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Rêber APO - Soziologie Der Freiheit

Abdullah Öcalans 'Soziologie der Freiheit' ist der dritte Band seines Manifests der demokratischen Zivilisation, in dem er seine politischen Ideen und Konzepte zur Freiheit und zur gesellschaftlichen Organisation darlegt. Das Buch, das während seiner Inhaftierung verfasst wurde, behandelt die Herausforderungen und Probleme der modernen Gesellschaft und plädiert für eine Rückkehr zu einer moralischen und politischen Gesellschaft, die auf Freiheit und Demokratie basiert. Öcalans Werk hat eine bedeutende Rolle in den Kämpfen der kurdischen Bewegung gespielt und bietet eine kritische Perspektive auf die bestehenden Machtstrukturen.

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Rêber APO - Soziologie Der Freiheit

Abdullah Öcalans 'Soziologie der Freiheit' ist der dritte Band seines Manifests der demokratischen Zivilisation, in dem er seine politischen Ideen und Konzepte zur Freiheit und zur gesellschaftlichen Organisation darlegt. Das Buch, das während seiner Inhaftierung verfasst wurde, behandelt die Herausforderungen und Probleme der modernen Gesellschaft und plädiert für eine Rückkehr zu einer moralischen und politischen Gesellschaft, die auf Freiheit und Demokratie basiert. Öcalans Werk hat eine bedeutende Rolle in den Kämpfen der kurdischen Bewegung gespielt und bietet eine kritische Perspektive auf die bestehenden Machtstrukturen.

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Abdullah Öcalan

Gefängnisschriften

SOZIOLOGIE DER
­F REIHEIT

Manifest der demokratischen Zivilisation

Band III
Manifest der
Demokratischen Zivilisation

Dritter Band

Soziologie der Freiheit


Abdullah Öcalan
Manifest der
demokratischen Zivilisation

Dritter Band

Soziologie der Freiheit


Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://ddb.de abrufbar.

Soziologie der Freiheit


Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III
ISBN 978-3-89771-077-1 (PB)
ISBN 978-3-89771-461-8 (HC)

Aus dem Türkischen: Reimar Heider und Mehmet Salih Akın


Titelmotiv: Pepûle von Ercan Altuntaş, Öl und Naturfarben auf Papier,
90 × 48 cm

© Abdullah Öcalan 2009


Erscheint in der International Initiative Edition
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in
Kurdistan« (Hg.) – Postfach 100511, 50445 Köln
www.freeocalan.org

© UNRAST-Verlag, Münster 2020


www.unrast-verlag.de – [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Originaltitel: Özgürlük Sosyolojisi


Erstveröffentlichung 2009 bei Mezopotamien Verlag, Neuss

1. Auflage März 2020


Umschlag und Satz: Internationale Initiative
Druck: Multiprint, Kostinbrod
Inhalt
Vorwort 7
von John Holloway 7
Vorbemerkung 17
Einführung 23
Erster Teil
Einige methodische Probleme 39
Zweiter Teil
Die Frage der Freiheit 51
Dritter Teil
Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft 63
Vierter Teil
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 75
A  Die Definition der historisch-gesellschaftlichen Frage 81
a) Von Sumer bis Rom 86
b) Von Rom bis Amsterdam 97
c) Die europäische Zivilisation 110
B Die gesellschaftliche Frage 123
1. Das Problem von Macht und Staat 123
2. Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik 128
3. Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft 132
4. Wirtschaftliche Probleme der Gesellschaft 136
5. Das Industrialismusproblem der Gesellschaft 140
6. Das Ökologieproblem der Gesellschaft 145
7. Gesellschaftlicher Sexismus, Familien-, Frauen- und
Bevölkerungsfrage 149
8. Das Problem der Urbanisierung der Gesellschaft 154
9. Das Klassen- und Bürokratieproblem der Gesellschaft 162
10. Bildungs- und Gesundheitsprobleme der Gesellschaft 168
11. Das Militarismusproblem der Gesellschaft 172
12. Das Friedens- und Demokratieproblem der Gesellschaft 176
Fünfter Teil
Das System der demokratischen Zivilisation denken 181
A Definition der demokratischen Zivilisation 187
B Methodischer Ansatz der demokratischen Zivilisation 197
C Skizze der Geschichte der demokratischen Zivilisation 209
D Elemente der demokratischen Zivilisation 235
1. Klans 235
2. Familie 236
3. Stämme und Stammeskonföderationen 237
4. Volksstämme und Nationen 239
5. Die Elemente Dorf und Stadt 241
6. Die Elemente Mentalität und Wirtschaft 243
7. Die Elemente demokratische Politik und Selbstverteidigung 247
Sechster Teil
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 251
A Differenzierung zwischen Kapitalismus und Moderne 257
B Der Industrialismus der Moderne und die demokratische Moderne 268
C Nationalstaat, Moderne und demokratischer Konföderalismus 273
D Jüdische Ideologie, Kapitalismus und Moderne 288
E Dimensionen der demokratischen Moderne 308
1. Die Dimension der moralischen und politischen Gesellschaft
(demokratische Gesellschaft) 313
2. Die Dimension der öko-industriellen Gesellschaft 321
3. Die Dimension der demokratisch-konföderalistischen
Gesellschaft 329
Siebter Teil
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 341
A Zivilisation, Moderne und die Frage der Krise 348
B Die Situation der anti-systemischen Kräfte 363
1. Das Erbe des Realsozialismus 365
2. Neubewertung des Anarchismus 372
3. Feminismus: Aufstand der ältesten Kolonie 375
4. Ökologie: Aufstand der Natur 382
5. Kulturelle Bewegungen: Die Rache der Tradition am Nationalstaat
384
Achter Teil
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Moderne 397
A Intellektuelle Aufgaben 406
B Moralische Aufgaben 426
Neunter Teil
Schlussfolgerung 455

Anhang 473
Stichwortverzeichnis 475
Biografien 483
Abdullah Öcalan 483
John Holloway 483
Bibliografie 484
Abdullah Öcalans Gefängnisschriften 484
Vorwort
von John Holloway1

Es ist eine große Ehre, gebeten zu werden, dieses Vorwort zu schreiben. Ich
mache das mit Stolz, wegen des Autors und wegen der Bewegung, die er
repräsentiert. Ich mache es, um meine Solidarität mit seinem Kampf gegen
eine furchtbare Haft und meine Unterstützung der Kämpfe der Menschen
in Kurdistan auszudrücken, die versuchen, inmitten der fürchterlichsten
Gewalt, eine andere Welt, eine andere Lebensweise zu erschaffen. Ich mache
es, um gegen die Brutalität des türkischen Staats und aller anderen mitschul-
digen Staaten zu protestieren.
Das Buch wurde von Abdullah Öcalan im Gefängnis geschrieben.
Durch NATO-Kräfte 1999 illegal in Kenia verhaftet, ist er seitdem auf der
Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Unter Verstoß gegen die in der Genfer
Konvention geregelten Grundrechte wurde er sehr lange in Isolationshaft
gehalten und regelmäßig bestraft, indem ihm seine Bücher und sein
Schreibwerkzeug weggenommen wurden. Trotzdem ist es ihm gelun-
gen, fünf Bände zu schreiben, in denen er seine politischen Ideen erklärt,
Bände, die zu seiner Verteidigung vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte präsentiert wurden. Das vorliegende Buch ist der drit-
te Band, 2008 im Gefängnis verfasst und hier zum ersten Mal zeitgleich
auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. Während der ganzen Jahre seiner
Inhaftierung stellten Öcalans Ideen eine wesentliche Quelle der Inspiration
für die Kämpfe der kurdischen Bewegung dar, die eine andere Lebensweise,
eine andere, von ihnen »demokratische Moderne« genannte, Form gesell-
schaftlicher Organisation erschaffen, deren Zentrum in Rojava, im nordöst-
lichen Syrien, liegt.
Wenn man für eine so überragende Figur wie Öcalan das Vorwort für ein
Buch schreibt, besteht die Gefahr, ihn zum Heiligen zu machen, einfach zu
sagen, »wie großartig!«, und damit zur Herausbildung eines Personenkultes
beizutragen, der zweifelsohne in der Bewegung selbst vorhanden ist. Dies ist
eindeutig nicht das, was Öcalan selbst will. An verschiedenen Stellen seines

1 Ich danke allen, die eine vorherige Version dieses Vorworts kommentiert haben: Azize Azlan,
Edith González, Panagiotis Doulos, Lars Stubbe, Vittorio Sergi, Sagrario Anta Martínez, Havin
Guneser, Andrej Grubacic.
8 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Textes verdeutlicht er, dass dies Teil eines Dialogs ist und dass er Reaktionen
auf seine Ideen sucht.
Als ich das Buch zu lesen begann, war mir klar, dass ich meine Unter­
stützung zum Ausdruck bringen wollte, aber ich war mir überhaupt nicht
sicher, dass das Buch selbst mich überzeugen würde. Diese ursprüngliche
Haltung änderte sich allmählich und wandelte sich zu einer ganz anderen
Lektüre, in der die Kraft des Arguments mich absorbierte. Ich sage »allmäh-
lich«, weil es mich, der ich aus Europa und Lateinamerika komme, einige
Zeit kostete, mich an einen anderen Referenzrahmen zu gewöhnen und
auf eine Auseinandersetzung einzulassen, die sich nicht um eine Welt »da
drüben«, sondern in kritischer und entscheidender Form um meine Welt,
unsere Welt dreht: um unsere Welt und die Möglichkeiten, die uns noch zur
Verfügung stehen, die Notbremse dieses Zugs der Zerstörung zu ziehen und
etwas Anderes zu erschaffen.
Öcalans Buch ist ein wichtiger Beitrag zum Dialog der Hoffnung. Ein
Dialog, der auf der ganzen Welt geführt wird, manchmal durch sprachge-
wandte und gut organisierte Stimmen, wie die der Zapatistas im Südosten
Mexikos, häufig jedoch durch Widerstandsgruppen, die sich gegen die
Plünderungen durch Bergbauunternehmen oder Stadtplaner*innen wehren
oder Frauen, die gegen männliche Gewalt kämpfen. Manchmal wird der
Dialog auch einfach durch Student*innen geführt, die von ihren Büchern
aufschauen und denken: »Es muss einen Weg hier heraus geben, es muss eine
Möglichkeit geben, eine andere Welt zu erschaffen«. So wie die Dunkelheit
um uns herum zunimmt, so wie der Autoritarismus und der Militarismus
uns näher an den Abgrund drücken, beteiligen sich Millionen und
Abermillionen Stimmen an dem Dialog der Verzweiflung-und-Hoffnung:
es muss einen Weg hier heraus geben, es muss einen Weg voran geben.
Für Öcalan liegt die Hoffnung in der Wiederherstellung der Funktion
»der moralischen und politischen Gesellschaft auf der Grundlage der
Freiheit« (S. 206). Dies ist die revolutionäre Aufgabe: »Die Aufgabe von
Revolutionären kann nicht die Erschaffung irgendeines von ihnen ent-
worfenen Gesellschaftsmodells sein. Nur gemessen an ihrem Beitrag zur
Weiterentwicklung der moralischen und politischen Gesellschaft kann man
von ihrer richtigen Aufgabe sprechen.« (S. 191). Diese moralische und politi-
sche Gesellschaft existiert als unterdrückte Grundlage in allen Gesellschaften:
»[Es] wird ersichtlich, dass das System der demokratischen Zivilisation
im Wesentlichen als moralische und politische Totalität der gesellschaft-
lichen Natur als das andere Gesicht der offiziellen Zivilisationsgeschichte
Vorwort 9

stets existierte und sich fortsetzte. Trotz der gesamten Unterdrückung und
Ausbeutung durch das offizielle Weltsystem konnte diese andere Seite der
Gesellschaft nie vernichtet werden. Ihre Vernichtung wäre ohnehin un-
möglich. Genauso wie der Kapitalismus ohne die nicht-kapitalistische
Gesellschaft nicht überleben könnte, könnte auch die Zivilisation als of-
fizielles Weltsystem ohne das System der demokratischen Zivilisation ihre
Existenz nicht fortsetzen.« (S. 196 ).
Die moralische und politische Gesellschaft, so wie ich sie verstehe, ist
der Kitt des Alltagslebens: das gewöhnlich unspektakuläre Kommen und
Gehen der Menschen, das Vertrauen, die Freundschaften, die Lieben, das
Teilen des Essens, das Vorbereiten des Essens, das Waschen der Teller und der
Wäsche, das Tratschen, das Teilen und Formgeben moralischer Ideen – alle
diese Aktivitäten, die uns gemein sind, jene Aktivitäten, die unsere Leben
zusammenhalten und Gemeinden konstituieren und wieder aufbauen. Aber
in den letzten 5000 Jahren, seit Beginn des sumerischen Reichs, wurde die
moralische und politische Gesellschaft durch die offizielle Zivilisation, die auf
Macht, Monopol, Patriarchat, Kapital und Städten gegründete Zivilisation,
unterdrückt und blockiert. Jedoch ist es dieser Zivilisation der Macht nie-
mals gelungen, sich von dem moralischen und politischen Unterbau zu be-
freien, so sehr sie dies auch immer für sich in Anspruch nehmen mag. »Der
Naturzustand der Gesellschaft ohne Kapital- und Machtmonopole ist die
moralische und politische Gesellschaft. Jegliche menschliche Gesellschaft
hat von ihrer Entstehung bis zu ihrem Schwinden diese Eigenschaft auf-
zuweisen. Die Schablonen der sklavenhalterischen, feudalen, kapitalisti-
schen und sozialistischen Gesellschaften ähneln Kleidungen, die man der
gesellschaftlichen Natur überzustülpen versucht; sie drücken nicht die
Wirklichkeit aus. Es kann solche Behauptungen geben, aber es gibt keine
solchen Gesellschaften. Da Gesellschaften, deren eigentlicher Zustand ein
moralischer und politischer ist, in der gesamten Geschichte von Kapital-
und Machtmonopolen stets bedrängt, ausgebeutet und kolonialisiert wur-
den, fanden sie nicht die Gelegenheit, sich gänzlich zu entfalten.« (S. 206).
Die Zivilisation der Macht wird also wie eine Rüstung der moralischen und
politischen-Gesellschaft übergeworfen, deren Entwicklung dadurch verdeckt,
eingeengt und blockiert wird und die jetzt zunehmend soziozidal wird, und
droht, die Gesellschaft vollständig zu zerstören. Die Geschichte der mora-
lischen und politischen Gesellschaft (oder demokratische Zivilisation) ist
eine Geschichte des Widerstands, der Rebellion und des Kampfes um das
Leben: »Die Geschichte der demokratischen Zivilisation ist größtenteils die
10 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Geschichte des Widerstands und Aufstands von Stämmen und Aşirets für
Freiheit, Demokratie und Gleichheit gegen alle Angriffe der Zivilisation und
ihres Beharrens auf dem moralisch-politischen Gesellschaftsleben.« (S. 238f.).
Diese Vorstellung ist voller Schönheit. Die Revolution wird »selbstver-
ständlich«. Selbstverständlich brauchen wir eine Revolution, selbstverständ-
lich müssen wir sie machen. Aber selbstverständlich, nichts ist normaler,
nichts offensichtlicher! Die Revolution ist in die Erfahrung und Kreativität
unseres alltäglichen Lebens eingewebt. Wir sind es, die Tag ein, Tag aus,
die moralische und politische Gesellschaft, die Substanz unseres alltäglichen
Umgangs, erschaffen und erneut erschaffen. Wir sind es, die jeden Tag den
Hürden gegenüberstehen, die den Zugang zu dieser Kreativität verhindern:
der Umstand, dass wir zur Arbeit gehen müssen oder uns auf Prüfungen
vorbereiten müssen oder daran gehindert werden, Zugang zu den Mitteln
zu haben, mit denen wir unsere Kreativität realisieren können. Wir sind
uns alle der Macht-Zivilisation (Kapitalismus, Patriarchat, wie immer wir
es nennen wollen), die unseren Pfad blockiert, bewusst, aber gleichzei-
tig sind wir in einer anderen Gesellschaftlichkeit verwurzelt, die unseren
Leben Bedeutung und Orientierung gibt: eine moralische und politische
Gesellschaftlichkeit, die Widerstand leistet und rebelliert, die beständig ge-
gen ihre Unterdrückung durch die offizielle Zivilisation drängt.
Der Widerstand und die Rebellion wechseln beständig die Muster, ver-
weigern sich hier, verweigern sich da, drängen hier, drängen da gegen die
von der Zivilisation der Macht ausgehenden beständigen Angriffe. Die
Selbstverständlichkeit des Widerstands und der Rebellion verändert sich in
dem Maße, in dem sich die Angriffe gegen uns verändern und unsere ei-
genen Sensibilitäten uns in verschiedene Richtungen führen. Öcalan zeigt
eine außergewöhnliche Sensibilität für die sich verändernden Muster des
Kampfs. Dies ist von Bedeutung, denn obgleich er in Isolationshaft gefan-
gen ist, findet seine Argumentation in vielfacher Form in den gegenwärtigen
Debatten ein starkes Echo. Die Soziologie der Freiheit ist keineswegs nur
ein für den kurdischen Kampf bedeutsames Buch, sondern es handelt sich
um einen wichtigen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über Kapitalismus,
Patriarchat, Ökologie und Staat. Für Öcalan ist die Zivilisation der Macht
in der Versklavung der Frauen und der Bezwingung der Natur begründet
(und war dies seit den Zeiten des sumerischen Reichs) und fand im Staat
seine Organisationsform. Folglich und selbstverständlich sind und müssen
Frauenkämpfe gegen das Patriarchat und die vielen Kämpfe zur Veränderung
des Verhältnisses zwischen den Menschen und anderen Lebensformen (und
Vorwort 11

tatsächlich das Verständnis des Lebens selbst) im Zentrum jeder Revolution


stehen, die die moralische und politische Gesellschaft erretten will. Folglich
und selbstverständlich ist der Kampf in seiner Organisationsform und seinen
Zielen ein anti-staatlicher Kampf: seine Organisationsform gründet in der
Versammlung und sein Ziel ist nicht die Erschaffung eines kurdischen Staates
(ausdrücklich nicht), sondern die Befreiung Kurdistans und der Welt vom
Staat, vom Staat als Organisationsform der Unterdrückung. Die Tragweite
von Öcalans Werk ist tief greifend und aufregend. Es hat eine enorme
Wirkung auf die kurdische Bewegung, die sich in den Organisationsformen
und der führenden Rolle, die Frauen im Kampf einnehmen, widerspiegelt.
Und darüber hinaus findet sein Werk in den gegenwärtigen Kämpfen und
Debatten in der ganzen Welt ein außergewöhnliches Echo.
Dieses Echo zu wahrzunehmen bedeutet, in die Debatte mit dem Autor
hineingezogen zu werden. Im Verlauf der Lektüre des Textes bewegen wir
uns durch Phasen der Zustimmung, des Enthusiasmus, des Zweifels, des
Widerspruchs, vielleicht gar der Verärgerung – wie es uns bei jedem guten,
provokanten Autor geht, wie es uns bei Bookchin (von dem Öcalan stark
beeinflusst ist und dessen Ökologie der Freiheit2 für den Titel dieses Buches
Modell stand), Graeber, Negri, Federici oder vielen anderen gehen wür-
de. Eine Autorin zu respektieren, heißt sie zu kritisieren. Öcalan unkritisch
zu lesen, nur, weil er das Symbol einer großen Bewegung ist, hieße seiner
Gefängnistür nur ein weiteres Schloss hinzuzufügen, hieße ihn einzubal-
samieren, noch bevor er gestorben ist. Selbst wenn wir wissen, dass dieses
Vorwort und andere Texte vielleicht niemals an seinen Wachen vorbei zu
ihm gelangen mögen, müssen wir uns mit dem, was er sagt, auseinander-
setzen. Gerade aufgrund der großen Bewunderung, die ich für jemanden
hege, der sein Leben der Veränderung der Welt gewidmet hat und einen
solchen Einfluss auf eine großartige Bewegung der Veränderung, die unter
den furchtbarsten Bedingungen stattfindet, hat, genau aus diesem Grund
fühle ich mich in die Debatte hineingezogen, zu sagen: »Großartig, aber
vielleicht …«.
Meine eigenen Zweifel drehen sich um die Fragen der Historizität-
Negativität, Geld und Markt, Arbeiterklasse und Nation. Die beständigen
Verweise auf die sumerische Zivilisation, auf Babylon und Assyrien, auf
die zoroastrische Tradition, haben sicherlich meine Gedankenwelt in un-
erforschte Gebiete ausgeweitet. Gleichzeitig haben sie jedoch das Gefühl
2 Murray Bookchin, Die Ökologie der Freiheit: wir brauchen keine Hierarchien, aus d. Amerikan.
übers. u. überarb. von Karl-Ludwig Schibel (Weinheim: Beltz, 1985).
12 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

vermittelt, dass die Gefahr besteht, die Dringlichkeit unserer Situation


aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht gibt es eine umfassendere Tendenz
(man denke an Bookchin oder an David Graebers Schulden: die ersten 5000
Jahre3), von der Analyse des Kapitalismus zu einer sehr viel langfristigeren
Perspektive zu wechseln, den Kapitalismus zum Beispiel nur als neueste
Phase der Entwicklung des Patriarchats zu sehen. Sicherlich hat Öcalan
recht, wenn er unsere Aufmerksamkeit auf die Kontinuitäten der Herrschaft
lenken will, aber vielleicht muss sich unser unmittelbares Interesse um die
besondere Form der Herrschaft drehen, die uns auf unsere Zerstörung hin
zutreibt. Vielleicht müssen wir sagen, ja, aber die offizielle-Macht-Zivilisa-
tion, die die Welt heute beherrscht, trägt einen Namen: Kapitalismus. Der
Kapitalismus hat seine eigene Dynamik, Zerbrechlichkeit und Schwächen,
die sich von denen der sumerischen Zivilisation ziemlich unterscheiden
und unendlich zerstörerischer sind. Den Begriff Kapitalismus verstehe ich
nicht als Wirtschaftssystem, sondern als ein System der Herrschaft-und-des-
Widerstands, dessen wesentlicher Bestandteil die Unterordnung der Frau
und die Ausbeutung der Natur ist, das aber eine ganz eigene Zerbrechlichkeit
besitzt, die auf seiner Abhängigkeit von uns gründet, das heißt auf der
Verwandlung unserer Aktivität in abstrakte, wertproduzierende Arbeit.
Diese besondere Abhängigkeit-Zerbrechlichkeit muss für die Entwicklung
einer jeglichen Soziologie der Freiheit eine zentrale Stellung einnehmen.
Der Ansatz der langen geschichtlichen Betrachtungsweisen kann uns auf
eine paradoxe Weise zu einer historischen Idealisierung des Widerstands,
unseres Widerstands, führen. Die moralische und politische Gesellschaft,
die Öcalan als Zentrum unseres Widerstands und unserer Hoffnung an-
sieht, kann nicht außerhalb des Herrschaftssystems stehen: sie ist unver-
meidlich durchdrungen von der Macht-Zivilisation (Kapital), die sie be-
herrscht. Öcalan gehört einmal mehr zum Zentrum der Debatte, denn
auch hier, in Lateinamerika, besteht eine Tendenz, die Gemeinschaft und
insbesondere die indigene Gemeinschaft als außerhalb des Systems be-
findliche Quelle der Hoffnung zu idealisieren. Dies kann leicht zu einer
Romantisierung, aber auch zu einer gefährlichen Dichotomie zwischen in-
nen und außen führen und erinnert in gewisser Weise an ein ganz anderes
Buch, nämlich Marcuses Der eindimensionale Mensch4. Die Hoffnung wird
folglich auf das Außen projiziert: die moralische und politische Gesellschaft,

3 David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre (Stuttgart: Klett-Cotta, 2012).
4 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft (Neuwied: Luchterhand, 1970).
Vorwort 13

die indigene Gemeinschaft, die Marginalisierten in der Gesellschaft. Und


dieses Außen wird dann einem Innen gegenübergestellt, das als vollstän-
dig in das System integriert aufgefasst wird. In Öcalans Umgang mit dem
Begriff der Arbeiterklasse wird dies sehr deutlich: »Genauso wie Sklav*innen
und Leibeigene als verlängerte Arme ihrer Herr*innen existieren, stellen
auch kompromisslerische (d. h. Lohn-, J.H.) Arbeiter*innen stets verlän-
gerte Arme der Bosse dar.« (S. 243 f.). Dieselbe Dichotomie des Innen-
Außen lässt sich auch dort finden, wo die gerechtfertigten Angriffe auf den
Eurozentrismus in eine Zurückweisung Europas (und tatsächlich auch den
nördlichen Teil Nordamerikas) als möglichen Orten der Rebellion abglei-
ten. Im schlimmsten Fall führt umgekehrt dieselbe Dichotomie zu einer
Exotisierung der Hoffnung: für Menschen des »Nordens« liegt die Hoffnung
im »globalen Süden«, in Kurdistan oder Lateinamerika, Orte, die in aufre-
gender und komfortabler Weise weit entfernt sind.
Ein anderer Ansatz besteht darin, zu sagen, dass jede Herrschaft uns
sowohl kollektiv als auch individuell zerreißt. Es besteht keine klare
Unterscheidung zwischen den Integrierten und den Ausgeschlossenen. Wir
sind alle unterworfen, aber es gibt immer einen Überschuss, ein Überfließen,
eine Unangepasstheit, eine Rebellion, eine Würde. Das Gewöhnlichsein liegt
in diesem Überschuss. Von daher rührt die Tiefe des zapatistischen Zitats:
»Wir sind ziemlich gewöhnliche Frauen und Menschen, Kinder und alte
Leute, das heißt, Rebellen, Unangepasste, Unpassende, Träumer«. Dieses
tägliche Überfließen, dieser tägliche Überschuss ist von grundlegender
Bedeutung für die Selbstverständlichkeit der Revolution. Diese rebellische
Würde, dieser Drang hin zu einer Welt der Würde, ist mehr oder weniger
latent, mehr oder weniger kraftvoll, immer gegenwärtig. Im Allgemeinen gilt
zumindest potenziell, dass je schärfer die Repression, desto kraftvoller die
Rebellion: auf diese Weise führt Marx seine Vorstellung des revolutionären
Wesens der Arbeiterklasse ein. Als Arbeiter sind wir ausgebeutet und revol-
tieren deshalb gegen unsere Ausbeutung. Als Sklaven sind wir unterdrückt
und rebellieren deshalb gegen unsere Versklavung, egal ob diese Revolte nun
latent oder offen, potenziell oder wirklich ist. Wir sind niemals bloß eine
Verlängerung der Bosse. Es ist nicht so, dass einige Menschen voller Würde
sind und andere nicht: vielmehr ist es so, dass die Würde der Kampf gegen
ihre eigene Negation ist, stärker in einigen als in anderen, latent in allen.
Wenn die Herrschaft uns auseinanderreißt, dann muss dies auch für die
moralische und politische Gesellschaft wahr sein. Öcalans Vorstellung ei-
ner moralischen und politischen Gesellschaft, die als Grundlage oder sozialer
14 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Zusammenhalt in jeder gesellschaftlichen Ordnung, wie »zivilisiert« auch im-


mer, gegenwärtig ist, ist ein Ding voller Schönheit. Aber die Geschichte der
moralischen und politischen Gesellschaft ist eine Geschichte des Widerstands,
wie er hervorhebt. Sie ist nicht unschuldig, sie befindet sich nicht außerhalb
der herrschenden Zivilisation, die ihr Feind ist, doch sie ist unvermeidli-
cherweise von ihr durchdrungen. Geld ist die offensichtlichste und wirk-
mächtigste Form der Durchdringung des Kapitals in unsere Alltagsleben. Die
moralische und politische Gesellschaft existiert als machtvolle, wunderbare
Kraft. Jedoch existiert sie nicht positiv: sie existiert negativ, in der Form des
Negiertseins und deshalb als Kampf gegen ihre eigene Negation.
Dasselbe trifft auf die Freiheit zu. Wir haben das Ziel noch nicht er-
reicht, wir wissen nicht, was Freiheit wäre. Freiheit existiert als Widerstand,
als Kampf gegen ihre eigene Negation und jenseits davon, als Sehnsucht,
als unser Flügelschlagen und unser Wunsch zu fliegen, es aber noch nicht
zu können. Der Versuch, Öcalans Buch in die Grundlage für eine positive
Soziologie der Freiheit zu verwandeln, hieße in die falsche Richtung zu ge-
hen. Es ist vielmehr eine Provokation, die aufgegriffen und weiter vorange-
trieben werden muss.
Die Vorstellung, dass uns die Herrschaft individuell und kollektiv ausei-
nanderreißt, ist auch für Öcalans Konzeption der Nation, die einen bedeu-
tenden Teil seiner Ausführungen darstellt, von Bedeutung. Er unterscheidet
sehr genau zwischen zwei Begriffen der Nation – dem Staats-Nationalismus,
der zum Faschismus tendiert, und der demokratischen Nation: »Der alterna-
tive zweite Weg der Nationenbildung erfolgt dadurch, dass gleiche oder ähn-
liche Sprach- und Kulturgruppen innerhalb der moralischen und politischen
Gesellschaft auf der Grundlage der demokratischen Politik in eine demokra-
tische Gesellschaft verwandelt werden. Alle Stämme, Aşirets, Volksstämme
und sogar Familien beteiligen sich dabei als politische Gesellschaftseinheiten
an der Nationenbildung.« (S. 240). Diese Art der Nation, so sagt er, ist
»Gegengift zu Kapital- und Machtmonopolen« (S. 241). Das von Öcalan
vertretene Konzept der demokratischen Nation unterscheidet sich sehr von
dem Staats-Nationalismus, der auf der ganzen Welt an Kraft gewinnt: Es
ist ein Konzept, das den Kampf aller Völker gegen Staat-Kapital-Macht
vorantreibt ohne in irgendeiner Weise eine Überlegenheit des kurdischen
Volks einzuklagen. Und dennoch ist mir die Vorstellung eines Volks oder
einer Nation als Gruppierung mit einer historischen Kontinuität oder
Identität unangenehm. Ich mag in derselben Region wie meine Vorfahren
von vor dreihundert Jahren geboren sein oder auch nicht, ich mag dieselbe
Vorwort 15

Sprache sprechen oder auch nicht, aber ich bin ziemlich sicher, dass meine
Alltagserfahrung sich sehr von der ihrigen unterscheidet und wahrschein-
lich der Erfahrung von Menschen, die heutzutage auf der anderen Seite
der Welt leben, sehr viel ähnlicher ist. Die Vorstellung eines unverwechsel-
baren, ausgedehnten und generationenübergreifenden Flusses gesellschaft-
licher Erfahrungen, die jeglichem Begriff der Nation zugrunde liegt, mag
in bäuerlich geprägten Gesellschaften eine begrenzte Validität haben, ist
aber sicher für die Mehrheit der menschlichen Bevölkerung, die in Städten
lebt, sehr viel weniger relevant. Und dennoch bleibt die Vorstellung der
Nation, die Vorstellung, dass wir irgendeine nationale Identität haben,
weiterhin eine machtvolle Fiktion, die Millionen Menschen tötet. Die
Gefahr, die Nation als Einheit zu denken, besteht darin, dass es Spaltungen
innerhalb der »Nation«, wie etwa Spaltungen zwischen Ausbeutern und
Ausgebeuteten, übertüncht. Ungeachtet der Unterschiede der von Öcalan
untersuchten zwei Vorstellungen von der Nation, besteht auch die Gefahr,
dass eine in die andere abgleitet. Der Kampf der Staaten (hauptsächlich der
türkische, der syrische, der russische, der irakische Staat und die USA), die
gegen die kurdische Bewegung kämpfen, dreht sich wahrscheinlich nicht
so sehr um die Zerstörung des kurdischen Nationalismus, als vielmehr um
dessen Staatswerdung, dreht sich darum, den Drang zur Autonomie in eine
Forderung nach Anerkennung als »autonomer« Staat oder Provinz, vergleich-
bar der existierenden kurdischen Region des Irak oder einer Ausdehnung
derselben, umzuwandeln. Vielleicht ist es besser, sich die Kämpfe für eine
andere Welt notwendigerweise nicht nur als anti-staatlich, sondern als an-
ti-national vorzustellen.
Ich habe eine ähnliche Sorge mit Bezug auf Öcalans Vorstellung vom
Markt. Ganz anders als Marx, der die Quelle der kapitalistischen Zerstörung
in dem Umstand verortet, dass menschlicher Reichtum in Form von Waren
produziert wird, die auf dem Markt verkauft werden sollen, weshalb
Verhältnisse zwischen Menschen durch Geld vermittelt sind, argumentiert
Öcalan, dass die demokratische Zivilisation »nicht gegen den Markt [ist]; im
Gegenteil, aufgrund der freien Atmosphäre, die sie bietet, stellt sie eine wah-
re freie Marktwirtschaft dar. Sie leugnet nicht die kreativ kompetitive Rolle
des Marktes. Wogegen man ist, sind die spekulativen Gewinnmethoden.«
(S.243). Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Art von Markt, an die Öcalan
denkt, ganz sicher nicht die Finanzmärkte der Wall Street sind. Sie ist ei-
nem Basar viel ähnlicher, auf dem Produkte zur Befriedigung grundlegender
Bedürfnisse ausgetauscht werden und der von der Gemeinschaft kontrolliert
16 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wird. In diesem Sinne handelt es sich um ein Konzept, das den Praktiken vie-
ler gemeinwohlorientierter Bewegungen oder gar der großen Explosion des
Tauschhandels während des Krisenaufstands5 von 2001/2002 in Argentinien
ähnelt. Trotzdem ist es schwer zu verstehen, wie Markt und Geld vonein-
ander getrennt werden können und wie das Geld von den »spekulativen
Gewinnmethoden« getrennt werden kann. Geld zerstört und trennt: Es ist
der große Feind der moralischen und politischen Gesellschaft.
Ihr großartiges Vorwort zum vorherigen Band von Öcalans Manifest
(ein mit Als Frau aus Südasien Öcalan lesen untertiteltes Vorwort, das
einen ganz anderen Ansatz als den hier vorgestellten wählt) hat Radha
D’Souza mit folgenden Worten eröffnet: »Beim Schreiben dieses Vorworts
kann ich mich nicht des Gefühls erwehren, um wie viel aufregender mei-
ne Auseinandersetzung mit Öcalans Text sein würde, wenn ich ihm von
Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und mit ihm bei einigen Tassen
Tee, wie es im Osten bei sozialen Zusammenkünften üblich ist, die in die-
sem Band angesprochenen Themen diskutieren könnte.« Liebend gern wür-
de ich dabeisitzen und an derselben Diskussion teilnehmen, mit Abdullah
Öcalan, mit Radha D’Souza und mit David Graeber, der ein hervorragen-
des Vorwort für den ersten Band geschrieben hat. Mit all den Millionen
Menschen, die von diesem und den anderen von Öcalan verfassten Bänden
inspiriert sind. Es gäbe so viel zu diskutieren, so vielen Differenzen Ausdruck
zu verleihen, so viel zu lernen, so viele Stimmen in misstönender Harmonie.
Eine Konversation zwischen Genoss*innen, die denselben Hass auf den
Kapitalismus, dieselbe Sehnsucht nach einer auf gegenseitiger Anerkennung
der menschlichen Würden gegründeten Gesellschaft teilen.
Die Realität ist selbstverständlich sehr viel brutaler. Abdullah Öcalan ist
unter entsetzlichen Bedingungen inhaftiert, während ich komfortabel in
meinem professoralen Stuhl sitze. Wir können uns nicht treffen, um ge-
meinsam Tee zu trinken. Was wir tun können und was ich möchte, dass
wir es tun, ist, seine Ideen ernst zu nehmen, über sie nachzudenken, sie
zu diskutieren, mit ihnen nicht übereinzustimmen und mit ihnen über-
einzustimmen, sie in Seminare und Universitäten und Versammlungen
und Diskussionsgruppen einzubringen. Wir sind alle Teilnehmer*innen
desselben Dialogs der Hoffnung-und-Verzweiflung, alle vereint in der
Entschlossenheit, dass wir die »Zivilisation«, den Kapitalismus, der uns zer-
stört, brechen werden.
5 i.O. crisis-uprising; Holloway verwendet diese Neuschöpfung, weil die beiden Momente in dem
argentinischen Aufstand von 2001/2002 nicht wirklich voneinander zu trennen sind; Anm. d. Ü.
Vorbemerkung
Dieser dritte Band der Hauptverteidigung, die ich für mein Verfahren
am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bezüglich
des Urteils zur Wiederaufnahme des Verfahrens6 angefertigt habe, stellt
eine Fortsetzung und Ergänzung der ersten beiden Bände des Manifests
der demokratischen Zivilisation dar. In diesen ging es darum, Macht und
kapitalistische Moderne allgemein darzustellen. Darauf aufbauend wird
hier die Macht als die ›Zwangsinstrumente‹ beschrieben, die auf mensch-
licher Anstrengung basieren und im Kern mit der Absicht konstruiert
wurden, Mehrprodukt und Mehrwert abzupressen. Die Machapparate,
die in vielfältigen Formen umfassend errichtet wurden, sind letztlich
Repressionsmechanismen, die über der menschlichen Arbeit errichtet wur-
den. In der als ›kapitalistisches System‹ begrifflich gefassten Ära der Moderne
sieht sich die Gesellschaft diesen Mechanismen in ihrer am weitesten ent-
wickelten Form gegenüber. Das kapitalistische System in seiner aktuellen
Ausprägung – auch als Globalisierung bezeichnet – stellt innerhalb des
Modells, das wir entwickeln wollen, eine besondere Phase des allgemeinen
globalen Systemkonflikts zwischen Macht und Demokratie dar.
Nun mag man sich fragen, was der EGMR als supranationales Gericht,
das Individuen nur als Bürger*innen ein Klagerecht einräumt, in sei-
ner institutionellen Eigenschaft wohl mit dieser Art von Verteidigung ei-
ner Person namens Abdullah Öcalan zu tun hat. Es gibt durchaus einen
Zusammenhang, und zwar einen ganz bemerkenswerten. Wichtiger noch:
Ohne eine Analyse der eurozentristischen Zivilisation lässt sich das ideo-
logische, politische und juristische System, das als Europas soft power
6 Der Gerichtshof hatte in seinem Urteil von 2005 die Türkei angewiesen, das Öcalan-
Verfahren wiederaufzunehmen, da das ursprüngliche Verfahren nicht den Grundsätzen
eines fairen Gerichtsverfahrens entsprochen, also gegen Artikel 6 der Europäischen
Menschenrechtskonvention verstoßen hatte. Die Türkei drückte sich um die Umsetzung die-
ses Urteils und erfand dafür eine beispiellose Prozedur, die tatsächlich auch nicht zu einer
Neuverhandlung führte. Gegen diese Prozedur richtete sich Öcalans erneute Beschwerde. Das
gesamte fünfbändige Manifest der demokratischen Zivilisation stellt seine Eingabe in diesem
Verfahren dar.
18 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

beschrieben wird, nicht analysieren. Diese können wir erst dann kompe-
tenter interpretieren, wenn das eurozentristische Zivilisationssystem analy-
siert ist. Wir müssen uns ständig vor Augen halten, dass das europäische
Zivilisationssystem zum kompetentesten ›Welt-Zivilisations-System‹ al-
ler Zeiten geworden ist. Diese Zivilisation bringt als eine ihrer wichtigs-
ten Dimensionen die individuelle Staatsbürgerschaft mit sich. Individuum,
Individualismus und Staatsbürgerschaft sind in der Gesellschaft von größe-
rer Bedeutung als jemals zuvor in der Geschichte. Wir sehen uns mit einem
Zeitalter konfrontiert, in dem in maximaler Weise die Gesellschaft mit dem
Individuum und das Individuum mit der ›symbolischen Gesellschaft‹ ver-
schmolzen ist: die kapitalistische Moderne.
In einer Zeit, in der eine Befreiung aus der Realität dieses Zeitalters sehr
schwierig – aber nicht unmöglich – ist, verfiel ich in einen ›großen Zweifel‹
bezüglich meiner Identität, die als Staatsbürger der Türkei (Mitglied der
Republik Türkei) aufgebaut wurde. Es ist nicht zu leugnen, dass mich dies
vor das härteste Gerichts- und Strafsystem der Geschichte gebracht hat.
Die Republik Türkei, die die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK) unterzeichnet hat, weigerte sich, das Wiederaufnahmeurteil des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen. Das
Ministerkomitee des Europarats, das für die Überwachung der Vollstreckung
von Urteilen zuständig ist, entschied jedoch, dass die von der türkischen
Justiz ergriffenen Maßnahmen den Anforderungen des Urteils des EGMR
entsprachen. Diese Entscheidung des Ministerkomitees war nicht nur eine
Rechtsverletzung, sie war skandalös. Mehrere kleine Staaten hatten wäh-
rend dieses Vorgangs im Ministerkomitee selbst zugegeben, dass sie diesem
Beschluss auf Druck größerer und mächtigerer Länder wie den USA zuge-
stimmt hatten. Dies war ein Verstoß, der klar mit ihrem Anspruch einer
Politik der soft power kollidiert. Daher bin ich seit nunmehr zehn Jahren in
der Position einer ›Person, die nicht verurteilt werden kann‹. In dieser Lage
als ›Person, die kein faires Verfahren bekommen kann‹, befinde ich mich
weiterhin im Ein-Personen-Gefängnis Bursa-İmralı – einem Inselgefängnis
im Marmarameer, in dem traditionellerweise zu hohen Strafen Verurteilte
dem Tod überlassen werden.
Ich habe nie bezweifelt, dass die Ereignisse der Phase, die mit meiner
Ankunft in Europa begann und mit meiner Verbringung nach İmralı endete,
in Zusammenarbeit mit den USA und der EU geplant und umgesetzt wur-
den. Ebenso habe ich nie bezweifelt, dass die der Republik Türkei zugeteilte
Rolle die des Gefängniswärters ist. Da dies die nackte Wahrheit ist, warum
Vorbemerkung 19

geht man dann derart verschlungene Wege? Manche mögen vielleicht mein
Urteil als zu harsch empfinden. Als überzeugender Beleg dafür, dass die-
se Mächte mich verschleppten, dient vielleicht die Sonderanweisung der
NATO, wegen der am 2. Februar 1999 sämtliche europäische Flughäfen für
die Maschine, in der ich mich befand, Landeverbot erteilten. Die Zeitungen
berichteten seinerzeit darüber7. Außerdem hat der Vertreter des damaligen
US-Präsidenten Bill Clinton8, offen erklärt, dass ich entführt und nach Kenia
gebracht wurde, wo ich unter üblicher Aufsicht gehalten wurde (alle mir ge-
hörenden Briefe und Kassetten wurden am Flughafen beschlagnahmt), bis
ich an die Türkei übergeben wurde; und dass all dies in Zusammenarbeit
mit den USA geschah. Der unvorstellbare Verrat der griechischen Behörden
(insbesondere des Außenministers, des Nationalen Nachrichtendienstes, der
Spitzenbeamten der griechischen Botschaft in Nairobi, des besonders be-
auftragten Major Kalenteridis und des Premierministers Simitis selbst) sind
offensichtliche Tatsachen, auf die einzugehen ich unnötig finde.
Wenn es also mein Recht war, im Sinne des Individualrechts von der
europäischen Rechtsprechung zu profitieren; warum haben diese Mächte
dann auf all diese geheimen, obskuren und betrügerischen Mittel zurück-
gegriffen? Welche Art von Deals gab es? Wer und im Gegenzug wofür war
an diesen Deals beteiligt? Unter der Herrschaft Europas und der USA hat
die Geschichte schreckliche Kolonialkriege und die Hexenverbrennungen,
konfessionelle und nationale Kriege, Klassenkonflikte und ideologische
Kämpfe erlebt. Vielleicht ist meine Erfahrung in diesem blutgetränkten
Porträt der Geschichte nur ein einzelner Tropfen im Ozean. Sie ist jedoch
von Bedeutung und bedarf der Klärung.
Zunächst muss ich festhalten, dass ich die Abstraktion des Individuums
von seiner gesellschaftlichen Identität ablehne. Das Recht auf
›Individualbeschwerde‹, auf dem so beharrlich bestanden wird, hat defini-
tiv nicht die Bedeutung, die ihm zugemessen wird. Das Konzept eines von
seiner gesellschaftlichen Identität isolierten Individuums, ist nichts als eine
Spitzfindigkeit der eurozentrischen offiziellen Epistemologie, die als ach so
›wissenschaftlich‹ gilt. Außerdem pfeifen es die Spatzen von den Dächern,

7 Beispielsweise berichtete die BBC am 3. Februar http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/269533.stm,


und am 5. Februar http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/273570.stm .
8 Gemeint ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Sonderberater Antony Blinken, der am 31.
Januar 2002 im türkischen Fernsehen bestätigte, dass der Befehl zur Verschleppung Öcalans
von Bill Clinton gegeben wurde. Blinken selbst koordinierte die Operation im Nationalen
Sicherheitsrat. Der Autor erwähnt hier einen »General Galtieri«, vermutlich handelt es sich um
eine Verwechslung.
20 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

dass ich im Namen der Kurdinnen und Kurden, des tragischsten Volkes der
Welt, und nicht als Individuum Abdullah Öcalan vor Gericht stehe.
Schon diese kurze Aufzählung von Tatsachen gibt ausreichend Aufschluss
über die Tragweite meines Prozesses. Egal wie stark das System der
Zentralzivilisation9 unter der Führung der hegemonialen Mächte USA und
EU auch sein mag, man kann mich offenbar nicht einfach so um die Ecke
bringen. Es ist nicht wegzuleugnen, dass alle Mächte des Systems bei mei-
ner Verhaftung und Verurteilung eine aktive Rolle gespielt haben. Gegen
dieses große, abgekartete Spiel ist mein gesamtes Volk aufgestanden und
hat sich gewehrt. Es hat gegen die Verschwörung protestiert, Hunderte
sind als Märtyrer gefallen, Tausende wurden verhaftet. Mein Volk hat den
Zusammenhang zwischen der eigenen historischen Tragödie und meinem
Prozess sehr gut verstanden und sich hinter mich gestellt, im Wissen, dass
der Weg zu seiner Befreiung über das Ende dieser Tragödie führt. Die ehren-
volle Aufgabe, dies zu erklären, fiel hingegen mir zu.
Natürlich kann ich den Gegenstand dieses Verfahrens nicht aufklären,
ohne meine gesellschaftliche Identität, die unser Volk verkörpert, in all
ihren Aspekten zu beleuchten. Dieses ist vielleicht wie kein anderes der
Unterdrückung und Ausbeutung durch das System der Zentralzivilisation
ausgesetzt, das auf einer mindestens fünftausendjährigen Geschichte beruht.
In diesen Tatsachen liegen die Kriterien verborgen, die mir den Umfang
meiner Verteidigung diktieren. Ich muss an dieser Stelle einen Ausdruck
wiederholen, den ich schon oft gebraucht habe: Es gibt Momente, da sich
Geschichte in einer Person ereignet und eine Person Geschichte macht! Es
lässt sich nicht leugnen, dass ich an dieser Ehre ein wenig Anteil hatte, auch
wenn dies mit großen Schmerzen verbunden ist. Weil ich anders als andere
eine Rolle jenseits der des ›Opfers des Schicksals‹ spielen wollte, wurden hin-
ter meinem Rücken diese Intrigen gesponnen; das weiß ich. Deshalb habe
ich meinen Prozess10 mit der Parole ›Die Freiheit wird siegen‹ überschrieben.
In Tragödien auf der Bühne genügt es, aus dem sich ständig wiederho-
lenden Schicksal im Sinne der Freiheit auszubrechen, um jegliches Leid er-
träglich zu machen. In meinem Prozess, diesem Drama unter dem Titel
›Wirklichkeit‹, in dem ich und meine Freundinnen und Freunde auftreten,

9 Während der Autor in den beiden bisherigen Bänden den Begriff ›Hauptstrom-Zivilisation‹ ver-
wendete, schwenkt er hier auf den von David Wilkinson geprägten Begriff der Zentralzivilisation
(Central Civilization) um. Siehe auch Öcalan: Zivilisation und Wahrheit, Münster 2019, Fußnote
42 auf S. 121 und Abbildung auf S. 259.
10 Der Autor spielt hier mit der zweifachen Bedeutung des Wortes dava im Türkischen. Es bedeu-
tet sowohl Prozess als auch Sache, Anliegen.
Vorbemerkung 21

die für die gleiche Sache kämpfen, wird das Schicksal eine neue Rolle be-
kommen: die des Besiegten.
Somit wird verständlich, warum ich diesen Band meiner Verteidigung
›Soziologie der Freiheit‹ nenne. Aber jeder Schritt in die Freiheit kann nur
ein Versuch sein. Daher wäre auch ›Versuch über die Soziologie der Freiheit‹
ein passender Titel gewesen.
Zweifellos zeigt die zentrale, hegemoniale, europäische Zivilisation
nur eine Seite der Medaille. Diese Zivilisation repräsentiert eher die
Machtapparate, die auf dem Mehrwert basieren. Die andere Seite jedoch ist
das demokratische Antlitz der Zivilisation. Die Ideen, die diesem Werke zu-
grunde liegen, beruhen auf dem Erbe der demokratischen Zivilisation. Vom
Prozess des Sokrates bis zu meinem Verfahren, fühle ich mich leidenschaft-
lich dem Vermächtnis all jener unzähligen Kämpferinnen und Kämpfer,
nicht nur unserer eigenen, verpflichtet, die für ihre Ideale und Moral, für
ihre Völker und Kommunen gekämpft haben. Ich hoffe, dass ich zu ihrem
Erbe beitragen kann, auch wenn es nur ein einzelner Tropfen im Ozean sein
mag. Diese Mahnmale der Menschlichkeit bilden die wichtigsten Bausteine
für meine Verteidigung. Ihr wahres historisches Fundament wiederum be-
steht in der fünftausend Jahre alten östliche Weisheit und der Tradition der
demokratischen Haltung. Ohne diesen Hintergrund zu berücksichtigen,
lässt sich weder die Universalgeschichte der Menschheit schreiben, noch
eine sinnvolle Einschätzung der Gegenwart vornehmen.
Meiner Verteidigung liegt die Ideezugrunde, dass Geschichte und
Gesellschaft im System der demokratischen Zivilisation freier voranschrei-
ten können und dass ein Leben, das auf den richtigen Fundamenten ruht,
besser und schöner gelebt werden kann.
Einige Bemerkungen zu meiner Schreibtechnik werden erhellend und
entschuldigend wirken. Unter den Bedingungen meiner Einzelhaft wird
mir nur jeweils ein Buch, eine Zeitschrift und eine Zeitung in der Zelle
gestattet. Es war nicht möglich, Notizen zu machen und mit Zitaten zu
arbeiten. Meine vorrangige Methode war, mir alles, was wichtig erschien,
zu merken und es in meine Persönlichkeit zu integrieren. Ich habe mich
nicht sklavisch an jedes Verbot gehalten. Meine Antwort auf diese Verbote
war, das Gedächtnis, den Wissensspeicher des Universums, zu sortieren und
Gedanken von entscheidender Wichtigkeit Vorrang einzuräumen.
Die größte Schwäche dieser Methode ist jedoch, dass das menschliche
Gedächtnis den Makel trägt, vergessen zu können. Keine Notizen machen
zu können, war daher hinderlich. Als ich mich daran machte, diesen Band
22 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zu schreiben, wurde mir obendrein verboten, einen Stift in der Zelle ha-
ben. Nachdem am zehnten Tag der ›Bunkerstrafe‹ dieses Verbot schließlich
wieder aufgehoben wurde, begann ich sofort zu schreiben. Denn es verzö-
gerte sich alles, ich konnte mein Wort nicht halten. Meine Antwort auf das
Stiftverbot war, noch mehr über mein Gesamtkonzept nachzudenken.
Die noch folgenden beiden Bände sind als eine Art konkreter Anwendung
meiner Hauptideen konzipiert und sollen die Titel Zivilisationskrise im
Nahen Osten und die Lösung der demokratischen Zivilisation und Die kurdi-
sche Frage und die Lösung der demokratischen Nation tragen. Für beide Bände,
die jeder Intellektuelle mit einer gewissen Vorbereitung niederschreiben
könnte, werde ich vermutlich längere Zeit benötigen11. Doch im brodeln-
den Nahen Osten12 und in Kurdistan, das zu seinem Herzen geworden ist,
die Aktualitäten im Lichte einer Analyse der ›historischen Gesellschaft13‹ zu
diskutieren, ist aufregend und erfordert ein hohes Maß an Verantwortung.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben sich geradezu zu einem
neuen Gordischen Knoten verbunden. Diesen mit einem anti-alexandri-
schen Schlag zu durchtrennen (wie einst Alexander, doch mit minimalem
körperlichen Einsatz, sodass die Bedeutung der entscheidende Aspekt der
Kraftanstrengung ist), ist die heiligste und wichtigste aller Aufgaben.

11 Tatsächlich konnte der abschließende fünfte Band, das umfangreichste Buch des Autors, erst anderthalb
Jahre nach diesem dritten Band fertiggestellt werden. Da die Behörden sich lange weigerten, das Manuskript
überhaupt an den EGMR weiterzuleiten, konnte das 576 Seiten umfassende Buch erst drei Jahre nach dem
dritten Band im Sommer 2012 erscheinen.
12 Der türkische Begriff Ortadoğu (wörtlich: Mittlerer Osten), das englische Middle East und das
deutsche ›Naher Osten‹ bezeichnen trotz der im Deutschen abweichenden Namensgebung in
etwa dasselbe Gebiet. Gemeint ist das Gebiet zwischen Anatolien, der arabischen Halbinsel,
Ägypten und dem Iran. In den vorigen Bänden wurde Ortadoğu jedoch durchgängig mit
›Mittlerer Osten‹ übersetzt.
13 Der Begriff, im Türkischen ungewöhnlich mit Bindestrich geschrieben, verweist auf Immanuel
Wallersteins Der historische Kapitalismus. Im Vorwort umreißt er seine Mission folgendermaßen:
»Was mir dringend erscheint — eine Aufgabe, der in gewissem Sinne meine gesamte neuere
Forschung gewidmet ist — ist, den Kapitalismus als historisches System zu betrachten: in seiner
gesamten Geschichte und in seiner konkreten einzigartigen Realität.« Immanuel Wallerstein,
Der historische Kapitalismus, Berlin: Argument Verlag, 1984, S. 7.
Einführung
Einführung 25

Die Wissensstruktur des kapitalistischen Welt-Systems14 befindet sich min-


destens ebenso sehr in einer Krise wie die Apparate von Macht, Produktion
und Akkumulation. Da es in der Natur der Wissensstrukturen liegt, dass
sie einer freien Diskussion eher zugänglich sind, bieten sich umfangrei-
che Möglichkeiten zur Diskussion über die Krise, in der die Wissenschaft
sich befindet. Die Rolle des Wissens innerhalb von Gesellschafts- und
Machtstrukturen ist heute bedeutender als zu jedem anderen Zeitpunkt
in der Geschichte. In den Wissens- und Informationsapparaten des gesell-
schaftlichen Lebens findet eine historische Revolution statt. Revolutionäre
Prozesse als Krisen spielen im Wesentlichen auch eine Rolle bei der Suche
nach Wahrheitsregimen. Nicht nur auf den Feldern von Akkumulation,
Produktion und Macht, sondern auch im Bereich des Wissens beobachten
wir heftige Kämpfe um Hegemonie. Keine Produktions-, Akkumulations-
oder Machtstruktur kann sich auf Dauer behaupten, wenn sie nicht im
Bereich des Wissens Legitimität erringt.
Es wird erkannt und offen diskutiert, dass die bis vor Kurzem herrschen-
den positiven Wissenschaftsdisziplinen keineswegs so anti-metaphysisch und
anti-religiös ausgerichtet sind, wie sie dargestellt werden, sondern dass sie
vielmehr eine ebenso starke metaphysische und religiöse Dimension besitzen
wie Metaphysik und Religion selbst. Den siegreichen Naturwissenschaften,
die der klassischen griechischen Gesellschaft und dem Europa der Auf­
klärung zugeschrieben werden, wurden die bedeutendsten Schläge von
innen heraus versetzt. Ein Denken, das von einer ständigen, linear-pro-
gressiven Entwicklung ausgeht, bildet den größten Schwachpunkt dieser
positiven Wissenschaften. Denn eine solche Struktur und ein solcher Zweck
des Universums lässt sich nicht feststellen. Sowohl die subatomare Welt als
auch das kosmologische Universum lassen sich nicht aus dem Dualismus
von Beobachter und Beobachtetem befreien. Denn auch das menschliche
Bewusstsein ist Teil dieses Vorgangs. Es lässt sich nicht vorhersagen, wie
das Bewusstsein eine darüber hinausreichende Rolle einnehmen kann. Sein

14 Der Autor folgt häufig der von Wallerstein bevorzugten Schreibweise »Welt-System«
(­dünya-sistemi). Wallerstein geht von mehreren Welt-Systemen aus, die jeweils eine Welt für sich
bilden. Oft wird diese Unterscheidung im Deutschen aber nicht gemacht, auch Wallersteins
Hauptwerk heißt im Deutschen Das moderne Weltsystem. Wallersteins Begründung: »My ›wor-
ld-system‹ is not a system ›in the world‹ or ›of the world.‹ It is a system ›that is a world.‹ Hence
the hyphen, since ›world‹ is not an attribute of the system. Rather the two words together con-
stitute a single concept.« Immanuel Wallerstein, »World system versus world-systems: a critique«
in: The World System: Five Hundred Years or Five Thousand?, hg. von André Gunder Frank und
Barry K. Gills (Routledge, 1994).
26 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

unbegrenztes Potenzial zur Differenzierung selbst demonstriert den Bedarf


an neuen Interpretationen.
Die Soziologie, eine eurozentrische Wissensstruktur, reicht eigent-
lich nicht weiter als die Behauptung von Anhänger*innen der positi-
ven Wissenschaften, die Gesellschaft sei als Phänomen ähnlich denen
der Physik, Chemie und Biologie zu betrachten und mit identischen
Herangehensweisen zu erklären. Die Kühnheit, die menschliche Gesellschaft
mit ihrer ganz anderen Natur zu einem Objekt zu machen, führte keines-
wegs zur angenommenen Aufklärung, sondern zu einer noch oberflächliche-
ren Götzenanbetung. Dass die zur Lieferung von Wissensstrukturen für die
Nationalstaaten herangezogenen philosophischen Ausführungen der deut-
schen Ideologen, die politische Ökonomie der englischen Ideologen und die
Soziologie der französischen Philosophen Instrumente zur Legitimierung der
Apparate zur Akkumulation von Macht und Kapital waren, ist in den heu-
tigen Diskussionen über die Wissenschaft hinreichend geklärt worden. Die
deutsche Philosophie, die englische politische Ökonomie und die französi-
sche Soziologie konnten letztlich nicht umhin, die Grundlage für den ent-
stehenden Nationalstaats-Nationalismus zu schaffen. Wir können mit Fug
und Recht behaupten, dass eine derartige Soziologie im Großen und Ganzen
Wissensstruktur des eurozentrischen kapitalistischen Welt-Systems ist.
Doch dies auszusprechen löst noch nicht das Problem. Auch dass der
als entgegengesetzte Weltanschauung entstandene Marx-Engels-Sozialismus
bzw. dessen Soziologie nur eine sehr grobe (vulgäre) Interpretation der
Gesellschaft darstellt, hat sich ausreichend gezeigt. An den Strömungen,
Bewegungen und Staaten des Realsozialismus, der Sozialdemokratie und
der nationalen Befreiung können wir erkennen, dass auch diese Soziologie,
obgleich sie ihre Gegnerschaft behauptete, nicht umhin konnte, dem
Kapitalismus noch mehr zu dienen als selbst seine offizielle Ideologie, der
Liberalismus. Dass die genannten Strömungen und Bewegungen, trotz ihrer
höchst edlen kämpferischen Traditionen, sogar im Namen der unterdrück-
ten Klassen und Nationen in diese Lage geraten sind, hängt eng mit ihren
Wissensstrukturen zusammen. Die Wissensstrukturen, auf die sie sich ge-
stützt haben, mit all ihren guten und schlechten Seiten, haben insgesamt
Ergebnisse hervorgebracht, die zu ihren Absichten im Widerspruch standen.
Hätte es in ihren grundlegenden Paradigmen und Strukturen nicht eine
Kette von ernsthaften Fehlern und Mängeln gegeben, wäre es nicht so leicht
zu diesen Resultaten gekommen.
Einführung 27

Extrem relativistische Theorien, die sich als eine weitere oppositi-


onelle Strömung aufdrängen, waren nicht nur unfähig, sich aus den
Wissensstrukturen des kapitalistischen Welt-Systems zu befreien, sondern
dienten – vielleicht wegen ihrer extremen Individualität – dem kapitalis-
tischen Individualismus letztlich am allermeisten. Darunter fallen auch
anarchistische Haltungen. Den Kapitalismus zu kritisieren, die starke
Gegnerschaft zum Kapitalismus in einen Diskurs zu gießen, ist – wie oft ge-
sehen – ein effektiver Weg, ihm zu dienen. Auch hierbei spielen die paradig-
matische Sichtweise und die Fehler und Mängel in den Wissensstrukturen
die Hauptrolle.
Weder hängen die physikalischen Wissenschaften (einschließlich Chemie
und Biologie) lediglich wie behauptet mit der physikalischen Natur zusam-
men, noch betreffen die als Geistes- oder Humanwissenschaften bezeich-
neten Wissenschaften wie Literatur, Geschichte, Philosophie, politische
Ökonomie und Soziologie lediglich die gesellschaftliche Natur. Ein breiterer
Begriff der Sozialwissenschaft als Schnittpunkt beider Wissenschaftsbereiche
ist zu begrüßen, denn jegliche Wissenschaft muss sozial sein.15
Doch auch durch eine Einigung über die Definition der Sozialwissenschaft
wird das Problem nicht gelöst. Viel wichtiger ist, was wir als Bezugspunkt
nehmen oder, anders ausgedrückt, auf welcher Einheit die Analyse der
Gesellschaft basieren soll. Zu sagen: »Die Grundeinheit ist die gesellschaft-
liche Natur im Ganzen«, ist für die Sozialwissenschaft nicht besonders sinn-
voll. Für eine sinnvolle theoretische Herangehensweise müssen wir zunächst
wählen, welche Beziehungen innerhalb der zahllosen gesellschaftlichen
Verhältnisse von entscheidender Wichtigkeit sind. Die zu wählende gesell-
schaftliche Einheit ist in dem Maße sinnvoll, wie sie das Allgemeine erklärt.
Wir wissen, dass zum gesellschaftlichen Bereich verschiedene Modelle
entwickelt wurden. Diejenigen Herangehensweisen, welche die bekannte
und am häufigsten verwendete Einheit, den Staat im Allgemeinen und den
Nationalstaat im Besonderen, zugrunde legen, stützen sich mehr auf die bür-
gerliche Perspektive der Mittelklasse. In diesem Modell werden Geschichte
und Gesellschaft im Umfeld der Probleme von Aufbau, Zerstörung und
Teilung von Staaten untersucht. Diese Tendenz, eines der oberflächlichs-
ten Modelle der Annäherung an die historische Gesellschaft, spielt lediglich
15 Unter anderem mit dem Konzept einer einzigen ›Sozialwissenschaft‹ bezieht sich der Autor
hier auf Immanuel Wallerstein: Die Sozialwissenschaften öffnen: Ein Bericht der Gulbenkian
Kommisssion zur Neustrukturierung der Sozialwissenschaften, Frankfurt 1996, und Immanuel
Wallerstein: Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«. Die Grenzen der Paradigmen des 19.
Jahrhunderts, Weinheim 1995.
28 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

die Rolle des offiziellen Bildungsverständnisses der Staaten. Ihr eigentlicher


Zweck ist die Rolle als den Staat legitimierende Ideologie. Statt aufzuklären,
dient sie dazu, die komplizierten Probleme von Geschichte und Gesellschaft
zu verschleiern. Daher ist dies der am meisten diskreditierte soziologische
Ansatz.
Die Marxist*innen wählen Klasse und Ökonomie als Grundeinheit der
Soziologie und wollen damit eigene alternative Modelle gegen den Ansatz
formulieren, der sich auf die Einheit ›Staat‹ als Bezugspunkt stützt. Die Wahl
der Arbeiterklasse und der kapitalistischen Ökonomie als grundlegendes
Modell für gesellschaftliche Untersuchungen trägt zwar dazu bei, Geschichte
und Gesellschaft in Hinblick auf Wirtschafts- und Klassenstruktur und de-
ren Bedeutung zu erklären, birgt jedoch mehrere nennenswerte Mängel.
Dass dieser Ansatz den Staat und andere Institutionen des Überbaus als
Produkt und einfache Widerspiegelung der Basis betrachtet, führt zum
Abrutschen in den als Ökonomismus bezeichneten Reduktionismus. Der
ökonomische Reduktionismus, genau wie der Staatsreduktionismus, kann
den Fehler, die Realität der historischen Gesellschaft und ihre hochkom-
plexen Beziehungen zu verschleiern, nicht überwinden. Besonders die
Mängel in der Analyse von Macht und Staat führen dazu, dass die unter-
drückten werktätigen Klassen, in deren Namen der Marxismus zu handeln
beansprucht, keine ausreichende ideologische und politische Ausstattung
erlangen. Der eng begrenzte ökonomische Kampf und die Vorstellung von
Zerschlagung und Aufbau von Macht und Staat in Form eines opportunis-
tisches Staatsverschwörertums dienen dem Kapitalismus mindestens eben-
so sehr wie dessen ureigenste Ideologie, der Liberalismus. Die Zustände in
China und Russland beleuchten dies sehr gut.
Wir treffen auch auf Denkansätze, die Geschichte und Gesellschaft
immer lediglich als die Machthaber und Regierungsgewalt interpretie-
ren wollen. Doch solche Ansätze sind genauso mangelhaft wie diejeni-
gen, die das Staatsmodell wählen. Zwar ist die Macht eine umfassende-
re Untersuchungseinheit, doch auch dieser Ansatz ist alleine unfähig, die
gesellschaftliche Natur zu erklären. Weil es sich um einen höchst wichti-
gen Untersuchungsgegenstand handelt, besitzen Forschungen zur gesell-
schaftlichen Macht Aspekte, die zum Verständnis von Geschichte und
Gesellschaft Erhellendes beitragen können. Doch ein Reduktionismus in
Bezug auf Macht trägt dieselben Mängel, die wir bei jedem reduktionisti-
schen Denkansatz beobachten.
Einführung 29

Ein Ansatz, der uns ebenfalls häufig begegnet, ist die Untersuchung der
Gesellschaft als Ansammlung von endlos vielen partikularen Beziehungen
ohne jegliche Regel. Derartige extrem relativistische Ansätze, die wir fast
als deskriptive literarische Modelle bezeichnen können, führen nur dazu,
dass wir uns im gesellschaftlichen Wald verirren. Extrem universalistische
Modelle und Ansätze hingegen, die wie deren Gegenteil erscheinen, aber im
Kern die gleiche Rolle spielen, versuchen, die Gesellschaft in physikalischer
Schlichtheit mit ein paar Gesetzen zu erklären. Dies dürfte derjenige Ansatz
sein, der angesichts der reichen Vielfalt der Gesellschaft am meisten zur
Erblindung beiträgt. Das positivistische Verständnis von Gesellschaft ver-
dient es, als das gröbste Modell bezeichnet zu werden, das sowohl extremen
Relativismus als auch extremen Universalismus beinhaltet.
Der Liberalismus als offizielle Ideologie der bürgerlichen Mittelklasse prä-
sentiert sich in Form einer eklektischen Auswahl aus all diesen Modellen. So
etabliert er sich als System, indem er vorgibt, richtige Aspekte jedes Modells
zu vertreten. Im Kern vermischt er die mangelhaftesten Aspekte aller Modelle
mit ein paar Wahrheiten und präsentiert der Gesellschaft so ständig eine
höchst gefährliche Form des Eklektizismus als Untersuchungsmodell. Als
offizielle Auffassung kolonialisiert und besetzt er das kollektive Gedächtnis
der Gesellschaft und verfestigt so seine ideologische Hegemonie.
Meine erste große Gefängnisschrift Gilgameschs Erben – Vom sumerischen
Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation musste ich vorlegen, ohne viel
an einem Modell arbeiten zu können, ja sogar ohne das zu bemerken. Diese
Eingabe hatte ich ohne die Möglichkeit zu umfangreichen Recherchen eilig
angefertigt. Ich hatte auch gar nicht den Anspruch, ein Modell zu entwi-
ckeln. Ich hatte in einem improvisierten Stil meine Vorstellungen über die
gesellschaftliche Realität niedergeschrieben. Später hatte ich Gelegenheit,
die Modelle einiger bedeutender Soziologen, allen voran Murray Bookchin,
Immanuel Wallerstein und Fernand Braudel, zu untersuchen. Außerdem
besaß ich ein Grundverständnis von Friedrich Nietzsche, Michel Foucault
und einigen anderen Philosophen. Am wichtigsten von ihnen war André
Gunder Frank, der die Ansichten einer Reihe von Denker*innen in einem
Werk namens The World System: Five Hundred Years or Five Thousand?16 zu-
sammengestellt und herausgegeben hat. Das Werk dieses Denkers, dessen
Namen ich vorher noch nie gehört hatte, erkannte ich schon bald als die
anspruchsvollste Verteidigung meiner Ansichten. Dass in der letzten Zeit
16 Mitherausgeber ist Barry K. Gills. Zu den weiteren Autor*innen zählen Immanuel Wallerstein, Samir Amin,
David Wilkinson und Janet Abu-Lughod. Eine deutsche Ausgabe existiert nicht.
30 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

­ ehrere Denker in ihren Untersuchungen ähnliche Ansichten vertraten,


m
brachte mich dazu, mehr über mein eigenes Modell nachzudenken.
Meine Verteidigung trug im Kern ohnehin deutliche Spuren sowohl von
Immanuel Wallersteins Analyse des kapitalistischen Welt-Systems als auch
von Fernand Braudels Analysen der geschichtlichen Zeitebenen und beson-
ders der ›longue durée‹, die die Totalität der Geschichte in den Blick neh-
men. Seit Langem hatte ich versucht, die Niederlage des Realsozialismus mit
ähnlichen Ansätzen zu erklären; Braudels Analysen leisteten mir dazu einen
Beitrag. Mir fiel es nicht schwer, die Kommentare Nietzsches und Michel
Foucaults zu Moderne und Macht zu begreifen, ich fand sie auch recht nah
an meinen eigenen Vorstellungen. Einen Namen kann ich nicht überge-
hen: Gordon Childes Werk Stufen der Kultur: Von der Urzeit zur Antike,
das er auf der Grundlage von Ausgrabungen in Mesopotamien verfasst hat-
te, erweiterte maßgeblich meinen Horizont. Ich arbeitete viele philosophi-
sche Werke durch, als wären sie Berichte, und musste eine Auswahl treffen,
ohne den Anspruch zu haben, eine eigene ›Modelleinheit‹ zu entwickeln. Es
soll nicht das Missverständnis entstehen, ich präsentierte in dieser großen
Verteidigung die weiterentwickelte Analysemethode als ein Modell. Mein
ganzes Problem war, eine Einheit für eine integrative und entscheidende
historisch-gesellschaftlichen Analyse auszuwählen. Obwohl alle bestehenden
Modelle viele richtige Aspekte beinhalten, auf die ich kurz eingehen werde,
besitzen sie auch alle Fehler und Mängel, die ich nicht in Kauf nehmen will.
In allen konnte ich vergleichbare Defizite feststellen.
Selbst André Gunder Franks Werk The World System, das das Modell be-
schreibt, welchem ich mich am weitesten angenähert hatte, schien mir einen
sehr ernsten Mangel zu beinhalten. Die sumerische Gesellschaft, auf die
unser Weltsystem aufbaut, war offenbar die erste, die eine Akkumulation
von Kapital organisierte. Ich finde auch den Ansatz sehr richtig, dass das
Weltsystem von der sumerischen Gesellschaft bis heute als Hauptstrom-
Zivilisation eine kumulative Akkumulation darstellt. Ich stimme darüber­
hinaus zu, dass die Akkumulation eine historische Kontinuität in der Form
Hegemonie und Konkurrenz, Zentrum und Peripherie sowie Zu- und
Abnahme aufweist. Auch die Dimensionen, in denen die Akkumulation
erfolgt, nämlich die drei Säulen Wirtschaft, Politik und Ideologie/Moral,
sind verständlich. In die gleiche Richtung gehen die Wichtigkeit der
Akkumulationsweise im Gegensatz zur Produktionsweise und die Ansicht,
dass hegemoniale Übergänge bedeutendere Resultate zeitigen als Übergänge
von einer Produktionsweise zur anderen. Ich teile Franks zutreffende
Einführung 31

Kritik an Wallerstein, der in seiner Analyse des eurozentrischen kapitalis-


tischen Welt-Systems den Kapitalismus als das einzige System präsentiert,
das sich weltweit verwirklicht habe. Eine Einzigartigkeit der europäischen
Zivilisation zu behaupten, halte ich für übertrieben. Weil sie solch eine ab-
seitige Zivilisation darstellt, hätte man sie sogar als marginal betrachten kön-
nen.17 Genauso liegt Frank näher an der Wahrheit, wenn er die Begriffe für
die grundlegenden Gesellschaftsformationen wie Sozialismus, Kapitalismus,
Feudalismus und Sklaverei als ideologische Realitäten betrachtet. Auch sei-
ne Aussage, dass diese Begriffe weniger dazu dienen, die gesellschaftliche
Realität zu erklären, sondern sie eher verschleiern, ist nicht von der Hand zu
weisen und es wert, weiter diskutiert zu werden. Die Suche nach ›Einheit in
der Vielfalt‹ hätte zu einer Lösung beitragen können, ist aber unzulänglich.
Trotzdem leistet er offenbar einen äußerst reichen Beitrag zur Analyse der
historischen Gesellschaft. Ich muss seine Analysen als eine Systemanalyse für
ein besseres und schöneres gesellschaftliches Leben würdigen, mit nur gerin-
gen Fehlern. Der fundamentale Mangel ist jedoch, dass sie das Risiko in sich
tragen, einen geschlossenen Kreislauf zu präsentieren, der scheinbar nicht
überwunden werden kann. Er geht an die hegemonialen Machtsysteme he-
ran, als ob sie schicksalhaft seien; besser gesagt: Er zeigt den Ausweg nicht
dialektisch auf.
Immanuel Wallerstein basiert seine Analyse des kapitalistischen Welt-
Systems auf einen fünfhunderjährigen Zeitabschnitt, was unzureichend ist.
Offenbar wären seine Analysen noch viel produktiver, wenn er sie auf eine
fünftausendjährige Basis stellte. Bei einer Reihe von Denker*innen, die in
der Anthologie The World System veröffentlicht wurden, haben wir Ansätze
davon gesehen. Wallersteins Vorteil dagegen liegt darin, dass er eine stärkere
Analyse des Auswegs aus dem Welt-System vorlegen kann. Seine Ansätze
leisten dazu einen wichtigen Beitrag.
Fernand Braudels Analyse des Kapitalismus genauso wie die histori-
schen Zeitebenen (›kurze, mittlere und lange Dauer‹), in denen er sein ho-
listisches Gesellschaftsverständnis präsentiert, sind wirklich geeignet, den
Horizont zu erweitern. Besonders seine Feststellung, dass der Kapitalismus

17 Wallerstein selbst beschrieb Europa in Reaktion auf die Kritik Franks, er argumentiere euro-
zentrisch, als »historische Abweichung«, einen »Unfall« und eine »Krankheit«: »Far from being
Eurocentric, my analysis ›exoticizes‹ Europe. Europe is historically aberrant. In some ways this
was a historical accident, not entirely Europe’s fault. But, in any case, it is nothing about which
Europe should boast. Perhaps Europe and the world will one day be cured of this terrible mala-
dy with which Europe (and through Europe the world) has been afflicted.« in: Frank und Gills,
The World System.
32 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

marktfeindlich18 ist, und seine Betonung, dass Machtmonopole und wirt-


schaftliche Monopole ähnliche Akkumulationseigenschaften aufweisen,
sind höchst bedeutsam. Einer meiner Lieblingssätze ist: »Macht sondert
stets Kapital ab.«19 Auch die Feststellung »Auch Macht lässt sich wie Geld
ansammeln«20, ist für verständige Geister sehr lehrreich. Entscheidend und
sehr aufschlussreich ist auch, dass sowohl Wallerstein als auch Braudel einen
Aspekt des Misserfolgs der sozialistischen Revolutionen darin sehen, dass
es ihnen nicht gelang, die kapitalistische Moderne zu überwinden. Doch
stimme ich auch zu, dass beide berühmten Denker in Hinblick auf den
›ökonomischen Reduktionismus‹ – von dem beide selbst reden – hinterfragt
werden müssen.
Nochmals muss ich festhalten, dass mein sozialwissenschaftlicher Ansatz,
obwohl er in geringem Maße von den genannten, wichtigen Denkern beein-
flusst ist und Ähnlichkeiten zu den Ansichten vieler anderer Denker*innen
besitzt, die hier unerwähnt bleiben, spezifische eigene Dimensionen bein-
haltet. Ich denke, dass ich die genannten Punkte in meiner zweiten gro-
ßen Gefängnisschrift, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, weiter vertiefen
und systematisieren konnte. Die Grundlage für diese Überzeugung: Meiner
Meinung nach konnten sich die bestehenden Epistemologien nicht davon
befreien, ein Teil des Machtapparates zu sein. Dies geschieht gegen ihren
Willen. Karl Marx, ein Denker mit höchst wissenschaftlichem Ansatz, war
ganz zweifellos die Person, die das wahre Wesen des Kapitals am besten er-
kannt hat. Doch diese höchst bedeutsame Eigenschaft reichte nicht aus, um
ihn von der kapitalistischen Moderne loszureißen. Die Wissensstrukturen,
auf die sich Marx stützte, und sein Leben waren auf tausenderlei Weise
mit der Moderne verbunden. Dies sage ich nicht als Vorwurf, sondern
um seine Realität verständlich zu machen. Ähnliche Probleme gelten auch
für Lenin und Mao. Auch das System, das sie sich vorstellten (angefangen
mit den Wissensstrukturen und dem Verständnis von modernem Leben),

18 Die Marktfeindlichkeit des Kapitalismus wird ausführlich in Band II: Die kapitalistische
Zivilisation diskutiert. Braudels Begriff des anti-marché wurde in der deutschen Ausgabe seiner
Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts sowohl mit Gegen-Markt als auch mit Gegenmarkt
wiedergegeben.
19 Das genaue Zitat lautet: »Imperialismus und Kolonialismus sind so alt wie die Welt, wobei
jede deutlich ausgeprägte Herrschaft den Kapitalismus absondert, wie ich hoffentlich überzeu-
gend dargelegt habe.« Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, München 1986, Band 3:
Aufbruch zur Weltwirtschaft, S. 325.
20 Das genaue Zitat lautet: »Der Erfolg hängt davon ab, daß man die Chancen einer bestimmten
Epoche nutzt, er beruht auf Wiederholung und Akkumulation. Die Macht sammelt sich eben-
so an wie das Geld.« Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, München 1986, Band 3:
Aufbruch zur Weltwirtschaft, S. 50.
Einführung 33

war in vielen Prämissen von der kapitalistischen Moderne abhängig. Zum


Beispiel dachten sie, dass sie riesige Phänomene wie Industrialismus und
Nationalstaat mit sozialistischen Inhalten erobern könnten. Dabei waren
und sind diese grundlegenden Formen der Moderne äußerlich und inhalt-
lich auf die Kapitalakkumulation fokussiert. Wer sie zur Grundlage machte,
würde zwangsläufig Kapitalismus hervorbringen – trotz aller Feindseligkeit
ihm gegenüber. Meine Kritik am Realsozialismus war an all diesen Punkten
sehr klar geworden. Doch sie würde nicht ausreichen. Was sollte ich an die
Stelle des Kritisierten setzen? Das war die wichtige Frage. Und über diese
Frage dachte ich ständig nach.
Mir erscheint es sehr notwendig und problemlösend – obwohl anschei-
nend sehr simpel –, die Option der demokratischen Zivilisation unter eben-
diesem Namen als systematischen Modellansatz zu präsentieren, bis es eine
neue Benennung gibt, die passender zu sein scheint. Vor allem schlägt diese
Option für das zentrale, globale Zivilisationssystem ein alternatives System
vor. Die demokratische Zivilisation ist nicht nur eine Utopie für Gegenwart
und Zukunft; sie erscheint auch höchst notwendig und erhellend für eine
konkretere Interpretation der historischen Gesellschaft.
Es liegt in der gesellschaftlichen Natur, dass zu allen Zeiten und an allen
Orten, wo Kapitalakkumulation und die Machtapparate existierten, zu de-
nen sie führte, dagegen Widerstand stattfand und Alternativen gefunden
wurden. Niemals und nirgends ließen es die Gesellschaften an Widerstand
und Alternativen gegen die Kapitalakkumulation und die Machtapparate
fehlen. Die Gründe dafür, dass sie meistens unterlagen, waren nicht die
Abwesenheit von Widerstand und Alternativen, sondern müssen in anderen
Umständen gesucht werden.
Solange wir die unfassbaren Geschichten der Ansammlungen von Kapital
und Macht nicht genau verstehen, haben wir Schwierigkeiten, den Sinn des
Begriffs der demokratischen Zivilisation zu erfassen. Die Wissensstrukturen
schwankten dabei stets zwischen zwei Arten von Fehlern: Entweder wur-
den sie von den Wissen-Macht-Strukturen vollständig absorbiert oder sie
konnten als sektiererische Konfessionen ohne die Möglichkeit, wissen-
schaftliche und politische Optionen sowie moralische Haltungen unabhän-
gig zu wählen, nicht vermeiden, stumpf zu bleiben oder abgestumpft zu
werden. Zweifellos müssen wir uns hierbei stets die Rolle der Gewalt und
der verführerischen Kraft des Kapitals vergegenwärtigen. Ohne diese beiden
bemerkenswerten Fehlentwicklungen von Wissensstrukturen zu verurtei-
len, lässt sich die Option der demokratischen Zivilisation nicht aufzeigen.
34 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Hinterfragen müssen wir nicht die Existenz der demokratischen Zivilisation,


sondern die Wissen-Macht-Strukturen und das verwirrte Sektierertum, die
beide nicht in der Lage sind, erstere zu erkennen. Diese Tatsachen, die wir
nicht nur mit den Fehlern und Mängeln der Erzählungen der historischen
Gesellschaft erklären können, lassen sich nur durch eine grundlegende
Revolution in den Sozialwissenschaften transformieren.
Die Macht- und Staatsgebilde, die auf der fünftausendjährigen
Akkumulation von Kapital basieren, wussten aus täglicher Erfahrung sehr
genau, dass sie ihre Regime nicht würden fortführen können, ohne in ge-
waltigem Ausmaß ideologische und Wissensstrukturen zu organisieren.
Solange die Sozialwissenschaften die Beobachtung, dass diese Gebilde die
beiden anderen Drillinge der hegemonialen Machtapparate – Mehrprodukt,
Mehrwert und die Legitimationswerkzeuge – ständig akkumulieren, nicht als
grundlegendes Element betrachten, können die Sozialwissenschaften nicht
zu sinnvollen Wahrheitsregimen werden; das müssen wir wissen. Solange wir
nicht verstehen, dass die Strukturen von Mythologie, Religion, Philosophie
und positiver Wissenschaft engstens mit der Geschichte der Akkumulation
von Kapital und Macht verschränkt sind und ständig ihre gemeinsamen
Interessen im Blick haben, ist eine Revolution in den Sozialwissenschaften
nicht möglich.
Der zweite wichtige Punkt, den der Begriff der demokratischen
Zivilisation beinhaltet, ist die sehr breite Grundlage für eine Revolution in
den Sozialwissenschaften, die er anbietet. Ich stelle folgende These auf: Die
Behauptung, alle ›Barbaren‹ der Geschichte, die nomadischen Volksstämme,
das Lumpenproletariat, die Stämme, Kommunen, die häretischen
Konfessionen, die Hexen, die Arbeitslosen und Armen seien stets ohne sinn-
volle Bewegungen und Systeme gewesen und dies sei ihr Schicksal, bedeutet
ganz klar, mythologische, religiöse, philosophische und wissenschaftliche
Strukturen zu produzieren und Apparate zur Akkumulation von Wissen
aufzubauen, die den Interessen derjenigen dienen, die Kapital und Macht
akkumulieren. Die Geschichte besteht nicht nur aus der Vorherrschaft von
Kapital und Macht. Gleichzeitig gab es, in Verschränkung und ständiger
Interessensgemeinschaft mit diesen Herrschaftsformen, auch die vorherr-
schenden Wissensmechanismen (mythologisch, religiös, philosophisch und
wissenschaftlich). Wesentlicher Grund für die Erfolglosigkeit zahlreicher
führender oppositioneller sozialwissenschaftlicher Strukturen, allen voran
der marxistischen Sozialwissenschaften, war, dass sie die wissenschaftlichen
Revolutionen, die sich auf die Geschichte der Akkumulation von Kapital
Einführung 35

und Macht stützten, zu ihrer Grundlage machten und es ihnen nicht gelang,
ein alternatives Zivilisationssystem zu entwickeln. Zweifellos wurden viele
genannte Aspekte umfassend kritisiert, doch der nächste Schritt, sie in den
Rahmen einer die gesamte Geschichte umfassenden Erzählung einzubetten,
wurde versäumt. Es wurde kein Weltsystem-Verständnis etabliert, die ent-
sprechenden Erzählungen kamen nicht einmal über fragmentierte Versuche
hinaus.
Der dritte wichtige Punkt am System der demokratischen Zivilisation
ist, dass diese Zivilisation die Kraft besaß, ab der landwirtschaftli-
chen Revolution städtische und industrielle Elemente zu entwickeln,
ohne den Akkumulationen von Kapital, Macht und Staat, die auf der
Herausbildung einer Mittelklasse beruhen und in der Gesellschaft stets
die Rolle von Krebszellen spielen, eine Chance zu geben. Es heißt also »ja«
zu Stadt und Industrie, aber »nein« zu den Krebszellen darin. Wenn wir
uns die heutigen, gigantischen Netzwerke von Stadt-Industrie-Macht und
Kommunikation anschauen und in diesem Zusammenhang die Tatsache
betrachten, dass die furchtbare Umweltzerstörung, die Situation der Frau
und das Niveau von Armut und Arbeitslosigkeit katastrophale Dimensionen
angenommen haben, so wird deutlich, dass der Begriff des krebsartigen
Wachstums in gesellschaftlichen Strukturen keineswegs unangemessen
ist. Heutige führende Sozialwissenschaftler wie Immanuel Wallerstein ge-
nauso wie die zu allen Zeiten vorhandenen ›Barbaren‹ (den Begriff der
Barbarei werden wir weiter unten diskutieren und neu bestimmen), die
Mitglieder häretischer Konfessionen, aufständische Bäuerinnen, Utopisten,
Anarchist*innen, zuletzt die Feministinnen und die immer lauter werden-
den Umweltbewegungen können für die Abwehr der drohenden Gefahr des
Krebswachstums im gesellschaftlichen Gewebe eine ganzheitliche Bedeutung
erlangen. Keine Gesellschaft kann die gegenwärtigen Akkumulationen von
Stadt, Mittelklasse, Kapital, Macht, Staat und Kommunikationsmitteln lan-
ge aushalten. Wenn auch die in einen eisernen Käfig gezwängte Gesellschaft
es nicht schafft, so laut zu schreien, dass etwas dabei herauskommt, so zei-
gen doch die täglichen S.O.S.-Signale aus der Ökologie deutlich, dass den
Problemen, die eine krisenhafte und chaotische Dimension erreicht haben,
das bestehende System der Zentralzivilisation zugrunde liegt. Wir denken,
dass der Ausweg aus diesem Chaos nur durch einen Ansatz gelingen wird,
der tief in den historisch-gesellschaftlichen Ressourcen verwurzelt ist und
die Gegenwart als den jetzigen Zustand dieser Ressourcen analysiert, und
36 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

behaupten, dass auch die Zukunft in diesem Sinne nur durch das ›Zentrale
Weltsystem der Demokratischen Zivilisation‹ gewährleistet werden kann.
Dieser Band wird sich auf die Verdeutlichung dieser These in verschiede-
nen Dimensionen konzentrieren. Dass ich die Geschichte in ihren univer-
salen Dimensionen zu verstehen versuche, liegt zweifellos an meinem prin-
zipiellen Glauben, dass lokale Geschichten ohne eine Universalgeschichte
bedeutungslos sind. Zweifellos lässt sich selbst die Geschichte der un-
scheinbarsten Gesellschaften im Lichte der Universalgeschichte betrachten.
Außerdem halte ich es auch für ein wertvolles Prinzip, dass die Gegenwart
Geschichte und die Geschichte jetzt ist. Ich muss jedoch diesen beiden wich-
tigen historischen Prinzipien, die ich hiermit erneut unterstreiche, einen
Aspekt hinzufügen: Die lokale Gegenwart wiederholt die Geschichte nicht
nur als Wiederaufführung einer Tradition. Sie spielt vielmehr eine wichti-
ge Rolle bei der historischen Akkumulation, indem sie die eigenen spezifi-
schen Besonderheiten hinzufügt. Die Geschichte besteht nicht nur aus einer
Wiederholung; sie wiederholt sich, indem sie die Beiträge eines jeden Ortes
und jedes Zeitabschnitts akkumuliert.
Ich bezweifle nicht, dass mein Ansatz auf Verständnis trifft, wenn man
die Veränderungen nicht nur in meinen vorausgehenden Schriften, sondern
allgemein in allen meinen schriftlichen und mündlichen Einschätzungen
vor dem Hintergrund dieser Prinzipien betrachtet. Offensichtlich lassen sich
meine Ansichten nicht als dröge Wiederholung oder radikales Renegatentum
interpretieren. Wer zu beobachten weiß, sieht klar, dass Entwicklung
Unterschiedlichkeit ist und dass die Veränderung durch Diversifikation ein
maßgebliches Prinzip des Universums ist. Wenn aus Eins Zwei wird, so
findet nicht nur eine simple quantitative Akkumulation statt; gleichzeitig
realisiert sich Zwei immer als Unterschiedlichkeit gegenüber Eins.
Nach Vorwort und dieser Einführung werden wir im nächsten Teil ›einige
methodische Probleme‹ diskutieren. Wir werden betonen, dass die extre-
me Zerstückelung der Wissenschaften eine Krise der Wissenschaft an sich
darstellt und diese mit der Krise des Systems zusammenhängt. Wir werden
auch auf die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes für die Wissenschaft
eingehen.
Als weiteres Thema der Methode werden wir die verschiedenen Naturen,
besonders die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Natur betonen. Wir
werden erklären, warum die Rückkehr zur (ersten) Natur gleichzeitig ra-
dikale Ansätze erfordert und dies in Zusammenhang mit der Frauenfrage
behandeln.
Einführung 37

Die Trennung von Subjekt und Objekt werden wir mit Vorsicht behan-
deln, die Probleme, die durch sie ausgelöst werden, und die Wege, um sie zu
beseitigen, diskutieren. Wir werden den Zusammenhang mit dem System
der Kapitalakkumulation aufzeigen und die Notwendigkeit betonen, es zu
überwinden.
Wichtig ist auch, bei methodischen Dualismen wie Universalismus–
Relativismus, Zirkularität–Linearität und Globalismus–Lokalismus offen
für Neues zu sein. Darüber hinaus ist auch eine Neuinterpretation der dia-
lektischen Methode notwendig.
Eine Klarheit der methodischen Begriffe kann die Darstellung wei-
terer Themen erleichtern. Aus diesem Grund erschien es notwendig, die
Ausführungen zur Methode diesem Band in einem eigenen Teil voranzu-
stellen.
Der zweite Teil trägt die Überschrift ›Die Frage der Freiheit‹. Der enge
Zusammenhang zwischen dem System der demokratischen Zivilisation und
der Freiheit macht die Klärung dieses Themas bedeutsam. Der herrschsüch-
tige Charakter des Systems der Zentralzivilisation hebt gleichzeitig den frei-
heitlichen Charakter der demokratischen Zivilisation hervor. In diesem Teil
wird die enge Verbindung zwischen Gleichheit und Freiheit analysiert wer-
den. Noch wichtiger: wir werden uns damit befassen, den wahren Begriff
der Gleichheit auf der Grundlage der Beachtung von Unterschiedlichkeiten
zu interpretieren. Wenn wir berücksichtigen, dass Begriffe von Freiheit und
Gleichheit, die außerhalb des Zusammenhangs mit den Systemen analysiert
werden, in den Sozialwissenschaften zu bedeutenden Problemen führen,
wird ihre Neuinterpretation im Lichte unserer Hauptthese erhellend wirken.
Thema des dritten Teils ist die Kritik der Vernunft der menschlichen
Spezies. Beim Versuch der Definition der gesellschaftlichen Vernunft wer-
den wir auch versuchen, ihre Funktionen in theoretischer und praktischer
Hinsicht sowie in den Dimensionen analytisch und emotional aufzuklären.
Wohin kann der Gebrauch der Vernunft durch Weltsysteme führen? Gibt
es Grenzen der Vernunft als Werkzeug der Problemlösung? Wie können wir
Immanuel Kant aktualisieren? Derartige Fragen können bereits davor war-
nen, dass Vernunft als Werkzeug zur Problemlösung durchaus zu ernsten
Problemen führen kann.
Im vierten Teil werden wir die ›Entstehung und Entwicklung der gesell-
schaftlichen Frage‹ untersuchen. Wir werden versuchen, den Auslöser dieser
Problematik, das System der Zentralzivilisation, in verschiedenen histori-
schen Zeitabschnitten zu beobachten. Die folgende weitere Verästelung der
gesellschaftlichen Probleme hängt mit dem Kern dieses Systems zusammen.
Daher sind die Akkumulationsapparate von Kapital und Macht selbst das
Problem. Wir werden gewissermaßen die Geschichte des Problems skizzie-
ren.
Im fünften Teil schlagen wir das System der demokratischen Zivilisation
als Instrument der Problemlösung vor. Was bedeutet eine Neukonzipierung
von Geschichte als Gesellschaftsgeschichte? Hier betonen wir die untrennba-
re Verbindung zwischen demokratischer Gesellschaft und Geschichte.
Im sechsten Teil setzen wir das Ergebnis des vorherigen fort und ver-
suchen, die demokratische Moderne als Alternative zur kapitalistischen
Moderne zu definieren. Warum die Auffassung zweier Modernen möglich
und nötig ist, werden wir im Lichte schmerzhafter Lektionen behandeln.
Besonders die Gründe für die Niederlage zeitgenössischer Revolutionen be-
trachten wir in diesem Zusammenhang erneut.
Im siebten und achten Teil werden wir die systemische Krise des
Kapitalismus und die Möglichkeiten für einen Ausweg aus der Krise zu ana-
lysieren versuchen. Wie können die Alternativen aussehen, angesichts der
Tatsache, dass sich die kapitalistische Moderne als gegenwärtiger Zustand
des globalen Zivilisationssystems auflöst? Wie können wir die demokratische
Moderne aufbauen? Was sind die Hindernisse und welche Möglichkeiten
bieten sich uns? Was sind die Aufgaben des Wiederaufbaus? Dies sind äu-
ßerst brennende Fragen, die zweifellos auch ihre Antworten bereits in sich
tragen.
Der neunte Teil ist als Schlussfolgerung gedacht. In diesem Abschnitt
ziehen wir aus verschiedenen Blickwinkeln eine Bilanz dieses Essays. Die
Geschichte verfolgt weder eine gerade, schicksalhafte Linie, noch bewegt
sie sich von selbst auf ein zu erwartendes Ziel zu. Weder ist sie allein die
Quelle allen Übels, noch wird sie über kurz oder lang alles Gute darbieten.
Die Gesellschaftlichkeit des Menschen kann ein gutes Leben ermöglichen.
Die Gesellschaft selbst ist eine enorme Quelle von Lösungen. Wir müs-
sen nur wissen, wie wir uns vor tödlichen Krankheiten einschließlich der
Krebsarten schützen müssen. Lasst uns unsere Welt verstehen, die ein präch-
tiges Paradies ermöglicht. Wählen wir das gute Leben!
Erster Teil

Einige methodische Probleme


Einige methodische Probleme 41

Methode im Sinne eines Weges, der ohne Umschweife zum Ziel führt, ist
kein Begriff, der seinen Ursprung im Westen hat. Seit ältester Zeit wird nach
solchen Wegen in den Weisheitslehren des Nahen Ostens gesucht. Wege,
die zur Erlangung von Wissen geeignet schienen, wurden stets ausprobiert
und diejenigen, die zu den besten Ergebnissen führten, als grundlegen-
de Methoden ausgewählt. Gewöhnlich wurde dazu in den Denkschulen
aus den Begriffen, über die man am meisten nachdachte, eine Logik und
damit eine Methode entwickelt. Als sich das hegemoniale Zentrum des
Weltzivilisationssystems in vielen Bereichen nach Europa verlagerte, zeig-
ten sich Entwicklungen, wie sie in vielen Bereichen für Überlegenheit
sorgten, auch im wissenschaftlichen Bereich auf der Ebene der Methode.
Dass Denker wie Francis Bacon, René Descartes oder Galileo Galilei mit
bedeutenden methodischen Ansätzen im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert auftraten, ist eng mit dieser Verschiebung des hegemonialen
Systems nach Europa verbunden.
Die Entstehung eines der wichtigsten Konzepte der wissenschaftli-
chen Methode, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, hängt mit
der Herrschaft über die Natur zusammen. Als sich die kapitalistischen
Monopole, die neuen Akkumulationsapparate des Kapitals und der Macht,
auf die Ressourcen sowohl der physikalisch-biologischen als auch der ge-
sellschaftlichen Natur stürzten, begriffen sie schnell, welche Vorteile die-
se Ressourcen für die Akkumulation bereithielten. Die Ressourcen bei-
der Naturen zu objektivieren, leistete ständig wachsende Beiträge zur
Akkumulation von Kapital und Macht. Das gedankliche Gegenstück zu
dieser materiellen Entwicklung ist die Trennung von Subjekt und Objekt.
Dies spiegelt sich bei Francis Bacon als Trennung von objektiv und sub-
jektiv wider und bei René Descartes als scharfe Trennung von Seele und
Körper. Bei Galileo Galilei tritt die Mathematik als Sprache der Natur
und als höchstes Kriterium des Objekts auf. Nach einer langen Reise der
Geschichte durch Mesopotamien hatte es bereits im antiken Griechenland
Entwicklungen gegeben, die sich nun in ähnlicher Weise mit spezifischen
Unterschieden im Westen Europas wiederholten. Und eigentlich hatte die
sumerische Gesellschaft die Lebenserfahrung Obermesopotamiens über
Jahrtausende gefiltert und nach Niedermesopotamien übertragen, spezifi-
sche Besonderheiten hinzugefügt und ihre eigene, originale Form geschaffen.
In den zentralen Zivilisationssystemen entspringt das Subjekt immer dem
Kapital und der Macht. Es repräsentiert Bewusstsein, Erzählung und freien
Willen. Mal ist es Person und mal Institution, aber stets existiert es. Die
42 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Gruppen dagegen, denen die Rolle des Objekts zufällt, waren stets die au-
ßerhalb der Macht stehenden Barbaren, Völker und Frauen. An diese wird
wie an die Natur nur gedacht, wenn sie dem Subjekt als Ressource dienen
sollen. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine andere Bedeutung für sie
undenkbar ist. Schöpfungsgeschichten wie die sumerische, dass der Mann
als Knecht aus den Exkrementen der Götter, oder die Frau aus der Rippe
des Mannes geschaffen sei, spiegeln die Dimensionen der Objektivierung
in den Tiefen der Geschichte wider. Die Übertragung dieses Ansatzes von
Objekt und Subjekt in das europäische Denken war zweifellos erst nach
wichtigen Transformationen möglich. Doch es lässt sich nicht leugnen, dass
die Entwicklung in dieser Richtung verlief.
Dass die Unterscheidung von Subjekt und Objekt heute verblasst ist,
hängt mit dem Aufstieg des Finanzkapitalismus zum führenden System zu-
sammen. Die symbolische Hegemonie des Finanzkapitals im System der
Zentralzivilisation hat alle alten Zustände von Subjekt und Objekt aufgelöst.
Dass sich jede*r mal als Subjekt, mal als Objekt positioniert, hängt eng mit
den neuen Formen der Akkumulation von Kapital und Macht zusammen.
Nationalismus, Religionismus, Sexismus und Szientismus wachsen sowohl
in der realen als auch in der virtuellen Welt lawinenartig an. Die Apparate
von Kapital und Macht, die sich aus diesen Quellen speisen, halten die
Gesellschaft eng umschlungen. Unter diesen Bedingungen kann sich jede
Person und jede Institution ausreichend in der Position von Subjekt und
Objekt wiederfinden. Wo ideologische Apparate die Funktion der Götter
in der sumerischen Gesellschaft übernehmen, wird die Transformation der
Subjekt-Objekt-Unterscheidung unausweichlich. Genauso werden die neu-
en symbolischen Charakteristiken der Götter und ihre Herrschaft natürlich
die gegenwärtige Unterscheidung überflüssig machen.
Ähnlich verlief die schrittweise Zerstückelung des Wissens und der
Verlust seiner Sakralität im Verlauf der Geschichte der Zentralzivilisation.
Wir können anhand der Geschichte deutlich beobachten, wie das Wissen
in dem Maße zerstückelt wird, wie Kapital- und Machtapparate sich ver-
mehren. In allen Klan- und Stammesgesellschaften ist die Wissenschaft ein
Ganzes. Ihre Repräsentant*innen gelten als heilig. Der Wissenschaft wird
Göttlichkeit zugesprochen; allen wird sie entsprechend ihren Wünschen
und Bemühungen zugeteilt. Während in Mythologien vollständig und in
Religion und Wissenschaft weitgehend derartige Ansätze verfolgt werden,
lässt sich die erste Zerstückelung eher in den Naturwissenschaften und in
der Wissensstruktur Westeuropas beobachten. Die neuen Organisationen
Einige methodische Probleme 43

des Wissens (Akademien und Universtitäten), die sich zunehmend von


der Gesellschaft entfernten und sich in den Dienst der Eliten von Kapital
und Macht stellten, fanden sich in der Position der Lieblingsinstitutionen
des neuen Staates (Leviathan) wieder. Der Prozess der Verschmelzung
der Wissenschaft mit Kapital und Macht war gleichzeitig der Prozess
der Entfremdung von der Gesellschaft. Die Zentren und Tempel der lö-
sungsorientierten Wissenschaft haben sich in Zentren der Schaffung von
Problemen, der Entfremdung und der ideologischen Hegemonie verwan-
delt. Für jede natürliche und gesellschaftliche Ressource wurde eine wis-
senschaftliche Disziplin entwickelt. Diese Tatsache allein genügt, um die
Verflechtung der Wissenschaft mit Kapital und Macht zu beweisen. Der
Bereich der Wissenschaft, der der gesamten Gesellschaft heilig ist, hat sich
maximal davon entfernt, der Gesellschaft zu dienen. Jede wissenschaftli-
che Disziplin wurde zu einem bezahlten Beruf, ja sogar selbst zu Kapital;
sie wurden hochgefährliche Komplizen der Macht. Wir wissen genau, dass
die Produktion von Atomwaffen und aller möglichen Vernichtungswaffen
genauso wie sämtliche Vorgänge, die drohen, die Umwelt zu zerstören, ih-
ren Ursprung in Zentren der Wissenschaft haben. Wer in diesen Zentren
arbeitet, richtet sich nicht nach der Sorge um die Wahrheit (das kollektive
Gewissen der Gesellschaft), sondern hat sich entschieden, als Mentor*in für
die möglichst effektive Produktion von Kapital und Macht zu fungieren.
Wenn wir heute von wissenschaftlicher Arbeit sprechen, ist die erste
Frage, die in den Sinn kommt: »Wie viel Geld bringt das ein?« Dabei erwar-
tet die Gesellschaft von der Wissenschaft, dass sie Antworten zur Lösung
ihrer wesentlichen Sorgen liefert. Die Gesellschaft hat aufgrund materiel-
ler und geistiger Bedürfnisse die Wissenschaft insgesamt als eine göttliche
Berufung betrachtet und sie daher akzeptiert. Der Verfall der Akademien
und Universitäten hängt mit diesen Bedingungen zusammen, die auch
die Ursache für die Krise der Wissenschaft darstellen. Die Geschichte des
Wissens hat in Zusammenhang mit der Geschichte der Zivilisation eine
Transformation durchlaufen und steckt genau wie das System insgesamt in
der Krise. Der Anspruch der Wissenschaft, Mittel zur Lösung zu sein, hat
aus ihr die bedeutendste Quelle von Problemen gemacht. Die Folgen sind
die Zersplitterung der Wissenschaft, ihr Auseinanderfallen und Chaos.
Wir müssen die verschiedenen Naturen, also das Problem der Ersten,
Zweiten und Dritten Natur, genau verstehen. Die gesamte Natur außerhalb
der menschlichen Gesellschaft wird als ›Erste Natur‹ unterschieden. Der Begriff
der Ersten Natur ist in sich widersprüchlich. Zunächst einmal sind endlos
44 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

viele verschiedene Unterscheidungen wie belebt/unbelebt, pflanzlich/tierisch


oder auch physikalisch/chemisch, im nächsten Schritt sichtbare/unsichtbare
Materie oder Energie/Materie denkbar. Außerdem könnten wir für jede dieser
Unterscheidungen von entsprechenden Gesellschaften sprechen. Wenn wir
also die Ansätze zum Problem der Naturen näher betrachten, stellen wir fest,
dass sie stark von der Unterscheidung von Subjekt und Objekt beeinflusst
sind. Wir müssen hier betonen, dass diese keine triftigen Unterscheidungen
darstellen oder zumindest nur bedingt getroffen werden sollten.
Die menschliche Gesellschaft als Zweite Natur stellt zweifellos eine
sehr bedeutende natürliche Entwicklungsstufe dar und besitzt bestimmte
Besonderheiten. Sinnvoller ist, sie nicht als eine separate Natur, sondern als
eine andere Stufe der Natur zu beschreiben.
Diejenigen Charakteristika, die die gesellschaftliche Natur besonders aus-
zeichnen, sind die Größe ihrer mentalen Kapazität, ihre Flexibilität und
ihre Fähigkeit, sich selbst zu konstruieren. Zweifellos existieren auch in der
Ersten Natur Geist, Flexibilität und die Fähigkeit zur Selbstkonstruktion.
Doch funktionieren diese im Vergleich zur gesellschaftlichen Natur sehr
langsam, starr und träge. Wichtig erscheint mir, die gesellschaftliche Natur
als Ganzes theoretisch zu erfassen. Zwar räumten die ersten Soziologen
diesem Thema Priorität ein, doch im Laufe der Zeit gelangten partikuläre
und strukturelle Analysen in den Vordergrund – genauso, wie wir es bei
der Analyse der anderen Naturen beobachtet haben. Darüber hinaus kann
eine Unterscheidung der gesellschaftlichen Natur in Form von Basis und
Überbau und Unterteilungen in Wirtschaft, Politik und Macht sowie eine
Trennung von Schichten und Stufen wie urkommunistische Gesellschaft,
Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus nur
dann sinnvolle Ergebnisse liefern, wenn man die Diversität besonders beach-
tet. Keine Analyse von Schichten, Teilen oder Strukturen kann einen ganz-
heitlichen theoretischen Ansatz ersetzen. Wir können sagen, dass in diesem
Bereich kein*e Philosoph*in oder Soziolog*in über den holistischen Ansatz
von Platon und Aristoteles hinausgegangen ist. Es sind sogar die ganzheitli-
chen Interpretationen der Weisen und Prophet*innen mit nahöstlichen oder
ganz allgemein östlichen Wurzeln lehrreicher und gesellschaftlicher als die
der Philosoph*innen und Soziolog*innen der kapitalistischen Moderne; sie
stellen als fortschrittlicherer und weiter entwickelter Ansatz einen Wert dar.
Wir müssen besonders betonen, dass die größte Verantwortung für den feh-
lenden Einfluss des ganzheitlichen theoretischen Ansatzes bei den Apparaten
der Kapital- und Machtakkumulation liegt.
Einige methodische Probleme 45

Es besteht dringender Bedarf für einen neuen, tief theoretischen metho-


dischen Ansatz zur Untersuchung der menschlichen Gesellschaft. Besonders
müssen wir begreifen, dass soziologische Methoden, die im Zahlengewirr
ersticken, die Wirklichkeit nicht enthüllen, sondern vielmehr verschleiern.
Wenn ich sage, dass die bestehende Soziologie die Wirklichkeit stärker ver-
schleiert als die Mythologien, sollten wir das nicht als Übertreibung be-
trachten. Der Sinn, zu dem wir durch das Fühlen der Wirklichkeit in der
Mythologie gelangen, ist menschlicher und näher an der Wahrheit als der
Sinn in den Soziologien der kapitalistischen Moderne.
Die Gesellschaftswissenschaft ist zweifellos wichtig, aber es fällt schwer,
ihren gegenwärtigen Zustand als Wissenschaft zu bezeichnen. Die kursieren-
den soziologischen Diskurse drücken über die Legitimierung der offiziellen
Moderne hinaus kaum einen Sinn aus. Bei diesem Thema brauchen wir eine
radikale wissenschaftliche Revolution und einen methodischen Aufbruch.
Die Stufe, die wir Dritte Natur nennen wollen, ist nur durch diese wis-
senschaftliche und methodische Revolution möglich. Als Begriff bezeichnet
›Dritte Natur‹ die auf einer höheren Ebene wiederhergestellte Harmonie
zwischen der Ersten und der Zweiten Natur. Eine Synthese der gesellschaft-
lichen Natur mit der Ersten Natur auf höherer Ebene erfordert gleicher-
maßen eine Revolution des theoretischen Paradigmas wie eine radikale
praktische Revolution. Dabei wird insbesondere die Überwindung der ge-
genwärtigen Stufe des Systems der Zentralzivilisation, des kapitalistischen
Welt-Systems, also der kapitalistischen Moderne entscheidend sein. Dafür
müssen wir Prozesse entwickeln, um zumindest auf minimaler Ebene die
demokratische Zivilisation aufzubauen. Fortschritte bei den besonders her-
ausstechenden Merkmalen des ökologischen und feministischen Charakters
der Gesellschaft zu erzielen, die Kunst der demokratischen Politik funktio-
nal zu machen und der Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft sind
Schritte, die wir erfolgreich durchführen müssen.
Die Dritte Natur ist kein neues Versprechen eines Paradieses oder ei-
ner Utopie; sie bedeutet, dass sich der Mensch, dessen Wissen über die
Naturen sich vermehrt, seine eigene Unterschiedlichkeit bewahrt und
gleichzeitig erneut Teil der großen Harmonie wird. Dies ist nicht nur
eine Sehnsucht, eine Absicht und das Versprechen von Utopien, sondern
die Kunst des guten und schönen Lebens, das einen aktuellen, prakti-
schen Sinn hat. Ich rede nicht vom Biologismus, ich bin mir der Gefahr
dieses Ansatzes bewusst. Ich rede auch nicht von den ›gottserbärmlichen‹
Paradiesversprechen der Akkumulationsapparate von Kapital und Macht.
46 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Ich kann ermessen, was dieser Ansatz im Kern bedeutet und welch gefährli-
che und zerstörerische Absichten er in sich birgt. Den Vulgärkommunismus,
das Paradiesversprechen des Materialismus, halte ich ebenfalls für primitiv
und nicht funktional, eine Art extremer Variante des Liberalismus. Ohnehin
können wir aus unterer alltäglichen Lebenserfahrung leicht ersehen, dass
jegliches Versprechen des Liberalismus höllisch stinkt.
Die Verwirklichung der Dritten Natur erfordert eine lange Zeit. Die
Entstehung des demokratischen Systems als Regime der Verwirklichung
einer auf Unterschiedlichkeiten beruhenden Freiheit und Gleichheit auf
der Grundlage des Zusammenführens der Ersten und der Zweiten Natur
auf einer höheren Ebene wird dann möglich werden, wenn es im Inneren
Eigenschaften einer ökologischen und femininen Gesellschaft entwickelt hat.
Die gesellschaftliche Natur des Menschen beinhaltet bereits die Dynamiken
zur Verwirklichung dieser Stufe. Auf das Problem der verschiedenen Naturen
sollten wir uns verstärkt konzentrieren. Dieser methodische Ansatz kann uns
zu sinnvollen theoretischen und praktischen Resultaten führen.
Ein weiteres Problem, das in letzter Zeit bezüglich der Methode diskutiert
wird, betrifft das Verhältnis von Universalität und Relativismus. Gleichen
Inhalts ist die Frage der Universalität oder Partikularität von Bedeutung.
Wir stehen vor einem methodischen Problem, das wir sorgfältig analy-
sieren müssen. Wir können dieses Problem auch so definieren, dass die
Unterscheidung von Subjekt und Objekt eine neue Stufe erreicht hat. Dass
die starren Glaubenssätze der Apparate von Macht und Kapital meist als
›Gesetze‹ bezeichnet werden, liegt an den materiellen Bedingungen, die
derartigen methodischen Problemen zugrunde liegen. Diesem ›legalisti-
schen‹ Ansatz das Attribut ›Universalität‹ anzuheften, hängt eng mit seiner
Verwendung als Werkzeug der Legitimation zusammen. Wir dürfen nicht
vergessen, dass das Gesetz ein Produkt der Macht ist. Und vergessen wir
auch nicht, dass Macht Kapital ist. Die Herrschaft der Macht nennt sich
gleichzeitig ›Gesetz‹. Je universaler das Gesetz wiederum ist, desto stärker ist
es und desto unmöglicher wird es, sich ihm entgegenzustellen. So beginnt
auch die Konstruktion von Gott-Menschen. Derjenige, der die Macht be-
sitzt, kann sein Diktat nicht offen aussprechen und vergöttlicht es daher.
Durch dieses geniale Instrument der Legitimation plant er, seine Macht
fortan leichter ausüben zu können. Derartige Bestrebungen stellen eine we-
sentliche Quelle sämtlicher Universalitäten dar, wenn auch nicht ihre einzi-
ge. Das müssen wir genau verstehen.
Einige methodische Probleme 47

Der Relativismus wird zwar als Gegenpol dargestellt, ähnelt aber im Kern
dem Universalismus. Er drückt den Zustand des korrumpierten Menschen
aus, der sich vollständig von Regeln, Wegen und Methoden entfernt hat.
Der Relativismus lässt eine Tür offen für extreme Ansichten wie: »Es gibt
so viele Regeln und Methoden, wie es Menschen gibt.« Da dies in der
Praxis nicht möglich ist, geht man letztlich zwangsläufig den Gesetzen des
Universalismus in die Falle. Die eine Auffassung überschätzt die Intelligenz
in der menschlichen Gesellschaft und hebt sie auf die Ebene eines ›uni-
versal gültigen Gesetzes‹, die andere unterschätzt sie und reduziert sie auf
irrige Aussagen wie: »Jeder hat seine eigenen Gesetze.« Die gesellschaftliche
Intelligenz lässt sich auch realistischer interpretieren. Universale Gesetze und
den Relativismus nicht als gegensätzliche Pole zu interpretieren, sondern
sie als zwei ineinander verschränkte Zustände der natürlichen Wirklichkeit
begrifflich zu fassen, kann zu einer produktiveren Erzählung führen. Von
unveränderlichen universalen Gesetzen zu sprechen, führt zur Vorstellung
eines gradlinigen Fortschritts; wenn dieser im Universum einen Endpunkt
hätte, müssten wir heute schon an ihm angelangt sein. Das ist ein Mangel
des Progressivismus. Wenn es stimmte, dass das Universum sich ständig auf
ein Ziel zubewegt, hätte es dieses in der ›vergangenen Ewigkeit‹ (ezel), die
die Unendlichkeit enthält, längst erreichen müssen. Andererseits enthält der
Relativismus den Begriff der ›endlosen Zirkularität‹; wenn dies zuträfe, hät-
ten im bestehenden Universum Veränderung und Entwicklung nicht statt-
finden oder entstehen können. Daher treffen sich im Kern die methodischen
Auffassungen von universellem Fortschritt und Zirkularität, und ihnen fehlt
die Kraft, die Entwicklung eines sich verändernden und ausdifferenzieren-
den Universums zu erklären; es sind mangelhafte Methoden. Ich glaube,
dass eine richtigere Methode in einer Form bestimmt werden muss, die
›Veränderung durch Differenzierung ermöglicht und den Augenblick ebenso
wie die Unendlichkeit beinhaltet‹. Dass Fortschritt zyklisch stattfindet und
dass Zirkulation Fortschritt beinhaltet, dass die Unendlichkeit im jetzigen
Moment verborgen, der Gegenwart immanent ist, dass die Gesamtheit der
augenblicklichen Gebilde die Unendlichkeit beinhaltet; all dies liefert für
den Aufbau eines Wahrheitsregimes eine methodische Perspektive, die er-
hellender wirkt und verständlicher ist.
Wichtig ist auch, auf einige Punkte einzugehen, die das Thema der dia-
lektischen Methode betreffen. Zweifellos war die Entdeckung der Dialektik
eine enorme Errungenschaft. Durch genaue Beobachtung lässt sich in je-
dem Moment erkennen, dass das Universum dialektischen Charakter
48 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

besitzt. Das Problem hierbei ist, wie die Dialektik interpretiert werden
muss. Der Unterschied in den Interpretationen der Dialektik von Hegel
und Marx ist bekannt. Beide Interpretationen haben höchst unerfreuliche
und zerstörerische Folgen ausgelöst. Die Hegelsche Interpretation, die zum
nationalistischen deutschen Staat führte, hat in der Praxis des Faschismus
furchtbare Folgen hervorgebracht. Und bekanntlich haben auch Marx’
Nachfolger*innen, wenn auch auf andere Weise, durch eine enge, klassen-
orientierte realsozialistische Praxis eine Reihe von negativen Resultaten und
Zerstörungen ausgelöst. Der richtigere Ansatz ist hier, den Fehler nicht bei
Marx und Hegel zu suchen, sondern bei denen, welche die Dialektik aus-
reichend falsch interpretiert haben. Außerdem ist es weder richtig, die dia-
lektische Methode Hegel und Marx zuzuschreiben, noch dem Denken des
antiken Griechenlands. In der Weisheit des Ostens stoßen wir oft auf dia-
lektische Interpretationen. Zweifellos kamen im antiken Griechenland und
im Europa der Aufklärung wichtige Errungenschaften hinzu.
Es ist weder richtig, die Dialektik als zerstörende Einheit der Gegensätze
zu betrachten, noch die Veränderung als widerspruchsloses Werden, als
Kreativität des Moments zu interpretieren. Die erste Auffassung führt stets
zu einer vulgären Tendenz, die Pole zu Feinden macht, was im Ergebnis
nicht darüber hinausgeht, das Universum als regellos und stets chaotisch
zu betrachten. Die zweite führt zu einer Auffassung von Entwicklung ohne
Spannung, ohne Gegensätze, ohne eigene Dynamik, die stets eine äußere
Kraft als Ursache benötigt; und auch dem scheinen wir unmöglich zustim-
men zu können. Es ist bekannt, dass dieser Weg in die Metaphysik führt.
Also ist es von großer Bedeutung, die Dialektik von diesen beiden extre-
men Interpretationen zu befreien und zu reinigen. Eine nicht zerstörerische,
konstruktive Dialektik ist ohnehin das, was wir in Entwicklungen beobach-
ten. Beispielsweise trägt der Mensch vielleicht selbst auch eine dialektische
Entwicklung in sich, die so alt ist wie das ungefähr ermittelte Alter des
Universums. Der Mensch besteht nicht nur aus allem von den kleinsten sub-
atomaren Partikeln bis zu den komplexesten Atomen und Molekülen, son-
dern er trägt auch sämtliche biologischen Zeitalter in seiner Konstitution21.
Diese fantastische Entwicklung ist dialektisch, aber dass sich hier eine kon-
struktive und entwicklungsfördernde Dialektik ausdrückt, ist so offensicht-
lich, dass es nicht zu leugnen ist. Zweifellos beinhalten die viel diskutierten
Klassenwidersprüche (und wir können hinzufügen: Stammes-, ethnische,

21 Siehe Band I, S. 59–67 und Band II, S. 74, Fußnote 17.


Einige methodische Probleme 49

nationale und systemische Widersprüche) gewisse Feindschaften. Doch ist


es möglich, diese Widersprüche, ohne dass es zum Massaker kommt, durch
die enorm flexible gesellschaftliche Kraft der Vernunft gemäß dem Geist der
Dialektik zu lösen. Überhaupt ist die Natur der Gesellschaft voller Beispiele
für derartige Lösungen. Während die Ideologen die Entwicklung besser er-
klären wollten, gelang es ihnen vielleicht nicht, ungewollte Ergebnisse zu
vermeiden. Zumindest zeigt die Tatsache, dass sie oft in eine solche Lage
gerieten, dass die Interpretation der Dialektik weiterhin wichtig bleibt.
Um beim Thema Dialektik einer falschen Auffassung zuvorzukommen,
müssen wir sie auch noch kurz im Vergleich zur Metaphysik kommentie-
ren. Zweifellos war es der unproduktivste Ansatz aller Zeiten, die Quelle
der Entstehung der Metaphysik außen, bei einem Schöpfer zu suchen. Die
Philosophie, die Religion und der positive Szientismus, zu dem dieser Ansatz
geführt hat, haben ein regelrechtes System des ›geistigen Kolonialismus‹ ge-
schaffen. Die Natur braucht vielleicht keine*n Schöpfer*in von außen, aber
selbst wenn doch, so kann diese*r Schöpfer*in allenfalls in ihr selbst zu fin-
den sein. Doch wir können ruhig behaupten, dass die Metaphysik auf die
Intelligenz der gesellschaftlichen Natur ›Regime des geistigen Kolonialismus‹
montiert hat, die einem Schöpfer von außen gleichen. In diesem Sinne ist es
von großer Bedeutung, die Metaphysik zu kritisieren und zu überwinden.
Was ich jedoch zur Metaphysik anmerken möchte, betrifft einen ande-
ren Aspekt von ihr. Ich spreche davon, dass der Mensch ohne Metaphysik
nicht auskommt. Die Metaphysik, die ich hier meine, sind die kulturel-
len Schöpfungen der menschlichen Gesellschaft. Dazu gehören neben
Mythologie, Religion, Philosophie und Wissenschaft alle Arten von Kunst,
Politik und Produktionstechnik. Gefühle von Gutem und Schönem ha-
ben keine physischen Entsprechungen. Sie sind Bedingungen für Werte,
die dem Menschen eigen sind. Besonders Moral und Kunst sind metaphy-
sische Werte. Was hier erläutert werden muss, ist nicht der Widerspruch
von Metaphysik und Dialektik, sondern die Unterscheidung zwischen gu-
ten, schönen metaphysischen Schöpfungen und schlechten, hässlichen me-
taphysischen Schöpfungen. Und es sind nicht die Dichotomien Religion-
Atheismus und Philosophie-Wissenschaft, sondern religiöse, philosophische
und wissenschaftliche Überzeugungen, Wahrheiten und Fakten, die das
Leben erträglicher und attraktiver machen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Natur vor dem Menschen ein Stück
aufgeführt hat, das sehr groß und vielfältig ist. Darin kann der Mensch
nicht dieselbe Rolle spielen wie die Natur. Der Mensch kann auf dieser
50 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Bühne höchstens sein Leben durch Stücke arrangieren, die er selbst konst-
ruiert. Dass das Theater als Spiegel des Lebens bezeichnet wird, hat seinen
Ursprung in dieser profunden Tatsache. Wichtig ist, in diesem Bühnenleben
die schlechten und hässlichen Aspekte und Fehler auf ein Minimum zu re-
duzieren; das Wahre, Gute und Schöne hingegen zu maximieren. Wenn wir
von der guten, wahren und schönen Metaphysik sprechen, meinen wir die-
se tiefen, charakteristischen Besonderheiten des Menschen und nicht etwa
Metaphysiken, die blind, taub und gefühllos machen. Ich bin überzeugt,
dass diese Klarstellungen beim Vergleich von Dialektik und Metaphysik in
Bezug auf die Methode von großer Bedeutung sind.
Zweiter Teil

Die Frage der Freiheit


Die Frage der Freiheit 53

Ich möchte beinahe sagen, Freiheit ist das eigentliche Ziel des Universums.
Dennoch habe ich mich oft gefragt, ob das Universum wirklich hinter der
Freiheit her ist. Freiheit nur als eine tiefe Suche der menschlichen Gesellschaft
zu formulieren, schien mir immer unvollständig, ich dachte mir, es muss
definitiv einen Aspekt geben, der das Universum betrifft. Wenn ich an den
Teilchen-Energie-Dualismus denke, der den Grundstein des Universums
darstellt, würde ich ohne zu zögern betonen, dass Energie Freiheit ist. Ich
glaube, dass das Materieteilchen ein inhaftiertes Energiepaketchen ist. Licht
ist ein Energiezustand. Können wir leugnen, wie frei das Licht fließen kann?
Wir müssen auch zustimmen, wenn Quanten, definiert als die kleinsten
Energieteilchen, heute als Faktor gedeutet werden, der beinahe die gesamte
Vielfalt erklärt. Ja, die quantenartige Bewegung ist die schöpferische Kraft
der ganzen Vielfalt. Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob es dies ist,
was ›externe göttliche Kreativität‹ genannt wurde?
Beim Thema Freiheit nicht egoistisch zu sein und in keinen Redukti­
onismus zu verfallen, der die Freiheit nur auf den Menschen beschränkt, hal-
te ich für wichtig. Wenn ein Tier sich dagegen wehrt, in einen Käfig gesperrt
zu werden, können wir da etwa leugnen, dass es dies um der Freiheit Willen
tut? Mit welchem Begriff als dem der Freiheit können wir den Gesang der
Nachtigall im Käfig erklären, der schöner ist als jede beliebige Symphonie?
Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, lassen nicht alle Stimmen und
Farben des Universums an Freiheit denken? Die Gegenwehr der Frauen,
die als erste und letzte Sklavinnen die intensivste Sklaverei der menschli-
chen Gesellschaft erleben, mit welch anderem Begriff als dem der Suche
nach Freiheit können wir sie beschreiben? Wenn ein brillanter Philosoph
wie Spinoza die Freiheit als Ausweg aus der Ignoranz und als Kraft des
Verstandes interpretiert, läuft das nicht auf dasselbe hinaus?
Ich möchte das Problem nicht in Unmengen von Inhalten ersticken. Auch
möchte ich es nicht als mein ›Verurteiltsein zur Unfreiheit‹ von Geburt an
formulieren. Außer ein paar Zeilen, die ich im Andenken an Prometheus
ins Unreine geschrieben habe, habe ich nie Gedichte geschrieben, was ja
eine Art Suche nach Freiheit darstellt. Auch das hat, wie ich weiß, nur bild-
liche Bedeutung. Doch lässt sich leugnen, dass ich leidenschaftlich nach der
Bedeutung der Freiheit suche?
Beim Versuch, die gesellschaftliche Freiheit zu problematisieren, dient
diese kurze Einleitung dazu, vor der Komplexität des Themas zu warnen.
Die Konzentration der gesellschaftlichen Intelligenz als am weitesten ent-
wickelte Natur zu definieren, trägt auch zur Erhellung bei der Analyse der
54 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Freiheit bei. Bereiche, in denen sich Intelligenz konzentriert, sind sensi-


bel für die Freiheit. Es ist richtig, dass je mehr eine Gesellschaft in sich
Intelligenz, Kultur und Vernunft konzentriert, sie sich desto freiheitstaug-
licher gestaltet. Und zutreffend ist auch, dass je mehr sich eine Gesellschaft
von Intelligenz, Vernunft und Kultur fernhält oder ferngehalten wird, sie
desto mehr versklavt ist.
Wenn ich über den Stamm der Hebräer nachdenke, fallen mir immer
zwei Charakteristika und Überlebensstrategien ein. Die erste ist eine beson-
dere Beziehung zum Geldverdienen. Juden bemühten sich zu bestimmten
Zeiten um finanziellen Einfluss und erlangten zeitweise eine weltweit he-
rausragende Stellung. Dies ist die materielle Seite. Für wichtiger halte ich
jedoch, dass sie die zweite, also die Kunst des Einflusses auf geistigem Gebiet
noch besser meistern. Juden haben zunächst mit ihren Prophet*innen,
später den Schriftgelehrten, in der kapitalistischen Moderne dann mit
Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen eine heraus-
ragende geistig-kulturelle Stellung erlangt, deren Wurzeln fast so weit zu-
rückreichen wie die geschriebene Geschichte. Daher stelle ich die These auf,
dass es keinen anderen Stamm gibt, der so reich und frei ist wie die Hebräer.
Einige Beispiele zur Situation der Juden in jüngerer Zeit werden dies bestä-
tigen. Viele einflussreiche Personen im Bereich des Finanzkapitals, das die
globale Wirtschaft dominiert, haben hebräische Wurzeln, sind also jüdisch.
Erwähnen wir die Namen Spinoza am Beginn der modernen Philosophie,
Marx in der Soziologie, Freud in der Psychologie und Einstein in der Physik
und fügen wir Hunderte Theoretiker*innen von Kunst, Wissenschaft und
politischer Theorie hinzu, so bekommen wir einen ausreichenden Eindruck
von der jüdischen intellektuellen Stärke. Lässt sich die herausragende
Stellung der Juden in der Welt des Intellekts leugnen?
Doch es gibt auch die andere Seite der Medaille, die ›Anderen‹ der Welt.
Materieller und geistiger Reichtum, Stärke und Dominanz einer Seite
entsteht um den Preis der Armut und Schwäche der anderen und ihrer
Verwandlung in eine Herde. Daher gilt Marx’ berühmter Satz über das
Proletariat, »wenn das Proletariat sich selbst befreien will, hat es keine Wahl,
als die gesamte Gesellschaft zu befreien«22, auch für die Juden, als hätte Marx

22 Wie meist zitiert der Autor hier aus dem Gedächtnis. Das Zitat lautet: » […] darum kann
und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne sei-
ne eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht
aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich
in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben.« Karl Marx & Friedrich Engels, Die Heilige
Familie, MEW 2, S. 38.
Die Frage der Freiheit 55

bei der Formulierung an sie gedacht. Wenn sich die Juden ihrer Freiheiten,
also ihres Reichtums, ihrer Intelligenz und ihrer Verstandeskraft sicher sein
wollen, bleibt ihnen keine Wahl, als auch die Weltgesellschaft in ähnli-
cher Weise zu bereichern und geistig zu stärken. Sonst können sie jeder-
zeit von neuen Hitlern verfolgt werden. In diesem Sinne ist die Befreiung,
also die Freiheit der Juden nur möglich, wenn sie mit der Befreiung der
Weltgesellschaft verschränkt gedacht wird. Es sollte kein Zweifel bestehen,
dass dies die nobelste Aufgabe der Juden ist, die für die Menschheit bereits
sehr viel erreicht haben. Vom furchtbaren Völkermord an den Juden kön-
nen wir auch lernen, dass Reichtum, der auf Armut und Unwissenheit der
Anderen fußt, und geistiges Ansehen keinen wirklichen Freiheitswert be-
sitzen. Die wirkliche Bedeutung von Freiheit liegt in der Überwindung der
Spaltung zwischen »Wir« und »den Anderen« und ihrer Eigenschaft, mit
allen teilbar zu sein. Wir werden später auf dieses Thema zurückkommen.
Wenn wir von der Problematik der Freiheit ausgehen, beobachten wir,
dass im System der Zentralzivilisation eine zunehmend vielschichtige
Sklaverei herrscht. Die Sklaverei findet in drei Dimensionen gleichermaßen
statt: Zunächst wird ideologische Sklaverei konstruiert. Die Konstruktion
von Furcht einflößenden und dominanten Göttern aus Mythologien ist be-
sonders in der sumerischen Gesellschaft sehr prägnant und gut verständ-
lich.23 Das oberste Stockwerk der Zikkurat, dem stufenförmigen Tempelbau
der sumerischen Städte, ist als Ort der das Denken beherrschenden Götter
gedacht. Die mittleren Stockwerke sind die Hauptquartiere der politi-
schen Administration der Priester. Das unterste Stockwerk dagegen ist
das Stockwerk der Werktätigen in Handwerk und Landwirtschaft. Dieses
Modell hat sich im Kern bis heute nicht geändert, sondern sich lediglich
enorm erweitert und ausgebreitet. Diese fünftausendjährige Erzählung des
Systems der Zentralzivilisation ist diejenige Konzeption von Geschichte, die
der Wahrheit am nächsten kommt; noch besser gesagt: eine Realität, die em-
pirisch beobachtet wurde. Die Zikkurat zu analysieren, bedeutet das System
der Zentralzivilisation und daher das heutige kapitalistische Weltsystem auf
der richtigen Grundlage zu analysieren. Die eine Seite der Medaille ist die
ununterbrochene Ausweitung von Kapital und Macht durch Akkumulation,
die andere Seite furchtbare Sklaverei, Hunger, Armut und Verherdung.

23 Eine ausführliche Darstellung findet sich in Abdullah Öcalan: Gilgameschs Erben, Münster:
Unrast 2018, Band 1, eine kürzere in Abdullah Öcalan: Zivilisation und Wahrheit, Münster:
Unrast 2019.
56 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

So verstehen wir besser, wie sich das Problem der Freiheit vertieft. Die
Systematik der Zentralzivilisation kann sich weder entwickeln, noch ihre
Existenz bewahren, ohne die Gesellschaft schrittweise ihrer Freiheit zu be-
rauben und sie auf eine Herdengesellschaft zu reduzieren. Die Lösung inner-
halb der Logik des Systems lautet, immer mehr Apparate des Kapitals und
der Macht zu schaffen. Dies wiederum bedeutet weitere Verarmung und
Verherdung. Dass das Problem der Freiheit sich derart ausweitete und zum
fundamentalen Problem jedes Zeitalters wurde, liegt an der Dichotomie
in der Natur des Systems. Ich habe nicht ohne Grund das Beispiel des jü-
dischen Stammes erwähnt, denn es ist höchst lehrreich. Es hat durch die
Zeiten nie an Bedeutung verloren, sowohl die Freiheit als auch die Sklaverei
anhand der jüdischen Geschichte zu betrachten.
Auch die traditionelle Diskussion, ob eher Geld oder eher Bewusstsein
zur Freiheit verhilft, können wir im Lichte dieser Erzählung besser begrei-
fen. Solange es die Rolle eines Instruments zur Kapitalakkumulation spielt,
also die eines Räubers von Mehrprodukt und Mehrwert, wird Geld immer
ein Instrument der Sklaverei sein. Dass das Geld selbst seinen Besitzer stets
der Gefahr der Ermordung aussetzt, demonstriert hinreichend, dass Geld
kein verlässliches Instrument für die Freiheit darstellt. Geld spielt die Rolle
des Materieteilchens, des Gegenteils von Energie. Das Bewusstsein steht in-
sofern der Freiheit stets näher. Bewusstsein über die Realität erweitert stets
den Horizont der Freiheit. Aus diesem Grund wird das Bewusstsein immer
als Energiefluss beschrieben.
Freiheit als die Vermehrung, Diversifikation und Differenzierung im
Universum zu definieren, macht es auch einfacher, die gesellschaftliche
Moral zu erklären. Vermehrung, Diversifikation und Differenzierung lassen,
wenn auch vielleicht nur implizit, stets an die darin enthaltene Fähigkeit ei-
nes intelligenten Wesens denken zu wählen. Wissenschaftliche Forschungen
haben gezeigt, dass Pflanzen eine Intelligenz besitzen, die sie zur Vielfalt hin-
lenkt. Die Gebilde, die eine lebendige Zelle enthält, konnten bisher noch in
keinem Labor von Menschenhand hergestellt werden. Vielleicht können wir
nicht wie Hegel von einer universalen Intelligenz (Geist24) sprechen. Trotzdem
können wir die Rede von einem intelligenzähnlichen Wesen im Universum
nicht völlig als Unsinn abtun. Die Differenzierung können wir durch kei-
ne andere Erklärung ausdrücken als durch die Existenz von Intelligenz.
Dass Diversifikation und Differenzierung immer an Freiheit denken lassen,

24 Im Original deutsch.
Die Frage der Freiheit 57

muss wohl an den Funken von Intelligenz liegen, die ihnen zugrunde lie-
gen. Den Menschen können wir, soweit der Stand des Wissens reicht, das
intelligenteste Wesen des Universums nennen. Doch wie hat der Mensch
seine Intelligenz erlangt? Ich hatte bereits den Menschen wissenschaftlich
(Physik, Biologie, Psychologie und Soziologie) als Zusammenfassung der
Geschichte des Universums bezeichnet25. Hier definieren wir den Menschen
als Akkumulation der universalen Intelligenz. Dies ist auch der Grund, war-
um in einer Reihe von philosophischen Schulen der Mensch als ein Modell
des Universums dargestellt wird.
Das Niveau von Intelligenz und Flexibilität in der menschlichen Gesell­
schaft stellt die wirkliche Grundlage des gesellschaftlichen Aufbaus dar.
Insofern ist es auch angemessen, Freiheit als eine Kraft des gesellschaftlichen
Aufbaus zu definieren. Von den ersten menschlichen Gemeinschaften an
können wir dies als moralische Haltung bezeichnen. Gesellschaftliche Moral
ist nur durch Freiheit möglich. Oder besser gesagt: Freiheit ist die Quelle
der Moral. Die Moral können wir auch verfestigte Form, Tradition oder
Regel der Freiheit nennen. Wenn die moralische Entscheidung der Freiheit
entspringt, wenn wir uns den Zusammenhang von Freiheit mit Intelligenz,
Bewusstsein und Vernunft vor Augen führen, wird der Begriff ›kollektives
Bewusstsein (Gewissen) der Gesellschaft‹ für Moral verständlicher. Auch die
Theorie der Moral als Ethik zu bezeichnen, ergibt nur in diesem Rahmen
Sinn. Wir können nicht von einer Ethik sprechen, die nicht auf der Moral
der Gesellschaft basiert. Zweifellos lässt sich aus moralischen Erfahrungen
eine vollkommenere Moralphilosophie, also Ethik, ableiten, doch eine
künstliche Ethik kann es nicht geben. Immanuel Kant hat bekanntlich viel
Arbeit auf dieses Thema verwendet. Verständlich ist, dass Kant die prakti-
sche Vernunft ›Ethik‹ nennt. Auch seine Interpretation der Moral als eine
freie Wahl, als eine Möglichkeit, ist eine heute immer noch gültige Ansicht.26
Auch der Zusammenhang von gesellschaftlicher Politik und Freiheit ist
offensichtlich. Der politische Bereich ist derjenige, in dem weitsichtige
Geister in höchst intensiver Weise aufeinanderprallen, sich konzentrieren

25 Siehe auch Erster Band, S. 59 ff.


26 » ... was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d.i. die Eigenschaft
des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich
selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die
sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade
die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille
und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.« Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten, in Werke in zwölf Bänden, Band 7, Frankfurt am Main 1977, S. 81. Zitiert nach zeno.
org.
58 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

und nach Resultaten streben. Wir können diesen Bereich gewissermaßen


auch als einen definieren, in dem sich die teilnehmenden Subjekte durch
die Kunst der Politik befreien. Jede Gesellschaft, die gesellschaftliche Politik
nicht fördert und ausbaut, muss wissen, dass dies als ein Mangel an Freiheit
auf sie zurückfallen und sie den Preis dafür bezahlen wird. Insofern sto-
ßen wir hier auf die Erhabenheit der Kunst der Politik. Jede Gesellschaft,
die keine Politik entwickelt (Klan, Stamm, Nation, Klassen und gar Staats-
und Machtapparate), ist zur Niederlage verdammt. Keine Politik entwi-
ckeln zu können, bedeutet ohnehin, das eigene Gewissen, die eigenen vi-
talen Interessen und die eigene Identität nicht zu kennen. Tiefer kann eine
Gesellschaft nicht fallen, größer kann ihr Verlust nicht sein. Davon, dass
solche Gesellschaften Freiheit fordern, können wir nur sprechen, wenn sie
für ihre eigenen Interessen, ihre Identität und kollektives Gewissen aufste-
hen, mit einem anderen Ausdruck: sich in den politischen Kampf begeben.
Ohne Politik Freiheit zu fordern, ist ein katastrophaler Irrweg.
Damit das Verhältnis von Politik und Freiheit nicht verzerrt wird, müssen
wir die Politik (eigentlich besser: die Politiklosigkeit) von Macht und Staat
erklären und klar davon abgrenzen. Macht- und Staatsapparate mögen für
ihre Angelegenheiten Strategien und Taktiken besitzen, doch machen sie
keine Politik im eigentlichen Sinne. Ohnehin entstehen Macht und Staat
dort, wo es gelingt, die gesellschaftliche Politik zu negieren. Wo die Politik
endet, sind Macht- und Staatsstrukturen am Werk. Macht und Staat sind
die Orte, wo das politische Wort und damit die Freiheit enden. Dort gibt
es nur zu dirigieren, Anweisungen zu befolgen, Befehle zu erhalten und zu
erteilen; es gibt Gesetze und Statuten. Jede Macht und jeder Staat ist eine er-
starrte Vernunft. Diese Eigenschaften bedingen ihre Stärken, aber auch ihre
Schwächen. Bereiche von Staat und Macht können also keine Bereiche sein,
wo Freiheit gesucht oder gewährleistet werden kann. Hegels Feststellung,
dass der Staat der wahre Bereich sei, der Freiheit gewährleistet27, bildet die
Grundlage sämtlicher Ansichten und Strukturen von Herrschaft. Ein gutes
Beispiel dafür, wohin diese Ansicht führen kann, ist der Hitlerfaschismus.
Und selbst in der Auffassung des Wissenschaftlichen Sozialismus mit sei-
nen Vordenkern Marx und Engels waren Staat und Macht als grundlegen-
de Instrumente des sozialistischen Aufbaus vorgesehen, wodurch von ihnen
unbemerkt der schlimmste Schlag gegen die Freiheit und damit gegen die
Gleichheit geführt wurde. Die Liberalen mit ihrem Credo »Je mehr Staat,
27 »[…] daß die Idee der Freiheit wahrhaft nur als der Staat ist.« Hegel: Grundlinien der Philosophie
des Rechts, §57. »Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit«, ebd. §260.
Die Frage der Freiheit 59

desto weniger Freiheit« hatten dies besser erkannt. Dieser Erkenntnis schul-
den sie auch ihren Erfolg.
Staaten und Macht als Herrschaftsinstrumente stellen aufgrund ihres
Wesens nichts weiter dar als eine andere Art der durch Zwang angeeigneten
Mehrprodukte und Mehrwerte, also des Gesamtkapitals dar. Das Kapital
schafft Staat, der Staat schafft Kapital. So sehr gesellschaftliche Politik
Freiheit hervorbringt, so sehr sind Macht und Staat Bereiche, die Freiheit
verschwinden lassen. Strukturen von Macht und Staat können vielleicht
einige Personen, Gruppen und Nationen reicher und freier machen. Doch
ist dies nur um den Preis der Armut und Sklaverei anderer Gesellschaften
möglich. Folge davon waren alle Arten von Zerstörung, von Kriegen bis zum
Völkermord. Den größten Verlust im kapitalistischen Weltsystem hat die
Politik erlitten. Auf der Stufe der kapitalistischen Moderne, dem Höhepunkt
des Systems der Zentralzivilisation, können wir vom tatsächlichen Tod der
Politik sprechen. Daher erleben wir heute einen politischen Verfall unver-
gleichlichen Ausmaßes. So, wie der Verfall der Moral, die einen Bereich der
Freiheit darstellt, ein Phänomen der Gegenwart ist, so gilt das noch mehr
für den Verfall des politischen Bereichs. Wenn wir Freiheit wollen, haben
wir daher wohl keine andere Wahl, als zunächst die Moral, das kollektive
Gewissen der Gesellschaft, und die Politik, die gemeinsame Vernunft, in
allen ihren Aspekten durch unsere intellektuelle Kraft wieder auf die Beine
und zum Funktionieren zu bringen.
Das Verhältnis von Freiheit und Demokratie ist noch komplizierter. Es
wird ständig diskutiert, welche von welcher herrührt. Doch können wir
getrost festhalten, dass ihr enges Verhältnis beide fördert. So, wie wir die ge-
sellschaftliche Politik im Zusammenhang mit der Freiheit denken, können
wir sie auch mit der Demokratie in Verbindung bringen. Der konkretes-
te Ausdruck gesellschaftlicher Politik ist die demokratische Politik. Daher
können wir die demokratische Politik auch als wahre Kunst der Befreiung
definieren. Ohne demokratische Politik zu betreiben, ist allgemein in der
Gesellschaft, speziell in jedem Volk und jeder Gemeinschaft weder eine
Politisierung noch eine Befreiung auf politischem Wege möglich. Die demo-
kratische Politik ist die wahre Schule, in der Freiheit gelernt und gelebt wird.
Je mehr die politischen Angelegenheiten demokratische Subjekte erschaffen,
desto mehr politisiert und daher befreit die demokratische Politik. Wenn wir
die Politisierung als Hauptform der Befreiung annehmen, müssen wir wis-
sen, dass wir die Gesellschaft in dem Maße befreien können, wie wir sie po-
litisieren, und in gleicher Weise die Gesellschaft weiter politisieren werden,
60 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wenn wir sie befreien. Zweifellos bestehen viele gesellschaftliche Bereiche,


die Freiheit und Politik gleichermaßen befördern, darunter vor allem ideo-
logische Quellen. Aber im Grunde sind gesellschaftliche Politik und Freiheit
zwei Quellen, die einander hervorbringen und sich gegenseitig speisen.
Das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit wird oft durcheinanderge-
bracht. Dieses Verhältnis ist mindestens so kompliziert und problematisch
wie das jeweilige Verhältnis zu Demokratie. Manchmal sehen wir, dass voll-
ständige Gleichheit um den Preis der Freiheit hergestellt wird. Oft wird
betont, beide gleichzeitig könne es nicht geben, bei einer von beiden müsse
man Zugeständnisse machen. Es heißt, manchmal müsse man als Preis der
Freiheit Abstriche bei der Gleichheit machen.
Um die Problemstellung richtig zu umschreiben, müssen wir den
Unterschied zwischen beiden Begriffen und damit den Unterschied in
der Natur beider Phänomene erklären. Gleichheit ist eher ein Begriff des
Rechts. Er sieht vor, dass Personen und Gemeinschaften unabhängig von
Unterschieden zwischen ihnen gleiche Rechte besitzen. Dabei ist Diversität
eine grundlegende Eigenschaft des Universums genauso wie der Gesellschaft.
Diversität ist ein Begriff, der sich dem Teilen gleichartiger Rechte gegenüber
verschließt. Gleichheit kann nur auf der Grundlage von Unterschieden sinn-
voll sein. Dass das sozialistische Verständnis von Gleichheit sich nicht durch-
gesetzt hat, liegt vor allem daran, dass es die Diversität nicht berücksichtigt
hat. Dies war eine der wichtigsten Ursachen, die zu seinem Ende führten.
Wirkliche Gerechtigkeit kann sich nur innerhalb eines Verständnisses von
Gleichheit verwirklichen, das auf Diversität basiert.
Wenn wir darauf hinweisen, dass Freiheit stark von Differenzierung ab-
hängt, ist eine sinnvolle Verbindung von Gleichheit und Freiheit nur mög-
lich, wenn wir sie mit Diversität verbinden. Freiheit mit Gleichheit zu ver-
einbaren, gehört zu den grundlegenden Zielen gesellschaftlicher Politik.
Die Diskussion zwischen den Verfechter*innen individueller Freiheit und
kollektiver Freiheit können wir nicht außen vor lassen. Das Verhältnis die-
ser beiden Kategorien zu erklären, die man auch als negative und positive
Freiheit zu definieren versucht, ist immer noch wichtig. Die kapitalistische
Moderne hat die individuelle (negative) Freiheit vorangetrieben, doch dies
geschah um den Preis großer Schäden an der Kollektivität der Gesellschaft.
Die Feststellung, dass heute die individuelle Freiheit mindestens ebenso sehr
wie das Phänomen der Macht den Verfall der gesellschaftlichen Politik ver-
ursacht, ist von wesentlicher Bedeutung. Die Rolle des Individualismus bei
der Zerstörung der Gesellschaft, besonders bei der Negation von Moral und
Die Frage der Freiheit 61

Politik, aufzuklären, ist essenziell. Wenn wir sagen, dass die durch Egoismus
atomisierte Gesellschaft nicht mehr die Konstitution besitzt, um gegen den
Kapital- und Machtapparat zu widerstehen, können wir das Krebsrisiko des
gesellschaftlichen Problems besser verstehen. Den liberalen Individualismus
als wesentliche Ursache des Verfalls der gesellschaftlichen Politik und Freiheit
zu benennen, kann einen Ausgangspunkt für einen sinnvollen Aufbruch
darstellen. Zweifellos reden wir hier nicht von Individualität, es ist not-
wendig, individuell zu sein. Es geht um den ideologischen Individualismus,
den Liberalismus, der idealisiert wird und die gesellschaftliche Politik und
Freiheit erodiert.
Die kollektive Freiheit haben wir ohnehin diskutiert. Wir müssen unter-
streichen, dass die eigentliche Freiheit neben Individualismus ebenso erfor-
dert, dass jede Gemeinschaft (Klan, Stamm, Nation, Klasse, Berufsgruppe
usw.) ihre Identität festlegt, ihre Interessen vertritt und ihre Sicherheit ge-
währleistet. Nur auf dieser Grundlage können wir sinnvoll von Freiheit
sprechen. Nur wenn individuelle und kollektive Freiheiten auf dieser Basis
harmonisiert werden, können wir von einer erfolgreichen, optimalen, freien
Gesellschaftsordnung sprechen. Es hat sich in den Erfahrungen des zwan-
zigsten Jahrhunderts gezeigt, dass zwischen der Freiheit, die der Liberalismus
im Sinne des Individualismus vorangetrieben hat, und der Freiheit, die der
Realsozialismus im Namen des Kollektivismus vorangetrieben hat, eine
starke Ähnlichkeit besteht, auch wenn sie als Gegensätze definiert werden.
Beide sind Optionen des Liberalismus. Wenn wir sehen, wie Etatismus und
Privatisierung von denselben Kräften benutzt werden, wird verständlicher,
was wir hier meinen.
In den Versuchen mit individualistischen (ungezügelter Liberalismus)
und kollektivistischen (Pharaonensozialismus) Modellen des zwanzigsten
Jahrhunderts, die große Zerstörungen nach sich zogen, hat sich deutlich ge-
zeigt, dass die demokratische Gesellschaft den fruchtbarsten Boden für eine
Harmonisierung der individuellen Freiheiten und der kollektiven Freiheiten
darstellt. Wir können festhalten, dass die demokratische Gesellschaft das ge-
eignetste gesellschaftspolitische Regime ist, um sowohl individuelle mit kol-
lektiven Freiheiten auszubalancieren als auch ein Verständnis von Gleichheit
zu fördern, das auf Unterschiedlichkeiten basiert.
Dritter Teil

Die Kraft der gesellschaftlichen


Vernunft
Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft 65

Die Lösungsmöglichkeiten für gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht


angemessen einschätzen, wenn wir nicht das Intelligenzniveau der mensch-
lichen Spezies im Zusammenhang mit dem ihr eigenen gesellschaftlichen
Prozess begreifen. Das Intelligenzpotenzial der menschlichen Spezies zu
messen, mag zunächst ein spekulatives Unterfangen sein; vielleicht ist eine
Messung auch gar nicht möglich. Aber wenn wir das Phänomen des Krieges
in der Menschheitsgeschichte betrachten, das uns heute an den Rand der
vollständigen Vernichtung der Umwelt gebracht hat, so sehen wir uns ei-
ner sehr speziellen Intelligenz gegenüber. Es zeigt sich, ja es mag als be-
wiesen gelten, dass weder ökologische noch gesellschaftliche Zerstörung
durch Klassenanalysen, ökonomische Rezepte, politische Maßnahmen oder
maximale Akkumulation von Macht und Staat verhindert werden kann.
Offenbar müssen wir diesem Problem viel tiefer an der Wurzel begegnen.
Zweifellos wurde jahrhundertelang über die Kraft des Geistes nachgedacht.
Ich kann dem nicht viel Neues hinzufügen. Ich möchte nur darauf hinwei-
sen, dass eine bestimmte Besonderheit der Vernunft28 wichtiger geworden
ist als je zuvor. Vernunft hängt offenbar mit gesellschaftlicher Entwicklung
zusammen. Dass sich ohne sie auch die Vernunft nicht entwickeln kann,
lässt sich leicht durch eine Betrachtung der Geschichte feststellen. Was
wir eigentlich begreifen müssen, ist, unter welchen Bedingungen das ge-
sellschaftliche Dasein die Vernunft legitimiert. Unter keinen Bedingungen
kann gesellschaftlich legitimiert werden, wie die kapitalistische Moderne,
besonders die jüngste Herrschaft des globalen Finanzkapitals, durch ›symbo-
lische Vernunft‹ immense Profite einfährt und so Umweltkatastrophen und
gesellschaftliche Zerstörung auslöst. Keine moralische, freie und politische
Gesellschaft kann diesem Raubzug der ›symbolischen Vernunft‹ zustimmen.
Wie und durch wen, durch welches Denken und mit welchen Instrumenten
wurden also die Dämme der gesellschaftlichen Legitimation niedergerissen
und in Trümmer gelegt? Wer hat angesichts der zerstörerischen Kraft der
Vernunft, die Rolle aufzubauen, zu reparieren und zu kurieren? Nach wel-
chen geistigen Leitlinien und mit welchen Instrumenten muss diese Rolle
besetzt werden? Dies sind essenzielle Fragen, die unbedingt eine Antwort
erfordern.

28 Der Autor benutzt die Begriffe ›Vernunft‹ (akıl) und ›Intelligenz‹ (zekâ) in diesem Teil abwech-
selnd und vielfach synonym, jedenfalls nicht scharf voneinander abgegrenzt. Die Übersetzung
bemüht sich um begriffliche Konsistenz mit der Diskussion von analytischer und emotionaler
Intelligenz in Band 1.
66 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Ich schätze sehr, mit welcher Ernsthaftigkeit Immanuel Wallerstein die


Entstehung der Ordnung untersucht, die er das kapitalistische Weltsystem
nennt. Auch Fernand Braudels enorm detailreiche Analyse zum Thema finde
ich äußerst anregend. Samir Amins Kapitalismusanalysen, die das Thema be-
sonders im Zusammenhang mit der Zerstörung der nahöstlich-islamischen
Zivilisationen behandeln, sind teilweise sehr lehrreich. Viele weitere Denker
haben das Thema sorgfältig bearbeitet. Allgemein akzeptierte Faktoren, die
dazu führten, dass der Kapitalismus zum beherrschenden System wurde,
sind die Schwäche der staatlichen Tradition in Europa, die Schwächung der
Kirche und die Verwüstungen der islamischen Zivilisation durch Dschingis
Khan und seine Mongolen. Es heißt, der Kapitalismus, der mit einem
Löwen im Käfig verglichen wird, habe unter diesen Umständen ein offenes
Gatter gefunden, die Gelegenheit genutzt, sich entwickelt und schließlich
besonders in Westeuropa die Oberhand gewonnen; anschließend habe er
sich nacheinander in ganz Europa und Nordamerika ausgebreitet und mitt-
lerweile seinen Angriff auf die gesamte Welt erfolgreich abgeschlossen. So
sei die Kraft, die vorher im Käfig gehalten wurde, zum Herrscher über die
Welt geworden, während die damaligen Herrscher in den eisernen Käfig
gesperrt worden seien. Metaphorisch gesprochen, sei die Gesellschaft durch
den Leviathan in einen eisernen Käfig gesteckt worden. Mit Max Webers
berühmtem Ausdruck habe die kapitalistische Moderne die Gesellschaft in
ein »stahlhartes Gehäuse«29 eingezwängt. Dies ist das katastrophale gesell-
schaftliche Panorama, das alle berühmten Soziolog*innen zu beschreiben
versuchen – wenn auch nicht ganz offen, sondern mit Schuldgefühlen, feige
und im Flüsterton.
Ich persönlich betrachte das Thema von einer umfassenderen Warte aus
und im Zusammenhang mit dem System der Zentralzivilisation. Ich glaube
sogar, dass wir das Problem mit der Entwicklungsgeschichte der symbo-
lisch-analytischen Vernunft in Zusammenhang bringen müssen. Im System
der Zentralzivilisation hat die analytische Vernunft zweifellos einen gigan-
tischen Sprung vorwärts gemacht. Doch alle Zivilisations­strukturen leisten
ähnliches. Ein weiterer Faktor, genauso wichtig wie die Zivilisation, ist, wie
der Mensch das symbolische Denken lernte und die Fähigkeit zu analyti-
schen Lösungen erwarb. Denn es war die analytische Intelligenz, die das Tor
zur Zivilisation aufstieß.

29 Vgl. Band II, Fußnote 59, S. 148.


Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft 67

Alle Lebewesen, vom primitivsten bis hin zum Menschen als am höchsten
entwickelter Spezies, operieren mit unfehlbaren Vernunftprinzipien. Diese
Art der Vernunft, die wir auch natürliche oder emotionale Vernunft nennen
können, ist instinktiv. Sie ist durch sofortige Reaktionen auf Reize charakte-
risiert. Das Verhältnis von Reizen und Reaktionen bei Pflanzen und Tieren
ist hier sehr aufschlussreich. Pflanzen und Tiere bestreiten ihr Leben, das aus
Vermehrung, Selbsterhaltung und Ernährung besteht, auf perfekt gelernte
Weise mithilfe instinktiver Vernunft. Die Fehlerrate liegt nahezu bei null.
Ich bin dafür, das Thema auch auf den Bereich unbelebter Existenzen auszu-
dehnen. Wenn wir uns beispielsweise die Anziehungskraft der Erde als eine
instinktive Vernunft vorstellen (ich tue das), so erlebt jedes Objekt, selbst je-
des Teilchen, Anziehung und Abstoßung entsprechend seiner eigenen Kraft.
Diesem Einfluss ist kaum zu entkommen. Nur mit der Kraft des Lichts ist
ein Entfliehen vor dieser Kraft möglich. Philosophien, die das Universum
als prinzipienlos und sinnlos betrachten, sind insofern nicht besonders be-
friedigend. Dass das Universum mit einer gewissen Vernunft agiert, ist eine
Ansicht, mit der man sich ausführlich befassen sollte.
Das Merkwürdige an der menschlichen Intelligenz ist, dass sie die
Fähigkeit besitzt, diese universale Vernunft zu verletzen. Wie im Beispiel
des Lichts lässt sich diese Form der Intelligenz, die analytische Intelligenz,
vielleicht sogar als Überlegenheit des Menschen interpretieren. Doch
wie können wir dann den Widerspruch analysieren, in dem diesel-
be Intelligenz zur viel gewichtigeren Vernunft des Universums steht, die
dort ganz überwiegend vorhanden ist? Vielleicht kann die Chaostheorie
ein wenig zur Aufklärung beitragen. Diese sucht ja nach Ordnung in der
Ordnungslosigkeit. Ordnung ohne Chaos kann es nicht geben. Es lässt sich
nicht leugnen, dass dieser Ansatz richtige Aspekte besitzt. Das Problem hier-
bei ist jedoch die Frage, wie lange und an was für einem Ort menschliches
Leben aufrechterhalten werden kann, wenn es unter der Einwirkung ei-
nes gesellschaftlichen Chaos steht. Denn Zeit und Raum, innerhalb derer
die Gesellschaft chaotische Vorgänge ertragen kann, sind begrenzt. Wenn
sie zu lange andauern und den Raum (die ökologische Umwelt) extrem
zerstören, kann dies leicht das Ende von Gesellschaften mit sich bringen.
Viele Gesellschaften ereilte ein solches Schicksal in der Vergangenheit. Wir
wissen, dass die Menschheit eine lange Zeit (achtundneunzig Prozent ihrer
Existenz) als primitive Gemeinschaften in solch chaotischen Umgebungen
gelebt hat. Die Zeit, die die Menschheit in der neolithischen Gesellschaft
und der Ordnung der Zivilisation verbracht hat, beträgt weniger als zwei
68 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Prozent ihrer Existenzdauer. Kurz gesagt, eine Verlängerung eines chaoti-


schen Zeitraums bringt das Leben insgesamt vielleicht nicht an sein Ende.
Doch mittlerweile ist die Gefahr eine ganz andere. Es gibt einen klaren
Unterschied zwischen chaotischen Zeiten vor dem Beginn der Zivilisation
und danach. Die Zivilisation mit ihrer Zerstörung der natürlichen Umwelt
bringt nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern sämtliche Lebewesen
in Gefahr. Noch schlimmer ist, dass Kapital und Macht im Innern der
Gesellschaft stündlich weiter krebsartig wuchern (exteme Urbanisierung,
wachsende Mittelklasse, Arbeitslosigkeit, wachsender Nationalismus und
Sexismus, unaufhaltsames Bevölkerungswachstum). Wenn dieses krebsartige
Wachstum so weitergeht, werden wir uns bald das vorzivilisatorische Chaos
zurückwünschen. Statt zu neuen Ordnungen kann das Chaos, das mit dem
Krebs kommt, durchaus auch zum Tode der Gesellschaft führen. Dies ist
keine übertriebene Einschätzung. Verantwortungsbewusste Menschen und
Wissenschaftler*innen bringen dies täglich drastischer zur Sprache.
Nun mag man fragen, was denn kanzerogene gesellschaftliche
Entwicklungen mit der analytischen Intelligenz zu tun haben. Schauen wir
uns also diese ein bisschen genauer an. Die analytische Intelligenz spiel-
te eine führende Rolle. Am deutlichsten wird dies beim Übergang von
der Zeichensprache (überwiegend körperliche Gesten) zur symbolischen
Sprache. Nun ließen sich anstelle von Bewegungen des Körpers sinnvolle
Verbindungen zwischen Kombinationen von Lauten, auf die man sich geei-
nigt hat, und den bezeichneten Phänomenen herstellen, ohne dass es einen
physikalischen oder biologischen Zusammenhang gäbe. Nehmen wir ›Auge‹
als Beispiel. Die Laute des Wortes haben physisch mit dem Auge nichts zu
tun, und doch werden alle, die sich über die Definition einig sind, sich ein
Auge vorstellen, wenn sie ›Auge‹ hören. So begann der Aufbau der symbo-
lischen Sprache. Die anthropologische Forschung bringt den Beginn dieser
Sprache mit der letzten Auswanderung von Gruppen des Homo sapiens aus
Ostafrika vor ca. 50–60 000 Jahren in Verbindung und sieht eine explosions-
artige Entwicklung dann im Nahen Osten. Besonders die Untersuchungen
der Sprachgruppen der semitischen und indoeuropäischen Sprachen stützen
diese These.
Die Struktur der symbolischen Sprache beeinflusste das Denken mas-
siv. Sich der Körpersprache zu entledigen und in Worten zu denken,
war vielleicht die erste der großen geistigen Revolutionen. Während die-
se Revolution einerseits die Loslösung der menschlichen Spezies von der
Tierwelt beschleunigte, gab sie der Gruppierung von Gesellschaften um
Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft 69

den Aufbau symbolischer Sprache herum großen Schwung. Diejenigen,


die gleiche Tonsysteme benutzten, bildeten mit der Zeit Einheiten, deren
Intelligenz zunahm und die sich auseinanderentwickelten. Die symbolischen
Sprachen bildeten nun die Identitäten von Gesellschaften. Diese Sprache
trug wesentlich zur neolithischen Revolution bei. Mit Zeichensprache
wäre es schwierig gewesen, diese revolutionäre Stufe zu erreichen. Da ich
schon mehrfach beschrieben habe, wie später der Übergang zur Zivilisation
erfolgte, werde ich es hier nicht wiederholen. Wir sollten jedoch wissen,
dass die ›Fruchtbarer Halbmond‹ genannte Südflanke des Taurus-Zagros-
Gebirgssystems die Wiege dieser Entwicklung war.
All dies demonstriert die positiven Auswirkungen des symbolischen
Denkens. Den Nachteil müssen wir im Beginn des Bruchs mit der
Umwelt erkennen. Frühere Gesellschaften waren Gesellschaften ihrer na-
türlichen Umwelt. Diese Gesellschaften existierten in der Umarmung der
Natur wie in einer Mutter-Kind-Beziehung. Die Kraft des symbolischen
Denkens schwächte das Bedürfnis nach dieser Lebensweise, denn die neue
Gesellschaft benannte die Umwelt in ihrer eigenen neuen Sprache und be-
reitete neuen Nutzungsformen den Weg. Dies war der neue Weg, auf dem
eine große Hegemonie über die Pflanzen- und Tierwelt errichtet wurde. Vor
der symbolischen Sprache ergaben sich alle Denkweisen aus der emotionalen
Intelligenz. Deren wichtigste Eigenschaft war das Denken in Gefühlen als
unverzichtbare Bestandteile von Aktion und Reaktion. Das war aufrichtig,
ohne Lüge, fern von Hinterlist. Wir sehen sehr selten, dass eine Mutter die
Aufrichtigkeit beiseite schiebt und sich dem Kind gegenüber lügnerisch und
listig verhält. So arbeitet auch der Intellekt der Pflanzen- und Tierwelt. Bei
einem Tier, das von einem Löwen gejagt wird, spiegelt sich sein Denken di-
rekt in seinen Gefühlen wider, wenn es ihn sieht. Beide sind ohne Hinterlist.
Doch in der symbolischen Sprache der Menschen finden wir unzählige lis-
tige, verlogene und unaufrichtige (gefühllose) Gedanken. Welch furchtbare
Gefahr diese Denkweise mit sich brachte, welche großen Zerstörungen sie
anrichten würde, sollte sich beim Übergang zur Zivilisation zeigen.
Das analytische Denken, das durch die symbolische Sprache entstand,
spielt eine entscheidende Rolle bei der Akkumulation von Kapital und
Macht. Dieses Denken würde sehr geschickt darin werden, die Gesellschaft
durch Verwendung von Lüge, List und Unaufrichtigkeit gefangen zu neh-
men und auszubeuten. Für beide Arten von Intelligenz besitzt der rechte
und linke Frontallappen des menschlichen Gehirns eine wichtige Funktion.
Der Frontallappen, wo das analytische Denken stattfindet, ist der jüngste
70 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Teil des Gehirns. Alle anderen Teile des Körpers tragen Spuren der emo-
tionalen Intelligenz. Dass der Anteil des analytischen Denkens dominant
wurde, wirkte sich auf das emotionale Denken des restlichen Körpers aus.
Dies prägte nach und nach den gesamten Charakter des Menschen. Wenn
die Kraft dieser fantastischen Entwicklung, der analytischen Intelligenz, in
positiver Weise verwendet wird, so kann sie die Welt für die menschliche
Spezies in einen Ort ständiger Freudenfeste, ein Paradies verwandeln. Wenn
sie jedoch negativ gebraucht wird, kann sie die Welt für die überwältigende
Mehrheit und alle Lebewesen der Umwelt zur Hölle machen. Diese Art der
Intelligenz ist wie die Atomenergie. Wenn sie sehr gut kontrolliert wird, kann
eine Verwendung im Dienste der Gesellschaft nützlich sein. Wenn sie jedoch
nicht kontrolliert wird, kann sie bekanntlich, wie beim Unfall in Tschernobyl
(und noch viel furchtbarer als Kriegswaffe) katastrophale Folgen auslösen.
Die analytische Intelligenz halte ich für ähnlich gefährlich wie das Risiko
einer unkontrollierten Kernexplosion. Und es ist nicht nur eine Gefahr, ich
bin überzeugt, dass Gesellschaft und Umwelt immer stärker einem nukle-
aren Bombardement ausgesetzt sind. Auch ohne die Notwendigkeit einer
wirklichen Atombombe hat das globale kapitalistische System mit seinem
Arsenal an Bomben der analytischen Intelligenz Gesellschaft und Umwelt
bereits an den Rand der absoluten Lebensfeindlichkeit gebracht.
Zweifellos ist an symbolischer Sprache und analytischem Denken an sich
nichts Negatives, sie bieten lediglich günstige Bedingungen für Negatives. Es
war erst die Entwicklung der Kapital- und Machtapparate, welche die Kette
der Schlechtigkeiten richtig in Gang setzte. Das System der Kapital- und
Machtakkumulation, das wir mit dem Begriff Zivilisation bezeichnen, muss
aufgrund des Charakters seines Wesenskerns lügnerisch, hinterlistig und frei
von emotionaler Intelligenz sein. Repressions- und Ausbeutungsapparate ba-
sieren auf dem Bedürfnis anderer nach Nahrung und Sicherheit. Es liegt in
der Natur der Sache, in der Natur des Lebens, dass diese Apparate und ihre
Aktionen nicht ohne Reaktion bleiben können. Kapital und Macht kön-
nen nur auf zwei Arten weiterbestehen: Entweder durch die weiche Kraft
der Ideologie, die Legitimität garantiert, oder durch die Kraft der nackten
Gewalt der Macht. Es ist eine historische Tatsache, dass die Kontrolle über-
wiegend auf diesen beiden Wegen ausgeübt wurde. Kapital und Macht sind
Phänomene, die sich lediglich durch die Anwendung von Hinterlist, Lüge
und Gewalt entwickeln lassen. Der Hauptteil des Denkens liefert gerade an
diesem Punkt die geeigneten Bedingungen dafür. Wir können auch vom
Einfluss von Verzerrung und Verfälschung sprechen.
Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft 71

Wenn wir die Geschichte der Zivilisation mit diesem Paradigma betrach-
ten, sehen wir, dass die Konzentration von Klassen, Städten und Macht
zu einer gigantischen Struktur des analytischen Denkens führt. In der
Entwicklung der Zivilisation gibt es einige große Meilensteine. Die ersten
Zivilisationen, die in der sumerischen und der ägyptischen Gesellschaft im
vierten Jahrtausend v. Chr. entstanden, errichteten große Strukturen des
analytischen Denkens, die selbst heute noch verzaubern. Sämtliche geistigen
Strukturen, die im Laufe der Geschichte der Zentralzivilisation geschaffen
wurden, weisen Spuren dieser beiden Zivilisationen auf. Viele Beispiele für
von der Zivilisation geprägte gesellschaftliche Aktivitäten von Mathematik
bis Biologie, von Schrift bis Philosophie, von Religion bis Kunst finden wir
in diesen beiden Zivilisationen in der von ihnen geschaffenen originalen
Form. In der graeco-römischen Phase gelang es durch weiter fortgeschrit-
tene analytische Intelligenz in der Struktur, diesen Aufbauprozess in rei-
cherer Form fortzuführen. Die europäische Renaissance, die Reformation
und das Zeitalter der Aufklärung, die sich nach einem kurzen Aufblühen
der islamischen Renaissance manifestierten, markieren den Gipfelpunkt des
analytischen Denkens. Natürlich sollten wir uns auch die Beiträge der an-
deren Zivilisationen, vor allem der chinesischen und indischen, in all diesen
geschichtlichen Abschnitten vor Augen führen.
Wir können die fünftausendjährige Zivilisation auch als die Summe der
metaphysischen Schablonen betrachten, die sich aufgrund ihrer Logik von
der Dialektik des Lebens gelöst haben und wie ein riesiger Tumor ange-
schwollen sind. Das, was in allen Strukturen – von Architektur bis Musik
und Literatur, von Physik bis Soziologie, von Mythologie bis Religion,
von Philosophie bis Wissenschaften – die Akkumulation von Kapital und
Macht in riesigem Ausmaß widerspiegelt, interpretieren wir als Geschichte.
Die Kriege, diese fürchterlichen Plünderungszüge, bilden das Fundament
der Zivilisation. Die Vernunft, die auf diesem Fundament aufbaut, ist in
Wirklichkeit die größte Unvernunft. Eine Funktion der ideologischen
Hegemonie ist es dann auch, diese Vernunft, die verbrecherische Vernunft,
die Kriegsvernunft, die Vernunft von List und Lüge, kurz: die Vernunft der
Kapital- und Machtakkumulation zu verschleiern, verdreht zu präsentie-
ren, zu sakralisieren, zu vergöttlichen. Wenn wir alle Schablonen des ana-
lytischen Denkens, Glaubensformen und Künste, die im Verbund mit der
Zivilisationsgeschichte entstanden sind, genau untersuchen, werden wir die
hier kritisierten Tatsachen leicht feststellen können.
72 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Wie das kapitalistische Monster (Hobbes’ Leviathan) aus dem Käfig


schlüpfte, können wir erst im Lichte dieser geschichtlichen Fakten ausrei-
chend verstehen. Ich unterstreiche besonders, dass dieses Ungeheuer aus
seinem Käfig entkommen konnte, indem es die genannten Schwächen im
sechzehnten Jahrhundert ausnutzte.
Ich möchte diesen Abschnitt abschließen, indem ich die Realität der Frau
im Hinblick auf dieses Thema analysiere. Zweifellos leisten die Forschungen
feministischer Bewegungen bedeutende Beiträge dazu, die Realität der Frau
aufzudecken. Doch ich bin überzeugt, dass diese Arbeiten zum großen Teil
unter den Bedingungen der Herrschaft der männlichen Vernunft durchge-
führt werden. Sie sind überaus reformistisch. Es ist aber existenziell, dieses
Thema radikal, an der Wurzel anzugehen.
Die biologische Forschung beleuchtet die Stellung der Frau als Wurzel
der menschlichen Spezies. Es ist nicht die Frau, die sich vom Stamm gelöst
hat, sondern der Mann. Die Emotionalität der Frau rührt daher, dass sie
nicht so extrem von der universalen Dialektik des Werdens abgewichen ist.
Dass sie besonders in der Zeit der Zivilisation auf die unterste Stufe gestellt
wurde, trug dazu bei, diese Struktur bis heute zu erhalten. Die gefühls-
geladene Vernunft der Frau, wurde von der männlichen Vernunft stets als
›mangelhaft‹ und als der Frau eigener Charakter dargestellt. Die männliche
Vernunft hat einige große Operationen gegen die Frau durchgeführt und
tut das noch heute:
Erstens macht der Mann die Frau im Haus zur ersten Sklavin. Dieser
Vorgang ist aufgeladen mit furchtbarer Einschüchterung, Repression,
Vergewaltigung, Beleidigungen und Massakern. Der Frau wird die Rolle
zugewiesen, so viel Nachwuchs zu produzieren, wie es für die Besitzordnung
nötig ist. Das dynastische System beruht auf Nachkommenschaft. Die
Frau ist darin unumschränkter Besitz. Sie ist so sehr Gut und »Ehre« ihres
Besitzers, dass sie nicht einmal anderen ihr Gesicht zeigen darf.
Zweitens macht der Mann die Frau zum Sexobjekt. Überall in der
Natur hängt die Sexualität mit der Vermehrung zusammen, deren Zweck
die Fortführung des Lebens ist. Besonders seit der Versklavung der Frau
und überwiegend während der Ära der Zivilisation erleben wir, wie beim
Mann die Hauptrolle dem Sex und der Explosion eines schrägen sexuel-
len Begehrens zugeteilt wurde. Während bei Tieren die Paarungszeit sehr
begrenzt ist (oft nur einmal im Jahr), möchte beim Menschen der Mann
sie beinahe auf vierundzwanzig Stunden am Tag ausdehnen. Die Frau ist
heute zu einem Objekt geworden, das ständig sexuellen Begierden und der
Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft 73

Ausübung von Macht ausgesetzt ist. Die Trennung von Privathaushalt und
Bordell ist sinnlos geworden, denn jeder Ort wird als Haushalt und Bordell,
jede Frau als private und öffentliche Frau betrachtet30.
Drittens wird die Frau zur unbezahlten, kostenlosen Arbeitskraft gemacht.
Sie muss alle schweren Arbeiten erledigen. Der Lohn dafür ist, dass sie noch
ein wenig ›mangelhafter‹ gemacht wird. Sie ist derart erniedrigt, dass sie sich
tatsächlich gegenüber dem Mann für ›mangelhaft‹ hält und eine männliche
Hand und männliche Herrschaft bereitwillig begrüßt.
Viertens wurde sie zur delikatesten Ware gemacht. Marx nennt das Geld
den König der Waren31. Eigentlich wurde diese Rolle im Kapitalismus eher
der Frau zugewiesen. Im kapitalistischen System ist die wahre Königin der
Waren die Frau. Es gibt keine Beziehung der Frau, die nicht angeboten
wird, keinen Bereich, wo sie nicht benutzt wird. Mit dem Unterschied, dass,
obwohl jede Ware einen akzeptierten Gegenwert hat, dieser für die Frau in
einer riesigen Respektlosigkeit besteht, weil die Riesenfrechheit der ›Liebe‹
bis zu Sprüchen wie »Mütterarbeit ist unbezahlbar« reicht.
Die Zivilisation hat aus der Vernunft ein Monster gemacht: Die Vernunft
der tausend Hinterlisten, Lügen, des Ungeheuers des Krieges, der ideolo-
gischen Verzerrungen – kurz: eine Vernunft, die Gesellschaft und Umwelt
zerstört, eine analytische Vernunft die nur hohle Reden schwingt. Wenn
der Mann, der diese Vernunft besitzt, für die Frau, ohne die er angeblich
nicht leben kann, eine derartige Behandlung angemessen findet – was wird
er dann Gesellschaft und Umwelt alles antun? Diese Vernunft aufzuhalten,
wird nur möglich sein, wenn zunächst die von ihr zerstörte gesellschaftli-
che Moral und Politik ihren Platz zurückerhält. Besser gesagt: dies muss
die Grundlage für einen Neubeginn sein. Schon allein das Ausmaß, das
die analytische Vernunft angenommen hat, und die Rolle, die sie bei all
dem Negativen spielt, demonstrieren erneut, welch dringliche Aufgabe der
Aufbau des Systems der demokratischen Zivilisation darstellt.
Eigentlich geht es darum, die Vernunft wertzuschätzen. Die gesellschaft-
liche Vernunft ist eine Tatsache. Die Gesellschaft an sich ist der Bereich,

30 Der türkische Ausdruck genelev für Bordell bedeutet soviel wie »öffentliches Haus«.
31 »Als Geld wird ihm [dem Gold] seine goldene Herrlichkeit zurückgegeben. Aus dem Knecht
wird es der Herr. Aus dem bloßen Handlanger wird es zum Gott der Waren.« Karl Marx: Zur
Kritik der Politischen Ökonomie in Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag,
Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR,
S. 103. »Bei allen alten Völkern erscheint das Aufhäufen von Gold und Silber ursprünglich als
priesterliches und königliches Privilegium, da der Gott und König der Waren nur den Göttern
und Königen zukommt.« Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42,
S. 156.
74 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wo sich die Vernunft konzentriert. Hoffnungslosigkeit ist völlig sinnlos. Es


gibt eine Stimme, die aus allem Heiligen spricht, die sagt: »Ich habe euch
Vernunft gegeben, benutzt sie nicht zum Bösen, sondern zum Guten. Dann
werdet ihr alles erhalten, was ihr benötigt.« Diese Stimme sollten wir wirk-
lich hören und verstehen. Die Stimme des Gewissens, auch als gesellschaft-
licher common sense bezeichnet, die unverzichtbare Stimme des Gewissens,
sagt dasselbe. Ebenso die Stimme, der die Kunst der Freiheit (die gesell-
schaftliche Politik) Gehör verschaffen will. Die demokratische Politik ist die
praktische Umsetzung dessen, was diese Stimme ausdrückt. Das System der
demokratischen Zivilisation ist die Theorie dieser Stimme.
In den folgenden Teilen wollen wir uns an die konkreten Ursprungsquellen
dieser (aus der Zusammenarbeit von analytischer und emotionaler
Intelligenz entstehenden) Stimmen begeben und die Lösungswege beleuch-
ten, die sie uns weisen.
Vierter Teil

Die Entstehung der gesellschaftlichen


Frage
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 77

In der Dialektik der Naturen werden Problemmomente als qualitatives


Umschlagen quantitativer Veränderungen definiert. Während Ordnungs-
und Fortschrittstheorien Momente des Wandels als sehr kurze Zeitspannen
beschreiben, unterstreichen Chaostheorien, dass der chaotische Zustand
das Wesentliche ausmacht und Ordnung und Fortschritt nur begrenzte
Momente darstellen. Positionen, die eine Kontinuität des Fortschritts be-
haupten, beschäftigten die menschliche Vernunft nicht weniger als jene,
die von der Kontinuität des chaotischen Zustandes ausgehen. Neben
Interpretationen, dass die menschliche Vernunft, einem Spiegel ähnlich, die
Wirklichkeit widerspiegeln würde, gibt es auch solche, die den Ursprung
jeglicher Vernunft im Menschen selbst sehen.
Es sollte nicht allzu schwer sein, in diesen Überlegungen universalisti-
sche und relativistische Positionen zu entdecken. Um mich solchen Themen
konkreter nähern zu können, musste ich mich mit der gesellschaftlichen
Vernunft auseinandersetzen und sie definieren. Meine bisherigen Analysen
dienten also einer Vorbereitung auf die Einführung in den Ursprung der
gesellschaftlichen Frage.
Alle bedeutenden geistigen Aufbrüche erscheinen als Produkte zweier
Phasen: In Phasen, in denen die Ordnung intakt bleibt, der gesellschaftliche
Wohlstand für Befriedigung sorgt und keine großen Probleme vorhanden
sind, spiegelt sich dieser Umstand auch in der Entwicklung der Ideen wider.
Diese progressivistischen, Wohlstand bescherenden Ideen, die nicht vieles
problematisieren und den Menschen Vertrauen einzuflößen versuchen, re-
den von Beständigkeit. Sie halten Probleme für zufällig und vorübergehend.
Sie handeln eher von der Ersten Natur und wollen sich nicht mit der gesell-
schaftlichen Natur auseinandersetzen.
Die Ideen der Phasen, in denen die Ordnung ins Stocken gerät und
ein Weitermachen wie bisher unmöglich erscheint, setzen sich mit vielen
Problemen auseinander. Sie beschäftigen sich eher mit der Zweiten Natur.
In solchen Phasen nimmt die Suche nach religiös oder philosophisch Neuem
zu. Der Ausweg aus den Problemen wird in neuen Ideen, religiösen und phi-
losophischen Verständnissen gesucht.
Der Ideenfluss in Wohlstands- und Problemphasen, mit all ihren gro-
ßen geistigen Aufbrüchen, lässt sich in allen Zivilisationen beobach-
ten. In den Wohlstandphasen der sumerischen Gesellschaft begegnen
78 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wir einem mächtigen Aufbruch mythologischer Ideen, der alle großen


Religionen, die Philosophie, Wissenschaften und Kunstschulen beein-
flusste. Es gibt keine große Religion, keine Philosophie, kein Kunst- oder
Wissenschaftsverständnis, die nicht unter dem Einfluss dieser geistigen
Aufbrüche der Sumerer stünden. Auch die geistigen Aufbrüche der griechi-
schen Antike hängen mit solchen Wohlstandsphasen zusammen. Während
dem Wohlstand der Sumerer die fruchtbare Landschaft Mesopotamiens zu-
grunde lag, kam der Wohlstand in Griechenland durch die Fruchtbarkeit
auf beiden Seiten der Ägäis zustande. Während sich bei den Sumerern eine
unglaublich reiche Mythologie entwickelte, hatte in Ionien philosophisches
Denken Vorrang. Es kam in Wissenschaft und Kunst zu Entwicklungen von
revolutionärem Ausmaß. Der große geistige Aufbruch in Europa, wo sich
eine ähnliche Wohlstandssteigerung ereignet hatte, sollte ab dem sechzehn-
ten Jahrhundert weltweit Einfluss erlangen.
Das Auffällige dabei ist, dass die geistigen Revolutionen in allen drei
Wohlstandsphasen mit Diskussionen über die Erste Natur ihren Anfang
nehmen. Allerdings, wenn der Wohlstand zurückgedrängt wird und Krisen
ausbrechen, gewinnen Diskussionen über die Zweite Natur an Gewicht
und neue Ideen werden zu Trägern einer Suche nach Neuem. Während ei-
nige Ideen sich mit Erinnerungen an die alte Zeit des Wohlstands und der
Ordnung auf die Suche nach einem Weg zurück in die Vergangenheit bege-
ben, beschweren sich die Neuerer über die Missstände in der bestehenden
Ordnung und die Last der Krise und entwickeln utopische Ideen. Sie reden
viel über neue Gesellschaftsformen. Durch diese Suchen entstehen zahlreiche
Gesellschaften. Es kommt zur Entstehung verschiedener Gesellschaftsformen,
die von religiösen und konfessionellen Gemeinschaften über neue Stämme
bis hin zu Nationen reichen, wie wir ihnen im Falle Europas begegnen.
Genauso wie eine Betrachtung der Geschichte anhand der Ideengeschichte
uns auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam macht, ist es bei einer
Betrachtung der gegenwärtigen Gesellschaft für uns unmöglich, das gewal-
tige Ausmaß, das die sich vergrößernden Probleme angenommen haben,
nicht bis ins Mark zu spüren.
Ich versuche, mich beim Denken nicht an eurozentrische Sozial­
wissen­schaften zu halten. Ich bin mir sehr bewusst, dass ein von westli-
chen Sozialwissenschaften unabhängiges Denken äußerst notwendig ist.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 79

Einige könnten diese Herangehensweise von mir leichtsinnig finden und


als eine Abweichung von den Sozialwissenschaften verurteilen. Ihrem
Urteil schenke ich aber überhaupt keine Beachtung. Die eurozentrischen
Sozialwissenschaften stinken wahrhaftig nach Herrschaft. Entweder sie ver-
helfen einem zur Herrschaft oder sie stellen einen darunter. Was wir aber
brauchen, ist ein Dasein als demokratische Subjekte und eine gerechte
Verteilung. Die europäischen Sozialwissenschaften sind im Wesentlichen
Liberalismus, also eine Ideologie. Sie machen aber diese Wahrheit über sich
so unsichtbar, dass sie sogar die Ideen oppositioneller Kritiker zu assimilieren
vermögen, indem sie eine überragende Eklektizismusfähigkeit an den Tag
legen. Ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe, als die Andersartigkeit
meiner Analysefähigkeit weiterzuentwickeln, um diesem Eklektizismus nicht
zum Opfer zu fallen. Allerdings ist diese Haltung nicht anti-europäisch,
denn auch Anti-Europäismus ist Teil des eurozentrischen Denkens. Ich
entwickele meine Haltung davon ausgehend, dass Europa im Osten und
der Osten in Europa zu finden sind, im Bewusstsein darüber, welche un-
serer Werte universell sind. Viele europäische Werte sind die Gegenwart,
eine Weiterentwicklung unserer eigenen Werte. Es ist eine allgemein be-
kannte Tatsache, dass viele von denen, die vorgaben, die größten Anti-
Europäer zu sein, am Ende zu reaktionärsten Anhängern des europäischen
Liberalismus wurden. Die Geschichte des Realsozialismus und nationaler
Befreiungspraktiken ist voller solcher Beispiele.
Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten den Wissenschaftlichen
Sozialismus als eine Lösung für gesellschaftliche Probleme ihrer eigenen Zeit.
Sie glaubten aufrichtig daran, dass sie das Problem richtig diagnostizierten,
indem sie den Kapitalismus als ein System theoretisierten, und dass man
eine Lösung finden würde, sobald es zum Aufbau des sozialistischen Systems
käme – und zwar sollte der von ihnen selbst entwickelte ›Wissenschaftliche
Sozialismus‹ eine Garantie dafür darstellen. Aber die Geschichte verlief anders.
Auch die Utopisten vor ihnen hatten ähnliche Erwartungen gehabt. Lenin
hatte sich von der Russischen Revolution andere Ergebnisse erhofft. Viele
französische Revolutionäre erlebten ebenfalls eine sehr große Enttäuschung.
Die Revolution fraß ihre eigenen Kinder. Die Tiefen der Geschichte sind vol-
ler solcher Beispiele. Dabei hatten die Problemlöser einen starken Glauben
und agierten bewusst. Ihre Problemdefinitionen und Lösungsversuche wie-
sen Fehler und Unzulänglichkeiten auf, sodass sich große Abweichungen
und entgegengesetzte Entwicklungen ereigneten. Im Gegensatz zu häufi-
gen Behauptungen lag dies nicht an unzureichenden Bemühungen und der
80 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Unfähigkeit, den Aufstand oder den Krieg zu entfachen. All das existiert und
das sogar zuhauf. Solche Faktoren zwingen mich dazu, bei der Definition und
Lösung des gesellschaftlichen Problems sehr vorsichtig vorzugehen. Wenn
wir es verstehen, aus historischen Erfahrungen Lektionen zu ziehen und den
großen Held*innen Respekt entgegenzubringen, sollten unsere Schritte eben
diese Lektionen beinhalten und respektvoll sein.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 81

A  Die Definition der historisch-


gesellschaftlichen Frage

Ich fokussierte mich in den ersten beiden Bänden dieses Manifests


im Allgemeinen auf Macht und im Besonderen auf kapitalistische
Machtmonopole. Auch wenn meine Darstellung an einigen Stellen
Unzulänglichkeiten aufweist, bin ich der Meinung, dass ich das System
der Zentralzivilisation als Entwicklungslinie gut reflektieren konn-
te. Das Wichtigste war die Darstellung der grundsätzlichen Glieder der
Entwicklungskette. Ich legte einerseits die Themen fest, analysierte ande-
rerseits die Machtakkumulationen, die unter anderem die kumulativen
Kapitalakkumulationen beinhalten, in ihrer kettenartigen Entwicklung.
Als ich diese beiden Teile verfasste, hatte ich den von André Gunder Frank
herausgegebenen Sammelband The World System: Five Hundred Years or Five
Thousand? noch nicht gelesen. Was ich gemacht hatte, war eine andere
Übermittlung des Inhalts dieses Sammelbands; zusätzlich neigte ich dazu,
die Lösung mit einer Systematik, also mit der demokratischen Zivilisation
zu verknüpfen. Wenn ich diese Teile meiner Verteidigung jetzt schreiben
würde, würde ich sie vielleicht weiter vervollkommnen. Aber wertvoller sind
sie, wenn man sie aus Respekt zur Geschichte so lässt, wie sie sind.
Das Thema der gesellschaftlichen Frage ist aber ein anderes. Es hat weder
die Darstellung der Geschichte der Macht und Monopole zum Gegenstand,
noch diskutiert es die demokratische Lösung. Was im Folgenden versucht
wird, ist eine Darstellung der gesellschaftlichen Frage in theoretischer
Hinsicht sowie in seiner praktischen Erscheinung. Meines Erachtens wird
dies zur Lösung des Problems beitragen. Ich meine nicht, dass ich bisher
noch nie auf dieses Thema eingegangen wäre. Das Thema wurde bruch-
stückhaft häufig behandelt, aber es wird ziemlich aufschlussreich sein, es in
seiner Gänze zu behandeln.
Die Aufgabe, die gesellschaftliche Frage zu definieren, regt zum
Nachdenken an. Einige geistige Strömungen halten gesellschaftliche Armut,
manche Staatenlosigkeit, andere militärische Schwäche, falsche politische
Systeme, die Wirtschaft oder moralische Verdorbenheit für das Problem.
Wahrscheinlich bleibt kein einziger Gesellschaftsbereich übrig, der nicht
schon einmal zum Problem erklärt worden wäre. An all diesen Meinungen
mag etwas dran sein, aber sie sind fern davon, den Kern des Problems zu
82 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

treffen. Es erscheint mir sinnvoller, unter der gesellschaftlichen Frage eine


Verletzung der grundsätzlichen Dynamik der Gesellschaft zu verstehen.
Meines Erachtens sollte man zum Hauptproblem erklären, dass die
Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit beraubt wird. Der erste Aspekt hier-
bei ist die Existenz von Werten, die eine Gesellschaft bestimmen, ihr Dasein
konzipieren und konstruieren. Ich spreche von dem Aspekt, den wir das
Dasein an sich nennen. Zweitens spreche ich von Entwicklungen, die dieses
Selbst, dieses Dasein seines Selbst-Seins berauben und seine Grundlage be-
seitigen. Wenn diese zwei Aspekte als ineinander verwoben erlebt werden,
kann man von einer großen gesellschaftlichen Frage sprechen. Zum Beispiel,
wenn eine Eiszeit in der Klan-Ära alle Klans auslöscht, können wir dies nicht
als eine Frage bezeichnen, da sich die Naturkatastrophe jenseits des mensch-
lichen Willens ereignet. Um als Frage bezeichnet zu werden, muss eine Sache
von Menschenhand geschaffen sein. Selbst das ökologische Problem wird
erst dann als Frage definiert, nachdem es durch Menschen erzeugt worden
ist. Also wird erst die Verknüpfung der grundsätzlichen gesellschaftlichen
Frage mit den Kräften, die die Gesellschaft bis an ihre Grundfesten zerstören
und auflösen, uns zu einer richtigen Definition führen.
Ich sehe das Kapital- und Machtmonopol an der Spitze dieser Kräfte,
denn beide stellen Kräfte dar, die durch Aneignung des Mehrwerts die
Grundlagen der Gesellschaft untergraben. Im Folgenden werde ich das
Kapitalmonopol und das Machtmonopol zusammengenommen schlicht
als Monopol bezeichnen. Auch eine Definition des unproblematischen,
normalen, natürlichen Zustandes der Gesellschaft, die wir um einer ge-
naueren Durchdringung des Themas willen vornehmen, wird unsere
Analysen unterstützen. Wenn eine Gesellschaft ihre moralische Struktur
und Politik frei gestaltet, können wir sie – unabhängig davon, in welcher
gesellschaftlichen Entwicklungsstufe und Form sie sich befindet – als eine
normale bzw. natürliche Gesellschaft bezeichnen. Sie ließe sich auch offe-
ne oder demokratische Gesellschaft nennen. Wie ich später genauer aus-
führen werde, werde ich die Lösung nicht als gänzlich liberale oder sozi-
alistische Gesellschaft, nationalstaatliche oder Wohlstandsgesellschaft,
Konsum-, Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft bezeichnen; denn
solche Gesellschaftsbezeichnungen sind größtenteils spekulativ und stellen
Definitionen dar, die jeglicher Entsprechung in der wirklichen Gesellschaft
entbehren und als Attribute behandelt werden sollten, die sich auf die
Gesellschaft beziehen.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 83

Wir können also die Beraubung der Gesellschaft der freien Politik und
der Moral dieser ihrer grundsätzlichen Eigenschaften als den Anfang der
Frage begreifen. Und das Monopol ist die Kraft, die die Frage auslöst. Wir
sollten auch die Bedeutung des Monopols definieren. Sei es privat, sei es
staatlich, wenn durch Landwirtschaft, Handel und Industrie Mehrwert
angehäuft wird, kann von einer Monopolbildung die Rede sein. In der
Monopolgruppe stellen ›Priester + starker Mann + Scheich‹ ein hierarchi-
sches Anfangstrio dar. Sie profitieren vom Monopol gemäß ihrer jeweili-
gen Stärke. Dieses Dreier-Monopol spaltete sich im Laufe der Geschichte
in mannigfaltige Institutionen. Jede dieser Institutionen wiederum erlebte
weitere Aufspaltungen, überlebte aber, ihren Einfluss in einer Kettenreaktion
stetig vergrößernd, bis heute.
Man sollte sich den kumulativen und verketteten Charakter des his-
torischen Flusses des Monopols stets vor Augen führen. Das System
der Zentralzivilisation ist sowohl das Ergebnis als auch der Grund der
Kettenentwicklung des Monopols. Ich möchte diesen Aspekt mit Nachdruck
betonen. Das moderne Denken zwingt uns gegenwärtig eine unheimliche
Zeitverdichtung auf und erstickt alles in einem verdichteten ›Jetzt‹, obwohl
das ›Jetzt‹ Geschichte und zugleich Zukunft ist. Die Moderne massakriert
die Geschichte nicht ohne Grund durch das Aufzwingen dieses Denkens;
denn sie kann eine Gesellschaft, die ihre Verbindung zur Tradition verlo-
ren hat, ohne Schwierigkeiten so regieren, wie sie will. Keine Geschichte
hatte die Gelegenheit zu einer so intensiven, sich verkettenden und vergrö-
ßernden Selbstformierung wie die des Monopols. Während das Monopol
so sich selbst mit der Geschichte verbindet, legt es großen Wert darauf, alle
gesellschaftlichen Gruppen von der Geschichte zu entbinden, genauer ge-
sagt in sich aufzulösen und zu kolonialisieren. Zu diesem Zweck schafft es
mythologische, religiöse, philosophische und wissenschaftliche Strukturen.
Es bemüht sich zugleich darum, die gesellschaftlichen Gruppen moralisch
zu verderben und ihrer Politikfähigkeit zu berauben.
Während wir häufig von Monopolen sprechen, sollten wir nicht ver-
gessen, dass wir diesen Begriff in ökonomischer, militärischer, politischer,
ideologischer und kommerzieller Hinsicht verwenden; denn Gruppen aus
diesen Bereichen werden den Mehrwert auf die eine oder andere Art un-
ter sich aufteilen. Wie auch immer ihre Form aussehen mag und welches
Ausmaß sie annehmen mag, der Kern dieser Verteilung wird gleichbleiben.
Manchmal werden es jene sein, die für wirtschaftliche Rentabilität sorgen,
manchmal Militärs oder andere – die politische Klasse, die ideologische
84 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Riege oder der Händlerstand –, die entsprechend ihrer Bedeutung über die
Verteilung bestimmen. Verallgemeinernde Begriffe wie Klasse und Staat
können für Unklarheiten sorgen. Das Monopol fungiert als eine explizite-
re Ausbeutungs- und Unterdrückungsassoziation. Die dahintersteckenden
Klassen- und staatlichen Strukturen sind lediglich Ableitungen, sekundäre
Schöpfungen.
Bei den Monopolschöpfungen kommt an dritter Stelle nach Klassen
und Staat(en) die Gründung von Städten. Die Stadt erhebt ihr Haupt als
des Monopols Hauptquartier zur Unterdrückung und Ausbeutung. Ihre
Verflechtung mit dem Tempel lässt sich auf die große Wichtigkeit der ideolo-
gischen Legitimation zurückführen. Die Stadt tritt also vor allem als Tempel,
militärisches Hauptquartier und Kern der bürgerlichen (wir können alle aus-
beuterischen Gruppen im Sinne von ›städtisch‹ als bürgerlich bezeichnen)
Behausungen (Paläste) auf die Bühne der Geschichte. Die Menschenmassen
in ihrer Umgebung spielen als ein zweiter Kreis um den Kern innerhalb der
Stadtmauern die Rolle von Knechten und Dienern. Man könnte sie auch als
Sklavenklasse bezeichnen.
Die Tatsache, dass wir in der Geschichte immer wieder Burgen und
Stadtmauern begegnen, stellt den eindeutigsten Beweis für die Stadtstruktur
des Monopols dar. Wir haben also bereits die Faktoren festgestellt, die
zur Entstehung der gesellschaftlichen Frage geführt haben: die um das
Monopol entstandenen Stadt-, Klassen- und staatlichen Strukturen. Die
Geschichte der Zivilisationen ist in gewisser Hinsicht die Ausdehnung
dieser drei Strukturen in Raum und Zeit. Die Logik ist einfach: Je größer
die Möglichkeiten werden, Mehrwert zu produzieren, desto mehr vermeh-
ren sich die Monopole, und anschließend werden weitere Stadt-, Klassen-
und staatliche Strukturen aufgebaut. Diese Grundstrukturen schaffen
gleichzeitig sehr strenge Traditionen. Stadtgeschichten, Staatstraditionen
und Geschichten von Dynastien bilden unerschöpfliche Quellen für
Erzählungen. Intelligente und redegewandte Personen sorgen als eine Art
Gelehrtenarmee für die ideologische Legitimation. Kein Märchen und
keine Parabel, die sie nicht ersonnen hätten: Von Götter-Konstruktionen
(Stadtgötter, Kriegsgötter) über die Schöpfung von Dämonen und Geistern
sowie Himmel- und Höllendarstellungen bis hin zu literarischen Epen lie-
ßen sie keinen Bereich aus, in dem sie ihrer Fantasie keinen freien Lauf ge-
lassen hätten. Aus dem Mehrprodukt der menschlichen Arbeit geschaffene,
Angst einflößende Gebäude wie Gräber, Paläste und Tempel, Theaterarenen
und Stadien gleichen Machtdemonstrationen des Monopols. In ähnlich
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 85

ängstigenden Kriegen ganze Völker, Stämme, Städte und Dörfer samt ihrer
ganzen Bevölkerung bis auf nützliche Gefangene auszulöschen, gehört zu
den Traditionen des Monopols. Ohnehin gilt dem Monopol längst alles, was
einen ökonomischen Wert besitzt, als heilige Kriegsbeute.
Eine wichtige Diskussion über die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
dreht sich um die Zivilisationsart des Monopols nach der Agrarrevolution,
also den drei Ableitungen (Stadt, Klasse, Staat). Mit anderen Worten: War
nach der Stufe der neolithischen Gesellschaft der Übergang zur heutigen
Zivilisationsstufe (den Entwicklungsstufen der Sklavenhalter-, feudalen
und kapitalistischen Gesellschaften) unumgänglich? Wäre es der neolithi-
schen Gesellschaft möglich gewesen, ohne die Urbanisierung mit Klassen
und Staat, den Sprung zu einer anderen höheren Stufe zu schaffen? Wenn
dem so gewesen sein sollte, warum ist ihr dann diese Entwicklung nicht
gelungen? Obwohl dies rein spekulative Fragen sind, machen sie doch auf
wichtige Themen aufmerksam. Da wir diese in dem Teil über die demo-
kratische Zivilisation ausführlich diskutieren werden, können wir uns an
dieser Stelle mit einer kurzen, mit der Art unserer Analyse der gesellschaft-
lichen Natur zusammenhängenden Antwort begnügen. Laut den vorherr-
schenden Zivilisationsparadigmen ereigneten sich die Entwicklungen einer
Schicksalslinie entsprechend; alles musste so kommen: Alles geschah dem
Schicksal entsprechend. Was geschah, war das unausweichliche Los der
Menschheit. Dieses Denken ist allen metaphysischen Konzepten gemeinsam.
Die Analyse der demokratischen Zivilisation allerdings legt sowohl
die Interpretation der Zivilisation und ihrer zentralen gesellschaftlichen
Formen als auch hinsichtlich der Überlegungen über die Fortsetzung und
Transformation der neolithischen Gesellschaft eine andere Herangehensweise
an den Tag. Langer Rede kurzer Sinn: Die gesellschaftliche Realität sieht an-
ders aus, als von den eurozentrischen Sozialwissenschaften beschrieben. Es
ist möglich, realitätsnähere Interpretationen zu entwickeln. Die Gesellschaft
entsteht anders, als zu erklären versucht wird. Es ist äußerst wichtig, den
Unterschied zwischen den Diskursen und der Wirklichkeit zu sehen und
den Zusammenhang zwischen den Diskursen und dem herrschenden
System der Zentralzivilisation zu entdecken. Viele kategorische Urteile,
die im Namen der Sozialwissenschaften erarbeitet und zu unbestreitbaren
Tatsachen deklariert wurden, sind vorwiegend propagandistisch und dienen
zur Verhüllung der Wirklichkeit. Einschließlich dessen, was im Namen des
wissenschaftlichen Sozialismus erarbeitet wurde, stehen zahlreiche wissen-
schaftliche Schulen unter massivem Einfluss des Liberalismus. Ohne diese
86 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Themen zumindest ein wenig zu erhellen, werden alle Antworten recht feh-
lerhaft bleiben.
Gesellschaftliche Fragen bei ihrem ursprünglichen Auftauchen als
solche zu definieren, ermöglicht eine realistischere Beurteilung der
Entwicklungsprozesse. Ihre Darstellung als Hauptstufen anstatt einer
Aufteilung in Hauptkategorien wird aufschlussreicher sein, da dadurch die
Frage in ihrer Totalität präsentiert wird.

a) Von Sumer bis Rom


Die erste große Problemphase des Zivilisationsmonopols lässt sich ca. 3000–
500 v. Chr. verorten. Das Monopol ist eine Organisation zur Erpressung
eines großen gesellschaftlichen Mehrwerts mit verschiedenen Methoden.
In den sumerischen, ägyptischen und harappischen Gesellschaften wurde
ab 3000 v. Chr. in der Landwirtschaft durch eine organisierte Methode,
die wir als Pharaonensozialismus bezeichnen könnten, ein unheim-
lich großer Mehrwert erzielt. Dies stellt das Modell der ersten großen
Kapitalakkumulation dar. Es war dabei eine viel höhere Produktivität er-
reicht worden als in der neolithischen Gesellschaft. Diese Produktivität
brachte die Stadt, Klassen und den Staat hervor. Es brach zum ersten Mal
ein Zeitalter der großen Ausbeutung an, die entweder durch Gewalt oder
durch Handelsmonopole auf die Mehrwertakkumulation erfolgte, die be-
reits in der neolithischen Gesellschaft begonnen hatte. Die Ausbeutung
der Untertanen, die man wie Tiere für ihre Nahrung arbeiten ließ, bildete
zweifelsohne die Grundlage des Pharaonensozialismus. Kurz: So wurde das
erste, ursprüngliche Glied einer bis heute reichenden Kette verschiedener
Ausbeutungsformen der Peripherie durch das Zentrum geschaffen. In den
uns vorliegenden historischen Dokumenten lassen sich eindeutige Hinweise
auf eine solche Entwicklung in der sumerischen Gesellschaft entdecken.
Diese Produktionsweise und die Aneignung des Mehrwerts führten zwei-
felsohne – wie ein Dolch, der ins Herz der Gesellschaft gestochen wur-
de – zu schwerwiegenden Problemen. Die Mythologien und Religionen
sind voller Erzählungen über diese Probleme, denen wir in der Geschichte
begegnen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Das Gilgamesch-Epos,
die Sintflut, die Legenden von Adam und Eva sowie Kain und Abel, das
Konzept von Himmel und Hölle, die Auseinandersetzung zwischen dem
Gott Enki und der Göttin Inanna, der Widerspruch zwischen Hirten und
Bauern. Es ist klar, dass sich in all diesen Erzählungen eigentlich die gna-
denlosen Dolchstöße des Monopols widerspiegeln, also die Aneignung des
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 87

Mehrwerts durch gewaltsame Enteignungen und die Methode, Menschen


wie Tiere arbeiten zulassen.
In unzähligen solchen Geschichten, die die schreckliche Plünderung
und Plackerei zum Gegenstand haben, wurde natürlich eine komplizier-
te Sprache verwendet. Man sollte nicht vergessen, dass die ideologische
Herrschaft in dieser Zeit mindestens genauso wirksam war wie die phy-
sische. Wenn die Geschichte aus der Perspektive der Unterdrückten und
Geplünderten geschrieben worden wäre, bekämen wir natürlich eine ganz
andere Vergangenheit zu Gesicht als jene, die uns präsentiert wird.
Alleine beim Bau der ägyptischen Pyramiden (die ja Pharaonengräber
waren – wie sahen denn ihre Paläste aus?) ließ man Millionen von Sklaven
arbeiten. Man ließ diese Menschen, die in Massen an Orten gehalten wur-
den, die wie Ställe anmuten, und die schlechter als Tiere ernährt wurden,
unter tödlichen Peitschenhieben an der Errichtung dieser Bauten arbeiten.
Während die Tier-Sklaven, als Eigentum, auf diese Weise eingesetzt wurden,
führte der militärische Arm Feldzüge gegen andere Gemeinschaften durch,
bei denen sie sich nicht mit der Eroberung des Landes und der Plünderung
des Hab und Guts begnügten, sondern auch noch alle nicht ermordeten
Mitglieder der besiegten Gemeinschaften gefangen nahmen, die ihnen als
nützlich erschienen. Die imposanten Burgen, Stadtmauern, Gräber, Arenen,
Paläste und Tempel, deren Schönheit selbst heute noch die Menschen in
Staunen versetzt, wurden mithilfe jener Gefangenen erbaut. Wenn nicht
Millionen von ihnen in der durch die ersten Bewässerungskanäle weiter-
entwickelten Landwirtschaft eingesetzt worden wären, hätte man weder ei-
nen so großen Mehrwert erzielen noch die riesigen Steinbauten errichten
können. Außerdem hätte man das paradiesische Leben derjenigen, die das
Monopol beherrschten, nicht gewährleisten können.
Um diesen Prozess durch Erzählungen (Mythologie, Religion,
Philosophie, verschiedene Kunst- und wissenschaftliche Schulen), die ihren
Ursprung in der Zentralzivilisation haben (von der hegemonialen sumeri-
schen Zivilisation in Mesopotamien bis zur gegenwärtigen hegemonialen
US-Zivilisation), anders präsentieren zu können, wurden zahlreiche genau-
so imposante Überbauinstitutionen, vor allem Ideologien, geschaffen. Vor
allem die analytische Intelligenz erlebte ihre produktivste Phase. Unter der
Führung des Priestermonopols schuf man mannigfaltige Antworten, die von
mythischen Utopien bis hin zu Himmel und Höllenvorstellungen, und –
wenn diese nicht genügten – von philosophischen Erklärungen bis hin zur
Wissenschaft, zu Wissen und Weisheiten reichten, die die Naturphänomene
88 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

besser erklären konnten. Um einfacher herrschen zu können, wurden die


ersten Schritte in Richtung Schrift, Mathematik, Astronomie und Biologie
unternommen. Als Folge unerhörter Anstrengungen, neue Medikamente
zu entwickeln, die der Bequemlichkeit der Monopolschicht dienen soll-
ten, wurde das Fundament für die Wissenschaft der Medizin gelegt. Die
Suche nach dem ›Unsterblichkeitskraut‹ stellt den spannendsten Teil des
Gilgamesch-Epos dar. In Steinarchitektur wurde die Bautechnik unsterb-
licher Bauten für Unsterbliche entwickelt. Als die Mythologie nicht mehr
ausreichte, wurde die Zeit strengerer, dogmatischer Religionen eingeleitet.
Um die Menschen, die zu einem schrecklichen Leben verdammt waren,
zu trösten, wurden Götterbilder geschaffen, als Ebenbilder der Gottkönige.
Die analytische Intelligenz schuf beim Übergang zu monotheistischen
Religionen vielleicht ihr größtes Werk.
Die gesellschaftliche Frage wurde nicht nur verursacht, sondern in ihrer
schrecklichsten Form geboren. Das Monopol suchte, wie ein Albtraum, jeg-
liche materielle und geistige Kultur heim. Das sumerische Wort ›Amargi32‹
erlangte bereits in dieser Zeit die Bedeutung von ›Rückkehr zur Natur und
heiligen Mutter‹. Die erniedrigte Menschheit sehnte sich nach ihrer eige-
nen Vergangenheit. Der Wunsch, möglichst bald zu sterben, um endlich
in den Himmel zu gelangen, wurde in den Status einer Ideologie erhoben.
Der Himmel auf Erden, der in der neolithischen Ära gelegentlich etwas
Erlebbares gewesen zu sein schien, wurde nun auf das Jenseits verscho-
ben und zum Gegenstand von Utopien gemacht. Die säkulare, weltliche
Mentalität wurde von einer anderen abgelöst, die nichts als das Jenseits an-
zubieten hatte. Angesichts dieser schrecklichen Frage verlor die Welt ihre
ganze Vielfalt an Reichtum und wurde nun nur noch als eine Ort der Qual
imaginiert.
Gesellschaftliche Moral und Politik erlitten mit dieser Monopolfrage die
ersten tödlichen Schläge. Nachdem die Bereiche der Moral und Politik, die
Grundbausteine der kommunalen Gesellschaft, zerschmettert worden wa-
ren, wurde darüber die Herrschaft einer Moral (eigentlich Unmoral) und
Politik (des göttlichen Staates) installiert, die elitären Gemeinschaften aus
Monopolmitgliedern eigen sind. Gesellschaftliche Moral und Politik wur-
den so verkümmert, bevor sie sich gänzlich entfalten konnten. An ihre Stelle
traten, als göttliche Ordnung, der Wahnsinn und der Göttlichkeitsanspruch

32 amargi wird gewöhnlich mit ›Freiheit‹ übersetzt. Der Zusammenhang mit der wörtlichen
Bedeutung ist die Rückkehr ›zur Mutter‹ nach Sklaverei oder Schuldknechtschaft.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 89

der Herrschenden. Der Gesellschaft wurde nur das Recht zugesprochen, sich
diese Erzählungen als heiligen Glauben anzueignen.
Wie man sieht, wurde nicht nur die gesellschaftliche Frage geboren, son-
dern darüber hinaus die Gesellschaft dazu gebracht, aufzuhören, sie selbst
zu sein, und in eine Tierfarm des Monopols verwandelt. Man brachte die
Gesellschaft dazu, Knechtschaft und Sklaverei als ein natürliches Regime
anzuerkennen. Die Sklaverei von Frauen, deren Wurzeln viel weiter, bis
in die primitive hierarchische Ära zurückreichen, wurde zur umfassends-
ten Lebensfrage. Es wurden Ordnungen patriarchaler Götter konstru-
iert, als wollte man sich an der neolithischen matrialen Gesellschaft, der
Gesellschaft der heiligen Mutter, rächen. Während die Spuren der weibli-
chen Göttlichkeit allmählich verschwanden, wurde das prachtvolle Zeitalter
der Herrschaft männlich imaginierter Götter eingeleitet. Bereits in dieser
Zeit wurden Frauen sowohl in allen Tempeln als auch in gemeinen Bordellen
zur Prostitution gezwungen und in Bordellen wie in privaten Häusern ein-
gesperrt.
Diese ertragreiche Phase, die u. a. durch Bewässerungstechnologien
zustande gekommen war, mündete gegen Ende des dritten Jahrtausends
v. Chr. in eine tiefe Krise. Sowohl Dürren als auch Bodenversalzung tru-
gen dazu bei. Es ist allerdings natürlich, dass nach einer zweitausendjäh-
rigen Periode durch die Auswirkungen der gesellschaftlichen Praxis ihre
eigenen Gründungsprinzipien zerfallen. Harappa war längst zerfallen und
verstummt, die ägyptische Zivilisation war aufgrund ihrer tiefen inneren
Widersprüche nicht mehr überlebensfähig und die Sumerer, die ehemals he-
gemoniale ethnische Gruppe, hatten längst Zivilisationen anderer ethnischer
Herkunft Platz gemacht.
Das System der Zentralzivilisation dieser Ära unternahm zwei wichtige
Versuche zur Lösung seiner hausgemachten großen Probleme: Der erste da-
von war die Ausbreitung nach außen. Selbst wenn der Kolonialisierungs- und
Imperialismusprozess, dem wir später häufig begegnen werden, temporäre
Lösungen für die Probleme bot, schuf er gleichzeitig gezwungenermaßen
neue Probleme. Die Probleme wurden dabei nicht gelöst, sondern ausgewei-
tet und intensiviert. Die Probleme, die sich im Zentrum, in der Metropole,
konzentrierten, wurden exportiert, kehrten allerdings nach einer relativen
Entspannungsphase geballt zurück. Dieser Zyklus taucht in der Geschichte
häufig auf, wobei sich Zentrum und Peripherie ständig abwechseln.
Meines Erachtens handelte es sich um einen Selbstexport der sumerischen
Metropole (Zentrum) in drei, ja sogar – wenn man das Meer mitbedenkt
90 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

– vier Himmelsrichtungen. Das erste Produkt seiner Ausbreitung nach


Westen war Ägypten. Es liegt im Bereich des Möglichen, dass sich Ägypten
zunächst als Kolonie, später unabhängig entwickelte. Es ist ziemlich unwahr-
scheinlich, dass eine Zivilisation wie die ägyptische sich ohne Unterstützung
von außen in einer solch abgeschiedenen Landschaft entwickelte. Die sume-
rische Ausbreitung nach Osten schuf an der Sindh-Küste Harappa. Der glei-
che Aspekt gilt auch für Harappa. Ohne Unterstützung von außen wäre die
Entstehung Harappas in der Wüste ein Wunder gewesen. Auch die Genese
des ersten Königreiches in China im sechzehnten Jahrhundert v. Chr. auf
ähnliche Weise zu erklären wäre plausibler. Der Zivilisationspraxis wohn-
te das Zentrum-Peripherie-Verhältnis von Anbeginn an inne. Ein wei-
terer wichtiger Ausbreitungsraum im Osten war die benachbarte Elam-
Zivilisation mit ihrer Hauptstadt Sus im heutigen Iran. Die Ausbreitung
nach Norden erfolgte über die arischen Hurriter, die zu den authentischen
Einwohner*innen Obermesopotamiens gehörten und einen wesentlichen
Beitrag zur neolithischen Revolution leisteten, sowie über Babylon und
Aššur, die nicht weit vom Zentrum entfernt lagen.
Die Hurriter leisteten gegen die ständigen Kolonialisierungversuche durch
die ursprünglichen Kräfte der Zentralzivilisation, die Sumerer, Akkader (eth-
nische Gruppe semitischer Herkunft), Babylonier und Assyrer, vielleicht den
ersten und größten Widerstand der Geschichte. Dieser Prozess lässt sich
auch auf den sumerischen Tafeln verfolgen. Selbst im Gilgamesch-Epos wird
eindeutig erzählt, dass der erste Feldzug in die nördlichen Wälder durch-
geführt wurde. Der gegenwärtig ins Chaos gestürzte Irak (Uruk) zeigt oh-
nehin auf eindrucksvolle Weise, dass diese Tradition nach wie vor existiert.
Die Widersprüche zwischen den Kurden hurritischer Abstammung und den
Arabern semitischer Abstammung lassen vielleicht ihre uralten Eigenschaften
zur Sprache kommen. Das Einzige, was sich geändert hat, sind das Zentrum
und die Peripherie, der Hegemon und die Techniken.
Da die Hurriter die ursprünglichen Stämme des fruchtbaren Halbmonds
waren und die Agrarrevolution in ihrer ganzen Tiefe miterlebten, besaßen sie
das Potenzial, sowohl Widerstand zu leisten als auch ihre eigene Zivilisation
zu entwickeln. Es existieren zahlreiche archäologische Funde, die belegen,
dass die Hurriter im vierten Jahrtausend v. Chr. ohne Unterstützung des su-
merischen Zentrums ihre ersten Stadtzentren gegründet haben. Insbesondere
die Megalithen in der Gegend von Urfa aus der Zeit vor der neolithischen
Revolution (Göbekli Tepe, 10000–8000 v. Chr.) sind von besonders großer
archäologischer Bedeutung, da sie die Ursprünge der Zivilisation in dieser
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 91

Region aufzeigen. Ich schätze, dass die Sumerer in Untermesopotamien die


ersten Siedlerkolonien hurritischer Herkunft waren. Vor diesem Hintergrund
lassen sich die Reichsgründungen durch die hurritischstämmigen Hethiter
sowie durch die Mitanni ab den 1600er Jahren v. Chr. in Zentral- und
Südostanatolien nachvollziehen. Es ist ebenfalls möglich, dass sich in die-
sem Raum auch andere Zivilisationen entwickelten. Die Analyse der Relikte
in Göbekli Tepe könnte zu anderen Meinungen bezüglich der Zivilisationen
führen. Die Ausbreitung der Sumerer über das Meer (Persischer Golf ) führte
zur Gründung von Zivilisationskolonien im heutigen Oman, Jemen und
sogar in Äthiopien. In Oman wurde die Existenz einer Stadt festgestellt, die
zumindest so groß war wie Harappa.
Der zweite Versuch zur Überwindung der Krise wurde von den
Babyloniern und Assyrern unternommen. Die Babylonier, indem sie die
Industrie und die Wissenschaft weiterentwickelten, und die Assyrer, in-
dem sie das Handelsmonopol etablierten, versuchten die sumerische
Zivilisation von ihren schwerwiegenden Problemen zu befreien und setz-
ten ihre Bemühungen um deren Ausbreitung ununterbrochen fort. Babylon
war, was Wissenschaft und Industrie angeht, das wahre London, Paris,
Amsterdam und Venedig jener Ära. In der Ära seines Aufstiegs genoss es
sogar einen tausendfach größeren Ruhm als das heutige New York. Es war
nicht ohne Grund, dass selbst Alexander der Große seinen letzten Atemzug
in Babylon tat, obgleich es seinen Glanz längst verloren hatte. Vielleicht war
auch Saddam Hussein das jüngste der tragischen Opfer der leidenschaftli-
chen Liebe zu Babylon, von denen es Tausende gibt, für deren Aufzählung
das ganze Buch nicht ausreichen würde. Wenn ich mich darum bemühe,
Aššurs Handelsmonopol zu verstehen, fallen mir sofort die venezianischen,
holländischen und englischen Handelsmonopole ein. Die assyrischen
Handelsmonopole gehörten neben den phönizischen vielleicht zu den offen-
sivsten und kreativsten Unternehmen der Geschichte. Es ist unumstritten,
dass sie Handelsnetzwerke (karum genannte Handelsagenturen, also Orte
des Profits (kâr)) gründeten, die von Zentralasien (es wird berichtet, dass
man ihnen sogar in China begegnet sei) bis nach Westanatolien, von der ara-
bischen Halbinsel bis an die Schwarzmeerküste reichten. Es gilt als gesichert,
dass die Assyrer das erste große Handelsimperium der Geschichte gründeten.
Diese Handelsmacht, die sich in drei verschiedenen Perioden 2000–1600,
1600–1300 und 1300–600 v. Chr. zeigte, stellte in dieser Hinsicht etwas
Neues dar. Aber auch der Handel trug über eine begrenzte Ausbreitung und
Intensivierung der sumerischen Zentralzivilisation hinaus nicht zur Lösung
92 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Frage bei. Zudem geht das Handelsmonopol stets eine Partnerschaft mit
dem aus ›Priester + Militär + Regent‹ bestehenden Hauptmonopol ein. Die
Konflikte zwischen ihnen gehen nicht über Auseinandersetzungen um hö-
here Profitanteile hinaus. Man sollte aber die Bedeutung der Tatsache, dass
Aššur – als eines der stärksten Glieder in der Zivilisationskette – fast tau-
sendfünfhundert Jahre lang die tragende Säule der sumerischen Zivilisation
darstellte, nicht unterschätzen.
Harappa, Oman, die Hethiter, Mitanni und Ägypten lösten sich
einfach von innen heraus auf, da sie nicht den gleichen Erfolg ver-
zeichnen konnten. Es lässt sich nicht leugnen, dass Assyrer bei der
Kontinuität der Zentralzivilisation die Hauptrolle spielten, indem sie
durch ihre Handelsbeziehungen mit den Phöniziern, Medern-Persern
und späten Hethitern auf die griechische Zivilisation Einfluss nahmen.
Handelsmonopole lösten keine Probleme, ermöglichten der Zivilisation al-
lerdings eine Weiterentwicklung und eine längere Fortexistenz, indem sie
zahlreiche zukunftsweisende Produkte (einschließlich Ideen und Glauben)
überall verbreiteten. Sonst hätte sie das gleiche Schicksal ereilt wie Harappa.
Die Geschichte hätte vielleicht ein paar tausendjährige Wiederholungen er-
lebt. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass Handelsmonopole die grau-
samsten Kapitalakkumulationsmonopole waren, deren politische Vertreter
vor den brutalsten Praktiken nicht zurückschreckten, wie wir es am Beispiel
von aus menschlichen Häuptern errichteten Burgen und Stadtmauern se-
hen. Außerdem ist es allgemein bekannt, dass Handelsmonopole mit dem
geringsten Arbeitseinsatz die größten Gewinne erzielen, indem sie sich
Preisunterschiede und unterschiedliche Warenproduktionskosten zunutze
machen.
Wir reden hier nicht von einem Warenaustausch in kleinem Ausmaß,
der nicht profitorientiert, sondern am Konsum ausgerichtet ist. Man sollte
sich stets vor Augen halten, dass wir vom monopolistischen Handel spre-
chen, dessen Ziel ausschließlich der Profit ist. Harappas Niedergang ist mit
großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass es sich nicht nach
außen öffnen und seinen Handel ausdehnen konnte. Es ist allgemein be-
kannt, dass auch das Neue Ägyptische Reich (ca. 1550–1070 v. Chr.), das sich
nicht erfolgreich nach außen öffnen und kein Handelsmonopol aufbauen
konnte, durch innere Kämpfe und äußere Angriffe zugrunde ging. Wenn
es sich so weit wie die Sumerer hätte ausbreiten können, sähe unsere Welt
heute vielleicht anders aus. China dagegen spürte kein Expansionsbedürfnis.
Vielleicht entwickelte es sich in ausreichendem Ausmaß. Der erste große
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 93

Sprung der Zentralzivilisation konnte eine neue Stufe erreichen, indem sie
ihre hausgemachten schweren Probleme weltweit verbreitete.
Einige Denker gehen davon aus, dass die anatolischen, mesopotamischen
und ägyptischen Zivilisationen sich in der Zeit 1600–1200 v. Chr. ineinan-
der verflochten und dadurch ihren hegemonialen Charakter erlangten. Auch
wenn wir nicht von einem goldenen Zeitalter sprechen können, machten
Urbanisierung, Handel und Aristokratie in dieser Zeit doch eindeutig einen
großen Sprung vorwärts. Offensichtlich trug die Verbreitung des Problems
zur häufigen Verlagerung der Zentralhegemonie und zur Langlebigkeit
des Systems bei. Der berühmte ägyptisch-hethitische Friedensvertrag von
Kadesch (1259 v. Chr.) spiegelt diese Realität jener Zeit wider.
Die Krise, die die Zentralzivilisation zwischen 1200 und 800 v. Chr.
durchmachte, konnte erst abgemildert werden, als die Eisentechnik die
Bronze (3000–1000 v. Chr.) ablöste. Entwicklungen in Produktions- und
Kriegstechniken machen immer den Unterschied ihrer jeweiligen Ära aus.
Das Bestimmende ist zweifellos die gesellschaftliche Entwicklung, aber diese
ist immer mit der technologischen Entwicklung eng verbunden. Das hege-
moniale Zentrum verließ erstmals Mesopotamien und machte die ersten
Schritte gen Westen, Richtung Europa. Die Verschiebung fand während
dieser Übergangsphase auf dem Landweg über das medisch-persische Reich
(ca. 600–330 v. Chr.) und auf dem Seeweg über die Phönizier (1200–330
v. Chr.) statt. Auch die Urartäer (850–600 v. Chr.) spielten eine ähnliche
Rolle. Zwar konnte man durch die Eisentechnik und die Ausbreitung und
Absicherung der Handelswege die Gesellschaftskrise nicht gänzlich über-
winden, aber abmildern und so die Zivilisation fortsetzen. Das medisch-per-
sische Reich auf dem Landweg und die Phönizier im Mittelmeer leiteten
wichtige Handelsoffensiven ein. Die Griechen waren lange eine Kolonie
dieser beiden Zivilisationen. Obwohl die westzentrische Geschichte die
Originalität der griechisch-ionischen Zivilisation betont, zeigen realistische
Forschungen, dass sie eigentlich alles von diesen beiden Zivilisationen über-
nahm. Wenn wir den medisch-persischen und den phönizischen Einflüssen
auch noch die von Ägypten, Babylon und Kreta hinzufügen, begreifen wir,
dass die berühmte griechische Zivilisation unleugbar importiert war.
Man darf die griechisch-ionische Synthese zweifellos nicht unterschät-
zen; es ist aber offensichtlich, dass sie nicht ursprünglich ist. Zudem ist
keine Zivilisation ursprünglich. Alle Zivilisationen beruhen auf einer
Übernahme der Werte der neolithischen Gesellschaft entweder durch ge-
waltsame Aneignung oder durch ein Handelsmonopol, aber meistens durch
94 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

den gleichzeitigen Einsatz dieser beiden Methoden. Indem diese Werte einer
Veränderung ausgesetzt wurden, könnten neue Synthesen entstanden sein.
Aber wie Gordon Childe betont, lassen sich die technischen Erfindungen
der neolithischen Gesellschaft zwischen 6000 und 4000 v. Chr. im Taurus-
Zagros-Bogen nur mit den europäischen Erfindungen nach dem sechzehn-
ten Jahrhundert vergleichen. Die Zentralzivilisation wurde mit dem Aufstieg
der Stadt Uruk ab dem vierten Jahrtausend v. Chr. auf der Grundlage die-
ser Technologie aufgebaut. In der Auseinandersetzung zwischen der Göttin
Inanna und dem Gott Enki ging es hauptsächlich um die (um Frauen he-
rum organisierte neolithische Technologie) ME (ME bedeutet technische
Erfindung), die Enki von Inanna stahl. Hier wird der Zusammenhang zwi-
schen der Zivilisation und der Beherrschung der Technologie unterstrichen.
Alleine dieses Beispiel zeigt, wie lehrreich die sumerische Mythologie ist. Die
Sprache jener Zeit wurde ohnehin nicht so verwendet wie die heutige, da sie
sehr mythologiegeladen war.
Die griechisch-ionische Zivilisation (600–300 v. Chr.), die auf bei-
den Seiten der Ägäis entstand, ist zweifellos ein wichtiges Glied der his-
torischen Kette. Sie stellt einen großen Sprung in der gesellschaftlichen
Entwicklung dar. Sie leistete sowohl im Bereich der Mentalität als auch im
technisch-praktischen Bereich einen großen Beitrag. Was den Seetransport
betrifft, entwickelte sie das phönizische Erbe viel weiter. Sie errichtete zahl-
reiche Kolonien an den Küsten Europas. Die Griechen entwickelten die
Schrifttechnik weiter, die über die Phönizier zu ihnen gelangt war, und leis-
teten einen wichtigen Beitrag zur Entstehung des heutigen Alphabets. Sie er-
zielten in allen damals bekannten Wissenschaften revolutionäre Fortschritte.
In der Philosophie fand eine regelrechte Revolution statt. Mit den olympi-
schen Göttern setzten sie dem Zeitalter der sumerischen Götter ein Ende.
In den Werken Homers erreichte die Tradition des Gilgamesch-Epos ih-
ren Höhepunkt. In Theater, Architektur und Musik wurden ähnlich re-
volutionäre Fortschritte erzielt. Es wurden prächtige Städte errichtet. Die
Neuerungen in der Bautechnik von Tempeln, Palästen, Stadien, Theater-
und Ratsgebäuden haben nach wie vor nicht an Wert verloren. Auch die in
Produktion und Handel erzielten Fortschritte sind nicht zu unterschätzen.
Ihre Fortschritte im Bereich der Industrie waren ebenfalls von Bedeutung.
Im politischen Bereich praktizierten sie eine beispielhafte Demokratie, die
in die Geschichte einging. Sie bewiesen die Überlegenheit der Demokratie
gegenüber anderen Regierungsformen, auch wenn dies im Rahmen der
Zivilisation geschah.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 95

Aber diese Feststellungen ändern nichts daran, dass die griechisch-ionische


Zivilisation ein Glied in der Zivilisationskette war, die mit den Sumerern
ihren Anfang genommen hatte, sondern bestätigen dies nur.
Wenn man in Bezug auf unser Thema die Rolle der griechischen
Zivilisation bei der Lösung, genauer gesagt bei der Entwicklung der ge-
sellschaftlichen Frage unter die Lupe nimmt, lässt sich zweifelsohne fest-
stellen, dass sie sich von anderen Zivilisationen nicht wesentlich unter-
schied. Alle von ihr eingeleiteten Entwicklungen, allen voran die attische
Demokratie, zeigen, dass die griechisch-ionische Zivilisation die Probleme
der Zentralzivilisation nicht lösen konnte, sondern sie noch vergrößerte.
Wenn wir diese Probleme aufzählen wollen:
Die Knechtschaft von Frauen wurde unglaublich ausgedehnt. Frauen
wurden nicht nur dazu verdammt, Kinder zu bekommen und dem Mann
unter schwierigsten Bedingungen sklavisch zu dienen, sondern ihnen war
gleichzeitig die Teilnahme an Politik, Sport, Wissenschaft und Regierung
verwehrt. Sie wurden in allen schweren Produktionsarbeiten beschäftigt.
Platon vertrat die Meinung, dass das Zusammenleben mit einer Frau der
Vornehmheit des Mannes schädigen würde. Homosexuelle Beziehungen
verbreiteten sich u. a. aus diesem Grund. Neben der der Frauen vermehrten
sich auch andere Arten der Sklaverei lawinenartig. Zum ersten Mal in der
Geschichte entstanden große Massen arbeitsloser Sklaven. Das Söldnertum
wurde erfunden. Es wurden nicht nur Waren, sondern auch Sklaven ex-
portiert. Dementsprechend entstand eine parasitäre Herrenklasse. Das
Konzept der Aristokratie wurde geschaffen. Der gesellschaftliche Bereich
füllte sich mit parasitären Elementen. Die gesellschaftlichen Gruppen, die
der Bourgeoisie am nächsten kommen, sind ein Produkt der griechischen
Zivilisation. Kurz gesagt wurden im gesellschaftlichen Bereich einerseits
neue Probleme geschaffen, andererseits die alten Probleme vergrößert.
Die Stadtentwicklung nahm prächtige Züge an und die Stadt erlangte
eine organische Struktur. Aber der Preis, den man für diese Fortschritte zahl-
te, war eine Verschärfung der gesellschaftlichen Frage. Es war nahezu so, als
hätte man die Struktur der Zikkurat und Pyramide in ihre Bestandteile zer-
legt und in riesigen Dimensionen wieder neu erschaffen. In der ersten Phase
bestand die Stadt aus dem Tempel selbst und seinen Erweiterungsbauten.
In der zweiten Phase wurde sie durch die Zitadelle und die sie umgeben-
den inneren und äußeren Wehrmauern erweitert. In der dritten Phase wur-
den diese Trennungen abgeschafft und die Stadt erschloss neue Bereiche
und erlangte räumlichen Reichtum und Pracht. Es handelte sich dabei um
96 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

eine Entwicklung, die sich parallel zur Expansion des Monopols vollzog.
Die Probleme wurden dadurch nicht gelöst, sondern vergrößert. Die Größe
der Sklavenarmee vervielfachte sich. Es entstanden auch noch arbeitslose
Sklaven. Zum ersten Mal in der Geschichte befanden sich Menschen in
einer gänzlich überflüssigen Position. Es könnte kein größeres gesellschaft-
liches Problem geben. Ein System, das Arbeitslose produziert, ist das grau-
samste.
Auch die Macht- und Staatsapparate erlebten eine ähnliche Ausdehnung.
Die Macht dehnte ihre Besetzung von den oberen auf die unteren
Stockwerke aus. Der Staat erstickte die Politik immer mehr und beherrschte
dadurch die Gesellschaft immer umfassender. Die staatliche Bürokratie ent-
stand. Die Militärklasse festigte ihre Privilegien. Im Allgemeinen vergrößer-
te sich die Autorität der im gesellschaftlichen Gefüge über Frauen, Kinder
und Jugendliche, Sklaven, Bauern und Handwerker errichteten Macht.
Dass die attische Demokratie den Politikverfall angesichts des Staates ganz
offensichtlich machte, bildete ihre kläglichste Seite. Die gesellschaftliche
Demokratietradition tat im attischen Beispiel sozusagen durch die Hand der
Aristokraten ihren letzten Atemzug. Das ist wohl die bedeutendste Lektion,
die wir aus der attischen Demokratie ziehen sollten.
Das römische Zivilisationsmonopol (750 v. Chr.–500 n. Chr.) ist eine
Zivilisation, die im Rahmen ihrer inneren Einheit mit der griechisch-io-
nischen Tradition, deren Fortsetzung es darstellte, beurteilt werden sollte.
Es handelt sich um ein Beispiel, das von der einen Halbinsel auf die an-
dere übertragen wurde. Der wichtigste Aspekt, der an dieser Stelle betont
werden sollte, ist: Wenn die Griechen die Kindheits- und Jugendphasen
dieser Zivilisation darstellten, war Rom ihre Reife- und Altersphase. Zum
ersten Mal gelang den Römern eine Assimilation und Synthese der östli-
chen Werte, die ihnen Überlegenheit gegenüber dem Osten verschaffte.
Der Erfolg Roms war, dass es einen Teil Europas um den Preis gnadenloser
Besetzungen und Kolonisierungen der Zivilisation einverleibte. Ansonsten
stellt Rom in jeglicher Hinsicht eine überdimensionale Vergrößerung der
griechischen Zivilisation dar. Es erlangte in Hinblick auf die Stadt, Klassen
und Macht riesige Dimensionen. Vom Königreich ausgehend wurde eine
aristokratische Republik gegründet, die wiederum ins größte und territorial
umfangreichste Imperium der Geschichte mündete. Der römische Lebensstil
wurde überall nachgeahmt. Die römische Aristokratie war, genauso wie die
gegenwärtige Moderne (Bourgeoisie), die entscheidende Kraft ihrer Zeit.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 97

Die parasitäre Aristokratie und das Lumpenproletariat standen symbolisch


für Roms heftige Probleme.
Die römische Ära war die Zeit, in der die gesellschaftliche Frage ih-
ren Höhepunkt erreichte. Daran ist nichts verwunderlich. Zwischen dem
sich kumulativ vergrößernden Monopol der Zentralzivilisation und der
Vergrößerung der von ihm verursachten strukturellen Probleme besteht ein
unmittelbarer Zusammenhang. Dass das Christentum, das eine Armenpartei
darstellte, – trotz grausamer Bestrafungen (kreuzigen, Löwen zum Fraß vor-
werfen, totale Vernichtung wie die Karthagos­usw.) – die Gesellschaft von
innen heraus eroberte und gleichzeitig Barbarenstämme von außen auf Rom
stürmten, führte zu einer Explosion der Probleme. Es war im Wesentlichen
ein Ausbruch des Freiheitsgeistes. Es ist offensichtlich, dass Römer die wah-
ren Barbaren waren und dass die riesigen Probleme, die Rom im Inneren
wie im Äußeren angehäuft hatte, seinen Untergang herbeiführten. Roms
Untergang war mehr als nur der der Stadt Rom mit ihrer Macht und
Aristokratie. Es war gleichzeitig der Untergang des Weltsystems mit der aus
Zentrum und Peripherie, Konkurrenz und Hegemonie, Auf- und Abstieg
bestehenden charakteristischen Struktur der Zivilisation, die mit der Stadt
Uruk entstanden war. Eine der barbarischsten Ären des gesellschaftsfeindli-
chen Systems mit den von ihm verursachten Problemen ging durch innere
und äußere Widerstände zu Ende.

b) Von Rom bis Amsterdam


Die zweite große Phase der gesellschaftlichen Frage lässt sich in der Zeit zwi-
schen dem Untergang Roms und dem Aufstieg Amsterdams verorten: Diese
Ära, ca. 500–1500 n. Chr., ist durch die abrahamitischen Religionen, die als
Lösungsbotschaften auftauchten, geprägt. Man sollte den abrahamitischen
Religionen besondere Beachtung schenken, da sie die gesellschaftliche Frage
noch vertieften, obwohl sie eigentlich als Lösungen gedacht waren.
Wenn ich mich auf eine Analyse der gesellschaftlichen Botschaft der
abrahamitischen Religionen konzentriere, sehe ich die Bedeutung dieser
Botschaft darin, dass sich die problematische materielle Struktur des Systems
der Zentralzivilisation in problematische geistige Strukturen verwandelte.
Mit anderen Worte spiegelten sich die Probleme der materiellen Kultur
in Problemen der geistigen Kultur wider. In den heiligen Schriften wird
ausdrücklich erwähnt, dass Abraham vor der Tyrannei Nimrods, Babylons
Vertreter in Urfa, also vor den von ihm verursachten Problemen flüchtete
bzw. auswanderte. Es wird sogar als ein göttliches Wunder dargestellt, dass
98 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

er dem Feuertod auf dem Scheiterhaufen entkommen konnte. Als Grund


dafür wird angeführt, dass er auf der Suche nach einem neuen Gott war.
Die Gottessuche kann auch als Suche nach einem neuen Herrschaftsmodell
gedeutet werden. Diese Erzählung zeigt noch viele weitere Eigenschaften der
hochproblematischen Struktur jener Zeit auf. Man schätzt, dass Abrahams
Hidschra sich um das achtzehnte Jahrhundert v. Chr. ereignete. Abraham
verließ die mesopotamische Zivilisation in Richtung der ägyptischen. Der
Weg zwischen den beiden Zivilisationen stand also offen. Vielleicht war
Abraham auf der Suche nach einem Refugium und neuen Verbündeten. Sein
Leben in Kanaan (im heutigen Palästina und Israel) bestätigt diese These.
Er verließ mit seiner Familie einen kleinen Stamm und bildete in Kanaan
einen neuen. Sein Enkel Josef wurde als Sklave nach Ägypten verkauft. Dank
seiner Fertigkeiten avancierte Josef am ägyptischen Hof zum Hauptverwalter
und Stellvertreter des Pharaos. Bei seinem Aufstieg spielten die Frauen am
Hof eine wichtige Rolle. In der hebräischen Geschichte spielten Frauen im-
mer wichtige Rollen.
Auch in Ägypten formierte sich ein hebräischer Stamm, der allerdings
in Halb-Sklaverei lebte. Die Stammesmitglieder litten sehr darunter. An
die Stelle Nimrods war nun hier der Pharao getreten. Sie wollten auch
ihn loswerden. Dieses Mal wurde der Exodus von Moses angeführt. Man
schrieb ca. das Jahr 1300 v. Chr. In der Heiligen Schrift wird der Aufbruch,
der dem Abrahams ähnelt, voller Wunder dargestellt. Die Hebräer kehr-
ten nach Kanaan zurück. Im Vergleich zu Ägypten war Kanaan wie ein
›gelobtes Paradies‹. Der Gott, nach welchem sie am Berg Sinai suchten,
sprach den Stamm direkt an, als er die Zehn Gebote erteilte. Die Zehn
Gebote stellten eigentlich die Organisationsgrundsätze und das politische
Programm des Stammes dar, die er einer langen Erfahrung abgewonnen
hatte. Es handelte sich darum, dass der Stamm den Religionen Nimrods
und des Pharaos endgültig den Rücken kehrte und seine eigene ethnische
Religion (Weltanschauung und Programm) begründete. Die Heilige Schrift
als Stimme Gottes erzählt ausführlich, was alles darauf folgt. Wir haben es
nun nicht mehr mit mythologischen Geschichten wie bei den Sumerern
und Ägyptern zu tun, sondern mit religiösen Regeln, die zu absoluten
Wahrheiten (Orthodoxie) erklärt wurden.
Dieser Umstand stellt eine große Revolution in der Geschichte der
Religionen, die große geistige Revolution jener Ära, dar. Forschungen
zeigen, dass die hebräische Tradition eine der Hauptquellen des nahöst-
lichen Gedächtnisses bildet. Meines Erachtens verwandelten die Hebräer
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 99

die sumerischen und ägyptischen Mythologien in einen religionsförmigen


Diskurs (Rhetorik). Im Laufe der Geschichte entwickelten sie die Bibel stän-
dig weiter, indem sie diesen Diskurs durch Erzählungen aus zoroastrischen,
babylonischen (vor allem während des Exils ab 597 v. Chr.), phönizischen,
hurritischen und griechischen Quellen ergänzten. Man darf nicht vergessen,
dass die Bibel erstmals im siebenten Jahrhundert v. Chr. zusammengestellt
wurde. Aus früherer Zeit existieren keine schriftlichen Quellen.
Einen Aspekt möchte ich mit Nachdruck betonen: Im Laufe der
Geschichte häuften Juden nicht nur Kapital und Geld an, sondern auf be-
eindruckendste Weise auch Ideologie, Wissen und Wissenschaft. Sie konn-
ten ihre zahlenmäßige Unterlegenheit mithilfe dieser beiden strategischen
Akkumulationen im Weltmaßstab in Stärke verwandeln. Angehörige der
jüdischen Ethnie (anfangs als Stamm, gegenwärtig als Nation) konnte
sich dank dieser beiden Akkumulationen nicht nur gegenwärtig, sondern
auch zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte in der Nähe der Macht
und in strategischen Machtpositionen behaupten und bisweilen einen ho-
hen Lebensstandard erhalten. Allerdings stehen auch die Katastrophen,
die ihnen widerfuhren, und ihre verheerenden Probleme in einem engen
Zusammenhang mit dieser Tatsache. Wenn wir es bei der Analyse der
Geschichte und der Gegenwart zu unserer Methode machen, dass Kapital
und Wissen Stärke und Macht bedeuten, Macht wiederum ein Kapital-
und Wissensmonopol ist, kann uns ein eindeutigeres und realistischeres
Verständnis der gesellschaftlichen Frage gelingen. Da wir der Frage, inwie-
fern die abrahamitischen Religionen zu einer Lösung der riesigen histo-
risch-gesellschaftlichen Probleme fähig sind, im Kapitel ›Das System der de-
mokratischen Zivilisation denken‹ nachgehen werden, begnüge ich mich an
dieser Stelle mit der Feststellung, dass sie noch kompliziertere historisch-ge-
sellschaftliche Probleme verursachen.
Im Alten Testament kommen nach Moses Propheten, Propheten-Könige,
Richter, Könige und Schriftgelehrte. Man könnte weitere Kapitel über
Intellektuelle, Wissenschaftler und Schriftsteller hinzufügen. Anscheinend
werden alle Weisheiten, die ihren Ursprung in den sumerischen und ägyp-
tischen Mythologien haben, als Prophetie bezeichnet. Das Alte Testament
deutet die Geschichte auf diese Weise. Die Hauptaufgabe der Propheten war
es, eine Lösung des unvergleichlichen gesellschaftlichen Problems anzubie-
ten. Wenn man berücksichtigt, dass Mehrprodukt und Kapitalakkumulation
durch Zwangsarbeit auf der Grundlage der Versklavung und durch mili-
tärische Methoden zustandekommen, kann man auch die Ursachen der
100 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

riesigen Problemakkumulation besser begreifen. Prophetentum ist nichts


als der Widerhall dieser Wirklichkeit in den Teilen der Gesellschaft,
die einem schwerwiegenden Problem ausgesetzt sind. Die institutionel-
le Qualität des Prophetentums auf diese Weise zu begreifen, wird unsere
Geschichtsinterpretationen verständlicher machen.
Wir sehen, dass ungefähr 300 Jahre nach Moses’ Tod, um 1000 v. Chr., aus
seinem ideologischen und politischen Programm heraus unter der Führung
von Saul und den Propheten, David und Salomo ein kleiner Staat entstan-
den ist. Die Lösung, die sie nach zahlreichen Kämpfen für ihr großes ge-
sellschaftliches Problem fanden, bestand nur in einem eigenen Macht- und
Staatsapparat. Dieser Staat war offensichtlich nicht so demokratisch wie der
Staat der Athener. Wiederum war dieser Staat eindeutig schwächer und von
der Lösung noch weiter entfernt als die ägyptischen und babylonisch-assy-
rischen Staatstraditionen, unter denen der hebräische Stamm gelebt hatte.
Warum hält man dann in der abrahamitischen Tradition so sehr am Staat
fest? Weil er eine Erfindung der Propheten ist, weil er seinen Mitgliedern als
›gelobtes Paradies‹ die Region Kanaan verheißt.
Es ist allgemein bekannt, dass der erste jüdische Staat nach ähnlichen
Machtkämpfen und Besetzungen (die Kämpfe zwischen Davids und
Salomos Söhnen und Enkeln, die assyrischen Bedrohungen und die assy-
rische Besetzung) in kurzer Zeit unterging. In vielerlei Hinsicht ähnelte
er dem Staat Israel, der dreitausend Jahre später am gleichen Ort gegrün-
det wurde. Man sollte aber trotzdem dieser von Propheten konstruierten
Realität eine große Bedeutung beimessen. Eben diese Realität übte im Laufe
der Geschichte – insbesondere mithilfe des ideologischen und monetären
Kapitals – einen großen Einfluss auf die Mächte der Zentralzivilisation aus.
Sich auf Jesus beziehend wurde die zweite wichtige abrahamitische
Religion gegründet. Sie war eine Botschaft, die sich um die Lösung der
durch die Zerstörungen der römischen Besatzungsmacht verursachten ge-
ballten Probleme bemühte. Der Beiname Jesu war Messias bzw. Erlöser.
Diese Strömung, mit der auch unsere Zeitrechnung beginnt, kann zu-
treffend als die erste ökumenische (universale) Partei der römischen
Lumpenproletarier und Armen bezeichnet werden. Aber sie besaß nicht den
militanten Charakter der mosaischen Bewegung. Es lässt sich feststellen, dass
sie aus der Unterschicht des hebräischen Stammes heraus entstand und ein
Produkt der objektiven Verhältnisse war, in denen die Stammesorganisation
ihre Fähigkeit zur Lösungsfindung eingebüßt und die Herausbildung von
Klassen und die Urbanisierung zu einem großen Verfall der kommunalen
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 101

Werte geführt hatten. Ihren Universalismus und Klassencharakter verdank-


te sie diesen Verhältnissen. Im östlichen Mittelmeerraum beschleunigten
sich in jener Zeit die Auflösungsprozesse ähnlicher Stämme und Klans.
Die griechischen, assyrisch-babylonischen und schließlich römischen
Kolonisierungsbewegungen verdammten Massen von Arbeitslosen und
Armen, die die Verbindung zu ihren Stämmen verloren hatten, zum Hunger.
Gleichzeitig intensivierte sich die Suche sowohl nach neuen Herren als auch
Erlösern. Die Jesus-Bewegung war offenbar ein kollektiver Ausdruck die-
ser Suche. Jesus selbst sprach ohnehin von einer ›frohen Botschaft‹, die er
bringe. Das Alte Testament wurde durch das Neue Testament ergänzt. Die
Zivilisationskulturen und -sprachen der Zeit waren assyrisch-aramäisch, ba-
bylonisch-chaldäisch, hellenisch-griechisch und jüdisch-hebräisch. Römisch-
Latein etablierte sich gerade erst. Es heißt, Jesus habe Aramäisch gespro-
chen. Alt-Griechisch hatte sich in der hellenistischen Ära in der Region
sehr verbreitet. Aramäisch war aber seit tausend Jahren die Handels- und
Kultursprache der Region. Griechisch sollte diese Rolle erst später überneh-
men. Und Hebräisch war die Sprache der heiligen Texte. Latein stellte die
neue Amtssprache dar.
Von Arabisch, das unter Wüstenstämmen verbreitet war und erst durch
die Urbanisierung auf der arabischen Halbinsel zu einer Zivilisationssprache
werden sollte, war noch keine Spur. Die arabische Sprache sollte die Region
erst mit der islamischen Revolution erobern. Während man persischen
Dialekten begegnete, kamen diese nur im Taurus-Zagros-Gebirgssystem und
im Zentrum der persisch-sassanidischen Zivilisation zu voller Entfaltung.
Es gab zahlreiche Kulturen und Sprachen, die sich unter dem Einfluss der
Zentralzivilisation auflösten und ausstarben – allen voran Sumerisch und
Koptisch (Ägypten). Armenisch wurde erst ab dem fünften Jahrhundert zu-
nehmend zu einer einflussreichen Sprache in der Region.
Die Konkurrenz zweier hegemonialer Mächte in der Region, die sich
als westlich bzw. östlich definierten, war in vollem Gange: Das Römische
Reich mit seinem Zentrum in Italien und das Sassanidenreich mit seinem
Zentrum im Iran-Kaukasus. Die mesopotamozentrische Zivilisation, die
sich nach dreitausend Jahren erstmals nach außerhalb der Region verlagert
hatte, setzte ihr Erbe fort, welches diese beiden hegemonialen Zivilisationen
miteinander teilten. Zwischen ihnen wüteten Kriege, in denen es im Grunde
genommen um das Erbe der Zivilisation ging. Zu dieser Zeit ereignete sich
vielleicht der kontinuierlichste und intensivste Kampf der Geschichte um
Hegemonie. Die Angriffe Alexanders des Großen und die darauf folgende
102 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Situation könnten als die erste Runde in diesem Kampf interpretiert wer-
den. Auch wenn sich das Zivilisationszentrum erst viel später in den Westen
verlagern sollte, waren offensichtlich die ersten Entwicklungen in diese
Richtung eingeleitet.
Es ist zu sehen, dass weder die griechische Philosophie im Römischen
Reich noch die zoroastrische Lehre (eine weltlichere und moralische-
re Lehre) im Sassanidenreich die durch die beiden Zivilisationsmonopole
verursachten Probleme lösen konnten. Der Krieg zwischen diesen beiden
Zivilisationsmonopolen spiegelt eigentlich diese Ausweglosigkeit wider.
Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten, Mehrwert zu produzieren und ab-
zuschöpfen, wird Krieg zwischen den in ihrer Zahl und Qualität wachsen-
den Monopolen zur beliebtesten Akkumulationsmethode. Kriege stellen in
der Zivilisationsgeschichte im Grunde genommen Mittel zur Kapital- und
Machtakkumulation dar. Sie haben nichts mit den legendären Helden in
den Erzählungen zu tun, die die propagandistische Seite des Ganzen bil-
den. Kriege einschließlich der gegenwärtigen lassen sich in letzter Instanz
am zutreffendsten als Mittel beschreiben, die dazu dienen, dass Kapital
und Macht in andere Hände übergehen. Aus diesem Grund müssen wir
uns stets vor Augen halten, dass sie sich im Zentrum der grundsätzlichen
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse befinden und dort ihre Rolle
spielen. Verteidigungskriege dagegen zielen darauf ab, das eigene Land, die
anderen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die Freiheit, also die
Identität der Gesellschaft und dafür ihre moralische und politische Struktur
und – wenn vorhanden – ihre Demokratie zu verteidigen. Dieser Tatsache
verdanken sie ihre Legitimität.
Häufig werden Monopolkriege als Motor der Zivilisationsgeschichte be-
trachtet. In der Hinsicht, dass sie zu vollkommeneren technologischen und
organisationell-aktionistischen Erneuerungen führen, ist diese Feststellung
richtig. Man darf aber nicht vergessen, dass Kriege im Wesentlichen die
widergesellschaftlichsten, ja sogar die widernatürlichsten Phänomene sind,
die über reine Brutalität hinausgehen. Trotzdem haben sie ihren Ursprung
in der Gesellschaft, da sie als Mittel der Monopolbildung fungieren. Um
die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit zu berauben, brauchen sie ihre
Ressourcen auf.
»Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die an-
dere hin.« Diese Worte, die Jesus zugeschrieben werden, drücken zweifellos
die damalige Sehnsucht nach Frieden aus. Man merkte, dass Frieden genau-
so sehr Produktion bedeutet, wie Krieg Produktionsverluste. Da es bekannt
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 103

war, dass die weit verbreitete Arbeitslosigkeit und Armut auf die nicht en-
den wollenden Kriege zurückzuführen waren, drückte der Frieden der Jesus-
Bewegung seinen Stempel auf. Die Bewegung sollte dreihundert Jahre lang
diesen Charakter bewahren und überall, wohin auch immer die Römer und
die Sassaniden ihren Fuß setzten, auftauchen und sogar in China und Indien
Widerhall finden. Man sollte auch die manichäische Bewegung erwähnen,
die in der gleichen Ära entstand, einen ähnlichen Charakter aufwies, deren
Zentrum aber eher im Sassanidenreich lag. Ihr Prophet Mani ging selbst
nach Rom und sagte den Römern: »Ich kann Frieden mit den Sassaniden
ermöglichen.« Wenn die manichäische Bewegung von despotischen sassan-
idischen Herrschern nicht unterdrückt worden wäre, hätte diese Lehre, die
eine Mischung aus Christentum und Zoroastrismus war und tiefgreifende
Qualitäten aufwies, vielleicht eine neue Renaissance im Nahen Osten her-
beiführen können.
Das Christentum (genauer gesagt: eine seiner Konfessionen), während
der Errichtung Konstantinopels (Istanbul) zur Staatsreligion erhoben, wurde
ab diesem Zeitpunkt (325 n. Chr.) zusehends zur Staatsreligion sowohl des
Ost- als auch des Weströmischen Reiches. Unser Thema ist aber nicht die
Geschichte des Christentums. Was das Christentums mit unserem Thema
zu tun hat, ist sein Verhältnis zum gesellschaftlichen Problem und zu den
Machtmonopolen. Genauso wie die ursprüngliche Moses-Bewegung in
einen Staat mündete, mündete auch seine zweite Version, die christliche
Bewegung bzw. ihre Mehrheitsströmung in die Macht und den Staat. Diese
Bewegung war nicht nur die offizielle Ideologie von Byzanz, auch in Rom
selbst war sie im elften Jahrhundert zu einem mächtigen Staat geworden.
Mehr noch, sie war die Summe zahlreicher viel weiter verbreiteter und
mächtigerer Machtapparate, die ihren Ursprung in der Gesellschaft hatten.
Der Staat bildete vielleicht ihren symbolischsten und offiziellsten Ausdruck.
Die innerchristlichen Konflikte, die Auseinandersetzungen zwischen
Katholiken und Orthodoxen und anderen bekannten Konfessionsbildungen,
sind in Bezug auf unser Thema nur in der Hinsicht bedeutungsvoll, dass
sie auf den äußerst problematischen Charakter des Christentums hin-
weisen. Dass es anfangs eine Friedensreligion zu sein beabsichtigte, al-
lerdings zu einer so kriegerischen wurde, dass man in seinem Namen
Menschen am lebendigen Leibe verbrannte, beweist, wie sehr es durch die
Zentralzivilisation geprägt wurde. Wie sollte man sonst erklären, dass es zu
mehr Kriegen führte als die Kriegsideologien mythologischen Ursprungs?
Das Christentum kam nicht darum herum, durch seine Rolle bei den
104 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Kreuzzügen im Osten gegen den Islam und bei den früheren Kriegen ge-
gen die Stammesreligionen und Hexen, später bei den Konfessionskriegen
innerhalb des Christentums, bei den kolonialistischen Kriegen in Amerika,
Afrika, Australien und Ostasien seinem ursprünglichen Ziel gänzlich zu wi-
dersprechen. Die Assyrer, Armenier, Chaldäer und anatolischen Hellenen,
d.h. die ersten Völker, die das Christentum annahmen, fielen dem Bündnis
der Religion, von der sie die Lösung ihrer gesellschaftlichen Probleme er-
hofften, mit der Zentralzivilisation zum Opfer. Das Christentum, das sie
als eine Art Nationalismus interpretierten, konfrontierte sie zusehends mit
den Machtmonopolen anderer Völker. Während das westliche Christentum
sich in eine Macht verwandelte und dabei seine Kernbotschaft verlor, wurde
das östliche und anatolische Christentum von Kräften unterdrückt, die die
Masken der ersten Version der abrahamitischen Tradition, des Judentums,
und ihrer dritten Version, des Islam, trugen, und wiederum von einer Art
Nationalismus (arabisch, türkisch, kurdisch) im großen Stil liquidiert. Hier
haben wir mit herausragenden Beispielen der Ausweitung der gesellschaft-
lichen Frage zu tun.
An dieser Stelle möchte ich meine These nochmals wiederholen: Die ab-
rahamitische Tradition, einschließlich des Christentums, vertritt die geisti-
ge Kultur der Zentralzivilisation, die ihre materielle Kultur widerspiegelt.
Genauer, sie hat die Lösung des schwerwiegenden gesellschaftlichen Problems
zum Ziel, welches durch diese materielle Kultur, also durch das Monopol
verursacht wurde – genauso wie der Realsozialismus (Wissenschaftlicher
Sozialismus) die Lösung des durch den Kapitalismus verursachten Problems
zum Ziel hat. Da aber sie wissenschaftliche und Lebensschablonen verwen-
den, die über die des jeweiligen Zeitalters nicht hinausweisen, können sie
nicht umhin, zu einer neuen Version der Zentralzivilisation zu werden, also
entweder zu einem ihrer Hegemonen oder zu einer abhängigen, schwachen
Kraft darin zu werden. Und diejenigen, die in ihrer Sache radikal und bis
zum Ende aufrichtig bleiben, können zwar ein bedeutendes Erbe hinterlas-
sen, kommen aber nicht umhin, liquidiert zu werden. Aus diesem Grund
ähnelt für mich die abrahamitische Tradition der Sozialdemokratie unseres
Zeitalters. Genauso wie die Sozialdemokratie nicht mehr sein konnte als
Verbandsmaterial für die von der kapitalistischen Zivilisation verursachten
Wunden, beschränkten sich auch die abrahamitischen Religionen, die in
einem längeren historischen Prozess eine universalere Rolle spielten, auf ei-
nige wenige Reformen, die sie als Lösungen für die schmerzhaften, Hunger
und Arbeitslosigkeit erzeugenden Probleme der Zentralzivilisation anboten.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 105

Schließlich kamen auch sie nicht darum herum, selbst zu einem Problem
zu werden. Man sollte die Linie der abrahamitischen Tradition als ideolo-
gisch-politisches Programm sehr gut analysieren. Diese Analyse ist von großer
Wichtigkeit, wenn man das kapitalistische Weltsystem in Gänze verstehen
will. Diese Analysebemühungen sind einerseits, um Wallersteins Weltsystem
mit dem fünftausendjährigen Zivilisationssystem in Zusammenhang zu set-
zen, andererseits, um zu begreifen, wie der Realsozialismus von innen heraus
zusammenbrach, von großem Wert.
Wenn wir die dritte wichtige Version der abrahamitischen Tradition, den
Islam, analysieren, verstehen wir ihren Wesenskern besser. Der Islam ist als
eine ideologisch-politische Linie vollkommener. Wenn ich mich auf die
Realität des Propheten Mohammed fokussiere, interpretiere ich ihn immer
als den letzten Vertreter der sumerischen Priester, die die ersten göttlichen
Begriffe konstruierten. Hinter den sumerischen Priestern, die aus mytholo-
gischen Begriffen Götter konstruierten, steckten die am meisten entwickel-
ten religiös-mythologischen Traditionen jener Zeit. Man sollte sich dessen
bewusst sein, dass auch Mohammed das religiöse, mythologische und sogar
philosophische und wissenschaftliche Wissen, das zu seiner Zeit und in sei-
nem Raum vorhanden war, wenn auch begrenzt, assimilierte. Er kannte
sich neben den Stammessystemen auch anhand der Widerspiegelungen der
beiden global hegemonialen Mächte, Byzanz‹ und das Sassanidenreich, mit
der Zivilisation aus. Er diagnostizierte, dass die Gesellschaft unter großen
Problemen litt, die ihren Ursprung in diesen beiden Systemen hatten. Er er-
lebte neben der verderbenden Auswirkung des arabischen Tribalismus auch
die unterdrückerische und ausbeuterische Struktur der byzantinischen und
sassanidischen Machtmonopole und ihre die Gesellschaft zerlegende und
vom Fortschritt abhaltende Auswirkung hautnah. Es ist also nachvollziehbar,
dass er sich auf einen radikalen Ausbruch aus beiden Systemen zusteuerte.
Wie Jesus stand auch er den unteren Schichten näher. Er scheute sich nicht
davor, Sklaven und Frauen nahezustehen. Obwohl er unter dem Einfluss der
jüdischen und assyrischen Priester stand, war er Zeuge davon, dass sie für
die Probleme der Gesellschaft, in der sie lebten, keine Lösung bieten konn-
ten. Die heidnischen Religionen (die Götzenbilder in Mekka) betrachtete
er dagegen als veraltete Traditionen, deren Zeit längst vorbei war. Er wurde
darauf aufmerksam, dass in der abrahamitischen Tradition von einem ›letz-
ten Propheten‹ die Rede war. Er tat unter diesen Bedingungen sein Bestes
und wagte die dritte große Reform in dieser Tradition (die man auch als
Revolution bezeichnen könnte).
106 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Mohammeds Umgang mit Juden, Christen und Mandäern (Angehörige


einer monotheistischen Religion) ähnelte dem von Karl Marx und Friedrich
Engels mit den Utopisten. Während die letzteren mit der Entwicklung
vom utopischen Sozialismus hin zum wahren Sozialismus den Spreu vom
Weizen trennten, aktualisierte Mohammed die veralteten abrahamitischen
Traditionen in Form einer neuen Wahrheit. Mit anderen Worten – er ent-
wickelte eine realistischere religiöse Interpretation von ihnen. Der Koran
und die Hadithe liegen vor; mit Nachdruck predigen sie nicht nur ein
ideologisches und politisches Programm, sondern auch eine neue Moral.
Sie haben außerdem ihre eigenen ökonomischen Grundsätze. Selbst das
Kriegsrecht wurde neu bestimmt. In dem Kapitel über Wissenschaft wer-
de ich diese Methode, die wir als prophetische Vorgehensweise bezeichnen
könnten, ausführlicher analysieren. An dieser Stelle begnüge ich mich mit
der Feststellung, dass es sich dabei um eine gute Tradition handelt.
Es lässt sich ohne weiteres behaupten, dass der Islam, der weiter entwi-
ckelt war als das Christentum und die ursprünglichen Ideen des Judentums,
zivilisatorisch war. Bereits in der ersten Dekade nach seiner Entstehung hat
es der Islam geschafft, alle alten nahöstlichen Zivilisationen zu beerben.
Dem Islam ist in den 650er Jahren n. Chr. die Gründung des stärksten
hegemonialen Machtsystems in der Region gelungen. Da es uns an dieser
Stelle nicht darum geht, die Geschichte des Islam nachzuerzählen, werden
wir ihn vielmehr weiterhin in Bezug auf die gesellschaftlichen Probleme
der Region und sogar der Welt überhaupt (denn er selbst offenbart sich der
ganzen Erde) erörtern.
Mohammeds Gottesbegriff stellt zweifellos eine Abstraktion der
Gesellschaft auf höchstem Niveau und einen identitären Ausdruck der
Gesellschaft dar. Meines Erachtens sind die islamischen Theologen sehr faul
und wurden Mohammed bisher nicht gerecht. Den Reichtum der christ-
lichen Theologie und ihrer Evolution finden wir im Islam nicht. Da ich
auch dieses Thema später behandeln werde, gehe ich an dieser Stelle nicht
näher darauf ein. Es ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe, zu verstehen,
warum Mohammed sich mit dem Gottesbegriff so intensiv befasste und
ihm enorme Heiligkeit zusprach. Meines Erachtens setzte sich Mohammed
vielmehr mit der gesellschaftsbezogenen Essenz Allahs auseinander, als dass
er sich für eine theoretische Diskussion über seine Existenz interessieren
würde. Hierin steckte er große Mühe. An eben diesen Bemühungen lag es,
dass Mohammed in Schweiß gebadet in Ohnmacht fiel, nachdem der die
Verse erhalten hatte. Allah mit seinen neunundneunzig Namen beinhaltet
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 107

ein umfangreicheres gesellschaftliches Programm als die am weitesten fort-


entwickelten gesellschaftlichen Utopien zusammen. Wir müssen die damit
einhergehende Verantwortung ernst nehmen und dabei realistisch bleiben.
Das Unglückliche war nicht nur die Ignoranz derer nach Mohammed, son-
dern auch, dass sie zusehends von Machtgier erfasst wurden.
Der Islam, als eine Revolution, ist in dieser Hinsicht wahrscheinlich die
am häufigsten verratene Revolution. Der Horizont, das Programm und die
Lebensweise des Propheten Mohammed wurden von allen Regierenden nach
ihm, einschließlich der Kalifen, nicht einmal verstanden, geschweige denn
umgesetzt, und in der Praxis verraten. Da Ali seine Bemühungen nicht zu
Ende führen konnte, können wir nicht erraten, inwiefern er Mohammeds
Ideen umgesetzt hätte. Die Interpretationen und Praktiken aller
Konfessionen, vor allem des Sunnitentums, sind fern davon, mohammeda-
nisch zu sein. Die dynastischen Traditionen, die mit den Umayyaden began-
nen, besitzen darüber hinaus, dass sie noch schlimmere Machtmonopole als
die alten herausbildeten, keinen Wert. Zweifellos ist der radikale Islamismus
eine Machtkrankheit, die den Islam nicht wiederbelebt, sondern ihm ei-
nen unverdienten Schaden hinzufügt. Alleine die Bezeichnung provokativer
Islam wäre für diese ignoranten Islamisten angemessener. Wenn man heute
noch irgendetwas vom Islam übernehmen können sollte, dann wäre dies nur
unter einem anderen Namen und in einer anderen Form sinnvoll. Ich werde
mich mit diesem Aspekt später noch befassen.
Das wirkliche Machtmonopol im Namen des Islam nehme ich sehr
ernst, allerdings nicht als Islam, denn in diesem Machtmonopol steckt
kein Islam. Es existiert nichts außer den Mächten und Staatssymbolen, die
sich in direkter Linie Aššurs, Persiens, Roms und Byzanz’ fortentwickel-
ten. Das merke ich in Bezug auf den Islam als Macht an. Selbstverständlich
gibt es Angelegenheiten, auf die er als geistiges Kulturelement Einfluss
nimmt. An dieser Stelle möchte ich mit Nachdruck betonen, dass ich
Gesellschaftsbezeichnungen, die sich auf Ideologien beziehen, falsch finde.
Beispielsweise führen Bezeichnungen wie christliche, islamische oder hin-
duistische Gesellschaft zu zahlreichen Unzulänglichkeiten und Fehlern, da
sie die Gesellschaft auf die Religion reduzieren. Diese Begriffe verschleiern
die gesellschaftliche Natur und erschweren ihr Verständnis. Das Gleiche
gilt ebenfalls für die Begriffe kapitalistische und sozialistische Gesellschaft.
Meines Erachtens wird es von Nutzen sein, auf dieses Thema später aus-
führlicher einzugehen. Die Begriffe der Gesellschaft der demokratischen
108 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Zivilisation und der Gesellschaft der monopolistischen Zivilisation könn-


ten eher Sinn ergeben, da sie das gesellschaftliche Ganze sichtbar machen.
Im Nahen Osten, wo zwischen dem fünften und dem fünfzehnten
Jahrhundert überwiegend islamische Mächte herrschten, waren Systeme
der Zentralzivilisation hegemonial. Auf der Grundlage des Machterbes von
Byzanz und dem Sassanidenreich verbreiteten und vertieften sich die isla-
mischen Mächte. Die Gesellschaft musste die Mächte intensiver erleben.
Die Anzahl der von Mächten erfassten Völker, Dynastien und Staaten er-
höhte sich. In diesem Zusammenhang haben sich die Machtkriege nicht
entschleunigt, sondern weiterhin vermehrt. Der eigentliche Schwerpunkt
lag auf dem militärischen Monopol, aber auch das Handelsmonopol ent-
wickelte sich weiter. Der Islam ist vorwiegend eine Ideologie der militäri-
schen und Handelsmonopole. Die Städte vergrößerten sich. Die Fortschritte
in Landwirtschaft und Industrie waren hingegen viel bescheidener. Die
Entwicklungen in der Kunst waren auch begrenzt, sodass sie nicht einmal
die der Griechen übertrafen.
Das Zeitalter der islamischen Mächte und Staaten bildete die letzte hege-
moniale Ära des Nahen Ostens. Mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
n. Chr. sollte sich das hegemoniale Zentrum der Zentralzivilisation über
Venedig nach Westeuropa, nach Amsterdam und London, verschieben.
Der Nahe Osten bildete von 10 000 bis 3000 v. Chr. das Zentrum des
Neolithikums und von 3000 v. Chr. bis 1500 n. Chr. viertausendfünfhun-
dert Jahre lang das Zentrum der Zentralzivilisation. Danach litt die Region
unter den riesigen Problemen, die von der Zivilisation verursacht wurden,
verkümmerte, erschöpfte sich in Selbsterneuerungsversuchen und endete
sozusagen in einem gesellschaftlichen Wrack.
Wenn wir die Rolle, die die abrahamitische Tradition im System der
Zentralzivilisation spielt, im Zusammenhang mit Problemen analysieren,
merken wir, dass sie die Macht nicht einschränken konnte, sondern stei-
gerte. Die Staaten expandierten im Hinblick auf ihre Anzahl sowie Größe.
Aus diesem Grund vermehrten sich auch die Probleme, die dem Macht-
und Staatsmonopol entsprangen. Im Zusammenhang damit blieben Kriege
– in zunehmendem Ausmaß – Mittel zur Monopolgründung. Man hatte
noch nicht mit den Demokratie- und Republikkonzepten Bekanntschaft
gemacht. Vorwiegend waren es die traditionellen dynastischen Herrschaften,
die sich vermehrend fortsetzten.
Zweitens verlor die Gesellschaft gegenüber dem Staat und der Macht an
Gewicht. Der Bereich der Moral und Politik schrumpfte extrem zusammen.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 109

Die Konfessionen entwickelten sich eher als eine Reaktion auf diese
Entwicklung. Die männliche Herrschaft über Frauen und Jugendliche exis-
tierte in immer intensiverer Form weiter. Die älteste Sklaverei pharaoni-
scher Art wurde zwar überwunden, aber die neuen Formen der Sklaverei
(insbesondere die von Afrikanern und Slawen im Norden), derer man sich
bediente, standen den alten an Intensität in nichts nach.
Auch wenn es zu einer Expansion von Städten und Handel kam, war
diese nicht mehr so imposant. Diese Entwicklung konnte weder jemals das
Niveau des griechisch-römischen Stadt- und Handelslebens erreichen noch
auf landwirtschaftlicher und industrieller Ebene viel beitragen.
Drittens – und das war wohl die negativste Auswirkung – führten der
Tribalismus und Nationalismus, die innerhalb der abrahamitischen Tradition
überhandnahmen, zu riesigen Problemen, die bis hin zu Genoziden reich-
ten.
Die Ausdrücke ›der auserwählte Knecht Gottes‹ und ›das auserwählte Volk
Gottes‹ stellen den Ursprung dieses Nationalismus dar. Zunächst wurden die
Hebräer zum ›auserwählten Volk Gottes‹ erklärt, danach fanden die Araber
sich des Titels ›das edle Volk‹ würdig. Die Turkstämme gingen im Kampf
für den Islam noch einen Schritt weiter und etablierten eine tief verwurzelte
islamische Identität. Die Assyrer erklärten sich als der erste Volksstamm,
der das Christentum annahm, für heilig, wobei die Griechen und Armenier
später sich auch nicht davor scheuten, sich zu den ersten heiligen Völkern zu
zählen. Die Verbreitung des Christentums in Europa spielte eine bedeutende
Rolle bei der Entstehung des Nationalismus. Das Christentum begünstigte
in diesem Zusammenhang vielmehr den Nationalismus als die Ökumene
(Universalismus). Auch der russische Nationalismus ist in gewisser Hinsicht
das Produkt des orthodoxen Christentums.
Die abrahamitische Tradition mit diesem ihrem Einfluss auf den
Tribalismus überhäufte die uralten Völker des Nahen Ostens nicht nur mit
Problemen, sondern auch noch mit tragischen Katastrophen. Die chris-
tianisierten Assyrer, Armenier, Pontianer und Ionier, die zu den ältesten
Volksstämmen gehören, und die islamisierten Araber, Türken und Kurden
wurden von den Machthabern nahezu dazu gebracht, ihr gesellschaftli-
ches Dasein zu verlieren. Das Judentum spielte dabei ebenfalls eine nicht
zu unterschätzende Rolle. Die Eliminierung der Armenier, Assyrer, Ionier,
Pontier und anderer nichtmuslimischer Völker und Kulturen verwandelte
den Nahen Osten im Allgemeinen und Anatolien im Besonderen in eine
Kulturwüste. Nachdem die Region diese Völker, die Träger der ältesten
110 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Kulturen waren, verlor, wurde sie von einer großen Rückständigkeit heim-
gesucht. Das stellt für alle Völker in der Region einen tragischen Verlust
dar. Die Eliminierung der Völker und Kulturen vergrößerte nicht nur das
Problem, sondern schwächte gleichzeitig die Lösungskräfte. Das Fehlen die-
ser Völker und Kulturen, die bei vielen wissenschaftlichen und künstleri-
schen Entwicklungen die Vorreiterrolle innehatten, führte dazu, dass die
Gesellschaft der Region ihr Kunst- und Wissenschaftsgedächtnis verlor.
Die amerikanischen Indigenen einschließlich der Azteken und Inka, die
australischen Aborigines und die Inuit wurden im Namen des Christentums
ähnlichen Tragödien ausgesetzt. Selbst wenn diese religiöser Art waren, gibt
es keine Bosheit, die ein mit Macht gedüngtes, der Lüsternheit anheimge-
fallenes Regime nicht begehen, kein Problem oder keine Tragödie, die es
nicht verursachen würde. Ich muss nochmals betonen, dass der Horizont,
das Programm und das praktische Leben der unter dem Einfluss der mate-
riellen Kultur der Zentralzivilisation stehenden abrahamitischen religiösen
Tradition vielmehr darauf ausgerichtet war, diese Zivilisation abzumildern
und gerechter zu gestalten, anstatt sie zu überwinden. Es ging dabei um eine
Reform, um Mehrwertanteile zu sichern, und das Recht, sich am Monopol
zu beteiligen. Während die religiösen Eliten eine Ideologie boten, die der
Macht Legitimität verschaffte, forderten sie von den Machthabern ihren
Anteil. Wenn sie es nicht bekamen, gingen sie zum Widerstand über; wenn
sie es bekamen, wurden sie still. Ähnliches lässt sich auch in der Geschichte
der europäischen Sozialdemokratie beobachten. Wir werden ohnehin se-
hen, dass das eine der Nachfolger des anderen war. Zweifellos spielten sie
eine große Rolle bei der Fortsetzung und Universalisierung der uralten
Zivilisation. Diese Rolle hat aber das uralte gesellschaftliche Problem der
Ausbeutung und Unterdrückung nicht verkleinert, sondern vergrößert und
verstetigt.

c) Die europäische Zivilisation


Die hegemoniale Machtphase der aufsteigenden eurozentrischen Zivilisation
bildet eine Ära, in welcher sich das gesellschaftliche Problem nochmals
verschlimmerte. Für die europäische Zivilisation, die ab dem sechzehnten
Jahrhundert einen weltweiten Aufstieg erlebte, hat sich die Bezeichnung
›kapitalistisch‹ durchgesetzt. Außerdem wird behauptet, sie sei einzigartig, es
habe in der Geschichte nichts Derartiges gegeben. Es wird mit Nachdruck
betont, sie habe zahlreiche Einzigartigkeiten (Nationalstaat, Industrie,
Informatik) hervorgebracht. Aufgrund ihrer intellektuellen Hegemonie
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 111

werden Behauptungen der eurozentrischen Sozialwissenschaft als positive


Tatsachen dargestellt. Diese positiven Tatsachen, die als strengere und si-
cherere Tatsachen als religiöse Dogmen zu akzeptieren seien, sind in der Tat
nichts als Dogmen einer neuen Moderne.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die europäische Zivilisation eine
Transformation hinter sich hat und eine neuartige Struktur aufweist. Aber die
Zentralzivilisation machte im Laufe der Geschichte viele Transformationen
durch, machte mit zahlreichen Orten und Zeiten Bekanntschaft. Sie wie-
derholte nicht etwa immer wieder die gleichen Formen, sondern erfuhr
stets Veränderungen. Wegen des universalen Flusses musste sie sich auch
auf diese Weise entwickeln. Die Behauptung einer Einzigartigkeit ist aber
übertrieben. Die grundsätzlichen Eigenschaften, die von Anfang bis heute
die Zentralzivilisation prägten und ihren Charakter bestimmten, sind im
Wesentlichen seit fünftausend Jahren gleich geblieben. Es mag Unterschiede
in Ausmaß und Technik geben. Ihre Organisation, Effizienz, Ideologie und
Regierung mögen unterschiedliche Formen annehmen. Aber eine ihrer
Eigenschaften besteht trotz dieser Unterschiede und in allen Formen weiter:
die Hegemonie des Monopols über den Mehrwert. Sein Inhalt mag sich än-
dern, aber das Monopol selbst ändert sich nicht: Das Trio ›Priester + Militär
+ Regent‹ bleibt immer bestehen. Ihr Gewicht kann je nach Zeit und Ort
variieren, aber das Monopol hat stets diese Gruppen zu berücksichtigen.
Die Methoden zur Aneignung des Mehrprodukts oder -werts können variie-
ren, aber die Aneignung an sich bleibt gleich. Der Mehrwert wird entweder
durch Effizienzsteigerung in Landwirtschaft und Industrie, durch Handel
oder militärische Eroberung akkumuliert. Manche dieser Methoden können
anderen überwiegen. Trotzdem bleibt die Akkumulation das Gesamtergebnis
all dieser Methoden.
Wir müssen bei der Interpretation des Monopols mit großer Sorgfalt vor-
gehen. Es ist weder ausschließlich Kapital noch Macht. Es entsteht nicht
ausschließlich im Bereich des Handels, des Militärs oder der Verwaltung.
Es ist der vereinte Ausdruck all dieser Werte und Bereiche. Eigentlich
ist das Monopol nicht einmal Wirtschaft. Es ist die Fähigkeit, durch die
ihm zur Verfügung stehende Gewalt, Technik und Organisationen die
Aneignung des Mehrwerts zu gewährleisten; es ist das Unternehmen – aber
nicht das Wirtschaftsunternehmen, wie wir es kennen, sondern in letzter
Instanz eine Partnerschaft zur Kapitalakkumulation. Manchmal begeg-
nen wir ihm als einem Machtapparat, der nicht zum Staat werden konn-
te, manchmal als Staat. Heutzutage verwendet es sehr häufig den Namen
112 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

›Wirtschaftsunternehmen‹. Wie ich bereits sagte, sollte man es besser nicht


Wirtschafts- sondern ›Wirtschaftsaneignungsunternehmen‹ nennen. Es
kann sich manchmal als Militär, häufig als Zusammenschluss von Händlern
oder als Industriemonopol zeigen. Das Monopol kann viele Arme besit-
zen. Manchmal kann es als vereinte Wirkung vieler verschiedener Kräfte
und Potentiale erscheinen. Das Ausschlaggebende ist in all diesen Fällen,
dass sich der gesellschaftliche Mehrwert in den Händen des Monopols an-
häuft. Das ist die seit fünftausend Jahren gleichbleibende, sich ununterbro-
chen fortsetzende und kumulativ vergrößernde grundsätzliche Realität des
Monopols. Dass es zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten
Konkurrenz und Hegemonie, Aufs und Abs und Zentrum und Peripherie
schuf, dient der Fortsetzung und dem ununterbrochenen, kettenartigen
Funktionieren dieser unveränderlichen Realität.
Man sollte nicht übersehen, dass die Begriffe ›Kapitalismus‹ und ›kapi-
talistisches System‹ propagandistisch verwendet werden. Man kann diese
Begriffe mit Inhalt füllen; aber wenn sie als eine die Wahrheit genaustens
ausdrückende Systematik von Phänomenen, Ereignissen und Verhältnissen
interpretiert werden, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit die gesell-
schaftliche Natur und ihre Probleme verzerren. Der Fluss des gesellschaft-
lichen Lebens ist ein anderer. Dass dieser Fluss eine neue Sprache und
Wissenschaft erfordert, lässt sich auch an den Dimensionen der Probleme
erkennen, unter denen die Gesellschaft leidet.
Wenn Kapitalismus ein Kapitalakkumulationssystem sein soll, dann
ist es nachgewiesen worden, dass diese Akkumulation zum ersten Mal
in den sumerischen Stadtstaaten verwirklicht wurde. Das Kapital, wenn
auch in primitiver Form, bildete mit seinen Unternehmen, Geldern,
Lagern, seiner Organisation und Verwaltung das Fundament dieser kleinen
Stadtstaaten. Die Stadt selbst war vielleicht das erste Kapitalunternehmen,
das Monopol selbst. Die Militär-, Wissenschaftler- und Künstlerarmee,
die Priester-Herrscher und die Arbeiter-Sklaven bildeten damals schon
Gesellschaftsklassen. Der Tempel (die Zikkurat) war gleichzeitig Fabrik,
Arbeiter-Sklavenunterkunft und Kommandozentrale der Verwalter,
Militärkommandanten und Priester. Das oberste Stockwerk war selbst-
verständlich der Überwachungs- und Aufsichtsraum der Götter. Das al-
les war, ineinandergreifend, perfekt geordnet. Ich finde diese Ordnung in
der Zikkurat äußerst bemerkenswert und betrachte die Zikkurat als die
›Gebärmutter‹, in welcher sich unsere Zivilisation mit all ihren staatlichen,
Klassen- und Stadtstrukturen formierte. Die fünftausendjährige Erzählung
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 113

der Zentralzivilisation ist nichts anderes als die Entfaltung und Verbreitung
dieser Tempelrealität in Raum und Zeit.
Ein weiter perfektioniertes und authentischeres kapitalistisches Monopol
bzw. Unternehmen als die Organisation in diesem Tempel kann ich mir
nicht vorstellen. So wie die Keimzellen den Ursprung aller Zellen bilden,
ist diese Tempelrealität die Keimzelle aller Monopolstrukturen. Die Funde
aus zahlreichen archäologischen Grabungen bestätigen diese Tatsache.
Das Gebäude in der zuletzt entdeckten ›Supernova‹ der Geschichte,
Urfa-Göbeklitepe, zu dem die Megalithen gehören, ist mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit der älteste bisher entdeckte Tempel (Tempel der Jäger
und Sammlergemeinschaften vor dem Neolithikum, 10 000–8000 v. Chr.).
Zahlreiche bekannte Archäologen vertreten jedenfalls diese These. Fast mit
jeder Grabung wird durch neue Funde aufs Neue enthüllt, dass die ersten
prähistorischen Akkumulationen auf diese Art und Weise begannen.
Es ist nicht zu leugnen, dass das eurozentrische Kapital die höchste Stufe,
die letzte Form des Monopols darstellt. Es unterscheidet sich eindeutig
von seinen Vorgängern in vielerlei Punkten, die von der Akkumulations-
und Produktionsweise über die Organisations- und Regierungsstruktur
und militärische Organisation bis hin zu Kunst-, Technik- und
Wissenschaftsmonopolen reichen. Allerdings ist die Behauptung, es sei
einzigartig, sehr übertrieben. Offen gesagt ist dies eine eurozentrische
Propaganda, in anderen Worten: Es ist eine Behauptung der europäischen
Tempelpriester, der neuen Klasse in moderner Aufmachung (Die Universität
ist nichts als das akademische Hauptquartier für Wissenschaft und Kunst).
Dass diese zum neuen ›kapitalistischen System‹ mehr beigetragen haben als
die christlichen Kirchen, lässt sich unschwer feststellen.
Unser Thema ist nicht die Geschichte des Aufstiegs der europäischen
Zivilisation auf der Grundlage des ›kapitalistischen Systems‹. Allerdings, dass
diese Zivilisation im fünften und sechsten Jahrhundert unter theologischem,
kommerziellem, wissenschaftlichem, technischem und administrativem
Einfluss des Christentums und im neunten und zehnten Jahrhundert (vor al-
lem über die iberischen, italienischen und Balkanhalbinseln) unter dem des
Islam ihren Aufstieg erlebte, stellt einen der bekanntesten Aspekte der jün-
geren Geschichte dar. Die meisten Historiker*innen sind sich darüber einig,
dass sich ab 1250 n. Chr. eine Verschiebung des Zentrums der hegemonialen
Zivilisation ereignete, und der Abstieg der Zivilisationszentren im Osten
vom Aufstieg derer in Europa begleitet wurde. Das dreizehnte Jahrhundert
wird auch das Jahrhundert des Handels genannt. Es ist eine wohlbekannte
114 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

historische Tatsache, dass unter der Führung Venedigs, Genuas und Florenz’
vom elften bis Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus dem Osten nicht
nur Waren, sondern auch die Jahrtausende alte Zivilisationstradition mit
ihren Ideen und Techniken, Verfahren und Methoden, kurz, all ihren we-
sentlichen Werten, Einzug hielten. Das Zivilisationszentrum wurde offen-
sichtlich auf dieser Grundlage verlagert. Es stellt eine nicht zu leugnende
historische Tatsache dar, dass das Christentum, sogar die griechisch-römi-
sche Zivilisation und darüber hinaus die neolithische Revolution (5000
– 4000 v. Chr.) aus dem Osten nach Europa gebracht wurden. Dadurch,
dass die fünfzehn Jahrtausende alten Gesellschaftskulturen des asiatischen
Kontinents, insbesondere des Nahen Ostens, nach Europa gebracht wurden,
ist meines Erachtens die imposanteste Kultursynthese der letzten fünfhun-
dert Jahre entstanden. Das fasst meine Geschichtsinterpretation in einem
Satz zusammen!
Mein Anliegen ist weder die Verherrlichung des Westens noch die des
Ostens. Mein Hauptziel ist bzw. meine Hauptsorge und -bemühung gel-
ten der richtigen Interpretation der Totalität und Kontinuierlichkeit der ge-
schichtlichen Gesellschaft und der Unterschiede in ihrer Fortsetzung.
Was in den Westen verlagert wurde, bestand zweifellos nicht nur aus
grundsätzlichen Methoden und Strukturen der Zentralzivilisation. Auch die
gesellschaftlichen Probleme wurden mitübernommen. Was das Christentum
transportierte, habe ich oben – allerdings nur kurz – behandelt. Die mate-
riellen Werte der östlichen Zivilisation (Handel, Produktion, Geld, Staat)
waren zumindest genauso problembehaftet wie ihre geistigen (Christentum,
Wissenschaft). Europa wurde in gewissem Sinne mit Problemen überhäuft.
Wie tief die Übernahme der schwer verständlichen und widersprüchlichen
gesellschaftlichen Natur des Ostens die noch weitgehend unverdorbene, jung
gebliebene neolithische Agrargesellschaft Europas erschütterte, sollte ohne
Weiteres zu erraten sein. In Europa, das vom Wettbewerb der Monopole
um Anteile, einem Wettbewerb, der im Osten Jahrtausende lang zu Kriegen
geführt hatte, unvorbereitet erwischt wurde (die Vorbereitungsarbeiten des
Christentums reichten nicht aus), sollte dieser Umstand freilich zu viel
fürchterlicheren und verheerenderen Zerstörungen führen. Die innersys-
temischen Konflikte, die ab dem sechzehnten Jahrhundert entflammten,
trugen Spuren des Jahrtausende alten östlichen Erbes. Die seit Rom ent-
standenen Konflikte tragen ebenfalls die Spuren derselben Kultur. Es wäre
nicht übertrieben, zu behaupten, dass sich nicht nur die positiven materi-
ellen und geistigen Werte der Zentralzivilisation, sondern auch ihre großen
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 115

Widersprüche, Probleme, Konflikte und Kriege nach Europa geholt wurden.


Selbst in den fürchterlichen Genoziden, die von Europäern begangen wur-
den, sind Spuren der östlichen Zivilisationstradition reichlich vorhanden.
Die assyrischen Könige rühmten sich der Burgen und Stadtmauern, die sie
aus menschlichen Häuptern errichten ließen. Alle östlichen Despoten prah-
len damit, wie viele Clan-, Dorf- und Stadtgesellschaften sie ausgelöscht und
deren Menschen gefangen genommen haben – sogar als Heldengeschichten!
Europäische Sozialwissenschaftler*innen sind nicht ohne Grund hin-
ter dem Osten her. Ich wertschätze diese Bemühungen, aber der daraus
entstandene Orientalismus ist sehr weit davon entfernt, die Wirklichkeit
zu erklären. Trotzdem muss ich betonen, dass wir ihnen, im Vergleich zu
versteinerten östlichen Hirnen, Dank schulden. Auch wenn ihre Arbeiten
präkolonialistische Absichten aufwiesen, wäre es richtiger, zu sagen, dass es
nicht das eigentliche Ziel dieser Wissenschaftler war, sondern dass sie die
Geschichte der europäischen Zivilisierung zu verstehen versuchten. Denn
der einzige Weg, Europa mit all seinen Widersprüchen, Problemen und
Kriegen zu verstehen, führt über eine richtige Analyse des Nahen Ostens.
Ein weiteres Ziel meiner Bemühungen ist, einen bescheidenen Beitrag zu
diesem Thema, d.h. Weg und Methode, zu leisten.
Die meisten Menschen im Osten halten Europäer*innen für selbstbewuss-
te und sehr vernünftige Menschen. Ich dagegen fand alle Europäer*innen,
denen ich bisher begegnete, sehr grünschnäblig und zu fragil, naiv und un-
vorbereitet, um in der östlichen Kultur zu überleben!
Ich bin der Meinung, dass die europäische neolithische Gesellschaftskultur
einen großen Einfluss auf die Zivilisierung Europas nach dem sechzehnten
Jahrhundert ausübte. Im sechzehnten Jahrhundert hatten bereits alle tra-
ditionellen europäischen Gesellschaften das Christentum angenommen.
Aber Europa gab all den Entwicklungen in diesem Prozess, einschließ-
lich der urbanen Revolutionen nach dem zehnten Jahrhundert, seine ei-
gene theologische Interpretation bei. Diese Herangehensweise führte zur
Renaissance, Reformation, Aufklärung und wissenschaftlich-philosophi-
schen Revolution. Der Osten konnte angesichts der Verbreitung des Islam,
der die jüngste Zivilisationstradition des Nahen Ostens darstellt, keine der
neolithischen Gesellschaft ähnliche Entwicklung zeigen. Es gab zweifellos
zahlreiche erfolgreiche türkische, persische und kurdische Denker*innen,
Wissenschaftler*innen und Künstler*innen; zwischen dem achten und zwölf-
ten Jahrhundert kam es zu einer begrenzten Renaissance. Aber der östliche
Despotismus versteinerten Schlages schickte sich bald an, seine Herrschaft
116 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

über die Gesellschaft zu etablieren, die er bis in all ihre Poren durchdrang.
Das bildete einen der wesentlichsten Faktoren, die zu innerislamischen
Streitigkeiten führten, wobei der Kampf um die Ergreifung der Monopole
selbstverständlich den eigentlichen Grund dafür bildete. Außerdem war die
auf der östlichen neolithischen Tradition beruhende Gesellschaft unter dem
fünftausendjährigen despotischen Zwang des Monopols müde und erschöpft
geworden und der Ignoranz und Ausweglosigkeit überlassen. Dagegen war
in Europa die neolithische Tradition lebendig, frei und viel kreativer, da sie
im Gegensatz zu östlichen Gesellschaften nicht einem fünftausendjährigen
Despotismus ausgesetzt gewesen war. Dazu noch hatte Europa, wie ich er-
klärte, die positiven Aspekte der großen Erfahrung des Ostens übernom-
men. Diese beiden grundsätzlichen Faktoren spielen eine Schlüsselrolle beim
Verständnis des historischen Aufstiegs Europas.
Diese Erläuterungen erhellen zur Genüge, dass die Analysen
Immanuel Wallersteins und der seinen Positionen nahe stehenden
Sozialwissenschaftler*innen über das sich ab dem sechzehnten Jahrhundert
entwickelnde ›kapitalistische Weltsystem‹ lösgelöst sind von ihrer histori-
schen Grundlage und der Tatsache, dass das Kapital eine uralte Erfindung
ist, oder zumindest im Hinblick auf diese Themen große Unzulänglichkeiten
aufweisen. Zudem weisen auch ihre Erklärungen der sich im Dreieck
Venedig-Amsterdam-London intensivierenden Kapitalakkumulation die
gleichen Unzulänglichkeiten auf. Wäre ohne den Druck, den Karl V. und
dessen Sohn Philipp II. im sechzehnten Jahrhundert auf Italien, Holland
und England ausübten, eine so intensive Investition des Geldes/Kapitals
in manufakturelle und landwirtschaftliche Produktion vorstellbar? Haben
Holland-Amsterdam, die den Italien-Venedig nicht gelungenen nationa-
len Aufstand und Aufbau einleiteten, und England-London, die eben die-
se Prozesse zu einem siegreichen Ende führten, das nicht durch inneren
politischen und militärischen Widerstand gegen äußeren politischen und
militärischen Druck geschafft? Die Antworten auf diese beiden Fragen be-
stätigen Fernand Braudels Worte: »Jede deutlich ausgeprägte Herrschaft
sondert den Kapitalismus ab.« Ich möchte auch darüber hinausgehen und
behaupten, dass Macht und Staat an sich Monopol und Kapital sind. Wenn
sie kein Kapitalmonopol wären, könnten sie auch kein Kapital sekretieren.
Wie dass man einen Ziegenbock nicht melken kann, kann man Macht- und
Staatsapparaten, die kein Monopol sind, kein Kapital abmelken.
Einerseits der Macht-Staatsdruck von außen, andererseits der staatli-
che Widerstand von innen waren die Faktoren, die die holländische und
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 117

englische Realität schufen. Das Spanien-zentrierte Reich merkte rechtzei-


tig, welche Gefahr es erwartete. Nachdem es die aufsteigenden italienischen
Städte unterdrückte (dem Fürsten Machiavellis sollte der Widerstand nicht
gelingen), stürzte es sich mit voller Kraft auf nationalistisch-monopolis-
tischen Strukturen in Holland und England, um sie zu eliminieren. Das
Nichtgelingen dieses Unterfangens sollte zu seinem eigenen Niedergang
führen. Holland und England leisteten einen umfassenden und langfris-
tigen Widerstand. Es wurde in diplomatischen, ökonomischen, militäri-
schen, kommerziellen, wissenschaftlich-philosophischen und sogar religiö-
sen (die protestantische Bewegung) Bereichen ein unglaublicher Widerstand
geleistet. Es ist wohl bekannt, dass dieser weitreichende strategische
Widerstand, der von militärischen Technologien, strategischen und takti-
schen Organisierungen über den Calvinismus und Anglikanismus, die radi-
kalsten protestantischen Interpretationen des Christentums, bis hin zu der
technischen Ausstattung und Organisation, die höchstmögliche wirtschaftli-
che Effizienz gewährleisteten, und weitsichtigen diplomatischen Aktivitäten
reichte, die ein Bündnis mit den Osmanen und die Gewinnung des preußi-
schen Staates als Bündnispartner ermöglichten, nicht nur zum Sieg, sondern
auch zur Verschiebung des hegemonialen Zentrums der Zivilisation nach
London und Amsterdam führte.
Gleichzeitig nahmen bekanntlich die Aktivitäten des Kapitals erheblich
zu; das Geld-Kapital begann zum ersten Mal in der Geschichte eine domi-
nante Rolle zu spielen (dass die Gold- und Silberflut einen großen Anteil
daran hatte, dass Geld weltweit Führungsgewalt erlangte, ist bekannt).
Einige Familien, die über Geld verfügten, (darunter bemerkenswert viele
jüdischer Herkunft) akkumulierten Kapital, indem sie den Staat zu ihrem
Schuldner machten. Diese Entwicklung spielte eine entscheidende Rolle
bei der Organisierung der Bourgeoisie als eine Klasse. Man sollte sich vor
Augen führen, dass die Arbeiterklasse ebenfalls während dieses nationalen
Widerstands entstand. Ich behaupte nicht, dass alleine dieser Widerstand
die Arbeiterklasse schuf, er leistete aber einen nicht zu leugnenden Beitrag
zu ihrer Entstehung. Es lässt sich ebenfalls nicht leugnen, dass die Ost- und
Westindien-Kompanien, die durch den Wirtschaftsboom ins Leben gerufen
wurden, im Eifer dieser Entwicklungen entstanden. Welches hat Vorrang
– die ökonomische Grundlage (Basis) oder die politisch-militärischen
Strukturen (Überbau)? Ich halte dies nicht für eine sinnvolle Diskussion.
Die nach Propaganda stinkenden Ideen der bürgerlichen politischen
Ökonomie (Karl Marx’ Kapital gehört auch dazu) verschleiern vielmehr die
118 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Wirklichkeit, als dass sie sie erklären. Es ist längst an der Zeit, sich nicht
mehr von dieser Propaganda instrumentalisieren zu lassen!
Der Aufbruch im sechzehnten Jahrhundert war offensichtlich ein sys-
temischer und hegemonialer in der Zivilisationsgeschichte. Ebenfalls ein-
deutig ist, dass das Zentrum sich von Venedig (neben allen italienischen
Städten gehörten auch Lissabon und Antwerpen dazu) nach Amsterdam
und London verlagerte und England und Holland bei der Entwicklung der
ersten Nationalstaatsmodelle eine Vorreiterrolle innehatten. Dass die im
Aufstieg begriffene neue Zivilisation sich von allen früheren unterschied und
einen großen Wandel mit sich brachte, ist unumstritten; aber wir können
uns all diese Entwicklungen nicht unabhängig von der fünftausendjährigen
Zivilisationsgeschichte vorstellen. Könnte beispielsweise von der europäi-
schen Zivilisation überhaupt die Rede sein, wenn wir die Akkader von den
Sumerern, die Assyrer und Babylonier von den Akkadern, die Meder-Perser
von den Assyrern, Ägypten, die Hurriter und Hethiter von der mesopo-
tamischen Zivilisation, die griechisch-römische Zivilisation von all diesen
Entwicklungen und die abrahamitischen Religionen von alledem loslösten?
Könnte das Wunder von Amsterdam und London zustande kommen, wenn
zwischen 1000 und 1300 n. Chr. der Transfer unter der Führung der italieni-
schen Städte nicht stattgefunden und sich (zwischen 1300 und 1600 n. Chr.)
nicht von Italien bis zur westeuropäischen Küste erstreckt hätte?
Historisch-gesellschaftliche Erläuterungen, sozialwissenschaftli-
che Analysen und Theorien, die der Totalität und Kontinuität des
Weltzivilisationssystems nicht Rechnung tragen, kommen um große
Unzulänglichkeiten und Fehler nicht herum. Während selbst die Erste
Natur ganzheitlicher historischer Erklärungen bedarf, ist bei der Analyse
der sich in Form kettenartig ineinandergreifender Glieder entfaltenden ge-
sellschaftlichen Natur ein um einiges strikter ganzheitliches Vorgehen im
Hinblick auf historische, philosophische und wissenschaftliche Aspekte un-
verzichtbar. Die Hegemonie der europäischen Sozialwissenschaften dien-
te vielleicht zwar durch die Verleugnung dieser Tatsache der Hegemonie
der Zivilisation, führte aber gleichzeitig zu einem großen Chaos innerhalb
der Sozialwissenschaften. Diesbezüglich haben Kapitalanalytiker eine gro-
ße Verantwortung. Der Problemhaufen vor uns zeigt eindeutig, dass ein
Großteil dieser Analysen das Kapital und das kapitalistische System vielmehr
verschleiern als erklären.
Allgemein ist man sich darüber einig, dass der Entwicklungsprozess
der im Laufe der Geschichte ohnehin hegemonialen, krisenhaften und
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 119

zentralen Zivilisationsmonopole in ihrer europäischen Phase im fünf-


zehnten Jahrhundert über Venedig, im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert über Amsterdam (Holland) und im achtzehnten und neun-
zehnten Jahrhundert vorwiegend über London (England) als Zentren ver-
lief. Die Kriege, die das französische Zivilisationsmonopol zwischen dem
fünfzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert gegen Spanien, Holland und
England führte, um die Hegemonie an sich zu reißen (der Traum, zum neu-
en Rom zu werden), scheiterte. Deutschland, das gegen Ende des neunzehn-
ten Jahrhundert einen zivilisatorischen Aufstieg erlebte, wurde nach seiner
Niederlage im Jahr 1945 von einem regelrechten Albtraum heimgesucht. Es
lässt sich beobachten, dass die USA, die ihren zivilisatorischen Aufstieg im
zwanzigsten Jahrhundert erlebten, nach 1945 ihre Überlegenheit verfestig-
ten und gegenwärtig (seit 2000) Verfallserscheinungen zeigen. Der Versuch
Sowjetrusslands, zwischen 1945 und 1990 zum hegemonialen Zentrum zu
werden, war nicht wirklich vom Erfolg gekrönt. Die Behauptung, China
könnte zukünftig zu neuem hegemonialen Zentrum werden, ist nach wie
vor spekulativ. Eine hegemoniale Realität mit mehreren Zentren, die über
zahlreiche historische Vorbilder verfügt, könnte die kommende Zeit prä-
gen. Die USA, Europäische Union, Russische Föderation, China und Japan
könnten dabei die Zentren bilden. Aber gegenwärtig lässt sich ohne Weiteres
feststellen, dass die USA trotz allem die hegemoniale Supermacht sind.
Ich ging bereits kurz darauf ein, dass der englische Sozialwissenschaftler
Anthony Giddens eine Einzigartigkeit der europäischen Moderne (man
könnte es auch Zivilisation nennen) postuliert. Im Rahmen einer Übersicht
über die Probleme, die ich unter dem Titel ›Gesellschaftliche Frage‹ behan-
deln werde, kann ich sagen, dass diese Behauptung einer Einzigartigkeit
sehr eurozentrisch und geschichtsfremd ist. In seinen als Interpretationen
der kapitalistischen Moderne zu bezeichnenden Überlegungen betrachtet
Giddens den Kapitalismus als ein gänzlich europäisches System und die
Industrie eher als eine europäische Revolution und stellt den Nationalstaat,
die dritte Säule des Systems, als eine Ordnung/ein Experiment dar. Auch
wenn ich mich wiederhole, muss ich betonen, dass wir dem Kapitalismus in
allen Zivilisationen begegnen. In jeder Zivilisation gab es mehr oder minder
industrielle Fortschritte und Revolutionen. Und Nationalstaaten sind als
die der Stufe der Nationalgesellschaft entsprechende Form der dynastischen
und Stammesstaaten zu definieren. Eine solche Kategorisierung kann dem
Verständnis der gesellschaftlichen Natur dienlicher sein, wenn sie nicht zu
sehr übertrieben wird.
120 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Die gesellschaftliche Frage der europäischen Zivilisation, richtiger: der eu-


ropäischen Zivilisationsphase, die sich in Form von großen Widersprüchen,
Konflikten und Kriegen und sogar Genoziden darstellt, erreicht, genauso wie
die Probleme in allen anderen Entwicklungsbereichen, ihren Höhepunkt.
Geistige, ideologische, politische, ökonomische, militärische und demogra-
fische Probleme, die Probleme des Nationalismus und Religionismus und
die ökologischen Probleme, die riesige Dimensionen einnehmen, bilden den
Hauptgegenstand aller Sozialwissenschaften. Europa erlebte in den letzten
vier Jahrhunderten mehr Kriege als in der ganzen Geschichte. Dabei ereig-
neten sich alle Arten von Kriegen. Von religiösen, ethnischen, Wirtschafts-
und Handelskriegen über militärische, zivile, nationale, Klassen-, ideologi-
sche, sexistische, politische, staatliche bis hin zu gesellschaftlichen, System-,
Block- und Weltkriegen blieb kaum eine Kriegsart übrig, die nicht auspro-
biert worden wäre. In all diesen Kriegen wurden Rekorde gebrochen – im
Hinblick auf Tod, Leid und materielle Verluste!
Diese Wirklichkeit kann nicht das Produkt von vierhundert Jahren sein,
die im historischen Lauf der Menschheit zweifellos eine kurze Zeitspanne
ausmachen. Diese kurze Abhandlung zeigte, dass dem nicht so sein kann.
Die richtigste und am meisten anerkennende Interpretation dieser Kriege ist
wohl, dass die europäische Gesellschaft die Last der in den letzten fünfzehn-
tausend Jahren in den neolithischen und zivilisierten Gesellschaften ange-
häuften Probleme tragen musste. Auch wenn die europäische Gesellschaft
dabei nicht gänzlich erfolgreich war, kämpfte sie gekonnt gegen den
Problemhaufen, den sie von der alten Gesellschaft geerbt hatte. Ihr gelangen
eine Untersuchung der Probleme mit gründlichem Verständnis und ein sinn-
vollerer Kampf. Zu diesem Zweck machte sie die Prozesse der Renaissance,
Reformation und Aufklärung durch; sie machte imposante wissenschaft-
liche Entdeckungen, entwickelte philosophische Schulen, erlebte Prozesse
der Entstehung demokratischer Verfassungen. Sie gründete und stürzte
Königreiche, errichtete Republiken. Sie organisierte unvergleichlich effizi-
ente Wirtschaftssysteme, verwirklichte die größte industrielle Revolution
der Geschichte. Was Kunst und Mode betrifft, war sie unübertroffen. Sie
errichtete grandiose Städte. Sie gründete prachtvolle Wissenschafts- und
Gesundheitszentren. Sie breitete ihr Zivilisationssystem in der ganzen Welt
aus. Sie baute das umfassendste Weltsystem der Geschichte auf.
Allerdings hat Europa trotz all dieser riesigen Fortschritte die gesellschaft-
lichen Probleme vielmehr verkompliziert, anstatt sie zu lösen. Probleme
wie Arbeitslosigkeit, militärische Auseinandersetzungen und ökologische
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 121

Zerstörung beiseite, die heute weltweit zu den grundsätzlichsten gehören;


dieser Umstand zeigt sich selbst in den oberflächlichsten Problemen. Die
Hauptursache dafür ist, dass die Probleme ihren Ursprung in der fünftau-
sendjährigen Zivilisation haben, dass die Zivilisation an sich einen großen
Problemhaufen bildet. Europas größter Erfolg war meines Erachtens, dass
es riesigen Problemen der Zivilisation den Spiegel vorhalten konnte. Auch
wenn das Spiegelbild verschwommen und in vielerlei Hinsicht irreführend
war, wurde durch diesen Spiegel eine bessere Betrachtung der Probleme
ermöglicht. Dabei sollte der große Beitrag tapferer Kämpfer*innen nicht
unterschätzt werden (sosehr die Ideologien auch irreführend waren). Vor
allem waren es die Held*innen der Kämpfe um Freiheit, Gleichheit und
Geschwisterlichkeit, die einen bedeutenden Beitrag leisteten.
Die Feststellung des grundsätzlichen gesellschaftlichen Problems sollten
wir nicht unterschätzen. Im Laufe der Geschichte führten Gesellschaften
gegeneinander Krieg; man ließ sie einander bekriegen. Leider wussten diese
Gesellschaften nicht, für wen sie kämpften. Sie wurden von ihren eigenen
despotischen Ausbeutern nicht nur zur Arbeit gezwungen, sondern auch
noch in Kriegen verheizt.
Die östlichen Weisen waren sich zweifellos der gesellschaftlichen Frage
bewusst gewesen. Aus diesem Grund hatten sie große Lehren, moralische
Systeme, Religionen und Konfessionen entwickelt. Lange Zeit hatten sie das
Klan- und Stammesleben gegenüber dem Staat und der Zivilisation bevor-
zugt. Dem Großteil der östlichen Gesellschaft waren Staat und Zivilisation
fremd geblieben und er hatte zwischen sich und der Zivilisation kolossale
Stadtmauern und Burgen errichtet. Diese Wirklichkeiten werden in östli-
chen Melodien und Epen mit künstlerischem Raffinement zur Sprache ge-
bracht. Der östliche Mensch war der Welt der Zivilisation so sehr entfremdet
und so hoffnungslos gewesen, dass er sein Heil im Jenseits gesucht hatte. Die
Größe der europäischen Zivilisation lag darin, dass sie einerseits die posi-
tiven Aspekte ohne zu zögern verinnerlichte, während sie andererseits den
entfremdenden Aspekten widerstand. Europa hat zwar das gesellschaftliche
Problem nicht gelöst, sich ihm aber auch nicht voller Verzweiflung ergeben.
Den Problemen dieses Zweigs der Zentralzivilisation die der Gegenwart
und der traditionellen chinesischen, indischen, lateinamerikanischen und
sogar afrikanischen Gesellschaften hinzuzufügen, wird an ihrem Wesen
nichts ändern. Einige beachtenswerte formale Probleme könnten höchstens
die Erzählung verstärken. Zudem hat das gegenwärtige Weltsystem (das
122 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

polyzentrische Weltsystem mit den USA als Welthegemon) die Probleme


der Weltgesellschaft – genauso wie sich selbst – systematisiert und totalisiert.
Eine Zusammenfassung der historisch-gesellschaftlichen Probleme, die
ich darzulegen versuchte, wird unter aktualisierten Überschriften das Thema
ergänzen und konkretisieren.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 123

B Die gesellschaftliche Frage

1. Das Problem von Macht und Staat


Ich muss nochmals betonen, dass einerseits Geschichte ›Gegenwart‹
ist, andererseits jedes Element der Gegenwart Geschichte. Der große
Bruch zwischen Geschichte und Gegenwart folgt aus der Propaganda ei-
ner jeden aufsteigenden Zivilisation, durch welche sie sich zu legitimie-
ren und sich den Schein der Ewigkeit zu geben versucht. Im wirklichen
Gesellschaftsleben existieren keine solchen Brüche. Ein weiterer Aspekt, den
ich betonen möchte, ist, dass die Konstruktion einer lokalen bzw. singulä-
ren Geschichte ohne ihre Universalisierung keinen Sinn ergäbe. Folglich ist
das Problem von Macht und Staat, welches seit ihrer Errichtung existiert,
mit sehr kleinen Differenzen auch ein gegenwärtiges. Diese Differenzen er-
geben sich durch zeitliche und räumliche Veränderungen. Wenn wir den
Begriffen Differenz und Transformation einen solchen Inhalt geben, wird
der Wahrheitsgehalt unserer Interpretationen eindeutig größer. Man sollte
sich der Nachteile bewusst sein, die die Unterschätzung von Differenzen,
Transformation und Entwicklung mit sich bringt. Genauso wie das
Fehlen einer universalgeschichtlichen Perspektive verblendend wirkt, ver-
schleiert ein Geschichtsverständnis, welches den Differenzen und der
Transformation keinen Platz einräumt und die Geschichte als eine Art ewige
Wiederholungskette behandelt, die Wirklichkeit. Es ist sehr wichtig, diese
beiden Reduktionismen zu vermeiden.
Die erste Feststellung über Macht und Staat aus der gegenwärtigen
Perspektive ist, dass sie sich eine unheimliche Ausdehnung über und in
der Gesellschaft verschafft haben. Bis zum sechzehnten Jahrhundert wur-
de Herrschaft in ihrer prächtigen und angsteinflößenden Art eher außer-
halb der Gesellschaft konstruiert. Die Zivilisation wurde in verschiede-
nen Zeiten Zeuge von zahlreichen unterschiedlichen Herrschaftsformen.
Der Staat als offizieller Ausdruck der Macht hatte seine Grenzen sorgfältig
gezogen. Man hoffte: Je klarer die Grenzen zwischen dem Staat und der
Gesellschaft gezogen würden, desto größer sollte ihr Nutzen sein. Selbst
in Bezug auf Macht als ein innergesellschaftlicheres Phänomen waren
die Grenzlinien klar erkennbar. Die Position der Frauen gegenüber den
Männern, der Jungen gegenüber den Alten, der Stammesmitglieder ge-
genüber dem Stammesoberhaupt, der gläubigen Gemeinschaft gegenüber
124 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

dem Vertreter der Religion bzw. der Konfession war durch sehr klare Regeln
und Sitten bestimmt. Von ihren Tonfällen bis hin zu ihren Gangarten und
Sitzweisen waren die Autorität von Macht und die Sache des Herrschens
und Beherrschtwerdens ausführlichen Regeln unterworfen. Zweifellos ist es
nachvollziehbar, dass Macht und Staat, die sich der Gesellschaft gegenüber
in Unterzahl befanden, ihre Autorität auf diese Weise errichteten, um ihr
Dasein spürbar zu machen. Diese Regeln fungierten als Legitimationsmittel
und boten entsprechende Bildung und Dienste.
Die tiefgreifende Transformation der Autorität von Macht und Staat
in der europäischen Zivilisation beruhte auf ihrem Bedürfnis, alle Poren
der Gesellschaft immer schneller zu durchdringen. Es kann von zwei
Hauptfaktoren die Rede sein, die bei der horizontalen und vertika-
len Expansion der Macht eine Rolle spielten. Der erste davon ist die
Vergrößerung der auszubeutenden Massen. Ohne eine entsprechende
Vergrößerung der Verwaltung war die Ausbeutung nicht mehr realisierbar.
Genauso wie eine größer werdende Herde mehr Hirten braucht, stellt auch
die Aufblähung der Staatsbürokratie einen eindeutigen Beweis für dieses
Phänomen dar. Die Regierung, die nach außen hin ihre Verteidigungskräfte
außerordentlich verstärkt hatte, spürte zudem im Inneren das Bedürfnis,
die Gesellschaft zu unterdrücken. Kriege haben schon immer Bürokratie
erzeugt. Die Armee selbst ist die größte bürokratische Organisation. Der
zweite Faktor bestand in dem größer werdenden Bewusstsein und dem zu-
nehmenden Widerstand der Gesellschaft. Einerseits die Tatsache, dass die
europäische Gesellschaft die tief verwurzelte Ausbeutung nicht erlebt hatte,
andererseits ihr stetiger Widerstand zwangen die Macht und den Staat dazu,
sich zu vergrößern. Der Kampf der Bourgeoisie gegen die Aristokratie und
der der Arbeiterklasse gegen beide bedingten in Europa einen tiefer reichen-
den Aufbau von Macht und Staat. Die Staatswerdung der Bourgeoisie wahr-
scheinlich als der ersten Mittelklasse in der Geschichte führte eine große
Änderung der Position der Macht und des Staates herbei. Die Staatswerdung
einer aus dem Schoß der Gesellschaft stammenden Masse und die damit
zusammenhängende Machtzunahme zwangen die Bourgeoisie zu einer
Organisierung innerhalb der Gesellschaft.
Die Bourgeoisie als Klasse war zu groß, um ihre Herrschaft über
die Macht und den Staat äußerlich zu etablieren. Es war klar, dass diese
Klasse nach ihrer Staatswerdung sich im Inneren in einem gesellschaftli-
chen Konflikt wiederfinden würde. Der Klassenkampf kündigte diese
Wahrheit an. Liberalismus ließ als bürgerliche Ideologie nichts unversucht,
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 125

um eine Lösung dieses Problems zu finden. Was sich aber im Laufe der
Zeit ereignete, waren eine Ausweitung des Staates und der Macht und
eine Weiterentwicklung des bürokratischen Krebsgeschwürs. Je grö-
ßer der Staat und die Macht in einer Gesellschaft sind, desto größer ist
auch der Bürgerkrieg. Das grundsätzlichste Problem, das sich in der eu-
ropäischen Gesellschaft entwickelte, war von Anbeginn an dieser Art. Die
großen Kämpfe für Verfassung, Demokratie, Republik, Sozialismus und
Anarchismus hingen eng mit der Entstehungsweise von Macht und Staat zu-
sammen. Gegenwärtig stellen an eindeutige konstitutionelle Regeln gebun-
dene Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie das beliebteste
Gegenmittel gegen dieses Problem dar. Anstatt einer nachhaltigen Lösung
wird vielmehr eine Überwindung der alten Kampfphase versucht, indem der
Staat und die Gesellschaft zu einer Einigung bezüglich der Macht gezwun-
gen werden. Das Problem von Macht und Staat wurde nicht gelöst, sondern
es wurde ihm nur Nachhaltigkeit verliehen.
Wenn man das Ganze näher betrachtet, sieht man, dass mithilfe diver-
ser Formen von Nationalismus, Sexismus, Religionismus und Szientismus
Gesellschaft, Macht und Staat zunehmend ineinander verschränkt und
durch die zu etablierende Vorherrschaft des Paradigmas, jeder sei so-
wohl Macht als auch Gesellschaft, sowohl Staat als auch Gesellschaft, das
Fortbestehen des Nationalstaats gewährleistet werden soll. So wird einer-
seits im Inneren der Klassenkampf unterdrückt, andererseits nach außen
die Verteidigungsposition stets offen gehalten. So glaubt man, die Lösung
des bürgerlichen Nationalstaats gefunden zu haben. Dies ist die bedeutends-
te der weltweit eingesetzten Methoden zur Unterdrückung von Problemen
anstatt ihrer Lösung. Die faschistische Qualität des nationalstaatlichen
Daseins als maximaler Staat und Macht war am deutlichsten am deutschen
Faschismus zu sehen.
Das erste Exemplar des Nationalstaats zeigte sich im holländischen und
englischen Widerstand gegen das spanische Reich. Der Nationalstaat ver-
schaffte seiner eigenen Macht einen Legitimationsgrund, indem er die
ganze Gesellschaft gegen eine äußere Macht mobilisierte. Die europäische
Entwicklung hin zu nationalen Gesellschaften wies also anfangs relativ po-
sitive Züge auf. Allerdings kam dieser Nationwerdung bereits von Anbeginn
an offensichtlich die Aufgabe zu, die Ausbeutung und Unterdrückung der
einen Klasse durch die andere zu verschleiern. Der Nationalstaat trägt si-
cherlich den Stempel der Bourgeoisie. Er ist das Staatsmodell dieser Klasse.
Später führten die Feldzüge Napoleons dazu, dass dieses Modell, das in
126 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Frankreich an Stärke gewonnen hatte, sich in ganz Europa ausbreitete. Die


Rückständigkeit der deutschen und italienischen Bourgeoisien und die
Schwierigkeiten, die sie bei ihren Bemühungen um die nationale Einheit
erlebten, brachten eine nationalistischere Politik mit sich. Einerseits die
äußere Besatzungsgefahr, andererseits die andauernden Widerstände der
Aristokratie und der Arbeiterklasse brachten die Bourgeoisie dazu, sich an
ein chauvinistisch-nationalistisches Staatsmodell zu klammern. Angesichts
der Niederlage und Krise standen viele Länder, vor allem Deutschland und
Italien, am Scheideweg: ›Entweder soziale Revolution oder Faschismus‹.
Das faschistische Staatsmodell ging aus diesem Dilemma als Sieger hervor.
Vielleicht haben Hitler, Mussolini und Konsorten verloren, aber ihr System
setzte sich siegreich durch.
Der Nationalstaat lässt sich im Wesentlichen als Identifizierung der
Gesellschaft mit dem Staat und des Staates mit der Gesellschaft beschreiben
– was übrigens auch die Definition des Faschismus ausmacht. Natürlich
kann weder der Staat zur Gesellschaft noch die Gesellschaft zum Staat
werden. Nur totalitäre Ideologien können eine solche Behauptung auf-
stellen. Die faschistische Qualität dieser Behauptung ist allgemein be-
kannt. Der Faschismus als Staatsform ist stets ein Ehrengast des bürger-
lichen Liberalismus. Er ist die Regierungsform in Krisenzeiten. Da die
Krise strukturell ist, ist auch diese Regierungsform strukturell. Sie trägt den
Namen nationalstaatliche Regierung. Sie stellt den Höhepunkt der Krise
des Finanzkapitalzeitalters dar. Der Staat des kapitalistischen Monopols, das
gegenwärtig auf globaler Ebene auf seinem Höhepunkt angekommen ist, ist
in seiner reaktionärsten und despotischsten Phase im Allgemeinen faschis-
tisch. Auch wenn vom Niedergang des Nationalstaats die Rede ist, wäre es
naiv, zu glauben, an seiner Stelle würde eine Demokratie konstruiert wer-
den. Vielleicht ist der Aufbau sowohl makro-globaler als auch mikro-loka-
ler faschistischer Formationen an der Tagesordnung. Im Nahen Osten, auf
dem Balkan, in Zentralasien und Kaukasien ereignen sich beachtenswerte
Entwicklungen. In Südamerika und Afrika stehen neue Erfahrungen unmit-
telbar bevor. Europa verfolgt die Strategie, sich durch Reformen vom nati-
onalstaatlichen Faschismus zu entfernen. Wie es mit Russland und China
weitergehen wird, ist noch ungewiss. Der Superhegemon USA steht im
Austausch mit jeglicher Staatsform.
Das Problem von Macht und Staat befindet sich offensichtlich in ei-
ner seiner schlimmsten Phasen. Das Dilemma ›entweder demokratische
Revolution oder Faschismus‹ ist an der Tagesordnung und nach wie vor
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 127

lebenswichtig. Weder die regionale Organisation des Systems noch die


zentrale UN-Organisation sind noch funktional. Das Finanzkapital, das
in der globalsten Phase der Zivilisation seinen Höhepunkt erreichte, stellt
diejenige Kapitalfraktion dar, die die Krise am meisten schürt. Das poli-
tisch-militärische Gegenstück zum Monopol des Finanzkapitals ist inten-
sivierter Krieg gegen die Gesellschaft. Dies ist weltweit an vielen Fronten
bereits Realität. Welche politischen und wirtschaftlichen Formationen aus
der strukturellen Krise des Weltsystems hervorgehen werden, lässt sich nicht
durch Prophezeiung, sondern durch intellektuelle, politische und moralische
Bemühungen feststellen.
Im Zeitalter des Finanzkapitals, des virtuellsten Kapitalmonopols der ka-
pitalistischen Moderne, ist die Gesellschaft einem historisch beispiellosen
Zerfall ausgesetzt. Das politische und moralische Gefüge der Gesellschaft
wurde zerschmettert. Was geschieht, ist ein ›Soziozid‹ – ein schwerwiegen-
deres gesellschaftliches Phänomen als Genozid. Die vom virtuellen Kapital
beherrschten Medien fungieren als eine Waffe, die einen größeren Soziozid
durchführt als im Zweiten Weltkrieg. Wie kann man die Gesellschaft gegen
die Medien verteidigen, die sie mit ihren Nationalismus-, Religionismus-,
Sexismus-, Szientismus- und Artismuskanonen (Sport, Serien usw.) vierund-
zwanzig Stunden am Tag unter Beschuss nehmen?
Die Medien sind wie eine Art zweite analytische Intelligenz in der
Gesellschaft wirksam. So wie die analytische Intelligenz an sich weder
gut noch böse ist, sind auch die Medien an sich ein neutrales Mittel. Wie
bei jeder anderen Waffe auch, wird ihre Rolle von denjenigen bestimmt,
die sie einsetzen. Die Hegemonialmächte verfügen nicht nur stets über
die effektivsten Waffen im wörtlichen Sinne, sondern sie herrschen auch
über die Waffe der Medien. Da sie die Medien wie eine zweite analyti-
sche Intelligenz einsetzen, gelingt ihnen die Neutralisierung der gesell-
schaftlichen Widerstandsfähigkeit. Mithilfe dieser Waffe wird eine virtu-
elle Gesellschaft konstruiert. Die virtuelle Gesellschaft stellt eine weitere
Form des Soziozids dar. Auch der Nationalstaat zählt zu den Formen des
Soziozids. In beiden Fällen wird die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit
beraubt und in ein Werkzeug des sie lenkenden Monopols verwandelt. Die
Unterschätzung der gesellschaftlichen Natur ist äußerst gefährlich; der Raub
ihrer Gesellschaftlichkeit setzt die Gesellschaft unbegrenzten Gefahren aus.
Wie das Zeitalter des Finanzkapitals kann auch das des virtuellen Monopols
nur mit einer Gesellschaft koexistieren, die aufgehört hat, sich selbst zu sein.
Das gleichzeitige Entstehen dieser beiden Phänomene ist kein Zufall, da sie
128 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

miteinander verbunden sind. Die Gesellschaft, die der Nationalstaat ihrer


Gesellschaftlichkeit beraubte (damit sie sich für den Nationalstaat hält) so-
wie die von den Medien verführte Gesellschaft sind im wahrsten Sinne des
Wortes besiegte Gesellschaften, aus deren Trümmern man andere Sachen
konstruiert. Es steht außer Zweifel, dass wir eine solche gesellschaftliche
Ära erleben.
Wir leben nicht nur in der problematischsten Gesellschaft, sondern auch
in einer, die ihren Individuen nichts bietet. Die Gesellschaften, in denen wir
leben, haben nicht nur ihr moralisches und politisches Gefüge verloren, son-
dern werden zudem in ihrer Existenz bedroht. Sie sind nicht nur mit einem
Problem konfrontiert, sondern der Gefahr ihrer Vernichtung ausgesetzt.
Wenn die Probleme sich gegenwärtig trotz der ganzen Wirkmächtigkeit
der Wissenschaft vergrößern und vertiefen und in eine Art Krebs verwan-
deln, dann stellt der Soziozid nicht nur eine Hypothese, sondern eine reelle
Gefahr dar. Die Behauptung, die Macht des Nationalstaats beschütze die
Gesellschaft, schafft die allergrößte Illusion und lässt diese Gefahr Schritt für
Schritt wahr werden. Die Gesellschaft ist nicht nur mit Problemen, sondern
mit ihrer eigenen Vernichtung konfrontiert.

2. Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik


Die Nachteile, die sich durch die Aufteilung des gesellschaftlichen Problems
in einzelne Probleme ergeben, sind mir bekannt. Auch wenn diese Methode,
die die eurozentrische Wissenschaft entwickelte, indem sie der analytischen
Intelligenz keine Grenzen setzte, einige Errungenschaften aufzuweisen
hat, lässt sich nicht leugnen, dass sie die Gefahr des Totalitätsverlustes der
Wahrheit in sich birgt. Ihre Nachteile stets vor Augen und mir des Risikos,
das gesellschaftliche Problem in einzelne ›Probleme‹ aufzuteilen, bewusst,
werde ich diese Methode weiterhin anwenden. Später im Epistemologie-Teil
werde ich andere Herangehensweisen diskutieren.
Nicht ohne Grund wurden im ersten Kapitel der gesellschaftlichen
Probleme Macht und Staat behandelt. Der Hauptgrund dafür ist, dass sie
die Hauptquelle der Probleme bilden. Die Macht- und Staatsverhältnisse
und -apparate, die mit ihrer ganzen Schwere zunächst über und seit
dem sechzehnten Jahrhundert in der Gesellschaft wirksam wurden, ha-
ben im Wesentlichen die Funktion inne, die geschwächte und ihrer
Selbstverteidigungsfähigkeit beraubte Gesellschaft für die Ausbeutung
durch das Monopol vorzubereiten. Diese Definition von Macht und
Staat ist von großer Bedeutung. Die Behauptung, Macht und Staat seien
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 129

ausschließlich die Gesamtheit der Gewaltapparate und -verhältnisse, birgt


eine ernsthafte Unzulänglichkeit in sich. Meines Erachtens ist es die wich-
tigste Rolle dieser Apparate, die Gesellschaft zu schwächen und ihrer
Selbstverteidigungsfähigkeit zu berauben. Diese Rolle nehmen sie wahr, in-
dem sie das ›Daseinsmittel‹ der Gesellschaft, d.h. ihr moralisches und poli-
tisches Gefüge, stetig schwächen und ihnen verunmöglichen, zu funktionie-
ren und ihre Rolle zu spielen. Die Gesellschaft kann nicht weiterexistieren,
ohne den Bereichen der Politik und Moral zur Existenz zu verhelfen.
Die grundsätzliche Rolle der Moral ist es, die Gesellschaft mit Regeln
auszustatten, derer sie zum Weiterbestehen und Überleben bedarf, und ihr
die Fähigkeit zu verleihen, diese umzusetzen. Eine Gesellschaft, die ihre
Existenzregeln und die Fähigkeit, sie umzusetzen, eingebüßt hat, ist nichts
als eine Tierherde und kann unter diesen Umständen einfach ausgenutzt
und ausgebeutet werden. Die Rolle der Politik ist es, die für die Gesellschaft
notwendigen moralischen Regeln zu bieten und zudem ständig die Mittel
und Methoden zur Befriedigung der grundsätzlichen materiellen sowie
geistigen Bedürfnisse der Gesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden.
Die Gesellschaftspolitik führt mit den auf dieser Grundlage entwickelten
Diskussions- und Entscheidungsfähigkeiten zu einer lebhafteren und auf-
geschlosseneren Gesellschaft und bildet den wesentlichsten Existenzbereich
der Gesellschaft, der sie die Fähigkeit, sich selbst zu verwalten und ihre
Angelegenheiten selbst zu lösen, verleiht. Die unpolitische Gesellschaft ist
eine Gesellschaft, die einem enthaupteten Huhn ähnlich hin und her rennt,
ehe ihr Tod eintritt. Der effektivste Weg, um eine Gesellschaft funktions-
unfähig zu machen und zu schwächen, ist, sie der Politik (mit dem islami-
schen Ausdruck: der Scharia), also ihrer Gesellschaftlichkeit und der zur
Befriedigung ihrer materiellen sowie geistigen Bedürfnisse notwendigen
Diskussions- und Entscheidungsorgane, zu berauben. Kein anderer Weg
kann für die Gesellschaft zu so großen Nachteilen führen.
Aus diesem Grund ersetzten die Macht- und Staatsapparate und -ver-
hältnisse zunächst die gesellschaftliche Moral durch das ›Recht‹, ihre
Politik durch ›Staatsverwaltung‹. Die Moral- und Politikfähigkeit der
Gesellschaft, ihre beiden grundsätzlichen Daseinsstrategien, zu verhindern
und sie durch das Recht und die Verwaltung der Herrschaft zu ersetzen
bilden jederzeit grundsätzliche Aufgaben von Macht und Staat. Wenn diese
Aufgaben nicht erfüllt werden, können weder Kapitalakkumulation noch
Ausbeutungsmonopole existieren. Jede einzelne Seite der fünftausendjäh-
rigen Zivilisationsgeschichte ist voller Angriffe, die darauf abzielen, die
130 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Moral- und Politikfähigkeit der Gesellschaft zu brechen und sie durch das
Recht und die Verwaltung der Kapitalmonopole zu ersetzen. So sieht die
nackte Zivilisationsgeschichte mit ihren wahren Beweggründen aus und eine
richtige Geschichtsschreibung ist nur möglich, wenn diesen Beachtung ge-
schenkt wird. Im Kern aller gesellschaftlichen Kämpfe in der Geschichte
steckt diese Tatsache. Soll die Gesellschaft gemäß ihrer eigenen Moral und
Politik leben oder lässt man sie gemäß dem Recht und der Verwaltung
der ungebändigten Ausbeutungsmonopole wie eine Tierherde leben? Mit
den Worten, die unfassbare ›krebsartige Vergrößerung‹ des Rechts und der
Verwaltung von Macht und Staat stelle die Hauptursache der Probleme dar,
möchte ich eben diese Tatsache ausdrücken.
Es gilt einen weiteren Aspekt zu erhellen. Wenn die Hierarchie zum ers-
ten Mal etabliert wird und ›Erfahrung‹ und ›Expertise‹ gesellschaftliche
Bedeutung erlangen, wird von ihnen – unabhängig davon, ob man sie Staat
oder Autorität nennt – ein Nutzen erwartet. Dass die Gesellschaft den Staat
und die Autorität (Macht) nicht als gänzlich negativ betrachtet, rührt von
diesen Nutzenserwartungen her. Die Gesellschaft erwartet von der Macht
und dem Staat Erfahrung und Expertise und bildet sich ein, dadurch werde
sie sich ihre Angelegenheiten erleichtern. Die Gründe, aus denen sie die
Existenz des Staates erträgt, sind diese beiden Faktoren. Erfahrung hat nicht
jeder. Auch Expertise kommt nicht jedem zu. Der Staat und die Autorität,
die im Laufe der Geschichte diese berechtigte Erwartung ausnutzten, ver-
wandelten allerdings die Verwaltung in einen Bereich, in dem die inkom-
petentesten, unerfahrensten und jeglicher Expertise fernen Personen be-
schäftigt werden, in dem gefaulenzt wird, anstatt das Recht umzusetzen,
intrigiert wird, anstatt erfahrungsbasiert zu arbeiten. Große Degenerationen
und Katastrophen hängen eng mit diesen großen Abweichungen und
Verkehrungen zusammen.
Dass die Bourgeoisie, die historisch vor allem einen Ausdruck der krebsar-
tigen Entwicklung der Mittelklasse darstellte, sich mitten in der Gesellschaft,
in ihrem ›Schoß‹, positionierte, ihre egoistischsten Interessen als ›Recht‹
und ihre äußerst degenerierte Verwaltung als ›konstitutionelle Regierung‹
präsentierte und aus diesem Grund die Macht und den Staat in unzählige
›Apparate‹ und angebliche Expertisefelder aufteilend vermehrte, war eine
regelrechte Katastrophe. Die Gesellschaft kam vom Regen in die Traufe.
Die grenzenlosen Diskussionen des Liberalismus, der feinen Vernunft
der Bourgeoisie, über Themen wie ›Republik‹, ›Demokratie‹, ›Verfassung‹,
›Verkleinerung der Verwaltung‹, ›Einschränkung von Macht und Staat‹
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 131

verschleiern nicht nur die Wahrheit, sondern sind zudem noch Träger
von gegenteiligen Inhalten. Die Fähigkeit der Bourgeoisie, die Verfassung,
Republik und Demokratie zu entwickeln, die Verwaltung zu verkleinern und
die Macht und den Staat einzuschränken, ist nicht einmal so groß wie die
der Mittelklasse in der Antike. Denn, was diese edlen Begriffe dysfunktiona-
lisiert, ist die materielle Beschaffenheit der Mittelklasse, ihre Existenzweise.
Wie soll die Gesellschaft, die im Altertum über sich einen König, eine
Dynastie mit Ach und Krach ertragen konnte, die grenzenlos gewordenen
bürgerlichen Apparate und Dynastien ertragen können? Absichtlich verwen-
de ich den Begriff ›bürgerliche Familie und Dynastie‹. Denn beides teilt
denselben Ursprung. Die Bourgeoisie übernahm ihre ganze Verwaltungs-
und Regelungskunst von ihrem Vorgänger, den großen aristokratischen und
monarchischen Kräften. Sie besitzt keine Fähigkeit zur Selbstschöpfung. Die
krebserregende Auswirkung der Macht- und Staatsverhältnisse sind auf die
Klassennatur der Bourgeoisie zurückzuführen. Die Natur der Mittelklasse
ist faschismusgeladen.
Folglich gehört es zu den grundsätzlichsten Problemen, dass die
Bourgeoisie die moralischen und politischen Gefüge der Gesellschaft ver-
krüppelt und dysfunktionalisiert. Zweifellos lassen sich die moralischen
und politischen Gefüge und Bereiche nicht gänzlich vernichten. Solange
die Gesellschaft existiert, werden auch Moral und Politik existieren. Da aber
Macht und Staat aufhören, Expertise- und Erfahrungsfelder zu sein, können
Moral und Politik nicht mehr ihre kreative und funktionale Fähigkeit wahr-
nehmen. Es ist offensichtlich, dass die Macht- und Staatsapparate und -ver-
hältnisse (Medien, Nachrichtendienste und spezialisierte Operationstruppen
jeglicher Art, ideologische Lehren usw.) heute der Gesellschaft, die sie bis in
ihre feinsten Poren durchdrungen haben, die Kehle abschnüren, sie in eine
Lage versetzen, in der sie sich nicht mehr wiedererkennen, keine ihrer mora-
lischen Prinzipien umsetzen, über ihre grundsätzlichsten Bedürfnisse weder
politisch diskutieren noch Entscheidungen treffen (demokratische Politik)
können. Dass die viel diskutierten und wahren herrschenden Mächte der
Gegenwart, die ›globalen Konzerne‹, also die ewigen Monopole, den größ-
ten Kapitalboom der Geschichte in dieser Ära erzielten, hängt eng damit
zusammen, dass die Gesellschaft in diese Lage versetzt wurde. Ohne den
Verfall und die Zersplitterung der Gesellschaft könnte man auf virtuellem
Wege, d. h. ohne jemals irgendein Produktionsmittel zu berühren, niemals
aus Geld so viel mehr Geld machen. Die Gewinne der Monopole im Laufe
der Geschichte und ihre gegenwärtig exorbitanten Gewinne, als wüchse
132 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Geld auf Bäumen, werden dadurch erzielt, dass Dasein und Gehirn der
Gesellschaft leergefegt werden. Denn »Geld wächst nicht auf Bäumen!«
Ich muss wiederholen, dass nicht nur die grenzenlos vermehrten Macht-
und Staatsapparate und -verhältnisse die Gesellschaft in diese Lage verset-
zen, sondern dass mithilfe der Medien, die eine zumindest genauso effek-
tive Hauptquelle der Hegemonie darstellen, gleichzeitig die ideologische
Eroberung der Gesellschaft vollzogen wird. Ohne sie durch die Ablenkung
durch Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Szientismus und Artismus
(die Industrialisierung der Kunst und insbesondere des Sports) zu verblöden,
könnte weder alleine durch die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse
ein derartiger gesellschaftlicher Verfall erzeugt werden, noch könnten die vir-
tuellen globalen Konzerne (gemeint ist das Finanzkapital, das Geldkapital)
und die historischen Monopole die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit
berauben und sie einer grenzenlosen Ausbeutung aussetzen, die einem
Soziozid gleichkommt.

3. Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft


Eine der ersten Voraussetzungen dafür, eine Gesellschaft der Ausbeutung
zu öffnen, ist zweifellos, sie der Moral und Politik zu berauben. Ohne
den Niedergang der gesellschaftlichen Mentalität, der Basis dieser beiden
Gefüge, herbeizuführen, kann dieser Raub nicht durchgeführt werden.
Aus diesem Grund konstruierten die Herrschenden und die ausbeuteri-
schen Monopole im Laufe der Geschichte als Erstes immer die ›Hegemonie
über die Mentalität‹. Dass die sumerischen Priester, um in der sumerischen
Gesellschaft für Produktivität zu sorgen, also um sie der Ausbeutung zu
öffnen, als Erstes Tempel (Zikkurate) errichteten, ist ein eindeutiger Beweis
dieser Tatsache. Es ist von großer Wichtigkeit, sich die Funktion des sume-
rischen Tempels als heute noch fortwirkenden historischen Ursprungs der
Entstellung und Eroberung des gesellschaftlichen Verstandes vor Augen zu
halten.
Ich habe mit Nachdruck betont, dass die gesellschaftliche Natur eine
­äußerst flexible geistige Struktur ist. Ohne vollständig zu begreifen,
dass die Gesellschaft die intelligenteste Natur ist, kann man keine sinn-
volle Soziologie entwickeln. Deswegen betrachteten es die Despoten,
Herrschenden und Hinterlistigen als ihre oberste Aufgabe, als Erstes die
Intelligenz und das Denkvermögen der Gesellschaft zu schwächen und als
erstes Monopol das Mentalitätsmonopol, also den Tempel zu errichten.
Dieser ursprüngliche Tempel erfüllte zwei Funktionen zugleich. Erstens war
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 133

er als Mittel der geistigen Herrschaft, als hegemoniales Mittel äußerst wich-
tig. Zweitens stellte er ein geeignetes Mittel dar, um der Gesellschaft ihre
ureigenen geistigen Werte zu entreißen.
Die ureigene Mentalität der Gesellschaft, als Begriff, bedarf eines guten
Verständnisses. Als die Menschheit den ersten Stein und den ersten Stock
in die Hand nahm, hatte sie eine Arbeit im Kopf. Es handelte sich dabei
nicht um einen Instinkt, sondern um den Keim des analytischen Denkens.
Der gesellschaftliche Fortschritt durch das Sammeln von Erfahrungen ist im
Wesentlichen diese Konzentration des Denkens. Je mehr Erfahrungen eine
Gesellschaft sammelt und je mehr sie folglich ihr Denken intensiviert, desto
mehr gewinnt sie an Fähigkeiten und Kraft. Sie ernährt, schützt und reprodu-
ziert sich effektiver. Dieser Prozess erklärt, was gesellschaftlicher Fortschritt
ist und warum ihm eine große Bedeutung zukommt. Indem die Gesellschaft
sich selbst ständig zum Denken bringt, bildet sie ihre moralische Tradition,
die wir auch als kollektive Intelligenz oder Gewissen bezeichnen, also ihr
kollektives Denken. Die Moral ist aus diesem Grund sehr wichtig, denn
sie ist der wertvollste Schatz und der Erfahrungsreichtum der Gesellschaft,
der Grund ihres Weiterbestehens, das Hauptorgan ihres Überlebens und
Fortschritts. Die Gesellschaft weiß sehr genau, dass sie zerfallen würde, so-
bald sie dies verliert. Deswegen legt sie mit der Schärfe ihrer Instinkte großen
Wert auf die Moral. In den alten Klan- und Stammesgesellschaften stand auf
das Nichteinhalten der moralischen Regeln entweder die Todesstrafe oder
der Ausschluss aus der Gesellschaft, wodurch die Gesellschaftsmitglieder
dem Tod ausgeliefert waren. Auch dem ›Ehrenmord‹ liegen – wenn auch in
sehr verzerrter Form – diese Regeln zugrunde.
Während die Moral die Tradition des kollektiven Denkens repräsentiert,
erfüllt die Politik eine etwas andere Funktion. Um über aktuelle kollektive
Angelegenheiten zu diskutieren und zu entscheiden, bedarf es der Denkkraft.
Für die Politik ist die Produktion aktueller, kreativer Gedanken unabding-
bar. Die Gesellschaft weiß wiederum sehr genau, dass man weder politisches
Denken schaffen noch Politik betreiben kann, ohne sich als Quelle und
Gedankenreichtum auf die Moral zu stützen. Die Politik ist ein unerlässli-
ches Aktionsfeld für alltägliche kollektive Angelegenheiten (Gemeinwohl).
Auch wenn es unterschiedliche, ja sogar konträre Meinungen gibt, muss
man diskutieren, um über gesellschaftliche Angelegenheiten Entscheidungen
zu treffen. Eine Gesellschaft ohne Politik ist eine, die entweder wie eine
Tierherde sich an die Regeln anderer hält oder wie ein enthauptetes Huhn
134 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

herumspringt. Die Denkfähigkeit ist keine Überbauinstitution, sondern das


Gehirn der Gesellschaft, wobei Moral und Politik ihre Organe bilden.
Ein weiteres gesellschaftliches Organ ist selbstverständlich der Tempel
als heiliger Ort. Allerdings war dieser Tempel nicht der der hegemonialen
Macht (Hierarchie und Staat), sondern der heilige Ort der Gesellschaft
selbst. Dieser heilige Ort der Gesellschaft selbst nimmt bei archäologi-
schen Funden einen Ehrenplatz ein. Er ist vielleicht das einzige bedeuten-
de Gebäude, das bis heute bestehen blieb. Das kann kein Zufall sein. Der
erste heilige Ort der Gesellschaft ist der Ort, wo die ganze Vergangenheit,
alle Ahnen, die Identität und das ihr Gemeinsame vertreten werden. Er
ist ein Ort gemeinsamen Andenkens und Betens. Er ist ein Ort des sich
an sich selbst Erinnerns und des Gedenkens, ein Zeichen dafür, dass man
Zukunftsweisendes schafft, und ein wichtiger Grund des Beisammenseins.
Die Gesellschaft war sich dessen bewusst, dass der Tempel eine umso grö-
ßere Repräsentationsfähigkeit und Bedeutung erlangte, je auffälliger und
prachtvoller er gebaut, je mehr seine Lage eines schönen Lebens würdig war.
Deswegen wurde Pracht am meisten an Tempeln zur Schau gestellt. Wie es
auch am sumerischen Beispiel ersichtlich wird, war der Tempel gleichzeitig
das Lager von Produktionsmitteln und die Unterkunft von Werktätigen. Er
war also der Ort kollektiver Arbeit. Er war nicht nur ein Gebetsraum, son-
dern auch ein Ort der gemeinsamen Diskussion und Entscheidung. Er war
das politische Zentrum, das Handwerkerhaus, ein Ort von Erfindungen. Er
war das Zentrum, an dem Architekten und Gelehrte ihre Fertigkeiten aus-
probierten. Er war das erste Modell einer Akademie. Es ist kein Zufall, dass
Tempel im Altertum gleichzeitig Zentren der Orakel bildeten. Diese ganzen
Faktoren und noch Hunderte andere zeigen die Bedeutung von Tempeln.
Diese Institution kann man ruhig als das ideologische Zentrum der gesell-
schaftlichen Mentalität bezeichnen.
Die Megalithen bei Urfa sind zwölftausend Jahre alt. Als dort ein Tempel
errichtet wurde, hatte die landwirtschaftliche Revolution noch nicht stattge-
funden. Aber es ist offensichtlich, dass für die Bearbeitung und das Aufstellen
jener Megalithen die Existenz sehr fortgeschrittener Menschen und daher
einer sehr fortgeschrittenen Gesellschaft voraussetzten. Wer waren sie? Wie
sprachen sie? Wie ernährten sie sich? Wie pflanzten sie sich fort? Wie waren
ihre Gedanken und Sitten? Wie sicherten sie ihren Unterhalt? Überhaupt
keine Spur einer Antwort auf all diese Fragen. Das Einzige, was davon übrig
blieb, sind die Ruinen von Megalithen und – mit großer Wahrscheinlichkeit
– eines Tempels. Da einfache Bauern selbst heute noch nicht in der Lage
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 135

wären, diese Steine zu bearbeiten, hinaufzubefördern und aufzustellen, dürf-


ten die Menschen, die es taten, und ihre Gesellschaft nicht rückständiger
gewesen sein als die heutigen Bauern und Dorfgesellschaften. In Bezug auf
solche Aspekte können wir nur Vermutungen aufstellen. Urfas Heiligkeit
erreicht uns – wenn auch auf Umwegen – vielleicht wie ein Fluss, dessen
Quelle in dieser Tradition liegt, die älter ist als die geschriebene Geschichte.33
In diesem Sinne diskutiere ich nicht die Existenz und Bedeutung des gesell-
schaftlichen Tempels, sondern des hegemonialen Tempels.
Ägyptische Priester spielten bei der Entstehung des hegemonialen Tempels
eine zumindest ebenso große Rolle wie sumerische. Indische Brahmanen
standen ägyptischen Priestern in nichts nach. Die Tempel im Fernen Osten
waren den sumerischen und ägyptischen ebenbürtig. Auch die südameri-
kanischen Tempel waren hegemonialer Art. Nicht ohne Grund wurden in
diesen Tempeln junge Menschen geopfert. Die herrschenden Tempel aller
Zivilisationsären waren hegemonial – wie die Kopien eines Originals. Die
Hauptfunktion dieser Zentren war die Bereitstellung der Gesellschaft zur
Nutzung zugunsten der Herrschenden. Während der militärische Arm des
Monopols grauenvollerweise Häupter von Rümpfen trennte, um sie im
Bau von Burgen und Wehrmauern zu verwenden, arbeitete auch ihr geist-
licher Arm durch Eroberung der Mentalität auf dasselbe Ziel hin. Beide
Tätigkeiten lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, um bei der Versklavung
von Gemeinschaften eine Rolle zu spielen. Während das eine Schrecken er-
zeugte, erzeugte das andere Zustimmung. Wer kann die Kontinuität der
Jahrtausende alten Zivilisationsgesellschaft in Bezug auf dieses Vorgehen
negieren?
Die hegemoniale europäische Zivilisation hat in dieser Hinsicht ihre Form
verändert, ihr Wesen aber gänzlich bewahrt. Dass die riesigen nationalstaat-
lichen Apparate über der Gesellschaft sich nicht auf diese Veränderung be-
schränkten, sondern die Gesellschaft, in deren innerste Poren sie eindran-
gen, von sich abhängig machten, ist eine Alltagsbeobachtung. Was ist es,
was von Universitäten, Akademien und unter ihnen Ober-, Mittel- und
Grundschulen und Kindergärten betrieben und von Kirchen, Synagogen
und Moscheen ergänzt und geschärft wird, wenn nicht die Eroberung,
Besetzung, Assimilierung und Kolonialisierung der Überreste des gesell-
schaftlichen Verstandes und ihrer moralischen und politischen Gefüge? Es ist
also kein Geschwätz, wenn manche wertvolle Denker sagen, die ›Vermassung‹
33 Zur Heiligkeit Urfas siehe auch Abdullah Öcalans Essay Urfa – Segen und Fluch einer Stadt,
Münster 2019.
136 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Gesellschaft sei ihre Verherdung. Zudem ist die Erinnerung daran, dass
diese Kolonialisierung des Verstandes zur faschistischen Gesellschaft führt,
noch frisch. Auch dieses Blutbad der neueren Geschichte war das Ergebnis
dieser Eroberung der Mentalität.
Es würde nicht schaden zu wiederholen: Wenn man mit den Ikonen des
Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Sportismus und Artismus wedelt,
lassen sich die Massen zu jedem beliebigen Ziel führen. Die Eroberung des
Verstandes bildet die Grundlage einer Entwicklung, die die Gesellschaft dem
globalen Finanzkapital in einem Ausmaß ausliefert, wie keine Gewalt es ver-
möchte. Vor den sumerischen Priestern und den Tempeln, die sie erfanden,
muss man nochmals salutieren! Welch große Eroberer ihr wart, sodass eure
heutigen Vertreter in ihren Tempeln trotz der fünftausend Jahre, die seitdem
vergangen sind, die größte Kapitalakkumulation der Geschichte vollbringen,
ohne einen Finger krumm zu machen! Selbst die stärksten Gottesbilder und
-schatten (zilullah) konnten keinen solch großen Gewinn einbringen. Also
stellt die stetige und kumulative Kapitalakkumulation keinen gegenstands-
losen Begriff dar. Die geistigen Verdrehungen sind also keine einfachen
Operationen. Dr. Hikmet Kıvılcımlı und der italienische Denker Antonio
Gramsci saßen in den Gefängnissen einer Zeit, in welcher der Nationalstaat
am meisten verherrlicht wurde, als sie ähnliche Definitionen der hegemoni-
alen Eroberung entwickelten. Was sie wussten, wussten sie aus ihren eigenen
Erfahrungen. Auch ich bin in letzter Instanz ein ›Gefangener‹ des globalen
Kapitals. Es nicht richtig zu erkennen, wäre in Person meines Verstandes
(meiner Identität) ein Verrat am ureigensten Verstand der Gesellschaft.

4. Wirtschaftliche Probleme der Gesellschaft


Immer wenn von wirtschaftlichen Problemen die Rede ist, denke ich an
Ameisenstaaten. Wie kann der Mensch, ein Lebewesen mit hoch entwickel-
ter Vernunft und Erfahrung, ungeheure wirtschaftliche Probleme haben,
wie kann er sogar in eine solch peinliche Lage wie Arbeitslosigkeit geraten,
während selbst ein so kleines Tier wie die Ameise keine wirtschaftlichen
(schließlich ist Ernährung für jedes Lebewesen etwas Wirtschaftliches)
Probleme kennt? Was könnte es in der Natur geben, das der intelligenzbe-
gabte Mensch nicht in Arbeit verwandeln könnte? Das Problem hat weder
mit der Funktionsweise der Natur noch mit der Umwelt zu tun. Der bru-
tale Wolf des Menschen befindet sich in ihm selbst. Alle wirtschaftlichen
Probleme, allen voran Arbeitslosigkeit, hängen mit der Kapitalwerdung der
Gesellschaft zusammen.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 137

Karl Marx’ Kapitalanalyse ist zweifellos wertvoll. Er versucht dabei unter


anderem die mit Krisenprozessen zusammenhängende Arbeitslosigkeit zu
erklären. Das Bittere ist, dass die Krankheit des Positivismus auch ihn in
einem schlimmen Zustand erwischt hat. Die Krankheit des Szientismus hin-
derte ihn an einer viel weitreichenderen historischen Gesellschaftsanalyse.
Was ich versuche, ist zu zeigen, dass das Kapital keine Wirtschaft, sondern
das effektivste Werkzeug dafür ist, aus der Wirtschaft eine Art Unwirtschaft
machen. Der allererste Grund dafür ist, dass Profit und Kapital niemals Ziel
des gesellschaftlichen Fortschritts waren und keinen Platz in der Gesellschaft
fanden. Man kann sich eine reiche Wohlstandsgesellschaft vorstellen; Moral
und Politik sind dafür offen. Allerdings, während sich die Gesellschaft mit
ihren unbefriedigten Bedürfnissen in Arbeitslosigkeit dreht und windet, ge-
hen Reichtum und Kapital über ein einfaches Verbrechen hinaus, sodass sie
mit einem Soziozid in Zusammenhang stehen. Die Zivilisation selbst lässt
sich als den Problemhaufen definieren, da sie auf dem Kapitalmonopol be-
ruht.
Als Rosa Luxemburg die Existenz nicht-kapitalistischer Gesellschaften zur
Voraussetzung der Kapitalakkumulation erklärte, kam sie an die Schwelle
einer äußerst wichtigen Wahrheit. Wenn sie über diese Schwelle hätte tre-
ten können, hätte sie noch gesehen, dass die Kapitalakkumulation nicht
nur auf die Existenz nicht-kapitalistischer Gesellschaften angewiesen ist,
sondern dass sie der Gesellschaft ihre Werte entreißt, wie eine Zecke ihr
Blut saugend wächst und die Arbeiter*inne, die sie daraus einen Tropfen
trinken lässt, zu ihrem Kompliz*innen macht. Ich möchte mit Nachdruck
betonen, dass ich den Fleiß der Arbeiter*innen nicht leugne, sondern
unterstreiche, dass die Entstehung des Kapitals sich nur in sehr kleinem
Ausmaß auf ihre Arbeitskraft zurückführen lässt und selbst dieses kleine
Ausmaß aus philosophisch-historisch-gesellschaftlicher Perspektive be-
trachtet seine Bedeutung verlöre. Anhand ökologischer Probleme kommt
es immer mehr ans Licht, dass Industrialismus ein Mittel zum Wucher auf
Kosten der Gesellschaft und Umwelt ist. Welcher Mensch mit Wissen und
Verstand könnte leugnen, dass Manager*innen und Facharbeiter*innen
zu privilegiertesten Gesellschaftsschichten geworden sind und die sich la-
winenartig vergrößernde Arbeitslosigkeit das Gegenstück dazu bildet?
Hoch entwickelte industrielle Schichten, monopolistische Handels- und
Finanzschichten, also Kapitalmonopole mit ihren Aktiengesellschaften be-
raubten den Begriff ›Arbeiter*in‹ durch und durch seiner Bedeutung. Es ist
wichtig zu sehen, dass die Arbeiter*innen auf die Rolle eines die Gesellschaft
138 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

mit dem Kapitalmonopol verbindenden Riemens reduziert wurden. So


wie der Realsozialismus als Staatskapitalismus ein auf ›kompromissleri-
schen Arbeiter*innen‹ basierendes System darstellte, hatte auch der klassi-
sche Privatkapitalismus seine kompromisslerischen Arbeiter*innen. Diese
Phänomene haben in der Gesellschaft immer nebeneinander existiert. Die
restliche Gesellschaft ist die nicht-kapitalistische, von der Rosa Luxemburg
spricht.
Wenn man dem Inhalt Aufmerksamkeit schenkt, merkt man, dass hier
zwischen Kapitalistischem und Nicht-Kapitalistischem unterschieden wird.
Bei Rosa Luxemburg geht es um zwei Gesellschaftsformen. Ich dagegen
betrachte den Kapitalismus nicht als eine Gesellschaftsform, sondern als
ein Netzwerk, eine Organisation, die über der Gesellschaft errichtet wird
und Mehrwert erpresst, die Wirtschaft aussaugt, Arbeitslosigkeit erzeugt,
mit dem Staat und der Macht zusammenwächst und sich mächtiger Mittel
zur Erzeugung ideologischer Hegemonie bedient. In letzter Zeit wurde
auch die Arbeiterschaft zum Teil dieser Organisation. Mit einer solchen
Beschreibung des monopolistischen Netzwerkes versuche ich zahlreiche
Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Vor allem muss ich aufdecken,
dass der Begriff ›kapitalistische Gesellschaft‹ eine Falle darstellt. Dem kapi-
talistischen Monopol ein solches Attribut zuteil werden zu lassen, ist eine
übertriebene Generosität. Das Kapital kann Netzwerke und organisationa-
le Netze aufbauen. Man sollte gut begreifen, dass auch die Mafia ein vor-
zügliches Kapitalnetzwerk darstellt. Der einzige Grund, warum man das
Kapitalnetzwerk nicht als Mafia bezeichnet, sind seine hegemoniale Macht
in der Gesellschaft und seine Kontakte zur offiziellen Macht. Ansonsten
wäre aus ihm nichts geworden als ein Netzwerk, das nicht einmal über die
ethischen Regeln der Mafia verfügt.
Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass ich mittelständische Industrielle,
Händler*innen und Landwirt*innen nicht als Kapitalist*innen betrach-
te. Auch wenn sie vom Kapital vielseitig in die Zange genommen wer-
den, sind sie gesellschaftliche Gruppen, die größtenteils für wirtschaftli-
che Bedürfnisse zu produzieren versuchen. Außerdem betrachte ich auch
den kleinen Warenhandel auf dem Markt und diejenigen, die jene Waren
in ihren Kleinbetrieben produzieren, nicht als Kapitalist*innen. Diverse
Berufe zählen selbstverständlich nicht zu Kapitalist*innen. Alle Arbeiter, die
nicht zu den Kompromisslern gehören, Bäuer*innen, Schüler*innen und
Studierende, Beamte, Handwerker*innen, Kinder und Frauen bilden das
Rückgrat der Gesellschaft. Ich bemühe mich um eine solche Definition der
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 139

nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Darunter verstehe ich im Gegensatz zu


den meisten Marxist*innen nicht eine halbfeudale Gesellschaft oder eine,
in der die asiatische Produktionsweise herrscht. Ich bin davon überzeugt,
dass diese Begriffe die Wahrheit verschleiern, anstatt sie aufzuzeigen. Zudem
bezieht sich diese Analyse von mir nicht nur auf die Kapitalnetzwerke, die
sich ab dem sechzehnten Jahrhundert in Europa zentralisiert haben, sondern
auf alle Kapitalnetzwerke, die sich im Laufe der Geschichte den Mehrwert
gewaltsam aneigneten (kommerzielle, politische, militärische, ideologische,
landwirtschaftliche und industrielle Monopole). Es bedarf offensichtlich kei-
ner langen Untersuchung, um zu sehen, dass das gegenwärtige Finanzkapital
diese Analyse in beeindruckender Weise bestätigt.
Es spielt dabei eine Schlüsselrolle, zu sehen, dass die gesellschaftliche
Natur eine Art Anti-Kapital bildet. Die Gesellschaft war sich während ihres
Jahrtausende langen Marsches der äußerst verderbenden Auswirkung der
Kapitalakkumulation stets bewusst. Beispielsweise scheint es so gut wie kei-
ne Religion zu geben, die den Geldverleih, eine der effektivsten Methoden
der Kapitalakkumulation, nicht verurteilen würde.
Es reicht nicht aus, zu sagen, dass das Kapital gegenwärtig die sich la-
winenartig vergrößernde Arbeitslosigkeit entwickelt, um billige, flexib-
le Arbeiter zu kreieren. Während dies einen Teil der Wahrheit bildet, ist
das Ausschlaggebende, dass das Kapital die Gesellschaft an profitorien-
tierte Tätigkeiten bindet. Tätigkeiten, die um des Profits und des Kapitals
Willen erfolgen, decken sich überhaupt nicht mit den gesellschaftlichen
Grundbedürfnissen. Wenn die Produktion, die zum Stillen des gesellschaft-
lichen Hungers dienen soll, keinen Profit einbringt, juckt es das Kapital
gar nicht, dass die Gesellschaft an Hunger und Armut zugrunde geht – tat-
sächlich befinden sich heute Millionen von Menschen in diesem Zustand.
Wenn ein kleiner Teil des vorhandenen Kapitals in die Landwirtschaft
investiert würde, gäbe es kein Hungerproblem mehr. Aber das Kapital
baut die Landwirtschaft stetig ab und ruiniert sie, was darauf zurückzu-
führen ist, dass durch Landwirtschaft entweder gar kein Profit oder eine
sehr niedrige Profitrate erzielt werden kann. Während er aus Geld riesige
Mengen Geld machen kann, denkt kein Kapitalist an die Landwirtschaft.
Ein solcher Gedanke findet im Wesen des Kapitals keinen Platz. Früher
förderte der Staat als Monopol die Landwirtschaftsproduzenten reich-
lich, erhielt dafür Produkte oder Geld/Steuer. Die jetzigen Kapitalmärkte
machen solche Aktivitäten des Staates bedeutungslos. Deswegen können
Staaten, die die Landwirtschaft immer noch fördern wollen, dem Bankrott
140 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

nicht entkommen. Dies bedeutet also, dass das Kapital den Hauptteil
der Gesellschaft nicht aus tagespolitischen Gründen zunehmend der
Arbeitslosigkeit und Armut überlässt, sondern dieser Umstand von seinen
Struktureigenschaften herrührt. Ohne eine tiefergehende Untersuchung,
kann man schon durch alltägliche Beobachtungen sehr einfach begrei-
fen, dass das gesellschaftliche Arbeitslosigkeitsproblem auch dann nicht zu
lösen wäre, wenn Menschen bereit wären, für sehr wenig Geld zu arbei-
ten. Ich wiederhole es nochmals: Man sollte nicht vergessen, dass man die
Gesellschaft von Arbeitslosigkeit und Armut nicht befreien kann, ohne die
auf Mehrwert basierende Politik und das System der Profitmaximierung ab-
zuschaffen.
Zum Beispiel: Warum herrschen Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut
in den mesopotamischen Ebenen, die im Laufe der Geschichte zahlreiche
Gesellschaften ernährt haben und über fünfzehntausend Jahre der neolit-
hischen Gesellschaft wie eine Mutter waren?Würde eine nicht profitorien-
tierte Produktionsinitiative ins Leben gerufen, könnten diese Ebenen nach
heutigen Maßstäben problemlos fünfundzwanzig Millionen Menschen er-
nähren. Was diese Ebenen und die dort lebenden Menschen brauchen, ist
nicht die Hand des Kapitals, die sie nicht arbeiten lässt, sondern dass diese
Hand (völlig unabhängig davon, ob privat oder staatlich), die den einzigen
Grund für Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut darstellt, sie in Ruhe lässt.
Das Einzige, was man braucht, ist, dass richtige Arbeiter*innenhände und
die Erde zusammenkommen, dass die gesellschaftliche Moral und Politik
ihre Funktion als Grundgefüge, als Organe zurückerlangen, und dass die
demokratische Politik aus vollem Herzen und mit richtigen Gehirnen ihre
Arbeit aufnimmt.

5. Das Industrialismusproblem der Gesellschaft


Von der industriellen Revolution, die genauso wichtig war wie die landwirt-
schaftliche, kann man behaupten, dass sie am Ende des achtzehnten und zu
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auf der Grundlage eines Jahrtausende
alten geschichtlichen Reichtums einen qualitativen Sprung vollzog und sich
bis heute mit Hochs und Tiefs fortsetzt. Es lässt sich nicht voraussagen,
wo, wann und wie sie anhalten oder zum Anhalten gebracht werden wird.
Einerseits zählt die analytische Intelligenz zu den Eigenschaften dieser
Revolution, andererseits ist sie ohnehin eines ihrer Produkte. Die indust-
rielle Revolution stand unter der absoluten Herrschaft des Kapitals. Ohne
Zweifel war es nicht das Kapital selbst, das die meisten industriellen Mittel
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 141

erfand, es bemühte sich aber stets sofort darum, diese in profitbringende


Mittel zu verwandeln und wenn nötig sich anzueignen. Beschleunigte und
billige Produktion stellt eine große Fortschrittschance für die Gesellschaft
dar. Genauso wie die Vernunft ist auch die der Gesellschaft dienende
Industrie wertvoll. Das Problem liegt nicht in ihr selbst, sondern in ihrer
Nutzungsweise. Die Industrie ähnelt der Atomenergie. Wenn sie zuguns-
ten der Monopole verwendet wird, kann sie zu einem Mittel werden, das
das Leben mit ökologischen Katastrophen und Kriegen bedroht. Wie es
gegenwärtig immer offener zutage tritt, beschleunigt ihre profitorientierte
Nutzung die Umweltzerstörung. Die Industrie lässt die Gesellschaft sich
mit hoher Geschwindigkeit auf die virtuelle Gesellschaft zubewegen. Die
menschlichen Organe werden zunehmend durch Robotisierung ersetzt.
Wenn es so weiter geht, wird auch der Mensch selbst überflüssig werden.
Es herrscht darüber Einigkeit, dass der gegenwärtige Zustand der Umwelt
nicht nur die Gesellschaft, sondern das Leben aller Lebewesen bedroht. Man
muss mit Nachdruck betonen, dass es eine regelrechte Tatsachenverdrehung
darstellt, dafür alleine die Industrie verantwortlich zu machen. Die Industrie
für sich alleine genommen bildet eine neutrale Möglichkeit. Eine mit der
Existenz der Gesellschaft harmonierende Industrie könnte eine bestim-
mende Rolle bei der Verwandlung der Welt in eine Dritte Natur für den
Menschen, ja sogar für alle Lebewesen spielen. Der Industrie wohnt ein
solches Potential inne. Wenn dieses Potential wahr werden sollte, wäre die
Industrie für heilig zu erklären. Wenn sie allerdings vorwiegend unter die
Kontrolle des Profits und des Kapitals gebracht wird, kann sie die Welt für
die ganze Menschheit mit Ausnahme einer Handvoll Monopolist*innen
zur Hölle machen. Die gegenwärtige Tendenz weist im Grunde genom-
men in diese Richtung. Zweifellos empfindet die Menschheit angesichts
dieser Tendenz eine tiefe Besorgnis. Das industrielle Monopol hat wahr-
hafte Imperien über der Gesellschaft errichtet. Neben der Superhegemonie
der USA existieren Dutzende industrielle Hegemonen. Selbst wenn man
den politisch-militärischen Hegemon aufhalten könnte, ließen sich die in-
dustriellen Hegemonen schwer aufhalten, da sie sich ebenfalls globalisiert
haben. Wenn ihnen ein Land als Zentrum zu eng wird, können sie sofort
neue Orte, neue Länder zu ihren Zentren machen. Könnte man behaup-
ten, dass ein US-amerikanisches Industrieimperium morgen nicht China
zu seinem Zentrum wählen wird? Es lässt sich bereits heute beobachten,
dass dies allmählich möglich scheint, solange dort günstigere Bedingungen
vorherrschen.
142 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Der Industrialismus erschütterte die Landwirtschaft in ihren Grundfesten.


Die Landwirtschaft, primäres Element und Daseinsvoraussetzung der
menschlichen Gesellschaft, erlebt angesichts der Industrie ihre Vernichtung.
Diese heilige Aktivität, die der Menschheit seit fünfzehntausend Jahren zur
Existenz verholfen hat, ist heute sich selbst überlassen und steht kurz davor,
sich der Herrschaft der Industrie zu ergeben. Das Eindringen der profit- und
kapitalorientierten Industrie in den landwirtschaftlichen Bereich sollte, im
Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, nicht als Entstehung von schnel-
leren und größeren Produktionsmöglichkeiten interpretiert werden. Wegen
genetisch modifizierter Samen wird die Erde von Industriemonopolen in
die Rolle einer durch künstliche Befruchtung geschwängerten Mutter ver-
setzt. So wie mit fremdem Sperma keine gesunde Schwangerschaft und
Mutterschaft zu erzielen ist, wird auch die Befruchtung mit genetisch
modifizierten Samen nicht zu einer guten Mutterschaft der Erde füh-
ren. Die Industriemonopole bereiten sich auf diesen landwirtschaftlichen
Wahnsinn vor. Die Menschheitsgeschichte wird im landwirtschaftlichen
Bereich Zeuge der vielleicht größten Konterrevolution werden; vielleicht
hat sie bereits begonnen. Die Erde und die Landwirtschaft sind nicht ein-
fach irgendein Produktionsmittel und -verhältnis, sondern unzertrenn-
liche Wesensmerkmale der Gesellschaft, mit denen nicht zu spielen ist.
Die menschliche Gesellschaft wurde größtenteils über die Erde und die
Landwirtschaft konstruiert. Die Gesellschaft von diesen Räumen und dieser
Produktion loszureißen, ist der größte Angriff auf ihr Dasein. Die sich krebs-
artig vergrößernde urbane Realität stellt diese Gefahr bereits heute unver-
hüllt zur Schau. Die Befreiung davon scheint mit großer Wahrscheinlichkeit
in einer entgegengerichteten Bewegung zu liegen: die Rückkehr von der
Stadt zum Land und zur Landwirtschaft. Der Hauptslogan dieser Bewegung
wird wohl heißen: ›Entweder Landwirtschaft und Erde für die Existenz oder
Vernichtung‹. Der Profit und das Kapital integrieren weder die Erde in die
Industrie noch stellen sie ein symbiotisches Verhältnis zwischen den beiden
her, sondern sie machen sie zu Feinden, indem sie riesengroße Widersprüche
zwischen ihnen anhäufen.
Die Klassen-, ethnischen, nationalen und ideologischen Widersprüche
und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft können bis hin zu Kriegen
führen. Diese sind aber keine unlösbaren Widersprüche. Da sie von
Menschenhand stammen, können sie auch von Menschenhand aufgelöst
werden. Der Mensch kann aber den Widerspruch zwischen der Industrie
als Mittel des Kapitals und der Erde und der Landwirtschaft nicht
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 143

kontrollieren. Die Erde und die Landwirtschaft haben sich Millionen Jahre
lang ökologisch entwickelt. Wenn sie aus den Fugen geraten sollten, können
sie von Menschenhand nicht wiederhergestellt werden. So wie Menschen
keine Erde produzieren können, können landwirtschaftliche Produkte
und andere Lebewesen, zum Beispiel Pflanzen, zur Zeit ebenfalls nicht
von Menschenhand geschaffen werden, und es ist auch nicht zu erwar-
ten, dass dies möglich wird. Dieses Potenzial wurde durch die Entstehung
des Menschen verwirklicht. Es ist weder möglich noch ergibt es Sinn, das
Verwirklichte zu wiederholen.
Da dies eine tiefergehende philosophische Diskussion darstellt, werde ich
nicht weiter darauf eingehen. So wie die Pharaonen durch pyramidenar-
tige Gräber ihre Zukunft nicht wirklich vorbereiten konnten, kann auch
die roboterisierende Weise des Industrialismus keine lebenswerte Zukunft
schaffen. Diese Weise stellt dem Menschen gegenüber eine Respektlosigkeit
dar. Welchen Sinn und welche Bedeutung können Kopien und Roboter
haben, während ein so perfektes Wesen wie die Natur existiert? Wir be-
gegnen hier wieder dem Profitwahn des Kapitals. Nehmen wir an, Roboter
verwirklichten die billigste Produktion. Wozu wären aber die Produkte
nützlich, wenn es ihre Nutzer nicht mehr gäbe? Der Industrialismus ist in
dieser Hinsicht der Hauptfaktor, der die Gesellschaft zur Arbeitslosigkeit
verdammt, die größte Waffe des Kapitals gegen die gesellschaftliche
Produktivität. Das Kapital setzt häufig die Waffe der Industrie ein, indem
es einerseits eine niedrige Anzahl von Arbeitern beschäftigt, andererseits
den Markt mit Preissenkungen ihren Wünschen entsprechend manipuliert.
Monopolpreise machen (Überproduktions-)Krisen, die die Hauptursache
der Arbeitslosigkeit bilden, unumgänglich. Schließlich fallen verrottende
Waren und arbeitslose, hungernde und arme Millionen diesen Krisen zum
Opfer.
Die Gesellschaft als Zweite Natur kann ihre Existenz nur in enger
Verbindung zu ihrer Umwelt fortsetzen, die Produkt von günstigen Räumen
und Millionen von Jahren ist. Kein Industrieerzeugnis kann die Umwelt,
das perfekte Erzeugnis des Universums, ersetzen. Der Land-, Luft-, See-
und Weltraumverkehr hat bereits katastrophale Dimensionen angenom-
men. Die mit fossilen Brennstoffen betriebene Industrie vergiftet stets das
Klima und die Umwelt. Das Gegenstück zu all diesen Katastrophen bildet
die zweihundertjährige Profitakkumulation. Ist diese Akkumulation all die-
se Zerstörungen wert? Während die Zerstörungen, die deswegen erfolgten,
jene aller Kriege in der Geschichte übersteigen, wurden von keinem anderen
144 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Ereignis, sei es menschengemacht sei es naturgemacht, so hohe Verluste an


Lebewesen verursacht.
Der Industrialismus als monopolistische Ideologie und Apparat ist eines
der grundsätzlichsten gesellschaftlichen Probleme. Es gilt, ihn tiefgehend
infrage zu stellen. Alleine die Gefahren, die er erzeugt, stellen einen hin-
reichenden Grund dazu dar. Wenn dieses Monster sich weiter vergrößern
und außer Kontrolle geraten sollte, könnte es zu spät werden, sodass seine
Infragestellung und die dagegen zu unternehmenden Maßnahmen keinen
Sinn mehr ergäben. Um zu verhindern, dass die Gesellschaft aufhört, sie
selbst zu sein, und zur virtuellen Gesellschaft wird, ist es an der Zeit, dieses
Monster aus den Händen der Monopole zu reißen und zunächst zu zäh-
men, um es danach in einen Freund der gesellschaftlichen Natur zu ver-
wandeln. Im Kampf gegen den Industrialismus stellt die Unterscheidung
zwischen der ideologischen Herangehens- und Nutzungsweise der industri-
ellen Technologie durch den Monopolismus und die dem gesellschaftlichen
Gemeinwohl entsprechende Struktur und Nutzungsweise der industriel-
len Technologie die wichtigste Aufgabe diesbezüglicher wissenschaftlicher
Arbeiten und des ideologischen Kampfes dar. Es ist nicht zu erwarten,
dass Gruppen, die auf der Grundlage des Humanismus gegen einen von
gesellschaftlichen und Klassenpositionen unabhängigen Industrialismus
zu kämpfen behaupten, ihr Ziel erreichen werden. Solche Gruppen kom-
men nicht umhin, objektiv entgegen ihr eigenes Ziel zu arbeiten und in
eine Lage zu geraten, in welcher sie dem Industrialismus als Monopolismus
dienen. Der Industrialismus hat einen viel stärker ideologischen, milita-
ristischen und Klassencharakter als häufig angenommen. Als Ideologie ist
er Wissenschaft und Technologie; er repräsentiert sogar die gefährlichs-
ten Dimensionen der in diesem Sinne eingesetzten Wissenschaft und
Technologie. Das Industiemonster ist nicht von alleine entstanden. Rufen
wir uns in Erinnerung: Als die englische Bourgeoisie ihre imperialistische
Offensive auf der Insel, in Europa und der ganzen Welt unternahm, bildete
sie die Klasse, die sowohl den Industrialismus organisierte als auch von ihm
am umfangreichsten und am schnellsten Gebrauch machte. Industrialismus
wurde später zur gemeinsamen Waffe der Bourgeoisien aller Länder. Die im
Rahmen des Trios Finanz, Handel und Industrie im neunzehnten und zwan-
zigsten Jahrhundert, den Jahrhunderten der Industrie, weltweit errichtete
bürgerliche Hegemonie beweist diese Tatsache.
Dass die realsozialistische Bewegung nicht-kapitalistische Gesellschaften zu
rückständigen erklärte und den Schulterschluss mit der Industriebourgeoisie
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 145

strategisch in Erwägung zog, führte dazu, dass sie, wenn auch unab-
sichtlich, in totalen Widerspruch zu ihren eigenen Zielen geriet. Dieser
Umstand führte sogar dazu, dass die realsozialistische Bewegung un-
ter den Bewegungen, die objektiv einen Verrat ausübten, die tragischsten
Konsequenzen erlebte – genauso wie das Christentum, das dreihundert
Jahre lang eine Friedensreligion gewesen war, später ein Bündnis mit dem
Staat und der Macht einging und objektiv und größtenteils auch wissentlich
mit ihren eigenen Zielen in Widerspruch geriet und sie schließlich verriet.
Auch das Christentum konnte in letzter Instanz der Anziehungskraft des
Machtmonopols nicht widerstehen und geriet so in Widerspruch mit seinem
ursprünglichen Ziel und kam nicht darum herum, eine Zivilisationsreligion
zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte den Islam bereits zu Lebzeiten des
Propheten Mohammed. Schließlich erlagen beide der Machtindustrie.
Wenn heute die ganze Menschheit angesichts der Umweltzerstörung so
aufschreit, als nahte der jüngste Tag, ist es unabdingbar, die Zerstörung
durch den Industrialismus in ihren historisch-gesellschaftlichen und
Klassendimensionen im Lichte ähnlicher Bewegungen zu begreifen, den
Kampf gegen den Industrialismus als Existenzbewegung der Gesellschaft an-
zunehmen und ihn im Stil einer neuen heiligen religiösen Bewegung zu be-
kämpfen. So wie Feuer sich nicht mit Feuer bekämpfen lässt, lässt sich auch
kein ökologischer Kampf führen, ohne das Leben im Industrialismussumpf
infrage zu stellen und auf ihn zu verzichten. Wenn wir nicht die gleichen
Tragödien wie das Christentum, der Islam und der Realsozialismus erle-
ben wollen, müssen wir aus ihnen Lektionen ziehen und den wissenschaft-
lich-ideologischen und moralisch-politischen Kampf richtig angehen.

6. Das Ökologieproblem der Gesellschaft


Die Industrialismusfrage ist offensichtlich sowohl Teil der Ökologiefrage als
auch ihre Hauptursache. Aus diesem Grund kann die separate Behandlung
dieser Frage eine gewisse Wiederholung mit sich bringen. Allerdings geht
die Bedeutung von Ökologie als eines problematischen gesellschaftlichen
Themas über die des Industrialismus hinaus. Auch wenn der Begriff mit
Umweltwissenschaft gleichbedeutend ist, handelt es sich dabei um eine
Wissenschaft, die das enge Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Fortschritt
und seiner Umwelt analysiert. Umweltfragen wurden größtenteils erst nach
Katastrophenalarmen auf die Tagesordnung gesetzt und in ein separa-
tes Untersuchungsfeld verwandelt, wenn auch mit heiklen Bedeutungen.
Denn auch die Ökologie ist, genauso wie der Industrialismus, keine von
146 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Gesellschaft geschaffene Frage, sondern steht als jüngstes Werk der
Zivilisationsmonopole in Form eines äußerst komplexen Problems auf der
Agenda von Geschichte, Gesellschaft und der ganzen Welt.
Vielleicht war bisher keine andere Frage im Sinne der Enthüllung des
wahren Gesichts der Profit- und Kapitalordnungen (organisierte Netzwerke)
so wichtig und schwerwiegend wie die ökologische. Die Bilanz des
Zivilisationssystems des Profits und des Kapitals (als Summe aller militäri-
schen, wirtschaftlichen, religiösen und Handelsmonopole in der Geschichte)
ist nicht nur die Auflösung der Gesellschaft in jeglicher Hinsicht (Moral-
und Politiklosigkeit, Arbeitslosigkeit, Inflation, Prostitution usw.), sondern
die Gefährdung der Umwelt samt dem Leben aller Lebewesen. Wie könnten
wir die Gesellschaftsfeindlichkeit des Monopolismus beweisen, wenn nicht
durch diese Tatsache?
Selbst wenn die menschliche Gesellschaft im Vergleich zu allen anderen
Lebewesen als die höchste Natur bezüglich der Intelligenz und Flexibilität
anerkannt wird, ist sie in letzter Instanz auch ein lebendiges Wesen. Ihre
Heimat ist die Erde, das heißt, sie ist das Produkt eines empfindlichen kli-
matischen Umfelds und der Evolution der Pflanzen- und Tierwelt. Die
Regelmäßigkeiten, denen die Atmosphäre und das Klima unserer Erde und
die Tierwelt unterliegen, gelten ebenfalls für die menschliche Gesellschaft,
da sie die Summe von alledem ist. Diese Regelmäßigkeiten sind sehr emp-
findlich. Sie hängen eng miteinander zusammen. Sie bilden nahezu eine
Kette. So wie eine Kette funktionsuntüchtig wird, wenn eines ihrer Glieder
abbricht, so sind auch die Auswirkungen auf die Evolution unumgänglich,
wenn eines der wichtigen Glieder der Evolutionskette zerbricht. Ökologie
ist die Wissenschaft dieser Entwicklungen und deshalb sehr wichtig. Wenn
die innere Ordnung der Gesellschaft aus irgendeinem Grund zerstört wird,
kann sie mit menschlicher Anstrengung wieder neu hergestellt werden.
Schließlich ist die gesellschaftliche Realität eine, die von Menschenhand
stammt. Bei der Umwelt verhält es sich anders. Wenn einige Gruppen, die
ihre Wurzeln in der Gesellschaft haben, genauer gesagt sich mithilfe des
Profit- und Kapitalmonopols über der Gesellschaft organisieren, aus der
sie stammen, das Herausbrechen von wichtigen Gliedern der Umweltkette
bewirken sollten, könnten evolutionäre Katastrophen kettenartig zum
Untergang der ganzen Umwelt und dadurch auch der Gesellschaft führen.
Man sollte nicht vergessen, dass die Glieder der Umweltkette durch eine
Evolution entstanden sind, die Millionen Jahre dauerte. Die Zerstörungen
der letzten fünftausend Jahre im Allgemeinen, der letzten zweihundert Jahre
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 147

im Besonderen schafften es in dieser kurzen Zeitspanne, Tausende Glieder


der Millionen Jahre alten Entwicklungskette herauszureißen. Die zerstöreri-
sche Kettenreaktion ist bereits losgetreten und es ist nicht abzuschätzen, wie
sie aufzuhalten sein wird. Es wird prognostiziert, dass die Atmosphäre von
der aktuellen Luftverschmutzung durch Kohlendioxid und andere Abgase
nicht einmal in Hunderten, ja sogar Tausenden von Jahren gereinigt wer-
den könnte. Die Folgen der Zerstörungen in der Pflanzen- und Tierwelt
sind vielleicht noch nicht ganz offen zutage getreten. Klar ist aber, dass der
Hilferuf dieser beiden Welten zumindest genauso laut ertönt wie der der
Atmosphäre. Die Meeres- und Flussverschmutzung und die zunehmende
Wüstenbildung stehen bereits heute an der Schwelle zur Katastrophe. Alle
Zeichen deuten darauf hin, dass nicht die Störung der natürlichen Ordnung,
sondern einige in Netzwerken organisierte Gruppen den Untergang der
Gesellschaft herbeiführen werden. Selbstverständlich wird auch die Natur
Antworten auf diese Entwicklung haben, denn auch sie ist lebendig und
intelligent. Auch ihre Geduld hat Grenzen. Am richtigen Ort und zum rich-
tigen Zeitpunkt wird sie Widerstand zu leisten wissen und dabei nicht auf
die Tränen von Menschen achten, denn sie wird sie alle dafür verantwortlich
machen, dass sie ihre Talente und die von der Natur geschenkten Werte ver-
raten haben. War nicht der jüngste Tag so vorgesehen?
Ich will an dieser Stelle keine neuen Katastrophenszenarien entwerfen,
sondern lediglich wie alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch, gemäß
unserer Verantwortung und unserem Verständnis von moralischen und
politischen Aufgaben als unserem Daseinsgrund, entsprechend unserer
Fähigkeiten das Notwendige sagen und tun.
Über das Schicksal der Nimrods und Pharaonen in der
Menschheitsgeschichte, die sich in ihre Burgen und Pyramiden zurückgezo-
gen haben, wird viel erzählt. Der Grund dafür ist offensichtlich. Schließlich
stellten die Nimrods und Pharaonen sowohl als Einzelpersonen als auch als
Ordnungen Monopole dar, die Träger göttlicher Ideen waren. Ja, sie waren
die prächtigsten Exemplare der stets profitorientierten Kapitalmonopole im
Altertum. Wie sehr sie den gegenwärtigen Monopolen ähneln, die sich in
ihre Wolkenkratzer zurückziehen! Natürlich gibt es zwischen ihnen forma-
le, wenn auch nicht wesentliche Unterschiede. Die Burgen und Pyramiden
können trotz ihrer ganzen Pracht nicht mit den heutigen Wolkenkratzern
mithalten. Zudem können sie mit ihnen zahlenmäßig überhaupt nicht mit-
halten. Die Anzahl aller Pharaonen und Nimrods überstieg nicht einmal ein
paar Hundert, aber die der zeitgenössischen Pharaonen und Nimrods beläuft
148 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

sich wohl auf Hunderttausende. Die Menschheit konnte in alten Zeiten die
Last von ein paar Nimrods und Pharaonen nicht ertragen. Sie ächzte sehr.
Wie lange wird sie denn noch die Last von Hunderttausenden ertragen, die
die Auflösung der Umwelt und der Gesellschaft herbeiführen? Wie wird sie
die Schmerzen lindern, die die ganzen von Pharaonen und Nimrods verur-
sachten Kriege, Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut erzeugen?
Mit den Worten, dass die geschichtliche Gesellschaft eine Totalität bildet,
versuchte ich diese Tatsache auch im Lichte der evolutionären Entwicklung
auszudrücken. Sind es denn keine ungeheuerlichen und wichtigen
Tatsachen?
Die Wissenschaft der kapitalistischen Moderne mit ihrer positivistischen
Struktur hatte ein sehr großes Selbstvertrauen. Sie hielt große phänomen-
ale Entdeckungen für alles. Sie glaubte, die absolute Wahrheit beschränke
sich auf das oberflächliche Wissen über die Phänomene. Sie war sich sicher,
dass man in einen Prozess des endlosen Fortschritts eingetreten war. Wie
sollte man aber beurteilen, dass sie die Umweltkatastrophe, die sich direkt
vor ihrer Nase ereignete, nicht voraussagen konnte? Wie sollte man beur-
teilen, dass sie angesichts der ganzen gesellschaftlichen Katastrophen, vor
allem der Kriege, der letzten vier Jahrhunderte keine gründlichen Lösungen
entwickeln und umsetzen konnte? Was sollte man dazu sagen, dass sie den
Krieg, der als Macht alle Poren der Gesellschaft durchdrungen hat, nicht
richtig feststellen konnte, geschweige denn ihn zu verhindern? Offenbar
hätte im Zeitalter der maximalen Hegemonie der Monopolherrschaft die
Wissenschaft mit ihrer, im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Glauben,
der ideologischen Umzingelung am meisten ausgesetzten und dem System
bestens dienenden Struktur diese Fragen nicht beantworten können. Es hat
sich gezeigt, dass die Wissenschaft, deren Struktur, Zweck und Modus er-
klärterweise die Legitimation des Systems zum Ziel haben, nicht einmal
so wirksam ist wie Religionen. Allerdings sollte man auch begreifen, dass
es keine nicht-ideologische Wissenschaft geben kann. Das Wichtigste ist,
dass man erkennt, die Ideologie welcher Gesellschaft und welcher Klasse sie
als Wissen und Wissenschaft ist, und seine Haltung dementsprechend be-
stimmt. Wenn Ökologie als eine der neuesten wissenschaftlichen Disziplinen
in diesem Rahmen ihre Position bestimmt, kann sie die ideale Lösungskraft
nicht nur der Umwelt, sondern auch der gesellschaftlichen Natur werden.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 149

7. Gesellschaftlicher Sexismus, Familien-, Frauen- und


Bevölkerungsfrage
Die Wahrnehmung der Frau als ein biologisch anderes Geschlecht gehört
zu den Hauptfaktoren, die zur Blindheit im Hinblick auf die gesellschaft-
liche Realität führen. Der Geschlechtsunterschied an sich kann nicht die
Ursache irgendwelcher gesellschaftlicher Probleme sein. Genauso, wie die
Dualität in jedem Quäntchen im Universum nicht als Problem betrachtet
werden kann, kann auch die Dualität der menschlichen Existenz nicht pro-
blematisiert werden. Die Antworten auf die Frage »warum ist die Existenz
dualistisch?« können nur philosophischer Art sein. Die ontologische Analyse
kann nach einer Antwort auf diese Frage suchen. Meine Antwort ist: Die
Existenz kann sich nicht jenseits der Dualität ereignen. Die Dualität ist
die Ermöglichungsweise der Existenz. Die Frau und der Mann könnten
sich, selbst wenn sie nicht so wie gegeben, sondern geschlechtslos (ohne
Gegenstück) wären, nicht von der Dualität befreien. Das ist, was man
Zweigeschlechtlichkeit nennt. Man sollte sich darüber nicht wundern.
Allerdings neigen Dualitäten immer dazu, sich unterschiedlich zu gestalten.
Auch den Beweis für die universale Intelligenz (Geist34) kann man in dieser
Tendenz von Dualitäten suchen. Die beiden Seiten der Dualität sind weder
gut noch böse, sondern nur unterschiedlich und müssen es auch sein. Wenn
die beiden Seiten von Dualitäten gleich werden, kann die Existenz sich nicht
mehr verwirklichen. Beispielsweise ließe sich das Fortpflanzungsproblem der
Existenz nicht durch zwei Frauen oder zwei Männer lösen. Deshalb ist die
Frage »warum Frau oder Mann?« wertlos; oder wenn man unbedingt nach
einer Antwort auf diese Frage suchen will, kann man philosophisch antwor-
ten, dass das Universum ein solches Werden erfordert, dazu tendiert, sich so
denkt, so begehrt…
Aus diesem Grund ist eine Untersuchung der Frau als Verdichtung sozi-
aler Beziehungen nicht nur sinnvoll, sondern auch von großer Wichtigkeit
im Hinblick auf die Lösung und Überwindung gesellschaftlicher gordischer
Knoten. Da die patriarchale Sicht mittlerweile immun ist, erscheint ein
Bruch mit der Blindheit bezüglich der Frau so schwierig wie die Spaltung
eines Atoms.35 Dafür bedarf es großer intellektueller Bemühungen und der
Zerschlagung der hegemonialen Männlichkeit. Auch auf der Seite der Frau
gilt es, die zu einer Existenzweise erhobene und eigentlich gesellschaftlich

34 Im Original deutsch.
35 Nach dem Albert Einstein zugeschriebenen Aphorismus »Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein
Vorurteil.«
150 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

geschaffene Frau zu analysieren und abzuschaffen. Die Enttäuschungen we-


gen nicht umgesetzter Utopien, Programme und Grundsätze im Erfolg so-
wie Misserfolg aller Freiheits- und Gleichheitskämpfe sowie demokratischen,
moralischen, politischen und Klassenkämpfe tragen die Spuren des nicht ab-
geschafften hegemonialen (Macht-)Verhältnisses zwischen Mann und Frau.
Alle Verhältnisse, die Ungleichheiten, Sklaverei, Despotismus, Faschismus
und Militarismus nähren, haben ihren Ursprung in dieser Beziehungsform.
Wenn wir häufig verwendeten Worten wie Gleichheit, Freiheit, Demokratie
und Sozialismus Gültigkeit verleihen wollen, die nicht zur Enttäuschung
führen soll, müssen wir das um die Frau gesponnene Beziehungsnetz, das
genauso alt wie das Gesellschaft-Natur-Verhältnis ist, entflechten oder zer-
reißen. Es führt sonst kein anderer Weg zu wahrer Freiheit und (Differenzen
zulassender) Gleichheit, Demokratie und einer nicht scheinheiligen Moral.
Dem Sexismus wurde seit der Entstehung der Hierarchie die Bedeutung
einer Machtideologie verliehen. Er hängt mit Klassen- und Machtbildung
eng zusammen. Zahlreiche archäologische, anthropologische und aktu-
elle Forschungen und Beobachtungen zeigen, dass es lange Zeitspannen
gab, in denen die Frau Autoritätsquelle war. Diese Autorität war nicht
die der auf Mehrprodukt basierenden Macht, sondern eine Autorität, die
auf Produktivität und Fruchtbarkeit zurückzuführen war und die gesell-
schaftliche Existenz stärkte. Die bei Frauen stärker ausgeprägte emotionale
Intelligenz hat enge Verbindungen mit dieser Existenz. Dass die Frau sich an
auf Mehrprodukt basierenden Machtkriegen eindeutig nicht beteiligte, liegt
an dieser Stellung und ihrer gesellschaftlichen Existenzweise.
Historische Funde und aktuelle Beobachtungen zeigen eindeutig, dass der
Mann bei der Entwicklung der mit hierarchischer und staatlicher Ordnung
zusammenhängenden Macht die Führungsrolle innehatte. Dazu musste die
bis zur letzten Phase der neolithischen Gesellschaft starke Autorität der Frau
zerschlagen und überwunden werden. Wiederum bestätigen historische
Funde und aktuelle Beobachtungen, dass mit diesem Ziel langfristige und
große Kämpfe verschiedenster Form geführt wurden. Vor allem die sumeri-
sche Mythologie, als Gedächtnis der Geschichte und der gesellschaftlichen
Natur, ist in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreich.
Die Zivilisationsgeschichte ist gleichzeitig die Geschichte der Niederlage
und des Verlustes der Frau. Diese Geschichte ist eine, in der die patriarcha-
le Persönlichkeit sich mit Gott und seinen Knechten, mit dem Herrscher
und seinen Untertanen, mit der Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ver-
härtete. Aus diesem Grund stellen die Niederlage und der Verlust der Frau
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 151

einen großen Abstieg und eine große Niederlage für die Gesellschaft dar.
Die sexistische Gesellschaft ist das Ergebnis dieses Abstiegs und dieser
Niederlage. Wenn der sexistische Mann über der Frau seine Herrschaft er-
richtet, ist er dabei so begierig, dass er jegliche natürliche Berührung in
eine Zurschaustellung von Herrschaft verwandelt. Ein biologischer Akt
wie der Geschlechtsverkehr ist dabei stets Träger des Machtverhältnisses.
Der Mann betrachtet den sexuellen Kontakt mit der Frau so, als wäre es
sein Sieg. Er hat dahingehend eine sehr starke Gewohnheit entwickelt und
eine Menge Ausdrücke erfunden: »Ich habe sie vernascht!« »Ich habe ein
Rohr verlegt!« »Fotze!« »Das Weib braucht immer einen Braten in der Röhre
und einen Knüppel auf dem Rücken!« »Nutte, Hure!« »Ein mädchenhafter
Junge!« »Wenn man seine Tochter frei lässt, brennt sie entweder mit dem
Trommler oder mit dem Pfeifer durch!« Es ist offensichtlich, wie wirksam
der Zusammenhang zwischen Sexualität und Macht in der Gesellschaft ist.
Selbst heute noch ist es eine soziologische Tatsache, dass der Mann über
der Frau unzählige Rechte besitzt, die bis zum ›Recht auf Morden‹ rei-
chen. Diese ›Rechte‹ werden jeden Tag wahrgenommen. Die überwältigen-
de Mehrheit der Beziehungen haben den Charakter von Übergriffen und
Vergewaltigungen.
Die Familie wurde in diesem gesellschaftlichen Zusammenhang als klei-
ner Staat des Mannes konstruiert. Die stetige Vervollkommnung der Familie
in ihrer bestehenden Art und Weise in der Zivilisationsgeschichte rührt von
der großen Stärke her, die sie den Staatsapparaten verleiht. Erstens wird
die Familie, die um den Mann herum zur Macht wird, zur Keimzelle der
Staatsgesellschaft gemacht. Zweitens wird durch die Familie das grenzenlose
Arbeiten der Frau ohne Gegenleistung gewährleistet. Drittens kommt sie für
den Bedarf an Nachwuchs auf, indem sie Kinder großzieht. Viertens steht
sie als Klischee gesellschaftlich für Sklaverei und Hilfsbedürftigkeit. Somit
stellt die Familie eigentlich eine Ideologie dar. Sie ist die Institution, durch
die die dynastische Ideologie funktionalisiert wird. Jeder Mann sieht sich in
seiner Familie als Herrscher eines kleinen Feudalstaates. Diese dynastische
Ideologie spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Familie als ei-
nes sehr wichtigen Phänomens. Über je mehr Frauen und Kinder die Familie
verfügt, desto größer die Sicherheit und Würde, die der Mann erlangt. Es
ist ebenfalls wichtig, die Familie in ihrer bestehenden Art und Weise als
eine ideologische Institution zu betrachten. Wenn man der Macht und dem
Staat die Frau und die Familie in ihrer bestehenden Art und Weise entzö-
ge, bliebe sehr wenig an Ordnung übrig. Aber der Preis, den man für diese
152 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Art und Weise der Familie zahlt, ist die Gefangenschaft der Frau in einer
schmerzhaften, armen, hilfsbedürftigen Existenzweise, in einer Niederlage
in einem stetigen Krieg niedriger Intensität. Eine nahezu der im Laufe der
Geschichte von Kapitalmonopolen über der Gesellschaft errichteten ähnli-
che Monopolkette ist das ›männliche Monopol‹ über der Frauenwelt – wohl
das älteste und stärkste Monopol überhaupt. Die Existenz der Frau als die äl-
teste Kolonie zu betrachten, führt uns zu realistischeren Ergebnissen. Frauen
als ›das nicht zur Nation gewordene älteste Kolonialvolk‹ zu bezeichnen,
wäre am zutreffendsten.
Die kapitalistische Moderne hat, trotz ihrer ganzen liberalen
Ausschmückung, der Frau weder Freiheit noch Gleichheit beschert, sondern
verlieh ihr einen noch schwerer zu ertragenden Status, indem sie ihr zusätzli-
che Aufgaben auferlegte. Ein Status wie billigste Arbeiterin, Hausarbeiterin,
unbezahlte Arbeiterin, flexible Arbeiterin und Dienerin zeigt, dass der
Zustand sich weiterhin verschlimmerte. Zudem wurde der Missbrauch an
der Frau als Ilustrierten–Wesen und Werbemittel vertieft. Selbst ihr Körper
wird zum Zwecke vielfältigsten Missbrauchs im Warenzustand gehalten. Sie
ist das kontinuierliche Anreizmittel der Werbeindustrie. Kurz, sie ist die
fruchtbarste Vertreterin moderner Sklaven. Können Sie sich eine wertvollere
Ware vorstellen als die, die einerseits fortwährendes Vergnügungsmittel ist,
andererseits den größten Gewinn einbringt?
Die Bevölkerungsfrage hängt eng mit dem Sexismus, der Familie und der
Frau zusammen. Mehr Bevölkerung heißt mehr Kapital. ›Hausfrauentum‹
ist eine Bevölkerungsfabrik – eine Fabrik, die für das System die wertvollsten
Waren, derer es sehr bedarf, also Nachkommen, produziert. Leider wurde
die Familie unter der monopolistischen Herrschaft in diesen Zustand ver-
setzt. Während die Frau den Preis für alle Schwierigkeiten zu zahlen hat,
stellt der Wert der Ware das wertvollste Geschenk für das System dar. Das
Bevölkerungswachstum schadet am meisten der Frau. Genauso verhält es
sich auch bei der dynastischen Ideologie. Der Familiarismus als populärste
Ideologie der Moderne bildet die letzte Phase des Dynastismus. Alle diese
Umstände sind in die nationalstaatliche Ideologie ebenfalls sehr gut integ-
riert. Was könnte wertvoller sein, als für den Nationalstaat Kinder großzu-
ziehen? Größere nationalstaatliche Bevölkerung bedeutet größere Stärke. Die
Bevölkerungsexplosion basiert also auf dem streng organisierten Kapital und
den lebenswichtigen Interessen der männlichen Monopole. Schwierigkeiten,
Kummer, Schmerzen, Anschuldigungen, Armut und Hunger gebühren der
Frau, Genuss und Gewinn ihrem ›Ehemann‹ und Kapitalisten. Kein anderes
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 153

Zeitalter in der Geschichte brachte die notwendige Kraft auf, die Frau so
vielseitig zu missbrauchen. Die Frau als erste und letzte Kolonie erlebt den
kritischsten Moment der Geschichte.
Allerdings bärge eine auf einer mit Freiheit, Gleichheit und Demokratie
geladenen Philosophie beruhende Lebenspartnerschaft mit der Frau in sich
die Fähigkeit, für das Schöne, Gute und Richtige auf perfektem Niveau zu
sorgen. Ich für meine Person finde das Zusammenleben mit der Frau im be-
schriebenen Status nicht nur äußerst problematisch, sondern auch hässlich,
schlecht und falsch. Seit meiner Kindheit habe ich noch nie den Mut ge-
zeigt, mit der Frau unter dem bestehenden Status zusammenzuleben. Es gin-
ge dabei um ein Leben, das einen so starken Trieb wie den Geschlechtstrieb
infrage stellt. Der Geschlechtstrieb dient der Fortexistenz des Lebens. Er ist
ein Naturwunder, das als heilig angesehen werden sollte. Das Kapital und
das männliche Monopol haben aber die Frau dermaßen beschmutzt, dass
diese Fähigkeit, dieses Naturwunder in eine äußerst erniedrigte Institution
verwandelt wurde, die wie eine »Nachwuchsfabrik« Waren produziert.
Während die Gesellschaft mit diesen Waren durcheinander gebracht wird,
erlebt die Umwelt unter der Last dieser Bevölkerung (derzeitig rund sieben
Milliarden; wenn es so weiter geht, stellen Sie sich vor, wie es der Umwelt
mit zehn oder fünfzig Milliarden ginge) Augenblick für Augenblick den
Untergang.
Zweifellos ist es ein heiliges Ereignis, mit einer Frau ein gemeinsames
Kind zu haben; es ist der Beweis dafür, dass das Leben nicht versiegen wird.
Es lässt einen die Unendlichkeit spüren. Könnte es ein wertvolleres Gefühl
als das geben? Jede Spezies spürt durch dieses Phänomen die Aufregung, sich
ins Unendliche zu begeben. Insbesondere beim heutigen Menschen ereignet
sich dieser Umstand aber auf dem Niveau – wie einst ein Dichter sagte –
»Verderben bringen uns unsere Nachfahren«36. Es lässt sich nicht leugnen,
dass wir wieder einmal mit der Morallosigkeit, Hässlichkeit und Falschheit
des Kapital- und männlichen Monopols konfrontiert sind, die sowohl der
Ersten als auch der Zweiten Natur widersprechen.
Was von Menschen konstruiert wurde, lässt sich auch von Menschen
zerstören. Es handelt sich hier weder um ein Naturgesetz noch um ein
Schicksal, sondern um die zu zerstörenden Ordnungen der Monopole, um
die Hände des krebskranken und mit Hormonen vollgepumpten Lebens
des Netzwerks des schlauen und listigen Mannes. Ich spürte immer, dass
36 Die Zeile »Başımıza bela dölümüz bizim« stammt aus dem mehrfach vertonten Gedicht Nesini
söyleyim canım efendim des wandernden Volkssängers und Dichters Serdâri (ca. 1833–1921).
154 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

dieses perfekte, dieses – sofern man wissen kann – beste Paar im Universum
einen tiefen Sinn erlangen sollte. Ich brachte den Mut auf, gegenüber allen
Beziehungen dem gemeinsamen Denken mit der Frau, der Diskussion und
Behebung der Probleme, wo, wann, wie viele sie auch immer sein sollten,
Vorrang einzuräumen. Zweifellos ist nur die Frau, die stark denkt, gute,
schöne und richtige Entscheidungen treffen kann, mich fasziniert, indem
sie über mich hinauswächst, und meine Gesprächspartnerin sein kann, ein
Eckpfeiler meiner philosophischen Suche. Ich habe stets daran geglaubt,
dass die Geheimnisse des Lebensflusses im Universum mit ihren besten,
schönsten und richtigsten Seiten in dieser Frau eine Bedeutung erlangen
werden. Aber ich glaubte im Gegensatz zu allen anderen Männern gleich-
zeitig auch an meine Moral, die mir das Teilen meiner Existenzweise mit
der Ware ›des Mannes und des Kapitals‹, mit ›Hürmüz mit den neunzig-
tausend Ehemännern‹ verbietet. Also kann über den Feminismus hinaus die
›Jineolojî37‹ (Frauenwissenschaft) zweckdienlich sein.38

8. Das Problem der Urbanisierung der Gesellschaft


Ein anderes türkisches Wort für Zivilisation, medenileşme39, stammt aus dem
Arabischen und bedeutet ›Urbanisierung‹. Die Probleme, die ihren Ursprung
in der Urbanisierung haben, sind weder geringer noch unwichtiger als die
ökologischen. Sie stellen heute eine der größten Bedrohungsquellen für das
gesellschaftliche Leben dar. Was macht aber die Stadt zu einer solch prob-
lematischen Sache?
Die einem plumpen Verständnis entsprechende Formel ›Stadt = Klasse =
Staat‹ könnte zwar die Darstellung der Urbanisierungsfrage vereinfachen,
ließe sie aber gleichzeitig ihre Bedeutungstiefe verlieren und uns im Hinblick
auf die Vielseitigkeit dieser Frage blind bleiben. Die Menschheit fand, dass
der Aufbau von Städten der gesellschaftlichen Natur genauso entspreche wie
der von Dörfern, und handelte dementsprechend. Die Stadt stellt einen der
wichtigsten Orte dar, an dem sich die gesellschaftliche Intelligenz konzent-
riert. Die Stadt regt die Intelligenzfähigkeit des Menschen an. Die Vernunft
erlebte einen eng mit der Stadt zusammenhängenden Entwicklungsverlauf.
Die Stadt ist der Ort, wo der Mensch merkt, wozu er fähig ist. Sie bringt
Sicherheit. Wer selbstsicher ist, denkt rationaler. Der Fortschritt im Denken
führt zu neuen Erfindungen und entwickelt Methoden und Techniken der

37 Kurdisch aus jin = Frau und -lojî = -logie.


38 Siehe die Ausführungen zum Feminismus im siebten Teil dieses Bandes.
39 Normalerweise verwendet der Autor uygarlık für Zivilisation.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 155

Produktionssteigerung. Der Mensch, der all das erlebte, sah die Stadt als
eine Lichtquelle und fühlte sich von ihr angezogen. Die Entwicklung der
Stadt um den Tempel herum hängt damit zusammen, dass der Tempel zu
seiner Zeit der Ort war, an dem die heilige Vernunft und Geister sich ver-
sammelten. Die Gesellschaft entdeckte und kreierte in der Stadt ihre eigene
Vernunft und Identität. Wir sprechen hier von starken Hypothesen zuguns-
ten der Stadt.
Wie bei jeder anderen Realität auch, zeigte sich mit der Genese der
Stadt auch ein anderes Gesicht: die Herausbildung von Klassen und die
Entstehung des Staates. Die materielle Grundlage der Herausbildung von
Klassen bildete zweifellos die steigende Produktivität. Einige der Menschen,
die im Besitz der sich entwickelnden Vernunft der Stadt waren, lernten aus
ihren Erfahrungen, dass man ein Vielfaches an Menschen ernähren könn-
te, wenn man die Anzahl der Menschen erhöhte und sie auf fruchtbaren
Ländereien arbeiten ließe. Was noch zu tun war, war die Errichtung des
nötigen Mechanismus für dieses Arbeitenlassen. Die Ordnung, die dazu er-
richtet wurde, war der Staat, der eine Art Monopol darstellte. Diese neue
Ordnungsorganisation entstand, wenn auch stadtweit, offensichtlich ur-
sprünglich als landwirtschaftliches Monopol. Anhand der sumerischen
Städte lässt sich diesbezüglich alles erklären. Viele Zivilisationen wie die
ägyptische oder harappische entstanden als landwirtschaftliche Monopole
und Apparate zur Regelung der Produktion. Sobald die Produktion
ein Niveau erreicht, das zumindest dem Zweifachen der arbeitenden
Bevölkerung Mehrprodukt bieten könnte, entsteht die materielle Grundlage
eines Staates. Das Phänomen, das man als Staat bezeichnet, besteht eigent-
lich aus denjenigen, die von der Mehrproduktion leben. Es wäre sinnvoller,
den Staat als eine Organisation zur Anhäufung von Produkten zu bezeich-
nen und die Stadt als den dafür geeigneten Ort. Die Errichtung solcher
Verhältnisse wäre in Stammes- und Dorfgesellschaften äußerst schwierig aus-
gefallen. Die Stammes- und Dorfstrukturen lassen so etwas nicht zu. Diese
Tatsache steckt hinter der Entstehung des Staates in der Stadt. So begegnete
die Menschheit in der Stadt der Ausbeutung und lernte eine ihr bis dato
unbekannte Beziehungsform kennen. Diese neue Kunst hieß ›Etatismus‹.
Wozu derjenige fähig ist, der den Staat in seiner Hand hat! Es entstand ein
unheimlicher Apparat zur Durchsetzung von Interessen einzelner. Selbst der
sklavenartige Arbeiter begriff, dass er in staatlicher Arbeitslosigkeit bequemer
und sicherer war als früher. Es wäre übertrieben, sein Arbeiten ausschließlich
156 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

auf Zwang zurückzuführen. So oder so ähnlich sah die Gründungsgeschichte


der Stadt aus.
Auch wenn die Stadt zu einigen Problemen (Ausbeutung und
Organisation der Stärkeren) führte, ist es klar, dass sie einen revolutio-
nären Schritt in der rationalen Entwicklung der Gesellschaft darstellte.
Aristoteles stellte sich die Stadt als aus fünftausend Menschen bestehend
vor. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung war die Bevölkerung von Städten
tatsächlich ungefähr so groß. In der Stadt handelte es sich um eine neue
gesellschaftliche Zusammensetzung. Die Stammesgesellschaft war überwun-
den. Menschen aus verschiedenen Stämmen und Sippen wurden unter der
Stadtbürgerschaft vereint. ›Stadtbevölkerung‹, ›Mitbürger40‹ und ›bajarî‹41
entstanden. Diese Entwicklung zeigt, dass die Gesellschaft reicher geworden
war. Die Stadt war in dieser ihrer Form ein Mittel des Fortschritts und kei-
ne ernsthafte Problemquelle. Während des gesamten Altertums lassen sich
kaum Städte finden, die ein Bevölkerungsproblem hatten – mit der zeitwei-
ligen Ausnahme von Babylon und Rom. Die Stadt, mit ihrer gesellschaftli-
chen Überlegenheit, steigerte ihre Attraktivität stetig. Während das sumeri-
sche Modell sich lawinenartig ausbreitete, wurde in Ägypten eine begrenzte
Anzahl von Städten gebaut. Eigentlich war die ägyptische Zivilisation als
eine halb-städische und halb-dörfliche einzigartig in der Geschichte. Der
Handel und das Handwerk entwickelten sich rasant weiter. Mit Straßen,
sportlichen, künstlerischen und Palastgebäuden erweiterten sich die Bauten
um den Tempel hin zu neuen Gewebebildungen. Zahlreiche Städte wur-
den um militärische Garnisonen herum aufgebaut. Insbesondere römi-
sche Garnisonen bildeten den Kern von neuen Städten. Historiker*innen
meinen, dass zu jener Zeit auf eine Stadt zumindest zehn Dörfer kamen.
Zwischen diesen bestand eine symbiotische Beziehung. Das bedeutet also,
dass es noch keine Probleme zwischen der Stadt und dem Dorf gab.
Rom, die letzte prachtvolle Stadt der Antike, vereinte vielleicht alle
Probleme seines Zeitalters in seinem Herzen. Dies machte Rom sowohl
zur prachtvollsten als auch zur problematischsten Stadt der Zivilisation.
Man konnte dort allen Klassen und sozialen Gruppen (Aristokratie,
Bourgeoisie, Sklav*innen, Lumpenproletariat, allen ethnischen Gruppen, al-
len Glaubensgemeinschaften, allen Hautfarben) begegnen. Die alten Klassen
und sozialen Gruppen waren als Überbleibsel, die neuen als Keimzellen

40 Das türkische hemşehri entspricht etwa dem deutschen ›Landsleute‹, bedeutet aber, dass man
aus derselben Stadt stammt.
41 Kurdisch für Städter*in.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 157

vertreten. Zudem konnte man jeglicher Moral, Politik und Regierungsform


begegnen. Im Reich wurde jegliche Art von Königreich, Republik und
Demokratie ausprobiert. Entweder als Überbleibsel oder als Keimzelle konn-
te man allen Wissenschaften, Künsten, Philosophien und Religionen be-
gegnen. Rom war im wahrsten Sinne des Wortes eine ökumenische Stadt.
Das Sprichwort »alle Wege führen nach Rom« war in gewisser Hinsicht
der Ausdruck dieser Realität. Rom spiegelte den Höhepunkt der dreitau-
sendfünfhundertjährigen Zentralzivilisation wider. Auch sein Untergang
war so imposant wie die Stadt selbst. Die beiden großen Kräfte, die zu ei-
nem Problem für die Zivilisation wurden, d. h. die Christ*innen, die die
Armenklasse bildeten, und die Gruppen, die immer noch größtenteils die
Eigenschaften ihrer jeweiligen Ethnie beibehielten (diese als Barbaren zu
bezeichnen, wäre ein Hereinfallen auf die Terminologie der Zivilisation),
führten das Ende der Stadt herbei, indem sie sie von innen und von außen
in verschiedenen Wellen angriffen. Das Jahr 476 n. Chr. markiert nicht nur
den Untergang einer Stadt, sondern im Namen Roms das Verderben und
den Untergang der dreitausendfünfhundertjährigen antiken Zivilisation.
Im Mittelalter konnte die Menschheit im Hinblick auf die Urbanisierung
niemals das Niveau der Antike erreichen. Die mittelalterliche Stadt mit
ihrer ummauerten Burg war anfangs einförmig und sehr klein. Die mit-
telalterlichen Städte bildeten eine Art Hauptquartier von Fürstentümern
und Emiraten. Indem einige Handwerker und Hofdiener sich um sie her-
um versammelten, begannen die Städte sich auszudehnen. Auch wenn die
Händlerklasse der Expansion und Pracht der Stadt einen ersten Schub ver-
lieh, ist es nicht einfach, neu errichtete Städte zu finden, die das Niveau
von antiken Städten wie Rom, Alexandria, Antiochia, Dara und Nusaybin,
Edessa/Urfa erreichten. Selbst wenn die neuen Städte die alten zahlenmäßig
übertrafen, konnten sie im Hinblick auf Architektur und Funktionalität
(Tempel, Theater, Ratsgebäude, Agora, Hippodrom, Amphitheater, Hamam,
Kanalisationssystem, Werkstatt) niemals das alte Prachtniveau erreichen. Die
mittelalterliche Zivilisation ähnelte einer Zivilisation, die ihre Zelte und
Städte auf den Ruinen der Antike errichtete. Die Stadt war noch weit davon
entfernt, dem Land, dem Dorf überlegen zu sein. Die Städte ähnelten eher
kleinen Inseln in einem Ozean aus Dörfern. Obwohl sie bereits Macht-
und Klassenwidersprüche in sich trugen, stellten sie noch kein Problem
für die Umwelt dar. Das Zivilisationssystem im Allgemeinen nagte aber in
der Folgezeit wegen der Kapitalmonopole allmählich an der Umwelt. Die
Bodenversalzung hing mit den landwirtschaftlichen Monopolen zusammen.
158 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Dieser Umstand setzte sich bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts fort
und vergrößerte die Probleme immer weiter.
Zur eigentlichen Urbanisierungskrise kam es infolge der industriel-
len Revolution des neunzehnten Jahrhunderts und des Industrialismus.
Dies war kein Zufall, sondern liegt in der anti-gesellschaftlichen Natur
des Industrialismus begründet. Ökologisch am problematischsten an der
Stadt ist, dass sie eine von der Umwelt separierte Dialektik durchmacht.
Das Dorf lebt in einem unmittelbaren Verhältnis zur Umwelt. Es hängt in
jeglicher Hinsicht von ihr ab und weiß, dass es ihr Produkt ist. Das Dorf
setzt sein Leben fort, indem es mit seinen Tieren und Pflanzen sozusagen
die Sprache der Umwelt spricht. Es ist eine gemeinsame Sprache, eine
Landwirtschaftssprache geschaffen worden. Die Gesellschaftsgründung ge-
schah unter großem Einfluss dieser Sprache. In der Stadt ist das Gegenteil
der Fall; sie entfernt sich stetig von der Landwirtschaft und der Umwelt. Sie
entwickelt eine neue Sprache – die Sprache der Stadt. Ihr wohnt eine eigene
Rationalität inne. Ihre Beziehung mit der Vernunft der Umwelt wird im-
mer schwächer. Die Sprache der Stadt ist eine, die mit Handel, Handwerk,
Industrie und Geldgeschäften zusammenhängt. Sie stellt deren Vernunft
und Wissenschaft dar und wird von ihnen konstruiert. So sieht die neue
dialektische Entwicklung der Sprache aus. Offensichtlich handelt es sich
dabei um eine widersprüchliche und entfremdete Sprache und Mentalität.
Die Urbanisierung jener Zeit schloss die alte ländliche Gesellschaft und die
Dialekte und Kulturen mit ein, die die verbreiteten Klans, Stämme, Völker
und Dorfgemeinschaften des ländlichen Gesellschaftssystems repräsentieren.
Zudem entwickelte die Stadt ihre eigene wissenschaftliche, künstlerische,
religiöse und philosophische Sprache. Was die Klassen betrifft, sind zwei
weitere Hauptkategorien, bestehend aus der Aristokratie und den Anderen,
entstanden. Städtertum hatte noch keine eigene Gestalt angenommen, son-
dern war ein Ausläufer der Gesellschaft im Allgemeinen.
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wurde dieses histori-
sche Gleichgewicht völlig gestört. Zweifellos kam es nicht plötzlich dazu.
Der Wiederaufstieg der Stadt zwischen dem zehnten und dem sechzehn-
ten Jahrhundert (Venedig, Genua, Florenz, Mailand usw.) war Ausdruck
der kommerziellen Revolution, die sich im dreizehnten Jahrhundert über
Italien in ganz Europa ausgebreitet hatte. Italienische Städte hatten in die-
sem Prozess die Vorreiterrolle inne. Sie wollten mit der Renaissance in Roms
Fußstapfen treten und sich vergrößern. Es kam dabei innerhalb und zwi-
schen den Städten zu einer sehr großen Konkurrenz. Was sich ereignete, war
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 159

der Kampf um die Führungsrolle einer neuen Zivilisationsphase. Das ganze


alte Leben wurde nahezu wiederbelebt. Aber die neuen Bedingungen soll-
ten eben dieses Leben transformieren. Man konnte kein neues Rom schaf-
fen, indem man das alte imitierte; man erreichte lediglich das Niveau un-
scheinbarer Kopien von Rom. Auch die Erfahrungen zentraler Königreiche
und Nationalstaaten waren nicht vom Erfolg gekrönt. Es ist aber eine nicht
zu leugnende Tatsache, dass italienische Städte im Zuge der Renaissance
zwischen dem zehnten und dem sechzehnten Jahrhundert die europäische
Zivilisation anführten. Sie spielten diese Rolle sowohl als (ökumenisch-ka-
tholische) Kirche als auch als säkulare Tendenz.
Die deutsche urbane Revolution begann zunächst mit dem Städtebund
der Hanse (ca. 1250–1450 n. Chr.), als diese Städte ihre kommerzielle
Revolution verwirklichten. Die zweite Phase (ab 1400 n. Chr.) war eine ma-
nufakturelle. Dabei wurde auf der Grundlage eines Städtekonföderalismus
ein intensiver Kampf gegen Zentralisierung geführt. Diese Kämpfe und
Aufstände, bei denen viele bäuerliche und halb-proletarische Gruppen, vor
allem Handwerker, eine Rolle spielten, dauerten ungefähr vier Jahrhunderte.
Diese erste Erfahrung mit städtischem und ländlichem demokratischem
Konföderalismus unterlag nach einem sehr blutigen Prozess aus diversen
Gründen (ideologische, organisatorische und Führungsfragen) der zentralis-
tischen Monarchie und dem Nationalstaat, der zunächst nur eine Tendenz
darstellte. Wären sie nicht unterlegen gewesen, wäre vielleicht die europäische
Geschichte ganz anders verlaufen. Die heutige Bundesrepublik Deutschland
erlebte vom bürgerlich-nationalstaatlichen Faschismus ausgehend eine sehr
langsame evolutionäre Transformation hin zu diesem alten Modell – aller-
dings nicht in der Form eines demokratischen Konföderalismus, sondern der
eines bürgerlichen Föderalismus.
Den eigentlichen Boom erlebten die holländischen und englischen Städte.
Dabei war von Bedeutung, dass sie das Zentrum von drei Revolutionen
bildeten, denen sie intensiv ausgesetzt waren. Die kommerziellen, finanziel-
len und industriellen Revolutionen waren insbesondere in Amsterdam und
London siegreich. Der kommunale Föderalismus wurde in beiden Ländern
einfach unterdrückt. Doch die übrige Stadt- und Landbevölkerung ergab
sich dem Zentrum und dem Nationalstaat nicht einfach so. Dazu bedurfte
es der holländischen im sechzehnten und der englischen Revolution im sieb-
zehnten Jahrhundert. Amsterdam im siebzehnten und London im neunzehn-
ten und zwanzigsten Jahrhundert waren die führenden Städte dieser revolu-
tionären Prozesse. Diese beiden Städte waren die Zentren der neuzeitlichen
160 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Welt. Sie regierten das zentrale Welt-Zivilisationssystem, das eine große


Transformation durchmachte. Sie stellten hegemoniale Machtzentren dar.
Ihre Bevölkerung und somit ihre Widersprüche vergrößerten sich rasend
schnell. Die krebsartige Struktur der Stadt entstand in dieser Zeit. Diese
kranke Struktur wurde von Amsterdam und London auf – in historischer
Reihenfolge – Frankreich, die USA, Osteuropa, Russland, den fernen Osten,
Lateinamerika, den Nahen Osten und Afrika übertragen. Das zwanzigste
Jahrhundert stellte den Zeitraum in der Geschichte dar, in dem die Stadt
eindeutige Überlegenheit erlangte. Neben der alten Zivilisation mach-
te auch die paradigmatische Welt der ländlich-kommunalen Gesellschaft,
die zwölftausend Jahre lang eine dominante Rolle gespielt hatte, dem ka-
pitalistischen urbanen Paradigma Platz. Die Stadt war nun nicht mehr nur
Handels-, Finanz- und Industriezentrum, sondern gleichzeitig auch das
hegemoniale Zentrum einer ganzen Weltanschauung. Dieses Paradigma,
das sich insbesondere mit seinen Universitäten und anderen akademischen
Wissenschaftshäusern, seinen Krankenhäusern und Gefängnissen, seinen
Klassen und Bürokratien institutionalisierte, versuchte sich durch die streng
positivistische Herangehensweise durchzusetzen, die an die Stelle der alten
eschatologischen42 Weltanschauung (mit ihrer Ausrichtung auf Jüngsten Tag
und Jenseits) trat. Der Positivismus war eigentlich die neue Religion der
Bourgeoisie, die es aber praktischer und erfolgversprechender fand, sich der
Wissenschaften, deren Bedeutung sich enorm vergrößert hatte, zu bedienen
und sich die Maske des ›Szientismus‹ aufzusetzen.
Mit dieser Struktur der Städte litt die Gesellschaft wirklich unter so-
zialem Krebs. Selbst Aristoteles hatte sich keine Stadt mit zehntausend
Einwohner*innen vorgestellt. Städte mit hunderttausend, einer Million,
fünf Millionen, zehn Millionen, fünfzehn Millionen, zwanzig Millionen
und – das Ziel sind: – fünfundzwanzig Millionen Einwohner*innen! Was
ist das anderes als ein krebsartiges Wachstum? Um allein eine solche Stadt
zu ernähren, kann man ein mittelgroßes Land samt seiner Umwelt zer-
stören. Dieses Wachstum entbehrt jeglicher Logik. Es ist eindeutig, dass
es zu keinem anderen Ergebnis führen kann, als die Erste Natur samt der
Natur der Gesellschaft und der Stadt zu zerstören. Diese Größen sind
langfristig für kein Land, keine Umwelt tragbar. Der wirkliche Grund der
Umweltzerstörung ist dieses krebsartige Wachstum. Die Stadt besetzte,
zerstörte und kolonialisierte nun ihr eigenes Land samt Bevölkerung; die

42 Eschatologie ist die Lehre von der göttlichen Vollendung aller Dinge und dem Anbruch einer neuer Welt.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 161

neue Kolonialmacht waren nun die Stadt und die dort ansässigen globa-
len Handels-, Finanz- und Industriemonopole sowie die Wolkenkratzer,
wo sie ihre Hauptquartiere beziehen. Die Sicherheitsmaßnahmen in diesen
Wolkenkratzern, die den Burgen und Wehrmauern von früher in nichts
nachstehen, bestätigen diese Tatsache.
Der Imperialismus und Kolonialismus des einundzwanzigsten
Jahrhunderts wirkt nun nicht mehr von außerhalb, sondern in den Ländern
selbst. Die Kolonisatoren sind keine Fremden, sondern vielmehr Partner.
Es haben sich nicht nur die Kapitalmonopole globalisiert, sondern auch die
Macht und der Staat. Es lässt sich nicht mehr zwischen Innen und Außen
der globalen Macht unterscheiden. Auch nationale Zugehörigkeiten spielen
überhaupt keine Rolle mehr, sie alle sind Partner. Die Unterscheidung zwi-
schen Militärischem, Wirtschaftlichem und Kulturellem ist ebenfalls bedeu-
tungslos geworden. Die gemeinsame Sprache von ihnen allen ist Englisch,
ihre gemeinsame Kultur ist die angelsächsische, ihre Militärorganisation ist
die NATO, ihre internationale Organisation ist die UN. Es gibt nun nicht
mehr nur ein oder zwei, sondern zahlreiche New Yorks (das hegemoniale
Zentrum der USA übernahm in den 1930er Jahren die Position von London)
und Londons. Wir leben im Zeitalter der globalen Städte. Die Städte des
globalen Zeitalters zerstören nicht nur mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit
von Krebszellen die Umwelt. Ein Marsianer wäre wohl mit seiner Mentalität
und Lebensweise mehr Erdling als die Stadtbewohner*innen unseres
Zeitalters. Die Vornehmheit des urbanen Menschen, die sich ohnehin kaum
entfaltet hatte, verlor ihre Gültigkeit. Er versucht seine Monstrosität unter
dem Deckmantel des Modernen, des Modischen zu verstecken. Der eigent-
liche Barbar (der Umsetzer des Faschismus, Genozids, unbegrenzten kultu-
rellen Genozids und schließlich des Soziozids) ist die Stadt. Jegliche Art bar-
barischer Personen und Gruppen (die virtuelle, simulakre, geistesverrückte,
mediensüchtige Gesellschaft von Sportfanatiker*innen und innerlich hohlen
wilden Partygängern über die zerstörerische Bürokratie und Wucherer auf
dem Markt, bis hin zu denjenigen, die sich an kein einziges moralisches
Prinzip halten, und den Roboterisierten), die die alten Barbaren (ich glaube
überhaupt nicht, dass die Nomadenstämme Barbaren waren) in jeglicher
Hinsicht übertreffen, haben nun ihr Zentrum nicht mehr auf dem Land,
sondern in der Stadt; sie sind die Stadt selbst.
Es werden die Babylons des modernen Zeitalters erlebt (schade um
Babylon, denn es war bis zu seiner Zerstörung edel und heilig; ihre
Entartung hielt sich in Grenzen). Es lässt sich nicht voraussagen, wie es
162 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

enden wird. Aber alle wissenschaftlichen Daten zeigen, dass unser Planet
diese Welt (die monströse Welt, die ihn verrät und entschlossen ist, seine
Ökologie zu vernichten) nicht mehr tragen kann. Selbst wenn die urbanen
Menschen auf das Land ziehen sollten, sind sie doch von Kopf bis Fuß
krank. Man sollte sehr gut begreifen, dass die urbane Gesellschaft am Rande
des ›Soziozids‹ steht.
Für diesen Zustand der Stadt sind zweifellos die Klassenmacht und
die staatlichen Strukturen verantwortlich. Die prächtige Rendite der
Stadt verwandelte sie in unerbittliche Barbaren und schuf die urbane
Monstrosität (den neuen Leviathan). Es ist klar, dass dafür nicht alleine
die Stadtbevölkerung und -gesellschaft verantwortlich gemacht werden kön-
nen. Aber Nesseln brennen Freund und Feind. Die Banlieus, die ›neuen
Christen‹ der Stadt, müssen einen Ausweg finden. Andernfalls werden sie
in den Händen von Tausenden Neros, die schlimmer sind als Nero selbst,
viel schlimmeres erleiden, als am lebendigen Leibe verbrannt zu werden.
Man sollte sich Gedanken darüber machen, die begrenzte urbane Schönheit,
Moral und Vernunft zu retten. Nun hat jedes gesellschaftliche Projekt die
(bereits zu einer Krankheit gewordenen) Probleme, die ihren Ursprung in
der Stadt haben, in den Fokus zu rücken. Es lässt sich niemals leugnen, dass
wir nur in diesem Rahmen sinnvolle Antworten auf alle gesellschaftlichen
und ökologischen Fragen entwickeln können. Wir bräuchten gar nicht nach
weiteren Ursachen suchen, die zum Untergang der Welt und der Gesellschaft
führen; alleine die Probleme, die ihren Ursprung in der Stadt haben, sind
bereits dazu mehr als ausreichend.

9. Das Klassen- und Bürokratieproblem der Gesellschaft


Jene, die die Klassen und die Bürokratie als Voraussetzungen des
Gesellschafts­wesens betrachten, könnten sich über ihre Problematisierung
wundern. So könnte man auf die Idee kommen, dass es zwar Probleme
gebe, die von Klassen und Bürokratie herrühren, dass aber ihre Existenz
an sich kein Problem darstelle. Allerdings sollte man begreifen, dass sie zu-
mindest genauso problematische Strukturen sind wie die Stadt. Die Klassen
und die Bürokratie mögen, genauso wie die Stadt, in den Anfängen der
Zivilisation kein allzu großes Gewicht gehabt und kein Problem dargestellt
haben. Ihre problematischen Wesenseigenschaften mögen gegenwärtig
klarer in Erscheinung getreten sein. Aber die Herausbildung von Klassen
und die damit zusammenhängende Bürokratisierung sind trotzdem proble-
matisch und im Hinblick auf die gesellschaftliche Moral und Politik nicht
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 163

notwendig. Die Gesellschaft leistete gegen diese beiden Phänomene lange


Widerstand und akzeptierte sie nicht so einfach. Sie entgegnete ihnen mit
heftigem Widerstand. Die Geschichte ist voller Erzählungen über solche
Widerstände.
Wie wir in den folgenden Kapiteln genauer sehen werden, kann die ge-
sellschaftliche Natur eine breite Palette an Differenzen aufweisen und ver-
schiedene Formen annehmen. Dies sind normale, dem Geiste der Natur
entsprechende Entwicklungen. Aber genauso wie manches Gewebe, das
sich bei Pflanzen- und Tierarten nicht entwickelte, da seine Entwicklung
für nicht notwendig gehalten wurde, gibt es auch in der gesellschaftlichen
Natur neben als Teil der Diversität und Differenzen sehr begrenzten, tem-
porären und funktionalen Klassen- und Schichtstrukturen (die Bürokratie
ist auch eine Schicht), die der Diversität und den Differenzen einen Sinn
verleihen, auch extreme, permanente, funktionslose, unnütze Klassen- und
Schichtstrukturen, die wie eine Geschwulst bis in die gesellschaftlichen
Gewebe hineindringen. Für die Entstehung der Priester, Aristokratie und
Bourgeoisie als Klassen, die lange von geringfügigem Nutzen waren, kann
man bedingt Verständnis aufbringen. Es ist aber im Hinblick auf die ge-
sellschaftliche Moral und Politik nicht möglich, ihnen als ideologischen,
politischen, wirtschaftlichen und militärischen Hegemonialmächten perma-
nenten, extrem repressiven und ausbeuterischen Charakters während der
gesamten Zivilisationsgeschichte Verständnis entgegenzubringen. Der dies-
bezügliche Widerspruch ist ein antagonistischer; denn die Klassen und die
Bürokratie in dieser ihrer Form sind gleichbedeutend mit der Verneinung
der gesellschaftlichen Moral und Politik. Die Bedingung, die ich aufstellte,
ist sehr wichtig. Klassen und Bürokratie, die eine Differenz darstellen bzw.
zu ihr beitragen, sind möglich. Beispielsweise kann man den von der sume-
rischen Priesterklasse geschaffenen Tempel nicht als funktionslos betrachten.
Die Priester errichteten dort die Fundamente der fruchtbaren Produktion,
der Urbanisierung, Religion, Künste und Ordnung. Die Priesterklasse
spielte bei zahlreichen kulturellen Aufbrüchen eine ähnliche Rolle. Eben
wegen dieser ihrer positiven Funktion sollte man den Priestern bedingt
Verständnis entgegenbringen. Allerdings ist die Legitimität der Klassen und
der Bürokratie, die funktionslos sind und sich extrem vergrößert haben, stets
fraglich und diese sollten überwunden werden.
Ähnliches gilt auch für die Aristokratie. Auch die Aristokraten boten
dem gesellschaftlichen Fortschritt eine Ordnung und leisteten einen Beitrag
zur produktiven Arbeit, Regierungseleganz, Kunst und Wissenschaft.
164 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Dementsprechend sollten sie auch beurteilt werden. Aber die ähnlichen


Kastenbildungen und Despotien, zu denen sie führten, die Errichtung
von Dynastien und Königreichen, sogar ihre Selbstvergöttlichung sind
Krankheiten, die nicht zu akzeptieren sind. Die gesellschaftliche Moral
und Politik befinden sich in einem antagonistischen Widerspruch zu diesen
Entwicklungen. Aus diesem Grund stellt ihre kämpferische Überwindung
die Voraussetzung einer richtigen Moral und Politik dar.
Diese Worte gelten für die Bourgeoisie umso mehr. Die Entwicklung die-
ser Klasse und ihrer bürokratischen Apparate trug in revolutionären Zeiten
zum gesellschaftlichen Fortschritt bei. Handels- und Zirkulationsmittel
(Geld und Schuldschein), die bürgerliche Initiative beim industriellen
Fortschritt, ihre zeitweiligen Demokratieversuche, ihre begrenzten Beiträge
zur Wissenschaft und Kunst sind die Aspekte der Bourgeoisie, für die man
Verständnis aufbringen sollte. Aber die äußerst permanente Struktur der
Bourgeoisie, die in den letzten vier Jahrhunderten fast zu mehr Spaltung
zwischen Klassen und zu mehr Bürokratisierung als in der gesamten
Zivilisationsgeschichte mit ihren Klassen führte und die Klassenspaltung und
Bürokratisierung wie Krebszellen vermehrte, ist zahlenmäßig größer und viel
gefährlicher als alle oberen Klassenherausbildungen. Die Bourgeoisie und
die Bürokratie, die im Laufe der Geschichte der Klassenherausbildungen
den Mittelpunkt besetzten, haben in meinem Verständnis die Rolle einer
wuchernden Krebskrankheit inne. Die gesellschaftliche Natur ist nicht dazu
geeignet, Klassen und eine Bürokratie dieser Art zu tragen. Wenn man darü-
ber diskutieren will, sage ich dann: hier, Faschismus! Meines Erachtens stellt
der Faschismus das Trachten der Mittelklasse, die die Summe aus Bürokratie
und Bourgeoisie ist, nach dem Leben der Gesellschaft dar. Was hier be-
wiesen wird, ist, dass die Gesellschaft und die Mittelklasse nicht zusam-
men funktionieren können. Manche Intellektuelle meinen, die Mittelklasse
sei die Klassenbasis des republikanischen und demokratischen Regimes.
Diese Darstellung stellt eine der lügnerischsten Erzählungen der liberalen
Propaganda dar. Die Mittelklasse ist die Klasse, die die größte Rolle bei
der Verneinung der Republik und Demokratie spielt. Die Rolle anderer
Klassen dabei ist begrenzt, außerdem wissen sie über den Faschismus nicht
Bescheid. Mit dieser ihrer Eigenschaft spielt die Mittelklasse die gleiche
Rolle wie extreme Urbanisierung: krebsartiges Wachstum. Zudem bestehen
zwischen den beiden enge, organische, strukturelle Verbindungen. Während
diese Krankheit der Stadt von der Gefräßigkeit, von der Vergrößerung der
Mittelklasse herrührt, führen solche Städte zum Wachstum der Mittelklasse.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 165

Die Mittelklasse ist von ihrer Mentalität her positivistisch. Ihrem ober-
flächlichen Wesen, das nicht über ein Abwägen der Phänomene hinausgeht
und ihren Interessen entsprechend nicht sehen will, fehlen jegliche Substanz
und Tiefe. Obwohl sie den Positivismus unter dem Deckmantel des
›Szientismus‹ präsentiert, bildet sie die götzendienerischste (in der Ära die-
ser Klasse kam es zu einer Überfülle an Denkmälern) Klasse der Geschichte.
Dem Schein nach ist sie säkular und weltlich, im Wesentlichen aber stellt
sie die religionistischste und träumerischste Kraft dar. Der Religionismus
zeigt sich in ihrem fanatischen Glauben an den ›Positivistismus‹. Wir wis-
sen, dass der Positivismus sich niemals auf die Totalität der Wirklichkeit
stützt. Diese angeblich säkulare, eigentlich anti-säkulare Klasse tischt der
Gesellschaft schamloserweise die imaginärsten (apokalyptischen) Projekte
auf. Es ist diese Klasse, die den wirtschaftlichen, politischen, militärischen,
ideologischen und wissenschaftlichen Monopolismus des Kapitals auf glo-
baler Ebene weiterentwickelt. Aus diesem Grund stellt sie die Klasse dar,
deren Gesellschaftsfeindlichkeit am stärksten ausgeprägt ist. Auf zwei Arten
betreibt sie Soziozid und Genozid. Die Vernichtung eines Volkes wegen sei-
ner Abstammung, ›Rasse‹ oder Religion wurde durch den Klassencharakter
der Bourgeoisie möglich. Noch schlimmer ist das soziozidale Verhalten die-
ser Klasse. Sie betreibt den Soziozid auf zwei Wegen: Erstens, indem sie
sich mithilfe der nationalstaatlichen Ideologie und der Institutionalisierung
der Macht der Gesellschaft bis in all ihre Poren als Militarismus und Krieg
aufzwingt. Dies ist ein totaler Krieg, den die Macht, mit dem Staat eins
werdend, gegen die Gesellschaft führt. Die Bourgeoisie weiß aus ihren
Erfahrungen sehr gut, dass sie die Gesellschaft anders nicht regieren könn-
te. Zweitens, indem sie die wirkliche Gesellschaft mithilfe der ›Medien und
Informatik‹-Revolution in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert
durch die virtuelle ersetzt. Genauer gesagt ist es der Krieg durch medi-
al-informationale Bombardierung. Seit einem halben Jahrhundert werden
Gesellschaften durch diese zweite Art Krieg erfolgreich regiert. Wenn die
imaginäre, virtuelle, simulakre Gesellschaft die wirkliche gesellschaftliche
Natur ersetzt hat oder wenn geglaubt wird, dass dem so sei, funktioniert sie
soziozidal.
Ich vertrete die Position, dass die Kategorien Sklave, Knecht und Arbeiter,
die als unterdrückte und ausgebeutete Klassen in der Geschichte präsen-
tiert werden, anders zu beurteilen sind. Die demokratische Rolle dieser
Klassenstrukturen ist sehr begrenzt; denn sie befinden sich mit allem, was sie
ausmacht, innerhalb des geistigen und strukturellen Gebäudes ihrer Herren
166 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

– im Zustand einer unwichtig gemachten Erweiterung. In der Geschichte


lässt sich keine einzige Klasse finden, die als Subjekt ihre Herren stürzte.
Dieser Umstand spiegelt eine bedeutende Realität wider. Aufständische
Klassen, auch unterdrückte und ausgebeutete, verhalten sich zum gesell-
schaftlichen Körper so wie die Äste zum Baum. Selbst wenn Äste herunter-
hängen und abfallen, hat es keine oder nur eine begrenzte Auswirkung auf
den Baumstamm. Aus diesem Grund führt die Benennung der Gesellschaft
als Sklaven-Herren-, Leibeigenen-Aristokraten-, proletarische-bürgerliche
Gesellschaft zu einer sehr falschen Terminologie. Die Sozialwissenschaften
haben diesbezüglich eine neue Benennung und Definition zu entwickeln. So
wie der Baum sich nicht durch den Ast beschreiben lässt, lässt sich auch die
Gesellschaft nicht durch die Klassen benennen, die sich in ihr herausgebildet
haben. Außerdem – und dies ist noch wichtiger – führen die Subjektivierung
und Verherrlichung von Klassen wie den Sklaven, Leibeigenen, Arbeitern
und Kleinbürgern und eine ihnen zugeschriebene revolutionäre Rolle,
wovon es in der Geschichte des Realsozialismus und Anarchismus reich-
lich Beispiele gibt, zu keinem Ergebnis. Dem liegt meines Erachtens die
Zuschreibung einer falschen Bedeutung als Subjekte mit revolutionärer
Rolle zugrunde. Die richtige Haltung ist, gegen alle Klassen zu sein. Sklaven,
Leibeigene oder die Arbeiterklasse mögen anfangs, in der Halbgesellschaft
(mehrheitlich Halbbauern, Handwerker) der Übergangsphase eine positive,
revolutionäre Rolle gespielt haben, aber in dem Maße, wie sie permanent
wurden, degenerierten sie, versöhnten sich mit den oberen Klassen und ver-
loren ihre Funktion.
Noch wichtiger ist es, dass eine emanzipatorische, egalitäre und de-
mokratische Weltanschauung die Subjektivierung der beiden Arten von
Klassenstrukturen jenseits der von mir angesprochenen Differenzierung und
die Zuschreibung moralischer und politischer Werte nicht zulässt. Eine sol-
che Weltanschauung hat die Herausbildung von Klassen in beiderlei Hinsicht
als einen Widerspruch zur gesellschaftlichen Natur und als Anti-Gesellschaft
zu betrachten und gegen Herausbildung von Klassen zu kämpfen. Dass die
besagten Klassen zur Wirklichkeit geworden sind, bedeutet nicht, dass sie
als legitime und echte gesellschaftliche Werte zu interpretieren wären. So wie
Tumoren in unseren Augen nicht zum normalen Körper zählen, können wir
auch diese gesellschaftlichen Phänomene ähnlich interpretieren. Außerdem
wurden alle unterdrückten und ausgebeuteten unteren Klassen durch den
Zwang der Macht und des Staates und durch ihre hegemonialen Ideologien
geschaffen. Die Sklaverei, Leibeigenschaft und Arbeiterschaft, die unter
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 167

diesen Bedingungen verwirklicht wurden, können wir nur verdammen. »Es


lebe der ruhmreiche Arbeiter, Leibeigene, Sklave!« auszurufen, käme objek-
tiv gesehen einer Verherrlichung und Bejahung der hegemonialen Mächte
gleich. Solche Interpretationen von Klassen durch zahlreiche Schulen, ein-
schließlich der von Marx und seinen Nachfolgern, ist die Hauptursache für
ihr Scheitern. Die oberen Klassen können bis zu einem gewissen Grad eine
Bedeutung haben, aber da die Klassen, die zur Plackerei gezwungen werden,
durch Zwang und ideologische Überzeugungsarbeit geschaffen wurden, ist
die richtigste Haltung ihnen gegenüber, dass man sie stets verurteilt, nie-
mals verherrlicht und für ihre Überwindung kämpft. Dieser Typus, dem
Subjektdasein zugeschrieben wird, obwohl er kein Subjekt sein kann, dem
eine revolutionäre Rolle zugeschrieben wird, obwohl er offensichtlich keine
Revolution machen kann, kommt um eine Niederlage nicht herum, wovon
es in der Geschichte der sozialen Kämpfe reichlich Beispiele gibt. Der Grund
für die Niederlage besteht in dem falschen Verständnis der Frage und der
falschen Rolle, die der Klassenherausbildung zugeschrieben wird. Die sozi-
alen Kämpfe der neuen Ära, des einundzwanzigsten Jahrhunderts, können
in dem Maße, wie sie sich von diesem Fehler abwenden, erfolgreich werden.
Es stimmt, dass die Bourgeoisie die Klassenfrage verschlimmert. Es
stimmt ebenfalls, dass sie ihre Klasseninteressen in eine bis in die feinsten
Poren der Gesellschaft hineinwirkende Macht verwandelt (mit der sie Krieg
gegen die Gesellschaft führt) und mithilfe des Staates offizialisiert und so
ihre fortgeschrittenste Phase erlebt. Es lässt sich außerdem häufig beobach-
ten, dass sie viele gesellschaftliche Gruppen, vor allem das kompromissleri-
sche Arbeitertum, in ihrem Sinne instrumentalisiert. Man könnte fast sagen,
dass sie die Gesellschaft verschlingt. Vor allem stimmt aber, dass sie die pro-
blematischste Klasse, ja sogar die Klasse ist, die die Gesellschaft am meisten
in eine problematische verwandelt.
Es lässt sich jedenfalls behaupten, dass die Bürokratie, die in der gan-
zen Geschichte das institutionelle Ausführungswerkzeug der herrschenden
Klassen darstellt, durch die Ausgestaltung des Nationalstaates in den letzten
beiden Jahrhunderten größere Dimensionen annahm und gegenwärtig die
Rolle einer nahezu eigenständigen Klasse innehat, ihr Gewicht innerhalb
der Macht und des Staates vergrößert hat und sich selbst für den Staat hält.
Es stellt eine schwer zu leugnende Tatsache dar, dass die Bürokratie zu einer
Kraft wurde, die die Gesellschaft in einen eisernen Käfig sperrt, und diese
ihre Rolle verfestigt, indem sie in alle gesellschaftlichen Bereiche (Bildung,
Gesundheit, Justiz, Transport, Moral, Politik, Umwelt, Wissenschaft,
168 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Religion, Kunst, Wirtschaft) eingreift. In der heutigen Gesellschaft (kapi-


talistische Moderne) wurde nicht nur die staatliche Bürokratie zu einem
Ungeheuer, sondern die gesamte Monopolwelt, die in ihre Fußstapfen trat,
vergrößerte unter dem Motto »Lasst uns aufhören, Familienunternehmen
zu sein, und zu Unternehmen werden, die von Professionellen verwaltet
werden« ihre eigene Bürokratie lawinenartig. Die extreme Ausweitung der
Bürokratie hängt mit dieser neuen Realität von Unternehmen zu tun. Man
könnte es als eine Art ›Staatswerdung‹ von Unternehmen bezeichnen. Unter
den Bedingungen, wo der Nationalstaat unzulänglich bleibt und neuer
Staatsaufbau auf der Tagesordnung steht, zeigt sich die Staatswerdung glo-
baler und lokaler Unternehmen als herrschende Tendenz.
Die gesellschaftlichen Probleme, die in dieser Doppelklemme ih-
ren Ursprung haben, sind aktuell und nahezu das ›Jetzt‹ der gesamten
Geschichte. Man könnte sogar so weit gehen, zu behaupten, dass dieses
Duo die gesellschaftliche Natur (die traditionelle Gesellschaft) insgesamt
umschlingt, erwürgt und auflöst. Daraus sollte man den Schluss ziehen, dass
wir einen chaotischen Prozess durchmachen und gesellschaftliche Freiheit,
Gleichheit und Demokratie nur in einem auf demokratischer Zivilisation
basierenden System möglich wären, welches eines Kampfes für den Aufbau
mithilfe einer zurechtgerückten Wissenschaft bedarf.

10. Bildungs- und Gesundheitsprobleme der Gesellschaft


Obwohl es wie ein zusätzliches Thema erscheint, ist es wichtig, die
Probleme zu begreifen, die aus der Monopolisierung der Bildungs- und
Gesundheitsbereiche durch die Macht und den Staat erfolgten. Genauso
wie die verstaatlichte Wissenschaft das effektivste Mittel der ideologischen
Hegemonie bildet, weisen die mit der Macht eins gewordene Bildung und
Gesundheit den gleichen Charakter auf.
Bildung lässt sich als der Versuch der Gesellschaft definieren, ihre Mit­
glieder, vor allem die jungen darunter, gesellschaftliche Erfahrungen in
Form theoretischen und praktischen Wissens verinnerlichen zu lassen. Die
Sozialisation von Kindern erfolgt durch gesellschaftliche Bildungstätigkeit.
Die Bildung von Kindern ist die wichtigste Aufgabe nicht der Macht und
des Staates, sondern der Gesellschaft selbst; denn Kinder und Jugendliche
gehören zu der Gesellschaft. Ihre eigenen Kinder und Jugendlichen ihren
eigenen Traditionen und den Eigenschaften ihrer gesellschaftlichen Natur
entsprechend zu erziehen und zu bilden und sie in sich selbst zu verwandeln,
ist – sowohl als Recht als auch als Aufgabe – ein lebenswichtiges Thema,
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 169

eine Frage der gesellschaftlichen Fortexistenz. Keine Gesellschaft kann ihr


Existenzrecht und die Aufgabe, dazu ihre Kinder zu erziehen und zu bil-
den, mit einer anderen Kraft teilen oder ihr überlassen. Die Gesellschaft
kann dieses Recht und diese Aufgabe nicht delegieren, selbst wenn es dabei
um den Staat oder diverse Machtapparate handelt. Sonst ergäbe sich die
Gesellschaft den Herrschaftsmonopolen.
Die Heiligkeit des Rechts auf Bildung beruht auf der Existenz. Keine
Kraft, nicht einmal die der Eltern, kann ihren Kindern und Jugendlichen
so nahe stehen wie die Gesellschaft und keine Kraft spürt das Bedürfnis,
es zu tun. Eine der gesellschaftsfeidlichsten Taten der Zivilisationen in der
Geschichte ist, dass sie die Gesellschaft ihrer Kinder und Jugendlichen be-
rauben. Das etatistische Zivilisationssystem verwirklicht diese Tat auf zwei
Wegen: Entweder, indem es die Erwachsenen vernichtet und die Kinder und
Jugendlichen versklavt, oder indem es sie zu sich nimmt, um sie angeblich
zu erziehen, zu bilden oder auszubilden, um sie auf der Ebene der Macht
zu verwerten.
Eines der Hauptziele von Kriegen ist die Errichtung von
Dewschirmestätten43, um Mädchen und Jungen durch diese beiden
Methoden zu assimilieren. Während dies den Ursprung der Bürokratie
­bildet, stellt die Zivilisationsgeschichte den Akt dar, mit dieser Methode
sowohl die Gesellschaft zu schwächen als auch die Stärke bürokratischer
Apparate zu entwickeln: die Errichtung einer Gesellschaft gegen die
Gesellschaft, der Gesellschaft des Staates. In dieser Einrichtung werden
Kinder und Jugendliche, die aus ihrer eigenen Gesellschaft herausgerissen
wurden, eine ganz andere Sprache, Kultur und Geschichte gelehrt. Die
Entfremdung der Kinder und Jugendlichen von sich selbst ist das Hauptziel
dieser (Aus-)Bildung und Erziehung. Sowohl im ideologischen als auch
im materiellen Sinne wird ihnen die etatistischste Identität aufoktroyiert.
So wird ihnen ein Leben ohne Macht verunmöglicht und der Staat und
die Macht werden für sie zum einzig gangbarem Weg ihrer Existenz ge-
macht. Diese assimilierten Gruppen halten sich selbst einerseits für den
Staat und die Macht, geraten andererseits dadurch in einen Widerspruch
mit der Gesellschaft. Manchmal werden die Staatsgesellschaft und die ge-
sellschaftliche Natur gleichgemacht. Das ist ein Fehler, ein Widerspruch.

43 Dewschirme oder Knabenlese war im Osmanischen Reiche eine Praxis von Zwangsrekrutierung und -bekeh-
rung, bei der christliche, vorwiegend männliche Jugendliche aus ihren Familien verschleppt und islamisiert
wurden, um sie anschließend zum Teil an hervorgehobener Stelle im Militär- und Verwaltungsdienst einzu-
setzen.
170 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Die Zivilisationsgeschichte wurde auf diesem Widerspruch aufgebaut. Diese


historischen Tatsachen stecken hinter der Usurpierung der Bildung durch
die Mächte, die ansonsten der Bildungsaufgabe an der Gesellschaft völlig
gleichgültig gegenüberstehen. So wie der Kapitalist seine Arbeiter (aus-)bil-
det, bilden sie die von ihnen Beherrschten der gleichen Logik entsprechend
als Untertanen-Arbeiter (aus). Selbst wenn es Bürokratie heißt, werden ihre
Mitglieder von der untersten bis zur obersten Stufe zu Untertanen (aus-)
gebildet und erzogen.
Insbesondere nationalstaatliche Mächte errichten ihr Monopol über den
Kindern und Jugendlichen der Gesellschaft vor allem durch Bildung. Die
Personen, die von diesen Mächten mit ihrem eigenen Geschichts- und
Kunstverständnis, ihrer religiösen und philosophischen Mentalität bear-
beitet wurden, sind nicht mehr ihrer ehemaligen Familien, sondern der
Machthaber Kinder und Eigentum. So wird die große Entfremdung in-
stitutionalisiert. Die Bourgeoisie stellt diejenige Klasse dar, die über der
Gesellschaft das intensivste Bildungsmonopol gebildet hat. Wenn die
Grund- und Mittelschulbildung zur Pflicht erklärt und Arbeitssuchende auf
das Universitätsdiplom hingewiesen werden, erlangt der auf die Jugend ein-
wirkende, aus Entfremdung und Abhängigkeit bestehende Einklemmungs-
und Einschließungsprozess Zwangscharakter, und Gewalt, materielle Kraft
und Bildung/Erziehung werden zu schwer zu widerstehenden Waffen der
Kolonialisierung der Gesellschaft.
Folglich kann man jedenfalls behaupten, dass es die Gesellschaft ist, die
den größten Schaden des Kriegs erlitt, den der Staat und die Macht im Laufe
der Geschichte gegen sie führten. Das gesellschaftliche Recht auf Bildung
stellt das am schwersten umzusetzende Recht dar. Die Gesellschaft, die ihre
Existenz unbedingt durch Bildung gewährleisten muss, ist angesichts der
unheimlichen Stärke des Nationalstaats und der wirtschaftlichen Monopole
in die schwierigste Phase ihrer Geschichte eingetreten. Der Nationalstaat,
der seine ideologische Hegemonie errichtet hat, kolonialisiert, im Zuge
der jüngsten Kommunikationsrevolution, mit einem medialen Krieg die
ganze Gesellschaft in kultureller Hinsicht und führt erfolgreich eine un-
auffällige kulturelle Kolonialisierung durch, die genauso intensiv, vielleicht
noch intensiver als die militärische und wirtschaftliche Kolonialisierung ist.
Gegen diese kulturelle Eroberung und Kolonialisierung ist ein Widerstand
der Gesellschaft mit ihren Existenzmitteln, ihrer eigenen Moral und ih-
rem politischen Kampf, der einzige Weg der Emanzipation und Befreiung.
Eine Gesellschaft, die ihre Jugendlichen verloren hat, oder eine Jugend,
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 171

die ihre Gesellschaft verloren hat, haben über eine Niederlage hinaus ihr
Existenzrecht verloren und verraten. Das Einzige, was ihnen bleibt, sind
Verderbnis und Untergang. Die Hauptaufgaben der Gesellschaft sind des-
halb, ihre eigenen Bildungsinstitutionen als grundsätzliche Mittel ihrer
Existenz zu errichten, ihre wissenschaftlichen, philosophischen, künst-
lerischen und sprachlichen Interpretationen von der Wissenschafts- und
Machtstruktur inhaltlich zu trennen und die Bedeutungsrevolution zu ver-
wirklichen. Ansonsten wird es ihr nicht gelingen, die moralischen und po-
litischen Gewebe ihres Gesellschaftswesens dazu zu bringen, ihre Funktion
zu erfüllen.
So macht einerseits die Bildungsfrage im Wesentlichen die moralischen
und politischen Institutionen (Gewebe) der Gesellschaft unabdingbar,
andererseits stellt die Verwirklichung der gesellschaftlichen Bildung die
Hauptaufgabe von Moral und Politik dar. Eine Gesellschaft, die sich selbst
nicht bilden und erziehen kann, verliert die Möglichkeit, ihre eigene Moral
und politischen Institutionen zu entwickeln und am Leben zu halten. Eine
solche Gesellschaft kommt nicht umhin, stets in der Gefahr zu leben, zu
verderben und sich aufzulösen.
Auch die gesellschaftliche Gesundheitsfrage ist ein äußerst sensibles
Thema. Es ist von ebenso großer Bedeutung wie die Bildung. Die Basis,
Existenz und Freiheit einer Gesellschaft, die ihre Gesundheit mit ihren eige-
nen Ressourcen nicht schützen kann, sind entweder bedroht oder gänzlich
verloren.
Die Abhängigkeit im Gesundheitsbereich ist ein Indikator für allge-
meine Abhängigkeit. Eine Gesellschaft, die ihre physischen und geisti-
gen Gesundheitsprobleme gelöst hat, hält die Emanzipationsmöglichkeit
in ihren eigenen Händen. Verbreitete Krankheiten in kolonialisierten
Gesellschaften hängen mit dem Kolonialregime zusammen. Die eigenen
Gesundheitsinstitutionen zu errichten und -experten auszubilden, ist als
grundsätzliches Recht und Aufgabe der Gesellschaft anzusehen. Dass die
Macht und der Staat diese Aufgabe der Gesellschaft entreißen, in ihre ei-
genen Hände nehmen und monopolisieren, ist ein heftiger Schlag auf die
gesellschaftliche Gesundheit. Der Kampf für das Recht auf Gesundheit ist
die Sensibilität der Gesellschaft gegenüber ihrem Selbstrespekt und ihrer
Freiheit.
Die kapitalistische Moderne hält die Vernationalstaatlichung der Bildung
und Gesundheit für lebenswichtig. Ohne diese beiden Bereiche, von de-
nen die existenzielle, gesunde und aufgeklärte Entwicklung der Gesellschaft
172 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

abhängt, unter Kontrolle zu bringen, ohne über ihnen eine monopolis-


tische Herrschaft zu errichten, ist die Aufrechterhaltung der allgemeinen
Herrschaft und Ausbeutung äußerst schwierig. Da die Monopole sich des-
sen bewusst sind, dass sie die Gesellschaft nur durch nackte militaristische
Gewalt nicht enteignen könnten, ist für sie die Kontrolle über Bildung und
Gesundheit von unglaublicher Wichtigkeit.
Wir sehen noch einmal, dass allen existenziellen Gesellschaftsfragen der
monopolistische Staat und die Macht zugrunde liegen. Der Profit und das
Kapital könnten ohne dieses Machtmonopol nicht weiterexistieren. Und
ohne systemischen Kampf der demokratischen Zivilisation dagegen kann
keine Gesellschaftsfrage nachhaltig gelöst werden.

11. Das Militarismusproblem der Gesellschaft


Der Militarismus lässt sich als der fortgeschrittenste gesellschaftsfeindliche
Monopolismus definieren. Es ist anzunehmen, dass die ersten Versuche, über
der gesellschaftlichen Natur eine auf Repression und Ausbeutung abzielende
Autorität zu errichten, auf die analytische Intelligenz und Aktion des aus der
Jägertradition stammenden ›listigen und starken Mannes‹ zurückzuführen
sind. Der stärkste Mann versuchte seine Autorität im Wesentlichen über
zwei grundsätzlichen Gruppen, die Jägergruppe um ihn und die Frau, die er
zu Hause einzusperren versucht, zu errichten. Dadurch, dass Schamanische
(Protopriester) und Gerontokratische (Altengruppe) sich diesem Prozess an-
schlosssen, kam in vielen Gesellschaften unter verschiedenen Formen die
erste hierarchische Autorität zustande. Es lässt sich beobachten, dass der
›starke und listige Mann‹ und seine Gefolgschaft sich mit dem Übergang
zur Zivilisationsgeschichte als sich offizialisierende Macht, als militäri-
schen Arm des Staates (die erste auf Mehrproduktaneignung basierende
Monopolbildung über der Wirtschaft) institutionalisierten. Die erste, zweite
und dritte Dynastie von Ur, die in der sumerischen Gesellschaft unmittelbar
auf die Ära der Priesterkönige folgten, spiegeln diese Entwicklung wider. In
zahlreichen Gesellschaften ereignete sich ähnliches. Auch im Gilgamesch-
Epos kann man Schritt für Schritt verfolgen, wie das Königreich von der
Tradition der Göttin Inanna (Göttinnentradition und -priesterin) losgeris-
sen und die Priesterinen geschwächt und in privaten Häusern und Bordellen
eingesperrt wurden.
Wenn wir Gilgamesch als den ersten Kommandanten der Geschichte
identifizieren, können wir die Entstehung der militärischen – milita-
ristischen – Tradition viel besser analysieren. Er wollte einen Beutezug
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 173

unternehmen, um Menschen zu jagen und dadurch den Sklavenbedarf der


Stadt abzudecken. Sie wollten mithilfe des im Gilgamesch-Epos erwähnten
Kollaborateurs Enkidu die im Norden des heutigen Iraks lebenden Stämme
jagen, die sie als unzivilisiert und barbarisch (Humbaba) bezeichneten. Es
wird ersichtlich, dass der eigentlichen Barbarei und Wildheit die Tyrannei
der Stadt zugrunde lag. In der griechischen Kulturtradition wurde der
Begriff ›Barbar‹ als eine Verdrehung, Lüge und Propaganda der Stadt ent-
wickelt und diente der Errichtung ideologischer Überlegenheit. Die ländli-
chen Stämme, die im Vergleich zur urbanen Organisierung relativ schwach
und unorganisiert waren, können offensichtlich in dem Sinne, wie es von
der offiziellen Gesellschaft gemeint ist, keine Barbaren sein. Der Begriff
der Barbarei gehört zu den größten Lügen und Tatsachenverdrehungen der
Zivilisationsgeschichte. Die zweite Aufgabe des urbanen Tyrannen ist die
›Sicherheit‹. Er bediente sich zu diesem Zweck am häufigsten der Methode,
Burgen und Wehrmauern zu errichten und immer mächtigere und tödli-
chere Waffen zu entwickeln. Es ist eine nicht zu leugnende und realisti-
sche Sichtweise der Dinge, dass dazu Millionen von Menschen versklavt, zu
Leibeigenen und Arbeitern gemacht und diejenigen, die diese Status nicht
annahmen, ermordet wurden und diese Taten als Geschichte präsentiert
wurden.
Wenn der militärische Arm ökonomische Werte erpresst, hebt er seiner
Stärke entsprechend den größten Anteil für sich auf. Die Beutezüge in der
Geschichte erklären diese Tatsache ziemlich gut. Zudem ist es völlig offen-
sichtlich, dass dem Staat Landbesitz (mülk) und diesem wiederum militä-
rische Eroberung und Plünderung zugrunde liegen. Wer erobert, der be-
sitzt. Er betrachtet dies als natürliches und unerlässliches Recht, das ihm
durch seine Tat zusteht. Was die Kräfte von Staat und Macht erobert und
erplündert haben, ist die Summe aller Immobilien und Beutegüter, vor al-
lem Land. Beispielsweise ist das Prinzip »Alles osmanische Land gehört dem
Padischah« nichts anderes als die Fortsetzung dieser ersten und ausschlagge-
benden Tradition, die Ausdruck des Zusammenhangs zwischen dem Staat
und den militärischen Eroberungen ist. So wurde die Tradition begründet
und durch ihre Verrechtlichung bei jeglicher Staatsgründung fortgesetzt. Aus
diesem Grund handeln die Militärs unter Berücksichtigung der historischen
Tradition, wenn sie sich als die eigentlichen Besitzer des Staates, folglich
des Eigentums sehen und definieren. Dass das Militär den stärksten mo-
nopolistischen Arm bildet, ist durch die Natur der Macht und des Staates
bedingt. Die ihm zur Verfügung stehende personelle und militärische Stärke
174 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

ist ohnehin von der Art, dass sie ihm dies sichern kann. Dass Bemühungen
der zivilen Bürokratie, ihren Anteil (ihr Monopol) zu vergrößern, manch-
mal mit Militärputschen entgegnet wird, ist im Lichte dieser grundsätzli-
chen Realitäten besser zu verstehen. Die Rolle der Ilmiye44- und Kalemiye45-
Klassen genannten ideologischen und bürokratischen Monopole bei der
Errichtung der Macht und des Staates ist zweifellos ebenfalls unabdingbar,
wenn auch nicht so ausschlaggebend wie die des Militärs. Selbst die ober-
flächlichste Untersuchung der historischen und gegenwärtigen Macht- und
Staatsapparate bestätigt dies.
Der erste der in Bezug auf unser Thema wichtigsten Aspekte ist, dass das
Militär das fortgeschrittenste und ausschlaggebendste Monopol bildet. Das
militärische Monopol existiert nicht für Ruhm, Ehre und Heldentum (diese
Behauptung ist eine ideologische Propaganda, die zur Verschleierung und
Verdrehung des Kerns der Sache dient), sondern als unverzichtbares Element
des Machtmonopols. In seinem Kern ist es wirtschaftlich. Das Militär ist ein
auf der Wirtschaft basierendes, aber über der Wirtschaft stehendes und sich
von ihr fernhaltendes Monopol, das sein Einkommen (Lohn) trotzdem am
meisten unter Garantie stellt, schwer zu opponieren ist, mit dem sich alle
anderen monopolistischen Kreise einigen und den Mehrwert teilen müs-
sen. Das militärische ist ein Monopol, das in Bezug auf seine historische
Grundlage und Entwicklung eine sehr tief verwurzelte Tradition darstellt. Es
handelt sich dabei um das Monopol der Klasse, die in ihrem Kern mit der
wirtschaftlichen Entwicklung sehr eng zusammenhängt, aber sich von ihr
am meisten fernhalten will – der Bürokratie. Unter diesem Gesichtspunkt
scheint es die Kraft zu sein, die von der Gesellschaft am weitesten entfernt
ist. Genauer gesagt, ist es diejenige monopolistische Gruppe, die sich mit
den besten wirtschaftlichen und militärischen Waffen ausgerüstet hat. Ohne
das Militärische richtig zu analysieren, können wir weder den wirtschaftli-
chen Monopolismus noch den staatlichen und Machtmonopolismus gänz-
lich begreifen. Alle drei zusammen bilden eine Einheit. Sie nähren sich von
der gleichen Sache – den gesellschaftlichen Mehrprodukten. Sie behaupten,
im Gegenzug für die Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Produktivität der
Gesellschaft zu sorgen. Der Etatismus, der ideologische Staat, präsentiert

44 Ilmiye, als eine der grundsätzlichen Institutionen des osmanischen Staatsapparats, war für die
Verbreitung des Islam zuständig und hatte eine Kontrollfunktio im Hinblick auf die gerichtli-
che Anwendung sowie das Unterrichten des islamischen Rechts inne.
45 kalemiye war das Administrative des auf vier Institutionen beruhenden osmanischen
Staatsapparats.
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 175

sich auf diese Weise, aber die Wahrheit sieht anders aus, nämlich so, wie ich
sie dargestellt habe.
Da die Militarisierung, der Militarismus, der am straffsten organisier-
te Arm des Kapitals und der Macht ist, ist es durch die Natur der Sache
bedingt, dass das militärische Monopol die Institution bildet, die die
Gesellschaft am meisten unter ihre Herrschaft stellt und in einen Käfig
sperrt. Obwohl der Militarismus eine Kraft ist, die in der gesamten
Geschichte und in allen Staaten in die Gesellschaft hineindringt, sie kon-
trolliert und über sie herrscht, erreichte sein Wachstum im Zeitalter der
Mittelklasse (Bourgeoisie) seinen Höhepunkt. Wir begegnen an dieser Stelle
der nationalstaatlichen Entwaffnung der Gesellschaft im Namen der offiziel-
len Armee und der Errichtung des staatlich-militärischen Waffenmonopols
als ausschlaggebendem Aspekt. Die Gesellschaft wurde in der Geschichte
noch nie so sehr entwaffnet wie von der bürgerlichen Klasse. Der Grund
für diese äußerst wichtige Tatsache ist die Intensivierung der Ausbeutung
und die Entstehung großer Widerstände dagegen. Die Gesellschaft lässt sich
nicht regieren, ohne weitgehend und permanent entwaffnet und gegenüber
dem Eindringen der Macht bis in ihre innersten Poren geöffnet und unter
die Kontrolle der Macht gestellt worden zu sein. Die Gesellschaft lässt sich
nicht bezwingen, ohne im ›eisernen Käfig‹ der Moderne eingesperrt zu wer-
den. Außerdem lässt sich die Gesellschaft auch nicht regieren, ohne von der
medialen Armee des global monopolistischen Finanzzeitalters eingeschlossen
und umzingelt zu werden. Die Dimensionen der Ausbeutungsmonopole
spiegeln sich in der Entstehung ideologisch-medialer und bürokratisch-mi-
litärischer Monopole eins zu eins wider. Es bestehen unzerstörbare Bände
zwischen ihnen und sie bedingen sich gegenseitig. Der Vorrang des auf dem
über und in der Gesellschaft verwurzelten Militarismus beruhenden riesigen
waffenindustriellen Kapitals der jüngsten großen Zentralzivilisation – des
Superhegemons, der anderen regionalen Hegemonen und aller ihrer regi-
onalen Kollaborateure – gegenüber dem Kapital anderer Monopole rührt
von seiner geschichtlichen und aktuellen Position her. Die Identifizierung
des Militarismus mit dem Faschismus des kapitalistischen Monopols erlangt
ebenfalls durch diese Wahrheit ihre Bedeutung.
Gesellschaften wehrten sich selbstverständlich während der natürlichen
Gesellschaft und der ganzen schriftlich überlieferten Geschichte auf ver-
schiedene Art und Weise intensiv gegen die militaristische Entwicklung
der Zivilisation. Die Gesellschaft entwickelte im Laufe ihrer Jahrtausende
langen Geschichte auf der Grundlage der Selbstverteidigungstradition
176 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

diverse Widerstände und Aufstände, institutionalisierte Guerillakräfte


und Volksverteidigungsarmeen und führte große Verteidigungskriege.
Verteidigungskriege können wir natürlich nicht mit Kriegen militaristi-
scher Monopole gleichsetzen. Sie unterscheiden sich in ihrem Wesen und
Charakter. Der eine ist gesellschaftsfeindlichen, kolonialistischen, verderben-
den und vernichtenden Charakters, der andere ist gesellschaftsfreundlich,
verteidigt die Gesellschaft, setzt ihre moralischen und politischen Fähigkeiten
frei. Die demokratische Zivilisation ist der auf der Systematisierung der
Selbstverteidigung basierende Schutz und die Verteidigung der Gesellschaft
gegen den zentralzivilisatorischen Militarismus.

12. Das Friedens- und Demokratieproblem der Gesellschaft


Unter einer der vorangegangenen Überschriften versuchte ich in Form
einer sehr knappen Einleitung darzustellen, mit welchen Problemen
die gesellschaftliche Natur überhäuft wird. Ein Paradigma und die
Sozialwissenschaften können nur dann wertvoll sein, wenn man sich
bei Analysen und Antworten auf diese Definitionen stützt. Ansonsten
unterschieden sie sich nicht mehr von liberalen und traditionalisti-
schen Rhetoriken (Wortkünste, die die Herrschaft verschleiern). Ich
kam zum Ergebnis, dass den gesellschaftlichen Fragen die kombinierten
Auswirkungen, die Herrschaft und der Kolonialismus von Unterdrückungs-
und Ausbeutungsmonopolen zugrunde liegen, die im Allgemeinen die ge-
sellschaftliche Natur (die Existenz der Gesellschaft) und im Besonderen
die Mehrwert produzierenden wirtschaftlichen Ressourcen ausbeuten. Die
Probleme haben ihren Ursprung weder in der Umwelt (Erste Natur) noch
in irgendeinem gesellschaftlichen Faktor (Zweite Natur).
Ohne Moral und Politik, die sich als Existenzfaktoren zur Regelung der
gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft im allgemeinen, kollekti-
ven Sinne zu einem Gewebe entwickelt haben, können Gesellschaften nicht
weiterexistieren. Der Normalzustand und die Existenz der Gesellschaft
können nicht ohne Moral und Politik sein. Wenn das eigene morali-
sche und politische Gewebe einer Gesellschaft sich nicht entwickelt hat
oder verkrüppelt, irregeleitet und gelähmt ist, kann über sie gesagt wer-
den, dass diese Gesellschaft die Besetzung und Kolonialisierung verschie-
dener Monopole als Kapital, Macht und Staat erlebt. Allerdings auf diese
Weise zu existieren, ist ein Verrat und eine Entfremdung von ihrer eigenen
Existenz; es handelt sich dabei um eine Existenz als Herde, Gegenstand
und Ware-Eigentum unter der Herrschaft von Monopolen. Unter diesen
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 177

Umständen ist der Gesellschaft ihre eigene Natur abhanden gekommen und
die Fähigkeiten der natürlichen Gesellschaft sind verloren oder verkümmert.
Die Gesellschaft ist kolonialisiert, sogar – noch schlimmer – hat sie sich
gänzlich als Eigentumsgegenstand der Verderbnis und der Nichtexistenz er-
geben. In der Geschichte und Gegenwart sind viele Gesellschaften zu sehen,
die dieser Definition entsprechen. Die verdorbenen und vernichteten sind
viel zahlreicher als die überlebenden.
Wenn die Gesellschaft in einen Zustand verfällt, in dem sie nicht die für
ihre Fortexistenz notwendigen moralischen und politischen Institutionen
formieren und funktionalisieren kann, befindet sie sich in der Klemme von
Unterdrückung und Ausbeutung. Dies ist ein ›Kriegszustand‹. Es wäre auch
möglich, die geschichtlichen Zivilisationen als einen ›Kriegszustand‹ gegen
die Gesellschaft zu bezeichnen. Wenn Moral und Politik nicht funktionie-
ren, bleibt der Gesellschaft nur eine Sache übrig: Selbstverteidigung. Der
Kriegszustand ist das Fehlen des Friedens. Folglich kann der Frieden nur auf
der Grundlage der Selbstverteidigung einen Sinn erlangen. Ein Frieden ohne
Selbstverteidigung ist Ausdruck der Resignation und Sklaverei. Der Frieden
ohne Selbstverteidigung, den der Liberalismus heute den Völkern und
Gesellschaften aufzwingt, insbesondere das demokratische Stabilität und
Verständigung genannte Spiel ist nichts anderes als die Verschleierung der
mit Waffengewalt aufrechterhaltenen bürgerlichen Klassenherrschaft und
die verdeckte Fortsetzung des Kriegszustandes. Die ideologische Hegemonie
des Kapitals gibt sich große Mühe, um den Frieden ohne Selbstverteidigung
als echten Frieden auszugeben. In der Geschichte drückt es sich mit anderen
›sakralisierten Begriffen‹ aus. Religionen, vor allem zivilisierte, sind voller
solcher Begriffe.
Die Verwirklichung des Friedens kann ihre wahre Bedeutung nur dann er-
langen, wenn die gesellschaftliche Selbstverteidigung funktioniert, also wenn
der moralische und politische Gesellschaftscharakter bewahrt und gewähr-
leistet wird. Insbesondere der Frieden, um dessen Definition sich Michel
Foucault sehr bemühte, kann nur dadurch einen akzeptablen gesellschaftli-
chen Ausdruck finden. Ein Frieden, dem andere Bedeutungen beigemessen
werden, kann nichts anderes sein als eine Falle für alle Gemeinschaften und
Völker und eine Fortsetzung des Kriegszustandes in verdeckter Form. Der
Friedensbegriff ist unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne ein
Wort voller Fallen. Ihn ohne richtige Definition zu benutzen ist deshalb
bedenklich. Wenn wir es nochmals definieren: der Frieden ist weder die
vollständige Aufhebung des Kriegszustandes noch die ›Stabilität‹, die unter
178 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Überlegenheit der einen Partei errichtet wird, und das Fehlen des Kriegs.
Im Krieg gibt es verschiedene Parteien; die absolute Überlegenheit der ei-
nen Partei ist nicht der Fall und darf es auch nicht sein. Drittens dürfen die
Waffen nur auf der Basis der Anerkennung des eigenen moralischen und
politischen institutionellen Funktionierens der Gesellschaft zum Schweigen
gebracht werden. Diese drei Voraussetzungen bilden die Grundlage des prin-
zipiellen Friedens. Ein richtiger Frieden kann nur dann etwas bedeuten,
wenn er auf diesen prinzipiellen Voraussetzungen beruht.
Lassen Sie uns auf diese drei Voraussetzungen näher eingehen. Erstens
ist eine vollständige Entwaffnung der Parteien nicht vorgesehen. Welchen
Anspruch auch immer sie haben, geloben die Parteien nur einander nicht
anzugreifen. Es wird dabei keine militärische Überlegenheit angestrebt.
Das Recht und die Möglichkeiten aller Parteien, für ihre Sicherheit zu sor-
gen, werden respektiert. Zweitens handelt es sich nicht um die endgültige
Überlegenheit der einen Partei. Vielleicht kann unter der Überlegenheit der
Waffen ein Zustand der Stabilität und Ruhe eingeleitet werden, aber die-
ser Zustand heißt nicht Frieden. Es kann sich um einen Frieden handeln,
wenn beide Parteien akzeptieren, den Krieg zu beenden, ohne dass eine von
ihnen sich mithilfe von Waffen Überlegenheit verschafft. Drittens akzep-
tieren die Parteien, wie sie sich auch immer positionieren, bei der Lösung
der Probleme das moralische und politische Funktionieren der jeweiligen
Gesellschaften zu respektieren. In diesem Rahmen lässt sich der Zustand,
der als ›politische Lösung‹ bezeichnet wird, definieren. Ein Waffenstillstand,
der keine politische und moralische Lösung beinhaltet, darf nicht als Frieden
interpretiert werden.
Unter diesen prinzipiellen Friedensbedingungen erlangt die demokrati-
sche Politik eine enorme Bedeutung. Wenn die moralischen und politischen
Institutionen der Gesellschaft funktionieren, entsteht natürlicherweise ein
Prozess der demokratischen Politik. Die Kreise, die die Verwirklichung des
Friedens anstreben, sollten wissen, dass sie nur dann Erfolg haben können,
wenn die Politik auf moralischer Basis ihre Rolle spielt. Im Frieden hat zu-
mindest eine Partei sich in der Position der demokratischen Politik zu be-
finden. Ansonsten kann es nicht über ein ›Friedensspiel‹ im Interesse der
Monopole hinausgehen. Die demokratische Politik spielt in diesem Fall eine
lebenswichtige Rolle. Mit den Kräften der Macht und des Staates können
nur die Kräfte der demokratischen Politik auf der Basis des Dialogs einen
sinnvollen Friedensprozess einleiten. Wenn ein solcher Frieden nicht der Fall
ist, dann besteht der Kriegszustand weiter, selbst wenn die Kriegsparteien
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage 179

(Monopole) ihre Waffen zeitweilig gegenseitig niedergelegt haben. Im Krieg


gibt es Schwierigkeiten aufgrund Ermüdung und logistischer Bedürfnisse.
Wenn diese Schwierigkeiten beseitigt werden, wird der Krieg so lange fort-
gesetzt, bis eine der Parteien absolute Überlegenheit erlangt. Diese Form ist
nicht als Frieden, sondern als Waffenstillstand in Erwartung noch gewalti-
gerer Kriege zu bezeichnen. Damit ein Waffenstillstand friedlich sein kann,
muss er den Frieden herbeiführen und in die drei Voraussetzungen, die ich
aufgezählt habe, münden.
Es kann auch dazu kommen, dass diejenige Partei, die sich im Krieg in
der Selbstverteidigungsposition befindet, (die Partei, die Recht hat) ab-
solute Überlegenheit erlangt. Auch dann ändert sich nichts an den drei
Friedensvoraussetzungen. Wie es an der Erfahrung des Realsozialismus und
der zahlreichen berechtigten nationalen Befreiungskriege ersichtlich wird,
kann die sofortige Gründung der eigenen Macht und des eigenen Staates und
das Sorgen für Stabilität unter dieser Macht und diesem Staat nicht Frieden
genannt werden. In diesem Fall handelt es sich darum, dass die ausländische
monopolistische Kraft durch eine inländische (Staatskapitalismus oder die
Kreise, die nationale Bourgeoisie genannt werden) ersetzt wird. Auch wenn
es dann sozialistische Macht genannt wird, ändert sich nichts an dieser so-
ziologischen Realität. Frieden ist grundsätzlich kein Phänomen, das durch
die Überlegenheit der Macht und des Staates hervorgerufen wird. Solange
die Macht und der Staat (bürgerlich, sozialistisch, national, anti-national
– es macht keinen Unterschied) ihre eigene Überlegenheit nicht mit den
demokratischen Kräften teilt, kann von Frieden keine Rede sein. Frieden,
in letzter Instanz, ist die bedingte Übereinkunft zwischen der Demokratie
und dem Staat. In der Geschichte nehmen auch die Erzählungen über solche
Übereinkünfte viel Platz und Zeit ein. Diese bedingten Übereinkünfte wur-
den zu vielen Zeiten in vielen Räumen ausprobiert. Es gab sowohl prinzipi-
elle, langfristige Beispiele als auch im Handumdrehen aufgekündigte. Die
Strukturen, in denen Gesellschaften leben, bestehen nicht ausschließlich aus
errichteten Mächten und staatlichen Kräften. Solange Gesellschaften nicht
vollständig vernichtet wurden, wissen sie, egal, wie sehr ihr Raum eingeengt
wurde, ihr Leben unter ihrer eigenen moralischen und politischen Identität
fortzusetzen. Diese Realität ist vielleicht der in der Geschichte nicht be-
schriebene eigentliche Zustand des Lebens.
Die Gesellschaft nicht als ausschließlich aus Macht- und Staatserzählungen
bestehend zu sehen, im Gegenteil als bestimmende Natur zu betrachten,
könnte Grundsstein einer realistischeren Soziologie legen. Wie groß und
180 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

reich die Mächte, Staaten und Kapitalmonopole (so wie Pharao und Karun)
auch immer sind oder zu welch großem die Gesellschaft verschlingenden
Ungeheuer (neuer Leviathan) ihre heutigen Erben auch immer geworden
sind, können sie niemals die Gesellschaft vernichten; denn was sie in letzter
Instanz bestimmt, ist wiederum die Gesellschaft. Die Bestimmten können
niemals die Bestimmenden ersetzen. Nicht einmal die gegenwärtig so im-
posante mediale Propagandakraft der Macht kann diese Tatsache verdecken.
Sie sind die elendsten und erbarmenswürdigsten Kräfte, die sich als Riesen
verkleidet haben. Dagegen wird die menschliche Gesellschaft nicht davor
zurückschrecken, ihre Bedeutung als die seit ihrer Entstehung prächtigste
Kreation der Natur zu finden.
Das folgende Kapitel handelt von der demokratischen Zivilisation als dem
System der Interpretation, Verwissenschaftlichung und des Wiederaufbaus
der Gesellschaft als des sowohl geschichtlichen als auch gegenwärtigen
Zustands anhand dieses grundsätzlichen Paradigmas.
Fünfter Teil

Das System der demokratischen


Zivilisation denken
Das System der demokratischen Zivilisation denken 183

Seit ich denken kann, hat mir die Skepsis keine Ruhe gelassen und verfolgte
mich stets wie ein Gespenst. Dieser Skeptizismus nahm manchmal krankhaf-
te Ausmaße an. Wenn manche meiner dogmatischen Glaubenssätze erschüt-
tert wurden, fühlte ich mich unglaublich schwach. Das ging so weit, dass ich
im Leben in eine Anspruchslosigkeit verfiel. Der wichtigste Beitrag dieses
Skeptizismus, der sich selbst bei nicht ernsthaft zu vertretenden Themen
zeigte, war wohl, dass er mich lehrte, dass die ›Wahrheit‹ nicht einfach zu
finden ist. Meines Erachtens brachte mir die Problematisierung von allem
einschließlich meiner eigenen Triebe die Kraft ein, mich von der im Nahen
Osten immer noch sehr stark verbreiteten dogmatischen Denkweise zu be-
freien. Dass die eurozentrische hegemoniale Denkweise in letzter Instanz
sowohl auf den dogmatischen Positivismus des Modernismus als auch auf
das postmoderne Denksystem einen großen Einfluss ausübt, zeugt von der
Bedeutung dieses Themas. Ich versuchte mich zu orientieren, indem ich
die auf Glauben basierende Denkfähigkeit des Ostens mit der kritischen
Denkkraft des Westens verglich, fand aber auf beiden Seiten keinen Platz für
mich. Da es meinem Denken so ging, vertiefte sich natürlich mit jedem Tag
die Kluft zwischen diesen Denkweisen und meinem Leben.
Mich befriedigte weder das auf Glauben basierende Denken noch dasjeni-
ge, das als kritisches präsentiert wurde. Meine grundsätzliche Kritik richtete
sich gegen die Denksysteme, die für die Ausweitung der gesellschaftlichen
Frage verantwortlich sind. Und dies erforderte eine kritische Haltung gegen-
über der auf Glauben basierenden Systematik des Ostens und der rationalen
Systematik des Westens und ermutigte mich zu einer solchen Haltung.
Eine zweite meiner Eigenschaften war, dass mein erwachtes Bewusstsein
sich niemals von meiner gesellschaftlichen Praxis loslöste. Bei mir hatte sich
schon früh der Charakterzug entwickelt, alles zu teilen. In der Zeit, als ich
noch zu Fuß zur Grundschule ging (es handelte sich um die Schule im
Nachbardorf Cibin), legte ich ein ziemlich interessantes Verhalten an den
Tag, indem ich mit den wenigen Gebeten, die ich auswendig gelernt hatte,
zum Imam einer kleinen Schülergruppe wurde. Obwohl ich spielerisch he-
ranging, nahm ich diese Arbeit ziemlich ernst. Meines Erachtens lag dieser
Haltung der Wunsch zugrunde, mich dadurch zu beweisen, dass ich die mit
Ach und Krach auswendig gelernten Suren und damit das Prestige des ersten
Denkens mit den anderen Kindern teilte: Das, was du lerntest, ist schwierig
184 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

und wichtig; dann solltest du es unbedingt mit anderen teilen! Anscheinend


hatte ich da mit einem wichtigen moralischen Grundsatz Bekanntschaft
gemacht. Im vorangegangenen Band gab ich als kurze Geschichte wieder,
wie ich mich gefühlt hatte, als die ersten Lichter der Moderne auf mein
Gesicht gefallen waren.46 Als ich deutlich merkte, dass die kapitalistische
Moderne die Kraft war, die meinen verrückten Gedankenlauf zunichte
machte, hielt ich inne. Die Götter der letzten vier Jahrhunderte des ka-
pitalistischen Weltsystems zu zerschlagen, brachte mir interessanterwei-
se eine emotionale Stärke ein, die der Freude Abrahams aus Urfa ähnelte,
der als ›Götzenzerstörer‹ aufgetreten war. Nun konnte ich sowohl meinen
Skeptizismus leicht unter Kontrolle halten als auch befriedigende Treffen
mit meinen ›Wahrheiten‹ arrangieren, denen ich immer noch hinterherlief.
Es ist bitter, dass das Treffen des gänzlich der Schwäche anheimgefalle-
nen Menschengeschlechts mit der Wahrheit auf das wahrscheinlich instik-
tivste Niveau in seiner Geschichte herabgesunken ist. Heute gibt es so gut
wie kein Individuum mehr, das nicht von einem aus Partner*in, Kind und
einem regelmäßigen Lohn bestehenden Leben gefangen genommen wäre.
Ich leugne diese Tatsachen nicht. Ein solches materielles Leben im Namen
des rationalen Denkens anzubeten, das an die Stelle der Philosophie gesetzt
wurde, ist völlig bemitleidenswert. Genau das ist die Welt, die der natio-
nalstaatliche Gott seinen glücklichen Untertanen schenkt. Können wir be-
streiten, dass wir in einer außerordentlich beschränkten Welt leben? Mir
erscheint das Leben unter einem göttlichen Symbol ältester Zeiten tausend-
mal sinnvoller und heiliger als unter der nationalstaatlichen Göttlichkeit
von heute. Selbstverständlich weiß ich, dass ich hier vom seines Inhalts
beraubten, äußerst hohlen Theismus der Kapitalmonopole spreche. Aber
es bereitet mir mittlerweile Schmerzen, dass selbst diejenigen, die die ver-
nichtendsten Schläge der nationalstaatlichen Göttlichkeit erleiden, trotzdem
unter dem Einfluss dieser Göttlichkeit bleiben, und dass es ihnen irgendwie
nicht einfällt, daraus auszubrechen. Ich bin mir dessen ziemlich bewusst,
dass dies den aktuellen Zustand der Menschheit darstellt. Der Völkermord
an den Jüd*innen, der diese Realität bestens widerspiegelt, verrät, welch
tragische Dimensionen dieser von mir angesprochene Zustand angenom-
men hat. Leider hatte der hebräische Stamm, dessen Geschichte ich bereits

46 Band II, S. 141 f.


Das System der demokratischen Zivilisation denken 185

erzählt habe, sowohl an der Entstehung dieses Zustands als auch daran,
dass er unzählige Opfer forderte, einen wichtigen Anteil. Ich zweifle nicht
am hegemonialen Charakter der jüdischen Denkkraft. Weder leugne noch
unterschätze ich die Einflüsse dieser Denkkraft auf meine Persönlichkeit,
die vom Auswendiglernen von Gebeten bis hin zum Zerstören von Götzen
reichten. Allerdings alleine die Tragödie des Völkermords an den Jüd*innen
führt dazu, dass sie sich selbst eine gründliche Selbsthinterfragung schulden,
wie sie Adorno unternahm. Um in dem Maße, wie ich beeinflusst wurde,
meine Schuld zu begleichen, versuchte ich mir über das System der demo-
kratischen Zivilisation Gedanken zu machen.
Diesbezüglich bin ich Abrahamit; aber da ich teilweise auch vom
Zoroastrismus beeinflusst bin, habe ich ein starkes Bedürfnis nach einer an-
deren Interpretation. Dem herrschenden Geschichtsverständnis in Form von
Zivilisationserzählungen widerfuhren wichtige Brüche. Es wird allgemein
angenommen, dass jene Erzählungen als offizielle Geschichte des Siegeszuges
des Staates und der Macht fungieren, aber keine Gesellschaftsgeschichte
sein können. Die Narrative über die Seinsweise des Staates und der Macht
können höchstens einen glanzlosen symbolischen Höhepunkt der histori-
schen Wahrheit in Bezug auf Kapitalmonopole bilden. Was der Geschichte
den Schein der Langweiligkeit verleiht, sind wiederum diese Narrative, die
der gesellschaftlichen Tradition nicht entsprechen. Es ist offensichtlich,
dass diese in ihrem Kern anti-gesellschaftliche Geschichte aufgrund ihres
Wesens die Gesellschaft als Tradition nicht ausdrücken kann, sondern auf
sie ihren Schatten wirft und sie vielseitigen Verdrehungen aussetzt. Auch die
Erzählungen über Dynastien ähneln diesen. Das religiöse Geschichtsnarrativ,
das in sehr begrenztem Maße gesellschaftlich repräsentativ ist, hat vor allem
nach dem Eintritt in den Zivilisationsprozess keine über die Geschichte des
Staates und der Macht hinausgehende Bedeutung mehr.
Die auf Klassen und Wirtschaft beruhenden Lesarten der Geschichte äh-
neln mit ihrer Art, die die gesellschaftliche Wirklichkeit von ihrer Totalität
losgelöst behandelt und in einen Reduktionismus mündet, – wenn auch
unter einem anderen Gesichtspunkt – der Geschichte von Staaten. Ihrer teil-
weise positivistischen Perspektive mangelt es an der Fähigkeit, der Geschichte
einen Sinn zu verleihen – und dies sogar mehr, als es bei Religionen der Fall
ist. All diesen historischen Narrativen, so sehr sie einander konträr zu sein
scheinen, ist gemeinsam, dass sie ihren Ursprung in der Zivilisation haben.
Ich bin der Meinung, dass die Geschichte der gesellschaftlichen Natur
bisher weder paradigmatisch noch empirisch ausreichend verstanden und
186 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

gewürdigt wurde. Die Bedeutung der als Gesellschaftsgeschichte bezeichne-


ten Geschichtsschreibungen geht nicht darüber hinaus, zerstückelte Bereiche
der positivistischen Soziologie abzubilden. Sie beschreiben den Körper, das
Ganze, lediglich durch seine Teile.
Es wäre möglich, auf all diese Feststellungen viel ausführlicher einzuge-
hen, aber das diente nicht der Behandlung unseres Themas.
Dass ich mich, erneute Wiederholungen in Kauf nehmend, auf die
Geschichte als Erzählung über die demokratische Zivilisation fokussiere,
liegt an der Unlösbarkeit der Gesellschaftsfragen, deren Deutung mir im-
mer noch Schwierigkeiten bereitet. Diese Unlösbarkeit liegt nicht nur im
praktischen Leben, auch in der Erzählung steckt vieles, das nicht analysier-
bar ist. Wenn diese beiden Umstände zusammenkommen, wimmelt es von
offiziellen Zivilisationserzählungen. Und die paar Teile, die im Namen der
Gesellschaftsgeschichte dazwischengeschoben werden, führen nur zu einer
weiteren Verkomplizierung der Sache.
Wie ich bereits häufig betont habe, klärt der wissenschaftliche Sozialismus
einige Realitäten auf, indem er diese Situation mittels des Klassencharakters
erklärt; diese Erklärung kann aber das Problem nicht lösen und kommt
nicht umhin, selbst Teil des Problems zu werden.
Aus diesem Grund betone ich so oft, dass man, solange man das kapi-
talistisch-modernistische Paradigma nicht komplett überwunden hat, die
historische Wahrheit mehr verschleiern wird, als Religionen es tun, und sie
mit Sinnlosigkeit aufladen wird, jedenfalls ohne sie begreifen zu können.
Die historischen Konsequenzen dieser paradigmatischen Sichtweise Karl
Marx’ lassen sich gegenwärtig besser begreifen. Eine falsche Geschichte
führt zu einer falschen Praxis. Ohne die paradigmatischen und empirischen
Herangehensweisen der Zivilisation im Allgemeinen und der kapitalisti-
schen Moderne im Besonderen zu überwinden, kann man nicht zur paradig-
matischen und empirischen Herangehensweise der gesellschaftlichen Natur
finden. Was ich hier zu tun versuche, ist, wenn auch sehr unvorbereitet,
einen Versuch über die demokratische Zivilisation zu wagen.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 187

A Definition der demokratischen


Zivilisation

Die sozialwissenschaftliche Schule, die die Existenzweise und Entwicklung


der gesellschaftlichen Natur auf der Basis der moralischen und politischen
Gesellschaft untersucht, lässt sich als das System der demokratischen
Zivilisation bezeichnen. Verschiedene sozialwissenschaftliche Schulen ha-
ben unterschiedliche Analyseeinheiten. Die Theologie und Religion ha-
ben die Gesellschaft zum Gegenstand. Der wissenschaftliche Sozialismus
beruht auf Klassenanalyse. Die Bezugsgröße des Liberalismus ist das
Individuum. Während es Schulen gibt, die den Staat und die Macht zum
Untersuchungsgegenstand erheben, gibt es auch nicht wenige Ansätze,
bei denen Zivilisationen die gleiche Rolle spielen. Alle diese Ansätze, die
auf einer bestimmten Einheit oder Bezugsgröße basieren, werden, wie ich
bereits häufig erwähnte, dafür kritisiert, dass sie weder geschichtlich noch
ganzheitlich sind. Eine sinnvolle Analyse hat sich auf aus gesellschaftlicher
Sicht lebenswichtige Aspekte zu fokussieren und von der Geschichte und
Aktualität ausgehend anhand jener Aspekte ihre Erzählung zu konstruieren.
Sonst ginge sie nicht über Belletristik hinaus.
Die moralische und politische Gesellschaft zur Bezugsgröße unseres
Analyserahmens zu machen, ist auch im Hinblick darauf von Bedeutung,
dass sie die Dimensionen der Geschichtlichkeit und Ganzheitlichkeit bein-
haltet. Die moralische und politische Gesellschaft erlaubt uns die geschicht-
lichste und ganzheitlichste Gesellschaftserzählung. Die Moral und Politik
selbst lassen sich auch als Geschichte interpretieren. Eine Gesellschaft, der
die moralische und politische Dimension innewohnt, ist eine Gesellschaft,
die der Totalität ihrer eigenen Existenz und Entwicklung am nächsten steht.
Die Gesellschaft kann ohne Staat, Klassen, Ausbeutung, Städte, Macht
und Nation existieren, ohne Moral und Politik ist sie aber unvorstellbar.
Vielleicht können Gesellschaften als Kolonien und Rohstoffquellen ande-
rer Kräfte, insbesondere der Kapital- und staatlichen Monopole existieren.
In solchen Fällen handelt es sich aber um ein Überbleibsel, ein Erbe der
Gesellschaft, das seiner Gesellschaftlichkeit beraubt ist.
Es ergibt keinen Sinn, die moralische und politische Gesellschaft als dem
Naturzustand der Gesellschaft durch Attribute wie Sklavenhalter-, feudal,
kapitalistisch oder sozialistisch zu ergänzen. Genauer gesagt, Gesellschaften
188 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

durch diese Attribute zu definieren, führt zur Verschleierung der gesell-


schaftlichen Wirklichkeit und zur Reduzierung der Gesellschaft auf eini-
ge wenige Elemente (Klasse, Wirtschaft, Monopol). Das Stocken der auf
diesen Begriffen basierenden analytischen Narrative in der Theorie und
Praxis der gesellschaftlichen Entwicklung rührt von der Unzulänglichkeit
und Fehlerhaftigkeit her, die sie in ihrem Kern tragen. Nachdem alle
Gesellschaftsanalysen, die sich dieser dem historischen Materialismus na-
hestehenden Attribute bedienen, in diese Lage verfielen, können andere
Narrative von äußerst geringem wissenschaftlichem Wert offensichtlich
nicht anders, als in eine Sackgasse zu führen. Obwohl Narrative mit religiö-
sen Dimensionen die Bedeutung der Moral besonders hervorheben, haben
sie die politische Dimension längst an den Staat delegiert. Bürgerlich libe-
rale Ansätze begnügen sich nicht mit der Verschleierung der moralischen
und politischen Gesellschaft, sondern schrecken gleichzeitig nicht vor ei-
ner Kriegserklärung gegen jene Gesellschaft zurück, wann immer sich die
Gelegenheit bietet. Individualismus ist, mindestens genauso wie Staat und
Macht, ein Kriegszustand gegen die Gesellschaft. Liberalismus bedeutet im
Grunde, die Gesellschaft zu schwächen (als dann unmoralische und unpoli-
tische Gesellschaft) und sie für jegliche Attacke des Individualismus angreif-
bar zu machen. Der Liberalismus bildet daher die gesellschaftsfeindlichste
Ideologie und Praxis.
Die Gesellschafts- und Zivilisationssystembegriffe der westli-
chen Soziologie (es existiert noch keine Wissenschaft namens östliche
Soziologie) sind höchst problematisch. Man sollte nicht vergessen, dass
Soziologie von dem Bedürfnis herrührt, eine Lösung für die von Kapital-
und Machtmonopolen verursachten riesigen Probleme wie Krisen,
Widersprüche, Konflikte und Kriege zu finden. Im Westen wurde eine These
nach der anderen produziert, um die Ordnung zu retten und lebenswerter
zu machen. Nachdem die gesellschaftlichen Probleme trotz aller konfessio-
nellen, theologischen und reformistischen Interpretationen der christlichen
Lehre mit jedem Tag schwerwiegender wurden, traten auf der wissenschaft-
lichen (positivistischen) Betrachtung der gesellschaftlichen Probleme beru-
hende Interpretationen in den Vordergrund. Die philosophische Revolution
und das Zeitalter der Aufklärung (siebzehntes und achtzehntes Jahrhundert)
entsprangen im Wesentlichen diesem Bedürfnis. Dass die Probleme mit der
Französischen Revolution, von der man sich eine Lösung erhofft hatte, noch
komplizierter wurden, verstärkte weiter die Tendenzen, die Soziologie als
eine unabhängige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Die utopischen
Das System der demokratischen Zivilisation denken 189

Sozialisten (Henri de Saint Simon, Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon)


sowie Auguste Comte und Émile Durkheim stellten dabei die Pioniere einer
Arbeit dar, die die Vorstufe zur Soziologie bildete. Sie alle waren Kinder der
Aufklärung und hatten einen unendlichen Glauben an die Wissenschaft. Sie
glaubten, die Gesellschaft durch die Wissenschaft ihren Wünschen entspre-
chend neu erschaffen zu können. Sie maßten sich die Rolle Gottes an. Nach
Hegels Auffassung war Gott schließlich auf Erden, nämlich als Nationalstaat.
Was zu tun sei, sei für ›Social Engineering‹ charakteristische, ausgeklügel-
te Projekte zu entwickeln und zu planen. Es gebe kein Projekt und keine
Planung, die mithilfe des Nationalstaats nicht zu verwirklichen seien, solan-
ge sie ›positivistisch-wissenschaftlich‹ seien und vom Nationalstaat akzeptiert
würden.
Während die englischen Sozialwissenschaftler (die politischen
Ökonomen) durch wirtschaftliche Lösungen zur französischen Soziologie
einen Beitrag leisteten, taten die deutschen Ideologen das Gleiche auf phi-
losophischem Wege. Adam Smith und Hegel traten in dieser Hinsicht
besonders hervor. Von Rechten und Linken wurden diverse Rezepte zur
Lösung der Probleme angeboten, die von der furchtbaren Ausbeutung der
Gesellschaft im Industriekapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts ver-
ursacht worden waren. Der Liberalismus, die zentrale Ideologie des kapita-
listischen Monopolismus, war am praktischsten dafür, sich mit einer völlig
eklektischen Herangehensweise jeglicher Idee zu bedienen und willkürlich
zusammengeschusterte Systeme zu erschaffen. Während schematische rech-
te und linke Soziologien vergangenheits- (die Suche der Rechten nach dem
goldenen Zeitalter) oder zukunftsbezogene (die Suche nach der utopischen
Gesellschaft) Projekte entwickelten, schienen sie über die gesellschaftliche
Natur, Geschichte und Gegenwart ahnungslos zu sein. Jedes Mal, wenn
sie auf die Geschichte und das aktuelle Leben stießen, gingen sie in die
Brüche. Die Wirklichkeit, in deren Gefangenschaft sie alle sich befanden,
war der ›eiserne Käfig‹ den die kapitalistische Moderne allmählich errichtete
und in den sie sie alle geistig und mit ihren praktischen Lebensweisen ein-
schloss. Friedrich Nietzsche kam der gesellschaftlichen Wahrheit viel näher,
als er sie alle als ›Metaphysiker des Positivismus‹ und ›kastrierte Zwerge des
kapitalistischen Modernismus‹ bezeichnete. Nietzsche war einer der ersten
Philosophen, die auf die Gefahr hinwiesen, dass die Gesellschaft von der
kapitalistischen Moderne verschlungen werden könnte. Obwohl ihm vor-
geworfen wird, mit seinem Denken den Faschismus vorbereitet zu haben,
190 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

waren seine Kritiken, die die Ankunft des Faschismus und der Weltkriege
vorwegnahmen, ebenfalls aufsehenerregend.
Die zunehmenden großen Krisen und Weltkriege reichten aus, um
den Bankrott der positivistischen Soziologie samt den rechten und lin-
ken Flügeln des liberalen Zentrums herbeizuführen. Obwohl das Social
Engineering die Metaphysik sehr kritisiert, zeigte es im autoritären und to-
talitären Faschismus sein wahres Gesicht als oberflächlichste Metaphysik.
Die Frankfurter Schule stellt quasi den offiziellen Beleg dieses Bankrotts
dar. Die Annales-Schule und die 1968er Jugendrebellion führten zu zahl-
reichen postmodernen soziologischen Ansätzen, allen voran zu Immanuel
Wallersteins Auffassung eines kapitalistischen Welt-Systems. Tendenzen wie
Ökologie, Feminismus, Relativismus, die neue Linke und der Weltsystem-
Ansatz brachten eine mehrfach zersplitterte sozialwissenschaftliche Welt
mit sich. Zweifellos spielte dabei auch die seit den 1970ern errichtete
Hegemonie des Finanzkapitals eine wichtige Rolle. Das Positive an diesen
Entwicklungen war der Niedergang der Hegemonie des eurozentrischen
Denkens. Das Negative daran waren die Schwierigkeiten, die zersplitterte
Sozialwissenschaften mit sich brachten.
Wenn wir die Kritiken an der eurozentrischen Soziologie zusammenfassen
sollten:
a) Der Positivismus, der die Religion und die Metaphysik kritisierte und
verurteilte, kam auch selbst nicht über eine Art Religion und Metaphysik hi-
naus. Man sollte sich nicht darüber wundern. Die menschliche Kultur selbst
muss metaphysisch sein. Das Ausschlaggebende ist die Unterscheidung zwi-
schen guter und schlechter Metaphysik.
b) Die Gesellschaft in Form von Dichotomien wie primitiv-modern, ka-
pitalistisch-sozialistisch, industriell-landwirtschaftlich, fortschrittlich-rück-
schrittlich, mit-ohne Klassen, staatlich-nichtstaatlich zu beschreiben,
verschleiert die der Wahrheit näher kommende Definition der gesellschaft-
lichen Natur. Solche Dichotomien führen uns von der gesellschaftlichen
Wahrheit weg.
c) Die Neuerschaffung der Gesellschaft ist nichts als ein modernes Gott-
Spielen. Genauer gesagt: Jedem Versuch, sie neu zu erschaffen, liegt eine
Tendenz zugrunde, neue Kapital-, Macht- und staatliche Monopole zu
erschaffen. Genauso wie ein ideologischer Zusammenhang zwischen dem
mittelalterlichen Theismus und den absoluten Monarchien (Padischahtum,
Schahanschahtum, Sultanat) bestand, stellt auch das moderne Social
Engineering als Neuerschaffung eigentlich die göttliche Tendenz und
Das System der demokratischen Zivilisation denken 191

Ideologie des Nationalstaats dar. Der Positivismus ist in dieser Hinsicht der
moderne Theismus.
d) Revolutionen sind nicht als Aktionen zur Neuerschaffung der
Gesellschaft zu betrachten. Sonst können sie sich dem positivistischen
Theismus nicht entziehen. Revolutionen lassen sich nur in dem Maße, wie
sie die Gesellschaft von der extremen Last des Kapitals und der Macht be-
freien, als soziale Revolutionen bezeichnen.
e) Die Aufgabe von Revolutionären kann nicht die Erschaffung irgend-
eines von ihnen entworfenen Gesellschaftsmodells sein. Nur gemessen an
ihrem Beitrag zur Weiterentwicklung der moralischen und politischen
Gesellschaft kann man von ihrer richtigen Aufgabe sprechen.
f ) Die Methoden und Paradigmen, die bei der gesellschaftlichen Natur
anzuwenden sind, sind nicht denen gleichzusetzen, die bei der Ersten Natur
der Fall wären. Während die universalistische Herangehensweise in Bezug
auf die erste Natur der Wahrheit näher kommende Ergebnisse (ich kann mir
aber keine absolute Wahrheit vorstellen) erzielt, kommt der Relativismus in
Bezug auf die gesellschaftliche Natur der Wahrheit näher. Das Universum
lässt sich weder durch unendliche, universalistische, lineare Narrative noch
durch ähnliche unendliche Zyklen erklären.
g) Das gesellschaftliche Wahrheitsregime bedarf einer Umgestaltung auf
der Grundlage weiterzuentwickelnder Kritiken. Zweifellos rede ich hier
nicht von einer göttlichen Neuerschaffung. Allerdings glaube ich, dass die
ausgefeilteste Eigenschaft der menschlichen Vernunft in ihrer Kraft darin
liegt, die Wahrheit zu suchen und sie zu konstruieren.

Ich mache folgende Vorschläge zur sozialwissenschaftlichen Systematik,


die ich im Lichte dieser Kritiken definieren will:
a) Anstatt die gesellschaftliche Natur als eine strenge universelle Wahrheit
mit mythologischen, religiösen, metaphysischen und wissenschaftlichen
Bedeutungsstrukturen (Positivismus) zu präsentieren, bringt es uns näher
an die Wahrheit, sie als die flexibelste Form grundsätzlicher universeller
Existenzen und von zeitlichen und räumlichen Bedingungen abhängender
reicher Differenzen zu betrachten. Jede Deutung, jede sozialwissenschaftli-
che oder praktische Veränderungsoffensive, die ohne gute Kenntnisse der
Qualitäten der gesellschaftlichen Natur unternommen wird, kann nach
hinten losgehen. Die monotheistischen Religionen und der Positivismus,
die im Laufe der Zivilisationsgeschichte mit Lösungsansprüchen in
Erscheinung traten, konnten die Kapital- und Machtmonopole nicht daran
192 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

hindern, ihren Höhepunkt zu erreichen. Daher ist es für sie eine unerlässli-
che Aufgabe, sich einer tiefgründigen Selbstkritik zu unterziehen und eine
menschlichere Deutung zu erlangen, um der moralischen und politischen
Gesellschaft einen Dienst zu erweisen.
b) Ein grundsätzliches Element der gesellschaftlichen Natur, das ihr ih-
ren geschichtlichen und ganzheitlichen Sinn verleiht und ihre Einheit in
Differenzierung als ihr grundsätzliches Wesensmerkmal repräsentiert, ist die
moralische und politische Gesellschaft. Die Definition der moralischen und
politischen Gesellschaft ist der bestimmende Faktor, der der gesellschaftli-
chen Natur ihren Charakter verleiht, ihre Einheit in Differenzierung fortsetzt
und ihre Geschichtlichkeit und Totalität ausdrückt. Von Bezeichnungen wie
primitiv, modern, feudal, Sklavenhalter-, kapitalistisch, sozialistisch, indus-
triell, landwirtschaftlich, Händler-, Geld-, mit staatlicher Herrschaft, na-
tional, hegemonial usw., die häufig verwendet werden, um Gesellschaften
zu definieren, drückt keine eine bestimmende Qualität der gesellschaft-
lichen Natur aus. Im Gegenteil verschleiern sie sie und führen zu einer
Zerstückelung der Bedeutung, was das Wesen falscher theoretischer sowie
praktischer Herangehensweisen in Bezug auf die Gesellschaft ausmacht.
c) Ausdrücke wie Erneuerung bzw. Neuerschaffung der Gesellschaft
beziehen sich, von ihrem ideologischen Gehalt her, auf Operationen,
mit denen neue Kapital- und Machtmonopole errichtet werden. Die
Zivilisationsgeschichte – als Geschichte jener Erneuerungen – ist die
Geschichte der kumulativen Akkumulation von Kapital und Macht. Die
grundsätzliche Tat, derer es anstelle eines göttlichen Schöpfertums in
Bezug auf die Gesellschaft bedarf, ist der Kampf gegen die Faktoren, die
die Entwicklung und das Funktionieren des moralischen und politischen
Gewebes der Gesellschaft verhindern. Eine Gesellschaft, die ihre morali-
schen und politischen Dimensionen sich frei entfalten lässt, wird sich am
besten weiterentwickeln.
d) Revolutionen stellen gesellschaftliche Aktionsformen dar, die nur dann
anzuwenden sind, wenn die Gesellschaft an der freien Wahrnehmung ihrer
moralischen und politischen Funktionen grob gehindert wird. Revolutionen
sollten und werden nur dann von der Gesellschaft als legitim anerkannt
werden, wenn sie nicht durchgeführt werden, um neue Gesellschaften,
Nationen und Staaten zu kreieren, sondern um es der moralischen und po-
litischen Gesellschaft zu ermöglichen, frei ihre Funktion zu erfüllen.
e) Revolutionärer Heroismus sollte seinen Sinn durch seinen Beitrag zur
moralischen und politischen Gesellschaft erlangen. Jegliche Aktion, der
Das System der demokratischen Zivilisation denken 193

dieser Sinn fehlt, lässt sich, unabhängig von ihrer Größe und Dauer, nicht
als revolutionärer gesellschaftlicher Heroismus definieren. Das, was die
Rolle von Individuen in der Gesellschaft positiv bestimmt, ist ihr Beitrag
zur Entwicklung der moralischen und politischen Gesellschaft.
f ) Eine Sozialwissenschaft, die diese Haupteigenschaften zum Gegenstand
tiefgehender Forschung und Analyse zu machen und weiterzuentwickeln
hat, kann weder auf universalistischem linearem Progressivismus noch auf
unendlich zirkulärem singularistischem Relativismus basieren. Es sollte eine
Sozialwissenschaft entwickelt werden, die anstatt dieser dogmatischen und
schablonenhaften Ansätze, die in letzter Instanz der Legitimation der ku-
mulativen Kapital- und Machtakkumulation in der Zivilisationsgeschichte
dienen, auf einer dialektischen Methode beruht, die einen Ausdruck der
Harmonie zwischen der analytischen und emotionalen Intelligenz darstellt,
über streng subjektivistische und objektivistische Schablonen hinausgeht
und nicht zerstörerisch ist.
Die Eigenschaften der grundsätzlichen Einheit des demokratischen
Zivilisationssystems, deren Rahmen wir durch solche Hypothesen in pa-
radigmatischer und empirischer Hinsicht darstellen können, können wir
nochmals in einigen Punkten auflisten.
1. Die moralische und politische Gesellschaft ist ein Wesensmerkmal der
menschlichen Gesellschaft, das von ihrem Anfang bis hin zu ihrem Ende zu
suchen ist. Die Gesellschaft ist im Wesentlichen moralisch und politisch.
2. Die moralische und politische Gesellschaft bildet den Gegenpol zu den
Zivilisationssystemen, deren Aufstieg auf dem Trio Stadt-Klasse-Staat (davor
hierarchische Struktur) beruht.
3. Die moralische und politische Gesellschaft entwickelt sich harmonisch
mit dem demokratischen Zivilisationssystem als der Geschichte der gesell-
schaftlichen Natur.
4. Die moralische und politische Gesellschaft ist die freieste. Es gibt kei-
ne andere bestimmende Dynamik, die die Gesellschaft so frei hält wie das
Funktionieren der moralischen und politischen Gewebe und Organe. Keine
Revolution und kein*e Held*in ist im Besitz der Fähigkeit, die Gesellschaft
so zu befreien wie die moralische und politische Dimension. Zudem können
Revolutionen und ihre Held*innen nur in dem Maße eine bestimmende
Rolle spielen, wie sie zur moralischen und politischen Gesellschaft beitragen.
5. Die moralische und politische Gesellschaft ist demokratisch. Demokratie
kann nur auf der Grundlage der Existenz der moralischen und politischen
Gesellschaft, die eine offene und freie ist, eine Bedeutung erlangen. Die
194 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

demokratische Gesellschaft, in der Individuen und Gruppen zu Subjekten


werden, bildet die Regierungsform, die die moralische und politische
Gesellschaft am besten weiterentwickelt. Genauer gesagt, die Funktionalität
der politischen Gesellschaft nennen wir ohnehin Demokratie. Politik im
wahren Wortsinn und Demokratie sind identische Begriffe. Wenn Freiheit
das klimatische Umfeld darstellt, in welchem sich die Politik ausdrückt, stellt
Demokratie die Ausübungsweise der Politik im selben Umfeld dar. Dem
Trio Freiheit, Politik und Demokratie darf die moralische Grundlage nicht
fehlen. Als Moral verstehen wir dabei den institutionalisierten traditionellen
Zustand von Freiheit, Politik und Demokratie.
6. Moralische und politische Gesellschaften befinden sich in einem di-
alektischen Widerspruch zum Staat, dem offiziellen Ausdruck jeglicher
Form von Kapital, Eigentum und Macht. Der Staat versucht stets die Moral
durch das Recht und die Politik durch die bürokratische Verwaltung zu
ersetzen. An den beiden Polen dieses sich durch die Geschichte ziehen-
den Widerspruchs entwickelt sich die Systematik der offiziell-staatlichen
und der demokratischen Zivilisation. Es entstehen zwei unterschiedliche
Bedeutungstypologien. Die Widersprüche können sich entweder sehr ver-
schärfen und zum Krieg führen oder in Kompromisse münden und zum
Frieden führen.
7. Frieden wird durch den Willen der Kräfte der moralischen und po-
litischen Gesellschaft und der staatlichen Monopolkräfte zu einem
Zusammenleben ohne Waffen und Töten ermöglicht. Es kommt in der
Geschichte vielmehr zu einem bedingten, als Kompromiss bezeichneten
Frieden als zur Vernichtung des Staates durch die Gesellschaft oder der
Gesellschaft durch den Staat. Die Geschichte ereignet sich in Form von
Zivilisationssystemen, die weder gänzlich Ausdruck der moralischen und
politischen Gesellschaft noch gänzlich Ausdruck der Klassengesellschaft
mit staatlicher Herrschaft sind. Sie ereignet sich vielmehr als ein
Aufeinanderfolgen von Friedens- und Kriegszuständen mit ineinander
übergehenden Beziehungen und Widersprüchen. Auch wenn die soforti-
ge Überwindung dieses seit mindestens fünftausend Jahren bestehenden
Zustands durch rasche Revolutionen utopisch ist, wäre es nicht die rich-
tige moralische und politische Haltung, den aus der Vergangenheit kom-
menden Fluss als eine Art Schicksal zu akzeptieren und nicht in seinen
Verlauf zu intervenieren. Es wäre sinnvoller und erfolgversprechender, in
dem Bewusstsein, dass der Kampf der Systeme von langer Dauer sein wird,
strategische und taktische Ansätze zur Erweiterung des freiheitlichen und
Das System der demokratischen Zivilisation denken 195

demokratischen Bereichs der moralischen und politischen Gesellschaft zu


entwickeln.
8. Die moralische und politische Gesellschaft durch aufeinander fol-
gende Attribute wie kommunal, Sklavenhalter-, feudal, kapitalistisch und
sozialistisch zu definieren, wäre nicht erklärend, sondern würde eine ver-
schleiernde Rolle spielen. Es ist zwar in der moralischen und politischen
Gesellschaft kein Platz für die Kräfte, die sich mit Attributen wie sklaven-
halterisch, feudal oder kapitalistisch bezeichnen lassen, es wäre aber möglich,
sich im Rahmen eines prinzipiellen Kompromisses diesen Kräften gegenüber
distanziert, begrenzt und kontrolliert zu verhalten. Das Ausschlaggebende
ist, weder sie zu vernichten noch von ihnen verschlungen zu werden, son-
dern ihren Bereich und ihre Stärke durch die Überlegenheit der politischen
Gesellschaft stets einzuschränken. Kommunale und sozialistische Systeme
können in dem Maße, wie sie demokratisch sind, mit der moralischen und
politischen Gesellschaft identisch werden. Dies kann aber nicht in Form
eines Staates erfolgen.
9. Das unmittelbare Ziel der moralischen und politischen Gesellschaft
kann weder die Nationalstaatswerdung noch eine religiöse Entscheidung
oder ein anderes Regime als Demokratie sein. Das Recht, die Ziele und
Qualitäten der Gesellschaft zu bestimmen, gebührt nur dem freien Willen
der moralischen und politischen Gesellschaft. Der moralische und poli-
tische Wille und Ausdruck der Gesellschaft bestimmen nicht nur die ak-
tuellen Diskussionen und Entscheidungen, sondern auch die strategi-
schen Entscheidungen. Das Wichtigste ist, zu diskutieren und zu einer
Entscheidungskraft zu werden. Eine Gesellschaft, die diese Kraft nutzt, kann
auf die gesündeste Art und Weise Entscheidungen treffen. Weder Individuen
noch andere Kräfte haben die Befugnis, im Namen der moralischen und
politischen Gesellschaft Entscheidungen zu treffen. In moralischen und po-
litischen Gesellschaften darf es kein Social Engineering geben.

Im Lichte dieser Beschreibungen betrachtet, die ich aus verschiedenen


Perspektiven präsentiert habe, wird ersichtlich, dass das System der de-
mokratischen Zivilisation im Wesentlichen als moralische und politische
Totalität der gesellschaftlichen Natur als das andere Gesicht der offiziellen
Zivilisationsgeschichte stets existierte und sich fortsetzte. Trotz der gesam-
ten Unterdrückung und Ausbeutung durch das offizielle Weltsystem konnte
diese andere Seite der Gesellschaft nie vernichtet werden. Ihre Vernichtung
wäre ohnehin unmöglich. Genauso wie der Kapitalismus ohne die
196 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

nicht-kapitalistische Gesellschaft nicht überleben könnte, könnte auch die


Zivilisation als offizielles Weltsystem ohne das System der demokratischen
Zivilisation ihre Existenz nicht fortsetzen. Konkreter ausgedrückt: Die mo-
nopolistische Zivilisation kann ohne die nichtmonopolistische Zivilisation
nicht weiterexistieren. Das Umgekehrte ist allerdings nicht der Fall. Das
heißt, die demokratische Zivilisation als der systematische geschichtliche
Fluss der moralischen und politischen Gesellschaft kann ihre Existenz ohne
die offizielle Zivilisation ungehinderter und ungestörter fortsetzen.
Ihrer Definition entsprechend stelle ich die demokratische Zivilisation ei-
nerseits als Ansammlung von Ideen und Denksystematik, andererseits als die
Totalität moralischer Regeln und politischer Organe dar. Ich spreche weder
nur von der Ideengeschichte noch ausschließlich von der sich moralisch und
politisch weiterentwickelnden gesellschaftlichen Realität. Die Diskussion hat
beide Themen als ineinander verwobene zu beinhalten. Da es sich dabei um
eine von der offiziellen Zivilisation verhinderte Totalität von Narrativen und
Strukturen handelt, erachte ich es für notwendig und wichtig, die Methode
in Bezug auf die Geschichte und Elemente der demokratischen Zivilisation
ein bisschen mehr auszuführen. Die folgenden Kapitel werden sich diesen
Themen widmen.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 197

B Methodischer Ansatz der


demokratischen Zivilisation

Die universalistische, linear-progressivistische Methode verursacht in den


Sozialwissenschaften bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit zumindest
genauso große Probleme wie der religiöse Dogmatismus. Auch ihre Urteile
unterscheiden sich nicht von religiöser Gewissheit: Das Universum befinde
sich in endlosem Fortschritt; es geschehe das, was im Levh-i Mahfûz47 ge-
schrieben stehe! Mit anderen Worten, das Geschehene sei das Einzige, das
überhaupt hätte geschehen können. Alles geschehe so, wie es vorbestimmt
sei! Im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme ist der Positivismus we-
der Anti-Metaphysik noch Anti-Religiosität, sondern die mit ein bisschen
Wissenschaftlichkeit ausgeschmückte gröbste materialistische Religion.
Genauer gesagt, er ist der Götzenglaube der Moderne. Die grundsätzliche
Ähnlichkeit der beiden dogmatischen Methoden rührt von der angenomme-
nen Existenz einer Kraft her, die naturbeherrschendes Gesetz genannt wird.
Die göttlichen Gesetze werden dabei nur durch die wissenschaftlichen er-
setzt. Der Rest besteht aus der gleichen Erzählung. Das Bedenklichste an der
positivistischen Denkmethode ist, dass ihre Urteile Gesetzeskraft besitzen.
Es gibt dabei keinen Raum für Interpretationen. Die absolute, objektive, für
alle Menschen gleichbleibende urteilende Anschauung ist im Wesentlichen
mit der Wissenschaft inkompatibel. Als Folge davon, dass sie auf einer schar-
fen Subjekt-Objekt-Trennung beruht, lässt sie auch keine Fehlbarkeit zu.
Die Mühe der bürgerlichen Klasse, die mittelalterliche Theologie positivis-
tisch ausschmückend als eine säkulare und szientistische Philosophie zu prä-
sentieren, lässt sich nachvollziehen. Die positivistische Methode wird selbst-
verständlich die Spuren der sozialen Wirklichkeit tragen, in deren Schoß sie
gedieh. Solange wir uns der imaginären Ansätze, die seit dem Mittelalter,
ja sogar während der ganzen Zivilisationsgeschichte in unsere Köpfe einge-
prägt wurden, nicht entledigt haben, bleibt es unumgänglich, dass die po-
sitivistische Welle unseren Verstand gefangen nimmt. Dieser Umstand ließ
keine andere Entwicklung zu, als eine einige klischeehafte Ideen allzu häufig

47 Im Islam ist al-lauḥ al-maḥfūẓ die Vorstellung einer ›wohlverwahrten Tafel‹, auf der Gott das
Schicksal schon aufgeschrieben hat, der vorbestimmte Wille Gottes, das Buch des Schicksals.
Levh-i Mahfûz ist die türkische Schreibweise. Siehe auch Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und
Gewalt, S. 65.
198 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wiederholende, hohle und trockene Rhetorik für die Wirklichkeit zu halten.


Die alte Haltung, „alles, was der Imam sagt, ist richtig“, wurde durch das
Mantra „alles, was der Lehrer, der Philosoph sagt, ist richtig“ ersetzt. Unserer
geistigen Unfruchtbarkeit liegt diese Tatsache zugrunde. Folglich entbehr-
ten wir selbst des Rechts, auch nur einen Kommentar über unsere eigene
gesellschaftliche Natur auszusprechen. Dies ist eine sehr schlimme Sache
– Blindheit und Gefangenschaft des Denkens.Der religiöse Dogmatismus
erinnert uns zumindest durch die tragende Kraft der Tradition an man-
che geschichtliche Wirklichkeiten. Dem Positivismus fehlt auch das. Er
mauert einen riesigen Wall der Entfremdung zwischen uns und unseren
Wirklichkeiten. Als ideologische Hegemonialkraft des Westens will er sozu-
sagen, dass sein Gegenüber sich ergibt, ohne dass er zu Waffen greifen (sein
Gehirn benutzen) muss. Offenbar war es, ohne mit diesem Dogmatismus
zu brechen, nicht möglich, im Allgemeinen die offizielle Zivilisation zu ana-
lysieren und im Besonderen mit dem kapitalistischen modernen Paradigma
zu brechen. Deswegen konnte man die Fähigkeit, frei zu interpretieren,
nicht erlangen. Ich bin mittlerweile von diesem Gedanken von mir über-
zeugt: Ideologische Waffen sind für Verbote bedeutender als als militärische
Waffen.
Als ich mir die Frage stellte, ob die demokratische Zivilisation sich sys-
tematisieren ließe, hatte ich mich bereits mit diesen methodischen Ketten
nicht wenig auseinandergesetzt. Das Schwierigere war, mit den Dogmen
zu brechen, die mit dem wissenschaftlichen Sozialismus, an den ich sehr
glaubte, zusammenhingen. Man befreit sich von der Gefangenschaft des
Dogmatismus, indem man geradezu mit sich selbst ringt. Zudem hatte ich
einen Großteil meines Lebens mit dieser Beschäftigung verbracht.
Ich entdeckte auch den folgenden Widerspruch: Während ich einerseits
noch unter dem Einfluss einer in der Brutstätte der Agrarrevolution seit
Jahrtausenden (seit 10000 v. Chr. bis in die Gegenwart) gelebten Kultur
stand, hatte ich andererseits den Kampf aufgenommen, um die nachkapi-
talistische Gesellschaft zu erringen. Wie sollten wir die neue Gesellschaft
begründen, ohne das Problem der mindestens zwölftausendjährigen Lücke
zwischen den beiden zu lösen? Unser Denksystem hatte sich in eine Art
Jenseitswissenschaft verwandelt. Offensichtlich wohnte meinem Denken
keine fruchtbare Methode inne. Die Krankheit, keinen Zentimeter wei-
ter denken zu können als das Geschriebene, lässt sich nur durch den
Einfluss des Dogmatismus erklären. Ohne uns von den hohlen Phrasen
der religiösen Schablonen befreit zu haben, waren wir dem ›mein Wort
Das System der demokratischen Zivilisation denken 199

ist Gesetz‹-Bombardement des offiziellen Positivismus ausgesetzt. Ich be-


griff, dass die eigentlichen Sicherheitskräfte der Systeme aus ihrer ideolo-
gischen Hegemonie bestehen. Aus diesem Grund verstehe ich besser, wa-
rum Friedrich Nietzsche mit der offiziellen deutschen ideologischen Kraft
rang, bis er verrückt wurde. Wenn wir ein paar simple Wahrheiten über den
Westen kennen, schulden wir dies wohl jenem verrückten Ringen.
Das erste Dogma, von dessen Einfluss ich mich gründlich befreite, war
die These des wissenschaftlichen Sozialismus, dass dem Urkommunismus
die Sklavenhalter- und anderen Klassengesellschaftssysteme folgen müss-
ten und diese aufeinander folgten. Ich hatte mir dieses Dogma lan-
ge Zeit als eine Art Gesetz zu eigen gemacht. Es dauerte nicht lange, bis
ich das mit diesem zusammenhängende zweite Dogma, nämlich die
Benennung der Gesellschaft nach Klassen, fallen ließ. Die Benennungen
Sklavenhalter- und Feudalgesellschaft verschleierten den kritischsten Aspekt
der Wirklichkeit und identifizierten die Gesellschaft mit ihren Herren. Es
war eindeutig, dass solche Benennungen ein Überbleibsel des herrschen-
den Jargons waren. Trotzdem war der Stein ins Rollen gekommen und
es fiel mir nicht schwer, das mit den anderen beiden verwobene dritte
Dogma aufzugeben. Ich spreche hier von dem Dogma, dass die Stufen der
Klassengesellschaften unumgänglich und fortschrittlich seien. Ich begriff,
dass die Stufen der Klassengesellschaften mitnichten unumgänglich und
fortschrittlich waren, und beurteilte sie als rückschrittlichste und in Ketten
legende Entwicklungen. Das Ergebnis war die Möglichkeit geschichtlicher
Narrative, die der Wirklichkeit näherkommen. Anstatt sich vor vielseitigen
Interpretationen zu scheuen, war es eine angebrachtere Herangehensweise,
sie als eine die Bedeutung bereichernde Methode zu betrachten. Nachdem
ich in mehreren Bereichen mit dem Dogmatismus (Vorurteile) gebro-
chen hatte, sollten sich natürlich auch meine Interpretationskraft und
mein Bedeutungsreichtum weiterentwickeln. Folgenden Aspekt kann ich
klar hervorheben: Wo und in welchem Zustand die Menschen auch im-
mer sind, wenn sie die Probleme, die vor ihnen liegen, nicht lösen können,
ist der hauptsächliche Faktor dabei ihr primitives Denkniveau, weshalb sie
sich nicht trauen, sich von Jahrtausende alten Dogmen und Trieben, die sie
nicht abschaffen konnten, zu befreien. Allen Feigheiten liegt die Feigheit des
Denkens zugrunde.
Der zweite wichtige Aspekt, der mir beim Konzipieren der demokrati-
schen Zivilisation auffiel, war das um mich herum reichlich vorhandene
konkrete empirische Material. Und die Beobachtungen der Geschichte
200 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zeugten von einem Mehrfachen des gleichen Materials. Warum sollten


Familien, Stämme und Klans, die die Stammzellen der Gesellschaft bilden,
und außerhalb der Macht stehende dörfliche und städtische Klassen, nich-
staatliche Völker und Nationen nicht systematisch beurteilt werden, wenn
Dynastien, Mehrwertplünderungen und Machtzentren als Systeme gelten?
Warum sollten sie selbst kein System bilden, warum sollten sie in ideologi-
scher und struktureller Hinsicht keinen Sinn erlangen?
Wenn unsere Hoffnungsträger diese Fragen nicht ausreichend beantwor-
ten konnten, gab es wohl Gründe dafür. Es ist doch klar, dass diese keine
unbedeutenden Fragen sind. Zudem gibt es nicht wenige Antworten, auch
wenn diese nicht systematisch, sondern bruchstückhaft sind, solange wir
danach zu suchen wissen.
Der dritte Faktor, der mir bei meiner Suche nach einer anderen
Zivilisation und Moderne auffiel, war das Potenzial eines freien Aufbaus im
Hinblick auf die gesellschaftliche Natur. Wenn wir mit haufenweise riesigen
Problemen konfrontiert sind, wenn die Menschen durch Arbeitslosigkeit
und Hunger erschöpft sind, dann ist ein Systemaufbau (nicht im Sinne von
Schöpfung und Social Engineering) sowohl möglich als auch eine wichtige
Notwendigkeit und eine moralische Pflicht. Ohnehin setzt das Ausmaß der
Probleme die Notwendigkeit einer Revolution auf die Tagesordnung, und
die Revolution wiederum Strukturen, die eine Antwort darstellen.
Der vierte Faktor meine Suche ist folgendes: Wenn das herrschende
System einem keine Hoffnung gibt, einen unmenschlich behandelt und
selbst für die einfachsten Identitätsfragen kein Interesse aufbringen und
keine Lösung bieten kann, dann ist es die Pflicht eines jeden Menschen,
Selbstrespekt und Hoffnung mit der Fähigkeit zu verknüpfen, das eigene
System aufzubauen. Sonst erwarten einen an der Tafel der Wölfe vielleicht
nicht einmal Knochenreste, sondern man wird ihnen selbst zum Fraß vor-
geworfen.
Der letzte Faktor ist vielleicht mir eigen, wobei ich glaube, dass er allge-
meiner Natur ist: Selbst wenn man Hoffnung auf die eigene Mutter setzt,
wenn sie nicht in der Lage ist, einem etwas zu bieten, sollte man nicht da-
vor zurückschrecken, der eigenen Kraft zu vertrauen. Man sollte sich nicht
seinem Umfeld oder seinen Trieben beugen. Wenn keine lebenswürdigen
Zustände herrschen, sollte man wissen, dass man die Vernunft und den
Willen besitzt, um das Richtige und Schöne aufzubauen!
Laut der linearen Geschichtsinterpretation soll die urbane Gesellschaft,
die nach der landwirtschaftlichen Dorfgesellschaft ihren Aufstieg erlebte,
Das System der demokratischen Zivilisation denken 201

›das letzte Wort‹ sprechen. Die um die Stadt herum entwickelten histori-
schen Narrative seien die Wirklichkeit selbst. Die Kraft, die die Regierung
der Stadt an sich riss und als religiösen Staat organisierte, stelle als herr-
schende Klasse den Motor der Geschichte dar. Alles, was sie getan habe, sei
richtig und heilig, die Verwirklichung des Schicksals. Dazu werden göttliche
ideologische Hegemonien errichtet. Jegliche abweichende Stimme wird als
Verrat am ewigen Wort und seinem Ausdruck betrachtet und dem ›Zorn
Gottes‹ ausgesetzt. Alle würdelosen Angelegenheiten des Despoten und die
verächtlichsten Unterdrückungs- und Ausbeutungsordnungen kommen als
heiligste Worte des Gottes oder der Götter aus den Mündern der Priester.
Schließlich sind die Untertanen den Gesetzen Gottes völlig ergeben. Selbst
die strengste Bestrafung ist dabei klaglos hinzunehmen.
Die stadtzentrierte Zivilisation als Kapital- und Gewaltorganisation, die
in ihrem ursprünglichen Zustand Mythologie oder Religion war, wurde grob
in eine Erzählung verwandelt und als solche präsentiert und existiert, nach
einigen Transformationen, bis heute. Diese Zivilisation, deren Wesen gleich
blieb, die aber immer wieder in einer neuen Rhetorik und Form präsen-
tiert wurde, hat mittlerweile ihren Glanz gänzlich verloren und schreckt
nicht davor zurück, sich als strengsten staatlichen Faschismus für ewig zu
erklären. Während der bürokratische eiserne Käfig als urbane Kapital- und
Gewaltorganisation mit dem, was in ihm steckt, auch AIDS und biologi-
sches Krebswachstum vermehrt, trat man gleichzeitig, als eine schlimme-
re Entwicklung, in eine Phase der Krebserkrankung der gesellschaftlichen
Natur mit all ihren inneren Strukturen und ihrer natürlichen Umwelt ein.
Um zu begreifen, dass diese in groben Zügen dargestellten Tatsachen nicht
übertrieben sind, genügt eine Betrachtung der Kriege, des Kolonialismus,
des die ganze Gesellschaft umfassenden Kriegszustands in den letzten vier-
hundert (höchstens in den letzten fünftausend) Jahren und der aktuellen
Umweltkatastrophe.
Wenn wir alle Formen der liberalen ideologischen Hegemonie und vor
allem ihre offiziellen Bereiche (Staatsideologien) unter die Lupe nehmen, se-
hen wir, dass sie so hinter das Ende der Geschichte einen Schlusspunkt setz-
ten. Mit anderen Worten: Das kapitalistische System auf dem Höhepunkt
des globalen Zeitalters präsentiert sich als ewige Form des letzten Wortes.
Es ist bekannt, dass diese Herangehensweise nicht neu ist, dass am Ende
eines jeden bedeutenden Kapital- und Tyranneizeitalters solche ›Ewigkeits‹-
Bekundungen gemacht wurden. Das ist also die Wahrheit, die die tau-
sendjährigen ›Zivilisationswissenschaften‹ in Tausenden verschiedenen
202 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Gesichtern methodisierten. Die Methode wurde zur Wahrheit, die Wahrheit


zur Methode.
Wenn in die Ohren geflüstert wird, dass es andere Welten, Wissenschaften
und Methoden geben könne, wird neben der Brandmarkung als Infernalität,
Aberration und Häresie auch jegliche Art grenzenlosen ›Terrors‹ eingesetzt
(Enthauptung ist noch die simpelste Form. Verschiedenste Formen von
Kreuzigung, Verbrennung, Hängen, lebenslänglicher Galeerenstrafe, Folter,
Vernichtung durch Arbeit, Einkerkerung, Ehefrauisierung und Assimilation
usw.).
Wir werden Zeuge*innen davon, dass die Zentralzivilisation, die sich
geradezu an der landwirtschaftlich-dörflichen Gesellschaft rächt, um de-
ren Abschaffung sie seit fünftausend Jahren bemüht ist, in den 2000er
Jahren den völligen Ruin jener Gesellschaft herbeizuführen und ihre letzten
Spuren zu vernichten versucht. Die Umweltzerstörung stellt eigentlich die
jüngste Form der Rache an der landwirtschaftlich-dörflichen Gesellschaft
dar. Interessanterweise antwortet auf diese Zerstörung anstelle der zum
Schweigen gebrachten gesellschaftlichen Natur die Erste Natur mit ihren
Katastrophen (Klimaerwärmung, Dürre, Gletscherschmelze, Artensterben,
Überschwemmungs- und Wirbelsturmkatastrophen usw.). Die (zum
Schweigen gebrachte) Menschheit wird manchmal zur stummsten, spachlo-
sesten Natur. Wer könnte leugnen, dass das die bittere Wahrheit ist?
Die grundsätzlichste Änderung des historischen Paradigmas sollte hei-
ßen: Der stadtbasierte Kapital- und Machtmonopolismus hätte sich ohne
die landwirtschaftlich-dörfliche Gesellschaft (seit 10 000 v. Chr. bis heu-
te) nicht entfalten können. Die grundsätzlichste methodische Änderung
könnte von diesem Punkt ausgehend erfolgen. Die von Rosa Luxemburg
sehr oberflächlich ausgedrückte Definition, ohne nicht-kapitalistische
Gesellschaft könne es keinen Kapitalismus, keine Kapitalakkumulation
und keinen Monopolismus geben48, sollte besser die gesamte Geschichte
und alle Kapitalformen betreffen – dies ist der Ausdruck der Analyse des
Kapitals während der gesamten historischen Gesellschaft. Karl Marx’ rein
kapitalistisches Gesellschaftsmodell war sein größter Irrtum, da eine solche

48 »Wenn der Kapitalismus also von nichtkapitalistischen Formationen lebt, so lebt er, genauer
gesprochen, von dem Ruin dieser Formationen, und wenn er des nichtkapitalistischen Milieus
zur Akkumulation unbedingt bedarf, so braucht er es als Nährboden, auf dessen Kosten, durch
dessen Aufsaugung die Akkumulation sich vollzieht.« Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des
Kapitals, Kapitel 29, Der Kampf gegen die Bauernwirtschaft. In Rosa Luxemburg – Gesammelte
Werke, Berlin 1975, S. 363, zitiert nach mlwerke.de. Siehe auch die ausführliche Fußnote 62 in
Band II, S. 158.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 203

Gesellschaft weder praktisch noch theoretisch möglich ist. Es ist einfach


zu beweisen: Nehmen wir an, es gäbe in der Gesellschaft ausschließlich
Kapitalist*innen (einschließlich Bürokrat*innen) und Arbeiter*innen (ein-
schließlich Arbeitslose). Genau das wäre die Voraussetzung einer rein ka-
pitalistischen Gesellschaft. Nehmen wir an, in den Fabriken des Kapitals
würden hundert Einheiten Ware produziert. Lassen wir fünfundzwanzig
Einheiten davon den Arbeiter*innen als Lohn zukommen. Und fünfund-
zwanzig Einheiten stehen der Kapitalist*innenklasse zur Verfügung. Was
sollte dann mit den restlichen fünfzig Einheiten passieren? Der Rest würde
entweder verfaulen oder kostenlos verteilt werden. Im rein kapitalistischen
Gesellschaftsmodell wäre nichts anderes möglich.
Rosa Luxemburg kommt der Wahrheit näher, indem sie von diesem
Punkt ausgehend behauptet, dass das System nur dann funktionieren kön-
ne, wenn diese fünfzig Einheiten Ware zu Profitzwecken der nicht-kapita-
listischen Gesellschaft verkauft würden. Die gesellschaftliche Wirklichkeit
ist aber komplexer. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass der Profit
und die auf ihm basierende Kapitalakkumulation nicht bezahltes gesell-
schaftliches Mehrprodukt darstellen. Welche ist denn die nicht-kapitalis-
tische Gesellschaft? Vor allem die historische landwirtschaftlich-dörfliche
Gesellschaft, die der zu Hause eingesperrten Frauen, die von ihrer Arbeitskraft
lebenden Handwerker*innen und (von Almosen lebenden) Arbeitslosen der
Stadt. Wenn die Wirklichkeit so dargelegt wird, wird dadurch eine besse-
re Analyse der fünftausendjährigen Zivilisation und ihrer systematischsten
Phase, d. h. des vierhundertjährigen kapitalistischen Weltsystems, ermöglicht.
Das Netzwerk, das sich im Laufe der Geschichte als Kapital und Macht or-
ganisiert, (Aristokratie, Herr*innen, Bourgeoisie usw.) übersteigt niemals ca.
zehn Prozent der Gesellschaft. Also macht der Hauptkörper der gesellschaft-
lichen Natur stets mehr als neunzig Prozent aus.
Fragen wir also bezüglich der Methode: Was ist wissenschaftlich gesehen
die richtigere Methode – die zehn Prozent oder die über neunzig Prozent
zu vergeschichtlichen, zu systematisieren und zum Hauptgegenstand des
Denkens zu machen? Das ist die grundsätzliche Frage, die man beantworten
muss. Vielleicht könnte man behaupten: »Da die Ideen, Wissenschaft und
Methoden sich in den Händen der zehn Prozent konzentrieren, ist es anders
nicht möglich.« Wurde aber dieses Monopol in letzter Instanz nicht auf der
Basis der Aneignung und Abnutzung des gesellschaftlichen Mehrprodukts
errichtet? Kann dieses Privileg der zehn Prozent dadurch gerechtfertigt wer-
den, dass sie die am besten organisierte ideologische Gruppe darstellen?
204 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Selbst wenn eine gewalttätige Kraft lediglich aus einem Prozent besteht, kann
sie durch gute Organisierung Millionen unter ihre Herrschaft bringen, über
Millionen herrschen. Sie kann der Gesellschaft ihre Worte als grundsätzlichs-
te Wissenschaft und Methode aufzwingen. Kann das bedeuten, dass sie auch
wahr sind? Wer erklärt eine Handvoll Tyrann*innen und Monopolist*innen
zur Wahrheit? Kann die Unterwerfung derer, die es als Mythologie, Religion,
Philosophie, Wissenschaft und Kunst präsentieren, unter das tyrannische
Netzwerk des Kapitals die gesellschaftliche Wahrheit (die Wahrheit der
neunzig Prozent) ändern? Es ist ganz eindeutig, dass das Problem auf diese
Art und Weise dargestellt werden sollte. Keine ideologische, wissenschaftli-
che, religiöse, philosophische oder künstlerische Hegemonie vermag diese
Wahrheit zu ändern. Wenn wir die historische Gesellschaft im Lichte dieser
grundsätzlichen Methode strukturell analysieren und ihr durch verschiede-
ne Denkweisen (mythologisch, religiös, philosophisch, wissenschaftlich und
künstlerisch) einen Ausdruck verleihen wollen, werden die Dimensionen der
Wahrheit dadurch sichtbarer und erlangen eine Bedeutung. Die demokrati-
sche Zivilisation kann der Wahrheit eine viel weiter entwickelte Systematik
verleihen, die die doppelseitige Erzählung der geschichtlichen Gesellschaft
(in ihrer Strukturalität, Objektivität und Subjektivität als Ausdrucksweise)
darstellt. Eine umfangreichere Systematisierung der gesellschaftlichen Natur
in ihrer Geschichtlichkeit und Totalität ist möglich und notwendig. Die
wissenschaftliche Revolution und die paradigmatischen Grundlagen der
Sozialwissenschaft sollten auf dieser systematischen Analyse basieren.
Ein solcher Umgang mit der Methodenfrage vermag die gesellschaftliche
Natur in ihrem gesamten geschichtlichen Reichtum und ihrer Totalität viel
richtiger darzustellen. Unmittelbar ist ersichtlich:
a) Eine Gesellschaft ohne Kapital und Macht ist möglich, aber Kapital
und Macht sind ohne Gesellschaft nicht möglich.
b) Eine Wirtschaft ohne Kapital ist möglich, aber Kapital ohne Wirtschaft
ist nicht möglich.
c) Eine Gesellschaft ohne Staat ist möglich, aber ein Staat ohne
Gesellschaft ist nicht möglich.
d) Eine Gesellschaft ohne Kapitalist*innen, Feudalherr*innen und
Herr*innen ist möglich, aber Kapitalist*innen, Feudalherr*innen und
Herr*innen sind ohne Gesellschaft nicht möglich.
e) Eine Gesellschaft ohne Klassen ist möglich, aber Klassen sind ohne
Gesellschaft nicht möglich.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 205

f ) Dörfer und Landwirtschaft sind ohne Städte möglich, aber Städte sind
ohne Dörfer und Landwirtschaft nicht möglich.
g) Eine Gesellschaft ohne Recht ist möglich, aber eine Gesellschaft ohne
Moral ist nicht möglich.
h) Es ist möglich, einer gänzlich sich selbst überlassenen Person ähnlich,
die Gesellschaft der Politik und der Moral zu berauben. Dann wird die
Gesellschaft aber vom neuen Leviathan (nationalstaatlicher Faschismus) zer-
splittert und verschlungen, sodass der Moment des Todes der Gesellschaft
und des Menschen zum Spektakel wird. Dies ist der Moment, in dem der
Genozid verwirklicht wird. Dies ist der Moment, in dem Michel Foucault
den Tod des Menschen49 ausruft. Dies ist der Moment, in dem Friedrich
Nietzsche sagt, die Gesellschaft und der Mensch würden kastriert und in
Zwerge und Ameisen verwandelt, und sie zu Herden und Massen erklärt.
Mit Max Webers Worten, dies ist der Moment, in dem die Gesellschaft in
einen ›eisernen Käfig‹ eingesperrt wird!

Das Paradigma der demokratischen Zivilisation hat in genau diesem


Moment einzugreifen.
1 – Da die Gesellschaft ohne Landwirtschaft und Dörfer nicht weiter
existieren könnte, kann der sich durch die Geschichte hindurchziehende
Widerstand dieser Teile der Gesellschaft sein Ziel nur durch die Verwandlung
in eine politische Gesellschaft erreichen.
2 – Eine Stadt ohne Zentren der Kapital- und Machtmonopole
ist möglich. Die wirkliche Befreiung der Stadt, der in der gesamten
Zivilisationsgeschichte die Rolle des Hauptquartiers der Ausbeutung und
Unterdrückung aufgezwungen wurde, ist durch ihre Verwandlung in eine
politische Stadtgesellschaft und durch eine demokratische Regierung mög-
lich. Mit der Weiterentwicklung der demokratischen und konföderalisti-
schen Regierung der Städte, wovon es in der Geschichte reichlich Beispiele
gibt, wird die Stadt davon befreit, eine Ansammlung krebserregender
Strukturen zu sein.
3 – Bis die über der Wirtschaft errichteten Kapital- und Machtmonopole
eingeschränkt und abgeschafft werden, können weder Wirtschaftskrisen
enden noch Probleme gelöst werden. Der Kampf der Kapital- und
Machtgruppen um die Aneignung und Vergrößerung von Mehrwertanteilen

49 Foucault postuliert den ›Tod des Menschen‹ im Schlussteil von Die Ordnung der Dinge
(Frankfurt am Mai: Suhrkamp, 1974), der mit der Formulierung endet, »…daß der Mensch
verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (S. 462).
206 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

bildet die Hauptursache für Umweltzerstörung, jegliche unnötige


Herausbildung von Klassen, soziale Krankheiten, Kriege sowie insbesonde-
re Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut. Die gesellschaftliche Natur ist gegen
diese Probleme und Krankheiten mit einer flexiblen Membran ausgestattet,
sodass ihr selbst durch eine Einschränkung der Kapital- und Machtapparate
eine freie Entwicklung gelingen könnte. Wenn die Geschichte aus der wirt-
schaftlichen und Klassenperspektive geschrieben und gelesen werden soll,
kann sie nur durch dieses Paradigma ihren wahren Sinn erlangen.
4 – Der Naturzustand der Gesellschaft ohne Kapital- und Machtmonopole
ist die moralische und politische Gesellschaft. Jegliche menschliche
Gesellschaft hat von ihrer Entstehung bis zu ihrem Schwinden diese
Eigenschaft aufzuweisen. Die Schablonen der sklavenhalterischen-, feuda-
len, kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften ähneln Kleidungen,
die man der gesellschaftlichen Natur überzustülpen versucht; sie drücken
nicht die Wirklichkeit aus. Es kann solche Behauptungen geben, aber es gibt
keine solchen Gesellschaften. Da Gesellschaften, deren eigentlicher Zustand
ein moralischer und politischer ist, in der gesamten Geschichte von Kapital-
und Machtmonopolen stets bedrängt, ausgebeutet und kolonialisiert wur-
den, fanden sie nicht die Gelegenheit, sich gänzlich zu entfalten.
5 – Die Hauptaufgabe der demokratischen Politik könnte sein, der mo-
ralischen und politischen Gesellschaft auf der Grundlage der Freiheit ihre
eigene Funktion zu verleihen. Gesellschaften, die in diesem Sinne funktional
sein können, sind offene, transparente und demokratische Gesellschaften.
Je entwickelter die demokratische Gesellschaft ist, desto besser kann die
moralische und politische Gesellschaft funktionieren. Die Kunst der de-
mokratischen Politik ist dafür verantwortlich, solche Gesellschaften immer
funktional zu machen. Es ist nicht die Aufgabe der demokratischen Politik,
durch Social Engineering Gesellschaften zu kreieren. Solche Engineering-
Bestrebungen kennzeichnen die Aktivitäten des Liberalismus zur Bildung
von Kapital- und Machtmonopolen.
6 – Alle Königreiche, Imperien, Republiken, Stadt- und Nationalstaaten,
die im Laufe der Geschichte im Namen der Zivilisation gegründet wur-
den, sind, einzeln und alle zusammen genommen, in ihrer Kompromisse
schließenden und konkurrierenden Art und mit ihren hegemonialen und
einander gleichen Haltungen im Grunde zu Macht und Staat gewordene
Formen des Kapitals.
Das Ziel der moralischen und politischen Gesellschaft kann niemals ihre
Verwandlung in solche Monopole sein. Sie kann nur unabhängig von ihnen
Das System der demokratischen Zivilisation denken 207

oder in bedingtem Frieden mit ihnen existieren. In solchen Fällen kön-


nen die demokratische Zivilisation und die offiziellen Machtzivilisationen
miteinander unterschiedliche Formen von Kompromissen eingehen. Da
Friedensprozesse auf solchen bedingten Kompromissen beruhen, stellen
alle anderen Zeiten einen Dauerkriegszustand über oder innerhalb der
Gesellschaften dar.
7 – Da die Gesellschaft nicht ständig monopolistischen Ausbeutungskriegen
(im Inneren und Äußeren) standhalten muss, hat sie sowohl auf der land-
wirtschaftlich-dörflichen Ebene als auch unter den Arbeitern der Stadt ihre
eigene demokratische Zivilisation in verschiedenen Formen zu entwickeln.
Die Geschichte ist nicht nur ein Mittel von unmenschlichen und herunter-
gekommenen Strukturen und Kriegen oder eine Summe von Mächten und
Staaten, sondern sie ist voll mit Exemplaren demokratischer Zivilisationen,
die erstere zahlenmäßig zigfach übertreffen. Riesige Gesellschaftsgruppen
wie alle Familien-, Stammes- und Klansysteme, Konföderationen,
Stadtdemokratien (sofern man weiß, stellt Athen das präg­nanteste Beispiel
dafür dar) und demokratische Konföderationen, Klöster, Tekken 50,
Kommunen, egalitäre Parteien, Zivilgesellschaften, Sekten, Konfessionen,
nicht zur Macht gewordene religiöse und philosophische Gemeinschaften,
Frauensolidaritätsstrukturen, unzählige nicht verschriftlichte solidarische
Gemeinschaften und Räte sollten zur demokratischen Zivilisation gezählt
werden. Leider wurde die Geschichte dieser Gruppen nicht systematisch ver-
schriftlicht, obwohl die wirkliche Menschheitsgeschichte der systematische
Ausdruck dieser Gruppen sein könnte.
8 – Da offizielle Machtzivilisationen Kapital- und Waffenmonopole und
die ideologische Hegemonie ineinander verwoben fortsetzen, blieb die
Ideologie der demokratischen Zivilisation immer schwach und unsystema-
tisch; ihre Träger*innen wurden von den Mächten stets unterdrückt, irre-
geleitet und meistens vernichtet. Zahlreiche Weise, Wissenschaftler*innen,
Philosoph*innen, religiöse Führer*innen, Konfessionsangehörige und
Künstler*innen wurden, wenn sie sich nicht ergaben und auf die Stimme
ihres freien Willens hörten, mit härtesten Strafen belegt und zum Schweigen
gebracht. Dass ihre Geschichte nicht geschrieben wurde, heißt nicht, dass es
sie nicht gab. Der demokratischen Zivilisation einen historisch-gesellschaft-
lichen Ausdruck zu verleihen, ist eine unserer vorrangigsten intellektuellen
Aufgaben.
50 Als Tekke (türkisch) bzw. Dargāh (persisch) werden die Zentren von Sufi-Bruderschaften und Derwisch-
Orden bezeichnet.
208 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

9 – Dem aus allen ideologischen, militärischen, wirtschaftlichen,


Verwaltungs- und Machtmonopolen des kapitalistischen Systems in
seinen letzten vierhundert Jahren bestehenden nationalstaatlichen
Zivilisationssystem setzt die demokratische Zivilisation eine nicht zu un-
terschätzende, wenn auch nicht gänzlich integrierte Systematik entge-
gen. Diese basiert auf Bewegungen, die eine breite Palette bilden, die von
Stadtdemokratien (in Italien) und Städtekonföderationen (in Deutschland)
über Bäuer*innen- und Arbeiter*innenaufstände und Kommunen (die
Pariser Kommune), die realsozialistischen Erfahrungen (in einem Drittel der
Welt) und nationale Befreiungsprozesse (in nicht zum Staat oder zur Macht
gewordenem Zustand) bis hin zu zahlreichen demokratischen Parteien und
zivilgesellschaftlichen Bewegungen, jüngsten Ökologie- und feministischen
Bewegungen, demokratischen Jugendbewegungen, Kunstfestivals bis hin zu
neuen religiösen Bewegungen reicht, die nicht die Machtwerdung zum Ziel
haben.
10 – Auch wenn die nationalstaatliche Systematik gegenwärtig schwer-
wiegende Probleme erlebt und ihre Risse sich tagtäglich vergrößern, stellt
sie nach wie vor regional sowie global gesehen die stärkste Systematik dar.
Während dieses System von mehr als zweihundert Nationalstaaten, regiona-
len Zusammenschlüssen (vor allem die Europäische Union, USA-Kanada-
Mexiko – NAFTA, Südostasien – APEC) und auf der globalen Ebene
von der UN (Vereinte Nationen) repräsentiert wird, sind die verschiede-
nen losen und unstrukturierten Arbeiter*innen- und Volksbündnisse der
demokratischen Zivilisation, die weder Staat noch Macht sind, (wie das
Weltsozialforum) äußerst unzulänglich. Diese Unzulänglichkeit ist ideolo-
gischer und struktureller Art. Um sie zu überwinden, sollte der Globale
Demokratische Konföderalismus, d. h. lokale, regionale und nationale de-
mokratische Konföderationen und dazu gehörige Parteien und zivilgesell-
schaftliche Apparate, entwickelt werden.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 209

C Skizze der Geschichte der


demokratischen Zivilisation

Das grundsätzlichste Wesensmerkmal der freien menschlichen Natur ist,


dass sie ihre eigene Geschichte zu wählen und mit ihr zu leben weiß. Die
Geschichte ist die Interpretation der Existenz, des stattgefundenen Prozesses.
Je unterschiedlicher die Existenzen sind, desto mehr Geschichten wird es
geben. Aber historische Differenzen bedeuten nicht, dass es keine historische
Einheit gäbe. Ohne Einheit wären Differenzen bedeutungslos. Differenzen
existieren im Zusammenhang mit der Einheit. Das Ausschlaggebende ist,
wodurch die Einheit repräsentiert wird. Was die Menschheit betrifft, so
könnten der Einheit zweifellos die Fähigkeit, Intelligenz und Werkzeuge
einzusetzen, zugrunde liegen. Denn ohne diese Fähigkeit unterschiede sich
der Mensch überhaupt nicht von anderen Lebewesen. Manchmal können
Staaten, manchmal Demokratie, moralische und politische Dimensionen,
Mentalitätsformen oder der wirtschaftliche Zustand die Grundlage der
Einheit bilden. Wichtig bleibt dabei, festzustellen, welche Differenzen sich
auf der Grundlage welcher Einheit entwickeln.
Wir gingen von der moralischen und politischen Gesellschaft als der
Grundeinheit der demokratischen Zivilisation aus. Der Verständlichkeit
halber haben wir sie definiert und versucht, ihre Methode zu bestimmen.
Wir wollen nun in kurzen Zügen ihre historische Entwicklung umreißen:

a) Klangesellschaft und Neolithikum


Es ist bekannt, dass die gesellschaftliche Natur sich während fast acht-
undneunzig Prozent ihrer Existenz in aus fünfundzwanzig bis dreißig
Personen bestehenden Gruppen abspielte, die wir Klangesellschaften
nennen. Wir können den Klan als Stammzelle der Gesellschaft bezeich-
nen. Die Klangesellschaft lebt in allen Familien-, Stammes-, Volks- und
Nationalgesellschaften, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben,
durch eine Art Differenzierung weiter. Unserer Definition der gesell-
schaftlichen Natur entsprechend stellte der Klan, sei es in der Phase der
Zeichensprache, sei es in der der Symbolsprache, eine moralische und po-
litische Gesellschaft dar. Selbstverständlich waren die im Klan vorhande-
ne Moral und Politik sehr simpel; wichtig ist es aber, dass diese überhaupt
existierten. Durch die Simplizität wurde ihre Bedeutung nicht verringert,
210 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

sondern bewiesen. Man könnte sogar behaupten, dass die Moral in der
Klangesellschaft ihren stärksten Ausdruck fand. Sie fungierte sozusagen als
Ausdruck des Instinkts. Der Moral entsprechend zu leben, stellte dabei eine
unabdingbare Voraussetzung der Existenz dar. Ein Klan, der seine Moral
verloren hatte, war ein zersprengter oder vernichteter Klan. Die Einfachheit
der Moral lässt sich nur so interpretieren, dass sie dem Leben immanent
war. Zum Vergleich könnte man sagen, dass heute der Gesellschaft nichts
passiert, obwohl die rechtlichen Regeln häufig mit Füßen getreten werden.
Aufgrund der konservativen Eigenschaft des Rechts könnte dieses Mit-
Füßen-Treten sogar vielleicht eine positivere Rolle spielen. Die Degeneration
der Klanregeln dagegen führte zum Untergang der Gemeinschaft.
Das Gleiche lässt sich auch in Bezug auf die Politik feststellen. Der
Klan hatte zwei sehr einfache Arbeiten: Sammeln und Jagen. Zweifellos
versuchten alle Klanangehörigen, die Sammel- und Jagdpolitiken bestens
und fruchtbarst umzusetzen, indem sie über die für sie lebenswichtigen
Sammel- und Jagdtätigkeiten vielleicht tausendmal diskutierten, sich Rat
holten, sich über ihre Erfahrungen austauschten und einige Mitglieder
beauftragten. Sonst wäre das Leben nicht möglich gewesen. Was wie ge-
sammelt werden sollte, bildete die grundsätzlichste Politik, eine gemein-
schaftliche Arbeit. (Die Politik wird als gemeinschaftliche Arbeit definiert.)
Also war die Klangesellschaft eine sehr einfache, aber lebensnotwendige
Gemeinschaft. Ohne Politik hätte sie keinen einzigen Tag überlebt. Der
Politik wohnte deswegen die Funktionalität eines lebenswichtigen Gewebes
inne. Alle anderen Eigenschaften der Klans ähnelten vielleicht denen der
Primaten. Ihr einziger aber wichtiger Unterschied bestand darin, dass sie ein
simples moralisches und politisches Gewebe entwickelt hatten. Werkzeuge
wurden nur dann eingesetzt, wenn es auch Politik gab. Die Entwicklung
der Sprache konnte nur auf moralischer und politischer Grundlage erfol-
gen. Man sollte nicht vergessen, dass die Faktoren, die das Sprechbedürfnis
beschleunigten, die Diskussionen und Entscheidungen über die Ausführung
der Arbeit waren. Ich halte die Behauptung, dass der Moral und Politik das
Ernährungsbedürfnis zugrunde liege, für unsinnig. Zweifellos haben auch
Amöben, die Einzeller sind, ein Ernährungsbedürfnis. Es kann aber von
einer Moral und Politik der Amöben keine Rede sein. Menschen unter-
scheiden sich von Amöben dadurch, dass sie ihr Ernährungsbedürfnis stets
mithilfe verschiedener moralischer und politischer Ansätze befriedigen. In
dieser Hinsicht ist die Behauptung der marxistischen Lehre, die Wirtschaft
bestimme alles, nicht wirklich aufschlussreich. Das Ausschlaggebende ist,
Das System der demokratischen Zivilisation denken 211

wie die Wirtschaft bestimmt wird. Dies setzt bei der menschlichen Spezies
das moralische und politische Gewebe und den gesellschaftlichen Bereich
voraus.
Wegen dieses Wesensmerkmals kann man die Klangesellschaft an den
Anfang der Geschichte der demokratischen Zivilisation setzen und ihr da-
rin einen Ehrenplatz einräumen. In dieser Hinsicht gehört dieser achtund-
neunzigprozentige Anteil der Menschheitsgeschichte zur Systemgeschichte.
Außerdem existiert der Klan, wie wir bereits feststellten, in Familien,
Stämmen, Völkern, Nationen, internationalen Gemeinschaften und sogar
in supranationalen Gemeinschaften als Mutterzelle weiter.
Die mesolithische Gesellschaft (die Zwischenphase zwischen 15000 und
12000 v. Chr.), die nach dem Schmelzen der Gletscher in der vierten Eiszeit
vor ungefähr zwanzigtausend Jahren im Taurus-Zagros-Gebirgssystem in ih-
rer perfektesten Form entstand, und die neolithische Gesellschaft (ab 12000
v. Chr.) waren fortgeschrittener als die Klangesellschaft. Die Werkzeuge, die
sie besaßen, und ihre Siedlungsordnung waren hoch entwickelt. Die erste
Agrar- und Dorfrevolution fand in dieser Ära statt. Neben dem Taurus-
Zagros-Gebirgssystem wurden an vielen afro-asiatischen Orten ähnliche
gesellschaftliche Entwicklungen losgetreten. Meines Erachtens fand diese
Entwicklung als Folge der Ausbreitung der neolithischen Taurus-Zagros-
Gesellschaft statt. Diese Ära bildete ein herausragendes Zeitalter in der
Geschichte der gesellschaftlichen Natur. Von der Entstehung der heute noch
benutzten Hauptformen der Symbolsprache bis hin zur Agrarrevolution (be-
wusstes Säen und Ernten von Samen und Domestizierung von Tieren), von
der Entstehung von Dörfern bis hin zu den Anfängen des Handels, von der
matrialen Familie bis hin zur Stammes- und Klanorganisation fielen viele
Entwicklungen in diese Ära. Der Name des Zeitalters, ›Jungsteinzeit‹, weist
ohne Zweifel auf das Vorhandensein fortgeschrittener Steinwerkzeuge hin.
Auch die menschliche Intelligenz erlebte eine imposante Entfaltung. Die
grundsätzliche Nutzungsweise aller Werkzeuge, die die Gesellschaft bis heute
geprägt hat, scheint in jener Zeit erfunden worden zu sein. Das Neolithikum
bildet das zweitlängste Zeitalter der Geschichte. Es nimmt die Hälfte der
verbleibenden zwei Prozent der Menschheitsgeschichte ein. Die Gesellschaft
war wiederum im Wesentlichen eine moralische und politische. Recht und
Staat existierten noch nicht, die Macht war den Menschen unbekannt. Der
Mutter wurde Heiligkeit zugeschrieben, das Bild der weiblichen Göttin wur-
de erhöht. Man ging ins Zeitalter heiliger Tempel und Gräber über. Die
Menschen dieser Zeit lebten so geschichtlich, dass sie mit ihren Toten den
212 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

gleichen Raum teilten. Die Tempel- und Grabruinen zeugen davon. Wir
haben es hier nicht mit primitiven, sondern richtigen, wahren Menschen
zu tun.
Die zweite Hauptphase der Geschichte der demokratischen Zivilisation
lässt sich auf diese Weise skizzieren. Diese Ära wird von rein demokrati-
schen Zivilisationswerten repräsentiert. Es mag so manchen Denker befrem-
den, dass die moralische und politische Gesellschaft mit der Entwicklung
der Symbolsprache und der Vernunft auf dörflicher und Stammesebene die
Demokratie auf imposanteste Art und Weise auslebte. Das ist allerdings die
Wahrheit. Es handelt sich um eine Zeit, in der das Moralische und das
Politische die reinste Demokratie waren. Das sich mit der Zeit vergrößernde
Mehrprodukt führte zur systematischen Unterdrückung und Ausbeutung
der Gesellschaft zunächst durch hierarchische Kräfte und später durch stadt-
zentrierte Zivilisationskräfte.

b) Städte, Klassen, Staaten


Die Zivilisationserzählungen, die man schriftlich überlieferte Geschichte
nennt, (mythologische, religiöse und wissenschaftliche Erzählungen jegli-
cher Art) lassen die Geschichte mit dem Befehl eines Schöpfers anfangen.
Die Geschichte, von der die Rede ist, ist eine fünfzehntausendjährige. Von
meinen soziologischen Analysen ausgehend kann ich konstatieren, dass
der ideologische Ursprung dieser historischen Erzählungen mit Sicherheit
auf die Sakralisierung von Unterdrückung und Ausbeutung zurückzufüh-
ren ist. Die Werke der wissenschaftlichen Schulen, einschließlich der an-
geblich wissenschaftlichen politischen Ökonomie von heute, stellen eine
Ideolgieentwicklung dar, die sich auf den von der die Arbeitskraft qualitativ
weiterentwickelnden Gesellschaft erzeugten Mehrwert und sogar auf ihre
Lebenswerte stützt. Wie man sieht, werden keine ideologischen Mühen ge-
scheut und es wird Zwang angewendet, um die Wahrheit zu verbergen. Der
Stadt-Klassen-Staatsaufbau ist gleichzeitig die Zeit eines großen ideologi-
schen Aufbaus. Die Hauptfunktion dieser Ideologien ist, die Schöpfung, die
Entstehung anders darzustellen, nämlich sie durch das Bild der Göttlichkeit
als Erfolge des Priesters, des starken Mannes oder des Regenten zu präsen-
tieren.
Zunächst sind in Bezug auf die Geschichte der demokratischen
Zivilisation diese ideologischen Schleier und Barrieren zu überwinden.
Erst dann kann man nicht nur die Familie, die landwirtschaftlich-dörfliche
Gesellschaft und die Stammes- und Klanstrukturen, sondern auch das Trio
Das System der demokratischen Zivilisation denken 213

Stadt-Klasse-Staat, die zuvor errichtete und noch weiterexistierende hierar-


chische Macht und die ursprüngliche Kolonialisierung der Frau besser be-
greifen. Dieser Paradigmenwechsel wird unser Verständnis enorm beflügeln.
Neben diesen monopolistischen Kapitalgruppen, die ein sich als das Stadt-
Klassen-Staat-Trio auszeichnendes Zivilisationsnetzwerk bildeten, bestand
auch die demokratische Zivilisation, trotz ihrer tiefgehenden Widersprüche
zu jener anderen Zivilisation, auf einer neuen Stufe weiter.
Es kam zu einem Widerspruch zwischen Stadt und Land. Allerdings über-
wog ihre Tendenz, sich gegenseitig zu ergänzen. Während die demokratische
Zivilisation in der Stadt ihre Ausläufer (Sklaven, Handwerker, Frauen) hat-
te, gab es auch auf dem Land die Ausläufer der Stadt. Vor allem die starken
hierarchischen Strukturen der ländlichen Gesellschaft waren Kollaborateure
des Stadt-Staat-Regimes. Der Widerspruch und der Konflikt bestanden
zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Blöcken mit ihren unterschied-
lichen materiellen Interessen. Es ließen sich häufig intensive ideologische,
militärische und administrative Auseinandersetzungen zwischen der aus
kommunalen, moralischen und politischen gesellschaftlichen Kräften be-
stehenden demokratischen Zivilisation und der Zivilisation des staatlichen
und Kapitalmonopols beobachten, die in der Stadt auf der Arbeitskraft
von Sklav*innen, auf dem Land auf der Plünderung von Stämmen und
Dörfern und auf der Beute beruhte. Außerdem herrschten zwischen
Stadtverwaltungen stetige Kriege um höhere Anteile. Die Klagelieder und
Weisen über Städte, denen wir in den sumerischen Epen begegnen, lassen
uns die Gewalttätigkeit jener Auseinandersetzungen spüren. Es lässt sich
feststellen, dass Stammes- und Klanstrukturen größtenteils unter Angriffen
der urbanen Zivilisation entstanden. Die ethnischen Strukturen, denen wir
zuerst im vierten Jahrtausend v. Chr. begegnen, müssen wohl ein Produkt
dieser Ära sein. Es ist bekannt, dass Sumerer und Ägypter diesen Strukturen
Namen gaben. Während die Sumerer die ethnischen Gruppen im Norden
und Nordosten Urier (Hügel-, Bergvolk), Arier (Landvolk, Bäuer*innen,
Pflugbesitzer*innen), die im Westen Amurriter (die nicht sumerisierten
Proto-Araber semitischer Herkunft), Guti und Kassiten nannten, wurden
die aus der Sinai-Wüste stammenden ethnischen Gruppen von den Ägyptern
als Apiru (staubige Menschen aus der Wüste) bezeichnet. Es wird angenom-
men, dass das Wort ›Hebräer‹ von Apiru stammt. Die Wehrmauern, die
um Städte und Türme herum errichtet wurden, stellen Beweise dar, die die
Existenz der Gegen-Gesellschaft bestens belegen.
214 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Dass die Gesellschaft die auf Klassen basierende Zivilisation nicht einfach
akzeptierte, wird an der Intensität der Auseinandersetzungen ersichtlich. Es
wird beobachtet, dass manchmal Dörfer und sogar Zivilisationszentren gänz-
lich niedergebrannt wurden. Archäologische Aufzeichnungen beinhalten
viele solcher Fälle. Mesopotamien ist voll mit mehrstöckigen Grabhügeln,
die früher Siedlungszentren waren und mehrmals niedergebrannt wur-
den. Die Mythologie und Literatur jener Zeit spiegeln vorwiegend diese
Tatsachen wider. Homers Ilias, als eine Version dritten Grades, spiegelt die-
se Epentradition mesopotamischen Ursprungs wider. Hesiod verwandelte
wiederum, eine ähnliche Version schaffend, das sumerische Götterpantheon
ins Olympische Pantheon. In der gesamten Epentradition jener Ära wurden
durch Könige verkörperte Kriege der Götter behandelt. Es ist sehr eindeu-
tig, dass Götter dabei mit Königen identifiziert wurden. Die Pharao- und
Nimrod-Titel stellen markante Beispiele dieser Identifikation dar. Während
man von Kriegen die wirtschaftliche Plünderung und Gefangennahme dörf-
licher Gesellschaften erwartete, wurden um der Gefangenen und Beute wil-
len auch gegen Stämme ähnliche Raubzüge durchgeführt. Außerdem be-
trachteten es Zivilisationen auch als ein gewinnbringendes Unternehmen,
sich gegenseitig zu plündern und Gefangene zu nehmen. Das auf materiellen
Interessen basierende Wesen von Kompromissen und Konflikten existiert
heute noch. Alles basierte auf dem Kalkül „Wer ist größer?“ Die Einheit
Gottes im Himmel wurde offensichtlich im Wesentlichen als Symbol des
größten Königreiches auf Erden imaginiert. Dass die osmanischen Sultane
sich Zillullah51 nannten, belegt diese Tatsache.
Es wäre ein großer Fehler, den Hauptwiderspruch dieser historischen
Phase als einen Klassenwiderspruch im engeren Sinne zu begreifen. Es
wird beobachtet, dass die Sklav*innenklasse die fügsamsten Diener*innen
ihrer Herr*innen und des Tempels waren und die Sklav*innen sich wie
Verlängerungen der Körper ihrer Herr*innen bewegten. Diejenigen, die
dagegen kämpften, waren die Klans, Stämme und Bäuer*innen, die die
Versklavung ablehnten. Außerdem kam es zwischen Monopolist*innen
häufig zu Kriegen um höhere Anteile. Gegen 1500 v. Chr. kam es zu ei-
nem Hegemoniekampf zwischen den Hethitern, Hurriter-Mitanni und
der ägyptischen Zivilisation. Im sechzehnten Jahrhundert v. Chr. fand
im Nahen Osten die ursprüngliche Entstehung der Zentralzivilisation
statt. Die Zeit zwischen 1500 und 1200 v. Chr. ist voller Beispiele für die

51 Der Schatten Gottes.


Das System der demokratischen Zivilisation denken 215

Konkurrenz zwischen den ersten prachtvollen Städten der Geschichte


und die Erhebungen gegen den Hegemonialismus. Diese Zeit gilt als
ein sehr bewegtes und prachtvolles Zeitalter. Auch Stammes-, Klan- und
Dorfgesellschaften setzten ihre Entwicklung fort. Der Handel erlangte zum
ersten Mal eine so große Bedeutung, dass um ihn herum Imperien aufgebaut
wurden. Die Stärke Aššurs und Phöniziens rührte hauptsächlich von ihren
Handelsmonopolen her. Während die chinesische und indische Zivilisation
ihre ersten Schritte machten, waren ganz Europa, die anderen Teile Asiens,
Afrika und Amerika noch dabei, mit der neolithischen Gesellschaft
Bekanntschaft zu machen. Die zwei historischen Ären, die mich am meis-
ten neugierig machen, sind das Neolithikum und die dörfliche Gesellschaft
6000–4000 v. Chr. und das urbane Leben und die urbane Gesellschaft 1500–
1200 v. Chr. Die Originalität und Kreativität des Entstehungstempos und
der epischen Erzählungen dieser Ären sind sehr interessant. Ich glaube, dass
Begriffsbildungen über epische Heroismen und Göttlichkeiten vorwiegend
aus diesen Ären stammen.
Meine Bemerkungen zu zeitlichen und räumlichen Ausbreitungs- und
Entwicklungsphasen von Zivilisationen kann ich wie folgt zusammenfassen:
1. In den Flächen, wo das von Tigris und Euphrat genährten Taurus-Zagros-
Gebirgsystem auf die Tiefebenen trifft, ein natürliches Bewässerungsklima
und eine sehr reiche Fauna und Flora besitzt, folgte 15000–12000 v. Chr.
auf eine prächtige Jäger*innen- und Sammler*innengesellschaft (der
Stelentempel von Göbekli Tepe bei Urfa erklärt jenen Prozess) die landwirt-
schaftlich-dörfliche Gesellschaft, die sich bis ins siebte Jahrtausend v. Chr.
im Übergangstadium zur Sesshaftigkeit befand. Zwischen 6000 und 4000
v. Chr. erlebte die landwirtschaftlich-dörfliche Gesellschaft ihre kreativs-
te Phase. Ab dem sechsten Jahrtausend v. Chr. verbreitete sie sich in alle
Himmelsrichtungen. Es gab sehr wenig Migration, es handelte sich größ-
tenteils um Kulturexport. Die Obed-Kultur, die im fünften Jahrtausend in
Untermesopotamien durch Bewässerungsfeldwirtschaft einen Aufstieg erleb-
te, wurde so stark, dass sie gegenüber Nordmesopotamien eine gegen-kolo-
niale Politik aufnahm. Archäolog*innen entdeckten Ruinen, die die koloni-
ale Ausbreitung dieser Kultur um 4000 v. Chr. belegen. Allerdings bewahrte
die eigene Kultur der Region zur gleichen Zeit noch ihre Dominanz. Die
Uruk-Ära zeichnete sich im vierten Jahrtausend ab und repräsentiert die
Genese der Stadt. Das Gilgamesch-Epos handelt von dieser zauberhaf-
ten Entwicklung. Uruk erlebte eine ähnliche Ausbreitung gen Norden.
Die Kulturen dieser beiden Ären gewannen die Oberhand, indem sie
216 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wahrscheinlich die Weberei, Töpferei und landwirtschaftliche Produktion


ertragreicher betrieben. Das dritte Jahrtausend, das Zeitalter der klassischen
Ur-Dynastien, zeichnete sich durch die Vermehrung der Städte und die ge-
waltsamen und kontinuierlichen Verteilungskämpfe zwischen ihnen aus, die
man auch als Aufteilungskriege der ersten Monopolisten bezeichnen könnte.
2. Die neolithische Revolution, deren Epizentrum in Mesopotamien lag,
bewegte sich auf China, Indien, ganz Europa und Nord- und Ostafrika zu.
Die Zeit 4000–2000 v. Chr. bildete die Phase, in welcher die neolithische
Gesellschaft sich in diesen Räumen richtig etablierte. Es lässt sich beob-
achten, dass die stärker werdenden europäischen und kaukasischen neo-
lithischen Gemeinschaften nach 2000 v. Chr. eine Welle in die entgegen-
setzte Richtung auslösten. Die ersten Angriffe großer Stämme des Nordens
mit hellen Haaren und Augen über Anatolien bis nach Indien führte zu
einem wichtigen historischen Umbruchprozess. Die Feldzüge erstreckten
sich bis in die Zivilisationszentren Mesopotamiens und Ägyptens hinein.
Außerdem führten 4000–2000 v. Chr. sowohl Stämme semitischer Herkunft
aus Arabien als auch arische Stämme aus den Bergen wellenartige Angriffe
auf die Zivilisationszentren durch.
In diesen ersten kolonialistischen und antikolonialistischen
Ausbreitungsbewegungen der Geschichte machten beide Zivilisationstypen
Fortschritte. Während die hierarchischen Kreise der Stämme in ei-
nen Staatswerdungsprozess traten, wurden viele Stammesmitglieder zu
Sklav*innen gemacht. Unter den Stämmen und Stammeskonföderationen
kam es zu Spaltungen. Während einerseits neue urbane Zivilisationen
auftauchten, wurden andererseits die verbleibenden Stammes- und
Klanorganisationen und ihre Solidarität stärker.
3. Die Zeit 2000–1500 v. Chr. war eine Ära, in der das klassische Zeitalter
der Sumerer und Ägypter endete und die Beziehungen und Widersprüche
zwischen Babylon, Aššur, Hurritern-Mitanni-Hethitern und der neu-
en Dynastie in Ägypten sich sehr intensivierten. Zum ersten Mal begann
das Zeitalter der hegemonialen Zentralzivilisation. Es handelte sich dabei
um eine andere Globalisierungsphase. Die Stämme des Nordens und die
Berg- und Wüstenstämme des Nahen Ostens, die das technische Wissen
und andere Gewohnheiten, die sie von der Zivilisation übernommen hat-
ten, gegen die Zivilisationszentren einsetzten, setzten ihre Angriffe unun-
terbrochen fort. Die Ablösung der Bronze in der Waffentechnologie durch
Eisen sollte zu vielen neuen Entwicklungen führen. Die Metallsuche und
der Handel damit erlangten zum ersten Mal eine große Bedeutung. Der
Das System der demokratischen Zivilisation denken 217

Burg- und Mauerbau erlebte einen großen Anstieg. Die ersten Beispiele
für prachtvolle Burgen waren Produkte dieser Ära. Der Handel, der immer
bedeutender wurde, erreichte einen Höhepunkt. Der große Aufstieg Aššurs
und Phöniziens war das Werk ihrer Handelsmonopole. Die Zivilisation
erlitt 1500–1200 v. Chr. unter dem Angriff der kriegerischen Stämme der
Skythen und Dorer vom Norden und der Aramäer vom Süden einen schwe-
ren Schlag. Die Zeit 1200–800 v. Chr. war eher ein Zeitalter der Regression.
Die einzige Kraft, die diese Zeit überstand, war das assyrische Reich.
4. Die graeco-römische Zivilisation, die die Zivilisation des letzten gro-
ßen klassischen Zeitalters des Altertums bildete, scheint sich das ganze Erbe
der beiden Zivilisationssysteme vor ihrer eigenen Ära (Mesopotamien und
Ägypten) einverleibt zu haben. In diesem Prozess, der von 1000 v. Chr.
bis 500 v. Chr. reichte, setzte die Zivilisation ihre Ausbreitung in Asien,
Afrika und Europa fort und leistete ihren Beitrag, indem sie zusätzlich in
sich ein klassisches Zeitalter schuf. Während das mythologische Zeitalter
an Bedeutung verlor, kam es zu neuen ursprünglichen Aufbrüchen in der
religiösen, philosophischen und sogar wissenschaftlichen Entwicklung. Das
römische Reich, das einen Höhepunkt der Kapital- und Machtmonopole
bildete, schloss aufgrund der Christ*innen-Partei im Inneren und in Folge
der aus allen Himmelsrichtungen kommenden Widerstände und Angriffe
der Stämme und Klans von außen ihre Ära und damit das gesamte Altertum
unter den Schlägen der Kräfte der demokratischen Zivilisation ab.

c) Götter und Menschen


Die Positionierung der abrahamitischen religiösen Tradition im historischen
Prozess im Hinblick auf Zivilisationen bereitet große Schwierigkeiten. In
was für einer Zivilisation diese drei großen Religionen zu positionieren sind,
ist immer noch umstritten.
Diese Traditionen, auf die ich mich auf der Basis meiner
Zivilisationsanalysen stark fokussiere, definiere ich als typisch kompro-
misslerische und eklektische Bewegungen, die ähnlich den gegenwärtigen
sozialdemokratischen Bewegungen einen mittleren Weg zwischen zwei
Hauptzivilisationskräften einzunehmen versuchen. Obwohl ich sie sym-
bolisch als unter der Führung des abrahamitischen Stammes stehende
Bewegungen bezeichne, wäre es zutreffender, diese Religionen nicht eth-
nisch zu definieren, sondern als Bewegungen mit einer starken ideologi-
schen Ausrichtung zu betrachten. Obwohl die abrahamitische Tradition als
eine Stammesbewegung präsentiert wird, stellt sie im Wesentlichen eine
218 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Bewegung dar, die einen Mittelweg zwischen der aus dem Nahen Osten
stammenden demokratischen Zivilisation und den Zivilisationen mit staat-
licher Herrschaft zu finden versucht. Sie ist weder eine richtige Klassen-
noch eine Stammesbewegung. Zudem ist sie weder gänzlich ideologisch
noch gänzlich moralisch und politisch. In jeglicher Hinsicht sucht sie den
Mittelweg. Die besagte Tradition bewahrte vom Auftreten Abrahams um
1700 Jahren v. Chr. (wenn diese Tradition auf Adam und Eva zurückge-
führt wird, kann sie auch auf die Entstehung der sumerischen und ägyp-
tischen Zivilisationen zurückgeführt werden) bis heute diese Eigenschaft.
Aber sie inspirierte einerseits stets beide Zivilisationen, riss andererseits
die mit ihr verbundenen Kräfte (ich meine die materiellen und geistigen
Kräfte) vom Erbe dieser Zivilisationen fort. Aus diesem Grund führte sie
sowohl ihre Freundschaft als auch ihre Feindschaft gewinnend zu histori-
schen Entwicklungen.
Die abrahamitischen Religionen, die das mythologische Zeitalter der
Zivilisation abschlossen und in ihrem religiösen Zeitalter die Vorreiterrolle
übernahmen, können im Lichte unseres neuen Zivilisationsparadigmas be-
greiflicher gemacht werden. Die am meisten herausstechende Erzählung des
mythologischen Zeitalters ist die Gottkönig-Erzählung. Man sollte nicht
vergessen, dass die Erzählsprache des Altertums mit Mythologie aufgeladen
war. In ihr nach einer der heutigen vergleichbaren Rationalität zu suchen,
wäre verlorene Liebesmüh. Alle Phänomene und Ereignisse wurden mit ei-
ner mythologischen Sprache erzählt. Die Mythologie der sumerischen Ära,
die unter großem Einfluss des Animismus (in diesem Glaubenssystem wird
daran geglaubt, dass die Natur lebendig und voller Seelen sei) stand, hat die-
ses Glaubenssystem (man könnte es als die Religion der Klans bezeichnen)
etwas transformiert und zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen ›gött-
licher‹ und ›nicht-göttlicher Natur‹ eingeführt. Die sumerischen Priester, die
den ganzen Inhalt ihrer Erfindungen von der obermesopotamischen neolit-
hischen Gesellschaft übernahmen, verwarfen das Muttergöttin-Narrativ und
verliehen der männlichen Gottesmythologie Gewicht.
Der Widerspiegelung der großen materiellen Transformation der
Gesellschaft (zunächst die Genese der männlich dominierten hierarchischen
Ordnung, anschließend und mit ihr die der staatsförmigen Autorität) in der
Mythologie, die die neue Ideologie bildete, begegnen wir im Auftauchen des
schlauen Gottes Enki. Der Kampf zwischen Inanna, der Göttin Uruks, (ih-
ren Ursprung bildete die obermesopotamische Muttergöttin Star bzw. Ištar)
und dem Enki, dem Gott Eridus, ist sehr bemerkenswert. Während Inanna
Das System der demokratischen Zivilisation denken 219

sich zu beweisen bemüht, dass Göttlichkeitsrechte der Muttergöttin zu-


stünden (Inanna behauptet, dass die berühmten 104 ME, neunundneunzig
Tugenden, Talente, Erfindungen und Künste das Werk von Frauen seien),
predigt ihr Enki, dass dieser Anspruch nun ihre Bedeutung eingebüßt habe
und sie sich gehorsam verhalten und auf ihren Vater hören solle (während
er sich selbst zum Vater-Mann-Gott erklärt, degradiert er die Göttin Inanna
zu seiner Tochter-Ehefrau). Wie sehr das allen säkularen, laizistischen, reli-
giösen und szientistischen Predigten von heute ähnelt! Ich für meine Person
glaube, dass Enki der erste Gott all dieser Kreise war. Enki war das Original,
andere sind nur seine Versionen, Kopien. Insbesondere die olympischen
Gött*innen sind dritte, vierte Versionen der sumerischen Mythologie. Mit
den römischen Gött*innen versiegte die Erzählung mythologischer Art.
Es wird erzählt, dass Abraham die Götzenbilder im Pantheon in Urfa
zerstört habe und dafür von Nimrod zum Feuertod verurteilt worden sei.
Es sei dann durch ein göttliches Wunder dort, wo der Scheiterhaufen stand,
ein heiliger See entstanden. Abraham, dessen Lebensbedingungen unter der
Herrschaft Nimrods schwer geworden seien, sei nach Kanaan (vom babylo-
nischen Zivilisationsbereich in den von Ägypten kontrollierte Bereich) aus-
gewandert. Eigentlich handelte es sich dabei um einen typischen Asylfall.
Wiederum, als er wahrscheinlich ein lokaler Stammesführer war, geriet er
in Zwietracht mit dem Stadtverwalter Nimrod. Es ist offensichtlich, dass
Eigentum und Handel den Gegenstand jener Zwietracht bildeten. Damals
herrschte zwischen Babylon und der ägyptischen Zivilisation einerseits
Konkurrenz, andererseits war zum ersten Mal eine Zeit des lebendigen
Handels angebrochen. Von dieser Konkurrenz waren die traditionellen
Interessen Tausender Menschen wie Abraham betroffen. Dies bildete die
materielle Grundlage des Exodus und des Asyls. Kanaan war zwischen den
beiden Zivilisationen relativ unabhängig. Abraham trat den Exodus an, als
die Hegemonie sich intensivierte. Sein Exodus symbolisierte wahrscheinlich
die Verwandlung einer ähnlichen Auswanderung Tausender Menschen in
eine gemeinsame Erzählung in der Sprache jener Zeit. Alle Indizien wei-
sen darauf hin, dass die besagte Geschichte von den Widersprüchen und
Konflikten zwischen diesen beiden großen Zivilisationen (Babylon und
Ägypten) und den lokalen Stämmen und Fürstentümern handelt, die sich
in dem Raum zwischen ihnen befanden und ihre Interessen gefährdet sahen.
Diese Kräfte lehnten die Selbstinszenierung der Nimrods und Pharaonen als
Götter ab, und immer wenn sie die Gelegenheit dazu fanden, protestierten
sie dagegen, indem sie die Götzenbildrepräsentationen zerstörten. Langer
220 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Rede kurzer Sinn, der materielle Interessenskonflikt spiegelte sich als ideo-
logischer Kampf wider.
Der Kampf gegen eine mindestens dreitausendjährige Gottkönig-Ideologie
ist nicht einfach, bedarf großen Mutes und Talents. Das ist wichtig, und da-
rauf ist auch die wundersame Bedeutung, die Abrahams Widerstandsaktion
in Urfa beigemessen wurde, zurückzuführen. Die Untertanen lehnten sich
zum ersten Mal gegen den Gott auf. Das war eine wundersame Entwicklung
ohnegleichen. Es handelte sich dabei sowohl um die materielle Aktion, also
die Zerstörung der Götzenbilder, als auch um eine neue ideologische Suche.
Wo und wie sie den neuen Gott finden, also wie sie ihre eigene ideologische
Konstruktion gestalten sollten, bildete den Gegenstand eines großen Streits,
der Jahrhunderte dauerte. Abraham behauptete, seinen eigenen Gott gefun-
den zu haben, indem er über die Stimme, die ihn inspirierte, zum ersten
Mal »Wa hewe« – »das ist Er« – (Yahweh) sagte. Dieses Wort scheint aus
der arischen Sprache zu stammen. Arische Stämme bildeten in Urfa damals
die Mehrheit und sie hatten die Initiative inne. Über Abrahams Verbindung
mit jenen Stämmen wird heute noch diskutiert. Es ist sehr wahrscheinlich,
dass sie zunächst »Wa hewe« sagten und zu Jehova wechselten. Jehova war
Abrahams erster Gott und stammte mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der
arischen Kultur. Es ist bekannt, dass sie nach ihrer Auswanderung nach
Kanaan zu den Gottesbezeichnungen El, Ula und Allah52 übergingen.
„El“ ist semitischen Ursprungs und spiegelt die Ähnlichkeit, Einheit
und Sehnsucht der Stämme wider, die in der Wüste mit ihren unendlichen
Weiten ein monotones Leben führten. Die zweite große Inspiration sollte
mit Moses und den Zehn Geboten ihren Ausdruck finden. Moses’ Treffen
mit Gott auf dem Berg Sinai zeugt eigentlich von seiner Lösungssuche für
die ziemlich schwerwiegenden Probleme des Stammes, dessen Anführer er
seinerzeit war. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Zehn Gebote typi-
sche Regelungen des Stammeslebens beinhalten, kann man diese Analyse
weiterführen. Die Tradition sollte später auch von Jesus erneuert werden.
Mohammed hatte schließlich in Mekka ein ähnliches Treffen (das Treffen auf
dem Berg Hira, bei dem er von Gott die erste Offenbarung erhielt). In den
heiligen Schriften wird berichtet, dass zahlreiche Propheten ähnliche Treffen
verwirklicht hätten. Wir haben es hier offenbar mit traditionellen Narrativen

52 Es handelt sich um eine Evolution von Gottesnamen in den semitischen Sprachen, die begin-
nend mit akkadisch ilu über mehrere Jahrtausende und viele Zwischenstufen erfolgte. El war
der kanaanäisch-syrische Hauptgott. Es ist unklar, was mit »Ula« gemeint ist, möglicherweise
eloah.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 221

über wegweisende Ideen und Aktionen zu tun. So ist die Erzählung. Die hei-
ligen Schriften und die gesellschaftlichen und Naturphänomene und -ereig-
nisse, die ich prophetischer Art nenne (die Erste und Zweite Natur), werden
in der Sprache jener Zeit auf diese Weise widergespiegelt.
Wir können ohne Weiteres feststellen, dass diese Tradition in Bezug auf
unser Thema eine historische Etappe darstellt.
1. Man lehnte sich gegen die von Gottkönigen regierten ersten beiden
großen Zivilisationen des Zeitalters und der Geschichte auf. Das war der
erste Aufstand der Untertan*innen gegen Gott.
2. Es wurde ein neuer ideologischer Ausdruck geschaffen. Es wurde der
Diskurs geformt, dass die Gottkönige auch nur einfache Menschen seien,
Gott aber kein Mensch sei, dass Er der Schöpfer von allem sei (die berühm-
ten Worte „das ist Er“ sind das Ergebnis dieser großen Inspiration), und dass
nur Er Gott und Rabb (Herr) sein könne.
3. Man darf sich nicht dem Gottkönig, sondern nur Ihm unterwerfen.
Das waren die Grundsätze der neuen Ideologie. Der gloriosen Tradition,
die man die abrahamitischen Religionen nennt, liegen die in diesen drei
Punkten zusammengefassten Aussagen zugrunde. Nach vielen historischen
Erfahrungen lehnten breite Teile der Gesellschaft ab, dass die Oberschicht
sich nicht mit der Selbstmonopolisierung begnügte, sondern sich selbst dar-
über hinaus vergöttlichte, und entwickelten eine Heiligkeit und einen gött-
lichen Diskurs, die ihren eigenen Interessen näher kamen.
Noch wichtiger ist es, diesen Wandel im Hinblick auf die moralische
und politische Gesellschaft zu erklären. Im vorangegangenen zweitasend-
jährigen Zeitalter der Gottkönige (3500–1500 v. Chr.) hatte die moralische
und politische Gesellschaft einen großen Schaden erlitten. Insbesondere
die Etablierung der Vorherrschaft der die Unterscheidung zwischen Gott
und Untertan*in sehr streng ausdrückenden mythologischen männlichen
Götter als Schöpfer der Erde, des Meeres und des Himmels anstelle der
Naturreligiosität, die mit dem Muttergöttin-Kult ein inniges und lebendi-
ges Verhältnis aller Klans und Stämme zur Natur auf Augenhöhe ausdrückt,
zeigt, dass die moralische und politische Gesellschaft auch auf ideologischer
Ebene einen schweren Schlag erlitten hatte. In der materiellen und geistigen
Kultur fand eine große Transformation statt. Mythologische Erzählungen
sind voller Ausdrücke davon.
Offenbar sollte das Trio Priester-König-Kommandant, das sich über
der Natur als ein Netzwerk materieller Interessen organisierte und durch
eine ideologische Maske seine Wirklichkeit verschleierte, in dieser langen
222 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

historischen Ära der moralischen und politischen Gesellschaft einen schwe-


ren Schaden zufügen. Aus der Perspektive dieses Paradigmas betrachtet,
kann man die Gesellschaft dieser zweitausendjährigen Ära besser verste-
hen. Begriffsbildung ist eine sehr schwierige Tätigkeit, die eines großen
Arbeitsaufwands bedarf. Indem das von der abrahamitischen Tradition
geschaffene Paradigma das mindestens zweitausendjährige Zeitalter der
Nimrods und Pharaonen mit neuen Begriffen belegte, ging es zweifellos zu
einer menschlicheren und annehmbareren Erzählung und Religion über.
Die neue religiöse Erzählung war selbstverständlich auch metaphysisch. Sie
war von der Rationalität und den Sozialwissenschaften unserer Zeit ziemlich
weit entfernt und unterschied sich von ihnen. Trotzdem stellte sie aber einen
sehr wichtigen historischen Aufbruch dar. Es kann nicht von einer völligen
Rückkehr zur starken moralischen und politischen Gesellschaft des voran-
gegangenen Zeitalters die Rede sein. Dass die Moral dabei gänzlich in Form
von Religion vorgeschrieben wurde, lässt sich auch an den Zehn Geboten
ganz gut erkennen. Moses’ Zehn Gebote waren offensichtlich moralische
Grundsätze mit religiösem Schein. Ihr Glaubensaspekt war nachrangig und
schwach. Es stellte also eine sehr wichtige Transformation in der moralischen
und politischen Gesellschaft dar, dass die Moral durch die Religion ersetzt
wurde. Das schlichtere moralische und politische Leben von früher wur-
de von einem allumfassenden Gottesverständnis überdeckt. Es wurde dem
Leben so ein fortgeschrittenerer religiöser Schleier verliehen.
Ein grundsätzliches Thema, das wir hinterfragen müssen, ist, inwiefern
religionisierte Moral und Politik gegen Zivilisationen (mit Staat, Klasse
und Stadt) sind oder ob sie selbst eine neue Zivilisation bilden. Den
Diskussionen über den Laizismus und die islamische Zivilisation, die heute
vor allem in der Türkei und im Nahen Osten geführt werden, liegt diese
historische Vergangenheit zugrunde. Wenn man sich die bisherige Evolution
der abrahamitischen Religionen vor Augen führt, kann man diese Frage in
beide Richtungen beantworten.
Die erste Tendenz, die sich in der Oberschicht widerspiegelt, verfolgte be-
reits seit ihrer Entstehung das Ziel der Errichtung neuer lokaler Königreiche
und Fürstentümer durch die Fraktion, die (genauso wie der rechte Flügel
der Sozialdemokratie) die Macht der Nimrods und Pharaonen in einem
neuen ideologischen Gewand (als Gottes Gesandter, Schatten, Vertreter,
anstatt selbst Gott zu sein) fortzusetzen beabsichtigte. Dass Abraham seine
Handelsgeschäfte und die Stammesführerschaft miteinander verband, erhellt
seine Position. Es lässt sich unschwer feststellen, dass er auf der Suche nach
Das System der demokratischen Zivilisation denken 223

einem lokalen Fürstentum bzw. Königreich war. Er wollte kein einfacher


Untertan Nimrods bleiben. Diese Position empfand er als sowohl in religiö-
ser als auch in moralischer und politischer Hinsicht verächtlich. Es ist wahr-
scheinlich, dass Moses in Ägypten ein oppositioneller Prinz war. Er stütz-
te sich auf die armen, unter beinahe sklavischen Bedingungen lebenden,
nicht gänzlich ägyptisierten Hebräer, die ihre Unterschiede bewahrt hatten
(Apiru, das Wort, von dem der Begriff Hebräer*in stammt, bedeutete stau-
bige Männer, Stämme aus dem Osten), und lehnte sich gegen den Pharao
auf. Nach – laut biblischer Darstellung – äußerst heftigen Verhandlungen
mit dem Pharao beschloss er, Ägypten zu verlassen. Er schaffte es, mit den
Hebräer*innen, die er im Geheimen organisiert hatte, Ägypten zu verlassen.
Die Geschichte des vierzigjährigen Kampfes in der Wüste zeugt von seinen
Bemühungen um ein neues Fürstentum. Er entwickelte Regeln. Er suchte
nach dem imaginierten ›gelobten Land‹. Wie man weiß, wurde diese Utopie
um das Jahr 1000 v. Chr. in der heutigen israelisch-palästinensischen Region
von den Propheten Saul, David und Salomo verwirklicht. Die eigentliche
ideologische Führung hatten Priester wie Samuel inne. Nach 1000 v. Chr.
entstanden zahlreiche Fürstentümer und Königreiche dieser Art, die den
kleinen Nationalstaaten ähnelten, die von den Widersprüchen zwischen den
beiden großen Blöcken der nahen Vergangenheit, dem Ost- und Westblock,
profitierten. Diese Tendenz setzt sich heute noch vor allem in Südamerika
und weltweit in vielen Ländern vergleichbar fort.
Die zweite Tendenz war die antizivilisatorische Tendenz eines ärmeren und
radikaleren Teils der Gesellschaft. Diese Kreise waren sich dessen bewusst,
dass die Zivilisierung nur noch mehr Probleme bereitete. Selbst im ersten
Königreich Juda-Israel wurde dieser Widerspruch intensiv erlebt. Die heftige
Opposition des Priesters Samuel gegen die Anführer, die zu Königen gewor-
den waren, spiegelt diese Tatsache wider. Mit dem Auftauchen Jesu wird die
Sache noch eindeutiger. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Klassentrennung
weiter vertieft. Vertreter der Oberschicht, Roms Kollaborateure, warfen –
in ihrer Rolle als Besitzer des Königreiches Juda – Jesus vor, er untergrabe
ihre Herrschaft, ließen ihn fangen (Judas Iskariot, der Jesus verriet, war ein
Jude, der mit Rom kollaborierte, und der dreizehnte Apostel) und kreuzi-
gen. Der römische Präfekt pochte nicht so sehr auf die Kreuzigung Jesu; es
waren vielmehr die Vertreter des Königreichs Juda, die darauf bestanden.
Es ist eindeutig, dass Jesus nicht nur als Vertreter der Hebräer, sondern als
Symbol der ersten großen internationalistischen Partei angesehen wurde, die
die ärmsten Teile aller vom Römischen und Persischen Reich geplünderten
224 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Völker (vor allem Griechen, Assyrer, Armenier – die Völker, die bereits
damals Zivilisationen gegründet hatten) vertrat. Es handelte sich um die
Entstehung einer neuen Bewegung gegen die klassische Zivilisation. Die
Mitglieder dieser Bewegung nahmen dreihundert Jahre lang Hunger und
jegliche Art von Folter in Kauf und führten im Untergrund ein anti-römi-
sches und anti-sassanidisches Leben. Als die oberste Führung der politisier-
ten Bewegung (Priesterrat, Konzil) später in der Ära des Kaisers Konstantin
des Großen die Zusammenarbeit mit dem Staat aufnahm, verwandelte sich
das Christentum in das ideologische Organ des zweiten großen Roms, das
in Byzanz errichtet worden war.
Arme und radikale Kreise unterschiedlicher Konfessionen dagegen leis-
teten heftigen Widerstand. Dieser Widerstand hielt Jahrhunderte lang
an. Der Widerstand der Arianer, Assyrer und Gregorianer war wichtig.
Offensichtlich waren der Klassenkampf und sogar der sich im religiö-
sen Gewand entwickelnde Kampf der unterdrückten Klans und Stämme
für die moralische und politische Gesellschaft Jahrhunderte lang in vol-
lem Gange. Die Diskussion im Christentum, ob Jesus göttlicher Natur
war oder ob er eine menschliche Natur besaß, war der ausschlaggebends-
te Faktor bei der konfessionellen Spaltung. Diese Diskussion hatte ihren
Ursprung in der sumerischen Mythologie. Der Diskurs der Oberschicht,
die göttlicher Abstammung zu sein behauptete und dass die Unterschichten
niemals göttlicher Abstammung sein könnten (die Legende, dass sie so-
gar aus den Exkrementen der Gött*innen geschaffen worden seien, ist
ein Ausdruck davon), hatte langfristigen Einfluss auf die abrahamitischen
Religionen. Mohammeds Haltung in dieser Frage war eindeutig: Der
Mensch könne nicht Gott, sondern nur sein*e Gesandte*r und Untertan*in
sein. Im Christentum ist dagegen die Lage voller Widersprüche. Während
Konfessionen, die in armen Schichten ihren Ursprung nahmen, (Arianer)
behaupteten, Jesus sei menschlicher Abstammung, neigten diejenigen,
die sich zu Kollaborateuren der Macht hocharbeiten wollten, eher zur
Behauptung einer göttlichen Abstammung. Der Kern der Sache hängt mit
der Klassenspaltung zusammen. Der antizivilisatorische Kampf, der 3000-
1500 v. Chr. mit lokalen Glaubensrichtungen und transformierten offiziellen
mythologischen Glaubensrichtungen geführt wurde, wies sowohl Klassen-
als auch ethnische Eigenschaften auf. Ihre Sehnsucht nach Freiheit war ziem-
lich eindeutig.
Dass die arischen Stämme und Klans, die in der Taurus-Zagros-Region
heftige Kämpfe führten, 2150 v. Chr. die akkadische Dynastie stürzten und
Das System der demokratischen Zivilisation denken 225

an ihrer Stelle die Guti-Gudea-Dynastie gründeten, gemeinsam mit den


Kassit*innen wiederum ein Bündnis mit den Hethitern, die 1596 v. Chr.
Babylon besetzten, eingingen und die Mitanni-Konföderation mit ihrem
Zentrum im heutigen Serêkanî (Ceylanpınar) gründeten, deren Macht in
den 1500er Jahren v. Chr. von Ägypten und allen mesopotamischen Städten
anerkannt wurde, weisen ebenfalls auf diese Realität hin.
Die abrahamitische Widerstandstradition entwickelte sich nach dieser
historischen Phase weiter und blieb in bis heute existierenden historischen
Strukturen auf unterschiedliche Art und Weise sehr wirksam. Trotzdem ist
es nicht richtig, die abrahamitische Tradition von der Mythologie gänz-
lich zu trennen. Ein Großteil der Geschehnisse, die in allen drei heiligen
Büchern Platz finden (vor allem die Geschichte von Adam und Eva), finden
auch in den sumerischen und ägyptischen Mythologien Erwähnung. Die
Unterschiede hängen mit den Transformationen der jeweiligen Ären, vor
allem in Bezug auf Gott, zusammen. Dabei ist wichtig, dass die moralische
und politische Gesellschaft sich mit starken lokalen ideologischen und re-
ligiösen Ausdrücken aufdrängte. Die Religion ist größtenteils moralischer
Widerstand. Insbesondere die zoroastrische Tradition ist Ausdruck einer tie-
fer gehenden Transformation in dieser Hinsicht. Die zoroastrische Tradition,
die die abrahamitischen Religionen stark beeinflusste, war die halb-philoso-
phische, halb-religiöse moralische und politische Lehre der Ackerbau- und
Viehzuchtgesellschaft des Zagros. Dass Zarathustra mit seinem berühmten
Ausruf »Wer bist du?« den Gott semitischen Ursprungs infrage stellte, zeigt
seinen radikalen Bruch. Indem Zarathustra die ›Heiligkeit‹ zum ersten Mal
durch die Begriffe ›gut‹, ›böse‹, ›Helligkeit‹ und ›Dunkelheit‹ ersetzte, ebnete
er der Ethik (Moralwissenschaft) und der Philosophie den Weg, die später
von den Griech*innen ausführlich weiterentwickelt werden sollten. Dass die
Griechen der zoroastrischen Tradition, die sie über die Meder kennengelernt
hatten, viel schuldeten, lässt sich auch von den Erzählungen über die Meder
ableiten, die einen Großteil der Historien des Herodot ausmachen. Es ließe
sich behaupten, dass die zoroastrische Tradition die Realität der heute noch
starken moralischen und politischen Gesellschaft in den Bergstämmen und
nicht-kolonialisierten breiten arischen Agrargesellschaft widerspiegele. Es ist
ein nachvollziehbarer Aspekt, dass die zoroastrische Tradition die moralische
und politische Wirklichkeit einer Gesellschaft ausdrückt, in der die Sklaverei
nicht so weit gediehen und das freie Gesellschaftsleben immer noch stark
war.
226 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

d) Ende des Altertums


Die graeco-römische Zivilisation, die letzte Phase des Altertums, erlebte alle
drei Traditionen gleichzeitig. Die Ära der traditionellen Gottkönige bildete
auf beiden Halbinseln die erste Stufe der Zivilisation. Die graeco-römische
Tradition war die letzte Ableitung aus den sumerischen und ägyptischen
Originalen. Im Zeitalter der etruskischen und spartanischen Königreiche
erlebte die mythologische Tradition (Zeus auf dem Olymp, Jupiter in
Rom) ihr letztes großes Zeitalter. Während die mythologische Erzählung
in den Ären der römischen Republik (508–44 v. Chr.) und der attischen
Demokratie (500–300 v. Chr.) allmählich abklang, trat die philosophische
Tradition in den Vordergrund. Sokrates und Cicero waren die berühmten
Philosophen und Redner jener Zeit. Die Bürger Athens und Roms, die ihre
alte freie Tradition nicht einfach aufgeben wollten, waren immer noch der
Tradition der moralischen und politischen Gesellschaft treu. Sie führten ei-
nen heftigen Kampf gegen das Königreich und das imperiale System. Athens
Kampf gegen Sparta und der Kampf federführender Persönlichkeiten der
römischen Aristokratie gegen Julius Caesar zeugen davon.
Sokrates und Cicero waren Moralphilosophen und philosophische
Denker. Sie waren bedeutende Namen der ersten Lehren der Grundlagen
der Ethik und demokratischen Politik. Auch wenn Athen und Rom es nicht
der ganzen Gesellschaft zeigten, ist es unumstritten, dass sie ihre Stärke aus
der immer noch tief verwurzelten Tradition der moralischen und politi-
schen Gesellschaft schöpften. Die Stärke der beschränkten Institution der
Sklaverei ließ sich mit der mächtigen Masse freier Bürger in der Stadt und
den ländlichen Gebieten nicht vergleichen. Aus diesem Grund spielten sie
bei der Entwicklung von Lehren über die Republik und die Demokratie
eine erhebliche Rolle. Die Niederlage der römischen Republik und der
attischen Demokratie angesichts der imperialen Bestrebungen Augustus’
und Alexanders des Großen weisen auf einen bedeutenden Rückschritt im
Hinblick auf die Republik und Demokratie. Man sollte nicht vergessen, dass
ein Großteil der positiven Werte aus dem klassischen Zeitalter Roms und
Athens das Werk der Republik und der Demokratie war. In der schriftlich
überlieferten Geschichte begegnete uns zum ersten Mal, dass moralische und
politische Gesellschaften sich durch die Republik und Demokratie, wenn
auch nicht vollständig, zumindest besser ausdrücken konnten. Um sich ganz
ausdrücken zu können, bedürfen sie der über die repräsentative Demokratie
hinausgehenden direkten, partizipativen Demokratie.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 227

Das Christentum, die dritte dieser Traditionen, spielte anfangs eine sub-
versive Rolle im Reich. Das Christentum stellte bis zum Untergang des
Römischen Reiches (476 n. Chr.) – durch die angreifenden germanischen
Stämme – eine starke Komponente der demokratischen Republik dar. Mit
dem Aufstieg von Byzanz zu einem Reich wurde das Christentum in die
Rolle eines reaktionären Vertreters der offiziellen Zivilisation mit ihrer
staatlichen Herrschaft versetzt. Die Existenz sehr starker oppositioneller
Konfessionen, die ebenfalls das Christentum vertraten, zeugt allerdings von
der positiven Rolle des Christentums bei der Entwicklung der demokrati-
schen Zivilisation.
Dass das auf dem dreitausendfünfhundertjährigen Trio Stadt-Klassen-
Staat (Kapital- und Machtmonopolnetzwerke) basierende klassische
Zivilisationssystem, obwohl es seinen zentralen hegemonialen Charakter
mit der Zeit weiterentwickelte, wegen der beiden Hauptbestandteile der
demokratischen Zivilisation, d. h. des antizivilisatorischen Christentums
und des Widerstands und der Angriffe der ebenfalls antizivilisatorischen
germanischen, hunnischen und fränkischen Stämme unterging (der
Untergang Roms war gleichzeitig der Untergang des Altertums), legt den
Verlauf der geschichtlichen Entwicklung ziemlich offen. Die Degeneration
der Oberschicht im Herzen der demokratischen Zivilisationskräfte und die
Entstehung von Ableitungen der klassischen Zivilisation ändern nichts an
dieser Tatsache. Wir sollten nicht vergessen, dass die Gebiete und Städte der
klassischen Zivilisation immer noch lediglich Inseln in einem Ozean der
demokratischen Kräfte (Stamm, Klan, Religion, Konfession, Organisationen
städtischer Handwerker*innen) darstellten. Die Menschheit hatte die mora-
lische und politische Gesellschaft nicht aufgegeben. Die Jahrtausende langen
Kriege hingen eng mit dieser Wirklichkeit zusammen. Es handelte sich dabei
um die Existenz einer sich in religiösem Gewand fortsetzenden, sich aber im
Wesentlichen auf die gesellschaftliche Natur beziehenden Freiheitstendenz
als der moralischen und politischen Gesellschaft. Diese Feststellung ist äu-
ßerst wichtig.

e) Zeitalter des Islam


Die grundsätzlichste Frage für den Islam, die letzte der großen abraha-
mitischen Religionen, ist, ob der Islam eine Fortsetzung der klassischen
Zivilisationen oder die starke Stimme der demokratischen Zivilisation
ist. Ich glaube, diese Diskussion ist noch heute nicht beendet. Mekka, die
Heimatstadt Mohammeds, basierte auf Handel. Es hatte gemessen an seiner
228 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

eigenen Größe ein weites Hinterland und befand sich am Knotenpunkt


der Nord-Süd- und Ost-West-Handelswege. Deshalb war es ein zent-
raler Marktplatz, wo arabische Stämme sich zum Einkaufen trafen. In
Mekka wurden nicht nur Waren, sondern auch Ideen, Göttersymbole und
Sklav*innen feilgeboten. Es war ein Ort, wo neben der abrahamitischen
Tradition auch mythologische und animistische Religionen Anhänger*innen
fanden. Es war ein Pilger- und Besuchszentrum. Zum Zeitpunkt der Geburt
Mohammeds war im Norden Byzanz, eines der beiden sich im Übergang
vom Altertum ins Mittelalter befindenden Reiche, bis nach Damaskus vor-
gedrungen und führte den seiner Kontrolle unterliegenden offiziellen Flügel
des Christentums mit sich. Die assyrischen Priester befanden sich in der
Opposition und hatten die Christianisierung der Sassaniden beschleunigt.
Die Sassaniden wiederum verfolgten im Nordosten das Ziel, ihre Hegemonie
auf die Arabische Halbinsel auszudehnen. Im Südwesten breitete sich in
Jemen der Einfluss des christlichen Abessinien (das heutige Äthiopien in
Ostafrika) aus. Jüd*innen, die die älteste Tradition vertraten, waren an allen
Ecken und Enden der Halbinsel zu finden und profitierten von Immobilien
und Handel.
Die arabischen Stämme, die eigentliche einheimische Bevölkerung
der Halbinsel, erlebten eine tiefe sozioökonomische Krise. Ihre häufigen
Raubzüge in alle vier Himmelsrichtungen (es ist bekannt, dass die semiti-
schen Stämme vor den sumerischen und ägyptischen Zivilisationen frucht-
bare neolithische Gebiete und später die urbanen Zivilisationen angriffen.
Die Amurriter, Apiru, Akkader, Kanaan und Aramäer beteiligten sich an den
Angriffswellen in dieser Ära) konnten sie wegen der Stärke der bestehenden
Zivilisationen nicht mehr wiederholen. Es handelte sich um eine Zeit, in der
sie von allen Seiten eingeengt waren; sie standen kurz vor einer Explosion.
Die Araber, die die letzte Expansion der semitischen Stämme verwirklichen
wollten, schienen auf ein Wunder zu warten. Und jenes Wunder hieß Islam.
Offensichtlich konnte Mohammed die Zeit und die Bedingungen gut le-
sen. Alle Eigenschaften des Bedürfnisses der Geschichte nach einer neuen
Ära waren in seiner Persönlichkeit vereint. Er hing keiner der existierenden
ideologischen Traditionen an. Er war vom Judentum und Christentum, die
er als Buchreligionen bezeichnete, und vom Mandäismus und Zoroastrismus
beeinflusst. Seine Haltung gegenüber Götzenbildern ähnelte der Abrahams;
er war sich dessen bewusst, dass sie nicht seinen Zielen dienten. Seine ersten
propagandistischen und militärischen Aktionen richteten sich gegen Mekkas
Handelsmonopole. Er wusste, dass er sich nicht der Stammesdynamik hätte
Das System der demokratischen Zivilisation denken 229

bedienen können, solange er nicht den Einfluss jener Monopole gebro-


chen hatte. Die göttlichen Offenbarungen, die er neu interpretierte, waren
Moses’ ›Zehn Geboten‹ sehr ähnlich. Es ist eindeutig und sicher, dass er den
Stämmen eine neue Moral und ein politisches Ziel einimpfen wollte. Wenn
man den Gehalt seines Gottesbegriffs auf der Grundlage der neunundneun-
zig Namen Allahs analysiert, wird man sehen, dass es dabei um den Aufbau
einer regelrechten gesellschaftlichen Utopie geht. In der Medina-Ära, wo er
zu einer politischen Kraft wurde, definierte er seine Utopie genauer.
Der Erfolg der ersten Aktionen, die als Wunder betrachtet wurden, stärk-
ten Mohammeds Selbstvertrauen. Seine Arbeitsweise in Medina ist im
Hinblick auf unser Thema aber von viel größerer Wichtigkeit. Moscheen
fungierten in dieser Phase eigentlich als demokratische Räte. Anfangs wur-
den in Moscheen Treffen durchgeführt, in denen man alle gesellschaftli-
chen Probleme diskutierte und nach Lösungen suchte. Die Moschee behielt
diese Rolle bis Mohammeds Tod bei. Die religiösen Rituale (salāt, Fasten,
zakāt53) sind wiederum als Erziehungs- und Bildungsaktivitäten zu beurtei-
len, die Persönlichkeitsstärkung zum Ziel hatten. Niemand kann leugnen,
dass der Islam im Wesentlichen einen solchen Aufbruch darstellte. Es ist
klar, dass der moralischen und politischen Gesellschaft, wenn auch im religi-
ösen Gewand, eine starke Dynamik verliehen und neues Leben eingehaucht
wurde. Wenn also von einer wahrhaft mohammedanischen Bewegung die
Rede sein soll, dann ist nicht zu leugnen, dass der Weg dahin über einen ihre
grundsätzlichen Probleme überwindenden Wiederaufbau der moralischen
und politischen Gesellschaft auf der Basis der partizipativen Demokratie
führt. Es ist allgemein bekannt, dass Mohammed mit so mancher Aktion
über das Ziel hinausschoss und vor diesen Aktionen sehr zögerte. Vor allem
im Hinblick auf Jüd*innen, die Qibla-Frage54 und das Abschlachten aller
Männer des jüdischen Stammes Banū Quraiza für ihre Kollaboration mit
der Quraisch-Aristokratie. Wenn man diesbezüglich die richtigen Lösungen
gefunden hätte, wäre vielleicht der arabisch-hebräische Widerspruch gelöst
worden und der Islam hätte sich viel weiter entwickeln können.
Der Islam als Ganzes kann aber als eine demokratische, emanzipatorische
und egalitäre Bewegung bezeichnet werden. Seine schnelle Ausbreitung im
Großteil der alten Zivilisationsgebiete lässt sich nicht nur auf Waffengewalt
zurückführen. Das Unglück des Islam war es, dass er im Vergleich zu der
jüdischen und der christlichen Bewegung in sehr kurzer Zeit von den
53 Das Gebet, das Fasten und die Almosensteuer sind drei der fünf Säulen des Islam.
54 Zunächst beteten die Muslime in Richtung Jerusalem, erst später gen Mekka.
230 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zivilisatorischen Kräften instrumentalisiert wurde. Noch waren keine


fünfzig Jahre seit seiner Entstehung vergangen, da wurde der Islam von
der Muʿāwiya-Dynastie sozusagen in einen Flicken für eine klassische
Zivilisationskraft verwandelt. Die Ermordung der Ahl al-bait war gleichzei-
tig ein Massaker an vielen positiven inhaltlichen Eigenschaften des Islam.
Meines Erachtens wurde der Islam zu jener Zeit beendet. Die Konfessionen,
die als Nachfolger der Ahl al-bait entstanden, und die Charidschiten, die
den Islam der ärmeren Kreise darstellten, bildeten ernstzunehmende
Traditionen. Der Schia-Arm der Ahl al-bait verlor sein anti-zivilisatori-
sches Wesen, indem er im Iran seit der Safawiden-Dynastie den Weg der
offiziellen Zivilisation betrat. Die Alevit*innen Anatoliens und Kurdistans
konnten dagegen ihre Existenz unter der unerbittlichen Verfolgung der sun-
nitischen Machttradition Jahr­hunderte lang nur als moralische und poli-
tische Gesellschaft fortsetzen, wobei ihnen allerdings keine systematische
Entwicklung gelang.
Auch den anderen Armen erging es nicht anders. Die Charidschit*innen,
Qarmat*innen und viele andere ähnliche Bewegungen wollten den Islam
als strengste Bewegung der unterdrückten Klasse umsetzen. Wegen dieser
ihrer Eigenschaft wurden sie viel unerbittlicher liquidiert. Dieses vielseitig
reiche Erbe im islamischen Gewand bedarf einer Untersuchung. Die demo-
kratische Geschichte ist deswegen nötig. Es handelte sich definitiv nicht um
den Islam, der in der Person Mohammeds vertreten wurde. Der Islam in
den Ären der Umayyaden, Abbasiden, Seldschuken, Osmanen, Safawiden
und des Mogulreichs lässt sich unmöglich als mohammedanischer Islam
bezeichnen. Viele Sekten und Konfessionen sind genau aus diesem Grund
entstanden. Es gab keinen ernsthaften Erfolg. Was Erfolg genannt wurde,
war, dass das listige Handelsmonopol Mekkas in der Person Muʿāwiya I.
sehr erstarkte und sich expandierend und Gewinne erzielend in ein Handels-
und Machtmonopol verwandelte, von dem andere Stammesaristokratieen
(Emire und Scheichs) nicht einmal hätten träumen können. Und genau das
war ein offensichtlicher Verrat am Islam.
Es ist allgemein bekannt, dass auch Moses und Jesus verraten wurden; aber
der Verrat an Mohammed war viel umfangreicher. Wie der Islam des neun-
zehnten und zwanzigsten Jahrhunderts für Englands koloniale Ausbreitung
im Nahen Osten instrumentalisiert wurde, wie man ihn bei der Entstehung
von Nationalstaaten (die arabischen Nationalstaaten sowie der Iran, die
Türkei, Afghanistan, Pakistan, Indonesien usw.) die rückschrittlichste na-
tionalistische Rolle spielen ließ, ist heute bekannt. Dass gegenwärtig neben
Das System der demokratischen Zivilisation denken 231

dem al-Qaida-Radikalismus, von dem es immer noch unbekannt ist, was


er sein soll, mit Organisationen wie der Islamkonferenz, die ihr irrelevantes
Dasein abfristen (ich spreche von zahlreichen Organisationen, die das Wort
›Islam‹ in ihrem Namen tragen. Ihr Verhältnis zum Islam ist auf das Wort
beschränkt und die erdrückende Mehrheit von ihnen besteht aus kapitalisti-
schen, modernistischen, nationalistischen Organisationen) die Existenz des
Islam nachgewiesen werden soll, bedeutet, dass der Islam seine bedeutungs-
loseste Ära erlebt. Ich nehme Mohammed und den Islam ernst, aber unter
der Voraussetzung, dass sein Ideen-, Moral- und Politikverständnis viel dis-
kutiert werden und diejenigen, die zumindest klitzekleinen Respekt für ihn
übrig haben, die mohammedanische Realität, die dann klar herauskommen
wird, respektieren sich ihr anschließen. Ich hoffe später in den betreffenden
Kapiteln dieses Thema genauer erläutern zu können.
Man sollte meinem Versuch, das Mittelalter (476–1453 n. Chr.) durch
Mohammed und den Islam zu analysieren, Verständnis entgegenbringen;
denn das Mittelalter war zwar nicht in dem Sinne, dass der Islam umgesetzt
worden wäre, aber in seinem namentlich und wesentlich verratenen Zustand
das Zeitalter des Islam, das mohammedanische Zeitalter. Der Vorgänger des
gegenwärtig hegemonialen Systems, das man Kapitalismus nennt, war wirk-
lich eben dieser Islam. Es war das erste Zeitalter, in dem Handelsmonopole
ihren Höhepunkt erreichten. Der Nahe Osten bildete noch immer das
Zentrum der Zivilisation. Es bildete die Vorzeit des Kapitalismus, in der alle
seine Spiele erfunden und umgesetzt wurden. Venezianische Händler*innen
trugen dreihundert Jahre lang in Zusammenarbeit mit jenen Monopolen die
materielle Kultur des Nahen Ostens nach Europa. Das Christentum hatte
wiederum zwischen dem sechsten und dem zehnten Jahrhundert die geistige
Kultur des Nahen Ostens nach ganz Europa getragen. Zwischen dem achten
und dem zwölften Jahrhundert, während der islamischen Renaissance, äh-
nelten die Zivilisationskräfte Zwergen, die auf den Schultern Jahrtausende
alter Zivilisationstraditionen saßen.
Ich denke, dass sowohl der mit unlösbar erscheinenden Problemen über-
häufte Zustand des Nahen Ostens als auch sein stetiger Niedergang ab dem
zwölften Jahrhundert eng mit diesem unter dem Namen des Islam began-
genen Verrat zusammenhängen. Selbst wenn er aus einer Bewegung heraus
entsteht, die Gold wert ist, kann der Verrat nur das Allerschlimmste schaffen.
Was mit dem Islam geschieht, ist eigentlich eine Bestätigung dieser Regel.
Folgenden Aspekt halte ich für wichtig: Wenn die Mohammedaner*innen
eine zumindest genauso echte theologische, ethische, philosophische,
232 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

künstlerische und politische Diskussion wie die Jüd*innen und Christ*innen


angestoßen und die Konsequenzen daraus in die moralische und politische
Gesellschaft hineingetragen hätten, hätte sich das hegemoniale Zentrum der
klassischen Zivilisation nicht in den Westen verschoben. Noch wichtiger:
Anstatt der klassischen könnte heute die demokratische Zivilisation eine
vorherrschende Stellung innehaben.
Die jüdischen und christlichen Traditionen, die sich aus dem Nahen
Osten nach Europa zurückzogen, waren offener für Diskussionen. Der
Dogmatismus im Kern der religiösen Tradition ist zweifellos eine ernsthaf-
te Hürde geblieben. Dass sie aber die nicht zu unterschätzenden geistigen
Kulturwerte des Nahen Ostens in Europa verbreiteten, beschleunigte der
Dialektik entsprechend die Entwicklung des philosophischen und wissen-
schaftlichen Pols. Das, was im Nahen Osten des Islam nicht getan wurde und
heute noch nicht getan werden darf, sind diese Durchführung der dialekti-
schen Diskussion und das Respektieren ihrer Ergebnisse. Ansonsten war der
Nahe Osten, was den landwirtschaftlichen und kommerziellen Fortschritt
angeht, Jahrtausende lang Europa weit voraus. Auch in der manufakturel-
len Produktion hinkte er Europa nicht hinterher. Langer Rede kurzer Sinn,
die mohammedanische Bewegung hätte der Aufbruch sein können, der der
Geschichte des Nahen Ostens gebührt. Aber wie Ibn Chaldūn zu seiner Zeit
analysierte, setzte die äußerst verkümmerte ʿAsabīya eine ähnliche Tendenz
durch wie die faschistischen und nationalistischen Tendenzen von heute
und vergeudete damit das Mittelalter. Das Zentralzivilisationssystem, das
im Nahen Osten seinem Abstieg entgegensah, nahm ab dem fünfzehnten
Jahrhundert in Europa seinen Aufstieg wieder auf. Das materielle und geisti-
ge Kulturerbe, das in den rund zehntausend Jahren nach der Agrarrevolution
angehäuft worden war, sollte seinen nächsten Sprung in dieser Region und
zu dieser Zeit machen.
Meine Absicht ist es, nicht die kurze Geschichte der demokratischen
Zivilisation zu schreiben, sondern einen Versuch über ihre Definition und
Stellung und darüber, was sie ist und wie ihre historische Funktion zu
erklären ist, zu verfassen. Ich bin der Meinung, dass die Geschichte mit
Sicherheit dieser Erklärung bedarf. Sonst könnten wir die historischen
Aufbrüche, die als Wunder gelten, gar nicht interpretieren. Wie könnten
wir die Geschichte verstehen, ohne die Widerstände, Kriege und kommu-
nenähnlichen Strukturen zu analysieren, die in einer sehr reichen kulturellen
Atmosphäre gegen diejenigen entwickelt wurden, die sich zu Göttern erklär-
ten, die wahren Besitzer*innen dieser Kultur auszurotten beabsichtigten,
Das System der demokratischen Zivilisation denken 233

ihnen würdelose Berufe wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Arbeiterschaft,


Ehefrauenschaft aufzwangen und alle materiellen und geistigen Werte zu
plündern versuchten? Wie könnten wir unsere Menschlichkeit erkennen,
ohne die Geschichte zu verstehen? Wenn wir unsere gesellschaftlichen
Unerlässlichkeiten, die wir Vernunft, Moral und Politik als Freiheitskunst
nennen, respektieren, haben wir diese Fragen zu stellen und zu beantworten.
Mit engen Klassentricks und der ʿAsabīya (Stammeschauvinismus) können
wir keine Lösung entwickeln. Ohne die apokalyptischen Bewegungen in
der Geschichte der gesellschaftlichen Natur zu systematisieren, ohne ihre
Ursachen und Wirkungen darzustellen, können wir nicht unser menschli-
ches Dasein definieren. Dann könnte unser Leben keinen Sinn finden. Mit
den Erzählungen der viel propagierten Zivilisation und der Netzwerke, de-
ren Wesen die Zusammenstellung von Kapital- und Machtmonopolen auf
Kosten der Gesellschaft ist, entsteht keine sinnvolle Menschheitsgeschichte.
Der Versuch der demokratischen Zivilisation, die geschichtliche Gesellschaft
aufzubauen, rührt weder von ihrem Bedürfnis her, den Lügen vom ›Ende
der Geschichte‹ und der ›Einen Welt‹ des kapitalistischen Netzwerks ein
Ende zu setzen, noch daher, dass so viele neue Welten existieren, wie sie sich
vorstellen und denken kann, sondern daher, dass letztere bitter notwendig
sind.
Ohne dass die den Menschen vernichtende Realität des mittelalterlichen
Dogmatismus gänzlich überwunden wurde, hat diesmal der noch schlim-
mere Dogmatismus der Nationalstaaten die Geister gefangen genommen.
Die nationalen Geschichten, die tausendmal chauvinistischer, verblendender
und missachtender als die Stammes-ʿAsabīya sind, erschufen neue Wüsten,
die die Geister austrocknen. Alleine für die Erschaffung und Bestätigung
dieser ekelhaften Geschichten wurden Blutbäder veranstaltet. Die gan-
ze Menschheit wurde vom Nationalismus, der nichts als das reaktionärs-
te Götzenbild ist, gegeißelt. Ich versuche mich bei meinem Unternehmen
daran zu erinnern, dass selbst in Zeiten, die als die dunkelsten gelten, das
Denken nicht so oberflächlich, nicht so sehr in eine Wüste verwandelt und
die Menschheit nicht in solch einen Zustand versetzt war.
Ich muss folgendes nochmals betonen: Die Wirklichkeit ist eine Sache,
die ohne Kenntnis der Geschichte der gesellschaftlichen Natur über-
haupt nicht zu verstehen ist. Ich werde mir niemals verzeihen, dass ich die
Geschichte lange unter dem Einfluss der kapitalistischen Moderne pessi-
mistisch betrachtet habe. Denn wir können nicht anders, als die respektlo-
sesten und niederträchtigsten Positionen einzunehmen, wenn wir nicht die
234 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Geschichte, eine wahre Menschheitsapokalypse, kennen und uns – gemäß


ihren Erfordernissen – der Wirklichkeit der moralischen und politischen
Gesellschaft anschließen. Du bist so sehr an der Seite der Wirklichkeit, wie
du geschichtlich sein kannst. Die Geschichte wiederum kann nur dann zwi-
schen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und sich selbst eine Verbindung
herstellen, wenn sie gleichzeitig demokratische Zivilisation bedeutet.
Die Betrachtung der Geschichte der demokratischen Zivilisation ge-
gen die kapitalistische Moderne werde ich, aufgrund der Wichtigkeit des
Themas, im nächsten Kapitel unter einer eigenen Überschrift zu unterneh-
men versuchen.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 235

D Elemente der demokratischen


Zivilisation

Es könnte lehrreich sein, die Gemeinschaftseinheiten im Rahmen der mo-


ralischen und politischen Gesellschaft zu erläutern. Die Definition der sich
differenzierenden gesellschaftlichen Elemente ist für das Verständnis des
Ganzen notwendig. Die Totalität kann nur in Differenzen ihre Bedeutung
erlangen. Die Stadt als Staat zählt nicht zu den Elementen der demokra-
tischen Zivilisation. Doch Handwerker*innen, Arbeiter*innen, Arbeitslose
und Freiberufler*innen jeglicher Art, die von ihrer eigenen Arbeitskraft le-
ben, gehören, obwohl Städter*innen, zu demokratischen Elementen. Wir
werden solche Themen diskutieren.

1. Klans
Wir sind bereits auf Klans eingegangen und haben betont, dass sie
als Mutterzelle der Gesellschaft achtundneunzig Prozent des langen
Lebensabenteuers des Menschengeschlechts ausmachten. Diese fünfund-
zwanzig- bis dreißigköpfigen Gruppen, die Zeichensprachen benutzten und
vom Jagen und Sammeln lebten, führten ein wirklich schwieriges Leben.
Es war sehr schwer, nicht von wilden Tieren gefressen zu werden und an
gesunde Nahrung zu kommen. Das Klima wurde manchmal sehr kalt. Es er-
eigneten sich vier wichtige Eiszeiten. Man sollte unsere Vorfahr*innen nicht
unterschätzen. Ohne ihre große Mühe gäbe es uns nicht. Genau an dieser
Stelle ist die Totalität zu suchen. Unsere ganze Menschheit von heute ist das
Ergebnis des Überlebenskampfs unserer Vorfahr*innen. Die Geschichte be-
steht nicht nur aus ihrem schriftlich überlieferten Teil. Die wahre Geschichte
kann nicht bedeutungsvoll sein, solange der Zustand unserer gesellschaft-
lichen Natur von vor Millionen Jahren nicht in unsere Überlegungen mit
einbezogen wird. Der erste Zustand, der die Menschheit vereinte, waren
wohl die Wesensmerkmale der Klangesellschaft. Wir haben versucht, den
Klan als reinsten Zustand der moralischen und politischen Gesellschaft zu
definieren. Diese Gemeinschaften, die physisch gesehen nach wie vor in
vielen Bereichen weiterexistieren, stellen auch innerhalb aller Elemente fort-
geschrittener Gesellschaften Stammzellen dar.
236 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

2. Familie
Auch wenn der Klan nicht als Familie bezeichnet werden kann, ist er ihr ähn-
lich. Die Familie war die erste Institution im Klan, die sich änderte. Nachdem
sie lange Zeit als matriale Familie existiert hatte, wurde nach der dörf-
lich-landwirtschaftlichen Revolution (vermutlich im sechsten Jahrtausend
v. Chr.) unter patriarchaler, hierarchischer Autorität das Zeitalter der pa-
triarchalen Familie eingeleitet. Die Führung und die Kinder wurden der
Kontrolle des ältesten Mannes der Familie überlassen. Der Besitz an Frauen
wurde zum Fundament des ersten Eigentumsdenkens. Erst später wurde
die Sklaverei von Männern eingeführt. In der Zivilisationsphase begegnen
wir dynastieähnlichen breiten und langfristigen Familienformen. Aber auch
Bäuer*innen- und Handwerker*innenfamilien einfacherer Art haben stets
existiert. Staaten und Mächte verliehen dem Vater-Mann eine Rolle, indem
sie ihm innerhalb der Familie mit einer Kopie ihrer eigenen Macht ausstat-
teten. Dadurch wurde die Familie in das wichtigste Legitimationsmittel von
Monopolen verwandelt. Sie spielte für Herrschafts- und Kapitalnetzwerke
stets die Rolle einer Quelle von Sklav*innen, Leibeigenen, Arbeiter*innen,
Soldat*innen und allen anderen Diensten. Aus diesem Grund wurde der
Familie eine große Bedeutung beigemessen und sie wurde sakralisiert.
Obwohl die Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft innerhalb der Familie
die wichtigste Profitquelle für kapitalistische Netzwerke darstellte, verschlei-
erten sie diese Ausbeutung und belasteten dadurch die Familie zusätzlich.
Die Familie wurde sozusagen zum Garanten der Ordnung gemacht und zur
konservativsten Phase in ihrer Geschichte verurteilt.
Die Kritik der Familie ist wichtig. Sie kann aber auf der Basis dieser Kritik
das Hauptelement der demokratischen Gesellschaft bilden. Wenn nicht
die Familie als Zelle der Macht, sondern – wie manche Feminist*innen
die Sache angehen – nur die Frau analysiert wird, wird dem Ideal und der
Praxis der demokratischen Zivilisation ihr wichtigstes Element fehlen. Die
Familie ist eine gesellschaftliche Institution, die nicht überwunden, sondern
transformiert werden soll. Der von der Hierarchie stammende Anspruch auf
Eigentum an Frauen und Kindern sollte aufgegeben werden und zwischen
den Partner*innen sollten weder Kapitalarten noch Machtverhältnisse eine
Rolle spielen. Die triebartige Herangehensweise an die Erhaltung der Art
sollte überwunden werden. Der idealste Ansatz für das Zusammensein von
Mann und Frau ist derjenige, der sich die Freiheitsphilosophie der mora-
lischen und politischen Gesellschaft zu eigen macht. Die Familie, die in
diesem Rahmen einer Transformation unterzogen wird, wird die solideste
Das System der demokratischen Zivilisation denken 237

Garantie der demokratischen Gesellschaft und eine der grundsätzlichen


Beziehungen der demokratischen Zivilisation sein. Viel wichtiger als die
offizielle Partnerschaft ist die natürliche Partnerschaft. Die Parteien soll-
ten jederzeit bereit sein, das Recht, auch allein zu leben, anzuerkennen.
In Beziehungen darf man sich nicht sklavenhaft und blindlings verhalten.
Es ist klar, dass die Familie unter den Bedingungen der demokratischen
Zivilisation die bedeutungsvollste Transformation erleben wird. Solange die
Frau, die seit Jahrtausenden viel an Respektabilität eingebüßt hat, keine
Respektabilität und Kraft erlangt, kann es keine sinnvolle Familienbande
geben. Eine auf Unwissen beruhende Familie kann nicht respektabel sein.
Beim Wiederaufbau der demokratischen Zivilisation wird die Familie einen
großen Anteil haben.

3. Stämme und Stammeskonföderationen


Stämme (kabile), die auch die Familien in sich tragen und eine gemeinsa-
me Sprache und Kultur teilen, gehören zu den wichtigsten gesellschaftli-
chen Elementen, die sich vorwiegend in der dörflich-landwirtschaftlichen
Gesellschaft herausbildeten. Sie stellen für die Produktion und Verteidigung
notwendige Bündnisse dar. Klans und Familien, die der Lösung der be-
stehenden Produktions- und Sicherheitsprobleme nicht mächtig waren,
spürten das Bedürfnis, die Form von Stämmen anzunehmen. Stämme sind
Bündnisse, die nicht nur auf Blutbanden basieren, sondern Elemente der für
die Produktion und Sicherheit notwendigen Kerngesellschaft sind. Sie reprä-
sentieren eine jahrtausendealte Tradition. Dass sie zu rückschrittlichen und
möglichst schnell zu überwindenden Institutionen erklärt wurden, gehört
zu den größten Genoziden der kapitalistischen Moderne; denn Menschen
hätten nicht einfach proletarisiert und ausgebeutet werden können, solange
sie in ihren Stammesbündnissen geblieben wären. Für Sklavenhalter*innen
und Feudalherr*innen war die Existenz von Stämmen gleichsam feindlich.
Der Stamm ließ seine Mitglieder nicht zu Sklav*innen, Leibeigenen oder
Arbeiter*innen werden.
Das Stammesleben unterscheidet sich nicht so sehr vom kommunalen.
Der Stamm ist die Gesellschaftsformation, in der die moralische und po-
litische Gesellschaft am stärksten erlebt wird. Dass Stämme immer als un-
erbittliche Feind*innen klassischer Zivilisationen angesehen wurden, hängt
eng mit ihren moralischen und politischen Gesellschaftseigenschaften zu-
sammen. Zudem war es unmöglich, sie zu erobern und der Kontrolle zu
unterwerfen; sie wurden entweder vernichtet oder sie lebten frei. Allerdings
238 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zeigte sich, dass sie mit der Zeit degenerierten. Kollaborateur*innen spiel-
ten, genauso wie in der Familie, auch im Stamm stets eine negative Rolle.
Stämme, deren Nomadentum im Vordergrund stand, gehören zu den wahr-
haft konstruktiven Kräften der Geschichte. Sklav*innen, Leibeigene und
Arbeiter*innen erlebten niemals den historischen Widerstand und den rebel-
lischen und freien Zustand des Stammes, sondern waren meistens (abgese-
hen von Ausnahmen) die loyalsten Untertan*innen ihrer Herr*innen. Würde
man die Geschichte nicht als Klassenkampf, sondern als Widerstandskampf
von Stämmen betrachten, wäre dies vermutlich eine viel realistischere
Herangehensweise. Dass die Rolle von Stämmen unterschätzt, manchmal
negativ gesehen wurde oder dass ihnen gar keine Rolle zugeschrieben wur-
de, ist eine der wichtigsten Tatsachenverdrehungen der Macher*innen der
Zivilisationsgeschichte.
Aşirets waren als eine Art Stammesföderation von noch größe-
rer Bedeutung. Ihre Existenz mussten sie größtenteils gegen die
Angriffe der Sklavenhalterzivilisationen behaupten. Das Bedürfnis nach
Zusammenschluss und Widerstand, um nicht vernichtet zu werden, führte
zur Klanorganisation. Aşiret war eine Gesellschaftsformation, deren mili-
tärische und politische Organisierung rasch vollzogen wurde. Er stellt eine
spontane militärische und politische Kraft dar. In Aşirets waren gemein-
same Mentalität und organisatorische Einheit maßgebend. Aşirets tragen
eine lange historische Vergangenheit und Kultur mit sich. Sie bilden die
Hauptquelle von nationalen Kulturen. Ihr Beitrag zur Produktion ist eben-
falls nicht zu unterschätzen. Ihrer kollektiven Gesellschaftsstruktur liegt
gegenseitige Hilfe zugrunde. In Stammesgesellschaften herrscht ein starker
kommunaler Geist. Sie gehören zu konstruktiven Elementen des nationa-
len Charakters. Allerdings kann die Kollaboration, die sich innerhalb dieser
Strukturen entwickelt, eine Gefahr darstellen. Trotz der Bemühungen der
Zivilisationshistoriker*innen, die Stämme zu diskreditieren, gehören sie zu
den Hauptmotoren der Geschichte. Wenn es den Widerstand von Aşirets
um der Freiheit, des Kommunalismus und der demokratischen Tradition
Willen nicht gegeben hätte, käme die Menschheit nicht umhin, eine Herde
und Masse von Untertan*innen zu sein. Die Zugehörigkeit von Stämmen
zu den grundsätzlichsten Elementen der demokratischen Zivilisation hängt
mit dieser Eigenschaft zusammen.
Die Geschichte der demokratischen Zivilisation ist größtenteils die
Geschichte des Widerstands und Aufstands von Stämmen und Aşirets für
Freiheit, Demokratie und Gleichheit gegen alle Angriffe der Zivilisation
Das System der demokratischen Zivilisation denken 239

und ihres Beharrens auf dem moralisch-politischen Gesellschaftsleben.


Was die Gesellschaften eigentlich prägt, sind wiederum die Stammes- und
Aşiretstrukturen. Die nationalstaatliche Liquidation aller Stammeskulturen
unter der Übermacht einer einzelnen ethnischen Gruppe war ein regel-
rechter kultureller Genozid. Selbst wenn dieser große Genozid gegen die
Gesellschaft etwas nachgelassen hat, stellt er nach wie vor eine sehr ernsthaf-
te Bedrohung dar. In der Organisation einer demokratischen Nation anstatt
des Nationalstaats bzw. der Staatsnation können Stämme und Aşirets als
konstruktive Einheiten eine dominante Rolle spielen. Aus diesem Grund ist
es völlig nachvollziehbar, dass Stämme und Aşirets mit diesen Qualitäten zu
wesentlichen Elementen der demokratischen Zivilisation gezählt werden.

4. Volksstämme und Nationen


In der demokratischen Zivilisation ist die Formation und das Leben der
Gesellschaften als Volksstämme (kavim) und Nationen (ulus) anders als in
der klassischen Zivilisation. In offiziellen Zivilisationen werden Volksstämme
und Nationen als Erweiterung der herrschenden Dynastie und ethnischen
Gruppe konzipiert. So wird eine Erzählung geschaffen, laut welcher der
Volksstamm und die Nation ihre Entstehung der offiziellen Dynastie oder
ethnischen Gruppe schuldeten. In dieser erfundenen Geschichte wird der
Naturzustand der Gesellschaft verschleiert. Durch die Heroisierung der in-
nerhalb der Dynastie und herrschenden ethnischen Gruppe hervorgehobe-
nen Personen werden die Väter des Volksstamms und der Nation geschaffen.
Der vorige und nächste Schritt ist die Vergöttlichung. Die Geschichte wird
in gewissem Sinne als Produktionskunst dieser Verväterung (Verahnung55)
und Vergöttlichung behandelt. Die Wahrheit sieht aber anders aus. Wenn die
Gesellschaft, die sich in Form von Stämmen und Aşirets weiterentwickelt,
noch sesshafter wird und eine gemeinsame Sprache und Kultur entwickelt
und ihre moralische und politische Identität in ihrem Wesen fortsetzt, be-
ginnt sie ein Volksstamm und eine Nation zu werden. Gesellschaften entstan-
den nicht von Anbeginn an mit einer Volksstammes- und Nationalidentität,
sondern näherten sich im Mittelalter der Volksstammes- und in der Neuzeit
der Nationalidentität an.
Der Volksstamm stellt sozusagen den Identitätsfundus der Nation dar.
In der Neuzeit war zu beobachten, dass Volksstämme auf zwei Wegen zu
Nationen wurden und die offizielle Zivilisation den Volksstammes-ʿAsabīya
55 Aus dem türkischen Wort atalaştırma wird deutlich, dass der Autor, ohne den Namen zu er-
wähnen, auch von Mustafa Kemal spricht, der als Atatürk (Vater der Türken) verehrt wird.
240 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

(-chauvinismus) in modernen Nationalismus zu verwandeln und die neue


Gesellschaftsform der Bourgeoisie und der Stadt als Staatsnation zu be-
stimmen versuchte. Eine herrschende ethnische Gruppe spielte die Rolle
eines Kerns. Ihre Identität wurde der ganzen Nation zugeschrieben. Sogar
wurden Stämme, Aşirets, Volksstämme und Nationen mit ganz anderen
Identitäten innerhalb der Sprache und Kultur jener ethnischen Gruppe zur
Auflösung gezwungen. Dies ist der Weg, der ›brutale Nationenbildung‹ ge-
nannt wird. Mit dieser Herangehensweise der offiziellen Zivilisation wurde
innerhalb aller Nationen an allen Sprachen und Kulturen von Tausenden
Stämmen, Aşirets, Volksstämmen und Nationen das größte Kulturmassaker
der Geschichte durchgeführt. Solche Volksstämme und Nationen gehören
zu den Faktoren, die bei der Geschichts- und Systemstrukturierung der de-
mokratischen Zivilisation am meisten zu beachten sind.
Der alternative zweite Weg der Nationenbildung erfolgt dadurch, dass
gleiche oder ähnliche Sprach- und Kulturgruppen innerhalb der morali-
schen und politischen Gesellschaft auf der Grundlage der demokratischen
Politik in eine demokratische Gesellschaft verwandelt werden. Alle Stämme,
Aşirets, Volksstämme und sogar Familien beteiligen sich dabei als politi-
sche Gesellschaftseinheiten an der Nationenbildung. Sie lassen die Nation
an ihrem Dialekt- und Kulturreichtum teilhaben. In der neuen Nation ist
überhaupt kein Platz dafür, dass eine ethnische Gruppe, Konfession, Glaube
oder Ideologie alleine der Herrschaft ihren Stempel aufdrückt. Die reichste
Synthese ist die, die freiwillig verwirklicht wird. Es können sogar zahlrei-
che verschiedene Sprach- und Kulturgruppen mittels derselben demokra-
tischen Politik als demokratische Gesellschaften die den Nationen überge-
ordnete Einheit bilden und mit einer Identität der ›Nation der Nationen‹
leben. Dieser Weg ist es, der der gesellschaftlichen Natur entspricht. Da die
Staatsnation als Methode sich wiederum, auf der Grundlage des kapitalis-
tisch modernen Ansatzes, in ihrem von der natürlichen Gesellschaft weit-
gehend isolierten Zustand als ›eine Sprache, eine Nation, ein Vaterland, ein
(unitärer) Staat‹ im Stil einer neuen, laizistischen Version der alten monore-
ligiösen und -theistischen Mentalität gestaltet, bildet sie die neue Form des
Kapital- und Machtmonopols und zugleich des Staates. Die Staatsnation ist
ein Ausdruck der Tatsache, dass das Kapital- und Machtmonopol sich in sei-
ner kapitalistischen Transformationsphase von Kopf bis Fuß im Herzen der
Gesellschaft festgesetzt, die Gesellschaft kolonialisiert und in sich aufgelöst
hat. Die Staatsnation stellt die Form dar, durch die maximale Macht und
maximale Ausbeutung verwirklicht werden. Sie ist die Totengräberin der von
Das System der demokratischen Zivilisation denken 241

ihrer moralischen und politischen Dimension isolierten Gesellschaft, die


Verameisung des Individuums und dadurch die Schaffung der faschistischen
Herdengesellschaft. Bei diesem der gesellschaftlichen Natur am meisten wi-
dersprechenden Modell spielen tiefreichende historische und ideologische
Faktoren, d. h. die Klassen, das Kapital und die Macht, eine Rolle. Genozide
werden als gemeinsame Folge dieser Faktoren verwirklicht.
Nationenbildung und -verschmelzung stellen im System der demo-
kratischen Zivilisation das Gegengift zu Kapital- und Machtmonopolen
und die grundsätzliche Methode zur Abschaffung der Faschismus- und
Genozidkrankheit (die krebsartige Verschwulstung der Gesellschaft) samt
ihrer Ursachen dar. An dieser Stelle begegnen wir ein weiteres Mal der
Harmonie zwischen der gesellschaftlichen Natur und dem Charakter der
demokratischen Zivilisation.

5. Die Elemente Dorf und Stadt


Aus der Perspektive (im Paradigma) der demokratischen Zivilisation än-
dert sich die Bedeutung von Dorf und Stadt. So wie Landwirtschaft
und Industrie in der gesellschaftlichen Natur zwei füreinander notwen-
dige Produktionssphären bilden, bilden das Dorf und die Stadt zwei
Siedlungseinheiten, die einander voraussetzen. Zwischen ihnen besteht ein
Gleichgewicht, das unbedingt zu bewahren ist. Wenn dieses Gleichgewicht
zerstört wird, wird ökologischen Katastrophen, übermäßigem Wachstum
von Staat und Klassen und Kapitalmonopolisierung der Weg geeb-
net. Durch den Missbrauch des Preisunterschieds betritt der Handel ei-
nen illegitimen Weg. Es ist wichtig zu sagen: ›Ja zur Stadt, aber nein zu
Klassen-Staat-Kapitalmonopolisierung.‹ Der Interpretation der histori-
schen Entwicklung von Stadt und Dorf sollte auf diesen grundsätzlichen
Kriterien basieren. Es stellt eine regelrechte Ironie dar, dass das Trio Stadt-
Klasse-Staat als ›Zivilisation‹ etikettiert wird. Dass Gemeinschaften, die
ein der wirklichen gesellschaftlichen Natur entsprechendes Leben führen,
als ›Wilde‹ und ›Barbaren‹ tituliert werden, kommt einer unverschämten
Tatsachenverdrehung gleich; denn die wahre Barbarei und Wildheit beste-
hen in der Plünderung und Zerstörung der gesellschaftlichen Natur und
dies rührt von der Allianz Stadt-Klasse-Staat und der Stadt her, die alle drei
in sich vereint. An dieser ironischen Situation können wir nochmals klar
erkennen, wie die ideologische Hegemonie die Tatsachen verdreht. Die
Ideologie war im Laufe der Geschichte und bleibt sowohl in Bezug auf die
Annäherung an die Wahrheit als auch in Bezug auf die Entfernung von
242 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

ihr von großer Wichtigkeit. Die demokratische Zivilisation betrachtet die


vereinte Bewegung des Trios Stadt-Klasse-Staat als die wahre Barbarei und
stellt die ideologische These auf, dass diejenigen, die diesem Trio entgegen-
treten, einen Ausdruck der wahren moralischen und politischen Gesellschaft
darstellen.
Die dörfliche Gesellschaft ist als erstes Siedlungsphänomen wichtig. Im
Industriezeitalter ist ihre Kontinuität durch Erneuerung eine unverzichtbare
Voraussetzung des ökologischen Lebens. Das Dorf ist kein rein physisches
Phänomen, sondern auch eine der Hauptquellen der Kultur. Genauso wie
die Familie bildet es eine der Grundeinheiten der Gesellschaft. Der Angriff
der Stadt, Industrie und Bourgeoisie als Klasse und Staat auf das Dorf än-
dert nichts an dieser Tatsache. Das Dorf ist als die geeignetste Einheit für
die moralische und politische Gesellschaft von großer Wichtigkeit. Die Stadt
wird dagegen unter der Voraussetzung gebraucht, dass sie sowohl in Bezug
auf ihre Bevölkerung als auch in Bezug auf ihre Funktionalität einer defi-
nitiven Transformation unterzogen wird, um ihr Gleichgewicht mit dem
Dorf wiederherzustellen. Nur durch eine radikale Transformation kann
ermöglicht werden, dass sie aufhört, das Zentrum des Unterdrückungs-
und Ausbeutungsrads zu sein und als eine fortgeschrittene Dimension der
gesellschaftlichen Entwicklung fungiert. Die Befreiung der Stadt von ih-
rer Rolle als Raum der krebsartigen Wucherung der Mittelklasse und des
Kapitals in Form von staatlichen und Unternehmensbürokratien ist von zen-
traler Bedeutung für die Befreiung der Gesellschaft unseres Zeitalters. Die
Städte in ihrer jetzigen Daseinsweise stellen mit ihrem Umfang und ihrer
Bedeutung Hauptzentren dar, die die Gesellschaft (in Form von ökologi-
scher Zerstörung und Soziozid) rasch aufbrauchen. Sie sind die hieb- und
stichfestesten Beweise für den Bankrott der klassischen Zivilisation. Rom
war einzigartig und verkörperte das ganze Altertum. Auch sein Niedergang
war einzigartig und gleichzeitig der des Altertums. Die gegenwärtigen Städte
dagegen sind, als Verschlingungszentren für die ganze Gesellschaft ein-
schließlich des Dorfes, fast das Ein und Alles der krebskranken Gesellschaft.
Solange der Mensch als Gesellschaft sich nicht der Stadt in ihrer jetzigen
Daseinsweise entledigt, besteht kein Zweifel daran, dass die Stadt ihn seiner
gesellschaftlichen Natur berauben wird!
In der Systematik der demokratischen Zivilisation kommt der harmoni-
schen Einheit von Dorf und Stadt eine große ideologische und strukturelle
Bedeutung zu. Das Weiterbestehen der gesellschaftlichen Natur ist nur auf
der Grundlage dieser Harmonie gewährleistet.
Das System der demokratischen Zivilisation denken 243

6. Die Elemente Mentalität und Wirtschaft


Die ökonomische Grundlage der demokratischen Zivilisation befindet sich
in einem dauerhaften Widerspruch zu Kapitalmonopolen, die auf gesell-
schaftlichem Mehrwert beruhen. Unter der Bedingung, dass die gesellschaft-
lichen Grundbedürfnisse und ökologische Faktoren bei der Entwicklung der
Landwirtschaft, des Handels und der Industrie beachtet werden, steht die
Wirtschaft der demokratischen Zivilisation jeglicher Aktivität offen gegen-
über. Sie hält jeglichen Gewinn außer dem Monopolprofit für legitim. Sie
ist nicht gegen den Markt; im Gegenteil, aufgrund der freien Atmosphäre,
die sie bietet, stellt sie eine wahre freie Marktwirtschaft dar. Sie leugnet
nicht die kreativ kompetitive Rolle des Marktes. Wogegen man ist, sind
die spekulativen Gewinnmethoden. Der Maßstab der Eigentumsfrage ist
die Produktivität. In Bezug auf Eigentum steht die Rolle des Monopols
stets im Widerspruch zur Produktivität. Im Rahmen der demokratischen
Zivilisation kann es weder eine extrem individualistische noch eine etatisti-
sche Eigentumspolitik geben. In der gesellschaftlichen Natur wurde stets in
Gemeinschaften gewirtschaftet. Jenseits des Monopolismus haben weder das
einzelne Individuum noch der Staat mit der Wirtschaft zu tun. Wirtschaften,
bei denen es um Individuen oder Staaten geht, sind dazu gezwungen, ent-
weder Gewinn zu machen oder bankrottzugehen. Die Wirtschaft ist immer
Belang von Gruppen und der wahre demokratische Bereich der moralischen
und politischen Gesellschaft. Wirtschaft ist Demokratie. Die Demokratie
wird am meisten für die Wirtschaft benötigt. In diesem Sinne kann die
Wirtschaft weder als Basis noch als Überbau betrachtet werden. Viel realis-
tischer ist es, sie als grundsätzlichste demokratische Aktivität der Gesellschaft
zu sehen.
Die die ökonomischen Verhältnisse isolierenden Analysen der kapita-
listischen politischen Ökonomie und ihrer marxistischen Lesart sind sehr
problematisch. Das Wirken von Bossen und Arbeiter*innen kann niemals
Wirtschaft sein. Ich für meine Person sehe das Paar Boss-Arbeiter*in als
monopolistische Diebesstruktur der Wirtschaft, die die grundsätzlichste
demokratische Aktivität der gesellschaftlichen Natur bildet. Wenn wir die
Klan- und Stammesären miteinbeziehen, wäre es angebracht, die Wirtschaft
als grundlegende Aktivität der moralischen und politischen Gesellschaft
zu bezeichnen. Was ich hier mit Arbeiter*in meine, sind die kompromiss-
lerischen Arbeiter*innen, die einen Bruchteil des von anderen Armen in
der Gesellschaft, vor allem von nicht entlohnten Hausfrauen und -mäd-
chen gestohlenen Wertes als Lohn erhalten. Genauso wie Sklav*innen und
244 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Leibeigene als verlängerte Arme ihrer Herr*innen existieren, stellen auch


kompromisslerische Arbeiter*innen stets verlängerte Arme der Bosse dar.
Es stellt die Hauptvoraussetzung für Moral und Politik dar, Versklavung,
Leibeigenen- und Arbeiter*innenwerdung skeptisch zu betrachten, gegen
diese Phänomene zu sein und die eigene Ideologie und Aktion auf dieser
Grundlage zu entwickeln. Genauso wie das Trio Herr*in-Leibherr*in-Boss
nicht lobenswert sind, ist auch das Trio Sklav*in-Leibeigene*r-Arbeiter*in
im Sinne verlängerter Arme ersterer niemals als bessere gesellschaftliche
Gruppen zu verherrlichen. Die richtigste Haltung ihnen gegenüber ist, sie
als erniedrigte gesellschaftliche Gruppen zu bemitleiden und für ihre sofor-
tige Befreiung zu arbeiten.
Wirtschaft ist eine historisch-gesellschaftliche Aktivität von grundsätz-
licher Bedeutung. Kein Individuum (als Herr*in, Leibherr*in, Sklav*in,
Leibeigene*r oder Arbeiter*in) und kein Staat können Akteur*innen der wirt-
schaftlichen Aktivität sein. Beispielsweise kann kein Boss, kein*e Herr*in,
Leibherr*in, Arbeiter*in, Stadt- oder Landbewohner*in den Gegenwert
der Mutterschaft, der historisch-gesellschaftlichsten Institution, bezahlen;
denn Mutterschaft stellt die schwierigste und notwendigste Aktivität der
Gesellschaft dar: die Fortsetzung des Lebens. Ich rede hier nicht nur vom
Kindergebären; ich betrachte die Mutterschaft aus einer weiteren Perspektive
als eine Kultur, als ein stets mit seinem Herzen im Aufstand befindliches
Phänomen und ein Wesen im Besitz intelligenter Aktivität. Das ist ja auch
das Richtige. Mit welcher Vernunft, mit welchem Gewissen lässt sich verein-
baren, die Frau, die so tatkräftig, aktiv, voller Herz und Vernunft, stets im
Aufstand begriffen ist, wie eine unbezahlte Arbeitskraft zu behandeln? Wie
kann eine Wirtschaftswissenschaft, die Mütter und ähnliche gesellschaftliche
Gruppen, an die selbst der Marxismus, die den Arbeiter*innen am nächs-
ten stehende Ideologie, keinen Gedanken verschwendet, jenseits des Wertes
sieht und vom Lohn ausschließt, aber den Diener*innen der Bosse einen
Ehrenplatz erweist, ihre eigene Lösung als sozial verkaufen? Die marxisti-
sche politische Ökonomie ist eine schrecklich bürgerliche. Sie benötigt eine
große Selbstkritik. Sich auf dem Interessenfeld der Bourgeoisie auf die Suche
nach dem Sozialismus zu begeben und ohne mutige Selbstkritik von der
Treue zum sozialistischen Kampf zu sprechen, bedeutet dem kapitalistischen
System einen ebenso einseitigen und wertvollen Dienst zu erweisen, wie es
am Beispiel des Bankrotts, ja sogar der Selbstauflösung des siebzigjährigen
Realsozialismus ersichtlich wird. „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen
Das System der demokratischen Zivilisation denken 245

gepflastert“56, wie sehr hatte Lenin mit diesen Worten recht! Konnte er wohl
­vorausahnen, dass dieser Satz auch durch seine eigenen Aktionen bestätigt
würde? Im betreffenden Kapitel hoffe ich, diese Analysen weiterzuführen.
Das Thema Wirtschaft ließe sich als moralische und politische
Hauptaktivität der geschichtlichen Gesellschaft denken und wenn nötig,
in eine Abstraktion und Wissenschaft verwandeln. Aber die eurozentrische
politische Ökonomie als Wissenschaft zu denken, bedeutet nichts als die
Unterwerfung der Vernunft unter die ausbeuterischste Mythologie nach
der sumerischen. Eine radikale wissenschaftliche Revolution wird in diesem
Bereich eine lebenswichtige Rolle spielen.
Wir müssen mit Nachdruck betonen, dass keine gesellschaftliche Aktivität
so moralisch und politisch sein kann wie die Wirtschaft. Mit dieser ihrer
Qualität muss die Wirtschaft als vorrangigstes Thema der demokratischen
Politik Bedeutung erlangen. Das System der demokratischen Zivilisation
verspricht neben richtigen Worten zur historisch-gesellschaftlichen
Ökonomie, die für die gesellschaftliche Gesundheit tausendmal notwendi-
ger als die Medizin ist, auch noch eine richtige Revolution.
Die Mentalität ist im Gegensatz zum allgemeinen Glauben kein
Überbauelement, das der Wirtschaft fern ist. Solche Basis-Überbau-
Unterscheidungen verkomplizieren sowieso das Verständnis der gesellschaft-
lichen Natur. Die gesellschaftliche Natur ist die Existenz, in der sich die
Intelligenz in der Natur am meisten konzentriert. Es mag vielleicht absurd er-
scheinen, sich über verschiedene Mentalitätselemente Gedanken zu machen.
Dass die Wissenschaft aber von der geschichtlichen Gesellschaft losgerissen,
in den Dienst der offiziellen Gesellschaft gestellt und zu ihrer effektivsten
Kraftquelle degradiert wurde, verleiht der Untersuchung der Mentalität und
Struktur des Lebens der demokratischen Zivilisation besondere Bedeutung.
Gegen die Mentalität und Struktur der offiziellen Zivilisation als ihre ideo-
logische Hegemonie und Wissenschaft gab es im Laufe der Geschichte stets
eine ablehnende Haltung und den tätigen Versuch, Alternativen zu schaffen.

56 »Die politische Tätigkeit hat ihre Logik, die unabhängig vom Bewußtsein derer ist, die mit
den besten Vorsätzen entweder zum Terror auffordern oder dazu, dem eigentlichen ökono-
mischen Kampf politischen Charakter zu verleihen. Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur
Hölle gepflastert, und in diesem Falle retten die guten Vorsätze noch nicht vor dem spontanen
Sichtreibenlassen auf der „Linie des geringsten Widerstands“, der Linie des rein bürgerlichen
Programms des Credo. Auch der Umstand ist nicht zufällig, daß viele russische Liberale – die
offenen Liberalen und diejenigen, die eine marxistische Larve tragen – von ganzem Herzen mit
dem Terror sympathisieren und bemüht sind, den Aufschwung der terroristischen Stimmungen
im gegenwärtigen Zeitpunkt zu fördern.« Wladimir Iljitsch Lenin, Was tun? (1902), Kapitel III
d) Was hat der Ökonomismus mit dem Terrorismus gemein?
246 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Ideologische Kämpfe und alternative wissenschaftliche Bewegungen haben


immer existiert. Die klassischen Zivilisationen bildeten die Systeme, die die
analytische Entwicklung der Intelligenz am meisten missbrauchten. Um
ihre eigene Missbrauchsrealität zu verschleiern, bedienten sie sich häufig
jeglicher täuschenden, beängstigenden, träumerisch machenden imaginä-
ren und symbolischen Apparate ohne Hand und Fuß. In den Bereichen
der Mythologie, Religion, Philosophie und Wissenschaft versuchten sie ihre
eigene materielle Wirklichkeit als allgemeine gesellschaftliche Wirklichkeit
zu präsentieren und die Idee zu verbreiten, es sei vergeudete Mühe, nach
anderen Wahrheiten zu suchen.
Dieses ›monistische‹ Ideal trägt Spuren davon, dass das Kapitalmonopol
sich als ›einzig richtigen Weg‹ aufzwingt. Kräfte von Staat und Macht be-
mühten sich um den Beweis, dass grau die einzige Farbe sei, indem sie die
grandios differenzierten Farben der Ersten und Zweiten Natur grau über-
malten. Sie benutzten einen Bruchteil des Mehrwerts, den sie sich aneigne-
ten, als intellektuelles Kapital und ließen ihre ideologische Hegemonie nie-
mals fehlen. Schulen und Bildungssysteme wurden in Räume und Systeme
verwandelt, in denen ihr Lebensstil eingepaukt wird. Der Universität be-
dienten sie sich als eines Feldes, auf dem die Wahrheit und die gesellschaft-
liche Identität nicht verinnerlicht, sondern ausgeschlossen und verleugnet
werden. Der Inhalt und die Struktur der Wissenschaft wurden sorgfältig
geregelt, um die Wirklichkeit der geschichtlichen Gesellschaft im Namen
der Objektivität in ein Objekt zu verwandeln und ihrer Subjektrolle zu be-
rauben. Streng zivilisatorische Vorrichtungen wurden als ideale universale
Regeln und Formen präsentiert.
Die Harmonie zwischen der demokratischen Zivilisation und der gesell-
schaftlichen Natur spiegelte sich auch in der geistigen Entwicklung wider.
Selbst die Klans mit einer kindischen Mentalität waren sich ihres leben-
digen Bands mit der Natur bewusst. Das Bild der ›toten Natur‹ stellt ei-
nen Verrat und eine Zuschreibung der sich von der Natur immer mehr
entfernenden Zivilisationskräfte dar. Wenn wir beachten, dass das gegen-
wärtige Finanzzeitalter die Lebendigkeit und Göttlichkeit, die es im Geld
sieht, in keinem natürlichen Wesen sieht, merken wir, dass in Bezug auf die
Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur nicht der Monopolismus von heute,
sondern die Klanrealität fortschrittlicher war. Stämme, Aşirets, Volksstämme
und demokratische nationale Strukturen bilden Existenzbereiche einer le-
bendigen Mentalität. Die Intelligenz und Struktur dieser Formationen
dienen dem Band mit dem Leben. Die analytische und die emotionale
Das System der demokratischen Zivilisation denken 247

Intelligenz können nur im System der demokratischen Zivilisation ihre di-


alektische Einheit erlangen.
Die Mentalität der demokratischen Zivilisation, die offiziellen Schul-,
Akademie- und Universitätsordnungen mit Skepsis begegnet, schreckte
im Laufe der Geschichte nicht davor zurück, dazu Alternativen zu entwi-
ckeln. Es wurden von Prophetiesystemen über philosophische Schulen und
den Sufismus bis hin zu Naturwissenschaften unzählige Stätten, Tekken,
Sekten, Medresen, Konfessionen, Klöster, Moscheen, Kirchen und Tempel
errichtet. Wie man sieht, zeigt sich nicht der singuläre, sondern der zwie-
spältige Zustand der Zivilisation in allen Bereichen der gesellschaftlichen
Natur. Das Problem ist, ohne in der offiziellen singulären Struktur verloren
zu gehen, am natürlichen Ende des Zwiespalts der Lösung beizutragen und
das Bewusstsein über das freie Leben hin zur Option der demokratischen
Zivilisation zu entwickeln.

7. Die Elemente demokratische Politik und Selbstverteidigung


Die Politik- und Sicherheitselemente der demokratischen Zivilisation spie-
len eine grundsätzliche Rolle für die Existenz der moralischen und poli-
tischen Gesellschaft. Man könnte meinen, in einem an sich politischen
Gesellschaftsverständnis sei eine zusätzliche Kategorie der demokratischen
Politik zu viel. Zwischen den beiden besteht allerdings ein Unterschied. In
der politischen Gesellschaft muss nicht immer demokratische Politik ange-
wandt werden. Zudem wurde der politischen Gesellschaft von der offiziellen
Zivilisation in ihrer Geschichte mit erdrückender Mehrheit despotisch-kö-
nigliche Herrschaft aufgezwungen. Unter der Herrschaft wird die politische
Gesellschaft zwar nicht gänzlich zerstört, sie kann sich aber auch nicht de-
mokratisieren. So wie ein Ohr zum Hören nicht immer ausreicht und man
dazu noch gesund sein muss, bedeutet die Existenz des politischen Gewebes
nicht, dass es auch immer frei funktioniert. Das gesunde Funktionieren des
Gewebes setzt die Existenz einer demokratischen Atmosphäre voraus.
Die Existenz einer demokratischen Atmosphäre, die politische Formation
der politischen Gesellschaft, könnte man im Allgemeinen als demokrati-
sche Politik bezeichnen. Demokratische Politik bedeutet nicht nur eine
Verfahrensweise, sondern auch eine institutionelle Totalität. Wenn es nicht
zahlreiche Institutionalisierungen und Aktivitäten wie Parteien, Gruppen,
Räte, Medien, Kundgebungen usw. gibt, kann sich die Praxis der demokra-
tischen Politik nicht entfalten. Die hauptsächliche Rolle der Institutionen
ist die Diskussion und Entscheidungsfindung bezüglich gemeinsamer
248 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Angelegenheiten. Ohne Diskussion und Entscheidungsfindung bezüg-


lich aller gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft kann das Leben
nicht funktionieren. Die Folge ist entweder Chaos oder Diktatur. Das
ist und bleibt das Schicksal der undemokratischen Gesellschaft. Solche
Gesellschaften werden ständig zwischen den Polen Chaos und Diktatur hin
und her geschaukelt. In einer solchen Atmosphäre ist die Entfaltung der
moralischen und politischen Gesellschaft unvorstellbar. Dementsprechend
ist es das vorrangige Ziel des politischen Kampfes, also der demokrati-
schen Politik, die demokratische Gesellschaft herauszubilden und die ge-
meinsamen Angelegenheiten in diesem Rahmen durch Diskussion und
Entscheidungsfindung auf die richtige Spur zu bringen. Für die an ihrer
eigentlichen Funktion gehinderten Atmosphären und Institutionen, die
bürgerliche Demokratie genannt werden, stellt die Macht das vorrangige
Ziel der Politik. Macht bedeutet wiederum einen Anteil vom Monopol zu
bekommen. Es ist klar, dass demokratische Politik keine solchen Ziele ver-
folgen kann. Selbst wenn man sich an Machtinstitutionen (zum Beispiel
an der Regierung) beteiligt, bleibt die Hauptarbeit gleich. Diese Arbeit be-
steht nicht darin, einen Anteil vom Monopol zu erhaschen, sondern für
die gemeinsamen lebenswichtigen Interessen der Gesellschaft die richtigen
Entscheidungen zu treffen und deren Umsetzung zu verfolgen. Es ist kein
sinnvoller Ansatz, zu behaupten, man solle sich prinzipiell nicht an bürger-
lichen Demokratien beteiligen, da man sich bedingt zu beteiligen wissen
sollte. Prinzipienlosigkeit nutzt stets der falschen Politik der herrschenden
Klasse.
Demokratische Politik setzt zweifellos tadellose Kader, Medien,
Parteistrukturen, Nichtregierungsorganisationen und kontinuierliche gesell-
schaftliche Bildungsarbeit und Propaganda voraus. Neben einem respektvol-
len Umgang mit allen Differenzen in der Gesellschaft, der Fokussierung auf
Gleichheit und Konsensfindung auf der Grundlage der Differenzen und dem
Nicht-Abstoßend-Sein des Diskussionsstils lassen sich auch der inhaltliche
Reichtum von Diskussionen, politischer Mut, der Vorrang der Moralität,
das ›Beherrschen‹ von Themen, Geschichts- und Aktualitätsbewusstsein und
eine ganzheitlich-wissenschaftliche Herangehensweise als zielführende und
erfolgversprechende Eigenschaften der demokratischen Politik aufzählen.
Selbstverteidigung ist die Sicherheitspolitik der moralischen und politi-
schen Gesellschaft. Genauer gesagt, verlieren die moralischen und politi-
schen Qualitäten einer Gesellschaft, die sich selbst nicht verteidigen kann,
ihre Bedeutung. In diesem Fall ist die Gesellschaft entweder kolonialisiert
Das System der demokratischen Zivilisation denken 249

und in Auflösung und Verderbnis begriffen, oder sie leistet Widerstand und
strebt danach, ihre moralischen und politischen Qualitäten wieder funk-
tionsfähig zu machen. Eben dieser Prozess heißt Selbstverteidigung. Eine
Gesellschaft, die darauf beharrt, sie selbst zu sein, und Kolonialisierung und
jeglichen einseitigen Abhängigkeitszwang ablehnt, kann diese Haltung nur
mithilfe der Selbstverteidigungsmöglichkeiten und -institutionen entwi-
ckeln. Selbstverteidigung entsteht nicht nur gegen äußere Gefahren. Es kann
jederzeit auch in inneren Strukturen der Gesellschaft zu Widersprüchen
und Spannungen kommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass historische
Gesellschaften seit langer Zeit von Klassen und Macht durchdrungen sind
und diese Eigenschaften noch lange bewahren werden. Diese Kräfte wer-
den mit all ihrer Kraft Widerstand leisten, um ihre Existenz zu bewahren.
Folglich wird die Selbstverteidigung als eine verbreitete gesellschaftliche
Forderung noch lange auf der Tagesordnung der Gesellschaft einen wich-
tigen Platz einnehmen. Die Entscheidungsfähigkeit kann nicht einfach in
Gang gesetzt werden, ohne durch die Selbstverteidigungskraft ergänzt zu
werden.
Zudem sind wir heute mit einer Machtrealität konfrontiert, die alle
Poren der Gesellschaft nicht nur von außen, sondern auch von in-
nen durchdringt. Deswegen ist die Errichtung von einander ähnlichen
Selbstverteidigungsgruppen in allen geeigneten Poren der Gesellschaft le-
benswichtig. Gesellschaften, die keine Selbstverteidigung haben, sind
Gesellschaften, die von Kapital- und Machtmonopolen gefangen genommen
und kolonialisiert werden. Im Laufe der Geschichte hatten von Stämmen
und Klans über Volksstämme, Nationen und Religionsgemeinschaften
bis hin zu Dörfern und Städten alle gesellschaftlichen Einheiten ein
Selbstverteidigungsproblem. Das Kapital- und Machtmonopol ist so ag-
gressiv wie ein Wolf, der hinter seiner Beute her ist – es trieb diejenigen,
die sich selbst nicht verteidigen konnten, wie Schafherden auseinander und
erbeutete, was er wollte.
Um eine demokratische Gesellschaft zu sein und als solche weiterzuexis-
tieren, ist es notwendig, die Selbstverteidigungsstrukturen zumindest so weit
zu formieren, bereit und funktionsfähig zu halten, dass die Angriffe und
Kolonialisierungsversuche der Kapital- und Machtmonopole eingeschränkt
werden können. Da man noch lange mit Kapital- und Machtapparaten
zusammenleben wird, sind zwei Fehler besonders zu vermeiden. Der
erste dieser Fehler ist, den Bock zum Gärtner zu machen, also die eige-
ne Selbstverteidigung der monopolistischen Ordnung zu überlassen. Die
250 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

vernichtenden Folgen davon sind an Tausenden Beispielen deutlich ge-


worden. Der zweite Fehler ist der Versuch, unter dem Motto, gegen den
Staat sofort wie der Staat zu sein, zu einem Machtapparat zu werden.
Die Erfahrungen des Realsozialismus bieten in dieser Hinsicht genug
Aufschlüsse. Eine sinnvolle, funktionstüchtige Selbstverteidigung wird also
in der Geschichte, Gegenwart und Zukunft ein nicht zu unterschätzendes
Element der demokratischen Zivilisation bleiben.
Es wäre zweifellos möglich, noch weitere Elemente der demokrati-
schen Zivilisation zu erläutern. Ich bin allerdings der Ansicht, dass diese
Darstellung ausreicht, damit das Thema verstanden und seine Bedeutung
begriffen wird.
Sechster Teil

Demokratische Moderne gegen


kapitalistische Moderne
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 253

Die Methoden der eurozentrischen Sozialwissenschaften, mit denen nach


Wahrheit geforscht werden soll, sind im Kern hegemonial. Auf zwei grund-
legende Weisen werden alternative Pfade der Wahrheitsforschung dadurch
geradezu unmöglich gemacht: Die erste ist der monistisch-universalistische
Ansatz. Die Wahrheit wird stets auf eine einzige reduziert. Die zweite ist
das endlos relativistische Modell. Wenn es heißt, alle hätten ihre eigene
Wahrheit, soll das heißen, dass es im Grunde gar keine Wahrheit gibt. Das
ist ähnlich, wie zu behaupten, dass sich alles verändere, um zu beweisen, dass
sich nichts verändert. Offensichtlich ist beiden Methoden gleichermaßen ein
Reduktionismus zueigen. Sie spiegeln ihren hegemonialen Charakter offen
wider, indem sie die Wahrheit auf eine einzige reduzieren, ob durch univer-
salistischen ›Monismus‹ oder relativistischen ›Singularismus‹.
Zweifellos steht hinter diesen Methoden der Monopolismus der
Zivilisation. Dessen Grundlagen reichen bis in die Zeiten zurück, in denen
sumerische Priester En als den höchsten Gott aufbauten. Der Grund für die
Erhebung von En war mit dem Ziel verbunden, die aufstrebende Hierarchie
und den Monopolismus von Stadt, Klasse und Staat zu legitimieren und he-
gemonial zu machen, sodass er das gesellschaftliche Denken beherrschte. Die
›erste Ursache‹ in der griechischen Philosophie, Gott als größte Erfindung
(das Gottesverständnis von Platon und Aristoteles), all das kommt immer
aus derselben Quelle. In den monotheistischen Religionen nimmt En die
Form von Allah an, dem Gott des Diesseits und des Jenseits. ›El‹ kommt
von ›Elah‹. Nach dem Aufstieg Roms begegnet er uns als Jupiter. Häufig
lässt sich beobachten, wie man versucht, mithilfe derartiger Religionen oder
mythologischer Begriffe Regime von Gottkönigen und Kaisern bei ihrer
Errichtung gegenüber der Gesellschaft zu legitimieren. Wir sehen, dass bei-
nahe jedes Königreich, Kaiserreich oder despotische Regime versucht, sich
durch ähnliche Begriffe selbst zu erhöhen und ideologische Hegemonie zu
erlangen. Denn ohne eine derartige Hegemonie können diese Regime kaum
von Dauer sein.
Im sechzehnten Jahrhundert stieg Europa zum neuen hegemonia-
len Zentrum der Zivilisation auf, und der kapitalistische Monopolismus
wurde zu ihrer hegemonialen Form. Seinen Akteur*innen war klar, dass
er ohne eine ähnliche Anstrengung keine Herrschaft erringen könnte. Das
Geldkapital (eine Kapitalform, die sich vom Agrar- und Handelskapital so-
wie von Kapital als Machtinstrument unterscheidet), das sich bis zu jener
Zeit in den Spalten und Hinterzimmern der Gesellschaft verborgen hatte,
254 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

begann erstmals in der Geschichte, sich als hegemoniale Kraft über die
Gesellschaft zu erheben und nach und nach in alle ihre Poren einzudringen.
Die Suche nach neuen Methoden durch Roger Bacon, Francis Bacon und
René Descartes, die alle drei von der christlichen und daher nahöstlich-su-
merischsstämmigen Theologie kamen, hängt eng mit diesem materiell-hege-
monialen Aufbruch zusammen. Ob in Methode oder Inhalt: Die ›Wahrheit‹,
hinter der sie her waren, besaß Anteil an dieser neuen Art des Kapitals und
seinem hegemonialen Aufstieg. Indem das kapitalistische Monopol seine
Hegemonie verfestigte, verfestigte und verstetigte es auch seine ideologische
Hegemonie. Eine wissenschaftliche Erklärung der neuen methodischen, phi-
losophischen und wissenschaftlichen Revolutionen können wir nur liefern,
wenn wir auf die transformierenden Effekte dieser materiellen Bedingungen
schauen. Zweifellos führt es zu wissenschaftlicher Blindheit, alles auf den
Kapitalismus zurückzuführen. Ein solcher Ansatz hieße, in eine Falle zu
tappen und in vulgärsten Reduktionismus zu verfallen. Aber wenn wir die
Zusammenhänge ignorieren, wird die Erforschung der Wahrheit schwer be-
schädigt, versinkt in metaphysischen Erzählungen und verliert ihren Wert.
Bei der Erklärung des Begriffs Moderne ist es notwendig und sehr lehr-
reich, diese Entstehung von Methode und Wahrheit zu berücksichtigen.
Moderne als Begriff bedeutet ›Zeit, Gegenwart‹. Es gibt verschiedene
Modernen, je nach Epoche. Beispiele für Modernen sind die sumerische
Moderne und die römische Moderne, und mehrere davor und danach. Wer
könnte leugnen, dass die römische Moderne zu einer bestimmten Zeit in
allen Zentren der Zivilisation stolz gelebt wurde? Erfahren wir nicht voller
Ehrfurcht aus archäologischen Daten, dass die sumerische Moderne und
sogar davor die obermesopotamische Moderne in Bezug auf zeitliche und
räumliche Ausdehnung vielleicht die prächtigsten Beispiele darstellten?
Könnten wir die revolutionären materiellen Kulturen dieser Moderne erklä-
ren, wenn sie nicht mit Bedeutung aufgeladen würden?
Anthony Giddens streicht den Unterschied der kapitalistischen Moderne
gegenüber allen anderen Modernen heraus und trägt so ein wenig zur
Aufdeckung der Wahrheit bei.57 Offenbar ist Giddens als Kind des eng-
lischen Hegemoniestrebens in der Lage, dieses Thema zu erfassen. Eine
Einmaligkeit zu behaupten, wirkt wie eine Schuld oder eine religiöse
Verehrung jedes zeitgenössischen Intellektuellen dem eigenen Land, seinem
neuen Gott, dem Nationalstaat gegenüber. Lehrreich ist seine Beschreibung
57 Bezieht sich auf Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1996).
Siehe auch die Diskussion in Band II, S. 136ff.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 255

der drei Säulen, auf denen die kapitalistische Moderne seiner Meinung nach
ruht. Tatsächlich differenziert er zwischen der Moderne als einer überge-
ordneten Kategorie und dem Kapitalismus. Er nimmt dabei klar die ›sin-
gularistische‹ Haltung ein, welche die sozialwissenschaftliche Methode
dominiert. Er möchte keiner anderen Art von Moderne eine Chance ein-
räumen. Wenn es eine Moderne gibt, so ist sie einzig, zwei Arten Moderne
können nicht gleichzeitig existieren! Dies ist die Mentalität, die sämtliche
Schulen der Sozialwissenschaft beherrscht, ob rechts, links oder aus der
Mitte. Angefangen mit Karl Marx zweifelten linke Intellektuelle nie an der
Singularität der Moderne und daran, dass es die europäische Moderne sei.
Rechtsintellektuelle Kreise und die liberalen Intellektuellen waren sich si-
cher, dass sie selbst das letzte Wort der Realität darstellten (wie sehr das doch
dem Reden vom ›letzten Propheten‹ im mittelalterlichen Islam gleicht!). Erst
in der Postmoderne zeigten sich langsam veränderte Diskurse.
Nietzsches Kritik der Moderne besitzt zweifellos Gewicht. Religiöse
Kritiken an der Moderne besitzen allenfalls aus Sicht ihrer eigenen Moderne
(das alte Zeitalter, das hinter dem neuen zurückbleibt) Bedeutung. Michel
Foucaults These, dass die Moderne im Tod des Menschen resultiere, ist wich-
tig, aber reicht nicht aus. Der Realsozialismus hingegen zielte trotz anders
lautender Behauptungen niemals darauf ab, theoretisch oder praktisch eine
andere Moderne darzustellen. Wenn die Vertreter*innen des Realsozialismus
oft behaupteten, eine andere Zivilisation zu sein, ging es ihnen dabei ei-
gentlich um Entwicklung und den Wettlauf mit dem Kapitalismus auf allen
Gebieten. Sie dachten, sie seien den Grundschablonen und Säulen der kapi-
talistischen Moderne (Industrialismus, Nationalstaat und Privatkapitalismus)
näher als dieser selbst und erklärten es so zu ihrer Aufgabe, das kapitalisti-
sche System zu überholen. Die realsozialistischen Experimente, allen voran
in Russland und China, bewiesen tatsächlich schnell, dass sie nur frisches
Blut für die kapitalistische Moderne darstellten. Primäres Ziel aller natio-
nalen Befreiungsbewegungen war, zur herrschenden Moderne, die auf dem
Höhepunkt ihres Erfolges zu sein schien, so schnell wie möglich aufzuschlie-
ßen und so ein gutes Leben zu erlangen. Dies war die theoretische und prak-
tische Ausrichtung, und niemand zweifelte sie besonders an.
Wenn wir sie jedoch in Bezug auf Form und Inhalt untersuchen, werden
wir nicht nur sehen, dass die herrschende Moderne der letzten vierhundert
Jahre die letzte Ausprägung der Zeiten (Modernen) der fünftausendjähri-
gen Zivilisation darstellt; gleichzeitig werden wir schnell feststellen, dass sie
256 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

miteinander zusammenhängen wie Pech und Schwefel und aus verschiede-


nen zu einer Kette verbundenen Gliedern bestehen.
Mit meinem Manifest, ob in diesem Band oder in den beiden vor-
herigen, versuche ich, dieses Verständnis einer singulären, universalen
Moderne niederzureißen. So habe ich nachzuweisen versucht, dass auch
die Alternative zur herrschenden Moderne stets existiert und trotz aller
Versuche, sie zu unterdrücken und zu verschleiern, als eine Seite eines dia-
lektischen Gegensatzpaars in sämtlichen Formen und Inhalten fortbesteht.
›Demokratische Zivilisation‹ (Zivilisation entspricht hier den Begriffen Zeit,
Ära und Moderne) mag als Name vielleicht unzureichend sein und ausgie-
big kritisiert werden. Doch als ich die historische Qualität der Gesellschaft
berücksichtigte (Fernand Braudels Ansatz bei diesem Thema war ermu-
tigend) und mir die Bewegungen vergegenwärtigte, die geradezu die
Trägerinnen der Geschichte von Klans, Sippen, Stämmen, Volksstämmen,
religiösen Gemeinden und ähnlichen Gemeinschaften darstellen, so konnte
ich es weder emotional noch intellektuell vertreten, diese Bewegungen als
›Barbaren‹ oder ›religiöse Reaktionäre‹ zu bezeichnen. Nachdem ich fest-
gestellt hatte, dass die Dialektik nicht immer über einander vernichtende
Pole funktioniert, war es nicht mehr schwierig, (genau wie im universa-
len Werden) in der (meist) nicht-destruktiven dialektischen Entwicklung
der geschichtlichen Gesellschaft festzustellen, dass die Geschichte der
Zivilisation kein monistischer Prozess, sondern ein zwiegespaltener ist. Alles
Weitere versuche ich, wenn auch unter schwierigen Bedingungen und mit
schlechtester Ausstattung, in diesen Bänden auszusprechen und als Essay
zu präsentieren. Was mich erstaunt und worüber ich wütend bin, ist die
Tatsache, dass trotz ihrer großartigen Ausstattung die eurozentrischen
Sozialwissenschaftler*innen diesen zwiegespaltenen Zustand der Zivilisation
nicht als zwei verschiedene Modernen zu systematisieren versucht haben.
Kehren wir noch einmal zu den drei Hauptelementen des Moderne-
Begriffs zurück, wie er von Anthony Giddens verwendet wird, und versu-
chen wir zu analysieren, was sie bedeuten und welche Antworten der Begriff
der demokratischen Moderne bietet, der den Gegenpol darstellt.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 257

A Differenzierung zwischen Kapitalismus


und Moderne

Laut Anthony Giddens entstand der Kapitalismus in der Geschichte zuerst


in Europa. Zweifellos vertritt die überwältigende Mehrheit der eurozentri-
schen Wissenschaftler*innen ähnliche Ansichten. Ihnen zufolge hat zu keiner
anderen Zeit und an keinem anderen Ort eine ähnliche Entwicklung stattge-
funden. Der Kapitalismus, der hier gemeint ist, ist der holländisch-englische
Kapitalismus mit den Zentren Amsterdam und London, die im sechzehnten
Jahrhundert zu hegemonialen globalen Machtzentren aufstiegen. Richtig
daran ist, dass Amsterdam und London tatsächlich ab diesem Jahrhundert
die Hegemonie des klassischen globalen Zivilisationszentrums übernahmen.
Über die Frage, wie diese Hegemonieverschiebung vor sich ging, existiert
äußerst umfangreiche Literatur, die sich mit dieser Phase der Weltgeschichte
befasst. All dies kann und muss ich hier nicht wiederholen; ich erinnere
lediglich daran. In den beiden ersten Bändern bin ich auf diese Themen
bereits etwas eingegangen. Wichtiger ist aber, was an dieser Sichtweise falsch
und unzureichend ist:

a) Kapitalismus
Die Behauptung einer Singularität des Kapitalismus ist nicht richtig. Ich
habe ausführlich analysiert, dass das erste Kapitalmonopol im Tempel der su-
merischen Priester realisiert wurde (die Zikkurat war vielleicht auch die erste
Bank und die erste Fabrik). In diesem Zusammenhang können wir getrost
festhalten, dass wir die Formierung des Trios Stadt-Klasse-Staat als erstes
hegemoniales Monopol den Sumerern verdanken. Besonders, nachdem ich
auf die Ansichten von André Gunder Frank und seinen ähnlich denkenden
Kolleg*innen über die Zentralzivilisation und das Weltsystem gestoßen war,
fühlte ich mich in meinen Ansichten bestärkt.58 Doch vertrete ich auch mit
Nachdruck, dass das Machtmonopol eine andere Form des Kapitalmonopols
darstellt. Ich habe betont, wie wichtig es ist, die Macht als eine der vier
Hauptformen der Akkumulation zu begreifen. Über der produktiver wer-

58 In André Gunder Frank, Barry K. Gills (Hrsg.), The World System: Five Hundred Years or Five
Thousand? (Routledge 1994) argumentieren verschiedene Autor*innen für eine Ausweitung
der Weltsystemanalyse über die letzten fünfhundert Jahre hinaus. Auch das Konzept der
Zentralzivilisation wird in diesem Buch entwickelt.
258 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

denden Landwirtschaft war das erste Monopol errichtet worden. Weil das
daraufhin entstandene Mehrprodukt Handel unausweichlich machte, konn-
te sich auch das Handelsmonopol entwickeln. Außerdem gab es das erste
Industriemonopol über der Handwerkerschaft in Stadt und Tempel. Die
Stadtregierung hingegen hatte militärische und administrative Aufgaben
übernommen; sie arbeitete eng mit den dreien zusammen und bildete ein
starkes Machtmonopol. Da die Stärke zwischen ihnen ungleich verteilt war,
wurde ein Hegemonialverhältnis unausweichlich. Während zunächst die
Hegemonie der Priester stark war, sollte sich das später ändern. Kurz: schon
in der Gründungsphase existierten sowohl Monopol als auch ein hegemoni-
aler Charakter. In den ersten beiden Bänden dieses Manifests habe ich den
geschichtlichen Verlauf dieser Tatsachen grob nachgezeichnet. Eine weitere,
sehr wichtige Feststellung zu den Monopolen der Zivilisation ist, dass sie
trotz aller Konflikte untereinander nach außen (gegen die Kräfte der demo-
kratischen Zivilisation) zusammenstehen und sich historisch wie die Glieder
einer Kette verhalten. Keine Zivilisation wäre ohne das Erbe der vorherigen
entstanden. Dabei spreche ich vom System der Zentralzivilisation, nicht von
der chinesischen Zivilisation oder der Inka-Zivilisation.
Ich habe auch versucht, die Entstehung des europäischen Kettengliedes
ausführlich darzustellen. Besonders unterstrichen habe ich dabei den
Zusammenhang mit der Zivilisation (und sogar mit dem Neolithikum)
des Ostens und die Rolle Venedigs dabei, das über drei Jahrhunderte hin-
weg diese Werte transferierte. Das wichtigste Element, bei dem man eine
Singularität für die europäische Zivilisation ab dem sechzehnten Jahrhundert
behaupten könnte, ist die weit fortgeschrittene Qualität des Geldkapitals.
Zweifellos gelang es dem Geldkapital-Monopol ab diesem Jahrhundert, in
Europa seine Hegemonie zu errichten. In diesem Sinne können wir von
einer Singularität, einer Einzigartigkeit sprechen. Doch können wir keines-
falls behaupten, Europa sei die Heimat des Geldkapitals, oder es sei in die-
ser Ära entstanden. Gegenstände, die ähnlich wie Geld genutzt wurden,
gab es schon lange vor der Zivilisation. Altertumsforscher*innen sind sich
einig, dass Obsidian und ähnliche Materialien als erste die Funktion von
Geld innehatten. In urkommunistischen Gesellschaften spielen verschie-
dene wertvolle Materialien immer noch eine ähnliche Rolle. Die ersten
Münzen wurden im Königreich Lydien in Kleinasien geprägt, das im sieb-
ten Jahrhundert v. Chr. entstanden war; bekannt sind die Goldmünzen mit
dem Siegel des sprichwörtlich gewordenen Königs Krösus. Gleiches lässt
sich für die Akkumulation von Geldkapital festhalten. Die Akkumulation
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 259

ist eine sehr alte Tradition. Wertvolle Metalle und Gegenstände wurden
in diesem Sinne in der Geschichte stets akkumuliert. In archäologischen
Funden finden sich dafür zahlreiche Beispiele. Auch der Ausdruck ›reich wie
Krösus‹ zeugt davon. Doch nichts kann die Geschichte vom Gebrauch des
Geldkapitals zum Zwecke des Profits so original und attraktiv erzählen, wie
die karum Aššurs (karum hat eine vielfache Bedeutung von Geld, Handel,
Markt und Warenlager). Jahrtausende vor Venedig, Amsterdam und London
gab es zahlreiche Städte im Osten, die Heimstätte für Geldkapital waren.
Das Singuläre am europäischen Geldkapital war sein Aufstieg und sei-
ne erstmalige Errichtung einer Hegemonie. Karl Marx betrachtet diese Art
Hegemonie des Kapitals als etwas Fortschrittliches und spricht von sei-
ner positiven Rolle, insofern es die Moderne prägt. Auch Wallerstein, der
diese Hegemonie mit einem Löwen vergleicht, der aus seinem Käfig aus-
bricht, betrachtet es als notwendig, zu unterstreichen, dass die hegemoni-
elle Rolle des Kapitals positiv sei. Und wo er die Entstehung der neuen
Hegemonie auf die Schwäche der Kirche und der Königreiche sowie auf
die Mongolenstürme aus dem Osten zurückführt, gesteht er geradezu, dass
er vor großen Fragezeichen steht. Letztlich schlussfolgert er, dass dies keine
gute Option für die Geschichte war. Hier ist nicht der Ort, die furchtbare
Bilanz darzulegen, die die vierhundertjährige Herrschaft des Geldkapitals
hinterlassen hat. Wenn wir uns allein die Zahl der in Kriegen getöteten und
verwundeten Menschen, die Zahl und Dauer der Kriege, die zerstörerischen
Folgen wirtschaftlicher Krisen, die Armuts- und Arbeitslosigkeitsraten und
vor allem den Anteil an der ökologischen Krise vor Augen führen, so fällt es
nicht schwer, zu verstehen, welcher Art Hegemonie wir uns gegenübersehen.

b) Moderne
Die falsche und unzureichende Behauptung dagegen ist die Singularität
der Moderne, die auf dem Kapitalismus beruht. Diese Behauptung der eu-
rozentrischen Sozialwissenschaften ist nahezu allumfassend. Die Existenz
als Weltsystem und seine allumfassende Ausdehnung wird als ›Ende der
Geschichte‹, als ›letztes Wort‹ der Wahrheit verewigt; in dieser Hinsicht steht
sie nicht hinter den Zivilisationen früherer Zeiten zurück. Durch die Waffe
der Wissenschaftlichkeit formuliert sie diesen Anspruch vielmehr noch
absoluter. Um diesen Anspruch als gemeinsame Wahrheit der gesamten
Menschheit darzustellen, unternimmt der Liberalismus, der die ideologische
Hegemonie errungen hat, Hand in Hand mit den Medienmonopolen au-
ßergewöhnliche Anstrengungen, um Zeitalter im Zeitalter (Medienzeitalter,
260 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Informationszeitalter…) zu schaffen. Während seine Vertreter*innen sich


bemühen, die Wirklichkeit in Form und Inhalt in ihrer historischen
Dimension zu präsentieren, entblöden sie sich nicht, gleichzeitig eine von
Vergangenheit und Gegenwart losgelöste Futurologie (Wissenschaft von der
Zukunft) zu konstruieren. Die Jetztbezogenheit ist enorm; die Parole »Lebe
das Jetzt, das Morgen ist egal« fungiert als grundlegender Glaubenssatz.
Das Allerschlimmste, der Neoliberalismus, der aus allen möglichen alten
und neuen ideologischen Versatzstücken und Ideen eklektisch zusammen-
gestückelt wurde, erinnert an die Atmosphäre der letzten Tage Roms. Wir
leben in einer Zeit, wo die drei ›S‹59 Sport, Sex und Kunst [türk.: sanat]
maximal ideologisiert worden sind. Alle drei erhielten dabei eine religiöse
Dimension. Es dürfte schwierig sein, eine zweite Religion zu finden, die
derart wie Opium wirkt wie der Fußball, der heutzutage in den Stadien
zelebriert wird. Ähnliches gilt für die Kunst, die in eine Industrie verwan-
delt wurde. Selbst die Sexualität, ein ganz natürlicher Trieb, wurde in die
Sexindustrie transformiert. Dieser Sex mit seiner opiumartigen Wirkung
wurde mindestens so sehr wie Sport und Kunst in eine Religion verwandelt.
Es mag treffender sein, diese drei die religiösen Feste der kapitalistischen
Moderne zu nennen. Auch der religiöse Fundamentalismus, der die religiöse
Herrschaft zum Ziel hat, ist eine Strömung der Moderne, wie anti-modern
er sich auch präsentieren mag.
Wenn wir tiefer schauen, können wir verstehen, dass die vom Kapitalismus
geprägte Moderne die am wenigsten selbstsichere ist. Dass sie derartig viel
Eklektizismus benötigt, ist ein Beweis dafür. Der Postmodernismus entstand
zwar aus dieser Unsicherheit, doch gelang es ihm nicht, eine Alternative
zur Moderne darzustellen. Intellektuelle Kreise, die der Moderne überdrüs-
sig geworden waren, wollten damit lediglich eine Tür aufstoßen. Sie steck-
ten aber wegen ihrer Lebensweise bis zum Hals in der Moderne. Als typi-
sches Beispiel können wir dies beim Philosophen Adorno sehen. Mit seiner
Sentenz »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«60 hat er die Moderne
sehr präzise erklärt. Aber er präsentierte keinerlei Alternative. Auch deshalb
wandte sich die revolutionäre Jugend gegen ihn. Der Neoliberalismus soll-
te eigentlich den abgeblätterten Lack der Moderne erneuern. Doch so viel
man auch erneuern und hinzufügen mag; die Widersprüche des Zeitalters

59 Im Türkischen in Anlehnung an die ›drei F‹ (Fado, Fátima, Futebol – also Musik, Religion, Sport) für die
drei Säulen der Salazar-Diktatur in Portugal verwendeter Ausdruck.
60 Theodor W. Adorno, Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Berlin,
Frankfurt am Main, 1951).
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 261

des globalen Finanzmonopols zu übertünchen und das System zu retten, ist


keine einfache Aufgabe.
André Gunder Frank kam der Wirklichkeit schon sehr nah, als er den
Ort und die Bedeutung der europäischen Zivilisation innerhalb eines fünf-
tausendjährigen Prozesses der Zivilisation darstellte. Doch, wie er selbst tief
bedauert, kann er außer einigen Verallgemeinerungen keine Lösung oder
Alternative entwickeln und präsentieren. Doch bewahrt er die Hoffnung.
Innerhalb der klassischen Zivilisation ist die Formel ›Einheit in Vielfalt‹ zwar
richtig, doch eine extreme Verallgemeinerung. Sie bietet keinerlei Erklärung
dafür, wie das umgesetzt werden könnte. Falsch daran ist allerdings die
Hoffnung, dass innerhalb des Systems ein besseres und anderes modernes
Leben (in Theorie und Praxis) möglich sei. Immanuel Wallerstein vertritt
bei diesem Thema einen sehr positiven und radikalen Ansatz; er glaubt an
keinerlei Lösung innerhalb des Systems. Er wiederholt unermüdlich, dass
die gegenwärtige Krise eine systemische und strukturelle sei, und schlägt
vor, dass wir uns intensiv den intellektuellen, moralischen und politischen
Aufgaben widmen, die er ganz richtig definiert. Sein Mangel ist, dass er
auf die Frage ›welches System?‹ keine umfassenden Antworten präsentiert.
Hierzu leistet er auch eine aufrichtige Selbstkritik. Er sagt sinngemäß: »Wir
haben alle im heiligen Tempel der Bourgeoisie aus den gleichen Bechern ge-
trunken.«61 Er redet auch von der Angst vor dem Zorn der Götter (in meta-
phorischem Sinn), die er deshalb verspüre. Er weist auf Dinge wie die starke
Abhängigkeit des intellektuellen Kapitals von der kapitalistischen Moderne
und die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs hin, aus denen wir eine Reihe
von Schlussfolgerungen ziehen sollten.
Meine Situation drückt sich am besten in dem Spruch aus: »Flucht schützt
nicht vor dem Tod.« Ich floh vor der kapitalistischen Moderne. Doch diese
Flucht reichte nicht aus, um ihren Fängen zu entkommen. Anstatt in ihrer
Hand zu sterben, fand ich es viel realistischer und mutiger, die Alternative
auszuprobieren. So begnügte ich mich weder wie Nietzsche damit, das
Richtige auszusprechen, noch war ich damit zufrieden, wie Michel Foucault
den Tod des Menschen zu annoncieren; weder sagte ich wie Adorno schick-
salsergeben und schmollend »Wir erdulden, was passiert«, noch fand ich es

61 Immanuel Wallerstein, Der historische Kapitalismus (Berlin: Argument Verlag 1984), S. 86. Das
vollständige Zitat lautet: »Es ist einfach nicht wahr, daß der Kapitalismus als historisches System
einen Fortschritt gegenüber Systemen darstellt, die er zerstört oder transformiert. Sogar wäh-
rend ich dies schreibe, spüre ich das Erbeben, welches das Gefühl begleitet, eine Blasphemie zu
begehen. Ich fürchte den Zorn der Götter, denn ich stamme selbst aus der selben ideologischen
Schmiede und habe den selben Götzen gehuldigt.«
262 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

ausreichend, mich in eine Parole wie ›Einheit in Vielfalt‹ zu flüchten wie


André Gunder Frank. Ich glaubte nicht einmal, dass Immanuel Wallersteins
Festlegung der Wichtigkeit intellektueller, moralischer (oder ethischer) und
politischer Aufgaben62 ausreichend sei. Zweifellos haben diese tugendhaften
Denker wichtige Beiträge zu diesem meinem Essay geleistet und mich er-
mutigt. Doch entscheidend war, dass ich die Sentenz »Es gibt kein richtiges
Leben im falschen« für mich nicht gelten lassen konnte. Denn ich habe nie
nach diesem Wort gelebt. Ich habe mich viel geplagt, aber weder meine
Kraft noch mein Glaube reichten, um das kapitalistische moderne Leben zu
fassen zu bekommen. Noch brennender empfand ich, dass der aufständige
Mensch in mir sagte: »Verkaufe uns nicht, und was immer du suchst, suche
und finde es in dir.« Ich schreibe über meine Aufstände.
Man mag fragen, was kannst du schon ausrichten gegen die Kräfte der
Moderne, gegen das Trio, das seit fünftausend Jahren in jedem Geist und
jeder Seele Wurzeln schlägt; das seit vierhundert Jahren jeden Wert der
Gesellschaft, ob außen oder innen, von den höchsten Luftschichten bis in
die tiefsten Erdschichten, ergreift, zur Ware macht, kauft und verkauft ; das
millionenfach stärker geworden ist, als die Ordnungen der Nimrods und der
Pharaonen es je waren? Zweifellos stelle ich die Frage auf diese Weise falsch,
nämlich so, wie die Moderne sie gestellt haben will. Es ist meine Absicht, zu
zeigen, dass nichts, was diese Frage und die hinter ihr stehenden Fiktionen
hervorruft, irgendeinen positiven Wert besitzt.
Weder entdecke ich die demokratische Moderne, noch erfinde ich sie. Ich
habe zwar ein paar Dinge zu ihrem Wiederaufbau anzumerken, doch finde
ich dies nicht so wichtig; besser gesagt: Der eigentlich wichtige Punkt liegt
woanders. Und zwar: Seit der Entstehung der offiziellen Zivilisation exis-
tiert die demokratische Moderne als ihr Gegenstück. Wo und wann immer
diese entsteht, existiert auch jene. Ich versuche, wenn auch nur in groben
Zügen, dieser Zivilisationsform, die an jedem Ort und zu jeder Zeit der of-
fiziellen Zivilisation existierte, die gebührende Anerkennung zukommen zu
lassen und sie in ihren grundlegenden Dimensionen auf Interesse weckende
Weise zu erklären (die inoffizielle demokratische Zivilisation; der Name ist
nicht besonders wichtig). Ich versuche, ihre grundlegenden Denkweisen,
ihre Strukturen und ihre lebendige Gesellschaft zu begreifen und sie zu de-
finieren.

62 Immanuel Wallerstein u. a., Die Sozialwissenschaften öffnen. Ein Bericht der Gulbenkian-
Kommission zur Neustrukturierung der Sozialwissenschaft (Frankfurt am Main, 1996).
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 263

Es ist nichts Unverständliches daran, dass an allen Orten und zu allen


Zeiten, wo die angeblich singuläre Zivilisation (die Moderne in verschie-
denen Zeitaltern) gewirkt hat, aus Gründen der Dialektik ein Gegenstück
existieren muss. Unverständlich ist vielmehr, dass diese natürliche Folge der
dialektischen Methode durch die Zivilisationsgeschichte hindurch nicht sys-
tematisch zum Ausdruck gebracht und ihr keine Stimme gegeben wurde. Als
sich von Sumer bis Ägypten und Harappa, von China bis Indien und Rom
so viele Zivilisationen bildeten; sollte es da keine Reaktion, keine Ideen und
keine gesellschaftlichen Strukturen der zahllosen Sippen, Stämme und religi-
ösen Gemeinschaften geben, die in die Enge getrieben und versklavt wurden,
die wie eine Flut von der Sahara bis zu den zentralasiatischen Wüsten, von
Sibirien bis Arabien wogten und rebellierten? Kann es denn möglich sein,
dass daran nicht gedacht wurde? Wenn agrarisch-dörfliche Gesellschaften
über zehntausend Jahre hinweg sämtliche Zivilisationen ernährten, würden
sie da nie ihre Stimme erheben, nie reagieren und Gegenstrukturen besitzen?
Ist das denkbar, ist das gerecht? Als sie allen möglichen Repression und der
Ausbeutung durch die Herrschenden der Städte ausgesetzt waren, die sie
mit eigenen Händen erbaut hatten, sollten die werktätigen Völker da still
dagesessen und ihrem Schicksal gedankt haben? Ist das denkbar?
Wir können Tausende Fragen zu Tausenden Orten und Zeiten stellen.
Es existieren auch Antworten. Was fehlt, ist, aus den Antworten auf diese
Fragen eine Systematik (Gedankenkonstrukt, Theorie) der Zivilisation zu
weben. Es gibt diese Gegenstrukturen (die Haltung der moralischen und
politischen Gesellschaft). Es fehlt, für die Situation und die Entwicklung
der moralischen und politischen Gesellschaft, des Grundzustandes der ge-
sellschaftlichen Natur, das gleiche Interesse aufzubringen wie für das Macht-
Kapital-Monopol Tausender Despot*innen und Kaiser*innen.
Nehmen wir die islamische Zivilisation, mit der ich recht gut ver-
traut bin. Über alle möglichen Kalifen, Sultane, Emire, Scheichs,
Schahs und Kommandanten werden detaillierteste Geschichten erzählt,
doch die über drei Kontinente verteilten tarīqa (Orden) und madhhab
(Glaubensrichtungen und -schulen) der Gläubigen, ihre Widerstände,
ihre Sehnsüchte und Überzeugungen gehen entweder gar nicht erst in die
Geschichte ein oder werden in Geschichten unwürdig verzerrt dargestellt!
Offenbar gibt es hier innerhalb der Zivilisation einen Konflikt und eine
Dichotomie. Doch während eine Seite durch grenzenlosen Lobpreis erhöht
wurde, wurden ihre Gegner*innen gänzlich erniedrigt. Ich bin selbst Zeuge
davon geworden: Ich habe alevitische Kurd*innen, sunnitische Kurd*innen
264 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

und jesidische Kurd*innen beobachtet. Ich muss ganz klar sagen, dass ich
die über Jahrtausende gefilterte Zivilisation der alevitischen und jesidischen
Kurd*innen viel moralischer und politischer finde als die ihnen gegenüber-
stehende Zivilisation. Dabei sind die klassischen Diskurse der Zivilisation
voller unaussprechlicher Verleumdungen gegen sie. Natürlich rede ich hier
nicht von Werktätigen, Sippen und Stammeskulturen, die dem sunniti-
schen Glauben angehören. Auf der Waage der Zivilisation gehören all diese
Gruppen in die Waagschale der demokratischen Zivilisation. Beispiele dafür
lassen sich an allen Orten und zu allen Zeiten zeigen, doch ich denke, dies
reicht aus, um zu verdeutlichen, was gemeint ist.
Ich muss noch einen weiteren die Moderne betreffenden Punkt erklären.
In gewissem Sinne ist der Begriff kapitalistische Moderne nicht ganz richtig.
Ich bitte darauf zu achten, dass ich ihn also bedingt verwende. So wie der
Begriff ›kapitalistische Gesellschaft‹ fragwürdig ist und die Gefahr birgt, die
Wirklichkeit zu verschleiern, so gilt dies vielleicht in noch stärkerem Maße
für den Begriff ›kapitalistische Moderne‹. Moderne im allgemeinen Sinne
ist die gesellschaftliche Lebensweise einer Ära. Sie enthält alle Elemente von
Technik, Wissenschaft, Kunst, Politik und Mode, die als materielle und ide-
elle Kultur eine Ära prägen. In diesem Sinne wäre es ein großer Fehler, die
Moderne dem Kapitalismus zuzuschreiben. Viele ihrer Elemente sind so-
gar ganz überwiegend gegen einen Kapitalismus, der im Wesentlichen als
Monopol daherkommt. Wie die moralische und politische Gesellschaft als
Hauptlebensweise der gesellschaftlichen Natur gegen die Zivilisation im
Allgemeinen und die kapitalistische Zivilisation im Besonderen eingestellt
ist, so gilt ähnliches für die Moderne. Die moderne Gesellschaft ist nicht
die kapitalistische Gesellschaft. Warum verwende ich dann den Begriff ›ka-
pitalistische Moderne‹? Denn das kapitalistische Monopol, zusammen mit
seinen hegemonialen Verbündeten, möchte die Gesellschaft genauso prä-
gen wie die Moderne als akzeptierte Lebensweise der Zeit. Zusammen mit
seinen ideologischen, politischen und militärischen Verbündeten bemüht
es sich systematisch durch Bildung, Kasernen, Gotteshäuser und Medien,
die Überzeugung zu verankern, dass es selbst die schöpferische Kraft der
Lebensweise der Zeit darstellt. Es schafft eine herrschende Denkweise, die
auch das, was nicht zu ihm gehört, als zu ihm gehörig präsentiert. Wenn die-
se Propagandabemühungen erfolgreich waren, dann hat es die Gesellschaft
beziehungsweise die Moderne geprägt.
Bei der Aufzählung der wichtigsten Pfeiler der kapitalistischen Moderne
bemerkt Anthony Giddens vielleicht gar nicht, dass er in ein Dilemma gerät.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 265

Die entscheidende Frage wäre, welcher davon die anderen hervorbringt oder
bestimmt. Nicht denkbar ist, dass die Moderne den Kapitalismus hervor-
bringt; die Moderne wird gelebt als eine für die gesellschaftliche Natur spezi-
fische Ära. Doch nachdem sich Repressions- und Ausbeutungsmonopole in
der Form Stadt-Klasse-Staat gebildet hatten, wollten diese die Lebensweise
der Zeit prägen und sich selbst zuschreiben. Wir müssen einräumen, dass sie
damit weitgehend erfolgreich waren. Doch es handelt sich um einen Erfolg
der Propaganda. Ein ganzes Zeitalter wurde Hochstaplern zugeschrieben.
Wenn wir den Begriff ›kapitalistische Moderne‹ verwenden, müssen wir uns
diese Tatsache stets vor Augen führen. Doch die gesellschaftliche Natur kann
niemals vollständig die Farben und die Existenzweise des Kapitalismus oder
eines anderen Monopols annehmen. Es ist selbst theoretisch nicht möglich,
dass gesellschaftliche Naturen als Selbstheiten (kendilik63) sich in ein Netz
repressiver und ausbeuterischer Monopole verwandeln. Wie wir gezeigt ha-
ben, ist ein reiner Kapitalismus unmöglich, und so kann es auch keine reine
Zivilisation geben. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, müssen wir
fragen: Wie sollen Stadt, Klasse und Staat für sich ohne eine Gesellschaft le-
ben, die sie ausbeuten und regieren können? Wie sollten sie ganz simpel ihr
materielles Leben fortsetzen? Und doch sind sie in der Lage, die gesellschaft-
liche Natur der Zeit zu prägen und auszunutzen. Im Falle Europas können
wir Renaissance, Reformation und Aufklärung nicht dem Kapitalismus zu-
schreiben. Die Schöpfer der Renaissance waren weder Kapitalist*innen noch
Machthaber*innen, doch wollten letztere stets durch die Kraft von Geld und
Macht der Renaissance ihren Stempel aufdrücken. Denn sie wussten, dass
dies ihnen im Erfolgsfalle noch mehr Geld und Macht einbringen würde.
Andererseits kann auch die Gesellschaft, auf die es das Geldkapital und
die Machthaber*innen abgesehen haben, die Lebensweise eines Zeitalters
prägen. Auch dafür gibt es verschiedene Wege und Beispiele. Auch das Selbst
der gesellschaftlichen Natur tendiert im Wesentlichen in diese Richtung. Die
Gesellschaft ist ganz überwiegend anti-kapitalistisch. Denn sie erlebt täglich
die Ausbeutung und Herrschaft des Kapitalmonopols. Die Hauptmasse (der
Demos64) der historischen Gesellschaft, die der Lebensweise, der Moderne
ihrer Zeit ihre eigentliche Farbe verleiht, sind die Jugend, die Frauen, die
Arbeitslosen, die kolonialisierten Völker, viele religiöse Gemeinden und

63 Der Autor verwendet hier einen eigenen Begriff für eine autonome Einheit, der im Anschluss
besonders in seiner kurdischsprachigen Form xwebûn (›Selbst-Sein‹) populär wurde.
64 In der Soziologie beschreibt Demos von griechisch δῆμος einen politischen und rechtlichen Begriff von
Volk, im Gegensatz zu Ethnos als ethnischem Volksbegriff.
266 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

alle Gemeinschaften, die von ihrer Arbeit leben. Alle diese und ähnliche
Gruppen nennen wir der Einfachheit halber Volk (Demos). Demokratie
bedeutet, dass diese Gruppen sich selbst verwalten und regieren. Obwohl
es sich um politische Begriffe handelt, treffen ›demokratische Gesellschaft‹
und ›demokratische Moderne‹ beinahe den Kern, weil der Bereich und die
Gruppen, die sie beinhalten, das Gros der Gesellschaft bilden. Daher bit-
te ich um Verständnis, wenn ich sie häufig verwende. Wenn ich von der
Alternative der demokratischen Moderne spreche, meine ich damit diese
Tatsache. Insofern sind die Begriffe einer ›singulären Moderne‹ und einer
vom Kapitalismus geprägten Moderne ziemlich dubios und beinhalten ein
hohes Fehlerpotenzial.
Was die Farben einer Moderne bestimmt, sind die Ideen, Strukturen
und Kämpfe der entgegengesetzten Pole und das Ausmaß ihres Erfolgs. Sie
im Ganzen kapitalistisch oder demokratisch zu nennen, wäre ein grober
und blinder Reduktionismus. Ohnehin sollten wir das Wort ›ganz‹ im
Zusammenhang mit der Gesellschaft sehr vorsichtig verwenden. Denn die
gesellschaftliche Natur ist kompliziert und entspricht niemals ganz nur ei-
ner Sache, nur einer Farbe. Wir dürfen nicht vergessen, dass Widersprüche
Verschiedenheit erfordern. Und Vielfalt ist der Sinn des Lebens. In dem
Moment, wo die Widersprüche und damit auch die Vielfalt aufhören, en-
det auch das Leben. Selbst der Tod bedeutet nichts anders als den Beweis
für das Leben. Können wir uns vorstellen, wie fürchterlich ein Leben ganz
ohne Tod, zur Unendlichkeit verdammt, sein muss? Solch ein Leben wäre
eine schwere Folter. Immer Ähnlichkeit zu suchen, wenn es nicht zum
Zweck der Niederwerfung der Gegner*innen erfolgt, ist die Negation des
Lebens. Neben der Mode (was Mode genannt wird, ist die betrügerischste
Kunstform, derer sich Kapitalismus bedient, um seine Lebensfeindlichkeit
zu verschleiern, die er durch die Folter der Gleichmacherei demonstriert) ist
das Bemühen des Faschismus, alle gesellschaftlichen Unterschiede zu liqui-
dieren und auf eine einzige Farbe zu reduzieren, ein weiteres Beispiel, das die
Lebensfeindlichkeit unterstreicht.
Schließlich: Bei der Beschreibung der Moderne, die einen zweifelhaften
Begriff darstellt, kommt es auf die Bestimmung ihres Geltungsbereichs und
ihrer Dauer an. Sie auf eine einzige zu reduzieren, beinhaltet große Fehler.
Wenn wir die Moderne als zeitgenössisch, als Gegenwärtigkeit definieren,
so müssen wir den gesellschaftlichen Zusammenhang sorgfältig wählen. In
den Sozialwissenschaften springen diesbezüglich große Fehler und Mängel
ins Auge. Erklären können wir dies nur dadurch, dass die Kapital- und
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 267

Machtmonopole sich auf die Kraft des Geldes stützen und Druck ausüben.
Wissen bringt Macht, Macht bringt Kapital hervor, und genauso ist die
Umkehrung richtig. Trotzdem ist das Gros der gesellschaftlichen Natur im
Zeitalter der kapitalistischen Hegemonie demokratisch. Daher ist nicht
denkbar, dass die Moderne als Lebensweise unserer Zeit nicht demokratisier-
bar ist. Der gesellschaftliche Geltungsbereich der demokratischen Moderne
übersteigt den der kapitalistischen Moderne und ihrer Kollaborateur*innen
um ein Vielfaches. Um zu begreifen, müssen wir nur lernen, richtig zu den-
ken.
268 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

B Der Industrialismus der Moderne und


die demokratische Moderne

Tatsächlich ist unser Zeitalter (die moderne Lebensweise) in nie dagewe-


senem Maße von der Industrie abhängig. Auch lässt sich nicht leugnen,
dass die Industrielle Revolution des neunzehnten Jahrhunderts nach der
Agrarrevolution die zweite große gesellschaftliche Revolution darstellt.
Doch wie bei der Kapitalakkumulation ist auch die Behauptung, dass die
Industrialisierung in der Moderne einmalig65 sei, eine Übertreibung. In der
gesellschaftlichen Natur und besonders in der neolithischen Agrargesellschaft
und den Gesellschaften der Ära der Zivilisation erfolgten zahlreiche indus-
trielle Vorstöße, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie im neunzehnten
Jahrhundert. Da jede technische Entwicklung eine Art industriellen Schritt
darstellt, findet ein kontinuierlicher Fortschritt statt. In Zeiten beschleu-
nigter Entwicklung finden jedoch qualitative Sprünge statt. Im Bereich
der Industrie lassen sich Tausende Erfindungen aufzählen, wie die ersten
Töpferindustrien, Handmühlen, Webstühle, das Rad, der Pflug, Hammer,
Amboss, Beil, Messer, Schwert, Mühlen, Papyrus, Papier und verschiedene
Bergbauwerkzeuge. Doch es steht auch außer Frage, dass am Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts mit der Industriellen Revolution unter engli-
scher Führung ein großer Sprung nach vorne erfolgte. Dies ist eine wichtige
Besonderheit der Moderne, doch garantiert das noch keine Einzigartigkeit,
sondern beschreibt lediglich einen Unterschied.
Beim Übergang von der Industrie zum Industrialismus haben wir eine
andere Situation. Der Begriff Industrialismus drückt aus, dass die Industrie
ideologischen Charakter angenommen hat. An der Wurzel aller Krankheiten
der heutigen Moderne, allen voran der ökologischen Katastrophen, liegt
der Industrialismus, der sich gegen die Landwirtschaft und das Dorf entwi-
ckelt hat und sich außerdem auch gegen das städtische Handwerk richtete.
Zweifellos ist der Industrialismus die Ideologie der Kapitalmonopole. Als
sich die kapitalistischen Monopole, die große Mengen Geldkapitals, aber
nur begrenzte (traditionelle) Einsatzmöglichkeiten zur Verfügung hatten,

65 Der mehrfach erwähnte Soziologe Anthony Giddens postuliert in Konsequenzen der Moderne
(Suhrkamp: Frankfurt 1996), sogenannte »Diskontinuitäten der Moderne«. Öcalan disku-
tiert diesen Ansatz bereits in Band II, spricht hier nun aber im selben Zusammenhang von
»Einmaligkeiten«.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 269

am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Industrie zuwandten, woll-


ten sie dem Fall ihrer Profitraten vorbeugen bzw. sie sogar erhöhen (das
Profitgesetz). Dies gilt insbesondere für die Textilindustrie. Als die mechani-
sche Fertigung sich neuer Energiequellen bedienen konnte (Kohle, Dampf,
Elektrizität), explodierte die Produktion und brachte die Profitrate auf ein
Maximum. Das Phänomen der Nationalstaaten und die heftige Konkurrenz
zwischen ihnen hängen ebenfalls mit diesen Profitraten zusammen. Der
Industrialismus beherrschte alles. Er wurde zum heiligsten Glaubenssatz
des Nationalstaates. Dieser Wettlauf geht bis heute ungebremst weiter. Es
herrscht Einigkeit, dass die Konsequenzen bereits jetzt furchtbare Ausmaße
angenommen haben. Nicht nur die ökologische Zerstörung im engeren
Sinne, sondern auch tiefere und umfassendere kulturelle und physische
Genozide, globale, regionale und lokale Kriege in Dimensionen wie nie zu-
vor, die zunehmende Abtrennung der Gesellschaft von ihrer moralischen
und politischen Identität durch ideologisch-metaphysische Methoden
und Methoden der Machtanhäufung, also Soziozide, hängen eng mit der
Tendenz bzw. der Religion des Industrialismus zusammen. Daher haben die
von der Industrie benutzte Wissenschaft und Technik einen ideologischen
Charakter angenommen, der mit keiner anderen historischen Ära vergleich-
bar ist.
Der Industrialismus als eine Einzigartigkeit der Moderne steht als größ-
te Bedrohung sowohl vor der Gesellschaft als auch in ihrem Inneren. Der
Industrialismus ist der wesentliche Faktor für das ständige Anwachsen
der Macht, die die agrarische und dörfliche Gesellschaft zerstört, die
Stadt krebsartig wachsen lässt, die Gesellschaft vollständig unter Aufsicht
und Kontrolle hält und ausnahmslos alle ihre Poren durchdringt. Der
Nationalstaat als Grundform der Macht und der ideologischen Hegemonie
des Industrialismus spielt die Hauptrolle bei all diesen Prozessen.
Die Menschheit als gesellschaftliche Natur ist schon längst der Drohung
des tatsächlichen Weltuntergangs durch den Industrialismus als eine der
Einmaligkeiten der Moderne ausgesetzt. Die aufflackernden Katastrophen
sind Signalfeuer der drohenden Gefahr. Der Kapitalismus mit seiner
Gier nach ständiger Akkumulation und permanentem Wachstum auf
der Grundlage des ›Gesetzes des Maximalprofits‹ ist gleichbedeutend
mit Gesellschaftsfeindlichkeit und spielt offenbar eine wesentliche Rolle.
Der gesellschaftlichen Natur ständig das Akkumulationsgesetz aufzu-
zwingen, ist der Soziozid selbst, der Mord an der Gesellschaft. Materielle
und kulturelle Genozide waren die ersten Schritte in diesem Prozess. Die
270 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Wissenschaftler*innen, die Vernunft und Gewissen besitzen, sind sich einig,


dass wir uns geradewegs auf den Weltuntergang zubewegen, wenn keine
geeigneten Maßnahmen ergriffen werden. Der Industrialismus, die zweite
Einmaligkeit der Moderne, begnügt sich also nicht damit, mit seinem ›si-
amesischen Zwilling‹, dem Kapitalismus, nur die Moderne zu prägen, und
auch nicht damit, durch die Moderne nur ökonomische Krisen auszulö-
sen. Er ist die Hauptursache für die Krebserkrankung aller lebenswichtigen
Gewebe und Elemente der Gesellschaft.
Genau hier zeigt sich die Stellung der demokratischen Moderne im ge-
sellschaftlichen Dasein in aller Klarheit und Dringlichkeit. Die Gesellschaft
wird entweder weiter auf die Apokalypse zugaloppieren, oder sie wird
die demokratische Moderne annehmen und mit einem Vorstoß zu ihrem
Wiederaufbau diesen Galopp anhalten. Der Preis dafür, sich nicht zu ent-
scheiden, steigt ständig und ins Unermessliche.
Mit diesen Feststellungen soll nicht gesagt sein, dass Industrie an sich ne-
gativ ist; es geht um die Katastrophe des profitorientierten Industrialismus.
Wie bei der analytischen Intelligenz gilt, dass der Einsatz von Industrien im
Sinne der moralischen und politischen Gesellschaft ein paradiesisches Leben
ermöglichen kann. Hinzufügen können wir, dass eine Industrieoffensive,
die Hand in Hand mit Ökologie und Landwirtschaft geht, nicht nur die
grundlegenden wirtschaftlichen Probleme lösen, sondern auch sämtliche
Nebenwirkungen jener Probleme ins Positive wenden kann. Wenn allein
der grassierende Automobilwahnsinn gestoppt würde, ergäben sich revo-
lutionäre Konsequenzen überall, vom Öl bis zu den Transportwegen, von
der Umweltverschmutzung bis zur menschlichen Biologie, wie wir leicht
sehen können. Wenn wir uns allein vor Augen führen, wie bei gleichblei-
bender Zunahme der Industrialisierung der Meere sowohl Meer als auch
Land verwüstet werden, wird begreifbar, wie lebensnotwendig eine klare
Begrenzung der Zahl der Transporte ist. Hier ist nicht der Ort, um ausführ-
lich die radikalen Veränderungen zu diskutieren, die eine Begrenzung des
Industrialismus in unzähligen Bereichen, allen voran der Nuklearindustrie
bis hin zur Kulturindustrie, nach sich zögen. Allein der Hinweis auf die
Folgen einer Begrenzung des Industrialismus und ein Verständnis für de-
ren revolutionäre Folgen reichen aus, um die große Bedeutung des Themas
darzulegen.
Das Profitgesetz aufzuhalten, erfordert natürlich ein umfassendes ge-
sellschaftliches Handeln. Da die demokratische Moderne nicht haupt-
sächlich vom Profit angetrieben ist, gewinnt sie als am besten geeignete
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 271

Zivilisationsoption vitale Bedeutung. Die Hauptsorge des moralischen und


politischen Gesellschaftsystems, das nicht auf Klasse-Kapital-Profit beruht,
ist, die eigene Identität frei zu halten und dafür die Instrumente der de-
mokratischen Politik zum Leben zu erwecken. Der Liberalismus gibt für
das Individuum das Ziel unbegrenzten Gewinns und der Leidenschaft für
Profit aus. Als einzige Lebensweise dafür propagiert er ständig die kapitalisti-
sche und industrialistische Moderne. Wie bei den Religionen des Altertums
empfindet er es als nötig, das System gewissermaßen zu segnen. Der Kultur-
Industrialismus ist die grenzenlose neue Form dieser Segnung. Der wirt-
schaftliche Klassenkampf, alle möglichen Machtkämpfe, ökologische und
feministische Bewegungen können eine derart riesenhaft angewachsene
Moderne nur durch eine alternative Moderne aufhalten. Vierhundert Jahre
kapitalistischen Hegemoniestrebens zeigen diese Tatsache ausreichend deut-
lich.
Wir müssen keine großen Sozialwissenschaftler*innen sein, um zu be-
greifen, dass selbst der Zerfall des Realsozialismus von seiner Unfähigkeit
herrührte, ein alternatives Modell zu entwickeln. Wir können durchaus an-
nehmen, dass der Realsozialismus seine Überlegenheit hätte wahren können,
wenn er nur eine Lösung für das Problem des Industrialismus gefunden
hätte. Wenn im Kampf gegen das kapitalistische Hegemoniestreben, das
buchstäblich alles tat, um die Moderne zu prägen, vor allem die Kräfte mit
einer realsozialistischen Linie und alle andern wesentlichen oppositionel-
len Gruppen (utopistische, anarchistische, ökologische, feministische und
nationale Befreiungsbewegungen) zumindest eine theoretische und prak-
tische Hauptrichtung im Kampf für die eigene Moderne bestimmt hätten,
so sähe die Moderne der heutigen Welt wahrscheinlich ganz anders aus.
Der eine Punkt, an dem sie alle gemeinsam verloren, war, nicht zu fra-
gen »Welche Moderne?« und gemeinsam eine theoretische und praktische
Linie zu verfolgen, um sie zu beantworten; sie steckten bis zum Hals in der
Lebensweise, die Kapitalismus und Industrialismus vorgaben und sahen die-
ses Leben nicht als Übel. Schlimmer und noch wichtiger: Anstatt den Staats-
Nationalismus als ein Element der Moderne zu kritisieren, akzeptierten sie
diesen zunächst als Hauptform der eigenen Lebensweise, woraufhin es na-
türlich zweifelhaft und schwierig für die Opposition allgemein und insbe-
sondere die Linke wird, eine erfolgversprechende Sache sichtbar zu machen.
Etwas, worüber ich staune, ist die Parole »Eine andere Welt ist möglich«.
Dass diese Parole präsentiert wird, als handele es sich um eine wichtige
Entdeckung, verstärkt mein Erstaunen noch. Während die gigantischen
272 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Probleme der Moderne ins Auge springen, das Schiff des Systems bereits
leckgeschlagen ist und stückchenweise auseinanderfällt, während selbst die
Natur rebelliert, macht eine solche Parole, die wie eine Neuentdeckung prä-
sentiert wird, den Menschen sprachlos. Wenn alle Probleme und Verirrungen
(gemeint ist die Lebensweise) der herrschenden (von Kapitalismus und
Industrialismus geprägten) Moderne offenbar sind, darfst du dich nicht mit
der Kritik der Hauptelemente der Moderne aufhalten, sondern man wird
dich fragen: »Mit welcher Alternative wirst du aufwarten, welche Alternative
kannst du aufbauen?«
In der Vergangenheit wurden Philosophien und Morallehren, Tugenden
und Weisheiten entwickelt, um auf die Probleme der Moderne der eigenen
Ära zu reagieren. Es lässt sich darüber diskutieren, ob diese ausreichend
waren. Wichtig ist jedoch, dass es nie an Anstrengungen im Namen der
moralischen und politischen Gesellschaft gefehlt hat. Im Lichte all dieser
Erfahrung ergibt die demokratische Moderne nur dann Sinn, wenn sie der
kapitalistischen Moderne mit umfassenden Analysen und Antworten für
ihre spezifischen Probleme gegenübertritt.
Geschichte und Gegenwart sind, entgegen der landläufigen Meinung,
nicht der Bereich der absoluten Herrschaft der Zivilisationskräfte.
Die gegenteilige Behauptung enthält viel Propaganda. Nicht jede
Geschichtsschreibung entspricht den Tatsachen, und so ist auch nicht alles
wahr, was die Sozialwissenschaften über die heutige Moderne sagen; zum
großen Teil handelt es sich um Rhetorik der ideologischen Hegemonie, um
zu verwirren, zu blenden, Dogmen zu etablieren. Demokratische Politik
im engeren Sinne ist nicht nur ein Mittel, um die politische Gesellschaft
zum Funktionieren zu bringen; sie ist auch die Tat, die die historische
Gesellschaft in all ihren Aspekten erklärt. Die große Kraft der moralischen
und politischen Gesellschaft, entscheiden und handeln zu können, kommt
erst dann zutage, wenn ihre Bemühungen, die kapitalistische und indust-
rialistische Moderne durch demokratische Politik zu erklären, sich mit der
Wahrheit vereinen. Dann findet die Frage »Was für eine Moderne, was für
ein modernes Leben?« ihre angemessene Antwort. Die Erfahrungen der letz-
ten vierhundert Jahre mit der kapitalistischen Hegemonie beweisen, dass
keine andere Methode genügend erfolgversprechende Antworten zu produ-
zieren imstande ist. Die demokratische Moderne in Idee und Praxis ist die
kompetente Antwort auf diese historische Erfahrung.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 273

C Nationalstaat, Moderne und


demokratischer Konföderalismus

Der Nationalstaat als die dritte und wichtigste Diskontinuität der Moderne
ist die grundlegendste instrumentelle Form, mithilfe derer der Kapitalismus
die Gesellschaft erobert und kolonialisiert. Während sich der Liberalismus als
Gesamtheit der Ziele (Summe der Ideen) präsentiert, stellt der Nationalstaat
die grundlegende Form der Macht dar. Ohne die nationalstaatliche Form
hätte die umfassendste Eroberung und Kolonialisierung im Innen und
Außen, die die Gesellschaft je erlebt hat, nicht stattfinden können.
Der Nationalstaat ist auch dasjenige Thema, über das die
Sozialwissenschaften die größte Ansammlung von Blendungen,
Verzerrungen und Dogmen aufgehäuft haben. Wir können immer noch
kaum sagen, dass bisher eine ausreichende Analyse des Staates erfolgt wäre.
Selbst einem Marxisten wie Lenin gelang es nicht, als er sich in eine der
größten gesellschaftlichen Revolutionen begab66, die ›Frage von Staat und
Macht‹ bei seinem Analyseversuch vom nationalstaatlichen Standbein der
Moderne zu befreien. Und das ist noch untertrieben: Er konnte sich nicht
einmal verkneifen, die trotz aller Kritik erfolgte schnelle Umwandlung der
Sowjets – eine Organisierung der demokratischen Gesellschaft – in einen
Nationalstaat als Konsolidierung der Revolution zu bewerten. Der chine-
sische Nationalstaat, der heute dem Kapitalismus den allergrößten Dienst
erweist, ist das überragende Beispiel für denselben Ansatz.
Anthony Giddens’ Ansatz bezüglich der Singularität enthält zwar
Richtiges, doch bleibt er in Bezug auf die Verkettung des Nationalstaates
mit den historisch kumulativen Macht-Akkumulations-Monopolen höchst
ungenügend. In den beiden vorigen Bänden dieses Manifests habe ich ver-
sucht, den Nationalstaat ausführlich zu definieren. Ich werde das Thema
hier aus verschiedenen Winkeln noch einmal beleuchten und durch einige
notwendige Schlüsse die Darstellung ausbauen.
Vor allem sollten wir uns den Nationalstaat als die Maximalform der
Macht denken. Kein anderer Staat besitzt die gleiche Machtfülle wie der
Nationalstaat (es mag richtiger sein, von einer Staats-Nation zu spre-
chen). Der wichtigste Grund dafür ist, dass er die obere Mittelklasse in
66 Lenin stellte Staat und Revolution, auf das der Autor hier anspielt, im September 1917 und damit
unmittelbar vor der Oktoberrevolution fertig.
274 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zunehmendem Maße in den Monopolisierungsprozess einbindet. Wir dür-


fen niemals vergessen, dass der Nationalstaat das am weitesten entwickelte,
vollständigste Monopol darstellt. Auf der Stufe des Nationalstaates sind die
Handels-, Industrie- und Finanzmonopole mit dem Machtmonopol maxi-
mal verbündet. Es handelt sich um die am weitesten entwickelte Einheit al-
ler Monopole. In diesem Zusammenhang müssen wir auch das ideologische
Monopol als untrennbaren Bestandteil des Machtmonopols denken.
Einer der Bereiche, in denen die Sozialwissenschaften am meisten in
die Irre führen, betrifft die Monopole. Sie legen großen Wert darauf, die
Machtapparate als von den Handels-, Industrie- und Finanzmonopolen
getrennte und über der Wirtschaft stehende Institutionen darzustellen.
So möchten sie die Macht im Allgemeinen und den Staat im Besonderen
präsentieren, als seien sie andere Phänomene als das Monopol. Dies ist ei-
ner der wesentlichen Punkte, der die Sozialwissenschaften verkrüppelt zu-
rücklässt. Der Unterschied zwischen supraökonomischen Monopolen und
Machtmonopolen lässt sich lediglich im Sinne einer Arbeitsteilung erklären.
Davon abgesehen bilden sie definitiv eine historische Totalität. Ich muss
an dieser Stelle einen Satz von Fernand Braudel zitieren, den ich sehr ein-
drücklich finde. Braudel sagt: »Die Macht sammelt sich ebenso an wie das
Kapital.«67 Er scheint die Totalität beider erfasst zu haben. Ohnehin ist er ein
weiser Mensch, der das Thema in vielfältiger Weise erhellt hat.
Macht wird nicht nur wie Kapital akkumuliert; Macht ist der homogens-
te, raffinierteste, historisch akkumulierte Zustand des Kapitals. Ich möchte
es hervorheben: Macht ist der homogenste, raffinierteste, historisch akkumulier-
te Zustand des Kapitals. Die anderen über der Wirtschaft stehenden Kapitale
werden anders akkumuliert, gehandelt und organisiert. Wir betrachten und
verstehen sie alle als Monopole, weil sie über der Wirtschaft stehen und
die Beschlagnahme gesellschaftlicher Werte im Allgemeinen, gesellschaft-
licher Mehrwerte im Besonderen ihren Charakter ausmacht. Ob in Form
von Steuern, Profiten aus Betrieben oder ganz offener Plünderung; alle
Abpressungen von der Gesellschaft besitzen monopolistischen Charakter.

67 Das Originalzitat lautet: »Die Macht sammelt sich ebenso an wie das Geld […]« Fernand
Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Band 3, Aufbruch zur Weltwirtschaft (München
1986), S. 50, und »In dieser abgeschirmten Dunkelzone [von Kalkül und Spekulation], in der
Eingeweihte ihre undurchsichtigen Aktivitäten entfalten, liegt meines Erachtens die Wurzel
all dessen, was sich unter dem Begriff Kapitalismus fassen lässt – Kapitalismus verstanden als
Akkumulation von Macht (die den Tausch mehr auf ein Kräfteverhältnis als auf wechselseitige
Bedürfnisse gründet), als Sozialparasitismus, über dessen Unvermeidbarkeit sich, wie über die
vieler anderer Erscheinungen, streiten lässt.« ebd., Band 2, Der Handel (München 1986), S. 12.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 275

Deshalb ist der Begriff ›Monopol‹ angemessen und sollte gut verstanden
werden.
Die historische Besonderheit des Nationalstaates ist, dass er all diese
Monopole in sich selbst perfekt vereint hat. Der Nationalstaat ist die maxi-
male Totalität des Kapitals und bezieht daraus auch seine Stärke. Daraus folgt
auch, dass er das effektivste Instrument der Kapitalakkumulation darstellt. Es
war für uns alle sehr überraschend, als der von der Bolschewistischen Partei
errichtete Nationalstaat uns siebzig Jahre später als eine gigantische Totalität
des Kapitals gegenübertrat. Dabei wird diese Situation durchaus verständ-
lich, wenn wir sie aus der Perspektive unserer Analyse des Nationalstaats
betrachten. Denn die Organisierung als Nationalstaat ist die typische und
gradlinige Organisierung des Kapitals als Staat. Mit dem Nationalstaat lässt
sich kein Sozialismus, sondern allenfalls der reinste Kapitalismus organi-
sieren. Ebenso wenig man aus dem Maultier ein Pferd machen kann, kann
man auch den Nationalstaat sozialistisch machen oder als sozialistisch be-
trachten!
Trotzdem können wir die Einzigartigkeit des Nationalstaates nicht er-
klären, indem wir ihn von den historischen Formen des Staates loslösen.
So sehr sich auch Unterschiede zu den früheren historischen Staatsformen
herausgebildet haben, entscheidend ist die historische Akkumulation der
Macht. Schauen wir uns England an, das erste Land, das den Nationalstaat
organisierte: Anfang des sechzehnten Jahrhunderts befindet sich England
im Klammergriff der Mächte Spanien, Frankreich und der Normannen.
Hätte es sich nicht als Nationalstaat organisiert, drohte ihm offenbar die
Liquidierung. England war ein Königreich, die Dynastien wechselten sich
ab. Seine Wirtschaft wurde durch seit dem Neolithikum von Europa aus
stattfindende Migrationen aufgebaut. Der wesentliche Unterschied zu den
anderen Ländern Europas war seine Insellage. Seinen eigenen Nationalstaat
gründete es auf diese konkreten historischen Bedingungen. Der Geschichte
können wir konkret entnehmen, wie die zunehmende Stärke des Pfund
Sterling mit Verschuldung und einer maximalen Monopolisierung über
der Wirtschaft einherging. Bekanntlich wandte sich England auch der
Industriellen Revolution zu, um einen hegemonialen Vorstoß zu unter-
nehmen. Also hätte ohne eine Fundierung in der englischen Geschichte,
besonders in der dynastischen Geschichte, und ohne selbst dynastisch zu
sein, der englische Nationalstaat nicht nur nicht gegründet werden kön-
nen, er wäre gar undenkbar gewesen. Die Dynastie stellte in der Geschichte
die umfassendste und langlebigste Staatsform dar. Mit diesem Aspekt
276 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Geschichte hängt zusammen, dass England heute immer noch das
Prestige des Königshauses nutzt. Demokratien und Republiken gibt es in
der Geschichte nur sehr wenige. Imperien sind wieder eine andere Form.
Ohne die Machtakkumulation als über die Jahrtausende gefilterte und raf-
finierte Monopole können Staaten im Allgemeinen und Nationalstaaten im
Besonderen gar nicht entstehen.
Auf die theologischen Ursprünge des Nationalstaates und seine
Verbindungen zu ihnen wurde recht wenig eingegangen, doch ist dieses
Thema höchst wichtig. Carl Schmitt hat diesen Aspekt der Wirklichkeit
erhellt, als er feststellte, dass sämtliche modernen politischen Begriffe aus
der Theologie (der Wissenschaft von Gott) stammen. Wer über Soziologie
sorgfältig nachdenkt, wird leicht erkennen, dass Religion und damit zusam-
menhängend göttliche Imaginationen die älteste Form der gesellschaftli-
chen Identität darstellen. Religion und Gott sollten nicht als bewusste ima-
ginäre Identitäten verstanden werden, sondern als eine Notwendigkeit des
Entwicklungsstandes der Mentalität. Gemeinsame Vorstellungen brachten
die Gesellschaft dazu, sich mit den heiligsten Begriffen zu identifizieren. Sie
betrachtete diese Identitätsbildung als eine Art, ihr Überleben zu sichern. Die
Wurzeln der Göttlichkeit liegen in der Sakralisierung der gesellschaftlichen
Existenz. Als sich mit der Zeit die Spaltung zwischen Macht und Staat einer-
seits und der Gesellschaft andererseits beschleunigte, wurden die Attribute
der Heiligkeit und Göttlichkeit der kollektiven Identität der gesamten
Gesellschaft entzogen und jenen zugesprochen, die Macht und Staat besaßen.
Die ideologische Hegemonie spielt dabei eine wichtige Rolle. Es wird schlicht
festgelegt, dass Macht und Staat göttlichen Ursprungs seien; damit ist der
Weg frei für die Besitzer*innen von Macht und Staat, die eigene Heiligkeit
und Göttlichkeit zu behaupten. Von dort ist der Weg zu den Begriffen Gott-
König und Gottesstaat nicht mehr weit. Die Begriffe Botschafter Gottes und
Schatten Gottes ließen dann nicht lange auf sich warten.
Zwar gibt der laizistische Staat vor, er habe mit diesen Vorgängen nichts
zu tun, doch entspricht dies nicht der Wahrheit. Da der Laizismus ein
Grundprinzip der Freimaurerlogen war, die den Einfluss der Kirche ablehn-
ten, liegt es in der Natur der Sache, dass er als Gegenpol zum geistlichen
Prinzip seine Existenz in großem Maße diesem Begriff verdankt. Wir müssen
betonen, dass weder der Laizismus so weltlich-säkular noch das Geistliche
so jenseitsorientiert ist, wie man allgemein annimmt. Beide Begriffe sind
weltlich, gesellschaftlich. Erst ideologische Dogmen stellen den Unterschied
zwischen beiden her.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 277

Daher ist zu erwarten, dass das Bild des göttlichen Ursprungs von Macht
und Staat, das zu allen Zeiten präsent war, sich auch in unserer Zeit abbildet.
Undenkbar ist, dass der heutige Staat von dieser Widerspiegelung unbeein-
flusst geblieben sein sollte. Der Begriff wurde die Geschichte hindurch so
geprägt. Die Begriffe laizistischer Staat und laizistische Macht sind wider-
sprüchlich und undeutlich.
Der Nationalstaat ist mehr mit göttlichen Begriffen aufgeladen
als wir denken. Er unterliegt mehr als jemals zuvor Segnungsfeiern.
Begriffe wie Vaterland, Flagge, Unitarismus, Unabhängigkeit, Heiligkeit,
Nationalhymne und Heldengeschichten, auf die er sich stützt und die er
sich als Bilder gewählt hat, besitzen mehr göttliches Prestige als diejenigen
der Gottkönigtümer. Keine Staatsform hat sich so sehr mit ideologischen,
rechtlichen, politischen, ökonomischen und religiösen Panzerungen umge-
ben wie der Nationalstaat. Der Hauptgrund dafür ist, dass er die wesentliche
Einkommensquelle für eine aufgeblähte zivile und militärische Bürokratie
darstellt. Wenn der staatliche Sessel unter ihr weggezogen würde, läge die
Bürokratie wie ein Fisch auf dem Trockenen. Für die Bürokratie ist der
Staat eine Frage von Leben und Tod. Mit dieser Eigenschaft der Bürokratie
hängt die extreme Zuschreibung von göttlichem Prestige für den Staat zu-
sammen. Wenn die kapitalistische Moderne mehr als jede andere Moderne
den Staat so betont und solch einen Zirkus um ihn veranstaltet, so liegt die
Ursache dafür auch in seiner veränderten Klassenstruktur. Auch zwischen
Moderne, Nationalstaat, besonders dem Streben nach dem ›Einheitsstaat‹,
dem ›Unitarismus‹, und dem Begriff der Einheit Gottes besteht ein enger
Zusammenhang. Wie in der Geschichte manche Stämme und Volksstämme
zusammen mit ihren Gött*innen liquidiert oder vom überlegenen Stamm
oder Volksstamm absorbiert wurden, so wurden auch ihre Gött*innen von
den überlegenen Gött*innen des Stammes oder Volksstammes absorbiert
und mit ihnen vereinigt. Wenn wir den Begriff der Einheit Gottes im Lichte
dieser soziologischen Analyse betrachten, können wir seine Bedeutung leich-
ter erfassen. Er enthält Kolonialismus und Assimilation.
Die Geschichte des Unitarismus des Nationalstaates ist sehr weitgehend
göttlich. Während die vollständige Entwaffnung der ihnen untertänigen
Gesellschaften und die Übertragung des vollständigen Waffenmonopols an
den modernen Staat zum Unitarismus führten, fand im Kern eine verhee-
rende Monopolisierung von Ausbeutung und Kolonialismus statt. Indem
Theoretiker*innen der Souveränität, allen voran Hobbes und Machiavelli,
im Namen der Wissenschaftlichkeit den modernen Staat definierten,
278 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

erwiesen sie dem kapitalistischen Monopolismus den größten Dienst. Die


Konzentration sämtlicher Waffen in einer monistischen Struktur im Namen
des gesellschaftlichen Friedens führte zu einer nie dagewesenen politischen
Schwächung der Gesellschaft und damit zum Raub ihrer gesamten wirt-
schaftlichen Existenz. Da Staat und Macht sich letztlich wie ein Monopol
verhalten werden, kann keinerlei gesellschaftlicher Wert Bestand haben,
den sie mit dieser in ihren Händen konzentrierten Waffengewalt nicht be-
schlagnahmen. Sie werden nach Belieben die Gesellschaft formen und alles
Unerwünschte entfernen. Und genau auf diese Art und Weise verlief die
Geschichte, und unvorstellbare Völkermorde fanden statt.
Der Nationalstaat als gemeinsamer Nenner aller Monopole begnügt sich
nicht damit, auf den Raub, die Eroberung und die Kolonialisierung der
gesellschaftlichen materiellen Kultur gebaut zu sein; er spielt auch die ent-
scheidende Rolle bei der Assimilation der immateriellen Kultur. Er verleiht
unter dem Namen ›nationale Kultur‹ meist den kulturellen Normen einer
dominanten Ethnie oder Religionsgemeinschaft offiziellen Rang und er-
klärt allen übrigen kulturellen Existenzen den Krieg. Er sagt: »Sie schaden
der nationalen Einheit«, und bereitet allem, was an Religionen, Ethnien,
Stämmen, Nationen, Sprachen und Kulturen seit Tausenden von Jahren sei-
ne Existenz bewahrt hat, entweder durch Gewalt oder materielle Anreize ein
Ende. Wie nie zuvor wurden Sprachen, Religionen, Konfessionen, ethnische
Gruppen und Stämme Opfer dieser Politik oder besser: dieses Völkermordes.
Die materiellen Völkermorde (physische Vernichtung) sind dabei gegen-
über den immateriellen Völkermorden nur verschwindend gering. Durch
die Jahrtausende gefilterte sprachliche und kulturelle Werte werden mit den
sie tragenden Gruppen in einem Wahnsinn dem heiligen Akt der Schaffung
einer ›nationalen Einheit‹ geopfert.
Noch weit problematischer ist das Verständnis des Nationalstaates von
›Vaterland‹ bzw. ›Heimat‹ (vatan). Die Souveränität des Staates, mit wel-
chen Mitteln auch immer, sowie die geografischen Grenzen, in denen er sein
Monopol ausübt, werden als ›heiliges Vaterland‹ imaginiert. Das Vaterland
wurde eigentlich zum gemeinsamen Besitz der Allianz der Monopole ge-
macht. Das System, das sie darin errichtet haben, ist ein Kolonialismus,
der sehr viel tiefer reicht als der alte Kolonialismus mit seinen Kolonien.
Während früher nur eine Kolonialmacht in einem Land herrschte, ist
heute der Kolonialismus so vielfältig wie die Monopole, die der moderne
Nationalstaat über seinem ›heiligen Vaterland‹ errichtet. So, wie die koloni-
alisierten Völker entwaffnet wurden, so entwaffnete das ›heilige Vaterland‹
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 279

das Volk und beraubte es seiner Fähigkeit zum Widerstand gegen jegliche
Art von Ausbeutung. Angefangen mit der Arbeitskraft, werden sämtliche
materiellen und immateriellen kulturellen Existenzen einer mehrfachen
Ausbeutung ausgesetzt. Anders wäre es nicht möglich, die tumorartig ge-
wachsenen Bürokratiemonopole satt zu bekommen.
Die Diplomatie des Nationalstaates wird mit dem Ziel aufgebaut, sich mit
den ausländischen Monopolen – den anderen Nationalstaaten – zu koordi-
nieren und die Angelegenheiten des globalen Systems der Nationalstaaten zu
verfolgen. Kein Nationalstaat könnte sich auch nur vierundzwanzig Stunden
auf den Beinen halten, wenn er nicht von den anderen Nationalstaaten an-
erkannt würde. Der Grund dafür liegt in der Logik des globalen kapitalisti-
schen Systems. Ohne Einwilligung der Hegemonialmacht kann die Existenz
eines Nationalstaates nicht von Dauer sein. Die Geschichte jedes einzel-
nen steht im Buch des Hegemons verzeichnet. Wer die Regeln bricht, er-
leidet entweder das Schicksal Saddam Husseins oder wird durch Embargos
in den Bankrott getrieben und gestürzt. Man geht davon aus, dass jeder
Nationalstaat genau weiß, dass ohne die Erlaubnis einer Hegemonialmacht
während der Gründung oder später seine Existenz nicht von Dauer sein
kann. Selbst die Sowjetunion und der chinesische Staat konnten dieser Regel
nicht entkommen.
Eine der Grundeigenschaften des Nationalstaates ist seine weitestgehende
Verschlossenheit gegenüber pluralen und diversen politischen Gebilden. Der
Grund dafür ist verständlich. Denn plurale und diverse politische Strukturen
innerhalb der gegebenen Grenzen werden ein Hindernis für die Ausbeutung
durch das Monopol darstellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die mo-
ralische und politische Gesellschaft, wenn sie sich durch verschiedene poli-
tische Strukturen, insbesondere demokratische Strukturen konstituiert, den
Raum für die Monopole stark einengt. Begriffe wie die ›Unteilbarkeit der
Souveränität‹, die ›Einheit des Landes‹, die ›unitäre Struktur‹ und ähnliche
wurden aus diesem Grund ersonnen. Die Absicht dahinter ist, die Werte des
Landes nicht mit dem eigenen Volk und Gruppen der eigenen Gesellschaft
zu teilen. Dieser Vorwand spielt selbst bei der Vernichtung der immateriel-
len Kultur die Hauptrolle. Obwohl politischer, demokratischer Pluralismus
das beste Regime für Gleichheit auf der Grundlage von sowohl Freiheit
als auch Differenzen darstellt, wird jede Handlung in dieser Richtung als
gefährlich und illegal dargestellt, weil sie die ›Einheit des Landes und des
Regimes‹ gefährde.
280 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Durch die nationalistische Identität, die der Nationalstaat so oft be-


nutzt, wurde er vielleicht zum größten kollaborierenden Vertreter der
Hegemonialmacht aller Zeiten. Unter dem nationalistischen Gewand steckt
der treueste Kollaborateur des globalen kapitalistischen Systems. Keine an-
dere Institution ist so sehr wie der Nationalstaat von der Zentralmacht
des globalen Kapitalismus abhängig und ein Lakai dieser Macht. Dieser
Charakter ist der Grund für den Kolonialismus im Inneren. Je nationalisti-
scher sich ein Nationalstaat gibt, desto mehr dient er der Hegemonialmacht
des Weltsystems. Wer meint, der Nationalstaat, den die Hegemonialmacht
seit vierhundert Jahren sorgfältig vorbereitet, geformt und selbst systemati-
siert hat, handele im Interesse der Nation, hat von den furchtbaren hegemo-
nialen Machtkämpfen des Weltsystems nichts verstanden.
Bei der Analyse des Begriffs Nationalstaat sollten wir die Vermischung mit
bestimmten anderen Themen und daraus resultierende Fehler vermeiden.
Zunächst müssen wir den Begriff Nationalstaat gut definieren. Historische
Staaten haben sich als Organisation im Allgemeinen auf ihre Mitglieder
beschränkt und so definiert. Als Kader-Staaten mussten sie akzeptiert wer-
den, sich gegenseitig überzeugen, preisen, adeln, sogar vergöttlichen. Dieser
Ansatz änderte sich mit dem Nationalstaat. Von nun an sollte er sich nicht
nur den Kadern des Staates, sondern jedem der als Staatsbürger*innen be-
zeichneten einzelnen Individuen der Gesellschaft, die ihm untertan sind,
in der Größe, Erhabenheit und Heiligkeit des Nationalstaats-Gottes prä-
sentieren und von ihnen Akzeptanz einfordern. Die gesamte Gesellschaft
wurde geradezu vom Nationalstaat absorbiert. Das ist mit Einschluss in den
eisernen Käfig gemeint. Solange wir dies nicht begreifen, können wir we-
der den Nationalstaat noch die Moderne begreifen. Der erste Punkt, der
das richtige Verständnis des Nationalstaates erschwert, ist, dass er in einem
Atemzug mit Republik und Demokratie diskutiert wird. Der Nationalstaat
ist keine Republik, und er entstand in Gegnerschaft zur Philosophie der
Republik, ihren grundlegenden Institutionen und ihrer Funktionsweise.
Der Nationalstaat ist die Negation der Republik. Die in der Linken immer
noch einflussreiche Ansicht und offizielle Haltung der hunderfünfzigjähri-
gen realsozialistischen Linken, ohne zentralistische Nationalstaaten könne es
Demokratie und Sozialismus nicht geben, ist ein fürchterlicher Selbstbetrug.
Seine furchtbaren Folgen zeigten sich in der Ermordung Rosa Luxemburgs
und vieler anderer Sozialist*innen und Demokrat*innen; später bei der
Auflösung des realsozialistischen Systems. Keine Selbsttäuschung hat dem
Sozialismus und der Demokratie mehr geschadet. Republik und Demokratie
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 281

erhalten ihre wahre Bedeutung nur durch pluralistische, demokratische po-


litische Strukturen, die sich gegen den Monopolismus des Nationalstaates
richten. Erst dann lassen sich durch das Regime pluralistisch-demokratischer
Politik der demokratischen Republik ein sinnvoller Patriotismus und ein
Leben in der Einheit in Vielfalt verwirklichen.
Unter den heutigen Bedingungen, da die Monopole des globa-
len Finanzkapitals um die Hegemonie wetteifern, beobachten wir ihre
Versuche, die alten Nationalstaaten neu zu strukturieren. Diese Tendenz
des Neoliberalismus ist offensichtlich, auch wenn sie unter der Maske an-
derer Ziele (insbesondere der täuschenden Maske der Demokratie) erfolgt.
Der nationale Monopolismus kann in vielerlei Hinsicht mit dem globalen
Monopolismus nicht mithalten, die Erfordernisse globaler Politiken nicht
erfüllen und nicht schnell genug umsetzen. Daher führt er zu Stockungen
im Gesamtsystem. Die Bemühungen um einen Neuaufbau gelten nicht ei-
ner Liquidierung des Nationalstaates, sondern seiner Unterordnung unter
die Wünsche des global-hegemonialen Finanzkapitals.
Der Nationalstaat scheut sich nicht, für die ideologische Hegemonie, mit
der er die Gesellschaft durchtränkt hat, vier ideologische Hauptformen in-
einander verschränkt und eklektisch zusammengesetzt zu verwenden. Dem
Nationalismus als der grundlegenden ideologischen Form des Nationalstaates
wurde ein gänzlich religiöses Wesen verliehen. So sehr der Nationalstaat
zur kapitalistischen Moderne gehört, so sehr ist der Nationalismus die mo-
derne Religion. Er wurde als gesellschaftliche Religion der positivistischen
Philosophie herangezüchtet. Den Patriotismus müssen wir uns als gesell-
schaftliche Natur, als das Gegenteil der nationalen Gesellschaft vorstellen.
Nationalismus ist in diesem Sinne die am stärksten gegen die Nation ge-
richtete Ideologie. Indem der Nationalismus die Nation – ein demokra-
tisches Phänomen – unter die ideologische Hegemonie des Kapitalismus
stellt, erweist er den ausbeuterischen Monopolen den größten Dienst. Er
macht die gesamte Nation zum gemeinsamen Besitz und zur gemeinsamen
Kolonie der engstens verbündeten Monopole (Handels-, Industrie-, Finanz-
und Machtmonopole). Besonders diese Funktion erfüllt er im Gewand der
positivistischen nationalistischen Religion.
Der Nationalismus als Religion des Nationalstaats zeigt sich in Form
zweier Phänomene, die im Wesentlichen identisch sind, auch wenn das
widersprüchlich erscheinen mag: Das erste ist die Göttlichkeit des ›unitä-
ren Staates‹. Innerhalb der Nation ist dieser als einziger Gott quasi unhin-
terfragbar. Im internationalen Bereich äußert sich diese monotheistische
282 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Form als Super-Hegemon (ein Hinweis darauf ist, dass der Präsident des
Super-Hegemons USA, George W. Bush, erklärte, er handle im göttlichen
Auftrag68). Der Super-Hegemon ist, mit Hegels Worten (er sagte es seiner-
zeit über Frankreich und Napoleon) der ›Gott, der auf der Erde wandelt.‹69
Gleichzeitig ist aber jeder Nationalstaat als Gott nur ein Nations-Götze des
Super-Hegemons. So bedeutet die Vermehrung der Nationalstaaten keinen
Zerfall der Einheit und keinen Übergang zu einem System der Vielgötterei;
es handelt sich vielmehr um die Vermehrung von Götzenbildern. Die phi-
losophische Quelle dessen ist der Positivismus.
Die zweite eklektische Ideologie des Nationalstaates ist der positivisti-
sche Szientismus. Er ist die ideologische Quelle, die dem Nationalismus am
nächsten steht. Beide speisen einander. Sein Begründer war Auguste Comte,
er wollte ausdrücklich den Positivismus als eine säkulare, universale Religion
konstruieren. Doch setzte sich dieses Denken nicht so stark durch wie der
Marxismus. Dennoch ist der Positivismus die grundlegende Religion des
Laizismus. Nietzsche traf den Nagel auf den Kopf, als er feststellte, dass der
Positivismus, der das Gegenteil der Metaphysik zu sein behauptet, selbst
oberflächlichste Metaphysik ist. Das ist eine wichtige Feststellung.70 Als eine
der ideologischen Lieblingsvarianten der Moderne wurde der Positivismus
hegemoniale Ideologie und hat die Sozialwissenschaften stark verzerrt, ge-
blendet, zum Götzen gemacht.
Auch als Wissenschaft ist der Positivismus (der Szientismus) eine
höchst oberfächliche Philosophie der Phänomene. Ein Phänomen ist die
Erscheinung der Wirklichkeit; im Positivismus hingegen ist das Phänomen
die Wirklichkeit selbst. Demnach ist nichts real, was kein Phänomen ist.
Aus der Quantenphysik, der Astronomie und der Biologie, sogar aus der
Substanz des Denkens selbst wissen wir, dass die Wirklichkeit größtenteils

68 Die BBC zitierte den palästinensischen Außenminister Nabil Shaath, der berichtete, Bush habe ihm und
anderen 2003 erklärt, Gott habe ihm den Auftrag zu den Interventionen in Afghanistan und Irak gegeben.
69 Siehe Fußnote 52 in Band II, S. 141.
70 »Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehen bleibt, ›es gibt nur Tatsachen‹, würde ich sa-
gen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum ›an sich‹ feststellen:
vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen.
›Es ist alles subjektiv‹, sagt ihr: aber schon das ist Auslegung. Das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas
Hinzuerdichtetes, Dahintergestecktes. – Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation
zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.
Soweit überhaupt das Wort ›Erkenntnis‹ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat
keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. – ›Perspektivismus‹.
Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen; unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder
Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen
Trieben aufzwingen möchte.« Friedrich Nietzsche, Wille zur Macht (Leipzig 1917), 276. Zitiert
nach gutenberg.org.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 283

jenseits beobachtbarer Ereignisse in anderen Sphären abläuft. Im Verhältnis


von Beobachtetem und Beobachter*in hat die Wirklichkeit (die Wahrheit)
einen höchst geheimnisvollen Charakter angenommen, der sich der phy-
sikalischen Messbarkeit und der Beschreibung entzieht. Der Positivismus,
in Negation dieser Tiefe, ähnelt am ehesten der Götzenanbetung (dem
Paganismus) des Altertums. Das Götzenbild, das als Phänomen erscheint,
spiegelt die Verbindung zwischen Paganismus und Positivismus wider.
Daher nehmen alle Hirne, die im Nationalstaat von der Religion des
Nationalismus gewaschen wurden, die Auffassung, die Welt bestehe aus
einfachen Erscheinungen, als eine Art Anbetung wahr. Die Besessenheit der
Konsumgesellschaft vom ›Objekt‹ ist diese Anbetung selbst. In diesem Sinne
ist die Formierung der Konsumgesellschaft als ein Produkt der national-
staatlichen Umgebung höchst wichtig und verständlich. So bieten einerseits
alle Individuen der Gesellschaft als Gefangene der Ware (im Nationalstaat
und in der Konsumgesellschaft ist die Ware vollständig zum Götzen gewor-
den), als extreme Konsument*innen, den kapitalistischen Monopolen ext-
reme Profitmöglichkeiten; andererseits wird die durch den gewissermaßen
als Religion erscheinenden Konsumismus gefangen genommene Gesellschaft
zur handzahmen, assimilierten und sehr leicht steuerbaren Gesellschaft ge-
macht. Eine Gesellschaft, deren Mentalität von furchtbaren nationalisti-
schen Parolen gekapert wurde, drückt diese Tatsache sehr deutlich aus.
Die dritte wichtige ideologische Form ist der gesellschaftliche Sexismus.
Sexismus war durch die Geschichte hindurch eine der häufigsten Waffen
der Zivilisationssysteme gegen die moralische und politische Gesellschaft.
Die Vielzweck-Kolonialisierung der Frau ist dafür eine außerordentlich
beispielhafte Erzählung. Die Frau produziert Nachkommenschaft, sie ist
kostenlose Arbeiterin, sie macht die anstrengendsten Arbeiten, sie ist die
zahmste Sklavin. Sie ist das verstetigte Objekt der sexuellen Begierde. Sie
ist Mittel der Reklame. Sie ist die wertvollste Ware, die Königin der Waren.
Als ständiges Objekt der Vergewaltigung erscheint sie als die Machtfabrik
des Mannes. Als Schmuckstück mit Schönheit und Stimme hält sie die pa-
triarchale Gesellschaft auch ideell aufrecht. Nirgends ist die Frau in jeder
Hinsicht in der Männergesellschaft so tief gefallen wie in den Strukturen des
Nationalstaats. Die Frau mit dem Image der Göttin in der nationalstaatli-
chen Gesellschaft (gemeinsam imaginierte Frauenidentität) erscheint auf den
ersten Blick als Gegenstand der Anbetung. Doch das Attribut ›Göttin‹ besitzt
hier die Bedeutung der tiefsten Erniedrigung, der Bordelltauglichkeit. Die
Frau als Göttin ist die Frau, die am schwersten beleidigt und erniedrigt wird.
284 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Während der Sexismus in der nationalstaatlichen Gesellschaft einerseits den


Mann mit maximaler Macht ausstattet (jeder dominante Mann spielt den
Sexualakt im Kopf als ›ich habe die Hure flachgelegt‹ durch), verwandelt er
andererseits in der Frau die Gesellschaft in den tiefsten Kolonialismus. In
diesem Sinne ist die Frau im Nationalstaat die am weitestgehend koloniali-
sierte Nation der historischen Gesellschaft!
Der Nationalstaat scheut nicht davor zurück, auch die Religion als vor-
moderne Tradition verschränkt mit der nationalistischen Ideologie zu be-
nutzen. Der Grund dafür ist, dass die Religion in den Gesellschaften immer
noch starken Einfluss besitzt, was man insbesondere im Islam beobachten
kann. Doch durch ihren Gebrauch in der Moderne ist die religiöse Tradition
mittlerweile nicht mehr die alte. Ob radikal oder gemäßigt, in der Moderne
wird sie durch ihren Gebrauch durch den Nationalstaat von ihrer wirklichen
gesellschaftlichen Funktion (ihrer wichtigen Rolle in der moralischen und
politischen Gesellschaft) losgelöst und in kastrierter Form präsentiert. Die
Religion kann in dem Maße ihre Rolle ausüben, wie der Nationalstaat es
erlaubt. Gegen die Fortsetzung ihres positiven Einflusses auf die moralische
und politische Gesellschaft werden massive Hindernisse errichtet. Daher
dürfen wir uns nicht wundern, wenn hin und wieder zwischen beiden
Kämpfe aufflammen. Ein Grund, warum der Nationalstaat nicht vollständig
auf die Religion als alte Tradition verzichtet, ist neben ihrem großen Einfluss
auf die Gesellschaft die Tatsache, dass sich die Religion gut dazu eignet,
benutzt und nationalistisch aufgeladen zu werden. Manchmal übernimmt
die Religion selbst die Rolle des Nationalismus. Das im Iran präsentier-
te Schiitentum ist heutzutage die stärkste hegemoniale ideologische Waffe
des iranischen Nationalstaates. Das Schiitentum ist das Extrembeispiel für
religiösen Nationalismus, doch es gibt viele ähnliche. In der Türkei ist das
Sunnitentum eine religiöse Ideologie, die dem Nationalismus äußerst nahe
steht und häufig in ihn übergeht.
Der Nationalstaat kann sich nicht allein mit dem Gebrauch des Faschismus
als der fürchterlichsten Art der Gewalt begnügen, um die vierfache monopo-
listische Ausbeutung, die er übernommen hat (Handels-, Industrie-, Finanz
und Machtmonopol), zu realisieren. Dies erfordert mindestens ebenso sehr
wie den Einsatz der systemischen Gewalt des faschistischen Regimes den
hegemonialen Gebrauch der vier eklektischen Ideologien. Ohne ideologi-
sche Hegemonie lässt sich das faschistische Regime nicht aufrechterhalten.
Die demokratische Moderne antwortet auf die Homogenisierung
(Uniformierung), die Herden- und die Massengesellschaft, die der
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 285

moderne Nationalstaat auf dem Wege erreichen will, den er mit der uni-
versalistischen, linear-progressivistischen und deterministischen Methode
(Methodenverständnis, das sich Wahrscheinlichkeiten und Alternativen
verschließt) vorgezeichnet hat, mit pluralistischen, probabilistischen, für
Alternativen offenen und die demokratische Gesellschaft sichtbar machen-
den Methoden. Sie entwickelt ihre Alternative durch ihre für verschiedene
politische Strukturen offenen, multikulturellen, Monopolisierung ausschlie-
ßenden, ökologistischen und feministischen Wesenszüge und eine wirt-
schaftliche Struktur, die grundlegende gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllt
und auf gemeinschaftlicher Kontrolle beruht. Die politische Alternative der
demokratischen Moderne zum Nationalstaat der kapitalistischen Moderne
ist der demokratische Konföderalismus.
Die Eigenschaften des demokratischen Konföderalismus können wir kurz
folgendermaßen darstellen:
a) Der demokratische Konföderalismus ist verschiedenen und mehrstufi-
gen politischen Strukturen gegenüber offen. Die komplizierte Struktur der
gegenwärtigen Gesellschaft erfordert verschiedene horizontale und vertika-
le politische Strukturen. Er hält zentrale, lokale und regionale politische
Strukturen innerhalb eines Gleichgewichts beieinander. Pluralistische poli-
tische Strukturen sind besser geeignet, die richtigen Lösungswege für gesell-
schaftliche Probleme zu finden, weil sie jeweils auf konkrete Bedingungen
antworten. Kulturelle, ethnische und nationale Identitäten besitzen das na-
türliche Recht, sich in politischen Strukturen auszudrücken. Besser gesagt, es
ist ein Erfordernis der moralischen und politischen Gesellschaft. Er ist offen
für prinzipientreue Übereinkommen mit der staatlichen Tradition, ob in der
Form des Nationalstaats, der Republik oder der ›bürgerlichen Demokratie‹.
Auf Grundlage eines Friedens mit Prinzipien können sie koexistieren.
b) Er beruht auf der moralischen und politischen Gesellschaft.
Gesellschaftsformen, die kapitalistische, sozialistische, feudale, industria-
listische, konsumistische und andere schablonenhaften Projekte wie Social
Engineering beinhalten, betrachtet er im Zusammenhang mit den kapi-
talistischen Monopolen. Derartige Gesellschaften existieren im Grunde
nicht, es gibt nur ihre Propaganda. Gesellschaften sind grundsätzlich po-
litisch und moralisch. Wirtschaftliche, politische, ideologische und mili-
tärische Monopole sind Apparate, die an dieser fundamentalen Natur der
Gesellschaft nagen und dabei hinter Mehrwert und sogar gesellschaftlichen
Tributen her sind. Sie besitzen an sich keinen eigenen Wert. Selbst eine
Revolution kann keine neue Gesellschaft erschaffen. Revolutionen können
286 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

nur dann eine positive Rolle spielen, wenn sie als Operation daherkom-
men, um das erodierte und ungenutzt gelassene moralische und politische
Gewebe wieder seiner eigentlichen Funktion zuzuführen. Alles weitere be-
stimmt der freie Wille der moralischen und politischen Gesellschaft.
c) Der demokratische Konföderalismus beruht auf demokratischer
Politik. Im Gegensatz zum starr zentralistischen, geradlinigen, bürokra-
tischen Regierungs- und Verwaltungsverständnis des Nationalstaates re-
alisieren alle gesellschaftlichen Gruppen und kulturellen Identitäten die
Selbstverwaltung der Gesellschaft in politischen Strukturen, die sie aus-
drücken. Die Angelegenheiten auf verschiedenen Ebenen werden durch
Leitungen erledigt, die nicht durch Ernennung, sondern durch Wahl ins
Amt kommen. Eigentlich geht es um die Fähigkeit, in Räten Diskussionen
zu führen und Entscheidungen zu fällen. Herumkommandierende Führung
ist abgeschafft. Von einem allgemeinen Koordinatioonsgremium (Rat,
Kommission, Kongress) bis zu lokalen Gremien entsteht die demokratische
Leitung und Kontrolle der gesellschaftlichen Angelegenheiten durch einen
Strauß von Gremien aller Gruppen und Kulturen, die ihrer Konstitution ge-
mäß und verschieden strukturiert die Einheit in der Verschiedenheit suchen.
d) Der demokratische Konföderalismus beruht auf Selbstverteidigung.
Die Selbstverteidigungseinheiten sind die grundlegende Kraft, jedoch nicht
als militärisches Monopol, sondern unter der strengen Kontrolle der de-
mokratischen Organe gemäß der Bedürfnisse der Gesellschaft nach innerer
und äußerer Sicherheit. Ihre Aufgabe als freie und auf der Grundlage von
Vielfalt egalitäre Entscheidungsstruktur der moralischen und politischen
Gesellschaft ist es, den Willen der demokratischen Politik durchzusetzen.
Und es ist ihre Aufgabe, die Interventionen von Kräften unschädlich zu
machen, die von innen und außen diesen Willen ignorieren, behindern und
zu vernichten trachten. Die Kommandostruktur der Einheiten befindet
sich unter der doppelten Kontrolle sowohl der Organe der demokratischen
Politik als auch der Mitglieder der jeweiligen Einheit und kann bei Bedarf
durch Anträge und Abstimmungen leicht geändert werden.
e) Im demokratischen Konföderalismus ist kein Platz für Hegemonie­
streben im Allgemeinen und ideologisches Hegemoniestreben im Besonderen.
Das Prinzip der Hegemonie gilt in den klassischen Zivilisationen. In demo-
kratischen Zivilisationen und in der demokratischen Moderne werden he-
gemoniale Kräfte und Ideologien nicht toleriert. Wenn sie die Grenzen der
Rede und der demokratischen Verwaltung überschreiten, werden sie durch
die Selbstverwaltung und die Redefreiheit neutralisiert. Bei der kollektiven
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 287

Leitung der gesellschaftlichen Angelegenheiten gelten die Bedingungen des


gegenseitigen Verständnisses, Respekts vor abweichenden Vorschlägen und
der Loyalität auf der Grundlage demokratischer Entscheidungen. Während
sich bei diesem Thema das Leitungsverständnis der klassischen Zivilisation
und der kapitalistischen Moderne mit demjenigen des Nationalstaates decken,
gibt es große Unterschiede und Gegensätze zum Leitungsverständnis der de-
mokratischen Zivilisation und Moderne. Ein grundlegender Unterschied ist
die bürokratische, willkürliche Verwaltung auf der einen Seite und der demo-
kratisch-moralische Führungsstil auf der anderen.
Im demokratischen Konföderalismus kann es keine ideologische
Hegemonie geben. Es gilt der Pluralismus zwischen verschiedenen Ansichten
und Ideologien. Die Leitung hat kein Bedürfnis, sich durch eine ideologi-
sche Tarnung zu stärken. Daher besteht kein Bedarf an nationalistischen,
religionistischen, positivistisch-szientistischen, sexistischen Ideologien, und
auch die Errichtung jeder Hegemonie wird abgelehnt. Solange die morali-
sche und politische Struktur der Gesellschaft nicht verletzt wird, Hegemonie
nicht angestrebt wird, solange besitzt jede Ansicht, jeder Gedanke und jede
Glaubensüberzeugung das Recht, frei ausgedrückt zu werden.
f ) Gegenüber dem Verständnis vom Zusammenschluss der National­
staaten zu Vereinten Nationen, die sich unter der Kontrolle der
Super-Hegemonialmacht befinden, befürwortet der demokratische
Konföderalismus eine ›Globale Demokratisch-Konföderale Union nationa-
ler Gesellschaften‹. Für eine sicherere, friedlichere, ökologischere, gerech-
tere und produktivere Welt brauchen wir einen quantitativ und qualita-
tiv verstärkten Zusammenschluss viel breiterer Gemeinschaften nach den
Kriterien der demokratischen Politik in einer ›Globalen Demokratischen
Konföderation‹.
Zum Schluss: Die Unterschiede und Gegensätze zwischen kapitalistischer
Moderne und demokratischer Moderne, die wir noch sehr viel länger verglei-
chen könnten, bestehen nicht nur als Idee, sondern konkret als zwei riesige
bestehende Welten. Diese beiden Welten, die durch die Geschichte hindurch
als dialektische Gegensätze einander manchmal gnadenlos bekämpften, oft
aber auch friedlich miteinander koexistierten, stehen auch heute in ähnlicher
Weise mit ihren Beziehungen und Widersprüchen manchmal im Konflikt
und schließen manchmal Frieden. Den Ausgang werden zweifellos diejeni-
gen bestimmen, die in der gegenwärtigen systemischen, strukturellen Krise
im intellektuellen, politischen und ethischen Bereich den Aufbruch hin zum
Guten, Wahren und Schönen unternehmen.
288 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

D Jüdische Ideologie, Kapitalismus und


Moderne

Ohne Geschichte und Gegenwart der Hebräer*innen zu begreifen, ist es


schwierig, die historisch-gesellschaftliche Entwicklung richtig zu erzählen.
Die Hebräer*innen in der Geschichte und das Judentum in der Gegenwart
lediglich als eine von vielen ethnischen Gemeinschaften oder Nationen zu
betrachten, wäre völlig unzureichend. Besonders wichtig ist es, sie als im
Nahen Osten verwurzelte, aber die gesamte Welt in höchstem Maße betref-
fende und beeinflussende, grundlegende kulturelle Quelle zu bewerten. Ich
rede hier nicht von Kultur im engeren Sinne, ich meine die Gesamtheit der
materiellen und geistigen Kultur. Vor zwei schweren Irrtümern müssen wir
uns bei dieser Thematik hüten: Erstens vor der übertrieben glorifizierenden
Auffassung, die Jüd*innen seien eine Macht, die die Welt regiere. Dazu ge-
hört auch die Redensart des ›von Gott auserwählten Volkes‹. Je mehr wir
uns vor derartigen Übertreibungen, die sehr anfällig für Missbrauch sind,
hüten, umso leichter können wir das Thema realistisch erfassen. Die andere
Auffassung ist die, die das Judentum verteufelt, es zum Sündenbock für alles
Übel macht, wie es oft zu hören ist. Diese Auffassung führt mindestens so
sehr wie die erste zu falschen Schlussfolgerungen, und sich davon fernzuhal-
ten, wird das Thema verständlicher machen.
In den vorherigen Bänden dieses Manifests habe ich mich bemüht, die
Hebräer*innen aus verschiedenen Blickwinkeln im Rahmen der abrahami-
tischen Religionen darzustellen. Nun werde ich jedoch versuchen, meine
Betrachtungsweise aus anderen Richtungen zu untermauern, und die Frage
des Judentums im Wesentlichen im Zusammenhang mit Kapitalismus und
Moderne behandeln.
Die jüdische Diaspora, ihre Verstreuung über die ganze Welt, begann nach
der zweiten Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch das Römische Reich
im Jahre 70 n. Chr. und hatte für den Mittleren Osten, Europa und mitt-
lerweile die ganze Welt bedeutende Folgen. Tatsächlich hatte es Ähnliches
bereits vorher gegeben. Die Probleme infolge des Auszugs des Propheten
Abraham von Urfa in die Nähe Jerusalems haben sich im Weltmaßstab
vergrößert und wirken immer noch nach. Das Ägypten-Abenteuer seiner
Nachfahren, die Ereignisse um Josef und der Auszug Moses’ aus Ägypten
haben weltweit Spuren hinterlassen. Die Zusammenstellung der Heiligen
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 289

Schrift, bereits vorher die Gründung des ersten Königreiches der Hebräer,
das babylonische Exil, die Beziehungen zu Persern und Griechen, die in
dieser Zeit begannen – all dies hatte bedeutende Folgen. Sie alle haben ih-
ren Platz in der Geschichte der Zivilisation. Die Zusammenstellung der
Heiligen Schrift ist für sich eine große Sache; dadurch wurden die abraha-
mitischen Religionen quasi offiziell. Ein Buch zu besitzen, ist ein Ereignis
von großer historischer Auswirkung.
Doch die Diaspora ab 70 n. Chr. hatte noch viel radikalere Auswirkungen.
Ich werde hier keine umfassende Geschichtsschreibung betreiben können,
sondern muss mich mit sehr kurzen Einschätzungen begnügen. Infolge
von Diaspora und Migration erfolgte eine Aufspaltung in Sephardim und
Aschkenasim im Westen und Osten. Entsprechend verschieden waren die
Einflüsse. Die östlichen Jüd*innen breiteten sich zunächst im heutigen
Syrien, Irak, Iran, an den Ufern des Kaspischen Meeres, in Russland und
vermutlich später in Zentralasien aus und lebten dort jeweils in bedeuten-
den Kolonien. Auch nach Westen, in den Einflussbereich des Römischen
Reiches, fanden ständige Migration und Koloniebildung statt, so von
Nordafrika bis Osteuropa, von der Iberischen Halbinsel bis zum Balkan.
Anatolien hingegen erscheint als das Zentrum, wo die Aufspaltung in öst-
liche und westliche Diaspora stattfand. Bis zum Fall Roms war die religiö-
se Dimension der jüdischen Einflüsse maßgeblich. Sowohl als mosaischer
Glaube als auch in Form des daraus entstandenen Christentums besaßen sie
zweifellos einen führenden Einfluss. Sie errichteten eine Art geistiges Reich
ihrer Zeit.
Die Frage, wie sich die Beziehung der Jüd*innen zum Geld entwickelte,
wie sie es zu einer ihrem geistigen Einfluss gleichkommenden materiellen
Kraft machten, wäre zweifellos das Thema einer längeren Untersuchung.
Das eine Thema, das sie strategisch angingen, war die geistige Kultur mit
den Bereichen Religion, Literatur und Wissenschaft; die zweite strategi-
sche Anstrengung fand auf der Ebene der materiellen Kultur statt. Beides
ist historisch äußerst bedeutsam. Ich vermute, dass Jüd*innen in diesen
Jahrhunderten die Wichtigkeit einer strategischen Führungsrolle auf beiden
Ebenen sehr bewusst war und sie sich deshalb aktiv darum bemühten. Der
wesentliche Grund waren ihre konkreten Lebensbedingungen. Ihre geringe
Zahl, ihre Position in der Umklammerung durch zwei Zivilisationen, davon
eine mit westlichen und eine mit östlichen Wurzeln, und ihr Bewusstsein
von sich selbst als dem ›von Gott erwählten Volk‹ (wir haben es mit ei-
ner scharfen ideologischen Hegemonie zu tun) erforderten eine stetige
290 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

strategische Suche. Ihre geringe Bevölkerungszahl, die Migration, ihr heili-


ger Glaube und die ihnen ständig drohende Gefahr von Massakern schärf-
ten das Bewusstsein, was sie dazu zwang, ständig ›Befreiungsstrategien‹ zu
entwickeln – wie sehr dies doch revolutionären Befreiungsstrategien ähnelt!
Ihre Lebenssituation erforderte, dass sie strategisch denken und Instrumente
der Befreiung entwickelten. Andernfalls war zu keinem Zeitpunkt ausge-
schlossen, dass es ihnen ergeht wie Tausenden anderer Stämme und sie ver-
schwinden.
In dieser Situation liegt ihre einzige Rettung in ständigem Widerstand.
Das erfordert aber notwendigerweise zwei Dinge: einen starken Glauben
und ausreichende materielle Mittel. Glauben stellt das geistige strategische
Element dar, Geld das materielle. Daher wurden für das Judentum Religion
und Geld zu zwei unverzichtbaren Ressourcen, um dem Ziel der Befreiung
näherzukommen. Wenn wir also nach dem Grund für die Souveränität des
Judentums in Fragen von Geld und Religion bzw. Sinn suchen, so ist die
Antwort klar: Sie hatten nie eine andere Wahl. Ihre Situation erfordert stän-
digen Widerstand. Dieser ist notwendig, um nicht zu verschwinden und
eine angemessene Lebensqualität zu gewährleisten (denn sie glauben, Gottes
erwählte Untertan*innen zu sein). Ohne Strategien zur Befreiung (ideolo-
gische Führung) und ohne Geld als strategisches materielles Potenzial (ma-
terielle Führung), ist fortgesetzter Widerstand eine schwierige Kunst. Dazu
muss man wie die Araber*innen in der Wüste oder wie die Kurd*innen in
den Bergen leben. Beides steht den Jüd*innen nicht zur Verfügung. Also
bleiben nur ideologische und materielle Ressourcen.
Auch wenn die Einzelheiten immer noch strittig sind, so steht doch fest,
dass die Christ*innen im Inneren beim Niedergang Roms eine große Rolle
spielten. Wenn wir die jüdische Herkunft des allerersten Christen, Jesus von
Nazareth, berücksichtigen, so steht die Rolle eines Flügels der Jüd*innen
beim Niedergang Roms außer Frage. So nahmen sie gewissermaßen Rache
für die zweifache Zerstörung des Tempels in der jüdischen Hauptstadt
Jerusalem. Auch die Enthauptung des Heiligen Paulus (geboren in Tarsus,
einer der ersten Christ*innen und der wichtigste Verfasser der christli-
chen Lehre) in Rom konnte nicht ohne Reaktion bleiben. Dass Tausende
Christ*innen gekreuzigt oder den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden,
war sozusagen Teil ihres Widerstandes. Die erste erfolgreiche Offensive der
Diaspora war die Benutzung des Christentums als strategische geistige Kraft.
Wir können getrost behaupten, dass die Zerstörung Roms von Innen heraus
objektiv die Folge der ersten großen strategischen geistigen Offensive der
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 291

jüdischen Diaspora war. Zweifellos trugen die Angriffe der germanischen,


hunnischen und fränkischen Stämme in Europa auch zum Fall Roms bei.
Entscheidend waren jedoch die inneren Faktoren.
Der nächste Entwicklungsschritt des westlichen Judentums nach dem
Ende Roms erfolgte auf der materiellen Ebene im Rahmen der Gründung
von Städten (die erste europäische Revolution ab dem zehnten Jahrhundert)
und der Entstehung von Märkten um sie herum. Die Zunahme von Waren-,
Geld- und Handelsbeziehungen schuf neue Möglichkeiten, einen zwei-
ten strategischen Zug zu machen und eine Rolle in der Stadt, also in der
Regierung der aufstrebenden neuen Staaten, einzunehmen. Mit dem zehn-
ten Jahrhundert war die geistige Eroberung Europas, seine Christianisierung,
ohnehin abgeschlossen. Diese Eroberung sollte die Jüd*innen indirekt
stark beeinflussen, sowohl positiv als auch negativ. Die positive Seite war
die Eroberung Europas durch eine abrahamitische Religion, die negative
dagegen, dass der mosaische Glaube als begrenzte Stammesreligion zu-
nehmend in die Enge getrieben wurde. Vom heidnischen Stammeseuropa
bis zum Hitlerfaschismus und sogar bis heute behaupten Menschen hin-
ter vielen Problemen und Krisen eine geistige und die materielle Kraft des
Judentums. Die Beschlüsse des Dritten Laterankonzils von 117971, infolge
derer Jüd*innen erstmals in Ghettos gedrängt wurden, waren eine Folge
davon.
Ab dem zehnten Jahrhundert entwickelte sich das Judentum als eine
sowohl ideologische als auch materielle strategische Kraft in Europa (ein-
schließlich Russland) ständig weiter. In den neuen Städten war häufig einer
der Reichen und einer der Intellektuellen ein Jude. Dies führte unausweich-
lich zu Neid, Widersprüchen und Konflikten. Die Errichtung der ersten
Ghettos war ein Vorbote künftiger Entwicklungen. Das Judentum entwi-
ckelte angesichts dieser Situation neue Strategien und Taktiken: Konversion
(dönme72) und Säkularismus. Beides sollte noch große Auswirkungen haben.
Mit diesen neuen strategischen Zügen kamen die Jüd*innen aber zunächst
erfolgreich aus dem Mittelalter heraus. Wir dürfen nicht vergessen, dass be-
reits Abraham und Moses die Strategie des förmlichen Abwendens von einer

71 Die Beschlüsse des Vierten Laterankonzils von 1215 waren noch einschneidender. Beispielsweise wurde es Vor-
schrift für Jüd*innen und Muslim*innen, sich anders zu kleiden als Christ*innen und Abzeichen zu tragen.
72 Als dönme (Konvertit*in) werden im Türkischen generell konvertierte Jüd*innen bezeichnet,
insbesondere aber solche, die im Geheimen weiter das Judentum praktizieren, sogenannte
Kryptojüd*innen. Dazu gehörten die Anhänger*innen des selbsterklärten Messias Schabbtai
Zvi im siebzehnten Jahrhundert, die Sabbatianist*innen, von denen viele später wie er zum
Islam konvertierten.
292 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

früheren Religion anwandten. Den Auszug Abrahams aus Urfa und den
Auszug Moses’ aus Ägypten können wir als geistige strategische Offensiven
bewerten.
Die Freimaurerlogen, die auch von jüdischen Steinmetzen im Mittelalter
gegründet wurden, können wir uns als erste säkular-laizistische Bewegung
vorstellen73. Der große jüdische Philosoph Spinoza wurde in Amsterdam, ei-
nem der Ursprungstempel der kapitalistischen Moderne, zum Vordenker des
ersten großen säkular-laizistischen philosophischen Aufbruchs. Laizismus
ist in der Türkei und in anderen als muslimisch bezeichneten Ländern ein
heftig diskutiertes Thema. Ich halte Bezeichnungen wie ›kapitalistische
Gesellschaft‹ oder ›sozialistisches Land‹ für Propagandabegriffe und den-
ke, dass auch Bezeichnungen wie laizistisches, muslimisches, christliches
oder buddhistisches Land mit ähnlichen Absichten verwendet werden.
Für Gesellschaften finde ich Beschreibungen wie die, ob es sich um eine
›moralische und politische Gesellschaft‹ handelt oder nicht, realistischer.
Laizismus im Sinne einer Säkularisierung hat eine positive Funktion für das
Abrücken und die Befreiung vom religiösem Dogmatismus. Wird Laizismus
jedoch im Sinne von laïcité (Frankreich) oder laiklik (Türkei) verwendet, so
kann er als Gegenpol schnell selbst dogmatisch werden. Laizismus in die-
sem Sinne unterscheidet sich nicht mehr sehr von anderen Religionismen.
Je stärker der Anti-Judaismus wird, desto mehr nehmen Konversionen
(Glaubensübertritte) zu. Bevor ich mit der Beschreibung des Judentums in
der Zeit des Nationalstaates fortfahre, muss ich auf die äußerst einflussrei-
chen und interessanten Vorgänge im Nahen und Fernen Osten eingehen.
Bis zur Entstehung des Islam hatte das Judentum gute Beziehungen zum
persisch-sassanidischen Staat. Es heißt, Jüd*innen hätten großen Einfluss in
den Palästen besessen. Esther, die erste Prophetin, die in der Heiligen Schrift
erwähnt ist, spielte bekanntermaßen im sassanidischen Palast eine wichtige
Rolle. Wahrscheinlich waren Jüd*innen sowohl für die kommerziellen und
finanziellen Angelegenheiten als auch für die ideologischen Entwicklungen
im Reich bedeutsam. Die Befreiung der Jüd*innen aus dem Exil (597–539
v. Chr.), in das sie der babylonische Herrscher Nebukadnezar geführt hatte,
durch Kyros74, den Gründer des Perserreichs, bewirkte eine starke Tradition.
In der Geschichte des Iran war das Judentum stets eine nicht zu unter-

73 Für die Mitgliedschaft in Freimaurerlogen ist zwar ein Glaube an einen einzigen Gott notwendig, aber ge-
genüber den einzelnen Religionen sind die Logen neutral. Deswegen wurden relativ früh Juden und Muslime
aufgenommen. Die Diskussion religiöser Angelegenheiten in den Logen gilt als verboten.
74 Gemeint ist Kyros II, auch Kyros der Große, ca. 585–530 v. Chr.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 293

schätzende Kraft. In ähnlicher Weise gilt dies für Arabien, Nord- und sogar
Ostafrika, besonders Äthiopien. Auch der jüdische Einfluss auf sämtliche
Entwicklungen der materiellen und geistigen Kultur ist nicht zu unterschät-
zen.
In der Entstehungszeit des Islam traten die Jüd*innen in Arabien als
Handel treibende religiöse Gruppe hervor. Sie hatten Besitz in ergiebigen
Gegenden. Offenbar waren sie unter den nicht-arabischen semitischen
Gruppen die bedeutendste. In einer ähnlichen Position befanden sich die
Assyrer*innen.
Mit dem islamischen Aufbruch verfolgten die Araber*innen unter an-
derem das Ziel, gegen das jüdische Monopol ihr eigenes Handels- und
Machtmonopol zu errichten. Dass der Islam vom Judentum stark beeinflusst
ist, bestätigt dies nur. Wir können dies mit der Errichtung des Nationalstaats
in der kapitalistischen Moderne vergleichen. Die Araber*innen antworteten
auf die mittelalterliche Moderne mit dem Islam. Diese Tatsache liegt den
ideologischen und materiellen Konflikten mit den Jüd*innen und dem
Judentum zugrunde. Wir müssen darauf hinweisen, dass beim islamischen
Aufbruch die Dimension der Klasse ebenso wie die ethnische Dimension
eine große Rolle spielte. Als sich der Islam schnell ausbreitete und ihre ers-
ten Widerstände gebrochen wurden, schien den Jüd*innen eine weitere
Katastrophe wie die unter römischer Herrschaft zu drohen. Sie hatten zwei
Möglichkeiten: Entweder mussten sie erneut das Exil wählen oder konver-
tieren. Ein Teil der Jüd*innen floh vermutlich in den Iran, nach Nordafrika
und Anatolien. Ein weiterer Teil nahm nur vordergründig den Islam an, ver-
stellte sich aber und praktizierte so taqiyya75, ging also in Richtung dönme.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass jüdische Konvertit*innen an einer Vielzahl
von Aufständen und Sektenbildungen gegen chauvinistische sunnitisch-ara-
bische Machthaber*innen beteiligt waren. Der Anteil von Jüd*innen an der
Entstehung einer Reihe von oppositionellen Strömungen besonders im Iran
und in Mesopotamien stellt ein sicher lohnendes Forschungsgebiet dar.
Die bemerkenswerteste Entwicklung aber war die Gründung des jüdi-
schen Staates der turkstämmigen Chasar*innen am Nordufer des Kaspischen
Meeres in einem Teil des heutigen Turkmenistan und Aserbaidschan.
Seldschuk Beg, der Namensgeber der Seldschuken, soll Überlieferungen zu-
folge in diesem Staat die Position eines Kommandanten bekleidet haben.
Ein wichtiger Hinweis auf eine Verbindung zum Judentum ist die Tatsache,
75 Dieser Begriff bezeichnet eigentlich im Islam die Praxis von Muslim*innen, ihren Glauben bei Gefahr nach
außen hin zu verleugnen, ihn aber in Wirklichkeit weiter zu praktizieren.
294 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

dass drei seiner Söhne76 jüdische Namen trugen. Wenn dies zutrifft, so kön-
nen wir davon ausgehen, dass wie in vielen aus dem Iran kommenden und
gegen die arabische Herrschaft gerichteten Bewegungen auch in der seld-
schukischen Bewegung das Judentum eine nicht zu unterschätzende Rolle
spielte. Auch dies ist ein wichtiges Thema, das weiter erforscht werden muss.
Anatolien war bereits im Altertum ein wichtiges Zentrum des Judentums.
Wie die Griech*innen waren auch Jüd*innen an vielen Stadtgründungen
beteiligt. Zwischen ihnen bestand ein Konkurrenzverhältnis. Traditionell
sammelten sich die Jüd*innen in Anatolien, wenn sie im Westen und in
Arabien in Bedrängnis gerieten. Dass sie daher Anatolien als zweite Heimat
nach Israel betrachten, wird aus dieser historischen Perspektive verständli-
cher. Außerdem war Anatolien sowohl für Geld und Handel als auch für
ideologische Bewegungen stets ein großer Markt, auf dem Jüd*innen eine
Rolle spielten.
Jüd*innen, die 139177, 149278 und um 1550 aus Spanien vertrieben wur-
den, kamen in mehreren Wellen nach Anatolien und siedelten sich dort an.
Wenn wir den Einfluss bedenken, den sie in den Sultanaten der Seldschuken
und der Osmanen erlangten, verstehen wir, wie fest sie verankert waren.
Daneben gab es noch eine große Zahl von zum Islam übergetretenen dönme.
Innerhalb dieser dönme-Bewegung spielte etwa ab 1650 der Sabbatianismus
eine Rolle (eine große dönme-Bewegung, deren Zentrum in der Region
Izmir und Manisa lag). Sabbatianer*innen erlangten nennenswerten Einfluss
in der Geld- und Finanzpolitik der Osmanen. Vielleicht waren sie auch
Lehrer*innen, die den Osmanen die Wichtigkeit von Geld und Handel be-
greiflich machten. Zwar kam es gelegentlich zu ernsthaften Konflikten und
der Beschlagnahme ihres Besitzes (müsadere79), doch lässt sich ihre Rolle bei
Ernennung und Absetzung zahlreicher Sultane nicht leugnen.
Es zeigt sich, dass das Konvertieren der dritte strategische Aufbruch
des Judentums war, um zu bestehen. Ohne zu konvertieren, hätten die
Jüd*innen weder innerhalb der muslimischen Mehrheit im Osten, noch
der christlichen Mehrheit im Westen ihre Existenz bewahren können.
Konversion sollten wir als Überlebensstrategie betrachten. Solange religiöser

76 Seine Söhne hießen Mikâ‘îl (Michael), Arslan Isrâ‘îl (Israel), Mûsâ (Moses) und Yûnus (Jona).
77 1391 fanden in Spanien ausgedehnte Pogrome gegen Jüd*innen statt. Mehrere Zehntausend von ihnen wur-
den ermordet.
78 1492 wurde nach dem Ende der Reconquista das Alhambra-Edikt erlassen. Infolgedessen wurden Zehntau-
sende sephardische Jüd*innen, die sich nicht zwangstaufen lassen wollten, aus Spanien vertrieben.
79 Im Osmanischen Reich bezeichnete müsadere die Praxis, das Vermögen von Kaufleuten, die zu
reich und mächtig geworden waren, durch den Sultan zu beschlagnahmen.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 295

Dogmatismus keine Meinungsfreiheit zulässt, entstehen – wie bei anderen,


ähnlichen Ideologien – unausweichlich Tendenzen zu Renegatentum und
Konversion. Mithilfe der drei genannten Strategien gelang es den Jüd*innen,
trotz Dezimierungen das Mittelalter zu überleben.
Den Besitz von Geld dürfen wir nicht nur aus dem Blickwinkel mate-
rieller Interessen betrachten. Die Jüd*innen konnten damals nur mithilfe
des Geldes überleben. Auch über ihre ideologische Kraft gelang es ihnen,
sowohl im geistigen Bereich einflussreich als auch am Leben zu bleiben. Die
große Anzahl jüdischer Intellektueller, Schrifsteller*innen, Denker*innen,
Ideolog*innen und Wissenschaftler*innen hängt mit der geistigen
Führungsrolle zusammen, die ihnen stets ein Bedürfnis war. Dass sich im
Judentum eine Reihe von religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen
Bewegungen entwickelte, gehört zu den unverzichtbaren Notwendigkeiten
ihrer Überlebensstrategie.
Die dönme-Strategie sollte ihre eigentliche Bedeutung erst im Zeitalter der
Nationalstaaten entfalten. England, der erste Nationalstaat, ist der Schlüssel,
um diese Tatsache zu begreifen. Die Könige der beiden Großmächte Spanien
und Frankreich, die sowohl Jüd*innen als auch vom Katholizismus zum
Protestantismus Übergetretene massakrierten und ins Exil trieben, versuch-
ten im sechzehnten Jahrhundert alles, einschließlich Krieg, um England in
Europa zu neutralisieren und seinen Aufstieg zu verhindern. Die Jüd*innen
waren am sichersten in Izmir, Amsterdam und London. Sie unterhielten
untereinander enge Beziehungen, es gab auch Bemühungen um eine Allianz
zwischen England, Holland und dem Osmanischen Reich. In diesem sech-
zehnten Jahrhundert machten sie zunehmend London zu ihrem europäi-
schen Zentrum, das diese Rolle weiter innehat.
In diesem Jahrhundert begann in England der Aufbau des Nationalstaates.
Wie an anderer Stelle ausgeführt, bedeutet Nationalstaat, dass nicht nur
die Kader des Staates, sondern sämtliche Staatsbürger*innen wie in einer
Religion einen gemeinsamen ideologischen Rahmen besitzen und die ge-
samte Gesellschaft per Staatsbürgerschaft als Mitglied des Staates betrachtet
wird. Diese Entwicklung bedeutet, eine Besonderheit weiterzuentwickeln,
die der Stamm (kabile) der Hebräer*innen seit jeher besaß, zunächst als
Volksstamm (kavim), dann als Nationalstaat. Die Hebräer*innen bildeten
zunächst als Stamm, dann als Volksstamm und zuletzt als Nation sowohl eth-
nisch als auch religiös ein Ganzes. Genauer gesagt: Die Ethnizität ist gleich-
zeitig die Religiosität, die Religiosität ist die Ethnizität. Außerdem teilen sie
ohne Ansehen der Spaltung in Regierende und Regierte ein gemeinsames
296 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Ziel. Um es klar zu sagen: Der National-Etatismus ist eine Ableitung aus


der hebräischen Stammesideologie, die sich in veränderter und angepasster
Form in allen anderen Stämmen und Nationen durchgesetzt hat. Dies ist
meine persönliche Interpretation, die ich allerdings für wichtig halte.
Der moderne kapitalistische Staat, der auf Grundlage der hebräischen
Stammesideologie organisiert wurde (gegenwärtig Israel), präsentiert sich
als Nationalstaat. Wichtiger ist, dass in ideologischer – nicht rassischer –
Hinsicht der Kern eines jeden Nationalstaats zionistischen Charakter be-
sitzt (Zionismus als jüdischer Nationaletatismus). Der Nationalstaat ist
eine Staatsform, die sich in der kapitalistischen Moderne das Judentum
zum Modell genommen hat. Werner Sombart übertreibt wohl, wo er
den Kapitalismus für ein Werk des Judentums hält80. Der große britische
Geschichtsphilosoph Collingwood hingegen wollte, als er zur Definition
des nationalstaatlichen Nationalismus – wenn ich mich richtig erinnere
– anmerkte, »der jüdische Universalismus hat gesiegt, aber in der Person
des Völkermörders an ihnen selbst81«, meiner Meinung nach diese Tatsache
ausdrücken. Der Nationalstaat hat gesiegt; diesem Sieg liegt die jüdische
Ideologie (Stammes-ismus, Nationalismus, Zionismus) zugrunde. Aber
mit dem Nationalstaat hat sie letztlich auch den Völkermörder am eige-
nen Volk geschaffen. Diese Feststellung ist eigentlich bedeutsam und erklärt
eine allgemeine Eigenschaft des Nationalismus. Jeder Nationalismus ist zi-
onistisch. Also ist auch der arabische Nationalismus zionistisch. Es ist nicht
falsch, palästinensischen, türkischen, kurdischen und iranisch-schiitischen
Nationalismus in seinem Kern primär als von nationalistischen Monopolen
benutzte Form der jüdischen Ideologie zu definieren. Wer den englischen
und den holländischen nationalstaatlichen Nationalismus untersucht, wird
feststellen, dass bei seiner Entwicklung jüdische Monopole nicht nur the-
oretisch, sondern auch konkret durch die Kraft von Geld und Kapital eine
große Rolle spielten.

80 Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben (Leipzig 1911). Sombart postuliert in
Anlehnung an Max Weber, der den Kapitalismus durch bestimmte Formen des Protestantismus
begünstigt sah, dass dies noch viel mehr für das Judentum zutreffe.
81 Der Autor paraphrasiert hier Collingwood, der 1938/39 schrieb: »Modern Germany thus stands
officially committed to the same error which infected ancient Jewish thought, and which Paul
exploded—the error of regarding a given community’s historical function as bound up with its
biological character, i.e. with the common pedigree of its members—and thus persecutes the
Jews because it agrees with them. Intellectually, the Jew is the victor in the present-day conflict
(if you can call it that) in Germany. He has succeeded in imposing his idea of a chosen people
(in the biological sense of the word people) on modern Germany: and this may explain why the
victims of this persecution take it so calmly.« Robin G. Collingwood, The Principles of History
and Other Writings in Philosophy of History (Oxford University Press, 1999), S. 237.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 297

Dies dürfen wir nicht als Verschwörung oder hintergründige Absicht


betrachten. Jüd*innen, die als Händler*innen und Bankiers viel Kapital
in ihren Händen konzentrierten, tätigten enorme Investitionen in den
Aufbau jedes Nationalstaates und konnten so in ihnen Fuß fassen. Der
Nationalstaat führte zu einem raschen Anwachsen des jüdischen Kapitals.
Hätte Werner Sombart die Rolle der Jüd*innen bei der Entwicklung des
Kapitalismus auf diese Weise beschrieben, wäre er vielleicht näher bei den
Tatsachen gewesen. Als das jüdische Kapital weltweit wuchs, sollte es natür-
lich auch sein eigenes Gegenteil hervorbringen. Auch der heutige Konflikt
zwischen nationalen Monopolen und supranationalen Monopolen findet
seinen Ursprung dort. Es zeigt sich, dass die jüdischen Ansammler*innen
von Kapital, die sich stets ihrer vergangenen Schwierigkeiten bewusst wa-
ren, als sie ausgehend von ihrer traditionellen ideologischen Linie der
Entstehung des Nationalstaates einen historischen Dienst erwiesen, objek-
tiv die Grundlagen für den Völkermord legten, der sich gegen die jüdischen
Gemeinschaften richten würde, die davon nichts wussten und dafür nicht
verantwortlich gemacht werden dürfen. Dies erinnert ein wenig an Jesus und
Judas Iskariot, der ihn verriet. Die Jüd*innen, die dreihundert Jahre lang für
die Errichtung des deutschen Nationalstaates ihre materielle und geistige
Kultur mobilisierten (es wurde nicht ohne Grund von Ähnlichkeiten der
deutschen Ideologie und der jüdischen Ideologie gesprochen)82, waren bis
zum Hitlerfaschismus überzeugte deutsche Nationalist*innen. Die größten
zionistischen Nationalist*innen waren in verschiedener Hinsicht auch die
größten Vertreter*innen des deutschen Nationalismus. An den Beispielen
Russlands und des Osmanischen Reiches bzw. der Türkei zeigt sich, dass
sich viele ähnliche Fälle anführen lassen. Der jüdische Universalismus, von
dem Collingwood spricht (Nationalismus, Positivismus, Religionismus) hat-
te gesiegt; doch nur, indem er gleichzeitig diejenigen erschuf, die nicht nur
den Völkermord an den Jüd*innen verübten, sondern auf der ganzen Welt
physischen und kulturellen Genozid verüben.
Weil dieses Thema so wichtig ist, müssen wir es noch genauer betrachten.
Das Judentum ist vielleicht eines der ersten Beispiele für eine historisch-ge-
sellschaftliche Identität, bei der ethnisch und religiöse Besonderheiten ideo-
logisch miteinander verschränkt sind. Von Abraham bis heute bewahrt
es diese Besonderheit. Wenn wir noch den Glauben an das ›auserwählte
Volk‹ hinzufügen, erscheint als drittes wichtiges Charakteristikum seiner

82 Gemeint ist vermutlich der oben erwähnte Robin G. Colllingwood.


298 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Ideologie, dass sich die Jüd*innen als über allen anderen Gesellschaften ste-
hend betrachten. Diese Auffassung von Überlegenheit trug historisch immer
ein Auseinandersetzungspotenzial mit anderen Gesellschaften in sich und
führte oft zu Konflikten, die bis zum Völkermord reichten.
Hinsichtlich dieses Widerspruchs hat sich das Judentum die Besonderheit,
eine ideologische Gesellschaft zu sein, stets erhalten. Als natürliche Folge
der Auffassung vom ›auserwählten Volk‹ waren sie gezwungen, Strategien
und Taktiken der Selbstverteidigung zu entwickeln. Die Strategie zum
Selbstschutz musste, wegen ihrer Struktur, theoretisch-ideologisch entwi-
ckelt werden. Die taktischen Instrumente dagegen betreffen eher die ma-
terielle Stärke. Dies sind vor allem Geld und Waffen. Während Geld mit
Handel und im Bankenwesen verdient wird, werden Waffen eher durch
technische Neuerungen weiterentwickelt. Auf beiden Gebieten stellten
Jüd*innen ihre Fähigkeiten unter Beweis. Lassen wir ihre Beiträge in Antike
und Mittelalter einmal beiseite, die Entwicklungen der Neuzeit hatten en-
gen Zusammenhang mit den Jüd*innen, die ein erfahrenes und organisiertes
Volk darstellen. Als ab dem sechzehnten Jahrhundert in Westeuropa, be-
sonders in den Zentren Amsterdam (Holland) und London (England), das
kapitalistische Weltsystem seinen hegemonialen Aufstieg begann, sollten die
strategisch gut aufgestellte jüdische finanzielle und ideologische Stärke dabei
eine wichtige Rolle spielen. Wer sich näher mit diesem Zeitraum befasst,
wird das leicht feststellen können.
Zu behaupten, der Kapitalismus sei eine Erfindung der Jüd*innen, wie
es Werner Sombart tut, ist mit Sicherheit übertrieben, doch lässt sich nicht
leugnen, dass sie eine bedeutende Rolle dabei spielten, dass der Kapitalismus
zum System und zur hegemonialen Macht aufstieg. Die Forschungsarbeiten
zum Thema zeigen, dass jüdische Händler*innen und Bankiers auf allen
nennenswerten Markt-, Börsen und Messeplätzen, angefangen mit London
und Amsterdam, zahlreich vertreten waren. Dass die Vertreter*innen der
politischen Ökonomie bei diesem Thema schweigen und dies ignorieren,
hängt mit der blind machenden Rolle der Ideologie zusammen. Dass in
den Werken zur politischen Ökonomie, einschließlich Marx’ Kapital, die
ethnische und nationale Herkunft der Kapitalakkumulation kaum behan-
delt wird, ist ein bedeutender Mangel und gibt gleichzeitig zu denken. Es
ist auch falsch, stets herunterzuleiern, das Kapital habe keine Religion, kei-
nen Glauben und keine Nationalität. Das Kapital hat einen sehr engen
Zusammenhang zu Religion, Glauben und Nationalität. Während wenige,
die gewisse Religionen, Glauben und Nationalitäten besitzen, eine Reihe
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 299

von Kapital- und Machtmonopolen bilden, werden die meisten anderen


kolonialisiert und ausgebeutet. Das ungeschminkteste Beispiel heute stel-
len die USA dar. Es ist nicht zu leugnen, dass die meisten Kapitalisten
US-Amerikaner*innen sind daher stammen oder mit ihnen Religion und
Glauben teilen.
Auch beim Aufbau der beiden anderen Säulen der kapitalistischen
Moderne, dem Industrialismus und dem Nationalstaat, lässt sich die Rolle
der Jüd*innen nicht wegdiskutieren. Die jüdischen Händler*innen und
Bankiers, die ab der ersten urbanen Revolution in Europa (1050–1350) her-
vortraten, gewannen in der Ära des Handelskapitalismus zwischen dem
fünfzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert an Bedeutung. In den
Städten des Ostens (Kairo, Aleppo, Damaskus, Izmir, Täbris, Antiochia,
Bagdad, Konstantinopel) fanden ähnliche Entwicklungen statt. Als sich mit
der Industriellen Revolution die Industrie als profitabelster Sektor heraus-
stellte, zögerten sie nicht, ihr Kapital dorthin fließen zu lassen. Den Grund
dafür müssen wir nicht groß erklären. Wo immer der Profit hoch ist, geht
das Kapital in die Offensive. Ist das nicht das sogenannte Profitgesetz?
Wie kann man also die führende Rolle des jüdischen Kapital­
monopolismus sowohl in der vom Handelskapitalismus als auch der vom
Industriekapitalismus geprägten Moderne auf die leichte Schulter nehmen
und auf ihre Betonung verzichten? Selbst, wenn wir nicht von einer be-
wussten Verzerrung ausgehen, können wir doch getrost von der Folge einer
ideologischen Blindheit sprechen. Außerdem ist diese Rolle aus jüdischer
Sicht auch kein Vergehen. In jeder nationalen, religiösen oder ethnischen
Gemeinschaft können sich Handels- und Industriemonopole herausbil-
den. Wichtig ist hier die strategische Rolle der jüdischen Handels- und
Industriemonopole. Ein jüdisches Monopol im Finanzbereich existierte seit
jeher. Dass die politische Ökonomie die Analyse der Zusammenhänge von
Handels-, Industrie- und Finanzmonopolismus mit Ideologie, insbesonde-
re mit nationalistischen, religionistischen, szientistischen und sexistischen
Ideologien, vermeidet (von Liberalismus kann allenfalls in der Propaganda
die Rede sein), liegt nicht, wie behauptet, an der Sorge um ›Objektivität‹.
Im Gegenteil: Die politische Ökonomie versteckt die religionistischen,
sexistischen, nationalistischen und szientistischen Identitäten sämtlicher
Monopole, einschließlich der Machtmonopole und zeigt damit, dass sie kei-
ne objektive Wissenschaft ist, dass sie konkrete Tatsachen an vitalen Punkten
vertuscht und für unbedeutend erklärt, dass sie also keine Wissenschaft ist,
sondern als ideologisches Propagandainstrument fungiert.
300 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Im seit vierhundert Jahren hegemonialen Weltsystem ist die strate-


gische Position von Jüd*innen in Handels-, Industrie-, Finanz- und
Medienmonopolen weiterhin bedeutend. Ohne diese Tatsache festzustellen,
können wir kein globales oder lokales Problem in der Theorie analysieren
oder in der Praxis lösen.
Die Rolle des Judentums sowohl als strategische ideologische als
auch als strategische materielle Kraft ist deutlicher beim Aufbau der
Moderne, des Nationalstaates. Das Judentum bringt mit dem Instrument
des Nationalstaates den kapitalistischen Charakter der Moderne zum
Vorschein. Es konkretisiert und fixiert die Moderne in der Form des
Nationalstaates, dem Zusammenschluss der Handels-, Finanz-, Industrie-
und Machtmonopole. Natürlich sind die Jüd*innen nicht der Gott des
Nationalstaates. Doch vom Zeitalter der Stämme bis heute, von seinem em-
bryonalen Zustand bis zum heutigen Alter und Verfall, haben sie ihn auf
ihrem Gebiet meisterlich weiterentwickelt.
Für Verschwörungstheorien habe ich gar nichts übrig. Bestimmte
Behauptungen tauchen immer wieder auf; geheime Freimaurerlogen, die die
Welt regieren, Treffen der Bilderberger oder Treffen in Davos, ein ›ständiges
Komitee der 12‹, das die Welt regiert, die UN als ›jüdisches Werkzeug‹ und
andere Gebilde sollen solche Verschwörungstheorien untermauern. Allen
diesen Theorien ist gemeinsam, dass si­e übertreiben, in Dogmatismus ver-
fallen und unwissenschaftlich sind, selbst wenn sie Behauptungen enthal-
ten, die teilweise wahr sind. Aber die Tatsachen liegen auf der Hand. Die
bedeutende Rolle der Jüd*innen in allen drei tragenden Säulen der kapita-
listischen Moderne steht außer Frage. Auf allen drei Gebieten besitzen sie
strategischen, oft sogar entscheidenden Einfluss im Sinne ideologischer und
materieller Stärke. Man beachte den Geltungsbereich, auf den sich diese
Ausführungen beziehen: Ich rede vom Einfluss der Jüd*innen im Bereich
der kapitalistischen Moderne, nicht von ihrem Platz in der demokratischen
Moderne, die eine umfassendere historisch-gesellschaftliche Tatsache dar-
stellt. Die Jüd*innen existieren auch in dieser Moderne, aber mit weitaus
geringerer strategischer Stärke.
Bevor wir zu diesem Thema übergehen, sollten wir den Nationalstaat ein
wenig analysieren. Am Ende des Mittelalters war in der jüdischen Ideologie,
im Sinne einer Überlebensstrategie, das Bemühen um eine Ausschaltung
ihrer sowohl christlichen als auch muslimischen Widersacher*innen stets
präsent. Der Nationalstaat, die konzentrierte Form aller Handels-, Finanz-,
Industrie- und Ideologiemonopole sowie der Machtmonopole, mit der in
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 301

ihm stets enthaltenen Verehrung des National-Gottes (im Judentum er-


füllt rabb83 diese Funktion) tritt uns hier als geeignetstes Modell für eine
Überlebensstrategie entgegen. Im Nationalstaat erfüllt der Laizismus
die Funktion des jüdischen Nationalgottes rabb. Die Konstruktion von
Begriffen durch die jüdische Freimaurerei ist in dieser Hinsicht von
Bedeutung. In diesem Sinne ist der Nationalstaat das wichtigste universale
Regierungsinstrument des Judentums.
Um das französische und das spanische Reich durch angelsächsische
Monopole aufzulösen, benutzten jüdische Monopole das Modell des
Nationalstaats als effektives Instrument. Denn diese beiden Imperien hatten
tödliche Pläne, um die anderen beiden Mächte (Holland und England) zu
unterwerfen. Holland und England drohten Massaker und die Gefahr, aus
der Geschichte getilgt zu werden. Der Nationalstaat als am höchsten kon-
zentrierte, vereinte Monopolmacht wurde zum Erfolgsmodell im Kampf ge-
gen den spanischen und französischen Monopolismus, die nicht in gleicher
Weise organisiert waren, sondern versuchten, ihre Ziele mit den Traditionen
mittelalterlicher Imperien zu erreichen. Immanuel Wallerstein, der in sei-
nem berühmten Werk Das moderne Weltsystem erklärt, dass die national-
staatliche Systematik der Hauptfaktor für die Überlegenheit Englands gegen
Frankreich darstellte, unterstreicht damit die Wichtigkeit dieser Tatsache.
Als die österreichisch-habsburgische Dynastie zusammenbrach, schlu-
gen die alliierten Mächte eine nationalstaatliche Formation Preußens vor.
Die Führungsrolle bei der Einigung Deutschlands ging von Österreich
an Preußen über. Zur Zeit der Französischen Revolution war London das
Zentrum jeglicher Opposition gegen den französischen König, den traditio-
nellen Feind Englands, gewesen. Die Organisationen der Freimaurer hatten
eine wichtige Rolle in der Revolution gespielt, der König seinen Kopf ver-
loren. In den vorangehenden Revolutionen in England und Holland war es
zu ähnlichen Liquidierungen gekommen. Das gleiche Spiel wurde nun ge-
gen den preußischen Nationalstaat gespielt, der als neue Hegemonialmacht
den Platz Frankreichs einnehmen wollte. Selbst Marx als Oppositioneller
wohnte in London. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg machten die Alliierten
den hegemonialen Anspruch Deutschlands zunichte. Ein Grund, war-
um Hitler den Völkermord an den Jüd*innen verübte, war möglicher-
weise, dass er glaubte, das jüdische Kapital habe seine strategische Stärke

83 Ungefähr: der Herr, der Große. Der Begriff ist in der islamischen Welt ein gebräuchlicher
Gottesname, die hebräische Form lautet rav. Er entspricht von der Bedeutung her dem hebrä-
ischen adonai, möglicherweise ist dies hier gemeint.
302 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

aufseiten Englands eingesetzt und eine wesentliche Rolle bei der Niederlage
Deutschlands im Ersten Weltkrieg gespielt. Die gleiche Allianz sollte in neu-
en Formationen im Kalten Krieg die hegemonialen Ansprüche Russlands zu-
nichtemachen. Kein Zweifel, wenn es so weitergeht, ist es sehr wahrschein-
lich, dass auch China, wenn es, wie jetzt oft vermutet, auf die Idee verfällt,
sich als Hegemonialmacht zu gebärden, das gleiche Schicksal erleiden wird.
Heute sind mehr als zweihundert Nationalstaaten in den Vereinten
Nationen mit Hauptquartier in New York repräsentiert. Es darf als bekannt
gelten, dass die UN unter der Führung derselben Allianz agiert, oder dass sie
zumindest keine Entscheidung ohne Zustimmung der Allianz trifft.
Ich möchte nochmal klarstellen: Diese zweihundert Nationalstaaten wer-
den nicht vom Zionismus oder einer anderen jüdischen Macht gelenkt.
Aber diese Zweihundert (einschließlich der Todfeinde Israels, dem irani-
schen und den arabischen Nationalstaaten) wurden auch mit dem jüdi-
schen nationalistischen Paradigma gegründet, und ihre Fäden laufen seit
vierhundert Jahren in den Händen des Kerns derselben Allianz zusammen.
Selbst, wenn sich innerhalb der Eliten des Nationalstaates kein*e einzi-
ge*r Jüd*in befindet, ist ihr Spielraum für unabhängiges Handeln höchst
begrenzt – sei es aus paradigmatischen Gründen, sei es wegen konkreter
Vorkehrungen der Allianz. Solange sie gemäß der traditionellen ideologi-
schen und strukturellen Schablonen der vierhundert Jahre alten kapitalis-
tischen Moderne handeln, ist alles in Ordnung. Dann können sie weiter-
machen. Wenn ein Nationalstaat aber, wie George W. Bush es ausdrückte,
zu einem ›Schurkenstaat‹ wird, so wird er das Schicksal Afghanistans unter
der Herrschaft der Taliban, Saddam Husseins Irak und Dutzender ande-
rer Staaten und Mächte vor ihnen erleiden. Dies ist es, was internationales
System oder UN-Status quo genannt wird.
Sogar Sowjetrussland wurde nach 70-jährigem Bestehen ins System integ-
riert, nachdem es sich den Erfordernissen der kapitalistischen Moderne voll-
ständig angepasst hatte. China war bereits zuvor integriert worden. Offenbar
zieht das System seine Kraft aus den beiden strategischen Kräften, die ich
oben zu erklären versucht habe. In beiden ist das Judentum historisch und
aktuell nahezu maßgeblich. Strategisch-ideologische Machtelemente sind die
Kulturindustrie, das intellektuelle Kapital und die Medien. Diese Elemente
ideologischer Stärke sind vom Inhalt her nationalistisch, religionistisch,
szientistisch und sexistisch. Die Elemente materieller Stärke sind handels-,
industrie-, finanz- und machtmonopolistische Strukturen. Internationale
Allianzen von Nationalstaaten repräsentieren als Staatensysteme die offizielle
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 303

Struktur. Wir dürfen die beiden riesigen Bereiche strategischer Stärke selbst
nicht mit den Staaten und ihren Systemen als ihrem offiziellen Ausdruck
verwechseln.
Zusätzlich möchte ich noch eine kurze Einschätzung zum anatolischen
Judentum anfügen, die ich für wichtig halte. Auf die hiesige Situation der
Jüd*innen in Altertum und Mittelalter bin ich bereits kurz eingegangen.
Von Bedeutung sind die seldschukisch-jüdischen und die griechisch-jü-
dischen Beziehungen. Die Ostjüd*innen hatten sich im Mittelalter von
Andalusien bis nach Zentralasien ausgebreitet. Der türkisch-jüdische Staat
der Chasar*innen war ein Produkt dieser Zeit. In den muslimischen Staaten
waren Konvertitentum und offenes Judentum nicht verboten; Jüd*innen
waren besonders in für Macht und Staat strategisch wichtigen Bereichen mit
ihrer traditionellen ideologischen und materiellen Stärke einflussreich. Ihre
Stellung in Handel und Bankwesen stand dem im Westen in nichts nach.
Die Jüd*innen, die traditionell Widersprüche mit den Christ*innen (der
Vorwurf, Jesus gekreuzigt zu haben und die Entwicklung des Christentums
zur offiziellen Religion des Westens) hatten und nach den Beschlüssen des
dritten Laterankonzils 1179 in Ghettos eingeschlossen wurden, verspürten
nach den Pogromen von 1391 und der Vertreibung von 1492 aus Spanien
noch stärker das Bedürfnis nach einer Heimat. Der Begriff des ›gelobten
Landes‹ war noch lebendig. Die Beziehungen, die sie bereits in der Phase des
Aufstiegs der Osmanen mit Kreisen der Herrscher geknüpft hatten, waren
vielversprechend. Mit wachsender Bedeutung von Bankwesen und Handel
sollte auch das Judentum seine Stellung verbessern können. Die ständige
Ausweitung der Macht der Osmanen über christliche Gemeinschaften und
die zunehmend schwierigere Lage der Jüd*innen in der christlichen Welt im
Westen mit Katholik*innen und Orthodoxen brachten sie dazu, mit dem
jeweiligen Osmanischen Padischah eine ähnliche Allianz einzugehen wie
mit England. Nach allgemeiner Ansicht wurde diese Allianz in der zweiten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts enger. Gleichzeitig entwickelten sich
ähnliche Allianzen in den protestantischen Ländern Holland und England.
Den Zusammenhang zwischen Protestantismus, Kapitalismus, Nationalstaat
und Moderne mit dem Judentum zu erforschen wäre ein lohnendes Thema.
Die Vertreibung der Muslim*innen und Jüd*innen von der iberischen
Halbinsel (die im siebzehnten Jahrhundert abgeschlossen war) brach-
te im Gegenzug die Vertreibung der Christ*innen aus Anatolien auf die
Tagesordnung. Damit wandte sich das Schicksal für einige der ältesten
Völker Anatoliens, die früh christianisiert worden waren und eine starke
304 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

materielle und geistige Kultur besaßen, nämlich die Rum-Griech*innen,


Pontusgriech*innen, Armenier*innen und Suryoye, zum Schlechten. Zwei
Halbinseln im Mittelmeer, Griechenland und die Türkei, liquidierten Schritt
für Schritt, quasi in einer Abfolge von gegenseitigen Vergeltungsschlägen,
Völker und Kulturen. Der zweite Zug der Jüd*innen nach 1550–1600 er-
gab sich mit der İttiḥâd ve Teraḳḳî Cemʿiyeti, dem Komitee für Einheit und
Fortschritt (KEF)84. (Diese Partei wurde in den 1890ern gegründet, unge-
fähr gleichzeitig mit dem ersten Zionistenkongress von 189785.) Zumindest
ein Flügel des KEF, dessen Zentrum Saloniki war, entwickelte sich in
Zusammenarbeit mit der Konvertierungs-Bewegung, die Schabbtai Zvi ab
den 1650ern angeführt hatte, und war jüdisch. Im Nationalismus, den die-
se (Moiz Kohen86, Ármin/Hermann Vámbéry87) konstruierten, existiert das
›Türkische‹ nur als Wort; in dieser türkisch-nationalistischen Strömung fan-
den sich zahlreiche Freimaurer und konvertierte Kurd*innen, Albaner*innen
und Jüd*innen. Mit dem Türkentum als soziologischem Phänomen hat-
te dies recht wenig zu tun. Es ging ausschließlich um ein politisches
Türkentum. Ein wichtiger Faktor war auch, dass deutsche und englische
Jüd*innen um das Türkentum wetteiferten. Es ist eine lange Geschichte,
und dies ist nicht der Ort dafür.
Schließlich spielten die Jüd*innen, deren Existenz in Anatolien bis ins
Altertum zurückreicht und die ihre im Exil gelernten Lektionen und ihre
Erfahrungen beim Aufbau von Nationalstaaten mit ihrer strategischen,
ideologischen und materiellen Stärke verbanden, sowohl bei der Gründung
der Republik Türkei als auch bei ihrer schnellen Umwandlung in einen
Nationalstaat (wahrscheinlich um 1926) eine tragende Rolle. Sie wieder-
holten quasi die Rolle, die sie im siebzehnten Jahrhundert in Holland
und England gespielt hatten, in der Türkei. Die schnelle Verwandlung
der Republik in einen Nationalstaat und die nach der (auch physischen)
Liquidierung der anatolischen Christenheit in Angriff genommene kultu-
relle Liquidierung des traditionellen Islam und der Kurd*innen lediglich
als Nationswerdungsprojekt der Türk*innen zu erklären, wäre ein schwerer
Fehler. Das Thema ist umfassender und hängt damit zusammen, dass die
84 Dies war die politische Partei der sogenannten Jungtürken, die in den letzten Jahre des Osmanischen Reiches
Regierungspartei war.
85 Das KEF wurde zunächst als Geheimbund gegründet. Seit Sitz war ab 1897 Genf, während die ersten Zioni-
stenkongresse in Basel tagten.
86 Moiz Kohen (1883–1961) war ein türkischer Publizist jüdischer Herkunft und einer der führenden Köpfe der
panturkistischen Strömung zu Anfang des 20. Jahrhunderts.
87 Vámbéry (1832–1913) stammte aus Ungarn und war eine schillernde Persönlichkeit: Turkologe, Publizist,
britischer Geheimagent, später Professor für orientalische Sprachen.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 305

Jüd*innen Anatolien bereits vor Israel als jüdische Heimat angenommen


hatten. Das Projekt einer jüdischen Heimstatt mit Zentrum in Saloniki88
oder Edirne, zu dem Jüd*innen Mustafa Kemal Atatürk drängten, ist ein
Thema, über das Schweigen gebreitet wurde. Wir können aber festhalten,
dass es erst mit Gründung Israels seine Bedeutung verlor. Trotzdem besteht
weiter ein strategisches Interesse Israels und der Jüd*innen an Anatolien und
der Türkei.
Die Stellung Mustafa Kemal Atatürks bei der Errichtung der Republik
Türkei steht außer Frage. Dass er jedoch gegen seinen Willen vergöttlicht
wurde, ist eine Fiktion der jüdischen Ideologie, die historisch an vielen Orten
zum Tragen kam. Im jüdischen Universalismus (Levh-i mahfûz, Schicksal,
Gesetzesglaube, Determinismus, Fortschrittsglaube; die in monotheistische
Religionen transformierte Form der sumerischen Götterkonstruktionen)
wurde die Vergöttlichung zu einem hochentwickelten und oft verwendeten
Phänomen. Alle literarischen Utopien und geistigen Begrifflichkeiten wie
Goldenes Zeitalter, Theorie, Hypothese und Gesetz, ob von Prophet*innen
oder Intellektuellen der Moderne formuliert, hängen eng mit dieser
Tradition zusammen. Solange wir nicht richtig analysieren, dass sich mit ih-
rer Hilfe göttliche und säkulär-laizistische Dogmen etablierten, die über die
Türk*innen wie über alle Völker des Nahen Ostens hegemonial sind, wird
ein Verständnis der Region schwierig sein und mangelhaft bleiben.
Natürlich besaß auch die materielle Kraft der Jüd*innen strategi-
sche Bedeutung. Ich glaube nicht, dass Mustafa Kemal Atatürk vor die-
ser Strömung kapitulierte. Aber ich bin auch überzeugt, dass er sie trotz
all seinem Lesen und Forschen (nicht ohne Grund ging er bis zu den
Sumerer*innen und Hethit*innen zurück) nicht vollständig analysiert hat.
Ich hege keinen Zweifel, dass er ein guter Republikaner sein und daher
die Republik nicht als Nationalstaat, sondern als Demokratie entwickeln
wollte. Er war auch weder anti-kurdisch noch anti-islamisch, wie oft be-
hauptet wird. Doch liegt auf der Hand, dass er seine anfänglichen libera-
len Ansätze in der Frage Islam/Laizismus und der kurdischen Frage nicht
weiterführen konnte. Dazu muss ich anfügen, dass der Grund dafür seine
starke Umzingelung durch Konvertiten-Kader des Komitees für Einheit und
Forschritt (KEF) war.
Meiner Meinung nach wäre es falsch, den Hegemoniekonflikt zwischen
Laizist*innen und Islamist*innen um die Republik Türkei, der bereits um
88 Saloniki gehörte lange zum Osmanischen Reich und war bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein wich-
tiges Zentrum des sephardischen Judentums und eine Großstadt mit überwiegend jüdischer Bevölkerung.
306 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

1926 begann und heute immer noch massiv ausgetragen wird, mit Mustafa
Kemal zu verknüpfen und als etwas darzustellen, das gemäß seines Willens er-
folgt sei. Es gibt mehr Hinweise und Belege, dass er selbst zu einer demokra-
tischen Republik89 tendierte. Ich glaube nicht, dass der Hegemonialkonflikt
kurzfristig mit einem vollständigen Erfolg einer der beiden Seiten enden
wird. Bekräftigen möchte ich jedoch meine wachsende Zuversicht, dass in
Anatolien mit seiner großen demokratischen Tradition diesmal ein starker
Aufbruch mit dem Ziel der demokratischen Republik erfolgreich sein wird.
Ich hoffe, Einsichten über den Kampf um die Hegemonie über Anatolien
und die Türkei im Abschnitt über den Nahen Osten vorlegen zu können,
den ich als separaten Band dieses Manifests plane90.
Es wäre unzureichend und falsch, das Judentum nur im Zusammenhang
mit Kapitalismus, Moderne und Nationalstaat zu denken. Es übte auch
einen starken Einfluss auf die demokratische Moderne aus. Selbst, wenn
es – historisch nicht durchgängig – einen machtorientiert-etatistischen
Flügel (wie das Königreich Juda und den Staat Israel) besaß, existier-
te doch stets ein starker jüdischer Flügel der demokratischen Zivilisation
und Moderne. Auch dasjenige Judentum, das in Armut und ohne starke
Stammesbindung lebte, hat in der Geschichte stets von sich reden gemacht.
Von Ismael, dem Sohn Abrahams und seiner Nebenfrau Hagar, bis zu Josef,
der als Sklave nach Ägypten verschleppt wurde, von Mirjam, der Schwester
Moses’, bis zu Maria, der Mutter Jesu, von damals bis heute haben zahl-
reiche Prophet*innen, Schriftgelehrte, Intellektuelle, Sozialanarchist*innen,
Feminist*innen, Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen und die gesam-
te werktätige Bevölkerung im Kampf für die demokratische Zivilisation
und Moderne – der anderen Seite des Judentums – große Entdeckungen,
Erfindungen, Theorien, Revolutionen und Kunstwerke hervorgebracht.
Jüd*innen haben ihre ideologische und materielle Stärke nicht immer für die
Monopole verausgabt. Sie unternahmen auch bedeutende Anstrengungen
und erzielten wichtige Erfolge für eine aufgeklärtere, gerechtere, freie-
re und demokratischere Welt. Welche prophetische Bewegung, welche
Geschwisterlichkeit und Solidarität der Armen, welche utopische, sozialis-
tische, anarchistische, feministische oder ökologische Bewegung ist ohne

89 Öcalans These der Demokratischen Republik findet sich ausführlich in Abdullah Öcalan,
Zur Lösung der kurdischen Frage. Visionen einer demokratischen Republik (Berlin: Kurdistan
Informations-Zentrum, 2000).
90 Dies erfolgt im vierten Band des Manifests der demokratischen Zivilisation mit dem deutschen
Arbeitstitel Zivilisationskrise im Nahen Osten und die Lösung der demokratischen Zivilisation
(erscheint voraussichtlich 2021).
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 307

Jüd*innen denkbar? Philosophische Bewegungen, wissenschaftliche und


künstlerische Bewegungen, religiöse Strömungen sind ohne Jüd*innen
kaum vorstellbar. Wie weit hätten sich wohl der Sozialismus gegen den
Kapitalismus, der Internationalismus gegen den Nationaletatismus, der
Kommunalismus gegen den Liberalismus, der Feminismus gegen den gesell-
schaftlichen Sexismus, die ökologische Wirtschaft gegen den Industrialismus,
der Laizismus gegen den Religionismus oder der Relativismus gegen den
Universalismus ohne das Judentum und Jüd*innen entwickeln können?
Offenbar ist das Judentum für beide Welten der Moderne von Bedeutung.
In wichtigen Abschnitten der Geschichte und auch heute haben sich die
Jüd*innen diese Bedeutung bewahrt. Trotzdem existiert die jüdische Frage
weiter. Wie weiter oben erwähnt, führen die Betrachtung der Jüdi*nnen
als ›Gottes auserwählte Gemeinschaft‹ genauso wie die Zuschreibung einer
Sündenbockrolle zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen und gefährlichen
Konsequenzen. Dies ist der Grund, warum ich eine zumindest skizzenhafte
Befassung mit diesem wichtigen Thema für notwendig erachtete. Sowohl
lokale als auch globale Analysen können nicht zutreffend und zielführend
sein, wenn wir uns die jüdische Realität nicht vor Augen führen.
Zum Abschluss dieses Themas möchte ich den Satz von Karl Marx wie-
derholen, der sinngemäß sagte: »Wenn sich das Proletariat befreien will,
muss es im Wissen vorgehen, dass dies nicht möglich ist, ohne die Welt zu
befreien.« Ich sage, wenn das Judentum sich befreien will, muss es wissen,
dass es dazu notwendigerweise die Welt befreien muss, und seine strategi-
schen ideologischen und materiellen Ressourcen in diesem Sinne verwen-
den. Dazu gehört vor allem die demokratische Moderne.
308 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

E Dimensionen der demokratischen


Moderne

Wir haben nach der Kritik von Zivilisation und Moderne die mit der
Geschichte der Zivilisation verschränkte demokratische Moderne bereits
behandelt und sie in ihren Hauptelementen definiert. Ich denke, dass unse-
re Analysen sie recht gut beleuchtet haben. Hier werde ich nun versuchen,
das Thema in seinen wesentlichen Dimensionen und insgesamt noch deut-
licher sichtbar zu machen. Ich werde die Frage beantworten, wie sich die
demokratische Moderne in einer Übersicht in ihren Hauptdimensionen dar-
stellen lässt. Grundlage unserer wissenschaftlichen Arbeit sollte es sein, das
monistische Moderneverständnis zu durchbrechen und die davon verdeck-
ten gewaltigen historisch-gesellschaftlichen Existenzen sichtbar zu machen.
Die Zivilisationsgeschichte gleicht einem versiegten, tiefen Brunnen, dessen
Grund nicht erkennbar ist. Je mehr wir uns bemühen, sie zu beleuchten,
desto mehr dunkle Stellen tauchen auf. Wir dürfen annehmen, dass das ge-
sellschaftliche Gedächtnis – das Gewissen – unter dem jahrtausendelangen
ideologischen Bombardement der herrschenden Monopole so zusammenge-
faltet wurde, dass es an Hirnwindungen erinnert, und im gesellschaftlichen
Gedächtnis ein dem Unterbewusstsein ähnliches Phänomen in Form von
Tausenden gewundenen Tunneln entstanden ist. Und doch dürfen wir uns
nicht entmutigen lassen. Ein menschliches Organ lässt sich nicht behan-
deln, solange die Krankheit nicht richtig diagnostiziert ist, und vergleich-
bar lässt sich für keines der gesellschaftlichen Probleme die richtige Analyse
(Diagnose) durchführen oder eine Lösung (Behandlung) finden, solange es
nicht ausreichend beleuchtet wird.
Es sollte nicht verwundern, dass ich glaube, eines immer wieder betonen
zu müssen: Wenn die Sozialwissenschaften oder eine andere wissenschaftliche
Disziplin ihren Ansprüchen gerecht geworden wäre, hätte die Menschheit in
den letzten vier Jahrhunderten nicht so viele furchtbare Kriege, Völkermorde
und Soziozide, Abgründe zwischen Reich und Arm, Arbeitslosigkeit und
Migration, kulturelle Degeneration und Unmoral, monströse Monopolkräfte
und auf ein Nichts reduzierte Individuen sowie an die Apokalypse erinnern-
de Umweltzerstörung erlebt und wäre nicht in den jetzigen Zustand gera-
ten. Das globale Zivilisationssystem scheint alle Instrumente der materiel-
len und immateriellen Kultur, die es seit fünftausend Jahren als Lösungen
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 309

präsentiert, aufgebraucht zu haben. Es gibt keinen Ort mehr, der mit krie-
gerischen Mitteln erobert und erneut beschlagnahmt werden kann. Selbst,
wenn jemand es dennoch wagt, wird der Schaden einer Eroberung den
Profit um ein Vielfaches übersteigen. Vom Instrument der Stadt bleibt letzt-
lich nur eine krebsartig wuchernde Urbanisierung ohne Städte91 und eine
dem Untergang geweihte dörflich-agrarische Gesellschaft. Von der soge-
nannten Ökonomie bleiben nicht mehr zu zügelnde, aufgeblähte globale
Monopole, die mit höchst unmoralischen Methoden wie der, aus Geld mehr
Geld zu machen, und Millionen von arbeits- und mittellosen Menschen, de-
ren Zahl jedes Jahr weiter wächst. Vom angebeteten Instrument des Staates
bleiben komplett dysfunktionale Macht- und Nationalstaatsmonopole, auf-
gebläht durch das Auffressen der eigenen Gesellschaften, und eine komplett
verdummte Herde von Staatsbürger*innen, die jeglichen Bezug zur morali-
schen und politischen Gesellschaft verloren haben. Von den ideologischen
Instrumenten, von denen Hilfe erhofft wurde, bleibt ein Religionismus, der
seine moralische Funktion eingebüßt hat, ein Sexismus, der die Macht bis
in jede Pore der Gesellschaft verbreitet, ein Nationalismus, der uns in einem
tausendfach schlimmeren Chauvinismus ertränkt als jedes Stammesdenken,
und ein Szientismus, der keinen anderen Zweck hat, als den Kapital- und
Machtmonopolen den Weg zu Maximalprofiten zu weisen. Und von der
Kunst bleibt eine Kulturindustrie, die die Erhabenheit der Gefühle und
das Gefühl der Schönheit zu Waren macht. Die aktuelle Situation, die als
das ›Ende der Geschichte‹ bezeichnet wird, muss wohl eine Art Bilanz der
Zivilisation sein. Eine Gesellschaft, die von Medienmonopolen in einer vir-
tuellen Welt geblendet und erstickt wird, mag ihrer Reflexe beraubt sein,
sie mag durch Machtapparate bis ins Kleinste überwacht und kontrolliert
sein – das allgemein fünftausend oder speziell vierhundert Jahre alte globa-
le System von Zivilisation und Moderne befindet sich am tiefsten Punkt
der geistigen und strukturellen Krise. Der zur globalen Hegemonialmacht
gewordene Finanzkapitalismus ist der beste Beweis dafür. Die Welt, deren
Räder der Finanzkapitalismus antreibt, ist eine Welt der Krisen, die sich in
Depressionen windet.
Mir geht es hier nicht darum, Krisentheorien zu entwickeln. Ich hat-
te den Kapitalismus nicht nur als ein System mit periodischen Krisen

91 Diese Formulierung verweist auf Murray Bookchins Buch Agonie der Stadt. Aufstieg und
Niedergang des freien Bürgers (Trotzdem, 1996), dessen Originaltitel Urbanization without
Cities: The Rise and Decline of Citizenship lautet und das Öcalan bereits Mitte der 2000er allen
Bürgermeister*innen kurdischer Kommunen ans Herz legte.
310 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

definiert, sondern im Zivilisationssystem mit seinen langen, periodischen


Krisen als die Phase der systemischen, strukturellen Krise. Jede Krisenphase
hat noch heftiger verlaufende innere Phasen, und wir durchleben gerade
solch eine Phase. In diesem Zusammenhang muss ich darauf hinweisen,
dass ich nicht zu den Sozialist*innen gehöre, die einst und vielleicht im-
mer noch von Krisen die Revolution erhoffen. Krisen produzieren nicht
nur Revolutionen, sondern auch Konterrevolutionen. Außerdem halte ich
derartige Theorien von Krise-Revolution-Konterrevolution weniger für ei-
nen Ausdruck der Wirklichkeit als eher für eine rhetorische oder propagan-
distische Anstrengung. Daher vertrete ich keinen Diskurs in der Art von ›die
Bedingungen werden bald günstig für die demokratische Moderne‹. Ich ak-
zeptiere Depressionen und Krisenphasen jeweils als tatsächliche Phänomene.
Aber ich sehe Depressionen und Krisen nicht als Faktoren, die historische
Entwicklungen hervorbringen werden. Die universalistisch-progessivistische
Denkrichtung bemühte sich seinerzeit, aus den Krisentheorien aufeinander
folgende Gesellschaftsformen abzuleiten, die sich vom Schlechteren zum
Besseren entwickeln. Die konkrete Wirklichkeit hat diese Theorien nicht
wirklich bestätigt.
Also müssen wir die gestern und heute entscheidenden Faktoren in ande-
ren Bereichen suchen. Die demokratische Moderne war immer eine Option,
an die man nach intensiven Anstrengungen der Suche gelangte. Ich finde
es immer wieder nötig, auf diese Option einzugehen, und bin überzeugt,
dass die Kenntnis ihrer distinkten Besonderheiten praktische Anstrengungen
produktiver machen wird. Ich fühle mich dem positiven demokratischen
Erbe der Geschichte verbunden, das ich sehr respektiere. Das sehe ich per-
sönlich auch als eine Selbstkritik. Ich meine nicht, dass ich nur eine Lektion
gelernt habe, vielmehr glaube ich, dass die Gestaltung der Gegenwart mit
Hilfe der Geschichte eine unverzichtbar wertvolle Methode ist. Ich emp-
finde nicht die gleiche Verbundenheit mit und den gleichen Respekt für
Gedanken und Handlungen – was immer ihr Wert und ihre Folgen sein
mögen –, wenn sie nicht auf dem Verständnis fußen, dass die Geschichte
das Jetzt sein muss und das Jetzt die Geschichte. Denn solches Denken und
Handeln überzeugt mich nicht. Ich weiß, dass die Zukunft durch das Jetzt
verläuft, und bin überzeugt, dass keine Zukunft hat, wer nicht das eigene
Jetzt analysiert und dessen Fragen löst.
Mit diesen Wiederholungen zur Methode möchte ich betonen, dass
die demokratische Zivilisation weder als die Vorstellung eines in der
Vergangenheit liegenden ›Goldenen Zeitalter‹ gedacht, noch als eine ›Utopie‹
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 311

für die Zukunft konzipiert ist. Sie ist der Ausdruck der sich täglich, ja augen-
blicklich in Denken und Handeln verwirklichenden Lebensweise. Sie ist we-
der ein Schwelgen in alten Erinnerungen noch ein Trösten mit Träumen von
der Zukunft. Ihre Existenzweise besteht weder aus plötzlichen Schöpfungen
noch aus ewigen Tatsachen. Vielleicht können wir die Existenzweise als fle-
xible Intelligenz der gesellschaftlichen Natur mit ihrem hohen Potenzial an
Freiheit und als Einheit der Differenzen ›demokratische‹ Moderne nennen.
Doch sollten wir nie vergessen, dass sie – weil Moderne ein Zeitalter be-
zeichnet – als dialektischer Gegenpol zu den klassischen Zivilisationen des
Zeitalters ins Dasein tritt und wir sie unbedingt mit dieser Definition zu-
sammenführen müssen.
Wenn man daran denkt, ›Moderne‹, also das Zeitalter der Hegemonie des
Kapitalismus, als spezifische Bezeichnung für die letzten vierhundert Jahre
der klassischen Zivilisation zu verwenden, dann sollten wir überlegen, auch
›demokratische Moderne‹ als spezifische Bezeichnung für die letzten vier-
hundert Jahre der demokratischen Zivilisation zu verwenden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die demokratische Moderne über-
all und zu jeder Zeit, wo die Netze der kapitalistischen Zivilisation exis-
tieren, als Gegenpol gelebt wird. Erfolgreich oder erfolglos, Freiheit oder
Sklaverei, Ähnlichkeit oder Differenz, nahe an Gleichheit oder fern davon,
ökologisch und feministisch, bedeutend geworden oder nicht, kurz: nah an
den Eigenschaften der moralischen und politischen Gesellschaft oder fern
davon – die demokratische Moderne existiert zu jeder Zeit und an jedem
Ort im Schoße der kapitalistischen Moderne.
Die Versuche linker oder rechter Oppositionen, durch Revolutionen oder
Konterrevolutionen die Macht (also den Staat) zu erobern, anschließend
mit Social Engineering die eigenen Pläne und Programme zu verwirklichen
und mit Methoden der zentralen Planung ihre ersehnten Gesellschaften zu
erschaffen, betrachte ich nicht als lediglich unsinnige und propagandistische
Diskurse. Ich unterstreiche, dass ich Entwicklungen, die auf einem derar-
tigen Stil beruhen, für Gedanken und Taten halte, die dazu führen, zum
Spielball des Liberalismus zu werden, der keinerlei Schwierigkeiten haben
wird, sie zu absorbieren, selbst wenn darüber siebzig Jahre vergehen.
Die gesellschaftliche Natur besitzt in ähnlicher Weise wie die biologische
Natur genetische Kodierungen. Ich bin mir hier der Gefahr des Biologismus
bewusst. Ich weiß, dass es darwinistisch ist, dies auf die gesellschaftliche
Natur zu übertragen, und als Vulgärmaterialismus dem Social Engineering
gedankliches Material liefert. Mir geht es darum, dass die Veränderung des
312 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Gedächtnisses und der strukturellen Grundeigenschaften von historischen


Gesellschaften besonders heikel sind, auch wenn sie als Natur mit dem
höchsten Intelligenzniveau für die Wahl der Freiheit besonders offen sind.
Wir können Gesellschaften nicht verändern wie Pflanzen und Tiere, deren
genetische Codes wir verändern, um neue zu züchten. Nicht umsonst ist
die moralische und politische Gesellschaft im Gedächtnis der gesellschaft-
lichen Natur fest verankert. Besonders wichtig ist, festzuhalten, dass eine
Veränderung der Gesellschaft nur dann als legitim gelten kann, wenn sie
das Niveau der moralischen und politischen Gesellschaft anhebt, während
jegliche totalitäre und autoritäre Methode das Niveau der moralischen und
politischen Gesellschaft absenkt und unabhängig von den Folgen nicht als
legitim akzeptiert werden kann.
Die demokratische Moderne ist ein System mit der Besonderheit, den
legitimen Weg für Veränderung freizuhalten. Dass ihr moralischer und po-
litischer Wert hoch ist, hängt mit der Substanz dieses Systems zusammen.
Der legitime Weg für Veränderung ist sehr wichtig und gleichzeitig ganz
einfach. Jedes Mitglied der Gesellschaft kann überall und jederzeit zu die-
ser Veränderung beitragen. Ein Mitglied, das Überreste der neolithischen
Gesellschaft oder sogar der Klangesellschaft lebt, besitzt ein genauso großes
Potenzial, jederzeit etwas zur Veränderung beizutragen, wie eines, das in
Moskau oder New York lebt. Dazu sind auch keine Held*innentaten wie
in den großen, heiligen Erzählungen notwendig. Die einzige Bedingung
ist, fähig zu sein, moralisch und politisch zu denken und zu handeln, wie
es die grundlegende Existenzweise der gesellschaftlichen Natur ist. Wir
sind sicher, dass jedes Individuum diese Fähigkeit (oder Tugend) zumin-
dest minimal besitzt. Zweifellos will ich damit nicht sagen, dass die gro-
ßen und heiligen Erzählungen, die im Laufe der historischen Gesellschaft
entstanden und ins Gedächtnis der Menschheit eingegangen sind, um den
legitimen Weg der Veränderung zu erleuchten, unwichtig seien. Ganz im
Gegenteil, da die ideologischen und materiellen Monopole den Weg der
legitimen Veränderung verbaut haben, kommt diesen Erzählungen eine gro-
ße Bedeutung zu. In ähnlicher Weise sind heldenhafte Taten auf dem Weg
zur Freiheit unverzichtbar und heilig. Es ist wichtig, zu wissen, dass in der
demokratischen Moderne Veränderung ohne eine historisch-gesellschaftli-
che Gesamtanstrengung nicht zu erreichen ist. Wir leugnen nicht die Rolle
bedeutender Persönlichkeiten und Organisierungen. Aber solange sie nicht
über einen legitimen Pfad in das moralische und politische Gewebe der
Gesellschaft eingebettet wird, bedeutet ihre Rolle nicht viel.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 313

Das gilt auch für Revolutionen: Veränderung als eine gesellschaftliche


Entwicklung, die nicht auf legitimen Wegen geschieht und nicht in das mo-
ralisch-politische Gewebe eingebettet ist, dürfen wir ebenfalls nicht als integ-
ralen Bestandteil der gesellschaftlichen Natur werten. Gesellschaften werden
nicht geschaffen, sondern gelebt. Zweifellos gibt es Unterschiede zwischen
Leben und Leben. Es gibt ein freieres, gleicheres und demokratischeres
Leben, genauso wie einLeben in unerträglicher Sklaverei, Ungleichheit
und Diktatur, letzteres vielleicht öfter. Demokratische Moderne drückt
die Mentalität und Struktur aus, unter diesen Bedingungen mit geeigneten
Methoden das Leben freier, gleicher und demokratischer zu gestalten. Einen
Stein aus dem Weg zu räumen, ist im Rahmen der demokratischen Moderne
genauso wertvoll, wie als letztes Mittel einer legitimen Veränderung eine
Revolution zu machen. Auf der anderen Seite können wir eine göttliche
Errettung genauso wie einen nach Sklaverei riechenden schicksalsergebe-
nen Sufismus92 im gleichen Rahmen denken und als unethisch ablehnen.
Im Lichte der Lektionen aus den demokratischen Kämpfen für Freiheit
und Gleichheit der letzten vierhundert Jahre können wir in dieser Zeit
der systemischen und strukturellen Krise der Hegemonie des globalen
Finanzkapitalismus die demokratische Moderne stärken und sogar durch
einen starken Wiederaufbau ihn an manchen Orten besiegen. Daher wird
es unseren Bemühungen in dieser Richtung eher zum Erfolg verhelfen, über
die Hauptdimensionen der demokratischen Modernde nachzudenken und
sie zu erhellen.

1. Die Dimension der moralischen und politischen Gesellschaft


(demokratische Gesellschaft)
Wie wir die kapitalistische Moderne in drei Grunddimensionen be-
handelt haben, so können wir es auch für die demokratische Moderne
tun. Im Gegensatz zu den grundlegenden Diskontinuitäten und spe-
zifischen Besonderheiten der kapitalistischen Moderne, der kapita-
listischen Produktionsgesellschaft, der Industriegesellschaft und der
Nationalstaatsgesellschaft, treten als Dimensionen der demokratischen
Moderne die moralische und politische Gesellschaft, die öko-industrielle
Gesellschaft und die demokratisch-konföderalistische Gesellschaft in den
Vordergrund. Diese Dimensionen lassen sich für beide Systeme detaillierter
ausformulieren, doch für eine sinnvolle Definition in Grundzügen sollten

92 Islamischer Mystizismus, hier als Beispiel für esoterische und weltabgewandte Denkrichtungen.
314 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

diese drei Dimensionen zunächst ausreichen. Die Dimensionen der kapi-


talistischen Moderne haben wir in den vorigen Teilen ausführlich analy-
siert. Auch haben wir versucht, die demokratische Moderne in ihrer histo-
rischen Entwicklung einzuschätzen, sie mit der klassischen Zivilisation und
Moderne zu vergleichen und in ihren Hauptelementen sichtbar zu machen.
Sie getrennt nach ihren grundlegenden Dimensionen genauer zu definieren,
wird die Erzählung und praktische Ansätze stärken.
Wir hätten die moralische und politische Gesellschaft auch als demokra-
tische Gesellschaft (oder demokratische Kommunalität) bezeichnen kön-
nen. Vielleicht wäre das der passendste Ansatz einer Kategorie gewesen, um
der kapitalistischen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Doch haben wir
uns vor dem Begriff moralische und politische Gesellschaft, der eine grund-
legendere Kategorie bezeichnet, nicht gescheut, weil er die demokratische
Gesellschaft auch umfasst. Diese Gesellschaft haben wir in verschiedenen
Teilen dieses Manifests behandelt. Hier werde ich eine Zusammenfassung
liefern. Bevor ich die moralische und politische Gesellschaft beschreibe,
werde ich einen Punkt zu ihrer Substanz wiederholen, der nicht oft genug
wiederholt werden kann: Es ist der essenzielle Zusammenhang der mora-
lischen und politischen Gesellschaft mit Glück und dem Wahren, Guten
und Schönen auf der einen und Freiheit, Gleichheit und Demokratie auf
der anderen Seiten. Glück und das Gute sind ohnehin die Essenz der Moral.
Das Wahre betrifft die Wahrheit. Die Wahrheit außerhalb der moralischen
und politischen Gesellschaft zu suchen, ist vergeblich. Wer nicht moralisch
und politisch ist, kann die Wahrheit nicht finden. Schönheit dagegen ist
das Ziel der Ästhetik. Schönheit außerhalb der moralischen und politischen
Gesellschaft betrachte ich nicht als Schönheit. Schönheit ist moralisch und
politisch! Den Zusammenhang des anderen Dreiklangs Freiheit, Gleichheit
und Demokratie mit der moralischen und politischen Gesellschaft haben
wir bereits ausführlich analysiert. Keine Gesellschaft besitzt im gleichen
Maße wie die moralische und politische Gesellschaft die Fähigkeit, Freiheit,
Gleichheit und Demokratie zu schaffen und zu gewährleisten.
Der erste Punkt betrifft die Kapazität der moralischen und politischen
Gesellschaft für Veränderung und Transformation. Solange die moralische
und politische Dimension als Grundlage gesellschaftlichen Seins nicht be-
seitigt wird, können wir uns die moralische und politische Gesellschaft
als diejenige vorstellen, welche die größte Kapazität für Veränderung und
Transformation besitzt. Zweifellos lassen sich Moral und Politik in keiner
Gesellschaft vollständig beseitigen, doch kann ihre Funktion weitestgehend
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 315

beschränkt werden. Zum Beispiel sind in der Gesellschaft der kapitalistischen


Moderne unter der Herrschaft des Nationalstaates Moral und Politik auf ein
Minimum reduziert, sogar bis an die Grenze der Auslöschung zurückge-
drängt. Die Gründe und Folgen haben wir breit diskutiert. Wenn nun Moral
und Politik eingeschränkt werden, verändert sich dann die Gesellschaft? Im
Gegenteil, sie ist dann eingeengt, Veränderung und Transformation sind
eingefroren, sie wird zur Homogenität gezwungen und unter einem star-
ren rechtlichen Status erdrosselt. An Kapazität für Veränderung ist nicht
zu denken; in der kapitalistischen Moderne ist die Veränderung auf eine
Homogenisierung zur Schaffung einer Einheitskultur und zum Heranziehen
von Staatsbürger*innen verengt und auf eine Spaltung in ›Wir‹ und ›die
Anderen‹ reduziert. An der Oberfläche wird ein farbiges Bild gezeichnet, als
durchlebe die moderne Gesellschaft einen grenzenlosen Wandel. Das ist je-
doch nur der mediale und propagandistische Anblick. Die darunterliegende
Wirklichkeit ist einfarbig; entweder ziemlich grau oder gar schwarz.
Im Gegensatz dazu ist die demokratische Gesellschaft als zeitgenössische
Moderne der moralischen und politischen Gesellschaft die Gesellschaft, die
tatsächlich Unterschiede in breitester Form auslebt. In der demokratischen
Gesellschaft kann ohne Zwang zur Einheitskultur und zur Staatsbürgerschaft
jede gesellschaftliche Gruppe auf der Grundlage der Unterschiedlichkeiten,
die sich um ihre eigene Kultur und Identität herum ergeben, koexistie-
ren. Die Gemeinschaften können in Bezug auf Differenzen in Identitäten
und Politik die eigenen Potenziale entfalten und aktiv ausleben. Keine
Gemeinschaft muss sich sorgen, assimiliert zu werden. Einfarbigkeit gilt als
hässlich, langweilig, ärmlich. Vielfarbigkeit trägt in sich Reichtum, Toleranz
und Schönheit. Unter diesen Bedingungen sind Gleichheit und Freiheit
besser garantiert. Nur auf Unterschiedlichkeit beruhende Gleichheit und
Freiheit sind etwas wert. Ohnehin dienen Freiheit und Gleichheit, die durch
den Nationalstaat hergestellt werden, nur den Monopolen, wie weltweit alle
Erfahrungen belegen. Die Macht- und Kapitalmonopole gewähren weder
wirkliche Freiheit noch Gleichheit. Freiheit und Gleichheit werden allein
durch demokratische Politik der demokratischen Gesellschaft errungen und
durch Selbstverteidigung geschützt.
Nun mag man die Frage stellen: Wie kann ein System derart viel
Unterschiedlichkeit aushalten? Die Antwort darauf liegt in der Einheit, die
der moralischen und politischen Gesellschaft zugrunde liegt. Der einzige
Wert, bei dem weder Individuen noch Gruppen Zugeständnisse machen,
ist das Beharren darauf, moralische und politische Gesellschaft zu bleiben.
316 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Die einzige und hinreichende Bedingung für Diversität, Gleichheit und


Freiheit ist die moralische und politische Gesellschaft. Die demokratische
Gesellschaft als der moderne Zustand dieser historischen Gesellschaft be-
weist sich mit der Zeit immer mehr.
Der Liberalismus als zentrale Ideologie des offiziellen Systems führt zahl-
reiche Argumente ins Feld, um diese Tatsache in ihr Gegenteil zu verdre-
hen. Er setzt sich nahezu gleich mit der Demokratie und schafft so eine
Begriffsverwirrung. Die Identifizierung der Ideologie des Liberalismus mit
einem politischen System wie der Demokratie ist ein typisches Beispiel
für solch eine Verwirrung. Liberalismus bedeutet im Kern die ungezügel-
te Zerstörung, die das Individuum über die Gesellschaft bringt, und die
Herrschaft der Monopole über die Gesellschaft beweist dies. Wegen ihrer un-
demokratischen Struktur besitzen alle möglichen Arten von Egoismus über-
all, von der Familie bis zum Staat, eine Tendenz zur Diktatur. Demokratische
Individualität dagegen ist etwas anderes. Die Entschlossenheit der
Gesellschaft als gemeinsame Stimme antizipiert das Individuum. Das
Individuum nimmt nur dann einen wertvollen und respektierten Platz in
der Gesellschaft ein, wenn es sich auf die Grundlage dieser Stimme und
dieser Entschlossenheit stellt. Also ist der liberale Individualismus als eine
Art unzähliger grenzenloser Monopole antidemokratisch. Kein libera-
les oder neoliberales Geschwätz und keine Begriffsverwirrung kann diese
Eigenschaft ändern. Der Liberalismus oder die Liberalisierung, die auch
in der Wortbedeutung Befreiung verwendet werden, haben bewiesen, dass
sie diese in der Praxis nur bis zur unbegrenzten Ausweitung der Monopole
herbeiführen. Die anscheinend präsentierte Freiheit wurde in der Praxis in
vieler Hinsicht in ideologische und materielle Ketten gelegt, wie es nicht
einmal unter den Regimen der Pharaonen der Fall war. Wirkliche Freiheit
kann in einer Gesellschaft nur sinnvoll existieren, wenn sie durch die ge-
sellschaftliche Dimension unterstützt wird. Individuelle Freiheiten, die
nicht von der Gesellschaft unterstützt werden, können nur abhängig von
der Gnade der Monopole existieren, und das widerspricht dem Geist der
Freiheit. Gleichheit ist dem Liberalismus ohnehin kein Anliegen.
Die moralische Gesellschaft ist unter den Bedingungen der kapitalisti-
schen Moderne so eingeengt, funktionslos und gegenstandslos wie nie zuvor.
Mehr als je in der Geschichte werden moralische Regeln durch juristische
Kodizes ersetzt. Die Bourgeoisie, die als Klasse die Moral gegenstandslos
gemacht hat, zwingt durch das bis ins kleinste Detail kodifizierte Recht der
Gesellschaft die eigene Klassenherrschaft auf. Die moralische Gesellschaft
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 317

wird durch die juristische Gesellschaft ersetzt. Hier stehen wir vor einer
wichtigen Veränderung. Auch in der Geschichte finden wir Bestrebungen,
Recht zu schaffen. Aber das Recht wurde zu keiner Zeit wie in der bür-
gerlichen Moderne mit Details überschwemmt. Eigentlich wird unter der
Bezeichnung Recht ein Klassenmonopolismus, ein Rechtsmonopolismus
geschaffen. Eine höchst komplizierte Natur wie die Gesellschaft lässt sich
nicht durch Recht regieren. Zweifellos hat das Recht seinen Platz in der
Gesellschaft, wenn es denn gerecht ist; in diesem Sinne ist das Recht unver-
zichtbar. Doch das Recht, das unter der Bezeichnung ›positives Recht‹ vom
Staat der Gesellschaft aufgezwungen wird, ist keine Gerechtigkeit, sondern
der in Recht gefasste Monopolismus der herrschenden Klasse und Nation,
das Regelwerk des Nationalstaates. Die Zerstörung der Moral ist synonym
mit der Zerstörung der Gesellschaft. Die gegenwärtigen Ereignisse bestäti-
gen diese Tatsache. Selbst Gesellschaften wie die der USA oder Russlands
könnten sich nicht eine Stunde lang ohne den Status quo, ohne die offi-
ziellen rechtlichen Regeln, halten. Wie wir es manchmal in Krisenzeiten
beobachten, verwandelt sich die Gesellschaft in Abwesenheit des offiziellen
Rechts in ein Schlachtfeld.
Dies drückt eigentlich eine bestimmte Tatsache aus. Wir hatten den
Nationalstaat als einen bis in die Poren der Gesellschaft gepressten
Kriegszustand definiert. Dies zeigt sich ganz offen in Krisenzeiten. Das größ-
te Krisenpotenzial besitzen die offiziellen Rechtsgesellschaften. Der Grund
dafür ist das Fehlen des moralischen Prinzips. Wenn die Umweltkrise kata-
strophale Züge angenommen hat, so ist der Grund dafür, dass einerseits die
moralische Dimension fehlt, andererseits das Umweltrecht noch nicht genü-
gend entwickelt ist. Überhaupt ist die Umwelt nichts, was durch das Recht
geschützt werden kann, denn sie ist unendlich. Rechtliches Wirken dagegen
ist höchst begrenzt. Daher liegt auch dem ökologischen Problem die Abkehr
vom Prinzip der moralischen Gesellschaft zugrunde. Eine Gesellschaft, die
dem Prinzip der moralischen Gesellschaft nicht den verdienten Platz ein-
räumt, hat ihre Nachhaltigkeit in Bezug auf ihre innere Konstitution und
ihre Umwelt eingebüßt. Die aktuelle Wirklichkeit zeigt dies sehr deutlich.
Gleiches gilt auch für das Prinzip der politischen Gesellschaft. Wenn
an die Stelle der Politik die gigantische bürokratische Verwaltung des
Nationalstaates gesetzt wird, verlieren die Gesellschaften ihre demokratische
Funktionalität. Die Gesellschaft, in deren kleinste Poren die Verwaltung
des Nationalstaates eingedrungen ist, ist eine gelähmte Gesellschaft. Eine
Gesellschaft die alle ihre Verrichtungen, ihre gemeinsamen Angelegenheiten
318 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Bürokratie überlässt, ist in Denken und Willen tatsächlich hochgradig


gelähmt. Europa hat dies bemerkt und hält nicht ohne Grund am Prinzip
der demokratischen Politik fest. Dass Europa etwas weiter entwickelt ist,
liegt daran, dass es neben der Bürokratie in begrenztem Maße auch der ge-
sellschaftlichen Politik Raum lässt.
Der Nationalstaat der Moderne sieht die politische Gesellschaft als eine
Bedrohung seiner Existenz, Einheit und Unteilbarkeit an. Dabei drängen
Verwaltung und Bürokratismus das politische Element, die Existenzweise
der Gesellschaft, nicht nur in die Enge, sondern sie machen es praktisch
unbrauchbar. Sie hängen nicht nur wie ein Damoklesschwert über der
Gesellschaft, sondern zerschneiden sie stündlich. Diese Tatsache ist das
Grundproblem der politischen Philosophie unserer Zeit, und als Faschismus
ist dies auch praktisch das größte Hindernis für das Leben. Ich hatte an
anderer Stelle einmal gesagt: Hitler als Person sei besiegt worden, aber sein
System habe den Sieg davongetragen. Der National-Etatismus ist in dem
Sinne, dass er die politische Gesellschaft ausradiert hat, identisch mit dem
Hitlerfaschismus (Hitler war zwar nicht der erste, dem das in Reinform ge-
lang, aber er war derjenige, der das offiziell verkündete und vertrat).
Eine Gesellschaft, die das Prinzip der Politik nicht besitzt, es nicht ge-
braucht oder wo es ausgelöscht ist, ist ein Kadaver; im besten Falle kann sie
als kolonialisierte Gesellschaft gelten. Daher ist die Funktionalität, welche
die demokratische Gesellschaft dem politischen Prinzip verleiht, lebenswich-
tig und der Hauptbeweis ihrer Überlegenheit als System.
Die Zivilisationsgeschichte ist in gewissem Sinne die Geschichte da-
von, wie die politische Gesellschaft eingeengt, funktions- und gegen-
standslos gemacht wurde. Die Spaltung der Gesellschaft in Klassen wur-
de erst durch die Niederschlagung der heftigen politischen Kämpfe
dagegen zugunsten des Staates möglich. An diesem Punkt müssen wir ge-
nau aufpassen. Selbst den Marxist*innen, die sich am allermeisten mit dem
Problem des Klassenkampfes befasst haben, gelang es nicht, die Natur der
Klassenspaltung zutreffend festzustellen; sie bewerteten die Klassenspaltung,
als sei sie eine Tugend und die Triebkraft der Zivilisation. Sie hielten die
Klassenspaltung für eine Notwendigkeit des historischen Materialismus,
als sei sie eine auf jeden Fall zu durchlaufende Stufe der Geschichte und
erfülle eine Brückenfunktion. Ich habe in meiner Zivilisationsanalyse die
Klassenspaltung als Einschränkung und Dysfunktionaliserung der politi-
schen und moralischen Gesellschaft bewertet und festgehalten, dass mit der
weiteren Entwicklung der Aufspaltung in Klassen die Gesellschaft stärker
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 319

in die Hegemonie von Macht und Staat geriet. In diesem Sinne verlief die
Geschichte in einem heftigen Klassenkampf. Aber die Klassenspaltung selbst
ist keineswegs ein Fortschritt, keine Weiterentwicklung, sondern ganz im
Gegenteil ein gesellschaftlicher Rückschritt und Niedergang. Moralisch
betrachtet, ist das keine positive, sondern eine negative Entwicklung. Die
Spaltung in Klassen als eine unvermeidliche Station für den Fortschritt zu
behaupten und dies auch noch als marxistische Aussage darzustellen, ist
einer der größten Fehler, der im Kampf für die Freiheit begangen wurde.
Wenn wir sie mit der Klassengesellschaft vergleichen, sehen wir, dass
es die wichtigste Eigenschaft der politischen Gesellschaft ist, ständig ih-
rer Aufspaltung in Klassen zu widerstehen. Die beste Gesellschaft ist die
Gesellschaft, die sich am wenigsten entlang von Klassen spaltet. Der Erfolg
des politischen Kampfes lässt sich daran festmachen, ob die Spaltung der
eigenen Gesellschaft in Klassen zugelassen wird. Der politische Kampf kann
seinen Erfolg nur unter Beweis stellen, wenn er die Klassenspaltung der eige-
nen Gesellschaft nicht zulässt und so verhindert, sich der einseitigen Gewalt
der Macht- und Staatsapparate zu unterstellen. In Gesellschaften, die bis
zum Hals in der Gewalt von Macht und Staat stecken, von einem erfolgrei-
chen politischen Kampf zu sprechen, ist ein schwerer Fehler. Ideal für die
politische Gesellschaft ist, sich entweder gar nicht der Gewalt von Macht
und Staat zu unterstellen oder nach einem harten Kampf zu einem Konsens
auf der Grundlage des gegenseitigen Einverständnisses mit Staat und Macht
zu gelangen und sie auf dieser Grundlage anzuerkennen.
Die kapitalistische Moderne ist die letzte Stufe der Zivilisation, auf der
die politische Gesellschaft am weitesten eingeschränkt und funktionslos
gemacht worden ist. Dies müssen wir sehr genau begreifen. Glaubt man
dem Liberalismus, der heute die ideologische Hegemonie innehat, sind der
politische Kampf und sogar die demokratische Politik äußerst weit entwi-
ckelt. Diese Behauptung erscheint bei oberflächlicher Betrachtung als zu-
treffend, drückt im Kern jedoch das Gegenteil aus. Die Zeit der kapitalis-
tischen Moderne ist diejenige, in der infolge der maximalen Ausweitung
von Individualismus und Monopolismus die moralische und politische
Gesellschaft am dysfunktionalsten ist. Die Gesellschaft des Nationalstaates,
der maximale Macht bedeutet, ist eine Gesellschaft, die einen maximalen
Verlust ihres politischen Charakters erleidet. Solch eine Gesellschaft bringt
der Nationalstaat hervor. Er lässt sogar die Gesellschaft insgesamt verschwin-
den. Die Gesellschaft wurde geradezu vom Nationalstaat und globalen
Konzernen absorbiert. Michel Foucault betrachtet in diesem Zusammenhang
320 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

die Verteidigung der Gesellschaft93 als Grundlage der Freiheit. Den Verlust
der Gesellschaft (verschuldet durch extremen Individualismus und die
Monopole; durch die Moderne selbst) wertet er nicht nur als den Verlust
der Freiheit, sondern auch als Verlust des Menschen.
Die demokratische Moderne ist daher der einzige Weg, durch
Verteidigung der Gesellschaft Freiheit zu erringen. Die Gesellschaft, die
sich durch demokratische Politik gegen Individualismus, den Nationalstaat
und die Monopole verteidigt, verwandelt sich in eine moderne demokrati-
sche Gesellschaft, indem sie ihr politisches Gewebe funktional macht. Die
moderne demokratische Gesellschaft dagegen beweist ihre Überlegenheit,
indem sie als Gesellschaft, die über alle gesellschaftlichen Angelegenheiten
nachdenkt, spricht, Entscheidungen trifft und sie in die Tat umsetzt,
Unterschiedlichkeit, Multikulturalität und darauf aufbauend Gleichheit
entstehen lässt. Somit führt die demokratische Moderne nicht nur den
Klassenkampf auf der richtigen Grundlage; gleichzeitig schnürt sie nicht
der eigenen Gesellschaft die Luft ab, indem sie eine neue Macht oder einen
neuen Staat erschafft; sie fällt nicht in diese historische Falle (der historische
Fehler des Realsozialismus). Ihr ist bewusst, dass in dem Maß, wie Macht
und Staat entstehen, sich Klassen bilden und so der Klassenkampf verloren
wird. Dieses Bewusstsein sollten wir als eine wesentliche Eigenschaft der
demokratischen Moderne festhalten.
Es sollte klar geworden sein, dass durch die demokratische Moderne kein
neuer Gesellschaftstyp, weder ein kapitalistischer noch einen sozialistischer,
geschaffen wird. Die demokratische Moderne stellt fest, dass diese Begriffe,
weit davon entfernt, die Gesellschaft zu beschreiben, Propagandabegriffe
sind. Zweifellos entsteht eine Gesellschaft. Doch diese Gesellschaft ist eine
moderne demokratische Gesellschaft, in der das moralische und politische
Prinzip die größte Rolle spielt, Klassen kaum Entstehungsmöglichkeiten fin-
den, daher Macht- und Staatsapparate ihre Gewalt nicht aufzwingen kön-
nen oder eine gegenseitige Anerkennung durch Konsens erfolgt und in der
Einheit in Differenz, Gleichheit und Freiheit als Eigenschaften sowohl der
Individualität (nicht des Individualismus) als auch der Gesellschaftlichkeit
existieren. Mehr Gleichheit, Freiheit und Demokratie liegen in der Natur
dieser Gesellschaft und sind Folge der Veränderung und Entwicklung, die
die Institution der demokratischen Politik auslöst.

93 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft (Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1999).


Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 321

2. Die Dimension der öko-industriellen Gesellschaft


Die Grundlage der wirtschaftlichen und industriellen Dimension der de-
mokratischen Moderne ist ökologisch. Zunächst müssen wir die Wirtschaft
richtig definieren. Vordringlich sollten wir begreifen, dass die politische
Ökonomie hierbei ein mächtiges Ablenkungs- und Blendungsinstrument ist.
Besonders der Begriff ›kapitalistische Wirtschaft‹ ist ein Propagandabegriff
und Sophismus. Wie ich auch in den vorigen Bänden dargestellt habe,
ist der Kapitalismus keine Form der Wirtschaft, sondern ihr Todfeind.
Der Kapitalismus ist ein organisiertes Netzwerk, das für den Profit des
Monopols die Erde für die Menschheit (außer einer Handvoll Pharaonen
und Nimrods) unbewohnbar macht und im Kern auf der Plünderung nicht
nur von Mehrwert, sondern sämtlicher gesellschaftlichen Werte sowie einer
systematischen Hegemonie in Ideologie und materieller Kultur beruht. Der
Unterschied zu den Vierzig Räubern oder den Piraten ist, dass dieses Netz
für sich eine vielgestaltige ideologische Legitimität, gesetzliche Bemäntelung
und Stützen durch die Macht aufbaut. Durch diese Instrumente versucht
es, sein wahres Gesicht und Wesen zu verstecken. Eine Reihe sogenannter
wissenschaftlicher Disziplinen, angefangen mit der politischen Ökonomie,
präsentieren den Kapitalismus, als sei er eine Realität. Gäbe es diesen ge-
waltigen, aus Ideologie und Gewalt geschmiedeten Panzer nicht, könnte er
keinen einzigen Tag weiterbestehen. Indem er das wirtschaftliche Handeln
(die Hauptaktivität der moralischen und politischen Gesellschaft), dessen
Bedeutung in der Grundexistenz der Gesellschaft liegt und das auch die
Umwelt mit einschließt, durch diese Struktur unterdrückt und ausbeutet,
verhindert er einerseits Weiterentwicklung und verwandelt es andererseits in
die Quelle des Glücks für eine kleine Minderheit.
Fernand Braudel definiert die Wirtschaft folgendermaßen: Die mensch-
lichen Grundbedürfnisse bilden das Erdgeschoss, die Aktivitäten mit Waren
rund um Märkte, die keine Monopole und Ausnutzung von Preisen beinhal-
ten, das erste Stockwerk, das den eigentlichen wirtschaftlichen Bereich aus-
macht, und über diesen beiden Stockwerken das oberste Stockwerk, das aus
Monopolnetzen und Preismanipulationen besteht, als eigentlichen Bereich
des Kapitalismus, den er als Gegner des Marktes betrachtet (Immanuel
Wallerstein findet diese Feststellung höchst bedeutsam94). Dies ist äußerst
94 »Braudels Einfluss war in zweierlei Hinsicht entscheidend. Erstens, in seinem späteren Werk
über Kapitalismus und Zivilisation hatte Braudel auf einer scharfen Trennung zwischen der
Sphäre des freien Marktes und der Sphäre der Monopole bestanden. Er bezeichnete nur letz-
tere als Kapitalismus und nannte ihn den ›Anti-Markt‹, was keineswegs dasselbe wie ein freier
Markt ist. Dieses Konzept stellte einen direkten inhaltlichen und terminologischen Angriff
322 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

lehrreich. Wenn wir die Dinge im Lichte dieser Definition betrachten, so


sehen wir deutlich, dass es ein Sophismus ist, den liberalen Kapitalismus
als Marktwirtschaft zu bezeichnen. Die Beziehung des Kapitalismus zum
Markt besteht darin, durch Preismanipulationen Monopolprofite einzufah-
ren und dafür, wenn nötig, Kriege und Krisen auszulösen. Darüber hin-
aus ist der Kapitalismus ein grausames Manipulationssystem, das nicht vor
dem Wahnsinn zurückschreckt, die gesamte Wirtschaft davon abzubringen,
eine Aktivität zur Befriedigung der gesellschaftlichen Grundbedürfnisse zu
sein, und sie fast vollständig in die profitträchtigsten Bereiche zu verlagern
(Gesetz der Profitmaximierung). Wir nennen das Manipulation; es ist ma-
nipulativ im Sinne einer Handlung, einer Art Angriff, die derart lebens-
feindlich ist, dass sie die menschliche Gesellschaft von den Grundlagen ihrer
Existenz abschneidet.
Die Monopole der Zivilisation im Allgemeinen und die k­ apitalistischen
Monopole im Besonderen (Landwirtschaft, Handel, Finanz-, Macht-
und Nationalstaatsapparate) waren durch die Geschichte hindurch
die Hauptfaktoren für alle wirtschaftlichen Verzerrungen, Krisen,
Probleme, Hunger, Armut und Umweltkatastrophen. Auf diesen grund-
legenden Faktoren bauen alle weiteren Übel auf: soziale und politische
Klassenspaltungen, Macht, extreme Urbanisierung und sämtliche dadurch
entstehende Krankheiten, ideologische Verirrungen, die allerlei religiöse,
metaphysische und szientistische Dogmen enthalten, Hässlichkeiten, vor
allem die Verzerrung der Kunst, moralische Verarmung und Verfall. Die letz-
ten vierhundert Jahre der kapitalistischen Moderne liefern zahllose Beispiele
für diese Feststellungen.
Die demokratische Moderne findet in der Wirtschaft zu ihrer wahren
Bedeutung. Sie stellt eine sinnvolle, systematische Struktur dar, die als
Grundbedürfnisse des Erdgeschosses (wichtigste Eigenschaft: Befriedigung
der Grundbedürfnisse) sowohl die Gebrauchswerte als auch als wirkliche
Marktwirtschaft den Tauschwert (Tauschverhältnis der Waren) hervorbringt.
In der demokratischen Moderne hört die Wirtschaft auf, ein Bereich zu sein,
in dem auf Profite spekuliert wird. Es wird geklärt, wie und mit welchen
Methoden die Grundbedürfnisse am effektivsten befriedigt werden können,
ohne zur Aufspaltung in Klassen zu führen und die Umwelt zu schädigen.
auf die Verbindung von Markt und Kapitalismus durch klassische Ökonomen (einschließlich
Marx) dar. Und zweitens wurde Braudels Beharrlichkeit hinsichtlich der Vielfalt der sozialen
Zeiten und seine Betonung der strukturellen Zeit – die er longue durée nannte – zentral für die
Welt-System-Analyse.« Immanuel Wallerstein, Welt-System-Analyse – Eine Einführung (Berlin:
Springer 2019), S. 24.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 323

Die Wirtschaft erhält als Bereich gesellschaftlichen Handelns ihre wirkliche


Bedeutung. Sie bekommt einen Sinn als grundlegende Aktivität, die sowohl
Ausgangspunkt als auch Folge der moralischen und politischen Gesellschaft
ist.
Das Wirtschaftsverständnis der Moderne, einschließlich der marxistischen
politischen Ökonomie, konnte sich nicht von der Klassenperspektive (der
hegemonialen Perspektive der Bourgeoisie) befreien; indem sie den Wert an
das Verhältnis von Arbeiter*in und Chef*in band, musste sie die gesamte
historisch-gesellschaftliche Basis vernachlässigen und verschleiern. Der Wert
ist ein Produkt der historischen Gesellschaft. Chef und kompromisslerische
Arbeiter sind keineswegs die Schöpfer dieses Werts, sondern im Grunde
seine Räuber. Der Beweis liegt auf der Hand: Ohne kostenlose Frauenarbeit
kann nicht ein einziger Chef oder Kompromisse eingehender Arbeiter seinen
Magen füllen und seinen Alltag bewältigen. Dieses Beispiel alleine zeigt be-
reits klar das anti-wirtschaftliche Antlitz des Kapitalismus. Außerdem haben
wir ausführlich gezeigt, wie ohne die historische Gesellschaft die Zivilisation
allgemein und die offizielle Moderne im Speziellen nicht hätten entstehen
können.
Grundlegend in der wirtschaftlichen Dimension der demokrati-
schen Moderne ist das industrielle und ökologische Zusammenspiel der
Gebrauchs- und Tauschwerte. Die Industrie stößt an zwei Grenzen: die öko-
logische Grenze und die Grenze der Befriedigung der Grundbedürfnisse.
Diese Grenzen darf sie nicht überschreiten. In dieser Situation wird eine
Öko-Industrie entstehen. Eine Industrie, die nicht ökologisch ist, ist auch
nicht wirtschaftlich. Eine Industrie, die ihre Verbindung zur Ökologie ver-
liert, unterscheidet sich nicht von einem Maschine gewordenen Monster,
das ständig seine Umwelt frisst und vernichtet. Und eine Industrie, die
ihre Verbindung zur Erwirtschaftung der Grundbedürfnisse verliert, folgt
keinem anderen Wert als dem Profit. Daher muss die Öko-Industrie ein
Grundprinzip sein. Es ist das Hauptprinzip, an das sich alle wirtschaftli-
chen Aktivitäten halten müssen. Dann findet wirtschaftliches Handeln sei-
nen wirklichen Sinn; so verschwindet auch die gesellschaftliche Basis von
Arbeitslosigkeit, Über- oder Unterproduktion, hoch oder gering entwickel-
ten Ländern und Regionen, des Gegensatzes Dorf–Stadt, der Kluft zwischen
den Klassen, wirtschaftlichen Krisen und Kriegen.
Arbeitslosigkeit ist zur Gänze eine Folge der verzerrten, profitorien-
tierten Struktur der Wirtschaft. In der wirtschaftlichen Dimension der
324 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

demokratischen Moderne ist kein Platz für diese Verzerrung. Arbeitslosigkeit


ist eine unmenschliche gesellschaftliche Situation.
Auch Über- oder Unterproduktion sind Folgen der Verzerrung durch
die profitorientierte Wirtschaftsstruktur. Während Grundbedürfnisse un-
befriedigt sind und die Industrie derart hoch entwickelt ist, ergeben weder
Unter- noch Überproduktion einen Sinn. Ich muss betonen, dass eine nicht
durch natürliche Bedingungen, sondern von Menschen gemachte Unter-
oder Überproduktion mindestens so sehr wie die Arbeitslosigkeit eine un-
menschliche Situation ausdrückt.
Auch das Problem der gering oder hoch entwickelten Länder und
Regionen ist ein weiterer Ausdruck derselben unmenschlichen Situation,
die durch die profitorientierte Wirtschaft hervorgerufen wird. Das sät allerlei
Konflikte zwischen Ländern und Regionen und führt so zu endlosen lokalen,
nationalen und internationalen Krisen und Kriegen. Dass eine Wirtschaft
im Dienste der menschlichen Gesellschaft nie zu solchen Situationen führen
wird und führen darf, liegt auf der Hand.
Dass das Verhältnis von Dorf zu Stadt, das die historische Gesellschaft
durch die Zeiten auf Harmonie und Arbeitsteilung gegründet hatte, sich
in zunehmend tiefere Widersprüche verwandelte und das Gleichgewicht
zuungunsten der dörflich-agrarischen Gesellschaft kippte, hängt ebenfalls
mit der Zurichtung der Wirtschaft zur Profiterzielung zusammen. Anstelle
einer Beziehungsform, wo Stadt und Dorf, Landwirtschaft, Handwerk und
Industrie einander ernähren, treten Verhältnisse, unter denen sie einan-
der liquidieren. Dies ist eine weitere katastrophale Folge des Gesetzes der
Profitmaximierung. Während die dörfliche und agrarische Gesellschaft na-
hezu ausgelöscht wurde, begannen Stadt und Industrie eine Phase krebsarti-
gen Wachstums. Nicht nur die Wirtschaft, die historische Gesellschaft selbst
steht vor ihrer Vernichtung.
Diese Verzerrungen der Wirtschaft, die auf dem Gesetz der
Profitmaximierung beruht, brachten die Bildung von Klassen und politische
Konflikte mit sich; sie führten auch zu lokalen, nationalen und allen mög-
lichen internationalen Kriegen. In den Erzählungen der Zivilisation werden
all diese Übel dargestellt, als seien sie das Schicksal der Menschheit. Dabei
ist klar, dass ihnen die Kolonialisierung und Plünderung der Wirtschaft
durch den wirtschaftsfeindlichen kapitalistischen Individualismus und
Monopolismus zugrundeliegen.
Die demokratische Moderne rettet nicht nur die Wirtschaft vor diesen
feindlichen Tendenzen. Sie besitzt mit ihrer weiter entwickelten Lebensweise
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 325

eine Systematik, die keine Arbeitslosigkeit und Armut kennt, Über- oder
Unterproduktion nicht zulässt, Unterschiede zwischen gering und wei-
ter entwickelten Ländern und Regionen auf ein Minimum reduziert, und
den Widerspruch zwischen Dorf und Stadt in ein Verhältnis gegenseitigen
Nährens verwandelt. Innerhalb der eigenen Systematik weiten sich die ge-
sellschaftlichen und wirtschaftlichen Unterschiede nicht in Dimensionen
der Klassenausbeutung aus, die Bildung von Klassen vertieft sich nicht,
Ausbeutung und soziale Widersprüche, die Grund für Krise und Krieg
werden könnten, vergrößern sich nicht. Das System der demokratischen
Moderne verhindert nicht nur, dass Industrialismus und Urbanisierung Dorf
und Landwirtschaft schlucken, sondern auch Stadt und Industrie, wo sie in
lebensfähigen Dimensionen existieren. Der Mechanismus dafür ist in den
Grunddimensionen der demokratischen Moderne als eine Ganzheitlichkeit
gegeben. Alle Gemeinschaften behandeln in ihren wirtschaftlichen
Aktivitäten das ökologische und das industrielle Element ganzheitlich im
Zusammenhang mit der moralischen und politischen Dimension. Sie sind
untrennbar miteinander verbunden. Nichts überlassen sie den reißenden
Klauen von Individualismus und Monopolismus. In allen gesellschaftli-
chen Aktivitäten bleiben die Öko-Wirtschaft und die Öko-Industrie im
Bewusstsein. Schon allein Projekte, die auf dieser Grundlage entworfen wer-
den, um die Umwelt zu reparieren, die Landwirtschaft zu beleben und das
Dorf in einen Lebensraum mit äußerst gesunder Umwelt zu verwandeln, be-
sitzen ohne Weiteres das Potenzial, die gesamte Arbeitslosigkeit und Armut
zu beseitigen. Arbeitslosigkeit widerspricht der menschlichen Natur. Wenn
Menschen, die ja eine so hohe Intelligenz besitzen, ohne Arbeit bleiben,
so kann das nur an menschlicher Gewalt liegen, und so ist es ja auch. Wie
sollte die Natur, in der nicht einmal eine Ameise ohne Arbeit zu finden ist,
ihre am weitesten entwickelte Existenz arbeitslos und hilflos zurücklassen?
Warum sollte im Zeitalter der Technologie, dieses großartigen Produktes
menschlichen Handelns, und der darauf aufbauenden Industrie Armut ein
Schicksal sein?
Notwendig ist offenbar eine systemisch strukturelle Transformation.
Sowohl die historische als auch die gegenwärtige Realität der demokrati-
schen Moderne besitzt die Eigenschaft, den Menschen der eigenen Praxis
und Arbeit nicht zu entfremden. Die Industrielle Revolution ist als eine
der bedeutendsten Stufen dieser Praxis ein Sieg der Gesellschaft und ih-
rer Wirtschaft. Das Problem liegt darin, dass die kapitalistische Moderne
diesen einmaligen Sieg von Anfang an in den Dienst des eigenen Gesetzes
326 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

des Maximalprofits stellte und so durch außerordentlichen Individualismus


und Monopolismus (Handel, Industrie, Finanz, Macht und Nationalstaat)
die historische Gesellschaft an den Rand der Auslöschung brachte.
Demokratische Moderne ist gewissermaßen der Name der systematischen
und strukturellen Revolution in diesem verzerrten Verständnis von Moderne
und ihren Anwendungen. Die Öko-Industrie ist eine der Hauptdimensionen
dieser Revolution. Allein dieses Argument beweist die Unerlässlichkeit der
demokratischen Moderne.
Zwar werden Familien- und professionelle Unternehmen als die klassi-
schen wirtschaftlichen Einheiten der offiziellen Moderne präsentiert, doch
sind dies profitorientierte Einheiten. Keiner von ihnen geht es um etwas
anderes als Profit. Obwohl sie weltweit jeden Bereich der Wirtschaft um-
schlungen haben, interessieren sie sich doch nur dafür, wie sie maximalen
Profit erzielen können. Die gigantischen Dimensionen der Arbeitslosigkeit,
die Vertiefung der Armut, massives Lohngefälle, der Hunger von Hunderten
Millionen Menschen, während gleichzeitig ein riesiges produktives Potenzial
ungenutzt bleibt, Krisen durch Über- oder Unterproduktion, der Kollaps
der Landwirtschaft, die Zerstörung der dörflichen Gesellschaft: all dies
sind Folgen von Unternehmensgründungen und wirtschaftlichen – bes-
ser gesagt außerwirtschaftlichen – Aktivitäten auf Grundlage des Gesetzes
des Maximalprofits. Die wirtschaftliche Grundeinheit der demokratischen
Moderne wird in Mentalität und Struktur natürlich das Gegenteil dieser
profitorientierten Unternehmenseinheiten sein.
Die Wirtschaft war historisch stets eine heikle Angelegenheit und die
größte Sorge der moralischen und politischen Gesellschaft. Dinge wie
Mangel, Hunger und Tod bedrohen die Gesellschaft insgesamt. Genau wie
Akkumulation wurde auch der Profit von den Gesellschaften niemals als
legitim akzeptiert, sondern stets als Quelle des Übels und des Diebstahls be-
trachtet. Wenn sich eine Gelegenheit ergab, wurden diese Akkumulationen
vom Staat eingezogen. Offensichtlich lässt sich eine Wirtschaft nicht auf-
bauen, wenn man sich dies zum Ziel setzt. Wie bereits erklärt, ist es ein
Widerspruch in sich, eine anti-wirtschaftliche Aktivität als Wirtschaft zu
bezeichnen.
Der einzige Weg, sich aus diesem Widerspruch zu befreien, ist der ei-
ner funktionierenden Wirtschaft aus Öko-Gemeinschaften. Tausende
Öko-Gemeinschaften können sich, je nach den Umständen, als eine wirt-
schaftliche Einheit organisieren. Landwirtschaftlich genutzte Böden, die
durch wiederholte familiäre Aufteilung ihren Charakter als Einheit verloren
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 327

haben, unter Berücksichtigung des Prinzips der Öko-Industrie neu zu ord-


nen, ist ein Problem, das schon lange auf eine Lösung drängt. Die Bildung
von Öko-Gemeinschaften in der Landwirtschaft ist eines der fundamen-
talen wirtschaftlichen Prinzipien der demokratischen Moderne. In diesem
Zusammenhang hat auch die landwirtschaftliche Produktion auf einzelnen
Bauernhöfen, die ein Überbleibsel aus Leibeigenschaft und Sklaverei ist, aus-
gedient. Öko-Gemeinschaften, die sich durch die Schaffung landwirtschaft-
licher Einheiten im ökologischen Maßstab bilden, sind auch die Grundlage
der dörflichen Moderne. Das Dorf oder das moderne Dorf kann als Öko-
Gemeinschaft im Stile wirtschaftlicher Einheiten im ökologischen Maßstab
seine Existenz zurückgewinnen.
Auch in den Städten können ähnliche Öko-Gemeinschaften gebildet wer-
den. Bei der Stadtplanung wird eine ökologisch ausgerichtete Wirtschaft
als Teil des großen Ganzen gestaltet. So, wie es keine die Stadt verschlin-
gende Bürokratie geben darf, kann es auch keine die Stadt verschlingende
Wirtschaft geben. Die Wirtschaft wird der Natur jeder Stadt gemäß in Form
von Einheiten optimaler Größe organisiert, die nicht profitorientiert sind
und die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und Armut in der Stadt zum Zweck
haben. Die Bevölkerung der Stadt kann entsprechend ihrer Struktur und
ihrer Fähigkeiten auf die Einheiten verteilt werden.
Es mag vielleicht scheinen, als sprächen wir hier von einer sozialistischen
Planwirtschaft. Doch das Modell, von dem wir reden, ist anders. Dieses
Modell hat nichts mit zentraler Planung oder Kommandowirtschaft zu
tun und auch nichts mit barbarischen, profitorientierten, außerwirtschaft-
lichen, angeblich wirtschaftlichen Unternehmen. Dieses Modell ist eine
Struktur, die durch Beschluss und Handeln der moralischen und politi-
schen Gesellschaft entsteht. Natürlich ist eine Koordination, die nationa-
le, regionale und sogar internationale Bedingungen berücksichtigt, immer
notwendig. Doch ändert dies nichts daran, dass Beschlüsse und Handeln in
der Initiative der lokalen Gemeinschaft liegen. Ich muss nochmals unter-
streichen, dass die Wirtschaft kein technisches Problem der Infrastruktur ist;
als grundlegende Struktur der Existenz von Gesellschaften handelt es sich
bei ihr um eine Aktivität, die durch die Ansichten, Diskussionen, Beschlüsse
und organisiertes Handeln sowie die Arbeit der gesamten Gesellschaft reali-
siert wird. Den Menschen von der Wirtschaft loszureißen, ist die Grundlage
jeglicher Entfremdung. Dies zu verhindern ist absolut essenziell, und der
einzige Weg ist, die Wirtschaft zur Sache aller Gemeinschaften zu machen.
Genauso, wie die Hölle losbricht, wenn die einen essen und die anderen
328 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

nur zusehen, muss die Hölle losbrechen, wenn die einen arbeiten und
die anderen untätig herumlaufen95. Die Wirtschaft, die unbedingt an der
Gemeinschaft ausgerichtet und gemäß Prinzipien der Ökologie und der
Effizienz organisiert werden muss, ist die Grundbedingung der Existenz der
Gesellschaft. Niemand außer der Gesellschaft und der Gemeinschaften darf
das Recht auf diese Existenz besitzen oder es abschaffen. Alle Einheiten,
ob mit Handel, Industrie, Landwirtschaft oder mit Finanzen – unter der
Bedingung, nur die Rolle eines Mittlers zu spielen – befasst, müssen sich
an diese Prinzipien halten. Sowohl einer gigantischen Fabrik als auch einer
dörflich-agrarischen Einheit müssen diese Prinzipien zugrundeliegen.
Das Eigentum verliert in den wirtschaftlichen Einheiten in der demo-
kratischen Moderne seine Bedeutung und wird zweitrangig. Das Eigentum
wird natürlich den Gemeinschaften gehören, die es den Prinzipien gemäß
nutzen. Weder Familienbesitz noch Staatsbesitz können für die Fragen einer
modernen Wirtschaft die Antwort sein. Eigentum, das ausschließlich dem
Staat und der Familie gehört, ist ein Überbleibsel aus der hierarchischen Ära
und kann selbst in der kapitalistischen Moderne seine Existenz nicht bewah-
ren. Selbst Unternehmen gehen zunehmend wegen wirtschaftlicher Zwänge
in gemeinsames Eigentum der Mitarbeiter*innen über. Und doch dürfen
wir die Eigentumsnormen nicht scharf voneinander trennen. Genauso, wie
die Zivilisationssysteme ineinander verschränkt existieren, werden auch die
Eigentumssysteme für lange Zeit ineinander verschränkt bleiben. Wie im
Gemeineigentum das Familieneigentum weiterexistiert, so wird auch der
Staat weiterexistieren und einen Anteil haben. Wichtig ist eine Offenheit
für flexible Eigentumsnormen, die Antworten für Umwelt, Produktivität
und Arbeitslosigkeit bieten können. Jede Art von Besitz, die der Existenz,
der Freiheit, dem Guten und Schönen des Individuums dient, ist wertvoll,
auch wenn es sich um [privates] Eigentum handelt. Da diese Werte jedoch
ohne Gemeinschaft nicht entstehen könnten, ist es das Beste, diese Probleme
innerhalb optimaler Grenzen zu lösen. Die demokratische Moderne muss
auch bei diesem Thema ihre Rolle erfolgreich spielen, indem sie das gemein-
schaftsbasierte Eigentum, das die gesamte Geschichte hindurch niemals auf-
hörte zu existieren, unter modernen Bedingungen wieder zur Grundlage der
moralischen und politischen Gesellschaft macht.

95 Nach dem türkischen Sprichwort »Biri yer biri bakar kıyamet ondan kopar«, ungefähr: »Einer
isst, einer schaut, deswegen bricht die Hölle los.«
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 329

3. Die Dimension der demokratisch-konföderalistischen


Gesellschaft
Die dritte Dimension der gesellschaftlichen Natur betrifft die Ebene der
Leitung, und wir können sie als demokratisch-konföderalistisches System
benennen. Trotz aller Nachteile einer Aufteilung ist eine Darstellung in drei
Dimensionen hilfreich. Zu bedenken ist, dass alle Dimensionen miteinander
verschränkt sind. Es ist vielleicht möglich, eine davon durch etwas ande-
res zu ersetzen, doch entsteht dann nicht das System der demokratischen
Moderne, sondern irgendetwas anderes. Auch die drei Dimensionen der
kapitalistischen Moderne sind miteinander verschränkt. Diese Dimensionen
bedingen einander.
Das Gegenstück zum Nationalstaat, der grundlegenden Staatsform der
offiziellen Moderne, bildet in der demokratischen Moderne das demokra-
tisch-konföderalistische System. Dieses können wir als eine nichtstaatliche
politische Regierungsform definieren. Diese Besonderheit zeichnet dieses
Systems aus. Demokratische Leitungen dürfen wir nicht mit staatlichen
Verwaltungen verwechseln. Staaten verwalten nur, Demokratien regieren.
Staaten gründen sich auf Macht; Demokratien basieren auf kollektivem
Konsens. In Staaten sind Ernennungen wesentlich, in Demokratien Wahlen.
Staaten beruhen auf Pflicht und Zwang, Demokratien auf Freiwilligkeit.
Wir könnten noch weitere, ähnliche Unterschiede aufzählen.
Der demokratische Konföderalismus ist, anders als man meinen könn-
te, nicht irgendeine für die Gegenwart spezifische Leitungsform; es ist
ein System, das in der Geschichte ganz überwiegend präsent war. In die-
sem Sinne ist die Geschichte nicht zentralstaatlich, sondern konföderal.
Die Form des Staates wurde anerkannt, weil sie stark offiziellen Rang er-
hielt. Doch das gesellschaftliche Leben steht dem Konföderalismus nä-
her. Der Staat strebt stets den Zentralismus an, weil er die Interessen der
Machtmonopole vertritt, auf denen er beruht. Andernfalls könnte er diese
Interessen nicht wahren; dies kann er nur durch einen strengen Zentralismus
garantieren. Im Konföderalismus dagegen gilt das Gegenteil. Weil er nicht
das Monopol, sondern die Gesellschaft zugrundelegt, muss sich der de-
mokratische Konföderalismus nach Möglichkeit vor dem Zentralismus
hüten. Da Gesellschaften nicht homogen sind, sondern aus zahlreichen
Gemeinschaften, Institutionen und Unterschiedlichkeiten bestehen, se-
hen sie sich in der Pflicht, ein harmonisches Zusammenleben all dieser
zu garantieren und zu bewahren. Daher löst eine extrem zentralistische
Regierung bei diesen Multituden häufig Explosionen aus. Dafür gibt es
330 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zahllose Beispiele in der Geschichte. Demokratischer Konföderalismus


kommt öfter vor, weil er sich dafür eignet, dass jede Gemeinschaft,
Institution und Unterschiedlichkeit sich ausdrückt. Dass er kein be-
sonders anerkanntes System ist, liegt an der hegemonialen Struktur und
Ideologie der offiziellen Zivilisation. Die Gesellschaften waren historisch
im Wesentlichen konföderal, auch wenn es offiziell nicht so definiert wird.
Alle Klan- oder Stammesführungen erlauben stets einen Konföderalismus
mit seinen lockeren Beziehungen. Andernfalls würde ihre jeweilige inne-
re Autonomie Schaden nehmen und so zum Zerfall ihrer Existenz führen.
Selbst Imperien lehnen sich in der inneren Struktur an unzählige unter-
schiedliche Führungen an. In einem Imperium können sich alle mögli-
chen Führungen von Stämmen und Volksstämmen, religiöse Autoritäten,
Königreiche und sogar Republiken und Demokratien vereinen. Insofern ist
es wichtig, zu begreifen, dass sogar die als besonders zentralistisch geltenden
Imperien eine Art Konföderalismus darstellen. Nicht die Gesellschaft hält
das Verwaltungsmodell der Zentralregierung für notwendig, sondern das
Monopol.
Die kapitalistische Moderne ist derjenige Zeitraum, in dem der Staat sich
maximal zentralisierte. Die modernen Monarchien und anschließend die
Nationalstaaten entstanden, indem sie die politischen und militärischen
Kraftzentren in der Gesellschaft zugunsten des Autorität genannten stärks-
ten Monopols zurückdrängten, wodurch sie die Gesellschaft im politischen
und militärischen Bereich maximal schwächten und ihrer Führung beraub-
ten. So wurden sie zu denjenigen Führungen, welche die Gesellschaft mi-
litärisch und politisch am weitesten schwächten und entwaffneten. Was als
gesellschaftlicher Frieden und Rechtsordnung bezeichnet wird, ist nichts
anderes als die Konsolidierung der Herrschaft der bürgerlichen Klasse.
Die Intensivierung der Ausbeutung und ihre neuen Formen machten die
Existenz des Nationalstaates notwendig. Der Nationalstaat, den wir auch
als Organisierung der Macht als maximal zentralisierter Staat bezeichnen
können, ist die eigentliche Regierungsform der Moderne. Praktiken wie
die sogenannten ›bürgerlichen Demokratien‹, in die er gehüllt wird, sollen
im Wesentlichen für Legitimität des Machtmonopols in der Gesellschaft
sorgen. Der Nationalstaat entsteht auf der Grundlage der Negation der
Demokratie und sogar der Republik. Demokratien und Republiken sind
Regierungsformen, die sich in ihrem Wesen von Nationalstaaten unter-
scheiden.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 331

Die demokratische Moderne trifft keine willkürliche Entscheidung, wenn


sie wegen ihrer historischen Grundlage oder auch der gegenwärtigen kom-
plexen gesellschaftlichen Natur den demokratischen Konföderalismus zum
grundlegenden politischen Modell bestimmt; sie benennt damit das poli-
tische Dach für die moralische und politische Gesellschaft. Solange nicht
vollständig begriffen ist, dass die gesellschaftliche Natur weder homogen
noch monolithisch ist, fällt es schwer, den demokratischen Konföderalismus
zu verstehen. Die vierhundertjährige Geschichte der offiziellen Moderne
ist die Geschichte einer Art Genozid im Namen der homogenen Nation
an der multiethnischen, multikulturellen Gesellschaft mit ihren diver-
sen politischen Gebilden und ihrer Selbstverteidigung (meist kulturel-
le, teils auch physische Genozide). Gegen diese Geschichte ist der demo-
kratische Konföderalismus hingegen die Geschichte des Beharrens auf
Selbstverteidigung, Multiethnizität, Multikulturalität und verschiedenen
politischen Strukturen. Die Postmoderne ist die Fortsetzung der konfliktge-
ladenen Geschichte der Moderne in neuem Gewand.
Der Nationalstaat, der in den letzten zweihundert Jahren als göttliches
Wesen sakralisiert wurde, hat im globalen Finanzzeitalter Risse bekom-
men. Die gesellschaftlichen Realitäten, die er unter Zwang absorbierte und
unterdrückte, sind zurück auf der Tagesordnung, als ob sie Rache an ihm
nehmen wollten. Dies ist das Produkt miteinander zusammenhängender
Prozesse. Das Profitdenken des Finanzzeitalters macht eine Veränderung des
Nationalstaates notwendig. Diese Veränderung ist ein wesentlicher Faktor
dafür, dass die Krise systemisch ist. Der Wiederaufbau des Nationalstaates
durch den Neoliberalismus ist jedoch nicht besonders erfolgreich. Die
Erfahrungen des Nahen Ostens sind in dieser Hinsicht lehrreich.
Das demokratische System, das sich als Gegen-Moderne zunehmend
besser sichtbar machen muss, gewinnt zwar unter diesen Bedingungen an
Stärke, steht aber vor der Herausforderung, Probleme der Form erfolg-
reich lösen zu müssen. Deshalb haben wir klarzustellen versucht, dass der
Konföderalismus der Geschichte nicht fremd ist und besser mit der zuneh-
mend komplexeren Natur der heutigen Gesellschaft korrespondiert. Wir
haben mehrfach erläutert, dass die demokratische Politik den besten Weg für
die moralische und politische Gesellschaft darstellt, um sich auszudrücken.
Die demokratische Politik ist die Art und Weise des Aufbaus des demo-
kratischen Konföderalismus. Seinen demokratischen Gehalt bezieht er aus
dieser Art und Weise. Die andere Moderne versucht, sich durch Macht- und
Staatsapparate aufrechtzuerhalten, deren Zentralisierung zunimmt und die
332 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

sich bis in die feinsten Poren der Gesellschaft ausbreiten. Damit vernichten
sie jedoch eigentlich auch den politischen Bereich. Im Gegensatz dazu bietet
die demokratische Politik jedem Teil und jeder Identität der Gesellschaft die
Möglichkeit, sich auszudrücken und zu einer politischen Kraft zu werden.
Damit bildet sie auch die politische Gesellschaft. Politik tritt wieder in das
gesellschaftliche Leben. Ohne ein Eingreifen der Politik lässt sich die Krise
des Staats nicht lösen. Die Krise selbst rührt ja von der Negierung der po-
litischen Gesellschaft her. Demokratische Politik ist der einzige Weg zur
Überwindung der heutigen, sich verschärfenden Staatskrisen. Andernfalls
werden Bestrebungen hin zu noch strenger zentralisierten Staaten unaus-
weichlich ein hartes Scheitern erleben.
Diese Faktoren zeigen uns ein weiteres Mal, dass der demokratische
Konföderalismus als eine starke Option auf der Tagesordnung steht. In
Sowjetrussland stand der Konföderalismus zu Beginn hoch im Kurs und
wurde dann im Namen des Zentralstaates schnell aufgehoben. Dies war der
Hauptgrund für den späteren Zerfall des Realsozialismus. Der ausbleibende
Erfolg der nationalen Befreiungsbewegungen und ihre baldige Korruption
hängen eng damit zusammen, dass sie weder demokratische Politik noch
Konföderalismus entwickelten. Auch der Erfolglosigkeit revolutionärer
Bewegungen in ihren Erfahrungen der letzten zweihundert Jahre liegt zu-
grunde, dass sie den Nationalstaat für revolutionärer hielten und den demo-
kratischen Konföderalismus als eine rückständige politische Form betrach-
teten und sich dagegen positionierten.
Personen und Bewegungen, die zum Nationalstaat, der ureigenen Waffe
der kapitalistischen Moderne griffen, und dachten, sie könnten große gesell-
schaftliche Transformationen über eine Abkürzung verwirklichen, begriffen
zu spät, dass sie mit dieser Waffe sich selbst trafen.
Der demokratische Konföderalismus besitzt das Potenzial, die von der
nationalstaatlichen Systematik herrührenden Nachteile zu überwinden.
Gleichzeitig ist er das geeignetste Mittel zur Politisierung der Gesellschaft.
Er ist einfach und anwendbar. Jede Gemeinschaft, Ethnie, Kultur,
Religionsgemeinschaft, intellektuelle Bewegung, wirtschaftliche Einheit
etc. kann sich jeweils als politische Einheit selbst autonom strukturieren
und ausdrücken. Den Begriff der föderalen Struktur oder der Autonomie,
der Selbstheit bzw. des Selbstseins96, müssen wir in diesem Rahmen bewer-
ten und in diesen Zusammenhang stellen. Jede Selbstheit, von der loka-

96 Zum Begriff Selbstsein/Selbstheit (kendilik) siehe Fußnote 57 auf Seite 249


Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 333

len bis zur globalen, besitzt die Möglichkeit, eine Konföderation einzu-
gehen. Grundelement des Lokalen ist das Recht auf freie Diskussion und
das Beschlussrecht. Jede Selbstheit oder jede föderale Einheit ist einzigar-
tig, weil sie der direkten Demokratie, die auch als partizipative Demokratie
bezeichnet wird, eine Chance auf Umsetzung gibt. Sie beziehen ihre ge-
samte Kraft aus der Umsetzbarkeit der direkten Demokratie. Dies ist auch
das Argument dafür, dass sie eine grundlegende Rolle spielen werden. So
sehr der Nationalstaat die Negation der Demokratie ist, so sehr ist der de-
mokratische Konföderalismus im Gegensatz dazu die Form, welche diese
Demokratie aufbaut und zum Funktionieren bringt.
Föderale Einheiten als Mutterzellen der direkten, partizipati-
ven Demokratie sind auch im Hinblick auf die Flexibilität beim
Zusammenschluss zu konföderalen Einheiten entsprechend der jeweiligen
Bedürfnisse und Bedingungen einzigartig und ideal. Jeglicher politische
Zusammenschluss ist demokratisch, solange er sich auf Einheiten grün-
det, die sich auf direkte, partizipative Demokratie stützen. Eine politische
Funktionalität, die von der lokalen Einheit, wo Demokratie praktiziert und
gelebt wird, bis zur globalen Struktur entwickelt wird, können wir demokra-
tische Politik nennen. Wenn all diese Prozesse stattfinden, können wir von
einem wirklich demokratischen System sprechen.
Wenn wir die gesellschaftliche Natur sorgfältig beobachten, können wir
den Charakter des Nationalstaates als ›eisernen Käfig‹ und den befreien-
den, ihr angemessenen Charakter des demokratischen Konföderalismus
leicht verstehen. So sehr der Nationalstaat die Gesellschaft unterdrückt,
uniformiert und von der Demokratie entfernt, so sehr wirkt das demokra-
tisch-konföderalistische Modell befreiend, pluralisierend und demokratisie-
rend.
Wir müssen auch darauf achten, die föderalen Einheiten oder Selbstsein-
Einheiten in einem sehr reichen Umfang zu denken. Wichtig ist, zu ver-
stehen, dass sogar ein Dorf oder ein Viertel konföderale Einheiten brau-
chen wird. Jedes Dorf oder jedes Viertel kann durchaus einen konföderalen
Zusammenschluss darstellen. Beispielsweise müssen sich zahlreiche direkt-
demokratische Einheiten von der ökologischen Einheit (bzw. dem födera-
len Element) bis zu den Einheiten der freien Frau, der Selbstverteidigung,
Jugend, Bildung, Folklore, Gesundheit, gegenseitigen Hilfe bis zur
Wirtschaft auf der Ebene des Dorfes zusammentun. Diese neue Einheit der
Einheiten können wir einfach konföderale Einheit (Einheit der verbundenen
föderalen Einheiten) oder konföderalen Zusammenschluss nennen. Wenn
334 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

wir dasselbe System auf die lokale, regionale, nationale und bis auf die glo-
bale Ebene tragen, sehen wir leicht, welch umfassendes System der demo-
kratische Konföderalismus ist. Durch die Systematik des Konföderalismus
können wir besser verstehen, dass auch die drei Grunddimensionen der de-
mokratischen Moderne einander ergänzen. Da jede Dimension innerhalb
dieses Systems das Potenzial besitzt, sich selbst zu diskutieren, zu evaluieren,
Beschlüsse zu fassen, sich umzustrukturieren und zum Handeln zu mobili-
sieren, wird auch die historisch-gesellschaftliche Realität und Totalität der
gesellschaftlichen Natur in bester Weise gewährleistet.
Auch die gesellschaftliche Selbstverteidigung lässt sich am besten im de-
mokratisch-konföderalen System verwirklichen. Die Selbstverteidigung als
eine Institution der demokratischen Politik liegt im Geltungsbereich des
konföderalen Systems. Die Definition für die Selbstverteidigung ist der kon-
zentrierte Ausdruck der demokratischen Politik.
Der Nationalstaat ist im Grunde ein militärisches System. Alle
Nationalstaaten sind Produkte von verschiedenen nach innen und au-
ßen geführten, gnadenlosen, lang andauernden Kriegen. Kein einziger
Nationalstaat ist denkbar, der nicht das Produkt von Kriegen ist. Nicht
nur in der Gründungsphase, noch mehr in Phasen der Institutionalisierung
und des Zerfalls überzieht der Nationalstaat die gesamte Gesellschaft von
innen und außen mit einem militaristischen Panzer. Er militarisiert die
Gesellschaft vollständig. Die als Zivilverwaltung bezeichneten Institutionen
der Macht und des Staates erfüllen im Wesentlichen die Aufgabe, diesen
militärischen Panzer zu verschleiern. Die als bürgerliche Demokratien
bezeichneten Apparate gehen noch weiter in ihrem Bestreben, diese mi-
litaristische Struktur und Mentalität mit demokratischem Lack zu über-
pinseln, und verantworten die Propaganda, es herrsche ein liberales, de-
mokratisches Gesellschaftssystem. Ohne diesen riesigen Widerspruch des
modernen Regierens aufzulösen, können wir nicht von einer wirklichen
Politisierung und einem Praktizieren demokratischer Politik sprechen. Dies
ist, was auch als »Soldaten-Nation97« bezeichnet wird. Es handelt sich jedoch
um eine Tatsache, die für alle Nationalstaaten gilt, die in den letzten vier
Jahrhunderten errichtet wurden. Diese Realität liegt allen gesellschaftlichen
Problemen, Krisen und Verfallserscheinungen zugrunde. Die faschistischen
Machtpraktiken aller Art (mit oder ohne Putsch, militärisch oder zivilfa-
schistisch), die als Lösung aufgedrängt werden und immer wieder auftau-
97 Eine von mehreren in der Türkei gängigen militaristischen Bezeichnungen für die türkische Nation. Bekannt
ist auch die Redewendung »Jeder Türke wird als Soldat geboren.«
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 335

chen, liegen in der Natur des Nationalstaates; sie sind sein Ausdruck in
Reinform.
Der demokratische Konföderalismus kann diese Militarisierung, die vom
Nationalstaat herrührt, nur durch Selbstverteidigung stoppen. Gesellschaften
ohne Selbstverteidigung stehen vor der Gefahr des Verlustes ihrer
Identitäten, ihrer politischen Besonderheiten und ihrer Demokratisierung.
Daher ist die Dimension der Selbstverteidigung für Gesellschaften nicht ein-
fach die militärische Verteidigung. Diese ist verknüpft mit dem Schutz der
Identitäten, der Gewährleistung der Politisierung und der Verwirklichung
der Demokratisierung. Nur, wenn die Gesellschaft sich verteidigen kann,
können wir davon sprechen, dass sie ihre Identität schützt, Politisierung
gewährleistet und demokratische Politik praktizieren kann. Im Lichte die-
ser Tatsachen muss der demokratische Konföderalismus gleichzeitig als ein
Selbstverteidigungssystem gestaltet werden. Wir befinden uns im Zeitalter
der globalen Hegemonie der Monopole und der Militarisierung der gesam-
ten Gesellschaft in der Form des Nationalstaates. Unter diesen Bedingungen
kann die demokratische Moderne diese Hegemonie nur mit einer eigenen
Systematik aus konföderalen Netzen kontern, die die gesamte Gesellschaft
umfasst und zu jeder Zeit und an jedem Ort auf Selbstverteidigung
und demokratischer Politik beruht. Je mehr hegemoniale Netzwerke
(Handels-, Industrie-, Finanz- und ideologische Monopole, Macht- und
Nationalstaatsmonopole) existieren, desto mehr muss die demokratische
Moderne konföderale Netzwerke der Selbstverteidigung und der demokra-
tischen Politik knüpfen.
Eine letzte Frage, auf die wir bei einem Thema dieser Dimension eingehen
müssen, ist, wie die Beziehungen und Widersprüche zwischen Nationalstaat
und der gesellschaftlichen Natur weitergeführt werden können. Insbesondere
realsozialistische und befreiungsnationalistische Strömungen begingen we-
gen der in ihnen vorherrschenden machtorientierten Ansätze (statt der
Macht der Bourgeoisie die Macht, sogar die Diktatur des Proletariats; statt
kolonialer und kollaborierender Regierungen die Macht der Nation) einige
der tragischsten Fehler der Geschichte und gaben dem Kapitalismus die
unverdiente Chance, weiter existieren zu können. Bei diesen und ähnlichen
Strömungen können wir von einem Denken und Handeln sprechen, das
gewissermaßen darauf abzielt, Macht und Staat zu zerschlagen und an ihrer
Stelle neue aufzubauen. Sie sind die Hauptverantwortlichen für eine massi-
ve Militarisierung der Gesellschaft, den Verlust ihres politischen Charakters
und der Niederlage im demokratischen Kampf. Diejenigen, die diese Ansätze
336 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

verfolgen, haben seit rund zwei Jahrhunderten dem Nationaletatismus des


kapitalistischen Hegemoniestrebens eigenhändig den Sieg auf einem golde-
nen Tablett serviert. Neben den Anarchist*innen stehen einige später ent-
standene postmoderne, feministische und ökologische Bewegungen sowie
andere ziviligesellschaftliche und linke Ansätze in dieser Frage besser da.
Beide Systeme der Moderne werden unter den beschriebenen
Bedingungen und Prinzipien eine lange Zeit voller Frieden und Konflikte
gemeinsam existieren. Das ist eine unausweichliche Tatsache des Lebens.
Es wäre weder richtig, diese lange andauernde Phase der Koexistenz mit
prinzipienlosen, kapitulierenden Friedensansätzen, noch mit einem un-
ter allen Umständen konfliktsuchenden und kriegerischen Denken und
Handeln weiterzuführen. Zwischen der Systematik des Nationalstaates
und der Systematik des demokratischen Konföderalismus wird es sowohl
Frieden mit Prinzipien und Bedingungen geben, genauso aber im Falle der
Verletzung dieser Bedingungen und Prinzipien Selbstverteidigungskriege.
Eine politische Philosophie und strategische und taktische Ansätze, die dies
einkalkulieren, sind dem Marsch der historischen Gesellschaft für Freiheit,
Gleichheit und Demokratie zuträglicher.

Ich bin überzeugt, dass es mir ausreichend gelungen ist, in diesem langen
Teil des Manifests den Doppelcharakter der Moderne als letzter Phase der
Zivilisationsgeschichte, den ich zu analysieren versucht habe, zu definieren.
So, wie die Geschichte der Zivilisation sich dialektisch entwickelt, so ist auch
die jüngere Geschichte der Moderne voll von dialektischen Entwicklungen.
Wenn wir von Dialektik sprechen, ist damit gemeint, dass die Geschichte
zwei Pole, zwei unterschiedliche Mentalitäten und Strukturen in sich trägt,
die sich in Beziehung und im Widerspruch zueinander entwickeln. Die
Ereignisse der letzten vier Jahrhunderte bestätigen, dass der Kapitalismus der
Moderne seinen Stempel aufgedrückt hat. Doch dass der Kapitalismus sie
geprägt hat, bedeutet nicht, dass die Moderne aussschließlich kapitalistisch
wäre. Zudem ist ja der Kapitalismus selbst keine Gesellschaftsform, sondern
ein System zur Akkumulation von Profit und Kapital. Er ist kein geeignetes
System, um ein so umfassendes Phänomen wie die Moderne zu charakte-
risieren. Sooft ich auch den Begriff der kapitalistischen Moderne benutzt
habe, so habe ich doch immer betont, dass dies im Sinne einer Prägung
der Moderne verstanden werden muss. Gleichzeitig habe ich zu analysieren
versucht, dass es zutreffender ist, die andere Seite der Moderne als demo-
kratische Moderne (der Name kann sich ändern, wenn ein besser passender
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 337

gefunden wird) zu beschreiben (sie demokratisch geprägte Moderne zu


nennen, finde ich unpassend). Um nicht in die historischen Fehler zu
verfallen, die bei der Unterscheidung in kapitalistische und sozialistische
Gesellschaften gemacht wurden, habe ich mich bemüht, eine oberflächliche
Unterscheidung von kapitalistischer Moderne und sozialistischer Moderne
zu vermeiden.
Ich habe mich stets an die Methode gehalten, die beiden unterschiedli-
chen Modernen einander gegenüberzustellen und im historischen Vergleich
zu behandeln. Denn die Wirklichkeit selbst war gespalten. Wie in der
Geschichte der Zivilisation, so wurden wir auch im kürzeren Zeitraum der
modernen Zeiten in allen Verhältnissen und Konflikten Zeug*innen die-
ser Dichotomie. Ich habe mich bemüht – auch wenn es nur ein Versuch
bleibt – ausgehend von diesen Beobachtungen Definitionen und kurze
Analysen zu entwickeln. Ich zweifle nicht daran, dass diese zumindest als
eine Gedankenskizze verstanden werden. Zweifellos werden zukünftige
Kritiken und Vorschläge diese Analysen weiter stärken.
Es lässt sich nicht leugnen, dass der Kapitalismus als System der
Akkumulation von Profit und Kapital die Moderne geprägt hat und dies
in Form der Herrschaft des Finanzkapitals als globale Hegemonialmacht
weiterhin tut. Gleichzeitig lässt sich nicht leugnen, dass es als System (das
globale kapitalistische System, das Weltsystem) an allen Orten und zu al-
len Zeiten, wo es errichtet wurde, in sich Kräfte birgt, die mit ihm in hef-
tigem Konflikt liegen. Aus Gründen der begrifflichen Einfachheit habe
ich versucht, sie als Kräfte der demokratischen Moderne zu bezeichnen.
Bekanntlich handelt es sich dabei nicht nur um realsozialistische und be-
freiungsnationalistische Bewegungen, sondern wir sehen in letzter Zeit auch
Aufbrüche vor allem des Anarchismus und ökologischer, feministischer und
radikal religiöser Systeme. Das System wurde schon längst durchlöchert und
von innen und außen (mehr von außen, muss ich sagen, denn die gesell-
schaftliche Natur anerkennt im wesentlichen Kräfte von außen) kommende
Kräfte haben immer und überall ihr Verlangen nach Existenz, Freiheit und
Gleichheit zur Sprache gebracht und in Handeln überführt. Auch haben sie
nie aufgehört, nach einem eigenen System zu suchen.
Wie immer in der Zivilisationsgeschichte sind auch während der Moderne
die Bestrebungen der Systeme, einander zu vernichten und ein Monopol zu
errichten, gescheitert, und der Preis dafür war hoch. Zweifellos hat Blindheit
auf beiden Seiten die Bilanz dieser Systemkriege stark verschlimmert.
Systeme versuchen stets, einander auszustechen und so weiterzuexistieren.
338 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Von der globalen Ebene bis hinab auf lokale Ebenen wird man stets ver-
suchen, Hegemonien durchzusetzen. Doch auch die Widerstände dagegen
werden sich, gestärkt durch die Lehren aus ihren Erfahrungen, fortsetzen.
Solange es ungelöste Probleme gibt, werden wir stets Krieg und Frieden
gleichzeitig erleben. Je mehr Analysen und Lösungen erfolgreich sind und
das Wahre, Gute und Schöne besser wiedergeben, desto eher können wir uns
eine leidenschaftlichere, schönere Welt, einen Zustand ohne Frieden und
ohne Krieg, vorstellen und verwirklichen. Natürlich ist auch ein Zustand
von mehr Frieden und weniger Krieg wertvoll und die Bemühungen darum
sind edel, sie müssen nur prinzipientreu und würdevoll sein.
Die Hegemonie des globalen Finanzkapitals selbst haben wir als die Phase
der tiefsten Krise analysiert. Die Entwicklungen bestätigen diese Definition.
Außerdem haben wir ausführlich erklärt, dass die Krise systemisch und
strukturell ist. Selbst die aktuellen Krisennachrichten bestätigen den sys-
temischen und strukturellen Charakter der Krise98. Moderne Systeme wer-
den in Krisenzeiten gebärfreudig. Manche erschaffen tragfähige Lösungen,
doch auch an nicht tragfähigen Lösungen mangelt es nie. In der liberalen
Utopie des Kapitalismus fehlt es niemals an umfangreichen und eklekti-
schen Lösungspaketen. Man schmiedet Tages-, Wochen-, Monats-, Jahres-,
Zehnjahres- und Fünfzigjahrespläne. Das ist ihre Aufgabe, sie sei ihnen un-
benommen, sie werden das auch weiterhin tun.
Möglicherweise steigen die Chancen für die Kräfte der demokratischen
Moderne in diesen Krisenzeiten noch weiter. Hinter ihnen strahlt eine gro-
ße Widerstandsgeschichte, vor ihnen leuchten die Utopien von Freiheit
und Gleichheit den Weg aus. Außerdem gibt es wichtige Lektionen, die
sie aus Niederlagen und Mängeln gezogen haben. Wenn sie all diese inei-
nander verschränkt als einen Strauß intellektueller, moralischer und politi-
scher Aufgaben begreifen und in die Tat umsetzen, so haben sie zweifellos
eine große Erfolgschance. Dennoch besitzen Zeiten systemischer und struk-
tureller Krisen ganz spezifische Aspekte, die wir berücksichtigen müssen.
Wie sehr die Kräfte der demokratischen Moderne sich auch in der Spur der
Vergangenheit bewegen mögen, können sie nicht ignorieren, dass die anzu-
wendende Wissenschaft und moralisch-politische Philosophie Neuerungen
beinhalten müssen. Andernfalls käme es wie oft in der Vergangenheit zu
Oberflächlichkeiten und neuen blinden Flecken. Und dass der Liberalismus
sich oft neo-isiert, vergrößert die Gefahr noch. Alle erwarteten als Folge

98 Das Buch wurde im Jahr 2008 verfasst, also während der globalen Finanzkrise.
Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne 339

der Weltwirtschaftskrise 1929 Revolutionen, doch ganz im Gegenteil erhob


sich eine faschistische Welle, deren Auswirkungen weiterhin anhalten. Das
sollten wir nicht vergessen. Die Gesellschaft ist stärker als je zuvor ihres mo-
ralischen und politischen Charakters beraubt. Die Informationstechnologie
gibt den globalen ideologischen Hegemonialmächten große Möglichkeiten
in die Hand, um gewaltige virtuelle Welten zu präsentieren und die wirk-
liche Welt zu verzerren. Diese Mächte haben kein Problem damit, die zer-
fallenen Strukturen in ein neues System zu verpacken und wie neugebo-
ren zu präsentieren. Die gegenwärtigen Massen wurden schon längst in die
Herdenmasse des Faschismus verwandelt. Ich sage dies, um zu betonen,
dass wir die Hoffnung nicht sinken lassen dürfen und nicht nur die ana-
lytischen und emotionalen Aspekte der Wirklichkeit vereinen, sondern in
jedem Moment und an jedem Ort moralisch und politisch leben müssen.
Wenn uns dies nicht gelingt, können wir leicht scheitern. Diese Themen
werden sich im folgenden, abschließenden Teil finden.
Siebter Teil

Probleme des Wiederaufbaus der


demokratischen Moderne
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 343

Der tragischste Aspekt aller modernen Revolutionen ist, dass sie Opfer des
Modernismus wurden, zu dessen Verwirklichung sie beitrugen. Der gemein-
same Mangel dieser Revolutionen bestand darin, dass ihnen die Analyse des
Modernismus nicht gelang. Sie glaubten, sie würden die von ihnen verfolgten
Ziele erfolgreich erreichen, auch ohne ihr Verhältnis und ihre Widersprüche
zum Modernismus zu klären. So wurden diese Revolutionen und die in ih-
nen enthaltenen Utopien aber schnell durch die eiskalten Kalkulationen der
Moderne aufgehalten und absorbiert. Wir können aus der fünftausendjähri-
gen Geschichte der Zivilisation im Allgemeinen und der vierhundertjährigen
der Moderne im Besonderen den Schluss ziehen, dass der wesentliche Faktor
für den Misserfolg aller Widerstände und Revolutionen ihre Unfähigkeit
war, den Unterschied zwischen sich und dem System, gegen das sie sich
wandten, darzustellen und ihre eigenen Systeme zu bilden. Sie betrachteten
die Zivilisationen und die Moderne monistisch und setzten sie mit einem
universalen Leben gleich, an das sich angepasst werden musste. Unzählige
Widerstandsbewegungen zerstörten unzählige Zivilisationen, doch am Ende
dieser Widerstände stand lediglich der Aufbau einer neuen Version der alten
Zivilisation.
Wir haben es hier mit der Kraftquelle der Zivilisationen zu tun. Mit
ganz wenigen Ausnahmen sind Menschen, einschließlich der größten
Revolutionär*innen, gewöhnlich Kinder der Zivilisationen ihrer Zeit. Ihre
wahren Eltern sind die Zeiten, in denen sie Leben. Mein Ansatz hier ist
nicht fatalistisch; ich möchte betonen, dass selbst die in Wort und Tat ra-
dikalsten Revolutionär*innen unausweichlich scheitern müssen, wenn ein
tief verwurzelter Fehler nicht überwunden wird – ob er fünftausend oder
vierhundert Jahre alt ist. Dabei können wir keinesfalls sagen, dass die ge-
sellschaftlichen Widerstände und Revolutionen überhaupt kein Erbe hin-
terlassen hätten. Ohne dieses Erbe hätte unser Leben keinen Sinn. Doch
schon die gegenwärtige Krise der doch so selbstsicheren kapitalistischen
Moderne zeigt zur Genüge, dass man weit davon entfernt ist, zum Ursprung
der Probleme hinabzusteigen und sie zu lösen. Fehler und Probleme lassen
sich nicht dadurch zum Verschwinden bringen, dass sie auf einen langen
Zeitraum verteilt werden. Doch solange sie weiterexistieren, werden auch
die Träume von Gleichheit, Freiheit und demokratischem Leben als Utopien
weiterexistieren.
Wenn ich hier in diesem Werk grundsätzlich mit der Geschichte der
Zivilisation und der Moderne abrechne, so leiste ich damit sowohl eine
radikale Selbstkritik und versuche gleichzeitig, meine eigene Alternative
344 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

zu präsentieren – so unzureichend dieser Versuch auch ausfallen mag.


Ich muss dies tun, um konsequent zu bleiben. Die eurozentrischen
Sozialwissenschaften weisen diese Konsequenz nicht auf. Wir sollen von ei-
nem einzigartigen Zeitalter der Wissenschaft reden, aber wir sollen nicht
einmal in der Lage sein, etwas gegen eine Barbarei wie den Krieg zu tun!
In dieser Situation ist es nicht legitim, frühere Zeitalter mit der Waffe des
Szientismus zu kritisieren. Nötig wäre es, eine Wissenschaft zu entwickeln,
die Legitimität besitzt. In diesem Rahmen sehe ich meine Bemühungen.
Meine Ausführungen zu Zivilisation und Moderne sollten nicht als
Übertreibung abgetan werden. Wir können nicht bezweifeln, dass die
Prophet*innen es ernst meinten, als sie die Ordnungen der Nimrods und
Pharaonen mit dem Wort Gottes kritisierten. Doch diejenigen, die behaup-
teten, diesen Prophet*innen zu folgen, errichteten letztlich neue Nimrod-
und Pharaonenordnungen, die sogar die vorherigen in den Schatten stellten.
Wo Sultan, Schah und Padischah zu Gefangenen derselben Ordnung wer-
den, müssen wir die Stärke dieser Zivilisationen sehen. Gute Absichten und
der Glaube, den Prophet*innen zu folgen, schützt nicht davor, dem System
der Nimrods und Pharaonen untertan zu sein.
Marx, Lenin und Mao rangen aufrichtig mit dem Kapitalismus. Sie waren
auch vollständig überzeugt, dass sie gegen den Kapitalismus den Sozialismus
aufbauten. Doch es dauerte nicht lange, bis klar wurde, dass die von ihnen
aufgebauten Strukturen sich nicht allzu sehr von denen des Kapitalismus
unterschieden. Hier zeigte sich wieder die Kraft der neuen Zivilisation, also
der Moderne. Ihre oberflächlichen Einschätzungen über das Kapital reich-
ten nicht aus, um den Sozialismus zu entwickeln. Ihnen fehlten Analysen
der Moderne. Die positivistische Weltanschauung, unter deren massivem
Einfluss sie standen, präsentierte die Moderne als die heiligste Form der
Realität. Sie dachten keineswegs an eine Kritik der Moderne, sondern woll-
ten sie weiter vervollkommnen. Die Folgen davon sehen wir vor uns. Solange
die Kette der historischen Fehler weiterläuft, werden selbst die edelsten und
heiligsten Ziele unausweichlich zu Mitteln der eiskalten Kalkulationen der
Zivilisation und der Moderne.
Obwohl die Postmoderne eine der ersten Bewegungen war, die ernsthaft
kritisierte, dass die kapitalistische Moderne nicht aufrechtzuerhalten ist, ist
sie selbst weit davon entfernt, eine Alternative darzustellen. Ihre eklekti-
sche und vage Struktur erlaubte nicht einmal, dass sich die Postmoderne
erfolgreich von der klassischen Moderne abgrenzt. Sie kam nicht über den
Rang einer Art literarischer Strömung hinaus, ähnlich der Romantik des
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 345

neunzehnten Jahrhunderts. Trotz der wertvollen Kritik von Intellektuellen


an der Moderne, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Friedrich
Nietzsche und in der zweiten Hälfte des zwanzigsten von Michel Foucault
angeführt wurde, kam sie nicht über individuelle Anstrengungen hinaus und
entwickelte sich nicht zu einer kollektiven, moralisch-politischen Strömung
weiter. Obwohl in jüngerer Zeit Fernand Braudel, Immanuel Wallerstein,
André Gunder Frank und ihre engen Mitarbeiter*innen in ihren Analysen
der Zivilisation und des modernen Weltsystems innerhalb der historisch-ge-
sellschaftlichen Totalität einen realistischeren und kritischeren Ansatz ver-
folgten, können wir doch nicht behaupten, dass sie bei der Schaffung ei-
ner Alternative gleichermaßen erfolgreich gewesen seien. Zivilisation und
Moderne werden behandelt, als seien sie geschlossene, zyklische Systeme,
die immer weiterbestehen müssen; sie werden ausgiebig kritisiert, aber die
als Alternativen dargestellten Ideen umfassen nicht mehr als ein paar Sätze.
Wir können verstehen, dass Nietzsche dem Wahnsinn verfiel und Michel
Foucault früh verstarb. Aber dass Fernand Braudel den Realsozialismus
für eine Alternative hielt, Immanuel Wallerstein sich mit den Begriffen
Gleichheit, Freiheit und Demokratisierung begnügte und André Gunder
Frank noch allgemeiner von »Einheit in Vielfalt« spricht, können wir un-
möglich als ausreichend erachten. Durch diese Mängel gestehen sie gerade-
zu, dass sie sich von den Ketten der eurozentrischen Wissenschaft, die sie so
sehr kritisieren, nicht befreien konnten.
Es mag vielleicht als meine persönliche Abrechnung mit den Zentren
der alten Zivilisation und der kapitalistischen Moderne als ihrer heutigen
Vertreterin erscheinen, dass ich im Rahmen dieses Werkes das Thema kri-
tisch analysiere und eine Alternative präsentiere. Diese Ansicht ist in einer
Hinsicht zutreffend. Meine persönliche Überzeugung ist, dass eine Person
nicht solide Wissenschaft betreiben kann, wenn sie ihr eigenes Verurteiltsein
nicht analysiert. Damit meine ich nicht im engen Sinne die Verurteilung zu
einer Gefängnisstrafe; ich rede vom allgemeinen gesellschaftlichen Urteil,
das Zivilisation und Moderne über das freie Leben verhängt haben. Um
sinnvoll Wissenschaft betreiben zu können, ist die erste Vorbedingung
für das Subjekt, sich selbst zu analysieren und praktisch zu positionieren.
Andernfalls wird es nicht vermeiden können, das erworbene Wissen und die
Wissenschaft als intellektuelles Kapital auf dem Markt zu verwenden und so
die Wissenschaft der Macht zu betreiben.
Der Grundgedanke meiner Kritiken ist, dass die fünftausendjährige
Zivilisation (und auch das noch ältere hierarchische System) ihren Ursprung
346 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

in einem Kapital- und Machtakkumulationsregime hat, das über der dörf-


lich-agrarischen Gesellschaft und nomadischen Gemeinschaften auf dem
Land sowie über Handwerker*innen und Arbeitssklav*innen in der Stadt
errichtet wurde. Dies gilt im Wesentlichen bis heute und hat verschiedene
Formen wie Handel, Geld und Industrie angenommen, wobei Macht- und
Staatsmonopole als unveränderte Hauptformen erhalten geblieben sind.
Die Zivilisationsgeschichte beruht einerseits auf den Aufteilungskriegen
der Monopole untereinander und andererseits den Kriegen, die sie alle
gemeinsam gegen die Kräfte führen, die ihnen entgegenstehen. Der Rest
sind Kämpfe um die ideologische Hegemonie und Mechanismen und
Manipulationen auf der Basis von Krieg und Macht zum Raub gesellschaft-
licher Werte. Die Zeit der kapitalistischen Zivilisation, also die Moderne, ist
der am weitesten entwickelte Zustand dieses Systems. Das System war von
Anfang an durch die Existenz von Zentrum und Peripherie, Hegemonie und
Konkurrenz sowie an- und abschwellenden Krisen charakterisiert. Die Zeit
der Moderne jedoch, insbesondere der Abschnitt, in dem das Finanzkapital
eine hegemoniale Rolle spielt, markiert die Situation der tiefsten struktu-
rellen Krise.
Mein Vorschlag lautet, dass die alternative Lösung – wegen des dialek-
tischen Charakters des Systems – im Bewusstsein und in den Bewegungen
der gesellschaftlichen Natur all der Kräfte gesucht werden muss, die sich die
gesamte Geschichte hindurch – vom Aufkommen der Hierarchie über alle
Phasen der Zivilisation bis hin zur kapitalistisch geprägten Moderne – am
Gegenpol befunden haben. Keine einzige Version der Geschichte der offi-
ziellen Zivilisation kann für die ihr entgegenstehenden Kräfte die Lösung
sein. Wenn in der Geschichte soziale Kämpfe bei der praktischen Umsetzung
der Utopien von Gleichheit und Freiheit nicht erfolgreich waren, so ist der
Hauptgrund dafür, dass sie Waffen der zerfallenden Zivilisation benutzten
(nämlich die Kräfte von Macht und Staat) und die Zukunft, die sie bauen
wollten, als eine veränderte Version von ihr konzipierten. Weil sie nicht in
der Lage waren, unabhängig Mentalitäten und Strukturen hervorzubringen,
die ihrer eigenen gesellschaftlichen Natur entsprachen, wurden sie von den
Versionen des Gegenpols absorbiert.
Der historische Fluss ist weder ein zyklisches System, das aus Wieder­
holungen besteht, noch stellt er einen linearen Fortschritt dar. Er ist die
Gesamtbewegung von Bewusstsein und Taten, die zu einer Totalität ge-
worden sind und in dem Maße Einfluss besitzen, wie sie in sich selbst
Mentalitäten und strukturelle Bewegungen gebildet haben. Zur Geschichte
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 347

zu werden, eines der Elemente des Flusses zu werden, ist jederzeit möglich.
Bedingung dafür ist, eine geistige Kraft und strukturelle Formen zu erlan-
gen, die den nötigen Einfluss besitzen. Die Geschichte besitzt in diesem
Sinne eine unfehlbare Natur. Alle Ansichten und Aktivitäten, die weder
ausreichende geistige Stärke noch eine strukturelle Form erlangten, um in
die Geschichte einzugehen, müssen die Verantwortung dafür bei sich selbst
suchen.
348 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

A Zivilisation, Moderne und die Frage


der Krise

Staatliche Zivilisationssysteme besitzen aufgrund ihrer Struktur die


Eigenschaft, Depressionen zu produzieren. Depressionen sind keine
Situationen, in die man im Laufe der Zeit hin und wieder infolge innerer und
äußerer Faktoren gerät. Das System selbst produziert ständig Depressionen,
also extreme Krisen. Die Logik der Depression ist recht einfach: Die Macht
und die offiziellen Staatsklassen werden über den beschlagnahmten gesell-
schaftlichen Werten und Mehrwerten errichtet. Diese Klassen, die über der
Gesellschaft konstruiert werden, besitzen aufgrund ihres organisierten, be-
waffneten Wesens eine Tendenz zum ständigen Wachstum. Während die
Menschen sich gerade so eben ernähren können und aufgrund verschiede-
ner Krankheiten und Kriege früh sterben, sinkt der Anteil der Werktätigen
an der Bevölkerung im Verhältnis zu dem der Staatsklassen. Da diese sich
besser ernähren und schützen können und sich stärker vermehren, steigt
die Population der Klassen des Staaten und jeder Art von Macht. Die ers-
ten Machtstrukturen und Staaten begünstigten wegen ihres dynastischen
Charakters große Familien mit vielen Angehörigen. Dies ist ein Erfordernis
der Politik der Stärke. Dieser systemische Zustand des Ungleichgewichts be-
deutet Depression. Wenn die Staatsklassen, die sich immer weiter vergrößert
und verstärkt haben, weiterhin über der Gesellschaft installiert bleiben und
Werte rauben, wird das Fortbestehen des Systems unmöglich. Dies sind die
Situationen, in denen wir von Phasen der Depression reden.
Für den Ausweg aus der Depression sind zwei Wege notwendig: Der erste
besteht darin, dass in hitzigen Kämpfen um die Hegemonie diejenige Kraft,
die ihre Konkurrent*innen vernichtet, zum neuen Hegemon wird. Da diese
Hegemonialmacht ihre Konkurrent*innen zermalmt und ihre Anteile be-
schlagnahmt, kann die Krise für eine Weile als relativ überwunden gelten,
bis neue Konkurrenz auftaucht. Der zweite Weg, der meist in Verbindung
mit dem ersten beschritten wird, besteht in einer Produktionssteigerung
durch den Einsatz ertragreicherer Methoden in Produktion, Handel und
Industrie. Ein hegemoniales System, das eine Produktionssteigerung ver-
wirklicht, gelangt zum Gegenteil der Depression, nämlich einer Phase des
Wohlstands. In den Zivilisationen des Altertums fanden die Depressionen in
größeren Abständen statt und hielten länger an. Häufig kam es in Abständen
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 349

von zweihundert bis eintausend Jahren zu Depressionen. Eine große


Depressionsphase endete meist mit einem Wechsel der Dynastie und des
Zentrums. Derartige Prozesse lassen sich seit der sumerischen und der ägyp-
tischen Zivilisation vielerorts verfolgen. Die Depressionen des Mittelalters
verliefen ähnlich, doch die Abstände wurden immer kürzer. An vielen Orten
fanden sie im Schnitt alle fünfzig bis einhundertfünfzig Jahre statt.
Die Depressionen des kapitalistischen Systems ereignen sich innerhalb
dieses allgemeinen Ablaufs, doch weisen sie gleichzeitig spezifische Aspekte
auf. Geld- und Handelsmonopole spielten zunächst eine Führungsrolle im
System. Sie hatten relativ wenig mit der Produktion zu tun. Andererseits
fand Geld in der Wirtschaft breite Verwendung. Dass das Zur-Ware-Werden
und der Warenhandel sich ausbreiteten und die Regel wurden, erhöh-
te die Bedeutung des Geldes weiter. Mit der Zeit konzentrierten sich das
Geld- und das Handelsmonopol in den Händen weniger. In einer solchen
Situation fehlt der Gesellschaft das Geld und ihre Kaufkraft sinkt. Da ein
Zuviel an Produkten entsteht, die nicht konsumiert werden können, kommt
es zu einer Überproduktionskrise, der ersten Art von Depression. Einerseits
kann die Überproduktion nicht verkauft werden und wird zerstört, ande-
rerseits besitzen die Werktätigen zu wenig Geld und Kaufkraft und leiden
Armut und Hunger. Innerhalb kurzer Zeit kann es zum Gegenteil kommen.
Die Produktion stürzt ab, da sie sich nicht mehr lohnt. Der Zusammenhang
zwischen dem Geldbesitz und der Produktion ist aufgehoben. Es gibt zu
viel Geld und zu wenig Produktion. Die Lebenshaltungskosten steigen
(Inflation), wir haben eine neue Krisensituation. Der traditionelle Ausweg
aus beiden Arten von Depression ist neben hegemonialen Kriegen eine
Steigerung der Staatsausgaben mit dem Versuch, einen bezahlten Sektor zu
schaffen, um die Über- oder Unterproduktion zu kompensieren.
In den letzten vierhundert Jahren, dem Zeitalter der Hegemonie des
Kapitalismus, traten solche Depressionen häufig und oft kombiniert auf. Die
Abstände zwischen ihnen wurden noch kürzer und sanken auf fünfzig bis
einhundert Jahre. Die Kriege um die Hegemonie wurden so umfangreich,
intensiv und lang, das sie mit keiner anderen Zivilisationsphase vergleichbar
sind. An den Kriegen beteiligten sich Monopole im nationalen und interna-
tionalen Bereich. Daher erlebte die Welt zum ersten Mal Weltkriege. An lo-
kalen und regionalen Kriege mangelte es ohnehin niemals. Schlimmer noch
ist, dass nach und nach die gesamte Gesellschaft durch den Nationalstaat
militarisiert und in eine Art Kriegszustand versetzt wurde. Die heutigen
Gesellschaften können getrost als Gesellschaften im Kriegszustand bezeichnt
350 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

werden. Der Kriegszustand wird ihnen über zwei Kanäle aufgezwungen:


Erstens durchdringen Macht- und Staatsapparate alle Poren der Gesellschaft
und halten sie in einem Netz gefangen. Sie beobachten, kontrollieren
und unterdrücken. Zweitens wird mithilfe der Informationstechnologie,
die in den letzten fünfzig Jahren eine qualitative Revolution erlebt hat,
die wirkliche Gesellschaft durch eine virtuelle Gesellschaft ersetzt. Beide
Kriegszustände können wir als Soziozid bezeichnen. Zusammen mit den
Genoziden, die bislang zeitlich und örtlich begrenzt waren, bereiten die-
se neuen Soziozide als intensiv erlebte Dauerzustände das Ende der gesell-
schaftlichen Natur vor. Vielleicht werden menschenähnliche Geschöpfe wei-
terexistieren – aber als Herdenmasse, als Masse des Faschismus. Die Bilanz
der Soziozide fällt schlimmer aus als die der Genozide, denn sie zeigt sich
im Verlust der moralisch-politischen Qualität der gesamten Gesellschaft.
Menschenmassen, die nicht einmal für die schwersten gesellschaftlichen und
ökologischen Katastrophen eine Verantwortung empfinden, belegen dies. Es
lässt sich nicht bestreiten, dass wir uns in einer Lage befinden, die über Krise
und Depression hinausgeht. Eine kurze Skizze, wie es zu dieser Situation
kam, mag im Sinne der Vollständigkeit sinnvoll sein, auch wenn ich mich
wiederhole.

a) Klassen und Macht


Von der ersten Errichtung von Machthierarchien und staatlicher Herrschaft
bis heute ist Geschichte in gewisser Weise die kumulative Vergrößerung der
Macht – wie ein Schneeball, der im Rollen immer größer wird. Orte und
Zeiten sind voll von der Essenz der Zivilisationsgeschichte: Kriege um die
Macht. Von lokalen Kriegen bis zu Weltkriegen, von Stammeskriegen zu na-
tionalen Kriegen, von Klassenkriegen bis Religionskriegen – sie alle führten
zur Vermehrung und zum kumulativen Wachstum der Macht. Vermehrung
der Macht bedeutet Entwicklung einer Klasse, die wie ein Parasit von den
gesellschaftlichen Werten lebt. Führungen, die zunächst eine begrenzte
Hierarchie bildeten und manchmal durch Erfahrung und Spezialistentum
wichtige Beiträge zur Gesellschaft leisteten, wurden zu einer Kaste, sobald sie
sich eine staatliche Form gaben. Mit ihren dynastischen Eigenschaften orga-
nisierten sich die Kastengruppen als privilegierte Klassen, was so weit führte,
dass sie beanspruchten, göttlich zu sein. Das Altertum ist voll von Gott-
Königen und Kaisern, die sich selbst erhöhten und ihre Macht durch der-
artige Behauptungen ständig vergrößerten. Die Macht- und Staatsklassen,
die sich als Trio ›Priester, Regent und Kommandant‹ organisierten, blieben
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 351

trotzdem eine begrenzte Zunft. Sie stellten immer nur einen sehr kleinen
Teil der Bevölkerung dar. Dass sie als Parasitentum zu einer schweren Last
für die Gesellschaft wurden, die sie tragen musste, wissen wir aus zahllosen
Beispielen. Pyramiden, Tempel und Arenen zeugen gut sichtbar von der Art
dieser Last.
Im Mittelalter ging das Anwachsen der Macht ungebremst weiter. Die
Geschichte ist voll von Kriegen um die Macht, die sich auf immer größe-
re Gebiete ausweitete. Zweifellos war ein Grund dafür auch die steigen-
de Produktivität der Gesellschaft. Zu den königlichen Dynastien kam eine
breite Aristokratenschicht oder -klasse. Trotzdem können wir noch nicht
von einer krebsartigen Wucherung der herrschenden Klasse sprechen. Die
Katastrophe begann erst, als Mittelklasse, Bourgeoisie und Bürokratie ge-
meinsam Monarchie und Aristokratie niederrissen, transformierten und sich
selbst zu den herrschenden Klassen emporhoben. Zweifellos können wir
auch die früheren Regime als katastrophal bezeichnen. Doch waren sie noch
nicht in der Lage, die Gesellschaft insgesamt zu schlucken. Dazu reichte
weder ihre Quantität noch ihre Qualität aus. Dass zusammen mit den obe-
ren, monopolistischen Teilen der Bourgeoisie ein großer Teil der mittleren
Bourgeoisie und die Bürokratie an die Macht kamen und zu Staatsklassen
wurden, bedeutete den Austausch der Kraft von ein paar Dynastien und
Königtümern gegen die Kraft Tausender, ja Zehntausender neuer Dynastien.
Das heißt, das an die Stelle eines Königs Tausende Könige traten. Wo die pa-
triarchale Persönlichkeit, die sich in der sexistischen Gesellschaft entwickelt
hat, sich mit den Kräften dieses neuen Königtums verband, wurde die gesell-
schaftliche Natur vollständig von den neuen Kräften der Macht erobert und
kolonialisiert. Die Frau und alle anderen Gruppen der moralisch-politischen
Gesellschaft sind die Opfer dieser inneren Kolonialisierung.
Die Staatswerdung der Mittelklasse wurde noch nicht analysiert, was
auch ein wenig damit zusammenhängt, dass die Sozialwissenschaften ihre
Wurzeln in dieser Klasse haben. Damit der Staat für die Gesellschaft ei-
nen Sinn ergibt, muss er unbedingt als eine Akkumulation von Expertise
und Erfahrung fungieren. Es ist leicht einzusehen, dass Spezialistentum und
Erfahrung im Sinne einer Führung nur von einer sehr kleinen Zahl von
Personen repräsentiert werden. Wo sich jedoch Bourgeoisie und Bürokratie
mit ihrem gewaltigen Umfang als Klasse der Staatsführung präsentieren,
führt das unweigerlich dazu, dass die Macht in der Gesellschaft krebsartig
wuchert und wächst.
352 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Als der Nationalstaat, der das Zusammengehen der Monopole der


wirtschaftlichen Ausbeutung und der ideologischen Hegemonie mit
den Machtapparaten bedeutet, und die Macht alles wurden, wurde die
Gesellschaft zum Nichts. Dies ist der Kern dessen, was wir als Krise der
Macht bezeichnen. Das kapitalistische System ist die Kraft, die diese Krise
hervorbringt. Die monströs vergrößerte Mittelklasse und die kapitalisti-
schen Netzwerke mit ihren ungebremst wachsenden Kapitalmonopolen
über der Wirtschaft können nur weiterexistieren, wenn die Macht in die
Form des Nationalstaates gebracht wird. Das ist, was als Stagnation des
Systems bezeichnet wird. Es bezeichnet eine Situation, die über die Krise
der Machtwerdung hinausgeht.

b) Staat
Die moralisch-politische Gesellschaft, der Normalzustand der gesellschaft-
lichen Natur, steht in unserer Zeit vor einem nie dagewesenen Verlust ihrer
wesentlichen Charakteristika. Die moralische und politische Gesellschaft,
gegen die sich im Altertum und im Mittelalter der Staat entwickelte, muss-
te in der kapitalistischen Moderne ihren Platz zugunsten des positiven
Rechts mit seinen ins Unendliche vermehrten Paragrafen und der staatli-
chen Verwaltung räumen. Die moralischen und politischen Qualitäten der
Gesellschaft überließen in der Moderne ihren Platz der Herde gewordenen
Masse und ihrem ameisenhaften, völlig bedeutungslosen Mitglied, dem
Staatsbürger-Individuum.
Der sogenannte moderne Staatsbürger, den keinerlei moralische oder
politische Sorge umtreibt, repräsentiert anders, als behauptet wird, das
schwächste Individuum aller Zeiten. Die Verbindung dieses Individuums
mit der Gesellschaft beschränkt sich auf seine Frau, gegenüber der er impe-
riale Vollmachten vollstreckt. Dieses Individuum ist nicht einmal mit dem
Individuum zur Zeit der Pharaonen vergleichbar; es ist ein Wesen ohne
Persönlichkeit, das vollständig in der Autorität von Macht und Staat aufge-
gangen ist. Besser gesagt: Durch die physische und ideologische Hegemonie
und deren informationelle und technische Umsetzung hat der Staatsbürger
nicht nur vor der monopolistischen Ordnung kapituliert, sondern er ist zu
ihrem bedingungslosen, freiwilligen, faschistischen Mitglied geworden. Das
meine ich mit Krise der Persönlichkeit. Die gesellschaftliche Natur kann
sich nicht aus derartigen Persönlichkeiten zusammensetzen, denn ihr ei-
gentliches Gewebe ist moralisch und politisch. Diese Qualitäten muss man
bei dieser Persönlichkeit jedoch mit der Lupe suchen und wird sie dennoch
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 353

nicht finden. Staaten können mit diesen Persönlichkeiten funktionieren.


Aber keine Gesellschaft kann mit ihnen fortbestehen. Genauer gesagt: Diese
Persönlichkeit stellt die Negation der Gesellschaft dar.
Da der Staat nicht ohne Gesellschaft existieren kann, haben wir ein wei-
teres Mal eine Situation vor uns, in der Staat und Gesellschaft ineinander
verschränkt eine Krise erleben. Diese Situation, in der der kapitalistische
Individualismus zu einer Persönlichkeit ohne Persönlichkeit geführt hat, ist
nichts anders als die Widerspiegelung der Krise, die sowohl Gesellschaft
als auch Staat durchleben. Offenbar ist eine Führung weder durch das
Kapital- noch durch das Machtmonopol oder ihre kombinierte Staatsform,
den Nationalstaat, möglich, ohne Gesellschaft und Individuum in diesen
Zustand zu stürzen. Die gesellschaftliche Krise ist mehr als nur eine struk-
turelle Krise. Anstelle einer Struktur kann eine neue errichtet werden. Der
Verlust der wesentlichen Qualitäten des gesellschaftlichen Seins jedoch lässt
sich nicht einfach durch eine Neustrukturierung überwinden. Es erfordert
den Wiederaufbau der moralischen und politischen Gesellschaft. Hierin
liegt die Schwierigkeit.

c) Stadt
Die Urbanisierung ist ein weiteres, besonders krisenhaftes Element der
Moderne. Die städtische Gesellschaft, die sich in einer dialektischen Einheit
mit der dörflich-agrarischen Gesellschaft entwickelte, erfüllte wichtige ge-
sellschaftliche Funktionen. Sie besaß eine gesellschaftliche Rolle bei der
Entstehung von Vernunft und Industrie. Ein Widerspruch zur Umwelt be-
stand zunächst noch nicht. Im Staatsgründungsprozess wurde die Rolle der
Stadt verzerrt. Sie wurde in die Basis der Klasse der Regierenden verwandelt
und legte sich im Laufe des historischen Prozesses eine gegen die dörflich-ag-
rarische Gesellschaft und die Ökologie gerichtete Struktur und Mentalität
zu. Als neben der produktiven Klasse auch die der Händler*innen eine
zentrale Rolle einnahm, erhielt die Stadt eine Funktion zum Nachteil der
Gesellschaft. Diese negativen Funktionen der Stadt, die in Altertum und
Mittelalter noch begrenzt waren, wuchsen mit der Moderne lawinenartig
an. Die Städte, die mit der Industriellen Revolution krebsartig wuchsen,
wurden zu Zentren der Zerstörung der traditionellen Gesellschaft. Die
industrielle Stadt ist keine Stadt, sondern die Enturbanisierung der Stadt,
die Beendigung ihres Stadt-Seins. Schon Städte mit einhunderttausend
Einwohner*innen widersprechen bereits der Logik der Stadt, ganz zu schwei-
gen von Millionenstädten. Bei einer Millionenstadt handelt es sich nicht
354 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

um eine Stadt, sondern um Städte, deren Einwohnerschaft in der Summe


eine Million überschreitet. Wenn es irgendwo eine Fünf-Millionen-Stadt
gibt, so existieren dort in Wirklichkeit mindestens fünfzig Städte. Die für
die Gesellschaft zerstörerische Eigenschaft der Stadt liegt in dieser Tatsache
verborgen. Normale Gesellschaften können solche Städte nicht tragen, die
Umwelt kann sie schon gar nicht tragen.
Die Logik hinter der zunehmenden Zahl solcher Städte ist die Ausbeutung
nichtkapitalistischer Gesellschaften, die Multiplikation von Macht und
der Aufstieg der Mittelklasse in die Position von Regierenden. Alle drei
Entwicklungen realisieren sich über die Liquidierung der moralischen und
politischen Gesellschaft. Sie liquidieren nicht nur die dörflich-agrarische
Gesellschaft und nomadische Gesellschaften; auch Gruppen, die für die
positiven Funktionen der Stadt verantwortlich sind, wie Künstler*innen,
Handwerker*innen, Intellektuelle und andere Werktätige stoßen sie so-
wohl materiell als auch ideell in einen Prozess der Liquidierung. Es erfolgt
der Übergang von der Stadtgesellschaft zur städtischen Masse. Der länd-
liche Bereich hingegen verlagert sich in die Vorstädte und wird so zu ei-
ner stärker kontrollierten Kolonie. Das Staats- und Kapitalmonopol hat
die Stadt, die Stadt hat das Land geschluckt. Die Gesellschaft, die keine
Gesellschaft ist, hat die Umwelt geschluckt. Da es nun weder eine ländli-
che Gesellschaft noch eine Umwelt noch traditionelle städtische Werktätige
und Intellektuelle gibt, die die Stadt tragen könnten, geht die entstandene
Situation ein weiteres Mal über eine Krise hinaus.
Nicht nur Umweltkatastrophen, sondern auch ein wirklicher Soziozid
hängen unmittelbar mit diesem krebsartigen Wachstum der Stadt zusam-
men. Die Wissenschaften sind sich weitgehend einig, dass die Vielzahl von
Städten, die eine Region oder selbst ein Land nicht tragen könnte, dem
ökologischen Gleichgewicht der Welt tödliche Schläge versetzt. Symptome
für die Liqudierung, mit der die Gesellschaft bedrängt wird, sind dage-
gen die von einer tumorartig wachsenden, regierenden Mittelklasse zer-
störten Gewebe der moralischen und politischen Gesellschaft, eine wach-
sende Masse von Arbeitslosen und ein Haufen von verantwortungslosen
Staatsbürger*innen.

d) Monopole und Krisen


Die zunehmend wachsende hegemoniale Kraft der anti-wirtschaftli-
chen Monopole hat die wirtschaftlichen Ressourcen der Profit- und
Kapitalakkumulation unterworfen und sie so davon entfernt, die
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 355

Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Die systemischen Krisen


belegen, dass der Kapitalismus entgegen der landläufigen Meinung nicht
das produktivste Wirtschaftssystem, sondern ein anti-wirtschaftliches
Monopol darstellt. Entgegen allen anders lautenden Thesen der politischen
Ökonomie haben die kapitalistischen Monopolnetzwerke in nie dagewese-
nem Maße die Wirtschaft von einem Produktionssystem, das menschliche
Grundbedürfnisse befriedigt, in eines verwandelt, das die ständige Profit-
und Kapitalakkumulation sicherstellt. Wissenschaft und Technik sind derart
fortgeschritten, dass sie ohne Weiteres die Befriedigung der menschlichen
Grundbedürfnisse ermöglichen. Eine gute Leitung der Wirtschaft könnte
mithilfe von Wissenschaft und Technik diese Bedürfnisse befriedigen. Da
dies aber die Profit- und Kapitalakkumulation gefährden würde, lassen die
Monopole eine derartige wirtschaftliche Entwicklung nicht zu. In dieser
Situation werden sie notwendigerweise wirtschaftsfeindlich.
Die systemische und strukturelle Depression sollten wir in dieser Tatsache
suchen. Um (leichte oder schwere) Depressionen und Krisen abzumildern,
die sich in Über- und Unterproduktion, vor allem aber in der historisch
beispiellosen Arbeitslosigkeit (in der Geschichte ist selten von arbeitslosen
Sklav*innen und Leibeigenen die Rede), Armut und Hunger ausdrücken,
wird dann eine Art Krisenmanagement geschaffen, das die traditionellen
Lösungsinstrumente – Kriege und Konflikte – weiter intensiviert und zeit-
lich ausdehnt. Die Wirtschaftsfeindlichkeit zwingt zum Krisenregime. Eine
andere Führung ist nicht möglich. Wir sollten uns gut klarmachen, dass die
nationalstaatliche Regierung ein anormales Krisenmanagement darstellt. Die
Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit zu berauben und in eine Herde, eine
faschistische Masse zu verwandeln, ist keine nur für den Hitlerfaschismus
spezifische Methode; sie hängt mit dem militaristischen Charakter des
Nationalstaates zusammen. Da sich anders die monopolistische Ordnung
nicht aufrechterhalten ließe, muss die Regierung des Nationalstaates – der
Form der Macht, die die gesamte Gesellschaft maximal umschlingt und in
all ihre Poren eindringt, – eine Krisenregierung sein. Das Ziel, eine Nation
zu schaffen, ist nebensächlich. Der Nationalismus aber ist im Verbund mit
den anderen ideologischen Elementen, unverzichtbare Bedingung dieser
Regierungsform.
Oft wird bei der Analyse der kapitalistischen Monopole zwischen
Handels-, Industrie- und Finanzkrisen unterschieden. Dies und die über-
triebene Darstellung von Zeitabschnitten von Depression und Wohlstand
verfehlen den Kern des Systems weit. Weder Verhältnisse von Zentrum und
356 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Peripherie noch Hegemonie und Konkurrenz noch Zyklen von Depression


und Wohlstand geben die Essenz des Systems wieder. Zweifellos spielen all
diese Tatsachen eine Rolle bei Depressionen. Insbesondere die Feststellung,
dass der Abschnitt der Hegemonie der Finanzmonopole der Zeitraum ist,
der die Krise am meisten widerspiegelt, trifft zu. Doch müssen wir alle
Analysen unbedingt in dem Wissen vornehmen, dass all diese Tatsachen
nicht viel bedeuten, wenn wir die Wirtschaftsfeindlichkeit des Systems nicht
begreifen.

e) Ökologie
Es ist kein Zufall, dass die ökologische Krise in der Zeit der Moderne voll
ausbricht. Diese Krise hängt mit der Wirtschaftsfeindlichkeit des Systems zu-
sammen und besitzt strukturellen Charakter. Das biologische Gleichgewicht
wird im Wesentlichen über symbiotische Beziehungen der Arten gewährleis-
tet. Der biologische Anteil der universalen Intelligenz hat das so eingerich-
tet. Leben hatte ich als Realisierung und Entwicklung von Vielfalt definiert.
Das biologische Gleichgewicht hängt vom Funktionieren dieser Regel ab.
Auch auf den Zusammenhang zwischen der Herausbildung von Diversität
und Freiheit sowie der Fähigkeit zu wählen war ich eingegangen. In der
Mikrowelt (kleinste Energiepakete und Materieteilchen) und der Makrowelt
(Inseln von Materie und Energie in astronomischen Dimensionen) arbeiten
ähnliche Gleichgewichtssysteme. Dabei vernachlässigen wir die Kausalität
der Beziehungsarten, welche die Unterschiedlichkeiten hervorbringen.
Im Moment begnügen wir uns damit, sie als gegeben hinzunehmen.
Vielleicht sind wir auch wegen mangelndem Wissen oder einem falschen
Wissenschaftsverständnis unfähig, die Wirklichkeit zu begreifen.
Die gesellschaftliche Natur der Menschen unterliegt in ihrem Verhältnis
zur Umwelt dieser universalen Regel. Der Mensch ist die Art Lebewesen, de-
ren Freiheit und Fähigkeit zu wählen am weitesten entwickelt ist, da es sich
bei ihm um die Natur handelt, die mit der flexibelsten Intelligenz ausgestat-
tet ist. Die antiwirtschaftlichen Monopole des Kapitalismus stehen zu dieser
Regel im Widerspruch. Genauso, wie er das symbiotische Verhältnis inner-
halb der Gesellschaftsstruktur in ein Maximum an Souveränität, Macht und
Herrschaft verwandelt, so verwandelt er auch ökologische Verbindungen in
Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse gegenüber der Natur. Wie wir es
bei Killeralgen oder vergleichbaren Arten sehen, überwuchert er die gesamte
Umwelt und Gesellschaft und wird monströs. Er wird zu einem gigantischen
Wesen, einem Leviathan. Ein System, das ausschließlich auf Profit- und
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 357

Kapitalakkumulation beruht, kann sich nur so verhalten. Verhielte es sich


anders und legte es eine symbiotische Beziehungsweise zugrunde, würde
das Profitgesetz nicht funktionieren. Dann müsste sich das System trans-
formieren.
Entgegen der landläufigen Meinung ist die Umwelt mit den Systemen ih-
rer eigenen Logik im Gleichgewicht. Die Vorstellung, blindwütigen Kräften
ausgeliefert zu sein, ist falsch. Es ist das Zivilisationssystem und noch mehr
die heutige, monopolistisch-herrische Moderne, die dieses empfindliche
System zerstört. Die wahren gesellschaftlichen Ursachen für die Zerstörung
sind das krebsartige Wachstum der zur Macht gewordenen Mittelklasse,
das ähnlich krebsartige Wachstum ihres grundlegenden Lebensraums, der
Städte, und die Tatsache, dass die Welt in die Ketten des Nationalstaats
geschlagen wurde. Zu diesen Zerstörungen kommt es sowohl durch den
Krieg gegen die mit hochflexibler Intelligenz ausgestatteten Strukturen der
gesellschaftlichen Natur als auch durch die Verwandlung der symbiotischen
Beziehung zur Umwelt in Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Daher
besteht ein enger Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Krise
(besser: dem Soziozid) und der ökologischen Krise. Die Krisen in beiden
Bereichen nähren einander ständig. Da der Monopolprofit unweigerlich zu
Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut führt, muss
diese wachsende Bevölkerung die Natur zerstören, um Arbeitslosigkeit,
Armut und Hunger zu beseitigen. Wälder, die Pflanzen- und Tierwelt gera-
ten so in große Gefahr.
Zweifellos ergibt dies wiederum größeren Profit für die Monopole.
Solange der Kreislauf weitergeht (zum Beispiel die Bevölkerung auf zehn
Milliarden und mehr anwächst), wird das Gleichgewicht dessen, was die
Erde noch aushalten kann, vollständig kippen. Das wäre die erwarte-
te Apokalypse. Ähnlich, wie krebsartiges Wachstum auf zellulärer Ebene
das gesunde Wachstum entgleisen lässt und zum Tod führt, behindert das
Wachstum des Monopolprofits das gesunde Wachstum der gesellschaftlichen
Natur auf allen Ebenen und löst krebsartige Entwicklungen auf den Ebenen
von Gesellschaft und Natur aus. Es gibt sogar medizinische Erklärungen,
die Krebserkrankungen beim Menschen von diesen gesellschaftlichen
Krebswucherungen herleiten. Die Fähigkeit zu wählen ist bei einem Wesen
wie dem Menschen, dessen Niveau der flexiblen Intelligenz besonders hoch
ist, wohl nicht geringer ausgeprägt als bei einer Ameise. Hat man jemals
gesehen, dass Ameisen arbeitslos sind? Und Menschen mit ihrer Intelligenz
sollen arbeitslos sein? Wenn das Profitgesetz nicht beachtet würde, könnten
358 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

allein Korrekturen im ökologischen Bereich Beschäftigungsmöglichkeiten


bieten, die Arbeitslosigkeit vollständig beseitigen. Beschäftigung mit ökolo-
gischer Zielsetzung kann einerseits die Umwelt retten und andererseits die
Arbeitslosigkeit grundsätzlich beenden. Hunderte solcher Bereiche ließen
sich ausmachen. Da sie jedoch nach dem Gesetzt des Maximalprofits nicht
profitabel sind, wird Beschäftigung dort verhindert. Das Verhältnis zwischen
einem ökologischen Umbau und dem bestehenden System ist ein krisenhaf-
tes und lässt sich nicht aufrechterhalten.

f) Ideologie
Der Liberalismus als hegemoniale Ideologie des Systems kann weder in
seiner klassischen Form noch als Neoliberalismus Lösungen produzie-
ren. Der Begriff Liberalismus, der in der Wortbedeutung ein Eintreten
für Freiheit beinhaltet, ist ein sehr relativer. Was für die eine Person oder
Gruppe Freiheit bedeutet, äußert sich für ihren Gegenpart als Sklaverei. Die
Gottkönige des Altertums besaßen maximale Freiheit, und als sklavenhal-
tende Klasse schufen sie ihr Gegenstück. Für die mittelalterliche Aristokratie
war Freiheit möglich durch die Knechtschaft breiter Massen von leibeigenen
Bäuer*innen. Der Liberalismus der neuzeitlichen Bourgeoisie hingegen ging
einher mit der Mindestlohnsklaverei des Proletariats, des Halbproletariats
und der anderen werktätigen Gruppen – der neuen Art von Knechten.
Während Liberalismus offiziell Freiheit für alle Klassen des Nationalstaates
bedeutet, befördert er für die Staatsbürger*innen, die modernen Knechte,
Arbeitslosigkeit, unentgeltliche Arbeit, Armut, Hunger, Ungleichheit, das
Fehlen von Freiheit und Demokratie. Wir müssen uns absolut klarmachen,
dass Liberalismus in Wirklichkeit kein Eintreten für die Freiheit bedeutet.
Hegel hielt den Staat für das beste Mittel der Freiheit. Es hat sich jedoch
gezeigt, dass diese Freiheit nur für die Staatsklassen und die Bürokratie
gilt. Anders ausgedrückt: was für die Wirtschafts- und Machtmonopole
(die Eliten) maximale Freiheit bedeutet, ist für alle zu Anderen gemachten
Knechtschaft jeglicher Art.
Es ist wichtig, den Liberalismus als Ideologie zu erkennen. Individualismus
und Freiheitsstreben reichen als Definition nicht aus. Als Begriff tauchte
der Liberalismus in den Parolen der Französischen Revolution gemeinsam
mit Gleichheit und Brüderlichkeit auf; das berühmte »Liberté, Égalité,
Fraternité.« Als ein zentristischer Begriff fand er auf der Rechten den
Konservativismus, auf der Linken dagegen zunächst die Demokrat*innen,
später die Sozialist*innen. Er legte sich das gemäßigte Image zu, ohne
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 359

die Notwendigkeit von Revolutionen, das System (den kapitalistischen


Monopolismus) evolutionär weiterentwickeln zu wollen. Konservative waren
gegen jegliche Weiterentwicklung, egal ob als Evolution oder Revolution.
Sie verteidigten fanatisch die Monarchie, die Familie und die Kirche.
Sozialist*innen und Demokrat*innen dagegen betrachteten Revolutionen
als unausweichlich, um die Veränderung zu beschleunigen. Ihr aller gemein-
samer Nenner war jedoch die Moderne. Es gab einige Einsprüche, doch alle
hatten eigene Ideen für die Modernisierung. Es genügte, ganz allgemein
einen Wandel zu erleben, um modernistisch zu sein. Das moderne Leben –
europazentriert, mit Fundamenten aus der Urbanisierung und beschleunigt
durch Renaissance, Reformation und Aufklärung – stellte den gemeinsa-
men Horizont dieser drei Hauptideologien dar. Im Mittelpunkt stand die
Frage, wer, welche Ideologie und Partei, welche Methoden und Praktiken,
Aktionen und Kriege diesen Horizont am ehesten erreichen würden.
Der Liberalismus analysierte die Situation sehr genau. Er stellte fest, dass
die Moderne sich geprägt vom Kapitalismus entwickelte und noch weiter
entwickeln könnte, und begann schnell, Ideologien und Strukturen auf der
Rechten und der Linken geschickt zu manipulieren. Der Liberalismus teil-
te sich in Rechts- und Linksliberalismus. Durch den rechten Liberalismus
machte er die Konservativen wirkungslos und verwandelte sie in einen
Flügel des Liberalismus. Durch den linken Liberalismus nahm er einen Teil
der Demokrat*innen und Sozialist*innen ins Schlepptau. So positionierte
er sich selbst in der Mitte. In jeder sich verschlimmernden Krise gelang es
ihm, jemanden ins Schlepptau zu nehmen und so stärker zu werden. Die
Verbürgerlichung von Aristokrat*innen und die Sozialdemokratisierung
eines Teils der kompromisslerischen Arbeiter*innen schritt wäh-
rend der Krisenregime voran. Dazu genügte es, einen geringen Teil des
Monopolprofits abzugeben. Auf diese Weise machte er die systemgegne-
rischen Oppositionellen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts
nicht nur unschädlich, sondern reduzierte sie auf Hilfskräfte, um in jeder
Situation den krisenhaften Apparat steuern zu können. So wurde die ideo-
logische Hegemonie des Liberalismus errichtet.
Um seine ideologische Hegemonie fortsetzen zu können, profitierte der
Liberalismus von vier wichtigen ideologischen Varianten:
1. Den Nationalismus macht er sich effektiv zunutze. Ob bei der
Legitimierung von Kriegen nach innen oder außen oder ob bei der Schaffung
von Nationen durch die Hand des Staates – der Nationalismus war der
Lieblingsverbündete des Liberalismus. So schuf er das erste Glied einer
360 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

eklektischen Kette. Er sammelte reichlich Erfahrung bei der Überwindung


auch schwerster Krisen durch das Anfeuern nationaler Gefühle. Der
Nationalismus wurde zu einer heiligen Ideologie erhoben und auf die Ebene
einer Religion gestellt. Unter diesem Schleier lassen sich nicht nur Krisen
leicht überwinden, sondern gleichzeitig auch die schlimmsten und kaput-
testen Ausbeutungssysteme der Monopole verstecken.
2. Der traditionellen religiösen Ideologie wurde die Rolle des
Nationalismus zugewiesen. Unter seiner Hegemonie nationalisierte der
Liberalismus die traditionellen Religionen, die ihres moralischen und po-
litischen Charakters entledigt wurden. Genauer gesagt: Er machte sie zu
Nationalreligionen. Religiöse Gefühle, die in der Gesellschaft tief verwurzelt
waren und leicht nationalistisch eingefärbt werden konnten, spielten die-
selbe Rolle wie der Nationalismus, ja, sie schweißten noch stärker zusam-
men. Manchmal wurden beide Ideologien miteinander verschmolzen und
so der Aufbau einer Nation auf ethno-religiöser Grundlage versucht. Die
Identifikation mit dem Nationalismus gelang besonders leicht im Judentum
und im Islam. Doch auch die anderen Religionen (Christentum, fernöstliche
Religionen, alte religiöse Traditionen in Afrika) standen nicht zurück und
nahmen ähnliche Rollen ein. So führte der Liberalismus der kapitalistischen
Zivilisation, die das Erbe der materiellen Kultur der Zivilisation angetreten
hatte, das ideell-kulturelle Erbe über den religiösen Kanal zu und integrier-
te es. Die Rolle der an den Liberalismus angefügten religiös-nationalisti-
schen Ideologien bei der Überwindung von Systemkrisen in ausweglosen
Dimensionen dürfen wir nicht ignorieren.
3. Die Ideologie des positivistischen Szientismus, insbesondere in dessen
philosophischer Variante, leistete einen starken Beitrag zum Liberalismus.
Die positivistische Ideologie machte sich das große Ansehen der
Naturwissenschaften zunutze und übte starken Einfluss sowohl auf rechte
als auch auf linke Ideologien aus. Nun wurden Ideologien leicht mit dem
Etikett der Wissenschaftlichkeit ausgezeichnet, was zu massiven Verirrungen
führte. Insbesondere alle linken ideologischen Aufbrüche waren davon ge-
prägt. Der Realsozialismus war in dieser Hinsicht führend. Durch positivisti-
schen Szientismus geriet man in die Falle des kapitalistischen Modernismus.
Auf der Rechten war der Faschismus die herausragende Strömung, die ihre
Kraft aus dem positivistischen Szientismus zog. Somit bot der Positivismus
dem Liberalismus ideologische Optionen von der extremsten Linken bis
zur extremsten Rechten. Wo und wann immer es nötig war, konnte der
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 361

Liberalismus bei der Überwindung struktureller Systemkrisen maximal da-


von profitieren, diese Optionen zu adaptieren und sich ihrer zu bedienen.
4. Der Sexismus wurde im Zeitalter des Liberalismus mehr als je zuvor als
ideologisches Element verfeinert und benutzt. Der Liberalismus übernahm
die sexistische Gesellschaft, begnügte sich aber nicht damit, die Frau nur in
eine unbezahlte Hausarbeiterin zu verwandeln. Es lohnte sich mehr, die Frau
als Sexobjekt zur Ware zu machen und auf dem Markt feilzubieten. Beim
Mann war es nur Arbeitskraft, die Frau dagegen wurde mit ihrem ganzen
Körper und ihrer ganzen Seele zur Ware gemacht. Eigentlich wurde so die
gefährlichste Art der Sklaverei geschaffen. ›Ehefrau des Mannes‹ ist zwar kein
positives Attribut, bezeichnet jedoch nur eine begrenzte Ausbeutung. Doch
mit der gesamten Persönlichkeit zur Ware zu werden, ist eine schlimmere
Sklaverei als die Sklaverei der Pharaonen. In die Sklaverei aller zu geraten, ist
um ein Vielfaches gefährlicher, als Sklavin eines Staates oder einer Person zu
sein. Dies ist die Falle, welche die Moderne der Frau gestellt hat. Die Frau,
die sich anscheinend auf die Freiheit zubewegt, wird zum Objekt der wider-
lichsten Ausbeutung herabgewürdigt. Von der Reklame bis zum Sex- und
Pornografieobjekt ist die Frau zum wesentlichen Objekt der Ausbeutung
gemacht worden. Ich kann ohne Weiteres sagen, dass der Frau die schwerste
Last aufgebürdet wird, um den Kapitalismus aufrechtzuerhalten.
Bei der Vermehrung von Ausbeutung und Macht spielt die Frau eine stra-
tegische Rolle für das System. Der Mann als Repräsentant des Staates in der
Familie hält sich für verantwortlich und zuständig, sowohl die Ausbeutung
der Frau als auch die Macht über sie zu vergrößern. Indem er den traditi-
onellen Druck auf die Frau ausweitet, lässt er jeden Mann an der Macht
teilhaben. Auf diese Weise verfällt die Gesellschaft in das Syndrom eines
maximalen zur-Macht-Werdens. Der Status der Frau gibt der patriarchalen
Gesellschaft das Gefühl und die Idee grenzenloser Macht. Auf der ande-
ren Seite lässt man für alles Negative – von der Entstehung kompromiss-
lerischer Arbeiter*innen bis zur Arbeitslosigkeit, von der unbezahlten bis
zur minimal entlohnten Arbeit – die werktätigen Frauen bezahlen; die Frau
an sich. Die eklektizistisch-sexistische Ideologie des Liberalismus stellt dies
nicht nur erst fest und dann anders dar; er entwickelt aus dieser Situation
auch noch ideologische Varianten speziell für Frauen. Das ist so etwas wie
sich die eigene Sklaverei eigenhändig anzueignen. Wir können feststellen,
dass das System durch die ideologische und materielle Ausnutzung der Frau
nicht nur schwerste Krisen überwindet, sondern auch die eigene Existenz si-
chert und garantiert. Die Frauen sind sowohl die älteste als auch die jüngste
362 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

kolonialisierte Nation der Zivilisationsgeschichte im Allgemeinen und der


kapitalistischen Moderne im Besonderen. Wenn wir also eine Krisensituation
erleben, die sich nicht aufrechterhalten lässt, so hat die Kolonialisierung der
Frau daran wesentlichen Anteil.
Das globale kapitalistische System erlebt heute unter der Hegemonie der
globalen Finanzmonopole neben der allgemeinen systemischen Krise gleich-
zeitig Krisen, die speziell die Finanzen betreffen. Die allgemeine Depression
des Systems (aufgrund der Wirtschaftsfeindlichkeit) vermengt sich mit
Krisen speziell des Finanzsektors (Ablösung des Geldes vom Gold und so-
gar oft vom Dollar und seine Repräsentation durch verschiedene virtuelle
Argumente wie Aktien und Anleihen) und verläuft damit tiefer als je zuvor
in der Geschichte. Bisher hatte das System Krisen im Wesentlichen auf zwei
Wegen überwunden: Erstens durch die materiellen Zwangsapparate der stän-
dig wachsenden Macht und des Nationalstaates. Dazu gehören Kriege aller
Art, Gefängnisse, Irrenanstalten, Krankenhäuser, Folter, Ghettos und höchst-
gefährliche Genozide und Soziozide. Zweitens durch die ständig aneinan-
der angefügten und erweiterten Hegemonieapparate der liberalen Ideologie.
Das ideologische Zentrum bildet der Liberalismus; die Erweiterungen sind
Nationalismen, Religionismen, Szientismen und Sexismen. Ihre Instrumente
sind Schulen, Kasernen, Gotteshäuser, Medienorgane, Universitäten und zu-
letzt Internet-Netzwerke. Hinzufügen müssen wir noch, dass die Kunst zur
Kulturindustrie gemacht wurde.
Doch selbst gewöhnliche Wissenschaftler*innen stimmen zu, dass beide
Wege nicht Lösungen produzieren, sondern ein Krisenmanagement entwi-
ckeln. Depressionen und Krisen lassen sich nicht einmal überwinden, wie
es früher der Fall war. Im Gegenteil, Depressionen und Krisen, die frü-
her die Ausnahme waren, sind zu einem Dauerzustand geworden; normale
Zeiten dagegen sind die Ausnahme. Zwar liegen Depressionselemente am
Fundament der Zivilisationssysteme, doch war die menschliche Gesellschaft
noch nie Zeugin einer derart schweren Depression. Wenn Gesellschaften
fortbestehen wollen, können sie Kriesenmanagement nicht lange ertragen.
Entweder zerfallen sie und verstreuen sich, oder sie widerstehen, entwickeln
neue Systeme und überwinden die Krise. In solch einer Zeit leben wir.
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 363

B Die Situation der anti-systemischen


Kräfte

Der Begriff der Systemgegnerschaft ist hochproblematisch. Zunächst:


bezieht sich diese Gegnerschaft auch auf die Zivilisation? In welchen
Aspekten bezieht sie sich darauf, in welchen nicht? Wie betrachtet sie den
Zusammenhang des Systems und der Moderne? Lässt sich ein System außer-
halb des Systems errichten, ohne sich gegen die Moderne des Systems zu stel-
len? Wie wird die Moderne begriffen; ist es gelungen, ihren Doppelcharakter
festzustellen? Gibt es ein alternatives Konzept einer Moderne? Ohne
Antworten auf derartige Fragen hängt der Begriff der systemgegnerischen
Kräfte in der Luft. Eine sinnvolle Gegnerschaft zum System zu entwickeln,
ist nicht nur dann schwer, wenn Projekte für die Zukunft fehlen, sondern
auch, wenn Vergangenheit und Geschichte nicht richtig analysiert werden.
Ich habe meiner Analyse die Begriffe demokratische Zivilisation und de-
mokratische Moderne zugrundegelegt, um diese Schwierigkeiten zu über-
winden und potenzielle Antworten auf die Fragen zu finden. Ich bin über-
zeugt, dass dies eine richtige Methode und eine richtige Suche nach einer
Alternative darstellt, die die Teufelskreise der Vergangenheit durchbrechen
kann.
Trotz ihres problematischen Wesens sind anti-systemische Kräfte eine
Tatsache. Sie haben unsere Ära mindestens so stark beeinflusst wie das
System. Vielleicht konnten sie in Theorie und Praxis keine eigenen Systeme
verwirklichen, doch besitzen sie zweifellos einen großen Erfahrungsschatz.
Zwar existieren große Unterschiede im breiten Spektrum der systemgegne-
rischen Kräfte, doch teilen sie durchaus auch viele Werte.
Mit System meinen sie den Kapitalismus, jedoch nicht die Moderne
als Ganzes. Bei den anderen beiden Dimensionen der Moderne, dem
Industrialismus und dem Nationalstaat, gehen ihre Meinungen stärker aus-
einander. Beim Thema Zivilisation herrscht Unklarheit. Wegen ihrer kom-
plexen Ansichten stehen sich verschiedene von ihnen oftmals diametral
gegenüber. Selten finden wir, dass ihre Utopien über die Moderne hinaus-
gehen. Ihnen geht es nicht darum, sie zu überwinden, sie wollen sie korri-
gieren. Eine Moderne ohne Kapitalismus würde das Programm der meisten
vielleicht erfüllen. Doch ihnen ist nicht klar, dass das nur eine Utopie ist.
364 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Sie teilen normalerweise Überzeugungen in Bezug auf das System und die
Tatsache, dass es sich in der Krise befindet. Was jedoch die Auswege angeht,
gehen die Meinungen weiter auseinander. Sehr verschiedene Wege werden
vorgeschlagen, von evolutionärer bis zu revolutionärer Veränderung, von
friedlichen bis zu kriegerischen Methoden. Es gibt solche, die glauben, den
Staat und die Machthaber*innen auszuwechseln sei eine Revolution, andere
schlagen eine Gesellschaft ohne Staat und Macht vor. Sie alle haben ihre
Wurzeln im Grunde in der Französischen Revolution. Ihre Denkstrukturen
bieten ein breites Spektrum an Perspektiven von Nationalismus bis
Kommunismus, von Religionismus bis Positivismus, von Feminismus bis
Ökologie. Sie sind stark mit diesen verflochten, ohne diese Tatsache zu
bemerken. Verallgemeinert können wir sagen, dass sie sich sozial auf die
Mittelklasse und die große Zahl derer stützten, die außerhalb der Macht-
und Kapitalmonopole stehen. Diese Bewegungen, die von Intellektuellen
angeführt werden, die eine bestimmte moderne Bildung genossen haben,
aber deren Stellung im Kapitalismus sich zunehmend verschlechtert, sind
weit davon entfernt, die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft zu um-
fassen. Während der Anteil derer, die vom Kapitalismus profitieren, viel-
leicht rund zehn Prozent beträgt, so liegt der Anteil derer, die gegen den
Kapitalismus opponieren, auf dem gleichen Niveau. Achtzig Prozent der
Gesellschaft sind aus Sicht beider Gruppen nicht kapitalistisch, in Analysen
und Lösungsvorschlägen kommen sie jedoch nicht als Subjekte, sondern als
Objekte vor. Während der Kapitalismus kalkuliert, wie viel Profit er aus der
Gesellschaft schlagen kann, sehen die Oppositionellen die Gesellschaft nur
als einen Haufen, der von außen mitgeschleift werden kann. Diese Tatsache
steht hinter der Unfähigkeit, die kapitalistische Moderne zu überwinden.
Wenn wir feststellen, dass in der kapitalistischen Moderne ein nicht
aufrechtzuerhaltendes Krisenmanagement stattfindet, reden wir nicht
von einer neuen ›revolutionären Situation‹. Solche, oft auch als objekti-
ve Bedingungen der Revolution bezeichnete Situationen, wurden in frü-
heren Diskussionen oft missbraucht. Besonders erfolgreich war das nicht.
Aus Krisen können viele Arten von Krisenmanagement hervorgehen, aber
genauso auch brutale Konterrevolutionen. Revolutionen hatten wohl
eine Menge Glück. Außerdem wurde die Rolle von Revolutionen bei
Transformationen im Allgemeinen übertrieben und meist auch falsch ana-
lysiert. Nicht Revolutionen, sondern Systemunterschiede verwirklichen die
grundlegenden Transformationen. Revolutionen können lediglich innerhalb
des Systems, in dem sie stattfinden, bedeutsame Veränderungen auslösen.
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 365

Zweifellos stimmt es, dass Depressionen und Krisen massive Auswirkungen


auf die anti-systemischen Kräfte haben. Doch wäre es falsch, alle Hoffnung
auf die Folgen von Krisen zu setzen. In der Vergangenheit wurden derartige
Fehler oft gemacht, und es kam zu tiefen Enttäuschungen.
Dass der Realsozialismus, die Sozialdemokratie und befreiungsnationalis-
tische Strömungen nach weniger als einhundert Jahren in die kapitalistische
Moderne integriert wurden, hatte tiefgreifende negative Auswirkungen für
die Systemgegner*innen. Ihre Bewegungen wurden geschwächt. Eigentlich
rührt diese Schwächung aber von ihren eigenen Mängeln, falschen Ideologien
und programmatischen Ansichten her. Wenn wir ihre Mentalitäten und
Strukturen untersuchen, werden wir feststellen, dass sie den Liberalismus
und die Moderne nicht wirklich überwunden haben. Rechter oder linker
Flügel des Liberalismus zu sein, hindert nicht daran, früher oder später in
ihm aufzugehen. Ihr Anschluss an die kapitalistischen Monopole hängt
jedoch mit ihrer Auffassung von Moderne zusammen. Neue postmoder-
ne, radikal religiöse, feministische und ökologische Bewegungen entstan-
den dann auch als Reaktion auf diese Entwicklungen. Doch ihre gegen-
wärtige ideologische und praktische Situation nährt Zweifel, ob es ihnen
gelingen kann, zumindest so einflussreich zu werden, wie die ihnen vor-
ausgehenden Systemgegner*innen es waren. Aus diesem Grunde konnten
der Neoliberalismus und der religiöse Fundamentalismus zumindest einen
gewissen Einfluss erlangen. Daher braucht die Systemgegnerschaft eine ra-
dikale intellektuelle, moralische und politische Erneuerung. Innerhalb die-
ses allgemein gesteckten Rahmens die einzelnen anti-systemischen Kräfte
aus der Nähe kennenzulernen, wird wichtige, notwendige und nützliche
Erkenntnisse bringen.

1. Das Erbe des Realsozialismus


Der Kommunismus war eine der ersten Bewegungen, die bewusst auf das
kapitalistische System reagierten. Laut seinen Begründern Karl Marx und
Friedrich Engels, die ein Gegen-System zu schaffen versuchten, speiste er
sich aus drei Hauptquellen: Deutsche Philosophie, englische politische
Ökonomie und französischer utopischer Sozialismus. Sie entwickelten
aus der deutschen Philosophie den dialektischen Materialismus, aus der
englischen politischen Ökonomie die Werttheorie und aus dem französi-
schen utopischen Sozialismus die Theorie des Klassenkampfes. Aus allen
dreien bildeten sie eine Synthese und ihre eigenen Interpretationen. Sie
entwickelten sich erstmals in den 1840er Jahren zu Oppositionellen, als
366 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

ernsthafte Krisen des Kapitalismus Eindruck auf sie machten. Es kamen


Hoffnungen auf, das System könne sofort zerschlagen werden. Die nationale
Einheit Deutschlands und Probleme der Französischen Republik standen
auf der Tagesordnung. England als Hegemonialmacht befand sich auf dem
Höhepunkt. Die Revolutionen der Völker Europas 1848 wurden als Zeichen
gesehen, dass Hoffnungen wahr werden könnten. Das Kommunistische
Manifest war als allgemeines Programm für diese Revolutionen gedacht.
Der Bund der Kommunisten wurde als erste allgemeine internationa-
le Partei oder Organisation gegründet. Daraus sprach die Erwartung von
Marx und Engels, dass aus der Krise des Kapitalismus die revolutionären
Volksbewegungen erfolgreich und siegreich hervorgehen würden.
Als die Revolutionen niedergeschlagen wurden, erachteten sie eine tie-
fergehende Untersuchung des Kapitalismus für notwendig. Karl Marx ließ
sich im Exil in London, im Mekka des Kapitalismus nieder. Er stand in
häufigen Kontakt mit Engels. Die Gründung der Ersten Internationale 1864
war ein Produkt dieser Zeit. Ein anderes wichtiges Ergebnis dieser Phase
war die Erkenntnis, dass sich Revolutionen verzögern und daher evoluti-
onäre Arbeiten eine lange Zeit erfordern könnten. Gewerkschaftliche und
parlamentarische Arbeiten wurden für sinnvoll erachtet. Die Aufständischen
der Pariser Kommune 1871 frischten zwar die Hoffnungen auf, doch ihre
schnelle Niederschlagung führte zu einem verstärkten Nachdenken über die
Themen Diktatur, Macht und Staat. Ihr Eintreten für einen zentralistischen
Nationalstaat führte zur Opposition der Anarchist*innen und den ersten
Diskussionen über Revisionismus.
Die Ausrufung der Zweiten Internationale in den 1880er Jahren erfolg-
te im Schatten des nationalen Chauvinismus. Wladimir Iljitsch Lenin
bezeichnete das, was damals stattfand, in seinem Werk Die proletarische
Revolution und der Renegat Kautsky als Revisionismus, gleichzeitig beschul-
digte er die deutsche SPD, den Revisionismus anzuführen (Bernstein-
Revisionismus). Die Russische Oktoberrevolution stärkte die Hoffnung
weiter, dass die kommunistische Utopie wahr werden könnte, dass das
gelingen könnte, was der Pariser Kommune nicht gelungen war. Diese
Revolution hatte weltweite Auswirkungen. Eine der ersten war, die tür-
kisch-kurdische nationale Befreiungsbewegung in Anatolien zu unterstüt-
zen und so zur Entstehung, Entwicklung und zum Erfolg des Zeitalters
der nationalen Befreiungsbewegungen beizutragen. Die als »Kampf gegen
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 367

die Liquidatoren« bezeichnete Zeit99, Lenins früher Tod, der sozialistische


Aufbau, der antifaschistische Kampf in den Jahren des Zweiten Weltkrieges,
der im Kalten Krieg gegen die NATO gegründete Warschauer Pakt, das
Raumfahrtprogramm, der wirtschaftliche Wettlauf mit dem Kapitalismus
und die breite Unterstützung für die nationalen Befreiungsbewegungen wa-
ren alles wichtige Posten in der Bilanz.
Die Dritte Internationale in den 1920er Jahren erneuerte sich, wurde aber
genau wie die Zweite Internationale wegen der aussichtslosen Situation
des Nationalstaates von innen heraus aufgelöst. Sowjetrussland als neuem
Kandidaten für eine Hegemonie gelang es, Einfluss über ein Drittel der
Welt zu erlangen. Indem es die sozialistischen Bewegungen innerhalb der
Nationalstaaten ihrem Schicksal überließ, geriet Russland auf den gleichen
revisionistischen Weg (wie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands).
Die Kommunistische Partei der Sowjetunion befand sich damit schließlich
auf dem Weg in den Kapitalismus. Der kurzlebige Widerstand dagegen in
China (die Mao-Zeit 1960–76) und Albanien blieb ohne Ergebnis. Nationale
Befreiungsbewegungen und gewerkschaftsorientierte Arbeiterbewegungen
waren schon früher ins System integriert worden, und als in den 1980er
Jahren China und in den 1990ern Russland und seine Verbündeten offiziell
die Abkehr vom Realsozialismus verkündeten, ging eine Ära zu Ende.
Die rund zweihundertjährige Praxis dieser Bewegungen (seit der
Französischen Revolution), die zur Bezeichnung »Realsozialismus« führte,
gibt uns die Möglichkeit, sie zu evaluieren.
1. Es zeigt sich, dass sie sich eher gegen private Monopolisten wandten
und den Staatskapitalismus als Macht- und Kapitalmononopol von ih-
rer Kritik ausnahmen. Die Oberflächlichkeit ihrer Analysen von Macht
und Staat war der Grund für diese Haupttendenz. Sie besaßen die tiefe
Überzeugung, den Sozialismus aufbauen zu können, wenn sie den Staat und
die Macht in die Hand bekämen. An einen anderen Weg dachten sie nicht.
Selbst die Demokratie interpretierten sie aus der Perspektive beider Klassen
(Bourgeoisie und Proletariat) als eine Art Diktatur. Und weil sie sich auf die
englische politische Ökonomie stützten, entwickelten sie nur eine sehr eng
gefasste Kapitalismusanalyse.
2. Von der Klassengrundlage der Moderne scheinen sie nie gehört zu
haben, oder sie betrachteten es als eher unnötig, sie zum Gegenstand der
Analyse zu machen. Wo sie es doch taten, lieferten sie gute Beispiele für
99 Mit diesem Begriff wurde der Kampf der Bolschewiki gegen die Menschewiki innerhalb der Sozialdemokra-
tischen Arbeiterpartei Russlands bezeichnet.
368 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Rechtsabweichung. Selbst den Blick auf den Kapitalismus als erste Säule der
Moderne konnten sie nicht über die Grundlage von Boss und Arbeiter*in,
Profit und Lohn, Wert und Mehrwert hinaus erweitern; sie konnten nicht
sehen, dass der Kapitalismus eine Art der Akkumulation ist, der wir bereits
seit Sumer begegnen. Sie betrachteten nicht den dreihundert Jahre wäh-
renden Kapitalismus der italienischen Städte als den Beginn des Systems,
sondern hielten den kapitalistischen Aufbruch in Holland und England
im sechzehnten Jahrhundert für eine Art Anfang der Geschichte. Der
Industrialismus, der das zweite wichtige Standbein der Moderne darstellt,
wurde gelobt. Seine qualitative Verbindung mit dem Kapitalismus und die
späteren Probleme wurden nicht zum Gegenstand der Kritik gemacht, im
Gegenteil: ihm wurde die Rolle des Erlösers zugedacht. Indem sie auch die
Säule des Nationalstaates als einen Schritt nach vorne ansahen, bereiteten
sie dem späteren nationalen und sozialen Chauvinismus den Weg. Sie zogen
den Nationalstaat dem Konföderalismus vor. Sie konnten es nicht lassen,
wie die traditionellen Historiker*innen der Zivilisation die andere Seite der
Moderne mit Bewertungen wie ›Rückständigkeit, Verschlafenheit, Barbarei,
reaktionäre Bewegungen, das Rad der Geschichte zurückdrehen‹ zu belegen.
3. Indem sie ideologisch die vulgärmaterialistischste Form des Positivismus
als Wissenschaftlichkeit akzeptierten, begingen sie auch in diesem Bereich
einen historischen Fehler. Den Sozialismus, den sie aufbauten, sahen sie in
gleichem Maße als wissenschaftlich, wie die Revolutionen, die Darwin und
Newton auf den Gebieten der Biologie und Physik vollbracht hatten. Ihr
soziologischer Ansatz reichte nicht über einen groben Darwinismus hinaus.
Sie hielten die Feststellung eines qualitativen Unterschieds der gesellschaftli-
chen Natur für unnötig und öffneten durch ihren Glauben, sie sei Gesetzen
derselben Qualität unterworfen wie die erste Natur, ein Einfallstor für einen
starren Determinismus. Die Kräfte, die ihnen später folgten, profitierten
von diesem Einfallstor und setzten selbst die vulgärsten Interpretationen mit
feststehenden wissenschaftlichen Tatsachen gleich.
4. Eine Analyse der Macht, besonders des Nationalstaates, nahmen
sie nicht in Angriff. Sie stellten sich den Nationalstaat vor, als bestehe er
aus Ausschüssen, die sich um die Angelegenheiten der Bourgeoisie küm-
mern. Ihre Unfähigkeit, die Macht und besonders den Nationalstaat
als konzentrierten Monopolkapitalismus zu analysieren, ist der größ-
te Mangel ihrer Theorien. Ihre Analysen waren nichts anderes als eine
Bestätigung des Nationalstaats. Sie waren sicher, den Sozialismus am bes-
ten im Nationalstaat errichten zu können. Sie waren nicht in der Lage, die
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 369

Hegel’sche Staatsanalyse zu überwinden, und zweifelten nicht daran, den


Staat, wenn sie ihn erst einmal in Händen hatten, als Werkzeug für jede
beliebige Korrektur und die Herstellung von Freiheit und Gleichheit benut-
zen zu können. Der Zusammenhang zwischen Sozialismus und Demokratie
ist eines der Themen, die sie viel zu oberflächlich und falsch behandelten.
Die Chinesische und die Russische Revolution entwickelten sich gemäß
dieser Ansätze. Auch sozialdemokratische und befreiungsnationalistische
Machtpraktiken waren kaum anders. Bei ihnen lag der Unterschied zum
Privatkapitalismus darin, dass sie den Staatskapitalismus bevorzugten. Die
Machtpraktiken haben diese Tatsache klar zutage gefördert.
5. Ihre Kritik der Moderne fiel sehr eng und begrenzt aus. Sie sprachen
kaum davon, dass der kapitalistische Abschnitt der Zivilisation ein Teil der
historischen Zivilisation, das letzte Glied der Hauptkette ist. Sie fanden
die Feststellung, dass Macht historisch akkumuliert wird, unnötig. Dass
ihre eigenen Systeme ganz leicht zu einer ähnlichen Macht mit ähnlichen
Praktiken werden könnten, sahen sie nicht als Problem. Anstatt zu verste-
hen, dass Macht die Akkumulation von Kapital, Schmutz, Krieg, Lüge,
Hässlichkeit und Folter darstellt, versuchten sie eine Theorie zu produzieren,
wie sie ein Mittel des Fortschritts in der Geschichte darstellen könnte. Die
Geschichte hat gezeigt, wie sehr sie mit diesen Ansichten Unrecht hatten.
6. Sie betrachteten es als unnötig, die anti-zivilisatorischen Kräfte zu ana-
lysieren, die die andere Seite der Zivilisation bilden, den zweiten Pol der
historischen Dialektik, der sie doch verbunden schienen. Ihre Kommentare
über diese Kräfte waren überwiegend negativ. Im Gegensatz dazu scheu-
ten sie sich nicht einmal, von einer Fortschrittlichkeit des kapitalistischen
Kolonialismus in Amerika, Asien und Afrika zu sprechen. Ihre Gegner*innen
kritisierten sie mit dem Argument, sie verteidigten die alte Gesellschaft.
Ihre Unfähigkeit, das immense Gewicht des Gegenpols, seine riesige de-
mokratische Tradition, den Widerstand und die Freiheit, das Streben nach
Gleichheit und Gerechtigkeit sowie seine Erfahrung mit Kommunalität
zu sehen, hängt eng mit ihrer bürgerlichen Klassenrealität zusammen. Sie
konnten das nicht sehen, denn wer aus diesen Klassen kommt, hat nicht den
Blick, um diese Tatsachen sehen zu können.
7. Ihr positivistisch-universalistischer, linear-progressivistischer methodi-
scher Ansatz führte sie zur Vorstellung von einem Sozialismus, der früher
oder später auf jeden Fall Wirklichkeit werden würde. Die Eschatologie der
heiligen Schriften hatte gewissermaßen ihren Widerhall im Sozialismus ge-
funden. Gesellschaften wurden in Form sich linear entwickelnder Modelle
370 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

als primitive, sklavenhalterische, feudale, kapitalistische und sozialistische


konzipiert. Hier handelt es sich um eine Art Fatalismus. Sie bemerkten erst
spät, dass diese dogmatischen Auffassungen, die uns tief geprägt haben, in
religiösem Fatalismus und Endzeitglauben wurzeln. Es wurde nicht ent-
schlüsselt, dass die gesellschaftliche Natur im Grunde moralische und poli-
tische Qualität besitzt, dass die Zivilisationssysteme diese Qualitäten erodie-
ren und an ihre Stelle grobe rechtliche Regeln und eine staatliche Verwaltung
setzen, dass die kapitalistische Moderne diesen Prozess unendlich vertieft
und verbreitert und dass dies eine Wirtschafts-, Gesellschafts-, Macht- und
Staatskrise bedeutet. Die Tatsache, dass das Wahre, Gute und Schöne ein
demokratisch-konföderales System ist, das die moralische und politische
Qualität der Gesellschaft vollständig garantiert und dafür mit demokrati-
scher Politik agiert, war nicht vorgesehen. Analysen und Lösungen in dieser
Richtung entwickelten sie nicht. Sie sahen nicht, dass eine freie, gleiche und
demokratische Gesellschaft nicht durch Macht- und Staatsinstrumente ge-
bildet werden kann, sondern vielmehr zu ihnen im Widerspruch steht; sie
entwickelten keine Theorie und Praxis für die prinzipiengeleitete, friedliche
Koexistenz beider, die nur auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung
beruhen kann. Wenn als Grundparadigma ›Revolution, Macht, Sozialismus‹
vorgesehen ist, dürfen wir uns nicht wundern, wenn am Ende nichts anderes
als Staatskapitalismus dabei herauskommen kann.
Ein weiterer Grund dafür, dass die realsozialistischen Bewegungen in ei-
nem Staatskapitalismus endeten, betrifft ihre Klassenbasis. Um es nochmals
festzuhalten: Für die Bürokratie, deren Mitglieder überwiegend aus der
Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum stammen, die ihre Hoffnungen durch
private Monopole nicht erfüllen und kein Kapital akkumulieren können oder
sogar das vorhandene ausgeben, besteht die einzige Option darin, durch die
Hand des Staates zu kollektiven Kapitalist*innen zu werden. Nichts anderes
ist das, was als nationale Bourgeoisie, als nationaler Kapitalismus bezeichnet
wird. Diese Klassen gewinnen durch den Staatskapitalismus als kollektives
Monopol, mit anderen Worten als Nationalstaat, eine sehr starke Position.
Aus diesem Grunde tendiert der Realsozialismus stärker zum Nationalstaat.
Diese materielle Grundlage erklärt auch, warum sie leicht Kompromisse mit
der kapitalistischen Moderne ein- und letztlich in ihr aufgingen.
8. Feministische, ökologische und kulturelle Bewegungen wurden als
Hindernisse für den Klassenkampf betrachtet. Dass die Frau nicht nur
mit ihrer Arbeit, sondern mit ihrem ganzen Körper und ihrer ganzen Seele
schwerer kolonialer Ausbeutung unterliegt, wurde keinen ausführlichen
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 371

Analysen unterzogen. Bei der Lösung der Frauenfrage gingen die Ansätze
nicht weiter als die Gleichheitsmaßstäbe im bürgerlichen Recht. Diese
Werktätige, die älteste und die jüngste der Geschichte, die meist unent-
geltlich oder für sehr wenig Lohn arbeitet, besaß keine andere Bedeutung,
als gemäß der patriarchalen Geschichte ein Objekt zu sein. Offensichtlich
war die analysierte Klasse der Mann. Ähnlich war die Herangehensweise
an die Ökologie. Diesbezügliche Probleme waren nicht vorgesehen, und es
wurde behauptet, eine Beschäftigung damit könne negative Auswirkungen
auf die Geschlossenheit des Klassenkampfes haben. Auch kulturelle
Bewegungen, die als Wiederbelebung des Alten betrachtet wurden, konn-
ten der Einschätzung als destruktive Elemente, die den Klassenkampf stören,
nicht entkommen. In der Folge zeigte sich ein Klassendenken, das von allen
potenziellen Bündnispartner*innen losgelöst war und von Ökonomismus
erstickt wurde.
9. Die Bildung von Klassen wurde in moralischer und politischer Hinsicht
nicht als eine negative Entwicklung betrachtet, sondern als eine positive,
progressive, für die Freiheit notwendige, unvermeidliche Entwicklungsstufe.
Es wurde nicht begriffen, dass es objektiv den Klassen der Macht und des
Staates dient, die Bildung von Klassen als legitim zu betrachten. Sklaverei,
Leibeigenschaft und Proletarierdasein wurden als der Preis interpretiert, der
für historischen Fortschritt und Freiheit gegenüber der Natur zu entrich-
ten ist. Wir können jedoch als Gegeninterpretation festhalten, dass alle drei
Klassenformationen, die in ihrem Wesen gleich sind, nichts mit Fortschritt
oder Freiheit zu tun haben können, dass die moralische und politische
Gesellschaft mit diesen Strukturen nicht koexistieren kann und gegen der-
artige Bildungen von Klassen ein moralischer, politischer und intellektueller
Kampf geführt werden muss.
Zwar haben sie eine begrenzte Selbstkritik geleistet, doch können wir nicht
behaupten, die heutigen Erb*innen der zweihundertjährigen realsozialisti-
schen Bewegung hätten eine radikale Transformation durchlaufen. Heute be-
finden sie sich in einer Vertrauenskrise und einer Schwächephase. Dennoch
handelt es sich um eine Bewegung, die ihren Platz in der Geschichte hat.
Zwar haben sie das kapitalistische System nicht überwunden, aber es musste
sich doch mit ihnen auseinandersetzen. Sie haben in positiver und negativer
Weise Anteil an der Entstehung unserer Gegenwart. Ihre Depression ist Teil
der strukturellen Depression des Systems. Und doch ist es das Beste, den
Realsozialismus, der als Bewegung alle Systemgegner*innen mit am meis-
ten beeinflusst hat, als einen Abschnitt zu akzeptieren, ihn zusammen mit
372 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

den Lektionen, die aus seinem Erbe zu lernen sind, als Teil des Aufbaus
der demokratischen Moderne zu bewerten und aus dieser Haltung heraus
Allianzen zu bilden.

2. Neubewertung des Anarchismus


Die anarchistischen Bewegungen, die gleichaltrig mit dem Realsozialismus
sind und ihre Wurzeln ebenfalls in der Französischen Revolution haben, ver-
dienen nach der Auflösung des Realsozialismus oder besser seiner Integration
ins System eine Neubewertung. Heute ist besser verständlich, dass ihre be-
rühmten Vertreter Proudhon, Bakunin und Kropotkin in ihren Kritiken
am System und am Realsozialismus100 nicht ganz Unrecht hatten. Als eine
Bewegung, die den Kapitalismus nicht nur als Privat- und Staatsmonopol
kritisiert, sondern auch als Moderne, fallen sie durch ihre Position am ent-
ferntesten Gegenpol des Systems auf. Ihre Kritik am System sowohl von
einem moralischen als auch politischen Standpunkt aus entspricht zu großen
Teilen den Tatsachen. Die sozialen Strukturen ihrer Herkunft hatten ent-
scheidenden Einfluss auf die Bewegung. Die Klassenreaktionen von aristo­
kratischen Kreisen, deren Macht der Kapitalismus gestürzt hatte, und von
städtischen Handwerker*innen, deren Situation sich noch drastischer ver-
schlechtert hatte, spiegeln diese Tatsache wider. Dass sie individuell blieben,
keine breite Basis fanden und nicht in der Lage waren, ein Gegensystem zu
entwickeln, hängt eng mit ihrer sozialen Herkunft zusammen. Sie wussten
genau, was der Kapitalismus tat, aber sie wissen nicht so genau, was sie tun
mussten. Fassen wir ihre Ansichten kurz zusammen:
1. Sie kritisieren das kapitalistische System von ganz links. Sie verstehen
besser, dass dieses System die moralische und politische Gesellschaft zer-
schlägt. Anders als Marxist*innen gestehen sie dem Kapitalismus keine fort-
schrittliche Rolle zu. Ihre Haltung gegenüber den vom Kapitalismus zer-
schlagenen Gesellschaften ist positiver. Sie sehen sie nicht als rückständig
und zum Verfall verurteilt an. Sie finden es moralischer und politischer, dass
sie erhalten bleiben.
2. Ihre Haltung zu Macht und Staat ist im Vergleich zur marxistischen
umfassender und realistischer. Es ist Bakunin, der die Macht als das abso-
lut Böse bezeichnet. Und doch ist der Ansatz, um jeden Preis die soforti-
ge Abschaffung von Macht und Staat zu fordern, utopisch und hat kaum

100 Aus der zeitlichen Einordnung wird deutlich, dass der Autor mit ›Realsozialismus‹ nicht nur die ›sozialisti-
schen‹ Staaten bezeichnet, sondern die gesamte marxistische Strömung des Sozialismus und der kommuni-
stischen Bewegung.
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 373

Chancen auf praktische Umsetzung. Sie sahen voraus, dass es nicht mög-
lich sein werde, den Sozialismus auf der Basis von Staat und Macht zu er-
bauen, sondern daraus vielleicht ein noch gefährlicherer bürokratischer
Kapitalismus entstehen werde.
3. Sie sahen realistischerweise voraus, dass der Aufbau eines zentralistischen
Nationalstaates für die Arbeiter*innenklasse und alle Volksbewegungen eine
Katastrophe und einen schweren Schlag für ihre Hoffnungen darstellen wer-
de. Auch mit ihren Kritiken an den Marxist*innen in der Frage der Einheit
Deutschlands und Italiens behielten sie Recht. Erwähnen müssen wir auch
unbedingt ihre Feststellungen, dass eine historische Entwicklung zugunsten
des Nationalstaates einen großen Verlust für die Utopien von Gleichheit
und Freiheit bedeutet, und ihre heftige Kritik an der Parteinahmen der
Marxist*innen für den Nationalstaat, denen sie deswegen auch Verrat vor-
warfen. Sie verfochten den Konföderalismus.
4. Auch ihre Ansichten und Kritiken bezüglich Bürokratismus,
Industrialismus und Urbanisierung wurden großenteils bestätigt. Diese
Ansichten und Kritiken hatten bedeutenden Anteil daran, dass sie schon
früh antifaschistische und ökologistische Haltungen entwickelten.
5. Auch ihre Kritik am Realsozialismus wurde durch den Zerfall dieses
Systems bestätigt. Sie waren diejenigen, die am besten diagnostizierten, dass
das, was dort aufgebaut worden war, nicht Sozialismus, sondern bürokrati-
scher Staatskapitalismus war.
Es gibt zu denken, dass trotz dieser wichtigen und bestätigten Kritiken
die anarchistische Bewegung im Verhältnis zum Realsozialismus nicht
zu einer Massenbewegung wurde und keine Chance auf eine praktische
Umsetzung hatte. Ich vermute, dass dies von ernsthaften Mängeln und
Handicaps in ihrer Theorie herrührt. Eine bedeutende Rolle dabei spiel-
te, dass ihre Analysen zum Thema Zivilisation mangelhaft waren und sie
kein umsetzbares System entwickelten. Sie legten auch kaum historisch-­
gesellschaftliche Analysen und Lösungsvorschläge vor. Daneben waren auch
sie von der positivistischen Philosophie beeinflusst. Sie sind nicht wirklich
aus der eurozentrischen Sozialwissenschaft herausgetreten. Ihr wichtigster
Mangel ist jedoch meiner Meinung nach das Fehlen eines systematischen
Denkens und systematischer Strukturen beim Thema demokratische Politik
und demokratische Moderne. Sie bemühten sich sorgfältig um den Beweis
der Richtigkeit ihrer Ansichten und Kritiken, doch verwandten sie nicht
die gleiche Sorgfalt auf ihre Systematisierung und praktische Umsetzung.
Vielleicht war auch ihre Klassensituation ein Hindernis dafür. Ein weiteres
374 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Hemmnis war ihre reflexhafte Ablehnung jeglicher Art von Autorität in ih-
ren theoretischen Betrachtungen und ihrer Lebenspraxis. Die gerechtfertig-
ten Abwehrreaktionen gegen die Autorität von Macht und Staat übertrugen
sie auf alle Autoritäten und Formen der Ordnung, was dazu beitrug, dass
sie die demokratische Moderne in Theorie und Praxis nicht auf die Agenda
setzten. Ich bin überzeugt, dass die wichtigste Selbstkritik, die sie leisten
müssten, sich darauf bezieht, dass sie die Legitimität der demokratischen
Autorität und die Notwendigkeit der demokratischen Moderne nicht er-
kannten. Auch dass sie nicht die Option der demokratischen Nation anstelle
der des Nationalstaats entwickelten, ist ein schwerer Mangel und erfordert
eine Selbstkritik.
Der Zerfall des Realsozialismus, das Aufkommen ökologistischer und
feministischer Bewegungen sowie der allgemeine Aufschwung zivilgesell-
schaftlicher Aktivitäten hatte zweifellos positive Auswirkungen auf die
Anarchist*innen. Immer wieder zu betonen, dass sie recht hatten, bedeutet
aber nicht viel. Sie müssen vielmehr die Frage beantworten, warum sie sich
nicht aktiv um den Aufbau eines anspruchsvollen Systems bemühten. Dies
lässt an die tiefe Kluft zwischen ihrer Theorie und ihrem Leben denken. Ist
es ihnen denn gelungen, das viel kritisierte moderne Leben zu überwinden?
Besser gesagt, wie konsequent waren sie dabei? Wird es ihnen gelingen, die
eurozentrische Lebensweise zu verlassen und Schritte hin zu einer wirkli-
chen, globalen demokratischen Moderne zu machen?
Wir könnten noch weitere Fragen und Kritiken anführen. Das Wichtige
ist jedoch, dass es dieser Bewegung, die in der Vergangenheit große Opfer
brachte, wichtige Denker*innen in ihren Reihen hatte und hat und deren
Ansichten und Kritiken in der intellektuellen Welt einen bedeutenden Platz
besitzen, gelingt, sich und ihr Erbe in einem stimmigen und ausbaufähi-
gen, systemgegnerischen System zu sammeln. Anarchist*innen können im
Vergleich zu Realsozialist*innen eher eine Selbstkritik leisten und sich an
die tägliche Praxis machen. Es bleibt wichtig, dass sie in den wirtschaftli-
chen, sozialen, politischen, intellektuellen und ethischen Kämpfen ihren ver-
dienten Platz einnehmen. In den zunehmenden Kämpfen im Nahen Osten,
in denen die Dimensionen Zivilisation und Kultur in den Vordergrund
treten, können sich die Anarchist*innen sowohl erneuern als auch große
Beiträge leisten. Sie sind eine der bedeutenden Kräfte, mit denen wir bei
den Bemühungen um den Wiederaufbau des Systems der demokratischen
Moderne Bündnisse schließen müssen.
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 375

3. Feminismus: Aufstand der ältesten Kolonie


Der Begriff des ›Feminismus‹, wenn wir ihn als ›Bewegung für die Frauen‹
übersetzen, beschreibt keineswegs die Frauenfrage vollständig und kann so-
gar in eine Sackgasse führen, weil er es ermöglicht, als seinen Gegensatz ei-
nen ›Maskulinismus‹ zu konzipieren. Er suggeriert die Bedeutung, es sei ein-
zig der Mann der Herrschende und die Frau die Unterdrückte. Dabei ist die
Realität der Frau umfassender und beinhaltet außer dem Geschlecht weitere
Bedeutungen mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen.
Wenn wir den Begriff der Kolonie von Ländern und Nationen ablösen und
auf Gruppen von Menschen beziehen, so können wir die Lage der Frau
getrost als die älteste Kolonie definieren. Tatsächlich hat kein gesellschaftli-
ches Phänomen an Seele und Körper so starke Kolonialisierung kennenge-
lernt wie die Frau. Wir müssen verstehen, dass die Frau in einem kolonialen
Zustand gehalten wird, dessen Grenzen nicht leicht zu definieren sind.
Wie alle Wissenschaften, so sind auch die Sozialwissenschaften von ei-
nem Männlichkeitsdiskurs geprägt. Die Zeilen, die in diesem Diskurs
von der Frau handeln, sind voller propagandistischer Ansätze, die mit
der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Der wirkliche Status der Frau wird
durch diesen Diskurs vielleicht vierzigfach verschleiert, genauso wie die
Geschichtsschreibungen der Zivilisation Klasse, Ausbeutung, Repression
und Folter verdecken. Statt ›Feminismus‹ ist vielleicht der Begriff jineolo-
jî101 (Wissenschaft der Frau) zweckdienlicher. Tatsachen, die die Jineolojî
zutage fördern wird, werden wohl kaum weniger wirklich sein als die
Theologie, Eschatologie, Politologie, Pädagogik, also die ›Logien‹, sie sich
mit vielen Bereichen der Sozialwissenschaften befassen. Es ist unbestreit-
bar, dass die Frau sowohl physisch als auch von der Bedeutung her den
größten Teil der gesellschaftlichen Natur darstellt. Wenn dem so ist, warum
sollten wir diesen höchst wichtigen Teil der gesellschaftlichen Natur nicht
zum Thema der Wissenschaft machen? Dass die Sozialwissenschaften, die
in viele Teilbereiche bis hin zur Pädagogik, die Bildung und Erziehung von
Kindern, aufgespalten sind, keine Jineolojî herausgebildet haben, lässt sich
einzig dadurch erklären, dass sie einen patriarchalen Diskurs führen.
Solange die Natur der Frau im Dunkeln bleibt, lässt sich die gesam-
te gesellschaftliche Natur nicht erhellen. Die wirkliche und umfassende
Aufklärung der gesellschaftlichen Natur ist nur durch die umfassende und
realistische Aufklärung der Natur der Frau möglich. Die Situation der Frau

101 Kurdisch aus jin = Frau und -lojî = -logie.


376 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

einschließlich ihrer Kolonialisierungsgeschichte und der wirtschaftlichen,


sozialen, politischen und geistigen Aspekte dieser Kolonialisierung offenzu-
legen, wird einen großen Beitrag zur vollständigen Aufklärung aller anderen
historischen Fragen und sämtlicher Dimensionen der heutigen Gesellschaft
leisten.
Zweifellos ist die Aufdeckung des Status der Frau nur eine Dimension
des Problems. Die wichtigere Dimension betrifft die Frage der Befreiung.
In anderen Worten: Wichtiger ist die Lösung des Problems. Es heißt oft,
das allgemeine Niveau der Freiheit einer Gesellschaft sei proportional
zum Niveau der Freiheit der Frau102. Entscheidend ist nur, zu welchen
inhaltlichen Konsequenzen diese richtige Feststellung führt. Die Freiheit
und Gleichheit der Frau sind nicht lediglich Maße für die gesellschaft-
liche Freiheit und Gleichheit. Sie erfordern auch Theorie, Programm,
Organisation und Handlungsmechanismen. Noch wichtiger: Dies zeigt
auch, dass es ohne Frauen keine demokratische Politik geben kann, dass so-
gar eine Klassenpolitik mangelhaft bleibt, kein Frieden geschaffen und keine
Umwelt geschützt werden kann.
Wir müssen die Frau aus ihrem Status als ›heilige Mutter‹, ›Ehre‹, ›unver-
zichtbare Partnerin‹ herausholen und die Realität der Frau als einer Subjekt-
Objekt-Gesamtheit erforschen. Natürlich müssen diese Forschungen zu-
nächst von den Clownereien der romantischen Liebe gereinigt werden. Es
sollte sogar eine besonders wichtige Dimension der Forschung sein, all die
mit der Bezeichnung ›romantische Liebe‹ verschleierten großen Untaten
(Vergewaltigung, Mord, Schläge, tausenderlei Beleidigungen) darzustellen.
Herodots Aussage, alle Kriege zwischen Ost und West seien wegen Frauen
geführt worden103, kann nur eine Tatsache erklären, nämlich dass die Frau
als wertvolle Kolonie angesehen und daher zum Gegenstand bedeutender
Kriege gemacht wurde. Während dies die Zivilisationsgeschichte ist, so stellt

102 »Allgemein lässt sich die These aufstellen: Der soziale Fortschritt vollzieht sich entsprechend
den Fortschritten in der Befreiung der Frau, und der Verfall der Gesellschaftsordnung vollzieht
sich entsprechend der Abnahme der Freiheit der Frau. Die Erweiterung des Vorrechts der Frau
ist das allgemeine Prinzip allen sozialen Fortschritts.« Charles Fourier: Die Freiheit in der Liebe
(Hamburg, 2017), S. 66. Marx, dem diese Formulierung oft zugeschrieben wird, zitiert lediglich
Fourier. Darauf weist Murray Bookchin in seinem Hauptwerk Die Ökologie der Freiheit: Wir
brauchen keine Hierarchien (Weinheim, Basel: Beltz, 1985) hin, auf das der Titel dieses Bandes
verweist.
103 Herodot leitet seine Historien mit einer Erklärung für die Ursachen der Kriege zwischen
Hellenen und »Barbaren« ein. Darin geht es um den »Raub« mehrerer Frauen, unter anderem
Io, Europa, Medeia und Helena, durch Phönizier und Griechen als Vorgeschichte der Kriege
zwischen Griechen und Persern. Dort wird auch die Ansicht zitiert, die Frauen hätten den Raub
gewollt, sonst seien sie nicht geraubt worden.
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 377

die kapitalistische Moderne eine tausendfach schlimmere und vielschichti-


gere Kolonialisierung der Frau dar; der Kolonialismus ist in die Identität der
Frau eingeschrieben. Sie wird auf vielfältige Weise kolonialisiert: als Mutter
aller Werktätigkeit, als kostenlose Arbeiterin, als Niedrigstlohnarbeiterin, als
am häufigsten Arbeitslose, als Ziel von grenzenlosem Appetit und Druck des
Mannes, als Gebärmaschine und Kinderfrau des Systems, als Reklamemittel,
als Sex- und Pornografieobjekt – die Liste lässt sich fortführen. Der
Kapitalismus hat für die Frau einen Ausbeutungsmechanismus entwickelt,
der alle anderen übertrifft. Wir würden gerne vermeiden, immer wieder auf
den Status der Frau zurückzukommen, weil es wehtut. Aber die Tatsachen
sprechen ihre eigene Sprache, und sie bleiben für die Unterdrückten gleich.
Im Licht dieser Tatsachen muss die feministische Bewegung zweifellos die
radikalste systemgegnerische Bewegung sein. Die Frauenbewegung, deren
zeitgenössische Form wiederum auf die Französische Revolution zurück-
geführt werden kann, hat sich durch verschiedene Phasen bis heute ent-
wickelt. In ihrer ersten Phase strebte sie nach rechtlicher Gleichheit. Diese
Gleichheit, die nicht viel bedeutet, scheint heute vielerorts gewährleistet.
Doch müssen wir wissen, dass sie im Innern ausgehölt ist. Es gibt forma-
le Fortschritte bei Menschenrechten, wirtschaftlichen, sozialen und politi-
schen sowie anderen Rechten. Die Frau ist anscheinend frei und dem Mann
gleichgestellt. Dabei verbirgt sich der wichtigste Betrug in dieser Art der
Gleichheit. Nicht nur die offizielle Moderne, die hierarchischen und etatis-
tischen Zivilisationssysteme aller Zeiten haben das gesellschaftliche Gewebe
beeinflusst und die Frau körperlich und geistig gefangen genommen, zur
tiefsten Sklaverei verurteilt und sie zum Arbeiten gezwungen. Die Freiheit,
Gleichheit und Demokratie dieser Frau erfordert daher besonders umfas-
sende theoretische Anstrengungen, ideologische Kämpfe, programmatische
und organisatorische Aktivitäten und vor allem starke Aktionen. Ohne das
besitzen Feminismus und Frauenstudien keine Bedeutung jenseits der libe-
ralen Frauenaktivitäten, die nur das System entlasten sollen.
Ich möchte an einem hoffentlich anschaulichen Beispiel erläutern, wie
Probleme besser gelöst werden können, wenn sich die Frauenwissenschaft
entwickelt: Wir müssen verstehen, dass der Sexualtrieb eine der ersten
Lernformen des Lebens darstellt. Dieser Trieb ist eine Antwort auf das
Bedürfnis des Lebens, sich fortzuführen. Da ein Individuum nicht endlos
leben kann, war es notwendig, das Potenzial zur Reproduktion des Einen
als Lösung zu entwickeln. Der sogenannte Sexualtrieb ist die Fortsetzung
des Lebens, indem dieses Potenzial unter günstigen Bedingungen zur
378 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Fortpflanzung verwendet wird. Dies hilft gewissermaßen, die Gefahr des


Aussterbens der Spezies und den Tod abzuwenden. In der ersten Zellteilung
macht sich die Zelle – das Eine – durch Vermehrung unsterblich. Noch
allgemeiner ausgedrückt, setzt sich hier die Tendenz des Universums, dem
Nichts oder der Leere, die es verschlingen wollen, durch ständige Variation
und Vermehrung entgegenzutreten und ewig zu werden, im Lebendigen
fort.
Innerhalb der menschlichen Spezies ist das Eine oder das Individuum, das
diesen universalen Vorgang fortsetzt, eher die Frau. Die Vermehrung findet
im Körper der Frau statt. Die Rolle des Mannes ist bei diesem Vorgang
höchst nebensächlich. Daher ist es auch wissenschaftlich verständlich, dass
die gesamte Verantwortung für die Fortführung der Familie auf der Frau
lastet. Zudem bleibt es ja nicht dabei, dass die Frau nur den Fötus trägt, für
sein Wachstum sorgt und das Kind zur Welt bringt. Natürlich trägt sie auch
beinahe bis zum Tod die Verantwortung für sein Wohlergehen. Die erste
Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen müssen, ist, dass die Entscheidung
über jeglichen Geschlechtsakt ausschließlich bei der Frau liegen muss. Denn
jeder Geschlechtsverkehr birgt für die Frau potenzielle Probleme, die nur
sehr schwer zu meistern sind. Wir müssen verstehen, dass eine Frau, die
zehn Kinder gebärt, physisch und auch seelisch in eine Lage versetzt wird,
die schlimmer ist als der Tod.
Der Blick des Mannes auf die Sexualität ist verzerrter und verantwor-
tungsloser. Dabei spielen Ignoranz und die blind machende Wirkung der
Macht die wesentliche Rolle. Außerdem bedeutet, viele Kinder zu haben,
in der hierarchischen Ära und im dynastischen Staat für den Mann eine
unverzichtbare Stärke. Viele Kinder zu haben, heißt nicht nur die Familie
fortzuführen, sondern bildet die Garantie dafür, als Macht und Staat wei-
terzuexistieren. Den Staat als eine Art Besitzmonopol nicht zu verlieren,
hängt von der Größe der Dynastie ab. So wird die Frau sowohl für die
biologische Existenz als auch für die Existenz von Macht und Staat in ein
Instrument verwandelt, das viele Kinder gebären soll. So wurde für die Frau
die furchtbare Kolonialisierung im Zusammenhang mit der Ersten und
Zweiten Natur bereitet. Entsprechend wichtig ist es, den Verfall der Frau
im Zusammenhang mit diesen beiden Naturen zu analysieren. Wir müs-
sen nicht weiter erklären, dass es für die Frau unter diesem Status beider
Naturen nicht möglich ist, lange seelisch und körperlich ihre Kraft zu be-
wahren und unbeschadet standzuhalten. Körperlicher und seelischer Verfall
treten früh und gemeinsam auf. Der Preis dafür, dass die Frau das Leben
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 379

anderer bewahrt und fortsetzt, ist für sie ein verkürztes Leben voller Schmerz
und Trauer. Es wird eminent wichtig sein, die Geschichte der Zivilisation
und Moderne auf der Grundlage dieser Tatsache zu analysieren und zu lesen.
Lassen wir einmal beiseite, wie furchtbar sich dieses Problem aus Sicht
der Frau darstellt. Eine weitere Dimension des Problems ist der extreme
Bevölkerungsanstieg. Die Politik, viele Kinder zu haben, spiegelt sich in
diesem Bevölkerungsanstieg mit schweren Auswirkungen auf die gesamte
gesellschaftliche Natur und die ökologische Umwelt wider. Eine der funda-
mentalen Lektionen, die sowohl die Frauenwissenschaft als auch sämtliche
Sozialwissenschaften daraus lernen müssen, ist die Tatsache, dass die mensch-
liche Bevölkerung durch die Methode des ›instinktiven Lernens‹ weder kon-
stant gehalten noch vermehrt, in seltenen Situationen auch nicht verringert
werden kann. Der Hauptgrund für das extreme Bevölkerungswachstum
ist, dass eine ganz primitive Methode zur Erhaltung der Abstammungslinie
wie die Triebhaftigkeit durch wissenschaftliche Methoden unterstützt wird,
wie sie in der Geschichte der Zivilisation und Moderne entwickelt wurden.
Die menschliche Spezies als gesellschaftliche Natur nur auf dem Wege des
Triebes, besonders des Sexualtriebes, zu erhalten, ist äußerst rückständig.
Intelligenz und kulturelles Niveau bieten Lernpotenziale, um gesellschaft-
liche Strukturen in höherer Qualität fortführen zu können. Individuen
und Gemeinschaften können ihre Möglichkeiten nutzen, um sich mit ih-
rer Intelligenz und ihren Kulturen, ihren philosophischen und politischen
Institutionen äußert lang am Leben zu halten. Daher hat es keinen Sinn
mehr, die Abstammungslinie durch Vermehrung über den Sexualtrieb fortzu-
setzen. Die menschliche Kultur und Intelligenz haben diese Methode längst
überwunden. Daher ist für diese Primitivität im Grunde das Profitprinzip
der Zivilisation und Moderne verantwortlich. Zweifellos bedeutet extremes
Bevölkerungswachstum extremes Monopol und extreme Macht; das wiede-
rum bedeutet maximalen Profit. Dass sich die menschliche Spezies im Laufe
der Geschichte extrem vermehrt hat und so nicht nur die Gesellschaft, son-
dern auch Umwelt und Natur an den Rand der Vernichtung gebracht hat, ist
definitiv eine Folge der immer größeren Kapital- und Machtakkumulation
und daher des Gesetzes des Maximalprofits. Alle weiteren Faktoren sind
zweitrangig und nebensächlich.
Also sollte grundsätzlich die Verantwortung für die Lösung des demo-
grafischen Problems, das einen wesentlichen Pfad für die Lösung der im-
mens angewachsenen Frauenfrage und die Verhinderung der ökologischen
Zerstörung darstellt, bei der Frau liegen. Die erste Bedingung dafür ist die
380 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

vollständige Freiheit und Gleichheit der Frau, das vollständige Recht, demo-
kratische Politik zu machen; das Recht auf vollständige Selbstbestimmung
und freie Willensentfaltung in allen Belangen, die das Geschlecht betref-
fen. Andernfalls sind die vollständige Befreiung, Freiheit und Gleichheit
der Frau, der Gesellschaft und der Umwelt nicht möglich. Ebenso wären
demokratische Politik und konföderative Politikformen nicht möglich.
Die Frau als fundamentaler Bestandteil der moralischen und politischen
Gesellschaft spielt eine entscheidende Rolle bei der Bildung einer Ethik
und Ästhetik des Lebens, die Freiheit, Gleichheit und Demokratisierung
widerspiegeln. Die Wissenschaft von Ethik und Ästhetik ist ein integraler
Bestandteil der Frauenwissenschaft. Aufgrund ihrer hohen Verantwortung
im Leben wird die Frau zweifellos die treibende intellektuelle und umset-
zende Kraft hinter Durchbrüchen und Fortschritten in allen ethischen und
ästhetischen Angelegenheiten sein. Die Verbindung der Frau mit dem Leben
ist viel umfassender als die des Mannes. Damit hängt das hohe Niveau ih-
rer emotionalen Intelligenz zusammen. Deshalb ist Ästhetik im Sinne ei-
ner Verschönerung des Lebens eine existentielle Angelegenheit für die
Frau. Auch in ethischer Hinsicht (Ethik = Theorie der Moral, Ästhetik =
Theorie der Schönheit) trägt die Frau eine umfassendere Verantwortung.
Es liegt in ihrer Natur, dass die Frau sich im Sinne der moralisch-politi-
schen Gesellschaft realistischer und verantwortungsvoller verhält, wenn es
darum geht, Bewertungen, Feststellungen und Entscheidungen in Bezug auf
die guten und schlechten Aspekte von Bildung, die Bedeutung des Lebens
und des Friedens, die Übel und Schrecken des Krieges sowie Fairness und
Gerechtigkeit zu treffen. Damit meine ich natürlich nicht die Frau, die
Marionette und Schatten des Mannes ist. Es geht um die freie und gleiche
Frau, die sich die Demokratisierung zu eigen gemacht hat.
Es wäre auch sinnvoll, die Wissenschaft der Ökonomie ebenfalls als Teil
der Wissenschaft der Frau weiterzuentwickeln. Die Wirtschaft ist eine Form
der gesellschaftlichen Aktivität, in der von Anfang an die Frau die wesent-
liche Rolle gespielt hat. Da die Frage der Ernährung der Kinder auf den
Schultern der Frau lastet, besitzt die Wirtschaft für die Frau lebenswich-
tige Bedeutung. Ohnehin bedeutet Ökonomie im Griechischen soviel wie
›Hausgesetz, Regeln der Versorgung des Hauses‹. Offenbar ist dies die we-
sentliche Beschäftigung der Frau. Die Wirtschaft der Frau aus der Hand
zu nehmen und sie Wucherern, Händlern, Kapitalisten, der Macht, dem
Staat und ihren Bevollmächtigten in die Hände zu legen, die sich wie Aghas
aufführen, war der größte Schlag gegen das wirtschaftliche Leben. Die
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 381

anti-wirtschaftlichen Kräften übertragene Wirtschaft wurde schnell zum


Hauptziel der Macht und des Militarismus gemacht und während der ge-
samten Geschichte der Zivilisation und der Moderne in den Hauptfaktor
unzähliger Kriege, Konflikte, Depressionen und Kämpfe verwandelt. Heute
ist die Wirtschaft zum Spielfeld von Leuten gemacht worden, die mit
Wirtschaft nichts zu tun haben und durch Spiele mit ihren Papierschnipseln
durch Methoden, die schlimmer sind als Glücksspiel, unzählige gesellschaft-
liche Werte rauben. Die Wirtschaft, die heilige Beschäftigung der Frau,
wurde in einen Bereich verwandelt, aus dem sie vollständig herausgedrängt
wurde, der an Produktionsstätten übergeben wurde, die Kriegsmaschinen,
umweltzerstörende Verkehrsmittel und überflüssige Produkte herstellen, die
Profit bringen, aber mit menschlichen Grundbedürfnissen nicht viel zu tun
haben, und wo an Börsen Preise und Zinsen manipuliert werden.
Die demokratische Freiheits- und Gleichheitsbewegung der Frau, beru-
hend auf der Wissenschaft der Frau, die auch den Feminismus umfasst, wird
offenbar eine Hauptrolle bei der Lösung der gesellschaftlichen Probleme
spielen. Sie darf sich nicht mit der Kritik der Frauenbewegungen der jüngs-
ten Vergangenheit begnügen, sondern muss sich eher auf die Geschichte
der Zivilisation und Moderne konzentrieren, die aus der Frau eine verlo-
rene Identität gemacht hat. Wenn in den Sozialwissenschaften die Frau,
die Frauenfrage und die Frauenbewegungen nahezu nicht vorkommen, so
sind die eigentlichen Verantwortlichen dafür die hegemoniale Mentalität
der Zivilisation und Moderne und die Strukturen ihrer materiellen Kultur.
Mit begrenzten rechtlichen und politischen Ansätzen zum Thema Gleichheit
lässt sich vielleicht ein Beitrag zum Liberalismus leisten; doch mit derarti-
gen Ansätzen lässt sich das Problem nicht lösen, ja noch nicht einmal als
Phänomen analysieren. Es wäre Selbstbetrug, zu behaupten, die bestehenden
feministischen Bewegungen hätten sich vom Liberalismus gelöst und seien
zu systemgegnerischen Kräften geworden. Wenn der Feminismus so radikal
wäre, wie ihm von manchen vorgeworfen wird, behauptet wird, so müsste
er zunächst den Bruch mit tief verwurzelten liberalen Gewohnheiten und
Arten zu denken und fühlen sowie dem entsprechenden Leben vollziehen,
die dahinterstehende frauenfeindliche Zivilisation und Moderne analysieren
und sich auf dieser Grundlage auf sinnvolle Lösungswege konzentrieren.
Die demokratische Moderne muss die Natur der Frau und ihre
Freiheitsbewegung als eine ihrer fundamentalen Kräfte erkennen und es zu
einer vordringlichen Aufgabe machen, sie sowohl weiterzuentwickeln als
382 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

auch Bündnisse mit ihnen zu schließen und sie in die Wiederaufbauarbeiten


einzubeziehen.

4. Ökologie: Aufstand der Natur


Eines der fundamentalen Probleme, zu dem das Zivilisationssystem ge-
führt hat, ist die Zerstörung des kritischen Gleichgewichts von Gesellschaft
und Umwelt. In der langen Zeit des Bestehens und der Entwicklung der
gesellschaftlichen Natur lebte die Gesellschaft stets in Harmonie mit der
Umwelt und hielt sich an dieses kritische Gleichgewicht. Zur natürlichen
Entwicklung gehören keine Abweichungen, die spontan auftreten und das
Gleichgewicht radikal verändern. Im Wesentlichen gilt, dass Systeme in
ihrer Entwicklung einander nicht zerstören, sondern ernähren. Wenn sich
Abweichungen herausbilden, so müssen sie nach der Logik des Systems
überwunden werden. In diesem Sinne haben wir es bei der Zivilisation
mit einer Abweichung im System der gesellschaftlichen Natur zu tun.
Bereits der Ausdruck Zivilisationssystem ist lediglich Propaganda. Dieser
Begriff wurde erdacht, um mit ihm das wirkliche System der gesellschaft-
lichen Natur zu ersetzen. Während die, die das System sind, als Barbaren,
Nomaden und marginale Gruppen bezeichnet wurden, zeichnete man
Banden, die sich parasitisch von gesellschaftlichen Werten ernähren, mit
dem Namen ›Zivilisationssystem‹ aus. Wie man es auch betrachtet: Kriege,
Plünderung, Zerstörung, Massaker, Monopole, Tribute und Steuern sind
die Hauptmerkmale der zivilisatorischen Entwicklung und verdienen, als
die wirkliche Barbarei bezeichnet zu werden. Die ständige Zerstörung und
das Niederbrennen von Dörfern und Städten, die Ermordung von Millionen
von Menschen, die Unterwerfung der großen Mehrheit der Bevölkerung
unter ein System der Ausbeutung – all das können wir nicht als natürliche
Notwendigkeit des Systems der gesellschaftlichen Natur, sondern nur als
eine Abweichung von ihm bezeichnen.
Die fünftausendjährige Zivilisationsgeschichte ist gleichzeitig die
Geschichte der Entwicklung und der Ausdehnung dieser Verirrung. Der
unbestreitbare Beweis dieser Verirrung ist die Tatsache, dass die ökologi-
schen Katastrophen im Zeitalter des Kapitalismus ausbrechen, in dem doch
angeblich die Zivilisation am weitesten entwickelt ist. Die gesellschaftliche
Natur hat in den rund drei Millionen Jahren ihrer Existenz keine derarti-
gen Katastrophen ausgelöst. Die Systeme Gesellschaft und Umwelt nähr-
ten einander. Die in der kurzen Geschichte der Zivilisation auftretenden
ökologischen Krisen hängen mit dem Profitstreben zusammen, das seine
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 383

zerstörerische Essenz darstellt. Sämtliche extremen Wertakkumulationen,


nicht nur der kapitalistische Profit, gingen in allen Zivilisationsphasen
mit der Zerstörung beider Naturen einher. Auch die Pyramiden sind eine
Akkumulation. Wir können uns ungefähr vorstellen, um den Preis welcher
gesellschaftlichen Zerstörungen sie errichtet wurden. Unzählige andere, ähn-
liche Akkumulationen erlegten der Umwelt ständig zusätzliche Lasten auf.
Der gesellschaftliche Zusammenbruch brachte den Zusammenbruch der
Umwelt mit sich. Als die Strukturen der auf grenzenlosem Monopolprofit
aufbauenden kapitalistischen Moderne die Balance von Gesellschaft und
Natur in untragbarer Weise belastete, waren wir schließlich ins Zeitalter
der ökologischen Krise eingetreten. Entscheidend war hierbei die strategi-
sche Rolle des Industrialismus, mit der auf fossilen Brennstoffen beruhen-
den Industrialisierung und dem Modernismus als seinen Hauptfaktoren.
Außerdem führte der Gebrauch fossiler Brennstoffe für das Automobil über
Verkehrsunfälle zu Katastrophen, die weitere Zerstörung nach sich ziehen.
So verwandeln sich Umweltkatastrophen in gesellschaftliche Katastrophen,
gesellschaftliche Katastrophen wieder in Umweltkatastrophen, und es
entsteht eine Kettenreaktion. Das kapitalistische Zeitalter als Zeitalter
des Rationalismus zu benennen, ist aus diesem Grund falsch. Die
Akkumulation erfolgt blind. Wir sehen vor uns die Folgen einer blindwü-
tigen Akkumulation, die nie der Rationalität von Umwelt und Gesellschaft
entsprach. Analytisch gesehen mag dies rational sein. Doch aus Sicht der
primären Intelligenz der Umwelt, der emotionalen Intelligenz, ist klar, dass
die analytische Intelligenz eine Intelligenz der Blindheit und der Zerstörung
darstellt.
Aufbauend auf unseren vorherigen Ausführungen können wir festhalten,
dass extremes Wachstum der Bevölkerung und der Städte, die Schwung
aufgenommen haben, seit Stadt und Mittelklasse das Machtzentrum bil-
den, nichts sind, was die Umwelt aushalten kann. Auch die gesellschaft-
liche Natur kann sie nicht aushalten. Macht und Staat, die im Zuge des
Kapitalakkumulationsprozesses anwuchsen, haben einen Umfang und ein
Gewicht erreicht, die keine Balance von Gesellschaft und Umwelt ertra-
gen kann. Dass Umweltkrise und gesellschaftliche Krisen zusammenlaufen
und permanent werden, hängt mit dem monopolistischen Wachstum in
beiden Bereichen zusammen. Beide Krisensysteme speisen einander. In der
Wissenschaft ist man sich mittlerweile einig, dass der Zusammenbruch un-
aufhaltsame Dimensionen annehmen wird, sollte diese Spirale sich noch wei-
tere fünfzig Jahre fortsetzen. Doch wegen ihres blinden und zerstörerischen
384 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Charakters sehen und hören die Kapital- und Machtmonopole dies nicht;
das liegt in ihrem Wesen.
Die noch vergleichsweise junge Geschichte der Umweltwissenschaft und
-bewegung entwickelt sich schnell weiter. Wie bei der Frau, so gilt auch
für die Umwelt: Mit der Wissenschaft entwickelt sich Bewusstsein, mit
dem Bewusstsein entwickelt sich Bewegung. Die Umweltpolitik ist der
Bereich mit der breitesten zivilgesellschaftlichen Bewegung. Mittlerweile
zieht er auch Realsozialist*innen und Anarchist*innen an. Es ist diejenige
Bewegung, deren Systemgegnerschaft am meisten zu spüren ist. Da sie die
gesamte Gesellschaft angeht, hat die Beteiligung eine klassenübergreifende
und transnationale Qualität erreicht. Auch in der ökologischen Bewegung
finden sich deutliche Spuren der liberalen ideologischen Hegemonie. Wie
bei allen gesellschaftlichen Themen ignoriert der Liberalismus auch im öko-
logischen Bereich den strukturellen Kern des Problems und bemüht sich,
Technologien, fossile Brennstoffe und die Konsumgesellschaft als verant-
wortlich darzustellen. Dabei sind all diese Nebenphänomene Produkte des
eigenen Systems (bzw. der Systemlosigkeit) der Moderne. Daher braucht
die ökologistische Bewegung genau wie die feministische Bewegung drin-
gend ideologische Klarheit. Diese Bewegung muss ihre Organisation und
ihre Aktionen aus den engen Straßen der Städte heraus in die gesamte
Gesellschaft, insbesondere die dörflich-agrarische Gesellschaft auf dem Land
verlegen. Die Ökologie ist im Grunde der Aktionsleitfaden des Landes, der
dörflich-agrarischen Gesellschaft, aller Nomad*innen, der Arbeitslosen, der
Frauen.
Diese Tatsachen, die auch die Grundlage der demokratischen Moderne
bilden, zeigen ganz klar, welch bedeutende Rolle die Ökologie in den
Wiederaufbauarbeiten spielen wird.

5. Kulturelle Bewegungen: Die Rache der Tradition am


Nationalstaat
In der gesamten Zivilisationsgeschichte mangelte es niemals an kulturel-
len Bewegungen. Der Grund, warum in der Postmoderne viel von diesen
Bewegungen die Rede ist, liegt in der Auflösung der nationalstaatlichen
Grenzen. Passend wäre auch, die kulturellen Bewegungen als Aufstand
der Tradition zu beschreiben. Im Prozess, in dem der Nationalstaat die
Gesellschaft, die Nation basierend auf einer dominanten Ethnie, Religion,
Konfession oder einem andere Gruppenphänomen homogenisierte, ver-
suchte man viele Traditionen und Kulturen entweder durch Genozid oder
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 385

Assimilation zu vernichten. Tausende Stämme und Völker wurden zusam-


men mit ihren Sprachen, Dialekten und Kulturen nahezu ausgelöscht. Viele
Religionen, Glaubensrichtungen und Sekten wurden verboten, Folklore und
Traditionen assimiliert, und wer nicht assimiliert werden konnte, wurde
vertrieben, marginalisiert, ihr Zusammenhalt zersplittert. Dies bedeutete,
alle historischen Existenzen, Kulturen und Traditionen einem historisch-ge-
sellschaftlich sinnlosen Nationalismus nach dem Motto ›eine Sprache, eine
Fahne, eine Nation, ein Vaterland, ein Staat, eine Hymne, eine Kultur‹
zu opfern, der letztlich der Verschleierung der Konzentration der moder-
nen Handels-, Industrie-, Finanz- und Machtmonopole als Nationalstaat
diente. Dieser Prozess lief rund zweihundert Jahre lang unter Volldampf ab
und bildet vielleicht die längste und gewalttätigste kriegerische Phase der
Geschichte. Die größte Zerstörung richtete er unter den jahrtausendealten
Kulturen und Traditionen an. Der von der Profitgier getriebene, hochgradig
organisierte Monopolismus weinte keiner heiligen Tradition oder Kultur
eine Träne nach.
Als einige als postmodern bezeichnete, unsystematische Bewegungen den
›Panzer des Nationalstaates‹ oder den ›eisernen Käfig‹ der Moderne durch-
stießen, begannen diese der Auslöschung nahen und meist zu einem mar-
ginalen Leben verurteilten Kulturen und Traditionen wieder zu erblühen
und sich zu vermehren wie Blumen nach einem Regen in der Wüste. Auch
der Zerfall des Realsozialismus war dabei ein wichtiger Faktor. Die 1968er
Jugendbewegung war der Funke, der diese Entwicklung zündete. Auch die
noch nicht zum Nationalstaat gewordenen Strömungen und Stufen sämt-
licher nationalen Befreiungsbewegungen, die gegen den kapitalistischen
Kolonialismus Widerstand leisteten, waren ein Faktor. Ohnehin bedeuten
Tradition und Kultur an sich Widerstand. Kulturen und Traditionen wer-
den entweder vernichtet oder überleben, denn zu ihren Charakteristika ge-
hört, dass sie nicht kapitulieren können. Ihr Wesen erfordert, dass sie bei
der nächsten Gelegenheit noch heftiger Widerstand leisten. Diese Tatsache
hatte der Nationalstaats-Faschismus nicht einkalkuliert. Sie zu unterdrü-
cken, sogar sie zu assimilieren, bedeutet nicht ihr Ende. Der Widerstand
von Kulturen erinnert an die Blumen, die ihre Existenz beweisen, indem sie
Felsen durchbohren oder den über sie ausgegossenen Beton der Moderne
durchbrechen und wieder ans Tageslicht treten.
Wir können diese Bewegungen in verschiedene Gruppen einteilen:
386 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

a) Ethnien und Bewegungen der demokratischen Nation


Kulturelle Bewegungen, die der Nationalstaat unterdrückte, aber nicht
vollständig absorbieren konnte, sind zuallererst die Mikronationalismen
ethnischer Gruppen. Diese unterscheiden sich vom Nationalismus des
Nationalstaates. In ihnen überwiegt der demokratische Gehalt. Zu ihren
wichtigsten Zielen gehört nicht das Streben nach einem neuen Staat, son-
dern die Möglichkeit, um ihre Kultur herum zu einer demokratisch-politi-
schen Formation zu werden. Die Formationen, die sie anstreben, unterschei-
den sich von einer regionalen oder lokalen Autonomie. Sie sind nicht örtlich
begrenzt und drücken auch jenseits von Grenzen die Einheit und Solidarität
derer aus, die das gleiche kulturelle Dasein teilen. Zu ihren wichtigen Zielen
gehört auch die Behauptung ihrer Existenz gegenüber einer dominanten
Ethnie.
Die Bewegung, die einen Schritt weiter ist als verschiedene unterdrückte
Ethnien oder Völker, als ›Bewegung der Demokratischen Nation‹ zu be-
zeichnen, ist aus soziologischer Sicht durchaus richtig und sinnvoll. Es ist
ziemlich schwierig, sich lediglich als unterdrückte Ethnie auf den Beinen zu
halten und die eigene Existenz fortzusetzen. Die Bewegung von Kulturen
mit ähnlichen Sprachen und Dialekten, die ein geografisches Gebiet und
politische Grenzen teilen, müssen wir aus mehreren Gründen als ›Bewegung
der Demokratischen Nation‹ charakterisieren. Erstens streben sie nicht
nach einem separaten Staat, sondern nach einer demokratischen politischen
Formation und Regierung. In Form demokratischer politischer Formationen
unter dem Dach desselben Staates zu leben ist eine politische Existenzform,
die uns in der Geschichte äußerst häufig begegnet. Die Geschichte ist
geradezu voll von politischen Formationen verschiedener kultureller
Gruppen. Die normale Regierungsform war die Existenz beliebiger poli-
tischer Formationen innerhalb der Grenzen jedes Staates oder Imperiums.
Anormal war, diese politischen Formationen zu ignorieren oder zu un-
terdrücken. Assimilation hingegen war eine kaum angewandte Methode.
Das Römische, das Byzantinische und das Osmanische Reich genauso wie
das persische Sassanidenreich und das arabische Abbasidenreich hatten
die Hunderten von unterschiedlichen politisch-administrativen Einheiten
als ihre Existenzberechtigung betrachtet. Es genügte, die Legitimität des
Kaisers oder Sultans anzuerkennen. Ein Leben unter Wahrung von Sprache,
Religion, Folklore und Selbstverwaltung war die Normalität. Doch das
Ungeheuer Nationalstaat (der Leviathan) zerstörte diese Ordnung, was auch
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 387

zur Grundlage für den Faschismus wurde. Das Ergebnis war eine Vielzahl
von kulturellen und physischen Genoziden.
Das Recht unterdrückter Ethnien oder Völker darauf, Nation zu sein,
einzig als Recht auf Gründung eines Nationalstaats zu interpretieren, wie es
sowohl der Liberalismus als auch der Realsozialismus taten, war eine grobe
Verzerrung und ein Desaster. Diese Situation war Folge des faschistischen
Nationalismus und des Totalitarismus. Der richtige, menschliche und der
gesellschaftlichen Natur gemäße Weg war, eine normale Nationenbildung
nicht auf Grenzen zu beschränken, sondern sie auf der Grundlage von
Kultur und Prinzipien demokratischer Führung aufzubauen. Auch die histo-
rischen Tatsachen verwiesen eher auf diesen Weg. Der wichtigste Faktor, der
diesen Weg versperrte, war das Streben des monopolistischen Kapitals nach
schneller Kapitalakkumulation und Maximalprofit. Während der anormale
Weg der Nationwerdung als Nationalstaat zum normalen Weg wurde, wurde
der normale Weg der demokratischen Nationwerdung als anormaler Weg
aufgefasst und sogar vollständig ignoriert. Darin lag die große Verzerrung.
Als vielgestaltige Sackgassen des Nationalstaates auftauchten (Welt- und
Regionalkriege, blutige nationale Konflikte, Behinderung des Kapitals durch
nationale Grenzen), begann eine starke Hinwendung zum normalen Weg,
zur demokratischen Nationwerdung. Was wir in Europa seit dem Zweiten
Weltkrieg beobachten, ist eigentlich die Transformation weg vom National-
Etatismus und hin zum demokratischen Nationalismus. Den USA gelang es
ohnehin stets, sich als Nation demokratischer Nationen zu erhalten. Trotz
vieler national-etatistischer Verzerrungen existierten in der UdSSR National-
Etatismus und demokratische Nation ineinander verschränkt. In Indien gibt
es starke Tendenzen der demokratischen Nation. In Afrika und Südamerika
überwogen immer demokratisch-nationale Tendenzen. Die ganz wenigen
starren Nationalstaaten sind auf wenige Gebiete begrenzt, darunter vor al-
lem der Nahe Osten. Und hier befinden sie sich in einem Prozess rapiden
Zerfalls.
Zweitens: Wenn keine machtzentrierte und etatistische Nationenbildung
zugrundegelegt werden sollte, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder muss-
te die Modernisierung auf der Grundlage von einigen aus dem Mittelalter
übriggebliebenen Institutionen (Aghatum, Scheichtum, Bruderschaften,
Stammesführer) und kollaborierenden Handlangerregierungen weitergeführt
werden, die überwiegend auf Familieninteressen beruhen, oder demokrati-
sche Leitungen mussten entwickelt werden. Der erste Weg war die moderni-
sierte Version des aus der Geschichte wohlbekannten Kollaborateurswesens.
388 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Der zweite Weg jedoch war der Weg, der das eigentliche Ziel der demo-
kratischen Moderne bildet. Die Führung des Widerstandes gegen den
Nationalstaat und seine Kollaborateur*innen kann nur demokratisch sein.
Dies war der solideste freiheitliche und egalitäre Weg zur demokratischen
Nation.
Drittens: Auch die plurale Struktur von Kulturen, Sprachen und
Dialekten drängte zu einer demokratischen Nationwerdung. Es widersprach
ihrer Essenz, wie im Nationalstaat die Herrschaft der Sprache, des Dialekts
und der Kultur der vorherrschenden Ethnie zugrundezulegen. Die einzige
Option war, eine Nation mit vielen Sprachen, Kulturen und politischen
Strukturen zu werden. Dies bedeutete natürlich eine demokratische Nation.
Möglich war auch der Weg, aus mehreren demokratischen Nationen zu ei-
ner einzigen demokratischen Nation zu werden. In Spanien, Indien, der von
manchen ungeliebten Republik Südafrika, selbst in Indonesien und vielen
Ländern Afrikas fanden ähnliche Entwicklungen statt. Die USA und selbst
die EU lassen sich in gewisser Hinsicht als Nation demokratischer Nationen
definieren. Ein ähnliches, wichtiges Beispiel ist die Russische Föderation.
Viertens: Wenn wirtschaftliche, soziale, politische, geistige, linguisti-
sche, religiöse und kulturelle Unterschiede stärker bewahrt werden sollen,
so ist unmittelbar einleuchtend, dass der Weg dahin über die demokrati-
sche Nation führt. Jede Unterschiedlichkeit in eine Trennung zu verwan-
deln, bedeutet für alle einen Verlust. Dabei sollte die geeignetste Form des
Idealzustandes für alle, der ›Einheit in Vielfalt‹, die demokratische Nation
sein. Schon allein dieses Lösungspotenzial reicht aus, um die enorme
Lösungskraft der Bewegung der demokratischen Nation und ihre struktu-
relle Alternative zum Nationalstaat zu erklären.
Der Nationalstaat befindet sich in einer Sackgasse und ist eingezwängt
zwischen globalen Kapitalbewegungen von oben und Bewegungen für städ-
tische, lokale und regionale Autonomien, Bewegungen der demokratischen
Nation und religiösen Bewegungen von unten. Das daraus entstehende
Chaos bietet die Chance zur Entstehung neuer Systeme. Dafür gibt es be-
reits eine Reihe von Hinweisen.
Während der Liberalismus einerseits versucht, die klassische
Nationalstaatsideologie zu überwinden und neu zu konstruieren, bemüht er
sich andererseits sehr, dies unter der Maske der Förderung der Demokratie
zu tun. Starre Verfechter*innen des Nationalstaats kämpfen auf so konser-
vative und reaktionäre Weise, dass sie die früheren Konservativen hinter
sich lassen. Diese Kräfte nehmen heute quasi die Position der wirklichen
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 389

Konservativen ein. Die Vertreter*innen religiöser Ideologien hingegen be-


finden sich auf ihrer traditionellen Suche nach der Umma. Es ist sehr wahr-
scheinlich, dass sie den Modernismus in religiösem Gewand verwirklichen
und eine religionsbasierten Nationalstaatlichkeit errichten. Der Iran liefert
hierbei ein lehrreiches Beispiel.
Die Option der demokratischen Nationwerdung verspricht eine Zukunft,
da sie ein hohes Potenzial für die Lösung der komplizierten ideologischen
und strukturellen Probleme von heute besitzt. In dieser Hinsicht beein-
druckt besonders der Weg, den die EU eingeschlagen hat. Für die demo-
kratische Moderne ist es äußerst wichtig, sowohl in ideologischer als auch
struktureller Hinsicht die Option der demokratischen Nation als eine ih-
rer wesentlichen Dimensionen zu behandeln. Dieser Ansatz bietet für die
Zivilisation sowohl einen Beitrag als auch die Chance auf Befreiung. Die
Bemühungen zum Wiederaufbau der demokratischen Moderne, die über
Projekte der demokratischen Nation führen, bieten für die Lösung der we-
sentlichen Gesellschafts- und Umweltprobleme die größte Hoffnung.

b) Religiös-kulturelle Bewegungen: Belebung der religiösen


Tradition
Wie im Falle der Ethnizität beobachten wir ein Wiederaufleben auch der
religiösen Traditionen, welche die Moderne und besonders der Nationalstaat
mithilfe des Laizismuskonzeptes zu kolonialisieren versuchten. Zweifellos
handelt es sich dabei nicht um ein Wiederaufleben auf dem Niveau der
Funktion, welche die religiöse Tradition früher für die Gesellschaft besaß;
die Rückkehr in Form sowohl radikaler Elemente als auch eines modera-
ten Flügels erfolgt vielmehr unter dem Eindruck der offiziellen Moderne
und unter erfolgter Aneignung vieler ihrer Eigenschaften. Eigentlich ist das
Thema noch etwas komplexer. Zwar wird der Laizismus so definiert, dass
sich die Religion vollständig aus dem weltlichen Leben, insbesondere aus
den staatlichen Angelegenheiten zurückzieht, doch bleibt er eigentlich ein
vager Begriff. Wie gesagt ist weder der Laizismus vollständig weltlich, noch
lässt sich der Staat vollständig von der Religion trennen. Noch wichtiger
ist aber, dass Religionen niemals das jenseitige Leben ordnen. Eigentlich
ordnen sie die weltlichen und gesellschaftlichen Funktionen, insbesondere
die von Staat und Macht.
Der Laizismus ist eine Art (freimaurerische) Konfession, die ent­
wickelt wurde, um die Hegemonie der katholischen Welt zu brechen.
Freimaurerlogen wurden zuerst im Mittelalter von Steinmetzen gegründet,
390 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

darunter auch jüdische. Der Laizismus hat sich einerseits in Zusammenhang


mit den positiven Wissenschaften entwickelt, doch ist er zweifellos eine
Ableitung aus dem rabbinischen Element der jüdischen Ideologie. Ohne
dies zu verstehen, können wir weder den Laizismus noch die durch ihn
ausgelösten Probleme verstehen. Er trägt mindestens ebenso sehr wie an-
dere religiöse Traditionen rabbinische Elemente (göttlich; rabb bedeutet
im Hebräischen ›Meister‹). Doch diese Tatsache musste im Geheimen und
gut verpackt konstruiert werden. Die gnadenlose Repression des mittelal-
terlichen Katholizismus machten derartige Methoden nötig. Die Laizisten,
die mit der Holländischen und der Englischen Revolution einen Vorstoß
machten, zogen daraus einen größeren Gewinn als aus der Französischen
Revolution. Mit dem Aufbau des Nationalstaates organisierten sie sich als
den Teil des Staatskerns, der am schwierigsten zu erreichen, zu erkennen und
von der Macht zu verdrängen ist. Diese Dominanz führen sie seit damals bis
heute fort. Dies ist ein Aspekt des als ›tiefer Staat‹ bekannten Phänomens.
Die mittlerweile mehr als zweihundert Nationalstaaten sind so freimau-
rerisch, wie sie laizistisch sind. Freimaurer sind die grundlegende Kraft
der ideologischen Hegemonie der kapitalistischen Moderne. Ihr Einfluss
ist global, und sie verfestigen ihn weiter. Weitere Bereiche, in denen sie
Einfluss besitzen, sind eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen,
die an der strategischen Ausrichtung der Welt maßgeblich beteiligt sind,
wie Medienmonopole und das Lehrpersonal von Universitäten. Sie sind die
Vordenker und Kontrolleure der Moderne, die sie ›säkulare Welt‹ nennen.
Ihre Funktion, die sie weltlich oder säkular nennen, spielt sich in diesem
Rahmen ab.
Je mehr vor allem der Katholizismus, der sunnitische Islam und ande-
re starre religiöse Traditionen durch Einwirkung der Moderne abgeschlif-
fen werden, desto mehr verliert der Laizismus als Ideologie und politi-
sches Programm an Bedeutung. Der erneute Aufschwung traditioneller
Religionen, insbesondere in Gesellschaften unter starkem Einfluss der isla-
mischen Tradition, haben die Diskussion über das Verhältnis von Laizismus
und Religion neu entfacht. Diese Entwicklungen hängen mit dem ideologi-
schen und politischen Machtkampf zwischen dem Nationalstaat und dem
Konzept der Umma104 zusammen. Daher ist es falsch, es so darzustellen, als
ginge es nur um die moderne Lebensweise. Ein ähnlicher Kampf wie zwi-
schen Christentum und Judentum findet nun zwischen der islamischen Welt

104 Als umma wird die weltweite Gemeinschaft der Muslime bezeichnet.
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 391

und dem Judentum statt. Diese Tatsache liegt den großen Konflikten im
Nahen Osten zugrunde. Man will eine Art Arrangement zwischen Judentum
und Islam verwirklichen, nach Art Europas und der USA. Radikale Elemente
stellen sich gegen Kompromisse und suchen den Konflikt, während gemä-
ßigte Elemente einem Arrangement näher zu stehen scheinen.
Und doch sollten wir uns davor hüten, den Aufschwung der traditionellen
religiösen Kultur ausschließlich als reaktionären Spuk zu betrachten. In dem
Maße, wie er gegen Moderne und Nationalstaatsideologie revoltiert, trägt er
demokratische Inhalte. Auch dürfen wir nicht übersehen, dass er einen star-
ken moralischen Zug repräsentiert. Sich intensiv mit diesen Entwicklungen
in der religiösen Tradition – einer der Kulturen, die die Moderne stark
manipuliert und kolonialisiert hat – zu befassen, ist für die demokratische
Moderne wichtig. Einen ähnlichen Aufschwung finden wir in jeder unter-
drückten kulturellen und religiösen Tradition. Das Thema ist global, daher
handelt es sich nicht nur um einen Disput zwischen Islam und Judentum,
sondern es betrifft Vorgänge, die sich in globalen Dimensionen abspielen.
Im Rahmen einer demokratischen Nation ist es möglich, verschiede-
ne ethnische Kulturen am gleichen Ort zusammenzuhalten, und genauso
ist es möglich, innerhalb einer demokratischen Nation den demokrati-
schen Gehalt der religiösen Kultur als gleiches, freies und demokratisches
Element zu betrachten und ihn zum Teil einer Lösung zu machen. Das
ist sogar ziemlich wichtig. Es gehört zu den lebenswichtigen Aufgaben für
den Wiederaufbau der demokratischen Moderne, den konsensorientierten
Bündnisansatz, den sie mit allen systemgegnerischen Bewegungen verfolgt,
auch auf eine religiöse Kultur mit demokratischem Inhalt anzuwenden.

c) Städtische, lokale und regionale Autonomiebewegungen


Zu den weiteren bedeutenden kulturellen Traditionen, die dem National-
Etatismus zum Opfer fielen, gehören autonome Verwaltungen auf der Ebene
von Städten, Orten oder Regionen, die zu allen Zeiten in großer Zahl exis-
tierten. In sämtlichen gesellschaftlichen und staatlichen Administrationen
gab es stets die Autonomie und die eigenen Regierungen von Städten,
Kreisen und Regionen. Ohnehin wäre es anders nicht möglich, große Staaten
und Imperien zu regieren. Der starre Zentralismus, im Grunde der monopo-
listische Charakter der Moderne, ist eine Krankheit des Nationalstaates. Er
wurde als eine Notwendigkeit des Gesetzes des Maximalprofits verhängt, so
organisiert, dass die Bürokraten der tumorartig wuchernden Mittelklassen-
Bourgeoisie an die Macht kamen, und als ein Modell weiterentwickelt,
392 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

das nicht eines, sondern Tausende Königreiche errichtet und nur durch
Faschismus funktionieren kann.
Als sich kulturelle Bewegungen entwickelten, die zum Zerfall der klassi-
schen Moderne beitrugen und von denen die meisten liberal und postmo-
dern waren, einige aber auch einen radikalen Bruch vollzogen, da hatten
Bewegungen für städtische, lokale und regionale Autonomie den größten
Anteil daran. Eigentlich handelt es sich um eine Rückkehr zu den und eine
Wiederbelebung der Kulturen, die zu allen Zeiten stark waren und auch po-
litische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen besaßen. Sie zählen zu den
Bewegungen, die große historisch-gesellschaftliche Bedeutung besitzen und
besitzen müssen. Ohne Befreiung der Stadt, des Lokalen und der Region
ist eine Befreiung von der Krankheit des Nationalstaates unmöglich. Am
besten haben dies die Mitglieder der EU verstanden und umgesetzt. Sowohl
die vierhundertjährigen Barbareien im Namen der Moderne als auch die
schweren Verwüstungen des Ersten und der Zweiten Weltkriegs haben der
europäischen Kultur eine ausreichende Lektion erteilt. Nicht zufällig gehör-
ten zu den ersten Maßnahmen, welche die EU umsetzte, städtische, lokale
und regionale Autonomiegesetze; sie hat schließlich ein Verständnis dafür
entwickelt, welch genozidale Auswirkungen der Nationaletatismus für sämt-
liche nationale und kulturelle Entitäten besitzt.
Die Anstrengungen, die heute in der Europäischen Union im Rahmen
städtischer, lokaler und regionaler Kulturen unternommen werden, gehö-
ren zu den wichtigsten Elementen für eine Lösung aller globalen Probleme.
Dies sind zwar keine radikalen, aber wichtige und notwendige kulturelle
Bewegungen. Ohnehin haben sich viele städtische, lokale und regionale
Autonomien ihre Lebendigkeit erhalten, weil Zentralregierungen auf kei-
nem Kontinent vollständig Homogenität erzwingen und durchsetzen konn-
ten. Von der Russischen Föderation bis nach China und Indien, vom gesam-
ten amerikanischen Kontinent (die USA sind ein föderaler Staat, in Kanada
wird weitgehende Autonomie praktiziert, Südamerika kennt ohnehin signi-
fikante lokale Autonomien) bis zu vielen Ländern in Afrika (in Afrika lassen
sich Staaten ohne traditionelle Stammes- und Regionalführungen weder bil-
den noch regieren) gehören Autonomien und Bemühungen um Autonomie
zu den aktivsten und aktuellsten Themen. Der starre Zentralismus, eine
Krankheit des nationalstaatlichen Denkens, kommt nur in einer begrenzten
Zahl von nahöstlichen Staaten und anderen Diktaturen zur Anwendung.
Der starre Nationalstaat der klassischen Moderne wird von oben durch
das globale Kapital, von unten durch kulturelle Bewegungen bedrängt und
Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne 393

befindet sich so in einer Klemme und erlebt einen Zerfall. Man versucht vor
allem, ihn durch städtische, lokale und regionale Autonomieregierungen zu
ersetzen. Diese Tendenz, die gegenwärtig langsam stärker wird, muss sich
verschränkt mit der Bewegung für die demokratische Nation entwickeln.
Bezüglich der Form ihrer Führung ist die demokratische Nation sehr nah
am Konföderalismus. Der Konföderalismus ist gewissermaßen die politi-
sche Regierungsform demokratischer Nationen. Eine starke Stadt kann nur
durch lokale und regionale autonome Regierungen entstehen. Was die Form
der Regierung angeht, sind beide Bewegungen identisch und greifen inein-
ander. Demokratische Nationwerdung und demokratische Nationen kön-
nen ohne städtische, lokale und regionale Autonomien keine Führungskraft
entwickeln. Entweder versinken sie im Chaos und fallen auseinander,
oder sie werden durch ein neues Modell des Nationaletatismus überwun-
den. Damit beides nicht geschieht, muss die Bewegung für eine demokra-
tische Nation auf jeden Fall städtische, lokale und regionale Autonomien
entwickeln. Auf der anderen Seite müssen städtische, lokale und regionale
Autonomieregierungen, um nicht geschluckt zu werden und ihre wirtschaft-
liche, soziale und politische Kraft vollständig nutzen zu können, sich mit der
demokratisch-nationalen Bewegung zur demokratischen Nation ergänzen.
Beide Bewegungen können die extrem zentralistischen Monopolkräfte, die
der National-Etatismus für sie ständig bereithält und durchzusetzen versucht,
nur durch Gründung einer soliden Allianz überwinden. Andernfalls werden
beide Bewegungen, wie schon so oft, nicht verhindern können, unter der
Drohung der erneuten Homogenisierung liquidiert und absorbiert zu wer-
den. So, wie im neunzehnten Jahrhundert die historischen Bedingungen den
National-Etatismus begünstigten, so begünstigen die heutigen Bedingungen
und die Gegebenheiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts demokratische
Nationen und auf allen Ebenen gestärkte städtische, lokale und regionale
autonome Regierungen.
Natürlich müssen wir sehr vorsichtig sein, damit der Liberalismus d­ iese
positiven Demokratisierungstendenzen nicht wie schon so oft unter sei-
ner ideologischen und materiellen Hegemonie korrumpiert und absor-
biert. Wichtigste strategische Aufgabe der demokratischen Moderne ist
es deshalb, wie alle Systemgegner*innen auch die Strömung der histori-
schen Gesellschaft, die sich in städtischen, lokalen und regionalen politi-
schen Gebilden ausdrückt, in einer neuen ideologischen und politischen
Struktur einander ergänzend zusammenzuführen. In diesem Sinne muss sie
umfassende theoretische Anstrengungen und den Aufbau von Programm,
394 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Organisations- und Aktionsstrukturen ineinander verschränkt leisten. Die


Bedingungen dafür, dass sich das Schicksal der in der Mitte des neunzehn-
ten Jahrhunderts durch den National-Etatismus zerstörten konföderalen
Strukturen im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht wiederholt, sondern
um es im Gegenteil in einen Sieg des demokratischen Konföderalismus zu
verwandeln, sind recht vielversprechend. Damit wir aus der langen und kon-
tinuierlichen Depression in der finanzkapitalistischen Phase der Moderne,
die nur noch durch ein Krisenregime am Leben gehalten und fortgesetzt
werden kann, mit einem Sieg der demokratischen Moderne herauskommen,
ist es von vitaler Bedeutung, bei ihrem Wiederaufbau die intellektuellen,
politischen und moralischen Aufgaben erfolgreich zu meistern.
Achter Teil

Aufgaben beim Wiederaufbau der


demokratischen Moderne
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 399

Mit meinen Interpretationen zum Thema demokratische Moderne will


ich weder das Andenken an ein vergangenes ›goldenes Zeitalter‹ beleben,
noch eine neue ›Utopie‹ für die Zukunft skizzieren. Beides finde ich es nicht
sinnvoll, demonstrativ zu entwerfen. Das Denken von Gesellschaften kreist
viel um solche Erinnerungen und Utopien, doch handelt es sich dabei um
Erklärungen und Erzählungen, die nicht viel zur Realität der moralischen
und politischen Gesellschaft beitragen, die ich eigentlich interpretieren will.
Wir müssen uns allerdings mit ihnen befassen und auf einige Erzählungen
auch besonders eingehen. Dabei dürfen wir ihre Beiträge nicht leugnen,
müssen uns aber auch ihrer Nachteile bewusst sein, wenn wir sie zum
Gegenstand von Erzählungen machen.
Daher ist der Begriff der demokratischen Moderne weder eine Erzählung
über ein ›goldenes Zeitalter‹ noch eine ›paradiesische Utopie‹ für die Zukunft.
Er ist auch kein historisches Zeitalter und keine Gesellschaftsformation, in
welche die positivistische Wissenschaft die Geschichte oft eingeteilt hat.
Derartige Erzählungen über Geschichte und Gesellschaft, egal, ob sie über
metaphysische oder positivistische Methoden funktionieren, verwende ich
nicht als Methode. Stattdessen muss ich zumindest für mich feststellen, dass
sie einander ähnliche Ergebnisse produzieren und ihre Interpretationen der
Wirklichkeit und der Wahrheit entgegen ihren Ansprüchen inkohärent sind.
Zum Denken finde ich die Erfahrungen des historischen Materials absolut
notwendig. Und nicht nur das historische Material, sondern auch das na-
türliche Material und seine Erfahrungen halte ich für notwendig. Dabei
verfolge ich keinen typisch empiristischen Ansatz. Ich verfolge auch keinen
gegenläufigen Ansatz, ähnlich dem der Idealist*innen, die behaupten, unab-
hängig vom natürlichen und historischen Material und deren Erfahrungen
Gedanken produzieren zu können. Ich weiß, dass in der Geschichte der
Zivilisation mit diesen Methoden ein riesiger Korpus geschaffen wurde.
Zwar glaube ich auch, dass man dessen gewahr sein muss, doch gleichzeitig
bin ich überzeugt, dass all dies für eine Interpretation der Wahrheit nicht
unverzichtbar ist. Ich will sagen, dass wir die Wahrheit auch ohne sie inter-
pretieren können. Besonders die Lage der positivistischen Forschungsschule,
die in der Fülle des historischen Materials erstickt, finde ich ärmlich und be-
mitleidenswert. Genauso wenig glaube ich, dass es viel mit der Wahrheit zu
tun hat, ohne Bezug auf irgendwelches Material von unsichtbaren Dingen
zu sprechen, wie Scheichs, die exklusiven Kontakt zu höheren Mächten be-
haupten. Auch diese Leute leben in einer bemitleidenswerten, elenden Lage.
400 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Doch es reicht nicht aus, nur empiristische und idealistische Ansätze zu kri-
tisieren. Auch an die Methoden des universalen, linearen Fortschrittsdenkens
und des Relativismus, die beide derartige Methoden in anderer Form darstel-
len, sollten wir kritisch herangehen. Im Allgemeinen kann die Wahrheit we-
der mit der linear-progressivistischen noch mit der relativistischen Methode
konstruiert oder entdeckt werden. Zweifellos bietet das hohe Niveau der
flexiblen Intelligenz der gesellschaftlichen Natur eine weite Freiheitssoption
bei der Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Doch bedeutet
dies nicht, wie die Vertreter*innen der relativistischen Methode behaupten,
dass ›alle ihre eigene Wirklichkeit konstruieren können‹, wie sie gerade wol-
len. Ebenfalls bedeutet es nicht, wie Idealist*innen meinen, dass ›alles auf
der wohlverwahrten Tafel (lauḥ maḥfūẓ) aufgeschrieben ist und zu seiner
Zeit geschieht‹. Gesellschaftliche Realitäten (gesellschaftliche Naturen vom
Klan bis zur Nation, Klassen, Staat usw.) unter gegebenen zeitlichen und
örtlichen Bedingungen mit dem gegebenen gesellschaftlichen Material mit
neuen Ideen als neue Realitäten zu konstruieren, erscheint als der Weg und
die realistischste Methode des Denkens oder kann als solche angenommen
werden.
Auch wenn ich mich wiederhole: Ich versuche zu erklären, dass die
Methode unbedingt auf der gesellschaftlichen Natur und besonders auf
der moralischen und politischen Gesellschaft beruhen muss, von der ich
mit Sicherheit glaube, dass sie die grundlegende Existenzform dieser Natur
bildet. Ich versuche klarzumachen, dass sämtliche Denkschulen und wis-
senschaftliche, philosophische und künstlerische Strömungen, die kei-
ne Verbindung zur moralischen und politischen Gesellschaft aufweisen,
Geburtsfehler aufweisen und früher oder später zu Problemen führen wer-
den. Für mich ist die erste Bedingung, an die sich alle Methoden und alles
Wissen halten müssen, dass ihre ethischen und ästhetischen Produkte abso-
lut auf der moralischen und politischen Gesellschaft beruhen müssen. Ich
möchte darauf aufmerksam machen, dass sämtliche Methoden, alles Wissen,
alle Ethik und Ästhetik, die außerhalb dieser obersten Bedingung entstehen,
nicht vertrauenswürdig, sondern verkrüppelt, voller Fehler, Hässlichkeiten
und Schlechtigkeiten sein müssen. Ich unterstreiche dabei, dass dies nicht
nur meine persönliche Überzeugung und Meinung ist, sondern den Rang
einer Grundnorm auf dem Weg zur Wahrheit besitzt.
Ich habe meine Methode zur Herangehensweise an die demokratische
Moderne noch einmal dargelegt. In meinen bisherigen Analysen habe ich
einen Ansatz mit zwei Richtungen verfolgt. Erstens habe ich beharrlich
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 401

versucht, darzulegen, dass sich das Zivilisationssystem entwickelt, indem


es die moralische und politische Gesellschaft, die gegebene Form der gesell-
schaftlichen Natur, ständig erodiert, ausnutzt und darüber Ausbeutungs-
und Machtmonopole errichtet. Dieser Punkt ist besonders wichtig und muss
unbedingt verstanden werden; die dafür nötigen Analysen sind zu leisten.
Das habe ich getan. Unter den mir gegebenen Bedingungen habe ich das
begrenzt verfügbare Material benutzt, damit verwoben den unverzichtbaren
Weg der Wahrheit – das (eigene) Leben – interpretiert und so versucht, das
Zivilisationssystem zu analysieren. Es war dafür, so glaube ich, nicht unbe-
dingt notwendig, sehr große Mengen von Material zu präsentieren. Es be-
stand die Gefahr, alles in einer Flut von Details zu ertränken. Doch habe ich
mit einer Reihe von Daten belegt, dass dies nicht ganz ohne Material geht.
Das Ergebnis war folgendes: Die riesigen Zivilisationen historischer Zeiten
– gegen wen wurden sie gemäß der Dialektik entwickelt? Mit wem, wo und
wie hatten sie Beziehungen und Widersprüche imaginiert? Mit meinem
Minimum an Material und Interpretationsfähigkeit habe ich mich nicht
gescheut, für die Gesamtheit der Kräfte, die zur Zivilisation in Beziehung
oder Gegnerschaft stehen, die Vokabel demos zu benutzen und sie mit dem
bekannten kratia für Regierung zusammenzufügen zur oft verwendeten
und in der intellektuellen Welt verbreiteten Form ›Demoskratia‹. Zweifellos
umfasst die ›Demoskratia‹, die Demokratie, nicht sämtliche Einheiten
der moralischen und politischen Gesellschaft. Vielleicht entspricht sie ge-
nau der ›Stammeskonföderation‹, wie sie eine Zeitlang in Ionien existierte.
Insofern mag sie untere, obere und weitere andere moralische und politische
Einheiten nicht umfassen; tatsächlich umfasst sie sie nicht. Da ich dennoch
glaube, dass dieses Wort von den verfügbaren momentan das passendste
ist, habe ich mich nicht gescheut, es zu verwenden. Wenn in Zukunft eine
passendere Terminologie entwickelt wird, werde ich zweifellos nicht zögern,
sie zu verwenden. Wichtig ist der Inhalt und was wir meinen, wenn wir von
Inhalt sprechen.
Das zweite Wort, die ›Moderne‹, müssen wir nicht weiter erklären. Wie
schon oft erwähnt, bezeichnen die Modernen tatsächlich erlebte Zeit­
abschnitte, Zeitalter oder Zeiträume mit bestimmten Normen. So viele
Zeitalter der Zivilisation es also gibt, so viele, sogar ein Vielfaches mehr
Demoskratien, demokratische Modernen gibt es. Denn es gibt viele morali-
sche und politische Gesellschaftseinheiten, die die Zivilisationssysteme nicht
vollständig erreichen und unter ihr Ausbeutungs- und Machtmonopol brin-
gen können, die ich als demokratische Moderne interpretieren kann. Die
402 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Geschichte bietet zu diesem Thema reichlich Material. Ich habe versucht,


einen winzigen Teil davon beispielhaft zu behandeln.
Ein zweiter wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass die als
jeweilige demokratische Moderne bezeichneten ideologischen und materi-
ellen Kulturen sich nicht so stark wie die Zivilisationssysteme organisierten
oder organisieren konnten. Weil Zivilisationen täglich ihre monopolisti-
schen Ausbeutungs- und Machtapparate arbeiten lassen müssen, sind sie
notwendigerweise sowohl ideologisch bestens ausgestattet und hochgradig
organisiert, als auch in ihren materiellen Strukturen geeint und stets ak-
tiv. Historisches Material dazu ist reichlich vorhanden. Wer möchte, kann
beliebig viel finden. Die Einheiten der demokratischen Moderne hinge-
gen sind nicht in derselben Situation. Genauer gesagt, können sie nicht
dieselbe ideologische und materielle strukturelle Systematik besitzen, da
sie sich ständig zwischen Widerstand und Kolonialisiertwerden bewegen
sowie unabhängige Einheiten in entlegenen Gebieten, auf Bergen und in
Wüsten kaum entwickelt sind. Ich will nicht sagen, dass sie überhaupt kein
System, keine Ideologie und Struktur entwickeln können. Zweifellos bie-
tet die Geschichte auch viele Beispiele für ideologisch und materiell rei-
che Strukturen und Kulturen. Zwar sind diese aufgrund der ideologischen
Hegemonie der Zivilisation nicht so präsent, doch dürfen wir nicht zweifeln,
dass die Geschichte in dieser Hinsicht sehr vielfältiges Datenmaterial liefert.
Beide Stränge der Zivilisation, die sich bis heute fortsetzen (etatis-
tische Zivilisation und demokratische Zivilisation) habe ich in ihren
Grundzügen nachzuzeichnen versucht. Ich bin überzeugt, dass ich trotz
der Skizzenhaftigkeit und Unzulänglichkeiten in meinen Analysen die
Hauptströmungen wiedergegeben haben. Man wird bemerken, dass ich
insbesondere die als kapitalistisch bezeichnete Moderne umfassend zu ana-
lysieren versucht habe. Andererseits lässt sich sehen, dass ich die Gegenpole
derselben Ära der Moderne noch ausführlicher und zusammen mit be-
stimmten Kritiken dargelegt habe. Aus diesen Kritiken muss folgen, dass
die demokratische Moderne offenbar vor der Aufgabe steht, sich neu aufzu-
richten. Wir müssen wissen, dass die vom Liberalismus angeführten Kräfte
der kapitalistischen Moderne, ob sie sich erneuern oder nicht, ziemlich
geschickt und erfahren darin sind, sich in jeglichem Gewand zu präsen-
tieren. Das Gleiche können wir jedoch von den Kräften der demokrati-
schen Moderne nicht behaupten. Egal, ob wir ihre historischen Erfahrungen
oder ihre Handlungsweisen in der jüngeren Vergangenheit gegenüber dem
Liberalismus betrachten, können wir deutlich verfolgen, wie sie ideologisch
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 403

zerrüttet wurden und dadurch ihre Klarheit verloren. Die Aufgaben beim
Wiederaufbau der Einheiten der demokratischen Moderne zu klären, ist
wichtig, um nach Möglichkeit nicht erneut in eine solche Lage zu verfallen,
zumindest aber die vielen tragischen Situationen der jüngeren Vergangenheit
nicht noch einmal zuzulassen.
Mit ›Einheit‹ meine ich sämtliche Gemeinschaften, Individuen und
Bewegungen, die mehr oder weniger wissen, dass sie in Gegnerschaft zum
System stehen und so leben. Diese Existenzen bilden die überwältigende
Mehrheit der gesellschaftlichen Natur, stellen aber leider jeweils eine qua-
litative Kraft dar, die weit, weit hinter ihrer zahlenmäßigen Stärke zurück-
bleibt. Der Wiederaufbau sollte sich zuerst zum Ziel machen, die quantita-
tive Überlegenheit in eine qualitative Kraft zu verwandeln. Wenn wir uns
vor Augen führen, wie umfassend und ineinander verschränkt die Handels-,
Industrie-, Finanz-, Ideologie-, Macht- und Nationalstaatsmonopole im
globalen Maßstab sind, und keinen Augenblick lang vergessen, wie trick-
reich und vernichtend sie sich ihren Zielen gegenüber verhalten, so sehen
wir, welch klare und unaufschiebbare Aufgabe es angesichts des riesigen
Ungleichgewichts ist, die Einheiten der demokratischen Moderne wieder
aufzubauen und sie zu einer Kraft zu machen, die ihrer Multitude ent-
spricht. Diese Aufgaben können wir unter drei Überschriften auflisten.
Diese drei Gruppen von Aufgaben hängen eng miteinander zusammen und
besitzen eine intellektuelle, eine moralische und eine politische Dimension.
Die engen Verbindungen zwischen ihnen beseitigen jedoch nicht die
Notwendigkeit, institutionell absolut unabhängig voneinander zu sein.
Im Gegenteil, jeder Bereich musste, muss und wird auch in Zukunft seine
Unabhängigkeit bewahren müssen. Andernfalls können sie ihre Funktionen
nicht angemessen erfüllen. Die Institutionen betreffs dieser Bereiche und
ihre Funktionen zu klären, die sich in der Vergangenheit stark vermischt
haben, und zu ordnen, wie sie kooperieren können, gehört zu den Dingen,
die noch zu lösen sind.
Insofern mag es erhellend sein, geschichtliche Prozesse anhand einiger
Beispiele zu erläutern. In Stammeseinheiten werden intellektuelle, moralische
und politische Aufgaben im Allgemeinen gemeinsam erfüllt. Differenzierung
und Spezialisierung sind noch wenig ausgeprägt. Stammeskonföderationen
betreffen überwiegend politische Aufgaben. Während die moralische
Tradition von der Erfahrung der Alten repräsentiert wird, vertreten die
Institutionen des Schamanismus, des Scheichtums oder des Priestertums
eher das Intellektuelle, das Denken. Während der langen Zeit, in der sich die
404 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

moralische und die politische Dimension der abrahamitischen Religionen


ausweitete, institutionalisierten sich alle drei Aufgaben in gewissem Maße.
Im Islam übernimmt die Medresse eher die Rolle der intellektuellen
Institution; die Moschee ist die moralische Institution, das Sultanat füllt
die Rolle der politischen Institution aus. Die enge Verschränkung der drei
verhinderte jedoch kreative Entwicklungen. Damit hängt zusammen, dass es
ihnen nicht gelang, sich wie ähnliche Institutionen im Christentum und im
Judentum weiterzuentwickeln. Die vorherrschende Form ihrer Beziehungen
untereinander ist die der Ökumene oder Umma, die gewissermaßen ihren
Internationalismus repräsentiert.
In der graeco-römischen Zivilisation gewann das Intellektuelle etwas
mehr Unabhängigkeit. Philosophische Schulen waren eher intellektuelle
Institutionen mit recht hoher Unabhängigkeit. Die Moral wurde im Tempel
institutionalisiert. Der Politik, die zuvor in Räten und Versammlungen (ek-
klēsia) sowie im Senat der Römischen Republik institutionalisiert war, wurde
mit dem später entstandenen Imperium ein schwerer Schlag versetzt. Das
Kaiserreich bedeutet gewissermaßen auf der zentralen Ebene die Negation
der politischen Institutionalisierung. Das Attentat auf Julius Cäsar hängt eng
mit diesen Tatsachen zusammen.
Während in der neuzeitlichen Moderne das Intellektuelle in die Falle
der Universität gesperrt wurde, bekam die Moral einen schweren Schlag ab
und steht vor der Auslöschung. Sie wurde durch das positive Recht ersetzt,
wodurch ihre Rolle in der Gesellschaft verschwinden soll. Der Bereich der
Politik wiederum wird schrittweise in das Gewand des Parlamentarismus
gezwungen und unter der Verwaltung der nationalstaatlichen Bürokratie
geradezu zum Erliegen gebracht. Wie die Moral kann auch die Politik ihre
Rolle nicht mehr im wirklichen Sinne einnehmen.
In den Einheiten der demokratischen Moderne kam es zu verschiede-
nen komplizierten institutionellen Entwicklungen. Organisationen der
Geschwisterlichkeit vereinten in sich gewissermaßen alle drei Aufgaben, ähn-
lich wie die Utopisten. Intellektuelle, moralische und politische Aufgaben
wurden im Grunde um eine Person herum funktionell organisiert und er-
füllt. Insbesondere in der Phase des Realsozialismus waren der Bund der
Kommunisten, die Erste, Zweite und Dritte Internationale Gebilde, in de-
nen die Institutionen aller drei Bereiche eng miteinander verwoben waren.
Das Kommunistische Manifest besaß den Charakter ihres gemeinsamen
Programms. In allen drei Aufgabenbereichen teilten diese Institutionen die
assimilationistische Tendenz der kapitalistischen Moderne. Die Politik als
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 405

Institution wurde den Verwaltungsmechanismen des Gottes ›Nationalstaat‹


geopfert und die Moral dem positiven Recht, das durch die gleichen
Mechanismen die staatsbürgerliche Gefangenschaft regelte. Der Bereich der
intellektuellen Aufgaben hingegen wurde den intellektuellen Kapitalisten
und intellektuellen Packeseln (Esel, die Wissen schleppen) der Universitäten,
der neuen Tempel des Nationalstaates, überlassen, geopfert oder sie wurden
dazu gebracht, diese Aufgaben gleich zu leugnen.
Schon diese kurze Erinnerung an die Geschichte zeigt die Dringlichkeit,
mit der sich die Einheiten der demokratischen Moderne in Form von
Gegen-Netzwerken organisieren und alle drei Aufgaben übernehmen müs-
sen, wenn sie als Gesellschaft nicht vollständig zerfallen wollen.
Bevor wir nun die Aufgaben behandeln, müssen wir noch kurz die
Themen ›Einheit‹ und ›Netzwerk‹ beleuchten. Mit Einheit ist jegliche an-
ti-monopolistische Gemeinschaft gemeint. Jede Gemeinschaft – von der
demokratischen Nation bis zum Dorfverein, von einer internationalen
Konföderation bis zum Stadtteilladen – ist eine Einheit. Jedes Leitungsorgan,
ob in Stamm oder Stadt, vom lokalen bis zum nationalen, ist eine Einheit.
Es kann Einheiten aus zwei Personen, sogar aus nur einer Person geben
bis hin zu Einheiten, die Milliarden von Menschen vertreten. Es wird hel-
fen, diesen Begriff innerhalb dieses Bedeutungsreichtums zu betrachten.
Wichtig ist hierbei, alle Einheiten jeweils auch als die moralische und poli-
tische Gesellschaft zu verstehen. Daher besitzt es den Rang eines Prinzips,
dass sich jede Einheit an den intellektuellen, moralischen und politischen
Aufgaben beteiligt. Einheit zu sein erfordert, moralische und politische
Gesellschaft zu sein, und genauso erfordert es, den intellektuellen, morali-
schen und politischen Aufgaben verpflichtet zu sein. Dass dieser (Gegen-)
pol netzartig organisiert ist, hängt mit seiner organisatorischen Struktur und
Führung zusammen. Auch innere Verbundenheit lässt sich am besten in
Netzwerken organisieren. Streng zentralistische, hierarchische Organisation
und Führung durch Befehlsketten widerspricht völlig den Organisations-
und Leitungsprinzipien der Einheiten der demokratischen Moderne.
406 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

A Intellektuelle Aufgaben

Vorab muss ich bemerken, dass ich die intellektuellen Aufgaben nicht als
die Erstellung von vorgefertigtem Bewusstsein und dessen Vermittlung an
die Einheiten definieren werde. Zunächst müssen wir den Intellektualismus
selbst unter die Lupe nehmen. Es heißt oft, das ›Zeitalter der Aufklärung‹
(im Europa des achtzehnten Jahrhunderts) habe die Moderne bestimmt. Die
zahllosen durch Nationalstaaten systematisch verübten physischen und kul-
turellen Genozide, allen voran der Völkermord an den Jüdinnen und Juden,
haben dem aufklärerischen Anspruch der Moderne einen tödlichen Schlag
versetzt. Dieser Moment, an dem der Intellektuelle Adorno sagte, dass alle
Göttlichkeit schweigen müsse105, ist gleichzeitig die letzte Stufe, die die
Zivilisationen erreicht haben. Dies ist ein bedeutender Moment; ohne ihn zu
analysieren, können wir nicht einen Schritt vorwärtsgehen. Wir reden von
einem historischen Moment des Bankrotts, der Lüge und des Völkermords.
Der Intellektualismus als Praxis der Aufklärung, Bewusstmachung und der
Verwissenschaftlichung kann sich von diesem Moment nicht abstrahieren;
über ihn muss als einem der Hauptschuldigen gerichtet werden. Die Schuld
und die Verantwortung auf Einzelne wie Hitler oder ein paar ähnliche
Diktatoren zu schieben, ist eine widerliche Propaganda des Liberalismus.
Ohne das System zu erklären, das Hitler von der Wiege bis zur Bahre ge-
nährt hat, lässt sich die Wahrheit nicht erklären; es lässt sich höchstens Verrat
an der Wahrheit üben. Wenn die Hauptaufgabe des Intellektualismus – der
Wahrheit auf der Spur zu sein – verraten wird, wenn zudem dieser Verrat auf
breiter Front durch die Besitzer intellektuellen Kapitals und Wissen tragende
Packesel geübt wird, so heißt das, dass einige Dinge radikal infrage gestellt
werden müssen. Solange diese Angelegenheiten nicht radikal überprüft und
gelöst werden, wird auch eine neue Positionierung nichts anderes hervor-
bringen als nur neue intellektuelle Kapitalisten und Packesel.
Wenn sich das in einer globalen Krise befindliche System nur durch ein
Krisenregime im Ausnahmezustand aufrechterhalten lässt und in dieser
Situation von der intellektuellen Krise geschwiegen wird, liegt das entwe-
der an Blindheit oder daran, dass man ein unverbesserlicher intellektuel-
ler Kapitalist oder Packesel ist. Gewöhnlichen Intellektuellen, die sich ihre

105 Gemeint ist vermutlich folgendes Zitat: »Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologi-
sches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht.« Theodor W. Adorno, Negative Dialektik
(Frankfurt, 1966), S. 358.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 407

Würde bewahrt haben, fällt es nicht schwer, zu begreifen, dass die Krise
grundsätzlich mit der Stagnation im Bereich des Denkens zusammen-
hängt. Dabei existiert zwischen der Strukturalität eines Systems und seiner
Mentalität ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Leib und Seele. Eine Krise
des Körpers – der Strukturalität – erfordert nicht nur eine Krise der Seele
– der Mentalität –; sie macht die Krise der Mentalität zum Vorboten der
Krise. Die Priorität liegt nicht bei der körperlichen, sondern bei der see-
lischen Krise. Wie der Hirntod der sichere Beweis des körperlichen Todes
ist, so kann die Krise der Mentalität nur der Beweis der strukturellen Krise
sein. Im Klartext: Es ist sicher, dass wir in einer tiefen intellektuellen Krise
stecken. Da sie sich nicht durch Neuerungen in wenigen Bereichen beseiti-
gen lässt, verlangt eine Antwort auf die Krise Tiefgang; sie muss sich um die
Transformation des Systems drehen. Die Lösung der intellektuellen Krise
des Systems ist nur durch eine neue ›intellektuelle Revolution‹ möglich.
Bevor wir diese intellektuelle Revolution diskutieren, wollen wir mit einigen
historischen Beispielen das Thema erhellen.
Soweit sich das interpretieren lässt, fand die erste große intellektuelle
Revolution der Geschichte zwischen dem siebten und fünften Jahrtausend
v. Chr. in Mesopotamien statt. In diesem Zeitraum wurden erstmals in
umfangreicher Weise die Stärke der Gesellschaft und die der Naturkräfte
beobachtet und praktische Schlussfolgerungen gigantischen Ausmaßes ge-
zogen. Gordon Childe erachtet diesen Zeitraum für so wichtig, dass sie sei-
ner Meinung nach mit Europa ab dem fünfzehnten Jahrhundert verglichen
werden muss. Die gesellschaftlichen Errungenschaften sowohl auf geistigem
Gebiet als auch im Bereich der Werkzeuge stammen zum größten Teil noch
aus dieser Zeit.
Die zweite große intellektuelle Revolution ereignete sich in den
Gründungszeiten der sumerischen und der ägyptischen Zivilisation. In ih-
rer Anfangszeit bewiesen sie die Fähigkeit, die Errungenschaften der neo-
lithischen Revolution sowohl auf dem Gebiet der Mentalität als auch der
Werkzeuge in das Zivilisationssystem zu transformieren. Die Schrift und
viele Entdeckungen und Erfindungen in verschiedenen Bereichen wie
Mathematik, Literatur, Medizin, Astronomie, Theologie und Biologie wa-
ren das Werk revolutionärer intellektueller Entwicklungen jener Zeit. Bis zur
späteren griechisch-ionischen Revolution sollte sich die Geschichte als ein
Erlernen und Wiederholen dieser Entwicklungen abspielen.
Die griechisch-ionische intellektuelle Revolution stellte den dritten gro-
ßen Schritt dar. Die Zeit von 600 bis 300 v. Chr. war besonders reich in
408 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Bezug auf philosophisches Denken und Wissenschaftlichkeit. Der Übergang


von mit Mythologie vermischten Religionen zur Philosophie war zweifel-
los eine große intellektuelle Revolution. Auch in den Bereichen Schrift,
Literatur, Physik, Biologie, Logik, Mathematik, Geschichtsschreibung,
Kunst und Politik spielten sich revolutionäre Entwicklungen ab. Bis zum
sechzehnten Jahrhundert bestand die Geschichte darin, die Produkte dieser
Revolutionen weiterzugeben und zu wiederholen. Zweifellos gab es auch an
anderen Orten und zu anderen Zeiten zahlreiche intellektuelle Fortschritte.
Doch können wir diese nicht zu den großen Revolutionen zählen. Die
Entstehung der monotheistischen Religionen jedoch können wir durchaus
als wichtige geistige Revolutionen interpretieren. Auch die zoroastrische mo-
ralische Revolution106 war eine große intellektuelle Revolution. Konfuzius in
China und Buddha in Indien schufen bedeutende intellektuelle Werte. Auch
die zwischen dem achten und zwölften Jahrhundert im Islam aufscheinen-
den intellektuellen Glanzleistungen sind wichtig. Es ist ein großer Verlust,
dass sie nicht in eine Revolution mündeten.
Die europäische intellektuelle Revolution war zweifellos tief greifend
und umfassend. Doch steht außer Frage, dass ihre Quellen in den er-
wähnten Revolutionen und Glanzleistungen liegen. Hier muss ich auch
gleich anmerken, dass all diese intellektuellen Revolutionen nichts mit den
Ausbeutungs- und Machtmonopolen zu tun hatten. Ganz im Gegenteil
sorgten diese Monopole dafür, dass sie sich nicht angemessen entwickeln
konnten und entgleisten, abstumpften, an die Monopole gefesselt und zu
Kapital gemacht wurden. Diese Tatsache sticht bei der großen europäischen
intellektuellen Revolution ins Auge. Absolutistische und nationalstaatliche
Systeme als kapitalistische und staatliche Monopole betrachteten es als vor-
dringliche Aufgabe, die Revolution zu behindern, vom Weg abzubringen
und an die eigene Macht zu fesseln; und sie bemühten sich sehr darum.
Große Kämpfe wurden darum geführt. Giordano Bruno, Erasmus von
Rotterdam, Galileo Galilei, Thomas Morus und andere Persönlichkeiten
und Wissenschaftler*innen haben, um ihre intellektuelle Unabhängigkeit
zu schützen und ihre Würde zu bewahren, von der Inquisition bis zu den
französischen Revolutionsgerichten gegen die gnadenlose Tyrannei der
Mächtigen Widerstand geleistet und dabei sogar das Risiko in Kauf nah-
men, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.

106 Unter anderem betonte Zarathustra die Verantwortung der Menschen und ihren freien Willen,
sich für Gut oder Böse zu entscheiden.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 409

Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert spiegelte sich wie in allen


Bereichen und Einheiten der Gesellschaft auch im intellektuellen Bereich
und seinen Einheiten die Hegemonie des monopolistischen Kapitals und
des Nationalstaats deutlich wider. Wissenschaft, Philosophie, Kunst und
sogar Religion wurden zu großen Teilen in die Macht, insbesondere in die
Strukturen des Nationalstaates integriert. In beiden Bereichen versetzte der
Monopolismus der intellektuellen Unabhängigkeit einen schweren Schlag.
In der Abhängigkeit wurden die Intellektuellen entweder zu intellektuellen
Kapitalisten oder verwandelten sich, wie die meisten, in Packesel des Wissens
an Universitäten und in anderen Schulsystemen. Die Universitäten und an-
dere Schulstrukturen wurden zu den neuen Tempeln jedes Nationalstaats.
Hier werden Gehirne und Seelen neuer Generationen gewaschen; sie wer-
den zu Untertanen-Staatsbürger*innen gemacht, die dem Nationalstaatsgott
huldigen wie keinem zuvor. Die Gemeinschaft der Lehrenden aller Ebenen
nimmt so den Platz der neuen Priesterklasse ein. Zweifellos gibt es auch hier
und dort Intellektuelle, die sich ihre intellektuelle Würde bewahrt haben.
Doch sie sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Noch wichtiger waren die Entwicklungen bezüglich des Inhalts der in-
tellektuellen Revolution in Europa. Zunächst müssen wir feststellen, dass
die Pioniere dieser Revolution sich die Religion, Wissenschaft, Philosophie
und Kunst früherer Zeiten gut angeeignet hatten und dass ihre eigenen
Beiträge zu diesen Gebieten auf dieser Aneignung basierten. Wir müssen
zugestehen, dass die europäischen Intellektuellen große Fortschritte bei der
Annäherung an die Wahrheit machten. In der Entwicklung von Methoden
und ihrer Anwendung waren sie definitiv erfolgreich. Derartige Erfolge gab
es besonders bezogen auf die Erste Natur (in Physik, Chemie, Biologie und
Astronomie). Doch über wissenschaftliche, philosophische, künstlerische
und moralische Ansätze bezogen auf die Gesellschaft als Zweite Natur kön-
nen wir nicht dasselbe behaupten. Europäische Intellektuelle verfassten be-
deutende Erklärungen (Manifeste), gründeten wissenschaftliche Disziplinen,
philosophische Schulen, künstlerische Strömungen und ethische Lehren.
Doch sie waren nicht erfolgreich genug, als dass sie den moralischen und po-
litischen Charakter der Gesellschaft hätten bewahren können. Im Gegenteil
machten sie sich, indem sie sich an die Kapital- und Machtmonopole ban-
den, an der bis zur Vernichtung reichenden Demontage der moralischen
und politischen Gesellschaft auf eine Weise mitschuldig, die nicht durch
Nachlässigkeiten, Fehler und Mängel zu erklären ist. Genau so begann die
intellektuelle Krise.
410 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Zweifellos sind die Intellektuellen auch dafür verantwortlich, dass


nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Umwelt zur Zielscheibe der
Zerstörung wurde. Dass sie für die Krise mitverantwortlich gemacht wer-
den, liegt daran, dass sie Teil der Krise sind. Die wichtigste Frage, die es hier
zu klären gilt, ist, durch welche Strategien und Taktiken die intellektuelle
Niederlage, Korruption und Verzerrung entstanden ist. Wen sollen wir für
das große Chaos, die Niederlage und den Verrat besonders im Bereich der
Gesellschaftswissenschaften verantwortlich machen? (Dabei muss ich zu-
nächst anmerken, dass ich daran glaube, dass auch die Wissenschaften der
Ersten Natur gesellschaftlichen Charakter besitzen bzw. besitzen sollten.)
Handelt es sich um eine Krankheit, die nur das wissenschaftliche Paradigma
betrifft? Müssen wir den Großteil der Schuld bei einigen Disziplinen su-
chen? Ist die Krankheit strukturell oder unfallbedingt? Ist eine Behandlung
möglich? Welche Methoden und Wege sollte eine Therapie verfolgen? Was
könnten die Hauptmerkmale einer neuen wissenschaftlichen Revolution
oder eines neuen Paradigmas sein? Womit sollten wir strategisch beginnen?
Nur, wenn wir gehaltvolle Antworten auf diese und andere Fragen haben,
können wir sowohl den Ausweg aus der intellektuellen Krise schaffen als
auch unsere neuen paradigmatischen und wissenschaftlichen Aufgaben fest-
legen.
Die Krise der auf die europäische Zivilisation zentrierten Wissenschaft ist
eine strukturelle. Sie hängt mit den Entwicklungen in der Anfangszeit der
Zivilisation zusammen. Die Zentralisierung der Wissenschaft im Tempel
bedeutet ihre Integration in die Macht. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür,
dass in der ägyptischen und der sumerischen Zivilisation die Wissenschaft
zu einem untrennbaren Bestandteil der Macht wurde. Die Institution des
Priestertums, die die Wissenschaft zusammenfasste, war bereits der wich-
tigste Partner der Macht. Dabei war die Struktur der Wissenschaft in der
vorausgehenden Zeit des Neolithikums eine andere gewesen. Die Frau hat-
te mit ihrem Wissen über Pflanzen vielleicht die Grundlage für Biologie
und Medizin gelegt. Die Beobachtung des Wechsels der Jahreszeiten und
des Mondes machte den Bedarf an Berechnungen deutlich. Wir können
das durchaus so interpretieren, dass die agrarisch-dörflichen Gesellschaften
durch ihre jahrtausendelange Lebenspraxis einen großen Wissensschatz ge-
schaffen hatten. In der Ära der Zivilisation wurde dieses Wissen gesam-
melt und in einen Bereich der Macht verwandelt. Hier fand ein qualitativer
Umschlag im negativen Sinne statt.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 411

In der vorzivilisatorischen Gesellschaft und in den Gegen-Gesellschaften


der Ära der Zivilisation waren Wissen und Wissenschaft Teil der mo-
ralischen und politischen Gesellschaft. Solange es die vitalen Interessen
der Gesellschaft nicht erforderten, konnte Wissenschaft nicht auf ande-
re Weise verwendet werden. Der einzig mögliche Zweck von Wissen und
Wissenschaft war, die Existenz der Gesellschaft zu sichern, sie zu nähren
und fortzuführen. Ein anderer Zweck war undenkbar. Die Zivilisation ver-
änderte diese Situation radikal. Indem sie Wissen und Wissenschaft mono-
polisierte, trennte sie beide von der Gesellschaft. Während die Gesellschaft
des Wissens und der Wissenschaft beraubt wurde, maximierten die Kräfte
von Macht und Staat durch Wissen und Wissenschaft ihre Stärke. Indem
sie die Produzenten und Träger von Wissen an Dynastien und Paläste ban-
den, verfestigten sie ihre Monopole. Die radikale Trennung des Wissens
von der Gesellschaft, insbesondere von der Frau, bedeutete gleichzeitig die
Durchtrennung der Verbindung zum Leben und zur Umwelt. Damit wurde
auch das Band zwischen der analytischen und der emotionalen Intelligenz
radikal durchschnitten und beide begannen, sich immer weiter auseinan-
derzuentwickeln.
Die Bedeutung der Wissenschaft in der gesellschaftlichen Natur war
Göttlichkeit. Die Gesellschaft vergöttlichte das Wissen und das Bewusstsein
über die eigene Natur als Ausdruck der eigenen Identität und setzte sie mit
Göttlichkeit gleich. Die Zivilisation veränderte auch dies. Als das Wissen
unter die Kontrolle der Dynastien und ihrer Teilhaber geriet, veränder-
te sich auch die Göttlichkeit. Während der Gesellschaft nun der Part der
Knechtschaft und der Nicht-Göttlichkeit zugewiesen wurde, gingen die
Dynastien und ihre engere Umgebung als göttlicher Adel in die Mythologie
und die Religion ein. Das Ergebnis dieses Prozesses waren Gottkönige und
Gottesadel. Diese Trennung der Produzent*innen und Träger*innen des
Wissens und der Wissenschaft von der Gesellschaft setzte sich durch alle
Zeitalter der Zivilisation hindurch fort. Es gab zwar Widerstand dagegen,
doch wurde dieser leicht niedergeschlagen. Diejenigen, die sich mit Wissen
und Wissenschaft befassten, bildeten geradezu eine Kaste. Wenn wir nun die
europäische Zivilisation betrachten, so existierte dort, insbesondere wegen
des Konfliktes zwischen Kirche und Königtum und der teilweise autonomen
Atmosphäre der Klöster, eine Zeitlang eine begrenzte Unabhängigkeit der
Produzent*innen von Wissen und Wissenschaft. Die heftigen Machtkämpfe
und Kriege boten die Gelegenheit, leichter Protektion zu finden, ohne
dass die Forschungen Schaden nahmen. Renaissance, Reformation und
412 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Aufklärung hatten viel mit der autonomen Atmosphäre zu tun, zu der die-
se Machtkämpfe geführt hatten. Das Fehlen eines Absolutismus in der
Art Chinas oder des Osmanischen Reiches trug zur Autonomie bei. Das
Ergebnis war die philosophische und wissenschaftliche Revolution. Der
Aufstieg des Kapitalismus einerseits und die Entstehung des Nationalstaats
andererseits brachten jedoch im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert
eine Monopolisierung der Wissenschaft durch Kapital und Macht mit sich.
Wissenschaft war nun ein untrennbarer Bestandteil von Kapital und Macht.
Diese Entwicklung, die ohnehin die gesamte Geschichte der Zivilisation
hindurch zulasten der moralischen und politischen Gesellschaft erfolgt war,
erreichte in der europäischen Moderne ihren Höhepunkt.
Das heißt also, dass die eurozentrischen wissenschaftlichen Paradigmen
sich schon lange zuvor von der Gesellschaft gelöst hatten. Diejenigen, die sich
mit Wissen und Wissenschaft befassten, nahmen überwiegen die Perspektive
von Kapital und Macht ein. Die moralische und politische Gesellschaft
hatte längst ihr Ansehen verloren. Dieser Prozess beschleunigte sich noch
durch die Niederlage der Kirche. Die Wissenschaft, deren Hauptsorge nicht
die moralische und politische Gesellschaft war, kannte nun kein anderes
Betätigungsfeld mehr, als sich den Zielen von Kapital und Staat zu verschrei-
ben. Während die Wissenschaft nun Macht und Kapital produzierte, eigne-
ten sich Kapital und Macht die Wissenschaft an. Die Durchtrennung aller
Verbindungen der Wissenschaft mit Moral und Politik stieß die Tür weit
auf für Kriege, Konflikte, Kämpfe und jede Art von Ausbeutung. So wurde
die Geschichte der europäischen Zivilisation auch zur Geschichte der inten-
sivsten Kriegsführung. Der Wissenschaft wurde dabei die Rolle zugemes-
sen, sich auf die Erfindung perfekter Kriegsgeräte zu konzentrieren, die den
Sieg bringen sollten. So erfolgte letztlich eine Eskalation in der Produktion
von Kriegsgerät, die bis zu den Nuklearwaffen reichte. In einer Gesellschaft,
in der die Regeln der moralischen und politischen Gesellschaft herrschen,
würde nicht einmal eine Spielzeugpistole erfunden – ganz zu schweigen von
Nuklearwaffen –, und wenn sie erfunden würde, richtete man sie zumindest
nicht gegen die Gesellschaft.
Die Zerstörung der Moral ist der wichtigste Faktor für den Beginn von
Kriegen. Die Durchtrennung der Verbindung von Wissenschaft und Moral
jedoch ist die Grundlage der Erfindung jegliches Zerstörungswerkzeuges.
Undenkbar, dass sich dieses Verhältnis von Wissenschaft und Macht zur
Gesellschaft nicht im grundlegenden Paradigma und den Methoden wi-
derspiegelte. Die Gesellschaft wegfallen zu lassen, bedeutet, sie gleichzeitig
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 413

zum Objekt zu machen – wie bereits vorher die Frau und die Sklaven.
Anschließend wurde die mit Francis Bacon und René Descartes begin-
nende Objekt-Subjekt-Trennung auf alle Wissenschaften ausgedehnt. Bei
wissenschaftlichen Arbeiten wird Objektivität hoch gelobt. Dabei hat
die scharfe Trennung von Objektivität und Subjektivität den Weg für die
größte Katastrophe geebnet. Anschließend vertiefte sich die Spaltung zwi-
schen dem Ich und dem Anderen. Dann verwandelten sich beide in einan-
der auslöschende dialektische Gegensätze. All diese Dichotomien sind mit
Sicherheit eine Widerspiegelung der Spaltung und des Widerspruchs zwi-
schen der moralischen und politischen Gesellschaft einerseits und Macht
und Kapital andererseits. Die Reduzierung der Natur, dann der Frau und
des Sklaven, zuletzt der gesamten Gesellschaft auf die Position des Objekt,
tritt uns als Folge des berühmten ›Objektivitätsgebots‹ gegenüber, das in der
Wissenschaft noch immer gilt. Das frühere Verhältnis Gott–Knecht ver-
wandelte sich in das Verhältnis Subjekt–Objekt. Die noch ältere Auffassung
einer beseelten Natur wich der Auffassung eines ›toten Objekts Natur‹ und
dem darüberstehenden ›göttlichen Subjekt Mensch‹.
Die Auswirkungen dieses paradigmatischen Ansatzes auf die Wissenschaft,
besonders auf die Gesellschaftswissenschaften, waren verheerend.
Beispielsweise glauben Physiker*innen, die auf der Grundlage einer voll-
ständig objektiven physischen Natur arbeiten, die Freiheit zu besitzen, un-
begrenzt Experimente mit der Natur durchführen und über sie verfügen
zu können. Sie fühlen sich in jeder Hinsicht frei, nukleare Experimente
durchzuführen oder alle möglichen Eigendynamiken auszulösen. Dabei
empfinden sie keinerlei moralische Bedenken. Die Auffassung der Natur
als Objekt schuf die Bedingungen für eine grenzenlose Verfügung über die
Materie, was bis zur Herstellung der Atombombe führte. Wenn sich die
göttliche Wissenschaft in eine instrumentelle Wissenschaft verwandelt, ver-
schwindet ihre Verbindung zur Gesellschaft; sie sinkt in die Position eines
Instruments in den Händen von Macht und Kapital, das dem Gesetz des
Maximalprofits folgt. Oberflächlich betrachtet ist die Physik eine völlig neu-
trale, unparteiische Wissenschaft, die sich mit der objektiven Natur befasst.
Im Kern handelt es sich jedoch offenbar um eine der wesentlichen Quellen
der Stärke von Macht und Kapital. Wenn dies nicht so wäre, hätte die phy-
sikalische Wissenschaft ihre gegenwärtige Position nicht behaupten können.
Ihre Verwandlung in eine anti-gesellschaftliche Kraft zeigt, dass sie keine
neutrale Wissenschaft ist. Auch die Kräfteverhältnisse, die als physikalische
Gesetze bezeichnet werden, bedeuten letztendlich nichts anderes als eine
414 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Widerspiegelung der menschlichen Kraft. Der Mensch wiederum, das wis-


sen wir, ist in einem absoluten Sinne ein gesellschaftliches Wesen.
Wenn wir die positivistische Philosophie interpretieren, die prägend für
die gesamte wissenschaftliche Struktur der Moderne war, so können wir
das Innere des Verhältnisses Zivilisation–Macht–Wissenschaft besser zutage
fördern. Wir wissen, dass die positivistische Philosophie von streng objekti-
ven Fakten ausgeht und keinen anderen wissenschaftlichen Ansatz erlaubt.
Wer genauer hinsieht, wird begreifen, dass Wissenschaft als Untersuchung
der Verhältnisse von Objekten götzenanbeterischer und metaphysischer ist,
als alle früheren Götzenanbeter und metaphysischen Kräfte es je waren. Ein
kurzer Ausflug in die historische Dialektik wird dieses Thema für uns erhel-
len. Genauso, wie die monotheistischen Religionen sich auf der Grundlage
der Kritik am Paganismus (Götzenanbeterei, gewissermaßen Religion der
Vergöttlichung von Phänomenen) bildeten, entstand der Positivismus. Der
Wille zum Wissen ausgehend von der Kritik von Religion und Metaphysik,
nahm die Form der Neo-Metaphysik an (Wille zur Wahrheit gestützt auf
Phänomene ist definitiv Neo-Paganismus). Friedrich Nietzsche erkannte
dies als einer der ersten Philosophen und leistete mit seinen Einschätzungen
einen sehr bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Wahrheit107. Die
Feststellung, dass der Begriff der ›objektiven Tatsache‹ ein von der Wahrheit
weit entfernter Begriff ist, besitzt weitreichende Bedeutung. Die Phänomene
für sich allein geben keinerlei sinnvolle Auskunft über die Wahrheit oder
bringen, soweit sie es tun, ganz falsche Ergebnisse mit sich.
Wir hatten gesagt, dass die Phänomene keine Information liefern oder zu
ganz falschen Resultaten führen können, wenn sie nicht innerhalb komplexer
Verflechtungen gedeutet werden. Betrachten wir einmal genauer nicht phy-
sikalische, chemische oder biologische Phänomene, sondern ein gesellschaft-
liches Beispiel und die Folgen. Nach dem Positivismus ist der Nationalstaat
eine Tatsache. Alle Elemente, aus denen er besteht, sind ebenfalls Tatsachen.

107 Eine ausführliche Diskussion des ›Willens zur Wahrheit‹ findet sich in Nietzsches Genealogie
der Moral, unter anderem in dieser Passage: »Was aber zu ihm zwingt, jener unbedingte Wille
zur Wahrheit, das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbewußter
Imperativ, man täusche sich hierüber nicht – das ist der Glaube an einen metaphysischen Wert,
einen Wert an sich der Wahrheit, wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht
und fällt mit jenem Ideal). Es gibt, streng geurteilt, gar keine ›voraussetzungslose‹ Wissenschaft,
der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein ›Glaube‹ muß
immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze,
eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel
sich anschickt, die Philosophie ›auf streng wissenschaftliche Grundlage‹ zu stellen, der hat dazu
erst nötig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen
[…].« Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, III – 24, zitiert nach zeno.org.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 415

Tausende Institutionen, Millionen Menschen sind jeweils eine Tatsache.


Wenn wir die Beziehungen zwischen diesen Tatsachen hinzufügen, haben
wir das Bild vervollständigt. Laut Positivismus haben wir so einen wissen-
schaftlichen Begriff gebildet. Wir sehen uns nun einer absoluten Wahrheit
gegenüber: der Wahrheit des Nationalstaates! Der Positivismus betrachtet
diese Definition nicht als eine Interpretation, sondern als ein Faktum abso-
luter Wahrheit. Auch allen andere soziologischen Phänomene betrachtet er
mit diesem Verständnis. Wie Phänomene in Physik, Chemie und Biologie,
so sind auch sie jeweils eine Tatsache. So sieht die Definition von Wahrheit
aus. Dieser Ansatz erscheint zunächst harmlos und ungefährlich, doch stel-
len wir fest, dass das überhaupt nicht der Fall ist, besonders, wenn es um
ethnische Säuberungen und Völkermorde in ihrer ganzen Grausamkeit geht.
Alle Führer eines Nationalstaates, von Hitler bis zum angeblich moderates-
ten Repräsentanten, werden sagen, dass das, was sie tun, vollständig richtig
sei, dass sie ihre Nation rein halten, dass es nicht nur rechtmäßig sei, son-
dern dem Gesetz der natürlichen Evolution entspreche, eine homogenere
Nation zu schaffen. Laut der Wissenschaft, die sie zugrunde legen, sagen
sie die Wahrheit. Die positivistische Philosophie und die positivistischen
Wissenschaften bestärken sie darin. So wurden in der Ära der kapitalisti-
schen Moderne gemäß dieser positivistischen Auffassung unzählige Kriege
für Heimat, Nation, Staat, Ethnie, Ideologie und System geführt. Denn all
diese Begriffe waren heilig, und man musste für sie bis zum Letzten kämp-
fen. Bekanntlich verwandelte sich sie Geschichte infolge dieser Auffassung in
ein Meer aus Blut. So grinste die blutige Fratze des anscheinend harmlosen
Positivismus.
Versuchen wir, das Thema ein wenig mehr zu erläutern. Heutzutage
gibt es rund zweihundert Nationalstaaten auf der Welt. Wenn die erwähn-
ten Institutionen, Massen von Staatsbürger*innen und die Gesamtheit
der Verhältnisse alle zueinander in Konfrontation treten, dann wird die
Entstehung einer Ordnung bzw. eines Chaos mit mindestens zweihun-
dert Göttern, Tausenden Tempeln und unzähligen Sekten unausweichlich.
Denn alle Phänomene, die sie repräsentieren, sind heilig und es wert, da-
für zu sterben. Doch Achtung: die moralische und politische Gesellschaft,
die wirklich die gesellschaftliche Natur widerspiegelt, wird nicht einmal na-
mentlich erwähnt. Dabei ist es – wenn überhaupt – die moralische und po-
litische Gesellschaft, für die zu sterben lohnt, wenn sie angegriffen wird. Im
Nationalstaat dagegen kämpfen alle für selbst oder von anderen geschaffene
und ihnen vorgesetzte Tatsachen-Götzen. Wie haben es mit einem Zeitalter
416 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Kriege für Götzen zu tun, die tausendfach hemmungsloser sind als frü-
here Kämpfe im Namen von Götzen. Die Folge ist, dass die Kapital- und
Nationalstaatsmonopole das Gesetz des Maximalprofits anwenden; einer
glücklichen Minderheit wird ein Leben geboten, wie es nicht einmal die
Pharaonen hatten. Was modernes Leben genannt wird, ist nichts anderes als
die Folge dieser Realität des Positivismus, besser gesagt: seines Massakers an
der Realität. Wir sind mittlerweile im Zeitalter der virtuellen Gesellschaft
angelangt. Nichts kann den Positivismus so gut erklären, wie die virtuelle
Gesellschaft. Die positivistische Gesellschaft ist die virtuelle Gesellschaft. Die
virtuelle Gesellschaft ist das wahre Gesicht der positivistischen Gesellschaft,
mehr als das, sie ist die Wahrheit selbst. Die Sinnlosigkeit der Phänomene
(Blutbäder, imaginäre Gesellschaft, Konsumgesellschaft) erreicht in der vir-
tuellen Gesellschaft ihren Höhepunkt. Mediengesellschaft, Gesellschaft des
Spektakels, Illustrierten-Gesellschaft – all dies ist die offengelegte Wahrheit
des Positivismus. Und im Grunde die Negation der Wahrheit.
Ohne Weiteres können wir noch ähnliche Folgen auflisten. Die Begriffe
islamische, christliche, jüdische, buddhistische, kapitalistische, sozialis-
tische, feudale und sklavenhalterische Gesellschaft sind Produkte der-
selben Herangehensweise. Hier zeigt sich das metaphysische Gesicht des
Positivismus. Ja, von islamischer Gesellschaft zu reden, ist Ergebnis des glei-
chen Ansatzes wie von kapitalistischer Gesellschaft zu reden, denn es han-
delt sich um Begriffe, die Phänomene beschreiben, also Zuschreibungen,
Begriffe, die die Erscheinung betreffen. Gleiches lässt sich für die natio-
nale Zugehörigkeit sagen. Die Begriffe deutsche, französische, arabische,
türkische oder kurdische Nation sind jeweils Wahrheiten positivistischen
Charakters. Im Kern jedoch sind dies blasse Schemen der Wahrheit. Nun
lässt sich fragen: »Was ist denn nun Wirklichkeit, Wahrheit?« Ich denke,
die Antwort ist einfach. In der Wirklichkeit der Gesellschaft gibt es die
natürliche Wahrheit der moralischen und politischen Gesellschaft und
die Wahrheit der Zivilisation, die sie ständig erodieren will. Ich will da-
mit nicht sagen, dass alle anderen Adjektive und Bezeichnungen keinerlei
Wirklichkeit repräsentieren; ich sage nur, dass sie nicht das Wesen, sondern
die Erscheinung, die simple und schnell veränderliche Form beschreiben.
Betrachten wir beispielsweise die Realität der arabischen Nation. Es gibt
im als Arabien bezeichneten Gebiet eine Gesellschaft, die moralische und
politische Charakteristika aufweist, auch wenn sie stark geschwächt ist.
Über sie wurde Jahrtausende lang Macht ausgeübt, was sie an den Rand des
Zusammenbruchs gebracht hat. Darüber hinaus bedeutet Arabischsein recht
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 417

wenig. Es gibt tausenderlei verschiedene Araber*innen, die teils miteinander


im Konflikt stehen, manchmal sogar Todfeinde sind. Also Tausende wider-
sprüchliche Wahrheiten! Nach dem Positivismus muss das so sein. Aber wir
wissen sehr gut, dass das nicht der Kern der arabischen Wirklichkeit sein
kann.
Ein vielleicht leichter verständliches Beispiel sind Bäume. Der Baum hat
als Phänomen Tausende Äste und unzählige Blätter. Wenn es ein Baum ist,
dessen Produkt bekannt und wertvoll ist, so erhält er seine Bedeutung dem-
entsprechend, nicht nach seinen Zweigen und Blättern. Positivismus ist die
Blindheit, ihnen allen das gleiche Gewicht zuzumessen. Ja, auch die Zweige
und Blätter sind real. Aber sie nicht die Bedeutung tragende Realität. Eine
Traube oder ein Kilo Weinbeeren hat einen Wert, eine Bedeutung. Aber
ein Blatt besitzt lediglich die Wirklichkeit eines Phänomens, das nicht das
Wesentliche widerspiegelt, sondern eine äußere Erscheinung verleiht.
Dass die Wissenschaften in Phänomenen ertrinken, dass täglich eine neue
Disziplin entsteht, dass sie alle sich als gleich bedeutende Wahrheiten be-
trachten – all das ist der Hauptgrund für die Krise der Wissenschaft. Wir
hatten bereits eingangs den Zusammenhang dieser Krise mit dem System
festgestellt. Die ständig zunehmende Fragmentierung der Wahrheit in Form
von konträren Dichotomien wie Subjekt–Objekt, wir–die Anderen, Körper–
Seele, Religion–Wissenschaft, Mythologie–Philosophie, Gott–Knecht,
Herrscher–Beherrschte usw. ist im Wesentlichen die Folge der Abnutzung
und Ausbeutung der moralischen und politischen Gesellschaft durch die
über sie gespannten zivilisatorischen Monopol-Netzwerke. Die kapitalisti-
sche Moderne hat diese Dichotomien der Zivilisation vervielfacht und in-
tensiviert und so die Gesellschaft an den heutigen Punkt des Zerfalls und der
Zerrüttung gebracht. Auch die kollaborierende Wissenschaft besitzt großen
Anteil daran. Die Krise wird spürbar, wenn der Widerspruch zwischen ideo-
logischem Kern und instrumentaler Struktur den Punkt der Agonie erreicht;
Arbeitslosigkeit, Krieg, Hunger und Armut, Repression und Massaker,
Ungleichheit und Unfreiheit verwandeln sich in Schreie der Körper und
Seelen der Multituden.
Bei aller Kritik am Positivismus möchte ich einige Warnungen anbrin-
gen, um Missverständnisse zu vermeiden. Erstens behaupte ich nicht, dass
die Phänomene keinerlei Wert und keine Verbindung zur Wirklichkeit
haben. Ich sage nur, dass ihr Wert gering ist und ihre Verbindung zur
Wirklichkeit begrenzt. Auf der philosophischen Ebene bedeutet das, dass
die Konzentration auf die Phänomene große Nachteile mit sich bringt. Dies
418 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

hat sich im europäischen Denksystem reichlich gezeigt. Das zweite mögliche


Missverständnis wäre, mich wegen Abgleitens in eine Art Platonismus zu
kritisieren. Solch eine Kritik mag sich gegen mein Beispiel des Baums, die
Essenz sei entscheidend, richten. Doch meine ich damit nicht die Idee eines
Baumes, sondern ich spreche von der Realität, die der Baum aus Sicht der
Gesellschaft beinhaltet. Ich präsentiere auch keinen utilitaristischen Ansatz.
Ich sage nur, dass die Wirklichkeit von der moralischen und politischen
Gesellschaft festgelegt werden muss. Ein Baum kann für ein Individuum
oder eine Gruppe sehr nützlich sein. Doch wenn die Situation von der mo-
ralischen und politischen Gesellschaft nicht in gleicher Weise interpretiert
wird, so hat er keinen wirklichen Nutzwert, das will ich damit sagen.
Der Liberalismus möchte, dass wir uns eine Philosophie nach dem
Motto »Individuen finden als Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen,
Politiker*innen, Kapitalist*innen etc. heraus, was wahr ist, und leben ent-
sprechend« aneignen. Das halte ich definitiv für ein unmoralisches, un-
politisches Gesellschaftsverständnis und kritisiere es. Ich halte dies für die
größte Ideologie der Entmoralisierung und Entpolitisierung, die durch die
Geschichte der Zivilisation angebahnt wurde und die das kapitalistische
System der gesamten Gesellschaft aufschwatzen will. Genauer gesagt: Es ist
eine zeitgenössische mythologische Erzählung, die durch Propaganda etab-
liert und in das Gewand der Moderne gekleidet wird.
Also lautet die immer wichtiger werdende Frage: Wo und wie sollen wir
die Wahrheit finden? Ich möchte antworten, indem ich an eine einfache
Regel erinnere: Du kannst etwas nur finden, wenn du es dort suchst, wo
du es verloren hast. Woanders kannst du es nicht finden, auch wenn du
die ganze Welt absuchst. Denn das ist die falsche Methode. Die Methode,
nicht am Verlustort, sondern anderswo zu suchen, führt nur zu Zeit- und
Energieverlust. Ich vergleiche die Wahrheitsforschung unserer Zeit mit die-
sem Beispiel. Trotz immenser Forschungsstätten und Forschungsbudgets
sind die Resultate, zu denen man kommt, wie gesagt voller Krisen und
Leid. Offenbar kann das nicht die Wahrheit sein, nach der die Menschheit
sucht. Ich wiederhole meine Antwort: Die Wahrheit kann nur gesellschaft-
lich sein. Wenn im Prozess der Zivilisation die moralische und politische
Gesellschaft erodiert und unter die strenge Herrschaft des Ausbeutungs- und
Machtmonopols genommen wurde, dann ist die gesellschaftliche Wahrheit
verloren gegangen. Was verloren ging, ging mit den moralischen und po-
litischen Werten verloren. Wenn du es wiederfinden willst, musst du su-
chen, wo du es verloren hast. Gegen Zivilisation und Moderne musst du die
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 419

moralische und politische Gesellschaft, ihre Wirklichkeit suchen und finden.


Damit darfst du dich aber nicht begnügen; du musst die unkenntlich ge-
machte Existenz dieser Gesellschaft wieder aufbauen. Dann wirst du sehen,
dass du jede einzelne Gold werte Wahrheit, die du durch die Geschichte
hindurch verloren hast, wiedergefindest. Das wird dich glücklicher machen.
Und du wirst verstehen, dass der Weg dahin über die moralische und poli-
tische Gesellschaft führt.
Da wir den intellektuellen Arbeitsbereich neu ordnen, muss ich auf
Grundlage meiner Kritik und meiner Prinzipien einige Vorschläge zu
Aufgaben präsentieren.
1. Intellektuelle Anstrengungen, Aktivitäten zu Wissen und Wissenschaft
sollten im Geltungsbereich der moralischen und politischen Gesellschaft,
der grundlegenden Existenzweise der gesellschaftlichen Natur, unternom-
men werden. Die Wirklichkeit der politischen und moralischen Gesellschaft
wurde die Geschichte der Zivilisation hindurch abgetrennt und zunehmend
erodiert. Im Zeitalter der vom Kapitalismus geprägten Moderne wurde
sie vollständig fragmentiert, dem Verfall überlassen und an den Rand des
Verschwindens gebracht.
2. Also müssen die intellektuellen Anstrengungen und die Arbeiten in
Wissen und Wissenschaft vor allem anstreben, diesen Lauf der Dinge aufzu-
halten. Denn es kann keine Wissenschaft von etwas Verschwundenem geben.
Dies könnte nur ein Andenken sein, aber Andenken ist keine Wissenschaft.
Wissenschaft befasst sich mit dem Lebenden, mit dem Existierenden. Wenn
die Gesellschaft in dieser Situation nicht vollständig verschwinden will, muss
sie mit allen ihren Elementen gemeinsam gegen die kapitalistische Moderne
Widerstand leisten. Widerstand ist mittlerweile eine Frage von Sein oder
Nichtsein. Wenn die Intellektuellen nicht als intellektuelles Kapital und
Packesel, sondern als Erforscher*innen der Wirklichkeit in Würde leben
wollen, wenn sie überleben wollen, müssen sie in all ihrer Arbeit sowohl
selbst widerständig sein ebenso wie die Elemente ihrer Forschung notwen-
digerweise eine Dimension des Widerstands enthalten müssen. In diesem
Sinne sind sowohl die Intellektuellen selbst als auch ihre Wissenschaft wi-
derständig. Alles andere wäre Selbstbetrug oder das Verbergen der Identität
als Kapital oder Packesel.
3. Die zu entwickelnde Wissenschaft muss vor allem als ›Sozialwissenschaft‹
organisiert werden. Die Sozialwissenschaft muss als die Muttergöttin aller
Wissenschaften akzeptiert werden. Weder die anderen Wissenschaften, die
sich mit der Ersten Natur befassen (Physik, Astronomie, Chemie, Biologie),
420 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

noch die anderen Humanwissenschaften und Wissen, das die Zweite Natur
betrifft (Literatur, Philosophie, Kunst, Ökonomie etc.), können jemals eine
Vorreiterrolle einnehmen; sie können keine sinnvolle Verbindung mit der
Wahrheit knüpfen. Beide Bereiche können nur einen Teil der Wahrheit erlan-
gen, wenn sie erfolgreich eine Verbindung zur Sozialwissenschaft herstellen.
4. Die Sozialwissenschaft sollte ihr vorrangiges Forschungsfeld, die mora-
lische und politische Gesellschaft, nicht als ein Objekt untersuchen, sondern
für ihre Erforschung eine Methode zugrundelegen, die Dichotomien wie
Subjekt–Objekt, Leib–Seele, Gott–Knecht und unbelebt–belebt, die in der
Wahrnehmung der Menschen tiefe Gräben aufgerissen haben, überwindet.
Differenzierung als Lebensweise des Universums gilt auch für die gesell-
schaftliche Natur und eine viel flexiblere, freiere und intensiver zu findende
Beschreibung. Doch diese Differenzierung auf die Ebene der Spaltung in
Subjekt und Objekt zu heben, die zur Grundlage sämtlicher ideologischen
Strukturen von Zivilisation und Moderne gemacht wurde, bedeutet defini-
tiv die Fragmentierung und den Verlust sowohl der universalen als auch der
gesellschaftlichen Wahrheit.
5. Der Positivismus ist die allgemeine Philosophie dieses Objektivismus,
der über der Wissenschaft im Allgemeinen und über den Sozialwissenschaften
im Besonderen schwebt, und der während der europäischen Moderne sei-
nen Höhepunkt erreichte. In all seiner Gewalttätigkeit ist er immer noch in
vollem Schwung aktiv. Wir werden kein sinnvolles sozialwissenschaftliches
Paradigma (eine radikal anti-zivilisatorische Wissenschaftsphilosophie) ent-
wickeln können, ohne den Positivismus nach umfassender Kritik in den
Mülleimer der Geschichte zu werfen. Auch wenn sie sehr fragmentiert sind
und die Gefahr des Verlustes der Wahrheit mit sich bringen, führt doch kein
Weg daran vorbei, die positiven Errungenschaften und Teile der Wahrheit
der eurozentrischen Wissenschaft, insbesondere der Sozialwissenschaften, zu
verstehen und sich anzueignen. So sehr wir den Positivismus auch kritisieren
und überwinden müssen, so müssen wir uns doch die Teile der Wahrheit,
die er zutage gefördert hat, aneignen. Bei der Erforschung der Wahrheit
kann pauschaler Anti-Europäismus mindestens ebenso sehr wie pauschaler
Pro-Europäismus zu negativen Konsequenzen führen.
6. Die als Postmodernismus bezeichneten Studien der Wahrheit kritisieren
zwar den Positivismus und lehnen die eurozentrischen Sozialwissenschaften
ab, doch kann dieser Ansatz leicht liberal gewendet werden und die Form
eines Anti-Europäismus annehmen, der noch wahrheitsfeindlicher ist.
Zwar sollten wir diese postmodernen Studien, die vom Krisenzustand der
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 421

Sozialwissenschaften profitieren, nicht pauschal ablehnen, aber uns ihnen


durchaus äußerst kritisch nähern. Sosehr die universalistische, progessivis-
tische, lineare Methode und Perspektive des modernistischen Positivismus
in die Irre führt, so droht dieselbe Gefahr auch der extrem relativistischen
und zirkulären Methode vieler Postmodernist*innen. Um in keines dieser
Extreme zu verfallen, ist es notwendig, sich an die genannten Prinzipien zu
halten und sie gut zu verinnerlichen. In einer Krisenatmosphäre ist jede*r
geneigt, den eigenen Weg zur Wahrheit zu suchen, und diese Tatsache allein
kann schon die Wahrheitsstudien in vielerlei Hinsicht in die Irre führen und
wirkungslos machen.
7. Bei der Erforschung der Wahrheit kann unsere Hauptmethode weder
der positivistische Objektivismus noch der relativistische Subjektivismus
sein. Diese beiden Methoden – im Grunde zwei Gesichter des Liberalismus
– zu vermischen und in vielen Varianten auf den Markt zu werfen,
führt zu einer Methodeninflation, durch die intellektuelles Kapital und
Packesel geschaffen werden. Diese Inflation der Methoden ist die effektivs-
te Weise, Wahrheit geradezu unmöglich zu machen. Sie bedeutet, durch
Vermischung von objektivistischen und subjektivistischen Methoden nahe-
zu ebenso viele Methoden zu schaffen, wie es Menschen gibt. Wichtig ist,
sich von dieser Methodenfülle, diesem Akt der inflationären Entwertung
der Wahrheit nicht täuschen zu lassen. Zweifellos besitzt die Wirklichkeit
objektive und subjektive Aspekte. Bewusstsein und Wahrheit drücken
letztlich eine Übereinstimmung im Verhältnis zwischen Beobachtenden
und Beobachtetem aus (nicht im Sinne von Identität, eher vielleicht
als Identifizierung). Je mehr bei diesem Thema eine Vertiefung, eine
Konzentration stattfindet, desto mehr Teile der Wirklichkeit treten zutage.
In dieser Situation sind weder Beobachtende in der Position von Subjekten,
noch das Beobachtete in der Position des Objekts; es bedeutet eher die
Annäherung beider, eine Identifizierung, aber kein Identisch-Werden. Der
Prozess der Maximierung der Wahrheit ist ein Prozess, der die Möglichkeit
einer derartigen Identifizierung wahrnimmt. Momentan möchte ich die
Methode so definieren, ohne ihr einen Namen geben zu müssen. Zweifellos
vernachlässigen wir nie und nirgends, dass die Haupteinheit, die beobachtet
und beobachtet wird, die moralische und politische Gesellschaft ist.
8. Die grundlegenden Orte der Forschung können nicht die Universitäten
und die anderen offiziellen Institutionen von Zivilisation und Moderne sein.
Gestern wie heute bedeutet die Integration der Wissenschaft in die Macht
und ihre Produktion in offiziellen staatlichen Institutionen einen Verlust
422 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

der Verbindung zur Wahrheit. Das Band zwischen Wissenschaft und der
moralischen und politischen Gesellschaft zu kappen und so ihren gesell-
schaftlichen Nutzen über Bord zu werfen, bedeutet Beihilfe zur Errichtung
der Monopole von Repression und Ausbeutung über der Gesellschaft. So,
wie die Frau ihre eigene freie Wirklichkeit und Wahrheit verliert, wenn sie in
Privathäuser und Bordelle eingesperrt wird, verlieren auch Intellektuelle und
Wissenschaft ihre Freiheit und tatsächliche Identität, wenn sie in offizielle
Institutionen eingesperrt werden. Zweifellos bedeutet das nicht, dass in die-
sen Institutionen gar keine Intellektuellen ausgebildet werden und gar kei-
ne Wissenschaft produziert wird. Verstehen müssen wir, dass Intellektuelle
und Wissenschaft, die in die Macht integriert werden, sich von ihrem Ziel
verabschieden, bezogen auf die gesellschaftliche Realität zu forschen und
zu erfinden. Dass Ausnahmen von Intellektuellen und Werken mit wissen-
schaftlichem Wert existieren, ändert nichts an der grundsätzlichen Tatsache.
9. Für die Sozialwissenschaft ist institutionelle Revolution, mit anderen
Worten ein Umbau, unbedingt nötig. So, wie in der Zeit der griechisch-io-
nischen Aufklärung unabhängige philosophische und wissenschaftliche
Akademien entstanden, wie im Mittelalter sowohl in der islamischen als
auch in der christlichen Tradition Tekke, Dargāh und Kloster eine ähnliche
Rolle spielten, und wie auch die europäischen Bewegungen Renaissance,
Reformation und Aufklärung jeweils gleichzeitig intellektuelle und wis-
senschaftliche Revolutionen waren, so brauchen wir heute ähnliche
Revolutionen für den Ausweg aus der gegenwärtigen Krise. Die vierhundert-
jährige ideologische Hegemonie der Moderne ist mindestens so tief wie ihre
Hegemonie über die materielle Kultur und nicht in der Lage, die sich verste-
tigende Krise zu überwinden. Ohne eine Intervention der demokratischen
Moderne in Form und Inhalt wird die Krise unweigerlich weiter zerrüttend
und desintegrierend wirken. Es gibt ein reiches intellektuelles und wissen-
schaftliches Erbe revolutionärer Aufbrüche: von den utopischen Sozialisten
zu den wissenschaftlichen Sozialist*innen, von den Anarchist*innen bis zur
Frankfurter Schule, von der französischen Philosophie der zweiten Hälfte
des zwanzigsten Jahrhunderts und zuletzt postmodernistischen, feministi-
schen und ökologistischen Aufbrüchen seit den 1990er Jahren. Die demo-
kratische Moderne muss sowohl die intellektuellen Glanzleistungen der Ära
der Zivilisation und ihre Revolutionen als auch die positiven Merkmale der
anti-modernen intellektuellen Aufbrüche verinnerlichen und davon ausge-
hend ihre eigene intellektuelle und wissenschaftliche Revolution machen.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 423

Institutionalisierung ist eine der Bedingungen dieser Revolution. Um


den Erfolg der intellektuellen Revolution auf globaler Ebene zu verwirk-
lichen, brauchen wir ein neues, globales institutionelles Zentrum auf der
Grundlage der Lektionen aus den genannten historischen Erfahrungen. Um
diesen Bedarf zu befriedigen, könnte eine ›Weltkonföderation der Kulturen
und Akademien‹ aufgebaut werden. Diese Konföderation müsste in einer
freien Gegend errichtet werden, wäre an keinen Nationalstaat und keine
Macht angebunden und müsste auf der Grundlage einer Gegnerschaft zu
den Kapitalmonopolen entstehen. Ihre Unabhängigkeit und Autonomie ist
wesentlich. Eine Beteiligung könnte aus allen lokalen Kultureinrichtungen
sowie regionalen und nationalen Akademien auf Grundlage einer Akzeptanz
von Prinzipien bezüglich Programmatik, Organisation und Aktion stattfin-
den. Die Konföderation kann auf lokaler, regionaler, nationaler und konti-
nentaler Ebene Institutionen mit bestimmten Aufgaben gründen.
10. Demokratische Akademien für Politik und Kultur könnten geeigne-
te Institutionen sein, um diese Aufgabe zu übernehmen. Diese Akademien
können die nötige intellektuelle und wissenschaftliche Unterstützung für
den Wiederaufbau der moralischen und politischen Gesellschaftseinheiten
leisten. Anstatt sich offizielle und private Monopolinstitutionen zum Vorbild
zu nehmen, sollten sie sich lieber auf eigene, authentische Weise strukturie-
ren. Eine Imitation der Institutionen der Moderne kann in einem Misserfolg
resultieren. Grundsätze sollten Autonomie und Demokratie, die Gestaltung
des eigenen Programms und der eigenen Kader sowie die Freiwilligkeit für
Lernende und Lehrende sein. Es sollte in Betracht gezogen werden, dass
anfangs Lehrende und Lernende oft die Rollen tauschen können und dass
alle, die einen Anspruch und ein Ziel haben, die Möglichkeit haben müssen,
mitmachen zu können – von den Schäfer*innen in den Bergen bis zu den
Professor*innen in den Städten. Es kann sinnvoll sein, Akademien mit über-
wiegend Frauen zu gründen, um außer den gleichen Inhalten auch die spe-
zifischen Aspekte der Realität der Frau wissenschaftlich zu behandeln. Um
nicht nur theoretisch zu bleiben, ist eine vielseitige Beteiligung an der Praxis
ein erwünschtes Merkmal. Akademien werden in Hinblick auf Ort und Zeit
entsprechend praktischer Bedürfnisse gegründet und betrieben. Wie in vie-
len historischen Beispielen (die zoroastrischen Feuertempel auf Berggipfeln,
die Gärten des Platon und Aristoteles, die Säulenhallen am Straßenrand von
Sokrates und den Stoikern, die mittelalterlichen Klöster und Tekke usw.)
sind es einfache und auf Freiwilligkeit basierende Einrichtungen. Jeder
Ort, vom Berggipfel zur Ecke im Stadtteil kommt dafür infrage. Zweifellos
424 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

sollten sie Gebäude meiden, die den Hochmut der Macht demonstrieren.
Wie in Klöstern und zivilen Medressen kann die Dauer der Bildung je nach
Situation der Teilnehmenden und der Stärke des Zustroms von Lernenden
geregelt werden. Es ist nicht notwendig, wie bei offiziellen Institutionen star-
re Ausbildungszeiten festzulegen. Allerdings ist auch ein völliges Fehlen von
Formen und Regeln nicht denkbar. Ethische und ästhetische Regeln sollte
es auf jeden Fall geben.
Zum Wiederaufbau der Einheiten der demokratischen Moderne ist ein
intellektueller und wissenschaftlicher Beitrag notwendige Bedingung. Das
am Markt befindliche intellektuelle Kapital kann offenbar diese Bedingung
nicht erfüllen. Den Bedarf können nur eine Wissenschaft und ein Kader
decken, die den neuen Akademien entstammen.

Diese kurzen Einschätzungen zu den intellektuellen Aufgaben und


Prinzipien für eine Lösung besitzen zweifellos den Charakter von
Vorschlägen und erfordern eine Diskussion. Die Bedingungen der Krise las-
sen sich nur mit neuen intellektuellen und wissenschaftlichen Aufbrüchen
in positiver Weise überwinden. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die
Krise globalen, systemischen und strukturellen Charakter besitzt, so ist klar,
dass auch der Ausweg globale, systemische und strukturelle Interventionen
erfordert. Zahllose revolutionäre Erfahrungen haben uns gelehrt, dass uns
die Imitation alter Schablonen, Institutionen und Wissenschaften oder ein
Eklektizismus nirgendwohin führen.
Eine der wichtigsten Lektionen aus der Vergangenheit ist, dass die de-
mokratische Moderne sich gleichzeitig und in Verknüpfung mit einer ra-
dikalen aufklärerischen Revolution aufbauen muss. Dabei muss ich sofort
betonen: Vergangenheit ist Gegenwart. Wir sollten nicht ignorieren, dass
neolithische Gesellschaft, dörflich-agrarische Gesellschaft, Nomadentum,
Sippe und Stamm sowie religiöse Gemeinden hartnäckig weiterexistieren.
Wir haben nur wenig von der gesamten Vergangenheit der moralischen und
politischen Gesellschaft als der eigentlichen Daseinsform der gesellschaftli-
chen Natur gesprochen. Doch um die Werte zurückzugewinnen, die durch
die fünftausendjährige Akkumulation von Kapital und Macht verloren gin-
gen, wird die revolutionäre intellektuelle und wissenschaftliche Produktion
die am dringendsten benötigte Unterstützung beim Aufbau der demokra-
tischen Moderne bilden. Um diesem absolut notwendigen Bedarf gerecht
zu werden, ist es wichtiger denn je, dass wir uns auf unsere intellektuellen
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 425

Aufgaben konzentrieren, unsere analytischen Bemühungen intensivieren


und Lösungen finden.
426 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

B Moralische Aufgaben

Die Moral gehört zu den gesellschaftlichen Institutionen, über die zwar


viel geredet wird, deren Analyse aber trotzdem nicht gelingt. Trotz al-
ler Theoretisierungsbemühungen unter dem Namen der Ethik sind die
Fortschritte in der Praxis ziemlich enttäuschend. Dass das gesellschaft-
liche Dasein immer unmoralischer wird, ist eine auf wissenschaftlichen
Beobachtungen basierende Feststellung. Aber die Ursachen und Folgen
davon wurden noch nicht ausreichend beleuchtet. Die Moral wurde in
eine diskreditierte Institution und Position verwandelt. Sie ist allerdings als
Thema und Institution viel wichtiger als allgemein angenommen. Sowohl
die Krisen im Laufe der Geschichte als auch die gegenwärtige globale Krise
sind größtenteils Folgen fehlender Moral. Das gesellschaftliche Gewissen
scheint in der Geschichte eine Wahrheit kundtun zu wollen, als es die
Überflutung Sodoms (eine antike Stadt in der Nähe des Toten Meeres) und
Pompeis vom aus dem Vulkan ausgebrochenen Lavastrom durch morali-
sche Verkommenheit begründete! Moralische Verkommenheit führt zum
Niedergang von Gesellschaften. Was Fluch der Götter genannt wird, ist
im Grunde genommen eine Projizierung des Bestrafungsakts des gesell-
schaftlichen Gewissens (der Moral) auf das Himmlische. Wenn wir den
Gottesbegriff als erhabenste und heiligste Identität der Gesellschaft deuten,
ist der Fluch der typische, der Gesellschaft eigene Bestrafungsakt.
Die begriffliche Definition der Moral ist eine einfache Sache. Sie ließe
sich als ein den gesellschaftlichen Sitten, Gewohnheiten und Regeln ent-
sprechendes Leben definieren. Diese Erklärung bleibt aber recht formal.
Die Analysen antiker und neuzeitlicher Philosophen (allen voran Platon,
Aristoteles und Kant) unter dem Namen der Ethik leisteten keinen über die
Einführung in die Staatstheorie hinausgehenden Beitrag dazu. Besser gesagt,
ihre Analysen scheinen Vorbereitungen dafür zu sein, das Individuum von
seiner Gesellschaftsangehörigkeit loszusagen und zum Staatsangehörigen
zu machen. Offensichtlich legten sie eine Herangehensweise an den
Tag, die die Aufgabe der Moral darin sieht, dass das Individuum in ei-
nen für den Staat möglichst nützlichen Zustand versetzt wird. Kurz, ihre
Moralinterpretationen sind zivilisatorisch.
Wie bei jedem anderen gesellschaftlichen Thema auch, ist es in Bezug auf
die Moral aufschlussreicher, bei der Analyse die Geschichte heranzuziehen.
Wir wissen, dass während achtundneunzig Prozent des gesellschaftlichen
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 427

Zeitalters nicht das Recht, sondern moralische Regeln galten. Genau aus die-
sem Grund reden wir von der moralischen Gesellschaft. Deswegen wird jede
Interpretation von Moral unzulänglich bleiben, solange man nicht bestens
weiß, welche Funktion sie in jener langen Phase erfüllte. Die gesellschaft-
liche Natur als die Natur zu definieren, der die meiste flexible Intelligenz
innewohnt, könnte das Thema erhellen. Unter flexibler Intelligenz verste-
hen wir eher, denkend zu arbeiten. Das Verhältnis zwischen Denken und
Arbeit wird gezwungenermaßen Regeln voraussetzen. Denn zu bestim-
men, wie die Arbeit zu tun ist, ist ohnehin eine Regelsetzung. Diesen ers-
ten Bestimmungsakt, der sich auf die Arbeit bezieht, können wir auch zur
ersten moralischen Regel erklären. Mit Arbeit meinen wir hier jegliche
gesellschaftliche Aktivität. Jeder Akt von Essen und Schlafen über Laufen
und Nahrungsfindung bis hin zu Freundschaft oder Auseinandersetzung
mit Tieren, Beschäftigung mit Pflanzen und Fischen ist Arbeit. Und eben
diese Arbeit könnte nicht ohne Regeln erledigt werden, wobei das Nicht-
Erledigen davon den Tod der Gesellschaft bedeutete.
An diesem Punkt erscheinen Begriffe, die die Gesellschaft in eine wirt-
schaftliche Basis und einen moralischen Überbau aufteilen, unsinnig. Die
Moral lässt sich als den besten wirtschaftlichen Weg oder – besser – als
den besten Weg zur Befriedigung der vitalen Grundbedürfnisse definie-
ren. Die Moral als Sitte und Gebrauch ist die Wirtschafts- beziehungsweise
Beschaffungsweise von Mitteln zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Aus
diesem Grund ist die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau fern
davon, ein sinnvolles Begriffspaar darzustellen. Moral bedeutet, dass alle ge-
sellschaftlichen Aktivitäten, allen voran die wirtschaftlichen, in einer guten
Weise umgesetzt werden. Folglich ist alles Gesellschaftliche auch moralisch
und alles Moralische gesellschaftlich. Beispielsweise ist die Religion genau-
so moralisch wie die Wirtschaft. Die Politik als direkte Demokratie ist die
Moral selbst.
Es ist also von Anfang an ein lebenswichtiges Thema für die Gesellschaft,
die erste Regel, die Moral einer Arbeit festzulegen. Die beste Art und Weise,
eine Arbeit zu erledigen, etabliert sich in den Köpfen als die beste moralische
Regel. Und diese wird im Laufe der Zeit weiter vervollkommnet und vom
gesellschaftlichen Gedächtnis als feste Tradition einverleibt. So entsteht die
Moral. Dies ist, was man Brauch, Tradition nennt. Der wichtigste zu ana-
lysierende Aspekt hier ist, dass Moral sich genauso sehr auf die gesellschaft-
liche Arbeit bezieht, wie sie eine geistige Aktivität ist. Sie bedarf sowohl
der geistigen Anstrengung als auch der gesellschaftlichen Aktivität. Ich für
428 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

meine Person bevorzuge dafür den Ausdruck ›der ursprüngliche Zustand der
Demokratie‹. In diesem Fall werden die ursprüngliche Demokratie und die
Moral identisch. Da die Gesellschaft eher lebenswichtigen Arbeiten nach-
geht, ist es für sie unabdingbar, über die Arbeit viel nachzudenken und zu
diskutieren. Sie begnügt sich aber damit auch nicht, sondern es stellt eine
unverzichtbare Notwendigkeit im Leben dar, sich darauf zu fokussieren, wie
die Arbeit am besten zu leiten und zu erledigen ist.
Es ist eindeutig, dass sowohl das Denken, Diskutieren und Entscheiden
als auch die Umsetzung und Verwandlung jener Entscheidung in
Arbeitserfolg partizipative, direkte Demokratie sind, die die unmittelbarste
Form von Demokratie darstellt. Dies ist zugleich die moralische Führung
und das moralische Leben der Gesellschaft. Das heißt also, dass Moral und
Demokratie denselben Ursprung teilen: den kollektiven Verstand und die
Arbeitsfähigkeit der gesellschaftlichen Praxis. Also verbrachte nicht nur ein
achtundneunzigprozentiger Teil der historischen Gesellschaft sein Leben mit
Moral und ursprünglicher Demokratie, sondern auch bis heute wird in sehr
zersplitterten und sich selbst überlassenen gesellschaftlichen Einheiten vor-
wiegend nicht Recht, sondern Moral praktiziert. Auch wenn diese sehr dege-
neriert wurde, sollte man sehr gut wissen, dass das Leben – von der Familie
bis hin zur Ethnizität und sogar bis hin zum Erledigen von rechtlich bis ins
kleinste Detail geregelten Arbeiten – ohne Moral nicht funktionierte. Das
Recht ist nur ein Schleier. Die eigentliche Kraft, die die Arbeit funktionieren
lässt, ist und bleibt die Moral.
Bei der Betrachtung des Zivilisationsprozesses stellt man in Bezug auf die-
ses Thema zunächst fest, dass stets versucht wurde, die staatlichen Normen
gegenüber den moralischen durchzusetzen. Dass die erste Gesetzessamlung,
die als Codex Hammurabi108 bekannt ist, in eine massive Stele eingraviert
wurde, erklärt diesen Umstand ziemlich gut. Vielleicht wird man meinen,
die Moral sei unzulänglich gewesen und das Recht sei deswegen notwen-
dig geworden, doch dieser Ansatz ist falsch. Das Problem war nicht, dass
die Moral unzulänglich geworden, sondern dass die moralische Gesellschaft
ausgehöhlt worden war. Wir haben vielfach festgestellt, wie die Moral aus-
gehöhlt wurde. Man fing an, über der Gesellschaft vielfältige Kapital- und
Machtmonopole zu errichten. Die produzierten gesellschaftlichen Werte
wurden gewaltsam angeeignet. In einem solchen Fall können wir nicht

108 Der Codex Hammurabi ist nach dem gleichnamigen König von Babylon, Sumer und Akkad benannt und
rund 3800 Jahre alt. Er umfasst 282 Paragraphen zu Staatsrecht, Liegenschaftsrecht, Schuldrecht, Eherecht,
Erbrecht, Strafrecht, Mietrecht und Viehzucht- sowie Sklavenrecht.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 429

von der Unzulänglichkeit der Moral, sondern von der Unterwerfung der
Gesellschaft unter eine Herrschaft und von ihrer Unterdrückung und
Ausbeutung durch die Umsetzung der rechtlichen Regeln sprechen, die
Regeln der staatlichen Verwaltung genannt werden. Infolgedessen wurden
der Bereich der Moral, aber auch der der mit ihr unmittelbar verbundenen
direkten Demokratie immer mehr eingeschränkt. Dagegen dehnte sich der
Bereich der Staatsverwaltung und des Rechts aus. Was die eine Seite verlor,
gewann die andere. Richtiger: Man ließ die Moral durch Staatsgewalt ver-
lieren. Dies gelang, indem ihr Bereich eingeschränkt und ihre Praktizierung
erschwert wurde.
Später wurde in allen zivilisierten Gesellschaften der Bereich der Moral
(und der direkten Demokratie) weiter eingeschränkt und der Anteil des
Rechts stets vergrößert. Schließlich wird diese Tatsache dadurch bestätigt,
dass das Recht der römischen Zivilisation, die sozusagen das Ende und ei-
nen Querschnitt der altertümlichen Zivilisationen darstellte, das am meis-
ten eingesetzte Instrument der staatlichen Verwaltung ist. Das römische
Recht ist nach wie vor einer der Grundpfeiler des Rechts überhaupt. In
der europäischen Zivilisation, mit anderen Worten: in der Moderne, erlebt
die Gesellschaft sozusagen eine Invasion des Rechts. Es handelt sich da-
bei um eine Art des Rechtskolonialismus. Während der Bereich der Moral
in die entlegensten Ecken des Lebens verdrängt wird, wird dem Recht ein
Ehrenplatz eingeräumt.
Was drückt diese Tatsache aus? Dass das Kapital- und Machtmonopol über
der Gesellschaft ein größeres Gewicht erlangte. Wenn wir uns die Moderne
der letzten vier Jahrhunderte anschauen, sehen wir die Verwirklichung der
maximalen Kapitalakkumulation und einer Vergrößerung der Macht, ge-
nauer gesagt: die ineinander verwobene kumulative Akkumulation beider.
Was wir in Bezug auf die Moral anmerken sollten, ist nicht, dass sie ihre
Funktion verlor, sondern dass sie ihrer Funktion beraubt wurde. Der Moral
wurde die Gesellschaft entrissen, in welcher sie Anwendung hätte finden
können. Aus diesem Grund stellt die Behauptung, man bedürfe des Rechts,
da die komplizierter gewordene Gesellschaft nicht mehr mithilfe der Moral
regiert werden könne, eine große Lüge und ein unmoralisches Urteil dar. Es
kann überhaupt nicht von der Unzulänglichkeit, dem Misserfolg der Moral
und ihrer Dysfunktionalität aufgrund der gesellschaftlichen Komplexität die
Rede sein. Auch an dieser Stelle ist eine einfache liberale Hegemonieregel
am Werk: Das Ausmergeln der Konkurrenz, um sie einfacher eliminieren
zu können. Es ist sehr eindeutig, dass die ideologische Hegemonie des
430 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Liberalismus bei der negativen Beurteilung der Moral im Zeitalter der kapi-
talistischen Moderne eine Rolle spielt. Wer weiß denn nicht, dass das Recht,
durch das die Moral ersetzt wurde, wirklich voller undurchführbarer, der
Vernunft und dem Gewissen völlig widersprechender Regeln ist! Wie ein
türkisches Sprichwort so zutreffend sagt, ergeht es einem schlechter als einem
Suppenhuhn, wenn man vor Gericht steht. Je mehr rechtliche Regeln es an
einem Ort, in einer Institution gibt, ein desto effektiveres Unterdrückungs-
und Ausbeutungsmonopol existiert dort. Praktische Fakten bestätigen diesen
Aspekt in jeder Institution, in die man seinen Fuß setzt.
Eine der wichtigen Fragen, die man zu diesem Thema stellen sollte, ist
folgende: Was kann besser leiten, die Moral oder das Recht? Obwohl unse-
re Erzählung bereits eine Antwort auf diese Frage beinhaltet, erklärt allein
die Tatsache die Wahrheit ziemlich gut, dass das Recht eine unerwünschte
Leitung darstellt. Es ist allgemein bekannt, dass das Recht als ›Vollstreckung
der Gesetze durch die Staatsgewalt‹ definiert wird. Aber bei der Moral gibt
es keine zwangsmäßige Vollstreckung. Eine innerlich nicht angenomme-
ne Regel kann man ohnehin nicht als eine moralische bezeichnen. Es ist
eindeutig, dass bei einem Vergleich der Regierung durch Recht und der
Regierung durch Moral das Gute überwöge und die Waagschale, in die die
Moral geworfen wird, definitiv die schwerer wiegende wäre.
Das Verhältnis zwischen der Moral und Religion ist eine Frage, die
eine Analyse erfordert. So wie nicht-zivilisierte und anti-zivilisatorische
Gesellschaften die Moral mit der direkten Demokratie identifizieren kön-
nen, lässt sich eine ähnliche Identifikation auch zwischen der Religion und
Moral herstellen. Unter Bedingungen, wo die Religion noch nicht den
Stempel der Zivilisation trägt, werden Religion und direkte Demokratie
als ineinander verwobene Phänomene erlebt. Die Entstehung der Moral
ging der der Religion voraus. So wie es aussieht, hat die Religion mit be-
stimmten Dimensionen der Moral zu tun, nämlich mit den Tabus, der
Heiligkeit und Verzauberung, der Schwierigkeit zu verstehen und dem
Gefühl und Gedanken, die Naturkräfte nicht kontrollieren zu können. Dass
die Gesellschaft auch die Natur außer ihrer eigenen kennenlernte und ak-
zeptierte, erweckte sowohl Angst als auch Barmherzigkeit. Der Gedanke
der Gesellschaft, die negativen Seiten jener Natur, zwischen der und sich
selbst sie nun eine enge Verbindung entdeckt hatte, zu vermeiden und sich
ihrer positiven Seiten zu bedienen, scheint der Ursprung der primitiven,
ursprünglichen religiösen Institution und Tradition zu sein.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 431

Es ist unumstritten, dass die Religion eine vorzivilisatorische Institution


darstellt. Sie umfasst eher die verbietenden, zu fürchtenden Aspekte der
Moral und ihre Elemente Barmherzigkeit und Gnade. Im Laufe der Zeit
wurde sie zu einer viel strengeren Tradition. In diesem Sinne bildeten die
strengsten heiligen Gebote und Regelungen der Moral die Religion. Obwohl
die Religion aus der Moral heraus entstand und anfangs einen Teil von ihr
bildete, verwandelte sie mit sich ändernden räumlichen und zeitlichen
Bedingungen ihre Institutionen und Regeln in viel strengere Gesetze, de-
ren Einhaltung eine Pflicht war, (Moses’ Ordnung der Zehn-Gebote) und
erklärte so ihre Unabhängigkeit und Dominanz. Man kann sie auch mit
Recht vergleichen, welches einen ähnlichen historischen Aufbruch darstell-
te. Die rechtlichen Regeln, die zunächst Teil der moralischen Regeln wa-
ren, verwandelten sich mit der Staatsgründung in Gesetze, die gewaltsam
durchgesetzt wurden, und bildeten somit das Recht, wie wir es kennen. Mit
dem Fortschritt des Zivilisationsprozesses erlebte die Religion eine weitere
Veränderung und wurde mit ihren zugunsten der Machtkräfte transformier-
ten Dimensionen in eine Göttlichkeitskraft verwandelt, die die Gesellschaft
hart bestrafen konnte. Die Monopolinteressen, die das Recht mit staatli-
cher Hand durchsetzte, versuchte die neue Religion, die den Stempel der
Zivilisation trug, mit Gottes Hand durchzusetzen.
Beide Transformationen waren bedeutend. Sie machten die zwei wich-
tigsten Bruchmomente in der Geschichte aus. Es stellt eine Grundregel
der Hegemonie dar, dass die aufsteigende Macht und königliche Autorität
an Stärke gewannen, indem sie sich mit göttlichen Begriffen beschrieben.
Immer wenn man an der Oberfläche des Gottesbegriffes kratzt, kommen
Tyrannei, Plünderung und die Kraft der Staats- und Machtapparate, die
Menschen sklavenhaft arbeiten zu lassen, zum Vorschein. Allerdings ist es
ebenso wichtig, festzustellen, dass die mit der Moral identischen Elemente
des sich in der gesellschaftlichen Dimension befindenden Teils der Religion
sich in Natur- und Gesellschaftseinheiten verwandelten. So kann man die
Entwicklung der Religion im Laufe der Zivilisationsgeschichte als eine
Identität, Tradition und Kultur mit Doppelcharakter deuten. So sehr die
Religion und der Gott als Identität der Zivilisationskräfte mit den Begriffen
Angst, Bestrafung, Höllenfeuer, Hunger, Vernichtung, Erbarmungslosigkeit,
Krieg, Unterdrückung, Herrschaft, Besitztum und Anbetung (man sollte
nicht vergessen, dass diese Begriffe am meisten die Zivilisationskräfte und
-persönlichkeiten beschreiben) aufgeladen sind, sind die Religion und
Gottesidentität der Kräfte der moralischen und politischen Gesellschaft
432 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

genauso sehr mit den Begriffen Mut, Verzeihung, Erbarmen, Hoffnung,


Nicht-ohne-Nahrung-Lassen, Am-Leben-Erhalten, Barmherzigkeit, Liebe,
Frieden, Sich-in-ihrem-Wesen-Auflösen, Zusammenfinden aufgeladen.
Es ist also äußerst aufschlussreich, die Religion im Laufe der
Zivilisationsgeschichte durch diese beiden Identitäten zu definieren. Die
abrahamitischen Religionen tragen typischerweise beide dieser Tendenzen
in ihren Herzen. So sehr die hohen Vertreter der Religion (Priester,
Rabbiner, Schaich al-Islam, Ajatollah) die Zivilisationstendenz widerspie-
geln, spiegeln Gläubige auf unterster Ebene die Tendenz der demokratischen
Zivilisation wider. Diese beiden Tendenzen können je nach Zeit und Ort
Ebenbürtigkeit und Dominanz erlangen. Die abrahamitischen Religionen
erinnern in dieser Hinsicht an die Sozialdemokratie der Moderne. Genauso
wie Sozialdemokrat*innen in der modernen Ära den Kompromiss zwischen
der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse repräsentieren (selbstverständlich
unter der Hegemonie der Kapital- und Machtmonopole), repräsentieren
die abrahamitischen Religionen im Laufe der Zivilisationsgeschichte den
Kompromiss zwischen den Kapital- und Machtkräften der Zivilisation
und den Kräften der demokratischen Zivilisation (wiederum unter der
Hegemonie der Machtkräfte).
In der Geschichte begegnen wir mit dem Zoroastrismus und Zarathustra
einem außergewöhnlichen Verhältnis zwischen Religion und Moral. Die
meisten Forschungen erklären Zarathustra und seine Lehre zu einer gro-
ßen moralischen Revolution. Diese moralische Revolution, die sich als eine
Tendenz entfaltete, die in einer soziokulturellen Atmosphäre am Fuße des
Zagros-Gebirges (eine Kultur, die sich seit der neolithischen Revolution um
12000 v. Chr., sogar seit dem Ende der letzten Kaltzeit – ca. 20000 v. Chr.
– entfaltet hatte), in der Menschen von Landwirtschaft und Tierzucht leb-
ten, gegen die mythologische und religiöse Hegemonie der sumerischen
Zivilisation (ab 3000 v. Chr.) vielmehr eine säkulare, weltliche Moral ver-
trat als eine Heiligkeit, wurde zwar mit Bezug auf den Namen Zarathustras
Zoroastrismus genannt; ihre Wurzeln reichen aber eigentlich viel tiefer.
Offensichtlich stellte sie mit Zarathustras berühmten Worten „Wer bist du?“
die mythologische und religiöse Göttlichkeit der sumerischen Zivilisation
infrage. Aus diesem Grund war diese erste moralische Kritik der Religionen
und Götter der Zivilisation von sehr großer Wichtigkeit. Nicht ohne Grund
gab Friedrich Nietzsche seinem berühmten Werk den Namen ›Also Sprach
Zarathustra‹ und füllte es mit zoroastrischen moralischen Urteilen. Nietzsche
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 433

selbst ist in dieser Hinsicht als der stärkste Interpret der Zivilisation bekannt.
Dass er sich als Zarathustras und Dionysos’ Jünger verstand, ist vielsagend.
Im Zoroastrismus überwogen Elemente der demokratischen Zivilisation.
In der zoroastrischen Familie herrschte in den Beziehungen zwischen Mann
und Frau nahezu Gleichheit. Tiere wurden nicht gequält, ihr Fleisch wurde
meistens nicht gegessen. Hauptsächlich bediente man sich ihrer Produkte.
Der Ackerbau genoss große Wertschätzung. Von Göttlichkeit bereinigte
Begriffe von Gut und Böse traten in den Vordergrund. Eine dualistische
Denkweise, die die ersten Schritte der Dialektik ausmachte, (die Kräfte des
Lichts und der Finsternis) war sehr deutlich. Man versuchte das Universum
dialektisch zu begreifen. Die Leitung der Gesellschaft anhand starker mo-
ralischer Grundsätze bildete die Grundlage des Ganzen. Der Zoroastrismus
stellte mit all diesen Eigenschaften offensichtlich eine starke moralische
Revolution gegen die Sumerer und die Zivilisationen, die ihnen entsprangen,
dar. Es ist bekannt, dass die Medische Konföderation und das Perserreich,
ihr Nachfolger, (leider entstellten die Perser diese Moral ziemlich) die größ-
ten Erzeugnisse dieser Revolution waren. Mani (um 250 n. Chr.) wollte
zwar eine zweite Revolution in der Tradition dieser Morallehre machen,
wurde aber von ziemlich degenerierten sassanidischen Kaisern daran ge-
hindert. Mani selbst wurde hart bestraft. Es handelte sich dabei um die
Auseinandersetzung zwischen zwei religiösen und moralischen Identitäten.
Noch heute sind vom Nahen Osten bis nach Indien und Europa Spuren
der zoroastrisch-manichäischen Moraltradition (Madschūsen, Jesiden)
zu finden. Das Wort zend(ik) ist zoroastrischen Ursprungs und bildet die
etymologische Herkunft des Wortes science, das im Englischen soviel wie
Wissenschaft bedeutet.109 Es sollte hervorgehoben werden, dass sowohl jü-
dische Propheten im babylonischen Exil (600-546 v. Chr.) als auch grie-
chisch-ionische Philosophen in der Ära des medisch-persischen Reiches und
mit diesen beiden Kreisen auch europäische Orientalisten sich von der zoro-
astrischen Tradition unmittelbar nährten. Konfuzius, Sokrates und Buddha,
von denen angenommen wird, dass sie Zarathustras Zeitgenossen waren,
(sechstes und fünftes Jahrhundert v. Chr.) stützen ihre Lehren im Grunde
genommen auch auf die moralische Gesellschaft und vertraten eine sehr
starke moralische Verteidigung gegen die Bedrohung der Moral durch die
Zivilisation. Im Mittelalter nahm das moralische Element in der islamischen

109 Als Zend werden die Kommentare zur heiligen Schrift des Zoroastrismus, des Avesta, bezeich-
net. Die Wörter gnosis (griech. für Wissen), know und narrate sind über die proto-indogerma-
nische Wurzel *gno- (kennen) mit zend(ik) verwandt.
434 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

und der christlichen Lehre einen großen Platz ein. Im Zeitalter der europäi-
schen Zivilisation dagegen ereignete sich eine große moralische Erosion, auf
deren Ursachen wir bereits umfangreich eingegangen sind.
Selbst diese kurze Vergegenwärtigung historischer Fakten zeugt von
der großen Widerstandsfähigkeit der moralischen Gesellschaft. Solange
die Moral sie selbst blieb, hat sie sich nicht den Zivilisationskräften erge-
ben. Der Demos hat nie aufgehört, gegen die Religion und das Recht der
Zivilisation, die ihm aufgezwungen wurden, auf der Moralität zu bestehen.
Die gegenwärtigen Hauptprobleme und -aufgaben in Bezug auf die Moral
haben mit ihrer Positionierung zu tun. Zur Ethik (Moraltheorie) als einer
sozialwissenschaftlichen Disziplin zu arbeiten, ist eine Aufgabe, die ohne
Zweifel mit dem intellektuellen Feld zu tun hat. Das Wichtigste ist, wie die
Ethik in die Gesellschaft integriert, wie die erodierte moralische Gesellschaft
wieder auf einer stärkeren Grundlage mit Moral ausgestattet werden kann.
Die Aufgabe, die Moral wiederaufzubauen, ist nicht nur ein Problem
des Jahrhunderts oder der Moderne, sondern der Aufrechterhaltung der
Gesellschaft überhaupt. Es hat sich bereits herausgestellt, dass die globale
Krise nicht nur durch die Kraft rechtlicher Gewalt überwunden werden
kann. Die Rückkehr zur Religiosität ist ebenfalls ein hoffnungsloser Fall.
Man sollte gut begreifen, dass kein Weg die Moderne aus der Krise heraus-
führen wird, solange das starke moralische Gewebe der gesellschaftlichen
Natur nicht wieder Funktionsfähigkeit erlangt hat. Gegenwärtig erleben wir
die Krise, die von allen gesellschaftsfeindlichen Kräften des fünftausendjäh-
rigen Zivilisationssystems gegen die moralische Gesellschaft ausgelöst wur-
de. Dementsprechend ist es eine dialektische Notwendigkeit, den Ausweg
in der moralischen Gesellschaft und aufgrund der Identität zwischen der
Moral und der direkten Demokratie in der politischen Gesellschaft zu su-
chen. Solange man sich nicht grundsätzlich auf diese Feststellung geeinigt
hat, kann keine moralische Aufgabe richtig bestimmt werden.
Wenn wir also die moralischen Aufgaben, die die demokratische Moderne
bei ihrem Wiederaufbau, ihrer größten Waffe bei ihrem starken Aufbruch ge-
gen die globale Krise der kapitalistischen Moderne, erwarten, als Prinzipien
festlegen wollen, können wir folgendes sagen:
1 – Die globale Krise der Moderne (die gegenwärtige systemische und
strukturelle Krise) ist eine Folge der Zerstörung der moralischen Gesellschaft
durch die fünftausendjährigen Zivilisationskräfte, und gemäß der Dialektik
muss der Ausweg aus der Krise im Wiederaufbau der moralischen
Gesellschaft gesucht werden; dieser Aufbau ist die Hauptoption.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 435

2 – Die moralische und politische Gesellschaft, die Grundeinheit der de-


mokratischen Moderne, setzt ihre Existenz als gesellschaftliche Natur trotz
aller Bemühungen der Kräfte der Zivilisation und Moderne, sie zu ero-
dieren, zu zerrütten und zu zerstören, auf breiter Front fort. Während die
Zivilisationskräfte ein kleines elitäres Netzwerk bilden (sie machten wohl
nie mehr als zehn Prozent der gesellschaftlichen Natur, der moralischen
und politischen Gesellschaft, aus), sind alle unterdrückten und ausgebeute-
ten Nationen, Völker, Ethnien, Frauen, dörflich-agrarische Gesellschaften,
Arbeitslose, Nomaden, Jugend, marginale Gruppen usw. nach wie vor klar
in der Mehrheit.
3 – Was die Gesellschaft aufrechterhält und weiter existieren lässt, ist
eigentlich nicht die staatliche Rechtsordnung, sondern das moralische
Element, auch wenn es durch die Bemühungen, es von der Gesellschaft
gänzlich zu isolieren, geschwächt wurde. Solange die Gesellschaft nicht ver-
nichtet wird, kann auch die Moral nicht vernichtet werden. Die Tiefe der
Krise in einer Gesellschaft hängt mit dem Niedergang der Moral zusam-
men. Die Moral hat als grundsätzliches gesellschaftliches Gewebe und als
Institution früher oder später nicht nur beim Ausweg aus der Krise, sondern
auch für die Fähigkeit von Gesellschaften, glücklich weiterzubestehen, ihre
Rolle zu spielen.
4 – Obwohl Ethikstudien zum intellektuellen Feld und demokratische
politische Aktivitäten zum politischen Feld gehören, können sie ihre Rolle
nicht spielen, solange sie nicht in die moralische Gesellschaft integriert wer-
den. Die Moral drückt die gesellschaftliche Realität aus, auf deren Basis
Aufgaben aus diesen beiden Feldern ausgeführt werden. Die Religion in
ihrem demokratischen Umfang und die Moral sind identisch. Folglich ha-
ben Gebetsräume diejenigen Institutionen zu sein, wo die gesellschaftliche
Moral am meisten thematisiert wird. Das Richtigste ist, Gebetsräume, vor
allem Kirchen und Moscheen, als praktische moralische Institutionen zu
betrachten und sich beim Aufbau der moralischen Gesellschaft ihrer zu be-
dienen. Es ist wichtig, insbesondere Moscheen die Funktion als Zentren der
Moral zurückzugeben, die sie zu Zeiten Mohammeds zumeist innehatten. In
der Ära Mohammeds waren Moscheen hauptsächlich Zentren, in denen die
moralische und politische Gesellschaft wiederaufgebaut wurde. Das Gebet
(salāt) war nur als Bestätigungsritual für diese Arbeit gedacht. Erst später
wurde das Ritual zum Inhalt. Und das Eigentliche, der Wiederaufbau der
moralischen und politischen Gesellschaft, wurde vergessen, vergessen ge-
macht.
436 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Die demokratische Moderne als moralische Institutionen, in denen die


moralische und politische Gesellschaft wiederaufgebaut wird, sollte, wenn
nötig, in Bezug auf ihr Programm, ihre Organisierung und Arbeitsweise
reformiert werden und neue Regelungen erhalten. Obwohl alevitische
Cem-Häuser eher als Institutionen zum Wiederaufbau der moralischen
und politischen Gesellschaft fungieren, sollten auch sie im Rahmen der
Wiederaufbauarbeiten neue Regelungen erhalten. Einheiten der morali-
schen und politischen Gesellschaft haben das heilige und moralische Recht,
den Zwängen des Staates und der Macht Widerstand zu leisten. Wenn nö-
tig, sollten sie von diesem Recht Gebrauch machen. Auch Religions- und
Gewissensfreiheit setzen dies voraus.
5 – Der angeblich moderne Laizismus und der radikale oder gemäßigte
Religionismus, der im Namen der Tradition zu handeln behauptet, sind
im Gegensatz zur allgemeinen Annahme keine einander entgegengesetz-
ten Tendenzen und können als zwei eklektische ideologische Versionen des
Liberalismus keine moralische und politische Rolle spielen. Um nicht in
solche Fallen zu tappen, ist es wichtig, einen Ansatz zu entwickeln, der den
demokratischen Gehalt der Religion mit den teilweise freien und säkula-
ren Elementen im Laizismus kombiniert. Diese beiden Elemente können
beim Wiederaufbau der demokratischen Moderne nur in diesem Rahmen
eine Rolle spielen. Man sollte weder in den jahrhundertealten Spielen und
Kämpfen zwischen ihnen Partei ergreifen noch auf ihre Bemühungen her-
einfallen, die Religion und Moral zu degenerieren, zu vereiteln und auf der
Grundlage von Interessen in die Moderne zu reintegrieren.
6 – Man sollte sich nicht vom Terror irreführen lassen, den das Recht
mithilfe der Staatsgewalt über die Gesellschaft herfallen lässt. Die Moral
ist das Eigentliche, das Recht das Nebensächliche. Das Recht wird solange
respektiert, wie es gerecht ist. Sonst muss man bis zum Letzten auf der mo-
ralischen und politischen Gesellschaft bestehen. Man darf nicht einmal für
einen Moment vergessen, dass der eigentliche Weg der Verteidigung und
Aufrechterhaltung der Gesellschaft über die moralische Haltung führt.
7 – Wenn sich globale Vertretungen nach Art des katholisch-ökume-
nischen Vatikans und des früheren Kalifats, das die islamische Umma
(Ökumene) repräsentierte, (unter Einbeziehung moralischer und religiöser
Traditionen wie des Judentums, des Buddhismus‘ und anderer) unter einem
gemeinsamen Dach als moralische Institution neu institutionalisieren und
sich eher auf ethische Praktiken als auf Theologie fokussieren, könnten sie
beim Wiederaufbau der moralischen und politischen Gesellschaft im Namen
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 437

der ganzen Menschheit eine große Rolle spielen. Ein Zusammenkommen


und eine gemeinsame Institutionalisierung der großen Morallehren gegen
Angriffe der Moderne, ähnlich wie die Zusammenkunft von Nationalstaaten
unter dem Dach der UN, ist für ihren Erfolg unabdingbar. Gegen die
Monster der Zivilisation und der Moderne, die alle Heiligkeiten und
Morallehren zu verschlingen versuchen, muss dieser Unabdingbarkeit ent-
sprechend die ›Globale Konföderation der Heiligkeiten und Morallehren‹
gegründet werden.
8 – Die Kräfte der demokratischen Zivilisation sollten sich dessen be-
wusst sein, dass sie die Einheiten der demokratischen Zivilisation vor den
Angriffen, die die Kräfte der Zivilisation und Moderne mit allerlei ideo-
logischen und materiellen kulturellen Waffen ausführen, nicht erfolgreich
beschützen und aufrechterhalten können, solange sie ihre Aufgabe auf dem
moralischen Gebiet nicht wahrnehmen und umsetzen.

Diese kurzen Erläuterungen zur Definition des Themas und der Institution
der Moral sind Lösungsvorschläge und bedürfen einer umfangreichen
Diskussion. So wie die moralische Gesellschaft nicht in Basis-Überbau-
Schemata hineingepresst werden kann, entspricht auch die gesellschaftliche
Natur nicht solchen Schemata. Jede gesellschaftliche Einheit, sogar jedes
Individuum sollte gut wissen, dass es nicht ohne Moral leben könnte. Das
Ausschlaggebende ist die Ausstattung der Gesellschaft und des Individuums
mit einer guten Moral. So sehr die Monstrositäten der Zivilisation und der
Moderne die moralische Gesellschaft angreifen und zu zerstören versuchen,
haben wir keine andere Lösung als sie genauso sehr zu verteidigen. Wer
die Gesellschaft nicht verteidigen kann, hat kein Recht auf ein würdevolles
Leben. Ohne Moral ist die Gesellschaft allerdings nicht zu verteidigen. Der
Erfolg aller gesellschaftlichen Einheiten in ihrer moralischen Aufgabe bei den
Wiederaufbauarbeiten der demokratischen Moderne wird der Hauptfaktor
beim erfolgreichen Ausweg aus der globalen Systemkrise sein.
438 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

C Politische Aufgaben
Wie Moral so ist auch Politik ein Begriff, über den große Verwirrung
herrscht und geschaffen wird. Die Bedeutung des Wortes ist einfach:
Es stammt aus dem Altgriechischen und wir können es mit ›Kunst der
Stadtregierung‹ übersetzen. Doch die semantische Wahrheitssuche ist eine
Methode, die viel zu kurz greift und uns wenig weiterbringt. Begriffe, die
die gesellschaftliche Natur betreffen, sind im Allgemeinen sehr unscharf. Sie
können auf die Wirklichkeit hindeuten, aber sie nicht formen. Wir müs-
sen die Wirklichkeit jenseits der Begriffe suchen. Leider ist dies wiederum
nur mithilfe von Begriffen möglich. Also bleibt nur unsere Fähigkeit zur
Interpretation. Wenn wir die essenzielle Bedeutung von Politik als ›Kunst
der Freiheit‹ bestimmen, kommt das dem Ziel vielleicht näher. Freiheit
selbst wiederum erinnert an Wahrheit. Zweifellos ist unsere Basiseinheit der
Untersuchung, wenn wir die Begriffe Freiheit und Wahrheit verwenden,
wieder die moralische und politische Gesellschaft. Ich hüte mich klar vor
individualbasierten oder anderen Basiseinheiten der Forschung, die einen
Graben zum Gesellschaftlichen hin aufreißen. Wenn ich an die Begriffe
Krieg, Konflikt und Ausbeutung denke, die beinahe schon mit Politik iden-
tifiziert werden, wird mir ganz anders. Noch pessimistischer stimmt, dass die
Politik auch mit der polis (dem Staat) identifiziert wird.
Wir sehen also, dass es schwierig ist, bei einem so anspruchsvollen
Thema wie den politischen Aufgaben einen erfolgreichen Aufbruch zu wa-
gen. Anstatt gar nichts zu tun, ist es besser, einen bescheidenen Versuch
zu unternehmen, um zumindest Diskussionen und daher Forschung vo-
ranzubringen. Ich glaube, ich muss zunächst eine Reihe von Aktivitäten
aufzählen, die ich nicht zur Politik zähle. Zunächst müssen wir begrei-
fen, dass staatliche Aktivitäten keine politischen Aktivitäten, sondern
Verwaltungsaktivitäten sind. Gestützt auf den Staat wird keine Politik
gemacht, sondern verwaltet. Zweitens bilden Angelegenheiten, die kei-
ne vitalen gesellschaftlichen Interessen berühren, keine Politik im eigent-
lichen Sinne. Diese finden auf dem Niveau von Routineangelegenheiten
statt, die andere gesellschaftliche Institutionen erledigen. Drittens gehen
Angelegenheiten, die keinen Zusammenhang mit Freiheit, Gleichheit und
Demokratie besitzen, die Politik im Grunde nichts an. Das Gegenteil je-
doch betrifft die Politik fundamental: zum vitalen Interesse der Gesellschaft
gehören Überleben, Sicherheit, Ernährung und die Freiheiten, Gleichheit
und Demokratie, welche Macht und Staat verhindern. Wir sehen, dass po-
litische Angelegenheiten und staatliche Angelegenheiten nicht dasselbe,
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 439

sondern sogar ziemlich widersprüchlich zueinander sind. Das heißt, dass


Politik verengt und geschwächt wird, je mehr sich der Staat ausbreitet und
intensiviert. Staat bedeutet Regeln, Politik dagegen ist Kreativität. Der Staat
regiert das Bestehende, Politik dagegen regiert, indem sie erschafft. Staat ist
Handwerk, Politik ist Kunst.
Das Verhältnis der Macht zur Politik ist noch mehrdeutiger. Macht ist
vielleicht noch eher als Staat die Negation der Politik. Die Macht ist stets
viel stärker als der Staat in der Gesellschaft verankert. Das wiederum drückt
aus, wie schwierig es ist, in der Gesellschaft Politik zu machen, und wie
eingeschränkt die Möglichkeiten dazu sind. Letztlich ist das Verhältnis zwi-
schen Politik und Macht stets angespannt und von Protest und Aktionen
begleitet.
Wir müssen uns dem Thema konkreter nähern. Denn wenn sie nicht
praktisch wird, ist Politik bedeutungslos. Wir haben versucht, eine Reihe
von Themen im Zusammenhang mit der moralischen und politischen
Gesellschaft zu analysieren. Trotz des Versuchs, das nicht zu tun, müssen wir
uns wiederholen. Die Gesellschaft als Phänomen oder Natur ist sowohl mo-
ralisch als auch politisch. Politisch ist sie nicht im Sinne von offiziellen, staat-
lichen Angelegenheiten, sondern als gesellschaftliche Natur. Während die
Funktion der Moral darin besteht, die vitalen Angelegenheiten auf die beste
Weise zu erledigen, ist die Funktion der Politik, die besten Angelegenheiten
zu finden. Man beachte: Politik besitzt sowohl eine moralische Dimension,
enthält aber auch noch mehr. Es ist nicht leicht, die besten Angelegenheiten
zu finden. Es erfordert sowohl, die Angelegenheiten gut zu kennen – Wissen
und Wissenschaft –, als auch das Suchen und Forschen nach ihnen. Wir
sehen, Politik ist eine sehr schwierige Kunst. Ein bedeutender Irrtum, der
begangen wird, ist das Zusammendenken von Politik mit umfassenden
Begriffen wie Staat, Imperium, Dynastie, Nation, Konzern, Klasse und so
weiter. Die Politik mit diesen und ähnlichen Phänomenen und Begriffen
zusammen zu denken kann ihre Bedeutung schmälern. Wirkliche Politik
liegt in ihrer Beschreibung verborgen: Keine andere Gruppe von Begriffen
als Freiheit, Gleichheit und Demokratie kann die vitalen Interessen der
Gesellschaft bezeichnen. Politik sind also im Grunde die Akte von Freiheit,
Gleichheit und Demokratie, die ausgeführt werden, um die Existenz und
die Qualitäten der moralischen und politischen Gesellschaft unter allen
Umständen zu erhalten und fortzuführen.
Wenn wir von moralischer und politischer Gesellschaft sprechen, so sind
damit nicht prähistorische Zeiten gemeint. Wir sprechen vom natürlichen
440 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Zustand der gesellschaftlichen Natur, der solange existieren wird wie die
Gesellschaft selbst. So sehr sie auch erodiert, zerrüttet und fragmentiert sein
mag, die moralische und politische Gesellschaft wird stets existieren. Die
Rolle der Politik ist dabei, Erosion, Zerfall und Fragmentierung zu verhin-
dern, sie frei, egalitär und demokratisch zu gestalten, um sie noch weiter-
zuentwickeln. Jede moralische und politische Gesellschaft, in der das der
Fall ist, ist eine optimale Gesellschaft; sie bedeutet die Verwirklichung der
Gesellschaft, die wir anstreben.
Um den Inhalt des Begriffes besser zu verstehen, müssen wir uns ein wei-
teres Mal der Geschichte zuwenden. Und wieder wird die Zivilisation un-
ser Schlüsselbegriff dafür sein. Die Zivilisation drängt die Rolle der Politik
nicht nur zurück, weil sie Macht und Staat beinhaltet, sondern auch, weil
sie im Zusammenhang mit der Entstehung und Ausweitung von Klassen
und Städten ständig größer und stärker werdende Netze ideologischer und
materieller Kultur aufspannt, die sich um die moralische und politische
Gesellschaft zusammenziehen. Die Zurückdrängung der Rolle der Politik
bringt den Rückgang oder die Negation von Freiheit, Gleichheit und
Demokratie mit sich. Dies geschah vielfach in der Geschichte. Die fortschrei-
tende Durchsetzung von Sklaverei, Leibeigenschaft und Proletarisierung in
der beherrschten Gesellschaft verwandelt sich und setzt sich nach außen in
einem Prozess der Unterdrückung und Kolonialisierung freierer, egalitärerer
und demokratischerer Gesellschaften fort. Das Gesetz des Maximalprofits
der Kapital- und Machtmonopole erfordert dies. In dieser Situation bedeu-
tet Politik den Widerstand der Einheiten der demokratischen Zivilisation.
Denn ohne Widerstand lässt sich weder ein Schritt zu Freiheit, Gleichheit
und Demokratie verwirklichen, noch lässt sich verhindern, dass das beste-
hende moralische und politische Niveau weiter erodiert, fragmentiert, zer-
rüttet und kolonialisiert wird; die Ausbeutung durch Monopole kann dann
nicht verhindert werden. Wegen dieser Rolle, die sie in der Geschichte ge-
spielt hat, definieren wir Politik als die Kunst der Freiheit. Klassen, Städte,
religiöse Gemeinden, Stämme, Volksstämme, Völker und Nationen, die kei-
ne Politik machen können oder daran gehindert werden, haben den schwers-
ten aller möglichen Schläge gegen ihre Stimme und ihre Willenskraft ver-
setzt bekommen. Wo eine Gesellschaft keine kollektive Stimme und keinen
Willen besitzt, herrscht nichts als Totenstille.
Der Ruhm Athens und Roms in der Antike rührte von ihrer politischen
Stärke her. Wenn der Demokratie der Römischen Republik und Athens
noch heute staunend gedacht wird, obwohl sie nur begrenzt praktiziert
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 441

wurde, so muss der Grund dafür wohl ihr Geschick bei der Stadtpolitik
sein. Die Stadtpolitik Athens hielt das Perserreich auf und bereitete seine
Niederlage vor. Rom gelang es mit seiner republikanischen Politik, zum
Zentrum der Welt zu werden. Noch wichtiger: das Politiktreiben beider
Städte hatte entscheidenden Anteil an der Entstehung der graeco-römischen
Kultur.
Noch deutlicher wird das am Beispiel Babylons. Vielleicht können wir
Babylon sogar als das erste große Beispiel für die Unabhängigkeit und
Autonomie einer Stadt präsentieren. Um nicht unter das Joch größerer
Mächte und Staaten in der Umgebung zu gelangen, verfolgte Babylon ge-
schickt und meisterhaft seine Unabhängigkeits- und Autonomiepolitik.
Durch diese meisterhafte Politik gelang es der Stadt, gegenüber vielen
berühmten Imperien der Geschichte – von Aššur bis zu den Hethitern,
von Kassiten bis zu den Mitanni, vom Perserreich bis zu Alexanders
Makedonenreich – zu bestehen. Mit ihrer Wissenschaft, Kunst und Industrie
war sie das am längsten existierende Attraktionszentrum jener Zeit: von
2000 v. Chr. bis um die Zeitenwende. Zweifellos hatte die Stadtpolitik, die
Babylon verfolgte, daran entscheidenden Anteil. Offenbar ist es eines der ers-
ten schlagenden Beispiele, die belegen, dass Politik Freiheit und Kreativität
bedeutet. Auch Karthago und Palmyra können wir als ähnliche Beispiele
anführen. Karthago leistete lange Zeit Widerstand gegen Roms Hegemonie
und entwickelte sich währenddessen weiter. Erst als Karthago wie Rom im-
periale Träume zu hegen begann, musste es unterliegen. Denn ein Imperium
anzustreben, ist das Gegenteil von Widerstandspolitik, sogar die Negation
von Politik insgesamt. Am Ende stand eine tragische Niederlage. Einen ähn-
lichen Prozess machte auch Palmyra durch. Das berühmte Palmyra schuf ge-
radezu ein Paradies in der Wüste und war nach Babylon eine weitere Stadt in
der Region, der es gelang, für lange Zeit (300 v. Chr.–273 n. Chr.) autonom
und unabhängig zu bleiben. Als sie gegenüber dem Römischen und dem
persisch-sassanidischen Reich ihre Gleichgewichts- und Autonomiepolitik
aufgab und versuchte, auf eigene Faust zum Imperium zu werden (um 270
n. Chr., in der Zeit der berühmten Königin Zenobia110), fand die Stadt
ihr tragisches Ende. Die Tragödie Palmyras ist ein weiteres Beispiel da-
für, wie Widerstand für die Freiheit zum Sieg, Machthunger jedoch in die
Katastrophe führt.

110 Zenobia regierte von Palmyra aus den Osten des Römischen Reiches. Als sie um 270 ihren Herrschaftbereich
bis Ägypten und Kleinasien ausweitete, zog der Römische Kaiser mit einem Heer gegen Palmyra und ent-
machtete sie.
442 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Im Mittelalter war es vielen Städten möglich, ähnliche Autonomiepolitiken


umzusetzen. Wir stehen geradezu vor einem Sternenhimmel voller Städte,
die gegen Großreiche Widerstand leisteten. Ob islamische Imperien
(Omayyaden, Abbasiden, Seldschuken, Timur, Babur111, Osmanen), das
Reich Dschingis Khans, christliche Imperien (Byzanz, Spanien, Österreich,
das zaristische Russland, Britannien) oder chinesische Reiche: Hunderte
Städte (vom Pazifik bis zum Atlantik, sogar bis auf den amerikanischen
Kontinent, von der Wüste Sahara bis nach Sibirien) leisteten für eine
Politik der Autonomie Widerstand, wenn nötig, bis zu ihrer Tilgung aus der
Geschichte. Ein ähnliches Beispiel wie Karthago, das vollständig zerstört
wurde, ist die Stadt Otrar, die gegen Dschingis Khan Widerstand leiste-
te. Auch sie wurde dem Erdboden gleichgemacht. Hunderte Beispiele kön-
nen wir auch für den über mehrere Jahrhunderte währenden Widerstand
europäischer Städte sowohl gegen verschiedene Imperien als auch gegen
den Zentralismus des Nationalstaates anführen. Insbesondere italienische
und deutsche Städte leisteten bekanntlich bis in die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts erheblichen Widerstand, um ihre autonomen Strukturen zu
bewahren. Bekannteste Beispiele sind Venedig und Amsterdam.
Der überall stattfindende Siegeszug des Nationalstaats im neunzehnten
Jahrhundert versetzte den städtischen Autonomien, die über Jahrtausende
eine historische Rolle gespielt hatten, einen schweren Schlag. Erst mit der
Postmoderne verbreiten sich städtische Autonomien wieder. Stadtpolitik
schiebt sich wieder in den Vordergrund.
In der Geschichte gab es nicht nur den Widerstand politisierter Städte
gegen die Kräfte der Zivilisation, sondern vielleicht noch viel mehr die un-
zähligen Arten des Widerstands, den bestimmte gesellschaftliche Gruppen
wie Sippen, Stämmen, religiöse Gemeinden und philosophische Schulen
leisteten, um als politische Kraft autonom bleiben zu können. Das berühm-
teste Beispiel ist vielleicht die dreitausendfünfhundertjährige Geschichte
der Autonomie des hebräischen Stammes (1600 v. Chr. bis heute). Seine
Autonomiepolitik spielte eine entscheidende Rolle dabei, dass Juden
und Jüdinnen in Vergangenheit und noch mehr in der Gegenwart reich
und kreativ sind. Gegen die Transformation der islamischen Religion in
ein Werkzeug für Imperium und Macht entstanden große widerstän-
dige Konfessionen. So spiegeln Aleviten und Charidschiten die Politik
des autonomen Lebens von Sippen und Stämmen wider. Gegen die

111 Babur (1483–1530) war der Begründer des Mogulreiches.


Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 443

sunnitische Dominanz und die Tradition des Sultanats entstanden in je-


dem Volksstamm große oppositionelle Konfessionen. Diese waren im Kern
Folge der Widerstands- und Freiheitspolitik von Völkern, die in Sippen- und
Stammesverbänden lebten. Sie waren gewissermaßen die ersten Freiheits-
und Unabhängigkeitsbewegungen der Völker gegen den sunnitisch-islami-
schen Kolonialismus. Auch in Christentum und Judentum existieren viele
widerständige Konfessionen. Das gesamte Mittelalter war voll von Kämpfen
derartiger lokaler, städtischer, tribaler und religiöser Gemeinden für eine
Politik von Freiheit und Autonomie. Die ersten christlichen Gemeinden
hatten mit ihrem dreihundertjährigen, halb im Untergrund stattfindenen
widerständigen Leben eine Hauptrolle dabei gespielt, die zeitgenössische
Zivilisation vorzubereiten. Die Autonomie-Politik der antiken griechischen
philosophischen Schulen war die wesentliche Kraft, die die Fundamente für
die Wissenschaft legte. Völker und Nationen, die bis heute überlebt haben,
schulden dies vor allem ihren Vorfahren in Sippen und Stämmen, die über
Jahrhunderte und Jahrtausende auf Bergen und in Wüsten Widerstand leis-
teten.
Die nationalen Befreiungsbewegungen der Moderne sind die Fortsetzung
dieser Tradition. Sie alle strebten politische Unabhängigkeit an, auch wenn
dies in das Ziel eines unabhängigen Staates verkehrt wurde. Obwohl die
Transformation der politischen Unabhängigkeit in die trügerische natio-
nalstaatliche Unabhängigkeit durch den Liberalismus die Politik von ihrer
wirklichen Funktion abhält, handelt es sich doch um die Fortsetzung einer
bedeutenden politischen Widerstandstradition.
Lokale und regionale Autonomie-Politik gab es stets in der Geschichte,
und sie spielte eine wichtige Rolle für die Erhaltung der Existenz der mora-
lischen und politischen Gesellschaft. Im größten Teil der Erde, vor allem in
Bergregionen, in Wüsten und Wäldern, haben Völker und Nationen, die in
Klan-, Stammes-, Dorf- und Stadtgesellschaften lebten, ständig mit Politiken
von Autonomie und Unabhängigkeit gegen die Kräfte der Zivilisation
Widerstand geleistet. Aus diesem Grunde sagen wir, dass in der Geschichte
die demokratisch-konföderale Tradition überwiegt. Wir sagen: Durch die
Geschichte der Zivilisation hindurch ist die vorherrschende Tendenz nicht
die Unterwerfung, sondern der Widerstand. Wenn dem nicht so wäre, sähe
die Welt aus wie das Ägypten der Pharaonen. Wir können Geschichte nicht
richtig interpretieren, wenn wir nicht wissen, dass es keinen Ort, kein Gebiet
gibt, an dem kein Widerstand, keine Politik stattgefunden haben. Dass im-
mer noch in Südamerika, Afrika und Asien die Völker mit all ihren Farben
444 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

und Kulturen Widerstand leisten, bedeutet, dass dies auch ihre Geschichte
ist. Denn Geschichte ist Gegenwart.
Die Menschheit hat nicht nur auf der Ebene von Gesellschaft und geo-
grafischer Region Widerstand entwickelt und so ihre Existenz und Würde
bewahrt; auch auf individueller Ebene lernte sie widerständige politische
Persönlichkeiten kennen, die manchmal so bedeutend wurden wie eine
ganze Nation. Die Geschichte ist voll von Beispielen. Von den in der hei-
ligen Schrift erwähnten Prophet*innen, deren Zahl mit 124 000 angegeben
wird – von Adam bis zu Noah und Hiob, von Abraham bis Moses, von
Jesus bis Mohammed als den wichtigsten Gliedern in dieser Kette – bis
zu vielen Weisen, von der Göttin Inanna bis zu Aischa112, von Zenobia
bis Hypatia113, von Kybele114 bis Maria, von Buddha bis Sokrates, von
Zarathustra bis Konfuzius, von den Hexen bis zu Zeynep115 und Rosa116, von
Giordano Bruno bis Erasmus von Rotterdam leisteten unzählige Individuen
Widerstand bis zum Tod, um sich Menschlichkeit, Freiheit und Würde zu
bewahren. Wenn die Gesellschaft heute noch moralisch und politisch exis-
tiert und nicht zu einer Herde von Sklaven verkommen ist, so schuldet sie
diesen Individuen viel.
Viel wichtiger ist zweifellos, die gegenwärtige Politik zu interpretieren.
Doch wir können Politik nicht interpretieren, ohne darauf hinzuweisen, dass
die Geschichte sich ganz überwiegend in der Gegenwart fortsetzt. Dabei be-
tonen wir immer wieder, dass die kapitalistische Moderne tausendfach ver-
stärkt fortsetzt, was die Zivilisation begonnen hat. In meinen Ausführungen
zum Nationalstaaten hatte ich betont, dass dort die moderne Gesellschaft
nicht nur der staatlichen Herrschaft von oben unterworfen ist, sondern zu-
sätzlich Machtapparate in alle ihre lebenswichtigen Poren eindringen und
sie so für Invasion und Kolonialisierung geöffnet wird. Wichtig ist dabei, zu
verstehen, dass sich die Gesellschaft dadurch in globalem Umfang in einem
Belagerungszustand befindet, erobert und kolonialisiert wird. Ich begnüge
mich mit dem Verweis darauf, wie sich die Netze der ideologischen und der
materiellen Kultur ausbreiten. Das ist eine neue Situation. Ob wir dies nun
globale Super-Hegemonie, Empire oder UN-Ordnung nennen, weist nicht
112 Aischa gilt als Lieblingsfrau von Mohammed. Nach seinem Tod spielte sie sowohl in politischen als auch
religiösen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle, was zu ihrer Popularität bei Musliminnen beitrug.
113 Hypatia war Philosophin, Mathematikerin und Astronomin in Alexandria. Sie wurde 415 von radikalen
Christen ermordet.
114 Kybele war eine anatolische Muttergöttin, deren Kult in der graeco-römischen Antike weit verbreitet war.
115 Gemeint ist wahrscheinlich Zeynep Kınacı (Zîlan), die durch treffende politische Analyse und mutiges Han-
deln zu einem Vorbild der kurdischen Frauenbewegung wurde.
116 Gemeint ist Rosa Luxemburg.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 445

auf wesentliche Veränderungen hin. Außerdem hatten wir betont, dass das
Finanzkapital die globale Hegemonie prägt und gleichzeitig eine globale,
systemische Krise stattfindet, die sich verstetigt.
Während wir zu verstehen versuchen, was unter diesen Bedingungen von
der moralischen und politischen Gesellschaft übrig ist, müssen wir gleich-
zeitig hinterfragen, ob die Politik stark genug ist, um irgendeine Rolle zu
spielen. Wir sehen oft, dass Menschen auf das gegenwärtige Panorama bli-
cken und in Pessimismus und Hoffnungslosigkeit verfallen. Genau hier kön-
nen wir durch tiefgründiges politisches Hinterfragen der Situation ableiten,
dass Pessimismus und Hoffnungslosigkeit nicht nur unangebracht, sondern
gleichzeitig sinnlos sind. Bekanntlich hat jede Entwicklung Hoch- und
Tiefpunkte (universale Wahrheit). Alles weist darauf hin, dass die Macht
von Zivilisation und Moderne ihren Höhepunkt längst überschritten hat
und sich auf dem absteigenden Ast befindet. Die in der Gesellschaft verteilte
Macht verliert ihre Stärke wie eine Welle, die sich bricht. Wie ein großer,
schwerer Stein seine Wucht verliert, wenn er vom Gipfel herunterfällt und
am Boden zerspringt, so verliert auch die Macht ihre Stärke, wenn sie in die
Poren der Gesellschaft eindringt und sich verteilt.
Diese Tatsache können wir in ihrer soziologischen Bedeutung analysie-
ren. In dem Maße, wie die Macht sich in alle Einheiten und Individuen
der Gesellschaft ausbreitet, trifft sie auf Widerstand dieser Einheiten und
Individuen. Die Macht schafft in allen Einheiten und Individuen, in de-
nen sie sich ausbreitet, Widerstand. Denn es verstieße gegen den univer-
salen Fluss der Natur, wenn sie mit all ihrer Repression, Ausbeutung und
Folter nicht bei jeder Einheit und jedem Individuum auf Widerstand stieße.
Die moderne Macht hat sich gegenüber der Macht eines beliebigen ande-
ren Zeitalters recht stark differenziert. Der Kapitalismus in der Form von
Kapitalmonopolen, die die gesamte Weltwirtschaft wie ein Netz umspan-
nen, hat seine Ausbreitung auf einem Niveau, das Maximalprofit einbringt,
abgeschlossen; es gibt keinen Winkel mehr, in den er sich noch ausbreiten
könnte. Wenn wir noch die Krise im ökologischen Bereich berücksichtigen,
gibt es keine einzige Familie und keinen Klan, den er nicht tief beeinflusst.
Die Folgen des mit kapitalistischen Gesetzen betriebenen Industrialismus
haben die Zerstörung im Inneren und der äußeren Umwelt der Gesellschaft
auf Katastrophenniveau gebracht. Der Nationalstaat als stärkste göttliche
Kraft der Geschichte hat ausnahmslos alle Staatsbürger*innen durchdrungen
und über ihnen seine Hegemonie errichtet. Diese Ära gleicht keiner anderen
446 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

in der Geschichte. Die »Diskontinuitäten«, von denen Anthony Giddens


spricht, gelten genau für diese Dinge.
Angesichts dieser Ausprägungen der Macht (Kapitalismus, Industrialismus
und Nationalstaat) muss auch die Politik als ihr Gegenpol nie dagewesene
Veränderungen durchmachen. Da wir nicht in einer vor- oder einer nachzi-
vilisatorischen Ära leben, muss sich auch die Struktur der für die Moderne
spezifischen Politik verändern. Auf eine kurze Formel gebracht: Da die Netze
der Macht überall sind, muss auch die Politik überall Neztwerke bilden sein.
Da sich die Macht auf jede gesellschaftliche Einheit und jedes Individuum
stützt, muss sich auch die Politik auf jede Einheit und jedes Individuum
stützen.
Die Bildung und Verbreitung politischer Netzwerke, um den Netzen
der Macht auf allen gesellschaftlichen Ebenen etwas entgegenzuset-
zen, ist verständlicherweise nötig. Klar ist auch, dass wir dies nicht mit
Organisationsstrukturen alten Typs leisten können. Ohnehin waren alte
Organisationsmodelle auf den Staat fokussiert. Politik muss zunächst als
Widerstand gegen die Macht beginnen. Da die Macht jede gesellschaftliche
Einheit und jedes Individuum zu erobern und kolonialisieren versucht, muss
die Politik danach trachten, jede Einheit und jedes Individuum, zu gewin-
nen und zu befreien. Da jede Beziehung, ob einheitsbezogen oder individu-
ell, machtbezogen ist, ist sie im gegenläufigen Sinne auch politisch. Da aus
der Macht die liberale Ideologie, der Industrialismus, der Kapitalismus und
der Nationalstaat hervorgegangen sind, muss die Politik die Ideologie der
Freiheit, die Öko-Industrie, die kommunale Gesellschaft und den demokra-
tischen Konföderalismus hervorbringen und aufbauen. Da sich die Macht
in jedem Individuum und jeder Einheit, jeder Stadt und jedem Dorf, auf
lokaler, regionaler, nationaler, kontinentaler und globaler Ebene organisiert,
muss sich auch die Politik auf individueller, einheitsbezogener, städtischer,
lokaler, regionaler, nationaler, kontinentaler und globaler Ebene organisie-
ren. Da die Macht uns auf jeder Ebene Propaganda und alle möglichen
Handlungsweisen einschließlich Kriegen aufzwingt, muss auch die Politik
dem auf all diesen Ebenen Propaganda und Aktionsformen entgegensetzen.
Solange wir diese Realität der Macht in der Moderne, die ich in
Grundzügen zu skizzieren versucht habe, nicht richtig kennen, kön-
nen wir an keiner politischen Aufgabe richtig arbeiten. Erinnern wir uns
an die sowjetische Erfahrung oder sogar an noch frühere Abschnitte des
Realsozialismus: gegen den Kapitalismus den Trade-Unionismus (das
Betteln um Lohn), gegen den Industrialismus eine noch entwickelteren
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 447

Industrialismus, gegen den zentralistischen Nationalstaat einen noch zentra-


lisierteren Nationalstaat. Im Kern: Macht gegen Macht, Feuer gegen Feuer,
Diktatur gegen Diktatur, Staatskapitalismus gegen Privatkapitalismus. So
und ähnlich wurde ein gigantischer Machtapparat geschaffen, unter dessen
Gewicht es am Ende zu einem Verfall von innen heraus kam. Die realso-
zialistische Konfession (Linkskapitalismus) machte auf diesem Weg nicht
nur Politik gegen die Macht, sondern übte auch gegen die Politik Macht
aus. Um dies zu sehen, genügt es, die Geschichte der realsozialistischen
Parteien zu lesen. Die sozialdemokratische Konfession (zentristischer-Kapi-
talismus) reformierte den Kapitalismus und machte ihn noch dauerhafter;
um dies zu sehen genügt es, die Geschichte ähnlicher Parteien in Europa
zu lesen. Die Konfession der nationalen Befreiungsbewegungen dagegen
(Rechtskapitalismus) verwandelte sich sofort in Nationalstaaten und wurde
zur Hauptakteurin bei der Ausbreitung des Kapitalismus auf der Welt. Die
anderen Systemgegner*innen, die außerhalb dieser drei Konfessionen blie-
ben, habe ich bereits kommentiert. Deren allergrößter Mangel bestand da-
rin, im Kampf gegen die Macht sich entweder an ein Stück der Macht (den
Nationalstaat) zu klammern oder aber wie vor allem die Anarchist*innen
das Feld leer zu lassen oder sich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen
hinhalten zu lassen. Von keiner dieser Richtungen wird die Macht syste-
matisch begriffen, nirgends gibt es die Fähigkeit, als Alternative Politik zu
produzieren, oder niemand verspürt die Notwendigkeit. Während sie die
Politik insgesamt den Subunternehmern der Macht überließen, merkten sie
nicht einmal, dass sie auf das Unmögliche hofften. Es bleibt, als Herolde
die Krise des Kapitalismus und der Globalisierung zu verkünden, und es ist
offensichtlich, dass dies keine Krankheit kuriert.
Die Sprache der demokratischen Moderne ist politisch. Ihre gesam-
te systematische Struktur konzipiert und konstruiert sie durch die Kunst
der Politik. Die moralisch-politische gesellschaftliche Qualität der fun-
damentalen Wissenschaften erinnert nicht an die Macht, sondern an die
Politik. Das vordringliche Problem, unter dem die moralische und po-
litische Gesellschaft heute leidet, ist jenseits der Fragen von Freiheit,
Gleichheit und Demokratisierung ein existenzielles. Denn ihre Existenz
ist in Gefahr. Die Angriffe der Moderne aus vielen Richtungen machen
die Verteidigung ihrer Existenz zum vordringlichen Problem. Die Antwort
der demokratischen Moderne gegen diesen Angriff ist Widerstand im
Sinne der Selbstverteidigung. Ohne die Gesellschaft zu verteidigen, lässt
sich keine Politik machen. Ich muss nochmals betonen: Es gibt nur eine
448 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Gesellschaft, und das ist die moralische und politische Gesellschaft. Das
Problem besteht vor allem darin, die von der Zivilisation stark erodierte,
den Angriffen und dem Kolonialismus von Macht und Staat ausgesetzte
Gesellschaft unter den Bedingungen einer weiterentwickelten Moderne neu
aufzubauen. Zusammen mit der Selbstverteidigung ist die demokratische
Politik der Kern der Politik in der heutigen Zeit. Während die demokrati-
sche Politik die moralische und politische Gesellschaft entwickelt, schützt
die Selbstverteidigung sie gegen Angriffe der Macht auf ihre Existenz, ihre
Freiheit und ihre egalitäre und demokratische Struktur. Wir reden weder
von einer neuen Art des nationalen Befreiungskampfes noch von einem ge-
sellschaftlichen Krieg. Wir sprechen davon, die Identität, die Freiheit, die
Gleichheit auf der Grundlage von Vielfalt und die Demokratisierung zu ver-
teidigen. Gäbe es keinen Angriff, wäre auch keine Verteidigung notwendig.
Die politische Lebensweise der anti-zivilisatorischen Kräfte in der
Geschichte war meist konföderal. Sämtliche gesellschaftlichen Einheiten ak-
zeptieren eine lose Verbindung miteinander nur unter der Bedingung, dass
ihre Autonomie respektiert wird. Selbst mit den Kräften der Zivilisation, die
Macht und Staat verkörpern, sind sie nur unter dieser Bedingung einver-
standen. Bedingungen, wo kein Einverständnis herrscht, sind Bedingungen,
unter denen es ständig zum Krieg kommt. Wo Einverständnis existiert,
herrscht Frieden. Die Politik und der demokratische Konföderalismus sind
die Prinzipien der gesellschaftlichen Regierung, die der Macht und der
nationalstaatlichen Struktur, die in der Moderne die gesamte Gesellschaft
umfassen, entgegenwirken wird. Während die Politik als demokratische
Politik ausgeführt wird, beteiligen sich alle gesellschaftlichen Einheiten
jeweils als eine föderale Kraft am konföderalen Prozess. Dieses System ist
eine neue politische Welt. Während Zivilisation und Moderne stets durch
Anweisungen verwalten, regieren demokratische Zivilisation und Moderne,
indem sie mit Diskussion und Konsens wirklich Politik machen. Egal wie
sehr die historischen und gegenwärtigen Fakten verzerrt und verschleiert
wurden, die wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen wurden unter
Führung der Kunst der Politik erreicht. Während der Kapitalismus un-
ter den Bedingungen der globalen Krise versucht, auf der Grundlage des
Wiederaufbaus des Nationalstaates seine Macht zu bewahren, besteht die
grundlegende Aufgabe aller Kräfte der demokratischen Moderne darin, auf
die Krise zu reagieren, indem sie ein demokratisches konföderales System
aufbauen, das darauf abzielt, die moralische und politische Gesellschaft zu
verteidigen und zu entwickeln.
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 449

Im Lichte dieser Erklärungen können wir die Hauptprinzipien der po-


litischen Aufgaben der Kräfte der demokratischen Moderne in Form von
Stichpunkten folgendermaßen präsentieren:
1. Die gesellschaftliche Natur ist im Grunde ein moralisches und politi-
sches Wesen und Dasein. Solange Gesellschaften existieren, werden sie wei-
ter moralisch und politisch sein. Gesellschaften, die ihre moralische und
politische Qualität verlieren, sind dem Verfall, der Auflösung und dem
Untergang geweiht.
2. Gesellschaften als primitive, sklavenhalterische, feudale, kapitalisti-
sche und sozialistische Formen zu entwerfen, die gradlinig voranschreiten,
dient mehr dazu, ihre Wahrheiten zu verzerren und zu verschleiern, als es
zu ihrem Verständnis beiträgt. Derartige Erklärungen sind mit Propaganda
aufgeladen. Das Hauptcharakteristikum von Gesellschaften ist ihre mora-
lische und politische Eigenschaft, und sie entsprechend des Grades dessen
Vorhandenseins zu beschreiben, ist am besten. Sowohl die Eigenschaften der
Klasse und des Staates als auch das Niveau der industriellen und landwirt-
schaftlichen Entwicklung sind vorübergehende Phänomene, die nicht den
wesentlichen Charakter der Gesellschaft ausmachen.
3. Die gesellschaftliche Frage entstand in Zusammenhang mit Dominanz
und Ausbeutung durch die Macht. Wo Macht und Ausbeutung sich ent-
wickeln, entwickeln sich auch gesellschaftliche Probleme. Klassenbasierte
Staaten, die als Instrumente zur Lösung aufgedrängt werden, können zwar
in begrenztem Maße Lösungen produzieren, verwandeln sich aber im
Wesentlichen in eine Quelle neuer Probleme.
4. Die Politik ist nicht nur das grundlegende Instrument zur Lösung
sozialer Probleme, sondern auch zur Bestimmung, zum Schutz und zur
Aufrechterhaltung aller lebenswichtigen Interessen der Gesellschaft. Für
den Schutz der Gesellschaft ist Selbstverteidigung notwendig, diese stellt
die Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln dar.
5. Im Laufe der Geschichte versuchten Zivilisationen, die Gesellschaft
mittels staatlicher Verwaltung zu regieren, wodurch die Funktion der
Politik in der Gesellschaft verengt wurde. Solange sie existierten, haben
Gesellschaften auf diese Verengung der Funktion mit Widerstand reagiert.
Insofern ist die Geschichte unter dem Einfluss dieser beiden Hauptfaktoren
weder vollständig zivilisierte Verwaltung noch vollständig demokratisch-po-
litische Regierung. Konflikte in der Geschichte haben ihre Ursache im wi-
dersprüchlichen Charakter dieser beiden Hauptfaktoren.
450 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

6. Zeiten des Friedens wurden in der Geschichte garantiert, indem die


Kräfte der Zivilisation und die demokratischen Kräfte einander anerkannten
und Identitäten und Interessen respektierten. Weder Konflikte um Macht
noch Waffenstillstände darin haben etwas mit Frieden zu tun.
7. In der Zeit der kapitalistischen Moderne belagert die Macht die gesam-
te Gesellschaft von innen und außen und verwandelt sie in eine Art innere
Kolonie. Die Macht und der Nationalstaat als die wesentliche Staatsform
befinden sich im ständigen Kriegszustand mit der Gesellschaft. In dieser
Tatsache hat die Politik des Widerstands ihre Ursache.
8. Dieser totale Kriegszustand der kapitalistischen Moderne gegen die
Gesellschaft macht die Alternative der demokratischen Moderne noch dring-
licher und zwingender. Die demokratische Moderne als heutige Daseinsform
der Kräfte der demokratischen Zivilisation ist weder das Andenken an ein
vergangenes Goldenes Zeitalter noch eine Utopie für die Zukunft. Sie ist
die Existenz und Haltung aller gesellschaftlichen Gruppen und Individuen,
deren Existenz und Interessen im Widerspruch zum kapitalistischen System
stehen.
9. Die Anti-Systemkräfte blieben in ihren Kämpfen der letzten zwei-
hundert Jahre ohne Lösung oder ohne Erfolg, weil sie entweder selbst eine
Machtperspektive besaßen oder den politischen Bereich leer ließen. Obwohl
sie ein wertvolles Erbe hinterließen, können sie mit ihren alten Denkweisen
und Strukturen weder für die Moderne selbst, noch für die systemische Krise
eine Alternative bilden.
10. Eine Alternative darzustellen ist nur durch die Entwicklung ei-
nes eigenen Systems gegen die drei Säulen der Moderne – Kapitalismus,
Industrialismus und Nationalstaat – möglich. Demokratische Gesellschaft,
Öko-Industrie und demokratischen Konföderalismus können wir unter dem
Namen ›demokratische Moderne‹ als Gegensystem vorschlagen. Wenn sich
das Erbe der demokratischen Zivilisation und die Systemgegner*innen in
dem neuen System treffen, erhöht das die Erfolgschancen.
11. Der demokratische Konföderalismus spielt als grundlegende politi-
sche Form der demokratischen Moderne eine wesentliche Rolle bei den
Wiederaufbauarbeiten. Der demokratische Konföderalismus als grundlegen-
de politische Option der demokratischen Moderne gegen den Nationalstaat
als grundlegende Staatsform, die ständig Probleme produziert, ist das geeig-
netste politische Instrument, um Lösungen für die Probleme zu produzieren.
12. In moralischen und politischen Gesellschaften, wo demokratische
Politik praktiziert wird, werden Freiheit, Gleichheit auf der Basis von
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 451

Vielfalt und demokratische Fortschritte auf die gesündeste Weise garan-


tiert. Freiheit, Gleichheit und Demokratie sind nur durch die Kraft von
Diskussion, Entscheidung und Handeln möglich, die die Gesellschaft kraft
ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Denkfähigkeit praktiziert. Kein
Social Engineering ist dazu in der Lage.
13. Der Demokratische Konföderalismus bietet die Option der demokrati-
schen Nation als Lösungsinstrument für die ethnischen, religiösen, urbanen,
lokalen, regionalen und nationalen Probleme, die vom monolithischen, ho-
mogenen, und monotonen faschistischen Gesellschaftsmodell der Moderne
herrühren, welches durch den Nationalstaat umgesetzt wird. In der demo-
kratischen Nation hat jede Ethnie, jede religiöse Richtung und jede städti-
sche, lokale, regionale und nationale Realität das Recht, mit ihrer eigenen
Identität und ihrer demokratisch-föderalen Struktur vertreten zu sein.
14. Die globale Einheit der demokratischen Nationen, als Alternative zu
den Vereinten Nationen, ist die ›Welt-Konföderation der Demokratischen
Nationen‹. Kontinente und große Kulturräume können auf der Ebene da-
runter eigene ›Konföderationen Demokratischer Nationen‹ bilden. Wenn
sie sich nicht hegemonial verhält, kann die EU als ein erster Schritt für
Initiativen in dieser Richtung betrachtet werden. Initiativen gegen globale
und regionale hegemoniale Macht lassen sich in diesem Rahmen behandeln.
15. Wie es meist in der Geschichte zwischen Kräften der Zivilisation
und demokratischen Kräften der Fall war, können die Kräfte der kapita-
listischen Moderne und die Kräfte der demokratischen Moderne auf der
Grundlage der Akzeptanz von beider Existenzen und Identitäten sowie der
Anerkennung von autonomen Regierungen friedlich koexistieren. Innerhalb
dieses Rahmens und unter diesen Bedingungen können demokratische kon-
föderale politische Formationen und nationalstaatliche Formationen sowohl
innerhalb als auch außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen friedlich ko-
existieren.

Die hier festgestellten Prinzipien in Bezug auf die Aufgaben im politischen


Bereich der demokratischen Moderne könnten reduziert oder ergänzt
werden. Wichtig ist, den notwendigen Umfang und die Prinzipien der
Umsetzung zu bestimmen. Ich denke, die oben dargelegten Prinzipien er-
füllen diesen Zweck. Die Diskussionen und die Freiheitsrealität des Lebens
werden das Ergebnis bestimmen.
Gleiches gilt für die Prinzipien, die ich für die drei Hauptbereiche der
demokratischen Moderne festzulegen versucht habe. Unterstreichen muss
452 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

ich, dass es in Prinzip und Praxis beim Wiederaufbau der demokratischen


Moderne weder um das Projekt einer neuen Republik geht, wie in der
Französischen Revolution, noch wie in der Russischen Revolution um einen
Staatsplan sowjetischer Machart. Es ist auch nicht das Gesellschaftsprojekt,
das Mohammed für Medina entwarf. Das Einzige, worum ich mich sorge
und weswegen ich Klarheit zu schaffen versuche, ist, dass meine Analysen
zur Wahrheit der gesellschaftlichen Natur und die methodischen und prak-
tischen Prinzipien, die ich zur Lösung vorschlage, nicht zu schweren Fehlern
und Irrtümern führen dürfen und zu Resultaten, die diese verschleiern, wie
es in der Geschichte schon oft passiert ist.
Das Ziel unseres Wiederaufbaus ist es, ohne das historische Erbe der
Kräfte zu leugnen, die sich dem System aufgrund ihrer Interessen wider-
setzen oder widersetzen sollten, und ohne in die Falle des Liberalismus zu
tappen, alle Individuen und gesellschaftlichen Einheiten, an die wir mit
einem systematischen Verständnis (einem Paradigma) und einer systema-
tischen Praxis herantreten, zu organisieren und in Aktion zu versetzen. Bei
diesen Aufbauaktivitäten mag es solche geben, die wie Revolutionär*innen
arbeiten, und solche, die auf Reformen aus sind. Alle Bemühungen sind
wertvoll. Die kapitalistische Moderne selbst stellt den am meisten krisenge-
schüttelten Zeitabschnitt des Zivilisationssystems dar. Außerdem ist es das
Zeitalter mit der ausgedehntesten globalen Hegemonie des Finanzkapitals
und gleichzeitig die Zeit, in der die strukturelle Systemkrise zur perma-
nenten wurde. Das kapitalistische System bemüht sich tagtäglich um neue
Projekte und Praktiken, um systemrelevante Verluste aufgrund der Krise
zu vermeiden. Es geht dabei mit einer breit angelegten, eklektischen libe-
ralen Ideologie vor. Hinter ihm steht ein großes historisches Erbe. Durch
maximal ausgebaute elektronische Organisationsnetze kann es jede belie-
bige Taktik sofort anwenden. Es kann sogar den Nationalstaat als strategi-
sches Regierungsinstrument kritisieren und auf vielen Gebieten von Grund
auf restrukturieren. Die Stärke von Konzernen übersteigt die Stärke von
Nationalstaaten. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die gegenwärtig in
Mode sind, lenkt das System nach Belieben.
Den Systemgegner*innen bleibt unter diesen Bedingungen nichts Anderes
übrig, als ein eigenes Verständnis des Systems und eine eigene Praxis zu ent-
wickeln. Die Französische und die Russische Revolution (und zahlreiche an-
dere Revolutionen und Bewegungen, die auf ihren Spuren wandelten) teilten
nicht vollständig den Rahmen und die Ziele der kapitalistischen Moderne.
Sie hatten sogar sehr ernste Widersprüche zur kapitalistischen Moderne und
Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Modern 453

behaupteten, ein neues System errichtet zu haben. Viele ihrer Ideen, darun-
ter außergewöhnliche, konnten sie zeitweise umsetzen. Doch letztlich gelang
es dem Kapitalismus auf kurze oder lange Sicht, diese Revolutionen in seine
eigenen modernen Auffassungen und Praktiken zu integrieren. Zweifellos
ist es vordringliche Aufgabe zeitgenössischer Revolutionen, wie jedes his-
torische Erbe das Vermächtnis dieser großen Revolutionen in Hinblick auf
Freiheit, Gleichheit und Demokratie zu bewahren und auszubauen. Aber
es ist auch klar, dass wir aus ihren Irrtümern Lehren ziehen müssen. In
diesem Band habe ich darauf besonderes Gewicht gelegt. Natürlich ist es
für Personen und Organisationen mit denselben Idealen eine unabdingbare
Pflicht, aus diesen Erfahrungen zu lernen.
Die grundlegenden Aufgaben stellen sich immer, egal ob die Krise andau-
ert oder nicht. Intellektuelle, moralische und politische Aufgaben müssen
stets erfüllt werden. Natürlich spiegeln sich andere Zeiten in anderen stra-
tegischen und taktischen Ansätzen wider. Doch die Aufgaben ändern nie
ihre eigentliche Beschaffenheit. Ich bin überzeugt, dass die Erläuterungen
und Prinzipien, die ich für die Aufgaben in allen drei Bereichen festzustel-
len versucht habe, von Bedeutung sind. Sie sind gleichzeitig ein Ausdruck
von Kritik und Selbstkritik bezüglich sämtlicher Ereignisse, Beziehungen,
Persönlichkeiten und Institutionen, für die ich verantwortlich war und bin.
Ich bin mir bewusst, dass ohne eine umfassende Analyse und Kritik unserer
Zeit und schließlich der ganzen Zivilisation eine individuelle Kritik und
Selbstkritik keinen großen Wert besitzt. Diesen Ansatz habe ich zu verfol-
gen versucht.
Auch wenn ich mich wiederholen muss: Die Verflechtung der Aktivitäten
zu den intellektuellen, moralischen und politischen Aufgaben ist essenziell.
So sehr die Bereiche in sich auch unabhängig voneinander sind, müssen sie
doch Produkte hervorbringen, die sich in ihrem Dienst gegenseitig ergänzen.
Ohne eine intellektuelle Aufklärung wird sich eine moralische Praxis kaum
entwickeln, sogar unweigerlich zum Schlechten führen. Wo und wann im-
mer es an guter Moral fehlt, gibt es schlechte Moral. Der politische Bereich
entspricht der Umsetzung von Aufklärung und moralischer Praxis. Politik
ist in diesem Sinne die tägliche Aufklärung und das tägliche moralische
Verhalten, kurz: Aufklärung und Moralität selbst. Auch lässt sich dort, wo
Politik und Moral nicht vorhanden sind, von einer Aufklärung und daher
vom Vorhandensein einer intellektuellen Aktivität nicht ernsthaft sprechen.
Intellektuelles Wissen, das seine Verbindung zu Politik und Moral verloren
hat, mag intellektuelles Kapital oder etwas anderes sein, aber eine solche
454 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Situation lässt sich nicht als intellektuelle Aufgabe bezeichnen, denn ihr fehlt
die moralische und politische Grundlage.
Nur, wenn die intellektuellen, moralischen und politischen Aufgaben
für die moralische und politische Gesellschaft auf ineinander verflochte-
ne Weise erfüllt werden, wird ein Maximum an Freiheit, Gleichheit und
Demokratie erreicht. Daher ist es ein Kriterium des Erfolgs für systemgeg-
nerische Organisationen und Individuen, inwieweit sie die Aufgaben aller
drei Bereiche miteinander verschränkt erfüllen.
Neunter Teil

Schlussfolgerung
Schlussfolgerung 457

Bewusstsein hängt mit der universalen Existenz zusammen. Eine Erklärung


der vorhandenen universalen Ordnung ist nur mithilfe des Begriffs des
Bewusstseins möglich. Interessant dabei ist, wie das Bewusstsein sich selbst
ausdrückt. Es zeigt sich also, dass die gesamte Vielfalt des Universums eine
Folge der Leidenschaft des Bewusstseins ist, sich auszudrücken. Über das
Multi-Bewusstsein des Bewusstseins wissen wir überhaupt nichts. Das
Streben des Bewusstseins nach beinahe endloser Vielfalt wirft die Frage
nach der Ursache auf; die Frage nach dem Zweck bleibt noch unklarer.
Berühmte Philosophen und sogar einige der heiligen Schriften beantwor-
ten dies mit dem Wunsch des Universums, sich an sich selbst zu erinnern,
oder dem Wunsch Gottes, von seinen Knechten erkannt zu werden. Das
Wort ›Gewahrwerden117‹ erscheint mir hierbei besonders bezaubernd und
erhellend. Die Selbstwahrnehmung jedes Wesens vom kleinsten Teilchen
bis zur kosmischen Existenz mag eine Antwort auf die Fragen nach Ursache
und Zweck darstellen. Die Bedeutung, mit der wir das Gewahrsein aufladen
müssen, kann durch keinen anderen Begriff definiert werden als das Leben.
Die Definition des Lebens, die der Wahrheit am nächsten kommt, können
wir als ›Gewahrwerden‹ festhalten. Noch wichtiger ist die Frage, warum das
Gewahrwerden von derartiger Bedeutung ist. Wir wissen, dass Leben auch
ohne Gewahrwerden möglich ist. Doch wenn wir einmal versuchen, tief zu
spüren, verstehen wir, dass diese von uns behauptete Möglichkeit eigentlich
unmöglich ist. Während einer langen Zeit, die ohne Gewahrwerden vergeht,
verringert sich der Wert des Lebens oder löst sich sogar auf. Selbst der Tod,
der dazu dient, des Lebens gewahr zu werden, erscheint als ein Spiel oder ein
meisterhafter Trick der Natur, die das Leben ermöglichen will. Unterschiede
sich beispielsweise ein Wesen, das mit unendlichem Leben gestraft ist, noch
vom zur Tragödie verurteilten Sisyphos (dem mythologischen Helden, der
die Strafe erhielt, einen Stein auf einen Gipfel zu rollen, und der gezwungen
ist, diese Handlung ständig zu wiederholen, weil der Stein jedes Mal wieder
vom Gipfel herabrollt)? Bedauern über den Tod erinnert lediglich an den
Wert des Lebens und steigert ihn.
Wissen bedeutet nichts anders als die Dinge, derer jemand sich in Bezug
auf das Leben gewahr ist. Etwas, das gewusst wird, ist etwas, dessen man sich
gewahr ist. Obwohl wir nicht viel über physikalische Gebilde sagen kön-
nen, ist es bei biologischen Gebilden doch unmöglich, eine Art Liebe zum
Erkanntwerden nicht zu spüren. Wenn wir uns weiter auf die menschliche

117 Türkisch: farkına varma


458 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Spezies zubewegen, so scheint diese Liebe verwirklicht zu sein. Den weit


entwickelten Zustand des Wissens können wir am besten durch das Wort
›Liebe‹ definieren. Doch der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen: In Bezug
auf Wissen treffen wir bei ihm auch auf Eigenschaften, die nicht davor zu-
rückschrecken, größte Verzerrungen und Verrat zu verüben. Mir erscheint
es richtig, diese Realität des Menschen durch Vorgänge innerhalb seiner
gesellschaftlichen Natur zu erklären, die wir auch die Zweite Natur nennen.
Sozialwissenschaft als Begriff kam mit der eurozentrischen Zivilisation
auf. Zweifellos hat eine Art Disziplin, die wir Sozialwissenschaft nennen
können, stets existiert, seit es die gesellschaftliche Natur gab. Die prähisto-
rische Sozialwissenschaft können wir getrost als Animismus bezeichnen. Ist
Animismus als Begriff aus den eurozentrischen Sozialwissenschaften etwa nur
das primitive Bewusstsein primitiver Menschen, wie behauptet wird? Wer er-
lässt die Fatwa, dass die heutige Sozialwissenschaft, die auf der Trennung von
Subjekt und Objekt beruht, dem Animismus überlegen ist? Wieder dieselben
Sozialwissenschaftler! Doch es wird immer klarer, dass die animistische Schule
das wertvollere Paradigma ist gegenüber demjenigen, das zu einer scharfen
Trennung von Subjekt und Objekt führt und daher das Objekt als seelenlos
betrachtet. Offenbar führt eine animistische Definition des Universums zu
zutreffenderen Resultaten als eine Definition, die das Universum entseelt.
Die wissenschaftlichen Entwicklungen bestätigen dies. Wie lässt sich die
Tatsache erklären, dass ohne die immer noch rätselhaften Bewegungen der
subatomaren Partikel keinerlei Vielfalt entstehen kann – wenn nicht durch
Animismus? Der Positivismus (Szientismus der Phänomene) als hochgefähr-
liche Art der Metaphysik – auch wenn er das Gegenteil behauptet – hat auch
der Sozialwissenschaft tiefe Wunden zugefügt.
Die Phase der Zivilisation, die wir auch ›historische Zeiten‹ nennen,
brachte eine Veränderung der Art der Wissenschaft vom Animismus hin zur
Mythologie mit sich. Die Mythologie wurde in vielfacher Hinsicht – wenn
auch nicht vollständig – von der Zivilisation geprägt. Die erste Verzerrung
des Bewusstseins in der Sozialwissenschaft und das erste Einschmuggeln
von Verrat an ihr hängt mit der ideologischen Hegemonie zivilisatorischer
Prozesse zusammen. Das über der gesellschaftlichen Natur errichtete Macht-
und Kapitalmonopol kommt nicht ohne Lügen, Verzerrungen, Wortbruch
und Verrat aus. Mythologie ist zu großen Teilen mit Animismus aufgela-
den und wertvoll. Doch sobald als mythologische Widerspiegelung des
Schlussfolgerung 459

hierarchischen Systems und der Ordnung, die das Trio aus Priester, Regent
und Kommandant bildet, Märchen der Heroisierung (Verhalbgöttlichung)
und Vergöttlichung zum Einsatz kamen, wurden Verzerrung und
Korrumpierung unausweichlich. Unter der Bedingung, diesen doppelten
Charakter zu berücksichtigen, ist die Mythologie trotzdem eine ziemlich
lehrreiche Sozialwissenschaft. Ich bin überzeugt, dass sie zunehmend an
Bedeutung gewinnen wird. Beim Lernen der Geschichte wird sie ganz si-
cher eine viel größere Rolle spielen.
Die Erstarrung der Mythologie zur Religion führte zu einer zweiten Art
der Sozialwissenschaft. Zweifellos tritt die Religion nicht lediglich das Erbe
der Mythologie an. Die Religion besitzt auch eigene Dogmen. Zwar wurde
sie ganz überwiegend von den Kräften der Zivilisation geprägt, doch sind
die religiösen Interpretationen der anti-zivilisatorischen Kräfte beim Thema
Wahrheit einfacher und wegen ihrer Natürlichkeit realistischer. Sie waren
es, die der zeitgenössischen Wissenschaft den Weg bereiteten. In den mono-
theistischen Religionen finden wir beide gegensätzlichen Kräfte widergespie-
gelt. Während die gebieterische, strafende und knechtende Dimension der
Theologie die Kräfte der Zivilisation widerspiegelt, gibt ihre partizipative,
belohnende und befreiende Dimension den Glauben und das Denken der
anti-zivilisatorischen Kräfte wider. Das Mittelalter war voller Konflikte zwi-
schen Religionen und Konfessionen, die diese beiden Auffassungen vertraten.
Ohne diese religiösen und konfessionellen Konflikte wäre die europäische
Sozialwissenschaft sicherlich nicht entstanden. Allein der Gedanke an den
Einfluss des Islam hilft bereits, diese Tatsache besser zu verstehen. Auch gab es
durch die Zeiten Sternstunden der Weisheit und der Philosophie. Zweifellos
stellen auch diese wertvolle Quellen für die Sozialwissenschaft dar.
Genauso, wie die Sozialwissenschaft des Zeitalters der europäischen
Zivilisation aus den Quellen des gesamten historischen Erbes schöpf-
te, entstand sie auch als Erfordernis der stattfindenden großen sozialen
Kämpfe. Im Grunde war sie als eine Disziplin, ein Instrument gedacht, um
Probleme zu lösen. Das System grenzenloser Ausnutzung und Repression,
zu dem der Kapitalismus geführt hatte, zwang die Moderne von vornher-
ein dazu, voller Krisen zu entstehen. Während alle Wissenschaften, beson-
ders die Sozialwissenschaften, einerseits in den Dienst des Ausnutzungs-
und Repressionssystems gestellt wurden, erhielten andererseits die
Sozialwissenschaften zusätzlich die Aufgabe, das System in positivem Licht
zu erklären und zu legitimieren. Die Rhetorik der neuen Macht- und
Kapitalmonopole prägte auch die Sozialwissenschaft.
460 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Die positivistische Soziologie führte dazu, dass die Sozialwissenschaft von


vornherein mit Geburtsfehlern behaftet war. Hauptanliegen der positivisti-
schen Soziologie war, aus der Französischen Revolution eine Republik entste-
hen zu lassen, um die Interessen der Bourgeoisie zu schützen. Die englischen
politischen Ökonomen verfolgten das Ziel, das Kapital zu rationalisieren
und zu legitimieren. Die deutschen Ideologen befassten sich in jedem
Bereich mit der Herausbildung des riesigen deutschen Nationalstaats. Die
Anführer der Systemgegner*innen, die Begründer des Wissenschaftlichen
Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels, wollten aus diesen drei
Rhetoriken des Kapitals eine proletarisch geprägte Wissenschaft erschaffen.
Die Gegnerschaft zum Kapitalismus und die darauf aufbauende Analyse
in Das Kapital hätten einen Beitrag zur Sozialwissenschaft leisten können.
Indem sie jedoch die Quellen des Aufbruchs und die Gegnerschaft zum
System auf den Antikapitalismus begrenzten, ließen sie sämtliche Strukturen
des Systems ohne Verteidigung gegen die kapitalistische Moderne. Die
Anarchist*innen, die die Macht sinnvolleren Analysen unterzogen, hat-
ten den politischen Bereich geradezu leer gelassen. Die europäischen
Sozialwissenschaftler*innen beider Richtungen rangen mit den vom System
verursachten Problemen, anstatt die gesellschaftliche Natur zu erforschen.
Sie boten sich quasi als Krisenbewältigungsexpert*innen an. Die Welt und
die Geschichte traten in den Hintergrund. Wir dürfen uns nicht wundern,
dass die Sozialwissenschaft eurozentrisch ist. Es war nicht zu erwarten, dass
Jahrhunderte der Akkumulation von Wissen und Wissenschaft mit einem
Fingerschnipsen überwunden würden. Die liberale Ideologie erwies sich da-
bei als die cleverste von ihnen. Sie fand den Weg, sie alle ins System zu
integrieren. Es gelang ihr, nicht nur die Französische Revolution, sondern
alle Revolutionen dieser Ära einschließlich der Russischen Revolution und
alle Systemgegner*innen zu neutralisieren; sie verwandelte erfolgreich die
Wissenschaft in die Wissenschaft der Macht und des Kapitals.
Es ist jedoch undenkbar, dass die europäische Moderne, der Gipfel
von Ausbeutung und Macht in der gesamten Ära der Zivilisation, ihre
Gegner*innen hätte vollständig vernichten oder zum Schweigen bringen
können. Seit ihrer Entstehung sah sich diese Moderne nicht nur an der
ideologischen Front, sondern auch an der politischen und moralischen Front
starkem Widerstand gegenüber. Die Systemgegnerschaft erneuerte sich min-
destens so sehr wie das System. Als sich das System globalisierte, globali-
sierte sich auch das Gegensystem. Die Hegemonie des Zivilisationssystems
über die Wissenschaft wurde nach und nach gebrochen. Es dämmerte das
Schlussfolgerung 461

Verständnis, dass Geschichte nur Weltgeschichte sein kann, dass die kurze
Phase der Hegemonie Europas nur einen kleinen Teil dieser Geschichte dar-
stellen kann.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bereiteten die französische Philosophie,
die 1968er Kulturrevolution der Jugend, die Auflösung des Sowjetsystems
von innen heraus, der Bankrott des Sozialstaats, die postmoderne Suche
und die Liquidation des klassischen Kolonialismus den Boden für den
Beginn eines neuen Abschnitts in der Sozialwissenschaft. Befreit von den
Hindernissen des Positivismus und des Eurozentrismus, befindet sich die
Erforschung der Wahrheit mittlerweile auf einem besseren Weg. Eine
Sozialwissenschaft, welche die gesellschaftliche Natur insgesamt an allen
Orten und zu allen Zeiten zum Forschungsgegenstand macht, darf sich
nicht damit begnügen, nur Krisen und Probleme zu lösen. Sie muss einer-
seits Physik, Chemie, Biologie und Kosmologie, die im Grunde mit der
Gesellschaft zusammenhängen, und andererseits Humanwissenschaften wie
Philosophie, Philologie und Kunst vorausgehen; die Rolle einer Königin der
Wissenschaften spielen. Der Stammbaum der Wissenschaften lässt sich nur
mit der Sozialwissenschaft als Wurzel zeichnen. So wird die Wissenschaft
sowohl von ihrer extremen Zersplitterung befreit als auch von der Gefahr,
zu abstrakt zu bleiben. Wie die allgemeine Krise muss auch die Krise im
Bereich der Sozialwissenschaften dringen überwunden werden. Eine
Sozialwissenschaft, welche das Gewahrsein des Lebens als Freiheit, und die
Wahrheit als Erforschung der Freiheit interpretiert, ist die unverzichtbare
Anleitung der moralischen und politischen Gesellschaft für Aufklärung und
Entwicklung.
Dass ich in diesem Band die Sozialwissenschaft besonders diskutiere, liegt
an seiner Tragweite. Die Rhetorik des Wissenschaftlichen Sozialismus, die
ich lange verwendet habe, erschien mir mittlerweile zu eng. Die liberale
Rhetorik dagegen lehne ich ganz ab. Meine nähere Bekanntschaft mit dem
Anarchismus hinterließ einen positiven Eindruck; doch war er weit davon
entfernt, die Probleme zu lösen, die vor mir lagen. Die Ansichten einiger
Soziolog*innen, die ich – wie eingangs erwähnt – sehr wertschätze, waren
für meine Analysen sehr hilfreich. Aber dennoch musste ich meinen Weg
selbst finden. Ohne mein Verständnis der Sozialwissenschaft zu etablieren,
wäre es nicht richtig gewesen, zu anderen anspruchsvollen Themen zu sprin-
gen. Es handelt sich hier wie gesagt um einen Versuch, der erst durch Kritik
zur Geltung kommt. Ich gehöre sicherlich nicht zu den metaphysischen und
positivistischen Dogmatikern, die von der Sozialwissenschaft alles erwarten.
462 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Meine vielseitige Definition der Sozialwissenschaft sollte sowohl dazu die-


nen, diese Gefahr zu vermeiden, als auch Interessierten gegenüber wach-
sam und ehrlich zu sein. Nachdem dies erreicht war, entstanden der andere
Hauptteil über die demokratische Zivilisation und Moderne. Ich habe dem
gesellschaftlichen Problem Vorrang eingeräumt, um das Zivilisationssystem
besser kennenzulernen und seinen Gegner*innen die richtige Basis zu liefern.
Ich denke, ich habe dies genügend ausführlich getan. Meine Kritik an ande-
ren Gegner*innen des Systems diente der Vollständigkeit der Einschätzung.
Die Methode des Wissenschaftlichen Sozialismus, Systemgegnerschaft auf
die Grundlage des Konflikts zweier Klassen zu stellen – was in der Geschichte
nur sehr begrenzt zutrifft und weit davon entfernt ist, die Gesellschaft zu
analysieren – lehne ich zwar nicht vollständig ab, habe aber versucht, sie
durch mein Konzept eines Zivilisationssystems zu überwinden, dessen fünf-
tausendjährige Entwicklung dem Lauf eines Hauptstroms ähnelt.
Wenn wir nach einem dialektischen Gegensatz suchen – und von die-
ser Notwendigkeit bin ich überzeugt – so musste dies unbedingt auf der
Ebene des Zivilisationssystems entwickelt werden. Mir ist bewusst, dass die
Zivilisationen der Forschungsgegenstand vieler geschätzter Philosoph*innen
und Soziolog*innen ist. Ich wollte hier nicht diesen Forschungen eine
weitere hinzufügen, sondern Leerstellen oder nur unzusammenhängend
und bruchstückhaft behandelte Aspekte systematisch und umfassend zur
Diskussion stellen. Besonders unterstreichen muss ich dabei, dass ich die von
Karl Marx im Kapital angewandte dialektische Methode auf die Zivilisation
anwende. Dabei habe ich oft geklagt: »Hätte doch Marx das geleistet, dann
hätten wir davon profitieren können.« Doch die beste Unterstützung, die
man von einem Meister erhalten kann, ist wahrscheinlich das Verständnis
seiner Methode. Inwieweit mir das gelungen ist, werden die Kritiken inter-
essierter Menschen und die soziale Praxis zeigen. Tatsächlich polarisiert die
Zivilisation, wie im Kapital erklärt, und erschafft gegnerische und einan-
der entgegengesetzte Gruppen. Selbst der Gegensatz von Bourgeoisie und
Proletariat konnte nur einer der vielen Gegensätze sein, den die Zivilisation
hervorbrachte. In diesem Sinne halte ich es für angemessener, meine Arbeit
nicht als Gegnerschaft zu Marx interpretieren, sondern als den Versuch,
ausgehend von ernster Kritik seine Ansichten und Einschätzungen zu er-
gänzen und weiterzuentwickeln. Es sollte nicht als Gegnerschaft interpretiert
werden, wenn ich in vielerlei Hinsicht (Monopol, Kapital, Staat, Ideologie,
Positivismus, Geschichte, Zivilisation, Markt, Ökonomie, Demokratie,
Sozialwissenschaft, besonders Macht, Nationalstaat, Hegemonie,
Schlussfolgerung 463

Systemanalysen und anders) Fehler und Mängel benenne. Eher sollte man
es so sehen, dass ich ihn und die anderen Strömungen, die gegen das System
kämpfen, verdientermaßen schätze und deshalb meinen Beitrag leiste.
In den vorherigen Bänden meiner Verteidigung habe ich versucht, beide
Flügel der Zivilisation, den beherrschenden und den ausnutzenden (ausbeu-
tenden und kolonialisierenden), grob zu analysieren. In den hier vorliegen-
den Teilen nun habe ich versucht, darauf so wenig wie möglich nochmals
einzugehen und den eigentlichen Schwerpunkt auf den Demos, die Kräfte
der demokratischen Zivilisation, als den Gegenpol zu legen. Mit ganzer
Kraft habe ich mich bemüht, diesen Pol der Geschichte darzulegen. Meines
Erachtens steckt die Geschichtsschreibung vor allem bei diesem Thema vol-
ler Fehler und Mängel. Dies zumindest mit einer dicken roten Linie zu
unterstreichen war wichtig und notwendig. Der eigentliche Konflikt in der
Geschichte fand nicht, wie so oft behauptet (Samuel P. Huntington ist das
jüngste Beispiel118), zwischen den herrschenden Gruppen der Zivilisationen
statt, sondern zwischen den beiden entgegengesetzten Polen der Zivilisation.
Natürlich bestehen auch zwischen den herrschenden Gruppen reichlich
Widersprüche und Konflikte. Die Monopole streiten sich immer auch un-
tereinander über den Kuchen. Der springende Punkt ist jedoch, wem dieser
Kuchen wie geraubt worden ist. Gemäß der Dialektik besteht der wirkliche
Widerspruch und der wirkliche Konflikt zwischen denen, die den Kuchen
herstellen, und denen, die ihn rauben wollen. Bei diesem Thema, das durch
sehr umfangreiche Forschung historisch ausgelotet werden muss, gab es
für mich nur die Möglichkeit, durch eine rote Linie darauf aufmerksam
zu machen. Genau das habe ich getan. Ich glaube, die daraus entstehenden
Resultate werden nicht enttäuschen.
Ich habe auch versucht, den Gegner*innen der Moderne breiten Raum
zu geben. Damit wollte ich, dass sie sich bei den Arbeiten an einem neu-
en System in der richtigen Weise beteiligen. Die seit der Auflösung der
Sowjetunion zunehmende Verwirrung mussten wir sinnvoll einord-
nen. Hoffnungslosigkeit jedoch war unnötig. Realsozialist*innen und
Anarchist*innen mussten die Notwendigkeit einer Erneuerung verstehen.
Feministinnen und Ökologieaktivist*innen dagegen hätten wissen müssen,
dass sie ohne den Aufbau eines Systems nicht weit kommen, sondern letzt-
lich immer Wasser auf die Mühlen des Liberalismus gießen würden. Ohne
sowohl Politik zu machen als auch eine Systematik zu garantieren, konnte
118 Huntington vertrat in seinem viel beachteten gleichnamigen Buch von 1996 die These vom
Kampf der Kulturen, im Original The Clash of Civilizations.
464 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

es kein erreichbares Ziel geben. Es erwartete sie bestenfalls das Schicksal


realsozialistischer oder anarchistischer Bewegungen. Ich bin überzeugt, dass
meine Behandlung der kulturellen Bewegungen Probleme lösen kann. Der
demokratische Gehalt dieser Bewegungen, die sich aus den Klauen des nati-
onalstaatlichen Monsters zu befreien versuchen, war wichtig. Sie hätten eine
historische Rolle im Rahmen der demokratischen Moderne spielen können.
Ich habe sorgfältig darauf geachtet, an die Probleme und Aufgaben des
Neuaufbaus der demokratischen Moderne stets sowohl analysierend als auch
lösungsorientiert heranzugehen, sowohl im theoretischen als auch im prakti-
schen Sinne. Ich denke, es ist mir gelungen, meine Ergebnisse in Form von
eingängigen Prinzipien zu präsentieren. Die demokratische Moderne hat we-
der etwas mit der Suche nach einem vergangenen Goldenen Zeitalter noch
mit einem utopischen Zukunftsprojekt zu tun. Es gab reichlich Material
gegen das System, aber das eigene System fehlte. Ich glaubte, dass bei diesem
Thema ein dringender Bedarf an sinnvollen Narrativen bestand. Wichtig
war nicht der Name ›demokratische Moderne‹, sondern der Gehalt. Und
diesen zu systematisieren war unabdingbar. Sonst würde man zwischen der
Philosophie des Elends119 und dem Elend der Philosophie steckenbleiben und
nicht weiterkommen. Meine Analysen sollten diese Situation aufklären und
auflösen. Die intellektuellen, moralischen und politischen Aufgaben zu be-
nennen war dagegen der Versuch, zu praktischen Lösungen zu kommen.
Auch in diesem Bereich herrschte ziemliches Durcheinander. Ich denke, es
ist ausreichend klar geworden, wie die Praxis anzugehen ist. Besonders die
aufgelisteten Prinzipien werden, so glaube ich, in der Praxis zu neuen, kre-
ativen Aktivitäten führen.
Ein anderes wichtiges Thema dieser Arbeit betraf die Eigenschaften der
grundlegenden Untersuchungseinheit. Die positivistische Sozialwissenschaft
begnügte sich hierbei damit, die Gesellschaft wie die anderen Objekte
in der Natur zu objektivieren und eine allgemeine Antwort zu geben.
Der Wissenschaftliche Sozialismus entstand als linkes Abbild dieses
Wissenschaftsverständnisses und war noch starrer und auf die Phänomene
fixiert. Ihr Beitrag bestand darin, die Gesellschaften nach Produktionsweisen
zu klassifizieren. Ein universalistischer, linear-progressivistischer Positivismus
wurde als absolute Wahrheit betrachtet und angewandt. So entstand die
Einteilung in primitiv, sklavenhalterisch, feudal, kapitalistisch und sozialis-
tisch-kommunistisch. Hier handelte sich auch um einen gewissen Fatalismus:
119 Philosophie des Elends ist eine Schrift von Proudhon von 1846, auf die Marx 1847 mit Das Elend
der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends« (MEW 4:62–182) reagierte.
Schlussfolgerung 465

Der Sozialismus werde früher oder später ohnehin kommen. Dieser Ansatz
besaß offenbar einen dogmatischen Aspekt. Die Konsequenzen daraus, an
sämtliche sozialen Aktivitäten mit diesem Ansatz heranzugehen, waren noch
schlimmer als gemeinhin angenommen. Entstanden ist kein Sozialismus,
stattdessen diente man erheblich, ohne es zu bemerken, dem oft kritisierten
globalen Kapitalismus. Dass der russische Staatskapitalismus dem System
mindestens hunderte weitere Lebensjahre verschaffte, bestätigt wohl diese
Tatsache.
Während der gesamten Arbeit habe ich als grundlegende Analyseeinheit
die moralische und politische Gesellschaft gewählt, die ich für den eigent-
lichen Daseinszustand der gesellschaftlichen Natur halte und zu identifizie-
ren und definieren versucht habe. Mein Argument war, dass Phänomene
wie Produktionsweise, Klasse, Staat, Ideologie und Technik, die sich ständig
verändern und in jeder Gesellschaft ganz unterschiedlich ausbilden, zwar
durchaus bedeutsam sind, jedoch nicht genug Gewicht besitzen, um das
grundlegende Forschungsthema darzustellen.
Weltsystemanalysen und Zivilisationsanalysen dagegen habe ich als
einseitige Interpretationen kritisiert, die sich auf geschlossene, zirkuläre
Entwicklungen stützen. Ich versuchte zu analysieren und zu zeigen, dass
die gesellschaftliche Natur, deren Qualitäten der Mensch, solange er exis-
tiert, erlebt und erleben muss, die moralische und politische Gesellschaft
ist; dass er auf sie nicht verzichten kann, und dass die Gesellschaft, wenn er
es dennoch tut, sich zersplittern und auflösen wird. Mit einer langen Liste
von Beispielen versuchte ich zu zeigen, dass, selbst wenn die moralische
und politische Gesellschaft im Laufe der Geschichte der Zivilisation in der
Umklammerung durch Kapital und Macht stark abgenutzt und dem Verfall
preisgegeben wurde, die Gesellschaften immer einen Weg finden und unter
Wahrung ihrer moralischen und politischen Qualitäten versuchen, diesen
Kräften Paroli zu bieten und im Widerstand zu leben. Ausführlich habe
ich analysiert, wie einerseits die kapitalistische Moderne und ihre Netze
von Kapital und Macht in die Gesellschaft einsickern und sie bis in die
kleinsten Poren durchdringen (Nationalstaat, Industrialismus, besonders
Medieninstrumente, eklektische Ideologien, Sicherheitsapparate, innere
Kolonialisierung, extreme Belastungen für die Frau und weitere Faktoren),
diese aber eine entsprechende, gleich starke Gegenreaktion begründen und
jedem Individuum und jeder gesellschaftlichen Einheit Möglichkeiten des
Widerstands und alternativer Lebensweisen eröffnen und sogar eröffnen
müssen. Ich habe dargestellt, dass die moralische und politische Gesellschaft
466 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

keinesfalls statisch ist, sondern sich seit der Vorgeschichte ständig weiterent-
wickelt.
Klans, Familien, Stämme, Stammeskonföderationen, der Einbruch der
Hierarchie, Aufteilung in Staaten, die Übergänge von der dörflich-agrari-
schen zur städtischen und zur national-industriellen Gesellschaft waren kon-
tinuierliche Entwicklungen, die mit mehr oder weniger großer Polarisierung
einhergingen. Ich habe versucht, Ansichten zuzustimmen, dass der Prozess
der Zivilisation einen kontinuierlichen Charakter besitzt, der sich in einem
Hin und Her von Zentrum und Peripherie, Hegemonie und Konkurrenz
sowie Krisen von Aufs und Abs darstellt. Ich versuchte in Theorie und Praxis
zu analysieren und zu demonstrieren, dass trotz alledem die moralische und
politische Gesellschaft nicht vernichtet werden kann; dass sie ihre Tendenz
zu Freiheit, Gleichheit und Demokratie stets bewahren wird; dass durch
gemeinsames Verständnis und Erfüllung der intellektuellen, moralischen
und politischen Aufgaben diese Eigenschaften maximale Vitalität entfalten
werden.
Ich versuchte auch ausführlich zu zeigen, dass, während die kapita-
listische Moderne ihre Existenz auf Kapitalismus, Industrialismus und
National-Etatismus gründet, die demokratische Moderne als demokratische
Kommunalität, öko-industrielle [Gesellschaft] und demokratische Nation
existent werden kann. Ich definierte die demokratische Kommunalität nicht
als den Egalitarismus einer homogenen Gesellschaft, sondern als jegliche
Art von Gemeinschaft im Umfang von einer Person bis zu Millionen von
Personen (von Frauen- bis Männergemeinschaften, von Sport und Kunst
bis zur Industrie, von Intellektuellen bis zu Schafhirt*innen, von Stämmen
bis Unternehmen, von Familien bis zu Nationen, von Dörfern bis Städten,
vom Lokalen bis zum Globalen, jede Gesellschaft von der Klangesellschaft
bis zur globalen Gesellschaft), welche die Eigenschaften der moralischen und
politischen Gesellschaft trägt. Ich habe dargestellt, dass eine öko-industrielle
Gesellschaft bedeutet, dass die dörflich-agrarische Gesellschaft und die städ-
tisch-industrielle Gesellschaft einander ernähren, und sie sich in ökologisch
ausgerichteten öko-industriellen Gemeinschaften ausdrückt. Die demokra-
tische Nation dagegen habe ich als eine neue Art der Nation, besser gesagt:
als Nation mit vielen Identitäten, Kulturen und politischen Formationen
zu definieren und analysieren versucht, deren grundlegende politische
Form demokratisch-konföderalistische Praktiken und autonome politische
Formationen bilden werden – alle Arten kultureller Existenz von Ethnien bis
Religionen, urbane, lokale, regionale bis hin zu nationalen Gemeinschaften.
Schlussfolgerung 467

Die demokratische Moderne habe ich ausführlich und immer wieder als
eine Option zu präsentieren versucht, die auf der Basis dieser Strukturen das
historische Erbe mit der Erfahrung der Systemgegner*innen der modernen
Ära verbindet, zahlreiche Lösungen bietet, weiter wachsen und schließlich
führend werden wird.
Ein weiterer wichtiger Teil meiner Analyse drehte sich darum, die
Polarisierung zwischen staatlicher Zivilisation und demokratischer Moderne
außer im Hinblick auf Konflikte und Ausnutzung (Ausbeutung und
Kolonialismus) auch bezüglich der Wahrscheinlichkeit von Konfliktfreiheit
und Frieden zu analysieren120. Die Möglichkeiten und Bedingungen eines
nachhaltigen Friedens einzuschätzen ist ein sehr delikates, aber wichtiges
Thema. Der Prozess der Zivilisation hat in dieser Hinsicht bekanntlich ein
reiches Erbe aufzuweisen. In vielen Zeiten und Praktiken wurde dem Frieden
mehr als dem Krieg Heiligkeit und Erhabenheit zugesprochen. Auch in der
Ära der Moderne existierten Krieg und Frieden als alltägliche Praktiken
geradezu ineinander verschränkt. Eine Auffassung, ein Element, das zum
Prozess beitragen kann, stellte die Auffassung dar, dass eine Dialektik des
gegenseitigen Nährens sehr wohl an die Stelle einer Auffassung von des-
truktiver Dialektik treten kann, dass zumindest dialektische Prozesse we-
der ausschließlich destruktiv noch ausschließlich gegenseitig nährend sind,
sondern dass zwischen beiden Auffassungen oder Realitäten ein breites und
komplexes Spektrum existieren kann. Dank der sich weiterentwickelnden
Wissenschaft verstehen wir immer besser, dass die Natur weder gemäß ei-
ner aus den Zeiten des wilden Kapitalismus stammenden darwinistischen
Philosophie des Überlebens des Stärkeren noch gemäß der alten metaphy-
sischen Schablonen eines widerspruchsfreien Lebens funktioniert, sondern
vielmehr ein höchst reiches, spannungsvolles und kreatives Wesen an den
Tag legt.
Falsch ist es, Friedensprozesse vollständig als evolutionär zu interpretie-
ren, und genauso falsch ist es, Phasen des Krieges als Geburtshelfer des al-
ten Systems zu interpretieren, das mit einer neuen Gesellschaft schwanger

120 Öcalan verfasste alle fünf Bände des Manifests der demokratischen Zivilisation und die Roadmap
für Verhandlungen in den Jahren 2008–2010, als bereits Geheimgespräche des türkischen Staates
mit Öcalan und der PKK stattfanden. Insofern ist dieser beginnende »Friedensprozess« hier
offenbar mitgemeint, wenn von einem »Prozess« die Rede ist, auch wenn er nicht offen ange-
sprochen wird. Ende 2012 wurden die Gespräche bekannt, was die Hoffnung auf Frieden und
eine Demokratisierung der Türkei befeuerte und auch den Hintergrund für die Gezi-Proteste
2013 bildete. Im Frühjahr 2015 beendete Präsident Erdoğan einseitig den Dialog und setzte auf
eine Gewalteskalation.
468 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

geht121. Kriege zwischen Kapital- und Machtmonopolen drehen sich da-


rum, dass sich der Kuchen in ihren Händen verkleinert oder vergrößert.
Mit Frieden haben sie nicht viel am Hut. Wirklicher Frieden beruht darauf,
dass die beiden entgegengesetzten Kräfte der Zivilisation gegenseitig ihre
Existenzen, Identitäten und autonome Verwaltungsrechte akzeptieren. Dies
beginnt zwischen zwei Klassen und umfasst ein breites Spektrum mit vie-
len verschiedenen Sippen, Stämmen, Volksstämmen, Nationen, Schichten,
religiösen Gemeinden, kulturellen Strömungen bis hin zu wirtschaftlichen
Gruppen. Sobald akzeptiert ist, dass Konflikt den beteiligten Parteien mehr
Schaden zufügt, zeichnet sich die Möglichkeit des Friedens ab. Dann ver-
sucht man, durch Dialog und Aussöhnung weiterzukommen. Ob auf lokaler
oder globaler Ebene, ob innerhalb einer Nation oder zwischen Nationen;
bekanntlich sind auf diese Weise viele Konflikte durch einen Frieden been-
det worden. Entscheidend ist ein Abkommen unter Bedingungen, die es den
Seiten ermöglicht, ihre Identität und ihre Würde zu bewahren. Wenn dies
gewährleistet ist, so ist Frieden auf jeder Ebene und zwischen Gesellschaften
jeder Größe, Gruppen und sogar Individuen möglich.
Der Versuch einer Analyse der fünftausendjährigen Geschichte der Zivili­
sation als einer Geschichte entgegengesetzter Pole zeigt uns, dass beide Pole
noch lange koexistieren werden. Es erscheint unmöglich, dass die beiden
Pole einander in kurzer Zeit auslöschen werden. Auch dialektisch betrachtet
erscheint das nicht realistisch. Der voreilige Versuch des Realsozialismus, ein
System aufzubauen, ohne die Zivilisation und die Moderne zu analysieren,
endete mit seiner eigenen Auflösung. Es kommt darauf an, sich bei allen
theoretischen und praktischen Bemühungen diese Bipolarität klarzumachen,
sich nicht vom herrschenden, ausbeuterischen Pol absorbieren zu lassen und
dabei die demokratische Zivilisation und Moderne als eigene, authentische
Systematik im täglichen Leben durch neue, konstruktive Bemühungen stän-
dig weiterzuentwickeln. Je mehr wir durch revolutionäre und evolutionä-
re Methoden unser System weiterentwickeln, desto mehr können wir die
Fragen von Dauer und Raum in positiver Weise lösen und das System ver-
stetigen.
Die demokratische Moderne ist ein System, das sich wegen seiner Grund­
elemente zu wirklichem Frieden eignet. Die Idee der ­demokratischen Nation
bietet Lösungen von der Ebene sehr kleiner nationaler Gemein­schaften bis

121 »Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.«
In: Karl Marx: Das Kapital, MEW 23, Vierundzwanzigstes Kapitel: Die sogenannte ursprüng-
liche Akkumulation, S. 779.
Schlussfolgerung 469

zu einer Welt-Nation. Gleichzeitig bildet sie eine wertvolle Option für


den Frieden. Durch ihr öko-industrielles Element stößt sie innerhalb der
Gesellschaft durch ertragreichen Gebrauch der Industrie einerseits Lösungen
für schwere gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut und
Hunger an, die gewissermaßen Ergebnisse des Krieges der Moderne gegen
die Gesellschaft sind, andererseits beendet sie den Krieg des Industrialismus
gegen die Umwelt und stellt Frieden zwischen Gesellschaft und Umwelt
her. Ihr Element der demokratischen Kommunalität bietet jeder Einheit der
Gesellschaft und jedem Individuum die Option, moralische und politische
Gesellschaft zu sein, und stellt so den radikalsten friedlichen Ansatz dar. Klar
ist: je weiter sich die demokratische Moderne als System entwickelt, desto
mehr wird sich die Möglichkeit zu einem würdevollen Frieden ergeben.
An dieser Stelle muss ich eine Warnung aussprechen und gleichzeitig
nochmals um Verzeihung bitten: Ich verwende die Begriffe ›moralische und
politische Gesellschaft‹, ›demokratische Kommunalität‹ und ›demokrati-
sche Gesellschaft‹ synonym. Um einen Bedeutungsreichtum auszudrücken,
habe ich, wenn nötig, auch alle drei Begriffe benutzt. Natürlich erinnern
moralische und politische Gesellschaft und demokratische Kommunalität
eher an den demokratischen Sozialismus und gesellschaftliche Gleichheit
(aber Gleichheit auf Grundlage der Verschiedenheiten). Gleichheit auf
Grundlage von Verschiedenheiten unterscheidet sich von der Bedeutung im
Realsozialismus, wo Gleichheit Homogenität bedeutete. Um dies zu beto-
nen, fand ich es notwendig, den Realsozialismus als Pharaonensozialismus
zu bezeichnen. Ich habe versucht, den Charakter der Begriffe ›demokra-
tische Gesellschaft‹ und ›moralische und politische Gesellschaft‹ zu beto-
nen, der sowohl Gleichheit als auch Freiheit enthält. Zweifellos dürfen
wir diese gleichwertigen Begriffe nicht in eins setzen. Das meine ich mit
Bedeutungsreichtum. Identischmachen bedeutet Verarmung. Ich war-
ne davor, sich bei der Verwendung dieser oft vorkommenden Begriffe in
Widersprüche zu verwickeln, und bitte um Nachsicht, weil es mir nicht
gelungen ist, eine andere Terminologie zu entwickeln.
Ich habe mich nicht darauf beschränkt, die demokratische Moderne als
Gegenstück zu den drei Grundelementen der kapitalistischen Moderne
(Kapitalismus, Industrialismus und Nationalstaat) mit ihren drei
Hauptelementen moralische und politische Gesellschaft (bzw. demokratische
Kommunalität, demokratischer Sozialismus, demokratische Gesellschaft)
öko-industrielle Gesellschaft und demokratisch-konföderale Gesellschaft
zu beschreiben. Wie ich im betreffenden Abschnitt darzustellen versucht
470 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

habe, wollte ich sie mit einem viel bunteren Strauß von Eigenschaften defi-
nieren. Die zwölf Grundprobleme, die ich bezüglich der gesellschaftlichen
Frage aufgezählt habe, erklären gleichzeitig die zwölf lösungsorientierten
Charakteristika der demokratischen Moderne.
Ich habe mehrfach betont, dass dieses Werk unter dem Titel Soziologie der
Freiheit veröffentlicht werden kann. Beim Versuch, die Sozialwissenschaft zu
definieren, habe ich unterstrichen, dass das eigentliche Ziel sein muss, die
Option der Freiheit weiterzuentwickeln. Ohnehin, wenn wir hinzufügen,
dass eine Bedeutung der Lösung von Problemen darin besteht, Freiheit zu ge-
währleisten, so denke ich, dass nichts dagegen spricht, die Sozialwissenschaft
im Rahmen ihres Zweckes Soziologie der Freiheit zu nennen. Zumindest ein
großer Teil, die soziologischen Arbeiten, die sich mit der Problemlösung
und der Förderung des Gewahrwendens des Lebens befassen, sollten tref-
fenderweise unter diesem Namen veröffentlicht werden. Zweifellos umfasst
die Soziologie nicht ausschließlich die Freiheit. Bekanntlich muss sie sich
mit einem breiten und komplizierten gesellschaftlichen Spektrum befassen
(prähistorische Gesellschaft, Hierarchie, Klasse, Staat, Stadt, Zivilisation,
Kapital, Ökonomie, Macht, Demokratie, Kunst, Religion, Philosophie,
Wissenschaft, Politik, Krieg, Strategie, Organisierung, Institutionalisierung,
Ideologie, Ökologie, Jineolojî, Eschatologie und so weiter). Doch habe ich
besonders betont, dass die Aufspaltung der moralischen und politischen
Gesellschaft in viele Teile und deren separate thematische Behandlung gro-
ße Nachteile birgt und zu eher negativen als positiven Resultaten führen
kann. Ich erklärte, dass ich entschieden zustimme, dass die Untersuchung
der gesellschaftlichen Natur in ihrer Geschichtlichkeit und Ganzheit die
beste Methode ist.

Hier, am Ende eines weiteren Bandes meines Manifests der demokrati-


schen Zivilisation, möchte ich mit zwei Interpretationen von Sokrates und
Zarathustra schließen. Sokrates verwies bekanntlich oft auf den Satz:
»Erkenne dich selbst!«. Sokrates wollte wohl betonen, dass, wer sich
nicht selbst erkennt, nicht viel lernen oder wissen kann. Ich glaube, dass
der Mensch die Summe der Wirklichkeit darstellt, die sich zeitlich – so-
weit es die Wissenschaft erklärt – vom angenommenen Urknall vor min-
destens fünfzehn Milliarden Jahren bis heute und räumlich über das ge-
samte Universum erstreckt. Das spüre und weiß ich. In diesem Sinne ist
Selbsterkenntnis gleichbedeutend mit Kenntnis über die gesamte Zeit und
das gesamte Universum. Außerdem sprach Sokrates in seiner berühmten
Schlussfolgerung 471

Verteidigung nicht von den Göttern Athens, die er angeblich leugnete, son-
dern von einem Geistwesen, seiner Inspiration, dem Daimonion, das ihn von
Zeit zu Zeit aufsuchte. Dies ist also eine Selbsterkenntnis durch Intuition
und innere Konzentration. Eine Art Lernen und Verkünden auf propheti-
sche Art. Offenbar ist dies eine fortgeschrittene Art des Lernens gegenüber
der Götzenanbeterei. Nachdem meine Intuition oder meine Daimonen mich
gemahnt hatten: »Was immer du suchst, finde es in dir selbst«122, blieb mir
nichts übrig, als diese Zeilen so zu verfassen.
Zarathustras Interpretation war noch eindrücklicher. Es ist ­überliefert,
Zarathustra habe, als die Sonne in vollem Glanz über seinem geliebten
Zagros-Gebirge aufging, eine Stimme gehört. Dieser Stimme habe er zu-
gerufen: »Sag, wer bist du?« Diese Interpretation beschreibt, dass er so
Gott begegnet und mit ihm abrechnet. Ich dagegen bin überzeugt, dass es
sich um seine Abrechnung mit der Präsenz von Gottkönigen nach Art der
Sumerer handelt, die seit Jahrtausenden die Freiheit des Volkes im Zagros-
Gebirge bedrohten. Er stellt die Sakralität dieser Gottkönige, gewisser­
maßen der Zivilisation selbst, infrage und verwirklicht die zoroastrische
Moralrevolution. Diese Revolution handelt von der Dichotomie Licht–
Finsternis und Gut–Böse.
Ich hasse definitiv die Übertreibungen, die in Bezug auf mich stattfin-
den. Mein leidenschaftlicher Wunsch ist, in meiner ganzen Einfachheit
verstanden zu werden und ein Freund zu sein. Mit der Zeit verstand ich
besser, dass meine Persönlichkeit, die das Leben in seiner Einfachheit voller
Leidenschaft als ein Fest der Freundschaft empfängt, sich gegen alle stellte,
die mich angriffen. Als sie mich angriffen, stellte ich sie ein wenig nach Art
des Zarathustra infrage: »Wer seid denn ihr?« Also spiegeln diese Zeilen
das wider, was ich einerseits durch Selbsterkenntnis gelernt habe und sich
andererseits als Bewusstsein herausgebildet hat, indem ich meine Angreifer
fragte: »Wer seid ihr?«
Sowohl mich selbst als auch die in tausenderlei Verkleidungen ­auftretenden
Heiligkeiten der Zivilisation zu analysieren, bedeutet auch, die schwierigen
Bedingungen zu verstehen und zu überwinden. Während die Sakralitäten
der Zivilisation sämtliche Grenzen von Moral und Politik überschritten
und mich anzugreifen versuchten, stellte ich sie mit diesen Zeilen infrage.
Dies machte mich in einer Feierstimmung mit meiner Persönlichkeit, mei-
nen Traditionen, meinem Volk, meiner Region, meiner Menschheit und

122 Vgl. Band II, S. 48.


472 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

meinem Universum bekannt. Kennenlernen bedeutet Gewahrwerden. Dies


­wiederum bedeutet, das Leben in all seinem Reichtum furchtlos zu leben
und intensiv zu verteidigen!
Anhang
Stichwortverzeichnis
A
Abbasiden 230, 442 Amsterdam 91, 97, 108, 116, 117, 118,
Abbasidenreich 386 119, 159, 160, 257, 259, 292,
Abel 86 295, 298, 442
Abessinien 228 Amurriter 213, 228
Abraham 97, 98, 184, 218, 219, 220, Anarchist*innen 460
222, 228, 288, 291, 292, 297, Anatolien 91, 109, 216, 230, 289, 293,
306, 444 294, 303, 304, 305, 306, 366
Adam 86, 218, 225, 444 Andalusien 303
Adorno, Theodor W. 185, 260, 261, Anglikanismus 117
406 Animismus 218, 458
Afghanistan 230, 302 Annales-Schule 190
Afrika 104, 126, 160, 215, 217, 360, Antiochia 157, 299
369, 387, 388, 392, 444 Antwerpen 118
Afrikaner 109 APEC 208
Ägäis 94 Apiru 213, 223, 228
Ägypten 92, 93, 98, 101, 118, 156, 216, Araber 90, 109, 228
217, 219, 223, 225, 263, 288, Araber*innen 290, 293
292, 306, 443 Arabien 216, 263, 293, 294, 416
Ägypter 98, 213, 216 Arabische Halbinsel 91, 101, 228
Aischa 444 Aramäer 217, 228
Akkader 90, 118, 228 Arianer 224
Albaner*innen 304 Arier 213
Albanien 367 Aristoteles 156, 160, 253, 426
Aleppo 299 Armenier 104, 109, 224
Aleviten 230, 443 Armenier*innen 304
Alevit*innen 264 Aschkenas*innen 289
Alexander der Große 22, 91, 101, 226, Aserbaidschan 293
441 Asien 215, 217, 369, 444
Alexandria 157 Aššur 90, 91, 92, 107, 215, 216, 217,
Ali 107 259, 441
al-Qaida 231 Assyrer 90, 91, 92, 104, 109, 118, 224
al-Ubayyid 215 Assyrer*innen 293
Amerika 104, 215, 369 Assyrisches Reich 217
Amerikanische Ureinwohner 110 Atatürk, Mustafa Kemal 305, 306
Amin, Samir 66 Athen 226, 441
476 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Athener 100 Byzanz 103, 107, 108, 224, 227, 228,


Äthiopien 91, 228, 293 442
Augustus 226
aurus-Zagros-Gebirgssystem 101 C
Australien 104 Caesar, Gaius Julius 226
Australische Ureinwohner 110 Calvinismus 117
Azteken 110 Ceylanpınar 225
Chaldäer 104
B Charidschiten 230, 443
Babur 442 Chasar*innen 293, 303
Babylon 90, 91, 93, 97, 156, 161, 216, Childe, Gordon 30, 94, 407
219, 225, 441 China 28, 90, 91, 92, 103, 119, 126,
Babylonier 90, 91, 118 141, 216, 263, 302, 367, 392
Babylons 441 Chinesische Revolution 369
Bacon, Francis 41, 254, 413 Christen 106, 157, 162, 217, 232
Bacon, Roger 254 Christentum 97, 103, 104, 106, 109,
Bagdad 299 110, 113, 114, 115, 117, 145, 224,
Bakunin, Michail Alexandrowitsch 227, 228, 231, 289, 290, 303,
372 360, 390, 443
Balkan 113, 126, 289 Christ*innen 290, 303
Banū Quraiza 229 Cicero, Marcus Tullius 226
Berg Hira 220 Collingwood, Robin George 296,
Berg Sinai 220 297
Bernstein, Eduard 366 Comte, Auguste 189, 282
Bilderberger 300
Bonaparte, Napoleon 126 D
Bookchin, Murray 29 Damaskus 228, 299
Brahmanen 135 Dara 157
Braudel, Fernand 29, 30, 31, 32, 66, Darwin, Charles 368
116, 256, 274, 321, 345 David 100, 223
Britannien 442 Davos 300
Bruno, Giordano 408, 444 Descartes, René 41, 254, 413
Buddha 444 Deutschland 119, 159, 208, 301, 302,
Buddhismus 436 373
Bursa 18 Dionysos 432
Bush, George W. 282, 302 Dorer 217
Byzantinisches Reich 386 Dritte Internationale 367
Dritte Natur 45, 46
Index 477

Dschingis Khan 66, 442 Frank, Andre Gunder 31


Dschingis Khans 442 Frank, André Gunder 30, 81, 257,
Durkheim, Émile 189 261, 262, 345
Frankfurter Schule 190
E Frankreich 126, 160, 275, 282, 292,
Edessa 157 295, 301
Edirne 305 Französische Revolution 358, 364,
EGMR 17, 18 367, 372, 377, 390, 452, 460
Einstein, Albert 54 Französisches Reich 301
Elam 90 Freud, Sigmund 54
EMRK 18 Friedensvertrag von Kadesch 93
En 253
Engels, Friedrich 58, 79, 106, 365, G
366, 460 Galilei, Galileo 41, 408
England 116, 117, 118, 119, 230, 275, Genua 114, 158
276, 295, 298, 301, 302, 303, Giddens, Anthony 119, 254, 256, 257,
304, 366, 368 264, 273, 446
Englische Revolution 390 Gilgamesch 86, 88, 94, 172, 215
Enki 86, 94, 218, 219 Göbeklitepe 113
Erasmus von Rotterdam 408, 444 Göbekli Tepe 90, 91, 215
Eridu 218 Gramsci, Antonio 136
Erste Internationale 366 Gregorianer 224
Eskimo 110 Griechen 93, 94, 96, 108, 109, 224,
Esther 292 225
Etruskisches Königreich 226 Griechenland 304
Euphrat 215 Griech*innen 289, 294, 304
Europäische Union 119, 208, 388, Gudea 225
389, 392 Guti 213, 225
Europarat 18
Eva 86, 218, 225 H
Hagar 306
F Hammurabi 428
ferner Osten 160 Harappa 89, 90, 91, 92, 263
Ferner Osten 135, 292 Hebräer 98, 109, 213, 223, 289
Florenz 114, 158 Hebräer*innen 288, 295
Foucault, Michel 29, 30, 177, 205, Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 48,
255, 261, 319, 345 189
Fourier, Charles 189
478 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 58, 230, 231, 232, 284, 292, 293,
189, 282, 358, 369 294, 304, 305, 360, 390, 391
Hellenen 104 Ismael 306
Herodot 225, 376 Israel 98, 100, 223, 294, 296, 302,
Hesiod 214 305, 306
Hethiter 91, 92, 118, 214, 216, 225, Istanbul 103
441 Ištar 218
Hethit*innen 305 Italien 101, 116, 208, 373
Hiob 444 Izmir 294, 295, 299
Hitler, Adolf 126, 301, 318, 406, 415
Hobbes, Thomas 72, 277 J
Holland 116, 117, 118, 119, 295, 298, Japan 119
301, 303, 304, 368 Jehova 220
Holländische Revolution 390 Jemen 91, 228
Homer 94, 214 Jerusalem 288, 290
Humbaba 173 Jesiden 433
Huntington, Samuel P. 463 Jesus 100, 101, 102, 103, 105, 220, 223,
Hurriter 90, 118, 214, 216 224, 230, 290, 297, 303, 306,
Hussein, Saddam 91, 279, 302 444
Hypatia 444 jineolojî 375
Jineolojî 154, 375, 470
I Josef 98, 288, 306
Iberische Halbinsel 289, 303 Juda 223, 306
Ibn Chaldūn 232 Judas Iskariot 223, 297
Ilias 214 Juden 106, 228, 229, 232, 442
Imrali 18 Judentum 104, 106, 109, 228, 288,
Inanna 86, 94, 172, 218, 219, 444 290, 291, 292, 293, 294, 295,
Indien 103, 216, 263, 387, 388, 392, 296, 297, 298, 300, 301, 302,
433 303, 306, 307, 360, 390, 391,
Indonesien 230, 388 436, 443
Inka 110, 258 Jüd*innen 185, 288, 289, 290, 291,
Ionier 109 292, 293, 294, 295, 297, 298,
Irak 90, 173, 289, 302 299, 300, 301, 303, 304, 305,
Iran 90, 101, 230, 284, 289, 292, 293, 306, 307
294, 389 Jüdi*nnen 307
Islam 104, 105, 106, 107, 108, 109, Jüdinnen 442
113, 115, 145, 227, 228, 229, Julius Caesar 404
Jupiter 226
Index 479

K London 91, 108, 116, 117, 118, 119, 159,


Kadesch 93 160, 161, 257, 259, 295, 298,
Kain 86 301, 366
Kairo 299 Luxemburg, Rosa 137, 138, 202, 203,
Kanaan 98, 100, 219, 220, 228 280, 444
Kanada 208, 392 Lydien 258
Kant, Immanuel 37, 57, 426
Karl V 116 M
Karthago 97, 441 Machiavelli, Niccolò 277
Kaspisches Meer 289, 293 Machiavelli, Niccolò di Bernardo
Kassiten 213, 225, 441 dei 117
Katholiken 103 Madschūsen 433
Katholik*innen 303 Mailand 158
Katholizismus 295, 390 Mandäer 106
Kaukasien 126 Mandäismus 228
Kaukasus 101 Mani 103, 433
Kıvılcımlı, Hikmet 136 Manichäismus 103
Kohen, Moiz 304 Manisa 294
Kommunistische Partei der Mao Zedong 32, 344, 367
Sowjetunion 367 Maria 306, 444
Konfuzius 433, 444 Marx, Karl 32, 48, 54, 58, 79, 106,
Konstantin der Große 224 117, 137, 186, 202, 255, 259,
Konstantinopel 103, 299 298, 301, 307, 344, 365, 366,
Kreta 93 460, 462
Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 372 Meder 92, 118, 225
Krösus 258, 259 Medina 229, 452
Kurden 90, 109 Medische Konföderation 433
Kurd*innen 263, 264, 290, 304 Medisch-persisches Reich 93
Kurdistan 230 Mekka 105, 220, 228, 229, 230
Kybele 444 Metaphysik 458
Kyros der Große 292 Mexiko 208
Mirjam 306
L Mitanni 91, 92, 214, 216, 225, 441
Lateinamerika 160 Mogulreich 230
Lenin, Wladimir I. 344 Mohammed 105, 106, 107, 145, 220,
Lenin, Wladimir Iljitsch 32, 245, 273, 228, 229, 230, 435, 444, 452
366, 367 Mohammed Muhammed 228
Lissabon 118 Mohammeds 224
480 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Mongolen 259 Omayyaden 442


Morus, Thomas 408 Orthodoxen 103, 303
Moses 98, 99, 100, 103, 220, 222, 223, orthodoxes Christentum 109
229, 230, 288, 291, 292, 306, Osmanen 117, 230, 294, 303, 442
431, 444 Osmanisches Reich 295, 297, 386
Moskau 312 Ostafrika 216, 228, 293
Muhammed 228, 229, 230, 231 Ostasien 104
Muhammedaner 231 Österreich 301, 442
Muslim*innen 303 Osteuropa 160, 289
Mussolini, Benito 126 Ostjüd*innen 303
Muʿāwiya-Dynastie 230 östliches Christentum 104
Muʿāwiya I. 230 Oströmisches Reich 103
Mythologie 458 Otrar 442

N P
NAFTA 208 Pakistan 230
Napoleon 282 Palästina 98
NATO 161 Palmyra 441
Nebukadnezar 292 Palmyras 441
Nero Claudius Caesar Augustus Paris 91
Germanicus 162 Pariser Kommune 208, 366
Neues Ägyptisches Reich 92 Paulus 290
Newton, Isaac 368 Perser 92, 118, 433
New York 91, 161, 302, 312 Perser*inne 289
Nietzsche, Friedrich 29, 30, 189, 199, Perserreich 292, 433, 441
205, 255, 261, 282, 345, 414, Persien 107
432 Persischer Golf 91
Nimrod 97, 98, 214, 219, 222, 223 Philipp II 116
Noah 444 Phönizien 215, 217
Nordafrika 216, 289, 293 Phönizier 92, 93, 94
Normannen 275 Platon 95, 253, 426
Nusaybin 157 Pompei 426
Pontianer 109
O Pontier 109
Oktoberrevolution 366 Pontusgriech*innen 304
Olymp 226 Positivismus 458
Olympos 226 Preußen 301
Oman 91, 92 Protestantismus 295, 303
Index 481

Proto-Araber 213 Seldschuk 293


Proudhon, Pierre-Joseph 189, 372 Seldschuk Beg 293
Seldschuken 230, 294, 442
Q Sephard*innen 289
Qarmaten 230 Serêkani 225
Quraisch 229 Sibirien 263, 442
Sinai 98
R Sinai-Wüste 213
Rom 96, 97, 103, 107, 114, 119, 156, Sindh 90
157, 158, 159, 223, 224, 226, Skythen 217
227, 242, 260, 263, 289, 290, Slawen 109
291, 441 Smith, Adam 189
Römer 96, 97, 103 Sodom 426
Römisches Reich 101, 102, 103, 217, Sokrates 226, 433, 444, 470, 471
224, 227, 288, 289, 386 Sombart, Werner 296, 297, 298
Rum-Griech*innen 304 Sowjetrussland 119, 302, 332, 367
Russische Föderation 119, 388, 392 Sowjetunion 279, 387, 463
Russische Revolution 369, 452, 460 Sozialdemokratische Partei
Russland 28, 126, 160, 289, 291, 297, Deutschlands 366, 367
302, 317, 367, 442 Spanien 119, 275, 294, 295, 303, 388,
442
S Spanisches Reich 125, 301
Sabbatianer*innen 294 Sparta 226
Sabbatianismus 294 Spartanisches Königreich 226
Safawiden 230 Spinoza, Baruch de 53, 54, 292
Sahara 263 Städtebund der Hanse 159
Saint Simon, Henri de 189 Star 218
Salomo 100 Südafrika 388
Salomon 223 Südamerika 126, 223, 387, 392, 444
Saloniki 304, 305 Südostasien 208
Samuel 223 Sufismus 247, 313
Sassaniden 103, 228 Sumer 263, 368
Sassanidenreich 101, 102, 103, 108, Sumerer 89, 90, 91, 92, 95, 98, 118,
386 213, 216, 433
Saul 100, 223 Sumer*innen 257, 305
Schia 230 Sunnitentum 107, 284
Schiitentum 284 Suryoye 304
Schmitt, Carl 276 Sus 90
482 SOZIOLOGIE DER FREIHEIT

Syrien 289 W
Wallerstein, Immanuel 29, 30, 31, 32,
T 35, 66, 105, 116, 190, 259, 261,
Täbris 299 262, 301, 321, 345
Taliban 302 Warschauer Pakt 367
Tarsus 290 Weber, Max 205
Taurus 215, 225 Weltsozialforum 208
Taurus-Zagros-Bogen 94 Westanatolien 91
Tigris 215 Westeuropa 108, 298
Timur 442 westliche Christentum 104
Totes Meer 426
Türkei 18, 222, 230, 284, 292, 297, Z
304, 305, 306 Zagros 215, 225
Türken 109 Zagros-Gebirge 432, 471
Türk*innen 304, 305 Zarathustra 225, 432, 444, 470
Turkmenistan 293 Zenobia 441, 444
Turkstämme 109 Zentralasien 91, 126, 289, 303
Zeus 226
U Zoroastrismus 102, 103, 185, 228, 432,
Umayyaden 107, 230 433
Ur 172, 216 Zvi, Schabbtai 304
Urartäer 93 Zweite Internationale 366, 367
Urfa 90, 97, 113, 134, 157, 184, 215,
219, 220, 288, 292
Urier 213
Uruk 90, 94, 97, 215, 218
USA 18, 119, 122, 126, 141, 160, 161,
208, 282, 299, 317, 387, 388,
391, 392
US-Amerikaner*innen 299

V
Vámbéry, Ármin 304
Vatikan 436
Venedig 91, 108, 114, 116, 118, 119, 158,
258, 259, 442
Vereinte Nationen 127, 161, 208, 287,
300, 302, 437
Biografien

Abdullah Öcalan
Abdullah Öcalan ist Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Seit sei-
ner Verschleppung 1999 ist er unter Isolationsbedingungen auf der Insel
İmralı inhaftiert. Im Gefängnis verfasste er mehr als zehn Bücher, welche die
kurdische Politik revolutionierten. Er schreibt ausführlich über Geschichte,
Philosophie und Politik und gilt als Schlüsselfigur für die politische Lösung
der kurdischen Frage. Öcalan leistet Beiträge zur Diskussion über die
Suche nach Freiheit und entwarf den demokratischen Konföderalismus als
nicht-staatliches politisches System. Sein Hauptwerk ist das fünfbändige
Manifest der demokratischen Zivilisation. Seine Schriften wurden in mehr als
zwanzig Sprachen übersetzt.

John Holloway
John Holloway ist Professor für Soziologie am Instituto de Ciencias Sociales
y Humanidades (Institut für Anthropologie und Sozialwissenschaften)
der Benemérita Universidad Autonoma de Puebla (BUAP), Mexiko und
Honorarprofessor an der University of Rhodes, Südafrika. Er hat umfang-
reich zu marxistischer Theorie, zur zapatistischen Bewegung und zu den
neuen Formen des antikapitalistischen Kampfes publiziert. Seine Bücher
Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen (2002) und Kapitalismus
aufbrechen (2010) haben zu internationalen Debatten geführt und sind beide
in elf Sprachen übersetzt worden.
Bibliografie
Eine Liste der vom Autor verwendeten Literatur ist unter
http://ocalan-books.com/#/bibliography abrufbar.
Eine Bibliografie dieses Bandes und weitere Materialien zum
Buch finden sich auf
http://ocalanbooks.com/#/book/die-kapitalistische-
zivilisation

Abdullah Öcalans Gefängnisschriften


Aktuelle deutschsprachige Ausgaben
Zur Lösung der kurdischen Frage – Visionen einer demokratischen
Republik (2000)
Jenseits von Staat, Macht und Gewalt (2019)
Die Roadmap für Verhandlungen (2019)
Plädoyer für den freien Menschen | Urfa – Segen und Fluch einer Stadt
(Neuaufgelegt 2019)
Gilgameschs Erben – Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen
Zivilisation, Band 1 (2019)
Gilgameschs Erben – Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen
Zivilisation, Band 2 (2019)
Manifest der demokratischen Zivilisation
Band I: Zivilisation und Wahrheit – Maskierte Götter und verhüllte
Könige (2019)
Band II: Die kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und
nackte Könige (2019)
Band III: Soziologie der Freiheit (2020)

Noch nicht auf Deutsch erschienen


Manifest der demokratischen Zivilisation
Band IV: Ortadoğu’da Uygarlık Krizi ve Demokratik Uygarlık Çözümü
(türkisch 2010), (Zivilisationskrise im Nahen Osten und die Lösung der
demokratischen Zivilisation), deutschsprachige Ausgabe geplant für
2021
Band 5: Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü (türkisch 2012) (Die
kurdische Frage und die Lösung der demokratischen Nation), deutsch-
sprachige Ausgabe geplant für 2022
Broschüren mit Auszügen aus den Gefängnisschriften
Krieg und Frieden in Kurdistan (2008)
Demokratischer Konföderalismus (2012)
Befreiung des Lebens: Die Revolution der Frau (2014)
Demokratische Nation (2018)

Mehr Informationen und PDF-Ausgaben auf ocalanbooks.com


In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010)
hat Abdullah Öcalan mit dem Manifest der
demokratischen Zivilisation ein fünfbändiges
Opus Magnum verfasst, in dem er seine
Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren
radikaler Theorie und revolutionärer Praxis
zusammenfügt. Nachdem er in den ersten
beiden Bänden die Geschichte der Zivilisati-
on von ihren Anfängen bis zur kapitalistischen
Moderne neu interpretiert hat, legt Öcalan
mit dem dritten Band eine Methode für die
Lösung der drängendsten Probleme des 21.
Jahrhunderts vor: die Soziologie der Freiheit.
Öcalan erkennt die Notwendigkeit einer Kritik
des sogenannten ›wissenschaftlichen Sozialis-
mus‹, auf den er selbst, die kurdische Bewe-
gung und die PKK sich in der Vergangenheit
immer bezogen hatten. Industrialismus,
Kapitalismus und der Nationalstaat können
nicht mit den Mitteln eines orthodoxen sozi-
alistischen Konzepts transformiert werden.
Deshalb wendet Öcalan sich den originells-
ten Denkern der Linken zu und debattiert in
bemerkenswerter Bandbreite Themen wie
Existenz, Freiheit, Philosophie, Anarchismus,
Natur und Ökologie. Dabei entwickelt er
eine radikale und sehr weitreichende Defini-
tion von Demokratie, ausgehend von seiner
zentralen These, dass es immer und überall
parallel zu jeder herrschenden Zivilisation
eine ›demokratische Zivilisation‹ gibt, die sich
im Widerstreit mit (kapitalistischer) Herrschaft,
Patriarchat und Nationalstaat befindet.

ISBN 978389771-077-1 | 19,80 € [D]

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