege“ doch wieder nur insofern bestimmt werden, als sie die der Kunst
(einer Kunst, in der die „Kunst“ aufgehoben ist) einschließen; über die
Bestimmung des Gedichts als Auseinandersetzung mit der „Kunst“ , mit der
affirmativen Widerspiegelung der gesellschaftlichen Vernichtung von Leben,

106
geht Celan also nicht hinaus. Ebenso vorsichtig, als müsse er sich selbst von
einem unüberlegten Schritt zurückhalten, verfährt er, indem er sich im Fol­
genden seines eigenen Ansatzes noch einmal vergewissert und seine Theorie
der „Atemwende“ verallgemeinert zu einer Theorie der zeitgenössischen
Lyrik. Es sei vielleicht, heißt es, das Neue an den heutigen Gedichten, daß
ihnen ihr Verstummen nicht nur wie ein Stigma anhaftet, „eingeschrieben“
bleibt, sondern daß es in ihrer eigenen Intention liegt, ihrer Herkunft aus
dem Verstummen, ihres „20. Jänner“ eingedenk zu bleiben; was früher —
nach der bisherigen Darstellung z. B. im Lenz — der unbewußte Gehalt von
„Dichtung“ war, werde heute ihr erklärter Gegenstand. Daß das Gedicht,
welches seinen „20. Jänner“ nicht vergißt, repräsentativ sei für den heutigen
Zustand der Subjektivität, vermutet Celan, wenn es heißt: „Aber schreiben
wir uns nicht alle von solchen Daten her? “ Mit der daran anschließenden
Frage „Und welchen Daten schreiben wir uns zu? “ wird eine Korrelation
hergestellt zwischen den Aspekten, in der Kritik an Unmenschlichkeit zur
Selbstidentität zu gelangen und die Herstellung einer humanen Gesellschaft
— eines zukünftigen „Datums“ , das einem „20. Jänner“ , an dem die organi­
sierte Vernichtung von Menschen beschlossen wurde, entgegengesetzt wäre
— zu fordern, wenn nicht gar zu befördern. Im Unterschied aber zu den
Subjekten, bei denen, wie Celan am Lenz demonstriert hat, die Erfahrung
eines „20. Jänner“ zu einem „furchtbaren Verstummen“ führen kann, heißt
es nun vom Gedicht: „Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten
eingedenk, aber — es spricht.“ Durch die bloße Tatsache, daß es spricht, als
Sprache, ist nach Celan die Kritik des Gedichts an sozialer und politischer
Unmenschlichkeit identisch damit, daß es einem „Anderen“ , einer humanen
Realität, das Wort redet, die womöglich nicht nur ein partiell Anderes gegen­
über dem Bestehenden, sondern ein total,-„ganz Anderes“ sei. „Immer nur
in seiner eigenen, allereigensten Sache“ sprechend, das heißt in der Ausein­
andersetzung m it seinem Kunstcharakter nur sich selbst verfolgend, spreche
das Gedicht „in eines Anderen Sache“ . Das Engagement des Gedichts für
eine menschenwürdige Realität ist also nicht als etwas verstanden, das zu
seinem Konstitutionsgesetz, etwa als diskursiv formulierter Inhalt, hinzu­
träte. Als Sprache, die dem Verstummen gleichsam abgerungen ist und inso­
fern durch ihr bloßes Dasein schon gegen eine Realität Einspruch erhebt,
deren Inhumanität die Subjekte zum Verstummen zwingt, ergreift das Ge­
dicht nach Celans Ausführungen Partei für eine humane Realität. Das ist
keinesfalls dahingehend mißzuverstehen, daß Celan jede Art von Lyrik zu
legitimieren versuchte. Die von ihm beschriebene utopische Funktion kann
nach seiner Ansicht nur eine solche Lyrik wahrnehmen, die ihrer Herkunft
aus dem „furchtbaren Verstummen“ über eine unmenschliche Realität ein­

107
gedenk bleibt, indem sie sich mit ihrem eigenen Kunstcharakter, dem ästhe­
tischen Abbild gesellschaftlicher Unmenschlichkeit, auseinandersetzt und
ihn negiert. Der kritische wie der utopische Gehalt des Gedichts besteht
nach Celan in nichts anderem als im Modus seiner ästhetischen Konstitution.
Das Gedicht spricht in der Sache einer humanen Gesellschaft, indem es sich
weigert, in der ästhetischen Mortifikation von Leben die Inhumanität der
bestehenden Gesellschaft kritiklos wideizuspiegeln.
Durch den Modus seiner ästhetischen Konstitution ergreift nach Celan das
Gedicht Partei für ein menschenwürdiges Leben und tritt es in Opposition
gegen die gesellschaftliche Vernichtung von Leben. Es spricht die Sprache
der ,.Kreatur“ , deren Unterdrückung am 20. Januar 1942 mit dem Beschluß
zum Völkermord in der offenen Barbarei, in der physischen Ausrottung von
Millionen terminierte. Von daher wird verständlich, daß Celan ein „Zusam­
mentreffen dieses .ganz Anderen4 |. . .] mit einem nicht allzu fernen, einem
ganz nahen .anderen4“ für denkbar hält, das heißt mit einem anderen Men­
schen, von dem es wenig später heißt, daß er Lucile gleiche. Durch sein
kommunikatives Moment, im Ansprechen des .anderen4 als einer der Be­
freiung bedürftigen Kreatur, zitiert nach Celan das Gedicht das .Andere4
einer menschenwürdigen Realität. „Das Gedicht verweilt oder verhofft —ein
auf die Kreatur zu beziehendes Wort - bei solchen Gedanken.“
Die Kommunikation des kreatürlich „verhoffenden“ Gedichts mit dem „an­
deren“ als einer befreiungsbedürftigen Kreatur ist nach Celan gebunden an
ein bestimmtes Selbstverständnis des Künstlers. Das Gedicht, das heute
„eine starke Neigung zum Verstummen“ zeige, sei doch immer noch mög­
lich als ein „Sprechen“ . Dieser Satz ist deshalb keine Tautologie, weil Celan
dieses Sprechen, wohl unter Anspielung auf Saussures Unterscheidung von
langue und parole, abgrenzt gegen „Sprache schlechthin“ und spezifiziert als
aktualisierte, dank einer „Individuation“ gewonnene Sprache. Daneben
heißt es, daß das Sprechen des Gedichts vermutlich „nicht erst vom Wort
her .Entsprechung4 44 sei. Was mit dieser schwer verständlichen Äußerung
gemeint ist, geht mittelbar aus dem Satz hervor: „Dieses Immer-noch des
Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht
vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungs­
winkel seiner Kreatürlichkeit spricht.“ Die Metapher des Neigungswinkels
muß darauf bezogen werden, daß das Gedicht „eine starke Neigung zum
Verstummen“ zeige. Die „Neigung“ des Gedichts zum Verstummen korre­
spondiert der „Neigung“ , der Gebeugtheit der Kreatur, ist deren „E nt­
sprechung“ . „Nicht erst vom Wort her“ , sondern schon wegen seiner „Nei­
gung zum Verstummen“ also ist das Sprechen des Gedichts „Entsprechung“ ,
nämlich zur „Neigung“ der Kreatur, die als Metapher der Verletzung ihrer

108
Würde, der Verhinderung ihres aufrechten Gangs zu verstehen ist.
In der Arbeit des Künstlers am Gedicht gelangt dieser nach Celan zur Selbst­
identität: er übt Kritik an der Unmenschlichkeit der bestehenden Gesell-
schaft^und findet Ausdruck für das Leiden der Kreatur. Selbstidentität in
diesem Sinn ist nicht boße Subjektivität, sondern in ihrer Substanz allge­
mein: der Künstler als „Einzelner“ spricht für alle. Deshalb zieht Celan mit
Recht in Erwägung, daß das Gedicht als „gestaltgewordene Sprache eines
Einzelnen“ „im Geheimnis der Begegnung“ stehe — eine Formulierung, die
nur so lange als unnötige Mystifikation und Reminiszenz an den raunenden
Jargon der Eigentlichkeit erscheint, wie nicht erkannt ist, daß das Wort
„Geheimnis“ hier im ursprünglichen Wortsinn von ,Vertrautsein4, »Zuhause­
sein4 verwendet ist. Der folgende Satz indessen thematisiert die „Begeg­
nung“ des Gedichts nicht als eine mit einem anderen Menschen, sondern mit
dem „Anderen“ einer menschenwürdigen Realität, die das Gedicht will und
in der es zuhause wäre: „Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht
dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm
zu.“ Das Gedicht hält auf das Andere zu als auf das, worin es zuhause wäre,
und nimmt „jedes Ding, jeden Mensch“ wahr als „Gestalt dieses Anderen“ ,
das heißt als Gestalt der Notwendigkeit, die entwürdigte menschliche und
auch außermenschliche Natur wieder in ihr R.echt einzusetzen. Diesen Wahr­
nehmungsmodus bezeichnet Celan als „Aufmerksamkeit“ , die er mit Male­
branche „das natürliche Gebet der Seele“ nennt. Nach Benjamin, dem das
Zitat entlehnt ist, schließt dieses Gebet „alle Kreatur“ ein.128 „Aufmerksam­
keit“ ist damit m ittelbar bestimmt als Fürsprache für die leidende Kreatur.
Das Gedicht befragt seine Gegenstände daraufhin, ob in ihnen noch
„Zuckungen“ , „Andeutungen“ von Leben sind, und wird, wenn es keine
A ntw ort zu erhalten droht, oft zum „verzweifelten Gespräch“ . Erst in ei­
nem solchen „Gespräch“ konstituiert sich nach Celan das „Angesprochene“
in dem Sinn, daß seine möglicherweise völlig verborgene Lebendigkeit her­
vortritt und es fähig wird, sich um das „ansprechende und nennende Ich“ zu
„versammeln“ , also als Lebendiges sich kundzutun. Das Angesprochene wird
gegenwärtig als Lebendiges. In diese Gegenwart, die zunächst nur in der
Erkennbarkeit dessen besteht, daß das Angesprochene Leben hat, bringt das
Angesprochene nach Celan darüber hinaus sein „Anderssein“ mit; es wird
erkennbar als das, was es an sich, jenseits seiner subjektiven Vergegenwärti­
gung durch das ansprechende Ich ist. In seinem Hic et Nunc, heißt es, lasse
das Gedicht das „Eigenste“ seines Gegenstandes, „dessen Zeit“ , mit­
sprechen. Es wird gleichsam der Lebensgeschichte des Angesprochenen ge­
recht und fragt insofern immer auch nach dem „Woher und Wohin“ , nach
der Vergangenheit und Zukunft der entdinglichten, als lebendig wahrgenom­

109
menen Dinge. Diese Frage ist zugleich die nach dem Grund und Zweck der
Dinge. Sie erlaubt, wenn die Freiheit der Dinge respektiert werden soll,
keine definitorische, begrenzende Antwort: sie weist „ins Offene und Leere
und Freie“ . Wohin die Dinge von sich aus wollen, welche „Richtung“ die an
ihnen entdeckte Freiheit hat, ist nach Celan eine Frage, die zu keinem Ende
kommt, die aber das Gedicht letzten Endes stellt. Problematisch werden ihm
von hier aus die sprachlichen Formen, in denen die freigesetzte Lebendigkeit
der Dinge ihren Ausdruck finden soll: Tropen und Metaphern, die insofern,
als sie etwas Anderes bedeuten, nicht für sich, sondern für anderes und
damit die sprachlichen Äquivalente von Herrschaft, von Subsumtion unter
einen fremden Zweck sind. Die niemals zu verwirklichende Idee des Ge­
dichts „Das absolute Gedicht — nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es
nicht geben!“ ist nach Celan seine Absolutheit in dem Sinn, daß es völlig
frei wäre von Herrschaft, ln diesem Fall würden die Bilder nichts mehr
bedeuten, was außer ihnen selbst wäre. Sie wären nicht mehr für anderes,
sondern nur noch für sich selbst. Als Formen uneigentlichen Sprechens
wären Tropen und Metaphern damit „ad absurdum“ geführt129, weil sie
nichts Eigentliches außerhalb ihrer selbst mehr meinen würden. Das von
ihnen Gemeinte wäre nichts, was außerhalb des Gedichts läge; indem sie nur
noch sich selber meinten, gingen sie völlig auf im Hic et Nunc des Gedichts
und wären „das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrge­
nommene und Wahrzunehmende“ . Toposforschung, die dem „unerhörten
Anspruch“ noch des „anspruchslosesten Gedichts“ darauf, Freiheit in seiner
Sprache und als diese zu realisieren, gerecht werden will, ist nach Celan zu
betreiben „im Lichte der U-topie“ 130, das heißt im Licht eines nirgends noch
vorhandenen Reichs der Freiheit, und würde den „Menschen“ und die „Krea­
tur“ in diesem Licht erscheinen lassen. Das „absolute Gedicht“ Celans'31 ist
ein Gedicht, das seiner ästhetischen Gestalt nach denjenigen Zustand der
Freiheit — eines Lebens, das sich selbst genug ist und in dieser seiner Selbst­
bestimmung respektiert wird — symbolisieren soll, dessen gesellschaftliche
Herstellung ihm nach der Vernichtung von Millionen Menschenleben ebenso
unabsehbar wie dringlich geworden zu sein scheint.
Die Frage nach der sozialen Funktion von Dichtung wird also von Celan
zunächst zurückgenommen in die Frage nach dem sozialen Gehalt. Dieser ist
bestimmt als Versuch des Kunstwerks, die Unterdrückung der Kreatur im
Medium des Ästhetischen antizipatorisch aufzuheben. Nicht dadurch, daß
das Kunstwerk gemäß der Forderung Merciers: „Elargissez l’A rt“ sich die
Darstellung von Naturgegenständen zum Ziel setzte, nicht durch ein in die­
sem Sinn naturalistisches Verfahren kann nach Celan die beschriebene Inten­
tion verwirklicht werden, sondern im Gegenteil nur durch die Besinnung auf

110
den Kunstcharakter der Kunst, auf dem — als auf einer „Enge“ , welche die
Freiheit des Lebendigen einzuschränken und zu vernichten droht —so hart­
näckig zu insistieren sei, bis er gesprengt werde und Freiheit gleichsam aus
sich entlasse. Dieses ästhetische Verfahren wurde von Celan immer zugleich
als Prozeß einer Selbstfindung dargestellt, und das geschieht auch jetzt,
wenn er gegen Mercier formuliert: „Die Kunst erweitern? —Nein. Sondern
geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“ Celans
Gleichsetzung des gesellschaftlichen Gehalts von Kunst, der nach seiner
Überzeugung durch die Objektivität ihrer Form vermittelt ist, m it der Be­
freiung des Subjekts zur Selbstidentität beruht nicht allein darauf, daß es
sich beim Meridian um eine Künstlerästhetik handelt; um eine Ästhetik aus
der Sicht dessen, der Kunst produziert. Die Forderung, mit der Kunst in die
„allereigenste Enge“ zu gehen und sich „freizusetzen“ , richtet Celan nicht
nur an den Künstler, sondern auch an den Leser. Vom Leser wird die Bereit­
schaft erwartet, Kunst als Medium einer „Selbstbegegnung“ zu verstehen.
Das wäre nichts als ein schamloser Versuch, dem Leser eine fremde Identität
— die des Autors —als die eigene zu suggerieren, wenn Celan den Begriff der
„Selbstbegegnung“ im Meridian nicht von Anfang an historisch konkret und
eben deshalb allgemein verbindlich bestimmt hätte als Protest gegen soziale
und politische Unterdrückung. Wo die Dichtung darüber einen Konsens her-
stellen kann, hat sie nach Celan als „Meridian“ , als ein „Verbindendes“
gewirkt: sie bekräftigt eine Solidarität, die in Anlehnung an die letzten
Worte von Leonce und Lena bezeichnet wird als das „Commode“ , Ange­
nehme. Celan will sich „hüten“ davor, wie sein Landsmann, der Büchner-
Editor Karl Emil Franzos, ,kommend4 zu lesen s ta t t,commode*. Eine ange­
nehme Kommunikation, von der keineswegs sicher ist, daß sie zustande
,kommt*, liegt nach Celans Selbstverständnis in der Intention von Lyrik: sie
will diejenigen miteinander verbinden, zur „Begegnung“ führen, die zur
Selbstidentität in dem Sinn gelangen, daß sie sich der Notwendigkeit der
Befreiung der Kreatur von ihrer Unterwerfung unter fremde Zwecke bewußt
werden. Die soziale Funktion von Kunst ist also nach Celan Bewußtseins­
bildung, die sich freilich auf die Minorität der für Lyrik überhaupt Zugäng­
lichen beschränkt. Ob der Meridian, der sie verbindet, schließlich auch an­
dere Menschen, wenn nicht gar ganze Schichten oder Klassen, „berührt“ ,
bleibt dahingestellt. Die Kunst soll hier zumindest unter den Privilegierten,
den literarisch Gebildeten, die größte Lücke schließen. Zu fragen aber wäre,
ob es ausreicht, einer solchen Gruppe zum Bewußtsein von der Notwendig­
keit, die Unterdrückung der Kreatur aufzuheben, zu verhelfen, ohne zu­
gleich auf die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen jener Unter­
drückung hinzuweisen. Wenn unter denen, die wohl am ehesten die Mittel

111
hätten, ihre eigene Situation zu erkennen, das Bewußtsein davon erst gebil­
det werden muß, daß für viele ein menschenwürdiges Leben noch nicht
besteht, ist ernsthaft zu fragen, ob dieselben Personen von sich aus imstande
und bereit sind, die gesellschaftlichen Gründe für das Fortdauern von Unter­
drückung namhaft zu machen. Das Verhältnis von Kunst und politischer
Aufklärung ist von hier aus zu überdenken.

Zwischen dem von Celan konzipierten Modus von Kunst und einer gesell­
schaftlichen Praxis, welche die objektiven Bedingungen von Unmenschlich­
keit abzuschaffen versuchte, müßte politische Aufklärung vermitteln. Die
Kunst selbst, wie Celan sie denkt, kann diese Vennittlung nicht einmal im
Ansatz leisten. Ihre Funktion ist die Bildung des Bewußtseins von der realen
Not und die Erweckung des Bedürfnisses nach einem anderen, humanen
Zustand der Realität, ohne daß sie in irgendeiner Weise aussagen könnte, wie
ein solcher Zustand herstellbar wäre, ln diesem Sinn bleibt die Sphäre von
Praxis ausgespart. Die soziale Funktion von Kunst, wie Celan sie bestimmt,
kann sich nicht auf der Ebene diskursiv formulierten Engagements realisie­
ren. Lucile, die im Meridian die „Dichtung“ repräsentiert, kann sich nach
Celans Ansicht nicht so äußern, daß ihr Republikanismus noch erkennbar,
explizit wäre; sie kann kein Vivat auf eine bessere, humane Republik aus­
sprechen. Das Engagement der „Dichtung“ liegt dem Meridian zufolge jen­
seits der positiven Artikulation politischer Zielvorstellungen, die geradezu
als Verrat an der ästhetischen Autonomie, als Fremdbestimmung der Kunst
dargestellt ist. Das aber begründet umgekehrt im Falle Luciles noch nicht
zwingend die Notwendigkeit, um 'des Protests gegen die terreur willen ein
Vivat auf den König zu sprechen. Celan scheint sich der Schwäche des von
ihm gewählten Modells der „Dichtung“ bewußt zu sein, wenn er an dieser
Stelle die Textexegese von Büchners Drama verläßt und auf seine eigene
Lebensgeschichte, auf die Lektüre Kropotkins und Landauers in seiner Ju­
gend, verweist, um eine ihrem buchstäblichen Wortsinn nach reaktionäre
Parole als ihrem Gehalt nach progressive legitimieren zu können. Zugleich ist
die Berufung auf Kropotkin und Landauer in diesem Zusammenhang sicher­
lich beabsichtigt als Adresse an einen bestimmten Teil der Leserschaft. Celan
versucht deutlich zu machen, daß sich seine Lyrik als sozialistische oder
doch mit sozialistischen Intentionen vereinbare versteht und zugleich ver­
neint, solche Intentionen positiv formulieren zu können. Der Anspruch ci-

112
nes Kunstwerks auf eine emanzipatorische politische Position widerspricht
nach Celans Überzeugung nicht der Verwendung von Sprachformen, die
ihrem manifesten Wortsinn nach extrem konservativ sind. Daß deren un­
eigentlicher, absurder Charakter zum Ausdruck kommt, ist freilich entschei­
dend für das Gelingen des von Celan anvisierten poetischen Verfahrens —
eine Bedingung, die Luciles „Es lebe der König“ nicht in unzweifelhafter
Weise erfüllt.
Luciles „Es lebe der König“ soll die Tatsache als absurd kennzeichnen, daß
nach der Revolution die Menschenwürde immer noch nicht zu ihrem Recht
gelangt ist. Lenzens Wunsch, auf dem Kopf zu gehen, ist Kritik daran, daß
die bestehenden Verhältnisse kein menschenwürdiges Leben, keinen auf­
rechten Gang ermöglichen. Sowohl Lenz als auch Lucile bringen nach Celans
Auslegung die Absurdität einer sozialen Wirklichkeit, die auf die Vernich­
tung von menschlichem Leben hinausläuft, zum Ausdruck im absurden „Ge­
genwort“ . Die Absurdität des „Gegenwortes“ spiegelt diejenige der Realität
wider und erhebt zugleich Einspruch gegen sie. Absurd aber wäre das „Ge­
genwort“ per definitionem eben dann nicht mehr, wenn es ein „Anderes“ ,
eine Alternative zum Bestehenden positiv formulieren würde. Wie sehr
Celans Theorie des Absurden auf seine eigene literarische Praxis gemünzt ist,
läßt sich an wenigen Beispielen zeigen. Das Motiv des Steins, das m it Recht
als typisch für Celan gilt, richtet sich kritisch dagegen, daß die Menschen
nicht menschlich sind. Deutlich ist das, wenn es heißt (»Zuversicht4, S 13):

als gäb es, weil Stein ist, noch Brüder.

Oder in der ,Engführung4:

| . . . ] er (der Stein]
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. Wie
gut wir es hatten:

Brüderlichkeit und Gastlichkeit, die übrigens im Zusammenhang zu sehen ist


m it dem Selbstverständnis der Juden als Gastvolk, werden dem Stein zuge­
sprochen, aber das ist eben absurd. Die absurde Metapher kritisiert den
Mangel an humanen Verhaltensweisen unter Menschen, indem sie ein Gegen­
bild setzt, den Stein, das nicht beim Wort genommen sein will: kein Stein ist
human. Nicht ä la lettre, sondern nur negativ, als Negationen von Inhumani­
tät, lassen sich solche Metaphern verstehen. Mit der Metapher des humanen
Steins wird die Versteinerung, die Inhumanität der Menschen bestimmt ne­
giert. Das Konstitutionsprinzip dieser ästhetischen Form, der Verzicht auf

113
Positivität, wappnet Celans Lyrik freilich nicht dagegen, mißbraucht zu wer­
den im Interesse eines Protests, der sich gegen inhumane Zustände richtet,
aber nicht positiv formuliert, was zu ihrer Veränderung getan werden müßte;
der sich von der herrschenden Meinung, daß die bestehenden Verhältnisse
ein menschenwürdiges Leben gewähren, ebenso distanziert wie von Parteien
und Klassen, deren Ziele nicht cmanzipatorisch sind, aber auch mit nie­
mandem zum gleichen Ziel sich solidarisiert.
Die apolitische Deutung von Celans Lyrik durch seine bisherigen Interpre­
ten, deren Mißverständnisse zumeist schwerwiegender sind als das soeben als
Möglichkeit dargcstcllte, legt cs nahe, nach der Vermittlung zwischen dem
von Celan konzipierten Modus von Kunst und einer vernünftigen politischen
Praxis zu fragen. Ihrem erklärten Konstitutionsgesetz nach kann Celans
Lyrik nur negativ sein; das ist ihre notwendige Insuffizienz. Veränderung der
objektiven gesellschaftlichen Bedingungen von Inhumanität kann sie nur
insofern anstoßen, als sie einzelnen Subjekten das .Bewußtsein von N öten1
vermittelt. In welcher Weise dieses Bewußtsein sich weiter entwickelt, steht
außerhalb ihrer Macht.
Der Verzicht auf Positivität zwar nicht im Sinn der allgemeinen Formulie­
rung dessen, was sein sollte - Humanität , wohl aber im Sinn der Artikula­
tion dessen, wie das, was sein sollte, gesellschaftlich herstellbar wäre, ist
auch im Zusammenhang damit zu sehen, daß Celan Kunst als Negation von
Herrschaft expliziert. Das „absolute Gedicht“ symbolisiert, wie gezeigt wor­
den ist, nach Celans Ansicht den Zustand eines Lebens, das keinen fremden
Zwecken unterworfen ist; es nimmt gleichsam das, was das Ziel richtiger
Praxis wäre, vorweg und läßt in diesem Sinn Praxis hinter sich als ans Ziel
gelangte und damit hinfällige. Also nicht nur die kritische Funktion des
Gedichts, gegen eine absurde Verfassung der Gesellschaft zu protestieren,
sondern auch sein utopischer Gehalt hat den Ausschluß von Praxis aus der
ästhetischen Immanenz zur Folge. Zu kurz gegriffen, wenn auch in der
Tendenz nicht falsch, wäre deshalb wohl die These, daß Celan, wenn er -
um ein Beispiel zu nennen — in einem Gedicht der Niemandsrose das „Frie­
de den Hütten!“ des revolutionären Peuple de Paris aufgreift, aber „Krieg
den Palästen!“ wegläßt (,ln eins1, N 68), damit zum Ausdruck bringen wolle,
daß er eben keinen Krieg wolle. Die Frage, ob er eine Gewalt, die bestehen­
de Herrschaftsverhältnisse abzubauen versucht, bejaht oder abgelehnt habe,
läßt sich aufgrund einer solchen Stelle ebensowenig wie aufgrund des Meri­
dian beantworten. Daß er „Krieg den Palästen!“ wegläßt, ist primär in der
Konzeption einer Lyrik bedingt, die einen Zustand ans Ziel gelangter Praxis
symbolisieren soll und in diesem Sinn jenseits von Praxis ist. Dieser Zustand
ist Freiheit, ist Anarchie im ursprünglichen Wortsinn. Daß Celans Kunst­
theorie aus der Geschichte des Sozialismus den Anarchisten Kropotkin und
den Anarchosyndikalisten Landauer zitiert, ist deshalb von nicht zu unter­
schätzender Bedeutung. Zu schließen ist daraus freilich nicht, daß der Kon­
zeption ästhetischer Anarchie unmittelbar politischer Anarchismus ent­
spräche. Das ästhetische Reich der Freiheit ist fiir Celan vollkommene
Anarchie, welche die Freiheit auch der außermenschlichen Natur, der
„Dinge“ , einschließt. Ob auch das politische Reich der Freiheit völlig frei
wäre von Herrschaft oder ob in ihm lediglich die Herrschaft über Menschen,
nicht aber über die äußere Natur abgeschafft wäre, bleibt bei Celan dahinge­
stellt.
Die Ironie der Feststellung, daß Lucile der „Majestät des Absurden“ huldige,
wird erst rückwirkend ermeßbar. Luciles „König*34, ihre „Majestät“ ist das
Absurde als die ästhetische Artikulation des Reichs der Freiheit; ihre Monar­
chie ist in Wahrheit Anarchie. Anarchisch ist für Celan eine Sprache, in der
alle „Tropen und Metaphern“ ad absurdum geführt, das heißt von dem
Zwang, etwas zu bedeuten, was sie nicht sind, befreit wären. Ein solcher
Begriff von Sprache ist freÜich nur dialektisch einzulösen, entsprechend dem
Modus, in dem Celan im Meridian die Aufhebung des ästhetischen Stilisa-
tionsprinzips im Kunstwerk beschreibt. Nicht durch den Verzicht aufs Be­
deuten, sondern nur durch präzises Bedeuten vermag Sprache sich in der
Dichtung als bedeutende zu transzendieren und damit „frei“ , für sich, und
in solchem Fürsichsein zum Symbol gesellschaftlicher Freiheit zu werden.

3.

Der Versuch, die Ästhetik des Meridian auf Adornos ästhetische Theorie zu
beziehen, droht zur tautologischen Wiederholung zu geraten, da beide nicht
nur in Einzelheiten, sondern in der Substanz übereinzustimmen scheinen.
Kein Zweifel, daß Celan sich der Nähe zu Adorno bewußt war. An zwei
Stellen bezieht sich der Meridian diskret, aber unverkennbar für den Infor­
mierten, ausdrücklich auf Adorno. Zunächst mit dem Hinweis auf das ein
Jahr zuvor verfaßte »Gespräch im Gebirg4, in dem Celan eine durch Peter
Szondi in die Wege geleitete erste Begegnung mit Adorno in Sils gleichsam
fiktiv nachzuholen versuchte, nachdem er, Celan, aus familiären Gründen
schon vor der Ankunft Adornos nach Paris hatte zurückreisen müssen. Für
das »Gespräch im Gebirg4 bedankte Adorno sich, indem er seinen Essay über
Val6ry Celan widmete, und in diesem nun ist am Anfang von einem Meri­
dian die Rede. Die Meridian-Metapher selbst ist also eine Reverenz an Ador-

115
no, in dessen Val6ry-Essay es am Schluß heißt: „So wird im Denken dessen
Prinzip. Herrschaft selber, widerrufen. Der alles an seine Macht als Künstler
setzt, denunziert die Kunstwerke, insoweit sie Macht ausüben.f...] Die Idee
der unversöhnlichen Anstrengung von Kunst ist Versöhnung als ihr
E nde".132
Auch im Meridian ist die These vom Ende der Kunst enthalten. Aus zwei
komplementären Richtungen wird sie thematisch. Zum einen, indem Celan,
wie übrigens schon Adorno und Horkhcimer in der Dialektik der Aufklä­
ru n g "1, den vollkommen durchgebildeten ästhetischen Stil als Äquivalent
von Herrschaft, der gesellschaftlichen Vernichtung von Leben, versteht und
vom Kunstwerk fordert, daß es sich gegen sein eigenes Stilisationsprinzip
richten und dieses aufheben soll; zum anderen, indem Celan davon spricht,
daß das Kunstwerk im „Anderen“ , in einer menschenwürdigen Realität zu­
hause sei. Beide Aspekte, die auch beide am zitierten Schluß des Val6ry-
Essays angesprochen sind, hat Adorno in der Ästhetischen Theorie ausge-
fuhrt.134 Unter der Voraussetzung, daß autonome Kunst ihren Gehalt daran
habe, Herrschaft zu verklagen (ÄT 79), wird für Adorno die Revolte der
Kunst gegen sich selbst, die Hereinnahme von Antikunst in die Kunst, zur
wesentlichen Bestimmung des Kunstwerks der Moderne. Indem die Kunst­
werke gegen sich selbst gerichtet sind, negieren sie nach Adorno sich selbst
als Identität stiftenden, herrschaftlichen Geist (ÄT 5 1 ,3 1 0 ,4 7 4 ) und stehen
sie ein für einen gesellschaftlichen Zustand, der jenseits von Herrschaft wäre:
fürs Reich der Freiheit. Wäre dieses, das utopisch „Andere“ der Kunst,
verwirklicht, ginge Kunst unter:

„Die geschichtliche Perspektive eines Untergangs der Kunst ist die Idee eines jeden
einzelnen |Kunstwerks|. Kein Kunstwerk ist, das nicht verspräche, daß sein Wahrheits­
gehalt, soweit er in ihm als dasciend bloß erscheint, sich verwirklicht und das Kunst­
werk, die reine Hülle, zurückläßt, wie Mignons ungeheure Verse cs weissagen.“
(ÄT 199)

Polemisch richtet sich diese Version vom Ende der Kunst in einer Gesell­
schaft, die den Gehalt von Kunst verwirklicht hätte (vgl. auch ÄT 13), gegen
die Hegelsche Konzeption vom Ende der Kunst. Diese hatte sich damit
begründet, daß die geschichtliche Dialektik des absoluten Geistes eine Stufe
erreicht habe, auf der die Wahrheit nicht mehr in der Kunst als dem sinn­
lichen Scheinen der Idee sich Existenz verschaffe, sondern —nach der Reli­
gion - in der Philosophie, welche an die Stelle der Objektivität der Sinnlich­
keit die Form des Gedankens als „die höchste Form des Objektiven“
setze.13s Gegen die philosophische Antizipation von Versöhnung, gegen das
Hegelsche Vertrauen in den Geschichtsverlauf, das ihm erlaubte, das Be­

116
stehende zu konstruieren, als wäre es die fortschreitende Verwirklichung der
absoluten Idee, stellt Adorno das Hegelsche Theorem von der Kunst als
„Bewußtsein von N öten“ , das, nachdem sich der Geschichtsprozeß als
Rückfall in offene Barbarei erwiesen habe, den Grund für das Überleben von
Kunst beim Namen nenne (ÄT 56, 309 f.; Noten III, 126). Hegel, der nach
Adorno „als erster ein Ende von Kunst absah, nannte das triftigste Motiv
ihres Fortbestandes: den Fortbestand der Nöte selber, die auf jenen Aus­
druck warten, den für die wortlosen stellvertretend die Kunstwerke voll­
bringen“ (ÄT 512). Die Legitimation der Kunst der Moderne besteht für
Adorno darin, daß sie den wortlosen Nöten in einer sozialen Realität, die
zunehmend durch Herrschaft über Menschen bestimmt gewesen und immer
noch sei, Ausdruck zu geben vermöge. Leiden, das sich diskursiver Formulie­
rung versperrt, verlange nach seiner Objektivation in der Kunst (ÄT 35). Die
„Rettung von Kunst“ erscheint unter der hier nicht näher zu diskutierenden
Prämisse der schwindenden Erfahrbarkeit von Herrschaft als „eminent poli­
tisch“ , weil ihre Abschaffung darauf hinauslaufe, daß die realen Nöte nicht
einmal m ehr denunziatorisch reflektiert, sondern das Bestehende in seinem
Sosein vollends bestätigt, ideologisch verdoppelt würde (ÄT 145). Schroff
wendet sich Adorno gegen die Frage nach einem unmittelbaren politischen
Zweck der Kunst:

„Das Pseudos des von Intellektuellen proklamierten Endes der Kunst liegt in der Frage
nach ihrem Wozu, ihrer Legitimation vor der Praxis jetzt und hier. Aber die Funktion
der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre Funktionslosigkeit; purer Aber­
glaube, sie vermöchte direkt einzugreifen oder zum Eingriff zu veranlassen. Instrumen­
talisierung von Kunst sabotiert ihren Einspruch gegen Instrumentalisierung; einzig wo
Kunst ihre Immanenz achtet, überführt sie die praktische Vernunft ihrer Unvernunft.“
(ÄT 475).

Vorkritisch nicht nur, sondern bloße Vergeudung kritischer Energie wäre es


in der Tat, Kunstwerke, deren eigenes Konstitutionsgesetz es nachweislich
ist, die Frage, was politisch zu tun sei, zu übergehen, immer wieder darauf­
hin zu verhören, ob und wie sie sich vor einer aktuell wünschenswerten
Praxis ausweisen können; sie können es nicht. Zu fragen wäre vielmehr, ob
nicht gerade ihre Abstinenz von verändernder Praxis sie der Instrumentali­
sierung im Interesse repressiver Praxis preisgibt, und unter welchen
Bedingungen es dazu kommt, daß Kunstwerke sich dieses und kein
anderes Konstitutionsgesetz zu eigen machen. Adornos Begründung der
Illegitimität der Frage nach dem Wozu der Kunst damit, daß sie gegen die
„gänzlich funktionale Welt“ protestiere, scheint ihrem theoretischen Ge­
wicht nach zunächst nichts anderes zu sein als pessimistisches Räsonnement,

117
das blind bleibt vor der Erkenntnis konkreter politischer und sozialer Aus­
einandersetzungen, deren bloße Tatsache der Annahme widerspricht, daß
die Welt „gänzlich" funktional und der freiheitliche Impuls zurückgedrängt
sei auf das in der Kunst mit dem Anspruch auf Statthalterschaft protestie­
rende Einzclsubjekt. Provokatorisch schließlich ist die Tatsache, daß er die
praktische Vernunft ungeachtet ihrer Zwecke der bestehenden falschen
Praxis zuordnet. Daß die herrschende praktische Vernunft „Unvernunft" ist,
weil sic darin besteht, Menschen auf die Ware Arbeitskraft, auf bloße Mittel
für den Profit zu reduzieren und ihnen materielle und kulturelle Befriedi­
gung nur insoweit zu verschaffen, wie diese der Erhaltung der Arbeitskraft
nützlich also selbst wieder Mittel - ist, hätte keiner der von Adorno
zurechtgewiesenen Intellektuellen bestritten; wohl aber, daß ihre eigene
praktische Vernunft mit der Frage nach dem Wozu von Kunst —eine Frage,
die, wie zu zeigen sein wird, Adorno in einem vermittelten Sinn selber stellt
bereits der „Unvernunft“ anheimgefallen sei. Das Verhältnis zwischen der
bestehenden repressiven und einer cmanzipatorisch zumindest gemeinten
praktischen Vernunft wird von Adorno an der zitierten Stelle nicht erläu­
tert; beide werden vielmehr zugleich und mit demselben Begriff angespro­
chen.
Daß cs sich dabei mitnichten um eine terminologische Ungenauigkeit han­
delt, die bei einer Überarbeitung der Ästhetischen Theorie beseitigt worden
wäre, wird evident auf dem Hintergrund der durchgängigen Bestimmung des
Zwecks der Kunst als Glücksvcrsprcchen, als Stendhalschc promesse du
bonheur (ÄT 26, 205, 429, 461, 504 und passim). Kunst steht nach Ador­
no negativ, als Bewußtsein von Nöten, ein für das Reich der Freiheit und hat
ihr Glück daran, die empirische Realität zu „überfliegen“ (ÄT 16); die Lust,
die Kunst vermittelt, würde, so heißt es, in ihrer legitimen Gestalt „dem
Zustand des aus der Empirie als der Totalität des Füranderesseins Entlasse­
nen sich nähern, nicht der Empirie“ (ÄT 30). Empirische Realität ist im
Zusammenhang mit der Frage nach dem Zweck der Kunst nicht spezifiziert
als bestimmte Gesellschaftsform, sondern verstanden als Reich von Zwecken
der Selbsterhaltung (ÄT 103, 428). Das zentrale Moment der Geschichts-
philosophic der Kritischen Theorie wird damit für die Ästhetik relevant
gemacht. Schon die Dialektik der Aufklärung hatte sich dagegen gewandt,
das Reich der Freiheit auf der Basis der Notwendigkeit der Lebensreproduk­
tion durch materielle Arbeit zu denken: „So bliebe das Verhältnis der N ot­
wendigkeit zum Reich der Freiheit bloß quantitativ, mechanisch, und Natur,
als ganz fremd gesetzt, wie in der ersten Mythologie, würde totalitär und
absorbierte die Freiheit samt dem Sozialismus“ . 136 Solange die Notwendig­
keit physischer Selbsterhaltung durch Arbeit besteht, kann es nach dem

118
Befund der Dialektik der Aufklärung kein Reich der Freiheit geben; die Ver­
selbständigung der naturbeherrschenden, auf den Zweck der Selbsterhaltung
gerichteten Vernunft in einer Weise, die am Ende den ursprünglichen Zweck
ad absurdum führt im Telos der Selbstvernichtung der Menschheit, scheint
der Theorie Adornos und Horkheimers unter dieser Bedingung unabwend­
bar. Konsequent denkt Adorno die Praxis einer humanen Gesellschaft als
„Inbegriff4 von allgemein verfügbaren und nicht erst durch Arbeit zu er­
werbenden „Mitteln, die Lebensnot herabzusetzen, eines mit Genuß, Glück
und der Autonomie, in welcher jene sich sublimieren“ (ÄT 472 f.). Ein
soziales Leben, das jenseits der Notwendigkeit physischer Selbsterhaltung
durch Arbeit wäre, wird als heute nach dem technischen Stand der Produk­
tivkräfte objektiv mögliches ins Auge gefaßt. Wie diese Möglichkeit zu ver­
wirklichen wäre in einer Gesellschaft, „in der das Ideal von Vollbeschäfti­
gung das der Abschaffung von Arbeit substituiert44 (ÄT 473), bleibt indessen
außerhalb der Diskussion. Adornos Theorie versteht sich nicht als Erörte­
rung der Möglichkeiten, wie die praktische Vernunft im Interesse des von
ihm benannten Ziels wirksam werden könnte, sondern verwendet ihre ganze
Kraft darauf, noch einer auf Veränderung dringenden praktischen Vernunft
die Gefahr ihrer Befangenheit im Reich der Notwendigkeit vorzuhalten. Als
Mahnung an die praktische Vernunft wird auch Kunst verstanden:

„Die Kritik, welche Kunst a priori übt, ist die an Tätigkeit als dem Kryptogramm von
Herrschaft. Praxis tendiert ihrer schieren Form nach zu dem hin, was abzuschaffen ihre
Konsequenz wäre; Gewalt ist ihr immanent und erhält sich in ihren Sublimierungen,
während Kunstwerke, noch die aggressivsten, für Gewaltlosigkeit stehen.“ (ÄT 358 f.)

Das Apriori des Ästhetischen ist nach Adorno die Kritik von Praxis, sofern
diese die Zweck-Mittel-Rationalität, wie sie durch die Verfolgung des
Zwecks der Selbsterhaltung in Gang gesetzt wird, nicht zu durchbrechen
versucht. Erst wenn der Primat von Praxis bestritten wird, ist nach Adorno
deren wahrer Zweck — das Glück einer befreiten menschlichen und außer­
menschlichen Natur - angemessen berücksichtigt. Kunst soll das Reich der
Freiheit, den Zustand des Glücks vertreten, der die Notwendigkeit selbst­
erhaltender Tätigkeit nicht mehr kennt; sie optiere, heißt es, „für einen
Stand der Praxis jenseits des Banns von Arbeit. Promesse du bonheur heißt
mehr als daß die bisherige Praxis das Glück verstellt: Glück wäre über der
Praxis“ (ÄT 26).

Zweifellos aufgrund der gemeinsamen Erfahrung der offenen totalitären Ge­


walt entwickeln Adorno und Celan ihre Ästhetik auf der Basis einer Kritik der

119
Gewalt. Beide verstehen Kunst als Ostentation von Gewaltlosigkeit, als anti-
zipatorische Mimesis eines von Herrschaft befreiten Lebens. Trotz der prin­
zipiellen Übereinstimmung ist jedoch nicht zu übersehen, daß für Adorno
äußerst charakteristische Überlegungen wie die skizzierten zum Verhältnis
von Kunst und Praxis bei Celan völlig fehlen. Während sich Adorno zu dieser
Frage offenkundig defensiv verhält, scheint Celan ihr mit so großer Gelassen­
heit zu begegnen, daß er sie gar nicht erst verhandeln zu müssen glaubt. Daß
er sich in der Tat der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Praxis nicht
einfach entzieht, sondern sie mit einem hohen Grad von Berechtigung als
implizit ausreichend beantwortet betrachten darf, wird evident an den Punk­
ten, an denen der Meridian von Adorno abweicht, und sei es auch nur in der
Form von Akzentverschiebungen. Die universalgeschichtliche und totalisie-
rende Perspektive Adornos wird von Celan wieder auf den Punkt Fixiert, an
dem ihre Einsichten von unbestreitbarer Evidenz sind: auf das historische
Datum des faschistischen Völkermords, den 20. Januar 1942. Wird Ge­
schichte, wie in der Dialektik der Aufklärung, als Prozeß von Naturbeherr­
schung beschrieben, ohne daß deren Relation zu den jeweiligen gesellschaft­
lichen Produktionsverhältnissen noch angemessen berücksichtigt würde, so
ist es die naturbeherrschende Vernunft, die gleichsam als negativ konstruier­
ter absoluter Geist im Brennpunkt des Interesses steht. Dieses Interesse wird
in der Ästhetischen Theorie für die Kunst geltend gemacht. Kunst ist ver­
standen als kritische Selbstreflexion der Vernunft und damit als Medium
einer ,Wahrheit*, welche die gesamte, als fortschreitende Regression ge­
dachte Geschichte transzendiert. Es versteht sich, daß von diesem Ansatz
her die spezifisch historische Motivation einzelner Kunstwerke und -richtun-
gen, ihre Genesis und Geltung innerhalb bestimmter sozialer und politischer
Verhältnisse, als sekundär erscheinen muß, weil ihr .Wahrheitsgehalt* allemal
darin besteht, sich als Antithesis zur naturbeherrschenden Vernunft zu kon­
stituieren. Bemerkenswert an Celan ist nun, daß die Wendung der Kunst
gegen die Vernunft einen anderen Stellenwert erhält. Thematisch ist im
Meridian eine Vernunft, die Leben mortifiziert (ästhetisches Stilisations-
prinzip) bzw. das Recht ihrer Gegenstände auf ein Leben, das für sich ist
und keiner Rechtfertigung durch äußere Zwecke bedarf, mißachtet (Unauf­
merksamkeit, gegen die Celan, aus Benjamin zitierend, „Aufmerksamkeit“
setzt). Eine solche Vernunft beherrscht Natur, ohne daß sie im strengen
Sinn als naturbeherrschende Vernunft, das heißt als Vernunft, die Natur den
Zwecken der Selbsterhaltung unterwirft, ausgewiesen wäre; das zu behaup­
ten, wäre eine bloße Äquivokation. Anders als bei Adorno, der in der natur­
beherrschenden Vernunft das Prinzip von Herrschaft entdeckt zu haben
glaubt, bleibt bei Celan offen, welches die Gründe für die Unterdrückung der

120
Kreatur sind. Er konstatiert lediglich, daß die Kreatur seit den Anfängen der
bürgerlichen Gesellschaft — der Meridian bezieht sich am Anfang auf die
Französische Revolution — unterdrückt worden sei. An der unterschied­
lichen Explikation des Absurden läßt sich diese Abweichung von Adorno
verdeutlichen. Die Absurdität von Luciles „Gegenwort“ richtet sich nach
Celans Büchner-Interpretation gegen die Vernunft der sterbenden Revolutio­
näre, die darin besteht, sich zu „Paradegäulen der Geschichte“ zu stilisieren
und damit implizit den eigenen Tod zu bejahen. Das Absurde ist hier ver­
standen als Kritik an einer Vernunft, welche der Vernichtung von Menschen
zustimmt. Bei Adorno indessen richtet sich die Kritik, die das Absurde
artikuliert, nicht allein dagegen, daß spezifische Formen von Vernunft sich
affirmativ verhalten zu lebensfeindlichen Verhältnissen. Vielmehr wird die
Vernunft, die — ursprünglich im Interesse der physischen Selbsterhaltung
eingesetzt — ihren eigenen Zweck pervertiert im Telos der Selbstvernichtung
der Menschheit, als wesentliches Agens solcher Verhältnisse benannt. Nach­
dem die instrumentalisierte Vernunft, wie Adorno meint, alle Lebensbe­
reiche erfaßt hat, sei es der Gehalt von Kunst, Kritik zu üben an der „All­
herrschaft von V ernunft“ — ein Gehalt, der sich in absurder Form artiku­
liert, weil er „seinerseits nicht länger vernünftig“ sein könne „nach den
Normen diskursiven Denkens“ (ÄT 48).
Zwischen den divergenten Theoremen bei Adorno und Celan besteht kein
Widerspruch, weil Adorno das von Celan Gemeinte gleichfalls im Auge hat.
Aber so gewiß Adornos Theoreme diejenigen Celans einbegreifen, so ver­
wegen wäre die These, daß auch der umgekehrte Fall gilt. Die Autonomie
der Kunst ist bei Celan nicht als Gegenbild zur „gänzlich funktionalen Welt“
der ,Tauschgesellschaft4 gedacht, sondern ausschließlich als Antithesis zur
Vernichtung der Kreatur; Kunst soll in ihrem Fürsichsein das Symbol eines
Lebens sein, das sich selbst Zweck ist und keiner weiteren Legitimation
bedarf. Vor einer aktuell wünschenswerten Praxis weist sich Kunst bei Celan
dadurch aus, daß sie Verhältnisse fordert, in denen die Ausrottung von
Menschen nicht mehr möglich wäre. Adornos darüber hinausgehende Per­
spektive, daß Kunst die Verstrickung von verändernder Praxis in den uni­
versalen jSchuldzusammenhang4 reflektiere, wird bei Celan nicht ange­
sprochen. Weil der Rigorismus der Kritischen Theorie in der Variante Ador­
nos, Praxis selbst noch als Schuld zu denunzieren, von Celan unbeachtet
bleibt, erscheint bei ihm die Beziehung von Kunst und Praxis weniger ge­
brochen und problematisch. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß Celan
sich zur Unmenschlichkeit, welche Kunst nach seiner Konzeption verklagt,
als zu einer Gegebenheit verhält, deren Gründe ungenannt auf sich beruhen
bleiben. Wie das „Andere“, das die Kunst repräsentiert und dessen Verwirk­

121
lichung sie fordert, zu verwirklichen wäre, bleibt bei Celan noch unbestimm­
ter als bei Adorno, der die Verwirklichung eines von Herrschaft befreiten
Lebens an die Abschaffung der Notwendigkeit von Arbeit bindet. Diese
Unbestimmtheit hat womöglich Interpreten des Meridian dazu verleitet,
Celans „Anderes“ nicht als veränderte Realität, sondern als Uberweltliches
oder Eigentliches zu verstehen. Bei einer genauen Prüfung des Textes hätte
indessen der Irrtum erkannt werden können. Deshalb ist die Vermutung
nicht von der Hand zu weisen, daß die Rezeption des Meridian identisch war
mit dem Versuch, seinen unterschwellig doch wahrgenommenen kritischen
Gehalt zu neutralisieren. Celans Forderung nach einer menschenwürdigen
Realität wurde, wie an O tto Pöggclers Deutung des Meridian gezeigt werden
kann, verfälscht in ein Plädoyer für den gesellschaftlichen Status quo.

4.

Otto Pöggelcrs Interpretation des Meridian137 operiert mit der Entgegenset­


zung von „Mache“ und „Unverfügbarem“ . Der „Akut des Heutigen“ , den
Celan auf Büchners Problematisierung der Kunst setzt mit dem ausdrück­
lichen Hinweis auf die „Luft, die wir zu atmen haben“ (Meridian, S. 138),
auf die Gaskammern der Vernichtungslager, wird von Pöggeler anders ge­
setzt, was nicht zuletzt damit Zusammenhängen dürfte, daß die Bedeutung
der Anspielung auf den 20. Januar den Tag der Wannsee-Konferenz von
ihm wie von, soweit ich sehe, allen anderen Interpreten Celans nicht erkannt
ist. „Mache“ , der ursprüngliche Wortsinn von ,Poesie*, ist für Pöggeler vor
allem Computerkunst wie diejenige Benses. Sie gilt ihm als Ausdruck dessen,
„was das Leben heute überhaupt ist: Technik, Machenschaft“ (S. 81). Als
Kommentar zum Meridian ist das schwerlich stringent: Celans Kunstkritik
wird zu eng, seine Gesellschaftskritik zu global gefaßt. Das antitechnische
Ressentiment des Interpreten läßt ihn die Problemstellung des Meridian miß­
verstehen. Zwar hat Celan in seinem Spätwerk den „Elektronen-ldioten“
verurteilt, der statt Daten, die ja im Meridian eine emphatische Bedeutung
haben („20. Jänner“ ), „Datteln / verarbeitet für / menetekelnde / Affen“ 138
(,All deine Siegel erbrochen? l, FS 28), aber im Meridian steht nicht speziell
die automatisch verfertigte Kunst zur Diskussion, sondern das Stilisations-
prinzip von Kunst schlechthin, welches nach Celans mit Beziehung auf
Büchner formulierter Ansicht das dargestellte Leben in ein automatenhaft
unlebendiges verwandelt. Das ästhetische Stilisationsprinzip, ohne das Kunst
nicht sein kann, wird Celan problematisch, weil es ihm geeignet scheint, die

122
Verwandlung von Menschen in Marionetten, in fremdbestimmte Wesen, ja
letztlich ihre physische Vernichtung zu affirmieren. Sein Widerspruch ent­
zündet sich an der Verabsolutierung des Artistischen durch Mallarmd und
Benn. Die unabdingbare Artistik des Gedichts soll nach Celan bis zu dem
Punkt getrieben werden, wo sie in einer „Atemwende“ für einen „einmali­
gen kurzen Augenblick“ (Meridian, S. 142) aufgehoben wird und solcher­
maßen umschlägt in eine „Freisetzung“ des Ichs, des gesellschaftlich an
seiner Selbstverwirklichung gehinderten Subjekts. Das Absurde, wie es erläu­
tert wird an Lenzens Wunsch, auf dem Kopf zu gehn, ist von Celan konzi­
piert als Kritik daran, daß es in dieser Realität nicht möglich ist, menschen­
würdig zu leben. Im Bild des auf dem Kopf gehenden Unmenschen ist die
Unmenschlichkeit des Bestehenden bestimmt negiert. Pöggeler hingegen ver­
steht das Auf-dem-Kopf-Gehn nicht als Negation der Unmöglichkeit, men­
schenwürdig, mit aufrechtem Gang, zu leben, sondern als Protest gegen die
„Herrschaftlichkeit und Selbstherrlichkeit des Menschen“ . Celan stelle dem
anmaßenden technischen Verstand, der alles zu beherrschen suche „durch
die Erkenntnis seiner Gründe“ , das „Abgründige, durch keinen Kalkül zu
Beherrschende“ entgegen (S. 81). Von Heidegger, der freilich sehr viel dif­
ferenzierter verfährt, übernimmt Pöggeler die Polemik gegen die technische
Ratio; beim späten Schelling, den er nicht nennt und der, wie man weiß,
auch Heidegger beeinflußt hat, ist die Theorie des Abgrundes oder Ungrun­
des als des unverfugbaren Grundes menschlicher Freiheit präfiguriert. Diese
Theorie, die in entmythologisierter Form durchaus berechtigt sein kann im
Zusammenhang einer Bestimmung von Kunst als Selbstreflexion139, erhält
bei Pöggeler, indem er das Bewußtsein vom unverfugbaren Grund der Sub­
jektivität gegen technische Ratio ausspielt, eine auf Schellings Metaphysik
zurückfallende, regressive Färbung. Celans aufklärerischer Impuls, sein In­
sistieren auf dem Recht, in dieser Welt menschenwürdig zu leben, ist Pögge­
ler anathema. Er tritt ein für Demut gegenüber dem „über die Erde und den
irdischen Menschen Hinausstehende(n)“ (S. 81) und Ergebenheit in „das
Abgründige dessen, was auf uns, die irdischen Menschen, als das Unverfüg­
bare, über uns Hinausstehende zukom m t“ (S. 84). Celan, der keine Wege
nennt, diese Welt in eine menschenwürdige zu verwandeln, ist solche Gläu­
bigkeit ins „Unverfügbare“ fremd. Er widersteht der Versuchung, Hoffnung
auf ein „Unverfugbares“ als Götzen zu setzen, das nach Pöggeler verstum­
men läßt und um so mehr unbefragte Gläubigkeit verlangt, als die Differenz
eines solchen Verstummens zu dem selbstzerstörerischen poetischer „Ma­
chenschaft“ , das Pöggeler bei Schopenhauer theoretisch begründet sieht,
sich, wie es heißt, „nicht einmal zeigen und weisen“ , sondern „nur erfah­
ren“ läßt in einer „Atemwende“ (S. 85). Die Furchtbarkeit von Lenzens

123
Verstummen, die in der Erkenntnis besteht, daß er nur als auf dem Kopf
gehender Unmensch Mensch zu sein vennag, ist nach Pöggeler Entsetzen vor
,,dem Abgründigen der ,Kunst* “ (S. 85), der ,,Machenschaft**. Er differen­
ziert zwischen Abgrund und Abgrund, zwischen Verstummen und Verstum­
men: beide Termini werden jeweils sowohl dem „Unverfiigbaren“ als auch
der „Machenschaft" zugeordnet, während der Meridian nirgends zwischen
zweierlei Verstummen und zweierlei Abgrund unterscheidet, sondern allein
zwischen „Fremd und Fremd**, zwischen der affirmativen Unmenschlichkeit
der „Kunst“ und der kritischen der „Dichtung“ . Weder am Meridian noch
innerhalb seiner eigenen theoretischen Konstruktion weist Pöggeler die von
ihm getroffenen Unterscheidungen aus. Als Rationalisierung dieser
Schwäche liest sich deshalb der Hinweis, daß die „alles“ bestimmende Diffe­
renz zwischen Abgrund und Abgrund, Verstummen und Verstummen „nur
erfahren“ werden könne. Kritik an der „Machenschaft“ , der „rechnenden
Verständigkeit der vielen“ (S. 81) - elitäre Ansprüche melden sich hier an —
übt Pöggeler nicht, wie es legitim wäre, im Namen einer besseren, im Dienst
eines menschenwürdigen Lebens stehenden technischen Rationalität, son­
dern in dem von Irrationalität, der Ergebung ins „Unverfügbare“ . Celans
Text wird als Stichwort-Arsenal für Invektiven gegen die technische Welt
benutzt, die den Interpreten die Willkürlichkeit seiner Deutung nicht mehr
bemerken lassen. So wird die zugegeben äußerst schwierige Stelle, an der es
heißt, daß das Sprechen des Gedichts „nicht Sprache schlechthin und ver­
mutlich auch nicht erst vom Wort her .Entsprechung* “ sei (Meridian, S.
143), von Pöggeler gleich mehrfach verdreht. „Nicht erst vom Wort her“ ,
sondern schon wegen seiner Neigung zum Verstummen ist nach Celan das
Sprechen des Gedichts „Entsprechung“ , nämlich zur Geneigtheit, der Ge-
beugtheit der Kreatur; und „Sprache schlechthin“ ist es nicht, weil es indi-
viduierte Sprache ist. Pöggelers Paraphrase des Satzes läßt das unverzicht­
bare „erst“ weg und verändert die syntaktische Funktion von „Sprache
schlechthin“ , so daß es bei ihm heißt, „das Sprechen sei vermutlich nicht
.Entsprechung*, die sich vom Wort oder vom Sprechen der .Sprache
schlechthin* her verstehe“ (S. 87). Sodann legt er unvermittelt eine positive
Version seines Satzes vor, die sich nur darauf stützen kann, daß bei Celan im
Folgenden gleichfalls irgendwie von der Sprache die Rede ist: „Was aber
heißt: das Sprechen ist Entsprechung von der Sprache her?“ (S. 87). Nichts
dergleichen steht in Celans Text. Mit der Deutung, daß das Sprechen E nt­
sprechung „von der Sprache her“ sei, schafft Pöggeler sich einen nicht aus
der Sache begründbaren Anlaß für einen phänomenologischen Exkurs:
Sprechen „von der Sprache her“ heiße

124
„nicht, daß es die Sprache schlechthin und an sich gibt, es heißt vielmehr, daß alles
Sprechen nur sprechen kann, weil es sich an seinem Ort einfügt in ein übergreifendes
Sinn- und Sprachgeschehen, in dem das Seiende als Seiendes herausgestellt (.konsti­
tuiert1) und so in ein Licht gestellt wird, das allem Seienden, auch dem Menschen,
unverfügbar bleibt“ . (S. 87) *

Wie hier das Wort „Entsprechung“ zum Anlaß genommen wird für eine
Kundgebung in Phänomenologie — in Heideggers ,Weg zur Sprache* ist vom
Sprechen als „Entsprechen“ , aber eben nicht im Sinn des Meridian die Rede
—, wird Celans Metapher vom „Neigungswinkel“ , zwar mit distanzierenden
Gänsefüßchen, aber dennoch unkritisch ins Heideggerische übersetzt: „das
Gedicht ist als das Sprechen der .Existenz*, die um ihre .Geworfenheit* weiß
und den Neigungswinkel ihrer .Gestimmtheit* nicht vergißt“ (S. 86). Nicht
nur wird Celans historische Feststellung, daß das Gedicht immer noch mög­
lich sei, durch die Verabsolutierung des „ist“ ins Ontologische gewendet;
zugleich wird der konkrete soziale Gehalt von Celans Satz eskamotiert, in­
dem an die Stelle von „Kreatürlichkeit“ bei Pöggeler „Gestimmtheit“ tritt.
Die Geneigtheit der Kreatur ist bei Celan Metapher der verletzten Menschen­
würde. Geneigt ist die Kreatur, weil ihr die Verwirklichung ihrer selbst, ja
letztlich das Recht auf Leben verweigert worden ist. Statt die historischen
Fakten, also jenes Seiende namhaft zu machen, das Celan als veränderungs­
bedürftiges anklagt, stellt Pöggeler an Celan die Frage, ob er etwa den „Ort
— die Lichtung, in der überhaupt erst Seiendes als Seiendes erscheinen
kann“ vergesse „zugunsten des Seienden“ (S. 87). Daß er das nicht tue,
sondern einer Wahrheit sich zuwende, die „nie als verfügbarer Grund zu
nehmen und festzustellen ist“ (S. 88); daß er den Ort nicht vergesse, „der
der unverfügbare Zeitspielraum für alles Wahmehmen und für alle Erschei­
nungen ist“ (S. 88); daß er Toposforschung treibe im Sinn desSagens „des
jeweiligen Ortes (topos) des Weges eines unverfügbaren Wahrheitsge­
schehens“ (S. 90) - all das wird Celan sodann attestiert im Interesse der
Entwicklung eines Begriffs von Utopie, der, ohne daß Pöggeler dies bemer­
ken würde, Hohn ist auf Celans Geschichtserfahrung und -Verständnis:

„Die recht verstandene Topologie steht freilich im Dienst der Utopie. Sie ist utopisch,
sofern sie sich als Ortssuche des endlichen Menschen niemals an einem Ort endgültig
einrichten kann. Topologisches Sprechen spricht jeweils von seinem Ort her und aus
seiner Ortssuche; so fügt es sich ein in jene übergreifende und immer auch utopische,
nie abgeschlossene ,Erörterung“ 40, in der das Gespräch der Geschichte die Wahrheit als
einen Weg zur Sprache kommen läßt.“ (S. 90)

Mochte Heidegger noch annehmen, daß das „Gespräch der Geschichte“ die
Wahrheit zur Sprache kommen lasse: nach Auschwitz ist die Restauration

125
dieser These unentschuldbar, mag sie sich noch so geflissentlich abgrenzen
gegen den angeblich vulgären Geschichtsbegriff. Geschichte selbst gilt Pögge-
ler als Unverfiigbares, in welches topologisches Sprechen sich einzufügen
habe in der frommen Hoffnung, an der Selbsterörterung der Wahrheit zu
partizipieren. Damit ist das Fundament gelegt für seine Denunziation*41 ei­
nes nicht zum Synonym von Unabgeschlossenheit formalisierten Utopie-
Begriffs:

„Die Frage isi doch, ob mehl auch das Absolute der Utopie die Setzung eines Men­
schen ist, der sich nichl einfach an seinem Ort cinfügt in den Weg der Wahrheit,
sondern dem unverfügbar zukünftigen, abgründigen Wahrhcits- und Sprachgcschchen
wenigstens noch in einem Nirgendwo ein Maß setzen will gemäß jener Anmaßung
zum Absoluten, wie sie zu lange schon das Denken beherrscht. Ist cs von ungefähr, daß
die Utopisien von gestern immer wieder die Diktatoren von heute sind? Daß der Fürst
Petr Kropotkm, der Kämmerer des Zaren, der als .Genosse Borodin' zu den Arbeitern
der Vorstädte ging, schließlich 1921 starb in einem Rußland, über das sich immer
siarkcr die Sehatien der Diktatur legicn? Daß jene, die das Absolute einer klassenlosen
Gesellschaft oder für einen Übermenschen die Mittagslinie als den letzten, ewigen Ring
suchien.das Menschliche vernichteten? “ (S. 92)

Jede Utopie, welche die Menschen nicht lehrt, sich „einfach“ an ihrem Ort
einzufügen (und was ist Utopie anderes, wenn nicht der Widerspruch gegen
eine solche Integration), wird hier als Anmaßung und wenig später als
„Machenschaft“ abgewiesen mit der Argumentation, es werde ein „Absolu­
tes“ gewaltsam zu verwirklichen versucht. Was nicht verwirklicht werden
darf, wird von Pöggeler willkürlich dekretiert; der „Übermensch“ wird vor­
geschoben, um die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft in Mißkredit zu
bringen. Utopisches Denken, das Pöggeler von ideologischem nicht unter­
scheidet, führe zur Gewaltherrschaft, wie umgekehrt Gewaltherrschaft uto­
pisch begründet sei. Dieser Ansatz ermöglicht es ihm, Stalinismus und
Hitler-Faschismus als Resultate utopischen Denkens zu interpretieren. Die
konkreten historischen Bedingungen von Faschismus und Stalinismus glaubt
diese Geschichts-Konstruktion ebenso vernachlässigen zu können wie empi­
rische Ergebnisse etwa der Sozialpsychologie. Funktionäre wie Eichmann,
die aktiv die Vernichtung nicht nur „des Menschlichen“ , sondern von Men­
schen betrieben, haben sich über die faschistische Ideologie lustig gemacht
und sie mitnichten, wie Pöggeler unterstellt, als Grundlage des Handelns
betrachtet. Daß seine Ansichten empirisch widerlegbar sind, berücksichtigt
Pöggeler nicht. Auch den Nachweis dafür, daß „die Utopisten von gestern
immer wieder die Diktatoren von heute“ sind; daß ein direkter Weg von
Nietzsche zum Faschismus und von Kropotkin zum Stalinismus führe, muß
er schuldig bleiben. Zur Transposition der eigenen Ideen in eine Rechtferti-

126
gungslehre für die Diktatur hatte Nietzsche so wenig wie Kropotkin auch
nur die Gelegenheit; sie bot sich erst für Heidegger. Erstaunlich, daß Pögge-
ler sich in diesem Zusammenhang nicht genötigt sah, auf diese Frage einzu­
gehen. Ein Jahrzehnt nach seiner Mcr/Vf/an-Interpretation hat er freilich eine
Rechtfertigungsschrift über Heideggers Stellung zum Faschismus verfaßt.142
Sie vermag indessen nicht die von Löwith zuerst formulierte Ansicht zu
widerlegen, daß Heideggers Affizierung durch den Faschismus nicht bloß
eine biographische Verfehlung war, sondern in seinem Begriff von Ge­
schichtlichkeit angelegt ist:

„Wie soll man denn überhaupt innerhalb eines durchaus geschichtlichen Denkens die
Grenze ziehen können zwischen dem .eigentlichen* Geschehen und dem, was .vulgär*
geschieht [ ...]? Und hat sich nicht die vulgäre Gesehiehte an Heideggers Verachtung
für das bloß heute Vorhandene deutlich genug gerächt, als sic ihn in einem vulgär
entscheidenden Augenblick dazu verführte, unter Hitler die Führung der Freiburger
Universität zu übernehmen und das entschlossene eigenste Dasein in ein .deutsches
Dasein* überzuführen, um die ontologische Theorie der cxistenzialen Geschichtlichkeit
auf dem ontisehen Boden des wirklich geschichtlichen, das heißt politischen, Gesche­
hens zu praktizieren? *“ 43

Sowenig wie Heideggers Begriff von Geschichtlichkeit vermag sich Pöggelers


Vorstellung vom „unverfügbaren“ Wahrheitsgeschehen theoretisch eindeutig
abzugrenzen gegen die blinde Bejahung politischer Macht. Die Schmähung
der Utopisten als Apologeten von Macht liest sich von hier aus als Projektion
der eigenen theoretischen Schwäche. Indem Pöggeler Kropotkin als Utopi­
sten darstellt, dessen Ideen man angeblich nicht verwirklichen darf, greift er
mittelbar auch Celan an, der sich ja zustimmend auf Kropotkin bezieht.
Über die nicht näher begründete Analogisierung der Meridian-Metapher mit
Nietzsches Mittagslinie wird schließlich implizit an Celan eine Warnung aus­
gesprochen, zur Verwirklichung von Utopischem aufzufordern: dann wäre
er Faschist. Zu einer solchen unterschwelligen Infamie läßt Pöggeler sich
hinreißen im Zuge des Versuchs, Celan von allem zu reinigen, was das Bild
eines Apostels des „Unverfügbaren“ stören könnte —ein Bild, dessen Unan­
gemessenheit und Willkürlichkeit dem Kritiker von „Machenschaften“ nicht
in den Blick gerät.

127
IV. ,Die Niemandsrose‘: Sprachtheorie und Sprachzerstückelung

1.
Die Niederschrift des Meridian fällt in die Zeit von Celans Arbeit an der
Niemandsrose, die man deshalb als Verwirklichung der dort formulierten
Theorie ansehen könnte. Indessen wird man vergeblich in den Gedichten die
unmittelbare Bestätigung der ästhetischen Theoreme des Meridian suchen.
Beinahe in demselben Maß wie Sprachgitter ist die Niemandsrose als ein in
sich kohärentes Ganzes komponiert, das sich nicht ohne Umschweife zu
Texten außerhalb des Bandes in Beziehung setzen läßt, aber umgekehrt dazu
auffordert, die einzelnen Gedichte im Zusammenhang des Bandes zu sehen
— ein Verfahren, ohne dessen Anwendung vieles unverständlich bleibt und
das sich, nebenbei bemerkt, von der Parallelstellen-Methode prinzipiell da­
durch unterscheidet, daß es nicht von gleichlautenden oder einander ähn­
lichen Termini in verschiedenen Gedichten ausgeht, sondern sich mit seman­
tischen Korrespondenzen befaßt, die als Korrespondenzen mittels der Ein­
zelinterpretation erst erschlossen werden müssen.144
Die kompositorische Idee der Niemandsrose ist die einer Anti-Bibel. Der
Band beginnt m it einem Gedicht, das in einem später noch zu erläuternden
Sinn von der Erschaffung des Menschen aus einem Erdkloß handelt, und er
endet mit der Feststellung, daß nach Auschwitz Erlösung zu spät komme, ja
in ihr Gegenteil sich verkehre; daß die Götter über den Leichenbergen der
Vernichtungslager klumpfüßig wie Satan oder Goebbels erscheinen (,In der
Luft*, N 88 f.):

|. ..] schwer
in den Untiefen lagernd, die Leiber
zu Schwellen getürmt, zu Dämmen, - die
Furtenwesen, darüber
der Klumpfuß der Götter herüber­
gestolpert kommt - um
wessen
Sternzeit zu spät?

In die Konzeption der Niemandsrose als Revision der Heilsgeschichte fügt


sich ein, daß die Reflexionen über die Sprache, die in dieser Periode ausführ­
licher und stringenter sind als in der früheren Lyrik, ihren Ausgang nehmen
von der Hermeneutik der Genesis. So beginnt das Gedicht ,Psalm‘ (N 23),

129
auf das der Titel des Bandes zurückgeht und das in sich die Bewegung von
der Erschaffung des Menschen bis zur Erlösung, also die Perspektive des
ganzen Bandes reproduziert, mit einer Erinnerung an die Schöpfungsge­
schichte:

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm*


niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Die Erschaffung des Menschen durch G ott sowie seine Belebung und Sprach­
begabung durch den göttlichen Logos werden nicht erneuert. An der Stelle
des Gottes des Alten Testaments, der sich den Menschen nach seinem Bilde
schuf, steht niemand mehr. Doch in eben diesem Niemand, zu dem der
Schöpfergott geworden ist, erkennen die Menschen das Analogon ihrer eige­
nen Nichtigkeit, und in negativer Weise ist so ihre Gottesebenbildlichkeit
wieder hergestellt:

Getobt seist du. Niemand.


Dir zulicb wollen
wir bluhn.
Dir
entgegen.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Nicmandsrosc.

Dem Niemand, dem nicht mehr vorhandenen, nicht bloß unbenannten145


Gott, korrespondiert das „Nichts“ , die Absenz eines menschenwürdigen
Lebens. Die Selbsterfahrung der Subjekte als „Nichts“ nötigt sie, keinen
anderen Gott anzuerkennen als Niemand, als den Gott, der entschwunden
ist und seine Geschöpfe sich selbst überlassen hat. Das Verständnis von G ott
als Niemand ist eine Resultante diesseitiger Erfahrung, und ihm „entgegen“
- in Richtung auf ihn und ihm zuwider —zu „blühn“ heißt nichts anderes,
als sich auf einen nicht seienden G ott zu beziehen, der erst dann wieder
wäre, wenn die Menschen sich nicht mehr als Nichts erführen. Nur durch
innerweltliche Besserung vermag Niemand wieder G ott zu werden. Nicht
von ihm ist die für nötig erachtete Erneuerung des Menschen zu erwarten,
sondern nur von den Menschen selbst, die sich konsequent die biblischen
Attribute Gottes selbst zuschreiben („waren wir, sind wir, werden“ : vgl.
Off. 1, V.4 u. 8). Weil „Niemand“ die Resultante der Selbsterfahrung der

130
Subjekte als „Nichts“ ist, werden die beiden Begriffe am Schluß der zitierten
Passage indifferent, und die Subjekte können sich gleichermaßen als
„Nichts-“ wie als „Niemandsrose“ bezeichnen. Beide Selbstbenennungen
stehen in polemischer Beziehung zur traditionellen, aus Jesaja 11, V .l ent­
wickelten Vorstellung von Christus als Rose (,Es ist ein Ros entsprungen1),
die den letzten Teil des Gedichts in der Weise bestimmt, daß die Subjekte
ihr eigenes Leiden als Passion beschreiben und den Anspruch Christi, König
zu sein, in veränderter Bedeutung für sich selber geltend machen:

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.

Das „Purpurwort“ , das die Subjekte sangen, ist Zeugnis ihres Leidens und
ihrer Königshaftigkeit zugleich. Es vermittelt zwischen Dom und Krone in
der Weise, daß es die Farbe des Bluts, das ein Dorn hervortreibt und von
dem es selbst getränkt ist, auf die Blütenkrone überträgt; daß es das Blutrot
in die Königsfarbe Purpurrot verwandelt. Indem es das Leiden der Men­
schen, ihre Passion ausdrückt, meldet es zugleich den Anspruch an, daß jeder
Mensch König sein soll. Es ist sowohl Ausdruck der Vernichtung der Men­
schenwürde, der Verwandlung von Menschen in ein „Nichts“ , als auch For­
derung nach der Restitution aller Menschen zu Königen, nach der Verwirk­
lichung eines menschenwürdigen Lebens.
Exemplarisch zeigt die Königsmetapher, deren profane Bedeutung bislang
unerkannt geblieben ist, wie Celan in der Niemandsrose m it heilsgeschicht­
lichen Vorstellungen verfährt. Das Verfahren ist entgegengesetzt dem der
Säkularisierung etwa im Sinne Löwiths. Nicht werden sakrale Vorstellungen
in profane überführt, ohne doch letztlich ihre sakrale Qualität zu verlieren,
sondern sie werden als Hypostasen weltlicher Bedürfnisse kenntlich ge­
macht. In der Benennung von Christus wie des jüdischen Messias als König
verbirgt sich nach Celans Einsicht der Wunsch nach einem Leben, das der
Idee der Menschenwürde gerecht wird. Nicht auf einen göttlichen König ist
zu hoffen, sondern die Sache des Königs Mensch zu betreiben. Deutlich wird
das in einem Gedicht, das inspiriert worden ist von der Mandorla eines
Wandgemäldes in der Kapelle von Berz6-la-Ville (,Mandorla‘, N 42):

131
In der Mandel - was steht in der Mandel?
Das Nichts.
Es steht das Nichts in der Mandel.
Da steht es und steht.
Im Nichts - wer steht da? Der König.
Da steht der König, der König.
Da steht er und steht.
Judenlockc, wirst nicht grau.
Und dein Aug - wohin steht dein Auge?
Dein Aug steht der Mandel entgegen.
Dein Aug. dem Nichts stchts entgegen.
Es steht zum König.
So steht es und steht.
Menschenlockc, wirst nicht grau.
Leere Mandel, königsblau.

ln der leeren Mandel ist keine Messiasgestalt zu sehen. Doch das Nichts, das
aus dem Nicht-mehr-Sein des göttlichen Königs resultiert, wird wahrgenom­
men als das Noch-nicht-Sein des Königs Mensch. Das Auge, das in Opposi­
tion gegen das Nichts steht („dem Nichts stehts entgegen“), hält der Men­
schenwürde die Treue: „Es steht zum König“ . Unter der Voraussetzung, daß
die messianische Königsgestalt nichts anderes ist als die Hypostase des Be­
dürfnisses nach einem von Unterdrückung befreiten, aufgerichteten Leben,
wird die Judenlocke, die getragen wird als Zeichen der orthodoxen Hoff­
nung auf einen messianischen König, zur Menschenlocke, das heißt zum
Zeichen dafür, daß man eintritt für die Würde, das Königtum des unterdrück­
ten Teils der Menschheit. Solange die Menschenlocke nicht grau wird, so­
lange der Wunsch nach einer humanen Realität lebendig ist, wird in der
leeren Mandel das Königsblau des Auges erscheinen146, das Widerstand da­
gegen leistet, daß Menschen zu einem Nichts erniedrigt sind.
Mit der Verwendung der Königsmetapher in der Bedeutung einer sich selbst
verwirklichenden Menschheit schließt Celan an eine aufklärerische Tradition
an, für die Francis Bacons Titel De regno hominis ein frühes Zeugnis ist.
Indessen hat Celan mit Bacon, auf den er bei der Lektüre der Dialektik der
Aufklärung gestoßen sein mag147, die Idee einer sich selbst verwirklichenden
Menschheit gemeinsam, nicht aber das Programm der absoluten Naturbe­
herrschung, das Horkheimer und Adorno bei dem englischen Kanzler formu­
liert sahen. Der Sache nach gehört Celans Gebrauch der Königsmetapher in
eine andere aufklärerische Tradition: in diejenige nämlich, die durch Feuer­
bachs Religionskritik eingeleitet worden ist. Feuerbachs These, daß die Men­
schen in G ott das verehren, was sie selbst zu sein wünschen, macht Celan

132
sich, ob m it direkter Kenntnis von Schriften Feuerbachs oder nicht, zu
eigen, wenn er Theologisches als Projektion weltlicher Bedürfnisse versteht.
Den Prozeß einer solchen aufklärerischen Entschlüsselung von Theologu-
mena beschreiben die auf Hebels bekannte Anekdote anspielenden Verse
(,Kermorvan‘, N 61):

Ein Spruch spricht - zu wem? Zu sich selber:


Servir Dieu est regner, - ich kann
ihn lesen, ich kann, es wird heller,
fort aus Kannitverstan.

Der hermetische, nur zu sich selber sprechende Spruch ,Gott dienen heißt
regieren, König sein* klärt sich auf („es wird heller“) und wird verständlich
(„fort aus Kannitverstan“ ) unter der Voraussetzung, daß G ott begriffen
wird als Projektion dessen, was die Menschheit sein sollte. Wer dem so
verstandenen G ott dient, ist autonom, regiert sich selber und ist in diesem
Sinn .König*. Der religiöse Spruch ist dem lyrischen Subjekt nicht mehr
fremd, ist kein „Kannitverstan“ mehr, weil er sich in seiner weltlichen Be­
deutung erhellt. Ist G ott nichts anderes als die Metapher für eine Mensch­
heit, die zu sich selber gekommen wäre, so ist derjenige, der G ott dient, ein
Regent insofern, als er sich seinem menschlichen Wesen gemäß bestimmt.
Die aufklärerische Hermeneutik von Theologischem, von der die zitierten
Verse handeln, liegt der religiösen Terminologie der Niemandsrose insgesamt
zugrunde. So läßt sich der .Psalm*, der hier den Anlaß dazu gab, die Königs­
metaphorik kurz — und vorläufig — zu skizzieren, durchaus atheistisch deu­
ten. Die „Niemands-“ und „Nichts“-Metaphorik des Gedichts besagt nichts
anderes, als daß G ott erst dann wieder wäre, wenn die Menschen menschen­
würdig leben würden. Dann aber bedürfte es eines Gottes nicht mehr. Eine
zu sich selbst gelangte Menschheit wäre selber die G ottheit: wäre der von
seiner Passion erlöste König. D a s ,.Purpurwort“ , das die Leidensgeschichte
der Menschheit zum Ausdruck bringt und deren Beendigung fordert, berei­
tet die Sprache der Gottheit vor - einen Logos im Sinne derjenigen Ver­
nunft, derer die Menschheit unter der Bedingung der Verwirklichung eines
humanen Lebens teilhaftig würde. Logos in diesem Verstände ist den Men­
schen nicht gegeben („niemand bespricht unsem Staub“ ), sondern muß von
ihnen selbst erst hervorgebracht werden. —In diesen Zusammenhang gehört
das .Gespräch im Gebirg*, das zu Beginn der Arbeit an der Niemandsrose
entstanden ist und gleichsam die Folie darstellt, auf der die Sprachreflexio-
nen der Gedichte entwickelt worden sind.

In Anlehnung an Benjamins Sprachaufsatz, den Celan sehr genau kannte,

133
entwirft das ,Gespräch im Gebirg* — ein fiktives Gespräch zwischen Celan
(„Jud Klein“ ) und Adorno („Jud Groß“ ) 148 - das Bild einer außermensch­
lichen Schöpfung, die ursprünglich, nämlich als durch Gottes Wort geschaf­
fene, am göttlichen Logos partizipiert. Vom Stein heißt es:

Er redet nicht, er spricht, und wer spricht |. ..], der redet zu niemand, der spricht, weil
niemand ihn hört, niemand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund
und nicht seine Zunge, sagt er und nur er. Hörst du?

Nicht obwohl, sondern nachgerade weil niemand ihn hört, spricht der Stein,
dessen Sprache nach Celan so völlig eins ist mit dem, was er ist, daß er Mund
und Zunge nicht zu Hilfe zu nehmen braucht, um sich zu artikulieren. Diese
vollkommene Identität des Sprechens mit dem Sprechenden ist kommunika­
tiv insofern, als sie sich an den dreifältigen Niemand richtet („Es hat sich die
Erde gefaltet hier oben, hat sich gefaltet einmal und zweimal und drei­
mal“ 149), dessen Sprache die Erde selber ist:
eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich denn, frag ich, für wen ist sie denn
gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht und nicht für mich —, eine
Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sic,
und nichts als das.

Diesen Sätzen liegt die theologische Konzeption des göttlichen Logos zu­
grunde, der die Erde denkt („für wen ist sie denn gedacht, die Erde“ ) und
sie sprechend hervorbringt. Die Erde als Sprache Gottes aber ist „nicht für
dich [ . . . ] und nicht für mich“ ; „nicht für die Menschen“ , wie es später
heißt. Die Menschen also sind nach Celan vom göttlichen Logos ausge­
schlossen. Die Schöpfung als die Sprache Gottes ist ihnen fremd; eine unver­
ständliche Sprache, die sie nicht in ihre Wortsprache zu übersetzen ver­
mögen. Der solchermaßen dem Menschen und seiner nennenden Sprache
entfremdeten Schöpfung bleibt nur, sich selbst auszusprechen, wie der Stein
es tut. Er ist Geschöpf des Logos, ist objektivierte göttliche Sprache, und
richtet sich daher, indem er spricht — und das heißt nichts anderes als:
indem er vorhanden ist („Hörst du, sagt er, ich bin da. Ich bin da“ ) —,
notwendig an den Schöpfer. Seine Sprache ist Sprache der Kreatur an den
Kreator.
Identität von Sprechen und Sein ist dem Stein möglich, weil er selbst ein
gesprochener, Produkt des Logos ist. Indem er spricht, spricht er sein eige­
nes Dasein als Geschaffensein durch den Logos aus. Anders als der Stein
kann sich der Mensch nach Celan zwar als Gottes Kreatur verstehen, die
irgendwann einmal aus der Erde und Lehm geschaffen worden ist („Nie­
mand knetet uns wieder aus Erde und Lehm“ ), aber ob er je des Logos

134
teilhaftig war, bleibt offen („wieder“ wird nicht wiederholt in der zweiten
Zeile des ,Psalms*: „niemand bespricht unsern Staub“). Am Logos teilzu­
haben bedeutet nach dem Wortlaut der Genesis beim Menschen nicht, durch
ihn geschaffen, sondern mit ihm begabt worden zu sein; Benjamin hat das in
seinem Sprachaufsatz betont. Nach Celan ist von dieser Begabung, falls sie je
stattgefunden hat, nichts mehr geblieben. Der Mensch ist zum Golem gewor­
den oder war immer schon nichts als ein Golem. Als Golem nämlich gilt der
jüdischen Überlieferung, der Kabbala, der „von dem Anhauch Gottes noch
nicht betroffene Adam“ .150 Direkt spielt Celan im ,Psalm* auf die Golem-
haftigkeit des Menschen dadurch an, daß er von seiner Erschaffung nicht nur
aus Erde, sondern auch aus Lehm spricht: aus Lehm hat Rabbi Löw, von
dem in der Niemandsrose wiederholt die Rede ist151, seinen Golem geschaf­
fen.
Das erste Gedicht der Niemandsrose, gleichsam die Genesis des Bandes,
handelt von einer Menschheit, die von der Sprachbegabung durch G ott aus­
geschlossen ist und folglich, was ihre göttliche Herkunft betrifft, reduziert
ist auf das Moment, aus Erde geschaffen zu sein (,Es war Erde in ihnen*,
N 9):

Es war Erde in ihnen, und


sie gruben.
Sic gruben und gruben, so ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wußte.
Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.

Sprache hätten die Menschen sich selbst erdenken müssen, weil ihnen keine
verliehen worden ist. Sprache meint in diesem Zusammenhang nicht Sprache
schlechthin — die Grabenden vermochten ja zu hören, Worte zu verstehen —,
sondern eine Sprache, welche die Menschen in den Stand gesetzt hätte, mit
ihrem G ott anders als nur passiv und mittelbar, durch Hörensagen, zu kom­
munizieren. Die letzten Strophen des Gedichts wollen als Verwirklichung
einer solchen Sprache verstanden sein:

Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,


es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: Sie graben.

135
0 einer, o keiner, o niemand, o du:
Wohin gings, da’s nirgendhin ging?
0 du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.

Analog zum Alten Bund, dem die Sintflut vorausging, entsteht hier nach
einer Naturkatastrophe ein Bündnis zwischen G ott und dem Menschen. Daß
es in der Tat in Celans Gedicht um den Bund mit G ott und nicht unm ittel­
bar um eine Liebesbeziehung geht152, wird evident, sobald man sich die
Voraussetzungen des Gedichts vergegenwärtigt. Der Begriff der Verwerfung
liegt ihm, ohne daß er ausgesprochen würde, zugrunde. Es knüpft damit an
die ,Engführung*, das letzte Gedicht des vorangehenden Bandes an. Hier, im
ersten Gedicht der als Anti-Bibel konzipierten Niemandsrose, wird, wie in
d e r ,Engführung*, der theologische Begriff der Verwerfung materialisiert zur
geologischen Vorstellung der Verwerfung von Erde. In der .Engfiihrung*
wurden Auschwitz und Hiroshima verstanden als historische Ereignisse, die
als Beweis dafür gewertet werden müssen,daß Gott die Menschheit verwor­
fen, sich von ihr distanziert hat. ,Es war Erde in ihnen* handelt davon, daß
die Menschen die Erde, aus der sie gemacht sind und die deshalb „in ihnen“
ist, umgraben, sie verwerfen. Dabei ist unterschieden zwischen einer Ver­
gangenheit, in der die Menschen „gruben“ , ihre eigene Verwerfung mit Wil­
len Gottes betrieben haben, und einer Gegenwart, in der ein nicht mehr
vorhandener, zu „niemand“ gewordener G ott sich aktiv an der Verwerfung
der Menschen beteiligt. Die beiden historischen Phasen sind getrennt durch
eine Naturkatastrophe, die vermutlich, wie oft bei Celan, Metapher des
Faschismus ist. Haben vor Auschwitz die Menschen ihre eigene Verwerfung
betrieben („sie gruben“), so sind sie, seitdem sie Auschwitz ermöglicht ha­
ben, von Gott verworfen; Gott ist nicht mehr für sie vorhanden, ist „keiner“
und „niemand“ geworden. Aus der Vorstellung vom verwerfenden Gott
entspringt die absurde Logik von Celans Gedicht. Seitdem G ott die Men­
schen verworfen hat und immer noch verwirft („du gräbst“ ), vermögen diese
sich ihm zu nähern („ich grab mich dir zu“ ), ihm ähnlich zu werden, indem
sie sich selbst verwerfen; der Gott, der sich von den Menschen distanziert
hat, zu „niemand“ geworden ist, wird für denjenigen, der sich selber ver­
wirft, ansprechbar als „du“ , weil beide sich in derselben Weise verhalten:
„Sie graben“ . Dabei hat die Metapher des Grabens nun freilich eine Bedeu­
tung, die von der im ersten Teil des Gedichts abweicht. Daß die Menschen,
von denen dort in der Vergangenheitsform berichtet wird, „gruben“ , will
heißen, daß sie ihre Verwerfung betrieben, also sich so verhalten haben, daß
Gott sein Geschöpf verwerfen mußte, weil es der Idee des Menschlichen, der
Humanität, widersprach. Das Graben, von dem im Präsens die Rede ist,

136
bedeutet hingegen, den Zustand, in dem die Menschheit sich befindet, zu
verwerfen im Sinn seiner Mißbilligung. Indem das lyrische Subjekt ,gräbt4,
seinen gegenwärtigen Zustand verwirft - ihn mißbilligt - , verhält es sich wie
der G ott, der die Menschheit in ihrer aktuellen Verfassung verwirft; es steht
m it ihm im Bunde. Vor der Flut war es den Menschen nicht möglich, mit
ihrem G ott anders als durch Hörensagen zu kommunizieren. Erst seitdem
G ott die Menschen verwirft, nicht mehr für sie vorhanden ist, ist paradoxer­
weise eine Sprache möglich, die m it ihm verbindet; zu sprechen vermag sie
derjenige, der den gegenwärtigen Zustand der Menschheit mißbilligt. Die
verbindende Funktion der Sprache findet grammatisch ihren Ausdruck in
den konjugierenden Zeilen:

Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,


l-.-l

0 du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,

die verständlich werden auf der Basis, daß lateinisch coniugare oder franzö­
sisch conjuguer nicht nur .konjugieren4, sondern auch .verknüpfen4, .ver­
ehelichen4 heißt. Die grammatische Form des Konjugierens soll zum Aus­
druck bringen, daß das lyrische Subjekt im Unterschied zu denjenigen, die
„sich keinerlei Sprache“ erdachten, eine Sprache erdacht hat, die es m it dem
die Menschheit verwerfenden G ott verbindet, .konjugiert4. Zum expliziten
Gegenstand des Gedichts wird diese Konjugation in der Schlußmetapher
„am Finger erwacht uns der Ring“ .
Die Darstellung von Sprache als Ansprechen eines Gottes, der die Mensch­
heit verwirft, läßt sich dahingehend deuten, daß eine solche Sprache die
Nähe zu G ott in dem Sinne sucht, daß sie die Vergöttlichung der Menschheit
anstrebt - eine Apotheose, die in der Restitution der Menschenwürde, in
der Aufhebung der Existenz als bloßer „Wurm“ , als getretene Kreatur, be­
stünde. Von einer Verwerfung, welche die Perspektive eröffnet, daß die
Menschheit die G ottheit wäre — das heißt zur Übereinstimmung gelangte
mit der Idee von Humanität —, ist ausdrücklich die Rede in dem Gedicht mit
dem Baudelaire entlehnten Titel ,Ä la pointe ac6r6e4 (N 48 f.), wo es am
Anfang heißt:

Es liegen die Erze bloß153, die Kristalle,


die Drusen.
Ungeschriebenes, zu
Sprache verhärtet, legt
einen Himmel frei.

137
(Nach oben verworfen, zutage,
überquer, so
liegen auch wir.
7iir du davor einst, Tafel
mit dem gelöteten
Kreidestern drauf:
ihn
hat nun ein lesendes? - Aug.)

Das Gedicht spielt an auf die Kristallnacht. Seither sind die Subjekte ver­
worfen, von der Verwirklichung ihrer humanen Bestimmung weit entfernt.
Sie liegen auf dieselbe Weise da wie damals die Juden in ihren Häusern,
obwohl vor ihnen keine Tür mehr ist und keine Tafel mit dem Judenstern.
Ein Ausweg wäre nur „nach oben“ zu finden, wohin auch Erze und Kristalle
verworfen sind. Diese hat eine gleichsam zur Grabschaufel verstählte
(„ac6r6e“ ) Sprache aus dem Erdinnem hochgeschaufelt, um ihnen „einen
Himmel“ zu eröffnen. Entsprechend einer solchen .verwerfenden4 Sprache,
die den bei lebendigem Leib Toten die Perspektive eröffnet auf den „Him­
mel“ eines menschenwürdigen Lebens, das ihre Auferstehung wäre, konzi­
piert Celan denjenigen göttlichen Logos, auf den einzig noch zu hoffen sei.
Von einem Gespräch mit Nelly Sachs am „Tag einer Himmelfahrt“ im Züri­
cher Hotel ,Zum Storchen4 handeln die Verse (.Zürich, Zum Storchen4,
N 12 f.):

Von deinem Goll war die Rede, ich sprach


gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltcs, sein
haderndes Worl

Ein einziges Mal soll sich der göttliche Logos den Menschen kundtun: als
Wort, das ihre Verwerfung ausspricht. Dieses Wort wäre „um röchelt“ ; es
wäre ein Wort, in dem der Odem Gottes sich gleichsam in sich selbst zurück­
nimmt und erlischt. Mit diesem Wort wäre G ott tot. Auf es zu hoffen aber
heißt, darauf zu hoffen, daß eine Menschheit, die ihrer Gottferne, der Ent­
fremdung von ihrem eigenen humanen Wesen,bewußt wäre, anfangen würde,
ihre „Himmelfahrt“ , die Aufhebung ihrer Leidensgeschichte und die Apo­
theose ihrer selbst zu betreiben.

138
2.

Sprache h at der Niemandsrose zufolge in dem Maße Anteil am Logos, wie


sie den Zustand, in dem sich die Menschheit gegenwärtig befindet, verwirft,
ihn mißbilligt. Logoshaft ist eine solche Sprache nicht, weil sie gottgegeben
wäre, sondern weil sie die Gottwerdung der Menschheit, die Restitution aller
Menschen zu Königen anstrebt. Nirgendwo dürfte die Differenz zwischen
Celan und Hölderlin deutlicher sein als an dieser Stelle. Formal ist beider
Ansatz identisch. Das Theologumenon von der Sprache als Offenbarung
Gottes wird umgekehrt: nicht offenbart sich G ott in der Sprache, sondern
Sprache bringt Göttliches in gottloser Zeit hervor. Aber anders als Hölderlin
faßt Celan dieses Göttliche als radikal Profanes; die Sprache ist bei ihm
Gedächtnis der G ötter nur in dem übertragenen Sinn, daß sie einer vergött­
lichten Menschheit, einem menschenwürdigen Leben das Wort redet. Eine
Sprache, die sich theologisch begründet, ist nach Celans Einsicht, die das von
Hölderlin handelnde Gedicht »Tübingen, Jänner* (N 24) formuliert, heute
obsolet geworden:

Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräch er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.
(„Pallaksch. Pallaksch “ )

Das konditionale „Käme“ ist zunächst optativisch gemeint, und die Sätze
„käme ein Mensch“ bzw. „käme ein Mensch zur Welt“ können zunächst als
selbständige Sätze gelesen werden. Daß ein Mensch käme, daß ein Mensch
geboren würde, ist der Wunsch des Gedichts, das damit voraussetzt, daß ein
humanes Leben gegenwärtig nicht vorhanden sei. Wenn aber ein Mensch, der
diesen Namen verdiente, heute aufträte m it einem Mund, der von einem
„Lichtbart“ , von der Gloriole einer göttlichen Sprache umgeben wäre, so
würde er nur lallend von „dieser / Zeit“ sprechen können. Der Mensch, der
m it einer solchen Sprache zur Welt käme, wäre bei seiner Geburt bereits ein
bärtiger Greis. Er wäre obsolet in der heutigen Zeit. Im sinnlosen „Pal­
laksch“ des umnachteten Hölderlin154, einem Paradigma des Lailens, sieht

139
Celan antizipiert, wie Hölderlin, wenn er heute wiedergeboren würde, einzig
noch würde sprechen können. Dem Anspruch, Sprache eines „Menschen“ zu
sein, das heißt der Menschenwürde das Wort zu reden, vermag nach Celan
eine Sprache, die sich theologisch begründet, heute nur unter der Voraus­
setzung zu genügen, daß sie sich selbst als Sprache ad absurdum führt, zum
Lallen wird, das seinem Gehalt nach dem der mystischen Gottesschau dia­
metral entgegengesetzt ist, weil es die Gottfeme „dieser / Zeit“ zum Aus­
druck bringt. Indem sie sich selbst negiert, wird die patriarchische Sprache,
die sich traditionell vom apostolischen Pneuma herleitet, zu deijenigen eines
„Menschen“ . Das Wahnwort , .Pallaksch“ erscheint von hier aus als Wende
Hölderlins gegen seine eigene theologische Begründung der Sprache und als
Übergang zu einem profanen Engagement, das sich freilich bei Hölderlin
noch nicht bzw. nicht mehr literarisch artikulieren konnte.
Aufgrund der Komposition von Celans Versen wird das sinnlose Wort
„Pallaksch“ bedeutungsvoll. Mit der Anapher „Pa-“ bezieht es sich auf „Pa­
triarchen“ ; ,,-alla-“ ist Manifestation des Lallens; mit dem abschließenden
,,-ksch“ endet das Wort im Geräusch. „Pallaksch“ wird mithin von Celan
ausgewiesen als Wort, in dem eine patriarchisch-pneumatische Sprache durch
das Lallen überführt wird in Geräusch, in eine vorsprachliche, kreatürliche
Äußerung.155 Den Übergang von der Sprache der Patriarchen, die den An­
spruch erhebt, sich dem göttlichen Pneuma, dem heiligen Geist, zu ver­
danken, zu einer somatisch-kreatürlichen Sprache hat auch das Gedicht
.Benedicta* (N 47) zum Gegenstand:

Ge­
trunken hast du,
was von den Vätern mir kam
und von jenseits der Väter:
---- Pneuma.'“
Ge­
segnet seist du (. . .1
Du, die du’s sprachst in den augen-
losen, den Auen:
dasselbe, das andere
Wort:
Gebenedeiet.
Ge­
trunken.
Ge­
segnet.
Ge-
bentscht.

140
„Gebentscht“ ist das jiddische Wort für „gebenedeiet“ . Es ist dasselbe Wort
wie „gesegnet“ und „gebenedeiet“ und gewinnt doch dank seiner lautlichen
Formation eine andere Qualität. Daß es sich um ein jiddisches Wort handelt,
braucht der Leser zunächst nicht zu wissen; es erklärt sich innerhalb des
Gedichts durch die Beziehung auf „gebenedeiet“ . Von dem sakralen Termi­
nus werden das Präfix und ein Teil des Stamms („-ben-“) übernommen, aber
an die Stelle der Endung ,,-deiet“ , der Verdeutschung von ,,-dicta“ (das
Gedicht heißt ,Benedicta4), tritt ,,-tscht“ : an die Stelle von ,,-dicta“ = »ge­
sagt* tritt ein Laut, der im Deutschen eine Aufforderung zum Schweigen ist.
„Gebentscht“ erscheint somit als Wort, das sich gegen den sakralen Termi­
nus „gebenedeiet“ richtet und dazu auffordert, ihn nicht mehr zu artiku­
lieren, ihn zu verschweigen. — Indessen steht „gebentscht“ nicht nur für die
Unmöglichkeit des Worts „gebenedeiet“ , sondern auch für die Form, in der
es noch möglich ist: als Wort, das den kreatürlichen Laut in sich hinein­
nimmt; das ein Recht hat in Beziehung auf die leidende Kreatur. Zu segnen
ist die Kreatur angesichts eines Sachverhalts, den das Gedicht in einem
jiddischen Lied formuliert sieht:

Zu ken men arojfgejn in himel arajn


Un fregn baj got zu ’s darfaso) sajn?

Die Frage, ob man in den Himmel hinaufgehn und bei G ott anfragen kann,
ob es so sein darf, wird innerhalb des Gedichts beantwortet:

Du, die du’s hörtest, da ich die Augen schloß, wie


die Stimme nicht weiter sang nach:
’s mus asoj sajn.

Die A ntw ort Gottes, daß es so sein müsse, wie es ist, verschlug demjenigen,
der das jiddische Lied sang, die Sprache. Gegen die göttliche Affirmation des
Bestehenden protestiert das Gedicht, indem es das sakrale Wort „gebene­
deiet“ in der Mitte abbricht und im kreatürlichen Laut enden läßt. Die
Überführung von „gebenedeiet“ in „gebentscht“ ist Hohn auf die sakrale
Sprache. Wo aber deren Weihe und A utorität untergraben ist, verliert auch
die sakrale Sache - das Gottesurteil, daß es so sein müsse, wie es ist - an
A utorität. Das Wort „gebentscht“ spricht keinen religiösen, sondern einen
profanen Segen aus. Es segnet die Kreatur, die sich in ihrer Überzeugung,
daß es nicht so sein dürfe, wie es ist, von ihrem G ott verlassen sieht.
Das Jiddische fungiert in »Benedicta* als Modus der Entheiligung, der Pro-
fanisierung von Sakralem. „Gebentscht“ greift das Wort „gebenedeiet“ auf
und bringt es im „tscht“ - bzw. „scht“ -Laut zum Schweigen. Aber „ge-

141
bentscht“ ist nicht nur die Verabschiedung von „gebenedeiet“ , sondern
auch die Rettung des sakralen Worts für die Belange der gottverlassenen
Kreatur, die in ihrer Opposition gegen das Bestehende gesegnet, ja heilig­
gesprochen wird. Sofern die Lyrik der Niemandsrose linguistisch gedichtet
ist, stehen die entsprechenden Verfahrensweisen in der Regel in Beziehung
zu der Konzeption einer kreatürlichen und für die Sache der leidenden Krea­
tur Partei ergreifenden Sprache. Wo diese Beziehung nicht erkannt ist, wird
die linguistische Analyse, die hier an einigen wichtigen Stellen paradigma­
tisch durchgeführt worden ist, leerlaufen oder zu wenig relevanten Ergebnis­
sen führen. Linguistische Verfahrensweisen gehören, wie auch das Gedicht
,Es war Erde in ihnen4 mit seiner Sinngebung der grammatischen Konjuga­
tion gezeigt hat, in dieser Periode in den Bereich von Celans bewußter
Absicht und haben durchweg eine symbolische Bedeutung, die erm ittelt
werden muß, wenn anders die linguistische Analyse nicht in der bloßen
Deskription und Katalogisierung verbaler Strukturen steckenbleiben soll.

Nicht nur in sprachlichen Formen, sondern auch in bestimmten literarischen


Motiven wird Celans Konzeption einer kreatürlichen Sprache deutlich. So
bezeichnet in dem Gedicht ,Bci Wein und Verlorenheit4 ( N i l ) das lyrische
Subjekt seine eigene Sprache ebenso wie diejenige Gottes als „Gewieher“ ,
das von den Menschen umgeschrieben und umgelogen werde in „eine / ihrer
bebilderten Sprachen“ . Dem kreatürlichen Ausdruck werden Sprachen ge­
genübergestellt, die eben diesen Ausdruck durch beschönigende Bebilderun­
gen verfälschen. Daß der Terminus der Bebilderung im Sinn von Beschöni­
gung verwendet ist, also nicht Metaphorik schlechthin, sondern einen spe­
ziellen Modus von Metaphern meint, bestätigt der Schluß von .Sibirisch4
(N 46):

Da lieg ich und rede zu dir


mit abgehäutetem
Finger.

Eine solche Metaphorik wül schockieren. Sie bedeutet, daß das Ich zum Vieh
entwürdigt („abgehäutet“) sei, und beansprucht, die angemessene Sprache
einer solchen Entwürdigung zu sein. Schockierend ist sie vor allem auch als —
von Celan sicherlich intendierte — Sexualmetaphorik. Die verbreitete Auffas­
sung, Lyrik sei durch .Empfänglichkeit4und JHingabe‘zu rezipieren, wird von
Celan angesprochen, indem er das Reden in einer Beischlaf-Metapher be­
schreibt, die daraufhin angelegt ist, abstoßend zu wirken. Der „abgehäutete44
Finger, mit dem das lyrische Subjekt nach seiner eigenen Darstellung kom­
muniziert, erinnert an einen durch keine Haut mehr geschützten Penis. Wird

142
die lyrische Sprache m it jener quasi-erotischen .Empfänglichkeit* wahrge­
nommen, die für die Lyrik-Rezeption insgesamt charakteristisch ist, so ist
nach Celan diese Attitüde m it Beziehung auf sein eigenes Cfeuvre verlogen,
wenn sie darüber hinwegsieht, daß sich hier jemand mitzuteilen versucht, der
wie ein Tier enthäutet worden ist. Die Sprache des Gedichts soll als die einer
geschundenen Kreatur rezipiert werden. — Mit der Enthäutung ist übrigens
angespielt auf das jüdische Ritual der Beschneidung, das in diesem Zusam­
menhang die Bedeutung erhält, die Entwürdigung von Menschen zum Vieh
symbolisch zu antizipieren. —
Als Sprache, in der zum Ausdruck kommen soll, daß die Kreatur Mensch
verstümmelt worden ist, erklären sich die zahlreichen abgebrochenen Wörter
und Sätze der Niemandsrose sowie die durchgängige Dissoziation von Wör­
tern mittels der Zeilenbrechung, wofür hier nicht eigens Belege angeführt zu
werden brauchen. Eine zerstückelte Sprache soll darauf hinweisen, daß ein
Leben, dem Integrität und organische Kontinuität vergönnt wäre, unter den
vorhandenen Bedingungen nicht möglich war und ist. Das Zerbrechen se­
mantischer Einheiten steht also ein für die erfahrene Deformation von Le­
ben. Thematisch ist das, wenn es heißt ( , . . . rauscht der Brunnen*, N 35):

Ihr meine mit mir ver­


krüppelnden Worte, ihr
meine geraden.

Die verkrüppelnden Worte sind gerade in dem Sinn, daß sie den realen
Zustand des Subjekts geradeheraus, wahrheitsgetreu aussprechen. Als
Sprache, welche die Deformation des Menschen, ja drastisch seine Zerstücke­
lung zum Ausdruck bringt und zugleich an der Idee seiner wiederherzustel­
lenden Intaktheit festhält, zitiert dasselbe Gedicht ein Lied:

Wir werden das Kinderlied singen, das,


hörst du, das
mit den Men, mit den Sehen, mit den Menschen |. ..]

„Men“ und „Sehen“ bedeuten, als englisches bzw. hebräisches Wort gelesen,
,Menschen* und deren ,Namen‘; als Silben des deutschen Worts aber ver­
weisen sie auf das, was —in Deutschland —m it Menschen geschehen ist. Mit
der Dissoziation des Wortes „Menschen“ will das Gedicht protestieren gegen
die Vernichtung von Menschen; die Sprachform der Zerstückelung ist einge­
setzt als Mimesis des Gemeinten. Das eigene poetische Verfahren grenzt
Celan in dem Gedicht ,Huhediblu* (N 73 ff.) ab gegen Techniken der zeit­
genössischen Lyrik, die sich nach seiner Ansicht nicht kritisch, sondern

143
affirmativ zur Vernichtung von Menschen verhalten. Ohne daß diese Tech­
niken näher bestimmt wären, wird ihnen vorgeworfen, „dem Menschen zu­
leibe“ zu gehen, ihn zu guillotinieren; die ihrer sich bedienende Lyrik wird
als „Beilwort“ charakterisiert und als Losrülpsen des „Fallbeils“ , mit dem
gleichsam Septembermorde am Menschen begangen werden („unterm /
Datum des Nimmermenschtags im September“ ) . 157

Der von Celan bejahte Modus der Sprachzerstückelung soll Einspruch er­
heben gegen die Zerstörung von Menschen. Das ist explizit formuliert in
dem Gedicht (N 27 f.):

EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE


GESUNGEN ZU PARIS EMPRES PONTOISE
VON PAUL CELAN
AUS CZERNOWITZ BEI SADAGORA
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
Heinrich Heine, An Edom
Damals, als es noch Galgen gab,
da, nicht wahr, gab es
ein Oben.
Wo bleibt mein Bart, Wind, wo
mein Judenfleck, wo
mein Bart, den du raufst?
Krumm war der Weg, den ich ging,
krumm war er, ja,
denn, ja,
er war gerade.
Heia.
Krumm, so wird meine Nase.
Nase.
Und wir zogen auch nach Friaul.
Da hätten wir, da hätten wir.
Denn es blühte der Mandelbaum.
Mandelbaum, Bandelmaum.
Mandeltraum, Trandelmaum.
Und auch der Machandelbaum.
Chandelbaum.
Heia.
Aum.

144
Envoi
Aber,
aber er bäumt sich, der Baum.Er,
auch er
steht gegen
die Pest.

Die Form des Envoi — einer abschließenden Adresse, welche die Pointe des
Gedichts enthält — sowie die Motive des Galgens und der Pest beziehen sich
auf Francois Villon, der zum Tod am Galgen verurteilt wurde und in seiner
Jugend den Ausbruch der Pest in Paris erlebte. „Paris empres Pontoise“ ist
ein Zitat aus Villon. Des weiteren zitiert das Gedicht einen Landsknechts-
vers aus dem Zupfgeigenhansl:

Wir kamen vor Friaul


Da hätt wir allesamt groß Maul
Strampedemi
Ala mi presente al vostra Signori.

Die Großmäuligkeit, von der hier die Rede ist, realisiert sich im Nonsens,
denn „Strampedemi“ ist bedeutungslos, und die italienisch klingende Zeile,
die ungefähr präsentieren Sie mich Ihren Herren4 bedeuten könnte, ist
gleichfalls primär ein linguistischer Schabernack. —Am wichtigsten aber für
das Verständnis von Celans Gedicht ist die Beziehung auf Heines ,An
Edom4158:

Ein Jahrtausend schon und länger


Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde ich.
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
Ward dir wunderlich zu Mut,
Und die liebefrommen Tätzchen
Färbtest du mit meinem Blut.
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,
Und ich werde fast wie du!

Edom ist Synonym für Esau, der zum Feind seines Bruders Jakob (=Israel)
wurde; m it dem Namen Edom spricht Heine zeitgenössische Antisemiten an.
Bei Celan ist auf das Judentum des 19. Jahrhunderts bereits im Titel Bezug
genommen. Sadagora ist eine kleine Stadt bei Czernowitz, die seit 1842

145
durch den Zaddik Israel Friedmann zu einem Zentrum des Chassidismus
w urde.159 Statt von Sadagora bei Czernowitz und von Pontoise bei Paris,
spricht Celan umgekehrt von Czernowitz bei Sadagora und — in Anlehnung
an Villon von Paris bei Pontoise. Das Verfahren der Umkehrung, das
später in den Variationen des Wortes „Mandelbaum“ wiederkehrt, ist hier
schon angewandt. Die Vertauschung in der Rangordnung von Städten, von
Groß- und Kleinstadt, wird am Gedichtanfang indirekt damit erklärt, daß
man heute nicht mehr wisse, wo oben und unten ist; damals, „als es noch
Galgen gab“ , konnte ein solches Problem nicht entstehen, denn wer am
Galgen hing, war oben. Den Galgen als Garanten für „ein Oben“ anzusehen,
ist ein absurder Sarkasmus im Stil Villons, denn gewöhnlich war derjenige,
der oben am Galgen hing, in der sozialen Hierarchie ganz unten. Wenn es
schon keine Galgen mehr gibt, so sollen doch Bart und Judenfleck — eine
Vorform des Judensterns, ein gelbes Band, das die Juden der Bukowina
lange vor dem Faschismus auf Anweisung der österreichischen Regierung
tragen m ußten160 - klarstellen, wo „Paul Celan aus Czernowitz“ in der
sozialen Hierarchie steht. Aber die Herausforderung an den Wind, Bart und
Judenfleck zu bringen, ist in den Wind geschrieben. Das einzige sichtbare
Zeichen für den sozialen Status des Sprechenden ist seine Nase, die krumm
wird wie die eines Juden, weil er einen krummen Weg, den Weg eines Gau­
ners und Ganoven zurückgelegt hat, um einen geraden, ungebrochenen Weg
zu gehen. Nicht um die jüdische Herkunft und die daraus sich ergebenden
sozialen Konsequenzen handelt es sich hier, sondern darum, daß derjenige,
der einen geraden Weg gehen will, unter Umständen, die ungenannt bleiben,
einen krummen Weg gehen muß und damit sozial deklassiert, in diesem Sinn
zum Juden wird. Wer aber eine krumme Nase hat, weil er einen krummen
Weg gegangen ist, der in Wahrheit ein gerader war, trägt das physiogno-
mische Kennzeichen als Ehrenzeichen. Der krumme Weg führte nach der
Aussage des Gedichts auch nach Friaul. Indessen ist hier weniger das damit
bezeichnete norditalienische Gebiet von Bedeutung als die Tatsache, daß das
Gedicht mit der Nennung von Friaul in den linguistischen Schabernack des
erwähnten Landsknechts-Lieds einfällt. Indem die Liedzeile „Da hätt wir
allesamt groß Maul“ nach dem Hilfsverb gekappt wird, so daß es nur noch
,ß a hätten wir, da hätten wir“ heißt, hängt der kausale Anschluß der fol­
genden Zeile (,J)enn es blühte der Mandelbaum“ ) in der Luft. Der sprach­
liche Kausalnexus, der bereits in der Nennung von Galgen als Begründung für
„ein Oben“ und in der Begründung der Krummheit des Weges damit, daß er
gerade war, ironisiert worden ist, wird mittels der Elimination dessen, was
den Anschluß mit „Denn“ allererst rechtfertigen würde, vollends ad absur­
dum geführt. Indem solchermaßen der Unterordnung der Sprache unter die

146
logische Form aufgekündigt wird, ist der Weg geebnet für die folgende Spie­
lerei mit dem Wort „Mandelbaum“ , die halb mocking, halb bitterer Ernst
ist. Sie besteht zunächst in der Vertauschung der Anfangsbuchstaben bei
„Mandelbaum, Bandelmaum“ und „Mandeltraum, Trandelmaum“ und so­
dann in der Verkürzung des Wortes „Machandelbaum“ um die bzw. den
Anfangsbuchstaben der Elemente des Kompositums; aus „Machandel-“ wird
„Chandel-“ , aus ,,-baum“ wird „Aum“ . Die Folge der Wörter „Mandel­
baum“ , „Mandeltraum“ und „Machandelbaum“ aufeinander scheint zu­
nächst bloß aus der phonetischen Ähnlichkeit gewonnen. Indessen erweist
sich bei näherem Hinsehen, daß sie semantisch strukturiert ist. „Mandel­
traum “ und „Machandelbaum“ lassen sich als Explikationen zu „Mandel­
baum“ verstehen. Hebt „Mandeltraum“ hervor, daß der Mandelbaum ein
Symbol der heilsgeschichtlichen Hoffnungen des Judentums is t161, so erin­
nert „Machandelbaum“ als Anspielung auf das von den Gebrüdern Grimm
aufgezeichnete grausige Märchen an die Greuel, denen die Juden in ihrer
Geschichte ausgesetzt waren. „Mandeltraum“ und „Machandelbaum“ kon­
trastieren historische Hoffnung und historische Wirklichkeit des Judentums
miteinander. Dieses Kontrastverfahren wiederholt sich im Verhältnis der
deformierten Wörter zum jeweiligen Ausgangswort. „Bandelmaum“ weist
auf ,Band, bändeln4 oder französisch ,bandelette‘ und damit im Kontext des
Gedichts auf den Strick am Galgen. Als Anspielung auf den Galgen ist
„Bandelmaum“ nicht nur phonetisch, sondern auch semantisch die Umkeh­
rung von „Mandelbaum“ ; dieser wird mit dem Galgen als seinem Gegenbild
konfrontiert. Entsprechend deutet „Trandelmaum“ als Umkehrung von
„Mandeltraum“ darauf, daß dieser Traum in der Geschichte zerstört worden
und so sinnlos geworden ist wie das Wort „Trandelmaum“ . Ein Kontrastver­
fahren liegt auch vor bei der Überführung von „Machandelbaum“ in „Chan-
delbaum“ . Hat der Machandelbaum aufgrund des Märchens vom Kind, das
von seiner M utter geschlachtet und vom Vater gegessen wird, eine negative
Konnotation, so wird diese aufgehoben dadurch, daß „Chandelbaum“ an
französisch ,chandel-4 gemahnt. „Chandelbaum“ läßt sich übersetzen mit
,Lichterbaum4 und ist in dieser Bedeutung ein Wort, das die düsteren Asso­
ziationen um den „Machandelbaum“ aufhebt. Zugleich jedoch ist „Chandel­
baum“ die gleichsam geköpfte Form des Wortes „Machandelbaum“ und
verbleibt insofern auf der Ebene des Märchens, in dem die Stiefm utter ihren
Sohn mit dem Deckel einer Truhe guillotiniert.162 Die sprachliche Mimesis
des Köpfens wird bei Celan fortgesetzt, indem er anschließend ,,-baum“
verwandelt in „Aum“ . Der Schluß des Gedichts setzt das Köpfen des Wortes
,Baum‘ gleich mit dem Köpfen des Baumes selber - zwischen Wort und
Sache wird nicht unterschieden - und hebt zugleich implizit hervor, daß der

147
Baum Metapher eines Menschen ist. Der geköpfte Baum „bäumt sich“ wie
der Rumpf eines Menschen, der guillotiniert wird. Dies Bäumen wiederum
ist als Ausdruck des Widerstandes, des sich Aufbäumens verstanden. Vom
sich bäumenden Baum heißt es, er stehe „gegen / die Pest". Möglicherweise
in Reminiszenz an La Peste von Camus, die in einer ihrer berühmtesten
Passagen — der Erzählung von Tarrou — die Verhängung und Vollstrek-
kung von Todesurteilen als Pest beschreibt, mit Sicherheit aber in Ab­
wandlung des Pestmotivs aus Heines Erzählung Der Rabbi von Bacharach
ist die Pest bei Celan Metapher eines gesellschaftlichen Zustandes, der die
Zerstörung von Menschen erlaubt und sanktioniert. (Im Spätwerk wird die
Pestmetapher häufig in diesem Sinn gebraucht.) Der Schluß des Gedichts
macht damit deutlich, daß die vorangegangene Sprachzerstückelung nicht
nur als Widerspiegelung der Vernichtung von Menschen, sondern auch als
Ausdruck des Widerstands dagegen verstanden werden soll. Der Sprachzer-
stückelung wird ein denunziatorischer Effekt beigemessen. Linguistische
Verfahrensweisen zeigen bei Celan keine Verselbständigung der Sprache im
Sinn der Abstraktion von empirischer Wirklichkeit an, sondern sind im Ge­
genteil zu verstehen als Versuch, sprachliche Strukturen bedeutend zu ma­
chen in Hinsicht auf einen bestimmten Modus der Realitätserfahrung. Eine
Sprache soll gefunden werden, in welcher der tatsächliche Zustand des Sub­
jekts, die Zerstörung der Menschenwürde, zum Ausdruck kommt. Der
sprachliche Ausdruck soll mit der empirischen Selbsterfahrung zu jener Kon­
gruenz gebracht werden, die es am Ende erlaubt zu sagen, daß die Subjekte
bestimmte Worte „sind“ (,Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn‘, N 10):

Das Wort vom Zur-Tiefc-Gehn,


das wir gelesen haben.
Die Jahre, die Worte seither.
Wir sind cs noch immer.

Die Subjekte „sind“ noch immer das Wort, das sie gelesen haben, das heißt,
es stimmt überein mit dem, was sie sind; bringt ihren faktischen Zustand
zum Ausdruck. Übereinstimmung von Sprechen und Sein —Celan hat dafür
im Gespräch den nicht ontologisierend zu mißdeutenden Terminus .Daseins­
sprache4 verwendet — kann der Niemandsrose zufolge vor allem dadurch
geleistet werden, daß die Sprache zerstückelt wird und zum kreatürlichen
Laut hin tendiert.

148
3.

Die Negation der Sprache im vorsprachlichen Ausdruck, als die „Pal-


laksch“ , „gebentscht“ und „Aum“ sich ausweisen ließen, ist fundiert in
einer mimetischen Sprachtheorie, die Harald Weinrich mit Recht als eine
Voraussetzung vor allem der späten Lyrik Celans angesehen und für die auch
Peter Szondi, der freilich den Begriff der Mimesis dem aristotelischen Wort­
verstand Vorbehalten wissen m öchte163, der Sache nach den Nachweis er­
bracht hat. Weinrichs These, daß Sprache bei Celan eingesetzt sei als Mimesis
des Gemeinten, bleibt jedoch insofern abstrakt, als er das Gemeinte sehr
allgemein bestimmt als Welt, die „aus den Fugen“ is t.164 Im Unterschied,
nicht im Widerspruch dazu wäre das Gemeinte, was die Niemandsrose be­
trifft, zu bestimmen als zerstörte Menschenwürde, der in einer zerstückelten
Sprache zum Ausdruck verholfen werden soll. Wie sehr diese Auffassung von
Sprache die Lyrik der hier behandelten Periode geprägt hat, läßt sich ver­
deutlichen an dem Gedicht ,Chymisch‘ (N 25 f.), dessen Titel anspielt auf
den wahrscheinlich von Andreä verfaßten, 1616 anonym erschienenen Ro­
man Chymische H ochzeit Christiani Rosenkreutz, auf den womöglich auch
die Rosen-Kreuz-Symbolik fax Niemandsrose zurückgeht:

Schweigen, wie Gold gekocht, in


verkohlten, verkohlten
Händen.
Finger, rauchdünn. Wie Kronen, Luftkronen
u m ----

In den Händen, die in den Krematorien der Lager verbrannt sind - das
Gedicht stellt dies sarkastisch als moderne Alchimie, die Goldkocherei des
20. Jahrhunderts dar —, ist Schweigen entstanden. Die zu Rauch gewor­
denen Finger sind „Luftkronen“ um etwas, das nicht vorhanden ist; weil es
dieses Etwas, den zu krönenden König, nicht gibt, bricht die Sprache nach
„um “ ab. Im Abbrechen der Sprache wird deutlich gemacht, daß das Ge­
meinte, der König Mensch, vernichtet ist. Die Sprachzerstückelung sucht
Mimesis der zerstörten Menschenwürde zu sein.
Der nicht diskursiv Realität beschreibenden, sondern mimetischen Sprache
m ißt Celan eine emanzipatorische Funktion bei, am eindringlichsten in dem
Gedicht ,Hinausgekrönt‘ (N 69 f.), das die Rosen-Kreuz-Symbolik im Sinn
von Passion und Auferstehung — aber nicht Christi, sondern der Menschheit
—aufgreift:

149
Mit Namen, getränkt
von jedem Exil.
Mit Namen und Samen,
mit Namen, getaucht
in alle
Kelche, die vollstehn mit deinem
Königsblut, Mensch, in alle
Kelche der großen
Ghetto-Rose 1 . . . 1

Es ist nicht der Kelch der Passion Christi („Mein Vater, ist’s nicht möglich,
daß dieser Kelch von mir gehe“ , Matth. 26, V. 42), sondern es sind die
Kelche der Leidensgeschichte von Menschen und im besonderen die Bluten­
kelche der „Ghetto-Rose“ , die mit „Königsblut“ vollstehn wie der Kelch des
Abendmahls. In dieses Blut sind die Namen getaucht als in Samen, aus dem
möglicherweise der seiner Würde nicht beraubte Mensch, der König, wieder
hervorgeht. Die Sprache der Dichtung — sie ist hier mit den „Namen“ ge­
meint - ist, wie die explizite Sexualmetaphorik anderer, hier nicht zitierter
Passagen des Gedichts bestätigt, verstanden als Samenträger, der den König
Mensch zeugen will; als Logos spermatikos —auch dies ist ein Motiv u.a. der
Alchimie - , der einem humanen Leben zu seiner Wiedergeburt verhelfen
soll.
Mit dieser emphatischen Bestimmung der historischen Funktion der lyri­
schen Sprache hängt zusammen, daß Celan die Niemandsrose offenkundig
nicht nur als Hommage für Ossip Mandelstamm, dem der Band gewidmet ist,
gedacht hat, sondern als Hommage für eine Vielzahl von Lyrikern. Die
Rückbeziehung auf die gesamte lyrische Tradition ist der Niemandsrose we­
sentlich, ohne daß dies als Versuch gewertet werden dürfte, Literatur unter
Absehung von ihrer sozialen Genesis aus einer absolut gesetzten Literatur­
geschichte zu begründen. Außer Mandelstamm sind namentlich erwähnt
Petrarca, Hölderlin, Heine, Marina Zwetajewa und Nelly Sachs. Zitiert wer­
den u.a. Catull, Büchner, Baudelaire, Verlaine, Apollinaire und Saint-John
Perse. Angespielt wird z. B. auf Enzensberger und Rilke. Das kyrillisch ge­
schriebene Zitat der Zwetajewa, „Dichter sind Juden“ (,Und mit dem Buch
aus Tarussa1, N 85 ff.), deckt die Intention der Hommages auf. Diejenigen
sollen gewürdigt werden, die, ob sie ihrer Herkunft nach Juden waren oder
nicht, zu Juden geworden sind dadurch, daß sie der Verletzung der Men­
schenwürde Sprache verliehen haben. Wer mit Recht ein Dichter genannt
werden darf, ergreift nach Celans Überzeugung Partei für die Unterdrückten
und wird dadurch selbst zum Geächteten, zum Juden in diesem Sinn. Daß
eine solche Ächtung im postfaschistischen Deutschland oft als Philosemitis-

150
mus auftrat, war Celan in aller Deutlichkeit bewußt. Polemisch dagegen
steht das Zwetajewa-Zitat. Ihm zufolge ist die Eigenart einer Dichtung nicht
aus der jüdischen Herkunft des Autors abzuleiten. Vielmehr ist umgekehrt
das Judentum des Autors als soziale Konsequenz seines literarischen Engage­
ments zu begreifen. Die Erfahrung, daß der kritische Gehalt seines Cfeuvres
tabuiert worden ist, hat Celan in seinem Spätwerk vielerorts thematisch
gemacht, so wenn vom „geächteten Wort“ die Rede ist (,Harnischstriemen4,
AW 24) oder davon, daß niemand „für den / Zeugen“ zeuge (,Aschenglorie4,
AW 68). Aus der Art seiner Dichtung, nicht aus seiner Biographie, leitete •
Celan das Recht ab, von einem „Bund“ zwischen ihm und den Verfolgten zu
sprechen; ein solcher „Bund“ besteht nicht von Geburt, sondern konsti­
tuiert sich als ein „später“ (,Mit den Verfolgten4, AW 21):

Mit den Verfolgten in spätem, un­


verschwiegenem,
strahlendem
Bund.
Das Morgen-Lot, übergoldet,
heftet sich dir an die mit­
schwörende, mit­
schürfende, mit­
schreibende
Ferse.

Nicht m it dem Morgenrof einer besseren Welt, sondern mit einem Bleige­
wicht, einem „Morgen-Zof“ — Wortverschiebungen wie diese sind typisch
für Celan165 — sieht sich derjenige belohnt, der schreibend nach jenem Gold
schürft, aus dem die Königskrone, das Zeichen der Menschenwürde, herge­
stellt werden könnte. Das Bleigewicht, das sich den Verfolgten an die Ferse
heftet und ihre Flucht behindert, ist zugleich das Instrument, die Tiefe nach
Gold auszuloten, und antizipiert als „übergoldetes“ die Herstellung eines
Lebens, wie es sein sollte. Menschenwürde erscheint, „strahlt“ bei denen, die
geächtet und verfolgt sind. Nicht, wie im Mythos, die geflügelte, sondern die
bleibeschwerte Ferse ist bei Celan das Signum des Dichters. Weil dieser sich
für ein Leben ohne Unterdrückung engagiert, wird er selber zum Verfolgten.
Auf Celan selbst bezogen und nach seiner eigenen Überzeugung war es ein
Modus von Verfolgung, daß die kritischen Gehalte seines Oeuvres neutrali­
siert worden sind. Dieser Vorgang, der dadurch nicht harmloser wird, daß er
den meisten Interpreten überhaupt nicht bewußt ist, läßt sich zeigen am
Detail einer Arbeit, die sich Paul Celan als jüdischer Dichter nennt. Darin
heißt es:

151
„Wo Messianismus und Eingedenken in ihrer Beziehung aufeinander als jüdische Kräfte
weiterhin die Dichtung Celans bewirken, wird dieser Dichtung, die nun sieh vom
Symbol Israel auf das Symbolisierte, die Menschheit insgesamt, richtet, zum Motto,
was Celan allgemein als die Bedingung der Dichtung um den Menschen betrachtet und
was als russisches Zitat der Marina Zwetajewa über dem vorletzten Gedieht der Nie­
mandsrose steht: Alle Dichter sind Juden. Alle Dichter haben ein Thema, zu dessen
Bedingungen vergleichsweise und vorbildhaft jüdische Grundkräfte, Messianismus und
Eingedenken, gehören. Zu diesem Thema Celan gelangt [gelangt Celan? M. J.j über
seine .Symbol'-Dichtung hinaus, indem er über seine spezifische jüdische Dichtung
hinausgclangt, dabei aber deren geistige Gehalte bcibehält und sie sogar auf die Dich­
tung allgemein überträgt.“

Zwar erkennt der Autor dieser Sätze, daß Celan von Juden in einem über­
tragenen Sinn spricht, aber er vermag das Gemeinte nicht angemessen zu
bestimmen. Auf der einen Seite rekurriert er auf bloß Partikulares, auf
angebliche .jüdische Grundkräfte“ , und auf der anderen Seite auf das unver­
bindlich Allgemeine einer „Menschheit insgesamt“ . Zwischen den so gesetz­
ten Polen fällt durch, was Celan wirklich meint: den unterdrückten Teil der
Menschheit. Nach Celan werden Dichter keineswegs dadurch zu Juden, daß
sie irgendein Thema haben, zu dessen Bedingungen irgendetwas gehört, das
irgendwie .jüdischen Grundkräften“ analog wäre, sondern dadurch, daß sie
gegen Verhältnisse Einspruch erheben, die bestimmte soziale Gruppen von
einem menschenwürdigen Leben ausschließen. Das Zwetajewa-Zitat versucht
den sozialen und politischen Standort des Dichters anzugeben. Eben das
wird dem Autor der erwähnten Sätze unkenntlich hinter dem Popanz „spe­
zifischer jüdischer Dichtung“ und ihrer „geistigen Gehalte“ , die lediglich
religiös, als „Messianismus und Eingedenken“ , definiert werden. Wo die In­
terpretation Celans Engagement beim Namen zu nennen hätte, flüchtet sie
in Theologie. Exakt bestätigt sie damit Celans auch in Gesprächen wieder­
holt geäußerte Einsicht, als Dichter jüdischer Herkunft gefeiert und zugleich
als Kritiker bestehender Verhältnisse geächtet, zum Juden gestempelt wor­
den zu sein.

In Konsequenz der Auffassung, daß Dichter Juden seien, wird die lyrische
Sprache in dem Gedicht ,In eins* (N 68) als Schibboleth bezeichnet, als Wort
mithin, das auszusprechen sein Judentum - seine Solidarität mit sozial
Deklassierten —erkennen zu geben heißt:

Dreizehnter Feber. Im Herzmund


erwachtes Schibboleth. Mit dir,
Pcuplc
de Paris. No pasarän.

152
Schäfchen zur Linken: er, Abadias,
der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden
über das Feld, im Exil
stand weiß eine Wolke
menschlichen Adels, er sprach
uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war
Hirten-Spanisch, darin,
im Eislicht des Kreuzers .Aurora*:
die Bruderhand, winkend mit der
von den wortgroßen Augen
genommenen Binde - Petropolis, der
Unvergessenen Wanderstadt lag
auch dir toskanisch zu Herzen.
Friede den Hütten!

Wie der Titel ,In eins4 schon sagt, ist das Gedicht, das sich selbst als Schib-
boleth versteht, eine Montage. Deren wichtigste Bestandteile sind die Erin­
nerung an den 13. Februar, den Tag der heftigsten Kämpfe während des
Generalstreiks 1934 in Wien wie der Bombardierung Dresdens 1945; an den
revolutionären Peuple de Paris und die jakobinische Parole »Friede den
Hütten4; an das ,No pasarän‘(,Sie, die Faschisten, werden nicht durchkom­
men4) des Spanischen Bürgerkriegs, in dem ein wichtiger Kampf in Huesca
stattfand; an den Kreuzer »Aurora4, der das Signal gab für den Sturm aufs
Petersburger Winterpalais. Die Bedeutung dieser Zitate erklärt das Bild:

|. . .] im Exil
stand weiß eine Wolke
menschlichen Adels ( . . . )

Die im Exil stehende Wolke, die an „menschlichen Adel“ gem ahnt167, veran­
laßt dazu, sich zu vergegenwärtigen, welche Versuche in der Vergangenheit
unternommen worden sind, dem König Mensch zu seinem Recht zu verhel­
fen. Als solche Versuche reflektiert das Gedicht den Wiener Arbeiterauf­
stand, die Französische Revolution, die Oktoberrevolution und den Spani­
schen Bürgerkrieg. Es stellt ihnen und speziell der Erinnerung an das revolu­
tionäre Petrograd (= Petersburg) die Stadt Petropolis gegenüber als Inbegriff
des Exils: in die brasilianische Stadt dieses Namens sind während des Faschis­
mus viele Juden emigriert, unter ihnen Stefan Zweig, der sich unter dem
Druck des Exils 1942 das Leben nahm .168
Dichtung als Schibboleth will erinnern an die historischen Bemühungen, ein
humanes Leben zu verwirklichen, und versteht sich als Samen und Saatkorn
dafür, daß von solchen Bemühungen nicht abgelassen wird. Die Metapher des

153
Saatkorns ist hier nicht willkürlich gewählt: Schibboleth heißt übersetzt
,Ähre\ Nicht nur soll Dichtung nach Celans Auffassung so beschaffen sein,
daß an ihr erkennbar wird, ob jemand als ein Jude, das heißt im Namen der
Unterdrückten spricht. Sie soll zugleich, indem sie als Schibboleth fungiert,
sein, was das Wort Schibboleth bedeutet: eine Ähre, das Saatkorn für die
Herstellung eines humanen Lebens. Explizit ist das in dem auf ,ln eins*
folgenden Gedicht ,Hinausgekrönt\ wo unmittelbar vor der bereits zitierten
Passage, die vom Logos spermatikos - von „Namen und Samen“ —handelt,
die Rede ist von „Garbe-und-Wort“ . Die Bindestrich-Schreibung bringt die
Gleichsetzung der beiden verbundenen Substantive zum Ausdruck. Das
poetische Wort ist als Garbe verstanden, als ein Bündel aus Ähren. Diese
Metapher bedarf der Rückbeziehung auf das vorangehende Gedicht ,ln eins',
in dem vom Schibboleth die Rede ist, und die Definition von Dichtung als
Schibboleth klärt sich ihrerseits erst auf im Hinblick auf das Diktum, daß
Dichter Juden sind. Ohne Kenntnis und Erkenntnis der Metaphemkonstella-
tion des Bandes bleibt, wie sich hieran beispielhaft zeigt, das Detail dunkel,
oder es ist doch nur partiell verständlich. Aber so gewiß das dicht geknüpfte
Netz von wechselseitigen Verweisen zwischen den einzelnen Gedichten der
Deutung der Niemandsrosc förderlich ist, so gewiß verführt es auch dazu,
daß die Interpretation sich innerhalb der von Celan gesetzten Konstella­
tionen hin und her bewegt und über dem Vollzug der immanenten Logik der
Sache schließlich zu fragen vergißt, was denn die Voraussetzungen dieser
Logik sind. Eine solche Verführung, die nicht zu verwechseln ist mit den
Pseudo-Nachdichtungen gewisser Interpreten, besteht auch für denjenigen,
der sich durchaus bemüht, die Semantik derCelanschen Lyrik zu erschließen
und in begriffliche Sprache zu übersetzen. Ihm wird sich die Metaphorik von
König, Gold, Krone, Purpur etc. als eine der Menschenwürde entschlüsseln,
ohne daß er doch positiv anzugeben vermöchte, worin denn die Menschen­
würde nach Celan bestünde. So hatte die vorgetragene Darstellung der Nie­
mandsrose ihre hauptsächliche Schwierigkeit daran, das Wort Menschen­
würde nur durch Begriffe wie Humanität, Selbstverwirklichung, Autonomie
variieren, nicht aber in einer Weise bestimmen zu können, welche die sozia­
len, politischen und ökonomischen Bedingungen der Verwirklichung solcher
Desiderate trifft. Diese Schwierigkeit ist nicht im angewandten Verfahren
begründet, sondern in der Sache selber. Die Funktion des Absurden, das im
Meridian ausgewiesen worden war als ästhetischer Modus, ein Fürsichsein
der Sprache zu realisieren, das unvereinbar ist mit der Beantwortung der
Frage, was denn politisch zu tun sei, erfüllt in der Niemandsrose ein Netz
von Metaphern, die sich gegenseitig erläutern, ohne doch die Frage zu berüh­
ren, in welcher Form verändernde Praxis möglich und wünschenswert sei. In

154
diesem Sinn ist die Niemandsrose bei allem nachdrücklichen Engagement
hermetisch. Ein solcher Hermetismus aber hat nichts zu tun mit der Vorstel­
lung von einer langue pure in der Form, wie sie Silvio Vietta für die
Niemandsrose hat geltend machen wollen:

„Die Sprache Celans hat sich als eigene, reine Zone des Gedichts begriffen. Ihre Refle­
xion hat sie schließlich zu sich selbst, als der eigentlichen Wirklichkeit des Gedichts
zurückgeführt. [ . . . ) Die Sprache bestimmt sich nicht mehr nur aus ihrem Unterwegs­
sein in den Raum der Schatten ( . . sondern reflektiert ihre Bewegung ins Nichts und
aus ihm zurück in sich erst als ihre ganze und umfassende Bewegung. Sie selbst ist ihr
Ziel geworden. [. . .J Durch diese reflexive Rückkehr der Sprache zu sich [.. .J hat die
Sprache eine neue Ständigkeit gewonnen.“ 169

Ein so verflachter Begriff von autonomer Sprache läßt sich aus Celan nicht
herleiten. Die Reflexion von Sprache in der Niemandsrose bedeutet nicht,
daß Sprache hier nur noch tautologisch sich selbst zum Gegenstand habe,
sondern läßt sich im Gegenteil als Versuch ausweisen, zu einer Sprache zu
gelangen und sie theoretisch zu fundieren, die dem tatsächlichen Zustand
des Subjekts und seiner Realitätserfahrung angemessen ist. Das Spezifische
von Celans Gedichten besteht geradezu darin, daß sie — darin übrigens sehr
verwandt der Idee Paul Eluards von einer poesie impure — die traditionelle
Dichotomie von absoluter und engagierter Dichtung aufzuheben versuchen,
deren Verschärfung zum undialektischen Entweder - Oder bei Autoren wie
Vietta objektiv die Funktion hat, Celans Lyrik ihrer politischen Gehalte zu
berauben und zu entaktualisieren: „Die ,langue pure‘ konstituiert sich selbst
als ein ,Mit-Stem‘, als eine ,Welt für sich* (Novalis), in dem [indem? M. J.]
sie das, ,was Welt war*, total in sich aufhebt, reinigt und ihm eine zeitüber­
legene Ständigkeit verleiht.“ 170Was immer, wenn es keine Zote sein soll, mit
„Ständigkeit“ gemeint sein mag: deutlich herrscht hier eine Tendenz zur
Ontologisierung von Celans Lyrik. Viettas Ansicht nach ist „Sprache, die als
,Neben-Erde* sich eingerichtet hat, [ . . . ] nicht an einen bestimmten Raum,
eine bestimmte Zeit gebunden.“ 171 Ein Blick auf Celans Verse reicht aus, um
die Unhaltbarkeit der Interpretation zu erkennen (,Was geschah?*, N 67):

Sprache, Sprache. Mit-Stern. Neben-Erde.


Ärmer. Offen. Heimatlich.

Sprache als „Mit-Stern“ und „Neben-Erde“ ist für sich und kann doch nicht
für sich sein. Sie ist gleichsam ein Satellit der empirischen Realität und
bleibt als solcher von ihr abhängig und auf sie bezogen. Mit dem Wort
„offen“ ist sie, wenn man der bei Celan üblichen Terminologie folgt (vgl. vor
allem im Meridian), charakterisiert als Sphäre der Utopie; sie ist „ärmer“ als

155
die Erde, weil die utopischen Gegenstände noch ohne materielle Realität
sind, und sie ist zugleich „heimatlich“, weil sie eine Welt antizipiert, in der
ein humanes Leben möglich wäre.

Die von Vietta (der hier stellvertretend stehen mag für die dominierende
Richtung der Celan- Interpretation) keineswegs kritisch gemeinte These, daß
Celan den Dingen wie der Sprache ein zeitüberlegenes Sein, eine von der
Empirie gereinigte Existenz verleihe, wird sich vermutlich stützen wollen auf
Reflexionen über die Zeit, die in der Niemandsrose, wie im Gesamtwerk, zu
finden sind. Anders aber als etwa im Frühwerk ist die Zeit in dieser Periode
Celans nicht thematisch als Vergänglichkeit. Die Problemstellung der Ge­
dichte dürfte mißverstanden sein, wenn man dem Begriff der Zeit einen
affirmativ gesetzten Begriff von Dauer oder Ewigkeit entgegensetzt, denn es
ist der Zeitverlauf als Ewigkeit, Geschichte als Reproduktion des Immer­
gleichen, was Celan zu seinem Gegenstand macht (.Soviel Gestirne1, N 15):

| . . .| Es ist,
ich weiß es, nicht wahr,
daß wir lebten, es ging
blind nur ein Atem zwischen
Dort und Nicht-da und Zuweilen,
kometenhaft schwirrte ein Aug
auf Erloschenes zu, in den Schluchten,
da, wo’s verglühte, stand
zitzenprächtig die Zeit,
an der schon empor- und hinab-
und hinwegwuchs, was
ist oder war oder sein wird - ,

und zuweilen, wenn


nur das Nichts zwischen uns stand, fanden
wir ganz zueinander.

Allegorisch dargestellt ist hier eine gleichsam stillstehende („stand“ ), ent-


dynamisierte Zeit, bei der Zukünftiges schon präsent ist und sich nicht
qualitativ unterscheidet von der Gegenwart wie von einer Vergangenheit,
welcher das Subjekt mit der Feststellung, daß man nicht gelebt habe, ein
vernichtendes Urteil spricht. Das von der „zitzenprächtigen“ Zeit genährte
Geschehen ist die Permanenz von Ereignissen, die das Auge erblinden lassen
und Leben reduzieren auf organische Funktionen, auf ein blindes Atmen.
Der als schlechte Ewigkeit verstandenen Zeit setzt Celan Augenblicke ent­

156
gegen, in denen die Subjekte von ihr befreit sind („zuweilen, wenn / nur das
Nichts zwischen uns stand“) und die insofern als erfüllte Zeit gelten können,
als sie Kommunikation ermöglichen. Das schlechte Kontinuum der Zeit wird
in Momenten scheinbarer Zeitferne, mittels der Abstraktion von allem, „was
/ ist oder war oder sein wird“ , außer Kraft gesetzt. Die Permanenz des
Immergleichen, Vorherbestimmten, wird somit durchbrochen. Die Augen­
blicke, in denen der Zeitverlauf sistiert ist, sind solche der Freiheit (,Flim­
merbaum4, N 31 f.):

Ein Wort,
an das ich dich gerne verlor:
das Wort
Nimmer.
Es war,
und bisweilen wußtest auch du’s,
es war
eine Freiheit.

Das Wort „Nimmer“ war „eine Freiheit“ nicht etwa als Negation von Zeit
überhaupt, sondern eines bestimmten Modus von Zeiterfahrung: der Wieder­
holung des Immergleichen. Mit Grund heißt es in diesem Zusammenhang
nicht »Niemals4. Während sich das Wort »Niemals4 dagegen richten würde,
daß jemals etwas war oder sein wird, opponiert das scheinbar obsolete oder
mundartliche „Nimmer“ dagegen, daß das, was ist, immer dasselbe ist; die
linguistische Differenz zu ,Niemals4 darf also nicht durchgestrichen werden.
Nicht um Zeitlichkeit und überzeitliche Dauer geht es in den zitierten Zei­
len, vielmehr um Immergleichheit und Veränderung — um ein Ausbrechen
aus dem schlechten Kontinuum der bisherigen Geschichte, als das sich „eine
Freiheit“ konstituiert. Wohlgemerkt heißt es „eine Freiheit“ und nicht Frei­
heit schlechthin; der relativierende Artikel macht deutlich, daß es sich um
eine Freiheit handelt, die, als verbaler Akt, bloß imaginativ bleibt. Das Wort
„Nimmer“ ist die imaginative Vorwegnahme eines Zustandes, in dem das
bisherige Immerwiedergleiche der Geschichte durchbrochen wäre. Die
Sexualmetaphorik, mit der das Gedicht fortfährt, ist die Metaphorik einer
solchen Freiheit:

Weißt du noch, daß ich sang?


Mit dem Flimmerbaum sang ich, dem Steuer.
Wir schwammen.

157
Weißt du noch, daß du schwammst?
Offen lagst du mir vor,
lagst du mir, lagst
du mir vor
meiner vor*
springenden Seele.
Ich schwamm für uns beide. Ich schwamm nicht.
Der Flimmerbaum schwamm.

Der mit Flimmerhaaren, wie sie kleinen Merrestieren zur Fortbewegung


dienen, versehene Baum, der dem lyrischen Subjekt als Steuer dient, ist der
Penis als die „vor- / springende Seele“ . Die Offenheit der G eliebten172 ge­
währt jene Freiheit, als die der utopische Zustand zuvor bestimmt worden
ist. Vermittelt ist dessen antizipatorische Erfahrung durch eine sprachliche
Operation, durch das Wort „Nimmer“ . Aber erst wenn die Negation des
Immergleichcn, wenn ein Anderes empirisch verwirklicht wäre, hätte Frei­
heit nicht mehr den Charakter des Aus-der-Welt-Fallens, als das der Schluß
des Gedichts sie darstellt:

|. . . ( Es war
ja ein Tümpel rings. Es war der unendliche Teich.
Schwarz und unendlich, so hing,
so hing er wcllabwarls.
Wcißl du noch, daß ich sang?
Diese -
o diese Drift.
Nimmer. Wcllabwärts. Ich sang nicht. Offen
lagst du mir vor
der fahrenden Seele.

„Weltabwärts“ heißt wohl nicht nur, die Welt entlang, sondern auch, aus der
Welt hinaus zu fallen ein Motiv, das in der Niemandsrose mehrfach variiert
wird, etwa wenn vom Hinausgehen aus der Welt die Rede ist (,Mit allen
Gedanken*, N 19) oder vom „Hinübersein“ (,Dein Hinübersein*, N 16). Das
Verlassen der Welt sollte indessen nicht in einem affirmativen Sinn gedeutet
werden. Es bedeutet kein Transzendieren in höhere oder eigentliche Be­
reiche, sondern bezeichnet die Bedingung, unter der nach Celans Meinung
die entqualifizierte Zeit, das Immer, imaginativ und punktuell außer Kraft
gesetzt werden kann. Das Kontinuum einer als Immerwiedergleiches erfah­
renen Geschichte soll zum Pausieren gebracht werden. Dem entsprechend
reflektiert das Gedicht ,Kolon* (N 63) die Zäsuren, die Sprachpausen der
Dichtung —ihre Kola173 - als Augenblicke der Wahrheit:

158
Keine im Licht der Wort-
Vigilie erwanderte
Hand.
Doch du, Erschlafene, immer
sprachwahr in jeder
der Pausen:
für
wieviel Vonsammengeschiedencs
rüstest du’s wieder zur Fahrt:
das Bett
Gedächtnis!
Fühlst du, wir liegen
weiß von Tauscnd-
farbenem, Tausend­
mündigem vor
Zeitwind, Hauchjahr, Herz-Nie.

In der Nacht der Gegenwart hält das Wort Wache („Vigilie“ ), ohne dem
lyrischen Subjekt die Kommunikation mit einem anderen Menschen zu er­
möglichen. Doch in den Sprachpausen, in denen das Wort gleichsam schläft,
konstituiert sich m it der Vision einer Geliebten das Weiß des Bettes Ge­
dächtnis, das sich zusammensetzt aus „Tausendfarbenem“ ;die dissoziierten
Spektralfarben, die „vonsammengeschieden“ waren, werden wieder ver­
sammelt und bilden das Weiß. Als solche Farben sind autonome Dichtungen
der Vergangenheit verstanden; das „Tausendfarbene“ ist das „Tausend­
mündige“ , wobei das Wort ,mündig‘ sowohl im Sinn von sprechend4 als auch
von ,sich selbst bestimmend, autonom 4 gebraucht ist. Damit ist hier ange­
spielt auf das Stilprinzip der Niemandsrose, aus der lyrischen Tradition zu
zitieren und sie synoptisch zusammenzufassen. Im „Bett Gedächtnis“ wer­
den Zeugnisse der Vergangenheit aktualisiert — als Logos spermatikos
fruchtbar gemacht —, die das lebensfeindlich-atomisierende Kontinuum der
Zeit („Zeitwind“) als lebendige, geatmete Zeit („Hauchjahr44) unterbrechen
und gegenüber jenem Immer Negationen der Zeit darstellen, während derer
das Herz zu schlagen vermag („Herz-Nie“). Was die Kola im Sprachfluß ist,
sind nach Celan die Dichtungen im historischen Prozeß: Atempausen, in
denen die Wiederholung des Immergleichen vorübergehend zum Stillstand
kom m t.174
Der geschichtsphilosophische Rahmen der Niemandsrose ist damit genauer
als bisher angegeben. Die bisherige Geschichte stellt sich Celan nicht nur
allgemein als Anti-Heilsgeschichte dar, sondern, spezifischer, als Wieder­
holung des Immergleichen, als ständige Unterdrückung von Menschen. Auf
dieser Voraussetzung beruht das synoptische Verfahren der Niemandsrose,

159
sei es im Hinblick auf historische Daten, sei es mit Beziehung auf die litera­
rische Tradition. Historische Ereignisse wie die Französische Revolution, die
Oktoberrevolution und den Spanischen Bürgerkrieg vermag Celan ,In eins4
zu fassen, weil sie alle gleichermaßen gesehen sind als Daten, an denen der
Versuch unternommen worden ist, das bisherige geschichtliche Kontinuum
von Herrschaft über Menschen zu durchbrechen. Ebenso gilt ihm die litera­
rische Tradition, sofern sie von „Dichtern“ im erläuterten Sinn („Dichter
sind Juden“ ) geschaffen worden ist, als eminent aktuell und über alle histo­
rischen Differenzen hinweg synthetisierbar. Bestimmte Daten der Geschich­
te und bestimmte Dichtungen werden in der Niemandsrose kumulativ
zitiert, als wäre von ihrer Anhäufung zu erhoffen, daß das Immergleiche der
Geschichte nicht mehr nur transitorisch, für einen hinfälligen Augenblick,
sondern endgültig gesprengt würde. Besonders in den letzten Gedichten des
Bandes erhält diese Kumulation den Charakter der Beschwörung. So in .Hüt­
tenfenster1(N 76 f.):

( . . . | magnetisch
zichts, mit Herzfingern, an
dir, Erde:
du kommst, du kommst,
wohnen werden wir, wohnen |. . .)

Mit der Inbesitznahme der Erde durch die Unterdrückten, durch „Men-
schen-und-Juden“ - die Menschen, die zu Juden geworden sind —, wäre
auch die Vergangenheit versöhnt; die „Geschlechterkette, / die hier bestattet
liegt und / die hier noch hängt, im Äther“ (,Les Globes\ N 72), käme zur
Ruhe. Wie aber die ästhetische Antizipation von Augenblicken, in denen die
verhängnishafte („die hier noch hängt, im Äther“) Permanenz des Leidens
durchbrochen ist, zum historischen Augenblick qualitativer Veränderung
werden könnte, bleibt ungewiß. Das Fiat, das „Es sei“ der Dichtung bleibt,
wie es an einer durch das Druckbild auffällig akzentuierten Stelle heißt,
blind (,Die Silbe Schmerz4, N 78 f.):

| . . .| ein blindes
Es se i

Im Gegensatz zum schöpferischen Gotteswort („Und G ott sp rach .. . Und


Gott sah“ , 1. Mose 1, V. 3 u. 4) bleibt das poetische Fiat blind, das heißt es
vermag keine neue Wirklichkeit, keine Gegenstände der Anschauung hervor­
zubringen. Dennoch wird das „Es sei“ der Dichtung von Celan nicht als
vergeblich dargestellt, sondern als

160
Knoten
(und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tau­
sendknoten), an dem
die fastnachtsäugige Brut
der Mardersterne im Abgrund
buch-, buch-, buch­
stabierte, stabierte.

Das poetische Fiat leistet, als unauflösbarer Knoten, Widerstand gegen das,
was verhindern will, daß aus der Erde ein bewohnbarer Stern wird. Die
„Brut / der Mardersteme“ — die Brut von Sternen, auf denen nur räube­
rische und mörderische Kreaturen, Marder, zu Hause sind —beschäftigt sich
mit ihm, ohne die Schrift entziffern, den Knoten lösen zu können. Der
soziale Gehalt einer Dichtung, die zum Ausdruck bringt, daß es einer neuen,
anderen Wirklichkeit bedarf, besteht also nach Celan nicht zuletzt darin, daß
sie eine distinktive, polarisierende Funktion wahrnimmt, indem sie denjeni­
gen, die diese Überzeugung nicht teilen, unverständlich bleibt, während sie
dort verständlich ist, wo ein Konsens darüber besteht, daß ein menschen­
würdiges Leben noch erst herzustellen sei. Den letzteren Aspekt hebt der
Schluß des Gedichts ,Hinausgekrönt4 (N 69 f.) hervor, wo es im Anschluß an
die Bestimmung von Dichtung als Schibboleth, als „Garbe-und-Wort“ , heißt:

Mit Namen, getränkt


von jedem Exil.
Mit Namen und Samen,
mit Namen, getaucht
in alle
Kelche, die vollstehn mit deinem
Königsblut, Mensch, - in alle
Kelche der großen
Ghetto-Rose, aus der
du uns ansiehst, unsterblich von soviel
auf Morgenwegen gestorbenen Toden.
(Und wir sangen die Warschowjanka.
Mit verschilften Lippen, Petrarca.
In Tundra-Ohren, Petrarca.)
Und es steigt eine Erde herauf, die unsre,
diese.
Und wir schicken
keinen der Unsern hinunter
zu dir,
Babel.

161
Die Singenden befinden sich in gleichsam sibirischem Exil („Tundra“ ), das
- eine in der Niemandsrose durchgängige Metapher als ein über der Erde
schwebender Bereich beschrieben ist.175 Aus Protest gegen das Warschauer
Ghetto sangen sie die Warschowjanka, das polnische Arbeiterlied von 1883.
Ghetto und soziale Ausbeutung werden als Modi der Verbannung zu­
sammengesehen und überdies gekoppelt mit der Erinnerung an Petrarcas
Exil in Avignon. In nur drei Zeilen sind Reminiszenzen an die polnische,
deutsche und italienische Geschichte untergebracht. Dieser „von jedem
Exil“ getränkten, übernationalen Sprache wird die babylonische Sprach­
verwirrung derer entgegengesetzt, die unten auf der Erde sind. Sie können
sich untereinander nicht verständigen, weil ihnen die Basis zur Verständi­
gung fehlt: der Wille, daß die Erde für alle bewohnbar werde. Mit der Paren­
these bringt Celan graphisch zum Ausdruck, daß die eingeklammerten Zeilen
denjenigen verschlossen bleiben, die kein historisches Bewußtsein davon
haben, daß und auf welche Weise die Menschenwürde verbannt, ins Exil
geschickt worden ist. Ihnen wird das in der Parenthese Gesagte als unver­
ständliche Sprachverwirrung erscheinen, während dem Gedicht zufolge in
Wahrheit sie selbst es sind, deren Sprache verwirrt ist. Der Logos sperma-
tikos, aus dem der, wie es heißt, vor lauter Toden unsterblich gewordene
König Mensch hervorgehen soll, ist von Celan bestimmt als Sprache, welche
alle historischen Formen der Unterdrückung von Menschen vergegenwärtigt.
Wo eine solche kumulative Aktualisierung des geschichtlich Verfehlten vor­
genommen wird, entsteht nach der Metaphorik des Gedichts ein Kraftfeld,
das die Erde an sich zieht und den Verbannten übereignet. Die Metapher
bezeichnet einen Wunsch, wohl kaum eine Zuversicht. Denn skeptisch beur­
teilt Celan die Chance, daß das Exil der Menschenwürde in absehbarer Zeit
beendet, das Kontinuum der Geschichte schon bald gesprengt werde. Aus­
druck dieser Skepsis ist vor allem die wiederholte Darstellung der Sprache
als Zelt, als provisorische Behausung für die Heimatlosen.176 Sie setzt voraus,
daß vorerst keine Möglichkeit gesehen wird, in der Welt heimisch zu werden.
Vom Zweifel daran, daß der historische Augenblick gesellschaftlicher Ver­
änderung nah sei, zeugt auch die Abstinenz der Niemandsrose — nicht mehr
der späten Lyrik Celans - von der postfaschistischen Geschichte. Durch
Verschweigen wird ihr das Urteil gesprochen, nichts qualitativ Neues, Er­
wähnenswertes gebracht zu haben. Sie ist als Eiszeit beschrieben177, in der
das Leben brachliegt und auf die der Logos spermatikos nur in der negativen
Weise reagieren kann, daß er sich „w interhart“ , frostbeständig macht (,In
der Luft4, N 88 f.):

162
Groß
geht der Verbannte dort oben, der
Verbrannte: ein Pommer, zuhause
im Maikäferlied, das mütterlich blieb, sommerlich, hell-
blütig am Rand
aller schroffen,
winterhart-kalten
Silben.

Zuhause ist der Verbannte und Verbrannte, der an seiner Selbstverwirk­


lichung und schließlich am physischen Leben gehinderte Mensch im Lied,
das in der Eiszeit der Gegenwart Frühling und Sommer, die Restitution von
Leben repräsentiert. Das Maikäferlied („Maikäfer, flieg... “ ), das hier wohl
als Metapher von Lyrik überhaupt verstanden ist, hat die Funktion, der
Menschenwürde Zuflucht zu bieten und den Winter der Gegenwart zu über­
dauern. Deren Charakterisierung als Winter oder, beinahe ebenso häufig in
der Niemandsrose, als Nacht ist die Bedingung für das Pathos des Stand­
haltens, wie es etwa in den Zeilen zum Ausdruck kommt (.Wohin mir‘,
N 71):
Und dennoch: ein aufrechtes Schweigen, ein Stein,
der die Teufelsstiege umgeht.

Der Sündenfall der Sprache, ihr Stolpern auf der Teufelsstiege, besteht dem­
selben Gedicht zufolge darin, in der Nacht der Gegenwart heimisch zu wer­
den, sie als Zuhause zu betrachten („Im Nachthaus die Reime“ ). Die Fort­
schritte wie die Regressionen in der Geschichte nach Auschwitz bleiben in
der Niemandsrose ausgespart; mit den Metaphern von Winter und Nacht
wird die Gegenwart nur allgemein bestimmt als Zeit, in der ein menschen­
würdiges Leben nicht möglich sei, das schlechte Kontinuum der Geschichte
fortbestehe. Hatte der Meridian das Fürsichsein der Sprache damit begrün­
det, daß sie nur in ihrer Unverwertbarkeit für praktische Maßnahmen Frei­
heit symbolisieren könne, so wird nun evident, daß Celans Theorie auto­
nomer Lyrik auch im Zusammenhang zu sehen ist mit dem Zweifel an der
aktuellen Möglichkeit von Veränderung. In einem Gedicht an den Sohn hat
Celan seinen eigenen Standort zurückgeführt auf seine biographische Gefan­
genschaft (,Ich habe Bambus geschnitten*, N 62):
1...] du
weißt nicht, in was für
Gefäße ich den
Sand um mich her tat, vor Jahren, auf
Geheiß und Gebot. Der deine
kommt aus dem Freien - er bleibt
frei.

163
Während Celan sich selbst als durch die biographische Erfahrung des Faschis­
mus gebunden und in diesem Sinn unfrei weiß —es wird angespielt auf den
Sand aus den Urnen, der mit d e r ,Todesfuge* endete gesteht er dem Sohn
zu, unbelastet von dieser Erfahrung und insofern frei zu sein. Mit der Histo-
risierung der eigenen Position bestreitet Celan denjenigen, die nicht selbst
verfolgt und von physischer Vernichtung bedroht worden sind, das Recht,
sich mit ihm unmittelbar zu identifizieren. Die Hoffnung, daß eine andere
Position als die eigene möglich ist bei denen, die frei sind von der biographi­
schen Fixierung an die historische Phase der offenen totalitären Gewalt,
stellt in der Niemandsrose die Bedingung dafür dar, daß aus der wiederholt
konstatierten Verzweiflung178 keine Resignation wird. Eine unvermittelte
Identifikation mit dem transitorischen Geschichtspessimismus Celans würde
gegen dessen eigene Absichten verstoßen. Die Spannung zwischen den ge­
schichtsphilosophischen Metaphern von Nacht und Winter auf der einen
Seite und den grandiosen Bildern von der Inbesitznahme der Erde durch die
Unterdrückten auf der anderen Seite muß gesehen und in der skizzierten
Weise erklärt werden, wenn anders die Lyrik der Niemandsrose nicht miß­
verstanden werden soll als eine der Vergeblichkeit und Resignation.

164
V. Spätwerk: Zum Zusammenhang von
Ästhetik und Geschichtsphilosophie

1.

„An ihren schwärzesten Stellen verzweifelt [ . . . ] die Dialektik der Auf­


klärung an ihrem letzten Umschwung; sie resigniert dann vor der These der
Gegenaufklärung, daß sich nicht der Schrecken abschaffen und doch die
Zivilisation übrigbehalten lasse, hadernd überläßt sie sich dem destruktiven
Sog des Todestriebs.“ 179 Schon früh, 1963, hat Habermas an Adorno die
Tendenz beobachtet, auf anorganische Natur und, komplementär dazu, auf
eine infantile Stufe theoretisch zu rekurrieren. Er hat beides mit der zeit­
weilig bei Adorno auftretenden Überzeugung erklärt, daß der unterdrückten
menschlichen N atur nur noch um den Preis der Selbstaufgabe des individu-
ierten Ichs zu ihrem Recht verholfen werden könne. Dieser resignativen
Auffassung scheint auch Celan in seinem Spätwerk zuzuneigen, wenn er, wie
zu zeigen sein wird, den Todestrieb und Regressionen zur Infantilität zum
Gegenstand seiner Gedichte macht. Indessen hat dieselbe Tendenz im Kunst­
werk einen anderen Stellenwert als in der Theorie. Bei Adorno ist sie ange­
legt in seinem Begriff von Geschichte. Wo historische Dynamik als zwang­
hafte Dialektik der naturbeherrschenden Vernunft verstanden ist, muß letzt­
lich Geschichte selbst als die Katastrophe erscheinen. Wie Adorno bestimmt
auch Celan die bisherige Geschichte als Katastrophenzusammenhang, als Per­
manenz der Unterdrückung von Menschen. Aber er läßt die Ursachen dafür
undiskutiert auf sich beruhen und betont überdies die biographische Be­
dingtheit seiner Sicht. Während Adorno eine theoretische Begründung für
den Geschichtsverlauf zu geben versucht, bleibt Celan deskriptiv und er­
klärtermaßen subjektiv. Seine Auffassung von der bisherigen Geschichte als
schlechtes Immer, das nur in transitorischen Augenblicken habe aufgehoben
werden können — diese Augenblicke werden im Spätwerk wiederholt als
solche thematisch180 —, reklamiert für sich Autorität nur im Modus der
A uthentizität: sie tritt nicht m it dem jeder Theorie immanenten Anspruch
auf objektive Richtigkeit auf, sondern begreift sich als Reaktion auf die
lebensgeschichtliche Erfahrung des Faschismus. Besonders im ersten Band
des Spätwerks, in der Atem w ende, hat Celan mehrfach der Überzeugung
Ausdruck gegeben, daß in der Rezeption seiner Lyrik deren Gebundenheit
an jene Erfahrung geleugnet werde, so wenn es heißt (,Aschenglorie4, AW
68):

165
Das vor euch, vom Osten her, Hin-
gewürfelte, furchtbar.
Niemand
zeugt für den
Zeugen.

Mit dem Authentizitätsanspruch, das heißt mit dem Hinweis, Zeuge von
Auschwitz gewesen zu sein, relativiert Celan seine eigene Position in dem
Sinn, daß ihre biographische Begründung zu berücksichtigen sei. Die regres­
siven Züge des Spätwerks erfahren von hier aus eine Rechtfertigung, der mit
Argumenten schwerlich zu begegnen ist. Wenn Celan aufgrund seiner ge­
schichtlichen Erfahrung den Zustand der Welt nicht anders, nicht differen­
zierter mehr wahrzunehmen vermochte denn wie es sich in den völlig
thetischen Formulierungen des Spätwerks niederschlägt als „Fad und
Falsch“ , „Verrat und Verwesung“ (,Wer herrscht? *, FS 10; .Sichtbar4,
FS 13), so folgt daraus subjektiv notwendig der Wunsch, zur Ruhe des An­
organischen zurückzukehren, den Freud als Todestrieb beschrieben hat. In
zwei Gedichten, die unentwegt, aber ohne einen expliziten Hinweis auf ihre
Quelle, aus dem entsprechenden Essay Freuds, .Jenseits des Lustprinzips4181,
zitieren, hat Celan den Todestrieb zu seinem eigenen Gegenstand gemacht.
Das eine reflektiert den Wiederholungszwang als Kriegsneurose ( , . . . auch
keinerlei Friede4, FS 95). Das andere meint apodiktisch (,Wirf das Sonnen­
jahr4, FS 97):

das Unbelebte, die Heimat,


fordert jetzt Rückkehr

aber hält doch an der Möglichkeit eines zukünftigen neuen Lebens, eines
zum Besseren gewandelten Später fest:

später, wer weiß,


kommt eins von euch zwein
gewandelt wieder herauf,
ein Pantoffeltierchen,
bewimpert,
im Wappen.

Dieser Modus von Hoffnung erweist sich indessen innerhalb des Spätwerks
als durchaus unstabil. Ihr entgegen steht die temporäre Überzeugung, daß
der gegenwärtige Zustand schon zur schlechten Ewigkeit geworden und auf
ein verändertes Leben nicht mehr zu hoffen sei: „Ich höre, es wird gar nicht
später.“ (,Wer herrscht?4, FS 10). Wenn aber in der Tat kein qualitatives

166
Später, keine bessere Zukunft mehr gedacht werden kann, besteht die Ver­
suchung, wie die Lemminge in den Tod zu gehen: „Lemminge wühlten. / /
Kein Später.“ (,Muschelhaufen4, LZ 9). Es spricht für die nicht nur melan­
cholische, sondern auch ironische Distanz, mit der Celan regressive Tenden­
zen bei sich selbst beobachtete, daß er in einem Gedicht einen Selbstmord­
versuch, bei dem er sich die Pulsadern aufschnitt, mit technischer Akribie als
Flug, als Himmelfahrt der Moderne beschrieben hat (,Freigegeben4, LZ 17):

Freigegeben auch dieser


Start.
Bugradgesang mit
Corona.
Das Dämmerruder spricht an,
deine wach­
gerissene Vene
knotet sich aus,
was du noch bist, legt sich schräg,
du gewinnst
Höhe.

Ein so kühles, sarkastisches Gedicht ist nicht darauf angelegt, Selbstmord­


stimmungen zu verbreiten. Daß Celan einen Suizid beschreibt, gründet
wohl eher in der Intention, die psychischen Spätfolgen der Verfolgung
durch den Faschismus vor Augen zu führen. Das Gedicht spricht diese Er­
fahrung mittelbar an vermöge der Analogie zum „Grab in den Lüften“ der
,Todesfuge4. Wo aber solcherweise die soziale Genese des Wunsches nach
Selbstzerstörung reflektiert wird, liest sich ein Gedicht wie das eben zitierte
als Forderung nach gesellschaftlichen Verhältnissen, die diesem Wunsch die
Basis entziehen. Deshalb ist Celans Verfahren, regressive Tendenzen der Sub­
jektivität zum literarischen Sujet zu machen, gerade nicht resignativ. — Den-,
selben anklagenden Effekt wie die Darstellung des Todestriebs verfolgt die
Beschreibung von Regressionen auf die Stufe der Infantilität, wie sie etwa
hier vorliegt (.Fortgewälzter4, FS 108):

Fortgewälzter Inzest-Stein.
Ein Auge, dem Arzt
aus der Niere geschnitten,
liest an Hippokrates Statt
das Meineid-make up.
Sprengungen, Schlafbomben, Göldgas.
Ich schwimme, ich schwimme

167
Die Beseitigung des Inzest-Tabus, mit der das Ich zu friihkindlichen
Wünschen zuriickkehrt, wird in Anspielung auf die christliche Ostersymbolik
(„Fortgewälzter ( . . . ) Stein“ ) als Auferstehung von den Toten dargestellt.
Das erstarrte Ich wird gesprengt und gewinnt eine Beweglichkeit, eine
Lebendigkeit zurück, die ihm verloren gegangen ist. Das explosive Gas, mit
dem der visionären Metaphorik des Gedichts zufolge die Petrifikation, die
Selbstentfremdung des Subjekts zerstört wird, ist ein „Goldgas“ , das heißt
ein Mittel, die Menschenwürde, die Krone des Königs Mensch wieder sicht­
bar werden zu lassen. Der Prozeß der Sozialisation, bei dem das Inzest-Tabu
eine wichtige Rolle spielt, und die Verwirklichung der Menschenwürde wer­
den mithin als kontradiktorischer Gegensatz gedacht. Erst indem das Ich
zurückgeht auf ein Stadium vor seiner Sozialisation, eröffnet sich ihm ein
menschenwürdiges Leben.182 Diese Ansicht Celans wäre nur von begrenzter
Gültigkeit würde sich nur auf eine Phase der psychotherapeutischen Be­
handlung beziehen, die das Gedicht beschreibt —, wenn nicht andere Texte
des Spätwerks ihre grundsätzliche Bedeutung erkennen ließen. Auch das
folgende Gedicht, in dem die psychologische Motivik nur von sekundärer
Bedeutung ist, macht die Menschenwürde fest am Zustand der Infantilität
(,Die Wahrheit*, FS 32):

Die Wahrheit, angeseilt an


die entaußerten Traumrelikte,
kommt als ein Kind
über den Grat.

Die Krücke im Tal,


von Erdklumpen umschwirrt.
von Geröll, von
Augensamen,
blättert im hoch
oben erblühenden Nein - in der
Krone.

„Nein“ , die Fähigkeit zur Negation der bestehenden Wirklichkeit, wird als
Krone, als Zeichen der Menschenwürde verstanden; auch das Spätwerk
Celans läßt sich anhand der Königsmetaphorik am besten erschließen.183
Indessen fällt gegenüber der Niemandsrose wie dem Meridian als Neuerung
auf, daß die Menschenwürde angesiedelt wird im Bereich einer als Kind
vorgestellten „Wahrheit“ , deren traumhafte Vision - eben das „Kind“ -
von „Augensamen“ , von wünschenden Blicken gezeugt worden ist. Die
Krone der Menschenwürde ist dem zitterten Gedicht zufolge beheimatet in
einem ursprungshaften, kindlichen Bereich, der einer empirischen Realität

168
kontrastiert ist, in welcher die Menschen nur mit Krücken gehen können; in
der kein freier und aufrechter Gang möglich ist. Wo diese Krone blüht wie
die einer Blume, bedarf es keiner Krücke mehr und wird deren totes Holz
zurückverwandelt zum lebendigen, blätternden Baum.
In den Umkreis der Kindmetapher gehört die Tatsache, daß Celan sich in
seinem Spätwerk als Entmündigter begriffen hat (.Singbarer Rest‘, AW 32):

- Entmündigte Lippe, melde,


daß etwas geschieht, noch immer,
unweit von dir.

Literaturhistorisch ist hier angespielt auf Baudelaire, der im juristischen Sinn


entmündigt worden ist. Die Entmündigung Baudelaires muß Celan als Bestä­
tigung dessen, was mit der Dichtung der Moderne gesellschaftlich geschieht,
erschienen sein. Wenn er sich selbst als Entmündigten darstellt, so kommt
darin die Überzeugung zum Ausdruck, daß seine Dichtung für unwahr er­
klärt und damit ihres kritischen Gehalts beraubt werde. Dagegen steht pole­
misch die Allegorie von der „Wahrheit“ als Kind, das de iure und in den
Augen der Erwachsenen unmündig, der Selbstbestimmung nicht fähig ist.
Wenn, wie Celans Allegorie es meint, Mündigkeit bei der Infantilität ist,
bedeutet das ex negativo, daß die behauptete Mündigkeit der Erwachsenen
in Wirklichkeit nichts anderes sei als Anpassung an die bestehenden Verhält­
nisse. Der Sozialisationsprozeß, durch den das Kind zum Erwachsenen wird,
verläuft in Celans Augen falsch, ist Erziehung zur Affirmation oder doch
Duldung menschenunwürdiger Zustände. Es darf unterstellt werden, daß er
sich durchaus dessen bewußt war, daß gegen eine solche falsche Sozialisation
nur eine richtige und nicht etwa der Verzicht auf Sozialisation überhaupt
hilft. Das zu betonen ist deshalb von Belang, weil die literarische Verfahrens­
weise des Spätwerks dieser Annahme zu widersprechen scheint. Entworfen
werden dort nämlich Bilder urzeitlicher, vorgesellschaftlicher Zustände, die
den Anschein erwecken können, daß Celan eine Regression auf Archaisches
als Utopie vorgeschwebt habe. Exemplarisch dafür ist dieses Gedicht (.Wort­
aufschüttung4, AW 25):

Wortaufschüttung, vulkanisch,
meerüberrauscht.
Oben
der flutende Mob
der Gegengeschöpfe: er
flaggte —Abbild und Nachbild
kreuzen eitel zeithin.

169
Bis du den Wortmond hinaus-
schleudcrst, von dem her
das Wunder Ebbe geschieht
und der herz­
förmige Krater
nackt für die Anfänge zeugt,
die Königs­
geburten.

Die aktuelle Menschheit gilt dem Gedicht als „Mob / der Gegengeschöpfe“ ,
der von den „Königs- / gebürten“ der Anfänge nichts mehr weiß; der zu
einem Ektypos (= Abbild, Nachbild) degeneriert ist, der vom Archetypos
nichts mehr enthält. Der „Wortmond" soll den „Gegengeschöpfen“ ihr
Fahrwasser nehmen, sie auf Gmnd fahren lassen, und ihnen die verrate­
nen Anfänge, die ursprüngliche Königshaftigkeit der Kreatur, vor Augen
führen.
Wollte man das Gedicht buchstäblich interpretieren, so wäre ihm der Vor­
wurf kaum zu ersparen, daß es mit seiner Tendenz, einen legendären Anfang
der Geschichte als Archetyp menschenwürdigen Lebens überhaupt darzu­
stellen, antizivilisatorisch und reaktionär sei. Eine solche Betrachtungsweise
erweist sich indessen als unüberlegt, schon wenn man den Grad der Reflek-
tiertheit von Celans Obuvrc und die erklärten Intentionen des Autors in
Rechnung stellt. Explizit hat Celan das Spätwerk auf den Meridian bezogen,
indem er eine zentrale Metapher der dort formulierten Dichtungstheorie,
„Atemwende“, zum Titel des ersten Bandes jener Periode wählte, die in der
Substanz als homogene Einheit betrachtet werden kann. Damit ist darauf
hingewiesen, daß die ästhetische Position des Meridian auch für das Spät­
werk Gültigkeit haben solle. Keineswegs nehmen die Bände seit Atem w ende,
wie vorschnell und aufgrund einer unzutreffenden Bestimmung von Celans
ästhetischem Absolutismus vermutet worden ist184, Abschied von der Kon­
zeption absoluter Poesie. Vielmehr handelt es sich bei ihnen geradezu um
eine konsequente Durchführung dieser Konzeption, deren wichtigste Kom­
ponente hier noch einmal kurz ins Gedächtnis zu rufen ist. Als absolute
wurde die Dichtung im Meridian in dem Sinn definiert, daß sie nur in der
Negation pragmatischer Verwendbarkeit ihrer Aussagen Freiheit symbo­
lisieren könne; daß sie ihrem sozialen und politischen Anspruch, für die
Selbstbestimmung, die Autonomie der Unterdrückten Partei zu ergreifen,
Folge leisten könne nur, indem sie sich selbst als autonome konstituiere,
das heißt sich unmittelbar praktischer Zwecksetzungen enthalte. Die nach
Celans Theorie unumgängliche Insuffizienz der Dichtung besteht darin, daß
sie dort, wo sie einen praktischen Weg zur Verwirklichung ihrer Forderun­

170
gen anzugeben scheint — das Paradigma dafür war Luciles „Es lebe der
König“ —, in Wahrheit absurd ist und nicht buchstäblich interpretiert werden
darf. Nimmt man Celans Exegese von Luciles Ausruf als hermeneutisches
Modell für die Interpretation des zuletzt zitierten Gedichts m s Atem w ende,
so läßt sich der Verdacht nicht aufrecht erhalten, daß darin unmittelbar und
unkritisch der Wunsch nach der Wiederherstellung eines archaischen Zustan­
des artikuliert sei. Der Rekurs auf urtümliche „Anfänge“ wäre vielmehr
allein von dem her zu deuten, was er negiert: als Protest gegen gesellschaft­
liche Verhältnisse, die in so krassem Widerspruch gesehen werden zur Ver­
wirklichung von Menschenwürde, daß das Subjekt, um das Ausmaß seiner
Empörung kenntlich zu machen, als Wunsch ausspricht, was niemand ernst­
haft wünschen kann: den Zusammenbruch der Zivilisation und neue „An­
fänge“ , einen absoluten Neubeginn der Geschichte. Als absurder ist dieser
Wunsch nicht reaktionär, sondern Ostentation der Unerträglichkeit der vor­
handenen Lebensbedingungen; er setzt keine törichte Alternative zum Be­
stehenden, sondern bedeutet in seinem hyperbolischen Radikalismus, daß es
auf gar keinen Fall länger so bleiben dürfe, wie es ist. Verwegen also wäre es,
von der Metaphorik besserer „Anfänge“ beim späten Celan auf die Annahme
einer hesiodschen Verfallsgeschichte zu schließen, wie sie im Frühwerk
durchaus Vorgelegen hat. Die Bilder von Ursprüngen, an denen ein men­
schenwürdiges Leben möglich gewesen sein soll, sind in einer erklärtermaßen
absurden Dichtung ästhetische Mittel, die bestehenden Lebensverhältnisse
als nicht länger erduldbare anzuklagen, ohne positiv eine Alternative zu
setzen. In ihrer Rigorosität sollen sie jene Wut über die Vernichtung der
Menschenwürde zum Ausdruck bringen, die Celan als „Königswut“ (,Königs­
w ut4, AW 77) bezeichnet hat, und zugleich deutlich machen, daß keine
Flickschusterei am Bestehenden, sondern nur substantielle Veränderungen
geeignet seien, humane Zustände herzustellen. Ein hyperbolisches Verfah­
ren, das schockieren und zugleich Bewußtsein wecken will, liegt auch vor,
wenn Celan die gegenwärtige Gesellschaft als soziales Tierreich beschreibt,
dessen vollständige Vernichtung seiner unveränderten Erhaltung vorzuziehen
wäre (,Aus den nahen4, FS 33):

Auch das noch


bergen, ehe
der Steintag die Menschen-
und Tierschwärme leerbläst, ganz wie
die vor die Münder, die Mäuler getretne
Siebenflöte es fordert.

Wenn die Menschheit im Zustand der Inhumanität, der Vertierung verharrt,

171
wäre ihr Untergang ihrem Fortbestand vorzuziehen. Mit einer Metaphorik)85,
deren hyperbolischer Charakter eben darin besteht, die Befürchtung einer
unendlichen Verlängerung des Status quo als bereits erwiesene Tatsache
darzustellen, versucht Celan auch hier, die Unmenschlichkeit der bestehen­
den Lebensverhältnisse anzuklagen. Indem die Vorstellung vom Untergang
alles Lebendigen am „Steintag“ im Tenor der Zustimmung beschrieben
wird, ist e contrario gesagt, daß unter den vorhandenen Bedingungen das
Leben als Qual empfunden werde.186 Daß der Untergangsvision kein mephi­
stophelischer Nihilismus zugrunde liegt, wird deutlich am Motiv des Bergens.
Etwas bergen zu wollen, wäre unsinnig, wenn in der Tat nur noch die
Hoffnung bestünde, daß nichts mehr wäre. Die Möglichkeit einer Humani­
sierung der vertierten Menschheit wird somit keineswegs ausgeschlossen. Die
Metaphorik des „Steintags“ aber besagt, daß unter der Bedingung ihrer Un­
möglichkeit nicht der Tod, sondern das Leben der apokalyptische Schrecken
sei.

Vom Ausmaß des Leidens an der gegenwärtigen Realität und der Möglich­
keit, sich auf der Basis sinnlicher Wahrnehmung ein angemessenes Bewußt­
sein von ihr zu verschaffen, gibt das Spätwerk eine erschreckende Diagnose.
„Komm, wir löffeln / Nervenzellen“ , heißt es in einem Gedicht (,K om m \
FS 75); in einem anderen ist die Rede von Seelenblindheit, einer vor allem
in den Großstädten des 19. Jahrhunderts sehr verbreiteten Krankheit, die im
Verlust des optischen Erinnerungsvermögens besteht und dazu führt, daß
Gegenstände nicht mehr identifiziert werden können (,Seelenblind4, FS
77)187; wiederum woanders heißt es m it schockierender Akribie (,Weißgrau4,
AW 15);

Ein Ohr, abgetrennt, lauscht.


Ein Aug, in Streifen geschnitten,
wird all dem gerecht.

Die Forderung des Meridian, „Aufmerksamkeit“ und „K onzentration“ ge­


genüber der Objektwelt walten zu lassen, wird in diesen Versen, die wohl
bewußt anspielen auf die berühmte Rasiermesser-Szene aus Luis Bunuels
Chien andalou188, in einer Weise modifiziert, die Versuchen Hohn spricht,
Celan für idealistische Positionen zu vereinnahmen oder sie ihm kritisch zu
unterstellen. Nicht ein Bewußtseinsakt, der sich hinwegsetzen zu können
glaubt über den physischen Zustand des Subjekts, ist von Celan gefordert.
Vielmehr verharrt er bei den zerstückelten Organen und spricht ihnen die
Kompetenz zu, die vorhandene Wirklichkeit angemessen wahrzunehmen.

172
Dem denaturierten Organismus wird keine Instanz gegenübergestellt, die in­
takt geblieben und zu kultivieren wäre, ja Celan geht so weit, die Selbstver­
stümmelung zu begreifen als Versuch, die Organe gleichsam durch Anpas­
sung zur Erfahrung einer Wirklichkeit zu befähigen, der die Zerstörung von
Menschen wesentlich ist (,Mächte, Gewalten4, FS 103):

Mächte, Gewalten.
Dahinter, im Bambus:
bellende Lepra, symphonisch.
Vincents verschenktes
Ohr
ist am Ziel.

„V incent“ ist van Gogh, der sich nach einem Streit mit Gauguin ein Ohr
abschnitt — oder genauer: ein Ohrläppchen - und es einer Prostituierten
schenkte. Das verschenkte Ohr lauscht nach Celan dem Bellen der Lepra, das
sarkastisch als Symphonie beschrieben wird, welche die Ausübung von Herr­
schaft über Menschen — „Mächte“ und „Gewalten“ — begleitet. Mit dem
Bambus ist angespielt auf die für Gauguins Kunst typische exotische Szene­
rie.189 Van Goghs Selbstverstümmelung, so läßt Celans Gedicht sich deuten,
kritisierte den eskapistischen Exotismus Gauguins. Sein abgeschnittenes Ohr
nimmt keine heile Südseewelt wahr, sondern erkennt — und m it dieser Er­
kenntnis ist es am Ziel —, daß auch in ihr lebensfeindliche Kräfte am Werk
sind. Lepra ist in der Konstellation des Gedichts, wie anderenorts im
Spätwerk z. B. Frieselfieber und Epilepsie190, Metapher einer keineswegs
biologisch, sondern gesellschaftlich bedingten Zerstörung von Menschen. Im
Zusammenhang damit stehen die Verse (,Bei den zusammengetretenen4, AW
65):

- du, Königsluft, ans


Pestkreuz genagelte, jetzt
blühst du —,
l-.-l.

Die „Königsluft“ , die Luft, die man braucht, um menschenwürdig zu leben,


ist nach Celan ans „Pestkreuz“ genagelt. Wie in dem van-Gogh-Gedicht die
Lepra ist hier die Pest Metapher lebensfeindlicher gesellschaftlicher Zu­
stände, die den Charakter von Naturgewalten angenommen haben. Reste der
gleichsam von einer furchtbaren Seuche befallenen Menschenwürde sucht
Celan nicht bei privilegierten, halbwegs noch davongekommenen Gestalten
zu finden, sondern im Gegenteil bei einem, der schief geboren ist, der von

173
Anfang an in dieser Welt nicht aufrecht zu gehen vermochte (,F rihcd\ AW
73 f.191):

die nähcr-
scgclndc
Eiterzacke der Krone
in eines Schicf-
geborenen Aug

Der Schiefgcborcnc gilt Celan als Repräsentant derer, bei denen soziale Un­
terdrückung den Schein von Natur, eines Geburtsfehlers angenommen hat.
Dem stellt ein anderes Gedicht die Hoffnung entgegen (.Tretminen1, LZ
14,9i):

Es muß jetzt der Augenblick sein


für eine gerechte
Geburt.

Die Konsequenz, die Celan hier zieht aus dem Schein, daß soziale Unter­
drückung eine Naturgegebenheit, ein Geburtsfehler der Unterdrückten sei,
bleibt, wenn man die Verse buchstäblich interpretiert, selbst diesem Schein
immanent. Nichts deutet explizit darauf, daß eine „gerechte / G eburt“ , der
Beginn eines menschenwürdigen Lebens, kein unbeeinflußbares Naturer­
eignis ist, sondern abhängt von einer vernünftigen gesellschaftlichen Praxis.
Gleichwohl wäre das Gedicht mißverstanden, wollte man cs interpretieren
etwa im Sinn der romantischen Utopie einer zur Sittlichkeit geläuterten,
moralischen Natur. Unter der Prämisse von Celans Poetik des Absurden, die
eine unvermittelte Auslegung manifester Inhalte verbietet, liest sich die Ar­
tikulation der Hoffnung auf eine „gerechte / Geburt“ allein als Ausdruck
der Verzweiflung darüber, daß der historische Augenblick gesellschaftlicher
Veränderungen unabsehbar zu sein scheint.
Von einem Leben, das seinem eigenen Begriff gerecht würde, ist auch die
Rede in diesem wegen seiner archaischen Reminiszenzen überaus provoka­
torischen Gedicht (,Die Rauchschwalbe4, FS 110):
der Hai
spie den lebenden Inka aus,

es war Landnahme-Zeit
in Mcnschland,
alles
ging um,
cnlsicgclt wie wir.

174
Die Entsiegelung von Menschen und Dingen, die Aufhebung von Entfrem­
dung, welche die Menschen voneinander und von den Dingen isoliert, wird
dargestellt als ursprungshafte Landnahme. Der wie Jonas im Fischleib ver­
borgene Inka wird ausgespien und nimmt sich Land. Die Landnahme des
Inka ist unausgesprochen ein Gegenbild zum historischen Landraub an den
Inkas durch die Conquistadores. Sie meint nicht Gewalt, Unterdrückung und
koloniale Ausbeutung. Vielmehr steht sie ein für die Möglichkeit, in dieser
Welt zu leben, ohne „eine Fremdheit zu Lehen“ zu tragen (.Hervorgedun­
kelt*, SchP 41); für den Beginn eines freien Lebens auf einer als Heimat
empfundenen Erde. Landnahme bedeutet in den zitierten Versen auch nicht
Landbesitz: bei den Inkas gab es kein Privateigentum an Grund und Boden.
Ihre vollständig abgeschlossene Naturalwirtschaft kannte weder Tausch­
handel noch Warenzirkulation193 — die Bedingungen von Entfremdung wa­
ren noch nicht vorhanden. Der Begriff der Landnahme ist also in Celans
Gedicht ausschließlich metaphorisch, im Sinne einer von Herrschaft befrei­
ten Menschheit und darum bewohnbar gewordenen Erde gebraucht; er hat
nicht die Bedeutung, wie sie ihm etwa auch die zionistische Bewegung ge­
geben hat.194 Celans Vorstellung von Landnahme buchstäblich zu verstehen,
wäre ebenso verfehlt wie eine buchstäbliche Auslegung der von ihm in ande­
ren Gedichten des Spätwerks affirmativ verwendeten Begriffe „Kronland“
(,Schwarz*, AW 53) und „Conquista“ (,Wutpilger-Streifzüge*, FS 63), die
keine monarchistische bzw. imperialistische Bedeutung haben, sondern um­
funktioniert sind zu Metaphern einer menschenwürdig eingerichteten, für
den König Mensch eroberten Wirklichkeit. Die Uneigentlichkeit manifest
politischer Begriffe ist, wie Luciles „Es lebe der König“ zuerst gezeigt hat,
konstitutiv für eine Dichtung, die die pragmatische Verwendbarkeit ihrer
Aussagen negiert, um für sich selbst und eben dadurch sozial relevant zu sein
in Celans Sinn der Symbolisierung dessen, daß kein Mensch bloß für anderes
sein solle, zum Objekt fremder Zwecke werden dürfe. Wer Obsoletes und
Archaisches in den späten Gedichten ä la lettre deutet, mißversteht sie.
Scheinbar Regressives im Spätwerk erweist sich seinem Gehalt nach als nicht
regressiv, wenn man Celan von seinen eigenen Prämissen her zu verstehen
sucht — Prämissen freilich, die zu erkennen mehr verlangt als die isolierte
Betrachtung eines einzelnen Gedichts.

175
■)

Die für die späten Bände charakteristischen Urzeit-Vorstellungen lassen sich


ebensowenig verherrlichen wie als reaktionär verurteilen, ln beiden Fällen
bliebe ihr kritischer Gehalt außer acht. Celans Pathos vorgeschichtlicher
„Anfänge“ wie das ihm korrelierende vom Ende der Welt („Steintag“ ) will
in drastischer Form auf die Veränderungsbedürftigkeit des Bestehenden hin-
weisen. „Ich hoffe“ , so nahm er 1968 Stellung zu einer von Enzensberger
durchgeführten 5/?tege/-Umfrage, „nicht nur im Zusammenhang mit der
Bundesrepublik und Deutschland, immer noch auf Änderung, Wandlung.
Ersatz-Systeme werden sie nicht herbeiführen, und die Revolution — die
soziale und zugleich antiautoritäre - ist nur von ihr her denkbar. Sic fängt,
in Deutschland, hier und heute, beim Einzelnen an. Ein Viertes bleibe uns
erspart.“ I9S Die Sätze bestätigen zunächst, daß die um dieselbe Zeit ver­
öffentlichte bzw. entstandene Lyrik ihrer Intention nach nicht resignativ ist.
Da^ auch dort nicht, wo sie, wie etwa in dem erwähnten Selbstmordgedicht,
Formen von Resignation darstellt. Deren Darstellung nämlich verfolgt, wenn
man sie im Zusammenhang mit dem Authentizitätsanspruch der Gedichte
sicht, den Zweck, eine Wirklichkeit anzuklagen, die solche Verhaltensfor­
men hervorbringt, und versucht auf diese Weise zu jener Änderung und
Wandlung beizutragen, von der in Celans Beantwortung der Spiegel-\Jmfrage
die Rede ist. Bemerkenswert an seiner Stellungnahme zur vorgegebenen
Frage, ob eine Revolution unvermeidlich sei, ist indessen vor allem, wogegen
sie implizit polemisiert. Die Hoffnung auf Änderung und Wandlung ver­
mochte Celan weder auf eine der widersprüchlichen Gesellschaftsordnungen
der Bundesrepublik auf der einen und der DDR auf der anderen Seite zu
stützen, die er beide gleichermaßen nur als „Ersatz-Systeme“ für eine Gesell­
schaft, wie sic sein sollte, wahmahm, noch auf die „soziale und zugleich
antiautoritäre Revolution“ in der Form, wie sie in seinen Augen damals
gerade von der Studentenbewegung eingeleitet worden war. So gewiß er
deren Absichten prinzipiell wohlwollend gegenüberstand — es dürfte vor
allem die antiautoritäre Prägung der damaligen Phase gewesen sein, die sei­
nen anarchistischen Neigungen, seiner Sympathie für die schwarze eher noch
als für die rote Fahne entgegenkam , übt er in den zitierten Sätzen Kritik
an der Vernachlässigung des „Einzelnen“ . Die Ambivalenz der Formulierung
dürfte von Celan bewußt gesetzt worden sein. Sie besagt, daß heute in
Deutschland Veränderung anfange nicht nur bei der Einzelheit, beim kon­
kreten Detail, sondern auch beim einzelnen Menschen, beim Individuum.
Damit ist sowohl beanstandet - ob mit Recht oder nicht, kann hier dahinge­
stellt bleiben - , daß die Studentenbewegung unmittelbar aufs Ganze gehe,

176
statt die Revolutionierung des Ganzen als Inbegriff partieller und demokra­
tischer Veränderungen zu begreifen, als auch, daß sie getragen werde von
sich selbst entfremdeten Subjekten: die im Meridian getroffene Unter­
scheidung zwischen Lucile als einem autonomen Ich und den marionetten-
haften, heteronom handelnden Dantonisten klingt in dieser politischen Stel­
lungnahme wieder an. Die Studenten von 1968 stehen bei Celan im Danto-
nisten-Verdacht, das heißt im Sinne des Meridian in dem Verdacht, die Idee
der Freiheit und Selbstbestimmung zu verraten, indem sie sich zu Marionet­
ten der Spekulation auf geschichtlichen Nachruhm machen. In dem im Meri­
dian ausgeführten Motiv der narzißtischen Selbststilisierung zum „Parade­
gaul der Geschichte“ spielt, wie sich der Beantwortung der Spiegel-Umfrage
entnehmen läßt, Celans Zweifel daran mit, daß es gegenwärtig schon eine
politische Solidarität geben könne, die nicht a priori das Ziel, die Selbstbe­
stimmung aller zu erwirken, dadurch verfehlt, daß sie die Selbstbestimmung
des „Einzelnen“ , die Autonomie der Monade, eher verhindert denn fördert.
Die Bildung zum „Einzelnen“ ist nach Celans Überzeugung der erste und
unabdingbare Schritt zu gesellschaftlichen Veränderungen, deren Gesamt­
heit die „soziale und zugleich antiautoritäre Revolution“ darstellen würde.
Wie er meint, werde es ohne diese Voraussetzung keine wirkliche Wandlung
geben, sondern nur ein „Viertes“ , das die Nachfolge jenes Reichs antreten
würde, das sich das Dritte nannte. 1968 in Deutschland, „hier und heute“,
ist in Celans Augen die Bildung des „Einzelnen“ noch nicht soweit gediehen,
daß einer falschen Form von Kollektivität ausreichend vorgebeugt wäre.
Auffallend stimmt diese Diagnose überein mit dem, was Adorno z. B. 1966
in einem Essay über ,Erziehung nach Auschwitz4formuliert hat: „Die einzig
wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn
ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur
Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“ 196 Derselbe Vorbehalt gegen
Kollektivität überhaupt, der sich hier in der Akzentuierung des „Nicht-
Mitmachens“ gegenüber einem möglichen Mitmachen aufgrund von „Refle­
xion“ und „Selbstbestimmung“ niederschlägt, ist bei Celan zu beobachten,
wenn er im Meridian die Schar der Dantonisten als fremdbestimmte Wesen
darstellt, ohne ihren politischen Standort zu diskutieren. Für Celans Kritik
an den Dantonisten Büchners wie an den Studenten von 1968 war offen­
sichtlich nicht primär die jeweilige politische Intention entscheidend, son­
dern die Ansicht, daß in beiden Fällen kollektive Identität nicht vermittelt
sei mit der Autonomie des „Einzelnen“ . Daran, daß diese Vermittlung ak­
tuell schon geleistet sei, vermochte Celan im Hinblick auf die von ihm
beobachteten zeitgenössischen politischen Tendenzen nicht zu glauben. Die
Erfahrung des Faschismus wie auch autoritärer Formen des Sozialismus -

177
Celan hat vor 1945 zeitweilig in der Sowjetunion gelebt und in der Roten
Armee als Sanitäter gedient war es wohl vor allem, die ihn jene Möglich­
keit für die Gegenwart mit Skepsis beurteilen ließ. Eben diese Skepsis ist
eine conditio sine qua non seiner ästhetischen Position. Wäre er irgendwann
zu der Überzeugung gelangt, daß kollektive Identität ohne Unterdrückung
des „Einzelnen“ in anderen sozialen Bereichen als in dem residualen der
Rezeption von Kunst der durch sie vcnnittcltcn „Begegnungen“ , von
denen im Meridian die Rede ist bereits möglich sei, wäre eine wichtige
geschichtsphilosophischc Prämisse seiner Ästhetik fortgcfallcn. Die explizite
Ästhetik des Meridian wie die implizite der Gedichte seit der Niemandsrose
legitimieren nämlich den Fortbestand von Kunst damit, daß sic in ihrem
Fursichscin die noch nicht vorhandene Selbstbestimmung des Subjekts, als
Keimzelle einer sich selbst gemäß ihrem humanen Wesen bestimmenden
Menschheit, symbolisieren solle. Vorausgesetzt ist also, daß der Wille zur
Verwirklichung und Bewahrung individueller Autonomie erst gebildet wer­
den müsse. Die Möglichkeiten der Kunst wiederum sali Celan durch die Art
und Weise ihrer faktischen Rezeption aufs äußerste gefährdet. Das läßt sich
daraus schließen, daß er im Spätwerk das Engagement für die Selbstidentitiit
des Subjekts, das dem Meridian zufolge der objektive Gehalt seiner Lyrik ist,
zu einem ihrer bevorzugten Gegenstände macht. Um Mißdeutungen demon­
strativ entgcgcnzutrctcn, läßt Celan thematisch werden, daß sich seine Lyrik
als Statthalterin eines sich selbst bestimmenden und in diesem Sinn mit sich
identischen Ichs begreift. „Du sei wie du“ heißt cs oder: „du / kommst
nicht / zu / dir“ und: „du wirst wieder / er“ (,Du sei wie du‘,LZ 101;,Wo
ich*, LZ 27; ,Hörrestc, Schrcstc4, LZ 7). Unter den vorhandenen gesellschaft­
lichen Bedingungen, beim Fortbestand des Status quo ist, wie Celan meint,
Sclbstidcntität nicht möglich. Das wird deutlich in den Unmöglichkeits­
metaphern von Wahn und Tod. Nur der Umnachtetc, der sich in eine fiktive
Welt zurückgezogen hat, oder der Tote vermag gegenwärtig, bei sich selbst
zu sein (,Ihn ritt die Nacht*, LZ 8):

Ihn ritI die Nachl, er war zu sich gekommen,

(,lch schreite*, SchP 75):

irgendein T o lcr, ganz bei sich,


sclzt Lee über Luv.

Celans Darstellungen gelingender Selbstidcntität verbleiben zunächst, wie


die Metaphern von Wahn und Tod zeigen, auf der Ebene des Ausdrucks

178
dessen, daß in der vorhandenen Realität niemand die Chance habe, zu sich
selbst zu kommen. Das am meisten exponierte Beispiel dafür ist das Gedicht
,Einmal4 (AW 103), das allein den sechsten und abschließenden Zyklus des
Bandes Atem w ende bildet:

Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang
wirklich.
Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.
Licht war. Rettung.

Zu „ichen“ , ich zu sagen197 — die Form „ichten“ ist Präteritum —wird erst
möglich, indem während einer sintflutartigen Reinigung der Welt „Eins und
Unendlich“ vernichtet werden, von denen bei Platon unter anderem im
Zusammenhang m it dem Ursprung der Sprache die Rede ist.198 Bei Celan, in
diesem Gedicht und in anderen des Spätwerks, stehen die Zahlen ein für ein
quantifizierendes, die Natur der Dinge und Menschen unterdrückendes Den­
ken.199 Dem Wirklichwerden der Welt — „wirklich“ bezieht sich sowohl auf
„ihn“ als auch auf „die Welt“ — aufgrund der Befreiung von der Herrschaft
der Zahlen entspricht die Genese einer Sprache, in der ich zu sagen möglich
ist. Im Untergang sagen „Eins und Unendlich“ : ich. Ich-Identität und deren
sprachliche Artikulation werden hier von Celan gebunden an ein Reinwa­
schen, an die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes der Welt.
Diese Metaphorik ist im beschriebenen Sinn absurd. Sie plädiert nicht für
eine Regression auf ein früheres Stadium der Geschichte, sondern will deut­
lich machen, daß umfassende, die menschliche Kraft scheinbar überstei­
gende Veränderungen vonnöten seien, um dem Ich zu seinem Recht zu
verhelfen.
Während ,Einmal' die Entstehung eines sich selbst bestimmenden, autono­
men Ichs an die Voraussetzung bindet, daß die bestehende Realität eine
radikale Veränderung erfahren habe, optiert Celan in der erwähnten
Spiegel-Umfrage dafür, daß die Bildung zum „Einzelnen“ heute in Deutsch­
land der erste Schritt sein müsse zu gesellschaftlichen Veränderungen, die in
ihrer Gesamtheit eine „soziale und zugleich antiautoritäre Revolution“ dar­
stellen würden. Die Selbstbestimmung des Subjekts wird also in dem einen
Fall als Ausgangspunkt, in dem anderen als Resultat sozialer Veränderungen
begriffen. Diese Dichotomie wiederholt sich innerhalb des literarischen

179
Werks, wenn auf das Gedicht .Einmal*, das letzte des Bandes Atem w ende,
am Anfang des nächsten Bandes diese Verse folgen (.Augenblicke*, FS 7):

Augenblicke, wessen Winke,


keine Helle schläft.
Unenlworden. allerorten,
sammle dich,
steh.

Das Gedicht spricht von Augenblicken der Vergegenwärtigung dessen, daß


das Subjekt sich seiner selbst nicht entäußert habe (Celan verwendet hier
den von Meister Eckhart geprägten Terminus „entwerden“ ). In solchen Au­
genblicken soll das Subjekt sich aus seiner Dissoziation („allerorten“ ) wieder
versammeln, um aufrecht zu stehen, seine Ungcbeugthcit zu demonstrieren.
Stehen ist hier, wie in anderen Gedichten, von denen noch die Rede sein
wird, Metapher des Widerstandes im Sinne der Ostentation dessen, daß man
noch nicht vollends gebeugt und gebrochen sei es sei auch erinnert an die
Metapher des „Neigungswinkels“ im Meridian , sondern cintrcte Für die
Verwirklichung der Menschenwürde, den aufrechten Gang. Das sich sam­
melnde Ich ist verstanden als diejenige Instanz, die diesen Widerstand zu
leisten vermag. Das entkräftet den möglichen Verdacht, daß Celans Begriff
von Sammlung auf der Ebene sclbstgcnügsamcr Beschaulichkeit liege. Appel­
liert ist an eine Sclbstidcntität, die in der Fähigkeit zur Opposition gegen
eine inhumane Verfassung der Wirklichkeit besteht. Celans Überzeugung,
daß Veränderung heute beim „Einzelnen“ anfangc der eine Aspekt der
erwähnten Dichotomie , plädiert nicht Für eine neue Innerlichkeit, sondern
steht polemisch dagegen, daß unter der gegenwärtigen Bedingung formaler
Demokratie deren unverwirklichte Idee, die Selbstbestimmung jedes Einzel­
nen, durch soziale Mechanismen der Erzeugung dessen, was die Psychologie
Ich-Schwäche nennt, gänzlich ausgclöscht zu werden droht. Das Licht, das
nach der Metaphorik der Gedichte »Einmal* und »Augenblicke* mit dem zu
sich selbst kommenden Subjekt erscheint, ist nach Celan bereits kein allge­
meines Bedürfnis mehr (,Die frcigeblasene Lcuchtsaat*, FS 91):

Die freigeblasene Leuehtsaat


in den unter Weltblut
stehenden Furchen.

Fine Hand mit dem Schimmer des IJrlichts


wildert jenseits
der farnigen Dämme:

180
als hungerte noch
irgendein Magen,
als flügelte noch
irgendein zu
befruchtendes Aug.

Der Hunger nach dem Licht der Selbstbestimmung, der Freiheit von sozialer
Unterdrückung, ist nach Celan heute selbst unterdrückt; das Freiblasen der
„Leuchtsaat“ wie das Wildern einer Hand, die den Schimmer dieses Lichts
trägt (der theologische Topos des Urlichts wird von Celan in einem durchaus
säkularen Sinn gefaßt), scheinen daher vergebliche, wenn nicht irre Hand­
lungen zu sein. Die Dichtung muß heute nach Celans Auffassung, wie sie im
konstanten Wahnmotiv des Spätwerks artikuliert ist, das Risiko auf sich
nehmen, in ihrem Anspruch, ein latentes und nicht schon völlig vernichtetes
Bedürfnis zu vertreten, einem Wahn anheimzufallen. Möglich, daß sie keinen
Adressaten mehr findet, wenn sie sich als Ausdruck von „Helligkeitshunger“
versteht und diesen in Erinnerung zu rufen sucht (,Helligkeitshunger4, AW
36):

Helligkeitshunger - mit ihm


ging ieh die Brot­
stufe hinauf,
unter die Blinden-
gloeke:
sie, die wasser-
klare,
stülpt sich über
die mitgestiegene, mit­
verstiegene Freiheit, an der
einer der Himmel sieh sattfraß,
den ieh sieh wölben ließ über
der wortdurchsehwommenen
Bildbahn, Blutbahn.

Indem das lyrische Subjekt seinem „Helligkeitshunger“ folgt, konstituiert


sich Freiheit — freilich eine, die bloß imaginär ist; die sich aus der Realität
„verstiegen“ hat „unter die Blinden- / glocke“ , das heißt in einen Bereich,
dem keine empirische Anschauung entspricht, und die „verstiegen“ ist in
dem Sinn, daß sie in den Augen derer, denen Freiheit kein Bedürfnis mehr
ist, als Ausdruck bloßer Überspanntheit erscheint. In dem Bewußtsein, daß
der V orw urf der Verstiegenheit erhoben werden wird - und mehrere Re­
zensionen der späten Bände haben das bestätigt - , stellt das Gedicht die
imaginäre Vorwegnahme von Freiheit dar als Bedingung der Möglichkeit

181
einer besseren Realität, als Nahrung von neuen Himmeln, die indessen ihrer­
seits vorerst nur imaginär sind („den ich sich wölben ließ“ ). Die ästhetische
Imagination von Bildern der Freiheit gilt dem Subjekt als lebenswichtig: die
„wortdurchschwommene / Bildbahn“ ist seine „Blutbahn“ , ist das Medium
seiner Lebendigkeit. Der Verzicht auf die Utopie von Freiheit, die aus „Hel­
ligkeitshunger“ entsteht, wäre dem Gedicht zufolge der Tod; wäre ein Leben
ohne die Perspektive einer Änderung und damit eines, das seinen Namen
nicht verdiente. Von hier aus erklären sich die zahlreichen Gedichte des
Spätwerks, in denen Leben und Sprache in eins gesetzt werden, etwa wenn
die Rede ist vom „Gesang in den Fingern“ (,Vom Anblick der Amseln4,
AW 90) oder vom „Buchstabenschimmer aus / der wahnwitzig-offenen /
Pore“ (.Unter die Haut4, AW45).
Die Doppelheit, daß Celan Selbstidentität, die er als Fähigkeit zur Selbstbe­
stimmung definiert, auf der einen Seite als Voraussetzung, auf der anderen
als Resultat sozialer Veränderungen begreift, ist nicht, wie es zunächst schei­
nen mag, Index eines Widerspruchs innerhalb des Spätwerks. Denn die Art
von Autonomie, von .Einzelheit4, die Celans Erklärung zur /ege/-Um frage
zufolge der Ausgangspunkt einer wünschenswerten gesellschaftlichen Ände­
rung sein muß, ist noch nicht Verwirklichung der Freiheit von sozialer und
politischer Unterdrückung, sondern Widerstand gegen diese. Mit anderen
Worten: die Form, in der nach Celan das Subjekt gegenwärtig sich selbst zu
bestimmen und frei zu sein vermag, ist die Opposition gegen eine verände­
rn ngsbedürftige Realität. Es wird kein Freiraum angenommen, in dem man
ungeachtet der bestehenden Verhältnisse bei sich selbst zu sein vermöch­
te200, sondern die aktuell mögliche Autonomie wird im Gegenteil als eine
verstanden, die ihr Maß hat an dem, wogegen Widerstand zu leisten ist
(.Stehen4, AW 19):

Stehen, im Schatten
des Wundcnmals in der Luft.
Rir-nicmand-und-nichts-Stchn.
Unerkannt,
für dich
allein
Mit allem, was darin Raum hat,
auch ohne
Sprache.

Exakt soviel Raum ist dem Subjekt gegeben, wie ihn das „Wundenmal in der
Luft“ , Wahrzeichen der Passionsgeschichte von Menschen, gewährt. In sei­
nem Widerstand gegen das Leiden ist das Subjekt für sich, das heißt bei sich

182
selber, aber auch: „unerkannt“ und „allein“. Das Gedicht formuliert die
Entschlossenheit, an der Selbstbestimmung, dem Fürsichsein des Subjekts
auch dann festzuhalten, wenn damit Isolation und Kommunikationslosigkeit
verbunden sind. Eine solche Isolation ist von Celan nicht beabsichtigt, weil
ihm das Fürsichsein des „Einzelnen“ als Bedingung der Möglichkeit einer
wünschenswerten Solidarisierung gilt. Thematisch ist sie als Grenzfall, der
eintreten kann, aber nicht muß. Das Gedicht selbst, als Sprache, scheint zu
widerlegen, daß Celan diesen Fall als für sich selbst bereits zutreffenden
betrachtet habe. Im Hinblick auf das Spätwerk insgesamt ist freilich die
Widerlegung insofern nicht eindeutig, als die Art der Sprachverwendung in
vielen Gedichten wohl doch als Sprachlosigkeit in einem spezifischen, noch
näher zu erläuternden Sinn bezeichnet werden muß. Problematisch werden
solche Gedichte gerade dann, wenn man sie an Celans Selbstverständnis,
seinem eigenen Anspruch mißt. In dem soeben zitierten Gedicht ist hervor­
gehoben, daß das Fürsichsein des Subjekts, falls es zur Kommunikations-
losigkeit führt, nicht dem Versuch von deren Aufhebung geopfert werden
dürfe. Damit nämlich wäre nach Celans Auffassung die Substanz richtiger
Kommunikation — die Verständigung darüber, daß jeder das Recht haben
soll, seiner eigenen Bestimmung gemäß zu leben — von vornherein preisge­
geben. Wenn das für sich seiende, im Widerstand gegen eine veränderungs­
bedürftige Realität sich selbst bestimmende Subjekt nicht als Fürsprecher
dessen, was sein sollte, wahrgenommen wird, sondern „unerkannt“ und „al­
lein“ bleibt, so ist es —diese Interpretation legen Celans Verse nahe —nicht
Sache dieses Subjekts selber, seine Isolation aufzuheben. Denn nicht es habe
sich isoliert, sondern es werde isoliert durch diejenigen, denen die Idee der
Selbstbestimmung anathema ist. Die hier angelegte Theorie der Verständ­
lichkeit oder Unverständlichkeit des Gedichts ist, wie alle ästhetischen Über­
legungen Celans, untrennbar von sozialen Motiven. Denkt man den skizzier­
ten Ansatz zu Ende, so ergibt sich daraus das Theorem, daß eine Lyrik wie
die seine nicht an sich selber unverständlich sei, sondern daß sie unverständ­
lich werde allererst durch eine falsche Rezeption. Unverständlichkeit wäre
also das Ergebnis einer Wahrnehmung von Ästhetischem, die sich dessen
sozialem Gehalt verschließt; wäre Verständnislosigkeit für die politischen
Motive, die der Ausbildung einer in Celans Sinn autonomen Kunst zugrunde
liegen.
Wenn Celan die Gründe für die Unverständlichkeit vieler seiner späten Ge­
dichte allein auf der Seite des Lesers hat sehen wollen, so wird man dieser
Auffassung insoweit folgen können, als die grundsätzliche Fehlinterpreta­
tion seiner Lyrik im größeren Teil der bisherigen Forschungsliteratur in der
Tat darauf zurückzuführen ist, daß man ihren politischen Gehalt ignoriert

183
hat. Im Spatwerk wird die falsche Deutung häufig zum Gegenstand der
Gedichte selber, etwa wenn vom „geächteten Wort“ und der „entmündigten
Lippe“ die Rede ist oder davon, daß niemand „ftir den / Zeugen“ zeuge
(.Hamischstriemen“, AW 24: .Singbarer Rest', AW 32: ,Aschcngloric\
AW 68). Indessen ginge man zu weit in der Rechtfertigung der immensen
Schwierigkeiten, vor die besonders das Spätwerk den Leser stellt, wollte
man sich den aus solchen Versen sprechenden Standpunkt Celans, nicht
unverständlich, sondern lediglich in seinen Intentionen unverstanden zu
sein, uneingeschränkt zu eigen machen. Denn nicht auf mangelndem Ver­
ständnis für Celans Engagement, sondern auf dem Fehlen von Informationen
etwa über philosophicgescluchtlichc Quellen des Autors oder biographische
Details beruht bei einigen Gedichten des Spätwerks zwar nicht ihre prinzi­
pielle Unverständlichkeit, wohl aber die Zufälligkeit dessen, ob sic verständ­
lich werden oder nicht.201 Wem zum Beispiel zu dem von Celan genannten
Namen Bamch nicht cinfällt, daß Spinoza so hieß, der zuletzt seinen Le­
bensunterhalt mit dem Schleifen optischer Gläser bestritt, hat keine Chance,
das Gedicht ,Pau, später' (FS 20) zu verstehen, das überdies die Kenntnis
voraussetzt, daß der Waterloo-Plein in Amsterdam liegt:

In deinen Augen­
winkeln, Fremde,
der Albigenserschatten

nach
dem Waterloo-Plein,
/um verwaisten
Bastschuh, zum
mitvcrhokerlen Amen,
in die ewige
llausluckc sing ich
dich hin:

dab Baruch, der niemals


Weinende
rund um dich die
kantige,
unverstandene, sehende
Trane zurccht-
schlcife.

Mit lexikalischen Mitteln allein wird man von Baruch nicht auf Spinoza,
vom Waterloo-Plein nicht auf Amsterdam kommen. Das Lexikon kann hier,
anders als bei der Erwähnung der Albigenser oder etwa in dem vorher­
gehenden Gedicht ,Pau, nachts' (FS 18), wo das Wort „clcatisch“ einen

184
Anhaltspunkt bietet zur Entschlüsselung des Wortes „Schildkrötenadel“ —
gedacht ist an Zenons Gleichnis von Achill und der Schildkröte —, nur eine
bestätigende Aufgabe erfüllen: das Wissen oder zumindest eine Ahnung muß
beim Leser schon vorhanden sein. Erst wer den Waterloo-Plein identifizieren
kann als Amsterdamer Flohmarkt und als Markt im alten Judenviertel, wer
überdies die Häuserlücke kennt, die dort während des Faschismus und da­
nach entstanden ist, wird verstehen, daß Celan in seinem Gedicht den Water­
loo-Plein so wahrnimmt bzw. erinnert, als würde dort noch heute das Hab
und Gut der Deportierten verhökert. Spinoza hat als portugiesischer Jude
eine besondere Beziehung zum Waterloo-Plein, weil dieser in der Nachbar­
schaft jener portugiesisch-jüdischen Synagoge liegt, deren Gemeinde den
Bann über ihn gesprochen hat. Die Träne schleift Baruch also als Jude im
doppelten Sinn: als Jude von Deportation bedroht, von den Juden ver­
bannt.202
Mit den Infonnationen über „Waterloo-Plein“ und „Baruch“ ist das Gedicht
noch nicht interpretiert, doch ohne sie wird man es nicht interpretieren
können. Indem Celan die Träne, die aus dem Waterloo-Plein gleichsam her­
vorsteigt — die linguistischen Valeurs von ,,-loo“ = frz. l’eau (Wasser) und
„Plein“ = frz. pleini(voll) fuhren zu der Bedeutung, daß der „Waterloo-
Plein“ , als Verdoppelung von ,Wasser4 (Water und l’eau), übervoll ist und
überquillt —, indem also Celan diese aus der Erinnerung an das Gewesene
hervorsteigende Träne als „unverstandene“ bezeichnet, meint er zugleich
auch die Unverstandenheit seines Gedichts dort, wo dessen historische Re­
miniszenzen nicht nachvollzogen werden und deshalb das ,Schleifen4 der
Träne nicht erkannt wird als symbolischer Protest gegen das Schleifen von
Menschen.203 Ein Leser aber, der nicht in Amsterdam gewesen ist, wird diese
Reminiszenzen nicht nachvollziehen können, d. h. das Gedicht wird von ihm
unverstanden bleiben nicht etwa, weil er die Erinnerung an den Faschismus
verdrängen will, sondern weil er keine Ortskenntnis hat. Läßt sich in vielen
späten Gedichten der Verzicht auf die Mitteilung von Sachgehalten recht-
fertigen als Denunziation von mangelndem historischen Bewußtsein beim
Leser — das noch zu interpretierende Rosa-Luxemburg-Gedicht kann dafür
als paradigmatisch gelten —, so liegt hier, wo ein Zugang zum Gedicht nur
über den „Waterloo-Plein“ gefunden werden kann, ein Verfahren zwar nicht
der kapriziösen Verschlüsselung, aber der unzureichenden Entschlüsselung
seiner Assoziationen durch das Gedicht selber vor,dessen Unabdingbarkeit
nicht einzusehen ist. Nur wer in Amsterdam war und den Waterloo-Plein
gleichsam mit Celans Augen gesehen hat, wird das Gedicht angemessen ver­
stehen können. Vorausgesetzt ist mithin ein Leser, der Celans Gedichte, und
zwar gerade auch diejenigen, zu denen er noch keinen Zugang gefunden hat,

185
ständig präsent hat und auf den Zufall wartet, der allein ihm die nötigen
Erkenntnisse vermitteln kann. Ein solcher Leser hat zumindest partiell die
eigene Identität aufgegeben; er denkt in Celans Versen, sicht mit Celans
Augen und bindet sich affektiv immer enger an Celans Werk, weil jede neue
Erkenntnis, jeder Einfall zu einem bisher noch unverstandenen Gedicht sei­
nen individuellen Besitzstand an dieser Lyrik zu steigern scheint. Die oft zu
beobachtende Sucht von Interpreten, in Celans Sprache zu sprechen, ist
daher teilweise durch Celan selbst initiiert. Wo das Verstehen von Versen
deren jahrelange Präsenz im Bewußtsein des Lesers verlangt, droht dieser
zuletzt zu einer bloßen Funktion von Celans Kunst zu werden. Damit aber
fordert Celan selbst jene Ich-Schwächc, jenen Mangel an Selbstbestimmung,
gegen den sein gesamtes Werk doch polemisch konzipiert ist. Nur bedingt
wird man deshalb seinem Sclbstverständnis folgen können, daß im weit­
gehenden Verzicht seiner Sprache auf die Mitteilung von Sachgchalten ein
Fürsichsein der Sprache hergcstcllt wird, das Partei ergreife für die A uto­
nomie des Einzelnen. Denn eben dieses Engagement wird an den Stellen ad
absurdum geführt, wo der Verzicht auf .Informationen, die der Leser
braucht, in der Weise gehandhabt ist, daß nur noch die identifikatorischc
Aneignung des Werks, das Nachlcben von Celans Leben, die Chance zum
Verstehen eröffnet.
Der skizzierte Widerspruch betrifft nicht Celans Spätwerk insgesamt, son­
dern nur einen Teil der Gedichte; ob er vorliegt, muß im Einzelfall jeweils
neu geprüft werden. Daß er aber in den Bänden seit der Atem w ende über­
haupt entsteht, dürfte in der schon erwähnten Heftigkeit begründet sein, mit
der Celan auf das Mißverständnis seines Werks durch die Majorität seiner
Interpreten reagiert hat. Indem er das Fürsichsein der Gedichte gleichsam
zum Äußersten trieb, schien er seinen Lesern denjenigen heilsamen Schock
versetzen zu wollen, aus dem die angemessene Wahrnehmung des Gegen­
standes endlich hervorgehen könnte. Durch Übertreibung den Abbruch
der Mitteilung zumindest in einem Teil der Gedichte sollte den Lesern
eingebleut werden, was sie von sich aus zur Kenntnis zu nehmen offenbar
nicht bereit waren: daß diese Lyrik sich als absolute engagiert für das Für­
sichsein, die Selbstbestimmung der Subjekte. Für die Richtigkeit dieser Ver­
mutung spricht nicht nur die Forciertheit, mit der das interpretierte Gedicht
.Stehen* verlangt, daß im Extremfall jegliche Kommunikation dem Fürsich­
sein des Subjekts geopfert werden müsse, sondern auch der verzweifelte
Hohn auf die Unterstellung, daß es in der Lyrik überhaupt auf Mitteilungen
ankäme (»Keine Sandkunst mehr*, AW 35):

186
Dein Gesang, was weiß er?
Tiefim schnee,
Iefimnee,
I - i - e.

Skeptisch hat Harald Weinrich anläßlich dieser Stelle gefragt: „Was soll das?
Wohin fuhrt das? Zu Kurt Schwitters’ i-Gedicht vielleicht? “ 204 In der Tat
ist das Verfahren, Wörter in rein phonetische Valeurs zu überführen, das des
Dadaismus. Gleichwohl ist Celans Gedicht nicht dadaistisch, weil es den
Übergang von der signifikativen zur phonetischen Sprache als Prozeß dar­
stellt, also beide Momente enthält. Wenn das Gedicht behauptet, daß der
lyrische Gesang nichts wisse, daß er nichts zu bedeuten habe, so steht es zu
sich selbst im Widerspruch, weil es eben dies —also doch etwas —bedeutet.
Diejenigen Gedichte des Spätwerks, die in der Tat den Abbruch der Kom­
munikation vollziehen, erklären sich aus der Polemik Celans gegen die fal­
sche Auslegung seines Werks, aber sie genügen nicht dem Begriff von
Sprache, der im allgemeinen für Celans Lyrik konstitutiv ist und den das
Spätwerk anderenorts auch thematisiert. Die Dichtung ist, wie es dort heißt,
ebenso auf „Bedeutungsjagd“ wie auf „Bedeutungs- / flucht“ (,Die abge­
wrackten Tabus1, FS 62). Sowenig also die lyrische Sprache nach Celan sich
darin erschöpfen darf, ein beliebiges Transportmittel für Bedeutungen zu
sein — ein Vorverständnis, das in einigen Gedichten mit Beziehung auf die
zeitgenössische Informationstheorie lächerlich gemacht wird205 —, sowenig
darf sie ihren signifikativen Charakter unvermittelt, ohne den Durchgang
durch die Bedeutungen, zu überschreiten versuchen. Sie muß vielmehr, soll
sie der Konzeption des ästhetischen Absolutismus im Sinne Celans gerecht
werden, Verfahrensweisen der Position und Negation von Bedeutungen ent­
wickeln, aufgrund derer das einzelne Gedicht verstanden werden kann als
Kritik am bloßen Füranderessein, an der Unterwerfung von Menschen unter
ihnen fremde Zwecke.

Vom sozialen Mandat seiner Kunst war Celan bis zum Schluß überzeugt. Die
Möglichkeit, „unerkannt“ und „allein“ zu bleiben, weil seine Lyrik auf
ihrem Selbstverständnis als einer einsamen Fürsprecherin für die Menschen­
würde beharrte, während es in Deutschland wie in Frankreich zu praktischen
Solidarisierungen in demselben Interesse kam, hat er niemals ernsthaft in
Erwägung gezogen. Im Gegenteil hat er sich gerade durch die Studenten­
bewegung in seiner Auffassung von der Kunst gleichsam als Gewissen politi­
scher Veränderungsbemühungen bestätigt gesehen. Daß Veränderung vom
„Einzelnen“ ausgehen müsse, glaubte er auch und gerade in einer histori­

187
sehen Phase ins Gedächtnis rufen zu müssen, in der andere Autoren wie etwa
Erich Fried, dessen politische Entwicklung Celan mit Befremden verfolgte,
davon ausgingen, daß es de facto bereits Formen von Kollektivität gebe, die
den „Einzelnen“ nicht entmündigen, sondern die soziale Basis Für eine nicht
nur bewußtseinsmäßige Selbstbestimmung hcrzustellen versuchen. Die Posi­
tion Celans ist durch dieses Gedicht charakterisiert (,Mapesbury R oad\
SchP 39):

Die dir 7ugcwinkie


Stille von hinterm
Schritt einer Schwurzen.
Ihr zur Seite
die
rnjgnohenstundige Halbuhr
vor einem Kot,
das auch anderswo Sinn sucht
oder auch nirgends.
Der volle
Zeithof uin
einen Steckschub, daneben, hirnig.
Die scharfgehimmelten höfigen
Schlucke Mitluft.
Vertag dich nicht, du.

Die angcredctc Person soll sich nicht vertagen, soll sich selbst auf die Tages­
ordnung setzen angesichts eines „himigen“ Steckschusses: gemeint ist, wie
Celan selbst bestätigt hat, das A ttentat auf Rudi Dutschke. Der Steckschul?»
ist dinghaft-konkret gedacht als der Stecken, der Stab einer Sonnenuhr.
Dessen Schatten ist ringsum gelaufen und hat einen „vollen / Zeithof“ ge­
bildet. Der Schatten des Steckschusses bedeutet dem Subjekt, daß cs hohe
Zeit sei für seine Selbstvergewisserung; er ist entsprechend der Metaphorik
des Gedichts .Sprich auch du‘ aus Von Schwelle zu Schwelle (SzS 59), die
Celan hier wieder aufgreift206, verstanden als die Bedeutung, der Sinn des
Schusses. Auch in den beiden ersten Gedichtabschnitten liegt jeweils die
Metaphorik einer Sonnenuhr vor. Zuerst ist vom Schatten einer schwarzen
Passantin die Rede und sodann von einer Blumenuhr, deren Stunden (nur
die Tagesstunden, deshalb aber nicht nur deshalb ist sic eine „Halb­
uhr“ ) durch Magnolien angezeigt werden. Das Rot, das den Hintergrund
dieser Uhr bildet konkret ist wohl an ein rotes Blumenbeet zu denken ,
sucht nicht nur hier, in London, sondern auch anderswo nach Sinn „oder
auch nirgends“ . Es kann zunächst als Blutrot verstanden werden, als Meta­

188
pher des Leidens sowohl Dutschkes als auch der Schwarzen, das nach einem
Sinn sucht oder auch nicht, weil jede Sinngebung ein Akt der Rechtferti­
gung wäre. Zugleich meint Rot eine politische Couleur. Aber das Gedicht
bestimmt sie als Farbe, der kein fester Sinn mehr zugeordnet werden könne;
die unverständlich geworden sei wie ein Emblem, dessen Devise nicht mehr
zu ermitteln ist.207 So gewiß also das Gedicht die Selbstfindung der ange­
redeten Person bestimmt als Solidarität m it der Schwarzen, der Angehörigen
einer unterdrückten Minorität, wie mit dem verwundeten Dutschke, so we­
nig legt es sich darauf fest, diese Solidarität zu denken auf der Basis von
Sozialismus oder Kommunismus in einer derjenigen Gestalten, die — sei es
als Theorie, sei es als Praxis —tatsächlich schon vorhanden sind.
Was Rot als politische Couleur bedeutet, scheint Celan gegenwärtig nicht
präzisierbar; die Farbe „sucht“ noch nach Sinn, nach einer Richtung, und es
wird auch die Möglichkeit erwogen, daß sie diese Suche schon aufgegeben
habe. Damit hat Celan seine Position dahingehend bestimmt, daß sie über ihr
humanitäres Engagement und eine allgemeine Sympathie für den Sozialis­
mus hinaus politisch nicht eindeutig zu definieren sei oder genauer: noch
nicht. Die Überzeugung vom aktuellen Sinnverlust des Sozialismus nicht
überhaupt, aber insofern, als er seine wünschenswerte Richtung noch nicht
gefunden habe, dürfte bei Celan nicht zuletzt biographisch begründet sein in
der Enttäuschung über bisher praktizierte Formen. Die Konsequenz ist in
seinen Gedichten der Verweis auf den „Einzelnen“ als diejenige Instanz, von
der nach seiner Ansicht neue Formen des Sozialismus ihren Ausgang neh­
men könnten. Praktische Solidarisierungen wie die des Pariser Mai schienen
ihm verfrüht. Der Verweis auf den „Einzelnen“ hat die beabsichtigte Funk­
tion, retardierend zu wirken. Allein auf der Ebene des moralischen Protests
gegen die militärischen Maßnahmen de Gaulles anläßlich der Mai-Unruhen
konnte Celan sich den politischen Akteuren nähern (,Für Eric‘, SchP 50):

In der Flüstertüte
buddelt Geschichte,
in den Vororten raupen die Tanks,
unser Glas
füllt sich mit Seide,
wir stehn.

Das Wort „Seide“ verliert hier die traditionelle Konnotation des Luxuriösen,
denn es ist zu beziehen auf die „raupenden“ Tanks, die de Gaulle während
der Mai-Unruhen in den Vororten von Paris Aufstellung nehmen ließ. Die
Seide im Glas ist gleichsam das Erzeugnis der raupenartigen Panzerkampf­

189
wagen. Sie zeigt in dem Glas, das wahrscheinlich ein Stundenglas ist, an, daß
für die Subjekte die Stunde des Widerstandes gekommen sei. Bei der Darstel­
lung des Augenblicks der Bewußtseinsbildung darüber, daß Widerstand zu
leisten sei gegen die ,.Tanks“ , bleibt das Gedicht stehen. Ein Schritt darüber
hinaus hätte Celans Geschichtsauffassung wie der in ihr begründeten Pocto-
logie widersprochen; cs wäre ein Punkt erreicht worden, an dem er seine
politische und ästhetische Position hätte neu überdenken müssen.

3.

Einige der wichtigsten Tendenzen des Spätwerks sind konzentriert in dem


Berliner Rosa-Luxcmburg-Gedicht208, das vor allem den für Celans ästhe­
tische wie politische Position entscheidenden Begriff des Fürsichseins in
einer Weise erläutert, die ontologisierenden Deutungen keinen Raum läßt.
Die folgende Interpretation wurde im Sommer 1971 geschrieben und als
Zeitschriftenaufsatz eingcrcicht. Daß Peter Szondi sich etwa gleichzeitig mit
dem Gedicht befaßt hat, wurde mir erst nach seinem Tod bekannt. Nach der
posthumen Veröffentlichung seines Fragments209 scheint es mir angebracht,
meine Interpretation in der ursprünglichen Fassung zu belassen; der Leser
mag sich selbst ein Urteil bilden über die Affinitäten und Divergenzen zweier
Deutungen, die beide auf persönlichen Gesprächen und gemeinsamen Unter­
nehmungen mit Celan in Berlin basieren. Die exemplarische Bedeutung des
Luxemburg-Gedichts für Celans Spätwerk wie für seine ästhetische Konzep­
tion überhaupt war mir bei der Niederschrift der Interpretation 1971 erst
halb bewußt; in einem Nachtrag werde ich kurz darauf eingehen und zu­
gleich eine Kritik an der terminologisch und sachlich sehr schwer greifbaren
Antwort Gadamers auf Szondis Fragment zu skizzieren versuchen210.

Am Anfang des Bandes Schneepart, der sich in Celans Nachlaß fand, stehen
drei im Dezember 1967 während einer Reise nach Berlin verfaßte Gedichte:
.Ungewaschen, unbemalt* (SchP 7), ,Du liegst* (SchP 8) und JLila Luft*
(SchP9).211 ln derselben Reihenfolge hatte Celan die Gedichte noch zu
Lebzeiten veröffentlicht in einem 1968 von O tto F. Best herausgegebenen
Hommage für Peter Hüchel.212 Celan war m it Hüchel befreundet, aber
konnte und wollte ihn während seines Aufenthaltes in Berlin nicht be­
suchen. Gleichsam als Entschuldigung und Ersatz für den versäumten Besuch
stehen die drei Gedichte im Hommage: mit Ort und Datum versehen wie
Briefe an den Freund in Wilhelmshorst. Ort und Datum sind zugleich Korn-

190
mentare, wie an dem mittleren der drei Gedichte gezeigt werden soll, dem
Celan ursprünglich - in handschriftlichen Fassungen - mit Beziehung auf
Hucheis berühmten ,Winterpsalm*213 den Titel ,Wintergedicht* gegeben
h a tte :

Du liegst im großen Gelausche,


umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhakcn,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden -
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden -
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden
Der Landwchrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.

Das in der Erstpublikation enthaltene Datum „22./23. Dezember“ gibt an,


daß das Gedicht in der Nacht vom 22. auf den 23. geschrieben worden ist, in
einer Nacht, in der es in Berlin heftig schneite. Celan wohnte im „umbusch­
ten“ Gästehaus der Akademie .der Künste; in einem Appartement, über des­
sen mönchischen Charakter er sich mokierte. „Du liegst im großen Ge­
lausche“ kann zunächst als Selbstapostrophe verstanden werden wie das
Folgende, das sich aber auch, wiederum biographisch betrachtet, an Walter
Georgi wenden kann, der Celan an die Spree und an die Havel geführt
hatte214, zu den Fleischerhaken von Plötzensee, an denen die Männer des 20.
Juli erhängt worden waren, und zum Weihnachtsmarkt am Funkturm, wo es
„Äppelstaken“ aus Schweden gab, das heißt rot kandierte und auf Holzstäbe
aufgespießte Äpfel. Celan las in jenen Tagen die kurz zuvor von Elisabeth
und Heinrich Hannover herausgegebene Dokumentation über den Mord an
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wo es in einem Zeugenbericht heißt:
„Ich [ . . . ] fragte, ob Dr. Liebknecht schon wirklich to t sei, worauf mir von
einem der Kameraden zur Antwort gegeben wurde, daß Liebknecht durch­
löchert wäre, wie ein Sieb.“ 215 In einem Bericht des Berliner Tageblatts von
1929 heißt es: „Es konnte nicht allein die Parole sein, die den beiden
revolutionären Führern den Tod brachte, jene Worte, die an dem verhängnis­
vollen Abend durch die Halle des Luxushotels geschmettert wurden: ,Die
Sau muß schwimmen!4, an einem Fluch stirbt niemand [.. .]'“ .216Das Hotel,

191
aus dem Rosa Luxemburg verschleppt wurde, um kurz darauf erschossen
und in den Landwehrkanal geworfen zu werden, war das Eden-Hotel in der
Budapester Straße, an dessen Stelle heute das ,Eden-Appartmenthaus‘ steht.
Beide Eden, das damalige und das heutige, und zudem die Beat-Lokale mit
dem Namen Eden im heutigen Berlin, von denen Celan eins besuchte, meint
das Gedicht. Der Name Eden, der Name des Paradieses, wird konfrontiert
mit dem. wofür er heute Reklame macht: für die Vergnügungen angepaßter
Jugendlicher und den Statuswert des Wohnens in einem sogenannten Ap-
partmenthaus. Als Name des Hotels, in dem Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht gefangen gesetzt waren, konfrontiert er zugleich beider Schick­
sal mit dem, wofür sie kämpften: das irdische Paradies. In der von Celan
benutzten Dokumentation ist ein Auszug abgedruckt aus Liebknechts letz­
tem Aufsatz in der Roten Fahne vom 15. Januar 1919. Dort heißt cs:
„Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet, aber
der Tag der Erlösung naht. [. ..] Und ob wir dann noch leben werden, wenn
cs [unser Ziel, M. J. | erreicht wird leben wird unser Programm: cs wird die
Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!“ 217
Zur Zeit Liebknechts vermochte revolutionäre Erwartung sich noch in reli­
giösen Fonnein zu artikulieren. Was ist in Celans fast ein halbes Jahrhundert
später entstandenem Gedicht von der Erwartung, der revolutionären wie der
religiösen, verblieben? Die kurz vor Weihnachten geschriebenen Verse neh­
men gleich zu Anfang eine Erwartungshaltung ein: „Du liegst im großen
Gelausche“. „Es kommt“ , heißt es in der Mitte des Gedichts, „der Tisch mit
den Gaben.“ Die Ankunft des Gabentischs ist der Modus, in dem der Ad­
vent, der Christi Ankunft meint, einzig noch erfahren wird. Aber nicht nur
die religiöse Erwartung bleibt unerfüllt. Die andere Art von Erwartung, die
das Gedicht kennt, ist die Erwartung dessen, daß der Landwehrkanal dort,
wo Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen wurde, rauschen müßte. Das Was­
ser, so wird erwartet und darauf richtet sich das „große Gelausche“ , müßte
dort, wo die Leiche lag, stocken; auf Widerstand stoßen und rauschen. „Der
Landwehrkanal“ , heißt es indessen am Schluß des Gedichts, „wird nicht
rauschen“ . Er ist zum Fluß des Vcrgessens geworden, weiß nichts mehr von
Rosa Luxemburg.
Das Wort „Sieb“ löst sich, vom Schluß her betrachtet, von seinem engeren
Kontext. Wurde Liebknecht „zum Sieb“ , das keinen Widerstand mehr lei­
sten konnte, so scheint es heute, als wäre das Wasser des Landwehrkanals
durchsiebt worden, so daß es von jeder Erinnerung geklärt dahinfließt. Das
sich erinnernde Gedicht aber ist selber das, was der Landwehrkanal sein
sollte und nicht ist. Wenn er nicht stockt, so stockt doch das Gedicht.
Sofern sich das „Gelausche“ auf den Landwehrkanal richtet, nimmt es nur

192
wahr, daß „Nichts / stockt“ , aber indem das Gedicht zur Sprache bringt,
daß dieses Nichts das Nichtsein von etwas, nämlich der Erinnerung an Rosa
Luxemburg ist, stockt ihm am Ende die Sprache, ihr Fluß. Die negative
Aussage, daß nichts stocke, schlägt also um — die Zeilenbrechung hebt das
hervor — in eine positive. Das Gedicht stockt und will auf diese Weise zum
Ausdruck bringen, daß der Widerstand von Rosa Luxemburg und Karl Lieb­
knecht noch nicht vergessen sei.
Vom Schluß her wird evident, daß die in den ersten beiden Zeilen ange­
sprochene Person die tote Rosa Luxemburg ist. Die Wörter „umbuscht,
um flockt“ beziehen sich nicht nur auf die Situation, in der Celan das Ge­
dicht geschrieben hat, sondern lösen sich von ihrer biographischen Bedeu­
tung und werden zu Metaphern der Vergessenheit von Rosa Luxemburg. Sie
liegt verborgen unter Büschen und Schnee, vom lyrischen Subjekt selbst
zunächst unerkannt, ein namenloses „D u“ , das erst im Verlauf des Gedichts
erkannt wird. Der erste Schritt zu ihrer Erinnerung wird gemacht, indem das
lyrische Subjekt sich distanziert von einem anderen Du, das sowohl sein
alter ego ist als auch, biographisch, der Freund Walter Georgi, mit dem
Celan sight-seeing in Berlin unternahm. Der touristische Charakter der Be­
sichtigungen wird hervorgehoben: „Geh du zur Spree, geh zur Havel“ . Es ist
gleichgültig, wohin; dem Touristen geht es um die beliebig zusammenstell­
bare Tour, und alle Flüsse sind ihm im Grunde gleich. Die Fleischerhaken,
an denen die Männer des 20. Juli aufgehängt worden sind, bedeuten ihm
nicht mehr und nicht weniger als die Äppelstaken des Weihnachtsmarkts.
Ob es Blutrot ist oder das Rot des weihnachtlichen Gegenstandes: Rot ist
dem Touristen Rot, und aufgespießt wird in jedem Fall, ob nun Fleisch oder
Äpfel. Für den von seinem touristischen Ich sich Distanzierenden aber füh­
ren die Fleischerhaken zur Erinnerung an die „Sau“ , fuhrt die rote Farbe zur
Erinnerung an die politische Couleur Rosa Luxemburgs und Karl Lieb­
knechts. Der weihnachtliche Gabentisch, der herangeschoben wird, wird für
ihn eins mit dem Auto, das um das Eden-Hotel biegt und in dem die Mörder
sitzen. Daß die Vorstellung vom Gabentisch sich umbiegt in die des Mörder­
autos — das Verb „biegt um“ macht die Wende innerhalb des Gedichts
thematisch —, ist womöglich zurückzufiihren auf den Kontext der schon
zitierten Stelle über Liebknecht in der von Celan benutzten Dokumentation:'

„In dem Moment kam auch eine Abteilung zurück, die wahrscheinlich Dr. Liebknecht
weggebracht haben mochte. Die unterhielten sich angeregt und hatten auch zwei
Flaschen Wein und mehrere hundert Zigaretten, die sie untereinander verteilt haben.
Ich ging nun an den Tisch heran und fragte, ob Dr. Liebknecht schon wirklich tot sei,
worauf mir von einem der Kameraden zur Antwort gegeben wurde, daß Liebknecht
durchlöchert wäre, wie ein Sieb. Ich fragte auch, von wem sie die Zigaretten und den

193
Wein hatten. Da wurde mir ebenfalls gesagt: Das ist von Offizieren gestiftet wor­
den.“ 1"

Ein paar „Gaben“ waren der Lohn für den Mord an Rosa Luxemburg und
Karl Liebknecht, der sich auf einer anderen Ebene, der des Vergessens,
ständig wiederholt. A uf diesen Gedanken hin spitzt sich Celans Gedicht zu,
ohne ihn auszusprechen. Der Scheitelpunkt in der Konstruktion des Ge­
dichts, ob sie nun von Celan beabsichtigt war oder nicht, ist die Wendung
„für jeden “ . In ihr stoßen ein vertikaler und ein horizontaler Sinnzusam­
menhang zusammen. Liest man die drei Versenden des Gedichts, die nicht
nur durch den Reim, sondern überdies durch Gedankenstriche miteinander
korrespondieren, hintereinander, so ergibt sich ein Satz, der sich wie ein
Werbeslogan liest: „Schweden Eden für j e d e n A u f diesen vertikalen
Sinnzusammenhang des Gedichts stößt als Horizontale, die ihn gleichsam zu
durchkreuzen sucht, die Zeile:

für sich, für keinen, für jeden

„Für sich“ mußte Rosa Luxemburg schwimmen: für sich allein und nicht in
dem trostbringenden Bewußtsein, daß ihr Tod denen, die sie meinte, von
Nutzen wäre. „Für keinen“ mußte sie schwimmen als eben für sich selbst
und doch „für jeden“ , denn was sie wollte, ging alle an. „Für jeden“ , die
Wendung, in der das Gedicht seine Utopie formuliert, steht jedoch zugleich
am Ende der Vertikale „Schweden Eden für jeden “ und bezeichnet in
diesem Zusammenhang die gegenwärtige Verdrehung, die Perversion dieser
Utopie. Diejenigen, für die Rosa Luxemburg ihre politischen Ziele zu ver­
wirklichen suchte, sind heute in eine Richtung orientiert, die mit der ihren
unvereinbar ist, quer zu ihr steht. Ihnen — und ohne Zweifel ist hier das
.schwedische Modell des Sozialismus* gemeint219 gilt Schweden als Muster­
land einer demokratischen („für jeden“) und paradiesischen („Eden“ ) Ge­
sellschaft, deren sozialistischer Selbstanspruch der strukturellen Aussage des
Gedichts zufolge dem Sozialismus Rosa Luxemburgs diametral entgegenge­
setzt ist und ihn pervertiert.

Mit der Sequenz „für sich, für keinen, für jeden“ ist die Frage nach dem
Zweck des Widerstandes von Rosa Luxemburg angesprochen und zunächst
in provozierender Weise beantwortet. „Für sich“ nämlich heißt, daß Rosa
Luxemburg keinen anderen Zweck verfolgt habe als sich selber, ihre eigene
Selbstverwirklichung eine Behauptung, die einen unangemessenen Akzent
zu setzen scheint angesichts dessen, daß sie sich als Fürstreiterin der prolc-

194
tarischen Klasse verstanden hat. Das Gedicht verschärft die Provokation,
indem es auf „für sich“ „für keinen“ folgen läßt, was zunächst zu bedeuten
scheint: für keinen bestimmten anderen Menschen. In der Verfolgung ihrer
eigenen Selbstverwirklichung handelte und litt Rosa Luxemburg „für je­
den“ , das heißt im Interesse der Menschheit, die ihrer humanen Bestimmung
gerecht würde. Auch hier also setzt Celan den Primat des „Einzelnen“ als
einer richtigen Form von Allgemeinheit. Diese Allgemeinheit ist dadurch
verbürgt, daß das Fürsichsein des Subjekts objektiv vermittelt ist: es besteht
nicht etwa in der solipsistischen Absonderung von der Gesellschaft, sondern
im Widerstand gegen soziale und politische Verhältnisse, die das Gedicht als
den beginnenden Faschismus beschreibt. Der Modus von subjektivem Für­
sichsein, dem autonome Kunst in Celans Sinn das Wort redet, bewährt sich
als praktischer Widerstand im Interesse einer sich selbst verwirklichenden
Menschheit. Dieser universale Anspruch ist im Luxemburg-Gedicht nicht nur
m it der Wendung „für jeden“ akzentuiert. Er wird schon am Anfang des
Gedichts angekündigt m it der Vorstellung vom „großen Gelausche“ , die
Assoziationen an ein Weltgelausche, an einen kosmischen Vorgang erweckt,
und wird vollends deutlich, sobald man erkennt, daß Celan Berlin dargestellt
hat als verlorenes Paradies. Die „Äppelstaken“ erinnern an den Apfel der
Versuchung; Spree, Havel und Landwehrkanal sind gleichsam die Paradies­
flüsse (vgl. 1. Mose 2, V. 10 ff.: „Und es ging aus von Eden ein Strom “
usw.), und Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bleiben nicht aus Geheim­
nistuerei im Gedicht unbenannt, sondern um als „Mann“ und „Frau“ , als
Adam und Eva in einem Paradies dargestellt werden zu können, das zu einer
Hölle pervertiert ist220 und wo der Wunsch entsteht, den Geschichtsverlauf
anzuhalten, zum Stocken zu bringen, wie es Lucüe am Schluß von Dantons
Tod formuliert: „Der Strom des Lebens müßte stocken [ . . . ] . Es regt sich
alles, die Uhren gehen, die Glocken schlagen, die Leute laufen, das Wasser
rinnt [ . . . ] , ich will mich auf den Boden setzen und schreien, daß er­
schrocken alles stehn bleibt, alles stockt, sich nichts mehr regt“ . Berlin
fungiert in Celans Gedicht als geschichtsphilosophische Metapher: es ist das
Anti-Paradies der Gegenwart, das der zukünftigen Verwirklichung eines
gleichsam paradiesischen Zustandes der Menschheit entgegensteht. Welchen
Weg der Versuch seiner Verwirklichung nach Celans Ansicht einzuschlagen
hätte, bleibt in diesem Gedicht so unbestimmt wie in der gesamten Lyrik
Celans, die sich der Beantwortung dieser Frage verweigert, um als autonome,
für sich seiende ihrem sozialen Gehalt —dem Engagement für eine sich selbst
bestimmende und sich selbst verwirklichende Menschheit —gerecht zu wer­
den; um „für jeden“ zu sein, indem sie „für sich“ selber ist.
Im Rahmen der Celanschen Kunstkonzeption läßt sich „für jeden“ konkre­

195
tisieren als: für alle Unterdrückten. Eine klassenspezifische Eingrenzung wird
indessen nicht vorgenommen; sie Celan zu unterstellen, wäre interpretatori-
sche Willkür, die sich hinwegsetzen würde über die Verflechtung seine Ästhe­
tik mit der Auffassung, daß ein historisches Subjekt verändernder Praxis
heute nicht eindeutig auszumachen sei — eine Verflechtung, die auch bei
Adorno evident ist und der im Kontext einer grundsätzlichen Diskussion des
Theorems autonomer Kunst entschiedener als hier nachgegangen werden
müßte. Bleibt die Parteilichkeit der Lyrik Celans im beschriebenen Sinn
allgemein, so ist sie doch wiederum nicht so allgemein, daß einer entpoli­
tisierenden Auslegung wie derjenigen Gadamers recht gegeben werden
müßte, ln seiner Replik auf Szondis fragmentarische Interpretation des
Luxemburg-Gedichts hat Gadamer die auch von Szondi angeschnittene
Frage gestellt, was der Leser zum Verständnis des Gedichts wissen müsse.
Szondis diplomatisch formulierte Frage, ob nicht die „Fremdbestimmung“
des Gedichts durch vorgegebene Fakten und seine „Selbstbestimmung“ sich
die Waage hielten221 - es sei dahingestellt, ob diese Terminologie glücklich
gewählt ist im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sachgehalt, während
sie traditionell zur Frage nach dem Zweck der Kunst gehört und in dieser
Bedeutung auch ins Zentrum von Celans Ästhetik trifft , Szondis Frage
also will Gadamer zu Ende denken, indem er seine Darstellung zum herme­
neutischen Dialog mit dem Toten erklärt.222 Mit Recht stellt er zunächst
fest, daß kein Zweifel daran bestehen könne, daß das Gedicht von Ber­
lin handelt; Spree, Havel und Landwehrkanal machen das deutlich. Für
ohne weiteres erkennbar hält er auch, daß die „Sau“ eine Jüdin ist, doch
an eben dieser Stelle läßt seine Deutung den kritischen Leser stutzig
werden. Denn während der antisemitische Gebrauch von „Sau“ nach Ga­
damer „wenigstens für ältere Leser“ sofort verständlich ist, geht er bei
dem Wort „Landwehrkanal“ nicht davon aus, daß sich zumindest bei
eben diesen „älteren Lesern“ bestimmte historische Reminiszenzen ein­
stellen. Das berühmt-berüchtigte Lied von der Leiche im Landwehrkanal
bezieht er seltsamerweise in seine Überlegungen nicht ein. Dasselbe histori­
sche Bewußtsein, das nach Gadamer die Konnotation von „Sau“ kennt, wird
nicht geltend gemacht beim Landwehrkanal; vorausgesetzt ist damit indirekt
ein Leser, der sich wohl an die antisemitischen, nicht aber an die anti­
kommunistischen Untaten des Faschismus und seiner Vorläufer erinnert.
Daß es in dem Gedicht nicht um irgendeine Jüdin, sondern um Rosa Luxem­
burg geht, hält Gadamer für äußerst schwer ermittelbar; „Schwerlich wird
ein allgemeines Informationsmittel unter dem Stichwort ,Landwehrkanal4
jenen schrecklichen politischen Mord vom Januar 1919 verzeichnen.“ Aber
wer bedarf denn eines solchen Informationsmittels überhaupt? Empirische

196
Untersuchungen würden hier m it größter Wahrscheinlichkeit ergeben, daß
politisch interessierte und informierte Leser beim Landwehrkanal in Ver­
bindung m it einer als „Sau“ bezeichneten Frau an Rosa Luxemburg denken.
Die Verständlichkeit des von Celan Gemeinten dürfte hier weniger eine
Frage der Generation sein als der Bereitschaft, die sozialistische Tradition
nicht zu verdrängen. Gadamers Argumentation setzt beim Leser ein redu­
ziertes historisches und politisches Bewußtsein voraus, dem die Judenver­
folgung präsent ist, nicht aber der Mord an Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht. Der Lesertypus, den Gadamer zum Leser überhaupt stilisiert, ist
derjenige, der an Celan das Moment des Jüdischen wahmimmt, nicht aber
die prinzipielle Sympathie für den Sozialismus. Unbewußt wendet Gadamer
die konservative Celan-Rezeption, wie sie bis heute dominiert, ins Normative
einer angemessenen Celan-Rezeption überhaupt und wirkt damit als Apo­
loget der falschen Rezeption.
Die Beziehung des Gedichts auf Rosa Luxemburg wird von Gadamer nicht
geleugnet. Scheinbar im Gegenteil heißt es bei ihm, daß man aufgefordert
sei, sie „als zu Wissendes“ zu suchen. Indessen wird im Verlauf seiner Dar­
stellung dieses Wissen auf eine Ebene zurückverwiesen, auf der es nur noch
sekundär erscheint für das Verständnis des Gedichts. Dessen „Logik“ setzt
nach Gadamers völlig berechtigter Ansicht nicht die Kenntnis voraus, daß
Celan vom Bett aus auf verschneite Büsche blicken konnte und mit dem
Auto am Eden-Appartmenthaus vorbeigefahren ist. Was aber in polemischer
Abwehr einer bloß biographischen Auslegung als die „Logik des Gedichts“
dargestellt wird, ist nichts anderes als eine interpretatorische Neutralisierung
seines politischen Gehalts. Als Alternative zur biographischen Auslegung von
„umbuscht, um flockt“ bietet Gadamer an: „Eher wird man in Busch und
Flocke Schutz (um-buscht, um-flockt) und nach innen lauschende Stille
(daher: im großen Gelausche) verstehen.“ Um ein Eden biegen interpretiert
er als einen „Weg, der vom Glück wegführt und nicht zu ihm hin“ . Schutz,
Stille, Glück — Abstrakta, die in Beziehung auf Celans Gedicht keineswegs
prinzipiell falsch sind, werden von Gadamer verabsolutiert, als hinge nicht
alles davon ab, konkret zu bestimmen, wen das Gedicht als schutzbedürftig
darstellt — doch eben diejenigen, die aufgrund ihres politischen Wider­
standes wie Tiere behandelt worden sind („Fleischerhaken“ , „Sau“) wo­
nach gelauscht wird - doch nicht selbstgenügsam „nach innen“ , sondern
danach, ob der Landwehrkanal rauscht, das heißt, ob der von Rosa Luxem­
burg geleistete Widerstand noch nicht der Vergessenheit anheimgefallen ist
was Glück im Verstände des Gedichts wäre: doch wohl die Verwirk­
lichung einer humanen Gesellschaft unter Vorzeichen, wie sie für Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht Gültigkeit hatten.

197
Die Intention des Gedichts besteht nach Gadanier in der Aufforderung,
„sich bewußt zu machen, wie Entgegengesetztes da beisammen ist: die Spree
und der durch Schrecklichkeiten geisterhaft bevölkerte Havelsee223, die
Fleischerhaken der Grausamkeit und die bunte Freude auf Weihnachten, das
Luxushotel an dem Ort einer Tragödie: das alles gibt es zugleich. Das alles
gibt es, Grauen und Freude, Eden und Eden.“ Bestünde der Gehalt des
Gedichts in derTat in dem, wasGadamer an ihm wahmimmt, so hätte es den
ästhetischen Rang eines Sonntagsspruchs. In der berechtigten Abwehr eines
biographischen Positivismus gelangt er zu Abstraktionen, mit denen er sich
seinerseits ins Unrecht setzt gegenüber dem zu interpretierenden Text.
Exemplarisch dafür sind die „Fleischerhaken“ . Daß Celan in Plötzensee war,
soll man, wie Gadamer mit guten Gründen meint, „nicht als biographisches
Faktum einsetzen“ . Dennoch: es sind die Fleischerhaken von Plötzensee
gemeint, ungeachtet dessen, daß Celan selber dort war. Diesen Sachbezug,
der eben kein nur biographischer ist, herunterzuspielen, führt zu einer Meta-
phorisierung des Gedichts „Fleischerhaken der Grausamkeit“ statt:
Fleischerhaken der Nazis , die den Interpreten dem böswilligen Mißver­
ständnis aussetzen könnte, daß er die Verbrechen des Faschismus transpo­
nieren wolle auf die Ebene eines zeitlosen Bösen im Menschen. Zwischen
ästhetischen Sachgchaltcn und bloß biographischen Entstehungsbedingun­
gen wird bedauerlicherweise von Gadamer, dessen Interpretation sich doch
als Selbstreflexion von Interpretation versteht, nicht genau unterschieden.
So lehnt er auch vorschnell ab, „Sieb“ und „Sau“ als literarische Zitate zu
verstehen, weil ein solches Zitieren nach seiner Ansicht allein auf der Ebene
der Entstehungsgeschichte liegt (was, fragt man sich, würde Gadamer an­
fangen mit der Lyrik etwa von Eliot und Pound? ). Dabei ist übersehen, daß
das Zitieren ungeachtet dessen, daß Celan damals in Berlin gerade die
Luxemburg-Dokumentation las, als solches der Interpretation bedarf und
sich, wo man so nach seiner Begründung fragt, als konstitutiv erweist für den
Gehalt des Gedichts. Rosa Luxemburg ist in Celans Versen gegenwärtig im
Modus des Zitats. Das Zitieren hat die Funktion, die historische Distanz
zwischen heute und damals und damit die Unmöglichkeit einer unvermittel­
ten Identifikation mit Rosa Luxemburgs politischer Position zum Ausdruck
zu bringen. Celan betont den Zeitenabstand zwischen damals und heute224,
indem er zitierend, aus zweiter Hand über Rosa Luxemburg spricht, und
hebt auf diese Weise hervor, daß Solidarität mit der Ermordeten nicht darin
bestehen könne, ohne Rücksicht auf die veränderte historische Situation
ihren Standpunkt einfach zu übernehmen. Der Tenor einer direkten, ge­
schichtsfremden Aktualisierung Rosa Luxemburgs ist dem Gedicht durchaus
fremd. Das darf indessen nicht dazu verführen, sein Engagement zu redu­

198
zieren auf den abstrakten Protest gegen „Schrecklichkeiten“ , „Grausam­
keit“ und „Grauen“ . Das Gedicht ist ungleich konkreter als Gadamers Inter­
pretation. Diese führt sich unbemerkt selbst ad absurdum, indem sie mit
keinem Wort den Vers „aus Schweden“ zu deuten versucht. Die Bezug­
nahme des Gedichts auf das schwedische Modell des Sozialismus bleibt bei
Gadamer unerkannt. Sein Versuch, „nur das [zu] denken, was das Gedicht
weiß“ , erweist sich objektiv als ein Denken, das hinter dem Wissen und
Bewußtsein des Gedichts zurückbleibt. Für „aus Schweden“ wird dem Leser
keine Erklärung gegeben. Damit aber bleibt dieser nach der Lektüre von
Gadamers Interpretation letztlich auf bloß Biographisches verwiesen — auf
die Kenntnis von Celans Besuch eines Weihnachtsmarkts m it schwedischen
Produkten —, während ihm doch zugleich und mit Recht beschieden worden
ist, er müsse „nichts Privates und Ephemeres“ wissen.
Zu einer Deutung von Celans Gedicht, die im biographischen Positivismus
verharren würde, ist Gadamers Interpretation keine wirkliche Alternative,
weil sie gleichfalls nicht das erschließt, was man als die immanente Logik des
Gedichts bezeichnen kann. Vergeblich sucht man bei Gadamer Erkenntnisse
über das Gedicht, die über Gemeinplätze wie „Schutz“ , „nach innen lau­
schende Stille“ , „Schrecklichkeiten“ , „Grausamkeit“ , „Grauen und Freude“
hinausgingen. Der spezifisch ästhetische Gehalt, also alles, was nicht explizit
dasteht, sondern in der Sprachform im weitesten Sinn zum Ausdruck
kommt — wie das Aufeinanderstoßen eines vertikalen und eines horizon­
talen Sinnzusammenhangs, die Darstellung von Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht als gleichsam paradiesisches Paar („Mann“ , „Frau“), die Vor­
stellung von Berlin als Anti-Eden etc. - , bleibt bei Gadamer völlig unbe­
rührt. Das dürfte kaum darin begründet sein, daß die Praxis literarischer
Interpretation ein ihm eher ungewohntes Metier ist, sondern es liegt wohl
substantiell an einem Verfahren, das die politischen und historischen Sach-'
gehalte in den Bereich bloßer Faktenkontingenz versetzt wissen möchte und
damit letztlich auch die spezifisch ästhetischen Gehalte verkennen muß.
Denn die letzteren konstituieren sich nicht in einer abstrakten Negation der
Sachgehalte, wie sie Gadamer um einer vermeintlichen Rettung des Ästhe­
tischen willen vollziehen zu müssen glaubt, sondern sind mit jenen ver­
m ittelt. Beispielhaft dafür ist die Anspielung auf Plötzensee - ein Sach-
gehalt, mit dem das Gedicht das Motiv des politischen Widerstandes ein­
führt, um es später in der Sieb-Metapher und der Metaphorik des Stockens
fortzusetzen. Eben dies zentrale Motiv des Widerstandes bleibt bei Gadamer
völlig ausgespart. Das Gedicht aber erschöpft sich nicht im Gestus des Ach,
wie schrecklich, den Gadamer an ihm wahmimmt („Das alles gibt es, Grauen
und Freude [ . . . ]“), sondern plädiert für eine bestimmte soziale Verhaltens­

199
weise, die dem Schrecken Einhalt gebieten soll. Dieses Plädoyer ist dein
Gedicht nicht aufgesetzt in diskursiven Formulierungen, sondern ästhetisch
realisiert in der Metaphorik des Widerstandes. Nur eine Henneneutik, welche
die von Celan konzipierte Dialektik von autonomer Kunst und Engagement
zu entfalten versucht, wird dem Luxemburg-Gedicht wie Celans Oeuvre ins­
gesamt gerecht werden. Entgegen gängigen Vorurteilen erweist sich bei
Celan, daß ein nicht aktionistischer, wohl aber handlungsorientierter inter-
pretatorischer Ansatz, dem Gadamcrs hermeneutischer Begriff der .Appli­
kation4 des Verstehens auf die Situation des Interpretierenden im Grunde
wohl doch fremd gegenübersteht, spezifisch ästhetische Gehalte allererst zur
Geltung zu bringen vermag.

4.

Deuüicher noch als die Nietmndsrose, die den Akzent auf eine materialisti­
sche Kritik der Theologie setzte, führt das Spätwerk die ästhetische Position
aus, wie sie \m Meridian mit bewußter Beziehung auf Adorno formuliert wor­
den ist. Die Kritik am ästhetischen Stilisationsprinzip, mit der Celan sich im
Meridian nicht nur gegen den Büchner-Preisträger Benn sowie gegen
Mallarm6, sondern auch und vor allem gegen seine eigene Verfahrensweise
im damals neuesten Band Sprachgitter wandte, ist indessen für die späten
Gedichte kaum mehr relevant; sie gehört einer Phase von Celans Oeuvre an,
die mit dem Meridian auch bereits ihr Ende fand. Entscheidend für das
Spätwerk ist das Theorem von der Autonomie der Kunst in der dialek­
tischen Auslegung, daß Kunst zum „Akt der Freiheit“ werde, indem sie sich
auf ein ihr Heterogenes bezieht: indem sie ein „Gegenwort“ spricht gegen
inhumane gesellschaftliche Verhältnisse. Lyrik ist in den späten Gedichten,
ganz im Sinne des Meridian, verstanden als Symbol des Fürsichseins, der
Selbstbestimmung des Subjekts, die einstweilen nur erst negativ, im Modus
des Widerstandes gegen soziale Unterdrückung verwirklicht werden könne,
ln dem in Berlin verfaßten Rosa-Luxemburg-Gedicht ist das historische
Scheitern eines solchen Widerstandes ebenso thematisch wie seine aktuelle
Notwendigkeit. Karl Liebknecht wurde zum „Sieb“ , das heißt er konnte
keinen Widerstand mehr leisten, und der „Landwehrkanal wird nicht
rauschen“ an der Stelle, wo die Leiche von Rosa Luxemburg dem Wasser
Widerstand bot. Das Gedicht aber wird, indem der Fluß seiner Sprache
„stockt“ , sowohl zum Medium der Erinnerung an den Widerstand von Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht als auch zum Ausdruck der Notwendig­

200
keit, heute wie damals Widerstand zu leisten. Der Faschismus, dessen An­
fänge sich bei dem politischen Mord von 1919 schon abzeichneten, besteht
nach Celans Meinung in der Gegenwart latent fort: das Gedicht sieht die
„Äppelstaken“ einer scheinbar paradiesischen Warengesellschaft in der Tradi­
tion der „Fleischerhaken“ von Plötzensee (der Reim und die Vorstellung des
Aufspießens verbinden beide Wörter). In seinem Fürsichsein und in der Reflex­
ion seiner Sprache — ihres Flusses —meint das Gedicht eine antifaschistisch
verändernde Praxis. Die reflexive Beziehung der Sprache auf sich selbst, wie
sie am Schluß mit der Nennung des Stockens vorliegt, bedeutet nicht, daß die
Dichtung nur noch sich selbst zum Gegenstand habe. Celan macht Lyrik
nicht zu ihrer eigenen Tautologie. Vielmehr ist die Selbstreflexion des Ge­
dichts identisch mit der Reflexion seines sozialen Gehalts. Wird der letztere
ausgeklammert, ist Celans Lyrik um ihre Substanz gebracht. Wäre sie in
jenem unvermittelten Sinn für sich, den viele Interpreten sei’s bewußt, sei’s
unbewußt reklamieren, bliebe sie so gleichgültig und unverbindlich, wie sie
in den meisten Interpretationen in der Tat erscheint. Sie verfehlte jenen
Anspruch auf Allgemeinheit, den das Luxemburg-Gedicht im Übergang von
„für sich“ zu „für jeden“ anmeldet. Im Fürsichsein „für jeden“ zu sein —
dieser dialektischen Auffassung Celans vom Einzelsubjekt wie von der Kunst
läßt sich nicht beikommen, wenn man sein Engagement für die sozial und
politisch Unterdrückten übersieht oder verleugnet; wo das geschieht, zer­
bricht Dialektik in die Feier bloßer Subjektivität auf der einen Seite und
Allmenschlichkeits-Ideologie auf der anderen.
Gegen ein lyrisches Verfahren, das Ausdruck bloßer Subjektivität ist und
einer vermeintlichen Menschlichkeit, die sich ungeachtet der bestehenden
Verhältnisse verwirklichen zu können glaubt, hat Celan sich in diesem Ge­
dicht gewandt (, Weggebeizt4, AW 27):

Weggebeizt vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An­
erlebten —das hundert-
ziingige Mein­
gedicht, das Genicht.
Aus­
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Biißerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.

201
Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.

Die Verse konfrontieren bloße Subjektivität mit Authentizität. Sie distanzie­


ren sich vom „Mein- / gedieht“ , das heißt von einer Lyrik, in der das Subjekt
in einem unmittelbaren Sinn bei sich selbst zu sein glaubt, in Wahrheit aber
aufgrund der Prätention einer solchen Freiheit verlogen, meineidig wird.
Dem nichtigen, weil unwahren Gedicht, das sich mit willkürlich „An- /
erlebtem“ schmückt, wird eine Lyrik gcgcnübergcstellt, die Zeugnis ablegt
von wirklichen Erfahrungen. Diese liegen ihrem Begriff nach weder im Be­
lieben des Subjekts noch erschöpfen sie sich in jener biographischen Un­
mittelbarkeit, die der traditionelle Terminus der ,Erlebnislyrik‘ meint, auf
den Celan hier wohl anspielt. Authentische Lyrik setzt der Metaphorik des
Gedichts zufolge voraus, daß das Subjekt sich aus dem Bereich des vorgeb­
lich Menschlichen hinausbegibt in eine scheinbar inhumane Kälte, die doch
das Humane repräsentiert („menschen- / gestaltiger Schnee“ , „gastliche /
Glctscherstuben“ ). Das „Zeugnis“ versucht eine Sprache zu entsühnen
(„Büßcrschnec“ ), die den Eindruck erweckt, daß das Leben hier und jetzt
schon menschenwürdig sei. Es ist zuhause dort, wo das Kontinuum der Zeit
gesprengt ist, einen Riß hat: in der „Zcitenschrunde“ , und wo das „Waben­
eis“ an die Utopie eines Landes, wo Milch und Honig fließt22s, erinnert.
Das ästhetische Subjekt bzw. das Gedicht transzendiert nach Celan die bloße
Subjektivität, indem es Zeugnis gibt von einem inhumanen Zustand der
Realität und mit diesem Zeugnis fordert, daß das geschichtliche Kontinuum
unerträglicher Verhältnisse für immer abgebrochen werde. Um zum Aus­
druck zu bringen, daß Menschlichkeit unter den vorhandenen Lebensbedin­
gungen noch nicht verwirklicht werden könne, sondern erst nach deren
Veränderung möglich wäre, nimmt Lyrik den Schein des Unmenschlichen an
— ein ästhetisches Programm, das schon der Meridian formuliert h atte226,
aber erst beim späten Celan für bestimmte Interpreten aufgrund einer kurz­
schlüssigen Exegese zum Stein des Anstoßes geworden ist. Den Anlaß dafür
bot dieses Gedicht (,Fadensonnen4, AW 22):

202
Fadensonnen
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum­
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Die Verse haben Helmut Mader dazu inspiriert, im Titel einer ablehnenden
Celan-Rezension die Frage zu stellen: ,Lieder zu singen jenseits der Men­
schen? *227 Diese Rezension, Anfang 1969 veröffentlicht, verdient vor allem
deshalb erwähnt zu werden, weil sie neben der eingangs diskutierten Rezen­
sion Helmut Hartwigs eine der wenigen Arbeiten über Celan geblieben ist228,
die nach der gesellschaftlichen Relevanz seiner Lyrik überhaupt fragen. Das
Gedicht ,Fadensonnen*, ohne Begründung als „eines der schönsten Gedichte
der A tem w ende“ gelobt, gilt Mader zugleich als symptomatisch für eine, wie
er m eint, Celans Oeuvre von Anfang an kennzeichnende Tendenz, die empi­
rische Realität unbeachtet zu lassen bzw., seit Sprachgitter, sich auf eine
mehr oder minder erfolglose „Suche nach Welt“ zu begeben. Den Primat
behält indessen nach Maders — falscher — Ansicht auch beim späten Celan
der Versuch, „das Absolute mittels Sprache auszudrücken“ ; eine Ansicht,
aufgrund derer Celan dann — zu Unrecht — in die Tradition Mallarm6s
eingeordnet wird. Ohne daß er es selbst bemerkte, stimmt Maders Celan-Bild
überein m it demjenigen, das er von Beda Allemann gefeiert sieht und der
Lächerlichkeit preisgibt.229 Wie die gesamte ontologisierende Richtung der
Celan-Interpretation deutet auch Mader die Abstinenz der Gedichte von
diskursiv formulierter Gesellschaftskritik als ein selbstgenügsames Sichver-
schließen vor der sozialen und politischen Realität, nur eben, daß diese
Auffassung von Celans Kunst bei Mader kritisch gewendet wird. Seine links
gemeinte Kritik nimmt Celans politische Absichten ebensowenig zur Kennt­
nis, wie die meisten Liebhaber Celans es tun, und trägt damit objektiv bei
zur Vereinnahmung dieser Lyrik durch konservative bis reaktionäre Posi­
tionen. Statt eine alternative Interpretation zu versuchen, die diese Ver­
einnahmung unmöglich macht oder ihr doch standfeste Hürden in den Weg
stellt, erklärt Mader Celans Werk ohne ernsthafte Nachprüfung des wissen­
schaftlich etablierten Vorurteils für geschichtlich überholt und sozial irrele­
vant:

„Ist Celans Poesie am Ende? War der .singbare Rest' die Atemwendel Bleibt Celan nur
noch die kommunikationslose Isolierung übrig, die seine Verse andeuteten: , . . . es
sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen.* - Bestünde das Hauptproblem in
der Lyrik darin, sich verständlich zu machen, wäre es eine einfache Sache, meint

203
Ungaretti einmal. Das Hauptproblem ist es vielleicht nicht, aber es ist doch auch eines
ihrer Probleme. Schließlich: Einmal muß die dauernde Infragestellung des Gedichts
an der Grenze zur Sprachlosigkeit zu Konsequenzen führen. Die Infragestellung ange­
sichts der wissenschaftlichen Welt, die die Literatur nicht nur erkenntnistheoretisch in
die Enge trieb, auch, was ihre gesellschaftliche Funktion anbelangt. Gerade dieser Tage
funktionierte Karl Markus Michel die 11. Feucrbach-These von Marx von der Philoso­
phie auf die Poesie um, indem er zu bedenken gab, .daß unsere Welt sich nicht mehr
poetisicren läßt, nur noch verändern'.“

„Poetisieren“ kann im Kontext der Maderschen Ceian-Interpretation, im


Unterschied übrigens zu den differenzierteren Ausführungen Michels230, nur
heißen, das Bestehende kritiklos auf sich beruhen zu lassen und damit in
seinem Status quo zu rechtfertigen. Gegen Celan verwendet, ist dieser Vor­
wurf unangemessen, und zwar gerade auch angesichts des Gedichts
,Fadensonnen*, auf das sich Mader vor allem berufen zu können glaubt. Als
wäre die begriffliche Sprache der Wissenschaft ein Maßstab für die Verständ­
lichkeit von Gedichten und die aktionistische Parole die einzig mögliche
Form, in der Lyrik Kritik am Bestehenden artikulieren könne, werden
Celans Verse als Ausdruck des Wegsehens von der Notwendigkeit sozialer
Veränderungen und als resignative Selbstanweisung des Autors gedeutet,
jenseits der Verständlichkeit seine Lieder zu singen. Mit der Auslegung von
„jenseits / der Menschen“ als „kommunikationslose Isolierung“ sind die
Verse zunächst entschärft. Sie meinen nicht ein Jenseits der Verständlich­
keit, sondern, wie es dasteht, ein Jenseits der Menschenwelt. Das Gedicht,
das zur Erinnerung noch einmal zitiert sei:
l'adcnsonncn
über der grauschwarzen ödnis.
Ein baum­
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

zeichnet das Jenseits der Menschen als Ödnis mit fadendünnen Sonnen, die
einem „bäum- / hohen Gedanken“ als Saiten dienen, in die er greift, um den
„Lichtton“ für seine Lieder zu finden. - Faden, filum lyrae, heißt bei Üvid,
der zumindest dem frühen Celan sehr vertraut war, die Saite der Lyra. Das
Bild der grauschwarzen ödnis ist Allegorie der Geschichtslosigkeit. Im Nie­
mandsland jenseits der Menschen und ihrer Geschichte können, dem mani­
festen Wortsinn des Gedichts zufolge, noch Lieder gesungen werden. E con­
trario ist damit festgestellt, daß in der menschlichen und geschichtlichen
Welt keine Lieder mehr gesungen werden können. Das Jenseits davon ist

204
eine heuristische Fiktion — sein fiktiver Charakter ist dadurch hervorgeho­
ben, daß der „Gedanke“ in jenem Bereich angesiedelt wird —und darf nicht
mißverstanden werden als positiv gesetzte zweite Wirklichkeit. Die Verwechs­
lung von Bildern, die einzig von dem her gedeutet werden wollen, was sie
negieren, mit der Position einer angeblich .höheren* Wirklichkeit charakteri­
siert die apologetischen Celan-Interpretationen ebenso wie die wenigen kriti­
schen. ,Fadensonnen* ist untauglich als Beleg für die sei es zustimmend, sei
es kritisch gemeinte Auffassung, Celan wolle Lieder jenseits der Menschen
singen. In Wahrheit kündigt das Gedicht den Liedern auf und weist sie nicht
ohne Ironie dem „bäum- / hohen Gedanken“ zu, der nur um den Preis seiner
Absonderung, seiner Abstraktion von der menschlichen Wirklichkeit den
„Lichtton“ für ein Lied zu finden vermag. Ironisch ist die Brechung des
Topos vom „hohen Gedanken“ durch das Präfix „bäum-“ , weil sie die meta­
phorische Bedeutung des Wortes „hoch“ m it der sinnlichen gleichsetzt. Der
feierliche Ton der Rede vom „hohen Gedanken“ wird mit der ins Gedicht
einkomponierten Frage: Wie hoch ist er denn? gebrochen und der absolute
Gebrauch der Wendung als inhaltsloses Geschwätz denunziert.
Von Interpreten m it einer kaum gehemmten Neigung zur Identifikation sind
solche Verfahrensweisen, die konstitutiv sind für Celans Lyrik, ebensowenig
zur Kenntnis genommen worden wie von der ablehnenden Kritik im Stil
Maders. So schreibt Dietlind Meinecke, ihre outrierte These, daß Celan die
,fetzte Gegenwärtigkeit des einzigen und unüberbietbaren Wortes und Na­
mens“ 231 im Auge habe, auf das G ed ich t,Fadensonnen* anwendend:

„Die ,Fadensonnen1, der .Lichtton* sind Wegmarken zu dem höchsten Worthaf­


ten, das diesseits nicht mehr sprechbar ist. [. ..] Sprachliches .jenseits der Menschen*
wird nicht mehr durch Worte angekündigt, sondern durch eine audio-visuelle Erschei­
nung. Darf sie in Zusammenhang mit der reichen heilsgeschichtlichen Tradition, die mit
dem Licht verbunden ist, gesehen werden? Celan läßt ,Licht* öfter als ein messiani-
sches Leuchten eine Wende ankündigen [ ...] . Hier hebt sich der .Lichtton* gegen ,die
grauschwarze Ödnis* eines diesseitig Menschlichen ab. Zweifellos kommt ihm in diesem
Verhältnis lösende Kraft zu. - Auch die .Fadensonnen* als Wegmarken zu einem die
Menschen Übersteigenden, zu einem für zuständig erklärten Fremden, sind in anderen
Gedichten schon verschieden vorgebildet [ . . . ].“M1

Daß in dieser Interpretation die „grauschwarze Ödnis“ , als die im Gedicht


der fiktive O rt jenseits der Menschen charakterisiert ist, verstanden wird als
Metapher des „diesseitig Menschlichen“ , begründet sich aus dem nicht ernst­
haft am Text geprüften Vorurteil, Celan wende sich einem „für zuständig
[wofür? M. J.] erklärten Fremden“ zu. Dessen überwirklicher Glanz, nach
pseudoreligiösem Denkmodell gedacht, läßt die menschliche Wirklichkeit
verblassen, als indifferentes Grau erscheinen. Der Erkenntnis, daß Celan ein

205
Jenseits der Menschen als trostloses Grau darstellt, muß sich verschließen,
wer das Gedicht als Feier einer mystischen Vision, nach dem Muster überir­
discher Erleuchtung interpretiert. Der „Lichtton“ aber hat keine „lösende
Kraft“ (was und wovon soll er überhaupt lösen? ); er ist kein affirmativ
gesetztes niessianisches Leuchten, das „eine Wende“ (wessen und welchen
Inhalts? ) verspricht. Erbaulichkeiten dieses Genres zu verhöhnen, sie als
Geschwätz zu qualifizieren, ist ein Stilprinzip von Celans Lyrik und gerade
auch des Gedichts .Fadensonnen'. Wenn Dietlind Meinecke den „bäum- /
hohen Gedanken“ als ein „höchstes Worthaftes“ umschreibt, fällt sie exakt
in den Jargon, den das Gedicht kritisiert. Sie löst die begrifflichen Elemente
(„hoher Gedanke“ ) nicht nur aus dem Kontext („bäum-“ ), in dem sie sich
ironisch brechen, sondern kompensiert überdies den dadurch entstehenden
Mangel an Konkretion, indem sie „hoch“ in „höchstes“ steigert und „Ge­
danke“ zu „Worthaftem“ verallgemeinert. Die Wörter des Gedichts werden
interpretatorisch aufgebläht in einer Weise, die Erhabenheit über jegliche
inhaltliche Bestimmung suggeriert. Wer sich von einer solchen Interpretation
imponieren läßt, wird nicht fragen sondern glauben, daß bei Celan von
Letztem, Unüberbietbarem, Höchstem, Zuständigem die Rede sei; die Ge­
dichte werden ihm unbewußt zu Einübungen in Autoritätsgläubigkeit, vor
jeder Nachprüfung der sachlichen Berechtigung ihrer Autorität. Befangen im
eigenen Ansatz, vermag Dietlind Meinecke Celans Metaphorik, die der „Fa­
densonnen“ als Saiten, nicht zu entschlüsseln und ersetzt sie durch eine dem
Gedicht heterogene: die der „Fadensonnen“ als „Wegmarken“ . Das ver­
meintlich immanente und im Gestus devote Verfahren muß die Texte mani­
pulieren, um sie als Belege anführen zu können für die Ansicht, Celan ver­
suche „Worte in ihrer Unvollkommenheit als vollkommen im Sinne des
jeweils Möglichen zu setzen. Die gesetzte Vollkommenheit ist ontologisch
widerruflich, weil sie ontisch vollendet ist. Über ihre Widerruflichkeit ver­
weist sie auf eine absolute Vollkommenheit, ohne sie direkt intendieren zu
können.“ 233
Mader wie Meinecke verstehen „es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der
Menschen“ als SeibstanWeisung des Autors und deuten sie, sei es kritisch, sei
es zustimmend, als Indiz dafür, daß Celan Kunst auffasse als eigentliche und
höhere Sphäre, welche die empirische Welt nicht angreift und letztlich
gleichgültig erscheinen läßt. Beider Begriff von ästhetischem Absolutismus
übersieht die soziale Relevanz, die Celan ihm gegeben hat, und leugnet.damit
den emanzipatorischen Gehalt dieser Lyrik. Entspräche sie dem Bild, das
ihre Interpreten von ihr zeichnen234, so wäre sie affirmativerSchund. Indes­
sen falsifiziert sie nicht nur jenes Bild, sondern sie ist einer Kritik, wie Mader
sie geübt hat, auch in dem Sinn entzogen, daß sie das, was ihm als Alter­

206
native zu Celans Ästhetik vorschweben mochte, ausdrücklich reflektiert und
aus ihrer Perspektive als unverantwortlich verwirft. ,Fadensonnen4, das Ge­
dicht wie der gleichnamige Band, setzt sich mit einer Kunst auseinander, die
davon ausgeht, daß das Licht eines Fortschritts der Menschheit zur Verwirk­
lichung ihrer selbst schon existiere; daß jene Fähigkeit zur Selbstbestim­
mung schon ausgebildet sei, die dem oben interpretierten Gedicht ,Einmal4
zufolge das Licht einer „Rettung44 wäre („E insund Unendlich, / vernichtet,
/ ichten. // Licht war. Rettung.44). Wenn Celan im Spätwerk von Liedern
spricht, ist nicht Lyrik schlechthin gemeint, sondern eine solche, deren ge­
schichtsphilosophische Voraussetzung es ist, daß hic et nunc eine mündig
gewordene Menschheit zu ihrer Selbstverwirklichung, zur Herstellung einer
humanen Verfassung der Realität übergehe. Weil diese Voraussetzung nach
Celan noch nicht besteht, dürfen gegenwärtig keine Lieder gesungen werden.
Wo dies dennoch geschieht, wird Lyrik, wie er meint, zur Affirmation des
schlecht Bestehenden und zum falschen Trost (,Ausgerollt4, FS 87):

Ausgerollt dieser Tag:


der vieltausendjährige Teig
für den späteren
Hunnenfladen,
ein ebensoalter
Kiefer, leicht verschlammt,
gedenkt aller Frühzeit
und bleckt gegen sie und sich selber,
Huf­
schläge des Vorgetiers zum
Hefen-Arioso:
es geht, fladenschön-singbares Wachstum,
immer noch aufwärts,
ein schatten­
loser Geist, ent-
einsamt, ein
unsterblicher,
bibbert
selig.

Gesungen wird diesen Versen zufolge gegenwärtig dort, wo man an ein


apriorisches „Wachstum“ der Geschichte glaubt; wo man voraussetzt, daß es
mit der Geschichte immerzu aufwärts gehe — wie mit einem Hefeteig. Das
Gedicht setzt dem entgegen, daß der Teig der Geschichte aufgegangen sei
zum „Hunnenfladen“ , daß er den Faschismus genährt habe („Hunnen“ wur­
den die Deutschen im Ersten Weltkrieg genannt und war später ein Schimpf-

207
narne für die Nazis). Das Arioso, das liedmäßige Tonstück, das den Fort­
schritt der Geschichte besingt, wird zustimmend begleitet vom Getrampel
des „Vorgetiers“ und vom Bibbern eines absoluten Geistes235; tierhafte
Geistlosigkeit und idealistische Verabsolutierung des Geistes verbünden sich
nach Celan in der Feier eines Fortschritts, auf den optimistisch zu vertrauen
die Erfahrung des Faschismus nach seiner Ansicht unmöglich gemacht haben
sollte. Die historischen Bedingungen dafür, Lieder zu singen, sind, wie Celan
meint, noch nicht erfüllt. Deshalb ist im Spätwerk, vor allem im Band
Fadensonnen. immer wieder die Notwendigkeit thematisch, jedweden Ge­
sang in der Kehle zurückzuhalten, ihn zu unterdrücken, wo er laut werden
will. Das Motiv des Würgens und Schluckens kommt in zahlreichen Varian­
ten vor. So endet das Buchmessen-Gedicht .Frankfurt, September4 (FS 8)
mit der absurden Wendung: „Der Kehlkopfverschlußlaut / singt.“ Absurd ist
sie, weil ein Kehlkopfverschlußlaut, wie etwa der Laut k, für sich allein
genommen schlechthin unsingbar ist. Gemeint ist also nichts anderes als die
Negation von Gesang: die Kehle wird verschlossen, ln denselben Zusammen­
hang gehört, daß Spasmen als die gegenwärtig einzig mögliche Form von
Psalmen dargestellt werden (.Spasmen4, FS 16) und vom Sich-Erbrechen
eines unsterblichen Lieds die Rede ist (.Wenn ich nicht weiß, nicht weiß4, FS
48). Lieder zu singen wird als Versuchung dargestellt, der auf keinen Fall
nachgegeben werden dürfe (.üppige Durchsage4, FS 86):

üppige Durchsage
in einer Gruft, wo
wir mit unsern
Gasfahnen flattern,
wir stehn hier
im Geruch
der Heiligkeit, ja.
Brenzlige
Jenseitsschwaden
treten uns dick aus den Poren,
in jeder zweiten
Zahn­
karies erwacht
eine unverwüstliche Hymne.
Den Batzen Zwielicht, den du uns reinwarfst,
komm, schluck ihn mit runter.

Diejenigen, denen Gasfahnen aus dem Mund flattern, können sich nicht
dagegen wehren, daß in ihren faulenden Zähnen Hymnen erwachen. Deren

208
Unverwüstlichkeit steht im Widerspruch zur physischen Zerstörtheit der
Subjekte, ist dem faktischen Zustand von Menschen, die lebende Leichname
sind („G ruft“ ), völlig unangemessen. Erwacht sind die Hymnen, weil jemand
vom Rand der Gruft einen Batzen Zwielicht hineingeworfen hat. Dieser ist,
entsprechend dem Doppelsinn des Worts „Batzen“ , sowohl eine Münze, die
den Gesang der Vergifteten im voraus bezahlen will, als auch ein Brotstiick,
das ihren Hunger nach Licht zu stillen verspricht. — Zwei charakteristische
Motive des Spätwerks, das des Automaten, der mit einer Münze in Gang
gesetzt wird, und das des Helligkeitshungers bzw. des Lichts als Brot sind
hier zusammengefaßt236; der „Batzen“ Zwielicht ist zugleich Münze und
Brot. — Die Sterbenden in der Gruft aber weigern sich, sich bestechen zu
lassen und Hymnen anzustimmen. Sie singen keine Hymnen, sondern ver­
höhnen das Hymnensingen, indem sie den Prozeß der Vergasung in theolo­
gischer Terminologie beschreiben: den Gasgeruch mit dem religiösen Topos
vom „Geruch / der Heiligkeit“ —er bezeichnete ursprünglich den Körperge­
ruch, der durch fromme Selbstkasteiungen, wie etwa ein Leben in Unrat und
Schmutz, entstand —; die Ausdünstung der Poren mit einer Reminiszenz ans
Purgatorium, das für das Jenseits läutern soll.
Das Zwielicht versucht die Vergifteten dazu zu bringen, ihr Leiden als gott­
gewolltes Martyrium aufzufassen und mit Hymnen zu besingen. Der Batzen
Zwielicht gibt vor, einen metaphysischen Sinn zu repräsentieren, der in die
Immanenz ausstrahlt und erträglich macht, was unter Menschen geschieht.
Wie man weiß, sind viele Juden mit Gesängen, weil in dem Glauben, daß der
apokalyptische Tag vor der A nkunft des Messias gekommen sei, in die Kre­
matorien gegangen. Die Sterbenden des Gedichts aber, die Menschen der
Gegenwart sind, welche von Celan hyperbolisch dargestellt ist, als wäre sie
unmittelbar die Fortsetzung von Auschwitz, erkennen nicht an, daß ihr
Leiden sinnvoll sei. Sie denunzieren das Licht, nach dem sie hungern, als
nicht vertrauenswürdiges, zwielichtiges, und fordern denjenigen, der es ihnen
in die Gruft reinwarf, dazu heraus, es zusammen mit ihnen runterzu­
schlucken —was wohl heißt: es soll dir wie uns im Halse stecken bleiben.
Die Annahme, daß ein heilsgeschichtlicher Sinn der Geschichte bestehe,
wird von Celan ebenso als Illusion dargestellt wie ein Fortschrittsglaube, der
davon ausgeht, daß eine mündige, der Selbstbestimmung fähige Menschheit
hier und jetzt schon vorhanden sei. Nach seiner Überzeugung gibt es gegen­
wärtig weder ein transzendentes noch ein immanentes Licht, das die Bedin­
gung der Möglichkeit dafür wäre, Lieder zu singen. Eine Kunst, welche ihre
Zeit besingen kann als eine des Übergangs zur Herstellung humaner Lebens­
verhältnisse, gehört, wie Celan meint, einer ungewissen Zukunft an. Das
Lied als die Kunstform, die der Epoche der Verwirklichung der Utopie

209
angeboren wurde, bleibt vorerst dem antizipatorischen „Gedanken“ Vorbe­
halten, der sich, wie es im Gedicht ,Fadensonnen1 heißt, einen „Lichtton“
zu greifen vermag im fiktiven Bereich jenseits der Menschen und ihrer Ge­
schichte. Die Kunst der Gegenwart stellt dar, daß jene Kunstform, die Celan
als Lied bezeichnet, noch nicht möglich sei. Damit ist die Ästhetik des
Meridian, die mit Beziehung auf Adorno das Ende der Kunst in einer men­
schenwürdig eingerichteten Gesellschaft anvisierte, im Spätwerk abgewan­
delt. Auch in einer versöhnten Wirklichkeit ist dem späten Celan zufolge
Kunst möglich: die des zustimmenden Lieds. Sie erfordert gleichsam ein
Absterben des Kontinuums der Geschichte, deren facies hippocratica der
melancholische Blick imaginiert als geradezu den Sänger der zukünftigen
Lieder (,Schädeldenken4, AW 80):

Scliadcltlcnkcn, stumm, auf der l’feilspur.


Dein hohes
Lied, in den harien
lebruarfunken verbiliner,
halbzertrummcrter
Kiefer.
Die eine, nocti
zu befahrende Meile
Melancholie.

Von !; rreichlem umbuscht jetzt, zielblau,


aufrecht im Kahn,
auch aus dem knirschenden Klippen­
segen entlassen.

Die Metaphernkonstellation von Licht und Lied ist auch für dieses Gedicht
bestimmend. Der Kiefer des Totenschädels ist verbissen in einen „harten /
Februarfunken“ — eine Anspielung, die die Kenntnis voraussetzt, daß Celan
den Februar wiederholt in seiner Lyrik (,Schibboleth‘, SzS 55 f.; ,ln eins4, N
68) als Datum des Wiener Arbeiteraufstands von 1934 thematisch gemacht
hat und daß er ihm das antifaschistische ,no pasarän4 des Spanischen Bürger­
kriegs zugeordnet hat. „Februar44 oder „Feber44, die österreichische Version
des Wortes, ist bei Celan ein Synonym für emanzipatorische politische
Bestrebungen der Vergangenheit.237 Das Licht, das solche Bestrebungen
jeweils vorübergehend in die Geschichte gebracht haben, wird hier als er­
kaltetes, „hartes44 dargestellt, weil alle historischen Versuche qualitativer
Veränderung nach Celans Überzeugung letztlich gescheitert sind. Wenn aber
das Kontinuum solchen Scheiterns, als das sich Celan die bisherige Geschich­
te darbietet, beendet sein wird und in diesem Sinn sein Totenantlitz zeigt,

210
wird das Licht der bis dahin erfolglosen Bemühungen ein „hohes / Lied“ auf
ihren letztlichen Sieg ermöglichen. Unter der Bedingung einer humanen Ein­
richtung der Realität — mit den Wörtern „aufrecht“ und „entlassen“ ver­
weist Celan auf die Verwirklichung von Menschenwürde und Freiheit —wird
eine Kunst möglich, die „hoch“ ist in dem Verstände, daß sie sich ge­
schichtsphilosophisch auf einer höheren Stufe in der Entwicklung der
Menschheit befindet als die jetzige.238 Die Kunst einer besseren Zukunft
würde nach Celan ein Hoheslied auf eine sich selbst verwirklichende Mensch­
heit sein.

211
A n me rk u n gen

1 Der Band wurde gedruckt, nachdem Celan Wien im Juni 1948 verlassen hatte. Die
in ihm enthaltenen Fehler hoffe ich aufgrund von Angaben Jürgen P. Wallmanns, der
ein von Celan handschriftlich korrigiertes Exemplar besitzt, wie der Hinsicht in Celans
eigenes Exemplar, das Frau Gisfcle Celan-l estrange mir treundlichervveisc gezeigt hat,
erkannt zu haben. Die endgültige Textgcstalt wie die endgültige Datierung des ersten
Zyklus von SU bleibt freilich der historisch-kritischen Ausgabe Vorbehalten, die Beda
Allcmann tur Ende dieses Jahrzehnts vorbereitet. Die Texte der von mir zitierten
Gedichte seit MuG wurden in Zweifclslallen verglichen mit Allcmanns vollständiger
Ausgabe Gedichte / und Gedichte II in der Bibliothek Suhrkamp.
5 In die Periode des Zyklus ,An den Toren4 gehören die ausschließlich in der Zür­
cher Tat erschienenen Gedichte ,Seclied\ »Festland4 und »Schwarze Krone4 und die nur
im Wiener Plan veröffentlichten Gedichte ,lrrsal4 und »Schlafendes Lieb4. Höchstwahr­
scheinlich gleichfalls vor 1945 entstanden sind die im Besitz von Alfred Kittner befind­
lichen Gedichte, die bisher nur zum Teil veröffentlicht sind.
3 Die Affinitäten des frühen Celan zu C. F. Meyer sind, soweit ich sehe, bisher noch
nicht beobachtet worden. Aufschlußreich wäre womöglich ein Vergleich der Funktion
antithetischer Strukturen bei beiden Autoren und die Ermittlung von deren Zusam­
menhang mit »symbolistischen4 Intentionen. Karl Pestalozzi (Die Entstehung des ly -
rischen Ich, Studien zum Motiv der Erhebung in der iAteratur, Berlin 1970, S. 164 ff.)
setzt die ,»Symbole44 Meyers mit ,,enggcführten Antithesen44 gleich und sieht ihre Be­
deutung im Verweis auf die Einheit der Gegensätze in einer erlösten Welt, ln Celans
Fruhwerk sind die Antithesen Ausdruck des antagonistischen Verhältnisses von Wirk­
lichkeit und Utopie (siehe feil 3 dieses Kapitels). Das Problem kann hier nicht ausführ­
licher diskutiert, sondern nur auf einige der zahlreichen motivlichcn Verwandtschaften
hinge wiesen werden, die sich keineswegs auf die Vorliebe beider Autoren für die Szene­
rie mittelalterlicher Epen beschränken. Zu Celans »Der Einsame4 (SU 18): „Gott ist
auch so nahe wie die Geier44 vgl. Meyers ,llimmelsnähc4: „Nur über mir des Geiers
heisrer Schrei, |. . .) Und ich empfinde, daß Gott bei mir sei44 (C. F. Meyer, Sämtliche
Werke, histor.-kritischc Ausgabe, besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch, Band 1,
Bern I 963, S. I 13). Der Gcdichttitel »Traumbcsitz4 kommt bei Celan (SU 6) und Meyer
(a. a. O., S. 49) vor. Bei den späteren Gedichten Celans wäre die Analogie hervorzu­
heben zwischen Meyers Versen (,Noch einmal4, a. a. O., S. 140):„lch sehe dich, Jäger,
ich sch dich genau,/). . .J Jetzt richtest empor du das Rohr in das Blau ~ 44 und Celans:
,,sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau44 (,Todes­
fuge4, SU 59 ff./MuG 37 ff.). Auffallend ist auch die Korrespondenz zwischen Meyers
Gedichtschluß (,Lethe4, a. a. O., S. 213 f.): „Und ich w ußf cs wieder - du bist tot44
und Celans Gedichtschluß (»Halbe Nacht4, SU 32 / MuG 13): „und ich weiß es nun
wieder: / du starbst nicht / den malvcnfarbcncn Tod44.
4 Die Beziehung zu Rilke erschöpft sich, wie die zu C. F. Meyer, nicht in Verwandt­
schaften der literarischen Motive, sondern ist auch am Sprachgestus zu erkennen, so
etwa wenn cs bei Celan sinnierend heißt: „Ertrüge / auch sic dieses Schweigen wie du?
Und sind nicht zwei Schwestern zuviel? 44 (,Dic Schwelle des Traumes4, SU 20).
* R M. Rilke, Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth
Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Band 1, Wiesbaden 1955, S. 235 und 239.
6 Die Todesmetaphorik des Malte kehrt bei Celan wieder in dem späten Gedicht ,ln
Prag4 (AW 59), dessen Titel bereits auf Rilke deutet. Der Gedichtanfang: „Der halbe
Tod, / großgesäugt mit unserm Leben44 korrespondiert mit Stellen aus dem Malte wie
212
der folgenden: „das war der (. . .) Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in
sich getragen und aus sich genährt hatte“ (Rilke, Sämtliche Werke, Band 6, Wiesbaden
1966, S. 720). Wie Celan in Gesprächen wiederholt mitgetcilt hat, war die Lektüre des
Malte von Bedeutung für seinen Entschluß, nach Paris überzusiedeln (siehe dazu auch
Gerhart Baumann, .. durchgründet vom Nichts. . .*, in: Etudes Germaniques 25,
1970, S. 277).
7 Rilke, a. a. O., S. 709.
8 Ebd., S. 713.
Ebd.,S. 715.
10 Martin Heidegger, Sein und Zeit |zucrst 1927], 10. unveränderte Aufl., Tübingen
1963, besonders § 53 und 56. Die Frage, ob Celan Heidegger angemessen rezipiert
habe, kann hier nicht erörtert werden. Beim späten Celan war das Verhältnis zu Hei­
degger, den er 1967 getroffen hat (siehe dazu Gerhart Baumann, a. a. O., S. 285),
distanziert. Das Gedicht »Todtnauberg* (LZ 29 f.), das kurz nach dieser Begegnung
entstanden ist, spricht nicht ohne Grund von der „Hoffnung |. ..] / auf eines Denken­
den / kommendes / Wort“ (Hervorhebung von mir). Völlig zu Recht hat das neuerdings
auch Bernhard Böschenstein festgestellt, wenn er meint, in »Todtnauberg* bezeuge
Celan „Distanz, ja Mißtrauen gegenüber Heideggers Sphäre“ (B. B„ »Drostische Land­
schaft in Paul Celans Dichtung*, in: Kleine Beiträge zur Droste-Forschung 1972/73,
Dülmen 1973, S. 22). Der Abdruck des Gedichts im Band Lichtzwang enthält gegen­
über dem bibliophilen Sonderdruck den Druckfehler „Steinwürfel“ statt „Sternwürfd“.
11 ,An den jungen Bruder*, Rilke, Sämtliche Werke, Band 1, a. a. O., S. 277.
12 Der Gedichtanfang erinnert an ein Gedicht Alfred Margul-Sperbers, des Ent­
deckers und Förderers von Celan, das beginnt: „Mondkalte Nacht: das Zimmer ist
erhellt / von Licht, [ . . . ] “ (,Die Träne*, in: Alfred Margul-Sperber, Gleichnisse einer
Landschaft, Storojinefi 1934, S. 68). Mit der mythisch-bukolischen Lyrik Sperbers, der
sich nach dem Krieg dem sozialistischen Realismus zuwandte, treffen sich Celans frühe
Gedichte nur auf der sehr allgemeinen Ebene eines Faibles für Fernes, Fremdes, Rätsel­
haftes etc., das bei Sperber, anders als bei Celan, im Zusammenhang mit einem mysti­
schen Naturcrlebnis steht. Zu erwähnen ist außerdem beider Vorliebe für die Kon­
kretion von Abstrakta. So heißt es bei Sperber (,Der schwarze Hain*, in: A. M .-S.,
Geheimnis und Verzicht, Cernäuji 1939, S. 43): „Die Milch des Abends rinnt / die
schwarzen Stämme abwärts auf den Grund, / ins Netz versickernd, das die Stille
spinnt.“ In einem anderen Gedicht desselben Bandes ist die Rede von „der dunklen
Milch des Friedens“ (»Ferner Gast*, S. 23). Celans „schwarze Milch der Frühe“ ist hier
ohne Zweifel präfiguriert.
13 Die eingeklammerte Zeile, die das Schmerzhafte des Tröstungsversuchs thematisch
macht, hat, wie ich glaube, in der ursprünglichen Fassung des Gedichts gefehlt und
wurde erst vor der Publikation Anfang 1948 hinzugefügt. Die Parenthese spricht ebenso
dafür wie die Reimlosigkeit der Zeile in dem ansonsten gereimten Gedicht. Überdies
gehört, wie zu zeigen sein wird (siehe Teil 4 dieses Kapitels), die Kampfmetaphorik in
Verbindung mit dem Traum dem zweiten Zyklus von Sand aus den Urnen an, also
den zwischen 1945 und 1948 entstandenen Gedichten. Den Beweis für meine Vermu­
tung vermöchte freilich erst eine frühe Handschrift zu erbringen.
14 In »Flügelrauschen* wird eine Taube aus Avalun, der Seligen Insel der Artusepik,
erwartet. Das lyrische Subjekt weiß, daß die Taube keinen Ölzweig, das Symbol des
Friedens, mitbringen wird. Der Geliebten wird Trost verschafft durch einen Vogel, der
halb Trost, halb Qual bedeutet: „der halb ein Herz und halb ein Harnisch ist“. Er tut
„ein Werk des Trosts“ , indem er der Geliebten „die Schattenkrallcn“ ins Auge malt:
213
mc blendet. Getröstet ist die Geliebte erst, indem sie kein Auge mehr hat iur die
empirische Wirklichkeit.
1' Unter dem Titel .Mutter' ist das Gedicht in der Zürcher Tat erschienen.
16 Vgl. Jean-Pierre Richard. L'univers imaginaire de Mallarmt, Paris 1961, S. 106 f.
und 136. Daß Celan im Früh werk häufig von der Geliebten als Schwester spricht, dürfte
eine Reminiszenz sein an die »sceur1 Nlallarmts.
17 Das Gedicht ,Dcr Einsame1 (SU 18) setzt gleichfalls die Bewegung eines Stoffes,
eines Tuchs, in Analogie zum Schneefall: ,,Doch hob ich auf ein ander Tüchlcin auch: /
| . . . | / Rührst du's, fallt Schnee im Brombeerstrauch.“ Das „Tüchlein“ , das diese
gleichsam magische Wirkung hat, steht im Gegensatz zu dem zuvor genannten Schleier,
in den der Satz ..Nimm ihn zu träumen“ cingcstickt ist. Während der Schleier Traum
ermöglicht, wird durch die Bewegung des „Tüchlcins“ der Traum zerstört, weil sic die
Vernichtung von Leben, als Sclinecfall, vor Augen führt. Auch in diesem Gedicht läßt
sich also die Struktur der Desillusionierung nachweiscn, - Am Anfang von ,Dcr Ein ­
same* muß es übrigens,,Taube“ heißen statt ,.Traube“ .
,A Homer, Odyssee, 23. Gesang, V. 190 ff.
19 Das ,Sichaufbäumen* von Leichen bei der Verbrennung mag Celan dazu veranlaßt
haben, von Bäumen als von Leichen und umgekehrt zu sprechen. Vgl. ,Mit Äxten
spielend* (SzS 13): ,,liegst du im Schatten aufgerichteter Leichen / - o Bäume, die du
nicht fällst! .Auge der Zeit4 (SzS 51): „cs wird warm in der Welt, / und die Toten /
knospen und blühen.“ Auch .Eine Gauner- und Ganovcnwcisc4 (N 27f.): „aber er
bäumt sich, der Baum“.
20 Das Gedicht wird zitiert nach dem Wiederabdruck in der Auswahl Reichert, S. 9,
in der u. a. der Druckfehler in SU: „unterirdischer“ in „unirdischcr“ korrigiert ist.
Richtig „unirdischcr11 hatte es schon im Pian geheißen, wo der Titel des Gedichts noch
»Schnee ist gefallen4 lautete, also mit dem Gedichtanfang übercinstimmte. Der Titel
»Schwarze Flocken1 wurde dem Gedicht vermutlich erst vor Drucklegung von Sand aus
den Urnen hinzugefügt. E r ist Konsequenz der Wendung „Schnee (. . ,| lichtlos44, die
indessen noch nicht explizit mit der empirischen Anschauung bricht. Im Oxymoron
„schwarze Flocken“ , einer Vorform der „schwarzen Milch“ der ,Todesfuge4, konsti­
tuiert sich der Ausdruck, derjenige der Trauer, im expliziten Gegensatz zur realen
Sinnesqualität des Gegenstandes (zu dieser ästhetischen Verfahrensweise vgl. Kurt
Mautz, Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus, Die Dichtung Georg Heyms,
Frankfurt/Main - Bonn 1961, S. 333).
21 Nathan Gctzlcr, »Tagcbuchblätter aus Czernowitz und Transnistricn4
(1941 1942), in: Geschichte der Juden in der Bukowina , hrsg. von Hugo Gold, Band
2, Tel Aviv 1962, S. 59. - Heinrich Stichler (,Die Zeit der Todesfuge, Zu den Anfängen
Paul Celans1, in: Akzente 19, 1972, S. 11 ff.) hat diese wichtige Chronik offensichtlich
nicht berücksichtigt; in Details scheint mir sein Bericht doch sehr beeinflußt zu sein
von der subjektiven Perspektive der Personen, denen er seine Informationen verdankt.
Zu korrigieren sind vor allem Stiehlers philologische Angaben. Wer erklärtermaßen den
Sand aus den Urnen nicht kennt, sollte nicht so unvorsichtig sein, Gedichte ausdrück­
lich als „unveröffentlicht44 zu bezeichnen, von denen sich dann zum Teil hcrausstcllt,
daß sic in jenem frühen Gedichtband zu finden sind. Auch ,Schwarze Krone4 ist nicht,
wie Stiehlcr meint (S. 31 f.), unveröffentlicht geblieben, sondern - was leicht nach­
prüfbar gewesen wäre - 1948 in der Zürcher Tat erschienen. Die Lektüre der Erst­
publikation oder auch einiger der zahlreichen als Faksimile publizierten späteren G e­
dichte Celans hätte überdies verhindert, daß Stichlers Wiedergabe von »Schwarze

214
Krone1, die sich auf eine in Rumänien befindliche frühe Handschrift Celans stützt,
mindestens zwei gravierende Verlesungen enthält („teile“ statt „heile“ , „triffst“ statt
„trittst“ ). — Historisch falsch ist die Behauptung, Celan sei es erst durch Max Rychners
Empfehlungen gelungen, in Wien zu veröffentlichen (S. 23). Die Kontakte zu Otto
Basil, dem Herausgeber des Wiener Plan, und Max Rychner waren unabhängig vonein­
ander. Den Druck des Bandes Der Sand aus den Urnen hat der surrealistisch orientierte-
Künstlerkreis um den Plan, dessen jüngste Mitglieder übrigens Ingeborg Bachmann und
Ernst Fuchs gewesen sind, aus eigener Initiative finanziell ermöglicht.
22 Jürgen Rohwcr, Die Versenkung der jüdischen Flüchtlingstransporter Struma und
Mefkure im Schwarzen Meer (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Weltkriegs­
bücherei, Heft 4, Stuttgart 1964), Frankfurt/Main 1965, S. 16. Siche auch Ernst Nolte,
Die faschistischen Bewegungen, München 1966, S. 219 f. und 223 f. (Dort übrigens,
was für Celans späteres Rosa-Luxemburg-Gedicht von Bedeutung sein dürfte, der Hin­
weis: „beim Bukarester Aufstand sollen nach einigen Berichten zahlreiche Juden in den
Schlachthäusern an Fleischerhaken aufgehängt worden sein“ (S. 225). Zum Luxem­
burg-Gedicht siehe Kapitel V, 3 dieser Arbeit.) Besonders instruktiv ist auch die Dar­
stellung von Martin Broszat, ,Das Dritte Reich und die rumänische Judenpolitik4, in:
Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1958, S. 102 ff.
23 Corneliu Zelea Codreanu, Eiserne Garde, Berlin 1939, S. 338 ff.
24 Nach Francis L. Carsten, Der Aufstieg des Faschismus in Europa, Frankfurt/Main
1968, S. 212 ff.
25 Der Anfang von ,Der Pfeil der Artemis4: „Die Zeit tritt ehern in ihr letztes Alter. /
Nur du allein bist silbern hier.44 bezieht sich auf den hesiodschen Mythos der Aufein­
anderfolge von goldenem, silbernem, ehernem und eisernem Zeitalter (Hesiod, Werke
und Tage,V. 113 ff.). Auf der Schwelle zwischen den beiden letzten Zeitaltern, zur Zeit
der Kämpfe um Troja und Theben, wurden nach Hesiod einige Helden auf die Seligen
Inseln entrückt (V. 156 ff.). Sie starben dort durch den Pfeil des Apoll oder der
Artemis (vgl. Homer, Odyssee, 15. Gesang, V. 407 ff.). Auch im Alten Testament ist der
hesiodschc Geschichtsmythos belegt. Vgl. Daniel 2, V. 38 ff.
26 Nicht in den Band Mohn und Gedächtnis übernommen wurden die Gedichte
,Harmonika4 (SU 28), ,1ns Dunkel getaucht4 (SU 35), ,Das einzige Licht4 (SU 36),
,Nachtmusik4 (SU 39) und ,Gesang zur Sonnenwende4 (SU 43). In den 1952 erschie­
nenen Band neu und chronologisch korrekt in den Zyklus eingefügt wurde das Chan­
son einer Dame im Schatten4 (MuG 25 f.). Das Gedicht ,Auf Reisen4 (SU 55 / MuG 43),
das sich auf Celans Übersiedlung von Wien nach Paris bezieht, war im Sand aus den
Urnen das letzte des zweiten Zyklus. Celan hat es in Mohn und Gedächtnis an den
Anfang der in Paris entstandenen Gedichte gestellt.
27 Ein Beispiel für die Reduktion von Handlungen auf die absolute Gebärde ist der
Schluß von ,Traumbesitz4 (SU 6), wenn es mit Beziehung auf „den Ritter, der mit
fernen Mühlen ficht“ , auf Don Quichotte, heißt: „Ich kränze leise, was er nicht zer­
schlug: / Die rote Schranke und die schwarze Mitte.44 Die Relationsbegriffe Schranke
und Mitte sind absolut verwendet, ihrer Beziehung auf etwas beraubt. Sie werden auf
diese Weise zu Metaphern der Gegenstandslosigkeit der Handlungen des lyrischen Sub­
jekts. Die Gegenstandslosigkeit des Handelns, die dem Schattengefecht des Don Quijote
gleicht, wird nicht ausgesprochen, sondern durch den absoluten Gebrauch der Rela­
tionsbegriffe Schranke und Mitte zum Ausdruck gebracht. Damit antizipiert das Ge­
dicht, das eines der frühesten Celans sein dürfte, ein Moment der Sprachverwendung
des späten Celan, und eben deshalb wird es in Reicherts Auswahl aufgenommen wor­
den sein.
215
*8 Die Gedichte von .An den Toren\ dem ersten Zyklus in Der Sand aus den Urnen,
sind überwiegend jambisch und mit Ausnahme von ,Schwarze Flocken4 gereimt. In
,Nähe der Gräber4 (SU 14) ist der Reim thematisch: „Und duldest du, Mutter, wie
einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim? 44 Mit der
Reimlosigkcit von ,Schwarze Flocken4, worin die Mutter aus „ukrainischen Halden44
Nachricht gibt vom Schicksal der Juden, ist die Frage negativ beantwortet. Im zweiten
Zyklus von Der Sand aus den Urnen sind nurmehr die beiden ersten Gedichte gereimt.
Mit der .Todesfuge4, die unmittelbar nach diesen beiden Gedichten, 1945, entstanden
ist, hat Celan dem Reim aufgekündigt. Krst nach 1949 tritt er vereinzelt wieder auf.
Novalis, Schriften , hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, 2., nach den
Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden, Band 1,
Darmstadt I960, S. 88.
30 Hannah Arendt, I: ich mann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen
tzuerst amenk. 1963), von der Autorin durchgcschcne und ergänzte deutsche Ausgabe,
München 1964. S. 152.
31 David Rousset, Les jours de not re tnort, Paris 1947, S. 525.
33 Z. B. Wilhelm Duwe, Ausdrucksformen deutscher Dichtung vom Naturalismus bis
zur Gegenwart, Berlin 1965, S. 297. Siche auch Reinhard Baumgart, «Unmenschlichkeit
beschreiben, Weltkrieg und Faschismus in der Literatur4, in: Merkur 19 (1965), S. 48 f.
33 Siehe Anm. 3 und 12. Den Zitatcharakter der ,Todesfuge\ die gewöhnlich als
unmittelbarer Ausdruck interpretiert wird, hat Klaus Wagenbach bemerkt. Die Stelle
„sein Auge ist blau44 erinnert ihm zufolge (Vortrag am 19.6.1968 im Sender Freies
Berlin) an den ,1‘rlkönig4. Wagenbach hat ferner die Analogie zu Trakls ,Psalm4 („In
seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen44) betont sowie zu Trakls
.Die Raben4, wo vom „Leichenzug / In Lüften44 die Rede ist (Georg Trakl, Dichtungen
und Briefe, histor.-kritischc Ausgabe, hrsg. von Walther Killy und Hans Szklcnar, Salz­
burg 1969, Band 1, S. 55 f. und 11). Zur „schwarzen Milch der Frühe44, für die Wagen-
baeh gleichfalls Analogien bei Trakl angegeben hat, vgl auch Rimbauds ,Lcs d6scrts de
Pamour: „|. . . | 6mu jusqu'ä la mort par 1c murmure du lait du matin et de la nuit du
si6clc demicr44 (Arthur Rimbaud, Oeuvres completes , Bibliothfcque de la P16iade, Paris
1946, S. 163). Zu Celans „dann steigt ihr als Rauch in die Luft44 siehe auch die
folgende Anmerkung. Heinrich Stichler (,Dic Zeit der Todesfuge4, a. a. O.) betont die
Analogie der ,Todesfuge4 zu einem 1944 verfaßten Gedicht von Immanuel Weißglas,
mit dem Celan befreundet gewesen sein soll. Das Gedicht von Wcißglas ist seinerseits in
literarischen Stereotypen verfaßt, die mir erst bei Celan bewußt als Stilmittcl eingesetzt
zu sein scheinen.
34 Kurt Mautz (Mythologie und Gesellschaft, a. a. O., S. 219) hat daraufhinge­
wiesen, daß die bei Georg Hcym wichtige Metapher, wie Rauch in die Luft zu steigen,
bei Celan „von der Realität eingcholt worden44 ist. Bei Celan heißt cs denn auch nicht
mehr, wie bei Heym, „w/>(. . .] Rauch44 (Mautz, S. 205), sondern „als Rauch44. — Die
Metapher hat ihren Ursprung übrigens im Barock. Besonders bei Gryphius ist sic sehr
häufig, z. B. ,Menschliches elende4: „Was itzund athem holt / muss mit der lufft
e n tflich t / ( . . . ) / wir vergehn, wie rauch von starcken winden44 (Andreas Gryphius,
Werke in 3 Bänden mit Ergänzungsband, hrsg. von Hermann Palm, Band 3, Darmstadt
1 9 61 ,S. 104.),
35 Der „Meister aus Deutschland44 ist nicht, wie z. B. Wagenbach annimmt, ein Hand­
werksmeister, sondern ein Maestro, ein Komponist. Die Zeile „ F r ruft spielt süßer den

216
Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ sollte auf der Folie gelesen werden, daß
anstelle von „Tod“ der Name eines Komponisten steht, z. B. Bach, auf dessen ,Kunst
der Fuge* das Gedicht wahrscheinlich anspielt. Im Dritten Reich ist der Musikerwitz
entstanden, die ,Kunst der Fuge* KdF, »Kraft durch Freude*, zu nennen. Ihn könnten
die Lagerleiter, die ihre Opfer musizieren ließen, erfunden haben.
36 Indem sie sich als „Halme** bezeichnen, beziehen sich die Sprechenden womöglich
auf das Gleichnis vom Weizen und Unkraut, und zwar in der Weise, daß sie sich selbst
als das Unkraut, die „Kinder der Bosheit“ , darstellen, die im „Feuerofen“ verbrannt
werden: „Des Menschen Sohn ist’s, der da guten Samen sät. / Der Acker ist die Welt.
Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder der Bosheit. /
Der Feind, der sie sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter
sind die Engel. / Gleichwie man nun das Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so
wird’s auch am Ende dieser Welt gehen: / des Menschen Sohn wird seine Engel senden;
und sie werden sammeln aus seinem Reich alle Ärgernisse und die da Unrecht tun, / und
werden sie in den Feuerofen werfen; da wird sein Heulen und Zähneklappen“ (Matth.
13, V. 37 ff.). Wie eine Vielzahl apokalyptischer Bilder liest sich auch dieses wie eine
Antizipation von Auschwitz, und ,Das Gastmahl* setzt zudem, wie die frühen Gedichte
»Schwarze Flocken* und »Schwarze Krone*, die Erfahrung eines Faschismus voraus, der
unter dem Zeichen des Erzengels Michael antrat (siehe im obigen Zitat: „des Menschen
Sohn wird seine Engel senden“ ). (Luthers Bibel- Über Setzung hat Celan seit seiner frü­
hen Zeit fasziniert; sic wird deshalb von mir stets zugrunde gelegt.)
37 „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in
dem ist nicht die Liebe des Vaters. / Denn alles, was in der Welt ist: des Fleisches Lust
und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt.
/ Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in
Ewigkeit.“ (1. Joh. 2, V. 15 ff.)
38 Von Lust ist außer im »Gastmahl* noch die Rede in den Gedichten ,Die Hand
voller Stunden* (SU 31 / MuG 12), ,Chanson einer Dame im Schatten* (MuG 25 f.)
und »Das ganze Leben* (SU 51 / MuG 30). Daß die Thcmatisierung der Lust sich auf
eine kurze Zeitspanne beschränkt, spricht für den Einfluß des Surrealismus. Während
Celan in Bukarest als Lektor und Übersetzer tätig war - von 1945 bis Ende 1947 - ,
griffen Schriftsteller der rumänischen Metropole die durch den Faschismus unter­
bundene Diskussion des Surrealismus wieder auf. Im Dezember 1946 hielt Tristan
Tzara, selbst rumänischer Herkunft, am Bukarester Institut Franpais den vielbeachteten
Vortrag ,La dialectique de la poSsie* (Gedruckt in: Tristan Tzara, Le Surrtalisme et
läpres-guerre, Paris 1948, S. 53 ff.), ln Wien stieß Celan wiederum zu einer Gruppe von
Künstlern, die an der Erneuerung des Surrealismus interessiert war. Zur Zeit der Be­
kanntschaft mit Goll, Ende 1949, hatte Celan sich längst mit dem Surrealismus ausein­
andergesetzt, und daher kam Goll keineswegs mehr, wie Erhard Sch wandt meint, eine
„Vermittlerrolle** zum Surrealismus zu (Erhard Schwandt, »Korrekturen zum Bericht
von Reinhard Döhl*, in: Jahrbuch 1966 der Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung Darmstadt, Heidelberg-Darmstadt 1967, S. 199; die „Korrekturen** sind
übrigens entgegen ihrem Anspruch lediglich Präzisierungen zum Bericht von Döhl). -
Die Affinität Celans zum Surrealismus besteht, soweit ich sehe, im wesentlichen im
gemeinsamen Rekurs auf die Tiefenpsychologie. Nirgendwo werden indessen spezifisch
surrealistische Techniken des Schreibens verwendet. Deshalb bezeichnete Celan selbst
mit Recht die Lyrik des ersten Zyklus im Band Mohn und Gedächtnis als „nicht
surrealistisch“ .

217
3<> Siehe Kapitel V, 1 dieser Arbeit.
40 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud u. a.» London 1940 ff.,
Band 15, S. 86.
41 Freud, a. a. O., Band 14, S. 228. Hervorhebung von mir.
42 Diese Zeile ist korrekt abgedruckt einzig in der Auswahl Allemann sowie in
Gedichte /. Daß kein Interpret bisher an der grammatisch falschen Konstruktion „über
unser aller warnenden Zeichen“ (so in MuG) Anstoß genommen hat, zeugt nicht nur
von philologischer Fahrlässigkeit, sondern auch von der herrschenden Unsicherheit
angesichts »dunkler4 Lyrik. »Spät und tief war im Sand aus den Urnen »Dcukalion
und Pyrrha4 betitelt. Bekanntlich wurde die Deukalonische Flut, eine mythische Vor­
form der biblischen Sintflut, von Zeus über das Geschlecht Lykaons verhängt. Dcuka-
lion jedoch war von seinem Vater Prometheus gewarnt worden und überlebte die Flut
mit seiner Frau Pyrrha in einer Arche. (Schon im Frühwerk Celans ist die Sintflut oft
Metapher des Faschismus; u. a. in den ersten Gedichten der Bände Sprachgitter und
Niemandsrose %in den Gedichten »Stimmen4, S. 7 ff., und ,Es war Erde in ihnen4, N 9,
kehrt diese Metapher wieder. Siehe aber auch Anm. 44.) Nachdem eine Taube das Ende
der Flut angekündigt hatte, warfen Deukalion und Pyrrha die Gebeine der Mutter Erde
hinter sich, die sie als Steine fanden. Aus ihnen entstanden neue Menschen. (Vgl. Ovid,
Metamorphosen 1, V. 400 ff.; zur Erschaffung von Menschen aus Steinen siche auch
Matth. 3, V. 9 und Lukas 3, V. 8.)
43 Im Sand aus den Urnen heißt es stattdessen: „ E s komme der Mensch mit der
Nelke“ . Wahrscheinlich war dies als Anspielung auf die rote Nelke der Sozialisten
gemeint; das in der späteren Fassung erhalten gebliebene Bild vom ,,sinnenden Fahnen­
rot44 weist in diessclbe Richtung.
44 Die Metapher der Sintflut (siche Anm. 42) ist bereits im Frühwerk ambivalent. Sic
bezeichnet sowohl den Faschismus (so vor allem in »Das einzige Licht4, SU 36) als auch,
wie hier in »Spät und tief, den Übergang zu einem anderen, besseren Zustand der
Realität. Vor allem iin Spätwerk verwendet Celan das Bild der Sintflut, um den Wunsch
nach einer .Bereinigung4 der Welt zum Ausdruck zu bringen, z. B. in dem durch seine
Stellung besonders exponierten Gedicht »Einmal4 (AW 103).
45 Die Argumentation von Götz Wicnold (,Paul Celans Hölderlin-Widerruf, in: Poe-
tica 2, 1968, S. 216 ff.) greift zu kurz, wenn es heißt: ,, »Spät und tief behauptet die
Unmöglichkeit der Auferstehung“ (S. 226). Daß das Gedicht zwischen der „V er­
heißung44 der Auferstehung der Seelen und der Himmelfahrt einerseits und der Aufer­
stehung des Fleisches und der Rückkehr ins irdische Leben andererseits unterscheidet
und die ersterc ablehnt, während es die zweite bejaht, entgeht Wicnold, dessen Inter­
pretation insgesamt dazu neigt, Celans Rcligionskritik auf einen abstrakten Nihilismus
zu reduzieren.
46 H. Paul und H. J. Herberg, Psychische Spätschäden nach politischer Verfolgung,
2., erweiterte Auflage, Basel-New York 1967, S. 111. Das »survivor syndrom4 wurde
von W. G. Niederland festgcstcllt und beschrieben.
47 Solche symbolischen Todesarten hat Ingcborg Bachmann in ihrem Roman Malina,
der passagenweise aus Celans Gedichten und Prosa zitiert und ein Portrait vor allem des-
jungen, des Wiener Celan zeichnet, zahlreich zusammengcstcllt. Im Märchen von der
Prinzessin von Kagran tritt Celan auf als ein „Fremder44; er ist „in einen langen schwar­
zen Mantel“ gehüllt, verbirgt „sein Gesicht in der Nacht44, verschweigt seinen Namen,
verhält sich zur Geliebten wie zu einer Toten und verläßt sic am Ende, ohne daß
eine äußere Notwendigkeit dazu bestünde (Ingcborg Bachmann, Malina, Frankfurt/

218
Main 1971, S. 62 ff.; auf die anderen Celan-Passagen des Romans, die allesamt bisher,
soweit ich sehe, unbemerkt geblieben sind, vermag ich hier nicht einzugehen).
48 Sowohl im Sand aus den Urnen als auch in der Erstpublikation des Gedichts im
Plan heißt es „ins [statt: ans] Fenster“ ; es handelt sich also schwerlich um einen
Druckfehler im Sand aus den Urnen, sondern um eine frühe Fassung. „Ins“ hat gegen­
über „ans“ den Vorzug, deutlicher daraufhinzuweisen, daß die Fensteröffnung durch
das Malen gleichsam ausgefiillt, undurchsichtig gemacht werden soll.
49 Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Band 13, S. 284.
50 Siehe ebd., S. 288, zur Todesangst der Melancholie.
51 Ohne daß Celan sich dessen bewußt gewesen sein dürfte, reicht die Übereinstim­
mung mit Freud hinein bis in den terminologischen Bereich. Bei Freud heißt es:
„Während der Melancholiker in gesunden Zeiten mehr oder weniger streng gegen sich
sein kann, wie ein anderer, wird im melancholischen Anfall das Über-Ich überstreng
[. . Das Über-Ich legt den strengsten moralischen Maßstab an das ihm hilflos preis-
gegebene Ich an [ ...] . Es ist eine sehr merkwürdige Erfahrung, die Moralität, die uns
angeblich von Gott verliehen und so tief eingepflanzt wurde, als periodisches Phäno­
men zu sehen. Denn nach einer gewissen Anzahl von Monaten ist der ganze moralische
Spuk vorüber, die Kritik des Über-Ichs schweigt, das Ich ist rehabilitiert und genießt
wieder alle Menschenrechte bis zum nächsten Anfall.“ (Gesammelte Werke, Band 15,
S. 66 f., Hervorhebungen von mir.)
52 Kurt Oppens, ,Gesang und Magie im Zeitalter des Steins, Zur Dichtung lngeborg
Bachmanns und Paul Celans4, in: Merkur 17 (1963), S. 191.
53 ,Chanson einer Dame im Schatten4 (MuG 25 f.): „Er trägt es von Schwelle zu
Schwelle, er wirft es nicht fort.“
54 „Als Traum44 kann auch auf die Spielenden bezogen werden: sie waren ein
„Traum auf den Schiffen der Lust“. Vgl. dazu ,In Prag4 (AW 59): „die Sanduhr, / die
wir durchschwammen, zwei Träume jetzt, läutend / wider die Zeit [. ..] “. Als Träume
opponieren die Subjekte gegen die Zeit, indem sie zur Unzeit läuten, ln ,Das ganze
Leben4 fallen die Subjekte, als Traum, der Zeit zum Opfer. - Der Interpretations­
versuch durch Gert Kalow zeichnet sich vor allem durch die Bemühung aus, die provo­
katorisch sexuelle Motivik des Gedichts zu spiritualisieren: „Nie spricht Celan vom
groben Fleisch, immer wieder vom Haar als den tausendgliedrigen, windgelüfteten Spit­
zen alles Sinnlichen. [ ...] das Haar der im Traum verstoßenen Geliebten hängt, jetzt
fast ein Todeszeichen, im Baum. Sie selbst ist ein ,Gesträuch vor den Toren4 der Stadt,
während der Liebhaber, rückfällig, bei der ,käuflichen Schwester4 weilt, beider unper­
sönlichen Liebe. Ein Schuldmotiv klingt an, sehr leise und qualvoll.44 (Gert Kalow, ,Das
ganze Leben4, zuerst 1964, in: Über Paul Celan, S. 97 f.) Bei Celan ist nicht von einer
»käuflichen Schwester4die Rede, sondern vom „käuflichen Schoß deiner Schwester44, in
dem zu schlafen dem lyrischen Subjekt die Erfahrung vermittelt hat, mit der Geliebten
„die Welt44 zu sein. Die „Schwester“ ist das Bild einer Geliebten, die mit der bürger­
lichen Moral gebrochen hat und dadurch zur sexuellen Selbstverwirklichung gelangt ist.
Gewiß spielt in diesem Gedicht Celans gründliche Kenntnis des Surrealismus und seiner
Metaphorik der Prostitution eine Rolle. Interpreten sollten mit ihrer Moral nicht Zu­
rückbleiben hinter derjenigen der avancierten Literatur, mit der schon der junge Celan
vertraut war.
55 Die Metapher ist ebensowenig wie die der Todesmühle als Golls geistiges Eigentum
zu verbuchen. Die Gollsche Version („Totensonne“ ) ist u. a. belegt durch das 1898 in
Paris erschienene Buch von C. Mauclair: Le soleil des morts, eine Schrift über Mallarmä,
bei dem die Metapher vermutlich ebenfalls vorkommt.
219
5* Das Auge ist hier Organ der Sinnlichkeit sowohl im Verstände von sinnlicher
Wahrnehmung als auch von Sexualität, Der Zusammenhang, den Freud zwischen der
Augenangst und der Kastrationsangst sieht (Gesammelte Werke, Band 12, S. 243),
scheint Celan bekannt gewesen zu sein. Indessen ist bei Freud das Auge gerade nicht -
wie in Celans Gedicht - Symbol der Lust, sondern der verhinderten Lust.
57 Daß cs die Zeit als Vergangnis und keine - sprich: soziale oder politische -
Gewalt sei, die den Verlust von Leben begründet, ist thematisch in ,Der Stein aus dem
Meer4 (SU 46 / MuG 23): ,,Das weiße Merz unsrer Welt, gewaltlos verloren wirs heut
um die Stunde des gilbenden Maisblatts44. Bezeichnenderweise spielt der Schluß mit
dem Schlciermotiv, dem Motiv des Vcrhülltseins, auf das Ausstehen der Apokalypse ( =
Enthüllung) an: ,,0 Pochen, das kam und das schwand! Im Endlichen wehen die
Schleier.14
Der Titel ,Corona4 bedeutet nicht nur ,Kranz, Kreis4, womit auf die Zirkel-
bewegung der „Zeit44 („die Zeit kehrt zurück44) angespielt ist, sondern auch »Zuhörer­
schaft, Publikum4, womit die Voyeurs auf „der Straße44 gemeint sind. Außerdem ver­
weist der Titel wohl auf Chronos. Vgl. Robert von RankoGraves (dessen Etymologie
freilich oft problematisch ist), Griechische Mythologie (zuerst engl. 1955), Reinbek
I960, Band 1, S. 31: „Die späten Griechen lasen ,Kronos4 als Chronos, den ,Vater Zeit4
(. . .). Kronos bedeutet wahrscheinlich ,Krähe4, wie | . . .| das griechischc Coronet
" Walter Benjamin, Schriften, hrsg. von Th. W. Adorno und Gretel Adorno unter
Mitwirkung von Friedrich Podszus, Frankfurt/Main 1955, Band 1, S. 503 f.
60 Dazu ausführlich Georg Lukücs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Studien über
marxistische Dialektik, Berlin 1923, S. 101 f.
61 Herbert Marcusc, Triebstruktur und Gesellschaft, Ein philosophischer Beitrag zu
Sigmund Freud (zuerst amerik. 1955), Frankfurt/Main 1965, S. 228.
62 Hbd.,S. 231.
“ Ebd., S. 232.
64 Ich möchte dieser Deutung den Vorzug geben gegenüber der wohl an Benjamins
Explikation der barocken Allegorie orientierten Auffassung Peter Szondis, daß die
„schw'arze Milch44 Ausdruck der Erfahrung einer „In-Differenz44, einer Einheit der Ge­
gensätze im Sinne des dialektischen Umschlags des Guten ins Böse und umgekehrt sei
(Peter Szondi, Celan-Studien, hrsg. von Jean Boilack u. a., Frankfurt/Main 1972, S,
122 f.).
65 ln Von Schwelle zu Schwelle (vgl. besonders ,!eh hörte sagen4, SzS 9) beginnt
Celan mit dem dann für Sprachgitter charakteristischen Verfahren, Gegenstände auf die
abstrakt geometrische Form zu reduzieren und solche Formen zu analogisieren. Zwi­
schen Jean Bazaine und Celan scheinen mir in diesem Punkt gewisse Korrespondenzen
zu bestehen; siehe Jean Bazaine, Notizen zur Malerei der Gegenwart (zuerst franz.
1953), übersetzt von Paul Celan, Frankfurt/Main 1959.
66 Siche auch »Aschenkraut4 (SU 37 / MuG 16): „ein giftlcercs Grün wie des Augs,
das sie aufschlug im Tode . . ,44; ,Nachtstrahl4 (SU 48 / MuG 27): „Nun bist du jung wie
ein toter Vogel im Märzschnce44.
67 Peter Paul Schwarz, ,Totengedächtnis und dialogische Polarität in der Lyrik Paul
Celans4 (zuerst 1966, Auszug in: Über Paul Celan, S. 166), vertritt die Auffassung, daß
Celan die „konventionelle Opposition von Tod und Leben [verkehre), weil unter Um­
ständen das Totsein dem zu Tode gehetzten Leben vorzuziehen ist44. Das ist nicht prin­
zipiell falsch, vermag aber eben nur die Formel ,das Leben ist wie der Tod4 und nicht
deren Umkehrung in ,der Tod ist Leben4zu erklären.

220
68 Die Waffenmetaphorik, die nach 1948 völlig erlischt (nur noch von Werkzeugen
wie Messer, Sichel, Axt ist danach die Rede), kehrt erst im Spätwerk vereinzelt wieder,
wo sie wiederum in engster Verbindung steht zum Motiv des Traums. So spricht das
Gedicht ,In Prag4 (AW 59) von der Verwandlung zweier Menschen aus „zwei Degen44 in
„zwei Träume44. - Eine Sonderstellung hat die mit Sprachgitter einsetzende Pfeil­
metaphorik, die die Intention (intentio = Anspannen des Bogens) auf eine utopische
Gegenwelt bezeichnet. Siehe besonders ,Unter ein Bild4 (S 15): „Später Pfeil, der von
der Seele schnellte. / Stärkres Schwirren. Näh’res Glühen. Beide Welten.44 - ,Cello-
Einsatz4 (AW 72): „Zwölfmal eiglüht / das von Pfeilen getroffene Drüben44.
69 Siehe Anm. 13.
70 Vgl. dazu das schon 1944 entstandene, in der Auswahl Wagenbach wieder abge-
drucktc Gedicht ,Flügelrauschen4 (SU 17), in dem das lyrische Subjekt ein „Heer auf
Sammetschuhn44 kämpfen läßt, damit die Geliebte in Traum und Schlaf fällt. Der
Kampf des Heers dient der Entrückung der Geliebten von einer Realität, die sie nicht
länger mehr ertragen kann. Er endet mit einem eucharistie-ähnlichen, erlösenden Blut­
trunk (auf den Gralsmythos wird im Frühwerk wiederholt angespielt) und der Blen­
dung der Geliebten.
71 Zu unvermittelt scheint mir Heinz Otto Burger anzusetzen, wenn er schreibt: „Ein
Kriegsgedicht, in dem Celan unter der Du-Form von sich selbst spricht; zwei gegensätz­
liche Welten: Krieg und Kunst, Krieg und Traum [ ...) . Bei einem zweiten Lesen
assoziieren wir vielleicht in der Ferne marschierende Soldaten [.. .J44 (Heinz Otto Bur­
ger, ,Von der Struktureinheit klassischer und moderner deutscher Lyrik4, in: Fest­
schrift für Franz R o lf Schröder, Heidelberg 1959, S. 239).
72 Eine erstaunliche Interpretation des Gedichts, die mit offensichtlichen Mühen den
Text als Beleg Für eine schwerlich zutreffende These über Celans ästhetischen Absolu­
tismus zu verstehen versucht, hat Gerhard Neumann vorgelegt: „Daß Bild und Schild
aufeinander reimen, ist nicht ohne Belang. Gibt das Bild den Blick auf ein Eigent­
liches4 frei oder wird es zum Schild, der den Blick verstellt? [Im Gedicht ist diese
Frage gegenstandslos, denn es bestimmt das Bild als das des Kuckucks bzw. des
Sommers, M. J.] Auch jener Namenlose, der in der letzten Strophe unbeschuht durch
die Luft kommt, wird nur ,uneigentlich4 vergegenwärtigt; er gleiche, so heißt es, jenem
rätselhaften Du zwar am meisten, ist es aber offenbar nicht selbst. [Wieso ,zwar4 und
,aber4? Nichtidentität ist doch wohl die Voraussetzung von Ähnlichkeit, M. J.J Denn
[? 1 der Namenlose, sagt das Gedicht, verschläft die Schlacht und den Sommer. Nicht er
selbst tritt in Erscheinung [Wer denn sonst kommt ,durch die Luft4? M. J.J, sondern
nur die Kirsche an seiner statt; sie blutet für ihn.“ (Gerhard Neum ann,,Die „absolute44
Metapher, Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel S. Mallarmäs und P. Celans4, in: Poetica
3, 1970, S. 206).
73 Martin Anderle, ,Strukturlinien in der Lyrik Paul Celans4 [zuerst I960], in:
Über Paul Celan S. 61.
74 Rudolf Nikolaus Maier, Das moderne Gedicht, Düsseldorf 1959, S. 147.
75 Peter Rühmkorf, ,Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen4, in: ders., Die
Jahre, die Ihr kennt, Reinbek 1972, S. 102 f. Ähnlich wie dieser 1960 zuerst erschie­
nene Essay hat nach dem Bericht von Peter Jokostra (.Die Welt, 30.10.1971) Johannes
Bobrowski gegen den Band Sprachgitter argumentiert.
76 Der Bedeutung französischer Wörter Für Celans Metaphorik ist bisher, soweit ich
sehe, noch nicht nachgegangen worden.
77 Celan hat bei Lesungen „dir44 stark betont.

221
78 Dieser letzte Gedicht teil ist dem im übrigen im Juli 1956 entstandenen Gedicht
erst im November 1958 hinzugefügt worden. Es dürfte sich hier um die spätesten Verse
des Sprachgitter-Bandes handeln. Sie scheinen mir meine These zu bestätigen, daß
Celan sich über seine ästhetische Position während der Niederschrift von Sprachgitter
erst allmählich Klarheit verschafft hat (siehe Teil 3 dieses Kapitels).
79 V g l Gershom Scholem, Judaica 7, Frankfurt/Main 1963, S. 72.
80 Martin Bubcr, Die Erzählungen der Chassidirn, Zürich 1949, S. 307. Möglicher­
weise bezieht sich Celan auf Buber, den er geschätzt hat, ohne ihm philosophisch
nahezustehen.
81 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik [zuerst 1949], Frankfurt/Main
1958, S. 122 f.
82 ln einer Sitzung des Seminars von Peter Szondi am 7.7.1967.
83 Am 5.1.68 schrieb nur Adorno: . . ich werde meinen längst gehegten Plan eines
Essays über Celan endlich ausführen, und zwar werde ich mich dabei auf das Sprach-
gitter konzentrieren, möglicherweise die »Engführung4. Vermutlich werde ich die Sache
im Februar in einer Veranstaltung des Züricher Radios vo rtragen ...44 Einen Monat
später (Brief vom 9.2.68) war Adorno noch „sicher, daß diese Sache, wenn ich bei
Kräften bleibe, zustande kommen wird, und zwar bald44. Veröffentlicht worden sind
bis heute nur die Notizen zu Celan in der Ästhetischen Theorie, Frankfurt/Main 1970,S.
325 und 475 ff. Die Ausführungen auf Seite 477 lassen sich Satz für Satz als Kommen­
tare zu einzelnen Gedichten von Sprachgitter ausweisen. Die angedeutete These, daß
Celan sich zum Verlust der Aura, des Scheins von Lebendigem, affirmativ verhalte,
scheint mir der Sache nicht ganz gerecht zu werden, weil sie nicht zugleich zur Sprache
bringt, daß Celan in Sprachgitter wie dann auch im Meridian - Lebendigkeit als
Desiderat formuliert.
M VgL dazu die Beobachtungen von Man nah Arendt, Elemente totaler Herrschaft,
ITankfurt/Main 1958, S. 229 ff., und die schon erwähnte Schrift von H. Paul und 11. J.
Herberg über psychische Spätschäden nach politischer Verfolgung.
85 Peter Horst Neumann, ,Wortnaeht und Augennacht4, in: Neue Rundschau 79
(1968), S. 95 f., hat auf die Reminiszenz an die 10. Duinescr Elegie hingewiesen.
Darüber hinaus wäre anzumerken, daß das Motiv der Hammer des HerzenV bei Rilke
wie bei Celan im Kontext steht mit dem Motiv des Weinens und Blühcns. ln der 10.
Elegie heißt es; „Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens / keiner versage
an weichen, zweifelnden oder / reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz /
glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen / blühe.44 Auch die 9. Elegie sollte bei
einer detaillierten Interpretation des Gediphts nicht unerwähnt bleiben. Dort heißt cs:
„Zwischen den Hämmern besteht / unser Herz, wie die Zunge / zwischen den Zähnen
u . . r
86 ln diesem Zusammenhang siehe besonders das Motiv der Schalenticre in »Niedrig­
wasser4 (S 53).
87 Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bände), 3., um Zusätze
vermehrte Auflage, Leipzig 1923 (zuerst 1906).
88 Peter Szondi, Hölderlin-Studien, Frankfurt/Main 1967, S. 49 ff.
89 Akzente 3 (1956), S. 301.
90 Siche dazu das Archenmotiv im Gedicht »Stimmen4 („Stimmen im Innern der
Arche44) und vgl. Anm. 42 und 44.
91 Die sich als ,»Sandvolk44 bezeichnen, sind „zehn an der Zahl44, d. h. so viele, wie
nach jüdischem Glauben eine Gemeinde bilden. Die Festsetzung dieser Mindestzahl für

222
einen öffentlichen Gottesdienst, die ,Minjan4 (Zahl) heißt, geht zurück auf eine Episode
während der Wüsten Wanderung Israels. Siehe dazu Leo Trepp, Das Judentum, Reinbek
1970, S. 176.
92 Mit Recht hat Klaus Reichert (in: Auswahl Reichert, S. 188) das Wort „Meer­
mühle“ als altes Wort notiert, dessen Sinn nicht mehr unmittelbar erkennbar sei und
das deshalb als „rückwäxtsgewandte Neuschöpfung“ bezeichnet werden könne.
93 In der Reihenfolge der Zitate: ,Heimkehr4 (S 16), ,Tenebrae4 (S 23 f.), ,Wefß und
Leicht4 (S 26 f.), ,Windgerecht4 (S 30), ,Ein Holzstern4 (S 51), ,Sommerbericht4 (S.
5 2 ),,Niedrigwasser4 (S 53).
94 Zum Grasmotiv vgl. auch Jewtuschenkos 1961 veröffentlichtes Gedicht ,Babij
Jar4, das von den Massenerschießungen bei Kiew handelt. Celans Übersetzung des Ge­
dichts ist 1962 in Sinn und Form erschienen. Sehr wichtig für die anfängliche Szenerie
der ,Engführung4 dürfte der Auschwitz-Film ,Nacht und Nebel4 (,Nuit et Brouillard4)
von Alain Resnais gewesen sein, dessen von Jean Cayrol verfaßten Begleittext Celan für
die deutsche Synchronfassung übersetzt hat.
95 Peter Szondi, ,Durch die Enge geführt4 (zuerst franz. 1971), in: ders., Celan-
Studien, a. a. O., S. 47 ff.
96 Celan selbst hat mich darauf hingewiesen. Siehe auch Paul Schallück, ,In
memoriam Paul Celan4, in: Die Horen 16 (1971), Heft 83, S. 101.
97 Zwischen Teil VII und VIII fehlt im Band Sprachgitter das trennende Sternchen.
Die Numerierung der Gedichtteile stammt von mir.
98 Zugrunde gelegen hat Celan die Darstellung Demokrits durch Diogenes Laertius
(Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übersetzt und erläutert von Otto Apelt,
Philos. Bibliothek Band 53/54, Leipzig 1921, 2. Band, S. 155): „Seine [Demokrits)
Lehre aber faßt sich in folgende Sätze zusammen: Urgründe des Alls sind die Atome
und das Leere, alles andere ist nur schwankende Meinung [. ..) .“ Diesen Satz hat Celan,
wohl aus dem Gedächtnis und deshalb leicht verändert, Hans Mayer als Widmung in
dessen Exemplar geschrieben, ln einem Brief an Walter Jens (siehe Bibliographie) wird
das Zitat gleichfalls erwähnt. Vorsokratische Terminologie taucht übrigens auch später
in der ,Engführung4 wieder auf („Porenbau“ , feuchtes und trockenes Auge, „ent­
mischt“). - Die Anspielung auf Paolo und Francesca, von der Celan selbst meinte, daß
jedermann sie sofort erkennen würde, ist auch eine Anspielung auf Paul Celans Ehe mit
der Französin Gisöle Lestrange; die Beziehung auf Lancelot, die Celan im Gespräch
mehrfach erwähnte, eine Anspielung auf den Namen Celan, der aus Antschel, später
Ancel hervorgegangen ist. (Die Schreibweise ,Anczel4, die in Über Paul Celan, S. 289,
verwendet und leider inzwischen schon wiederholt worden ist, hat es nie gegeben.)
99 Ein kristallographischer terminus technicus ist im Band Sprachgitter neben dem
Gittermotiv auch das der Tracht (,Unten4, S 17): „Und das Zuviel meiner Rede: /
angelagert dem kleinen / Kristall in der Tracht deines Schweigens.“ Nach W. Kleber,
Einführung in die Kristallographie, Berlin 1956, S. 96, versteht man unter Tracht „die
Summe der an einem Kristallpolyeder vorhandenen Formen“ .
100 Schluß der Rheinhymne: „[. ..) Bei Nacht, wenn alles gemischt / Ist ordnungslos
und wiederkehrt / Uralte Verwirrung.“ (Hölderlin, Sämtliche Werke, Große Stuttgarter
Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck, Stuttgart 1943 ff., Band 2, S.
148). Die Metapher des Mischens wird bei Hölderlin wie bei Celan auf Empedokles
zurückgehen.
101 Der Satz „keine / /fattc/zseele steigt und spielt mit“ stellt eine Verbindung der
,Engfuhrung4 zur ,Todesfuge4 her, in der es geheißen hatte: „Er ruft spielt süßer den

223
Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland / er ruft streicht dunkler die Geigen dann
steigt ihr als Rauch in die Luft / dann habt ihr ein Grnb in den Wolken da liegt man
nicht eng."
102 Zu den einzelnen Motiven dieser Passage gibt Peter Szondi, n. a. O., S. 95 tf.,
ausführliche Erläuterungen. Zur „Eulenflucht“ vgl. das Peter Uuchcl gewidmete, 1963
entstandene Gedicht ,Orphische Bucht von Erich Arendt: ,,Eulenflucht aus der Zeit /
an deiner Stirn. |. . .| Berg, seit / der Zerrissene schrie, / du zähltest / die Todesenge, /
furcht.“ (Erich Arendt, Unter den Hufen des Winds, Ausgewählte Gedichte 1926 -
1965, hrsg. und mit einem Vorwort von Volker Klotz, Reinbek 1966, S. 196 f.) Celan
hat Arendt sehr geschätzt und auch persönlich gekannt. Die Affinität zwischen beiden
ist oft verblüffend.
103 Siche dazu im Meridian die Forderung: ..] geh mit der Kunst in deine allcr-
cigenstc Enge. Und setze dich frei.“ (Zitiert nach: Auswahl Allemann, S. 146),
lo* Die Widerrufe in Teil II („Der Ort, wo sic lagen, er hat / einen Namen - er hat /
keinen. Sie lagen nicht dort.“ ) sind scheinbare. Der Ort hat einen Namen wie
Auschwitz, aber keinen Namen, der sein Spezifisches träfe. Sie lagen dort, wenn das
Wort »liegen1 nur das Faktum des Dalicgcns bezeichnet; sic lagen nicht dort, wenn
Jicgen1als Metapher des Licbesakts verstanden wird.
I0S Von dem Jean-PauFWörtcrbuch, das der junge Celan angelegt hat, scheint mir
außer dem Motiv des Sprachgitters, das besonders häufig im llcspcrus ist (vgl. Jean
Paul, Werke, hrsg. von Norbert Miller, Band I, Darmstadt I960, S. 918, 928, 979,
1135), nichts Wesentliches in Celans Oeuvre eingegangen zu sein, obwohl ungewöhn­
liche Wörter wie ,Maarstern1 und JCielkropf1 bei beiden Vorkommen. Die Arbeit von
Adelheid Rcxhcuscr (,Dcn Blick von der Sache wenden gegen ihr Zeichen hin1 (zuerst
19671. in: Über Paul Celan, S. 174 ff.), die Jean Pauls und Celans Sprachbegriff zu
vergleichen versucht, kommt über die Feststellung der Reflcxivität der Sprache bei
beiden Autoren hinaus zu keinen substantiellen Ergebnissen. - Die umsichtige Inter­
pretation des ,Sprachgittcf-Gcdichts durch Alfred Kelletat (»Accessus zu Celans
„Sprachgittcr“ 4|zuerst 1966, erweiterte Fassung 19681, in: Über Paul Celan, S. 11 3 ff.)
schöpft die konkrete Bedeutung des Sprachgittcr-Motivs nicht aus.
,<ws Vgl. Jerry Glenn, ,Cclan's transformation of Bcnn’s ,,Südwort“ , An interpretation
of the poem „Sprachgittcr“ \ in: German Life and Leiters 21 (1967), S. 11 ff.
107 Empcdoklcs, Fragment 50. Eine Lektüre der vorsokratischcn Philosophen (Die
Fragmente der Vorsokratiker,griechisch und deutsch von Hermann Dicls, 5. Aufl., hrsg.
von Walther Kranz, I und (teilweise| II, Berlin 1934 ff.) wird immer wieder und über
die an der ,Engführung1 von mir bereits akzentuierten Stellen hinaus beweisen, wie sehr
Celan besonders Empcdoklcs - stärker als Demokrit - für seine Metaphorik ausgenutzt
hat.
108 Das Angczogcnscin vom Licht bringt besonders schön die französische Überset­
zung von Andr6 du Bouchct zum Ausdruck: „Oü la lumiöre tirc, / tu dcvincs Fänic.“
(Paul Celan, Strette, Poemes suivis du Meridien et dEntretien dansla montagne, Paris
1971, S. 23). Wie Andr6 du Bouchct mir sagte, war Celan sehr angetan von dieser
Übersetzung, obwohl sic auf den ,,Lichtsinn“ insofern verzichten muß, als sic die
Sinnlichkeit der von Celan gemeinten Erfahrung nicht thematisch machen kann.
109 Im Wörterbuch von Adelung, das Celan neben dem Grimmschen häufiger benutzt
hat, heißt cs zu Passat-Wind: „Der Name rühret vermuthlich daher, weil man diese
Winde abwarten muß, wenn man ein solches Meer passieren, d. i. durchsegeln, will.“
(Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vcr-

224
gleichung der übrigen Mundarten, besonders aber des Oberdeutschen, von Johann
Christoph Adelung, 3. Teil, Leipzig 1798, Sp. 666.)
110 Bemerkenswert ist die Analogie der Gittermetapher zur Metapher der Jalousie in
Robbe-Grillets La Jalousie. Dazu Jacques Leenhardt, ,Schwarz und Weiß in Robbe-
Grillets „La Jalouisc“ \ in: Alternative 11 (1968), Heft 62/63, S. 206 ff.
1,1 In diesen — keineswegs theologischen - Zusammenhang sollte das Gedicht
,Tcnebrae‘ (S 23 f.) gestellt werden. Tencbrae ist eine Bezeichnung für Messen, die von
der katholischen Kirche in der Karwoche gehalten werden. Wie Jean Boilack mir mit-
gcteilt hat, ist das Gedicht inspiriert worden u. a. durch ein Oratorium Couperins.
112 Akzente 3 (1956), S. 300.
113 Max Horkheimcr und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam
1947, S. 4L
114 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt / Main 1966, S. 353. Das 1951
zuerst publizierte Diktum ist bekannt geworden durch seinen Wiederabdruck in: Pris­
men, Kulturkritik und Gesellschaft, München 1963, S. 26.
lls Georg Büchner, Werke und Briefe, Insel-Gesamtausgabe, Wiesbaden 1958. Kunst­
gespräch in Dantons Tod: S. 40, Automaten-Auftritt in Leonce und Lena\ S. 143 ff.,
Jahrmarktszene im Woyzeck: S. 155 f. - Ieh zitiere nicht nach der erst später erschie­
nenen historisch-kritischen Hamburger Ausgabe, sondern nach der lnscl-Ausgabe, die
Celan selbst, neben der Edition von Karl Emil Franzos, zur Hand hatte. Den Meridian
zitiere ich nach der Auswahl Allemann, da die Einzelausgabe heute schwer zugänglich
ist.
1,6 Die idealistische Kunst würde nach dieser Auslegung mit der Art ihrer Darstellung,
z. B. mit der in Fünffüßigen Jamben gebundenen Rede, im Widerspruch stehen zu ihrem
eigenen Apriori: der Freiheit des Willens. - Celans Ausführungen zu Büchner im
Meridian sind angeregt durch die Lektüre von Hans Mayers Essay ,Georg Büchners
ästhetische Anschauungen4 (in: ders., Studien zur deutschen Literaturgeschichte [zuerst
1953], Berlin 1955, S. 143 ff.), aber auch durch ein Büchner-Seminar Hans Mayers an
der Ecole Normale Superieure. Zu diesen entstehungsgcschichtlichen Zusammenhängen
vgl. Hans Mayer, ,Lenz, Büchner und Celan1, in ders., Vereinzelt Niederschläge, Pful­
lingen 1973, S. 160 ff.
117 Zitat aus einem Brief Büchners an die Braut. Büchner, a. a. O., S. 374.
118 Die Bemerkung, daß Lucile auch „Atem, das heißt Richtung und Schicksal“ wahr-
nchme, findet erst an späterer Stelle eine Erklärung, siehe Anm. 125.
119 Die Passage über die „Majestät des Absurden“ gehört neben der Stelle über
Mallarmö, von der noch die Rede sein wird, zu den von Celans Interpreten besonders
geschätzten. Unter Vermeidung einer Interpretation ihres Kontexts wird sie forma­
lisiert und scheint dann beliebigen Inhalten Platz zu bieten, zumal einer cxistential-
philosophischen Auslegung bzw. deren germanistischer Reduktionsform. So heißt es
bei Peter Horst Neumann (Zur Lyrik Paul Celans, Göttingen 1968, S. 41): „Für Celan
hat die Dichtung aufgehört, etwas nur Ästhetisches zu sein. Sie ist ihm zum Ort einer
Erfahrung geworden, einer Grenzerfahrung. Erfahren wird in ihr das Nichts und das
Absolute, beide aber immer zugleich, das heißt: in der Absurdität ihrer Gleichzeitig­
keit. Und diese Absurdität schließt zugleich auch die Absurdität alles Ästhetischen und
also auch die der Dichtung ein.“ (Die Passage über die „Majestät des Absurden“ wird­
eine Seite später zitiert.)
120 Zum Zusammenhang der Königsmetapher mit dem Postulat von Mündigkeit bei
Celan und auch bei Kafka siehe Wilhelm Emrich, »Georg Büchner und die moderne

225
Literatur', zuerst 1964, erweiterte Fassung in: ders., Polemik, Frankfurt/Main Bonn
1968, bcs. S. 168 ff.
121 Mit der Problcmatisierung von „Kunst'4, von Artistik, ist ohne Zweifel Bcnn an­
gebrochen. Hans Mayer (,Erinnerung an Paul Celan4, zuerst 1970, in: ders.. Der Re­
präsentant und der Märtyrer, Frankfurt / Main 1971, S. 175) berichtet, daß der Meri­
dian „ausdrücklich als Gegenrede44 zu Beim, d. h. zu den Problemen der Lyrik kon­
zipiert worden sei. Gleichwohl ist ein detaillierter Vergleich mit Bcnn wenig ergiebig.
Celans Intention, ihm zu widersprechen, geht, wie auch Mayor beobachtet hat, im
stringenten Fortgang des Meridian unter. Zur Beziehung auf Bonn siche auch Anm.
131.
123 Büchner» a. a. O., S. 95. - Zur Tradition der Metapher des Medusenhaupts vgl.
Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel, Die schwarze Romantik, zuerst ital. 1930, München
1970, Band I, S. 43 ff. Selbstverständlich läßt sich das Medusenhaupt auch als
»Metapher von Melancholie verstehen, deren modifizierende Wirkung Büchner eindring­
lich in einem Brief an die Braut beschreibt (a. a. O., S. 379): „Das Gefühl des Gcstor-
benseins war immer über nur. Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht,
die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs |. . . |44. Eben diese Melancholie ist wohl
ein Grund für die ästhetische Forderung nach ,Leben4, wie sie im Lenz (S. 94 f.)
thematisch wird.
123 Vgl. dazu Dantons Bemerkung im Kunstgespräch: „Und die Künstler gehn mit der
Natur um wie David |der Maler Jacques Louis David), der im September die Gemor­
deten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete
| . . .|44. Daß für ihn die - alte Frage nach der ästhetischen Modifikation von Leben
von unerhörter Aktualität sei, begründet Celan mit der „Luft, die wir zu atmen haben44.
Die Diskretion, mit der er davon spricht, daß er die Wirklichkeit als Gaskammer erfährt,
will nicht als euphemistisch verstanden sein.
134 So z. B. Dietlind Mcincckc, Wort und Name bei Paul Celan, Bad Hom burg-Berlin-
Zürich 1970, S. 246: „Nur diese letzte Steigerung eines Aufnahmevermögens für
Sprache kann Celan meinen, wenn er davon spricht, ,Mallarm6 konsequent zu linde zu
denken4.44 Dasselbe falsche Zitat Celans die Verwandlung seiner Frage in eine Fest­
stellung - findet sieh bei Peter Mayer, Paul Celan als jüdischer Dichter, phil. Diss.
Heidelberg 1969, S. 177: Celan gebe, heißt es, das „Beispiel der Dichtung Mallarmös
mit dem Hinweis, dieses .konsequent zu linde zu denken444. Dagegen hat Gcrhart
Baumann (,. . . durchgnindct vom Nichts . . .‘,a. a. O., S. 287) aufgrund von Gesprächen
mit Celan die richtige Feststellung getroffen: „Er |Cclan| weigert sich, Mallarm6 kon­
sequent zu Ende zu denken, der Vergleich mit ihm schien ihm unangemessen44.
125 Wenn cs am Anfang des Meridian von Lucilc heißt, sie nehme „Atem, das heißt
Richtung und Schicksal44 wahr, so ist der Begriff des Schicksals unmythisch zu ver­
stehen als Bezeichnung für das Ergebnis der Suche des Subjekts nach Möglichkeiten
seiner Selbstvcrwirklichung.
126 Büchner, a. a. O., S. 85.
127 Zum „Abgrund44 im Lenz vgl. cbd., S. 103.
12* Walter Benjamin, Schriften, a. a. O., Band 2, S. 222.
129 Gerhard Neumann, ,Dic „absolute44 Metapher4, a. a. O., S. 210 f., versteht „ad
absurdum44 als Umschreibung dafür, daß Celans Metaphern die empirische Wirklichkeit
als ihren „Eigentlichkeitsgrund44 nicht erreichen könnten; das „Andere44 und das „ganz
Andere44 hält er in genauer Umkehrung des im Meridian Gemeinten für Bezeichnungen
eben dieser empirischen Wirklichkeit, die dem Gedieht unerreichbar bleibe. Abgesehen

226
davon, daß diese These sieh am Meridian nicht belegen läßt, besteht ihre grundsätzliche
Schwäehe darin, daß sie nirgends den ihr zugrunde liegenden Gemeinplatz problemati­
siert und auf seine Tragfähigkeit befragt, daß die von Celan erfahrene Wirklichkeit sich
sprachlich nicht benennen lasse. Dieser Gemeinplatz, der Richtiges trifft, aber in un-
spezifizierter Form ideologisch ist, erfreut sich in der Rezeptionsgesehichte Celans
besonderer Beliebtheit und hat nachweislich die Funktion, intcrpretatorische Ver­
fahrensweisen zu legitimieren, die selbst der Benennung und Reflexion der Wirklichkeit,
auf die Celan sich bezieht, ausweiehen.
130 Gustav Landauer, auf den Celan sich ja am Anfang des Meridian beruft, hat
unterschieden zwischen „Topie“ und „Utopie“ (G.L., Die Revolution [Die Gesell­
schaft, Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hrsg. von Martin Buber, Bd.
13], Frankfurt / Main 1907, S. 12 ff.). Topie bezeichnet bei Landauer die Gesamtheit
der bestehenden Verhältnisse, Utopie die Intention auf Veränderung der Topie.
131 Celans Verständnis des „absoluten“ Gediehts läßt sich durchaus mit der Benn-
schcn Definition als „Gedicht ohne Glauben, l . ..] ohne Hoffnung, [.. .J an niemanden
gerichtet“ {Probleme der Lyrik, zuerst 1951, Wiesbaden 1961, S. 39) vereinbaren.
Auch die Kritik des Meridian an der „Kunst“ trifft Bcnn insofern nicht, als die Pointe
von dessen Artismus-Begriff ja gerade darin besteht, Artistik und „neue Existenz“ (S.
13) zusammenzudenken. Celans Kritik würde hier so kurz greifen, daß man annehmen
darf, daß er den Plan einer Kritik an Benn während der Niederschrift des Meridian aus
den Augen verloren hat. Übrig geblieben von der ursprünglichen Intention sind einzelne
Motive Benns (etwa S. 44: „das Andere, das uns machte“ , „Selbstbegcgnungen“ ), die
von Celan eher bekräftigend variiert als angegriffen werden. Aueh Benns Theorie vom
monologischen Charakter des Gediehts wird von Celan keineswegs im Prinzip kritisiert,
sondern nur dureh die Behauptung erweitert, daß die „Spraehe eines Einzelnen“ als
krcatürlichc mit anderen Kreaturen kommuniziere und insofern „Gespräch“ sei. Mit
der oft bemühten Buberschen Dialogik hat Celan jedenfalls nichts zu tun.
132 Theodor W. Adorno, ,Val6rys Abweichungen4, in: Noten zur Literatur II, Frank-
furt/Main 1961, S. 94. Am 5.1.1968 schrieb mir Adorno: „Vielleicht interessiert es Sie
- falls Sic es nicht von Szondi schon gehört haben sollten - , daß das ,Gespräch im
Gebirg4 in einer persönlichen Beziehung zu mir steht, obwohl Celan und ich uns damals
noch gar nicht getroffen hatten [.. .].“ Meine Interpretation des Meridian mit Bezie­
hung auf Adorno verkennt nicht, daß die Rede zugleich in sachlicher und persönlicher
Beziehung zu Hans Mayer steht (siehe oben Anm. 116 und 121). Die kurze Passage bei
Peter Buchka {Die Schreibweise des Schweigens, Münehen 1974, S. 55 ff.) über den
Meridian bedient sich einiger Adornismen, die dem Gegenstand äußerlich bleiben. Mit
der identifikatorischen Aneignung der Terminologie Adornos und ihrer nicht weiter
hinterfragten Applikation auf Celan - und andere - hat Buchka trotz partiell richtiger
Einsichten leider die Chance seines Ansatzes vergeben.
133 Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 155.
134 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt / Main 1970. Im Folgenden
als ÄT, mit Seitenangabe, zitiert.
13s Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ä sthetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin -
Weimar 1965, Band 1, S. 111 (dort flektiert: „der höchsten Form des Objektiven“ ). Zum
Satz vom Ende der Kunst bei Hegel siehe Willi Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklä­
rung, Frankfurt/Main 1969, S. 240 ff., und Jörn Rüsen,,Die Vernunft der Kunst, Hegels
geschichtsphilosophisehe Analyse der Sclbsttranszcndierung des Ästhetisehen in der
modernen Welt4, in: Philosophisches Jahrbuch 80 (1973), S. 292 ff.

227
,J* Dialektik der Aufklärung, a. a. 0 „ S. 56.
Otto Pöggeler,, .. - Ach, die Kunst!“ , Die frage nach dem Ort der Dichtung',
zuerst 1962, in: Über Paul Celan, S. 77 ff. - Bei Drucklegung dieser Arbeit ist ein Buch
von Gerhard Buhr (Celans Poetik\ Göttingen 1976) erschienen, das sich ausführlich mit
dem Meridian - und dem Gedicht .Psalm4 - befaßt. Der entscheidende Mange! dieses
Buchs scheint mir darin zu liegen, daß die auf den ersten Blick imponierende Ter­
minologie nirgends auf ihre Substanz hin geprüft wird. Richtig getroffene Unterschei­
dungen wie die von „Kunst“ und „Dichtung“ bleiben bloß formal, weil die in diesem
Zusammenhang relevanten Begriffe wie „Ich“ , „Person“ , „Wirklichkeit“ nicht kon­
kretisiert werden. Symptomatisch dafür sind Sätze wie: „Ls ist die utopische Hoff­
nung Celans, daß die Person des Menschen |wessen sonst? M. J.| in die wahre Wirk­
lichkeit freigesetzt werden könne | . . . |“ (S. 29); mitunter auch Tautologien wie: das
Gedicht versuche, „das zeugende Zeugnis zu bezeugen“ (S. 96). Je weiter Buhr lort-
schrcitet in der Interpretation des Meridian, desto deutlicher erweist sie sich als Ilin-
und-her-Schicbcn von begriffslosen Begriffen: „indem das Gedicht holend sich zurück­
ruft und rufend sich zurückholt, das Sichzu rück rufen aber ein Siclnvidcrrufcn, das
Sichzuruckholen ein Sich wiederholen ist, wird das Gedicht ein ständig wiederholtes
Sichwidcrrufen und eine unausgesetzt widerrufene Selbstwiedcrholung“ (S. 97). Daß
sich Buhr aus dieser Verbalakrobatik nicht befreien kann, dürfte seinen Grund haben
vor allem in der Verachtung u. a. für ein interprctatorisches Verfahren, das „histori­
schen und dergleichen Bezügen“ (S. 18) Rechnung trägt. So wird die Bedeutung des
,20. Jänner1 als Datum der Wannsee-Konferenz von Buhr ebensowenig erkannt wie
etwa Celans Hinweis auf die „Luft, die w'ir zu atmen haben“ , als Anspielung auf die
JudeivVergasung (vgl. Buhr S. 83 ff. und 40 ff.). Der soziale und politische Gehalt des
Meridian die Definition von Dichtung als Kritik der Gewalt, des ästhetischen Ab­
solutismus als Symbol des Rechts auf Selbstbestimmung - bleibt bei Buhr ausge-
klammcrt; an den wenigen Stellen, wo Politisches beiläufig doch angesprochenzu sein
scheint, wird es mystifiziert zur „dämonisch-schrccklichc(n) Herrschaft“ (S. 134) oder
gründlich mißverstanden, so z. B. wenn dem Autor des Meridian, der ausdrücklich seine
Sympathie für Kropotkin und Landauer hervorhebt, die „Befürchtung anarchischer
Tödlichkeit“ (S. 72) unterstellt wird. - Nebenbei sei angemerkt, daß sich auch Buhr
(S. 201) die falsche Deutung des Wortes „ichtcn“ im Gedicht ,Linmal4zu eigen macht
(siche Anm. I 97 dieser Arbeit).
,3Ä Der Affe ist in diesem spaten Gedicht, wie im Meridian, Metapher der bloßen
Nachahmung von Menschlichem. Pöggclcr dagegen interpretiert den Affen im Meridian
als animal rationale, entsprechend seiner Meinung, daß cs Celan um eine Kritik der
technischen Rationalität gehe. Auch die „Paradcgäulc der Geschichte41 werden diesem
Vorvcrständnis cinvcrlcibt; Pöggclcr spricht, offensichtlich auch in Unkenntnis der
Büchner-Stelle, auf die Celan sich bezieht, vom „klugen Pferd“ (S, 82).
nv Vgl. Dieter Henrich, ,Kunst und Kunstphüosophie der Gegenwart, Überlegungen
mit Rücksicht auf Hegel4, in: Immanente Ästhetik Ästhetische Reflexion (Poetik und
Hermeneutik II), hrsg. von W. Iscr, München 1966, bcs. S. 18 f.
140 Wie an mehreren Stellen seiner Interpretation setzt Pöggclcr hier ein Wort in
Anführungszeichen, ohne kenntlich zu machen, daß cs sich keineswegs um ein Zitat aus
Celans Ouvre handelt. Dieses Verfahren ist Äquivokationcn förderlich: so setzt
Pöggclcr z. B. den ontologischen Wortsinn von »konstituieren4 kommentarlos mit
Celans Verwendung desselben Worts gleich (S. 87).
141 Pöggclcrs Utopie-Denunziation geht völlig konform mit derjenigen von Hanno

228
Kesting, die bei Arnheim Neusüß (Utopie, Begriff und Phänomen des Utopischen,
Neuwied - Berlin 1968, S. 53 ff.) ausführlich zitiert und analysiert ist. Auch für den
Heidegger-Schüler Kesting sind ,,verfügen“ und ,,machen“ Sehlüssclbegriffe. Dank der
einleuchtenden Darstellung von Ncusüß kann im Folgenden auf eine detaillierte Ana­
lyse der Argumentation Pöggelers verzichtet werden,
142 Otto Pöggeler, Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg - München 1972.
143 Karl Löwith, Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt / Main 1953, S. 49.
144 Siche meine Rezension zur Konkordanz von Peter Horst Neumann, in: Euphorion
64 (1970), S. 441 ff.
145 Gerhard Neumann, ,Die „absolute“ Metapher*, a. a. O., S. 213 f , versteht
„Niemand“ als Metapher für einen lediglich unbenannten Jemand; ähnlich, wohl in
Reminiszenz an das jüdische Verbot, den Gottesnamen auszusprechen, Peter Horst
Neumann, Zur Lyrik Paul Celans, a. a. O., S. 40.
146 Mandel und Auge sind in den zitierten Versen, wie oft bei Celan, in Analogie
gesetzt. Sehr instruktive Materialien zu »Mandorla* und anderen Gedichten findet man
bei Albrccht Schöne, ,Blume - ein Blindenwort*, in: ders., Literatur im audiovisuellen
Medium, Sieben Fernsehdrehbücher, München 1974, S. 138 ff.
147 Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 13 ff.
148 Walter Benjamin, »Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Men­
schen*, in: Schriften, a. a. 0 MBand 2, S. 401 ff. Zur Entstehungsgeschichte des G e­
sprächs im Gebirg* siehe Anm. 132. Wie Celan mir sagte, sei das »Gespräch* „eigentlich
ein Mauscheln“ zwischen ihm und Adorno. - Ich zitiere den Text nach der Auswahl
Reichert.
149 Die heilige Dreifaltigkeit wird bei Celan gleichsam materialisiert zur geologischen
Vorstellung von den drei historisch nachweisbaren Faltungen der Alpen. Ebenso ver­
fährt er, wie noch zu zeigen sein wird, mit dem Thcologumenon der Verwerfung, Die
Überführung von Theologischem in Geologisches ist Ausdruck der Intention, Gegen­
stände der Theologie an »irdischer*, weltlicher Erfahrung zu messen.
150 Gershom Seholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Darmstadt 1965, S, 213.
151 »Einem, der vor der Tür stand*, N 40 f.; ,Es ist alles anders*, N 82 ff.: „den
Kieselstein aus / der Mährischen Senke, / den dein Gedanke nach Prag trug, / aufs Grab,
auf die Gräber, ins Leben“. Zum Grab des Rabbi Löw in Prag pflegen Juden einen
Stein mitzubringen. - Während der Golem des Rabbi Löw aus Lehm geschaffen wor­
den ist (siehe Seholem, Judaica 2, Frankfurt/Main 1970, S. 77 f.), wurde Adam nach
der Lehre der Kabbala aus den besten Teilen der Erde, ihrer ,Hebe\ geschaffen (Seho­
lem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, a. a. O., S. 212). Wenn also in Celans Spätwerk
davon die Rede ist, daß die Hebe „vergoren*1sei (»Verwaist*, FS 106), so bedeutet dies,
daß die Substanz, aus der die Menschheit naeh kabbalistischer Anschauung geschaffen
wurde, verdorben sei.
152 Nach Jean Bollaeks Rekonstruktion von Äußerungen Peter Szondis über dieses
Gedicht wird durch die Ringmetaphorik „zur Gewißheit“ , daß ein Liebespaar gemeint
ist (Peter Szondi, Celan-Studien,a. a. O., S. 145 f.). Der Argumentationszusammenhang
Szondis ist über Bollaeks minuziöse Rekonstruktion hinaus nicht mehr zu ermitteln.
Eine Interpretation, die sich der erwähnten Ansicht anschlicßen wollte, müßte sich vor
allem mit der Tatsache auseinander setzen, daß das Gedicht sich an eine männliche
Person wendet („O einer, o keiner“ ). Mir scheint die Formulierung „wird |. . .1 zur
Gewißheit“ zu apodiktisch; das „uns** der letzten Zeile auf ein Liebespaar zu beziehen,
ist mir erst naeh einigen Vermittlungsstufen möglich, die in Bollaeks Rekonstruktion

229
nicht angcdcutct sind. Ich verstehe die Ringmetaphorik zunächst, analog zum Regen­
bogensymbol des Alten Testaments, als Metapher des Bundes mit Gott. Diese Erklä-
rung wird wahrscheinlich vor allem auch dann, wenn man berücksichtigt, daß ,Es war
Erde in ihnen1 in der als Anti-Bibc! konzipierten Niemandsrose die Stellung der
Genesis, des ersten Buchs Mose cinnimmt.
Nicht nur ist der Titel Baudclaircs Spleen de Paris (Kap. 3, ,Le Confitcor de
EArtistc1) entnommen, sondern der Anfang spielt überdies an auf Baudelaires Mott
coeur ntis ä nu\ das freilich wird erst evident, wenn man den Anfang („Es liegen die
Erze bloß") verbindet mit dein Schluß („//errgewordenes, / kommt11).
1^ Die Interpretationen des Gedichts durch Bernhard Bösehenstein (,Tübingen,
Jänner1, zuerst 1965, in: Über Paul Celan, S. 101 ff.) und Hans Mayer (Sprechen und
Verstummen der Dichter1, zuerst 1966» in: ders., Das Geschehen und das Schweigen,
ITankfurt/Mam 1969, S. II ff.) informieren auch über die Quellen des Gedichts.
Christoph Theodor Schwab hat 1846 berichtet, daß Hölderlin auf Fragen mit
„Pallaksch11 antwortete, was sowohl Ja als auch Nein bedeuten konnte.
Wollte man ,Jtsch14 interpretieren als Geräusch in bestimmter Bedeutung, so
konnte inan es als Verscheuchen sowohl der am Gedichtanfang genannten Möwen als
auch „dieser / Zeit11 verstehen.
156 Die von Dietlind Meincckc (Wort und Name, a. a. O., S. 277) angegebene Zcichcn-
korrcktur - ein Komma vor „Pncuma11 - habe ich nicht übernommen.
1,7 Dem Mißbrauch der Sprache als Schindmähre:
Huh - on tu e .. . ( . . . I
|. . .| - call it (hott!)
love.
setzt Celan einen abgewandeltcn Vers Vcrlaines entgegen (zum Verlaine-Zitat siehe
Klaus Wagenbach, ,Möglichkeiten, Fragen an die jüngere deutsche Literatur zu stellen1,
in: Lesebuch, Deutsche Literatur der sechziger Jahre, Berlin 1968, S. 181). Die „llüh11
- „hott11 - Verse sind wohl als versteckte Kritik Celans an Enzcnsbcrgcr zu verstehen,
der in Verteidigung der Wolfe (Frankfurt/Main 1957, S. 19) ein Gedieht mit dem Titel
,call it love1veröffentlicht hatte.
,5* Heinrich Heine, ,(An Edom!)4 in: Sämtliche Werke, hrsg. von Emst Elster, Leipzig
und Wien 1890, Band 2, S. 164 f. Vgl. auch die Quellenangaben bei Peter Mayer, ,Allc
Dichter sind Juden1, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 23 (1973), S. 32 ff. Das
Viilon-Zitat heißt wörtlich: „Je suis Francois, dont il me poisc, / N6 de Paris, emprös
Pontoise11,
Ausführlich darüber informiert Samuel Josef Schulsohn, ,Die Rabbinerhöfe von
Sadagura und Bojan1, in: Hugo Gold (Hrsg.), Geschichte der Juden in der Bukowina,
Band I , a. a. O., S. 85 ff.
140 Diese und andere wichtige Informationen über die Geschichte der Juden in der
Bukow ina im Sammclband von Gold, im erwähnten Werk von Francis L. Carsten (Der
Aufstieg des Faschismus in Europa) und bei Martin Broszat, Das Dritte Reich und die
rumänische Judenpolitik, a. au O., S. 102 ff.
161 Der blühende Mandclstab ist das Zeichen der Auserwähltheit Aarons (4. Mose 17,
V. 16 ff.). Zum Mandclbaum als Passionssymbol in der Emblematik des Barock siche
Gert Mattenklott, Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Stuttgart l 968,
S. 154 f.
162 Jacob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Darmstadt 1969, S.

230
260 ff.. ,Von dem Machandelboom1. Mit dem Motiv des Kindsmords ist außerdem
angcspielt auf Heines Rabbi von Bacharach (Sämtliche Werke, a. a. O., Band 4, S.
445 ff.). Darin wird beschrieben, daß Christen im Hause des Rabbiners den Leichnam
eines Kindes verstecken, um ihn des Mordes zu beschuldigen.
163 Peter Szondi, ,Poetry of Constancy - Poetik der Beständigkeit4, in: ders., Celan-
Studien, a. a. O., S. 13 ff. und ebd. S. 52 f. und 86.
164 Harald Weinrich, »Kontraktionen, Paul Celans Lyrik und ihre Atemwende4, in:
Neue Rundschau 79 (1968) S. 120.
165 Z. B. »Niedrigwasser4 (S53): „Schill44 statt „Schilf4; »Chymisch4 (N 25 f.):
„rauchdünn44 statt „hauchdünn44; ,In der Luft4 (N 88 f.): „Götter44 statt „Goebbels44;
»All deine Siegel erbrochen4 (FS 28): „Datteln44 statt „Daten44.
166 Peter Mayer, Paul Celan als jüdischer Dichter, a. a. O., S. 158.
167 Vgl. dazu Heine im Salon zu Delacroix’ Gemälde der Julirevolution: „Heilige
Julitage in Paris! ihr werdet ewig Zeugnis geben von dem Uradel der Menschen, der nie
ganz zerstört werden kann44 (Sämtliche Werke, a. a. O., Band 4, S. 37).
168 Peter Horst Neumann, Zur Lyrik Paul Celans, a. a. O., S. 61 ff., hat einige der
Anspielungen des Gedichts ermittelt (Petropolis freilich bezieht er ausschließlich auf
Petersburg, und für den 13. Februar findet er keine Erklärung), aber da er die Be­
deutung der Wolkenmetapher als Metapher der Menschenwürde nicht erkennt, vermag
er die Bedingung für die ,In eins‘-Setzung der verschiedenen Reminiszenzen nicht an­
zugeben und dem Gedicht nur abstrakt zu bescheinigen, daß es eine „Synthese44 leiste:
„Der im Gedicht geleisteten Synthese [welcher Art? M. J.J läuft unsere Analyse
seiner Erlebnisr und Erinnerungselemente zuwider. Nur in seiner Struktur [welcher?
M. J.] ist diese Synthese verbürgt44 (S. 64). In ähnlicher Richtung, und übrigens mit
einem unhaltbaren Begriff von Geschichtsphilosophie, argumentiert Hans-Peter Bayer­
dörfer, yLandnahme-Zeit, Geschichte und Sprachbewegung in Paul Celans Niemands-
rose\ in: Über Literatur und Geschichte, Festschrift für Gerhard Storz, Frankfurt/
Main 1973, S. 333 ff.
169 Silvio Vietta, Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik, Bad Hom­
burg-Berlin-Zürich 1970, S. 113 ff. Hervorhebungen von Vietta.
170 Ebd., S. 113.
171 Ebd.
172 Die Sexualmctaphorik des Gedichts ist übersehen in der Interpretation durch
Judith Ryan (,Monologische Lyrik4, in: Basis 2, 1971, S. 266 ff.), die für das Wort
„Flimmerbaum44 im Kontext des Gedichts keine Erklärung findet. Der Hinweis auf die
Analogie zu „Flimmertier Lid44 im Gedicht ,Sprachgittcr4 bringt für die Interpretation
nichts ein und läßt die Fragwürdigkeit einer Methode erkennen, die Wortparallelen mit
semantischen Parallelen ungeprüft gleichsetzt.
173 Kolon = „Sprechtakt als Gliederung in Prosa oder Vers, durch leichte Atempausen
oder merkliche Einschnitte beim Sprechen begrenzte rhythmische Elementareinheit
von 1 oder mehreren Worten [.. .]“ (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur,
3., verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1961, S. 294). - Kolon heißt auch:
Doppelpunkt und bezieht sich damit auf die Doppelpunkte (und die durch sie be­
dingten Sprechpausen) nach Vers 6 und 9.
174 Thematisch ist das im Meridian (a. a. O., S. 143): „Niemand kann sagen, wie lange
die Atempause — das Verhoffen und der Gedanke [an eine andere, veränderte Realität,
M. J.] - noch fortwährt.44
175 „Berenikes Haupthaar44, von dem zuvor die Rede ist als dem Ort, an dem sich das

231
lyrische Subjekt befindet, ist ein Sternbild, zugleich aber auch literarisches Zitat des
Kallimachos und Catulls (vgL Die Locke der Berenike, Sämtliche Gedichte des G. V.
Catullus, übertragen von Wolfgang Tilgner, Bremen 1968). Siehe auch Jean Pauls
Hesperus (Werke, a. a. 0 ., S. 903).
176 »Anabasis4 (N 54 f.): „Sichtbares, Hörbares, das / frei- / werdende Zeitwort: //
Mitsammen.44 - ,Hüttenfenster4 (N 76 f.) spricht vom aus Buchstaben gebildeten
Sternbild, „das er, / der Mensch, zum Wohnen braucht, liier, / unter Menschen.44
177 Vgl. ,1-is, Eden4 (N 22); »Sibirisch4 (N 46) ; ferner die Reminiszenz an den Ge­
schichtsmythos von Arkturs Wintcrrcich (»Hüttenfenster4, N 76 f.), der vor allem durch
das Klingsohr-Marchen in Novalis4 Ofterdingen-Roman bekannt ist, und das Zitat von
Heines Wintermarchen (,Es ist alles anders4, N 82 ff.).
178 Siehe ,Einiges Handähnliche4 (N 34); »Schwarzerde4 (N 39); ,ln der Luft4 (N 88 f.).
170 Jürgen Habermas, ,Ein philosophierender Intellektueller4, zuerst 1963, in: Über
Theodor h' Adorno, Erankfurt/Main 1968, S. 41 f.
180 So im ersten Gedieht von Fadensonnen (»Augenblicke4, ES 7) und in Lichtzwang
(. 1retnunen4, LZ 14): „Es mutt jetzt der Augenblick sein / für eine gerechte / Geburt44.
181 Sigmund ETcud, Gesammelte Werke, Band I 3, a. a. O., S. I ff.
181 Enttabuisierung ist im Spätwerk thematisch in dem Gedieht ,Die abgewrackten
'lab us4 (E'S 62). Nimmt man an, datt Celan in Anlehnung an ethnologische Eorschungen
(etwa Heinz Werners) einen Zusammenhang gesehen habe zwischen Tabus und meta­
phorischem Sprechen, so liest sieh das Gedicht ,Kin Dröhnen4 (AW 85) als Ausdruck
der Intention auf eine tabuverletzende Sprache: „Ein Dröhnen: es ist / die Wahrheit
selbst / unter die Menschen / getreten, / mitten ins / Metapherngestöber.44
183 Wie schon in der Niemandsrose tritt im Spätwerk die Königsmetapher mitunter
sehr versteckt auf, etwa wenn vom „Päonienschatten44 die Rede ist (,Das Stundenglas4,
AW 46). Päonien sind Pfingstrosen, die früher auch Königsblumen oder Königsrosen
genannt wurden. .............
181 Silvio Vietta, a. a. ()., S. 122 ff.
I8* Durch den Wegfall des „und44 zwischen „Münder44 und „Mäuler44 wird die Iden­
tifikation von Menschen und Tieren sprachlich zum Ausdruck gebracht. „Mäuler44 kann
auf diese Weise als Erläuterung zu „Münder44 gelesen werden.
186 Siche besonders das erste Gedicht von Atemwende (,Du darfst4, AW 7): „sooft ich
Schulter an Schulter / mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer, / schrie sein
jüngstes / Blatt.44
187 Das Wort „seclcnblind44 ist ein typisches Beispiel dafür, wie leicht man bei Celan
übersehen kann, datt scheinbare Neologismen in Wahrheit termini tcchnici sind. -
Innerhalb von Celans Oeuvre kann „scelenblind44 übrigens bezogen werden auf den Vers
im Gedicht ,SprachgittcP: „Am Lichtsinn / errätst du die Seele.44
188 ln meiner Rezension zu Neumanns Konkordanz (a. a. O., S. 443) habe ich bereits
darauf hingewiesen, datt sich das Gedicht ,Dic längst Entdeckten4 (FS 27) auf die
Trcppcnszcnc in Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin4 bezieht. Wie früher bereits er­
wähnt (Anm. 94), hat Celan den deutschen Kommentar zu Rcsnais’ Auschwitz-Eilm
,Nacht und Nebel4 verfaßt. Von fümtcchnischcn Verfahrensweisen scheint mir Celans
Metaphorik beeinflußt, wenn csz. B. heißt (»Landschaft4, AW 55): „Eine Träne rollt in
ihr Auge zurück.44
189 Wahrscheinlich ist das Gedicht durch ein Werk Gauguins inspiriert, etwa durch die
Hundefiguren des Holzschnitt-Zyklus Noa-Noa. ,Noa4 ist der polynesischc Gegenbegriff
zu »Tabu4, siche Anm. 182.

232
190 Frieselfieber ist ein Hautausschlag (,Müllschlucker-Chöre4, FS 53). Für Epilepsie
verwendet Celan das französische Wort ,,Haut mal“ (,Haut mal4, FS 114); eine Antho­
logie von Michel Leiris trägt übrigens diesen Titel. Die Metaphorik des Gedichts »Haut
mal4 läßt sich nahezu lückenlos auflösen mit Hilfe von Freuds Dostojewski-Essay und
einschlägigen medizinischen Handbüchern, vor allem Willibald Pschyrembel, Klinisches
Wörterbuch mit klinischen Syndromen, 185.—250., neubearbeitete und erweiterte
Auflage, Berlin 1969, S. 326. Wichtig ist auch, daß die Epilepsie früher - und in
bestimmten Gebieten etwa Lateinamerikas noch heute — als morbus sacer, der Epilep­
tiker als mystisch und visionär Begnadeter galt.
191 Gisela Bezzel-Dischner, Poetik des modernen Gedichts, Zur Lyrik von Nelly
Sachs, Bad Homburg-Berlin-Zürich 1970, S. 123, hat darauf hingewiesen, daß das
Gedicht auf das Frihed-Muscum in Amsterdam zu beziehen ist. Leider mißdeutet sie
die Königsmetaphorik, indem sie sie traditionell als Metapher für den poeta laureatus
auslegt.
192 Der Gedichtanfang: „Tretminen auf deinen linken / Monden, Saturn44 spielt wohl
an auf Walter Benjamin, »Linke Melancholie4, in: ders., Angelus Novus, Ausgewählte
Schriften 2, Frankfurt/Main 1966, S. 457 ff.
193 Karl Marx, Das Kapital, 2. Band, MEW Bd. 24, Berlin 1970, S. 119 und 151.
194 Vgl. Leo Trepp, a. a. O., S. 14 f. - Das Massada-Gedicht »Denk dir4 (FS 121)
sollte, bei aller Sympathie, die Celan für Israel hatte (nach Mitteilung von Peter Szondi
wollte er bei seiner Reise 1969 prüfen, ob er dort zu leben vermöchte), nicht als
Hymne auf den Staat Israel und den Juni-Krieg mißverstanden werden. Von einer
„bewohnbaren Erde“ spricht das Gedicht nicht im Modus der Tatsachenfeststellung,
sondern der Imagination und Hoffnung: „Denk dir“ . - Zu Massada siehe Yigael
Yadin, Masada, Der letzte Kampf um die Festung des Herödes, zuerst engl. 1966,
Hamburg 1967. „Massada“ war der Name zahlreicher zionistischer Organisationen;
auch in Czernowitz hat es eine Vereinigung dieses Namens gegeben, die Celan bekannt
gewesen sein muß. Indem aber Celan in seinem Gedicht von einem „Moorsoldaten von
Massada44 spricht, wird Massada bei ihm generalisiert zur Metapher politischen Wider­
standes: es ist angespielt auf das durch Ernst Busch berühmt gewordene Lied ,Wir sind
die Moorsoldaten4, das sich auf die Internierung vor allem von KPD-Funktionären im
ersten faschistischen KZ Papenburg-Börgermoor bezieht. Werner Weber, ,Zu einem
Gedicht von Paul Celan, „Denk dir“ 4,in: Neue Zürcher Zeitung 24.6.67 (jetzt auch in:
ders., Forderungen, Zürich und Stuttgart 1970), gibt als Quelle Wilhelm Langhoffs
1935 in Zürich erschienenes Buch Die Moorsoldaten an.
195 ,lst eine Revolution unvermeidlich?4 42 Antworten auf eine Alternative von Hans
Magnus Enzensberger, hrsg. vom Spiegel-Verlag, Hamburg 1968, S. 9.
196 Theodor W. Adorno, ,Erziehung nach Auschwitz4, zuerst 1966, in: Stichworte,
Kritische Modelle 2, Frankfurt/Main 1969, S. 90.
197 Celan hat das Wort in dieser im Grimmschen Wörterbuch nachgewiesenen Be­
deutung verwendet und ausdrücklich jede andere Interpretation als Mißverständnis ab­
gewiesen. Die ontologisicrende Deutung des Worts hat sich indessen, soweit ich sehe, in
allen Interpretationen bis heute erhalten, ln meiner Rezension im Euphorion 1970
habe ich zu diesem Irrtum ausführlich Stellung genommen (a. a. O., S. 448 f.).
198 Platon, Philebos, 8. Kapitel, in: Platon, Sämtliche Werke,Rowohlts Klassiker, Bd.
5, Reinbek 1959, S. 83 f.
199 Siehe dazu »Die Zahlen4 (AW 13), wenn es heißt, daß die Zahlen im Bunde stün­
den mit dem „Verhängnis“ - mit dem das Leben verhüllenden Schleier - der Bilder,

233
und AVer herrscht? 4 (FS 10), wo ,,das Leben“ daigestellt ist als „färbe nbclagerf4 und
„zahlcnbedrängt4
500 Mit einem nicht näher erläuterten Begriff von „Individuum*4 und „Individualität44
arbeitet Peter Horst Neumann. ,lch-GcstaIt und Dichtungsbegriff bei Paul Celan4, in:
Etudcs Gcrmaniqucs 25 (1970), S. 299 ff.
301 Das rechtfertigt nicht die nun wirklich zufälligen Bemerkungen Diethild Mei-
neckcs zu Celans Gedicht »Hendaye4 (FS 18) in: Über Paul Celan, S. 11. Das Gedicht
setzt die Kenntnis voraus, daß Hendaye der wichtigste Grenzübergang von Frankreich
nach Spanien für die Flüchtlinge vor den deutschen Truppen war (siche Werfels
Jakobowsky und der Oberst, ein Roman, der mit eben diesem Thema in Hendaye
spielt).
203 Für genaue Informationen danke ich Gert Mattcnklott.
203 Siche dazu .Schibboletlf (SzS 55 f.): „schleiften sie mich / in die Mitte des
Marktes44.
204 Harald Weinrich, Kontraktionen, a. a. O., S. 121. - Eine überraschende Inter­
pretation des Worts „Trefimschnee44 mit Beziehung aufs Hebräische gibt Jerry
Glenn, ,Paul Celan and the critics4, in: M<xJern Austrian Uterature 6 (1973), KI. 3/4, S.
199. Die rm selben Gedicht genannte Zahl „siebenzchn44 bezieht Glenn in seinem
Celan-Buch (J. G., Paul Celan, New York 1973, S. 142) auf ein jüdisches Gebet. Beide
Angaben müßten freilich rntcrpretatorisch noch erst ausgewertet werden etwa in der
Weise, wie ich in der Niemandsrose den Gebrauch des Jiddischen zu erklären versucht
habe.
2<M ,Umwegkarten4 (FS 14): „am Fuß / des stotternden / Informationsmasts44; »All
deine Siegel erbrochen? 4 (FS 28): „daß sie nicht auch / den Elcktroncn-ldrotcn /
spiegle, der Datteln / verarbeitet für / menetckclnde / Affen.44
206 Beda Allcmanns Interpretation des Gedichts »Sprich auch du4 (Nachwort zu:
Auswahl Allemann, S. 151 ff.) wäre wahrscheinlich weniger abstrakt ausgefallen, wenn
er erkannt hätte, daß dem Gedicht die Metaphorik einer Sonnenuhr zugrunde liegt.
Die Beziehung von Celans „Zeithof4 in ,Mapcsbury Road4 auf llusscrl, die Gisela
BezzcFDischncr, a. a. O., S. 117 f., hcrstellt, scheint mir nicht zwingend zu sein.
20 7 VgL ,Das unbedingte Geläuf (FS 70): „Hilfsgcstüngc, gedrungen, / im zeitge-
schwarztcn Emblem. / P'rostfurchcn der / Devise entlang.44 Auch ,In den Einstiegluken4
(SchP 82): „die Embleme palavern / sich Blut ab44.
20ft Das frühere, aus Rosa Luxemburgs Briefen aus dem Gefängnis zitierende Gedieht
»Coagula4 (AW 79) bleibt hier unberücksichtigt.
209 Peter Szondi, ,Edcn4, in: ders., Celan-Studien, a. a. O., S. 1 13 ff.
2,0 Hans-Georg Gadamcr, ,Was muß der Leser wissen? Aus Anlaß von Peter Szondis
„Zu einem Gedicht Paul Celans44 4, in: Neue Zürcher Zeitung, 5.1 1.1972. Siehe auch:
IL-G . Gadamcr, Wer bin Ich und wer bist Du? Frankfurt/Main 1973, S. 123 ff.
211 »Ungewaschen, unbcmalf, das im Band Schneepart einen Druckfehler enthält
(statt „Ja44 muß cs „Da44 heißen), ist eines von mehreren Flugzcug-Gcdichten des
Spätwerks. Celan war nach einer Mitteilung Peter Szondis in den Jahren zuvor noch
nicht nach Berlin gekommen, weil er die Erfahrung des Flicgens zuerst zusammen mit
seiner Familie machen wollte. In »Ungewaschen, unbcmalf, das Celan auf seinem Flug
zurück von Berlin nach Frankfurt seinem Begleiter Walter Georgi zu lesen gab, kehrt
das Motiv des „Flugschattens44 aus der »lingführung4 wieder. Überdies hat sich Celan
maschincntcchnische Termini wie „Becherwerk44 zur Beschreibung von Flügen ange-
cignet - Schneepart ist zwar der zuletzt erschienene Band Celans, enthält aber im

234
wesentlichen Gedichte, die bereits vor denen von Lichtzwang, nämlich 1967/68 ge­
schrieben worden sind.
212 Otto F. Best (Hrsg.), Hommage für Peter Hüchel, Zum 3. April 1968, München
1968, S. 15 ff.
213 Siehe Hucheis eigene und Hans Mayers Interpretation dieses Gedichts in: Doppel­
interpretationen, hrsg. von Hilde Domin, Frankfurt/Main - Bonn 1966, S. 95 ff.
214 In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember fuhren Celan, Walter Georgi und ich
am Landwehrkanal entlang zum Anhalter Bahnhof; auf diese Nacht bezieht sich das
dritte Berliner Gedicht ,Lila Luft*. Den Anlaß zu dieser Fahrt hatte gegeben, daß
Celan zuvor von seiner Durchreise durch Berlin 1938 erzählt hatte (siehe ,La
Contrescarpe*, N 81 f.: ,,Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof /
floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen.“). Der historischen
Reminiszenz an 1938, dem Jahr der sogenannten Kristallnacht, entsprechen in ,Lila
Luft* die „gelben Fensterflecken“ - der ,gelbe Fleck* war eine Vorform des Juden­
sterns - . Auf dem großen Ödplatz vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs stapften wir
durch den Schnee (auch an dieses ,Kneippen* ist bei der „Schneekneipe“ zu denken)
und suchten, als Walter Georgi von den „drei Gürtelsternen Orions“ sprach, dieses
Sternbild am Himmel. Als wir es gefunden hatten, meinte Celan: „Die heißen, ja die
heißen Jakobsstab, die drei“ . Zur Bedeutung des Jakobsstabs im Alten Testament siehe
1. Mose 30, V. 37 ff. Das Sternbild Jakobsstab galt Celan als Symbol der Erneuerung
Israels nicht nur, sondern der Menschheit (vgl. ,Und mit dem Buch aus Tarussa*, N
85 ff.); in ,Lila Luft* ist es Gegenbild zu den „gelben Fensterflecken“ als einer Remi­
niszenz an den Judenstern und die eingeworfenen Scheiben der Kristallnacht.
215 Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover, Der Mord an Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht, Dokumentation eines politischen Verbrechens, Frankfurt/Main
1967, S. 99.
2,6 Ebd., S. 166.
217 Ebd., S. 33.
2,8 Ebd., S. 99.
219 Siehe dazu Victor Pfaff und Mona Wikhäll (Hrsg.), Das schwedische Modell der
Ausbeutung, Köln-Berlin 1971.
220 ,,er biegt um ein Eden“ kann transitiv verstanden werden: der Gabentisch biegt
„ein Eden“ um, verdreht, pervertiert es. Zur Vorstellung vom pervertierten Paradies
beim späten Celan vgL besonders ,Die Hügelzeilen entlang* (FS 74).
221 Szondi, a. a. O., S. 120.
222 Gadamer, a. a. O.: „Indessen hat er ISzondi] die Fragen scharf gestellt und lädt
dadurch zu einer Fortsetzung ein, zu einem Gespräch mit ihm - auch jetzt noch.“
223 Ich vermag nichts im Gedicht zu entdecken, was diese Feststellung rechtfertigen
würde.
224 Ein wichtiger Gegenstand der Gadamerschen Hermeneutik ist damit in Celans
Gedicht angesprochen. Auf prinzipielle Fragen dieser Hermeneutik kann die hier vor­
genommene Kritik einer materialen Arbeit Gadamers indessen nicht eingehen.
225 Vgl. ,A11 deine Siegel erbrochen? * (FS 28): „die Welle, die honig-/ferne, die milch-
/ nahe“.
266 „Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen“ (Meridian, a. a. O., S.138).
227 Helmut Mader, JLieder zu singen jenseits der Menschen? Paul Celans Faden­
sonnen und Ausgewählte Gedichte aus seinen früheren Bänden*, in: Frankfurter All­
gemeine Zeitung 4.1.1969.

235
228 Dem Kapitel ,Esoterik und politisches Engagement' bei Peter Horst Neumann
(Zur Lyrik Paul Celans, a. a. 0., S. 56 ff.) kommt bis heute das Verdienst zu, die für
Celans Lyrik entscheidende Frage gestellt zu haben.
229 Allemann hatte geschrieben: „Die »Dünung / wandernder Worte' ist keine Meta­
pher im hergebrachten Sinn mehr. Die Wendung will wörtlich twörtlicher? M. J.] ge­
nommen werden, als es einer Metapher zukäme, ln dieser Dünung kann sich wirklich
ein Stern spiegeln/' (Nachwort zu: Auswahl Allemann? S. 159). Mader höhnt: »»Den
(Stern] möchten wir sehen!*' - ln der Tat ist Allemanns Formulierung unhaltbar.
Davon, daß Celan Sprache als Realität ansehe» kann wohl nur in dem Sinn die Rede
sein, daß er häufig Spruchformen verwendet, die das Gemeinte ästhetisch ,realisieren1,
statt es diskursiv zu benennen. Vor der Gefahr, in Richtung der zitierten Äußerung
Allemanns mißverstanden zu werden, hat sich womöglich Peter Szondi (Celan-Studien y
a. a. O.» bes. S. 52 f.) nicht hinreichend geschützt.
230 Karl Markus Michel, »Hin Kranz für die Literatur, fünf Variationen über eine
These', in: Kursbuch 15, Frankfurt/Main 1968, S. 169 Tf.
231 Dietlind Meinecke, Wort und Name, a. a. 0.» S. 20.
232 Kbd., S. 258 f.
233 Kbd., S. 31.
234 Nicht mit der literaturwissenschaftlichen Rezeption befaßt sich der von einem
Freiburger Team verfaßte Band: Text und Rezeptiont Wirkungsanalyse zeitgenössischer
Lyrik am Beispiel des Gedichtes ,Fadensonnen* von Paul Celan, Frunkfurt/Main 1972.
Der Band stellt die Ergebnisse einer empirischen Wirkungsanalyse zusammen, die mit
Hilfe von Fragebögen durchgeführt worden ist. Dabei wurden die Leser nach spontanen
Assoziationen zu einzelnen Wörtern befragt, ln der Voraussetzung, daß eine solche
Spontaneitat für die Untersuchung gefordert werden müsse, in der Betonung einzelner
Wörter gegenüber dem Zusammenhang des Gedichts und in der von den Autoren er­
klärten Meinung, daß ein moderner lyrischer Text von einer Multivalenz solcher Art sei,
daß eine Aussage über die Richtigkeit oder Falschheit einer Interpretation letztlich
nicht mehr gemacht werden könne, scheinen mir die fundamentalen Irrtümer dieser
Studie zu liegen.
235 Daß Celans Formulierung den »absoluten Geist1 meint, geht zum einen daraus
hervor, daß der Geist als schatten-, also körperloser beschrieben wird; zum anderen
daraus, daß er - in witziger Ausnutzung der Zeilenzäsur - ein schlechthin „loser11,
losgelöster, also absoluter genannt wird.
236 Zum Automatenmotiv vgl. vor allem ,ln die Rillen1 (AW 9), wo es im Band Atem ­
wende statt „llimmelssäure11 ein von Celan übersehener Druckfehler „Ilimmels-
munzc1* heißen muß; zum Motiv von Hunger und Licht vgl. vor allem ,Helligkeits-
hungcr' (AW 36).
237 Siehe die Interpretation des Gedichts ,In eins1, Kap. IV, Teil 3.
238 Rückwirkend läßt sich auch der „hohe Gedanke11 des Gedichts ,Fadensonnen1 in
dieser Richtung interpretieren. Solche nachträglichen, durch Aspekte, die in anderen
Gedichten betont sind, geförderte Erkenntnisse sind eine typische Erfahrung bei der
Celan-Interpretation, die begründet ist in dem Verfahren des Autors, innerhalb einzel­
ner Perioden bestimmte Motive in vielen Varianten durchzuspielen.

236
Literaturverzeichnis

I. Celan-Texte
II. Sekundärliteratur zu Celan
III. Andere Quellen und Allgemeines, soweit zitiert

I. Celan-Texte

1. Gedichtbände ( m it Siglen und Kurztiteln)

SU = Der Sand aus den Urnen, Mit zwei Originallithographien von Edgar Jen6,
Wien (Sexl) 1948.
MuG = Mohn und Gedächtnis, Stuttgart 1952 (6. Aufl. 1963).
SzS = Von Schwelle zu Schwelle, Stuttgart 1955 (4. Aufl. 1964).
S = Sprachgitter, Frankfurt/Main 1959 (4 .-6 . Tausend 1961).
N = Die Niemandsrose, Frankfurt/Main 1963.
AW = Atemwende, Frankfurt/Main 1967.
FS = Fadensonnen, Frankfurt/Main 1968.
LZ = Lichtzwang, Frankfurt/Main 1970.
SchP = Schneepart, Frankfurt/Main 1971.

Auswahl Wagenbach = Paul Celan, Gedichte, Eine Auswahl, Auswahl und Anmerkun­
gen von Klaus Wagenbach, unter Mitarbeit des Autors, S. Fischer Schulausgaben,
Texte moderner Autoren, Frankfurt/Main o. J. (1962).
Auswahl Allemann = Paul Celan, Ausgewählte Gedichte, Zwei Reden, Nachwort von
Beda Allemann, edition suhrkamp 262, Frankfurt/Main 1968.
Auswahl Reichert = Paul Celan, Ausgewählte Gedichte (und »Gespräch im Gcbirg‘),
Auswahl (und Nachbemerkung) von Klaus Reichert, Bibliothek Suhrkamp 264,
Frankfurt/Main 1970.
Gedichte I und II = Paul Celan, Gedichte in zwei Bänden, Editorisches Nachwort von
Beda Allemann, Bibliothek Suhrkamp 412/413, Frankfurt/Main 1975.

2. Bibliophile Drucke

- Atemkristall, mit acht Radierungen von Gis61e Celan-Lestrange, Paris (Brunidor)


1965 (enthält den ersten Zyklus von Atemwende).
- Todtnauberg, Paris (Brunidor) 1968 (später in Lichtzwang).
8

- Schwarzmaut, mit vierzehn Radierungen von GisSle Celan-Lestrange, Paris


(Brunidor) 1969 (Gedichte aus Lichtzwang).

237
3. Nicht in den Gedichtbanden veröffentlichte Gedichte

(Die Bibliographien von Dictlind Meinecke in Über Paul Celan und h'tudes Ger-
maniques 25, 1970. verzeichnen unter dieser Rubrik teilweise Gedichte, die in den
letzten Banden inzwischen erschienen sind, während andere, tatsächlich nur einzeln
publizierte Gedichte fehlen).
,Scched\ .Festland*, »Schwarze Krone" in: Die Tat, Zürich, 7.2.1948.
,lrrsal\ »Schlafendes Lieb" in: Plan, hrsg. von Otto Basil, Wien, 2. folge (1948),
Nr. 6 (Februar).
Posthum veröffentlichte Gedichte aus der Zeit des Sand aus den Urnen: in der
rumänischen Neuen Literatur 21 (1970), 11. 5,S. 97 tt.; weitere bisher mitgeteilte
Gedichte aus dem Besitz von Alfred Kittner in der rumänischen Zeitung Neuer
Weg vom 20.1 1.1970 und bei Heinrich Stichler in Akzente 19 (1972), S. 11 ff.;
etwa 1946/47 von Celan in rumänischer Sprache verfaßte Gedichte in: Viafa
romäneasea (Bukarest), Nr. 7 (l 970), S. 53 t.
,Wie sich die Zeit verzweigt" in: Wort und Wahrheit 6 (1951), S. 740.
.Abzählreime" in: Streit-Zeit-Schrift, hrsg. von V. O. Stomps, 2. Jg. 1958, Heft 1,
S. 324 (spater in: Die Meisengeige, hrsg. von Günter Bruno Fuchs, München
1964).
.Großes Geburtstagsblaublau mit Rcim/.eug und Assonanz" in: guten morgen
vauoK ein buch für den weißen raben v. o. Stomps, hrsg. von Günter Bruno
Fuchs und Harry Pro.ss, Frankfurt/Main 1962» S. 169 (spater mit Veränderung von
„Picasso"" in ,,Pik-As(so? )"" in der Meisengeige, siehe oben).
,St / Fm Vau" in: Kontorbuch (No. 1), Der streitbare Pegasus, lün Brevier zum 70.
Geburtstag von V. O. Stompsy hrsg. von Günter Bruno Fuchs, Berlin 1967.
,Dic entzweite Denkmusik* in: LTlertu\ cahier n° 8, eonsacrö ä Henri Michaux,
Paris 1966, S. 32.
Hit Gedichte in: Aus aufgegebenen Werken, Sonderband der Bibliothek Suhr-
kamp, Frankfurt/Main 1968, S. 149 ff.
»Diese / freie, / grambcschlcunigtc Faust* in: Portfolio Numero VI, Sixgravurcsa
Pcau-fortc de Gisfclc Celan Lcstrangc, Paris (Brunidor) 1969.
.Beidhändige Frühe* in: L'fcph 'em'ere 14 (1970), S. 177.

4. Andere Texte

,Kdgar Jcn<i und der Traum vom Traume", Bcgleittcxt zu acht Originallithogra­
phien von Edgar Jcnö, Wien 1948 (auch in: Die Pestsäule I972y S. 22 ff.).
.Gegenlicht" (Aphorismen) in: Die Tat, Zürich, 12.3.1949.
Ansprache in Bremen, in: Neue Rundschau 69 (1958), S. 1 l 7 f. (auch in: Aus­
wahl Allcmann).
Beiträge zum Almanach der Librairie Flinker, Paris 1958 und l 961.

238
Vorbemerkung zu: Alexander Bloek, Die Zwölf, Aus dem Russischen übertragen
von Paul Celan, Frankfurt/Main 1958.
- Nachbemerkung zu: Ossip Mandelstamm, Gedichte, Aus dem Russischen über­
tragen von Paul Celan, Frankfurt/Main 1959.
.Gespräeh im Gebirg' in: Neue Rundschau 71 (1960), S. 199 ff. (auch in: Auswahl
Reichert).
- Der Meridian, Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büehner-Preises, Frank-
turt/Main 1961 (auch in: Auswahl Allemann).
,Ein Brief4, in: Mein Gedicht ist mein Messer, Lyriker zu ihren Gedichten, hrsg.
von Hans Bender, München 1961, S. 86 f.
Antwort auf die Umfrage des Spiegel: ,Ist eine Revolution unvermeidlich?4 - 4 2
Antworten auf eine Alternative von Hans Magnus Enzensberger, Hamburg 1968,
S. 9.
,La poesie ne s’impose plus, eile s’expose4 (Aphorismus), in: L ’Ephemere 14
(1970), S. 184.
Ansprache in Tel Aviv 1969, in: Die Stimme, Tel Aviv (August) 1970 (am
21.11.1970 in der Welt unter dem Titel Jüdische Einsamkeit4; auch in: Die Horen
83, 1971, S. 102).

5. Aus der privaten Korrespondenz

- Brief an Robert Neumann, in: 34 x Erste Liebe, hrsg. von Robert Neumann,
Frankfurt/Main 1966, S. 32 f.
- Seite aus einem Brief an Walter Jens (zum Dante- und Demokritzitat in der
,Engführung4), in: Deutsche Literatur heute, Eine Ausstellung, literarische Be­
ratung Mareel Reicli-Ranieki, Kuratorium unteilbares Deutschland 1970.
- Briefe in: Die Stimme, Tel Aviv, Juni bis August 1970.
- Briefe an Reinhard Federmann, in: Die Pestsäule 1972,S. 17 ff.
Briefzitate in: Jürgen P. Wallmann, ,Auch mich hält keine Hand4, in: Die Tat,
Zürich, 21.11.1970.
- Briefzitate in: Peter Jokostra, „Celan ist bestenfalls eine Parfümfabrik. . .“ , Das
spannungsvolle Verhältnis zwischen Johannes Bobrowski und Paul Celan , in: Die
Welt, 30.10.1971.

6. Zitierte Übersetzungen und Erstpublikationen

- Jean Bazaine, Notizen zur Malerei der Gegenwart (zuerst franz. 1953), übersetzt
von Paul Celan, Frankfurt/Main 1959.
- Jean Cayrol, Nacht und Nebel (Nuit et Brouillard), Text zum Film von Alain
Resnais (1955), (siehe auch: Die Tat, Zürich, 21.11.1970), übersetzt von Paul
Celan.

239
Jcwtuschenko, Jewgcnij. ,Babij Ja r\ übersetzt von Paul Celan, in: Sinti und Form
14 (1962), S. 729 ff.
(Celans umfangreiche Übersetzertätigkeit ist durch die Bibliographien von Diet-
lind Meineckc bisher nur erst unzureichend dokumentiert.)
Lrstpublikation von Gedichten aus Sprachgittcr in: Akzente 3 (1956), S. 300 ff.
Lrstpublikation von Gedichten aus Schneepart in: Hommage fiir Peter Iluchcl,
Zum 3. April 1968, lirsg. von Otto F. Best, München 1968, S. 15 ff.
Paul Celan, Streite, Podmes suivis du Meridien et d'Entrctien dans la montagne,
Paris 1971 (Übersetzungen Cclanseher Texte von Aiulrö du öouchct, Jean-Pierre
Burgart, Jean Daive und John F. Jackson).

II. Sekundärliteratur zu Celan

(/ur I-Tganzung sei verwiesen auf die Bibliographien in:


Über Paul Celan, hrsg. von Dietlind Meinecke, edition suhrkamp 495, Frankfurt/
Main 1970,
Bibliographie zur deutschen Lyrik nach 1945, von Rolf Paulus und Ursula Stculcr,
Prankfurt/Main 1974 |verzeichnet Literatur bis linde 19711.
Wichtige Hinweise verdanke ich dem Deutschen Litcraturarchiv im Schiller-National-
muscum Marbach.)

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Trachten Nr. 29 (1967), S. 6 ff. (auch in: Über Paul Celan).
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