JCSW 22 (1981): 013–022, Quelle: www.jcsw.
de
VALENTIN ZSIFKOVITS
Das Menschenbild der christlichen Theologie
Die Frage nach dem Menschen entsteht in mannigfacher Weise. Jürgen
M oltmann 1 gibt hierfür vier Gebiete an: Die Frage nach dem Menschen
entsteht:
1. aus dem Vergleich des Menschen mit dem Tier,
2. aus dem Vergleich des Menschen mit anderen Menschen,
3. aus dem Vergleich des Menschen mit dem Göttlichen,
4. im Verweis auf Christus.
In bezug auf christliche Anthropologie sagtJürgen Moltmann: »Christ-
liche Anthropologie macht die biologische, kulturelle und religiöse An-
thropologie nicht überflüssig, aber sie läßt sich auch nicht auf jene redu-
zieren. Daß zwischen den Spiegeln und Masken, in denen Menschen sich
begegnen, die harte Wirklichkeit des Gekreuzigten repräsentiert wird, das
ist das Besondere an der christlichen Lehre vom Menschen.«2
Stellt sich also christliche Theologie die Frage nach dem Menschen, so
nimmt sie primär den Ausgangspunkt von der Offenbarung. Wenn Theo-
logie »das reflektierende, methodisch geleitete Erhellen und Entfalten der
im Glauben erfaßten und angenommenen Offenbarung Gottes«3 ist, dann
muß eine theologische Anthropologie sich fragen, welches Bild die in der
Tradition reflektierte Offenbarung Gottes, die in ]esus Christus ihren
Höhepunkt und ihren Abschluß erreicht hat, vom Menschen zeichnet.
Die Offenbarung nun, wie sie in der Schrift niedergelegt ist, enthält keine
systematische Anthropologie. Biblische Anthropologie und in einem wei-
teren Schritt biblische Ethik sind also ergänzungsbedürftig, ergänzungs-
bedürftig durch biologische, soziologische und philosophische Ansätze
der Anthropologie sowie durch andere ethische Begründungsweisen.
Hier bietet sich vor allem die naturrechtliche Ethik an, die die biblische
Ethik nicht nur ergänzen kann, sondern auch ein kritisches Korrektiv ge-
I Vgl.}ürgen Moltmann, Mensch. Christliche Anthropologie in den Konflikten der Ge-
genwart, Gütersloh 1979, 15-37.
2 Ebenda, 37.
3 Kar! Rahner, Theologie, in: Sacramentum Mundi, IV, hrsg. von Kar! Rahner u. a., Frei-
burg/Br. 1969,861 f.
13
genüber einer biblizistischen Ethik abzugeben vermag. Denn im Namen
Gottes kann der Mensch nur zu leicht auf eine geschichtlich bedingte In-
terpretation der Offenbarung, die dann als Wille Gottes ausgegeben wird,
verpflichtet werden. In Umkehrung dazu muß sich aber auch das Natur-
recht von der biblischen Ethik korrigieren lassen.
Ein weiterer Aspekt biblischer Ethik muß beachtet werden: In der Ex-
egese haben wir nie ein abgeschlossenes Ergebnis.]oseph Ratzinger stellt
fest: "Auch hier (in der Exegese, Anm. d. Verf.) gibt es, gerade im Zentra-
len, das um und um fertige Ergebnis nicht, und vergangene Auslegung
wird nie einfach Vorgeschichte, wo sie wirklich groß dem Text zugewandt
war.«4 So ist eine theologische Anthropologie immer eine tastende An-
thropologie, die im letzten bekennen muß und im Blick auf Gott auch be-
kennen kann: "Individuum ineffabile est.« Eines aber kann biblische An-
thropologie: das Geheimnis des Menschen aufzuhellen versuchen auf dem
Hintergrund Christi, in dem das Ganze des Menschen - allerdings als sein
Geheimnis - ausgesagt ist.
Nun sollen einige wesentliche Punkte christlicher Anthropologie vorge-
legt werden.
1. DER MENSCH ALS PERSONALES
UND PARTNERSCHAFTLICHES GESCHOPF
NACH DEM BILD UND GLEICHNIS GOTTES
Das in Gn 1,26 ff. ausgedrückte Geschaffensein des Menschen besagt, daß
der Mensch seine Bestimmung von Gott her auf Gott hin bezieht, daß er
also in Gott seinen Ursprung und sein Ziel hat und daß seine Abhängigkeit
eine partnerschaftlich geschenkte ist. Wie im Bild das »Bezügliche, Hin-
weisende und Darstellende«5 erfahren wird, so kommt in Gn 1 der einzig-
artige Zusammenhang zum Ausdruck, in dem der Mensch zu Gott steht:
nämlich jenes Personsein, durch welches der Mensch Gott in der geschaf-
fenen Weh ,>repräsentiert«6 und welches sich in schöpferischer Geistigkeit
und Freiheit manifestiert. So gesehen ist der Mensch Person, weil Gott
Person ist. Die Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit, Uneinholbarkeit und
Unmittelbarkeit der Personwürde des Menschen ist in der Gotteseben-
bildlichkeit begründet; durch diese Gottesebenbildlichkeit ist der Mensch
dem Zugriff des Menschen entzogen. Dabei ist in der Sicht der Bibel in der
Ebenbildlichkeit nicht eine Dualität von Leib und Seele ausgedrückt, son-
4 joseph Ratzinger, Eschatologie - Tod und ewiges Leben, Regensburg 21978, 33.
5 Ludwig Berg, Das theologische Menschenbild. Entwurf - Ethos, Köln 1969, 30.
" Viktor Warnach, Mensch, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe, UI, hrsg. von
Heinrich Fries, München 1962, 150.
14
dern vielmehr der Mensch als Einheit und Ganzheit gefaßt. Der Mensch
soll in seiner Geschichte dieses Ebenbild in schöpferischer Freiheit ver-
wirklichen - es ist ihm somit nicht nur als Wesenskonstitutivum, sondern
auch als Zielpunkt aufgegeben -, er kann aber auch seiner Berufung untreu
werden.
Jürgen Moltmann sieht in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen die
Würde des Menschen, der nicht in endlichen Dingen und Verhältnissen
und seiner eigenen Wirklichkeit aufgehen kann. Das Elend des Menschen
aber ist es, daß er bei Vergessen dieses transzendenten Hintergrundes
»von den endlichen Dingen Unendliches und von irdischen und menschli-
chen Verhältnissen Göttliches erwarten oder befürchten muß« 7.
Im Begriff der Gottesebenbildlichkeit ist aber nicht nur auf die Ähnlich-
keit hingewiesen, sondern auch »auf die Distanz zwischen Urbild und
Abbild«8, auf eine Ähnlichkeit in U nähnlichkeit.
Im Lichte des Neuen Testamentes zeigt sich die Freiheit als erlösendes
Gnadengeschenk göttlicher Liebe, wodurch der Mensch.sich wahrhaft zu
befreien und zu öffnen vermag von de~ Selbstsucht hin auf den Mitmen-
schen und auf Gott und dessen größere Freiheit, und dadurch erweist sich
auch des Menschen Geistigkeit im eigentlichen Sinn als Möglichkeit der
Begegnung mit Gott.
So kann Thomas von Aquin sagen, daß »der Mensch von Natur aus frei ist
und um seiner selbst willen existiert« 9.
Die Freiheit des Menschen aber, soll sie nicht in andauernder Kampfsitua-
tion des Ringens um den Freiheitsraum jedes einzelnen stehen, darf nicht
als ein Neben- und Gegeneinander, sondern muß als ein Mit- und Fürein-
ander gesehen werdenlO• Diese Freiheit ist bestimmt von Gott her, vom
Erfassen der Wahrheit im Ganzen. In diesem Sinne ist das Wort: »Die
Wahrheit wird euch frei machen« 11 zu verstehen. Gott ist damit Garant
menschlicher Freiheit. Im 2. Korintherbrief sagt Paulus: »Wo aber der
Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. « 12 Freiheit ist die Freiheit, die Verant-
wortung trägt.
7 Jürgen Moltmann, Mensch. Christliche Anthropologie in den Konflikten der Gegen-
wart, a. a. 0., 158.
H Vgl. Johannes Messner, Was ist Menschenwürde? In: Internationale Katholische Zeit-
schrift 6 (1977) 233-240, 235.
" Thomas von Aquin, S. th. lI-lI, q. 64, a. 3.
10 Vgl.Jörg Splett, Menschsein als Frage, in: Unser Wissen vom Menschen. Möglichkeiten
und Grenzen anthropologischer Erkenntnisse, hrsg. von Waiter Kasper, Düsseldorf
1977,81-94, n.
1I Jo 8,32.
122 Kor 3,17.
15
2. DER MENSCH ALS KRONE DER SCHOPFUNG
SOWIE VERANTWORTLICHER GESTALTER
UND VERWALTER DIESER SCHOPFUNG
Die hervorragende Stellung des Menschen als Ebenbild und Partner Got-
tes kommt im Schöpfungs- bzw. Gestaltungsauftrag von Gn 1,28 (»Seid
fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde und macht sie euch unter-
tan ... «) sowie im Bund Gottes mit den Menschen, den er auf Sinai ge-
schlossen, immer wieder erneuert und in Christus als "Neuen und Ewigen
Bund« gestiftet hat, besonders deutlich zum Ausdruck. Was der alttesta-
mentliche Psalmist in Ps 8,5-7 formuliert, gilt doppelt, weil in Christus
überhöht, aus der Perspektive des Neuen Testamentes: "Was ist der
Mensch, daß du seiner gedenkst! Des Menschen Sohn, daß du Sorge tra-
gest um ihn! Du hast ihn fast zu einem Gotteswesen gemacht, hast ihn ge-
krönt mit Glorie und Glanz. Du hast ihm Macht gegeben über das Werk
deiner Hände, alles hast du ihm zu Füßen gelegt.« Traditionell wurde die
hier ausgedrückte hervorragende Stellung des Menschen in der Schöpfung
durch das Bild "der Mensch - Krone der Schöpfung« ausgedrückt. Tho-
mas von Aquin 13 betrachtet deshalb den Menschen als das ranghöchste
Wesen in der sinnfälligen Welt, als die vollkommene Wirklichkeit.
Angesichts der Ausbeutung und der Vergewaltigung der Schöpfung durch
den Menschen und der daraus resultierenden ökologischen Krise ist der
Schöpfungs- und Gestaltungsauftrag vor Mißdeutungen abzusichern und
in seinem wahren und ursprünglichen Sinn in Erinnerung zu rufen: Wie
Walter Kasper es ausdrückt, ist der Mensch als Partner Gottes "Partner
des Menschen und der Welt« 14. Infolge seiner Geschöpflichkeit steht der
Mensch, wie Ernst Benz bemerkt, in einer "Solidarität der allgemeinen
Bruderschaft mit allen übrigen Mitkreaturen, die gleich ihm ihr Wesen,
ihr Leben und ihre Gestalt von Gott empfangen haben« 15. Dazu ist mit
Ernst Benz16 noch zu bedenken, daß dieser Auftrag an den integren Men-
schen, an den Menschen vor dem Fall gerichtet ist. Kurz und gut: Die
Erde mit allem, was auf ihr lebt, ist dem Menschen zur treuen und ver-
antwortlichen Verwaltung anvertraut, seine Herrschaft über die Erde ist
13 Vgl. Thomas vonAquin, S. th. I, q. 29, a. 3; I, q. 30, a. 14; I, q. 21, a. 3; S. c. gent. IV, 54.
14 Walter Kasper, Das theologische Wesen des Menschen, in: Unser Wissen vom Men-
schen. Möglichkeiten und Grenzen anthropologischer Erkenntnisse, hrsg. von Walter
Kasper, Düsseldorf 1977, 95-116, 106.
15 Ernst Benz, Der Mensch in christlicher Sicht, in: Neue Anthropologie, VI: Philosophi-
sche Anthropologie, hrsg. von Hans-Georg Gadamer, Paul Vogler, Stuttgart 1975,
373-429, 376.
16 Vgl. eben da, 382.
16
Herrschaft im Auftrag17 und Herrschaft in Solidarität mit den Mitmen-
schen und der übrigen Natur.
3. DER MENSCH ALS SüNDIGES WESEN
Die Wurzel des Unheils in der Welt liegt nach der Aussage der christlichen
Theologie in des Menschen Freiheitsmißbrauch, in seinem Ungehorsam
Gott gegenüber und somit in der Verneinung seines eigenen Existenz-
grundes. Dabei steht der Mensch in einer allgemeinen Sündenverfloch-
tenheit. Die Sünde hat personellen und strukturellen Charakter. In der
Abgewandtheit von Gott und damit von seinem eigentlichen Ziel und in
der Konstruktion von »Spinngeweben« und Zwängen, in denen er sich
selbst verfängt, verliert der Mensch den Weg zur wahren Selbstfindung
und verfällt der Selbstentfremdung. Mit Recht spricht also der Psalmist:
»Ich habe gesündigt an dir allein. « 18
Diese Entfremdung von Gott entfremdet nämlich den Menschen auch von
den anderen und führt zur Preisgabe der Brüderlichkeit und Solidarität,
führt zur Isolierung und Einsamkeit. Freilich bleibt dem Menschen die
Verheißung auf die eschatologische Aufhebung dieser Entfremdung, die
Hoffnung auf Erlösung als Befreiung von der Macht der Sünde.
Der Mensch darf in der Sünde noch auf Erlösung hoffen, in tiefster Gott-
ferne kann er noch Heil erwarten, wie Ijob, der als Geprüfter und mit
Gott Rechnender ausruft: »Ich weiß gewiß, daß mir ein Anwalt lebt.« 19
Immer gilt das Wort Gottes, das er an Mose richtet: »Ich werde mit dir
sein.«20 Gerade in Jesus Christus findet das Mitsein Gottes auch mit dem
Sünder seinen höchsten Ausdruck.
4. DER MENSCH ALS BRUDER UND EBENBILD CHRISTI,
DER MENSCH ALS ERLOSTES WESEN
Der Mensch ist Bruder Jesu Christi, der um des Heiles dieses Menschen
willen den ~rlösertod auf sich genommen hat, so daß der Christ mit dem
Galaterbrief sagen kann: Ich »lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der
mich geliebt und sich selbst für mich ausgeliefert hat« 21. So ist der in die
17 Vgl. Walther Zimmerli, Der Mensch im Rahmen der Natur nach den Aussagen des er-
sten biblischen Schöpfungsberichtes, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 76 (1979)
139-158,157.
1H Ps 51,6; vgl. auch Lk 15,18,21.
19 IbI9,25.
20 Ex 3,12.
21 Gal 2,20; vgl. auch die Aussage des Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbe-
kenntnisses: "Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel her-
abgestiegen. «
17
allgemeine Sündenverflochtenheit hineingeborene Mensch in Christus als
der »Neue Adam« hineingenommen in die allgemeine Heilsverbunden-
heit. Der Mensch, der mit Christus mitgestorben, mitbegraben und mit-
auferstanden ist22, ist in ihm Neuschöpfung, der neue Mensch, »der nach
Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit«2J, der
somit wieder seiner wahren Bestimmung zugeführt worden ist. Christus
ist der Grund und die Norm dessen, was der Mensch ist; oder wie Bern-
hard Häring ausführt: »Christus kennen heißt, um die unendliche Würde
jedes Menschen wissen.«24 Er, der »das Bild des unsichtbaren Gottes«25
ist, er ist »zugleich der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die
Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet
war«26. Im Gott-Menschen ]esus Christus ist das durch die Sünde ge-
störte Verhältnis Gott-Mensch exemplarisch und prinzipiell konsequent
für alle anderen Menschen wiederhergestellt. Der Mensch, der als eine
Wirklichkeit voll von Geheimnis erfahrbar ist, der eben nie ganz ausgesagt
werden kann, klärt sich im Geheimnis Christi auf, so daß das 11. Vati ca-
num mit Recht formuliert: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des
f1eischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. «27
Die Bibel versteht die Erlösung als Befreiung von der Entfremdung der
Sünde, die Wiedergewinnung der ursprünglich schöpferischen Freiheit.
Mit Gal 5,1 gesprochen hat Christus den Menschen zur Freiheit befreit.
Die mit ]esus Christus gekommene Freiheit erweist sich als Freiheit von
der Sünde, vom Tod und vom Gesetz; positiv formuliert als Freiheit zur
Liebe, zur Gemeinschaft mit Gott und zum Dienst für den Nächsten und
für die Welt. Die Kette und Spirale der Unfreiheit ist durchbrachen, weil
in Christus das ganz Andere, das ganz Neue angebrochen ist. Die Sünde
ist prinzipiell überwunden, wenn sie auch als überwundene Größe noch
im Menschen und in der Welt bleibt.
So kann im Blick auf die Bestimmung des Menschen zusammenfassend
mit Ludwig Berg gesagt werden: »Christus ist das Menschenbild
schlechthin.«28 In Christus findet der Mensch seine Mitte und geht
22 Vgl. Röm 6,1-11.
23 Eph 4,24.
24 Bernhard Häring, Kommentar, in: Die Würde des Menschen in Christus. Die Antritts-
enzyklika »Redemptor hominis« Papst]ohannes Pauls Il., Freiburg/Br. 1979, 111-140,
119.
25 Koll,15.
26 11. Vatikanisches Konzil, Pastoral konstitution über die Kirche in der Welt von heute
Gaudium et spes, Nr. 22.
27 Ebenda, Nr. 22.
28 Ludwig Berg, Das theologische Menschenbild. Entwurf - Ethos, a.a.O., 103.
18
unendlich über sich hinaus. Der Mensch muß aber Sorge dafür tragen, daß
Christus in ihm immer mehr Gestalt annimmt29.
5. DER MENSCH ALS GEMEINSCHAFTSWESEN
Schon im Schöpfungsbericht von Gn 1,27 ist ausgedrückt, daß der
Mensch nicht als Einzelwesen, sondern als Gemeinschaftswesen erschaf-
fen ist. In der Sicht der Bibel ruht der Mensch nie selbstgenügsam, ichbe-
zogen in sich selbst, sondern ist ständig unterwegs: »von Gott her zum
Menschen hin, vom Menschen her zu Gott hin«30. Die zentralen Aussa-
gen der christlichen Lehre von der Gotteskindschaft in dem einen Vater im
Himmel, von der Brüderlichkeit aller in Christus, von der Grundweisung
der neutestamentlichen Botschaft: nämlich der im Glauben an Gott fun-
dierten Liebe zu Gott und den Menschen sowie von der Kirche als Ursa-
krament machen ohne Zweifel deutlich: Der Mensch kann sein Heil nur
als Gemeinschaftswesen wirken. Dabei findet die Gemeinschaft in Chri-
stus ihre letzte Fundierung, wenn es in Ga13,28 heißt: »Da gibt es nicht
mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr
alle seid einer in Christus J esus.«
6. DER MENSCH ALS GESCHICHTLICHES WESEN
Daß der Mensch kein reines "Naturwesen« wie etwa das Tier, sondern
"Kulturwesen« mit der Gestaltungsmöglichkeit seines Geschickes ist,
lehrt bereits die Philosophie. Der Mensch ist immer erst Mensch im Wer-
den3l, ein geschichtliches Wesen. Im Lichte der Theologie erweist sich
diese Geschichte als Geschichte Gottes mit dem Menschen und mit der
Menschheit. Dies gilt für des Menschen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft. Diese Zukunft des Menschen ist nicht auf ein Jenseits der Ge-
schichte, sondern auf die endgültige Geschichte gerichtet, wobei die Ge-
genwart bereits Anbruch der Zukunft ist, so daß der Christ in der Span-
nung des "Schon« und des "Noch nicht« lebt.
Dieses radikal >,Neue«, der ,>Neue Himmel« und die »Neue Erde«32 sind
dem Menschen und der Menschheit in und durch den geschenkt, der Al-
pha und Omega, Anfang und Ende33, also Ursprung und Ziel dieser Ge-
29 Vgl. Gal 4,19 .
.10 Neues Glaubensbuch, hrsg. von]ohannes Feiner, Lukas Vischer, Freiburg/Br. 101973,
415.
31 Vgl. dazu: Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Frankfurt a. M. 1963,
11: "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«
.12 V gl. Apk 21,1.
3J Vgl. Apk 22,13.
19
schichte ist. Die Transzendenz des Menschen zeigt sich also tiefer als bloß
in irgendeinem Offensein auf ein höheres Wesen hin: Nach der Lehre des
Christentums ist der Mensch zur Teilnahme am Leben des dreifaltigen
Gottes berufen34, sein Sein ist nicht ein Sein zum Tode, sondern zum Le-
ben, wofür die Auferstehung Christi Garantie ist35. Hierin ist letztlich die
Würde des Menschen begründet und natürlich auch seine hervorragende
Stellung, von der Papst ]ohannes XXIII. sagt: »Nach dem obersten
Grundsatz dieser Lehre (der katholischen Soziallehre, Anm. d. Verf.)
muß der Mensch Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen
Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf
Mit-Sein angelegt und sofern er zu einer höheren Ordnung berufen ist, die
über die Natur ganz und gar hinausgeht. ,,36
7. DER MENSCH ALS GLAUBENDES,
HOFFENDES UND LIEBENDES WESEN
Der Mensch als ein auf Transzendenz hin offenes Wesen37 ist angelegt,
Antwort auf den sich offenbarenden Gott zu geben. Der Glaube besteht
somit im freien Ja, in der freien Selbsthingabe des Geschöpfs an seinen
Schöpfer, im Erkennen und Anerkennen des die Vernunft übersteigenden
Geheimnisses Gottes. In dieser Selbsttranszendenz erst vollendet sich der
Mensch. Der Glaube ist ein Sich-Finden des Menschen in neuen Möglich-
keiten. Dieses Sich-Finden ist unbegrenzt, ein Weg in unendliche Mög-
lichkeiten, »durch Wirklichkeit begründet, sich darum stets auffüllende
Utopie«38. Das Ja zu Gott eröffnet dem Menschen neue Horizonte, es
bewirkt in ihm die seiner Wirklichkeit gemäße unendliche Sehnsucht39,
die in einer Hoffnung wider alle Hoffnung durchbricht. So ist der Mensch
nie schon mit seinem Hier und Jetzt identisch, sein Wesen ist immer als ein
»Noch nicht« zu fassen, nie als ein »Nicht mehr«40. Diese seine Hoffnung
34 Vgl. z.B. Eph 1,3-14.
35 Vgl. z.B. Röm 8,11; 2 Kor 4,14; PhiI3,10f.
36 Johannes XXIII.> Enzyklika Mater et magistra, Nr. 219.
37 V gl. Kar! Rahner, Grundentwurf einer theologischen Anthropologie, in: Handbuch der
Pastoraltheologie, lI/I, hrsg. von Franz Xaver Amold u. a., Freiburg/Br. 1966, beson-
ders 24 ff.
38 Joseph Möller, Menschsein : ein Prozeß. Entwurf einer Anthropologie, Düsseldorf 1979,
348.
39 Vgl. Walter Kasper, Das theologische Wesen des Menschen, in: Unser Wissen vom Men-
schen. Möglichkeiten und Grenzen anthropologischer Erkenntnisse, hrsg. von Walter
Kasper, a. a. 0.,95-116, 107.
40 Justin Lang, Des Menschen Los ist hoffnungslos. Zur Anthropologie christlicher Hoff-
nungsexistenz, in: Wissenschaft und Weisheit 42 (1979) 1-10, 3.
20
ermöglicht dem Menschen die Sicht über seinen Tod hinaus, sie wirkt aber
nicht vertröstend, sondern anspornend, das Hier und Jetzt, das Vorletzte,
so zu gestalten, daß es ein Anbruch des Letzten sein könnte. Der Mensch
ist darauf angelegt, sich immer wieder auf Gott hin selbst zu überschrei-
ten.
Dies kann er, weil er sich von Gott, der die Liebe ist41, als geliebt, als be-
jaht erfährt und auf Grund dieser Liebe wieder lieben kann - sich selbst,
den Nächsten, Gott.
8. THEOLOGISCHES MENSCHENBILD UND ETHIK
Das eben skizzierte theologische Menschenbild bietet den Vorteil, daß es,
von der Zukunft her denkend, Gegenwart und Vergangenheit des Men-
schen erfassend, Ausgangspunkt einer realistischen Ethik, die das ganze
Wesen des Menschen im Blick behält, sein kann. Dabei ist das theologi-
sche Menschenbild nicht nur Ausgangspunkt für Individual-, sondern
auch für Sozialethik. Wenn auch biblische Ethik sich primär auf das Ver-
halten des Menschen in bezug auf sich selbst und in bezug auf den Mit-
menschen erstreckt, in der Frage der Institutionen aber schweigt oder nur
andeutungsweise spricht, so bildet sie doch den Ausgangspunkt für die
Sozialethik. Der Wissenschaftler muß danach trachten, daß die Modelle
der Sozialethik, die er konstruiert, den W ese~sbestimmungen des Men-
schen gerecht werden können. In Wertbilanzen, die in einem Optimie-
rungsverfahren Positiva und Negativa gegeneinander abwägen, wird er
versuchen, jenes Modell zu erstellen, das die Negativa minimiert und die
Positiva maximiert, wohl wissend, daß nie das perfekte Sozialgebilde ge-
schaffen werden kann. Legitimerweise wird es so eine Pluralität von Mo-
dellen bei gleicher Gewissenhaftigkeit geben42, die Orientierung am eben
skizzierten Menschenbild wird aber in kritischer Weise Modelle, die dem
Wohl des Menschen entgegenstehen, weil sie den Menschen auf eine sei-
ner Bestimmungen verkürzt sehen, ausschließen, aber neben dieser kriti-
schen Funktion sicherlich auch positive Hinweise für die Konstruktion
von Modellen anbieten, ohne aber ein Modell als allein gültiges auszuge-
ben.
41 Vgl. 1 Jo 4,8.
42 Vgl. Ir. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von
heute Gaudium et spes, Nr. 43.
21