Hallet Close Reading
Hallet Close Reading
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
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14.1
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Theoretische
Ansätze für eine
Literaturanalyse
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14.1
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Theoretische
Ansätze für eine
Literaturanalyse
»Eine lebendige Äußerung, die sinnvoll aus einem bestimmten historischen Augen-
blick, aus einer sozial festgelegten Sphäre hervorgeht, muß notwendig Tausende
lebendiger Dialogstränge berühren, die vom sozioideologischen Bewußtsein um den
Gegenstand der Äußerung geflochten sind, muß notwendig zum aktiven Teilnehmer
am sozialen Dialog werden.« (Bachtin 1979, S. 170)
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Theoretische
Ansätze für eine
Literaturanalyse
»History at the level of the signifier treats signifying practices – maps, houses,
clothing, tombs – as texts. Such ›documents‹ from the past are both substantial and
legible. We can read them as much as we can ever read anything, to the degree that we
are familiar with the signifying practices of their moment.« (Belsey 2000, S. 113)
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Theoretische
Ansätze für eine
Literaturanalyse
»Eine Kultur als Zeichensystem besteht aus individuellen und kollektiven Zeichen-
benutzern, die Texte produzieren und rezipieren, durch die mit Hilfe konventioneller
Codes Botschaften mitgeteilt werden, welche den Zeichenbenutzern die Bewältigung
ihrer Probleme ermöglichen.« (Posner 2003, S. 54)
»Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance
he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be there-
fore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of
meaning.« (Geertz 1993, S. 5)
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Theoretische
Ansätze für eine
Literaturanalyse
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Wide Reading:
Intertextualität
als Methode
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Wide Reading:
Intertextualität
als Methode
Wenn allerdings cultural text oder ›Kultur als Text‹ nicht bloß eine Meta-
pher sein soll, dann muss sich dies methodisch als Aufspüren oder Her-
stellen von Beziehungen oder des Zusammenspiels von Texten nieder-
schlagen:
»Ein Text wird lesbar in seinem Verhältnis zu einem Korpus von Texten; ›die Geschich-
te und die Gesellschaft‹ gelangen nur in textueller Form in den Text«, und »(nur) reale
Texte [können] Kontexte voneinander sein.« (Baßler 2005, S. 68)
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Wide Reading:
Intertextualität
als Methode
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Wide Reading:
Intertextualität
als Methode
Wie lässt sich nun Intertextualität als Prinzip methodisch in ein Interpre-
tationsverfahren übersetzen? Folgende Schritte sind dazu erforderlich:
Schritte einer 1. Korpus an Bezugstexten: Aus der unüberschaubar großen Zahl von
intertextuellen Schrifttexten und anderen medialen Darstellungen muss ein Korpus an
Interpretation Bezugstexten (im weiten semiotischen Sinne) erstellt werden, mit dem der
literarische Text relationiert wird. Für Art und Zuschnitt des Korpus kann
es natürlich keine allgemeingültige Regel geben. Vielmehr ergibt sich die
Zusammensetzung des Korpus aus dem Untersuchungsziel oder aus ei-
ner Hypothese über einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen be-
stimmten kulturellen Äußerungen und dem literarischen Text. Um die
Handhabbarkeit eines größeren Korpus zu gewährleisten, kann es sinn-
voll sein, einzelne Bezugstexte als repräsentativ anzunehmen, damit eine
exemplarische textgenaue Analyse möglich ist.
2. Selektion repräsentativer kultureller Diskurse: Wenn es um die Her-
ausarbeitung interdiskursiver Relationen geht, kommt es darauf an, einen
oder mehrere kulturelle Diskurse oder Spezialdiskurse zu identifizieren,
denen ein literarischer Text zugehört oder zu denen er in einer bestimm-
ten Beziehung steht. Beispiele sind naturwissenschaftliche Diskurse bei
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Wide Reading:
Intertextualität
als Methode
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Wide Reading:
Intertextualität
als Methode
»[W]e will have to read a lot of documents – at least as many from each of the various
domains of discourse that the law of diminishing returns takes effect. Without this, it
will be utterly impossible to make out the recurrent patterns of collocation, combina-
tions, and oppositions that allow us to make half-way probable guesses about the then
dominant relations between signifiers that determine their meaning.« (Grabes 2001,
S. 12 f.)
Dies bedeutet nicht den Verzicht auf eine textgenaue Lektüre des literari-
schen Textes im Sinne des close reading, »in order to observe as precisely
as possible the relation between the various signifiers within their textual
arrangements« (ebd., S. 13). Aber gerade um textinterne Zeichenrelati-
onen und deren Bedeutung bestimmen zu können, um diese »singular
oppositions of the text« verknüpfen zu können mit »the generalized oppo-
sitions that structure our cultural system of values« (Scholes 1985, S. 33),
ist die möglichst breite Rezeption anderer Repräsentationen kultureller
Signifi kation unerlässlich:
»[T]he cultural historian has also to read widely, must acquaint him- or herself with
a great number of texts from various domains of discourse and with as many other
instances of past signifying practice as possible.« (Grabes 2001, S. 13)
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14.3
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
An einer kurzen Passage aus Toni Morrisons Roman Jazz (1992) soll ge-
zeigt werden, was es bedeutet, wenn ein Roman und dann wiederum die
in diesem Text versammelten und sich artikulierenden Stimmen einer
Analyse unterzogen werden, die ihn in Beziehung zu anderen kulturellen
Artikulationen und Manifestationen setzt. Es sollte dann sichtbar werden,
dass sich Bedeutungen des Romans, ja sogar einzelne Aussagen und Wör-
ter im Roman dadurch – und streng genommen nur dadurch – erschließen,
dass Relationen zwischen dem Romantext und anderen, oft nichtliterari-
schen Stimmen aufgespürt und freigelegt werden. Im vorliegenden Fall
gehört dazu allein schon aufgrund des Romantitels auch die Klärung,
wie sich der Roman im Einzelnen zu einem anderen kulturell etablierten
Symbol-, Signifikations- und Kommunikationssystem verhält, nämlich
zur Musik im Allgemeinen und zum Jazz im Besonderen. Es versteht sich,
dass im Rahmen dieses Beitrags verkürzend argumentiert und zum Teil
mit Verweisen auf weiterführende Untersuchungen durch Hinzuziehung
weiterer Quellen und Dokumente gearbeitet wird.
Plot: Toni Morrisons Roman Jazz erzählt die Geschichte von Joe und
Violet Trace, ehemalige Sklaven, die, wie Tausende andere während der
Great Migration, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus dem Süden
nach New York ziehen und sich dort in Harlem in einem Apartment in
der Lenox Avenue niederlassen. Joe beginnt ein Verhältnis mit der jungen
Dorcas, einer Waise, deren Eltern 1917 bei den East St. Louis Race Riots auf
grausame Weise ums Leben gekommen sind und die nun in New York wie
viele andere ihrer Generation ein neues Leben und das Vergnügen sucht.
Aus Eifersucht erschießt Joe seine Geliebte Dorcas während einer Party,
bleibt aber von der Polizei unbehelligt. Violet verleiht ihrer Verzweiflung
über den Verrat an ihrer Liebe dadurch Ausdruck, dass sie während der
Beerdigung der toten Dorcas das Gesicht zu zerschneiden versucht. Diese
Tat wird am Beginn des Romans in relativ lapidaren Worten mitgeteilt von
einer anonymen, offenbar aber mit Violet bestens bekannten Erzählerin:
»When the woman, her name is Violet, went to the funeral to see the girl
and to cut her dead face they threw her to the floor and out of the church«
(Morrison: Jazz, S. 3).
Bereits am Beispiel dieses unscheinbaren Erzählanfangs lässt sich die
Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Lektüre gut nachvollzie-
hen. Hier sollen vor der exemplarischen Analyse einer anderen Roman-
passage nur kurz folgende Gesichtspunkte dazu genannt werden:
■ Wie Morrison im Vorwort des Romans selbst berichtet (Morrison 2004, Analyse des
S. xv), ist diese Beerdigungsszene an eine Begebenheit angelehnt, die Romanbeginns
James Van der Zee (1886–1983), der große afroamerikanische Fotograf,
als Hintergrund zu einem der Fotos in seiner großen Fotosammlung
The Harlem Book of the Dead über das Leben und Sterben der entste-
henden afroamerikanischen community in Harlem erzählt hat. Das
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
sächliche Ereignisse: die unter dem Namen East St. Louis Riots bekannt
gewordenen rassistischen Angriffe auf Afroamerikaner/innen am 2. Juli
1917 und auf die darauf folgenden Proteste tausender Afroamerikaner/
innen mit der berühmten Silent Parade in New York. Alice, die hier als
Fokalisierungsinstanz fungiert, ist eine Tante, die Dorcas mit nach New
York genommen hat und sie vor den Verführungen der großen Stadt zu
bewahren versucht.
Alice thought the lowdown music (and in Illinois it was worse than here) Mustertext
had something to do with the silent black women and men marching
down Fifth Avenue to advertise their anger over two hundred dead in East
St. Louis, two of whom were her sister and brother-in-law, killed in the
riots. So many whites killed the papers would not print the number.
Some said the rioters were disgruntled veterans who had fought in all-
colored units, were refused the services of the YMCA, over there and over
here, and came home to white violence more intense than when they en-
listed and, unlike the battles they fought in Europe, stateside fighting was
pitiless and totally without honor. Others said they were whites terrified
by the wave of southern Negroes flooding the towns, searching for work
and places to live. A few thought about it and said how perfect was the
control of workers, none of whom (like crabs in a barrel requiring no lid,
no stick, not even a monitoring observation) would get out of the barrel.
Alice, however, believed she knew the truth better than everybody. Her
brother-in-law was not a veteran, and he had been living in East St. Louis
since before the War. Nor did he need a whiteman’s job – he owned a pool
hall. As a matter of fact, he wasn’t even in the riot; he had no weapons,
confronted nobody on the street. He was pulled off a streetcar and stom-
ped to death, and Alice’s sister had just got the news and had gone back
home to try and forget the color of his entrails, when her house was tor-
ched and she burned crispy in its flame. Her only child, a little girl named
Dorcas, sleeping across the road with her very best girlfriend, did not hear
the fire engine clanging and roaring down the street because when it was
called it didn’t come. But she must have seen the flames, must have, be-
cause the whole street was screaming. She never said. Never said anything
about it. She went to two funerals in five days, and never said a word.
Alice thought, No. It wasn’t the War and the disgruntled veterans; it
wasn’t the droves and droves of colored people flocking to paychecks
and streets full of themselves. It was the music. The dirty, get-on-down
music the women sang and the men played and both danced to, close and
shameless or apart and wild. Alice was convinced and so were the Miller
sisters as they blew into cups of Postum in the kitchen. It made you do
unwise disorderly things. Just hearing it was like violating the law.
(Morrison: Jazz, S. 56 ff.)
Man sieht, dass die Fokalisierung durch Alice in dieser Passage sich vor
allem auf die Interpretation historischer Ereignisse – aus Alices Sicht der
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Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
Sklaverei auch aus Sicht der Zeitgenossen einen kulturellen Bruch und
eine Herausforderung an einen angemessenen Umgang mit der eigenen
Vergangenheit dar.
Diese Wahrnehmung eines tiefgreifenden kulturellen Wandels, der
Herausforderung, die eigene kulturelle Rolle neu zu bestimmen und
eine neue, urbane Identität mit den entsprechenden Ausdrucksweisen
zu entwickeln, fand ihren Ausdruck in der Proklamation eines ›New
Negro‹ in den 1920er Jahren. Diese zielte auf »spiritual emancipation«,
»renewed self-respect« und »self-dependence« (Locke 1995, S. 48). Alain
Locke drängte die Afroamerikaner in den 1920er Jahren zu der Einsicht,
»that the Negro of to-day be seen through other than the dusty spectacles
of past controversy« (ebd., S. 48 f.). Joe hingegen, eine der Hauptfiguren
des Romans (mit dem sprechenden Nachnamen ›Trace‹, der auf histori-
sche Spurensuche verweist), verneint die Möglichkeit einer »metamor-
phosis«, wie Locke sie nennt (ebd., S. 47). Stattdessen stellt sich seine
Geschichte als eine beständige Abfolge von Wandlungen dar (Morrison:
Jazz, S. 121 ff.), als eine Serie von Neuerfi ndungen, zu der auch seine
Affäre mit Dorcas als gescheiterte Wandlung gehört: »I changed once too
often. Made myself new one time too many« (ebd., S. 129). Daher lässt
sich ein Satz Joes als direkte Absage an die euphorische Proklamation
des ›New Negro‹ lesen, sofern damit ein Bruch zwischen dem Alten und
dem Neuen gemeint ist: »You could say I’ve been a new Negro all my
life« (ebd.).
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Wie bei Joe wird auch an
den anderen beiden Hauptfiguren deutlich, dass ihre Vergangenheit im-
mer zugleich Gegenwart ist und dass die Geschichtsschreibung ein wich-
tiger Weg zum Verständnis der Gegenwart ist. Hierin liegt eine der Erklä-
rungen, warum das in der zitierten Textpassage erwähnte Trauma Dorcas’
diese letztlich in den Tod treibt: Im Gegensatz zu Joe und Violet stellt sie
sich ihrer Vergangenheit nicht, versucht ihr zu entkommen: »Never said
a word about it.« Sie kann daher als Personifizierung jenes ›New Negro‹
gelten, die völlig mit ihrer Vergangenheit bricht und in der Großstadt ein
gänzlich neues Leben zu beginnen versucht. Dass sie scheitert, ist ein
Hinweis auf die Notwendigkeit von individueller wie kollektiv-kultureller
Erinnerung.
Man sieht, dass im Grunde nur die intertextuelle Bezugnahme auf kon-
krete Bezugstexte wie den Lockes und anderer, verwandter Stimmen in
dem Band Voices from the Harlem Renaissance, die das Konzept des ›New
Negro‹ etabliert haben und den zugehörigen Diskurs konstituieren bzw.
für die literaturwissenschaftliche Analyse repräsentieren, das textgenaue
Verstehen des ›New Negro‹ ermöglicht, wie Joe Trace ihn versteht.
Jazz als Textdokument revisionistischer Historiographie: Aus Sicht
der oben angesprochenen Interdiskursivität und der Funktionsgeschichte
lässt sich aus diesem Befund schließen, dass der Roman aus mehreren
Gründen, die hier nur knapp angedeutet werden konnten, einen eigen-
ständigen Beitrag zur und eine Revision der Geschichtsschreibung zur
Harlem Renaissance darstellt:
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14.3
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
Jazz im Kontext der ■ Er stellt der traditionellen, mit der ›hohen‹ Kultur verbundenen und
Harlem Renaissance- von der weißen Geschichtsschreibung vereinnahmten und vereinheit-
Historiographie lichten Geschichte der Harlem Renaissance die Geschichtserzählung
von unten entgegen – in der Tradition der mündlichen Erzählung,
der oral history und des vernacular (als originäre Sprache der Afro-
amerikaner) sowie als vielstimmige, plurale, gleichwohl kollektive
und kommunale Geschichtserzählung. Dabei versteht sich der Ro-
man selbst als eine Stimme im historiographischen Diskurs, die den
Anspruch des Korrektivs und der Revision erhebt (vgl. auch Basseler
2008, S. 152 ff.).
■ Der Roman reklamiert weniger die mit dem Begriff der Harlem Renais-
sance assoziierte hohe Kunst und Literatur als kulturelle Errungen-
schaft der Afroamerikaner/innen. Dem Roman geht es nicht um den
Beitrag der Afroamerikaner zur ›großen‹ weißen Kunst und Literatur,
sondern um die Entwicklung eigenständiger kultureller Ausdrucks-
formen, wie sie die Fotografie oder die populäre Musik darstellen. Der
Roman kann in diesem Sinne als späte Einlösung des von Locke gefor-
derten ›renewed self-respect‹ verstanden werden.
Aus dieser zentralen Bedeutung der Geschichte erklärt sich, warum der
Roman Jazz insgesamt als Forum zur Artikulation von ›voices‹ betrachtet
werden kann, die alle, im Bemühen ihrer Gegenwart in der Großstadt Herr
zu werden, mit ihrer Vergangenheit als Sklaven und rassistisch Verfolg-
te ringen. Die Vielstimmigkeit wird dabei auf der Ebene des narrativen
Diskurses selbst inszeniert. Der Roman gibt einer Vielzahl von – oft an-
onymen – Stimmen Raum, die alle aus verschiedenen Perspektiven ihren
Beitrag zur Geschichte von Joe, Violet und Dorcas beitragen und hierin
auf die am Romanbeginn erzählte Episode der versuchten Leichenschän-
dung antworten: »[M]emory, gossip, and news – all are equally useful in
telling the story, even if official historical methods decry such subjective
forms of communication. Morrison’s point is that we must cobble together
our story of the past from multiple accounts« (Magill 2003, S. 22 f.). ›Die‹
Geschichte als große Erzählung wird auf diese Weise ersetzt durch das
Prinzip der vielstimmigen, konkurrierenden oder komplementären Er-
zählung (vgl. im Einzelnen Hallet 2006b).
Intermediale Bezugnahme auf den Jazz: Mit dem Vorangegangenen
hängt unmittelbar die Tatsache zusammen, dass auf der Ebene des oben
angesprochenen narrativen Diskurses der Jazz nicht Thema ist, sondern
Konstruktionsprinzip und Leseerfahrung. Hierin liegt eine weitere Her-
ausforderung an eine kulturwissenschaftliche Lektüre, die den Jazz als
eine ganz eigene Ausdrucksform und kulturelle Errungenschaft zu er-
kunden und in ihrer Verwendungsweise und ihrem Wirkungspotenzial
zu beschreiben hat. Eine solche Analyse ergibt, dass es sich bei Jazz in
einem sehr umfassenden Sinn um musicalization of fiction handelt (so
der Titel der einschlägigen Studie von Wolf, 1999). Es ist aber sinnvoll,
verschiedene Ebenen der intermedialen Bezugnahme (vgl. Rajewski 2002
sowie Hallet 2008, S. 136 ff.) zu unterscheiden, um den Roman nicht nur
narratologisch beschreiben, sondern ihn auch funktionsgeschichtlich als
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Musterinterpretation:
Toni Morrisons
Roman Jazz
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14.4
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Einschränkungen
und Relativierungen
American art form […] [that] defined, influenced, reflected a nation’s cul-
ture in so many ways« (Morrison 2004, S. xviii).
So kann auch die bei einem Roman wie Jazz fast unumgängliche in-
termediale Bezugnahme entscheidende Aufschlüsse über die Bedeutung
der Titelmetapher, einzelner ethischer Urteile und die kulturpoietische
Leistung des Romans geben. Wenngleich es sich bei der Historiographie
und bei der intermedialen Bezugnahme um zwei zentrale kulturelle und
kulturwissenschaftliche Bezugsfelder des Romans handelt, so ist es doch
offensichtlich, dass bei der Komplexität des Romans eine große Vielzahl an-
derer kultureller Bezüge herzustellen und freizulegen wären. Dies betrifft
insbesondere die Gender-Prägung des Romans (s. Kap. 12 in diesem Band).
Allein schon in seinem Figuren-Tableau gibt sich der Roman als von Frauen
dominiert zu erkennen. Erneut wäre hier durch Hinzuziehung einer Viel-
zahl von Quellen nach der Position des Romans im Bezug auf die von ihm
erzählte Epoche und zugleich in der Gegenwart zu fragen.
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14.4
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
Literatur
Der Beitrag greift insbesondere im ersten Teil und in den Beispielen zu Literatur
Toni Morrisons Roman Jazz auf einige frühere Veröffentlichungen zur
Kontextualisierung von Literatur zurück, vor allem auf Hallet 2002,
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313
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14.4
Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
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Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading
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Wolfgang Hallet